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NR.

63 DEZEMBER 2023 Einleitung

EU-Erweiterung: Geopolitik trifft


auf Integrationspolitik
Die Kommission will der Erweiterungsdoktrin gradualistische Elemente beimischen
Barbara Lippert

Sollte der Europäische Rat im Dezember oder später grünes Licht dafür geben, EU-
Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine und Moldau zu eröffnen, dann geht es nicht
mehr nur um symbolische Solidarität mit einem von Russland überfallenen bzw. be-
drohten Nachbarn. Vielmehr beginnt im Schatten des Krieges ein neues Kapitel der
Erweiterungspolitik. Nach der Türkei und den sechs Ländern des Westlichen Balkans
bildet Osteuropa mit der Ukraine, Moldau und Georgien den dritten Erweiterungs-
raum. Spätestens seit Russlands Vollinvasion in der Ukraine versteht Brüssel unter
Erweiterung die Expansion in strategisch wichtige Räume. Geopolitische Forderungen
nach schnellen Beitritten nagen dabei an der konservativen Erweiterungsdoktrin –
nach der es weder Rabatte auf die Kopenhagener Kriterien für eine EU-Mitgliedschaft
geben darf noch Abkürzungen auf dem Weg zur Aufnahme. Hinzu kommt, dass die
Beitrittsfragen bald in die Fährnisse der Kriegsdiplomatie geraten könnten, wenn es
um dauerhafte Sicherheit für die Nachkriegs-Ukraine gehen wird. Die Europäische
Kommission greift nun Ideen auf, wie neue Mitglieder schrittweise integriert werden
könnten. Damit versucht sie, dem Dilemma zwischen Geo- und Integrationspolitik
auszuweichen.

Im November 2023 hat die Kommission ein Tempo. Doch Geschwindigkeit und Tiefe
von ihr als historisch bezeichnetes Erwei- der Reformen in den Beitrittsländern halten
terungspaket vorgelegt, das zehn Berichte damit nicht Schritt, was grosso modo für
über Stand und Fortschritte der Beitritts- alle zehn Bewerber gilt.
aspiranten auf ihrem Weg in die EU um- Bei ihren Empfehlungen musste die
fasst. Zeitgleich veröffentlichte sie den Kommission verschiedene Gesichtspunkte
Wachstumsplan für den Westlichen Balkan. berücksichtigen:
Kommission und Rat sehen in der Erweite- ∎ das Interesse der EU-Akteure an mög-
rung einen Eckstein der neuen Block- lichst objektiver Beschreibung der län-
bildung, die zu einem Europa ohne Grau- derspezifischen Lage und der Fortschritte
zonen führt. Diese Logik diktiert der EU – im Lichte der Kopenhagener Beitritts-
auch als Signal an Russland – ein hohes kriterien,
∎ die politische Botschaft an Reformkräfte den Ländern Beitrittsverhandlungen zu er-
und Zivilgesellschaften in den zehn Län- öffnen, und zwar ohne Vorbedingungen.
dern, dass ihre Fortschritte gesehen wer- Allerdings soll der Rat den jeweiligen Ver-
den und sich der Einsatz dafür lohnt, die handlungsrahmen erst verabschieden,
EU sich aber nicht von Fassadenkosmetik wenn Kiew und Chişinău die noch ausste-
der Regierungen täuschen lässt, und henden Reformen umgesetzt haben. Diese
∎ den Umstand, dass manche der 27 EU- betreffen allesamt fundamentale Anforde-
Staaten als Advokaten für den einen oder rungen an Demokratie und Rechtsstaatlich-
anderen Kandidaten auftreten oder ihre keit. Für März 2024 hat die Kommission
Verhandlungsmacht für sonstige Ziele angekündigt, dem Rat darüber zu berich-
nutzen, muss der Rat doch jeden Schritt ten. Das heißt, die ersten Regierungskonfe-
im Erweiterungsprozess einstimmig be- renzen mit Moldau und der Ukraine könn-
schließen. ten schon im kommenden Frühjahr statt-
Mit dieser Gemengelage ist zu erklären, finden – nach Abschluss eines sehr schnel-
dass es Diskrepanzen und Ungereimtheiten len Screenings zum Stand der Angleichung
zwischen einigen empirischen Befunden an den rechtlichen Acquis.
und den Brüsseler Schlussfolgerungen gibt. Die Kommission empfiehlt zudem, Geor-
Denn die Kommission hat viel Rabatt gege- gien den Kandidatenstatus zu verleihen,
ben, wobei der russische Angriffskrieg als sofern das Land alle zwölf der aufgestellten
großer Beschleuniger wirkt. Im Juni 2022 Prioritäten erfüllt. Bislang gelten nur drei
wurde der Kandidatenstatus rasch an die davon als voll umgesetzt (siehe SWP-Aktuell
Ukraine und Moldau vergeben, was eine 58/2023). Für Bosnien-Herzegowina rät die
gleichgerichtete Entscheidung für Bosnien- Kommission, Beitrittsverhandlungen zu er-
Herzegowina im Dezember des Jahres nach öffnen, wenn – so der sehr grundsätzliche
sich zog. Dabei würden insbesondere Bei- Vorbehalt – der nötige Grad der Entspre-
trittsverhandlungen mit Kiew unter großer chung mit den Beitrittskriterien erreicht
Unsicherheit beginnen. Sie dürften sich sein wird. Das Land hat bisher lediglich
hinziehen, sollten sie mit einem mäßigen erste Schritte getan, um die 14 Schlüssel-
Vorbereitungsstand eröffnet werden. Ein prioritäten zu erfüllen, die ihm der Rat im
vorzeitiger Beitritt käme nur um den Preis Dezember 2022 auferlegt hat. Dennoch ist
vieler und langer Übergangsregelungen in die Kommission der Ansicht, dass der Kan-
Frage; möglich wären dabei sogar perma- didatenstatus für Bosnien-Herzegowina eine
nente Ausnahmen von den Pflichten und positive Dynamik ausgelöst habe und nicht
gegebenenfalls den Rechten einer Mitglied- das ganze Land in Mithaftung für die »sezes-
schaft. Die EU von heute denkt aber weni- sionistischen und autoritären Maßnahmen«
ger an das Ende des Erweiterungsprozesses in der Republika Srpska zu nehmen sei. Mit
als daran, ihn in Gang zu halten. einer aktualisierten Einschätzung will die
Kommission im März 2024 aufwarten.

Die vier Top-Empfehlungen


der Kommission Beitrittshindernisse

Vier Länder sollen im Beitrittsprozess ein Russlands Angriffskrieg gibt der Erweite-
Feld vorrücken: Moldau, die Ukraine, Geor- rung neuen Auftrieb, beseitigt aber nicht
gien und Bosnien-Herzegowina. Bei ihnen die Beitrittshindernisse, die weitgehend die-
haben die Reformauflagen von 2022 als selben sind wie vor Februar 2022. Die Kom-
Anreiz gewirkt, so die Sicht der Kommis- mission hat eingehend bewertet, wie es in
sion. Ihr zufolge hat die Ukraine vier von den sechs Westbalkan-Ländern (WB-6) und
sieben, Moldau wiederum sechs von neun in der Ukraine, Moldau und Georgien um
der geforderten Schritte erfüllt. Deshalb Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Außen-
empfiehlt die Kommission, mit diesen bei- beziehungen bestellt ist. Daraus ergibt sich

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ein Ranking, bei dem die Ukraine vor Alba- Medienfreiheit sowie den Einbezug der
nien an der Spitze steht, Serbien und Koso- Zivilgesellschaft in politische Prozesse.
vo hingegen am unteren Ende rangieren. Insofern setzt die 2020 reformierte
Erweiterungsmethode treffsicher an den
Cluster 1: »Wesentliche Elemente« neuralgischen Punkten an. Cluster 1 wird
demgemäß als Erstes eröffnet und zuletzt
Gemeinsamer Nenner aller Kommissions- geschlossen. Die Kommission zerlegt dabei
berichte ist, dass gravierende Defizite beste- Kapitel 23 und 24 in Interim-Benchmarks,
hen, die Anforderungen der EU aus Clus- also Zwischenziele oder Meilensteine. Denn
ter 1 zu erfüllen. Dieses Themenbündel um- es geht ja um tiefgreifende strukturelle Ver-
fasst »Wesentliche Elemente« (fundamen- änderungen und einen Verhaltenswandel
tals); es geht dabei um die rechtsstaatliche von Personen und Institutionen, was nur
und politische Ordnung der Länder und systematisch und nicht in kurzer Frist zu
damit um ihre Verfassungswirklichkeit. erreichen ist. Es bedarf dazu einer breiten
Cluster 1 enthält fünf Verhandlungskapitel. Unterstützung durch die politischen Partei-
Die beiden wichtigsten betreffen »Justiz en, einer professionellen Verwaltung und
und Grundrechte« (Kapitel 23) sowie »Recht, einer unabhängigen Justiz, die Normen
Freiheit und Sicherheit« (Kapitel 24). Sie durchsetzt. Wo korrupte Eliten faktisch den
haben in Grundsatz wie Detail einen engen Staat vereinnahmen, gibt es erhebliche Pro-
Bezug zu den politischen und wirtschaft- bleme bei Gewaltenteilung und Rechtsstaat-
lichen Kriterien von Kopenhagen – verlan- lichkeit. Eine scharfe innenpolitische Pola-
gen also demokratische Institutionen und risierung, wie sie die Kommission im Falle
eine funktionsfähige öffentliche Verwal- Georgiens und etwa Montenegros kritisier-
tung, Rechtsstaatlichkeit sowie eine intakte te, steht nicht nur effizienter Regierungs-
Marktwirtschaft, die dem Wettbewerbs- führung entgegen. Sie verstärkt auch in der
druck im Binnenmarkt standhält. Bevölkerung den Ansehensverlust von
Die gegenüber (potentiellen) Kandidaten Exekutive, Parlament und Parteien.
angemahnten Reformschritte und Prioritä- Die EU ist gerade seitens zivilgesellschaft-
ten liegen in diesem Feld. So betreffen etwa licher Akteure und pro-europäischer Oppo-
die 14 Schlüsselprioritäten für Bosnien-Her- sitionspolitiker dem Vorwurf ausgesetzt,
zegowina vor allem die Funktionsfähigkeit autokratische Regierungen über Gebühr
der staatlichen Institutionen, Rechtsstaat- aufgewertet und so bei Einheimischen er-
lichkeit, Korruptionsbekämpfung, Medien- heblich an Glaubwürdigkeit eingebüßt zu
freiheit und Migrationsmanagement. Bei haben. Geopolitische Erwägungen drohen
Georgien geht es um fast alles. Auf der lan- Defizite bei der Regierungsführung und den
gen Liste stehen hier die Bekämpfung von »fundamentals« auszustechen oder in den
Desinformation und ausländischer Manipu- Hintergrund zu drängen. Nur im Fall der
lation, die Sicherung eines freien, fairen Türkei hat die EU sichtbare Konsequenzen
und kompetitiven Wahlprozesses für 2024 aus einer autoritären Wende gezogen, die
und der Abschluss entsprechender Gesetzes- Verhandlungen jedoch weder formal sus-
reformen, die Minderung politischer Polari- pendiert noch gar abgebrochen, sondern
sierung und eine inklusivere Legislativarbeit nur eingefroren. Spürbare Sanktionen im
im Parlament, die Stärkung parlamentari- Sinne der Umkehrbarkeit des Verhand-
scher Kontrollrechte auch gegenüber Sicher- lungsprozesses – wie das Zurückhalten
heitsorganen, die Unabhängigkeit staatli- von Finanztransfers – hat die EU in kei-
cher Institutionen wie von Notenbank oder nem der beklagten Fälle verhängt. Das gilt
Wahlbehörden, die Implementierung der ebenso für Serbien, von dem Brüssel erwar-
Justizreform inklusive des Kampfs gegen tet, das Reform- und Anpassungstempo
Korruption, die Umsetzung des De-Oligar- generell zu verbessern, auch hinsichtlich
chisierungsprogramms, Verbesserungen des Justizwesens, der Bekämpfung von Kor-
zum Schutz von Menschenrechten und ruption, organisierter Kriminalität und

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Geldwäsche, der Achtung der Medienfrei- wie Außenpolitik weder umfassend noch
heit sowie der Strafverfolgung von Kriegs- konsistent auf eine EU-Mitgliedschaft aus.
verbrechern. Da die Regierung in Belgrad Als einziges der Westbalkan-Länder hat Ser-
die Nähe zu Moskau sucht, zieht sie mit der bien sich nicht den Brüsseler Sanktionen
EU auch nicht an einem Strang, wenn es gegen Russland angeschlossen.
darum geht, Desinformation und Informa- Die heraufziehende Blockbildung in
tionsmanipulation durch Russland oder Europa verlangt aus Sicht der EU auch von
China entgegenzuwirken. neuen Mitgliedern, dass sie die Ausgestal-
tung der Gemeinsamen Sicherheits- und
GASP und bilaterale Konflikte Verteidigungspolitik (GSVP) mittragen und
unterstützen, ebenso den beabsichtigten
Die EU folgt dem Anspruch, als geopoliti- Ausbau der Kooperation zwischen EU und
scher Akteur zu handeln und in der inter- Nato. Wie der Fall Türkei zeigt, können
nationalen Politik geschlossen aufzutreten. auch Nato-Mitglieder in strategischen Fra-
Damit geht einher, dass sie der Angleichung gen und bei Krisenreaktionen Positionen
von Beitrittskandidaten an den Acquis in einnehmen, die von denen der EU abwei-
der Gemeinsamen Außen- und Sicherheits- chen oder ihnen zuwiderlaufen. Aber die
politik (GASP) erhöhten Wert beimisst. Kongruenz von EU- und Nato-Zugehörigkeit
Denn sie erwartet von neuen wie alten Mit- wäre mehr denn je ein Beitrag zur Sicher-
gliedern, untereinander solidarisch zu sein heit und Verteidigungsfähigkeit von Mit-
(Art. 32 EUV) und die GASP im Geiste der gliedstaaten wie Außengrenzen der Union,
Loyalität zu unterstützen (Art. 24 [3] EUV). den diese allein nicht leisten kann. Alba-
Der Hauptindikator dafür ist, ob sich die nien, Montenegro und Nordmazedonien
Bewerber relevanten Positionierungen aus sind bereits im Atlantischen Bündnis. Bei
Brüssel anschließen – also den Stellung- den drei osteuropäischen Ländern, von
nahmen des Hohen Vertreters im Namen denen die Ukraine und Georgien erklärter-
der Union und den Beschlüssen des Rats, maßen in die Nato streben, liegt das Zögern
nicht zuletzt Sanktionen gegen Russland auf Seiten der Allianz und vieler ihrer euro-
betreffend. päischen Mitglieder. Die Kommission geht
Musterschüler sind hier den aktuellen mittlerweile in ihren Berichten systemati-
Kommissionsberichten zufolge Montenegro, scher auf Formen der Zusammenarbeit mit
Albanien, Nordmazedonien und Kosovo, der Nato ein, trotz möglicher Vorbehalte
die sich 2022/23 zu hundert Prozent an der paktunabhängigen EU-Länder Irland,
die GASP anglichen. Die Ukraine tat dies Österreich, Malta und Zypern.
immerhin zu 93 Prozent, Bosnien-Herzego- Die G7-Staaten werden mit Blick auf die
wina zu 98 Prozent und Moldau bei steigen- Ukraine möglicherweise schon 2024 und
der Tendenz zu 78 Prozent. Dagegen schloss noch vor den US-Präsidentschaftswahlen
sich Serbien wie auch Georgien nur etwa konkretisieren, wie und in welchem Zeit-
zur Hälfte (51 bzw. 43 Prozent) den europäi- horizont sie bilaterale oder abgestimmte
schen Standpunkten an, und bei der Türkei Sicherheitszusagen für das Land abgeben
geschah dies sogar nur zu einem Bruchteil werden. Daraus könnten sich explizite Er-
(10 Prozent). Ankara verstärkt konsequent wartungen und Forderungen an die EU
den langjährigen Trend einer Entfremdung ergeben, was einen Beitritt der Ukraine be-
und politischen Loslösung von der EU. Die trifft. Das brächte die EU schnell in Zug-
Alignment-Quote Georgiens spiegelt seine zwang. Sie sollte – vertreten durch zentrale
Balancepolitik gegenüber Russland wider. Mitglieder wie Frankreich, Deutschland,
Und Serbien pflegt seit Jahren, teils in pro- Polen und gegebenenfalls auch Italien –
vozierender Weise, parallel zu den Beitritts- versuchen, ihre Stimme, ihre Interessen
verhandlungen intensive Beziehungen zu und Sicherheitsangebote diplomatisch ein-
Russland und China. Unter Präsident Alek- zubringen. Unter den 27 wären dazu zügig
sandar Vučić richtet Belgrad seine Innen- Orientierungsgespräche zu führen, denn es

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dürften sich im Europäischen Rat zunächst Neuer Gradualismus in
heterogene Positionen abzeichnen. der Erweiterungsmethode
Die Sicherheitslage in der Ukraine kann
angesichts der umkämpften, durch Russ- In den meisten Ländern des Westbalkans ist
land besetzten und teils illegal einverleib- damit – anders als in Moldau und selbst
ten Gebiete über längere Zeit prekär blei- unter Kriegsbedingungen in der Ukraine –
ben. Georgien mit den abtrünnigen Gebie- wenig Momentum für Reformen zu erken-
ten Abchasien und Südossetien sowie Mol- nen. Dagegen entwickelt die EU ihre Erwei-
dau mit Transnistrien üben ebenfalls nicht terungsmethode inkrementell weiter. Zwar
die Kontrolle über ihr gesamtes Staatsgebiet wollte die Kommission ihre Empfehlungen
aus, mit dem sie der EU beitreten wollen. an den Rat zum Vorrücken der vier Länder
Der Verweis auf den Fall Zypern, das trotz nicht dadurch gefährden, dass sie in ihrer
der faktischen Teilung der Insel (!) aufge- Mitteilung auch gleich noch nahelegt, wie
nommen wurde, wird der sicherheitspoli- sich die Verhandlungen beschleunigen
tisch brisanten Lage der drei osteuropäi- ließen (geschehen könnte dies etwa, indem
schen Länder nicht gerecht. man die Einstimmigkeitserfordernis für
In Südosteuropa sind viele Konflikte um Zwischenschritte abschafft). Doch gibt es
Außengrenzen, Gebiete und ethnische Zu- bereits Ansatzpunkte für Neuerungen. Rich-
gehörigkeiten in und zwischen (potentiel- tungsweisend ist hier zunächst die Ein-
len) Kandidatenländern bislang nicht ausge- stiegsformel für eine gradualistische Erwei-
räumt. Notorisch sind die bilateralen Strei- terungspolitik, wie sie den Schlussfolgerun-
tigkeiten, die EU-Mitglieder mit Bewerbern gen des Europäischen Rats von Juni 2022 zu
austragen und die den Prozess blockieren. entnehmen ist. Dort ist die Rede davon, »die
Angesichts solcher Reibereien, die ein ge- schrittweise Integration zwischen der Euro-
wisses Potential für gewaltsame Eskalatio- päischen Union und der Region [dem West-
nen und Zwischenfälle besitzen, ist der balkan] bereits während des Erweiterungs-
Westbalkan noch immer eine Region der prozesses auf umkehrbare und leistungs-
Instabilität und des brüchigen Friedens. Die orientierte Weise weiter voranzubringen«.
EU – nebst Nato, den USA und den Ver- Durch solche Zwischenschritte würde ein
einten Nationen – wird dauerhaft in An- neuer Gradualismus eingeleitet, mit dem
spruch genommen, damit die Lage kontrol- Fortschritte unmittelbar belohnt würden.
lierbar bleibt, siehe die KFOR-Truppen an Im Kern geht es darum, vor dem förmlichen
der Grenze zwischen Kosovo und Serbien Beitritt eines Landes dessen politische Asso-
und die EUFOR in Bosnien-Herzegowina. ziierung und wirtschaftliche Integration
Serbien und Kosovo sehen die Verhand- möglichst weit voranzutreiben. Dafür bie-
lungen mit Brüssel bzw. die Beitrittsper- ten die vertieften Assoziierungsabkommen
spektive bisher nicht als ausreichend star- (AA/DCFTA) mit der Ukraine, Moldau und
ken Anreiz, um ihre Beziehungen konse- Georgien die weitestgehende Grundlage.
quent zu normalisieren. Sie und andere der So erwähnt etwa das Abkommen mit der
WB-6 spekulieren auf die neue geopoliti- Ukraine in Artikel 1(d) das Ziel einer abge-
sche Wachsamkeit der EU gegenüber Riva- stuften Integration in den EU-Binnenmarkt,
len auf dem Balkan – China, Russland –, ebenso die unterschiedlichen Maßnahmen
und sie erinnern daran, dass sie seit 2003 zur Rechtsübernahme, die in einigen Sek-
eine Beitrittsperspektive haben, die vor toren den Mechanismen des Europäischen
allem deshalb noch nicht umgesetzt sei, Wirtschaftsraums (EWR) ähnlich sind.
weil es der EU an politischem Willen fehle. Die Stabilisierungs- und Assoziierungs-
Die EU betont hingegen die mangelnde abkommen (SAA) mit den sechs Westbalkan-
Beitrittsreife der Länder, reagiert aber auf Ländern stammen aus den 2000er Jahren
diese recht fruchtlose Debatte mit einer und sind von engerem Zuschnitt als die
gewissen Offenheit für Innovationen in der AA/DCFTA. Insofern ist auch der neue
Erweiterungspolitik.

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Wachstumsplan für den Westbalkan mit ihre eigene Reformagenda vorlegen. Die
seinen vier Pfeilern eine sinnvolle Ergänzung. nationalen Wirtschaftsreformprogramme
Pfeiler 1: Die EU bietet an, den Binnen- (ERP) und die Fortschrittsberichte der Kom-
markt für die WB-6 selektiv und schrittwei- mission könnten dafür den Ausgangspunkt
se zu öffnen. Diese würden die Regelungen bilden. Die Kommission ist also bestrebt,
dann gleichzeitig untereinander gewähren. Finanzinstrumente und Anreize zu verzah-
Betroffen wären hier laut Vorschlag der nen, damit sich verbindlichere und ziel-
Kommission sieben Prioritäten, wobei die gerichtetere Reformen anstoßen lassen. Die
WB-6 aufgerufen sind, ihre eigenen Präfe- Mittel will sie länderweise vergeben, und
renzen zu nennen: (1) der Warenhandel zur zwar zusätzlich zu den thematisch über das
Angleichung an die horizontalen Produkt- Instrument für Heranführungshilfe bereit-
standards der EU und die verbesserte Koo- gestellten IPA-III-Mitteln. Hier dürfte aber
peration bei Zollabfertigung und Steuern; der Rat mitentscheiden wollen. Das Geld
(2) die Freizügigkeit für Arbeitnehmer (zu- soll in enger Taktung alle sechs Monate ver-
nächst nur die Anerkennung von Berufs- ausgabt werden, sofern vorab definierte
und Qualifizierungsabschlüssen betreffend) Konditionen erfüllt sind. Die Bundesregie-
und Dienstleistungen (in den Sparten Tou- rung dürfte begrüßen, dass der Wachs-
rismus und E-Commerce); (3) die Erleichte- tumsplan es ermöglicht, Synergien mit dem
rung des Straßentransports (gemeinsame von ihr angestoßenen Berliner Prozess zu
Transit-Konvention und Zugang zu Infor- schaffen, und ebenso mit der Klimapartner-
mationssystemen); (4) die Beteiligung am schaft Deutschland-Westbalkan, die von
SEPA-Zahlungsverkehr, (5) die Integration deutscher Seite bis 2030 mit 1,5 Milliarden
in den Energiemarkt (Elektrizität) und in Euro finanziert wird.
die Dekarbonisierungsstrategie für die Das Volumen des Wachstumsplans, das
Wirtschaft; (6) der digitale Binnenmarkt die Kommission in die aktuellen Beratun-
(reduzierte Roaming-Gebühren, Cyber- gen über den EU-Haushalt bis 2027 einbrin-
sicherheit-Kooperation) und (7) die Integra- gen will, reicht keinesfalls an den Umfang
tion in Lieferketten für Industrieprodukte, der Kohäsionsmittel für Mitglieder heran.
beginnend mit erneuerbaren Rohstoff- An diesen Beträgen orientieren sich die
Wertschöpfungsketten. Balkanländer aber schon jetzt, weshalb sie
Pfeiler 2: Erwartet wird so ein zusätzlicher immer unzufrieden mit den Angeboten
Anschub für die wirtschaftliche Integration sind. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf
basierend auf EU-Regeln und Standards im liegt in den WB-6 derzeit zwischen 30 und
Gemeinsamen Regionalen Markt, der 2020 50 Prozent des EU-Durchschnitts (nach
im Rahmen des Berliner Prozesses verein- Kaufkraftparität). Relative Armut und gerin-
bart wurde. Dafür gibt es bereits einen ge Wettbewerbsfähigkeit der eigenen Wirt-
Aktionsplan und mit CEFTA, dem Mittel- schaft machen es plausibel, dass die Länder
europäischen Freihandelsabkommen, eine ihre Märkte für EU-Anbieter nicht reziprok
Governance-Struktur, die man nutzen kann. öffnen wollen und darauf setzen, Anpas-
Pfeiler 3: Regierungsführung und Rechts- sungen durch größere Transferzahlungen
staatlichkeit sollen verbessert werden, nicht der EU abzufedern. Dies und die anspruchs-
zuletzt damit ein günstigeres Umfeld für vollen rechtlichen wie technischen Prob-
Wachstum und wirtschaftliche Reformen leme bei der stufenweisen Öffnung zum
entsteht. Binnenmarkt oder gar einer Teilhabe daran
Pfeiler 4: Wirtschaftliche Reformen und werden einer Integration unterhalb der Mit-
die Staatshaushalte will die EU mit zusätz- gliedschaft Grenzen setzen. Auch eine am
lich 6 Milliarden Euro (ein Drittel davon EWR orientierte Alternative müsste als
nicht rückzahlbare Zuschüsse, zwei Drittel Zwischen- oder Endstufe durch eine starke
Kredite) über vier Jahre verteilt unterstüt- Kohäsionskomponente ergänzt werden.
zen. Ähnlich wie beim Europäischen Für die politische Assoziierung erprobt
Semester für EU-Mitglieder sollen die WB-6 die EU schon seit den 1990er Jahren Betei-

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ligungsformen, die auf eine Frühsozialisie- EU-Staaten mit einem einzelnen Beitritts-
rung künftiger Mitglieder zielen, darunter kandidaten. Auch die Verhandlungen wer-
strukturierte Dialoge und erweiterte (infor- den mit gutem Grund nicht multilateral
melle) Ratssitzungen. Sehr viel weiterge- geführt. Allerdings hat die EU in der Ver-
hend wäre es, Zwischenschritte auch zu gangenheit bei größerem Antragsaufkom-
institutionalisieren – wie mit einer »Part- men mehrere Länder zum selben Zeitpunkt
nerschaft für die Erweiterung« oder einem aufgenommen, unter anderem weil es da-
»Europäischen Politik- und Wirtschafts- mit erleichtert wird, die Verträge nach
raum« vorgeschlagen wurde, beides in An- Artikel 49 EUV anzupassen und die natio-
lehnung an den EWR. Dies wäre auch ein nalen Ratifizierungsprozesse durchzufüh-
Sicherheitsnetz, sollten Beitrittsverhand- ren. Die EU kann indes auch Anreize setzen
lungen stillstehen oder gar scheitern. – wie jetzt mit dem Wachstumsplan –,
Insgesamt bleibt es dabei, dass die EU auf damit die Länder untereinander bereits
Marktzugang und Transfers als Hebel setzt, einen Kooperations- und Integrationsgrad
um dazu beizutragen, dass sich die »funda- erreichen, der ihnen erstens nützt und
mentals« und die wirtschaftliche Lage von zweitens das Risiko reduziert, dass ihre
Bewerbern verbessern. Dabei konkurrieren wechselseitigen Streitigkeiten nach einem
die WB-6 untereinander und gegenüber der Beitritt die EU belasten. Das spräche dafür,
Ukraine und Moldau um Aufmerksamkeit, beitrittsreife Länder im Zweifel zurück-
Ressourcen und politische Unterstützung, zustellen, bis etwa alle sechs Westbalkan-
was in einigen Westbalkan-Staaten konse- Länder so weit sind. Außerdem würde das
quentere Reformen anstacheln könnte. den Anpassungsdruck auf Seiten der EU
erhöhen, zumindest was die Reform ihrer
Institutionen angeht.
Verhandlungsrahmen und Reformunwillige Mitgliedstaaten hinge-
Beitrittsmanagement gen wollen genau ein solches »Big Bang«-
Szenario verhindern. Ihnen wäre es lieber,
Einstiegspunkte für eine »abgestufte Inte- über einen längeren Zeitraum hinweg klei-
gration« in die EU bieten auch die bilatera- nere Länder nacheinander aufnehmen, so
len Verhandlungsrahmen. Dort legt die EU dass der Anpassungsbedarf für die Europäi-
fest, wie sie verhandeln will, also etwa nach schen Verträge minimal wäre. Die WB-6
dem Benchmarking-System. Letzteres wol- haben zusammen nur rund 17 Millionen
len manche ganz abschaffen, andere zu- Einwohner. Die Schlüsselfrage ist in jeder
mindest nicht mehr der Einstimmigkeit Hinsicht die Aufnahme der Ukraine, wozu
unterwerfen, damit die Abläufe beschleu- die 27 allenfalls einen fragilen Konsens ge-
nigt werden. Besonders interessant ist aller- funden haben. Erst sie würde den Big Bang
dings, ob die Mitgliedstaaten Übergangs- wirklich groß machen. Kiews rascher Beitritt
regelungen nur befristet oder dauerhaft ins bis 2030 käme einer geopolitisch bedingten
Auge fassen und gegebenenfalls ganze Poli- Notaufnahme gleich, mit der die Kopen-
tikfelder – zum Beispiel die Gemeinsame hagener Kriterien und deren integrations-
Agrarpolitik – davon aussparen wollen. politische Logik übertrumpft würden. Das
Denn permanente Ausnahmen sind etwas würde dann tiefgreifendere Änderungen
anderes als unterschiedliche Geschwindig- verlangen, als sie etwa aktuell eine deutsch-
keiten wie etwa beim Beitritt zur Schengen- französische Expertengruppe vorschlägt.
oder Eurozone. Schon im Verhandlungs-
rahmen mit der Türkei hatte die EU dauer-
hafte Ausnahmen als Option genannt. Das Das größere Europa und die
wäre dann die Teilmitgliedschaft durch die Grenzen der Erweiterungspolitik
Hintertür.
Die Aufnahme in die EU beruht auf Im größeren Europa ist die Ukraine de facto
einem völkerrechtlichen Abkommen der bereits Teil der westlichen Sicherheitsord-

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nung geworden. Sie ist kein Pufferstaat nutzen, um den sicherheitspolitischen und
mehr. Zwar gibt es noch immer Grauzonen, strategischen Dialog mit Kiew substantiell
wie den Südkaukasus mit Armenien und zu führen. Es spricht einiges dafür, die
Georgien (trotz Tiflis’ Beziehungen zur Ukraine aufgrund der komplexen und un-
Nato), die Schwarzmeerregion und auch wägbaren Sicherheitslage als Sonderfall zu
Serbien. Aber diese Räume schrumpfen. sehen, sie aber voll in den Erweiterungs-
Europa ist auf dem Weg zu einer Konstella- prozess einzugliedern. Dieser wird ergänzt
tion, in der sich ein euro-atlantischer Block durch Wiederaufbauhilfe in einer beson-
im »Westen« und ein russisch-weißrussi- deren Größenordnung sowie dauerhafte
scher Block im Osten gegenüberstehen. Waffenhilfe und militärische Kooperation.
© Stiftung Wissenschaft Politisch, wirtschaftlich und sicherheitspoli- Der zweite, anders gelagerte Sonderfall
und Politik, 2023 tisch strebt die EU eine fast vollständige Ab- bleibt wohl die Türkei. Das zeigt auch der
Alle Rechte vorbehalten kopplung von Russland an, um es zu isolie- Lagebericht von Kommission und Hohem
ren und seinen Einfluss einzudämmen. Vertreter zu den bilateralen Beziehungen
Das Aktuell gibt die Auf-
Das Szenario der Blockbildung bringt die vom 29. November 2023. Ankara agiert
fassung der Autorin wieder.
Nato und die USA in eine Schlüsselposition inzwischen zu autonom und souveränis-
In der Online-Version dieser als primäre (und einzige) Garanten für harte tisch, als dass es sich auf absehbare Zeit den
Publikation sind Verweise Sicherheit. Mit ihnen muss die EU engste asymmetrischen Spielregeln von Beitritts-
auf SWP-Schriften und strategische Abstimmung finden, will sie verhandlungen unterwerfen und Mitglied
wichtige Quellen anklickbar.
in ihrer östlichen Nachbarschaft eine ord- einer Union werden wollte, die auf Teilung
SWP-Aktuells werden intern
nungspolitische Rolle spielen. Sie kann von Souveränität basiert. Insbesondere
einem Begutachtungsverfah- nicht allein auf den Erweiterungsprozess akzeptiert die Türkei nicht den Konver-
ren, einem Faktencheck und setzen, um zu Sicherheit, Prosperität und genzdruck in außen- und sicherheitspoliti-
einem Lektorat unterzogen. Demokratisierung beizutragen. Ihre außen- schen Fragen, auch was den alten Zypern-
Weitere Informationen und sicherheitspolitischen Möglichkeiten Konflikt betrifft.
zur Qualitätssicherung der
muss die EU jetzt voll ausschöpfen, ja unter Die Westbalkan-Länder profitieren von
SWP finden Sie auf der SWP-
Website unter https://www. dem Druck der neuen äußeren Bedrohun- der Dringlichkeit, mit der die EU gegen-
swp-berlin.org/ueber-uns/ gen und Anforderungen weiterentwickeln. wärtig Erweiterungsfragen behandelt. Der
qualitaetssicherung/ Nur so kann sie auf Dauer die diplomati- neue Gradualismus gibt beiden Seiten mehr
sche und militärische Unterstützung auf- Flexibilität und stellt die effektiven Fort-
SWP
rechterhalten, die sie Kiew zukommen schritte bei der Integration in den Vorder-
Stiftung Wissenschaft und
Politik
lässt. Es reicht nicht, die nationalen Vertei- grund, nicht das Ziel einer schnellen Mit-
Deutsches Institut für digungshaushalte aufzustocken. Wie der gliedschaft aus geopolitischen Gründen.
Internationale Politik und Kosovo-Krieg 1999 ein Impuls für die Euro- Die Bundesregierung sollte den Ansatz
Sicherheit päische Sicherheits- und Verteidigungs- schrittweiser Integration der WB-6 aktiv
politik (ESVP) war, so müsste heute die mitgestalten. Aber die Erweiterungspolitik
Ludwigkirchplatz 3–4
GSVP ausgebaut werden – in Bereichen darf nicht mit Aufgaben und Erwartungen
10719 Berlin
Telefon +49 30 880 07-0 wie rüstungsindustrieller Kooperation, überfrachtet werden. Sie ist kein Ersatz für
Fax +49 30 880 07-100 Beschaffungswesen, Abschreckungsfähig- Außen- und Sicherheitspolitik, insbesonde-
www.swp-berlin.org keiten und Interoperabilität. re nicht im Fall der drei osteuropäischen
swp@swp-berlin.org Die Nato hat auf dem Gipfel von Vilnius Länder. Die GASP/GSVP muss für eine sehr
im Juli 2023 den Nato-Ukraine-Rat als stra- lange Konfrontation mit Russland aufge-
ISSN (Print) 1611-6364
ISSN (Online) 2747-5018
tegisches Format ins Leben gerufen, weil es stellt werden. Motor müssten dabei die
DOI: 10.18449/2023A63 auch bei der Allianz nicht den schnellen großen Mitgliedstaaten sein, und der Weg
und direkten Weg zur Mitgliedschaft gibt. führt über die Ständige Strukturierte
Mit den AA/DCFTA hat die EU ein Rückgrat Zusammenarbeit. Darüber hinaus sollte
für die wirtschaftliche und politische Inte- Deutschland die Zusammenarbeit in der
gration der Ukraine geschaffen. Sie kann europäischen Quad, also mit Frankreich,
die institutionelle Struktur der Abkommen Polen und Großbritannien, intensivieren.

Dr. Barbara Lippert ist die Forschungsdirektorin der SWP und Mitglied der Institutsleitung.

SWP-Aktuell 63
Dezember 2023

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