Sie sind auf Seite 1von 500

Wachgeküsst

20 Jahre
neue Kulturpolitik
des Bundes
1998—2018

Hg. v. Olaf Zimmermann


Wachgeküsst
20 Jahre
neue Kulturpolitik
des Bundes
1998—2018

Hg. v. Olaf Zimmermann


Wachgeküsst
20 Jahre neue Kulturpolitik
des Bundes 1998—2018

1. Auflage, Berlin, Oktober 2018

Deutscher Kulturrat e. V.
Taubenstraße 1, 10117 Berlin
Telefon: 030 . 226 05 28 - 0
Fax: 030 . 226 05 28 - 11
post@kulturrat.de
www.kulturrat.de

Herausgeber: Olaf Zimmermann


Redaktion: Gabriele Schulz
Gestaltung: 4S, Berlin
Druck: DCM, Meckenheim

Die Publikation wird gefördert aus Mitteln


Der Beauftragten der Bundesregierung
für Kultur und Medien auf Beschluss des
Deutschen Bundestages.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet


diese Publikation in der Deutschen National-
bibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.

ISBN 978-3-947308-10-1

Wachgeküsst
Inhalt

1. Einleitung 004

Olaf Zimmermann 005


015 Aufbruch zu neuen Ufern oder wie die
Bundeskulturpolitik sichtbar wurde

2. Die Kulturstaats-
minister
im Gespräch
Michael Naumann
101 Natürlich hatte ich auch Lieblings­projekte

Julian Nida-Rümelin
108 Die Kulturpolitik des Bundes als Ordnungspolitik

Christina Weiss
115 Einsatz für Spielräume der Künste

Bernd Neumann
122 Ich hatte Interesse an diesem Amt

Monika Grütters
128 Kredit erarbeiten und Taten folgen ­lassen

Inhalt
3. Türöffner —
Bundes­kulturpolitik
vor 1998
Gerhart R. Baum
137 Die sichtbare Verantwortung des ­
Bundes ist in Jahrzehnten gewachsen

Wolfgang Thierse
139 BKM als leicht ver­spätete Folge
der Wiedervereinigung

Hans-Joachim Otto
142 Kultur von allen!

Oliver Scheytt
144 Zur verfassungsrechtlichen
Verankerung der Bundeskultur­politik
in Art. 35 des Einigungsvertrages

Matthias Theodor Vogt


153 Seid umschlungen, Milliarden!

Klaus-Dieter ­Lehmann
159 Vereinigung von ­Kultureinrichtungen

Wachgeküsst
4. Vom Rhein an
die Spree —
Sichtbarer Aufbruch der
Bundes­kulturpolitik
006
Knut Nevermann
167 Rückblick auf eine Geburt 007

Günter Winands
173 Von den Anfängen der BKM bis heute –
Schlaglichter einer kultur-
politischen ­Erfolgsgeschichte

Monika Griefahn
180 Eine spannende Zeit

Claudia Roth
185 Grundzutat, nicht Sahnehäubchen

Gitta Connemann
187 Kompass für die ­Kulturpolitik:
Enquête-Bericht Kultur

Günter Winands
191 Systematisierung der Kultur-
förderung 2001 bis 2006

Regine Möbius
200 Erfahrung braucht Offenheit –
Erwartungen an ein noch junges Amt

Norbert Sievers
203 Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser.
Zum Verhältnis Gesellschaft und Staat

Inhalt
5. Gesetz­gebung
für Kunst und Kultur
Isabel Tillmann
213 Seinen Platz finden –
Die BKM in der R­ essortabstimmung

Rupert Graf Strachwitz


218 Stiftungen am Beginn einer
Bundeskulturpolitik?

Katharina Görder
223 Die Künstlersozial­versicherung –
eine klare Abstimmung mit den Füßen

Robert Staats
231 20 Jahre Baustelle Urheberrecht

Gerhard Pfennig
237 Reform des Urhebervertragsrechts

Gabriele Beger
243 Ein Plädoyer für Gemeinsamkeit

Frithjof Berger & Melanie List


249 Kulturgutschutz –
Zwei Jahrzehnte Lernprozess!

Jan Ole Püschel


254 20 Jahre roter Teppich für den Film

Wachgeküsst
6. Kultur­-
förderpolitik
Hortensia Völckers & Alexander Farenholtz
261 Zukunftslabor ­Kulturstiftung des Bundes

Hans Gerhard Hannesen 008


266 Die Akademie der Künste auf dem Weg
in die Trägerschaft des Bundes 009

Hermann Parzinger
273 Stiftung Preußischer Kulturbesitz –
Herkunft und Zukunft

Hartmut Dorgerloh
279 Humboldt Forum – In der Mitte
der Hauptstadt für die Welt

Günther Schauerte & Frank Frischmuth


285 Wissen für alle – Aktueller Stand und Perspektiven
der Deutschen Digitalen Bibliothek

Charlotte Sieben
293 Kultur 3.0 – die Kulturveranstal­tungen
des ­Bundes in Berlin

Sigrid Bias-Engels
298 Jubiläen – Wegmarken der Geschichte

Stefan Rhein
303 So viel Reformation war nie!

Martin Maria Krüger


308 Musikfonds zur ­Förderung zeit­ge­nössischer Musik

Barbara Seifen
311 Die Förderung von Denkmalschutz und
Denkmalpflege als gemeinsame Aufgabe

Inhalt
7. Kulturwirtschaft —
Tradition und Innovation
Jan Ole Püschel
319 Traditionsreiche Branchen

Heike Raab
323 Medien sind mehr als Radio, TV und der Rundfunkbeitrag

Jan-Ole Püschel
327 Welt am Draht – Medienpolitik des Bundes
in Zeiten der Konvergenz

Dieter Gorny
333 Initiative Musik – Dialogplattform und kulturelle
Infrastruktur für Rock, Pop & Jazz

Felix Falk
339 Computerspiele und die Kulturpolitik des Bundes

8. Erinnerungskultur —
Erinnerungspolitik
Maria Bering
347 Erinnerung als Grundlage für Zukunft

Matthias Weber
353 Vielstimmigkeit europäischer Erinnerungen

Uwe Neumärker
359 Denkmal für die ermordeten Juden Europas

Gilbert Lupfer
364 20 Jahre BKM – 20 Jahre Provenienz­forschung

Barbara Schneider-Kempf
369 Zwei 20. Geburts­tage, eng mit­einander verzahnt

Wachgeküsst
9. Politik für Vielfalt
und Diversität
Kathrin Hahne
377 Im Spannungsfeld von Vielfalt und Einheit

Christian Höppner 010


384 Kulturelle Vielfalt – verankert in der
DNA unseres Landes 011

Susanne Keuchel
390 Inklusion und Kulturpolitik

Max Fuchs
393 Kulturelle Bildung und Kulturpolitik

10. Innen und Außen —


Außen und Innen
Michelle Müntefering
399 Acht gute Gründe, warum BKM eine
ausgezeichnete Idee war

Wolfgang Schneider
402 Außenkulturpolitik in der Ver­änderung

Karl Jüsten
408 20 Jahre BKM – Die Deutsche Welle heute
mit neuer Wertschätzung

Inhalt
11. Gegenüber —
Das Parlament
Elisabeth ­Motschmann
415 Es gibt viele gute Gründe zum Gratulieren

Martin Rabanus
417 Ohne die SPD kein BKM

Marc Jongen
420 Der Kuss der Ideologie

Hartmut Ebbing
422 Eine kritische Perspektive auf 20 Jahre Bundes­kulturpolitik

Simone Barrientos
424 Der Gestaltungswille ist sichtbar

Erhard Grundl
426 Für die Freiheit der Kunst

12. Spannungvoll —
BKM und die Länder
Udo Michallik
429 Kulturförderung in Deutschland

Carsten Brosda
431 Gemeinsame Verantwortung

Benjamin-Immanuel Hoff
433 Die Länder haben Spielräume gelassen

Isabel Pfeiffer-Poensgen
436 Kräftespiel der föderalen Ebenen

Markus Hilgert
439 Kultur ist Vielfalt

Wachgeküsst
13. Die Kommunen —
Im Zentrum des
Kultur­ge­schehens
Klaus Hebborn
443 20 Jahre BKM – Rückblick und 012
Ausblick aus kom­munaler Sicht
013
Uwe Lübking
446 Kooperativer Kulturföderalismus
ist ein Erfolgsmodell

Jörg Freese
449 Ländlicher Raum im Fokus
der Bundes­kulturpolitik?

14. Kultur und Religion —


Religion und Kultur
Johann Hinrich Claussen
453 Über die Grenzen der eigenen Institution hinaus

Johannes Jakob Koch


455 Kultur + Kultus = Kirchenkulturpolitik

Aiman Mazyek
459 Ein weltoffenes Land, das den Dialog schätzt

Anhang
463 Autorinnen und Autoren

483 Personen­register

Inhalt
1.

Einleitung

20 Jahre
neue Kulturpolitik
des Bundes
Wachgeküsst 1998—2018
Olaf Zimmermann
Aufbruch zu neuen
Ufern oder wie die 014

Bundeskulturpolitik 015

sichtbar wurde
Prolog

1998 noch in der alten Bundeshauptstadt, ich war gerade ein Jahr Geschäftsfüh-
rer des Deutschen Kulturrates, schrieb ich in der März-Ausgabe des Informati-
onsdienstes »aktuell« des Deutschen Kulturrates: »Die Wiedereinsetzung des
›Unterausschusses Kultur‹ ist die Grundbedingung für eine zukunftsfähige ge-
samtstaatliche Kulturpolitik, aber auch die Berufung eines ›Bundeskulturbeauf-
tragten‹ sollte, so meine ich, kein Tabu sein!« 1 Ein Sturm der Entrüstung fegte
damals über mich, heute würde man das einen Shitstorm nennen. Besonders er-
innere ich mich an einen Anruf aus dem Bundeskanzleramt. Der Staatsminis-
ter für besondere Aufgaben bei Bundeskanzler Helmut Kohl, Anton Pfeifer, rief
mich mit drohender Stimme an, ob ich denn wisse, was ich da gefordert habe. Er
schicke mir gleich seinen Fahrer mit einem Grundgesetz vorbei, damit ich dort
nachlesen könne, wie unsinnig der Vorschlag sei. Es war mein erster Anruf aus
dem Bundeskanzleramt und mir standen die Schweißperlen auf der Stirn. Aber
ich wusste auch, das ist endlich ein Thema, für das es sich zu kämpfen lohnt. Das
war vor 20 Jahren!

Neue »Neue Kulturpolitik«

Die in den 1970er Jahren begründete »neue Kulturpolitik« nahm die Impulse von
Hermann Glaser, Hilmar Hoffmann, Dieter Sauberzweig und anderen auf und be-
gründete eine Kulturpolitik, die sich an breite Schichten der Bevölkerung ­richtete,

1 Zitiert nach: Zimmermann, O./Schulz, G. (Hg.): Positionen und Diskussionen zur Kulturpolitik:
Nachdruck »Deutscher Kulturrat – aktuell«; 1997–1999, Bonn; Berlin 2000, S. 141

1. — Einleitung
die die Zivilgesellschaft stärken sollte und Kultur aus dem Elfenbeinturm holte.
Der Titel eines von Hilmar Hoffmann verfassten Buches »Kultur für alle« 1 (1979)
steht für diese Impulse und trägt bis heute, wenn es darum geht zu beschreiben,
wie möglichst viele Menschen mit Kunst, Kultur und kultureller Bildung in Kon-
takt gebracht werden können. Es handelt sich um eine Kulturpolitik, die vor al-
lem von den Kommunen aus gedacht wurde und die Gestaltung der Kulturpoli-
tik vor Ort in den Mittelpunkt stellte. Es ging um eine Kulturentwicklung im Dis-
kurs mit der Bürgerschaft, um die Umnutzung von damals durch die Wirtschafts-
krise im Westen Deutschlands in großer Anzahl entstandenen Industriebrachen
zu Kulturorten, um neue Formen der Kulturvermittlung und um ein verändertes
Verständnis von Kultureinrichtungen.
Die »neue Kulturpolitik« steht im Kontext weltweiter Debatten um die Rol-
le von Kunst und Kultur in der Gesellschaft. Zu nennen ist etwa die Internatio-
nale Konferenz über Kulturpolitik in Europa in Helsinki im Jahr 1972, die Erklä-
rung des Deutschen Städtetags »Bildung und Kultur als Element der Stadtent-
wicklung« aus dem Jahr 1973, die Prinzipien der Konferenz der Europäischen Kul-
turminister aus dem Jahr 1976, die Erklärung von Mexiko über Kulturpolitik aus
dem Jahr 1982, die Vereinbarung der KSZE-Teilnehmerstaaten in Krakau im Jahr
1991 und weitere Erklärungen und Dokumente.2
Und sie steht im Zusammenhang mit einem politischen Verständnis im
Kunstbetrieb. Künstlerinnen und Künstler mischten sich ein. Verstanden ihr
Werk explizit als politisch. Wollten mit ihrer Kunst politisch wirken. Die Rede
von Heinrich Böll Mitte 1969 zum »Ende der Bescheidenheit« bei der Gründungs-
versammlung des Verbands deutscher Schriftsteller (VS) in Köln gehört zu den
wichtigen Dokumenten dieser Zeit, in denen das Selbstverständnis von Künst-
lern zum Ausdruck kommt.
Und der Bund? Selbstverständlich gab es auch vor der Etablierung der Be-
hörde Der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (im Fol-
genden BKM) eine Bundeskulturpolitik. Für die Bundeskulturförderung war vor-
nehmlich das Bundesministerium des Innern (im Folgenden BMI) mit seiner Ab-
teilung K, wie Kultur, zuständig. Hier war u. a. die Förderung von Kultureinrich-
tungen und -institutionen mit gesamtstaatlicher Bedeutung verortet. Aber auch
andere Bundesministerien trugen kulturpolitische Verantwortung oder förder-
ten Kunst, Kultur oder kulturelle Bildung.

1 Hoffmann, H.: Kultur für alle. Frankfurt a. M. 1979


2 Eine Zusammenstellung ausgewählter Dokumente zu 20 Jahren Neue Kulturpolitik hat
Thomas Röbke vorgelegt. Röbke, T. (Hg.): 20 Jahre Neue Kulturpolitik. Erklärungen und
Dokumente 1972–1992, Hagen 1993

Wachgeküsst
Zu denken ist etwa an:
—— d as Bundesbildungsministerium mit seinen Programmen und Förder-
­vorhaben zur kulturellen Bildung, hier wurde beispielweise mit der
»Konzeption Kulturelle Bildung« des Deutschen Kulturrates 1 ein grund­
legendes Projekt gefördert, in dem die außerschulische kulturelle Bil-
dungslandschaft von der frühkindlichen Bildung bis hin zur Kulturarbeit
der ­Gewerkschaften oder der Kirchen vermessen wurde,
—— das Bundesfamilienministerium mit seiner Zuständigkeit für die kulturelle
Kinder- und Jugendbildung entlang des Kinder- und Jugendplans oder auch 016
für die Förderung von Frauen im Kultur- und Medienbetrieb,
—— das Bundesjustizministerium, das u. a. für das Urheber- und Verlagsrecht 017
­zuständig war und weiterhin ist,
—— das Bundesarbeitsministerium, in dessen Zuständigkeit beispielsweise
die Künstlersozialversicherung lag und nach wie vor liegt,
—— das Auswärtige Amt mit seiner Verantwortung für die Auswärtige Kultur-
und Bildungspolitik.

Zu nennen ist ebenso ein Ministerium wie das Bundesministerium für inner-
deutsche Beziehungen, das seit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten
der Vergangenheit angehört, aber zur Zeit der Teilung wichtige Kulturförder-
aufgaben übernahm.
Und nicht zu vergessen, das Bundeskanzleramt. Ehemalige Mitarbeiter des
Bundeskanzleramts bedauern in persönlichen Gesprächen, dass insbesondere
das kulturpolitische Vermächtnis Helmut Kohls, das über den Bau von Kultur-
einrichtungen wie den Bau des Hauses der Geschichte oder der Bundeskunsthal-
le hinausgeht, zu wenig gewürdigt wird.2
War die Etablierung des BKM also »alter Wein in neuen Schläuchen«? War
es eine konsequente Fortführung einer selbstbewussteren Bundeskulturpolitik
nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten 1990? War es der instituti-
onelle Umbruch von der Bonner in die Berliner Republik? Oder war es ein Teil
eines überfälligen Modernisierungsprozesses oder einer Reformagenda, mit der
die SPD und Bündnis 90/Die Grünen im Jahr 1998 um Wählerstimmen warben
und die Bundestagswahl gewannen? War es der Beginn einer neuen »Neuen Kul-
turpolitik«, wie ich es in einem Aufsatz Ende der 1990er Jahre geschrieben habe?

1 Deutscher Kulturrat (Hg.): Konzeption Kulturelle Bildung. Bonn 1987 sowie


Deutscher Kulturrat (Hg.): Konzeption Kulturelle Bildung. 2 Bände. Essen 1994
2 Einen Überblick hierzu bietet der Aufsatz: Pfeifer, A.: Die Kulturpolitik der Bundesregierung unter
Helmut Kohl im Zeichen der deutschen und europäischen Einigung. In: Historisch-politische Mitteilungen
12/2005. S. 241–259 sowie Lammert, N.: Die Kulturpolitik nach 1982. In: Historisch-politische Mit-
teilungen 12/2005. S. 235–239 oder auch Schneider, O.: Kulturpolitische Schwerpunkte der 80er Jahre.
In: Historisch-politische Mitteilungen 12/2005. S. 261–272. Knapp fasst Bergsdorf die Kulturpolitik
der Ära Kohl zusammen in: Bergsdorf, W.: Nachhaltigkeit. Zur Kulturpolitik von Helmut Kohl.
In: Die Politische Meinung 1/2013, S. 81–84

1. — Einleitung
Eines ist klar, im BKM wurde nicht bei »Null« angefangen. Im Folgenden wer-
den die Entwicklung der Bundeskulturpolitik und anlässlich des 20. Geburtsta-
ges des BKM insbesondere die Rolle des BKM in der Kulturpolitik der letzten 20
Jahre nachgezeichnet. Dabei wird nicht der Anspruch auf Vollständigkeit erho-
ben, sondern auf einzelne besonders prägnante Ereignisse oder Entwicklungen
abgestellt. Auf die Zeit vor der Gründung des BKM wird eingangs kursorisch ein-
gegangen. Dabei wird die alte Bundesrepublik in den Mittelpunkt gerückt und
die Kulturpolitik der DDR außer Acht gelassen. Dies vor allem deshalb, weil 1990
die neu gegründeten Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen,
Sachsen-Anhalt und Thüringen der Bundesrepublik beigetreten sind, was zur
Folge hatte, dass in den neuen Ländern die gleichen kulturpolitischen Spielre-
geln galten wie in den alten, also den neu gegründeten Ländern die Verantwor-
tung für ihre Kulturpolitik in der föderalen Bundesrepublik zugewiesen wurde.
Dort wo die »Neuen Länder« diese Aufgabe nicht leisten konnten, wurde mit der
Übergangsfinanzierung des Bundes zur Sicherung der kulturellen Infrastruktur
in den neuen Ländern reagiert.

Die Schatten der Vergangenheit

Wenn von deutscher Kulturpolitik die Rede ist, wird zumeist in gleichem Atem-
zug die Bedeutung der Länder genannt. Deutschland ist als Nationalstaat im
Vergleich zu anderen westeuropäischen Ländern eine verspätete Nation. Vie-
le deutsche Staaten wetteiferten noch im 19. Jahrhundert um die Vorrangstel-
lung untereinander und die Kultur war auch für die kleineren unter ihnen eine
der Möglichkeiten Größe zu zeigen. Auch nach der Reichsgründung 1871 hat-
ten die kulturellen Unterschiede im Deutschen Reich eine wichtige Bedeutung.1
In Deutschland besteht eine bemerkenswerte Dichte an Kultureinrichtungen
auch im ländlichen Raum. Ein überragendes kulturelles Zentrum gab und gibt es
nicht. Auch wenn Berlin während der Weimarer Republik und nach der deutschen
Wiedervereinigung eine herausgehobene Rolle spielt. Dennoch ist die kulturel-
le Bedeutung Berlins als Hauptstadt eines föderalen Staates beispielsweise nicht
mit der von Paris als Hauptstadt eines gewachsenen Zentralstaats zu vergleichen.
Die Bedingungen für die Bundeskulturpolitik nach 1949 sind also im Kontext eines
starken Föderalismus zu sehen, dessen Wurzeln lange zurückreichen.
In der Weimarer Verfassung vom 11. August 1919 2 wird dem Reich die Gesetz-
gebung für das Presse-, Vereins- und Versammlungswesen (Art. 7 Abs. 6) sowie
das Theater- und Lichtspielwesen (Art. 7 Abs. 20) zugewiesen. Weiter kann das
Reich gemäß Art. 10 Abs. 2 u. a. Grundsätze für das wissenschaftliche Bibliotheks-
wesen bestimmen. Art. 118 sichert zu, dass keine Zensur stattfindet. Es können
allerdings gesonderte Bestimmungen für das Lichtspielwesen getroffen werden

1 Zu denken ist in diesem Zusammenhang u. a. an den Kulturkampf im Kaiserreich.


2 Jura Universität Würzburg, Verfassungstexte ⟶ https://bit.ly/2NhV4b9

Wachgeküsst
sowie Maßnahmen zur Bekämpfung von Schund- und Schmutzliteratur sowie
zum Jugendschutz bei öffentlichen Schaustellungen. In Art. 142 wird zum einen
die Kunst- und Wissenschaftsfreiheit gesichert und zum anderen die Kulturpfle-
ge verankert. Es heißt »Die Kunst, die Wissenschaft und ihre Lehre sind frei. Der
Staat gewährt ihnen Schutz und nimmt an ihrer Pflege teil.« und weiter wird in
Art. 150 der Weimarer Verfassung ausgeführt »Die Denkmäler der Kunst, der Ge-
schichte und der Natur sowie die Landschaft genießen den Schutz und die Pfle-
ge des Staates. Es ist Sache des Reiches, die Abwanderung deutschen Kunstbesit-
zes in das Ausland zu verhüten.« In Art. 158 schließlich wird das Recht der Urhe- 018
ber, Künstler und Erfinder auf den Schutz und die Fürsorge des Reiches verankert.
Das Grundgesetz des Bundesrepublik Deutschland von 1949 knüpft an ver- 019
schiedene Artikel der Weimarer Verfassung an. In einigen Punkten wurde aller-
dings die Zuständigkeit stärker den Ländern zugewiesen. Es war also nicht allein
die gewachsene Kulturverantwortung der Länder, die einer selbstbewussten Bun-
deskulturpolitik in der jungen Bundesrepublik im Wege stand. Vielmehr war es
nach dem schmerzhaften Ende der Weimarer Republik, die NS-Kulturpolitik mit
ihrer erfolgreichen Indienstnahme von Kunst und Kultur für Propaganda, mit der
Verfolgung missliebiger, besonders jüdischer Künstler, mit der Abschaffung von
Kunst- und Pressefreiheit und anderem mehr ein Hindernis für eine starke Bun-
deskulturpolitik. Zu sehr hatten sich viele Künstler und andere Kulturverantwort-
liche in den Dienst nehmen lassen. Zu sehr hatten sie sich angepasst und sich
einer der sieben Kammern der Reichskulturkammer (Reichsschrifttumskammer,
Reichsfilmkammer, Reichsmusikkammer, Reichstheaterkammer, Reichspresse-
kammer, Reichsrundfunkkammer, Reichskammer der bildenden Künste) ange-
schlossen, um weiterhin publizieren, auftreten, ausstellen usw. zu können. Zu sehr
hatten sie sich beteiligt an den Raubzügen von Kunst in den von der Wehrmacht
besetzten Ländern. Zu sehr hatten sie profitiert von der Arisierung auch im Kul-
turbereich und die Not jüdischer Kollegen schamlos ausgenutzt.
Die Reichskulturkammer diente der Gleichschaltung im Kulturbereich. Dar-
aus folgte, dass Zusammenschlüsse, wie z. B. der Deutsche Bühnenverein, aufge-
löst wurden oder in der Reichskulturkammer aufgingen. Die Reichskulturkammer
war zugleich zuständig für die sozialen und wirtschaftlichen Belange ihrer Mit-
glieder. Wie sich dies auswirkte, zeigt z. B. Albrecht Dümling in der Festschrift
zum 100-jährigen Bestehen der GEMA. Er schont die Jubilarin nicht, sondern ar-
beitet die Gleichstellung der Vorläufergesellschaften der GEMA den Übergang der
STAGMA 1 zur GEMA, der auch auf personeller Kontinuität beruhte, auf.2

1 Die STAGMA war die »Staatlich genehmigte Gesellschaft zur Verwertung musikalischer Urheberrechte«.
In ihr wurden zuvor konkurrierende Verwertungsgesellschaften aus dem musikalischen Bereich zu-
sammengefasst. Sie unterstand dem Reichspropagandaministerium und übernahm dessen judenfeind-
liche Politik. Kreile, R. (Hg.)/Dümling, A.: Musik hat ihren Wert: 100 Jahre musikalische Verwertungs­
gesellschaft in Deutschland. Regensburg 2003
2 Eine umfassende Aufarbeitung der Rolle von Kulturverbänden in der NS-Kulturarbeit ist noch ein Desidarat
der historischen Kulturpolitikforschung.

1. — Einleitung
Die ideologische Vereinnahmung des Kulturbereichs und die teils willfährige
Eingliederung von Kulturorganisationen in NS-Organisationen führten nach
1949 in Westdeutschland zu starken Vorbehalten gegenüber zentralen Struktu-
ren im Kulturbereich. Die späte Gründung des Deutschen Kulturrates als Dach-
verband der Bundeskulturverbände im Jahr 1981 ist auch ein Ergebnis der Vor-
behalte aus dem Kulturbereich selbst gegenüber Strukturen auf Bundesebene.1
Wenn jemand gegen eine Stärkung der Bundeskulturpolitik etwas einwenden
oder gar polemisieren wollte, musste er nur den Begriff »Reichskulturkammer«
fallen lassen und er konnte sich vieler Mitstreiter sicher sein.
Auf die Wirkungen der NS-Kulturpolitik bezieht sich auch die Kultusminis-
terkonferenz in ihrer Entschließung zu »Kulturhoheit – Bund und Länder« vom
30. Oktober 1948. Dort ist zu lesen:

1. »Die Ständige Konferenz der Kultusminister stellt fest, daß das Bonner Grund-
gesetz die Kulturhoheit der Länder innerhalb der Bundesrepublik Deutschland
staatsrechtlich anerkennt.
2. Die Ständige Konferenz der Kultusminister ist davon überzeugt, daß die totali-
täre und zentralistische Kulturpolitik der jüngsten Vergangenheit die verhäng-
nisvolle Verwirrung und Knechtung des Geistes und die Anfälligkeit vieler Deut-
scher gegenüber dem Ungeist mitverschuldet hat. Sie sieht deshalb in der Ver-
pflichtung und Gebundenheit an die landsmannschaftliche und geschichtlich
gewordene Eigenständigkeit sowie an die Mannigfaltigkeit der sozialen Gege-
benheiten die Gewähr für die innere Gesundung des deutschen Volkes und für
das organische Wachstum einer von ihm selbst getragenen Kultur. Diesem Ziel
sollen staatliche Organe und behördliche Einrichtungen in gemeinsamer Ver-
antwortung mit freischaffenden Kulturkräften und Gemeinschaften dienen.
3. Aus dieser Erkenntnis und Verantwortung haben die Kultusminister der deut-
schen Länder seit der Neugliederung Deutschlands in vierjähriger Arbeit zu-
sammengewirkt, um die geistige Einheit Deutschlands in innerer Freiheit von
den Ländern her neu zu schaffen. Schule und Erziehung, Wissenschaft und For-
schung, Kunstpflege und Volksbildung sind trotz innerer und äußerer Hemmnis-
se aufgebaut und gefördert worden.
5. Die Ständige Konferenz der Kultusminister ist daher aus staatspolitischen und
kulturgeschichtlichen Gründen das einzig zuständige und verantwortliche Or-
gan für die Kulturpolitik der Länder, soweit es sich um Angelegenheiten handelt,
die mehrere oder alle Länder betreffen und von überragender Bedeutung sind.

1 Vergleichbare Dachverbände wie der Deutsche Sportbund, der Vorläufer des Deutschen Olympischen
Sportbunds, und der Deutsche Naturschutzring wurden im Jahr 1950 gegründet.

Wachgeküsst
6. Die Ständige Konferenz der Kultusminister wird darauf hinwirken, daß die Kul-
turhoheit der Länder bei allen Maßnahmen der Bundesorgane und der Bundes-
behörden gewahrt bleibt, und darüber wachen, daß ihre kulturpolitische Arbeit
keine Einschränkung erfährt.« 1

Dieses Dokument spiegelt das Selbstbewusstsein der Länder in kulturpolitischen


Fragen wider. Es wird darauf rekurriert, dass die Anfänge der Ständigen Konferenz
der Kultusminister (im Folgenden KMK) auf eine Zeit vor der Gründung der Bun-
desrepublik Deutschland zurückgehen. Damit wird an ein Bild von Deutschland 020
als einer im Kulturellen geeinten Nation erinnert, das in die Zeit vor der Reichs-
gründung 1871 zurückreicht. Dieser historische Verweis wird noch verstärkt durch 021
die Aussage, dass die zentralistische und totalitäre Kulturpolitik eine Mitschuld
daran trage, dass die Deutschen schuldig wurden. Eine Aussage, die es sich lohnt,
länger wirken zu lassen. Gerade auch weil im Kulturbereich vielerorten und bis
heute keine ausreichende Auseinandersetzung mit der NS-Kulturpolitik statt-
fand. Dies zeigt sich u. a. auch im Umgang mit NS-verfolgungsbedingt entzoge-
nem Kulturgut oder auch einer kritischen Auseinandersetzung mit den Leitun-
gen während der NS-Zeit sowohl von Kultureinrichtungen als auch Kulturverbän-
den, die teilweise noch aussteht.
Aber nicht nur in der Kultur-, sondern auch in der Medienpolitik sollten die
Länder in der neu gegründeten Bundesrepublik das Sagen bekommen. Die Alli-
ierten, insbesondere die Briten, setzten auf einen staatsfernen Rundfunk. In der
NS-Zeit war der Rundfunk zu propagandistischen Zwecken missbraucht worden.
Dem sollte nach dem Willen der Briten durch einen staatsfern organisierten und
von der Öffentlichkeit kontrollierten öffentlich-rechtlichen Rundfunk entgegen-
getreten werden.2 Als Beispiel diente die British Broadcasting Corporation (BBC).
Der Rundfunk sollte zur Demokratisierung und der Herausbildung einer kriti-
schen Öffentlichkeit beitragen. Der erste öffentlich-rechtliche Sender war der
Nordwestdeutsche Rundfunk (NWDR) 3, dessen Sendegebiet die g ­ esamte briti-
sche Besatzungszone abdeckte. Im Jahr 1950 gründete sich die ARD als Zusam-
menschluss der öffentlich-rechtlichen Sender Bayerischer Rundfunk (BR), Hes-
sischer Rundfunk (HR), Radio Bremen (RB), Süddeutscher Rundfunk (SDR), Süd-
westfunk (SWF) und Nordwestdeutscher Rundfunk (NWDR).4

1 Zitiert nach: Deutscher Kulturrat (Hg.): Nach 40 Jahren – ein bißchen weise? Protokoll des kultur-
politischen Kongresses des Deutschen Kulturrates im Oktober 1989 mit einer Auswahldokumentation
40 Jahre Kulturpolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Bonn 1991, S. 155
2 Einen kurzen Überblick zu den Intentionen der Briten liefert Hans-Ulrich Wagner im ersten Dossier
des Deutschen Kulturrates zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Wagner, H.-U.: Eine »harte Nuss« als
Geschenk. Das Ringen um den neuen »öffentlich-rechtlichen« Rundfunk. In: Dossier Öffentlich-
rechtlicher Rundfunk. Beilage zu Politik & Kultur 5/2008
3 Aus dem NWDR gingen NDR mit den Sendegebieten Hamburg, Niedersachsen, Schleswig-Holstein
und nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten auch Mecklenburg-Vorpommern sowie
der WDR mit dem Sendegebiet Nordrhein-Westfalen hervor.
4 Im Jahr 1998 fusionierten SDR und SWF zum Südwestdeutschen Rundfunk (SWR).

1. — Einleitung
Im sogenannten 1. Rundfunkurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Fe-
bruar 1961 wurde die Zuständigkeit der Länder für die Rundfunkpolitik bestä-
tigt. Vorausgegangen waren dem Urteil der Versuch der CDU-geführten Bun-
desregierung neben den bestehenden Landesrundfunkanstalten einen zweiten
Bundessender als Fernsehsender 1 zu etablieren. Gegen dieses Vorhaben legten
die SPD-geführten Länder Hamburg und Hessen Verfassungsbeschwerde ein, der
stattgegeben wurde. Das Bundesverfassungsgericht kam zu dem Schluss, dass der
Bund mit der Gründung der Deutschland-Fernsehen GmbH gegen die grundge-
setzlich festgelegten Kompetenzen zwischen Bund und Ländern verstößt. Wei-
ter wird in dem Urteil auf die staatsferne Organisation des öffentlich-rechtli-
chen Rundfunks Bezug genommen. Das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) wur-
de schließlich per Staatsvertrag der Länder, ohne Einbeziehung des Bundes, ge-
gründet und nahm am 1. April 1963 seinen Sendebetrieb auf.
Das 1. Rundfunkurteil war auch für weitere Rechtsprechung in Fragen der
Zuständigkeitsverteilung zwischen Ländern und Bund stilbildend. Zugleich muss
gesehen werden, dass dieses Urteil vor dem Hintergrund der Frequenzknappheit
und hoher Kosten für die Rundfunkverbreitung gefällt wurde. Zumindest die
Frage der Frequenzknappheit gehört heute angesichts der Vervielfältigung von
Verbreitungswegen und der digitalen Zukunft der Vergangenheit an. Nichtsdes-
totrotz ist die Frage der Zuständigkeit von Bund und Ländern in rundfunk- bzw.
medienpolitischen Fragen angesichts der Konvergenz der Medien von hoher Ak-
tualität und Brisanz.
Im Grundgesetz 2 wird in Art. 5 die Meinungs- und Pressefreiheit sowie die
Kunst- und Wissenschaftsfreiheit garantiert. Anders als in der Weimarer Ver-
fassung fehlt das explizite Bekenntnis, dass der Staat Kunst und Wissenschaft
schützt und pflegt – also das sogenannte Staatsziel Kultur. Die Verankerung ei-
nes Staatsziels Kultur im Grundgesetz war seither mehrfach Gegenstand kultur-
politischer Debatten und Überlegungen. Zuletzt fand eine eingehende Befassung
mit dem Staatsziel Kultur im Rahmen der Enquête-Kommission des Deutschen
Bundestags »Kultur in Deutschland« statt. In ihrem Zwischenbericht (Bundes-
tagsdrucksache 15/5560) 3 zeichnet die Enquête-Kommission die verfassungs-
rechtliche Debatte um das Staatsziel Kultur von der Sachverständigenkommissi-
on »Staatszielbestimmungen/Gesetzgebungsaufträge« über die Debatten in Fol-
ge des Einigungsvertrags bis hin zu den von der Enquête-Kommission selbst in
Auftrag gegebenen Sachverständigengutachten nach. Ebenso werden die in den
Landesverfassungen getroffenen Bestimmungen zum Staatsziel Kultur wie auch

1 Die Vorbereitungen für einen solchen Sender erfolgten im Jahr 1958 mit der Gründung der Freies Fern-
sehen GmbH. Sie sollte die Inhalte für einen bundesweiten Fernsehsender liefern. An der Freies Fernsehen
GmbH war der Bund beteiligt. Im Jahr 1960 erfolgte die Gründung der Deutschland Fernsehen-GmbH.
Sie sollte den Ländern die Gelegenheit geben, sich zu beteiligen. Abstimmungen zur Deutschland-Fern­-
sehen-GmbH fanden zuerst zwischen dem Bund und unionsgeführten Ländern statt.
2 ⟶ https://bit.ly/2Dsb6Le
3 ⟶ https://bit.ly/2xyRHCS

Wachgeküsst
die Staatszielbestimmungen ausgewählter EU-Mitgliedsstaaten dargestellt. In
der von mir herausgegebenen Zeitung Politik & Kultur wurde eingehend das Für
und Wider des Staatsziels Kultur im Grundgesetz debattiert. In dem Buch »Wer-
tedebatte: Von Leitkultur bis kulturelle Integration«1 sind ausgewählte Artikel zu
diesem Thema zusammengeführt.
Die Mitglieder der Enquête-Kommission, zu denen auch ich zählte, hatten
sich in ihrem Zwischenbericht einstimmig für die Ergänzung des Grundgesetzes
um einen Art. 20b GG mit dem Wortlaut »Der Staat schützt und fördert die Kul-
tur.« ausgesprochen. Der genannte Zwischenbericht wurde zusammen mit dem 022
Schlussbericht der Enquête-Kommission (Bundestagsdrucksache 16/7000) 2 im
Plenum des Deutschen Bundestags am 13. Dezember 2007 debattiert (Plenarpro- 023
tokoll 16/133) 3. In dieser Debatte wurde noch einmal ausdrücklich für das Staats-
ziel Kultur im Grundgesetz plädiert.
Der Deutsche Kulturrat hat sich als Spitzenverband der Bundeskulturver-
bände wiederholt für das Staatsziel im Grundgesetz ausgesprochen und die im
Deutschen Bundestag vertretenen Parteien aufgefordert, dem einstimmigen Vo-
tum der Enquête-Kommission des Deutschen Bundestags »Kultur in Deutsch-
land« zu entsprechen und Art. 20 GG um einen Abschnitt b mit dem Wortlaut
»Der Staat schützt und fördert die Kultur« zu ergänzen.4
Hinsichtlich der Gesetzgebung des Bundes auf dem Gebiet der Kultur sind
sowohl die Zuständigkeit des Bundes für die Presse als auch für Theater- und
Lichtspielwesen aus der Weimarer Verfassung nicht in das Grundgesetz über-
nommen worden. Hier wurden Lehren aus der NS-Zeit gezogen.
Die ausschließliche Zuständigkeit hat der Bund in kulturpolitischen Fragen
im Bereich der Telekommunikation 5, im gewerblichen Rechtsschutz, dem Urhe-
berrecht und dem Verlagsrecht sowie seit den Grundgesetzänderungen in Folge
der Föderalismuskommission aus dem Jahr 2006 für den Schutz deutschen Kul-
turguts gegen Abwanderung ins Ausland (Art. 73 GG). In Art. 22 Abs. 1 ist festge-
legt, dass die Repräsentation in der Hauptstadt Aufgabe des Bundes ist. Ebenso
zählt die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik zu den Bundesaufgaben, denn
in Art. 32 Abs. 1 ist festgelegt, dass die Pflege der Beziehungen zu auswärtigen

1 Zimmermann, O./Geißler, T. (Hg.): Wertedebatte: Von Leitkultur bis kulturelle Integration. Berlin 2018
2 ⟶ https://bit.ly/2IcjVHM
3 ⟶ https://bit.ly/2zpNRNG
4 Erstmals wurde diese Forderung am 09.04.2008 in der Stellungnahme »Kultur-Enquête: Staatsver-
ständnis, Staatsziel Kultur und öffentliche Kulturfinanzierung. Stellungnahme des Deutschen
Kulturrates zu den übergreifenden Fragestellungen im Schlussbericht der Enquête-Kommission
»Kultur in Deutschland« erhoben ⟶ https://bit.ly/2xdjKry
danach u. a. »Halbzeit der Legislaturperiode: Was steht an? Sechs kulturpolitische Forderungen des
Deutschen Kulturrates an den Deutschen Bundestag und die Bundesregierung für die zweite Hälfte
der Wahlperiode« ⟶ https://bit.ly/2QxPsaN
sowie zuletzt: »Deutscher Kulturrat: Forderungen zur Bundestagswahl 2017. Kulturpolitik für die
19. Legislaturperiode (2017–2021)« ⟶ https://bit.ly/2t3O6wi
5 Angesichts der Konvergenz der Medien reicht das Telekommunikationsrecht in das Medienrecht
hinein, sodass sich hieraus Verschränkungen beider Rechtsgebiete ergeben.

1. — Einleitung
Staaten Sache des Bundes ist. Die konkurrierende Gesetzgebung 1 erstreckt sich
u. a. auf das Arbeitsrecht und die Sozialversicherung einschließlich der Arbeits-
losenversicherung (Art. 74 GG). Insofern hatte und hat der Bund unbestritten
kulturpolitische Kompetenzen, was die Gestaltung der Rahmenbedingungen für
Kunst und Kultur betrifft.

Herausforderung Deutsche Einheit

Vom 3. bis 5. Oktober 1989 veranstaltete der Deutsche Kulturrat den Kongress
»Nach 40 Jahren – ein bißchen weise? Kulturpolitischer Kongreß des Deut-
schen Kulturrates« – selbstverständlich in Bonn. Dieser Kongress war ein Teil
der 40-Jahre-Feier der Bundesrepublik Deutschland und Bundesinnenminister
Wolfgang Schäuble unterstrich in seiner Eingangsansprache »Dem Deutschen
Kulturrat bin ich dankbar, daß er die Idee eines solchen Kongresses aufgegrif-
fen und in eigener Verantwortung realisiert hat. Kultur kann und darf in einer
freiheitlichen Demokratie keine staatliche Veranstaltung sein. Es ist daher kon-
sequent, wenn dieser Kongreß nicht von der öffentlichen Hand, sondern unab-
hängig von ihr veranstaltet wird.«2 Und weiter: »Erinnern wir vor allem daran,
daß wir 1945 praktisch wieder bei Null anfangen mußten. Die kulturelle Vielfalt
der Weimarer Republik war dahin, ihre Träger verfolgt, verfemt, ermordet. Ver-
gleichsweise wenige kehrten aus der inneren und äußeren Emigration zurück.
Die kulturelle Infrastruktur war in hohem Maße zerstört, auch die organisato-
rischen Gefüge waren weitgehend zerrissen. Es waren Jahre des Wiederaufbaus
erforderlich, um wieder Boden unter den Füßen zu gewinnen.
Bei alledem wurde die Haltung des Staates gegenüber der Kultur über lan-
ge Zeit durch besondere Zurückhaltung geprägt. Der Mißbrauch von Kunst und
Kultur durch das NS-Regime ließen es als selbstverständlich erscheinen, die Un-
abhängigkeit und die Freiheit vom Staat zu betonen. In Art. 5 Abs. 3 Grundge-
setz fand dieses Freiheitsrecht der Kunst sichtbar und verfassungskräftig abge-
sichert Ausdruck.
Erst allmählich, im Grunde nach der Phase des Wiederaufbaus trat dane-
ben eine neue Erkenntnis. Daß Unabhängigkeit und Freiheit von Kunst und Kul-
tur auch durch den Staat, nämlich durch die Schaffung angemessener Rahmen-
bedingungen, durch finanzielle Förderung, möglich, ja notwendig ist. Ein Mei-
lenstein war hier die Ihnen sicherlich bekannte Entscheidung des Bundesver-
fassungsgerichts zur Verfassungsnorm des Art. 5 Abs. 3 vom 5. März 1974, wo
es heißt: ›Als objektive Wertentscheidung für die Freiheit der Kunst stellt sie

1 Von konkurrierender Gesetzgebung wird gesprochen, wenn die Länder die Gesetzgebungsbefugnis
haben, solange und soweit der Bund von seiner Gesetzgebungskompetenz nicht durch Gesetz
Gebrauch macht. Auf bestimmten Gebieten, wie z. B. der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse,
hat der Bund das Gesetzgebungsrecht. ⟶ www.bundestag.de
2 Schäuble, W.: Mehr Raum für Kultur. In: Deutscher Kulturrat (Hg.): Nach 40 Jahren – ein bißchen weise?
a. a. O., S. 23

Wachgeküsst
dem modernen Staat, der sich im Sinne einer Staatszielbestimmung auch als
Kulturstaat versteht, zugleich die Aufgabe, ein freiheitliches Kunstleben zu er-
halten und zu fördern.‹ In diesen Zusammenhang gehören z. B. der Künstlerbe-
richt der Bundesregierung vom Januar 1975, die Anhörung der Künstlerverbän-
de und der hieran anschließende Maßnahmenkatalog zur Verbesserung der be-
ruflichen und sozialen Lage der Künstler und Publizisten vom Juni 1976, der auf
breite Zustimmung stieß.«1
Dieses Zitat bringt das Kulturstaatsverständnis der alten Bundesrepublik
und das kulturpolitische Handeln der damaligen CDU-geführten Bundesregie- 024
rung auf den Punkt. Es fasst noch einmal zusammen, dass nach der Indienst-
nahme von Kultur während des NS-Regimes Kultur staatsfern sein muss. Der 025
Staat hat gleichwohl die Aufgabe, Rahmenbedingungen für Kunst und Kultur zu
schaffen. Schäuble nannte daher als wichtige anstehende kulturpolitische Auf-
gaben ein verbessertes Stiftungssteuerrecht sowie weitere Maßnahmen für ein
kulturfreundliches Steuerrecht. Mit Blick auf Europa sagte Schäuble: »Es wird
vielmehr darauf ankommen, bei allen künftigen Schritten im Auge zu behalten,
daß Kulturgüter ihre Besonderheiten haben und nicht automatisch mit Wirt-
schaftsgütern gleichzusetzen sind. Hier hat sich auch bereits, wenn ich das rich-
tig sehe, sowohl bei den Mitgliedsstaaten wie bei der Kommission in Brüssel ein
Problembewußtsein entwickelt. Keiner will offenbar über den gemeinsamen Bin-
nenmarkt die kulturelle Vielfalt in Europa, die kulturelle Identität der Mitglieds-
staaten hinwegharmonisieren.«2 Kluge nach vorne weisende Worte, die an Aktu-
alität nichts eingebüßt haben.
Mit Blick auf die Repräsentanz der Bundesrepublik bei internationalen Kul-
turkonferenzen führte Hanna-Renate Laurin, seinerzeit bereits Berliner Kultur-
senatorin a. D. beim genannten Kongress aus: »Auch bei den Weltkulturkonfe-
renzen gibt es immer eine abenteuerliche Frage um die Zuständigkeiten. Als
Frau Hamm-Brücher den Bund und ich die Länder vertrat, haben die beiden Da-
men das kooperativ und nicht konkurrenzmäßig gelöst, womit wir gezeigt ha-
ben, daß es geht. Jeder steht bei der Zuständigkeit auf, die er hat und nicht im-
mer bei der des anderen.«3
Die Zuständigkeiten waren also klar verteilt. Der Bund gestaltet die Rah-
menbedingungen, fördert bei gesamtstaatlicher Bedeutung, die Länder haben
ihre Kulturhoheit und auf internationalem Parkett tritt man am liebsten im Dop-
pelpack auf. Wohl niemand hat Anfang Oktober 1989 daran gedacht, dass fast auf
den Tag genau ein Jahr später fünf neu gegründete Länder der Bundesrepublik
Deutschland beitreten. Sowohl die DDR als auch die alte Bundesrepublik wollten
mit ihren 40-Jahr-Feiern doch vor allem den Erfolg dokumentieren und belegen,
dass sie jeweils das »bessere« Deutschland sind. Zwar wurde vonseiten der Bun-

1 E bd. S. 23 f.; Hervorhebungen im Original


2 Ebd. S. 28
3 Laurin, H.-R.: Statement. In: Deutscher Kulturrat (Hg.): Nach 40 Jahren – ein bißchen weise? a. a. O., S. 44

1. — Einleitung
desrepublik immer noch die Fahne der angestrebten Wiedervereinigung hoch-
gehalten, doch Jahrzehnte Westbindung und das Bekenntnis zu einem einigen
Europa, für das insbesondere der amtierende Bundeskanzler Helmut Kohl stand,
ließen die Wiedervereinigung gefühlt in weite Ferne rücken.
Und dann, erst die Rufe »Die Mauer muss weg« und schließlich über »Wir
sind das Volk« zu »Wir sind ein Volk«. Innerhalb kürzester Zeit fanden alte Ge-
wissheiten, alte Zuständigkeiten, alte Strukturen ein Ende.
In der Kulturpolitik trafen über 40 Jahre gewachsene Strukturen aufeinan-
der, die nicht kompatibel waren. Das hatte vor allem für die Künstlerinnen und
Künstler, die Kultureinrichtungen und die Kulturverantwortlichen in Ostdeutsch-
land Auswirkungen. Für manche, wie z. B. die Schriftstellerin Regine Möbius, lös-
te sich ein Stau.1 Andere wie der bildende Künstler Johannes Heisig mussten fest-
stellen, dass ihre Werke, in dem Moment, in dem sie keine »Ostkünstler« mehr
waren, auf weniger Interesse stießen.2 Jahre später stellten andere wie z. B. der
Geschäftsführer des Progress-Filmverleihs, Jürgen Haase, fest, dass es um das kul-
turelle Erbe der DDR geht.3 Wieder andere wie Christoph Links setzen sich mit
dem Schicksal der DDR-Verlage auseinander und zeigen die Schwierigkeiten, sich
am Markt zu platzieren, auf.4
Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble gehörte zu den Verhandlern des
Einigungsvertrags, der in Art. 35 gesonderte Bestimmungen zu Kultur enthält.
Es steht dort:

1. »In den Jahren der Teilung waren Kunst und Kultur – trotz unterschiedlicher
Entwicklung der beiden Staaten in Deutschland – eine Grundlage der fortbe-
stehenden Einheit der deutschen Nation. Sie leisten im Prozeß der staatlichen
Einheit der Deutschen auf dem Weg zur europäischen Einigung einen eigen-
ständigen und unverzichtbaren Beitrag. Stellung und Ansehen eines vereinten
Deutschlands in der Welt hängen außer von seinem politischen Gewicht und sei-
ner wirtschaftlichen Leistungskraft ebenso von seiner Bedeutung als Kulturstaat
ab. Vorrangiges Ziel der Auswärtigen Kulturpolitik ist der Kulturaustausch auf
der Grundlage partnerschaftlicher Zusammenarbeit.
2. Die kulturelle Substanz in dem in Art. 3 genannten Gebiet darf keinen Schaden
nehmen.
3. Die Erfüllung der kulturellen Aufgaben einschließlich ihrer Finanzierung ist zu
sichern, wobei Schutz und Förderung von Kultur und Kunst den neuen Ländern
und Kommunen entsprechend der Zuständigkeitsverteilung des Grundgesetzes
obliegen.

1 M öbius, R.: Ein Stau löste sich. In: Politik & Kultur 2/2009, S. 3
2 Johannes Heisig im Gespräch mit Stefanie Ernst: Kunst machen als Selbstbehauptung.
In: Politik & Kultur 3/2009, S. 37
3 Jürgen Haase im Gespräch mit Stefanie Ernst: Kulturelles Erbe der DDR muss lebendig bleiben.
In: Politik & Kultur 2/2009, S. 4
4 Links, C.: Das Schicksal der DDR-Verlage. In: Politik & Kultur 3/2009, S. 38

Wachgeküsst
4. Die bisher zentral geleiteten kulturellen Einrichtungen gehen in die Träger-
schaft der Länder oder Kommunen über, in denen sie gelegen sind. Eine Mitfi-
nanzierung durch den Bund wird in Ausnahmefällen, insbesondere im Land Ber-
lin, nicht ausgeschlossen.
5. Die durch die Nachkriegsereignisse getrennten Teile der ehemals staatlichen
preußischen Sammlungen (unter anderem Staatliche Museen, Staatsbibliothe-
ken, Geheimes Staatsarchiv, Ibero-Amerikanisches Institut, Staatliches Insti-
tut für Musikforschung) sind in Berlin wieder zusammenzuführen. Die Stiftung
Preußischer Kulturbesitz übernimmt die vorläufige Trägerschaft. Auch für die 026
künftige Regelung ist eine umfassende Trägerschaft für die ehemals staatlichen
preußischen Sammlungen in Berlin zu finden. 027
6. Der Kulturfonds wird zur Förderung von Kultur, Kunst und Künstlern übergangs-
weise bis zum 31. Dezember 1994 in dem in Art. 3 genannten Gebiet weiterge-
führt. Eine Mitfinanzierung durch den Bund im Rahmen der Zuständigkeitsver-
teilung des Grundgesetzes wird nicht ausgeschlossen. Über eine Nachfolgeein-
richtung ist im Rahmen der Verhandlungen über den Beitritt der Länder der in
Art. 1 Abs. 1 genannten Länder zur Kulturstiftung der Länder zu verhandeln.
7. Zum Ausgleich der Auswirkungen der Teilung Deutschlands kann der Bund über-
gangsweise zur Förderung der kulturellen Infrastruktur einzelne kulturelle Maß-
nahmen und Einrichtungen in dem in Art. 3 genannten Gebiet mitfinanzieren.«1

Art. 35 und hier insbesondere Abs. 2 und Abs. 7 boten die Grundlage für das fi-
nanzielle Engagement des Bundes für die Kultur in den neuen Ländern. In den
Jahren 1991 bis 1993 wurden rund drei Milliarden DM allein aus Kulturmitteln für
die Übergangsfinanzierung zur Verfügung gestellt. Dazu zählten das Substanz-
erhaltungsprogramm und das Infrastrukturprogramm. Die Übergangsfinanzie-
rung zielte auf den Umbau von Kultureinrichtungen ebenso wie die Neuausrich-
tung ab. Einige Kultureinrichtungen wie z. B. die Stiftung Weimarer Klassik, die
Stiftung Bauhaus in Dessau oder auch die Gedenkstätte Buchenwald wurden als
Kultureinrichtungen von bundesstaatlicher Bedeutung in die Kulturförderung
des Bundes einbezogen. Das Denkmalschutzsonderprogramm galt für die Jahre
1991 bis 1993. Es sollte dabei helfen, Kulturdenkmäler zu sichern, zu erhalten und
zu restaurieren. Hieran schloss sich 1995 das Denkmalschutzsonderprogramm
»Dach und Fach« an, bei dem es vor allem darum ging, Baudenkmäler mit regio-
naler Bedeutung zu sichern. Darüber hinaus wurden Mittel für die gesamtstaatli-
che Repräsentation in Berlin zur Verfügung gestellt, die 1993 in den Hauptstadt-
vertrag mündeten, der auch dazu dienen sollte, die freie Szene in Berlin zu un-
terstützen und experimentelle Kunst zu ermöglichen. Das Bundesministerium
für Bildung und Wissenschaft, heute Bildungsministerium für Bildung und For-
schung, stellte im Rahmen des Qualifizierungsprogramms Mittel zur Verfügung,

1 V
 ertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über
die Herstellung der Einheit Deutschlands (Einigungsvertrag), 31.08.1990 ⟶ https://bit.ly/2NrAw09

1. — Einleitung
die sich u. a. auch an den Kulturbereich richteten. Ein Beispiel hierfür ist der
beim Deutschen Kulturrat angesiedelte Qualifizierungsfonds Kultur, der darauf
abzielte, Akteure aus dem Kultur- und Medienbereich für die neuen Formen der
Finanzierung oder die Marktbedingungen zu qualifizieren. Das Familienministe-
rium stellte Mittel für den Aufbau Freier Träger zur Verfügung, die dazu dienen
sollten, Vereine und Verbände in den neuen Ländern zu transformieren bzw. auf-
zubauen. Auch Kulturorganisationen bzw. Vereine der kulturellen Bildung konn-
ten hieran partizipieren. Die Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugend-
bildung war hier involviert und stellte ihre Expertise zur Verfügung.
Das starke Engagement des Bundes in den neuen Ländern hätte eigentlich
nach einer Neuverteilung der kulturpolitischen Kompetenzen zwischen Bund
und Ländern gerufen. Anton Pfeifer 1 schreibt 2005 rückblickend, dass es mit
Blick auf die Sache, um die es ging, nicht sachdienlich gewesen wäre, eine sol-
che Kompetenzdiskussion zu führen. Vordringlicher war zu handeln, dies auch
vor dem Hintergrund, dass Bundestag und Bundesrat einen gemeinsamen Aus-
schuss eingesetzt hatten, der Vorschläge für Grundgesetzänderungen erarbeiten
sollte.2 In dieser gemeinsamen Kommission wurde sich neben anderen Themen
auch mit dem Staatsziel Kultur befasst.

Kulturpolitik der Ära Kohl

Anders als in SPD-Wahlkämpfen, speziell in Wahlkämpfen von Willy Brandt, ge-


hörten Künstler oder Kulturakteure im weiteren Sinne eher nicht zu Wahlkampf-
unterstützern der CDU im Allgemeinen 3 und von Helmut Kohl im Besonderen.
Im Gegenteil, gerade in den Anfangsjahren seiner Kanzlerschaft erntete Helmut
Kohl ob seines Pfälzer Idioms und seines Auftretens vielfach Spott und Häme aus
dem Kultur- und Medienbereich.
Dennoch gehören die Kultur- und Medienpolitik zu den Politikfeldern, die
Helmut Kohl in seiner Regierungserklärung vom 13. Oktober 1983 explizit und
implizit anspricht. Zuerst erwähnt er in der Regierungserklärung die Bedeutung
der Kultur mit Blick auf den europäischen Einigungsprozess. Die Intensivierung
der Kulturbeziehungen sollte den europäischen Einigungsprozess und die Ver-
ständigung vorantreiben. So sagte Kohl »Wir wollen neue Wege zur Einigung
Europas öffnen. Die europäische Idee hat Versöhnung über die Grenzen hinweg
geschaffen und den Grundstein für eine dauerhafte Friedensordnung in Euro-

1 Anton Pfeifer gehörte von 1969 bis 2002 dem Deutschen Bundestag an. Er war von 1982 bis 1987
Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft, von 1987 bis 1990
Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit
sowie von 1990 bis 1998 Staatsminister beim Bundeskanzler. In letzter Funktion war er insbesondere für
Kultur verantwortlich und hatte eine Koordinierungsfunktion für die Kulturressorts der verschiedenen
Bundesministerien.
2 Anton Pfeifer a. a. O., S. 247
3 Eine Ausnahme hiervon bildete der Bundestagswahlkampf 2017. Hier hatte die CDU eine Unterstützer­
website für Angela Merkel, auf der auch Künstler der Kanzlerkandidatin ihre Unterstützung aussprachen.

Wachgeküsst
pa gelegt. Europapolitik war und ist immer zuerst eine Politik für den Frieden
in Freiheit. Das müssen wir wieder mehr als bisher ins Bewußtsein unserer Bür-
ger bringen durch ganz konkrete Schritte, durch mehr Abbau der Grenzkontrol-
len, durch eine Intensivierung der Kulturbeziehungen und durch eine Verbes-
serung und Verstärkung des Jugendaustausches.«1 Hier spricht der überzeugte
Europäer Kohl.
Mit Blick auf die Medienpolitik lobte Kohl die Bedeutung der Massenmedien
für den Erhalt und die Stärkung der freiheitlichen Ordnung. Zugleich formulierte
er »Die Vielfalt der Meinungen verlangt Vielfalt der Organisationsformen.«2 und 028
kündigt an, im Zusammenwirken mit den Ländern die Medienordnung zu erneu-
ern und weiter »So sollen die Meinungsvielfalt erhöht, die Urteilskraft des Bür- 029
gers herausgefordert und der Informations- und Meinungsaustausch über nati-
onale Grenzen hinaus gestärkt werden«.3 Die Einführung des Dualen Rundfunk-
systems ist eng mit der Ära Kohl verbunden.
Helmut Kohl war nicht nur ein großer Europäer. Als Historiker war ihm die
Bedeutung der Geschichte sehr bewusst. Dies kommt in seiner ersten Regie-
rungserklärung als Kanzler zum Ausdruck, wenn er sagt: »Herr Präsident, meine
Damen und Herren, zur Erneuerung gehört die Besinnung auf die deutsche Ge-
schichte. Der Nationalstaat der Deutschen ist zerbrochen. Die deutsche Nation
ist geblieben, und sie wird fortbestehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wir alle wissen: die Überwindung der Teilung ist nur in historischen Zeiträumen
denkbar. Das Jahr 1983 erinnert uns in besonderer Weise an Höhen und Tiefen
unserer Geschichte: Vor 500 Jahren wurde Martin Luther geboren. Vor 50 Jahren
begann die deutsche Diktatur und mit ihr der Weg in die Katastrophe. Vor 30 Jah-
ren erhoben sich die Arbeiter in Ost-Berlin gegen die kommunistische Gewalt-
herrschaft. – Diese Ereignisse mahnen uns an unsere eigene Geschichte. Unsere
Republik, die Bundesrepublik Deutschland, entstand im Schatten der Katastro-
phe. Sie hat inzwischen ihre eigene Geschichte. Wir wollen darauf hinwirken, daß
möglichst bald in der Bundeshauptstadt Bonn eine Sammlung zur deutschen Ge-
schichte seit 1945 entsteht, gewidmet der Geschichte unseres Staates und der ge-
teilten Nation. (Sehr gut! bei der SPD) Herr Präsident, meine Damen und Herren,
wir alle können die Einheit der Nation nicht erzwingen; aber für uns alle gilt die
Präambel des Grundgesetzes: »Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in
freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.«4
Aus dieser Passage spricht der Historiker Kohl, der der Erinnerungskultur
einen besonderen Stellenwert einräumt. Der Erinnerung an historische Ereig-
nisse wie den Beginn der Nazi-Herrschaft 1933 sowie die Erinnerung an die Ge-

1 Regierungserklärung des Bundeskanzlers vor dem Deutschen Bundestag, Koalition der Mitte: Für eine Politik
der Erneuerung, 13.10.1982, in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bulletin Nr. 93,
14.10.1982, S. 853–868, BArch BD 7/2/1582/2, Bl. 853-868. Zitiert nach ⟶ https://bit.ly/2Dtv0oW (S. 16)
2 Ebd. S. 20
3 Ebd. S. 20
4 Ebd. S. 24

1. — Einleitung
schichte der Bundesrepublik, die aus der Katastrophe erwachsen ist. Dabei ver-
gisst Kohl nicht das in der Präambel des Grundgesetzes formulierte Versprechen
der deutschen Einheit.
In Stein gewordene Zeichen der Kulturpolitik in der Ära Kohl sind z. B. das
Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und das Deutsche Histori-
sche Museum. Das Haus der Geschichte war für die Bundeshauptstadt Bonn ge-
plant. Es war ein Zeichen für die neue Bundesrepublik einschließlich der West-
bindung. Das Deutsche Historische Museum war für Berlin gedacht und war ein
Symbol für die Rückbindung an die Geschichte. Weiter fällt in die lange Kanzler-
schaft der Bau der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutsch-
land in Bonn, die Restaurierung der Neuen Wache in Berlin und die Entscheidung,
ein Denkmal zur Erinnerung an die Ermordung der Juden Europas zu errichten.
Wie Anton Pfeifer rückblickend schreibt, stießen die Vorhaben Kohls kei-
neswegs auf uneingeschränkte Freude bei den Ländern. Es wurde bezweifelt, ob
der Bund überhaupt die Kompetenz hat, entsprechende Bauten zu errichten. Hier
waren langwierige Gespräche mit den Ministerpräsidenten erforderlich.1
Auch die ersten europäischen Kulturförderprogramme Kaleidoskop zur För-
derung europäischer kultureller und künstlerischer Projekte, Raphael, das euro-
päische Denkmalschutzprogramm sowie Ariane, das europäische Buch- und Le-
seförderprogramm wurden von der Regierung Kohl befördert.2
Mit Blick auf die Rahmenbedingungen lag es in der Verantwortung der Re-
gierung Kohl die in der sozialliberalen Regierung gesetzgeberisch auf den Weg
gebrachte Künstlersozialversicherung umzusetzen. Eine erste Bewährungspro-
be war dabei die Verfassungsklage einiger Verwerterverbände gegen die Künst-
lersozialversicherung. Die Regierung Kohl stand zur Künstlersozialversicherung
und wies auch in den folgenden Jahren alle Versuche beispielsweise zur Absen-
kung des Bundeszuschusses zurück.
Der Kulturetat in der Ära Kohl nur für die Kulturförderung im Inland stieg
von rund 340 Millionen DM im Jahr 1983 auf 1,27 Milliarden DM im Jahr 1997.
Pfeifer weist entschieden zurück, dass in der Ära Kohl vorrangig an der Kultur
gespart worden sei. Er vertritt vielmehr die Auffassung, dass »die Kulturpolitik
in keiner Zeit in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in der Kultur-
förderung des Bundes und beim Bundeskanzler eine vergleichbar hohe Priorität
besessen hat, wie in der Ära von Bundeskanzler Helmut Kohl. Dies ist vor allem
deshalb möglich geworden, weil Kulturpolitik für Helmut Kohl nie nur Rhetorik
für Sonntagsreden oder schmückendes Beiwerk gewesen ist. Die Kulturstaatlich-
keit Deutschlands war für ihn eine fundamentale Gestaltungsaufgabe seiner Po-
litik, für die er sich persönlich engagiert hat und der immer sein besonderes Au-

1 Anton Pfeifer a.a.O S. 252


2 Das deutsche Informationsbüro zu den europäischen Kulturförderprogrammen Cultural Contact Point
(CCP) wurde mit Unterstützung des Bundesministeriums des Innern 1997 gegen erbitterten Wider-
stand der Länder beim Deutschen Kulturrat eingerichtet. Heute ist die Kulturpolitische Gesellschaft
Träger des Creativ Europe Desk Kultur, des Nachfolgers des CCPs.

Wachgeküsst
genmerk galt. Er hat mit dieser Politik kulturpolitische Marksteine gesetzt, die
Deutschland verändert haben.«1 Norbert Lammert kommt zu einem ähnlichen
Schluss, wenn er schreibt »Meine These ist, dass die entscheidende Akzentver-
schiebung in der Wahrnehmung gesamtstaatlicher Aufgaben für Kunst und Kul-
tur nicht durch die Etablierung einer entsprechenden Funktion im Kanzleramt
1998, sondern in der Ära Kohl stattgefunden hat. Und dass möglicherweise die
Unauffälligkeit durch die Vermeidung einer Formalisierung eine der Vorausset-
zungen für diese faktische Akzentverschiebung war.«2 Gabriele Schulz beschreibt
die Kulturpolitik der CDU, mit Blick auf die Ära Kohl sowie das Wirken von Kul- 030
turstaatsminister Neumann, als besonders geschickt, weil das stille Wirken kei-
ne Neider hervorrufe.3 031
Die Ironie der Geschichte ist, dass dieses stille Wirken oder wie Wolfgang
Bergsdorf 4 schreibt die Nachhaltigkeit der Kulturpolitik von Helmut Kohl im Jahr
1998 nicht belohnt wurde. Im Gegenteil, es stellte sich Unbehagen und Unzufrie-
denheit ein. Als behäbig, als nicht nach vorne weisend wurde von vielen die Kul-
turpolitik in der Ära Kohl empfunden. Überdies wurde das Parlament als kultur-
politischer Gesprächspartner vermisst. Zugleich bestand das Gefühl, dass eine
Bündelung der Kulturpolitik des Bundes überfällig sei.

Aufbruchstimmung

Am Anfang stand eine gewisse Ratlosigkeit, dann eine Idee, danach eine Kontro-
verse und schließlich ein Erfolg. Als der Vorstand und ich als Geschäftsführer zu-
sammen mit einigen ausgewählten Vertretern des Sprecherrates des Deutschen
Kulturrates im Februar 1998 einen Gesprächstermin beim damaligen SPD-Vorsit-
zenden Oskar Lafontaine hatten und die Gelegenheit bestand, Anliegen für den
bevorstehenden Bundestagswahlkampf 1998 vorzutragen, herrschte zuerst eine
gewisse Ratlosigkeit, was genau gefordert werden sollte. Sollte es ein Bundes-
kulturminister in einem eigenen Kulturministerium sein? Diese Forderung, die
ich favorisierte, ging insbesondere dem damaligen Präsidenten des Deutschen
Kulturrates August Everding, seines Zeichens Präsident des Deutschen Bühnen-
vereins und Direktor der Bayerischen Theaterakademie, zu weit. Es bestand aber
großer Unmut über die von einigen so empfundene stiefmütterliche Behandlung
der kulturpolitischen Belange in der Bundesregierung. Der damalige Bundesin-
nenminister Manfred Kanther wurde nicht als Mann der Kultur wahrgenommen.
Vermisst wurde der vormalige Leiter der Kulturabteilung im Innenministerium

1 Pfeifer a. a. O., S. 259


2 Lammert a. a. O., S. 236
3 Schulz, G.: Geschichtsverliebt – geschichtsvergessen? Das Geheimnis der Kulturpolitik der Union.
Ein Kommentar. In: Kulturpolitik der Parteien: Visionen, Programmatik, Geschichte und Differenzen.
Hg. v. Olaf Zimmermann, Theo Geißler. Berlin 2008, S. 82-84
4 Bergsdorf a. a. O.

1. — Einleitung
Sieghardt von Köckritz 1, der als Kulturmensch so manches ermöglichte. In dem
Gespräch, in dem wir eine Stärkung der Kulturpolitik des Bundes anmahnten, mit
Oskar Lafontaine, an dem auch Renate Schmidt und Wolfgang Thierse teilnah-
men, sprach sich der SPD-Vorsitzende für einen »Kulturbeauftragten des Bun-
des« aus 2. Ein erster Durchbruch!
Innerhalb des Deutschen Kulturrates verständigte man sich nach dem Ge-
spräch darauf, gemeinsam einen Beauftragten für Kultur und Medien zu fordern,
der am Kabinettstisch Platz nimmt und deutlich und vernehmlich für die Kultur
seine Stimme erhebt. Gedacht wurde an Modelle wie einen Bundesminister für
besondere Aufgaben. Ebenfalls sprach sich der Deutsche Kulturrat für die Ein-
richtung eines Ausschusses für Kultur und Medien im Deutschen Bundestag so-
wie die Etablierung einer Kultur-Enquête aus. Vorbild für die Kultur-Enquête war
der im Jahr 1975 erschienene Künstlersozialreport von Karla Fohrbeck und An-
dreas Johannes Wiesand. Dieser im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit
und Soziales erstellte Report war die erste umfassende Untersuchung zur sozi-
alen und wirtschaftlichen Lage freiberuflicher Künstlerinnen und Künstler und
gab den Anstoß zur Einbeziehung dieser Berufsgruppe in die gesetzliche Kran-
ken- und Rentenversicherung, der in die Gründung der Künstlersozialversiche-
rung mündete. Es wurde sich von einer Kultur-Enquête erhofft, dass mehr als
20 Jahre nach Erscheinen des Künstlersozialreports erneut umfassend die sozi-
ale und wirtschaftliche Situation der Künstler in den Blick genommen und hin-
sichtlich der inzwischen veränderten Marktbedingungen sowie eines geeinten
Deutschlands untersucht würde.
Bei Oskar Lafontaine waren die Anregungen des Deutschen Kulturrates auf
großes Interesse gestoßen. Er griff sie auf, offen war zu diesem Zeitpunkt al-
lerdings noch, wer in der SPD das Rennen um die Kandidatur als Kanzlerkandi-
dat macht, Lafontaine selbst oder Gerhard Schröder, der im März 1998 noch die
niedersächsische Landtagswahl erfolgreich bestehen musste, um eine Chance
zur Kanzlerkandidatur zu haben. Gerhard Schröder reagierte zunächst sehr zu-
rückhaltend bis ablehnend auf die Vorschläge des Deutschen Kulturrates. Hilmar
Hoffmann, eine der wichtigen kulturpolitischen Stimmen in Deutschland, sprach
sich klar gegen eine Stärkung der Kulturpolitik des Bundes aus und betonte die
Bedeutung der Länder und der Kommunen in der Kulturpolitik.3
Auch innerhalb des Deutschen Kulturrates gab es Stimmen, die sich gegen
eine Bündelung kulturpolitischer Kompetenzen in einem Ressort aussprachen.
Speziell vonseiten der kulturellen Kinder- und Jugendbildung wurde gewarnt,
die bestehenden Zuständigkeiten in einem Haus zusammenzufassen. Es wurde
mit Nachdruck die Position vertreten, dass die Infrastruktur kultureller Kinder-

1 Als Dank für seine Verdienste um den Kulturbereich wurde Sieghardt von Köckritz als erster
Preisträger mit dem Kulturgroschen des Deutschen Kulturrates geehrt.
2 Zimmermann, O./Schulz, G. (Hg.): Positionen und Diskussionen zur Kulturpolitik: Nachdruck
»Deutscher Kulturrat – aktuell«; 1997–1999, Bonn; Berlin 2000, S. 141
3 Der Tagesspiegel, 23.06.1998 ⟶ https://bit.ly/2QshxjX

Wachgeküsst
und Jugendbildung am besten von einem Haus gefördert wird, das für das Kin-
der- und Jugendhilfegesetz zuständig ist, sprich vom Bundesjugendministerium.
Weiter wurde angeführt, dass insbesondere das Bundesministerium für Bildung
und Forschung ein wesentlicher Impulsgeber für die kulturelle Bildung sowie
die Aus- und Weiterbildung in Kulturberufen ist. Über die damals noch beste-
hende Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung
(BLK) wurden groß angelegte Modellvorhaben gefördert. Darüber hinaus wurde
das Haus selbst als ein wichtiger Impulsgeber und Unterstützer sowohl von Un-
tersuchungen als auch von Modellvorhaben in der kulturellen Bildung geschätzt. 032
Am 22. Juni 1998 führten der Deutsche Kulturrat, die Kulturpolitische Ge-
sellschaft und das Haus der Geschichte in Bonn eine Veranstaltung durch, in der 033
die Frage nach einer neuen kulturpolitischen Verantwortung des Bundes erörtert
wurde. Bei dieser Veranstaltung kamen hochkarätige Verbandsvertreter und Ex-
perten zu Wort. Die Diskussion wurde mit großer Leidenschaft geführt. Die Geg-
nerschaft gegen ein Bundeskulturministerium oder wie vom Deutschen Kultur-
rat in den Wahlprüfsteinen zur Bundestagswahl 1998 gefordert eines Kulturbe-
auftragten verlief quer durch die Parteien. Neben der CDU-geführten Bundesre-
gierung waren es insbesondere einige SPD-geführte Länder, die sich angeführt
von NRW vehement dagegen aussprachen.

Wahlprüfsteine 1998

Trotz teils kontroverser Debatten innerhalb des Deutschen Kulturrates wurde


sich bei den »Fragen an die im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien zur
Bundestagswahl« (kurz Wahlprüfsteine) u. a. darauf verständigt zu fragen, ob
die Parteien die Wiedereinsetzung des Unterausschusses Kultur zum Innenaus-
schuss oder die Neueinsetzung eines Ausschusses Kultur im Deutschen Bun-
destag planen.
Die CDU antwortete hierauf: »… Die kulturpolitischen Debatten im Plenum
des Deutschen Bundestags und in seinen Ausschüssen belegen die Bedeutung,
die diesem Thema auch in der parlamentarischen Arbeit in der zu Ende gehenden
Wahlperiode beigemessen worden ist. Gleichwohl befürwortet die CDU die von
den Sprechern aller Fraktionen in der kulturpolitischen Debatte des Deutschen
Bundestags am 12. Februar 1998 geforderte Einrichtung eines Parlamentsaus-
schusses für Kulturpolitik in der nächsten Legislaturperiode. Angesichts der Be-
deutung der Kultur für unser Gemeinwesen ist die zusätzliche Einrichtung eines
solchen Ausschusses in besonderer Weise geeignet, kulturrelevante Themen und
Anliegen auf parlamentarischer Ebene fortlaufend kompetent zu diskutieren.«1

1 Kulturpolitik für das 21. Jahrhundert. Die im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien antworten
auf die Fragen des Deutschen Kulturrates zur Bundestagswahl 1998. Bonn 1998, S. 25

1. — Einleitung
Die SPD formulierte: »Wir benötigen dringend einen Kulturausschuß, zumindest
jedoch einen Unterausschuß Kultur im nächsten Deutschen Bundestag. Ein dazu
von der SPD initiierter Antrag ist bislang an der Unionsfraktion gescheitert.«1
Bündnis 90/Die Grünen erklärten unmissverständlich: »Wir werden uns mit
aller Kraft für die Wiedereinsetzung eines Ausschusses für Kultur im Deutschen
Bundestag einsetzen. Zu Beginn der 13. Legislaturperiode reichte die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen bereits einen Antrag im Innenausschuß dazu ein, der
aber von der Mehrheit abgelehnt wurde. Wir hoffen, daß durch neue Mehrheits-
verhältnisse im Bundestag anders darüber entschieden werden wird.«2
Die FDP formulierte: »Die F.D.P. fordert die Bündelung der Kompetenzen
und Zuständigkeiten sowie die Einrichtung eines Kulturausschusses des Deut-
schen Bundestags als parlamentarische Kontrolle.«3 In ihrer Antwort ist die FDP
damit zugleich auf die Frage der Bündelung der kulturpolitischen Kompetenzen
des Bundes in einem Ressort eingegangen und hat den Kulturausschuss als par-
lamentarisches Gegenüber verortet.
Die PDS sagte klipp und klar: »Wir sprechen uns für die Neueinsetzung ei-
nes Kulturausschusses im Deutschen Bundestag aus.«4
Diese klaren Aussagen von allen seinerzeit im Deutschen Bundestag ver-
tretenen Parteien waren ein Punktsieg. Alle Parteien hatten sich festgelegt, so-
dass einer Einrichtung eines Kulturausschusses im nächsten Deutschen Bundes-
tag der Boden bereitet war.
Denn obwohl die Länder die Zuständigkeit für Kultur beanspruchten und
die für Medien bei ihnen liegt, gab es in den Anfangsjahren der Bundesrepublik
von der 1. bis einschließlich der 5. Wahlperiode des Deutschen Bundestags, also
von 1949 bis 1969, eine Reihe von Ausschüssen, die sich explizit Kultur- und Me-
dienfragen im Deutschen Bundestag widmeten. Von der 6. bis einschließlich 13.
Wahlperiode, also von 1969 bis 1998, gab es keinen ordentlichen Ausschuss für
Kultur im Deutschen Bundestag. Erst ab der 14. Wahlperiode, also seit 1998, wird
vom Deutschen Bundestag wieder regelmäßig ein Ausschuss für Kultur und Me-
dien eingesetzt. In der 14. und 15. Wahlperiode hatte dieser Ausschuss zusätz-
lich einen Unterausschuss Neue Medien.
Auffallend ist, dass insbesondere in den ersten fünf Wahlperioden sehr viele
Ausschüsse im Deutschen Bundestag tätig waren und dass sich eine ganze Reihe
von diesen mit Kultur- und Medienfragen befasst haben. Aus heutiger Sicht be-
merkenswert ist, dass es in der 2. Wahlperiode (1953–1957) einen eigenen Aus-
schuss gab, der sich mit dem Urheberrecht befasst hat und in der 4. Wahlperiode
(1961–1965) einen Unterausschuss Urheberrecht des Ausschusses für Kulturpo-
litik und Publizistik. In dieser Wahlperiode fand auch die große Urheberrechts-

1 Ebd. S. 55
2 Ebd. S. 63
3 Ebd. S. 79
4 Ebd. S. 87

Wachgeküsst
reform statt, die 1965 in Kraft trat und die vorherigen Urheberrechtsgesetze1 ab-
löste. Ebenso war der Film mehrfach Gegenstand von Ausschüssen oder Unter-
ausschüssen des Deutschen Bundestags.
Das heißt die von der KMK postulierte Kulturhoheit hinderte den Deutschen
Bundestag also nicht, sich intensiv mit kultur- und medienpolitischen Fragen zu
befassen. Die Kulturhoheit der Länder schien sich schon in den Anfangsjahren
der Bundesrepublik vor allem auf die Kulturförderung zu beziehen.
Darüber hinaus sind noch die diversen Unterausschüsse insbesondere des
Auswärtigen Ausschusses zu erwähnen. Der Auswärtige Ausschuss hat bis auf 034
die 14., 15. und 16. Wahlperiode jeweils einen Unterausschuss eingesetzt, in dem
Fragen der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik, hier besonders der Rund- 035
funkpolitik, erörtert wurden.
Nachdem vom Deutschen Bundestag von der 6. Wahlperiode (1969–1972) bis
zur 14. Wahlperiode (1998–2002) kein Voll-Ausschuss für Kultur mehr eingesetzt
worden war, gab es zumindest in der 8. Wahlperiode (1976–1980), 9. Wahlperiode
(1980–1983) sowie 12. Wahlperiode (1990–1994) einen Unterausschuss Kunst und
Kultur des Innenausschusses, der sich mit kulturpolitischen Fragen befasst hat.
In der Übersicht auf der folgenden Seite sind die Ausschüsse sowie Unter-
ausschüsse des Deutschen Bundestags, in denen sich mit kultur- und medien-
politischen Fragen befasst wurde, aufgeführt.2

1 Vorgängergesetze waren:
Gesetz betreffend das Urheberrecht an den Werken der Literatur und der Tonkunst (LUG) sowie
Gesetz betreffend das Urheberrecht an Werken der bildenden Kunst der Photographie (KUG)
2 Eigene Zusammenstellung nach:
Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949 bis 1982. Baden-Baden 1984, S. 565–597;
Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1983 bis 1991, Bonn 1994, S. 691–704;
Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1994 bis 2013. Baden-Baden 2005, S. 452–464

1. — Einleitung
Ausschüsse Kultur im Inland Ausschüsse Kultur im Ausland

1. Wahlperiode 40 Ausschüsse, darunter:


(1949–1953) ―― Ausschuss für Fragen der Presse, ―― Ausschuss für Besatzungsstatut
des Rundfunks und des Films mit und auswärtige Angelegenheiten,
den Unterausschüssen: ab 1953 Ausschuss für Auswärtige
–– Überregionale Sender ­Angelegenheiten
–– Ufa-Vermögen –– Deutsche Auslandsschulen und
–– Gesundung der deutschen Auslandsvermögen zuständiger
Filmwirtschaft ­Ausschuss
–– Filmausfallbürgschaft –– Deutsche wissenschaftliche Institute
―― Ausschuss für Kulturpolitik mit und Schulen im Ausland
den Unterausschüssen:
–– Kunst
–– Sicherung des Kulturgutes
―― Ausschuss für Bücherei,
ab 1953 Büchereibeirat
―― Ausschuss zum Schutz der Verfassung
–– Pressegesetz
–– Presserechtsgesetz
―― Ausschuss für Heimatvertriebene
–– »Titel 32« kulturelle Betreuung lands-
mannschaftlicher Organisationen

2. Wahlperiode 38 Ausschüsse, darunter:


(1953–1957) ―― Ausschuss zu Fragen der Presse, ―― Ausschuss für auswärtige
des Rundfunks und des Films ­Angelegenheiten
―― Ausschuss für Kulturpolitik –– Kulturelle Fragen
―― Ausschuss für gewerblichen Rechts-
schutz und Urheberrecht, zuvor:
­Ausschuss für Patentrecht und ge-
werblichen Rechtsschutz

3. Wahlperiode 26 Ausschüsse, darunter:


(1957–1961) ―― Ausschuss für Kulturpolitik ―― Ausschuss für auswärtige
und Publizistik ­Angelegenheiten
–– Deutsche Institute und
Schulen im Ausland

4. Wahlperiode 28 Ausschüsse, darunter:


(1961–1965) ―― Ausschuss für Kulturpolitik ―― Ausschuss für auswärtige
und Publizistik ­Angelegenheiten
–– Urheberrechtsfragen –– Deutsche Institute
–– Filmwirtschaft und Schulen im Ausland
–– Deutsche Welle

5. Wahlperiode 23 Ausschüsse, darunter:


(1965–1969) ―― Ausschuss für Wissenschaft, ―― Auswärtiger Ausschuss
­Kulturpolitik und Publizistik –– Fragen der Auslandskulturarbeit
–– Fragen der Auslandskulturarbeit (gebildet aus Mitgliedern des
­Auswärtigen Ausschusses und des
Ausschusses für Wissenschaft,
Kulturpolitik und Publizistik)
–– Rundfunkfragen

6. Wahlperiode 17 Ausschüsse,
(1969–1972) kein Ausschuss für Kultur ―― Auswärtiger Ausschuss
–– Rundfunkfragen

Wachgeküsst
Ausschüsse Kultur im Inland Ausschüsse Kultur im Ausland

7. Wahlperiode 19 Ausschüsse,
(1972–1976) kein Ausschuss für Kultur ―― Auswärtiger Ausschuss
–– Rundfunkfragen

8. Wahlperiode 19 Ausschüsse, darunter:


(1976–1980) ―― Innenausschuss ―― Auswärtiger Ausschuss
–– Kunst- und Künstlerförderung –– Rundfunkfragen

9. Wahlperiode 20 Ausschüsse, darunter:


(1980–1983) ―― Innenausschuss ―― Auswärtiger Ausschuss
–– Kunst- und Kultur –– Rundfunkfragen
036
–– Kulturelle Außenpolitik
037
10. Wahlperiode 21 Ausschüsse,
(1983–1987) kein Ausschuss für Kultur ―― Auswärtiger Ausschuss
–– Rundfunkfragen
–– Kulturelle Außenpolitik

11. Wahlperiode 21 Ausschüsse,


(1987–1990) kein Ausschuss für Kultur ―― Auswärtiger Ausschuss
–– Kulturelle Außenpolitik

12. Wahlperiode 24 Ausschüsse, darunter:


(1990–1994) ―― Innenausschuss ―― Auswärtiger Ausschuss
–– Kunst- und Kultur –– Auswärtige Kulturpolitik

13. Wahlperiode 22 Ausschüsse, darunter:


(1994–1998) kein Ausschuss für Kultur ―― Auswärtiger Ausschuss
–– Auswärtige Kulturpolitik

14. Wahlperiode 23 Ausschüsse, darunter:


(1998–2002) ―― Ausschuss für Kultur und Medien
–– Neue Medien

15. Wahlperiode 21 Ausschüsse, darunter:


(2002–2005) ―― Ausschuss für Kultur und Medien
–– Neue Medien

16. Wahlperiode 22 Ausschüsse, darunter:


(2005–2009) ―― Ausschuss für Kultur und Medien

17. Wahlperiode 22 Ausschüsse, darunter:


(2009–2013) ―― Ausschuss für Kultur und Medien ―― Auswärtiger Ausschuss
–– Auswärtige Kultur-
und Bildungspolitik

18. Wahlperiode 23 Ausschüsse, darunter:


(2013–2017) ―― Ausschuss für Kultur und Medien ―― Auswärtiger Ausschuss
–– Auswärtige Kultur-
und Bildungspolitik

19. Wahlperiode 26 Ausschüsse, darunter:


(seit 2017) ―― Ausschuss für Kultur und Medien ―― Auswärtiger Ausschuss
–– Auswärtige Kultur-
und Bildungspolitik

1. — Einleitung
Die zweite Frage des Deutschen Kulturrates in den Wahlprüfsteinen 1998 zielte
auf die Bündelung der kulturpolitischen Kompetenzen innerhalb der Bundesre-
gierung. Konkret wurde gefragt: »Welche Maßnahmen werden Sie ergreifen, um
der Zersplitterung der kulturpolitischen Kompetenzen auf Bundesebene entge-
genzuwirken? Planen Sie die Einsetzung eines Kulturbeauftragten, der jährlich
dem Parlament über die Entwicklung von Kunst und Kultur berichtet?«
Hierauf antwortete die CDU: »Was die in der Fragestellung enthaltene Be-
wertung der kulturpolitischen Kompetenzverteilung innerhalb der Bundesregie-
rung angeht, wird diese von der CDU nicht geteilt. Die Einbindung verschiede-
ner Politikbereiche in die Verantwortung für kulturpolitische Zielsetzungen führt
nicht zur ›Zersplitterung‹, sondern zu erhöhter Durchsetzungskraft und fördert
Ideenreichtum und Vielgestaltigkeit bei den Fördermaßnahmen. Wie die von
verschiedenen Seiten geforderte Einsetzung eines Bundeskulturministers diese
Zusammenarbeit oder die kulturpolitischen Aufgaben substantiell voranbrin-
gen könnte, ist nicht zu erkennen. Die Einbindung verschiedener (insbesonde-
re auch klassischer) Ressorts in die kulturpolitische Verantwortung des Bundes
hat sich als ausgesprochen wirkungsvoll erwiesen. Die Bündelung durch Haupt-
verantwortlichkeit im Bundesministerium des Innern bei zusätzlicher Wahrneh-
mung koordinierender Funktion im Bundeskanzleramt hat in der Vergangenheit
für starke Durchsetzungsfähigkeit für kulturpolitische Zielsetzungen gesorgt. Sie
hat insbesondere dazu geführt, daß im Gegensatz zu den meisten Länderhaus-
halten die Ausgaben des Bundes für die Kulturförderung keine Schmälerung er-
fahren haben, sondern zwischen 1995 und 1998 von 1,138 Milliarden auf 1,190
Milliarden gestiegen sind. Die CDU wird an der bewährten Aufgabenverteilung
innerhalb der Bundesregierung im Grundsatz festhalten. Dem steht natürlich
nicht entgegen, die kulturpolitischen Kompetenzen des Bundes, dort wo es in
Einzelbereichen als förderlich erkannt ist, weiter zu bündeln.«1
Demgegenüber kommt die SPD in ihrer Antwort zu dem Schluss: »Der Bund
hat seine kulturpolitische Verantwortung vernachlässigt. Die Kulturpolitik des
Bundes muß in der Hand eines Ministeriums gebündelt werden und es muß si-
chergestellt sein, daß sie dort nicht eine Nebensache bzw. Nebenbeschäftigung
ist.«2 Diese Antwort lässt letztlich viele Interpretationen offen. Es hätte sowohl
bedeuten können, dass im Bundesministerium des Innern die Kulturpolitik ge-
stärkt und möglicherweise ein Staatssekretär dafür hauptverantwortlich ist als
auch die Einrichtung eines eigenen Ministeriums.
Bündnis 90/Die Grünen erklärten: »Wichtig ist die Zusammenführung der
Zuständigkeiten für Kultur in den verschiedenen Bundesministerien (vom Wirt-
schaftsministerium über das Innen- und Außenministerium bis zum Wissen-
schaftsministerium), da durch diese Zersplitterung eine stringente, transparen-
te und effiziente Kulturpolitik behindert wird. Auch in Hinblick auf eine zu er-

1 Z itiert nach Kulturpolitik für das 21. Jahrhundert. a. a. O., S. 25 f.


2 Ebd. S. 55

Wachgeküsst
wartende weitere Europäisierung der politischen Entscheidungen ist es hilfreich,
mit einer lauten statt 16 leisen Stimmen zu sprechen.«1 Bündnis 90/Die Grünen
haben mit dem Verweis auf die europäische Ebene, die auch in der Kulturpolitik
an Bedeutung gewonnen hat, zu denken ist etwa an die europäische Urheber-
rechts-, Medien- oder auch Telekommunikationspolitik, ein Zukunftsthema an-
gesprochen, dass auch nach Einrichtung des BKM immer wieder eine Rolle ge-
spielt hat und teilweise noch spielt.
Die FDP hat sich, wie bereits gezeigt, für eine Bündelung der Zuständigkei-
ten ausgesprochen und die PDS erklärte: »Die Einsetzung eines Kulturbeauftrag- 038
ten halten wir für sinnvoll, wobei wir jedoch davon ausgehen, daß dessen we-
sentliche Aufgabe außer Analyse und Berichterstattung auch die Koordinierung 039
kultureller Aktivitäten der Einzelministerien umfassen sollte.«2
Die PDS legte mit dieser Aussage den Finger in die Wunde einer bewusst offe-
nen Formulierung des Deutschen Kulturrates nach einem Kulturbeauftragten, der
dem Parlament über die Entwicklung von Kunst und Kultur Bericht erstattet. Ein
solcher Beauftragter hätte auch in einem Bundesministerium angesiedelt und mit
einem kleinen Arbeitsstab ausgestattet sein können, wie es beispielsweise beim
Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Behinderten der Fall ist,
der beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales angesiedelt ist, über einen
überschaubaren Stab verfügt und regelmäßige Berichte dem Parlament vorlegt.
Die SPD hat während des Bundestagswahlkampfes mit der Berufung von
­Michael Naumann in das Wahlkampfteam von Gerhard Schröder auf die Wünsche
aus dem Kulturbereich reagiert, obwohl es in der Partei zu dem Zeitpunkt offen-
bar noch nicht ausgemacht war, wie ein solches Amt tatsächlich aussehen sollte.
Michael Naumann sorgte für »Glanz und Gloria« im SPD-Wahlkampf. Elo-
quent und unbekümmert zog er im Wahlkampf über die Dörfer und scheute sich
auch nicht vor kulturpolitischen Diskussionen im ländlichen Raum.
Ein wichtiges Thema in den kulturpolitischen Debatten im Bundestagswahl-
kampf war neben der Bündelung der kulturpolitischen Kompetenzen die Reform
des Stiftungs- und des Stiftungssteuerrechts. Auch der Deutsche Kulturrat frag-
te in seinen Wahlprüfsteinen zur Bundestagswahl nach geplanten Fortentwick-
lungen im Stiftungsrecht. Die CDU antwortete hierauf, dass »man sich auch im
Bereich des Stiftungsrechts von überkommenen Vorstellungen lösen und Neue-
rungen in Angriff nehmen muß.«3 Die Reform des Stiftungssteuerrechts wurde
in den Kontext einer großen Steuerreform eingeordnet, die für die nächste Wahl-
periode angekündigt wurde. Die SPD verwies ebenfalls auf das Vorhaben einer
Steuerreform und darauf, dass »konkrete Vorstellungen zum Stiftungs- und Erb-
schaftsrecht in einer Arbeitsgruppe mit den Ländern derzeit entwickelt werden.«4

1 Ebd. S. 64
2 Ebd. S. 87 f.
3 Ebd. S. 46
4 Ebd. S. 59

1. — Einleitung
Die SPD versicherte zugleich, dass eine Stiftungsreform die öffentliche Förde-
rung von Kultur nicht infrage stellen dürfe, sondern Stiftungen allenfalls eine
ergänzende Funktion übernehmen können.
Bündnis 90/Die Grünen hatten sich bereits in der 13. Wahlperiode die Re-
form des Stiftungsrechts auf die Fahnen geschrieben und einen entsprechenden
Gesetzesentwurf in den Deutschen Bundestag eingebracht. Hieran wurde erin-
nert. Sie formulierten in den Wahlprüfsteinen: »Bei der Neugestaltung des Stif-
tungs- und des Stiftungssteuerrechts sollte die besondere Bedeutung von Ver-
einen und Stiftungen als zentralen Organisationen des gemeinnützigen Sektors
berücksichtigt werden.«1
Die FDP erhoffte sich durch eine Stiftungsreform mehr private Mittel für den
Kulturbereich. Demgegenüber bekannte die PDS, dass ihre Diskussionen zur Re-
form des Stiftungsrechts noch in den Anfängen stecken.
Erstaunlich ist in der Rückschau, dass ein Thema wie die Reform des Stif-
tungs- und des Stiftungssteuerrechts in den kulturpolitischen Debatten in ei-
nem Bundestagswahlkampf eine so prominente Rolle einnehmen konnte. Viele
erhofften sich von einer Stiftungsrechtsreform einen massiven Anstieg an Stif-
tungsgründungen sowie zusätzliches Geld für den Kulturbereich, das frei von den
strengen Vorgaben des Haushaltsrechts verwendet werden kann.
Zugleich war die Diskussion um das Stiftungsrecht eingebettet in eine all-
gemeine Diskussion zur Stärkung der Bürgergesellschaft und des bürgerschaft-
lichen Engagements. Es bestand die Erwartung nach mehr Beteiligung und Par-
tizipation.

Michael Naumann:
Realitätscheck nach der Wahl
Bekanntermaßen bildeten SPD und Bündnis 90/Die Grünen im Oktober 1998 die
erste Rot-Grüne Bundesregierung. Im Koalitionsvertrag wird in der Präambel
formuliert, dass eine entschlossene Reformpolitik verfolgt werden soll. Der Ko-
alitionsvertrag wurde mit der Überschrift versehen »Aufbruch und Erneuerung –
Deutschlands Weg ins 21. Jahrhundert«. In Kapitel »X Neue Offenheit von Poli-
tik und Kultur« werden die kulturpolitischen Vorhaben beschrieben. So wird im
ersten Satz formuliert »Die neue Bundesregierung wird der Kultur in der Bundes-
politik einen neuen Stellenwert geben.«2 Gleich der zweite Satz verweist auf die
Kulturhoheit der Länder und ordnet in diesen Kontext das neue Amt des Staats-
ministers für kulturelle Angelegenheiten ein. Es heißt: »Unter Wahrung der Kul-
turhoheit der Länder wird die neue Bundesregierung die kulturpolitischen Zu-
ständigkeiten und Kompetenzen des Bundes im Amt eines Staatsministers für

1 Ebd. S. 74
2 Aufbruch und Erneuerung – Deutschlands Weg ins 21. Jahrhundert. Koalitionsvereinbarung zwischen der
Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und Bündnis 90/Die Grünen. Bonn, 20.10.1998, S. 42

Wachgeküsst
kulturelle Aufgaben im Bundeskanzleramt bündeln. Der Staatsminister für kul-
turelle Aufgaben versteht sich Ansprechpartner und Impulsgeber für die Kultur-
politik des Bundes sowie als Interessenvertreter für die deutsche Kultur auf in-
ternationaler, besonders europäischer Ebene.«1
Diese Vereinbarung im Koalitionsvertrag zeigt zum einen, dass zumindest bei
der Abfassung des Koalitionsvertrags der Staatsminister für Kultur und Medien
beim Bundeskanzler, wie er schließlich hieß, eher als eine Art Beauftragter für die
Kultur im Sinne des Behindertenbeauftragten verstanden wurde als ein Minister,
der eigene Gesetze und Vorhaben in den Deutschen Bundestag einbringt. Zum 040
anderen wird das Bestreben deutlich, die Länder nicht zu verärgern. Von der Kul-
turhoheit der Länder als »Verfassungsfolklore«2 ist noch nicht die Rede. 041
Die neue Bundesregierung hatte sich vorgenommen, »binnen Jahresfrist in
einem Bericht eine vollständige Bestandsaufnahme der kulturpolitischen Akti-
vitäten des Bundes« vorzulegen und »alle kulturpolitischen Maßnahmen«3 zu
überprüfen. Als konkrete Maßnahmen wurden u. a. vereinbart:

—— Kulturelle Förderung der Hauptstadt und der neuen Länder


—— Beteiligung an der Diskussion um das Denkmal für die ermordeten
Juden Europas
—— Novellierung des Stiftungsrechts, des Urheberrechts und des Medienrechts
—— Initiative zum Erhalt der Buchpreisbindung
—— Stärkung des deutschen Films
—— Intensivierung der Pflege des kulturellen Erbes

Sehr deutlich zu spüren bekamen die Überprüfung der kulturpolitischen Maß-


nahmen die nach § 96 des Bundesvertriebenengesetzes geförderten Kulturein-
richtungen und Zusammenschlüsse. Deren Förderung wurde unter einen Vorbe-
halt gestellt, bei einigen wurde sie ganz beendet. Diese für viele Organisationen
einschneidenden Maßnahmen waren im Kern notwendig, da revanchistische Ten-
denzen in diesem Bereich zu dem Zeitpunkt keine Seltenheit waren.
Ein weiterer wichtiger Schwerpunkt war die Debatte um die sogenannte
Beutekunst, also kriegsbedingt verbrachte Kulturgüter, die nach dem Ende des
Zweiten Weltkriegs nicht wieder zurückgegeben worden waren. Sie waren teil-
weise erstmals nach Kriegsende wieder zu sehen. Michael Naumann widmete
sich intensiv dieser Frage. Es wurde u. a. die Idee ins Spiel gebracht, ein Museum
für die sogenannte Beutekunst in Russland zu unterstützen. Ein Ausfluss dieser
Debatte war der deutsch-russische Museumsdialog und die Rückgabe von Ein-
zelstücken.

1 Ebd. S. 42
2 Diesen Begriff prägte Staatsminister Michael Naumann in einem Beitrag für die Wochenzeitung
Die Zeit vom 02.11.2000 unter der Überschrift »Zentralismus schadet nicht. Die Kulturhoheit der Länder
ist Verfassungsfolklore. Es darf und muss eine Bundeskulturpolitik geben«
3 Aufbruch und Erneuerung – Deutschlands Weg ins 21. Jahrhundert. a. a. O., S. 42

1. — Einleitung
Aber auch andere Organisationen hatten sich die Zusammenarbeit mit dem neu
installierten Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien ­Michael
Naumann harmonischer vorgestellt. Schließlich wurde sich im Bundestagswahl-
kampf aus den Kulturverbänden heraus deutlich für ein solches Amt ausgespro-
chen. Dies teilweise mit harten politischen Diskussionen innerhalb der eigenen
Reihen sowie in der Auseinandersetzung mit den Ländern. Nach meinem Ein-
druck war Michael Naumann weder an einem intensiven Dialog mit den Bun-
deskulturverbänden interessiert, noch legte er auf deren Expertise großen Wert.
Anders war es mit dem Ausschuss für Kultur und Medien des Deutschen Bun-
destags. Die kulturpolitischen Sprecher Monika Griefahn (SPD), Norbert Lammert
(CDU), Antje Vollmer (Bündnis 90/Die Grünen), Hans-Joachim Otto (FDP) und
Heinrich Fink (PDS) suchten das Gespräch mit den Bundeskulturverbänden, na-
mentlich dem Deutschen Kulturrat, ebenso wie die Vorsitzende des Ausschusses
für Kultur und Medien im Deutschen Bundestag Elke Leonhard (SPD).
Mit Blick auf das Parlament haben sich also die Erwartungen aus dem Wahl-
kampf 1998 erfüllt. Gleiches gilt für die Reform des Stiftungssteuer- und des Stif-
tungsrechts, beide Vorhaben ging die Rot-Grüne Regierung beherzt an. Sowohl
das BKM als auch der Ausschuss für Kultur und Medien des Deutschen Bundes-
tags haben sich für diese Reformen stark gemacht und waren in die Beratungen
eingebunden. Für eine Enquête-Kommission des Deutschen Bundestags unge-
wöhnlich hatte die Enquête-Kommission »Zukunft des Bürgerschaftlichen En-
gagements« unter dem Vorsitz von Michael Bürsch (SPD) den Auftrag, die aktu-
elle Gesetzgebung zu begleiten und hat sich mit Voten am Gesetzgebungspro-
zess beteiligt. Dieser Enquête-Kommission, in der ich Mitglied war, ist es gelun-
gen, das bürgerschaftliche Engagement zu stärken und mehr Bürgerbeteiligung
zu ermöglichen.1

Julian Nida-Rümelin:
Kulturpolitik ist mehr als Kulturförderung

Als wichtiges Vorhaben hat das BKM in seiner ersten Legislaturperiode die Grün-
dung der Kulturstiftung des Bundes auf den Weg gebracht. Die Vorarbeiten be-
gannen unter Staatsminister Naumann, die Gründung erfolgte in der Amtszeit
von Staatsminister Julian Nida-Rümelin, der, nachdem Naumann überraschend
nach zwei Jahren sein Amt aufgab und Herausgeber von Die Zeit wurde, ihm im
Amt nachfolgte. Nida-Rümelin setzte die Errichtung der Kulturstiftung des Bun-
des trotz erbitterten Widerstands der Länder durch. Er erhielt dabei Rücken-
deckung aus den Kulturverbänden. So setzte sich auch der Deutsche Kulturrat
nachdrücklich für die Errichtung der Kulturstiftung des Bundes ein und sah be-
sondere Aufgaben in der Förderung von Künstlerinnen und Künstlern. Mehr oder

1 Der Schlussbericht trägt entsprechend den Titel »Bürgerschaftliches Engagement:


auf dem Weg in eine zukunftsfähige Bürgergesellschaft« Drucksache 15/8900, 03.06.2002

Wachgeküsst
weniger offen wurde die Erwartung formuliert, dass ähnlich den Kulturförder-
fonds auf Bundesebene 1 die einschlägigen Verbände in die Entscheidungsgre-
mien der Stiftung einbezogen werden. Diese Erwartung wurde enttäuscht. Eini-
ge Verbände gehören zwar dem Stiftungsbeirat 2 an, der jährlich über die Arbeit
informiert wird, aber anders als der Stiftungsrat 3 keine Rolle bei den Entschei-
dungen über Programme spielt.
Hohe Erwartungen hatten insbesondere die Künstlerverbände an die Reform
des Urheberrechts. Zum einen galt es, die europäische »Richtlinie zur Harmoni-
sierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrech- 042
te in der Informationsgesellschaft« in deutsches Recht umzusetzen. Zum ande-
ren sollte mehr als 30 Jahre nach der großen Urheberrechtsreform im Jahr 1965 043
endlich das Urhebervertragsrecht angepackt werden, dass den Urhebern eine
bessere Rechtsposition gegenüber Verwertern einräumen und den Anspruch auf
angemessene Vergütung einlösen sollte. Federführend für die Urheberrechtsre-
form war das Bundesministerium der Justiz. Der am 22. Mai 2000 vorgelegte so-
genannte Professorenentwurf 4 sah deutliche Verbesserungen der Rechtsstellung
der Urheber gegenüber den Verwertern künstlerischer Leistungen vor. Vor allem
sollten verbindliche Regeln zur Rechtsdurchsetzung geschaffen werden. Gegen
den vorgelegten Entwurf legte die Verwerterseite massiven Einspruch ein und
nutzte dabei vor allem die Einflussmöglichkeiten des Bundeswirtschaftsminis-
teriums. Die im Jahr 2002 in Kraft getretenen Regelungen bewährten sich letzt-
lich in der Praxis nur unzureichend. Das Urhebervertragsrecht wurde deshalb in
der 18. Wahlperiode (2013–2017) erneut novelliert.
Ein wirklicher Schock war in der ersten Amtszeit von Rot-Grün die Absen-
kung des Bundeszuschusses zur Künstlersozialversicherung durch das Haus-
haltssanierungsgesetz im Jahr 1999. Die Bundesregierung senkte den Bundes-
zuschuss zur Künstlersozialversicherung von 25 auf 20 Prozent ab, was zur F­ olge

1 Deutscher Literaturfonds, Deutscher Übersetzerfonds (Gründung 1997), Fonds darstellende Künste,


Fonds Soziokultur, Musikfonds (Gründung erst 2017) und Stiftung Kunstfonds.
2 Mitglieder des Stiftungsbeirats sind aktuell: Prof. Dr. Klaus-Dieter Lehmann (Goethe-Institut) als Vorsit-
zender, Prof. Dr. Markus Hilgert (Kulturstiftung der Länder), Prof. Ulrich Khuon (Deutscher Bühnen-
verein), Prof. Dr. Eckart Köhne (Deutscher Museumsbund), Prof. Martin Maria Krüger (Deutscher Musikrat),
Dr. Franziska Nentwig (Kulturkreis der deutschen Wirtschaft im BDI), Regula Venske (P.E.N.-Zentrum
Deutschland), Frank Werneke (ver.di) und Olaf Zimmermann (Deutscher Kulturrat).
3 Mitglieder des Stiftungsrats sind aktuell: Staatsministerin Prof. Monika Grütters, MdB (Stiftungsratsvor­
sitzende); Staatsministerin Michelle Müntefering für das Auswärtige Amt; Parlamentarische Staats-
sekretärin Bettina Hagedorn, MdB für das Bundesministerium der Finanzen; Bundestagspräsident a. D.
Prof. Dr. Norbert Lammert; Burkhard Blienert; Marco Wanderwitz, MdB für den Deutschen Bundestag;
Rainer Robra, Chef der Staatskanzlei und Minister für Kultur Sachsen-Anhalt sowie Dr. Eva-Maria
Stange, Sächsische Staatsministerin für Wissenschaft und Kultur für die Kultusministerkonferenz; Klaus
Hebborn, Deutscher Städtetag sowie Uwe Lübking, Deutscher Städte- und Gemeindebund als Ver-
treter der Kommunen; Ministerpräsident Tobias Hans für den Stiftungsrat der Kulturstiftung der Länder;
Prof. Dr. Benedicte Savoy, Technische Universität Berlin, Dr. Hartwig Fischer, British Museum und
Prof. Dr. Wolf Lepenies als Persönlichkeiten aus Kunst und Kultur.
4 Verfasst wurde er von den anerkannten Urheberrechtsexperten: Prof. Dr. Dr. Schricker, Dr. Nordemann,
Dr. Loewenheim, Prof. Dr. Dietz und Dr. Vogel.

1. — Einleitung
hatte, dass die Verwerter künstlerischer freiberuflicher Leistungen einen deut-
lich höheren Anteil 1 erbringen mussten. Grundlage für diese Änderung war ein
Gutachten des ifo-Instituts zur Einkommenszusammensetzung selbständiger
Künstler sowie Empfehlungen des Bundesrechnungshofes. Beide, ifo-Institut
und Bundesrechnungshof, gingen davon aus, dass der Selbstvermarktungsan-
teil der Künstler geringer sei als angenommen und daher der Bundeszuschuss,
der für diesen Selbstvermarkteranteil 2 steht, gesenkt werden kann. Die künst-
lersozialabgabepflichtigen Unternehmen sollten für den Anteil an Verwertungen
aufkommen, die über den professionellen Markt erzielt werden. Die Vorschläge
zur Absenkung des Bundeszuschusses lagen schon länger vor, wurden von den
unionsgeführten Bundesregierungen allerdings nicht umgesetzt.
Die ohnehin durch das Gesetz erfolgende Mehrbelastung von Verwertern
traf Unternehmen jener Sparten besonders hart, die zuvor einen geringen Hebe-
satz hat. Nach Einführung der Künstlersozialversicherung im Jahr 1983 bis zum
Jahr 1989 bestand ein einheitlicher Hebesatz, also der Prozentsatz an Künstlerso-
zialabgabe, der auf die gezahlten Honorare an freiberufliche Künstler fällig wur-
de. Danach wurden die Hebesätze entsprechend der Berufsgruppen Wort, Bilden-
de Kunst, Musik und Darstellende Kunst bemessen. Damit sollte die sogenann-
te Fremdnützigkeit der Abgabe vermieden werden im Klartext: Die Abgabe von
Musikunternehmen sollte beispielsweise nicht die von Galeristen ausgleichen.3
Die Einführung eines einheitlichen Abgabesatzes von vier Prozent stieß insbe-
sondere in der Musikwirtschaft auf harsche Proteste. Trotz verschiedener Refor-
men des Künstlersozialversicherungsgesetzes wurde seither weder am einheitli-
chen Hebesatz noch am abgesenkten Bundeszuschuss gerührt.
Die Verwerterverbände protestierten gegen diese Veränderung scharf und
brachten erneut eine mögliche Klage zur Verfassungskonformität des Künstler-
sozialversicherungsgesetzes aufs Tapet. Ein Vorhaben, das glücklicherweise nicht
in die Tat umgesetzt wurde.

1 Der Beitrag zur Künstlersozialversicherung wird zu 50 Prozent von den Versicherten und bis zum
01.01.2000 zu 25 Prozent von den Verwertern künstlerischer Leistungen und zu 25 Prozent
vom Bundeszuschuss erbracht. Nach dem 01.01.2000 änderte sich das Verhältnis folgendermaßen:
50 Prozent Versichertenanteil, 30 Prozent Verwerteranteil und 20 Prozent Bundeszuschuss.
2 Unter dem Selbstvermarkteranteil wird der Anteil verstanden, der ohne die Einschaltung eines
­professionellen Vermarkters direkt vom Künstler am Markt erzielt wird. Dazu zählen beispielsweise
­Direktverkäufe von Kunstwerken aus dem Atelier oder direkter Musikunterricht.
3 Die Hebesätze waren in den Jahren 1990 bis 1999 sehr unterschiedlich und betrugen in der Musik
teilweise 0 Prozent und reichten in der Bildenden Kunst bis zu 6,9 Prozent, der Kappungsgrenze.

Wachgeküsst
Die Diskussion innerhalb des Deutschen Kulturrates konzentrierte sich im Jahr
1999 und darüber hinaus vor allem darauf, dass alle Abgabepflichtigen tatsäch-
lich zur Zahlung herangezogen werden.1 Das BKM war bei diesen Debatten ein
wichtiger Gesprächspartner und hat sich sukzessive stärker in die Diskussion und
den Gesetzgebungsprozess eingebracht.
Ein weiteres wichtiges Gesetzgebungsvorhaben in der Wahlperiode 1998–
2002 war die Reform der Besteuerung ausländischer Künstlerinnen und Künstler,
die in Deutschland auftreten. Dabei ging es darum, die bestehenden Verfahren zu
entbürokratisieren und Entlastungen umzusetzen. Hier war das BKM ein wichti- 044
ger Kombattant und hat die Bestrebungen, beim Bundesfinanzministerium Ver-
änderungen durchzusetzen, nachdrücklich flankiert und unterstützt. 045
Ferner galt es eine gesetzgeberische Antwort auf das drohende Wettbe-
werbsverfahren der EU-Kommission gegen die grenzüberschreitende Buch-
preisbindung zwischen Deutschland, Österreich und der Schweiz zu finden. In
Deutschland bestand bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts der gebundene La-
denpreis für Bücher, zunächst auf vereinsrechtlicher Grundlage des Börsenver-
eins später mittels sogenannter Sammelrevers. Ab 1993 bestanden grenzüber-
schreitende Sammelrevers u. a. mit Österreich. Nach dem Beitritt Österreichs zur
EU wurde diese Regelung von der EU-Kommission in Frage gestellt und 1998 ein
Vertragsverletzungsverfahren angekündigt. Die Bundesregierung hat hierauf mit
dem Buchpreisbindungsgesetz reagiert, das von Staatsminister Nida-Rümelin
nach dem Vorbild französischer Regelungen auf den Weg gebracht worden war.
Lässt man die Amtszeiten von Michael Naumann und Julian Nida-Rüme-
lin Revue passieren, so waren sie entsprechend der Aussagen im Koalitionsver-
trag stärker davon geprägt, der Kultur insgesamt mehr Gewicht zu verleihen
als in die Gesetzgebungsmaschinerie einzugreifen. Insbesondere Michael Nau-
mann kann nicht abgesprochen werden, mit seiner eigenen Art, dem Amt Sta-
tur und vor allem öffentliche Wahrnehmung gegeben zu haben. Julian Nida-Rü-
melin war zum einen darauf bedacht, das zerbrochene Porzellan, insbesondere
im Verhältnis zwischen Bund und Länder, das Naumann durch seinen »Verfas-
sungsfolklore Vergleich«2 erzeugt hatte, wieder zu kitten und zum anderen sich
in die Kulturgesetzgebung einzubringen. Er war in dieser Hinsicht ein deutlich
stärkerer Praktiker und erfolgreicher Macher, als der ihm vorauseilende Ruf des
schöngeistigen Philosophen erwarten ließ. Nida-Rümelin war es auch, der das
Gespräch mit den Verbänden suchte und pflegte, was für die Wertschätzung des
Amtes von großer Bedeutung war.

1 Obwohl Verwerter künstlerischer Leistungen gesetzlich verpflichtet waren, sich selbst bei der Künstler­
sozialversicherung als abgabepflichtig zu melden, war die Kenntnis über Abgabepflicht insbesondere
bei Unternehmen außerhalb der Kulturwirtschaft verbesserungsbedürftig. Das führte dazu, dass letztlich
die Unternehmen, die ihrer Verpflichtung nachkamen, »die Dummen« waren und für die Unternehmen
­mitzahlten, die der Abgabepflicht nicht nachkamen.
2 Naumann a. a. O.

1. — Einleitung
Bundestagswahl 2002 –
Bleiben die neuen Strukturen erhalten?

Nach der ersten Legislaturperiode mit BKM stellte sich die Frage, ob das Expe-
riment in der folgenden Wahlperiode eine Fortsetzung finden würde. Entspre-
chend stellte der Deutsche Kulturrat im Jahr 2002 zur Bundestagswahl den Par-
teien die Fragen »Planen Sie eine Ausdehnung der Kompetenzen des Staatsmi-
nisters für Kultur und Medien? Sollten die kulturpolitischen Materien inner-
halb der Bundesregierung noch weiter gebündelt werden?«1 Dahinter verbarg
sich letztlich die Frage, ob ein Bundeskulturministerium eingerichtet wird. Was
den Ausschuss für Kultur und Medien betraf, wurde gefragt »Werden Sie sich für
eine Aufwertung des Ausschusses für Kultur und Medien des Deutschen Bun-
destags einsetzen?« 2
Die SPD geht in ihrer Antwort auf den Bedeutungszuwachs von Kultur und
Kulturpolitik seit der Einführung des BKM ein und schreibt »Gleichwohl wird
das Amt ›Des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien‹ (BKM)
noch stärker zu institutionalisieren sein. Zu klären sind seine Zuständigkeiten
insbesondere in den Bereichen der Auswärtigen Kulturpolitik, der Medienpoli-
tik, der kulturellen und politischen Bildung.« 3 Damit wurden im Jahr 2002 The-
men angeschnitten, die bei den nachfolgenden Bundestagswahlen und Koaliti-
onsverhandlungen immer wieder eine Rolle spielen sollten. Das gilt im Spezi-
ellen für die Abgrenzung bzw. das Miteinander von Kulturpolitik im Inland und
im Ausland.
CDU und CSU, die die Fragen gemeinsam beantwortet haben, heben in ihrer
Antwort zuerst darauf ab, dass es keine »Bundeskultur« gibt, die Förderung der
Kultur durch den Bund mit gleicher Selbstverständlichkeit wie die durch die Län-
der oder Kommunen erfolgt, »wenn die Bundesrepublik Deutschland ihren An-
spruch als Kulturstaat ernst meint«.4 Sie unterstreichen, dass Bundeskulturpo-
litik nicht erst mit der Einführung des BKM begonnen hat und sparen nicht mit
dem Hinweis, dass sich die Kulturausgaben des Bundes in der Amtszeit von Bun-
deskanzler Kohl verdreifacht hätten, seit Schaffung des BKM allenfalls stagnie-
ren. Zu der Frage zum Amt BKM schreiben CDU/CSU: »Zur Förderung der origi-
nären kulturpolitischen Aufgaben auf Bundesebene und ihrer Identifizierung von
innen wie von außen hält die Union ein hochrangiges Amt für unverzichtbar, des-
sen Zuschnitt und Verantwortungsbereich allerdings nicht unabhängig von an-
deren Ressorts gesehen werden kann. […] Ziel der Union ist es, Kunst und Kul-
tur zu fördern und zu stärken und die Rahmenbedingungen, u ­ nter denen sie ent-

1 Politik & Kultur. Zeitung des Deutschen Kulturrates. Sonderausgabe zur Bundestagswahl 2002.
Hg. v. Olaf Zimmermann und Theo Geißler. S. 5
2 Ebd. S. 5
3 Ebd. S. 3
4 Ebd. S. 12

Wachgeküsst
steht, zu verbessern«.1 Mit Blick auf den Ausschuss für Kultur und Medien wird
formuliert: »Der Ausschuss für Kultur und Medien des Deutschen Bundestages
bildet nicht nur die gegenwärtige Zuständigkeit des Staatsministers im Bundes-
kanzleramt ab, sondern ist auch Zeichen der seit vielen Jahren verstärkt wahrge-
nommenen Kompetenz des Bundes für gesetzgeberische Fragen und für die Be-
dingungen, unter denen sich kulturelles Leben entfalten kann. Insofern ist seine
Zuständigkeit für die nationale wie für die auswärtige Kulturpolitik folgerichtig.«2
Bündnis 90/Die Grünen verweisen in ihrer Antwort auf die gestiegene Wert-
schätzung und Bedeutung der Kulturpolitik vonseiten des Bundes und folgern 046
daraus: »Wir werden uns in diesem Zusammenhang auch dafür einsetzen, dass
die Federführung von schwerpunktmäßig kulturpolitischen Themen im Kultur- 047
ausschuss bleibt. Wir gehen sogar noch einen Schritt weiter: wir fordern die Ein-
richtung eines Bundeskulturministeriums, das – mit eigenem Personalstab und
eigenem Haushalt ausgestattet – die Arbeit des Staatsministers für Kultur und
Medien effektiv fortführen kann.« 3
Die FDP spricht in ihrer Antwort ein Thema an, dass in der 15. Wahlperiode
des Deutschen Bundestags und der zweiten Rot-Grünen Regierung eine wich-
tige Rolle spielen sollte, die Entflechtung der Aufgaben von Bund und Ländern.
Sie formulieren: »Um so dringender bedarf es in Abstimmung mit den Ländern
der Klärung der Frage nach den Zuständigkeiten von Kommune, Land und Bund
(vertikale Entflechtung). Parallel dazu bedarf es einer umfassenden und eindeu-
tigen Aufgabenbeschreibung der Kulturpolitik auf Bundesebene im Rahmen ei-
ner horizontalen Entflechtung, d. h. der Bündelung der kulturpolitischen Rege-
lungskompetenzen beim Staatsminister für Kultur und Medien wie auch beim
Kulturausschuss des Deutschen Bundestages. So etwa sollte die kulturelle Auf-
gabenstellung der Mittlerorganisationen deutscher Kultur im Ausland eine Ent-
sprechung in ihrer administrativen Zuordnung der Bundesregierung finden.«4 Ob
damit verklausuliert gesagt wird, dass die auswärtige Kulturpolitik in das BKM
eingegliedert werden soll oder ob es Bekenntnis zur bestehenden Zuordnung
zum Auswärtigen Amt ist, bleibt unklar.
Die PDS antwortet auf die Fragen des Deutschen Kulturrates, dass sie »sich
für eine weitere Aufwertung des Ausschusses für Kultur und Medien« einsetzen
wird und weiter: »zweifellos hängt der Stellenwert des Ausschusses auch mit dem
künftigen Status des Beauftragten der Bundesregierung für die Angelegenheiten
der Kultur und der Medien zusammen.« 5
Eines machen die Aussagen der Parteien vor der Wahl 2002 deutlich, auf den
Ausschuss für Kultur und Medien will keine Partei verzichten und zumindest das
Amt eines Staatsministers für Kultur und Medien scheint gesetzt zu sein. Die-

1 Ebd. S. 12
2 Ebd. S. 12
3 Ebd. S. 16
4 Ebd. S. 20
5 Ebd. S. 22

1. — Einleitung
ses ist ohne Zweifel ein Erfolg der zwei Kulturstaatsminister, Michael Naumann
und Julian Nida-Rümelin, sowie der zwei Vorsitzenden des Kulturausschusses,
Elke Leonhard und Monika Griefahn, und nicht zu vergessen, der kulturpoliti-
schen Sprecherinnen und Sprecher der Fraktionen. Sie alle profitierten von der
stärkeren Wahrnehmung des Kulturbereiches auf der Bundesebene. Ganz unbe-
scheiden will ich hinzufügen, dass auch der Deutsche Kulturrat, der gemeinsam
mit anderen diese Strukturen gefordert hatte, seinen Anteil am Erfolg von BKM
und Ausschuss hatte. Indem kulturpolitische Fragen zum Thema gemacht wur-
den, indem ein Verband wie der Deutsche Kulturrat, der zwar vom Bund finan-
ziert wird und dennoch seine eigene Agenda verfolgt, immer wieder Regierung
und Parlament zum Handeln aufgefordert hat, gab es eine lebendige Diskussion
zur kulturpolitischen Agenda des Bundes. Dass dabei, wie gezeigt, in der ersten
Amtszeit des BKM keineswegs alles »rund« lief und es daher ausreichend Grund
für Kritik und Auseinandersetzung gab, tat das Übrige hinzu.
Weitere Fragen des Deutschen Kulturrates bezogen sich auf die Auswärtige
Kulturpolitik, die Sozial- und Arbeitsmarktpolitik im Kulturbereich, die Steuer-
politik für Kunst und Kultur, die Weiterentwicklung des Urheberrechts, die Kul-
turpolitik in der Bürgergesellschaft, kulturelle Bildung in der Wissensgesellschaft
sowie die Film- und Medienpolitik. Die acht Fragenkomplexe mit insgesamt 83
Fragen vermitteln einen Eindruck von den enormen Erwartungen an eine star-
ke Kulturpolitik des Bundes.

Christina Weiss:
Kultur als Subvention

Der 2002 geschlossene Koalitionsvertrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen
für die zweite Rot-Grüne Bundesregierung stand unter der Überschrift »Erneue-
rung – Gerechtigkeit – Nachhaltigkeit. Für ein wirtschaftlich starkes, soziales und
ökologisches Deutschland. Für eine lebendige Demokratie«. In der Präambel des
Koalitionsvertrags kündigen die Koalitionspartner an, dass vier Jahre harter Ar-
beit vor ihnen liegen, in denen sie »durch klare Orientierung Sicherheit vermit-
teln und mit Augenmaß handeln« 1 wollen. Mit Blick auf die gesetzten Ziele wer-
den in der Präambel vier Aufgaben genannt, die alle andere überragen sollten:

—— » Der Abbau der Arbeitslosigkeit und der Staatsschulden


als größte Erblasten der Vergangenheit.
—— Die Förderung von Bildung, Familie, Gesundheit,
Integration und besseren ­öffentlichen Dienstleistungen
als drängendste Aufgaben der Gegenwart.

1 S
 PD, Bündnis 90/Die Grünen. Koalitionsvertrag 2002–2006: Erneuerung – Gerechtigkeit – Nachhaltigkeit.
Für ein wirtschaftlich starkes, soziales und ökologisches Deutschland. Für eine lebendige Demokratie. S. 7

Wachgeküsst
—— D ie Vorsorge für eine friedliche und gerechte Welt.
—— Die Politik einer nachhaltigen Entwicklung, die uns auf den
Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen verpflichtet.«1

Die Kulturpolitik ist im Koalitionsvertrag im Kapitel VIII. Sicherheit, Toleranz


und Demokratie mit der Überschrift »Kultur- und Medienpolitik« verortet. Gleich
zu Beginn wird klargestellt: »Kultur ist elementare Voraussetzung einer offenen,
gerechten und zukunftsfähigen Gesellschaft. Sie wird für das Zusammenleben in
einer sozial und ethnisch divergierenden Gesellschaft immer wichtiger. Dazu ge- 048
hört auch die Förderung der kulturellen Bildung von Kindern und Jugendlichen
und die Öffnung der Kulturen der Migranten und Migrantinnen. Die kulturellen 049
Güter sind öffentliche Güter und müssen für alle zugänglich sein.« 2
Bemerkenswert ist im Rückblick auf diesen Koalitionsvertrag, dass dem The-
ma Integration, speziell der kulturellen Integration und der Anerkennung einer
diversen Gesellschaft, gleich in den ersten Sätzen ein wichtiger Stellenwert ein-
geräumt wird. Zugleich muss selbstkritisch gesagt werden, dass dieser Appell
noch nicht die Wirkung entfaltet hat, wie zu erhoffen gewesen wäre. Der Deut-
sche Kulturrat selbst hat die Fragestellung vor allem unter dem Blickwinkel der
kulturellen Bildung betrachtet und in einem vom Bundesministerium für Bil-
dung und Forschung geförderten Projekt zusammen mit Migrantenorganisatio-
nen Vorschläge für eine stärkere Partizipation von Migrantinnen und Migranten
an kultureller Bildung sowie der stärkeren Wahrnehmung von Angeboten kultu-
reller Bildung von Migrantenorganisationen formuliert. Als wichtige Vorhaben
werden im Koalitionsvertrag u. a. genannt:

—— W eitere Verbesserung der rechtlichen Rahmenbedingungen


—— Einführung einer Ausstellungsvergütung für bildende Künstlerinnen
und Künstler
—— Verfolgen der Idee eines modernen Künstlergemeinschaftsrechts
—— Einrichtung einer Enquête-Kommission »Kultur in Deutschland«, die sich
u. a. mit der sozialen Lage der Künstler und Künstlerinnen befassen soll
—— Systematisierung der Kulturförderung mit dem Ziel einer klaren Verantwor-
tungsteilung im kooperativen Kulturföderalismus

Von den gesetzten Zielen wurde weder eine Ausstellungsvergütung für bilden-
de Künstlerinnen und Künstler noch ein modernes Künstlergemeinschaftsrecht
eingeführt. Hinsichtlich der Ausstellungsvergütung ist allerdings zu bedenken,
dass hierzu auch innerhalb der Künstlerverbände 3 Uneinigkeit über die Ausge-

1 Ebd. S. 7 f.
2 Ebd. S. 69
3 Insbesondere Bundesverband Bildender Künstlerinnen und Künstler
sowie Fachgruppe Bildende Kunst in ver.di.

1. — Einleitung
staltung bestand, sodass der Ball von der Politik in deren Feld zurückgespielt
wurde.1 Im Rückblick kann festgehalten werden, dass seinerzeit eine Chance ver-
tan wurde und mehr Einigkeit innerhalb der Künstlerverbände vielleicht gehol-
fen hätte, Ausstellungsvergütungen bundesweit durchzusetzen.
Mit Blick auf das Urheberrecht wird ein angemessener Ausgleich zwischen
den Interessen der Urheber und der Nutzer angestrebt. Weiter soll der freie Zu-
gang zum Internet weitgehend erhalten bleiben und der Schutz vor Raubkopien
verstärkt werden.
Das Amt des Staatsministers für Kultur und Medien wurde wiederum als
Impulsgeber, Ansprechpartner und Interessenvertreter für die Kultur beschrie-
ben. Die Arbeit der vorangegangenen vier Jahre wurde als erfolgreich bezeichnet.
Staatsministerin für Kultur und Medien war in der 15. Wahlperiode, die auf-
grund der vorgezogenen Neuwahlen von 2002 bis 2005 dauerte, die parteilose
Christina Weiss, die zuvor u. a. Kultursenatorin in Hamburg war. Aus den kul-
turpolitischen Debatten in dieser Legislaturperiode sollen im Folgenden her-
ausgehoben werden:

—— Föderalismusdebatte
—— Diskussion um die Konvention Kulturelle Vielfalt
—— Staatsziel Kultur
—— Kultur als Subvention oder Investition

In der Föderaliskommission I ging es darum, die Zuständigkeiten von Bund und


Ländern klarer voneinander zu trennen und die Zahl im Bundesrat zustimmungs-
pflichtiger Gesetze zu senken. Es hatte sich in den letzten Wahlperioden heraus-
kristallisiert, dass die Länder mittels Zustimmung oder Ablehnung im Bundesrat
die Bundespolitik stark mitgestalteten und sehr oft eher parteipolitische als Län-
derinteressen dabei handlungsleitend waren. Dieses musste auch die erste Regie-
rung Schröder leidvoll erfahren, die mit einer Mehrheit in Bundestag und Bun-
desrat startete und aufgrund von Veränderungen in den Landesparlamenten und
anders zusammengesetzten Landesregierungen mit Gesetzesvorhaben auf Wi-
derstand im Bundesrat stieß.
Ein »Zankapfel« zwischen Bund und Ländern war die Bildungspolitik. Im
Zuge der Agenda-2010-Reformen der Regierung Schröder wurde u. a. ein Ganz-
tagsschulprogramm auf den Weg gebracht, um mehr Kindern und Jugendlichen
den Zugang zum Ganztag in der Schule zu ermöglichen. Dieses Ganztagschul-

1 Der Deutsche Kulturrat hatte am 11.12.2003 in seiner Stellungnahme »Vorbereitung eines Zweiten
Gesetzes zur Regelung des Urheberrechts in der Informationsgesellschaft (2. Korb) unter 5. Verbesserung
der Position Bildender Künstler formuliert: »Im Vergleich zu Urhebern anderer künstlerischer Sparten
besteht eine strukturelle Benachteiligung Bildender Künstler, deren Werke ebenso wie die Werke musi­
kalischer Autoren der Öffentlichkeit überall zugänglich gemacht werden, ohne allerdings hierfür Ver-
gütungen zu erhalten. Der Deutsche Kulturrat fordert die Bundesregierung im jetzt anstehenden Gesetz­
gebungsverfahren auf, diese strukturelle Benachteiligung zu beseitigen.« ⟶ https://bit.ly/2xlMbmd

Wachgeküsst
programm und eine Priorisierung bildungspolitischer Vorhaben der Bundesregie-
rung, brachte offenbar bei den Ländern das sprichwörtliche Fass zum Überlaufen.
Dabei war das Problem nicht neu. Bereits im Jahr 1977 erklärte die Kultus-
ministerkonferenz in ihrer Erklärung zur »Zuständigkeit der Länder für über-
regionale Angelegenheiten im Kunst- und Kulturbereich« vom 17./18. Novem-
ber 1977: »Die Kultusminister und -senatoren beobachten mit Sorge die wach-
sende Aushöhlung der im Grundgesetz festgelegten Zuständigkeit der Länder
für Kunst- und Kulturpflege. Dies gilt insbesondere für die unzureichende ge-
meinsame Finanzierung kultureller Einrichtungen, deren Wirkungsbereich sich 050
über die Grenzen des einzelnen Landes hinaus erstreckt. Die Konsequenz ist,
daß der Bund zunehmend einspringt und dadurch Zuständigkeiten an sich zieht, 051
die nach der Verfassung Ländersache sind. Die Kultusminister und -senatoren
wenden sich daher an die Parlamente und die Regierungschefs der Länder mit
der Bitte, dabei mitzuwirken, daß die für die Kulturarbeit aller Länder wichti-
gen überregionalen Kultureinrichtungen stärker als bisher ländergemeinsam ge-
fördert und finanziert werden können und auch zukünftigen Anträgen auf För-
derungen derartiger Institutionen aufgeschlossener begegnet werden kann.« 1
Diese Erklärung reagierte auf die Grundgesetzänderungen der ersten Gro-
ßen Koalition (1966–1969), in denen Gemeinschaftsaufgaben eingeführt wur-
den, so auch die Gemeinschaftsaufgabe Bildungsplanung, in deren Folge die
Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (BLK)
eingerichtet wurde. Die BLK, die von Bund und Ländern gebildet wurde, hat im
Kulturbereich besonders im Feld der kulturellen Bildung von sich reden gemacht.
Zahlreiche finanziell gut ausgestattete Modellversuche, die in mehreren Ländern
durchgeführt wurden, haben dem Feld der kulturellen Bildung wichtige Impul-
se gegeben und modellhaft Vermittlungsformen erprobt. Dabei stand beispiels-
weise in den 1990er Jahren der künstlerische Umgang mit neuen Medien im Vor-
dergrund der Vorhaben. Darüber hinaus gingen von der BLK gestützt auf Modell-
vorhaben Impulse für die Weiterentwicklung von Studiengängen an Kunst- und
Musikhochschulen aus. Ansprechpartner und Hauptfinanzier auf Bundesebene
war das Bundesministerium für Bildung und Forschung.
Mit Blick auf das BKM waren weniger die Debatten um gemeinsame An-
strengungen von Bund und Ländern in Bildungsfragen relevant als vielmehr die
Frage, was der Bund fördern darf, ob er sich zu sehr in Länderangelegenheiten
einmischt und inwiefern die Länder adäquat eingebunden werden. Dabei zeich-
nete sich in den Debatten durchaus ein Nord-Süd-Konflikt ab. Insbesondere süd-
deutsche Länder beharrten auf ihrer Kulturhoheit und einer Einschränkung der
Aktivitäten des Bundes. Ein Kristallisationspunkt der Diskussionen war u. a. die
Übernahme der Akademie der Künste in Berlin in die Trägerschaft des Bundes.
Die Akademie der Künste, die zuvor von den Ländern Berlin und Brandenburg
mehr schlecht als recht finanziert wurde, sollte in die Finanzierungsverantwor-

1 Zitiert nach: Deutscher Kulturrat (Hg.): Nach 40 Jahren – ein bißchen weise? a. a. O., S. 155

1. — Einleitung
tung des Bundes übergehen und einen kulturpolitischen Beratungsauftrag über-
nehmen. Das Land Baden-Württemberg drohte zunächst, hiergegen Verfassungs-
klage zu erheben, sah dann aber schließlich davon ab. Die berechtigte Sorge, eine
solche Klage vor dem Bundesverfassungsgericht verlieren zu können und die da-
raus folgenden möglichen einschneidenden Veränderungen bei der Zuständig-
keit der Länder für Kulturfragen, die mit Blick auf die Kulturförderung auch zu
ihren Lasten gehen könnten, war offensichtlich zu groß.
Weiter wurde im Rahmen der Föderalismuskommission I und der Föderalis-
muskommission II, die in der darauffolgenden Wahlperiode eingesetzt wurde, ve-
hement darüber gestritten, unter welchen Voraussetzungen der Bund Kultur för-
dern darf, inwiefern die Länder zustimmen müssen und ob die Bundesförderung
nicht »gerechter« verteilt werden müsste. Ein weiteres Thema war die Fusion der
Kulturstiftung des Bundes und der Kulturstiftung der Länder. Der Deutsche Kul-
turrat hat letztere Diskussion engagiert begleitet und die Chance genutzt, eine
stärkere Einbindung der Kulturverbände in die Programmplanung sowie in die
Gremien der geplanten »Deutschen Kulturstiftung« einzufordern.1 Ebenso hat
der Deutsche Kulturrat in der Diskussion um die Entflechtung von Bund und Län-
dern im Kulturbereich unterstrichen, dass die Kulturzuständigkeit des Bundes
sich nicht in der Kulturförderung erschöpft, sondern vielmehr der Bund mit der
Gestaltung der Rahmenbedingungen für Kunst und Kultur wesentlich Kulturpo-
litik gestaltet. Darüber hinaus wird in einem Diskussionspapier deutlich gemacht,
dass die Zivilgesellschaft ein wichtiger Partner der Kulturpolitik ist. Mit Blick auf
die Länder wird in dem Diskussionspapier »Kulturzuständigkeit ist mehr als Kul-
turförderung! Diskussionspapier des Deutschen Kulturrates zur Entflechtung der
Kompetenzen von Bund und Ländern« formuliert: »Daneben ist eine Stärkung der
kulturpolitischen Dimension der Kultusministerkonferenz ausgesprochen wün-
schenswert. Sie bedarf allerdings keiner gesetzlichen Veränderung. Sie muss le-
diglich von den Ländern praktiziert werden.« 2 Eine Aufforderung, die angesichts
von aktuellen Diskussionen unter Kulturministerinnen und Kulturministern zur
Gründung einer Kulturministerkonferenz unter dem Dach der Kultusminister-
konferenz von neuer Relevanz ist.3
Abgeschlossen wurde die Neuregelung der Bund-Länder-Beziehungen in
der 16. Wahlperiode (2005–2009). Hier hatten CDU, CSU und SPD bereits im Ko-
alitionsvertrag die Eckpunkte für die Föderalismusreform vereinbart. Sie hatte
u. a. zur Folge, dass die BLK aufgelöst wurde und daher Bund und Länder keine
gemeinsame Struktur mehr für Absprachen und Modellvorhaben im Bildungs-

1 Resolution »Deutsche Kulturstiftung als Chance?! Deutscher Kulturrat fordert inhaltliche


und strukturelle Sicherung der Deutschen Kulturstiftung« ⟶ https://bit.ly/2NhZ8Ze
2 Kulturzuständigkeit ist mehr als Kulturförderung! Diskussionspapier des Deutschen Kulturrates
zur Entflechtung der Kompetenzen von Bund und Ländern ⟶ https://bit.ly/2NNY6Dy
3 Stange, E.-M.: Ein gemeinsamer Länderrat für die Kultur. Bundesländer wollen mit neuem
Gremium mehr Mitsprache in der Kultur. In: Politik & Kultur 5/2018, S. 1 f.

Wachgeküsst
bereich haben.1 Die Kulturstiftung des Bundes und die Kulturstiftung der Län-
der wurden nicht fusioniert. Sie kooperieren und arbeiten nun in den Feldern
zusammen, in denen es sich anbietet. Das »Eckpunktepapier für die Systemati-
sierung der Kulturförderung von Bund und Ländern und für die Zusammenfüh-
rung der Kulturstiftung des Bundes und der Kulturstiftung der Länder zu einer
gemeinsamen Kulturstiftung« wurde nicht verabschiedet. Systematisiert wur-
de allerdings die Zuständigkeit für den Schutz von deutschem Kulturgut vor der
Abwanderung in das Ausland. Gesetzgeberisch zuständig ist der Bund, die Län-
der führen das Gesetz aus. 052
In der Rückschau kann festgestellt werden, dass alles nicht so heiß geges-
sen wird, wie es gekocht wird. Weder haben die Länder in der Folge der Födera- 053
lismusreform II eine gemeinsame gesamtstaatliche Verantwortung für die Kul-
tur in Deutschland übernommen, noch wurde der Bund in seinen Aktivitäten
deutlich zurückgedrängt.
Das zweite große kulturpolitische Thema, das in der 15. Wahlperiode viele
Debatten bestimmte, war die Doha-Runde der GATS-Verhandlungen (General Ag-
reement on Trade in Services). Das GATS-Abkommen war im Jahr 1995 in Urugu-
ay geschlossen worden und zielte darauf ab, den Handel mit Waren und Dienst-
leistungen zu liberalisieren und damit zu weltweitem Handel und Wirtschafts-
wachstum beizutragen. Am Kultur- und Medienbereich sind die Verhandlungen
zu Beginn der 1990er Jahre ziemlich vorbeigegangen, sodass diverse Sektoren in
die Liberalisierung einbezogen worden waren. Aus dem öffentlich-rechtlichen
Rundfunk regte sich Ende der 1990er Jahre Widerstand. Der ARD-Vorsitzende
und Intendant des WDR, Fritz Pleitgen, hatte Ende der 1990er Jahre die Verhand-
lungsrunde in Seattle (USA) verfolgt und kam mit der Befürchtung zurück, dass
eine Liberalisierung des Dienstleistungssektors das Ende des öffentlich-rechtli-
chen Rundfunks bedeuten könnte, wenn keine Schutzmechanismen aufgebaut
werden könnten. Zusammen mit dem Deutschen Kulturrat führte die ARD unter
der Federführung des WDR mehrere Parlamentarische Abende mit Mitgliedern
des Ausschusses für Kultur und Medien des Deutschen Bundestags durch und
sensibilisierte für die Gefahren.
Im UNESCO-Kontext war es Kanada, das die Erarbeitung einer Konventi-
on zum Schutz der kulturellen Vielfalt voranbrachte. In Deutschland fand im
Dezember 2002 eine Konferenz des Deutschen Kulturrates in Zusammenarbeit
mit der Bundeszentrale für politische Bildung und in Kooperation mit dem Goe-
the-Institut hierzu statt. Einhellig bestand die Meinung, dass eine solche Kon-
vention erforderlich sei, um die Kultur vor übermächtigen US-amerikanischen
Konzernen zu schützen. Im Fokus stand dabei neben der Kulturförderung vor al-
lem auch das Urheberrecht. Hier bestand die Besorgnis, dass US-amerikanische

1 W
 ie wenig sich die strikte Trennung von Bund und Ländern in Bildungsfragen bewährt, ist daran
zu sehen, dass in der 18. Wahlperiode eine Grundgesetzänderung vorgenommen wurde, um mehr
­Engagement des Bundes in der Forschungsförderung zu ermöglichen.

1. — Einleitung
Firmen als Trittbrettfahrer Regelungen des europäischen Urheberrechts für sich
nutzen könnten und europäischen Anbietern nicht die entsprechenden Schutz-
standards in den USA bieten würden.
Auf UNESCO-Ebene wurde binnen weniger Jahre von 2003 bis 2005, für
UNESCO-Verhältnisse in Windeseile, die »Konvention über den Schutz und die
Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen« (Konvention Kulturelle
Vielfalt) erarbeitet. Sie wurde bei der UNESCO-Konferenz 2005 in Paris verab-
schiedet. Bereits 2007 wurde das Abkommen in Kraft gesetzt, nachdem zuvor
die erforderliche Zahl an Vertragsstaaten es ratifiziert hatte. Die Bundesrepub-
lik Deutschland hat die Konvention Kulturelle Vielfalt ebenso ratifiziert wie die
Europäische Union.1
Einige strebten bei den Verhandlungen der Konvention Kulturelle Vielfalt
die gleiche völkerrechtliche Qualität an, wie sie internationale Handelsverträ-
ge haben. Die Konvention Kulturelle Vielfalt sollte u. a. dazu dienen, die Libe-
ralisierung des Handels mit Waren und Dienstleistungen im Kultur- und Medi-
enbereich aufzuhalten.2 Diese Erwartung hat sich nicht erfüllt. Dennoch soll-
te die Konvention Kulturelle Vielfalt nicht gering geschätzt werden. So wird in
Grundsatz 2 formuliert, dass die Vertragsstaaten kulturpolitische Maßnahmen
zur Sicherung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen vornehmen können. Ins-
besondere Kanada verweist heute hierauf, wenn in Handelsverträgen wie z. B.
CETA3 Schutzmaßnahmen für die kanadische Kulturwirtschaft ergriffen werden.
In Grundsatz 4 wird der Grundsatz der internationalen Solidarität und Zusam-
menarbeit formuliert. Er zielt darauf ab, Künstlern und Unternehmen der Kul-
turwirtschaft aus den Ländern des globalen Südens den Zugang zu den Märk-
ten des Nordens zu ermöglichen. Diese entwicklungspolitische Komponente der
Konvention Kulturelle Vielfalt bleibt vielfach unbeachtet, hat aber mit Blick auf
die UN-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung eine sehr aktuelle Bedeutung.
In Art. 4 Abs. 1 der Konvention Kulturelle Vielfalt wird die Technologieunabhän-
gigkeit der Schutzmechanismen definiert. Diese Technologieunabhängigkeit ist
insbesondere mit Blick auf neue Verbreitungswege von Kunst und Kultur – ak-
tuell besonders die digitalen Verbreitungswege – von Relevanz. Speziell der öf-
fentlich-rechtliche Rundfunk beruft sich hierauf, wenn es um seine Präsenz im
Netz und die Mediathekenangebote geht.
Die Konvention Kulturelle Vielfalt wird oft als »Magna Charta der Kultur-
politik« bezeichnet und tatsächlich muss sie immer wieder neu interpretiert und
angewandt werden. Sicherlich zu kurz gesprungen ist, wenn sie vor allem als Be-
rufungsgrundlage für Kulturförderung genutzt wird. Die Konvention Kulturelle
Vielfalt bietet mehr und verpflichtet auch zu mehr.

1 D ie USA haben die Konvention Kulturelle Vielfalt nicht ratifiziert, insofern findet sie dort keine Anwendung.
2 Nachgezeichnet wird der Entstehungsprozess der Konvention Kulturelle Vielfalt von verschiedenen
Autoren im Buch: Zimmermann, O./Geißler, T. (Hg.): TTIP, CETA & Co. Die Auswirkungen der Freihandels­
abkommen auf Kultur und Medien. 2. Erweiterte und veränderte Auflage, Berlin 2016
3 Comprehensive Economic and Trade Agreement; Freihandelsabkommen zwischen Kanada und der EU

Wachgeküsst
Besondere Aufmerksamkeit erhielt die Konvention Kulturelle Vielfalt im Zusam-
menhang mit den Verhandlungen des TTIP-Abkommens1 in der 18. Wahlperio-
de (2013–2017). Der Deutsche Kulturrat hat hier zusammen mit anderen Kultur-
verbänden, aber auch Verbänden und Organisationen aus anderen gesellschaft-
lichen Bereichen, insbesondere Gewerkschaften, Sozialverbänden und Umwelt-
schutzorganisationen, auf die Gefahren des Abkommens aufmerksam gemacht.
Verhandlungsführerin für internationale Handelsabkommen ist die EU-Kommis-
sion. Dem Deutschen Kulturrat ging es vor allem darum, die deutschen Politiker
und die Bundesregierung für die Gefahren für die kulturellen Dienstleistungen zu 054
sensibilisieren. Als ein Erfolg ist anzusehen, dass das BKM unter der Leitung von
Staatsministerin Monika Grütters und das Bundeswirtschaftsministerium unter 055
der Führung von Minister Sigmar Gabriel am 7. Oktober 2015 ein »Positionspapier
der Bundesregierung zu den TTIP-Verhandlungen der EU-Kommission mit den
USA im Bereich Kultur und Medien« veröffentlicht haben. Das Papier erschien
wenige Tage vor der Großdemonstration gegen TTIP mit mehr als 350.000 Teil-
nehmern, zu der ein breites Bündnis, zu dem auch der Deutsche Kulturrat gehör-
te, aufgerufen hatte. Im genannten Positionspapier wird Folgendes formuliert:

—— » Die Bundesregierung tritt im Rahmen der TTIP-Verhandlungen dafür


ein, dass das Abkommen keine Bestimmungen enthält, die geeignet sind,
die kulturelle und mediale Vielfalt in Deutschland zu beeinträchtigen.
—— Die Bundesregierung hält passgenaue, konkrete und rechtsverbindliche Vor-
kehrungen für erforderlich, die präzise und »maßgeschneidert« den Schutz
von Kultur und Medien in den relevanten Kapiteln des Abkommens absichern
und im EU-Rahmen Chancen auf Durchsetzbarkeit haben.
—— Die Bundesregierung tritt dafür ein, jedenfalls für Deutschland keine weite-
ren Verpflichtungen für Kultur und Medien aufzunehmen, als ohnehin in
WTO/GATS bereits gelten. Es sind entsprechende Ausnahmen, Vorbehalte
und Beschränkungen vorzusehen.
—— Der Schutz der kulturellen Vielfalt und der Meinungs- und Medienvielfalt
muss auch angesichts der Asymmetrie der Märkte im Internetsektor
sichergestellt werden. Während die Dominanz großer US-Unternehmen
im Internet und im Audiovisuellen Bereich eine Herausforderung für
die kulturelle und mediale Vielfalt in Europa darstellt, ist dies umgekehrt
angesichts des niedrigen Marktanteils europäischer Unternehmen in
den USA nicht der Fall.

1 Transatlantic Trade and Investment Partnership; Freihandelsabkommen zwischen den USA und der EU

1. — Einleitung
—— D
 ie bisher in Freihandelsabkommen geltenden Vorkehrungen, das heißt
Ausnahmen, Vorbehalte und Beschränkungen, müssen aus Sicht der Bundes­
regierung in TTIP ergänzt werden. Gerade mit Blick auf die Konvergenz der
Medien (Verschmelzung TV und Internet) und die Digitalisierung von Kul-
tur wie E-Books, Musik und Filme im Internet muss der Schutz von Kultur und
Medien in TTIP zukunftsfest ausgestaltet sein und auch zukünftige techno­
logische Entwicklungen erfassen können. Dies setzt den Erhalt des »Right to
Regulate« voraus.« 1

Dieses Positionspapier zeigt auch die veränderte Rolle des BKM. War in der Wahl-
periode 2002–2005 vor allem das Parlament der Ansprechpartner, werden in der
Wahlperiode 2013–2017 Parlament und Regierung gleichermaßen adressiert. Mit
Blick auf die Bundesregierung wird das BKM als zentraler Gesprächspartner ne-
ben dem Bundeswirtschaftsministerium angesehen. Dies führte dazu, dass dem
vom Bundeswirtschaftsministerium gebildeten TTIP-Beirat neben Vertretern der
Sozialpartner, der Kirchen, der mittelständischen Wirtschaft und der Umwelt-
schutzorganisationen auch drei Organisationen aus dem Kulturbereich ange-
hörten.2
In den Kontext der Debatten um die GATS-Verhandlungen der 15. Wahlpe-
riode gehört auch die um Kultur als Daseinsvorsorge bzw. die Diskussion um die
Einordnung von Kultur in das Reglement der Dienstleistungsdefinitionen der
EU-Kommission. Das ist vor allem deshalb relevant, weil je nach Zuordnung als
»Dienstleistung von allgemeinem Interesse« oder als »Dienstleistung von allge-
meinem wirtschaftlichen Interesse« Privatisierungen und Liberalisierungsmaß-
nahmen greifen. Insbesondere auf der europäischen Ebene bestand ein massives
Interesse daran, möglichst viele Dienstleistungen, so auch Kulturdienstleistun-
gen, als »Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse« zu qua-
lifizieren, um auf dieser Grundlage den Mitgliedsstaaten Wege für eine weitrei-
chende Privatisierung zu eröffnen und vor allem diese Dienstleistungen in mul-
tilaterale Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen einzubringen. Hin-
gegen genießen »Dienstleistungen von allgemeinem Interesse« einen höheren
Schutz vor Privatisierung und Liberalisierung. Ebenso können solche Dienst-
leistungen von EU-Mitgliedsstaaten durch öffentliche Mittel oder durch Gebüh-
ren bzw. Beiträge finanziert werden. Im Deutschen Kulturrat wurden intensive
Diskussionen zu »Kultur als Daseinsvorsorge« geführt und dabei ein enger Aus-
tausch und Diskurs mit dem BKM geführt.3

1 Zimmermann, O./Geißler, T. (Hg.): TTIP, CETA & Co. Die Auswirkungen der Freihandelsabkommen
auf Kultur und Medien. 2. Erweiterte und veränderte Auflage, Berlin 2016, a. a. O., S. 309 f.
2 Dem TTIP-Beirat gehörten aus dem Kulturbereich die Akademie der Künste in Berlin (Klaus Staeck),
der Börsenverein des deutschen Buchhandels (Alexander Skipis) und der Deutsche Kulturrat
(Olaf Zimmermann) an.
3 Im Ergebnis wurde am 29.09.2004 die Stellungnahme »Kultur als Daseinsvorsorge« verabschiedet,
die sich an Bund, Länder und Kommunen richtet. ⟶ https://bit.ly/2xlLsBF

Wachgeküsst
Weiter steht die Debatte um Kultur als Daseinsvorsorge und generell die öffent-
liche Finanzierung von Kultur im Kontext der auf allen staatlichen Ebenen ein-
geforderten Haushaltskonsolidierung und der dafür eingeforderten Einsparun-
gen. Den Vogel bei dieser Diskussion schossen die beiden damaligen Minister-
präsidenten Roland Koch (CDU), Ministerpräsident von Hessen, und Peer Stein-
brück (SPD), Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, mit dem sogenannten
Koch-Steinbrück-Papier ab, das im Jahr 2003 vorgelegt wurde.
Grundlage für dieses Papier waren Annahmen und Berechnungen des Kie-
ler Instituts für Weltwirtschaft, die sich nicht nur mit Steuererleichterungen, er- 056
mäßigten Mehrwertsteuersätzen, sondern auch mit Blick auf den Bund u. a. der
Kulturförderung auseinandergesetzt haben und umfassende Kürzungen des Kul- 057
turetats des Bundes vorgeschlagen hatten. Koch und Steinbrück begründeten
den angestrebten Abbau an Steuervergünstigungen sowie die vorgeschlagenen
Haushaltskürzungen folgendermaßen: »Ein umfassender und konsequenter Ab-
bau von Subventionen ist notwendig, um das gesamtstaatliche Defizit zu verrin-
gern und so einen wichtigen Beitrag dafür zu leisten, wieder einen Pfad finanz-
wirtschaftlicher Stabilität zu erreichen. Ist dies gewährleistet, könnte und sollte
der gewonnene Handlungsspielraum für eine zusätzliche Senkung der Steuern
genutzt werden. Diese Kombination ist zugleich ein unverzichtbarer Beitrag zur
Stärkung von Wachstum und Beschäftigung.« 1 Interessanterweise haben Koch
und Steinbrück, die immerhin in zwei Bundesländern Verantwortung trugen und
auch im Bundesrat nicht einflusslos waren, ausschließlich Vorschläge für den
Bund gemacht. Sie schreiben: »Im Mittelpunkt unserer Initiative mit konkreten
Vorschlägen stehen ausschließlich die Subventionen, die bundesrechtlich gere-
gelt sind. Denn nur diese Subventionen können unmittelbar durch Eingriffe in
bundesrechtliche Regelungen gekürzt werden.« 2 Von den Ländern erwarteten
sie: »Die einzelnen Länder sollen sich im Wege einer Selbstbindung verpflichten,
die von ihnen zu regelnden Subventionen im Gleichklang mit den Kürzungen auf
Bundesebene ebenfalls abzubauen. Notwendig ist dies auch deshalb, um einen
Subventionswettlauf zwischen den Ländern zu unterbinden. Jedem Land bleibt
es vorbehalten, gegebenenfalls stärkere Einschnitte vorzunehmen.« 3
Es ist das unbestreitbare Verdienst von Staatministerin Christina Weiss, dass
sie sich vehement gegen diesen Subventionsbegriff für den Kulturbereich ge-
wehrt hat und nach Kräften Kürzungen in ihrem Etat entgegentrat. In der Zei-
tung Politik & Kultur setzt sie sich mit dem »Angriff auf den Kulturetat« aus-
einander. Sie geht darin auf einen Beschluss der Finanzministerkonferenz vom
4. Dezember 2003 ein, der vorsieht, dass bei von Bund und Ländern mischfinan-
zierten Einrichtungen Kürzungen von zehn Prozent vorzusehen sind. Da dies

1 S ubventionsabbau im Konsens. Der Vorschlag der Ministerpräsidenten


Roland Koch und Peer Steinbrück. S. 4 ⟶ https://bit.ly/2Nj4DGM
2 Ebd.
3 Ebd. S. 5

1. — Einleitung
auch Kultureinrichtungen betreffen sollte, die mischfinanziert wurden, bot sie
den Ländern ihre Unterstützung an. Sie schrieb: »Ich glaube daran, dass sich eine
starke und feste Allianz der Kulturpolitiker des Bundes und der Länder erfolg-
reich gegen Versuche wehren kann, die Kultur auszutrocknen. Ich glaube dar-
an, dass wir als Allianz stark genug sind, um beweisen zu können, dass die Kul-
turpolitik kein weiches, allzu weiches Ressort ist, von dem man sich in sonnigen
Tagen beglänzen lässt, das man aber in schwierigen Zeiten für nachrangig hält.
Meine Zusage, für den Bund in einer solchen konzertierten Kultur-Aktion mit-
zuwirken, steht. Ich werde sie erst dann – und nur dann – zurücknehmen, wenn
sich herausstellt, dass finanzielle Auseinandersetzungen als Vehikel zur Schmä-
lerung der Bundeskompetenzen in der Kultur herhalten müssen.« 1 Als stehender
Begriff aus der Amtszeit Weiss als Kulturstaatsministerin bleibt, dass Kulturför-
derung keine Subvention, sondern eine Investition ist.
Angesichts der aktuellen Haushaltslage, in der Jahr für Jahr Steigerungen
des Kulturetats bekannt gegeben werden und von außen sich manchmal der Ein-
druck aufdrängt, dass BKM und die Berichterstatter für Kultur im Haushaltsaus-
schuss wetteifern, wer mehr finanzielle Mittel für die Kultur bereitstellt, erinnern
die Diskussionen aus der Wahlperiode 2002–2005 schmerzlich an andere Zeiten.
In der Bundesrepublik bestand eine große Arbeitslosigkeit, die Verschul-
dung der öffentlichen Haushalte stieg und stieg. Haushaltskürzungen auch im
Kulturbereich waren sowohl im Bund als auch in den Ländern wie den Kommu-
nen gang und gäbe. Die Regierung Schröder antwortete mit der sogenannten
Agenda 2010, die von Bundeskanzler Gerhard Schröder in einer Regierungserklä-
rung am 14. März 2003 vorgestellt wurde. Unter dem Begriff Agenda 2010 wurden
Maßnahmen in der Wirtschafts-, der Ausbildungs-, der Familien- sowie der Ar-
beitsmarkt- und Sozialpolitik zusammengefasst. Für den Kulturbereich von In-
teresse war u. a. der bereits erwähnte Ausbau der Ganztagsbetreuung von Schul-
kindern, der vielen Akteuren der kulturellen Bildung neue Arbeitsfelder eröffnete.
Auf parlamentarischer Ebene wurde in der 15. Wahlperiode die bereits im
Jahr 1998 geforderte Enquête-Kommission des Deutschen Bundestags »Kultur
in Deutschland« (Kultur-Enquête) eingesetzt. Wurde im Jahr 1998 unter einer
»Künstler-Enquête« in erster Linie ein umfassender Bericht zur sozialen Lage der
Künstlerinnen und Künstler verstanden, dem umfängliche Primärerhebungen zu-
grunde liegen, erteilte der Deutsche Bundestag der Enquête-Kommission einen
deutlich umfassenderen Auftrag. Sie sollte drei Schwerpunktthemen behandeln:

—— D ie öffentliche und private Förderung von Kunst und Kultur – Strukturwandel


—— Die wirtschaftliche und soziale Lage der Künstlerinnen und Künstler
—— Kulturlandschaft und Kulturstandort Deutschland – kulturelle Grundver­
sorgung

1 W
 eiss, C.: Angriff auf den Kulturetat. Staatliche Kulturausgaben sind keine Subventionen.
In: Politik & Kultur 6/2004. S. 2

Wachgeküsst
Auch in der Kultur-Enquête spielten Fragen der Kulturfinanzierung eine bedeu-
tende Rolle und allein der Titel des erstgenannten Themenkomplexes »Die öf-
fentliche und private Förderung von Kunst und Kultur – Strukturwandel« zeigt,
dass auch überlegt werden sollte, inwiefern die Instrumente der öffentlichen
und der privaten Kulturförderung neu austariert werden können und wie mehr
privates Engagement im Kulturbereich ermöglicht werden kann. Dies schließt
an Ideen aus der vorangegangenen Legislaturperiode (1998–2002) an, in der
durch Reformen im Stiftungs- und vor allem im Stiftungssteuerrecht privates
finanzielles Engagement auch für den Kulturbereich mobilisiert werden sollte. 058
In eine ähnliche Richtung gingen einige Vorschläge der bereits erwähnten En-
quête-Kommission »Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements«. 059

Vorzeitiger Wahlkampf 2005

Die 15. Wahlperiode des Deutschen Bundestags endete im Jahr 2005 vorzeitig
und für den Deutschen Kulturrat stand erneut die Vorbereitung von Wahlprüf-
steinen an. Dieses Mal wurden in sieben Fragenkomplexen 1 29 Fragen an die
Parteien gerichtet.
Im ersten Fragenkomplex »Kulturpolitik auf bundespolitischer Ebene« wur-
den die Parteien u. a. gefragt, ob sie sich für die Verankerung des Staatsziels Kul-
tur im Grundgesetz einsetzen wollen, ob wieder ein Ausschuss für Kultur und
Medien im Deutschen Bundestag eingesetzt und ob eine verbindliche Kultur-
verträglichkeitsprüfung von Gesetzen eingeführt werden soll. Nachdem in zwei
Legislaturperioden Erfahrungen mit dem BKM gesammelt wurden, fragte der
Deutsche Kulturrat: »Wollen Sie das Amt eines Kulturstaatsministers/einer Kul-
turstaatsministerin fortführen? Wollen Sie ein Bundeskulturministerium ein-
richten?« 2 Das war das erste Mal, dass der Deutsche Kulturrat in seinen Wahl-
prüfsteinen die Frage nach einem Bundeskulturministerium direkt gestellt hat.
Alle befragten Parteien, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU, die wiederum
gemeinsam geantwortet haben, Die Linke, FDP und SPD haben sich einhellig für
einen Ausschuss für Kultur und Medien ausgesprochen. Hierzu gab es von kei-
ner Partei Widerspruch. Und auch beim Amt des Kulturstaatsministers bzw. der
Kulturstaatsministerin herrschte weitgehende Einigkeit.
Bündnis 90/Die Grünen antwortete: »Die Einrichtung eines Beauftragten für
Kultur und Medien hat sich als erfolgreiche politische Maßnahme der Rot-Grü-
nen Bundesregierung erwiesen.« 3

1 D ie Fragenkomplexe waren: 1. Kulturpolitik auf bundespolitischer Ebene; 2. Kultur- und


Medienpolitik im internationalen Kontext; 3. Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik; 4. Steuerpolitik;
5. Urheberrechtspolitik; 6. Kulturelle Bildung; 7. Bürgerschaftliches Engagement.
2 Fragen des Deutschen Kulturrates an die Parteien. In: Politik & Kultur 5/2005, S. 9
3 Ebd. S. 10

1. — Einleitung
CDU/CSU schrieben: »Es wird mit Sicherheit eine personell und institutionell he-
rausgehobene Verantwortung für Kultur geben. Der Aufgabenzuschnitt wird im
Rahmen der Ressortabgrenzung der künftigen Bundesregierung zu entscheiden
sein. Nach den Erfahrungen der Vergangenheit wird insbesondere das Verhältnis
zwischen nationaler und auswärtiger Kulturpolitik und damit zugleich die origi-
nären Aufgaben des Bundes in der Kulturpolitik neu zu justieren sein.« 1 Span-
nend an dieser Antwort ist, dass CDU/CSU, nachdem sie in ihren Antworten auf
die Wahlprüfsteine des Deutschen Kulturrates 1998 keinen Handlungsbedarf mit
Blick auf einen Bundesbeauftragten sahen, bei der Wahl 2002 schon konzilianter
davon sprachen, dass sie ein solches Amt für unverzichtbar halten, nun die Zusa-
ge machen, dass es mit Sicherheit eine personell und institutionell herausgehobe-
ne Verantwortung für Kultur geben soll. Trotz aller Probleme, die insbesondere in
der Amtszeit Weiss in der Kulturfinanzierung bestanden, scheinen sich auch CDU/
CSU mit dem Amt angefreundet und die Vorteile erkannt zu haben. Sie sind sogar
noch einen Schritt weitergegangen und haben die Neujustierung der Kulturpolitik
im Inland und im Ausland eingefordert. Dies mag auch damit zusammengehan-
gen haben, dass die Auswärtige Kulturpolitik in der Amtszeit von Joschka Fischer
(Bündnis 90/Die Grünen) als Außenminister eine besondere Dürreperiode erlebt
hat und Auswärtige Kulturpolitik vor allem zur Krisenprävention dienen sollte.
Die FDP spricht sich dafür aus, die Zuständigkeit für Kultur und Medien in-
nerhalb der Bundesregierung aufzuwerten und weitere Arbeitsgebiete in die Zu-
ständigkeit zu integrieren. So schreibt die FDP: »Während also die Verantwor-
tung für ›konventionellen‹ Medien, wie etwa für den Film und das Fernsehen,
im Kultur- und Medienbereich angesiedelt sind, liegt sie für die neuen Medien
im Wirtschaftsbereich. Diese Trennung hat angesichts der zunehmenden Kon-
vergenz der Medien keinen Sinn.« 2 Die FDP spricht damit eine Fragestellung an,
die auch heute noch und gerade im Verhältnis zwischen Bund und Ländern von
großer Bedeutung ist. Die Konvergenz der Medien hat eher zu- als abgenom-
men, sodass Telekommunikationsrecht, Zuständigkeit Bund, und Medienrecht,
Zuständigkeit Länder, ineinandergreifen.3 Darüber hinaus ist insbesondere mit
Blick auf das Medienrecht zu beachten, dass hier eine beträchtliche Vorprägung
durch die europäische Rechtssetzung erfolgt.
Doch zurück zur Bundestagswahl 2005. Die SPD spricht sich dafür aus, wei-
tere Zuständigkeiten der Kulturbeauftragten zu übertragen und sieht in der Er-
weiterung des Aufgabengebietes gute Gründe für ein Bundeskulturministerium.
Sie führen weiter aus: »Aus kulturpolitischer Sicht ergeben sich aus dieser Er-
weiterung des Aufgabenspektrums Argumente für die Gründung eines eigenen
Ministeriums – bliebe die Beauftragte für Kultur und Medien beim Bundeskanz-

1 E
 bd. S. 13
2 E bd. S. 18
3 D  ies wurde auch in der Bund-Länder-Kommission zur Medienkonvergenz
in der 18. Wahlperiode (2013–2017) deutlich.

Wachgeküsst
ler angesiedelt – für den Rang eines Bundesministers. Wobei wir wissen, dass
Kabinettszuschnitte und institutionelle Zuständigkeiten immer auch weiteren
Kriterien unterliegen.« 1
Die Linke spricht sich für ein Bundeskulturministerium aus und plädiert für
eine weitere Arrondierung der Aufgaben. Sie formulieren: »Wir setzen uns für
eine weitere Stärkung der Bundeskulturpolitik durch die Einführung des Amtes
eines Bundeskulturministers/einer Bundeskulturministerin mit Kabinettsrang
ein und wollen seine/ihre Kompetenzen und Einflussmöglichkeiten erweitern.«2
Wie andere Parteien plädieren sie für eine Bündelung weiterer Aufgabenfelder 060
in dem neu zu bildenden Haus. Hierzu zählt die Medienpolitik und die Auswär-
tige Kultur- und Bildungspolitik. 061
Die Kultur-Enquête hatte zum Schluss der Wahlperiode in einem Tätigkeits-
bericht ihre Arbeit zusammengefasst. Hierzu gehörte auch das bereits erwähnte
einstimmige Votum der Mitglieder, das Staatsziel Kultur im Grundgesetz zu ver-
ankern. Auf die diesbezügliche Frage des Deutschen Kulturrates antwortete Bünd-
nis 90/Die Grünen: »Bündnis 90/Die Grünen verfolgen das Ziel, in der kommenden
Wahlperiode die Staatszielbestimmung zu Schutz und Förderung der Kultur in das
Grundgesetz aufzunehmen. Wir wollen damit die Bedeutung der Kultur für unsere
Gesellschaft verdeutlichen und weitere Kürzungen des Kulturetats verhindern.« 3
CDU/CSU beziehen sich in ihrer Antwort zunächst auf die Enquête-Kom-
mission »Kultur in Deutschland« und ihr einstimmiges Votum, das Staatsziel
Kultur in das Grundgesetz aufzunehmen. Sie sprechen sich auf dieser Grundla-
ge für eine sorgsame und unvoreingenommene Prüfung der Vor- und Nachtei-
le des Staatsziels Kultur im Grundgesetz aus. Sie führen weiter aus: »Unabhän-
gig von einer Staatszielbestimmung im Grundgesetz sollte bewusst bleiben, dass
die Aufgabe der Kulturpolitik der Erhalt und die Förderung der kulturellen Viel-
falt sind. Die Lebendigkeit von Kunst und Kultur hängt auch von dem konkre-
ten Engagement im Alltag ab, die Pflege und die Sicherung von Kunst und Kul-
tur bleibt gemeinsame Verpflichtung und gemeinsame Aufgabe.«4 Diese Antwort
öffnet zwar die Tür für die Verankerung des Staatsziels Kultur im Grundgesetz,
relativiert das Anliegen aber zugleich, indem deutlich gemacht wird, dass unab-
hängig davon sich für Kunst und Kultur im Allgemeinen und die kulturelle Viel-
falt im Besonderen eingesetzt werden muss.
Die Linke erklärt demgegenüber klipp und klar: »Kultur als Staatsziel ge-
hört in das Grundgesetz.« 5 Sie beziehen sich konkret auf die Enquête-Kommis-
sion »Kultur in Deutschland« und sprechen sich dafür aus, den von der genann-
ten Enquête-Kommission formulierten Satz »Der Staat schützt und fördert die
Kultur« als neuen Art. 20 b in das Grundgesetz aufzunehmen.

1 Fragen des Deutschen Kulturrates an die Parteien. 2005 a. a. O., S. 20


2 Ebd. S. 15
3 Ebd. S. 10
4 Ebd. S. 13
5 Ebd. S. 15

1. — Einleitung
Die FDP stellt sich ebenfalls hinter die Empfehlung der genannten Enquête-Kom-
mission. Sie bleiben dabei: »Ja, die FDP spricht sich für die Verankerung des
Staatsziels Kultur im Grundgesetz aus.« 1
Und auch die SPD erklärt: »… Kultur als Staatsziel in das Grundgesetz auf-
zunehmen. Damit würden kulturelle Aufgaben des Staates gleichgewichtig ne-
ben sozialen und umweltbezogenen im Grundgesetz verankert.« 2 Nach diesen
klaren Aussagen hätte die Aufnahme des Staatsziels Kultur in das Grundgesetz
eigentlich nur eine Formalie sein dürfen. Zumal die Länder mit der Ausnahme
von Hamburg 3 in ihren Verfassungen das Staatsziel Kultur jeweils fixiert haben.
Die Wahlen 2005 ließen weder eine Fortführung der Rot-Grünen Regierung
noch die Bildung einer Schwarz-Gelben Koalition zu. Es wurde daher nach 1969
die zweite Große Koalition in der Geschichte der Bundesrepublik gebildet.
Im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD 4 finden sich keine Aussagen,
das Staatsziel Kultur im Grundgesetz zu verankern, obwohl sehr detailliert die
Vorhaben zur Föderalismusreform beschrieben werden, die der richtige Ort ge-
wesen wären, dieses Vorhaben zu vereinbaren.
Konkrete Aussagen zu Kultur 5 finden sich u. a. mit Blick auf die Filmwirt-
schaft. Hier sollen die Rahmenbedingungen und die internationale Wettbewerbs-
fähigkeit verbessert werden. So ist die Rede davon, ähnlich anderen EU-Mit-
gliedsstaaten die Anreize zu verbessern, privates Kapital für Filmproduktionen
zur Verfügung zu stellen. Weiter wird sich vorgenommen, die Künstlersozialver-
sicherung zu stärken. Dabei soll eine sachgerechte Beschreibung des Kreises der
Begünstigten vorgenommen werden. Schon während der vorhergehenden Wahl-
periode hatten insbesondere Unionsabgeordnete in der Enquête-Kommission
»Kultur in Deutschland« auf eine Verengung des Künstlerbegriffs gedrängt, um
so die Zahl der Versicherten zu begrenzen und damit die Kosten für die Verwer-
ter künstlerischer Leistungen nicht weiter steigen zu lassen.
Zu dem Kulturkapitel des Koalitionsvertrags, eingeordnet unter VII Lebens-
wertes Deutschland, ist zuerst hervorzuheben, dass eindeutig formuliert wird:
»Kulturförderung ist keine Subvention, sondern eine Investition in die Zukunft.«6
Hier sind die Nachwirkungen der Debatte um das Koch-Steinbrück-Papier aus der
15. Wahlperiode noch zu spüren. Es wird noch einmal versichert, dass »… die För-
derung von Kunst und Kultur aufgrund der Verfassungslage primär Aufgabe der
Länder und Kommunen ist«, gleichwohl wird darauf abgehoben, dass »der Bund
eine Reihe von wichtigen Aufgaben zu erfüllen« hat, »um Deutschlands Verpflich-

1 Ebd. S. 18
2 Ebd. S. 20
3 Im Unterschied zu anderen Ländern werden in der Hamburgischen Verfassung vor allem die
staatliche Ordnungen und das Zusammenspiel der verschiedenen Organe geregelt.
4 Gemeinsam für Deutschland. Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD. Wahlperiode 2005–2009
5 Eine ausführliche Analyse des Koalitionsvertrags haben Zimmermann und Schulz 2006 vorge-
nommen. Zimmermann, O./Schulz, G.: Neue Chancen – neues Glück. Was wird die Große Koalition
der Kultur bringen? In: Politik & Kultur 1/2006, S. 4 f.
6 Gemeinsam für Deutschland. a. a. O., S. 131

Wachgeküsst
tung als europäische Kulturnation gerecht zu werden.« 1 Mit Blick auf die Kultur-
förderung werden angesichts der Haushaltslage die Erwartungen gedämpft und
deutlich gemacht, dass signifikante Haushaltsaufwüchse nicht zu erwarten sind.
Neue Projekte sollen durch Haushaltsumschichtungen finanziert werden. Wei-
ter wird sich für mehr Teilhabe von Kindern und Jugendlichen an Kunst und Kul-
tur ausgesprochen. Mit Blick auf das Urheberrecht soll die Rechtsstellung der Ur-
heber im digitalen Zeitalter gestärkt werden. Dieses ist gegenüber den Koaliti-
onsverträgen der letzten beiden Koalitionen ein anderer Zungenschlag, in denen
war von einem gerechten Ausgleich der Interessen von Urhebern und Nutzern 062
die Rede. Gleichwohl darf aber auch bei diesem Koalitionsvertrag das Kulturka-
pitel nicht isoliert betrachtet werden, sondern muss im Zusammenhang mit Aus- 063
sagen in anderen Kapiteln gesehen werden. So wird sich im Bildungskapitel für
ein bildungs- und wissenschaftsfreundliches Urheberrecht – sprich die Auswei-
tung von Schranken – ausgesprochen. Die Aushandlungen zu diesem Thema zo-
gen sich bis zur 18. Wahlperiode (2013–2017) mit der Verabschiedung des Urheber-
rechtswissenschaftsgesellschaftsgesetzes hin. Ferner wurde erneut eine Fusion
der Kulturstiftung des Bundes und der Kulturstiftung der Länder ins Auge gefasst.
Weitere Entscheidungen zum Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses sollten
auf der Grundlage einer Machbarkeitsstudie zügig getroffen werden. Ferner sol-
len die Verhandlungen mit Russland über die Rückgabe von deutschem Kultur-
gut fortgesetzt werden. Ebenso soll das UNESCO-Übereinkommen von 1970 über
Maßnahmen zum Verbot und zur Verhütung der unzulässigen Einfuhr, Ausfuhr
und Übereignung von Kulturgütern umgesetzt werden. Ein Thema, das in der 18.
Wahlperiode in der Diskussion um das Kulturgutschutzgesetz erneute Relevanz
bekam, da mit dem Kulturgutschutzgesetz die bestehenden Gesetze zusammen-
geführt werden sollten.
Die in der 14. Wahlperiode (2002–2005) geführten Debatten um Daseins-
vorsorge und die Behandlung von Kultur in internationalen Handelsverträgen
wurden aufgegriffen. Der besondere Charakter von kulturellen Dienstleistungen
sollte geschützt und der Handlungsspielraum zur Kulturförderung weder durch
internationale Handelsverträge noch durch europäisches Beihilferecht oder die
EU-Dienstleistungsrichtlinie eingeschränkt werden. Weiter wurde vereinbart,
sich dafür einzusetzen, dass die Autonomie der EU-Mitgliedsstaaten zur Ausge-
staltung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nicht eingeschränkt wird.
Der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik soll ein größerer Stellenwert
eingeräumt werden, damit sie wieder zur tragenden dritten Säule der deutschen
Außenpolitik wird. Dazu wird eine sachgerechte Mittelausstattung als erforder-
lich erachtet. Hierin war eine Abkehr von der auswärtigen Kultur- und Bildungs-
politik der Rot-Grünen Bundesregierungen zu erkennen.

1 Ebd. S. 131

1. — Einleitung
Institutionell wurde vereinbart, »einen Ausschuss für Kultur und Medien im
Deutschen Bundestag einzusetzen, der auch weiterhin zuständig bleibt für die
Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik.« 1

Bernd Neumann: Ein Politikprofi übernimmt


Im Bundestagswahlkampf 2005 hatte ich gefordert, dass der nächste Kultur-
staatsminister ein »Politikprofi« sein muss und dem Deutschen Bundestag an-
gehören sollte. Das war frech und ein bisschen anmaßend. Es beschrieb aber mei-
nen Eindruck von den Handlungsspielräumen, die Kulturstaatsminister hatten,
die nicht in ihrer Fraktion verankert waren. Sicher, Michael Naumann hatte als
Erster in diesem Amt, als Eisbrecher und auch aufgrund seiner Persönlichkeit
unmittelbaren Zugang zum Bundeskanzler und konnte so einiges durchsetzen.
­Julian Nida-Rümelin war stärker in der Partei verankert, er gehörte dem Vorstand
des SPD-Kulturforum an und kannte als Kulturdezernent einer Großstadt wie
München das parteipolitische Spiel. Obwohl Christina Weiss langjährige Kultur-
senatorin in Hamburg war, verstand sie sich bewusst als parteilose Kulturstaats-
ministerin, die in erster Linie die Interessen der Kultur im Blick hat. Sie war we-
der in Partei noch in Fraktion verankert, was es ihr gerade in der von Sparmaß-
nahmen und ökonomischem Druck geprägten 15. Wahlperiode schwer gemacht
hatte, sich Gehör zu verschaffen. Umso mehr gilt es, ihre Erfolge, speziell die
Durchsetzung von Kultur als Subvention und nicht als Investition, zu schätzen.
Nachdem im Koalitionsvertrag der ersten Regierung Merkel (Große Koali-
tion) im November 2005 die Verteilung der Ministerien festgelegt war, war klar,
dass es kein Bundeskulturministerium geben würde. Es wurde daher mit Span-
nung erwartet, ob ein Staatsminister für Kultur und Medien bei der Bundes-
kanzlerin seine Arbeit aufnehmen würde und wer dieses Amt innehaben sollte.
Als bei der einmal im Jahr stattfindenden Tagung zur Kulturpolitik der Kon-
rad-Adenauer-Stiftung in Potsdam Bernd Neumann das Wort ergriff und sich
deutlich gegen ein Bundeskulturministerium und für den Fortbestand der beste-
henden Struktur aussprach, war mir klar, dass er der neue Kulturstaatsminister
werden würde. Bernd Neumann war ein erfahrener Politiker. Er gehörte bereits
seit 1987 dem Deutschen Bundestag an. Er war von 1991 bis 1994 Parlamentari-
scher Staatssekretär im Bundesministerium für Forschung und Technologie so-
wie von 1994 bis 1998 Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium
für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie. Von 1998 bis 2005 war er
Obmann für Kultur und Medien der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.
Neumann war der Politikprofi, der für die Weiterentwicklung des BKM ge-
braucht wurde. Das Feuilleton fremdelte zunächst mit Neumann, musste dann
aber feststellen, dass er dem Amt ein neues Gewicht geben konnte. Nach fast
20 Jahren Parlamentszugehörigkeit, darunter acht Jahren als Parlamentarischer

1 Ebd. S. 132

Wachgeküsst
Staatssekretär, war Neumann nicht nur in seiner Fraktion fest verankert, er kann-
te auch die Kolleginnen und Kollegen aus den anderen Fraktionen und vor allem
wusste er, wie auf der Bundesebene Anliegen umzusetzen sind. Drei Wochen nach
Amtsantritt gab er der Zeitung Politik & Kultur ein Interview und sagte zu letz-
terem Aspekt: »Dass man gelernt hat, Dinge umzusetzen, sie zielführend zu ei-
nem Ergebnis zu bringen, andere Menschen dafür zu gewinnen in einem schwieri-
gen politischen Umfeld, ist sicherlich in der jetzigen Lage kein Nachteil.« 1 Weiter
führte Neumann aus, dass er sich angesichts anstehender weiterer Einsparungen
im Bundeshaushalt für eine Stabilisierung des Kulturhaushalts einsetzen würde. 064
Dies nicht zuletzt deshalb, weil der Kulturhaushalt so klein sei, dass er zur Ret-
tung der haushaltspolitischen Probleme wenig tauge. Angesprochen auf sein Amt 065
und das anfängliche Fremdeln von CDU und CSU damit, antwortete Neumann:
»Sie werden sich wundern! Ich habe bereits Mitte der 1990er Jahre Bundeskanz-
ler Helmut Kohl empfohlen, ein solches Amt einzurichten. Damals war ich parla-
mentarischer Staatssekretär im Bildungs- und Forschungsministerium. Kultur-
angelegenheiten wurden zu dieser Zeit im Kanzleramt von Staatsminister Anton
Pfeifer koordiniert, der sehr gute Arbeit leistete. Der Kulturhaushalt war im In-
nenministerium angesiedelt. Als Bundeskanzler Schröder dann das Amt einrich-
tete, habe ich das uneingeschränkt begrüßt.« 2 In dieser Antwort kommt zum Aus-
druck, was auch Lammert und Pfeifer formuliert haben: Eigentlich hat die CDU
den Boden für das BKM bereitet.
Mit Blick auf die Bundeskulturverbände leitete Neumann eine Trendwende
ein. Michael Naumann war gegenüber Verbänden, insbesondere jenen, die Zu-
wendungen aus Bundesmitteln erhalten und gegenüber dem BKM kritisch wa-
ren, ablehnend. Er konnte nicht nachvollziehen, dass er seine eigenen Kritiker fi-
nanzieren sollte. Nida-Rümelin schätzte die Expertise der Bundeskulturverbän-
de höher ein. Aber erst Neumann sagte: »Die Verbände haben eine ganz wichtige
Funktion, weil sie auch die politischen Verhältnisse einschätzen können, wäh-
rend die einzelnen Künstler sehr stark auf ihre eigene Arbeit schauen.« 3 Die-
se Aussage Neumanns zu Beginn seiner Amtszeit charakterisiert seine Arbeit,
Wertschätzung und Interesse gegenüber der individuellen Arbeit von Künstle-
rinnen und Künstlern und ebenso Wertschätzung und Dialog mit den Verbänden.
Ein zentrales Thema der 16. Wahlperiode war erneut die Föderalismusre-
form. Nachdem die Arbeit in der vorhergehenden Wahlperiode ergebnislos ein-
gestellt wurde, vereinbarten CDU, CSU und SPD bereits im Koalitionsvertrag die
wesentlichen Punkte der Föderalismusreform. Im Anhang zum Koalitionsvertrag
wurden sogar die angestrebten Änderungen im Grundgesetz formuliert. Ein we-
sentlicher Bestandteil der Föderalismusreform II ist die sogenannte Schulden-

1 Sven Crefeld im Gespräch mit Bernd Neumann: Kultur rechtfertigt sich


an erster Stelle durch sich selbst. In: Politik & Kultur 1/2006, S. 6
2 Ebd. S. 6
3 Ebd. S. 7

1. — Einleitung
bremse, die Bund und Länder zu mehr Haushaltsdisziplin und Schuldenabbau
verpflichtet. Die Schuldenbremse gilt für den Bund seit 2016 und für die Länder
ab 2019. Zum Zeitpunkt der Verabschiedung der Föderalismusreform II bestan-
den innerhalb des Kulturbereiches Einigkeit, dass die Einführung der Schulden-
bremse zu massiven Einschnitten in den Kulturetats führen könnte. Das galt ins-
besondere für die ostdeutschen Länder, in denen das Wirksamwerden der Schul-
denbremse und das Auslaufen des Solidarpaktes II zeitgleich stattfindet.
Von großer Bedeutung waren ferner die Auswirkungen der Digitalisierung
auf den Kultur- und Mediensektor. Dabei stand vor allem das Urheberrecht im
Vordergrund. Raubkopien von Musik im Netz hatten in den letzten Jahren be-
reits der Musikwirtschaft, d. h. den Musikunternehmen und in der Folge auch
den Musikerinnen und Musikern einen massiven Schaden zugefügt. Eine wei-
tere Dimension der Debatten war, wie urheberrechtlich geschützte Inhalte ein-
facher, schneller und kostengünstiger für Bildung und Wissenschaft zugänglich
gemacht werden können. Dieses Thema wurde sowohl auf der europäischen Ebe-
ne von der EU-Kommision als auch auf der nationalen von den Wissenschaftsor-
ganisationen vorangetrieben. Das BKM hat in diesen Debatten stets die Position
von Urhebern und Verwertern im Blick gehalten. Das gehört in den Zusammen-
hang, dass das BKM der Kulturwirtschaft, bald hieß es Kultur- und Kreativwirt-
schaft, mehr Augenmerk schenkte. Anfang 2009 erschien der erste Bundeskul-
turwirtschaftsbericht herausgegeben vom BKM und dem Bundesministerium für
Wirtschaft. Dieser Bericht war der erste Schritt für die Initiative Kultur- und Kre-
ativwirtschaft seit den Anfängen einer Kooperation beider Häuser.
Im Jahr 2008 nahm ein Großereignis seinen Anfang: das Reformationsjubi-
läum. 35 Millionen Euro stellte der Bund hierfür zur Verfügung. Die Mittel dien-
ten einerseits der Sanierung der Gedenkstätten in den sogenannten Kernlän-
dern der Reformation inklusive einer gründlichen Überarbeitung und Erneuerung
der Ausstellungen. Ein Teil der Mittel sollte ausdrücklich Initiativen, Vereinen
usw. zugutekommen, die sich vor Ort mit dem Reformationsjubiläum befassen.1
Die Zivilgesellschaft war in den verschiedenen Lenkungs- und Leitungsgremien
für das Reformationsjubiläum der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)
und dem Bund und den Ländern leider nur unzureichend berücksichtigt worden.
Dennoch zeigten die Aktivitäten des BKM zum Reformationsjubiläum den langen
Atem, den man sich von der Kulturpolitik wünscht. Zehn Jahre vor dem eigent-
lichen Ereignis, der 500-Jahr-Feier des Thesenanschlags zu Wittenberg, wurde
mit der Arbeit am Jubiläum begonnen.2

1 Einen kleinen Eindruck von der Vielfalt der geförderten Vorhaben bieten die beiden Dossier
»Martin Luther Superstar« und »Die fantastischen Vier«, die den Ausgaben 3/2016 und 3/2017
der Zeitung Politik & Kultur beilagen.
2 Der Deutsche Kulturrat hat das Reformationsjubiläum von 2008 bis 2018 publizistisch in der Zeitung
Politik & Kultur begleitet. In jeder Ausgabe erschien mindestens ein Beitrag zu diesem Thema.
Gebündelt wurden Beiträge im Band Disputationen. Zimmermann, O./Geißler, T. (Hg.): Disputationen:
Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017. 2. Erweiterte und veränderte Auflage, Berlin 2016

Wachgeküsst
Obwohl Neumann die Erwartungen an Mittelaufwüchse im Kulturetat zu Beginn
seiner Amtszeit dämpfte, gelang in der 16. Wahlperiode ein sukzessiver Ansteig
des Bundeskulturetats, der u. a. der Deutschen Welle zugutekam.
Dringender Handlungsbedarf bestand bei der Künstlersozialkasse. Der Ab-
gabesatz schnellte im Jahr 2005 von 4,3 Prozent auf 5,8 Prozent der an freibe-
rufliche Künstlerinnen und Künstler gezahlten Honorare hoch da die Zahl der
Versicherten kontinuierlich stieg. Erneut stand aus Sicht der Verwerterverbän-
de die gesamte Künstlersozialversicherung auf dem Prüfstand. Es war zu hören,
dass im Lichte der allgemeinen Entwicklung von Selbständigkeit und einer Viel- 066
zahl von Selbständigen anderer Branchen mit einer unzureichenden sozialen
Absicherung erneut eine Verfassungsklage zur Rechtmäßigkeit der Künstlerso- 067
zialversicherung eingereicht werden könnte. Um Lösungen zu erarbeiten, wur-
den Künstler- und Verwerterverbände vom Bundesministerium für Arbeit und
Soziales (BMAS) sowie dem Deutschen Kulturrat an einen gemeinsamen Run-
den Tisch Künstlersozialversicherung geholt. Als Problem wurde herausgearbei-
tet, dass offenbar zu wenig abgabepflichtige Unternehmen ihrer Verpflichtung
nachkommen. Unter Vermittlung des BMAS erhielt die Deutsche Rentenversi-
cherung den Auftrag, im Rahmen ihrer Betriebsprüfungen verstärkt zu prüfen,
ob die Künstlersozialabgabe ordnungsgemäß entrichtet wurde. Diese verstärk-
ten Prüfungen führten in der Folge dazu, dass zahlreiche Unternehmen neu als
Abgabepflichtige aufgenommen wurden. Der Künstlersozialabgabesatz konnte
in den darauf‌folgenden Jahren sukzessive wieder abgesenkt werden. Das BKM
war in die Gespräche als Sachwalter der Kultur eingebunden.
Die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik erhielt im Auswärtigen Amt
durch Außenminister Frank-Walter Steinmeier neue Aufmerksamkeit. Die Auf-
stockung der Mittel und Akzente bei den Auslandsschulen sind einige der be-
sonderen Merkmale der Amtszeit.
Im Parlament schloss im Dezember 2007 die Enquête-Kommission »Kul-
tur in Deutschland« mit ihrem Schlussbericht (Bundestagsdrucksache 16/7000)
ihre Arbeit ab. Nachdem die in der 15. Wahlperiode eingesetzte Enquête-Kom-
mission der Diskontinuität zum Opfer gefallen war, wurde am 15. Dezember 2005
eine neue Enquête-Kommission eingesetzt, die am 13. Februar 2006 ihre Arbeit
aufnahm und die Arbeit der Enquête-Kommission aus der 15. Wahlperiode wei-
terführte.

Ihre Aufgaben waren:


—— F ortsetzung der Beratungen zum Staatsziel Kultur aus der 15. Wahlperiode
—— Fortsetzung der Arbeit aus der 15. Wahlperiode mit folgenden Schwerpunkten:
–– Infrastruktur, Kompetenzen und rechtliche Rahmenbedingungen
für Kunst und Kultur in Staat und Zivilgesellschaft
–– Die öffentliche und private Förderung und Finanzierung von
Kunst und Kultur – Strukturwandel
–– Die wirtschaftliche und soziale Lage der Künstlerinnen und Künstler

1. — Einleitung
–– Kulturwirtschaft – Kulturlandschaft und Kulturstandort
–– Kulturelle Bildung, Kultur in der Informations- und Medien­-
gesellschaft – Vermittlung und Vermarktung
–– Kultur in Europa (unter anderem EU-Dienstleistungsrichtlinie),
Kultur im Kontext der Globalisierung (unter anderem UNESCO-
Übereinkommen Kulturelle Vielfalt, GATS)
–– Kulturstatistik in der Bundesrepublik Deutschland und
in der Europäischen Union 1

Der Schlussbericht beeindruckt nicht nur mit seinen fast 500 Handlungsemp-
fehlungen, die bis auf wenige Ausnahmen in großem Einvernehmen von allen
Mitgliedern der Enquête-Kommission beschlossen wurden, er ist zugleich die
bislang umfassendste Bestandsaufnahme zu Kunst und Kultur in Deutschland.
Wenn es noch der Argumente für die Kulturzuständigkeit des Bundes bedurft
hätte, hier wurden sie eindrucksvoll vorgelegt. Der Bericht zeigt die Relevanz
des Bundes in der Gestaltung der Rahmenbedingungen für Kunst und Kultur, in
der europäischen und internationalen Politik für Kunst und Kultur und nicht zu-
letzt in der Kulturförderung.
Die Handlungsempfehlungen waren nicht nur für die Fraktionen des Deut-
schen Bundestags, sondern auch für das BKM ein Fundus für politisches Handeln.
Der Deutsche Kulturrat hat sich in neun Stellungnahmen zu den Handlungs-
empfehlungen der Enquête-Kommission »Kultur in Deutschland« positioniert.2
In der Zeitung Politik & Kultur wurde sich von Ausgabe 1/2008 bis zur Ausgabe
6/2008 mit dem Thema befasst. Unterschiedliche Verbände und Persönlichkei-
ten schätzten die Arbeit der Enquête-Kommission ein und forderten die Umset-
zung von Empfehlungen oder setzten sich bewusst davon ab.
Ein Aufreger war in der 16. Wahlperiode die Debatte um Computerspiele als
Kulturgut. Ich will nicht verhehlen, dass auch ich meinen Anteil daran hatte. Ich
schrieb in einer Pressemitteilung im Februar 2007: »Bei der Debatte um Gewalt in
Computerspielen darf aber nicht über das Ziel hinausgeschossen werden. Erwach-
sene müssen das Recht haben, sich im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen
auch Geschmacklosigkeiten oder Schund anzusehen bzw. entsprechende Spiele

1 Schlussbericht der Enquête-Kommission »Kultur in Deutschland«, Drucksache 16/7000, S. 36 f.


2 Kultur-Enquête: Kulturwirtschaft stärken und ihre Potenziale fördern! ⟶ https://bit.ly/2Qx46zj
Kultur-Enquête: Öffentlich-rechtlicher Rundfunk sichert Grundversorgung mit Kunst und Kultur.
⟶ https://bit.ly/2xf9gYn
Kultur-Enquête: Starkes Urheberrecht ist für den Kulturbereich unerlässlich! ⟶ https://bit.ly/2xiOTtq
Kultur-Enquête: Zuwendungsrecht und bürgerschaftliches Engagements ⟶ https://bit.ly/2Ot3sBp
Kultur-Enquête: Staatsverständnis, Staatsziel Kultur und öffentliche Kulturfinanzierung.
⟶ https://bit.ly/2xdjKry
Kultur-Enquête: Kultur in Europa. ⟶ https://bit.ly/2MCdSg7
Kultur-Enquête: Steuerpolitik für Kunst und Kultur. ⟶ https://bit.ly/2MBPb3t
Kultur-Enquête: In Kulturelle Bildung investieren! ⟶ https://bit.ly/2CZ8kNj
Kultur-Enquête: Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik für Künstlerinnen und Künstler.
⟶ https://bit.ly/2OqeOpO (alle vom 09.04.2008)

Wachgeküsst
zu spielen. Die Meinungsfreiheit und die Kunstfreiheit gehören zu den im Grund-
gesetz verankerten Grundrechten. Die Kunstfreiheit ist nicht an die Qualität des
Werkes gebunden. Kunstfreiheit gilt auch für Computerspiele.« 1 Diese Aussage
löste eine Welle an Empörung aus. Wie können Computerspiele und Kunstfreiheit
in einem Atemzug genannt werden? In Politik & Kultur war in der Ausgabe 2/2007
der erste Schwerpunkt zu Computerspielen erschienen. In einem Dossier wurde
sich dem Thema aus unterschiedlichen Blickwinkeln genähert und entschieden
der Vorstellung entgegengetreten, dass Gewalt ein »Privileg« der Computerspie-
le sei.2 Der Deutsche Bundestag bewilligte im Jahr 2008 Mittel zur Ausrichtung 068
des Deutschen Computerspielepreises, der in Kooperation mit den beiden Bran-
chenverbänden Games und BIU 3 erstmals im Jahr 2009 vergeben werden sollte. 069
In der Amtszeit Neumann ressortierte der Deutsche Computerspielepreis im BKM.
Die Games-Branche wurde als eine normale Branche der Kultur- und Kreativwirt-
schaft angesehen – heute zeigt sich, dass diese Branche einer der Wachstumstrei-
ber der Kultur- und Kreativwirtschaft ist. Leider verlor das BKM nach dem Ende
der Ära Neumann die Zuständigkeit für diesen Bereich.

Wahlkampf 2009 und Koalitionsvereinbarungen

Auch zur Bundestagswahl 2009 stellte der Deutsche Kulturrat Fragen an die im
Deutschen Bundestag vertretenen Parteien (Wahlprüfsteine). Insgesamt 26 Fra-
gen wurden in sieben Fragenkomplexen an die Parteien gerichtet. Die Fragen-
komplexe waren:

—— Kulturpolitik auf bundespolitischer Ebene


—— Kultur- und Medienpolitik im internationalen Kontext
—— Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik
—— Steuerpolitik
—— Urheberrecht
—— Kulturwirtschaft
—— Kulturelle Bildung 4

Zu den Fragen zum Themenkomplex »Kulturpolitik auf bundespolitischer Ebe-


ne« gehörten wiederum Fragen nach der Verankerung des Staatsziels Kultur im
Grundgesetz, der Einsetzung des Ausschusses für Kultur und Medien sowie zum

1 Zimmermann, O./Geißler, T. (Hg.): Streitfall Computerspiele: Computerspiele zwischen kultureller


Bildung, Kunstfreiheit und Jugendschutz. 2. Erweiterte Auflage. Berlin 2008, S. 8
2 Siehe hierzu besonders: Zimmermann, O./Schulz, G.: Zensur oder öffentliche Förderung? Computer-
spiele in der Diskussion. In: kultur kompetenz bildung. Beilage zu Politik & Kultur 2/2007, S. 1 f.
3 Games, der Verband der Computerspieleentwickler und BIU, der Verband der Publisher, fusionierten
im Jahr 2017 zu einem Verband »Game, der Verband der deutschen Games-Branche«.
4 Fragen des Deutschen Kulturrates an die im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien zur
Bundestagswahl am 27.09.2009. In: Politik & Kultur 5/2009

1. — Einleitung
Staatsminister für Kultur und Medien bzw. der Aufwertung dieses Amtes zu einem
Bundeskulturministerium. Um es kurz zu machen, alle Parteien sprechen sich un-
eingeschränkt für den Ausschuss für Kultur und Medien aus. Auch das BKM steht
nicht infrage. Bündnis 90/Die Grünen erklären klipp und klar, dass sie keinen
Grund für ein Bundeskulturministerium sehen. CDU und CSU wollen ebenfalls
an der bestehenden Struktur festhalten. Die Linke möchte den Kulturstaatsmi-
nister zu einem Bundesminister im Bundeskanzleramt aufwerten, der Kabinetts-
rang hat. Auch die FDP spricht sich für den Kabinettsrang des Amtsinhabers BKM
aus. Die SPD kann sich ein Bundeskulturministerium vorstellen, wenn weitere Zu-
ständigkeiten diesem Haus übertragen werden. Sie geben aber zugleich zu beden-
ken, dass der Zuschnitt von Ministerien unterschiedlichen Kriterien unterliegt.
Für ein Staatsziel sprechen sich bis auf die CDU und CSU alle Parteien aus.
Bündnis 90/Die Grünen schätzen allerdings, dass ein solches Vorhaben derzeit
keine Umsetzungschancen hatte. Sowohl die FDP als auch die SPD wollen ent-
sprechende Gesetzesvorschläge in den Bundestag einbringen.
Nach vier Jahren Großer Koalition (Union/SPD), die keine Liebesheirat war,
dann aber erstaunlich erfolgreich arbeitete und selbst den Zusammenbruch von
Banken und in der daraus entstehenden weltweiten Finanzkrise noch Zuversicht
ausstrahlte, konnte die Union im Jahr 2009 ihre »Wunschkoalition« von CDU,
CSU und FDP bilden. Für die FDP, die bis 1998 mit Ausnahme der Jahre 1966–1969,
der ersten Großen Koalition, ausnahmslos jeder Bundesregierung angehört hat-
te, war es nach elf Jahren der Wiedereinzug in die Bundesregierung. Sie hatte mit
14,6 Prozent für ihre Verhältnisse ein fulminantes Ergebnis erzielt und konnten
einen Zuwachs von 4,7 Prozent verzeichnen.
Der Koalitionsvertrag von CDU, CSU und FDP stand unter der Überschrift
»Wachstum. Bildung. Zusammenhalt.« In der Präambel formulieren die Koalitio-
näre: »Wir stellen den Mut zur Zukunft der Verzagtheit entgegen. Wir wollen un-
serem Land eine neue Richtung geben. Freiheit zur Verantwortung ist der Kom-
pass dieser Koalition der Mitte. Wir führen Deutschland an die Weltspitze, um
kommenden Generationen ein Leben in Wohlstand, Gerechtigkeit und Sicher-
heit zu ermöglichen. So wollen wir mit neuem Denken die Zukunft gestalten.«1
Das waren hochgesteckte Ziele. Ein besonderes Augenmerk wurde im Koaliti-
onsvertrag auf die Steuerpolitik gelegt. Hier wird »Mehr Netto vom Brutto« ver-
sprochen. Die ermäßigten Mehrwertsteuersätze sollten von einer einzusetzen-
den Kommission überprüft werden, die sich auch mit dem Katalog der ermäßig-
ten Mehrwertsteuersätze befassen sollte. Dabei bleibt offen, ob weitere ermäßig-
te Mehrwertsteuersätze eingeführt oder bestehende abgeschafft werden sollten.
Zugesagt wird die Fortführung der Initiative Kultur- und Kreativwirtschaft, da-
bei sollten künftig Unterstützungsangebote zur Professionalisierung von Künst-
lerinnen und Künstlern angeboten werden.

1 Wachstum. Bildung. Zusammenhalt. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP.


26.10.2009, 17. Legislaturperiode, S. 5–132

Wachgeküsst
Kultur wurde im Koalitionsvertrag im Abschnitt III »Sozialer Fortschritt. Durch
Zusammenhalt und Solidarität« im Kapitel 10 »Religion, Geschichte und Kul-
tur; Sport« verhandelt. Die kulturpolitischen Vorhaben im engeren Sinne wer-
den unter der Unterüberschrift »Geschichte und Kultur» zusammengeführt. Die-
se Überschrift legt nahe, dass ein besonderes Augenmerk auf die Erinnerungs-
kultur gelegt wird. Doch zunächst wird formuliert: »Wir bekennen uns zur Frei-
heit der Kunst. Staat und Politik sind nicht für die Kunst, ihre Ausdrucksformen
oder Inhalte zuständig, wohl aber für die Bedingungen, unter denen Kunst und
Kultur gedeihen können. Wir müssen Menschen die Chance geben, sich durch 070
ihre künstlerische Gestaltungskraft eine auch wirtschaftlich erfolgreiche Exis-
tenz zu schaffen und andere kulturell zu bereichern.« 1 Mit Blick auf die Kulturfi- 071
nanzierung wird darauf abgehoben, dass in den vergangenen vier Jahren die Kul-
turausgaben des Bundes deutlich erhöht werden konnten. Weiter wird ein klares
Bekenntnis zu Kultur als Investition abgegeben. Es heißt: »Kulturförderung ist
keine Subvention, sondern eine unverzichtbare Investition in die Zukunft unse-
rer Gesellschaft.« 2 Auch hier zeigen sich noch die Nachwirkungen der Wahlpe-
riode 2002–2005 und die »Drohungen« des Koch-Steinbrück-Papiers.
Als konkrete Vorhaben werden u. a. aufgeführt: die Einrichtung eines Arbeits-
schwerpunkts »Aufarbeitung der SED-Diktatur«, die Fortsetzung und Verstärkung
des Gedenkstättenkonzepts zur Aufarbeitung des NS-Terrors, die Errichtung der
Dokumentationsstätte »Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung«, der Bau des
Humboldt Forums, die Förderung des Denkmalschutzes, die Erarbeitung eines
nationalen Bestanderhaltungsprogramms für gefährdetes schriftliches Kulturgut
sowie die Unterstützung der Provenienzforschung. Nicht fehlen durfte die weite-
re Stärkung des Filmstandorts Deutschland.
Der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik wurde im Abschnitt V »Sicherer
Frieden. Durch Partnerschaft und Verantwortung in Europa und der Welt« ein
eigenes Kapitel gewidmet. Eingangs wird ausgeführt, dass einer gezielten Aus-
wärtigen Kultur- und Bildungspolitik im Zeitalter der Globalisierung eine immer
größere Bedeutung zukommt. Dann wird näher erläutert, was darunter verstan-
den wird: »Der Förderung der deutschen Sprache im Ausland werden wir beson-
dere Beachtung beimessen. Die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik soll un-
ser Land in seiner Vielfalt darstellen und das Interesse an unserem Land, unse-
rer Sprache und unserer Geschichte und Kultur fördern.« und weiter »Heute be-
greift Deutschland seine Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik noch stärker als
Beitrag zur Krisenprävention, Menschenrechtsschutz und Freiheitsförderung.« 3
Wird bei der Kulturpolitik im Inland noch die Freiheit der Kunst in den Mit-
telpunkt gerückt und ausdrücklich betont, dass Kulturpolitik die Aufgabe hat,
die Rahmenbedingungen zu gestalten, sind die Aussagen zur Auswärtigen Kul-

1 Ebd. S. 94–132
2 Ebd. S. 94–132
3 Ebd. S. 127–132

1. — Einleitung
tur- und Bildungspolitik deutlich utilitaristischer. Und in der Tat blieb bei mir
von der Rede von Außenminister Guido Westerwelle zur Auswärtigen Kultur-
und Bildungspolitik beim Sommerfest des Goethe-Instituts im Jahr 2010 vor al-
lem hängen, dass sich Deutschland im Wettbewerb um die besten Köpfe der Welt
mit anderen Ländern befindet und daher eine zentrale Bedeutung der Auswärti-
gen Kultur- und Bildungspolitik darin besteht, für Deutschland und das Erlernen
der deutschen Sprache zu werben, damit die Fachkräfte insbesondere aus asiati-
schen Ländern nach Deutschland kommen und nicht andere Länder präferieren.1

Amtszeit Bernd Neumann II:


Sicherung der Kulturfinanzierung

Wie in der Antwort auf die Wahlprüfsteine des Deutschen Kulturrates geschrie-
ben, wurde von der Schwarz-Gelben Regierung unter Bundeskanzlerin Angela
Merkel am BKM oder anders gesagt am Staatsminister für Kultur und Medien bei
der Bundeskanzlerin festgehalten. Bernd Neumann, allseits in der Kulturszene
geschätzt, behielt das Amt inne. Im Auswärtigen Amt wurde Cornelia Pieper, zu-
vor Generalsekretärin der FDP, Staatsministerin mit dem Schwerpunkt Auswär-
tige Kultur- und Bildungspolitik. Im Wirtschaftsministerium sollte sich der Par-
lamentarische Staatssekretär Hans-Joachim Otto (FDP), zuvor Vorsitzender des
Ausschusses für Kultur und Medien, unter anderem um Digitalisierung und Kul-
turwirtschaft kümmern. Die Kulturpolitik wurde damit zwar nicht in einem Mi-
nisterium gebündelt, aber personell durchaus verstärkt, was ein Zeichen für den
Bedeutungsgewinn dieses Politikfeldes ist.
Nach der Wirtschaftskrise im Jahr 2008 war ein wichtiges kulturpolitisches
Thema die Kulturfinanzierung. Zwar konnte der Bund in der Ära Neumann in
jedem Haushaltsjahr mit Etatsteigerungen aufwarten, wesentlich schwieriger
stellte sich allerdings die Situation in den Ländern und Kommunen dar, die be-
kanntermaßen den größten Teil der Kulturfinanzierung tragen.2 Der Deutsche
Kulturrat hat daher im März 2010 die Resolution verabschiedet »Krise der kom-
munalen Kulturfinanzierung: Nothilfefonds Kultur – Kulturstiftung des Bundes
oder Kulturstiftung der Länder sollten Träger sein«.3 Ausführlicher noch und mit
konkreten Forderungen an die verschiedenen staatlichen Ebenen, Kirchen, Stif-
tungen sowie den öffentlich-rechtlichen Rundfunk versehen, wurde im Oktober
2010 vom Deutschen Kulturrat die Stellungnahme vorgelegt »Kunst und Kultur

1 Unter der Überschrift »Digitalisierung und Erinnerungskultur. Die beiden Pole der
Kulturpolitik in der Koalitionsvereinbarung« haben Olaf Zimmermann und Gabriele Schulz eine
Analyse des Koalitionsvertrags in der Ausgabe 6/2009 von Politik & Kultur vorgenommen.
2 Siehe hierzu als eine Stimme: Roth, M.: Kampf um die verbleibenden Töpfe. Öffentliche Museen
spüren jetzt die Folgen der Wirtschaftskrise. In: Politik & Kultur 1/2010, S. 1 f.
3 Krise der kommunalen Kulturfinanzierung: Nothilfefonds Kultur – Kulturstiftung des Bundes
oder Kulturstiftung der Länder sollten Träger sein vom 03.03.2010 ⟶ https://bit.ly/2DeG2i7

Wachgeküsst
als Lebensnerv«.1 Bernd Neumann, der ansonsten viele Vorschläge und Anregun-
gen aus dem Deutschen Kulturrat aufgriff, hielt die Sicherung der Kulturfinan-
zierung zwar für ein zentrales Vorhaben, konnte sich mit der Idee eines Nothil-
fefonds für bedrohte Kultureinrichtungen allerdings nicht anfreunden.
Von ungebrochener Bedeutung war die Diskussion um das Urheberrecht in
der digitalen Welt. Mit großer Besorgnis wurden vom Deutschen Kulturrat und
vielen seiner Mitglieder die Arbeit der Enquête-Kommission »Internet und digi-
tale Gesellschaft« verfolgt. Zur Halbzeit der Wahlperiode im September 2011 äu-
ßerte sich der Deutsche Kulturrat in seiner Halbzeitbilanz zur Arbeit der Bun- 072
desregierung und des Parlaments zur genannten Enquête-Kommission folgen-
dermaßen: »Mit großer Sorge sieht der Deutsche Kulturrat die ersten Arbeits- 073
ergebnisse der Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages ›Internet und
digitale Gesellschaft‹. Der Deutsche Kulturrat fordert die Mitglieder der En-
quête-Kommission des Deutschen Bundestages ›Internet und digitale Gesell-
schaft‹ auf, nicht prioritär die Interessen der sogenannten Netzgemeinde und der
Telekommunikationswirtschaft zu bedienen, sondern ebenso intensiv im Dialog
mit den Künstlern und Medienschaffenden, der Kulturwirtschaft und den Kultur-
einrichtungen nach angemessenen Lösungen zum Schutz ihrer Rechte zu suchen.
Die Digitalisierung beinhaltet auch viele Chancen zur Teilhabe an Kunst
und Kultur; das betrifft sowohl neue Formen der Kulturvermittlung als auch
neue Modelle der Kulturverwertung. Zentrales Anliegen des Deutschen Kultur-
rates ist der Schutz des geistigen Eigentums. Zugleich müssen die Erwartungen
der Nutzer im Blick gehalten werden.« 2
Demgegenüber wurde die Arbeit von Staatsminister Neumann in Sachen
Digitalisierung und Urheberrecht ausdrücklich gelobt. Er hatte einen Runden
Tisch unter Beteiligung des Deutschen Kulturrates und ausgewählter Verbände
der Künstler, der Verwerter und der Nutzer eingerichtet. An diesem Tisch wurden
sehr ausführlich die Probleme, aber auch Lösungsmöglichkeiten beraten. Neu-
mann hörte zu und forderte die Beteiligten immer wieder auf, ihre Argumente
zu schärfen. Der Runde Tisch war ein Beratungsgremium für ihn. Diskussionen
flossen in das 12-Punkte-Papier zum Schutz des geistigen Eigentums im digita-
len Zeitalter »Ohne Urheber keine kulturelle Vielfalt« ein. In der Präambel die-
ses Positionspapiers steht zu lesen:
»Die Geschichte der Literatur, Musik, Kunst, und der Wissenschaft sowie
des Films und der Medien ist auch eine Geschichte des Schutzes des geistigen
Eigentums. Der Schutz der Rechte der Urheber wurde in dem Maße erforderlich,
wie die Werke der geistigen Arbeit neben ihrer wesentlichen kulturellen und so-
zialen Dimension zugleich ein handelbares Wirtschaftsgut geworden sind. Die

1 Kunst und Kultur als Lebensnerv. Stellungnahme des Deutschen Kulturrates zur
Kulturfinanzierung vom 08.10.2010 ⟶ https://bit.ly/2xhNYtc
2 Halbzeit der Legislaturperiode. Was steht an? Sechs kulturpolitische Forderungen
des Deutschen Kulturrates an den Deutschen Bundestag und die Bundesregierung für
die zweite Hälfte der Wahlperiode vom 29.09.2011 ⟶ https://bit.ly/2QxPsaN

1. — Einleitung
neuen Informations- und Kommunikationstechnologien, die ihrerseits das Er-
gebnis des schöpferischen Geistes sind, führen notwendigerweise zu neuen He-
rausforderungen für das geistige Eigentum. Das Urheberrecht, in dessen Mittel-
punkt die ideellen und materiellen Interessen des Werkschöpfers stehen, un-
terliegt einem ständigen Anpassungsdruck durch die technische Entwicklung.
Durch die digitale Revolution werden nicht nur die Bedingungen der Produk-
tion von Literatur, Musik, Kunst, Filmen, audiovisuellen Inhalten und von Wis-
sen verändert. Es entstehen auch für die Verwerter neue Geschäftsmodelle, die
die Schätze der kulturellen Vielfalt der Gegenwart und der Vergangenheit heben
können. Die Mechanismen und Regelungen für das traditionelle Marktgesche-
hen reichen im virtuellen Umfeld nicht mehr aus. Im weltweiten Netz zirkulie-
ren Werke und künstlerische Leistungen, die Objekt wirtschaftlichen Interesses
sind. Die Digitalisierung birgt mithin viele Chancen, aber auch Risiken für die
Urheber und andere am kreativen Schaffens- und Verwertungsprozess Beteilig-
te, wie etwa Verlage, Produzenten von Musik oder Filmen oder Rundfunkveran-
stalter. Da das Urheberrecht wesentlich vom Persönlichkeitsrecht des Urhebers
mitgeprägt wird, enthält die Ausgestaltung der rechtlichen Bedingungen aller-
dings nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine starke ideelle Dimension.
Gleichzeitig haben die digitalen Veränderungen ganz neue und bislang un-
bekannte Möglichkeiten der Teilnahme am kulturellen Leben geschaffen. Ein
herausragendes Beispiel hierfür stellt die Deutsche Digitale Bibliothek dar, die
auch als deutscher Beitrag zur Europäischen Digitalen Bibliothek Europeana
aufgebaut wird. Aber nicht nur die Aneignung der Schätze der Kultur und Kunst
ist leichter geworden, sondern auch die Verletzung von Rechten der Urheber im
Internet. Es bleibt die Herausforderung bestehen, den geistigen Diebstahl und
sonstige Urheberrechtsverletzungen zu verhindern; das ungenehmigte Einstel-
len und das ungesetzliche Herunterladen von Werken sind keine Kavaliersdelikte.
Letztlich geht es um die Stärkung der Rechtsstellung der Urheber und damit um
die Wertschätzung ihrer geistigen Arbeit. Schutz des geistigen Eigentums ist in-
soweit Schutz des kulturellen Reichtums und eines vielfältigen Kulturerbes, wie
es auch in der UNESCO-Konvention zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt
kultureller Ausdrucksformen Bestätigung findet.« 1

Weitere Themen des Positionspapiers waren:


—— Der Urheber bleibt Ausgangspunkt des Urheberrechts
—— Angemessene Regeln für das Verhältnis Urheber/Nutzer
—— Wert geistigen Eigentums
—— Kulturelle Teilhabe durch Medienkompetenz
—— Rolle der Verwertungsgesellschaften
—— Regeln für verwaiste und vergriffene Werke

1 »Ohne Urheber keine kulturelle Vielfalt«. Zwölf-Punkte-Papier des Staatsministers für Kultur und Medien
zum Schutz des geistigen Eigentums im digitalen Zeitalter. Dezember 2011 ⟶ https://bit.ly/2NedeL7

Wachgeküsst
—— Warnhinweismodell
—— Fortentwicklung der Haftung von Providern und anderen Beteiligten
—— Leistungsschutzrecht für Presseverleger
—— Weiterverwendung und Langzeitverfügbarkeit digitaler Kopien
—— Verbesserungen bei der Sicherung von Vergütungsansprüchen
—— Europäische und internationale Regeln 1

Der Deutsche Kulturrat lobte am Positionspapier, dass sich Kulturstaatsminis-


ter Neumann in seinem 12-Punkte-Papier zum Schutz des geistigen Eigentums 074
im digitalen Zeitalter ›Ohne Urheber keine kulturelle Vielfalt‹ eindeutig und klar
für den Schutz des geistigen Eigentums positioniert hat. Besonders wichtig ist 075
für den Deutschen Kulturrat die Verbindung von kultureller Vielfalt und Schutz
des geistigen Eigentums. Der Deutsche Kulturrat forderte Kulturstaatsminister
Neumann und die Parlamentarier auf, diese Position nachdrücklich in die Ver-
handlungen zur Urheberrechtsreform einzubringen.
Angesichts der aktuellen Debatten zum Urheberrecht positionierte sich der
Deutsche Kulturrat im Oktober »Zur Zukunft des Urheberrechts – Positionspa-
pier des Deutschen Kulturrates«.2 Hierin wurde herausgearbeitet, ».. in der digi-
talen Welt geht das Urheberrecht jedermann an. Die Auseinandersetzung um das
richtige Urheberrecht wird in einer breiten Öffentlichkeit geführt und hat eine
politische Bedeutung gewonnen, die noch vor wenigen Jahren nicht vorstellbar
war, denn das Internet ermöglicht die schnelle Bereitstellung von künstlerischen
und journalistischen Werken.«3 Auch wenn die Gesetzgebungskompetenz für das
Urheberrecht nicht beim BKM sondern beim Bundesjustizministerium liegt, ist
das klare Eintreten für die Rechte der Urheber und anderen Rechteinhaber von-
seiten des BKM sehr wichtig für die Durchsetzung der Anliegen.
Ein kulturpolitischer Dauerbrenner, schon vor der Einrichtung des BKM,
ist die Mehrwertsteuer und hier insbesondere der ermäßigte Mehrwertsteu-
ersatz für Kulturgüter. Seine geplante Streichung im Jahr 1981 war einer der
Gründungsanlässe für den Deutschen Kulturrat. Erstmals hatten sich damals
Verbände unterschiedlicher künstlerischer Sparten zusammengeschlossen und
sind gemeinsam für den Erhalt des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes für Kunst
und Kultur eingetreten. Seither gab es immer wieder Angriffe auf diese Ermäßi-
gungstatbestände. Im Mittelpunkt stand in der Regel die bildende Kunst, Weite-
rungen auf Bücher und andere Druckerzeugnisse waren stets möglich. Im Lau-
fe der Zeit stellte sich als zusätzliche Facette heraus, dass einige Kulturgüter
von der Mehrwertsteuerermäßigung nicht erfasst sind. Dies ist einerseits in
der Buchbranche der technischen Entwicklung geschuldet, so sind gedruckte
Bücher mit dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz belegt, E-Books mit dem vol-

1 »Ohne Urheber keine kulturelle Vielfalt«. a. a. O.


2 Zur Zukunft des Urheberrechts – Positionspapier des Deutschen Kulturrates ⟶ https://bit.ly/2paPwRq
3 Ebd.

1. — Einleitung
len, Hörbücher erst seit dem 1. Januar 2015 mit dem ermäßigten Umsatzsteuer-
satz. In der bildenden Kunst waren beispielsweise Öl- oder Acrylbilder mit dem
ermäßigten Mehrwertsteuersatz, Werke des künstlerischen Siebdrucks, Video-
kunst und künstlerische Designleistungen hingegen mit dem vollen Satz be-
legt. Grund hierfür sind die Bestimmungen der Europäischen Mehrwertsteu-
ersystemrichtlinie.
Der Deutsche Kulturrat und die betroffenen Verbände haben stets beim BKM
für eine Ausdehnung der ermäßigten Mehrwertsteuer in den verschiedenen Ver-
breitungswegen und künstlerischen Ausdrucksformen geworben, in denen es auf
der Hand liegt, wie die oben genannten Beispiele belegen. Diese Vorschläge stie-
ßen bei allen Kulturstaatsministern auf offene Ohren. Es wurde sich insbeson-
dere für einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz für Druckwerke eingesetzt. Auch
wurde über einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz für Tonträger nachgedacht.
Als Damoklesschwert schwebte allerdings über dem ermäßigten Mehrwertsteu-
ersatz bei Kunstverkäufen aus Galerien, dass dies EU-rechtswidrig war. Um den
bestehenden, europarechtswidrigen Rechtszustand nicht zu gefährden, warn-
te das BKM stets vor Vorstößen bezüglich einer Ausdehnung der Mehrwertsteu-
erermäßigungen in der bildenden Kunst und hielt sich selbst eher zurück. Dies
auch vor dem Hintergrund, dass das Bundesfinanzministerium immer wieder mit
Gutachten aufwartete, in denen die Abschaffung des ermäßigten Mehrwertsteu-
ersatzes für die bildende Kunst empfohlen wurde.
In der zweiten Amtszeit von Neumann drohte die EU-Kommission der Bun-
desrepublik ein Vertragsverletzungsverfahren an, sollte der ermäßigte Mehrwert-
steuersatz für den Verkauf von Kunstwerken in Galerien nicht abgeschafft wer-
den. Schnell stand fest, dass die Bundesregierung ein Vertragsverletzungsver-
fahren nicht riskieren wollte. Es ging daher darum, andere Lösungen zu finden.
Hier war und ist vonseiten der Bundesregierung das BKM der Treiber. Die Um-
setzung des schließlich vereinbarten Modells der Margenbesteuerung scheitert –
leider immer noch – am Widerstand der Länder. Sie weigern sich, die gesetzli-
chen Vorgaben in einem gemeinsamen Anwendungserlass mit dem Bund umzu-
setzen, sodass auch im Jahr 2018 immer noch Rechtsunsicherheit für Galeristen
besteht. Sowohl Staatsminister Neumann als auch Staatsministerin Grütters ha-
ben bei den Ländern nachdrücklich für eine kulturfreundliche Lösung geworben,
eine Mehrheit kam bislang nicht zustande. Es ist mehr als bedauerlich, wie we-
nig die Länder in diesem Fall bereit sind, eine kulturpolitische Verantwortung zu
übernehmen, die über die eigenen Ländergrenzen hinausweist.
Bereits in der Amtszeit von Staatsminister Michael Naumann wurde die Wa-
shingtoner Erklärung (eigentlich: »Grundsätze der Washingtoner Konferenz in
Bezug auf Kunstwerke, die von den Nationalsozialisten beschlagnahmt wurden«)
unterzeichnet. Obwohl sie rechtlich nicht bindend ist, war sie ein wichtiger Mei-
lenstein in der Befassung mit NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut. Im
Jahr 1999 erarbeiteten Bund, Länder und kommunale Spitzenverbände die »Er-
klärung der Bundesregierung, der Länder und der kommunalen Spitzenverbän-

Wachgeküsst
de zur Auf‌findung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kul-
turgutes, insbesondere aus jüdischem Besitz« (»Gemeinsame Erklärung«) 1 Hier-
in verpflichten sich die Unterzeichner u. a.: »… auf der Basis der verabschiedeten
Grundsätze und nach Maßgabe ihrer rechtlichen und tatsächlichen Möglichkei-
ten nach weiterem NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgut zu suchen und
gegebenenfalls die notwendigen Schritte zu unternehmen, eine gerechte und fai-
re Lösung zu finden.« 2 Und weiter: »Die Bundesregierung, die Länder und die
kommunalen Spitzenverbände werden im Sinne der Washingtoner Erklärung in
den verantwortlichen Gremien der Träger einschlägiger öffentlicher Einrichtun- 076
gen darauf hinwirken, dass Kulturgüter, die als NS-verfolgungsbedingt entzogen
identifiziert und bestimmten Geschädigten zugeordnet werden können, nach in- 077
dividueller Prüfung den legitimierten früheren Eigentümern bzw. deren Erben
zurückgegeben werden. Diese Prüfung schließt den Abgleich mit bereits erfolg-
ten materiellen Wiedergutmachungsleistungen ein. Ein derartiges Verfahren er-
möglicht es, die wahren Berechtigten festzustellen und dabei Doppelentschädi-
gungen (z. B. durch Rückzahlungen von geleisteten Entschädigungen) zu vermei-
den. Den jeweiligen Einrichtungen wird empfohlen, mit zweifelsfrei legitimierten
früheren Eigentümern bzw. deren Erben über Umfang sowie Art und Weise einer
Rückgabe oder anderweitige materielle Wiedergutmachung (z. B. gegebenenfalls
in Verbindung mit Dauerleihgaben, finanziellem oder materiellem Wertausgleich)
zu verhandeln, soweit diese nicht bereits anderweitig geregelt sind (z. B. durch
Rückerstattungsvergleich).« 3
Im Jahr 2000 etablierte sich ein Arbeitskreis Provenienzforschung, in dem
an dem Thema interessierte Wissenschaftler, Mitarbeiter aus Kultureinrichtun-
gen usw. sich zum Fachaustausch trafen. Im Jahr 2001 wurde die vorherige Ko-
ordinierungsstelle Magdeburg 4 in eine gemeinsame Einrichtung von Bund und
Ländern umgewandelt. Die Datenbank lostart.de 5 wurde im selben Jahr freige-
schaltet. Deutlich gestärkt wurde die Provenienzrecherche durch die Gründung
der Arbeitsstelle für Provenienzrecherche/-forschung (AfP) am Institut für Mu-
seumsforschung der Staatlichen Museen zu Berlin – Stiftung Preußischer Kul-
turbesitz. Ihre Aufgabe war u. a., die Forschung nach NS-verfolgungsbedingt ent-
zogenem Kulturgut in Kultureinrichtungen zu unterstützen. Einen spürbaren
Schub erhielt die Provenienzrecherche dank der Bereitstellung von Haushalts-
mitteln in Höhe von einer Million Euro durch das BKM. Kultureinrichtungen
konnten sich mit konkreten Vorhaben um Projektmittel bewerben. Weiter wur-

1 Gemeinsame Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände
zur Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgutes, insbesondere aus
­jüdischem Besitz ⟶ https://bit.ly/2xeuAgC
2 Ebd.
3 Ebd.
4 Die Koordinierungsstelle Magdeburg war 1994 von den Ländern Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg,
Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen
als Koordinierungsstelle der Länder für die Rückführung von Kulturgütern gegründet worden.
5 Auf www.lostart.de werden Kulturgüter verzeichnet, die problematischer oder ungeklärter Herkunft sind.

1. — Einleitung
den Symposien wie beispielsweise die Symposien zur Provenienzrecherche in Bi-
bliotheken in Hannover unterstützt, die in die Fachwelt und Öffentlichkeit wirk-
ten. Im Jahr 2013 ermöglichte die Kulturstiftung der Länder eine Erhöhung des
Personalstocks bei der Arbeitsstelle für Provenienzrecherche/-forschung (AfP)
am Institut für Museumsforschung, um insbesondere kleinere Kultureinrichtun-
gen bei der Provenienzrecherche zu unterstützen. Es ist also ein wichtiges Ver-
dienst der Amtszeit von Bernd Neumann, dass dieses wichtige Anliegen in den
Mittelpunkt der Kulturpolitik rückte.

Wahlkampf 2013 und Koalitionsverhandlungen

Traditionellerweise hat der Deutsche Kulturrat auch im Jahr 2013 Fragen an die
im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien gerichtet. Da zu dem Zeitpunkt
die Piratenpartei einen enormen Aufschwung erlebte, in diversen Landtagen ver-
treten war und davon auszugehen war, dass sie auch die Fünf-Prozent-Hürde für
den Einzug in den Deutschen Bundestag schaffen würde, wurde sie abweichend
vom sonstigen Procedere, ausschließlich im Deutschen Bundestag vertretene
Parteien zu befragen, in die Versendung der Wahlprüfsteine einbezogen – und
sie haben wie die anderen Parteien geantwortet.

Die Fragen waren in folgende Fragenkomplexe gegliedert:


—— Kulturpolitik auf bundespolitischer Ebene
—— Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik
—— Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik
—— Steuerpolitik
—— Urheberrechtspolitik
—— Medienpolitik
—— Bildungspolitik

Insgesamt wurden 30 Fragen gestellt, so auch die Klassiker nach dem Staatsziel
Kultur, der Einrichtung des Ausschusses für Kultur und Medien sowie der Ein-
richtung eines Bundeskulturministeriums.
Beim Staatsziel Kultur herrschte bei Bündnis 90/Die Grünen, FDP, Die Lin-
ke, Piratenpartei und SPD Einigkeit, dass das Staatsziel Kultur im Grundgesetz
verankert wird. Die Piratenpartei schreibt allerdings etwas kryptisch: »Die Pi-
ratenpartei wird sich für eine Verankerung des Staatsziels Kultur einsetzen, bei
der Umsetzung dieses Ziels jedoch den Wunsch nach größtmöglicher Staatsfer-
ne in der Realisierung nicht aus dem Blick verlieren.«1 Hier scheint das Staats-
ziel Kultur mit Staatskunst verwechselt zu werden. CDU/CSU räumen ein, dass
es bei ihnen verfassungsrechtliche Bedenken gegenüber einem Staatsziel Kultur
gibt, stellen dann aber klar: »Dafür haben CDU und CSU die Kulturlandschaft in

1 Parteien auf dem Prüfstand. In: Politik & Kultur Spezial 5/2013, S. 22

Wachgeküsst
unserem Land wirkungsvoll gestärkt – im Gegensatz zu Ländern, die der Kultur
in ihren Landesverfassungen zwar einen Platz einräumen, dem aber keine Ta-
ten folgen lassen.« 1
Unstreitig ist unter allen befragten Parteien die Einrichtung des Ausschus-
ses für Kultur und Medien. Was das BKM betrifft, verweisen Bündnis 90/Die Grü-
nen zuerst darauf, dass in der ersten Rot-Grünen Bundesregierung das Amt ein-
gerichtet wurde. Sie fänden es gut, »wenn Kultur im Kabinett nicht nur mit Re-
derecht, sondern auch mit Stimmrecht vertreten werden könnte.« 2 Um dann zu
relativieren: »Die Gestaltungsstärke und Präsenz kulturpolitischer Themen liegt 078
jedoch in erster Linie an den Inhalten und der Person, die diese nach außen re-
präsentiert – ob es sich dabei um einen Kulturstaatsminister oder einen Minis- 079
ter für Kultur handelt, ist sekundär.« 3 Hieraus spricht die Wertschätzung gegen-
über der Arbeit der bisherigen Kulturstaatsminister – ganz unabhängig, welcher
Parteien sie angehören.
CDU und CSU erklären klipp und klar, dass sie am bestehenden Modell fest-
halten wollen, da es sich bewährt habe. Die Linke plädiert erneut für eine Bün-
delung weiterer kulturpolitischer Themen und die Einführung eines Bundeskul-
turministers mit Kabinettsrang. Die FDP sieht die bisherige Form des BKM als
die geeignete Form, um »… die vornehmste Aufgabe, den Bereich Kulturpolitik
generell zu stärken.« 4 Die SPD erinnert daran, dass unter ihrer Verantwortung
das BKM gegründet wurde und stellt heraus, dass sie die Kultur im Rahmen des
kooperativen Kulturföderalismus stärken wolle.
Die Piratenpartei hat hochfliegende Pläne für ein Bundeskulturministerium.
Sie vertreten die Auffassung: »Hier gilt es die föderale Struktur der Landeshoheit
zu beachten, deswegen hat die Piratenpartei hier ihr Augenmerk auf die digita-
len Kulturräume gelegt, da diese von keiner Region geprägt sind und eine nied-
rige Zugangsschwelle haben. Das muss so bleiben. Unsere Forderung geht wei-
ter, da das Thema Netzneutralität hier eine wichtige Rolle spielt. Für alle Bürger
ist eine gleichberechtigte Teilhabe an digitaler Kultur und Bildung ein Grund-
recht, welches der Staat zu gewährleisten hat. Deswegen fordern wir ein Minis-
terium für Kultur und Medien, um den Erfordernissen gerecht zu werden. Unse-
re Gesellschaft wandelt sich von einer Industrie- zu einer Wissens- und Informa-
tionsgesellschaft: Informationen brauchen Medien, um frei zu zirkulieren und
sich zu entwickeln. Dies kann unserer Auffassung nach nur ein Ministerium bis
in die Bundesländer und darüber hinaus europäisch und weltweit gewährleis-
ten.« 5 Hohe Erwartungen mit Blick auf die Gestaltungsspielräume eines Bun-
desministeriums.

1 Ebd. S. 11
2 Ebd. S. 8
3 Ebd. S. 8
4 Ebd. S. 19
5 Ebd. S. 22

1. — Einleitung
Die Bundestagswahl am 22. September 2013 führte dazu, dass die FDP knapp den
Einzug in den Deutschen Bundestags verpasste und damit erstmals seit Grün-
dung der Bundesrepublik dem Deutschen Bundestag nicht angehörte. Die Pira-
tenpartei hat den Einzug deutlich verfehlt. Nachdem zuerst zwischen CDU, CSU
und Bündnis 90/Die Grünen sondiert wurde, nahmen nach ergebnislosem Ver-
lauf CDU, CSU und SPD zuerst Sondierungen und dann Koalitionsgespräche auf.
Bei der SPD bestanden große Vorbehalte gegenüber einer Neuauflage der Gro-
ßen Koalition. Sie hatten bei der Bundestagswahl 2009 aus einer Großen Koali-
tion heraus 11,2 Prozent verloren und zur Bundestagswahl mit einem Plus von 2,7
Prozent an Stimmen nur geringfügig zugewonnen. Nachdem auch die FDP aus
einer Koalition mit CDU und CSU mit Stimmverlusten über 10 Prozent heraus-
gegangen ist und sogar aus dem Bundestag ausschied, bestand die Sorge, nach
vier Jahren Regierungsbeteiligung als Juniorpartner erneut zu verlieren. Den-
noch nahm die SPD die Verhandlungen auf und die Partei stimmte in einem Mit-
gliederentscheid dem Verhandlungsergebnis zu.
Der Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD für die 18. Wahlperiode stand
unter der Überschrift »Deutschlands Zukunft gestalten«. Auf immerhin zehn Sei-
ten werden unter der Überschrift »Kultur, Medien und Sport« im Kapitel »Zu-
sammenhalt der Gesellschaft« die kultur- und medienpolitischen Vorhaben für
die anstehende Legislaturperiode skizziert, auf die im Folgenden nur kursorisch
eingegangen werden kann. Gleich zu Beginn wird festgestellt: »Kultur ist keine
Subvention, sondern eine Investition in unsere Zukunft.« 1
Hier wirkt die Diskussion aus dem ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts
nach. Mit Blick auf die Zusammenarbeit mit den Ländern wird angekündigt, dass
Bund und Länder »bei der Planung und Finanzierung künftig intensiver und sys-
tematischer zusammenwirken (kooperativer Kulturföderalismus). Dazu soll ein
regelmäßiger Austausch zwischen Bund, Ländern und Kommunen etabliert wer-
den. Die Kulturstiftungen des Bundes und der Länder sind einzubeziehen.« 2 Da-
mit wird der von Bernd Neumann begonnene regelmäßige Dialog des BKM mit
den Ländern verstetigt und um die Kommunen erweitert.3 Ebenfalls in Zusam-
menarbeit mit den Ländern soll das Thema demografischer Wandel im Kultur-
bereich in den Blick genommen werden. Mit Blick auf die Medienpolitik wurde
eine zeitlich befristete Bund-Länder-Kommission zur Medienkonvergenz ange-
kündigt.
Diverse Fördervorhaben wie beispielsweise die Einrichtung eines Musik-
fonds, die Förderung national bedeutsamer Kulturorte finden ebenso Erwähnung
wie das Ziel »jedem Einzelnen unabhängig von seiner sozialen Lage und ethni-

1 Deutschlands Zukunft gestalten. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD. 18. Legislaturperiode, S. 128
2 Ebd. S. 128
3 Staatsminister Neumann hatte die Tradition begründet, dass BKM und die Kulturminister der Länder
zu ­Spitzentreffen zusammenkamen. In der 18. Wahlperiode erweiterte Staatsministerin G
­ rütters
den Kreis um die kommunalen Spitzenverbände. Die Kulturstiftung des Bundes und die Kultur­stiftung
der Länder werden ebenfalls eingeladen.

Wachgeküsst
schen Herkunft gleiche kulturelle Teilhabe in allen Lebensphasen zu ermögli-
chen. Kultur für alle umfasst Inklusion, Geschlechtergerechtigkeit sowie inter-
kulturelle Öffnung. Diese Grundsätze sind auch auf die vom Bund geförderten
Einrichtungen und Programme zu übertragen.« 1 Fragen der Inklusion, der Ge-
schlechtergerechtigkeit oder auch der interkulturellen Öffnung werden wichti-
ge Umsetzungsthemen in der 18. Wahlperiode.
Hinsichtlich der Erinnerungskultur wird eingangs klargemacht, dass das his-
torische Gedächtnis und insbesondere die Vermittlung der jüngeren Geschich-
te dauerhafte Aufgaben bleiben.2 Die Erinnerungskultur bezieht sich auf positi- 080
ve Erfahrungen deutscher Demokratiegeschichte ebenso wie auf die Erinnerung
an die »NS-Terrorherrschaft, an Stalinismus und SED-Diktatur«.3 081
Mit Blick auf NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut sollen die Mit-
tel für die Provenienzforschung verstärkt werden, um dem Anspruch an Resti-
tution gerecht zu werden. Ebenfalls verstärkt werden soll die Provenienzfor-
schung mit Blick auf in der ehemaligen sowjetischen Besatzungszone bzw. der
DDR entzogenes Kulturgut. Die Rückführung sogenannter Beutekunst aus Russ-
land und anderen mittel- und osteuropäischen Staaten wird als bleibendes wich-
tiges Ziel der Bundesregierung genannt. Als weiteres konkretes Vorhaben zum
Kulturgutschutz wird angekündigt, das Kulturgutschutzgesetz zu novellieren,
»um sowohl illegal ausgeführtes Kulturgut anderer Staaten effektiv an diese zu-
rückzugeben, als auch deutsches Kulturgut besser vor Abwanderung ins Ausland
zu schützen.« 4 Hiermit reagiert die Koalition auf den eigenen Bericht zum Kul-
turschutz in Deutschland aus dem Jahr 2013, in dem der Kulturgutschutz als un-
zureichend beschrieben wird.5
Hinsichtlich der Künstlersozialversicherung wurde sich vorgenommen,
mehr Abgabegerechtigkeit zu erreichen und den weiteren Anstieg der Künstler-
sozialabgabe zu vermeiden.
Beim Urheberrecht wird als Ziel ein gerechter Ausgleich der Interessen der
Urheber, der Verwerter und der Nutzer avisiert. Auch soll »der Wert kreativer
Leistungen stärker in den Mittelpunkt der Urheberrechtsdebatte« gerückt wer-
den, damit »das Bewusstsein für den Wert geistigen Eigentums in der Gesell-
schaft« 6 gestärkt wird. Als konkrete Maßnahmen werden u. a. die Reform des
Urhebervertragsrechts, Anstrengungen zur Plattformregulierung und anderes
mehr angekündigt.

1 Deutschlands Zukunft gestalten a. a. O., S. 129


2 Ebd. S. 130
3 Ebd. S. 130
4 Ebd. S. 132
5 Bericht der Bundesregierung zum Kulturgutschutz in Deutschland »Bericht über die Auswirkungen des
Gesetzes zur Ausführung des UNESCO-Übereinkommens vom 14.11.1970 über Maßnahmen zum Ver-
bot und zur Verhütung der rechtswidrigen Einfuhr, Ausfuhr und Übereignung von Kulturgut (Ausführungs­
gesetz zum Kulturgutübereinkommen) und den Schutz von Kulturgut vor Abwanderung ins Ausland«.
Berlin 2013 ⟶ https://bit.ly/2QywdOr
6 Deutschlands Zukunft gestalten a. a. O., S. 133

1. — Einleitung
Die Digitalisierung des kulturellen Erbes soll vorangetrieben werden. Hierzu ge-
hört auch die Prüfung geeigneter Archivierungsmöglichkeiten für digitale Spie-
le.1 Eine erste Einschätzung zum Koalitionsvertrag veröffentlichten Zimmer-
mann und Schulz in der Ausgabe 1/2014 von Politik & Kultur.2

Monika Grütters:
Eine Kulturstaatsministerin im Feuer

Nach Abschluss der Koalitionsverhandlungen 2013 erklärte Kulturstaatsminis-


ter Bernd Neumann, nicht wieder für das Amt zur Verfügung zu stehen. Seine
Nachfolgerin wurde Monika Grütters. Wie Neumann gestandene Parlamentarie-
rin. Sie gehörte von 1995 bis 2005 dem Abgeordnetenhaus von Berlin an und war
hier u. a. wissenschafts- und kulturpolitische Sprecherin der CDU-Fraktion so-
wie stellvertretende Fraktionsvorsitzende. Seit 2005 gehört sie dem Deutschen
Bundestag an. Hier war sie von 2005 bis 2009 Obfrau der Arbeitsgruppe für Kul-
tur und Medien der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und von 2009 bis 2013 Vorsit-
zende des Ausschusses für Kultur und Medien des Deutschen Bundestags. Nach
Bernd Neumann die zweite Parlamentarierin im Amt als BKM.
Ein Thema prägte die erste Amtszeit von Grütters besonders, die Auseinan-
dersetzung um das Kulturgutschutzgesetz. Bereits im Koalitionsvertrag war, wie
oben gesagt, angekündigt worden, den Kulturgutschutz zu novellieren. Mit die-
ser Novelle sollten die bestehenden Gesetze zum Kulturgutschutz in einem zu-
sammengeführt und zugleich die EU-Richtlinie zum Kulturgutschutz aus dem
Jahr 2014 in nationales Recht überführt werden. Erstmals war der Abwanderungs-
schutz von Kulturgut, wie geschildert, in der Weimarer Verfassung geregelt wor-
den. Im Blickpunkt stand dabei vor allem Kulturgut aus Adelshäusern, das nicht
in das Ausland verbracht werden sollte. Die Regelungen aus der Weimarer Ver-
fassung wurden nach 1949 in der Bundesrepublik fortgeschrieben. Mit der Föde-
ralismusreform II wurde dem Bund der Abwanderungsschutz von Kulturgut ein-
deutig übertragen. Ausgeführt wurde das Gesetz von den Ländern, die ihrerseits
Listen national wertvollen Kulturguts führen. Seit Inkrafttreten des Kulturgut-
schutzgesetzes wird in diesen Listen auch national wertvolles Archivgut aufge-
führt, das zuvor auf getrennten Listen geführt wurde. Da die Länder das Kultur-
gutschutzgesetz umsetzen müssen, wurden sie von Beginn der Diskussion an
mit einbezogen.
Kaum eine kulturpolitische Debatte der letzten Jahrzehnte wurde so lei-
denschaftlich, so emotional geführt wie die zum Kulturgutschutzgesetz. Da gab
es die einen, die einen wirkungsvollen Schutz bei der Einfuhr von Kulturgut, im
Besonderen archäologischen Kulturgut, einforderten. Sie führten an, dass nicht

1 Ebd. S. 137
2 Zimmermann, O./Schulz, G.: Wer macht Kulturpolitik in der Groko? Die Kulturpolitiker der neuen
­Bundesregierung – eine erste Einschätzung. In: Politik & Kultur 1/2014, S. 3

Wachgeküsst
zuletzt durch die Kriege und Bürgerkriege, speziell im Nahen und Mittleren Os-
ten, Ausgrabungsstätten und teilweise auch Museen geplündert werden und die-
ses Kulturgut auf dem europäischen und so auch deutschem Markt verkauft wird.
Hierzu zählt archäologisches Kulturgut, das weder Angaben zur Provenienz noch
eine Ausfuhrgenehmigung des Herkunftsstaats aufweist. Neben rechtlichen Ar-
gumenten wurde immer wieder angeführt, dass die unrechtmäßige Einfuhr von
Kulturgut immensen Schaden in den Herkunftsländern anrichtet, weil nicht nur
das kulturelle Erbe verloren geht, sondern Sammlungs- und Ausgrabungszusam-
menhänge für immer zerstört werden mit großen Verlusten für die Erforschung 082
früherer Kulturen. Dem entgegneten die anderen, dass Deutschland kein Han-
delsplatz für illegales Kulturgut sei. Sie wehrten sich gegen den Generalverdacht, 083
dass mit illegalem Kulturgut gehandelt würde und führten mit Blick auf archäo-
logisches Kulturgut an, dass vieles bereits über Generationen in Deutschland
ist und die Provenienz nicht mehr geklärt werden kann. Sollte dieses Kultur-
gut nicht mehr in Verkehr gebracht werden können, droht ein erheblicher öko-
nomischer Schaden.
Ein zweiter Diskussionsstrang mit dem Kontext Provenienzangabe ist NS-
verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut. Auch hier wurde vom Kunsthandel
angeführt, dass nicht jedes Kulturgut, das in der Zeit nach 1933 verkauft wurde,
NS-verfolgungsbedingt entzogen wurde. Es wurde argumentiert, dass bis Mit-
te der 1930er Jahre noch ein jüdischer Kunsthandel bestand und nicht behaup-
tet werden könne, dass generell keine fairen Preise gezahlt wurden. Schließlich
bestimme sich der Preis anhand des Angebots. Bei vielen Werken lasse sich die
Provenienz nicht einwandfrei klären.
Mit Blick auf die zeitgenössische Kunst wurde die Sorge verbreitet, dass
ganze Sammlungen zum national wertvollen Kulturgut erklärt würden und der
Kunsthandel zum Erliegen käme. Auch widersprächen die geplanten Regelun-
gen dem EU-Binnenmarkt. Vonseiten des BKM wurde stets das Argument ange-
führt, dass in fast allen EU-Mitgliedsstaaten Sonderregelungen für die Ausfuhr
von Kunst innerhalb des Binnenmarktes gelten. Ebenso wurde darauf hinge-
wiesen, dass für die Aufnahme in die Liste national wertvollen Kulturguts 1 sehr
strenge Regeln gelten. Die seit vielen Jahrzehnten geführten Listen der Länder
enthielten zusammen genommen nicht einmal 3.000 eingetragene Kunstwerke.
In der Diskussion prallten die Meinungen aufeinander. Mit Polemik wurde
nicht gespart. In den Zeitungen des Axel-Springer-Verlags (Die Welt, Bild u. a.)
wurde Monika Grütters »zum Abschuss freigegeben« und sie stand im Fegefeu-
er der Kritik. Dass der erste, inoffizielle Referentenentwurf eine Reihe von Un-
gereimtheiten und vielleicht für Juristen verständliche, für die Kulturszene aber
kaum nachvollziehbare Regelungen enthielt, tat ein Übriges. In diversen Runden

1 Kulturgut, das auf der Liste nationalen wertvollen Kulturguts verzeichnet ist, darf nicht in das Ausland
­ausgeführt werden. Um den internationalen Leihverkehr nicht zu blockieren, werden angemessene Regeln
für Museen gefunden.

1. — Einleitung
wurde das Kulturgutschutzgesetz immer wieder diskutiert. Auch innerhalb des
Deutschen Kulturrates schlugen die Wellen hoch. Zu seinen Mitgliedern zählen
sowohl der Deutsche Museumsbund, ICOM-Deutschland und der Deutsche Ver-
band für Archäologie, die für sehr strenge Regeln zum Kulturgutschutzgesetz
eintraten, als auch der Bundesverband Deutscher Galerien und Kunsthändler,
der rigoros gegen das gesamte Gesetz war. Dennoch gelang es dem Deutschen
Kulturrat in mehreren Stellungnahmen zu dem Gesetzgebungsvorhaben Posi-
tion zu beziehen.1 Die spannende Debatte zum Kulturgutschutzgesetz kann in
dem Buch »Altes Zeug: Beiträge zur Diskussion zum nachhaltigen Kulturgut-
schutz« nachvollzogen werden.2
Ebenfalls in der Koalitionsvereinbarung zugesagt war die Reform des Urhe-
bervertragsrechts. Die im Jahr 2002 getroffenen Regelungen waren unbefriedi-
gend und hatten sich in der Praxis aus vielerlei Gründen nicht bewährt. Feder-
führend hierfür ist das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz
(BMJV) unter der Leitung von Heiko Maas. Die ersten Vorschläge berücksichtig-
ten in erster Linie die Interessen der Urheber und stießen bei den Verwertern er-
wartungsgemäß auf wenig Zustimmung, um nicht zu sagen harsche Ablehnung.
Zu dieser Ablehnung trug sicherlich bei, dass der Eindruck bestand, mit seinen
Anliegen nicht ernst genommen zu werden. Das BKM sah sich in einer Vermitt-
lerrolle. Und auch dem Deutschen Kulturrat gelang bei dieser Novelle des Urhe-
bervertragsrechts eine gemeinsame Stellungnahme. Noch in den Jahren 2000
bis 2002 bestand keine Bereitschaft, sich aufeinander zuzubewegen und eine
gemeinsame Position zu erarbeiten. Dies gelang im Jahr 2015 mit der Stellung-
nahme zum »Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Ver-
braucherschutz eines ›Gesetzes zur verbesserten Durchsetzung des Anspruchs
der Urheber und ausübenden Künstler auf angemessene Vergütung‹« vom 9. De-
zember 2015.3 In dieser Stellungnahme werden die gemeinsamen Interessen for-
muliert und auf die Marktbedingungen verwiesen.
Ebenfalls im BMJV federführend angesiedelt war die Gesetzgebung zur Bil-
dungs- und Wissenschaftsschranke. Dieses Vorhaben wurde vor allem vom Bun-
desministerium für Bildung und Forschung (BMBF), angetrieben von den For-
schungsgesellschaften, forciert. Auch hier galt es wiederum, möglichst einen Aus-
gleich der verschiedenen Interessen zu erreichen, was auch Anliegen des BKM
war. Eine Ausdehnung der Bildungs- und Wissenschaftsschranke kommt Wissen-

1 Novellierung des Kulturgutschutzes in Deutschland, 10.12.2014 ⟶ https://bit.ly/2D0qFJU


Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Kulturgutschutzrechts. Stellungnahme des
Deutschen Kulturrates, 30.09.2015 ⟶ https://bit.ly/2Qxzo8W
Gesetz zur Neuregelung des Kulturgutschutzrechts. Stellungnahme des Deutschen Kulturrates
zum Gesetzesentwurf der Bundesregierung, 11.04.2016 ⟶ https://bit.ly/2NcywZo
2 Zimmermann, O./Geißler, T. (Hg.): Altes Zeug: Beiträge zur Diskussion zum nachhaltigen
Kulturgutschutz. Berlin 2016
3 Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz eines »Gesetzes
zur verbesserten Durchsetzung des Anspruchs der Urheber und ausübenden Künstler auf
angemessene Vergütung« – Stellungnahme des Deutschen Kulturrates ⟶ https://bit.ly/2Quw9iC

Wachgeküsst
schaftlern und Bibliotheken zugute, die Verlagsbranche und speziell die Wissen-
schaftsverlage befürchteten starke Umsatzeinbrüche. Aktuell im Jahr 2018 kann
an der Insolvenz des Verlags Stroemfeld Roter Stern abgelesen werden, was es
bedeutet, wenn Bibliotheken sehr viel weniger Werke ankaufen. Die verdienst-
vollen und aufwändigen Editionen wie z. B. die legendäre Hölderlin-Edition, die
neue Standards in der Editionswissenschaft setzte, oder aktuell die Robert-Wal-
ser-Edition richten sich an ein kleines Publikum an Geisteswissenschaftlern, die
sich beruflich damit befassen oder aber so begeistert sind, dass sie privat ein sol-
ches mehrbändiges Werk erwerben. Ohne die Ankäufe von Bibliotheken, nur über 084
die Einnahmen aus dem Verkauf der Werke an Privatpersonen, sind solche Edi-
tionen aber nicht finanzierbar. Es ist also auch eine Frage des Kulturwirtschafts- 085
standorts, ob das Urheberrecht Regelungen enthält, die Erlösmodelle zulassen
oder ob auf Schrankenregeln und den möglichst kostenfreien Zugang zu Wissen
gesetzt wird. Auch dieses Thema beschäftigte den Deutschen Kulturrat intensiv,
der in seinen Reihen sowohl die Bibliotheksverbände als auch Urheber- und Ver-
lagsverbände vereint.1
Einen besonderen Akzent setzte Monika Grütters in Sachen Geschlechter-
gerechtigkeit. Bereits 1998 fragte der Deutsche Kulturrat in seinen Wahlprüfstei-
nen die Parteien: »Wie bewerten Sie den Stand der gleichberechtigten Partizipa-
tion von Frauen am Kultur- und Medienbetrieb? Sehen Sie hier noch Handlungs-
und Innovationsbedarf? Welche Vorstellungen hat Ihre Partei, die Chancen von
Frauen im Kultur- und Medienbereich zu verbessern?«2 Vorneweg gesagt, hatten
alle Parteien Handlungsbedarf angemeldet. Besonders ausführlich hatte sich die
CDU geäußert, die 1998 schrieb: »Um die Chancen von Frauen im Kulturbereich
zu verbessern, strebt die CDU folgende Ziele an:

—— I n Jurys und Auswahlgremien bei Wettbewerbsnominierungen muß


die Beratungs- und Entscheidungskompetenz von Frauen gleichberechtigt
­berücksichtigt werden.
—— Kultureinrichtungen, Verbandsgremien etc. müssen dafür Sorge tragen, daß
Frauen gleichberechtigt und ihrer Qualifikation entsprechend in die jeweili-­
gen Leitungen und Leitungsgremien berufen, gewählt und eingestellt werden.
—— Öffentliche, öffentlich-geförderte und steuerlich begünstigte ­Kulturinstitute
sollten ermuntert werden – ähnlich wie bereits in den meisten öffenlich-
rechtlichen Rundfunkanstalten üblich – regelmäßig über die Berücksichtigung
der künstlerischen Leistungen von Frauen zu berichten und die Ergebnisse
zu veröffentlichen.

1 Diskussion einer Bildungs- und Wissenschaftsschranke im Urheberrecht. Stellungnahme


des Deutschen Kulturrates, 18.06.2014 ⟶ https://bit.ly/2xfWLMx
Stellungnahme des Deutschen Kulturrates zum Referentenentwurf »Entwurf eines Gesetzes
zur Angleichung des Urheberrechts an die aktuellen Erfordernisse der Wissensgesellschaft«,
24.02.2017 ⟶ https://bit.ly/2lCK7zV
2 Kulturpolitik für das 21. Jahrhundert a. a. O., S. 17

1. — Einleitung
—— B ei der Ausschreibung von Stipendien, Preisen, Aufträgen etc. sind den
­Lebens- und Arbeitsbedingungen von Künstlerinnen Rechnung zu
tragen. Dazu gehört insbesondere auch die Tatsache, daß vielfach Künstler­
innen ihre Arbeit für Phasen der Kindererziehung unterbrechen müssen.
—— In den Bereichen, in denen Frauen besonders benachteiligt sind, sind
im Rahmen der Individuellen-, der Projekt- und der Infrastrukturförderung
Maßnahmen zur Unterstützung von Künstlerinnen aufzunehmen.« 1

Viele der Maßnahmen harren noch immer der Umsetzung. Der Deutsche Kul-
turrat legte bereits im Jahr 2002 die Studie »Frauen in Kunst und Kultur II« vor.2
Diese Untersuchung war von der KMK gefördert worden und hob auf die Unter-
schiede zwischen den Ländern ab. Das Untersuchungsdesign war mit den Län-
dern abgestimmt und es war geplant, in regelmäßigen Abständen Folgestudien
durchzuführen. Leider verlor die KMK das Interesse an dem Thema. Umso mehr
interessierten sich die kulturpolitischen Sprecherinnen des Deutschen Bundes-
tags für die Fragestellung. In Kleinen Anfragen bohrte in der Wahlperiode 2009–
2013 Agnes Krumwiede, kulturpolitische Sprecherin der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen, und in der Wahlperiode 2013–2017 Ulle Schauws, ebenfalls kultur-
politische Sprecherin der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, nach. Der Kultur-
ausschuss führte in der Wahlperiode 2009–2013 eine Anhörung zu dem The-
ma durch.
Im Jahr 2013 veröffentlichte der Deutsche Kulturrat die vom BKM unter-
stützte Studie »Arbeitsmarkt Kultur. Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in
Kulturberufen«3. Gabriele Schulz hat in dieser Studie Daten zur Versichertenzahl
und zum Einkommen von in der Künstlersozialkasse versicherten freiberuflichen
Künstlerinnen und Künstlern ausgewertet. Sie hat herausgearbeitet, dass in ei-
nigen Tätigkeitsbereichen der Anteil weiblicher Versicherter sehr deutlich steigt,
sodass von einer Feminisierung gesprochen werden kann. Durch die Bank lie-
gen in allen Tätigkeitsbereichen – also nicht nur jenen, in denen besonders vie-
le Frauen tätig sind – die Einkommen der weiblichen Versicherten unter denen
der männlichen Kollegen.4
Nicht zuletzt diese Untersuchung bot Anlass, die Situation von Frauen in
Kultur und Medien näher zu untersuchen. Mit Unterstützung des BKM erstell-
te der Deutsche Kulturrat die Studie »Frauen in Kultur und Medien«5, die 2016

1 Ebd. S. 32
2 Deutscher Kulturrat (Hg.): Frauen in Kunst und Kultur II. 1995–2000. Partizipation von Frauen
an den Kulturinstitutionen und an der Künstlerinnen- und Künstlerförderung der Bundesländer.
Berlin 2002 ⟶ https://bit.ly/2xfTKM3
3 Schulz, G./Zimmermann, O./Hufnagel, R.: Arbeitsmarkt Kultur. Zur wirtschaftlichen und
sozialen Lage in Kulturberufen. Berlin 2013
4 Schulz, G.: Arbeitsmarkt Kultur. Eine Analyse von KSK-Daten. In: Gabriele Schulz, Olaf Zimmermann,
Rainer Hufnagel a. a. O., S. 241–323
5 Schulz, G./Ries, C./Zimmermann, O.: Frauen in Kultur und Medien. Ein Überblick über
aktuelle Tendenzen, Entwicklungen und Lösungsvorschläge. Berlin 2016

Wachgeküsst
erschien. In dieser Studie wurden die rechtlichen Rahmenbedingungen zur
Gleichstellung von Frauen in Kultur und Medien ebenso beleuchtet wie in In-
terviews mit ausgewählten Vertreterinnen aus verschiedenen Generationen und
Kulturbranchen, deren Weg in den Beruf und die Voraussetzungen wie auch Hin-
dernisse eruiert. Gleichfalls wurde mittels einer Internetrecherche gefragt, was
die Kunst- und Musikhochschulen in Sachen Geschlechtergerechtigkeit unter-
nehmen. Kern der Studie ist das mehr als 300 Seiten umfassende Kapitel von
Gabriele Schulz zu »Zahlen – Daten –Fakten: Geschlechterverhältnisse im Kul-
tur- und Medienbetrieb« 1. Untersucht wurde hier der Frauen- und Männeran- 086
teil in den künstlerischen Studiengängen, die Präsenz von Frauen in Leitungs-
funktionen von Kultureinrichtungen und Kulturunternehmen, Frauen in Füh- 087
rungsfunktionen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, die wirtschaftliche und
soziale Lage freiberuflicher Künstlerinnen, die Partizipation von Frauen an der
individuellen Künstlerförderung sowie last but least die Präsenz von Frauen in
Bundeskulturverbänden.
Die Studie wurde von Staatsministerin Monika Grütters im Sommer 2016
im Kanzleramt vorgestellt und stieß auf eine sehr große Resonanz. Das Thema
Frauen in Kultur und Medien war für alle künstlerische Sparten 2 wieder auf der
Tagesordnung. Der Deutsche Kulturrat verabschiedete im September 2016 die
Stellungnahme »Für Geschlechtergerechtigkeit im Kultur- und Medienbereich«,
in der konkrete Forderungen aufgestellt werden, wie mehr Geschlechtergerech-
tigkeit erreicht werden kann. Die Forderungen richten sich an Politik und Ver-
waltung, an die Hochschulen, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, aber auch
die Bundeskulturverbände und den Deutschen Kulturrat selbst.
Staatsministerin Monika Grütters richtete einen Runden Tisch ein, der im
Herbst 2016 erstmals tagte. Ihm gehörten Führungspersönlichkeiten aus Kul-
tur und Medien an. Aus dem Runden Tisch gingen spartenspezifische Arbeits-
gruppen hervor, die Vorschläge für mehr Geschlechtergerechtigkeit erarbeiteten.
Im Juni 2017 stellte Grütters als eine ihrer Maßnahmen zur Förderung von
mehr Geschlechtergerechtigkeit die Unterstützung eines Projekts zu Frauen in
Kultur und Medien beim Deutschen Kulturrat vor. Das Projekt startete im Au-
gust 2017 und hat zum Ziel, Datenreporte zur Geschlechtergerechtigkeit zu er-
stellen, Dossiers zu spezifischen Themen im Kontext Geschlechtergerechtigkeit
zu erarbeiten, einen Arbeitskreis Geschlechtergerechtigkeit einzurichten und
ein Mentoringprogramm für Frauen aus dem Kultur- und Medienbetrieb 3 auf
den Weg zu bringen.

1 Schulz, G.: Zahlen – Daten – Fakten: Geschlechterverhältnisse im Kultur- und Medienbetrieb.


In: Gabriele Schulz, Carolin Ries, Olaf Zimmermann a. a. O., S. 27–360
2 Zuvor hatte insbesondere Pro Quote Regie, heute Pro Quote Film, mit ihren Forderungen
an die Verantwortlichen im Filmbereich Furore gemacht.
3 Das Mentoringprogramm richtet sich gezielt an Frauen aus Kultur und Medien, die bereits
über mehr als zehn Jahre Berufserfahrung verfügen und eine Führungsposition in der Kultur- und
Medienbranche, sei es Kulturwirtschaft oder Kultureinrichtungen, anstreben.

1. — Einleitung
Im Juli 2018 bohrte die Abgeordnete Simone Barrientos in einer Kleinen Anfrage
»Aktueller Umsetzungsstand der Ergebnisse des Runden Tisches zur Förderung
von Frauen in Kultur und Medien« (Drucksache 19/3369) nach, welche Maßnah-
men bereits ergriffen wurden. In der Antwort legte das BKM u. a. dar, wie die Be-
setzung von Jurys im Sinne von mehr Geschlechtergerechtigkeit verändert wur-
de. Dass Fragen der Geschlechtergerechtigkeit ein Herzensthema von Monika
­Grütters ist, wird daran deutlich, wie oft sie darauf abhebt und wie intensiv sie
mehr Geschlechtergerechtigkeit in Kultur und Medien anmahnt.
Als neues Thema kristallisierte sich in der Wahlperiode 2013–2017 die kul-
turelle Integration heraus. Selbstverständlich war das BKM schon in vergange-
nen Wahlperioden in die Erarbeitung der Nationalen Integrationspläne invol-
viert. Selbstverständlich wurden Projekte gefördert, damit mehr Menschen mit
Migrationshintergrund an den kulturellen Angeboten partizipieren. Und selbst-
verständlich war das Erreichen breiter Zielgruppen Gegenstand des BKM-Prei-
ses kulturelle Bildung.
Mit der Initiative kulturelle Integration wurde allerdings Neuland betreten,
das über den Kulturbereich hinausgeht. Die Initiative kulturelle Integration geht
auf eine Anregung des Deutschen Kulturrates zurück. Ich hatte bei den Treffen
des Flüchtlingsgipfels bei der Bundeskanzlerin im Jahr 2016 häufiger Wortge-
fechte mit dem damaligen Innenminister Thomas de Maizière zum Thema Leit-
kultur. Er sprach sich dafür aus, ich war entschieden dagegen. Schließlich kamen
wir darin überein, dass diese Streitigkeiten nicht weiterführen und uns doch ei-
gentlich beiden daran gelegen ist, darüber zu sprechen, was unser Land zusam-
menhält und welche Rolle die Kultur dabei spielt. Das war die Geburtsstunde der
Initiative kulturelle Integration. Initiatoren waren das Bundesministerium des
Innern, das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, die Integrationsbeauf-
tragte, das BKM und der Deutsche Kulturrat. Als Mitglieder konnten gewonnen
werden: die Länder, vertreten durch die KMK, die kommunalen Spitzenverbände
(Deutscher Städtetag, Deutscher Städte- und Gemeindebund, Deutscher Land-
kreistag), die Sozialpartner (Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberver-
bände, Deutscher Gewerkschaftsbund, deutscher beamtenbund tarifunion), die
Kirchen und Religionsgemeinschaften (EKD, Deutsche Bischofskonferenz, Zen-
tralrat der Juden, Koordinationsrat der Muslime), die Medien (ARD, ZDF, VPRT,
Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger, Verband Deutscher Zeitschriften-
verleger, Deutscher Journalistenverband), die Zivilgesellschaft (Deutscher Olym-
pischer Sportbund, Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege,
Deutscher Naturschutzring, Bundesarbeitsgemeinschaft der Immigrantenver-
bände, Neue Deutsche Organisationen, Forum der Migrantinnen und Migran-
ten im Paritätischen).
Gemeinsam haben diese verschiedenen Verbände 15 Thesen »Zusammen-
halt in Vielfalt« erarbeitet, in denen sie herausstellen, was das Land zusammen-
hält. Den 15 Thesen hat die Initiative kulturelle Integration eine Präambel vor-
angestellt. Hier steht: »Integration betrifft alle Menschen in Deutschland. Ge-

Wachgeküsst
sellschaftlicher Zusammenhalt kann weder verordnet werden, noch ist er allein
eine Aufgabe der Politik. Vielmehr können alle hier lebenden Menschen hierzu
beitragen. Deutschland ist ein vielfältiges Land. Seit Jahrhunderten leben hier
Menschen aus vielen unterschiedlichen Ländern. Die Mehrzahl derjenigen, die
aus dem Ausland nach Deutschland gekommen sind, fühlt sich hier zuhause, vie-
le sind inzwischen Deutsche. Mit Solidarität haben Gesellschaft und Politik auf
die Ankunft vieler Geflüchteter reagiert. Solidarität gehört zu den Grundprinzi-
pien unseres Zusammenlebens. Sie zeigt sich im Verständnis untereinander und
in der Aufmerksamkeit für die Bedürfnisse anderer – wir treten für eine solida- 088
rische Gesellschaft ein.
Kultur trägt neben der sozialen Integration und der Integration in Arbeit 089
wesentlich zum gesellschaftlichen Zusammenhalt bei. Kulturinstitutionen ver-
mitteln Geschichte und Gegenwart Deutschlands und ermöglichen eine Ausei-
nandersetzung mit den Werten der Gesellschaft – wir setzen auf die Vermitt-
lungskraft von Kultur.
Zuwanderung verändert eine Gesellschaft und erfordert Offenheit, Respekt
und Toleranz auf allen Seiten. Dies ist ein langwieriger Prozess, in dem um Po-
sitionen gerungen werden muss. Das Schüren von Ängsten und Feindseligkeiten
ist nicht der richtige Weg – wir stehen für eine weltoffene Gesellschaft.
Der europäische Einigungsprozess ist nicht nur ein Garant für Frieden in
Europa und eine wichtige Grundlage für Wohlstand und Beschäftigung, er steht
zugleich für kulturelle Annäherung sowie für gemeinsame europäische Werte –
wir wollen ein einiges Europa.« 1
Das Besondere der 15 Thesen ist zum einen das breite Spektrum an Organi-
sationen, das sich hinter diese Thesen stellt und die besondere Bedeutung, die
dabei der Kultur eingeräumt wird. Am 16. Mai 2017 wurden die 15 Thesen Bun-
deskanzlerin Angela Merkel überreicht.
Das BKM gehört nicht nur zu den Initiatoren der Initiative kulturelle Inte-
gration. Es hat zugleich den Prozess finanziell unterstützt und wird mindestens
bis Mitte 2021 Ressourcen für diese Initiative bereitstellen.

Bundestagswahl 2017
und Koalitionsverhandlungen

Zur Bundestagswahl 2017 wartete der Deutsche Kulturrat nicht mit Wahlprüf-
steinen, sondern mit Forderungen für die Kulturpolitik für die 19. Legislaturpe-
riode (2017–2021) auf.2 Die Forderungen gliedern sich in 14 Themenkomplexe:

1 Zusammenhalt in Vielfalt. 15 Thesen zu kultureller Integration und


Zusammenhalt. ⟶ https://bit.ly/2NL4lYU
2 Deutscher Kulturrat: Forderungen zur Bundestagswahl 2017. Kulturpolitik
für die 19. Legislaturperiode (2017–2021) ⟶ https://bit.ly/2t3O6wi

1. — Einleitung
01. Kulturelle Integration als Chance für
gesellschaftlichen Zusammenhalt gestalten
02. Gerechten Welthandel umsetzen
03. Nachhaltigkeit verwirklichen
04. Digitalisierung gestalten
05. Kulturelle Bildung voranbringen
06. Geschlechtergerechtigkeit leben
07. Arbeits- und Sozialpolitik anpassen
08. Gesetzliche Regeln zum Urheberrecht konsequent anwenden
09. Kulturelles Erbe sichern, weitergeben und fördern
10. Welterbestätten dauerhaft fördern
11. Kommunen stärken
12. Kulturpolitik in Europa gestalten
13. Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik weiterdenken
14. Stärkung der Bundeskulturpolitik

Unter jeder Überschrift findet sich zuerst eine Beschreibung, daran schließen
sich die konkreten Forderungen an. Im Vergleich zu den Wahlprüfsteinen vor-
angegangener Bundestagswahlen ist bemerkenswert, dass die Forderungen zur
Stärkung der Bundeskulturpolitik als letzte kommen. Seit 1998 wurden bei den
Wahlprüfsteinen zu den Bundestagswahlen die Fragen zur Stärkung der Bundes-
kulturpolitik stets als erste aufgeführt. Auch wurde im Jahr 2017 nicht mehr ge-
fordert, ob ein Ausschuss für Kultur und Medien im Deutschen Bundestag ein-
gesetzt wird. Er ist inzwischen so selbstverständlich, dass sich die Frage erübrigt.
Nach wie vor eine Forderung ist die Einrichtung eines Bundesministeriums für
Kultur und Medien sowie die Verankerung des Staatsziels Kultur im Grundgesetz.
Die 14 Forderungen wurden den im Deutschen Bundestag vertretenen Par-
teien Bündnis 90/Die Grünen, CDU, CSU, Die Linke und SPD sowie der FDP und
der AfD zugesandt. Bei den beiden letztgenannten Parteien war davon auszuge-
hen, dass sie in den Bundestag kommen würden. Bis auf die AfD haben alle Par-
teien auf die Forderungen geantwortet. Die Forderung nach einem Bundeskul-
turministerium stieß bei Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke auf offene Oh-
ren, die anderen Parteien stellen heraus, wie sehr sich die bestehende Struktur
bewährt hat.
Die Regierungsbildung zog sich nach der Wahl 2017 für die Bundesrepublik
ungewöhnlich lange hin. Die SPD erklärte noch am Wahlabend, nicht wieder für
eine Große Koalition zur Verfügung zu stehen. CDU, CSU, Bündnis 90/Die Grü-
nen und FDP nahmen, nachdem die Landtagswahl in Niedersachsen drei Wochen
nach der Bundestagswahl abgewartet worden war, Sondierungsgespräche auf. In
Niedersachsen stand längst die Große Koalition zwischen den in diesem Bundes-
land eigentlich herzlich verfeindeten Parteien SPD und CDU als im Bund immer
noch sondiert wurde. Mit einem Paukenschlag verließ im November die FDP die
Sondierungsgespräche. Nun galt es, die SPD zu bearbeiten, doch noch Sondie-

Wachgeküsst
rungen aufzunehmen. Nach Abschluss der Sondierungen und nach Beendigung
der Verhandlungen mussten die SPD-Mitglieder dem Koalitionsvertrag zustim-
men und auch die CDU beteiligte in stärkerem Maße als sonst ihre Mitglieder.
Der geschlossene Koalitionsvertrag trägt die Überschrift »Ein neuer Auf-
bruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammen-
halt für unser Land«. Kunst, Kultur und Medien stehen unter der Überschrift »Zu-
sammenhalt und Erneuerung – Demokratie beleben«. Auf elf Seiten werden die
Vorhaben für Kultur und Medien in folgenden Themenkomplexen aufgeführt:
090
—— Kulturelle Vielfalt und gesellschaftlicher Zusammenhalt
—— Kulturelle Infrastruktur und Kulturförderung 091
—— Soziale Lage der Künstlerinnen, Künstler und Kreativen
—— Hauptstadtkultur
—— Kulturelle Bildung
—— Gedenken und Erinnern
—— Kulturelles Erbe, Kolonialismus, Flucht und Vertreibung
—— Kultur- und Kreativwirtschaft
—— Film, Games und Musikwirtschaft
—— Medien, Medienvielfalt und Medienkompetenz
—— Kultur und Medien in Europa und der Welt

Allein diese Themenauflistung zeigt die Breite und Vielfalt an Themen, die dem
inzwischen auf 350 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter angewachsenen BKM so-
wie nachgeordneter Behörden überantwortet werden. Eine klare Aussage ist da-
bei, dass kulturelle Vielfalt nicht nur zu Deutschland gehört, sondern Deutsch-
land ausmacht. Deutschland wird klar als Kulturstaat bezeichnet. Zahlreiche
konkrete Vorhaben hat sich die Koalition für die nach Regierungsbildung im
März 2018 verbleibenden dreieinhalb Jahre der 19. Wahlperiode vorgenommen.1
Gleich zu Beginn des Kulturkapitels im Koalitionsvertrag wird festgestellt:
»Kunst und Kultur sind Ausdruck des menschlichen Daseins. In ihrer Freiheit und
Vielfalt bereichern sie unser Leben, prägen unsere kulturelle Identität, leisten ei-
nen Beitrag zu gesellschaftlichem Zusammenhalt und zur Integration und schaf-
fen Freiräume für kritischen Diskurs. Kultur ist ein Spiegel unseres Selbstver-
ständnisses, das auf der christlich-jüdischen Prägung, der Aufklärung und dem
Humanismus sowie den Grundwerten der Menschenwürde, der Freiheit, der Ge-
rechtigkeit und Solidarität beruht. Eigensinn und Eigenwert künstlerischer und
kultureller Produktion bereichern unser Zusammenleben, ermöglichen kritische
Debatten und fördern die persönliche Entwicklung jeder und jedes Einzelnen.«2

1 Eine erste Einschätzung zum Koalitionsvertrag findet sich hier: Zimmermann, O./Schulz, G.:
Gutes Ergebnis für die Kultur. Eine Einschätzung des Koalitionsvertrags. In: Politik & Kultur 2/2018, S. 3
2 Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt
für unser Land. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD. 19. Wahlperiode, S. 163

1. — Einleitung
Und weiter wird verstärkt: »Kunst und Kultur sind frei. Sie sind Grundlage unse-
rer offenen, demokratischen Gesellschaft und damit wichtiger Teil unseres Lan-
des, das sich seit seiner Gründung im Herzen Europas nicht nur als Wirtschafts-
macht und Sozialstaat, sondern gerade auch als starker Kulturstaat versteht. Die
kulturelle und religiöse Vielfalt Deutschlands bereichert uns, ist aber nicht frei
von Spannungen. Gemeinsame Werte, Respekt vor dem Anderen und die Be-
reitschaft, Widersprüche auszuhalten, sind Voraussetzungen für ein friedliches
gesellschaftliches Miteinander. Gerade in Zeiten des Wandels sind eine starke
und vielfältige Kunst- und Kulturszene sowie eine moderne und ermöglichen-
de Kulturpolitik unverzichtbar. Sie besitzen die Kraft, Verständnis und Verstän-
digung zu fördern, durch die wir souveräner im Umgang mit Konflikten und Be-
währungsproben sind.« 1
In beiden Passagen kommt zum Ausdruck, dass Deutschland ein vielfälti-
ges, plurales Land ist und dass gerade Kunst und Kultur einen wichtigen Beitrag
dazu leisten können, hieraus entstehende Spannungen und Konflikte zu bear-
beiten. Kunst ist sehr oft nicht gefällig. Sie lädt zum Widerspruch, zur Diskussi-
on und zum Ärgern ein. Hieraus kann eine Kraft entstehen, Widersprüche nicht
nur auszuhalten, sondern im Sinne des Zusammenhalts einer Gesellschaft pro-
duktiv werden zu lassen. Dabei wird unmissverständlich klargemacht, dass die
Kunst frei ist. Eindeutig bekennt sich die Koalition zur Kulturhoheit der Länder
und kündigt an, die Kulturförderung des Bundes stärker mit den Ländern abzu-
stimmen. Als konkrete Vorhaben werden u. a. genannt: 2

—— W eiterer Ausbau der Geschlechtergerechtigkeit in Kunst, Kultur


und Medien, dabei werden insbesondere die Jurys von Stipendien,
Preisen und anderen Fördermaßnahmen genannt
—— Bessere Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben, dabei wird
der kulturellen Bildung eine Schlüsselrolle zugewiesen,
hierzu gehören auch Maßnahmen zur Kultur in den Regionen,
ebenso sollen sich insbesondere die BKM-geförderten Kultur-
einrichtungen dieses Themas annehmen
—— Entwicklung des Humboldt Forums zu einer internationalen
Dialogplattform für globale kulturelle Ideen
—— Stärkung einer dezentralen Erinnerungskultur, hierzu zählt auch
die Unterstützung zivilgesellschaftlichen Engagements; weiter ist
ein neues Programm »Jugend erinnert« geplant
—— Vorantreiben der Provenienzforschung unter Einschluss von
Kulturgut aus kolonialem Kontext

1 Ebd.
2 Aus der Fülle an konkreten Vorhaben können hier nur einige exemplarische herausgegriffen werden.

Wachgeküsst
—— E insatz für den ermäßigten Mehrwertsteuersatz
sowie für ein starkes Urheberrecht
—— Einführung der Förderung hochwertiger Games
—— Anhebung des Budgets der Deutschen Welle
auf das Niveau vergleichbarer Auslandssender
—— Bekenntnis zu einem starken öffentlich-rechtlichen Rund-
funk sowie einer vielfältigen Presselandschaft

An Aufgaben wird es der Koalition in der 19. Wahlperiode wohl nicht mangeln. 092

093
Monika Grütters II:
Umbau der Strukturen

Monika Grütters wurde im März 2018 erneut zur Staatsministerin bei der Bun-
deskanzlerin und Beauftragter der Bundesregierung für Kultur und Medien er-
nannt. Sie hatte sich in der vorhergehenden Wahlperiode Reputation als Regie-
rungsmitglied erworben – auch durch ihre Standfestigkeit beim Kulturgutschutz-
gesetz. Das BKM ist eine gut geölte Maschine, das mit Expertise und Sachver-
stand die anstehenden Themen anpackt.
Vorgenommen hat sich Grütters u. a. die Umstrukturierung der Stiftung
Preußischer Kulturbesitz und wird hierfür den Rat des Wissenschaftsrats in An-
spruch nehmen. Das Humboldt Forum wird im Herbst 2019 eröffnet und so lang-
sam schälen sich die Strukturen heraus. Das Museum der Moderne wird am Kul-
turforum in Berlin gebaut.
Neben der Verstärkung der Provenienzrecherche nach NS-verfolgungsbe-
dingt entzogenem Kulturgut ist als neues Thema der Umgang mit Sammlungs-
gut aus kolonialen Kontexten getreten. Eine Fragestellung, die im Zusammen-
hang mit dem Humboldt Forum besonders aufschien, letztlich aber eine Viel-
zahl an Museen betrifft.
Eine besondere Herausforderung für die Kulturpolitik ist in dieser Wahlperi-
ode der Einzug der AfD in den Deutschen Bundestag. Durch diese Partei hat sich
die Debattenkultur im Parlament deutlich geändert. Dies trifft auch auf die Kul-
turpolitik zu.1 Solche Aussagen und Angriffe sind neu im Deutschen Bundestag.
Zumindest in den letzten 20 Jahren wurde Ähnliches nicht vorgetragen. Der Bun-
desregierung eine Instrumentalisierung von Kultur und Medien vorzuwerfen und
geförderte Institutionen und Einrichtungen, damit letztlich auch den Deutschen
Kulturrat, als Hofschranzen zu bezeichnen, ist schon ein starkes Stück. Deutlich
wird aber vor allem, dass ein anderes Deutschland gewollt wird. Ein Deutschland,
das zumindest ich als überwunden geglaubt habe.

1 Ein Beispiel hierfür ist die Rede von Martin E. Renner (AfD), der dem Ausschuss für Kultur und
Medien angehört, in der Debatte zum Haushalt des BKM am 12.09.2018. Bundestagsprotokoll vom
12.09.2018. Plenarprotokoll 19/48, 5077C-5078D

1. — Einleitung
Fazit

Kulturpolitik in dieser Wahlperiode, den anbrechenden 2020er Jahren steht vor


großen Herausforderungen. Die deutsche Einheit ist längst noch nicht vollen-
det. Vielmehr zeigen sich jetzt fast 30 Jahre nach der Vereinigung der beiden
deutschen Staaten die Brüche. Ostdeutsche haben mit der Wiedervereinigung
ihr Land verloren. Da war viel Freude über die neu gewonnene Freiheit, da war
Wut und Trauer über den Verlust an Arbeit. Heute stellt sich die Frage nach ei-
nem möglichen Verlust an Identität, weil das Leben in der DDR keine angemes-
sene gesellschaftliche Anerkennung erfährt. Das zeigt sich u. a. darin, dass mit-
unter junge Menschen, die selbst nicht in der DDR gelebt haben, sich danach zu-
rücksehnen. Politische, historische und kulturelle Bildung sind gefordert, sich
damit auseinanderzusetzen.
Die plurale Zusammensetzung unserer Gesellschaft ist eine weitere Heraus-
forderung. Zusammenhalt in Vielfalt nennt die Initiative kulturelle Integration
ihre 15 Thesen. Zusammenhalt in Vielfalt fordert alle in Deutschland lebenden
Menschen. Es ist kein Leitkulturprogramm, sondern eine Aufforderung zum Dis-
kurs, was uns ausmacht, was uns wichtig ist, was unsere Kultur, was unsere Werte
sind. Dieser Diskurs ist anstrengend und verlangt nach langem Atem. Doch eine
lebendige Streitkultur, in der die Streitenden sich wertschätzen und mit Argu-
menten zu überzeugen versuchen, ist das Salz der Demokratie.
Dem ländlichen Raum muss mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Kul-
tur findet nicht nur in Metropolen statt. Kultur ist auch in den kleineren Städ-
ten, in den Kreisen vor Ort. Kultureinrichtungen werden zu sogenannten Drit-
ten Orten, an denen sich Menschen begegnen und die verschiedene Aufgaben
übernehmen. Hierfür Begeisterung und Lust zur Veränderung zu wecken, wird
sich in gesellschaftlichem Zusammenhalt auszahlen.
Die Digitalisierung verändert die Produktionsbedingungen und Vertriebs-
wege gerade in der Kultur radikal. Die Debatten reichen weit über das Urheber-
recht hinaus. Denn auch hier stellt sich die Frage, wie wir leben wollen. Welche
Bedeutung der Privatsphäre beigemessen wird? Gelingt es, europäische Plattfor-
men aufzubauen, um den US-amerikanischen marktbeherrschenden Unterneh-
men etwas entgegenzusetzen? Innovationen aus der Kultur können zur Gestal-
tung der Digitalisierung beitragen.
Das BKM, aber auch die Zivilgesellschaft sind gefordert, diese und weite-
re Prozesse zu gestalten. Der Bund wurde vor 20 Jahren kulturpolitisch wachge-
küsst. Das BKM hat sich in den 20 Jahren entwickelt und Reputation erworben,
sodass es längst als Ministerium wahrgenommen wird. Dies auch formal zu voll-
ziehen, wird Aufgabe der nächsten Bundesregierung zu sein. Jetzt werden offen-
bar auch die Länder wachgeküsst. Die Kulturminister planen die Einrichtung ei-
ner eigenen Kulturministerkonferenz, um sich zu kulturpolitischen Fragen aus-
zutauschen und zu beraten. Sie wollen ein selbstbewusstes Gegenüber zum BKM
werden. Endlich, kann ich dazu nur sagen, die Kultur kann dabei nur gewinnen.

Wachgeküsst
Verwendete Literatur
—— Bergsdorf, W.: Nachhaltigkeit. Zur Kulturpolitik von Helmut Kohl.
In: Die Politische Meinung 1/20103, S. 81–84
—— Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1994 bis 2013. Baden-Baden 2005
—— Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949 bis 1982. Baden-Baden 1984
—— Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1983 bis 1991. Bonn 1994
—— Deutscher Kulturrat (Hg.): Konzeption Kulturelle Bildung. Bonn 1987
—— Deutscher Kulturrat (Hg.): Nach 40 Jahren – ein bißchen weise? Protokoll
des kultur­politischen Kongresses des Deutschen Kulturrates im Oktober 1989 094
mit einer Auswahl­dokumentation 40 Jahre Kulturpolitik in der Bundesrepublik
Deutschland. Bonn 1991 095
—— Deutscher Kulturrat (Hg.): Konzeption Kulturelle Bildung. 2. Bände. Essen 1994
—— Deutscher Kulturrat (Hg.): Frauen in Kunst und Kultur II. 1995–2000.
Partizipation von ­Frauen an den Kulturinstitutionen und
an der Künstlerinnen- und Künstlerförderung der Bundesländer. Berlin 2002
—— Johannes Heisig im Gespräch mit Stefanie Ernst: Kunst machen
als Selbstbehauptung. In: Politik & Kultur 3/2009
—— Jürgen Haase im Gespräch mit Stefanie Ernst: Kulturelles Erbe der DDR
muss lebendig bleiben. In: Politik & Kultur 2/2009
—— Hoffmann, H.: Kultur für alle. Frankfurt a. M. 1979
—— Kreile, R. (Hg.); Dümling, Albrecht: Musik hat ihren Wert:
100 Jahre musikalische ­Verwertungsgesellschaft in Deutschland. Regensburg 2003
—— Lammert, N.: Die Kulturpolitik nach 1982. In: Historisch-politische
Mitteilungen 12/2005, S. 235–239
—— Laurin, H.-R.: Statement. In: Deutscher Kulturrat (Hg.): Nach 40 Jahren –
ein bißchen weise? Protokoll des kulturpolitischen Kongresses des
Deutschen Kulturrates im Oktober 1989 mit einer Auswahldokumentation
40 Jahre Kulturpolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Bonn 1991
—— Links, C.: Das Schicksal der DDR-Verlage. In: Politik & Kultur 3/2009
—— Möbius, R.: Ein Stau löste sich. In: Politik & Kultur 2/2009
—— Naumann, M.: Zentralismus schadet nicht. Die Kulturhoheit der Länder
ist Verfassungs­folklore. Es darf und muss eine Bundeskulturpolitik geben.
In: Die Zeit, 2. November 2000
—— Pfeifer, A.: Die Kulturpolitik der Bundesregierung unter Helmut Kohl im
Zeichen der deutschen und europäischen Einigung. In: Historisch-politische
Mitteilungen 12/2005, S. 241–259
—— Röbke, T. (Hg.): 20 Jahre Neue Kulturpolitik. Erklärungen und Dokumente 1972–1992. Hagen 1993
—— Roth, M.: Kampf um die verbleibenden Töpfe. Öffentliche Museen spüren jetzt
die Folgen der Wirtschaftskrise. In: Politik & Kultur 1/2010
—— Schäuble, W.: Mehr Raum für Kultur. In: Deutscher Kulturrat (Hg.): Nach 40 Jahren –
ein bißchen weise? Protokoll des kulturpolitischen Kongresses des Deutschen Kulturrates
im Oktober 1989 mit einer Auswahldokumentation 40 Jahre Kulturpolitik in der Bundes-
republik Deutschland. Bonn 1991

1. — Einleitung
—— Schneider, O.: Kulturpolitische Schwerpunkte der 80er Jahre.
In: Historisch-politische Mitteilungen 12/2005. S 261–272
—— Schulz, G.: Arbeitsmarkt Kultur. Eine Analyse von KSK-Daten.
In: Schulz, G./Zimmermann, O./Hufnagel, R.: Arbeitsmarkt Kultur. Zur wirtschaftlichen
und sozialen Lage in Kulturberufen. Berlin 2013. S. 241–323
—— Schulz, G.: Geschichtsverliebt – geschichtsvergessen? Das Geheimnis der Kulturpolitik
der Union. Ein Kommentar. In: Kulturpolitik der Parteien: Visionen, Programmatik, Geschichte
und Differenzen. Hg. v. Olaf Zimmermann, Theo Geißler. Berlin 2008.
—— Schulz, G.: Zahlen – Daten – Fakten: Geschlechterverhältnisse im Kultur- und Medienbetrieb.
In: Schulz, G./Ries, C./Zimmermann, O.: Frauen in Kultur und Medien. Ein Überblick über aktuelle
Tendenzen, Entwicklungen und Lösungsvorschläge. Berlin 2016, S. 27–360
—— Schulz, G./Ries, C./Zimmermann, O. (Hg.): Frauen in Kultur und Medien.
Ein Überblick über aktuelle Tendenzen, Entwicklungen und Lösungsvorschläge. Berlin 2016
—— Schulz, G./Zimmermann, O./Hufnagel, R. (Hg.): Arbeitsmarkt Kultur. Zur wirtschaftlichen
und sozialen Lage in Kulturberufen. Berlin 2013
—— Stange, E.-M.: Ein gemeinsamer Länderrat für die Kultur. Bundesländer wollen mit
neuem Gremium mehr Mitsprache in der Kultur. In: Politik & Kultur 5/2018
—— Subventionsabbau im Konsens. Der Vorschlag der Ministerpräsidenten Roland Koch und Peer Steinbrück
—— Sven Crefeld im Gespräch mit Bernd Neumann: Kultur rechtfertigt sich an erster Stelle
durch sich selbst. In: Politik & Kultur 1/2006
—— Wagner, H.-U.: Eine »harte Nuss« als Geschenk. Das Ringen um den neuen »öffentlich-rechtlichen«
Rundfunk. In: Dossier Öffentlich-rechtlicher Rundfunk. Beilage zu Politik & Kultur 5/2008
—— Weiss, C.: Angriff auf den Kulturetat. Staatliche Kulturausgaben sind keine Subventionen.
In: Politik & Kultur 6/2004.
—— Zimmermann, O./Geißler, T. (Hg.): Streitfall Computerspiele: Computerspiele zwischen
kultureller Bildung, Kunstfreiheit und Jugendschutz. 2. erweiterte Auflage Berlin 2008
—— Zimmermann, O./Geißler, T. (Hg.): Altes Zeug: Beiträge zur Diskussion zum
nachhaltigen Kulturgutschutz. Berlin 2016
—— Zimmermann, O./Geißler, T. (Hg.): Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017.
2. erweiterte und veränderte Auflage. Berlin 2016
—— Zimmermann, O./Geißler, T. (Hg.): TTIP, CETA & Co. Die Auswirkungen der Freihandels-
abkommen auf Kultur und Medien. 2. erweiterte und veränderte Auflage. Berlin 2016
—— Zimmermann, O./Geißler, T. (Hg.): Wertedebatte: Von Leitkultur bis kulturelle Integration, Berlin 2018
—— Zimmermann, O./Schulz, G. (Hg.): Positionen und Diskussionen zur Kulturpolitik:
Nachdruck »Deutscher Kulturrat – aktuell«; 1997–1999, Bonn; Berlin 2000
—— Zimmermann, O./Schulz, G.: Neue Chancen – neues Glück. Was wird die Große Koalition
der Kultur bringen? In: Politik & Kultur 1/2006
—— Zimmermann, O./Schulz, G.: Zensur oder öffentliche Förderung? Computerspiele in der Diskussion.
In: kultur kompetenz bildung. Beilage zu Politik & Kultur 2/2007
—— Zimmermann, O./Schulz, G.: Digitalisierung und Erinnerungskultur. Die beiden Pole
der Kulturpolitik in der Koalitionsvereinbarung. In: Politik & Kultur 6/2009
—— Zimmermann, O./Schulz, G.: Wer macht Kulturpolitik in der Groko? Die Kulturpolitiker der
neuen Bundesregierung – eine erste Einschätzung. In: Politik & Kultur 1/2014, S. 3

Wachgeküsst
—— Zimmermann, O./Geißler, T. (Hg.): Martin Luther Superstar.
Dossier zum Reformationsjubiläum. Politik & Kultur 3/2016
—— Zimmermann, O./Geißler, T. (Hg.): Die fantastischen Vier.
Dossier zum Reformationsjubiläum. Politik & Kultur 3/2017
—— Zimmermann, O./Schulz, G.: Gutes Ergebnis für die Kultur. Eine Einschätzung
des Koalitionsvertrags. In: Politik & Kultur 2/2018, S. 3

Koalitionsverträge
—— Aufbruch und Erneuerung – Deutschlands Weg ins 21. Jahrhundert. 096
Koalitionsvereinbarung zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands
und Bündnis 90/Die Grünen. Bonn, 20.10.1998 (14. Wahlperiode) 097
—— SPD, Bündnis 90/Die Grünen. Koalitionsvertrag 2002–2006: Erneuerung –
Gerechtigkeit – Nachhaltigkeit. Für ein wirtschaftlich starkes, soziales und ökologisches
Deutschland. Für eine lebendige Demokratie. 16.10.2002 (15. Wahlperiode)
—— Gemeinsam für Deutschland. Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD.
18.11.2005 (16. Wahlperiode)
—— Wachstum. Bildung. Zusammenhalt. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP.
24.10.2009 (17. Legislaturperiode)
—— Deutschlands Zukunft gestalten. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD.
27.11.2013 (18. Legislaturperiode)
—— Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland.
Ein neuer Zusammenhalt für unser Land. Koalitionsvertrag der CDU, CSU und SPD
für die 19. Legislaturperiode. 12.03.2018

Wahlprüfsteine des Deutschen Kulturrates


—— Kulturpolitik für das 21. Jahrhundert. Die im Deutschen Bundestag
vertretenen Parteien antworten auf die Fragen des Deutschen Kulturrates
zur Bundestagswahl 1998. Bonn 1998 (Bundestagswahl 1998)
—— Politik & Kultur. Zeitung des Deutschen Kulturrates.
Sonderausgabe zur Bundestagswahl 2002. (Bundestagswahl 2002)
—— Fragen des Deutschen Kulturrates an die Parteien.
In: Politik & Kultur 5/2005 (Bundestagswahl 2005)
—— Fragen des Deutschen Kulturrates an die im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien
zur Bundestagswahl am 27.09.2009. In: Politik & Kultur 5/2009 (Bundestagswahl 2009)
—— Parteien auf dem Prüfstand. In: Politik & Kultur spezial 5/2013 (Bundestagswahl 2013)
—— Deutscher Kulturrat: Forderungen zur Bundestagswahl 2017.
Kulturpolitik für die 19. Legislaturperiode (2017–2021) (Bundestagswahl 2017)

Berichte von Enquête-Kommissionen des Deutschen Bundestags


—— Bürgerschaftliches Engagement: auf dem Weg in eine zukunftsfähige
Bürgergesellschaft. Schlussbericht der Enquête-Kommission des Deutschen Bundestags
»Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements«. Drucksache 15/8900
—— Schlussbericht der Enquête-Kommission »Kultur in Deutschland«, Drucksache 16/7000

1. — Einleitung
Positionspapiere und Berichte der Bundesregierung
—— Ohne Urheber keine kulturelle Vielfalt. Zwölf-Punkte-Papier des Staatsministers für Kultur und
Medien zum Schutz des geistigen Eigentums im digitalen Zeitalter. Version vom Dezember 2011
—— Bericht der Bundesregierung zum Kulturgutschutz in Deutschland »Bericht über die Auswirkungen
des Gesetzes zur Ausführung des UNESCO-Übereinkommens vom 14.11.1970 über Maßnahmen
zum Verbot und zur Verhütung der rechtswidrigen Einfuhr, Ausfuhr und Übereignung von Kulturgut
(Ausführungsgesetz zum Kulturgutübereinkommen) und den Schutz von Kulturgut vor Abwanderung
ins Ausland«. Berlin 2013
—— Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände zur
Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes, insbesondere
aus jüdischem Besitz. 1999
—— Positionspapier der Bundesregierung zu den TTIP-Verhandlungen der EU-Kommission
mit den USA im Bereich Kultur und Medien. 2016

Wachgeküsst
098

099

1. — Einleitung
2.

Die
Kulturstaats­
minister
im Gespräch Die Fragen stellte Hans Jessen –
er ist freier Journalist und war langjähriger
ARD-Hauptstadtkorrespondent.

20 Jahre
neue Kulturpolitik
des Bundes
Wachgeküsst 1998—2018
Michael Naumann
Natürlich hatte
ich auch Lieblings­ 100

projekte 101

Herr Naumann, Sie waren der erste Kulturstaatsminister. Das lässt sich
als eine Situation größter Freiheit sehen, wie ein Maler vor weißer Lein-
wand, der sich jedes Gemälde selbst ausdenken kann. War es so?
Ja, die Leinwand war in der Tat weiß. Es gab aber eine ganze Fülle von Projekten,
die den Künstlern, den Schriftstellern, den Filmemachern und Autoren, den Ver-
lagen, also der ganzen Kulturbranche am Herzen lagen. Projekte, die nach ge-
setzlichen, auch nach politischen Stellungnahmen und Regeln verlangten. Das
zentrale brennende Problem war seinerzeit der Kampf des EU-Wettbewerbskom-
missars Karel van Miert gegen den gebundenen Ladenpreis im Buchhandel. Des-
sen Abschaffung hätte zu einer absoluten Katastrophe geführt. Schätzungswei-
se ein Drittel des deutschen Buchhandels hätte einfach zumachen müssen, die
Kleinen vor allem. Die großen Konzerne, Bertelsmann, Holtzbrinck und andere,
sahen einer Abschaffung des gebundenen Ladenpreises sehr gelassen entgegen.
Sie hatten die Marktmacht. Aber die kleinen Verlage, und auch die kleinen Buch-
handlungen, wären mit größter Wahrscheinlichkeit untergegangen. Genauso wie
das in Amerika der Fall war, wo es im ganzen Land nur 800 unabhängige Buch-
geschäfte gab. Der Rest befand sich im Besitz von Ketten. Diese Entwicklung zu
verhindern, war für mich eine der Hauptaufgaben. Also das Gemälde, welches
gewissermaßen jetzt entstehen sollte, setzte sich wie ein pointillistisches Bild
von Signac zusammen aus vielen kleinen und nicht so kleinen Farbtupfern, die
aufgebracht werden mussten.
Andere große Probleme waren z. B. die Attacken der Europäischen Uni-
on gegen unser System des dualen Rundfunkmarktes. Die Gebühren für den
öffentlich-rechtlichen Rundfunk galten in Brüssel als illegale Beihilfe. Um
den Kampf gegen die damals in Marktfragen absolut neoliberal eingestellte
EU-Kommission zu führen, habe ich mich mit dem damaligen WDR-Intendan-
ten und ARD-Vorsitzenden Pleitgen zusammengetan. Das ist seinerzeit alles
nicht so bekannt gewesen, auch weil ich neu im Amt war und nicht wusste, dass
man trommeln musste.

2. — Rückblick: Die Kulturstaatsminister im Gespräch


Können Sie Ihre Strategie, mit der Sie 1998 in dieses Amt gegangen sind,
in einer Kurzformel zusammenfassen? Was wollte Michael Naumann?
Ja. Die Kurzformel würde lauten: Ein jährliches, überstaatliches Bundesausgabe-
volumen von damals über einer Milliarde Mark in einen Rahmen zu stellen, der
a) demokratisch verfasst ist, also durch das Parlament kontrolliert wird, und b)
sinnlose Ausgaben, die es massenweise gab, abzuschaffen. Darüber hinaus Sig-
nale zu geben, dass der Bund auch eine kulturpolitische Verantwortung hat, die
ihm ja nie abgestritten worden war, obwohl es die Kulturhoheit der Länder gab.
Natürlich hatte ich auch Lieblingsprojekte. Mir lag die Stiftung Preußischer
Kulturbesitz ganz besonders am Herzen. Ich war der Meinung, dass dieses En-
semble von Museen vom Bund über Jahrzehnte hinweg sträflich vernachlässigt
worden war. Nach der Wiedervereinigung gab es überhaupt kein überzeugen-
des Rahmenprojekt, das dafür gesorgt hätte, dass die Museumsinsel wieder in
Schuss kommt.
Das habe ich zusammen mit dem von mir berufenen Präsidenten der Stiftung
Preußischer Kulturbesitz, Klaus-Dieter Lehmann, in einem privaten Gespräch mit
Gerhard Schröder geregelt. Wir haben damals auch einen Beschleunigungsetat
von 1,2 Milliarden Mark aufgelegt. Wenn ich heute höre, wie toll meine Nachfolger
doch die Etats erhöht haben, kann ich nur sagen: Ja, sie haben etwas vorgefunden,
nur lagen diese 1,2 Milliarden nicht in meinem Budget, sondern die lagen im Etat
des Bauministers oder der diversen Bauminister der Bundesregierung. Aber die-
ses Geld, das sage ich ganz stolz, habe ich locker gemacht.

Sie kamen als Quereinsteiger, der Mann aus dem Publikations- und
­Literaturbetrieb, Journalist, Verleger, Herausgeber. Mit Führungs-
und ­Managementerfahrungen in diesen Bereichen waren Sie aber eben
keiner aus dem Maschinenraum der Politik. Dennoch rief der SPD-
Kanzler­kandidat Schröder Sie 1998 in den USA an und fragte, ob Sie
als Kulturstaatsminister in sein ­Schattenkabinett kommen würden.
Mussten Sie lange überlegen, ehe Sie zusagten?
Nein, musste ich nicht. Damals war ja auch noch nicht sicher, dass die SPD die
Wahl gewinnt, aber ich war genau in dem Alter, in dem man sich sagt: Jetzt ver-
suche ich nochmal was. Schröder kannte ich als juristischen Prozessgegner. Ich
hatte einen SPD-Abgeordneten, der im Rowohlt Verlag tätig war – Freimut Duve –
gekündigt, aus guten Gründen, die mit der Barschel-Affäre zu tun hatten. Den
schmiss ich raus. Duve nahm sich einen Anwalt, das war Schröder. Wir haben uns
vor Gericht gefetzt. Ich kann im Rückblick sagen, Schröder gehört zu den Men-
schen, die es nicht mögen, wenn Leute um sie herum scharwenzeln. Man muss
ihm breitbeinig entgegentreten, dann kann man sein Interesse gewinnen. Das
war in meinem Fall wohl so.

Wachgeküsst
Der Kulturstaatsminister war und ist angesiedelt im Kanzleramt.
Dort und auch an anderen Stellen des politischen Systems trafen Sie
auf ­Akteure, die ziemlich erfahren waren in den Funktionsweisen des
Betriebs, aber nicht unbedingt Fans des »Paradiesvogels« Naumann.
Mit welchen Widerständen hatten Sie zu kämpfen?
Ich hatte innerhalb der Partei und auch im Kabinett mit überhaupt keinen Wi-
derständen zu kämpfen, sondern habe dort sehr viel Neugier, Interesse, Höflich-
keit und auch Solidarität gefunden. Der einzige, mit dem ich jemals Krach hat-
te, war Scharping, als ich in einer Rundfunksendung sagte: »Wir werden diese 102
Nazi-Namen an den Kasernen, falls sie noch existieren, abschaffen.« Daraufhin
brüllte er mich am Telefon an, wie ich dazu käme? Er dachte, ich mische mich in 103
sein Ressort ein. Ich war aber der festen Überzeugung, als Sozialdemokrat kann
man nicht länger dulden, dass Namen von Nazi-Ass-Piloten wie Mölders und
andere die Kasernennamen schmücken. Das war das einzige Mal, wo ich mit ir-
gendjemandem mal zusammengerasselt bin. Ansonsten hatte ich vor allem die
Solidarität und Unterstützung von Schröder. Ich konnte jederzeit zu ihm ins
Zimmer gehen, wenn ich was brauchte, nämlich Geld oder Zustimmung. Das ist
mir bei einer besonderen Gelegenheit sehr zupassgekommen, als wir die Heinz­
Berggruen-Sammlung für 252 Millionen Euro gekauft haben. Gut 50 Millionen
davon zahlte das Land Berlin. So hat die Stiftung Preußischer Kulturbesitz eine
der schönsten Sammlungen der Klassischen Moderne bekommen: Klee, ­Picasso,
Giacometti […] Diese Nähe zu Schröder, die auch auf gegenseitiger Sympathie
beruhte, war für mich von großem Vorteil für das, was ich dann angestellt habe.

Widerstand gegen Brüsseler Pläne haben Sie als erste Arbeitsschwer-


punkte schon genannt. Aber das waren ja nicht die einzigen.
Natürlich nicht. Der Bundestag insgesamt hatte längst gewusst, dass die kultur-
politischen Zuwendungen an die Hauptstadt tatsächlich im Berliner Landeshaus-
halt versickerten. Man gab der Stadt Berlin aus kulturpolitischem Antrieb Gelder,
die landeten dann aber keineswegs bei den Institutionen, sondern weiß der Teu-
fel, was die Städte und Bezirke mit dem Geld anstellten. Also habe ich mit dem
damaligen Kultursenator der Stadt Berlin, Christoph Stölzl, eine Verabredung
getroffen, der zufolge der Bund folgende Berliner Institutionen komplett über-
nimmt: die Berlinale, die Berliner Festspiele, den Gropiusbau, das Haus der Kul-
turen der Welt, das Jüdische Museum, das Holocaust-Mahnmal. Diese Institutio-
nen landeten nun komplett im Bundeshaushalt, also in »meinem« Haushalt. Das
war durchaus zum Vorteil der Stadt Berlin und des Berliner Kulturlebens. Davon
abgesehen habe ich einen Hauptstadtkulturfonds gegründet, weil ich, aus Ame-
rika kommend, immer davon ausging, dass es eine sehr lebendige Off-Broad-
way-Szene in Berlin gibt, die aber permanent unterfinanziert ist. Kurz gesagt:
Straffung der Verwaltung dieser Ausgaben ohne hochkomplexe und meistens un-
durchschaubare Kommissions- und Gremienentscheidungen. Das ging sehr gut.

2. — Rückblick: Die Kulturstaatsminister im Gespräch


Sie haben ein sehr polyglottes Berufsleben geführt, Deutschland, USA,
sind persönlich gut bekannt und befreundet mit kulturellen Geistes­
größen. Als Kulturstaatsminister bekamen Sie es dann doch auch mit den
eher kleinteiligen Organisationsformen des föderalen Kulturbetriebs,
mit Vereinen, Verbänden, Bürokratien zu tun. Sind da nicht Welten auf­
einandergestoßen?
Nein. Nein, nein. Natürlich bin ich z. B. sorbischen Funktionären begegnet, die
der Meinung waren, die Bundesregierung müsse ihre Gedichtbände finanzieren.
Was sie auch tat. Solche Begegnungen gab es einige, zumal mit den Vertriebe-
nenverbänden. Da waren einige, die würde ich wirklich als Sitzenbleiber der Ge-
schichte bezeichnen. Die waren dann überrascht, immerzu von mir zu hören:
»Wissen Sie, es gibt nicht nur ostpreußische Vertriebene, es gibt auch Leute, die
aus politischen Gründen vertrieben wurden, nämlich aus der DDR, und ich zäh-
le mich dazu.« Mir hat die DDR mindestens drei bis vier Jahre meiner Kindheit
gestohlen. Aber deswegen bin ich nicht der Meinung, wir müssen zu Ostern Fes-
te feiern als ehemalige DDR-Bewohner und Flüchtlinge, um uns an die schönen
großen Zeiten auf unseren gewaltigen Gütern im Osten zu erinnern.
Ich gebe zu: bei mir gibt es einige Ressentiments gegen diese Verbände, die
sich jahrzehntelang gegen eine »Aussöhnung« der Ostpolitik gewendet haben.
Wenn sich auf Vertriebenentreffen, meistens zu Pfingsten, ein Sozialdemokrat
hin traute, konnten Sie schon hören: »Brandt an die Wand« – das ist kein Witz.
Diese Leute saßen zum Teil immer noch da und in denen habe ich dann genuine
Gegner gefunden. Die Kleinteiligkeit des Verbandswesens in Deutschland ist in
Wirklichkeit auch eine Stärke. Viele dieser kulturpolitisch tätigen Vereine, The-
atervereine, Opernfreunde, Museumsfreunde – das sind ja alles Ehrenamtliche.
Bürger, die etwas tun, die mit ihrer Freizeit etwas Vernünftiges anstellen. Das
hat mir durchaus imponiert.

Das Wort »Verfassungsfolklore« hängt Ihnen bis heute an, gilt als
­ ymbolbegriff für Ihr gespanntes Verhältnis zu den Ländern. In ­einem
S
­längeren Zeit-Artikel schrieben Sie, der Begriff »Kulturhoheit« sei
­Verfassungsfolklore, weil er nicht im Grundgesetz stehe.
Da steht er bis heute nicht. Der Begriff der »Hoheit« stammt aus dem Barock,
man sagte: »Eure Hoheit«. Diesen Barockbegriff, den die Länder vor sich hertru-
gen wie ein naturrechtliches Heiligtum, fand ich immer unpassend. Es gibt kei-
ne Naturrechte auf Kulturhoheit der Länder. Wir haben eine sogenannte positi-
ve Grundgesetzsetzung, die nicht heilig ist. Sie gehört mit zu unserer Kulturge-
schichte und politischen Geschichte, ist aber durch Mehrheitsentscheidung des
Parlaments durchaus veränderbar. Allein diesen barocken Begriff »Kulturhoheit«
habe ich persifliert mit dem Wort »Verfassungsfolklore«.

Wachgeküsst
Anstoß erregten Sie auch mit der ursprünglichen Ablehnung des
­Holocaust-Mahnmals am Brandenburger Tor. Sie kritisierten es als
­»elegantes Denkmal«. Was meinten Sie damit?
Das ist klassische »Land-Art« im Stil der 1970er Jahre. In dieser Größe eigent-
lich nur noch in Amerika vorstellbar in einer Wüste. Ich war der Meinung, dass
es in seiner Abstraktheit und Schönheit nicht angemessen ist. Um es banal zu
sagen: Dieses Menschheitsverbrechen, die Ungeheuerlichkeit des Holocaust, zu
memorieren, zu erinnern mit einem eleganten, schönen Denkmal, schien mir
ganz einfach ein intellektueller, ästhetischer und auch politischer Widerspruch 104
zu sein. Wie überhaupt alle Denkmäler, auch die, die Sie in den Konzentrations-
lagern sehen, letztlich die Unmöglichkeit zeigen, mit diesen Verbrechen, diesen 105
millionenfachen Morden, ästhetisch angemessen umzugehen. Es geht eben nicht.
Ich war aber der Meinung: Das muss im Kulturausschuss und im Bundestag dis-
kutiert werden. Am Ende haben wir uns geeinigt auf diesen sogenannten »Ort
der Information«.
Das ist gewissermaßen der Kompromiss, den die Fraktion mir eingeräumt
hat. Wenn Sie heute wissen wollen, wofür die Steine eigentlich stehen, müssen
Sie in diese unterirdischen Räume gehen. Dort werden Sie, wenn Sie nicht stein-
dumm sind, genau die emotionale Anmutung erfahren, die bei dem ästhetischen
Erlebnis dieser Steinstelen nicht da ist.

Sie sind nach zwei Jahren ziemlich überraschend zurückgetreten.


Ein Rücktritt zur Hälfte der Legislaturperiode wird schnell als Zeichen
des Scheiterns gewertet. Sie haben beim Rücktritt aber erklärt, Sie
­gingen guten Gewissens, weil Sie grundlegende Dinge erreicht hätten,
Leitplanken und Vorgaben auch für Ihre Nachfolger. Schutzbehaup-
tung oder ­wirklich ernst gemeint?
Es stimmte schon. Jede Regierung stellt in den ersten zwei Jahren Weichen, da-
nach geht es nur noch um Kleinstarbeit. Ich habe den Etat erheblich verändert.
Viele Dinge sind gar nicht in die Öffentlichkeit gekommen, wie z. B. diese 1,2 Mil-
liarden Mark Beschleunigungsmaßnahmen für die Stiftung Preußischer Kultur-
besitz. Ich hatte einfach versäumt, dies laut und deutlich hinauszutrompeten,
was dazu führte, dass die Leute in der Tat glauben: Das, was ich wirklich hin-
terlassen habe, sei die Einrichtung eines Kulturausschusses im Bundestag. Nein,
das war schon entschieden mehr. Ich bin auch ganz stolz, dass ich die Kurt-
Wolff-Stiftung gegründet habe zur Förderung der kleinen Buchverlage. Meine
Nachfolgerin Christina Weiss hat die dann noch mit einer anständigen Erhö-
hung des Etats ausgestattet. Zusätzliches Geld für die Staatskapelle Berlin, mitt-
lerweile zwei Millionen Euro jährlich. Lauter kleine Dinge, die sich alle bis heu-
te zum Vorteil nicht nur Berlins, sondern des ganzen Landes auszahlen. Darauf
bin ich durchaus stolz. Und darauf, dass ich im Jahr 2000 mit dem damaligen
russischen Kulturminister vereinbaren konnte, dass die kostbaren mittelalter-
lichen Kirchenfenster der Marienkirche nach Frankfurt/Oder zurückkehren, sie

2. — Rückblick: Die Kulturstaatsminister im Gespräch


waren im Zweiten Weltkrieg als »Beutekunst« nach Russland gelangt. Insofern
war nicht das Gefühl, ich gehe mitten in der Arbeit weg. Ich hatte das Angebot
erhalten, Herausgeber und Chefredakteur der ZEIT zu werden, das habe ich na-
türlich mit Schröder besprochen. Hinzu kommt: Politische Spitzenämter belas-
ten das Privatleben. Ich habe manchmal bei Kabinettssitzungen gedacht: Wenn
die alle ihre geschiedenen Ehepartner mitbringen würden, müssten wir in den
Plenarsaal umziehen. Auch das hat eine Rolle gespielt.

Sie haben die Anbindung des Kulturstaatsministers im Kanzleramt


auch nachträglich noch als ideale Organisationsform bezeichnet. Ihnen
persönlich hat die Nähe zu Schröder zweifellos genützt. Sie kennen
aber auch die Forderung nach einem eigenständigen K ­ ulturministerium.
Das käme doch eigentlich Ihrem Ansatz stärkerer bundespolitischer
­Präsenz entgegen?
Am Anfang habe ich das auch gesagt. Ich wollte eigentlich, dass man ein Kul-
tur- und Wissenschaftsministerium zusammenlegt. Und selbstverständlich gab
es da einen, der sich dafür sehr geeignet hätte, das wäre der ja immerhin habili-
tierte Staatsminister für Kultur – das habe ich wirklich gedacht. Bis ich kapier-
te, dass das wahrscheinlich einen Schritt zu weit gegangen wäre angesichts der
Empfindlichkeiten der Länder, und kapierte, dass in Wirklichkeit die Nähe zum
Bundeskanzler außerordentlich vorteilhaft sein kann, wenn es darum geht, Geld
zu mobilisieren. Finanzminister Eichel war strikt gegen den erwähnten Ankauf
der Sammlung Berggruen. Der hätte keinen Pfennig rausgerückt. Das ist dann
durch Fürsprache a) von Schröder und b), wie ich jetzt erst erfahren habe, auch
durch einen Brief von Helmut Schmidt viel leichter geworden. Auf diese Art und
Weise wurde die Sammlung eben angekauft, ganz einfach.
Es funktioniert, wenn dieses Amt das Wohlwollen des Bundeskanzlers hat.
Wenn das aber nicht der Fall ist, ist es eben Pech für die Kulturpolitik. Kulturpo-
litik ohne das innere Engagement des Bundeskanzlers ist, auch aufgrund der ver-
fassungsrechtlichen Verhältnisse im Lande, fast nicht möglich. Man braucht es.

Was sehen Sie, aktuell und zukünftig, als besondere


kulturpolitische ­Herausforderung?
Mein konkreter Vorschlag ist, in Erinnerung an das autofreie Wochenende in der
Ölkrise 1974, kulturpolitisch ein Wochenende ohne digitale Kommunikationsme-
dien durchzusetzen. Sozusagen das Smartphone in den Eisschrank. Der enorme
kulturelle und gesellschaftliche Wandel durch die globale Digitalisierung lässt
das Leseverhalten zusammenbrechen. Alle lesen weniger Bücher, das steht fest.
Alle lesen weniger Zeitung, auch das steht fest. Sind sie deswegen besser infor-
miert? Alle Umfragen zeigen: Nein. Welche Konsequenzen das für den Fortbe-
stand der Sprache hat, des gesellschaftlichen Zusammenhalts und, das ist das
Wichtigste, weil alle anderen Argumente nicht durchkommen, auch der wirt-
schaftlichen Stabilität des Landes?

Wachgeküsst
Das alles hängt zusammen mit unserem Verhalten vis à vis der neuen digitalen
Kommunikations- und Medienwelt. Da sehe ich eine zentrale Aufgabe der Kul-
turpolitik des Bundes, das lässt sich auch nicht mit föderalistischen Argumen-
ten beheben. In Deutschland fehlen 50.000 Lehrer, das ist in einer Nation von
82 Millionen keine Urkatastrophe, aber die Tendenz ist wachsend, es stellt sich
schon die Frage: Woran liegt das? Wenn die Länder glauben, das sei Ländersa-
che, dann muss ich sagen: Irrtum, Freunde. Das ist eine gesamtgesellschaftliche
Krise. Da muss das Land kulturpolitisch agieren. Und zwar aus dem Kanzleramt
heraus. Das ist meine staatstragende Schluss(re)volte. 106

107

2. — Rückblick: Die Kulturstaatsminister im Gespräch


Julian Nida-Rümelin
Die Kulturpolitik
des Bundes als
Ordnungspolitik
Herr Nida-Rümelin, Sie wurden der zweite Kulturstaatsminister, nach-
dem Michael Naumann zur Hälfte der Legislaturperiode ziemlich über­
raschend zurückgetreten war. Naumann sagt: »Ich konnte guten Ge­
wissens gehen, weil die wichtigen Dinge auf den Weg gebracht waren,
Themen und Leitplanken, auch für die Amtsnachfolger.« Von Ihnen
stammt der Satz: »Naumann war der Eisbrecher, ich der Navigator.«
Was meinten Sie damit?
In der Tat war viel auf den Weg gebracht. Besonders die Rolle der Hauptstadt-
kultur, also der kulturellen Institutionen, die vom Land Berlin in die Bundes-
kompetenz wanderten. Das war weit gediehen, wurde zum Teil aber erst in mei-
ner Amtszeit abgeschlossen. Ich hatte mir das Ziel gesetzt, die Kulturpolitik des
Bundes kooperativer mit den Ländern zu gestalten. Keine ganz einfache Auf-
gabe, die Konflikte zwischen Bund und Ländern, personalisiert zwischen Nau-
mann und Zehetmair, dem damaligen bayerischen Kultusminister, waren ziem-
lich eskaliert.
Auf meiner Agenda ganz oben stand das von Willy Brandt und Günter Grass
schon in den 1970er Jahren vorgesehene Projekt einer nationalen Kulturstif-
tung. In einem Dauerkonflikt mit den Ländern ist so etwas aber nicht zu errei-
chen, sie muss kooperativ vorbereitet werden. Nach dem Konzept meines Vor-
gängers sollte die Stiftung vor allem Ankäufe von Museen und anderen Einrich-
tungen unterstützen. Für eine nationale Kulturstiftung war mir das ein viel zu
enges Korsett. Sie bekam eine ganz andere Ausrichtung: Förderung von Kunst-
projekten, innovativer Kunst, internationaler Kunst, Stärkung des kulturellen
Blicks nach Osten.
Die Gründung der Kulturstiftung des Bundes in meiner Amtszeit war viel-
leicht der größte Erfolg dieser Amtszeit. Was zu Zeiten von Brandt und Grass
noch am Widerstand der Länder gescheitert war, konnte nun mit Unterstützung
der Länder realisiert werden.

Wachgeküsst
Welches waren neben der Bundeskulturstiftung, nach 30-jähriger
­Hängepartie, weitere wichtige Baustellen Ihrer Amtszeit ?
Die zweite wichtige Orientierung: Kulturpolitik des Bundes als Ordnungspolitik.
Das war sicher auch eine andere Akzentsetzung als die meines Vorgängers. Ich
sehe das heute noch als die zentrale Aufgabe der Bundeskulturpolitik. Nicht so
sehr mit einzelnen Mittelzuwendungen kulturelle Projekte und Institutionen zu
fördern – obwohl das natürlich auch eine Aufgabe des Bundes ist – sondern vor
allem den rechtlichen Rahmen so zu gestalten, dass er kultur- und kunstfreund-
lich ist. Deswegen war mir so wichtig, dass man z. B. die Filmförderung stärker 108
auf kulturelle Filmförderung ausrichtet. Streng genommen ist nicht die wirt-
schaftliche Filmförderung Aufgabe des Staates, sondern die kulturelle Filmförde- 109
rung, weil Kultur ein öffentliches, zu wesentlichen Teilen nicht handelbares Gut
ist. Dieser Aspekt der Filmproduktion muss im Mittelpunkt stehen. Wir haben
die entsprechende Akzentverschiebung durch das neue Filmfördergesetz reali-
siert. Für mich hatte auch die Buchpreisbindung zentrale Bedeutung. Die Kom-
mentare in den Feuilletons waren damals so, dass man im Grunde nur noch auf
Zeit spielte, also bestenfalls hoffen konnte, dass es noch ein paar Jahre gutgeht.
Ich habe dem dann ein völlig neues Konzept, was so nie zuvor diskutiert worden
war, entgegengestellt: nach französischem Vorbild ein nationales Buchpreisbin-
dungsgesetz, um damit die Buchpreisbindung auf eine gesetzliche Grundlage zu
stellen. Einen Markteingriff per Bundesgesetz hatte es in dieser Form nie zuvor
gegeben in der Bundesrepublik. Das war eine Menge Überzeugungsarbeit, auf
den letzten Metern hat auch der Bundeskanzler mitgeholfen, dass es gegenüber
den Verlagen gelang. Es hat bis heute gehalten.

In einer ersten Bilanz Ihrer Amtszeit hatten Sie gesagt: »Die Angst der
Länder vor einem Kulturzentralismus ist gebannt.« Fragt man heute
­kulturpolitische Akteure nach Ihrer damaligen Rolle, kommt g ­ elegentlich
die Antwort: »Nida-Rümelin ist zu verdanken, dass die Länder ihren
­Frieden mit der Bundeskulturpolitik gemacht haben.«
Tja, ich sollte das vielleicht nicht kommentieren, aber es ist wohl etwas Wahres
dran. Es gab ja die Mühen der Ebene mit vielen, vielen Sitzungen und Bespre-
chungen. Da ging es nicht nur um den Konflikt etwa Bayern – Bund, sondern
auch Nordrhein-Westfalen, damals SPD-geführt oder Rheinland-Pfalz. Dortige
Landesminister traten ganz massiv gegen den Bund auf. Beispielsweise mit dem
Vorwurf, dass der Bund nicht symmetrisch fördere, sondern verschiedene Län-
der bevorzugt behandle. Solche Vorwürfe mussten erst mal abgewehrt werden.
Das war alles nicht so ganz einfach, diese Geschichte ist auch noch nie ordent-
lich aufgeschrieben worden. Es begann sehr konfliktreich, aber innerhalb kur-
zer Zeit erkannten offenbar auch die Länder, dass ich es ernst meinte, dass mein
Ziel ein kooperativer Kulturföderalismus war, kein konfrontativer. Das hat sich
in den Nachfolgebesetzungen auch bis heute gehalten.

2. — Rückblick: Die Kulturstaatsminister im Gespräch


Welche Bedeutung hatte für diesen Prozess, für die Bewältigung der
­Mühen der Ebene, dass Sie selbst zuvor Erfahrungen im Bereich kultur­
politischer Institutionen gemacht hatten? Sie waren Kulturdezernent
in München, stellvertretender Vorsitzender des Kulturforums der SPD.
Sie kamen sozusagen auch mit Kenntnissen aus dem Maschinenraum
der politischen Macht, der Entscheidungsprozesse?
Das ist eine interessante Frage, vielleicht aus der Distanz dann irgendwann mal
historisch zu beurteilen. Der Anfangsimpuls des Amtes: Bundeskulturpolitik, in
Gestalt öffentlicher Diskurse, legitimerweise auch Auseinandersetzungen, mit
hoher medialer Aufmerksamkeit, war mir ja sehr sympathisch. Aber ich vermu-
tete bald, dass das gewissermaßen ein Kindheitsphänomen des neuen Amtes ist
und dass man es zumindest ergänzen, teilweise auch ersetzen muss durch eine
kulturelle Ordnungspolitik.
Ich habe versucht, den Weg in einer Balance zwischen Diskursorientierung
und konkreter Kooperationspolitik zu realisieren. Es musste zu einer gewissen
Normalisierung kommen. Gewissermaßen das Klein-klein, was aber eben auch
zur Politik gehört.

Sie waren trotz der politischen Realerfahrung letztlich doch Querein­


steiger. Sie haben sich immer in erster Linie als Philosoph definiert,
als Wissenschaftler, als Intellektueller. Damit waren Sie in mehrfacher
Weise ein Stück weit auch Gegenentwurf zum sogenannten »Alpha-
tier« Schröder und auch zu anderen politischen Großmeistern dieser
Jahre. Hat das nicht zu Konfliktlagen im politischen Geschäft geführt?
Wissenschaft ist mein Beruf, den ich sehr früh gewählt hatte. Manche schreiben
immer noch: »Nach der politischen Zeit ist Nida-Rümelin dann in die Wissen-
schaft gegangen.« Ganz falsch. Schon viele Jahre vorher, seit 1984, war ich haupt-
beruflich Wissenschaftler. Ich habe von Anfang an sowohl in der Wissenschaft
als auch in die Politik hinein agiert. Allerdings habe ich mich um die politischen
Ämter nie beworben, sie wurden mir angeboten. Von Christian Ude in München
und Gerhard Schröder im Bund. Denen habe ich immer gesagt: »Ich bin von Be-
ruf Wissenschaftler. Ich werde nicht von Beruf Politiker« – auch wenn das, nach
einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, rein rechtlich so ist.
Für mich war es eine Fortsetzung kulturellen und bürgerschaftlich-politi-
schen Engagements. Konsequenterweise habe ich 2002, nach der gewonnenen
Bundestagswahl, Schröders Angebot, für vier Jahre weiterzumachen, nach reifli-
chem Überlegen abgelehnt. Ich hatte Sorge, nach neun Jahren Politik nicht mehr
wirklich in die Wissenschaft zurückkehren zu können.
Wo ich es anders sehe als Sie, ist die Frage »Alphatier«. Sagen wir es mal so:
Andere, die mich ganz gut kennen, halten mich auch für ein Alphatier. Dort, wo
ich bin, gestalte ich auch. Nicht Macht um der Macht willen, aber dort, wo ich
bin, nehme ich die Dinge in die Hand und organisiere das. Das war schon lange
vor dem politischen Amt so. Insofern war das von einigen gezeichnete Bild des

Wachgeküsst
schöngeistigen Intellektuellen, der sich jetzt mit Machtfragen herumschlagen
muss, eher eine Karikatur. Manche haben sich auch die Augen gerieben, dass es
so eben nicht kam, sondern dass der vermeintlich schöngeistige Intellektuelle, der
keinen Bezug zu Machtfragen hat, mit Machtfragen ganz gut umgehen konnte.

Lassen Sie uns noch einmal auf das Ende Ihrer Amtszeit zu sprechen
­kommen. Oktober 2002, Rot-Grün hatte, für manche überraschend, die
Bundestagswahl nochmal gewonnen. Und Sie gaben das Amt, wie zu-
vor ­Michael Naumann, nach nur zwei Jahren auf. Hätten Sie nicht doch 110
gern weitergemacht? Die vorherrschende Meinung der politischen
Beobachter damals war: Eigentlich hätte er gern weiter gemacht, aber 111
Schröder wollte nicht.
Das ist ganz einfach falsch. Schröder wollte, dass ich weitermache, er hat mich
ausdrücklich gefragt. Das Ergebnis der Bundestagswahl 2002 resultierte ja auch
nicht nur aus der Ablehnung des Irak-Krieges oder dem »Flut-Kanzler«. Die Un-
terstützung durch viele Kulturschaffende spielte eine Rolle und das hatte auch
etwas mit mir zu tun. Schröder und ich hatten ein gutes Verhältnis.
Man muss bedenken: im Gegensatz zu den Ressortministern ist der Staats-
minister für Kultur und Medien dem Bundeskanzler gegenüber weisungsgebun-
den. Schröder hat von diesem Weisungsrecht nie Gebrauch gemacht. Selbst nicht
in so heiklen Fällen wie dem Wiederaufbau des Stadtschlosses in Berlin Mit-
te, wo er eine eindeutige Meinung hatte. Ich war eher skeptisch. Er hat mir aus-
drücklich gesagt: »Du hast da freie Hand. Überleg dir, wie Du es machen willst.
Und Du kannst das machen, wie Du es für richtig hältst.« Auch bei der Frage, ob
man nicht die Dresdener Semperoper in Bundeskompetenz geben sollte, wo er
dafür war, Richard von Weizsäcker dafür war und einige weitere gewichtige Per-
sönlichkeiten dafür waren. Ich war dagegen mit der Einschätzung: »Dafür ha-
ben wir weder die Kompetenzen noch die Strukturen.« Außerdem wäre das »Op-
fer« dann die Kulturstiftung des Bundes gewesen. Selbst da hat er nicht gesagt:
»Das will ich aber jetzt so, mach das«, wie es sein Recht gewesen wäre. Er sagte:
»Das musst Du entscheiden, musst Du wissen.« Unser Verhältnis war gut. Die Be-
hauptung, Schröder könne nicht mit mir, wurde wohl von Menschen verbreitet,
die das Amt selbst gern gehabt hätten.

Warum haben Sie dann trotzdem 2002 aufgehört,


wenn es das Angebot gab, weiterzumachen ?
Zum einen, weil es ein Problem mit meinem Lehrstuhl in Göttingen gab, der für
mich freigehalten wurde. Der Präsident der Universität Göttingen schrieb mir,
dass sie den nicht länger freihalten könnten. Ich müsse mich entscheiden.
Dazu kam ein Aspekt, der mit der Berufung ins Amt zu tun hatte. Schröder
hatte mir in seiner charmanten Art damals am Telefon gesagt: »Du musst das
machen. Naumann geht jetzt, wir haben keinen anderen, Du bist hier der Höchst-
qualifizierte.« Er hatte mir in diesem Gespräch auch signalisiert, er sei offen für

2. — Rückblick: Die Kulturstaatsminister im Gespräch


einen institutionellen Ausbau des Amtes, bis hin zum eigenständigen Ressort.
Ich war damals und bin heute immer noch der Meinung, das sollte geschehen. Es
gibt eine ganze Reihe von Gründen, die für ein eigenständiges Ressort sprechen.
Der wichtigste gehört zum Stichwort Ordnungspolitik: Es ist leider nicht mög-
lich, dass der, der das Amt des Kulturstaatsministers innehat, eine Gesetzesvor-
lage einbringt. Das machen die einzelnen Ressorts, in dem Fall wäre es dann das
Kanzleramt. Ein sehr merkwürdiger Vorgang, wenn der Bundeskanzler ein Ge-
setz einbrächte, das ist so nicht vorgesehen. Wir haben das mühsam umschifft.
Z. B. bei der Buchpreisbindung war schließlich das Wirtschaftsministerium feder-
führend. Durch den günstigen Umstand, dass Werner Müller ein sehr kunstinter-
essierter und kulturaffiner Mensch ist und außerdem mit Schröder sehr eng war
und aufgrund guter Gespräche, die wir miteinander führten, sagte er am Ende:
»Okay, das Haus ist dagegen, aber wenn ihr dafür seid, dann mache ich das.«
So wurde dann mein Gesetzentwurf über das Wirtschaftsministerium einge-
bracht, ohne ein Komma geändert zu haben. Das ist natürlich ein sehr ungewöhn-
liches Verfahren. Das betrifft auch andere Prozesse, z. B. das Urhebervertrags-
recht. Da standen wesentlich die kulturellen Aspekte im Mittelpunkt. Die Kompe-
tenz des Kulturstaatsministers bzw. seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wur-
de permanent herangezogen, mit allen Friktionen, die sich daraus ergeben. Aber
nicht wir waren federführend, sondern die Justizministerin Herta Däubler-Gmelin.
Ordnungspolitik ist eines der wichtigen Argumente, warum dieses Amt ei-
gentlich ein normales Ministerium sein sollte. Es wäre nicht einmal das kleinste,
selbst wenn man es beim aktuellen Etat beließe, es gibt noch kleinere Bundesmi-
nisterien. Ein vielleicht noch wichtigerer Punkt: Art. 5 Grundgesetz, Freiheit von
Wissenschaft und Kunst, Forschung und Lehre. Das ist bislang wunderbar gutge-
gangen, auch wegen zweier in dieser Hinsicht sehr vernünftiger Bundeskanzler,
nämlich Schröder und Merkel. Aber Tatsache ist: über die Hälfte des Etats des
Bundeskanzleramtes wird für Kultur und Medien ausgegeben, was ja schon von
außen komisch aussieht.Und es ist Tatsache, dass das Bundeskanzleramt auf-
grund unserer Verfassung das Machtzentrum der Republik ist.
Dort diesen sensiblen Bereich anzusiedeln, bedeutet: wenn da mal was
schiefgeht, ist der jeweilige Bundeskanzler dran. Und umgekehrt: wenn es mal
eine andere Besetzung gibt, die Kultur für politische Zwecke instrumentalisie-
ren will, dann wäre das problemlos möglich, durch einfache Weisung des Bun-
deskanzlers. Aus guten Gründen hat der Verfassungsgeber in Deutschland da-
für gesorgt, dass die Ressortminister nicht weisungsunterstellt sind. Es gibt also
eine ganze Reihe von sehr vernünftigen Gründen für ein eigenständiges Ressort,
die aber in der Öffentlichkeit nicht mehr durchdringen.
Damals war Schröder für diese Gründe sehr offen. Wir haben das konzeptio-
nell gründlich vorbereitet, auch mit gewissen Arrondierungen aus anderen Res-
sorts. Gescheitert ist es dann an der Berufung von Clement, der als neuer Super-
minister nach 2002 sagte: »Also ich möchte hier nichts abgeben.« Dann hatte
natürlich auch Schröder anderes im Kopf, als jetzt einen Streit wegen einem ein-

Wachgeküsst
zurichtenden eigenständigen Kultur-Ressort vom Zaun zu brechen. Zumal da-
mals auch die Länder skeptisch gegenüber dieser Idee waren und Sorge hatten,
dass sie dann weiter in die Defensive gedrängt würden. Das halte ich für genau-
so unbegründet wie den Widerstand, den sie ursprünglich schon gegen die Ein-
richtung des Staatsministers geleistet hatten.
Um es für mich zu entschlüsseln: Wenn es 2002 das Angebot gegeben hät-
te, z. B. Bauen und Kultur zusammenzufügen zu einem mittelgroßen Ressort,
Baukultur als Brücke, oder auch ein um andere Bereiche deutlich erweitertes,
eigenständiges Ressort, dann hätte ich wohl die Sorge, dass ich nicht mehr in 112
die Wissenschaft zurückkomme, hintangestellt und weitergemacht. Schließlich
noch ein weiterer Aspekt, der bislang öffentlich nicht bekannt war: Es gab sei- 113
nerzeit Anhaltspunkte dafür, dass eine Berufung auf einen Lehrstuhl nach Mün-
chen möglich werden könnte. München ist meine Heimatstadt und die meiner
Familie. Eine solche Perspektive spielt dann eben auch eine Rolle bei der Ent-
scheidungsfindung. Die Summe dieser Faktoren hat 2002 den Ausschlag gege-
ben, dass ich Schröders Angebot, als Kulturstaatsminister weiterzumachen, nicht
angenommen habe.

Welche bestehenden und kommenden Aufgaben sehen


Sie für das BKM? Aktuelle Baustellen und Zielsetzungen, die Sie
persönlich für nötig halten?
Das BKM hat sich ja in den Jahren bis in die Gegenwart gut entwickelt. Das muss
man nun wirklich anerkennen, über die Parteigrenzen hinweg. Es ist nicht nur
finanziell jetzt sehr gut ausgestattet, sondern, nach meinem Eindruck, auch zwi-
schen den Ressorts respektiert. Es hat sich gut etabliert. Ich bin allerdings der
Auffassung, dass diese Kulturkompetenz des Bundes nicht im Klein-klein zer-
laufen darf. In den Schröder-Jahren fühlte sich die Welt der Künstlerinnen und
Künstler, der Kulturschaffenden von der Politik angesprochen, ernst genommen.
Nach meinem Eindruck ist das deutlich zurückgegangen, das besorgt mich.
Wir haben jetzt Landesvorsitzende der CDU, die dieses Amt leiten, und nicht
mehr frei schwebende Intellektuelle oder Kunstinteressierte wie z. B. Frau Weiss.
Die hatte zwar politisch Erfahrung in Hamburg, hielt aber immer Distanz zu den
Parteien. Wir haben jetzt sozusagen Vollprofis aus der Politik. Das mag man als
Vorteil empfinden, aber darin steckt auch eine Gefahr.
Vielleicht haben ja am Anfang die Diskurse eine zu große Rolle gespielt, die
Debatten und Auseinandersetzungen, die öffentlichen Auftritte. Aber: wie füh-
len sich eigentlich mittlerweile die Intellektuellen in Deutschland? Sehen die
sich wirklich angenommen und ernst genommen von der Bundeskulturpolitik?
Weiß ich nicht.
Man muss sich schon überlegen, wie man in diesem an sich sehr günstigen
Zustand der Staatsfinanzen sicherstellt, dass die Geisteswissenschaften, die Kul-
tur-, Sozialwissenschaften und die Kulturinstitutionen nicht durch eine einseitige
Ausrichtung – Stichwort MINT, ökonomische Interessen – marginalisiert werden.

2. — Rückblick: Die Kulturstaatsminister im Gespräch


Da gibt es einen engen Zusammenhang. Die Geisteswissenschaften dünnen an
den Universitäten auch deswegen aus, weil die Kulturinstitutionen nicht mehr
so stark sind, und umgekehrt. Da wäre eine starke Akzentuierung auf Bundesebe-
ne wünschenswert. Ein eigenständiger Ressortminister oder -ministerin könn-
te das gut gestalten.

Wachgeküsst
Christina Weiss
Einsatz für Spiel-
räume der Künste 114

115
Frau Weiss, Sie waren die Dritte im Amte. Ihren Vorgängern wurden
­gelegentlich Etiketten aufgeklebt wie: Naumann, der als »Zirkus-
direktor« gern auf der Bühne des Kulturzirkus brillierte. Nida-Rümelin,
der als philosophischer »Schöngeist« die Ordnungspolitik entdeckte.
Welches Etikett würden Sie sich selbst verpassen?
Ich habe die Politik überhaupt nur gemacht, um den Künstlerinnen und Künst-
lern die Spielräume freizuhalten. So würde ich mich selbst einschätzen. Ein schö-
nes Schlagwort dazu habe ich nicht, aber sagen wir mal: Engagement für die
Künste. Oder Streiterin für die Künste.

Sie waren die erste Frau nach zwei Männern, Sie waren auch die erste
­Parteilose nach zwei sozialdemokratischen Männern. Hatte es Sie über-
rascht, als Gerhard Schröder, der damals nicht nur SPD-Kanzler, sondern
auch SPD-Parteivorsitzender war, Ihnen das Amt anbot? Es gab ja auch
Bewerber aus seiner Partei, die es gern geworden wären.
Das ist richtig. Ich war trotzdem nicht so überrascht, weil ich ja immerhin fast
elf Jahre in Hamburg, auch parteilos, für die SPD die Arbeit der Kultursenatorin
gemacht habe. Das war, glaube ich, ganz erfolgreich. Ich war mit der SPD sehr
eng verbunden. Dass ich nicht in die Partei eingetreten bin, sollte signalisieren:
Ich will eine politische Karriere nicht machen, weil es eine politische Karriere
ist, sondern ich will arbeiten für die Künste.

Sie haben die Arbeit Ihrer beiden Vorgänger sozusagen von einer kolle­
gialen Ebene her beobachtet, waren als Hamburger Kultursenatorin
auch Beteiligte. Aus dieser professionellen Kenntnis heraus: Welches
waren die Punkte, bei denen Sie zum Amtsantritt sagten: »Da will ich
etwas anders oder neu oder zusätzlich machen?«
Politik ist als Mischung von Diskontinuität und Kontinuität ein interessanter
Prozess. Auf der einen Seite muss man vorher gefasste Beschlüsse übernehmen
und diese auch durchführen. Beispielsweise war, als ich anfing, im Deutschen
Bundestag der Beschluss, den Palast der Republik abzureißen und das Schloss
zu bauen, bereits gefallen. Ich hatte kurz vorher ein Buch veröffentlicht, in dem

2. — Rückblick: Die Kulturstaatsminister im Gespräch


stand, dass ich dagegen bin. Die Arbeit nach dem Bundestagsbeschluss setzt
man dann aber trotzdem fort. In diesem speziellen Fall habe ich versucht, durch
das gemeinsam mit Peter-Klaus Schuster und Klaus-Dieter Lehmann für das
Schloss entwickelte Label »Humboldt Forum« zu sichern, dass der Inhalt dieses
Humboldt Forums auch im Geiste Humboldts ein kultureller ist. Das war keines-
wegs selbstverständlich. Das Schloss hätte auch ein Hotel werden können. Das
stand sehr wohl zur Debatte. Man muss also fortsetzen, was schon beschlossen
ist, kann dabei aber sehr deutlich Schwerpunkte anders legen. Ich habe einen
Schwerpunkt eindeutig verstärkt: Der Wolfenbütteler Bibliothekar Raabe hatte
damals eine Vorlage für »Leuchttürme« in den neuen Bundesländern gemacht.
Ich hatte ein sehr, sehr großes Interesse und großes Engagement für diese neuen
Bundesländer. In meiner Amtszeit war ich weitaus häufiger in den neuen Bundes-
ländern als in den westlichen Bundesländern und habe versucht, dort die High-
lights zu unterstützen. Im föderalen System konnte der Bund nur eines tun: Ich
konnte gute Verträge aushandeln mit den Ländern. Das heißt, der Bund gibt Geld.
Dafür gibt es aber einen Vertrag mit dem Land. Das Land bleibt verantwortlich.
Aber was mit dem Geld des Bundes geschieht, wird vertraglich geregelt. Dafür
habe ich mich sehr engagiert. Und natürlich mein persönlicher Schwerpunkt: ich
habe alles daran gesetzt, auch auf der Bundesebene das Thema »Förderung der
zeitgenössischen Künste« zu betreiben. Ich habe mit der Kulturstiftung des Bun-
des dann auch Leuchtturmprojekte verabredet, die dauerhafte Förderungen er-
halten. Was ja für eine Stiftung nicht selbstverständlich ist. Zum Beispiel die do-
cumenta oder das Uraufführungsfestival Donaueschingen. Das sind schon ganz
spezielle Spielräume der Künste, die mir sehr wichtig sind.

Bei Ihrer Nominierung sagten Sie, es müssten »erkennbare Defizite im


Amtsbereich der Kulturstaatsministerin beseitigt werden«. Sie wollten
z. B. die Zuständigkeit für die Goethe-Institute vom Auswärtigen Amt
­rüber holen. Joschka Fischer, der damalige Außenminister, sagte sehr
deutlich: »Kriegst du nicht«. Wenn man das als Anspruch nimmt, sind
Sie doch eigentlich mit einer politischen Niederlage ins Amt gestartet?
Die Erschaffung des BKM im Kanzleramt war ja ein Coup von Schröder gewesen,
eigentlich eine Herauslösung aus dem Innenministerium, Otto Schily hat alles
rüber gegeben. Von dem habe ich dann auch noch die Behörde für die Stasi-Un-
terlagen erkämpft, weil es sinnvoll ist. Dass aus dem Außenministerium nichts
kommt, war klar. Es herrscht bis heute eine interessante Konkurrenz zwischen
dem Außenministerium und dem BKM um die auswärtige Kulturpolitik. Diese
Konkurrenz ist einfach nicht gut. Was wir gerade noch so geschafft haben: wir
konnten regelmäßige Gesprächsrunden zur Information installieren. Ich glaube,
in sämtlichen europäischen Nationen ist diese Konkurrenz zwischen Kulturpo-
litik, Auswärtigen Ämtern und den Kulturministern oder Kulturministerien ein
gewisses Problem. Ich denke trotzdem, dass Deutschland auf längere Sicht nicht
umhin kommen wird, ein Kulturministerium einzurichten.

Wachgeküsst
Inzwischen ist ja klargeworden, wie wichtig das Amt ist. Auch innenpolitisch.
Wie wichtig es ist, dass die kulturelle Stimme und die Haltung der Kultur am Ka-
binettstisch stattfindet. Ich glaube auch, dass die Kooperationen mit den Län-
dern einfacher wären, wenn es ein Kulturministerium gäbe.
Die Länder befürchten das Gegenteil. Die Länder befürchten aber prinzipiell
das Gegenteil, weil sie gerne ganz viel Geld vom Bund hätten, dem aber kein Mit-
spracherecht geben möchten. Da muss man sich als Land entscheiden. Ich war ja
lange genug auf Länderebene. Aus Hamburg-Sicht konnte ich all diese Proble-
me genau nachvollziehen. Ich hätte auch nicht gerne gehabt, den Staatsminis- 116
ter für Kultur als Chef zu betrachten. Aber das muss ja nicht sein. Es kommt im-
mer auf die kommunikative Fähigkeit beider Seiten an. 117

Die Jahre Ihrer Amtszeit waren, das ist heute schwer vorstellbar, Jahre
des Sparens, knapper öffentlicher Kassen. Sie haben sich sowohl mit
­Landesministern von CDU und SPD als auch mit dem Bundesfinanzminis-­
ter angelegt. Es gab Landesminister, die wollten die jährliche Förderung
aus dem Bundeshaushalt für Kultur um vier Prozent senken. Sie h ­ aben
sich dagegen gestemmt mit dem Argument, man dürfe das nicht als Sub­
vention betrachten, sondern als Investition. Hat Ihre Parteilosigkeit,
Sie hatten ja keine Truppen in der Partei und Sie hatten kein politisches
Mandat im Parlament, diese Arbeit nicht erschwert?
Das hat sie erleichtert. Ich habe ja gewonnen. Die Kulturausgaben waren zur Sub-
vention erklärt worden und durften deshalb gekürzt werden. Für meinen Bereich
ist es mir gelungen, die Ausgaben aus dem Subventionshaushalt herauszuholen
und so vor Kürzung zu bewahren. Das ist im Auswärtigen Amt nicht geschehen.

Ihre Unabhängigkeit hat also geholfen? Peer Steinbrück forderte


später mal: »Ich brauche mehr Beinfreiheit«. Sie haben offenbar mit
mehr Kopffreiheit gearbeitet?
Ich habe mehr Kopffreiheit gehabt, genau. Es war nicht so gut möglich, mich auf
Ziele einzuschwören. Man kann sagen, das macht prinzipiell die Arbeit in der Po-
litik schwieriger. Aber auch freier.

Es waren gleichzeitig Zeiten des Aufbruchs, besonders des europäischen


Aufbruchs. Auch das ist heute, wenn man sich die Entwicklungen vor
­allem in Ost- und Südosteuropa anguckt, schwer vorstellbar. Inwiefern
hat das Ihre Amtszeit geprägt?
Letztlich war das die Hauptprägung. Es war eine ganz, ganz, ganz große Zeit. Ich
bin froh, dass ich in genau dieser Zeit dieses Amt wahrnehmen durfte. Es war
die Öffnung der Grenzen zu unseren östlichen Nachbarn, ganz speziell Polen.
Ich habe gemeinsam mit dem polnischen Kulturminister alle Grenzpunkte zwi-
schen Deutschland und Polen mit einem kleinen Volksfest eröffnet. Die Leute
auf der Straße waren absolut high. Eine wunderbare Veranstaltung im Park von

2. — Rückblick: Die Kulturstaatsminister im Gespräch


Bad Muskau, das war wie eine Volksbewegung. Es war aber auch politisch inter-
essant, weil wir mit diesen neuen Kollegen, nicht nur osteuropäischen Kollegen,
auch Zypern und Malta waren dabei, völlig neue kulturpolitische Debatten füh-
ren konnten. In vielen dieser Länder waren die Kolleginnen und Kollegen auch
Kulturleute. Ich vergesse nie einen estnischen Kulturminister, der in einer öf-
fentlichen Debatte, als er dann spezielle Dinge gefragt wurde, ganz karg antwor-
tete: »Es tut mir leid, meine Damen und Herren, ich kann nicht reden. Aber ich
kann singen. Ich singe jetzt ein lettisches Volkslied.« Dann hat er einfach ein
lettisches Volkslied gesungen, das im Inhalt Freiheit des Geistes bedeutete. Das
war eine total spannende Zeit.

Lassen Sie uns nochmal über innenpolitische Kulturarbeit sprechen.


Von heute aus betrachtet: Was sehen Sie als Ihre wesentlichen Erfolge?
Dass Sie es geschafft haben, die Akademie der Künste in Trägerschaft
oder Finanzierung des Bundes zu nehmen? Dass über diese und andere
Aktionen ein Opernhaussterben in Berlin und anderswo verhindert wurde?
Dass es noch gelungen ist, die Akademie der Künste auf den Bund zu übertra-
gen, war sicher ein wichtiger Punkt. Die Akademie der Künste Berlin/Branden-
burg hatte einfach viel zu wenig Geld. Man hat ihr den größten Teil ihres Gelän-
des weggenommen, das Land Berlin hat nicht genug Kraft gehabt, diese Akade-
mie der Künste zu einem wichtigen Signal, zu einem wichtigen Element der Kul-
turlandschaft zu machen. Ich glaube, das ist mit der Übernahme durch den Bund
gelungen. Dass es dagegen keine Verfassungsklage gab, ist übrigens ausschließ-
lich der vorgezogenen Bundestagswahl 2005 zu verdanken. Das zweite, was ich
gemacht habe, sagt der Name »Die Deutsche Nationalbibliothek«. Vorher war
das eine Dopplung aus »Die Deutsche Bibliothek« und »Die Deutsche Büche-
rei«. Wir haben jetzt eine Deutsche Nationalbibliothek mit mehreren Standor-
ten, Leipzig und Frankfurt. Auch ist dies nur wegen der vorgezogenen Wahl ge-
lungen. Ich glaube, das war etwas ganz Wichtiges, um zu zeigen: Deutschland
ist eine Kulturnation. Es ist nicht nur eine Summe aus Kulturpolitiken der Län-
der. Die Kulturpolitikarbeit in den Ländern war gerade in der Zeit auch sehr ins
Wackeln geraten.

Filmförderung ist offenbar Dauerthema für alle Kulturstaatsminister.


Sie sagten zwei Jahre nach Amtsantritt: »Da wurden Milliarden zur
Filmförderung aus dem Fenster geschmissen, ohne dass sie dem deut-
schen Film zugutegekommen wären.«
Das war die ganze Zeit über eine sehr intensive Arbeit. Uns gelang die Grün-
dung der Deutschen Filmakademie als nationales Projekt. Ich wollte auch, dass
Steuererleichterungen, die es früher selbst dann gegeben hatte, wenn man
von Deutschland aus einen amerikanischen Film finanzierte, nur noch für in
Deutschland produzierte Filme gewährt würden. Das war eine heftige Ausein-
andersetzung mit dem Finanzministerium.

Wachgeküsst
Ich kann nicht erklären, warum überhaupt. Aber die Nachfolgeregierung hat es re-
alisieren können. Da bin ich einfach nur sehr froh, dass es dann doch geklappt hat.

Lassen Sie uns auch über das reden, was nicht gelungen ist, nämlich
die gemeinsame Kulturstiftung von Bund und Ländern. Das war ein
Projekt, welches Sie wollten. Eigentlich wären Sie dafür prädestiniert
gewesen wegen Ihrer Vergangenheit und Erfahrung als frühere Lan­
desministerin. Woran ist es gescheitert?
Das war kein großer Kampf. Es ist sehr schnell sichtbar gewesen, dass das mit 118
den Ländern überhaupt nicht geht. Die Länder hatten Angst, dass sie die Mög-
lichkeit der Finanzierung durch ihre Kulturstiftung verlieren, die ja ganz spezi- 119
ell Ankäufe und Restaurierungen in den Museen der verschiedenen Länder fi-
nanziert. Die Länder hatten Angst davor, dass die Kulturstiftung des Bundes zu
sehr die innovative zeitgenössische Kunst im Blick hatte. Und das stimmt. Das
ist richtig. Für mich wäre es allerdings ein guter Punkt gewesen, Bund und Län-
der in einen Einklang zu bringen. Ein so guter Punkt, wie es ein Bundeskultur-
ministerium wäre, trotz des föderalen Systems.

Wir haben schon darüber gesprochen, dass es mit dem Auswärtigen


Amt ein ziemliches Spannungsverhältnis gab. Das zeigte sich auch
zum Ende Ihrer Amtszeit. Sie wollten, gemeinsam mit anderen europäi-
schen Kulturpolitikern, ein europäisches Netzwerk gegen Vertreibung
einrichten, um auf die Vertreibungen im internationalen Kontext hin­
zuweisen. Da hat das Auswärtige Amt schlicht und einfach gesagt:
»Das darf sie gar nicht unterschreiben. Dafür hat sie nicht die Kompe-
tenz. Das würde unabsehbare Folgen für deutsche Finanzierungsver-
pflichtungen bedeuten.« Sind Sie da gegen die Wand der institutiona­
lisierten Politik gefahren?
Später ist etwas daraus geworden. Die Stiftung »Flucht, Vertreibung, Versöh-
nung«. Bei mir sollte sie heißen »Stiftung gegen Flucht und Vertreibung«. Das
sind einfach unendlich schwierige Prozesse, auch Konkurrenzprozesse. Ich hat-
te einen ganz klaren kulturpolitischen Ansatz mit meinen europäischen Kol-
leginnen und Kollegen. Das bezog sich nicht auf politische direkte Einwirkung
in die Politik der anderen Länder, sondern es war das kulturelle Bekenntnis ge-
gen Flucht und Vertreibung. Und es waren die Kulturministerinnen und -minis-
ter, die sich dazu zusammengetan haben. Leider haben nicht alle europäischen
Nationen mitgemacht. Auch sehr befreundete nicht. Beispielsweise wäre schon
wichtig gewesen, wenn Österreich entweder Ja oder Nein gesagt hätte. Haben sie
nicht. Es gab ganz große Schwierigkeiten in Tschechien, in der Slowakei, aber
dann wurde die Debatte sehr schnell, ich glaube, nicht nur bei uns, sondern bei
den anderen auch, von den Auswärtigen Ämtern gestoppt. Trotzdem gibt es jetzt
eine solche Stiftung. Es wäre schön, wenn sie ein noch größeres Forum hätte, um
ihre Stimme zu erheben.

2. — Rückblick: Die Kulturstaatsminister im Gespräch


Vor der letzten Bundestagswahl, im Sommer 2017, sagten Sie, dass Sie
sich als Wählerin, als Bürgerin, in der Politik nicht mehr ernst genommen
fühlen. Es gäbe zu viele hohle Phrasen. Von der Kulturpolitik käme zu
wenig Esprit, zu wenig Geist, zu wenig Motivation. Hängt das damit zu-
sammen, dass Ihre Nachfolger als Berufspolitiker reingegangen sind?
Das macht sicher etwas aus. Ich muss aber anders anfangen. Mir war es sehr
wichtig, und ich dachte auch, das sei ein Kernstück dieses Amtes, eine unabläs-
sige kulturelle Debatte zu allen Fragestellungen anzustoßen, auch gemeinsam
mit den Feuilletons. Da war ich aber relativ alleine auf der Welt. Die Feuilletons
wollten gar keine Debatte angestoßen haben. Was ich bis heute nicht verstehen
kann. Weil ich jetzt sehe: wenn die Debatte nicht von der politischen Seite an-
gestoßen wird, dann gibt es auch keine Schulterschlüsse. Dann finden wir auch
keine Partner untereinander, dann bleibt auch die Politik alleine immer nur in
ihrem Politikbereich. Ich vermisse in der Tat bis heute eine fundierte Debatte in
der Politik, gerne auch zusammen mit den Medien. Einfach mehr Raum, um mal
begründen zu können, warum eigentlich welche Entscheidung getroffen wird. Ich
glaube, dass es ganz vielen Leuten so geht, viele Menschen verstehen gar nicht
mehr, was da entschieden wird, weil ihnen niemand sagt, warum.

Also Kultur, nicht in der Definition eines engen Kulturbegriffs, sondern


Kultur und Kulturpolitik als gesellschaftlicher Zusammenhang von
Richtungsentscheidungen darüber, wie diese Gesellschaft ihr Leben
gestalten soll und will?
Richtig. Die Kultur des Gemeinwesens ist auch ein Teil der Kultur. Sie muss sich
in einer ständigen offenen Debatte entwickeln, muss dabei immer auch die Ge-
genseite mit einbeziehen. Ich vermisse sehr den Mut zu einer anderen Haltung.

Zum Beispiel?
Na ja, was die AfD praktiziert so ohne, sage ich jetzt mal, Sinn und Verstand, also
auch ohne Argumentation. Man kann immer zwei Seiten einer Medaille darstel-
len, das geht auch auf einfachem Niveau, da muss man keine Hochschulvorträge
halten. Wenn man nicht immer die beiden Seiten einer Medaille betrachtet, haut
es nicht hin. Ich kann nicht nur über humanitäre Werte reden und alle Flüchtlinge
aufnehmen. Ich muss auch die Grenzen sehen. Man muss darüber reden, im kont-
roversen Diskurs. Am Schluss wird sich zeigen, welches Argument das stärkere ist.

Was bedeutet kontroverser Diskurs für eines der zentralen Projekte auf
der kulturpolitischen Agenda, das Humboldt Forum? Sie sagten, dass Sie
verhindert hätten, dass aus dem Wiederaufbau des Schlosses ein Hotel
wird, sondern ein Kulturforum. Wie bewerten Sie die aktuelle Situation?
Gut, dass zunächst das Management geregelt ist. Sorge bereitet mir die Konzep-
tion. Das Humboldt Forum hat eine ganz, ganz große Chance, eines der interes-
santesten Museen der Welt zu werden, weil man den Weltkulturen in ihrer Ge-

Wachgeküsst
schichte, aber auch in ihrer Gegenwart dort begegnen können müsste. »Müsste«
sage ich deshalb, weil: »Weltkulturen begegnen«, das ist ein riesiges Feld, wo mit
allem gearbeitet werden muss. Da gibt es natürlich museale Objekte, die erklärt
werden. Da muss es aber Filme geben, da muss es Literatur geben. Da muss eine
Begegnung erzeugbar sein mit einer anderen Kultur in der Gegenwart. Wenn ich
als Manager nach China geschickt werde, müsste es eigentlich selbstverständ-
lich sein, dass ich zuvor ins Humboldt Forum gehe und mich informiere über die
kulturelle Basis, der ich dort begegnen werde. Das wäre meine Idealform zwi-
schen Museum und Aufklärungsort. 120

Sie sehen im Moment das Humboldt Forum 121


nicht auf einem Weg, der dorthin führt?
Na, es fehlt einfach noch das klare, überzeugende Konzept. Das muss bereits in Ar-
beit sein, aber das sollte möglichst bald öffentlich werden und debattiert werden.

2. — Rückblick: Die Kulturstaatsminister im Gespräch


Bernd Neumann
Ich hatte Interesse
an diesem Amt
Herr Neumann, Sie waren der vierte Kulturstaatsminister. Nach dem Ver-
leger Naumann, dem Philosophen Nida-Rümelin, der Kunstprofessorin
Weiss waren Sie der erste, der nicht aus dem Kunst- und Kulturbetrieb
kam, sondern der erste »Berufspolitiker«. Wie war der Empfang in der
­Kulturszene 2005? Es gab einige Skepsis.
Diese Skepsis kann ich aus Sicht der Kulturszene durchaus nachvollziehen. Mei-
ne Vorgängerin und Vorgänger hatten allesamt direkt oder indirekt beruflich mit
der Kultur zu tun. Da galt ein Politprofi eher als suspekt – und dann auch noch
aus Bremen. Bremen gilt ja für manche Berliner Feuilletonisten nicht unbedingt
als symbolträchtig für kulturelle Entwicklungen. Also, es gab in der Kultursze-
ne sicherlich eine gewisse Skepsis, mit Ausnahme der Medien- und Filmbranche,
die mich aus der politischen Arbeit bereits kannten.

Waren Sie eigentlich überrascht, als Angela Merkel Sie fragte? Ich nehme
ja an, es wird so gewesen sein: »Neumann, wollen Sie das machen?« Oder
hat Ihre Nominierung eine andere Geschichte?
In der Tat, meine Vorgänger wurden alle vom Bundeskanzler angerufen und gebe-
ten, das Amt zu übernehmen. Bei mir verlief es anders. Ich war zwar Mitglied des
Kulturausschusses, den es seit 1998 gab, in dem Norbert Lammert als CDU-Spre-
cher und ich als sein Stellvertreter fungierten. Als 2005 Angela Merkel an der Ka-
binettsliste bastelte, schrieb damals die Frankfurter Rundschau, »Norbert Lam-
mert könnte eigentlich Kulturstaatsminister werden, aber der wird ja zum Bun-
destagspräsidenten nominiert, wer wäre noch denkbar?« – und nannte in diesem
Zusammenhang dann plötzlich meinen Namen. Ich war ziemlich überrascht, denn
das war zu dem Zeitpunkt nun ganz und gar nicht in meiner Planung. Da ich in
den folgenden Wochen aber nicht etwas dementieren wollte, was bis zu diesem
Zeitpunkt nie meine Absicht war, bat ich die designierte Bundeskanzlerin um ein
Gespräch. Zu diesem Zeitpunkt hatte Angela Merkel keine feste personelle Vor-
stellung für das Amt des Kulturstaatsministers. Als ich im Laufe des Gesprächs
zum Ausdruck brachte, ich hätte an dem Amt Interesse, war sie zuerst überrascht,
erklärte dann aber, dass sie sich dieses durchaus vorstellen könne. Und so wur-
de ich es dann. Ich bin also nicht angerufen worden, ich habe selbst angerufen.

Wachgeküsst
Aus der Schilderung wird Ihre Erfahrung im politischen Geschäft deut-
lich, in der Organisation von Entscheidungsprozessen. Sie waren vorher
acht Jahre Staatssekretär im Ministerium für Bildung und Forschung
gewesen – welche Bedeutung hat das gehabt für Ihre Vorstellung vom
Amt des Kulturstaatsministers?
Ressort- und Fachkenntnisse sind immer hilfreich, aber politische Management-
fähigkeit ist eine noch viel wichtigere Eigenschaft. Man muss sich immer klar da-
rüber sein, dass auch Kulturpolitik, wie die anderen Bereiche der Politik, entspre-
chende Professionalität erfordert. Vielleicht liegt hier schon ein Unterschied zwi- 122
schen mir und meinen Amtsvorgängern. Ich konnte an dieser Stelle ja auf mei-
ne 34-jährige parlamentarische Erfahrung mit achtjähriger Regierungstätigkeit 123
zurückgreifen, in der ein breit gespanntes Netzwerk entstanden war. Mein ent-
scheidendes Bekenntnis war aber immer, dass ich selbst kein kultureller Player
im engeren Sinne sein wollte, sondern jemand, der mit der Aufgabe betraut wur-
de, dieses Amt kulturpolitisch zu verantworten und effektiv zu gestalten. Mein
prinzipielles Anliegen war stets, die Rahmenbedingungen für die Kulturschaf-
fenden generell zu verbessern, ich bemühte mich, ihr Sprachrohr zu sein – in der
Politik und darüber hinaus. Hierbei können politische Erfahrungen und Bezie-
hungen schon ausgesprochen nützlich sein. Man muss z. B. die Haushälter ken-
nen, sonst kann man im finanziellen Bereich manches nicht durchsetzen. Wenn
es um Geld geht, hat man – wie die anderen Kabinettsmitglieder auch – den Fi-
nanzminister meistens gegen sich. Vor meiner Amtszeit wurde der Kulturhaus-
halt eher reduziert als erhöht, obwohl im Vergleich zum Sozial- oder Verteidi-
gungshaushalt die Ausgaben für Kultur verschwindend gering sind, ja marginal.
Mir ist es gelungen, die Mitglieder des Haushaltsausschusses davon zu überzeu-
gen, dass eine Erhöhung des Kulturhaushaltes – wie einmal z. B. um 400 Millio-
nen Euro – zwar im Hinblick auf den Gesamthaushalt eine geringe Summe dar-
stellt, aber im Kulturbereich ungeheuer viel bewirken kann. In den ersten Jahren
meiner Amtszeit gelang es mir, in diesem Sinne mit den Haushältern eine Ach-
se zu schmieden, die bis heute gehalten hat und von der auch meine Nachfolge-
rin Monika Grütters erfreulicherweise profitiert.

Wenn man Leute fragt: Was hat Neumann als Kulturstaatsminister


inhaltlich gemacht? Fällt als allererstes Stichwort immer: Filmförderung.
Erstens: Warum war Ihnen das so besonders wichtig? Zweitens: Was
im Ressort haben Sie zusätzlich bewirkt?
Mit dem deutschen Film verbindet mich jahrzehntelanges Engagement – weit
vor meiner Zeit als Kulturstaatsminister. Ich war davor bereits im Präsidium
der Filmförderungsanstalt und 15 Jahre lang Mitglied in verschiedenen Film-
jurys. Logischerweise konnte ich dann auch als Kulturstaatsminister viel für
den Film bewirken. Aber der mit Abstand höchste Anteil der Förderung ist an-
deren Kulturbereichen zugeflossen. Im Übrigen habe ich den anderen Berei-
chen in meinem Ressort ungleich mehr Zeit gewidmet, zumal einige von ih-

2. — Rückblick: Die Kulturstaatsminister im Gespräch


nen für mich spannendes Neuland waren. Lassen Sie mich nur einige Themen
und Beispiele nennen, bei denen in meiner Amtszeit wichtige und neue Impul-
se gesetzt wurden:

—— D ie Verbesserung der sozialen Lage der Künstler


gehörte zu einem meiner Schwerpunkte;
—— Im steuerlichen Bereich für die Kunst wurden
deutliche Verbesserungen erreicht;
—— Beim Schutz des geistigen Eigentums – Stichwort Urheber-
recht – entwickelte sich mein Haus zum Vorkämpfer in der
Bundesregierung;
—— Ich habe ein Gedenkstättenkonzept erarbeiten lassen, das bis
heute meine Handschrift trägt. Die Differenzierung zwischen den
Diktaturen der NS- und der DDR-Zeit ist gut gelungen. Viele
dieser Vorhaben wurden zu meiner Zeit umgesetzt bzw. eingeleitet.
Ich denke an die Mahnmäler für die verfolgten Homosexuellen,
für die verfolgten Sinti und Roma, an den Gedenkort für Euthanasie-
opfer. Die Erinnerung an die Diktatur in der DDR wird ­wachge-
halten und muss wachgehalten werden, z. B. durch die Gedenkstätte
Berliner Mauer, den Tränenpalast und die Stasi-Zentrale;
—— Bei der Restitution von einstmals jüdischem Kulturbesitz wurden neue
Schwerpunkte gesetzt, eine Verjährung wurde von mir abgelehnt;
—— Ein umfangreiches Denkmalsschutzprogramm für ganz
Deutschland wurde in Gang gesetzt. Dazu gehört auch der
Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses;
—— Sanierungsbeginn bedeutender Bauvorhaben in der Hauptstadt Berlin
wie Museumsinsel, Staatsbibliothek oder Staatsoper;
—— Es erfolgte eine Digitalisierungsoffensive für unser kulturelles Erbe;
—— Die Deutsche Welle wurde grundlegend reformiert;

Über die Einzelinitiativen hinaus war für mich wichtig, die Akzeptanz des Kul-
turstaatsministers im politischen Geschehen zu festigen und zu erhöhen. Bis zu
meiner Amtsübernahme im Jahre 2005 wurde hauptsächlich von CDU/CSU-re-
gierten Ländern die Mitwirkung des Bundes in der Kulturpolitik und gleichzei-
tig auch die des Kulturstaatsministers hinterfragt und angezweifelt. Es bedurfte
vieler Gespräche im eigenen politischen Lager, aber es gelang! Ich lud dann als
Erster alle Kulturministerinnen und -minister der Länder ins Kanzleramt zu of-
fiziellen Gesprächen ein, und damit war klar, dass das Mitspracherecht des Bun-
des im Bereich der Kulturpolitik akzeptiert wurde.
Gegen Ende meiner Amtszeit war es für mich ein schönes Geschenk, dass
das Bundesverfassungsgericht anlässlich einer Verfassungsklage zum Thema
Filmförderung die Mitwirkungsmöglichkeit des Bundes im Bereich der Kultur
ausdrücklich anerkannte.

Wachgeküsst
Lassen Sie mich biografisch einhaken: Sie sind in Elbing geboren,
das ist heute Polen. Wie wichtig war Ihnen diese andere Ebene von
Erinnerungskultur, die sich manchmal an dem Wort »Vertriebene«
festmacht? Es gab und gibt auch immer noch einen politischen Streit
darum – inwiefern war Ihnen eine Förderung auch dieser Erinnerungs­
kultur in Bezug auf die deutschen Vertriebenen wichtig?
Auch das war ein wesentlicher Bestandteil meiner Arbeit. Von der Regierung
Schröder waren die Mittel in dem Bereich »Vertriebene« sukzessive immer wei-
ter reduziert worden, dazu gehörte auch die Förderung kultureller, wissenschaft- 124
licher Einrichtungen und Projekte in Deutschland, wie z. B. das Westpreußische
Landesmuseum in Warendorf oder das Ostpreußische in Lüneburg, die wichtige 125
Kooperationspartner von kulturellen Institutionen im östlichen Europa waren
und sind. Ich habe das korrigiert.
Die Erinnerung an das kulturelle Erbe von Vertriebenen – nicht nur von
Deutschen, sondern in ganz Europa – sollte in Zeiten von Frieden und Freund-
schaft möglich sein. An dieser Stelle nichts zu tun, würde bedeuten, dass man
sich der gemeinsamen europäischen und eigenen Vergangenheit beraubt. Das
war für mich immer ein ganz wichtiger Punkt. Die Stiftung »Flucht, Vertreibung,
Versöhnung« bekommt jetzt am Anhalter Bahnhof in Berlin ein Dokumenta-
tionszentrum, dessen Entstehen ich in vielen Gesprächen mit der damaligen
polnischen Regierung erörtert habe. Dazu war ich mehrmals in Polen und habe
schließlich erreicht, dass für den Stiftungsrat auch polnische Wissenschaftler
hinzugewonnen wurden. Es ist ein ganz praktischer Prozess der Aussöhnung.
Mittlerweile pflegt z. B. das Westpreußische Landesmuseum in Münster einen
hervorragenden Austausch mit polnischen Einrichtungen des ehemaligen West-
preußen – also meine Heimat. Es gab durchaus Zeiten, da war das auch mal ganz
anders.

2009 gab es eine böse Zeitungsschlagzeile: »Bundesbeauftragter für


Propaganda«. Damit waren Sie gemeint. Ihr Haus hatte den Text einer
­Ausstellung im Deutschen Historischen Museum zum Umgang mit Flücht-
lingen umgeschrieben. Der Text enthielt ursprünglich die These, dass
Europa sich gegenüber Flüchtlingen abschotten wolle. Das hat Ihr Haus
abändern lassen. Der Vorwurf »Zensur« wurde erhoben. Waren Sie daran
persönlich beteiligt gewesen?
Was heißt persönlich, ich bin natürlich dazu befragt worden. Ein Mitarbeiter, der
dafür verantwortlich war, zeigte mir einen Text, der bezogen auf die tatsächliche
Position der Bundesregierung nicht haltbar war. Da stellte sich die Frage: Soll
man das bei einer Ausstellung, die man selbst finanziert, tatsächlich so laufen
lassen? In diesem Falle hatte der Mitarbeiter eine Korrektur empfohlen. Wenn
wir als deutsche Bundesregierung so etwas fördern, muss es schließlich mit den
Fakten übereinstimmen. Das heißt, ich hatte die Korrektur nicht veranlasst, aber
ich wusste davon.

2. — Rückblick: Die Kulturstaatsminister im Gespräch


2013, nach Ihren acht Jahren Amtszeit, gab es ein
allgemeines Lob mit dem Tenor: »Neumann hat unauffällig
im Stillen effektiv gewirkt.« Richtige Beschreibung?
Das ist mir sympathisch, so sollte es an sich auch sein. Ich habe mich im Wesent-
lichen mehr auf meine Aufgaben konzentriert als auf Werbung. Wenn aber ein sol-
ches Lob von der Presse und aus der Öffentlichkeit kommt, beweist es ja, so unauf-
fällig kann es wohl doch nicht gewesen sein. Dieses ist mir schon wichtig, zumal
mein Start in den ersten 100 Tagen nach Amtsbeginn eher als »holprig« bezeich-
net wurde. Damals war ich dann doch erst einmal enttäuscht. Aber mein Ehrgeiz
war es, das zu ändern. Als es zum Schluss der ersten Amtszeit um die Wiederbe-
nennung ging – damals war ich immerhin schon 67 Jahre alt – meinte die Bun-
deskanzlerin bei der Vorstellung des Kabinetts auf dem kleinen CDU-Parteitag:
»Wenn ich sogar von fast allen linken Kulturverbänden gebeten werde, ich möge
auf jeden Fall Bernd Neumann im Amt lassen – ja, was soll man dann sagen?«

Woran lag das? Warum waren die auf einmal


alle Ihre Kombattanten?
Weil sie gesehen hatten, dass ich dieses Amt nicht parteipolitisch führte. Ich
habe mich, einschließlich der Filmschaffenden, nachhaltig und häufig genug er-
folgreich um die Anliegen aller Kulturschaffenden gekümmert. Mir sagte man
immer nach, ich sei ein Kümmerer gewesen. Selbst Gregor Gysi war einmal bei
mir im Kanzleramt und fragte: »Was machen Sie eigentlich mit den Linken? Die
schwärmen ja nachgerade alle für Sie.« – »Ganz einfach, ich kümmere mich auch
um deren Anliegen!« Das hat etwas mit meiner prinzipiellen Amtsauffassung zu
tun. Ich habe auch meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern immer wieder zu
verstehen gegeben, dass wir alle – also jeder im BKM – vom Steuerzahler bezahlt
werden. Wir haben deshalb auch eine besondere Servicefunktion, und ich erwar-
te schon, dass wir uns als Dienstleister auffassen. Ich habe mich hierbei bewusst
an die Spitze gestellt und dafür gesorgt, dass jedes Anliegen, das man an uns he-
rantrug, mindestens aufgegriffen wurde. Ich persönlich habe jeden Brief gele-
sen und auch beantwortet. Die Menschen merken schon, wenn man sich für ihr
Anliegen interessiert, dann spielen eben Politik und Ideologie keine Rolle mehr.
Ein schönes Beispiel – als Senta Berger Präsidentin der Filmakademie war, wur-
de sie gefragt, warum sie eine Wählerinitiative für den SPD-Kanzlerkandidaten
Steinmeier unterstütze, wo sie doch immer voll des Lobes für Bernd Neumann
sei. – »Ja, und?«, sagte sie, »das ist doch ganz einfach: Der eine soll ja auch Kul-
turstaatsminister bleiben und der andere Kanzler werden.«

Wachgeküsst
Zum Abschluss: Soll BKM im Kanzleramt bleiben oder wäre ein
eigenes Ministerium mit Stimmrecht im Kabinett, mit der Möglichkeit,
eigenständig Gesetzesvorhaben zu initiieren, besser?
Erstmal zur Korrektur, wir haben sehr wohl auch eigene Gesetze initiiert. Ich er-
innere an das Filmförderungsgesetz, das Bundesarchivgesetz und auch an das
Kulturgüterschutzgesetz, das meiner Nachfolgerin Monika Grütters leider auch
eine Menge Ärger einbrachte. Im Übrigen – ich war schließlich acht Jahre lang
im Bundeskabinett – mir ist nie aufgefallen, dass ich dort kein Stimmrecht hat-
te, abgestimmt wird dort sowieso nie. Die Vorabstimmung erfolgt vorher unter 126
den Staatssekretären.
127
Es braucht also kein eigenständiges Ministerium, um die aktuellen
und gegenwärtigen Herausforderungen zu bewältigen?
Für die Herausforderungen der klassischen Kulturpolitik braucht man kein eige-
nes Ministerium. Natürlich könnte man sich ein solches vorstellen, wenn weite-
re Bereiche hinzukämen. Ich denke hierbei an die auswärtige Kulturpolitik, den
Bereich Digitales, aber auch an die kulturelle Integration. Die Zusammenfassung
aller dieser Bereiche in einem Ministerium gäbe schon Sinn. Mittlerweile befas-
sen sich vier Staatsminister im weitesten Sinne mit Kultur. Die BKM verantwor-
tet ja die Bereiche Kultur und Medien; wenn schon der Bereich Digitales einem
Ressort zugeordnet werden sollte, hätte ich ihn eher dem Mediensektor im BKM
zugeordnet. Dass Integration am ehesten über die Kultur möglich ist, liegt auf
der Hand. Es wird zwangsläufig zu Überschneidungen kommen. Ich gehe davon
aus, dass sich Monika Grütters nicht die Butter vom Brot nehmen lässt, da es im
BKM ausgezeichnete Fachleute zu allen Bereichen gibt.
Mein Fazit ist, nach 20 Jahren ist BKM im Grunde ein Ressort wie jedes an-
dere, das mittlerweile eine beträchtliche Wertschätzung über alle Parteigrenzen
hinweg genießt. Gerhard Schröder hatte das Amt 1998 eingeführt, ich konnte Ed-
mund Stoiber als Kanzlerkandidaten dann vier Jahre später davon überzeugen,
dass es für die Kultur in Deutschland unverzichtbar ist. Das war meine Überzeu-
gung damals – und das ist sie auch heute noch.

2. — Rückblick: Die Kulturstaatsminister im Gespräch


Monika Grütters
Kredit erarbeiten
und Taten
folgen ­lassen
Frau Grütters, über Bauern, die als Pioniere Land urbar machen, heißt
es: »Die Ersten den Tod, die Zweiten die Not, die Dritten das Brot«.
Gilt diese Abstufung der Landkultivierer eigentlich auch für Kulturstaats-
minister? Sie sind ja sozusagen dritte Generation. Profitieren Sie von
Voraussetzungen, die Ihre Vorgänger geschaffen haben?
Das tue ich ganz bestimmt. Vor allen Dingen, was die über die Jahre gewonnene
hohe Akzeptanz dieses Amtes angeht. Aber in der konkreten Sachpolitik haben
alle vier geerntet, auch diejenigen vor mir.

Im Bundeshaushalt 2018 bekommen Sie knapp 1,8 Milliarden Euro.


Fast 40 Prozent mehr als zu Beginn Ihrer Amtszeit. Woran liegt das?
Allein an der Kulturstaatsministerin, die gut verhandelt hat?
Auch an einer Kulturstaatsministerin, die gut verhandelt und mit stetig erhöhten
Kulturetats offensichtlich gemeinsam mit ihrem Haus überzeugende Arbeit ge-
leistet hat, und auch an Finanzministern, die kulturaffin waren oder sind. Das gilt
hoffentlich und auf den ersten Blick für Olaf Scholz, mit dem ich jetzt nur kurze
Erfahrung habe, aber für Wolfgang Schäuble galt das allemal. Und ganz sicher ist
es auch ein Erfolg der Bundeskanzlerin, die selber die Kultur für so wesentlich für
das Selbstverständnis Deutschlands hält, dass sie Wert darauf gelegt hat, die Kul-
tur im Kanzleramt zu behalten. Nicht zu vergessen ist auch das Parlament, das
in den letzten Jahren eine ganz große Offenheit für die Belange der Kultur ent-
wickelt hat. Das zusammen und alle miteinander machen den Erfolg aus.

Ihnen persönlich mangelt es ja nicht an Selbstbewusstsein. Als klar


war, dass Sie auch in dieser Legislaturperiode Kulturstaatsministerin
bleiben würden, kündigten Sie strukturelle Reformen an mit dem
Hinweis: »Das kann man nur machen, wenn man sich in der ersten
Amtszeit Kredit erworben hat.«

Wachgeküsst
Ehe wir jetzt über die strukturellen Reformvorhaben sprechen –
wodurch vor allem haben Sie sich seit 2013 Kredit erworben? Und bei
wem ist die Kreditwürdigkeit gestiegen? Vor allem beim Parlament?
Im Deutschen Bundestag hat sehr geholfen, dass ich selbst langjährige Parlamen-
tarierin bin. Man hatte am Anfang ja etwas Sorge, das Thema Kultur könnte par-
teipolitisch instrumentalisiert werden. Und man fand prima, dass mit ­Michael
Naumann, Julian Nida-Rümelin und Christina Weiss hier keine Parteipolitiker
oder Bundestagsabgeordnete gelandet waren. Aber schon Bernd Neumann hat
diese Zweifel klar zerstreuen können. Ich persönlich empfinde es als großen Vor- 128
teil, den politischen Prozess und Betrieb so gut zu kennen, wie das bei langjähri-
gen Abgeordneten eben der Fall ist. Als »Kollegin« hat man im Kultur- oder Haus- 129
haltsausschuss oder im Bundestagsplenum als »Bühne« einen anderen Respekt
und eine gewisse kollegiale Vertrautheit. Das ist kein Nachteil für die Kultur, die
aber selbst staats- und parteifern organisiert werden muss. Für mich ist elemen-
tar, die Autonomie der Kultur zu respektieren und sich aus dem operativen Ge-
schäft der vom Bund getragenen Kultureinrichtungen tunlichst herauszuhalten.
Ich denke und hoffe, dass ich mir im Parlament und in den Augen der Kulturwelt
dadurch einen Kredit erarbeitet habe, nicht zuletzt in den großen Kulturinstitu-
tionen, die ich als Aufsichtsrats- oder Stiftungsratsvorsitzende zu betreuen habe.
Man lernt sich durch diese Nähe eben gut kennen. Der Präsident der Stiftung
Preußischer Kulturbesitz Hermann Parzinger und ich vertrauen einander und
denken deshalb, dass wir die Richtigen sind, um eine so große Einrichtung auf den
Prüfstand zu stellen. Aber auch bei der Kulturszene muss man sich »Kredit erar-
beiten«, weil sie aus ihrem genuinen Selbstverständnis heraus latent kritisch ge-
genüber dem Politikbetrieb ist. Ich sehe mich als oberste ›Lobbyistin‹ dieses Kul-
turbetriebs. Wir sichern die Freiheit der Kunst und des Kulturbetriebs durch ent-
sprechende Fördermittel oder adäquate Rahmenbedingungen – die Nähe zuein-
ander, also zur Politik, muss kein Widerspruch sein. Kredit erarbeiten meint also
auch: Beweisen, dass es nicht nur Sprüche sind, sondern Taten folgen, dass die
Kunst- und Kulturwelt uns vertrauen kann, auch wenn man sich manchmal als auf
zwei verschiedenen Seiten einer Sache stehende Akteure betrachtet.

Sie haben als Parallele zu Bernd Neumann benannt, dass Sie beide
erfahrene Berufspolitiker sind. Beobachter bezeichnen Sie eigentlich als
das personalisierte Kontrastprogramm zu Neumann. Der habe pragma-
tisch konsensorientiert eher im Hintergrund gearbeitet. Sie dagegen
seien gern nach vorn auf die Bühne marschiert, hätten auch polarisiert.
Wie viel Prozent dieser Unterschiedlichkeit unterschreiben Sie?
Jede und jeder hat seinen eigenen politischen Stil. Ich kann nur für mich spre-
chen. Meine Aufgabe als Kulturstaatsministerin sehe ich darin, die Einrichtun-
gen und die vielen Projekte, die wir bundesseitig betreuen, gut auszustatten, aber
zusätzlich auch Debatten anzustoßen. Der Ehrgeiz der Kultur, auch der Kultur-
politik, muss sein, die Debattenkultur als wesentliches Daseinselement der De-

2. — Rückblick: Die Kulturstaatsminister im Gespräch


mokratie zu stimulieren. Und es ist wichtig, Haltung zu zeigen, auch und gerade
dann, wenn es unbequem wird. Davor habe ich keine Angst, das macht mir auch
Spaß. Eine Berufs-Provokateurin bin ich aber deshalb noch lange nicht.

Die Verabschiedung des Kulturgutschutzgesetzes gehörte zu den


Schwerpunkten Ihrer ersten Amtszeit. Da haben Sie sich ziemlich heftig
mit dem Kunsthandel angelegt. Am Ende kam ein Gesetz heraus, mit
dem nun offenbar beide Seiten einigermaßen leben können. Rückblickend,
was hätten Sie in dem Prozess besser machen können?
Wir haben das Vorhaben und die ersten Entwürfe für das Gesetz zu spät kommu-
niziert. Es war das erste Gesetz, das ich aus einer Regierungsfunktion verantwor-
tet habe. Ich kannte Gesetzgebungsverfahren nur aus der Sicht des Parlaments,
wo in der Regel schon die sehr gereiften Entwürfe ankommen, bevor dann die
Abgeordneten nochmal Hand anlegen. Aus der Regierung heraus war das halt
anders. Eine viel zu unreife erste Fassung hatte die Runde gemacht. Hinterher
sagten Kollegen, dass das bei erwartungsgemäß kontroversen Themen eigent-
lich immer passiert. Da war ich einfach zu unerfahren.
Im Verlauf dieser Debatte und aus interessierten Kunsthandels-Kreisen be-
feuert, wurde dann zudem eine wichtige Zielgruppe verunsichert, die Samm-
ler. Diese sind objektiv mit dem neuen Gesetz besser dran als mit den Regelun-
gen, die es vorher ja längst gab. Aber es gelingt uns angesichts der schwierigen
Materie leider nur allmählich, dieser für uns ja auch als Mitbürger so wichtigen
Gruppe der Sammler, ihre Sorgen zu nehmen. Und noch etwas hat die Debatte
um das Gesetz gezeigt: Eine gute berufsständische Vertretung ist auch im Be-
reich der Kulturwirtschaft sehr wichtig für solche Gesetzgebungsvorhaben. Mit
ihrem schrillen und mitunter auch grob unsachlichen Protest haben sich viele
Händler und Galeristen nach meiner Überzeugung keinen Gefallen getan. Wir
haben es uns alle miteinander nicht leicht gemacht.

Beim Kulturgutschutzgesetz spielt auch die Frage von


Provenienz eine wichtige Rolle. Raubkunst ist dabei ein ganz
besonderer Aspekt. Zu Beginn Ihrer ersten Amtszeit tauchte
die Sammlung Gurlitt in der Berichterstattung auf …
Einen Monat vor meiner Vereidigung gab es einen reißerischen Artikel.

1.500 Kunstwerke, anfangs komplett unter Raubkunstverdacht …


Aber nur in den Medien.

Die Medien haben die Zahlen nicht erfunden.


… aber als sensationeller Nazi-Fund aufbauschend verbreitet. Die Erwartung der
Öffentlichkeit war dadurch natürlich exorbitant.

Wachgeküsst
Inzwischen hat sich der konkrete Raubkunstverdacht, wenn ich die
Zahlen richtig kenne, auf etwa 50 Arbeiten konzentriert. Angesichts
dieser reduzierten Dimension: Nehmen Sie etwas an von der Kritik, dass
Sie gegenüber Herrn Gurlitt unverhältnismäßig gehandelt hätten?
Die Kritik ist nach meiner Auffassung nicht berechtigt. Sie wird von einer Seite
erhoben, die es besser wissen muss. Die BKM ist weder für Gurlitts Betreuungs-
verfahren verantwortlich gewesen noch für die Vorgänge am Anfang. Das waren
das Land Bayern und die dortige Staatsanwaltschaft. Die BKM ist seinerzeit ins
Spiel gekommen, als die Staatsanwaltschaft im Wege der Amtshilfe um Benen- 130
nung von Experten zur Provenienzklärung bat. Man wusste, der Name Gurlitt
taucht im Zusammenhang mit Naziraubkunst auf. Also gab es einen Generalver- 131
dacht. Unser Haus hat nach der »Medienenthüllung« im November 2013, auch das
noch vor meinem Amtsantritt, gemeinsam mit dem Land Bayern eine Taskforce
eingerichtet. Das finde ich nach wie vor angemessen und richtig. Es galt, die fal-
schen öffentlichen Erwartungen wieder abzuschichten, ohne sich als Staat dem
Verdacht auszusetzen, man verharmlose Naziverbrechen. Das war der Spagat, das
war das Dilemma einer angemessenen Reaktion. BKM musste sich vor allem um
die Kunstwerke und um ein angemessenes Verhalten gegenüber möglichen, vor
allem jüdischen, ehemaligen Besitzern kümmern.
Hinzu kommt bis heute ein sehr hoher internationaler Druck. Ronald ­Lauder
als Chef des Jüdischen Weltkongresses, die amerikanische Regierung, Israel, vie-
le Nazi-Opfer und ihre Nachkommen erwarten zurecht große Transparenz bei
unserem Umgang mit dem Fall Gurlitt. Ihnen allen geht es nicht allein um die-
sen »Schatz«, sie sehen den Fall pars pro toto für den Umgang Deutschlands mit
ihren Interessen. Auch als Kunsthistorikerin mit einem beruflich gewachsenen
Blick auf die von Nazis so verhöhnte »entartete Kunst« und Raubkunst habe ich
alles unternommen, um auch auf der internationalen Bühne Vertrauen zurück-
zugewinnen. Die menschliche Komponente, das Schicksal Cornelius Gurlitts – ist
in der Tat nach wie vor bedauernswert.

Lassen Sie uns über die anstehenden Aufgaben reden. Da gibt es ein
paar »Großbaustellen«, allen voran das Humboldt Forum. Die Kritik
lautet: nach wie vor sei unklar, welche Konzeption es eigentlich haben
soll. Es gab Schwierigkeiten mit der Gründungsintendanz. Welches
sind Ihre Vorstellungen für das Humboldt Forum? 2019 ist die Eröffnung
geplant.
Ich hatte bei meinem Amtsantritt 2013 ein in vielen Bereichen noch unausge-
reiftes Projekt geerbt, das aber baulich schon sehr weit gediehen war. Der Ge-
burtsfehler, dass man sich erst für ein Gebäude entschieden hatte und danach
für dessen Inhalt, ist ja nicht mehr zu heilen. Diese Ungleichzeitigkeit zieht sich
wie ein roter Problemfaden durch das großartige Projekt. Ich meine, wir haben
das Beste daraus gemacht. Es gab keine Probleme mit der von mir eingesetzten
Gründungsintendanz, die war ein echter Coup.

2. — Rückblick: Die Kulturstaatsminister im Gespräch


Wir haben mit Neil MacGregor einen, wenn nicht »den« internationalen Muse-
umsexperten für die Gründungsjahre des Humboldt Forums gewonnen, jeman-
den, der von außen auf die Kulturgeschichte der Menschheit und die Samm-
lungsbestände in Deutschland schaut, der Weltklasseformat hat im Umgang ge-
rade auch mit nicht europäischen Objekten. Er hat das wichtigste Kulturvorha-
ben Deutschlands zum entscheidenden Zeitpunkt vorangebracht und nobilitiert.
Die Gründungsintendanz mit dem Präsidenten der SPK, Hermann Parzinger, und
als Drittem Horst Bredekamp von der Humboldt-Universität, hat eine erstklassi-
ge Arbeit geleistet. Das Land Berlin dagegen hat sich im laufenden Prozess mehr-
fach umentschieden. Sie sehen: auch die anderen Akteure haben es uns und der
Gründungsintendanz nicht gerade leicht gemacht. Dafür, denke ich, haben wir
das gut gemanagt und sind heute entscheidende Schritte weiter. Wir haben die
Gründungsphase jetzt in eine reguläre Arbeitsphase überführt und einen Gene-
ralintendanten gewählt. All diese Dinge, die ja eher politisch begründet sind, ha-
ben Rückwirkungen auf dieses wichtige Projekt. Angesichts dieser Bedingungen
haben alle Beteiligten ausgezeichnet gearbeitet, auch das nötige Geld haben wir
bekommen. Und noch einmal: Das Humboldt Forum wird eine Kultureinrich-
tung neuen Typs, man kann es eben nicht mit herkömmlichen Museen verglei-
chen. Es gibt hier für die Vermittlung kultureller und gesamtgesellschaftlicher
Zusammenhänge ein ungeheures Potenzial. In den 1970er Jahren war das Cen-
tre Pompidou so ein Schrittmacher wie es jetzt das Humboldt Forum ist. Des-
halb schaut die ganze Welt darauf, nicht nur die Museumsexperten. Dass wir die-
ses Experiment, diese Avantgarde wagen mit außereuropäischen Sammlungsbe-
ständen, zeigt einmal mehr, dass Deutschland nicht in reiner Selbstbezüglichkeit
verharrt, im Gegenteil! Mit dem Humboldt Forum können wir uns als Partner in
der Welt empfehlen.

Große Baustelle ist auch Stiftung Preußischer Kulturbesitz.


Sie wollen eine Reform. Warum und in welche Richtung?
Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz ist eine der größten Kultureinrichtungen
Deutschlands. Gegründet vor 60 Jahren, als Deutschland sich als föderaler Staat
noch finden musste. Mit der Nachkriegsordnung wurde klar, dass das Sitzland
Berlin mit damals gut zwei Millionen Einwohnern als Stadtstaat schlichtweg
überfordert war mit dem Erbe Preußens und des Deutschen Reiches. Deshalb
hat man, unabhängig von der Hauptstadtfunktion, entschieden: In diesem Land
muss der Bund einen Teil des kulturellen Erbes in seine Obhut nehmen, aus fi-
nanziellen Gründen, aber auch wegen der Bedeutung Berlins für Gesamtdeutsch-
land. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz wurde vor 60 Jahren gegründet als
eine Einrichtung von Bund, dem Sitzland Berlin und allen anderen Bundeslän-
dern – eine gute Konstruktion. Der Finanzierungsanteil und die Beteiligung der
Länder wurden langwierig ausgehandelt. Was als Gründungsgedanke modern
und gut war, sowohl dem neuen Föderalismus Rechnung getragen hat, als auch
der gesamtstaatlichen Bedeutung und der dominierenden Rolle des Bundes ge-

Wachgeküsst
recht wurde, muss aber 60 Jahre später einmal überprüft werden in Hinblick auf
seine Gegenwartstauglichkeit. Denn die Formen der Mitsprache, die eingefro-
renen Länderbeiträge seit 1996, die Gesamtstruktur und die hierarchischen Ge-
gebenheiten, die in so einer großen Organisation nötig sind, entsprechen viel-
leicht nicht mehr heutigen Erwartungen an eine effiziente Unternehmensfüh-
rung einerseits und an die Publikumsorientierung andererseits. Da ich mir nicht
anmaße, es besser zu wissen und eigene Vorschläge zu machen, war es mir wich-
tig, professionelle Berater mit einzubeziehen. Das hätten wir mit kommerziellen
tun können, haben uns aber auch in enger Abstimmung mit dem SPK-Präsiden- 132
ten Hermann Parzinger für den Wissenschaftsrat entschieden. Die SPK ist Mit-
glied der Deutschen Forschungsgemeinschaft, somit konnten wir den Wissen- 133
schaftsrat in Anspruch nehmen. Im Mittelpunkt stehen ja nicht nur die klassi-
schen unternehmerischen Managementstrukturen, sondern auch ihre Rolle als
Forschungseinrichtung. Der Wissenschaftsrat hat die Aufgabe angenommen und
will in zwei Jahren fertig sein, damit in der laufenden Legislaturperiode, die bis
2021 andauert, noch erste Konsequenzen aus der Evaluierung skizziert werden
können.

Dritte Großbaustelle: »NG20«. Das Museum für die Kunst des 20. Jahr­
hunderts auf dem Gelände des Kulturforums am Potsdamer Platz.
Sind Sie froh darüber, wie es vorangeht? Nicht alle sind einverstanden
mit dem Siegerentwurf des Architektenwettbewerbs. Kritiker befürch-
ten, der »Herzog & de Meuron«-Bau sprenge einfach die Dimensionen,
zerstöre das Verhältnis der »Solitäre« zueinander.
Architektur ist die öffentlichste aller Künste. Dass sie auch immer die größten
Kontroversen auslöst, liegt in der Natur der Sache. Ich bin, weil ich mir als Jury-
mitglied auch alle anderen Wettbewerbsergebnisse anschauen konnte, sehr froh,
dass wir uns für Herzog & de Meuron entschieden haben. Für mein Votum war
ganz entscheidend, dass dieser Entwurf viel mehr als andere auf die Umgebung
eingegangen ist und sich mit der Verwendung der Ziegelsteine z. B. ausdrück-
lich auf die St.-Matthäus-Kirche des Schinkelschülers August Stüler beruft. Ge-
rade diese Referenz war maßgeblicher Grund für meine Entscheidung. Die zweite
Verbindung zu den Solitären Mies van der Rohes und Scharouns kommt ja auch
durch die Wegeführung in dem Gelände zur Geltung, die sich wie ein Kreuz von
Ost nach West und Nord nach Süd, durch das Haus zieht. Wenn ein Entwurf sich
explizit auf die Umgebung bezieht, dann ist es dieser. Ich habe größtes Vertrau-
en in Herzog & de Meuron, mit dieser im Volksmund schon jetzt sogenannten
»Scheune« einen großartigen Ort für alle zu realisieren.

Jenseits der »klassischen« Kulturthemen hat sich die Frage gesell-


schaft­licher Integration in den letzten zwei, drei Jahren zum gesell-
schaftlichen Megathema entwickelt. Je länger die Debatte dauert,
desto klarer wird: Integration ist ganz wesentlich eine kulturelle Frage.

2. — Rückblick: Die Kulturstaatsminister im Gespräch


Sie sind Schirmherrin der »Initiative Kulturelle Integration«, ein sehr
breites Bündnis von Politik über Zivilgesellschaft bis zu Glaubens-
gemeinschaften. Ist Integration eigentlich eine Art »Game Changer«,
der Kultur auf die Mitte der gesellschaftlichen Hauptbühne bringt?
Ja, das ist eine gute Formulierung. Wir haben unser Kulturkapitel im Koaliti-
onsvertrag nicht ohne Grund anders gestaltet als in bisherigen Verträgen: nicht
eine Liste der zu erledigenden Einzelaufgaben steht da, sondern wir haben uns
die Mühe gemacht, die gesamtgesellschaftliche Rolle der Kultur unter der Über-
schrift »Kulturelle Vielfalt und gesellschaftlicher Zusammenhalt« zu beschreiben.
Die Kultur ist einerseits Ausdruck einer gewachsenen gesellschaftlichen Vielfalt
in Deutschland, andererseits ist sie das Instrument, mit dem Zusammenhalt auch
erlebt und geschaffen werden kann. Da, wo unterschiedliche Begriffe Missver-
ständnisse produzieren und ausgrenzen, kann Kultur gemeinsame Sprache sein,
in vielen Sparten, in der Musik, im Tanz beispielsweise. Kultur lädt zum Perspek-
tivenwechsel ein, sie erweitert unseren Horizont und oft auch die Grenzen unse-
rer Empathie. Gerade über die Künste kann man Inhalte anderen Menschen sinn-
lich näher bringen, was häufig eindrucksvoller ist als nur über den Verstand. Bei-
spiel Film. Der Film »Fuocoammare«, der vor zwei Jahren bei der Berlinale den
Goldenen Bären gewann, ist eines dieser Flüchtlingsdramen, das in Lampedusa
spielt. Die Hauptfigur ist ein Arzt vor Ort, der ankommende Flüchtlinge versorgt.
So erlebt das Publikum im Kinosaal das Flüchtlingsthema mit den Augen der an-
deren Seite – weder dogmatisch und ganz und gar nicht belehrend. Diese vermit-
telnde Qualität, noch dazu mit sinnlichen Elementen in Literatur, im Theater, in
Musik, im Tanz ist die besondere Kraft der Kultur – sie ist das, was die Leistung
der Kultur für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ausmacht. Man muss es nur
wollen. Man muss die Instrumente der Kunst anwendbar machen, man muss die
Mittel für die Kultur zur Verfügung stellen. Auch dafür brauchen wir eine Bun-
desbeauftragte für die Kultur. Während die Kommunen und die Länder an den
Grenzen ihrer Zuständigkeit Halt machen müssen, kann der Bund helfen, das ge-
samte Netz der geistigen Kultur-Tankstellen zu stabilisieren.

Sie sind auch Landesvorsitzende der Berliner CDU. Sie hätten den
ersten Zugriff bei der nächsten Landtagswahl als Spitzenkandidatin.
Beeinflusst das eine Amt das andere? Sie sagen: »Ich brenne für
Berlin« – will sich die Kulturstaatsministerin als Kandidatin für das
Amt der Regierenden Bürgermeisterin 2021 empfehlen?
Ich liebe meine Heimatstadt Münster, eine der schönsten Städte Deutschlands.
Dennoch verbringe ich jetzt schon mehr Lebenszeit in meiner Wahlheimat Ber-
lin, die ich leidenschaftlich verteidige. Münster ist sehr schön, Berlin ist groß-
artig. Ja, »Ich brenne für Berlin.« Richtig ist, dass Landesvorsitzende ein ers-
tes Zugriffsrecht auf relevante Positionen haben. Ob und in welchem Maße ich
persönlich davon Gebrauch machen werde, wird sich frühestens im Jahr 2020
entscheiden.

Wachgeküsst
Denn so, wie es aussieht, finden die Landtags- und die Bundestagswahl beide im
Herbst 2021 statt. Da wäre es schlicht unklug, jetzt schon eine Aussage über die
Spitzenkandidatur zu treffen.

Sie sagen, als Kulturstaatsministerin hätten Sie a) das schönste Amt


und b) den Schreibtisch mit dem schönsten Blick im Kanzleramt.
Wäre das Amt nicht noch schöner, wenn es ein eigenständiges Kultur­
ressort gäbe, auch wenn der Schreibtisch dann vielleicht nicht mehr
den schönsten Blick aus dem Kanzleramt hätte? 134
Sie meinen: vielleicht den zweitschönsten über die Dächer Berlins? Wer weiß?
Wenn man mein Ressort und seine Strukturen heute betrachtet, könnte man eine 135
maximale, eine optimale und eine minimale Entwicklung beschreiben. Die ma-
ximale wäre ein eigenständiges Bundeskulturministerium. Die optimale Veror-
tung, nämlich: Im gesamten Politikgeschehen eine wichtige politische Rolle für
die Identität der Kulturnation Deutschland und ihrer aktuellen Politik zu spie-
len, haben wir heute mit BKM im Bundeskanzleramt. Ich finde, das ist diesem
Kulturressort unter Bundeskanzlerin Angela Merkel wirklich gut bekommen. Das
Minimum ist: man muss der stetig wachsenden Bedeutung dieses Hauses durch
Personal, Rahmenbedingungen und natürlich Finanzen Rechnung tragen. Es ist
ja kein Zufall, dass wir seit der Gründung vor 20 Jahren haushaltsmäßig um fast
das Doppelte angewachsen sind. Aus knapp 150 Mitarbeitern wurden über 300.
Wir verwalten 74 große Institutionen, dazu noch Hunderte dauerhaft geförderte
Projekte. Mit Europa haben wir, was die Rahmenbedingungen angeht, eine evi-
dente Herausforderung zu meistern. Ohne eine für die Kultur auf Bundesebene
Verantwortliche ginge das alles heutzutage nicht mehr.

Spricht für ein eigenes Ministerium.


Man kann das wollen, dann würde man wahrscheinlich nochmal einen anderen
Zuschnitt mit weiteren, heute in anderen Häusern bearbeiteten Themen, suchen.
Ich sehe das aber nicht als entscheidend an. Am wichtigsten ist, diesem Ressort
zuzugestehen, dass die Kultur lange schon keine Milieufrage mehr beantwortet,
sondern eine evidente, fundamentale gesamtgesellschaftliche Bedeutung hat.
Und dass das Selbstverständnis Deutschlands am Beginn des 21. Jahrhunderts
ohne Kultur und ohne eine zentrale Verortung der Kulturpolitik nicht mehr vor-
stellbar wäre. Das ist nicht eine Frage der Organisationsstruktur, sondern eine
Frage der politischen Gewichtung. Wir kommen, das ist ein Vorteil der Anbin-
dung im Kanzleramt, bei jeder Haushalts- und Plenardebatte ganz am Anfang,
bestimmen den Tenor wichtiger politischer Debatten mit. Kultur wird quasi die
Eingangsbotschaft. Unterm Schild der Regierungschefin werden wir auch ent-
sprechend pfleglich, aufmerksam und großzügig behandelt. Denn Kultur ist in
Deutschland mittlerweile zu einem Modus unseres Zusammenlebens geworden.

2. — Rückblick: Die Kulturstaatsminister im Gespräch


3.

Türöffner

Bundes­
kulturpolitik
vor 1998

20 Jahre
neue Kulturpolitik
des Bundes
Wachgeküsst 1998—2018
Gerhart R. Baum
Die sichtbare
Verantwortung des 136

­Bundes ist in Jahr- 137

zehnten gewachsen
20 Jahre Bundeskulturpolitik – 20 erfolgreiche Jahre für die Kultur in unserem
Land. Es war die richtige Entscheidung, ein eigenes Amt mit einem »Bundeskul-
turminister/in« zu schaffen, das direkt dem Kanzleramt zugeordnet ist. Die Bun-
deskulturpolitik erfuhr dadurch im Laufe der Jahre einen höheren Stellenwert
und wurde sichtbarer. Jeder einzelne der bisherigen Amtsträger hat einen unver-
wechselbaren Beitrag dazu geleistet. Und auch der Deutsche Kulturrat hat dar-
an seinen unverzichtbaren Anteil. Seine Impulse, seine fordernde und fördern-
de Funktion und seine Kritik haben zu dieser Entwicklung maßgebend beigetra-
gen. Diese heute sichtbare Verantwortung des Bundes für Kunst und Kultur ist
in Jahrzehnten gewachsen. Aber es gab auch eine Bundeskulturpolitik vor 1998.
Alles begann eigentlich zur Zeit der sozialliberalen Koalition in den 1970er
Jahren. Kultur-und Bildungspolitik war einer der Schwerpunkte des damaligen
Aufbruchs. Wir wollten das Grundgesetz in allen Bereichen zum Leben erwecken,
also auch das Kulturstaatsgebot erfüllen. Die Bundesrepublik sollte sich, wie das
Bundesverfassungsgericht festgestellt hat »im Sinne einer Staatszielbestimmung
auch als Kulturstaat verstehen, […] der dem modernen Staat die Aufgabe stellt,
ein freiheitliches Kunstleben zu erhalten und zu fördern«. Dieser Aufgabe stel-
len sich traditioneller Weise Kommunen und Ländern, aber auch der Bund sollte
sich mehr übergeordneten Fragen im Kulturbereich stellen. Dies durchzusetzen
war generell nicht einfach, es gab Widerstand bei den Bundesländern und gibt
ihn immer wieder – bis heute. Die verfassungsrechtliche Kompetenz der Länder
in einem föderalen Staat für Kultur und Bildung ist unbestritten. Aber ohne den
Bund, der ohnehin originäre die Kultur betreffende Zuständigkeiten hat – etwa
im Arbeits-und Sozialrecht, im Urheberrecht und im Europarecht – ist das verfas-
sungsrechtliche Kulturstaatsgebot nicht zu verwirklichen. Entscheidend ist das
Miteinander aller staatlichen Ebenen. Allerdings muss der Bund darauf achten,

3. — Türöffner — Bundes­kulturpolitik vor 1998


dass seine Förderung dem ganzen Land zugutekommt. Dazu gibt es mitunter be-
rechtigte Kritik. Bis 1998 war die Kultur als Ressort im Bundesinnenministerium
angesiedelt. Zu meiner Zeit – ich war zunächst als Parlamentarischer Staatsse-
kretär und später als Minister von 1972 bis 1982 in der Regierung für dieses Res-
sort zuständig – gab es eine sehr engagierte und personell hervorragend ausge-
stattete Kulturabteilung, an der Spitze Sieghardt von Köckritz, die gemeinsam
mit mir viele Rahmenbedingungen im Kulturbereich verbessern konnte.
Die Verantwortung für die Bundeskulturpolitik hat zunächst der Deutsche
Bundestag. Um die Kulturpolitik in den Bundestag zu bringen haben wir damals
das Instrument der »Großen Anfrage« genutzt. Alle aktuellen Probleme wur-
den in einen Fragenkatalog gebracht. Die Regierung erhielt damit die Gelegen-
heit, ihre kulturpolitische Position darzustellen und im Plenum eine ausführli-
che Diskussion anzuregen. Erst langsam entwickelte sich ein kulturpolitisches
Bewusstsein im Parlament.
Zugleich wuchs das kulturpolitische Bewusstsein in der Gesellschaft. »Kunst
ist kein Luxus« so lautete 1975 das Motto einer privaten Initiative, zu der zahlrei-
che Persönlichkeiten aus allen Bereichen von Kunst und Kultur aufgerufen hat-
ten. Sie wandten sich gegen Tendenzen, Kulturförderung als jederzeit disponib-
le Subvention anzusehen. Um Kulturpolitik in der Gesellschaft zu verankern, wa-
ren diese Partner in der Zivilgesellschaft von großer Bedeutung. Wir ermutigten
die Verbände, sich im Deutschen Kulturrat zusammenzuschließen und sicher-
ten institutionelle Förderung zu.
Jede Gelegenheit wurde genutzt, den Kulturetat aufzustocken. Dass – zum
Beispiel – die Förderfonds in den verschiedenen Bereichen der Kultur entstehen
konnten, ging auf den Widerstand der Alliierten gegen eine von der Regierung
geplante Nationalstiftung in Berlin zurück, für die erhebliche finanzielle Mittel
bereit gestellt wurden. Wir haben die Mittel kurzerhand in diese Fonds umgepolt.
Einer der Schwerpunkte in der Kulturpolitik ist immer wieder die Förde-
rung des einzelnen Künstlers und der sogenannten Freien Szene. 1975 wurde
der von der Bundesregierung in Auftrag gegebene »Künstlerbericht« veröffent-
licht. Er hat der beruflichen und sozialen Situation der Künstler eine empirische
Grundlage gegeben und war auch eine Grundlage für die Schaffung der Künst-
lersozialversicherung.
Hier nur einige Punkte im Rückblick. Zusammenfassend sei gesagt: seit den
1970er Jahren gab es viele Bemühungen, durch Verbesserung der Rahmenbedin-
gen in zahlreichen Rechtsgebieten – vom Steuer- bis zum Arbeitsrecht – neue
berufliche Chancen zu eröffnen.
Mein Engagement im Bereich der Kultur war mir immer ein persönliches
Anliegen – bis heute. Immer wieder muss die Kunst verteidigt werden, oft gegen
eine Mehrheit. Ohne die Kunst und die Kräfte, die sie entwickelt, würde eine Ge-
sellschaft verdorren. »Kunst ist Maßstab für Demokratiebewusstsein« sagt Hel-
mut Lachenmann. Sie ist »die einzige erkennbare Form der Freiheit auf dieser
Erde« sagte Heinrich Böll.

Wachgeküsst
Wolfgang Thierse
BKM als leicht ver­
spätete Folge der 138

Wiedervereinigung 139

Als Gerhard Schröder im Jahr 1998 das Amt des Staatsministers für Kultur schuf
und Michael Naumann in dieses Amt berief, war das eine (leicht verspätete) Fol-
ge der deutschen Wiedervereinigung. Seit 20 Jahren also gibt es erst Bundes-
kulturpolitik, deutlich und wirksam, weil institutionalisiert und personifiziert!
Bis zu dem glücklichsten Ereignis der deutschen Geschichte des 20. Jahr-
hunderts führte Kulturpolitik des Bundes ein Schattendasein im großen Bauch
des Innenministeriums, vorsichtig und defensiv agierend, immer angefochten
von den auf ihre Kulturhoheit bedachten Bundesländern.
Im Art. 35 des Einigungsvertrages heißt es: »»n den Jahren der Teilung wa-
ren Kunst und Kultur – trotz unterschiedlicher Entwicklungen der beiden Staa-
ten in Deutschland – eine Grundlage der fortbestehenden Einheit der deutschen
Nation«. Der Einigungsvertrag begreift ganz selbstverständlich und zugleich aus-
drücklich Deutschland als Kulturnation und macht deren Zukunft zu einer ge-
meinsamen politischen Aufgabe. Das war eine faktische und rechtliche Aufwer-
tung von Kulturpolitik, war die Legitimation von gesamtstaatlicher, also von
Bundes-Kulturpolitik. Dem Einigungsvertrag verdanken wir BKM, Kulturaus-
schuss des Bundestages, Bundeskulturstiftung und viele Bundesaktivitäten. All
dies ist inzwischen (erstaunlicherweise) ganz selbstverständlich geworden und –
auch von den Bundesländern – akzeptiert. Die deutsche Vereinigung (und der Ei-
nigungsvertrag) hat also die Substanz deutscher Kulturpolitik positiv verändert:
Kultur ist ein lebendiger Beitrag, ein unersetzliches Fundament für Nation-Bil-
dung, für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, für gelingendes gesellschaftli-
ches Zusammenleben.
Der unmittelbare Auftrag aus dem Einigungsvertrag war die Sicherung der
»kulturellen Substanz« der ostdeutschen Bundesländer. Und wirklich waren ja
Erhaltung, Sanierung, Modernisierung der kulturellen Infrastruktur (vor allem
des baulichen Erbes) von besonderer Dringlichkeit. Dabei ist wahrlich erstaun-
liches geleistet worden – durch eine ganze Folge von Programmen: vom Subs-
tanzerhaltungsprogramm Kultur, über das Leuchtturmprogramm, die Förderung

3. — Türöffner — Bundes­kulturpolitik vor 1998


der Hauptstadtkultur, das Denkmalschutzprogramm, das Sonderprogramm zur
Förderung für nationale Kultureinrichtungen in Ostdeutschland bis zum Ge-
denkstättenförderkonzept und den Aktivitäten der Bundeskulturstiftung in Ost-
deutschland.
Die Erinnerung an die Vor-Geschichte des BKM verdeutlicht: Die Verpflich-
tung auf die Kulturnation ist ein bleibender Auftrag für Bundeskulturpolitik! Das
ist nicht dadurch erledigt, dass die Vereinigungsfolgen, auch die Vereinigungs-
schmerzen inzwischen überlagert sind von ziemlich anderen Konflikten und He-
rausforderungen. Die Gegenwart ist bestimmt von den Problemen und Wirkun-
gen der Globalisierung, der Flüchtlingsbewegungen, der digitalen Transforma-
tion, der weltweiten, auch gewaltsamen Konflikte und von der zunehmenden
sozialen und kulturellen Pluralität und Heterogenität unserer Gesellschaft. Wir
erleben, dass Globalisierung als Prozess der Entgrenzung und Beschleunigung
ökonomischer, technisch-wissenschaftlicher, kommunikativer Entwicklungen
nicht nur eine – wunderbare – Explosion der Präsenz kultureller Vielfalt, kul-
turellen Reichtums ist. Sie stellt zugleich vieles, vielleicht allzu vieles infrage.
Das gilt für die Fiktion homogener Nationalkulturen und damit für den vertrau-
ten Herder‘schen Kulturbegriff. Das gilt für all das, was von vielen Menschen als
selbstverständliche vertraute Lebenswelt, als Heimat empfunden wird. Die Glo-
balisierung ist eben auch und vor allem ein vielfältiges kulturelles Konfliktge-
schehen, ein radikaler kultureller Transformationsprozess. Das Fremde und die
Fremden kommen näher, sind nahe gekommen und erzeugen bei nicht wenigen
Menschen Verunsicherungen und Entheimatungsbefürchtungen. Der politische
Raum, also unsere Demokratie, ist nicht mehr nur und vor allem durch (sozia-
le und ökonomische) Interessenkonflikte geprägt, sondern mehr denn je durch
Wert- und Identitäts-Konflikte. Wie wir mit diesen Konflikten umgehen, das ent-
scheidet über die Zukunft unserer Demokratie, die doch die politische Lebens-
form der Freiheit ist. Sie erscheint weniger stabil und zukunftsgesichert, als es
nach ihrem Siegeszug im »Jahr der Wunder« 1989/90 erschien.
Die Verteidigung der offenen Gesellschaft, die Sicherung friedlichen Zusam-
menlebens einer pluralistischer, heterogener gewordenen und werdenden Gesell-
schaft, die Integration so vieler zu uns gekommener Menschen mit unterschied-
lichen kulturellen und religiösen Prägungen – die Bewältigung dieser Aufgaben
ist eine ganz wesentlich kulturelle Aufgabe und damit eine kulturpolitische He-
rausforderung. Ja, es ist die kulturpolitische Herausforderung schlechthin!
In Zeiten heftiger, nicht nur wirtschaftlicher, wissenschaftlich-technischer
und sozialer, sondern auch ethnischer und kulturell-weltanschaulicher Umbrü-
che wird das individuelle und kollektive Bedürfnis nach Vergewisserung und Ver-
ständigung, nach Orientierung und Verwurzelung, nach Identität besonders groß.
Eine kulturelle Herausforderung.
Je vielfältiger und widersprüchlicher eine Gesellschaft ist und wird, umso
mehr muss sie sich – immer wieder neu – des Gemeinsamen vergewissern. Es
geht dabei um mehr als den notwendigen und sympathischen Verfassungspatri-

Wachgeküsst
otismus, sondern darüber hinaus um das Fundament gemeinsam geteilter Wer-
te und geschichtlicher Erinnerungen, um Verständigung über Herkunft und Zu-
kunft, um Erbschaften und Utopien. Eine kulturelle Herausforderung.
Wenn und weil die Globalisierung unübersehbar mit Enttraditionalisierungs-
und Nivellierungs-Tendenzen verbunden ist, ist danach zu fragen: Wie vertei-
digt man kulturelle Vielfalt? Wie verteidigt man das jeweils Eigene? Welche kul-
turellen Traditionen dürfen und sollen wir pflegen, für welches Erbe sollen und
dürfen wir Verantwortung übernehmen in einem pluralistischen, migrantischen
Land? Und wie verbinden wir das mit selbstbewusster Offenheit für das Neue, für 140
das (bisher) Fremde? Alles kulturelle Herausforderungen.
Pluralismus ist keine Idylle. Kultureller Pluralismus schon gar nicht. Es wird 141
nicht ohne Konflikte, ohne Streit gehen. Kulturpolitik hat diesen Streit gleicher-
maßen zu ermöglichen wie zu mäßigen (also im Wortsinn: zu moderieren). Da-
bei ist der Kulturalisierung (wie auch der Ethnisierung oder der religiösen Über-
höhung) sozialer und politischer Gegensätze zu widersprechen. Trotzdem müs-
sen kulturelle Differenzen das Recht haben, zur Geltung zu kommen. Dabei ist
ebenso auf die Unterscheidung und den Zusammenhang von kultureller Selbst-
behauptung (sowohl der Mehrheit wie von Minderheiten) zu achten, wie auf die
fundamentalistische Politisierung kultureller Identität. – Kultureller Rassismus
ist eine gefährliche Entwicklung mitten in der deutschen Gesellschaft, von rechts
außen geradezu systematisch instrumentiert und verbreitet. – Das Konzept »In-
terkultur«, gewissermaßen als eine Art neuer kultureller Substantiierung, scheint
mir nicht die angemessene Reaktion. Vielmehr geht es um den – durchaus auch
streitigen – Dialog (nicht Kampf) der Kulturen als Verständigungsprozess zwi-
schen prinzipiell Gleichen, aber Verschiedenen – denn Dialog setzt verschiede-
ne Identitäten voraus. Das verlangt kulturelle Bildung moderner Art, nämlich die
Ausbildung kultureller Intelligenz im Sinne interkultureller Kompetenz, also die
Stärkung der Individuen und ihrer Fähigkeit zum Verständnis und Nachvollzug
von Denkmustern, Narrativen, kulturellen Prägungen der Anderen, der (bisher)
Fremden. Aber mit Hölderlin gilt: »Das Eigene muss so gut gelernt sein wie das
Fremde«. Also große kulturpolitische Herausforderungen.
Für deren Einlösung die konzeptionellen Ideen zu entwickeln, das notwen-
dige öffentliche Bewusstsein zu schaffen, die institutionellen und finanziellen
Bedingungen, die rechtlichen Rahmensetzungen und die Vereinbarungen zwi-
schen Politik und Kulturschaffenden und Bürgergesellschaft – all das ist Aufgabe
von Kulturpolitik der Gegenwart für die Zukunft. Im Berliner Humboldt Forum,
diesem größten kulturpolitischen Projekt des vereinigten Landes, ist dies alles
exemplarisch gebündelt. Dessen Gelingen ist die Bewährungsprobe der neuen
Kulturpolitik – 20 Jahre danach.

3. — Türöffner — Bundes­kulturpolitik vor 1998


Hans-Joachim Otto
Kultur von allen!
Er war nie Minister, nie Mitglied des Bundestages, und doch hat er die »neue Kul-
turpolitik« in Deutschland beeinflusst wie kaum ein anderer. Gemeint ist Hilmar
Hoffmann, einer der wirkmächtigsten Kulturpolitiker unseres Landes, der im Juni
dieses Jahres die irdische Bühne leider verlassen hat. Sein prägnantes Lebens-
motto »Kultur für alle« bleibt uns Kulturpolitikern ein Vermächtnis – über alle
Parteigrenzen hinweg.
»Die Kultur der Wenigen zur Kultur der Vielen zu potenzieren« (Hilmar Hoff-
mann) ist seit langem anerkannter Programmsatz der »neuen Kulturpolitik« des
Bundes. Die aktuelle Internetseite der Beauftragten der Bundesregierung für Kul-
tur und Medien hat sogar eine eigene Rubrik unter der Überschrift »Kultur für
alle« mit dem Bekenntnis: »Die Teilhabe möglichst vieler Menschen an Kunst
und Kultur ist ein grundlegender Baustein für den gesellschaftlichen Zusam-
menhalt in Deutschland und ein Integrationsmotor einer Einwanderungsgesell-
schaft.« Auch für den Deutschen Kulturrat ist die Stärkung des Bürgerrechts auf
kulturelle Teilhabe seit jeher ein zentraler Programmsatz. Soweit die große kul-
turpolitische Übereinstimmung, doch wie sieht die gesellschaftliche Realität aus?
Oliver Scheytt und Norbert Sievers haben 2010 in einem Beitrag zum 85. Ge-
burtstag von Hilmar Hoffmann eine ernüchternde Bilanz gezogen. Trotz aller An-
strengungen für eine Stärkung der kulturellen Bildung würden die öffentlich fi-
nanzierten Kulturangebote weiterhin von gut der Hälfte der Bevölkerung nie ge-
nutzt. Aktive Kulturnutzer seien lediglich fünf bis zehn Prozent aller Bürger. Die
»kulturelle Spaltung« zwischen Nutzern und Nicht-Nutzern kultureller Einrich-
tungen habe sogar zugenommen. Aufhorchen lässt auch die Erkenntnis der bei-
den Autoren, wonach die Trennungslinie hierfür weniger von Bildungsgrad und
Sozialstatus bestimmt werde, viel stärker von der familiären Sozialisation jedes
Einzelnen. Bedeutet dieser empirische Befund, dass wir uns vom gemeinsamen
Ziel »Kultur für alle« verabschieden müssen? Mitnichten! Wenn die Beschreibung
»alternativlos« jemals zutraf, dann für Hilmar Hoffmanns Mantra. Würden wir
daran scheitern, breitere Bevölkerungsschichten an Kunst und Kultur heranzu-
führen, verlören die Kulturinstitutionen auf Dauer nicht nur an Besuchern, viel-
mehr die Spitzenkultur und ihre finanzielle Förderung durch die öffentliche Hand
zwangsläufig auch an Akzeptanz. Wie kann es uns gelingen, dies zu verhindern?
Der Befund, dass der Zugang zur Kunst nicht so sehr von (formalen) Bil-
dungsabschlüssen, viel stärker von familiären Prägungen abhängt, deutet darauf
hin, dass weitere (kulturelle) Bildungsangebote zwar eine notwendige, keines-

Wachgeküsst
wegs aber eine hinreichende Bedingung für eine breitere kulturelle Teilhabe ist.
»Teilhabe« ist ohnehin mehr als bloßer Konsum, beschränkt sich nicht auf passi-
ves Entgegennehmen, sondern setzt aktives Tun voraus. Wer sich persönlich en-
gagiert, identifiziert sich und übernimmt Verantwortung. Kunst und Kultur leben
von der Identifikation und der Bereitschaft möglichst breiter Bevölkerungsschich-
ten, sich für ein vielfältiges Kulturleben aktiv einzusetzen und Kultur zu leben.
Hilmar Hoffmann hat dies nicht anders gesehen. Er sah Kultur »nicht nur als
Bildungsangebot, nicht nur als Freizeitvergnügen, sondern als Befähigung zur
Selbstbestimmung des Menschen««. Er warnte vor der »Neigung, sich zu Tode 142
zu amüsieren«. Kultur sei eine »Lebensform«, die jeder brauche, »um ein gan-
zer Mensch zu werden«. Er hatte immer den Bürger im Auge, der sich aktiv für 143
Kunst und Kultur einsetzt, sie fördert und begleitet. Zwar ist nicht jeder Bürger
künstlerisch begabt, nicht jeder in der Lage, als Mäzen größere finanzielle Bei-
träge zu leisten. Doch jeder kann sich auf seine Art und Weise beteiligen, denn
bürgerschaftliches Engagement ist vielfältig: Darum brauchen wir eine Stärkung
des »Dritten Sektors«, also des Bereichs der Zivilgesellschaft jenseits von Staat
und Wirtschaft, der Kunst und Kultur ehrenamtlich fördert, wozu auch zeitli-
ches Engagement gehört. In der Tat haben wir in Deutschland bereits eine Viel-
zahl solcher privater, im besten Sinne bürgerlicher Initiativen, seien es Stiftun-
gen, Patronatsvereine oder soziokulturelle Zentren, die Beachtliches, zum Teil
sogar Großartiges leisten. Doch ihr Wirken wird erschwert durch manche recht-
lichen und administrativen Rahmenbedingungen. Studien des Maecenata-Insti-
tuts benennen konkret einige solcher »Fesseln«, die eine weitere Stärkung des
Dritten Sektors ausbremsen. Dazu gehören eine Modernisierung, Systematisie-
rung und Vereinfachung des Gemeinnützigkeitsrechts. Seit dem Jahr 2000 gab es
zwar zahlreiche kleine »Reförmchen«, aber keine Neufassung. Ebenso muss das
Stiftungsrecht novelliert werden. Diese Fesseln zu lösen, Anreize für eine noch
wirkmächtigere Zivilgesellschaft zu setzen, wird eine entscheidende Stellschrau-
be dafür sein, die kulturelle Teilhabe aller zu verwirklichen. »Kultur für alle« lässt
sich am Ende nur verwirklichen als »Kultur von allen«.

3. — Türöffner — Bundes­kulturpolitik vor 1998


Oliver Scheytt
Zur verfassungs-
rechtlichen
Verankerung der
Bundeskultur­politik
in Art. 35 des
Einigungsvertrages
Die Bundesrepublik Deutschland wird im Wesentlichen durch die Verfassung
des Grundgesetzes konstituiert und konfiguriert. Dem Grundgesetz wurde sein
»Verhältnis« zur Kultur noch unter dem Eindruck des Dritten Reiches mitge-
geben: Die Freiheit der Kultur, der Kunst und der Wissenschaft von staatlicher
Einflussnahme einerseits und die föderalistische Struktur andererseits sollten
Garanten dafür sein, jegliche »Gleichschaltung« zu verhindern. Darin liegt die
Zurückhaltung begründet, weitergehende kulturelle Aufgaben festzuschreiben,
obgleich schon die Weimarer Reichsverfassung eine kulturelle Staatszielbestim-
mung enthielt.1
Die heutige Realität ist indes eine andere als nach dem Zweiten Weltkrieg:
Kulturförderung wird als eine gesamtstaatliche Aufgabe verstanden. Mit der ge-
schriebenen Verfassung korreliert eine in der Praxis gelebte Verfassung und eine
über die Jahrzehnte entwickelte Struktur kulturpolitischen Handelns, die sich in
rechtlichen Regelungen, Institutionen sowie Finanz-entscheidungen und Hand-

1 Art. 142 WRV knüpft unmittelbar an die Statuierung der Kunst- und Wissenschaftsfreiheit in Satz 1
die ­kulturstaatliche Feststellung des Satzes 2: »Der Staat gewährt ihnen (scil.: Kunst und Wissen-
schaft) Schutz und nimmt an ihrer Pflege teil.« Siehe dazu Knies, W.: Freiheit der Kunst und Kulturstaat,
in: Häberle, P.: Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht, Darmstadt 1982, S. 235 ff., 245 f.:
Art. 142 WRV stellt fest, »daß Kulturvorsorge und eine positive, aktive Kunstpolitik auch verfassungs-
rechtlich legitime Betätigungen des modernen Staates sind.«

Wachgeküsst
lungsprogrammen niederschlägt. Die Bundesrepublik Deutschland ist somit ge-
prägt von fast sieben Jahrzehnten geschriebener und gelebter Verfassung des
Grundgesetzes, welche die tatsächlichen und rechtlichen Grundlagen und Res-
sourcen von Kulturpolitik wesentlich bestimmen.
Zudem hat sich durch die Vereinigung beider deutscher Staaten im Jahr
1990 eine auch für das Kulturverfassungsrecht neue Situation ergeben: Recht-
lich durch Art. 35 Einigungsvertrag (EV) und in der Verfassungswirklichkeit auf-
grund der neuen Rolle, die die Bundeskulturpolitik insbesondere im Hinblick auf
die Kulturförderung in den neuen Ländern eingenommen hat. So wurde die deut- 144
sche Einheit auch zu einem »kulturpolitischen Einfallstor« des Bundes. Als sicht-
bare institutionelle Zeichen für den Bedeutungszuwachs seien als Folge dieser 145
Entwicklung exemplarisch vor allem die Einrichtung des Amtes des »Beauftrag-
ten der Bundesregierung für Kultur und Medien« (BKM) und die Konstituierung
des Ausschusses für Kultur und Medien des Deutschen Bundestages (1998) sowie
der Enquête-Kommission »Kultur in Deutschland« des Deutschen Bundestages
(2003 bis 2007) benannt. Der Bund hat sich nicht nur durch seine Gesetzgebung
zu kulturrelevanten Themen (Urheberrecht, Stiftungsrecht, Steuerrecht), son-
dern auch durch eine kontinuierlich angehobene finanzielle Förderung für kul-
turelle Aufgaben kulturpolitisch verstärkt engagiert. Zu erinnern ist etwa an die
Neuerrichtung der Kulturstiftung des Bundes im Jahr 2002, die Förderung kul-
tureller Aufgaben in den neuen Bundesländern, die Hauptstadtkulturförderung
und neue Initiativen im Bereich der Film- und Musikwirtschaft.1

Verfassungsrechtliche Verortung von


Art. 35 des Einigungsvertrages

Zu den am meisten zitierten Passagen in der kulturrechtlichen Literatur gehört


ein Satz aus einer schon älteren grundlegenden Entscheidung des Bundesverfas-
sungsgerichtes zur Kunstfreiheitsgarantie des Art. 5 Abs. 3 GG, in der es heißt:
Diese Norm stellt als »objektive Wertentscheidung für die Freiheit der Kunst […].
dem modernen Staat, der sich im Sinne einer Staatszielbestimmung als Kultur-
staat versteht, zugleich die Aufgabe, ein freiheitliches Kunstleben zu erhalten
und zu fördern.«
Mit vielfältigen (rechts-)historischen Belegen hat insbesondere der Verfas-
sungsrechtler Peter Häberle die Kulturstaatlichkeit der Bundesrepublik Deutsch-
land herausgearbeitet und damit schon Anfang der 1980er Jahre eine breite De-
batte über Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht in der Staatsrechts-

1 A
 ll diese Aktivitäten wurden in der Arbeit der Enquête-Kommission »Kultur in Deutschland« des Deutschen
Bundestages gebündelt reflektiert, was in dem Ende 2007 veröffentlichten Schlussbericht, dem um­fas­
sendsten Dokument zur Kulturpolitik in Deutschland seit Begründung der Bundesrepublik dokumentiert ist.
Siehe Schlussbericht der Enquête-Kommission »Kultur in Deutschland«, BT-Drs. 16/7000

3. — Türöffner — Bundes­kulturpolitik vor 1998


lehre ausgelöst.1 Die Staatsrechtslehre war sich allerdings nicht einig, ob der Be-
griff »Kulturstaat« als fundierter (Verfassungs-)Rechtsbegriff Verwendung finden
sollte, wenn auch eine überwiegende Zahl an Autoren sich grundsätzlich zu die-
sem Begriff bekennt.2
Doch mit Art. 35 des Einigungsvertrages existiert indes seit 1990 eine Be-
stimmung, die den Begriff »Kulturstaat« in ihrem Abs. 1 zum Verfassungsrang er-
hebt: »Stellung und Ansehen eines vereinten Deutschlands in der Welt hängen
außer von seinem politischen Gewicht und seiner wirtschaftlichen Leistungs-
kraft ebenso von seiner Bedeutung als Kulturstaat ab.« Und weiter in Abs. 3 heißt
es: »Die Erfüllung der kulturellen Aufgaben einschließlich ihrer Finanzierung ist
zu sichern, wobei Schutz und Förderung von Kultur und Kunst den neuen Län-
dern und Kommunen entsprechend der Zuständigkeitsverteilung des Grundge-
setzes obliegen.« 3
Mit dieser Passage des Einigungsvertrages, der als Verfassungsrecht den
höchstmöglichen Rang in der Rechtsquellenhierarchie einnimmt, wird das Selbst-
verständnis der Bundesrepublik Deutschland als Kulturstaat konstituiert.4 Nicht
von ungefähr wird auf die kulturellen Wurzeln und Traditionen in dem Moment
zurückgegriffen, als sich die Bundesrepublik Deutschland mit der Wiederverei-
nigung als wieder zusammengewachsener, größerer und einheitlicher Staat neu
konstituiert. Diese Bestimmung reicht indes über den Anlass der Wiedervereini-
gung hinaus. Der Begriff »Kulturstaat« verweist dabei auf die historisch weit vor
dem Deutschen Reich gewachsene und für Deutschland prägende kulturelle Viel-
falt und andererseits auf Traditionen und Werte, die sich etwa über Sprache, Mu-
sik und Kunst als verbindende Elemente vermitteln. Der Begriff »Kulturstaat« ist
insofern weit entfernt von dem Begriff des »Nationalstaats«, der nicht nur im Hin-
blick auf das Dritte Reich mit unheilvollen Konnotationen verbunden ist.5

1 Grundlegend dazu sein Werk Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht, Darmstadt 1982, mit einem
größeren eigenen Originalbeitrag (S. 1 ff.) und zahlreichen Texten beginnend mit Gustav Radbruch aus
dem Jahre 1927 über Ernst Rudolf Huber (1958), Adolf Arndt (1960), Helmut Schelsky (1963), Georg Picht
(1964), Ralf Dahrendorf (1965) bis hin zu Hans Maier (1972) und Adolf Muschg (1977).
2 Das Buch von Jung, O.: Zum Kulturstaatsbegriff. Meisenheim am Glan 1976, ist die umfassendste
Studie zur Geschichte dieses Begriffs.
3 Der Einigungsvertrag ist als höchstrangiges Recht auch von Staatsrechtslehrern zu beachten; gleich-
wohl wird der Kulturstaatsgedanke bis heute immer wieder in Zweifel gezogen, siehe dazu auch
die Diskussionen um die kulturelle Staatszielbestimmung bei den Anhörungen der Enquête-Kommission
des Deutschen ­Bundestages in der 15. Legislaturperiode, zusammenfassend dargestellt im Zwischen-
bericht der ­Enquête-Kommission, Bundestagsdrucksache 15/5560.
4 Dazu Norbert Lammert: »Das Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland als Kulturstaat hat
im Einigungsvertrag, also im Kontext der Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands, erst-
mals ausdrücklich seinen verfassungsrelevanten Ausdruck gefunden.« Lammert, N.: Kulturstaat und
Bürger­gesellschaft. In: ders. (Hg.), Alles nur Theater? Beiträge zur Debatte über Kulturstaat und Bürger­
gesellschaft, Köln 2004, S. 14.
5 Vgl. dazu auch Lepenies, W.: Kultur und Politik. Deutsche Geschichten, München/Wien 2006, S. 62 ff.

Wachgeküsst
Gleichwohl ist dieser Begriff ein »schillernder Terminus«, der indes in der heuti-
gen kulturpolitischen Diskussion zunehmend an »Festigkeit« gewonnen hat und
allmählich in den allgemeinen kulturpolitischen Sprachgebrauch – nicht immer
reflektiert – Eingang gefunden hat.1

Kulturstaat Deutschland – Kulturhoheit der Länder

Unsere (gelebte) Kulturverfassung ist entscheidend davon geprägt, dass die ver-
schiedenen Ebenen des Kulturstaates, also Bund, Länder und Kommunen, ihre je 146
eigenen Gestaltungskräfte ausspielen. Kulturstaatlichkeit und Bundesstaatlich-
keit gehören in der Bundesrepublik Deutschland untrennbar zusammen. Der Fö- 147
deralismus ist das prägende Prinzip der Kulturstaatlichkeit. In Politik und Staats-
rechtslehre lassen sich zwei unterschiedliche Vorverständnisse des Bundesstaats-
prinzips ausmachen: 2 Das klassische Föderalismusverständnis geht von einem
»kooperativen Föderalismus« aus, der sowohl von einer Kooperation der Länder
untereinander als auch der Länder mit dem Bund geprägt ist. Die Personal-, Sach-
und großen Finanzhilfen vonseiten des Bundes und der »alten« Länder beim Auf-
bau der neuen Länder waren eine spezifische Form der Solidarität und eine unge-
wöhnlich intensive Bewährungsprobe für den kooperativen Föderalismus. Davon
hat der kulturelle Sektor in den neuen Bundesländern stark profitiert.
Ein anderes Vorverständnis deklariert die Kompetenzverteilung des Grund-
gesetzes auf die Länder als einen »Wettbewerbs-« oder »Konkurrenzföderalis-
mus«. Hinter diesem kompetitiven Föderalismusverständnis steht das Markt-
modell mit folgender These: Der Wettbewerb unter den Ländern führt zu einer
höheren Qualität staatlichen Handelns. Dazu passt, dass vor allem die südlichen
Länder Bayern und Baden-Württemberg immer wieder auf ihre besonderen kul-
turellen Traditionen und Leistungen verweisen.3 Die föderalistische und damit
pluralistische Kulturstaatlichkeit des Bundesstaates Deutschland kann so nicht
nur als eine Garantie der »Freiheit der Kultur« angesehen werden, sondern auch
als ein Feld für die Ausprägung kultureller Identitäten und Qualitäten.
Der Kulturstaat Deutschland lebt von den kulturellen Potenzialen der Län-
der, der Städte und Regionen. Seine strukturelle Ausdifferenzierung gewährt kul-
turelle Offenheit und Freiheit. Die Vielfalt der Kulturzentren in Deutschland mit
den kulturellen Stärken der Metropolen und Regionen von München bis Ham-
burg, von Berlin bis zur Metropole Ruhr, vom Rheinland über Frankfurt a. M. bis
nach Stuttgart und Nürnberg, von Bayreuth bis Leipzig und Dresden sowie die
Vielfalt der regionalen kulturellen Identitäten und Initiativen haben eine weit
vor die Begründung der Bundesrepublik Deutschland zurückreichende Tradition;

1 Z u all dem mit vielen weiteren Nachweisen und Ausführungen Scheytt, O.: Kulturstaat Deutschland.
Plädoyer für eine aktivierende Kulturpolitik, Bielefeld 2008
2 Siehe dazu Häberle, P.: Kulturhoheit im Bundesstaat-Entwicklungen und Perspektiven. In: Institut
für ­Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft, Jahrbuch für Kulturpolitik 2001, Essen 2002, S. 115 ff.
3 Vgl. dazu ders., S. 119

3. — Türöffner — Bundes­kulturpolitik vor 1998


sie werden aber auch durch die vom Grundgesetz konstituierte föderative Struk-
tur des Staates anerkannt und als Prinzip konstituiert. Dezentralität und Plura-
lität sind seit Jahrhunderten vorhanden und weitergewachsen. Deutschland war
und ist immer zugleich national und regional orientiert. »Bach ist kein Thürin-
ger Komponist, Goethe kein hessischer Dichter, Beuys kein rheinischer Künstler,
wenn auch jeweils regionale Bezüge in ihrem Werk wirksam geworden sind.« 1
Was diese Künstler geschaffen haben, ist kulturelles Erbe der ganzen Nation und
nicht nur der Thüringer, Hessen oder Rheinländer. Dies gilt auch für zeitgenös-
sische Künstlerinnen und Künstler, für den Erhalt des Geschichtsbewusstseins
in den Institutionen der Geschichtskultur und die Vermittlung durch Kulturel-
le Bildung.
Fragt man danach, was den Kulturstaat Deutschland ausmacht, so hat der
Kulturföderalismus unzweifelhaft auch Vorteile für die Vielfalt in der Förderung
und die Offenheit für die Entwicklungen vor Ort. Es gibt keine an einer Stel-
le konzentrierte »Definitionsmacht« für Inhalte und Ausrichtung der durch das
Grundgesetz in ihrer Freiheit geschützten kulturellen Lebenssachverhalte. Viel-
mehr werden Kultur und Kulturpolitik in der föderativen Kompetenzordnung des
Kulturstaates Deutschland von den unterschiedlichsten Institutionen, Ebenen
und Akteuren verantwortet und mitgestaltet.
Das in Art. 35 verfassungsrechtlich verankerte Selbstverständnis Deutsch-
lands als Kulturstaat, das Wirken der Staatsminister für Kultur und Medien sowie
von Verbänden wie dem Deutschen Kulturrat oder der Kulturpolitischen Gesell-
schaft haben das Bewusstsein dafür geschärft, dass der Bund die Rahmenbedin-
gungen für die Entwicklung von Kunst und Kultur maßgeblich mitbestimmt, vor
allem auch durch rechtliche Regelungen. Exemplarisch für kulturrelevante Ge-
setzgebungskompetenzen genannt seien: Wettbewerbs- und Vergaberecht, Zu-
wendungsrecht, Steuerrecht, Gemeinnützigkeitsrecht, Vereinsrecht, Stiftungs-
recht, Urheberrecht, Sozial- und Arbeitsrecht, Künstlersozialversicherung, Kin-
der- und Jugendhilferecht, Medienrecht, Rundfunkrecht, Presserecht.2 Unbe-
stritten ist daher, dass der Bund schon aufgrund seiner eindeutig vorhandenen
Gesetzgebungskompetenzen im Rahmen einer »Kulturellen Ordnungspolitik«
(Nida-Rümelin) seine Zuständigkeiten hat und wahrnimmt.3 Aufgrund eines ver-
stärkten Bewusstseins dieser Rolle konnten und wollten auch die Länder nicht
mehr nur auf ihre »Kulturhoheit« pochen, sondern mussten anerkennen, dass
der »Kulturstaat Deutschland« auf Bundesebene durch Rechtsetzung die Ent-
wicklung von Kunst und Kultur stark beeinflusst. Nicht zuletzt durch die En-
quête-Kommission »Kultur in Deutschland« des Deutschen Bundestages, die alle
Ebenen des Staates in den Blick genommen hat, ist diese Verfassungswirklichkeit
in den Jahren 2003 bis 2007 deutlich herausgearbeitet worden.

1 Nida-Rümelin, 2002, S. 64.


2 Einen Überblick zu den gesetzlichen Regelungen gibt der Enquête-Schlussbericht S. 56 ff.
3 Vgl. Enquête-Schlussbericht, S. 55 sowie zu den verschiedenen Rechtsgebieten S. 59 ff.

Wachgeküsst
Das Grundgesetz konstituiert allerdings jenseits der Gesetzgebungszuständig-
keiten des Bundes mit kultureller Relevanz kaum eine gesicherte Basis für das
neben der Rechtsetzung zweite wesentliche kulturpolitische Handlungsinstru-
mentarium: die Bereitstellung von Ressourcen. Allerdings betont Art. 35 EV an-
gesichts der Wiedervereinigung Deutschlands nicht nur seine Bedeutung als Kul-
turstaat, sondern weist dem Bund in Abs. 3 auch eine Förderungsverpflichtung
zu: »Die Erfüllung der kulturellen Aufgaben einschließlich ihrer Finanzierung ist
zu sichern …« Art. 35 EV hat somit klargestellt, dass der Bund eine nationale Ver-
antwortung für die Kulturentwicklung in Deutschland wahrzunehmen hat. Nicht 148
zuletzt aufgrund der von Art. 35 EV verfassungsrechtlich verankerten Förderung
von bedeutenden Kultureinrichtungen und -vorhaben hat sich dann auch die 149
Verfassungswirklichkeit in den letzten zwei Jahrzehnten verändert und sich eine
Kulturfördertradition des Bundes entwickelt, die deutlich neben das oder auch zu
dem Engagement von Ländern und Kommunen hinzugetreten ist. Als außeror-
dentlich wichtig hat sich demzufolge die sogenannte »Leuchtturmförderung« in
den neuen Bundesländern erwiesen. Zudem gibt es ein über Jahrzehnte gewach-
senes und im Grundsatz kooperatives Miteinander in der Kulturförderung, des-
sen radikale Infragestellung dem Kulturstaat Deutschland irreversible Schäden
zufügen würde. Der gewachsene Kulturföderalismus ist derart vielgestaltig, dass
an ihm alle reinen Entflechtungskonzepte scheitern. Das schließt indes eine Be-
mühung um eine Systematisierung der Verantwortlichkeiten nicht aus,1 wie sie
im Papier »Eckpunkte für die Systematisierung der Kulturförderung des Bundes
und der Länder« vom 26. Juni 2003 bereits vorgeschlagen worden ist.2 Der Bund
ist insbesondere in Angelegenheiten gesamtstaatlicher Repräsentation und bei
der Förderung von bundesrechtlichen Auslandsbeziehungen sowie in der Förde-
rung zentraler Einrichtungen und Veranstaltungen nicht staatlicher Organisati-
onen angesprochen, die ihrer Art nach nicht nur durch ein Land allein wirksam
gefördert werden können.3 Zu diesen Angelegenheiten gesamtstaatlicher Reprä-
sentationen gehört unzweifelhaft die Auswärtige Kulturpolitik, die schon durch
Art. 32, 73 Nr. 1 und 87 Abs. 1 GG unstreitige Bundeskompetenz ist.4 Unstreiti-
ge Fördergegenstände des Bundes sind zudem die Repräsentation in der Haupt-
stadt, die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Weltkulturerbestätten und Kultur-
hauptstadt Europas, Gedenkstätten, Sicherung von Kulturgut und Geschichte
ehemals deutscher Kulturlandschaften im östlichen Europa, die Förderung kul-

1 S iehe dazu Nevermann, K.: Bund und Länder in der Kulturpolitik. Anmerkungen zur Entflechtung und
­Systematisierung, in: Institut für Kulturpolitik der kulturpolitischen Gesellschaft, Jahrbuch für Kulturpolitik
2006, Essen 2006, S. 245 ff.
2 Siehe dazu Nevermann, S. 274 ff. (Das Papier ist auch als Ausschussdrucksache des Ausschusses für Kultur
und Medien des Deutschen Bundestages, Nummer 15 (21) 59 vom 26.06.2003 verfügbar.)
3 Diese Aufgaben hat schon 1971 der Entwurf einer »Verwaltungsvereinbarung über die Finanzierung
­öffentlicher Aufgaben von Bund und Ländern« enthalten, die in der Praxis als »Flurbereinigungsabkommen«
bezeichnet wird. Vgl. dazu Nida-Rümelin, 2002, S. 68.
4 Zur Auswärtigen Kulturpolitik neuerdings mit zahlreichen Beiträgen, die einen umfassenden Überblick geben:
Schneider, W. (Hg.): Auswärtige Kulturpolitik. Dialog als Auftrag – Partnerschaft als Prinzip, Essen 2008

3. — Türöffner — Bundes­kulturpolitik vor 1998


tureller Minderheiten, die Kulturgutsicherung, die Rückgabe NS-verfolgungsbe-
dingt entzogener Kulturgüter, herausragende Kultureinrichtungen in den neuen
Ländern, Filmförderung und Sozialversicherung. Ein weiteres wichtiges Feld der
Bundeskulturpolitik ist in den letzten Jahren die Förderung der Kultur- und Krea-
tivwirtschaft im Verbund von BKM und Bundeswirtschaftsministerium geworden.

Leitbild: Kulturstaat und Kooperativer Kulturföderalismus

Diese zahlreichen Kompetenzen sollte die Bundeskulturpolitik allerdings nicht


davon entheben, konzeptionell vorzugehen, im Gegenteil. Deshalb wird im Fol-
genden in wenigen Grundzügen ein Leitbild für die Wahrnehmung der kulturel-
len Kompetenzen durch den Bund entwickelt.
Wenn der Terminus Kulturstaat verwendet wird, so wird damit insbesonde-
re das Selbstverständnis kultureller Aufgabenwahrnehmung in der und für die
Bundesrepublik Deutschland auch in einem europäischen und internationalen
Zusammenhang angesprochen: Unser staatliches Gemeinwesen hat einen Kul-
turauftrag, der als Kulturgestaltungsauftrag zu verstehen ist. Die Bundesrepub-
lik Deutschland ist politisch und verfassungsrechtlich nicht nur als Rechtsstaat
und Sozialstaat, sondern eben auch als Kulturstaat zu verstehen.
Regieren, Lenken, Steuern und Koordinieren trifft heute auf eine veränderte,
sehr komplexe Situation, auf die ein klassisch hierarchisches staatliches Handeln
nicht die richtige Antwort darstellt. Das Grundgesetz ist im Ganzen eine »Ver-
fassung des Pluralismus«. Das Bundesstaatsprinzip ist eines der tragenden Prin-
zipien für die Kulturverfassung der Bundesrepublik Deutschland, denn es stützt
Vielfalt durch »Gewaltenteilung« unter den verschiedenen staatlichen Ebenen,
doch auch in einem nicht staatlichen Sinne, insofern viele verschiedene Träger
kultureller Förderung in ihrer Freiheit und ihrem Tun geschützt und bestärkt
werden. Der Begriff »kultureller Trägerpluralismus« bringt dies als in der Verfas-
sungsrechtslehre einschlägigen Begriff 1 treffend zum Ausdruck: Eine Vielzahl
von Kulturträgern wie Staat, Kommunen, Rundfunkanstalten, Kirchen, Gewerk-
schaften, Verbänden, Parteien etc. bringt sich mit je eigener Gestaltungsmacht
und Verantwortlichkeit in die Gemeinschaftsaufgabe »Kultur« ein. Und selbstver-
ständlich sind auch zivilgesellschaftliche Akteure sowie die (Kultur-)Wirtschaft
wesentliche Träger der kulturellen Infrastruktur in Deutschland.
Da Bund, Länder und Kommunen somit mannigfach aufeinander bauen und
angewiesen sind, gewinnen sie kulturpolitische Bedeutung, starke Kompetenzen
und freie Gestaltungsmöglichkeiten vor allem dann, wenn sie die anderen Ebe-
nen aktiv anerkennen und anspielen. Das Leitbild des Kulturstaates Deutschland
ist daher das eines »kooperativen Kulturföderalismus«.

1 Grundlegend dazu Häberle, P.: Vom Kulturstaat zum Kulturverfassungsrecht.


In: ders. (Hg.), Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht, Darmstadt 1982, S. 46 ff.

Wachgeküsst
Auf Basis dieses Leitbildes gilt es im Sinne des »Kooperativen Kulturföderalis-
mus« drei kulturpolitische Grundprinzipien zu berücksichtigen:

—— E s bedarf einer ehrlichen Bestandsaufnahme dessen, was an gemeinsamen


Verantwortlichkeiten zwischen Bund, Ländern und Kommunen gegeben ist,
wobei der jeweilige öffentliche Auftrag zu reflektieren ist.
—— Es bedarf einer systematischen Aufarbeitung der jeweiligen Verantwortlich­
keiten ohne fundamentalistische Abwehrreaktionen gegenüber denjeni-
gen, die sich in der Kultur engagieren wollen. Insbesondere sollten bestehende 150
Förderungen, wenn sie denn sinnvoll sind, keinen Schaden nehmen.
—— Im Sinne einer aktivierenden Kulturpolitik sollten vorhandene und neue 151
­Allianzen der Kunst- und Kulturförderung offen sein für neue Mitspieler, nicht
nur im Sinne eines kooperativen, sondern auch im Sinne eines kompetitiven
Föderalismus.1 Alle Ebenen unseres Staates haben ein nachhaltiges ­Interesse
an einer erfolgreichen aktivierenden Kulturpolitik des Bundes, denn nur ein
kluges Zusammenspiel weckt alle Kräfte im Kulturstaat Deutschland.

Die Rolle des Kulturstaates ist dabei vor allem auch in seiner Relation zum Indi-
viduum neu zu bestimmen. Kulturpolitik wird nicht vorrangig zum Selbsterhalt
der Kulturinstitutionen, zur Selbstverwirklichung von Künstlern und Kulturma-
nagern oder zur Selbstbedienung in kulturellen Netzwerken betrieben. Vielmehr
steht im Zentrum aller Kulturpolitik das Individuum. Das Leitbild muss die Rolle
des Kulturstaates daher aus einer zweifachen Gesamtsicht entwickeln: Aus der
Gesamtsicht von Staat, Gesellschaft und Markt und aus der Gesamtsicht auf den
Kulturbürger mit all seinen individuellen Ausprägungen.2

Kultur als Staatsziel

Auch im Grundgesetz sollte der Charakter Deutschlands als Kulturstaat zum


Ausdruck kommen, indem Kultur als Staatsziel im Grundgesetz verankert wird.
Die Enquête-Kommission »Kultur in Deutschland« hat dem Deutschen Bundes-
tag einstimmig empfohlen, das Grundgesetz um einen Art. 20 b mit folgender
Formulierung zu ergänzen: »Der Staat schützt und fördert die Kultur«. Zwar hat
das Bundesverfassungsgericht schon aus der Kunstfreiheitsgarantie des Art. 5
Abs. 3 GG eine »objektive Wertentscheidung für die Freiheit der Kunst« abgelei-
tet: Diese stellt dem »modernen Staat, der sich im Sinne einer Staatszielbestim-
mung als Kulturstaat versteht, zugleich die Aufgabe, ein freiheitliches Kunstle-
ben zu erhalten und zu fördern.« 3 Und Art. 35 EV enthält eine Kulturstaatsklausel.

1 V gl. auch Röbke, T./Wagner, B.: Aufgaben eines undogmatischen Kulturföderalismus. In: Institut für Kultur­
politik der Kulturpolitische Gesellschaft (Hg.): Jahrbuch für Kulturpolitik 2001, Essen 2002, S. 13 ff., S. 32 f.
2 Grundlegend dazu auch Scheytt, O.: Kulturstaat Deutschland. Bielefeld 2008
3 BVerfGE 36, 321 (331)

3. — Türöffner — Bundes­kulturpolitik vor 1998


Gleichwohl würde eine kulturelle Staatszielbestimmung in der geschriebenen
Verfassung Klarheit schaffen. Denn Staatszielbestimmungen sind Verfassungs-
normen mit rechtlich bindender Wirkung, die der Staatstätigkeit die fortdauern-
de Beachtung oder Erfüllung bestimmter Aufgaben vorschreiben. Damit wird ein
»Programm der Staatstätigkeit« umrissen, das als Direktive für staatliches Han-
deln auch bei der Auslegung von Gesetzen und sonstigen Rechtsvorschriften
Wirkung entfalten kann.1 Zu betonen ist, dass eine solche kulturelle Staatsziel-
bestimmung föderalismusneutral ist, also keine Kompetenzverschiebungen von
den Ländern zum Bund bewirken würde.2
Mit der von der Enquête-Kommission vorgeschlagenen Formulierung »Der
Staat schützt und fördert die Kultur« würde eine solche Bestimmung in erster
Linie einen Handlungsauftrag an den Staat enthalten, was eine mehrfache Wir-
kung entfalten würde: Als Zielbestimmung für das politische Ermessen des Ge-
setzgebers ebenso wie als eine normative Richtlinie für verwaltungsrechtliche
Ermessens- und gerichtliche Abwägungsentscheidungen. Kulturpolitik hätte da-
mit auf allen Ebenen des Kulturstaates Deutschland eine Norm, auf die bei der
Vorbereitung und Durchführung von politischen Entscheidungen Bezug genom-
men werden könnte. Nach wie vor ist es daher von hoher kulturpolitischer Rele-
vanz, dass der Deutsche Bundestag mit der erforderlichen qualifizierten Mehr-
heit eine entsprechende Verfassungsänderung beschließt.

1 Siehe Enquête-Schlussbericht S. 69
2 So auch Sommermann, K. P.: Kultur im Verfassungsstaat. In: Veröffentlichungen der Vereinigung
der Deutschen Staatsrechtslehrer Bd. 65, Berlin 2006, S. 7 ff., S. 41. Siehe auch Enquête-Schlussbericht
S. 78 mit weiteren Nachweisen.

Wachgeküsst
Matthias
Theodor Vogt
Seid umschlungen, 152

Milliarden! 153

Bereits die Bundesrepublik der Jahre 1949 bis 1989 war charakterisiert durch das
Schwinden politischer Substanz der Länderebene. 1990 läutete der Einigungs-
vertrag die endgültige Schwächung der Länderebene ein bis dahin, dass heute
einer Mehrzahl der Bürger Rang und Aufgaben der deutschen Länder nicht mehr
vor Augen stehen und für allzu viele das politische Ganze der Länder und ihres
Bundes zu einem unbegreiflich Fremden wurde. Ein wichtiger Baustein dieses
Schwächungsprozesses war die »Übergangs-Finanzierung Kultur« des Bundes.

Politische Kosten einer Diseconomy of Scale

Die Volkswirte warnen vor den Diseconomies of Scale, vor der kostenintensiven
und Erosion auslösenden Zu-hoch-Zonung. Dies gilt in besonderem Maße für die
Politik und ihre Wahrnehmungsvoraussetzungen. Zu diskutieren wäre, ob mit der
Hochzonung des Staatsverständnisses auf die hochabstrakte Ebene der »imaginä-
ren Gemeinschaft« eines Nationalstaates (Benedikt Anderson 1983) nicht die Po-
litik selbst einen Grund gelegt haben könnte für das Wiederaufblühen des simpli-
zistisch-ausbeutbaren Nationalnarrativs vom homogenen, angeblich seit tausend
Jahren biologisch stabilen und vor Veränderung zu bewahrenden Volkskörper.
Die Größe der deutschen Länder entspricht der Größe der Mehrzahl der
EU-Mitgliedsstaaten, die als Nationalstaat figurieren. Die Einwohnergröße der
Bundesrepublik und ihre binnenstaatliche Komplexität sind singulär in Europa.
Beides ist deutlich größer als der persönliche Erfahrungsschatz der meisten un-
serer Bürger und verlangt nach nicht-simplen Lösungsansätzen. Welcher Süd-
deutsche kennt auch nur die Mittelstädte Niedersachsens und umgekehrt? Um
so wichtiger ist daher die Sichtbarkeit des Miteinanders beider Staatsebenen: der
Länder und ihres Bundes im »unitarischen Bundesstaat« (Konrad Hesse 1962).
Der Vertrag über die Herstellung der Einheit Deutschlands mit Wirkung vom
3. Oktober 1990 änderte zumindest formal nichts an der – durch die sogenannte
Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Grundgesetz geschützte – Gliederung der Bundes-

3. — Türöffner — Bundes­kulturpolitik vor 1998


republik in teilsouveräne Länder und den nach innen ebenfalls teilsouveränen
Bund als eine Art Arbeitsgemeinschaft der Länder für bestimmte übergreifende
Aufgaben wie die Außenvertretung oder die Verteidigung. Der Bund verfügt mit
zehn Prozent des Öffentlichen Dienstes über deutlich weniger Personal als die
Kommunen (31 Prozent) und entscheidend viel weniger als die Länder (50 Pro-
zent). Personalmäßig, und das heißt: aufgabenmäßig stehen Länder und Bund
im Verhältnis fünf zu eins. Der Bund ist nur eine der drei Größen im Staatsgefü-
ge, aber keine per se dominante und keine alleinrelevante.
Dies zumindest die bundesdeutsche Theorie. Sie wurde nach 1990, zumal
im Kulturbereich, wiederholt als »Verfassungsfolklore« verunglimpft, so der bis-
sig-wirkmächtige Begriff des damaligen Kulturstaatsministers Michael Naumann
2000. Dabei hat sich Bundespolitik entscheidend in den Bundesrat verlagert:
»Mehr als 60 Prozent aller Bundesgesetze bedürfen der Zustimmung durch den
Bundesrat, in Wirklichkeit sogar 90 Prozent der ›wichtigen‹ Gesetze – gerade we-
gen der zunehmenden und wechselseitigen Abhängigkeit zwischen Bund und
Ländern in der Steuergesetzgebung.« (Gerd Langguth 2002). Kurz: die Verfas-
sungslage eines föderalen Staates ist deutlich komplexer, als die Tagesschau mit
täglich dreimal Kanzlerinberichterstattung dies ahnen lässt.

Mentale Verständigung als politische Herausforderung

Eben dies nun macht alle Politik, die auf mentale Verständigung zielt und auf ein
geistiges Heimischwerden von Bürgern, die von einem Zentralstaat in ein föde-
rales Gebilde kommen, so wichtig und unverzichtbar. Gerade in einer grundsätz-
lichen Neuorientierungsphase wie nach 1950 (mit der Finanzierung linker euro-
päischer Schriftsteller und Maler durch den »Kongress für Kulturelle Freiheit« der
CIA) oder nach 1990 in den mitteldeutschen Ländern (durch den Bund) kommt
der Kulturpolitik besondere Bedeutung zu.
Die Bundesregierung nahm 1991 die Herausforderung des geistig Heimisch-
werdens der Mitteldeutschen in Gesamtdeutschland an. Bereits Ende Septem-
ber 1990 sprachen Ludwig Güttler und Udo Zimmermann bei Helmut Kohl vor,
gefolgt insbesondere von Freimut Duve, August Everding und Kurt Masur. Der
Bundeskanzler ergriff persönlich die Initiative, die dann durch Sieghardt von
Köckritz und Manfred Ackermann im Bundesinnenministerium wesentlich um-
gesetzt wurde. Um Kohl (Weimar 1996) selbst zu zitieren: »Zu Beginn der Deut-
schen Einheit standen die neuen Länder und ihre Gemeinden kulturpolitisch
vor Aufgaben, die ihre Leistungskraft überforderten. Deshalb hat die Bundesre-
gierung sogleich nach der Wiedervereinigung die Ȇbergangsfinanzierung Kul-
tur« mit ihren drei Förderprogrammen Substanzerhaltung, Infrastruktur [zwei
Drittel der Mittel] und Denkmalschutz beschlossen. Für diese Programme stell-
te der Bund 1991 bis 1994 [3,3] Milliarden DM zur Verfügung. So konnte gemein-
sam mit den Ländern und Gemeinden wertvolle kulturelle Substanz erhalten und
zugleich Zeit für die Entwicklung dauerhaft tragfähiger Strukturen im Kultur-

Wachgeküsst
bereich gewonnen werden. Der Bund hat mitgeholfen, dass die neuen Länder in
einem Kernbereich ihrer Zuständigkeit trotz schwierigster Wirtschafts- und Fi-
nanzprobleme handlungsfähig geblieben sind. Die »Übergangsfinanzierung Kul-
tur« hat sich insgesamt als ein ebenso wichtiger wie erfolgreicher Schritt auf dem
Weg zur inneren Einheit der Deutschen erwiesen.«.
In der DDR leitete der Staat seine post-nazistische Legitimation wesentlich
aus der humanistischen Tradition der deutschen Klassik ab und investierte da-
her über die Maßen in Kultur, wenn auch immer klassengebunden. Die Statistik
spricht für 1990 von 217 Theatern und Spielstätten, 87 Orchester, 719 Museen, 190 154
Musikschulen, rund 16.900 Bibliotheken, mehr als 1.700 Kultur- und Clubhäu-
sern sowie etwa 250.000 registrierten Einzeldenkmälern und 180 historisch be- 155
deutsamen Stadt- und Dorfkernen (Gabriele Muschter 1993). Alleine im wieder-
gegründeten Freistaat Sachsen befanden sich 14 Opernensembles (mehr als in
Italien), 18 Kulturorchester (mehr als in Frankreich), 300 Museen etc. Eine sol-
che kulturelle Infrastruktur war 1990 für fünf Millionen Menschen weltweit sin-
gulär und war im übrigen um 1900 teilweise noch weit dichter.
Kohls »Zeit für die Entwicklung dauerhaft tragfähiger Strukturen im Kultur-
bereich« wurde von den mitteldeutschen Ländern und ihren Kommunen unter-
schiedlich genutzt. Das frühere Ostberlin machte sich von Anfang an wenig Sor-
gen. Der Freistaat Thüringen versuchte es mit direkten Verträgen zwischen den
Theaterträgern und dem Ministerium. Dies überforderte beide Seiten. Branden-
burg kappte seine Infrastruktur radikal. In Dessau muß das Anhaltische Theater
1.100 Sitzplätzen füllen. Und Mecklenburg-Vorpommern? Es sucht 2018 noch im-
mer nach einer Lösung für seine weiten Flächen. Nur der Freistaat Sachsen hat
die Bundesmittel tatsächlich für eine Neustrukturierung genutzt, genauer ge-
sagt: seine Kreise haben sich in einem Akt des praktizierten Munizipalsozialis-
mus zu Kulturfinanzierungspflichtzweckverbänden zusammengeschlossen. Das
Gesetz über die Kulturräume in Sachsen vom 20. Januar 1994 hat die vom Eini-
gungsvertrag anempfohlene Verhinderung eines Abbruchs der Kulturstruktu-
ren ermöglicht …

Nachhaltigkeit?

Aus Kultursicht waren die gut zwei Milliarden DM Bundesmittel für das Infra-
strukturprogramm plus die Milliarden für das Substanzerhaltungsprogramm plus
die Milliarden für die Denkmalpflege rundheraus erfreulich. Aber waren sie auch
(a) zulässig und (b) sinnvoll angelegt, da nachhaltig?
Die Sicherung der institutionellen Infrastruktur in den Ländern und ihren
Kommunen wurde von Kohl zu Recht als »Kernbereich ihrer Zuständigkeit« apos-
trophiert; Art. 35 EV ermächtigte den Bund ausdrücklich zu einer »übergangswei-
sen« Intervention. Eine Alternative hätte es allenfalls mit einem Sonderfonds der
Kultusministerkonferenz gegeben, allerdings ist schon die Vorstellung, dass die
Länder damals aus eigener Kraft und aus Einsicht in den Solidargedanken die be-

3. — Türöffner — Bundes­kulturpolitik vor 1998


nötigten Milliarden bereitgestellt hätten, blanke Illusion. Ich zitiere den dama-
ligen Abteilungsleiter im Sächsischen Kunstministerium, Reiner Zimmermann:
»Die alten Länder waren zu nichts bereit: Ich war Anfang der 1990er Jahre ost-
deutscher Emissär für eine Kulturstiftung der Länder, die sich zeitgenössischer
Kunst widmet. Wir hatten durch die Auflösung des DDR-Kulturfonds Mittel, die
wir auch hier einsetzen wollten. Nichts war frustrierender als diese Besuche.« Ge-
rade durch ihre Regionalverantwortung fällt es den Länder-Akteuren schwer, das
Große und Ganze zu erkennen und hier tätige Verantwortung zu übernehmen;
dies ist die Kehrseite des Föderalismus.
Eine eigenständige Bundeskulturpolitik wiederum hatte es durchaus be-
reits in den Jahrzehnten vor 1990 gegeben; anders als das spätere Gerede von der
kulturpolitischen »Sahelzone« dies glauben lassen wollte. Einerseits hatte das
Grundgesetz den Bereich der Auswärtigen Kulturpolitik dem Bund zugewiesen.
Andererseits oblag dem Bund die ebenfalls unstrittige Verantwortung für die ost-
deutsche Kulturpolitik nach § 96 des Bundesvertriebenen- und Flüchtlingsgeset-
zes von 1953 (die Abteilung K wie Kultur des Bundesinnenministeriums, später
K I). Noch 1989 weist Thomas Köstlin überzeugend darauf hin, dass das Grund-
gesetz der Bundesebene keinerlei Ermächtigung für »nationalstaatliche Reprä-
sentation« gebe, dass die unfraglich gegebene »nationalstaatliche Repräsentati-
on« im Kulturbereich Sache der Kommunen und Länder sei. Dies allerdings war
nur Theorie. Bei der provisorischen Gründung der Stiftung Preußischer Kultur-
besitz, bei den Bayreuther Festspielen und vielen anderen mehr haben die Län-
der, wenngleich teils mit Verfassungsklagen, die Gelder des Bundes akzeptiert
und hat beispielsweise Bayern einen Einnahmenüberschuss zu erzielen gewusst;
ganz anders als NRW bis heute. Nach dem bekannten Bonmot von Hans Joachim
Meyer pflegt Bayern die eine Faust gegen den Bund zu ballen und die andere un-
ter dem Tisch weit zu öffnen.
Bei der Übergangsfinanzierung nach Art. 35 EV verfolgte die Bundesebene,
dies meine These, zwei Interessen. Zum einen das übergeordnete politische In-
teresse einer Schockabfederung in einem hierzulande mental bislang zentralen
Bereich, eben der Kulturpolitik. Es galt, die unvergleichlich hohe Kulturdichte in
den mitteldeutschen Ländern in einem geordneten Verfahren in die neue Träger-
und Finanzierungswelt zu überführen. Das strategische Interesse wiederum war
es, den Ländern und ihren Kommunen das Graubrot der allgemeinen instituti-
onellen Finanzierung weiterhin zu überlassen, der Bundesebene aber eine ge-
wohnheitsrechtliche Grundlage für die Dauerförderung ausgewählter Einrich-
tungen und vor allem für die Projektförderung sowie für die ersehnte Haupt-
stadtkulturförderung zu verschaffen. Beim Amtsantritt Kohls 1982 belief sich der
Kulturhaushalt des Bundes auf 346 Millionen DM (ohne die Auswärtige Kultur-
politik), am Ende seiner Regierungszeit 1998 auf 1,3 Milliarden DM.
Das hat sich zwischenzeitlich verdoppelt, Tendenz weiter wachsend. Ruhig
schauen die Länder dem Spiel der Hamburger Bundestagsabgeordneten Kahrs &
Cie. zu, Wohltaten in jährlicher Milliardenhöhe zu verteilen; ein wenig im Wes-

Wachgeküsst
ten, ein wenig in Mitteldeutschland und vor allem in der Bundeshauptstadt. In
Genesis 25, 29–34, heißen die ungleichen Brüder Jakob und Esau, der erstere
kauft dem anderen das Erstgeburtsrecht für ein Linsengericht ab. Der Preis für
diese Art von Linsengerichten ist hoch. Was die Länder nicht realisieren, das ist
die fortgesetzte Schwächung der Länderebene bis dahin, daß heute einer Mehr-
zahl der Bürger Rang und Aufgaben der deutschen Länder nicht mehr vor Augen
stehen und für allzu viele das politische Ganze der Länder und ihres Bundes zu
einem unbegreiflich Fremden wurde. Dies ist der möglicherweise folgenreichste
Angriff auf die freiheitlich-demokratische Verfaßtheit der Bundesrepublik, kei- 156
ne plötzliche Revolution, sondern eine permanente Erosion, die ihr Ziel beim
Kampf um abnehmende Aufmerksamkeit für die Länderebene längst erreicht hat. 157
Die nach dem Einigungsvertrag zentrale Herausforderung der deutschen
Kulturpolitik hat der Bund bislang links liegengelassen, die nämlich der kultu-
rellen Substanz selbst, in Mittel- und mehr noch in Westdeutschland. Die deut-
schen Theater und Orchester wurden von der Deutschen UNESCO-Kommissi-
on 2014 in das bundesweite Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes aufge-
nommen und sind damit in die Ebene der gesamtstaatlichen Verantwortung
aufgestiegen. Finanziert aber werden die gut zwei Milliarden Euro öffentlichen
Zuwendungen bzw. Zuschüsse nach wie vor von den kommunalen und landes-
staatlichen Trägern. Die Haustarifverträge vieler mitteldeutscher Theater und
Orchester sehen derzeit eine Mitfinanzierung von oft 20 Prozent durch Lohn-
verzicht der Beschäftigten vor; der Neubau der Staatsoperette Dresden wur-
de wesentlich durch langjährigen Lohnverzicht der Mitarbeiter finanziert. Die
Strukturprobleme der deutschen kulturellen Infrastruktur sind ein gesamtstaat-
liches Problem.
Wer aber vertritt im »unitarischen Bundesstaat« den Gesamtstaat kulturpo-
litisch? Sollte man nun (Variante A) das Grundgesetz ändern und dem Bund eine
ordnend-mitfinanzierende Rolle bei der kulturellen Infrastruktur auch in der Ver-
fassungsordnung einräumen? Oder sollten (Variante B) die Länder ihre genu-
in-gesamtstaatliche Verantwortung für Kunst und Kultur nicht länger konkur-
rentiell, sondern auch institutionell als gemeinsame wahrnehmen? Und würde
dies, eingedenk der notwendigen Autonomie der Künste, das politische Ziel einer
stärkeren Sichtbarkeit der Länderebene auch tatsächlich bürgerwirksam unter-
stützen? Würde, hypothetisch gefragt, ein Vorwegabzug Kultur aus dem Länderfi-
nanzausgleich um die bewußte knappe Milliarde zugunsten einer Länderinitiati-
ve – bei Umlenkung der bisherigen Innenkulturmittel des Bundes in die Auswär-
tige Kulturpolitik – Hervorragendes für das Ansehen Deutschlands leisten kön-
nen; das eine im Inneren, das andere und in der Welt? Es ist der Zusammenhalt
Deutschland als Ganzes, dem sichtbar Gefahr droht. Was können die Künste, was
sollten die Länder, was muß der Bund kulturpolitisch leisten?
Projektförderung und Nachhaltigkeit jedenfalls schließen sich per definitio-
nem aus; dies ist ein Zentraldilemma der letzten beiden Jahrzehnte der Bundes-
kulturpolitik. Ein Weiter so (Variante C) ist die schlechteste Option.

3. — Türöffner — Bundes­kulturpolitik vor 1998


Fazit

Seid umschlungen, Milliarden! Was mit den schwachen Ländern Mitteldeutsch-


lands 1991–1994 begonnen hatte, die sich gegen ihre Entmündigung weder weh-
ren wollten noch zu wehren vermochten, hat zwischenzeitlich das gesamtstaat-
liche Gefüge erreicht. Vom süßen Gift der Bundesmittel betäubt, haben die Län-
der die Erosion ihrer Teilsouveränität toleriert bzw. nicht wahrnehmen wollen.
So schnell wie es statthaft war, hat sich der Bund aus der lästigen Institutionen-
finanzierung Mitteldeutschlands herausgezogen; die Mitteldeutsche Barockmu-
sik oder das Lessingmuseum Kamenz sind reine Feigenblätter, die die Bundesab-
senz auf der institutionellen Ebene hier wie in Westdeutschland kaschieren und
die Projektförderung um so effektiver medialer glänzen lassen.
Dass die Kultusministerkonferenz der Länder als kraftvoller Akteur hervor-
getreten wäre, sei es vor 1990 oder seither, würde kein Kenner der Materie zu
behaupten wagen. Nachhaltig, so das Resümee, war die »Übergangs«-Finanzie-
rung des Bundes im Rückblick durchaus. Allerdings nicht für Mitteldeutschland
und seine Kulturinstitutionen, sondern als Türöffner einer extrakonstitutionel-
len Bundeskulturaktivität. Die den Künstlern Gutes tut, dem Land jedoch nach-
haltig politischen Schaden zufügt.

Wachgeküsst
Klaus-Dieter
­Lehmann
Vereinigung von 158

­Kultureinrichtungen 159

Mit dem Einigungsvertrag vom 3. Oktober 1990 hatten die Deutschen nach Jahr-
zehnten der Teilung wieder in Freiheit und Einheit zusammengefunden. Auch
wenn die politischen und ökonomischen Aspekte die öffentliche Diskussion der
Wiedervereinigung bestimmten, so war dieser Prozess ohne ein gemeinsames
kulturelles Verständnis nicht denkbar. 40 Jahre Trennung in unterschiedlichen
Gesellschaftssystemen, mit unterschiedlichen Wertevorstellungen und der Ein-
bindung in eine politische bipolare Weltordnung hatten offensichtlich nicht ver-
mocht, die gemeinsame Grundlage zu zerstören. Der Kulturartikel 35 des Eini-
gungsvertrages vom 31. August 1990 beginnt mit dem Satz: »In den Jahren der
Teilung waren Kunst und Kultur – trotz unterschiedlicher Entwicklungen der
beiden Staaten in Deutschland – eine Grundlage der fortbestehenden Einheit
der deutschen Nation.«
Nachdem der Deutsche Bundestag 1991 seinen Hauptstadtbeschluss ge-
fasst hatte, zogen Parlament und größtenteils auch die Regierung 1998/1999 von
Bonn nach Berlin um. Für die Kultur bedeutete das eine größere Aufmerksam-
keit für die Hauptstadtkultur, aber zugleich auch eine gestalterische bundespo-
litische Zuständigkeit für Kultur unter Beachtung des Kulturföderalismus durch
das Schaffen eines neuen Amtes. Die 1998 gewählte Regierung mit Bundeskanz-
ler Schröder etablierte einen Staatsminister für Kultur und Medien (BKM), des-
sen erster Amtsinhaber Michael Naumann wurde.
Für zwei große kulturelle Einrichtungen trug der Bund während und nach
dem Vereinigungsprozess eine besondere Verantwortung: für die im Einigungs-
vertrag von 1990 erfolgte Zusammenführung der Deutschen Bibliothek und der
Deutschen Bücherei zur Deutschen Nationalbibliothek – hier hatte er rechtlich
die alleinige Verantwortung – und für die westdeutsche Stiftung Preußischer
Kulturbesitz. Zwar hatte das Errichtungsgesetz der Stiftung von 1957 bereits die
Wiedervereinigung Deutschlands mitgedacht, aber erst auf der Grundlage des Ei-
nigungsvertrages konnte die Teilhabe des Bundes und aller 16 Länder verhandelt
werden. So wurde über verschiedene Phasen der Verhandlungen 1992 das Erbe

3. — Türöffner — Bundes­kulturpolitik vor 1998


Preußens in die neue Verfassungswirklichkeit eines kooperativen Föderalismus
überführt und die Stiftung Preußischer Kulturbesitz zu einer nationalen Stiftung.
Sie bildet in der gemeinsamen Verantwortung den Bundesstaat ab. Der Stiftungs-
rat, dessen Vorsitz beim Bund liegt, bis 1998 beim Innenminister, ab dann beim
Staatsminister für Kultur und Medien, schafft die nötigen Rahmenbedingungen,
während der Präsident der Stiftung die Geschäfte führt.
Das eine ist die Verfassungswirklichkeit, das andere die Lebenswirklichkeit.
Politische und juristische Kategorien allein können die Vereinigung nicht fas-
sen. Institutionelle Kultureinrichtungen dieser Größenordnung zu vereinen, er-
weist sich nicht nur als intellektuelle Herausforderung, sondern erfordert auch
gravierend psychologische Faktoren in Betracht zu ziehen. Es ist ein zutiefst
menschlicher Prozess.
So wie viele 1989/1990 nur eine bessere DDR wollten, so wollten viele nur
eine bessere Deutsche Bücherei – ohne Fusion mit der Deutschen Bibliothek.
Und auch bei den Frankfurter Kollegen bestand keine ungeteilte Freude, plötz-
lich teilen und Veränderungen akzeptieren zu müssen. Zu unterschiedlich wa-
ren die über Jahrzehnte getrennt entwickelten Strukturen, zu prägend waren die
existierenden Denkstrukturen. Die politischen Umwälzungen haben viele in der
ehemaligen DDR nochmals an den Anfang gesetzt. Hinzu kam die existenzielle
Angst vor der ungewissen Zukunft, die sich wie Mehltau über die Besprechun-
gen legte. Eine allgemeine Bußfertigkeit oder undifferenzierte Betrachtungswei-
se war kaum geeignet, die Zukunft zu gewinnen, ebenso wenig das Festhalten an
antiquierten Arbeitsmethoden. Die Gefahr, dass ein Standort »abgewickelt«, über
die Köpfe der Experten hinweg entschieden wird, Verweigerungshaltungen in-
tern entstehen, war groß. Es galt, der Selbstbestimmung auch die Selbstbeherr-
schung zur Seite zu stellen.

Wir wussten,
—— e in Vereinigungsmodell kann nicht mit dem Schutz eines um-
zäunten ­Reservates rechnen, es muss sich legitimieren,
—— die Zeit arbeitet nicht für uns, es müssen rasch überzeugende
Ergebnisse vorgelegt werden,
—— nur die gleichwertige bibliothekarische Kompetenz in Leipzig und
Frankfurt schafft die nötige Akzeptanz, sie muss durch intensive
Schulung und Personalaustausch erreicht werden,
—— wir benötigen Allianzen auch außerhalb unserer Bibliotheken,
sonst wird das Vereinigungskonzept zur Nabelschau.

Wir wollten,
—— d ass am Standort Leipzig und am Standort Frankfurt jeweils eine funk­-
tions­fähige Bibliothek und die Fachkompetenz erhalten bleiben,
—— dass bei der Literaturerschließung Doppelarbeit vermieden wird und in
beiden Bibliotheken das gleiche Bearbeitungsniveau geschaffen wird,

Wachgeküsst
—— d
 ass eigene Schwerpunktbereiche eines Standortes weder geteilt noch
­verlagert, sondern für eine spezifische Profilierung genutzt werden.

Obwohl die politische Ausgestaltung der Wiedervereinigung nach dem Mauerfall


noch nicht konkretisiert war, trafen sich bereits am 24. Januar 1990 Bibliotheks-
vertreter aus Leipzig und Frankfurt auf halbem Wege in Thüringen, um die Zu-
sammenarbeit zu formulieren. Sie gingen von einer vereinten Nationalbibliothek
aus. Voraussetzung für die Fortführung der beiden Standorte war auch die Bereit-
schaft der Verleger, künftig zwei Pflichtexemplare abzuliefern. Auf den Wiesba- 160
dener Buchhändlertagen am 5. März 1990 gaben die Verleger ihre Zustimmung.
In Kenntnis der Planungsüberlegungen der bibliothekarischen Fachleute äußerte 161
sich am 2. Mai 1990 der damalige Innenminister, Wolfgang Schäuble, zustimmend
zu den Vereinigungsplänen »zur Deutschen Nationalbibliothek«. Damit war der
Weg frei für die endgültige Planungsgrundlage zur Zusammenführung der beiden
Bibliotheken zu einer Organisation vom 18. Juni 1990. Eine Koordinierungsgrup-
pe legte daraufhin ein verfeinertes Vereinigungskonzept vor, das Eingang in den
Einigungsvertrag fand. Schon am 3. Januar 1991 erschien das erste Heft des Wö-
chentlichen Heftes der gemeinsamen Deutschen Nationalbibliografie.
Die Deutsche Bücherei Leipzig und die Deutsche Bibliothek Frankfurt am
Main wurden eine rechtsfähige bundesunmittelbare Anstalt des öffentlichen
Rechts mit Sitz in Frankfurt und Leipzig. Es war ein Bekenntnis zu den traditio-
nellen Buchstandorten Leipzig und Frankfurt, das Konzept legitimierte sich öko-
nomisch, indem Beschaffung und Erschließung arbeitsteilig durchgeführt wurde,
keine Doppelarbeit, die Schwerpunkte »informationstechnische Zuständigkeit mit
Produktion« und »Distribution der nationalbibliografischen Dienstleistungen«
wurden Frankfurt zugewiesen, mit »Deutschem Buch- und Schriftmuseum« so-
wie »Bestandserhaltung« profilierte sich Leipzig. Die fachliche Integration schaff-
te eine neue tragfähige Identität.
Das Bekenntnis zu zwei Standorten hat nicht nur seine Bewährung bestan-
den, es hat sich außerordentlich entwickelt. Schon im Sommer 1991 stimmte
der Bundestag für einen Neubau der Deutschen Bibliothek in Frankfurt, der am
14. Mai 1997 durch den damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl eröffnet wurde. In
Leipzig wurde das prachtvolle Jugendstilgebäude von 1912 aufwändig restauriert.
Nach Fertigstellung des Frankfurter Gebäudes begannen die Erweiterungspläne
für Leipzig, jetzt schon in der Verantwortung des BKM. Es ging um ein Konzept
für das Deutsche Buch- und Schriftmuseum, den Umzug des Deutschen Musik-
archivs von Berlin nach Leipzig und die Anbindung der Büchertürme. Am 9. Mai
2011 konnte der damalige Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Me-
dien, Staatsminister Bernd Neumann, den Erweiterungsbau eröffnen.
Die digitalen Publikationen kamen im Juli 1998 auf Basis einer Rahmenver-
einbarung in die Bibliothek, dafür war sie gut gerüstet. Nach erfolgreicher Test-
phase sprach sich die damalige Staatsministerin für Kultur und Medien, ­Christina
Weiss, 2004 für eine Erweiterung des gesetzlichen Sammelauftrags um digitale

3. — Türöffner — Bundes­kulturpolitik vor 1998


Medien aus, das 2006 in Kraft trat. Die Deutsche Nationalbibliothek als Ort und
als Netzknoten hat die Entwicklungsschritte der veränderten Buchwelt, die inter-
nationalen Vernetzungen und Standardisierungen, die Servicefunktionen nicht
nur gemeistert, sondern inhaltlich kreativ gestaltet. Das 1990 erarbeitete Konzept
war offensichtlich geeignet, den künftigen Anforderungen offensiv zu begegnen.
Während die vereinten Bibliotheken Leipzig und Frankfurt bereits mit dem
3. Oktober 1990 rechtlich und organisatorisch funktionsfähig waren, gestalte-
te sich das für eine mögliche Zusammenführung der Museen und Staatsbiblio-
theken zu Berlin schwieriger. 1992 waren aber die juristischen Schritte für die
auf Bund und 16 Länder erweiterte Stiftung Preußischer Kulturbesitz weitge-
hend abgeschlossen. Die Stiftung verfügte nach der Wiedervereinigung mit zwei
Staatsbibliotheken, 17 Museen, dem Geheimen Preußischen Staatsarchiv und ei-
ner Reihe von Forschungseinrichtungen über einen kulturellen Reichtum, der für
Europa einzigartig war. Kernstück war zweifellos die Museumsinsel. Innerhalb
von 100 Jahren – von 1830 bis 1930 war eine Tempelstadt der Künste und Kul-
tur entstanden, die mit fünf wegweisenden Museen über 6.000 Jahre Mensch-
heitsgeschichte präsentieren, von Babylon, über Ägypten, die Antike, das Mit-
telalter bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Durch den Zweiten Weltkrieg wur-
den die Sammlungen geteilt, zum Teil verschleppt und vernichtet, die Gebäu-
de erheblich zerstört.
In den Zeiten der geteilten Stadt war in Westberlin am Kulturforum quasi
eine zweite »Museumsinsel« entstanden, mit den nach Westdeutschland verla-
gerten Beständen. 1968 wurde die Neue Nationalgalerie von Mies van der Rohe
eröffnet, 1985 folgte der Neubau für das Kunstgewerbemuseum und noch 1998
wurde der Neubau der Gemäldegalerie am Kulturforum eröffnet, mit den inzwi-
schen vereinigten Beständen zur alten europäischen Malerei vom 13. bis zum 18.
Jahrhundert. Ein Umdenken nach der Wiedergewinnung der Museumsinsel für
eine Neudefinition der Standorte war offensichtlich bei der Stiftung nicht vor-
gesehen und auch die Öffentlichkeit hat die Kraft und die Ausstrahlung dieser
Bildungslandschaft, die mit den Namen der Brüder Humboldt und Schinkel ver-
knüpft ist, nicht erkannt. Sie war durch die Teilung entrückt und fremd gewor-
den. So war die Zeit vom Mauerfall bis 1998 eher durch den Begriff »Berliner Mu-
seumsstreit« geprägt als durch eine Neuordnung.
Mit der Neueinrichtung des Amtes eines Staatsministers für Kultur und Me-
dien und durch die Neuberufung des Präsidenten der Stiftung Preußischer Kul-
turbesitz Ende 1998 änderte sich das Personaltableau und damit auch die Blick-
richtung. Beide sahen als das konsequente Projekt der Einheit die Rückkehr in
die Mitte Berlins und machten die Museumsinsel zu einem zentralen Anliegen.
Bezeichnenderweise wählte der Präsident zu seiner Amtseinführung die Ruine
des Neuen Museums als Versammlungsort aus, mit dem Versprechen der Fertig-
stellung in seiner Amtszeit. In intensiven Klausurtagungen aller Museumsdirek-
toren wurde ein Masterplan für die Museumsinsel konzipiert, dem der Stiftungs-
rat im Juni 1999 zustimmte und der bis heute Bestand hat. Verbunden war damit

Wachgeküsst
auch die zukunftsfähige Finanzierung der Sanierung der Museumsinsel. Es soll-
te wieder die Freistatt für Kunst und Wissenschaft werden. Der damalige Bun-
deskanzler, Gerhard Schröder, hat beim Richtfest der Alten Nationalgalerie im
Oktober 1999 eindrucksvoll die Weltoffenheit, die Bildung und die Toleranz die-
ses Weltmuseums betont und sein Engagement verdeutlicht.
Die Elemente des Masterplans nehmen sensibel die traditionellen Linien
der Museumsinsel auf. Sie erschöpfen sich aber nicht in einer Rekonstruktion,
sondern ergänzen und interpretieren. So wird mit der James-Simon-Galerie ein
weiteres Gebäude das Ensemble ergänzen, mit Serviceeinrichtungen und Audi- 162
torium, eine Archäologische Promenade soll die Gebäude zusätzlich zu den je-
weiligen Eingängen ergänzen und das Neue Museum wurde mit dem Zusammen- 163
wirken von historischer Substanz und moderner Architektursprache das span-
nendste Museum schlechthin.
Im August 1999 wurde Peter-Klaus Schuster neuer Generaldirektor, der ge-
meinsam mit Staatsminister und Präsident zum Verfechter des Masterplans in
den Detailplanungen wurde. Er schrieb nicht nur den Masterplan für die Muse-
umsinsel fort, sondern formulierte auch den Masterplan Kulturforum als ein Ort
der Moderne. Nicht nur die Museumsplanung hatte ihre dramatischen Phasen.
Dramatisch waren auch die Entscheidungsphasen für die Zukunft der Staatsbi-
bliothek, bei denen stark divergierende Positionen zwischen Stiftung und Bun-
desrechnungshof bestanden. Sie konnten überwunden werden und der Deut-
sche Bundestag stimmte den gefundenen Lösungen mit einer entsprechenden
Finanzierung zu.
Während die Staatsbibliothek an der Potsdamer Straße bevorzugt die mo-
derne Literatur bearbeitet und verfügbar hält und damit zu einer Forschungsbi-
bliothek der Moderne wird, ist die Staatsbibliothek Unter den Linden als Histo-
rische Forschungsbibliothek, ergänzt mit den großen Sondersammlungen, an-
gelegt. Mit mehr als zehn Millionen Bänden ist die Staatsbibliothek zu Berlin
inzwischen wieder die größte wissenschaftliche Universalbibliothek im deutsch-
sprachigen Raum, vergleichbar der British Library in London oder der Biblio-
thèque Nationale de France in Paris. Sie gehört zu den bedeutendsten Quellen-
sammlungen der Welt und vermittelt gleichermaßen den Zugang zum Patrimo-
nium der Deutschen und zum Weltkulturerbe.
Alle kulturellen Quellen unter einem Dach zu vereinen, ist einzigartig in der
Welt. Sie aufeinander zu beziehen ist die große Chance für Wissenschaft, For-
schung, Kunstliebhaber und das interessierte Publikum. Die Wiedervereinigung
hat uns ein großes Potenzial eröffnet.

Literatur
—— Planungsüberlegungen zu einer Zusammenführung von Deutscher Bücherei in Leipzig und
Deutscher Bibliothek in Frankfurt a. M. In: Dialog mit Bibliotheken. Jg. 2, 1990, Nr. 3, S. 14–20
—— Lehmann, K.-D.: Die Deutsche Bibliothek – Was bleibt – was wird. In: ZfBB, Sonderheft 55, 1992, S. 71–82.

3. — Türöffner — Bundes­kulturpolitik vor 1998


—— Gottfried Rost: Was die Mode streng geteilt.
In: ZfBB Jg. 39, 1992, S. 181–195.
—— Ute Schwens und Jörg Räuber: Aus zwei mach eins.
In: Dialog mit Bibliotheken 2015/2, S. 4–24.
—— Klaus-Dieter Lehmann (Hg.): Schätze der Weltkulturen in den Sammlungen
der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Nicolai, Berlin 2000
—— Klaus-Dieter Lehmann: Vogel Phoenix. In: Jahrbuch Preußischer
Kulturbesitz, 2007, S. 120–126.

Wachgeküsst
164

165

3. — Türöffner — Bundes­kulturpolitik vor 1998


4.
Vom Rhein
an die Spree

Sichtbarer
Aufbruch der
Bundes­
kulturpolitik
20 Jahre
neue Kulturpolitik
des Bundes
Wachgeküsst 1998—2018
Knut Nevermann
Rückblick auf
eine Geburt 166

167
Am 27. Oktober 1998 war es so weit: Nach 16 Jahren Kanzlerschaft übergab Hel-
mut Kohl im damaligen Kanzleramt in Bonn (»Sparkassengebäude«) die Geschäf-
te an den gerade gewählten Gerhard Schröder. 16 Jahre pausenloser Regentschaft
werfen – trotz des historischen Lichts der Zeit – immer auch Schatten, vor allem
auf den Mikrokosmus des Kanzleramts. Kanzlerwechsel waren schlicht aus der
Übung. In den vorbereitenden Gesprächen »auf Arbeitsebene« wurden wir Neu-
en durchaus hilfsbereit unterstützt, aber untrainiert und kenntnislos: Man sagte
uns, die Übernahme einer Abteilung aus einem anderen Ministerium setze voraus,
dass entsprechende Änderungen des Haushaltsplan vom Bundestag beschlossen
würden und dass die Mitarbeiter einzeln (mit ihrer Zustimmung und Mitwirkung
des Personalrats) versetzt werde müssten. Oh je, wir waren entsetzt, aber glaub-
ten der Sache nicht – das konnte einfach nicht wahr sein. Nach einer schlaflosen
Nacht bekamen wir professionelleren Rat. Auch Verfassungsrecht – sogar im An-
gesicht einer geschriebenen Verfassung wie dem Grundgesetz – offenbart sich oft
erst in der Verwaltungspraxis: Es ist die Organisationsgewalt des Bundeskanz-
lers, die hier »basta«-artig wirkt und die sich – ungeschrieben – aus dem Zusam-
menhang seines Rechts, Bundesminister zu ernennen und zu erlassen, und aus
seiner Richtlinienkompetenz ergibt (Art. 64 und 65 GG). Ein Organisationserlass
des Bundeskanzlers verändert uno actu Zuständigkeiten, Haushalt und Personal.
Das »alte« Kanzleramt und vor allem die Organisationsabteilung waren nicht
glücklich über den Zuwachs einer neuen Abteilung. Kultur … diese Leute vom
grünen Wagen …, die können nicht mit Geld umgehen und wollen lieber auffal-
len als diskret zu funktionieren, wie es in der hochpolitischen Trutzburg üblich
ist. Das begann beim Namen: die neue Abteilung bekam den Namen »Beauftrag-
ter der Bundesregierung für Angelegenheiten der Kultur und der Medien beim
Bundeskanzler«. Das Wort »Angelegenheiten« steht für »einige, wenige und ein-
zeln zu identifizierende« Aufgaben (es wurde erst 2002 gestrichen); »beim Bun-
deskanzler« bedeutet: eigenes Kapitel im Haushalt für Geld und Stellen, deut-
lich abgegrenzt vom Haushalts des Bundeskanzleramtes, um einen ruinösen Zu-
griff durch die Kulturleute auszuschließen. Andererseits: »beim Bundeskanzler«
klingt sehr machtnah. Und da wir Tür an Tür mit dem Kanzler und dem Chef des
Kanzleramtes arbeiteten, trug dies zweifellos zum Ansehen des Amtes bei. We-

4. — Vom Rhein an die Spree – Sichtbarer Aufbruch der Bundeskulturpolitik


der 2002 noch 2005 gab es relevante Bestrebungen aus dem Kanzleramt aus und
in ein eigenes (sehr kleines!) Ministerium einzuziehen. Der Amtsinhaber sollte
den Status eines Staatsministers bekommen. Staatsminister sind parlamentari-
sche Staatssekretäre, die bis dahin (aus protokollarischen Gründen) nur im Aus-
wärtigen Amt tätig waren. Nun wurde diese Möglichkeit, den Titel »Staatsmi-
nister« zu führen, auf das Kanzleramt ausgedehnt und erst durch eine formelle
Gesetzänderung (hier reichte die Organisationsgewalt des Kanzlers nicht mehr)
konnte die Möglichkeit geschaffen werden, dass auch eine Person, die nicht Mit-
glied des Deutschen Bundestages ist, parlamentarischer Staatssekretär und damit
Staatsminister werden konnte. Das zog sich natürlich etwas hin, aber es klappte
Noch Monate mussten wir im Detail um Etatposten und Stellen kämpfen.
Wir brauchten nicht nur einen Leitungsstab neu, sondern auch Haushalts-, Per-
sonal- und Organisationsreferenten. Neue Stellen und neues Geld konnte natür-
lich auch ein Organisationserlass des Kanzlers nicht schaffen. Der vom Kohl-Ka-
binett beschlossene Haushalt für das Jahr 1999 wurde erneut im Kabinett beraten
und erst im Sommer 1999 vom Bundestag beschlossen. Bis dahin war »vorläufi-
ge Haushaltsführung«, in der Neues nicht begonnen werden konnte. Hier gab es
Erfolge und Niederlagen für das neue Amt des BKM. Eine bittere Niederlage war,
dass der Bundesfinanzminister zusätzliche Gelder für Berlin und die neuen Län-
der an die Bedingung knüpfte, Mitfinanzierungen von Kultureinrichtungen der
Länder in 1999 zu halbieren und in 2000 ganz zu streichen. Das betraf vor allem
bayrische Einrichtungen. Und so schlug der Protest in Bayern, vor allem in Bay-
reuth, besonders hohe und aggressive Wellen. Im Haushalt 2000 wurde diese
Strafaktion gegen Bayern wieder korrigiert. Übrigens (praktisches Verfassungs-
rechtslernen) der Bundeshaushalt wird vom Finanzminister im Benehmen (also
nach Anhören!) mit den Ressorts aufgestellt und dem Kabinett vorgelegt: nur
hier und mit dem Bundeskanzler kann es Änderungen geben.
Eine weitere Niederlage war, dass im Stellenplan des BKM eine Fülle von
kw-Vermerken ausgebracht bzw. übernommen werden mussten; kw (künftig
wegfallend) bewirkte, dass wir keinen Personalwechsel planen konnten, ohne
Gefahr zu laufen, die Stelle definitiv zu verlieren. Es war halt die Zeit, in der die
Verschuldung des Staates als politisches Problem erkannt und mit dem Geld sehr
restriktiv umgegangen werden musste. Allen Ressorts wurden Pauschale Min-
derausgaben in den Haushalt geschrieben, dem BKM 12 Prozent seines bis dahin
geplanten Volumens! Zwar kannten wir, die wir in den Ländern bereits breite Er-
fahrungen gesammelt hatten, derartige haushaltspolitische Massaker und hat-
ten gelernt, dass nichts so heiß gegessen wird wie es gekocht wurde – aber für
den gewollten Auf- und Ausbau einer neuen Bundesbehörde waren das denkbar
schlechte Voraussetzungen. Trotzdem: Wir erkämpften einige größere Zuwäch-
se (für die Neuen Länder, für Berlin, für die Kulturstadt Weimar und die Expo in
Hannover) und erreichten, dass die kw-Vermerke nach zwei Jahren vom Parla-
ment einfach gestrichen wurden und die Abwicklung der Pauschalen Minderaus-
gabe recht großzügig gehandhabt wurde. Immerhin.

Wachgeküsst
Im Sommer 1999 zog das Kanzleramt um nach Berlin, in das Staatsratsgebäude.
Die hohe Politik war also jetzt in Berlin, aber fast alle Mitarbeiter noch in Bonn.
Das gilt für den/die BKM bis zum heutigen Tag (auch wenn die Zahl der Mitar-
beiter in Berlin inzwischen erheblich gewachsen ist). Dies hat das Zusammen-
führen des neuen BKM-Amtes nicht gerade erleichtert. Es bestand zum großen
Teil aus der Kulturabteilung des Bundesministeriums des Inneren, deren lang-
jähriger Leiter (Sieghardt von Köckritz) über 20 Jahre (bis 1993) tätig und bundes-
weit hochgeschätzt war. Vor allem nach der Wende konnte er in den neuen Län-
dern mit viel Geld den Umbau mitfinanzieren. Hinzukamen Referenten aus dem 168
Wirtschaftsministerium (Filmförderung) und dem Bauministerium (Baukultur).
Gewachsene Strukturen, eine weitgehende politische (16-jährige) Homogeni- 169
tät und finanzielle Restriktionen – es gibt bessere Bedingungen, wenn man neue
politische Akzente setzen will und – natürlich – diese mit den Mitarbeitern, nicht
gegen oder ohne sie umsetzen will. Aber die meisten wollten auch etwas Neues.
Die Angliederung ans Kanzleramt wurde begrüßt, die öffentliche Sichtbarkeit des
Staatsministers tat dem Selbstwertgefühl gut, neue Referate, neue Kollegen – wer
wollte, konnte reüssieren. Und es gab, wie ich immer wieder mit Dankbarkeit erin-
nere, nicht einen einzigen Fall der Illoyalität der neuen Leitung gegenüber. Dies
war aus einem merkwürdigen Grund nicht ganz selbstverständlich: Das BMI soll-
te nach Berlin umziehen. Da nach dem Bonn-/Berlin-Gesetz auch Berlin-Ressorts
einen Teil (20 Prozent) ihres Personals in Bonn belassen mussten, war die Kul-
turabteilung ausgewählt worden, für das BMI in Bonn zu bleiben. Es fanden rege,
aber komplizierte Tauschaktionen statt: wer akzeptable Gründe hatte, in Bonn
zu bleiben, konnte mit jemanden tauschen, der aus der Kulturabteilung weg und
nach Berlin wollte. Nicht gerade sachlich-fachliche Gründe, einen Referenten-
posten zu bekommen. Aber unter dem Strich hat das funktioniert, es blieb eine
hochqualifizierte Mitarbeiterschaft. (Fehlbesetzungen gibt es in jeder Behörde …)
An politisch hochbrisanten Baustellen bestand kein Mangel. Besonders das
Holocaust-Mahnmal in Berlin war in schwieriges Wasser geraten. Privates En-
gagement stieß auf Prinzipien der öffentlichen Verantwortung (und Finanzie-
rung). Wir zogen das Projekt in den Deutschen Bundestag und seinen neuen Aus-
schuss für Kultur und Medien, sodass bereits im Juni 1999 eine öffentlich-recht-
liche Stiftung mit staatlicher Finanzierung errichtet werden konnte. Neben dem
Stelen-Feld wurde der unterirdischer »Ort der Information« beschlossen und die
Widmungsfrage geklärt: das Mahnmal ist nicht allen Opfergruppen gewidmet,
sondern der Ermordung der europäischen Juden.
Parallel erarbeiteten wir eine Gedenkstättenkonzeption (Juli 1999), in der
eine (unbefristete) Mit-Förderung national bedeutsamer Gedenkstätten in ganz
Deutschland festgelegt wurde. Auch das Thema »Rückgabe von Kunstgegenstän-
den an NS-Opfer« und die Washingtoner Erklärung vom Dezember 1998 wurden
aufgegriffen und zu einer gemeinsamen Erklärung weiterentwickelt, in der sich
Bund, Länder und Gemeinden verpflichten, NS-verfolgungsbedingt abhandenge-
kommene Kulturgüter an die Eigentümer zurück zu geben. Unterstützung wurde

4. — Vom Rhein an die Spree – Sichtbarer Aufbruch der Bundeskulturpolitik


in Form der Koordinierungsstelle in Magdeburg organisiert. Schwieriger gestal-
tete sich das Thema Beutekunst mit Russland; anders als die Ukraine und Polen,
mit denen Rückführungen vereinbart werden konnten, blieb Russland abweisend.
Neue Konzepte waren auch für die Kulturförderungen nach § 96 des Bun-
desvertriebenengesetzes erforderlich. Das Geld floss nicht nur in die Kulturein-
richtungen der Vertriebenen, sondern auch in die Vereine und Verbände, die Trä-
ger dieser Einrichtungen waren. Was in einem Museum geschah wurde nicht von
professionellen Museumleute entschieden, sondern von Funktionären der Ver-
bände. Dass man diese auch als Vorfeldorganisationen der CDU/CSU betrachten
konnte, lag auf der Hand. Es mussten also Strukturen geschaffen werden, die der
wissenschaftlichen Aufgabe eines Museums und der öffentlichen Finanzierung
angemessen waren. Das kostete viel Kraft, war aber erfolgreich und ist bis heute
ein Riesenfortschritt. Dadurch fühlten wir uns auch ermutigt, etwas Neues auf
diesem Gebiet anzugehen: das »Europäische Netzwerk Erinnerung und Solidari-
tät«, in dem wir mit Polen, aber auch mit Ungarn, Tschechien, der Slowakei und
Österreich versuchen wollten, zu eine gemeinsamen historischen Aufarbeitung
der opferreichen Geschichte dieser Länder in den 1930er und 1940er Jahren des
vorigen Jahrhunderts zu gelangen. Das Netzwerk begann 2005 mit seiner Arbeit.
Auch die Kürzungen, die das alte Kabinett für die Kulturförderung der Sorben in
Sachsen und Brandenburg beschlossen hatte, nahmen wir zurück.
Kämpferisch mussten wir auch die Themen Buchpreisbindung und Teilwert-
abschreibung behandeln – beides hätte Verlage und Buchhandel im Mark getrof-
fen. (Erfolgreich) Mit einem »Bündnis für den Film« wurde diskutiert, wie wir
Filmemacher, Produzenten, Verleiher und Kinos in Deutschland stärken könn-
ten. (Erfolgreich: Filmförderungsgesetz 2003) Vieles wurde in dieser Zeit ange-
packt: Vereinbarung einer neuen Medienordnung von Bund und Ländern (Ju-
gendschutz, Datenschutz, Fusionskontrolle usw.); Gesetzesnovelle zur Deut-
schen Welle; Sicherung der Künstlersozialversicherung; Weiterentwicklung des
Stiftungs- und des Stiftungssteuerrechts sowie des Urheberrechts und des Ur-
hebervertragsrechts.
Der Bund hat sich von seiner alten Hauptstadt Bonn in fairer Weise getrennt,
indem er eine langfristige Förderung der Kultur in Bonn vereinbarte. Die För-
derung der neuen Hauptstadt Berlin stieß auf größere Probleme: Der Bund hat-
te Berlin mit viel Geld unterstützt, vor 1989 sowieso, aber auch danach. Ein grö-
ßerer Teil der Mittel sollte der Hauptstadtkultur zugutekommen. Es fiel aber auf,
dass den Summen, die vom Bund für die Kultur in den Berliner Haushalt über-
wiesen wurden, vergleichbare Kürzungen im Berliner Kulturetat entsprachen. Es
gab also nicht mehr Geld für die Kultur, sondern weniger Haushaltslöcher. Um
dies zu ändern, haben wir ausgewählte Einrichtungen aus Berlin übernommen,
und zwar solche, die eine gesamtstaatliche Bedeutung haben und der nationa-
len Repräsentation dienen: Internationale Filmfestspiele (Berlinale), Berliner
Festspiele (mit Theatertreffen, Musikfest, Martin-Gropius-Bau usw.), Haus der
Kulturen der Welt. Diese sind in der Trägergesellschaft »Kulturveranstaltungen

Wachgeküsst
des Bundes in Berlin GmbH« (KBB) zusammengefasst – was trotz des kafkaesken
Namens gut funktioniert. Hinzukamen: das Jüdische Museum Berlin, die Akade-
mie der Künste und die Deutsche Stiftung Kinemathek. Stark erweitert wurde die
Finanzierung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz (alle Investitionen nach ei-
nem Masterplan) und der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten (neuerdings
ebenfalls mit Masterplan). Und alsbald begannen Überlegungen zur Mitte Ber-
lins, zum Palast der Republik und zum Schloss – architektonisch und inhaltlich.
Ein wichtiges Novum war der Hauptstadtkulturfonds, aus dem Projekte ge-
fördert werden sollen, die hauptstadtrelevant und innovativ sind. Bund und Land 170
bilden einen »Gemeinsamen Ausschuss«, der einen Kurator wählt (Dieter Sau-
berzweig war der erste und maßstabgebende Kurator) und letzte Entscheidun- 171
gen trifft. Aber fachlich votiert eine unabhängige Jury. Wichtig ist, dass nicht jede
einzelne Projektförderung (zumal wenn sie misslingt) im gesamtstaatlichen In-
teresse liegen muss, sondern dies muss insgesamt für die Projektlinien eines Jah-
res bejaht werden können – gleichsam wie ein Bouquet von Blumen, das auch
eine missratene Blüte verträgt. Auch hier kann man davon ausgehen, dass das
gesamte Geld des Hauptstadtkulturfonds in der Kulturszene Berlins ankommt.
Erst nach intensiven Diskussionen mit den Ländern konnte ein weiteres No-
vum das Licht der Welt erblicken: die Kulturstiftung des Bundes mit Sitz in Hal-
le. Sie hat ihren Schwerpunkt in der Förderung zeitgenössischer Kunst im inter-
nationalen Kontext (etwa 30 Millionen Euro Jahresetat). Den Ländern ging es ei-
nerseits um die Frage, ob die bestehende Kulturstiftung der Länder und die neue
des Bundes nicht besser zusammengelegt werden sollten. Und allgemeiner: wie
die Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Ländern im Kulturbereich sys-
tematisiert und definitiv geklärt werden könnte. Es wurden haufenweise Papie-
re erarbeitet – aber über Spitzfindigkeiten ist ein Konsens schwer zu erreichen.
Schließlich sagten die Länder: natürlich darf der Bund eine Kulturstiftung grün-
den und sie – im Rahmen seiner Zuständigkeiten(!) – tätig werden lassen. Daher
die Betonung des internationalen Kontextes.
Die Frage, welche Institution aus Bundessicht (Bundesinteresse) förde-
rungswürdig ist (und welche nicht), ist eine heikle Frage. Für die Neuen Länder
hatten wir das unglaubliche Glück, mit dem Doyen der Kulturmuseen in Deutsch-
land, Paul Raabe, eine Persönlichkeit zu haben, die von allen Beteiligten hochge-
schätzt und akzeptiert wurde. Sein »Blaubuch« beschrieb und bewertete 20 Kul-
tureinrichtungen in den Neuen Ländern und schlug deren Förderung vor. Alle
stimmten der Auswahl zu, auch Vertreter jener Einrichtungen, die nicht bei den
20 berücksichtigt worden waren. Ein kulturpolitisches Wunder.
Schon häufig habe ich mich mit der (immer noch aktuellen) Frage beschäf-
tigt, wie eine Verwaltung ihre kontrollierend und orientierende Funktion er-
füllen und gleichermaßen die künstlerische und wissenschaftliche Freiheit der
Einrichtungen respektieren und sichern kann. Dies ist nicht nur ein politisches
Credo, sondern auch ein verfassungsrechtliches Gebot. Es gibt die wunderbaren
Einrichtungen, deren Freiheit zu schützen, eine schöne Aufgabe ist: von der Bun-

4. — Vom Rhein an die Spree – Sichtbarer Aufbruch der Bundeskulturpolitik


deskunst- und Ausstellungshalle über das Haus der Geschichte und das Deutsche
Historische Museum bis zur Klassik-Stiftung Weimar und zur Kulturstiftung des
Bundes usw.. Entscheidend ist, dass die Strukturen dieser Einrichtungen funkti-
onsfähig organisiert und dann auch ernst genommen werden. Es sind die (auch
mit Externen besetzten) Stiftungs- und Aufsichtsräte, in denen die Kontrolle der
Einrichtungen stattfindet, und zwar in einer internen, aber interpersonalen Öf-
fentlichkeit; hierfür sind Referentenrunden kein Ersatz, in denen Ministerial-
beamte gern mit dem Rückgriff auf das Zuwendungsrecht auch in Kleinstfragen
hineinregieren können. Erst die interne Öffentlichkeit zwingt zu nachprüfba-
ren Argumenten, Berichten und Zahlen und schützt vor Willkür und zensurarti-
gen Aktionen. In einer verwalteten Welt, auch in einer digital verwalteten Welt,
müssen die Freiheit der Kunst und Wissenschaft und ihre alltägliche Sicherung
umsichtig organisiert werden.

Wachgeküsst
Günter Winands
Von den Anfängen
der BKM bis heute – 172

Schlaglichter einer 173

kulturpolitischen
­Erfolgsgeschichte
Die Einrichtung einer selbstständigen obersten Bundesbehörde für Kultur und
Medien war im Herbst 1998 und auch in deren Anfangsjahren alles andere als
selbstverständlich. Um von vornherein Sensibilitäten Rechnung zu tragen, der
Bund könnte in dem von den Ländern als ihre primäre Zuständigkeit bean-
spruchten Kulturbereich zu eigenmächtig Kompetenzen an sich ziehen und da-
mit die »Kulturhoheit der Länder« und den Kulturföderalismus infrage stellen,
wurde bewusst auf die Verortung in einem Bundesministerium verzichtet. Dabei
wäre dies durchaus verfassungsrechtlich möglich gewesen, weil es die Rechts-
stellung der Länder nicht tangiert hätte. Denn die Beauftragte für Kultur und
Medien (BKM) nimmt originäre ressortmäßige Zuständigkeiten wahr, die dem
Bund obliegen und die innerhalb der Bundesregierung keinem anderen Bundes-
ministerium zugewiesen sind.
Letzteres unterscheidet sie auch von allen anderen Beauftragten der Bun-
desregierung, denen jeweils ganz begrenzte besondere Aufgaben, ressortmäßig
angebunden zumeist an ein Ministerium, zugewiesen sind und die als Beauf-
tragte zu Beginn einer jeden Legislaturperiode neu durch Kabinettbeschluss in-
stalliert werden. BKM ist hingegen durch einen Organisationserlass des dama-
ligen Bundeskanzlers Schröder 1998 als – nicht allein auf eine Legislaturperio-
de bezogene – eigenständige oberste Bundesbehörde geschaffen worden. Bei ihr
muss daher bei jeder Regierungsbildung nicht das Amt der Beauftragten als sol-
ches bestätigt, sondern einzig dessen personelle Besetzung in der Leitung im
Zuge der Regierungsbildung bestimmt werden. Eine Besonderheit besteht dabei
darin, dass die jeweiligen im Kanzleramt angesiedelten Beauftragten kein Mit-

4. — Vom Rhein an die Spree – Sichtbarer Aufbruch der Bundeskulturpolitik


glied der Bundesregierung sind. Die Ressortverantwortung im Sinne von Art 65
des Grundgesetzes liegt bei der Bundeskanzlerin oder dem Bundeskanzler, d. h.
diesen obliegt insbesondere die parlamentarische Letztverantwortung für den
Bereich Kultur und Medien.
Obwohl formal also kein Bundeskulturminister, sondern »nur« ein Beauf-
tragter der Bundesregierung für (anfänglich noch: die Angelegenheiten der) Kul-
tur und Medien, konnte der neue Kulturakteur auf Bundesebene freilich mit ei-
nem die Kulturszene imponierenden und durchaus allgemein als Wertschätzung
verstandenen markanten Alleinstellungsmerkmal aufwarten: der institutionel-
len Verankerung in der Regierungszentrale. Dies war so bis dahin – im Gegen-
satz zum Medienbereich – in keinem Bundesland anzutreffen. Die überdies ein-
geführte direkte Zuordnung als Staatsminister beim Bundeskanzler, durch eine
für den ersten Amtsinhaber kurzfristig geschaffene »Lex Naumann« auch geöff-
net für Nichtparlamentarier, mit Büro in der »Bel Etage« des Kanzleramtes, ver-
leiht dem Amt bis heute eine besondere Strahlkraft. Dieses »Modell«, also das
Ressortieren der Kultur und die damit verbundene sichtbare Aufwertung in ei-
ner Regierungszentrale, wurde im Laufe der Jahre in einigen Ländern kopiert, zu-
nächst zeitweise in Berlin (2006–2016) und Nordrhein-Westfalen (2005–2010),
derzeit in Thüringen (seit 2014) und in Sachsen-Anhalt (seit 2016). Den damit
verbundenen Anspruch stellt die dortige Landesregierung auf ihrer Website mit
Ausrufezeichen klar; die Kultur sei damit in Sachsen-Anhalt »in der Zentrale der
Macht« angekommen!
Dass Kulturschaffende im Bundeskanzleramt ein- und ausgehen, die Kul-
turstaatsministerin obendrein, wenn auch ohne Stimmrecht, mit am Kabinetts-
tisch sitzt, zwar ohne Stimmrecht, aber mitberatend und auch legitimiert, eige-
ne Vorlagen einzubringen und bei anderen – nach der Gemeinsamen Geschäfts-
ordnung der Bundesministerien – im Ressortabstimmungsprozess einbezogen
zu werden, ist ein nicht zu unterschätzender Faktor für die kontinuierlich an-
gestiegene Wirkmächtigkeit und letztlich Erfolgsgeschichte der »BKM«. Hinzu
kommt, dass alle fünf bisherigen Amtsinhaber jeweils neue Aufgabenschwer-
punkte wählten, ohne die Arbeit und Erfolge der jeweiligen Vorgänger gering zu
schätzen, vielmehr affirmativ auch bei unterschiedlicher politischer Herkunft
darauf gewinnbringend aufbauten. Sie haben hierdurch das Amt auf allen Fel-
dern der Kultur- und Medienpolitik enorm profiliert, geeint in der Überzeugung,
der Stimme des Bundes sowohl in der nationalen wie internationalen, insbeson-
dere auch der europäischen Kulturpolitik selbstbewusst Gehör zu verschaffen.
Mit dem neuen Amt wandelte sich das Engagement des Bundes deutlich.
Statt einer kaum öffentlich sichtbaren, auf mittlerer ministerieller Ebene im
Bundesinnenministerium verwalteten Förderung einzelner national bedeutsa-
mer Kultureinrichtungen und -projekte, wirklich hervorgetreten nur durch meh-
rere »Kanzlerprojekte« in der Ära Kohl (Haus der Geschichte der Bundesrepub-
lik Deutschland, Deutsches Historisches Museum, Neue Wache, Kunst- und Aus-
stellungshalle der Bundesrepublik Deutschland), hin zu einer Aufgabenwahrneh-

Wachgeküsst
mung, die seitdem auf Ministerebene aktiv und gezielt Kultur- und Medienpolitik
betreibt. Und sich auch dazu offen bekennt, innerhalb der Bundesregierung, im
Parlament und darüber hinaus nicht zuletzt im öffentlichen Diskurs Interessen-
vertreter und Verteidiger der berechtigten Belange von Kultur und Medien zu sein.
Die Kultur politisch voranzubringen erfordert mehr als die finanzielle För-
derung von Kultureinrichtungen und -projekten, auch wenn dies selbstverständ-
lich ein Schwerpunkt der BKM geblieben und das Fördervolumen sogar in den
letzten 20 Jahren fast verdoppelt werden konnte. Kulturpolitik setzt sich allum-
fassender für die Belange der Kultur, der Künstler und Kulturschaffenden, der 174
Kulturverwerter wie der Kulturrezipienten ein. Dies beginnt mit dem Einsatz für
ein gesellschaftliches Klima, indem Kultur die gebotene Wertschätzung genießt, 175
über eine Gesetzgebung, die kulturverträglich ist, also auf die Besonderheiten
kulturellen Schaffens Rücksicht nimmt und gleichzeitig dessen Entfaltung – ein-
gedenk der grundgesetzlichen Verbürgung der Kunstfreiheit – fördert und sichert,
sei es im Steuerrecht, Urheberrecht oder Kulturgutschutzrecht, bis hin zu einer
Präsenz auf nationaler und europäischer Ebene, um optimale Rahmenbedingun-
gen für die Kultur mitzugestalten. Diesen weitergehenden Auftrag formulierte
Bundeskanzler Schröder, anknüpfend an entsprechende Aussagen in der dama-
ligen Rot-Grünen Koalitionsvereinbarung, nachdrücklich in seiner ersten Regie-
rungserklärung im November 1998. Der neue Kulturstaatsminister werde »Im-
pulsgeber und Ansprechpartner für die Kulturpolitik des Bundes sein und sich
auf internationaler, aber vor allem auf europäischer Ebene als Interessenvertre-
ter der deutschen Kultur verstehen. Auch dadurch wird die Bundesregierung Kul-
turpolitik wieder zu einer großen Aufgabe europäischer Innenpolitik machen.«
Das Verhältnis zu den Ländern war zu Beginn durchaus angespannt. Re-
gierungsvertreter vor allem unionsgeführter Bundesländer im Süden taten sich
schwer mit dem klar artikulierten Anspruch des Bundes auf eine wahrnehmba-
re stärkere inhaltliche Mitgestaltung und öffentliche Präsenz im Kulturbereich.
Dabei wurde eine Mitfinanzierung, etwa wie seinerzeit durch Beiträge an die Kul-
turstiftung der Länder oder im Rahmen gemeinsam getragener Kultureinrich-
tung durchaus geschätzt, aber immer nur unter dem Primat der »Kulturhoheit
der Länder«. Diese avancierte zeitweilig zu einem Kampfbegriff. Der erste Kul-
turstaatsminister Michael Naumann sprach von »Verfassungsfolklore«. Anderer-
seits hielt der damalige bayerische Kultusminister Hans Zehetmair einen Bun-
deskulturminister für so überflüssig wie einen österreichischen Marineminister
und giftete gegen eine angeblich zentralistische, auf Berlin fixierte Kulturpoli-
tik vergoldeter »Pickelhauben«.
In den ersten Jahren hatte das neue Amt immer wieder Diskussionen über
die Kulturkompetenzen des Bundes zu führen. Allerdings zeigte sich bald, dass,
wenn ein offensichtlich notwendiges und überfälliges stärkeres Bundesengage-
ment für die nationale Kulturentwicklung in Deutschland in den Grabenkämp-
fen von Zuständigkeitsstreitern gerät und hierdurch behindert wird, dem Bürger
und erst recht den Kulturschaffenden dafür jedes Verständnis fehlt. Es kam zu-

4. — Vom Rhein an die Spree – Sichtbarer Aufbruch der Bundeskulturpolitik


nächst im Vorfeld der Gründung der Kulturstiftung des Bundes, danach im Rah-
men einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe einschließlich einer mehrfachen Befas-
sung bei den halbjährlichen Besprechungen der Ministerpräsidenten mit dem
Bundeskanzler und schließlich im Rahmen der Föderalismuskommission I zu
intensiven Gesprächen über die Systematisierung der Kulturkompetenzen des
Bundes und der Länder. Es entstanden hierzu Eckpunkte und diverse Beschluss-
papiere, die aber allesamt insbesondere wegen einer starren bayerischen Positi-
on nicht abschließend konsentiert werden konnten.
Jedoch rückten die Länder zunehmend von ihrer ursprünglichen Forderung
nach einer strikten Trennung der Förderkompetenzen ab, und so wurde zwar
2006 als Ergebnis der Föderalismuskommission I im Grundgesetz ein weitge-
hendes Kooperationsverbot für den Bildungs-, nicht aber für den Kulturbereich
festgeschrieben. Die Länder erkannten zunehmend – auch vor dem Hintergrund,
dass sie ausfallende Bundesförderungen kaum jeweils hätten kompensieren kön-
nen – mehr oder weniger stillschweigend an, dass der Bund eben nicht nur kul-
turpolitisch in der Hauptstadt für nationale Gedenkstätten und für auswärtige
Kulturpolitik Verantwortung trägt, sondern z. B. auch für national bedeutsame
Kultureinrichtungen, für die Spitzenförderung von Künstlerinnen und Künstler
oder bundesweit tätige Kulturorganisationen und -verbände.
Nicht zu unterschätzen für den »Klimawandel« war die Übernahme des
Amtes nach dem Regierungswechsel 2005 durch einen Unionspolitiker. Kultur-
staatsminister Bernd Neumann »versöhnte« in den acht Jahren seiner Amtsfüh-
rung auch die unionsgeführten Länder mit der BKM, und Staatsministerin Prof.
Monika Grütters setzt dies seit 2013 nahtlos fort. Wie politisch wichtig auch der
Union zwischenzeitlich das Amt geworden ist, zeigt sich daran, dass sie es nun-
mehr seit vier Wahlperioden innehat, zeitlich doppelt so lange wie die Sozialde-
mokraten als »Erfinder« des Amtes.
War der Bund im Kulturbereich bis 1998 nur gelegentlich zu bestimmten
Einzelthemen geladener Zaungast in der Kultusministerkonferenz (KMK), und
dort auch nur in deren Kulturausschuss, also nicht im Plenum der Kultusminis-
ter oder Amtschefs, änderte sich ebenso dies schrittweise im Laufe der letzten
20 Jahre. Schon in den Anfangsjahren konnte erreicht werden, dass ein ständi-
ger BKM-Vertreter zunächst nur zu auch den Bund direkt berührenden Themen
und sodann grundsätzlich uneingeschränkt als Gast zu den Sitzungen des Kul-
turausschusses der KMK eingeladen wurde. Es stellte sich bereits frühzeitig her-
aus, dass ein solch vertrauensvoller und enger Austausch auf Arbeitsebene auch
für die Länderkollegen fruchtbar war. Nachdem 2001 die Staatskanzleien die bei-
den großen Themen Systematisierung und Entflechtung der Kulturkompeten-
zen sowie Schaffung einer gemeinsamen Kulturstiftung an sich gezogen hatten,
fühlten sich die Kulturabteilungsleiter der Länder häufig durch den BKM-Ver-
treter besser über den Verhandlungsstand informiert und einbezogen als durch
die eigenen Regierungszentralen. Es zeigte sich zudem, dass gerade im Bereich
der rechtlichen Rahmenbedingungen der Kultur, ob Besteuerung ausländischer

Wachgeküsst
Künstler, Urheberrecht oder Künstlersozialversicherung, die Einwirkungsmög-
lichkeiten auf Bundesebene entscheidend und daher informelle Abstimmungen
hierzu auch aus Ländersicht förderlich waren.
Auf Ministerebene kam es aber weiter zunächst nur zu gelegentlichen, ein-
zelfallbezogenen Teilnahmen am KMK-Plenum, wobei generell dort bis heute die
Kultur neben dem Schul- und Hochschulbereich nur eine äußerst geringe Rolle
spielt. Auf Initiative des damaligen Kulturstaatsministers Bernd Neumann ka-
men am 14. Oktober 2010 zum ersten Mal die für Kultur zuständigen Ministerin-
nen und Minister der Länder mit dem Bund zusammen, um gemeinsam aktuelle 176
kulturpolitische Themen zu besprechen. In einer Presseerklärung mit dem am-
tierenden KMK-Präsidenten Ludwig Spaenle, just einem bayerischen Kultusmi- 177
nister, wurde das Treffen beiderseits als Gewinn angesehen. »Dieses Treffen do-
kumentiert den erfolgreich praktizierten kooperativen Föderalismus im Bereich
der Kultur, der die grundsätzliche Kompetenz der Länder respektiert, aber die
Mitgestaltung und Mitverantwortung des Bundes in national relevanten Fragen
akzeptiert. Diese sehr gute Zusammenarbeit hat sich in der letzten Zeit beson-
ders deutlich am Beispiel des Konjunkturprogramms II oder auch beim Denkmal-
schutzsonderprogramm bewährt, wo Bund und Länder gemeinsam hohe Millio-
nenbeträge in die Verbesserung der kulturellen Infrastruktur investiert haben.«
Im Jahresabstand kam es zu Folgetreffen im Bundeskanzleramt, stets auf-
grund BKM-Einladungen am Rande von KMK-Sitzungen in Berlin. Staatsminis-
terin Prof. Monika Grütters kam sodann mit den Ländern überein, die Treffen,
auch vor dem Hintergrund entsprechender Aussagen in den Koalitionsverein-
barungen 2013 und 2018, in einem halbjährigen Turnus im Kanzleramt und dem
jeweiligen KMK-Vorsitzland stattfinden zu lassen. An diesen »Kulturpolitischen
Spitzengesprächen« nehmen zudem auch Vertreter der drei kommunalen Spit-
zenverbände sowie die Leitungen der beiden Kulturstiftungen KSB und KSL teil.
Inwieweit dabei länderseitig eine Anbindung an die KMK-Strukturen und -ter-
mine weiterhin sinnvoll ist, wird aktuell überlegt.
Hierbei ist zu berücksichtigen, dass alle Kulturministerinnen und -minis-
ter in den Ländern nicht »nur« für Kultur, sondern meist auch für einen weiteren,
erheblich größeren Aufgabenbereich zuständig sind, nämlich Schule und/oder
Wissenschaft; in Thüringen und Sachsen-Anhalt bekleiden sie auch das Amt des
Chefs der jeweiligen Staatskanzleien. Es ist ein nicht zu unterschätzender Faktor,
dass auf Bundesebene der Aufgabenzuschnitt allein auf die Kultur und Medien fo-
kussiert ist. Denn damit ist eine klare und engagierte kulturpolitische Ausrichtung
des Amtsinhabers möglich. Auf Länderebene gab es in den letzten Jahren nur we-
nige für die Kultur verantwortliche Leitungen, die sich dezidiert als Kulturminis-
terin oder Kulturminister verstanden oder so öffentlich wahrgenommen wurden.
Letzteres ist im Übrigen auch auf der Ebene der Städte und Gemeinden, den vo-
lumenmäßig Hauptträgern der Kultur in Deutschland, bedauerlicherweise zu ver-
missen. Es gab Zeiten, in denen einzelne Kulturdezernenten bundesweit bekannt
und im öffentlichen kulturpolitischen Diskurs eine viel beachtete Stimme waren.

4. — Vom Rhein an die Spree – Sichtbarer Aufbruch der Bundeskulturpolitik


Seit Gründung der BKM vor 20 Jahren ist deren Organisationsstruktur im Grund-
satz weitgehend unverändert geblieben. Unterhalb der Ebene der Staatsministe-
rin gibt es einen leitenden Beamten in der Funktion eines Amtschefs, darunter
ursprünglich vier, seit 2016 fünf Gruppen (K 1: Zentrale Angelegenheiten, Kul-
tur und Recht; K 2: Kunst- und Kulturförderung; K 3: Medien und Film, Inter-
nationales; K 4: Geschichte, Erinnerung; K 5: Grundsatzfragen der Kulturpoli-
tik, Denkmal- und Kulturgutschutz) und neuerdings im Leitungsbereich auch
neben Ministerbüro sowie Kabinett- und Parlamentsreferat einen Stab Kommu-
nikation, Strategische Planung und Digitalisierung. Die Gruppenleitungsstruk-
tur, die ansonsten in Ministerien unbekannt ist, wurde dem Bundeskanzleramt
nachgebildet, weil der leitende BKM-Beamte gleichzeitig dort die Funktion ei-
nes Abteilungsleiters Kultur und Medien wahrnimmt (obgleich formal kein Be-
amter des Kanzleramtes). Er nimmt deshalb nicht nur als Ressortvertreter an den
Staatssekretärsrunden im Bundeskanzleramt teil, sondern auch an den dortigen
Abteilungsleiterrunden und wie ein Kanzleramts-Abteilungsleiter auch als Gast
an den Kabinettsitzungen. Die BKM insgesamt arbeitet wie eine Kanzleramts-
abteilung der Bundeskanzlerin und dem Chef des Bundeskanzleramtes zu und
übernimmt auch die Terminbegleitung bei Themen mit Kultur- und Medienbe-
zug. Im Gegenzug gibt es kein sogenanntes Spiegelreferat im Kanzleramt, das
sich mit den Themen der BKM beschäftigt, und BKM wird überdies konsequen-
terweise in die kanzleramtsinternen Beteiligungs- und Mitzeichnungsverfahren
einbezogen. Auch dies zeigt, welchen Gewinn die Verortung in der Regierungs-
zentrale für den Kultur- und Medienbereich hat.
Die Bereiche Kultur und Medien waren, solange sie bis 1998 in einer Abtei-
lung des Bundesministeriums des Innern betreut wurden, im Zuge der Bonn-Ber-
lin Aufteilung der Bundesregierung für den Standort Bonn vorgesehen gewesen.
Dies führt bis heute zu einer örtlichen Zweiteilung der Behörde. Da die Staatsmi-
nisterinnen und Staatsminister ihr Büro im Bundeskanzleramt und damit in Ber-
lin haben, besteht letztlich eine gewisse Unschärfe bezüglich des ersten Dienst-
sitzes. Faktisch ist die Mitarbeiterschaft zwischenzeitlich fast hälftig in beiden
Städten tätig, Amtschef und alle Gruppenleitungen haben allerdings wie die Kul-
turstaatsministerin ihr erstes Büro in Berlin.
Bedeutung und Aufgaben der BKM sind über die letzten 20 Jahre stetig sig-
nifikant gestiegen. Den schrittweisen Bedeutungszuwachs der Kultur- und Me-
dienpolitik auf Bundesebene dokumentieren die jeweiligen Koalitionsvereinba-
rungen seit 1998. Beschränkten sich die Koalitionsverträge von 1998 und 2002
noch auf knapp zwei Seiten sowie 2005 und 2009 auf rund drei Seiten für das je-
weilige entsprechende Kapitel, wuchs der Umfang in den letzten beiden Verein-
barungen 2013 und 2018 auf jeweils zehn Seiten, und damit auch der damit ver-
bundene politische Auftrag an BKM und die Kulturpolitikerinnen und Kulturpo-
litiker der Regierungsparteien. Welch breites Aufgabenspektrum die BKM heute
verantwortet und vor welchen künftigen Herausforderungen sie steht, wird in an-
deren Beiträgen des vorliegenden Buches zum 20-jährigen Bestehen eindrucks-

Wachgeküsst
voll dargestellt, weshalb hierauf nicht näher eingegangen werden soll. Der Be-
deutungszuwachs der BKM drückt sich nicht zuletzt auch aus in der Verdopp-
lung des Haushaltsvolumen von rund 900 Millionen Euro jährlich auf nunmehr
über 1,7 Milliarden Euro sowie einer Erhöhung des BKM-Personals um weit mehr
als 50 Prozent auf zum Jahresende 2018 voraussichtlich fast 350 Beschäftigte.
Dabei unterhält BKM nur einen relativ kleinen Zentralarbeitsbereich, indem es
von Anfang an eine Servicegemeinschaft mit dem Bundesministerium des In-
nern (IT, Bibliothek, Sprachendienst, Poststellen) beibehalten hat. Ein Spezifi-
kum der BKM ist schließlich, dass sie im Verhältnis zur eigenen Größe über ei- 178
nen beachtlichen Geschäftsbereich mit insgesamt rund 6.000 Mitarbeitern (u. a.
Bundesarchiv, Stasi-Unterlagenbehörde, Deutsche Welle, Stiftung Preußischer 179
Kulturbesitz) und einer sehr hohen Anzahl institutionell und projektgeförder-
ter Einrichtungen verfügt.
Die BKM versteht sich indes nicht nur als Fördereinrichtung. Die Bedeutung
der rechtlichen Rahmenbedingungen für die Entfaltung von Kunst und Kultur,
das »Kulturordnungsrecht«, wurde lange Zeit unterschätzt. Dabei sind für die Kul-
tur günstige bzw. stimmige Regelungen eine indirekte Art staatlicher Kulturförde-
rung, die im Gesamtzusammenhang und langfristig gesehen für die Kulturschaf-
fenden sogar wichtiger ist als die direkte finanzielle Förderung aus Haushaltsmit-
teln. Seit Etablierung der BKM ist deshalb die »Kulturverträglichkeitsprüfung«
von Gesetzen und Rechtsvorschriften einer der Schwerpunkte der Kulturpolitik
des Bundes. Und dabei ist in den letzten Jahren insgesamt noch ständig zuneh-
mend die europäische Dimension hinzugekommen. Auf die Berücksichtigung kul-
tureller Belange muss sowohl im Rahmen der Abstimmung innerhalb der Euro-
päischen Kommission, aber auch im Europäischen Rat und Parlament geachtet
und gedrungen werden. Insgesamt ist festzustellen, dass der Kunstbetrieb allge-
mein und damit auch die BKM sich mit einer Vielzahl unterschiedlichster Rechts-
fragen und Rechtsmaterien auseinanderzusetzen haben. Und deren Zahl nimmt
angesichts der Verrechtlichung unserer Gesellschaft, die auch vor der Kunst als
Inbegriff schöpferischer Freiheit nicht halt macht, immer noch ständig zu.
Die BKM ist nach 20 Jahren endgültig der Gründerzeit entwachsen. Sie hat
als Amt Kontur gewonnen und eine Aufwertung der Kulturpolitik in Deutschland
jedenfalls in bundesweiter Perspektive bewirken können. Dies ist der Verdienst
von fünf Amtsinhabern, aber auch einer engagierten Mitarbeiterschaft, die sich
wie in kaum einer anderen Behörde mit ihren Aufgaben identifiziert, mit vie-
len Enthusiasten, die für die Kultur »brennen«. Und für alle gilt der Spruch Karl
­Valentins: »Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit.«

4. — Vom Rhein an die Spree – Sichtbarer Aufbruch der Bundeskulturpolitik


Monika Griefahn
Eine spannende Zeit
Kultur – abgesehen davon, dass nach wie vor viele Zuständigkeiten auf Ebene der
Länder liegen – ist seit der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder zur Chefsache
avanciert. Zuvor, zu Helmut Kohls Zeiten, zeichnete das Innenministerium da-
für verantwortlich und das Thema, das darf man wohl sagen, dümpelte ein biss-
chen vor sich hin. Im Jahr 1998 jedoch wanderte die Zuständigkeit ins Kanzler-
amt: Der Publizist und Verleger Michael Naumann wurde der erste Kulturstaats-
minister der Bundesrepublik Deutschland.
»Kulturminister« durfte er nicht heißen, denn Kultur war und ist nach dem
Grundgesetz Ländersache. Und so lautete seine offizielle Amtsbezeichnung »Be-
auftragter der Bundesregierung für Angelegenheiten der Kultur und der Medien«.
Viele Bundesländer waren gegenüber Schröders Vorhaben skeptisch, dem Bund
Kompetenzen zuschreiben zu wollen. Das war sogar verständlich, denn spätes-
tens mit der Gründung der Bundeskulturstiftung 2002 floss viel Geld in die Ar-
beit auf nationaler Ebene und besonders nach Berlin, in die Hauptstadt der Bun-
desrepublik Deutschland. 35 Millionen Euro hatte die neue Stiftung zu vertei-
len. Viel davon ging auch in Off-Kultur und in Projekte im ländlichen Raum. Das
mag dazu beigetragen haben, dass die Länder nach und nach das Kulturengage-
ment auf Bundesebene als Ergänzung und nicht mehr als Konkurrenz oder Be-
schränkung ihrer eigenen Kompetenzen sahen.
Ich konnte diese Entwicklung als Kandidatin für den Bundestag und später,
als Abgeordnete, erst als Mitglied und später als Vorsitzende des Ausschusses
für Kultur und Medien von Anfang an begleiten. Im Wahlkampf zur Bundestags-
wahl 1998 herrschte auch eine tolle Stimmung! Aufbruch lag in der Luft nach 16
Jahren Helmut Kohl, und das lag auch an Jaques Lang! Er war lange ein sehr er-
folgreicher Kulturminister in Frankreich, hatte dort in kleinen Orten wieder Ki-
nos etabliert und die »Exception Culturelle« in der Diskussion mit der Welthan-
delsorganisation (WTO) angestoßen. Und er erklärte, warum es einen Ansprech-
partner für Kultur auf der föderalen Ebene geben sollte.
Die Idee der »Exception Culturelle«, die später in die Konvention für kul-
turelle Vielfalt einfloss, war durch und durch europäisch: Jedes Land lebt sei-
ne jeweilige Kultur und Sprache. Und was noch wichtiger ist: Bildung und Me-
dien können auch weiterhin vom Staat unterstützt werden und sind keine rei-
nen Handelsgüter. Kulturell ist Europa eine Salatschüssel und kein Melting Pot
wie die USA. Auch viele Künstler und Intellektuelle wollten die Ära Kohl seiner-
zeit endlich beenden. Sie engagierten sich im Wahlkampf für die SPD, es gab et-

Wachgeküsst
liche kulturelle Veranstaltungen, Günter Grass war überall. Viele weitere Künst-
ler und Intellektuelle wie Oskar Negt, Klaus Staeck, Iris Berben oder Jim Rakete
folgten uns. Wie auf Regierungsebene spiegelten auch neue Strukturen im Par-
lament die neue Schwerpunktsetzung für die Kultur wider. Der Bundestag be-
kam erstmals 1998 einen Ausschuss für Kultur und Medien. Vorher war die Kultur
analog zu den Kohl’schen Regierungsstrukturen im Innenausschuss angesiedelt.
Die erste Vorsitzende des Kulturausschusses war Elke Leonhard. Ich wur-
de Sprecherin der sozialdemokratischen Fraktion für Kultur und Medien. Vie-
le fragten mich damals, was ich denn mit Kultur und Medien zu tun hätte – ich 180
war schließlich bekannt als Umweltaktivistin und -ministerin in Niedersach-
sen. Aber Arbeiten für die Umwelt und Arbeiten für die Kultur haben eines ge- 181
meinsam: Beides funktioniert nur, wenn die Vielfalt erhalten bleibt. Wir brau-
chen kulturelle Vielfalt und wir brauchen biologische Vielfalt. Für beides habe
ich mich immer eingesetzt.
Zahlreiche Themen wurden in den ersten Jahren sehr prominent und kon-
trovers diskutiert, beispielsweise die Frage, was mit dem Palast der Republik
geschehen soll. War »Erichs Lampenladen« ein erhaltenswertes Zeugnis der
DDR-Baukultur oder sollte man ihn abreißen? Sollte man das Berliner Schloss
neu aufbauen, das – kriegsgeschädigt – Walter Ulbricht in den 1950er Jahren
auch ideologisch motiviert abreißen statt sanieren ließ? Oder die Frage des Ho-
locaust-Mahnmals: ein Denkmal für die europäischen Juden mitten in Berlin?
Das alles waren wichtige, übergeordnete Fragen, deren Diskussion sicherlich
auch zu einer gesamtdeutschen Identitätsbildung beigetragen hat – auch, wenn
diese wohl immer noch nicht abgeschlossen ist. Es waren Fragen, die auf Län-
derebene allein kaum hätten diskutiert werden können.
Auch das Kunstprojekt »Der Bevölkerung« von Hans Haacke war kontrovers,
hatte viele Facetten. Haacke spielte dabei mit dem Begriff »Bevölkerung« im Ge-
gensatz zu »Dem Deutschen Volk«, wie es über dem Portal am Reichstag heißt.
Jeder Abgeordnete sollte Erde aus seinem Wahlkreis mitbringen. Ist das Blut und
Boden, fragten wir uns? Oder ist es Identität? Am Ende stimmten die Abgeordne-
ten für das Objekt, das heute noch im Hof des Reichstages besichtigt werden kann.
Ab dem Jahre 2000 folgte ich Elke Leonard als Ausschussvorsitzende. Mit
dem Hintergrund, den ich mitbrachte, war kulturelle Vielfalt immer ein Thema.
Es bewegte uns in den ersten Jahren sehr und mauserte sich schließlich zu einer
niedergeschriebenen »Konvention zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt
kultureller Ausdrucksformen«. Diese wurde bei der 33. UNESCO-Generalkonfe-
renz 2005 in Paris verabschiedet und trat am 18. März 2007 in Kraft. Deutschland
gehörte zu den ersten Ländern, die diese Konvention national umsetzten, was
mit tatkräftiger Hilfe des Kulturausschusses im Bundestag geschah.
Denn nun hatten wir die Möglichkeit, das, was die Franzosen mit der »Ex-
ception Culturelle« durchexerziert hatten, in allen Bereichen umzusetzen. Be-
sonders in der Bildungs- und Medienpolitik war das wichtig. Denn brisant war
das geplante Handelsabkommen der WTO. Die Wirtschafts- und Handelsminis-

4. — Vom Rhein an die Spree – Sichtbarer Aufbruch der Bundeskulturpolitik


ter in der Doha-Runde wollten im Großen und Ganzen alles kommerzialisieren:
Bildung sollte ein Handelsgut sein, ebenso Filme und Bücher. Also eigentlich al-
les, was wir deutschen Kulturpolitiker sozusagen individuell und als Kulturgut
schützen wollten, alles, was unserer Meinung nach nicht zu einem reinen Wirt-
schaftsgut werden durfte.
Ich erinnere mich noch sehr gut an meine erste Rede im Bundestag. Es ging
um Kultur, und ich sprach im Rahmen der Haushaltsdebatte. Nur zwei Minuten
hatte ich Zeit, den ersten Kultur- und Medienhaushalt im Rahmen des Bundes-
kanzleramtes vorzutragen. Wir strebten weiterhin eine Preisbindung für Bücher
an, um das Buch als Kulturgut zu schützen und Buchhandlungen in der Fläche zu
erhalten, die einen Preiskampf niemals überlebt hätten. Für mich als Abgeord-
nete in einem Flächenland wie Niedersachsen war das ein sehr wichtiger Aspekt.
Diese Debatte lief sehr kontrovers: Wie könnten wir die Preise künstlich hochhal-
ten wollen? Aus den USA schwappte die Idee, die Buchpreisbindung aufzuheben,
zu uns herüber, auch in Österreich gab es keine Buchpreisbindung mehr. Aber wir
setzen uns durch, und ich konnte meinen ersten Erfolg im Bundestag verzeichnen.
Und wie waren die Goethe-Institute umstritten! Sie waren und sind dazu da,
die deutsche Sprache im Ausland zu fördern und die kulturelle Zusammenarbeit,
die Völkerverständigung, zu pflegen. Wie es bei vielen Dingen ist, deren Erfolg
man nicht kausal an einer Maßnahme festmachen kann, hielten einige Politiker
die Ausgaben für diese Einrichtungen in aller Welt für überflüssig. Es entbrannte
ein Streit zwischen uns Kulturpolitikern als Befürworter und insbesondere den
Ministerpräsidenten Roland Koch (CDU) aus Hessen und Peer Steinbrück (SPD)
aus Nordrhein-Westfalen. Diese beiden hatten in einem Papier gefordert, sämt-
liche Konsumausgaben des Bundes zu kürzen. Wir aber sahen diese Ausgaben
als Investitionen an, denn wie preiswert ist ein Goethe-Institut als Dialogins-
tanz und Friedensstifter im Vergleich zu Waffen und Kriegsführung? Der Grüne
Joschka Fischer, seinerzeit Außenminister, hatte das auch nicht recht verstan-
den und wollte »vollziehen«. Ich bin sehr froh, dass unser Widerstand immerhin
dazu geführt hat, dass weniger als die geplanten 24 Goethe-Institute geschlossen
wurden. Später, unter Außenminister Steinmeier, haben wir sogar wieder welche
eröffnet. Meines Erachtens gilt die gleiche Logik für die deutschen Schulen im
Ausland: Sie haben eine starke Kraft in der deutschen Außenpolitik.
Innenpolitisch hat der Ausschuss für Kultur und Medien etliche Zeichen
gesetzt. Die Themen Erinnerungskultur und Beutekunst gehören zu den großen
Linien nationaler Angelegenheiten, die einen deutlichen Schub bekommen ha-
ben und gut dazu waren, unser Verhältnis zu unserer Historie aufzuarbeiten. Ent-
standen sind neben dem Holocaust-Mahnmal auch ein Denkmal für die im Nati-
onalsozialismus verfolgten Sinti und Roma sowie für die Lesben und Schwulen.
Diese Mahnmale machen uns empfindsam für die schrecklichste Epoche deut-
scher Geschichte. Das sind nicht nur Bauwerke, das bedeutet Auseinanderset-
zung, Bekenntnis und Fortschritt. Aber auch die Gedenkstätten in den Bundes-
ländern wurden gefördert und betont.

Wachgeküsst
An dieser Stelle schließt sich der Kreis auch in der Zusammenarbeit mit ande-
ren Ausschüssen. Natürlich war es im Alltag immer unsere Hauptaufgabe, die
»Haushälter« zu überzeugen. Aber inhaltlich haben wir ebenfalls, auch durch
meine Person, intensiv mit dem Außenausschuss zusammengearbeitet und so
beispielsweise den »Dialog der Kulturen« auch mit islamischen Ländern intensi-
viert – gerade nach den Attentaten in den USA und dem Kampf gegen die Taliban
in Afghanistan. Niemals werde ich die Wiedereröffnung des Goethe-Instituts in
Kabul 2003 vergessen, als Musiker, die unter der Herrschaft der Taliban ihre Ins-
trumente versteckt und vergraben hatten, nun zusammen mit einem bayrischen 182
Zitterspieler musizieren konnten, obwohl keiner des anderen Sprache kannte!
Strukturell haben wir durch die Projekte, die über die Bundeskulturstiftung 183
gefördert werden, viel erreicht. Wir konnten internationale Kultur in die Flä-
che bringen. Für die SPD stand das Motto »Kultur ist Lebensmittel« im Mit-
telpunkt – sprich: Der Mensch benötigt kulturelle Impulse, um nicht zu verar-
men. Das kann das Kino auf dem Land sein, das gerettet wird, oder Hochkultur
wie die Rundfunkorchester in den Länderrundfunkanstalten. In meinem Wahl-
kreis wurde z. B. mit Mitteln der Bundeskulturstiftung ein internationales Zu-
sammentreffen und Workshop beim Kunstverein Springhornhof tief in der Lü-
neburger Heide gefördert.
Aber wir haben das Stiftungswesen auch komplett auf neue Beine gestellt,
sodass es viel leichter war als zuvor, Stiftungen zu gründen. Die Stiftung ist ein
Bürgerinstrument geworden und nicht mehr nur etwas für Reiche. Dabei war
die Zusammenarbeit mit dem Justizausschuss wichtig. Unendlich viele Kirchen,
Kunstvereine oder Stadtteilprojekte haben von den vielen neuen Bürgerstiftun-
gen profitiert.
Die Arbeit des Kulturausschusses hat sich auch den sogenannten Neuen
Medien gewidmet, dafür wurde ein Unterausschuss gegründet. Das, was ­Angela
Merkel vor einigen Jahren »Neuland« nannte, das Internet, hat viele traditio-
nelle Strukturen auf den Kopf gestellt. Insbesondere im Computerspielebereich,
eine damals noch relativ neue Form der Kultur, wurde es möglich, losgelöst von
Raum, Zeit und Material zu kommunizieren, sich zu vergnügen, zu spielen. Plötz-
lich gab es das Phänomen der Onlinesucht, gab es martialische Spiele vor täu-
schend echter Kulisse, gab es Games, die kein Ende hatten – wo sich der Kreis zur
Onlinesucht wieder schließt. Wir haben das versucht zu begleiten, nicht zu ver-
hindern. Die Szene hatte und hat Millionen von Anhängern (wie man alljährlich
bei der Gamescom-Messe sehen kann). Das können Politiker nicht einfach igno-
rieren. Die wirtschaftliche Wertschöpfung der Branche liegt über der des Films.
Aufklärung war unsere Antwort auf die Gefahren von Computerspielen. Gleich-
zeitig haben wir die neuen Möglichkeiten der Interaktion erkannt, und die Tore,
die sich dadurch für den Bildungsbereich öffneten, wollten wir nicht wieder zu-
schlagen. Der Deutsche Computerspielepreis, der wertvolle Computerspiele aus-
zeichnet, sowie die Stiftung Digitale Spielekultur, bei der ich lange den Vorsitz
hatte, ist ein Ergebnis unserer Arbeit.

4. — Vom Rhein an die Spree – Sichtbarer Aufbruch der Bundeskulturpolitik


Aufreibend, aber nicht weniger wichtig, war meine Auseinandersetzung mit den
deutschen Rappern in den 2000er Jahren. Fler, Sido und Bushido gehörten zu
den erfolgreichsten der Szene, und ihr Erfolg gründete sich auf die Provokation
mit frauenfeindlichen, rassistischen Texten. Ich war der tiefen Überzeugung, dass
diese Entwicklung eine öffentliche Debatte erfordert, und es wurde eine der per-
sönlichsten, die ich je erlebt habe. Ich fand mich in der Jugendzeitschrift Bravo
wieder, ich bekam Morddrohungen, mein Name tauchte plötzlich in Texten der
Rapper auf. Nicht auszudenken, wie heftig diese Zeit geworden wäre, wenn sich
die Kontroverse auch bei Facebook und Co. hätte entzünden können. Das war da-
mals zum Glück noch kein Massenphänomen.
Doch auch das ist Kultur, auch das ist identitätsstiftend. Kulturpolitik ist
heute vielleicht mehr denn je gefordert, gesellschaftliche Debatten zu initiie-
ren, mindestens aufzugreifen, sie zu lenken, gegebenenfalls in Gesetze zu gießen.
Die Arbeit der jeweiligen Kulturstaatsminister und die des Ausschusses für
Kultur und Medien, der nun seit 20 Jahren besteht, sind etabliert. Viele Schlag-
worte könnte man noch nennen: Die Deutsche Filmförderung beispielsweise hat
geholfen, deutsche Produktionen wieder international wettbewerbsfähig zu ma-
chen. Der Einsatz für den Vertrieb von Zeitschriften über Presse-Grossisten hat
die Vielfalt auf dem Magazinmarkt gewahrt. Es gibt meine Buchhandlung vor
Ort noch, und die Künstlersozialkasse ist für viele kreative Freiberufler ein Se-
gen. Ich habe mit allen Kulturstaatsministern und Kulturstaatsministerinnen gut
zusammengearbeitet, egal welcher Couleur sie waren. So hat Michael Naumann
(SPD) Zeichen gerade in der Erinnerungskultur gesetzt und die Deutsche Welle
gestärkt. Julian Nida-Rümelin (SPD) hat federführend die Bundeskulturstiftung
auf den Weg gebracht, Christina Weiss (parteilos) hat sich in ihrer Amtszeit be-
sonders für die experimentelle Kunst und die Kultur in der Hauptstadt starkge-
macht. Ihr ist auch die Reform der Filmförderung mit der Gründung der Deut-
schen Filmakademie zuzuschreiben. Auch Bernd Neumann (CDU) wird als der
große Filmfreund in der Erinnerung bleiben. Mit der heutigen Ministerin ­Monika
Grütters (CDU) habe ich im Kulturausschuss über die Parteigrenzen hinweg lan-
ge vertrauensvoll zusammengearbeitet.
Tatsächlich gab es unter uns Kulturpolitikern in diesem Gremium ver-
gleichsweise wenige Kontroversen, nimmt man einmal die Umsetzung einer
»Stiftung für Flucht und Vertreibung« aus. Das lag auch an der handelnden Per-
son Erika Steinbach, die heute Vorsitzende der Desiderius-Erasmus-Stiftung ist,
die der AfD nahesteht. Die wichtige Arbeit der Kulturstaatsminister und Kultur-
staatsministerinnen sowie die des Kulturausschusses mit seinen Unterausschüs-
sen ist bis heute nahtlos fortgeführt worden. Mir scheint, diese Funktion und
Gremien werden von keiner etablierten Partei mehr infrage gestellt. Wie sie zu-
künftig weiter arbeiten, hängt natürlich auch immer von der Zusammensetzung
ab. Wir werden sehen, ob die AfD die Kulturpolitik dieses Landes prägen wird.
Das nicht zuzulassen, ist Aufgabe aller anderen Parteien im Bundestag und je-
des einzelnen Menschen in der Gesellschaft.

Wachgeküsst
Claudia Roth
Grundzutat, nicht
Sahnehäubchen 184

185
Es ist nun 20 Jahre her, da der auswärtigen Bildungs- und Kulturpolitik (AKBP)
bundespolitisch erstmals die Bedeutung zugemessen wurde, die sie verdient. Un-
ter der ersten Rot-Grünen Regierung wurde der Bundeskulturpolitik; zwar ohne
Ministerium, dafür aber mit Staatsminister im Kanzleramt , mit Mitarbeiterstab
eine größere Bedeutung begemessen, und die »AKBP« als dritte Säule der Au-
ßenpolitik mit einer gesonderten Abteilung im Auswärtigen Amt, eigenem Etat –
und selbstverständlich einem dazugehörigen Unterausschuss im Bundestag, der
längst Vollausschuss sein müsste, verankert. Fortan jedenfalls war die auswärti-
ge Kulturpolitik nicht mehr nur Sahnehäubchen, sondern Grundzutat deutscher
Außenbeziehungen – sanft, aber bei weitem nicht zahnlos.
Eben diese Kombination erscheint heute wichtiger denn je. Deutschland
und Europa sehen sich umgeben von Demokratiefeinden und Rechtsstaatsver-
ächtern. Das Primat von Dialog und multilateraler Absprache wird vermehrt in
Zweifel gezogen, auch innerhalb der Europäischen Union. Und nicht nur mit Blick
auf die USA erscheinen Gesprächskanäle immer verschlossener, an deren Verfüg-
barkeit wir uns in der Vergangenheit womöglich zu sehr gewöhnt hatten. Umso
unverzichtbarer sind da die bildungspolitischen Netzwerke und kulturellen Kon-
takte auf Regierungsebene, nicht zuletzt aber auch in der Zivilgesellschaft, die
über die Jahre auf- und ausgebaut wurden. Von DAAD über die Goethe-Institu-
te und Auslandschulen bis hin zum Institut für Auslandsbeziehungen oder dem
Deutschen Archäologischen Institut: Die Liste der institutionellen Akteure ist
lang, aber noch lange nicht lang genug.
Denn: Außenkulturpolitik ist Realpolitik, die Brücken baut und Türen öff-
net, wo andere Wege verschlossen sind. Sie schafft Dialog zwischen Menschen
unterschiedlicher Herkunft. Sie tritt in den Dialog, auch wenn es keine gemein-
same Sprache gibt. Sie vermittelt weiter, wo das Verständnis gerade fehlt. Wenn
wir also das »Jahr der deutschen Sprache und Literatur in Russland« begehen,
dann nicht, obwohl die Beziehungen stagnieren, sondern gerade deshalb. Wenn
wir gemeinsam mit dem Goethe-Institut und ganz unterschiedlichen Einrich-
tungen in den USA ein Deutschlandjahr ausrufen, dann tun wir das nicht trotz,
sondern wegen des drohenden Rückfalls in Zeiten nationaler Alleingänge un-
ter einem Präsidenten Trump. Und wenn die Kunst in der Türkei bereits hinter

4. — Vom Rhein an die Spree – Sichtbarer Aufbruch der Bundeskulturpolitik


­ ittern, wenn die Zivilgesellschaft in Ägypten immer stärker unter Beschuss ge-
G
rät, dann muss auch das Grund, nicht Hindernis einer aktiven und mutigen Bil-
dungs- und Kulturpolitik sein.
Derweil müssen wir bedauerlicherweise nicht mehr allzu weit in die Fer-
ne blicken. Das Recht auf freie Meinungsäußerung nämlich, die Vielfalt und die
Freiheit der Kunst sind auch mitten in Europa in Gefahr. Die Regierungen in Un-
garn und Polen, aber auch in Österreich versuchen bereits, mit einer Politik der
nationalen Abschottung die Kreativszene für ihre Zwecke einzuspannen. Und
auch in Deutschland sprechen sich manche irrlichternd dafür aus, »die Entsif-
fung des Kulturbetriebes in Angriff« nehmen und »linksliberalen Vielfaltsideo-
logien« im Theater die öffentlichen Subventionen streichen zu wollen.
Bei aller Begeisterung für Vielfalt und Diversität – hier muss die Antwort
aller Demokratinnen und Demokraten ausnahmsweise gleichlauten: nicht mit
uns! Kultur entsteht durch Austausch, nicht durch Abschottung. Sie ist frei, muss
nicht gefallen und darf nicht dienen. Nur so kann sie ihre innovative Kraft ent-
wickeln und uns immer wieder neue Perspektiven eröffnen. Auch in der auswär-
tigen Bildungs- und Kulturpolitik.
Wenn zugleich aber ganze Kulturen verschwinden, weil schon bald kleinere
Inselstaaten infolge des steigenden Meeresspiegels versinken; wenn ganze Ge-
nerationen ohne Zugang zu Bildung und kulturelle Teilhabe aufwachsen, weil sie
ihr Leben in Flüchtlingscamps rund um Syrien fristen; wenn Kriege eben nicht
nur Gebäude und Straßen, sondern materielles Weltkulturerbe auf ewig vernich-
ten – dann wird auch der Kampf gegen den Klimawandel, der Einsatz für einen
humanitären Umgang mit Geflüchteten, dann wird auch zivile Krisenpräventi-
on zu auswärtiger Bildungs- und Kulturpolitik.
Wer die »AKBP« also ernst nimmt, und nicht weniger beteuert auch die ak-
tuelle Bundesregierung, sollte auf diesen Gebieten ebenso viel Einsatz und Über-
zeugung zeigen wie andernorts. Und das bedeutet auch: Bundeshaushalt. Wer
Stabilität in instabilen Zeiten erhalten will, muss insbesondere jene Netzwerke
und Mittler finanziell ausstatten, die den Dialog in Zeiten monologischer Poli-
tik, die das Gemeinsame in Zeiten außenpolitischer Alleingänge erhalten. Un-
sere Goethe-Institute, unsere Residenzen gehören in vielen Ländern längst zu
den letzten geschützten Räumen für kritischen Austausch und freie Kunst. Das
Deutsche Archäologische Institut wiederum ist einer der wenigen Akteure, die
inmitten von Chaos und Zerstörung rettet, was ansonsten unwiederbringlich
verschwunden wäre. Und der DAAD eröffnet Jugendlichen tagtäglich die uner-
messliche Möglichkeit, ein durch Flucht unterbrochenes Studium zu beenden.
All das gilt es, zu erhalten – umso mehr, je kälter der Wind uns ins Gesicht bläst.

Wachgeküsst
Gitta Connemann
Kompass für die
­Kulturpolitik: 186

Enquête-Bericht 187

Kultur
»Es ist vollbracht!« Mit diesem Ausdruck der Erleichterung übergab ich 2007 für
die Mitglieder der Enquête-Kommission »Kultur in Deutschland« ihren Bericht.
Das Werk war getan. Hinter den Mitgliedern lagen vier Jahre Arbeit. Sie hatten
den Auftrag erhalten, erstens die Situation von Kunst und Kultur in Deutsch-
land zu beschreiben und zweitens Vorschläge für gesetzgeberisches Handeln zu
unterbreiten. Am Ende stand die wohl umfassendste Untersuchung der Kultur-
landschaft Deutschlands seit mehr als 30 Jahren. Im Bericht finden sich Hand-
lungsempfehlungen an Bund, Länder, Kommunen und andere Kulturadressaten,
von den Hochschulen bis zum Rundfunk.
Aber der Bericht ist mehr als das. Er ist ein leidenschaftliches Plädoyer für
die Förderung von Kunst und Kultur in Deutschland als eine ebenso notwendi-
ge wie lohnenswerte Investition in die Zukunft. Die Kommissionsmitglieder ein-
te damals über Partei- und Fraktionsgrenzen hinweg der Wille, mit diesem Kom-
pass die Kulturpolitik in Deutschland zu stärken.
War dieser vermessen? Immerhin handelte es sich um eine Kommission auf
Bundesebene. Und für kulturelle Angelegenheiten weist das Grundgesetz dem
Bund keine Kompetenzen zu. Diese »Kulturhoheit der Länder« respektierten wir
natürlich. Neben den Ländern nimmt der Bund allerdings eigenständige Aufga-
ben wahr. Und wir sahen eine gesamtstaatliche kulturpolitische Verantwortung.
Deshalb skizzierten wir die Grundzüge einer nationalen Kulturpolitik, im Wissen
und in der Verantwortung um die Bedeutung von Kultur für uns alle. Dabei lei-
tete uns das Selbstverständnis: der Staat ist nicht für Kunst und Kultur zustän-
dig, sondern für die Bedingungen, unter denen diese stattfinden.
Nationale Kulturpolitik ist ohne den Bund nicht denkbar. Zu den ordnungs-
politischen Rahmenbedingungen trug und trägt er als Gesetzgeber auf vielen
Rechtsgebieten bei, die Kunst- und Kulturschaffende betreffen, vom Urheber-

4. — Vom Rhein an die Spree – Sichtbarer Aufbruch der Bundeskulturpolitik


recht über das Vereinsrecht bis zum Sozialversicherungsrecht. Hinzu kommt der
stetig wachsende Anteil des Bundes an den öffentlichen Kulturausgaben. Seit
1998 gibt es die bzw. den Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Me-
dien (BKM) sowie den Bundestagsausschuss für Kultur und Medien.
Welche Rolle hatte in dieser Konstellation die Enquête-Kommission des
Deutschen Bundestages »Kultur in Deutschland«? War ihre Einsetzung ein Er-
gebnis der wachsenden Bedeutung des Bundes für die Kulturpolitik im Land?
Oder sollte die Kommission dazu beitragen, die Rolle des Bundes an Bedeutung
gewinnen zu lassen.
Die Antwort darauf erscheint ebenso schwierig wie auf die Frage, was zuerst
da war – das Ei oder die Henne. Tatsache ist: es gab bereits in den 1970er Jahren
eine »Kultur-Enquête« des Bundestages. Das Erstarken der Bundeskulturpoli-
tik war also keine unabdingbare Voraussetzung für die Einsetzung unserer En-
quête-Kommission. Aber die gewachsene Sensibilität der Bundespolitik für kul-
turpolitische Fragen stand 2003 sicherlich Patin.
Wenden wir uns also der entscheidenden Frage zu: welche Bedeutung hat-
te die Kommission für die Stärkung der Bundeskulturpolitik, explizit für das Amt
der bzw. des BKM? Fest stand: eine Ausweitung der Zuständigkeiten von BKM
stand nicht auf der Agenda der Enquête-Kommission. Dagegen sprach schon ihre
personelle Zusammensetzung. Zwar gehörte die Hälfte der Mitglieder als Abge-
ordnete dem Deutschen Bundestag an. Die weitere Hälfte bildeten aber Sach-
verständige. Darunter waren Vertreterinnen und Vertreter aus Kommunen, den
Ländern, Zivilgesellschaft, Wissenschaft, Wirtschaft, von Verbänden wie dem
Deutschen Kulturrat e. V., Kirchen und natürlich Künstler und Kulturschaffende.
Die Schwerpunktthemen, die der Deutsche Bundestag in seinen Einset-
zungsaufträgen formuliert hatte, bezogen sich dagegen zum Teil unmittelbar auf
die Bundespolitik und damit auch auf das BKM. Dabei ging es um Infrastruktur,
Kompetenzen, rechtliche Rahmenbedingungen in Staat und Zivilgesellschaft, öf-
fentliche und private Förderung, die wirtschaftliche und soziale Lage der Künst-
lerinnen und Künstler, Kulturwirtschaft, den Kulturstandort Deutschland, kultu-
relle Bildung, Kultur in der Informations- und Mediengesellschaft, Kultur in Eu-
ropa, Kultur im Kontext der Globalisierung, Kulturstatistik in Deutschland und
der Europäischen Union. In diesem Rahmen wurden insbesondere Fragen des
Steuer- und Urheberrechts, des Arbeits- und Sozialversicherungsrechts, des Ge-
meinnützigkeits- und Stiftungsrechts großer Stellenwert beigemessen. Diese la-
gen und liegen traditionell in der originären Zuständigkeit des Bundes.
Was waren, sind nun also die Vermächtnisse der Enquête-Kommission, auch
für das BKM? Anders als die »Kultur-Enquête« in den 1970er Jahren erbrachte un-
sere Kommission nicht das eine große Ergebnis. Bekanntlich empfahl die »Kul-
tur-Enquête« seinerzeit die Gründung der Künstlersozialkasse. Unsere Kommis-
sion sprach demgegenüber 465 Einzelempfehlungen aus. Etliche wurden umge-
setzt. Andere warten noch darauf, vom Gesetzgeber und anderen Adressaten mit
Leben erfüllt zu werden.

Wachgeküsst
Unstreitig ist aber die große Rezeption der Ergebnisse in Zivilgesellschaft und
Gesetzgebung, auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene. Dies machten die
Resümees deutlich, die im vergangenen Jahr anlässlich des zehnten Jahrestages
der Vorlage des Schlussberichts gezogen wurden.
So bezeichnete der Präsident der Kulturpolitischen Gesellschaft Oliver
­Scheytt den Schlussbericht als das »bedeutsamste Dokument in der Geschich-
te der Kulturpolitik«. Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz Frau Ministe-
rin Susanne Eisenmann stellte fest, dem Schlussbericht komme »das nachhaltige
Verdienst zu, eine breite gesamtgesellschaftliche kulturpolitische Diskussion an- 188
gestoßen, Impulse gegeben und damit die Bedeutung der Kultur in der öffentli-
chen Wahrnehmung nachdrücklich gestärkt zu haben«. Für den Deutschen Städ- 189
tetag konstatierte Klaus Hebborn, der Schlussbericht habe »viele Impulse für die
kulturpolitische Diskussion auf den verschiedenen Ebenen, insbesondere auch in
den Kommunen gegeben. […] [Er ist] durchaus handlungsleitend für die Weiter-
entwicklung gerade auch der kommunalen Kulturpolitik.«
Tatsächlich wirken die inhaltlichen Impulse sichtbar. Staatsministerin Prof.
Monika Grütters und ihre Amtsvorgänger griffen zahlreiche Handlungsempfeh-
lungen auf, sei es mit Blick auf das Recht der Verwertungsgesellschaften, sei es
der Kulturstatistik. Gemeinsam mit den Kultur- und Sozialpolitikern des Deut-
schen Bundestages wurden Verbesserungen der sozialen Lage der Künstlerinnen
und Künstler auf den Weg gebracht.
Der Bericht der Enquête-Kommission brachte für Kultur- und Kreativwirt-
schaft einen Stein ins Rollen. Im Bundesministerium für Wirtschaft und BKM
wurden eigene Referate installiert. Die Initiative Kultur- und Kreativwirtschaft
wurde gegründet, spezielle Förderinstrumente geschaffen. BKM kann sich zu-
dem bis heute darauf berufen, dass die Enquête die aktive Rolle des Bundes beim
Erhalt und Betrieb gesamtstaatlich bedeutsamer Leuchtturmprojekte bekräftigt.
Es war uns ein Herzensanliegen, die Vielfalt der Kulturträger abzubilden
und so auch den Kulturbegriff zu erweitern. So widmete sich der Schlussbericht
in eigenen Kapiteln der Laienkultur, dem Brauchtum, der kulturellen Tätigkeit
der Kirchen und der Kultur in ländlichen Regionen. Mehr als die Hälfte der Bevöl-
kerung Deutschlands lebt außerhalb von Großstädten. Der Löwenanteil der kul-
turellen Aktivitäten findet dort in Vereinen und Initiativen statt, getragen vom
Ehrenamt. Wir machten deutlich, welcher Handlungsbedarf besteht. Es gab da-
mals den einen oder anderen Spötter. Heute sind Themen wie die Kultur in länd-
lichen Regionen en vogue. Das BKM wird dafür mit Mitteln aus der sogenannten
Landmilliarde Programme auflegen.
Es gibt aber auch Lücken. Für die Kommission war bis 2007 der Sieges-
zug des Internet nicht vorhersehbar. Amazon war nur ein Internet-Buchhänd-
ler. Google etablierte erst 2005 seine personalisierte Suche. Bei Einsetzung der
Enquête-Kommission gab es Facebook noch nicht einmal. Wir ahnten nicht, in
welchem tiefgreifendem Maß dadurch künstlerisch-kreative Schaffensprozes-
se und ihre Verwertung verändert, die Folgen für das geistige Eigentum sein

4. — Vom Rhein an die Spree – Sichtbarer Aufbruch der Bundeskulturpolitik


und die soziale und wirtschaftliche Lage der Kreativen beeinträchtigen würden.
Aus heutiger Sicht ist erstaunlich, dass der Einsetzungsauftrag das Thema der
Gleichstellung von Frau und Mann im Kulturbereich nicht umfasste. Und man-
che »Träume« haben sich bislang nicht erfüllt. Die Bedeutung privater Stiftun-
gen für die Kulturförderung wurde durch die nicht absehbare lange Niedrigzins-
phase nivelliert. Um öffentlich-private Partnerschaften im Kulturbereich ist es
ruhig geworden.
Demgegenüber spiegelt sich das geschärfte öffentliche Bewusstsein für die
nationale Bedeutung der Kulturpolitik positiv im Haushalt wider. Kultur- und
Haushaltspolitikern ist es gemeinsam mit der BKM gelungen, den Etat des Bun-
des für Kunst und Kultur bis heute in Folge zu steigern. Die Warnung der Kom-
mission, Kulturpolitik nicht nur auf finanzielle Aspekte zu reduzieren, sondern
die Möglichkeiten zu nutzen, die der Gesetzgeber zum Schutz und zur Förderung
von Kunst und Kultur hat, hat also nichts an Aktualität eingebüßt. Und weit vor
dem Brexit rieten wir Bund und Ländern, die Weichenstellungen auf europäi-
scher und internationaler Ebene nicht nur wachsam zu beobachten, sondern auf
Rechtsakte frühzeitig Einfluss zu nehmen. Nur dort können und müssen Angrif-
fe auf eine autonome nationale Kulturpolitik abgewendet werden. Deutschland
darf sich hier nicht mit einer Zuschauerrolle begnügen. Das BKM ist dieser Er-
wartung gerecht geworden.
Und welche Bedeutung hatte die Enquête-Kommission nun am Ende für die
BKM? Wer könnte diese Frage besser beantworten als die Betroffene selbst? Las-
sen wir die Beauftragte für Kultur und Medien selbst zu Wort kommen. Anlässlich
des zehnten Jahrestages der Vorlage bezeichnete Staatsministerin Prof. Monika
Grütters den Schlussbericht als »Kompass für die Kulturpolitik«. Zu den bleiben-
den Verdiensten gehöre die systematische Bestandsaufnahme mit Aussagekraft
bis heute. Die Kulturpolitik des Bundes sei dadurch stärker sichtbar geworden. Et-
liche Handlungsempfehlungen seien bundespolitisch umgesetzt worden. »Ins-
gesamt sind die Aufmerksamkeit für kulturelle Themen und das Bewusstsein der
staatlichen Verantwortung […] auf nationaler Ebene seit dem Abschlussbericht
der Enquête-Kommission deutlich gestiegen. Nicht zuletzt deshalb können wir
auf wichtige kulturpolitische Fortschritte zurückblicken. […] Zum Glück können
wir immer wieder auf die Expertise des Enquête-Berichts zurückgreifen und damit
kulturpolitisch auf solides Fundament bauen.« Dem gibt es nichts hinzuzufügen.

Wachgeküsst
Günter Winands
Systematisierung
der Kulturförderung 190

2001 bis 2006 191

»Bund und Länder bekennen sich zu einer engen Zusammenarbeit in der Kul-
turförderung«, so beginnt ein Dokument, das für die weitere kulturelle Entwick-
lung Deutschlands durchaus hätte bahnbrechend werden können, wenn es denn
am 26. Juni 2003 die Regierungschefs der Länder bei einem Treffen mit dem da-
maligen Bundeskanzler Schröder tatsächlich vereinbart hätten. Nach über zwei
Jahren intensiver Verhandlungen zwischen zunächst Kulturstaatsminister Prof.
­Julian Nida-Rümelin und später seiner Nachfolgerin als Beauftragte der Bundes-
regierung für Kultur und Medien (BKM), Staatsministerin Christina Weiss, und
den Staatskanzleien der Länder sollte nicht mehr das Trennende, sondern das Ge-
meinsame im Vordergrund stehen. Oder wie es in der ausgehandelten Verständi-
gung hieß: »Die Stärkung der Kulturstaatlichkeit Deutschlands und die Förderung
des kulturellen Lebens im Innern und nach Außen ist gemeinsame politische Auf-
gabe von Bund und Ländern im Rahmen ihrer jeweiligen Verantwortung.«
Der regelmäßig halbjährlich stattfindenden Regierungschefkonferenz wa-
ren zur Beschlussfassung »Eckpunkte für die Systematisierung der Kulturför-
derung von Bund und Ländern und für die Zusammenführung der Kulturstif-
tung des Bundes und der Kulturstiftung der Länder zu einer gemeinsamen Kul-
turstiftung« (»Eckpunktepapier«) vorgelegt worden. Im Jahre 2000 hatten Bund
und Länder erste Gespräche über eine gemeinsame Kulturstiftung aufgenom-
men, und zwar zunächst auf der Ebene der Kulturministerinnen und Kulturmi-
nister. Ab Sommer 2001 wurden diese eingebettet in die seinerzeit aufgekom-
mene allgemeine Diskussion über eine Modernisierung der staatlichen Ordnung.
Im Zuge der thematischen Ausweitung entzogen auf Länderseite die Staatskanz-
leien den Kulturministerien das Verhandlungsmandat, richteten eine spezielle
Arbeitsgruppe (Co-Vorsitz für A-Seite Bremen, für B-Seite Baden-Württemberg)
ein und setzten sich dabei vorrangig das Ziel, eine Entflechtung der Kulturförde-
rungen von Bund und Ländern im Sinne einer einseitigen Reduzierung der Bun-
deszuständigkeiten anzustreben. Zwischen der Erreichung dieses Ziels und einer
gemeinsamen Kulturstiftung wurde ein Junktim hergestellt. Auf Bundesebene

4. — Vom Rhein an die Spree – Sichtbarer Aufbruch der Bundeskulturpolitik


blieb indes BKM (aufgrund der Verankerung im Bundeskanzleramt) und damit al-
lein die Kultur Verhandlungspartner und konnte nach hartem Ringen am 20. De-
zember 2001 einen beachtlichen Erfolg vermelden: das Einvernehmen der Minis-
terpräsidenten mit dem Bundeskanzler in der seinerzeitigen Regierungschefbe-
sprechung, dass (laut Beschlussprotokoll) »der Bund eine Stiftung zur Förderung
der Kultur im Rahmen seiner verfassungsmäßigen Kompetenzen gründen kann.«
Nach weiteren Verhandlungen wurde in der Ministerpräsidentenkonferenz
(MPK) am 13. Juni 2002 ein mit BKM abgestimmter Zwischenbericht zur Abgren-
zung der Kompetenzen von Bund und Ländern im Kulturbereich zur Kenntnis
genommen. Aufgelistet wurden darin die zwischen den Verhandlungspartnern
mittlerweile unstreitigen Kompetenzen des Bundes (sogenannter Korb 1, z. B. Re-
präsentation des Gesamtstaates, insbesondere in der Hauptstadt Berlin; Preu-
ßischer Kulturbesitz; Sicherung und Erwerb national wertvollen Kulturgutes;
Filmförderung sowie Verlags- und Übersetzungsförderung) sowie der verbliebe-
ne umstrittene Bereich (sogenannter Korb 2, hier die seitens des Bundes bean-
spruchte »generelle Kompetenz zur Förderung von gesamtstaatlich bedeutsamen
Kultureinrichtungen und Kulturprojekten«, insbesondere z. B. Förderung von na-
tional bedeutsamen Kultureinrichtungen und Kulturdenkmälern, Spitzenkünst-
lern, national und international bedeutsamen Kulturprojekten sowie nichtstaat-
lichen Kulturorganisationen und Kulturverbänden auf Bundesebene). Im Zwi-
schenbericht wurde zudem das BKM-Angebot aufgenommen, dass eine Lösung
beim »Korb 2« in einem Konsultationsverfahren liegen könnte.
Weitere intensive Beratungen in der Arbeitsgruppe der BKM mit ausgewähl-
ten Staatskanzleien, insbesondere auf Arbeitsebene, folgten. Parallel errichte-
te BKM die Kulturstiftung des Bundes mit Sitz in Halle an der Saale. Deren jähr-
liche Finanzausstattung wurde hierbei schrittweise auf rund 38 Millionen Euro
aufgestockt. Aus Bundessicht zeitigten die Gespräche, wie im Zwischenbericht
erkennbar, zunehmend weitere Fortschritte:

—— d ie Übereinstimmung, statt einer breit angelegten »Entflechtung« den


­Schwerpunkt eher auf eine »Systematisierung« der Kulturförderung von
Bund und Ländern zu verlegen;
—— die Einsicht der Länder, den ursprünglichen Plan eines Ausstiegs aus ihrer
25-prozentigen Mitfinanzierung des Betriebshaushaltes der Stiftung
Preußischer Kulturbesitz fallen zu lassen; auf den im Dezember 2001 schon
beschlossenen Rückzug wurde bereits in einer MPK-Sitzung im Oktober
2002 stillschweigend verzichtet;
—— die Erkenntnis, dass es nicht zuletzt wegen der finanziellen Belastungen
­einzelner Sitzländer einer Finanzierungskompetenz des Bundes unter
anderem für die Stätten des Weltkulturerbes, die kulturellen »Leuchttürme«
in den neuen Ländern und vor allem die »Repräsentation des Gesamt-
staates einschließlich der gesamtstaatlichen Darstellung und Dokumen-
tation der deutschen Geschichte« bedarf;

Wachgeküsst
—— s chließlich generell vor dem Hintergrund ansonsten durch die Länder
zu übernehmender Finanzierungslasten die Akzeptanz des Status quo der
seinerzeit schon existierenden Kulturförderungen des Bundes.

Die Sisyphusarbeit mündete in jenes, im Laufe der Verhandlungen mehrfach


überarbeitetes Eckpunktepapier. Dieses sah nunmehr neben der Auflistung un-
streitiger und streitiger Kulturförderungen des Bundes (»Körbe 1 und 2«) eine
pragmatische Verständigung vor, einerseits bestehende Kulturförderungen des
Bundes nicht mehr infrage zu stellen und andererseits für neue Kulturförderun- 192
gen des Bundes künftig ein Konsultationsverfahren einzuführen. In Fällen zwi-
schen Bund und Ländern unstreitiger Bundeskompetenz beschränkte sich die 193
Konsultation auf eine Anzeige an den Kulturausschuss der KMK vor Aufnahme der
Förderung. In Fällen, in denen die Länder mit einer – noch festzulegenden – An-
zahl dem Bund die Kompetenz bestritten, sollte ausnahmsweise eine Bundesför-
derung aufgrund Zustimmung (offen: aller Länder, von zwei Dritteln der Länder,
einer Ländermehrheit) möglich sein. Schließlich wurden Grundsätze für eine Zu-
sammenführung der beiden Kulturstiftungen KSB und KSL festgeschrieben. Das
Papier, und damit die Fusion der Stiftungen, sollte beim turnusmäßigen Gespräch
der Regierungschefs von Bund und Ländern am 26. Juni 2003 beschlossen werden.
Auf BKM-Vorschlag hatten die ostdeutschen Ministerpräsidenten überdies
vereinbart, die »Stiftung Kulturfonds« (eine reine ostdeutsche Länderstiftung
ohne Bundesbeteiligung) mit den beiden Künstlerhäusern Wiepersdorf und Ah-
renshoop in die neue Kulturstiftung einzubringen. Deren Fortexistenz war durch
einen angekündigten Rückzug der Länder Sachsen-Anhalt und Thüringen mas-
siv bedroht. Auch diese Integration war sodann einvernehmlich in das Eckpunk-
tepapier aufgenommen worden. Die so entstehende »Deutsche Kulturstiftung«
sollte sichtbarer Ausdruck einer neuen Gemeinsamkeit von Bund und Ländern
im Kulturbereich sein.
Noch bis in die MPK, die am Vormittag des 26. Juni 2003 der nachmittägli-
chen Regierungschefbesprechung vorgeschaltet war, gab es Abstimmungen zwi-
schen BKM und der Länderseite. Denn das Land Bayern bestand hartnäckig dar-
auf, sogenannte Finanzierungsgrundsätze für künftige Bundesförderungen fest-
zuschreiben, wogegen vor allem auch das Bundesfinanzministerium Bedenken
hegte. Förderungen des Bundes sollten sich künftig an folgenden Zielen orien-
tieren: Gleichbehandlung vergleichbarer Förderfälle in allen Ländern; Festle-
gung von einheitlichen Förderquoten für einzelne Förderbereiche; einheitliche
Sitzlandquoten für einzelne Förderbereiche und Festlegung von Mindestbeträ-
gen für Förderungen. Darüber wurde noch während der laufenden MPK ein Kom-
promiss erzielt, sodass zum einen diese bayerische Forderung, aber auch eine
Gegenforderung des Bundes noch in das Eckpunktepapier aufgenommen wurde.
Die Ministerpräsidenten stimmten dem Eckpunktepapier zu, ließen aber
noch zwei Punkte für die Besprechung mit dem Bundeskanzler offen: Zum ei-
nen den Namen der neuen Stiftung, wobei es um den Länderwunsch ging, e­ inen

4. — Vom Rhein an die Spree – Sichtbarer Aufbruch der Bundeskulturpolitik


Zusatz zum Hauptnamen »Deutsche Kulturstiftung« aufzunehmen: »Kulturstif-
tung der Länder und des Bundes«, was für den Bund nur in der umgekehrten Rei-
henfolge akzeptabel gewesen wäre. Zum anderen ging es um die Abstimmungs-
quoren beim Konsultationsverfahren für neue Kulturförderungen des Bundes
sowie bei Beschlüssen einer gemeinsamen Kulturstiftung in Kompetenzfra-
gen – ein Land oder Ein-Drittel der Länder bezüglich der Einordnung als streiti-
ge Bundeskompetenz? (»Beanstandungsquorum«), alle Länder oder Zwei-Drit-
tel-Mehrheit bei Länder-Zustimmung trotz streitiger Bundeskompetenz? (»Zu-
stimmungsquorum«).1
Seitens der Verhandlungsführer der Länder, den Chefs der Staatskanzleien
von Baden-Württemberg und Bremen, war signalisiert worden, in beiden Punk-
ten sei – wenn der Bund sich nochmals bewege – letztlich ein Konsens sicher.
Bei den Abstimmungsquoren gab es schließlich eine informelle Vorverständi-
gung auf eine Ein-Drittel- bzw. Zwei-Drittel-Mehrheit, obwohl der Bund vorher
immer eine Beanstandung durch alle Länder bzw. im Streitfall eine Ablehnung
der Bundeskompetenz durch alle Länder verlangt hatte. Der Bund hatte in den
Verhandlungen vor allem aber stets klargestellt, dass ein Vetorecht eines Lan-
des völlig unannehmbar wäre. Der Abschluss der Verhandlungen scheiterte dann
doch noch – für alle anderen Beteiligten überraschend – an einem Veto Bayerns.
Bis Ende 2004 galt in der MPK allgemein und gilt auch heute noch in, wie vor-
liegend, haushaltswirksamen Angelegenheiten das Einstimmigkeitsprinzip. In
der Besprechung der Regierungschefs begrüßte der Bayerische Ministerpräsi-
dent Edmund Stoiber zwar grundsätzlich das Verhandlungsergebnis und die Zu-
sammenlegung der beiden Kulturstiftungen. Es seien aber noch nicht alle Fragen
geklärt, etwa zum Abstimmungsverhalten in den Gremien der neuen Stiftung.
Für die Kulturhoheit seines Landes sei es eine substanzielle Bedingung, dass die
Stimme eines Landes ausreiche, um die Bundeskompetenz infrage zu stellen.
Für den Bund bedauerte Staatsministerin Weiss in der Regierungschefbe-
sprechung die Nichterreichbarkeit einer Verständigung, erklärte aber genauso
unmissverständlich, dass die Extremposition Bayerns völlig inakzeptabel sei.
Weitere Bund-Länder-Gespräche über eine Zusammenführung von KSB und KSL
seien erst dann wieder sinnvoll, wenn sich die Länder untereinander auf eine ge-
meinsame und konsensfähige Position verständigt hätten. Nach Ansicht der Kul-
turstaatsministerin ging es nicht an, dass in einer gemeinsamen Kulturstiftung
wie auch bei einem Konsultationsverfahren ein Land alles blockieren konnte. Der
Bund könne einen solchen »Würgegriff« nicht akzeptieren; er würde sich in die
Gefahr begeben, im Falle neuer Förderungen unsachgemäßen Junktims einzel-
ner Länder ausgesetzt zu sein.
Auf Bundesseite fand diese Haltung allseitig Zustimmung. Im Ausschuss für
Kultur und Medien des Deutschen Bundestages wurde am 2. Juli 2003 die bay-
erische Position parteiübergreifend als für den Bund unannehmbar abgelehnt.

1 Fundstelle Eckpunktepapier in der MPK-Fassung vom 26.03.2018 ⟶ https://bit.ly/2D2YZUv

Wachgeküsst
Die BKM wurde massiv darin unterstützt, dass, wenn nochmals neu verhandelt
werden sollte, dann auch die Bedingungen neu zu klären seien. Der Bund war in
der Schlussphase der Verhandlungen – gerade unter bayerischem Druck – den
Ländern äußerst weit entgegengekommen. Solche in letzter Minute gegebenen
Zugeständnisse, etwa die Vereinbarung von Finanzierungsgrundsätzen, könn-
ten, so das damalige Meinungsbild im Kulturausschuss, nicht mehr aufrechter-
halten werden. Bei einem endgültigen Scheitern der Verhandlungen müsse dies
außerdem Konsequenzen für die bisherige, in den letzten Jahren hälftige Mitfi-
nanzierung der Kulturstiftung der Länder durch den Bund haben. Im Sinne der 194
gerade von Länderseite immer wieder geforderten klaren Aufgabenverteilung
und damit auch Finanzierungsverantwortung solle der Bund sich dann hieraus 195
zurückziehen und seine Mittel auf die Kulturstiftung des Bundes konzentrieren.
Die Verhandlungsführer der Länder teilten ihrerseits mit, auch sie sähen die
Notwendigkeit, zunächst im Kreis der Länder »einige Klärungen« herbeizufüh-
ren. Die Verhandlungen wurden sodann im Herbst aufgrund eines neuen Kom-
promissvorschlags der Länder vom 20. Oktober 2003 wieder aufgenommen. Der
Vorschlag – Zustimmung von 14 Ländern bei umstrittenen Förderungen, wobei
jedes Land das Recht zur Beanstandung und damit Infragestellung einer Bun-
deskompetenz haben sollte – war für den Bund aber nicht akzeptabel, weil er kei-
ne relevante Änderung der bayerischen Position erkennen ließ. Staatsministe-
rin Weiss wies den Vorschlag daher zurück, erarbeitete aber mit den Verhand-
lungsführern der Länder einen nochmaligen Kompromissvorschlag. Dieser lag
am 28. November 2003 vor und hätte aus Bundessicht, obwohl äußerst länder-
freundlich, mitgetragen werden können. Bei künftigen Förderungen des Bun-
des sollte danach im Falle von Zweifeln an der Bundeskompetenz die Förderung
dann unterbleiben, wenn ein Drittel der Länder, also sechs, widersprochen hät-
ten. Der Bund hatte sich hiermit erneut auf die Länder zubewegt. Andererseits
lehnte er jetzt die ernsthaft einzig von Bayern erhobene und im Vorfeld des Ju-
ni-Spitzengesprächs nur unter Erfolgsdruck in letzter Minute widerwillig zuge-
standene Forderung ab, einseitig Finanzierungsgrundsätze für Bundesförderun-
gen vertraglich festzuschreiben. Solche Grundsätze waren aus Bundessicht, wie
sich nicht zuletzt aus einem zwischenzeitlich auf Bitten der Staatskanzleien vor-
gelegten KMK-Vorschlag ergab, völlig impraktikabel und letztlich auch eine un-
zumutbare Einengung des Bundes.
In einer Besprechung im Bundeskanzleramt am 12. Dezember 2003 war der
Amtschef der Bayerischen Staatskanzlei nicht bereit, dem gefundenen Kompro-
miss zum Abstimmungsquorum zuzustimmen und hielt außerdem an der Forde-
rung nach Finanzierungsgrundsätzen fest. Angesichts der ablehnenden Haltung
Bayerns baten daraufhin die Länder, den bereits vorgesehenen Punkt Stiftungs-
fusion von der Tagesordnung der Regierungschefbesprechung am 18. Dezember
2003 abzusetzen. Alle anderen 15 Länder waren wiederum nicht in der Lage ge-
wesen, auf Bayern einzuwirken. Obgleich damit das Vorhaben einer Fusion der
Kulturstiftungen zunächst ad acta gelegt war, befürwortete der Bund diese wei-

4. — Vom Rhein an die Spree – Sichtbarer Aufbruch der Bundeskulturpolitik


terhin in einer langfristigen Perspektive. Als Konsequenz aus dem Scheitern der
Fusion kündigte BKM jedoch – wie auch vom Bundestags-Kulturausschuss ge-
fordert – das Abkommen über die Mitwirkung des Bundes an der KSL vom 4. Juni
1987 fristgerecht zum 31. Dezember 2005. In ihrem Kündigungsschreiben führte
Staatsministerin Weiss aus, der Bund sehe sich hierzu nach dem ergebnislosen
Ende der Verhandlungen »im Interesse einer klaren Abgrenzung der Förderzu-
ständigkeiten im Kulturbereich veranlasst«. Die BKM griff damit die immer wie-
der länderseitig zu hörende Grundforderung nach klaren Verantwortlichkeiten
auf und richtete ihr Augenmerk in der Folgezeit auf den weiteren Aufbau und die
Profilierung »ihrer« KSB. Die bisherigen aus Bundesmitteln gespeisten KSL-För-
derungen wurden ab 2006 überwiegend direkt durch BKM und zum kleineren Teil
durch die KSB übernommen.
Die Ministerpräsidenten der Länder kündigten in einer ersten Reaktion auf
das Scheitern der Verhandlungen an, die Frage der verfassungsrechtlichen Ver-
teilung der Zuständigkeiten von Bund und Ländern im Kulturbereich nunmehr
in der zwischenzeitlich durch Bundestag und Bundesrat mit Beschlüssen vom
16./17. Oktober 2003 eingerichteten »Gemeinsamen Kommission von Bundestag
und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung« (»Föderalis-
muskommission I«) weiter behandeln zu wollen. Damit sollte (laut MPK-Proto-
koll vom 18. Dezember 2003) aus ihrer Sicht »für die Kulturförderung in Deutsch-
land doch noch eine verlässliche verfassungsrechtliche Grundlage geschaffen
und für die Fördertätigkeit der Bundeskulturstiftung ein klarer Rahmen gezo-
gen werden, der gegebenenfalls zu einem späteren Zeitpunkt ein Zusammenge-
hen der beiden Stiftungen erlaubt«. Schließlich hielten die Ministerpräsidenten
es für erforderlich, »die Kulturstiftung der Länder unter veränderten Rahmen-
bedingungen neu zu positionieren«. Dies gelte auch mit Bezug auf die KSB, die
sich entsprechend dem Beschluss der Regierungschefs von Bund und Ländern
vom 20. Dezember 2001 »zukünftig strikt auf die unstreitigen Bundeskompeten-
zen beschränken« müsse. Die Kultusministerkonferenz solle parallel zu den Ar-
beiten der gemeinsamen Verfassungskommission zusammen mit der KSL ent-
sprechende Vorschläge entwickeln. Der Bund hatte in der besagten Regierungs-
chefbesprechung am 20. Dezember 2001 im Vorfeld der KSB-Gründung nur zu-
gesichert, darauf hinzuwirken, dass »solange« die Bund-Länder-Gespräche über
eine Entflechtung bzw. Systematisierung der Förderkompetenzen andauern wür-
den, die KSB nur in den zwischen Bund und Ländern unstreitigen Kompetenzbe-
reichen des Bundes tätig werde. Da die Gespräche aber auch nach Auffassung der
Länder Ende 2013 beendet wurden, ist aus BKM-Sicht seitdem diese ursprüng-
liche bundesseitige Selbstbeschränkung entfallen, d. h. die KSB kann entspre-
chend dem Rechtsstandpunkt des Bundes dort fördern, wo eine gesamtstaatliche
Bedeutung eines Kulturvorhabens oder einer Kultureinrichtung zu bejahen ist.
Das Thema Systematisierung der Kulturförderung führten die Länder ent-
sprechend ihrer Ankündigung in die Föderalismuskommission ein. Sie schlu-
gen mit Schreiben der Chefs der Staatskanzlei Baden-Württemberg und der Se-

Wachgeküsst
natskanzlei Berlin vom 27. Februar 2004 vor, die Kommissionsberatungen auf der
Grundlage des Eckpunktepapiers vom Juni 2003 aufzunehmen, und zwar auch zur
Fusion von KSB und KSL. BKM begrüßte dies, bekräftigte aber die Ablehnung von
Finanzierungsgrundsätzen, insbesondere bindenden Förderquoten des Bundes,
sowie eines Konsultationsverfahrens, bei dem das Veto eines einzelnen Landes
den Bund in seine Schranken hätte weisen können. Im Übrigen sah BKM keine
Notwendigkeit, das Grundgesetz im Bereich der Kulturförderung zu ändern, eine
Haltung, die auch die Länder in einer Sonder-MPK vom 6. Mai 2004 einnahmen.
Im Zuge der Beratungen in der Föderalismuskommission unterbreiteten die 196
Länder sodann doch überraschend den Vorschlag, Kompetenzfragen über die
Verankerung einer gemeinsamen Stiftung im Grundgesetz zu lösen. Eine sol- 197
che bizarre Idee war schon in den vorangegangenen Bund-Länder-Verhandlun-
gen, und dies einvernehmlich, verworfen worden; sie wurde seitens BKM in der
Sitzung der Projektgruppe »Bildung und Kultur« der Föderalismuskommission
am 29. September 2004 erneut deutlich zurückgewiesen. Abgesehen von ver-
fassungsrechtlichen Bedenken wäre im Fokus einer gemeinsamen Kulturstif-
tung nicht mehr die Kulturförderung gewesen, sondern die Funktion eines Streit-
schlichtungsgremiums. Zu spürbar war auch die Intention, dem Bund letztlich
dessen Mittel der Kulturförderung aus der Hand zu nehmen. Kulturstaatsminis-
terin Weiss schlug jetzt öffentlich vor, die ohnehin schwierige Arbeit der Föde-
ralismuskommission nicht weiter mit der Thematik zu belasten, da es ja nach ur-
sprünglich einvernehmlicher Auffassung von Bund und Ländern hierzu keinerlei
Grundgesetzänderungen bedürfe, und sah für weitere Beratungen in den Kultur-
ministerien der Länder (statt der Staatskanzleien) die einzig richtigen und kom-
petenten Verhandlungspartner. Am Ende konnte sich die Föderalismuskommis-
sion weder zur Kulturförderung noch zu den anderen ihr gestellten Aufgaben-
feldern auf gemeinsame Vorschläge verständigen und beendete ihre Arbeit am
17. Dezember 2004 gänzlich ergebnislos.
Nach der Bundestagswahl 2005 griff allerdings die neue große Regierungs-
koalition aus Union und SPD das Thema Föderalismusreform in ihrer Koalitions-
vereinbarung wieder auf. Die darin enthaltene Vereinbarung zur Modernisierung
der staatlichen Ordnung wurde, ohne Einsetzung einer neuen Kommission, nach
intensiven parlamentarischen Beratungen Mitte 2006 durch eine umfangreiche
Grundgesetzänderung und ein Föderalismusreform-Begleitgesetz umgesetzt. In
einer Entschließung des Bundesrates vom 7. Juli 2016 (BR-Drs. 462/06, S. 1) wurde
hervorgehoben, dass mit dieser Föderalismusreform »die Gestaltungsmöglich-
keiten von Bund und Ländern gestärkt und die politischen Verantwortlichkei-
ten deutlicher zugeordnet« würden. »Das schwerfällige Instrument der Mischfi-
nanzierungen« werde reduziert. Mit Letzterem war indes nicht die Kultur, son-
dern vor allem der Bildungsbereich angesprochen, für den nunmehr ein zwar
nicht durchgängiges, aber doch vor allem für den Schulbereich einschneidendes
(und zwischenzeitlich allgemein wieder hinterfragtes und teilweise aufgeweich-
tes) »Kooperationsverbot« in Art. 91 b des Grundgesetzes festgeschrieben wurde.

4. — Vom Rhein an die Spree – Sichtbarer Aufbruch der Bundeskulturpolitik


Der Kulturbereich wurde durch die Föderalismusreform I trotz oder vielleicht we-
gen der vorangegangenen langwierigen Diskussionen bis mehrfach hinauf auf
die Ebene der Regierungschefs nichts reguliert, vor allem kein »Kooperationsver-
bot« in irgendeiner Weise eingeführt. In besagter Entschließung des Bundesra-
tes zur Föderalismusreform (a. a. O., S. 11) wurde vielmehr klargestellt: »Die ge-
meinsame Kulturförderung von Bund und Ländern einschließlich der im Eini-
gungsvertrag enthaltenen Bestimmungen über die Mitfinanzierung von kultu-
rellen Maßnahmen und Einrichtungen durch den Bund bleibt unberührt. (Vgl.
Entwürfe der Eckpunkte für die Systematisierung der Kulturförderung von Bund
und Ländern in der Fassung vom 22. März 2006 und für die Zusammenführung
der Kulturstiftung des Bundes und der Kulturstiftung der Länder zu einer ge-
meinsamen Kulturstiftung in der Fassung vom 28. März 2006).« Keinerlei Rolle
spielte der Kulturbereich schließlich mehr bei den nachfolgenden Beratungen
für eine zweite Stufe der Föderalismusreform, der sogenannten Föderalismus-
reform II, die 2009 in weiteren mehreren Grundgesetzänderungen zur Reform
der staatlichen Finanzbeziehungen mündeten.
Seit dem Abschluss der Föderalismusreform I ist an dem Eckpunktepapier,
das hier zur Rechtfertigung einer gemeinsamen Kulturförderung durch Bund
und Länder bemerkenswerterweise von den Ländern selbst noch einmal ange-
führt wurde, nicht mehr weitergearbeitet worden. Es war kulturpolitisch fast in
Vergessenheit geraten. Die heutige Kulturstaatsministerin Prof. Monika Grütters
machte jüngst im turnusmäßigen Spitzengespräch der Kulturministerinnen und
Kulturminister von Bund und Ländern am 21. Juni 2018 auf die Existenz des Pa-
piers wieder aufmerksam. Dabei wurde Einvernehmen erzielt zu prüfen, ob und
wie das Papier auf der Grundlage der dort vorgesehenen Kategorien von Bundes-
förderungen (Korb 1 und 2) fortgeschrieben werden kann.
Ein bleibendes, im Eckpunktepapier festgehaltenes Ergebnis der seinerzei-
tigen Bund-Länder-Verhandlungen ist es, dass die Länder die bis 2003 bereits
bestehenden Bundesförderungen letztlich akzeptiert haben. Denn das Eckpunk-
tepapier war in der MPK, unter Offenlassung von zwei insoweit unbeachtlichen
Punkten, zustimmend zur Kenntnis genommen worden. Damit hatten die Regie-
rungschefs der Länder der darin vorgenommenen Systematisierung der dama-
ligen Bundesförderungen und folglich der Beibehaltung des seinerzeitigen Sta-
tus quo zugestimmt. Und zweitens können seit 2003 neu aufgenommene För-
derungen des Bundes jedenfalls länderseitig kompetenzrechtlich nicht infrage
gestellt werden, wenn sie unter den »Korb 1« des Eckpunktepapiers subsumier-
bar sind, also etwa die – unbefristete – Kompetenz zur Förderung der kulturel-
len »Leuchttürme« in den neuen Ländern sowie für die Stätten des Weltkultur-
erbes in Deutschland. Aber auch die Kompetenzzuweisung für die »Repräsentati-
on des Gesamtstaates einschließlich der gesamtstaatlichen Darstellung und Do-
kumentation der deutschen Geschichte« ist hier eine wichtige Klarstellung. Im
Zuge des damaligen langwierigen Verhandlungsprozesses setzte sich eben auch
bei den Staatskanzleien der Länder am Ende die Erkenntnis durch, dass im Kul-

Wachgeküsst
turbereich gemeinsame Finanzierungen nicht grundsätzlich von Übel und unter
plakativer Berufung auf die »Kulturhoheit der Länder« abzulehnen, sondern ge-
radezu angesichts der häufig ortsbezogenen und gleichzeitig nationalen Bedeu-
tung einer Kultureinrichtung oder -vorhabens geboten sind. Aus Sicht der Kul-
tureinrichtungen ist eine Bundesförderung stets von Vorteil: Sie ist nicht nur ein
»Gütesiegel«, sondern sichert auch, insbesondere wenn Finanzierungsverträge
abgeschlossen sind, gleichzeitig das meist parallele finanzielle Engagement von
Land, Kommune oder Dritten.
Soweit der Bund nach 2003 Kulturförderungen aufgenommen hat, die nach 198
der Systematik des Eckpunktepapiers unter den »Korb 2« fallen und damit nach
dem seinerzeitigen Länderbegehren ein Konsultations- und Abstimmungspro- 199
zedere ausgelöst hätten, ist nüchtern festzustellen: Es hat grundsätzlich solche
Abstimmungen mit der Ländergesamtheit nicht gegeben, sondern der Bund hat
im Regelfall versucht, dies mit den betroffenen Ländern abzuklären. Angesichts
des Rotstifts, der leider allzu oft immer noch in vielen Ländern und Kommunen
im Kulturbereich angesetzt wird, ist das seit Jahren deutlich ansteigende finan-
zielle Engagement des Bundes als Kontrapunkt allseits geschätzt. Die BKM sieht
sich sogar zwischenzeitlich in der Situation, ihrerseits immer wieder selbst auf
die verfassungsrechtlichen Grenzen ihrer Förderkompetenz hinweisen zu müs-
sen, gerade auch, wenn Förderungen über den parlamentarischen Raum – auch
auf Initiative aus den Ländern – angeschoben werden sollen. Die aktuelle Revi-
talisierung des Eckpunktepapiers durch die BKM dient gerade dazu, ihre Förder-
zuständigkeit auf die darin bundesseitig reklamierten Bereiche (»1. Korb und 2.
Korb«) zu begrenzen.

4. — Vom Rhein an die Spree – Sichtbarer Aufbruch der Bundeskulturpolitik


Regine Möbius
Erfahrung braucht
Offenheit –
Erwartungen an ein
noch junges Amt
Damit ist die Offenheit gemeint, nach 20 Jahren des Wirkens von fünf Kultur-
staatsministern über die Erfahrungen zu sprechen, die wir als Gesellschaft mit
diesem Amt gemacht haben. Gleichzeitig aber sein utopisches Potenzial anklin-
gen zu lassen, das sich jenseits von Nützlichkeit, also von Zwecken und Zielen, de-
finieren darf, denn in der Differenz zwischen einem Anspruch und einer Wirkung
erfahren wir das Eigentliche, die Kunst. Um diese zu fördern, vielleicht auch her-
auszufordern, schaffte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder dieses Amt.
Bei Gesprächen darüber meldeten sich viele Väter. Im Juli 1998 schreibt
Erich Loest in einem kurzen Text dazu mit dem Titel »Raus aus der Besenkam-
mer«: »Ein kratziger Rotstift hat die geistige Landschaft mit ihren Bibliotheken,
Theatern, Schulen, Universitäten, Goethe-Instituten und Orchestern arg geschä-
digt. Der deutsche Kulturminister heißt Waigel, panisch späht er, wie er noch ei-
nen Klecks aus dem Topf kratzen kann, und hat dabei den Lack nicht verschont.
Von dem ist nun allerlei ab. Plötzlich reden alle […] von einem nötigen kultur-
politischen Oberhaupt und anscheinend geht es den meisten darum, ob das Mi-
nister, Staatssekretär oder schlicht Beauftragter heißen soll. Das wäre egal, wenn
nur das Ziel im Auge bleibt, Kultur wieder zu einer Hauptsache im politischen
Haushalt zu machen, ihr den Salon zuzuweisen und sie aus der Besenkammer zu
befreien.« (Loest, Träumereien eines Grenzgängers, 2001, S. 105)
Michael Naumann wird der erste Beauftragte für Kultur und Medien. In ei-
nem Interview der Zeitschrift »Stiftung & Sponsoring« fordert er die kulturelle
Dimension des Einigungsprozesses zu stärken und kulturellen Austausch zu för-
dern. »Das Europa der Zukunft wird nicht als reine Interessengemeinschaft be-
stehen können; seine kulturelle Vielfalt muss gegenüber der gemeinsamen Au-
ßenpolitik tatkräftig gefördert werden. Dabei spielt der Kulturaustausch eine be-
deutende Rolle […]«

Wachgeküsst
Menschen wollen sich ihre Zukunft vorstellen, wollen wissen, was mit ihnen ge-
schehen wird. Mit ihren Mitteln und mit ihren Sinnen möchten sie diese Zu-
kunft gestalten. Dazu braucht es Ideen, Orte und eine Öffentlichkeit. Aber in der
Kunst, obwohl von einem umfassenden Kulturverständnis getragen, ist eine sol-
che zweck-, ziel- und handlungsorientierte Haltung absurd. Auf Kunst zu setzen,
heißt ins Chaos zu investieren, ins Bodenlose. Und trotzdem gilt die Frage: Soll
man, weil man scheitern kann, nicht das Unmögliche wollen? Wer das Scheitern
fürchtet, wird sich Visionen nicht aussetzen.
Ikarus verbrannte sich die Flügel, als er der Sonne zu nah kam und stürzte ab. 200
Vermutlich lachen auch heute nicht wenige Voyeure über den, der das Unmögli-
che probiert hat. Sie haben um die Zwecklosigkeit des Unternehmens gewusst. Sie 201
machen sich höchstens die Schuhe schmutzig, die Federn versengen sie sich nicht.
Christa Wolf erzählte, man habe ihr vorgeworfen, sie hätte mit dem Sozia-
lismus »an Unmögliches geglaubt«. Sie bestritt das nicht. Nach der Zerschlagung
des Prager Frühlings durch die Truppen der Warschauer Pakt-Staaten, gestand
sie, dass ein Wir gescheitert war. Und vermutlich stand für sie genau zu diesem
Zeitpunkt, wie später auch immer wieder die eben aufgeworfene Frage im Raum:
Soll man, weil man scheitern kann, nicht das Unmögliche wollen?
Bestimmte Gründe geben unserer rational und normativ verfassten Lebens-
form die Struktur, deren wir als Menschen bedürfen – als Mitglieder dieser, wie
Julian Nida-Rümelin (Beauftragter der Bundesregierung für Kultur und Medien
2001–2002) schrieb, »merkwürdigen Spezies, deren hinreichend entwickelte Ex-
emplare sich in ihren Urteilen und ihrem Handeln von Gründen leiten lassen«
(Julian Nida-Rümelin, Philosophie und Lebensform, 2009).
Ist es Erfahrungsarmut, wenn wir uns als Gesellschaft von einem Zweck, von
unterschiedlichen Gründen oder einem Ziel leiten lassen? Haben wir diese Eck-
pfeiler nicht auch in unserer Vorstellungswelt, wenn wir an die Arbeit und Auf-
gaben eines Kulturstaatsministers denken, dessen eigentlicher Titel Beauftrag-
ter ist. Also ein im Auftrag Handelnder. In diesem Begriff steckt die unausge-
sprochene Erwartung, es gebe für dieses Amt, für die Arbeit in diesem Amt ein
wünschbares Resultat, das zu erreichen ist, und an dem wir uns über den Erfolg
oder Misserfolg definieren können.
Christina Weiss (Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien
2002–2005) setzte in einem Gespräch im Studio 9 mit Korbinian Frenzel folgen-
den Satz dagegen: »Die Sache der Kunst ist es, den Geist freizusetzen. Uns aus
dem eingefahrenen Denken wieder herauszukatapultieren.«
Die Politik, die einen Anspruch formuliert, kann eine Kunst des Möglichen
sein. Die Kunst eigentlich ist immer das Unmögliche. Sie ist immer das, was kei-
ner erwartet.
Bernd Neumann (Beauftragter der Bundesregierung für Kultur und Medi-
en 2005–2013) mahnte 2010 anlässlich der Mitgliederversammlung von ICOM
Deutschland an, dass wir nicht vergessen dürften, »dass wir nur Treuhänder des
kulturellen Erbes sind, und wir es, selbst angesichts von Sparzwängen, nicht

4. — Vom Rhein an die Spree – Sichtbarer Aufbruch der Bundeskulturpolitik


leichtfertig preisgeben dürfen.« Also doch immer wieder das Unmögliche wa-
gen. Es wird das Bewahrenswerte werden, was die wirkliche Geschichte ausmacht.
Monika Grütters, seit 2013 Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und
Medien, betonte in einem Interview, das sie im Mai dieses Jahres der Welt gab:
»Wenn man wachsam und kritisch bleibt, dann kann man mit vielen Provokati-
onen, auch der einen oder anderen Grenzüberschreitung, gut leben, ohne sich
dadurch bedroht zu fühlen. Wer seine Werte und Wurzeln kennt, lebt auf einem
guten Fundament.«
Ist es gelungen, nach 20 Jahren BKM, der Kunst und Kultur ein ebensolch
gutes Fundament zu geben? Ja, es ist vieles auf einen offenen, hoffnungsvollen
Weg gebracht worden. Doch: »Den lieb ich, der Unmögliches begehrt«, heißt es
in Goethes Klassischer Walpurgisnacht.

Wachgeküsst
Norbert Sievers
Kontrolle ist gut,
Vertrauen ist besser. 202

Zum Verhältnis Ge- 203

sellschaft und Staat


20 Jahre Bundeskulturpolitik. Das ist ein wichtiges Jubiläum, nicht zuletzt für die
Kulturpolitische Gesellschaft. Hat sie sich doch von jeher sehr für ein stärkeres
Engagement des Bundes in der Kulturpolitik eingesetzt, insbesondere nach der
»Wende« in den 1990er Jahren. Dabei ging es, dem damaligen Reformklima und
dem aufkeimenden neoliberalen Zeitgeist entsprechend, auch schon um Neu-
justierungen im Verhältnis von Staat und Zivilgesellschaft. Hintergrund dafür
waren die öffentliche Finanznot und die Debatten um das sogenannte New Pu-
blic Management und einer neuen Governance-Konzeption, die im Leitbild des
»aktivierenden Staates« ihren Fokus hatte. Dieses Leitbild ist in der Folge auch
in der bundeskulturpolitischen Diskussion zu einiger Prominenz gelangt und
ist bis heute Gegenstand kontroverser Debatten. Es lohnt sich daher, einen Blick
darauf zu werfen und auf das darin angelegte Verhältnis von Staat und Gesell-
schaft hin zu befragen.

Der aktivierende Staat und die Zivilgesellschaft

Das Jahrzehnt nach der Wende war geprägt durch Reformbemühungen in den öf-
fentlichen Verwaltungen vor allem der Kommunen (Stichwort »New Public Ma-
nagement«) und die Theorie des »aktivierenden Staates«, die ein neues Verhält-
nis von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft reklamierte. Beeinflusst durch angel-
sächsische Theoretiker und Erfahrungen war mit dieser »neuen Staatstheorie«
eine Art Modernisierungskompromiss verbunden, der alte (ideologische) Blo-
ckaden aufzubrechen und einen neuen »dritten Weg« (Anthony Giddens) zu eb-
nen versprach. Jenseits des so bezeichneten »ordnungspolitischen Dualismus«
(Warnfried Dettling), der nur einer entweder staatsnahen oder marktkonformen
Politikkonzeption die Lösung gesellschaftlicher Probleme zutraute, verstand sich

4. — Vom Rhein an die Spree – Sichtbarer Aufbruch der Bundeskulturpolitik


dieser Ansatz als Kombination von öffentlicher Regulierung, marktvermittelter
Produktion und gesellschaftlichem Engagement und suchte nach dem »Königs-
weg« zwischen sozialstaatlichem Versorgungsdenken und neoliberalem Politik-
verzicht durch einen Wechsel von der Produzenten- zur Gewährleistungsrolle
des Staates. Dabei ging es vorgeblich nicht so sehr um Staatsentlastung bzw. den
Abbau öffentlicher Leistungen, sondern um eine neue Mischung aus staatlicher
Gesamtverantwortung und bürgerlicher Selbsttätigkeit. Nicht weniger Staat war
das Ziel der theoretischen Vordenker, sondern ein anderer und besserer Staat.
Auch in der Kulturpolitik und in der Kulturpolitischen Gesellschaft ist diese
neue ordnungspolitische Vorstellung aufgegriffen worden, zumal sie ihrem plu-
ralistischen Grundverständnis entgegenkam. In der Konzeption einer »aktivie-
renden Kulturpolitik« (Sievers 2001) wurde sie nicht mehr nur aus einer Ein-Sek-
tor-Perspektive gedacht, sondern mehrpolar und als »Mehr-Agenten-System«
(Eckart Pankoke), in dem staatliche und nichtstaatliche Akteure im Sinne einer
Verantwortungsteilung kooperativ in einem Netzwerk zusammenwirken. Eine
befähigende und ermöglichende Politik sollte zur Kooperation und Koproduktion
ermuntern und Engagement fördernde Rahmenbedingungen gestalten. Die En-
quête-Kommission des Deutschen Bundestages »Kultur in Deutschland« nahm
in ihrem Abschlussbericht konkret Bezug auf diesen Ansatz, indem sie den »ak-
tivierenden Kulturstaat« als Leitbild der Kulturpolitik auswies, in dem Modera-
tion und Vermittlung als Elemente eines ›Netzwerkmanagements‹ eine größe-
re Rolle spielten (s. Deutscher Bundestag 2007, S. 52–92). Sie machte sich damit
einen auf Kooperation setzenden Kulturpolitikbegriff zu eigen, der Kulturpoli-
tik in einem systemischen Zusammenhang begreift, in dem dann nicht mehr nur
der Staat (auch: Länder, Kommunen) als (zentrale) kulturpolitische Akteure und
Anbieter öffentlicher kultureller Dienstleistungen und Infrastrukturen auftreten,
sondern auch der Kulturmarkt und die Kulturgesellschaft als wirtschaftlich und
bürgerschaftlich organisierte Strukturen. Von »Verantwortungspartnerschaft«,
»Trisektoralität«, neuen »Governance-Strategien« und der berühmten »Augen-
höhe« war in der Folge und ist bis heute die Rede.

Kritik der aktivierenden Kulturpolitik

Die Konzepte des »aktivierenden Kulturstaates« und der »aktivierenden Kultur-


politik« waren und sind in der kulturpolitischen Diskussion nicht unumstritten.
Kritisiert wird vor allem die aktive Rolle des Staates, die sich eben nicht nur auf
eine zurückhaltende Gewährleistungsfunktion beschränkt, sondern auch eine
Gestaltungs- und Steuerungsfunktion beinhalten soll. Auch in der Enquête-Kom-
mission war der Begriff »aktivierender Staat« strittig. So haben die FDP-Frakti-
on und der Sachverständige Olaf Zimmermann (Geschäftsführer des Deutschen
Kulturrates) folgendes Sondervotum abgegeben: »Es geht nicht darum, dass der
Staat aktiviert, weder die Künstler oder die Kultureinrichtungen oder das bür-
gerschaftliche Engagement im Kulturbereich. Vielmehr kommt es darauf an, dass

Wachgeküsst
der Staat durch die Gestaltung der Rahmenbedingungen sowie teilweise durch
die direkte Kulturförderung Kunst und Kultur ermöglicht. Es sollte daher von ei-
nem ›ermöglichenden Staat‹ gesprochen werden.« (Ebd., S. 52, FN 2)
Dieser Einwand ist mehr als eine semantische Spitzfindigkeit, wenn das Go-
vernance-Konzept nicht aus der Perspektive der Kommunen gedacht wird, son-
dern aus der Sicht der Länder und des Bundes. Denn besonders hier steht der da-
mit implizierte Staatsanspruch im Widerspruch zu dem Staatsverständnis, das
die deutsche Verfassung vorsieht und das in der Kunstfreiheitsgarantie und dem
daraus abgeleiteten Gebot der Staatsferne in der Kulturförderung zum Ausdruck 204
kommt. Neben diesem grundsätzlichen Einwand gibt es auch funktionale und
politische Bedenken. So ist die Koproduktion der drei Sektoren Staat, Markt und 205
Dritter Sektor sicher eine gute Idee, wenn es darum geht, unnötige Konkurren-
zen abzubauen, Reibungsverluste zu minimieren und die Zusammenarbeit der
Akteure anzuregen. Bedauerlicherweise führt die auf mehr Effizienz und Effek-
tivität ausgelegte sektorübergreifende Kooperation der Akteure aber auch zu ei-
ner problematischen Grenzverwischung und Verantwortungsdiffusion, wenn die
Verantwortung lediglich abgeschoben, aber nicht wirklich geteilt wird, oder die-
jenigen, die die Verantwortung übernehmen sollen, nicht in die Lage versetzt
werden, diese auch tatsächlich ausüben zu können.
Politisch geht das Konzept der aktivierenden Kulturpolitik davon aus, dass
gemeinsame Ziele und Leitbilder entwickelt und Kooperationen verabredet wer-
den. Dagegen ist im Grunde nichts einzuwenden. Wenn dies jedoch darauf hi-
nausläuft, dass eine gemeinsame Aushandlung und Verständigung nicht statt-
findet und öffentliche Kultureinrichtungen und zivilgesellschaftliche Akteure
in staatliche Programme inkorporiert werden, ohne dass Mitsprache erwünscht
ist, werden womöglich Freiheitsräume eingeschränkt und die umworbenen Part-
ner zu Erfüllungsgehilfen staatlicher Behörden. Dies muss kein grundsätzliches
Problem sein, aber es ist eine Gradwanderung. In dieser Situation stehen gegen-
wärtig z. B. etliche Fachverbände im Kulturbereich, die sich im Sinne einer »Poli-
tik durch Verbände« (z. B. beim Programm »Kultur macht stark«) als Dienstleis-
tungsagenturen für öffentliche Förderer anbieten und Gefahr laufen, dadurch
ihre Funktion als Organisationen der Interessenvertretung und kritische Instan-
zen der Zivilgesellschaft zu verlieren, weil es schwierig ist, gegenüber dem Staat
eine kritische Position einzunehmen, wenn man gleichzeitig in einer kooperati-
ven (Geschäfts-)Beziehung zu ihm steht. Auf Dauer wäre diese Stillstellung der
Verbände bei forciertem Dienstleistungsbetrieb weder für die Verbände noch für
die Politik ein Vorteil, weil sie die interne legitimatorische Verfassung der Ver-
bände im Binnenverhältnis beschädigt und ihre Einspruchsfähigkeit im Netzwerk
Kulturpolitik schwächt. Genau diese Depolitisierung hat – trotz aller gegenteili-
gen Beteuerungen – in den letzten Jahren nach meinem Eindruck jedoch statt-
gefunden. Das Verhältnis von Nähe und Distanz, das für jede gelingende Part-
nerschaft konstitutiv ist, sollte deshalb zwischen dem fördernden Staat und den
zivilgesellschaftlichen Akteuren neu austariert werden.

4. — Vom Rhein an die Spree – Sichtbarer Aufbruch der Bundeskulturpolitik


Projektförderung als zweites Standbein der Kulturförderung

Projektarbeit und mithin die Projektförderung haben in den letzten zwei Deka-
den enorm zugenommen. Mittlerweile dürften bezogen auf alle Politikebenen
und Förderakteure mehrere zehn Millionen Euro jährlich für zeitlich befriste-
te, nicht regelmäßige Aktivitäten vergeben werden, ohne dass dies von der Kul-
turpolitik als systemrelevantes Faktum wirklich zur Kenntnis genommen wür-
de. Bemerkenswert sind dabei nicht nur die Quantität der Fördersumme und die
Vielzahl der fördernden Organisationen und Fördervorgänge, sondern auch die
Qualität der geförderten Kulturaktivitäten. Denn häufig sind es die besonderen,
Aufmerksamkeit erheischenden, auf spezielle Anlässe und Situationen bezoge-
ne Formate wie Festivals, Jubiläen oder Projekte mit aktueller Thematik, die in
der »Gesellschaft der Singularitäten« (Andreas Reckwitz) das Besondere und oft
auch das qualitativ Exzellente gegenüber dem normalen Kulturprogramm reprä-
sentieren. Nicht zuletzt dieser Vorteil hat dazu geführt, dass Projektarbeit längst
den Charakter seltener Experimente verloren hat, sondern vielmehr zum Signum
der kulturellen Spätmoderne geworden ist. Der Kultursoziologe Andreas Reck-
witz geht sogar so weit, Projekte als den »geradezu emblematischen Ort« zu se-
hen, wo »sich die Ökonomie, ja die gesamte Gesellschaft der Spätmoderne auf
der Organisationsebene realisiert« (Reckwitz 2017, S. 192). Dies ist ein Hinweis
auf die Bedeutung der Projektarbeit, die in der Kulturpolitik (zumal des Bundes)
nicht annähernd wahrgenommen wird.
Der Kulturbereich und insbesondere die freie und soziokulturelle Szene wa-
ren von jeher (vor allem in den 1970er und 1980er Jahren) offen und empfänglich
für die Arbeit in Projekten, weil dieses »temporäre System« den Bedürfnissen der
Akteure nach einem selbstbestimmten Arbeiten und Leben und »affektiver Dich-
te« in besonderer Weise entgegenkam und nebenbei bei der Überbrückung von
so manchen biografischen Statuspassagen behilflich war. Dies ist der soziologi-
sche Hintergrund für den Boom der Projektarbeit und in der Folge auch der Pro-
jektförderung. Als weiteres Erklärungsmoment kommt hinzu, dass Projektförde-
rung auch in hohem Maße politisch funktional ist, zumal in Zeiten leerer Kas-
sen. Sie belastet die öffentlichen Etats nicht auf Dauer und gibt gleichzeitig viel
mehr Spielraum, um flexibel auf neue Themen und neu entstehende Förder- und
Modernisierungsbedarfe zu reagieren. Außerdem kann mit einer Programm- und
Projektförderung eine breitere politische Agenda »bespielt« werden. Kulturpolitik
gewinnt so Handlungsfähigkeit zurück, die angesichts mancher Etats fast gegen
Null geht, wenn die Mittel zu über 80 Prozent institutionell gebunden sind. Mit
anderen Worten: Projektförderung macht es möglich, mit vergleichsweise wenig
Geld noch Politik machen zu können. Weil für neue Einrichtungen mit Normalar-
beitsverträgen vielerorts ohnehin das Geld fehlt und das »Omnibus-Prinzip« das
bestehende Institutionensystem für neue Initiativen unzugänglich macht, boo-
men ergänzende Projektförderstrategien zum institutionellen System, zumal sie
den Charme haben, im Bedarfsfall wieder rückgängig gemacht werden zu können.

Wachgeküsst
Ambivalenzen der Projektförderung

Den Vorteilen für die Kulturszene und die Kulturpolitik stehen aber auch Risiken
und Nachteile gegenüber, insofern die vermehrte befristete Projektförderung die
ohnehin schon fragile und ökonomisch prekäre Lage vieler Kulturakteure noch
verstärkt und die Balance von projektbezogener und institutioneller Förderung
aus dem Gleichgewicht bringt. Ursprünglich waren Projekte als ergänzende Op-
tion gedacht. Man wollte mal etwas ausprobieren, aus den üblichen Arbeitsrou-
tinen ausbrechen. Heute versteht sich Projektarbeit nicht mehr als Ausnahme 206
und zusätzlich zum Alltagsbetrieb, sondern ist für viele kulturellen Akteure die
einzige Quelle ihres geringen Einkommens. 207
Projektförderung perpetuiert diese prekäre Situation und führt in der öf-
fentlichen Kulturförderung letztlich zu einem Zwei-Klassen-System von insti-
tutionell geförderten Einrichtungen auf der einen Seite und projektbezogen ge-
förderten Akteuren auf der anderen Seite. Während es auf der institutionellen
Seite eine Situation relativer Sicherheit gibt, haben wir es in der durch Projekt-
mittel geförderten Kulturszene mit einem zum Teil überbordenden, ganz sicher
unterfinanzierten und deregulierten System zu tun, das die Akteure der Kul-
turgesellschaft einem permanenten, zeitlich eng getakteten Wettbewerb aus-
setzt, um möglichst viele kulturelle Kräfte zu mobilisieren. Wettbewerbe sind
der zentrale Modus einer aktivierenden Kulturförderung und an sich eine gute
Idee, wenn die Verhältnismäßigkeit gewahrt bleibt. Politik kann auch überak-
tivierend sein.
Problematisch ist Projektförderung auch deshalb, weil sie durch Gewährung
und Entzug von Mitteln in unheiliger Allianz mit einem restriktiv ausgelegten
Zuwendungsrecht disziplinierende Effekte haben kann, auch wenn diese vom
Zuwendungsgeber gar nicht intendiert sein mögen. Allein die Tatsache, dass die
projektbezogen geförderte Kulturarbeit bis hin zu kleinsten Beträgen gebunden
ist an die hoheitlichen Akte der Bewilligungsbescheide und den damit verbun-
denen Anforderungen und Kontrollen, die bundesweit sicherlich mehrere zehn-
tausend Vorgänge ausmachen, bewirkt im Endeffekt eine enorme Kontrollstruk-
tur, der die Projektakteure ausgesetzt sind.
Abgesehen von dem enormen und immer größer werdenden Verwaltungs-
aufwand, der damit verbunden ist, stellt sich auch die Frage, was dies demokra-
tiepolitisch bedeutet. Die Folgen für die Arbeitsbedingungen der Kulturakteure
sind indes bekannt und werden immer wieder beklagt. So stehen die Kulturak-
teure vor der Notwendigkeit, immer wieder neue Projekte konzipieren zu müs-
sen, die Mittel dafür zu besorgen etc. Dieser Zwang zur Dauerinnovation, den
der Wettbewerb um die Fördertöpfe begründet, kann auch zu einer Erschöpfung
und Frustration der Kulturszene führen, zumal die Zuwendungsnehmer in der
Regel auf gemeinnütziger Basis arbeiten und keine Möglichkeit haben, Gewin-
ne zu erzielen und Rücklagen zu bilden, um Zeit und Phasen der Ruhe und Re-
generation zu haben.

4. — Vom Rhein an die Spree – Sichtbarer Aufbruch der Bundeskulturpolitik


Die Aufgabe des Bundes: Zuwendungsrecht reformieren

Fördermittel für Projekte werden vom Staat in der Regel als Zuwendungen auf
der Basis des Haushaltsrechts vergeben, dessen Bestimmungen aus dem letzten
Jahrhundert kommen und nicht mehr in die heutige Projektwirklichkeit passen.
Der Grund dafür ist, dass das Zuwendungsrecht vor allem auf die Rationalität
und Handlungslogik öffentlicher Behörden zugeschnitten ist und die trisekto-
rale Realität und vor allem die Betriebswirklichkeit vieler frei-gemeinnütziger
Träger oder gemischt finanzierter Akteure nicht berücksichtigt. Bei Förderun-
gen von zeitlich befristeten Vorhaben gemeinnütziger Vereinigungen steht im-
mer noch die Vorstellung vom »bürgerschaftlichen Idealverein« im Hintergrund,
der im Wesentlichen von Spenden und Beiträgen lebt und hin und wieder für be-
sondere Aktivitäten beim Staat oder bei privaten Sponsoren um eine zeitlich be-
fristete Unterstützung nachsucht. Die Situation vieler frei-gemeinnütziger Trä-
ger hat sich jedoch grundlegend verändert, insofern sie oftmals längst zu hyb-
riden Betrieben der Kultur- und Kreativwirtschaft geworden sind, die nicht nur
in Ausnahmefällen Projekte durchführen, sondern Projektarbeit als Basis ihrer
wirtschaftlichen Existenz betreiben.
Besonders gravierend und augenfällig ist diese mangelnde Passung bei der
sogenannten quasi-institutionellen Förderung, also der Förderung von langfris-
tig arbeitenden Einrichtungen im Wege der jährlichen Projektförderung, wo al-
lein das Prinzip der Jährlichkeit, das Verbot der Rücklagenbildung etc. ganz ab-
gesehen von arbeitsrechtlichen Fragen, für die betroffenen Einrichtungen zu fast
unlösbaren Problemen führt. Komplizierter wird es, wenn Kulturakteure regel-
mäßig von vielen Projektförderungen leben, wobei jede einzelne aber nur auf das
konkrete Projekt bezogen ist, sodass die Bedarfe des Betriebs, in dem das Projekt
stattfindet, ausgeblendet bleiben. Voraussetzung einer nachhaltig wirksamen
Förderpolitik müsste dagegen sein, dass der betriebliche Kontext der gemeinnüt-
zigen Träger im Kulturbereich gesehen wird und dass die Förderstrategien und
das Zuwendungsrecht so ausgerichtet werden, dass sie die gewachsenen Anfor-
derungen an das Management dieser Organisationen verringern und nicht wei-
ter erhöhen. Das Gegenteil ist jedoch zu beobachten: Das Zuwendungsrecht in
der alten Form wird rigider umgesetzt, und die Zuwendungsempfänger werden
mit ihren Problemen alleine gelassen, obwohl sie beim Bund bekannt sind. Des-
halb muss leider konstatiert werden, dass der Bund (und die Länder) den Gover-
nance-Ansatz der Enquête-Kommission und die darin angelegten Modernisie-
rungs- und Demokratisierungsoptionen in dieser Frage nicht ernst genommen
haben und gegenüber den neuen Realitäten die Augen verschließt.
Eine tragfähige Partnerschaft zwischen staatlichen Behörden und zivilge-
sellschaftlichen Kulturakteuren bei der Erledigung öffentlicher Aufgaben setzt
eine situationsgerechte Förderung voraus. Ziel muss es daher sein, mehr Rechts-
sicherheit, Verlässlichkeit und Gestaltungsfreiheit zu schaffen und den Verwal-
tungsaufwand für die Zuwendungsgeber und Zuwendungsnehmer zu verringern,

Wachgeküsst
sonst läuft das System absehbar gegen die Wand. Wenn das Besondere, das Exzel-
lente, das Innovative durch Projekte in der »Gesellschaft der Singularitäten« ge-
fördert werden soll, dann bedarf es auch einer angepassten »Hintergrundstruk-
tur« (Andreas Reckwitz), die dies ermöglicht. Das Zuwendungsrecht ist eine sol-
che Hintergrundstruktur. Seit Jahrzehnten gibt es Vorschläge, es zu reformieren,
und es ist gut zu wissen, dass die aktuelle Bundesregierung sich für diese Legisla-
turperiode vorgenommen hat, »für eine zeitgemäße und auf die Bedarfe der Kul-
turszene ausgerichtete Zuwendungspraxis […] eine Vereinfachung und Entbüro-
kratisierung« sorgen zu wollen. Sie kann dabei auf viele Vorschläge zurückgreifen. 208
So hat die Arbeitsgemeinschaft für wirtschaftliche Verwaltung e. V. (AWV, 2018)
in diesem Jahr ein Arbeitspapier Zuwendungsrecht und Zuwendungspraxis vor- 209
gelegt, in das die Erfahrungen öffentlicher Behörden und zivilgesellschaftlicher
Organisationen eingeflossen sind. Vieles davon wäre sofort umsetzbar.
Über die Reform und flexiblere Anwendung des Zuwendungsrechts hinaus
könnte eine Veränderung der Förderungspraxis aber auch schon zu Erleichte-
rungen führen. Dringend notwendig ist eine Verbesserung der Kommunikation
zwischen Förderungsgebern und -nehmern, um mehr Verständnis mit Blick auf
die unterschiedlichen Situationen herzustellen. So wäre eine Intensivierung der
Beratungs- und Informationsmöglichkeiten (auch: Schulungen) sinnvoll. Posi-
tiv erwähnt werden sollen in diesem Zusammenhang die Verwaltungsleiterschu-
lungen des BKM, die einmal jährlich mit den wichtigsten Zuwendungsempfän-
gern stattfinden. Allerdings klären diese nur über die Anforderungen des öffent-
lichen Zuwendungsrechts auf, sind also eindimensional ausgerichtet. Es wäre
wünschenswert, wenn sie dialogischer ausgerichtet wären und auch die Proble-
me der Förderungsempfänger zur Sprache kommen könnten.
Gute Bedingungen für eine gelingende Zusammenarbeit von Staat und Zi-
vilgesellschaft sind jedoch nicht nur eine Bringschuld des Staates, sondern auch
eine Holschuld der Kulturakteure. Trotz der Asymmetrie in diesem Verhältnis,
welche die politische Rede von der »Augenhöhe« zur reinen Rhetorik verkom-
men lässt, sollten diese aus ihren wichtigen Beiträgen zum kulturellen Leben in
Deutschland und zur Modernisierung des Kultursystems Selbstvertrauen und
Selbstbewusstsein schöpfen und sich nicht klein machen vor dem großen mä-
zenatischen Gestus der Politik. Gerade aus jenem Bereich, den wir mit den Be-
griffen der Soziokultur und freien Kulturszene bezeichnen, sind immer wieder
auch kulturpolitische Innovationen entstanden. Ihr Movens war dabei oft die
Kritik an den bestehenden Verhältnissen in den Kultureinrichtungen und in der
Gesellschaft. Gerade deshalb haben sie viel erreicht. Bevor der Staat bestimm-
te Probleme erkannt hat, sind sie gewissermaßen gesellschaftlich schon in Vor-
leistung getreten und sollten sich jetzt nicht auf die Rolle der Erfüllungsgehil-
fen öffentlicher Programme reduzieren lassen und in affirmativer Selbstgenüg-
samkeit verharren. Nicht nur Kultur, auch Kritik macht stark und muss sein! Sie
ist kein Störfall des Kulturbetriebs, sondern ein Bewegungsmoment für kulturel-
le Entwicklung und für die Demokratie. Dem fördernden Staat ist mit Blick auf

4. — Vom Rhein an die Spree – Sichtbarer Aufbruch der Bundeskulturpolitik


seine Zuwendungsempfänger in der kulturellen Szene zu empfehlen, in direk-
ter Umkehr des Leninschen Diktums die Devise gelten zu lassen: »Kontrolle ist
gut, Vertrauen ist besser.«

Literatur
—— Arbeitsgemeinschaft für wirtschaftliche Verwaltung e. V. (AWV), 2018, Impulspapier
Modernisierung des Zuwendungsrechts für den Dritten Sektor ⟶ https://bit.ly/2NfPypw
—— Bundesregierung (2018): Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für
Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land. Koalitionsvertrag zwischen
CDU, CSU und SPD 19. Legislaturperiode ⟶ https://bit.ly/2IciKIv
—— Deutscher Bundestag (Hg.): Schlussbericht der Enquête-Kommission
»Kultur in Deutschland«, 11.12.2007, Drucksache 16/7000
—— Reckwitz, A.: Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne,
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017
—— Sievers, N.: Fördern ohne zu fordern. Begründungen aktivierender Kulturpolitik.
In: Röbke, T./Wagner, B. (Hg.): Jahrbuch für Kulturpolitik 2000, Band 1,
Thema: Bürgerschaftliches Engagement, Kulturpolitische Gesellschaft/Klartext-
Verlag, Bonn/Essen 2001, S. 131–155

Wachgeküsst
210

211

4. — Vom Rhein an die Spree – Sichtbarer Aufbruch der Bundeskulturpolitik


5.

Gesetz­-
gebung für
Kunst
und Kultur

20 Jahre
neue Kulturpolitik
des Bundes
Wachgeküsst 1998—2018
Isabel Tillmann
Seinen Platz finden –
Die BKM in der 212

­Ressortabstimmung 213

In der öffentlichen Wahrnehmung wird Kulturförderung oftmals mit finanzieller


Förderung gleichgesetzt. Die rechtlichen Rahmenbedingungen in einer kultur-
und medienpolitisch günstigen Weise zu gestalten, ist jedoch mindestens eben-
so Aufgabe der Kulturpolitik, gewissermaßen als Kulturförderung durch recht-
liche Gestaltung.
Aufgrund der Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Ländern in den
Bereichen Kultur und Medien gibt es auf Bundesebene nur wenige Gesetzge-
bungsvorhaben in der Zuständigkeit der Beauftragten der Bundesregierung für
Kultur und Medien (BKM), beispielsweise das Bundesarchivgesetz, das Filmför-
derungsgesetz oder das Kulturgutschutzgesetz. Angesichts der vielfältigen Aus-
wirkungen, die Regelungen in anderen Politikbereichen, wie z. B. Urheber-, Ar-
beits- und Sozial- sowie Steuerrecht auf das künstlerische Wirken und die Kultur-
und Medienlandschaft, in Deutschland haben – um nur einige der naheliegenden
Bereiche zu nennen, ist es daher umso wichtiger, im Rahmen der sogenannten
»Kulturverträglichkeitsprüfung« (KVP) kultur- und medienpolitische Belange bei
der Ressortabstimmung einzubringen.
Das Ziel der KVP hat die Bundesregierung bereits 2004 in der Antwort auf
eine Kleine Anfrage umrissen (BT-Drucks., S. 15/2729, S. 2). Diese Zielsetzung ist
auch heute noch aktuell: »Im Interesse einer Optimierung der rechtlichen Rah-
menbedingungen der Kultur war und ist es von wesentlicher Bedeutung, gesetz-
liche Neu- oder Änderungsregelungen auf den Weg zu bringen, die – wie die oben
beispielhaft genannten – gezielt der Kultur zugutekommen. Ebenso wichtig ist
es aber, bei anderweitigen, nicht gezielt auf die Kultur ausgerichteten Rechts-
normen darauf zu achten, dass sie möglichst keine der Kultur unzuträglichen Re-
gelungen enthalten. […] Mit der ausdrücklichen Statuierung dieses politischen
Ziels soll nach dem Verständnis der Bundesregierung in allen Phasen des Han-
delns der Exekutive wie auch der Legislative das Bewusstsein dafür geschärft
werden, dass Kunst und Kultur zu ihrer Entfaltung nicht nur das kreative Poten-
zial von Künstlerinnen und Künstlern benötigen, sondern ebenso auf geeigne-

5. — Gesetz­gebung für Kunst und Kultur


te rechtliche Rahmenbedingungen angewiesen sind, für die der Staat zu sorgen
hat.« Durch die Betonung der gezielten Förderung wird klar, dass es eben nicht
nur um die Vermeidung von kulturpolitischen »Unverträglichkeiten« geht. Ge-
setzgebungstechnisch klarer formuliert ist daher der Begriff der kulturbezoge-
nen Folgenabschätzung.
Mit der Antwort auf die damalige Kleine Anfrage hatte die Bundesregie-
rung sich explizit auf die Erwähnung auf den Koalitionsvertrag von 2002 bezo-
gen. Dass die Kulturverträglichkeitsprüfung in den Koalitionsvertrag von 2018
nicht mehr explizit als Verfahren Eingang gefunden hat, ist nicht etwa dahinge-
hend zu verstehen, dass das Thema obsolet geworden ist. Vielmehr hat es sich
derart »eingespielt«, dass selbstverständlich neben dem umfangreichen Kultur-
kapitel im Koalitionsvertrag auch die Berücksichtigung kultureller Belange in
anderen Bereichen gefordert ist.
Eine kurze Skizze zu den bisherigen Erfahrungen soll Inhalt und Verfahren
näher beleuchten. Hier lohnt sich ein näherer Blick aus mehreren Gründen: Zum
einen sind längst nicht nur Gesetzgebungsvorhaben im engeren Sinne betrof-
fen, sondern prinzipiell alle kabinettpflichtigen Vorhaben, wie z. B. Antworten
auf Parlamentarische Anfragen oder Berichtsbögen an den Deutschen Bundestag,
aber auch Strategien und Berichte. Letztere sind ihrerseits Grundlage für weite-
re politische und gesetzgeberische Entscheidungen, weshalb es auch hier wich-
tig ist, die kulturpolitische Sichtweise einfließen zu lassen. Nach der Geschäfts-
ordnung der Bundesregierung sind dieser »zur Beratung und Beschlussfassung
zu unterbreiten […] alle Angelegenheiten von allgemeiner innen- oder außen-
politischer, wirtschaftlicher, sozialer, finanzieller oder kultureller Bedeutung«.
Letzteres verdeutlicht auch, dass die mangelnde Beteiligung von BKM dazu füh-
ren kann, dass ein Verfahren nicht die erforderliche sogenannte »Kabinettrei-
fe« hat. Daher hat das federführende Ressort selbst immer ein Interesse an der –
wenn auch gegebenenfalls verspäteten – Beteiligung aller betroffenen Ressorts.
Dies wird durch großzügige Beteiligung »in cc« in den letzten Jahren erleichtert,
manchmal auch schlicht durch informelles »Nachhaken« per Telefon oder Mail.
Zum anderen beschränkt sich die Notwendigkeit der »KVP« nicht auf die
nationale Ebene: die Beteiligungspflicht erstreckt sich auch beispielsweise auf
Vorhaben auf europäischer und internationaler Ebene und die Positionierung
der Bundesregierung dazu. Genauso betroffen sind daher auch z. B. Stellung-
nahmen der Bundesregierung zu Vorabentscheidungsverfahren des EuGH oder
die Plädoyers in solchen Entscheidungen. Ebenso wirkt BKM bei der ressortin-
ternen Abstimmung von sogenannten »Sprechzetteln« für die Ratsarbeitsgrup-
pen oder Ratstagungen mit – auf europäischer Ebene aktuell nicht zuletzt im
Urheberrecht. Sitzungen von Ratsarbeitsgruppen oder des Rates im Kultur- und
Medienbereich sind zudem eine Möglichkeit des Austausches und der Frühwar-
nung im Kreise der Mitgliedsstaaten: Im Ausschuss für Kulturfragen kann über
die j­ eweilige Ratspräsidentschaft die Europäische Kommission gebeten werden,
zu aktuellen Vorhaben vorzutragen. – Das ist seit den Schlussfolgerungen des

Wachgeküsst
Rates vom 26. November 2012 zur kulturpolitischen Steuerung zwar turnusmä-
ßig vorgesehen, jedoch noch nicht immer geübte Praxis. – Dies bietet auch Mög-
lichkeiten, die anderen Mitgliedsstaaten für kulturpolitisch relevante Belange zu
sensibilisieren. So hatte z. B. Frau Staatsministerin Grütters seinerzeit ihre euro-
päischen Amtskolleginnen und -kollegen auf die kultur- und medienpolitischen
Belange in den TTIP-Verhandlungen hingewiesen. Auch hatte Deutschland in
der maßgeblichen Ratsformation (Rat für Bildung, Jugend, Kultur und Sport) bis-
weilen die Europäische Kommission um einen Bericht gebeten, um auf kultur-
politische Belange in anderen Dossiers aufmerksam zu machen. Solche Initia- 214
tiven sind seit vielen Jahren gelebtes »cultural mainstreaming«, wie die Kultur-
verträglichkeitsprüfung – in Anlehnung an die Begriffe für andere Querschnitts- 215
bereiche – auf EU-Ebene lautet. Dabei war die EU-Ebene hier Vorbild, nachdem
die Kultur als Politikbereich 1992 mit dem Vertrag von Maastricht in den (dama-
ligen) EG-Vertrag aufgenommen wurde.
Darüber hinaus besteht ein reger Austausch mit Ländern und Kommunen
durch den Gaststatus von BKM im Kulturausschuss der KMK sowie im Kulturaus-
schuss des Deutschen Städtetages, sodass auch in diesen Foren die Möglichkeit
besteht, sich frühzeitig über kultur- und medienrelevante Regulierungen nach Art
eines »Frühwarnsystems« zu informieren, aber auch – wie beispielsweise im Steu-
errecht – die Praxis bereits geltender Regelungen zu überprüfen. Als Austausch-
forum auf hoher kulturpolitischer Ebene hinzugekommen ist in jüngerer Zeit
das »Kulturpolitische Spitzengespräch« zwischen Bund, Ländern und Kommunen.
Inhaltlich ist der Begriff »Kulturverträglichkeit« etwas zu eng gefasst. Ex-
plizit wurden mit dem Organisationserlass vom 27. Oktober 1998 aus den be-
troffenen Ressorts (Bundesministerium des Innern (BMI), Bundesministerium
für Wirtschaft, Bundesministerium für Bildung und Forschung) die Zuständig-
keiten für Kultur und Medien übertragen – außerdem aus dem BMI die Förde-
rung der Kulturarbeit der Vertriebenen sowie die Zuständigkeit für Gedenkstät-
ten, welches sich als Bereich heute umfassender mit »Geschichte und Erinne-
rung« darstellen lässt. Völlig klar ist, dass im Zuge der Digitalisierung insbeson-
dere der Medienbereich seit dem Organisationserlass nicht nur einen höheren
Stellenwert erhält, sondern dieser noch stärker zum Querschnittbereich gewor-
den ist. Hier ist es weiterhin Aufgabe der BKM, bei aller Notwendigkeit der Aus-
gestaltung der digitalen Infrastruktur auf die Relevanz der – ketzerisch gefragt:
vielleicht noch maßgeblicheren? – Inhalte hinzuweisen.
Einer effektiven Wahrung kultur- und medienpolitischer Belange sehr dien-
lich ist weiterhin, dass die BKM auch organisatorisch in die »üblichen« Struk-
turen der Ressortabstimmung eingebunden ist, die Staatssekretärs- oder Abtei-
lungsleiterrunden, was nicht nur der unmittelbaren Mitgestaltung und -bera-
tung, sondern auch der Frühwarnung dient. Hervorzuheben ist, dass im Kreis der
Parlamentarischen Staatssekretäre die Staatsministerin eine Sonderstellung in-
nehat, weil diese zugleich Leiterin einer obersten Bundes­behörde ist. Auch dies
führt naturgemäß zu einer starken institutionellen Verankerung.

5. — Gesetz­gebung für Kunst und Kultur


Zu der ebenso naheliegenden wie entscheidenden Frage, was kulturpolitische
Belange bzw. die »kulturbezogenen Schutzgüter« im o. g. erweiterten Sinne sind.
Hier sorgt der sowohl in kulturpolitischer wie auch juristischer Hinsicht offe-
ne Kulturbegriff für eine stetige Weiterentwicklung: Ziele wie die Netzneutra-
lität waren vor 20 Jahren noch nicht auf der kulturpolitischen Agenda, Argu-
mentationstopoi wie die kulturelle Vielfalt noch nicht völkerrechtlich durch das
UNESCO-Übereinkommen über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultu-
reller Ausdrucksformen abgesichert. Hinter den so abstrakt formulierten »kultur-
bezogenen Schutzgütern« stehen zudem die Interessen der konkret betroffenen
Personen und Personengruppen – sei es als bildende Künstlerin, Sänger, Journa-
listin, als Vertreter von Museen und Bibliotheken oder den zahlreichen anderen
Institutionen, aber auch als engagierte Vertreter eher abstrakter Schutzgüter wie
der kulturellen und medialen Vielfalt oder der kulturellen Bildung.
In den letzten 20 Jahren bedeutete die »KVP« in praktischer Hinsicht nicht
zuletzt auch immer Überzeugungsarbeit bei den federführend zuständigen Res-
sorts. Bei prononciert »kulturlastigen« Bereichen – wie dem Urheberrecht und
dem Künstlersozialversicherungsrecht – besteht hier seit vielen Jahren ein sehr
»kurzer Draht« und damit eine enge Zusammenarbeit.
Zu achten sind kulturpolitische Belange zudem auch relativ klar als gegen-
läufiges Interesse zu Umweltschutz oder Energieeffizienz, damit der Denkmal-
schutz gebührende Berücksichtigung finden kann – oder auch die Unterwasser-
archäologie beim Bau von Offshore-Windkraftanlagen. Offensichtlich ist bei-
spielsweise die medienpolitische Relevanz, wenn Werbung oder die Rechte von
Journalisten geregelt werden. Berücksichtigen muss man bei allem notwendi-
gen Arbeitsschutz weiterhin, dass Exponate weniger Lichteinfall vertragen als
Mitarbeiter brauchen. Zahlreiche Gesetzgebungsverfahren der letzten Jahre ha-
ben zudem gezeigt, dass die Löschung von Daten archivfachliche Interessen be-
treffen kann (selbst bei der »Verordnung zur Fortschreibung von Vorschriften zu
Blut- und Gewebezube­reitungen«!). Nachdem beim zuständigen Ressort hinrei-
chend Verständnis für die Bedeutung von Künstlernamen geweckt werden konn-
te, sind diese auch weiterhin zulässige Angaben über die Person nach dem Pass-
gesetz. Hier ließen sich noch zahlreiche Erfahrungen aus den letzten 20 Jahren
der »KVP« auflisten, auch durchaus kuriose, wie z. B. dass die Novellierung des
Sprengstoffrechts das Archivwesen betrifft.
Das Ergebnis der »KVP« kann – je nach »Interventionsbedarf« – in die er-
satzlose Streichung einer Regelung, eine kulturspezifische Bereichsausnahme,
eine kulturverträglichere Umformulierung im Regelungstext selbst (dem »Feder-
führer« meist eher vermittelbar) oder zumindest in eine Erläuterung in der Be-
gründung münden – dies gilt natürlich genauso im parlamentarischen Verfahren.
Als Fazit festzuhalten ist nach 20 Jahren Erfahrung mit der »KVP«, dass
nicht nur innerhalb der BKM für zahlreiche Parameter für »kultursensible« Po-
litik- und Regelungsbereiche erarbeitet werden konnten, die die Prüfung im Ein-
zelfall erleichtern. Gleichzeitig zeigt die Häufigkeit der Beteiligung durch andere

Wachgeküsst
Ressorts, dass das Bewusstsein für die Beteiligung der BKM – und damit für die
Berücksichtigung kulturpolitischer Belange in Gesetzgebungsverfahren – gestie-
gen, wenn nicht gar nahezu selbstverständlich ist. Doch auch weiterhin wird es
Vorhaben geben, bei denen diese dem federführenden Ressort unbekannt sind,
insofern bleibt die Sensibilisierung eine Aufgabe für BKM.
Geklärt hat sich inzwischen vielleicht auch ein Missverständnis, dass mit
anfänglich überzogenen Erwartungen an die Kulturverträglichkeitsprüfung
verbunden war: Eine Ressortabstimmung, die kulturspezifische Belange wahr-
nimmt – sei es durch das federführende Ressort selbst, sei es durch die Prüfung 216
innerhalb der BKM – kann nicht gewährleisten, dass andere politische Ziele im
Ergebnis auf politischer Ebene vor Beschluss im Bundeskabinett höher gewichtet 217
werden. Das ist jedoch kein Wermutstropfen, sondern normaler Alltag der Res-
sortabstimmung – und im Übrigen keine kulturpolitische Besonderheit.
Doch auch ein im Wesentlichen eingespieltes Verfahren kann weiter ver-
bessert werden – am effektivsten dort, wo ein Entwurf für ein Gesetzgebungs-
verfahren seinen Ausgang nimmt. Daher könnten als Beitrag zu Überlegungen
zu »Besserer Gesetzgebung« auf nationaler Ebene entsprechende Handreichun-
gen ergänzt werden. Und auch auf europäischer Ebene böte der Fragenkatalog
in der »toolbox« zur »better regulation« noch Raum für weitere Ergänzung und
Differenzierung. Schließlich wäre eine kontinuierlichere Berichterstattung der
Europäischen Kommission im Ausschuss für Kulturfragen und bei Tagungen des
EU-Kultur- und Medienministerrates wünschenswert.
Abschließend soll an dieser Stelle auch betont werden, dass die Expertise
der Verbände in der Kulturpolitik ebenso wie in anderen Politikbereichen immer
wieder unerlässlich für eine Gesetzgebung ist, die den Bedürfnissen der Betrof-
fenen so weit wie möglich entspricht. Die BKM würde es daher begrüßen, wenn
die Verbände diese kleine Skizze über die Erfahrungen in der Ressortabstimmung
auch als Anregung zum weiteren Austausch auffassen würden.

(Der Beitrag ist eine Kurzfassung des Aufsatzes der Verfasserin in der ZGE 2017, S. 556–569)

5. — Gesetz­gebung für Kunst und Kultur


Rupert Graf
Strachwitz
Stiftungen am
Beginn einer Bun-
deskulturpolitik?
Einen Rückblick auf 20 Jahre Bundeskulturpolitik mit dem Stiftungswesen zu
verbinden, erscheint aus heutiger Sicht kaum noch verständlich. Das Recht der
Stiftungen bürgerlichen Rechts beschäftigt das Bundesministerium für Justiz
und Verbraucherschutz, für die Treuhandstiftungen existiert keine spezifische
gesetzliche Grundlage, und die Zuständigkeit für das Steuerrecht der Stiftun-
gen liegt bekanntermaßen beim Bundesministerium der Finanzen. Als kultur-
politisches Projekt werden Stiftungen nicht gesehen. Und doch gehört es zum
Blick auf die Anfänge einer organisierten Bundeskulturpolitik, das Thema auf-
zugreifen. Zwar hatte der neu gewählte Bundeskanzler, Gerhard Schröder, in sei-
ner ersten Regierungserklärung am 10. November 1998 die Aufgaben des erst-
mals berufenen Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien nur
mit folgenden Worten beschrieben: »Zur Bündelung der kulturpolitischen Kom-
petenzen des Bundes schaffen wir das Amt eines Staatsministers für kulturel-
le Angelegenheiten. Er wird Impulsgeber und Ansprechpartner für die Kultur-
politik des Bundes sein und sich auf internationaler, aber vor allem auf europäi-
scher Ebene als Interessenvertreter der deutschen Kultur verstehen.« 1 Er hat-
te aber auch hervorgehoben: »Wir haben den kulturellen Aufbruch aus der Zeit
der Restauration miterlebt und mitgemacht. Viele von uns waren in den Bür-
gerbewegungen der 1970er und 1980er Jahre engagiert. Die ehemaligen Bürger-
rechtsgruppen aus der DDR, die gemeinsam mit den ostdeutschen Sozialdemo-
kraten die friedliche Revolution mitgestaltet haben, sind an dieser Regierung
beteiligt. […] Diese Generation steht in der Tradition von Bürgersinn und Zi-
vilcourage. Sie ist aufgewachsen im Aufbegehren gegen autoritäre Strukturen
und im Ausprobieren neuer gesellschaftlicher und politischer Modelle. Jetzt ist

1 Bulletin der Bundesregierung Nr. 74–98 vom 11.11.1998

Wachgeküsst
sie – und mit ihr die Nation – aufgerufen, einen neuen Pakt zu schließen, gründ-
lich aufzuräumen mit Stagnation und Sprachlosigkeit, in die die vorherige Re-
gierung unser Land geführt hat. An ihre Stelle setzen wir eine Politik, die die
Eigenverantwortlichkeit der Menschen fördert und sie stärkt. Das verstehen wir
unter der Politik der Neuen Mitte. […] Das Engagement vieler Bürgerinnen und
Bürger in Vereinen und Verbänden, im Sport, in Bürgerinitiativen und Selbsthil-
fegruppen ist eine der Keimzellen unseres sozialen Zusammenlebens und einer
eigenverantwortlichen Gestaltung unserer Existenz.« Mit diesen programmati-
schen Sätzen skizzierte Schröder ein neues Verhältnis zu der Sphäre der Gesell- 218
schaft, die man damals oft den Dritten Sektor nannte und gerade begann, Zivil-
gesellschaft zu nennen. Die Stiftungen erwähnte er zwar nicht, aber als Akteure 219
der Zivilgesellschaft waren sie mitgemeint. »Stiftungen«, schrieb Antje Vollmer,
damals Vizepräsidentin des Bundestages, »nehmen innerhalb des Dritten Sek-
tors eine strategische Hauptrolle ein.« 1
In einem vielbeachteten Artikel zur »zivilen Bürgergesellschaft« präzisierte
Schröder 2000 seine Vorstellungen.2 Mit anderen europäischen sozialdemokra-
tischen Regierungschefs, darunter insbesondere Tony Blair, versuchte er darü-
ber hinaus, Überlegungen in Gang zu bringen, wie das umgesetzt werden könn-
te.3 Anthony Giddens hatte dafür mit seiner Veröffentlichung The Third Way (Der
dritte Weg) eine theoretische Grundlage geschaffen.4
Neben erheblichen Akzeptanzproblemen, nicht zuletzt in seiner eigenen
Partei und bei den Gewerkschaften, begegnete Schröder bei diesen Vorstellun-
gen auch der Schwierigkeit, dass es in den Ministerien dafür weder irgendwelche
grundlegenden Vorarbeiten noch irgendeine Idee für eine Umsetzung in prak-
tische Politik gab. Im Gegenteil: Beamte des Bundesfinanzministeriums hatten
beispielsweise zehn Jahre zuvor auf einer Tagung der Ludwig-Erhard-Stiftung
zum Thema »Markt, Staat und Stiftungen« erklärt, man habe »abschließend«
festgestellt, für eine Reform der Rahmenbedingungen für das Stiftungswesen
gebe es keinen Bedarf; der Diskussionsbeitrag (des Verfassers), dies festzustel-
len, sei in einer Demokratie wohl nicht die Aufgabe der Finanzverwaltung, stieß
nicht nur dort auf Unverständnis.5

1 Vollmer, A.: Stiftungen im Dritten Sektor, Eine vormoderne Institution in der Bürgergesell-
schaft der Moderne. In: Graf Strachwitz, R. (Hg.): Dritter Sektor – Dritte Kraft, Versuch einer
Standortbestimmung. Stuttgart 1998, S. 61
2 Schröder, G.: Die zivile Bürgergesellschaft – Anregungen zu einer Neubestimmung von Staat
und Gesellschaft. In: Die neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 4, April 2000
3 Blair, T.: Die neuen Gebenden, Unterstützung für freiwillige Arbeit und Gemeinsinn der
Bürger. In: The Guardian, 01.03.2000 (Übersetzung Britische Botschaft, Berlin, veröffentlicht in:
Maecenata Actuell Nr. 21, 2000)
4 Giddens, A.: The Third Way, The Renewal of Social Democracy, Cambridge 1998
5 Vgl. Ludwig-Erhard-Stiftung (Hg.), Markt, Staat und Stiftungen: ein Symposion der Ludwig-
Erhard-Stiftung in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Stiftungen –
Bundesverband – am 21.09.1988. Stuttgart 1989

5. — Gesetz­gebung für Kunst und Kultur


Die gesellschaftspolitische Stagnation der 1990er Jahre, als der durch den Mau-
erfall initiierte emotionale Aufbruch in keiner Weise aufgegriffen wurde, sondern
man sich vielmehr behäbig im Gefühl des Sieges im Kalten Krieg sonnte, ließ
keine Reformen des gesellschaftlichen Konstrukts zu, die den Bürgerinnen und
Bürgern mehr Mitsprache und Mitgestaltung hätte zubilligen wollen. Privatisie-
rungen, Wirtschaftswachstum, im übrigen aber die Festigung des überkomme-
nen westdeutschen Systems waren handlungsleitend. Francis Fukuyamas selt-
same Formel vom »Ende der Geschichte« erfreute sich großer Beliebtheit: Alles
sei jetzt gut, ändern müsse man nichts mehr.1 Dass diese Beurteilung nicht von
jedermann geteilt und im Lauf des Jahrzehnts zunehmend angezweifelt wurde,
fand zunächst wenig politischen Widerhall. Als aber die Lage vieler Kulturein-
richtungen wegen der Schieflage der öffentlichen Haushalte immer bedrohlicher
wurde und der allzu simple Verweis auf mögliche Sponsoren erwartungsgemäß
keinen Erfolg zeigte,2 fanden sich Gruppen zusammen, die über Lösungen nach-
dachten. Zu ihnen gehörte beispielsweise ein Aktionskreis Kultur, den Bernhard
Freiherr von Loeffelholz, Vorstand der Jürgen-Ponto-Stiftung, koordinierte und
der 1996 und 1997 Analysen und Vorschläge vorlegte.3
Auch ein Mitglied des Bundestages, Antje Vollmer, kulturpolitische Spreche-
rin ihrer Fraktion, machte sich intensive Gedanken, wie man aus diesem Dilemma
herausfinden könne. Durch ihre Dozententätigkeit bei den Bodelschwinghschen
Stiftungen Bethel war sie mit dem Stiftungswesen in Berührung gekommen, und
obwohl sie als Oppositionspolitikerin zu dieser Zeit nicht hoffen konnte, dass er
erfolgreich sein würde, legte sie 1997 einen vollständigen Gesetzentwurf zur Re-
form des Stiftungsrechts vor.4 Sie sah es als kulturpolitische Aufgabe, die Kultur
der Gesellschaft durch eine Erweiterung des Handlungsrahmens für nichtstaatli-
che und nichtwirtschaftliche Akteure zu verbessern, und Verbesserungen für Stif-
tungen als einen guten Weg, um diesen Prozess in Gang zu bringen. Stiftungen, so
ihre Überlegung, könnten das Einfallstor bilden. Sie wurden als strukturkonserva-
tiver Teil der Zivilgesellschaft gesehen, als »loyal« und nicht »voice« (die Stimme
erhebend), wie es der amerikanische Soziologe Albert O. Hirschman 1970 formu-
liert hatte.5 Eine stärkere Förderung des Stiftungswesens könne überdies zu mehr
Neugründungen führen, die die zu diesem Zeitpunkt leeren Staatskassen bei der
Erfüllung wichtiger öffentlicher und insbesondere auch kultureller Aufgaben ent-
lasten würden. »Die finanziellen Mittel, dies zu tun, stehen zur Verfügung, auch
wenn man hier vor übertriebenen Vorstellungen warnen sollte. Jedes Jahr wer-

1 Fukuyama, F.: The End of History. in: The National Interest 1989
2 s. hierzu: Graf Strachwitz, R./Toepler, S. (Hg.): Kulturförderung – Mehr als Sponsoring. Wiesbaden 1993
3 Wiesand, A. J. (Red.): Die Krise überwinden: Grünbuch des Aktionskreises Kultur. Bonn 1996/
Ders. (Red.), Bürger, Staat und Wirtschaft als Partner: Blaubuch des Aktionskreises Kultur. Bonn 1997
4 Eine von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen beantragte formelle Anhörung des Bundestages zu
Antje Vollmers Entwurf wurde 1997 mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP durch Mehrheitsbeschluß
zu einem Expertengespräch heruntergestuft.
5 Hirschman, A. O.: Exit, Voice, and Loyalty: Responses to Decline in Firms, Organizations, and States.
Cambridge, Mass. 1970

Wachgeküsst
den in Deutschland ungefähr 300 Milliarden DM vererbt. Viel wäre schon gewon-
nen, wenn ein kleiner Teil davon in gemeinnützige Stiftungen fließen würde.« 1
Es waren also zum einen vor allem kulturpolitisch denkende Menschen, die
für das bürgerschaftliche Engagement und gerade auch für das Stiftungswesen
entscheidende Reformimpulse gaben, auch, aber keineswegs nur, weil sie sich
dadurch eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage vieler Kultureinrichtungen
versprachen. Damit gab es aber auch 1998 ein ausgearbeitetes Projekt, mit dem
man beginnen konnte, das zu realisieren, was der Bundeskanzler angekündigt
hatte. Aber wer sollte es politisch voranbringen? Trotz neuer politischer Spitze 220
war von den beteiligten Ministerien nicht »über Nacht« ein neues Denken zu er-
warten. Aber es gab ja die Idee, dass dies eine kulturpolitische Aufgabe sei, und 221
es gab als neuen Beauftragten für Kultur und Medien mit Michael Naumann ei-
nen Politikwissenschaftler, der bereits zu erkennen gegeben hatte, dass ihn ur-
sächlich politische Aufgaben als Beauftragter mehr interessierten als der Auf-
bau einer Obersten Bundesbehörde, die in mühevoller Kleinarbeit die Überfüh-
rung von Zuständigkeiten aus dem Bundesministerium des Innern und anderen
Häusern organisieren musste. Naumann diente dem Bundeskanzler an vielen
Stellen als Sparring-Partner bei der Entwicklung von Ideen und Konzepten und
nahm sich der Aufgabe, dem Stiftungswesen einen neuen Rahmen zu geben, mit
Energie an. Als er 2001 zurücktrat, folgte ihm mit Julian Nida-Rümelin ein Philo-
soph, der zwar kommunaler Kulturreferent gewesen war, aber in seinem Selbst-
verständnis und dem des Bundeskanzlers die Rolle als Beauftragter und kultur-
politischer Vordenker ebenso gern ausfüllte. Inzwischen beschäftigte sich auch
die Enquête-Kommission »Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements« mit
Möglichkeiten, das Gewicht der Zivilgesellschaft in der politischen Debatte zu
erhöhen; auch hier spielte der Beauftragte für Kultur und Medien einerseits und
spielten die Stiftungen andererseits eine nicht unbeträchtliche Rolle. »Uns al-
len ist klar, dass der kulturelle Reichtum, der sich in Deutschland entwickelt hat,
ohne zusätzliches zivilgesellschaftliches Engagement nicht aufrechtzuerhalten
sein wird«, betonte Nida-Rümelin bei einem Symposium der Enquête-Kommis-
sion am 2. April 2001.2 »Die Mobilisierung der Bürgerschaft für gemeinsame kul-
turelle Ziele ist eine zentrale Aufgabe der Kulturpolitik.« 3
Die Stiftungen in diesen Prozess einzubeziehen, wurde dadurch erleich-
tert – und manchen Skeptikern schmackhaft gemacht – , dass 1996 in Gütersloh
und 1997 in Hannover erste Bürgerstiftungen entstanden waren, die versuch-
ten, das vielfach als elitär angesehene Instrument der Stiftung zu demokrati-
sieren. Weitere entstanden rasch an zahlreichen anderen Orten. »Zweifellos ist
die Möglichkeit, in eine Bürgerstiftung nicht nur Vermögenswerte unterschied-

1 Vollmer a. a. O., S. 64
2 Nida-Rümelin, J.: Bürgergesellschaft als ethisches Projekt; in: Enquête-Kommission »Zukunft des
bürgerschaftlichen Engagements« Deutscher Bundestag (Hg.), Bürgerschaftliches Engagement
und Zivilgesellschaft. Schriftenreihe der Enquête-Kommission, Band 1, Opladen 2002, S. 253
3 ebd.

5. — Gesetz­gebung für Kunst und Kultur


licher Größenordnung einzubringen, sondern sich dort auch mit Gleichgesinn-
ten aktiv zu engagieren, für Bürgerinnen und Bürger eine reizvolle Option. Bür-
gerstiftungen betätigen sich in den Bereichen Kultur, Jugend, Soziales, Bildung,
Natur, Umwelt etc. […] Bürgerstiftungen sind eine zivilgesellschaftliche Organi-
sationsform«, stellte die Enquête-Kommission in ihrem Abschlussbericht fest.1
Im Jahr 2000 verabschiedete der Deutsche Bundestag eine erste kleine Re-
form der steuerlichen Rahmenbedingungen für Stifter und Stiftungen. Als so ab-
schließend hatten sich die Feststellungen der Beamten des Bundesfinanzminis-
teriums nun doch nicht erwiesen. 2002 folgte eine Reform der einschlägigen zi-
vilrechtlichen Bestimmungen im Bürgerlichen Gesetzbuch. Damit allerdings er-
losch das besondere Interesse des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur
und Medien. Christina Weiss, die 2002 Julian Nida-Rümelin nachfolgte, muss-
te sich mehr auf den Aufbau ihrer inzwischen zu einiger Größe angewachsenen
Behörde konzentrieren; die unmittelbar zuständigen Ministerien wachten auch
wieder eifersüchtiger darauf, dass sich kein Fremder in ihren Revieren tummelte.
Wichtiger noch aber war etwas anderes: Zum einen hatte sich die politische
Großwetterlage radikal verändert. Nach dem Anschlag in New York am 11. Sep-
tember 2001 und den heftigen Reaktionen der USA, deren Präsident George W.
Bush den »Krieg gegen den Terror« ausrief, war allen Gedanken über neue Wege
und Gesellschaftsmodelle der Boden erst einmal entzogen. Als die Enquête-Kom-
mission 2002 ihren Abschlussbericht vorlegte,2 der zahlreiche Vorschläge für wei-
tere Reformen enthielt, interessierte sich im politischen Berlin niemand mehr da-
für. Zum anderen machten die Gewerkschaften dem um seine Wiederwahl kämp-
fenden Bundeskanzler klar, dass er auf ihre Unterstützung nur rechnen könne,
wenn er Ideen von bürgerschaftlichem Engagement nicht weiter verfolge, die
nach Ansicht der Gewerkschaften Arbeitsplätze gefährdeten. Der schöne gesell-
schaftspolitische Aufbruch von 1998, den Kulturpolitiker maßgeblich mit ange-
schoben hatten und der tatsächlich – wenn auch nicht mit den prognostizierten
Folgen – mit zu einer rasanten Zunahme von Stiftungsneugründungen führte, war
zum Stehen gekommen. Das »ethische Projekt«, von dem Nida-Rümelin gespro-
chen hatte, die »Gesellschaft, die von zivilgesellschaftlichem Engagement geprägt
ist, eine Gesellschaft der Bürgerinnen und Bürger im Wortsinne« 3 war ad acta ge-
legt. Der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates, Olaf Zimmermann, hatte gar
nicht so Unrecht, wenn er sagte: »Die Bundesregierung weiß leider nicht, was eine
Stiftung ist.« 4 Jedenfalls wurde die von vielen gewünschte große Neugestaltung,
die der Zivilgesellschaft und den Stiftungen in ihr einen modernen Rechtsrahmen
hätte geben können, trotz einiger kleiner Reformen bis heute nicht verwirklicht.

1 Enquête-Kommission: Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements. Deutscher Bundestag,


Bericht Bürgerschaftliches Engagement: Auf dem Weg in eine zukunftsfähige Bürgergesellschaft.
Schriftenreihe der Enquête-Kommission, Band 3, Opladen 2002, S. 247
2 Bundestagsdrucksache 14/8900 vom 03.06.2002 (Druckfassung s. Anm. 14)
3 Nida-Rümelin a. a. O., S. 254
4 Neue Musikzeitung 23.04.2002

Wachgeküsst
Katharina Görder
Die Künstlersozial­
versicherung – eine 222

klare Abstimmung 223

mit den Füßen


Wachgeküsst! Wer denkt dabei nicht sofort an Dornröschen, das vom Prinzen aus
dem 100-jährigen Schlaf erweckt wird? Allerdings muss jemand, der wachgeküsst
werden will, zunächst schlafen. Das am 1. Januar 1983 in Kraft getretene Künst-
lersozialversicherungsgesetz (KSVG) hat es sich jedoch selten langfristig in Mor-
pheus Armen gemütlich gemacht. 38-mal ist es in den vergangenen 35 Jahren auf-
geweckt worden. Mitunter nur für eine Kleinigkeit, mehrfach aber auch für Wich-
tiges. Das KSVG hatte Glück. Fast immer gab es von Jenen, die es aus dem Bett
holten, die Bereitschaft, sich zusammenzusetzen und die anstehenden Probleme
konstruktiv zu lösen. Aber auch in der besten Beziehung lassen sich Kontrover-
sen dabei nicht immer vermeiden.
Im Jahr 1999 wurde zum ersten Mal seit Bestehen der Künstlersozialkasse
(KSK) durch die Rot-Grüne Bundesregierung eine Änderung des Künstlersozial-
versicherungsgesetzes ohne eine vorherige Anhörung der betroffenen Verbände
vorgelegt. Als ein Teil des Haushaltssanierungsgesetzes sollte ab dem nächsten
Jahr der Bundeszuschuss zur Künstlersozialkasse von 25 auf 20 Prozent gekürzt
werden. Außerdem kündigte die Regierung eine Vereinheitlichung des Abgabe-
satzes, der vorher in die Bereiche Wort, Bildende Kunst, Musik und Darstellende
Kunst aufgeteilt war, in Höhe von zunächst vier Prozent an.
Das Gesetzesvorhaben wurde erwartungsgemäß kontrovers diskutiert.
»Hände weg vom Künstlersozialversicherungsgesetz!«,1 forderte der Mitvorsit-
zende des Beirats der Künstlersozialkasse Prof. Dr. Gerhard Pfennig, wobei er die
Absenkung des Bundeszuschusses deutlich kritisierte, die Aufhebung der Spar-
tentrennung jedoch begrüßte. Der Deutsche Kulturrat erinnerte die Regierung

1 Pfennig, G.: Hände weg vom Künstlersozialversicherungsgesetz.


Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 87, IV 99: 5–8, (1999)

5. — Gesetz­gebung für Kunst und Kultur


an ihr Versprechen, der Kultur einen neuen Stellenwert zu geben und verlangte:
»Die Bundesregierung muß jetzt Flagge zeigen«.1 Er fordert die Regierung daher
auf, ihre Zusage tatsächlich umzusetzen und gut funktionierende Systeme nicht
infrage zu stellen. Die geplante Absenkung des Bundeszuschusses zur Künst-
lersozialkasse von 25 auf 20 Prozent sei nicht die in der Koalitionsvereinbarung
angekündigte Verbesserung zur Absicherung der Künstlerinnen und Künstler in
die Künstlersozialversicherung, sondern im Gegenteil eine Steigerung der Be-
lastungen von Künstlern, Schriftstellern, Galerien, Verlagen und weiteren Un-
ternehmen. »Die ohnehin schwierige Lage von kleineren Unternehmen der Kul-
turwirtschaft wird sich nochmals verschlechtern, so daß letztlich nur noch die
Großen überleben werden.« 2
Die Opposition (CDU/CSU und FDP) brachte am 12. November 1999 einen
entsprechenden Änderungsantrag ein und versuchte so, das Gesetzesvorhaben
noch zu stoppen. Sie beanstandete: »Dies ist nicht nur keine Reform. Dies ist nicht
einmal eine Sparmaßnahme, sondern lediglich eine Ausgabenverschiebung. Da
die Verwerter bereits Klage gegen diese Art »Sondersteuer« angekündigt haben,
wird die Absenkung des Bundeszuschusses zur Künstlersozialkasse möglicherwei-
se letztlich zulasten der Künstler gehen. Bei einem Durchschnittseinkommen von
ca. 21.000 DM (Stand: 1998) werden die Künstler aber keine Erhöhung ihrer Ei-
genbeiträge meistern können. Darüber hinaus hält der Deutsche Bundestag daran
fest, dass der Beitrag zur Künstlersozialkasse weiterhin nach den Bereichen Bild,
Bildende Kunst, Musik und Darstellende Kunst differenziert wird. »Dies ist zum
einen notwendig, um eine größere Nähe zwischen Abgabepflichtigen und versi-
chertem Personenkreis herzustellen. Zum zweiten ist diese Bereichsregelung von
verfassungsrechtlicher Bedeutung.«3 Das Haushaltssanierungsgesetz wurde den-
noch im November 1999 verabschiedet und damit traten die aufgeführten Verän-
derungen in der Künstlersozialkasse zum 1. ­Januar 2000 in Kraft.
Zur Ruhe begeben durfte das KSVG sich danach allerdings nicht. Einige Ab-
geordnete der Regierungskoalition hatten bei der Verabschiedung des Haushalts-
sanierungsgesetzes zu Protokoll gegeben, dass das Künstlersozialversicherungs-
gesetz noch in der laufenden Legislaturperiode reformiert werden sollte. Sowohl
die Verbände der Künstler als auch die der Kulturwirtschaft sahen in dieser Pro-
tokollnotiz die Chance, jetzt eine grundlegende Reform des Künstlersozialver-
sicherungsgesetzes einzufordern.
Im Deutschen Kulturrat wurde eine Ad-hoc-Arbeitsgruppe eingerichtet, an
der Verbandsvertreter aller künstlerischer Sparten und der verschiedenen Be-
reiche, also der Künstler, der Kulturwirtschaft, der Kultureinrichtungen und der
Laien, zusammenwirkten. In dieser Arbeitsgruppe wurde intensiv über den Re-
formbedarf und die Anknüpfungspunkte für eine Reform debattiert. Im Vorder-

1 Die Bundesregierung muß jetzt Flagge zeigen, Neue Musikzeitung 9/1999 ⟶ https://bit.ly/2NOyQgl
2 ebenda
3 Bt-Drucksache 14/2097, 12.11.1999

Wachgeküsst
grund stand dabei die Frage, wie die Abwärtsspirale des Bundeszuschusses auf-
gehalten werden kann und wie eine breitere Definition des Selbstvermarktungs-
anteils ins Bewusstsein gerückt werden kann.
Die Bundesregierung hatte offensichtlich aus dem Sturm der Entrüstung ge-
lernt und bezog dieses Mal die Versicherten- und Verwertervertreter rechtzei-
tig in ihre Reformüberlegungen mit ein, die mit der Verabschiedung des »Zwei-
ten Gesetzes zur Änderung des Künstlersozialversicherungsgesetzes und ande-
rer Gesetze« am 6. April 2001 umgesetzt wurden.
Das Ergebnis wurde insgesamt eher positiv aufgenommen. Allerdings, und 224
das ist bei einem auszubalancierenden System von zwei konträren Interessen gar
nicht zu vermeiden, war es nicht allen recht zu machen. Ver.di beispielsweise ver- 225
meldete: »Jetzt liegt der Gesetzentwurf auf dem Tisch. Und das Wichtigste dar-
in ist wohl, dass er keine substanzgefährdenden Verschlechterungen enthält.« 1
Der Deutsche Kulturrat fasste am 12. April 2001 die Ergebnisse folgenderma-
ßen zusammen: »Erfreulich ist, dass bei der verabschiedeten Reform des Künst-
lersozialversicherungsgesetzes die vom Deutschen Kulturrat vorgeschlagenen
Verbesserungen des Versicherungsschutzes für Künstler und Publizisten umge-
setzt wurden. Dazu gehören:

—— d ie Chance, die Berufsanfängerzeit zu unterbrechen, ohne in die Gefahr


zu geraten, den Versicherungsschutz der Berufsanfänger zu verlieren,
—— die Möglichkeit, das Mindesteinkommen unter bestimmten Voraussetzungen
zu unterschreiten,
—— die Regelung der Krankenversicherung für Rentner und für die jetzt das
Rentenalter erreichende Versichertengeneration.

Die wesentliche Änderung für die künstlersozialabgabepflichtigen Unterneh-


men ist, dass, wie vom Deutschen Kulturrat gefordert, künftig der Bundeszu-
schuss zur Künstlersozialversicherung ausschließlich aus sozial- und kulturpo-
litischen Gründen geleistet wird und nicht mehr an den Selbstvermarktungsan-
teil geknüpft wird. Damit kommt der Bund seiner Verantwortung für die soziale
Sicherung der Künstler und Publizisten nach.« 2
Neu war außerdem, dass die Künstlersozialkasse an die Bundesausführungs-
behörde für Unfallversicherung in Wilhelmshaven angegliedert wurde. Vorher
war die KSK im Wege der Organleihe an die Landesversicherungsanstalt Ol-
denburg-Bremen angebunden. Sehr vorausschauend hatte sich im Jahr 1979 der
SPD-Politiker Dieter Lattmann geäußert: »Ich nehme an, dass es fast eine gan-
ze Generation braucht, bis das Gesetz mit allen Erfahrungen und Reparaturen
so funktioniert, dass man sagen kann, jetzt steht es.«

1 Lühr, R.: »Positiv: kaum Verschlechterungen« 01.03.2001 ⟶ https://bit.ly/2I8BZCL


2 Deutscher Kulturrat: »Reform des Künstlersozialversicherungsgesetzes abgeschlossen«
Pressemitteilung vom 12.04.2001 ⟶ https://bit.ly/2O1y6Vj

5. — Gesetz­gebung für Kunst und Kultur


Knapp zwei Generationen später war das Gesetz allerdings noch immer umstrit-
ten, denn nun drohte die Finanzierung des Umlagesystems an der mangelnden
Mitwirkung vieler abgabepflichtiger Unternehmen zu scheitern. Die Erfassung
von zahlungsverpflichteten Unternehmen konnte nicht Schritt halten mit dem
Aufwuchs auf der Versichertenseite.
Für Wolfgang Schimmel, Jurist beim Stuttgarter Hauptvorstand der IG Medi-
en, war der Zustrom zur Künstlersozialversicherung »eine klare Abstimmung mit
den Füßen«. Das Votum der neuen Freiberufler laute keineswegs Flucht aus den
staatlichen Systemen, sondern signalisiere eher das Gegenteil: Die Betroffenen
wünschen sich die Möglichkeit, gesetzlich versichert zu sein.1
Die Künstlersozialkasse hatte klein angefangen – mit gerade einmal 12.000
Versicherten. Jährlich kamen allerdings über 4.000 Versicherte dazu, für die der
Bund und vor allem die erfassten Unternehmen zahlen mussten. Zu Recht be-
klagten die Zahlenden die Ungerechtigkeit, dass sie diesen Aufwuchs allein fi-
nanzieren mussten, während viele andere Unternehmen ihrer Abgabeverpflich-
tung nicht nachkamen. Der KSK mit knapp 200 Mitarbeitern stand die stolze Zahl
von über drei Millionen Unternehmen gegenüber, die potenziell abgabepflich-
tig sein könnten. Diejenigen, die das KSVG jetzt am liebsten direkt zur letzten
Ruhe betten wollten, konnten sich erfreulicherweise jedoch nicht gegen seine
Befürworter durchsetzen.
Am 22. März 2007 verabschiedete der Bundestag das »Dritte Gesetz zur
Änderung des Künstlersozialversicherungsgesetzes und anderer Gesetze«. Be-
schlossen wurde, dass zur »Herstellung von Beitragsgerechtigkeit« die Zahl der
Kontrollen bei Versicherten und Verwertern erhöht wird.
Die Deutsche Rentenversicherung wurde mit ins Boot geholt, um künftig
zeitgleich mit der Arbeitgeberprüfung (Lohn und Gehalt) die Erfassung und Be-
triebsprüfung nach dem KSVG bei allen Unternehmen in Deutschland vorzu-
nehmen. Das bedeutete, dass die etwa 3.600 Betriebsprüfer der DRV mittelfris-
tig alle Unternehmen daraufhin überprüfen sollten, ob Künstlersozialabgaben
zu zahlen sind – für die Zukunft und innerhalb der Verjährung rückwirkend für
fünf Kalenderjahre.
Vonseiten der Regierungsfraktionen wurde die Gesetzesänderung erwar-
tungsgemäß einhellig begrüßt. Für die SPD schaffte die Novelle des KSVG ein
»solides Fundament« für diesen besonderen Zweig im deutschen Sozialversiche-
rungssystem. Sie bezeichnete die Änderungen als »ausgewogene Maßnahmen«,
die für Abgabe- und Beitragsgerechtigkeit sorgen. »Mithilfe der Prüfdienste der
Deutschen Rentenversicherung werden die abgabepflichtigen Unternehmen sys-
tematisch erfasst. Auf der Versichertenseite werden die Kontrollen verstärkt mit
dem Ziel, dass nur die wirklich Berechtigten in den Genuss der KSV kommen.«

1 Gesterkamp, T.: »Die Künstlersozialkasse – Ein Modell für die ganze Informationswirtschaft«
01.11.1999 ⟶ https://bit.ly/2DoKFG8

Wachgeküsst
Auch Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) begrüßte den Beschluss des
Deutschen Bundestags zum Künstlersozialversicherungsgesetz: »Die Künstler-
sozialversicherung gehört zu den ganz besonders wichtigen Instrumenten der
Kulturförderung. Mit der Gesetzesänderung wird die finanzielle Stabilität der
Künstlersozialversicherung nachhaltig gestärkt und damit die notwendige sozi-
ale Absicherung für die Künstler geschaffen.« 1
In einer ersten Anschreibeaktion wurden in den Jahren 2007 bis 2011 von der
DRV etwa 280.000 Unternehmen der verschiedensten Branchen angeschrieben,
überprüft und gegebenenfalls zur Entgeltmeldung und Nachzahlung für die letz- 226
ten fünf Jahre aufgefordert. Es wurde erwartet, dass die künftig flächendecken-
de Erfassung und Prüfung den Abgabesatz für alle Unternehmen deutlich sinken 227
lassen würde. Das KSVG kuschelte sich gemütlich in seine Kissen, gähnte und
wollte gerade einschlafen, da klingelten schrill die Alarmglocken.
Eine Gruppe von sieben Bundesländern forderte Anfang September 2009,
dass die Künstlersozialversicherung »abgeschafft oder zumindest unternehmer-
freundlich reformiert wird«. Prompt protestierte der Deutsche Kulturrat. Aber
auch die Grünen, die Linke, der Deutsche Musikrat, der Deutsche Journalis-
ten-Verband, die CDU/CSU, ver.di, der Verband deutscher Schriftsteller und vie-
le weitere Akteure kritisierten das Vorhaben scharf.
Der Deutsche Kulturrat legte den Finger in die Wunde und bemerkte: »Die
von Baden-Württemberg, Brandenburg, Bremen, Hessen, Niedersachsen, Sach-
sen-Anhalt und Schleswig-Holstein betriebene Abschaffung der Künstlersozi-
alversicherung ist an Scheinheiligkeit nicht zu überbieten. Weil vor einem Jahr
der Deutsche Bundestag die Künstlersozialversicherung erfolgreich reformiert
hat und jetzt endlich alle schon seit 20 Jahren abgabepflichtigen Unternehmen
und auch öffentlichen Körperschaften zur Zahlung herangezogen werden, wird
von einem zu großen bürokratischen Aufwand gesprochen. In Wirklichkeit geht
es den sieben Bundesländern darum, die abgabepflichtigen Unternehmen und
öffentlichen Körperschaften auf Kosten der Künstler von ihren Sozialversiche-
rungspflichten zu befreien. Die Künstler sollten sich das nicht gefallen lassen.«2
Der kultur- und medienpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfrak-
tion Wolfgang Börnsen und die zuständige Berichterstatterin Gitta Connemann
erklärten: »Deutschland lebt nicht von Rohstoffen, sondern von der Kreativität
und der kulturellen Vielfalt seiner Bürgerinnen und Bürger. Sie sind wichtig für
die Kulturnation Deutschland. Davon profitiert aber genauso der Wirtschafts-
standort Deutschland.
Es kann nicht überraschen, dass die Proteste gegen die Künstlersozialversi-
cherung nach ihrer Reform im vergangenen Jahr zugenommen haben. Denn da-
durch wurde eine größere Anzahl der abgabepflichtigen Unternehmen erfasst,

1 ⟶ https://bit.ly/2OQQ0XW
2 Lorscheid, H.: »Sieben Bundesländer wollen die Künstlersozialkasse abschaffen«
10.09.2008 ⟶ https://bit.ly/2xxcw1D

5. — Gesetz­gebung für Kunst und Kultur


die vorher jahrelang nicht in die Künstlersozialkasse eingezahlt hatten. Ihr An-
teil war einseitig den ehrlichen Zahlern der Kultur- und Kreativwirtschaftsbran-
che aufgehalst worden. Der Deutsche Bundestag hat bei der Reform des Künst-
lersozialversicherungsgesetzes darauf geachtet, dass die abgabepflichtigen Un-
ternehmen keine unverhältnismäßigen Belastungen zu tragen haben. Dies wer-
den wir weiter im Auge behalten.« 1
Die Künstlersozialversicherung sei eine kultur- und sozialpolitische Errun-
genschaft, die erst vor einem Jahr vom Bundestag reformiert worden sei, ergänzte
der Kulturrat. »Sie abzuschaffen würde bedeuten, dass die Mehrzahl der Künst-
ler weder eine Kranken- noch eine Pflege- oder Rentenversicherung haben wür-
den.« Bei einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von 12.616 Euro der meis-
ten Künstler sei eine private Absicherung nicht möglich.2
Der Bremer Senator für Kultur, Bürgermeister Jens Böhrnsen, ruderte
prompt zurück. »Das Zusammenwirken der Versicherten, der Unternehmen und
des Bundes bei der Künstlersozialversicherung hat einen absoluten Vorbildcha-
rakter und sollte daher unbedingt erhalten werden.« 3
Anfang September hatten sich eine Reihe von Fachunterausschüssen des
Bundesrats mit dem »Entwurf des Dritten Gesetzes zum Abbau bürokratischer
Hemmnisse insbesondere der mittelständischen Wirtschaft« befasst. Böhrnsen
versucht zu erklären, wie es zu der Empfehlung zur Abschaffung bzw. Refor-
mierung von gleich vier Bundesratsausschüssen kam: »Durch ein bedauerliches
Missverständnis auf Arbeitsebene ist dabei in einem solchen Gremium auch über
die Abschaffung der Künstlersozialversicherung abgestimmt worden.«
»Der Vorschlag ist unverantwortlich und völlig abwegig. Das wird niemals
kommen«, erklärte der Bundesminister für Arbeit und Soziales, Olaf Scholz (SPD).
Kulturstaatsminister Bernd Neumann nannte die KSK »unverzichtbar«.4
Das KSVG, schon zum Abschuss freigegeben, entkam den Jägern noch ein-
mal. Die große Mehrheit der Länder lehnte am 19. September 2008 den Antrag
des Wirtschaftsausschusses nach den erbosten Protesten ab. Todmüde von die-
ser Aufregung begab sich das KSVG schlaftrunken ins Bett. Es döste friedlich bei
niedrigen Abgabesätzen um die vier Prozent vor sich hin und wäre beinahe in die
Tiefschlafphase gekommen, als es plötzlich zum Mittelpunkt einer Petition wurde.
Hans-Jürgen Werner, Syndikus des Präsidiums des Deutschen Tonkünstler-
verbandes, hatte diese Petition im August 2013 mit über 71.000 Unterschriften
an den Deutschen Bundestag gerichtet, mit dem Ziel, dass die Deutsche Renten-
versicherung die Abgabe strenger kontrollieren soll. Denn vom KSVG in seinem
Dämmerschlaf fast unbemerkt war der Abgabesatz sprunghaft von 4,1 Prozent
im Jahr 2013 auf 5,2 Prozent im Jahr 2014 in die Höhe geschnellt.

1 ⟶ https://bit.ly/2O5qJfF
2 ⟶ https://bit.ly/2I5HxOc
3 ⟶ https://bit.ly/2O5qJfF
4 ⟶ https://bit.ly/2QR3DYE

Wachgeküsst
Trotz der Übertragung des Prüfrechts auf die DRV sanken nach und nach die
zusätzlich festgestellten Entgelte, da die Unternehmen nur stichprobenartig
und teils allein im schriftlichen Verfahren kontrolliert wurden. Die Gründe da-
für, dass einige ihren Zahlungsverpflichtungen nicht nachkommen, seien ver-
schieden, so Werner. So gebe es zum einen ein Informationsdefizit. »Viele ha-
ben von der KSK-Abgabe noch nie etwas gehört«, sagte Werner während der öf-
fentlichen Sitzung des Petitionsausschusses.1 Er erklärte aber auch, wie seiner
Meinung nach viele Auftraggeber denken: »Ich warte, bis ich entdeckt werde und
dann zahle ich halt, je länger es dauert, habe ich wieder ein Jahr gewonnen. Das 228
ist nicht schön und deshalb muss man etwas dagegen tun.« 2
Dass die KSK auf die politische Agenda kommen würde, war klar, denn die 229
neue Bundesregierung sah ebenfalls Reformbedarf. Im Koalitionsvertrag hieß
es: »Wir werden die Künstlersozialkasse erhalten und durch eine regelmäßi-
ge Überprüfung der Unternehmen auf ihre Abgabepflicht hin dauerhaft stabi-
lisieren. […] Ein effizientes Prüfverfahren soll die Belastungen für Wirtschaft
und Verwaltungen minimieren und Abgabegerechtigkeit herstellen.« 3 »Und wir
müssen eben aufpassen, dass die Abgaben, die auch die Verwerter zahlen, nicht
durch die Decke schießen. Das ist so die große Herausforderung, in der wir uns
befinden«, sagte der SPD-Bundestagsabgeordnete Ehrmann.4 Der Deutsche Bun-
destag beschloss den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Stabilisierung des
Künstlersozialabgabesatzes einstimmig und ohne Änderungen am 30. Juli 2014.
Die wichtigste Veränderung bestand in der Erweiterung der Prüftätigkeit
der Deutschen Rentenversicherung, die nunmehr ihre Prüftätigkeit im Verhält-
nis zur vorherigen Praxis von rund 70.000 auf etwa 400.000 Unternehmen jähr-
lich ausweitete und daneben durch Information und Beratung der Arbeitgeber si-
cherstellt, dass alle Arbeitgeber regelmäßig mit der Künstlersozialabgabe befasst
werden. Über den Zeitraum von zehn Jahren sollen so faktisch alle 3,2 Millio-
nen Unternehmen in Deutschland erreicht werden. Des Weiteren wurde geregelt,
dass Eigenwerber und solche Unternehmen, die unter die sogenannte General-
klausel fallen und nur gelegentliche Aufträge an selbstständige Künstler und Pu-
blizisten vergeben, keine Künstlersozialabgabe mehr bezahlen müssen. Mit die-
ser Einführung wurde eine Empfehlung der Enquête-Kommission des Deutschen
Bundestages »Kultur in Deutschland« aus der 16. Legislaturperiode aufgegriffen.
Für die KSK ein sehr wichtiger Baustein war die (Rück-)Übertragung des ei-
genständigen Prüfrechts. Dies bietet die Möglichkeit, über Schwerpunktprüfun-
gen in den Branchen Informationen zu gewinnen und so ihrer Auskunfts- und
Beratungspflicht sowohl im Hinblick auf die Deutsche Rentenversicherung als
auch bezüglich der abgabepflichtigen Unternehmen gerecht zu werden.

1 ⟶ https://bit.ly/2MXBRH3
2 Fröhndrich, S.: »Künstlersozialkasse schreit um Hilfe«, 11.01.2014 ⟶ https://bit.ly/2pwfE9I
3 Deutschlands Zukunft gestalten – Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 18. Legislaturperiode,
S. 132.
4 Fröhndrich, S.: a. a. O.

5. — Gesetz­gebung für Kunst und Kultur


Vom 100-jährigen Schlaf kann das KSVG auch weiterhin nur träumen, denn die
Neuregelungen sollen – nach Abschluss eines vollen vierjährigen Prüfturnus –
im Jahr 2019 evaluiert werden. Die Evaluierung soll einen Zusammenhang zwi-
schen Ziel und Zweck der Regelungen und den tatsächlich erzielten Wirkungen
sowie den damit verbundenen Kosten herstellen. Zum Trost sei dem KSVG ge-
sagt: »Unsere Träume können wir erst dann verwirklichen, wenn wir uns ent-
schließen, einmal daraus zu erwachen.« 1

1 Josephine Baker ⟶ https://bit.ly/2NzoP7G

Wachgeküsst
Robert Staats
20 Jahre Baustelle
Urheberrecht 230

231
Seit den 1990er Jahren ist die Rechtspolitik im Bereich des Urheberrechts vor al-
lem durch die zunehmende Digitalisierung geprägt. Während sich Urheber, Ver-
lage und Leistungsschutzberechtigte anfangs noch weitgehend darauf verlas-
sen konnten, dass ein starkes Urheberrecht parteiübergreifend für sinnvoll ge-
halten wurde, änderte sich diese Haltung im Laufe der Jahre deutlich. Mit dem
Aufkommen der Piratenpartei Ende der 2000er Jahre erreichte die Kritik am be-
stehenden Urheberrecht ihren vorläufigen Höhepunkt; sie löste aber auch – erst-
mals – eine deutliche Reaktion der unmittelbar betroffenen Urheber aus. Das
führte dazu, dass sehr grundsätzliche Veränderungen des Urheberrechts bisher
vermieden werden konnten.
Dessen ungeachtet wurde das Urheberrechtsgesetz – wenn der Verfasser
richtig gezählt hat – alles in allem in den letzten 20 Jahren 27-mal geändert. Der
nachfolgende Beitrag kann natürlich nicht auf alle Änderungen eingehen, die
teilweise auch sehr kleinteilig sind, sondern beschränkt sich aus Platzgründen
auf eine Auswahl. Nicht behandelt werden insbesondere das Vierte Gesetz zur
Änderung des Urheberrechtsgesetzes vom 8. Mai 1998, mit dem die Satelliten-
und Kabelrichtlinie umgesetzt wurde, sowie das Fünfte Gesetz zur Änderung des
Urheberrechtsgesetzes vom 10. November 2006, in dem es um die Umsetzung
der Folgerechtsrichtlinie ging. Die Reform des Urhebervertragsrechts aus dem
Jahr 2002 und das zum 1. März 2018 in Kraft getretene Urheberrechts-Wissens-
gesellschafts-Gesetz sind Gegenstand gesonderter Beiträge in dieser Publikation.
Die Federführung für das Urheberrecht lag – und liegt – innerhalb der Bun-
desregierung beim Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz.
Die – oder der – Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM)
war aber selbstverständlich bei den Gesetzgebungsverfahren beteiligt und hat
sich gelegentlich auch selbst deutlich hörbar zu Wort gemeldet. Zu erinnern ist
hier vor allem an das Zwölf-Punkte-Papier von Staatsminister Bernd Neumann
»Ohne Urheber keine kulturelle Vielfalt« vom 26. November 2010 sowie an das
Positionspapier »Kulturpolitsche Forderungen für das Urheberrecht im digita-
len Umfeld« von Staatsministerin Monika Grütters vom 10. März 2015. In bei-
den Papieren wurde sehr klar auf die Bedeutung des Urheberrechts für die Kre-
ativbranche hingewiesen und für den Schutz des geistigen Eingentums plädiert.

5. — Gesetz­gebung für Kunst und Kultur


Gesetz zur Regelung des Urheberrechts in der Informationsgesellschaft

Spätestens mit dem Gesetz zur Regelung des Urheberechts in der Informati-
onsgesellschaft vom 13. September 2003 wurde das Urheberrecht in Deutsch-
land »digital«. Mit den Neuregelungen wurden die Richtlinie zur Harmonisie-
rung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in
der Informationsgesellschaft (»InfoSoc-Richtlinie«) aus dem Jahr 2001 sowie die
WIPO-Urheberrechtsverträge, die bereits 1996 beschlossen wurden, umgesetzt.
Das Gesetz führte vor allem ein neues Verwertungsrecht mit einem sehr
sperrigen Namen in das deutsche Urheberrecht ein: Das Recht der öffentlichen
Zugänglichmachung (»Making Available Right«). Hierbei handelt es sich um das
zentrale Recht bei allen Internetnutzungen von urheberrechtlich geschützten
Werken. Da das neue Recht durch die Richtlinie und durch die WIPO-Verträge
vorgegeben wurde, war es im Gesetzgebungsverfahren wenig umstritten.
Kontrovers wurde die Frage diskutiert, inwieweit das neue Recht zuguns-
ten von Intranetnutzungen für Unterricht und Forschung eingeschränkt werden
konnte. Eine derartige Schrankenregelung war im Referentenentwurf noch nicht
vorgesehen, fand sich aber im Regierungsentwurf wieder. Auch nach wichtigen
Änderungen im weiteren Gesetzgebungsverfahren blieb die Norm umstritten und
wurde zunächst bis Ende 2006 befristet. Diese Gesetzesbefristung, die die ers-
te ihrer Art im Urheberrechtsgesetz war, wurde im Laufe der Jahre dreimal ver-
längert, bis die Regelung Ende 2014 entfristet und zum 1. März 2018 durch neue
Bestimmungen im Urheberrechts-Wissensgesellschafts-Gesetz ersetzt wurde.
Von großer Bedeutung war bei diesem Gesetzgebungsverfahren außerdem
die Frage, ob gesetzlich erlaubte (digitale) Privatkopien nur von einer »legalen
Quelle« zulässig sein sollten. Vor dem Hintergund von illlegalen Tauschbörsen
setzten sich vor allem die Rechtsinhaber für eine entsprechende Klarstellung ein.
Die Bundesregierung befürchtete dagegen, dass die Privatkopie damit de facto
verboten würde. Auf Antrag des Bundesrats wurde schließlich sogar der Vermitt-
lungsausschuss einberufen, der als Kompromiss vorschlug, dass lediglich offen-
sichtlich rechtswidrige Vorlagen von der Möglichkeit der Privatkopie ausgenom-
men werden sollten. Diese Formulierung wurde von Bundestag und Bundesrat
akzeptiert, führte allerdings dazu, dass anschließend in der urheberrechtlichen
Praxis gerätselt werden konnte, wann genau eine Vorlage »offensichtlich« rechts-
widrig war. Die Nutzer dürfte die Diskussion im Ergebnis wenig beeindruckt ha-
ben; zu einem Rückgang von digitalen Privatkopien hat die Regelung – soweit
ersichtlich – jedenfalls nicht geführt.

Zweites Gesetz zur Regelung des Urheberrechts


in der Informationsgesellschaft (»2. Korb«)

Kaum war das Gesetzungsungverfahren zur Regelung des Urheberrechts in der


Informationsgesellschaft abgeschlossen, folgte ein weiteres Vorhaben zu diesem

Wachgeküsst
Thema: der »Zweite Korb«. Bemerkenswert war dabei insbesondere die Vorbe-
reitung des eigentlichen Gesetzentwurfs durch das Bundesministerium der Jus-
tiz. In einer Reihe von Arbeitsgruppen mit den »beteiligten Kreisen« wurden die
unterschiedlichen Diskussionspunkte intensiv beraten; manche Kompromiss-
vorschläge schafften es dann auch, in den Referentenentwurf aufgenommen zu
werden. Neben Regelungen zur Verwertung von Werken in (ehemals) unbekann-
ten Nutzungsarten (»Hebung der Archivschätze«) und neuen Schrankenregelun-
gen zu elektronischen Leseplätzen in Bibliotheken sowie zum Kopienversand auf
Bestellung ging es vor allem um ein neues System bei der Bestimmung der Gerä- 232
te- und Speichermedienvergütung für gesetzlich erlaubte analoge und digitale
Vervielfältigungen. Während in der Vergangenheit die Vergütungssätze in einer – 233
längst veralteten – Anlage zum Urheberrechtsgesetz durch den Gesetzgeber fest-
gelegt worden waren, sollte nunmehr die Vergütung vorrangig durch Verhand-
lungen zwischen den Verwertungsgesellschaften und den Verbänden der Gerä-
tehersteller in Gesamtverträgen vereinbart werden. Im Bereich der Vervielfälti-
gungen durch Reprographiegeräte (Multifunktionsgeräte, Drucker, Scanner, Fax)
konnte bereits relativ schnell ein Gesamtvertrag abgeschlossen werden, der bis
heute in Kraft ist. Soweit es um die Vergütungen für sonstige Geräte- und Spei-
chermedien (PCs, Tablets, Mobiltelefone, USB-Sticks, Festplatten, DVD/CD-Re-
korder etc.) ging, dauerte es dagegen deutlich länger, bis erste Vereinbarungen
vorlagen; bei den wichtigsten Produkten ist das aber mittlerweile der Fall. Der
Gesetzgeber hat später im Zusammenhang mit dem Verwertungsgesellschaften-
gesetz aus dem Jahr 2016 auf bestimmte Defizite des neuen Systems reagiert. Das
entsprach nicht zuletzt auch den Forderungen des BKM in dem oben bereits er-
wähnten »Zwölf-Punkte-Papier« und in den »Kulturpolitschen Forderungen«. Ob
diese Verbesserungen allerdings ausreichen, wird sich in der Praxis noch zeigen.

Presseverlegerleistungsschutzrecht

Nach dem »Zweiten Korb« dauerte es einige Zeit, bis ein weiteres wichtiges Ge-
setzgebungsverfahren im Deutschen Bundestag verabschiedet wurde. Es ging bei
dem Gesetz mit dem harmlosen Titel »Achtes Gesetz zur Änderung des Urheber-
rechtsgesetzes« vom 7. Mai 2013 um nichts weniger als um die Einführung eines
neuen Leistungsschutzrechts für Presseverleger. Dieses wurde vom BKM in dem
»Zwölf-Punkte-Papier« klar unterstützt, war – und ist – aber bis heute umstrit-
ten. Das neue Recht soll, verkürzt gesagt, eine Lizenzierung der Nutzungen von
Presseerzeugnissen durch gewerbliche Suchmaschinen und vergleichbare Dienste
wie insbesondere Google ermöglichen. Dabei ist auch eine angemessene Beteili-
gung der Urheber an der Vergütung der Verlage vorgesehen. Bisher gestaltete sich
die Durchsetzung des neuen Rechts allerdings als schwierig und ist Gegenstand
von gerichtlichen Auseinandersetzungen. Hilfreich könnte insoweit sein, dass
mittlerweile auch die EU-Kommission im Zusammenhang mit dem Entwurf einer
Richtlinie über das Urheberrecht im digitalen Binnenmarkt (DSM-Richtlinie) ein –

5. — Gesetz­gebung für Kunst und Kultur


weitergehendes –Leistungsschutzrecht für Presseverleger vorgeschlagen hat; der
Ausgang des Rechtssetzungsverfahren ist derzeit (Ende August 2018) noch offen.

Verwaiste und vergriffene Werke


Kurz vor Ende der 17. Legislaturperiode schaffte es auch noch das Gesetz zur Nut-
zung verwaister und vergriffener Werke vom 1. Oktober 2013 in das Bundesge-
setzblatt. Dieses Gesetz war gerade aus kulturpolitischer Sicht wichtig, weil es
zum Ziel hatte, dass Kultureinrichtungen wie Bibliotheken, Archive und Museen
ihre Bestände auch dann digitalisieren und öffentlich zugänglich machen kön-
nen, wenn die Rechtsinhaber – wie vielfach bei älteren Werken – nicht bekannt
sind. Eine Nutzung derartiger Werke sollte vor allem über die Deutsche Digitale
Bibliothek und die europäische digitale Bibliothek Europeana ermöglicht werden.
Die Vorschriften für verwaiste Werke setzten die Vorgaben der europäischen
Verwaiste-Werke-Richtlinie um. Eine Nutzung von verwaisten Werken kommt
aufgrund der Richtlinie nur in Betracht, wenn zuvor eine sorgfältige Suche nach
den Rechtsinhabern stattgefunden hat. Neben den Regelungen für verwaiste
Werke ging es in dem Gesetzgebungsverfahren auch darum, gesetzliche Bestim-
mungen für die Nutzung von vergriffenen Werken zu schaffen, die nicht Gegen-
stand der Richtlinie war. Für ein Modell zur Nutzung von vergriffenen Werken
hatten sich Urheber, Verlage, Bibliotheken und Verwertungsgesellschaften in der
AG Digitale Bibliotheken der Deutschen Literarurkonferenz bereits seit Länge-
rem gemeinsam eingesetzt. Dieser Ansatz wurde in dem »Zwölf-Punkte-Papier«
auch vom BKM unterstützt. Aufgrund einer neuen gesetzlichen Vermutungsre-
gelung wurde im Ergebnis eine Lizenzierung durch Verwertungsgesellschaften
bei vergriffenen Werke, die vor 1966 veröffentlicht wurden, ermöglicht. Flankiert
wurde die Regelung durch ein neues Register vergriffener Werke beim Deutschen
Patent- und Markenamt, in das die Werke vor jeder Nutzung einzutragen sind.
Während die Regelungen zur Nutzung von verwaisten Werken wegen des
Aufwands bei der sorgfältigen Suche in der Praxis kaum eine Rolle spielen, ha-
ben sich die Bestimmungen für vergriffene Werke durchaus bewährt. Aufgrund
der »Soulier«-Entscheidung des EuGH vom 16. November 2016 zu dem franzö-
sischem Modell der Nutzung von vergriffenen Werken sind hier allerdings neue
rechtliche Unsicherheiten entstanden. Rechtsklarheit könnten auch hier die Vor-
schläge der EU-Kommisson zur Nutzung von vergriffenen Werken schaffen, die
im Zusammenhang mit dem DSM-Richtlinien-Entwurf im September 2016 vor-
gelegt worden sind.

Verwertungsgesellschaftengesetz

Nur kurz kann an dieser Stelle auf das wichtige Verwertungsgesellschaftenge-


setz (VGG) vom 24. Mai 2016 eingegangen werden. Mit diesem Gesetz wurde das
bisherige Urheberrechtswahrnehmungsgesetz aus dem Jahr 1966 vollständig ab-

Wachgeküsst
gelöst und in Umsetzung der europäschen VG-Richtlinie eine neuer rechtlicher
Rahmen für die Tätigkeit von Verwertungsgesellschaften geschaffen. Bemerkens-
wert ist dabei bereits der Umfang des neuen Gesetzes: Das VGG umfasst 139 Vor-
schriften, das Urheberrechtswahrnehmungsgesetz kam noch mit 28 Paragraphen
aus. Neben einer Vielzahl von Regelungen, die die interne Organisation der Ver-
wertungsgesellschaften sowie das Verhältnis zu Rechtsinhabern und Nutzern be-
treffen, finden sich auch detaillierte Bestimmungen für die Aufsicht über Ver-
wertungsgesellschaften beim Deutschen Patent- und Markenamt (DPMA) sowie
zum Schiedsstellenverfahren. Nicht zuletzt wurden auch einige Verbesserungen 234
bei der Durchsetzung der Geräte- und Speichermedienvergütung berücksich-
tigt. Erhalten blieb die aus kulturpolitischer Sicht besonders wichtige Vorgabe 235
für Verwertungsgesellschaften, kulturell bedeutende Werke und Leistungen zu
fördern und Vorsorge- und Unterstützungseinrichtungen für ihre Berechtigten
einzurichten. Hierfür hatte sich auch das BKM in den »Kulturpolitischen Forde-
rungen« sehr deutlich ausgesprochen.

Verlegerbeteiligung

Abschließend soll noch auf eine Problematik verwiesen werden, die bei mindes-
tens drei Gesetzgebungsverfahren in den letzten 20 Jahren eine Rolle spielte:
die sogenannte »Verlegerbeteiligung«. Ausgelöst durch die Reform des Urheber-
vertragsrechts im Jahr 2002, vermeintlich geklärt durch den »Zweiten Korb« im
Jahr 2008 und vorläufig geregelt durch die Novelle zum Urhebervertragsrecht im
Jahr 2017, ist die Frage, ob neben Urhebern auch Verlage an den Einnahmen auf-
grund von gesetzlichen Vergütungsansprüchen partizipieren können, bis heu-
te nicht rechtssicher beantwortet. Bundesminister Heiko Maas und Staatsmi-
nisterin ­Monika Grütters hatten sich bereits im Frühjahr 2016 für eine Verle-
gerbeteiligung und für den Erhalt der gemeinsamen Verwertungsgesellschaften
von Urhebern und Verlagen auf europäischer Ebene eingesetzt. Der Entwurf der
DSM-Richtlinie vom September 2016 hat dieses Anliegen aufgegriffen und sieht
eine Bestimmung zur Verlegerbeteiligung vor; ob – und wann – sie auf europäi-
scher Ebene verabschiedet wird, ist allerdings auch hier noch offen.

Ausblick

Das Urheberrecht wird auch in Zukunft vielfältigen Änderungen unterworfen


sein; es bleibt eine Dauerbaustelle. Der Koalitionsvertrag für die 19. Legislatur-
periode hat bereits einige Punkte aufgezeigt. Mit Sicherheit wird dem BKM des-
halb auch in Zukunft eine wichtige Aufgabe beim Schutz des geistigen Eigen-
tums zukommen. Die aktuelle, sehr kontroverse, Diskussion des Entwurfs der
DSM-Richtlinie im Europäischen Parlament zeigt, wie schwierig es ist, sinnvol-
le und gleichzeitig politisch mehrheitsfähige Lösungen in diesem Bereich zu fin-
den. So wichtig ein angemessener Interessenausgleich zwischen Rechtsinhabern

5. — Gesetz­gebung für Kunst und Kultur


und Nutzern auch sein mag, es sollte niemals vergessen werden, dass das Urhe-
berrecht als »Recht der Urheber« vorrangig ihrem Schutz dient. Wie gut, dass
auch hierauf das BKM in dem Zwölf-Punkte-Papier zum Urheberrecht bereits
klar hingewiesen hat.

Wachgeküsst
Gerhard Pfennig
Reform des Urheber-
vertragsrechts 236

237
Es steht außer Zweifel, dass zum Kernbereich der Kulturpolitik nicht nur die Si-
cherung der Kunstfreiheit im Sinnes des Art. 5 und die Kulturförderung gehören,
sondern ebenfalls die Ausgestaltung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der
Kulturschaffenden. Dieser Aufgabe ist der Bund – auch ohne BKM – schon im
Jahr 1981 mit dem Künstlersozialversicherungsgesetz nachgekommen. Ein an-
derer wesentlicher Bereich der Daseinsvorsorge für Kreative, das Urheberrecht,
stand dagegen weniger im Fokus des Gesetzgebers, der sich im Wesentlichen auf
die Umsetzung Brüsseler Richtlinien beschränkte. Bis zur Einrichtung des Am-
tes des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien wurde die Ge-
setzgebung des Bundes in diesem Bereich unter kulturpolitischen Gesichtspunk-
ten, wenn überhaupt, vom Bundesrat begleitet. Die beim Bundesministerium des
Innern angesiedelte Abteilung für Kultur und Vertriebene spielte keine spürbare
Rolle. Die neue Behörde nahm jedoch – entsprechend der Entwicklung ihrer Ka-
pazitäten – von Beginn an diesen Aspekt ernst und brachte sich in Form der je-
weiligen Beauftragten ein. Insbesondere Bernd Neumann bemühte sich, den läh-
menden Stillstand der CDU/FDP-Koalition mit einem Bündel von Vorschlägen
zu beleben. Er konnte sich zwar nicht durchsetzen, aber immerhin das Thema
in der Diskussion halten. Seine Nachfolgerin hat sich insbesondere der dringen-
den und in der Koalitionsvereinbarung der Großen Koalition ab 2013 adressier-
ten Frage des Urhebervertragsrechts von Anbeginn ihrer Tätigkeit angenommen.
Die Urheberrechtspolitik hat auf diese Weise eine breitere Basis bekommen, und
der in der Vergangenheit zwar nicht direkt spürbare, aber umso wirksamer ein-
gesetzte Einfluss des Bundesministeriums für Wirtschaft auf die Ausgestaltung
der kräftemäßig unausgewogenen Vertragsverhältnisse im Kulturbereich, der bis
dahin zuverlässig jede Reform in Richtung der Stärkung der Position der Krea-
tiven verhindert hatte, konnte regierungsintern zumindest teilweise ausgegli-
chen werden. Der Unterschied wird deutlich, wenn man die Entwicklung der Ge-
setzgebung in diesem Bereich betrachtet. Bereits bei der Diskussion um das mo-
derne (west-)deutsche Urheberrecht, das am 1. Januar 1966 in Kraft trat, bestand
Klarheit darüber, dass das materielle Recht um Regelungen zur Ausgestaltung
der Vertragsbedingungen zwischen Urhebern und ausübenden Künstlern und ih-
ren Werkverwertern, um ein »Urhebervertragsrecht« ergänzt werden müsse. Es

5. — Gesetz­gebung für Kunst und Kultur


kam jedoch trotz andauernder Forderungen aus der Urheberlobby nicht zu ei-
nem Gesetzgebungsprozess. Allerdings gelang es im Rahmen der Ausgestaltung
und der Umsetzung von EU-Richtlinien z. B. zum Vermietrecht, urheberschüt-
zende Vorschriften in das Gesetz aufzunehmen, in diesem Fall durch garantierte
Beteiligungsansprüche an von Nutzern zu zahlenden Vergütungen. Die Umset-
zung der Kabelweiterleitungsrichtlinie führte im Jahr 1998 zur Aufnahme eines
Anspruchs auf Vergütung für die Urheber, der nicht an Verwerter abtretbar war.
Erst im Jahr 2002 kam es dann vor allem auf Drängen der Kreativszene zur
ersten Gesetzgebung zum Urhebervertragsrecht, in der ersten Rot-Grünen Koa-
lition. Schon im Vorwort zur Publikation des von ihr in Auftrag gegebenen »Pro-
fessorenentwurfs« zu diesem Gesetz im Jahr 2000 stellte die damalige Justizmi-
nisterin Prof. Dr. Herta Däubler-Gmelin fest: »… die Tatsache der strukturellen
wirtschaftlichen Unterlegenheit der kreativ Tätigen gegenüber ihren primären
Vertragspartnern bei der vertraglichen Einräumung ihrer gesetzlich gewährten
Rechte [hat] häufig eine unangemessene Entlohnung zur Folge.«
Das neue, von den Professoren entwickelte Urhebervertragsrecht sollte eine
bessere Basis für einvernehmliches Handeln der Beteiligten in der Kulturwirt-
schaft »auf Augenhöhe« bilden, blieb aber unvollständig. Der Grund lag schlicht
darin, dass die Verwerter sich gegen jede Reform wehrten, und kurz vor der an-
stehenden Bundestagswahl mit einer großflächigen Zeitungskampagne für den
Fall einer Stärkung der Position der Urheber quasi den Untergang der wettbe-
werbsfähigen deutschen Kulturwirtschaft an die Wand malten. Das Argument
war zwar falsch, beeindruckte den wahlkämpfenden Bundeskanzler Schröder je-
doch so stark, dass er seine Justizministerin zurückpfiff und die Reform in den
wesentlichen Punkten entschärfte.
Das im Jahr 2002 in Kraft getretene Urhebervertragsrecht, das zeigten die
Erfahrungen schnell, wurde deshalb seinem Anspruch, den Urhebern und aus-
übenden Künstlern zu einer angemessenen Vergütung für die Nutzung ihrer
Werke und Leistungen zu verhelfen, noch nicht gerecht. Immerhin gelang erst-
mals die Einführung von Regelungen über »Gemeinsame Vergütungsregeln«, ein
Schritt in das kollektive Urhebervertragsrecht außerhalb des gewerkschaftlich
geregelten Bereichs. Vereinbarungen zwischen Vereinigungen von Urhebern oder
ausübenden Künstlern und einzelnen Werkverwertern oder deren Verbänden
sollten ermöglicht werden, die Regeln über Honorare und Vertragsbedingungen
branchenbezogen festlegten. Die Wirkung war jedoch begrenzt. Insbesondere
im Literaturbereich kam es nicht zu wirksamen Vertragsschlüssen, aber das neue
Gesetz schaffte wenigstens die Voraussetzungen für erfolgreiche Klagen z. B. der
Übersetzer auf Festsetzung angemessener Vergütungen durch höchste Gerich-
te. Im Bereich der Nutzung audiovisueller Werke dagegen kam es zu mehreren
Vereinbarungen über gemeinsame Vergütungsregeln, die zwischen Sendern und
Urheberverbänden abgeschlossen wurden. Auch wenn seit der Einführung des
Urhebervertragsrechts im Jahr 2002 in einigen Branchen erhebliche Umbrüche
stattfanden, die die Wirtschaftskraft der betroffenen Branchen, besonders in der

Wachgeküsst
Presse, unter Druck setzten, muss aber auch festgestellt werden, dass teilweise
eine Verhandlungsdauer von mehr als zehn Jahren bis zum Abschluss der Verein-
barungen erforderlich war, und dass teilweise Prozesse geführt werden mussten,
um überhaupt zu Verhandlungen zu kommen. Problematisch war etwa, dass vor
allem im Printbereich ganze Branchen sich der Verhandlung gemeinsamer Ver-
gütungsregeln entzogen. Stattdessen entwickelten sie Allgemeine Geschäftsbe-
dingungen, auf deren Grundlage sie nahezu alle Nutzungsrechte erwarben, meist
zu Pauschalpreisen.
Insbesondere im Medienmusikbereich verhinderten intransparente Abrech- 238
nungssysteme oder verweigerte Abrechnungen der Werknutzungen wie z. B. in
Streamingdiensten eine angemessene Vergütung. Auch wurden aufgrund nied- 239
riger Buy-outs und sinkender Tantiemen-Einnahmen über die Wahrnehmungs-
gesellschaften die Vergütungen von Komponisten und Musikern häufig unan-
gemessen.
Schließlich verhandelten Verwerterverbände zwar mit Vereinigungen von
Urhebern, verweigerten aber die Annahme des Verhandlungsergebnisses oder
Schlichterspruchs; in anderen Fällen schlossen sie zwar mit Urhebervereinigun-
gen Vergütungsregeln ab, einzelne oder zahlreiche Mitglieder der Vereinigungen
unterliefen jedoch im Vertragsabschluss mit einzelnen Urhebern die vereinbar-
ten Bedingungen; die Betroffenen wagen es nicht, dagegen zu klagen, um nicht
anschließend diskriminiert und damit faktisch arbeitslos zu werden.
Aufgrund dieser Entwicklung hörte die Diskussion über ein wirksames Ur-
hebervertragsrecht nicht auf, sowohl in der Rechtswissenschaft als auch in Krei-
sen der Kreativen. Detaillierte Vorschläge zur Verbesserung der Situation wur-
den entwickelt, vor allem in Bezug auf angemessene Vergütung, wirksamere Aus-
kunftsansprüche und Schutz vor Buy-out und Diskriminierung einschließlich
der Forderung nach Verbandsklagemöglichkeiten. Schließlich gelang es der Ur-
heberseite, im Koalitionsvertrag der Großen Koalition eine Absichtserklärung
von CDU/CSU und SPD zu verankern, durch Reform des Urhebervertragsrechts
»einen gerechten Ausgleich der Interessen von Urhebern, Verwertern und Nut-
zern« zu schaffen.
Diese Vorschläge weckten natürlich heftigen Widerstand der Verwerter, die
Eingriffe in ihre Wettbewerbsfähigkeit befürchteten und unter anderem darauf
verwiesen, und das nicht zu Unrecht, dass in bestimmten Verwertungsbereichen
die Vereinbarung von Buy-out-Zahlungen durchaus im Interesse von Autoren
liege und von diesen sogar gefordert werde. Vor diesem Hintergrund geriet schon
die Formulierung des Referentenentwurfs zum Ritt auf der Rasierklinge.
Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) legte
ihn im September vor. Er sollte zwei Zielen dienen: durch Verbesserung einzelner
Regelungen das individuelle Urhebervertragsrecht stärken und weiterhin das kol-
lektive Urhebervertragsrecht durch Verbesserung der bereits 2002 eingeführten
Regeln für den Anschluss von »Gemeinsamen Vergütungsregeln zwischen Urhe-
ber- und Verwerterorganisationen« verbessern. Im Einzelnen sah er vor:

5. — Gesetz­gebung für Kunst und Kultur


—— D ie Berechnung der Angemessenheit der Vergütung im
Individualvertrag zu erleichtern;
—— Einführung einer kurzen Rückruffrist von fünf Jahren
in langlaufenden Verträgen;
—— weitreichende Auskunftsansprüche, um die Abrechnungen
der Werknutzungen auch in der Verwertungskette besser
kontrollieren zu können;
—— Präzisere Vorschriften zur Bestimmung von Verbänden, die als
Verhandlungspartner für Vergütungsregeln in Betracht kommen;
—— Verbesserung der Abwehr- bzw. Kontrollmöglichkeiten der
Urheber gegen Allgemeine;
—— Verbandsklagerecht für Berufsverbände gegen das Unterlaufen
geltender Vergütungsregeln;

Die Kritik der Verwerter ließ nicht auf sich warten, aber zu aller Überraschung
kam die erste öffentlich geäußerte Kritik am Entwurf jedoch von prominenten
Buchautoren, die, wie sich später herausstellte, von wenigen Verlagen und Lite-
raturagenten ermutigt worden waren, sich zu äußern: Autoren, die aufgrund ih-
rer Vertragsstärke selbst oft nur zeitlich begrenzte Verträge abschließen, wand-
ten sich gegen eine von ihnen behauptete Schwachstelle des Entwurfs, nämlich
die Rückruffrist von fünf Jahren. Eine derart kurze Frist war von der Urheberseite
im Vorfeld der Gesetzgebung auch gar nicht gefordert worden, weshalb die Kri-
tik zunächst unwidersprochen blieb. Die Diskussion um den Entwurf wurde je-
doch von der sachlichen auf eine stark emotionalisierte Ebene gehoben; vor al-
lem die Verbände der Kulturverwerter, allen voran der Börsenverein des deut-
schen Buchhandels, übten heftige Kritik, bis hin zur Forderung nach Einstellen
des Gesetzgebungsvorhabens.
Am 16. März 2016 folgte die Vorlage eines aufgrund der Verwerterkritik stark
veränderten Regierungsentwurfs, dem der federführende Rechtsausschuss des
Bundesrats zustimmte. Er enthielt aus der Sicht der Urheber eine massive Ver-
schlechterung des Referentenentwurfs und ging zum Teil hinter die geltende
Rechtslage zurück. Er hielt nur in einem Punkt den urheberfreundlichen Ansatz
des Referentenentwurfs aufrecht – die Möglichkeit der Verbandsklage blieb er-
halten. Die kontroverse Einschätzung des Entwurfs führte zu einer zähen De-
batte zwischen den Partnern der Großen Koalition. Auf Ministeriumsebene be-
teiligte sich neben dem BMJV insbesondere das BKM. Die entscheidenden Ver-
handlungen um Nachbesserungen im Sinne einer ausgewogeneren Kräftevertei-
lung fanden zwischen den Koalitionsfraktionen statt. Sie endeten schließlich in
der letzten Sitzungswoche des Jahres 2016 mit ausgewogeneren Kompromissfor-
mulierungen. Inwieweit diese Reform tatsächlich das gesetzte Ziel des »Geset-
zes des zur verbesserten Durchsetzung des Anspruchs der Urheber und Künst-
ler auf angemessene Vergütung« erreichen kann, wird die Praxis zeigen müssen.
Insgesamt lässt sich das Ergebnis wie folgt bewerten:

Wachgeküsst
1. In Bezug auf das individuelle Urhebervertragsrecht sind deutliche Verbesserun-
gen zu verzeichnen:

—— D er Anspruch auf Durchsetzung angemessener Vergütungen in § 32 wird durch


Bezugnahme auf die Häufigkeit und das Ausmaß der Nutzungen bei der Bemes-
sung der Vergütung gestärkt; die Bezugnahme auf Gemeinsame Vergütungsre-
geln ist auch dann bei Nutzungen und bei der Berechnung der »Bestsellervergü-
tung« möglich, wenn diese erst nach Nutzung abgeschlossen wurden;
—— der Auskunftsanspruch in § 32 d und e, wichtig für die Geltendmachung der an- 240
gemessenen Vergütung, wird deutlich gestärkt: Er ist nun auf nahezu alle urhe-
berrechtlichen Beiträge anwendbar. Der Auskunftsanspruch kann nun zudem 241
auch gegenüber weiteren Vertragspartnern in der Lizenzkette geltend gemacht
werden; dies ist besonders wichtig bei Auftragsproduktionen, über deren Ver-
wertung meist der Sender und nicht der Produzent entscheidet.
—— die Geltendmachung dieses Anspruchs ist allerdings ausgeschlossen bei solchen
Urhebern, die »einen lediglich nachrangigen Beitrag […] leisten«, eine Formulie-
rung, um deren Definition lange gestritten wurde;
—— es wird in § 40 a ein Recht zum Rückruf und zur anderweitigen Lizenzierung ein-
geführt, allerdings nur für Verträge mit pauschaler Vergütung und erst nach Ab-
lauf von zehn Jahren; dennoch ist dies der erste Schritt zur Beendigung der Pra-
xis langlaufender Verträge.
—— Allerdings enthält das Gesetz in § 40 a Abs. 3 jetzt auch eine Formulierung, in der
ausdrücklich die Möglichkeit erwähnt wird, dass Urheber »nachrangiger« Werke
ein zeitlich und räumlich uneingeschränktes Nutzungsrecht einräumen können,
also unter begrenzten Voraussetzungen einem »Buy-out« zustimmen können.
—— ausübende Künstler/-innen werden durch die Reform des § 79 b gestärkt: auch
sie erhalten endlich einen im Voraus unverzichtbaren Anspruch auf zusätzliche
Vergütung bei der Aufnahme neuer Nutzungsarten.

2. In Bezug auf das Kollektive Urhebervertragsrecht wurde das geltende Gesetz im
Rahmen des politisch Möglichen ebenfalls modifiziert. Klargestellt wird in § 36
Abs. 2, dass Vereinigungen, die einen wesentlichen Teil der Urheber oder Werk-
nutzer vertreten, als ermächtigt gelten, allgemeine Vergütungsregeln abzuschlie-
ßen; Verwertervereinigungen können sich allerdings auch weiterhin durch Be-
schluss der Verhandlung entziehen.
Hinzugefügt wurde gegenüber den Entwürfen die Möglichkeit, dass die
Schlichtungsstelle gemäß § 36 a Abs. 4 weitere Vereinigungen von Urhebern zu
Verhandlungen hinzuziehen kann, wenn eine Partei dies beantragt; ob hierdurch
Verhandlungen gefördert werden, wird die Praxis erweisen. Leider trifft dies nicht
in gleicher Weise auf Verwerter zu.
Die Verbandsklage wird endlich, wenn auch nur in einem ersten Schritt für
den Wirkungsbereich bestehender Vergütungsregeln, in § 36 b eingeführt. Posi-
tiv ist der Abschluss des Reformvorhabens vor allem auch im Hinblick auf die seit

5. — Gesetz­gebung für Kunst und Kultur


September 2016 laufende Reform auf der Ebene der EU; die Richtlinie zur Anpas-
sung des Urheberrechts an die Bedürfnisse der Informationsgesellschaft hat we-
sentliche Aspekte der deutschen Reform aufgegriffen.
In Bezug auf die BKM ist festzustellen, dass sie sich in dieses Gesetzge-
bungsverfahren – ebenso wie in das nahezu parallel betriebene Verfahren zur
Verbesserung der Nutzungsmöglichkeiten von Werken in Bildung und Wissen-
schaft und schon zuvor beim Prozess um den Freihandelsvertrag TTIP zwischen
EU und den USA – wesentlich spürbarer eingebracht und Konflikte nicht gescheut
hat, wenn es um die Interessen der Kulturschaffenden und der Kulturwirtschaft
ging. Sie hat damit ihre selbst gesetzte Pflicht erfüllt und ist damit erstmals seit
Einführung dieses Amts konsequent tätig geworden und als gleichberechtigter
Player ernst genommen worden.

Wachgeküsst
Gabriele Beger
Ein Plädoyer
für Gemeinsamkeit 242

243
»Zugunsten des Gemeinwohls müssen Urheberinnen und Urheber auch Eingrif-
fe in ihr Recht am eigenen Werk dulden – so zum Beispiel bei der erlaubten Pri-
vatkopie oder in bestimmten Fällen bei Publikationen im Bildungs-­und Wis-
senschaftsbereich. Hier sorgt ein gutes Urheberrecht dafür, dass sie dafür eine
angemesse­ne Vergütung erhalten.« (BKM: Im Bund mit der Kultur. 2018, S. 150)
Bis zum Urheberrechts-Wissensgesellschafts-Gesetz war es ein langer Weg.
Als zu Beginn der 1990er Jahre elektronische Publikationen den Markt eroberten
und digitale Technologien das Verhalten der Rezipienten nachhaltig veränder-
ten, standen Produzenten, Verlage, Bibliotheken und andere Gedächtnisinstitu-
tionen vor erheblichen Herausforderungen. Es galt die bewährten Angebote aus
der analogen Welt in die digitale zu übertragen und dies vor dem Hintergrund,
dass es an entsprechenden Rechtsgrundlagen fehlte. In besonderem Maße wa-
ren davon urheberrechtliche Nutzungen betroffen.
Der WIPO-Urheberrechtsvertrag (WCT) vom 20. Dezember 1996 gab den
Veränderungen einen ersten Rahmen. Er begründete das ausschließliche Recht
der »öffentlichen Zugänglichmachung« (Art. 8) für alle Werke, die drahtgebun-
den oder drahtlos Mitgliedern der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.
Des Weiteren bestimmte er, dass gesetzliche Schranken auch in der digitalen
Welt Bestand haben sollen, wenn sie den sogenannten Drei-Stufen-Test (Art. 9
Revidierte Berner Übereinkunft) bestehen, d. h. »Beschränkungen oder Ausnah-
men in bestimmten Sonderfällen vorsehen, die weder die normale Verwertung
der Werke beeinträchtigen, noch die berechtigten Interessen der Urheber unzu-
mutbar verletzen« (Art. 10). Die Europäische Union führte den Vertrag 2001 mit-
tels einer Richtlinie (Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und
des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Ur-
heberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft
Abl. Nr. L 167 vom 22/06/2001 S. 0010–0019, im Folgenden Infosoc-Rl) ein. Ne-
ben einem Verweis auf Art. 9 RBÜ enthält diese einen Katalog von gesetzlichen
Schranken (Art. 5), die von den Mitgliedsstaaten in nationales Recht umgesetzt
werden können. Die Infosoc-Rl wurde 2003 in das deutsche Urheberrechtsge-
setz umgesetzt. Bestandteile waren neben dem neuen Verwertungsrecht »öffent-
liche Zugänglichmachung« (§ 19 a UrhG) und dem Schutz von lizenzierten digi-

5. — Gesetz­gebung für Kunst und Kultur


talen Angeboten, für die gemäß § 95 b Abs. 3 UrhG die Anwendung von Schran-
ken ausgeschlossen ist, auch Neufassungen von Schranken. So wurde die digitale
Kopie zum privaten und sonstigen eigenen Gebrauch, soweit kein gewerblicher
Zweck verfolgt wird, in § 53 UrhG gestattet. Eine hart umkämpfte neue Schranke
war die »öffentliche Zugänglichmachung für Unterricht und Forschung« (§ 52 a
UrhG). Diese erlaubte zustimmungsfrei aus veröffentlichten Werken kleine Tei-
le bzw. Teile, Werke geringen Umfangs und Beiträge aus Zeitungen, Zeitschrif-
ten für den Unterricht sowie im Rahmen der wissenschaftlichen Forschung ei-
nem konkret benannten Teilnehmerkreis netzgestützt zugänglich zu machen. Da
die Wissenschaftsverleger befürchteten, dass darunter der Absatz ihrer Publika-
tionen leiden könnte, wurde die Norm vorerst befristet eingeführt. In der Folge
wurde die Befristung mehrmals verlängert, bis sie im Dezember 2014 aufgeho-
ben wurde. Den Wissenschaftsverlagen war es bis dahin nicht gelungen nach-
zuweisen, dass durch die Nutzung des § 52 a UrhG die normale Verwertung der
Werke beeinträchtigt wurde, d. h. der Absatz ihrer Publikationen tatsächlich ge-
sunken ist. Ähnlich kontrovers waren die Begleitumstände zu den Schranken
»Kopienversand auf Bestellung« (§ 53 a) und die »Wiedergabe von Werken an
elektronischen Leseplätzen in öffentlichen Bibliotheken, Museen und Archiven«
(§ 52 b), die 2008 in das UrhG auf der Grundlage der Infosoc-Rl eingeführt wur-
den. Die Argumente auf beiden Seiten der Interessenvertretungen waren stets
gleich: Die Hochschul- und Bibliotheksseite verwies auf ihren gesellschaftlichen
Auftrag für Bildung und Wissenschaft und den verantwortungsvollen Umgang
mit geschützten Werken, die Verlagsseite erläuterte die Gefahren des Absatz-
rückgangs für ihre vor allem digitalen Angebote, auch obwohl nach § 95 b Abs. 3
UrhG alle digitalen Angebote, soweit sie mittels Lizenz angeboten werden, aus-
drücklich von der Nutzung durch gesetzliche Schranken ausgeschlossen sind.
Stets war der Gesetzgeber gefordert, die Balance zwischen den Interessen herzu-
stellen. Darüber hinaus wurden im Falle der drei vorgenannten Schranken auch
der BGH und EuGH angerufen. Mal obsiegte die eine Seite mehr, mal die andere.
Aber kein Gericht stellte die Unverträglichkeit der Schranken mit europäischem
und internationalem Recht fest. So nutzte der Gesetzgeber die Erkenntnisse aus
Stellungnahmen, Gutachten, Anhörungen und Gerichtsentscheidungen für eine
Reform in dem seit dem 1. März 2018 geltenden Urheberrechts-Wissensgesell-
schafts-Gesetz (Gesetz zur Angleichung des Urheberrechts an die aktuellen Er-
fordernisse der Wissensgesellschaft – Urheberrechts-Wissensgesellschafts-Ge-
setz – UrhWissG, BGBl 2017 Teil I Nr. 61, am 7. September 2017).
Mit dem UrhWissG wurden – bis auf die Schranke zu Text- und Datamining –
keine neuen gesetzlichen Schranken begründet. Vielmehr steht Klarheit und Ver-
ständlichkeit im Mittelpunkt der Reform. So wurde den immer wieder vorge-
tragenen Forderungen nach thematischer Zusammenfassung der Anspruchs-
grundlagen für Bildung, Wissenschaft, Bibliotheken u. a. Gedächtnisinstitutionen
sowie einer für juristische Laien verständlichen Sprache durch Auflösung unbe-
stimmter Rechtsbegriffe Rechnung getragen. Auch zu den strittigen Themen des

Wachgeküsst
Vorrangs von Verträgen, der Abwägung zwischen nutzungsabhängiger und pau-
schaler Vergütung sowie zu Möglichkeiten der Nutzungserhebung wurden kon-
krete Aussagen getroffen. Die Zusammenfassung wurde im 1. Teil Abschnitt 6
Unterabschnitt 4 realisiert. Hier wurden die Nutzungsregelungen thematisch
nach Unterricht und Lehre (§ 60 a), Lehrmaterialien (§ 60 b), wissenschaftliche
Forschung (§ 60 c), Text- und Datamining (§60 d), Bibliotheken (§ 60 e), Archive,
Museen und Bildungseinrichtungen (§ 60 f) sowie zur Behandlung von Verträgen
(§ 60 g) und der Vergütung (§ 60 h) zusammengestellt. Auf unbestimmte Rechts-
begriffe wurde weitgehend verzichtet, sodass z. B. der Begriff »kleine Teile« nun- 244
mehr konkret mit 15 Prozent eines Werkes bezeichnet wird. Bei der Zusammen-
stellung wurden auch die Spielräume, die sich aus der InfoSoc-Rl ableiten ließen, 245
ausgelotet, sodass im Ergebnis auch geringe weitergehende Nutzungen als bis-
her in den Bestimmungen zu den Schranken des § 60 a bis h UrhG sanktioniert
wurden. Aber auch diesmal wurden vehement vorgetragene Befürchtungen, dies-
mal der Presseverleger berücksichtigt. So sind Tageszeitungen und sogenannte
Publikumszeitschriften von den meisten Nutzungen ausgenommen. Auch dies-
mal hat der Gesetzgeber eine Befristung eingeführt, um eine Pflicht zur Prüfung
der Auswirkungen gesetzlich einfordern zu können. So unterliegt die Neufas-
sung der Schranken durch das Urheberrechts-Wissensgesellschafts-Gesetz ei-
ner Befristung bis 1. März 2023. Ob diese allerdings für alle Schranken gerecht-
fertigt ist, bleibt fraglich. Dies gilt umso mehr, als es sich bis auf wenige Ausnah-
men um bislang unbefristet geltende handelt.
Große Einigkeit besteht bei den Schranken zur Digitalisierung des kulturel-
len Erbes. Bereits mit Inkrafttreten des Urheberrechtsgesetzes vom 9. Septem-
ber 1965 war es selbstverständlich, dass eine gesetzliche Schranke die Herstel-
lung einer sogenannten Archivkopie gestattet. § 53 Abs. 2 Ziff. 2 UrhG erlaubte
die Vervielfältigung eines im eigenen Bestand befindlichen Werkes zur gebote-
nen Dokumentation und Bewahrung. Als Vorlage musste das eigene Werkstück
verwandt werden und die Nutzung durfte nur internen Zwecken zugeführt wer-
den. Auch die Bestimmungen nach § 53 Abs. 4 UrhG zu den seit zwei Jahren ver-
griffenen Werken und nach Abs. 5 beschädigte Teile in Werken durch Kopien zu
vervollständigten, diente der Archivierung des kulturellen Erbes und der Über-
lieferung bestehenden Wissens. Solange in den Bibliotheken analoge Werke zur
Archivierung anstanden, waren die Schrankenbestimmungen grundsätzlich aus-
reichend. Lediglich die Rechtsunsicherheit, die sich aus der Erfordernis der Ge-
botenheit ergab, und die Voraussetzung das eigene Werkstück, egal in welchem
maroden Zustand, verwenden zu müssen, war reformbedürftig. Mit dem Sieges-
zug der elektronischen Publikationsverfahren und der zunehmenden Nutzung
des Internets in allen gesellschaftlichen Bereichen, standen die Gedächtnisins-
titutionen vor erheblichen Problemen. Mit der Urheberrechtsnovelle 2003 wur-
de zwar auch die Archivkopie – soweit kein gewerblicher Zweck verfolgt wird –
auf digitale Vorlagen und Verfahren erweitert, aber viele wesentliche Begleit-
erscheinungen nicht beachtet. So musste nach wie vor die Gebotenheit geprüft

5. — Gesetz­gebung für Kunst und Kultur


und die eigene beschädigte Vorlage genutzt werden. Da es bei der Migration ei-
ner digitalen Archivkopie auf neue Betriebssysteme regelmäßig zu einer Bear-
beitung kommt, die nach dem UrhG eine zustimmungsbedürftige Verwertung
darstellt, ging das Recht auf digitale Archivkopie oft ins Leere. Auch elektroni-
sche Datenbanken auf CD-ROM waren in Ermangelung einer Rechtsgrundla-
ge von der Archivkopie ausgeschlossen (§ 53 Abs. 5 UrhG). Heute sind Berge von
Scheiben vorhanden, die niemand mehr aufrufen kann. Die Inhalte sind somit
der Nachwelt entzogen. Auch für die öffentliche Zugänglichmachung von Ar-
chivkopien, vor allem auch von verwaisten und vergriffenen Werken, gab es lan-
ge keine Rechtsgrundlage.
Mit Beginn des 21. Jahrhunderts wurde die Nutzung des Internets in der Ge-
sellschaft vorherrschend. Besonders Bildung und Wissenschaft waren davon ge-
prägt. Man erwartete den verlässlichen und schnellen Zugang zu Wissen über das
Internet. Mit dem weltweit veränderten Verhalten der Rezipienten und der Fül-
le von Informationen im Netz geht die Gefahr einher, dass Werke, die nicht im
Netz verfügbar sind in Vergessenheit geraten. Recherchen nach Quellen finden
fast ausschließlich über netzgestützte Suchwege statt. Die Gedächtnisinstituti-
onen stellten ihre Bestandsnachweise (Kataloge) digital zur Verfügung und in-
vestierten in die Digitalisierung ihrer analogen Bestände. Es entstanden virtuelle
Bibliotheken, die mittels Aggregatoren verfügbare digitale Werke in Portalen zu-
gänglich machen. Das Digitalisat verbleibt dabei auf dem Server der Gedächtnis-
institution. Seit 2007 fördert die Europäische Union die europäische virtuelle Bi-
bliothek Europeana, die auf der Gründung eines Portals der europäischen Natio-
nalbibliotheken beruht. Seit 2009 fördern Bund (BKM) und Länder die Deutsche
Digitale Bibliothek, die ihre Nachweise an die Europeana weiterleitet.
Sehr schnell stellte sich heraus, dass Millionen von verwaisten und vergrif-
fenen Werken unseres kulturellen Erbes nicht öffentlich zugänglich gemacht
werden konnten. Nach dem urheberrechtlichen Grundsatz, dass jede Nutzung
vom Urheber gestattet werden muss, konnten Werke, die als verwaist galten zwar
als Archivkopie digitalisiert werden, jedoch nicht ohne Zustimmung des Rechts-
inhabers der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Da den verwaisten Wer-
ken eigen ist, dass der Rechtsinhaber regelhaft nicht bekannt oder nicht ermit-
telt werden kann, kann nur eine gesetzliche Schranke Abhilfe schaffen. Im Jahr
2009 trafen sich deshalb Vertreter der Autoren, Verwertungsgesellschaften, Ver-
lage und Bibliotheken in der AG Digitale Bibliothek der Deutschen Literaturkon-
ferenz, um eine gesetzliche Schranke zu den verwaisten und vergriffenen Wer-
ken zu initiieren. Der Deutsche Kulturrat beriet in seinem Fachausschuss Urhe-
berrecht ebenfalls die Vorlage und richtete seinen Appell an das Bundesminis-
terium der Justiz, zeitnah eine gesetzliche Schranke auf den Weg zu bringen. Im
Europäischen Parlament beschäftigte man sich ebenfalls intensiv mit einer Re-
gelung zu den verwaisten Werken. Im Ergebnis trat die Richtlinie über bestimm-
te zulässige Formen der Nutzung verwaister Werke am 28. Oktober 2012 in Kraft.
Die Richtlinie wurde in § 61 a bis c UrhG umgesetzt. Die darin enthaltenen Hür-

Wachgeküsst
den bei der EU-weiten sorgfältigen Suche mittels Einzelfallprüfung und der Haf-
tung erfordern jedoch derart hohe personelle und finanzielle Ressourcen, dass
sie kaum Anwendung bei den Gedächtnisorganisationen in der gesamten Euro-
päischen Union findet. Das EU Parlament hat bei der Richtlinie auf die Einbe-
ziehung der vergriffenen Werke verzichtet. Es verwies jedoch auf die Möglich-
keit von Vereinbarungen. Der deutsche Gesetzgeber hat sich diese Aufgabe auf-
grund des übereinstimmenden Willens aller interessierten Kreise im Wege der
Gesetzgebung durch Änderung des Urheberrechtswahrnehmungsgesetzes (seit
1. Juni 2016 Verwertungsgesellschaftsgesetz (VGG)) gestellt. § 51 ff. VGG regelt, 246
dass die Verwertungsgesellschaften die Digitalisierung und öffentliche Zugäng-
lichmachung von vergriffenen Schriftwerken, die vor 1966 erschienen sind, li- 247
zenzieren können. Die Rechtsinhaber erhielten ein Widerrufsrecht. Die Verwer-
tungsgesellschaft Wort hat mit der Deutschen Nationalbibliothek einen Work-
flow von der Meldung über die Eintragung in das Verzeichnis der vergriffenen
Werke beim Deutschen Patent- und Markenamt bis hin zur Lizenzierung und
Vergütung sowie der möglichen Widerspruchsverfahren entwickelt, welcher seit
2016 allen Gedächtnisorganisationen erfolgreich zur Verfügung steht und einer
regen Nutzung unterliegt.
Des Weiteren hat der Gesetzgeber das UrhWissG genutzt, um weitere recht-
liche Hürden bei der Archivierung zu heilen. So gestattet § 60 e Abs. 1 UrhG Bib-
liotheken und nach § 60 d UrhG auch Archiven, Museen und anderen Bildungs-
einrichtungen ausdrücklich, Werke aus ihrem Bestand zu Zwecken der Zugäng-
lichmachung und Archivierung zu »vervielfältigen oder vervielfältigen (zu) las-
sen, auch mehrfach und mit technisch bedingten Änderungen«.
Auch die Leihe eines identischen Werkes aus einer anderen Institution zu
Zwecken der Restaurierung ist gestattet, jedoch wurde versäumt, die Leihe zur
Herstellung einer Archivkopie zu gestatten. § 60 e Abs. 4 UrhG regelt, dass die
digitalisierten Bestände in den Räumen der jeweiligen Bibliothek, Archiv, Muse-
um u. a. Bildungseinrichtungen zugänglich gemacht werden dürfen, soweit kei-
ne anderslautenden vertraglichen Vereinbarungen bei der Erwerbung des Wer-
kes eingegangen wurden. Der Deutschen Nationalbibliothek und den arbeits-
teilig mit ihr arbeitenden Regionalbibliotheken ist zudem das Harvesting und
die kooperative Zurverfügungstellung von im Internet frei verfügbaren Werken,
die als Pflichtexemplar gelten, oder zur Abholung bereitgestellte Publikationen
(§ 16 a und § 21 DNBG) gestattet.
Auch wenn das UrhWissG einen wesentlichen Fortschritt bei der Bewahrung
des kulturellen Erbes darstellt, so bleibt dennoch ein weitergehender Reformbe-
darf. Nach wie vor sind Datenbankwerke von der Archivierung ausgeschlossen,
die Onlinepräsentation von verwaisten Werken ist durch umfangreiche EU-wei-
te Einzelfallprüfungen so kostenintensiv, dass sie keine Anwendung finden kann
und die Lizenzierung von vergriffenen Werken ist bislang auf Bücher beschränkt.
Zudem ist nicht zweifelsfrei die Leihe eines identischen Werkes zur Herstellung
einer Archivkopie geregelt (§ 53 Abs. 2 UrhG). Im Interesse von Kultur, Bildung

5. — Gesetz­gebung für Kunst und Kultur


und Wissenschaft, d. h. letztendlich des gesellschaftlichen Fortschritts unseres
Landes, ist es unverzichtbar, das kulturelle Erbe im kollektiven Gedächtnis zu be-
wahren. Dazu ist eine Bereichsausnahme im Urheberrechtsgesetz für die Archi-
vierung des kulturellen Erbes dringend geboten. In der Schrift »Mit gutem Recht
erinnern. Gedanken zur Änderung der rechtlichen Rahmenbedingungen des kul-
turellen Erbes in der digitalen Welt« (Paul Klimpel 2018) stellen Experten aus Ge-
dächtnisinstitutionen und Rechtswissenschaftler Vorschläge zur Ausgestaltung
rechtlicher Rahmenbedingungen vor. Diese Schrift kann auch als Geschenk zum
20. Jubiläum des Staatsministeriums für Kultur und Medien verwendet werden.

Wachgeküsst
Frithjof Berger &
Melanie List
Kulturgutschutz – 248

Zwei Jahrzehnte 249

Lernprozess!
Als Gerhard Schröder Ende Oktober 1998 zum Bundeskanzler gewählt wurde, war
die Ausgabe des Bundesgesetzblattes, mit der die damals neuesten Änderungen
des Kulturgutschutzgesetzes und die Einführung des Kulturgüterrückgabege-
setzes verkündet wurden, kaum einen halben Monat alt. Mit der gleichzeitigen
Gründung einer eigenen, für Kultur und Medien zuständigen obersten Bundes-
behörde ging die Verantwortung für das Kulturgutschutzrecht vom Bundesmi-
nister des Innern auf den Beauftragten der Bundesregierung für die Angelegen-
heiten der Kultur und der Medien (BKM) über.

EU-Rückgaberichtlinie und Kulturgüterrückgabegesetz

Die damalige Novelle des Kulturgutschutzrechts hatte der Deutsche Bundestag


in einer seiner letzten Sitzungen im Juni 1998 verabschiedet. Sie diente mit der
Einführung des Kulturgüterrückgabegesetzes vor allem der Abwendung einer be-
reits seit Ende 1997 anhängigen Untätigkeitsklage der Europäischen Kommission
gegen die Bundesrepublik. Deutschland hatte es versäumt, die Kulturgüterrück-
gaberichtlinie von 1993 fristgerecht in deutsches Recht umzusetzen.
Grund für die Verzögerung war eine innerstaatliche Debatte um die Verein-
barkeit der Richtlinienvorgaben mit europäischen Rechtsgrundsätzen und dem
deutschen Grundgesetz. Die Richtlinie machte es zur Voraussetzung für einen
Rückgabeanspruch zwischen den Mitgliedsstaaten, dass das fragliche Kultur-
gut vor oder nach seiner illegalen Ausfuhr unter Schutz gestellt worden war. Die
nachträgliche Unterschutzstellung schien aus deutschem Blickwinkel unhalt-
bar, kannte man hierzulande doch nur die Unterschutzstellung eines Kulturgu-
tes durch behördliche Eintragung in eines der durch die Bundesländer geführ-
ten Verzeichnisse national wertvollen Kulturgutes. Ohne eine solche Eintragung

5. — Gesetz­gebung für Kunst und Kultur


konnte Kulturgut frei ausgeführt werden. Damit schied nach herrschender Lehre
und Praxis in Deutschland eine nachträgliche Eintragung des legal im Ausland
befindlichen Kulturgutes aus. Nach dem System der Richtlinie war Anspruchs-
voraussetzung für eine Rückgabe die illegale Ausfuhr des Kulturgutes. Sollte also
eine Rückforderung des Kulturgutes nach der Philosophie der Richtlinie auch
aufgrund einer Eintragung nach der Ausfuhr möglich sein, musste auch die Aus-
fuhr nachträglich für illegal erklärt werden. Dies erschien mit rechtsstaatlichen
Grundsätzen kaum vereinbar.
Das Kulturgüterrückgabegesetz setzte die Rückgaberichtlinie im Jahr 1998
aufgrund des deutschen Systems der Unterschutzstellung durch Eintragung
schließlich nur teilweise um und gewährte Rückgabeansprüche nur bei konkre-
ter und öffentlich verkündeter Unterschutzstellung vor der Ausfuhr.
Das europäische Recht basierte dagegen auf der Regelungsphilosophie der
meisten anderen Mitgliedsstaaten, die sich von der deutschen Regelungstraditi-
on der rein verzeichnisbezogenen Ausfuhrbeschränkungen deutlich unterschied.
Viele Mitgliedsstaaten sahen nämlich eine Ausfuhrkontrolle auch für nicht un-
ter Schutz gestelltes Kulturgut vor, um es im Rahmen dieser Kontrolle gegebe-
nenfalls unter Schutz stellen zu können. Wer diese Kontrolle umgeht, verdient
aber – so der Gedanke des europäischen Gesetzgebers – auch keinen Vertrau-
ensschutz gegen eine nachträgliche Unterschutzstellung des bereits illegal aus-
geführten Objektes.
Die ersten Jahre der Arbeit der/des BKM im Bereich des Kulturgutschutzes
waren daher unter anderem von der Frage geprägt, ob die Europäische Kommis-
sion wegen dieses Umsetzungsdefizits ein Vertragsverletzungsverfahren einlei-
ten würde. Die Kommission hat darauf verzichtet, vermutlich weil es nie zu ei-
ner Rückforderung gegenüber Deutschland gekommen ist, bei der diese Fallkon-
stellation Relevanz erlangt hätte.
Eine 1998 ebenfalls neu eingeführte Regelung des Kulturgutschutzgesetzes
hat die praktische Arbeit des BKM in den Folgejahren dagegen sehr viel stärker
geprägt. Es handelte sich um die im deutschen Recht erstmals etablierte »Rechts-
verbindliche Rückgabezusage«, im internationalen Leihverkehr als »Immunity
from Seizure« bekannt und mittlerweile zu einem unverzichtbaren Instrument
im internationalen Kulturaustausch avanciert.

UNESCO-Kulturgutschutzübereinkommen von 1970 in Deutschland

Der von Vielen als arg verspätet wahrgenommene Beitritt der Bundesrepublik
zum UNESCO-Kulturgutschutzübereinkommen von 1970 als 115. Vertragsstaat
gab im Jahr 2007 Anlass für eine weitere Novellierung des deutschen Kulturgut-
schutzrechtes – nunmehr erstmals federführend im noch jungen Hause BKM be-
treut. War 1998 an einen Beitritt Deutschlands zum UNESCO-Übereinkommen
noch nicht zu denken gewesen, konnten Kritiker eines Beitritts nicht zuletzt da-
durch besänftigt werden, dass die erwartete Flut von Kulturgüterrückgabeforde-

Wachgeküsst
rungen nach der EU-Rückgaberichtlinie seit 1998 ausgeblieben war. Rückgabe-
anfragen kamen eher sporadisch. Zudem kam der Gesetzentwurf den Kritikern
des Beitritts mit einem wesentlichen Argument entgegen: dem der Transparenz.
Das um Rückgabeansprüche der Vertragsstaaten des Übereinkommens erweiterte
Kulturgüterrückgabegesetz machte den Anspruch nämlich davon abhängig, dass
das Kulturgut zuvor nach deutschem Vorbild als geschützt in ein staatliches Ver-
zeichnis eingetragen und diese Liste allgemein zugänglich auch in Deutschland
veröffentlicht worden war.
Grundlage dieser im Rückblick erstaunlichen Koppelung des Rückgabean- 250
spruches an in Deutschland zu veröffentlichende Schutzlisten war eine Bestim-
mung in Art. 5 des Übereinkommens, wonach von den Vertragsstaaten speziali- 251
sierte Kulturgutschutzbehörden zu gründen und mit Personal auszustatten seien,
welches in der Lage sein sollte, Verzeichnisse geschützten Kulturgutes aufzustel-
len und zu führen. Aus dieser eher vagen Formulierung las man eine Pflicht der
Vertragsstaaten zur Einführung des in Deutschland gewohnten Listensystems.
Konsequente Folge war die Verabschiedung einer ergänzenden »Kulturgüterver-
zeichnisverordnung«, die die Modalitäten der Veröffentlichung von Schutzlisten
der Vertragsstaaten in Deutschland regeln sollte.
Die Umsetzung des UNESCO-Übereinkommens mittels des in Deutschland
tradierten Listenprinzips erwies sich in den folgenden Jahren sowohl für das Aus-
wärtige Amt als auch für den BKM als ein diplomatischer Bumerang. Das Rück-
gaberecht gegenüber den Vertragsstaaten lief de facto leer. Besonders schmerz-
lich war dies im »Fall Patterson«. Die Sammlung Patterson (präkolumbiani-
sche Objekte aus Mittelamerika, deren Wert anfangs auf bis zu 100 Millionen
Euro geschätzt wurde) war überhastet aus Santiago de Compostela nach Mün-
chen verbracht und dort beschlagnahmt worden. Die mittelamerikanischen Ver-
tragsstaaten machten eine ganze Reihe von Rückgabeersuchen geltend, schei-
terten aufgrund der hohen gesetzlichen Hürden des Kulturgüterrückgabegeset-
zes allerdings regelmäßig vor den deutschen Verwaltungsgerichten. Bis zu ihrer
Aufhebung im Rahmen der jüngsten Novellierung des Jahres 2016 hat von den
Rückgaberegelungen kein einziger Vertragsstaat erfolgreich Gebrauch machen
können. In der Rechtstradition vieler Staaten folgt der Schutz unmittelbar aus
Rechtsvorschriften, die pauschal auf bestimmte Kulturgutkategorien abstellen,
nicht aber individuelle Objekte auflisten.

Schutzstatus von Kulturgut der öffentlichen Hand

Auch in einem anderen Bereich zeigte die Novelle von 2007 in der Praxis leider
nicht die vom Gesetzgeber gewünschten Erfolge. Im Jahre 2007 war auch das
Kulturgutschutzgesetz in einem wesentlichen Punkt geändert worden. Es war
nunmehr möglich, auch Kulturgut im Eigentum der öffentlichen Hand als na-
tional wertvolles Kulturgut in die entsprechenden Verzeichnisse einzutragen.
Ziel war die Beseitigung eines offenkundigen Defizits mit Blick auf das europäi-

5. — Gesetz­gebung für Kunst und Kultur


sche Recht. Während privates Kulturgut eingetragen werden konnte und damit
dem Schutz der Rückgaberichtlinie unterfiel, hatte man bisher einen Schutzsta-
tus für Kulturgut der öffentlichen Hand nicht für erforderlich gehalten, ja ausge-
schlossen. Damit erschien aber privates Kulturgut besser geschützt als öffentli-
ches Kulturgut. Tatsächlich wurde in den Folgejahren in einigen Bundesländern
von dieser neuen Eintragungsmöglichkeit Gebrauch gemacht. Zu den erwarte-
ten Antragszahlen kam es gleichwohl nicht. Erst eine von der Kulturstiftung der
Länder mit Fachleuten aus dem Museumsbereich veranstaltete Tagung offen-
barte die Probleme. Kam es nur zu punktuellen Eintragungen einzelner Objek-
te aus dem Bestand eines Museums, so fürchteten die für die Sammlung Verant-
wortlichen eine Spaltung ihres Bestandes in Kulturgut erster und zweiter Güte.
Dies erschien jedoch hochgradig riskant in Zeiten, in denen über die Opportuni-
tät von Bestandsveräußerungen diskutiert wurde, um aus den Erlösen dringend
erforderliche Modernisierungs- und Instandhaltungsmaßnahmen finanzieren
zu können. Für eine umfassendere Eintragung von Museumsbeständen fehlte
es dagegen schlicht an Personal und Ressourcen. Kaum ein Museum besaß In-
ventarlisten in einer elektronischen Form, die einen problemlosen Datenexport
zugelassen hätten. Auch vonseiten der Landesministerien hätte man einen sol-
chen »Rundumschlag« kaum bewältigen können – ganz abgesehen davon, dass
die Voraussetzungen einer Eintragung als national wertvolles Kulturgut damals
wie heute restriktiv anzuwenden sind, Eintragungen also keineswegs ohne kon-
krete Würdigung des Einzelfalles pauschal erfolgen können.

Evaluierung – Novellierungsbedarfe – Kulturgutschutzgesetz 2016

Den Fachleuten im Kulturgutschutzrecht war deshalb schon bei Verabschiedung


der Novelle 2007 klar, dass diese vermutlich nur ein Zwischenschritt sein wür-
de. Schon kurz nach Inkrafttreten des neuen Rechts bildete sich eine Bund-Län-
der-Arbeitsgruppe, die den nach fünf Jahren vorgesehenen Evaluierungsbericht
erarbeiten sollte.
Der 2013 vorgelegte Bericht zeigte sehr deutlich die Defizite der Novellierung
von 2007 auf und bezog im Hinblick auf die von der EU-Kommission angekündig-
te Überarbeitung der Kulturgüterrückgaberichtlinie und den hieraus bereits ab-
sehbaren weiteren Novellierungsbedarf auch strategische Überlegungen zu einer
einheitlichen Kodifikation des Kulturgutschutzrechts und auf breiter Basis rechts-
vergleichende Analysen zu den internationalen Gepflogenheiten im Kulturgut-
schutzrecht und zu den Regelungen der anderen EU-Mitgliedsstaaten mit ein.
Es gehört zu den Merkwürdigkeiten der politischen Debatte um den Kul-
turgutschutz, dass der Bericht des Jahres 2013 teilweise bis ins Detail die Vor-
schläge des im Sommer 2016 verabschiedeten aktuellen Kulturgutschutzgeset-
zes beinhaltete, ohne dass es bei seinem Erscheinen zu der aufgeregten Diskus-
sion kam, die bei den Beratungen über den Gesetzentwurf folgte. Dass der Be-
richt doch wahrgenommen worden war, zeigte sich unter anderem an den das

Wachgeküsst
Gesetzgebungsverfahren begleitenden Forderungen nach Einführung des soge-
nannten »britischen Modells«, welches den Abwanderungsschutz von national
wertvollem Kulturgut unmittelbar von der erfolgreichen und fristgerechten Ak-
quise von Ankaufsmitteln im Inland abhängig macht. Darauf, dass dieses Modell
für das Ziel des Abwanderungsschutzes als defizitär einzustufen sei, hatte der
Bericht von 2013 bereits hingewiesen.
Einmal mehr war eine Überarbeitung des Kulturgutschutzrechtes in
Deutschland heftig umstritten, allerdings war die Debatte schärfer als bei den
früheren Novellen. Erneut wurde das Argument der Verfassungswidrigkeit be- 252
müht, erneut beruhte die Kritik in verschiedenen Punkten auch auf Missver-
ständnissen. Erstaunt hat dabei insbesondere die Kritik an Regelungen, deren 253
Inhalt und Praxis in den Jahrzehnten zuvor kaum bemängelt worden waren und
deren Rechtskonformität deutsche Obergerichte längst bestätigt hatten. Erklä-
ren lassen sich diese Vorgänge – insbesondere betreffend die Eintragungen in
die Verzeichnisse national wertvollen Kulturgutes – nur mit Fehlvorstellungen
von der bisherigen Rechtslage und -praxis wie auch von den Intentionen des Ge-
setzgebers, der mit den präzisierten, aber im Kern unveränderten Regelungen
zur Eintragung national wertvollen Kulturgutes keinesfalls eine Absenkung der
restriktiven Eintragungsstandards vornehmen wollte. Die Debatte – begünstigt
durch Kommunikationsdefizite auf allen Seiten – erreichte in der Folge eine un-
geahnte Eigendynamik.
Die Kulturgutschutznovelle des Jahres 2016 hat nicht nur die Erfahrungen
aus 20 Jahren politischer Debatte über den Kulturgutschutz und eine ebenso lan-
ge Praxis aufgearbeitet, sondern sie um ein weiteres Kapitel erweitert. Das Ergeb-
nis ist ein einheitliches Gesetz, in dem erstmals alle Regelungen des Kulturgut-
schutzes zusammengefasst sind. Die Wogen des Gesetzgebungsverfahrens ha-
ben sich inzwischen gelegt. Die Praxis der ersten beiden Jahre des neuen Geset-
zes zeigt, dass viele der geäußerten Befürchtungen nicht Realität geworden sind.
Weder ist es zu sprunghaften Steigerungen von Eintragungen in die Landesver-
zeichnisse national wertvollen Kulturgutes gekommen, noch wurden die Länder
von einer Welle von Ausfuhranträgen in fünfstelliger Zahl überrollt. Auch der
Handel mit Kulturgütern in Deutschland lebt unter den veränderten Rahmen-
bedingungen weiter, obwohl im Rahmen der politischen Auseinandersetzungen
sein vollständiges Erliegen vorhergesagt wurde.
Recht ist allerdings keine statische Materie. Und so wird der nach fünf Jah-
ren wie in allen modernen Rechtsetzungsakten anstehende umfassende Evalu-
ierungsbericht aufzeigen, wie gut die Ziele der Novelle von 2016 in der Praxis er-
reicht worden sind, was sie bewirkt haben und ob es gegebenenfalls Bedarf für
Nachjustierungen gibt. Damit gilt für Rechtsetzung ganz selbstverständlich das,
was stets im Leben gilt: es bleibt ein beständiger Entwicklungs- und Lernprozess.

5. — Gesetz­gebung für Kunst und Kultur


Jan Ole Püschel
20 Jahre roter
Teppich für den Film
Die Förderung des Films in seiner ganzen Vielfalt liegt auf Bundesebene seit ih-
rem Bestehen in der Zuständigkeit der Beauftragten der Bundesregierung für
Kultur und Medien (BKM). Sie bildet neben Ländern und der Filmförderungsan-
stalt (FFA) eine wesentliche Säule der Förderung kreativen audiovisuellen Schaf-
fens in Deutschland. Als von wirtschaftlichen Regionaleffekten unabhängige För-
derung garantiert die Filmförderung der BKM internationale Wettbewerbsfähig-
keit und kreativen Freiraum. Die Förderung des Spiel- und Dokumentarfilms als
Kunstform ist hiervon ebenso umfasst wie seine wirtschaftliche Dimension und
beschränkt sich bei weitem nicht auf die Unterstützung der reinen Filmproduk-
tion: Mit Förderungen und Preisgeldern unterstützt der Bund Kinofilmprojekte
auf allen Ebenen – vom Drehbuch über die Produktion, den Verleih und die welt-
weite Vermarktung bis hin zur Stärkung der Film- und Medienkompetenz von
Kindern und Jugendlichen und der Sicherung des filmischen Erbes.
Dem Leitgedanken einer Förderung audiovisueller Inhalte aus einer Hand
folgend, fördert die BKM seit 2018 auch hochkarätige und international attrak-
tive Serienproduktionen in Deutschland. Sie unterstützt damit die vielverspre-
chenden neuen horizontalen Erzählformen, die die Sehgewohnheiten der Zu-
schauer in den letzten Jahren zunehmend verändert haben. Das besondere En-
gagement für das Kino wird hierdurch nicht geschmälert. Die Filmförderung der
BKM umfasst die Stärkung des deutschen Films in seiner ganzen Breite. Zentra-
les Anliegen ist dabei, dass die große Anzahl deutscher Produktionen auch tat-
sächlich gesehen wird. Filme müssen ihr Publikum finden, denn nur so erfüllen
sie ihre gesellschaftliche Funktion als Medium, das Debatten anstößt, gesell-
schaftliche Entwicklungen reflektiert und im besten Sinne auch ein vielfältiges
Publikum unterhalten kann. Die Unterstützung des Kulturortes Kino ist daher
ein Herzstück der BKM-Filmförderung, um den Kinofilm auf großer Leinwand
weiterhin für alle erlebbar zu machen. Der seit Langem sehr erfolgreiche Kino-
programmpreis der BKM ist ein Beispiel hierfür; die Förderung von für den deut-
schen Film besonders bedeutsamen Filmfestivals ein anderes. Zusätzlich haben
sich im aktuellen Koalitionsvertrag die Regierungsfraktionen dazu bekannt, zur
Sicherung des Kulturortes Kino in der Fläche ein »Zukunftsprogramm Kino« auf
den Weg zu bringen. Damit soll nicht nur ein Beitrag zur Verbreitung des an-

Wachgeküsst
spruchsvollen – insbesondere auch deutschen und europäischen – Kinofilms in
der Fläche geleistet, sondern auch die Attraktivität ländlicher Regionen sowie
kleiner und mittlerer Städte gesteigert werden. Die Federführung zur Umsetzung
dieses Auftrages aus dem Koalitionsvertrag liegt bei der BKM; die Arbeit hier-
an hat bereits begonnen.
Die Filmförderung des Bundes hat sich in den zurückliegenden Jahren ra-
sant und kontinuierlich entwickelt. Insbesondere die Amtszeiten von Bernd Neu-
mann und der amtierenden Kulturstaatsministerin Monika Grütters stehen für
eine massive Verbesserung der filmpolitischen Rahmenbedingungen in Deutsch- 254
land. In der Amtszeit von Bernd Neumann wurde der Deutsche Filmförderfonds
gestartet und die Digitalisierung der Kinos vollzogen; in der zurückliegenden 255
Amtszeit von Staatsministerin Monika Grütters wurde unter anderem der Ge-
samtetat für die wirtschaftliche Filmförderung mehr als verdoppelt, der Etat der
kulturellen Produktionsfilmförderung fast vervierfacht und mit dem DFFF II ein
neues Förderinstrument etabliert, um die internationale Wettbewerbsfähigkeit
des Filmstandortes Deutschland nachhaltig zu sichern.
Kulturelles Erbe bewahren, Entwicklung und Freiraum für kulturelle Ent-
faltung gewähren, aber auch faires und wirtschaftlich erfolgreiches Arbeiten er-
möglichen – dies sind die filmpolitischen Leitgedanken der BKM. Ein Blick auf
ausgewählte Bereiche der Filmförderung des Bundes kann dies illustrieren.
Kulturelle Anerkennung und künstlerische Entfaltung ermöglicht der Deut-
sche Filmpreis: Mit rund drei Millionen Euro Preisgeldern ist der von der BKM
vergebene Deutsche Filmpreis die höchstdotierte Kulturauszeichnung Deutsch-
lands. Er dient als Auszeichnung für herausragende Leistungen im deutschen
Film und unterstützt zugleich die Herstellung neuer deutscher Filmproduktio-
nen. Die Preisgelder sind zweckgebunden für die Produktion eines neuen Films,
der sich jedoch weder abstrakten Förderkriterien wie beim DFFF noch dem Vo-
tum einer Jury stellen muss. Filmpreisgelder sind damit im positiven Sinne ech-
tes Wagniskapital zur Förderung der künstlerischen Freiheit. Seit der erstmali-
gen Vergabe des Deutschen Filmpreises durch den BKM im Jahr 2009 wird an-
stelle des Filmbandes die »Lola« als Trophäe vergeben – eine glanzvolle Statuet-
te, deren Name selbstbewusst auf die Kontinuitäten, Brüche und Aufbrüche der
deutschen Filmgeschichte, von Marlene Dietrichs Rolle in »Der blaue Engel« über
Rainer Werner Fassbinders »Lola« bis zu Tom Tykwers »Lola rennt«, verweist.
Die Förderung der Kinodigitalisierung durch den Bund ermöglichte den Ki-
nos den Sprung in das digitale Zeitalter: Um die Jahrtausendwende nahm die
Digitalisierung des Kinofilms, von der Aufnahme über die Postproduktion bis
Vorführung, rasant an Fahrt auf. Eine Dekade später stellten die großen Hol-
lywood-Studios ihren Verleih nahezu vollständig und alternativlos auf digitale
Formate um. Was für die Distribution zu erheblichen Effizienzgewinnen führte,
erforderte auf Kinoseite enorme Investitionen. Die BKM hat sich daher frühzei-
tig dafür eingesetzt, dass dieser existenzielle Umbruch nicht zulasten der hiesi-
gen Kinolandschaft geht. Bereits im Vorfeld der Digitalen Agenda 2014–2017 hat

5. — Gesetz­gebung für Kunst und Kultur


die Bundesregierung am 28. Januar 2011 die Filmtheaterdigitalisierungsverord-
nung (FilmDigitV) erlassen, aufgrund derer die FFA deutschlandweit die erst-
malige Ausstattung von Filmtheatern mit digitaler Projektionstechnik fördern
konnte. Zudem wurden insgesamt rund 22 Millionen Euro aus dem Haushalt der
BKM für die Digitalisierung der Kinos in Deutschland bereitgestellt, darunter
zahlreiche Programmkinos und Kinos in ländlichen Regionen. Zusammen mit
weiteren Mitteln der Länder und der Verleihwirtschaft konnten in Deutschland
über 1.600 Leinwände erstmalig mit digitaler Projektionstechnik ausgestattet,
so der Sprung in das Zeitalter des digitalen Abspiels ermöglicht und ein »Lein-
wandsterben« gerade in der Fläche verhindert werden.
Kreative Unabhängigkeit gewährleistet die kulturelle Filmförderung der
BKM: Ziel der jurybasierten kulturellen Filmförderung der BKM ist es, eine größt-
mögliche kreative Unabhängigkeit für innovative Projekte zu ermöglichen, un-
abhängig von Standorteffekten oder Erwartungen an den ökonomischen Erfolg
eines Films. Im Mittelpunkt stehen vielmehr die künstlerische Qualität der Pro-
jekte und die Förderung vielversprechender Talente. Die Mittel hierfür wurden
seit 2016 deutlich erhöht und damit die Rahmenbedingungen für das Entstehen
erfolgreicher und kulturell anspruchsvoller Filme in Deutschland und ihre Ver-
breitung entscheidend verbessert. Diese Anstrengungen haben bereits Früchte
getragen. Beispielhaft dafür steht der internationale Erfolg von mit BKM-Mitteln
geförderten Filmen wie »Toni Erdmann« (Regie: Maren Ade), der 2016 für ein fu-
rioses Comeback des deutschen Films bei den Filmfestspielen in Cannes gesorgt
hat, »Aus dem Nichts« (Regie: Fatih Akin), der bei den Golden Globe Awards 2018
als bester fremdsprachiger Film ausgezeichnet wurde, oder »Drei Tage in Quibe-
ron« (Regie: Emily Atef), der beim Deutschen Filmpreis 2018 als bester Spielfilm
und in sechs weiteren Kategorien ausgezeichnet wurde. Dass hier, wo es maß-
geblich um die künstlerische Qualität der Projekte geht, in den letzten Jahren
auch ohne starre Quote eine vorzeigbare Gender-Verteilung bei der Auswahl der
geförderten Projekte erreicht wurde, ist umso erfreulicher.
Filmerbe bewahren: Neben dem vom Bund getragenen Bundesarchiv-Film-
archiv finanziert die BKM maßgeblich weitere Filmerbeinstitutionen wie die Stif-
tung Deutsche Kinemathek, das Arsenal-Institut für Film und Videokunst e.V. und
das Deutsche Filminstitut in Frankfurt mit rund zehn Millionen Euro pro Jahr. Die
Bundesregierung fördert zudem über die BKM bereits seit 2012 Digitalisierungs-
projekte von Einrichtungen des Kinematheksverbunds. Letztes Jahr wurde sich
mit den Ländern und der Filmförderungsanstalt (FFA) auf ein Konzept für ein ge-
meinsames Vorgehen bei der Digitalisierung des Filmerbes verständigt. Für die-
se Aufgabe sollen bis zu zehn Millionen Euro pro Jahr über eine Laufzeit von zehn
Jahren nach gemeinsamen Kriterien bereitgestellt werden. Die Finanzierung soll
je zu einem Drittel durch Bund, Länder und FFA erfolgen. Auf der Ministerpräsi-
dentenkonferenz am 14. Juni 2018 haben sich die Länder nun erfreulicherweise
verbindlich zur Teilnahme an der gemeinsamen Digitalisierungsstrategie bekannt
und die Grundlage für die Bereitstellung der Ländermittel ab 2019 geschaffen.

Wachgeküsst
Der technischen Konvergenz folgt aus förderpolitischer Sicht die Konvergenz der
Inhalte: Der aktuelle Koalitionsvertrag für die 19. Legislaturperiode gibt vor: »Wir
wollen eine umfassende Förderung audiovisueller Inhalte (Kino, Serien, High-
End TV, VFX, Animation, Virtual Reality) einführen, um den Produktionsstand-
ort Deutschland weiter zu stärken und eine Abwanderung deutscher Produktio-
nen ins Ausland zu verhindern.« Die Politik reagiert damit auf eine internatio-
nale Entwicklung, in deren Folge u. a. große Plattformen (Amazon, Netflix, Sky)
mit eigenen sehr großvolumigen Produktionsetats auf den internationalen Markt
drängen. Die deutsche Produktionsinfrastruktur möchte an diesen Budgets par- 256
tizipieren, wofür attraktive Produktionsbedingungen im internationalen Wett-
bewerb der Standorte Voraussetzung sind. Zudem hat in den letzten Jahren das 257
Format »Serie« erheblich auch an filmkünstlerischer Bedeutung gewonnen. In
Abgrenzung zu klassischen Fernsehproduktionen, deren Finanzierung weiter-
hin innerhalb der Mechanismen unserer dualen Rundfunkordnung und in allei-
niger Zuständigkeit der Länder erfolgt, ist seit 2018 daher auch die Serienförde-
rung eine Säule der wirtschaftlichen Filmförderung der BKM: Hochbudgetierte
und damit international erfolgreiche Serien bieten ein breites Experimentier-
feld für neue Formate mit erheblichem wirtschaftlichem und künstlerischem
Potenzial. Es ist gerade auch kulturpolitisch erwünscht, dass insbesondere Vi-
deo-on-Demand-Plattformen dem deutschen Publikum nicht nur amerikanische
oder britische Serien, sondern auch hochwertige Serien mit kulturellem Bezug
zu Deutschland anbieten können.
Doch muss man Serien und Filmen, die vor allem oder sogar exklusiv für
Streaming-Anbieter produziert wurden, auch den roten Teppich auf etablierten
Kinofilmfestivals ausrollen? Nach dem letztjährigen Protest der französischen
Kinobetreiber gegen zwei Netflix-Produktionen in Cannes wurden dort im Jahr
2018 nur Filme mit regulärer Kinoauswertung für den Wettbewerb zugelassen,
Netflix reagierte prompt mit einem Boykott. Die Filmfestspiele in Venedig indes
warteten dieses Jahr mit gleich sechs hochrangigen Netflix-Premieren auf. Dies
zeigt beispielhaft das aktuelle wirtschaftliche wie kulturpolitische Kräfteringen
der Branchen und Standorte, beweist aber auch, welch hohes Maß an filmpoliti-
scher Sensibilität gefragt ist, um die unterschiedlichen Belange angemessen zu
berücksichtigen. Wie in dieser Gemengelage der ab 2020 für die künstlerische
Leitung verantwortliche Carlo Chatrian die Berlinale zukünftig ausrichtet, wird
sicherlich mit Spannung verfolgt.
Bei fast allen Themen der filmpolitischen Agenda ist die Filmförderungsan-
stalt (FFA) ein verlässlicher Partner der BKM. Die BKM setzt mit dem Filmförde-
rungsgesetz den rechtlichen Rahmen für die Arbeit und die Finanzierung der FFA
und übt die Rechtsaufsicht über sie aus. Das hohe Maß an filmischer Expertise
der FFA-Mitarbeiter und der ganz überwiegend mit Vertreterinnen und Vertretern
der deutschen Filmbranche besetzte Verwaltungsrat der FFA sind Gewähr dafür,
dass aktuelle filmtechnische und -wirtschaftliche Entwicklungen in Echtzeit Be-
rücksichtigung finden: Sei es durch entsprechende Richtlinienänderungen der FFA

5. — Gesetz­gebung für Kunst und Kultur


selbst oder im Gesetzgebungsverfahren zum FFG. Nicht zuletzt um eine optimale
Verzahnung der FFA mit weiteren filmpolitischen Fragen auf Bundesebene zu er-
reichen, ist die BKM im Präsidium und im Verwaltungsrat der FFA vertreten. Die
Zukunftsthemen der Filmpolitik werden auch hier verhandelt, wobei eine Vielzahl
an teilweise divergierenden Interessen zu berücksichtigen ist. Stellvertretend steht
hierfür die stets aufs Neue im Rahmen der Novellierung des FFG aufflammende
Debatte über die Flexibilisierung der Sperrfristenregelungen, also der vorrangigen
und zeitlich exklusiven Auswertung geförderter Filme im Kino. An diesem Thema
manifestieren sich viele Fragen, die in den nächsten Jahren filmpolitisch zu klä-
ren sein werden: Welche Rolle kann zukünftig die Filmförderungsanstalt in einer
konvergenten Medienwelt einnehmen? Hat die Finanzierung durch das solidari-
sche Abgabesystem der Verwerter von Kinofilmen eine Zukunft? Muss das Abga-
besystem erweitert werden und wie bleibt eine flächendeckende Kinoinfrastruk-
tur als prinzipiell sich wirtschaftlich selbst tragendes System erhalten? Wie ist es
zu schaffen, dass in Anbetracht weltweit steigender Filmproduktionszahlen und
sich verknappender Zeitbudgets der Zuschauer, weniger aber dafür erfolgreiche-
re deutsche Filme ihr Publikum erreichen? Wie können Produzenten ihre Rechte
optimal verwerten, damit die eingesetzte Förderung nachhaltige Effekte erzielt?
Und globaler gefragt: Wie schädlich ist der Wettbewerb steuerfinanzierter Stand-
ortanreizmodelle großer Filmländer und gibt es zumindest in Europa einen Aus-
weg aus dem internationalen Förderwettlauf?
Es sind diese und noch viele weitere Fragen, die es zu klären gilt. Eine we-
sentliche Bestätigung, dass sich der Bund dieser kultur- und medienpolitischen
Fragen überhaupt annehmen kann, wurde schon in der zurückliegenden Legis-
laturperiode erzielt: So stellte das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil
vom 28. Januar 2014 mit grundsätzlicher Bedeutung für die Kulturpolitik des
Bundes unter anderem fest, dass die weitreichende Gesetzgebungskompetenz
des Bundes nicht schon dann entfällt, wenn mit wirtschaftsbezogenen Rege-
lungen zugleich kulturelle Zwecke verfolgt werden. Es erkannte zudem an, dass
eine qualitätsorientierte Förderung eine wesentliche Voraussetzung für den wirt-
schaftlichen Erfolg des deutschen Films sein kann. Mit dieser umfassenden ver-
fassungsrechtlichen Bestätigung kann auf eine gesicherte nationale Grundlage
auch für zukünftige filmpolitische Entscheidungen zurückgegriffen werden. Ab-
schließend ist diese aber nicht. Auch die Filmpolitik muss sich zunehmend an
den europäischen Rahmenbedingungen ausrichten. Einen Vorgeschmack auf zu-
künftige Debatten gab die Diskussion des »Vorschlags der EU-Kommission für
eine Verordnung mit Vorschriften für die Wahrnehmung von Urheberrechten
und verwandten Schutzrechten in Bezug auf bestimmte Online-Übertragungen
von Rundfunkveranstaltern und die Weiterverbreitung von Fernseh- und Hör-
funkprogrammen« – schon der Kürze wegen als »SatCab-VO« bekannt. Die hierin
vorgeschlagene Lizenzfiktion soll die Auswertung audiovisueller Inhalte in On-
line-Mediatheken innerhalb der gesamten EU erleichtern. Gut gemeint ist aber
nicht immer gut gemacht. Dass hiermit zugleich ein über Jahrzehnte entwickel-

Wachgeküsst
tes, bewährtes und in ganz Europa praktiziertes System der Filmfinanzierung in-
frage gestellt wurde, konnte nur mühsam in Brüssel klargemacht werden. Ob sich
die einschränkende deutsche Position durchsetzen wird, werden die Trilog-Ver-
handlungen zeigen. Aber selbst wenn dies gelingt, wird auch der Filmsektor nicht
umhin kommen, sich gestaltend in den Prozess des Digitalen Binnenmarktes
einzubringen. So manche heilige Kuh der nationalen Filmbranchen dürfte da-
mit mittelfristig zumindest einem erneuten Rechtfertigungscheck in Europa un-
terworfen werden. Auch filmpolitisch bleiben die nächsten Jahre also spannend.
258

259

5. — Gesetz­gebung für Kunst und Kultur


6.

Kultur­
förderpolitik

20 Jahre
neue Kulturpolitik
des Bundes
Wachgeküsst 1998—2018
Hortensia Völckers &
Alexander Farenholtz
Zukunftslabor 260

­Kulturstiftung des 261

Bundes
Am Anfang stand ein Traum, mehr noch: »viele Träume«, von denen Willy Brandt
in seiner Regierungserklärung vom 18. Januar 1973 sagte, sie »würden sich erfül-
len, wenn eines Tages öffentliche und private Anstrengungen zur Förderung der
Künste in eine Deutsche Nationalstiftung münden könnten.« Die Idee für eine
solche Stiftungsgründung hatte ein Jahr zuvor bereits Günter Grass formuliert.
Ihre gesamtstaatlichen Bedingungen ergaben sich jedoch erst mit der Wieder-
vereinigung und dem erneuerten Selbstverständnis einer deutschen Kulturna-
tion, das der Einigungsvertrag im Jahr 1990 deutlich hervorhob: »Stellung und
Ansehen eines vereinten Deutschlands in der Welt«, so hieß es dort, »hängen au-
ßer von seinem politischen Gewicht und seiner wirtschaftlichen Leistungskraft
ebenso von seiner Bedeutung als Kulturstaat ab.«
In dieser Epochenzäsur der Wiedervereinigung liegt das Fundament für
zahlreiche Manifestationen bundesdeutscher Kulturpolitik. Zu ihnen zählt nach
der Berufung von Michael Naumann in das allererste Amt eines Staatsministers
für Kultur und Medien auch dessen Loccumer Aufruf zur Etablierung einer Bun-
deskulturstiftung im Februar 2000. Zwei Jahre darauf konnte der nachfolgende
Staatsminister Julian Nida-Rümelin die neue Institution schließlich ins Leben
rufen. Mit Beschluss des Bundeskabinetts vom 23. Januar 2002 und mit pass-
genauer Rücksichtnahme auf die Länderkulturpolitik versah Nida-Rümelin die
Zweckbestimmung der Bundeskulturstiftung mit der doppelten bundespoliti-
schen Kompetenz von Internationalität und gesamtstaatlich relevanter Innova-
tion. Föderale Vorbehalte konnten im Gründungsprozess gemildert oder ausge-
räumt werden. So war der Stiftungsrat der Kulturstiftung des Bundes von Beginn
an so strukturiert, dass neben Vertreterinnen und Vertretern von Städten und
Gemeinden auch Ländervertreter an Entscheidungen dieses Lenkungsgremiums
mitwirkten. Mit den wiedervereinigten neuen Ländern war ein Dissens über eine

6. — Kulturförderpolitik
Stiftungsgründung – auch vor dem Hintergrund umfänglicher infrastruktureller
Bundesinvestitionen – umso weniger gegeben, als die Bundesregierung ein län-
derfreundliches Zeichen für den Föderalismus zu setzen verstand und den Sitz
der Stiftung statt in die Hauptstadt Berlin nach Sachsen-Anhalt verlegte – mit-
ten hinein in die Franckeschen Stiftungen in Halle/Saale.
Dort wurde am 21. März 2002 der Mast gehisst: Vorne die schwarz-rot-gol-
dene Bundesflagge, im Hintergrund das barocke Giebelbild des gottesfürchtigen
Adlers der Franckeschen Stiftungen. Tradition und Moderne im Miteinander ei-
nes kulturpolitischen Gründungsakts, der lange einigermaßen unwahrscheinlich
schien. Schließlich – mit Blick auf das Vierteljahrhundert, das seit Willy Brandts
Regierungserklärung an Vorbereitungszeit vergangen war – erfolgte die Umset-
zung der Stiftungsträume in Gestalt der Kulturstiftung des Bundes nicht nur in
parteiübergreifender Einhelligkeit, sondern aufgrund des klugen Geschicks von
Julian Nida-Rümelin und dank des administrativen Vermögens auf Seiten des da-
maligen Ministerialrats Günter Winands und weiterer Mitstreiterinnen im BKM
in überaus beachtlicher Geschwindigkeit.
Julian Nida-Rümelin war es endlich, der in seiner Hallenser Festrede – in
Anwesenheit von Nobelpreisträger Günter Grass und den beiden damaligen wie
späteren Präsidenten des Deutschen Bundestags, Wolfgang Thierse und Norbert
Lammert, sowie von Vizepräsidentin Antje Vollmer – einerseits feierlich ein neu-
es Kapitel in der Geschichte der Bundeskulturpolitik aufschlagen und dem Vor-
stand der frisch gegründeten Kulturstiftung des Bundes andererseits ein anti-­
gravitätisches »Macht was draus« mit auf den Weg geben konnte.

Exzellenz und Experiment

Mag im Zuge seitheriger Kabinettsbildungen die Tonalität variiert haben, die


kulturpolitische Haltung der Regierung blieb unverrückbar bei allen Staatsmi-
nisterinnen und Staatsministern, die laut Satzung zugleich Vorsitzende des Stif-
tungsrats der Kulturstiftung des Bundes waren – von Julian Nida-Rümelin (2001–
2002), Christina Weiss (2002–2005) und Bernd Neumann (2005–2013) bis zur
amtierenden Kulturstaatsministerin Monika Grütters (seit 2013). Für alle galt:
In seinen inhaltlichen Entwicklungen von Förderprogrammen partizipiert der
künstlerisch-kuratorisch tätige Vorstand der Kulturstiftung des Bundes an je-
nen Freiheitsrechten, die das Grundgesetz gemäß Art. 5 Abs. 3 allen Kunstschaf-
fenden als Verfassungsnorm einräumt. Selbstverständlich bildet der Stiftungsrat
ein Kontrollgremium, das die Satzung mit umfänglichen Prüfpflichten und Be-
schlusskompetenzen ausstattet. Zugleich haben BKM und Stiftungsrat die Fach-
kompetenz des Vorstands stets als ein kulturpolitisches Gut geschätzt und allen
Respekt walten lassen, sich nicht einzumischen, sondern die Kulturstiftung des
Bundes vor staatlicher Einmischung zu bewahren und die lebendige Entfaltung
eines zeitgenössischen innovativen wie international ausgerichteten Profils zu
befördern und zu beschützen.

Wachgeküsst
Welchen Charakter die Fördertätigkeit besitzt, hat Bundeskanzlerin Angela Mer-
kel auf den Punkt gebracht, als sie am 30. Oktober 2012 den Neubau der Kultur-
stiftung des Bundes in Halle/Saale eingeweiht – und damit die Verbundenheit
mit dem Sitzland Sachsen-Anhalt bekräftigt –, vor allem aber festgestellt hat, die
Kulturstiftung des Bundes wirke in die nationale Kulturlandschaft hinein wie ein
»Zukunftslabor«: Sie ist ausgestattet mit dem expliziten Auftrag, künstlerische
Exzellenz zu fördern und darüber hinaus Anstifterin zu sein für all die denkba-
ren – und auch die fast undenkbaren – Projekte der künstlerischen Befragung
von gesellschaftlicher Wirklichkeit. 262
Mit Blick auf die vergangenen 20 Jahre darf man die kulturpolitische Weit-
sicht und den Wagemut bewundern, mit der dieser Experimentalgeist im Sat- 263
zungsfundament verwurzelt und zum Zweck der Stiftung erhoben wurde: »Die
Stiftung soll ein eigenständiges Förderprofil entwickeln« – so heißt es in § 2 –
und eben nicht einfach zum Transmissionsriemen einer Bundeskulturpolitik
werden. Ihr Schwerpunkt im Rahmen der Zuständigkeit des Bundes soll »die
Förderung innovativer Programme und Projekte im internationalen Kontext«
sein. Statt einer ebenfalls denkbaren Festsetzung der Fördermittel in Sparten
oder ihrer Erstarrung in Länderquoten fordert die Satzung der Kulturstiftung des
Bundes die Veränderung in Permanenz: Wieder und wieder die Erkundung neuer
Handlungsfelder, die hartnäckige Suche nach geeigneten Partnern, die wegwei-
sende Erfindung und verlässliche Durchführung neuer Programme.
Ein solcher Geist trägt nur, wenn neben das Vertrauen und den Respekt für
die fachliche und künstlerische Autonomie des Vorstands ein zweites elementa-
res Vertrauen tritt: Dass nämlich die Kulturszenen des Landes über ausreichend
Kooperationspartnerinnen verfügen, die das Wagnis gemeinsamer Projekte ein-
zugehen bereit sind. Dass es Museumsverantwortliche, Theaterschaffende, Tän-
zerinnen, Musiker, Autoren, Direktorinnen, Verwaltungsprofis, Künstlerinnen
und Künstler genug gibt, die mit ihrer Arbeit und in ihren Institutionen innova-
tive Aufbrüche wagen wollen.
Wenn die von der Kulturstiftung des Bundes initiierten Pilotprogramme tat-
sächlich erfolgreich sind und innovativ wirken können, dann nur deswegen, weil
sie durch alle Herausforderungen der Projektkooperation hindurch in der Gesell-
schaft landen und hier von kompetenten Akteuren umgesetzt werden. Keines
der Programme wäre je zur Beschlussvorlage für den Stiftungsrat gereift, hätten
sich nicht jedes Mal aufs Neue zahllose hochqualifizierte Fachleute aus dem In-
und Ausland auf jahrelange und mitunter strapazenreiche Recherchewege mit
dem Team aus Halle begeben. Kein Projekt wäre erfolgreich auf die Bühnen, in
die Konzertsäle, Kunstvereine, Kinos, Musikschulen, Gärten, Galerien, Biblio-
theken, Stadtmuseen oder Planetarien gelangt, wären nicht ideenreiche koope-
rationsfähige Könner und verantwortungsfreudige Enthusiasten in großer Zahl
an jenen Schlüsselstellen des Kulturbetriebs beschäftigt, von denen aus sie auf
neue Partner zugehen, fremde Themen anfassen und ein anderes Publikum ge-
winnen wollten.

6. — Kulturförderpolitik
Das betrifft Themenprogramme wie etwa »Shrinking Cities«, »Projekt Migra-
tion« oder »Über Lebenskunst«, die sich mit internationaler Stadtentwicklung,
der deutschen Einwanderungsgeschichte oder dem ökologischen Dilemma der
Wachstumsgesellschaft befasst haben – all diese Vorhaben, in denen Akteure aus
Kunst und Kultur eng mit den Spitzenkräften aus Wissenschaft und Forschung
zusammengearbeitet haben, um Fachhorizonte zu erweitern, die Grenzen der
Diskurse zu öffnen oder um ein kulturelles Feld überhaupt neu zu definieren:
Wie im Fall des »Tanzplan Deutschland«, der sich zu einer veritablen Marke ent-
wickeln und dazu beitragen konnte, dem zeitgenössischen Tanz Entfaltungsräu-
me zu eröffnen, universitäre Einbindungen sowie Förderallianzen zu sichern und
eine klare kulturpolitische Kontur zu verleihen.
Es betrifft daneben die Exzellenzförderung – ein echter Schwerpunkt der
Kulturstiftung des Bundes mit dem »Museum Global«, dem »Bauhaus-Jubiläum
2019«, dem »Programm für Ethnologische Sammlungen«, der documenta und
Berlin Biennale bis zu den Donaueschinger Musiktagen. Um bei der Musik zu
bleiben: Zum 250. Todestags Ludwig van Beethovens startet die Kulturstiftung
des Bundes gemeinsam mit dem Podium Esslingen eine von zwölf jungen inter-
nationalen Künstlerinnen und Künstlern getragene Suche nach dem Radikalen
in der Musik des 21. Jahrhunderts. Nichts anderes hätte ein Traditionsbrecher
wie Beethoven heute getan als zu fragen: Wie komponiert die Gegenwart? Wie
interagieren Technologie und Musik? Was wird aus der klassischen Musik in un-
serer globalisierten Gegenwart?

Transformative Kulturförderung

Die deutsche Kulturlandschaft ist unermesslich reich. Das bedeutet auch: Wir
haben viel zu verlieren. Mag sein, mögliche Bruchlinien treten heute klarer zu-
tage als in den BKM-Gründungsjahren. Nicht allein die klassische Musik, alle
Kunstsparten, alle Kommunikationsformen sind von der Digitalisierung betrof-
fen. Die Bewohnbarkeit der Städte, der schrumpfenden wie der explodierenden,
ist eine globale, über das Kulturelle hinausweisende Herausforderung und hier-
in den ökologischen Krisen der Gegenwart verwandt. Landauf, landab erforschen
Museen den alternativen Kanon einer globalen Kunst der Moderne und erproben
die lebendige Einbindung all jener Mitbürgerinnen und Mitbürger, für die Besu-
che in klassischen Kultureinrichtungen eine Seltenheit blieben, wenn sie nicht –
genauso wie andernorts die Theater, Konzerthäuser oder Musikschulen – ihre
Türen öffneten für das Publikum heutiger Stadtgesellschaften.
So wie im Fall von »Jedem Kind ein Instrument« (JeKi) – dieses von der Kul-
turstiftung des Bundes gemeinsam mit dem Land NRW und vielen Kommunen
2006 ins Leben gerufene Programm, das im Ruhrgebiet an dem ganz großen Rad
einer Landesinitiative für verbesserte Bildungsgerechtigkeit gedreht und mit eini-
gem utopischem Überschuss proklamiert hat, die soziale Herkunft von Schülerin-
nen und Schülern dürfe der Nutzung facherprobter musischer Bildungsangebote

Wachgeküsst
nicht im Wege stehen. Mit »JeKi« konnte die Kulturstiftung des Bundes einen Im-
puls setzen, um das Thema der Kulturellen Bildung auf die politische Agenda zu
setzen und um – über NRW und das Projektende hinaus – Kinder jedweder Her-
kunft in ihrer Leidenschaft für die Musik und das Instrumentenspiel zu fördern.
»JeKi« war – nach dem Tanzplan Deutschland – das zweite Scharnierprojekt
in der damals erst fünfjährigen Geschichte der Kulturstiftung des Bundes. Es mar-
kierte ihre förderstrategische Erweiterung von einer auf künstlerische Exzellenz-
förderung und auf gesellschaftliche Themen orientierten hin zu einer struktur-
wirksam aktivierenden Fördertätigkeit in Handlungsfeldern von gesamtstaatli- 264
cher Bedeutung. »JeKi« gab den entscheidenden Anstoß für dieses Hineinwachsen
ins Politische, das auch die folgenden Programme der Kulturstiftung des Bundes 265
charakterisierte. Etwa im Programm »TRAFO – Modelle für Kultur im Wandel«
mit seinem Fokus auf den Strukturwandel im ländlichen Raum, auf neue Formen
der Bürgerbeteiligung und der Suche nach tragfähigen und zukunftsfreundlichen
Allianzen zwischen Kultur, Politik und Verwaltung. Oder im Programm »360° –
Fonds für Kulturen der neuen Stadtgesellschaft«, in dem Kultureinrichtungen
die gewachsene Vielfalt der Menschen, denen heutige Städte in Deutschland eine
Heimat geben, zum Anlass nehmen, um die Bandbreite ihres Programms, ihrer
Publikumsansprache und ihres Personaltableaus zu erhöhen.
20 Jahre BKM, 16 Jahre Kulturstiftung des Bundes – vergleichbar dem Ver-
hältnis von Politik und Kunst sind die beiden »keine natürlichen Zwillinge«, wie
das Gründungsmitglied des Stiftungsrats Norbert Lammert anlässlich des 10. Ju-
biläums der Kulturstiftung des Bundes am 22. Juni 2012 in Halle formulierte. Als
Förderinstrument einer demokratischen Kulturnation muss die Kulturstiftung
des Bundes für die mit künstlerischer Produktion einhergehende Kompromiss-
losigkeit eintreten. Da sie satzungsgemäß unter »künstlerischer Leitung« steht,
lautet der fortwährende Auftrag, die Autonomie ästhetischer Gestaltung in al-
len Sparten der Kunst hochzuhalten und – sollten Versuche von Einflussnahmen
oder Untergrabungen künstlerischer Freiheitsrechte erkennbar sein – auch zu
verteidigen. Gleichzeitig trägt und übernimmt eine Kulturstiftung des Bundes
Verantwortung im gesamten Feld der Kultur und ist damit im Laufe ihres Beste-
hens zu einer auch politisch aktivierenden Kraft in der deutschen Kulturland-
schaft geworden. Migration, demografischer Wandel, Kulturelle Bildung, Digita-
lisierung – das ist nur eine Auswahl von Themen mit gesamtstaatlicher Bedeu-
tung, die von der Kulturstiftung des Bundes aufgegriffen und in bundesweiten
Programmen entwickelt werden, in denen sich künstlerischer Wagemut, admi-
nistrative Klugheit, bürgerschaftliches Engagement und politische Verantwor-
tung zu Energien bündeln, die – wie Norbert Lammert sagte – den »großen bun-
ten Garten der Kulturlandschaft in Deutschland« beleben und kräftigen können.

6. — Kulturförderpolitik
Hans Gerhard
Hannesen
Die Akademie der
Künste auf dem
Weg in die Träger-
schaft des Bundes
Mit ihrem Hauptsitz am Pariser Platz, in unmittelbarer Nachbarschaft zu den
Gebäuden des Deutschen Bundestags, des Bundeskanzleramtes, aber auch nicht
weit entfernt vom Sitz des Bundesrats scheint es heute kaum mehr erklärungs-
bedürftig zu sein, dass die Akademie der Künste vom Bund getragen wird. Doch
war die Trägerschaft nicht vorbestimmt.
Die 1696 gegründete Brandenburgische und seit 1701 Preußische Akade-
mie der Künste war nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in einer schwieri-
gen Lage – durch Zerstörung ihres Hauses, durch Flucht, Vertreibung oder in-
nere Emigration ihrer Mitglieder oder durch deren Verstrickung mit dem nati-
onalsozialistischen System. Doch nicht zuletzt auch aus juristischen Gründen.
Nur ein bescheidener Haushaltstitel beim Magistrat gewährleistete ihre Konti-
nuität. Als infolge der Währungsreform und der Berlin-Blockade die gemeinsa-
me Stadtregierung von Groß-Berlin auseinanderbrach und 1949 die Landesregie-
rung unter Edzard Reuter ins West-Berliner Rathaus Schöneberg auswich, wur-
de der Haushaltstitel in den Westsektoren von der nun Senat genannten Regie-
rung fortgeschrieben.
Preußen als Trägerland der Akademie war bereits am 25. Februar 1947 durch
den Alliierten Kontrollrat aufgelöst worden. Das materielle Erbe fiel in der Re-
gel an die Nachfolgeländer. Während die Preußische Akademie der Künste als
Rechtsperson durch einen Notverwalter des Landes Berlin (West) bestehen blieb
und erst nach der Übertragung des letzten noch ihr zugeordneten Eigentums an
die Akademie der Künste im Jahr 2005 liquidiert wurde, musste sich die Mitglie-
dersozietät Akademie der Künste als Künstlergemeinschaft neu gründen. Die ers-

Wachgeküsst
ten Bemühungen um eine Weiterexistenz waren nach dem Krieg an der politi-
schen Ost-West-Konfrontation und schließlich der Teilung Berlins und Deutsch-
lands gescheitert. Am 24. März 1950 konstituierte sich zuerst die Deutsche Aka-
demie der Künste als »höchste Instanz der Deutschen Demokratischen Republik
im Bereich der Kunst« im Ostsektor der Stadt neu. Ihr folgte im Westteil Berlins
1954 die ebenfalls die Nachfolge der preußischen Institution beanspruchende
»Akademie der Künste«, allerdings, entsprechend dem Status des Landes Berlin
als besonderer politischer Einheit und nach alliiertem Recht nicht Teil der Bun-
desrepublik, nicht als Bundes-, sondern als Landeseinrichtung. Während im Wes- 266
ten der größere Teil des historischen Archivs lagerte, übernahm die Ost-Akade-
mie die baulichen Reste des historischen Akademiegebäudes am Pariser Platz, 267
das seit 1937 von der Generalbauinspektion zweckentfremdet worden war. Eine
öffentliche Nutzung verhinderte die Lage mitten im Grenzstreifen. Die Ost-Aka-
demie erhielt den Rang einer großen, staatlichen Institution mit mehreren hun-
dert Mitarbeitern. Ihre Mitglieder hatten besondere Rechte, aber auch Pflichten.
Die West-Akademie war demgegenüber eine auf ihre Autonomie bedachte Künst-
lergemeinschaft mit einem vergleichsweise kleinen Mitarbeiterstab.
Infolge der Wiedervereinigung und der Evaluierung aller Institutionen der
untergegangenen DDR stand 1990 auch die Zukunft der beiden Berliner Akade-
mien der Künste zur Diskussion. Wie in der Nachkriegszeit, als Künstler mit ex-
trem unterschiedlichen Biografien und dementsprechend großem Konfliktpo-
tenzial zusammenkamen, ging es auch diesmal zuerst um die Frage, wie zwei
Mitglieder-Gesellschaften aus politisch gegensätzlichen Systemen in nur eine
Körperschaft zusammengeführt werden könnten. Noch bei der Mitgliederver-
sammlung der West-Akademie im Juni 1990 wies Walter Jens als Präsident eine
»Zwangsvereinigung« zurück. Doch das Land Berlin beschloss 1991 den Fortbe-
stand nur einer Akademie, was die Mitglieder in einen Handlungsdruck versetz-
te. Inzwischen war nämlich durch die Auflösung der DDR die von ihr getrage-
ne Ost-Akademie in einer unsicheren Lage. Wiederum fiel den neuen Ländern
das Erbe des aufgelösten Staates zu. Zuständig für die Ost-Akademie wurde so-
mit das Sitzland Berlin, das bereits Trägerland der West-Akademie war, während
die übrigen neuen Länder mit der Ausnahme Brandenburgs einen Staatsvertrag
zur Auflösung der ehemaligen DDR-Institution ratifizierten. Dabei fiel das ma-
terielle Erbe, das sich bis dahin im Eigentum der zentralstaatlich getragenen
Ost-Akademie befunden hatte, aber außerhalb Berlins lag, in der Regel an die
Nachfolgeländer. Es handelte sich um Künstlerhäuser und Erholungsheime, aber
auch um Nachlässe. So ging der große Barlach-Bestand nach Güstrow. Erst kurz
vor der Neukonstituierung der Akademie der Künste in der Trägerschaft Berlins
und Brandenburgs – und als deren Voraussetzung – ratifizierten auch diese bei-
den Länder den Staatsvertrag über die Auflösung der ehemaligen Akademie der
Künste der DDR. Im juristischen Sinne war die Vereinigung der Akademien da-
her eine Übernahme der Ost-Akademie durch die West-Akademie, deren Fortbe-
stand nie infrage gestanden hatte.

6. — Kulturförderpolitik
Der Bund bemühte sich in den Jahren nach der Wiedervereinigung, die materi-
ellen Probleme zahlreicher Institutionen durch die verständlicherweise überfor-
derten neuen Länder als deren Träger durch das »Leuchtturmprogramm« aus-
zugleichen (in der Regel analog zur Blauen Liste eine 50-zu-50-Prozent-Finan-
zierung) und durch organisatorische Hilfestellungen den drohenden kulturel-
len Zusammenbruch zu verhindern. So gelangte auch das bedeutende Archiv
der Ost-Akademie in das Finanzierungsprogramm des Bundes und erhielt als
unselbstständige »Stiftung Archiv der Akademie der Künste« unter dem Dach
der Akademie einen eigenen Haushalt und einen rechtlichen Sonderstatus. Da-
mit war der Bund bereits vor der Neukonstituierung der Akademie in die Träger-
schaft eingebunden.
Da man in den Jahren nach der deutschen Wiedervereinigung von einer Fu-
sion der Länder Berlin und Brandenburg ausging, übernahmen beide 1993 ge-
meinsam die Trägerschaft. Dadurch sollte vermieden werden, dass in einem fu-
sionierten Land die Akademie eine kommunale Institution statt einer Landesein-
richtung würde. Zu einer Länderfusion sollte es jedoch bekanntlich nie kommen.
Es gehört zu den Besonderheiten der Akademie, dass sie vor allem eine Ge-
meinschaft von gewählten Künstlern ist. Als Mitglieder bilden sie die Mitglieder-
versammlung und wählen aus ihren Reihen den Senat der Akademie und den Prä-
sidenten bzw. die Präsidentin. Anders als bei Museen und Archiven, die, verkürzt
gesagt, ihren Daseinszweck in der Bewahrung des kulturellen Erbes erfüllen, be-
standen die Schwierigkeiten bei der Vereinigung der beiden Akademien, wie be-
reits erwähnt, vor allem in der Zusammenführung der beiden Mitgliedersozietä-
ten. Die gesellschaftlichen Unterschiede in Ost und West hatten in einigen Be-
reichen der Künste zu einem Schisma geführt. Schwieriger waren jedoch die Vor-
würfe der Verstrickung in das DDR-Regime an Mitglieder der Ost-Akademie. Auch
die erste geheime Wahl der Ost-Akademie im Dezember 1991 unter der Präsident-
schaft Heiner Müllers, bei der sich die Zahl der ordentlichen Mitglieder von 105
auf 69 reduzierte, änderte an den Anfeindungen nichts. (Korrespondierende Mit-
glieder, also diejenigen, die nicht Staatsbürger der DDR gewesen waren, blieben
bei allen Überlegungen unberücksichtigt.) Die damaligen Schwierigkeiten sind
als exemplarisch für die Probleme zu sehen, die die gesamte Ost-West- Gesell-
schaft Deutschlands in diesen Jahren mit ihrem Zusammengehen hatte und zum
Teil bis heute hat. So beteiligten sich alle politischen Parteien und die gesamte
meinungsbildende Öffentlichkeit an den Debatten zur Akademie. Hier kann die-
ses Kapitel der Geschichte jedoch nur kurz behandelt werden. Sowohl Heiner Mül-
ler als Präsident der Ost-Akademie als auch Walter Jens bemühten sich seit dem
Winter 1991/1992 um eine Lösung. Jens war, nachdem er die Notwendigkeit der
Vereinigung als Folge der politischen Wirklichkeit erkannt hatte, die treibende
Kraft. Schließlich ratifizierte die Mehrheit des Brandenburgischen Landtags und
anschließend des Berliner Abgeordnetenhauses den Staatsvertrag, durch den das
Gesetz zur vereinigten, neukonstituierten Akademie zum 1. Oktober 1993 in Kraft
trat. Drei Jahre später, 1996, konnte sich die Akademie in der Ausstellung zu ih-

Wachgeküsst
rer Dreihundertjahrfeier als eine große, bedeutsame Kulturinstitution darstellen
und die immer noch nicht völlig überwundenen Streitigkeiten der Ost-West-Ver-
einigung in einer Gesamtdarstellung ihrer Geschichte relativieren.
Mit der Vereinigung der Akademie war auch das Ziel der Rückkehr an den
historischen Standort verbunden. Bauplanungen im Westen und vorhandene Ge-
bäude im Osten wurden aufgegeben. Im neuen Haus am alten Standort sollte sich
die Vereinigung vollenden und das Erbe der preußischen Akademie bewahrt wer-
den – nun allerdings mitten im Zentrum des neuen deutschen Regierungssitzes.
Inzwischen führten die finanzielle Stärke des Bundes und die angespann- 268
te fiskalische Lage Berlins zu politischen Verhandlungen und schließlich zu ei-
nem ersten Hauptstadtkulturvertrag, der allerdings die Situation der Akademie 269
nicht berücksichtigte. Deutlich war damit auch geworden, dass es vonseiten des
Bundes um eine neu zu definierende gesamtstaatliche Verantwortung für Kul-
tur insbesondere am neuen Regierungssitz gehen sollte, während es vonseiten
Berlins und Brandenburgs ein deutliches Interesse gab, den eigenen defizitären
Haushalt zu entlasten. Dabei entstand ein Konflikt durch einerseits die tradier-
te Zuständigkeit der Länder für ihre Kultur, und damit auch des Landes Berlin,
und andererseits die im Grundgesetz festgeschriebene Verantwortung des Bun-
des für seine Hauptstadt.
Berlins Aufstieg zur Hauptstadt verlief auch nach dem entsprechenden Be-
schluss von 1991 nicht stringent, hatte aber einige wesentliche Beförderer. Ob-
wohl in Berlin nicht populär, gehörte auch Bundeskanzler Helmut Kohl dazu, auf
den die Gründung des allein vom Bund getragenen Deutschen Historischen Mu-
seums 1986 und, nach der Wiedervereinigung, dessen Etablierung am Sitz des
aufgelösten Museums für Deutsche Geschichte zurückging. Er hatte ein deutli-
ches Gespür dafür, dass die Repräsentation des Gesamtstaates mit dem Umzug
der Regierung von Bonn nach Berlin eine größere Bedeutung bekommen und
damit auch den Kulturinstitutionen in der Hauptstadt ein weiter gefasster Auf-
trag zuwachsen würde. Von Bonn aus hatte er sich kritisch in die Debatte um die
Ost-West-Vereinigung der Akademie eingebracht, sorgte für die Einrichtung der
Neuen Wache Unter den Linden, förderte die Errichtung eines Denkmals für die
ermordeten Juden Europas und die Herauslösung eines Jüdischen Museums aus
dem Berlin-Museum und unterstützte die Erweiterung der Museumsbauten auf
der Museumsinsel um die Gebäude auf dem gegenüberliegenden Kasernenge-
lände. In seine Amtszeit fiel auch die Debatte um eine eigenständige Kulturpo-
litik des Bundes, sei es durch ein eigenes Ministerium oder einen Staatsminister
im Kanzleramt. Doch erst sein Nachfolger Gerhard Schröder setzte 1998 die Ein-
richtung eines/einer Beauftragten für Kultur und Medien im Kanzleramt durch.
Am Anfang wurde diese kulturpolitische Positionierung noch von den Ländern
beargwöhnt, doch mit dem Regierungsumzug nach Berlin im folgenden Jahr und
dem – auch aufgrund außenpolitischer Krisen – Bedeutungszuwachs der Bundes-
regierung, galt der bzw. die BKM bald als etabliert und akzeptiert. In diesem Zu-
sammenhang wurde auch ein Kulturausschuss im Deutschen Bundestag einge-

6. — Kulturförderpolitik
richtet. Seine Mitglieder von der Verantwortung des Bundes für die Akademie der
Künste zu überzeugen, war daher die Voraussetzung für jeden weiteren Schritt
der Exekutive, also des BKM. Das Ziel war die Überführung der Gesamtakade-
mie in die Trägerschaft des Bundes. Es war daher gezielte Politik der Akademie,
die Abgeordneten mit der Institution, ihrer bewegten Geschichte und ihrem im
Bau befindlichen Haus am Pariser Platz vertraut zu machen. Der Ort, von dem
die Nationalsozialisten sie 1936 verdrängt hatten, sollte nun das Botschaftsge-
bäude einer die Freiheit der Künste verteidigenden Akademie werden. Doch die
Unterhaltskosten für das neue Haus waren aufgrund der unzureichenden Finan-
zierung durch die Länder Berlin und Brandenburg völlig unsicher.
Allmählich konnte man in der Presse im Zusammenhang mit Finanzierungs-
modellen für die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die Stiftung Preußische
Schlösser und Gärten Berlin Brandenburg oder die ehemals preußische Staats-
oper Unter den Linden auch von der Möglichkeit der Finanzierung der Akade-
mie der Künste durch den Bund lesen. Gleichzeitig stand eine Überarbeitung des
Hauptstadtkulturvertrages an, in dessen Laufzeit vom Sommer 2001 bis Ende
2003 die Debatte über die Frage, welche Einrichtungen in Zukunft ganz oder teil-
weise vom Bund getragen werden sollten, nie abbrach. Die Akademie beteilig-
te sich daran, auch indem sie ihr Haus einem großen Publikum für Diskussions-
veranstaltungen öffnete. Die Zukunft der eigenen Institution und die Vor- und
Nachteile einer damit verbundenen Änderung des Status wurde in den Mitglie-
derversammlungen sowohl im Plenum als auch in einigen Abteilungen kontro-
vers diskutiert. Im Sommer 2001 entwickelte der damaligen Staatsminister für
Kultur und Medien, Julian Nida-Rümelin, die Idee einer Nationalen Akademie der
Künste und Wissenschaften. Diesem Gedanken konnten die Akademiemitglie-
der jedoch wenig abgewinnen, da der Begriff »National« dem autonomen, eher
staatskritischen und in seiner Mitgliedschaft nicht auf Deutschland begrenz-
ten Charakter der Mitgliedersozietät widerspreche. Außerdem hätte eine An-
bindung an die Akademie der Wissenschaften die grundsätzlichen Unterschie-
de zwischen den Institutionen verkannt, wenngleich eine konstruktive Zusam-
menarbeit bei einzelnen Projekten durch die Verbindung beider Institutionen
nicht ausgeschlossen wurde.
Seit Christina Weiss im Oktober 2002 als Staatsministerin die Verantwor-
tung für Kultur aufseiten des Bundes übernommen hatte, wurden die Überlegun-
gen über die Finanzierung der Akademie der Künste durch den Bund (von einer
Verbindung mit der Akademie der Wissenschaften war nun nicht mehr die Rede)
auf allen politischen Ebenen und mit allen Parteien intensiviert und sowohl von
offizieller Berliner als auch Brandenburger Seite nachdrücklich begrüßt. Der da-
malige Präsident, György Konrád, sah die Notwendigkeit, die Zukunft der Aka-
demie durch eine ausreichende Finanzierung zu sichern und führte, von der Öf-
fentlichkeit und auch im Akademie-Alltag weitgehend unbeachtet, gemeinsam
mit dem Autor dieses Textes zahlreiche inoffizielle Gespräche mit den Mitglie-
dern aller Bundestagsparteien, um sich ihrer Unterstützung zu vergewissern. Po-

Wachgeküsst
sitiv wurde von politischer Seite hervorgehoben, dass die Akademie seit 1999 mit
der »Gesellschaft der Freunde der Akademie der Künste« auch bürgerschaftlich
unterstützt wird. Der damalige Vorsitzende des Freundeskreises, Dr. Klaus Man-
gold, und sein Stellvertreter, Dr. Rolf E. Breuer, nutzen ihre Kontakte zu Bundes-
kanzler Gerhard Schröder, um sich für die Akademie einzusetzen. In allen Ge-
sprächen wurde die inhaltliche Unabhängigkeit der Institution als die eigentli-
che Legitimation ihrer Existenz hervorgehoben, sodass schließlich in das Gesetz
zur Errichtung der Akademie in der Trägerschaft des Bundes, abweichend von
der sonstigen Praxis, kein Aufsichtsrat aufgenommen werden sollte, sondern le- 270
diglich ein Verweis auf die Satzung der Akademie, die diese sich selbst gibt, und
die die Einrichtung eines Verwaltungsrats vorzusehen habe, der mit dem Wirt- 271
schafts- und Personalangelegenheit zu befassen sei.
In den folgenden Monaten bekam die Entwicklung eine zielgerichtete Dy-
namik. Bereits am 29. Juni 2003 wurde die Finanzierung der Akademie bei ei-
ner Klausurtagung der Bundesregierung zur Steuerreform und zur Agenda 2010
in dem östlich von Berlin gelegenen Schloss Neuhardenberg positiv beantwor-
tet. Nun ging es darum, den gesetzlichen Rahmen zu schaffen. In der Öffent-
lichkeit wurde das Thema nur im Zusammenhang mit der Reform der Berliner
Opern diskutiert. Als Kompensation des angespannten Opernhaushalts sollte
das Land vonseiten des Bundes durch die Übernahme der Finanzierung der Aka-
demie und anderer Institutionen um rund 22,2 Millionen Euro entlastet wer-
den. Doch war mit der Präsentation des neuen Hauptstadtkulturvertrages durch
Kulturstaatsministerin Christina Weiss und den Berlin Kultursenator Thomas
Flierl am 9. Dezember 2003, in dem die Finanzierung der Akademie durch den
Bund vom 1. Januar 2004 an veröffentlicht wurde, die gesetzliche Grundlage für
die neue Trägerschaft noch nicht geschaffen. Im Oktober 2003 hatten Bundes-
tag und Bundesrat eine Kommission zur Modernisierung der bundesstaatlichen
Ordnung eingesetzt. In dieser »Föderalismuskommission«, die ihre Arbeit im De-
zember 2004 ohne Einigung beendete, war die Kompetenz des Bundes infragen
der Kultur von vorneherein strittig. Trotz grundsätzlicher Zustimmung der Fi-
nanzierungssicherung wurde das Akademie-Gesetz dadurch zum Mittel, um un-
terschiedliche staatsrechtliche Auffassungen zu exemplifizieren. Als das Gesetz
nach den notwendigen Zustimmungsverfahren auf Seiten des Bundes dem Kul-
turausschuss des Bundesrats vorgelegt wurde, lehnte es dieser am 14. Mai auf-
grund des Antrags eines Bundeslandes ab. Bei der folgenden Lesung im Bun-
destag kritisierten die Oppositionsparteien zwar die Koppelung mit der Berliner
Opernreform, stimmten aber mehrheitlich zu. Nun war wieder der Bundesrat am
Zuge, der in seiner Sitzung am 17. Dezember 2004 mit dem Ziel der Aufhebung
des Gesetzes den Vermittlungsausschuss anrief. Dem Bund stehe, so die Begrün-
dung, eine Gesetzgebungskompetenz in diesem Bereich nicht zu. Die vom Deut-
schen Bundestag eingefügte Ergänzung, wonach die Akademie der Künste der
Repräsentation des Gesamtstaates auf dem Gebiet der Kultur und Kunst diene,
begründe keine Gesetzgebungskompetenz des Bundes kraft »Natur der Sache«.

6. — Kulturförderpolitik
Nur in Angelegenheiten der auswärtigen Kulturpolitik existiere eine ausdrück-
liche Gesetzgebungskompetenz des Bundes. Doch solle die Akademie in die-
sem Bereich keine Aufgaben übernehmen. Auch der Umstand, dass die Akade-
mie von der Hauptstadt Berlin aus internationale Wirkung entfalten solle, führ-
te nach Ansicht des Bundesrats zu keiner anderen Beurteilung. Aus dem Haupt-
stadtkulturvertrag ergebe sich allein eine Förderkompetenz, nicht dagegen eine
Gesetzgebungskompetenz. Über diese Bedenken setzte sich der Deutsche Bun-
destag hinweg, indem er am 18. Februar 2005 das Gesetz über die Akademie der
Künste in der Trägerschaft des Bundes beschloss. Am 1. Mai 2005 unterzeichne-
ten Bundespräsident Horst Köhler und Bundeskanzler Gerhard Schröder das Ge-
setz zur Errichtung der Akademie der Künste als rechtsfähige Körperschaft des
öffentlichen Rechts und ordneten seine Verkündigung im Bundesgesetzblatt an,
die am 9. Mai 2005 erfolgte. Damit war die Voraussetzung geschaffen, dass die
Akademie der Künste die ihrem Selbstverständnis entsprechende und von ihr in
der deutschen Hauptstadt erwartete öffentliche Wirksamkeit an ihrem Haupt-
sitz entfalten kann.

Wachgeküsst
Hermann Parzinger
Stiftung Preußischer
Kulturbesitz – 272

Herkunft und 273

Zukunft
Gründung und rechtliche Ordnung

Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz ist die mit Abstand größte Kultureinrich-
tung Deutschlands. Sie besteht aus den Staatlichen Museen zu Berlin mit her-
ausragenden Sammlungen zu Kunst und Kultur aus aller Welt vom Altertum bis
in die Gegenwart und diversen Forschungsinstituten, aus der Staatsbibliothek
zu Berlin, der noch immer größten wissenschaftlichen Universalbibliothek im
gesamten deutschsprachigen Raum, dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer
Kulturbesitz, mit 37 km Akten und Dokumenten einem der größten historischen
Archive unseres Landes, dem Ibero-Amerikanischen Institut sowie dem Staat-
lichen Institut für Musikforschung mit dem Musikinstrumenten-Museum. Sitz
der Stiftung und ihrer Einrichtungen ist Berlin. Die Stiftung wurde 1957 per Ge-
setz gegründet und nahm 1961 nach einer Entscheidung des Bundesverfassungs-
gerichts, das über eine Klage einzelner Bundesländer über die Zulässigkeit der
Gründung durch den Bund befunden hatte, ihre Arbeit auf. Als eine vom Bund
und allen Ländern getragene und finanzierte Einrichtung hat die Stiftung einen
öffentlich-rechtlichen Status und ist rechtlich selbstständig.
Lange Jahre stand die Stiftung Preußischer Kulturbesitz unter der Rechts-
aufsicht des Bundesministeriums des Innern; diese Zuständigkeit wurde mit der
Gründung der Behörde der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Me-
dien im Bundeskanzleramt auf dieses neue Amt übergeleitet. Für die Stiftung
Preußischer Kulturbesitz ist diese fachorientierte Sonderzuständigkeit im Bun-
desbereich unter allen denkbaren Aspekten ein großer Gewinn. Allen Staatsmi-
nisterinnen und Staatsministern, die dieses Amt seit 1998 ausgeübt haben, hat
die Stiftung besondere Weiterentwicklungen und erhebliche Unterstützungen
zu verdanken, im Aufgabenprofil wie auch bei dem stetigen Ausbau des Haus-

6. — Kulturförderpolitik
halts. Ein Finanzierungsabkommen regelt, wie Bund und Länder die Finanzie-
rung der Stiftung sichern: Von dem öffentlich getragenen Teil des Betriebshaus-
haltes übernimmt der Bund 75 Prozent, die Länder beteiligen sich mit insgesamt
25 Prozent. Einen über diesen Betrag hinausgehenden jährlichen Finanzbedarf
tragen zu 75 Prozent der Bund und zu 25 Prozent das Land Berlin. Die Kosten von
Baumaßnahmen und großen Sanierungsvorhaben der Stiftung werden seit dem
Jahr 2003 allein durch den Bund finanziert. Rückblickend hat sich die Träger-
schaft von Bund und allen Ländern über die Jahrzehnte bewährt und sichert auch
die gesamtstaatliche Bedeutung, die den Sammlungen und Beständen imma-
nent ist und heute weit über den ehemals preußischen Kulturbesitz hinausgeht.

Aufgaben

Aufgabe der Stiftung Preußischer Kulturbesitz ist es, die ihr übertragenen Kultur-
güter zu bewahren, zu pflegen und zu ergänzen. Dabei soll sie laut Errichtungs-
gesetz den Zusammenhang der ehemals preußischen Sammlungen erhalten so-
wie eine dauernde »Auswertung dieses Kulturbesitzes für die Interessen der All-
gemeinheit in Wissenschaft und Bildung und für den Kulturaustausch zwischen
den Völkern« gewährleisten. Vielfältige Aufgaben sind mit diesem gesetzlichen
Auftrag verbunden, die auch eine stetige Weiterentwicklung und Aktualisierung
nach sich ziehen. Nach Jahren des Aufbaus der Stiftung und der Rückführung
der Sammlungsbestände aus diversen Auslagerungsorten in Westdeutschland
nach West-Berlin in den 1960er und 1970er Jahren und unterschiedlichsten Pro-
blemen während der Zeit des Kalten Krieges kündigte sich in den 1980er Jahren
eine Phase der Entspannung an. Sie bezog sich auf eine intensivere Zusammen-
arbeit mit den in Ost-Berlin und der DDR verbliebenen Sammlungen des einst-
mals preußischen Kulturbesitzes. Mit der deutschen Einheit begann auch für die
Stiftung Preußischer Kulturbesitz eine neue Zeitrechnung. 1992 wurde die Trä-
gerschaft der Stiftung Preußischer Kulturbesitz auf alle alten und neuen Bun-
desländer ausgedehnt. Die Wiedervereinigung der West- und Ost-Berliner Ein-
richtungen der Staatlichen Museen und der Staatsbibliothek in Berlin sowie die
Rückkehr der Merseburger Bestände des Geheimen Staatsarchivs Preußischer
Kulturbesitz nach Dahlem waren nach 1990 Glücksfälle für die Mitarbeiterin-
nen und Mitarbeiter und die Sammlungen zugleich. Für die Stiftung begann eine
umfassende Neuorganisation, die auch mit einem gewaltigen, Jahrzehnte über-
spannenden Bau- und Sanierungsprogramm einherging, das bis heute in der Um-
setzung ist und auch zukünftig noch viel Zeit und Finanzmittel benötigen wird.

Masterplan Museumsinsel

Die Museumsinsel ist als historisches Gebäudeensemble mit ihren herausragen-


den Sammlungen die Hauptattraktion der Berliner Museumslandschaft und kul-
turelles Zentrum des alten wie des neuen Berlins.

Wachgeküsst
Karl Friedrich Schinkels Altes Museum steht am Anfang einer Reihe von könig-
lich-preußischen Museumsbauten, die nach Vorstellung von Friedrich Wilhelm IV.
die Spreeinsel zu einer »Freistätte für Kunst und Wissenschaft« formen sollten.
Nach der Eröffnung des Alten Museums 1830 folgten bis 1930 das Neue Museum,
die Nationalgalerie, das Kaiser-Friedrich-Museum (das heutige Bode-Museum)
und das Pergamonmuseum. Innerhalb eines Jahrhunderts war im wahrsten Sinne
des Wortes eine Museumsinsel entstanden, die interessierte Besucherinnen und
Besucher auf eine Weltreise enzyklopädischen Ausmaßes mitnahm.
Die Zäsur, die das nationalsozialistische Regime und der Zweite Weltkrieg 274
mit seinen Folgen brachte, war auch für die Museumsinsel gewaltig. Zum ei-
nen wurden die Gebäude auf der Museumsinsel schwer beschädigt. Zum ande- 275
ren hatten die Museumssammlungen nicht nur enorme und unwiederbringli-
che Kriegsverluste zu verzeichnen, sondern die zum großen Teil ausgelagerten
Sammlungen wurden durch die Teilung Deutschlands auch willkürlich ausein-
andergerissen. Im Ostteil Berlins konnten die Museen die noch vorhandenen, je-
doch beschädigten Gebäude weitgehend wiederherstellen und nutzen. In West-
berlin wurden die Sammlungen zunächst provisorisch untergebracht, denn die
Museumsbauten befanden sich fast ausschließlich im Ostteil der Stadt. Die ar-
chäologischen Sammlungen fanden in Charlottenburg eine neue Heimat, dane-
ben wurden die schon früher angestellten Überlegungen zur Realisierung eines
größeren Museumskomplexes in Dahlem wieder aufgegriffen und umgesetzt;
dort entstand in der Folge das Universalmuseum im Westteil der Stadt. Zusätz-
lich fasste man den Plan, in der Nähe des Potsdamer Platzes einen neuen kultu-
rellen Mittelpunkt zu etablieren, der dem kulturellen Zentrum im historischen
Osten ebenbürtig sein sollte: das heutige Kulturforum. Mit dem Bau der Phil-
harmonie in den 1960er Jahren begann die Verwirklichung dieser Planungen. Bis
1990 waren die Neue Nationalgalerie, die Staatsbibliothek, das Kunstgewerbe-
museum, das Staatliche Institut für Musikforschung mit dem Musikinstrumen-
ten-Museum und die Kunstbibliothek errichtet worden und die Planungen für
den Bau der Gemäldegalerie schon weit fortgeschritten.
Mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten bot sich 1990 die Chance,
die geteilten Sammlungen unter dem Dach der Stiftung Preußischer Kulturbe-
sitz wieder zusammenzuführen und neu zu strukturieren. Mit dem Wunsch, die
Sammlungen möglichst wieder in ihren angestammten Häusern unterzubrin-
gen, stellte sich die Stiftung einer Jahrhundertaufgabe, die bis heute aktuell ist:
Es galt einerseits für die in unterschiedlichem Zustand befindlichen Häuser der
Vorkriegszeit im Osten wie für die Bauten der Nachkriegsmoderne im Westen
der Stadt einen langfristigen Sanierungsplan zu entwickeln, andererseits aber
auch neue Gebäude zu errichten, denn die Sammlungen waren seit dem Zweiten
Weltkrieg – trotz aller Kriegsverluste – in Ost wie in West umfänglich gewachsen.
Der Schwerpunkt wurde dabei zunächst auf die Museumsinsel gelegt: Sie
sollte wieder Dreh- und Angelpunkt der Berliner Museumslandschaft werden
und mit ihren Sammlungen die Kunst- und Kulturgeschichte Europas und des

6. — Kulturförderpolitik
Nahen Ostens von der Antike bis ins 19. Jahrhundert erlebbar machen. Seit 1999
zählt die Museumsinsel zum UNESCO-Welterbe. Ausgezeichnet wurde damit
die Einzigartigkeit des Ensembles, nämlich die besondere Verbindung von her-
ausragender Museumsarchitektur unterschiedlicher Zeiten mit den großartigen
Sammlungen. Im selben Jahr wurde der Masterplan Museumsinsel beschlossen,
der die Sanierung, die denkmalgerechte Grundinstandsetzung, die inhaltliche
Neustrukturierung und die zeitgemäße Entwicklung des gesamten Areals um-
fasst. Seine Umsetzung – ohne Zweifel das größte Bauprojekt der Stiftung Preu-
ßischer Kulturbesitz – geht seitdem kontinuierlich voran: 2001 wurde die Alte
Nationalgalerie wiedereröffnet, im Jahre 2006 das Bode-Museum und 2009 das
Neue Museum, das eine wahre Wiedergeburt erlebte, stand es doch seit seiner
Kriegszerstörung als Ruine auf der Museumsinsel. Das Archäologische Zentrum,
das auf den Museumshöfen die Bibliothek und Räume für die Werkstätten, De-
pots und die Verwaltung beherbergt, wurde 2012 in Betrieb genommen. Aktuell
wird das Pergamonmuseum schrittweise saniert. Übrigens bietet die Stiftung ab
Herbst 2018 mit »Pergamonmuseum. Das Panorama« all denen, die den Perga-
monaltar wegen der Baumaßnahmen schmerzlich vermissen, einen Anlaufpunkt.
Und auch die James-Simon-Galerie befindet sich kurz vor ihrer Vollendung und
wird schon ab 2019 als zentrales Eingangsgebäude die vielen Besucherinnen und
Besucher aus aller Welt willkommen heißen und sie in das Universum Museums-
insel einführen. Aber noch nicht alle Aufgaben des Masterplans Museumsinsel
wären damit realisiert: die Sanierung des Alten Museums, der vierte Flügel des
Pergamonmuseums und die Vollendung der Archäologischen Promenade war-
ten noch auf ihre Umsetzung. Mit der Realisierung dieser Projekte wird es den
Besucherinnen und Besuchern in Zukunft ermöglicht, die berühmten archäolo-
gischen Großarchitekturen in einem Rundgang durch das Pergamonmuseum zu
erleben und das Verbindende der Museumsinsel auf besondere Weise zu erfahren.
Darüber hinaus wird die Museumsinsel mit der Wiedererrichtung des Ber-
liner Schlosses und seiner Nutzung als Humboldt Forum mit den Sammlungen
des Ethnologischen Museums und des Museums für Asiatische Kunst der Staat-
lichen Museen zu Berlin ab 2019 die historische Mitte Berlins zu einem wahren
Ort der Weltkulturen entwickeln. Die Museumsinsel mit der Kunst und Kultur
Europas und des Nahen Ostens und das Humboldt Forum mit Kunst und Kul-
tur aus Afrika, Asien, Australien und Ozeanien sowie Amerika werden dabei eine
untrennbare Einheit bilden, ein wahres Universalmuseum, das im Zeitalter der
Globalisierung eine neue Auseinandersetzung mit der Welt ermöglichen wird.

Neue Aufgaben

60 Jahre nach ihrer Gründung steht die Stiftung Preußischer Kulturbesitz vor
neuen Herausforderungen. Die zunehmend digitalisierte und vernetzte Welt
bringt ein verändertes Nutzungsverhalten mit sich, auf das sich Kultureinrich-
tungen aller Art einstellen müssen. Die Ansprüche an einen Museums- oder Bib-

Wachgeküsst
liotheksbesuch sind einerseits gestiegen, andererseits gibt es immer mehr Men-
schen, für die ein Museumsbesuch oder der Gang in die Bibliothek nicht mehr
selbstverständlich ist.
Viele unserer Besucherinnen und Besucher wissen, dass sich durch die
Sammlungen und Bestände unserer Einrichtungen die Menschheitsgeschichte
auf faszinierende und weltumspannende Weise erfahren und erleben lässt. Dem
großen Komponisten Beethoven z. B. lässt sich nicht nur mithilfe seiner Autogra-
fen in der Staatsbibliothek auf die Spur kommen, sondern auch im Staatlichen In-
stitut für Musikforschung. Zur Bedeutung des Bauhauses als wichtigstem deut- 276
schem Kulturexport des 20. Jahrhunderts kann die Kunstbibliothek ebenso beitra-
gen wie das Ibero-Amerikanische Institut. Die Querverbindungen zwischen den 277
Einrichtungen der Stiftung sind geradezu unerschöpflich. Aber gerade diese Fas-
zination vermittelt sich nicht von selbst. Die Weiterentwicklung und der Ausbau
unseres umfangreichen Bildungs- und Vermittlungsangebots bleiben daher auch
in Zukunft eine wichtige Aufgabe.
Das Haus Bastian am Kupfergraben gegenüber dem Pergamonmuseum wird
in den kommenden Jahren zu einem Zentrum für kulturelle Bildung und Ver-
mittlung der Staatlichen Museen. Dabei gilt es, nicht nur Wissen zu vermitteln,
sondern die Häuser noch stärker zu Orten des Dialoges zu machen. Ein Beispiel
dafür ist das Modellprojekt »Lab Bode«: Mit Unterstützung der Kulturstiftung
des Bundes wurde im Bode-Museum ein »Vermittlungslabor« eingerichtet. Hier
wird gemeinsam mit Berliner Schulen erprobt, wie über ganz aktuelle Fragen,
die Schülerinnen und Schüler beschäftigen, ein Zugang zu den scheinbar un-
nahbaren Museumsobjekten aus längst vergangenen Epochen gefunden werden
kann. Ein weiteres wichtiges Beispiel ist das Projekt »Multaka«, in dem Geflüch-
tete aus dem Nahen Osten zu Museumsführern ausgebildet werden. Mit diesen
und vielen weiteren Projekten werden sich die Stiftung und ihre Einrichtungen
weiter neuen Besuchergruppen und aktuellen gesellschaftlichen Fragen öffnen.
Aber auch als Wissenschafts- und Forschungseinrichtung sieht sich die Stif-
tung Preußischer Kulturbesitz einer sich wandelnden Forschungslandschaft und
neuen Diskursen gegenüber. Die Forschung in der Stiftung Preußischer Kulturbe-
sitz basiert auf den einzigartigen Objektbeständen, die die kulturelle Entwicklung
der Menschheit von ihren Anfängen bis in die Gegenwart dokumentieren. Die Ein-
richtungen der Stiftung bewahren, erschließen und vermitteln diese Objektbe-
stände. Wesentliches Profilmerkmal der von der Stiftung durchgeführten, in erster
Linie objekt- und sammlungsbezogenen Grundlagenforschung sind diese einma-
ligen Objektbestände sowie die damit einhergehenden spezifischen Objekt- und
Vermittlungskompetenzen. Diese Kompetenzen teilt die Stiftung in verschiede-
nen Forschungsverbünden und Kooperationsprojekten, wo Fragen des Kulturgut-
schutzes, der Provenienzforschung und des Kulturguterhaltes erforscht werden.
Seit vielen Jahren untersucht die Stiftung in umfassender Weise die Pro-
venienz der Objekte in ihren Sammlungen. Damit sind wissenschaftliche Fra-
gestellungen wie auch die Klärung von Eigentumsverhältnissen verbunden. Ein

6. — Kulturförderpolitik
Schwerpunkt der Forschung lag lange Zeit auf den Werken, die in den Jahren ab
1933 in die Sammlungen gelangten. In letzter Zeit ist mit Blick auf die Vorberei-
tungen für das Humboldt Forum auch die Erforschung der Herkunft der Objekte
in den außereuropäischen Sammlungen in den Fokus gerückt. Die Erforschung
dieser Sammlungsbestände gemeinsam mit den Herkunftsgemeinschaften wird
die Stiftung auch in den nächsten Jahren intensiv voranbringen.
Nicht nur der Austausch und die Zusammenarbeit mit den Wissenschaftle-
rinnen und Wissenschaftlern der Herkunftsgesellschaften sind wichtig. Mit dem
aus der Erforschung der Sammlungsbestände gewonnenen Know-how bringt
sich die Stiftung auch in wichtige gesellschaftspolitische Diskurse ein: Über den
Deutsch-Russischen Museumsdialog arbeitet die Stiftung mit ihren Partnern
in Moskau und St. Petersburg. Im Syrian Heritage Archive Project werden die
Grundlagen für den Wiederaufbau des kriegszerstörten Landes geschaffen oder
in Ägypten wird bei Rettungsgrabungsprojekten geholfen.
Mit der Einrichtung und Eröffnung des Humboldt Forums bietet sich der
Stiftung die Chance, den Museumsstandort Dahlem neu zu positionieren. Ge-
meinsam mit den Staatlichen Museen möchte die Stiftung das Areal zu einem
Forschungscampus Dahlem entwickeln. Hier soll die Idee eines aktiven, inter-
disziplinären Forschungsverbundes mit der, genuin an der Schnittstelle zwi-
schen Wissenschaft und Öffentlichkeit verorteten, Museumsarbeit zusammen-
gebracht werden.
Wir möchten die Menschen dazu einladen, bei uns die Welt neu zu entde-
cken und besser zu begreifen – auf der Museumsinsel oder am Kulturforum, im
Museum Berggruen am Standort Charlottenburg, im Geheimen Staatsarchiv in
Dahlem, im Hamburger Bahnhof oder im Schloss Köpenick. Der Kosmos der Stif-
tung Preußischer Kulturbesitz ist hierfür nahezu unerschöpflich. Und dennoch
muss sich gerade die größte deutsche Kultureinrichtung immer wieder auch
selbst hinterfragen, wo sie besser werden und sich optimieren kann. Es geht
nicht darum, zeitgeistig zu sein, aber unsere Angebote müssen zeitgemäß auf die
Bedürfnisse einer sich stetig verändernden Gesellschaft ausgerichtet sein, damit
wir unseren Bildungsauftrag bestmöglich erfüllen können.

Wachgeküsst
Hartmut Dorgerloh
Humboldt Forum –
In der Mitte der 278

Hauptstadt für die 279

Welt
»Harmonie sieht anders aus«, so das jüngste Fazit eines Beitrags im Deutschland-
funk und allgemeiner Tenor der Besucherinnen und Besucher, die anlässlich der
Tage der offenen Baustelle am 25./26. August 2018 den neu errichteten und schon
(fast) vollständig ausgerüsteten Schlüterhof des Humboldt Forums im Berliner
Schloss besuchten – hin- und hergerissen zwischen Bewunderung und Irritation.
Harmonie geht wirklich anders! Aber geht sie überhaupt und ist sie denn ge-
fragt – an diesem identitätsstiftenden, gesellschaftlich und politisch relevanten
Ort in der Mitte Berlins, am Ende der Prachtstraße? An einem Ort, an den sich
so viele Erwartungen knüpfen, der so vieles leisten soll?
Blickt man auf die ereignisreiche Geschichte des Ortes zurück, wird deutlich,
dass dieser Platz als zentraler und konstitutiver Herrschaftsraum bislang nicht
harmonisierte. Ganz im Gegenteil hat das Schloss und der Nachfolgebau Brü-
che, Differenzen und Konflikte auf sich vereint. Vom »Berliner Unwillen« 1440,
den Märzunruhen 1848, der Generalmobilmachung 1914, der Novemberrevoluti-
on mit der Ausrufung der »freien sozialistischen Republik Deutschland«, bis hin
zur Zerstörung des Hohenzollern-Schlosses bei einem Luftangriff Ende des Zwei-
ten Weltkriegs und der anschließenden Sprengung der Ruine auf Ministerratsbe-
schluss der DDR im September 1950. Dem denkmalwerten Palast der Republik, der
das Vakuum auf der Spreeinsel ab 1976 füllte und wo eine DDR präsentiert wur-
de, wie sie sie gerne sein wollte, war weit weniger Dauerhaftigkeit beschieden als
dem Schloss. Nach der deutschen Vereinigung 1990 geschlossen, asbestsaniert
und entkernt, dann als »Volkspalast« alternativ zwischengenutzt und schließ-
lich zwischen 2006 und 2008 abgerissen, wurde er eine Komponente des genius
loci, der das Unternehmen Humboldt Forum grundiert. Sowohl Bau und Spren-
gung des Schlosses als auch Bau und Abriss des Palastes und zuletzt die teilwei-
se Rekonstruktion des Schlosses polarisieren. Die historische Spannweite mög-

6. — Kulturförderpolitik
licher Haltungen zwischen Pro und Contra reicht vom »grauen Kasten« zu »ei-
nem der bedeutendsten Baudenkmäler eines spezifisch norddeutschen Barock,
der sich Michelangelos St. Peter in Rom, dem Louvre in Paris würdig zu Seite
stellt« (­Richard Hamann), von einem Berliner Schloss als »Denkmal der Reakti-
on und des Feudalismus, als Beispiel des imperialistischen Untergangs« (Gerhard
Strauß), über den »Palazzo Prozzo« bis hin zu einem neu errichteten Humboldt
Forum in der Kubatur des Schlosses, das sich als »herrschaftsfreier Diskursraum
für eine multikulturelle Globalisierung« versteht. Das Schloss muss (ge-)fallen:
Noch bewegen wir uns zwischen diesen beiden Polen.
Schon heute, noch vor der Fertigstellung und Eröffnung, ist der Verwirkli-
chungsprozess des Humboldt Forums eine erstaunliche und aufschlussreiche
Geschichte. So blickt diese »ambitionierte Kulturbaustelle« auf eine mehr als
26-jährige Geschichte zurück. Was geschah? Zwar gründete sich der private För-
derverein Berliner Schloss e. V. bereits 1992 um den charismatischen Hamburger
Unternehmer Wilhelm von Boddien; aber der eigentliche Schlüsselmoment war
das Trompe-l’œil von 1993/94 – eine verblüffende Schlosssimulation, ein Raum-
gerüst in der Kubatur des Schlosses, behängt mit einer fotorealistisch gemalten,
maßstabsgetreuen Fassadenplane, die den Palast der Republik für ihre Zwecke
als Spiegel nutzte, um die ursprünglichen Dimensionen des Schlosses glaubhaft
zu simulieren. Plötzlich war es da. Spätestens zu diesem Zeitpunkt nahm die De-
batte um die Wiedererrichtung des Berliner Schlosses an Fahrt auf – und damit
zwangsläufig die um den Abriss des Palastes miteingeschlossen.
Am 31. Oktober 2000 setzten Bundesregierung und Berliner Senat die »In-
ternationale Expertenkommission Historische Mitte Berlin« ein, die zwei Jahre
später unter Vorsitz des früheren Wiener Wohnbaustadtrates Hannes Swoboda
ihren Abschlussbericht vorlegte. Die Mitglieder empfahlen aus städtebaulichen
Gründen eine Orientierung des Neubaus an der Kubatur und dem äußeren Er-
scheinungsbild des Schlosses. Mit knapper Mehrheit plädierten sie für die Wie-
dererrichtung der barocken Fassaden nach Norden, Westen und Süden sowie im
Schlüterhof. Zugleich entwickelte die Expertenkommission ein erstes Nutzungs-
konzept, orientiert am Wirken der Brüder Humboldt, an der großen Berliner Wis-
senschaftsgeschichte, aber auch an der »Faszination des kulturell Entfernten«.
Sie waren es, die den Namen »Humboldt Forum« prägten.
Am 4. Juli 2002 stimmte im Deutschen Bundestag eine große, fraktionsüber-
greifende Mehrheit von 384 Parlamentsmitgliedern (bei 586 abgegebenen gülti-
gen Stimmen) für die Alternative A, ein Museums-, Wissens- und Begegnungs-
zentrum in der Kubatur und barocken Fassadengestaltung des Berliner Stadt-
schlosses. Genau fünf Jahre später genehmigte das Bundeskabinett für den Bund
als Bauherrn das Konzept des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadt-
entwicklung. Im Ausschreibungstext des Architektenwettbewerbs, der Ende De-
zember 2007 veröffentlicht wurde, heißt es, sowohl eine städtebauliche Neuge-
staltung des Platzes sei gewünscht als auch ein Beitrag zum internationalen kul-
turellen Dialog von Kunst und Wissenschaft. Bau und Inhalt waren als die beiden

Wachgeküsst
Sphären definiert, zwischen denen das Projekt Humboldt Forum seither oszil-
liert. Das zeigt sich bis hin zu den ministeriellen Verantwortlichkeiten auf Bun-
desebene. Es war einerseits immer ein Leuchtturmprojekt des Bundesbauminis-
teriums und andererseits von Anfang zentral für das vor 20 Jahren gegründete
Amt der bzw. des Bundesbeauftragten für Kultur und Medien (BKM).
Unter dem Vorsitz von Vittorio Magnago Lampugnani (Mailand) entschied
sich die Jury knapp ein Jahr später einstimmig für den Entwurf des Architek-
ten Franco Stella (Vicenza), der neben den rekonstruierten Außenfassaden des
Gebäudes auch eine getreue Nachbildung des Schlüterhofes und einen Nach- 280
bau der Stüler-Kuppel mitsamt der Schlosskapelle vorsah. Die Ostfassade zur
Spree hin entwarf er als getrennten Block mit Loggien in strenger Rasterung in 281
der Tradition des italienischen Razionalismo, durch eine Fuge vom historisie-
renden Neubau getrennt, ohne formalen Bezug zum ehemaligen Renaissance-
flügel des Schlosses. In der Begründung der Entscheidung heißt es, Stella habe
»einerseits das Historische wieder entstehen lassen und andererseits eine mo-
derne Antwort« gefunden.
Parallel zur fortschreitenden Planung und Ausführung des Baus kam es zu
Modifikationen im Nutzungskonzept als Konsequenz einer veränderten Zusam-
mensetzung der kulturellen Partnerinstitutionen, die als Nutzer in das Humboldt
Forum einziehen sollten. Das Land Berlin brachte das Grundstück in das Projekt
ein und war dadurch von Anfang an als einer der Hauptnutzer gesetzt. Ein ers-
tes Standortkonzept von 2001 sah eine gemeinsame Nutzung der Staatlichen
Museen zu Berlin (SMB), der Humboldt-Universität zu Berlin (HU) und der Zen-
tral- und Landesbibliothek (ZLB) vor. Unter den Leitbegriffen »Forschung«, »Er-
fahrung« und »Betrachtung« wurde die gemeinsame kulturelle Nutzung festge-
schrieben. Die Archive der ZLB bildeten das Fundament, während die zusammen-
geführten Wissenschaftssammlungen der HU, von Ethnologica und Archaeo-
logica bis hin zu Bild- und Tonarchiven, als komplementäre Ergänzungen der
Museums- und Bibliothekssammlungen im Sinne eines Forums des Wissens ge-
dacht waren. Auf einer dritten Ebene erhob sich das »Pantheon der Weltkunst«
aus den außereuropäischen Sammlungsbeständen der SMB; eine dritte Raum-
ebene war Wechselausstellungen vorbehalten.
2015 war ein entscheidendes Jahr: Im Berliner Senat fiel die Entscheidung,
den Plan einer Nutzung der 4.000 m2 durch die ZLB aufzugeben und auf dieser
Fläche, in Ergänzung zu den anderen Nutzungen des Hauses durch HU und SMB,
eine Ausstellung zu präsentieren, die sich mit der Entwicklung Berlins zur Met-
ropole und seiner globalen Vernetzung befasst. Mit der Realisierung wurden die
Kulturprojekte Berlin GmbH beauftragt. Im Sommer 2016 präsentierten der neue
Direktor des Stadtmuseums, Paul Spies, und Moritz van Dülmen (Kulturprojek-
te Berlin) ein erstes gemeinsames Ausstellungskonzept.
Auch in diesem Zusammenhang wurde die Notwendigkeit offenkundig, die
Gesamtkonzeption übergreifend weiterzuentwickeln und zu präzisieren. Kurz vor
der Fertigstellung des Rohbaus berief Staatsministerin Monika Grütters, seit 2013

6. — Kulturförderpolitik
Bundesbeauftragte für Kultur und Medien, drei Gründungsintendanten. Ihnen
kam ab Januar 2016 die Aufgabe zu, »die Ausrichtung und das Zusammenspiel der
Sammlungen und Ideen, sowie strukturelle Aspekte« zu bündeln. Der britische
Kunsthistoriker und Museumsexperte Neil MacGregor wurde Leiter der Grün-
dungsintendanz, Unterstützung erhielt er vom Präsidenten der Stiftung Preu-
ßischer Kulturbesitz, dem Archäologen Hermann Parzinger sowie dem Kunst-
historiker Horst Bredekamp (HU).
Während in der ersten Realisierungsphase vorrangig der Bau und die Organi-
sation der komplexen Bauabläufe im Fokus standen, ging es nun darum, intensiv
und mit Hochdruck auch den kulturellen Betrieb vorzubereiten und dem Kultur-
projekt eine konzise innere Struktur zu geben. Die überraschende Amtsniederle-
gung des Vorstandes und Sprechers der Stiftung Berliner Schloss, Manfred Rettig,
zum 1. März 2016 war ein Signal für dieses sich verändernde Gefüge.
Ermöglicht durch Mittel des BKM konnte die Stiftung Humboldt Forum im
Berliner Schloss (SHF) die Tochtergesellschaft Humboldt Forum Kultur GmbH
(HFK) gründen, um die kulturelle und organisatorische Inbetriebnahme dieser
komplexen Kulturinstitution unter der Leitung der Gründungsintendanz vor-
zubereiten. In seiner täglichen Arbeit erprobt ein engagiertes Team seither die
inhaltliche Tragfähigkeit in der Kooperation mit den drei Akteuren (SMB, Stif-
tung Stadtmuseum/Kulturprojekte Berlin und HU) und das Zusammenwirken
der drei zukünftigen Säulen des Humboldt Forums – Ausstellungen, Veranstal-
tungen und Vermittlung.
Anhand dieser Maßnahmen wird deutlich, wie entscheidend das Unterneh-
men »Humboldt Forum« geprägt ist von einer Stimmenvielfalt, die die Entschei-
dungen mittragen: neben Intendanz und Vorständen der SHF und Geschäftsfüh-
rung der HFK sind es die drei Nutzerinstitutionen und Kooperationspartner, Mi-
nisterien, Politiker des Bundes und des Landes Berlin, die Generaldirektion der
SMB und die Verwaltung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, aber auch die
Wissenschaftler und Kuratorinnen in den Museen, das Kulturmanagement-Team
der Humboldt Forum Kultur GmbH, die 2015 berufenen Internationalen Exper-
ten, der Programmbeirat und nicht zuletzt die Medien sowie ein breites öffent-
liches Interesse.
Und zugleich wird klar, welch eine Vielfalt an Impulsen und Ideen das Hum-
boldt Forum in sich aufnehmen kann. So sind es nicht allein die komplexen The-
men und selbstkritischen Hinterfragungen der außereuropäischen Sammlungen,
die auf den Dauerausstellungsflächen im 2.und 3. OG gezeigt werden. Neben ak-
tuellen, gesellschaftsrelevanten, weltumspannenden (kultur-)anthropologischen
Themen und wissenschaftsgeschichtlichen Zugängen, ökologischen Aspekten,
die auch für die Sonder- und Wechselausstellungen relevant sein werden, ist es
Berlin als Katalysator, sind es die Impulse der Brüder Humboldt, die Auseinan-
dersetzungen mit zeitgenössischer Kunst und die Spuren der Geschichte des Or-
tes, die dem Humboldt Forum ein thematisches Gerüst geben. Im internationalen
Ideenaustausch lassen sich aktuelle Themen wie Migration, Religion und Glo-

Wachgeküsst
balisierung neu befragen. Dies sind die richtungsweisenden Aspekte für die zu-
künftigen Ausstellungs- und Programmformate des Humboldt Forums; hier ent-
scheidet es sich, wie die Inhalte zukünftig gemeinsam erarbeitet werden. Die in-
ternationalen Kooperationen, mit Kuratoren, Wissenschaftlern, Künstlern, Com-
munities und Menschen bzw. Institutionen aus den Herkunftsländern, machen
das Humboldt Forum zu einem Prisma, zu einem mehrstimmigen Klangkörper,
der sowohl dissonant wie konsonant gleichermaßen stimmig tönt.
Für die Realisierung des Vorschlags der Gründungsintendanz, die Daueraus-
stellungen des Hauses über den freien Eintritt kostenlos zugänglich zu machen, 282
sind seitens der politischen Entscheidungsträger, voran die BKM, die entschei-
denden Weichen gestellt. Dies ist für die bundesdeutsche Museumslandschaft 283
ein Paradigmenwechsel und zugleich einmalige Chance. So wird im Koalitions-
vertrag von 2018 vom »Modellversuch eines kostenfreien Eintritts zur Daueraus-
stellung im Humboldt Forum« gesprochen. Der kostenlose Eintritt und die Mög-
lichkeiten der Partizipation gewährleisten einen barrierefreien Zugang für alle.
Die Auswertung des Modellversuchs wird zeigen, welche Impulse vom Humboldt
Forum für die Kulturpolitik in der Bundesrepublik ausgehen können.
Mit der Übertragung des Stiftungsratsvorsitzes vom für den Bau zustän-
digen Bundesministerium an die BKM und dem Beschluss der zukünftigen Go-
vernance für das Humboldt Forum begann im Frühjahr die finale Phase der Vor-
bereitung auf die Eröffnung Ende 2019. Die Umsetzung der Empfehlungen und
Weiterführung der Ideen der drei Gründungsintendanten ist mit meiner Beru-
fung seit dem 1. Juni 2018 auf den Generalintendanten übertragen worden. Die
schwerpunktmäßige Ausrichtung auf den kulturellen Betrieb ist strukturell vor-
bereitet. Die SHF entwickelt sich immer mehr zu der Betreiberstiftung des Hum-
boldt Forums, deren DNA die Organisation eines Kulturbetriebs, eines Wissen-
schaftsbetriebs und dem nachhaltigen Betreiben eines hochmodernen Gebäude-
komplexes für die Öffentlichkeit enthält. Dies ist nicht nur eine massive Verän-
derung des Selbstverständnisses, sondern auch eine gewaltige Herausforderung
für die Organisation von Verwaltungsprozessen.
Neben der inhaltlichen Gesamtausrichtung des kulturellen Programms ste-
hen nun vor allem die Vorbereitungen für die komplexe Inbetriebnahme des Hau-
ses im Mittelpunkt – angefangen von der baulichen Fertigstellung, der Über-
wachung des Ausstellungsbaus für 20.000 einziehende Objekte, über die Inbe-
triebnahme der Technischen Gebäudeausrüstung, die Klärung struktureller Fra-
gen, wie die Durchsetzung einer Governance-Struktur oder das Anstoßen von
bereichsübergreifenden Prozessen. Die konzeptionelle Planung der Humboldt
Akademie als Zentrum für Bildung und Vermittlung, in Zusammenarbeit mit dem
Partner Humboldt-Universität, wird im Fokus stehen. Es wird eine wichtige Auf-
gabe sein, die Zusammenarbeit der Akteure zu intensivieren und dafür die ver-
traglichen wie ideellen Rahmenbedingungen zu schaffen – die Erfahrung einer
gleichberechtigten Kooperation unter einem Dach ist für alle Beteiligten voll-
kommen neu. Sie bedarf eines hohen Maßes an Übersetzungsleistung.

6. — Kulturförderpolitik
Das gilt auch für die besondere Rolle und Verantwortung, die das Humboldt Fo-
rum als Freistätte für Kunst und Wissenschaften in der politischen Debatte in
Deutschland, in Europa und in der Welt übernehmen kann und will. Der Um-
gang mit Ethnologischen Sammlungen im postkolonialen Kontext, die Bedeu-
tung von Kultur in der Außen- und Sicherheitspolitik, die Integrationsaufga-
ben in einer von Migration beeinflussten und veränderten Welt, das Verständnis
von Heimat und Weltoffenheit, die Gefährdung des ohnehin schon fragilen öko-
logischen oder sozialen Gleichgewichts – wenn man Alexander von Humboldts
Grundthese annimmt, dass im Weltenkosmos alles mit allem zusammenhängt,
dann wird das Humboldt Forum ein Ort sein müssen, sich diesen und vielen wei-
teren Themen zu widmen. Und es muss dabei ein Platz sein, der nicht nur für die
diversen Besucher und Besucherinnen in Berlin relevant ist, sondern für Men-
schen überall auf der Welt.
Wer also glaubt, dieser besondere Ort ließe sich mit Bauabschluss und Er-
öffnung Ende 2019 harmonisieren, wird auch in Zukunft eines Besseren belehrt.
Die Frage wäre jedoch: Ist das Sichtbarmachen und der Umgang mit verschie-
densten Disharmonien nicht sogar notwendig, ein Lernprozess, um mit diesem
Ort umzugehen? Sollte uns nicht an einer dissonanten Brechung gelegen sein,
um die wechselvolle Geschichte dieses Ortes neu zu kommentieren und zu er-
gänzen? Welche Aufgabe fällt dem Humboldt Forum zu?
So könnten die monumentalen metallenen Leuchtlettern »ZWEIFEL«, eine
Installation des norwegischen Künstlers Lars Ø. Ramberg, die Debatte um Kreuz
und Kuppel beleben, wenn sie in unmittelbarer Nähe des Humboldt Forums ih-
ren Platz fänden. 2005 standen sie auf dem Dach des Palastes der Republik, kurz
vor seinem Abriss. Damit sind sie nicht nur Teil der jüngeren Geschichte des Or-
tes. Der Zweifel ist ganz universell die Grundlage aller Forschung und allen Den-
kens. Die Multiperspektivität, die sich das Humboldt Forum zu eigen machen
möchte, das gleichberechtigte Nebeneinander vieler Geschichten, könnte so ih-
ren Ausdruck finden.
Um dieser Bestimmung gerecht zu werden, wird seine politische Unabhän-
gigkeit zur absolut notwendigen Grundvoraussetzung – ob als Haus der außer-
europäischen Kulturen, der multiperspektiven Blickwechsel, der Vielfalt und Va-
riabilität oder als Plattform gesellschaftlicher Debatten. Zwei wichtige Priori-
sierungen der Brüder Humboldt werden zu Leitbildern: die Unabhängigkeit des
Denkens und die gemeinschaftliche Teilhabe. Die Konzeption des Hauses als
geistige Freistätte ist wahrscheinlich die anspruchsvollste Aufgabe. Nur so kann
das Humboldt Forum dem Auftrag gerecht werden, wie er im Koalitionsvertrag
verankert ist, sich weit über seine Museums- und Ausstellungsarbeit hinaus zu
einer internationalen Dialogplattform für »globale kulturelle Ideen« zu entwi-
ckeln. Nicht alles muss verträglich, vereinbar und konsistent sein, aber alles darf
Prozess sein – das Haus lebt es erfolgreich vor.

Wachgeküsst
Günther Schauerte
& Frank Frischmuth
Wissen für alle – 284

Aktueller Stand und 285

Perspektiven der
Deutschen Digitalen
Bibliothek
Idee und Anstoß für eine Deutsche Digitale Bibliothek (DDB) gehen auf einen
gemeinsamen Brief von sechs europäischen Staats- und Regierungschefs an
den Präsidenten der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2005 zurück. Mit
diesem politischen Signal regten die Verfasser (darunter der damalige Bundes-
kanzler Gerhard Schröder) an, mit dem Aufbau eines öffentlich getragenen Kul-
tur- und Wissensportals, über das die gesamte Bandbreite und Qualität des eu-
ropäischen Kulturerbes im Internet unentgeltlich und frei von Einflussnahme
zugänglich gemacht werden kann, einen Gegenentwurf zu den vielfältigen pri-
vatwirtschaftlichen Aktivitäten in diesem Bereich zu schaffen. Dazu sollten auch
nationaler Ebene vergleichbare, öffentlich finanzierte Portale entstehen, um dem
europäischen Vorhaben, eine Europäische Digitale Bibliothek (Europeana) auf-
zubauen, zuzuarbeiten.
Als politischer Rahmen für eine Strategie wurden daraufhin in Deutschland
von Bund, Ländern und Kommunen 2009 »Gemeinsame Eckpunkte zur Errich-
tung einer Deutschen Digitalen Bibliothek (DDB) als Beitrag zur Europäischen
Digitalen Bibliothek« erarbeitet sowie in einem Verwaltungs- und Finanzabkom-
men der »Aufbau und Betrieb der Deutschen Digitalen Bibliothek (DDB) als deut-
scher Beitrag der europäischen Initiative zur Errichtung einer Europäischen Di-
gitalen Bibliothek«, der Europeana, verbindlich festgelegt. Die Idee der DDB ist,
den kulturellen und wissenschaftlichen Reichtum Deutschlands in seiner gan-

6. — Kulturförderpolitik
zen Vielfalt national und international zu präsentieren sowie einen wesentli-
chen Beitrag zur Förderung der Wissens- und Informationsgesellschaft zu leis-
ten. Konkret wendet sich die DDB sowohl an die allgemeine Öffentlichkeit als
auch an Wissenschaftler und Bildungsvermittler sowie an die Kultur- und Wis-
senseinrichtungen selbst.
Für die operative Umsetzung dieser Ziele wurde 2010 ein interdisziplinäres
Netzwerk aus renommierten Kultur- und Wissenseinrichtungen in Deutschland
eingesetzt. Das DDB Kompetenznetzwerk (KNW) ist Träger der DDB und hat den
Auftrag, den Aufbau und den Betrieb des zentralen nationalen Zugangsportals
zu organisieren und die Integration in die Europeana voranzutreiben. Zu diesem
Auftrag gehören auch die Entwicklung technischer Werkzeuge für die Digitali-
sierung und Datenhaltung sowie zum erforderlichen Wissensmanagement, die
Festlegung von Standards zur Sicherstellung der Kompatibilität und Interope-
rabilität, die Bereitstellung von allgemeinen Informationen sowie von Informa-
tionen zu Aus- und Fortbildungen sowie Fachveranstaltungen, die Beratung der
Kultur- und Wissenseinrichtungen, die Öffentlichkeitsarbeit für die DDB sowie
Kooperationen mit Entwicklern von technischen Werkzeugen für Zwecke des
Wissensmanagements. In diesem Prozess war der bzw. die Beauftragte der Bun-
desregierung für Kultur und Medien immer treibende Kraft und hat auch auf fi-
nanzieller Seite sichergestellt, dass die erforderliche Grundfinanzierung für den
Aufbau des Systems und der Kerninfrastrukturen vorhanden war.
Die DDB hat einen breiten kultur-, wissenschafts- und bildungspolitischen
Auftrag, der sich auf vielfältige Bereiche erstreckt:

—— S ie dient dem Ziel der gesellschaftlichen Teilhabe an Kultur und W ­ issen,


­indem sie zur Sichtbarkeit und Zugänglichmachung von Kultur- und
­Wissenserbe beiträgt, die Zugangshürden senkt und die Kontextualisierung
der Objekte befördert.
—— Die DDB bildet ein »Schaufenster« des deutschen Kultur- und Wissens-
erbes, das auch nach außen wirkt und Kultur und Wissen aus D ­ eutschland
­international vermittelt. Sie ist der deutsche Beitrag zur europäischen
­digitalen Bibliothek Europeana, zu dem sich Deutschland innerhalb der
­Europäischen Union verpflichtet hat.
—— Die elektronische Verfügbarkeit und Präsentation von Objekten aus dem
­Kultur- und Wissenserbe verbessert schließlich auch die Wahrnehmung und
Aufmerksamkeit für die konventionellen (analogen) Angebote der Einrich­
tungen und macht diese für neue Zielgruppen erfahrbar. Sie verbessert
die Möglichkeiten der Partizipation und ermöglicht ganz neue Formen der
Kultur- und Wissensvermittlung.

Darüber hinaus stellt die DDB eine Basis-Infrastruktur dar, auf deren Grundla-
ge mannigfaltige Anwendungen und Angebote aufsetzen können, die wieder-
um in spezielle Zielgruppen hineinwirken – etwa im Bereich einzelner Wissen-

Wachgeküsst
schaftsdisziplinen (vor allem der Geistes- und Kulturwissenschaften) aber auch
der schulischen und außerschulischen Bildung. Sie definiert damit auf der Agen-
da der BKM ein völlig neues Aufgabenfeld, das große Bedeutung in den Digital
Humanities einnimmt, denn es handelt sich nicht nur um eine neue Kulturtech-
nik, sondern sie treibt den digitalen Wandel der Gesellschaft mit voran, der eine
starke Reaktion der öffentlichen Seite gegenüber den privatwirtschaftlichen Ak-
tivitäten erfordert und bekommen hat.
Auch in kultur- und wissenschaftspolitischer Sicht ist der bisherige Ent-
wicklungsverlauf der DDB ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, was die Arbeits- 286
weise und die Strategieumsetzung eines föderal verfassten Projektes in Regie
der öffentlichen Verwaltung bzw. von Einrichtungen, die mit öffentlichen Gel- 287
dern getragen werden, zu leisten im Stande ist. Entsprechend sei an dieser Stel-
le Bund, Ländern, aber auch Kommunen für ihre nachhaltige Unterstützung ge-
dankt, insbesondere Bund und Ländern für die Finanzierung und die kooperati-
ve und konstruktive Zusammenarbeit mit dem Kompetenznetzwerk. Der Dank
gilt gleichermaßen der ideenreichen, zukunftsweisenden und nachgerade be-
geisternden Vorstands- und Gremienarbeit mit den Kolleginnen und Kollegen
des KNW und der Geschäftsstelle, der Projektkoordination der Service- und der
Fachstellen, schließlich den vielen datenliefernden Kooperationspartnern.

Aktueller Stand

Inzwischen hat die DDB ihre Aufbauphase erfolgreich durchlaufen. Das Projekt
erreichte mit dem Beta-Launch der Webseite 2012 und mit der Vorstellung der
ersten Vollversion 2014 wichtige Meilensteine. 2015 wurde – als Teilprojekt der
DDB – das Archivportal-D freigeschaltet und nach der zweiten Projektphase 2017
in den dauerhaften Betrieb überführt. Das Archivportal-D bietet einen sparten-
spezifischen Zugang zu den in der DDB vorhandenen Daten. Hier werden Infor-
mationen über Archiveinrichtungen aus ganz Deutschland und archivische Er-
schließungsleistungen sowie digitalisiertes und digitales Archivgut für die Nut-
zung bereitgestellt. Weitere solcher spartenspezifischer Tochterportale sind ge-
plant oder befinden sich bereits in der Projektierungsphase, etwa ein nationales
Zeitungsportal, ein Museumsportal-D oder ein Denkmalportal. Außerdem hat
sich die DDB 2017 an einem DFG-Antrag zum Aufbau einer Infrastruktur für ei-
nen sachthematischen Zugang am Beispiel des Themenkomplexes »Weimarer
Republik« beteiligt. Dieses Vorhaben setzt auf dem Archivportal-D auf und re-
alisiert für den genannten Themenkomplex eine neue Zugangsmöglichkeit, die
auch von anderen Kultursparten nachgenutzt werden kann.
Ebenfalls 2017 konnte das durch das Bundesministerium des Innern geför-
derte Sonderprojekt zur Modernisierung der gesamten IT-Infrastruktur abge-
schlossen werden, um die Zukunftsfähigkeit der DDB insgesamt zu verbessern.
Das Hauptziel des Projekts bestand darin, die Gesamtarchitektur der DDB so-
wie einzelne Komponenten unter Ausnutzung vorhandener neuer technologi-

6. — Kulturförderpolitik
sche Möglichkeiten weiterzuentwickeln, die Leistung des Gesamtsystems zu ver-
bessern und den Datendurchsatz (Transformation, Ingest, Indexierung) zu be-
schleunigen, um die stetig steigenden Objekt- und Vorgangszahlen abwickeln zu
können und in regelmäßigen Abständen auch komplette Neu-Importe und Ex-
porte der Daten zu ermöglichen. Darüber hinaus steht nun eine Administrati-
onsoberfläche zur Verfügung, mit der Datensätze vereinfacht geprüft, bearbeitet
und freigeschaltet werden können. Dadurch entfallen Doppelaufwände und zu-
sätzliche Kommunikationswege. Das neue System befindet sich seit dem Früh-
jahr im Einsatz.
Schließlich haben sich Bund und Länder im Frühjahr 2018 auf die Versteti-
gung und dauerhafte Finanzierung der DDB einschließlich einer signifikanten
Mittelerhöhung – verteilt über die nächsten Jahre – verständigt, sodass nun die
bereits seit 2015 bestehenden Planungen für den weiteren Ausbau der DDB zügig
umgesetzt werden können. Mit gegenwärtig über 4.300 registrierten Einrichtun-
gen, rund 24 Millionen nachgewiesenen Inhalten von etwa 400 Datenpartnern
aus allen Sparten, einer attraktiven Benutzeroberfläche und einer aktiven Liefer-
beziehung zur Europeana hat die DDB außerdem ihre wesentlichen Gründungs-
ziele umgesetzt. Bund, Länder und Kommunen wirkten dabei erfolgreich mit den
beteiligten Kultur- und Wissenseinrichtungen zusammen, um deren vielfältiges
digitales Angebot in einem integrierten Ansatz sicht- und nutzbar zu machen und
damit das deutsche Kulturerbe sowohl an interessierte Laien wie an Experten in
Deutschland und weltweit zu vermitteln. Die vielfältigen Vernetzungen und Ko-
operationen, welche die DDB in den letzten Jahren eingegangen ist, veranschau-
lichen, dass sich die DDB überdies zu einem in der Wissenschaft aber auch in
der Öffentlichkeit immer deutlicher wahrgenommenen Angebot entwickelt hat.
Die stetig wachsenden Zahlen digitalisierter Objekte und Objektnachwei-
se machen deutlich, dass die DDB, die in sie gesetzten Erwartungen, Antworten
auf Suchanfragen zeitnah, umfangreich, ohne komplizierte Suchvorgänge, me-
dien- sowie einrichtungsübergreifend erfüllen kann. Zusätzliche Dienste und
Einstiegsmöglichkeiten, die neben den bestehenden Recherchemöglichkeiten
entwickelt wurden – wie z. B. virtuelle Ausstellungen, Institutionen- und Perso-
nenseiten, Kalenderblatt, Favoritenlisten, Kulturlandkarte sowie die offene Pro-
grammierschnittstelle (API) – bieten vielfältige Möglichkeiten und machen die
Nutzung und das Arbeiten mit der DDB attraktiv und interessant.
Die DDB ist heute ein spartenübergreifendes und interdisziplinäres Zu-
gangsportal zu den digitalen Angeboten der deutschen Kultur- und Wissensein-
richtungen und macht Kultur und Wissen aus Deutschland national und global
zugänglich, sichtbar und erfahrbar. Gleichzeitig vernetzt und kontextualisiert sie
die Erschließungsinformationen und öffnet sie für vielfältige Möglichkeiten der
Nachnutzung, Anreicherung und Erweiterung.
Nicht ausschließlich auf das Zusammenführen von Daten und das Zugäng-
lichmachen von Inhalten fokussiert, fungiert die DDB dabei auch als Kollaborati-
ons- und Serviceplattform. Sie bildet die Infrastruktur für eine interaktive Parti-

Wachgeküsst
zipation auf den unterschiedlichsten Ebenen, vernetzt die Kultur- und Wissens-
einrichtungen miteinander und dient der gegenseitigen Unterstützung und dem
Austausch von Erfahrungen, Technologien und Diensten. Die DDB bringt innova-
tive Entwicklungen im Bereich der Digitalisierung und Zugänglichmachung vor-
an und trägt maßgeblich zur Standardisierung in diesem Feld bei.
Um die spartenübergreifende Sichtbarkeit digitaler Inhalte zu erhöhen und
einen komfortablen und unmittelbaren Zugangsweg für die interessierte Öf-
fentlichkeit und Wissenschaft zu den entsprechenden Beständen und Samm-
lungen zu weisen, folgt die DDB dem Ansatz, nicht nur digitale Objekte zu zei- 288
gen, sondern den Nutzern zusätzliche, darüber hinausweisende Informationen
zu präsentieren, die zu vorhandenem, aber (noch) nicht digitalisiertem Kultur- 289
gut führen. Die DDB kann so auch übergreifende Nachweise bieten und nutzt
die sich daraus ergebenden Potenziale einer umfassenden semantischen Ver-
netzung von Erschließungsinformationen. Sie bietet damit, etwa gegenüber der
Europeana, die ausschließlich auf bereits digitalisierte Objekte verweist, einen
echten Zusatznutzen, in dem Sie an zentralem Zugangsort bisher nur verteilt
erreichbare Informationen zusammenführt, miteinander verknüpft und recher-
chierbar macht.

Kommende Aufgaben und Vorhaben

Die bisher gewonnenen Erfahrungen zeigen, dass die DDB wichtige gesellschaft-
liche Bedarfe befriedigt, den mit ihr kooperierenden Einrichtungen eine verbes-
serte öffentliche Sichtbarkeit verschafft und guten Zuspruch bei ihren Nutzern
findet. Angesichts der inzwischen alle gesellschaftlichen Bereiche erfassenden
digitalen Transformation gilt es nunmehr, den Aufbau der DDB weiter voranzu-
treiben – insbesondere was die gezielte Erweiterung der Inhalte angeht. Je mehr
Objekte und Informationen in der DDB recherchiert werden können, desto at-
traktiver wird sie für ihre Nutzer und die an ihr beteiligten Kultur- und Wissens-
einrichtungen werden. Und desto deutlicher werden auch die enormen Potenzi-
ale der Zusammenführung und semantischen Vernetzung heterogener Daten aus
den unterschiedlichsten Kultur- und Wissenseinrichtungen sichtbar.
Derzeit ist mit den in der DDB nachgewiesenen Inhalten allerdings erst ein
bescheidener Teil des Kultur-Wissenserbes über die DDB auffindbar. Dies er-
gibt sich einerseits aus der noch relativ geringen Digitalisierungsquote der Kul-
tur- und Wissensschätze in Deutschland sowie aus den rechtlichen Hindernis-
sen, insbesondere den Regelungen des geltenden Urheberrechts. Aber auch die-
jenigen Sammlungen, die digital vorliegen und aus urheberrechtlicher Sicht frei
zugänglich gemacht werden könnten, sind bislang nur unvollständig Teil der
DDB – etwa weil sie noch gar nicht erfasst wurden, ihre Bearbeitung aus tech-
nischen oder rechtlichen Gründen bzw. aufgrund begrenzter Ressourcen nicht
möglich war oder sie nicht durch eine »klassische« Kultur- und Wissenseinrich-
tung bereitgestellt werden.

6. — Kulturförderpolitik
Geplante Digitalisierungsvorhaben bzw. laufende Digitalisierungsprojekte wer-
den in Deutschland gegenwärtig nicht an zentralem Ort erfasst, sodass eine Über-
sicht über vorhandene oder in naher Zukunft für eine Integration in die DDB be-
reitstehende Inhalte derzeit praktisch unmöglich ist. Die DDB kann hier zum ent-
scheidenden Treiber werden, erstmals digital vorliegende und kostenfrei zugäng-
liche Sammlungen und Objekte des Kultur- und Wissenserbes zu identifizieren
und entsprechende Digitalisierungsvorhaben systematisch zu erfassen, um sie
in weiteren Schritten schließlich in die DDB integrieren zu können. Erhebungen
dieser Art sind mit einem hohen Anfangsaufwand verbunden; dennoch wird sich
dieser Aufwand auszahlen: denn mithilfe dieser erfassten Daten kann ein geziel-
ter Bestandsaufbau vorgenommen, können Redundanzen und doppelte Arbeit
vermieden werden, eine zuverlässige Planung hinsichtlich der notwendigen Res-
sourcen durchgeführt und die Integration wichtiger Sammlungen beschleunigt
werden. Dabei muss die Auswahl und Priorisierung potenziell für die DDB rele-
vanter Sammlungen erfolgen, auf transparenten Kriterien basierend und unter
Berücksichtigung unterschiedlicher formaler sowie spartenspezifischer Kriterien.
Das Kultur- und Wissenserbe soll möglichst vollständig in der DDB nachge-
wiesen werden. Deshalb wird die Suche über die unmittelbar in der Deutschen
Digitalen Bibliothek vorhandenen Daten erweitert bzw. auf alternative Angebo-
te verwiesen und es werden zusätzlich andere Datenquellen (Such-Indizes und
externe Datenbanken) integriert. Dies und die immer weiter zunehmende An-
zahl an Datenlieferanten mit ihren individuellen Besonderheiten machen es zu-
gleich notwendig, die Datenlieferungen an die DDB zweckmäßiger und effizien-
ter zu gestalten. Vor diesem Hintergrund spielen die Datenaggregation, -anrei-
cherung und -lieferung eine zunehmend wichtigere Rolle in der Diskussion um
eine nachhaltige und leistungsfähige Infrastruktur.
In einem weiteren Schritt ist daher vorgesehen, mit dem Aufbau einer de-
zentralen Datenlieferinfrastruktur und einem Konzept zur Zusammenarbeit mit
Datenaggregatoren, die vorhandene Infrastruktur zu skalieren und bereits digi-
talisierte Bestände und Sammlungen schneller und effizienter als bisher in die
DDB einzubinden. Aggregatoren sind besonders geeignet, die Daten von kleine-
ren und mittleren Einrichtungen zusammenzuführen, zu analysieren, zu har-
monisieren, anzureichern und schließlich über definierte Schnittstellen an die
DDB zu liefern. So werden die Aufwände für Bearbeitungen der Datenlieferungen
und Ingest-Workflows durch die DDB reduziert und der Zuwachs an Daten be-
schleunigt. Mit einigen Partnern aus dem Kompetenznetzwerk hat die DDB be-
reits eine Zusammenarbeit aufgebaut, die einer Aggregatorenlösung entspricht.
Schließlich wird es für die DDB auch notwendig sein, Lizenzvereinbarun-
gen (etwa mit den Verwertungsgesellschaften) abzuschließen, um derzeit nicht
frei verfügbare Objekte bzw. Sammlungen – etwa der bildenden Kunst oder der
Fotografie – für Anwender der DDB ebenfalls zugänglich machen zu können. Für
die Nutzer der DDB ist es wesentlich, zu wissen, was Sie mit den gefundenen In-
halten tun dürfen und ob sie diese weiterverwenden können.

Wachgeküsst
Ziel der DDB ist es daher, alle auffindbaren Inhalte mit einem Hinweis zu den
weiteren Nutzungsmöglichkeiten zu versehen. Das Datenmodell sowohl der Eu-
ropeana als auch der DDB sehen vor, dass der Rechtsstatus der digitalen Inhal-
te und aller Metadaten durchweg gekennzeichnet ist. Alle in der DDB auffind-
baren digitalen Inhalte sollen möglichst in einer Version verfügbar sein, die für
den Nutzer kostenfrei zugänglich ist und einen Hinweis zu den Nutzungsmög-
lichkeiten enthalten wird oder mit einer Creative-Commons-Lizenz ausgezeich-
net ist, während die Nachweis- und Erschließungsinformationen grundsätzlich
kostenfrei und in der Regel unter urheberrechtsfreien Bedingungen bereitge- 290
stellt werden.
291
Ausblick

Digitalisierung wird in den Kultureinrichtungen, insbesondere den Museen, noch


immer häufig als Retrodigitalisierung von Sammlungen und Beständen betrach-
tet und verstanden und nicht als Transformationsprozess, der sämtliche Struktu-
ren und Gliederungen sowie alle Arbeitsprozesse in den Kultur- und Wissensein-
richtungen berührt. Dieser Prozess durchdringt alle Infrastrukturen und Kommu-
nikationsmittel und verändert diese vollständig; er betrifft nicht nur die Samm-
lungen selbst, sondern auch deren Erschließung, Aufbereitung, Präsentation,
Vermittlung und dauerhafte Zugänglichmachung. Die Verwaltung der Einrich-
tungen ist davon ebenso berührt wie der Fortbildungsbedarf von Mitarbeiterin-
nen und Mitarbeitern.
Insbesondere mittlere und kleinere Institutionen tun sich aufgrund ihrer be-
grenzten personellen Ressourcen und fehlender fachlicher Expertise oft schwer,
sich überhaupt mit dem Thema der Digitalisierung zu befassen. Werden Digi-
talisierungsprojekte dennoch gestartet, steht die Digitalisierung einzelner, her-
ausragender Bestände im Vordergrund; es dominieren kosten- und personalin-
tensive proprietäre Systemlösungen, die nicht auf bereits entwickelte Standards
und Schnittstellen oder Thesauri und kontrollierte Vokabulare zurückgreifen. Die
Nachhaltigkeit des Betriebs von Datenbanken und Webseiten sowie die dauerhaf-
te Verfügbarkeit der Daten kann häufig nicht gewährleistet werden, denn: ist das
Digitalisierungsprojekt beendet und die Projektgelder verbraucht, fehlen häufig
die finanziellen Mittel und das Fachpersonal, die Datenbanken und Softwarelö-
sungen zu betreiben und weiterzuentwickeln. Hinzu kommt, dass viele Einrich-
tungen die (urheber-)rechtlichen Auswirkungen der Digitalisierung nicht ein-
schätzen können, weil ihnen dazu ebenfalls das entsprechende Personal fehlt.
Es besteht die dringende Notwendigkeit, jetzt die erforderlichen Rahmen-
bedingungen zu schaffen, um die Kultureinrichtungen an den digitalen Trans-
formationsprozess heranzuführen und sie in die Lage zu versetzen, sich den da-
raus resultierenden Herausforderungen zu stellen. Wenn wir sichergehen wollen,
dass unser kulturelles Erbe, unsere Traditionen und unser Wissen auch in Zu-
kunft für alle Menschen zugänglich bleibt, besteht dringender Handlungs­bedarf,

6. — Kulturförderpolitik
die Einrichtungen bei dem Prozess des digitalen Wandels zu unterstützen, sie
zu beraten und ihnen die Möglichkeit zu eröffnen, im Rahmen von Hilfestellun-
gen wie Beratungs- und Schulungsangeboten an dieser Entwicklung teilzuha-
ben. Auf sich allein gestellt, durch einzelne Fördermaßnahmen sowie punktuelle
Leuchtturmprojekte, kann es den Einrichtungen nicht gelingen, den Wandel er-
folgreich zu gestalten. Es gilt, auf allen Ebenen Maßnahmen zu entwickeln und
anzuwenden, die den Einrichtungen einen zusätzlichen und nachhaltigen Nut-
zen bieten und die den Digitalisierungsprozess optimieren und beschleunigen.
Wesentliche Hebel eines solchen Vorgehens sollten die Bündelung und Ko-
ordinierung bereits zur Verfügung stehender Expertise, die Schaffung von Kom-
petenz- bzw. Digitalisierungszentren auf Länderebene sowie die Kommunikati-
on und übergreifende Vernetzung der Gedächtnisorganisationen untereinander
sein. Vorhandenes Wissen muss stärker als bisher zusammengeführt, bereitge-
stellt und genutzt werden. Die bisherige Förderpraxis berücksichtigt dies in al-
ler Regel nicht, denn die dabei gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnisse ste-
hen nicht für die Nachnutzung zur Verfügung oder gehen sogar häufig verloren.
Nur wenn das bereits vorhandene Wissen für Kultureinrichtungen auch erreich-
bar und nachnutzbar ist, lassen sich künftig Mehrfachentwicklungen und prop-
rietäre Systemlösungen, die nicht interoperabel sind, vermeiden.
Hierzu sollten alle maßgeblichen fachlichen und politischen Player gehört
und beteiligt werden. Gleichzeitig steht außer Frage, dass nicht alle hierfür in
Betracht kommenden Akteure unmittelbar an dem Prozess teilnehmen können,
daher müssen Koordinierungsinstanzen gebildet und Verfahrensweisen gefun-
den werden, die jeweiligen Ausrichtungen und Interessen der einzelnen Han-
delnden angemessen zu repräsentieren, um konkrete Maßnahmen zielgenau auf
den Weg zu bringen. Die DDB als Netzwerk und Infrastruktur könnte bei der digi-
talen Transformation im Bereich der Kultur- und Wissenseinrichtungen mit ih-
ren etablierten Strukturen und dem vorhandenen Know-how eine zentrale Rol-
le einnehmen.

Wachgeküsst
Charlotte Sieben
Kultur 3.0 –
die Kulturveran­- 292

stal­tungen des ­ 293

Bundes in Berlin
Geboren aus föderalen Querelen, struktureller Unterfinanzierung und bundespo-
litischem Repräsentationswillen, als Zusammenschluss von Kulturinstitutionen,
denen allein ihr temporäres Wirken in Festivals, Konferenzen und Ausstellungen,
quasi das Vergängliche ihres Programms gemeinsam ist. Das klingt nach finanz-
politischer Notlösung und inhaltlich nach »ein Kessel Buntes«. Doch die Kultur-
veranstaltungen des Bundes in Berlin (KBB) GmbH mit ihren drei Geschäftsbe-
reichen Berliner Festspiele, Internationale Filmfestspiele Berlin und Haus der
Kulturen der Welt entwickelt sich seit 16 Jahren zum zukunftsfähigen Vorzeige-
modell hauptstädtischer Kulturproduktion.
Der Erfolg spiegelt sich in den Zahlen. Seit der Gründung in 2002 haben sich
die Einnahmen – wie die Besucherzahlen der Geschäftsbereiche enorm gestei-
gert: Fast eine Millionen Besucher sahen 2017 über 3.000 Veranstaltungen, die
Veranstaltungserlöse lagen bei 15,3 Millionen Euro. Der Gesamtumsatz der KBB
hat sich im gleichen Zeitraum von 35 auf 67 Millionen Euro gesteigert.1
Dabei kann man sich die Ausgangssituation gar nicht unattraktiv genug vor-
stellen. Die Wiedervereinigung hatte Berlin zwar einen neuen Reichtum an Kul-
turinstitutionen geschenkt, auch neue Aufmerksamkeit, ein vergrößertes Pub-
likum, neue Aufgaben als Bundeshauptstadt. Allein: Zunächst gab es erst ein-
mal jede Menge Streit. Zu wenig Geld. Zu unattraktive Programme. Kompetenz-
gerangel zwischen Bund, Berlin und den übrigen Bundesländern. Gegenseitige
Vorwürfe wie »Nehmermentalität« und »Zentralismus« stehen im Raum. ­Michael
Naumann, neu berufener Beauftragter für Kultur und Medien im Kanzleramt, wie
auch die Berliner Kulturpolitiker sparen nicht an scharfen Worten. Und mitten-
drin: Berlins Kulturinstitutionen, die von lokalen Häusern plötzlich auf die grö-

1 Zahlen ⟶ https://bit.ly/2DoNsiA

6. — Kulturförderpolitik
ßere Bühne hauptstädtischer Kultur gehoben worden waren, ohne dafür finanzi-
ell ausreichend ausgestattet zu sein. Drei Opernhäuser, deren Programme in di-
versen Reform-Plänen zur Disposition standen. Neun Sinfonieorchester, die sich
der Frage »Braucht man die alle?« stellen mussten. Theater vor allem im Westen
der Stadt, denen das Publikum angesichts der schauspielerisch starken Traditi-
onsbühnen im Ostteil wegblieb, und die eins nach dem anderen aufgeben muss-
ten (Schließung des Schiller-Theaters 1993, Verkauf der Freien Volksbühne 1999).
Berlin und seine Kultur waren zehn Jahre nach der Wiedervereinigung zum Dau-
er-Streitobjekt zwischen Bund und Ländern geworden.
Besonders hart traf das Institutionen, die auf West-Berliner Seite als reprä-
sentative Schaufenster mit Blick nach Osten gegründet worden waren und nun
plötzlich vor neuen Existenz- und Sinnfragen standen: Die Berliner Festspiele als
Nachkriegs-Gründung von 1951, die mit den Berliner Festwochen Musik, Kunst
und Theater von internationalem Rang in die Mauer-Stadt holen sollten und mit
den Internationalen Filmfestspielen Berlin den Glamour Hollywoods und des
europäischen Kinos importierten. Der Martin-Gropius-Bau, 1981 nach ruinösem
Leerstand quasi im Rohbauzustand wiedereröffnet, ein Ausstellungshaus ohne
eigene Sammlung und festen Träger, in dem sich zuletzt die Berliner Festspiele
mit der Mega-Show »Sieben Hügel« finanziell überhoben hatten. Und das Haus
der Kulturen der Welt, das als Nachfolger der Horizonte-Festivals seit 1989 den
Anschluss an internationale Kulturdiskurse suchte.
Diese Institutionen sind es, auf die der Bund 2001 zugreift – um das finan-
ziell überforderte Land Berlin zu entlasten, aber auch, um mit dem Argument
»hauptstadtbedingter« Repräsentanz eine Bundeskultur frei von föderalen Mit-
sprachediskussionen zu etablieren.1 Eine Alleinfinanzierung zur Vermeidung
der konfliktträchtigen Bund-Berlin-Mischfinanzierung wird im Hauptstadtkul-
turvertrag festgeschrieben, 2007 im Hauptstadtfinanzierungsvertrag fortgesetzt
und 2017 bei der Novellierung bestätigt, das Land Berlin löst eine Rücknahmeop-
tion aus dem Hauptstadtkulturvertrag bis 2004 nicht ein. Inzwischen sind dama-
lige No-Gos wie eine Kofinanzierung bei Staatsoper oder Berliner Philharmoni-
kern zwar längst nicht mehr unmöglich. Die Einsicht von 2001, dass die interna-
tional ausstrahlenden, auf gesamtstaatliche Repräsentation angelegten Akteu-
re Berliner Festspiele, Berlinale und Haus der Kulturen der Welt keine Berliner
Angelegenheit, sondern globale Player sind, steht unwidersprochen.
Die Neuausrichtung erfolgt ab 2002 in raschen Schritten: Die Berliner Fest-
spiele bekommen ein Haus, die von Fritz Bornemann 1963 erbaute Freie Volks-
bühne, und einen neuen Intendanten, Joachim Sartorius, der aus dem Goe-
the-Institut nach Berlin wechselt und internationale Vernetzung mitbringt. Der
Martin-Gropius-Bau, dem mit Gereon Sievernich ein langjähriger Kurator der
Festspiele als Direktor vorsteht, wird unter das Dach der Berliner Festspiele auf-

1 
Vgl. Leber, F.: Kulturpolitik aus dem Kanzleramt: Die Kulturpolitik der Regierung Schröder 1998–2002,
Tectum Wissenschaftsverlag 2011, S. 117 ff.

Wachgeküsst
genommen und soll sein Programm in Zusammenarbeit mit den Staatlichen Mu-
seen zu Berlin und der Bundeskunsthalle in Bonn gestalten. Auch das Haus der
Kulturen der Welt, seit 1989 in der 1957 von Hugh Stubbins errichteten ehema-
ligen Kongresshalle Berlins (»Schwangere Auster«) im Tiergarten angesiedelt,
erhält mit Hans-Georg Knopp einen Goethe-geprägten Intendanten. Die Inter-
nationalen Filmfestspiele Berlin waren schon im Jahr 2000 aus ihren Quartie-
ren rund um den Bahnhof Zoo an den neu bebauten Potsdamer Platz gezogen.
2002 fusionieren Berliner Festspiele, Haus der Kulturen der Welt und Berlinale,
die bis dahin Teil der Berliner Festspiele war und unter Dieter Kosslick zum ei- 294
genständigen Bereich aufgewertet wird, unter dem Dach der neu gegründeten
KBB. Mit dem Quartier in der Schöneberger Straße ist die Struktur 2003 etab- 295
liert und arbeitsfähig.
Die Entscheidung, die Abteilungen Kaufmännische Geschäftsführung, Fi-
nanzen, Personal, Organisation, IT und Technik in einer zentralen Verwaltung
zusammenzufassen und die künstlerischen Entscheidungen frei in den jeweili-
gen, hier unabhängigen Geschäftsbereichen und bei ihren Intendanten zu belas-
sen, schafft ein Novum im Bereich der Kulturproduktion: eine schlank und kos-
tengünstig agierende Verwaltungsstruktur, die künstlerisches Handeln in großen
Dimensionen und hoher Flexibilität ermöglicht. Sie sendet gleichzeitig Signa-
le in Bereiche wie Klimaschutz, Nachhaltigkeit, kulturelle Bildung und Diver-
sität. So nimmt die KBB 2011 am Projekt »Nachhaltigkeit in der Bundesverwal-
tung – Durchführung eines Konvoiverfahrens zur Einführung des europäischen
Umweltmanagementsystems EMAS« teil und ist seitdem EMAS-zertifiziert. 2015
erarbeitet sie unter tätiger Mithilfe der Mitarbeiter ein Leitbild sowie Führungs-
und Kommunikationsgrundsätze, die auf Diversität, Transparenz und Diskrimi-
nierungsfreiheit setzen.
Die Bündelung im Bereich Verwaltung und Technik bewährt sich auch, was
die Sanierung der Häuser angeht. Denn zunächst gilt es ab 2002, die Spielstätten
zu sichern und zu ertüchtigen. Weder die ehemalige Kongresshalle noch die Freie
Volksbühne sind auf einen Festivalbetrieb nach internationalen Standards ausge-
richtet. Auch die Kinos am Potsdamer Platz einschließlich des als Berlinale-Palast
genutzten Musical-Theaters sind gerade erst spielbereit. Der Martin-Gropius-Bau
wurde zwar 1981 grundsaniert, hat aber, was seine Nutzung als modernes Ausstel-
lungshaus angeht, deutlich Reformbedarf. So werden 2010 Mittel des Konjunktur-
pakets II sowie des 120-Millionen-Programms zur Energieeinsparung des Bun-
des genutzt, um die Gebäude technisch und energetisch umfangreich zu sanieren.
Das Haus der Berliner Festspiele erhält eine multifunktionale Bühnentech-
nik, die es zum modernsten Theater Deutschlands macht. 2014 kann der Bund
das bis dahin angemietete Gebäude erwerben, ab 2019 folgen Sanierungen des
Dachbereichs und des Bürotrakts. Der Martin-Gropius-Bau erhält als deutsch-
landweit erstes Museum eine Fotovoltaik-Anlage auf dem Dach, saniert seine
Fassade und baut das 2. Obergeschoss klimatechnisch aus. 2018 folgen weitere
Sanierungen in Sachen Brandschutz und Beleuchtung. Auch das Haus der Kul-

6. — Kulturförderpolitik
turen der Welt wird 2006/2007 renoviert und erneuert Lüftung und Kühltech-
nik, Beleuchtung und Fensterisolierung, 2016 wird die Bespielbarkeit des Hau-
ses weiter verbessert und in die Bereiche Akustik und Ausstellungstechnik inves-
tiert, ein Neubau für die Büros ist in Planung. Und die Berlinale träumt von einem
Filmhaus neben dem Martin-Gropius-Bau an der Stresemannstraße.
Alles prima verwaltet also? Entscheidend für den Erfolg des Konstrukts KBB
sind die inhaltlichen Impulse, die im Zusammenspiel der Geschäftsbereiche in
Richtung Innovation und Entwicklung der Künste gesendet werden. Gerade die
Vielfalt der Programme und Häuser, ihr Oszillieren zwischen Bühnenkunst und
Bildender Kunst, Diskurs, Wissenschaft und Wirtschaft ermöglicht Programme,
die in vergleichbarer Tiefe und Reichweite an keiner Einzelinstitution zu stem-
men wären. Aus der regelmäßigen Abstimmung und Diskussion zwischen den
drei Intendanten entsteht ein übergreifender Dialog, der politische Impulse der
künstlerischen Arbeit in die Öffentlichkeit trägt und damit auch einem Bundes-
auftrag gerecht wird, ohne die künstlerische Freiheit zu verlieren.
So setzen die Berliner Festspiele, die erfolgreich Festivals wie das Theater-
treffen, das Musikfest Berlin, die MaerzMusik und das Jazzfest Berlin veranstal-
ten, unter der Intendanz von Thomas Oberender seit 2012 verstärkt auf Wech-
selwirkungen zwischen den Künsten und schlagen Gewinn daraus, dass sie über
ein Theaterhaus (Haus der Berliner Festspiele) und ein Ausstellungshaus (Mar-
tin-Gropius-Bau) verfügen. Der Slogan »Eine Institution – zwei Häuser« meint
mehr als nur eine topografische Besonderheit. Künstler wie William Kentridge,
Susanne Kennedy, Philippe Parreno oder Ed Atkins nutzen die Möglichkeiten
beider Häuser, um in ihren Programmen Grenzgänge zwischen den Künsten zu
versuchen. Großprojekte wie »Immersion« (2016–2018) setzen auf neue techni-
sche Möglichkeiten wie Virtual reality, um die Frage nach dem Verhältnis zwi-
schen Betrachter und Performance neu zu stellen.
Die Berlinale wird unter Dieter Kosslick konsequent um weitere Sparten er-
gänzt (2002: Perspektive Deutsches Kino, 2003: Berlinale Talent Campus, 2004:
World Cinema Fund, Berlinale Special, 2006: Forum Expanded, 2007: Kulinari-
sches Kino, 2010: Berlinale Goes Kiez). Der European Film Market hat im Mar-
tin-Gropius-Bau eine Heimat gefunden und etabliert sich auch als Branchen-
treffpunkt der internationalen Filmindustrie und Schaufenster für junge Regis-
seure und unbekannte Filmländer. Und mit der frühzeitigen Einladung von Seri-
enproduktionen zum Festival und der Öffnung der Filmkunst zu den bildenden
Künsten stellen Kosslick und sein Team die Frage nach der Zukunft des Kinos
immer wieder neu.
Das Haus der Kulturen der Welt ist mit Bernd Scherer zum Labor für zeitge-
nössische Debatten geworden. Manche sprechen gar von einer Institution des
»wilden Denkens«. Die Themen und Wahrnehmungen des HKW reichen dabei
weit über die Stadt hinaus. Künstlerische und theoretische Fragestellungen ver-
binden lokale mit planetarischen Perspektiven. Mit Programmen wie Ȇber Le-
benskunst« (2009–2012), »Das Anthropozän-Projekt« (2013–2014) und zuletzt

Wachgeküsst
»100 Jahre Gegenwart« (2015–2018) arbeitet das HKW in Zeiten kurzer Aufmerk-
samkeitsspannen nachhaltig an komplexen Themen und ist damit maßstabset-
zend im internationalen Diskurs – dies schon zu Zeiten, als die Öffentlichkeit den
Begriff Anthropozän gerade erst buchstabieren lernte. Damit spricht es ein inter-
nationales, junges, politisch engagiertes Publikum an – die Akteure von morgen.
So vereint die KBB drei Institutionen, die jenseits klassischer Ensemble-,
Festival- oder Sammlungsstrukturen internationale Kooperationen und Produk-
tionen mit mutigen, eigenständigen Künstlern, Wissenschaftlern und Kulturma-
chern ermöglichen und neue Veranstaltungsformate und Fragestellungen aus- 296
probieren. Produzieren heißt im 21. Jahrhundert auch, anders mit dem Rezipi-
enten als Ko-Produzenten zu interagieren und auf gesellschaftliche Verände- 297
rungen mit veränderten Produktionsformen zu antworten. Für diese Offenheit
ist die flexible, dynamische, lernfähige Organisationsstruktur der KBB und ihrer
Geschäftsbereiche ein Zukunftsmodell.

6. — Kulturförderpolitik
Sigrid Bias-Engels
Jubiläen –
Wegmarken der
Geschichte
Das Wort »Jubiläum« weckt bei den meisten Menschen zu Recht freudige Erwar-
tungen. Spürt man der Herkunft des Wortes nach, so stößt man auf die lateini-
schen und hebräischen Ursprünge, die bis heute das Wort Jubiläum als »Jubel über
die Wiederkehr eines frohen Ereignisses« definieren. Und der »frohen Ereignis-
se« gibt es viele, die Zahl kulturhistorischer und historischer Jubiläen ist Legion.
Beschränken wir uns auf ganz wenige Beispiele in den letzten und den kommen-
den Jahren ohne jedweden Anspruch auf Vollständigkeit und Gewichtung: 25 Jah-
re Fall der Mauer (2014), 500-jähriges Jubiläum der Reformation (2017), 100 Jah-
re Ende des Ersten Weltkrieges (2018), 100 Jahre Bauhaus (2019), 250. Geburtstag
von Ludwig van Beethoven (2020).
Jedes dieser Jubiläen ist eine markante Wegmarke der Geschichte, sie eröff-
nen Interpretationsmöglichkeiten der Geschichte vor und nach dem zu feiern-
den Ereignis, vor allem aber sind sie Anlass, im Lichte der Vergangenheit zu über-
legen, was die historischen Ereignisse uns heute noch bedeuten und ob sie uns
Inspiration sein können, Lehre oder Mahnung. Damit sind sie selbstverständlich
auch von hohem kulturpolitischem Interesse, denn das Wissen über die eigene
Geschichte gehört zu den Grundlagen jeder demokratischen Gesellschaft. Auf
welcher kulturpolitischen Ebene sich dieses Interesse dann konkretisiert, hängt
von der Strahlkraft des Jubiläums ab. Jetzt, anlässlich des 20. Geburtstages der
Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und in der Interimszeit
zwischen Reformationsjubiläum 2017 und Bauhaus-Jubiläum 2019, lohnt sich ein
Blick darauf, welche Bedeutung Jubiläen heute noch haben, welche Rolle dabei
dem Bund, in diesem Fall vor allem der Kulturbeauftragten, zukommt und was
aus Bundessicht absehbar dazu beitragen könnte, Jubiläen so zu gestalten, dass
sie in Politik und Gesellschaft nachhaltige Resonanz finden.
Bei der Vielzahl der Jubiläen muss es Kriterien geben, welches man auf die
eine oder andere Weise begehen möchte. Auf Bundesebene muss bei einem Ju-
biläum in jedem Fall ein »gesamtstaatliches Interesse« vorliegen. Das bedeu-
tet: Ein historisches Ereignis und seine Folgewirkungen haben, ausgehend von

Wachgeküsst
Deutschland, exemplarisch große nationale und internationale Strahlkraft ent-
wickelt. Das Jubiläum gibt Veranlassung, sich als Kulturnation von Rang im In-
und Ausland zu präsentieren. Dies ist, wie z. B. im Falle von Reformations- und
Bauhaus-Jubiläum, bei Jubiläen von Weltgeltung anzunehmen. Es gibt ferner Ju-
biläen hervorragender Künstlerinnen und Künstler, die für ganz Deutschland und
darüber hinaus von großer Bedeutung sind, wie zum Beispiel Richard Wagner
(2013) oder Ludwig von Beethoven (2020), aber auch Jubiläen deutschlandweit
bekannter Künstlerinnen und Künstler (z. B. Fontane 2019), bei deren Jubiläen
der Bund einzelne (Bundes-)Länder und Kultureinrichtungen unterstützt. Und 298
schließlich wären große historische Daten zu nennen, die zwar als »Jubiläen« be-
zeichnet werden, aber alles andere als »frohe Ereignisse« sind: Sie sind Meilen- 299
steine der Erinnerungskultur in Deutschland, die der Aufarbeitung des National-
sozialismus und der SED-Diktatur dienen. Bei diesem zentralen Feld staatlicher
Kulturpolitik, für das dem Bund aus gesamtstaatlicher Zuständigkeit eine ganz
besondere Verantwortung obliegt, lohnt sich bei der Wortwahl eine große Sensi-
bilität und Überprüfung, was man jeweils tatsächlich freudig zu feiern oder ernst
zu gedenken beabsichtigt. Zusammengefasst mögen die Kriterien angreifbar sein,
sie haben sich aber in der kulturpolitischen Praxis grundsätzlich bewährt.
Im Fall der Jubiläen zeigt sich der kooperative Kulturföderalismus von sei-
ner besten Seite. Im föderalen Gefüge der Bundesrepublik Deutschland wird das
Bundesengagement von den Ländern bei hervorragenden Jubiläen erwartet, ge-
fordert und begrüßt, da besonders in diesen Fällen die Gestaltungskraft von ei-
nem oder mehreren Ländern nicht ausreicht. Nur zwei Beispiele: Beim Refor-
mationsjubiläum 2017 bildeten die Länder Sachsen-Anhalt, Thüringen und der
Freistaat Sachsen die Kernländer der Reformation. Die Bedeutung der Reforma-
tion greift aber weit über diese auf andere Länder der Bundesrepublik hinaus, sie
strahlt auf Europa und sogar andere Erdteile aus. Das Gleiche gilt für das Bau-
haus-Jubiläum: Das eigentliche Bauhaus bestand zwar nur zwischen 1919 und
1933 in Weimar, Dessau und Berlin, doch nachdem die Bauhäusler von den Nati-
onalsozialisten vertrieben wurden, verbreiteten sich ihre Ideen von Europa über
die USA bis nach Australien. Ohne Hilfe und Gestaltungswillen des Bundes konn-
te und kann es nicht gelingen, an die historischen Auswirkungen auch im inter-
nationalen Kontext zu erinnern. Nur in der engen Zusammenarbeit zwischen
Bund und Ländern bei klarer Definition der Aufgaben- und Zuständigkeitsbe-
reiche kann die Gestaltung eines Jubiläums zu einem gemeinsamen Erfolg wer-
den. Diese Gemeinsamkeit von Bund und Ländern hat sich auf diesem, wie auf
vielen anderen Feldern, bewährt.
Das Engagement des Bundes gestaltet sich bei Jubiläen je nach deren kul-
turpolitischer Bedeutung sehr unterschiedlich. Während man sich bei bestimm-
ten Jubiläen mit einer Gedenkveranstaltung begnügt oder aus ohnehin vorhan-
denen Förderprogrammen nur einzelne Projekte unterstützt, werden besonders
bei Jubiläen von Weltgeltung in der Regel große eigene Förderprogramme auf-
gelegt und Kulturprojekte unterschiedlicher Sparten gefördert, die ein Bundes-

6. — Kulturförderpolitik
interesse rechtfertigen. Das kann auch, wie das Beispiel Bauhaus-Jubiläum zeigt,
der Kulturstiftung des Bundes übertragen werden. Wo es sich anbietet, werden
historische Bauten saniert bzw. auch Neubauten geschaffen, um den Einrichtun-
gen anlässlich des Jubiläums und des zu erwartenden Besucherstroms aus dem
In- und Ausland optimale Bedingungen zu eröffnen oder neue Erfahrungsräu-
me zu schaffen. Als Beispiel seien hier die drei Museumsneubauten in Weimar,
Dessau und Berlin genannt, die Kulturstaatsministerin Monika Grütters aus ih-
rem Kulturetat mit rund 52 Millionen Euro finanziert. Die Kofinanzierung erfolgt
über die betroffenen Länder. Bei herausragenden Jubiläen arbeiten verschiede-
ne Bundesressorts, in jüngster Zeit wiederholt koordiniert durch die Beauftrag-
te der Bundesregierung für Kultur und Medien, arbeitsteilig eng zusammen. Zu
nennen sind neben der Kulturbeauftragten vor allem das Bundesministerium
des Innern, für Bau und Heimat mit der ihm nachgeordneten Bundeszentrale für
politische Bildung, das Bundesministerium für Bildung und Forschung und be-
sonders das Auswärtige Amt. Ein Programm der Bundesregierung zu einem her-
ausragenden Jubiläum setzt sich in der Regel aus den spezifischen Beiträgen der
einzelnen Ressorts zusammen.
Selbstverständlich bittet die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur
und Medien aber auch die von ihr (mit-)finanzierten Kultureinrichtungen, sich
an den Feierlichkeiten zu einem Jubiläum zu beteiligen und es im Rahmen der ei-
genen Planungen zu berücksichtigen, sofern das Jubiläum zu dem Profil der Ein-
richtung passt. Bei manchen Einrichtungen liegt die Beteiligung auf der Hand,
wie zum Beispiel beim Bauhaus-Jubiläum im Falle der Stiftung Bauhaus Dessau.
Bei anderen vermögen Förderprogramme vielleicht Anreize zu bieten, um her-
vorragende Projekte zu entwickeln, die ohne die (zusätzliche) Bundesunterstüt-
zung nicht hätten realisiert werden können, im Jubiläumsjahr aber absehbar für
öffentliche Resonanz sorgen dürften. In die Rechte und Autonomie der Kultur-
einrichtungen wird jedoch nicht eingegriffen, die Einrichtungen müssen selbst
entscheiden, ob sie bereit und in der Lage sind, einen Beitrag zu einem Jubilä-
um beizusteuern. Und es erscheint so selbstverständlich, dass es eigentlich kei-
ner Erwähnung bedarf: Bei den Ergebnissen liegt die Meinungs- und Deutungs-
hoheit keinesfalls beim Staat, auch dies gehört allein in die Verantwortung der
Einrichtungen.
Ein Patentrezept, wie man aus Bundessicht Jubiläen zum Erfolg führen kann,
gibt es nicht. Aber vielleicht können folgende Erfahrungswerte weiterhelfen, um
Jubiläen kulturpolitisch so zu gestalten, dass sie nicht wie Feuerwerke verglühen,
sondern nachhaltig in Erinnerung bleiben:

1. Eine gute Zusammenarbeit von Bund und Ländern im Sinne des kooperativen
Kulturföderalismus trägt zum Gelingen wichtiger Jubiläen entscheidend bei. Es
ist politisch richtig und sinnvoll, solche Jubiläen gemeinsam für die Sanierung
von Infrastruktur zu nutzen, neue investive Maßnahmen und Kulturprojekte auf
den Weg zu bringen.

Wachgeküsst
2. Beide Seiten sind gut beraten, weitere Partner wie die Wissenschaft und die Zi-
vilgesellschaft zur Mitarbeit einzuladen, ihre Anregungen und eigenen Schwer-
punkte aufzugreifen. So haben zum Beispiel der Wissenschaftliche Beirat, der das
Kuratorium beriet, die Deutsche Stiftung Denkmalschutz, die Ostdeutsche Spar-
kassenstiftung und der Deutsche Kulturrat wesentliche Beiträge zum Reforma-
tionsjubiläum 2017 geleistet und damit zum Erfolg beigetragen.
3. Jubiläen sind kulturpolitische Leuchttürme, die viel über das Selbstverständnis
eines Landes und seine Werte aussagen. Sie sind jedoch auch Bildungsangebote.
Viele Menschen werden erst durch sie veranlasst, sich mit einem historischen 300
Ereignis oder bedeutenden Persönlichkeiten der Kultur- und Zeitgeschichte zu
befassen. Vielfach setzen erst abwechslungsreich und vielfältig konzipierte Fest- 301
programme die Anreize, dabei zu sein und sich an einem großen Ereignis zu be-
teiligen. Die Inhalte lassen sich über die unterschiedlichsten Formate der Hoch-
und Breitenkultur vermitteln, in jedem Fall gehören niedrigschwellige Angebo-
te dazu. Ein Jubiläum, das die Menschen erreichen will, soll in der Regel vielen
Vieles bieten. Ausstellungen haben sich als besonders probates Mittel erwiesen,
über historische Sachverhalte zu informieren, verbunden mit einem attraktiven
Begleitprogramm und kulturellen Bildungsangeboten.
4. Jubiläen lassen sich besonders gut über Personen vermitteln, das haben wir bei
Martin Luther und dem Reformationsjubiläum erlebt, doch darf es bei der per-
sonalisierten Geschichtserzählung nicht sein Bewenden haben. Der Blick muss
auf die historischen Umstände und die Folgewirkungen in der Geschichte ge-
lenkt werden. Wo es um zentrale Persönlichkeiten geht, müssen ihre Verdienste
selbstverständlich in angemessener Breite ausgeführt werden. Ein Jubiläum darf
jedoch nicht dazu führen, dass sie unkritisch als Helden und Übermenschen ge-
feiert werden. Zur Ehrlichkeit gehört es auch, Helden vom Sockel zu holen, sich
den Folgen ihres Wirkens und offensiv auch den dunklen Seiten der Geschich-
te zu stellen.
5. Ein Jubiläum von internationaler Strahlkraft bietet die einmalige Chance, auch
auf internationaler Ebene das Einigende über das Trennende zu stellen. Es ist
ein willkommener Anlass, die Welt in unser Land einzuladen, sich als Kulturna-
tion zu präsentieren und ein positives Deutschlandbild im In- und Ausland zu
vermitteln. Gleichzeitig sollte es außenpolitisch begleitet und gefördert werden,
um sich gemeinsamer Wurzeln, gemeinsamer kulturpolitischer Interessen zu
vergewissern und damit die Beziehungen zu intensivieren.

Im Rückblick wurden manche der in der Vergangenheit liegenden Jubiläen der


letzten 20 Jahre zu großen Erfolgen, teilweise gab es aber auch Kritik: Vereinzelte
Stimmen unterstellten gar eine geschichtspolitische Instrumentalisierung. Die
Wissenschaft vermisste wissenschaftlichen Tiefgang und beklagte korrespon-
dierend zu große Oberflächlichkeit, andere kritische Geister verteufelten eine
allzu große Kommerzialisierung, manchem wurde schlicht der »Jubiläumstru-
bel« zu viel.

6. — Kulturförderpolitik
Nicht alles ist berechtigt: Der Vorwurf geschichtspolitischer Instrumentalisie-
rung verkennt, dass staatliches Handeln ohne Rückbesinnung auf die Vergangen-
heit nicht denkbar ist. Die Kulturnation Deutschland kann und darf kulturpoli-
tische Schwerpunkte setzen, die Entscheidung für ein Jubiläum ist nicht nur im
Einzelfall historisch wohlbegründet, sie wird auch jeweils auf einer breiten Basis
gefällt: So wurden bzw. werden Reformations-, Bauhaus- und Beethoven-Jubilä-
um nicht nur von der Bundesregierung, sondern auch von Bundestag und Bun-
desländern mitgetragen. Kulturpolitische Ziele und Absichten für ein Jubiläum
werden zwar definiert, es wird aber kein festgefügtes Geschichts- und Wertebild
verordnet, sondern vielmehr Chancen der kontroversen Interpretation und Dis-
kussion eröffnet. Dabei ist der Staat nur ein Akteur unter anderen wie es sich für
eine pluralistische Demokratie auch gehört. Die Politik ist grundsätzlich immer
gut beraten, sich der Unterstützung der Wissenschaft zu vergewissern. Wenn
allerdings der Anspruch hoher wissenschaftlicher Akkuratesse auf den politi-
schen Willen stößt, geeignete Formate für eine breite Öffentlichkeit zu schaffen,
so lässt sich dieser Anspruch tatsächlich nicht immer ganz einlösen. Hier gilt es
dann, Kompromisse zu finden. Die Kommerzialisierung eines Jubiläums ist in-
sofern zulässig, als man sich in der betreffenden Region wirtschaftliche, in der
Regel touristische Effekte erhofft und zu Reisen nach Deutschland einlädt. Das
sollte statthaft sein, ohne dabei den Vorrang des kulturpolitischen Interesses zu
ignorieren. Für Luther-Socken und Luther-Tomaten, so anlässlich des Reforma-
tionsjubiläums, ist dem Staat allerdings keine Verantwortung aufzubürden, sie
mögen als unvermeidliche Begleiterscheinungen mit Nachsicht gewertet wer-
den. Und wer den Jubiläumstrubel beklagt, möge sich andererseits mit Respekt
vor Augen führen, welch großer kultureller Reichtum unseres Landes und viel-
fältiges Engagement von Trägern damit verbunden, dass die Wahl schließlich
sogar zur Qual wird.
Ja, die Zahl der kulturhistorischen und historischen Jubiläen ist Legion, aber
gleichzeitig eröffnen sie großartige Möglichkeiten, mehr über Kunst und Kultur,
mehr über die Geschichte unseres Landes und seiner Menschen zu erfahren. Sie
sind und bleiben daher unverzichtbarer Bestandteil der Bundeskulturpolitik, der
auch in Zukunft bei den Menschen zu Recht freudige Erwartungen wecken möge.

Wachgeküsst
Stefan Rhein
So viel
Reformation 302

war nie! 303

Im September 2008 erschien in »Politik & Kultur« der erste Beitrag zum Thema
Reformationsjubiläum 2017, der Beginn einer mehrjährigen Reihe von Kolum-
nen. Politiker, Wissenschaftler, Akteure aus Kirche, Kultur und Zivilgesellschaft
kommentierten Themen der Reformation und begleiteten kritisch die Planun-
gen. »Politik & Kultur« avancierte so zu einer wichtigen Plattform der Ausein-
andersetzung mit der Reformation, aber auch mit den Jubiläumsaktivitäten. Die
Kolumnen sind in zwei Sammelbänden des Deutschen Kulturrats nachzulesen,
der außerdem zwei einschlägige Dossiers mit den Titeln »Martin Luther Super-
star« und »Die fantastischen Vier: Calvin, Melanchthon, Müntzer und Zwingli«
herausgebracht hat.
Dieses Engagement erscheint ungewöhnlich – bei einem Ereignis, das auf
den ersten Blick vor allem kirchlich formatiert ist. Doch auch das Reformations-
jubiläum 2017 nimmt in der bundesrepublikanischen Festkultur einen außerge-
wöhnlichen Platz ein. Das hat insbesondere mit der ihm vorgeschalteten Lut-
herdekade zu tun, die ab 2008 mit unterschiedlichen Themenjahren das Jubi-
läumsjahr vorbereitete und die »Reformation« fast ein Jahrzehnt in der öffent-
lichen Aufmerksamkeit hielt. Die Wahrnehmung war dabei allerdings ziemlich
unterschiedlich, denn Themenjahre wie »Reformation und Musik« oder »Refor-
mation und Kunst«, die sich an herausragende Jubiläen wie 2012 »700 Jahre Tho-
maner Leipzig« oder 2015 »500. Geburtstag Lucas Cranachs des Jüngeren« an-
knüpften, konnten weitaus mehr Resonanz verzeichnen als Jahre wie »Reforma-
tion und Toleranz« (2013) oder »Reformation und die eine Welt« (2016), die ihr
interessiertes Publikum in Workshops, Seminaren, Vorträgen etc. fanden. Man-
chem kam die Lutherdekade »aufgebläht« vor, so kürzlich Gustav Seibt in der
Mitteldeutschen Zeitung, doch hängt die Einschätzung – eine triviale Einsicht –
vom Berufs- und Lebenskontext des Urteilenden ab. Aus der Perspektive der ost-
deutschen Bundesländer war die Lutherdekade ein einmaliges Förderprogramm
auf vielfältigen Gebieten. Profitiert haben vor allem die Reformationsstätten, die
in ihre betriebliche und touristische Infrastruktur investieren und bauliche De-

6. — Kulturförderpolitik
fizite nachhaltig beheben konnten, sodass die museale und kirchliche Reforma-
tionslandschaft Mitteldeutschlands, von der Wartburg bis zu Schloss Harten-
fels in Torgau, von Luthers Elternhaus in Mansfeld bis zur Schlosskirche Wit-
tenberg, nunmehr einen Standard hat, der den Anspruch u. a. als UNESCO-Welt-
kulturerbe einlöst.
Der Deutsche Kulturrat, insbesondere sein Geschäftsführer, nahm seine Rol-
le, für die Zivilgesellschaft zu sprechen, auch bei der Begleitung des Reformati-
onsjubiläums sehr ernst und diagnostizierte folgerichtig ein Defizit in der zivil-
gesellschaftlichen Partizipation. Der Berliner Blick kann allerdings zu Verzerrun-
gen in der Wahrnehmung führen, denn tatsächlich entwickelten sich die Ange-
bote zum Reformationsjubiläum als Graswurzelbewegung, sodass die Vielzahl
der Aktivitäten in den Städten und Gemeinden (säkular und kirchlich) unüber-
sehbar wurde. Daran kranken übrigens auch die Bilanzen, die in Text und Bild in
erstaunlicher Dichte seit Ende des Reformationsjubiläums erscheinen. Sie kon-
zentrieren sich auf die großen Gottesdienste und Festakte, sodass sich das Ur-
teil einer Staat-Kirche-Mesalliance aufdrängt. Doch die Wirklichkeit vor Ort sah
anders aus. In vielen Sonderausstellungen wurde gerade die lokale und regio-
nale Geschichte der Frühen Neuzeit und der Reformation erforscht, erschlossen
und präsentiert. Niemand hat bislang die Fülle der Ausstellungen zusammen-
gefasst, denn es gab eben nicht nur die Nationalen Sonderausstellungen in Ber-
lin, Wittenberg und auf der Wartburg (»Der Luther-Effekt. 500 Jahre Protestan-
tismus in der Welt«, »Luther! 95 Schätze – 95 Menschen«, »Luther und die Deut-
schen«), sondern auch viele kleine Ausstellungen wie erstmals zu dem evange-
lischen Kirchenlieddichter und Reformator Kaspar Löner in seiner Geburtsstadt,
dem fränkischen Markt Erlbach, oder – auch dies eine Premiere – eine reforma-
tionsgeschichtliche Ausstellung in der Benediktinerabtei Maria Laach. Mit sol-
chen Ausstellungen war meist ein Begleitprogramm mit Vorträgen, Führungen,
museumspädagogischen Angeboten etc. verknüpft, sodass im Format der Aus-
stellung das Reformationsjubiläum zu einem breit rezipierten Ereignis der Ge-
schichtskultur avancierte.
Es wurde auch eifrig gesungen. Dass im Gottesdienst alle singen dürfen,
ist eine Errungenschaft der Reformation. Ja, die Lizenz zum Singen markiert
den Übergang zum neuen Glauben, wie eine Anekdote aus Lemgo illustriert:
Der katholische Bürgermeister schickte Ratsdiener in die Kirchen, um evan-
gelische Christen aufzuspüren. Die Diener meldeten: »Herr Bürgermeister, sie
singen alle!« Darauf er: »Ei, es ist alles verloren!« Die Reformation ist eine Sin-
gebewegung und damit eine wichtige Etappe zur Teilhabe aller an der musika-
lischen Kultur – was die reiche Musiklandschaft des Reformationsjubiläums
vom Pop-Oratorium über Chorauftritte bis zum Konzert mit Lutherliedern ein-
drücklich dokumentierte. Kurzum: Der Vorwurf eines Jubiläums ohne zivilge-
sellschaftliche Beteiligung geht ins Leere und kann nur ohne Kenntnisnahme
der vielen Kulturveranstaltungen von Freiburg bis Stralsund aufrechterhalten
werden.

Wachgeküsst
Vielleicht gründete sich der Eindruck vom Ausschluss der Zivilgesellschaft durch
die vermeintliche Phalanx aus Staat und Kirche, deren Vertreter sich bereits vor
Beginn der Lutherdekade in paritätisch besetzten Gremien trafen und im Lauf der
Jahre eine komplexe Gremienarchitektur aus Kuratorium, Lenkungsausschuss,
Arbeitsgruppen, Geschäftsstellen und Beiräten entwickelten. Das erinnerte an
die traditionelle Eintracht von deutschem Protestantismus und staatlicher Ob-
rigkeit und provozierte nicht nur radikale Laizisten, sondern auch katholische
Bischöfe zur Kritik. Die Zeit des landesherrlichen Kirchenregiments ist allerdings
seit genau 100 Jahren vorbei (beendet 1918), sodass das Verhältnis von Staat und 304
Kirche 2017 keine verordnete Einheit, sondern erstmals bei einem Reformations-
jubiläum eine freiwillige, inhaltlich zu begründende Partnerschaft wurde. Die Be- 305
gründung für die Zusammenarbeit wurde staatlicherseits durch eine Vorlage der
CDU/CSU und SPD im Bundestag (beschlossen am 25. März 2009) gegeben, de-
ren Titel programmatisch ist: »Reformationsjubiläum 2017 als welthistorisches
Ereignis würdigen«. Während dieser Antrag bei Stimmenthaltung der Linken
und von Bündnis 90/Die Grünen von CDU/CSU, SPD und FDP beschlossen wur-
de, erhielt der nächste einschlägige Antrag »Das Reformationsjubiläum im Jahre
2017 – Ein Ereignis von Weltrang« am 6. Juli 2011 die Stimmen aller Fraktionen,
sogar der Linken, die bei der Antragstellung als einzige Fraktion ausgeschlos-
sen war. Angeführt wurde der Beitrag der Reformation zur kulturellen Entwick-
lung Deutschlands in Musik, Kunst und Literatur, insbesondere die Bibelüber-
setzung als wichtige Etappe bei der Entwicklung und Verbreitung der deutschen
Sprache, aber auch die europäischen Wirkungen. Effekte einer finanziellen För-
derung erhoffte man sich für den denkmalpflegerischen Erhalt der Reformati-
onsstätten, für ein attraktives Kulturprogramm und daraus folgend vor allem für
das internationale Tourismusgeschäft, aber auch für den interreligiösen Dialog.
Das Reformationsjubiläum machte das besondere Verhältnis von Staat und Kir-
che in Deutschland eindrücklich sichtbar. Das oft dezidiert protestantische Füh-
rungspersonal der Bundesrepublik (Joachim Gauck, Angela Merkel, Frank-Walter
Steinmeier, Bodo Ramelow, Katrin Göring-Eckardt etc.) zeigte sich Seit an Seit
mit den Würdenträgern der Evangelischen Kirche, eine Kirchenaffinität der Eli-
ten, die den gesellschaftlichen Durchschnitt – zumindest in den ostdeutschen
Kernlanden der Reformation – nicht mehr abbildet. Dieses Miteinander, das als
eine »neue Nähe« empfunden wird, hat in der Kirche (wieder einmal) Diskussio-
nen über die Selbst-Politisierung angefacht, die etwa im aktuellen Heft der evan-
gelischen Zeitschrift »zeitzeichen« mit Bildern von den Feierlichkeiten am Re-
formationstag 2017 in Wittenberg illustriert werden (Ausgabe 9/2018).
Die Kooperation zwischen Staat und Kirche war hinter der Bühne der ge-
meinsamen Auftritte bei Festakten indessen nicht durchweg von Harmonie be-
stimmt, sondern zahlreichen Spannungen ausgesetzt. Dazu gehörte z. B. die
Dachmarkenkampagne mit ihrem Label »Luther 2017 – 500 Jahre Reformation«
und einem leicht verfremdeten Lutherporträt Cranachs. Sie wurde gemeinsam
beschlossen und erhielt bundesweit (und darüber hinaus) eine starke Präsenz in

6. — Kulturförderpolitik
der Öffentlichkeit, doch wurde sie von dem Durchführungsverein der EKD ver-
lassen, um eine eigene Kampagne zu starten: »Reformation heißt, die Welt zu
hinterfragen«, dekoriert mit einer eher kindlich anmutenden Bildersprache (tan-
zende Bibel, jonglierende Seehunde etc.). Staatliche und zivilgesellschaftliche
Akteure und Veranstalter hielten an der Person Luthers fest, von deren Faszina-
tionspotenzial sie sich eine größere Resonanz ihrer Angebote versprachen, wäh-
rend die Kirche in ihrer protestantischen Skepsis gegen Personalisierung auf die
Attraktivität der gesellschaftspolitischen Diskurse, die durch die Reformation in-
itiiert wurden, setzte. In all ihren Ambivalenzen (antijüdische Hasspolemik!) ge-
nerierte die Persönlichkeit Luthers eine große Aufmerksamkeit, die zum Einstieg
für viele Formate erinnerungskultureller Auseinandersetzung mit den Themen
der Reformation genutzt werden konnte.
Gab es kulturpolitische Aufreger? Heftig debattiert wurde 2010 die Kunst-
aktion von Ottmar Hörl, als rund 800 kleine Kunststoff-Luthers in Blau, Grün,
Gelb und Rot den Wittenberger Marktplatz bevölkerten und dadurch die »Ver-
zwergung des Reformators« (Friedrich Schorlemmer) drohte – und im übrigen
Wittenberg einen heiteren Sommer bescherten. Zur Bundestagswahl 2017 nutz-
te die NPD den Luther-Hype für eine Plakatkampagne mit dem Porträt Luthers
samt Slogan: »Ich würde NPD wählen. Ich könnte nicht anders.« Denn der Kampf
gegen Rom sei heute der Kampf gegen die »Brüsseler EU-Diktatur«. Unverständ-
nis mit der Zurückhaltung vieler Kirchenhistoriker gegenüber den Aktivitäten
rund um das Reformationsjubiläum artikulierte der Cheftheologe der EKD, Thies
Gundlach, als er von einer »grummeligen Meckerstimmung« sprach, das Fach-
vertreter wiederum mit Vorwürfen der Banalisierung und einer theologischen
Entkernung der Reformation durch die EKD (Thomas Kaufmann, Martin Laube)
beantworteten. Das Auseinanderdriften von Fachwissenschaft und public his-
tory entlang der Dichotomie von Historisierung und Aktualisierung zeigte sich
nicht nur in dieser Debatte, sondern auch in der Auseinandersetzung um das Pla-
katmotiv der drei nationalen Sonderausstellungen. Der stilisierte Hammer auf
buntem Hintergrund, der Werbeclaim »Die volle Wucht der Reformation« und
die Website »3xhammer.de« wurden heftig kritisiert und konnten auch dadurch
ihr Marketingpotenzial voll entfalten. Die Differenz von Geschichtsforschung
und Gedächtnisgeschichte machte Aleida Assmann in ihrem Beitrag »Was ist so
schlimm an einem Hammer?« sichtbar und plädierte für das Ausstellen, Kom-
mentieren und Diskutieren solcher wirkmächtiger Bilder.
Ist jetzt also das Thema »Reformation« ad acta gelegt, zumindest für die
nächsten 100 Jahre? Mit 1517 beginnt die Zeit der Reformation, die mit Luthers
Auftritt vor dem Wormser Reichstag (»Hier stehe ich, ich kann nicht anders«),
der Bibelübersetzung und dem Bauernkrieg ihre nächsten Meilensteine erlebt.
»Worms« dient oft als Metapher für die Zivilcourage des Einzelnen vor den Mäch-
tigen, die Bibelübersetzung als Urdokument der deutschen Sprache. Beide laden
gemeinsam ein, das Thema Sprache und dabei insbesondere die Mündigkeit des
eigenen Sprechens in den Blick zu nehmen – mit »Feuereifer« und »Herzens-

Wachgeküsst
lust«, um nur zwei Wortprägungen Luthers hier anzuführen (2021/22). Der Bau-
ernkrieg setzt ein weiteres reformationsgeschichtliches Jubiläum (2024/25). Er
verdient – jenseits der geschichtspolitischen Heroisierung und Instrumentalisie-
rung in der DDR, die die Forderung Müntzers »Die Gewalt soll gegeben werden
dem gemeinen Volk« mit sich verwirklicht sah, und andererseits der Dämonisie-
rung und Damnatio memoriae des »Satans von Allstedt« in der Bundesrepublik –
eine post-staatsideologische Auseinandersetzung, um nicht zuletzt die Forde-
rung Gustav Heinemanns, den deutschen Bauernkrieg als eine der Freiheitsbe-
wegungen, »die unsere heutige Demokratie vorbereitet haben, aus der Verdrän- 306
gung hervorzuholen und mit unserer Gegenwart zu verknüpfen«, endlich – nach
fast 50 Jahren! – einzulösen. 307

6. — Kulturförderpolitik
Martin Maria Krüger
Musikfonds zur
­Förderung zeit­ge­
nössischer Musik
2003, im Jahr seines 50-jährigen Jubiläums, erfuhr der Deutsche Musikrat (DMR)
eine grundlegende Erneuerung. Seine federführende Partnerin seitens der Bun-
desregierung war die fünf Jahre zuvor als Institution aus der Taufe gehobene Be-
auftragte des Bundes für Kultur und Medien in Person von Staatsministerin Prof.
Dr. Christina Weiss. Sie begleitete und förderte die Verlagerung des Generalse-
kretariats dieses weltweit größten und umfassendsten zivilgesellschaftlichen
Netzwerks der Musik auf nationaler Ebene von Bonn nach Berlin, unter gleich-
zeitiger Beibehaltung des Standortes der Tochtergesellschaft für die Förderpro-
jekte im Bonner Haus der Kultur. Und sie war eine aufgeschlossene Ansprech-
partnerin im Rahmen der rasch fortschreitenden Implementierung des damals
noch gelegentlich bestaunten Begriffs »Musikpolitik« als gleichermaßen eigen-
ständiger wie wesentlicher Bereich von Kultur- und Gesellschaftspolitik.
Deutschland wird wesentlich geprägt durch eine Kultur des Dialogs zwi-
schen Politik und Zivilgesellschaft, die im internationalen Vergleich ihresglei-
chen sucht. Diese äußert sich in der Förderung auch und gerade von Verbänden,
die durchaus kritische Begleiter des politischen Geschehens sind. Mit seiner mu-
sikpolitischen Arbeit hat der Deutsche Musikrat seit der Eröffnung seines Gene-
ralsekretariats in Berlin wesentliche Impulse im musikpolitischen Diskurs ge-
setzt bzw. mit befördert. Dazu gehören u. a. die nachhaltige Unterstützung der
UNESCO-Konvention zum Erhalt und zur Förderung der Vielfalt kultureller Aus-
drucksformen als Berufungsgrundlage für bessere Rahmenbedingungen des Mu-
siklebens auf allen föderalen Ebenen, eine nachhaltige musikalische Bildung und
ein lebendiges Amateurmusizieren. Diese Dialogkultur manifestiert sich darü-
ber hinaus in konkreten Projekten, die aus staatlichen Mitteln nachhaltig geför-
dert werden und auf ehrenamtlich begründeten, mit professioneller Infrastruktur
ausgestatteten Organisationsformen, bevorzugt dem eingetragenen Verein, be-
ruhen. Der Deutsche Musikrat ist hierfür geradezu prototypisch: Seine Projekte
erhalten mit Ausnahme der durch das Bundesministerium für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend geförderten Projekte für den jugendlichen Nachwuchs – das

Wachgeküsst
prominenteste unter ihnen ist Jugend musiziert – sowie der länderfinanzierten
Bundesauswahl Konzerte junger Künstler samt und sonders ihre Grundfinanzie-
rung durch die BKM. Inhaltlich entwickelt und begleitet werden sie durch eh-
renamtlich tätige Gremien. Grundlegende Entscheidungen treffen das Präsidi-
um des DMR und die BKM in direkter Abstimmung wie auch im Aufsichtsrat als
Entscheidungs- und Diskussionsplattform zwischen DMR, öffentlichen und pri-
vatrechtlichen Geldgebern.
Die Bandbreite der Projekte ist bemerkenswert: Das Deutsche Musikinfor-
mationszentrum – MIZ – ist die zentrale Anlaufstelle für gleichermaßen wis- 308
senschaftlich gestützte wie täglich aktualisierte Informationen über das Musik-
leben unseres Landes und dessen Dokumentation. Die Unterstützung der BKM 309
ermöglichte die Einrichtung der neuen Portale »Musik und Integration« sowie
»Kirchenmusik – Musik in Religionen«.
Nationaler Spitzenwettbewerb für klassische Interpreten ist der Deutsche
Musikwettbewerb im Zusammenwirken mit der bereits erwähnten Bundesaus-
wahl Konzerte junger Künstler, die mit der Vermittlung von jährlich über 200
Konzerten seit 60 Jahren nachhaltig den Karriere-Einstieg unterstützt. Zwei Coa-
ching-Projekte ganz unterschiedlicher Art vervollständigen das Kaleidoskop der
Spitzennachwuchsförderung: Ein außergewöhnliches, höchst erfolgreiches För-
derinstrument für den Nachwuchs an hochbegabten Dirigentinnen und Dirigen-
ten – in diesem traditionell männerdominierten »Gehege« müssen beide Ge-
schlechter explizit genannt werden angesichts der aktuell bemerkenswerten Er-
folge junger Künstlerinnen – stellt das Dirigentenforum dar. Es setzt eine in der
früheren DDR begonnene Tradition hoch erfolgreich fort, diese für die erfolgrei-
che Arbeit der Orchester und Chöre unserer einmaligen Klangkörperlandschaft
so bedeutsame Spezies künstlerischer Führungspersönlichkeiten regelmäßig mit
ihrem »Instrument« zusammenzuführen. Das Pendant für den Bereich des Pop/
Rock bildet Popcamp, ein umfassendes Coaching für hochkarätige Nachwuchs-
bands. Zeitgenössische Komponisten werden präsentiert in eindrucksvoll edier-
ten, aufwändig produzierten CDs der Edition Zeitgenössische Musik. Aus der re-
gelmäßigen Zusammenarbeit mit dem Warschauer Herbst ist der jährlich neu aus
internationalen jungen Musikern gebildete European Workshop for Contempo-
rary Music entstanden. Das in seiner Vielfalt einmalige Amateur- bzw. Laienmu-
sizieren in Deutschland kulminiert in den im zweijährigen Wechsel ausgetra-
genen Begegnungen im Deutschen Chorwettbewerb bzw. Orchesterwettbewerb.
Es ist notwendig, sich dieses Kaleidoskop von Projekten ins Bewusstsein zu
rufen, da in einer Zeit der Neigung zu Events die zuverlässige Förderung von auf
Nachhaltigkeit angelegten Projekten eine politische Leistung darstellt, für wel-
che der Beauftragten für Kultur und Medien hoher Dank gebührt. Prof. Bernd
Neumann wurde für seine Verdienste als Staatsminister um das Musikleben un-
seres Landes die Ehrenmitgliedschaft des Deutschen Musikrates verliehen – wie
auch dem unermüdlichen Mahner zur Bedeutung musikalischer Bildung, Bun-
destagspräsident a. D. Prof. Dr. Norbert Lammert.

6. — Kulturförderpolitik
Staatsministerin Prof. Monika Grütters hat mit der Errichtung des Musikfonds
e. V. ein fulminantes Zeichen zur Förderung der zeitgenössischen Musik aller
Sparten gesetzt. Vor nahezu einem Jahrzehnt hatte der Deutsche Musikrat, in
der Folge unterstützt von weiteren Verbänden der Musikszene, seine Initiative
für die Ergänzung der damals noch unter dem Dach der Kulturstiftung des Bun-
des bestehenden Palette von Kulturfonds des Bundes um einen Musikfonds ge-
startet. Erste Schritte waren die wohlwollende Entgegennahme eines Konzepts
durch Bernd Neumann auf Vermittlung der heutigen Bundestagsabgeordneten
Elisabeth Motschmann, die grundsätzliche Aufnahme in den Koalitionsvertrag
2013 und die parteiübergreifende Unterstützung durch die Abgeordneten Sieg-
mund Ehrmann, Yvonne Magwas, Rüdiger Kruse und Johannes Kahrs gewesen.
Entscheidend war, dass Staatsministerin Grütters im September 2016 die Ini-
tiative ergriff und sieben Verbände und Institutionen – Deutscher Musikrat, Deut-
sche Gesellschaft für elektroakustische Musik, Deutscher Komponistenverband,
Deutscher Tonkünstlerverband, Gesellschaft für Neue Musik, Initiative Musik und
Union deutscher Jazzmusiker – einlud, einen Musikfonds e. V. zu gründen. Ange-
sichts des enormen Erwartungsdrucks der musikalischen Szene wurde, noch vor
der Eintragung des Vereins, innerhalb weniger Wochen ein Kuratorium als Jury
bestellt und bereits zur Jahreswende 2017 eine erste Förderrunde ausgeschrieben.
Der Gründungsvorstand und das Generalsekretariat des Deutschen Musikrates
errichteten eine provisorische Struktur, um die 400 eingehenden Anträge zu be-
arbeiten. Anderthalb Jahre später kann festgestellt werden: Der Musikfonds hat
sich als außerordentliches Erfolgsmodell und ideale Antwort auf einen drängen-
den Bedarf erwiesen. Über 1.200 Anträge mit einem Volumen von 22 Millionen
Euro wurden eingereicht. 280 Anträge konnten mit einer Gesamtsumme von 2,8
Millionen Euro gefördert werden.
Einziger Kritikpunkt seitens der Geförderten war, dass von Beginn an häufig
nur ein Bruchteil des beantragten Betrages zur Verfügung gestellt werden konn-
te. Es ist daher ein Glücksfall, dass im Juli 2018 im Zusammenwirken von Bun-
destag und BKM durch Erhöhung des Musikfonds-Budgets von 1,1 Millionen auf
2,0 Millionen Euro die zur Ausschüttung gelangenden Mittel noch im laufenden
Haushaltsjahr de facto verdoppelt werden konnten, da die strukturellen Kosten
nur sehr moderat steigen. Der Musikfonds und die durch ihn geförderten Kre-
ativen, Künstler und für viele wunderbare Projekte Verantwortlichen danken!
Der Deutsche Musikrat gratuliert im Namen aller, die an der politischen und
materiellen Förderung des Musiklebens durch die Beauftragte des Bundes für
Kultur und Medien teilhaben, der Beauftragten des Bundes für Kultur und Medi-
en sehr herzlich zum Geburtstag. Staatsministerin Monika Grütters dankt er für
die nachhaltige Unterstützung und wünscht die Fortsetzung des so erfolgreichen
Weges für den Erhalt und die Förderung der Kulturellen Vielfalt.

Wachgeküsst
Barbara Seifen
Die Förderung von
Denkmalschutz 310

und Denkmalpflege 311

als gemeinsame
Aufgabe
Denkmalschutz und Denkmalpflege leisten einen wichtigen Beitrag zur Zukunfts-
sicherung unserer Gesellschaft. Der Erhalt und die Pflege des gesamten denkmal-
werten Bestandes trägt wesentlich zur Gestaltung einer humanen Umwelt bei und
kann über den Bereich der kulturellen Vermittlung und Bildung den Aspekt In-
tegration und Teilhabe für alle stärken. Denkmalpflege ist nachhaltig und schon
vom Ansatz her ressourcenschonend und umweltfreundlich. Denkmalpflege si-
chert und schafft Arbeitsplätze in der jeweiligen Region insbesondere im Hand-
werksbereich. Laut einer Mitteilung des Zentralverbandes des Deutschen Hand-
werks aus dem Jahr 2010 werden 90 Prozent der Arbeiten, die in der Denkmalpfle-
ge anfallen, von Handwerksbetrieben übernommen.
Der Anteil an denkmalgeschützter Bausubstanz ist gemessen am gesamten
Baubestand gering, bundesweit sind rund drei Prozent aller baulichen Anlagen
denkmalgeschützt, der Großteil davon (rund 80 Prozent) ist in privatem Eigen-
tum. Dieser besondere historische Bestand trägt wesentlich zum charakteristi-
schen und individuellen Alleinstellungsmerkmal von Städten und Dörfern bei,
prägt die Kulturlandschaft, steht für Heimat und macht Orte attraktiv für die dort
lebenden Bürger ebenso wie für Touristen. Das baukulturelle Erbe kann Menschen
aus anderen Heimaten dabei helfen, sich hier neu zu verorten. Es kann genauso
den hier schon länger oder sehr lange Beheimateten verdeutlichen, dass Vielfalt
seit jeher ihr eigenes Lebensumfeld und unsere Gesellschaft bestimmt.
Der Schutz, der Erhalt und die Pflege des kulturellen Erbes ist ein über Gren-
zen hinweg verbindender gesellschaftlicher Auftrag. »Mit unseren europäischen
Nachbarländern teilen wir eine gemeinsame Vergangenheit und ein gemeinsa-

6. — Kulturförderpolitik
mes Erbe. […] Denkmäler sind wichtige Reflexionsorte, die von der Entstehung
eines humanistischen und demokratischen Europas zeugen«, so die Vereinigung
der Landesdenkmalpfleger in der Bundesrepublik Deutschland.
Denkmalschutz und Denkmalpflege gehören in den Bereich der Kulturho-
heit der Länder, jedes Bundesland hat ein eigenes Denkmalschutzgesetz und ei-
gene Denkmalfach- und Denkmalschutzbehörden für den Erhalt der Bau-, Kunst-,
Garten- und Bodendenkmäler. Die Bundesrepublik versteht sich als Kulturstaat,
der Bund und damit die BKM sieht sich für den Erhalt von wichtigen nationalen
Denkmalen verantwortlich und stellt für diese Aufgabe in unterschiedlichen Pro-
grammen deshalb seit vielen Jahren finanzielle Mittel zur Verfügung.
So heißt es im Koalitionsvertrag 2018: »Es soll ein Programm kultureller
Denkmalschutz aufgelegt werden, das unter angemessener Kofinanzierung die
Sanierung und Restaurierung von Gebäuden und Denkmälern in der Fläche wei-
terhin fördert. Den Erhalt des baukulturellen Erbes über die Förderung von Denk-
malschutz und -pflege wollen wir im Zusammenwirken mit den Ländern und un-
ter Einbezug von Stätten der Industriekultur fortsetzen und ausbauen, ebenso
wie die Förderung der UNESCO-Welterbestätten im Inland sowie das Kulturer-
halt-Programm im Ausland.«

Denkmalförderung

Für den Erhalt des denkmalgeschützten Erbes sind kontinuierlich finanzielle An-
strengungen erforderlich. Diese werden seit jeher größtenteils von den Denk-
maleigentümern selbst getragen. Die vielfältige Denkmalförderung aus öffent-
lichen Mitteln oder durch Stiftungen ist eine willkommene Entlastung der Ei-
gentümer für die zu erbringenden Gesamtkosten bei einer baulichen Erhaltungs-
oder Sanierungsmaßnahme. Denkmalförderung ist immer eine Investition in
die Zukunft für alle, für die nächsten Generationen – und so in jedem Fall ge-
samtgesellschaftlich von hohem Wert. Die Fördermittel tragen nur in sehr sel-
tenen Fällen den Hauptanteil der notwendigen Finanzierung für die Sicherung,
Erhaltung und Pflege der Baudenkmäler. Insbesondere für die vielfach ehren-
amtlich aufgestellten Vereine und Initiativen, aber auch für die Privateigentü-
mer, die sich dem Erhalt und der Pflege von nicht rentierlich nutzbaren Objek-
ten wie technische Denkmäler, Industrieanlagen, Kapellen und Kirchen, Schlös-
ser, Garten- und Parkanlagen oder unterschiedlich museal genutzten kleineren
und größeren Denkmälern widmen, ist die Gewährung von Fördermitteln von
zentraler Bedeutung.
Es kann gar nicht genug Anerkennung für das meistenteils sehr hohe Enga-
gement der Denkmaleigentümer und der ehrenamtlich Aktiven ausgesprochen
werden. Die Wertschätzung dafür drückt sich auch und sehr wirksam in der Ge-
währung von Fördermitteln aus. Gerade bei nichtrentierlichen Denkmalobjek-
ten sind die in den vergangenen Jahren auf Länderebene vorgenommenen Kür-
zungen der öffentlichen Fördermittel in der Denkmalpflege deshalb von Nachteil.

Wachgeküsst
Denkmalförderung des Bundes

Der Bund stellt in verschiedenen Programmen Fördermittel zur Unterstützung


des Erhalts von Denkmälern und Kultureinrichtungen zur Verfügung. Die Beauf-
tragte für Kultur und Medien ist auf der Ebene des Bundes seit 1998 für die För-
derung von national wertvollen Kultureinrichtungen und Kulturprojekten zu-
ständig.
Das Programm »National wertvolle Kulturdenkmäler« wurde 1950 zum ers-
ten Mal aufgelegt und läuft nachhaltig. Die Bewertung eines Objektes als nati- 312
onal wertvolles Kulturdenkmal wird durch eine Stellungnahme des Denkmal-
fachamtes des jeweiligen Bundeslandes dargelegt. Dieses Programm ist seit 1998 313
im Zuständigkeitsbereich der Beauftragten für Kultur und Medien. Von 1950 bis
2016 konnten mehr als 660 Kulturdenkmäler in ihrer Erhaltung und Restaurie-
rung mit Mitteln aus Bundesförderprogrammen in einer Gesamthöhe von 370
Millionen Euro unterstützt werden. Die Mittel werden mehrjährig für das je-
weilige Projekt zur Verfügung gestellt, über die Vergabe entscheidet eine ei-
gens dafür eingesetzte Jury. In den letzten Jahren ist es gelungen, die Mittel für
das Programm gegenüber früheren Zeiten erheblich weiter aufzustocken. Wün-
schenswert wäre es, eine noch verbesserte Transparenz zur Verteilung der Mit-
tel herzustellen.
Im Jahr 2007 wurde von der BKM erstmals ein »Programm für besondere
Maßnahmen« aufgelegt. Es ist mit rund 400 Millionen Euro bislang das größte
Denkmalschutzprogramm des Bundes. Daraus wird unter anderem die Stiftung
Weimarer Klassik gefördert, ebenso die Stiftung Preußische Schlösser und Gär-
ten in Berlin und Potsdam sowie die Berliner Oper Unter den Linden. Außerhalb
des Programms unterstützt die BKM noch einzelne besonders bedeutende Sa-
nierungsvorhaben in Deutschland aus dem laufenden Etat und teilweise mit zu-
sätzlichen Mitteln des Bundestages, dazu gehören für große Kultureinrichtun-
gen auch die Baumaßnahmen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz.
Ebenfalls beginnend 2007 wurde durch die BKM ein »Denkmalschutz-Son-
derprogramm« eingeführt für Denkmäler im gesamten Bundesgebiet, die natio-
nal bedeutsam sind oder das kulturelle Erbe mitprägen. Dieses Sonderprogramm
konnte in den darauf‌folgenden Jahren mehrfach fortgesetzt werden, sodass dar-
über seitdem rund 250 Millionen Euro für Erhaltungs- und Sanierungsmaßnah-
men an Baudenkmälern zur Verfügung standen.
In 2017 und 2018 wurde ein Programm zum »Erhalt historischer Orgeln« be-
reitgestellt mit insgesamt zehn Millionen Euro. Für das Jahr 2018 läuft das »Son-
derprogramm VII«, in dem nun auch Maßnahmen an denkmalgeschützten Or-
geln gefördert werden können. Die zugehörigen Förderkriterien sind jetzt klar
und konsequent denkmalfachlich gefasst und damit erkennbar verbessert gegen-
über den zurückliegenden Sonderprogrammen. Die beantragten Fördermaßnah-
men müssen von den Denkmalfachämtern der Länder begutachtet und priorisiert
werden, bevor über eine Bewilligung entschieden wird. Es muss sich in jedem Fall

6. — Kulturförderpolitik
um ein denkmalgeschütztes Objekt handeln. Gefördert werden aus diesem Pro-
gramm nur Maßnahmen, die der Substanzerhaltung und der Restaurierung im
Sinne der Denkmalpflege dienen, so die Anforderungen aus den Förderkriterien.
Eine Förderung der BKM aus dem Sonderprogramm beträgt grundsätzlich
bis zu 50 Prozent der zuwendungsfähigen Ausgaben und soll in der Regel durch
Fördermittel des jeweiligen Bundeslandes in ähnlicher Höhe ergänzt werden. Die
Kürzung von Denkmalmitteln auf Länderebene wirkt sich somit kontraproduk-
tiv für die beantragten Förderobjekte aus, wenn der Landesanteil an der Förde-
rung nicht zur Verfügung gestellt werden kann.
Das finanzielle Engagement des Bundes über die BKM ist im Hinblick auf die
Förderung der Bau- und Bodendenkmalpflege in den vergangenen Jahren deut-
lich ausgebaut worden. Die einzelnen Programme bilden einen wichtigen Bau-
stein im Zusammenspiel der verschiedenen Förderkulissen auf Bundes- und Län-
derebene und haben in zahlreichen Fällen entscheidend dazu beigetragen, dass
dringend notwendige Erhaltungs- und Restaurierungsmaßnahmen zur Ausfüh-
rung gelangen konnten. Diese Mittel sind eine wichtige und immer wieder gute
und sinnvolle Investition in die Zukunft.

Denkmalförderung auf Länderebene

Die Ergebnisse des Spartenberichtes Baukultur, Denkmalschutz und Denkmal-


pflege, 2018 vom Statistischen Bundesamt vorgelegt, und einer aktuellen Abfra-
ge der Vereinigung der Landesdenkmalpfleger nach den Fördermodalitäten in
den einzelnen Bundesländern verdeutlichen große Unterschiede in der Bereit-
stellung der Mittel auf Länderebene: Das Thema Denkmalpflege wird in den ein-
zelnen Bundesländern sehr uneinheitlich gewichtet. Die hohe Bereitstellung von
Denkmalfördermitteln des Bundes bei der BKM sowie die große Nachfrage nach
einer solchen Förderung, die sich in der jährlich zunehmenden Zahl der Antrag-
stellungen bei der BKM widerspiegelt und wesentlich über die Höhe der dort zur
Verfügung stehenden Mittel hinausgeht, zeigt, dass auf der Länderebene erkenn-
bar zu wenig Fördermittel im Ansatz sind.
Zeitlich engbegrenzte Antragsfristen und manchmal recht kurze Bewilli-
gungszeiträume machen die Bewirtschaftung dieser Mittel für die Akteure der
Denkmalpflege nicht immer einfach. Die Realität eines Projektverlaufs und die
bauliche Umsetzung von Planungen sind von vielen Faktoren bestimmt und
nicht immer in starren zeitlichen Grenzen passend zu steuern. Das kann im Ein-
zelfall für die Abwicklung der Fördermaßnahmen ein kaum zu überwindendes
Hindernis sein.
Die Fördermittel müssen fachlich und sachlich sinnvoll und angemessen
verteilt werden und in aktuelle Denkmalmaßnahmen zum richtigen Zeitpunkt
fließen. Dazu kommt die Bedingung, dass mit den zu fördernden denkmalpfle-
gerischen Maßnahmen erst begonnen werden kann, wenn eine Bewilligung vor-
liegt. Im begründeten Einzelfall kann ein vorzeitiger Maßnahmenbeginn erteilt

Wachgeküsst
werden. Es bedarf somit einer engen und guten Zusammenarbeit aller Partner,
behördlicherseits auf Länder- und Bundesebene und insbesondere aller Partner
und Unterstützer des Denkmalprojektes vor Ort, um die jeweilige Förderung in
angemessener Höhe zu erlangen. Gute Vorbereitungen der Projekte, umsichti-
ge Voruntersuchung und Konzeptfindung für die jeweilige Maßnahme und nicht
zuletzt eine sorgfältige, materiell, handwerklich bzw. restauratorisch hochwer-
tig ausgeführte Arbeit sind Grundbedingung für ein gutes Ergebnis und die an-
gemessene Verwendung der Fördermittel. Das braucht ausreichend Zeit für die
Umsetzung der Projekte, entsprechend langfristig und überjährig sollten die Be- 314
willigungszeiträume für die Verwendung nicht nur der Mittel des Bundes über
die BKM, sondern auch aller weiterer Fördermittel gesteckt sein. 315

Europäisches Kulturerbejahr 2018 – sharing heritage

Im Jahr des Europäischen Kulturerbes fördert die BKM aus einem weiteren Pro-
gramm rund 80 Einzelprojekte aus Berlin und dem gesamten Bundesgebiet zum
Themenbereich Kulturvermittlung. Diese Projekte sollen, so die Vorgaben, in die
Breite wirken und sich insbesondere an Kinder und Jugendliche richten. Schon
aus der Gesamtzahl lässt sich ablesen, dass eine Breitenwirkung in der ganzen
Republik durch 80 Projekte wohl kaum erreicht werden kann. Unabhängig von
einer Förderung durch das Programm der BKM haben jedoch zahlreiche weite-
re Einzelprojekte, beispielsweise die Projekte der Denkmalämter in den Bundes-
ländern, überzeugende und anspruchsvolle Aktivitäten entfalten können. Eine
sorgfältige Bilanz dieser Veranstaltungen zum Europäischen Kulturerbejahr nach
dessen Abschluss wäre zu wünschen, um Ergebnisse und Erfahrungen nachzu-
vollziehen und für weitere Fortsetzungen und neue Projekte nutzbringend ver-
wenden zu können.

Deutsches Nationalkomitee für Denkmalschutz

Bei der BKM ist die Geschäftsstelle des Deutschen Nationalkomitees für Denk-
malschutz (DNK) angesiedelt und koordiniert die Aktivitäten dieses Komitees.
Das 1973 gegründete DNK versteht sich als nationale Plattform für die Belange
des Denkmalschutzes, der Baudenkmalpflege und der Bodendenkmalpflege. Im
DNK versammeln sich Vertreter aus allen Bundesländern, aus Politik, Fachor-
ganisationen, Verbänden, Gemeinden, Kirchen und privaten Bürgerinitiativen.
Die Tätigkeit des DNK bezieht sich auf den Bereich Vermittlung von Themen aus
Denkmalschutz und Denkmalpflege, im Rahmen von Tagungen und Publikati-
onen werden ausgewählte Fragestellungen dazu behandelt. Der Deutsche Preis
für Denkmalschutz, bundesweit die höchste Auszeichnung in der Denkmalpfle-
ge, wird jährlich vom DNK vergeben. Die Zusammenarbeit des DNK mit der Ver-
einigung der Landesdenkmalpfleger ist langjährig geübte Praxis und verdient
von der Geschäftsstelle zuverlässig weitergepflegt und fortentwickelt zu werden.

6. — Kulturförderpolitik
Fazit

Die Bundesbeauftragte für Kultur und Medien ist für den Bereich Denkmalschutz
und Denkmalpflege eine wichtige Partnerin der jeweiligen Denkmalakteure auf
Länderebene. In Ergänzung zu den Fördermitteln für konkrete Denkmalprojek-
te wäre eine finanzielle Unterstützung des Bundes der Aktivitäten der Denkmal-
fachämter der Länder für die dringend notwendige bundesweite Erfassung des
jüngeren Denkmalbestandes der 1960er bis 1980er Jahre und auch der techni-
schen Objekte sehr zu wünschen.
Außerordentlich erfolgreich geben die Förderprogramme des Bundes wirk-
same Hilfen bei zahlreichen Denkmalprojekten und haben so im Positiven zu
vermehrter politischer Aufmerksamkeit für den Bereich der Denkmalpflege bei-
getragen. Dies ist eine willkommene Stärkung für die Belange der Bau- und Bo-
dendenkmalpflege, ebenso eine Anerkennung für die Denkmaleigentümer und
die in der Denkmalpflege ehrenamtlich und beruflich handelnden Personen. Das
Engagement des Bundes ist unter Beachtung der Kulturhoheit der Länder als ein
wichtiges Signal für den Denkmalschutz und die Denkmalpflege unerlässlich und
zeugt vom Verständnis einer Kulturnation.

Wachgeküsst
316

317

6. — Kulturförderpolitik
7.

Kulturwirt-
schaft

Tradition und
Innovation

20 Jahre
neue Kulturpolitik
des Bundes
Wachgeküsst 1998—2018
Jan Ole Püschel
Traditions-
reiche Branchen 318

319
Ähnlich wie kurz zuvor das popkulturelle Phänomen des Britpop schwappte in
der Ära von Tony Blair der Begriff der »Culture Industries« von Großbritannien
auf das europäische Festland. Seit über einem Jahrzehnt kommt man nun kul-
tur- und wirtschaftspolitisch an der Kulturwirtschaft auch in Deutschland nicht
mehr vorbei. Ob auf europäischer oder bundespolitischer Ebene, bei der kommu-
nalen Planung von Kreativquartieren oder auch als Instrument der Außen- und
Entwicklungspolitik. Überall finden sich heute Strategien, die entweder der ori-
ginären Förderung der Kultur- und Kreativwirtschaft dienen oder aber sich ih-
rer Bedienen, um übergeordnete Ziele zu erreichen, wobei die Grenzen fließend
sind. Die Kulturwirtschaft ist wahlweise in einem an Rohstoffen armen Europa
die moderne Zukunftsbranche schlechthin, Garant für Wachstum und Beschäfti-
gung, Innovationsmotor oder auch Gegenstand der internationalen Vernetzung
und Auslandskommunikation.
Auf den ersten Blick ist indes die gesellschaftliche und politische Präsenz
des Begriffs und der ihn noch immer umgebene Flair von Aufbruch und Innova-
tion überraschend, da es sich zunächst nur um eine kollektive Bezeichnung für
ein teilweise schwer zu greifendes, heterogenes Gemisch aus schon seit Langem
selbständig existierenden Teilbranchen handelt. Die Spannbreite der zumindest
begrifflich vereinigten Branchen geht von der Musikwirtschaft, über den Buch-
markt, die Architektur, die Filmwirtschaft oder auch die darstellenden Künste bis
hin zur Designwirtschaft. Alles traditionsreiche Branchen, die zwar das kreative
Element einen, aber die auch hinsichtlich ihrer Werke, deren Erschaffungspro-
zesse und gesellschaftlicher Rezeption durchaus Unterschiede aufweisen. Ent-
sprechend kommen manche Teilbranchen in den Genuss eines seit Jahrzehnten
etablierten Fördersystems auf Bundes- und Landesebene – die Filmbranche ist
bestes Beispiel hierfür –, während andere Branchen der Kultur- und Kreativwirt-
schaft weitestgehend unter Marktbedingungen ohne staatliche Finanzhilfe agie-
ren. Auch konnte zu Beginn der politischen Aufmerksamkeit für die Kulturwirt-
schaft durchaus noch beobachtet werden, dass die Auseinandersetzung mit wirt-
schaftlichen Aspekten des kulturellen Schaffens als Kommerzialisierung der Kul-
tur missverstanden wurde – so als sei es verwerflich, ein relevantes Einkommen
durch kreativ-schöpferische Arbeit zu erzielen. Vor einigen Jahren war es zudem

7. — Kulturwirtschaft – Tradition und Innovation


noch vertretbar, es sei kulturpolitisch ungeschickt, das wirtschaftliche Moment
der Kultur so explizit zu betonen, interessierte sich doch die Europäische Kom-
mission zunehmend für die wettbewerbspolitische Dimension nationaler Kul-
turförderungen und ihre Vereinbarkeit mit den Prinzipien des europäischen Bin-
nenmarktes. Ohne originärer Regelungskompetenz für die Kultur, dafür aber mit
dem Kernauftrag der Sicherung des freien Wettbewerbs im Binnenmarkt versehen,
kam der Europäischen Kommission die Bedeutung der wirtschaftlichen Dimensi-
on der Kultur durchaus gelegen, um eigenen Handlungsspielraum zu begründen.
Heute sind diese grundsätzlichen Bedenken nicht mehr relevant. Die Euro-
päische Kommission hat der Kulturförderung der einzelnen Mitgliedsstaaten bei-
hilferechtlich großen Spielraum eingeräumt. Die notwendige Doppelnatur der
Kulturwirtschaft ist anerkannt und vermeidliche Widersprüche sind geklärt. So
stellte das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Filmförderungsge-
setz im Jahr 2014 z. B. fest, dass es kein Widerspruch sei, Fördermaßnahmen in
Brüssel als kulturelle Beihilfe von den Vorgaben des europäischen Wettbewerbs-
rechts freizustellen und sich national hinsichtlich der selben Maßnahme kompe-
tenzrechtlich auf das Recht der Wirtschaft aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 Grundgesetz zu
stützen. Kultur und Wirtschaft schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern sind
oftmals zwei Seiten einer Medaille. In seiner Entscheidung zum Filmförderungs-
gesetz betonte das Bundesverfassungsgericht zudem, dass es einem Staat, der
sich von Verfassungs wegen als Kulturstaat verstehe, nicht verwehrt sein kön-
ne, in der Wahrnehmung aller seiner Kompetenzen auch auf Schonung, Schutz
und Förderung der Kultur Bedacht zu nehmen. Weder muss sich also der Bund
auf eine reine Wirtschaftsförderung beschränken, noch sind die Länder auf eine
enge kulturpolitische Sichtweise festgelegt. Vielmehr ist auch die Kulturwirt-
schaft ein gemeinsames Betätigungsfeld von Bund und Ländern, wobei sich der
Bund auf solche Maßnahmen konzentriert, denen Bundesbedeutung zukommt.
Immer deutlicher ist zudem durch die Arbeit der letzten Jahre geworden,
dass sich der Begriff der Kulturwirtschaft nicht in seinem strategischen Einsatz
in der politischen Debatte erschöpft. Zwar hat es erheblich geholfen, auch sta-
tistisch die gesamtwirtschaftliche Bedeutung der Kulturwirtschaft herausstel-
len zu können und den Anliegen der Kreativen so zu deutlich mehr Gewicht und
Sichtbarkeit zu verhelfen. Mindestens ebenso entscheidend ist aber, dass die
spezifischen Brancheneigenschaften, Erfordernisse und Erfolgsfaktoren immer
stärker auch bei denen in das Bewusstsein rückten, die die Rahmenbedingun-
gen für kreatives Schaffen setzen. Auch förderpolitisch lohnt es sich, nicht al-
lein in Teilbranchen zu denken, sondern solche Problemstellungen anzugehen,
die die Kultur- und Kreativbranche als Ganzes betreffen. Denn trotz aller Diver-
sität sind manche Herausforderungen wie z. B. das Auflösen tradierter Verwer-
tungsketten durch die Digitalisierung doch identisch. Hierzu gehört auch, dass
die Kulturwirtschaftsbranche typischerweise von Klein- und Kleinstunterneh-
men geprägt ist oder auch geeignete – private oder öffentliche – Finanzierungs-
instrumente oftmals noch fehlen, zumal die Werke der Branche regelmäßig hin-

Wachgeküsst
sichtlich der Kalkulierbarkeit ihres wirtschaftlichen Erfolges als »Risikoproduk-
te« einzustufen sind. Denn der Erfolg eines Buches oder eines Films, eines neuen
Designs oder Songs ist eben nur schwer voraussagbar, auch wenn schon seit ei-
niger Zeit an entsprechenden Algorithmen zur Optimierung der Erfolgschancen
gearbeitet wird. Wie aufgrund des drohenden Verlustes an kultureller Vielfalt mit
derart massenkompatibel optimierten Produktionen förderpolitisch umzugehen
wäre, ist eine andere Frage. Kulturpolitisch bleibt es natürlich dabei, dass Kul-
tur zuvorderst einen Selbstzweck erfüllt und sich aus diesem Grund nicht zwin-
gend an wirtschaftlicher Rentabilität messen lassen muss. Im Bereich der kultu- 320
rellen Filmförderung ist dies eine der wesentlichen Leitlinien der Beauftragten
der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM). 321
In der praktischen Arbeit der Bundesregierung hat sich die herausgehobene
Bedeutung der Kulturwirtschaft ebenfalls in festen Strukturen manifestiert. Be-
reits im Jahr 2007, als das Thema unter deutscher Ratspräsidentschaft auch ein
Schwerpunkt der Arbeit in Brüssel gewesen ist, erfolgte die Gründung der Initi-
ative Kultur- und Kreativwirtschaft der Bundesregierung unter gemeinsamer Fe-
derführung des Bundeswirtschaftsministeriums und der BKM. Konsequent trägt
die Initiative der Doppelnatur der Kulturwirtschaft Rechnung – in dieser inter-
ministeriellen Ausprägung in Europa einzigartig. Durch die unter spezifischen
Perspektiven der Häuser kann zum einen den unterschiedlichen Anforderungen
der Branchen eher entsprochen und zugleich eine fachlich zu enge Herangehens-
weise vermieden werden. Denn es sind gerade Perspektivwechsel und Durchbre-
chungen etablierter Denkmuster, die branchenübergreifende Innovationen zu-
lassen, für die die Kulturwirtschaft beinahe ein Synonym geworden ist. Die krea-
tive Ökonomie und deren Innovationen kann also als echtes Querschnittsthema
an der Schnittstelle zur traditionellen Wirtschaft und den neuen Herausforde-
rungen unserer Gesellschaft verortet werden.
Um dies zu unterstützen, wurde im Zuge der Initiative u. a. das Kompetenz-
zentrum Kultur- und Kreativwirtschaft gegründet. Es beschreibt seine Aufgabe
zutreffend damit, die disziplinübergreifenden Potenziale der Kultur- und Kreativ-
wirtschaft für Wirtschaft, Gesellschaft und Politik vermitteln und gemeinsam mit
den Akteuren Lösungsansätze für branchenbetreffende Herausforderungen ent-
wickeln zu wollen. Insbesondere hat das Kompetenzzentrum in den ersten Jahren
seines Bestehens die Beratung unternehmerischer Gründungen im Bereich der
Kultur- und Kreativbranche professionalisiert und Aufmerksamkeit für die Anlie-
gen und Chancen dieser Branche deutschlandweit in die Fläche getragen. So wur-
den z. B. die vor Ort mit regionalen Kooperationspartnern durchgeführten Bera-
tungsangebote ihrer zugedachten Impulsfunktion mehr als gerecht. In fast allen
Bundesländern gibt es mittlerweile eigene Kompetenzzentren und Beratungsan-
gebote für die kreative Gründerszene – ein real gelebtes Land der Ideen. Aktuell
konzentriert sich die Initiative der Bundesregierung vor allem auf eine noch stär-
kere Vernetzung der Branche, Modellprojekte und das neue Kompetenzzentrum
in Berlin als Ort der Begegnung für die gesamte Kultur- und Kreativwirtschaft.

7. — Kulturwirtschaft – Tradition und Innovation


Die fortgesetzte – auch politische – Aufmerksamkeit für die Kultur- und Krea-
tivwirtschaft lohnt sich, denn sie wird auch weiterhin und durchaus stärker als
andere Wirtschafsbranchen ein wichtiger Partner für Zukunftsthemen bleiben.
Ihr Potenzial, kreative Lösungen zu entwickeln, ist groß und Aufgabe des Staa-
tes wird es sein, hierfür optimale Rahmenbedingungen bereitzuhalten, um auch
gesamtgesellschaftlich zu profitieren. Weniger sind hiermit also kreative Soft-
ware-Lösungen der Automobilindustrie zur Manipulation von Abgaswerten ge-
meint, sondern z. B. kreative Ansätze zur Stärkung der Medienkompetenz und
des Umgangs mit Fake News, kreative Lösungen zur Bewältigung des globalen
Plastikmüll-Dilemmas oder aber auch besonders energieeffiziente Ansätze des
Smart-Livings. So gehört die deutsche Theaterbühnentechnik zur Weltspitze und
ist seit jeher wichtiger Innovationstreiber für technische Entwicklungen. Das
künstlerische Bestreben, Neues zu erschaffen und zukunftsweisenden Konzepten
den Weg zu bereiten, offenbart sich als Treibriemen künstlerischen Handelns auf
der Bühne auch in den technischen Voraussetzungen. Vom Gaslicht bis zur Er-
findung der elektrischen Lampe, in Theatern kamen die Prototypen zum Einsatz.
Gleiches gilt heute für den Einsatz digitaler Bühnentechnik. Die hier entwickel-
te und erprobte digitalisierte Haus- und Betriebstechnik ist beispielgebend für
das smarte Haus der Zukunft. Oftmals sind es hierbei auch öffentlich finanzier-
te Kulturbetriebe, deren kreatives Arbeiten Ansätze für wirtschaftliche Problem-
lösungen bieten kann. Kulturförderung ist daher zwar nicht an erster Stelle Aus-
druck wirtschaftspolitischer Investition, sondern kulturpolitischer Ausdruck un-
seres gesellschaftlichen Selbstverständnisses, als Bekenntnis zu Offenheit, Viel-
falt und Experimentierfreude. Gerade der hiermit verbundene Freiraum ist es
aber, der am Ende auch wirtschaftliche Innovationen ermöglicht. Diese Freiräu-
me werden auch durch stabile Rahmenbedingungen gewährleistet und müssen
sich immer wieder neu erkämpft werden, z. B. durch ein effektives europäisches
Urheberrecht für das digitale Zeitalter, durch eine funktionierende Künstlerso-
zialversicherung oder auch stärkere Geschlechtergerechtigkeit. Die Kultur- und
Kreativbranche ist in diesen Kämpfen nicht erfolglos. Und oftmals gibt ihr rück-
blickend auch der wirtschaftliche Erfolg Recht.

Wachgeküsst
Heike Raab
Medien sind mehr
als Radio, TV und der 322

Rundfunkbeitrag 323

Vielfalt und Qualität sind Markenzeichen unserer Medienlandschaft. Im euro-


paweiten aber auch weltweiten Benchmarking würde Deutschland zweifelsoh-
ne eine Spitzenposition einnehmen. Wollen wir diese erhalten, dürfen wir nicht
ruhen und diese Medienlandschaft einfach genießen oder konsumieren. Sie wird
bedroht von mehreren Seiten. Im politischen Spektrum erleben wir Angriffe auf
die Presse- und Rundfunkfreiheit und auf Journalisten, Kameraleute oder Repor-
ter. Die Dominanz der zumeist US-amerikanischen Plattformen beeinflusst den
Medienkonsum und die bunte Welt des Internets unterscheidet kaum noch zwi-
schen ordentlich recherchierten Fakten und persönlichen Meinungsäußerungen.
Gerade mit Blick auf die vielen neuen Angebote im Netz wird oft die Frage
gestellt: Wieso braucht es bei einer solch vielfältigen Medienlandschaft über-
haupt noch staatliche Regulierung oder Einrichtungen wie den öffentlich-recht-
lichen Rundfunk? Meine kurze Antwort lautet: Unsere Medienlandschaft ist nicht
trotz, sondern gerade wegen ihrer Regeln so vielfältig und qualitativ hochwer-
tig. Regeln zur Sicherstellung eindeutiger Verantwortlichkeiten, zum Schutz der
Persönlichkeitsrechte, zur Einhaltung wichtiger Standards, wie Menschenwür-
de, Jugend- und Verbraucherschutz, zur Sicherstellung von Angebotsvielfalt und
zur Verhinderung vorherrschender Meinungsmacht durch einzelne Gruppen – all
das macht unser freiheitliches und demokratisches Mediensystem seit jeher aus.
Aber die mediale und gesellschaftliche Kommunikation wandelt sich. Smart-
TVs, OTT, Streaming, Let’s Plays oder user-generated-content sind nur einige
Begriffe, die diesen Wandel beschreiben. Vor allem das Internet hat die Art, wie
wir Medien nutzen, ganz grundlegend verändert. Früher bewegten wir uns aus-
schließlich im Dreiklang aus Fernsehen, Radio und Zeitung. Das Internet hat hier
Grenzen geöffnet und völlig neue Angebote und auch Akteure hervorgebracht: es
war noch nie so einfach, am gesellschaftlichen Diskurs aktiv teilzunehmen. Heu-
te kann jeder mit nur wenigen Klicks »Fernsehen machen«. Für die Meinungs-
vielfalt ist das ein durchaus positiver Befund – nicht nur bei uns, sondern welt-
weit; insbesondere mit Blick auf autokratisch und diktatorisch geführte Staaten.

7. — Kulturwirtschaft – Tradition und Innovation


Auf der anderen Seite beobachten wir einen wachsenden Einfluss und den Ver-
drängungswettbewerb gerade durch US-amerikanische Plattformen und Anbieter.
Meinungsmacht und Marktmacht fallen immer häufiger zusammen. Fragen der
Konzentration von Meinungsmacht erhalten inzwischen regelmäßig auch eine
wirtschaftliche Dimension und umgekehrt. Hinzu kommt, dass heute nicht mehr
nur diejenigen den öffentlichen Diskurs prägen und beeinflussen, die Inhalte pro-
duzieren. Die Kontrolle über den Zugang zu Inhalten und auch über Infrastruk-
turen erfordert ganz neue Antworten. Hinzu kommen Wahlkampfmanipulation
durch Social Bots, Fake News oder Datenmissbrauchsskandale wie bei Facebook.
Klimaveränderung ist in Deutschland aktuell nicht nur wegen der heißen
Sommermonate oder bei Starkregenereignissen spürbar: Es besteht ein Zustand
allgemeiner Verunsicherung. Wie muss man sich inhaltlich entwickeln, damit
Vorwürfe wie »Lügenpresse« ins Leere laufen, anstatt die so Bezeichneten in
die Defensive zu drängen? Es geht darum, Journalistinnen und Journalisten und
deren Arbeit gesellschaftlichen Respekt und Anerkennung entgegenzubringen.
Und weiter: Wie bleiben die Angebote der Qualitätsmedien so relevant, dass sie
auch bei verändertem Mediennutzungsverhalten in der digitalen Welt konsu-
miert werden? Und wie schaffen wir Akzeptanz dafür, dass Qualitätsjournalismus
wertvolle Arbeit ist, die nicht zum Nulltarif angeboten werden kann?
Eine Langzeitumfrage des Instituts für Publizistik der Johannes Guten-
berg-Universität Mainz, die Ende Januar 2018 veröffentlich wurde, kommt zu
dem Ergebnis, dass die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland wieder stärker
auf die etablierten Qualitätsmedien vertrauen. Dieser Befund stimmt mich posi-
tiv. Gleichzeitig zeigen uns Studien aber auch, dass vor allem jüngere Menschen
die Angebote dieser Qualitätsmedien immer weniger nutzen. Was für die Ver-
leger schon seit Längerem spürbar ist, gilt zunehmend auch für das Fernsehen:
Auch wenn selbiges in weiten Teilen der Bevölkerung immer noch das »Leitmedi-
um« ist, findet ein beträchtlicher Teil des öffentlichen Diskurses inzwischen wo-
anders statt: Gerade junge Menschen konsumieren Medieninhalte immer mehr
zu selbst bestimmbaren Zeitpunkten, also auf Abruf und unterwegs auf ihren
Smartphones. Bereits heute ist das Netz für sie die Hauptnachrichtenquelle.
Auf diese Entwicklung müssen alle Akteure Antworten finden – egal ob öf-
fentlich-rechtlich oder privat organisiert. Für die privaten Anbieter steht dabei
vor allem die Frage im Mittelpunkt, wie sie in diesem neuen Umfeld tragfähige
Geschäftsmodelle entwickeln können. ARD, ZDF und Deutschlandradio stehen
hier vor einer anderen, aber keineswegs einfacheren Aufgabe: Der Auftrag des
öffentlich-rechtlichen Rundfunks bezieht sich auf alle Bevölkerungsgruppen, auf
Männer und Frauen, auf jung und alt. Ihr umfassender Auftrag verpflichtet ARD,
ZDF und Deutschlandradio dazu, Information, Kultur und Unterhaltung in der
ganzen Bandbreite zwischen Internationalität und Regionalität anzubieten. Das
ist es, was das Bundesverfassungsgericht mit dem Begriff der »Grundversorgung«
umschreibt. Jeden einzelnen Menschen in einer immer diverseren Gesellschaft
erreichen zu müssen, ist eine bedeutende Verantwortung und Herausforderung.

Wachgeküsst
Die Werte unseres Mediensystems sind universell. Wir dürfen nicht alle Regeln
über Bord werfen, nur weil wir uns im Internet bewegen. Denn der rechtliche
Rahmen für unsere Medienlandschaft ist kein Selbstzweck, er ist Richtschnur
und gibt zugleich Halt. Das Regelwerk muss aber auch mit der Zeit gehen, die
Herausforderungen der Konvergenz aufnehmen. Oder als Frage formuliert: Wie
schaffen wir es, die genannten, universellen Werte in die neue Welt zu überfüh-
ren und ihnen auch hier die Geltung zu verschaffen, die sie in den Augen der ganz
überwiegenden Zahl der Menschen auch weiterhin haben sollen.
Medienpolitik ist daher heute mehr als Radio, TV und Rundfunkbeitrag. Für 324
uns als Gesetzgeber muss das Ziel sein, Vielfalt online wie offline zu erhalten und
weiter aktiv zu fördern. Gerade bei der Vielzahl unterschiedlicher Angebote im 325
Netz bedeutet dies immer auch einen Spagat: wir müssen einerseits die Einhal-
tung bestimmter Standards sichern – beispielsweise im Jugendschutz – wollen
andererseits aber auch den nötigen Raum schaffen für die kreative Energie der
Netzgemeinde. Dort, wo wir Überregulierung vorfinden, ist über Veränderungen
und Vereinfachungen der geltenden Rechtslage nachzudenken. Dies insbeson-
dere, wenn so unnötige Hürden für die Anbieter beseitigt werden können. In Be-
reichen wie dem Jugendmedienschutz schätze ich deshalb die Einrichtungen der
freiwilligen Selbstkontrolle. Sie sichern mit der nötigen Staatsferne und mit Au-
genmaß, dass die unterschiedlichen Belange Berücksichtigung finden.
Dies ist aber nur eine Seite der Medaille. Die Sicherstellung einer adäqua-
ten Infrastruktur für die Verbreitung und Rezeption der vielen Medienangebo-
te ist und bleibt ebenfalls eine zentrale medienpolitische Herausforderung der
Zukunft. Neben dem Breitbandausbau – Glasfaser, LTE und 5G – sind die Erhal-
tung bestehender und die Entwicklung neuer Verbreitungswege, wie auch DAB+,
wichtig. Ich plädiere stets dafür, dass alle Menschen die neuen Dienste zu ange-
messenen Preisen und diskriminierungsfrei gleichermaßen nutzen können. Da-
bei ist auch die Wahrung der Netzneutralität entscheidend.
Medienpolitik erfordert noch deutlich mehr als früher den permanenten
Austausch zwischen allen Beteiligten: Medienschaffende, Industrie, Nutzerinnen
und Nutzer, Wissenschaft und gerade auch zwischen Ländern und Bund. Denn
hinter dem, was dann am Ende in Paragrafen formatiert wird, stecken ganz oft
sehr komplexe Fragestellungen – wirtschaftlich, gesellschaftlich und technisch.
»Smart Regulation« bedeutet für mich das »ständige Fragen nach Ursache und
Wirkung«. Nur wenn wir zum Beispiel verstehen, wie Mediennutzung (gerade
auch bei Kindern und Jugendlichen) funktioniert, kann Regulierung die gesetz-
ten Ziele erreichen.
Im Verhältnis von Ländern und Bund haben wir – im Rahmen unserer je-
weiligen Kompetenzen – zunehmend eine gemeinsame Verantwortung für un-
sere Medienordnung und in der Folge einen ebenso intensiven Austausch. Ein
Meilenstein auf dem Weg zu einer solchen verstärkten Zusammenarbeit stellt
sicher die im Jahr 2014 von der Bundeskanzlerin sowie den Regierungschefin-
nen und Regierungschefs der Länder beschlossene, »gemeinsame Steuerungs-

7. — Kulturwirtschaft – Tradition und Innovation


gruppe auf politischer Ebene« dar, die sogenannte »Bund-Länder-Kommission
zur Medienkonvergenz«. In ihr wurden Vorschläge für eine der Medienkonver-
genz angemessene Medienordnung auf nationaler und internationaler Ebene
erarbeitet. Über zwei Jahre diskutierten dabei Vertreter aus allen Ländern und
aus verschiedenen Bundesressorts mit Sachverständigen, Verbänden, Instituti-
onen und Unternehmen.
Die Gespräche waren zeitintensiv und nicht immer einfach, manchmal
prallten auch sehr unterschiedliche Sichtweisen aufeinander. Aber Reibung er-
zeugt Wärme und somit Energie. Vielleicht hat gerade dies für die nötigen Im-
pulse gesorgt. Gemeinsam haben wir konkrete Vorschläge und Arbeitsaufträge
in den Bereichen Audiovisuelle Mediendienste-Richtlinie, Jugendmedienschutz,
Kartellrecht/Vielfaltssicherung, Plattformregulierung und Intermediäre konsen-
tiert, an deren Umsetzung Bund und Länder noch heute arbeiten. Die 2016 abge-
schlossene Überarbeitung des Jugendmedienschutzstaatsvertrags (JMStV) fußt
beispielsweise auf den Vereinbarungen im Rahmen der Bund-Länder-Kommissi-
on und wird heute auch in der Industrie als erfolgreiches Beispiel dafür bewertet,
wie man moderne und gute Regulierung, gerade auch im Dialog mit der Branche,
schaffen kann. Und auch bei den Themen Plattformregulierung und Intermediä-
re sind die Länder nicht stehen geblieben: Im Sommer 2018 haben wir ganz kon-
krete Vorschläge zu diesen Bereichen online zur Diskussion gestellt, gepaart mit
neuen Vorschlägen für eine Reform der Zulassungsregeln für Rundfunkprogram-
me und Streamingangebote. Die Resonanz hierauf war überwältigend: Allein in
der ersten Woche hatten bereits über 300 Bürgerinnen und Bürger Stellung zu
den Vorschlägen genommen.
Dieses Beteiligungsverfahren ist ein Erkenntnisgewinn: Unser Mediensys-
tem ist den Menschen nicht gleichgültig. Im Gegenteil: Es beschäftigt die Men-
schen, es ist ihnen wichtig. Deshalb bin ich sicher: Es lohnt sich, zu kämpfen und
zu streiten für unsere demokratische und vielfältige, duale Medienordnung, da-
mit sie auch in der digitalen Welt gedeihen kann. Dabei hat ein Vorschlag, der
aus dem Bauch heraus erfolgt, die gleiche Berechtigung wie eine juristisch fein
differenzierte Stellungnahme. Ich kann daher nur jeden ermutigen, sich einzu-
bringen. Denn eines ist klar: Die Art und Weise, wie wir die Rundfunk-, Presse-,
und Meinungsfreiheit gestalten und verteidigen, wird die Zukunft unserer Ge-
sellschaft, unserer Kultur und unserer Demokratie ganz entscheidend prägen.

Wachgeküsst
Jan-Ole Püschel
Welt am Draht –
Medienpolitik des 326

Bundes in Zeiten 327

der Konvergenz
Zum Zuständigkeitsbereich der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und
Medien (BKM) zählen seit Gründung und entsprechend der seitdem geltenden
Amtsbezeichnung auch die Medien. Aufgrund der sich für beide Politikbereiche
zentral aus Art. 5 Grundgesetz ergebenen verfassungsrechtlichen Vorgaben und
einem sowohl im Medien- als auch Kulturbereich besonderen Aufgaben- und
Kompetenzverhältnis zu den Ländern, ist die Bündelung beider Bereiche bei der
BKM folgerichtig. Sowohl die Kultur als auch die Medien sind wesentliche Säu-
len unserer demokratischen Gesellschaft. Ihnen Freiheit und Unabhängigkeit
zu garantieren sowie vielfältige Formen der Entfaltung zu ermöglichen, ist eine
der vornehmsten Aufgaben eines Verfassungsstaates, der sich zugleich als Kul-
turstaat versteht.
Angesichts der rasanten Entwicklung der Medienlandschaft ist die Band-
breite der Themen, mit denen BKM heute befasst ist, seit der Gründung stetig
gewachsen. Eine der zentralen Aufgaben ist es, bei der Entwicklung eines zeitge-
mäßen Ordnungsrahmens darauf hinzuwirken, dass alle Medien – private wie öf-
fentlich-rechtliche – auf einem zunehmend globalisierten Markt bestehen kön-
nen, um ihrer besonderen Bedeutung mit Blick auf Meinungsbildung und De-
mokratie auch in digitalen Zeiten gerecht werden zu können. Ein besonderes
Anliegen der BKM ist zudem, die Interessen der Autoren, Komponisten und Fil-
memacher zu vertreten, die Urheber kultureller Leistungen sind und von denen
eine lange Wertschöpfungskette profitiert. Die medienpolitischen Verantwor-
tungsbereiche liegen jedoch nicht bei der BKM allein. Zentrale weitere Akteu-
re sind die Länder, die EU-Institutionen und andere Bundesressorts. Die Länder
gestalten den Bereich der Medien aufgrund ihrer aus der Verfassung zugewiese-
nen Kompetenzen maßgeblich zum Beispiel über Rundfunkstaatsverträge und
Landespressegesetze mit. Die EU nimmt zunehmend Einfluss auf medienpoliti-

7. — Kulturwirtschaft – Tradition und Innovation


sche Fragen und entwickelt hierzu Regelungen etwa zur Vollendung eines digi-
talen Binnenmarktes, die bei der nationalen Gesetzgebung berücksichtigt wer-
den müssen. Aber auch auf Bundesebene werden zahlreiche Themenbereiche mit
medienpolitischer Relevanz außerhalb des Aufgabenportfolios der BKM verant-
wortet. Hierzu zählen zum Beispiel das Datenschutzrecht, das Telekommunika-
tionsrecht, das Urheberrecht, aber auch das Buchpreisbindungsgesetz, das Tele-
mediengesetz oder seit Kurzem das Netzwerkdurchsetzungsgesetz. Alles medi-
enrelevante Themengebiete, die zwar intensiv durch die BKM mitberaten, aber
federführend von anderen Bundesressorts, wie zum Beispiel dem Bundeswirt-
schaftsministerium oder dem Bundesjustizministerium, verantwortet werden.
Diese Gesetze haben ihren Ausgangspunkt vorrangig nicht in der Sicherung von
Meinungs- und Medienpluralität, sondern zum Beispiel in dem Ziel, einen ef-
fektiven Verbraucherschutz zu gewährleisten. Im Sinne einer »Medienverträg-
lichkeitsprüfung« bringt BKM die medienpolitischen Belange in die Gesetzes-
vorhaben auf Bundesebene ein. Dabei ist es wichtiges Anliegen, dass neben der
Diskussion über die technologischen und wirtschaftlichen Aspekte des Medien-
wandels auch darauf geachtet wird, dass die Frage nach Qualität und Vielfalt der
Medieninhalte nicht in den Hintergrund gerät. Denn trotz aller Marktverände-
rungen bleibt eines immer gleich, und das ist die herausgehobene Funktion, die
eine vielfältige, freie und qualitativ hochwertige Medienlandschaft für die De-
mokratie einnimmt.
Die Medien nehmen als »Vierte Gewalt« nicht nur eine öffentliche Aufga-
be war, sondern sind regelmäßig auch wirtschaftliche Wettbewerber. Einen Be-
deutungszuwachs angesichts des gestiegenen Wettbewerbsdrucks durch Digi-
talisierung und global agierende Internetkonzerne haben daher für den Medi-
enbereich auch die allgemeinen Vorgaben für einen fairen Wettbewerb erfahren.
Vor allem über das Kartell- und Wettbewerbsrecht, für das der Bund gem. Art. 74
Abs. 1 Nr. 11 Grundgesetz (GG, Recht der Wirtschaft) die Gesetzgebungskompe-
tenz hat, können für die Medienwirtschaft sehr wesentliche Entscheidungen ge-
troffen werden. Die Prüfung und anschließende Untersagung großer Zusammen-
schlüsse von deutschen Medienunternehmen oder auch eines gebündelten Vi-
deo-on-Demand Angebots öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten sind Bei-
spiele hierfür. Sie illustrieren, dass es oftmals nicht allein die medienspezifischen
und auf eine Sicherung der Meinungspluralität und Medienvielfalt ausgerichte-
ten Regelungen der Länder sind, die über zentrale Weichenstellungen im Me-
dienbereich entscheiden. Vielmehr sind die Verhinderung des Missbrauchs von
Marktmacht und die Gewährleistung eines fairen Leistungswettbewerbs zwar
nicht ausreichende, aber oftmals entscheidende Faktoren. Die engere Verzah-
nung der vielfaltssichernden Medienregulierung der Länder und des Wirtschafts-
rechts des Bundes ist daher wesentlicher Erfolgsfaktor für den Medienstandort
Deutschland, wenn wirtschaftlicher Freiraum und Medienvielfalt gleichermaßen
zu gewährleisten sind. Die verstärkte Zusammenarbeit zum Beispiel des Bun-
deskartellamts und der Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Me-

Wachgeküsst
dienbereich (KEK) war ein naheliegender erster Schritt und ein Ergebnis der Ar-
beit einer gemeinsamen Kommission aus Bund und Ländern zur Medienkonver-
genz. In der 9. Novelle des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB)
wurde der Kommissionsvorschlag durch den Bundesgesetzgeber aufgenommen.
Welche Rolle aber nimmt die BKM im Bereich der Medienpolitik auf Bun-
desebene und im Verhältnis zu den Ländern ein? Diese Frage lässt sich am bes-
ten mit einem konkreten Beispiel beantworten. In den zurückliegenden Mona-
ten wurde in Brüssel intensiv die Novellierung der Audiovisuellen Mediendiens-
te-Richtlinie (AVMD-RL) diskutiert und um die Ausweitung ihres Anwendungs- 328
bereiches sowie die Normierung konkreter Pflichten für Anbieter audiovisueller
Medien gerungen. Die federführende Zuständigkeit für diese Richtlinie liegt in- 329
nerhalb der Bundesregierung bei der BKM. Verhandelt wurde die Richtlinie in
Brüssel in der Ratsarbeitsgruppe Audiovisuelles, für die ebenfalls auf Bundesebe-
ne die BKM federführend ist. Die Verhandlungsführung übten aber ausnahms-
weise die Länder aus. Denn gemäß Art. 23 Abs. 6 GG i.V.m. § 6 Absatz 2 EUZBLG
überträgt die Bundesregierung die Verhandlungsführung in den Beratungsgre-
mien der Kommission und des Rates und bei Ratstagungen in der Zusammen-
setzung der Minister auf einen Vertreter der Länder, wenn im Schwerpunkt aus-
schließliche Gesetzgebungsbefugnisse der Länder auf den Gebieten der schuli-
schen Bildung, der Kultur oder des Rundfunks betroffen sind. So eindeutig, wie
der Gesetzeswortlaut die Voraussetzungen darlegt, war die Frage der Verhand-
lungsführung allerdings nicht. Für die Umsetzung der Richtlinie in nationales
Recht kommt vielmehr – zumindest für Teilbereiche – das Telemediengesetz des
Bundes in Betracht, verantwortet durch das Bundeswirtschaftsministerium und
für die rundfunkspezifischen Aspekte auf Länderebene die Rundfunkstaatsver-
träge. Aufgrund zahlreicher Regelungen zum Jugendschutz und zur Werbung
sind aber zum Beispiel auch das Bundesfamilienministerium (BMFSFJ) oder auch
das Bundesgesundheitsministerium (BMG) betroffen.
In früheren Jahren und bis zur Neufassung im Jahr 2007 lief die AVMD-Richt-
linie unter der Bezeichnung »Fernsehen ohne Grenzen«, womit auch der damali-
ge enge rundfunkpolitische Bezug zum Ausdruck gekommen ist. Dienste, die auf
individuellen Abruf übermittelt wurden (non-linear), waren vom Anwendungs-
bereich ausgenommen. Eine schwerpunktmäßige Betroffenheit der Länder in
ihren ausschließlichen Gesetzgebungskompetenzen (Rundfunk) und damit die
Verhandlungsführung durch die Länder in Brüssel waren unstreitig.
Für die 2018 final verhandelte Neufassung der AVMD-Richtlinie trifft dies
in dieser Klarheit nicht mehr zu. Denn sie öffnet ihren Anwendungsbereich kon-
sequent noch stärker als bisher für die Regulierung auch solcher audiovisuellen
Inhalte, die nicht als klassischer Rundfunk, sondern non-linear über Plattfor-
men wie Youtube oder soziale Netzwerke an die Rezipienten verbreitet werden.
Hier wird also auf EU-Ebene regulatorisch der Konvergenz der Medien und einer
politischen Kernforderung auch der deutschen Medienbranche Rechnung ge-
tragen: Gleiche Regeln auf dem gemeinsamen Spielfeld für alle Akteure, um ei-

7. — Kulturwirtschaft – Tradition und Innovation


nen fairen Wettbewerb – auch publizistisch – zu ermöglichen. Gerade die Ange-
bote auf Plattformen oder durch sogenannte Intermediäre sind es also, die eine
trennscharfe Zuordnung in die Zuständigkeit des Bundes oder der Länder nicht
mehr zulassen. Der Übergang zwischen Rundfunk und Telemedien ist fließend,
auch zwischen einer technischen und einer eher inhaltsbezogenen Regulierung
lässt sich immer weniger trennen. Technische Einstellungen z. B. zur Strukturie-
rung der Bedienungsoberfläche von Smart-TVs haben sehr reale Folgen auch für
die Auffindbarkeit von Programmangeboten. In einem Zeitalter, in dem es im-
mer zentraler geworden ist, dass nicht nur qualitätsvolle Medienangebote be-
reitgestellt, sondern auch vom Rezipienten gefunden werden, kann eine technik-
bezogene Regulierung also nicht mehr von ihrer Bedeutung für Inhalte getrennt
werden. Aktuell wird dies besonders deutlich in der Debatte über die sogenann-
te »Plattformregulierung«. Hier wird es nur dann ein überzeugendes Konzept ge-
ben können, wenn sich Bund und Länder auf einen gemeinsamen Ansatz einigen,
der auch für europäische Entwicklungen offen ist.
Die Rolle der BKM im diesem föderalen Geflecht ist in einem ersten Schritt
die Koordinierung der Bundesinteressen und Erarbeitung einer entsprechenden
Position und in einem zweiten Schritt das Zusammenführen von Bund und Län-
dern, um in Brüssel eine gemeinsame deutsche Haltung in die Verhandlungen
einbringen zu können. Das ist oftmals nicht ganz einfach, zumal an der Schnitt-
stelle zwischen Medien- und Wirtschaftsrecht zwei unterschiedliche Regulie-
rungsansätze aufeinanderstoßen. Das Bundesverfassungsgericht hat wieder-
holt betont, dass es notwendig ist, vorherrschende Meinungsmacht bereits am
Entstehen zu hindern, weshalb die Länder einen regulatorischen Rahmen ver-
antworten, der im Vorfeld solcher Entwicklungen auf der Grundlage einer Risi-
koeinschätzung ansetzt. Das Wettbewerbsrecht des Bundes wiederum ist typi-
scherweise reaktiv konzipiert. Es verhindert z. B. bislang nicht das Entstehen von
marktbeherrschenden Unternehmen, sondern durch Sanktionsandrohung nur
den Missbrauch dieser Position. Zwischen diesen beiden Ansätzen gemeinsame
Linien von Bund und Ländern zu entwickeln z. B. bei der Frage, in welchem Um-
fang auch Intermediäre (z. B. Suchmaschinen und soziale Netzwerke) eine Rele-
vanz für die Meinungsbildung zukommt und auch aus diesem Grund einer (prä-
ventiven) Regulierung bedürfen, ist Aufgabe der moderierenden Rolle der BKM.
Herausforderung ist hierbei die Konzeption eines Ordnungsrahmens, der Mei-
nungs- und Medienvielfalt sichert, zugleich aber die wirtschaftlichen Bedingun-
gen, unter denen sich neue innovative Angebote und Unternehmen entwickeln,
nicht durch Überregulierung behindert. Hierbei hilft für einen Brückenschlag
zwischen Bund und Ländern, dass die BKM aufgrund ihrer weiteren Zuständig-
keiten z. B. für die kulturelle und wirtschaftliche Filmförderung zunächst eine
von den Inhalten und Künstlern kommende Perspektive einnimmt und es ihr
auch gelingt, diese in entscheidenden Debatten durchzusetzen, wie zum Beispiel
in den Verhandlungen einer Kabel- und Satelliten-Verordnung der EU (SatCab).
Dass die jüngsten Vorschläge aus der Wissenschaft für neue Wettbewerbsregeln

Wachgeküsst
im GWB nun durch ein Absenken der Interventionsschwelle ebenfalls regulato-
risch eingreifen wollen, schon bevor zu viel Marktmacht digitaler Plattformen
entstanden ist, zeigt die Offenheit der Systeme für gemeinsame Lösungsansät-
ze. Dort, wo u. a. aufgrund von Marktmacht, Netzwerk- und Log-In-Effekten kein
fairer ökonomischer Wettbewerb besteht, ist auch ein für unsere Demokratie we-
sentlicher publizistischer Wettbewerb nur schwer möglich.
Am Ende ist eine sachorientierte Medienpolitik also eine kompetenzrecht-
liche Querschnittsaufgabe von Bund und Ländern. Bei einem spekulativen Blick
in die medienpolitische Zukunft wird dies noch deutlicher. Geht man davon aus, 330
dass der klassische Rundfunk in seiner herkömmlichen Art und einfachgesetz-
lichen Konzeption mittelfristig kein ausreichendes Konzept mehr sein wird, um 331
den aus der Rundfunkfreiheit abgeleiteten verfassungsrechtlichen Funktions-
auftrag zur umfassenden Meinungsbildung zu erfüllen, so entfällt auch ein zen-
trales Abgrenzungskriterium für die Aufgabenteilung zwischen Bund und Län-
dern. Die vielschichtigen Informations- und Kommunikationsnetzwerke bedin-
gen an ihren Schnittstellen den Bedarf an neuen Funktionen öffentlich-recht-
licher Angebote, die weniger durch eigene Inhalte und stärker als bisher durch
Orientierungshilfen oder Angebote zur Medienkompetenz geprägt sein könnten.
Auch die internationale Verbreitung von Inhalten der Rundfunkanbieter
wird zunehmen und damit eine weitere klassische Grenzziehung zwischen Bun-
des- und Länderkompetenz obsolet werden. Gilt bislang, dass der Bund für den
Auslandsrundfunk (Deutsche Welle) und die Länder für den Inlandsrundfunk zu-
ständig sind, so zeigt sich schon heute, dass eine Beschränkung von ARD und
ZDF auf das Sendegebiet Deutschland beim Zugriff auf die Angebote der öffent-
lich-rechtlichen Mediatheken faktisch aufgehoben ist. Alles andere wäre Rezi-
pienten, die es gewohnt sind, über das Internet weltweit auf alle Angebote zu-
zugreifen, nur schwer vermittelbar. In Zeiten, in denen in ganz Europa der öf-
fentlich-rechtliche Rundfunk mit Akzeptanzproblemen zu kämpfen hat, wäre
eine solche Beschneidung auch ein fatales Signal der Rückständigkeit. Zugleich
kann dies aber nicht bedeuten, dass die Aufgabe des Auslandfunks entfällt. Im
Gegenteil. In Zeiten der digitalen Entgrenzung und auch ganz realer Zuwande-
rung wäre zu überlegen, das fremdsprachige Angebot der Deutschen Welle auch
innerhalb Deutschlands gezielter auszustrahlen. Nicht nur in der Kulturpolitik
ist also ein stärkeres Zusammenwirken von Innen und Außen erforderlich. Auch
für die Medienpolitik muss dies gelten.
Wer zu Recht politisches Tätigwerden einfordert, um in Zeiten des Internets
unsere gesellschaftlichen Werte und daraus resultierend auch unsere bewährte
Medienordnung aufrecht zu erhalten, der muss auch eine weitere Stärkung der
Entscheidungskompetenzen Brüssels anerkennen. Nationalstaatliche Insellö-
sungen helfen angesichts der globalen Vernetzung und auch medialer Wirkungs-
zusammenhänge nicht mehr weiter. Nationalstaatlich werden weder befriedigen-
de Lösungen für Steuer- und Abgabeoasen gefunden, noch verbindliche Verant-
wortlichkeitsmaßstäbe für große Plattformen tatsächlich durchgesetzt. Es wird

7. — Kulturwirtschaft – Tradition und Innovation


nur europäisch wenn nicht sogar im noch größeren Rahmen gelingen, taugliche
Lösungen für eine zukünftige Medienordnung zu entwickeln, die auch die wirt-
schaftlichen Kräfte der globalen Akteure ausreichend berücksichtigt. Vorausset-
zung hierfür ist, dass innerhalb Europas Einigkeit über diese Ziele besteht und
sie nicht durch nationale Alleingänge z. B. im Steuerrecht konterkariert werden.
Die auch medienpolitische Chance Europas ist es, als Wertegemeinschaft die ent-
scheidenden Impulse für eine Weiterentwicklung zu setzen. Der Datenschutz ist
ein Bereich, wo dies bereits gelingt. Dies bedeutet nicht, dass in einer erneuten
Föderalismusreform die Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Ländern
im Bereich der Medien unmittelbar aufgemacht werden müsste. Aber eine wei-
tere Institutionalisierung gemeinsamer Verfahren, die über eine nur temporä-
re Rücksichtnahme bei sich überschneidenden Kompetenzen hinausgeht, wäre
wünschenswert.

Wachgeküsst
Dieter Gorny
Initiative Musik –
Dialogplattform 332

und kulturelle 333

Infrastruktur für
Rock, Pop & Jazz
Mit der Initiative Musik ist für die zeitgenössische Rock-, Pop- und Jazzmusik
erstmals der Versuch geglückt, eine bundesweite Institution zu gründen und zu
etablieren, deren Notwendigkeit nie zur Debatte stand. Ihre Entstehung geht mit
einem neuen Kulturverständnis für Pop, Rock und Jazz in Deutschland einher, für
das die Initiative Musik ein maßgeblicher Motor ist. Die Förderinstitution trägt
durch ihre kontinuierliche Tätigkeit in Deutschland maßgeblich zum Erhalt und
zur Entwicklung der kulturellen Infrastruktur für Rock, Pop und Jazz bei. Die In-
itiative Musik schafft so eine Basis für spannende neue Musik.

Historische Einordnung – fehlende Popförderstrukturen in Deutschland

Analysiert man die Geschichte der Popmusikförderung in Deutschland, so muss


man festhalten, dass es bis zur Gründung der Initiative Musik im Jahr 2007 auf
Bundesebene keine ausgeprägten Fördertraditionen für zeitgenössische Rock-,
Pop- und Jazzmusik gab, insbesondere im Vergleich zu anderen europäischen
Ländern, wie z. B. Frankreich, Schweden oder den Niederlanden. Die zentralis-
tisch geprägte französische Musikförderpraxis unterschied bereits zu dieser Zeit
nicht zwischen U- und E-Musik. Noch weiter ging man in den Niederlanden, wo
die einzelnen Kunstgattungen nicht strikt getrennt betrachtet gefördert wurden
und werden. In diesem Kontext ist es aber wichtig zu ergänzen, dass in Deutsch-
land einzelne professionelle Pop-, Rock- und Jazzförderstrukturen gerade auf
kommunaler und auf Landesebene zum Teil bereits gegeben waren. Die späten
1970er und frühen 1980er Jahre waren in den alten Bundesländern und Westber-

7. — Kulturwirtschaft – Tradition und Innovation


lin insbesondere durch die Gründung von Rockbüros und Musikinitiativen ge-
kennzeichnet, die eine professionelle Förderung anstrebten. So boten z. B. die in
den 1980er und in den 1990er Jahren durchaus beliebten Rockwettbewerbe den
teilnehmenden Musiker und Musikerinnen überregionales Prestige und für die-
se Zeit durchaus beachtliche Preisgelder. So unterstützte z. B. der Berliner Se-
natsrockwettbewerb – mit bis zu 10.000 DM Preisgeld – einige beachtliche Kar-
rieren, wie Rainbirds (1986) und Die Ärzte (1984).
Es handelte sich um erste professionelle, kulturwirtschaftlich ausgerichtete
Förderstrukturen, die parallel zu einer Tonträgerwirtschaft (Recorded Music) exis-
tierten, die kurz darauf mit Einführung der CD ihre kommerziellen Rekordjahre
erlebte. So initiierte beispielsweise das in Wuppertal gegründete »Rockbüro NRW«
1989 im Düsseldorfer Musikclub ZAKK die Musikmesse Popkomm. Einige dieser
Rockbüros, Initiativen und ihre Wettbewerbe bestehen auch heute noch weiter.
Zur Jahrtausendwende gab es allerdings weder durchgängige kommuna-
le Förderstrukturen noch ein ausgeprägtes Selbstverständnis für die Pop-, Rock-
und Jazzmusik als Kulturgut. Die Akteure der Branche hatten es noch nicht ge-
lernt, ihre Bedeutung für die kulturelle Vielfalt in Deutschland gegenüber Zivil-
gesellschaft und insbesondere der Kulturpolitik zu artikulieren. In anderen euro-
päischen Ländern war man im Hinblick auf diese Lobbyarbeit und die Strukturen,
wie eingangs erwähnt, längst viel weiter. 2003 wurde dann als erster Versuch auf
Bundesebene – übrigens in den Jahren der stärksten Umsatzkrise am Tonträger-
markt – das Exportbüro »German Sounds« gegründet. Dieses stellte nach Aus-
laufen der staatlichen Anschubfinanzierung Ende 2006 seine Aktivitäten wieder
ein. Das kulturpolitische Klima für die Popmusik verbesserte sich in dieser Zeit
jedoch Stück für Stück. So startete z. B. im Jahr 2003 in Mannheim mit der Pop-
akademie Baden-Württemberg (University Of Popular Music And Music Business)
die erste staatliche Hochschuleinrichtung, für eine umfassende Ausbildung für
populäre Musik und Musikwirtschaft in Deutschland. Weiter veranstalteten öf-
fentliche Theaterhäuser, wie z. B. die Berliner Volksbühne, regelmäßig Konzert-
reihen mit experimenteller Pop-, Rock- und Jazzmusik. Der Einzug dieser Mu-
sikangebote in den traditionellen Stätten der »Hochkultur«, der insbesondere in
den Jahren zwischen 2000 und 2010 in den Kulturredaktionen und der lokalen
Kulturpolitik zum Teil heftig diskutiert wurde, ist heutzutage selbstverständlich.

Initiative Musik – Förderstrukturen für eine


lebendige Musikszene von Pop bis Jazz

In dieser historisch spannenden Ausgangslage wurde 2007 die Initiative Mu-


sik gegründet, mit dem Ziel, endlich eine Bundesstruktur aufzubauen, die in die
Länder und Kommunen hineinwirkt. Es ging dabei von Beginn an darum, ge-
meinsam mit einer vielfältigen Kultur- und Kreativwirtschaftsbranche Konzep-
te zu entwickeln und durch den inneren Diskurs, ein selbstlernendes kulturpo-
litisches System aufzusetzen.

Wachgeküsst
Gesellschafter waren im Gegensatz zu »German Sounds« nicht gleich elf Verbän-
de und Institutionen aus der Musikwirtschaft, sondern »nur« die Gesellschaft zur
Verwertung von Leistungsschutzrechten (GVL) und der Deutsche Musikrat. Die
Grundfinanzierung der Geschäftsstelle erfolgt seitdem durch die Verwertungs-
gesellschaften GVL und die Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und me-
chanische Vervielfältigungsrechte (GEMA), als Institutionen und Förderer aus
der Musikwirtschaft.
Die Vielfalt der einzelnen Musikwirtschaftsverbände und ihre Persönlich-
keiten spiegelten sich nicht mehr in der organisatorischen Gesellschafterstruk- 334
tur wie bei »German Sounds«, sondern nur noch im Aufsichtsrat wider, der in
den ersten Jahren auch die Aufgabe der Jury für die Künstler- und Infrastruktur- 335
förderung wahrnahm. Dabei ist die Initiative Musik von Beginn an mehr als ein
reiner Förderer von Musikprojekten. Die Fördereinrichtung initiierte und unter-
stützte insbesondere in den Anfangsjahren aktiv strukturentwickelnde Konzep-
te. So wurden internationale Förderstrukturen analysiert und für Deutschland
in dessen Folge die Beteiligung am European Music Office (EMO) von der GEMA
übernommen. Hier schlossen sich die Musikexportbüros von zwölf europäischen
Ländern als strategische Partner zusammen. Eine Verbindung und Ausweitung
auf inzwischen 18 Partnerländer unter dem Namen EMEE (European Music Ex-
porters Exchange), die Erfolgsprojekte wie das European Talent Exchange Pro-
gramme (ETEP, EU gefördert) u. a. hervorbrachten und bis heute als Nukleus für
Musikförderungen auf Europäischer Ebene wirkt.
Vor allem der Vergleich zu den europäischen Förderpraxen offenbarte die Not-
wendigkeit für Reisekostenzuschüsse für Künstler und Künstlerinnen aus Deutsch-
land zu internationalen Events. Daraus entstand die Kurztourförderung als Ei-
genprojekt der Initiative Musik. Hier werden seit 2010 jährlich um die 80 bis 100
Künstler und Künstlerinnen unterstützt, internationale Auftrittsangebote wahrzu-
nehmen, die aus professioneller Perspektive eine außergewöhnliche Chance zum
Markteintritt sowie zu weiterer Etablierung in neue Territorien bieten.
Ein ganz besonderer strategische Startschuss für neue Partnerschaften und
Aktionen war die von der Initiative Musik eingeführte Popförderkonferenz Plan-
Pop! (2009 und 2012). Hieraus entwickelte sich die gesamte Förderung des Live-
marktes – vor allem der Clubs. Dazu zählen die Pilotprojekte zur Spielstättenför-
derung in Bayern, Nordrhein-Westfalen, der Region Stuttgart und in Berlin eben-
so wie das gemeinsame Bund-Länder-Projekt »Spielstättenportrait«, welches die
Bedarfe der Clubmacher verdeutliche und so entscheidende Erkenntnisse für die
kommenden Clubförderprojekte schaffte. Hierzu gehört auch in Folge die Grün-
dung der Live Musik Kommission, Verband der Musikspielstätten in Deutschland
e. V. (kurz LiveKomm), die im Rahmen des Programms zur Infrastrukturförderung
eine Anschubfinanzierung erhielt.
Eine weitere Folge aus PlanPop!, dieser Clubentwicklungen und in Zusam-
menarbeit mit der Bundeskonferenz Jazz stellt der Spielstättenprogrammpreis
Rock, Pop und Jazz der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Me-

7. — Kulturwirtschaft – Tradition und Innovation


dien im Jahr 2013 dar. Der höchstdotierte Bundesmusikpreis trägt mittlerwei-
le den Namen »APPLAUS – Auszeichnung der Programmplanung unabhängiger
Spielstätten«. Mit einem Volumen von inzwischen jährlich zwei Millionen Euro
zielt er auf eine Verbesserung der kulturellen Infrastruktur für Rock-, Pop- und
Jazzmusik ab, denn die Musikclubs prägen unser Kulturleben, sowohl in den ur-
banen als auch in ländlichen Räumen. Sie sind abseits von durchsubventionier-
ten Strukturen – wie kommunale Schauspiel- und klassische Konzerthäuser –
die lokalen Livemusikanbieter, die hochgradig zur kulturellen Vielfalt beitra-
gen. Dazu sind sie Entwicklungsstätten für eine Musikszene, die wiederum auch
durch die Künstlerförderung der Initiative Musik flankiert wird. Der APPLAUS
schafft mehr öffentliche Aufmerksamkeit für die Belange der Programmmacher
und Wertschätzung für ihre so wichtigen Konzertangebote. Die weiteren Club-
förderungen, wie die Digitalisierungsförderung und das Programm für techni-
sche Erneuerungs- und Sanierungsbedarfe, flankieren seit 2016 den Förderpreis.
Beide Förderprogramme wurden von der LiveKomm in Kooperation mit der Ini-
tiative Musik entwickelt und in Folge umgesetzt.
In den ersten 10 Jahren konnten insgesamt 2.800 Projekte gefördert wer-
den. Bis Mitte 2013, also in den ersten fünf Jahren, hatte die Initiative Musik ca.
800 Projekte bezuschusst. In den folgenden fünf Jahren waren es schon 2.000
weitere Projekte, ein Wachstum, was mit einer stetig steigenden Anzahl an För-
deranträgen einherging. Die verantwortungsvolle Aufgabe der Auswahlentschei-
dungen wurde dabei vom Aufsichtsrat an Förderjurys übertragen, denn je grö-
ßer die Förderbudgets werden, umso wichtiger sind unabhängige Entscheidungs-
mechanismen.
Die Initiative Musik konnte sich dabei in kürzester Zeit zu einer zuverläs-
sigen öffentlichen Einrichtung zur professionellen Newcomerförderung entwi-
ckeln. Dabei ist sie eben kein Verband, sondern eine übergeordnete wie unab-
hängige Förder- und Dialogplattform. Dies unterstreichen gemeinsame Projekte,
wie die vom Tagesspiegel Verlag und der Initiative Musik veranstaltete Konferenz
Agenda Musikwirtschaft im Sommer 2018. Bei der Konferenz, die vom Bundes-
verband der Veranstaltungswirtschaft bdv initiiert wurde, wirkten 15 Verbände
und Institutionen der Musikwirtschaft mit, die erstmals gemeinschaftlich Her-
ausforderungen und Lösungsvorschläge gegenüber der Bundesregierung, Oppo-
sition und Öffentlichkeit präsentierten.
Gleichzeitig war und ist die Initiative Musik ein ganz wichtiger Impulsgeber
hin zu einer Denkweise, dass es bei der Förderung der kulturellen Vielfalt auch
darum gehen muss, die ökonomische Wertstellung der Kulturmachenden ein-
zubeziehen, sofern diese nicht in einer durchsubventionierten staatlichen oder
kommunalen Einrichtung tätig sind. Es geht darum, dass eine popkulturelle Viel-
falt hier nur im Kontext der ökonomischen Rahmenbedingungen möglich ist, in
denen die Künstlerinnen und Künstler und die musikwirtschaftlichen Kleinun-
ternehmer agieren, selbst im Jazz, wo es Musikerinnen und Musiker und Clubs
am Markt besonders schwer haben.

Wachgeküsst
Hauptfördergeberin ist die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Me-
dien, mit deren Mitteln insbesondere Förderangebote für Künstlerinnen und
Künstler und Musikclubs realisiert werden. Dazu erhält die Initiative Musik Pro-
jektgelder vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, für das sie seit
2010 für die Initiative Kultur- und Kreativwirtschaft (KuK) und das Auslandsmes-
seprogramm mit unterschiedlichen Bundesländerpartnern den deutschen Ge-
meinschaftsauftritt zur South by Southwest (SXSW) im texanischen Austin ko-
ordiniert. Das zehntägige Event mit Messe, Konferenzen und Festivals für Mu-
sik, Film und Technologie zählt zu den weltweit führenden Kultur- und Kreativ- 336
wirtschaftsveranstaltungen. »WUNDERBAR – Germany at SXSW« gilt dabei als
eines der Leuchtturm-Projekte der KuK. 337
Darüber hinaus ist die Initiative Musik neben dem Goethe-Institut seit 2010
der Projektpartner für kultur- und musikwirtschaftliche Themenreisen im Rah-
men des Besucherprogramms der Bundesrepublik Deutschland. Das vom Aus-
wärtigen Amt koordinierte diplomatische Programm ermöglicht pro Reise bis zu
20 ausländischen Meinungsmultiplikatoren – insbesondere hochkarätige Festi-
valdirektoren und Journalisten – sich durch eigenes Erleben und gezielte Infor-
mationen ein authentisches und differenziertes Bild von Deutschland zu ma-
chen. In Folge der vorangegangenen Themenreisen wurden zahlreiche deutsche
Newcomerbands, insbesondere Jazz-Ensembles, zu internationalen Auftritten
eingeladen.

Perspektive – als übergeordnete Struktur unentwegt


im Sinne der Künstlerinnen und Künstler agieren

Die Initiative Musik hat sich in relativ kurzer Zeit zu einer ausgelagerten »öffent-
lichen Einrichtung« des Bundes und der Musikwirtschaft entwickelt, die für eine
aktivierende Kulturpolitik für Rock, Pop und Jazz steht. Dies passierte von Be-
ginn an unter Einbeziehung der Musikwirtschaft als Antragspartner der Künst-
lerinnen und Künstler und zahlreicher Persönlichkeiten der unterschiedlichen
Verbände in den Gremien, wie Aufsichtsrat und Förderjurys.
Offensichtlich ist, dass eine öffentliche Institution von dieser Bedeutung
das Thema Popförderung weiter aktiv diskutierend nach vorne bringen muss,
um den wachsenden Förderaufgaben gerecht zu werden. Die Initiative Musik ist
dabei keine Lobbyeinheit wie die Verbände, die aktiv für bestimmte Bereiche der
Musikwirtschaft eintreten. Sie ist vielmehr eine neutrale Plattform, die als über-
geordnete Struktur stets im Sinne der Künstlerinnen und Künstler agieren soll-
te. Dabei gilt es, weiterhin sowohl die jeweiligen Verbände als auch die regiona-
len Popförderbüros aktiv in Förderprojekte und Strukturbildungen einzubinden.
Zusammengefasst zeigt die Erfahrung der ersten 10 Jahre, dass erfolgrei-
che Projekte zur Förderung von Rock, Pop und Jazz in Deutschland mittlerwei-
le beachtliche Chancen zur Verstetigung haben, wenn diese Erfolgsgeschichten
auch aktiv gegenüber der Politik (Land, Bund und EU) und Öffentlichkeit kom-

7. — Kulturwirtschaft – Tradition und Innovation


muniziert werden. Dabei gilt es, weiter mit unterschiedlichen Partnern konkre-
te Bedarfe für Künstlerinnen und Künstler sowie Musikschaffende zu analysie-
ren und kreativ neue Projekte und Förderinstrumente zu initiieren und diese im
Sinne und Dialog mit den Musikerinnen und Musikern und viel Leidenschaft für
die Musik umzusetzen.

Wachgeküsst
Felix Falk
Computer-
spiele und 338

die Kulturpolitik 339

des Bundes
Wie hat sich die Kulturpolitik der Bundesregierung in den vergangenen 20 Jah-
ren mit Blick auf Computer- und Videospiele verändert? Schauen wir einmal
zurück und wagen ein kleines spielerisches Experiment. Stellen wir uns die fol-
gende Szene im Jahr 1998 vor, also vor 20 Jahren: Der noch neue Bundeskanzler
Gerhard Schröder empfängt erstmals den damaligen US-Präsidenten Bill Clin-
ton. Zu jedem Staatsbesuch, erst recht mit einer solchen Bedeutung, gehört ein
symbolstarkes Begrüßungsgeschenk. Gesucht wäre also am besten ein Symbol,
das die große Kulturnation Deutschland repräsentiert. Doch was wählt man hier
aus? Werke von Goethe, Wagner oder Grass? In unserem spielerischen Experi-
ment entscheidet sich Gerhard Schröder für kein Werk dieser drei Künstler, son-
dern für ein Computerspiel aus Deutschland.
Eine kaum vorstellbare Szene für die damalige Zeit. Welchen Aufschrei hät-
te es wohl gegeben? Wie hätten die Kulturszene und Kulturpolitiker in Deutsch-
land auf eine solche Wahl reagiert? Sehr wahrscheinlich hätte es ordentlich Kri-
tik gehagelt. Allerdings hat sich eine solche Szene vor ein paar Jahren in unserem
Nachbarland Polen genauso abgespielt: 2011 überreichte Premierminister Donald
Tusk dem US-Präsidenten Barack Obama ein Computerspiel als Begrüßungsge-
schenk. Es handelte sich um das Rollenspiel »The Witcher 2«, der Welterfolg vom
polnischen Entwickler CD Project Red. In der Spielwelt und der Geschichte wird
unter anderem die reiche Sagenkultur des Landes thematisiert. Ein Computer-
spiel als Geschenk bei einem Treffen von Spitzenpolitikern – und das ganz voller
Stolz und ohne öffentliche Entrüstung. 20 Jahre neue Kulturpolitik der Bundes-
regierung – das ist mit Blick auf Games eine ganz besondere Perspektive: Denn
in diesen Zeitraum fallen nicht nur die ersten Diskussionen um das verhältnis-
mäßig junge Medium auf bundespolitischer Ebene. Auch hat sich der Blick auf
Computer- und Videospiele in den vergangenen 20 Jahren maßgeblich verändert.

7. — Kulturwirtschaft – Tradition und Innovation


Die ersten Jahre: Games im Fokus der Kritik

Das spielerische Gedankenexperiment wirkt auch deswegen so unrealistisch, weil


Computer- und Videospiele bei der Einsetzung der Beauftragten der Bundes-
regierung für Kultur und Medien, kurz BKM, vor 20 Jahren kaum wahrgenom-
men wurden. Zwar spielten auch schon damals Millionen Menschen in Deutsch-
land regelmäßig auf ihrem Computer oder ihrer Spielekonsole und doch wur-
den Games eher als wenig ernst zu nehmendes Jugendmedium wahrgenommen
denn als Kulturmedium.
Der Blick zurück auf die Wahrnehmung von Games als Kulturmedium ist
aber auch für mich persönlich besonders spannend. Denn spätestens seit 2004
ist mein beruflicher Werdegang eng mit dieser Entwicklung verwoben. Daher er-
laube ich mir für diesen Rückblick auch eine persönliche Perspektive.
In den ersten Jahren des BKM spielte das junge Medium keine Rolle. Erst um
die Jahrtausendwende änderte sich das. Nach dem schrecklichen Amoklauf 2002
in Erfurt rückten Computer- und Videospiele erstmals verstärkt in den Fokus der
Bundespolitik. Auf der Suche nach Erklärungen für die unvorstellbare Tat, wur-
de immer wieder sehr laut und teilweise auch schrill auf den Medienkonsum des
Attentäters verwiesen: Dieser war unter anderem Spieler des Taktik-Shooters
»Counter-Strike«. In die mediale und politische Debatte trat immer stärker die
simple These, dass es einen direkten, unmittelbaren Zusammenhang zwischen
dem Spielen von Titeln wie »Counter-Strike« und Amokläufen gäbe. Der Begriff
der »Killerspiele« wurde dabei maßgeblich vom damaligen bayerischen Innen-
minister Günter Beckstein geprägt. Eine Folge war das 2003 novellierte Jugend-
schutzgesetz, in das z. B. die gesetzliche Kennzeichnung von Spielen durch die
Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK) aufgenommen wurde. Damals lief
die Diskussion jedoch weitestgehend ohne eine kulturpolitische Beteiligung ab.
Statt die vielen unterschiedlichen Facetten von Computer- und Video-
spielen zu diskutieren, bestimmte auch in den Folgejahren weiter die »Killer-
spiel«-Debatte den Diskurs. Im Mittelpunkt standen fast ausschließlich ver-
meintliche Gefahren, aber kaum die Chancen des Mediums. 2005 nach dem
Amoklauf von Winnenden verstärkte sich abermals die Debatte um den negati-
ven Einfluss von Ego-Shootern auf die Spieler. Die damalige Berichterstattung
glich eher einer Kampagne gegen Computer- und Videospiele, als dass man sich
ausgewogen mit dem neuen Medium beschäftigte. Auf die damaligen Diskussi-
onen folgte Ende 2005 sogar ein geplantes »Verbot von Killerspielen« im Koali-
tionsvertrag von CDU, CSU und SPD.
In der Debatte gab es im Wesentlichen nun schon zwei Lager im Deutschen
Bundestag: Auf der einen Seite standen die Familienpolitiker, die Games häu-
fig pauschal kritisierten. Besonders die damalige Familienministerin Ursula von
der Leyen setzte sich vehement für ein Verbot der sogenannten »Killerspiele«
ein. Auf der anderen Seite meldeten sich zunehmend Medien- und Kulturpo-
litiker zu Wort, unter denen sich einige Mutige für die Anerkennung des Medi-

Wachgeküsst
ums aussprachen und damit gegen die pauschale Verteufelung sowie die medi-
al und politisch vorherrschende Meinung kämpften. Hierzu gehörten unter an-
derem Monika Griefahn, deren Büroleiter ich damals war, Dorothee Bär, Griet-
je Bettin oder Jörg Tauss.
Die Auseinandersetzung führte damals zu zwei Ergebnissen, die heute noch
Bestand haben: Zum einen wurde unter Bundesfamilienministerin von der ­Leyen
das Jugendschutzgesetz damals erneut überarbeitet. Dabei wurden die Alters-
kennzeichen vergrößert und Indizierungstatbestände erweitert. Beide Änderun-
gen waren eine direkte Folge der Verbotsdebatte. Tatsächlich blieben die Erwei- 340
terungen in den Indizierungstatbeständen bis heute ungenutzt. Die gesetzli-
chen Vorgaben waren zuvor schon so strikt, dass gewaltverherrlichende Compu- 341
ter- und Videospiele in Deutschland ohnehin nicht auf den Markt kamen. Damals
wie heute hat Deutschland weltweit eines der strengsten Jugendschutzsyste-
me. Die damalige Reform war eher Symbol und Aktionismus, um politisch auf
die Gräuel und die Unvorhersehbarkeit von Amokläufen zu reagieren. Das zwei-
te Ergebnis der damaligen Debatte war ein Aufbruch der bis dato herrschenden
Erzählung über Computer- und Videospiele, die einzig und allein auf vermeint-
liche Gefahren reduziert wurden. Immer häufiger kam jetzt die Forderung auf,
nicht pauschal über ein ganzes Medium zu urteilen und Games auch als Kultur-
medium zu betrachten.

Die Gründung des Deutschen Computerspielpreises

Diese Debatte, Games doch auch als Kulturmedium zu verstehen, war ein wich-
tiger Schritt. Denn schon damals zeigte sich die unglaubliche Vielfalt des Medi-
ums. Es gab und gibt unzählige wunderbare Titel, die sich auch komplexen und
schwierigen Themen auf unterschiedlichste Art und Weise nähern. Die Inter-
aktivität von Games eröffnet einen ganzen Kosmos neuer Erzähltechniken und
schafft es gleichzeitig, zu motivieren und anzuregen. Auch gab und gibt es im-
mer mehr Kunstwerke unter den vielen Computer- und Videospielen. Aus die-
ser Kulturdebatte heraus entstand die Idee des Deutschen Computerspielpreises,
also einer Auszeichnung der Bundesregierung für besonders gelungene Titel aus
Deutschland. 2007, zwei Jahre nachdem ein Verbot der sogenannten Killerspiele
in den Koalitionsvertrag aufgenommen wurde, verabschiedete der Deutsche Bun-
destag nach viel Überzeugungsarbeit den Antrag zur Einrichtung des Deutschen
Computerspielpreises. Der damalige Kulturstaatsminister Bernd Neumann stand
dem neuen Preis zwar skeptisch gegenüber, nahm ihn aber in seinem Haus auf.
Die Einrichtung des Deutschen Computerspielpreises war ein starkes Signal.
Die Kultur- und Medienpolitiker schafften es dadurch, die öffentliche Debatte in
Politik und Medien über Games deutlich zu versachlichen. Die bis dato häufig ein-
seitig negative Perspektive wurde jetzt durch die Anerkennung der positiven As-
pekte des Mediums ergänzt. Ganz wesentlich zu dieser Perspektiv-Verschiebung
und der Anerkennung von Games als Kulturgut trugen Olaf Zimmermann und

7. — Kulturwirtschaft – Tradition und Innovation


der Deutsche Kulturrat bei, die sich sehr engagiert in die Debatte einbrachten
und sich dabei gegen sehr viele interne und externe Kritiker durchsetzen muss-
ten. Hinzu kamen zahlreiche Mitstreiter in der Games-Branche, in Kultur, Poli-
tik und Gesellschaft, deren Engagement an dieser Stelle mit gewürdigt sein muss.
2009 wechselte ich selbst vom Bundestag zur USK. Zur damaligen Zeit galt
es, den Jugendschutz weiterzuentwickeln und die USK als Organisation zu pro-
fessionalisieren. Die erste Verleihung des Computerspielpreises fand 2009 statt
und half der zunehmend ausgewogeneren Debatte um Games. Doch auch wenn
weniger laut und pauschalisierend über das Medium diskutiert wurde, ging es
weiter hoch her. Bei den Jury-Sitzungen zum Deutschen Computerspielpreis
konnten sich die beiden Seiten nur schwer über die Preisträger einigen. Für die
Folgejahre sollten daher eindeutige Kriterien her, die ich gemeinsam mit Benja-
min Rostalski bei der USK, heute Projektmanager bei der Stiftung Digitale Spie-
lekultur, entwerfen durfte. Zwar halfen die Kriterien in den Folgejahren sich eher
in den Jury-Sitzungen auf die Gewinner-Titel zu einigen. Doch sobald es um die
Darstellung von Gewalt in Spielen ging, wurden weiterhin heftige Diskussio-
nen entfacht.
Höhepunkt dieser Entwicklung war 2012 die Jury-Sitzung, bei der »Crysis«,
ein Ego-Shooter mit einer USK-Alterseinstufung ab 18 Jahren vom Frankfurter
Spiele-Entwickler Crytek, zum besten Deutschen Spiel gewählt wurde. Gerade
auch die Kultur- und Medienpolitiker in der Jury hatten sich für die Auszeich-
nung dieses Titels trotz der Gewaltdarstellungen eingesetzt. Den Erzählungen
nach war unter anderem eine wütende Vorladung in das BKM die Folge.
Auch öffentlich wurde deutlich, dass Kulturstaatsminister Bernd Neumann
kein Freund der Jury-Entscheidung war. Der kulturpolitische Sprecher der Uni-
onsfraktion Wolfgang Börnsen war schnell wieder bei alten Kampfbegriffen und
hielt es für »unvertretbar, ein sogenanntes Killerspiel zu nominieren«. Zwar kam
Kulturstaatsminister Neumann zur Verleihung des Preises und hielt dort zu Be-
ginn eine kritische Rede. Doch die eigentlich ihm gebührende Laudatio zum
Hauptpreis lehnte er ab. Zu meiner Überraschung wurde ich gebeten, an seiner
statt die Rede zu halten, was ich gerne tat: »Computerspiele haben das Recht auf
einen vorurteilsfreien Blick wie alle anderen Medien auch. Diesen Blick können
wir gerade in Deutschland wagen: Denn wo Jugendschutz funktioniert, da kön-
nen wir uns auch über hochwertige Inhalte für Erwachsene freuen« – diese Sät-
ze meiner Rede sind mir noch immer gut im Gedächtnis. Und auch wenn die-
se Auszeichnung die Debatte in Teilen der Politik wieder entfachte, so blieb der
große Eklat doch aus.

Ein Kulturmedium im Verkehrsministerium

Es war recht offensichtlich, dass die Auseinandersetzungen rund um den Deut-


schen Computerspielepreis dessen Beliebtheit im BKM nicht gerade steigen lie-
ßen. 2013 gab die Nachfolgerin von Bernd Neumann, Monika Grütters, die Zustän-

Wachgeküsst
digkeit für den Preis an das Ministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur von
Alexander Dobrindt ab: Ein Kulturmedium war damit ab sofort im Verkehrsminis-
terium angesiedelt. Die deutsche Games-Branche reagierte auf die Entscheidung
mit großem Unverständnis und auch der Deutsche Kulturrat übte deutliche Kritik.
Doch das Verkehrsministerium stellte sich als alles andere als ein Abstell-
gleis heraus: Dorothee Bär, bereits zuvor schon im Bundestag eine deutliche Für-
sprecherin von Games, war als Parlamentarische Staatssekretärin im Ministeri-
um für Verkehr und digitale Infrastruktur für den Deutschen Computerspielpreis
mit verantwortlich. Und so konnten einige bedeutende Schritte bei der Weiter- 342
entwicklung unternommen werden. Die Kriterien etwa, nach denen ein Spiel
auszeichnungswürdig ist, konnten endlich mutig überarbeitet werden. Games 343
mussten von nun an nicht mehr pädagogisch und kulturell wertvoll sein, um
beim Deutschen Computerspielpreis ausgezeichnet zu werden, denn an die Stel-
le des »und« wurde ein »oder« gesetzt. Noch weitreichender war die Aufnahme
der neuen Kriterien »innovativ« und »Spielspaß«. Endlich konnte auch formal
anerkannt werden, wenn Spiele aus Deutschland besonders gute Unterhaltung
boten. Zu dieser Zeit wurden noch weitere wichtige Weichenstellungen für den
Deutschen Computerspielpreis unternommen: Die Preisgelder wurden aufge-
stockt und auch die Gala wurde deutlich aufgewertet.
Bereits 2011 wurde zudem die Stiftung Digitale Spielekultur gegründet. Sie
geht auf eine Initiative zwischen dem BKM, dem Deutschen Bundestag, den da-
mals noch zwei Verbänden der deutschen Games-Branche, BIU und GAME, so-
wie der USK zurück. Nach Peter Tscherne leitet seit 2018 Çiğdem Uzunoğlu die
Arbeit der Stiftung, die als zentrale Institution viele wichtige Projekte in den Be-
reichen Bildung, Kultur und Forschung durchführt. Dazu gehört auch die Leitung
des Award-Büros des Deutschen Computerspielpreises.
Nach der Bundestagswahl 2017 hat der Deutsche Computerspielpreis nun
abermals eine neue politische Heimat erhalten. Nachdem in früheren Zeiten eher
der Eindruck von Abwehrkämpfen entstanden war, vermittelten die Koalitions-
verhandlungen 2018 eher den entgegengesetzten Eindruck. Mit Verantwortli-
chen aus den Bereichen Digitales, Kultur, Verkehr und Wirtschaft warben gleich
mehrere Seiten um die Verortung von Games in ihrem Ministerium. Letztendlich
bleibt Dorothee Bär nun als Staatsministerin für Digitalisierung im Bundeskanz-
leramt für den Deutschen Computerspielpreis zuständig. Damit kehren Games
zwar nicht in das BKM zurück, sind aber doch wieder im Bundeskanzleramt an-
gekommen. Die Games-Förderung wird dagegen im Verkehrsministerium ver-
antwortet. Doch nicht zuletzt über Projekte mit der Stiftung Digitale Spielekul-
tur nutzen mittlerweile zahlreiche Ministerien die großen Potenziale von Games.
Das BKM macht Game-Jams und ermöglichte zusammen mit dem Wirtschafts-
ministerium die Studie zur Games-Industrie in Deutschland, das Verkehrsminis-
terium finanzierte eine Studie zu Verkehr und Applied Interactive Technologies,
das Ministerium für Bildung und Forschung unterstützt die Arbeit mit Games
bei »Kultur macht stark«.

7. — Kulturwirtschaft – Tradition und Innovation


Gegenwart und Zukunft: Wie unterstützt
die Bundesregierung Games in Zukunft?

Seit 2017 bin ich Geschäftsführer des mittlerweile zusammengeschlossenen


game – Verband der deutschen Games-Branche. Bereits wenige Monate später
ist uns ein weiterer Meilenstein für die Anerkennung von Games als Kulturgut
in Deutschland gelungen: Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel hat 2017 nicht nur
erstmals die gamescom, das weltweit größte Event rund um Computer- und Vi-
deospiele eröffnet, sondern in ihrer Rede auch die große Relevanz von Games he-
rausgehoben: »Computer- und Videospiele sind als Kulturgut, als Innovations-
motor und als Wirtschaftsfaktor von allergrößter Bedeutung und deshalb bin ich
heute auch sehr gerne nach Köln gekommen, um dieser sich entwickelnden Bran-
che meine Referenz zu erweisen.« Ihr Besuch sowie der von 150 weiteren Politi-
kern aller Parteien auf der gamescom war ein weiterer Meilenstein für das Kul-
turmedium Computer- und Videospiel in Deutschland und hat, dies merkt man
auch noch Monate danach, die Diskussion rund um Games noch stärker auf die
großen Potenziale gelenkt.
Als Verband setzen wir uns weiterhin für unser Kulturmedium ein – mit Er-
folg: Im Sommer 2018 ist es gelungen, dass auch Computer- und Videospiele von
der Sozialadäquanzklausel Gebrauch machen dürfen und damit auch verfassungs-
widrige Symbole im Einzelfall in Spielen verwendet werden können, wenn diese
in einem entsprechenden künstlerischen, wissenschaftlichen oder zeitgeschicht-
lichen Kontext vorkommen. Mit dieser Entscheidung der Obersten Landesjugend-
behörde, auf die wir seit vielen Jahren hingearbeitet haben, sind Computer- und
Videospiele endlich anderen Medien wie Film und Musik gleichgestellt.
Sind damit nun alle Schlachten um die Anerkennung des Mediums geschla-
gen? Müssen sich Games jetzt damit abfinden, Teil des kulturellen Establish-
ments zu sein, normalisiert und schon bald angestaubt und wieder vergessen?
Zum Glück nicht! Denn jetzt, wo Games nicht nur politisch, gesellschaftlich, me-
dial und wirtschaftlich weithin anerkannt sind, sondern das Interesse und die Er-
wartung an der Nutzung der großen Chancen des Mediums im Vordergrund ste-
hen, da fangen die spannendsten Entwicklungen erst an.
Blicken wir allein auf die kulturellen Chancen: Zwar sind wir ein Land mit
einer unermesslich reichen Tradition des Geschichtenerzählens und auch des
Spielens. Dennoch spielen Games aus Deutschland weder hierzulande noch in-
ternational eine große Rolle. Dabei hätten wir ausgerechnet in diesen Zeiten, in
denen demokratische Werte von vielen Seiten angegriffen werden und Ausgren-
zungen und Ressentiments zunehmen, einen wichtigen Beitrag zu leisten. Ins-
besondere Games schaffen es als einziges interaktives Medium in besonderem
Maße, Empathie zu erzeugen und erreichen hierbei eben auch die jüngeren Ge-
nerationen problemlos. Derzeit können wir diese Potenziale aber aufgrund der
schwierigen Rahmenbedingungen für die Entwicklung von Computer- und Vi-
deospielen kaum nutzen.

Wachgeküsst
Wer Computer- und Videospiele als Kulturmedium ernst nimmt, muss ihnen
auch Schaffensräume bieten. Mit besseren Rahmenbedingungen, durch die mehr
Spiele in Deutschland entwickelt werden, ermöglichen wir auch darüber die Rei-
se unserer Kultur in die Welt. Wir müssen die Möglichkeiten verbessern, mit de-
nen junge Kreative hierzulande interaktive Welten und Geschichten erschaffen
können. Wenn wir Games als Kulturmedium ernst nehmen und durch Maßnah-
men wie den im Regierungsprogramm verankerten Games Fonds das Potenzial
des Mediums noch besser nutzen, dann bin ich sehr zuversichtlich, dass schon
in wenigen Jahren unser Gastgeschenk aus Deutschland für bedeutende Staats- 344
besuche ein Computerspiel aus Deutschland sein könnte.
345

7. — Kulturwirtschaft – Tradition und Innovation


8.

Erinnerungs-
kultur

Erinnerungs-
politik

20 Jahre
neue Kulturpolitik
des Bundes
Wachgeküsst 1998—2018
Maria Bering
Erinnerung
als Grundlage 346

für Zukunft 347

»Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegen-
wart.« Richard von Weizsäcker im Deutschen Bundestag am 8. Mai 1985

Die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte hat sich als integraler Be-
standteil der Kulturpolitik des Bundes etabliert, wobei immer wieder betont wer-
den muss, dass es nicht um die Vermittlung eines einheitlichen, staatlich ver-
ordneten Geschichtsbildes, sondern um die Unterstützung eigenverantwortli-
cher Reflexion geht.
Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) trägt
somit folgerichtig die Verantwortung für die großen historischen Museen in der
Bundesrepublik – insbesondere das Deutsche Historische Museum in Berlin und
das Haus der Geschichte in Bonn mit dem Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig –,
die jährlich zusammen mehr als 1,9 Millionen Besucherinnen und Besucher aus
dem In- und Ausland anziehen. Sowohl mit den Dauerausstellungen, aber auch
mit temporär präsentierten Sonderausstellungen werden geschichtliche The-
men aufbereitet, die regelmäßig auch Denkanstöße für wichtige gesellschafts-
politische Diskussionen geben.
In der Arbeit der Gedenkstätten steht neben Information und Aufklärung
das Gedenken an die Opfer von Gewalt und Terrorherrschaft an zentraler Stelle.
Die Auseinandersetzung mit dem verbrecherischen System der Nationalsozia-
listen und dem singulären Zivilisationsbruch des Holocaust hat die Geschich-
te der Bundesrepublik Deutschland in jeder Phase maßgeblich geprägt. Unse-
re Verfassung – das Fundament unserer stabilen rechtsstaatlichen, die Freiheits-
und Menschenrechte jedes Einzelnen schützenden Ordnung – wurde unter dem
noch ganz unbewältigten und tief einschneidenden Eindruck dieser Mensch-
heitsverbrechen geschrieben. Es folgten das Aufbegehren gegen Verdrängen und
Verharmlosung bis hin zu den 1968er Revolten und eine sich immer mehr ver-
breitende zivilgesellschaftliche Bewegung, die darauf drängte, an den authenti-
schen Orten der NS-Geschichte das Gedenken der Opfer zu wahren und aus der

8. — Erinnerungskultur – Erinnerungspolitik
Geschichte zu lernen. Bis heute erscheint die Bereitschaft, sich der grauenvol-
len deutschen Geschichte der Nazizeit zu stellen, als Indikator dafür, wie wehr-
haft die Gesellschaft sich für die Werte unserer heutigen Demokratie einsetzt.
Mit der Gedenkstättenkonzeption des Bundes von 1999 und deren Fort-
schreibung aus dem Jahr 2008 trägt die Bundesregierung der Verantwortung des
Gesamtstaates Rechnung, gemeinsam mit den Ländern für geeignete Rahmenbe-
dingungen der Gedenkstättenarbeit zu sorgen. Die Konzeption bezieht sich auf
die NS-Terrorherrschaft und auf die SED-Diktatur. Ihr Ziel ist es, den antitotali-
tären Konsens in der Gesellschaft zu festigen und das Bewusstsein für den Wert
der freiheitlichen Demokratie und der Menschenrechte zu stärken. Das Geden-
ken soll die Opfer vor allem am Ort ihrer Leiden in angemessener Weise würdi-
gen und Wissen über die historischen Zusammenhänge vermitteln. Der dezen-
trale und plurale Charakter der Gedenkstättenlandschaft soll ausdrücklich ge-
festigt, das autonome und von jeder politischen Einflussnahme freie Wirken der
Gedenkstätten ist Leitidee jeder staatlichen Förderung.
In den Anfangsjahren der Konzeption standen der Erhalt der authentischen
baulichen Relikte aus der NS-Zeit, die Markierung der Topographie ehemaliger
Lager, aber auch der Täterorte sowie die Entwicklung guter wissenschaftsbasier-
ter Dauerausstellungen im Vordergrund; auch um das in der DDR einseitig ge-
prägte Geschichtsbild zu pluralisieren. Heute gilt es, die zunehmend multikul-
turell zusammengesetzten Besuchergruppen, aber auch Menschen mit anderen
Geschichtsbildern, Voreinstellungen und auch persönlichen Diktatur- und Ter-
rorerfahrungen individuell anzusprechen. Der wieder aufflammende Antisemi-
tismus und Antiziganimus sowie antidemokratische und nationalistische Paro-
len bis hinein in die Parlamente fordern dazu heraus, dass die Gedenkstätten in
ihrer Bildungsarbeit vermehrt bei den aktuellen Bezügen der Geschichte anset-
zen. Ein Instrument, um auf diese neuen Herausforderungen zu reagieren, ist das
im aktuellen Koalitionsvertrag vereinbarte Programm »Jugend erinnert«, das im
kommenden Jahr starten soll.
Die Washingtoner Konferenz über Holocaust-Vermögen im Dezember 1998
war ein entscheidender Wendepunkt in der Geschichte der Aufarbeitung des
NS-Kulturgutraubs. Die dort verabschiedete »Washingtoner Erklärung« legte das
Fundament für die systematische Provenienzforschung zur Auffindung von vor
allem jüdischen Bürgerinnen und Bürgern geraubten Kulturgütern mit dem Ziel,
gerechte und faire Lösungen zu finden. Mit ihrer »Gemeinsamen Erklärung« vom
Dezember 1999 haben sich Bund, Länder und kommunale Spitzenverbände zur
Verwirklichung der Washingtoner Erklärung bekannt.
Die Aufklärung des nationalsozialistischen Kulturgutraubs und die Ausei-
nandersetzung mit den Schicksalen der überwiegend jüdischen Opfer sind nach
wie vor gesamtgesellschaftliche Aufgaben von immenser Bedeutung und daher
ein Schwerpunkt der kulturpolitischen Arbeit der BKM. Eine wesentliche Initia-
tive der BKM war auf diesem Gebiet die 2015 erfolgte Errichtung des Deutschen
Zentrums Kulturgutverluste gemeinsam mit den Ländern und den kommunalen

Wachgeküsst
Spitzenverbänden. Das bundesfinanzierte Zentrum hat als zentraler Ansprech-
partner für die Umsetzung der Washingtoner Prinzipien die Aufgabe, insbeson-
dere die Provenienzforschung zu NS-Raubgut zu stärken, zu bündeln und aus-
zubauen. Mit der 2003 eingerichteten und 2016 weiterentwickelten Beratenden
Kommission wurde ein Mediationsangebot etabliert, das bei Differenzen in Res-
titutionsangelegenheiten genutzt werden soll.
Der Bund hat die Mittel für die Provenienzforschung in den letzten Jahren
kontinuierlich und deutlich erhöht. Die Aufarbeitung des nationalsozialistischen
Kulturgutraubes steht dabei im Mittelpunkt der Anstrengungen. Daneben gehö- 348
ren kriegsbedingt verbrachte Kulturgüter und Kulturgutverluste in der ehema-
ligen sowjetischen Besatzungszone/DDR zu den Handlungsfeldern. Als weitere, 349
im Koalitionsvertrag verankerte kulturpolitische Aufgabe hat die Aufarbeitung
der Provenienzen von Kulturgut aus kolonialen Kontexten besondere Aktualität
erlangt. Das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste erweitert sein Aufgabengebiet
entsprechend und fördert ab 2019 die Provenienz- und Grundlagenforschung
zu diesem Sammlungsgut. Die Stärkung der Provenienzforschung ist der ent-
scheidende Beitrag, unser Wissen um diese Bestände zu erweitern und auf die-
ser Grundlage einen angemessenen Umgang mit den betreffenden Objekten zu
finden. Dem Dialog mit den Herkunftsgesellschaften und -staaten kommt hier-
für eine besondere Bedeutung zu.
Zu den drei großen Sparten der Gedächtniseinrichtungen gehören neben
den Museen die Archive und Bibliotheken. Beide bewahren unser schriftliches
Kulturerbe, dessen physischer Erhalt eine große Herausforderung für die aktu-
elle Kulturpolitik ist. BKM hat unter Beteiligung der Länder 2011 bei der Staats-
bibliothek zu Berlin eine Koordinierungsstelle zum Erhalt des schriftlichen Kul-
turguts initiiert und fördert seit 2017 zusätzlich in einem Sonderprogramm ent-
sprechende Maßnahmen auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene.
Zu den Archiven, die Teil des BKM-Geschäftsbereichs sind oder von BKM
gefördert werden, gehört das Bundesarchiv als »Gedächtnis des Staates«. Die Er-
haltung, Erschließung und Nutzung des dort aufbewahrten zentralstaatlichen
Archivguts ist für unsere nationale Identität und die historische Meinungsbil-
dung unverzichtbar. Die Archivalien spiegeln die wechselvolle deutsche und eu-
ropäische Geschichte der vergangenen zwei Jahrhunderte authentisch in Schrift-,
Bild-, Film- und Tondokumenten wider. Die grundlegende Neufassung des Bun-
desarchivgesetzes von 2017 trägt den Bedürfnissen der Informationsgesellschaft
Rechnung, indem es die Zugangsrechte verbessert und Regelungen zum Umgang
mit elektronischen Dokumenten trifft. Das Bundesarchiv entspricht den steigen-
den Erwartungen an digitale Verfügbarkeit und Online-Stellung auch mit virtu-
ellen Ausstellungen und Online-Portalen, aktuell z. B. mit einem Quellenportal
zur Weimarer Republik.
Die Deutsche Nationalbibliothek (DNB) an den Standorten Leipzig und
Frankfurt a. M. ist als Pflichtexemplarbibliothek zentrale Archivbibliothek und
nationalbibliografisches Informationszentrum der Bundesrepublik Deutschland.

8. — Erinnerungskultur – Erinnerungspolitik
Seit 1913 sammelt und bewahrt die DNB alle sogenannten körperlichen Medien-
werke wie Bücher, Zeitschriften und Tonträger mit Deutschlandbezug und macht
sie für heutige Nutzerinnen und Nutzer ebenso wie für nachfolgende Generatio-
nen verfügbar. Mit dem Gesetz über die Deutsche Nationalbibliothek aus dem Jahr
2006 wurde ihr Sammelauftrag auf unkörperliche Medienwerke, also digitale Pu-
blikationen oder Veröffentlichungen im Netz, erstreckt und damit wesentlich er-
weitert. Ebenso wie das Bundesarchiv nutzt die DNB ihre Materialien für eigene
Beiträge wie das virtuelle Museum »Künste im Exil« und das Deutsche Exilarchiv.
Die Kultur- und Wissenschaftsförderung der BKM auf der Grundlage des ge-
setzlichen Auftrags nach § 96 Bundesvertriebenengesetz zielt darauf ab, die be-
deutenden historischen Provinzen und ehemals deutschen Siedlungsgebiete des
östlichen Europas durch museale Präsentationen, wissenschaftliche Forschun-
gen und kulturelle Vermittlungsarbeit besonders auch in grenzüberschreitender
Zusammenarbeit zu erschließen. Dazu finanziert die BKM dauerhaft 19 Einrich-
tungen – darunter Museen, Bibliotheken und Forschungsinstitute – sowie neun
Kulturreferate. Die BKM hat die Förderkonzeption im Jahr 2016 mit dem Ziel ver-
stärkter europäischer Integration weiterentwickelt. Diese trägt dem langsamen
Verschwinden der Erlebnisgeneration und der zentralen Bedeutung der Digita-
lisierung in Kultur und Wissenschaft Rechnung. Auch Spätaussiedler und deut-
sche Minderheiten werden in der Konzeption gewürdigt.
Die museale Präsentation erfolgt gemeinsam mit den Bundesländern durch
die kontinuierliche Förderung von sechs historisch-landeskundlich ausgerich-
teten Museen wie dem Pommerschen Landesmuseum in Greifswald, dem Schle-
sischen Museum zu Görlitz oder dem Ostpreußischen Landesmuseum in Lüne-
burg. Das künstlerische Wirken der deutschen Bevölkerungsgruppen im östli-
chen Europa präsentiert das Kunstforum Ostdeutsche Galerie in Regensburg. Mit
dem Haus Schlesien in Königswinter und dem Kulturzentrum Ostpreußen in El-
lingen fördert die BKM weitere Einrichtungen musealen Charakters. Der Adal-
bert-Stifter-Verein in München vermittelt Geschichte und vor allem die deutsch-
sprachige Literatur Böhmens, Mährens und Sudetenschlesiens und fördert den
deutsch-tschechischen Kulturaustausch.
Über die neun Kulturreferate werden vornehmlich jüngere Zielgruppen und
Multiplikatoren aus ihren Bezugsregionen und aus Deutschland angesprochen.
Sie sind damit wichtige Ansprech- und Kooperationspartner der Organisatio-
nen der deutschen Heimatvertriebenen. Projektbezogen arbeiten die Kulturre-
ferate mit den Selbstorganisationen der deutschen Minderheiten im östlichen
Europa zusammen.
Aus dem Etat der BKM werden drei Forschungsinstitute, das Herder-Institut
für historische Ostmitteleuropaforschung – Institut der Leibniz-Gemeinschaft in
Marburg, das Nordost-Institut in Lüneburg und das Institut für deutsche Kultur
und Geschichte Südosteuropas in München, sowie die Ressortforschungseinrich-
tung Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Eu-
ropa in Oldenburg finanziert. Das Akademische Förderprogramm initiiert zahl-

Wachgeküsst
reiche Forschungsprojekte, zuletzt u. a. mit dem Schwerpunkt deutsch-jüdische
Lebenswelten im östlichen Europa sowie derzeit drei Juniorprofessuren in Ber-
lin, Osnabrück und München. Die Stärkung des Nachwuchses bildet einen be-
sonderen Schwerpunkt, so wurde der traditionsreiche Dehio-Preis 2017 um ei-
nen Förderpreis für besonders innovative Leistungen ergänzt und die Richtlinien
des Immanuel-Kant-Stipendiums durchgreifend modernisiert, um die Chancen-
gleichheit zu verbessern. Die Martin-Opitz-Bibliothek in Herne mit ihrem »Elek-
tronischen Lesesaal« ist Partnerin der Deutschen Digitalen Bibliothek, während
das Deutsche Kulturforum östliches Europa in Potsdam mit zuletzt 240 Veran- 350
staltungen im Jahr 2017 im ganzen Bundesgebiet und in den östlichen Nachbar-
ländern den Dialog über die Gegenwart und die Zukunft unseres gemeinsamen 351
Kulturerbes auf eine breite Basis stellt. Im Rahmen der Projektförderung wer-
den jährlich über 50 befristete wissenschaftliche Einzelprojekte unterstützt. Ein
wichtiger Akzent liegt derzeit auf der langfristigen Vorbereitung des 300. Ge-
burtstags Immanuel Kants im Jahr 2024.
Das Europäische Netzwerk Erinnerung und Solidarität mit den Mitgliedern
Polen, Ungarn, Slowakei und Rumänien ist europaweit eine der wenigen Initia-
tiven, die sich durch wissenschaftliche Veranstaltungen, mit Jugend- und Ver-
mittlungsprojekten und Publikationen um eine gemeinsame Sicht auf die un-
terschiedlichen Geschichtserfahrungen des 20. Jahrhunderts bemüht. Dies ist
von besonderer Bedeutung in Zeiten, in denen eine rein nationalistische Sicht
auf die eigene Geschichte auch den Nährboden für Populismus und Ausgren-
zung schafft. Die Bundesregierung wird die Arbeit des Europäischen Netzwerks
Erinnerung und Solidarität weiter stärken und die deutsche Förderung dafür im
nächsten Jahr deutlich erhöhen.
Als zentrales erinnerungspolitisches Vorhaben der Bundesregierung wird
von der BKM die Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung gefördert. Mit
dem Stiftungsauftrag, »im Geiste der Versöhnung die Erinnerung und das Geden-
ken an Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert im historischen Kontext des
Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Expansions- und Vernich-
tungspolitik und ihrer Folgen wachzuhalten«, entsteht in Berlin ein modernes
Ausstellungs-, Dokumentations- und Informationszentrum.
Durch die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit im europäischen Rah-
men und mit Respekt für die Perspektive der Anderen legt die Stiftung ihren Fo-
kus explizit auf die Aussöhnung und Verständigung mit den östlichen Nachbarn.
Dies entspricht in besonderer Weise dem Ziel der Bundesregierung, aktiv Bei-
träge zu einer verstärkten europäischen Integration zu leisten. So entsteht ein
deutschlandweit einzigartiger Lern- und Erinnerungsort, der nach neuesten mu-
seumspädagogischen Konzepten Ursachen, Ablauf und Folgen von Vertreibun-
gen präsentieren und vermitteln wird.
Auch fast 30 Jahre nach der Wiedergewinnung der Deutschen Einheit bleibt
die Aufarbeitung der SED-Diktatur in der DDR eine herausragende Aufgabe für
Staat und Gesellschaft. Einen Schlussstrich kann und wird es nicht geben. In den

8. — Erinnerungskultur – Erinnerungspolitik
vergangenen 20 Jahren konnten eine Reihe von Einrichtungen in diesem Sinne
ertüchtigt werden, um ihren Kernauftrag der Aufklärung und Erinnerung an die
Opfer noch besser gerecht zu werden. Es sei nur auf die neuen Dauerausstel-
lungen in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, in Haus 1 (dem ehema-
ligen Dienstsitz von Erich Mielke) und auf dem Hof der früheren Stasi-Zentrale
in der Berliner Normannenstraße oder die Forschungsergebnisse zu den Toten
an der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze verwiesen. Eine Stärkung
der Vermittlungsarbeit wurde mit dem Beginn der aktuellen Legislaturperiode
bereits angeschoben. Die Umsetzung weiterer Vorhaben aus dem Koalitionsver-
trag wird gewährleisten, dass die SED-Diktatur auch in Zukunft eine bedeuten-
de Rolle in der deutschen Erinnerungskultur einnimmt. Daran werden die vom
Bund getragenen bzw. mitfinanzierten Einrichtungen entscheidend mitwirken,
also zum Beispiel der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, die Stiftung
zur Aufarbeitung der SED-Diktatur oder die Stiftung Berliner Mauer. Die an-
stehenden Jahrestage zu 30 Jahren Friedlicher Revolution in der DDR werden
bei der Programmgestaltung der kommenden Jahre angemessene Berücksich-
tigung finden.
Die Verantwortung der BKM für Geschichte und Erinnerung basiert auf der
Förderung und Unterstützung einer Vielzahl von Einrichtungen, sei es dauerhaft
oder temporär. Die Arbeit ist gekennzeichnet durch Pluralität in Perspektiven
und Methoden, aber auch durch Gedenken an Opfer von Diktatur und Gewalt-
herrschaft ebenso wie die Erinnerung an freudige Ereignisse der deutschen Ge-
schichte und die Bewahrung identifikationsstiftender Orte der Demokratie. Er-
innerung ist insofern nicht nur die Grundlage für die Zukunft, sondern auch für
das hier und heute.

Wachgeküsst
Matthias Weber
Vielstimmigkeit
europäischer 352

Erinnerungen 353

1. Im östlichen Europa liegen Orte der deutschen Geschichte, die zugleich Orte der
Geschichte Polens, Tschechiens, der Slowakei, Ungarns, Rumäniens, der balti-
schen Republiken oder der Nachfolgestaaten der Sowjetunion sind. Im Mittelalter
hatten sich Deutsche im Raum zwischen Ostsee und Adria angesiedelt: im Balti-
kum, an der Oder in Schlesien, in Böhmen und Mähren oder im Karpatenbecken.
Warum? Sie hofften auf ein besseres Leben, das ihnen die dort einheimischen Lan-
desherren in Aussicht stellten, indem sie Privilegien für die wirtschaftliche und
militärische Erschließung ihrer Gebiete zusicherten, wenn sie nur kommen wür-
den. Eine zweite Wanderung gab es im 18. und 19. Jahrhundert. Diesmal waren es
die Habsburger sowie die russischen Zaren, die ihre Untertanenzahl vergrößern
wollten und Kolonisten aus Bayern, Schwaben, aus der Pfalz und vom Oberrhein
einluden. Viele fuhren mit den bekannten »Ulmer Schachteln« donauabwärts und
ließen sich zwischen Wien und Belgrad oder in Russland nieder.
Der vom nationalsozialistischen Deutschland begonnene Zweite Weltkrieg
brachte unendliches Leid für zahllose Menschen, die ihre angestammte Hei-
mat verloren. Er beendete auch die Jahrhunderte währende Präsenz der meis-
ten Deutschen im östlichen Europa. Auch sie waren von Zwangsumsiedlungen
(»Heim ins Reich«) sowie Flucht, Vertreibung und Deportation betroffen. Etwa
zwölf Millionen Menschen fanden im geteilten Deutschland Aufnahme: Die In-
tegration der Vertriebenen und Flüchtlinge war eine der größten Herausforde-
rungen für die junge Bundesrepublik Deutschland; in der DDR wurden deren
Erfahrungen staatlicherseits weitgehend ausgeblendet und ignoriert. Seit ih-
rer Gründung hat die Bundesrepublik zusätzlich etwa 4,5 Millionen Aussied-
ler und Spätaussiedler aus Polen, Ungarn, Rumänien oder den Nachfolgestaaten
der Sowjetunion aufgenommen, darunter sind 2,5 Millionen Russlanddeutsche,
die nach 1987 ausreisen konnten. Deutschland ist in vieler Hinsicht – wirtschaft-
lich, konfessionell, kulturell – bis heute von dieser östlichen Geschichtsdimen-
sion mitgeprägt – Namen wie Ferdinand Porsche, Heinz Erhardt, Günter Grass,
­Herta Müller oder Hanna Schygulla bringen das in Erinnerung.

8. — Erinnerungskultur – Erinnerungspolitik
2. Dieser zugegebenermaßen etwas kursorische Einstieg sollte die Vielschichtig-
keit der Vergangenheit andeuten. Das östliche Europa war über Jahrhunderte
stärker als die meisten anderen Teile des Kontinents von der Begegnung der Völ-
ker und damit von inspirierenden Austauschprozessen in Kultur, Wissenschaft,
Wirtschaft oder Politik geprägt, aber auch von Spannungen zwischen den Eth-
nien und Konfessionen. In Regionen wie Schlesien oder Böhmen lebten lange
Zeit Deutsche, Polen und Tschechen zusammen. Noch höher war die Dichte un-
terschiedlicher Sprachgruppen in der Bukowina oder in Siebenbürgen. Früher als
andernorts, lange vor der Aufklärung, arrangierten sich hier katholische, protes-
tantische und orthodoxe Christen sowie Juden und entwickelten ausgesprochen
interessante Formen religiöser Koexistenz und sogar Toleranz. Sich international
über die vielgestaltige Kultur solcher Regionen auszutauschen, Geschichten vom
Glanz und Alltag vergangener Zeiten ebenso wie von Unterdrückung und Verlust
zu erzählen, bedeutet Grundfragen von nationaler oder europäischer Identität
anzusprechen. Es sind sehr viele und sehr unterschiedliche Stimmen, die über
ihre Erlebniswelten erzählen und besonders über ihre Erfahrungen im 20. Jahr-
hundert. Die gemeinsame Beschäftigung mit Austausch und Abgrenzung, Kom-
promiss und Konfrontation, mit dem Gelingen und Scheitern des Zusammenle-
bens von Kulturen ist eine Voraussetzung für die Errichtung eines vereinten und
freien Europas.
Gegenwärtig beschäftigt uns kaum ein Thema mehr als die Zuwanderung
von Fremden. Auch die Geschichte der im östlichen Europa lebenden Deutschen
ist in gewisser Hinsicht eine Migrationsgeschichte: am Anfang die Ansiedlung
in der Fremde oft unter abenteuerlichen Begleitumständen, am Ende Zwangs-
umsiedlung, Flucht, Vertreibung oder freiwillige Aussiedlung und Integration –
als »Volk auf dem Weg« charakterisieren sich die Deutschen aus Russland selbst.
Diese Vergangenheit mit den aktuellen Herausforderungen durch Zuwande-
rung, Ankunft, Fremdheit und Integration zu vergleichen – nicht gleichzuset-
zen – kann bei deren Lösung helfen. Sicher kann man daraus keine direkten
Handlungsanweisungen ableiten, aber Muster sind zu erkennen und Schluss-
folgerungen zu ziehen. In große zeitliche und regionale Kontexte eingeordnet,
stellt sich manches Problem in neuem Licht dar.

3. Die Förderung der Erforschung und Vermittlung deutscher Kultur und Geschich-
te im östlichen Europa ist im § 96 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) gere-
gelt, der Bund und Länder verpflichtet, das Kulturgut der Gebiete, in denen frü-
her Deutsche gewohnt haben oder heute noch wohnen, im »Bewusstsein der Ver-
triebenen und Flüchtlinge, des gesamten deutschen Volkes und des Auslandes«
zu erhalten. Diese Aufgabe ging 1998 vom Bundesministerium des Innern (BMI)
in die Verantwortung des neuen Kulturstaatsministers über. Schon früher hat-
ten die Bundesregierungen in Förderkonzeptionen Prioritäten und fachliche Ak-
zente festgelegt, etwa mit dem »Aktionsprogramm« des BMI für die Jahre 1994
bis 1999. Es betraf einen Zeitraum, in dem sich die Vernetzung und Verflechtung

Wachgeküsst
Deutschlands mit seinen östlichen Nachbarn in vielen Lebensbereichen und ge-
rade auf dem Feld der Geschichts- und Kulturwissenschaften in ungeahnter Wei-
se entwickelt hatte. Kooperationen zwischen Fachleuten und Einrichtungen, der
Dialog über die schwierige gemeinsame Vergangenheit erreichten eine bis dahin
nicht gekannte Qualität und Dichte – auch deshalb, weil sich die Menschen vor
Ort in Danzig, Schlesien oder Siebenbürgen zunehmend für die deutsche Dimen-
sion »ihrer« Umgebung interessierten. Daran knüpfte die Förderkonzeption an.
Die vom BKM gesetzten Akzente lassen sich mit den Stichworten »Professiona-
lisierung«, »Vernetzung mit der Scientific Community« und »Ausbau internati- 354
onaler Kooperation« zusammenfassen. Nach Auslaufen des alten BMI-Aktions-
programms wurde die BKM-Konzeption im Jahr 2000 verabschiedet. 355
Nun wurden die Regionalmuseen zu Ostpreußen, Westpreußen, Pommern,
Schlesien, Siebenbürgen oder zu den Donauschwaben sowie der Adalbert Stif-
ter Verein und das Kunstforum Ostdeutsche Galerie als zentrale Bausteine ei-
ner regional neu geordneten Struktur verstärkt gefördert, besonders deren Kon-
takte in die Bezugsregionen. Nach und nach kamen neue Standards und forma-
le Zertifizierungen zum Zuge. Die bisher weitgehend von den Landsmannschaf-
ten geleistete kulturelle Breitenarbeit wurde stärker mit den Museen verknüpft,
an denen BKM-finanzierte Kulturreferentinnen und -referenten etabliert wur-
den. Zur Professionalisierung gehörte auch, dass die bisherigen »Kulturwerke«
zur Geschichte der Deutschen im südöstlichen und im nordöstlichen Europa in
Lüneburg und München zu eng mit Universitäten kooperierenden und nach wis-
senschaftlichen Standards arbeitenden Forschungseinrichtungen, sogenannten
»An-Instituten«, umgestaltet wurden. Als zentrale Einrichtung der Vermittlung
entstand in Potsdam das »Deutsche Kulturforum östliches Europa«. Zugleich
wurde die Förderung langjährig finanzierter Einrichtungen reduziert oder ganz
beendet. So brachte die »Konzeption 2000« schmerzliche Einschnitte für die
Landsmannschaften mit sich und wurde deshalb vor allem vonseiten der Ver-
triebenenorganisationen kritisiert – auch weil unter dem Strich ein insgesamt
deutlich reduziertes Finanzvolumen stand; in den vergangenen Jahren konnte
es wieder auf das frühere Niveau angehoben werden.
Mit der nun verstärkt beziehungsgeschichtlich und transkulturell angeleg-
ten Förderung ging eine Veränderung der Terminologie einher: Weil der Begriff
»Ostdeutschland« längst als Bezeichnung des Gebiets der ehemaligen DDR üb-
lich geworden war, wurden für die historischen, von Deutschen (mit-)geprägten
Regionen östlich von Oder und Neiße nun Umschreibungen gewählt: das Olden-
burger Bundesinstitut hieß nun »für Kultur und Geschichte der Deutschen im
östlichen Europa« – eine Wendung, die sich allmählich durchgesetzt hat. Dem-
entsprechend schließt »östliches Europa« Ostmittel-, Südost- und Osteuropa ein.
Die Neuausrichtung der Arbeit ging schon im Vorfeld der 2004 und 2007 er-
folgenden EU-Beitritte der Staaten des östlichen Europas mit einer dynamischen
europäischen Entwicklung einher, die die grenzübergreifende Zusammenarbeit
zusätzlich beflügelte.

8. — Erinnerungskultur – Erinnerungspolitik
Damals entfaltete eine neue Initiative eine überraschende Dynamik: Der Bund
der Vertriebenen (BdV) verfolgte schon seit 1999 den Plan zur Gründung eines
»Zentrums gegen Vertreibungen« in Berlin. Er löste damit eine geschichtspoliti-
sche Kontroverse in Deutschland, aber auch zwischen Deutschland und Polen aus,
die bis in die Tagespolitik hinein Wellen schlug. Während es dem BdV in erster
Linie um eine gesellschaftliche Würdigung und Aufarbeitung der Leiderfahrun-
gen der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen ging, sahen Kritiker eine ein-
seitige Viktimisierungstendenz und befürchteten eine Loslösung der Gescheh-
nisse vom historischen Kontext und sogar ein Umschreiben der Geschichte; die
Debatte verlief ziemlich emotional. Die Bundesregierung unter Federführung der
BKM arbeitete an einem fachlich und politisch vertretbaren Ausgleich, dachte
über verschiedene Konzeptionen, Standorte und Alternativen nach, unter ande-
rem über die Gründung eines dezentral strukturierten »Netzwerks gegen Vertrei-
bungen«. Im Koalitionsvertrag von 2005 vereinbarten die Parteien, in Berlin ein
»Sichtbares Zeichen« zu errichten, »um an das Unrecht von Vertreibungen zu er-
innern und Vertreibung für immer zu ächten«. Die inhaltliche Gestaltung dieses
Grundkonsenses war keine leichte Aufgabe. Die BKM erreichte schließlich eine
Lösung in Form der 2008 ins Leben gerufenen staatlichen »Stiftung Flucht, Ver-
treibung, Versöhnung«; es dauerte aber noch mehrere Jahre, bis unter Federfüh-
rung der BKM eine multiperspektivische, im In- und Ausland akzeptierte Konzep-
tion verabschiedet werden konnte. Aus dem vorgeschlagenen »Netzwerk gegen
Vertreibungen« wurde ein ebenfalls von der BKM initiiertes und geleitetes mul-
tilaterales »Europäisches Netzwerk Erinnerung und Solidarität« entwickelt, des-
sen Auftrag sich auf das von Kriegen und totalitären Regimen geprägte 20. Jahr-
hundert in Europa bezog und dessen Sekretariat in Warschau angesiedelt wurde.
An den Diskussionen hatten sich auch die Regierungschefs und Staatsober-
häupter beteiligt – die östliche Dimension der deutschen Geschichte war aktuel-
ler denn je. Zum Ausdruck kam dies auch dadurch, dass die Förderung nach § 96
BVFG, die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung und das Europäische Netz-
werk Erinnerung und Solidarität seit 2005 in jedem Koalitionsvertrag der deut-
schen Regierungsparteien vertreten sind und dass auch die Enquête-Kommissi-
on »Kultur in Deutschland« des Deutschen Bundestags feststellte, dass hier ein
»wichtiges kulturpolitisches Handlungsfeld« vorliegt.

4. Neben der institutionellen Förderung bildete die flexible Reaktionen auf fachli-
che oder gesellschaftliche Entwicklungen ermöglichende Projektförderung ein
wichtiges Arbeitsfeld mit unterschiedlichen Facetten: In Kooperation mit den
Denkmalschutzbehörden vor Ort wurden beispielsweise die Restaurierung der
Fassade des Königsberger Doms, mittelalterlicher Kirchenburgen in Siebenbür-
gen, der Mikwe in der Synagoge »Zum Weißen Storch« in Breslau und vieler wei-
terer Kulturdenkmäler mitfinanziert. Die Förderung der kulturellen Breitenar-
beit erstreckte sich auf Vorhaben der Landsmannschaften und anderer Vertriebe-
nenorganisationen ebenso wie zahlreicher weiterer Träger. Für die ständige Ak-

Wachgeküsst
tualisierung und Neuerschließung von Themen ist wissenschaftliche Forschung
unverzichtbar. Hier wurden neue Projektformate realisiert, etwa wettbewerb-
lich ausgeschriebene »Akademische Förderprogramme« und »BKM-Juniorpro-
fessuren« für Universitäten. Diese dienten, ebenso wie das bewährte Immanu-
el-Kant-Promotionsstipendium, auch der Gewinnung des akademischen Nach-
wuchses. Die bundesweit knapp 500 Heimatsammlungen der Vertriebenen und
Flüchtlinge wurden erstmals dokumentiert, ein umfassendes »Online-Lexikon
zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa« auf den Weg ge-
bracht. Mehrere positiv verlaufene Evaluationen des Wissenschaftsrats haben 356
gezeigt, dass die hier stattfindende Arbeit den nationalen und internationalen
Vergleich nicht zu scheuen braucht. 357

5. Die Aufgaben der Forschung und Kulturvermittlung verändern sich laufend mit
den immer neuen, von der Gesellschaft an sie herangetragenen Fragen. Gerade
in den letzten Jahren gab es rasante (kultur-)historische Entwicklungen: Welt-
weite Vernetzung und Globalisierung und zugleich gegenläufige Rückbesinnung
auf Nation, Region und Heimat, Erweiterung der Europäischen Union und Kri-
se, Migration in neuen Dimensionen, neue Standards setzende Digitalisierung –
auf all das musste die BKM reagieren, um den in § 96 BVFG enthaltenen Auftrag
auch in der Zukunft erfolgreich erfüllen zu können.
Nach über eineinhalb Jahrzehnten wurde deshalb eine Aktualisierung und
Fortschreibung der Konzeption 2000 vorgelegt, die das Bundeskabinett 2016 be-
schlossen hat: »Erinnerung bewahren, Brücken bauen, Zukunft gestalten« – so
lautet ihr Motto. Sie führt fort, was sich bewährt hat, vollzieht eingetretene Ent-
wicklungen nach, setzt aber vor allem innovative Impulse, nicht zuletzt, um neue
Zielgruppen zu gewinnen. Größeres Gewicht erhielten über die Zäsur des Jah-
res 1945 hinausreichende zeitgeschichtliche und gegenwartsbezogene Themen,
das deutsch-jüdische Kulturerbe und insgesamt das gemeinsame Kulturerbe der
Deutschen und ihrer östlichen Nachbarn – für sie sind Regionalgeschichte, Ar-
chive und Bibliotheken, Kirchen, Schlösser und Denkmäler längst zu einem Teil
ihrer kulturellen Identität geworden. Nun wurden auch ausdrücklich die heute
noch in Polen, Ungarn, Rumänien oder den Nachfolgestaaten der Sowjetunion
lebenden deutschen Minderheiten als Partner angesprochen. Die institutionel-
len Strukturen wurden gestärkt: Das Museum für russlanddeutsche Kulturge-
schichte in Detmold erhielt eine fünfjährige Förderung, Kulturreferentenstellen
für Oberschlesien, Siebenbürgen und die Russlanddeutschen wurden geschaffen,
die »digital humanities« bei der Martin Opitz Bibliothek und beim Herder-Ins-
titut, wo ein zentrales »Onlineportal Geschichte und kulturelles Erbe östliches
Europa« entsteht, ausgebaut.

6. All diesen Aktivitäten liegt eine Herausforderung zugrunde: Die Bewahrung der
Erinnerung. Wie müssen Strukturen gestaltet werden, um das geistige und ma-
terielle Erbe weiterzuentwickeln, wenn die sogenannte Erlebnisgeneration nicht

8. — Erinnerungskultur – Erinnerungspolitik
mehr befragt werden kann? Welche Schwerpunkte müssen gewählt werden, um
die Erfahrungen der Vergangenheit in der Zukunft nutzen zu können? In den
vergangenen beiden Jahrzehnten wurden Antworten auf diese Fragen gegeben.
Es wurden die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass das historische Erbe der
Deutschen im östlichen Europa auch künftig zu einem besseren Verständnis der
Geschichte Deutschlands und Europas beitragen kann – im Dienste der Versöh-
nung, gegen aufkeimende nationalistische Tendenzen und als Paradigma für die
vielgestaltige und vielstimmige europäische Kultur.

Wachgeküsst
Uwe Neumärker
Denkmal für die
ermordeten 358

Juden Europas 359

Als der AfD-Rechtsaußenpolitiker und in Hessen verbeamtete Gymnasiallehrer


für Sport und Geschichte Bernd Höcke Anfang 2017 verkündete: »Wir Deutschen
[…] sind das einzige Volk der Welt, das sich ein Denkmal der Schande in das Herz
seiner Hauptstadt gepflanzt hat«, wusste jeder in Deutschland, was gemeint war:
das Denkmal für die ermordeten Juden Europas, kurz: Holocaust-Mahnmal. Zu-
gleich begegnete Höcke ein Sturm der Empörung, da er mit seiner bewusst zwei-
deutigen Formulierung ein Fundament der deutschen Demokratie angriff: das
Bekenntnis zu den nationalsozialistischen Verbrechen und deren Opfern, ins-
besondere das Gedenken an die sechs Millionen ermordeten jüdischen Kinder,
Frauen und Männer Europas.
Bei einer Erhebung der beliebtesten Sehenswürdigkeiten in Deutschland im
Frühjahr 2017 landete das »Mahnmal« nach Reichstag und Brandenburger Tor auf
Platz drei. Wie selbstverständlich ist Peter Eisenmans Stelenfeld Teil eines je-
den Berlinbesuches. Das war nicht immer so – und in keiner Weise vorhersehbar
nach einer Debatte, die fast zwei Jahrzehnte in Anspruch nahm.
In den späten 1980er Jahren kam es in Westberlin wie im Bundesgebiet zu
nicht jüdischen Bürgerinitiativen für eine Erinnerung an die deportierten, ver-
schollenen und ermordeten Juden, die unter anderem zur sogenannten Spie-
gelwand in Steglitz und zum Mahnmal »Gleis 17« im Grunewald führten. Auch
eine weitere Forderung von bewegten Bürgern entstammt dieser Zeit: die Errich-
tung eines »sichtbaren Zeichens als Bekenntnis zur Tat«, dem Holocaust in sei-
ner europäischen Dimension. Ein Förderkreis mit der Publizistin Lea Rosh und
dem Historiker Prof. Dr. Eberhard Jäckel an der Spitze begann einen – letztlich
17 Jahre währenden – Kampf.
Zunächst fiel die Mauer am 9. November 1989, die beiden deutschen Staa-
ten feierten am 3. Oktober 1990 ihre Wiedervereinigung, Berlin wurde wieder ge-
samtdeutsche Hauptstadt und durch einen Beschluss des Deutschen Bundesta-
ges vom 20. Juni 1991 erneut Parlaments- sowie Regierungssitz. Eine Diskussion
über das nationale Selbst- und Geschichtsverständnis dieser Berliner Republik

8. — Erinnerungskultur – Erinnerungspolitik
entbrannte. Teil des Findungsprozesses war die Debatte über ein Denkmal für die
bis zu sechs Millionen Holocaustopfer mitten in der Hauptstadt und damit über
den Umgang mit dem nationalsozialistischen Terrorregime wie auch die Frage
der Aufarbeitung der SED-Diktatur und ihren Hinterlassenschaften. Es ging also
um die Auseinandersetzung mit dem schwierigen Erbe zweier totalitärer Herr-
schaften auf deutschem Boden. Zur selben Zeit ließ der damalige Bundeskanzler
Dr. Helmut Kohl die Neue Wache am Boulevard Unter den Linden, ein Werk Karl
Friedrich Schinkels, praktisch im Alleingang zur zentralen Gedenkstätte des wie-
dervereinigten Deutschland umgestalten. In der Weimarer Zeit ein Ehrenmal für
die Gefallenen des Ersten Weltkrieges, unter den Nationalsozialisten als Reichs-
ehrenmal Ort für Paraden und Heldenehrungen, zu DDR-Zeiten zentrale Gedenk-
stätte für die Opfer »des Faschismus und Militarismus«, wurde sie am Volkstrau-
ertag 1993 mit der Widmung »Den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft« ein-
geweiht. Diese erntete harsche Kritik, insbesondere seitens der jüdischen Ge-
meinschaft in Deutschland, die eine Gleichsetzung von Opfern und Tätern, von
Nationalsozialismus und DDR-Sozialismus befürchteten. Die Auseinanderset-
zungen führten einerseits zum Versprechen, ein eigenes Holocaust-Mahnmal zu
errichten, und andererseits zu einer ergänzenden Tafel, die die verschiedenen
Opfergruppen nationalsozialistischer Verfolgungs- und Mordpolitik, die Gefal-
lenen des Krieges, Flüchtlinge und Vertriebene sowie die Opfer totalitärer Herr-
schaft nach 1945 aufzählt, derer zu gedenken sei. Auch wenn die Neue Wache in
ihrer Funktion öffentlich kaum wahrgenommen wird, soll sie ein Denkmal für
alle sein. Letztendlich ist sie jedoch ein Denkmal für keine der Opfergruppen,
sondern Touristenattraktion und Ort eines jährlichen staatlichen Trauerrituals.
Über das Denkmal für die ermordeten Juden Europas, das Ob, das Wie und
seine ausschließliche Widmung wurde über Jahre in ungewohnter Heftigkeit ge-
stritten. Ist es überhaupt legitim, zur Wende des 21. Jahrhunderts ein Denkmal
zu errichten, also einer Erinnerungsform zu folgen, die ihre Glanzzeiten im 19.
Jahrhundert erlebte? Steht es den Deutschen überhaupt zu, sich empathisch den
Opfern zuzuwenden, wo doch in vielen Familien über die Tatbeteiligung der Vä-
ter und Mütter, Großväter und Großmütter geschwiegen wird? Dient das Mahn-
mal am Ende dazu, einen erinnerungspolitischen Schlussstrich zu ziehen oder
Deutschlands Aufstieg als strategische Macht in Europa zu flankieren? Zwei Ar-
chitekturwettbewerbe begleiteten die Auseinandersetzung. Im Herbst 1998 wur-
de Kohl nach 16-jähriger Regentschaft abgewählt. Die neue Rot-Grüne Regie-
rungskoalition legte bereits in ihrem Koalitionsvertrag fest, dass eine Entschei-
dung über das Denkmal für die ermordeten Juden Europas der Deutsche Bun-
destag treffen müsse. Das tat er am 25. Juni 1999 während einer seiner letzten
Sitzungen in der früheren Westhauptstadt Bonn: Eine fraktionsübergreifende
Mehrheit beschloss, das Denkmal in Trägerschaft des Bundes nach dem Ent-
wurf des New Yorker Architekten Peter Eisenman zu errichten und durch einen
»Ort der Information über die zu ehrenden Opfer und die authentischen Stätten
des Gedenkens« zu ergänzen. Zugleich ging das Parlament für Deutschland die

Wachgeküsst
Selbstverpflichtung ein, »der anderen Opfer des Nationalsozialismus würdig zu
gedenken«. Die Anfang 2000 gegründete bundesunmittelbare Trägerstiftung er-
hielt den Auftrag, »die Erinnerung an alle Opfer des Nationalsozialismus und ihre
Würdigung in geeigneter Weise sicherzustellen«, und wurde der neu geschaffe-
nen Behörde eines Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien
zugeordnet. Per Gesetz ist der Präsident des Deutschen Bundestages der Vorsit-
zende des Kuratoriums der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas.
Drei Jahre später begann der Bau, am 10. Mai 2005 wurde das Holocaust-Mahn-
mal der Öffentlichkeit übergeben. 360
Das Denkmal besteht aus zwei Teilen: dem oberirdischen Stelenfeld – eine
19.000 m2 große, Tag und Nacht frei zugängliche und begehbare Plastik – ein 361
Gegendenkmal zu klassischen Denkmalkonzepten, aber als abstraktes Kunst-
werk ohne jedweden Hinweis auf seine Widmung – und dem unter der Erde an-
gelegten Ort der Information, den das Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« da-
mals als »Sinn aus der Tiefe« bezeichnete. Wenngleich das Stelenfeld als Post-
karten- und Werbemotiv das Bild vom Denkmal prägt, ist der unterirdische Ort
der Information eine der meist besuchten Ausstellungen Berlins. Jährlich kom-
men knapp eine halbe Million Gäste.
Das Denkmal liegt im Nordteil der ehemaligen Ministergärten und auf dem
früheren Todesstreifen der Berliner Mauer, in der Nähe des Brandenburger To-
res, aber nicht – wie ursprünglich gefordert – auf dem Gelände des Reichssi-
cherheitshauptamtes oder der Neuen Reichskanzlei. Es befindet sich also nicht
an einem mit dem Nationalsozialismus verbundenen historischen Ort der Opfer
oder der Täter. Der gewählte Standort unterscheidet sich somit von den Lager-
gedenkstätten in der Bundesrepublik und im Ausland. Auch pädagogisch gese-
hen, handelt es sich beim Ort der Information um eine völlig andere Ausgangs-
lage für das Lernen als in Gedenkstätten und Einrichtungen, die an historische
Orte erinnern. Der symbolische Standort erwies sich als Vorteil, da man sich
eben nicht der Darstellung der Geschichte eines bestimmten Orts – etwa eines
Konzentrationslagers – widmen muss. Das bot die Möglichkeit, Europa in den
Blick zu nehmen. Dies ist umso notwendiger, als die historischen Orte vorwie-
gend nicht in Deutschland, sondern im Osten lagen und die Vernichtung daher
nur in eingeschränktem Maße in Gedenkstätten auf deutschem Boden darge-
stellt werden kann. Diese Ausgangslage führte zur bewussten Entscheidung, gar
nicht erst den Anschein von Authentizität erwecken zu wollen und daher zum
Verzicht auf Objekte bzw. Artefakte. Deshalb fehlt der vielerorts praktizierte, nur
scheinbar unvermeidliche Parcours reich gefüllter Vitrinen, der eher Aushänge-
schild der jeweiligen Gedenkstättensammlungen denn benutzerfreundlich ist.
Zugleich machten die Ausstellungsgestalter des Orts der Information aus der
Not des geringen Platzes (und des oft beschränkten Zeitkontingents der Besu-
cher) insofern eine Tugend, als sie einerseits auf jegliche Vertiefungshilfsmittel
wie Schubkästen verzichteten und andererseits die Inhalte auf exemplarische
Einblicke und das Wesentliche reduzierten. Denn nicht die Größe eines Raumes

8. — Erinnerungskultur – Erinnerungspolitik
oder die Vielzahl von Objekten bringt ein Mehr an Vermittlung, sondern die be-
wusste Entscheidung, bestimmte Themen aufzugreifen und nachvollziehbar dar-
zustellen. Der Anspruch an das Holocaustdenkmal, einen über Kunst vermittel-
ten Zugang zur Unvorstellbarkeit des Völkermords zu eröffnen, fand für die his-
torischen Inhalte eine Umsetzung, die ein Lernen auf Augenhöhe erfolgreich er-
möglicht. Kombiniert wurde die an sich unvorstellbare wie auch unvorstellbar
komplexe Geschichte des Mordes an den europäischen Juden mit einem weite-
ren Prinzip: Im Ort der Information sollen die Opfer des Holocaust ihre mensch-
lichen Gesichter zurückbekommen. Seine zentrale Funktion besteht also in der
»Personalisierung und Individualisierung des mit dem Holocaust verbundenen
Schreckens«, der Ermordung von sechs Millionen Juden aus ganz Europa, vor al-
lem aus dem Osten. Das hat vor allem für deutsche Besucher eine besondere Be-
deutung. Viele Jahrzehnte waren die Mehrheitsgesellschaften der beiden deut-
schen Nachkriegsstaaten nur eingeschränkt in der Lage oder bereit, sich mit dem
Schicksal der jüdischen Opfer auseinanderzusetzen – sei es, weil sie sich selbst
als die eigentlichen Opfer (des Zweiten Weltkrieges oder einer verbrecherischen
Nazielite) sahen, – sei es, weil sie sich mit einem staatlich verordneten Anti-
faschismus gegen das Mitgefühl für eine einzelne Opfergruppe immunisierten.
Die Erinnerungslandschaft Berlins ist breit gefächert. Die Arbeit der Stiftung
erfolgt daher im Kontext und in der Zusammenarbeit mit den historischen Or-
ten – etwa dem Dokumentationszentrum Topographie des Terrors. Widmet sich
die Stiftung Denkmal dem Andenken an die Opfer, fragt die Topographie nach
Tätern und Urhebern des nationalsozialistischen Terrors. Die Vielzahl gemeinsa-
mer Ausstellungsprojekte beider Institutionen folgt diesen Prinzipien. Neben der
Topographie ist die Stiftung Denkmal auch mit anderen »authentischen« Orten –
der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, der Gedenkstät-
te und dem Museum Sachsenhausen sowie der Gedenkstätte Deutscher Wider-
stand – seit 2009 in der von BKM angeregten und geförderten Ständigen Konfe-
renz der Leiter der NS-Gedenkorte im Berliner Raum verbunden.
Die staatliche Unterstützung für das Holocaustdenkmal und das Bekenntnis
zur fortwährenden Notwendigkeit von Erinnerung in Gegenwart und Zukunft war
das Signal für einzelne andere Gruppen, eigene Gedenkorte einzufordern. Wenn-
gleich das individuelle Trauern der Betroffenen weiterhin an den historischen Or-
ten stattfindet, hat das Vorhandensein eines nationalen Denkmals in der Mitte der
Hauptstadt höchste symbolische Bedeutung. Und so unterschiedlich die jewei-
ligen Schicksale und Hintergründe auch sein mögen, es darf keine Opfer »zwei-
ter Klasse« geben. Daher griffen Parlament und Bundesregierung entsprechende
Initiativen auf und errichteten im Herzen der Hauptstadt ein Denkmal für die im
Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen (2008), ein Denkmal für die im
Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas (2012) sowie den Ge-
denk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen »Euthana-
sie«-Morde (2014). Sie alle werden von der Bundesstiftung Denkmal für die er-
mordeten Juden Europas betreut und repräsentieren staatliche Erinnerungskul-

Wachgeküsst
tur an die Opfer des Nationalsozialismus. Es gibt weitere Initiativen – etwa für ei-
nen Gedenkort für die Opfer des deutschen Vernichtungskrieges im Osten – und
den Passus in der Koalitionsvereinbarung von CDU/CSU und SPD vom Februar
2018: »Bisher weniger beachtete Opfergruppen des Nationalsozialismus wollen
wir anerkennen und ihre Geschichte aufarbeiten.« Deutschland bekennt sich zu
seiner Vergangenheit – auch oder gerade über 70 Jahre nach dem Ende des Zwei-
ten Weltkrieges.
Höcke forderte in besagter Rede eine erinnerungspolitische 180-Grad-Wende.
Diese Äußerungen zeigen einmal mehr, dass die Errichtung von Denkmälern – so 362
wichtig sie als Symbole auch sein mögen – allein nicht ausreicht. Die Verantwor-
tung für die Vergangenheit erfordert aktives Handeln in der Gegenwart. Demokra- 363
tie und Erinnerung sind nicht statisch, sie bedürfen der ständigen Pflege und Er-
neuerung. Die tägliche Arbeit der Stiftung trägt dieser Notwendigkeit Rechnung.

8. — Erinnerungskultur – Erinnerungspolitik
Gilbert Lupfer
20 Jahre BKM –
20 Jahre
Provenienz­
forschung
Wenn man auf 20 Jahre Kulturpolitik des Bundes zurückschaut, auf 20 Jahre des
Wirkens der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien (BKM), dann kristallisie-
ren sich schnell einige Schwerpunkte heraus. Einer dieser Schwerpunkte war und
ist zweifellos die engagierte Förderung der Provenienzforschung nach Kunstwer-
ken und anderen Kulturgütern sein, die von 1933 bis 1945 ihren jüdischen Eigen-
tümern (und in geringerem Ausmaße anderen verfolgten Sammlern) entzogen,
abgepresst oder geraubt wurden.
Auf diesem politisch, rechtlich, wissenschaftlich und nicht zuletzt auch mo-
ralisch ungemein brisanten, wichtigen Gebiet ist 2018 ebenfalls ein 20-jähriges
Jubiläum zu begehen. Im November 1998 fand in der amerikanischen Bundes-
hauptstadt die nach ihrem Tagungsort benannte »Washingtoner Konferenz« statt,
deren wichtigste Ergebnisse und Forderungen in den »Washingtoner Prinzipi-
en« niedergelegt sind. Diese bilden, so kann man aus der heutigen Rückschau
konstatieren, ein fundamentales kulturpolitisches Dokument für das ausgehen-
de 20. und beginnende 21. Jahrhundert. Die »Washingtoner Prinzipien« setzten
die Folgen des NS-Kunst- und Kulturgutraubes, die – außer bei den Leidtragen-
den und ihren Nachfahren – damals fast in Vergessenheit geraten waren, wie-
der fest auf die Tagesordnung der Kulturgut sammelnden und bewahrenden In-
stitutionen in Deutschland, Österreich und weit darüber hinaus. Die Aufforde-
rungen zu einer Intensivierung der Suche nach diesem Raubgut in den Bestän-
den der öffentlichen Institutionen, nach freiem Zugang zu Archiven und Quellen,
nach Dokumentation und Transparenz, und schließlich nach – so ein Schlüssel-
begriff – »gerechten und fairen Lösungen«, sollte solches Raubgut identifiziert
worden sein, haben bis heute ihre Aktualität nicht verloren. Die Bundesrepublik
Deutschland als Teilnehmerstaat der »Washingtoner Konferenz« und Hauptad-
ressat verpflichtete sich Ende 1999 in einer gemeinsamen Erklärung Gemeinsa-

Wachgeküsst
men Erklärung (»Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der kommuna-
len Spitzenverbände zur Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt
entzogenen Kulturgutes, insbesondere aus jüdischem Besitz«) zusammen mit
den Bundesländern und den kommunalen Spitzenverbänden zur Umsetzung der
»Washingtoner Prinzipien«.
Daraufhin passierte in Deutschland einige Jahre lang – leider nur ziemlich
wenig. Zu dem Wenigen (und nicht Unwichtigen), das aber doch kurzfristig in
die Wege geleitet wurde, gehörte vor allem im Jahr 2000, die Einrichtung der
Datenbank www.lostart.de als offen zugängliches, nicht kostenpflichtiges Such- 364
und Dokumentationsinstrument für Kulturgüter, bei denen ein Entzugskontext
festgestellt worden war oder vermutet wurde. Betreiber wurde die seit 1998 in 365
Magdeburg ansässige, von Bund, Ländern und Kommunen getragene »Koordinie-
rungsstelle für Kulturgutverluste«, die zunächst ihren Schwerpunkt im Bereich
der Kriegsverluste gehabt hatte. Wesentlich war weiterhin 2003 die Etablierung
der »Beratenden Kommission für die Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzoge-
ner Kulturgüter, insbesondere aus jüdischem Besitz«, die nach ihrer ersten Vorsit-
zenden, Jutta Limbach, als »Limbach-Kommission« bekannt wurde: ein in Streit-
fällen beratendes und schlichtendes, jedoch nicht entscheidendes und in seinen
Empfehlungen rechtlich nicht bindendes Gremium.
An den Orten allerdings, die Kulturgüter sammeln, verwahren und somit –
ob gewollt oder ungewollt – auch zu Verwahrern von Raubgut geworden sein
könnten, tat sich zunächst relativ wenig. In den Museen, Bibliotheken, Archi-
ven und bei den für sie zuständigen Trägern hatte man zunächst kein Geld, kei-
ne Zeit, keine Kompetenz, keinen Sinn für Provenienzforschung. Oder man fand
vielleicht auch, dass diese Dinge doch am besten im Museum aufgehoben wären,
wo sie den Verwertungsinteressen des (Kunst-)Marktes entzogen sind. Natürlich
gab es lobenswerte Ausnahmen, gab es Museen und Bibliotheken, die schon An-
fang der 2000er Jahre ihre Verpflichtungen wahrnahmen, gab es bald die ersten
hauptberuflichen Provenienzforscherinnen (die weibliche Form ist hier bewusst
gewählt), die sich zunächst in einem informellen Rahmen trafen, aus dem später
der Arbeitskreis Provenienzforschung e. V. hervorging. Doch in der Summe waren
es zunächst nur wenige »Leuchttürme« auf einer Deutschlandkarte. Die Daten-
bank www.lostart.de wurde von Museen zwar mit ihren Kriegsverlusten gefüllt,
doch die Fundmeldungen, also die Hinweise auf potentielles NS-Raubgut, blie-
ben spärlich. Die oben genannten Hemmnisse, oder zumindest einige von ihnen,
waren allerdings durchaus ernst zu nehmen: die meisten Museen und Bibliothe-
ken hatten tatsächlich weder Zeit noch Geld noch Kompetenz, um systematische,
professionelle Provenienzforschung zu betreiben. Mit bloßen Postulationen po-
litischer und moralischer Notwendigkeiten würde es also offensichtlich nicht ge-
lingen, den »Washingtoner Prinzipien« und der »Gemeinsamen Erklärung« wirk-
lich gerecht zu werden. Auf Initiative der BKM und der Kulturstiftung der Län-
der, beraten von Praktikerinnen der Provenienzforschung, entwickelte sich die
Idee einer »Arbeitsstelle für Provenienzforschung«, die dezentral Provenienzfor-

8. — Erinnerungskultur – Erinnerungspolitik
schung finanziell fördern sowie die geförderten Projekte inhaltlich beraten und
vernetzen sollten. 2008 wurde diese Arbeitsstelle an das Institut für Museums-
forschung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz angegliedert. Dieser Ansatz er-
wies sich bald als der richtige. Nun begannen immer mehr Museen und Biblio-
theken potentiell problematische Bestände systematisch zu untersuchen. Mag
das zunächst in der einen oder anderen Institution noch nicht aus voller Über-
zeugung erfolgt sein, so ließ sich jedoch bald erkennen, dass es zu einem grund-
sätzlichen, unumkehrbaren Bewusstseinswandel gekommen war. Provenienz-
forschung wurde mehr und mehr zur Selbstverständlichkeit in Deutschland und
der Verdacht, deutsche Institutionen würden Raubgut verstecken, verlor glück-
licherweise an Berechtigung.
Ein nächster markanter Einschnitt erfolgte Ende 2013: durch Medienberich-
te wurde der »Fall Gurlitt« oder auch »Schwabinger Kunstfund« bekannt. Zufäl-
lig war entdeckt worden, dass der Sohn des in das NS-Kunstraubsystem verwi-
ckelten Kunsthändlers Hildebrand Gurlitt ein eremitisches Leben inmitten der
Sammlung seines Vaters geführt hatte – einer Sammlung, von der man zunächst
annehmen musste, sie würde zu wesentlichen Teilen aus Raubgut bestehen. Die
dramatischen Ereignisse, von der Beschlagnahmung der Sammlung durch die
Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts eines Steuervergehens über die Veröf-
fentlichung bis zum Tod von Cornelius Gurlitt und seinem Testament können
hier nicht referiert werden: sie würden inzwischen ein eigenes Buch füllen. Die
BKM sah jedenfalls sofortigen Handlungsbedarf und installierte kurzfristig die
»Task Force Gurlitt«, die auch namhafte internationale Experten umfasste und
die Aufgabe hatte, diesen mythenumwobenen Fall möglichst umfassend zu er-
forschen und vor allem NS-Raubkunst zu identifizieren. Die »Task Force« konnte
zwar die medialen Erwartungen nach einer schnellen Lösung aller Fälle nicht er-
füllen, gescheitert ist sie aber deshalb nicht, denn Fachleute hatten genau diese
Langwierigkeit und Mühseligkeit der Recherchen erwartet. 2016 übernahm dann
»Projekt Provenienzrecherche Gurlitt« die Aufgabe. Nur in relativ wenigen Fäl-
len ließ sich bisher der eindeutige Nachweis für Raubkunst erbringen, doch da-
ran kann die jahrelang intensive Recherchearbeit nicht alleine gemessen wer-
den. Der »Fall Gurlitt« schärfte ungemein das öffentliche Interesse an der Pro-
venienzforschung und ihrer Aufgabe, den NS-Raub aufzuklären – auch als mo-
ralischer Verpflichtung der ganzen Gesellschaft. Die große Aufmerksamkeit für
den aus den Forschungen hervor gegangenen Ausstellungsreigen mit Präsenta-
tionen in Bonn, Bern und Berlin bewies dies.
Die Einrichtung der »Task Force« war nicht die einzige politische Antwort
auf den »Fall Gurlitt«. Vielmehr wurde bald erkannt, dass die Provenienzfor-
schung an deutschen Institutionen – trotz aller Erfolge seit 2008 – weiter ge-
stärkt werden musste. Eine fundamentale strukturelle Konsequenz war Anfang
2015 die Bündelung der Kräfte durch die Einrichtung des »Deutschen Zentrums
Kulturgutverluste«, einer Stiftung privaten Rechts mit Sitz in Magdeburg. In ihr
gingen sowohl die Magdeburger »Koordinierungsstelle«, als auch die Berliner

Wachgeküsst
»Arbeitsstelle für Provenienzforschung« auf. Die BKM ist Vorsitzende des Stif-
tungsrates, in dem ansonsten Vertreter des Bundes, der Länder und der kommu-
nalen Spitzenverbände vertreten sind.
Das »Deutsche Zentrum Kulturgutverluste« ist national und international
der zentrale Ansprechpartner zu Fragen unrechtmäßiger Entziehung von Kul-
turgut. Das Hauptaugenmerk gilt dem im Nationalsozialismus verfolgungsbe-
dingt entzogenen Kulturgut insbesondere aus jüdischem Besitz (sog. NS-Raub-
gut). Hier wirkt es forschungsanregend, koordinierend und vor allem auch in be-
trächtlichem Ausmaß finanziell fördernd, indem Mittel des Bundes gezielt zur 366
Projektförderung eingesetzt werden. Die Bilanz dieser Förderung ist eindrucks-
voll: von 2008 bis Frühjahr 2018 konnten durch das »Zentrum« und seine Vor- 367
gängerinstitution, die »Arbeitsstelle für Provenienzforschung«, insgesamt 273
Projekte mit Mitteln in Höhe von rund 24,5 Millionen Euro gefördert werden.
Neben öffentlichen Institutionen können seit 2017 auch – sofern sie sich auf die
»Washingtoner Prinzipien« verpflichten – private Einrichtungen und Privatper-
sonen bei der Recherche in ihren Sammlungen unterstützt werden.
Daneben zählen kriegsbedingt verlagerte Kulturgüter (sogenannte Beute-
kunst), wie sie auch in der Datenbank www.lostart.de dokumentiert sind, zu den
Handlungsfeldern. Als neues Tätigkeitsfeld wurde dem »Zentrum« die Aufar-
beitung des Entzugs von Kulturgütern in der Sowjetischen Besatzungszone von
1945 bis 1949 und in der DDR seit 1949 übertragen. Dies betrifft beispielsweise
die sogenannte Schlossbergung, also die Enteignung von Adelssitzen samt ih-
rem Inventar im Rahmen der Bodenreform 1945/46, die Beschlagnahmung von
Kunstwerken aus dem Eigentum sogenannter Republikflüchtlinge, die Krimina-
lisierung von Kunstsammlern sowie nicht zuletzt die dubiosen Aktivitäten der
»Kommerziellen Koordinierung« und der »Kunst und Antiquitäten GmbH«, die
auf die Gewinnung von Devisen durch den Verkauf von Kulturgütern ins west-
liche Ausland ausgerichtet waren. Für die juristische Aufarbeitung dieser Ent-
zugskontexte der Nachkriegszeit existieren mit dem »Gesetz zur Regelung offe-
ner Vermögensfragen« und mit dem »Entschädigungs- und Ausgleichsleistungs-
gesetz« präzise gesetzliche Grundlagen, sodass die Situation nicht mit der bei
NS-Raubgut gleichgesetzt werden kann. Für das »Zentrum« geht es hier vorran-
gig um die Schaffung einer wissenschaftlichen Basis, denn der Kenntnisstand zu
allen diesen Fallkonstellationen ist noch bemerkenswert gering. So stehen zu-
nächst Kooperationsprojekte zur Grundlagenforschung mit Partnerinstitutionen
wie beispielsweise dem »Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung«
oder dem »Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdiens-
tes der ehemaligen DDR (BStU)« an, auf die dann mittelfristig eine Förderstra-
tegie aufbauen kann.
2019 wird das »Zentrum« eine weitere, herausfordernde Aufgabe überneh-
men: die Förderung von Grundlagen- und Provenienzforschung zu sogenann-
ten kolonialen Kontexten. Die kontroversen Debatten im Zusammenhang mit
der Gründung, Einrichtung und Ausstattung des Humboldt Forums in Berlin,

8. — Erinnerungskultur – Erinnerungspolitik
aber auch aktuelle politische Entwicklungen in Frankreich haben deutlich ge-
macht, dass die Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte und ihrer ma-
teriellen Spuren in ethnologischen, archäologischen, naturkundlichen und an-
deren Museen noch stark unterentwickelt ist. Die BKM identifizierte hier früh-
zeitig und weitblickend großen Handlungsbedarf. So wird nun das »Zentrum«
mit Mitteln für die einschlägige Forschungsförderung sowie der dafür notwen-
digen Infrastruktur ausgestattet. Die Maxime dabei ist allerdings, dass dieses
neue Aufgabenfeld keinesfalls auf Kosten der weiterhin intensiv betriebenen
Aufklärung des NS-Raubes gehen darf; die notwendigen personellen und finan-
ziellen Voraussetzungen, damit keine Konkurrenz entstehen kann, wurden von
der BKM geschaffen.
In der Summe spiegelt die von der BKM begleitete und forcierte Entwicklung
und Ausdehnung der Aufgaben für die Provenienzforschung geradezu idealty-
pisch zwei Jahrzehnte einer neuen, profilierten Kulturpolitik des Bundes. Wenn
gelegentlich moniert wird, dass noch viel zu tun bleibe, dass die Förderung noch
intensiver ausfallen könne, dass dieser oder jener Bereich noch nicht genügend
im Fokus stünde, so ist das weniger als Kritik an der aktuellen Kulturpolitik auf
diesem Feld zu verstehen, sondern eher als Kritik an vielen Versäumnissen der
Vergangenheit. Doch der Blick sollte in die Zukunft gerichtet sein. Auf die Prove-
nienzforschung werden mehr und mehr Verpflichtungen im Rahmen der gesamt-
gesellschaftlichen Erinnerung und Verantwortung zukommen. Je weniger Zeit-
zeugen des Holocaust über ihre Erlebnisse reden können, desto wichtiger wird
es werden, die materiellen Zeugnisse, zu denen beispielsweise geraubte Kunst-
werke gehören, zum Sprechen zu bringen. Zu dieser Zukunftsstrategie gehört
schließlich auch die stärkere Verankerung der Provenienzforschung in der uni-
versitären Lehre, z. B. durch Stiftungsprofessuren, sowie durch vielfältige Wei-
terbildungsangebote.
In diesem Sinne sind 20 Jahre neuer Kulturpolitik und 20 Jahre Provenienz-
forschung im Sinne der »Washingtoner Prinzipien« nicht nur ein Anlass, zurück,
sondern auch voraus zu blicken.

Wachgeküsst
Barbara
Schneider-Kempf
Zwei 20. Geburts­ 368

tage, eng mit­ 369

einander verzahnt
Zwei Dinge jähren sich im Herbst des Jahres 2018 zum 20. Mal: die Gründung
nämlich einer neuen Kulturinstanz auf Bundesebene, der heutigen »Beauftrag-
ten der Bundesregierung für Kultur und Medien« (BKM) und die Verabschiedung
der sogenannten Washingtoner Erklärung,1 mit der das Thema des NS-verfol-
gungsbedingten Bücherraubes nach Jahrzehnten eines überwiegenden kollekti-
ven Desinteresses überhaupt erst Einzug in das deutsche Bibliothekswesen fand.
In anderen Bibliotheken setzten spätestens Ende der 1990er Jahre sehr
ernsthafte Bemühungen ein, NS-Raubgut zunächst zu ermitteln und dann nach
Möglichkeit auch an die Eigentümer oder an deren Erben zu restituieren. Die
Prioritäten der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz lagen da-
mals jedoch noch auf einem anderen Gebiet und konzentrierten sich mit gro-
ßer Energie darauf, die Krakauer »Berlinka« und andere nach Ost- und Ostmit-
teleuropa verlagerte eigene Sammlungsteile nach Berlin heimzuholen. Hierü-
ber geriet eine wirklich vertiefte und der historischen Bedeutung angemesse-
ne Recherche nach NS-Raubgut in unseren Beständen leider über Jahre hinweg
ins Hintertreffen.
Die Staatsbibliothek zu Berlin hat eine lange und zumeist auch ruhmvol-
le Vergangenheit – den teilweise verschatteten Seiten ihrer Vergangenheit hat
sie sich aber erst mit einiger Verzögerung gewidmet. Ich spreche von den Jah-
ren nach 1933, als Einzelstücke wie auch ganze Sammlungen oder Teilsammlun-
gen aus nunmehr politisch missliebigen Quellen Einzug in die Magazine und die

1 Grundsätze der Washingtoner Konferenz in Bezug auf Kunstwerke, die von den Nationalsozialisten
beschlagnahmt wurden (Washington Principles); veröffentlicht im Zusammenhang mit der
Washingtoner Konferenz über Vermögenswerte aus der Zeit des Holocaust, Washington D. C.,
03.12.1998 ⟶ https://bit.ly/2Q3iHS1

8. — Erinnerungskultur – Erinnerungspolitik
Kataloge der Preußischen Staatsbibliothek fanden. Die Wahrscheinlichkeit war
hoch, dass jüdische Bücher wie auch Bücher der politischen Linken oder sol-
che, die den Nationalsozialisten aus anderen Gründen verbotswürdig erschie-
nen, von unserer Vorgängereinrichtung guten Gewissens übernommen wurden.
Guten Gewissens? Ja, das bibliothekarische Ethos jener Jahre verlangte danach,
auch die Schriften der von NS-Regime Verfolgten zu sichern, denn andernfalls
wären Bücher und Handschriften der Vernichtung anheimgefallen. Man wähn-
te sich als Retter von Kulturgut. Was jedoch damals als rechtmäßig und geboten
galt, gilt heute, 80 Jahre später, bei weitem nicht mehr als rechtmäßig, sondern
als widerrechtliche Aneignung fremden Eigentums.
Es war vor allem Klaus-Dieter Lehmann, der in seiner Eigenschaft als Prä-
sident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz die Staatsbibliothek in den spä-
ten 1990er Jahren immer wieder gemahnt und motiviert hat, sich ihrer Ver-
gangenheit mitsamt ihren unrühmlichen Abschnitten zu stellen; ihm gebührt
heute rückblickend ein besonderer Dank für sein Insistieren. Es muss mit al-
ler Deutlichkeit unterschieden werden zwischen Büchern, die wir zu Recht be-
sitzen und solchen, die nur in unseren Sammlungen sind, weil andere sie ver-
folgungsbedingt verloren haben. Oder, noch drastischer formuliert: ich dulde-
te es von Anbeginn meiner Amtszeit als Generaldirektorin der Staatsbibliothek
nicht, dass sich gestohlene Bücher in den Sammlungen der Staatsbibliothek zu
Berlin befinden.
Ich habe in den vergangenen 15 Jahren auf verschiedenen Tagungen im In-
und Ausland über Raubgut, Restitution und die besondere Rolle der Staatsbiblio-
thek zu Berlin berichtet. Die Resonanz und die stets interessierten Nachfragen
haben mir rasch und immer wieder neu bewiesen, dass die deutsche und die in-
ternationale Öffentlichkeit aufgrund unserer Verantwortung vor der Geschichte
ein sehr offensives Vorgehen der Staatsbibliothek dringend erwarteten.
Erste Erfolge stellten sich, wie wir sahen, alsbald ein. Aber es handelte sich
um Zufallsfunde, die nur ergänzend eine Bedeutung besaßen. Notwendig wur-
de vielmehr eine systematische und bedingungslose Herangehensweise,1 da die
Preußische Staatsbibliothek nicht eine Bibliothek unter vielen, sondern die erste
Bibliothek im Staate war und ihr eine eminent wichtige Rolle als bibliothekari-
scher Schaltstelle zukam. Es ging mir als Generaldirektorin der Staatsbibliothek
weder um eine pauschale Schuldzuweisung an unsere bibliothekarischen Vorvä-
ter, noch darum, einen Schlussstrich unter Verfehlungen zu ziehen, sondern ein-
zig darum, die Tradition unserer Einrichtung sauber aufzuarbeiten. »Die Traditi-
on zu pflegen«, so heißt es bei Gustav Mahler, »bedeutet nicht, die Asche anzu-
beten, sondern die Flamme zu erhalten.« Eben in diesem Sinne stellte die Tra-

1 Die verschiedenen Einzelprojekte, u. a. auch zu den Aspekten »Reichstauschstelle« und »Zentralstelle


für wissenschaftliche Altbestände« können an dieser Stelle nicht eingehender beschrieben
werden; stattdessen sei verwiesen auf die entsprechenden Seiten der Abteilung Historische Drucke
⟶ https://bit.ly/2xyKjYq

Wachgeküsst
dition der Staatsbibliothek für mich nicht ein Ruhekissen der Selbstgefälligkeit
dar, sondern eine Verpflichtung, unser Erbe kritisch gegenüber uns selbst und
kritisch gegenüber unseren Vorgängern im Amte zu bewahren.
Die Preußische Staatsbibliothek hat in der Zeit des Nationalsozialismus als
größte wissenschaftliche Bibliothek Deutschlands zahlreiche Zuweisungen ge-
raubter Bücher erhalten. In der Nachkriegszeit aber geschah hier wie auch in den
meisten anderen Bibliotheken nur wenig. Bücher standen jahrzehntelang kaum
im Fokus von Provenienzrecherchen und Restitutionen. Diese Jahre der Lethar-
gie sind lange passé. Als Rechtsnachfolger der Preußischen Staatsbibliothek ist 370
sich die Staatsbibliothek zu Berlin ihrer Verantwortung bewusst und arbeitet
seit nunmehr langen Jahren intensiv an der Aufarbeitung der Problematik von 371
NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut in ihren Sammlungen. Seit dem
Jahr 2007 befasst sich ein speziell eingerichteter Aufgabenbereich mit der sys-
tematischen Prüfung des rund drei Millionen Bände umfassenden historischen
Druckschriftenbestandes hinsichtlich der entdeckten Verdachtsfälle. Die Abtei-
lung Historische Drucke hat für die Bearbeitung von NS-Raubgut im Bereich der
Druckschriften spezielle Geschäftsgänge entwickelt, die sich an dem »Leitfa-
den für die Ermittlung von NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut in Bi-
bliotheken« (2005) und den Weimarer »Empfehlungen zur Provenienzverzeich-
nung« orientieren.
Großen Wert legt die Staatsbibliothek bei der Provenienzforschung auf die
nachhaltige Dokumentation der Recherche- und Erschließungsergebnisse. Alle
Verdachtsfälle auf NS-Raubgut werden mit sämtlichen Provenienzspuren zeit-
nah und umfassend im Online-Katalog der Staatsbibliothek (StaBiKat) und in der
Internet-Datenbank Lost Art der Koordinierungsstelle Magdeburg dokumentiert.
Wenn sich der Verdacht der Beschlagnahme, Enteignung oder eines Notverkaufes
bestätigt und das Exemplar eindeutig identifiziert werden kann, werden die Re-
chercheergebnisse einschließlich des Sachverhaltes »NS-Raubgut« mittels ver-
tiefter Provenienzerschließung im Online-Katalog StaBiKat dokumentiert. Da-
bei werden die in den Büchern vorhandenen Provenienzspuren (Stempel, Exlib-
ris, handschriftliche Besitzeinträge) sowie die Angaben aus den Zugangsbüchern
und gegebenenfalls den Akten über die Herkunft der Bände (Lieferanten), mögli-
che Vorbesitzer, den Zeitpunkt und die Art der Erwerbung erfasst, sodass die ge-
samte Exemplarhistorie im elektronischen Katalog der Staatsbibliothek recher-
chierbar ist. Ebenso wird im Falle der Restitution oder auch bei Restitutionsver-
zicht durch den Eigentümer oder seinen Rechtsnachfolger die Sachlage unter
Angabe des Zeitpunktes der Rückübertragung bzw. des Datums der Verzichter-
klärung im Katalog nachgewiesen.
Nach Auswertung der erfassten Besitzvermerke werden präsumtive Be-
rechtigte bzw. deren Rechtsnachfolger ermittelt und bei nach Einschätzung der
Staatsbibliothek eindeutiger Faktenlage dem Justiziariat der Stiftung Preußi-
scher Kulturbesitz zur Prüfung der Rechtslage und zur Vorbereitung der Ent-
scheidung über die Restitution durch den Präsidenten der Stiftung zugeleitet.

8. — Erinnerungskultur – Erinnerungspolitik
Abschließend seien einige erfolgreich verlaufene Restitutionsfälle beschrieben.1
—— Spektakulär war der Fund von 17 Büchern und Broschüren aus der verschollenen
Privatbibliothek des Rabbiners Leo Baeck in einem jahrzehntelang unbearbei-
teten Restbestand der Orientabteilung. Diese Werke konnten im April 2006 an
Marianne C. Dreyfuss, eine Tochter von Ruth Baeck und Hermann Berlak, resti-
tuiert werden.
—— Schon wenige Tage später, Anfang Mai, wurde eine aus 71 Positionen bestehen-
de Sammlung von Musikalien aus dem Besitz des Pianisten Arthur Rubinstein an
dessen in New York lebende Kinder übergeben. Der 1887 im polnischen Lodz ge-
borene weltbekannte Pianist war schon 1939 aus Paris in die USA emigriert. Sei-
ne dort zurückgelassene Bibliothek wurde im Juni 1940 vom Einsatzstab Reichs-
leiter Rosenberg konfisziert und nach Berlin verschleppt. Was dort die alliierten
Bombardements überstanden hatte, gelangte über die Trophäenkommission der
Roten Armee zunächst in die Sowjetunion und wurde von dort Ende der 1950er
Jahre an die DDR übergeben, wo sie jahrelang in der Musikabteilung der Deut-
schen Staatsbibliothek unbearbeitet blieben.
—— In den Beständen der Staatsbibliothek wurden im Jahr 2007 Bücher aus dem vor-
maligen Privatbesitz des renommierten deutsch-jüdischen Schriftstellers und
Theaterkritikers Alfred Kerr entdeckt. Kerr, am 15. Februar 1933 über die Schweiz
nach Frankreich geflohen, verkaufte später Teile seiner Privatbibliothek an die
Preußische Staatsbibliothek. Mehr als 80 dieser Bücher konnten identifiziert wer-
den; im Einvernehmen mit der in London lebenden Judith Kerr, der als Schriftstel-
lerin (»When Hitler stole pink rabbit«) bekannten Tochter Kerrs, wurden die Bü-
cher, die teilweise mit handschriftlichen Widmungen an Alfred Kerr versehen sind,
dem Alfred-Kerr-Archiv der Berliner Akademie der Künste übergeben.
—— Ein weiterer Restitutionsfall glückte bald darauf. Die Stiftung Preußischer Kul-
turbesitz gab im November 2008 zehn Autografe aus dem Nachlass des Kom-
ponisten und Musikschriftstellers Edwin Geist an dessen Erben zurück. Die Un-
terlagen befinden sich heute im National Holocaust Memorial Museum in Wa-
shington D. C. – Geist wurde 1902 in Berlin geboren. 1938 floh der Komponist,
der einen jüdischen Vater besaß, aus Deutschland und nahm in Litauen seinen
Wohnsitz. 1942 ermordeten ihn die Nationalsozialisten im litauischen Kaunas.
Kurz danach nahm sich seine jüdische Ehefrau unter dem Eindruck der Verfol-
gung und aus Verzweiflung das Leben. In ihrer Wohnung befanden sich zu diesem
Zeitpunkt Autografen der Kompositionen von Geist. Unbekannte entfernten den
Nachlass anschließend ohne Beteiligung der Familie aus der versiegelten Woh-
nung des Ehepaars. Einen Teil seiner Autografe hatte die Deutsche Staatsbiblio-
thek (Berlin-Ost) 1964 durch eine Schenkung der Gesellschaft für deutsch-sow-
jetische Freundschaft erhalten.

1 Die verschiedenen Einzelprojekte, u. a. auch zu den Aspekten »Reichstauschstelle« und »Zentralstelle für
wissenschaftliche Altbestände« können an dieser Stelle nicht eingehender beschrieben werden; stattdessen
sei verwiesen auf die entsprechenden Seiten der Abteilung Historische Drucke ⟶ https://bit.ly/2xyKjYq

Wachgeküsst
—— I n den Jahren 2010 bis 2012 restituierten wir mehr als 350 Bände aus ehemaligen
Bibliotheksbeständen der Berliner »Gesellschaft zur Beförderung des Christen-
tums unter den Juden« an den Rechtsnachfolger, das Berliner Missionswerk der
Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. Die Gesell-
schaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden musste im Januar 1941
ihre Tätigkeit einstellen, ihre Bibliothek wurde von der Gestapo beschlagnahmt.
Die nun restituierten Bücher wurden größtenteils erst nach dem Krieg im Zuge
der Aufarbeitung von Geschäftsgangsresten 1951/52 als »alter Bestand« inven-
tarisiert. Auch wenn die sogenannte »Judenmission« heute an sich sehr kritisch 372
gesehen wird, ist doch auch die Befassung mit diesen Vorgängen bedeutsam.
—— 2013 gaben wir drei Bücher aus dem ehemaligen Eigentum des jüdischen Apo- 373
thekers Leopold Scheyer an seine in London lebende Enkelin Dr. Edith Rosen-
berger zurück. Leopold Scheyer, geb. am 26. April 1867 in Kempen (Posen), besaß
in der Berliner Alexanderstraße die Alexander-Apotheke, die er 1936 aufgrund
der Verfolgung durch die Nationalsozialisten zwangsverkaufen musste. Zudem
musste er, um Deutschland verlassen zu können, seinen Hausrat und seine Pri-
vatbibliothek unter Wert veräußern. Im August 1939 emigrierte Scheyer in die
Niederlande, wo er sich angesichts der drohenden Deportation am 9. März 1943
das Leben nahm. Einzelne Bände seiner Bibliothek konnten in den letzten Jah-
ren anhand der sich in den Büchern befindlichen Besitzeinträge in verschiedenen
Berliner Bibliotheken identifiziert werden. Wie die nun restituierten Exemplare
in die Staatsbibliothek gelangt sind, ist ungewiss. Sie wurden nach 1945, wahr-
scheinlich Anfang der 1950er Jahre, in den Bestand übernommen.
—— Im Dezember 2014 wurden 13 Bände aus dem Bestand der Staatsbibliothek zu
Berlin an die Israelitische Kultusgemeinde Wien (IKG) restituiert. Es handelt
sich um Druckschriften, die zwischen 1840 und 1914 erschienen sind. Die Her-
kunft der Bücher hatte die Staatsbibliothek zu Berlin im Rahmen ihres seinerzeit
soeben abgeschlossenen Forschungsprojektes »Transparenz schaffen« geklärt.1
Insgesamt wurden dabei rund 11.000 besonders verdächtige Druckschriften aus
dem historischen Bestand der Staatsbibliothek überprüft. Aufgrund der im Ka-
talog der Staatsbibliothek verfügbaren Informationen wandte sich die IKG Wien
mit der Bitte um Rückgabe einiger identifizierter Bücher an die Stiftung Preu-
ßischer Kulturbesitz. Schließlich konnten nicht nur die vier Bände aus der Bib-
liothek der IKG Wien, sondern auch neun Bücher aus drei weiteren, heute nicht
mehr existierenden jüdischen Organisationen in Wien an die IKG als Rechts-
nachfolger übergeben werden. Schwierig war die Identifizierung der Stempel
vor allem bei einem Band aus dem Eigentum des »Vereins Jüdisches Museum
Wien«. In diesem Band waren alle Stempel mit schwarzer Farbe überstrichen,
um sie unkenntlich zu machen. Mithilfe von UV-Licht konnten dennoch Tei-
le der Stempelschrift entziffert und so die Frage nach der Herkunft des Bandes
eindeutig beantwortet werden.

1 ⟶ https://bit.ly/2xDNuxP

8. — Erinnerungskultur – Erinnerungspolitik
—— N
 S-verfolgungsbedingter Entzug beschränkt sich nicht allein auf Bücher deut-
scher und europäischer Juden, sondern betraf auch nach 1933 missliebige politi-
sche Einrichtungen wie das Frankfurter Institut für Sozialforschung, das erst vor
wenigen Wochen 500 Bücher aus Berlin zurückübereignet bekam,1 oder Freimau-
rerlogen. 2016 konnte ich dem Mitglied des Vorstandes der Johannisloge »Teuto-
nia zur Weisheit« in Potsdam, Matthias Bohn, 384 Bände (von einst über 2.000
Büchern) aus der ehemaligen Bibliothek der Freimaurerloge übergeben. Die Bü-
cher konnten in der Staatsbibliothek zu Berlin als NS-verfolgungsbedingter Ver-
lust der Loge identifiziert werden. Sie beinhalten allgemeine Literatur zum Frei-
maurertum, Instruktionen, Statuten, naturwissenschaftliche Texte, Lieder, Zeit-
schriften und zahlreiche Monografien aus dem 18. bis frühen 20. Jahrhundert. Die
Loge wird die Bände weiterhin der Forschung zur Verfügung stellen. Bücher, so
wurde einmal mehr deutlich, sind ein Teil der Identität einer Institution – und
Rückgaben sind somit mehr als reine Bestandsvermehrungen, wie Bohn freudig
hervorhob. Denn als sich im Jahr 1935 unter dem Druck der Nationalsozialisten
alle Freimaurerlogen auflösten, wurde ihr jeweiliges Eigentum verschleppt, zer-
streut oder unwiederbringlich zerstört.

Auch Bibliotheken waren Opfer des Zweiten Weltkriegs – aber sie waren zugleich
auch Täter. Dass auch aus deutschen Bibliotheken jene Mitarbeiter, die den Ras-
sekriterien des NS-Staates nicht entsprachen, entfernt wurden, ist in den vergan-
genen Jahren erfreulicherweise ebenfalls zum Thema der Bibliotheksgeschich-
te geworden. Ebenso wurde das Raubgut in deutschen Bibliotheken einer spä-
ten, wenn auch zu späten Recherche unterzogen: die Rückgabe kann kaum je-
mals mehr an die rechtmäßigen Eigentümer erfolgen, sondern besitzt häufig nur
noch symbolischen Charakter gegenüber Erben und Rechtsnachfolgern.
Die Suche und Restitution von NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kultur-
gütern ist eine aufwendige Angelegenheit. Sie erfordert hohen Einsatz aller Be-
teiligten, Geduld und Genauigkeit. Bei allem erforderlichen Aufwand wird aber
immer spürbar, dass dieses Verfahren dazu beiträgt, den Opfern des National-
sozialismus späte Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und ihnen einen Teil ih-
rer Würde zurückzugeben.
Tatsächlich haben 20 Jahre Washingtoner Erklärung und 20 Jahre BKM doch
mehr miteinander zu tun, als man eingangs noch vermuten mochte. Denn ist die
Befassung mit NS-Raubgut auch eine allumfassende Verpflichtung für Gedächt-
niseinrichtungen auf kommunaler, Länder- wie auch Bundesebene, so sind doch
die Impulse des bzw. der BKM, nämlich der ideelle Rückhalt und die stetig erhöh-
te finanzielle Unterstützung, sehr beträchtlich und dankenswert. Ohne die hohe
Priorität, mit der momentan ein »Zentrum für Provenienzforschung der Stiftung

1 Vgl. Hannah Betke: Späte Wiedergutmachung. Die Berliner Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz hat
537 Bücher entdeckt, die von den Nationalsozialisten geraubt wurden. Nun werden sie dem Frankfurter
Institut für Sozialforschung zurückgegeben. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.07.2018, Nr. 165, S. 11

Wachgeküsst
Preußischer Kulturbesitz« vorbereitet wird und vonseiten der BKM hoffentlich
auch adäquat personell ausgestattet wird, wären konsequente umfassende Re-
cherchen und juristische Prüfungen à la longue gar nicht möglich.

374

375

8. — Erinnerungskultur – Erinnerungspolitik
9.

Politik für
Vielfalt und
Diversität

20 Jahre
neue Kulturpolitik
des Bundes
Wachgeküsst 1998—2018
Kathrin Hahne
Im Spannungs-
feld von Vielfalt 376

und Einheit 377

»Vielfalt, die sich nicht zur Einheit ordnet, ist Verwirrung. Einheit, die sich nicht
zur Vielfalt gliedert, ist Tyrannei.« Blaise Pascal (1623–1662)

Kulturpolitik im Spannungsfeld von Vielfalt und Einheit

Fragen von Vielfalt und Diversität bewegen, das zeigt das Zitat des französischen
Philosophen Blaise Pascal, schon immer Geister und Gemüter. Gesellschaftli-
che Veränderungsprozesse gehen, da Neues neben Vorhandenes tritt, mit Viel-
falt einher. Die Anerkennung der bereichernden Wirkung von Vielfalt, mindes-
tens aber die Akzeptanz des Vorhandenseins von Vielfalt ist deshalb die Basis
für die Gestaltung gesellschaftlichen Lebens. Aber die Gestaltung von Vielfalt
erfordert »ordnende« Rahmenbedingungen. Ohne Leitbilder und Werte – »Ein-
heit« in den Worten von Pascal – fehlt der Kompass zur Gestaltung gesellschaft-
licher Prozesse.
Das Spannungsfeld von Vielfalt und Einheit findet sich in allen Politikfel-
dern. Der Europäischen Union dient es seit dem Lissaboner Vertrag als Leitge-
danke – »in Vielfalt geeint«. In der Kulturpolitik existiert es in besonderem Maße.
Denn die Kultur wirkt sich mit ihrer Vielzahl und Vielfältigkeit der Ausdrucksfor-
men durch die Ansprache aller Sinne in besonderem Maße auf die Persönlichkeit
der Menschen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt aus. Die Begegnung
und Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur sind für jeden Menschen von
prägender Bedeutung. Sie beeinflussen die sinnliche Wahrnehmung, die kreati-
ven Fertigkeiten und die Ausdrucksfähigkeit. Sie ermöglichen einen Zugang zur
Geschichte, zu den Traditionen, Werten und kulturellen Leistungen in Deutsch-
land, Europa und der Welt. Und sie vermitteln Zugehörigkeit zur hiesigen Gesell-
schaft. Kunst und Kultur sind Spiegel und Motor unseres gesellschaftlichen Zu-
sammenlebens. Wie hat in den letzten 20 Jahren die deutsche Kulturpolitik auf
die zunehmende Vielfalt der Gesellschaft reagiert? Dies zeichnet dieser Beitrag
anhand der auf Bundesebene geschlossenen Koalitionsverträge nach. Anhand

9. — Politik für Vielfalt und Diversität


von Programmen der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien
(BKM) vertieft der Artikel anschließend, wie die gegenwärtige Bundeskulturpo-
litik mit dem Spannungsfeld von Vielfalt und Einheit umgeht.

Die zunehmende Vielfalt im Spiegel


der Koalitionsverträge auf Bundesebene

Der Dialog der Kulturen, die gesellschaftliche Diversität und Teilhabemöglich-


keiten standen in den letzten 20 Jahren immer auf der kulturpolitischen Agen-
da der jeweiligen Bundesregierung. Ging es 1998 noch recht abstrakt formuliert
um »Verständigung über kulturelle Unterschiede hinweg«, um einen »offenen
interkulturellen Dialog auf breiter Grundlage […], mit dem Ziel, Feindbilder zu-
rückzudrängen«, wurde der Koalitionsvertrag von 2002 bereits konkreter: »Kul-
tur ist elementare Voraussetzung einer offenen, gerechten und zukunftsfähigen
Gesellschaft. Sie wird für das Zusammenleben in einer sozial und ethnisch di-
vergierenden Gesellschaft immer wichtiger.« Im Koalitionsvertrag von 2005 ver-
sprechen die Koalitionspartner, dass sie »bei der Wahrnehmung der Aufgaben des
Bundes den Aspekt der Teilhabe – insbesondere von Kindern und Jugendlichen –
an Kulturangeboten (berücksichtigen)«. Dieses Postulat spezifiziert sich sodann
im Koalitionsvertrag von 2009 – zwei Jahre nach dem Abschlussbericht der En-
quête-Kommission »Kultur in Deutschland« des Deutschen Bundestages, der in
der kulturellen Bildung einen Meilenstein setzte – noch weiter: »Wir wollen ge-
meinsam mit den Ländern den Zugang zu kulturellen Angeboten unabhängig
von finanzieller Lage und sozialer Herkunft erleichtern und die Aktivitäten im
Bereich der kulturellen Bildung verstärken; kulturelle Bildung ist auch ein Mit-
tel der Integration.« Im Koalitionsvertrag 2013 mündet dieses über die Jahre ge-
wachsene Bewusstsein für das verbindende Potenzial von Kunst und Kultur in-
nerhalb der Gesellschaft in ein klares Bekenntnis zur »identitätsstiftenden Wir-
kung von Kunst und Kultur« mit konkreten Handlungsaufträgen: »Die Koalition
bekennt sich zu dem Ziel, jedem Einzelnen unabhängig von seiner sozialen Lage
und ethnischen Herkunft gleiche kulturelle Teilhabe in allen Lebensphasen zu
ermöglichen. Kultur für alle umfasst Inklusion, Geschlechtergerechtigkeit sowie
interkulturelle Öffnung. Diese Grundsätze sind auch auf die vom Bund geförder-
ten Einrichtungen und Programme zu übertragen«.
Fazit: Teilhabe zu ermöglichen, ist immer mehr zu einer zentralen Aufga-
be für den gesamten Kulturbereich geworden. Die Koalitionsverträge, die auch
20 Jahre Kulturpolitik der BKM prägten, sprechen diese Sprache von Mal zu Mal
lauter. Kultur ist lebendig – sie soll und will die gesellschaftliche Vielfalt und Vi-
talität Deutschlands in all ihren Ausprägungen repräsentieren.
Damit hat sich in der Bundeskulturpolitik eine Forderung durchgesetzt, die
bereits in den 1970er Jahren entwickelt und gelebt wurde. Sie prägt die Sozio-
kultur bis heute. Die Soziokultur ist denn auch heute allenthalben ein hochge-
schätzter Motor und Impulsgeber – sei es für Stadtentwicklungsprojekte oder die

Wachgeküsst
Integrationspolitik. Mit Wolfgang Zacharias und Hilmar Hoffmann hat die Kul-
turpolitik in Deutschland in diesem Jahr herausragende Vordenker und Praktiker
verloren. Sie waren Pioniere der kulturellen Vermittlung und Pädagogik, die um
die Kraft der Kunst, um ihre Bedeutsamkeit für die Entfaltung junger Menschen
und um ihre prägende Rolle für den gesellschaftlichen Zusammenhalt wussten.
Hilmar Hoffmanns Diktum »Kultur für alle« ist heute nicht mehr in nur einem
bestimmten politischen Milieu verwurzelt, sondern parteiübergreifend Konsens
und Teil des etablierten Diskurses. Womöglich hat dazu ein Scherflein auch das
Amt der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien beigetragen. 378

379
Die heutige Kulturpolitik im Spannungsfeld von Vielfalt und Einheit

Wenn 31 Prozent der 15- bis 20-Jährigen in Deutschland einen Migrationshinter-


grund haben, wenn es immer mehr »rüstige« Seniorinnen und Senioren gibt und
wenn sich generell die Milieus ausdifferenzieren, muss es Aufgabe von Kultur-
einrichtungen sein, diese Menschen anzusprechen und einzubeziehen.
Politik und Kulturverwaltung, Einrichtungen und Praxis sind sich dieser He-
rausforderungen bewusst. Kulturelle Vielfalt und gesellschaftlicher Zusammen-
halt stehen daher auch ganz besonders im Vordergrund des Kulturkapitels im ak-
tuellen Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD in der 19. Legislaturperiode des
Deutschen Bundestages. Das Kapitel leitet damit ein, dass »Kunst und Kultur […]
Ausdruck des menschlichen Daseins [sind]. In ihrer Freiheit und Vielfalt berei-
chern sie unser Leben, prägen unsere kulturelle Identität, leisten einen Beitrag
zu gesellschaftlichem Zusammenhalt und zur Integration und schaffen Freiräu-
me für kritischen Diskurs.«
Kulturpolitisches Ziel ist es, dass möglichst viele Menschen an Kunst und
Kultur sowie Medien aktiv teilhaben können. Hierzu soll in Deutschland ein mög-
lichst breites und vielfältiges kulturelles Angebot in allen Sparten verfügbar sein.
Möglichst allen Bevölkerungsgruppen sollen Zugänge zu kulturellen Angeboten
vermittelt und damit die Rezeption von Kunst und Kultur entsprechend persön-
licher Interessen und passend zu den eigenen Lebenswelten ermöglicht werden.
Dies gilt grundsätzlich für jede und jeden Einzelnen unabhängig von Geschlecht,
Alter, Herkunft, Religion und sozialer Lage – in urbanen Gebieten ebenso wie in
ländlichen Regionen und unabhängig von Bildung, Einkommen oder Herkunft.
Die zahlreichen Kultureinrichtungen, Gedenkstätten, aber auch medialen
Akteure in Deutschland mit ihren breit gefächerten Angeboten tragen maßgeb-
lich dazu bei, dass der Zusammenhalt in Vielfalt gelingt. Angesichts der genann-
ten gesellschaftlichen Herausforderungen müssen sie mehr denn je auch Bil-
dungs- und Vermittlungseinrichtungen sein. Unsere Kultureinrichtungen sind
sich ihrer Verantwortung im gesamtgesellschaftlichen Kontext sehr bewusst. Es
entstehen immer mehr faszinierende Initiativen, Programme und Projekte, die
die Vielfalt unserer Gesellschaft abbilden und die die Menschen unmittelbar in
ihren Lebenswelten ansprechen.

9. — Politik für Vielfalt und Diversität


Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien verstärkt und un-
terstützt dieses Engagement nachdrücklich. Aktueller Aufhänger hierfür ist die
kulturpolitische Forderung des geltenden Koalitionsvertrages 2018, wonach »die
vom Bund geförderten Kultureinrichtungen […] das Ziel umfassender kulturel-
ler Teilhabe als Kern- und Querschnittsaufgabe in der Organisationsstruktur ver-
ankern und nach Möglichkeit in den Bereichen Gremien und Personal, Anspra-
che des Publikums, Programmgestaltung und Zugänglichkeit ihrer Angebote be-
rücksichtigen (sollen).«
Mit Gründung des BKM-Referats »Kulturelle Bildung und Integration« vor
zehn Jahren hat die BKM das Bewusstsein für das Thema der kulturellen Bildung,
Vermittlung und Integration geschärft und gemeinsam mit Partnern die inhalt-
lichen Grundlagen für stärkere Vermittlungs- und Diversitätsansätze geschaffen.
In wissenschaftlichen Studien, Expertendialogen und Netzwerken wurden rele-
vante Themen identifiziert und deren Praxisrelevanz herausgearbeitet. Nach die-
ser Dekade ist das Thema selbstverständlicher Bestandteil der BKM-Politik und
wichtige Meilensteine sind erreicht, wie die Schaffung des Netzwerks kulturel-
le Bildung und Integration, die Auslobung des BKM-Preises kulturelle Bildung
und das stetige Förderprogramm für gesamtstaatliche relevante Modellprojek-
te der kulturellen Vermittlung.
Nun geht die BKM weitere Schritte. Die Diversitätsentwicklung in Kunst und
Kultur steht ganz oben auf der Agenda strategischer Überlegungen für eine Kul-
turpolitik von morgen. Es geht dabei heute nicht mehr um das »Ob«, sondern um
das »Wie« konkreter Maßnahmen für mehr Teilhabe. Ziel ist es, von der Theorie
in die Praxis und vom Einzelprojekt hin zu nachhaltigen Strukturen zu kommen.
Auch die großen etablierten Kultureinrichtungen stehen heute vor der Frage, wie
sie jenseits der klassischen Museums- und Opernbesucher vermehrt Menschen
erreichen, die bislang wenig oder selten Museen, Bibliotheken oder Theater be-
suchen. Die BKM unterstützt und stärkt sie in der Organisationsentwicklung hin
zur kulturellen Bildungs- und zeitgemäßen Vermittlungsarbeit. Nur so können
Menschen für Kultur begeistert werden, die, aus welchen Gründen auch immer,
bisher nur selten oder auch gar nicht davon Gebrauch machen. Menschen jeden
Alters, im ländlichen Raum oder in Metropolen, mit und ohne Zuwanderungs-
geschichte oder körperlichen Einschränkungen: sie alle sollen regelmäßig Gele-
genheit haben, sich in spannenden und attraktiven Vermittlungsangeboten mit
Kunst und Kultur vertraut zu machen.
Das Förderprogramm »Kulturelle Vermittlung und Integration« ist im Bun-
deshaushalt 2018 mit sechs Millionen Euro ausgestattet. Dies stellt eine Vervier-
fachung des bisherigen Ansatzes dar. Hiervon werden zahlreiche Projekte und In-
itiativen, die sich der Vermittlung von Kunst und Kultur widmen, gefördert. Die
vom Bund geförderten Kultureinrichtungen sollen noch intensiver als bisher die
kulturellen Teilhabemöglichkeiten möglichst Vieler berücksichtigen. Gegenstand
der Förderung sind Vorhaben mit gesamtstaatlicher Relevanz im Bereich der Ver-
mittlung, Integration und Diversitätsentwicklung. Dazu gehören z. B. die kulturel-

Wachgeküsst
le Bildung für junge Menschen, die Inklusion für Menschen mit Behinderung, die
Integration und die interkulturelle Öffnung, die Vermittlung in ländlichen Räu-
men sowie Maßnahmen zur Verwirklichung von Geschlechtergerechtigkeit. Die
Bundesregierung verstärkt mit der 2016 verabschiedeten »Strategie zur Extremis-
musprävention und Demokratieförderung« das Engagement gegen islamistischen
Extremismus. Auch der Kulturbereich kann zu wirksamer Präventionsarbeit einen
Baustein leisten, weshalb die BKM am Nationalen Präventionsprogramm parti-
zipiert. Eine wirksame Präventionsarbeit setzt an den Ursachen an, bevor Radi-
kalisierungsprozesse in eine reale Gefahr umschlagen. Ursachen der Radikalisie- 380
rung junger Menschen sind laut aktueller Forschung unter anderem Marginali-
sierung, Mangel an Identifikation und doppelte Entwurzelung von der Herkunfts- 381
und der Aufnahmekultur. Ziel der BKM-Maßnahmen ist es, der Zielgruppe von
Heranwachsenden muslimischen Glaubens ein alternatives Narrativ zu islamis-
tischen Positionen in Form kulturell-religiöser Bildung an der Schnittstelle Mu-
seum-Schule-Sozialarbeit, kulturelle Brücken zwischen islamischem Kulturraum
und westlicher Welt, positive Identifikationsmöglichkeiten, Anerkennung und Zu-
gehörigkeit zu unserer Gesellschaft zu vermitteln.
Auf Erfahrungen mit Vorläuferprojekten wird dabei zurückgegriffen. Ein
besonderes Erfolgsprojekt war »Multaka: Treffpunkt Museum – Geflüchtete als
Guides in Berliner Museen«. Syrische und irakische Geflüchtete werden zu Muse-
ums-Guides fortgebildet, damit sie selbst Museumsführungen für arabisch-spra-
chige Geflüchtete in ihrer Muttersprache anbieten können. »Multaka« (arabisch:
»Treffpunkt«) steht dabei auch für den Austausch verschiedener kultureller und
historischer Erfahrungen. In Zusammenarbeit der Staatlichen Museen zu Ber-
lin und des Deutschen Historischen Museums wurde ein inhaltliches und me-
thodisch-didaktisches Training für die Guides ausgearbeitet, welches sich an
Jugendliche und junge Erwachsene, aber auch ältere Personen in gemischten
Gruppen richtet.
Die Aufgaben Diversitätsentwicklung und Vermittlungsarbeit sollen als Kern-
und Querschnittsaufgabe in der gesamten Organisationsstruktur einer Kulturein-
richtung, bei der Gremienarbeit und der Personalentwicklung mitgedacht werden
und regelmäßig in den Aufsichtsgremien thematisiert werden. Sie sollen in der
Ansprache der Besucherinnen und Besucher und in der Programmgestaltung ih-
ren Niederschlag finden. Ein BKM-Anliegen ist es zudem, bundesgeförderte Kul-
tureinrichtungen durch die Bundesakademie für kulturelle Bildung Wolfenbüttel
zu Fragen der Vermittlung, der Diversität und der Integration konkret und praxis-
nah beraten zu lassen. Diese Vor-Ort-Beratung wird flankiert von der Expertise
des »Kompetenzverbundes Kulturelle Integration und Wissenstransfer« (KIWiT)
an der Bundesakademie für kulturelle Bildung e.V. in Wolfenbüttel. Gefördert 2017
und 2018 durch die BKM verbindet er die Bundesakademie, die Stiftung Gensha-
gen, das Haus der Kulturen der Welt, das Netzwerk Junge Ohren und den Bundes-
verband Netzwerke von Migrantenorganisationen (NeMO). Ziel sind der Informa-
tions- und Erfahrungsaustausch einerseits sowie die Beratung von Kultureinrich-

9. — Politik für Vielfalt und Diversität


tungen zur kulturellen Bildung und Integration. Die BKM-Initiative »Kultur öff-
net Welten« ist Teil von KIWit. Unter dem Dach von »Kultur öffnet Welten« hatte
die BKM zusammen mit den Ländern, Kommunen, künstlerischen Dachverbän-
den und vielen zivilgesellschaftlichen Akteuren seit 2016 kulturpolitisches Enga-
gement, Angebote und Veranstaltungen zur kulturellen Vielfalt gebündelt sowie
Impulse für weitere partizipative Aktivitäten mit anderen öffentlichen und zivil-
gesellschaftlichen Akteuren gesetzt.

Ausblick

Kultur und Kulturpolitik sind auf einem guten Weg, die gesellschaftlichen Ver-
änderungen gemeinsam anzunehmen und jedem einzelnen Besucher, jeder ein-
zelnen Besucherin spezifische Teilhabeangebote zu machen. Aber die diversi-
tätsorientierte Öffnung von Kultureinrichtungen ist ein andauernder, länger-
fristiger Prozess, der einiges an Bewusstseinsbildung und auch Bewusstseins-
wandel benötigt. Sie erfordert vom Einzelnen und vom politischen System die
Bereitschaft, neugierig auf andere Perspektiven zu sein, Seh- und Denkgewohn-
heiten sowie stereotype Rollenbilder kritisch zu hinterfragen und offen für Ver-
änderungsprozesse zu sein.
Gleichzeitig bedarf es einer Debatte, welches die kulturellen Orientierungen
des 21. Jahrhunderts sein sollen, die die gesamte Gesellschaft verbinden und da-
mit ein Stück weit zusammenhalten. Dabei ist die Debatte mindestens so wich-
tig wie die Ergebnisse, die an ihrem Ende stehen. Die BKM hat sich bereits ak-
tiv in diese beginnende Debatte mit eingebracht. Unter dem Dach der Initiati-
ve Kulturelle Integration, die vom Deutschen Kulturrat moderiert und von der
BKM finanziell unterstützt wird, haben seit Ende 2016 neben den betroffenen
Ressorts der Bundesregierung 22 Mitglieder aus Zivilgesellschaft, Kirchen und
Religionsgemeinschaften, Medien, kommunalen Spitzenverbänden und Sozial-
partnern eine Verständigung darüber unternommen, welchen Beitrag Kultur zum
gesellschaftlichen Zusammenhalt im Angesicht von Vielfalt und Diversität leis-
ten kann und wie sich die Mitglieder der für den gesellschaftlichen Zusammen-
halt bereits heute und in Zukunft engagieren werden. Ein erster Diskussionsbei-
trag sind 15 Thesen zur kulturellen Integration, auf die sich die Initiative ver-
ständigt hat und die in den nächsten Jahren Ausgangspunkt für weiteres Enga-
gement und Verbreitung sein werden.
In Bezug auf die Ergebnisse der notwendigen gesellschaftlichen Verständi-
gung ist nur so viel klar: Nur »Goethe« geht nicht, aber ganz ohne »Goethe« geht
es auch nicht. Und schon Goethe wusste: »Was Du ererbt von deinen Vätern, er-
wirb es, um es zu besitzen.« Das Europäische Kulturerbejahr 2018 führt uns ein-
mal mehr vor Augen: Kultur ist ein Prozess der Aneignung des Erbes und seiner
Erneuerung, ein Geben und Nehmen über Grenzen hinweg – nie ein feststehen-
der Kanon und kein geschlossener Raum mit immer gleichen Nutzerinnen und
Nutzern, Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Kultur und die ihr innewohnen-

Wachgeküsst
de Kreativität leben vom Wechselspiel zwischen Bekanntem und Unbekanntem,
zwischen Normalität und Mode, Abweichung und Verschiedenartigkeit. Kultur
gewinnt durch das Einlassen auf zunächst einmal Fremdes. Alles Weitere wer-
den die Aushandlungs- und Gestaltungsprozesse im Sinne des Spannungsfeldes
von Vielfalt und Einheit zeigen.

382

383

9. — Politik für Vielfalt und Diversität


Christian Höppner
Kulturelle Vielfalt –
verankert in der DNA
unseres Landes
Bereits vor der Einrichtung eines Beauftragten für Kultur und Medien (BKM) beim
Bundeskanzler gab es eine Bundeskulturpolitik, auch wenn sie so nicht heißen
durfte. Kulturpolitisches Handeln war und ist in Deutschland, mit Ausnahme der
nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, von der Idee der Kulturellen Vielfalt
geprägt gewesen. Kulturelle Vielfalt ist in der DNA unseres Landes tief verankert,
was sich heute in der konstitutionellen Verfassung der Bundesrepublik und ei-
ner immer noch vielfältigen Kulturlandschaft widerspiegelt. Der rote Faden Kul-
tureller Vielfalt, ausgehend von den 300 Staaten im Heiligen Römischen Reich
bis zu unserem föderalen System, hat, mit Unterbrechungen, bis heute gehalten.

Welche Rolle spielt das Thema Kulturelle Vielfalt in der Politik der BKM?

Das Thema der Kulturellen Vielfalt nimmt seit Bestehen der BKM mehr und mehr
Raum in der kulturpolitischen Diskussion ein. Bei der Einrichtung eines Beauf-
tragten für Kultur und Medien 1998 durch Bundeskanzler Gerhard Schröder war
mit Staatsminister Michael Naumann ein Kosmopolit im Amt, der dieses The-
ma nicht nur in seiner Biografie, sondern auch in seinem kulturpolitischen Den-
ken und Handeln verkörperte, ohne es explizit so zu benennen. Seine Nachfol-
ger im Amt, Julian Nida-Rümelin und Christina Weiss unterstützen, mit unter-
schiedlichen Schwerpunkten, ebenfalls die Idee einer offenen und vielfältigen
Kulturlandschaft.
Die Verabschiedung der UNESCO-Konvention zum Schutz und zur Förde-
rung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen, kurz UNESCO-Konvention Kultu-
relle Vielfalt, im Oktober 2005 nach nur zwei Jahren internationaler Verhandlun-
gen, dem Jahr des Amtsantritts von Kulturstaatsminister Bernd Neumann, bil-
dete eine Zäsur für nationale Kulturpolitiken. Zum ersten Mal in der Geschichte
der UNESCO hatte die internationale Staatengemeinschaft eine völkerrechtsver-
bindliche Konvention verabschiedet, die sich unmittelbar mit dem Schutz und
der Förderung der Kulturellen Vielfalt befasste.

Wachgeküsst
Ich hatte in Paris die Gelegenheit, einen kleinen Ausschnitt der Verhandlungen
mitzuerleben. Die Intensität und teilweise Emotionalität der Verhandlungen im
Ringen um Punkt, Komma oder einzelne Worte zeigten deutlich, wie groß der
Einigungsdruck und wie hoch die Erwartungen an die zu verabschiedende Kon-
vention Kulturelle Vielfalt waren. Erwartungen, die u. a. auch aus den Erfahrun-
gen der gescheiterten DOHA-Runde und der zunehmenden Ökonomisierung na-
hezu aller Lebensbereiche gespeist wurden. Der Doppelcharakter von kulturel-
len und audiovisuellen Dienstleistungen als Kultur- und als Wirtschaftsgut, das
Recht aller Staaten auf eine eigenständige Kulturpolitik und die Beteiligung der 384
Zivilgesellschaft als »cultural watch dog« sind einige Kernthemen dieser Kon-
vention. Die drei Grundsäulen der Konvention sind der Schutz und die Förde- 385
rung des kulturellen Erbes, der zeitgenössischen künstlerischen Ausdrucksfor-
men und der inter- bzw. transkulturelle Bereich. Die Ratifizierungsprozesse er-
folgten ebenfalls im Rekordtempo, sodass die Konvention im März 2007 in Kraft
trat. 146 Staaten und die Europäische Union als Staatengemeinschaft haben die
UNESCO-Konvention Kulturelle Vielfalt bis heute ratifiziert.
In die Amtszeit von Kulturstaatsminister Bernd Neumann, von 2005 bis
2013, fiel die Verabschiedung (2005) und – nach dem erreichten Mindestquorum
der Ratifizierungen durch die Mitgliedsstaaten – das Inkrafttreten der Konventi-
on im Jahr 2007. Die Tatsache, dass nicht nur der Deutsche Bundestag, sondern
zum ersten Mal in ihrer Geschichte die Europäische Union als Staatengemein-
schaft diese Konvention ratifiziert hatte, war ein starkes Signal für die Zivilge-
sellschaft und den Staat in ihrem Engagement für den Schutz und die Förderung
der Kulturellen Vielfalt.
Bernd Neumann hat eine der zentralen Botschaften der Konvention, dass
Kulturpolitik Gesellschaftspolitik ist, mit der ganzen Bandbreite, die diese der
Bundeskanzlerin zugeordnete oberste Bundesbehörde für die Kultur zulässt, in
seiner achtjährigen Amtszeit immer wieder sichtbar werden lassen. Viele der kul-
turpolitischen Themen wie zum Beispiel die »exception culturelle«, dem Schutz
der Kultur vor den Marktmechanismen im Freihandelsabkommen mit den Ver-
einigten Staaten, waren geprägt vom Geist und den Umsetzungsfolgerungen
aus der Konvention, auch wenn nicht immer »Kulturelle Vielfalt« auf dem Eti-
kett stand. Mit seinem Positionspapier »Ohne Urheber keine kulturelle Vielfalt«
Ende 2010 hat er den »Schutz des geistigen Eigentums in der digitalen Welt als
die größte kulturpolitische Herausforderung« bezeichnet.
Die Themen der UNESCO-Konvention Kulturelle Vielfalt finden sich an et-
lichen Stellen des Abschlussberichtes der Enquête-Kommission des deutschen
Bundestags »Kultur in Deutschland« vom Dezember 2007 mit seinen knapp 500
Handlungsempfehlungen, von denen viele noch nicht abgearbeitet sind, wieder.
Dieser Enquête-Bericht hat die Arbeit von Bernd Neumann ebenfalls geprägt.
Seit dem Amtsantritt von Kulturstaatsministerin Monika Grütters als Beauf-
tragte für Kultur und Medien bei der Bundeskanzlerin im Jahr 2013 wird durch
das kontinuierlich wachsende Aufgabenspektrum und die damit verbundene in-

9. — Politik für Vielfalt und Diversität


haltliche Profilerweiterung die zentrale Rolle kultureller Fragen für nahezu alle
gesellschaftlichen Bereiche so deutlich wie noch nie. Die nahezu Verdopplung
des Etats der BKM von ihrer Gründung bis heute unterstreicht in Zahlen, welche
Bedeutung und Wirkmächtigkeit diese kulturpolitische Arbeit für unsere Gesell-
schaft hat – faktisch die Arbeit eines Bundesministeriums, ohne die damit ver-
bundenen Mitwirkungsmöglichkeiten, wie zum Beispiel das Stimmrecht im Ka-
binett, einsetzen zu können. Umso größer gilt der Dank den Persönlichkeiten,
die sich von Anfang an bis heute für Kultur- und Medienpolitik in diesem Amt
erfolgreich engagiert haben bzw. engagieren.
Die Bedeutung des Schutzes und der Förderung der Kulturellen Vielfalt für
den gesellschaftlichen Zusammenhalt – und damit weit über ein lebendiges Kul-
turleben hinaus – haben insbesondere Bernd Neumann und Monika Grütters
profiliert. Die kultur- und medienpolitischen Impulse, die Profilschärfe der För-
derpolitik, die Kooperationsbereitschaft mit den Ländern und die gesellschafts-
politischen Themen, die Monika Grütters mit ihrem Haus in der öffentlichen
Debatte gesetzt hat, sind im Sinne der UNESCO-Konvention Kulturelle Vielfalt
beispielhaft. Dazu gehört auch die deutliche Stärkung der Deutschen Welle, die
in ihrem dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Entwurf zur Aufgabenplanung
sich bereits zum zweiten Mal »in ihrer programmatischen Grundausrichtung an
der UNESCO-Konvention zum Schutz und zur Förderung der kulturellen Viel-
falt« orientiert.
Mit diesen erfreulichen Entwicklungen eröffnet sich die Chance, den be-
gonnenen Weg einer kulturpolitischen Gesellschaftsoffensive zu der Frage, wie
wir zusammenleben wollen, intensiver fortzusetzen. Die Voraussetzungen dafür
sind günstiger denn je: das Engagement der Zivilgesellschaft in der Zusammen-
arbeit mit dem Staat, wie zum Beispiel in der Initiative Kulturelle Integration und
die Kooperation des Deutschen Kulturrates mit der Deutschen UNESCO-Kom-
mission.
Die Diskussion, welche Rolle Kulturelle Vielfalt für den gesellschaftlichen
Zusammenhalt spielen soll und kann, wird von immer stärker auseinander-
driftenden Positionen bestimmt. Das Wort Vielfalt ist zwar im Sprachgebrauch
bis hin zur Werbung präsent wie nie, aber – überspitzt formuliert – jeder ver-
steht etwas anderes darunter. Der Deutsche Kulturrat hat sich ausgehend von
der UNESCO-Konvention Kulturelle Vielfalt auf die folgende Formulierung ver-
ständigt:

—— » Kulturelle Vielfalt umfasst das kulturelle Erbe, die zeitge-


nössischen k ­ ünstlerischen Ausdrucksformen einschließlich der
Jugendkulturen und ­andere Herkunftskulturen.
—— Kulturelle Vielfalt steht für die Summe kultureller Identitäten und
ihrer Beziehungen zueinander und beschreibt einen Prozess in
der Ent­wicklung unterschiedlicher kultureller Ausdrucksformen.
—— Kulturelle Vielfalt setzt kulturelle Teilhabe voraus.«

Wachgeküsst
Die Botschaften und Wirkungsmöglichkeiten der Konvention Kulturelle Vielfalt
weisen weit über die dort benannten Themenfelder hinaus. Wenn es denn ge-
lingt, die jedem Menschen angeborene Neugierde wachzuhalten, die Bandbrei-
te Kultureller Vielfalt im Sinne der UNESCO-Konvention gerade in den prägen-
den jungen Jahren erlebbar zu machen, die Neugierde auf das Andere, das Un-
bekannte, das Fremde zu wecken und zu befördern und die Voraussetzungen
geschaffen werden, die je eigenen Kreativpotenziale selbstbestimmt entfalten
zu können, dann kann eine der zentralen Herausforderungen in unserer Gesell-
schaft besser als bisher angegangen werden: Ängste in Neugierde zu verwandeln. 386
In diesem Sinne ist die Konvention Kulturelle Vielfalt eine ausgezeichnete Beru-
fungs- und vor allem Handlungsgrundlage. Unsere Gesellschaft hat weniger ein 387
Erkenntnisproblem, sondern mehr ein Umsetzungsproblem, gesellschaftlichen
Wandel gemeinsam zu gestalten.
Gesellschaftliche Entwicklungen sind kulturell grundiert. Die Frage, wie wir
zusammenleben wollen, ist eine zutiefst kulturelle Frage – über alle Ressortzu-
ständigkeiten hinweg. Für den weiteren Weg der Beauftragten für Kultur und Me-
dien seien die folgenden fünf Impulse gestattet:

1. Kulturelle Vielfalt und gesellschaftlichen


Zusammenhalt vor Ort erfahrbar machen.

Der Zusammenhang von Kultureller Vielfalt und gesellschaftlichem Zusammen-


halt wird in der Koalitionsvereinbarung benannt und mit Zielsetzungen und ei-
nem umfänglichen Maßnahmenkatalog hinterlegt. Leider fehlt ein Bundespro-
gramm zur kulturellen Integration, das angesichts der bundesweiten Entwick-
lungen in den gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen genauso dringend
wäre, wie die Absicht, Kultur vor Ort zu stärken. Projekte und Förderprogramme
können wegweisende Impulse setzen, aber nicht die auf Nachhaltigkeit angeleg-
ten Strukturen in Bildung, Kultur und Wissenschaft ersetzen. Für das Erleben Kul-
tureller Vielfalt vor Ort ist eine kontinuierliche und qualifiziert vermittelte Bil-
dung im formalen und nonformalen Bereich genauso notwendig, wie ein erreich-
bares und bezahlbares Kulturangebot und die Anregungen durch Projekte. Der
vor Jahren vom damaligen Bundestagspräsidenten Norbert Lammert festgestellte
»lausige Zustand« kultureller Bildung von Kindern und Jugendlichen hat sich lei-
der nicht verbessert. Hier bedarf es einer deutlich verstärkten Zusammenarbeit im
Sinne eines kooperativen Föderalismus zwischen Bund, Ländern und Kommunen.

2. Appell an die Länder, die ausgestreckte Hand des Bundes


zu einem kooperativen Föderalismus zu ergreifen

Kulturelle Vielfalt erfahrbar zu machen, von Anfang an und ein Leben lang, ist
eine gesamtstaatliche Verantwortung. Dieser Verantwortung wird unser Land
angesichts der Defizite, wie zum Beispiel bis zu 80 Prozent ausfallender ­Musik-

9. — Politik für Vielfalt und Diversität


und Kunstunterricht in der Grundschule und eklatanten Fehlplanungen im Bil-
dungsbereich mit den gefährlichen Versuchen, den Fachlehrermangel durch
Quer- und Seiteneinsteiger auszugleichen, nicht hinreichend gerecht. Gerade vor
dem Hintergrund der seit Jahren anhaltenden ausgezeichneten Wirtschaftsla-
ge muss es der viertstärksten Industrienation der Welt in einem Gemeinschafts-
pakt von Bund, Ländern und Gemeinden gelingen, dieses für unsere Gesellschaft
zukunftsgefährdende Defizit zu beseitigen. Unter Beachtung der vom Grundge-
setz vorgegebenen Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten ist schon heute der
Einsatz von zweckgebundenen Mitteln für die kulturelle Bildung ohne Eingriff in
die inhaltliche Gestaltungshoheit der Länder möglich. In dem für die Bundesre-
gierung federführenden Zusammenwirken von der BKM und dem Bundesminis-
terium für Bildung und Forschung könnte in der Zusammenarbeit mit den Län-
dern und den Kommunen ein Weg aus dieser auch international wahrgenomme-
nen Misere bestehen.

3. Die Koalitionsvereinbarung der Bundes-


regierung für eine verstärkte interministerielle
Zusammenarbeit nutzen

Die Kultur ist sowohl im Koalitionsvertrag wie im Ressortzuschnitt der Minis-


terien beispielhaft gut aufgestellt. Das strategisch aufgestellte Zusammenwir-
ken, beispielsweise zwischen BKM und Auswärtigem Amt, ist gerade vor dem
vollzogenen Paradigmenwechsel einer dialogorientierten auswärtigen Bildungs-
und Kulturpolitik, die nach außen und innen wirkt, derzeit noch nicht hinrei-
chend erkennbar. Die Chancen und Herausforderungen des Digitalen Zeitalters
sind zuerst ein kulturelles Thema und erst in zweiter Linie eine technologische
Frage. Eine stärkere Rolle der BKM zu dem Kulturthema Digitalisierung inner-
halb der Bundesregierung wie auch in der öffentlichen Meinungsbildung wäre
angesichts der tiefgreifenden Veränderungen für unsere Gesellschaft essentiell.

4. Bewusstseinsarbeit für den Wert Kultureller Vielfalt


und den weiten Kulturbegriff intensivieren

Bewusstsein schafft Ressourcen – im Denken und Handeln. Menschen anzure-


gen, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, welchen Wert Kulturelle Vielfalt für
sich und für andere hat bzw. haben könnte, kann der zunehmenden Fragmentie-
rung gesellschaftlicher Wahrnehmungs- und Meinungsbildungsprozesse entge-
genwirken. Der Kulturbegriff verengt sich zunehmend in Teilen unserer Gesell-
schaft und könnte am Ende des Tages die durch unser Grundgesetz geschütz-
te Kunstfreiheit gefährden. Nicht nur deshalb wäre das Werben für den weiten
Kulturbegriff, wie ihn die UNESCO in ihrer Erklärung von Mexico-City 1982 for-
muliert hat, wieder einmal an der Zeit. Ich wünsche der BKM weitere und noch
mehr Erfolge auf diesem Weg der Bewusstseinsarbeit.

Wachgeküsst
5. Kultur – Natur – Heimat: Zusammendenken

Kultur, Natur und Heimat gehören zum Fundament Kultureller Vielfalt. Diesen
Zusammenhängen im persönlichen Erleben jedes einzelnen Menschen Raum
zu verschaffen, erfordert die Erfahrung, zu verstehen und verstanden zu werden.

Das Aufgabenfeld der Beauftragten für Kultur und Medien ist in seiner inhaltli-
chen Bandbreite und der Bedeutung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt
dem eines Bundesministeriums mit Querschnittsfunktion vergleichbar. Ich be- 388
glückwünsche Staatsministerin Monika Grütters und ihre Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter zu dieser erfolgreichen Arbeit und wünsche der BKM weiterhin die 389
Wirkungskraft für die gesellschaftlichen Zukunftsthemen, die nahezu auch im-
mer kulturelle Themen sind.

9. — Politik für Vielfalt und Diversität


Susanne Keuchel
Inklusion und
Kulturpolitik
Um direkt zu Beginn mit einem Missverständnis aufzuräumen: Inklusion bedeu-
tet nicht Teilhabe von Menschen mit Behinderung, sondern die von Menschen
mit unterschiedlichen Fertigkeiten und Hintergründen. Das mit diesem Begriff
vor allem Menschen mit Behinderungen assoziiert werden, liegt an der Historie
des Begriffs, der sich in den 1970er Jahren in der Elternbewegung in den USA zu
Integration von Schülern mit Behinderungen in Regelschulen etablierte.
»Kultur für alle« forderte Hilmar Hoffmann schon 1979. Jedoch hat der Slo-
gan bis heute nicht dazu geführt, dass Menschen mit Behinderung in der Kultur-
politik ein vorrangiges Thema sind. Daher konzentriert sich dieser Beitrag expli-
zit auf Fragen zur Inklusion von Menschen mit Behinderung: Was ist vonnöten,
um inklusive Kulturpolitik voranzubringen?

»Betroffene« – Die eigentlichen »Helden«


und Pioniere der inklusiven Kulturarbeit

Mit Hilmar Hoffmanns Forderung wurde die Geburtsstunde der Soziokultur ein-
geläutet, mit dem Ziel, Angebote für und mit Menschen unterschiedlichster Her-
kunft zu ermöglichen. Trotz des hehren Anspruchs hat es auch die Soziokultur
bis heute nicht geschafft, gleichberechtigte Teilhabe für Menschen mit Behinde-
rungen umzusetzen. Sie ist jedoch immer wieder eine Plattform für Experimen-
te inklusiver Kulturarbeit gewesen. Zu nennen ist hier vor allem der Fonds So-
ziokultur e. V., der von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Me-
dien (BKM) gefördert wird und nach eigenen Aussagen allein von 2011 bis 2014
rund 40 inklusive Projekte bezuschusste.
Natürlich gab und gibt es immer wieder Einzelpersonen und Ensembles, die
sich in der inklusiven Kulturarbeit engagierten, wie der Kunstprofessor Sieg-
fried Neuenhausen oder die Musikprofessorin Irmgard Merkt. Es sind aber vor
allem Betroffene und betroffene Familienangehörige, die die inklusive Kultur-
arbeit gemeinsam mit engagierten Künstlern und Kulturpädagogen vorantrie-
ben und Strukturen nicht nur für sich, das eigene betroffene Kind, sondern auch
für andere Betroffene aufbauten. Zu nennen sind hier beispielsweise das Blau-
meier Atelier in Bremen, das Theater RambaZamba oder Netzwerke wie Eucrea.

Wachgeküsst
Dass es Ausnahmekünstler wie Thomas Quasthoff, Peter Radtke oder Gerda
­König auf die Bühne schafften, trotz fehlender Infrastrukturen in der künstleri-
schen Ausbildung, ist neben dem Engagement von Familienangehörigen oft auch
der Eigeninitiative zu verdanken, neue Strukturen zu etablieren, die die eigene
künstlerische Arbeit überhaupt ermöglichen, wie z. B. die Gründung von Ensem-
bles wie das Münchner Crüppel Cabaret oder Tanzensemble DIN A 13.

Inklusive Kulturarbeit bedarf


390
besonderer Förderperspektiven

Fragen der gesellschaftlichen Verantwortung haben dazu geführt, dass sich auch 391
Klassische Kultureinrichtungen kritisch mit der Reichweite des eigenen Publi-
kums auseinandersetzen. Dennoch ist zu beobachten, dass weder in Besucher-
umfragen noch im sich parallel entwickelten Fachdiskurs Menschen mit Behin-
derung als Zielgruppe eine wesentliche Rolle spielen.
Zu Beginn dieses Fachdiskurses standen, nicht zuletzt aufgrund der Sorge
um das Kulturpublikum von Morgen, junge Menschen im Fokus, flankiert von
Studien wie dem Jugend-KulturBarometer und einer Vielzahl bundesweiter kul-
tureller Bildungsprogramme wie »Kinder zum Olymp« oder »Kultur macht stark«.
Im weiteren Verlauf richtete sich der Blick verstärkt auf migrantische Bevölke-
rungsgruppen. Hervorzuheben ist hier das vom BKM 2012 geförderte InterKultur-
Barometer sowie die von der BKM gegründete Initiative »Kultur öffnet Welten«.
Eine systematische Förderung von Programmen zur Einbindung von Men-
schen mit Behinderung steht noch aus. Es können bisher nur einzelne Maß-
nahmen beobachtet werden, wie das von der BKM geförderte Pilotprojekt in der
Kunst- und Ausstellungshalle der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land, in dem in­klu­si­ve
multisensorische Aus­stel­lungs­kon­zepte erprobt werden, wie z. B. Tastausstellun-
gen, oder der von der BKM geförderte Leitfaden »Das inklusive Museum« zur Un­
ter­stüt­zung von Mu­se­en bei der Um­set­zung von Bar­rie­re­frei­heit und In­klu­si­on.
Als systematische Maßnahme mit sehr positiver Reichweite ist das seit 2017
geänderte Filmförderungsgesetz (FFG) hervorzuheben, das die Zu­gäng­lich­keit
bar­rie­re­frei­er Fas­sun­gen in an­ge­mes­se­nem Um­fang für die Ge­wäh­rung von Ki­
no- und Ver­leih­-För­de­rung voraussetzt.
Auch ermöglichte die BKM erstmals eine Bestandsaufnahme von Förderern
und Akteuren inklusiver Kulturarbeit. Daraus resultierte die Gründung des von
der BKM geförderten Netzwerks Kultur und Inklusion, dessen Trägerschaft die
Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW in Koope-
ration mit dem Verein InTakt e. V. übernommen hat. Das Netzwerk fördert den
Dialog zwischen den Pionieren inklusiver Kulturarbeit und Kulturschaffenden
auf Augenhöhe und trägt so bestehende Expertise inklusiver Kulturarbeit in die
kulturelle Praxis hinein. Die Experten der inklusiven Kulturarbeit nehmen da-
bei nicht nur das Publikum in den Blick, sondern den gesamten Kulturbetrieb,
also beispielsweise auch die künstlerische Aus- und Weiterbildung sowie den Ar-

9. — Politik für Vielfalt und Diversität


beitsmarkt. Zugleich konnte das Netzwerk mit Unterstützung der BKM erstmals
im Nationalen Aktionsplan 2.0 der Bundesregierung den Anspruch auf künstle-
rische Produktion, also nicht nur der Rezeption, verankern. Damit wird erstmals
der Anspruch junger Menschen mit Behinderungen beispielsweise auf das Er-
lernen eines Musikinstruments oder das Theaterspielen auch politisch gefestigt.

Eine Zwischenbilanz: Empfehlungen zum Ausbau


einer inklusiven Kulturpolitik

Die vorausgehende Betrachtung verdeutlicht den Beitrag, den die BKM bisher
zum Ausbau einer inklusiven Kulturpolitik geleistet hat. Es bedarf nun parallel
zur Zielgruppenerschließung im Bereich Gender oder Migration weiterer mu-
tiger Schritte, um Inklusion für Menschen mit Behinderung in der Kulturpoli-
tik zu gewährleisten. Entscheidend wird es dabei sein, sich mit den Zuständi-
gen zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention zusammenzuschlie-
ßen, um die Finanzierung notwendiger Maßnahmen auf breite Füße zu stellen.
Neben weiterem Experimentierraum für neue Formate, hier insbesondere in der
künstlerischen Aus- und Weiterbildung, bedarf es auch praxisorientierter For-
schung und Bestandsaufnahmen, um bestehende gut funktionierende Praxis im
Feld sichtbar zu machen.
Um diese in die Fläche zu tragen, braucht es systematische Förderansätze,
die die Inklusion von Menschen mit Behinderung im Kultur- und Medienbetrieb
in den Blick nehmen, bis diese selbstverständlicher Bestandteil des Kulturlebens
sind. Zur Erreichung einer angemessenen Präsenz haben sich insbesondere in
der Genderförderung begleitend Bestandsaufnahmen zum Status Quo, wie z. B.
die Studie Frauen im Kultur- und Medienbetrieb des Deutschen Kulturates, be-
währt. Das Einnehmen einer ganzheitlichen Bundesperspektive ist dabei sicher-
lich mitentscheidend, kulturelle Teilhabe von Menschen mit Behinderung »vor,
hinter und auf der Bühne« zu ermöglichen.

Wachgeküsst
Max Fuchs
Kulturelle Bildung
und Kulturpolitik 392

393
Wenn man in einer Internet-Suchmaschine die Stichworte »Kulturelle Bildung
und die Bundesregierung« eingibt, erhält man nicht nur eine lange Liste von wei-
terführenden Hinweisen: Auch die Überschriften dieser Links sind aufschluss-
reich. Denn sie erfassen ein breites Feld aktueller gesellschaftlicher Problemla-
gen, die mithilfe von kultureller Bildungsarbeit möglicherweise nicht vollstän-
dig gelöst, aber zumindest bearbeitet werden sollen: Integration, Teilhabe, so-
zialer Zusammenhalt, Inklusion. Weitere Stichworte informieren darüber, mit
welchen Arbeitsformen diese Probleme angegangen werden sollen: Die Rede ist
etwa von Netzwerken wie »Kulturelle Bildung und Integration« oder »Kulturel-
le Bildung und Inklusion«. Es ist von dem BKM-Preis Kulturelle Bildung sowie
von Modellprojekten die Rede, mit denen – so heißt es – Kultureinrichtungen
die Diversität bei Personal, Programm und Publikum und die Vermittlungen in
Bildung weiter stärken.
Bereits dieser kurze Blick auf eine leicht öffentlich zugängliche Informati-
onsquelle ist also in mehrfacher Hinsicht interessant. So beziehen sich alle An-
gaben auf Projekte und Förder-Aktivitäten der Beauftragten der Bundesregie-
rung für Kultur und Medien (BKM). Aufschlussreich ist dies im Hinblick darauf,
was nicht erwähnt wird. Nicht erwähnt wird etwa das Bundesbildungsministe-
rium mit seinem mehrjährigen und finanziell hochdotierten Programm »Kultur
macht stark«. Nicht erwähnt wird das Programm »Kulturelle Bildung« im Kinder-
und Jugendplan des Bundes (KJP), einem Haushaltstitel des Bundesjugendmi-
nisteriums. Damit werden zwei wichtige Förderer kultureller Bildung auf Bun-
desebene nicht genannt, die eine längere, nämlich jahrzehntelange Tradition in
diesem Bereich aufweisen.
Dies entspricht allerdings einer verbreiteten Unsitte im kulturpolitischen
Kontext, in dem man zwar durchaus die Förderaktivitäten des Bundesbildungs-
ministeriums mit seinen wichtigen Modellprojekten zur Kenntnis nimmt und zu
schätzen weiß, in der Regel jedoch das Engagement des Bundesjugendministeri-
ums verschweigt und vermutlich zum Teil noch nicht einmal kennt.
Dies ist aus einem entscheidenden Grund von hoher Relevanz. Denn die
Funde der Internetrecherche beziehen sich im Wesentlichen auf die Vergabe ei-
nes Preises und auf die Förderung von Projekten, nicht aber auf die Förderung

9. — Politik für Vielfalt und Diversität


von Infrastrukturen. Es werden vielmehr oftmals solche Infrastrukturen bei der
Förderung von Kulturprojekten benutzt, die ihre Existenzsicherung der jugend-
politischen Förderung verdanken. Denn kulturelle Bildung war immer schon an-
erkannter Teil der Jugendarbeit und ist im Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG)
gesetzlich verankert.
Dies ist deshalb wichtig, weil es eine entsprechende gesetzliche Absiche-
rung außerhalb der Jugendpolitik kaum gibt. Daher lautet ein immer wieder
von den Trägern kultureller Bildung vorgetragener Appell: »Von Projekten zu
Strukturen!«, da bei allen Chancen und Verdiensten einer guten Projektförde-
rung Nachhaltigkeit nur durch die Förderung einer stabilen Infrastruktur erreicht
werden kann. Immerhin gibt es die verbindliche Aufforderung der BKM an die
von ihr geförderten Institutionen (Museen, Bibliotheken und Archive), den As-
pekt der kulturellen Bildung in ihrer Tätigkeit zu berücksichtigen und entspre-
chende Nachweise zu erbringen.
Von zentraler Bedeutung ist auch die Unterstützung der selbstverwalteten
Fonds, deren Grundidee darin besteht, dass die betroffenen Kulturakteure selbst
am besten entscheiden können, welche Projekte und Initiativen in ihrem jewei-
ligen Feld eine Förderung verdient haben.
Nicht zuletzt ist die Förderung des ersten umfassenden Handbuchs Kultu-
relle Bildung hervorzuheben. Dieses Handbuch erfasst Theorie und Praxis der
kulturellen Bildung in ihrer Komplexität und beschreibt zudem politische Rah-
menbedingungen kulturpädagogischen Handelns. Inzwischen wird das Hand-
buch als (kostenfreie) Wissensplattform im Internet mit sich ständig erweitern-
dem Umfang fortgeführt, allerdings nunmehr in der Förderung des Bundesbil-
dungsministeriums.
Ein zweiter Aspekt betrifft die inhaltliche Ausrichtung der Projekte. Hier ist
die Programmatik auf der Höhe der kultur- und bildungspolitischen Diskussi-
on, wenn etwa das Problem der Teilhabe geradezu im Mittelpunkt der entspre-
chenden Hinweise steht. Dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn man auf die
Homepage der Staatsministerin geht. Das programmatische Leitmotiv ist ent-
sprechend dem Slogan der UNESCO »Kulturelle Bildung für alle!«, es geht um
Chancengleichheit und um Teilhabe. Dabei wird der Schwerpunkt eindeutig auf
solche Menschen gelegt, die nicht unmittelbar einen Zugang zu den in Deutsch-
land reichhaltig vorhandenen Kulturangeboten haben. Hierbei spielen insbeson-
dere auch gesellschaftliche Probleme wie etwa die Gefahr eines bedrohten Zu-
sammenhalts in der Gesellschaft eine wichtige Rolle.
Der Begriff der Teilhabe kann dabei als der international am besten begrün-
dete und legitimierte Zielbegriff politischen Handelns verstanden werden. Teil-
habe ist der Kernbegriff aller völkerrechtlich relevanten Konventionen, wobei
man hierbei politische, soziale, ökonomische und kulturelle Teilhabe unterschei-
den kann. Diese Unterscheidung ist wichtig, um die Möglichkeiten, aber auch die
Grenzen kultureller Bildungsarbeit und von Kulturpolitik insgesamt zu erken-
nen. Denn natürlich ist es wichtig, im Rahmen einer kulturell-ästhetischen Pra-

Wachgeküsst
xis Selbstwirksamkeit zu erfahren, Fähigkeiten zu entdecken und weiterzuent-
wickeln, einen Umgang mit Fremdem nicht bloß zu erlernen, sondern das zu-
nächst Fremde sogar als Bereicherung wahrzunehmen.
Doch muss man sehen, dass ohne eine ökonomische und politische Absi-
cherung der Menschen kulturelle Initiativen leicht zu bloßen Alibiveranstal-
tungen verkommen. Daher ist es richtig und wichtig, dass die neue Bundes-In-
itiative zur kulturellen Integration nicht bloß Organisationen und Akteure aus
dem Bereich der Gesellschafts- und Kulturpolitik erfasst, sondern auch solche
Akteure wie Ministerien, die in den genannten Feldern Gestaltungskompetenz 394
haben. Es ist allerdings darauf zu achten, dass diese auch im Sinne der Initiati-
ve genutzt wird. Dazu gehört aus meiner Sicht auch, selbstkritisch mit solchen 395
politischen Interventionen aus dem Mitgliederbereich der Initiative umzugehen,
die dem Integrationsanliegen schaden.
Neben der unmittelbaren Förderung kultureller Bildung durch die Staats-
ministerin fließen erhebliche Haushaltsmittel aus ihrem Etat in die Bundeskul-
turstiftung. Während man in der Anfangszeit dieser Bundeskulturstiftung eher
ein distanziertes Verhältnis zu Fragen kultureller Bildung hatte, sind entspre-
chende Förderinitiativen heute geradezu im Mittelpunkt der Stiftungsaktivitä-
ten. Ich nenne hier nur das Programm »Kulturagenten für kreative Schulen«, das
die Bundeskulturstiftung zusammen mit der Stiftung Mercator und einer wach-
senden Zahl von Bundesländern unter Beteiligung weiterer Stiftungen und Ver-
bände ins Leben gerufen hat und unterstützt.
Kulturelle Bildung kann sich auf Bundesebene auf viele qualifizierte Do-
kumente stützen. So gibt es den Schlussbericht der Enquête-Kommission »Kul-
tur in Deutschland« mit einem großen und aussagekräftigen Kapitel zur kultu-
rellen Bildung und einem dazugehörigen Forderungskatalog. Kulturelle Bildung
war Schwerpunktthema im Bundesbildungsbericht und wird auch im Nationa-
len Integrationsplan angesprochen. Auch im Koalitionsvertrag der derzeitigen
Bundesregierung hat kulturelle Bildung einen hohen Stellenwert, wobei in den
meisten dieser Grundlagenpapiere kulturelle Bildung in den verschiedenen Po-
litikfeldern (Bildung-, Jugend-, Senioren- und Kulturpolitik) thematisiert wird.
Vorausgegangen waren bereits in den 1990er Jahren Große und Kleine An-
fragen zur kulturellen Bildung im Deutschen Bundestag und eine Vielzahl von
Modellprojekten, meist in der Zusammenarbeit des Bildungsministeriums mit
der (inzwischen aufgelösten) Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung
und Forschungsförderung (BLK).
Vor diesem Hintergrund kann man nunmehr den Eindruck bekommen, dass
auf Bundesebene in der Kulturpolitik immer schon das realisiert wurde, was in-
zwischen als Standard kulturpolitischer Förderung gilt: nämlich die Berücksich-
tigung der drei Säulen Erhaltung des Kulturerbes, Künstlerförderung und kul-
turelle Bildung. Dies allerdings trifft nicht zu. Die Kulturpolitik des Bundes hat
vielmehr sehr spät kulturelle Bildung als eigenen Arbeitsauftrag erkannt. Der
erste Kulturstaatsminister hat dem Amt durch sein zum Teil unorthodoxes Auf-

9. — Politik für Vielfalt und Diversität


treten Profil und Anerkennung verschafft, kulturelle Bildung tauchte jedoch in
seiner Amtszeit nicht in seinem Zuständigkeitsbereich auf. Sein Nachfolger, ein
anerkannter Philosoph und erfahrener kommunaler Kulturpolitiker, hat zwar
nach seiner Amtszeit und verstärkt in der jüngsten Vergangenheit das Bildungs-
thema für sich entdeckt und damit eine Tradition fortgesetzt. Denn in früheren
Zeiten galt Pädagogik als Teil der praktischen Philosophie, so wie es etwa von
Immanuel Kant in seinen bis heute gut lesbaren und relevanten Texten zur Päd-
agogik zu erkennen ist. Aber auch er interessierte sich in seiner Amtszeit kaum
für kulturelle Bildung. Dasselbe gilt auch für seine Nachfolgerin. Erst mit Bernd
Neumann rückte das Thema kulturelle Bildung immer mehr in den Vordergrund,
zunächst betreut von einem engagierten Mitarbeiter eines Fachreferates, später
in einem eigenständigen Fachreferat und mittlerweile – wie oben gezeigt – ge-
radezu als Kernbereich der Aktivitäten der Bundesbeauftragten.
Man kann sich daher fragen, wieso es zu einer solchen Schwerpunktverla-
gerung und einer beachtlichen Konjunktur kultureller Bildung gekommen ist. Si-
cherlich ist es zum einen das Unbehagen an einer missglückten Bildungs- und
Wissenschaftspolitik und den in diesem Zusammenhang umgesetzten techno-
kratischen Reformmaßnahmen (Stichworte sind Bologna und PISA und eine ein-
seitige Schwerpunktsetzung auf die sogenannten MINT-Fächer), sodass man of-
fenbar die Notwendigkeit einer Kompensation sah. Im Bereich der Kulturpoli-
tik spielt sicherlich auch das Problem einer prekären Teilhabe eine Rolle, sodass
kulturelle Bildung hier als Instrument gesehen wird, sich dem nach wie vor gül-
tigen kulturpolitischen Slogan einer »Kultur für alle« zumindest anzunähern. In
diesem Kontext sind Aktivitäten im Bereich der kulturellen Bildung und der Kul-
turvermittlung auch eine Möglichkeit, die Legitimität der öffentlichen Kultur-
förderung zu steigern.
Diesen Fragestellungen nachzugehen, wäre durchaus eine interessante kul-
turpolitische Forschungsaufgabe. In einer pragmatischen Perspektive und aus der
Sicht der Praxis der kulturellen Bildung ist eine solche Motivationsforschung al-
lerdings weniger interessant, da es letztlich darum geht, die Aussage von ­Monika
Grütters ernst zu nehmen, die sie dem Informationsflyer ihres Hauses vorange-
stellt hat: »Teilhabe am Kulturleben ist eine grundlegende Voraussetzung dafür,
unser gesellschaftliches Leben mitzugestalten. Daher muss der Zugang zu Kunst
und Kultur jedem Einzelnen möglich sein, unabhängig von sozialer Lage und eth-
nischer Herkunft.«
Dem ist an dieser Stelle nichts hinzuzufügen. Es bleibt lediglich der Wunsch,
dass die Mittel für kulturelle Bildung eine analoge Steigerung erfahren wie der
Gesamthaushalt des BKM.

Wachgeküsst
396

397

9. — Politik für Vielfalt und Diversität


10.

Innen und
Außen

Außen
und Innen

20 Jahre
neue Kulturpolitik
des Bundes
Wachgeküsst 1998—2018
Michelle Müntefering
Acht gute Gründe,
warum BKM eine 398

ausgezeichnete 399

Idee war
1. Zur rechten Zeit

»Alle Arbeitslosen in den Wolfgangsee – wir fluten Kohls Urlaubsparadies« pro-


pagierte der Künstler Christoph Schlingensief vor der Jahrhundertwende und
rief nach 16 Jahren Kohl auch zu einem politischen Wechsel auf. Rot/Grün woll-
te 1998, nach Jahren des Stillstands, das Haus Bundesrepublik abstauben und
frische Luft durch die Fenster lassen – mithelfen sollten dabei auch die Zivil-
gesellschaft und Künstlerinnen und Künstler, mit ihrer Einmischung in politi-
sche Diskussionen und einem kritischen Blick auf die Zeit. Mich haben sie po-
litisch aufgeweckt.

2. Ein kultureller Aufbruch

Gerhard Schröder wollte unter einer sozialdemokratisch geführten Regierung


beweisen, dass es nicht nur um einen Regierungswechsel, sondern auch um ein
modernes Regierungsverständnis ging. Die Schaffung von BKM war Teil dieses
kulturellen Aufbruchs – und zugleich ein politisches Angebot. Die Kulturpoli-
tik erhielt mehr Gewicht innerhalb der Bundesregierung, nicht zuletzt aufgrund
des Kabinettsranges von BKM.

3. Impulsgeber und Ansprechpartner

Mit dem ersten Kulturstaatsminister, dem Publizisten und Verleger Michael Nau-
mann, erhielt die Bundeskulturpolitik Erkennbarkeit und Stimme, auch in Eu-
ropa. Seine Funktion wurde schnell erkennbar: Als nationaler Ansprechpartner,
Impulsgeber für Debatten und zuständig für die Schaffung von Ordnungsrah-

10. — Innen und Außen – Außen und Innen


men. In ganz Deutschland übernahm BKM kulturpolitische Verantwortung für
gesamtstaatlich bedeutende Kultureinrichtungen und Projekte mit nationaler
und internationaler Ausstrahlung.

4. Freiheit und soziale Sicherheit gehen Hand in Hand –


Anwalt der Interessen von Künstlern

Künstlerische Freiheit und kreative Ideen brauchen Freiraum, eine wirtschaftli-


che Basis und die passende soziale Absicherung. Unter anderem die Buchpreis-
bindung, die soziale Absicherung bis hin zum »Arbeitsrecht« der Kreativen, dem
Urheberrecht, bestimmen das Entstehen, aber auch die Verwertung und den Zu-
gang zu Kunst und Kultur. Mit BKM gab es nun auf Bundesebene erstmals einen
Anwalt für die Interessen der Künstler und Kreativen, aber auch der Produzen-
ten und Verwerter, um diese Rahmenbedingungen auszugestalten.

5. Neue Strukturen für ein modernes Land

Um die Aufgaben von nationaler Bedeutung, aber auch die Förderung zeitgenös-
sischer Kunst und Kultur mit internationaler Ausstrahlung deutlicher herauszu-
stellen, brauchte es neue Formen der Kooperation zwischen Bund, Ländern und
Kommunen. Dazu mussten die Förderstrukturen in der Kulturpolitik angepasst
und modernisiert werden – die Kulturstiftung des Bundes oder auch das Gedenk-
stättenkonzept des Bundes wirken bis heute erfolgreich.

6. Der Bevölkerung: Eine neue Hauptstadt

Wenige Kunstprojekte illustrieren den kulturellen Wandel und die Suche nach
einem offenen Identitätsbegriff, der mit dem Umzug in die neue Hauptstadt Ber-
lin einherging, so wie das partizipatorische Kunstprojekt »Der Bevölkerung« von
Hans Haacke im neuen Bundestag. Als Reaktion auf die Inschrift auf dem alten
Reichstag »Dem Deutschen Volke« wurde die neue zusätzliche Inschrift im In-
nenhof des Bundestages zum Ausdruck der demokratischen Beteiligung und ei-
ner offenen Debattenkultur. Das wiedervereinte Berlin sollte mit dem Wandel zur
Hauptstadt auch das kulturelle Herz der Bundesrepublik werden.

7. Das kulturelle Europa

Das Ende der Geschichte trat nach dem Zusammenfall der Sowjetunion und mit
dem Ende des kalten Krieges nicht ein, wie Francis Fukuyama vorhergesagt hat-
te. Im Gegenteil. In der Erwartung, dass die Vertiefung der europäischen Integra-
tion immer weiter voranschreiten würde, ging auch Deutschland in Europa neue
Wege. Neben der über Jahrzehnte des Friedens in Europa gewachsenen Partner-
schaft zu den westeuropäischen Nachbarn galt es nun, die kulturellen Beziehun-

Wachgeküsst
gen auch zu Osteuropa in einem europäischen Verständnis weiter zu entwickeln,
vor allem bezogen auf erinnerungspolitische Fragen – wie etwa die Förderung
der Bundesvertriebenenkultur.

8. Für den Wandel in der Welt


Kunst, Kultur, Ideen und Wissen machen an nationalen Grenzen nicht halt.
Die globalen Herausforderungen verlangen Antworten jenseits des nationalen
Schneckenhauses. Ralf Dahrendorf sprach schon früh von einer »Außenpolitik 400
der Gesellschaften«, die die Begegnung der Zivilgesellschaften stützt und ne-
ben der Diplomatie Verständigung ermöglicht. Bei der Einrichtung von BKM be- 401
stand die Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes, die auch Willy Brandt schon
als dritte Säule deutscher Außenpolitik beschrieb, schon fast acht Jahrzehnte.
BKM schaffte letztlich die noch fehlende Verbindung zwischen Innen, den Län-
dern, und dem Außen, den internationalen Kulturbeziehungen. Heute, 20 Jahre
später, sehen wir, wie Deutschlands Rolle in der Welt sich gewandelt hat und wie
sehr eben diese Grenzen in der globalisierten Welt verschwimmen.

10. — Innen und Außen – Außen und Innen


Wolfgang
Schneider
Außenkulturpolitik
in der Ver­änderung
Bundeskulturpolitik, das war früher in erster Linie Auswärtige Kulturpolitik
(AKP). Denn in Art. 32 Abs. 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutsch-
land heißt es: »Die Pflege der Beziehungen zu auswärtigen Staaten ist Sache des
Bundes« – kulturelle Beziehungen inklusive. Und alles Weitere war Angelegen-
heit der Länder und Kommunen. Mit der Rot-Grünen Regierung 1998 kam alles
anders. Am Anfang war der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Me-
dien im Kanzleramt (BMK), 20 Jahre später gesellt sich eine weitere Staatsminis-
terin dazu, nämlich die für internationale Kulturpolitik. Da scheint sich etwas be-
wegt zu haben zwischen Innen und Außen, in der kulturpolitischen Entwicklung
unseres Landes. Doch der Reihe nach, kursorisch, selektiv und pointiert: Meilen-
steine der AKP anlässlich des 20-jährigen Bestehens der BKM.

Die dritte Säule

Konzeptionelle Überlegungen zur Kulturpolitik, insbesondere zum Kulturaus-


tausch, hat es schon viele gegeben. Auch in der alten Bundesrepublik Deutsch-
land. Zu erinnern wäre an die Leitsätze des Auswärtigen Amtes vom Dezember
1970: »Die Auswärtige Kulturpolitik wird sich künftig intensiver als bisher mit
den kulturellen und zivilisatorischen Gegenwartsproblemen befassen. Der Kul-
turbegriff muss daher weiter gefasst werden.« Zu verweisen wäre zudem auf die
rund 300 Feststellungen und mehr als 100 Empfehlungen der Enquête-Kom-
mission des Deutschen Bundestages von 1975, in dem unter anderem ausführ-
lich dargelegt wird, dass die Auswärtige Kulturpolitik nicht mehr auf einseitigen
Kulturexport beschränkt bleiben kann, sondern sich den kulturellen Wechselbe-
ziehungen und der partnerschaftlichen Zusammenarbeit öffnen müsse. Zu kon-
kretisieren wäre Willy Brandts legendäres Diktum, AKP sei neben der Diploma-
tie und der Außenwirtschaftsförderung die dritte Säule der Außenpolitik. Und zu
zitieren wäre Hildegard Hamm-Brücher, die 1982 in ihren zehn Thesen zur kultu-
rellen Begegnung und Zusammenarbeit mit Ländern der Dritten Welt als allge-

Wachgeküsst
meine Prinzipien die Gegenseitigkeit von Kulturbeziehungen, die Gleichwertig-
keit der Kulturen, die Integration aller Bereiche zwischenmenschlicher Lebens-
gestaltung und Kommunikation sowie die Ermutigung und den Ausbau der Zu-
sammenarbeit mit nicht staatlichen Trägern anmahnt (Schneider 2008).

Die Konzeption 2000

Die Praxis der Kulturdiplomatie war nach der Wiedervereinigung der beiden
deutschen Staaten nach wie vor sehr stark geprägt von der Repräsentation. Der 402
Export deutscher Kultur, vornehmlich Produktionen und Exponate der Institu-
tionen der Kunst, sollte als Soft Power wirken, die das Schöne, Wahre und Gute 403
verbreitet und mehr oder weniger direkt nationales Interesse im internationa-
len Kontext vertritt. Auch das änderte sich. Mit dem politischen Versagen, insbe-
sondere der Europäischen Union, den Krieg in Jugoslawien zu verhindern, kam
es zum Umdenken in der AKP. In der Konzeption 2000 ging es erstmals um die
Rolle der Menschenrechte im kulturellen Austausch, als neue Ziele wurden Frie-
denssicherung und Konfliktprävention propagiert.

Menschen bewegen

Mit welchen Kernbotschaften soll sich die Kulturnation Deutschland im Aus-


land präsentieren? Auf der Konferenz »Menschen bewegen – Kultur und Bildung
in der deutschen Außenpolitik«, die am 26. Oktober 2006 im Auswärtigen Amt
stattgefunden hat, kam auch dieser Sachverhalt zur Sprache. Es ging auch um
eine Kulturpolitik im Spiegel des gesellschaftlichen Wandels, es ging um welt-
weite Netzwerke, es ging um den berühmt-berüchtigten Dialog der Kulturen in
einer globalisierten Welt. Der Außenminister hatte eingeladen und rund 500 Ex-
perten aus Politik, Kunst und Kultur waren gekommen – »ein Ballungsraum der
Kulturelite«, wie der Berliner Tagesspiegel zwei Tage später vermeldete.
Der kulturelle Dialog stand also hoch oben auf der Agenda von Frank-Walter
Steinmeier. Und selbst die, die sich mehr versprochen hatten, sich kleinere Ar-
beitsgruppen wünschten, intensiveren Streit, konkretere Worte oder mehr Zeit
für Gespräche, sehen nach langer Abstinenz des Außenministeriums, Auswärti-
ge Kulturpolitik zur Diskussion zu stellen. Zudem wurde in Aussicht gestellt, die
kulturelle Infrastruktur z. B. der Goethe-Institute (GI) zu verbessern; denn das
sollte uns »so viel wert sein wie 12 bis 15 Kilometer Autobahn in Deutschland«
(Steinmeier 2006). Ein schöner Vergleich, aber schon bei den wenige Tage spä-
ter stattgefundenen Haushaltsentscheidungen im Deutschen Bundestag blieben
nur ein paar Meter mehr – rund 15 Millionen Euro für 2007 – übrig. Behauptet
wird immer mal wieder, die Auswärtige Kulturpolitik sei integraler und gleich-
berechtigter Bestandteil in den Säulen der deutschen Außenpolitik. Die Bud-
gets sprechen eine andere Sprache, Anspruch und Wirklichkeit der AKP klaffen
bis heute auseinander.

10. — Innen und Außen – Außen und Innen


Kultur und Entwicklung

Mit einem Reviewing-Prozess hat 2014 eine neue Phase der Auswärtigen Kultur-
politik begonnen, die die Relevanz von Kunst und Kultur respektiert. Denn die
Macht der Kultur besteht in ihrer künstlerischen Komplexität – in der Tatsache,
dass sie mit den menschlichen Empfindsamkeiten spielt, die Wirklichkeit wider-
spiegelt und Fragen zum gesellschaftlichen Leben diskutiert. Um dies leisten zu
können, sollte der Kunst in der internationalen Politik Vorrang eingeräumt wer-
den. Und es wäre eine Debatte darüber anzustrengen, wie dies mit dem dualen
Charakter von Nachhaltigkeit zur ökologischen und kulturellen Entwicklung bei-
tragen könnte. Es geht um Rahmenbedingungen, Infrastruktur und Wertschät-
zung von Kunst, Künstlern sowie Kulturvermittlern. Das hat auch das Goethe-In-
stitut (GI) erkannt: »Kultur und Entwicklung« nennt sich eine Initiative, die seit
2011 neue Programme möglich macht.

Partnerschaften der Transformation

Überlegungen zufolge, wie sie in der Konzeptionen 2000 und mit dem Revie-
wing-Prozess 2014 angestoßen wurden, soll AKP eine zunehmende Relevanz im
Feld der Demokratieförderung beigemessen werden. Da das GI zwar eigenver-
antwortlich, aber im Auftrag des Auswärtigen Amtes handelt, ist es auch von der
politischen Einbindung der AKP in die Außenpolitik geprägt, wie die Transfor-
mationspartnerschaften zwischen Deutschland und Ägypten sowie Deutschland
und Tunesien deutlich machen. Die Mittlerorganisation orientiert sich bei ihrer
Arbeit in Tunesien seit dem »Arabischen Frühling« am neu formulierten Leitmo-
tiv der AKP »Transformation und Partnerschaft«.

Ein Kulturinstitut für Europa?

Ein Modell zukünftiger AKP entwickelte sich insbesondere in den europäischen


Metropolen im Zusammenspiel nationaler Kulturpolitik. In Luxemburg gibt es
ein trinationales Kulturinstitut, in Kiew zogen das GI und das British Council in
ein gemeinsames Haus, in Ramallah waren es GI und Institute Français und in
Genua entstand ein multinationales Kulturzentrum. Weitere Beispiele für die
transnationale Zusammenarbeit von Kulturinstituten folgten und es entstand
ein Netzwerk europäischer Kulturinstitute, das eine wirkungsvolle Kulturpoli-
tik durch europaweite Zusammenarbeit anzustreben gedenkt.
2006 tagten bereits Kulturinstitutionen aus 24 europäischen Staaten im
Auswärtigen Amt in Berlin und vereinigten sich zur European Union of Natio-
nal Institutions for Culture. EUNIC soll Kultur als wirkungsvolles Mittel zur Fin-
dung einer gemeinsamen Identität und gemeinsamer Werte nutzen. Während
die bisherigen Debatten um eine europäische Kulturpolitik allzu sehr um die
Frage kreisten: Was kann Europa für die Kultur tun? scheint sich mit der Etab-

Wachgeküsst
lierung von EUNIC ein Paradigmenwechsel anzukündigen. Nach mehr als zehn
Jahren Praxis sollte aber neu justiert und aktuell gefragt werden: Was muss die
Kultur für Europa tun?

More Europe!
»Cultural Diplomacy or Cultural Relations« lautet der Titel eines »Advocacy Pa-
pers« der zivilgesellschaftlichen Initiative »More Europe«. Es ist der Versuch, AKP
auf EU-Ebene zu denken, um den Prozess zu begleiten, den Frederica Mogherini 404
als Außenbeauftragte ihrerseits mit einer Strategie für internationale Kulturbe-
ziehungen angestoßen hat. Das Parlament der Europäischen Union verabschie- 405
dete 2017 eine Entschließung, die unter Hinweis auf Art. 167 der Lissaboner Ver-
fassung feststellt, dass die EU in internationalen Beziehungen ein zunehmend
wichtiger Akteur sei und zusätzliche Ressourcen zur Förderung der gemeinsa-
men Kultur, des kulturellen Erbes, des künstlerischen Schaffens und der Innova-
tion im Rahmen regionaler Vielfalt zur Verfügung zu stellen wären.

Ausbau und Öffnung

Ab Seite 153 geht es um Kultur (und um Außenwirtschaftspolitik!) im Koalitions-


vertrag vom 13. März 2018. AKP soll »wichtige Aufgabe« für Deutschlands »Anse-
hen und Einfluss in der Welt« werden. Die Mittel in dieser Legislaturperiode für
die AKP wollen CDU/CSU und SPD erhöhen. »Das Netzwerk des Goethe-Instituts
soll insbesondere in deutsch-französischer Zusammenarbeit ausgebaut, im di-
gitalen Bereich modernisiert und durch eine Öffnung gegenüber neuen Koope-
rationsformen weiterentwickelt werden«, heißt es im Regierungsprogramm. Zu-
mindest die finanzielle Ausstattung scheint bei prosperierender Wirtschaft nicht
gefährdet zu sein, die inhaltlichen Überlegungen sind eher rudimentär ausgefal-
len. Doch die Akteure wissen es besser, sie sind bereits involviert in den Prozess
einer neuen Konzeption zur AKP im Jahre 2020.

Fair Cooperation als Kriterium

AKP setzt auf den Austausch der Künstler, propagiert den Dialog und ermöglicht
Koproduktionen. In der Theorie liest sich das alles sehr eindrucksvoll; von der
Gleichberechtigung der Kulturen ist da die Rede, von der Zweibahnigkeit der in-
ternationalen Beziehungen. Aber wie ist die Praxis, wie viel Zusammenarbeit ist
möglich, wie schafft man Augenhöhe und wie nachhaltig ist das künstlerische
Kooperieren? Annika Hampel hat sich in ihrem Buch »Fair Cooperation« der part-
nerschaftlichen Zusammenarbeit angenommen, Kunst, Kooperation und Kultur-
politik zu untersuchen, um Antworten auf die Frage zu finden, wie denn ein Kul-
turaustausch gelingen kann, welche Kriterien Voraussetzung sind, um Verständi-
gungs- und Gestaltungsprozesse für beide Seiten fruchtbar zu machen.

10. — Innen und Außen – Außen und Innen


Internationale Koproduktionen stehen beispielhaft für die partnerschaftliche
und dialogische Zusammenarbeit. Das GI will mit dem seit 2016 aufgelegten Ko-
produktionsfonds neue kollaborative Arbeitsprozesse und innovative Produk-
tionen im internationalen Kulturaustausch anregen, um die Entstehung neuer
Netzwerke und Arbeitsformen in globalen Zusammenhängen zu unterstützen
und um neue Wege der interkulturellen Zusammenarbeit zu erproben.

Künstlerresidenzen als kulturpolitisches Instrument

Die nationalstaatlichen Außenkulturpolitiken stehen vor der Aufgabe, sich in


den sich verändernden globalen Verhältnissen neu zu positionieren. Diese ha-
ben neue Arbeitsfelder zur Folge, die über das klassische Profil der Mittlerorga-
nisationen hinausgehen. Mehr und mehr gilt es, mit kulturellen Netzwerken auf
unterschiedlichen Ebenen zu kooperieren und zu flexibleren und zugleich ef-
fektiveren Strukturen überzugehen, um Synergien, gegebenenfalls in zwischen-
nationalen Kooperationen, zu nutzen. Der Auftrag ist, den Künstleraustausch,
der gesellschaftliche Entwicklungen und interkulturelle Kommunikation stär-
ker berücksichtigt, über die bisherigen Formate hinausgehend zu qualifizieren.
Das GI hat seit Jahren sein Programm mit Künstlerresidenzen ausgebaut.
Best-Practice-Beispiel ist die »bangaloREsidency« des GI Max Mueller Bhavan
Bangalore, das jedes Jahr bis zu 15 Künstlern aus Deutschland ermöglicht, für vier
bis zwölf Wochen in der indischen Metropole zu arbeiten. Das Programm hebt
sich aufgrund seines dezentralen Aufbaus von anderen Residenzen ab: Die Künst-
ler werden nicht – wie sonst üblich – in einer zentralen Residenz untergebracht,
sondern auf unterschiedlichen Kulturorganisationen Bangalores, den sogenann-
ten hosts, verteilt und von diesen mitbetreut. Dieses Modell soll eine engere An-
bindung an die lokale Kulturszene fördern und somit nachhaltiger wirken können.

Arts Rights Justice

Wieso leben Künstler gefährlich? Offensichtlich gestalten sie mit der Kraft der
Kreativität gesellschaftliche Selbstverständigungen, die eine kritische Sicht
möglich machen. Die wird in autokratischen Systemen und durch antidemokra-
tische Tendenzen sowie nationalistische und rassistische Entwicklungen zum
Problem einer öffentlichen Kommunikation, bei der Fragen aufgeworfen, aber
nur einfache Antworten propagiert werden; die Diversität pflegen, wo Leitkul-
tur angesagt ist; die von Offenheit zeugen, wo Abgrenzungen wieder oder im-
mer noch die politische Agenda bestimmen.
Wo werden Künstler verfolgt oder sind gefährdet? Was sind die Ursachen?
Wie ist die Gesetzeslage vor Ort? Wie werden Verletzungen dokumentiert? Wie
können Bedrohungen künstlerisches Schaffen beeinflussen? Was bedeutet es, sie
zu schützen? Das Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim startete
hierzu 2017 das Programm »Arts Rights Justice« und rückt damit das Schicksal

Wachgeküsst
verfolgter Künstler sowie das Recht auf künstlerische Freiheit in den Fokus. Das
Auswärtige Amt und das »International Cities of Refuge Network« unterstützen
die Arbeit des am UNESCO-Chair in Cultural Policy for the Arts in Development
angesiedelten Forschungsprojekts.
In Deutschland formieren sich zudem Plattformen, die sich der Freiheit der
Kunst widmen: Persönlichkeiten der Darstellenden und bildenden Künste haben
einen Aufruf an die Bundesregierung zur Schaffung eines Programms für verfolg-
te Künstler unterzeichnet; das Internationale Theaterinstitut hat bereits 2011 ein
Aktionskomitee für Künstlerrechte gegründet und macht regelmäßig Zensurfäl- 406
le und staatliche Übergriffe öffentlich; »Art of Freedom. Freedom of Art« nennt
sich ein Projekt der Deutschen Welle, das den besonderen Schutz der Kunst in 407
Deutschland reflektiert und mit Beiträgen Künstler aus allen Kontinenten zu Wort
kommen lässt, wie sie ihre freie persönliche Entfaltung gesellschaftlich nutzen.

(Außen-)Kulturstaatsministerin trifft (Innen-)Kulturstaatsministerin

Parallel zur internationalen Entwicklung der Konvention steuert die Deutsche


UNESCO-Kommission den Prozess zur Erstellung des dritten deutschen Staa-
tenberichts zur Kulturellen Vielfalt in 2020. Der Auftrag ist, Auskunft zu geben,
was sich kulturpolitisch bei den Vertragspartnern tut. Eine Chance für die AKP
mit dem BKM und selbstverständlich den Ländern und Kommunen, aber aus-
drücklich auch mit der Zivilgesellschaft zusammenzuarbeiten. Innen und Außen,
im Kontext der UNESCO steckt das Potenzial, zusammenzudenken, was zusam-
mengehört; eine Kulturpolitik aus einem Guss, in zwei getrennten Aufgabenbe-
reichen. Die neue Staatsministerin für internationale Kulturpolitik im Auswär-
tigen Amt trifft die Kulturstaatsministerin aus dem Bundeskanzleramt; irgend-
wie auch eine Art Bundeskulturministerium.

Literatur
—— Hampel, A.: Fair Cooperation. Partnerschaftliche Zusammenarbeit
in der Auswärtigen Kulturpolitik. Wiesbaden 2015, S. 329
—— Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD. Ein neuer Aufbruch
für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt
für unser Land. Berlin 2018, S. 154
—— Schneider, W. (Hg.): Auswärtige Kulturpolitik. Dialog als Auftrag –
Partnerschaft als Prinzip. Essen 2008
—— Steinmeier, F.-W.: Eröffnungsrede zur Konferenz »Menschen bewegen –
Kultur und Bildung in der deutschen Außenpolitik« am 25. Oktober 2006,
In: Auswärtiges Amt (Hg.): Menschen bewegen – Kultur und Bildung
in der deutschen Außenpolitik. Berlin 2006, S. 12

10. — Innen und Außen – Außen und Innen


Karl Jüsten
20 Jahre BKM –
Die Deutsche Welle
heute mit neuer
Wertschätzung
Mit starken Worten würdigte Kulturstaatsministerin Monika Grütters Anfang
Juni 2018 die Deutsche Welle (DW): Der Sender sei »als weltweiter Garant für
Presse- und Meinungsfreiheit unverzichtbar«. Die Deutsche Welle leiste »groß-
artige Arbeit« und genieße daher breite Unterstützung durch die Bundesregie-
rung und den Deutschen Bundestag. »Wir schätzen die große Professionalität
und Unabhängigkeit der Deutschen Welle«, hob sie hervor. In Zeiten weltweit
zunehmender Einschränkung von Meinungs- und Pressefreit sei die Deutsche
Welle eine weltweite Stimme des Qualitätsjournalismus.1
Dass dies mehr als nur goldene Worte anlässlich des 65-jährigen Beste-
hens des deutschen Auslandsrundfunks waren, zeigte sich, als die Beauftrag-
te der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) wenig später verkündete:
»Die Mittel für die Deutsche Welle sollen – zusätzlich zu der bereits im Regie-
rungsentwurf vorgesehenen Steigerung um fast 28 Millionen Euro – um bis zu
weitere sieben Millionen Euro unter anderem für den Ausbau des türkischspra-
chigen Angebots erhöht werden.« 2
Eine signifikante Stärkung, die aber auch erforderlich ist, damit die Deut-
sche Welle ihren Aufgaben angesichts gewachsener Anforderungen nachkom-
men kann und die daher vonseiten des Rundfunkrates große Zustimmung erfährt.
Die Zuständigkeit für die Deutsche Welle lag zunächst im Bundesministe-
rium des Innern. Nach dem Wahlsieg von SPD und Bündnis 90/Die Grünen 1998
hatte die neue Bundesregierung eines ihrer Wahlversprechen eingelöst und im
Kanzleramt die kultur- und medienpolitischen Aktivitäten des Bundes in einer
eigenen Einheit gebündelt. In der Folge ging die Zuständigkeit für die Deutsche

1 ⟶ https://bit.ly/2QS5EUy
2 Monika Grütters, 28.06.2018 ⟶ https://bit.ly/2IFsEAP

Wachgeküsst
Welle vom Bundesinnenministerium in das neu geschaffene BKM über. Dort bil-
det sie seither mit fast einem Drittel den größten Posten im Etat. Zwar sah die
Koalitionsvereinbarung aus dem Jahr 1998 eine Verbesserung der medialen Au-
ßenrepräsentanz vor, doch anstelle der noch von der vorigen Bundesregierung
vorgesehenen moderaten Etatsteigerung um rund fünf Millionen Euro kürzte die
neue Koalition den Deutsche Welle-Etat seinerzeit um mehr als 20 Millionen Euro.
Mehr als 15 Jahre prägte der damalige Einschnitt, bei weiter steigenden Ge-
hältern und Kosten, Arbeit und Möglichkeiten der Deutschen Welle – und nicht
zuletzt ihrer Aufsichtsgremien. Ich gehöre dem Rundfunkrat seit 2003 an, davon 408
seit 2014 als Vorsitzender, und kann aus eigenem Erleben sagen: In vielen Sitzun-
gen von Rundfunkrat und Verwaltungsrat drehte es sich vor allem um die Frage: 409
Wie kann die Deutsche Welle ihren gesetzlichen Aufgaben und Zielen nachkom-
men, ihren Programmauftrag erfüllen und am Jahresende einen ausgeglichenen
Haushalt vorlegen – bei gleichzeitig immer neuen Anforderungen. Ob es der ra-
sante technologische Wandel war, den die Deutsche Welle durch die Digitalisie-
rung zu bewältigen hatte, oder der Auf- und Ausbau fremdsprachiger Angebote
durch politische Entwicklungen in den Senderegionen.
Die Deutschen Welle soll nach dem Deutsche Welle-Gesetz durch Rundfunk
(Hörfunk, Fernsehen) und Telemedien Deutschland im Ausland als europäisch
gewachsene Kulturnation und freiheitlich verfassten, demokratischen Rechts-
staat verständlich machen, deutschen, europäischen und anderen Sichtweisen
international ein Forum geben und die deutsche Sprache fördern.
Hierzu bedarf es zweifelsohne einer angemessenen Finanzausstattung. Die
Deutsche Welle erhält ihren Etat aus dem Haushalt der BKM und ist damit steu-
erfinanziert, die Mittelkürzung seinerzeit erheblich. Die Gremienmitglieder des
Rundfunkrats sind den Interessen der Allgemeinheit bei der Wahrnehmung ih-
rer Aufgaben verpflichtet. Der Rundfunkrat ist plural zusammengesetzt, von sei-
nen 17 Mitgliedern werden zehn von gesellschaftlichen Gruppen benannt, je zwei
Mitglieder werden vom Deutschen Bundestag und vom Bundesrat gewählt, drei
Mitglieder von der Bundesregierung benannt. Der Rundfunkrat wirkt auf die Er-
füllung des Programmauftrages hin, berät den Intendanten in allgemeinen Pro-
grammangelegenheiten oder beschließt über Fragen grundsätzlicher Bedeutung
für die Deutsche Welle und ihre Aufgabenplanung. Bei der Erfüllung dieser Auf-
gaben hat er die Interessen der Allgemeinheit zu vertreten, die sich nicht zuletzt
auch in den erwähnten Aufgaben und Zielen der Deutschen Welle widerspiegeln,
für die sie entsprechende Finanzmittel benötigt.
Bei allen zermürbenden Finanzproblemen der Deutschen Welle mussten
aber auch notwendige Einschnitte erkannt werden, die in den Gremien viel dis-
kutiert und letztlich mit programmlichen und strukturellen Reformen verknüpft
wurden. Es wurden zahlreiche Fremdsprachenangebote eingestellt, die Kurzwel-
lenübertragung drastisch reduziert und fast 1.000 Planstellen abgebaut. Gleich-
zeitig kamen neue Aufgaben hinzu, wurden Fernsehen und Online ausgebaut, die
Digitalisierung vorangetrieben, die innere Struktur verschlankt.

10. — Innen und Außen – Außen und Innen


Schon Ende des Jahres 2000 betonte der damalige Vorsitzende des Verwaltungs-
rates Franz Schoser bei einem Strategie-Symposium, das Intendant und Gremien
nach den Kürzungsbeschlüssen der Bundesregierung ausrichteten: »Die Deut-
sche Welle […] ist beileibe kein orientierungs- oder konzeptionsloser Sanierungs-
fall. Im Gegenteil. Dennoch ist öffentliches Nachdenken über Strategien und Sze-
narien des Auslandsrundfunks im 21. Jahrhundert geboten. Zwei Entwicklungen
sind hierfür ausschlaggebend: Zum einen die Globalisierung und die immer ra-
santere Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologie. Po-
sitionsbestimmungen und – wenn nötig – Kurskorrekturen werden so in immer
kürzeren Zeitabständen notwendig.«
Diese Analyse hat nichts von ihrer Aktualität verloren. In den vergangenen
zwei Jahrzehnten haben die Gremien der Deutschen Welle nicht nur mit den In-
tendanten – ab 2001 Erik Bettermann, ab 2013 Peter Limbourg – die Entwicklung
der Deutschen Welle einschließlich des dafür notwendigen Finanzrahmens dis-
kutiert und gestaltet, sondern auch mit den jeweiligen Kulturstaatsministern:
­Julian Nida-Rümelin (2001–2002), Christina Weiss (2002–2005), Bernd Neumann
(2005–2013) und aktuell mit Monika Grütters, die sich von Beginn an kraftvoll für
einen starken, wettbewerbsfähigen Auslandsrundfunk einsetzte.
Unter der Ägide von Christina Weiss wurde das Deutsche Welle-Gesetz no-
velliert und 2004 verabschiedet. Kernpunkte sind ein zeitgemäßer Programm-
auftrag, die Verankerung von »Telemedien« als drittes mediales Standbein neben
Fernsehen und Hörfunk, und ein modernes Beteiligungsverfahren, bei dem die
Deutsche Welle sich im Dialog mit Politik und interessierter Öffentlichkeit jähr-
lich über ihre Ziele und Aufgaben verständigt. Demokratieförderung, Dialog und
Verständigung prägen seither die journalistischen Angebote der Deutschen Wel-
le und die Arbeit der Deutschen Welle Akademie. Das Ergebnis der Gesetzesno-
velle, freute sich Intendant Bettermann damals, »stärkt die Unabhängigkeit des
Senders – und dessen Bedeutung«. Tatsächlich bietet das Deutsche Welle-Ge-
setz seither auch aus Sicht des Rundfunkrates einen guten Rahmen, innerhalb
dessen die Deutsche Welle frei und in eigener Verantwortung flexibel auf Verän-
derungen reagieren kann.
Die zu Beginn geäußerte Sorge, das neue »Konstrukt« BKM könne die jour-
nalistische Freiheit der DW gefährden, hatte zu keiner Zeit eine Grundlage. Beide
Seiten kennen – und respektieren – ihre Rollen. Der Rundfunkrat hatte in 20 Jah-
ren nie Anlass, Einflussnahmen der Politik auf die Berichterstattung des Senders
abzuwehren. Dass die Deutsche Welle die deutsche Regierung und das Parlament
in ihren 30 Sprachangeboten kritisch begleitet, trägt zu der hohen Akzeptanz bei,
die sie weltweit genießt: 96 Prozent ihrer Nutzer sprechen der Deutschen Welle
hohe oder sehr hohe Glaubwürdigkeit zu. Der Rückhalt der Deutschen Welle in
der Politik ist in den vergangenen fünf Jahren stark gewachsen. Dies ist eine sehr
erfreuliche Entwicklung und hat neben den programmlichen und strukturellen
Reformen sicherlich auch damit zu tun, dass die veränderte politische Großwet-
terlage Politik und Öffentlichkeit nochmals die Augen geöffnet hat, welchen Wert

Wachgeküsst
ein Sender wie die Deutsche Welle für Deutschland hat. Die Krisen und Konflik-
te in der arabischen Welt, die aggressive Politik Russlands, die unberechenbaren
transatlantischen Beziehungen, wachsender Nationalismus und Populismus in
Europa, die Erosion der EU und ihres Werteverständnisses und die Flüchtlings-
thematik: Auf diesen und vielen anderen Politikfeldern ist Deutschland gefragt.
Die Deutsche Welle kann zudem Erfolge auf den internationalen Medienmärkten
ins Feld führen: Die Zahl der regelmäßigen wöchentlichen Nutzer stieg von 101
Millionen im Jahr 2013 auf heute mehr als 157 Millionen. Mehrere Tausend Part-
nersender und Plattformbetreiber übernehmen täglich Inhalte der Deutschen 410
Welle in ihre Angebote und bringen sie so direkt an die Menschen.
Ein großer und wichtiger Schritt der letzten Jahre war der Umbau des eng- 411
lischsprachigen TV-Programms zum Breaking-News-fähigen, international
wettbewerbsfähigen News-Kanal. Potenzielle Zielgruppen können so besser er-
schlossen und die Wettbewerbsfähigkeit der Deutschen Welle gewährleistet wer-
den. Dabei sind von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auch Herausforde-
rungen bei der Vermittlung der Inhalte zu meistern. Die Profilierung anderer
Fremdsprachenangebote, vor allem Arabisch, sind hervorzuheben wie die Ent-
wicklung einer konsistenten Digitalstrategie und der Ausbau der Mobil- und So-
cial-Media-Angebote. Die Deutsche Welle vermittelt ihrem Publikum weltweit,
wie unser Land denkt und handelt, erläutert politische und gesellschaftliche De-
batten – und macht Perspektiven in den Zielgebieten auf deutsche und europäi-
sche Politik auch hierzulande zugänglich.
2017 ist das deutsche TV-Programm als Kulturkanal neu gestartet. Die Bun-
desregierung hat im Juni dieses Jahres in ihrer Stellungnahme zur Aufgabenpla-
nung der Deutschen Welle für die Jahre 2018 bis 2021 zu Recht die Erwartung ge-
äußert, dass die Verbreitung der deutschen Sprache mit Blick auf den internatio-
nalen Wettbewerb der Sprachen und auf den gesetzlichen Auftrag der Deutschen
Welle weiterhin ein Schwerpunkt im Angebot des Senders sein müsse. Der Rund-
funkrat wird die Entwicklung und Ausgestaltung des deutschen TV-Programms
auch vor diesem Hintergrund weiter im Blick behalten.
Wie sehr die kritische Begleitung durch die Gremien notwendig ist, zeigte
sich auch bei der Diskussion um den Erhalt des deutschsprachigen Programms.
Bei dieser Diskussion gelang es, alle von der Bedeutung der Deutschen Spra-
che für die diversen redaktionellen Angebote aller Programme zu überzeugen.
Das Geschehen in der Welt muss aus deutscher Perspektive eingeordnet werden.
Regierung und Parlament haben den Wert erkannt, den ein leistungsfähi-
ger, vor allem auch unabhängiger Auslandssender für eine Orientierungsmacht
wie Deutschland hat. Die verfassungsmäßig garantierte Unabhängigkeit ist ein
Markenzeichen der Deutschen Welle und hebt sie ab von den vielen staatlich ge-
lenkten Angeboten auf den internationalen Medienmärkten. Sie wird auch durch
die Gremien der Deutschen Welle garantiert, die erforderlichenfalls Einflussnah-
men der Politik programmlicher Art abwehren und eine angemessene Finanz-
ausstattung einfordern.

10. — Innen und Außen – Außen und Innen


Weitgehend unbeachtet von einer breiteren Öffentlichkeit in den westlichen
Ländern haben China, Russland und Iran die Instrumente ihrer Auslandskom-
munikation professionalisiert, ausgebaut und ideologisch in Stellung gebracht.
Hier gilt es, nicht den Anschluss zu verlieren und den Propagandastimmen um-
fassende, sachliche Aufklärung auf der Grundlage journalistischer Werte und
Qualitätsstandards entgegenzusetzen. Mit dem Austritt Großbritanniens aus der
Europäischen Union wird das Gewicht der Deutschen Welle als Stimme aus der
Europäischen Union in der Welt nochmal wachsen.
Es ist daher zu begrüßen, dass die Regierungsfraktionen im Koalitionsvertrag
vereinbart haben, das Budget der Deutschen Welle auf das Niveau vergleichbarer
europäischer Auslandssender anzuheben und dies nun auch gemeinsam angehen.
Beim Festakt zum 65-jährigen Bestehen hat die Bundeskanzlerin Angela
Merkel die Bedeutung der Deutschen Welle unterstrichen: »Denn wir alle erle-
ben, wie wichtig eine solche Stimme in einer Zeit ist, in der wir Verfälschungen
in einer Weise kennenlernen, wie wir sie uns nicht hätten träumen lassen.« 1 Sie
wies in ihrer Ansprache darauf hin, die Deutsche Welle gebe »jenen eine Stim-
me, die aufgrund der Unfreiheit in ihrer Heimat zu verstummen drohen«. Ange-
sichts zunehmender Desinformation und gezielter Falschmeldungen wachse die
Bedeutung der Deutschen Welle als glaubwürdige Informationsquelle. Die Deut-
sche Welle sei »auch heute noch für viele ein Stachel«, so Merkel. Die Vermitt-
lung von Medienkompetenz durch die Deutsche Welle Akademie sei »Arbeit für
die Freiheit, für die Demokratie.« Und die Deutsche Welle-Angebote zur Ver-
mittlung der deutschen Sprache seien – auch vor dem Hintergrund der Zuwan-
derung – von großer Bedeutung.
Die Ansiedlung der Deutschen Welle bei der BKM erweist sich im Rückblick
als auch inhaltlich sinnvoll. Im Hinblick auf den Auftrag der Deutschen Welle,
Deutschland als europäisch gewachsene Kulturnation zu vermitteln, bestehen
auch diesbezüglich viele Bezugspunkte. Im Frühjahr 2019 wird die Deutsche Wel-
le über die Stiftung Preußischer Kulturbesitz den Dokumentarfilm »Schatzkam-
mer Berlin« in Arabisch, Deutsch, Englisch und Spanisch weltweit ausstrahlen
und sie begleitet die Ausstrahlung auf dw.com und in den Sozialen Medien. Mit
Angeboten wie diesen fördert die Deutsche Welle den Dialog der Kulturen, stärkt
die Freiheit der Kunst, bringt Menschen miteinander in Verbindung – und trägt
so über Sprachgrenzen hinweg zum besseren Verständnis zwischen Völkern und
Kulturen bei. Nicht zuletzt drückt sich auch in der Neuausrichtung des deutschen
TV-Programms als Kulturkanal der hohe Stellenwert der Kultur aus. Dabei zei-
gen sich Kultur und Deutsche Welle als Vermittler von Weltoffenheit und Dialog.

1 ⟶ https://bit.ly/2OLfgil

Wachgeküsst
412

413

10. — Innen und Außen – Außen und Innen


11.

Gegenüber

Das
Parlament

20 Jahre
neue Kulturpolitik
des Bundes
Wachgeküsst 1998—2018
Elisabeth
­Motschmann
Es gibt viele 414

gute Gründe zum 415

Gratulieren
Als das Amt des Bundesbeauftragten für Kultur und Medien im Kanzleramt 1998
ins Leben gerufen wurde, gab es deutlich mehr kritische als positive Stimmen.
Die im Grundgesetz garantierte Kulturhoheit liege schließlich bei den Ländern.
Der Bund dürfe sich nicht in die Kulturpolitik einmischen, lautete der Vorwurf.
Tatsächlich beruht unser einzigartiger kultureller Reichtum auf dem föderalen
System. Regionale Besonderheiten und Traditionen, unser reiches immaterielles
Kulturerbe, sind ein wesentlicher Teil unserer persönlichen kulturellen Identität.
Für den Erhalt der kulturellen Vielfalt und künstlerischen Freiheit optima-
le Rahmenbedingungen zu schaffen, trägt aber der Staat Verantwortung. Nach
Schaffung eines Kulturverantwortlichen in der Bundesregierung musste zu-
nächst ein Grundvertrauen in die Zuständigkeiten zwischen dem Bund und den
Ländern geschaffen werden. Mit großem Erfolg! Inzwischen sind Länder und Ge-
meinden für Bundesmittel am richtigen Ort sehr dankbar. Zu Recht! Lange wur-
de dabei verkannt, dass der Erhalt des kulturellen Lebens in der Fläche in Sum-
me auch von nationaler Bedeutung ist. Hier gibt es noch großes Potenzial. In
über 500.000 Vereinen engagieren sich Ehrenamtliche für unsere Gesellschaft.
Leuchtturmprojekte bleiben wichtig, aber die Menschen außerhalb von Bal-
lungszentren haben auch das Recht auf eine kulturelle Grundversorgung. Diese
leistet einen wertvollen Beitrag zur Angleichung von Lebensverhältnissen und
zur Integration.
Seit Amtsantritt von Kulturstaatsministerin Prof. Monika Grütters 2013 fin-
det zwischen allen politischen Ebenen ein regelmäßiger Austausch statt. Und
derweil gibt es nicht nur vonseiten des Deutschen Kulturrates sogar die Forde-
rung nach einem Bundeskulturministerium. Soweit sind wir noch nicht, aber es
ist gut, dass die Kultur im Kanzleramt Chefinnensache ist. Im Übrigen freuen wir
uns, dass die Kulturpolitik erheblich an Bedeutung gewonnen hat. Nicht nur in

11. — Gegenüber – Das Parlament


der öffentlichen Wahrnehmung, sondern auch im konkreten Verantwortungsbe-
reich. 1998 gab es zum Beispiel noch keine Kulturstiftung des Bundes, keine Bun-
desfilmförderung, kein Denkmalschutzsonderprogramm. Da wo heute das kultur-
politische Großprojekt Humboldt Forum entsteht, stand noch der Palast der Re-
publik. Bis zum Jahr 2005 lag die Zuständigkeit für die Stasiunterlagenbehörde
noch beim Bundesinnenministerium. Die Erinnerungskultur muss als ein Pfeiler
der Kulturpolitik in Zukunft noch gestärkt werden. Er ist wichtig für die Kultur-
politik und die Gesellschaft. Die grundlegende Vermittlung unserer Geschichte
an die jüngere Generation ist ein politischer Kernauftrag. Über 50 Gedenkstätten,
die deutschlandweit bereits mit Bundesmitteln gefördert werden, leisten dafür
tagtäglich wichtige Arbeit, deren Bedeutung mit zeitlicher Distanz noch wächst.
In 20 Jahren ist die Zahl der vom Bund geförderten national bedeutsamen
Kultureinrichtungen in unserem Land auf über 100 angestiegen. Bei der Projekt-
förderung gibt es keine Sparte mehr, die nicht auch von Bundesgeldern profitie-
ren kann. Ob Musik, Theater, Literatur, Tanz, Kunst, Soziokultur – alle sind »an
Bord« der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien. Dies spiegelt sich auch
deutlich in den Kulturausgaben des Bundes wieder, die mit großer politischer
Unterstützung seit 2005 deutlich gewachsen sind und sich mittlerweile auf jähr-
lich 1,7 Milliarden Euro verdoppelt (!) haben. Im Jahr der Finanzkrise 2007 hat der
damalige Kulturstaatsminister Bernd Neumann allein zusätzlich 400 Millionen
Euro im Konjunkturprogramm II für die Kultur bereitgestellt. Ein klares Signal,
auch an die Länder und Gemeinden, die mit 86 Prozent immer noch den finan-
ziellen Löwenanteil der Kulturförderung tragen.
Es gibt viele gute Gründe zum Gratulieren. Die Bundeskulturpolitik hat sich
durch das Amt des Bundesbeauftragten und die ihn tragenden Persönlichkeiten
zu einem gleichwertigen Politikfeld entwickelt. In den letzten Jahren sind auch
Themen wie Kreativwirtschaft, Frauenförderung oder Digitalisierung in den Mit-
telpunkt gerückt. Der Ausschuss für Kultur und Medien, der zeitgleich mit dem
Amt als eigenständiger Ausschuss im Deutschen Bundestag geschaffen wurde,
hat diese Entwicklung immer produktiv begleitet und unterstützt. Ich freue mich
sehr darauf, in den kommenden Jahren daran aktiv mitzuwirken.

Wachgeküsst
Martin Rabanus
Ohne die SPD
kein BKM 416

417
Den kulturellen Aufbruch gestalten

Die Kulturpolitik in Deutschland wurde von der SPD aus dem Dornröschenschlaf
wachgeküsst. Das große Interesse von Gerhard Schröder an Kunst und Kultur,
sein regelmäßiger Austausch mit vielen Intellektuellen, aber auch die Einsicht
in die Notwendigkeit einer Weiterentwicklung der Kulturpolitik des Bundes nach
der deutschen Wiedervereinigung hatten den Weg bereitet: Kultur und damit
die Frage, wie wir zusammenleben wollen, bekam eine klar erkennbare Rolle im
Bundeskabinett.
Das geschah unter dem Protest der Union und vieler Länder. Bayern droh-
te mit Verfassungsklage, das Gespenst eines neuen Kulturkampfes ging um. Die
Kultur- und Medienpolitik des Bundes aber bekam mit dem ersten Kulturstaats-
minister Michael Naumann einen streitbaren Impulsgeber und Ansprechpart-
ner, der die Interessen der Kultur unbeirrbar verfolgte. Diese konsequente Kul-
turpolitik wurde in der Rot-Grünen Regierungszeit mit Julian Nida-Rümelin und
Christina Weiss fortgesetzt. Schon nach kurzer Zeit zeigten sich deutliche Be-
wegungen im Verhältnis des Bundes zu den Ländern und ihrer verfassungsmä-
ßigen Zuständigkeit für die Kultur. Es waren die erkennbar innovativen politi-
schen Impulse, die bessere Sichtbarkeit der Vielfältigkeit der Kultur in Deutsch-
land und der damit verbundene gesellschaftliche Umbruch, die dieses Amt zu ei-
ner Erfolgsgeschichte machten.
Dieser Aufbruch ermöglichte den direkten Austausch zwischen Kultur und
Politik mit der offenen Debatte über den Wert und die Bedeutung von Kunst,
Kultur und Medien in der Gesellschaft. Dem folgt der sozialdemokratische An-
spruch an Kulturpolitik. Kunst und Kultur sind Ausdruck des menschlichen Da-
seins, bereichern unser Leben in all ihrer Verschiedenheit und steten Fortent-
wicklung, stellen dabei Gewohntes infrage und können einen Beitrag zum ge-
sellschaftlichen Zusammenhalt leisten. Kultur ist daher aus Sicht der Sozialde-
mokratie ein öffentliches Gut, zu dem alle unabhängig vom Geldbeutel einen
Zugang haben sollen, nicht nur rezeptiv, sondern auch partizipativ. Daher muss
unser Motto von der »Kultur für alle« (Hilmar Hoffmann) erweitert werden zu
einem »Kultur für alle von allen«.

11. — Gegenüber – Das Parlament


Gesellschaftliche Herausforderungen annehmen

In der globalisierten, digitalisierten Welt ändert sich unsere Lebenswirklichkeit


in atemberaubender Geschwindigkeit und hohem Ausmaß. Die Angst vor Ver-
lust der eigenen Lebenswelt zusammen mit Abstiegsängsten wird von Popu-
listen kräftig befeuert, die durch kulturellen Austausch und Migration unsere
Identität in Gefahr sehen. Wir erleben eine »Kulturalisierung« der Gesellschaft,
die auf der einen Seite eine kosmopolitische, individualistische Ausprägung be-
schreibt. Auf der anderen Seite steht eine Ausformung von Kultur als Gemein-
schaft, die von partikulären Identitätsgemeinschaften bis zu radikalem Natio-
nalismus rangieren. »America first« findet sich hier ebenso wieder wie die AfD.
Dabei kann Kultur nie etwas Abgeschlossenes oder Fertiges sein. Sie entwickelt
sich und besteht aus mannigfachen Facetten der Lebenswirklichkeiten der Ge-
sellschaft und all ihrer Bürgerinnen und Bürger. Wenn es also um die Form un-
serer Kultur geht, dann hat Kulturpolitik ein herausragendes Mandat, verhan-
delt sie doch die Art und Weise unseres Zusammenlebens.
Dieses gesamtgesellschaftlich eingebettete Kulturverständnis spiegelt sich
in vielen Strukturentscheidungen wieder, die von sozialdemokratischen Kultur-
staatsministern getroffen wurden. Herausragendes Beispiel ist die Gründung
der Kulturstiftung des Bundes, die politikfern Akzente und Impulse setzt. Dazu
kommt die klare Beschreibung der kulturpolitischen Verantwortung des Bun-
des für Berlin mit einem Hauptstadtfinanzierungsvertrag samt Hauptstadtkul-
turfonds, der kleinteilig die vielfältige Berliner Kultur unterstützt. Zudem sei
noch die zukunftsgerichtete Erinnerungspolitik des Bundes mit der neuen Ge-
denkstättenkonzeption angeführt, um nur drei bis heute wirkende Entscheidun-
gen hervorzuheben.

Kulturpolitik des Bundes gestalten und fortentwickeln

Später konnten CDU-Kulturstaatsminister auf diesen Grundlagen aufbauen, ver-


säumten es aber, eigene neue Impulse zu setzen. Allein die stete und natürlich
erfreuliche Aufstockung des Kulturetats kennzeichnet ihre Bilanz. Zunehmend
fehlt eine gestaltende und konzeptorientierte Kulturpolitik, die auch dem ver-
stärkten Ruf nach einer kultur- und medienpolitischen Gestaltung des Bundes
mit den Ländern angesichts wachsender Herausforderungen Ausdruck verleiht.
Mit dem aktuellen Koalitionsvertrag haben wir auf wesentliches Betreiben der
SPD hierzu einen großen Schritt getan. Mit der »Agenda für Kultur und Zukunft«
wollen wir die Kulturförderung in Deutschland im Sinne eines kooperativen Kul-
turföderalismus ausbauen und modernisieren. Jetzt erwägen die Länder sogar die
Einrichtung einer Kulturministerkonferenz.
Zugleich schauen wir nach vorn. Kultur, der kulturelle Austausch und die In-
spiration durch kulturelle Vielfalt lassen sich nicht allein auf nationale Grenzen
beschränken. Kultur lebt vom Austausch, jede kulturelle Ausdrucksform ist Aus-

Wachgeküsst
tausch. Deshalb betonen wir im Koalitionsvertrag die Verbindung zwischen dem
Innen und dem Außen gerade auch in der Kulturpolitik. In diesem Verständnis
und als logische Weiterentwicklung der Kulturpolitik des Bundes, 20 Jahre nach
Schaffung des BKM, hat die SPD das Amt einer Staatsministerin für Internati-
onale Kulturpolitik im Auswärtigen Amt geschaffen. Mit Michelle Müntefering
haben wir eine neue starke sozialdemokratische Stimme zur Stärkung der kultu-
rellen Beziehungen und der Kulturpolitik Deutschlands gewonnen. Angesichts
der oben beschriebenen gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen, aber auch
im Kampf und im Wettstreit um die kulturelle Hegemonie, der aus meiner Sicht 418
vielmehr ein gemeinsames Ringen um eine Kultur der Anerkennung zum Ziel
haben sollte, ist dieses Engagement ein deutliches Zeichen. Ein bewusstes Zei- 419
chen, dass die Sozialdemokratie unverbrüchlich für die offene, vielfältige und
soziale Gesellschaft kämpft.

11. — Gegenüber – Das Parlament


Marc Jongen
Der Kuss
der Ideologie
Im Nachgang zur deutschen Einheit drängte es Bundesregierung und Bundes-
tag, – nunmehr beide in Berlin residierend –, vermehrt kulturpolitische Kompe-
tenzen an sich zu ziehen. Der Kulturföderalismus, der in Deutschland Verfas-
sungsrang genießt, sollte »Berlin« nicht länger hindern, Einfluss auf die Kultur
im nationalen Maßstab zu nehmen. Im Jahr 1998 richtete die Rot-Grüne Bun-
desregierung unter Kanzler Schröder das Amt des Beauftragten der Bundesregie-
rung für Kultur und Medien (BKM) ein, im selben Jahr wurde ein ständiger Bun-
destagsausschuss für Kultur und Medien (wieder) eingesetzt und eine deutsche
Nationalstiftung auf den Weg gebracht, die 2002 als Kulturstiftung des Bundes
Gestalt annahm. Die 2003 eingesetzte Enquête-Kommission »Kultur in Deutsch-
land« charakterisierte die Kulturpolitik als »eine zentrale Querschnittsaufgabe
der Innen- und Außenpolitik«.
Die damit eingeläutete »Neue Kulturpolitik« spiegelt nicht nur den gewach-
senen Gestaltungswillen des Bundes im Hinblick auf die Kultur wider, sondern
steht auch für einen inhaltlichen Paradigmenwechsel. Stand in den 1950er und
1960er Jahren noch die »Kulturpflege« im Mittelpunkt und damit das Bestreben,
das kulturelle Erbe im Sinne bürgerlicher »Hochkultur« zu erhalten, so griff im
Nachgang zu »1968« eine Ideologisierung der Kulturpolitik Raum. Sie nahm in
den 1970er Jahren Fahrt auf, stagnierte in den 1980er Jahren scheinbar, um ab
Ende der 1990er Jahre diejenige Erziehungs- und Gängelungsanstalt Rot-Grüner
Couleur herauszubilden, als die sich Kulturpolitik in Deutschland heute weitge-
hend präsentiert.
Voraussetzung dieser bedauerlichen Entwicklung war eine an sich begrü-
ßenswerte und jedenfalls unvermeidliche Erweiterung des Kulturbegriffs, die
Kultur nicht mehr ausschließlich mit den Institutionen der Hochkultur, den The-
atern und Museen verband. Anstatt nun aber den kulturellen Faktor in allen an-
deren gesellschaftlichen und politischen Bereichen zu erkennen, begann man
umgekehrt, Kunst und Kultur politisch aufzuladen und zu überfrachten. Kunst
und Kultur sollten selbst ein Stück Politik sein und einen umfassenden »Eman-
zipationsprozess« nach linken Vorstellungen befördern. Mit dem Resultat, dass
das aktuelle Programm der Kulturstiftung des Bundes sich liest wie ein in ein-
zelne Projekte gepacktes Kompendium der politischen Korrektheit. Wer die Mas-

Wachgeküsst
senmigration nicht mit den Mitteln der Kunst feiert oder der Genderideologie
nicht huldigt, gilt nicht als förderungswürdig. Teil der »Neuen Kulturpolitik« ist
auch eine Erinnerungskultur, die sich fast ausschließlich auf das Unrecht der NS-
Zeit konzentriert und den daraus resultierenden Schuld-und-Sühne-Diskurs als
wichtigen Kulturexport Deutschlands in alle Welt begreift. Die Erinnerung an
das Unrecht der Vertreibung der Deutschen aus ihren angestammten Siedlungs-
gebieten, das ebenfalls Teil der Erinnerungskultur sein sollte, ist demgegenüber
weitgehend in den Hintergrund getreten.
Der Spitzenverband der deutschen Kulturverbände, der Deutsche Kulturrat, 420
bildet leider kein Korrektiv gegen diese Tendenzen. Im Gegenteil: In allen sei-
nen Initiativen und Verlautbarungen zeigt er sich damit einverstanden, dass die 421
Förderung von Kunst und Kultur in Deutschland übergeordnete politische Ziel-
vorgaben verfolgt. So sieht er seine Aufgabe unter anderem darin, »Zeichen der
Vielfalt« zu setzen und »Geschlechtergerechtigkeit« zu fördern. Den alternati-
ven kulturpolitischen Ansatz der AfD bekämpft der langjährige Geschäftsführer
des Deutschen Kulturrats, Olaf Zimmermann, aktiv in Petitionen, Unterschrif-
tenaktionen und Pressemitteilungen. Er heizt damit einen Kulturkampf an, der
infolge der erwähnten Ideologisierung – und im Widerstand dagegen – in Gang
gekommen ist.
In jüngster Zeit dient Kulturpolitik zunehmend der Rechtfertigung der Mas-
senmigration, die immer mehr Zuwanderer aus kulturfremden Teilen der Erde
nach Deutschland bringt und das Land damit zusehends destabilisiert. Der Na-
tionale Aktionsplan Integration der Bundesregierung aus dem Jahr 2012 will bei-
spielsweise, »die kulturelle Integration als Kern- und Querschnittsaufgabe in der
Organisationsstruktur in den vom Bund geförderten Kultureinrichtungen […]
verankern«. Ziel sei ein »gesellschaftliches Mainstreaming des Themas Diver-
sity«. Unverhüllter kann die politische Indienstnahme der Kulturpolitik, die auf
eine gravierende Veränderung der kulturellen Identität der »Deutschen ohne Mi-
grationshintergrund« hinausläuft, nicht zum Ausdruck gebracht werden.
Die AfD versteht es als ihre Aufgabe, diesen Entwicklungen Widerstand zu
leisten und eine Entideologisierung der Kultur- und Medienpolitik in Gang zu
bringen. Nicht um zu vergangenen Kulturbegriffen zurückzukehren, sondern um
Deutschland als Kulturnation vor dem Verschwinden zu bewahren.

11. — Gegenüber – Das Parlament


Hartmut Ebbing
Eine kritische
Perspektive auf
20 Jahre Bundes­
kulturpolitik
Als Gegenentwurf zum Dritten Reich und um der historisch gewachsenen regi-
onalen Struktur Deutschlands gerecht zu werden, knüpften die Gründungsvä-
ter der Bundesrepublik 1949 an die Tradition des Föderalismus im Kaiserreich
und in der Weimarer Republik an und verankerten die Kulturhoheit der Länder
in Art. 30 des Grundgesetzes. Im Zuge der deutschen Wiedervereinigung im Jah-
re 1990 kam es jedoch zu einem radikalen Wandel der deutschen Kulturpolitik.
Nun ging es nicht mehr nur um die Aufarbeitung einer, sondern zweier deutscher
Diktaturen im 20. Jahrhundert. Darüber hinaus konnten die neuen Bundesländer,
deren Etats deutlich unter denen der alten Länder lagen, mit der Finanzierung
der Kulturpolitik nicht allein gelassen werden. Daher war ein stärkeres Engage-
ment des Bundes in der deutschen Kulturpolitik unausweichlich.
Der Hauptfokus der Bundeskulturpolitik lag fortan auf der angemessenen
Aufarbeitung der beiden deutschen Diktaturen. Während die Auseinanderset-
zung mit dem politischen und gesellschaftlichen Erbe der Deutschen Demokra-
tischen Republik für alle Bürger unbekanntes Terrain bedeutete, gab es in der Er-
innerungspolitik bezüglich des Dritten Reichs eklatante Unterschiede zwischen
den beiden wiedervereinten deutschen Staaten. Im Zuge der Ausschwitzprozesse
und der Ostpolitik der SPD und FDP war es in Westdeutschland zu einer deutli-
chen, wenn auch nicht systematischen Auseinandersetzung mit dem verbreche-
rischen Erbe des Nationalsozialismus gekommen. In der DDR, die sich von Be-
ginn an als antifaschistischer Gegenentwurf zum Dritten Reich betrachtet hatte,
war diese Thematik hingegen völlig ausgeklammert worden.
Umso beeindruckender ist es, dass das wiedervereinigte Deutschland sich in
den kommenden Jahren gemeinschaftlich seinem historischen Erbe sowie seiner
Verantwortung gestellt hat und beide deutschen Diktaturen nicht nur wissen-
schaftlich, sondern auch gesellschaftlich systematisch aufgearbeitet hat. Bedeu-

Wachgeküsst
tende Beispiele hierfür sind die Errichtung des Holocaust Mahnmals im Zentrum
Berlins, die Gedenkstätten in ehemaligen Konzentrationslagern wie Buchenwald,
Sachsenhausen oder Dachau sowie die Einrichtung des Entschädigungsfonds für
ehemalige NS-Zwangsarbeiter. Auch der enorme Bedeutungsgewinn des Gedenk-
tages zu Ehren der Opfer des militärischen Widerstands am 20. Juli zeigt, wie sehr
sich das Bewusstsein der Deutschen in Bezug auf das Dritte Reich seit der Wie-
dervereinigung verändert hat.
Aufgrund der zeitlichen Nähe gestaltete sich die Auseinandersetzung mit
dem sozio-politischen Erbe der DDR natürlich besonders delikat. Doch auch bei 422
diesem Thema gab es enorme Fortschritte. Die Einrichtung der Stasiunterlagen-
behörde unter der Führung des ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck, 423
der systematische Wiederaufbau bedeutender Kulturstätten Ostdeutschlands
sowie die gezielte Förderung ostdeutscher Kulturprojekte haben viel dazu bei-
getragen, dass es neben der politischen Wiedervereinigung auch zu einer er-
folgreichen gesellschaftlichen Zusammenführung der ehemals getrennten deut-
schen Staaten kam.
Insofern war die Bundeskulturpolitik der letzten 20 Jahre durchaus erfolg-
reich. Vor allem die Einsetzung eines Bundesbeauftragten für Kultur und Medien
als Schaltstelle für diese eigenständige Kulturpolitik des Bundes im Jahre 1998
war rückblickend die richtige Entscheidung. Erhebliche Mängel gibt es jedoch in
der Auswahl der Förderprojekte. Allzu oft kommt es vor, dass eher Projekte ge-
fördert werden, die besondere mediale Aufmerksamkeit garantieren als Projekte
deren Förderung durch den Bund für diese überlebensnotwendig wäre. Völlig un-
zureichend ist auch das Engagement der Bundesregierung bei der Rückgabe jü-
dischen Eigentums aus öffentlichen Beständen. Die Anerkennung der Washing-
toner Prinzipien und die Einsetzung einer Beratenden Kommission zur Rück-
gabe von NS-Raubkunst waren zwar honorige Gesten, wurden der Größe und
Bedeutung dieser Sache jedoch zu keiner Zeit gerecht. Darüber hinaus besteht
auch erheblicher Nachholbedarf bei der Rückgabe unrechtmäßig enteigneten
Eigentums zu Zeiten der DDR. Hier befinden sich noch bedeutende Bestände
privaten Eigentums, die aufgrund von Republikflucht oder Untersuchungshaft
entzogen wurden, im Besitz der öffentlichen Hand. Enorme Verwirrung wurde
mit dem äußerst unausgewogenen Kulturgutschutzgesetz gestiftet. Dieses führt
nicht nur zu erheblichem bürokratischen Mehraufwand sondern auch, aufgrund
zum Großteil nicht erfüllbarer Sorgfaltspflichten, zu deutlichen Einschränkun-
gen des privaten Kunsthandels.
Nichtsdestotrotz wäre eine Erhöhung der Bundeskulturförderung durchaus
wünschenswert. Zusätzlich sollte der Staat jedoch Anreize für verstärktes Enga-
gement privater Kulturförderer schaffen indem er zum Beispiel das Gemeinnüt-
zigkeitsrecht und das Stiftungsrecht vereinfacht. Auch das Urheberrecht muss ge-
stärkt werden. Kulturschaffende müssen in die Lage versetzt werden, von den Er-
lösen ihrer Werke ein anständiges Leben führen zu können. All diese Punkte sind
unerlässlich, um die Bundeskulturpolitik auch in Zukunft erfolgreich zu gestalten.

11. — Gegenüber – Das Parlament


Simone Barrientos
Der Gestaltungs-
wille ist sichtbar
Die Spuren der Sparpolitik im Kulturbetrieb seit der deutschen Wiedervereini-
gung sind bis heute sichtbar, obwohl im Einigungsvertrag von 1990 das Selbst-
verständnis der Bundesrepublik als »Kulturstaat« hervorgehoben wurde (Art. 35).
Seit den 1990er Jahren wurde viel an kultureller Infrastruktur systematisch abge-
baut, zahlreiche Kommunen mussten ihre Mittel für Kulturprojekte kürzen, und
auch die Länder strichen Gelder in ihrer Zuständigkeit für eine vielfältige Kul-
tur- und Bildungslandschaft.
Die Einrichtung eines Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Me-
dien (BKM) vor 20 Jahren sollte deshalb ein wichtiges Signal senden: Die Bun-
desregierung lässt die Länder nicht im Stich und übernimmt Verantwortung für
Kultur- und Medienpolitik, so hieß die Botschaft. Die kontinuierliche Steigerung
dieses Postens im Bundeshaushalt und die Erschließung weiterer Befugnisse und
Themenbereiche ist der Arbeit aller bisherigen fünf Beauftragten der Bundesre-
gierung für Kultur und Medien zu verdanken, unter ihnen Monika Grütters, die
als zweite Frau in der Riege der Kulturstaatsminister nunmehr viele Jahre nicht
ohne Erfolge agiert. Monika Grütters hat sich unter anderem der sozialen Frage
angenommen, und mit großer Eigeninitiative setzt sie sich auch für die Förde-
rung von Frauen in Kultur und Medien ein.
Doch hier zeigt sich ein strukturelles Problem, denn das Engagement ei-
ner Einzelnen allein genügt nicht. Monika Grütters kann durch ein bestehendes
Mentoring-Programm für Frauen und überschaubaren Einfluss bei Jurybesetzun-
gen an der Oberfläche kratzen, für tiefer greifende Veränderungen indes fehlen
ihr die Befugnisse, die Zuständigkeit und die Verantwortung liegt oft in anderen
Ministerien bzw. müssen mit ihnen geteilt werden, wie die Bereiche Kulturwirt-
schaft und die gerade heute so wichtige kulturelle Bildung beweisen.
Kulturpolitik sollte zeitgemäß in ihrer Verschränkung mit anderen Politik-
feldern und kultur-und medienwirtschaftlichen Belangen betrachtet werden und
durch die Einrichtung eines Bundesministeriums für Kultur und Medien endlich
den ihr gebührenden Stellenwert bekommen. Damit würde nicht nur gegenüber
Kulturschaffenden und nationalen Institutionen, sondern auch in der internati-
onalen Wahrnehmung ein weithin sichtbares Zeichen gesetzt. Kultur ist eine ge-
samtstaatliche Aufgabe, die als Gemeinschaftsaufgabe und Staatsziel ins Grund-

Wachgeküsst
gesetz gehört und der die im Koalitionsvertrag angekündigte Orientierungsde-
batte im Bundestag zur Lage von Kunst und Kultur vorausgehen sollte. Aktuell
wird aus vielen Richtungen an der Kultur gezurrt. Eigentlich aber kämpfen da
nicht Kulturen gegeneinander, vielmehr gibt es einen ernst zu nehmenden An-
griff auf unsere Kultur, auf deren Vielfalt. Und immer wieder wird dabei der Ruf
laut, Kunst soll integrieren, die Nation stärken, dem Volk dienen u.s.w. Doch was
für manche Kulturpolitiker schwer zu akzeptieren und dennoch elementar bleibt:
Kunst und Kultur können viel, müssen aber nichts!
Ich selbst sehe meinen politischen Auftrag darin, Kunst und Kultur den Rü- 424
cken freizuhalten. Das heißt vor allem, die Arbeitsbedingungen für Kulturschaf-
fende und ihrer Entwicklungsmöglichkeiten zu verbessern und Kulturinstituti- 425
onen und -projekte in der Breite zu stärken. Mit diesen Aufgaben sind Kommu-
nen und Länder häufig überfordert, denn es fehlt ihnen wie bereits bekannt – an
finanziellen Mitteln. Auch eine verbesserte Teilhabe für alle Menschen, also z. B.
freier Eintritt in Museen und stärkere kulturelle Bildung an Schulen sind gerade
in der Gegenwart, in der wir einen europaweiten Rechtsruck erleben, unverzicht-
barer Teil von Kultur. Dabei ist eine Mannigfaltigkeit bei Personal, Programm und
Publikum nicht nur in Kulturbetrieben der öffentlichen Hand, sondern auch in der
Freien Szene gefragt, was für alle Akteure und Beteiligten eine große Herausfor-
derung darstellt. Daran möchte ich mitwirken und bin dankbar für diese Aufga-
ben – mit oder ohne ein »Bundeskulturministerium«.

11. — Gegenüber – Das Parlament


Erhard Grundl
Für die Freiheit
der Kunst
Was darf die Kunst? Diese Frage wird wieder intensiv diskutiert. Wann geht sie zu
weit? Kunst ist dort unterwegs, wo Wege nicht markiert sind, schreibt der franzö-
sische Philosoph François Jullien. Sie überschreitet immer schon Grenzen zwi-
schen Schönheit und Zumutung – und das mit ungewissem Ausgang. Dieses Ri-
siko muss sie eingehen, um andere Perspektiven einzunehmen und uns mit die-
sen zu konfrontieren. Grüne Kulturpolitik sieht sich in diesem Sinn als Plädoyer
für Kunstfreiheit, mit allen Risiken und Nebenwirkungen.
Vor 20 Jahren entstand eine neue Debattenkultur. Bei allen Unterschieden
zwischen den Parteien besteht der gemeinsame Wille, die »Kulturlandschaft
Deutschlands und die Vielfalt des kulturellen Lebens zu erhalten und zu vertei-
digen« wie im Schlussbericht der Enquête-Kommission »Kultur in Deutschland«
zu lesen ist. Zudem macht die Kommission deutlich: Kunst ist nicht Ornament,
sondern Fundament einer lebendigen Demokratie.
Auch strukturell betrat man damals Neuland. 1998, unter Rot-Grün, wer-
den das Amt des/der Kulturbeauftragten im Bundeskanzleramt und ein vollwer-
tiger Ausschuss für Kultur und Medien im Bundestag geschaffen. Kulturhoheit
bleibt Ländersache, der Bund fördert weiter Kultureinrichtungen, Erinnerungs-
stätten und Projekte von nationaler Bedeutung, sowie Leuchtturmprojekte zu-
sammen mit den Ländern. 2002 wird die Kulturstiftung des Bundes gegründet,
um innovative Projekte und Programme im internationalen Kontext zu fördern.
Ihr Beitrag zur deutschen Kulturlandschaft kann nicht genug gewürdigt werden.
Einiges wurde erreicht, viel bleibt weiter zu tun, für den Musik- und Film-
standort Deutschland, das Filmerbe oder Barrierefreiheit in Kultureinrichtungen.
Vor allem bleibt ein Versprechen unerfüllt: die »Kultur für alle«, wie sie Hilmar
Hoffmann propagiert hat. Das Kulturpublikum bleibt ein Abiturpublikum. Zwar
gibt es mehr Besuche in Kultureinrichtungen, aber nicht unbedingt mehr Besu-
cher. Kulturelle Teilhabe hängt weiter ab von Bildung, familiärer Sozialisation
und Herkunftsmilieu. Es bleibt eine Zukunftsaufgabe mehr Menschen einzula-
den, Kultur als Bereicherung und Selbstbestimmung anzunehmen. Hierfür muss
bspw. die Soziokultur als Zugang zu kultureller Praxis auch im ländlichen Raum
gestärkt werden. Kulturförderung schafft Freiräume abseits der reinen Markt-
logik. Doch für viele Kreative sind prekäre Beschäftigung und Zukunftssorgen

Wachgeküsst
Realität. Aber, wenn wir meinen, Kunst ist mehr als das repräsentative Aushän-
geschild einer Kulturnation, nämlich Medium der Selbstreflektion, der Identi-
fikation und der Erneuerung, dann müssen wir Voraussetzungen dafür schaffen,
dass sie entstehen kann – also Künstlerinnen und Künstler besser sozial absi-
chern. Das bedeutet die Künstlersozialversicherung weiterzuentwickeln und die
Einbindung in die soziale Sicherung zu verbessern. Denn Not macht vielleicht
erfinderisch, aber nicht unbedingt frei und kreativ. Um von Kunst leben zu kön-
nen, in Zeiten digitaler Verfügbarkeit muss der Urheberschutz im Sinne der Kre-
ativen verbessert werden. Und da Intendanzen, Dirigate und Programmdirektio- 426
nen weiter in Männerhand sind, brauchen wir transparente, gendergerechte Kul-
turfördergrundsätzen des Bundes. 427
In der Erinnerungskultur stehen wir vor einer Zäsur. Derzeit finden die letz-
ten Strafprozesse gegen NS-Straftäter statt. Zeitzeugen stehen bald nicht mehr
zur Verfügung, um von den Menschheitsverbrechen des Nationalsozialismus zu
berichten. Erinnerung braucht aber reale Orte und Begegnungen, auch für die
Aufarbeitung der DDR-Geschichte. Umso zwingender ist es, verdrängte Opfer-
gruppen jetzt anzuerkennen, die Orte des Gedenkens, der Archivierung und For-
schung zu stärken und endlich das Gedenkstättenkonzept weiterzuentwickeln.
Auch eine systematische Aufarbeitung der Kolonialgeschichte steht weiter aus.
Die Kulturpolitik der letzten 20 Jahre hat unsere Gesellschaft offener und
bunter werden lassen. Noch trägt der kulturpolitische Konsens unter Demokra-
ten. Aber auch hier sind wir gefordert, Erreichtes gegen die Feinde der Demokra-
tie und der Kunstfreiheit zu verteidigen. Wer Angst schürt vor kultureller Fremd-
bestimmung verkennt die Fähigkeit unserer Kultur sich zu erneuern und stärkt
seine kulturelle Heimat nicht. Kultur auf eine fiktive deutsche »Leitkultur« zu
verpflichten, bedeutet ihr Wesen zu missachten – und sie zu banalisieren.

11. — Gegenüber – Das Parlament


12.

Spannungs-
voll

BKM und die
Länder

20 Jahre
neue Kulturpolitik
des Bundes
Wachgeküsst 1998—2018
Udo Michallik
Kulturförderung in
Deutschland 428

429
20 Jahre Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM), 20 Jah-
re institutionalisierte Kulturpolitik im Spannungsfeld zwischen der Kulturhoheit
der Länder und einer (notwendigen) Kulturförderung des Bundes. Ein breiter Kon-
sens über die Notwendigkeit einer staatlichen Kultur- und Kunstförderung – so
könnten wir das Jubiläum auch beschreiben.
Nach Art. 30 Grundgesetz fallen die kulturellen Angelegenheiten hauptsäch-
lich in die Zuständigkeit der Länder, wir sprechen daher von der »Kulturhoheit der
Länder«. Zusammen mit der Zuständigkeit für das Schul- und Hochschulwesen
ist die Förderung von Kunst und Kultur durch die Länder das »Herzstück« der fö-
deralen Eigenstaatlichkeit. Der Schwerpunkt der kulturpolitischen Entscheidun-
gen liegt daher überwiegend bei den einzelnen Ländern. Sie fördern die Kunst und
Kultur durch Gesetzgebung und Verwaltung. Daneben nimmt der Bund kulturel-
le Aufgaben von gesamtstaatlicher Bedeutung wahr. Hier wie auch bei der För-
derung von Kultureinrichtungen und Projekten von nationaler Bedeutung erge-
ben sich Berührungspunkte und Schnittstellen, die Abstimmungsprozesse und
gemeinsames Handeln von Bund und Ländern erfordern. Dass die Ausgestaltung
und Wahrnehmung, aber insbesondere die Abgrenzung der Handlungsfelder zwi-
schen Bund und Ländern in der Kulturpolitik von Anfang an eine zentrale Her-
ausforderung darstellen sollte, das liegt auf der Hand.
Die Liste der Aufgaben der Länder im länderübergreifenden Zusammenwir-
ken ist lang und wird in der Kultusministerkonferenz (KMK) nahezu geräuschlos
abgearbeitet. Den Ergebnissen wird bundesweit mit Respekt und Anerkennung
begegnet. Dass die Kulturministerinnen und Kulturminister der Länder künftig
auch innerhalb der KMK mit mehr Vehemenz und kulturpolitischem Bewusst-
sein Themen aufgreifen, bearbeiten und gegenüber der Beauftragten des Bun-
des vertreten werden, zeigt das neue Selbstbewusstsein der Länder, ihre Verant-
wortung in der Kulturpolitik sichtbarer wahrzunehmen. Es ist unter anderem ein
Ausdruck aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen.
Die Förderung ausgewählter Projekte mit Geldern des Bundes ist ein Zeichen
aktiver Kulturpolitik. Das Verständnis von Kulturpolitik sowohl als identitätsstif-
tendem Element für die Menschen, die in den Ländern und Kommunen leben, als
auch als verbindendes Element von Kultur und Kunst, um eine heterogener wer-

12. — Spannungsvoll – BKM und die Länder


dende Gesellschaft zusammenzuhalten, verbindet die Kulturverantwortlichen als
alltägliche Aufgabe. Kultur und Kunst sind nicht nur Glanz und Glamour, verkör-
pert durch herausragende Solisten und Ensembles der darstellenden Kunst, der
Architektur, der Musik oder des Films. Die Soziokultur in den Kommunen, die kul-
turelle Bildung an Schulen, die kleine Galerie um die Ecke – der Mix aus Hochkul-
tur und Breitenkultur ist letztlich die beste Legitimation für die Kulturhoheit der
Länder als auch für die Kulturförderung der Bundes.
Das Ausbalancieren und damit die Erhaltung der Breite und Attraktivität
von Kultur und Kunst manifestiert sich auch in der Zusammenarbeit zwischen
den Ländern und dem Bund als gewachsener Bestandteil des kooperativen Fö-
deralismus. Beispielhaft für diese konstruktive Kooperation seien hier Vereinba-
rungen zur gemeinsam betriebenen Deutschen Digitalen Bibliothek, die Errich-
tung des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste oder die Novellierung des Kul-
turgutschutzes genannt.
Zusätzlich hat sich seit 2014 die Gesprächsreihe der kulturpolitischen Spit-
zengespräche von Kultusministerkonferenz, der Beauftragten der Bundesregie-
rung für Kultur und Medien und den kommunalen Spitzenverbänden etabliert.
Vor dem Hintergrund der gemeinsamen Verantwortung von Bund, Ländern und
Kommunen für Kultur in Deutschland fungieren jeweils wechselnd KMK und
BKM zwei Mal im Jahr als Gastgeber eines Informationsaustausches und strategi-
schen Diskurses zu kulturpolitischen Fragestellungen von gesamtstaatlichen In-
teresse. Diese Gesprächsreihe, die inzwischen als gute Tradition begriffen wird –
dabei mehr als ein Routineberichtswesen aus den Ländern darstellt – und de-
ren Fortführung und -entwicklung Eingang in den Koalitionsvertrag der Bundes-
regierung gefunden hat, kann sich als sehr fruchtbar für die Ausgestaltung von
Kultur und ihrer Förderung erweisen. Mit der neuen Form des Zusammenwir-
kens der Länder in der Kulturpolitik wird sich diese Institution weiterentwickeln.
Kulturpolitik in Deutschland ist Ausdruck eines lebendigen kooperativen
Föderalismus – Bund, Länder und Kommunen setzen sich sowohl im Rahmen ih-
rer jeweiligen Zuständigkeiten als auch in gemeinsamer Verantwortung für die
Erhaltung des kulturellen Erbes, die Schaffung günstiger Rahmenbedingungen
für Kunst und Kulturschaffende und die Gewährleistung des Zugangs zu Kul-
tur für alle ein.

Wachgeküsst
Carsten Brosda
Gemeinsame
Verantwortung 430

431
Als die Schriftstellerin Sidonie Grünwald-Zerkowitz ein Gedicht über die »poli-
tische Gesinnung des Kusses« schrieb, hatte sie nicht den kooperativen Födera-
lismus, sondern Leidenschaft im Sinn. Kunst und Kultur aller Sparten sind ohne
Leidenschaft kaum denkbar. Der Kuss ist also eine gut gewählte Metapher für
politischen Aufbruch und vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Bund und
Ländern in der Kulturpolitik.
Die Kulturhoheit der Länder hat in unserem Land eine lange Tradition. Im
1871 gegründeten Nationalstaat des Deutschen Kaiserreiches befand man den
Föderalismus für ebenso plausibel wie in der demokratischen Weimarer Repub-
lik ab 1919. Nach dem brutalem Missbrauch von Kunst und Kultur durch die Na-
tionalsozialisten gingen die beiden deutschen Staaten unterschiedlichen Stra-
tegien nach: Die BRD kehrte zurück zur föderativen Struktur und zur verfas-
sungsrechtlich geschützten Kunstfreiheit, die DDR wählte den Zentralismus und
die staatlich-ideologische Indienstnahme auch der Künste. 1990 waren die Wie-
dervereinigung und die Ausdehnung der Ordnung des Grundgesetzes auf ganz
Deutschland. Seit 1998 haben wir auf Bundesebene einen Beauftragten der Bun-
desregierung für Kultur und Medien – geprägt und konturiert durch höchst un-
terschiedliche Persönlichkeiten im Amt, deren Wirken in der öffentlichen Wahr-
nehmung bisweilen die grundlegenden Rahmenbedingungen zu verstellen droht.
Aber genau die sind wichtig.
An der verfassungsrechtlichen Ordnung hat sich durch das neue Amt näm-
lich zunächst einmal nichts geändert. Die Kulturhoheit der Länder gilt. Sie tra-
gen gemeinsam mit den Kommunen die Verantwortung für den weitaus größten
Teil der Kulturangebote in unserem Land. Die Vielfalt der Theater und Museen,
die produktive Kraft von Künstlerinnen und Kreativen in den Metropolen eben-
so wie in ländlichen Gebieten wären ohne eine dezidiert dezentrale Organisati-
on kaum denkbar. Qualität und Vielfalt in den Regionen zu stärken und zu erhal-
ten – dafür sind nach wie vor die Länder und Kommunen zuständig.
Der Bund hingegen verantwortet angesichts der technologischen und sozia-
len Entwicklung zunehmend die notwendigen rechtlichen Rahmenbedingungen.
Darüber hinaus ist er zuständig für die Förderung von Projekten und Einrichtun-
gen mit nationaler Bedeutung und für die kulturelle Repräsentation des Gesamt-

12. — Spannungsvoll – BKM und die Länder


staates, die sich zunehmend weniger ausschließlich auf Berlin fokussieren wird.
Eine besondere Stellung der Bundeshauptstadt in der gesamtdeutschen Kultur-
förderlandschaft ist sinnvoll, beispielsweise im Hinblick auf die Wirkung nach au-
ßen. Hinterfragt werden könnte sie jedoch nicht nur im Hinblick auf die Lebens-
wirklichkeit der Bürgerinnen und Bürger in allen Teilen unseres Landes, sondern
auch bezogen auf die Angemessenheit einer solchen Zentralperspektive ange-
sichts der über Jahrhunderte gewachsenen vielfältigen Kulturtraditionen, die erst
in der Gesamtschau die Vielfalt der Kultur der Bundesrepublik konstituiert. De-
zentrale Kulturpolitik erfüllt eine wichtige Aufgabe – wir können Gemeinschaft
und Gemeinsinn in einer offenen und demokratischen Gesellschaft nicht über Re-
präsentation herstellen. Dazu braucht es gelebte und lebendige Kunst und Kultur –
und die Möglichkeit der aktiven Teilhabe. Überall und jederzeit.
Dezentrale Kulturpolitik fördert aber nicht nur Vielfalt, sondern auch Qua-
lität in der künstlerischen Produktion. Mit zwei scheinbar gegenläufigen Strate-
gien – Wettbewerb auf der einen und Kooperation auf der anderen Seite – wird
Innovation beflügelt. Die entscheidende Aufgabe der Zukunft wird es daher sein,
die gezielten Allianzen zwischen Ländern und Bund zu stärken und zu vertiefen,
ohne dabei die bewährte Kompetenzverteilung infrage zu stellen. Die Debatte
darüber, was der Bund in der Kultur- und Medienpolitik darf, ist älter als das Amt
des Beauftragten. Sie ist durch die Verfassung beantwortet und wird doch durch
die bisweilen faktische Handlungs- und Gestaltungsmacht des Bundes gegen-
über der föderalen Vielfalt immer wieder aufs Neue virulent.
Deshalb kristallisiert es sich als dialektischer Gewinn der Arbeit des Bun-
des heraus, dass auch die Länder zunehmend eine gesamtstaatliche Dimension
ihres Wirkens in den Blick nehmen. Im Fokus steht dabei insbesondere das Eru-
ieren der unterschiedlichen Bedarfe und Visionen – auf Länderebene unterein-
ander sowie mit dem Bund. Erst das ermöglicht einerseits konzertierte Aktionen
auf Feldern, die für alle bedeutsam sind, und verhindert andererseits Stolperstei-
ne, wenn es um das leidige, aber notwendige Thema Geld geht.
Die Vielzahl der Akteure und ihre unterschiedlichen Perspektiven sind da-
bei ein Gewinn. Und sie sind Ausdruck von Demokratie, denn Demokratie ist ein
pluralistisches Gebilde. Seine Kraft entfaltet es am besten, wenn sich die Verant-
wortlichen auf den verschiedenen staatlichen Ebenen sowohl horizontal als auch
vertikal als Partnerinnen und Partner in gemeinsamer Verantwortung sehen.
Angesichts der zunehmenden ökonomischen und politischen Friktionen un-
serer Gesellschaft rücken schließlich nicht nur Fragen sozialer Kohäsion, son-
dern zunehmend auch Fragen kultureller Kohärenz in den Mittelpunkt demokra-
tischer Diskurse. Dies bedeutet, dass kulturpolitische Debatten auch in der all-
gemeinen Öffentlichkeit an Bedeutung gewinnen. Ihre rationale Bewältigung zu
fördern, ist eine Aufgabe von Kulturpolitik, der sich alle staatlichen Ebenen stel-
len müssen. Kontroverse, aber zugleich sachliche Debatten führen zu fruchtba-
ren Erkenntnissen und Ergebnissen. Sie sind Ausdruck von Leidenschaft für die
Sache und Vernunft im Handeln.

Wachgeküsst
Benjamin-
Immanuel Hoff
Die Länder 432

haben Spielräume 433

gelassen
Dass sich gerade im 70. Gründungsjahr der Kultusministerkonferenz (KMK) auf
Initiative der Kulturminister aus Thüringen und Rheinland-Pfalz, Benjamin-Im-
manuel Hoff und Konrad Wolf, inzwischen Kulturpolitiker und -politikerinnen
von der CSU bis zur LINKEN zusammengefunden haben, um einen politischen
Zusammenschluss der für Kultur zuständigen Kabinettsmitglieder der Länder zu
initiieren, gehört zu den unbeabsichtigten Koinzidenzen.
Denn Ausgangspunkt der Initiative zur Gründung einer »Kultur-MK« un-
ter dem Dach der KMK ist vorrangig die weitere Ausgestaltung des »kooperati-
ven Kulturföderalismus«. Gleichzeitig schärft ein solcher Zusammenschluss der
Kulturpolitiker und -politikerinnen auch das Profil der ältesten und wohl auch
einflussreichsten Fachminister- und -ministerinnenkonferenz, die freilich bis-
her vor allem als für Bildung und insbesondere Schule zuständig angesehen wird.
Der Begriff des »kooperativen Kulturföderalismus« wird seit nunmehr rund
zehn Jahren in der kulturpolitischen Debatte ventiliert. Obwohl inzwischen Ge-
genstand von zwei Koalitionsverträgen schwarz-roter Bundesregierungen, ist er
bisher blass geblieben. Sinnvoll ausgefüllt kann er nur, wenn dem Bund nicht
die Summe von 16 kulturpolitischen Einzelinteressen gegenübertritt, die zudem
noch in Stadtstaaten und Flächenländer, ost- und westdeutsche Länder mit ih-
ren jeweiligen Spezifika ausdifferenziert sind.
Dass der Bund heute zunehmend häufiger als Agenda-Setter bundesdeut-
scher Kulturpolitik auftreten kann, ist zweierlei geschuldet. Zum einen nutzt er
Terrain, das die Länder freiwillig – insbesondere durch Vernachlässigung einer
adäquaten Kulturfinanzierung – zuvor haben freiwerden lassen. So wurde die
Kulturstiftung des Bundes zu einer der finanziell und diskursiv wirkungsmäch-
tigsten Kulturförderinstitutionen Deutschlands. Zum anderen lag es nahe, dass
die vor 20 Jahren geschaffene Institution des »Staatsministers für Kultur und Me-

12. — Spannungsvoll – BKM und die Länder


dien« in Verbindung mit der korrespondierenden Einsetzung des Bundestagsaus-
schusses für Kultur und Medien die föderale kulturpolitische Waage zwischen
Bund und Ländern verändern wird. Jede Behörde sucht sich ihre Aufgabenfelder
und Legitimationen. In der Kulturpolitik gab es sowohl das Interesse der Bun-
despolitik als auch die Bereitschaft der Länder, entsprechenden Spielraum zu ge-
währen. Zurückgegriffen konnte dabei auf die seit 1990 gesammelten Erfahrun-
gen. Denn Art. 35 des Einigungsvertrages verpflichtete erstmals den Bund zum
aktiven kulturpolitischen Handeln in Form der Erhaltung der kulturellen Subs-
tanz von nationaler Bedeutung in den ostdeutschen Bundesländern.
Seither nimmt der Bund nicht nur Verantwortung für Kultur im föderalen
Bundesstaat wahr. Er ist – und dies sollte nicht vergessen werden – ein Partner
und intellektueller Anreger geworden. Über die Gedenkstättenkonzeption wur-
den die in den Ländern gesammelten Erfahrungen in der Geschichts- und Erin-
nerungspolitik gebündelt und systematisiert. Der Bund trug dazu bei, dass die in
Ostdeutschland seit jeher bestehenden NS-Gedenkstätten auch in Westdeutsch-
land einen Bedeutungszuwachs erhielten, aus dem institutionellen Schatten he-
raustraten. Dies war ein kulturpolitischer Beitrag zur Deutschen Einheit.
Die Bildung einer »Kultur-MK«, in der sich die Länder und der Bund auf Au-
genhöhe begegnen, wird künftig dazu beitragen, die seit Jahren angemahnte
Debatte darüber, was »national bedeutsam« in der Kulturförderung ist und was
nicht, klärend zu beenden. Eingehegt werden damit nicht zuletzt die teilweise
überraschenden Ergebnisse der sogenannten Teppichhändlerrunden der Koali-
tionsfraktionen vor der Festlegung des Bundeshaushaltes.
Wenn 30 Jahre nach der Deutschen Einheit erfolgreiche Förderinstrumente
wie das Programm »Invest Ost« gesamtdeutsch ausgerichtet werden soll, dann
bedeutet dies zunächst, die bisher für Ostdeutschland zur Verfügung stehenden
Mittel um den erforderlichen Betrag der zehn westdeutschen Länder zu erhöhen
und zugleich das »Blaubuch Kulturelle Leuchttürme« anzupassen. Dies geht nur
in Partnerschaft von Ländern und dem Bund.
Gleichzeitig stehen Bund und Länder jenseits der Ausgestaltung föderaler
Kulturfinanzierung, in der übrigens mit 45,4 Prozent die Städte und Gemeinden
die Hauptlast tragen und dann erst die Länder mit 41 Prozent und der Bund mit
immerhin 13,6 Prozent der rund zehn Milliarden Euro beteiligt sind, einer Viel-
zahl von inhaltlichen Herausforderungen gegenüber.
Dazu gehören neben vielen anderen die Ausgestaltung der Gedenkstätten-
arbeit nach dem Ableben der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen in einer zunehmend
diverser werdenden Gesellschaft. Aber auch die Digitalisierung nicht allein des
Kulturguts, sondern der Kulturbetriebe jedweder Art. Oder die Frage, wie Bund,
Länder und Gemeinden die bisher gesammelten Erfahrungen mit freiem Eintritt
in Museen systematisieren und verallgemeinern.
Gleichzeitig bedeutet kooperativer Kulturföderalismus, dass die Länder sich
in ihren ureigenen Handlungsfeldern der kommunalen und Landeskulturpolitik
im Rahmen der »Kultur-MK« gemeinsam mit ihrem erfolgreichen Instrument

Wachgeküsst
länderübergreifender Zusammenarbeit, der Kulturstiftung der Länder, selbst ver-
ständigen. Kooperativer Kulturföderalismus ist in diesem Sinne deutlich mehr
als ein Kulturfö(r)deralismus, auf den er zu oft reduziert wird. Er soll zu sinn-
vollem kompetitivem Handeln anregen, von dem letztlich die Kulturinstitutio-
nen profitieren sollen. Die beabsichtigte Gründung der Kultur-MK ist dafür eine
wichtige Weichenstellung.

434

435

12. — Spannungsvoll – BKM und die Länder


Isabel
Pfeiffer-Poensgen
Kräftespiel der
föderalen Ebenen
Beim Blick zurück fallen zwei bemerkenswerte Ereignisse ins Auge, deren Zu-
sammentreffen das Jahr 1998 zu einem wichtigen Datum für die Kulturpolitik in
der Bundesrepublik Deutschland machen. Zum einen wurde vor 20 Jahren wie-
der auf Bundesebene ein ständiger Ausschuss für Kultur und Medien eingerich-
tet und mit dem Publizisten, Journalisten und Verleger Michael Naumann erst-
mals ein »Beauftragter für Kultur und Medien der Bundesrepublik Deutschland«
berufen. Im gleichen Jahr feierte die Kultusministerkonferenz ihr 50-jähriges Ju-
biläum. Schon 1948 – noch vor Gründung der Bundesrepublik – waren die Kultus-
minister der Länder zusammengekommen, um einen Rahmen für ihre Arbeit und
deren Koordination in Bildungs-, Wissenschafts- und Kulturpolitik zu begründen.
Insofern markiert das Jahr 1998 Kontinuität und Weiterentwicklung der kultur-
politischen Beziehungen zwischen Bund, Ländern und Kommunen.
20 Jahre sind für Institutionen in der Regel keine lange Zeit. Aber selbst für
diejenigen, die sich noch an die leidenschaftlichen Debatten und mühsamen Pro-
zesse erinnern, in denen um einen neuen »kooperativen Kulturföderalismus« ge-
rungen wurde, scheinen diese inzwischen weit zurückzuliegen. Gerade deshalb
ist es wichtig, heute daran zu erinnern.
Die kulturpolitischen Auseinandersetzungen fanden vor dem Hintergrund
einer umfassenden Föderalismusreform statt, die die »bundesstaatliche Ord-
nung« von Aufgaben-, Ausgaben- und Einnahmenverteilung modernisieren woll-
te und damit zur Dynamik nicht unwesentlich beitrug.
Im Kreis der Bundesländer wie der Kommunen wurde die Stärkung des kul-
turpolitischen Gewichts des Bundes zunächst vor allem misstrauisch betrach-
tet. Es gab in den Ländern starke Stimmen, die Kompetenzen von Bund und
Ländern im Kulturbereich neu zu ordnen und die Zuständigkeit des Bundes auf
wenige Handlungsfelder, etwa Auswärtige Kulturpolitik, Förderung von Berlin
und Bonn sowie Gedenkstättenarbeit zu beschränken. Noch eindeutiger formu-
lierte der damalige Vorsitzende des Kulturausschusses des Deutschen Städte-
tags, Volker Plagemann, Senatsdirektor der Kulturbehörde der Freien und Han-

Wachgeküsst
sestadt Hamburg, mit Verweis auf die »gleichgeschaltete und zentralisierte« Kul-
tur des Nationalsozialismus: »Es gibt keine Kulturkompetenz des Bundes oder
gar die Kompetenz einer einzigen politischen Person, eines Bundeskulturminis-
ters. Vielmehr ist die Kulturkompetenz der verschiedenen Ebenen, des Bundes,
der Länder, der Städte unmissverständlich begrenzt« (Kulturpolitische Mittei-
lungen Nr. 80 I/98, Seite 20).
Allerdings teilten nicht alle kommunalen Akteure diese Haltung. Wie auf der
Seite der Länder gab es auch in den Städten Befürworterinnen und Befürworter
einer Stärkung der kulturellen Kompetenz am Kabinettstisch in Berlin, weil man 436
»vor Ort« positive Impulse erwartete – etwa bei Fragen des Denkmalschutzes, des
Steuerrechts oder bei Angelegenheiten der Europäischen Union. 437
Das Interesse für das – nicht einfache – Thema war beträchtlich. So disku-
tierten am 22. Juni 1998 nicht weniger als 14 Persönlichkeiten aus der Kulturpoli-
tik viereinhalb Stunden öffentlich, konzentriert und kontrovers die Frage: »Brau-
chen wir eine neue Verantwortung des Bundes?« Veranstaltet von der Kulturpo-
litischen Gesellschaft, dem Deutschen Kulturrat und dem Haus der Geschichte
wurde die Tagung auch in den Medien breit rezipiert. Es ist bemerkenswert, dass
die Diskussion nicht in Berlin geführt wurde, sondern in Bonn und zudem von
den Bundesländern, vor allem Nordrhein-Westfalen, angestoßen worden war.
Als ich 2004 von der Position der kommunalen Beigeordneten der Stadt Aa-
chen für Kultur und Soziales in das Amt als Generalsekretärin der Kulturstiftung
der Länder (KSL) wechselte, hatte die Debatte die KSL längst erreicht. Das gro-
ße Thema war die Fusion mit der im Jahr 2002 gegründeten Kulturstiftung des
Bundes – nicht nur auf den ersten Blick das Gegenteil einer »Entflechtung«, die
Mischfinanzierungen vermeiden sollte. Nach zwei turbulenten Jahren wurden
die Verhandlungen (vorläufig) beendet und der Weg wurde frei, die Kooperation
der Kulturstiftungen des Bundes und der Länder konstruktiv auszubauen. Ins-
besondere rund um das Thema Kulturerbe – etwa beim Schutz und Erhalt sowie
in der Erforschung der Provenienz von Kulturgütern, bei der Restaurierung oder
der Vermittlung an Kinder und Jugendliche – engagieren sich Bund und Länder
mittlerweile gemeinsam und setzen ein klares Zeichen geteilter Verantwortung.
Insgesamt wurde das föderale Miteinander unaufgeregter, konkreter, all-
tagstauglicher. Austausch und Absprachen sind heute selbstverständlich. Auf
Einladung der Staatsministerin für Kultur und Medien treffen sich die Kultur-
ministerinnen und -minister der Länder sowie Vertreterinnen und Vertreter der
Kommunen seit einigen Jahren regelmäßig zu Kulturpolitischen Spitzengesprä-
chen.
Die damaligen Befürchtungen, dass der Bund den Ländern die Kulturhoheit
streitig machen würde, haben sich als unbegründet erwiesen. Davon unabhängig
ist es wichtig, dass die Bundesländer sich kulturpolitisch – bei allem gegenseiti-
gen Respekt gegenüber der Vielstimmigkeit – gemeinsam deutlich wahrnehm-
bar artikulieren. Wie das künftig aussehen kann, wird gegenwärtig in den Gre-
mien der Kultusministerkonferenz diskutiert.

12. — Spannungsvoll – BKM und die Länder


Man mag die engagierten Debatten vor 20 Jahren für überwunden halten oder
vermissen – dass das Kräftespiel der föderalen Ebenen immer wieder neu auszu-
tarieren ist, hat letztlich Kunst und Kultur immer gestärkt.

Wachgeküsst
Markus Hilgert
Kultur ist Vielfalt
Im Jahr 2018 sind es gleich zwei bedeutende Institutionen der deutschen Kultur- 438
politik, die einen runden Geburtstag begehen: das Amt des/der Beauftragten der
Bunderegierung für Kultur und Medien wird 20 Jahre alt, während die Kultur- 439
stiftung der Länder auf ihr 30-jähriges Bestehen zurückblicken kann. Schon sehr
bald, im März 2022, feiert dann auch die Kulturstiftung des Bundes ihr 20-jäh-
riges Gründungsjubiläum.
Es ist gewiss kein Zufall, dass Kulturpolitik und öffentliche Kulturförderung
in Deutschland in den letzten drei Jahrzehnten diese signifikante strukturelle
Stärkung und strategische Neuausrichtung erfahren haben. Während in der Zeit
unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg das politische Bewusstsein insbesonde-
re von der Schutzbedürftigkeit von Kultur und Kulturgütern in Konflikt- und Kri-
sensituationen national wie international sehr hoch war, setzte sich in der zwei-
ten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Erkenntnis durch, dass Kultur auch in Frie-
denszeiten und im Wohlstand einer besonderen politischen Aufmerksamkeit und
gezielter Förderung bedarf. Bis heute hat sich an diesem Sachverhalt nichts ge-
ändert – ganz im Gegenteil. Kultur avanciert zu einem wichtigen Bestandteil in-
novativer Strategien im Bereich der Entwicklungs- und Sozialpolitik sowie der
Außen- und Sicherheitspolitik. Dass Kultur, Wissenschaft und Bildung nicht ge-
trennt voneinander gedacht werden können, ist zwar seit langem bekannt, jedoch
in der politischen Praxis nicht immer mit der gebotenen Stringenz berücksichtigt.
Klar ist, dass es im kooperativen Kulturföderalismus der Bundesrepublik
Deutschland seit jeher des gemeinsamen Engagements der Länder und des Bun-
des bedurft hat, um mit den politischen Herausforderungen im Kulturbereich
sowie mit den gesellschaftlichen Anforderungen an Kultur konstruktiv und lö-
sungsorientiert umzugehen. Die Vielfalt der Sichtweisen und Handlungsmodel-
le, die in diesem Kulturföderalismus begründet liegt, ist dabei keineswegs – wie
immer wieder behauptet wird – eine Last, der man sich leichthin entledigen soll-
te, sondern nichts weniger als die Voraussetzung dafür, dass Kultur und Kultur-
politik die Aufgaben erfüllen können, die sich ihnen stellen und in Zukunft mit
zunehmender Dringlichkeit stellen werden. Denn Kultur ist Vielfalt, Kultur wird
immer durch bestimmte Menschen an einem bestimmten Ort und zu einer be-
stimmten Zeit hervorgebracht. Kultur kann nur dann kraftvoll sein, wenn sie in
die Praxis des Alltags organisch integriert ist und auf Menschen und Gegeben-
heiten vor Ort Bezug nimmt. Kultur kann also weder »zentralisiert« noch »ver-
ordnet« werden. Dies wäre ein Widerspruch in sich.

12. — Spannungsvoll – BKM und die Länder


Es ist diese kulturpolitische Grundüberzeugung, die die Partnerschaft zwischen
der/dem Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und der Kul-
turstiftung der Länder in den vergangenen 20 Jahren geprägt hat. Wichtige Mei-
lensteine des gemeinsamen Weges waren dabei etwa die Gründung der Arbeits-
stelle für Provenienzforschung im Jahr 2008, die 2015 im Deutschen Zentrum
Kulturgutverluste aufging, sowie die Einrichtung der Koordinierungsstelle für die
Erhaltung schriftlichen Kulturguts im Jahr 2011. Zu nennen sind weiterhin das
gemeinsame Engagement im Bund-Länder-Stipendienprogramm, der Schulter-
schluss bei der institutionellen Förderung von Kultureinrichtungen mit gesamt-
staatlicher Bedeutung sowie die zahlreichen erfolgreichen Kooperationen zwi-
schen der Kulturstiftung des Bundes und der Kulturstiftung der Länder.
Damit bestehen die besten Voraussetzungen für einen Ausbau der Zusam-
menarbeit zwischen beiden Häusern, ein Ausbau, der nicht nur wünschenswert,
sondern auch dringend notwendig ist. Denn die Herausforderungen, vor denen
die Kulturpolitik in Deutschland steht, sind enorm: Wie kann kulturelle Bildung
und Teilhabe für möglichst Viele in unserer Gesellschaft erreicht werden? Wie
schützen wir bedeutende materielle Kulturgüter vor der Abwanderung ins Aus-
land oder vor Zerstörung in Krisen- und Konfliktsituationen? Wie fördern wir die
digitale Transformation von Kultureinrichtungen und erhöhen so ihre Präsenz
und Sichtbarkeit im Internet sowie in Sozialen Medien? Wie gehen wir mit den
Nachlässen von Künstlerinnen und Künstlern um? Wie stärken wir diejenigen
Kultureinrichtungen, die die Geschichte ihrer Sammlungen vorbehaltlos aufar-
beiten und der Öffentlichkeit zugänglich machen wollen?
Alle diese Fragen sind deswegen auf eine enge Zusammenarbeit zwischen
Bund und Ländern angewiesen, weil derzeit in vielen Fällen nicht einmal die
Wege offenbar sind, die langfristig zu guten Antworten führen können. Worauf
es daher jetzt ankommt, sind der Austausch und die Dokumentation von beste-
henden Erfahrungen, die systematische Auswertung bereits geförderter Pilot-
projekte sowie die Schaffung von Anreizen für institutionelle Reformen im Kul-
turbereich. Voraussetzung für den Erfolg dieser Bemühungen wird ein kontinu-
ierliches Aushandeln von gemeinsamen Zielsetzungen und Prioritäten zwischen
Bund und Ländern sein. Wie bisher wird die Kulturstiftung der Länder diesen
Aushandlungsprozess mit Interesse und Engagement begleiten und dabei selbst-
verständlich auch der Jubilarin mit Rat und Tat zur Seite stehen.

Wachgeküsst
440

441

12. — Spannungsvoll – BKM und die Länder


13.
Die
Kommunen

Im Zentrum
des Kultur­ge­
schehens

20 Jahre
neue Kulturpolitik
des Bundes
Wachgeküsst 1998—2018
Klaus Hebborn
20 Jahre BKM –
Rückblick und 442

Ausblick aus kom­ 443

munaler Sicht
Die Schaffung des Amtes des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und
Medien (BKM) durch die Regierung Schröder im Jahr 1998 markiert eine Zäsur
in der Kulturpolitik in Deutschland. Der Bund machte damit nicht nur deutlich,
sich künftig stärker im Bereich der Kultur engagieren zu wollen. Das Amt rückte
die Kultur bzw. die Kulturpolitik insgesamt stärker in den Fokus von Politik. Die
Schaffung eines Bundeskulturbeauftragten hat gleichwohl auch Probleme auf-
geworfen. Diese erstrecken sich beispielsweise auf Fragen der Einordnung der
Bundeskulturpolitik in das föderale Gesamtgefüge des Staates, das Kulturpoli-
tik als originäre Länderaufgabe vorsieht sowie auf die Abstimmung und Koordi-
nierung der Kulturförderung zwischen den verschiedenen Ebenen.

Bedeutungszuwachs des Bundes in der Kultur


infolge der Deutschen Einheit

Die Verwirklichung der Deutschen Einheit hat die Kulturpolitik in Deutschland


maßgeblich verändert. Der »Kulturartikel« (§ 35) des Einigungsvertrages markiert
den Beginn eines stärkeren Bundesengagements zunächst in der Kultur in Ost-
deutschland, später zunehmend auch in den westdeutschen Ländern und Kom-
munen. Nach 1990 hat sich eine Bundeskulturpolitik entwickelt, wie sie vorher
nicht denkbar gewesen wäre. Die Schaffung des Amtes des BKM ist in diesem Kon-
text zu sehen. Zugespitzt könnte man es auch so formulieren: Ohne die Deutsche
Einheit gäbe es heute dieses Amt vermutlich nicht, jedenfalls nicht in dieser Form.
Das Amt des BKM war von Anfang an durch zwei Besonderheiten geprägt:
Zum einen sollte bzw. durfte es angesichts der verfassungsrechtlich geregelten
Kulturhoheit der Länder kein Bundeskulturministerium sein. Der/die Beauftrag-
te ist Staatsminister im Bundeskanzleramt, im eigentlichen Sinne nicht im Mi-

13. — Die Kommunen – Im Zentrum des Kulturgeschehens


nisterrang und ohne Stimmrecht im Bundeskabinett. Zum anderen genießt das
Amt durch die unmittelbare Ansiedlung im Kanzleramt jedoch einem besonde-
ren Status. Zu den Aufgaben gehören insbesondere die Förderung von kulturel-
len Einrichtungen und Projekten von überregionaler, nationaler Bedeutung, die
Weiterentwicklung und Modernisierung der rechtlichen Grundlagen und Rah-
menbedingungen künstlerischen Schaffens sowie die Sicherung einer freien und
pluralistischen Medienlandschaft. Seit der Installierung des BKM sind die Kul-
turetats des Bundes als einzige der staatlichen Ebenen Jahr für Jahr gewachsen.
Wenngleich ein Großteil der Bundeskulturförderung in die Hauptstadt Berlin
fließt, ist dies gleichwohl ein weiteres Indiz für die gesteigerte Bedeutung und
Wertschätzung der Kultur auf der Bundesebene.
Im Zuge des verstärkten Engagements in der Kultur baute der Bund seine
politisch-administrative Infrastruktur für Kulturpolitik aus: Neben dem Amt des
BKM richtete der Deutsche Bundestag einen eigenen Ausschuss für Kultur und
Medien ein und setzte einige Jahre später eine Enquête-Kommission »Kultur in
Deutschland« ein, die 2007 ihren umfangreichen und viel beachteten Bericht mit
einer Analyse der gesamtdeutschen Kultur sowie Empfehlungen veröffentlichte.
Ebenfalls in diesem Kontext zu nennen ist die Gründung der Kulturstiftung des
Bundes (KSB) im Jahre 2003.

Impulse und Unterstützung für die kommunale Kulturpolitik

Die Schaffung des Amtes des BKM und die Entwicklung einer »neuen« Kulturpo-
litik des Bundes seit 1998 ist nicht nur kulturpolitisch, sondern auch aus kom-
munaler Sicht zu begrüßen. Das Amt hat die Kultur auf allen Ebenen aufgewer-
tet und überdies deutlich gemacht, dass Kulturförderung eine gesamtstaatliche
Angelegenheit ist, die von Bund, Ländern und Kommunen gemeinsam zu erfüllen
und zu gestalten ist. Ein aus kommunaler Sicht äußerst wichtiges Instrument ist
dabei die Institutionalisierung der »Kulturpolitischen Spitzengespräche« durch
die amtierende Staatsministerin Monika Grütters. Während diese Gespräche in
früheren Jahren ausschließlich und unregelmäßig zwischen Ländern und Bund
geführt wurden, sind nunmehr auch die Kommunen beteiligt. Und dies zu Recht:
Die Städte und Gemeinden tragen mit ca. 45 Prozent den größten Anteil der Kul-
turausgaben in Deutschland. Die Spitzengespräche sind ein geeignetes Forum
für Abstimmung und Koordinierung einerseits und das gemeinsame Nachden-
ken über die Weiterentwicklung der Kulturpolitik in Deutschland andererseits.
Über diese kulturpolitisch und strukturell positiven Entwicklungen hinaus
hat die Bundeskulturpolitik auch unmittelbare Wirkungen in den Kommunen
entfaltet. In diesem Zusammenhang sind beispielhaft zu nennen:
Die zahlreichen Substanzerhaltungsprogramme haben in Ostdeutschland
wichtige kulturelle Substanz erhalten und modernisiert. Man mag kritisch se-
hen, dass mit den Programmen vor allem das baulich-kulturelle Erbe – vielleicht
mit Blick auf den Tourismus und das Stadtmarketing – erhalten wurde, ande-

Wachgeküsst
re kulturelle Infrastruktur aber verloren ging. Fakt ist jedoch, dass die ostdeut-
schen Städte heute über zahlreiche Kultureinrichtungen und -stätten von nati-
onalem und internationalem Rang verfügen. Insofern ist eine Angleichung der
beiden Teile Deutschlands in der Kultur erreicht worden. Auch in den westdeut-
schen Städten haben insbesondere verschiedene Denkmalschutzprogramme po-
sitive Wirkungen entfaltet und viel für das kulturelle Erbe im Erscheinungsbild
der Städte geleistet.
Das stetig angewachsene Bundesengagement im Bereich der Provenienz-
forschung nach der Washingtoner Erklärung (1998) und das dafür gegründete 444
Deutsche Zentrum für Kulturgutverluste unterstützen kommunale Museen und
Einrichtungen in ihren Bemühungen, Provenienzen zu klären und »faire und ge- 445
rechte Lösungen« im Sinne des Washingtoner Abkommens zu finden. Das The-
ma dürfte in den nächsten Jahren zunehmende Bedeutung mit Blick auf den Um-
gang mit Kunst aus kolonialen Kontexten gewinnen.
Zu nennen sind auch die vielfältigen zukunftsweisenden Projekte der Bun-
deskulturstiftung (KSB), mit denen kulturpolitische Entwicklungen auch und
gerade in den Kommunen angestoßen wurden und werden. Das vom Bundesbil-
dungsministerium geförderte Projekt »Kultur macht stark« zeigt, dass die För-
derung der Kultur bzw. der kulturellen Bildung auch in anderen Ressorts einen
hohen Stellenwert hat. Schließlich hat das Bundesengagement für die Kultur in
und für Berlin die Hauptstadt als Aushängeschild weltweit positioniert.

Ausblick

20 Jahre BKM haben viel bewegt in der Kulturpolitik in Deutschland. Gleichwohl


bleibt einiges zu tun: Kulturpolitische Initiativen und Programme müssen stär-
ker abgestimmt und koordiniert werden. Dies gilt zum einen innerhalb der Bun-
desregierung für die verschiedenen Ressorts, zum anderen für die Zusammenar-
beit von Bund, Ländern und Kommunen. Neben den kulturpolitischen Spitzen-
gesprächen sollte überlegt werden, ein Forum für Koordinierung und Abstim-
mung einzurichten. Mehr Nachhaltigkeit der Bundesprogramme sollte künftig
das Ziel sein. Bereits bei der Implementierung von Programmen muss über de-
ren mögliche Fortführung im Erfolgsfall nachgedacht werden. Die Kulturpoli-
tikforschung in Deutschland sollte seitens des Bundes gefördert werden, als Ba-
sis mit Daten und Fakten für die Weiterentwicklung der Kultur in Deutschland.
Schließlich: Die Möglichkeiten des Bundes, sich kulturpolitisch zu engagieren,
sollten erweitert werden. Das vielfach hinderliche Kooperationsverbot sollte im
Sinne eines »Kooperativen Föderalismus« weiter gelockert oder möglichst voll-
ständig abgeschafft werden.

13. — Die Kommunen – Im Zentrum des Kulturgeschehens


Uwe Lübking
Kooperativer Kultur-
föderalismus ist
ein Erfolgsmodell
Kunst- und Kulturförderung wird heute zu Recht als Gemeinschaftsaufgabe von
Bund, Ländern und Kommunen begriffen. Dieser kooperative Kulturföderalismus
in Deutschland hat sich bewährt und sollte weder in die eine, noch in die ande-
re Richtung infrage gestellt werden. Die Zuständigkeiten für kulturelle Angele-
genheiten fallen gemeinsam mit dem Schul- und Hochschulwesen unter dem Be-
griff der »Kulturhoheit« in die vorrangige Kulturkompetenz der Länder. Für die
Städte und Gemeinden ist die Kulturhoheit in dem Selbstverwaltungsrecht aus
Art. 28 Abs. 2 GG verankert. Die »Kulturhoheit der Länder« wird durch verschie-
dene Zuständigkeiten des Bundes eingeschränkt. Der Kulturföderalismus ist Fol-
ge der deutschen Geschichte. Die Bundesregierung hat gleichwohl erstmalig im
Jahr 1998 das Amt des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien
eingerichtet und damit auf Bundesebene einen zentralen Ansprechpartner für
Kultur geschaffen. Dies war umstritten und führte zu Auseinandersetzungen mit
den Bundesländern. Die Länder akzeptierten den schleichenden Kompetenzzu-
wachs des Bundes anfangs nur zögerlich. Es sind weiterhin auch andere Bundes-
ministerien mit Kulturangelegenheiten befasst, wie das Familien- und Jugend-
ministerium oder das Bildungsministerium (kulturelle Jugendbildung), ebenso
das Justizministerium (Urheberrecht unter anderem) oder das Sozialministeri-
um (Künstlersozialversicherungsgesetz) sowie das Auswärtige Amt für die aus-
wärtige Kulturpolitik. Die Bundeskulturpolitik ist damit beileibe kein, wie zum
Teil kritisiert wird, Provisorium. So gibt es Forderungen, durch die Einrichtung
eines Bundeskulturministeriums die Kulturpolitik zu stärken. Dies sind Schein-
debatten. Es wird niemals eine Bündelung aller kulturellen Angelegenheiten in
einem Ministerium geben. Wichtiger ist die inhaltliche Diskussion, wie die Kul-
turpolitik ausgestaltet wird. Es gibt nur wenige Staaten, die für Kunst und Kultur
so viele Finanzmittel einsetzen wie Kommunen, Länder und Bund. Kulturstaats-
ministerin Prof. Monika Grütters hat darüber hinaus zu Beginn ihrer Amtszeit
Länder und kommunale Spitzenverbände sowie die Kulturstiftungen der Länder
und des Bundes zu regelmäßigen Gesprächen eingeladen. Zwischenzeitlich gab

Wachgeküsst
es bereits acht kulturpolitische Spitzengespräche. Das Format soll noch stärker
dazu genutzt werden, gemeinsame inhaltliche Linien zu entwickeln und diese in
die kulturpolitische Praxis umzusetzen. Die Spitzengespräche könnten sich so zu
einer Plattform für Kulturdebatten entwickeln und zu einem Dialog für Fragen
z. B. der zukünftigen Erinnerungskultur und der Kunst- und Kulturförderung. Gut
wäre ein eigenständiges Beratungsgremium für Kulturpolitik unter Beteiligung
der kommunalen Spitzenverbände. Der kooperative Kulturföderalismus würde
noch weiter vorangetrieben. Hier könnten sich andere Ministerien ein Beispiel
nehmen oder z. B. die Kultusministerkonferenz in Bezug auf die Bildungsthemen. 446
Auch sonst werden die kommunalen Spitzenverbände eng in Abstimmungen
eingebunden. Beispiele sind nicht nur die Provenienzforschung oder der Preis für 447
kulturelle Bildung, mit dem erfolgversprechende Vorhaben der kulturellen Bil-
dung ausgezeichnet werden. Teilhabegerechtigkeit hängt wesentlich von Kultur
und Bildung ab. Gerechtigkeitspolitik muss heute auch Kulturpolitik sein, sonst
wird sie keinen Erfolg haben. Die Kulturstaatsministerin hat in Abstimmung und
Unterstützung der kommunalen Spitzenverbände die Initiative »Kultur öffnet
Welten« ins Leben gerufen. Die vielfältigen Projekte zeigen, wie kulturelle Viel-
falt das Zusammenleben in einer Zuwanderungsgesellschaft bereichern kann.
Die Förderung der Kulturen von Migranten und interkultureller Bildung müs-
sen selbstverständlicher Teil von öffentlicher Kulturförderung sein. Es geht da-
bei um demokratische Werte, um die Freiheit des Denkens, des Gewissens und
Glaubens. Bei aller Vielfalt muss es eine Verständigung darüber geben, was die
Mitglieder einer Gesellschaft an gemeinsamem kulturellen Wissen, an Bestän-
den kulturellen und geschichtlichen Gedächtnisses miteinander teilen müssen.
Ein weiteres Beispiel ist die im März 2002 gegründete Kulturstiftung des
Bundes. Auch hier waren die kommunalen Spitzenverbände von Anfang an mit
Sitz und Stimme vertreten. Die Stiftung hat in den 16 Jahren ihres Bestehens vie-
le gute Projekte in den Kommunen angeschoben, seien es die Programme »Kul-
turagenten für kreative Schulen« oder »Jedem Kind ein Instrument«, die Stär-
kung der Vermittlungsarbeit in Museen oder aktuell ein Projekt zur Stärkung der
Stadtbibliotheken und das Programm »TRAFO – Modelle für Kultur im Wandel«,
dass sich gezielt an ländliche Regionen und kleinere Gemeinden mit ihrem Kul-
turangebot richtet.
Deutschland verfügt über einen Reichtum an kulturellen Gütern. Museen,
Theater, Volkshochschulen, Musikschulen, Stadtbibliotheken, Orchester usw.
machen die Lebensqualität unserer Städte und Gemeinden aus. Wenn einzelne
Kultureinrichtungen aufgrund der Finanzlage von Schließung bedroht sind, wird
gern nach dem Bund gerufen.
Dies insbesondere dann, wenn aufgrund der Haushaltslage der Kommunen
nicht so viele Finanzmittel in die Kultur fließen, wie von den Kulturschaffenden
gewünscht wird oder wenn einzelne Kultureinrichtungen von Kürzungen oder
Schließungen bedroht sind. Dies ist aber kein Grund, am Kulturföderalismus zu
rütteln. Die kulturelle Infrastruktur wird von den Kommunen und den Ländern

13. — Die Kommunen – Im Zentrum des Kulturgeschehens


finanziert, sie haben die Verantwortung. Diskutiert werden könnte aber darüber,
inwieweit der Bund Kulturangebote von nationalem Interesse bundesweit nach
dem Beispiel des »Blaubuches Ost« stärker fördert. Die Länder müssen aber auch
ihrer Verantwortung nachkommen. Es ist gut, dass der Bund die kulturelle Bil-
dung unterstützt. Kulturelle Bildung in Kindergärten, Schulen, der Jugendarbeit
und Berufsbildung sind Türöffner zu allen Formen der Kultur. Der schulische
Ausfall von Fächern wie Kunst, Musik und Darstellendem Spiel (Theater) sowie
Deutsch und Fremdsprachen mit ihren literatur- und kunstgeschichtlichen An-
teilen sind Beispiele für die Unterfinanzierung des Bildungssystems und hier
sind und bleiben die Länder gefordert.

Wachgeküsst
Jörg Freese
Ländlicher Raum
im Fokus der 448

Bundes­kultur- 449

politik?
Die Zeit der deutschen Kleinstaaterei ist auch eine Blütezeit von Kunst und Kul-
tur in den deutschen Landen gewesen. Ein Johann Wolfgang von Goethe war in
verschiedensten Funktionen Diener unterschiedlicher Herren, die gerade durch
die Förderung von Wissenschaft, Kunst und Kultur ihre eigene Bedeutung und
die Bedeutung ihres jeweiligen Gemeinwesens im Konzert der Fürstentümer,
Herzogtümer und Königreiche in Deutschland untermauern wollten. Insoweit
kann ich dem heutzutage politisch zumeist als Schmähbegriff benutzten Wort
»Kleinstaaterei« eigentlich wenig Negatives abgewinnen.
Politisch wie gesellschaftlich hat Deutschland aus dieser Zeit der vielen klei-
nen staatlichen Einheiten heraus eine starke föderale Tradition. Das ermöglicht
es, die unterschiedlichen landsmannschaftlichen Traditionen und kulturellen
Eigenheiten zu bewahren und zu pflegen und zugleich auch in den Ländern und
Kommunen zusammenzuführen, ohne dass die Vorteile der großen Nation und
gesamtstaatlicher Verantwortung in Deutschland dabei verloren gehen. Dieser
Gedanke stand auch den viel gerühmten Müttern und Vätern des Grundgesetzes
vor Augen, als sie die Kulturhoheit der Länder im Grundgesetz verankert haben.
Kultur ist qua Verfassung aber auch durch gelebte politische Realität einer
der Mittelpunkte der Eigenstaatlichkeit der Länder. Ergänzend zur Kultur sind es
nur noch Schule und Wissenschaft, die die wirklichen Unterschiede zwischen den
Ländern ausmachen. Das können die anderen zentralen Kompetenzen, bspw. das
Polizei- und Ordnungsrecht, nicht leisten, auch wenn sich einige Länder in sol-
chen Themen durchaus Mühe geben, ihre Besonderheit zu betonen. Zentralismus
liegt Deutschland fern, im Gegensatz zu anderen mitteleuropäischen Ländern, die
eine starke zentralstaatliche Tradition haben, und bei denen es umgekehrt nicht
denkbar ist, sich stärker föderal aufzustellen. In Deutschland muss man daher auf
die Stärkung der Kräfte »vor Ort« setzen – und ist damit bisher sehr gut gefahren.

13. — Die Kommunen – Im Zentrum des Kulturgeschehens


Dies alles führt gerade in den ländlichen Räumen und in den sie in starkem Maße
prägenden Landkreisen zu einer gewissen Skepsis gegenüber einer zu hohen
Kompetenz des Bundes für Fragen der Kultur und der Kulturförderung. Die Be-
geisterung des Deutschen Landkreistages hielt sich daher in Grenzen, als 1998
zum ersten Mal ein Staatsminister als Beauftragter der Bundesregierung für Kul-
tur und Medien ins Amt kam. Er und alle seine Nachfolger bis hin zur amtieren-
den Staatsministerin Prof. Grütters haben allerdings ihr Amt weise und mit der
notwendigen Zurückhaltung gegenüber allzu zentralstaatlich-direktiven Ver-
haltensweisen ausgeübt. Dabei haben sie – durchaus in unterschiedlicher Weise
und Intensität – den ländlichen Raum im Blick gehabt. Durch die insbesondere in
den Anfangsjahren erfolgende Fokussierung des Bundes (naturgemäß) auf bun-
des- und europaweit, vielleicht sogar darüber hinaus bedeutsame kulturelle Ein-
richtungen ist es nur natürlich, dass Institutionen in Landkreisen im Verhältnis
zu großstädtischen Einrichtungen deutlich seltener von Bundesförderung oder
gar Bundesträgerschaft profitieren. Aber es gibt sie auch, und das ist auch gut so.
Gerade die ländlichen Räume sind aber bei der Gestaltung und Pflege ihrer
Kulturlandschaft und der Förderung der Kultur viel stärker auf die Zusammen-
arbeit mit den Ländern angewiesen als dies wohl in den Ballungsräumen der Fall
ist. Daher setzen wir unverändert auf die Kompetenz und Zuständigkeit der Län-
der. Ein Bundeskulturministerium, wie es der Deutsche Kulturrat seit geraumer
Zeit fordert, würde an der inzwischen bewährten Aufgabenverteilung zwischen
Bund und Ländern mittelfristig deutliche Änderungen zulasten der Länder und
Kommunen herbeiführen. Dem stehen wir daher kritisch gegenüber. Dies liegt
auch daran, dass jedes Engagement des Bundes im Ergebnis langfristig zu Rück-
zugserscheinungen von Ländern und gegebenenfalls auch von Kommunen führt.
Ein Mehr für die Kultur ist damit leider nicht immer verbunden, auch wenn dies
wünschenswert wäre.
Die Landkreise wünschen sich kraftvolle kulturpolitische Agenden aller Län-
der einschließlich der hierfür notwendigen Finanzierung. Und sie brauchen selbst
auch einen ausreichenden finanziellen Spielraum für kulturelle Vielfalt – nicht
nur, aber auch im ländlichen Raum. Hier ist es wie bei den Großstädten auch: In
einer durchaus nennenswerten Zahl von Landkreisen ist dieser Spielraum vor-
handen, aber leider ist die Schere zwischen arm und reich auch bei den Landkrei-
sen weit auseinandergegangen. Hier gilt es für die Zukunft dringend anzusetzen.
Insgesamt erwarten wir vom Bund und der zuständigen Beauftragten der Bun-
desregierung für Kultur und Medien weiterhin gezielte Unterstützung, Finanzie-
rung von »Leuchttürmen«, Erprobung von Neuem und Hilfe bei allen Aktivitäten,
die durch Kultur und kulturelle Bildung den gesellschaftlichen Zusammenhalt in
Deutschland aktiv unterstützen.
Unser Fazit nach 20 Jahren Beauftragten der Bundesregierung für Kultur
und Medien ist: Das Experiment des ersten Kabinetts Schröder ist gut gegangen.
Lasst uns auf dem eingeschlagenen Weg mit Achtsamkeit weitergehen!

Wachgeküsst
450

451

13. — Die Kommunen – Im Zentrum des Kulturgeschehens


14.

Kultur und
Religion

Religion
und Kultur

20 Jahre
neue Kulturpolitik
des Bundes
Wachgeküsst 1998—2018
Johann Hinrich
Claussen
Über die Grenzen 452

der eigenen 453

Institution hinaus
Wenn jemand, den man schätzt, einen runden Geburtstag begeht, wünscht man
ihm Glück und Segen. Vor allem aber freut man sich, dass es ihn gibt. Sein blo-
ßes Dasein ist Grund zum Feiern genug. Das gilt auch für den bzw. die Beauf-
tragte der Bundesregierung für Kultur und Medien. Wer hätte es vor einem Vier-
teljahrhundert für möglich gehalten, dass diese Institution 2018 ihren 20. Ge-
burtstag feiern würde? Aber jetzt ist die BKM da, hat ihre Sinnhaftigkeit schon
mehrfach bewiesen und inmitten gegenwärtiger Kulturdebatten noch einmal an
Bedeutung gewonnen.
Zum Glückwunsch gehört der Dank. Und die Evangelische Kirche in Deutsch-
land hat allen Grund, der BKM zu danken. Die intensive Zusammenarbeit wäh-
rend der Reformationsdekade, besonders 2012 mit dem Themen-Jahr »Reforma-
tion und Musik« und dem bundesweiten Projekt »366+1, Kirche klingt 2012« so-
wie die großzügige Förderung der vielfältigen Aktivitäten zum Reformationsju-
biläum selbst bleiben unvergessen. Doch »2017« war kein Sonderereignis. Was
hier im Großen unternommen wurde, wurde und wird auch in kleineren Porti-
onen versucht. Die BKM ist für die Evangelische Kirche die zentrale Ansprech-
instanz, wenn es darum geht, ins Gespräch mit der Kultur der Gegenwart einzu-
treten. Dabei geht es nicht allein darum, finanzielle Förderungen zu beantragen
(dies natürlich gelegentlich auch). Viel wichtiger für uns ist es, in der Kooperati-
on mit der BKM über die Grenzen unserer eigenen Institutionen und Milieus hi-
naus zu arbeiten. Dies öffnet unseren Sinn für die Weite der kulturellen Welt. Es
gibt uns Impulse, auf dem kulturellen Feld professioneller zu agieren. Es stößt
uns auf kulturpolitische Debatten, die auch uns beschäftigen sollten. So haben wir
in 20 Jahren – und nicht nur von 1998 bis 2017 – von der BKM vieles gelernt, was
unserer Arbeit zugutekommt. Nicht zuletzt hat es unser Bewusstsein gefördert,
dass wir selbst eine kulturelle Kraft sind und eine kulturelle Verantwortung haben.

14. — Kultur und Religion – Religion und Kultur


Danksagungen haben es meist an sich, dass sie unvermittelt in neue Bitten mün-
den. Die Evangelische Kirche wünscht sich, die – im europäischen Vergleich
ziemlich einmalige – Zusammenarbeit mit der BKM fortzuführen. Dabei ist sie
keine bloße Bittstellerin, sondern hat auch etwas zu bieten. Sie pflegt ein für
Deutschland und Europa wesentliches Kulturerbe und dies an sehr unterschied-
lichen Orten, mit sehr verschiedenen Menschen, in den vielfältigsten Formen.
Gelegentlich begegnet man im Kulturbetrieb und den dazu gehörenden Mili-
eus einer gewissen Religionsignoranz. Menschen, die keine eigenen Erfahrun-
gen mit den guten Seiten der Religion gemacht haben, neigen dazu, das evange-
lische Christentum entweder als etwas eigentlich Überwundenes und Abständi-
ges oder als etwas Gefährliches und zu Bekämpfendes anzusehen. Dabei steht
die Evangelische Kirche, nicht zuletzt mit ihrer kulturellen Breitenarbeit, für ein
grundlegendes Prinzip der deutschen Gesellschaft ein.
Dieses wurde im vergangenen Jahr von der »Initiative kulturelle Integrati-
on«, die ebenfalls der BKM viel zu verdanken hat, so formuliert: »Religion gehört
auch in den öffentlichen Raum. In Deutschland sind Staat und Religion klar von-
einander unterschieden, aber auch aufeinander bezogen. Den Religionen wird
die Möglichkeit gegeben, in der Öffentlichkeit sichtbar aufzutreten und aktiv am
gesellschaftlichen Leben mitzuwirken. Zugleich aber unterliegen sie den gelten-
den rechtsstaatlichen Regeln und einem öffentlichen Diskurs. Dieses Verhältnis
von Staat und Religion hat sich in Deutschland bewährt.« Die Zusammenarbeit
zwischen der Evangelischen Kirche und der BKM ist ein unverzichtbarer Beitrag,
um das wertvolle Erbe der traditionell liberalen Religionskultur in Deutschland
in die Zukunft zu führen.
Zum Schluss: Für rechtschaffene Protestanten gehört es sich, in jede Fest-
freude einen Schuss Kritik und Krisenbewusstsein zu gießen. So möchte ich da-
rauf hinweisen, dass man in der so erfreulichen Kooperation von BKM und Evan-
gelischer Kirche auch ein Problem sehen kann. Angesichts der Tatsache, dass es
bewährte Institutionen in der »Gesellschaft der Singularitäten« immer schwerer
haben, genügt es nicht, dass sich die Repräsentanten einer alten Ordnung unter-
haken und gegenseitig in administrativ gesteuerter Sicherheit wiegen. Vielmehr
müssen beide, Evangelische Kirche wie BKM, sich bewusst sein, dass sie als Ins-
titutionen zwar hochbedeutsam sind – aber nur, wenn sie sich als für die Sache
nützlich erweisen. Es ist eine Grundeinsicht evangelischer Theologie, dass die
Kirche nur eine Funktion ist. Sie hat einen Wert nur insofern, als sie ihre Aufga-
ben erfüllt. Ähnliches ließe sich für staatliche Institutionen sagen. Deshalb ha-
ben Evangelische Kirche wie BKM gegenüber der Kultur in Deutschland eine die-
nende Rolle. Dass Kunst und Kultur leben, gedeihen und Frucht bringen, können
sie weder garantieren oder gar anordnen. Aber sie können dabei helfen, wichti-
ge Voraussetzungen dafür zu schaffen. Und darin schon liegt ein großes Glück.

Wachgeküsst
Johannes
Jakob Koch
Kultur + Kultus = 454

Kirchenkultur- 455

politik
Kultur und Kultus:
keine Zwillinge, aber gute Nachbarn

Eine seriöse Kulturpolitik hat den wesentlichen Unterschied von Kultur und Kul-
tus, von Sinnfrage und Religion zu vergewissern und zugleich deren gemeinsame
Wurzel, d. h. ihr Synergie-Potential zu identifizieren. Künste in der Kirche wol-
len die erweiterte Wirklichkeitsebene der Kommunikation zwischen Gott und
den Menschen sinnlich erfahrbar machen. Kern der ästhetischen Gestalten des
Kultus – ob Kirchenmusik, sakrale bildende Kunst, Kirchenarchitektur, geistli-
che Dichtung oder religiöses Schauspiel – ist aber nicht die »techné«, die Kunst-
fertigkeit, sondern der Glaube.
Sofern Kultus zu reiner Kultur, Ritus zu Kulturerbe, Kultgegenstände zu blo-
ßen Kulturgütern deklariert werden, geraten die Subjekte des Kultes zu bloßen
Kulturpflegern. Der Kultus mit seinen musisch-ästhetischen Erscheinungsfor-
men wird dann nicht selten zum exotischen Erlebnis, zum Standortfaktor, mit-
unter auch zum Spektakel.
Dennoch gibt es etwas wesentlich Verbindendes zwischen Kultur und Kul-
tus, nämlich die Schaffung und Bewahrung eines Schutzraums des »Übernützli-
chen« (Thomas Mann). Während das Augenmerk des kognitiven Materialismus
in Wirtschaft und Technik nur den effizienzmaximierten »Human resources« gilt,
wollen Kultur und Kultus das »gute Leben« in geglückter, sinnerfüllter mensch-
licher Gemeinschaft. So wenig Kultur und Kultus identisch sind, so sehr befin-
den sie sich doch in fruchtbarer Nachbarschaft. Deshalb ist der Kirche auch am
säkularen musisch-ästhetischen Angebot sehr viel gelegen; die Kirche hat ein
vitales Interesse an einem funktionierenden, reichhaltigen, diversen und inklu-
siven kulturellen Leben in Deutschland!

14. — Kultur und Religion – Religion und Kultur


Kirche als stärkster Kulturträger Deutschlands

Wie der Kulturpolitikwissenschaftler Matthias Theodor Vogt im Auftrag der En-


quête-Kommission des Deutschen Bundestags »Kultur in Deutschland« (2003–
2007) herausgefunden hat, investieren die beiden Kirchen Jahr für Jahr rund vier
Milliarden Euro für Kunst und Kultur. Sie sind damit der stärkste Kulturakteur
gleichauf mit den Gemeinden, noch vor den Ländern und lange vor dem Bund.
Die Mitglieder der Enquête-Kommission haben in ihrem Schlussbericht partei-
übergreifend festgestellt: »Der Staat hat ein hohes Eigeninteresse an der Fort-
setzung der kirchlichen Kulturarbeit« und: »Für die Ausformung einer europäi-
schen Identität können die Kirchen mit ihrem Erfahrungsschatz einen wesentli-
chen Beitrag leisten.« Das Vogt-Gutachten stellt valide dar, dass kirchliche Kul-
turangebote werteorientiert, nichtkommerziell und partizipativ sind. Herzstück
kirchlicher Kulturarbeit ist demnach der ehrenamtliche Einsatz von Millionen
von Christinnen und Christen. Das ermöglicht es, kirchliche Kultur-Angebote
günstig anzubieten. Vor allem im ländlichen Raum stellt die Kulturarbeit der
Kirchengemeinden eine der ganz wenigen Möglichkeiten dar, aktiv am kulturel-
len Leben teilzunehmen. Die Kirche trägt Verantwortung für Erhalt und Pflege
eines jahrtausendealten Kulturerbes. Das verpflichtet sie aber nicht nur zu kon-
servatorischer Professionalität, sondern auch zur geistigen Erschließung dieses
Erbes. Damit leistet sie einen Beitrag für das »kulturelle Gedächtnis« Europas,
von dem alle Mitglieder der Gesellschaft profitieren. Gotthard Fuchs hat hierfür
den Begriff »Kulturelle Diakonie« geprägt, der – über Konfessionsgrenzen hin-
weg – zum Synonym christlichen Kulturengagements schlechthin geworden ist.
Während sich die Operative der kirchlichen Kulturarbeit in den Einrichtun-
gen der Diözesen und Orden vollzieht, nimmt die Deutsche Bischofskonferenz
kirchenkulturpolitisch eine Koordinations-, Scharnier-, Netzwerks- und Reprä-
sentationsfunktion wahr. Sie erstellt Arbeitshilfen und Dossiers, entsendet De-
legationen und Repräsentationen in bundespolitische Zusammenhänge und in
säkulare Dachgremien (z. B. UNESCO-Kommission, Deutsches Nationalkomitee
für Denkmalschutz etc.), steuert die Erstellung von Rahmenordnungen (z. B. Stu-
dium Kirchenmusik oder Kunst in der Priesterbildung) und ist erste Ansprech-
partnerin für Anfragen oberster Behörden (z. B. Glockenwesen, Kulturgüteraus-
fuhr). Insofern ist die Deutsche Bischofskonferenz mit ihren Behörden in Bonn
und Berlin auch der Kontakt, wenn es um kulturpolitische Abstimmungen und
Kooperationen mit der Bundesregierung geht – sei es im Bereich des Inneren
oder des Auswärtigen.

Die katholische Kirche und die neue Kulturpolitik des Bundes

Als vor 20 Jahren das Amt des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und
Medien (BKM) im Kanzleramtgeschaffen wurde, war folglich klar, dass sich hier
nun in etlichen Belangen – vor allem Memorialkultur, Denkmal-/Kulturgut-

Wachgeküsst
schutz und kulturelle Bildung – eine Kommunikationsschiene auch zu den Kir-
chen bilden würde. Es bedurfte jedoch erst der mehrjährigen Arbeit einer Kul-
turenquete, bis auf Ebene des BKM die bundespolitische Relevanz der kirchli-
chen Kulturarbeit auf den Schirm kam. Erst seit dem vierten Amtsinhaber, Bernd
Neumann, kann von einer verstetigten Kommunikation die Rede sein. Neben
alltäglichen Fachangelegenheiten der beiden Administrationen etwa in Fragen
des Denkmal- und Kulturgutschutzes erstreckt sich diese über die Mitwirkung
der BKM an katholischen Kunst-Jurys und kirchenkulturpolitischen Diskussi-
onsforen über die Kooperation bei Aktionsbündnissen (z. B. »Initiative Kultu- 456
relle Integration«) bis hin zur erfolgreichen Beteiligung der katholischen Kirche
an Ausschreibungen der BKM wie z. B. zum Europäischen Kulturerbejahr (ECHY 457
2018). Gesamtgesellschaftlich bedeutsame Aktionen der katholischen Kirche –
wie 2015 das Kunstprojekt zum Konzilsjubiläum »Freude und Hoffnung, Trau-
er und Angst« – werden in die Projektförderung der BKM aufgenommen. Dass
­Monika Grütters dieses Amt nun in zweiter Legislaturperiode bekleidet, ist für
die Kirchen ein glücklicher Umstand.

Es gibt viel zu tun – packen wir es an (?)

Perspektivisch können folgende kulturpolitische Problemfelder im Spannungs-


feld von Kirche und Staat identifiziert werden:

—— W ie soll der Schutz und Unterhalt der Weltkulturerbestätten, von denen v­ iele
in kirchlichem Besitz stehen, künftig gefördert werden? Wird sich der Bund
hier finanziell engagieren? Die Kosten für den Denkmalschutz ganz allgemein
sind vielerorts kaum aus Kirchensteuermitteln allein zu schultern.
—— Was geschieht mit den zahlreichen, davon alleine 570 katholischen, Kirchen,
die aufgrund von Kirchenmitgliedsschwund und Infrastrukturwandel nicht
mehr liturgisch genutzt werden? Das überwältigende öffentliche Interesse an
dieser Frage belegt, dass dies ein gesamtgesell­schaftlich (und somit auch
­bundeskulturpolitisch) zu lösendes Problem ist.
—— Die Kulturenquete hat dem Deutschen Bundestag empfohlen, »eine Ermäßi-
gung des Umsatzsteuersatzes auf denkmalpflegerische Leistungen in und
an gegenwärtigen oder ehemaligen Sakralbauten einzuführen. Dabei sollte es
sich nicht um eine auf Gewerke bezogene, sondern um eine objektbezogene
Ermäßigung handeln, um Abgrenzungsprobleme zu vermeiden.« Diese Emp-
fehlung harrt nach wie vor ihrer Umsetzung.
—— Die 120 katholischen Auslandsgemeinden in 57 Ländern weltweit bieten
nicht nur Gottesdienste und Seelsorge an, sondern betreiben mit ihren viel­
fältigen musisch-ästhetischen Angeboten auch wirksames »Cross-Cultural
bridging«, sind also gleichsam »kleine Goethe-Institute«. Das Auswärtige
Amt unterstützt seit vielen Jahren finanziell diese kulturelle Vermittlungs­
leistung der Kirche, die schwerpunktmäßig in Projekten und der Bereit-

14. — Kultur und Religion – Religion und Kultur


stellung deutschsprachiger Literatur erfolgt. Als ein noch unbefriedigend
gelöstes Problem erweist sich dabei, dass die Vorgaben des Bundes sich
nur schwer in den Auslandsgemeinden umsetzen lassen, sodass ­manches
interes­sante Kulturprojekt nicht realisiert werden kann. Hier wäre eine ­
größere ­Flexibilisierung wünschenswert. Böte nicht das neu z­ ugeschnittene
Amt der »Staatsministerin für internationale Kulturpolitik« eine gute Ge­
legenheit, die kirchlich-staatlich gemeinsame Außendarstellung der Kultur­
nation Deutschland zu optimieren?

Der Titel des vorliegenden Sammelbandes trägt den Titel »Wachgeküsst«. Es gibt
schöne und lohnende Projekte einer partnerschaftlichen Kulturpolitik zwischen
Kultur und Kultus, die eines rettenden Dornröschen-Kusses noch harren. Zum
Glück gehen Geschichten nicht nur im Märchen gut aus.

Wachgeküsst
Aiman Mazyek
Ein weltoffenes
Land, das den 458

Dialog schätzt 459

20 Jahre Beauftragte der Bundesregierung für Angelegenheiten der Kultur und


Medien – dieses Jubiläum bietet natürlich eine gute Gelegenheit, ein Amt zu
würdigen, das sich auf besondere Weise um Kunst und Kultur in unserem Land
verdient gemacht hat.
Eine große Kulturnation, zu der Deutschland zählt, zeichnet sich durch Of-
fenheit und Respekt gegenüber anderen Kulturen aus. Das hält sie lebendig und
frisch. Das wusste der bibelfeste Goethe genauso wie sein Kollege Herder, Rück-
ert oder der Aufklärer Lessing, um nur einige zu nennen. Sie waren sich übrigens
auch bewusst, dass die drei monotheistischen Religionen gleichen Ursprungs
sind und allesamt aus dem Morgenland stammen.
So wie ein weltoffenes Deutschland, das die Interkulturalität und den Dia-
log der Kulturen schätzen gelernt hat. Ich bin bikulturell erzogen worden. Die-
ses Spielen mit verschiedenen Bildern und Erfahrungen, mit Traditionen, die
meine persönliche biografische Kultur ausmachen, speist sich aus einem gro-
ßen Reichtum und schärft den Blick für echte Überzeugungen und herablassen-
de Überheblichkeit, egal, ob christlicher oder muslimischer, deutscher oder ara-
bischer Herkunft. So habe ich zuerst als Kind die Grimm’schen Märchen geliebt,
die mir meine Mutter und Großmutter erzählt oder vorgelesen haben; viel später
kamen die Erzählungen aus 1001 Nacht hinzu. Je mehr ich aus den verschiede-
nen Kulturen gelernt habe, desto deutlicher sind mir die Ähnlichkeiten, die Ver-
bindungen geworden. Das gilt für die Geschichte und die in ihnen festgeschrie-
bene, zutiefst menschliche Hoffnung, dass alles gut ausgeht, aber auch für die
Geschichten rund um das Weihnachts- oder das Ramadanfest. Auch wenn sich
der religiöse Hintergrund unterscheidet.
Nur der Dialog der Kulturen wird letztlich dazu führen, die Welt auch mit
den Augen des Anderen zu sehen, dessen Perspektive in das eigene Denken ein-
zubeziehen und gemeinsame Lösungswege für die Zukunftsprobleme der Welt-
gesellschaft zu finden. Mit einem gehaltvollen Dialog, den sich viele Intellektuel-
le, Künstler, besonnene Politiker und Kulturschaffende sowie nicht zuletzt viele

14. — Kultur und Religion – Religion und Kultur


Muslime wünschen und der so wichtig und fundamental für unsere Gesellschaft
ist, damit wird sich weiter die Beauftragte der Bundesregierung für Angelegen-
heiten der Kultur und Medien beschäftigen.
Tausende engagieren sich bei der Integration und Verständigung zwischen
den Kulturen und Religionen. Ihnen eine Stimme geben und sie stärken, gehört
zu den vornehmsten Aufgaben in unserem Land, gerade vor dem weiteren Auf-
kommen des Populismus, Nationalismus und Isolationismus. Die Losung könnte
lauten: Wir lassen es nicht zu, dass Hass und Zwietracht zwischen den Bevölke-
rungsgruppen gesät werden, dass mittels billiger Vorurteile und Ressentiments,
Antisemitismus und Islamfeindlichkeit und Ängste geschürt, Minderheiten kri-
minalisiert und als Sündenböcke missbraucht werden. Hier kommt übrigens den
Religionen eine besondere Verantwortung zu und das könnte zukünftig in der Ar-
beit der Kulturbeauftragten deutlicher akzentuiert werden. Denn Thora, Evan-
gelium, die humanistischen Traditionen und der Koran, sie alle sprechen von der
Würde des Menschen – jedes Menschen –, die es zu achten und zu verteidigen
gilt. Das ist ein hohes Gut unserer freiheitlich-demokratischen Ordnung, des-
halb ziert es auch unsere Präambel im Grundgesetz. Werte der Demokratie, der
Rechtsstaatlichkeit, der Gerechtigkeit und Menschenrechte müssen stets aufs
Neue erkämpft und verteidigt werden gegen jede Art von Rassismus, religiösem
Extremismus, politischem Fundamentalismus. Muslime haben hier ein vitales
Interesse, dass religiöser Extremismus in ihren eigenen Reihen erkannt, ihm vor-
gebeugt und er bekämpft wird.
Und wie geht das? Auch und gerade indem die großen kulturellen Traditi-
onen der Muslime in Europa nachgezeichnet und weiterentwickelt werden. Und
dies funktioniert erfolgsversprechend mit muslimischen Partnern zusammen,
zudem sich der Zentralrat der Muslime in Wort und Tat stets bekennt. Nicht
funktionieren wird dies mit dem von Populisten und Nationalisten beschriebe-
nen sogenannten »Konservativen Wende«, die nichts anderes ist als »Ausschlie-
ßeritis« und damit dem Geist und der Kultur eines starken, freien und weltoffe-
nen Deutschland zuwiderläuft.
Was z. B. nicht sein darf, wie es Navid Kermani in einem seiner Bücher treff-
lich formuliert, dass die muslimische Kultur in Andalusien (Europa) zweimal
endet; einmal mit Vertreibung und Inquisition und ein zweites Mal in den Ge-
schichtsbüchern, als diese Epoche aus der europäischen Geschichte ausgetra-
gen wurde, indem man eine Phase der Fremdherrschaft daraus machte. Auf die-
se Weise entsteht ein Konstrukt über einen »Mechanismus des Ausschlusses«.
Das wäre auch das Ende der Kulturpolitik.

Wachgeküsst
460

461

14. — Kultur und Religion – Religion und Kultur


Autorinnen
und Autoren

20 Jahre
neue Kulturpolitik
des Bundes
Wachgeküsst 1998—2018
B
Simone Barrientos — geboren 1963 in Eisleben. Facharbeiterabschluss als E
­ lektrikerin
und Gebrauchswerberin; ab 1990 freiberuflich tätig als Bauzeichnerin, Dolmetscherin
­(spanisch), Mitinhaberin eines Besetzungsbüros, Aufnahmeleiterin Filmwirtschaft; seit 2008
Verlegerin; Sängerin, Sprecherin, Moderatorin; jetziger Beruf: Kulturpolitische Sprecherin
DIE LINKE im Deutschen Bundestag, ehrenamtlich engagiert in der Flüchtlingshilfe und
feministischen Initiativen; Mitglied der Gewerkschaft Ver.di, seit 2018 Obfrau im Ausschuss 462
für Kultur und Medien des Deutschen Bundestags.
463
Gerhart R. Baum — geboren 1932 in Dresden, wohnt seit 1950 in Köln. Hier Abitur und
­Jura-Studium sowie Beginn seiner anwaltlichen und politischen Tätigkeit. Seit 1954 ist
er Mitglied der FDP. Er war Bundesvorsitzender der Jungdemokraten, Kommunalpolitiker
in Köln, 30 Jahre Mitglied des FDP-Bundesvorstandes – davon neun Jahre als Stellvertre­
tender Bundesvorsitzender. Von 1972 bis 1994 war er Mitglied des Deutschen Bundestages
und gehörte von 1972 bis 1982 - erst als parlamentarischer Staatssekretär und ab 1978 als
Bundesinnenminister – der sozialliberalen Regierung erst unter Brandt, dann unter Schmidt
an. Seit 1994 engagiert Baum sich in der internationalen Menschenrechtspolitik und ist
­seitdem auch wieder als Anwalt tätig. Sein Engagement galt stets auch der Kultur. Heute
ist er u. a. Vorsitzender des Kulturrates NRW. Baum erhielt 2008 den Theodor-Heuss-Preis,
2009 den Erich-Fromm-Preis, 2010 den Giesberts-Lewin-Preis der Kölnischen Gesellschaft
für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, 2012 die Silberne Stimmgabel des Landesmusik-
rates NRW und den Preis der Arnold Freymuth-Gesellschaft, 2014 den Ehrenring des Rhein-
landes und 2017 den Verdienstorden des Landes NRW.

Gabriele Beger — geboren 1952 in Berlin. Bibliothekarin und Juristin. 1991 bis 2005
­Direktorin der Berliner Stadtbibliothek, seit 1995 Stiftung Zentral- und Landesbibliothek
Berlin, 2005 bis 2018 leitende Direktorin der Staats- und Universitätsbibliothek Ham-
burg. Lehraufträge Informations- und Medienrecht Universität Hamburg, Humboldt-Uni-
versität zu Berlin, FHS Potsdam. Mehrere Ehrenämter u. a. Präsidentin der Deutschem
­Gesellschaft für Informationswissenschaft und Informationspraxis (2003–2009), Vorsitzen-
de des Deutschen Bibliotheksverbandes (2007-2010), Vorsitzende des Fachausschusses
­Urheberrecht im Deutschen Kulturrat (2010-2017). Zahlreiche Publikationen zum Urheber-
recht und M
­ anagement. Trägerin des Bundesverdienstkreuzes 1. Klasse (2018).

Frithjof Berger — leitet bei Der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und
Medien (BKM) das Referat, das den Gesetzentwurf für die Kulturgutschutznovelle 2016
­erarbeitet und im parlamentarischen Verfahren begleitet hat.

Autorinnen und Autoren


Maria Bering — geboren 1963. Absolvierte den Magister in Musikwissenschaft, Roma-
nistik und Germanistik in Berlin und Frankfurt am Main. Sie arbeitete als Leiterin der
Ab­teilung ­Wissenschaft in der Senatskanzlei Berlin sowie in verschiedenen Funktionen
in den Bereichen Kultur und Wissenschaft des Landes Berlin. Seit Juni 2017 ist sie Grup-
pen­leiterin K 4 »Geschichte; Erinnerung« bei Der Beauftragten der Bundesregierung für
Kultur und Medien.

Sigrid Bias-Engels — geboren 1956 in Aachen. Erstes und Zweites Staatsexamen für das
Lehramt an Gymnasien, MdB-Mitarbeiterin und Referentin in der SPD-Bundestagsfrak-
tion, seit dem 1. November 1998 bei Der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und
Medien, aktuell ist sie Leiterin der Gruppe K 2 (Kunst- und Kulturförderung).

Carsten Brosda — geboren 1974 in Gelsenkirchen. Studium der Journalistik und Politik-
wissenschaft an der Universität Dortmund, Promotion über »Diskursiven Journalismus«.
2000-2005 Pressereferent und Redakteur im SPD-Parteivorstand. 2008 bis 2009 stellver-
tretender Leiter des Leitungs- und Planungsstabes im Bundesministerium für Arbeit und
Soziales. 2010 bis 2011 Abteilungsleiter Kommunikation beim SPD-Parteivorstand. Juni
2011 bis Februar 2016 Leitung des Amtes Medien in der Hamburger Senatskanzlei, ab 2013
­außerdem Bevollmächtigter des Senats für Medien. März 2016 bis Januar 2017 Staatsrat
der Kulturbehörde, Staatsrat in der Senatskanzlei für die Bereiche Medien und Digitali-
sierung. Seit 2017 Senator der Behörde für Kultur und Medien der Freien und Hansestadt
Hamburg.

C
Johann Hinrich Claussen — geboren 1964 in Hamburg. Studium der Evangelischen
­Theologie in Tübingen, Hamburg und London, anschließend Promotion und Habilitation
in Systematischer Theologie. Nach Stationen als Pastor, dann als Propst und Haupt­-
pastor in Hamburg ist Dr. Johann Hinrich Claussen seit dem 1. Februar 2016 Kulturbe­
auftragter des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Kulturbüro der EKD
in Berlin. Zahl­reiche publizistische Arbeiten, letzte Buchveröffentlichung: »Das Buch
der Flucht. Die B
­ ibel in 40 Stationen« (C. H. Beck, München 2018).

Wachgeküsst
Gitta Connemann — geboren 1964 in Leer. Absolvierte eine Ausbildung zur ­Verkäuferin
und studierte anschließend Rechtswissenschaften in Osnabrück und Mainz bis 1993.
Seit 2002 Mitglied des Deutschen Bundestages und seit Januar 2015 stellvertretende Vor-
sitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Gitta Connemann ist u. a. Vizepräsidentin
der Deutsch-Israelischen Gesellschaft; Kuratorium Aktion Sühnezeichen Friedensdienste;
Vorstands­mitglied der Stiftung Diakonie im Landkreis Leer; Vorstandsmitglied der Kin­- 464
der- und Jugendstiftung der Hiltruper Herz-Jesu-Missionare im Emsland; Ehrenpräsidentin
des Verbandes niedersächsischer Musikschulen. 465

D
Hartmut Dorgerloh — geboren 1962 in Potsdam. Von 1982 bis 1987 studierte er Kunst-
geschichte und Klassische Archäologie an der Humboldt-Universität zu B
­ erlin und pro-
movierte 1997 ebenda. Bis 2002 arbeitete Hartmut Dorgerloh als Referatsleiter Denkmal-
schutz im Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg
(MWFK), dem folgte seine Ernennung als Generaldirektor der Stiftung ­Preußische Schlös-
ser und Gärten. Hartmut Dorgerloh arbeitet zudem als Honorarprofessor an der Hum-
boldt-Universität und ist Mitglied in verschiedenen Gremien und Institu­tionen, die sich
dem Erhalt der Parks und Gärten, der Architektur und Bewahrung kulturellen Erbes wid-
men. Seit Juni 2018 ist er Generalintendant des Humboldt Forums.

E
Hartmut Ebbing — geboren 1956 in Berlin-Lankwitz und dort aufgewachsen. Abitur
am Beethoven-Gymnasium, Bankausbildung, Studium der Betriebswirtschaft an der
TU Berlin und University of Illinois, USA. Diplom-Kaufmann. Längere Aufenthalte in I­srael
und USA. 1984 bis 1991 bei der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG Peat Marwick in
Frankfurt/Main, Hamburg und Berlin. Ablegung des Steuerberater- und Wirtschaftsprü-
fer-Examen. Seit 1992 selbstständig in Berlin und seit 2018 Kulturpolitischer Sprecher
der FDP-Bundestagsfraktion.

Autorinnen und Autoren


F
Felix Falk — geboren 1979 in Wismar. Magister der Musikwissenschaften, Politikwissen-
schaften, Publizistik- und Kommunikationswissenschaften in Berlin und Liverpool. 2004–
2009 Büroleiter im Deutschen Bundestag. 2009-2016 Geschäftsführer der USK. Seit 2017
Geschäftsführer von game – Verband der deutschen Games-Branche.

Alexander Farenholtz — geboren 1954 in Helmstedt. Studierter Verwaltungswissen-


schaftler. Ab 1989 Geschäftsführer der documenta in Kassel. Ab 1993 verschiedene Tätig-
keiten in Landesministerien in Baden-Württemberg. Unterbrochen durch Tätigkeit bei
der EXPO 2000 Hannover GmbH, ab 1997 Gesamtprokurist. Seit März 2002 als Vorstand
und Verwaltungsdirektor der Kulturstiftung des Bundes tätig.

Jörg Freese — geboren 1964, ist Diplom-Verwaltungswirt (FH). Nach dem Studium
­arbeitete er zunächst bei der Landeshauptstadt Kiel, bevor er im November 1991 zum
Landkreistag Mecklenburg-Vorpommern wechselte. Dort war er als Stellvertretender
­Geschäftsführer zuständig für Soziales, Kinder- und Jugendhilfe, Schule und Kultur s­ owie
Aus- und Fortbildung. Seit 2008 ist Freese Beigeordneter beim Deutschen Landkreistag
und verantwortet dort neben der Kinder- und Jugendhilfe die Themen Schule und Kultur
sowie Gesundheit. Jörg Freese ist Mitglied verschiedener Gremien auf Bundesebene,
u. a. im Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge, der Arbeitsgemeinschaft
für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ, im Deutschen Kulturrat und in der Deutschen Kran­
kenhausgesellschaft.

Frank Frischmuth — geboren 1961, ist Geschäftsführer der Deutschen Digitalen Biblio-
thek und für die Geschäftsfelder Finanzen, Recht, Kommunikation verantwortlich. Er l­eitet
die Geschäftsstelle der Deutschen Digitalen Bibliothek in Berlin. Frischmuth war bis 2013
als General Manager der Ullstein GmbH für die Fotoagentur ullstein bild tätig. Der stu­
dierte Historiker und Literaturwissenschaftler ist ein ausgewiesener Kenner historischer
Foto- und Pressebildarchive und hat langjährige Erfahrung in der Vermarktung dieser
­Kulturgüter. Über ein Jahrzehnt war Frischmuth Vorstandsmitglied im Branchenverband
der Fotoagenturen und Pressebildarchive (BVPA) und ist Mitglied der DGPh.

Max Fuchs — Studium der Mathematik und Wirtschaftswissenschaften (Dipl.-Math.) sowie


der Erziehungswissenschaften und Soziologie (M. A., Dr. phil.). Von 1988 bis 2013 Direktor
der Akademie Remscheid sowie Präsident des Deutschen Kulturrates (2001–2013). Fuchs
ist Ehrenvorsitzender der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung, Ehren­
vorsitzender des Instituts für Bildung und Kultur, Mitglied des Kuratoriums des Instituts
für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft. Lehrt Allgemeine Erziehungswissen-
schaft an der Universität Duisburg-Essen und Kunsttheorie und Ästhetik an der Universität
Basel.

Wachgeküsst
G
Katharina Görder — geboren 1978 in Lippe. Studium der Rechtswissenschaften in
­Osnabrück, Abschluss Zweites Juristisches Staatsexamen. Absolvierte das Referendariat
in Bielefeld und Münster. Katharina Görder ist seit April 2009 Juristin bei der Künstler-
sozial­kasse, Abteilungsleiterin Außenprüfung mit den Schwerpunkten Ausgleichsver­
einigungen und Betriebsprüfungen.
466
Dieter Gorny — geboren 1953 in Soest. Er ist Aufsichtsratsvorsitzender der ­Initiative
­Musik, Geschäftsführer des european centre for creative economy (ecce GmbH) und 467
­Professor für Kultur- und Medienwissenschaften an der Hochschule Düsseldorf. 2007 bis
2011 war er Künstlerischer Direktor der Kulturhauptstadt Europas RUHR. Im Jahr 2015
wurde Prof. Dieter Gorny zum »Beauftragten für Kreative und Digitale Ökonomie« des
­Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie berufen. Seit 2000 ist er Präsidiums-
mitglied des Deutschen Musikrats, von 2007 bis 2017 war er Vorstandsvorsitzender des
­Bundesverbands Musikindustrie e.V. und ist seit 2007 Aufsichtsratsvorsitzender der
Initiative Musik. Er wurde 1997 mit dem Adolf Grimme Preis und 1992 mit dem Echo als
»Medienmann des Jahres« ausgezeichnet. 1993 wurde er Geschäftsführer der VIVA Fern­
sehen GmbH; ab 2000 Vorstandsvorsitzender der VIVA Media AG und war von 2004
bis 2007 Executive Vice President für MTV Networks Europe.

Monika Griefahn — geboren 1954. Diplom-Soziologin, Mitbegründerin von Greenpeace


Deutschland und erste Frau im internationalen Vorstand von Greenpeace (1983–1990).
­Umweltministerin in Niedersachsen (1990-1998) und Bundestagsabgeordnete (1998-2009).
Im Bundestag war sie Mitglied im Ausschuss für Kultur und Medien (von 2000-2005 Vor­
sitzende), davor und danach Sprecherin der SPD-Fraktion für Kultur und Medien sowie Aus-
wärtige Kultur- und Bildungspolitik und Mitglied im Auswärtigen Ausschuss. Seit 2012 ist
sie Geschäftsführerin des Instituts für Medien Umwelt Kultur. Dr. Monika Griefahn ist vielfäl-
tig ehrenamtlich tätig, unter anderem als Vorsitzende der Right Livelihood Award Stiftung
(»Alternativer Nobelpreis«) und des Cradle to Cradle e. V.

Erhard Grundl — geboren 1963 in Mallersdorf. Studierte Sozialpädagogik an der Univer-


sität Bamberg (1985–1987). Grundl ist seit 2004 Mitglied der Partei Bündnis 90/Die G
­ rünen
und aktuell Sprecher für Kulturpolitik der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen,
­Obmann im Ausschuss für Kultur und Medien sowie Vollmitglied im Sportausschuss des
Deutschen Bundestages. Im Sommer 2018 initiierte er zusammen mit Claudia Roth die
»Brüsseler Erklärung für die Freiheit der Kunst«.

Autorinnen und Autoren


Monika Grütters — geboren 1962 in Münster/Westfalen. 1982 bis 1989 Studium der Ger-
manistik, Kunstgeschichte und Politikwissenschaft an den Universitäten Münster und
Bonn. Seit 2005 Mitglied des Deutschen Bundestages in der CDU/CSU-Fraktion über die
CDU-Landesliste Berlin und hielt seitdem diverse Funktionen inne, u. a. also Vorsitzende
des Kulturausschusses (2009–2013). Seit Dezember 2013 ist Prof. Monika Grütters Staatsmi-
nisterin bei der Bundeskanzlerin, Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien.

H
Kathrin Hahne — Studium der Rechtswissenschaften, Forschungsaufenthalte sowie Pro-
motion an den Universitäten Münster, Poitiers und Oxford; Zweite juristische Staatsprü-
fung. Langjährige Mitarbeiterin an den Instituten für Umwelt- und Planungsrecht sowie für
Informations-, Telekommunikations- und Medienrecht (öffentlich-rechtliche Abteilung)
der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Seit 2003 Mitarbeiterin bei der/dem Be-
auftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM), zunächst im Bereich Rund-
funk und Internationale Zusammenarbeit im Medienbereich; zeitweise Abordnung zur
EU-Kommission (Generaldirektion Wettbewerb). Später Referentin im Leitungsstab sowie
Leiterin Referat Planung und Analyse bei der BKM. 2012 bis 2016 Leiterin der Referate För-
derung ostdeutscher Kultureinrichtungen, Denkmalschutz und Baukultur. Seit Juni 2016
Leiterin der Gruppe Grundsatzfragen der Kulturpolitik, Denkmal- und Kulturgutschutz bei
der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.

Hans Gerhard Hannesen — geboren 1952. Studium der Kunstgeschichte, Geschichte


und Italienisch in Berlin. Ab 1984 wissenschaftlicher Assistent bei den Staatlichen Museen
Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Ab 1986 Mitarbeiter im Innenministerium zur Planung
des Deutschen Historischen Museums, ab 1987 Mitarbeit im Museum selbst. Von 1993 bis
zum Ruhestand 2018 war er Präsidialsekretär der Akademie der Künste.

Wachgeküsst
Klaus Hebborn — geboren 1956. Assessor des Lehramtes, Diplom-Sportwissenschaftler.
1993 bis 2006 Hauptreferent für Schule und Bildung. Seit 2006 Kulturdezernent und Bei-
geordneter für Bildung, Kultur, Sport und Gleichstellung des Deutschen Städtetages. Mit-
glied in den Stiftungsräten der Kulturstiftung des Bundes, des Deutschen Zentrums für
Kulturgutverluste und im Verwaltungsrat des Deutschen Bühnenvereins sowie in weite­ren
Gremien von öffentlichen Institutionen, Organisationen und Stiftungen; Herausgeber und 468
Autor von Publikationen im Bildungs- und Kulturbereich.
469
Markus Hilgert — geboren 1969. Altorientalist und seit 1. Juni 2018 Generalsekretär der
Kulturstiftung der Länder. Von 2014 bis 2018 Direktor des Vorderasiatischen Museums im
Pergamonmuseum der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Engagiert sich als Wissenschaft­
ler auf den Gebieten der Theorie, Dokumentation und Interpretation von materiellen
­Kulturgütern. Zudem diverse ehrenamtliche Funktionen, u. a. als Mitglied im Vorstand der
Deutschen UNESCO-Kommission e. V. (seit 2018). Derzeit als Honorarprofessor an der
­Universität Heidelberg, der Universität Marburg sowie der Freien Universität Berlin tätig.

Benjamin-Immanuel Hoff — geboren 1976 in Berlin. Studierte Sozialwissenschaften an


der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 2014 ist Hoff Minister für Kultur, Bundes- und Euro­
paangelegenheiten sowie Chef der Staatskanzlei im Freistaat Thüringen. Er ist Honorar­
professor an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin und Fellow am Sussex Centre for the
Study of Corruption.

Christian Höppner — geboren 1956. Erhielt eine Ausbildung zum Instrumentallehrer,


­Musikpädagogen und Cellisten mit anschließendem Dirigierstudium. Seit 2013 ist er Präsi­
dent des Deutschen Kulturrates. Er ist außerdem Generalsekretär des Deutschen Musik­
rates, dessen Präsidiumsmitglied bzw. Vizepräsident er war (2000 bis 2004). Seit 1986
­unterrichtet er Violoncello an der Universität der Künste Berlin. Höppner engagiert sich
ehrenamtlich in vielfältiger Weise in nationalen und internationalen Organisationen,
u. a. vertritt er den Deutschen Kulturrat in der Deutschen UNESCO-Kommission, ist Mit-
glied des Rundfunkrates der Deutschen Welle, Haushaltsberichterstatter für den Rund­
funkrat und stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses der DW-Akademie, Chefredak-
teur des Magazins Musikforum und Kuratoriumsmitglied des Frankfurter Musikpreises.
Für sein Engagement um das Berliner Musikleben wurde er im Jahr 2001 von Bundesprä­
sident Johannes Rau mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

Autorinnen und Autoren


J
Hans Jessen — geboren 1949 in Barsinghausen. Arbeitete in Bremen als Reporter, Mode-
rator und Chef vom Dienst des regionalen Fernsehmagazins »buten un binnen«. Seit ­Januar
2010 erneut vom Radio Bremen als Fernsehkorrespondent in die G
­ emeinschaftsredaktion
des ARD – Hauptstadtstudios in Berlin abgeordnet. Er arbeitete als Reporter für die Nach-
richtensendungen der ARD und als Chef vom Dienst für den »Bericht aus Berlin«. S
­ eine
­Arbeitsschwerpunkte sind: Außenpolitik, Entwicklungszusammenarbeit, Bildungs- und Um-
weltpolitik. Als Mitglied eines Internationalen Trainerteams hat er in den vergangenen
­Jahren zahlreiche Trainingskurse für Fernsehjournalisten in West- und Osteuropa geleitet,
seit 2004 moderiert er vielfältige Veranstaltungen zur Entwicklungszusammenarbeit und
Globalisierung.

Marc Jongen — geboren 1968 in Meran. Studium der Philosophie, Volkswirtschaft,


­Geschichte und Indologie an der Universität Wien (Abschluss Mag. phil.); Promotion zum
Dr. phil. an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung (HfG) Karlsruhe. Seit 2003 Wissen-
schaftlicher Mitarbeiter für Philosophie und Ästhetik daselbst, bis 2015 auch Assistent
des Rektors. Im April 2013 in die AfD eingetreten. Seit damals im Landesvorstand der AfD
Baden-Württemberg. Seit März 2017 einer von zwei gleichberechtigten Landesvorsitzen-
den; Mitglied der Bundesprogrammkommission. Im Bundestag kulturpolitischer Sprecher
der AfD-Fraktion; Mitglied im Ausschuss für Kultur und Medien sowie im Ausschuss für
Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung.

Karl Jüsten — Leiter des Kommissariats der deutschen Bischöfe – Katholisches Büro in
Berlin. Nach dem Studium der Katholischen Theologie in Freiburg, Innsbruck und Bonn
promovierte er 1999 mit dem Thema »Ethik und Ethos in der Demokratie«. 1987 ­wurde er
zum Priester geweiht. Prälat Jüsten war bis 1990 Kaplan in zwei Kölner Pfarreien, bis 1994
Präfekt am Erzbischöflichen Priesterseminar in Köln, von 1996 bis 2000 Stellvertretender
Hauptabteilungsleiter der Abteilung Seelsorge-Personal im Erzbistum Köln. Seither leitet
er das Kommissariat der deutschen Bischöfe (Verbindungsstelle der Deutschen Bischofs-
konferenz zu den Organen des Bundes und der Europäischen Union). Er nimmt diverse
Funktionen in der kirchlichen Entwicklungszusammenarbeit wahr, unter anderem als Vor-
sitzender der Katholischen Zentralstelle für Entwicklungshilfe und Co-Vorsitzender der
Gemeinsamen Konferenz Kirche und Entwicklung. Seit März 2014 ist er Vorsitzender des
Rundfunkrates der Deutschen Welle.

Wachgeküsst
K
Susanne Keuchel — geboren 1966. Soziologin und Musikwissenschaftlerin, ehemalige
­Direktorin des Zentrums für Kulturforschung (bis 2013), Honorarprofessorin am Institut
für Kulturpolitik der Universität Hildesheim sowie Dozentin an der Hochschule für Musik
und ­Darstellende Kunst in Hamburg. Arbeitsschwerpunkte und Publikationsthemen:
empirische Kulturforschung, Anwendung Neuer Tech­nologien im Kulturbereich, speziell
audio­visuelle Medien, Kulturelle und Interkulturelle Bildung. Aktuell ist Professor Keuchel 470
­Direktorin der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW e.V.
471
Jakob Johannes Koch — geboren 1969. Studium der Katholischen Theologie und Musik
(Absolvent der Meisterklasse Dietrich Fischer-Dieskau) sowie Promotion mit einer Disser­
tation zu einem Thema der Kirchenmusik. Seit 2000 ist er Kulturreferent im Sekretariat
der Deutschen Bischofskonferenz in Bonn. Initiierung und Begleitung zahlreicher Projekte
auf dem interdisziplinären Begegnungsfeld Kirche/Religion-Kunst-Ästhetik.

Martin Maria Krüger — geboren 1954 in Solingen. Studierte Gitarre bei Siegfried Behrend
und Dieter Kirsch sowie Schlagzeug bei Siegfried Fink an der Hochschule für Musik Würz-
burg. Zunächst internationale Konzerttätigkeit. 1982 Direktor des Hermann-Zilcher-Konser-
vatoriums Würzburg, 1987 des Richard-Strauss-Konservatoriums München – beide später
integriert in die jeweiligen Musikhochschulen. Seit 2008 Honorarprofessor für Gitarre und
Kulturpolitik an der Hochschule für Musik und Theater München. Seit 2003 Präsident des
Deutschen Musikrates. Seit dessen Gründung 2016 Vorsitzender des Musikfonds e. V.

Autorinnen und Autoren


L
Klaus-Dieter Lehmann — geboren 1940 in Breslau. Studierte Mathematik und Physik
(Diplomphysiker) und anschließend Bibliothekswissenschaft. Er war von 1988 bis 1990
­Generaldirektor der Deutschen Bibliothek und anschließend bis 1998 Generaldirektor der
vereinigten Deutsche Bücherei und Deutsche Bibliothek, anschließend bis 2008 Präsi-
dent der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Seit 2008 ist er der Präsident des Goethe-Ins­
tituts. Klaus-Dieter Lehmann ist Mitglied der Akademie der Wissenschaften und Litera-
tur Mainz sowie der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaft. Er ist Honorar­
professor für Wirtschaftsinformatik an der Universität Frankfurt am Main und für Biblio-
theks- und ­Informationswissenschaft an der Humboldt-Universität Berlin. Die Ludwig-Maxi-
milians-Universität München verlieh ihm im Jahr 2001 die Ehrendoktorwürde.

Melanie List — Referentin in dem Referat bei der Beauftragten der Bundesregierung
für Kultur und Medien (BKM), das den Gesetzentwurf für die Kulturgutschutznovelle 2016
­erarbeitet und im parlamentarischen Verfahren begleitet hat.

Uwe Lübking — studierte Rechtswissenschaften an der Universität Bielefeld. Ab 1985


­Referent für Recht und Verfassung beim Nordrhein-Westfälischen Städte- und Gemeinde-
bund. Ab 1990 Hauptreferent für Jugend und Soziales. 1997 Wahl zum Beigeordneten des
Deutschen Städte- und Gemeindebundes (DStGB). Seit 1998 Leiter des Dezernates für
Recht, Personal und Organisation, Sozial- und Jugendpolitik, Bildung, Kultur und Sport des
DStGB. Mitverfasser zahlreicher Dokumentationen des DStGB sowie Autor von kommu­
nalrechtlichen Lehrbüchern und kommunalpolitischen Themenstellungen. Seit 2002 Mit-
glied des Bundesjugendkuratoriums sowie seit Juni 2005 ehrenamtlicher Richter am
­Bundessozialgericht, Vorsitzender des Kuratoriums des Deutschen Jugendinstitutes und
­Vizepräsident des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge.

Gilbert Lupfer — geboren in Stuttgart. Promotion in Kunstgeschichte 1995 an der Eber-


hard-Karls-Universität Tübingen. Habilitation 2002 an der TU Dresden. 1993-2002 wissen­
schaftlicher Assistent an der TU Dresden, seit 2007 ebenda apl. Professor für Kunstge-
schichte. Seit 2002 Mitarbeiter der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, seit 2008
Leiter des Provenienzforschungs-, Erfassungs- und Inventurprojekts »Daphne«, seit 2013
Leiter der Abteilung Forschung und wissenschaftliche Kooperation. Seit 2017 wissen-
schaftlicher Vorstand des Deutschen Zentrum Kulturgutverluste; Mitglied im Beirat der
Kustodie der TU Dresden.

Wachgeküsst
M
Aiman Mazyek — geboren 1969 in Aachen. Studium der Arabistik in Kairo und der Poli­
tischen Wissenschaften in Aachen. Seit 1994 Mitglied im Zentralrat der Muslime in Deutsch-
land (ZMD) und seit 2010 dessen Vorsitzender. 2003 Gründung der H
­ ilfsorganisation
»Grünhelme e.V.« (mit Rupert Neudeck). Mitglied der Christlich-Islamischen Gesellschaft.
Verschiedene politische und journalistische Tätigkeiten, zuletzt erschien von ihm im
­Bertelsmann Verlag das Buch: »Was machen Muslime an Weihnachten?«. Mitglied in der 472
staatlichen »Deutschen Islamkonferenz«.
473
Udo Michallik — geboren 1968 in Waren (Müritz). Studium der Geschichte, Politikwis-
senschaften sowie Soziologie (M. A.) und arbeitete als Forschungsassistenz am Center for
­Atlantic Studies an der Arizona State University. Ab 1995 tätig bei der CDU, u. a. als wis-
senschaftlicher Mitarbeiter der CDU-Landtagsfraktion Mecklenburg-Vorpommern für Bil-
dung, Wissenschaft und Kultur und Leiter des wissenschaftlichen Dienstes der CDU-Land-
tagsfraktion Mecklenburg-Vorpommern. Michallik war Staatssekretär im Ministerium für
Bildung, Wissenschaft und Kultur, Mecklenburg-Vorpommern (2006-2009). Seit Oktober
2010 ist er Generalsekretär der Kultusministerkonferenz.

Regine Möbius — geboren 1943 in Chemnitz. Absolvierte ein Abendstudium »Chemi-


sche Verfahrenstechnik« an der Ingenieurschule Köthen und ein Hochschulfernstudium
am ­Institut für Literatur »Johannes R. Becher« Leipzig. Ab 1990 arbeitete sie als Honorar­
dozentin an der Fachschule für Soziokultur Meißen, von 1990 bis 1997 als Korresponden-
tin am Börsenblatt für den deutschen Buchhandel und leitete seit 1987 kontinuierlich
­literarischen Workshops im deutschsprachigen Raum. Von 1994 bis 2007 war sie Landes-
vorsitzende (Sachsen) des Verbandes deutscher Schriftsteller (VS) in der IG Medien und ­
in ver.di, seit 1996 ist sie Stellvertretende Vorsitzende des Kulturwerks deutscher Schrift-
steller in Sachsen e. V., seit 1997 Stellvertretende Bundesvorsitzende des Verbandes deut-
scher Schriftstellerinnen und Schriftsteller (VS). Seit 2007 engagiert sie sich als Bundes­
beauftragte für Kunst und Kultur der ver.di und ist seit 2011 Vizepräsidentin des Deutschen
Kulturrats. Zudem organisiert sie den »Leipziger Literarischen Herbst« und ist seit 2014
Mitglied des Arbeitskreises gesellschaftliche Gruppen der Stiftung »Haus der Geschichte
der Bundesrepublik Deutschland«.

Autorinnen und Autoren


Elisabeth Motschmann — geboren 1952 in Lübeck. Studium der Theologie, Romanistik
und Pädagogik in Kiel und Hamburg. Arbeitete als freie Mitarbeiterin u. a. beim Axel Sprin-
ger Verlag, Norddeutscher Rundfunk NDR und veröffentlichte zahlreiche Bücher zu fami-
lien- und frauenpolitischen Themen sowie Reportagen über Kinderarmut. 1976 Eintritt in
die CDU Schleswig-Holstein und arbeitet seitdem in diversen Gremien mit, u. a. Landes-
vorsitzende der CDU Bremen sowie Staatsrätin für Kultur in Bremen. Seit 2010 Landesvor-
sitzende des Evangelischen Arbeitskreises der CDU (EAK) Bremen und Mitglied im Bun­
desvorstand des EAK. Zudem ist sie seit 2012 Landesvorsitzende der Frauen Union (FU)
Bremen und Mitglied im Bundesvorstand der CDU Deutschlands. Seit 2018 kulturpoliti-
sche Sprecherin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.

Michelle Müntefering — geboren 1980. Ausbildung zur Kinderpflegerin während der


Schulzeit, nach dem Abitur Studium der Journalistik. Danach wissenschaftliche Mitarbeite­
rin im Deutschen Bundestag, nach einem Zeitungsvolontariat Tätigkeit als freie Journalis-
tin. Seit 2013 direkt gewähltes Mitglied des Deutschen Bundestags. In der 18. ­Wahlperiode
Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion für Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik. Seit
März 2018 Staatsministerin für internationale Kultur- und Bildungspolitik beim Bundesmi-
nister des Auswärtigen.

N
Michael Naumann — geboren 1941 in Köthen. Studierte Politische Wissenschaft, Philo­
sophie und Geschichte in Marburg und München, promovierte 1969 mit einer Arbeit
über Karl Kraus und habilitierte sich nach einem Studienaufenthalt am Queen’s College,
Oxford (1976–1978) mit einer Studie über den »Strukturwandel des Heroismus« Nach
seiner Arbeit als Redakteur der Zeit und des Spiegels wurde er Leiter der Rowohlt Ver-
lage (1985-1995) und von Henry Holt in New York (1995-1998). Bundeskanzler Gerhard
Schröder berief ihn zum ersten Staatsminister für Kultur (1998-2000). Von 2001 bis 2010
war er Chefredakteur, später Herausgeber der Zeit, dann, bis 2012, Chefredakteur der
Zeitschrift Cicero. Naumann ist Honorarprofessor an der Humboldt-Universität in Berlin
und Rektor der Barenboim-Said-Akademie in Berlin.

Wachgeküsst
Bernd Neumann — geboren 1942 in Elbing/Westpreußen. Studium der Pädagogik in
­Bremen anschließend Tätigkeit als Lehrer. Trat 1971 der Bremischen Bürgerschaft bei. Seit
1979 Landesvorsitzender der CDU Bremen, seit 2008 Ehrenvorsitzender. Er war von 1987
bis 2013 Mitglied des Deutschen Bundestages und hielt verschiedene Positionen inne, u. a.
Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Bildung, Forschung und Tech­
nologie, Obmann der CDU/CSU-Fraktion im Ausschuss des Bundestags für Kultur und 474
­Medien sowie Staatsminister für Kultur und Medien bei der Bundeskanzlerin (2005-2013).
Seit 2014 ist er Vorsitzender der Filmförderungsanstalt (FFA). 475

Uwe Neumärker — geboren 1970 in Berlin. 1997/98 Arbeit im Ch. Links Verlag. Ab 2000
Kulturmanager des Instituts für Auslandsbeziehungen Stuttgart für die deutsche Minderheit
im Memelland. Seit 2002 bei der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Erst
wissenschaftlicher Mitarbeiter, ab 2003 Presse, ab 2005 Geschäftsführer, seit 2009 Direktor.
Zudem Interimsleiter der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung 2015/16. Nebenbei ­tätig
als Mitglied im Beirat der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld, der KZ-Gedenkstätte Flossen­
bürg und der Stiftung Gedenkstätte Lindenstraße, im Kuratorium der Ursula-Lachnit-Fixon-
Stiftung sowie im Vorstand des Bildungs- und Dokumentationszentrums Prora e. V.

Knut Nevermann — geboren 1944 in Hamburg. Studium der Rechtswissenschaften in


Hamburg, München und Berlin. Arbeitete zunächst beim Deutschen Bildungsrat und
nach dem Zweiten Staatsexamen am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin.
Nach einer juristischen Promotion 1981 habilitierte sich Nevermann 1986 in Berlin für Politik­
wissenschaft. Nevermann engagiert sich seither in der Bildungspolitik der Berliner SPD.
1998 bis 2006 war er Amtschef und Abteilungsleiter der Beauftragten der Bundesregie-
rung für Kultur und Medien im Bundeskanzleramt. Im April 2006 wurde er zum Staatssekre-
tär im Sächsischen Wissenschafts- und Kunstministerium berufen. Von November 2010 bis
Dezember 2014 war er Staatssekretär für Wissenschaft in der Berliner Senatsverwaltung
für Bildung, Wissenschaft und Forschung. Seit Januar 2017 ist er ehrenamtliches Vorstands-
mitglied der neuen, öffentlich-rechtlichen Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung.

Julian Nida-Rümelin — geboren 1954 in München. Studierte Philosophie, Physik, Mathe-


matik und Politikwissenschaft. Er ist Autor zahlreicher Sachbücher und populärwissen-
schaftlicher Werke. Nida-Rümelin hatte zahlreiche Professuren und Gastprofessuren inne.
Julian Nida-Rümelin war Staatsminister für Kultur und Medien im ersten Kabinett Schröder.
Seit 2004 ist er Professor für Philosophie und politische Theorie an der Ludwig-Maximilians-
Universität München.

Autorinnen und Autoren


O
Hans-Joachim Otto — geboren 1952, Rechtsanwalt und Notar, war Mitglied des Aus-
schusses für Kultur und Medien des Deutschen Bundestages von 1998 bis 2009, davon
die letzten vier Jahre dessen Vorsitzender. Als Parlamentarischer Staatssekretär im Bun­
deswirtschaftsministerium war er bis 2013 verantwortlich für die Kultur- und Kreativwirt-
schaft. Er vertrat die FDP in der Enquête-Kommission des Deutschen Bundestags »Kul-
tur in Deutschland«. Von 2012 bis 2017 vertrat er den Deutschen Bundestag im Stiftungsrat
der Kultur­stiftung des Bundes. Er ist Mitglied des FDP-Bundesvorstandes.

P
Hermann Parzinger — geboren 1959 in München. Studium der Vor- und Frühgeschichte,
Mittelalterlichen Geschichte und Provinzialrömischen Archäologie. Parzinger ist einer der
führenden Prähistoriker unserer Zeit und einer der profiliertesten Archäologen der Welt.
Für seine weltweiten Ausgrabungs- und Forschungsprojekte, z. B. in Spanien, im Irak und
in Sibirien, hat er zahlreiche nationale sowie internationale Preise erhalten, so u. a. den
­Orden Pour le mérite für Wissenschaften und Künste. Hermann Parzinger ist seit 2008 Prä-
sident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Zuvor war er bereits als Präsident des Deut-
schen Archäologischen Instituts sowie als Professor an der Freien Universität Berlin tätig.

Isabell Pfeiffer-Poensgen — geboren 1954 in Aachen. Studium der Rechtwissenschaften


und Geschichte. Ab 1985 Referentin der Wissenschaftsbehörde Hamburg, ab 1989 Kanz­
lerin der Hochschule für Musik Köln, ab 1999 Kulturbeigeordnete der Stadt Aachen, ab 2004
­Generalsekretärin der Kulturstiftung der Länder. Seit 2017 ist sie Ministerin für Kultur und
Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen.

Gerhard Pfennig — Rechtsanwalt. 1973-1988 Geschäftsführer des Bundesverbandes


­Bildender Künstler. Zudem langjährig Geschäftsführer der Verwertungsgesellschaft
Bild Kunst (1978-2011) und der Stiftung Kunstfonds (1980-2010). Seit 2012 Sprecher der
­Initiative Urheberrecht. Zudem Honorarprofessor, Mitglied im Beirat Künstlersozialkasse,
Mitglied i­n diversen Arbeitsgruppen beim Deutschen Kulturrat. Seit 2001 Träger des
Bundesverdienstkreuzes am Bande.

Jan Ole Püschel — geboren 1973 in Hamburg. Studium der Rechtswissenschaften und
Promotion zum Thema »Informationen des Staates als Wirtschaftsgut«. 2001–2004 wissen-
schaftlicher Mitarbeiter am Hans-Bredow-Institut für Medienforschung. Von 2007 bis 2009
Referent beim BKM. Von 2010 bis 2013 Leiter des Büros des Staatsministers für Kultur und
Medien im Bundeskanzleramt. Seit 2014 Leiter der Gruppe K3, Medien, Film, Internationa-
les beim BKM.

Wachgeküsst
R
Heike Raab — geboren 1965 in Cochem an der Mosel. Absolvierte eine Ausbildung als
Kranken­gymnastin in Aachen und studierte anschließend Politik­wissen­schaften, Rechts­
wissen­schaft und Spanisch. Seit 1991 Politische und gesellschaftliche Funktionen bei der
SPD, u. a. Generalsekretärin der SPD in Rheinland-Pfalz. Seit 2011 ist Heike Raab Staats­
sekretärin in Rheinland-Pfalz und seit 2015 Bevollmächtigte beim Bund und für Europa,
­Medien und Digitales. Zudem ist sie Koordinatorin der Rundfunkkommission für die 476
Vor­sitzende, Ministerpräsidentin Malu Dreyer.
477
Martin Rabanus — geboren 1971 in Fulda. Studium der Politologie, Rechtswissenschaften,
Soziologie und Geschichtswissenschaften an der Johann-Wolfgang-Goethe-Uni­versität
Frankfurt am Main. Ab 1994 in verschiedene Position tätig bei der SPD, u. a. Referent der
SPD-Fraktion im Hessischen Landtag. Seit 2013 Mitglied des Deutschen Bundestages und
aktuell kultur- und medienpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. Zudem en-
gagiert Martin Rabanus sich ehrenamtlich als Mitglied im Kreistag des Rheingau-Taunus-­
Kreises sowie im Bundesvorstand der Arbeitsgemeinschaft für Bildung in der SPD (AfB).

Stefan Rhein — geboren 1958. Nach der Dissertation über »Philologie und Dichtung.
­Melanchthons griechische Gedichte« war er von 1988 bis 1997 Kustos am Melanchthon-
haus in Bretten, zudem seit 1994 im Nebenamt Leiter der Reuchlin-Forschungsstelle
der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. 1998 wurde er Vorstand und Direktor
der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt. Seit dem Jahr 2000 ist Stefan Rhein
außerdem Vorsitzender der kulturtouristischen Initiative »Wege zu Luther« e. V., in der
die wichtigsten Lutherstätten der neuen Bundesländer zusammenarbeiten. Ab 2007 bau-
te er die staatliche Geschäftsstelle »Luther 2017« zur Koordination der bundesweiten
­Akti­vitäten des Reformationsjubiläums auf.

Claudia Roth — geboren 1955 in Ulm. Studium der Theaterwissenschaften an der Lud-
wig-Maximilian-Universität in München, arbeitete zunächst als Dramaturgin. Wechselte
1985 in die Politik als Pressesprecherin der ersten grünen Fraktion im Deutschen Bundes-
tag. 1998 zog sie erstmalig in den Deutschen Bundestag ein. Seit 2005 durchgehend
Mitglied des Deutschen Bundestages und Mitglied verschiedener Ausschüsse wie dem
Auswärtigen Ausschuss, dem Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent­
wicklung sowie Obfrau im Ausschuss für Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik. Sie war
Parteivorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen und ist seit 2013 Vizepräsidentin des
Deutschen Bundestages. Ihr besonderes Engagement galt und gilt den Menschen- und
Bürgerrechten, dem Klimaschutz, entwicklungspolitischen Fragen, dem Anti-Rassismus
und der Kultur.

Autorinnen und Autoren


S
Günther Schauerte — geboren 1954 in Fredeburg. Studium der klassischen Archäologie,
Alten Geschichte, Gräzistik, Ur- und Frühgeschichte an der Westfälischen Wilhelms-Uni­
versität Münster und der Freien Universität Berlin, Promotion 1983. Er ist Ko-­Kurator ver-
schiedener Ausstellungen und Mitglied in diversen Beiräten und Gremien: u. a. Mitglied des
Senats der Leibniz Gemeinschaft, Sachverständiger des Ausschusses für Kultur und Medien
des Deutschen Bundestages zur Einführung der UNESCO-Konvention von 1970, Mitglied-
schaft in Beiräten verschiedener Museen. Seit 2011 Vizepräsident der Stiftung Preußischer
Kulturbesitz.

Oliver Scheytt — geboren 1958 in Köln. Studium der Musik an der Folkwang Hochschule
in Essen und Rechtswissenschaften an der Ruhr-Universität in Bochum. Gilt als ­Vordenker
der Kulturpolitik und des Kulturmanagements in Deutschland. Mehr als 25 Jahre wirkte er
in Führungspositionen der öffentlichen Verwaltung sowie von Großprojekten der Stadt-
und Regionalentwicklung. Von 1993 bis 2009 war Oliver Scheytt Kulturdezernent der Stadt
Essen sowie viele Jahre auch Beigeordneter für Bildung und Jugend. Von 2003 bis 2007
Mitglied der Enquête-Kommission »Kultur in Deutschland« des Deutschen ­Bundestages.
Seit 1997 Präsident der Kulturpolitischen Gesellschaft e. V. und seit 2007 Professor für
­Kulturpolitik an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. Scheytt ist Inhaber der
Personal- und Strategieberatung Kulturexperten GmbH.

Wolfgang Schneider — geboren 1954 in Mainz. Studium der Germanistik und der Politi­
schen Wissenschaft in Frankfurt am Main, Doktor der Philosophie. Lehrbeauftragter an
­diversen Universitäten. Von 2003 bis 2007 Sachverständiges Mitglied der Enquête-Kom-
mission »Kultur in Deutschland« des Deutschen Bundestages. Professor Schneider ist
seit 1997 Gründungsdirektor des Instituts für Kulturpolitik der Universität Hildesheim und
seit 2012 Inhaber des UNESCO Chair in Cultural Policy for the Arts in Developement.

Barbara Schneider-Kempf — geboren 1954 in Trier. Studium der Architektur, Ausbildung


für den höheren Bibliotheksdienst und bibliothekarische Tätigkeit in Hannover und Duis-
burg. Seit 2004 Generaldirektorin der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz.
Vormalige bzw. derzeitige Mitwirkung in zahlreichen fachspezifischen und anverwandten
kulturwissenschaftlichen Leitungsgremien: u. a. Deutsches Bibliotheksinstitut, Vorsitz des
Bibliotheksausschusses der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Sprecherin der Allianz
Schriftliches Kulturgut Erhalten, Beiratsmitglied des FrauenMediaTurms in Köln, Beirat In-
formation und Bibliothek des Präsidiums des Goethe-Instituts, Vorsitzende des Beirats der
Deutschen Nationalbibliothek, seit 2010 Präsidentin der Brandenburgischen Bach-Gesell-
schaft e.V., seit 2011 Mitglied des Beirats des Vorstandes der Mendelssohn-Gesellschaft e. V.
und Mitherausgeberin der Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie.

Wachgeküsst
Barbara Seifen — geboren 1956. Architekturstudium und Promotion an der Universität
Hannover. Seit 1989 Gebietsreferentin in der Denkmalpflege in Westfalen. Seit 2016
Leiterin des Referates Praktische Denkmalpflege im LWL-Denkmalpflege, Landschafts-
und Baukultur. Für die Vereinigung der Landesdenkmalpfleger ist Barbara Seifen Mit-
glied im Rat für Baukultur und Denkmalkultur, Mitglied im Sprecherrat des Deutschen
Kulturrates und Vorsitzende des Fachausschusses Kulturerbe. 478

Charlotte Sieben — geboren 1969. Studierte Rechtswissenschaften an der Johann- 479


Wolfgang-Goethe Universität in Frankfurt am Main. Nach Abschluss der Staatsexamina
und Auslandsaufenthalten in England und Frankreich absolvierte sie an der London
School of Economics ihren Master of Law. Seit 2005 tätig bei den Kulturveranstaltungen
des Bundes in Berlin (KBB) GmbH, deren Kaufmännische Geschäftsführerin sie seit 2010
ist. Die KBB vereint unter ihrem Dach die Internationalen Filmfestspiele Berlin, die Berliner
Festspiele mit dem Martin-Gropius-Bau sowie das Haus der Kulturen der Welt. Charlotte
Sieben ist seit 2016 als Vorsitzende der Gruppe der außerordentlichen Mitglieder Teil des
Präsidiums des Deutschen Bühnenvereins.

Norbert Sievers — geboren 1954. Studium der Soziologie in Bielefeld. Seit 1982 erst
­Sekretär, dann Geschäftsführer und Hauptgeschäftsführer der Kulturpolitischen Gesell-
schaft e. V. (KuPoGe). 2013 übernahm er die Leitung des Instituts für Kulturpolitik der
KuPoGe. Zudem ist er seit 1987 ehrenamtlicher Geschäftsführer des Fonds Soziokultur e. V.
und ständiger Gast im Kulturausschuss des Deutschen Städtetages.

Robert Staats — geboren 1963 in Berlin. Studium der Rechtswissenschaft in Bonn und
­Freiburg im Breisgau. Wurde mit einer urheberrechtlichen Arbeit promoviert. 1994–2008
tätig als Richter und Beamter im Justizdienst des Landes Brandenburg. Seit Januar 2009
ist er geschäftsführendes Vorstandsmitglied der VG Wort. Staats ist Stellvertretender Spre-
cher der Deutschen Literaturkonferenz im Sprecherrat des Deutschen Kulturrates. Er ist
Mitglied im Vorstand des Deutschen Literaturfonds, Mitglied verschiedener Gremien im
Bereich des Urheberrecht, Mitherausgeber der Zeitschrift für Urheber und Medienrecht
(ZUM) und Lehrbeauftragter an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Rupert Graf Strachwitz — geboren 1947. Studierte Politikwissenschaft in den USA und
München. Er befasst sich seit mehr als 30 Jahren ehren- und hauptamtlich, praktisch,
beratend, forschend und lehrend mit dem gemeinnützigen Bereich, heute meist Zivilge-
sellschaft genannt. 1989 gründete er die Maecenata Management GmbH, München, als
spezialisierte Dienstleistungs- und Beratungsgesellschaft für diesen Sektor und blieb bis
2011 dessen geschäftsführender Gesellschafter. 1997 wurde er auch Direktor des heutigen
Maecenata Instituts für Philanthropie und Zivilgesellschaft, Berlin. Seit 2010 ist er auch
Vorstand der Maecenata Stiftung, Rechtsträgerin des Instituts.

Autorinnen und Autoren


T
Wolfgang Thierse — geboren 1943 in Breslau. Nach dem Abitur Lehre und Arbeit als
Schriftsetzer in Weimar. 1964 Studium in Berlin an der Humboldt-Universität, a
­ nschließend
wissenschaftlicher Assistent im Bereich Kulturtheorie/Ästhetik der Berliner Universität.
1975 bis 1976 Mitarbeiter im Ministerium für Kultur der DDR. Anfang Januar 1990 Eintritt
in die in der DDR neu gegründete SPD sowie deren Vorsitzender. Wolfgang Thierse war
viele Jahre Vorsitzender der SPD-Grundwertekommission und des Kulturforums der Sozial­
demokratie. Von 1990 bis 2013 Mitglied des Bundestages sowie Präsident des Deutschen
Bundestages (1998-2005).

Isabel Tillmann — geboren 1976. Referatsleiterin bei der Beauftragten der Bundesregie-
rung für Kultur und Medien.

V
Matthias Theodor Vogt — geboren 1959 in Rom, Italien. Leitet das Institut für k
­ ulturelle
Infrastruktur Sachsen. Er forscht zur Kulturpolitik in einer Vielzahl von Ländern, zuletzt
in Kamerun, der Mongolei und auf den Färöern. Studierte Theater- und Musikwissenschaf-
ten, wurde von Carl Dahlhaus promoviert, habilitierte sich in Urbanistik und ist Ehren­
doktor der Rechte. Vogt war von 1992 bis 1995 verantwortlich für Konzeption, Durchset-
zung und Umsetzung des Sächsischen Kulturraumgesetzes vom 20. Januar 1994 unter
Staatsminister Hans-Joachim Meyer. Für die Enquête-Kommission »Kultur in Deutschland«
des Deutschen Bundestages erstellte er die Studie »Beitrag der Religionsgemeinschaf-
ten zur Kultur in Deutschland«.

Hortensia Völckers — geboren 1957 in Buenos Aires, Argentinien. Studium der Kunst­
geschichte und Politologie in München. Ab 1981 Galerieassistentin. 1986 bis 2002 breit
­gestreute Tätigkeiten in Konzeption, Organisation und Kuration diverser künstlerischer
Programme mit dem Schwerpunkt Tanz. Seit 2002 Vorstand und Kulturdirektorin der Kul­
turstiftung des Bundes in Halle/Saale.

Wachgeküsst
W
Matthias Weber — geboren 1961 in Ludwigsburg. Studium der Germanistik und Geschich-
te in Stuttgart, 1985 Staatsexamen und 1989 Promotion in Geschichte. 1996 habilitiere er
über »Neuere Geschichte und Deutsche Landesgeschichte« an der Universität Oldenburg,
Seit 1990 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der
Deutschen im östlichen Europa und seit 2004 dessen Direktor.
480
Christina Weiss — geboren 1953 in St. Ingbert/Saar. Studium der Vergleichenden Litera­
turwissenschaft, Germanistik, Italienischen Philologie und Kunstgeschichte an der Uni- 481
versität des Saarlandes, Saarbrücken. 1982 Promotion an der Philosophischen Fakultät der
Universität des Saarlandes im Fach Vergleichende Literaturwissenschaft. Seit 1979 d
­ iverse
Tätigkeiten als Literatur- und Kunstkritikerin tätig, u. a. für die Süddeutsche Zeitung, die
Zeit und den Deutschlandfunk. Von 2002 bis 2005 war sie Staatsministerin beim Bundes-
kanzler, Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien.

Günter Winands — 1956 geboren. Studium der Rechtswissenschaft und der Verwaltungs-
wissenschaft. Zuerst Tätigkeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter der CDU/CSU-Bundes-
tagsfraktion, 1990 Wechsel ins Bundeskanzleramt, von 1991 bis 1998 Leiter des Kabinetts-
und Parlamentsreferats und Ständiger Protokollführer des Bundeskabinetts. 1999 bis 2005
in unterschiedlichen Funktionen im BKM, zuletzt als Ministerialdirigent für Grundsatzfragen.
Er war u. a. Leiter des Aufbaustabes der Kulturstiftung des Bundes (2002/2003) und Ver-
handlungsführer des Bundes in der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Systematisierung der
Kulturförderung in Deutschland (2001–2005). Von 2005 bis 2010 Staatssekretär im Ministe-
rium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen. Seit 2011 ist er erneut
beim BKM, zunächst als Leiter der Gruppe Medien und Film, Internationales, seit 2013 als
Amtschef und als Abteilungsleiter für Kultur und Medien im Bundeskanzleramt.

Olaf Zimmermann — geboren 1961. Volksschule, Hauptschule, Berufsfachschule, Fach-


oberschule, Zivildienst, Volontariat zum Kunsthändler, Kunsthändler, Geschäftsführer ver-
schiedener Galerien, 1987–1997 Führung einer eigenen Galerie für zeitgenössische Kunst
in Köln und Mönchengladbach. Seit 1997 Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates. Grün-
der (2002), gemeinsam mit Theo Geißler, Herausgeber und zusätzlich Chefredakteur der
Zeitung des Deutschen Kulturrates »Politik & Kultur«. Mitglied des Stiftungsbeirates der Kul-
turstiftung des Bundes. Mitglied des Beirates des Kompetenzzentrums Kultur- und Krea-
tivwirtschaft des Bundes. Vorsitzender der Hauptjury des Deutschen Computerspielprei-
ses. Mitglied der Landessynode der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische
Oberlausitz (EKBO). In der 14. Legislaturperiode (1998–2002) Mitglied der Enquête-Kom-
missionen »Zukunft der Bürgerschaftlichen Engagements« des Deutschen Bundestages. In
der 15. Legislaturperiode (2003–2005) und 16. Legislaturperiode (2006–2007) Mitglied der
Enquête-Kommission »Kultur in Deutschland« des Deutschen Bundestages. Seit Dezember
2016 außerdem Koordinator und Moderator der Initiative kulturelle Integration.

Autorinnen und Autoren


Personen­
register Das Register bezieht sich nur auf
Nennungen im Text. Personen in Fußnoten oder
in Literaturhinweisen sind nicht erfasst.

20 Jahre
neue Kulturpolitik
des Bundes
Wachgeküsst 1998—2018
A
Ackermann, Manfred Boddien, Wilhelm von
⟶1
 54 ⟶2
 80
Ade, Maren Bohn, Matthias
⟶2
 56 ⟶3
 74
Akin, Fatih Böhrnsen, Jens
⟶2
 56 ⟶2
 28 482
Atef, Emily Böll, Heinrich
⟶2
 56 ⟶0
 16, 138 483
Atkins, Ed Bornemann, Fritz
⟶2
 96 ⟶2
 94
Börnsen, Wolfgang
⟶2
 27, 342

B Brandt, Willy
⟶0
 28, 104, 108, 261, 401, 402
Bredekamp, Horst
Bach, Johann Sebastian ⟶1
 32, 282
⟶1
 48 Breuer, Rolf E.
Baeck, Leo & Ruth ⟶2
 71
⟶3
 72 Bürsch, Michael
Bär, Dorothee ⟶0
 42
⟶3
 41, 343 Bush, George W.
Barrientos, Simone ⟶2
 22
⟶0
 88
Berben, Iris

C
⟶1
 81
Berger, Senta
⟶1
 26
Bergsdorf, Wolfgang Calvin, Johannes
⟶0
 31 ⟶3
 03
Berlak, Hermann Chatrian, Carlo
⟶3
 72 ⟶2
 57
Bettermann, Erik Clement, Wolfgang
⟶4
 10 ⟶1
 12
Bettin, Grietje Clinton, Bill
⟶3
 41 ⟶3
 39
Beuys, Joseph Connemann, Gitta
⟶1
 48 ⟶2
 27
Blair, Tony Cranach, Lucas
⟶2
 19, 319 ⟶3
 03, 305

Personenregister
D F
Däubler-Gmelin, Herta Fink, Heinrich
⟶1
 12, 238 ⟶0
 42
de Maizière, Thomas Fischer, Joschka
⟶0
 88 ⟶0
 60, 116, 182
Dietrich, Marlene Flierl, Thomas
⟶2
 55 ⟶2
 71
Dobrindt, Alexander Fohrbeck, Karla
⟶3
 43 ⟶0
 32
Dreyfuss, Marianne C. Fukuyama, Francis
⟶3
 72 ⟶2
 20, 400
Dülmen, Moritz van
⟶2
 81

G
Dümling, Albrecht
⟶0
 19
Duve, Freimut
⟶1
 02, 154 Gabriel, Sigmar
⟶0
 55
Gauck, Joachim

E ⟶3
 05, 423
Geist, Edwin
⟶3
 72
Ehrmann, Siegmund Giacometti, Alberto
⟶2
 29, 310 ⟶1
 03
Eichel, Hans Giddens, Anthony
⟶1
 06 ⟶2
 03, 219
Eisenmann, Susanne Glaser, Hermann
⟶1
 89 ⟶0
 15
Erhardt, Heinz Goethe, Johann Wolfgang von
⟶3
 53 ⟶1
 48
Everding, August Göring-Eckardt, Katrin
⟶0
 31, 154 ⟶3
 05
Grass, Günter
⟶1
 08, 181, 261, 262, 339, 353
Griefahn, Monika
⟶0
 07, 042, 048, 341
Grünwald-Zerkowitz, Sidonie
⟶4
 31

Wachgeküsst
Grütters, Monika Hesse, Konrad
⟶0
 55, 076, 082, 083, 085, 087, 088, 093, ⟶1
 53
123, 127, 128, 176, 177, 184, 189, 190, Hirschman, Albert O.
198, 202, 215, 231, 235, 255, 262, 281, ⟶2
 20
300, 310, 342, 385, 386, 389, 396, 408, Höcke, Bernd
410, 415, 424, 444, 446, 450, 457 ⟶3
 59, 363 484
Gurlitt, Cornelius Hoff, Benjamin-Immanuel
⟶1
 30, 131, 366 ⟶4
 33 485
Gurlitt, Hildebrand Hoffmann, Hilmar
⟶3
 66 ⟶0
 15, 032, 142, 143, 379, 390, 417, 426
Güttler, Ludwig Hörl, Ottmar
⟶1
 54 ⟶3
 06
Gysi, Gregor Humboldt, Alexander von
⟶1
 26 ⟶2
 84

H J
Haacke, Hans Jäckel, Eberhard
⟶1
 81, 400 ⟶3
 59
Haase, Jürgen Jens, Walter
⟶0
 26 ⟶2
 67, 268
Häberle, Peter
⟶1
 45

K
Hamann, Richard
⟶2
 80
Hamm-Brücher, Hildegard
⟶0
 25, 402 Kahrs, Johannes
Hampel, Annika ⟶1
 56, 310
⟶4
 05 Kanther, Manfred
Hebborn, Klaus ⟶0
 31
⟶1
 89 Kaufmann, Thomas
Heinemann, Gustav ⟶3
 06
⟶3
 07
Heisig, Johannes
⟶0
 26

Personenregister
L
Kennedy, Susanne Lafontaine, Oskar
⟶2
 96 ⟶0
 31, 032
Kentridge, William Lammert, Norbert
⟶2
 96 ⟶0
 31, 042, 065, 122, 262, 265, 309, 387
Kermani, Navid Lang, Jaques
⟶ 460 ⟶1
 80
Kerr, Alfred Lattmann, Dieter
⟶3
 72 ⟶2
 25
Kerr, Judith Laube, Martin
⟶3
 72 ⟶3
 06
Klee, Paul Lauder, Ronald
⟶2
 48 ⟶1
 31
Klimpel, Paul Laurin, Hanna-Renate
⟶1
 03 ⟶0
 25
Knopp, Hans-Georg Lehmann, Klaus-Dieter
⟶2
 95 ⟶1
 02, 116, 370
Koch, Roland Leonhard, Elke
⟶0
 57, 182 ⟶0
 42, 048, 181
Köckritz, Sieghardt von Leyen, Ursula von der
⟶0
 32, 138, 154, 169 ⟶3
 40, 341
Kohl, Helmut Limbach, Jutta
⟶0
 15, 017, 026, 028, 029, 030, 031, 046, ⟶3
 65
065, 154, 155, 156, 161, 167, 180, 269, Limbourg, Peter
360, 399 ⟶4
 10
Köhler, Horst Links, Christoph
⟶2
 72 ⟶0
 26
König, Gerda Loeffelholz, Bernhard Freiherr von
⟶3
 91 ⟶2
 20
Konrád, György Loest, Erich
⟶2
 70 ⟶2
 00
Kosslick, Dieter Luther, Martin
⟶2
 95, 296 ⟶0
 29, 301, 303, 304, 305, 306, 307
Köstlin, Thomas
⟶1
 56
Krumwiede, Agnes
⟶0
 86
Kruse, Rüdiger
⟶3
 10

Wachgeküsst
M N
Maas, Heiko Naumann, Michael
⟶0
 84, 235 ⟶0
 39, 040, 041, 042, 045, 048, 064, 065,
MacGregor, Neil 076, 102, 103, 108, 111, 115, 122, 129,
⟶1
 32, 282 139, 154, 159, 175, 180, 184, 200, 221,
Magwas, Yvonne 261, 293, 384, 399, 417, 436
⟶3
 10 Negt, Oskar 486
Mahler, Gustav ⟶1
 81
⟶3
 70 Neumann, Bernd 487
Mangold, Klaus ⟶0
 31, 064, 065, 067, 072, 073, 075, 076,
⟶2
 71 078, 080, 082, 122, 126, 129, 161, 176,
Masur, Kurt 177, 184, 201, 227, 228, 231, 237, 255,
⟶1
 54 262, 309, 310, 341, 342, 384, 385, 386,
Melanchthon, Philip 396, 410, 416, 457
⟶3
 03 Nida-Rümelin, Julian
Merkel, Angela ⟶0
 42, 045, 048, 064, 065, 109, 110, 115,
⟶0
 72, 089, 112, 122, 135, 183, 263, 344, 412 122, 129, 148, 184, 191, 201, 221, 222,
Merkt, Irmgard 261, 262, 270, 384, 410, 417
⟶3
 90
Meyer, Hans Joachim

O
⟶1
 56
Miert, Karel van
⟶1
 01
Mogherini, Frederica Obama, Barack
⟶4
 05 ⟶3
 39
Möbius, Regine Otto, Hans-Joachim
⟶0
 26 ⟶0
 42, 072
Mölders, Werner
⟶1
 03
Motschmann, Elisabeth
⟶3
 10
Müller, Heiner
⟶2
 68
Müller, Herta
⟶3
 53
Müller, Werner
⟶1
 12
Müntzer, Thomas
⟶3
 03, 307
Muschter, Gabriele
⟶1
 55

Personenregister
P R
Parreno, Philippe Raabe, Paul
⟶2
 96 ⟶1
 16, 171
Parzinger, Hermann Radtke, Peter
⟶1
 29, 132, 133, 282 ⟶3
 91
Pascal, Blaise Rakete, Jim
⟶3
 77 ⟶1
 81
Pfeifer, Anton Ramberg, Lars Ø.
⟶0
 15, 028, 030, 065 ⟶2
 84
Pfennig, Gerhard Ramelow, Bodo
⟶2
 23 ⟶3
 05
Picasso, Pablo Reckwitz, Andreas
⟶1
 03 ⟶2
 06, 209
Pieper, Cornelia Rettig, Manfred
⟶0
 72 ⟶2
 82
Plagemann, Volker Reuter, Edzard
⟶4
 36 ⟶2
 66
Pleitgen, Fritz Rohe, Mies van der
⟶0
 53, 101 ⟶1
 33, 162
Porsche, Ferdinand Rosh, Lea
⟶3
 53 ⟶3
 59
Rubinstein, Arthur
⟶3
 72

O
Quasthoff, Thomas
⟶3
 91
S
Sauberzweig, Dieter
⟶0
 15, 171
Scharoun, Hans
⟶1
 33
Scharping, Rudolf
⟶1
 03
Schäuble, Wolfgang
⟶0
 24, 025, 026, 128, 161

Wachgeküsst
Schauws, Ulle Seibt, Gustav
⟶0
 86 ⟶3
 03
Scherer, Bernd Sievernich, Gereon
⟶2
 96 ⟶2
 94
Scheyer, Leopold Sievers, Norbert
⟶3
 73 ⟶1
 42, 204 488
Scheytt, Oliver Spaenle, Ludwig
⟶1
 42, 189 ⟶1
 77 489
Schily, Otto Spies, Paul
⟶1
 16 ⟶2
 81
Schimmel, Wolfgang Staeck, Klaus
⟶2
 26 ⟶1
 81
Schinkel, Karl Friedrich Steinbach, Erika
⟶1
 62, 275, 360 ⟶1
 84
Schlingensief, Christoph Steinbrück, Peer
⟶3
 99 ⟶0
 57, 117, 182
Schmidt, Renate Steinmeier, Frank-Walter
⟶0
 32 ⟶0
 67, 126, 182, 305, 403
Scholz, Olaf Stella, Franco
⟶1
 28, 228 ⟶2
 81
Schorlemmer, Friedrich Stoiber, Edmund
⟶3
 06 ⟶1
 27, 194
Schoser, Franz Stölzl, Christoph
⟶4
 10 ⟶1
 03
Schröder, Gerhard Strauß, Gerhard
⟶0
 32, 039, 050, 058, 065, 102, 103, 106, ⟶2
 80
110, 111, 112, 113, 115, 116, 127, 139, Stubbins, Hugh
163, 167, 180, 200, 218, 249, 269, 271, ⟶2
 95
272, 285, 339, 384, 399, 417, 420 Stüler, August
Schulz, Gabriele ⟶1
 33
⟶0
 31, 082, 086, 087 Swoboda, Hannes
Schuster, Peter-Klaus ⟶2
 80
⟶1
 16, 163
Schygulla, Hanna
⟶3
 53

Personenregister
T W
Tauss, Jörg Waigel, Theo
⟶3
 41 ⟶2
 00
Thierse, Wolfgang Weiss, Christina
⟶0
 32, 262 ⟶0
 48, 050, 057, 064, 105, 113, 115, 122,
Trump, Donald 129, 161, 184, 191, 194, 195, 196, 197,
⟶1
 85 201, 222, 262, 270, 271, 308, 384, 410,
Tscherne, Peter 417
⟶3
 43 Weizsäcker, Richard von
Tykwer, Tom ⟶1
 11, 347
⟶2
 55 Werner, Hans-Jürgen
⟶2
 28, 229
Wiesand, Andreas Johannes

U ⟶0
 32
Wolf, Christa
⟶2
 01
Ude, Christian Wolf, Konrad
⟶1
 10 ⟶4
 33
Ulbricht, Walter
⟶1
 81

Z
V
Valentin, Karl
Zacharias, Wolfgang
⟶3
 79
Zehetmair, Hans
⟶1
 79 ⟶1
 08, 175
Vogt, Matthias Theodor Zimmermann, Olaf
⟶4
 56 ⟶0
 82, 204, 222, 341, 421
Vollmer, Antje Zimmermann, Reiner
⟶0
 42, 219, 220, 262 ⟶1
 56
Zimmermann, Udo
⟶1
 54
Zwingli, Huldrych
⟶3
 03

Wachgeküsst
490

491
Mit Beiträgen von: Hans Jessen Claudia Roth
Simone Barrientos Marc Jongen Günther Schauerte
Gerhart Baum Karl Jüsten Oliver Scheytt
Gabriele Beger Susanne Keuchel Wolfgang Schneider
Fritjof Berger Jakob Johannes Koch Barbara Schneider-Kempf
Maria Bering Martin Maria Krüger Barbara Seifen
Sigrid Bias-Engels Klaus-Dieter Lehmann Charlotte Sieben
Carsten Brosda Melanie List Nobert Sievers
Johann Hinrich Claussen Uwe Lübking Robert Staats
Gitta Connemann Gilbert Lupfer Rupert Graf Strachwitz
Hartmut Dorgerloh Aiman Mazyek Wolfgang Thierse
Hartmut Ebbing Udo Michallik Isabel Tillmann
Felix Falk Regine Möbius Matthias Theodor Vogt
Alexander Farenholtz Elisabeth Motschmann Hortensia Völckers
Jörg Freese Michelle Müntefering Matthias Weber
Frank Frischmuth Michael Naumann Christina Weiss
Max Fuchs Bernd Neumann Günter Winands
Katharina Görder Uwe Neumärker Olaf Zimmermann
Dieter Gorny Knut Nevermann
Monika Griefahn Julian Nida-Rümelin
Erhard Grundl Hans-Joachim Otto
Monika Grütters Hermann Parzinger
Kathrin Hahne Isabel Pfeiffer-Poensgen
Hans Gerhard Hannesen Gerhard Pfennig
Klaus Hebborn Jan Ole Püschel
Markus Hilgert Heike Raab
Benjamin-Immanuel Hoff Martin Rabanus
Christian Höppner Stefan Rhein

ISBN 978-3-947308-10-1

9 783947 308101

Das könnte Ihnen auch gefallen