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Martin Böttger

Schule der Opposition


Eine politische Autobiografie
Impressum

Autor: Martin Böttger

Fotonachweis:
S. 5/6/7/10/11/23/31/39/45/46/50/Umschlag: Privatarchiv Böttger
S. 17: Christoph Konrad
S. 18/19/20/39: Stasiunterlagenarchiv
S. 22: Antje Böttger
S. 28: Matthias Kluge
S. 40/41: Hartmut Beil
S. 47: Dr. Edmund Käbisch

Layout/Druck: Zschiesche GmbH Wilkau-Haßlau

Mai 2023

Copyright:
Diese Broschüre ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, auch die des Nach­drucks
von Aus­zügen und der fotomechanischen/digitalen Wieder­gabe, sind dem Herausgeber
vorbehalten.
Martin Böttger

Schule der Opposition


Eine politische Autobiografie
22 | VORWORT

Martin – Freund und Gefährte


Über die Abenteuer seines langen Lebens Am liebsten hätten ihn die Schergen des
könnte er mindestens tausend Seiten Systems in das tiefste Loch gesteckt und
schreiben, meine Erinnerungen an ihn für immer verschwinden lassen. Nur war
würden weit über hundert Seiten füllen. Ge­nosse Stalin, ihr aller Ahnherr, schon
Für seinen kurzen Abriss muss die Kürze lange tot.
regieren.
Damals ging so etwas noch, doch in der
Martin war für uns alle ein Unikum, DDR der achtziger Jahre wehte bereits
der in seiner Person die verschiedensten ein anderer Wind. Der ihnen freundlich
Seiten miteinander verbinden konnte. gegenübersitzende mehrfache Familien­
Ein be­ gna­deter Physiker und Tüftler, vater war ein Freund von Petra Kelly,
glaubens­fester Christ und hingebungs- die ob seiner Festsetzung sofort die
voller Familien­vater. Ihre Wohnung ganz Weltpresse alarmierte. Rücksichten wa-
nahe am alten Fried­richstadtpalast wurde ren zu nehmen und Böttger gelangte
zu einem der Hauptquartiere der späten schnell wieder in Freiheit.
DDR-Opposition.
Als ab 1986 die Initiative Frieden und
An seiner scheinbar harmlos freundlichen Men­ schenrechte durch spektakuläre
Art bissen sich die erfahrensten Bear­bei­ Aktionen von sich reden machte, war ihr
tungsspezialisten des MfS die Zähne aus. Mit­begründer Martin häufig Ideengeber,
Da stellte er sich im Herbst 1983 in aller Mitinitiator oder auch selbst dabei. Wir
Seelenruhe allein mit einer Kerze vor die beide hatten noch nach dem Kriegsrecht
sowjetische Botschaft und wurde natür- in Polen im Sommer 1983 eine illegale
lich sofort mitgenommen. Welche Aktion kurze Tour durch das Land gemacht.
sollte da wohl gestartet werden, welcher Beide wussten und spürten wir, dass
verdeckte Terrorismus bahnte sich da an? die polnische Opposition nicht zu ko-
Das musste doch herauszukriegen sein. pieren war. Wir konnten ihr aber mit
Martin gab nichts preis, weil er nichts Zeitverzögerung nacheifern und davon
preiszugeben hatte. zeug­ten unsere Aktionen.
VORWORT | 33

Aus Dutzenden Aktiver, die sich rund waren gezwungen, zeitweilig die DDR
um die Initiative scharten, wurden zu verlassen. Hier war es Martin, der uns
Hunderte und Tausende. An genau die- gegen Angriffe und Verleumdungen aus
sem Kipppunkt, im Januar 1988 schlug den eigenen Reihen verteidigte, an uns
meine Stunde. Im Zuge der Luxemburg- glaubte und uns in unserem Exil in der
Liebknecht Demonstration, nicht als Teil­- Bundesrepublik besuchte.
nehmer, sondern als Rädels­führer verhaf-
tet, fand ich mich in der Unter­suchungs- Kurz danach kam der nächste Schritt –
haft in Hohenschönhausen wieder. die Geburtsstunde des Neuen Forums.
Fest gewillt, die Haft dort auszusitzen, Und wie­der stand Martin in der ersten
wurden meine Frau Lotte und ich mit Reihe. Jetzt kümmern wir uns gemein-
der Situation unserer Kinder erpresst, sam um die Verteidigung der Ukraine.

Martin, mein Lieber, lass uns hundert Jahre alt werden


und noch einige Aben­teuer gemeinsam erleben.

Wolfgang Templin
2 4 | I N H A LT

Inhaltsverzeichnis
Vorwort 2
Kindheit 5
Musikalische Anfänge 9
Kantor im Nebenberuf 9
Studium 11
Wehrsatzdienst 14
Erlebnisse mit der Staatssicherheit in Karl-Marx-Stadt 18
Ankunft in Berlin 22
Juristische Beratung in Berlin 24
Ausreiseangebote der Stasi 25
Friedensbewegung 27
Doppeltes Gesellschaftsspiel: Bürokratopoly 32
Eine Überkreuz-Initiative 40 Jahre nach Kriegsende 37
Friedliche Revolution 40
Herbst 1989 41
Erlebnis Währungsunion 42
Politische Aktionen in der Demokratie 47
Kommunales Engagement in Zwickau 49
Und immer wieder Musik 51
Schlussbetrachtung 53
KINDHEIT | 53

Kindheit
Am 14. Mai 1947 wurde ich, Theodor
Martin Böttger, als vierter von fünf
Söhnen der Pastorsfamilie Dietrich
und Martha Böttger im Pfarrhaus in
Oberfrankenhain südlich von Leipzig
geboren. Mutter wirkte, wie damals
auf dem Lande durchaus üblich, an der
Gemeindearbeit mit. Sie hatte ursprüng-
lich Medizin studiert, diesen Beruf aber
mit der Heirat aufgegeben. Ihre medi-
zinischen Kenntnisse kamen ihr dann
in dem kleinen Dorf, das über keine
Arztpraxis verfügte, bei der Behandlung
kleinerer Unfälle und mancherlei
Krankheiten zugute.

Das Pfarrhaus in Oberfrankenhain liegt


als Teil eines Dreiseitenhofes in unmittel-
barer Nähe der alten Wehr­kirche. Sie ist
über 800 Jahre alt, das Pfarrhaus stammt meine Eltern Martha und Dietrich Böttger
jedoch aus dem 19. Jahrhundert. In dem mit mir im Juni 1947
Nach­kriegsjahr meiner Geburt und den
Folgejahren gab es besonders wenige
Lebensmittel, so dass meine Mutter oft in das erste Halbjahreszeugnis: „Martin
nicht wusste, wie sie mich ernähren sollte. war fleißig und strebsam. Er beteiligte
Demzufolge wuchs ich als ein schmäch- sich rege am Unter­richtsgeschehen. Nur
tiger Junge heran. Nichtsdestotrotz zog das Äußere seiner Ar­beiten war zu be-
mich Mutter zu Gartenarbeit heran. mängeln (Schrift).“ Tat­säch­lich machte
Auch „Kartoffeln stoppeln“ und Ähren mir Schönschreiben nie Freude und auf
lesen auf den abgeernteten Feldern wur- dem ersten Zeugnis prangte im Fach
den mir in diesen Hungerjahren vertraut. Schreiben eine 4.
Schon im ersten Schuljahr bekamen alle
1953 wurde ich in die örtliche Grund­ Kinder das blaue Pionierhalstuch. Meine
schule eingeschult. Das Lernen fiel mir Mut­ter war nicht begeistert, stellte mir
leicht. Mein netter Klassenlehrer schrieb aber frei, mich der Pionierorganisation
26 | KINDHEIT

anzuschließen. Da die Mädchen und auszuhalten, und dann hoffentlich auch


Jungen meiner Klasse ausnahmslos alle besser bestehen würde, als wenn er schon
den „Jungen Pionieren“ beitraten, tat in seiner Kindheit zu einer bestimmten
auch ich dies. Schließlich wollte ich, der Position gedrängt worden wäre.
sich nie an Raufereien beteiligte und sich
deswegen schon als Außenseiter fühlte, Auch in religiöser Hinsicht stellten mir
nicht auch noch als Verweigerer dieser meine Eltern keine Forderungen. Meine
Organisation dastehen. Mutter sagte zwar „Gott sieht alles“, ver-
band dies aber nicht mit der Drohung
Warum verhinderten meine Eltern nicht eines himmlischen Strafgerichts. Das
meinen Beitritt zu den Jungpionieren? Christentum wurde mir von meinen
Hatten sie sich nicht schon lange ge- Eltern vorgelebt und die Lehre des Jesus
gen die atheistische Beeinflussung ihrer von Nazareth fiel bei mir auf fruchtbaren
Kinder gewehrt? Ich kann sie nicht mehr Boden. Das lag sicherlich daran, dass sich
fragen, erkläre mir das aber folgenderma- seine Lehre nicht so sehr an die Starken,
ßen: Meine Eltern wollten ihre Konflikte sondern vielmehr an die Schwachen
mit dem Staat nicht auf dem Rücken ihrer wandte. Jesus predigte keinen strafenden
schwachen Kinder austragen. Vermutlich Gott wie Paulus, sondern einen gütigen
sagten sie sich, dass der Junge später ja im- Gott. Von Paulus übernahm ich den Satz
mer noch genug Gelegenheit bekommen „Meine Kraft ist in den Schwachen mäch-
würde, Konflikte mit der Staatsmacht tig“.

Kirchturm und Grundschule in Frankenhain


KINDHEIT | 73

Klar gab es auch am heimischen Küchen­ Ein kleiner Erfolg einer mutigen Mutter.
tisch politische und weltanschauliche Anders als bei den Jungpionieren fiel
Dis­kussionen, aber nicht immer im meine Entscheidung zur Jugendweihe
Beisein der Kinder. Ich erinnere mich im siebten Schuljahr aus. Mit noch drei
deutlich an eine Auseinandersetzung, die Mädchen aus meiner Klasse lehnte ich
meine Mutter zum Elternabend in der die atheistische Jugendweihe ab und be-
Schule führte. Zum nächsten Schulfest suchte den Konfirmandenunterricht.
sollte eine Gruppe von Solda­ten zur Be­ Da­mit waren wir vier eine Minderheit
lustigung der Kinder auf der Festwiese in der 36-köpfigen Klasse, hatten aber
und auch im Festumzug auftreten. Dage­ keine besonderen Schi­ kanen deswegen
gen sprach sich meine Mutter deutlich auszustehen. Das mag an der humanisti-
aus und erhielt viel Zustimmung von den schen Gesinnung unseres Klas­sen­lehrers
anwesenden Bäuerinnen. Die lokale Pres- gelegen haben. Er war es dann auch,
se veröffentlichte daraufhin einen bösen der meinen Übergang in die „Erweiterte
Artikel über meine Mutter, die ja sonst Oberschule“ befürwortete. Damit durf-
wegen ihrer Gastfreundschaft bekannt te ich ab der 9. Klasse diese gymnasiale
war, aber keine Soldaten in ihrem Dorf Einrichtung in der Kreisstadt Geithain
beherbergen wollte. Wenn ich mich recht besuchen.
erinnere, fand damals das Schulfest ohne Dort war man politisch nicht so tolerant
Beteiligung der Nationalen Volks­armee wie in der Grundschule. Direktor Paul
statt. Ham­ mer entpuppte sich als kommu-

In der „Station Junger


Naturforscher“ in Froh-
burg lernen die Kinder der
Grundschule Franken-
hain einiges über
Biologie und Gartenbau.
Wahrscheinlich 6. Schul-
jahr, 1963.
28 | KINDHEIT

nistischer Hardliner und versuchte, uns CDU. Diese Parteien waren jedoch nicht
auf Linie zu bringen. Wie alle Klassen­ eigenständig, sondern als „demokra-
kameraden trat auch ich sofort der FDJ tischer Block“ von der SED abhängig.
bei, wurde jedoch dort mit keinerlei
Funktionen betraut. Im Zeug­ nis vom Im Nachhinein bedauere ich meine
Februar 1962, ein halbes Jahr nach dem FDJ-Mitgliedschaft nicht, erhielt ich im-
Mauer­bau, liest sich das so: „Trotz man- merhin dadurch später Gelegenheit, aus
cher Vorbehalte in politisch-ideolo- dieser Organisation wieder auszutreten,
gischen Fragen diskutierte er immer mit.“ auch wenn dies mit einigen Konflikten
Nicht alle Lehrer waren SED-Mitglieder, verbunden war. Doch darüber an anderer
einige retteten sich zur LDPD und zur Stelle.
M U S I K A L I S C H E A N FÄ N G E | 93

Musikalische Anfänge
Im Wohnzimmer in Frankenhain stand Invention zu schreiben!“ Er gab mir ein
ein Klavier, das mich magisch anzog und Thema und noch ein paar Regeln mit und
auf dem ich schon als Kleinkind klim- schickte mich mit dieser Aufgabe nach
perte. Meine Mutter war die erste, die Hause.
dem Jungen die Noten beibrachte. Dann Natürlich war ich mit dieser Art Kom­
schickte sie mich zum Unterricht zu positionsunterricht völlig überfordert.
Kantor Walter Spänich, der im gleichen Die Hausaufgaben erledigte ich trotz-
Haus wohnte. Lieber als Klavier wollte dem, wenn auch mit einiger Mühe.
ich aber das Orgelspiel erlernen. Meine Irgendwann später gewann ich Lust an
Mutter: „Sobald deine Beine lang genug der Sache und schrieb mit 14 Jahren sogar
sind, dass sie von der Orgelbank bis hi- eine Fuge für Orgel. Relativ leicht fiel mir
nunter zum Pedal reichen, darfst du die Harmonielehre. Das mag daran gele-
Orgelunterricht nehmen.“ gen haben, dass Mathematik schon im-
mer zu meinen Lieblingsfächern gehörte.
Als ich 9 oder 10 Jahre alt wurde, war es Das Verhältnis von Tonika, Dominante
dann so weit. Die Eltern schickten mich und Subdominante lässt sich ja mathe-
nach Geithain zum Kantor Max Andreas. matisch fassen. Ich lernte nun, einen
Er war ein guter Pädagoge und führte Choral vierstimmig zu setzen. Zunächst
mich in die Geheimnisse der Orgel mit geschah alles auf Notenpapier und erst
ihren vielen Registern und Klangfarben Jahre später lernte ich, Choräle nach dem
ein. Die Kirche war nicht geheizt und Gesangbuch vierstimmig „spielend“ zu
wenn es im Winter zu kalt wurde, un- harmonisieren. Diese Fähigkeit kommt
terrichtete mich mein Lehrer in seinem mir heute noch beim gottesdienstlichen
Arbeitszimmer. Er führte mich sehr ein- Orgelspiel zugute.
fühlsam in die Musiktheorie ein. Ich lernte
bei ihm alles Nötige über Harmonielehre Kantor im Nebenberuf
und Kontrapunkt. Daneben gab es
Klavierunterricht. Als Vierzehnjähriger durfte ich 1961 die
„Leistungsprobe für Kirchenmusiker“
Ich erinnere mich noch, wie ich die zwei- ablegen. Sie entspricht der heutigen
stimmigen Inventionen und dreistimmigen D-Prüfung und ihr Bestehen berech-
Sinfonien von Johann Sebastian Bach tigt, zu einem geringen finanziellen
lernte. Als ich die erste Invention in Entgelt Gottesdienste musikalisch zu
C-Dur fehlerfrei spielen konnte, sagte er gestalten. Die Prüfung wurde vom dama-
mir: „Nun versuche du mal selbst, eine ligen Rochlitzer Kirchenmusikdirektor
1 0 | M U S I K A L I S C H E A N FÄ N G E

Max Mäser abgenommen und be- Szene durch seine Diplomatie mit staatli-
stand darin, den Gemeindegesang eines chen Stellen nicht unumstritten war.
Gottesdienstes auf der Orgel zu beglei- Er wurde nach der Herbstrevolution
ten, ein freies Orgel­ stück vorzutragen, und der darauf folgenden Länderbildung
einen vierstimmigen Satz mit dem Chor Minister­präsident in Brandenburg. Mein
zu üben sowie ein Kirchenlied mit der von ihm unterschriebenes Kantoren­
Kurrende einzustudieren. Das erledigte zeugnis ist bis heute gültig.
ich zur Zufriedenheit des prüfenden
Kirchenmusikers. Zu dieser Zeit hatte
ich schon in der Gemeinde meines Vaters
Erfahrungen im gottesdienstlichen Orgel­
spiel gesammelt. Für diese sonntäg­lichen
Dienste (bis zu drei an einem Tag) er-
hielt ich ein kleines Honorar, mit dem ich
meinen Orgelunterricht bezahlte. Nach
dem Tod meines Lehrers Max Andreas
(da war ich wohl 12 Jahre alt) übernahm
mich seine Tochter Gisela, eine versierte
Pianistin und Organistin, und führte den
Unterricht bis zu meinem Abitur fort.

Immer wieder baten mich Gemeinde­


pfarrer um Dienste an der Orgel. Später
in Berlin waren das ab 1977 die Golgatha-
Gemeinde und die Gemeinde Philippus-
Apostel im Stadtbezirk Mitte. Im Jahr
1986 bot das evangelische Konsistorium
Berlin-Brandenburg einen Kurs für
nebenamtliche Kirchenmusik an, der
mit der C-Prüfung abschloss. Diese
Prüfung absolvierte ich 1987 an der
Pfingstkirche in Berlin-Fried­ richshain.
Das Prüfungszeugnis, das zum neben-
amtlichen kirchenmusikalischen Dienst
berechtigt, trägt die Unterschrift des
Konsistorialpräsidenten Manfred Stolpe. An der Orgel in den 1980er Jahren in der
Es ist der Stolpe, der in der Berliner Golgathakirche Berlin
STUDIUM | 11

Studium
Schon in der 11. Klasse konnte man sich DDR durch Volksentscheid verabschie-
für ein Studium bewerben. Ich entschied den zu lassen. Dozenten für Marxismus-
mich für Physik und wurde dann auch Leninismus versuchten, uns zur Abgabe
zu einer Eignungsprüfung an die TU von JA-Stimmen zu bewegen. Ich weiß
Dresden eingeladen. Trotz „ideologischer von einigen aus meiner Gruppe, die so
Vorbehalte“ bestand ich den Test, in dem wie ich unter mehr oder weniger gro­
neben Physik auch meine gesellschafts- ßen Ängsten das Feld NEIN auf dem
wissenschaftlichen Kenntnisse geprüft Stimmzettel ankreuzten. In die Kabine
wurden. traute sich fast niemand. Später merkten
Nach dem Abitur 1965 mit einem wir, dass es für eine Neinstimme bei die-
Noten­ durchschnitt von 1,8 wurde ich sem Volksentscheid keine Konsequenzen
zum Physik­ studium in Dresden im- gab, solange dieses NEIN nicht öffentlich
matrikuliert. Mit mir studierten in drei bekundet wurde. Eigentlich hätte man
Seminargruppen 60 Studenten und eine keine Angst zu haben brauchen.
Studentin. Nicht alle schafften es bis
zum Diplom. Unter den 20 Studenten Die Seminargruppe hatte im Jahr zu-
meiner Gruppe stellten überzeugte vor schon einen kleinen politischen
SED-Genossen und -Kandidaten nur Aufruhr erlebt, der ohne unmittelbare
einen relativ geringen Anteil, in meiner Konsequenzen blieb. Was war geschehen?
Erinnerung nicht mehr als fünf. Ungleich Die FDJ führte eine Umtauschaktion
höher fiel der Anteil derer aus, die der aller Mitgliedsausweise durch. Alle 20
SED kritisch gegenüber standen, wo- Studenten waren Mitglied der FDJ.
bei die meisten ihre Kritik jedoch nicht
offen äußerten. Verstärktes Murren gab
es erst nach dem 21. August 1968, als
Truppen des Warschauer Paktes den
Prager Frühling niederwalzten. Die Un­
mutsäußerungen wurden jedoch nicht öf-
fentlich und beschränkten sich auf einen
kleinen Teil der Seminargruppe.

Schon im April dieses Jahres hatten sich


aufmüpfige Diskussionen innerhalb der
Seminargruppe ergeben, als die SED sich Prof. Horst Wenzel in der Vorlesung Mathematik
anschickte, eine neue Verfassung für die 1968
12 | STUDIUM

Wir sollten zu einem bestimmten Vorbild für „unsere Werktätigen“ zu sein


Datum unsere Mitgliedsausweise ab- hätten. Doch ein großer, mutiger Teil der
geben, um neue mit aktuellem Passfoto Seminargruppe stellte sich in der hef-
zu erhalten. Beim Empfang der neuen tigen Auseinandersetzung mit der FDJ-
Dokumente sollten wir auch folgenden Leitung hinter uns drei.
Satz unterschreiben: „Ich erkenne das Am Ende verloren Dieter, Rainer und ich
Statut der FDJ an.“ Das war für einige unsere FDJ-Mitgliedschaft, nicht aber un-
von uns Anlass, dieses Statut erst einmal sere Studienplätze. Ohne die Solidarität
zu lesen. Ich hatte, obwohl seit meinem des Großteils der Seminargruppe wären
14. Lebensjahr FDJ-Mitglied, dieses Sta­ wir drei höchstwahrscheinlich vorzeitig
tut noch nie zur Kenntnis genommen. exmatrikuliert worden.

Als sich abends einige von uns in der Erst zum Ende des Studiums, als ich
Kneipe trafen, entstand nach dem ein damals mögliches dreijähriges For­
dritten Bier der Gedanke, die Statut- schungs­ studium mit Promotion bean-
Anerkennung einfach nicht zu unter- tragte, verkündete mir mein damaliger
schreiben. Der Grund war für mich Diplom- und späterer Doktorvater Prof.
einerseits die atheistische Aus­ richtung Günther Landgraf, dass mein Antrag
der FDJ durch die Berufung auf den auf ein Forschungsstudium wegen einer
Marxismus-Leninismus. Auch las ich negativen Stellungnahme der FDJ abge-
im Statut folgenden Satz: „Die Freie lehnt sei. Ich fragte Prof. Landgraf, wieso
Deutsche Jugend erzieht die Jugend die FDJ eine Stellungnahme zu mei­nem
zur Liebe zur Arbeiterklasse und ihrer Antrag abgebe, wo ich doch gar nicht
Partei.“ Damit war die SED gemeint, die (mehr) Mitglied dieser Organisation war.
nie meine Partei war. Deshalb wollten Da­raufhin Landgraf: „Ich bin auch nicht
wir den neuen Ausweis nicht annehmen. Mit­glied der SED und trotzdem hat die
Tags darauf verkündeten Dieter, Rainer SED eine Stellungnahme zu meinem
und ich der erstaunten Se­minargruppe Antrag auf Ha­bilitation abgegeben.“ Er
diesen Entschluss. Außer bei den über- durfte mir die Stellungnahme der FDJ
zeugten SED-Anhängern fand dieses nicht aushändigen, las mir aber einen
Vorhaben unserer Dreiergruppe sehr viel Kernsatz vor: „Böttger trat aus der FDJ
Anklang beim Rest des Seminars. In ei- aus und engagiert sich anstatt dessen in
ner eilig einberufenen FDJ-Versammlung der Evangelischen Studentengemeinde.“
warf uns der Sekretär mangelnden Damit war der Fall klar. Ich durfte zwar
Klassenstand­punkt vor. Wir drei müssten mein Studium 1970 mit einem Diplom
als angehende Diplomphysiker doch wis- am Institut für Technische Mechanik bei
sen, dass wir im späteren Berufsleben Prof. Landgraf abschließen, erhielt jedoch
STUDIUM | 13

keine Erlaubnis, am selben Institut eine Jahr später die erfolgreiche Verteidigung
Dissertation anzufertigen. Die schrieb ich meiner Dissertation.
dann erst zehn Jahre später neben meiner
Arbeit an der Bauakademie in Berlin als Ich muss wohl niemandem erklären, wie
„externer Aspirant“ wieder unter der Be- froh ich war, als Günther Landgraf im
treuung von Prof. Landgraf und reichte Jahr 1990 erster demokratisch gewählter
sie 1980 bei der TU Dresden ein. Da war Rektor der TU Dresden wurde. Leider
dann wohl mein FDJ-Austritt vergessen. versäumte ich es, ihn vor seinem Tod
Oder die schützende Hand Günther 2006 zu fragen, ob er sich damals tatsäch-
Landgrafs bewirkte die Annahme und ein lich für mich eingesetzt hatte.
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Wehrersatzdienst
Ich kam durch mein Christentum zur Als 99 Prozent der wehrpflichtigen jungen
Verweigerung des Waffendienstes, denn Männer in der DDR ihren „Ehrendienst
für mich galt das 5. Gebot: Du sollst nicht in der Nationalen Volksarmee“ leisteten,
töten! Zur Musterung mit 18 Jahren diente ich ohne Waffe als Bausoldat in
sagte ich das noch nicht und durfte da- Groß Mohrdorf bei Stralsund. Ich nahm
rauf fünf Jahre lang studieren. Erst wäh- eine rechtliche Möglichkeit wahr, die im
rend dieser Zeit, vor allem durch die Prinzip seit 1964 jedem jungen Mann
Evangelische Studentengemeinde, reifte offen stand, jedoch aus Unkenntnis – in
in mir der Wunsch, mich zu dem seit einigen Fällen wohl auch aus Angst – nur
1964 möglichen waffenlosen Dienst bei von wenigen genutzt wurde.
den Bausoldaten zu melden.
Für mich wurde die Bausoldatenzeit zu ei-
Das tat ich dann mit 23 Jahren im Jahr ner bedeutenden Etappe. Wer sich zu den
1970, als ich bereits das Diplom si- Bausoldaten mustern ließ, meldete sich so-
cher hatte, und meldete das bei der zusagen an einer Schule an. Keine Schule
Einberufungsüberprüfung auf dem für Theoretiker in Militär-, Gesellschafts-
Wehr­kreiskommando Dresden an. Das oder Politikwissenschaften. Sondern eine
ging relativ unkompliziert vonstatten – Schule der praktischen Erfahrung. Eine
ich musste keine lange Begründung abge­ Schule für das Handwerk der Opposition.
ben. Meine Eltern unterstützten erwar- Mit der Einberufung zur Baueinheit wur-
tungsgemäß meine Entscheidung. Vater de der junge Mann kein Student, sondern
Dietrich, Jahrgang 1900, war während Lehrling. Zwar lernte er, wenn er Glück
seiner gesamten Dienstzeit als Pfarrer hatte, in seiner Einheit so manchen
Gemeindeseelsorger in dem kleinen Theoretiker kennen und erfuhr viel über
Bauern­ dorf Frankenhain in Sachsen Mechanismen einer autoritären Diktatur.
gewesen. Während der Hitlerdiktatur Die Herrschaftsmechanismen bekam er
gehörte er der Bekennenden Kirche an. aber zuerst, und viel eindrücklicher als es
Sein Bruder, ebenfalls Pfarrer, hielt sich jeder Theoretiker vermocht hätte, ganz
dagegen zu den Deutschen Christen, die praktisch und elementar vorgeführt. Er
keine Probleme mit der Rassenideologie hatte den Widerstand gegen Herrschaft
der Nazis hatten. Da­durch ging ein Riss im täglichen Überlebenskampf seiner
mitten durch diese Fa­milie. Vielleicht er- Individualität selbst zu entwickeln.
hielt ich schon durch meinen Vater eine In unserer knappen Freizeit lernten
Prägung, nicht auf staatliche Ideologie wir Bausoldaten in der DDR verbote­
hereinzufallen. ne Literatur kennen. Besonders gefähr­
W E H R E R S AT Z D I E N S T | 15

lich war der Besitz von „1984“ von fünf Zehn-Mann-Baracken der Baustelle
George Orwell. Unter großen Vorsichts­ Groß Mohrdorf einen Menschen, mit
maßnahmen gelang es mir, dieses Buch dem ich über alles reden konnte. Bald
von einem Freund zu borgen und in einem trafen sich Christoph, Konrad, Michael,
Ritt durchzulesen. Auch ich gab Bücher Wolfgang und ich ganz heimlich irgend-
weiter, zum Beispiel das mir von einer wo im Gelände und verabredeten regel-
Westverwandtschaft geschenkte Buch mäßige Beratungen über alles, was sich
„Freiheit“ von Martin Luther King. Es um uns zutrug. Wir wollten nicht von
handelt vom Busstreik in Montgomery im Offizieren bemerkt, aber auch nicht von
Jahr 1955. Die Gedanken des Trainings den Stasi-Spitzeln unter uns verraten
der Gewaltfreiheit ermunterten uns im- werden. So trafen wir fünf uns unbe-
mer wieder zu fruchtbaren Gesprächen. merkt, mal in einem Bauwagen, mal in
Ein kultureller Höhepunkt war die sze- einem Zelt, mal in einem der Bunker,
nische Lesung des Dramas „Draußen vor die wir gerade bauten. Wir redeten über
der Tür“ von Wolfgang Borchert, in dem die Schikanen der letzten Woche, über
ich die Hauptrolle sprechen und singen die Möglichkeit, die Arbeitsleistungen
durfte. Erstaunlich, dass die Vorgesetzten noch weiter herunterzuschrauben, über
keine Einwände gegen die Aufführung drohende Bestrafungen, aber auch über
dieses Anti-Kriegs-Dramas erhoben. die Gefahr der Korrumpierung einzelner
durch Belobigungen wegen ihrer guten
Aber ich habe meine Bausoldatenzeit vor Arbeit. Sogar über Sabotageaktionen
allem als Schule praktischer Opposition dachten wir nach.
gegen Befehlsgewalt erlebt. Darum habe Hatte dies Konsequenzen? Zuerst wohl
ich damals, 1970 bis 1972, nicht gelernt, nur für uns, indem wir glaubten, eine
wie man politische Essays schreibt, son- widerständige Zelle aufgebaut zu haben.
dern wie man sich unerlaubt von der Wenn wir zurück in unsere Baracken
Truppe entfernt. Ich lernte nicht, Reden kamen, merkte keiner etwas. Keiner sah
zu halten, dafür aber die Vorgesetzten uns unseren Mut an. Nur einmal, als wir
auszutricksen. Auch viele meiner Freunde gemeinsam an dem einzigen Pfarrer un-
in der Baukompanie beherrschten weni- ter uns, dem allseits beliebten Siegfried
ger die Schreibkunst, als das Übersteigen Neher, vorbeikamen, lästerte dieser, nur
von Zäunen. Sie hatten Hände, die zu ge- für uns hörbar: „Aha, man konspiriert
brauchen weniger Intellekt, als viel mehr wohl wieder.“
Mut erforderte.
War es eine mutige Tat, eine konspira- Lange beschäftigte uns Helmut, ein für
tive Gruppe zu gründen? Irgendwann im uns undurchsichtiger Bausoldat. Mal
Jahre 1971 suchte ich mir aus jeder der belehrte er uns, dass man im Falle des
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Aufstandes zuerst die Energiezentralen beim Weggehen sagen: „Er hätte zehn
abschalten müsse. Ein andermal be- Jahre bekommen sollen.“
hauptete er, schon für die Stasi gearbeitet Ich weiß bis heute nicht, was Helmut
zu haben. Mal begehrte er auf, ein ander- getan hatte und was aus ihm wurde.
mal duckte er sich ab. Nie wussten wir, ob Vermutlich wurde er irgendwann frei-
er eine Strategie hatte und ob wir even- gekauft und einmal hörte ich bei einem
tuell gemeinsame Sache mit ihm machen Ehemaligen-Treffen gerüchteweise, dass
könnten. er in München lebe. Noch oft träumte ich
von ihm.
Dann trat er plötzlich und für uns un-
erwartet zu den Soldaten über. Seine Wegen meiner Entscheidung zum Wehr­
offizielle Begründung: die für ihn über­ ersatzdienst war dann nach meiner
zeugenden Gespräche mit dem Polit­ Dienstzeit als Bausoldat ganz klar mei-
offizier. Inoffiziell uns gegenüber: Wir ne Karriere zu Ende. Ich durfte zwar als
Bausoldaten seien doch allesamt Fla­ einfacher wissenschaftlicher Mitarbeiter
schen und zu keinen wirklichen Ak­ im Bereich Datenverarbeitung, und zwar
tio­nen fähig. Wie auch immer: Es gab im Kombinat Robotron Karl-Marx-
eine feierliche Vereidigung durch den Stadt arbeiten, hatte jedoch keinerlei
Bataillonskommandeur, Lob mit Beförde- Aufstiegschancen. Selbst Gruppenleiter
rungsaussicht für den Politoffizier und durfte ich nicht werden oder eine ver-
einen Feiertag für die Stubengenossen gleichbare Funktion einnehmen.
des neuen Soldaten. Diese erzählten uns
aber später, dass Helmut sich manchmal Unmittelbar nach ihrer Entlassung
merkwürdig verhielt. Er schmiss sich leistete eine Gruppe ehemaliger
aufs Bett, lachte und weinte gleichzeitig, Bausoldaten, zu denen ich gehörte, ei-
war öfters nicht ansprechbar. Wir fünf nen Arbeitseinsatz im zivilen Bereich,
beschlossen darauf, Näheres in Erfahrung um ihre Bereitschaft zu einem ech-
zu bringen. Es sollte uns nicht gelingen, ten Zivildienst zu demonstrieren.
denn bald verschwand Helmut spurlos. Das fand im Klärwerk Münchehofe bei
Berlin statt. Nach dem zweiwöchigen
Nach etwa drei Monaten verkünde- Arbeitseinsatz schickten wir einen Brief
te der Politoffizier beim Appell: „Der an Erich Honecker, in dem wir um die
ehemalige Soldat Helmut Sch. wurde Einführung eines zivilen Ersatzdienstes
wegen staatsfeindlicher Hetze durch in der DDR baten. Auf diese Eingabe er-
das Bezirksgericht Halle zu vier Jahren hielten wir jedoch keine Antwort. Auch
Zuchthaus verurteilt.“ In dem allgemei- eine Erinnerung von mir persönlich an
nen Erschrecken hörten wir den Offizier Honecker fruchtete nicht.
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Trotz der Karriereverweigerung (oder Auf einem im September 2004 veranstal-


vielleicht gerade deswegen?) blicke ich teten Bausoldaten-Kongress in Potsdam
positiv auf meine Bausoldaten-Zeit zu- traf ich auf Menschen, die ganz ähnlich
rück. Natürlich gab es Schikanen. Auf wie ich durch ihre „Spaten-Zeit“ entschei-
der anderen Seite lernte ich zahlreiche dend geprägt wurden, wie zum Beispiel
wertvolle Menschen ken­nen, die mir in- Rainer Eppelmann, den Vorsitzenden
teressante Anregungen gaben. Deswegen der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der
spreche ich von dieser Zeit als meiner SED-Diktatur.
„Schule der Opposition“.

Arbeitseinsatz ehemaliger Bausoldaten unmittelbar nach ihrer Dienstzeit („19. Monat“) im Klärwerk
Dahlwitz-Hoppegarten bei Berlin
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Erlebnisse mit der Staatssicherheit in Karl-Marx-Stadt


Nach meiner Bausoldatenzeit begann
ich 1972 meine berufliche Tätigkeit als
Programmierer in Karl-Marx-Stadt. Ich
merkte, dass unangepasstes Verhalten
in der DDR Tribut kostete. Meine
Neinstimme zur Volkskammerwahl und
meine Nichtteilnahme an der jährlichen
Maidemonstration kosteten mich noch
nichts.

Anders wurde es, als ich auf die Idee Ich reihe mich zur offiziellen Maikundgebung
kam, mich zur Mai-Demonstration mit mit einem selbst gefertigten Schild in den De­
einem selbst gemalten Plakat zu beteili- monstrationszug ein.
gen. Ich hatte auf dem Weihnachtsmarkt
1974 in Karl-Marx-Stadt einen jungen
Mann gesehen, der ein Pappschild mit schlossen war, es zu wagen, rechnete ich
folgender Aufschrift trug: „Wo bleiben mit Reaktionen der Sicherheitskräfte.
die Menschenrechte der UNO?“ Es dau- Deshalb plante ich meine Demonstration
erte nicht lange, bis er von zwei Polizisten für die Menschenrechte als Einzelaktion.
abgeführt wurde. Ich fragte mich, was Ich weihte niemanden ein, um das Risiko
passieren würde, wenn jemand nicht auf gering zu halten. Denn ich wusste damals
dem Weihnachtsmarkt, sondern auf ei- schon, dass die Strafe härter ausfallen
ner öffentlichen Kundgebung derartig würde, wenn die Tat in einer Gruppe
de­monstrieren würde. Diese Gedanken geplant worden wäre. Als Losung wähl-
hatte ich Anfang 1975, knapp drei Jahre te ich einen positiven Spruch: „Für die
nach meiner Bausoldatenzeit. Sie bedeu- Verwirklichung der Men­ schenrechte!“
teten für mich den Übergang von der pas- Diesen malte ich auf ein großes Hart­
siven zur aktiven Opposition. faserschild, das ich zunächst auf der
Schulter trug und erst, nachdem ich mich
Ich musste all meinen Mut und Gott­ auf der Bahnhofstraße in den Zug einge-
vertrauen, alles was ich in den anderthalb reiht hatte, hochhielt.
Jahren Bausoldatenzeit gelernt hatte, auf- Überraschenderweise geschah an diesem
bieten, um mich zu meiner Aktion am 1. Mai 1975 nichts. Ungehindert konnte
1. Mai, dem „Kampftag der Werktätigen“ ich mit dem Plakat, das unübersehbar die
durchzuringen. Als ich endlich ent- Verwirklichung der Menschenrechte for-
E R L E B N I S S E M I T D E R S TA AT S S I C H E R H E I T | 19

derte, im Zug mitmarschieren, auch am verwaltung Karl-Marx-Stadt des Ministe­


„Karl-Marx-Schädel“ und an der Tribüne riums für Staatssicherheit, mit dem ich
vorbei. Volkspolizei und Staatssicherheit bis zu diesem Zeitpunkt wissentlich noch
müssen völlig unvorbereitet gewesen nicht zu tun hatte. Unwissentlich hatte
sein, denn es gelang ihnen offenbar nicht, ich durchaus schon seit geraumer Zeit
mich rechtzeitig aus dem Marschzug he- mit den Männern dieser Behörde zu tun,
rauszuholen. Als sich der Zug auflöste, denn deren Spitzel tummelten sich, wie
stellte ich das Plakat unauffällig an einer ich später in den Akten nachlesen konn-
Hauswand ab. te, auch in den kirchlichen Kreisen, in
denen ich verkehrte, beispielsweise in der
Erst im nächsten Jahr, am 1. Mai 1976, Evangelischen Studentengemeinde, im
wa­ren die Sicherheitskräfte vorbereitet. Jugendpfarramt und in der Bonhoeffer-
Krimi­nalisten hatten inzwischen meine Gemeinde.
„Täter­schaft“ anhand von Fotos ermittelt
und nun war es der Staatssicherheit mit
ihrem riesigen Überwachungsapparat ein
Leichtes, mich abzufangen, bevor ich den
Demonstrationszug erreichte. In mei-
ner Stasi-Akte, die den bezeichnenden
Titel „Ope­rativer Vorgang Spaten“ trägt,
ist nachzulesen, dass mich die Herren
von der Abteilung VIII bereits recht-
zeitig vor dem Haus Ehr­lichstraße 20,
in dem ich damals wohnte, erwarteten.
Auf meinem Schild stand diesmal das
Wort ABRÜSTUNG, umrahmt von
Symbolen der Friedensbewegung.
Nur einige hundert Meter, nachdem
ich das Haus verlassen hatte und, das
Plakat auf dem Rücken, zur Haltestelle
der Straßenbahn strebte, kam mir
ein Auto vom Typ Wartburg entge-
gen. Drei Herren stellten sich mir als
Ministerium für Staatssicherheit vor,
verfrachteten mich samt Plakat ins Ich verlasse mein damaliges Wohnhaus mit dem
Auto und fuhren mich auf den Kaßberg. Abrüstungsschild auf dem Rücken, um mich ins
Dort befand sich damals die Bezirks­ Stadtzentrum von K.-M.-Stadt zu begeben.
20 | E R L E B N I S S E M I T D E R S TA AT S S I C H E R H E I T

Die Herren, die mich dann vernahmen,


zeigten sich entsprechend informiert, was
mich anfangs mächtig beeindruckte.
Die Vernehmungszimmer befanden sich
damals in einem unauffälligen Gebäude
an der Henriettenstraße. Das Verhör –
im Stasi-Deutsch „Befragung“ – dauerte
laut Protokoll sechs Stunden und ende-
te mit Beleh­rungen und Drohungen. Ich
verließ das Gebäude mit weichen Knien
und mit der Ungewissheit, wem meiner
Freunde ich nun noch trauen könnte und
ob ich überhaupt meine Erlebnisse bei
Die Stasi fotografiert mein konfisziertes Plakat
der Stasi irgendjemandem mitteilen kön-
für meine Akte.
ne. Wiederum brauchte ich eine ganze
Zeit, um mit dieser Erfahrung umgehen
zu können und mich Gleichgesinnten zu ich in meiner Zeit als Bürgerrechtler in
öffnen. Ich lernte, über welche Druck­ der DDR falsch gemacht habe. Zum
mittel eine Geheimpolizei im Vergleich Beispiel habe ich bei meinen ersten
zur normalen Polizei verfügt. Sie hatte Befragungen durch das Ministerium
die Möglichkeit, Verdächtige konspirativ für Staatssicherheit am 1. Mai 1976
zu verhaften, so dass kein Angehöriger auf dem Kaßberg im Anschluss an
des Beschuldigten davon erfuhr. meine versuchte Demonstration für
Die Staatssicherheit betrachtete mich von Abrüstung viel zu viele Fragen beant-
dieser Zeit an, wie ich später in den Akten wortet. Leider beantwortete ich auch
nachlesen konnte, als „Demonstrativtäter“. Fragen nach Bausoldaten, mit denen ich
Wenn ich die Protokolle, Berichte und in Verbindung stand, nannte Namen:
Maß­ nahmepläne heute lese, frage ich ein unverzeihlicher Fehler. Bei einer
mich, wer damals mehr Angst hatte: ich Vernehmung oder Befragung – das
vor der Staatssicherheit oder die Staats­ lernte ich erst später – sollte man niemals
sicherheit vor mir. Namen nen­nen. Ich lernte dann auch,
dass die Straf­prozessordnung der DDR
Falls die Staatssicherheit Angst vor mir den Beschuldigten in der Vernehmung
hatte – und einige Aktenstellen deu- außer zu seinen eigenen persön-
ten darauf hin – heißt das noch lange lichen Daten – Name, Geburtsdatum,
nicht, dass ich damals keine Fehler ge- Wohnung – nicht zu irgendeiner Aussage
macht hätte. Es gibt wohl einiges, was verpflichtet.
E R L E B N I S S E M I T D E R S TA AT S S I C H E R H E I T | 21

Dadurch wurde es mir möglich, mich rum ich Ihnen das nicht sage.“
bei späteren Vernehmungen anders zu An dieser Stelle gab der Vernehmer meist
verhalten. Ich lernte aus meinen Fehlern. auf und wechselte das Thema.
So kam es dann zu Dialogen wie dem fol- Wieder in Freiheit, berichtete ich dann
genden aus dem Jahre 1983 in Berlin: meinen Freunden von den Erfahrungen
Vernehmer: „Von wem erfuhren Sie, dass bei diesen Befragungen. Daraus entwi-
am 1. September eine Menschenkette ckelten sich regelrechte juristische Bera­
von der amerikanischen zur sowjetischen tungen für Menschen, denen Zufüh­
Botschaft gebildet werden sollte?“ rungen und Verhaftungen drohten. Dabei
Böttger: „Das sage ich Ihnen nicht.“ erfuhr ich: Wer andere richtig beraten
Vernehmer: „Warum sagen Sie das nicht?“ will, muss die Erfahrung selbst gemacht
Böttger: „Ich sage Ihnen auch nicht, wa- haben.
22 | ANKUNFT IN BERLIN

Ankunft in Berlin
Im Jahr 1976 ergab sich für mich, der
sich auf seiner Arbeitsstelle beim VEB
Robotron in Karl-Marx-Stadt zuneh-
mend langweilte, eine Gelegenheit, nach
Berlin zu wechseln. Ein Freund hatte als
Mathematiker am Haus der Gesundheit
in Berlin seine Stelle als Statistiker ge-
kündigt und empfahl mir, mich auf die-
se Stelle zu bewerben. Ich sagte mir: Teilnahme an der Maidemonstration 1980
Statistik müsste ich als Physiker mit so- in Berlin, Karl-Marx-Allee
lider mathematischer Ausbildung doch
auch können, und bewarb mich. Die
Abteilung Psychotherapie nahm mei- Also machte ich mich auf die Suche nach
ne Bewerbung an und so konnte ich in einer neuen Arbeitsstelle und fand sie
die Hauptstadt umziehen. Die Arbeit auch bald im Versorgungskontor Leder.
bestand im Wesentlichen aus der sta- Dort durfte ich einen Kleinrechner pro-
tistischen Auswertung psychotherapeu- grammieren. Auch der Großhandel in
tischer Gesprächsgruppen. Auch psycho- der DDR inklusive Lagerhaltung war
logische Fragebögen galt es auszuwerten. durchaus interessant, aber befriedigte
Also eine durchaus interessante Sache. mich ebenfalls nicht auf Dauer. Nach
Bald stellte sich jedoch heraus, dass ich zwei Jahren, im Sommer 1979, erhielt ich
mit den Psychologinnen und Psychologen eine wirklich interessante Arbeitsstelle
immer weniger klar kam – oder sie nicht an der Bauakademie Berlin im Institut
mit mir. Einerseits erlebte ich sie als für Projektierung und Standardisierung.
Freudianer, obwohl Sigmund Freud in Dort ging es um statische Berechnungen
der DDR verpönt war. Andererseits be- an mehrgeschossigen Bauwerken. Zur
merkte ich bei den meisten von ihnen Verfügung stand ein Großrechner der
ein sehr angepasstes Verhalten gegen- Reihe ESER, an dem ich schon in Karl-
über staatlichen Erwartungen. Deshalb Marx-Stadt gearbeitet hatte. Ich muss-
schloss ich mit meiner Arbeitgeberin te nur eine neue Programmiersprache
nach bereits acht Monaten einen lernen, in diesem Falle PL/1. Der größ-
Aufhebungsvertrag, obwohl ich noch kein te Vorteil für mich: Ich konnte meine
neues Arbeitsverhältnis in Aussicht hatte. abgebrochene Dissertation an der TU
Viele meiner Bekannten wunderten sich Dresden bei Prof. Landgraf fortsetzen.
darüber. Im Jahr 1980 reichte ich sie in Dresden
ANKUNFT IN BERLIN | 23

als externer Aspirant ein und verteidigte Das Plakat wurde konfisziert und ich ei-
sie im Jahr 1982 erfolgreich. Sie wurde ner Befragung unterzogen. Der Offizier
mit „magna cum laude“ bewertet. wollte wissen, warum ich schon wieder
eigen­mächtig mit einem Plakat unter-
Politisch hatte ich mich an diesen wegs war, obwohl ich doch schon vier
Arbeits­stellen relativ ruhig verhalten, Jahre zuvor in Karl-Marx-Stadt deswe-
aber zum 1. Mai 1980 erwachte wieder gen verwarnt worden war. Damals hatte
mein Demon­strationstrieb. Ich bereite- die Stasi meine Aktion als Provokation
te ein Plakat vor mit einem Stahlhelm, gewertet. Meine Antwort laut Protokoll:
aus dem eine Blume wächst. Zu diesem „Ich war bereits 1976 der Auffassung,
Motiv hatte mich das Friedensseminar in dass mein Auftreten mit einem selbst
Königswalde bei Werdau inspiriert. Meine gefertigten Plakat mit einem derartigen
Ehefrau war eingeweiht und begleitete Inhalt keine Provokation darstellt. Auch
mich bis zur Karl-Marx-Allee. Versteckt sehe ich in meinem heutigen Auftreten
hinter dem Kinderwagen, in dem unser keine Provokation. Die Meinung der
erster Sohn Daniel saß, fotografierte sie Angehörigen der Sicherheitsorgane, die
mich. Bald wurde ich von einem Polizisten mir 1976 mitteilten, dass ich derartige
abgeführt und zum Verhör in die Stasi- Handlungen in der Folgezeit unterlassen
Zentrale gebracht. soll, ist für mich nicht maßgeblich, weil
meine diesbezügliche Handlung keine
Straftatbestände verletzt.“

Nach der mehrstündigen Befragung


fühlte ich mich zwar gestresst und wohl
auch ein bisschen verängstigt, hatte aber
das gute Gefühl, wieder einmal mit dem
Schrecken davon gekommen zu sein.
Wieder hatte ich etwas gelernt und meine
Widerständigkeit trainiert. Von Berliner
Freunden erfuhr ich, dass eine Verhaftung
am frühen Morgen sehr unangenehm
sein kann, wenn man unvorbereitet aus
dem Bett geholt wird. Da war es für
mich schon besser, wenn ich wenigstens
Prof. Günther Landgraf, TU Dresden, gratuliert den Zeitpunkt meiner Verhaftungen ei-
mir zur erfolgreichen Verteidigung meiner nigermaßen selbst bestimmen konnte.
Dissertation 1982
24 | ANKUNFT IN BERLIN

Juristische Beratung in Berlin „Protest gegen Verhaftungen“ zu nennen.


Das Wort Protest war selbst nicht verbo-
Am 25. November 1987 stürmte die ten, so wie vielleicht Rücktrittsforderung
Staats­sicherheit den Keller des Ge­mein­ oder Umsturzaufrufe. Immerhin gab
de­hauses der Zionskirche in Berlin. Sie es das Wort „Protest“ in der Straf­
nahm vier junge Menschen fest, die gera- prozessordnung der DDR als ein Mittel
de dabei waren, die Unter­grundzeitschrift des Staatsanwaltes gegen ein aus seiner
„Umweltblätter“ zu drucken. Sie wurden Sicht zu mildes Urteil. Wir einigten uns
„auf frischer Tat“ er­ tappt, staatsfeind- also schnell auf diese Sprachregelung
liches Ma­ terial zu vervielfältigen. Im und begannen abends 11 Uhr mit der
Stasi-Jargon hieß diese Aktion „Falle“ und Mahnwache.
sollte dazu dienen, staatsgefährdende Kaum hatten wir uns vor die Kirche
Umtriebe zu bekämpfen. gestellt, kam ein Polizist auf uns zu
und sagte: „Diese Protestaktion ist il-
In Windeseile sprach sich diese Aktion legal. Entfernen Sie sich sofort!“. Ich
in der oppositionellen Szene in Ostberlin fragte mich, wieso der Polizist das Wort
herum. Wir versammelten uns am Folge­ „Protest“ verwendete, obwohl es nicht
tag in der Zionskirche und berieten, auf unseren Plakaten stand. Das musste
was zu tun sei. Einige Jugendliche hat- ihm ein Spitzel, der zu unserer vorher-
ten bereits auf dem Kirchendach einen gehenden Beratung anwesend war, ge-
Spruch auf einer großen Stoffbahn an- steckt haben. Als wir der Polizei nicht
gebracht, die weithin den Protest gegen Folge leisteten, verfrachtete sie uns un-
die Verhaftungen zum Ausdruck brach­te. ter Anwendung leichter Gewalt in einen
Mit einer Feuerwehrleiter nahmen Poli­ bereit stehenden LKW. Noch auf der
zisten diese Stoffbahn sehr schnell wieder Ladefläche ergriff ich die Gelegenheit,
ab. meine juristische Beratung fortzusetzen
und die Verhafteten zu ermutigen. Ich
Am Abend des 28. November trafen sagte, dass man bei einem Verhör durch
sich die jugendlichen Unterstützerinnen Polizei oder Staatssicherheit zwar ei-
und Unterstützer der Umweltbibliothek genen Namen und Adresse sagen müs-
im Gemeindesaal der Zionskirche. Wir se, nicht aber die Namen von Freunden
beschlossen, eine Mahnwache vor der und Bekannten. Das Verschweigen
Kirche zu installieren. Dabei entstand die der Namen von „Mittätern“ sei nicht
Frage, was wir der Polizei sagen würden, strafbar. Ich empfahl, bei der Sprach­
warum wir hier stünden. Sollten wir ein- regelung „Protest“ zu bleiben, weil
fach nur stummen Protest demonstrieren? dieses Mittel auch nach DDR-Recht
Ich schlug vor, diese Aktion einfach nur nicht strafbar sei.
ANKUNFT IN BERLIN | 25

Auf dem gleichen LKW befand sich Ausreiseangebote der Stasi


auch die engagierte Mitarbeiterin der
städtischen kirchlichen Jugendarbeit Am 10. Dezember 1987, dem Tag der
Marianne Birthler. Wir kannten uns Menschenrechte, begaben sich Werner
schon flüchtig durch die„Initiative Frieden Fischer, Peter Grimm, Ralf Hirsch, Gerd
und Menschenrechte“. Nachdem die etwa und Ulrike Poppe, Sinico Schönfeld,
30 Protestierenden im Polizeipräsidium Wolfgang Templin und ich auf den Weg
Keibelstraße abgeladen und in eine Art zum DDR-Komitee für Menschenrechte.
Klassenzimmer geführt wurden, mussten Wir wollten am Sitz dieser Alibi-
wir sehr lange auf unsere Vernehmungen Institution eine Erklärung darüber ab-
warten. Etliche Jugendliche machten es geben, was wir unter der Wahrung der
sich auf Stühlen und auf dem Fußboden Menschenrechte verstehen. Dazu trafen
bequem. Marianne und ich beneideten wir uns ganz in der Nähe des unschein-
diese jungen Leute um ihre Fähigkeit, in baren Gebäudes an der Otto-Grotewohl-
fast jeder Lage schlafen zu können. Straße, Ecke Behrenstraße. Die Staats­
sicherheit war über die geplante Aktion
Irgendwann nach ermüdenden Einzel­ bereits informiert, wahrscheinlich durch
verhören wurde die gesamte Gruppe ihren Spitzel Sinico Schönfeld, und er-
am nächsten Vormittag auf freien Fuß wartete uns dort. Man lud uns auf ei-
gesetzt. Alle begaben sich wieder zur nen LKW. Ulrike Poppe konnte den
Zionskirche und stellten erfreut fest, Stasileuten klar machen, dass ihre Kinder
dass die Mahnwache weiterging. Sie hat- unbeaufsichtigt blieben, wenn sie nicht
te sich nur vom Vorplatz der Kirche in sofort in ihre Wohnung zurückkehren
deren Eingangsbereich zurückgezogen. könnte. Daraufhin durfte sie den LKW
Nach nur wenigen Tagen wurden die vier verlassen. Wir sieben anderen wurden
Aktivisten der Umweltbibliothek entlas- in einen Zuführungsstützpunkt der
sen, wobei der Vorwurf der staatsfeind- Volkspolizei nach Rummelsburg ge-
lichen Tätigkeit zunächst aufrechterhal- fahren. Jeder von uns erhielt einen Platz
ten wurde. Trotzdem feierte die opposi- in einem käfigartigen Raum im Keller.
tionelle Szene in Ostberlin diese Aktion, Dann wurden wir einzeln zu stunden-
die wenig später als „Schlacht um Zion“ langen Befragungen geholt. Die befra-
in die Untergrundliteratur einging, als ih- genden Stasi-Offiziere wollten vor allem
ren Sieg. wissen, wer die westlichen Medien über
unsere Aktion informiert hatte. Ich
gewann den Eindruck, dass die Stasi
nichts so sehr fürchtete wie die west-
deutsche Öffentlichkeit. Bei mir fand sie
26 | ANKUNFT IN BERLIN

Visitenkarten von Hartmut Jennerjahn Rummels­burg entlassen. Ganz am En­de


(dpa) und Hans-Jürgen Börner (ARD). kam ein erkennbar höherer Stasi-Offizier
Ich wusste bereits, dass Kontakte zu auf mich zu und unterbreitete mir fol-
westlichen Journalisten nicht strafbar gendes Angebot: „Hinsichtlich Ihrer Per­
waren, und konnte entsprechende Fragen son bestehen keine Hindernisse, Ihren
gelassen beantworten. ständigen Wohnsitz ab sofort bei denje-
nigen Personen zu nehmen, die Ihnen für
In der Stasi-Akte heißt es dazu laut Ihre gesetzwidrigen Aktivitäten die ent-
Befra­
gungsprotokoll: „Haben Sie die sprechende Inspiration, Anleitung und
Absicht, zu den Korrespondenten Unterstützung geben.“
JENNERJAHN und BÖRNER Kontakt Dieses Angebot – man könnte es auch
aufzunehmen? Antwort: Bis jetzt habe ich Aus­reiseantrag nennen – erhielten alle
nicht diese Absicht. Aber wer weiß, wenn ich zugeführ­ten Personen. Niemand ging da-
eventuell mal schlecht behandelt werde. Aber rauf ein.
dazu habe ich bis jetzt keinen Grund, mich Als ich nun endlich nach der zweitägigen
über meine Behandlung während der Inhaftierung auf freiem Fuß war, hätte
Befragung zu beschweren.“ ich eigentlich sofort nach Hause zu mei-
ner Familie gehen sollen. Ich hatte aber
Normalerweise endeten derartige Befra­ just für den Abend meiner Entlassung
gungen spätestens nach 24 Stunden, so eine Theaterkarte einstecken. Die
wollte es das Polizeigesetz. Da nun aber Volksbühne zeigte eine Dra­ma­tisierung
am nächsten Tag Michail Gorbatschow des Romans „Meister und Marga­rita“ von
in Ostberlin weilte, wollte der Staat Michail Bulgakow. Dieses Stück wollte
nicht, dass wir dem sowjetischen Staats­ ich nun unbedingt auch noch sehen und
oberhaupt in die Arme laufen. Also verlängerte dadurch meine Ab­wesen­heit
wurde die Frist auf 48 Stunden gemäß von meiner Familie um zwei Stun­den.
einer Ausnahmeregelung in der Straf­ Die Aufführung wurde für mich nach
prozessordnung verlängert. Dage­ den Hafterlebnissen zu einer bleibenden
gen beschwerten sich Werner Fischer Er­­innerung. Ich erhielt die Gelegenheit,
und ich, natürlich ohne Erfolg. Nach die ge­rade zu Ende gegangene Haft mit
fast zwei vollen Tagen wurden wir aus den viel här­teren Repressalien Stalins in
der Untersuchungshaftanstalt Berlin- Moskau zu vergleichen.
FRIEDENSBEWEGUNG | 27

Friedensbewegung
Unmittelbar nach dem Wehrdienst kulturelle Rahmen­ programme mit ver-
ohne Waffe hatte ich mich an der botenen oder halblega­len Schriftstellern,
Initiative ehe­ maliger Bausoldaten für Liedermachern und Lieder­macherinnen.
regelmäßige Treffen in Südwestsachsen Bettina Wegner sang an einem Abend
beteiligt. Die Zusam­men­künfte „Sind so kleine Hände“. Auf dem Höhe­
sollten zum Austausch über po­ li­
- punkt der Friedensbewegung zu Beginn
tische und weltanschauliche Prob­ leme der achtziger Jahre nahmen mehrere hun-
die­nen und zur Beratung über prak- dert Menschen an den Seminaren teil,
tische Mög­ lichkeiten von Pazifisten in und es hatten sich eine Reihe ähnlicher
der schon da­ mals sehr militarisierten Seminare nach dem Vorbild Königswalde
DDR. Diese „Frie­dens­seminare“ fanden gebildet, vornehmlich im Süden der
seit 1973 bis 2019 in der Regel zwei- DDR, aber auch in Mecklenburg und
mal jährlich in kirchlichen Räu­men in Berlin.
Königswalde bei Werdau in Sachsen
statt. Seit Ende der siebziger Jahre er­- In Königswalde waren es vor allem der
­reich­te die Teilnehmerzahl mehr als hun- Begründer des Friedensseminars Hans-
dert, aus dem Süden der DDR und darü- Jörg Weigel, der für mich Vorbild wurde,
ber hi­naus. sowie Georg Meusel, der dann im Jahr
1998 das Martin-Luther-King-Zentrum
An den Seminaren beteilig­ten sich neben für Gewaltfreiheit und Zivilcourage in
ehemaligen Bausoldaten junge Männer, Werdau gründete.
denen die Entscheidung über ihren
Wehr­­­dienst bevorstand, sowie insgesamt Ich selbst wurde nur einmal als Referent
an diesen Themen interessierte junge in das Friedensseminar Königswalde ein-
Men­schen. Der pazifistische Im­puls der geladen, und zwar als Ersatz für den im
Initiatoren führte zunächst zu Themen Mai 1990 vorgesehenen Dr. Wolfgang
wie der Wehrdienstverweigerung und Schwarz vom Institut für Internationale
der Militarisierung der Gesell­schaft. Mit Politik und Wirtschaft in Berlin. Aus bis
der Entwicklung der Frie­densbewegung heute ungeklärten Umständen erhielt er
im Zusammenhang mit der Nach­ - durch einen gefälschten Telefonanruf
­rüstungsdebatte und entstehenden Kon­ eine Absage und stand deswegen nicht
takten zu westlichen Aktivisten kamen mehr zur Verfügung. Da dem Leiter
Fra­
gen der internationalen Abrüstung, des Seminars nun der Referent abhan-
der Block­konfrontation und der Umwelt­ den gekommen war, galt es, kurzfristig
belastung hinzu. Die Seminare hatten einen Ersatz zu suchen, und ich wurde
28 | FRIEDENSBEWEGUNG

angefragt. Nach nur kurzem Zögern Noch heute bin ich der Auffassung, dass
– schließlich bin ich kein eloquenter die Währungsunion vom 1. Juli 1990 we-
Redner – sagte ich zu. Und war dann gen des unrealistischen Umtauschkurses
am 19. Mai 1990 in der Jacobikirche von 1:1 eine wesentliche Ursache für den
Königswalde zur Stelle. Mich erwarteten Niedergang der ostdeutschen Wirtschaft
über 100 Zuhörerinnen und Zuhörer. war. Wie sollten die Unternehmen die
Als Thema wählte ich in Absprache mit über Nacht um das Dreifache gestie-
Hans-Jörg Weigel die Frage „Ist ein geord- genen Löhne bezahlen? Viel­ leicht wä-
netes Zusammenwachsen Deutschlands ren Lohnsubventionen an ostdeutsche
möglich?“ Ausgehend von Willy Brandts Unternehmen das richtige Mittel gegen
be­rühm­tem Ausspruch „Jetzt wächst zu- Betriebsschließungen gewesen.
sammen, was zusammengehört“ sagte
ich: „Jetzt wuchert zusammen, was zu- Nachdem ich seit 1972 als Informatiker
sammen gehören sollte.“ Damit kritisierte in Karl-Marx-Stadt gearbeitet hatte,
ich die Absicht der schnellen Vereinigung lebte ich seit 1976 in Berlin und heirate-
der beiden deutschen Staaten aus ökono- te 1978. Meine Frau hatte ich 1976 auf
mischer und verfassungsrechtlicher Sicht. einem regionalen Kirchentag in Zwickau

Am 19. Mai 1990 hielt ich das Referat auf dem Friedensseminar in Königswalde.
FRIEDENSBEWEGUNG | 29

kennen gelernt. Wir bekamen von 1979 Orgel spielte ich den Choral „Vor dei-
bis 1987 fünf Kinder. Ich promovierte nen Thron trete ich hiermit“ von Johann
1982 und arbeitete als Physiker und Sebastian Bach. Anschließend wollte
Informatiker. Zwischen 1983 und 1985 ich zusammen mit Elisabeth Gibbels,
unterbrach ich meine Berufstätigkeit, um die als Mitglied der Gruppe „Frauen für
die Kleinkinder zu versorgen. den Frieden“ ebenfalls an der Men­
schenkette teilnehmen wollte, mit Ker­
In Berlin gehörte ich bald zu den aktiven zen zur Straße Unter den Linden vor
Mitgliedern der Friedensbewegung. So die sowjetische Botschaft gehen. Zwei
beteiligte ich mich an den regelmäßig Polizisten kontrollierten unsere Ausweise
stattfindenden kirchlichen Friedens­ und als wir unsere Kerzen entzünden
werk­stätten in der Erlöserkirche Berlin wollten, schlugen sie uns diese aus den
und an Friedens­gebeten. Vom 6. bis zum Händen.
9. August 1983, den Jahrestagen der
Atombombenabwürfe auf Hiroshima Die Staatsdiener brachten uns zunächst
und Nagasaki, traf sich eine kleine in eine nahe gelegene Polizeistation, an-
Gruppe auf dem Gelände der Erlöser­ schließend in das Polizeipräsidium am
kirche zu einer Fastenaktion. Sie war als Alexanderplatz und nach einem nächt-
Solidaritätsaktion mit einer Gruppe in lichen Verhör in die Unter­ suchungs­
Frankreich gedacht, die so lange fasten haftanstalt Pankow des MfS. Es wur-
wollte, bis erste Schritte zur atomaren den Ermittlungsverfahren eingeleitet.
Abrüstung eingeleitet würden. Während Der Vorwurf: „Beeinträch­tigung staat-
des Fastens entstand die Idee, am 1. Sep­ licher oder gesellschaftlicher Tätig­
tember, dem Weltfriedenstag, eine Men­ keit“. Der Vernehmer zeigte mir das
schenkette von der amerikanischen bis Strafgesetzbuch der DDR. Dort stand
zur sowjetischen Botschaft zu bilden. im § 214, Absatz 1: „Wer die Tätigkeit
staatlicher Organe durch Gewalt oder
Dieser Versuch einer Demonstration Drohungen beeinträchtigt oder in einer
vor den zwei Botschaften während der die öffentliche Ordnung gefährdenden
Phase der stärksten Mobilisierung der Weise eine Mißachtung der Gesetze be-
Friedensbewegung unmittelbar vor dem kundet oder zur Mißachtung der Gesetze
Nachrüstungsbeschluss des Bundestages auffordert, wird mit Freiheitsstrafe bis
wurde jedoch durch die Staatssicherheit zu drei Jahren oder mit Verurteilung
vereitelt. Am 1. September 1983 hatte auf Bewährung, Haftstrafe, Geldstrafe
ich noch an dem abendlichen Friedens­ oder mit öffentlichem Tadel bestraft.“
gebet in der Golgathakirche mit Pfarrer Unser Versuch, eine Menschenkette auf
Peter Hilsberg teilgenommen. Auf der dem Bürgersteig zu bilden, sollte also
30 | FRIEDENSBEWEGUNG

die staatliche Tätigkeit gefährdet ha- Ich baute auch in Berlin Kontakte zu west­
ben! Als Verteidiger wählte ich Gregor deutschen Grünen und anderen west-
Gysi und glaubte, mich mit seiner Hilfe lichen Mitgliedern der Friedensbewegung
gegen den absurden Tatvorwurf aus- auf. Diese basierten auf dem ausdrücklich
reichend wehren zu können. Schon in block­übergreifenden Verständnis der
den Vernehmungen sagte ich, dass man Frie­densbewegungen in Ost und West,
auf dem Bürgersteig nicht demonstrie- die sich miteinander gegen die jeweiligen
ren könne, und hoffte, dass mich Gysi regierenden Aufrüstungsbefürworter zu
in der Gerichtsverhandlung in meiner verbünden such­ ten. Die Beziehungen
Verteidigungsstrategie unterstützen wür- zu den Grünen und anderen westlichen
de. Durch dieses Verfahren drohte für Verbündeten der DDR-Opposition, wie
mich das erste Mal ganz unverhohlen auch das Engagement für blockübergrei-
eine Gefängnisstrafe. fende Initiativen blieben auch nach dem
Abflauen der Friedensbewegung in der
Zu einer Verhandlung kam es je- zweiten Hälfte der 1980er Jahre meine
doch nicht. Nach Interventionen von Anliegen. Von Ende 1983 bis zu unserem
Grünen, SPD- und CDU-Mitgliedern Umzug nach Sachsen im Sommer 1989
aus der Bundesrepublik, die sich an hielt ich besonders den Kontakt mit Petra
den Regierenden Bürgermeister von Kelly und Gert Bastian aufrecht.
Westberlin gewandt hatten, wurde ich
schon nach zwei Wochen freigelassen. Als aktiver christlicher Laie engagierte ich
Wie lief das ab? Bürgermeister Richard mich im Rahmen der offiziellen Kirche.
von Weizsäcker war am 15. September In den achtziger Jahren gehörte ich sechs
bei Erich Honecker zu Gast, sprach wäh- Jahre lang dem Gemeindekirchenrat
rend eines Essens die ihm mitgeteilten meiner Golgathakirche in Berlin-Mitte
Fälle von willkürlichen Ver­haftungen an an und engagierte mich bei den Landes­
und bat um Freilassung der politischen synoden der Evangelischen Kirche
Gefangenen. Als Gegenleistung dürfte Berlin-Brandenburg. Ich versuchte, dort
finanzielle Unterstützung der DDR ge- eine weltlich orientierte Sicht­ weise zu
standen haben. Drei Stunden später wa- propagieren und auch dem Kirchen­
ren Elisabeth und ich frei. Als ich nach parlament die „Einmischung in die ei-
der 14-tägigen Untersuchungshaft nach genen Angelegenheiten“ ( Jürgen Fuchs)
Hause kam und meine Ehefrau in die nahezubringen. In der weiteren Ent­
Arme schließen konnte, begrüßte mich wicklung und Ausdifferenzierung der
mein vierjähriger Sohn Daniel mit den Opposition gehörte ich Ende 1985 zu
Worten: „Na, Papa, wie war es denn so den Mitbegründern der Initiative Frieden
im Kerker?“ und Menschenrechte, die aus der Kritik
FRIEDENSBEWEGUNG | 31

an den kirchlichen Friedenswerkstätten Einmal versammelten wir uns in der


entstand, und war ihr aktives Mitglied Wohnung einer Freundin zu einem
bis 1989. Neben der Publikation Rollen­spiel. Wir trainierten das Ver­
Offener Briefe und Memoranden so- halten bei Vernehmungen durch die
wie der Mitherausgabe von Samisdat- Staatssicherheit. Ich spielte den verhö­
Veröffentlichungen beschäftigte ich renden Stasimann und ein Gruppen­
mich vor allem mit dem Strafrecht der mitglied musste die Rolle des Verhafteten
DDR und beriet von Strafverfolgung einnehmen. Nach dem Rollenspiel wer-
Bedrohte juristisch. Daraus entstand die teten wir das Verhalten sowohl des Stasi-
Arbeitsgruppe „Menschenrechte und Offiziers als auch des Beschuldigten in
Justiz“, die sich in der Regel in unserer der Gruppe aus.
Wohnung traf.

„speakers corner“ auf der Friedenswerkstatt 1983 in Berlin, Erlöserkirche


3 2 | B Ü R O K R AT O P O LY

Doppeltes Gesellschaftsspiel: Bürokratopoly


Goethes Faust möchte wissen, „was die Um ihn herum gruppiert sich der inne-
Welt im Innersten zusammen hält“. re Kreis: die Mitglieder des Politbüros.
Als Schüler lernten wir in der Schule, Darunter ordnen sich die einzelnen
dass im Westen die Gier nach Geld die Minister an, darunter die Direktoren
Gesellschaft zusammen hält. Nun konnte (bei der Armee: die Generale), darun-
ich als junger Mensch den Westen zwar ter die Abteilungsleiter (bei der Armee:
nicht selbst erleben, aber in meinem die Offiziere) und ganz unten bilden die
Freundeskreis kursierte ein Spiel, das die einfachen Arbeiter und Soldaten den
Geldgesellschaft simulierte: Monopoly. niedersten Kreis der Machtpyramide.
Wir spielten es mit Begeisterung. Die Unterstellungsverhältnisse zeigte
ich durch einfache Striche zwischen
Der einzige Nachteil daran: Wir konnten den Positionen der Spielfiguren an. In
nicht vergleichen, ob dieses Spiel mit der der Draufsicht stehen die untersten
westlichen Wirklichkeit übereinstimmte. Positionen des Machtgefüges am Rand
Für den Osten gab es kein solches Spiel, des Spielfeldes. Und dorthin müssen die
denn Geld spielte in der Planwirtschaft Spieler ihre Figuren bei Spielanfang stel-
keine bestimmende Rolle. Ich überlegte len.
nun, was man Faust auf seine Frage nach
dem Welt­zusammenhang für die DDR Danach beginnt ein rücksichtsloses
antworten könnte, und kam bald auf fol- Kämpfen um Posten: Die einfachen
gende These: In einer zentralistischen Arbeiter wollen gern Abteilungsleiter
Funktionärsbürokratie wie der DDR war werden, die Soldaten streben nach dem
es das Streben nach gesellschaftlichem Offiziersrang – ebenso die Polizisten.
Aufstieg, nach Macht, das das System Auch die MfS-Angehörigen streben nach
zusammenhielt. Ohne ein natürliches Aufstieg innerhalb ihrer Hierarchie. Es
Machtstreben, das hatte ich bei George gibt Verlagsmitarbeiter, die gern einen
Orwell gelernt, war der Kommunismus Verlag leiten, später dann Abteilungsleiter
nicht möglich. im Ministerium werden möchten, um
dann irgendwann Kulturminister zu
Dies wollte ich in einem Spiel verdeutli- werden und dann vielleicht noch das
chen. Ich zeichnete eine Machtpyramide für Kultur und Ideologie zuständige
in der Draufsicht. Es entstand für die Politbüromitglied (in der DDR zu meiner
DDR ein Spielplan aus konzentri- Zeit: Kurt Hager). Zu guter Letzt kämp-
schen Kreisen, in deren Mittelpunkt fen die drei Mit­glieder des Politbüros um
der Generalsekretär der SED steht. den Posten des Generalsekretärs und
B Ü R O K R AT O P O LY | 33

derjenige Spieler, dessen Figur diesen Hier ein Beispiel für eine Karte, die ein
Posten einnimmt, ist Sieger. Spieler ziehen und bei Bedarf einsetzen
kann:
Die Ereignis-, Beweis-, Beförderungs-, Wahlbetrugskarte
Frei­kauf- und Wahlbetrugskarten schrieb kann zu einer Wahl eingesetzt werden,
ich auf meiner Erika-Schreibmaschine. wo sie einen zusätzlichen Würfel er-
Ebenso die Spielanleitung. Sie beginnt bringt. Das Sam­meln dieser Karten ist
mit den Worten: An diesem unterhalt- mit einem gewissen Risiko verbunden
samen Gesellschaftsspiel können sich drei (Haussuchung!). Pro Wahl dürfen höch-
bis acht Spieler beteiligen. Die Regeln sind stens zwei eingesetzt werden.
– wie in der realen Gesellschaft auch – für Klar, dass ein zusätzlicher Würfel die
den Anfänger etwas kompliziert und sol- Chance auf Gewinn dieser „Wahl“ be-
len hier leicht verständlich dargestellt trächtlich erhöht.
werden.
Jeder Mitspieler verkörpert eine Anderes Beispiel:
Partei, Gruppe, Clique oder sonstige Beförderungskarte
Gruppierung, die an die Macht strebt. dient zur Beförderung eines verdienten
Dafür stehen ihm 5 Spielfiguren zur Ka­ ders auf die freie ihm unmittelbar
Verfügung. Mit diesen 5 gleichfarbigen vor­gesetzte Stelle durch einen höheren
Figuren hat der Spieler so zu operie- Vorgesetzten. Der höhere Vorgesetzte hat
ren, dass eine von ihnen an die Spitze diese Karte nach Gebrauch zurückzuge-
der Machtpyramide gelangt. Das Spiel ben.
ist erst dann zu Ende, wenn eine Figur Diese Karte machte auch zeitweilige Koa­
Generalsekretär wird, womit gleichzeitig li­tionen möglich. Es konnten sich zwei
die Siegerpartei feststeht. Spieler gegen einen Dritten zusammen-
tun und diesen vom Aufstieg fernhalten.
Die Spielanleitung erläutert dann die Kamen diese zwei Mitspieler durch der-
einzelnen Machtebenen und -positionen artige Intrigen gemeinsam ins Politbüro,
und erklärt, auf welchen Wegen diese zu wurden aus Freun­den plötzlich Feinde,
besetzen sind. Es gibt Wahlen und Wahl­ weil nur einer der beiden Generalsekretär
be­
trug, Beförderungen, Delegierungen, werden konnte.
aber auch Meuterei und Denunziationen, Manchen Aufstieg konnte der Spieler
was zu Machtverlust führen kann. Mit aber nur genießen, wenn er sich für seinen
Frei­
kauf­
karten kommen Insassen aus Start den Sicherheitsapparat ausgesucht
dem Gefängnis frei. Mit Beweiskarten hatte. So heißt es in einer Karte auch:
kann man sich aufmüpfiger Protestierer Falls der Gewählte dem MdI angehört,
entledigen. darf er einen Mitbewerber einsperren
3 4 | B Ü R O K R AT O P O LY

oder einen Gefangenen befreien. Falls er musste sich dann als einfacher Polizist
dem MfS angehört, darf er 2 einsperren bewähren.
oder 2 befreien.
Besonderer Reiz lag in der Bildung von
Viel Mühe verwendete ich darauf, die temporären Koalitionen. Das hatte ich
richtige Höhe und das richtige Gefälle mir bei Monopoly, aber auch bei dem
der Machtpyramide zu finden. Wie viele Spiel „Risiko“ abgeschaut. In solchen
Untergebene soll ein Vorgesetzter ha- Mehrpersonenspielen kommt ein Spieler
ben? Wie steil geht der Weg nach oben? schneller zum Ziel, wenn er sich zeitwei-
Wie viele Steine braucht ein Spieler, lig mit einem Mitspieler verbündet. Kurz
damit nach ein bis zwei Stunden eine vor Erreichen des Ziels wird dann von
seiner Figuren Generalsekretär wird? dem Stärkeren die Koalition aufgekündi-
Da half nur Probieren. Ich konnte mei- gt. Das lässt sich in einem Spiel, bei dem
ne Frau und unsere Freundin Elisabeth es nur um Hierarchieaufstieg geht, gut
überreden, die verschiedenen Spiel­ abbilden. Die Figuren zweier verbünde-
varianten auszuprobieren. Auch bei der ter Spieler kommen auf der Karriereleiter
Ent­wicklung der Ereigniskarten gaben schneller voran als die Figuren eines
sie mir wichtige Ratschläge. Ein Ereignis Alleinspielers. Im Gegensatz zum
konnte zum Beispiel in einem harten Skat können bei Bürokratopoly die
Winter bestehen, der zum Stromausfall Koalitionen jederzeit aufgekündigt und
führt. Konsequenz: Der Energieminister neu geschlossen werden. Nachteil: Bei
wird abgesetzt. Beliebte Ereignisse waren sensiblen Spielern entsteht dadurch
auch: Hausdurchsuchungen, Razzien, leicht Frust. Auch das musste ich mit den
Aufdecken von Wahlbetrug. beiden Frauen durchspielen.
Hier ein Beispiel:
Ein harter Winter zwingt den Minister Irgendwann im Jahre 1984 war es dann
für Kohle & Energie, sein Amt einem fä- soweit, dass ich das Spiel einer größeren
higeren Nachfolger zur Verfügung zu Gruppe von Oppositionellen vorstellen
stellen. Dieser ist aus den ranghöchsten konnte. Nachdem ich lang und breit die
Unterstellten zu wählen. Spielanleitung erläutert hatte, blieb nur
1977 hatten wir einen solchen Winter noch bei einer Teilnehmerin, meiner
ge­habt – das Beispiel war also durchaus Schwiegermutter Waldtraud Killat, eine
real. letzte Frage: Wie viele Jahre gibt es denn
für die Teilnahme an diesem Spiel?
Eine analoge Ereigniskarte gab es für den Diese Frage blieb damals unbeantwor-
Fall einer Missernte, die den Landwirt­ tet. Im Jahr 2005, als ich bereits die
schafts­
minister das Amt kostete. Er Außenstelle der Bundesbeauftragten für
B Ü R O K R AT O P O LY | 35

die Stasiunterlagen leitete, stieß ich auf lichen Verhältnisse verächtlich macht.
Akten, die von dem Spiel Bürokratopoly (Quelle: Ar­chiv der BStU, MfS – HA
berichteten. XX/AKG Nr. 6849)
Inoffiziell wurde bekannt, daß in Kreisen
des politischen Untergrundes seit ca. Damit lässt sich nun auch die Frage be-
zwei Mo­ naten von einem neuen so- antworten, wie viele Jahre es 1984 für
genannten Gesellschaftsspiel mit ne- dieses Spiel möglicherweise gegeben hät-
gativ-feindlichem Charakter namens te. Das Strafgesetzbuch der DDR sah
„Bürokratopoly“ gesprochen wird, dafür Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren
welches von dem operativ bekannten vor. Das steht im § 220 (Öffentliche
B ö t t g e r, Martin Herabwürdigung). Dort heißt es im
OV „Diplom“, BV Berlin, Abteilung XX Absatz 2: Ebenso wird bestraft, wer
entworfen wurde. Schriften, Gegen­stände oder Symbole, die
Erstmals soll dieses Spiel am 19. 12. 1984 geeignet sind, die staatliche oder öffent-
durch liche Ordnung zu beeinträchtigen, das
Teichert-Rosenthal, Rüdiger sozialistische Zusammenleben zu stören
(geschwärzt: Erfassung durch MfS) oder die staatliche oder gesellschaftliche
einem größeren Personenkreis vorgestellt Ordnung verächtlich zu machen, verbrei-
wor­den sein, als sich in der Wohnung von tet oder in sonstiger Weise anderen zu-
Bär­bel Bohley ca. 14 Personen zu einer gänglich macht.
Zu­sammenkunft mit dem Bundes­ tags­ Genau dieses „Verächtlichmachen“ hat-
abge­ord­neten ... versammelt hatten... te der Stasi-Offizier in seiner „opera-
tiven Auswertung“ bemerkt und in sei-
So steht es in einem Bericht der Haupt­ nem Bericht an den Leiter der AKG
abteilung XX (zuständig u. a. für den (Auswertungs- und Kontroll­gruppe) der
„politischen Untergrund“) vom 12. Hauptabteilung XX notiert.
Februar 1985. Nachdem der zustän-
dige Stasi-Offizier in Berlin schildert, Aber das wussten wir damals nicht. Wir
wie das Spiel durch einen Spitzel in sei- spielten mit Risiko. In unserem Spiel ge-
ne Hände gelangte und er alles mittels gen die Stasi musste zähneknirschend
XEROX kopieren konnte, schreibt er: auch sie sich an bestimmte Regeln halten:
Bei dem sogenannten Gesellschaftsspiel Der Grundlagenvertrag von 1973 zum
„Bürokratopoly“ handelt es sich um ein Beispiel oder die Mitgliedschaft in der
Würfelspiel, welches auf ironische Weise UNO. Die ständige Anwesenheit west-
an­gebliche Wege zur Erlangung und zum licher Korrespondenten in Ost-Berlin,
Verlust politischer Macht in der DDR auf- Besuche von Bundestagsabgeordneten
zeigt und auf diese Art die gesellschaft- der GRÜNEN bei Bärbel Bohley und
3 6 | B Ü R O K R AT O P O LY

anderen Oppositionellen, auch bei mir, Städter Zeit als Operativer Vorgang (OV)
zwangen sie dazu. Der Stasi-Offizier, „Spaten“ geführt wurde. Dieser Deckname
der die Ironie meines Spiels bemerkte, kam wahrscheinlich dadurch zustande,
konnte sich wahrscheinlich auch den­ dass ich meinen Wehrersatzdienst bei
ken, dass meine Verhaftung am nächs­ den „Spatensoldaten“ abgeleistet hatte.
ten Tag schon in einer westdeutschen In Berlin firmierte ich dann aber bei der
Tageszeitung gestanden hätte. Er wuss- Stasi als OV „Diplom“.
te: Der Böttger kannte schließlich ei-
nige Korrespondenten westlicher Me­ Ich weiß bis heute noch nicht genau, wie
dien. Deshalb durfte er mich nicht ins es zu diesem Namenswechsel kam. Die
Gefängnis sperren, sondern ließ es zu, Bezirksverwaltung (BV) Karl-Marx-
dass sich der Untergrund spielerisch mit Stadt des MfS hatte meinen OV „Spaten“
dem Gefängnis befasste. Doch das war nach meinem Wegzug nach Berlin ar-
das besondere Glück meiner Situation. chiviert und nicht an die BV Berlin ge-
Zu anderen Zeiten oder auch an anderen schickt. Vielleicht erwartete man mei-
Orten hätte mich ein solches Spiel auch ne Rückkehr in die Bezirksstadt? Die
deutlich mehr kosten können. Berliner Stasi sah sich irgendwann nach
meinem Umzug in die Hauptstadt genö-
Beim Studium meiner Stasi-Akten fiel tigt, einen neuen OV anzulegen und gab
mir auf, dass ich in meiner Karl-Marx- ihm dann den Namen „Diplom“.
Ü B E R K R E U Z - I N I T I AT I V E | 3 7

Eine Überkreuz-Initiative 40 Jahre nach Kriegsende


März 1985. In Vorbereitung auf den Mai Mit einem kleinen Text, der von den
1985, 40 Jahre nach Kriegsende, entstand Westmächten den Abzug ihrer Truppen
die Idee zu einer öffentlichkeitswirk- aus Westdeutschland forderte, machte
samen Aktion der Friedensbewegungen ich mich auf den Weg zu Stephan
in Ost und West. Die Siegermächte des Bickhardt und Gerd Poppe. Zu dritt er-
Zweiten Weltkrieges sollten aufgefordert arbeiteten wir einen Appell, den dann
werden, sich militärisch aus Deutschland mit der Sowjetunion als Adressaten auch
zurückzu­ziehen. Dadurch sollten beide die westdeutsche Friedensbewegung
deutsche Staa­ten die Möglichkeit erhal- hät­te formulieren können. Unseren
ten, aus ihren Militär­blöcken auszustei- Brief wollten wir im Vorfeld des 8. Mai
gen. Wer soll die West­mäch­te und die an den Botschaften der USA, Groß­
Sowjetunion auffordern, ihre treuesten britanniens und Frankreichs abgeben
Vasallen in die Neutralität zu ver­ ab­ und weihten dazu den Pfarrer der So­
schieden? Sollen dies die Angehörigen phienkirche Martin Michael Passauer
der Friedensbewegungen beider Länder ein. Er sorgte dafür, dass der Plan in
in einem gleich lautenden Brief an ihre Kirchenkreisen bekannt wurde. Diese
jeweilige Schutz­macht versuchen? Damit „Initiative für Blockfreiheit in Europa“
hätten wir gleich ein „abgekartetes Spiel“ sprach sich in der Ostberliner Szene he-
dokumentiert, was schon mal einen ge- rum und deswegen wollten sich noch
wissen Reiz besessen hätte. einige Personen mehr an der Aktion be-
Ich hatte da eine noch etwas bessere Idee: teiligen. Das waren Lutz Nagorski, Mirko
Die unabhängige Friedensbewe­gung der Pusch und Mario Wetzky.
DDR schreibt an die drei Westmächte
und die Friedensbewegung der BRD Die kleine Gruppe, die die Briefe an
schreibt an die Sowjetunion. Mit die- die Ostberliner Botschaften der USA,
ser „Überkreuzaktion“ dokumen­tieren Großbritanniens und Frankreichs über­
wir die enge Verzahnung der Zivil­­ geben wollte, blieb von staatlicher Behin­
gesellschaften in Ost und West und ma- derung weitgehend verschont. Das MfS
chen den Militärblöcken klar, dass der beschränkte sich darauf, uns genau zu
Einsatz für Blockfreiheit nur von unten beobachten. Am 6. Mai 1985 notierten
in einer abgestimmten Aktion möglich die Stasileute, wie ich zusammen mit
sein kann. Ich hielt das Risiko staatli- Passauer um 10:30 Uhr die Botschaft
cher Repressionen für etwas geringer, als der USA betrat. Nagorski, Pusch
wenn wir uns „nur“ an die Sowjetunion und Wetzky hielten sich zunächst im
gewandt hätten. Hintergrund und begleiteten mich dann
3 8 | Ü B E R K R E U Z - I N I T I AT I V E

auf dem Weg zur britischen und fran- Die Briefe sollten dann am 8. Mai 1985,
zösischen Botschaft. Die Fotos dieser also genau 40 Jahre nach Kriegsende,
Vierergruppe fand ich in den Stasiakten. bei den entsprechenden diplomatischen
Vertretungen abgegeben werden.
Der Brief begann mit folgendem Motto
aus dem Schwur von Buchenwald: „Die Das MfS war über die Vorbereitungen zur
Vernichtung des Faschismus mit sei- Petitionsübergabe bestens informiert.
nen Wurzeln ist unsere Losung. Der Unter Bezugnahme auf seine Quelle
Aufbau einer neuen Welt des Friedens „Christian“ (Klarname: Lutz Nagorski)
und der Freiheit ist unser Ziel.“ Dann berich­tete Hauptmann Ludewig von der
folgte der Dank für die Befreiung vom Ab­teilung XX/2 der Bezirksverwaltung
Nationalsozialismus durch die Anti- Berlin am 2. April 1985 in seiner
Hitler-Koalition und für unsere Seite die „Operativen Information“ von einem
Bitte an die Westmächte: Treffen der Vor­ bereitungsgruppe am
„Die neuen Gefahren zwingen uns, Sie 27. März in der Wohnung von Gerd
aufzufordern, mit der Sowjetunion und Poppe. Dabei ging es unter anderem da-
den anderen am Konflikt beteiligten rum, für unseren Brief 40 Unterschriften
Ländern in Verhandlungen einzutreten, aus der DDR und für den westdeutschen
die den bisherigen Rahmen verlassen und Brief 40 Unterschriften aus der BRD
die Blockkonfrontation beenden sollen.“ zu sammeln. Letzteres wollte Torsten
Wir schlugen als Verhandlungsziele den Schramm aus Westberlin übernehmen.
Abzug der in den deutschen Staaten Am Ende der Information formu­lierte
stationierten ausländischen Truppen Stasi-Hauptmann Ludewig folgen­ den
vor. Gleichzeitig sollten die beiden Maßnahmeplan: „Infor­mation und Ab­­
Großmächte ihre in den anderen eu- stimmung mit HA XX bezüglich mög-
ropäischen Blockländern stationierten licher Maßnahmen zur Verhin­ derung
Gruppen und Waffenpotentiale redu- der Petitionsübergabe sowie den IM-
zieren. 40 Mitglieder der ostdeutschen Einsatz da­rauf auszurichten.“ Die Staats­
unabhängigen Friedensbewegung unter- sicherheit wollte also die Aktion mit Hilfe
zeichneten diesen Brief. ihrer drei Spitzel, die sie in die Gruppe
Einen ganz ähnlichen, in Teilen sogar eingeschleust hatte, verhindern!
wortgleichen Brief schrieben Mitglieder
der westdeutschen Friedensbewegung Am 6. Mai, dem Tag der Übergabe, fo-
an den Obersten Sowjet in Moskau. tografierte uns die Stasi intensiv und
Auch dieser Brief trug 40 Unterschriften. recht auffällig. So entstanden zahlreiche
Somit hatte die Zahl 40 bei dieser Aktion Dokumente, die sich sowohl in der Ablage
eine große symbolische Bedeutung. der Hauptabteilung VIII (Beobachtung)
Ü B E R K R E U Z - I N I T I AT I V E | 39

als auch in meiner Akte wiederfinden. solle? Eine solche Abstimmung hät-
Eine Kuriosität dieser Aktion erfuhr ich te ich garantiert verloren. Aber keiner
allerdings erst nach Aktenöffnung. Alle meiner Begleiter wusste, dass sich noch
meine drei Begleiter auf dem Weg zur zwei weitere IM in der kleinen Gruppe
britischen und französischen Botschaft, aufhielten, und strebte somit auch keine
also Lutz, Mirko und Mario, waren inof- Verhinderung der Aktion an. Da sie nicht
fizielle Mitarbeiter (IM) des MfS. alle vom gleichen Führungsoffizier gesteu-
Was wäre wohl gewesen, wenn sich die ert waren, kam es also von Stasiseite zu
Vierergruppe vor der Übergabe erst ein- keinem Abbruch der Aktion. Manchmal
mal beraten und darüber abgestimmt hat mangelnde Koordination auch ihre
hätte, ob sie die Aktion zu Ende führen gute Seite.

Am 6. Mai 1985 an der Clara-Zetkin-Straße in Berlin-Mitte, nahe der US-Botschaft: Mirko Pusch, Lutz
Nagorski, Martin Böttger, Mario Wetzky (v.l.n.r.)
40 | FRIEDLICHE REVOLUTION

Friedliche Revolution
Fast genau vier Jahre später, am 6. Mai Die verhältnismäßig milden Strafen für
1989, wurde die Kommunalwahl auch solche Unbotmäßigkeiten, wie es auch
von Mitgliedern unserer AG „Men­ meine Strafanzeige war, führten mich
schenrechte und Justiz“ beob­achtet. Nach zu der Erkenntnis, dass die SED schon
der Feststellung von Wahlfälschungen im einen gewaltigen Machtverlust erlitten
Stadtbezirk Berlin-Weißensee stellten hatte. Aber dass ihre Macht bereits ein
wir Strafanzeige gegen Unbekannt gemäß halbes Jahr danach am Ende sein würde,
§ 211 StGB der DDR (Wahlfälschung). ahnte ich damals nicht.
Nachdem die Staats­ an­
waltschaft uns
mitteilte, dass die Wahl gar nicht gefälscht Im August 1989 verzogen meine Frau
sein könne, weil sie bereits geprüft sei, und ich mit unseren fünf Kindern
protestierten wir an jedem 6. der darauf nach Cainsdorf bei Zwickau. Am
folgenden Monate gegen den Wahlbetrug. 10. September unterzeichnete ich den
Das geschah durch Mahnwachen, zum berühmten Appell „Aufbruch 89 –
Bei­spiel vor der Sophienkirche, und durch Neues Forum“ in Grünheide, der die
kleinere Demonstrationen. Auf dem friedliche Revolution maßgeblich be-
Alexan­der­platz zeigte jemand ein lustiges stimmte. Als einziger Teilnehmer der
Trans­parent: „Zu dumm zum Addieren, 30 Erstunterzeichner aus dem dama-
aber ein ganzes Volk regieren!“ Er stand ligen Bezirk Karl-Marx-Stadt war ich
nicht lange auf dem Platz, wurde abge- es auch, der das Neue Forum beim Rat
führt und erhielt eine Ordnungsstrafe. des Bezirkes Karl-Marx-Stadt anmel-

2. Mai 1987: als Hoffest


getarntes Künstlerevent mit
Herstellung eines Triptychons
an der Innenwand des
Hinterhofes in Berlin,
Am Zirkus 6.
Ich versuche, den (vermutlich
durch Stasi) herbeigerufenen
Polizisten so lange hinzuhal-
ten, bis die Kunstaktion zu
Ende ist.
FRIEDLICHE REVOLUTION | 41

dete und dann in der gesamten Region


organisierte. Dazu trafen sich Vertreter
aus fast jedem Kreis des Bezirkes in un-
serer Wohnung. Mit der schnell wach-
senden Mitgliederzahl hatte der Staat
nicht gerechnet und es gelang der Stasi
auch nicht, über zahlreiche eingeschleus-
te Spitzel das Neue Forum zu zersetzen.
Das mag einerseits an der fast flächende-
ckenden Ausbreitung dieser Organisation
gelegen haben, andererseits aber auch
dem Umstand geschuldet sein, dass die
Unterschrift unter den Aufruf kein allzu
großes Risiko für die Unterzeichnenden
bedeutete.

Herbst 1989
Nach unserem Umzug versuchte ich, op-
positionelles Gedankengut der Berliner
Grup­pen auf die Zwickauer Verhältnisse
zu übertragen. Dabei standen drei
Ziele im Vorder­grund: Sturz der SED-
Herrschaft, friedliche Revolution und
demokratische Umwälzung.

In Zwickau stieß ich auf die bereits leb-


haft agierende Friedensbibliothek und
konnte dort über Erlebnisse aus Berlin
berichten, z. B. über die Gründung der
Sozialdemokratischen Partei in der
DDR (SDP). Bereits in meiner Berliner
Zeit belieferte ich ab Herbst 1988 die Der Künstler Daniel Lukas Richter aus Cottbus
Friedensbibliothek mit Material aus dem stellt in unserer Wohnung seine Werke aus,
Samisdat. Wichtigste Kontaktperson weil er dafür keine öffentliche Galerie findet.
war mein Schwiegervater Erwin Killat. Datum unsicher, vermutlich Frühjahr 1987
Er war es auch, der im Herbst 1989 das
42 | FRIEDLICHE REVOLUTION

Demonstrationsgeschehen in Zwickau agierte ich als Vorsitzender des Bürger-


maß­geblich prägte. Dafür wurde er 2002 k­
omitees zur Auflösung der MfS-Be­
Ehren­bürger der Stadt Zwickau. Im Jahr zirks­ver­waltung Karl-Marx-Stadt. Für
2017 wurde er darüber hinaus mit dem die Volks­ kammerwahl kandidierte ich
Bundes­verdienstkreuz ausgezeichnet. für das Bündnis 90, verzichtete jedoch
Gemeinsam mit den anderen Bürger­ zugunsten von Werner Schulz auf den
rechtlern strebte ich eine Demo­ krati­ gewonnenen Sitz im letzten DDR-
sierung der DDR, die Herstellung Parlament.
von Öffentlichkeit für oppositionelle
Gruppen und die Aufdeckung der Erlebnis Währungsunion
Umwelt­skandale an. Die Bürger sehnten
sich 1989 allerdings in erster Linie nach Besorgnis stellte sich ein, als die Um­
Reise­freiheit, die auch mir wichtig war. stellung der Währung (Mark der DDR
Doch für mich gab es noch andere, eben- 1:1 in DM) am 1. Juli 1990 zu einer
so wichtige Rechte, die es zu erkämpfen öko­nomischen Katastrophe führte, doch
galt: Versammlungs-, Vereinigungs- und das hatte die Mehrheit der Bevölkerung
Presse­freiheit. Es schien mir damals, als wohl so gewollt. Ich schloss mich ökono-
seien diese Rechte und die demokra- mischen Befürchtungen über die bevorste-
tischen Be­ teiligungsmöglichkeiten für hende Währungsunion an, weil einerseits
viele Bürger im Jahre 1989 nicht so be- die Arbeitgeber nicht in der Lage waren,
deutsam gewesen wie die Erlangung der Löhne und Gehälter von einem Tag auf
Reisefreiheit. den anderen 1:1 in Westmark auszuzah-
len und andererseits die Gewerkschaften
Aus dem Jahr 1989 blieben mir eben dies forderten. Das konnte nur in
die Friedens­ gebete in den verschie- zahllosen Konkursen und entsprechend
denen Zwickauer Kirchen sowie die massiven Arbeitsplatzverlusten enden.
anschlie­ßenden Demon­stra­tionen zum Auch mein damaliger Arbeitgeber, das
Hauptmarkt bzw. die Kund­gebungen vor Kombinat Oberbekleidung Lößnitz, ging
dem Rathaus in lebendiger Erinnerung. daran zugrunde. Dass ich nicht schon
Zweifellos spielten die Kir­ chen und Juni 1990, als mein Arbeitgeber Konkurs
Gemeinden im Pro­zess bis zur Friedlichen anmeldete, arbeitslos wurde, lag daran,
Revolution 1989 eine tragende Rolle, ob- dass das Arbeitsamt Zwickau, bei dem
gleich die meisten Gemeinden zag­ haft ich mich zu melden hatte, gerade einen
reagierten. Nur wenige brachten sich Statistiker und EDV-Menschen suchte
von Anfang an so aktiv ein wie die Ver­ und mich umgehend einstellte.
söhnungskirchgemeinde in Neuplanitz. Anfang Juli 1990 hielt ich dann einen
Von Dezember 1989 bis zum März 1990 Änderungsvertrag des Arbeitsamtes als
FRIEDLICHE REVOLUTION | 43

meines nunmehrigen Arbeitgebers in Experiment hätte ich gewagt. Die ost-


den Händen. Die Änderung zum Ar­ deutsche Mehrheit hat sich damals an-
beitsvertrag bestand einzig und allein ders entschieden.
darin, dass mir mein bisheriges Monats­
gehalt nun nicht mehr in Mark der DDR, Somit komme ich zur Frage, die regelmä-
sondern in exakt gleicher Summe in DM ßig allen Bürgerrechtlern gestellt wird:
ausgezahlt wurde. Faktisch bedeutete Strebtest du einen „Dritten Weg“ an?
das für mich etwa eine Verdreifachung Wolltest du die DDR eigenständig erhal-
mei­nes Einkommens. Wer kann da nein ten oder wünschtest du damals schon eine
sagen, wenn seine Kaufkraft vom Juni Vereinigung mit der Bundesrepublik?
1990 zu Juli 1990 auf das Dreifache er-
höht wird? Der öffentliche Arbeitgeber, Ich erinnere an den Verfassungsentwurf
in meinem Fall die Bundesanstalt für des Runden Tisches. Diesem Entwurf
Arbeit, konnte daran nicht zugrun- vom März 1990 einer neuen Verfassung
de gehen. Ich fragte mich nur, ob der für die DDR hing ich damals wegen
Instrumentenbauer aus dem Vogtland seines durch und durch demokrati-
seinem Gesellen zum 1. Juli auch den schen und menschenrechtsfreundlichen
Lohn einfach in DM auszahlen wür- Inhaltes sehr an. Zu spät merkte ich,
de. Einige taten es nicht und über- dass zwar der Inhalt stimmte, nicht aber
lebten. Andere Arbeitgeber, meist die das Äußere. Der Name des Staates, den
Treuhandbetriebe, taten es und meldeten diese Verfassung konstituieren sollte,
bald darauf Konkurs an. lautete folgendermaßen: „Deutsche
Demokratische Republik“ – kurz: DDR.
Damit erlebte ich einen brachialen finanz- Die Schöpfer dieses Verfassungsentwurfs
technischen Versuch, die Volkswirtschaft am Runden Tisch merkten offenbar
auf Marktbedingungen umzustellen. Ich nicht, dass man einen neuen demokra-
gehörte damals zu jener Minderheit, die tischen Staat nicht einfach so nennen
der Einführung der Marktwirtschaft konnte, wie das Lügengebilde, in dem
Vorrang vor der Währungsumstellung wir 40 Jahre lang lebten. Wer Vaclav
einräumen wollte. Erst sollten sich die Havels berühmten Essay „Versuch, in der
Preise in Ostmark nach Angebot und Wahrheit zu leben“ gelesen hatte, konnte
Nachfrage einstellen, dann erst hätte man doch nicht einfach darüber hinweg se-
die Westmark im Osten einführen sollen. hen, dass der Name „DDR“ 40 Jahre lang
Meinetwegen hätte es die DDR-Mark zu zwei Dritteln Lüge war, nämlich was
ein ganzes Stück länger geben können, die beiden Worte „demokratisch“ und
auch über den Tag der Einheit hinaus. „Republik“ betraf. Das hatten nur nicht
Ein Staat, zwei Währungen – dieses alle Menschen in diesem Land begriffen.
44 | FRIEDLICHE REVOLUTION

Die DDR war nicht zu reformieren, den Sozialismus beseitigen, wir wollen
sondern zu revolutionieren. Dazu ge- eine Art demokratischen Sozialismus
hörte, wollte man eigenständig blei- schaf­fen, analog wie in Schweden oder
ben, meiner Meinung nach auch ein Öster­reich. Weiter müssen wir es schaf-
neuer Name. Beispielsweise: „Republik fen, die Eigentumsformen zu differenzie­
Ostdeutschland“ oder „Bund ostdeut- ren, zwischen staatlichen Monopolen
scher Länder“ oder auch „Bundesrepublik (Eisenbahn, Post, Stahlwerke etc.) und
Ostdeutschland“. Im letzten Fall hät- kleineren Privatunternehmen.“
te es dann auch eine „Bundesrepublik So weit die Akte. Noch heute bin ich
Westdeutschland“ geben müssen und dem IM „Achim Öser“ aus Mittweida
ich bezweifle, ob sich die westdeut- dankbar, dass er für mich im Herbst
sche Bevölkerung bereit gefunden hät- 1989 den Eckermann spielte und mei-
te, den Namen ihres Staates dahinge- ne Gedanken über Sozialismus – nicht
hend zu ändern. Schon eher hätten sich mehr mit dem Vorbild Tschechoslowakei
unsere polnischen Nachbarn gefreut, sondern mit den Vorbildern Schweden
wenn das Gebiet der ehemaligen DDR und Österreich – schriftlich festhielt.
ganz klar Ostdeutschland und nicht
Mitteldeutschland geheißen hätte. Was demokratischen Sozialismus betrifft,
muss ich allerdings heute zugeben, dass
Wie schauten damals meine Vorstellungen ich im Jahre 1990 den Willen der ostdeut-
von Sozialismus aus? Vielen schwebte ja schen Bevölkerung zum eigenständigen
ein Sozialismus vor, wie er 1968 in der Aufbau demokratischer Strukturen über-
Tschechoslowakei probiert wurde, bevor schätzt hatte. Es ist ja auch einfacher, de-
ihn die sowjetischen Panzer niederwalz­ mokratische Strukturen zu importieren,
ten. Es gab Vorstellungen von einem de- als selbst aufzubauen, wenn man keine
mokratischen Staatssozialismus, einem eigenen Erfahrungen hat. Die Weimarer
„Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ Zeit lag schon zu lange zurück
als Alternative zum westlichen wachstu-
morientierten Kapitalismus. Die Frage, Es funktionierte dann auch recht gut,
wie es damit bei mir im Herbst 1989 westliche Demokratie im Osten einzu-
aussah, kann ich aktenkundig beant- führen. Was jedoch nicht funktionierte,
worten. Ich zitiere ganz einfach einen war der Versuch, westlichen Wohlstand
kurzen Auszug aus meiner Stasi-Akte. in den Osten zu transportieren. Meine
Im Bericht des inoffiziellen Mitarbeiters Landsleute erwarteten, dass der
„Achim Öser“ vom 18.10.1989 über eine Wohlstand genauso schnell käme, wie
Versammlung des Neuen Forum heißt die Demokratie. Das zeigte sich schon an
es: „Böttger führte aus: Wir wollen nicht den Volkskammerwahlen vom 18. März
FRIEDLICHE REVOLUTION | 45

1990, als die Bürgerrechtler verheerendeIm Frühjahr 1990 beteiligte ich mich
Niederlagen erlitten. Lothar de Maizierean der Ausarbeitung einer sächsischen
wurde nicht so sehr wegen seines SpruchsLandesverfassung und war schließlich
„Wir sind ein Volk!“ gewählt, sondern von 1990 bis 1994 Landtagsabgeordneter
wegen seiner auf Ludwig Erhard beru- für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in
henden Losung „Wohlstand für alle“. Sachsen. Meine Fraktion setzte sich aus
Menschen der Bürgerbewegung, Mit­
Bärbel Bohley wird häufig mit dem gliedern der sächsischen GRÜNEN und
Satz zitiert: „Wir haben Gerechtigkeit einer Frauenrechtlerin zusammen. Sie
gewollt und den Rechtsstaat erhalten.“ wählte mich gleich zu Beginn zu ihrem
Diesen Satz würde ich einer bürger- Vorsitzenden. Diese Funktion machte
rechtlichen Minderheit zuschreiben. mir jedoch nicht sonderlich Freude,
Einer ostdeutschen Mehrheit dagegen zu­ mal sich von den zehn Mitgliedern
würde ich folgenden Satz zuschreiben: nur sechs Abgeordnete zu der Partei
„Wir haben Wohlstand gewollt und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bekann­
die Marktwirtschaft erhalten.“ Bei­ ten. Es gab mehrfach Streit und deswegen
de Gruppen, die Bürgerrechtler wie die wollte ich nach einem Jahr nicht mehr
wachstumorientierte Mehrheit, muss­ - Fraktionsvorsitzender sein. Dafür lag
ten aber folgendes lernen: So wie Ge­ mir die Vereinigung von Neuem Forum,
rechtigkeit schwerlich ohne den Rechts­ Demokratie Jetzt und Initiative für
staat zu haben ist, wird Wohlstand Frieden und Menschenrechte nicht nur
schwerlich ohne Marktwirtschaft zu ha- zu einem Wahlbündnis sondern zu einer
ben sein. eigenständigen Partei sehr am Herzen.

1.3.1990 Wahlkampf
für Bündnis 90, Gründung
des Landesverbandes
Sachsen des Neuen Forum
in Karl-Marx-Stadt
(heute Chemnitz)
46 | FRIEDLICHE REVOLUTION

Diese drei Organisationen vereinigten Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes


sich am 21. September 1991 in Potsdam der ehemaligen DDR. Als einer, der
zum BÜNDNIS 90. Die Zahl 90 wies sich schon lange mit dem Wirken der
auf das entscheidende Jahr 1990 hin, als Staatssicherheit auseinandergesetzt, zeit-
sich die drei Bürgerbewegungen zu einem weise sogar mit dieser Geheimpolizei
Wahlbündnis zusammenschlossen, und Katz und Maus gespielt hatte, durfte
steht noch heute im Namen der Partei. ich nun Kopien von Akten herausgeben.
Nach zähen Verhandlungen, die ich mit Vorrang hatten dabei die Opfer staat-
begleiten durfte, kam es dann im Mai licher Repression. Aber auch Forscher
1993 zur Vereinigung mit den westdeut- und Journalistinnen erhielten Unterlagen
schen GRÜNEN. zur Unterstützung ihrer aufklärerischen
Arbeit. Als Außenstellenleiter durfte ich
Eine weitere politische Karriere im verei- interessante Veranstaltungen in der erz-
nigten Deutschland strebte ich nicht an. gebirgischen und vogtländischen Region
Ich wurde Geschäftsführer einer land- moderieren. Die Bundesbeauftragte Ma­
kreiseigenen GmbH in Kirchberg, die rianne Birthler förderte diese Öffent­lich­
Alten- und Pflegeheime betreibt. Mein keitsarbeit und machte diese dadurch
Vertrag lief bis 1999. Wegen einiger zum Gegenstand der politischen Bildung.
Streitigkeiten mit dem Aufsichtsrat wur- Das Amt in dieser Behörde wurde zu
de mein Vertrag nicht verlängert. Nach einem Höhepunkt meiner wechselvollen
zweijähriger Arbeitslosigkeit wurde ich beruflichen Laufbahn. Ich übte es bis zu
im Dezember 2001 Leiter der Außenstelle meinem 63. Lebensjahr im Mai 2010
Chemnitz der Bundesbehörde für die aus.

November 1996 auf


der Bundesdelegierten­
konferenz der Grünen
in Suhl.
Mit Gunda Röstel (Mitte)
und Werner Schulz (links).
P O L I T I S C H E A K T I O N E N I N D E R D E M O K R AT I E | 47

Politische Aktionen in der Demokratie


Seit 2009 bin ich Stadtrat für Auf der Rückfahrt erinnerte ich mich an
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in die Demonstration am 1. Mai 1975 im
Zwickau. Außerdem engagiere ich mich dama­ligen Karl-Marx-Stadt, an der ich
seit Gründung des Martin-Luther- mit dem selbst gefertigten Transparent
King-Zentrums für Gewaltfreiheit und „FÜR DIE VER­WIRKLICHUNG
Zivilcourage 1998 in diesem kleinen DER MEN­SCHEN­RECHTE!“ teil-
Verein in Werdau. Doch dazu später nahm.
mehr. Auch in einer Demokratie ist Ähn­liches plante ich nun 28 Jahre spä-
manchmal ein Stück Zivilcourage vonnö- ter in Schnee­ berg. Diesmal schrieb
ten, wie folgende Erlebnisse zeigen. ich auf mein Plakat „ASYL IST
MENSCHENRECHT“. Das wollte
Im Jahr 2013 planten NPD und deren ich am Rande der NPD-Demo zeigen.
An­ hänger in Schneeberg (Erzgebirge) Die Polizei sah das jedoch anders. Sie
so genannte „Lichtlmärsche“, die sich ge- sag­te: „Gehen Sie zur Gegendemo, die
gen Asyl­suchende richteten. Ich fuhr ir- ist gleich nebenan!“ Das wollte ich aber
gendwann im Oktober hin und nahm in nicht. Schließlich erwartete ich von der
gebührendem Abstand von der rechts- Po­lizei, dass sie nicht nur die beiden De­
extremen Demo an einer Gegendemo monstrationen trenne, sondern dass sie
teil. Das behagte mir aber nicht sonder- auch für meine Sicherheit bei der rechts-
lich, weil ich eine direkte Kon­frontation extremen Kundgebung sorgen möge. Der
mit den Feinden des Asyl­rechts suchte. Polizist wollte das offenbar nicht und hin-

Am 16.11.2013 versuche
ich, mich in eine von der
NPD angemeldete auslän-
derfeindliche Kundgebung
einzureihen, was die Polizei
verhindert.
4 8 | P O L I T I S C H E A K T I O N E N I N D E R D E M O K R AT I E

derte mich auch weiterhin am Betreten Für mich ziehe ich aus vielen Aktionen
des Terrains der Rechtsextremisten. Und im Grenzbereich zur „strafrechtlichen
so blieb ich am Rande mit meinem Plakat Verant­wort­lichkeit“ (Stasi-Deutsch) fol­
stehen. Ein Freund fotografierte mich. gendes Fa­zit: Die Erinnerungen an frühe­
re, nicht un­gefähr­liche Aktionen in Zei­
Immer wieder versuchte ich, bei ten der DDR-Dik­ta­tur halfen mir, ähn-
PEGIDA und ähnlichen Aufmärschen liche Aktionen in einer Demokratie zu
mit einem selbst gefertigten Transparent probieren. Die Stasi hatte mich vor dem
aufzutreten. Ich sprach nun in der Regel 1. Mai 1976 in Karl-Marx-Stadt und
vorher mit Polizisten über meine Absicht am 1. Mai 1980 in Berlin zwar präventiv
und es gelang mir schließlich, sie von mei- verhaftet. Aber es blieb in der Re­gel bei
ner Harmlosigkeit zu überzeugen. Ne­ einem Tag, den ich in Gewahrsam ver­
ben meinem Asyl-Plakat verwendete ich bringen musste. In meiner Akte steht, ich
auch gern den Spruch FLUCHT IST sei ein „Demonstrativtäter“, also auch für
KEIN SPAZIERGANG, weil sich die die Stasi nicht so gefährlich, dass sie mich
PEGIDA-Anhänger in Zwickau auch für längere Zeit hätte einsperren oder
Spaziergänger nannten. In der Regel war vielleicht auch in den Westen abschieben
die Polizei in der Nähe und oft auch Jour­ wollen.
nalisten, die dann über meine kleinen Ak­
tionen in der lokalen Presse berichteten. Für mich selbst gestalteten sich diese
Meine Freunde betrachteten diese re­lativ Einzel­aktionen als Training in Gewalt­
harmlosen Aktionen zuweilen als Hel­ freiheit und Zivilcourage. Dass Ge­walt­
den­taten, was sie aber nun wirklich nicht freiheit nicht nur theoretisch studiert,
waren. Ich wurde zwar ab und zu von sondern auch praktisch eingeübt werden
den PEGIDA-Leuten beschimpft, aber musste, hatte ich von Martin Luther King
Prügel habe ich dabei noch nie bezogen. gelernt.
KOMMUNALES ENGAGEMENT IN ZWICKAU | 49

Kommunales Engagement in Zwickau


Zur Kommunalwahl 2009 kandidierte Von Anfang an war ich dabei und half
ich für den Stadtrat von Zwickau und mit, das Archiv Bürgerbewegung in-
wurde gewählt. Weil wir zwei Grüne nerhalb dieses Vereins aufzubauen und
keine eigene Fraktion im Stadtrat bilden gleichzeitig das Zentrum in einen Ort
konnten, schlossen wir uns mit der SPD der politischen Bildung zu verwandeln.
zu einer gemeinsamen Fraktion zusam- Einerseits beschäftigten wir uns mit
men. Die Zusammenarbeit verlief unpro- der Geschichte von Opposition und
blematisch. Wir konnten einige eigene Widerstand in der DDR. Andererseits
Anträge einbringen und um Mehrheiten befassen wir uns in Vortrags- und
im 48-köpfigen Stadtrat werben. Dabei Diskussionsveranstaltungen mit aktuel-
gereichte uns zum Vorteil, dass die len Problemen der Zivilgesellschaft. Es
Oberbürgermeisterin Dr. Pia Findeiß geht uns darum, die Demokratie ge-
ebenfalls der SPD angehörte und an vie- gen Angriffe von Rechtsextremisten,
len Fraktionssitzungen teilnahm. wie „III. Weg“, „Freie Sachsen“ oder
die Reichsbürger zu verteidigen. Seit
Im Jahr 1998 gründete mein langjäh- 2010 bin ich Vorstandsvorsitzender des
riger Freund Georg Meusel gemeinsam aus etwa 40 Mitgliedern bestehenden
mit Alexander Leistner und Akteuren Vereins.
der Friedensbewegung West und Ost
in Werdau das schon erwähnte Martin- Ein weiterer lokaler Verein ist erwäh-
Luther-King-Zentrum für Gewalt­ frei­ nenswert. Im Jahr 2013 entstand eine
heit und Zivilcourage. Die feierliche Partnerschaft der beiden Städte Zwickau
Er­öffnung fand im Wohnhaus des und Wolodymyr-Wolynskyj in der West­
Gründers Georg Meusel statt, wo im ukraine. Stadtrat Karl-Ernst Müller
Erd­geschoss gerade eine Wohnung frei hatte auf der Suche nach dem Grab
geworden war. In einem der Räume wur- seines Onkels, der im Juni 1941 etwa
de zum Zweck der Vereinsgründung von 20 km östlich der polnisch-sowjetischen
der Frankenhausener Friedensgruppe Grenze gefallen war, Freundschaften mit
un­ter Leitung von Matthias Kluge eine Menschen aus dem Dorf Laskiw in der
Aus­ stellung über Martin Luther King Nähe von Wolodymyr geschlossen. Sie
aufgebaut. Diese ist bis zum heutigen Tag hatten ihm das Gräberfeld gezeigt, wo
dauerhaft eingelagert, auch nach dem sein Onkel neben ukrainischen und rus-
Umzug des Zentrums mit seinem sischen Soldaten lag. Daraus entwickelten
Archiv in das jetzige Domizil in der sich regelmäßige Begegnungen zwischen
Stadtgutstraße. Men­schen aus Zwickau und der ukrai-
50 | KOMMUNALES ENGAGEMENT IN ZWICKAU

nischen Stadt mit 38.000 Einwohnern, Besucherinnen und Besucher aus der
die schließlich zum Abschluss der Ver­ Ukraine zur Ver­fügung, um die hohen
einbarung über Städtepartnerschaft Hotelkosten zu sparen.
führ­te. Im Zuge dessen gründete sich der Mit Beginn des Angriffskrieges Russlands
Ver­ein „Partnerschaft zur Ukraine e. V.“, gegen die Ukraine am 24. Februar 2022
in dem ich Mitglied bin. intensivierte sich die Städtepartnerschaft
Zwickau – Wolodymyr. Es entwickel­te
Mehrmals im Jahr gibt es Besuchsfahrten sich in der Zwickauer Bevöl­ke­rung eine
in beide Rich­tungen. Ich selbst habe bis- große Solidaritätswelle mit den Kriegs­
her dreimal an solchen Fahrten teilge- opfern, die sich in Demon­ stra­
tionen,
nommen. Außer­dem stellen meine Frau Friedensgebeten und humanitärer Hilfe
und ich unser Haus als Herberge für niederschlug.

Am 19. Februar 2022, vier Tage vor Beginn der russischen Invasion, fahre ich mit meinem Freund
Karl-Ernst Müller (rechts) nach Berlin, um am Brandenburger Tor an einer Solidaritätsaktion für die
Ukraine teilzunehmen. Zu dem Plakat hatte mich eine Rede des Bundespräsidenten inspiriert.
UND IMMER WIEDER MUSIK | 51

Und immer wieder Musik


Im Jahr 2012 nahm ich an der Sächsi­ Die ganze Sache machte mir sehr viel
schen Chor- und Instrumen­talwoche in Freude und ich durfte dann auch am
Hohen­ stein-Ernstthal als Sänger teil. Herbstkurs in Leipzig teilnehmen. Von
Dort wurde der „Lobgesang“ (2. Sinfonie) der Mendelssohn-Sinfonie reizte mich
von Mendelssohn-Bartholdy ein­stu­diert. besonders der 2. Satz im 6/8-Takt. Ich
Die Leitung hatte der ehemalige Gene­ bewunderte die Musiker, wie sie sich
ralmusikdirektor von Zwickau Georg scheinbar selbstverständlich dem Dirigat
Christoph Sandmann. eines Laien unterwarfen.
Nachdem ich also das Seminar in Leipzig
Nach einer Probe fragte er mich, ob ich einigermaßen erfolgreich absolviert hatte,
Lust hätte, an seinem Dirigierseminar nahm ich regelmäßig Privatunterricht bei
am Mendelssohnhaus in Leipzig teilzu- Herrn Sandmann. Schon im April 2013
nehmen. Ich sagte ihm, dass ich bis jetzt gab ich mein erstes Konzert. In „mei-
immer nur Orgel im Gottesdienst gespie- ner“ Versöhnungskirche in Zwickau-
lt hätte und ab und zu auch mal mit ein Neuplanitz führte ich die Solokantate
bisschen Chorleitung beauftragt wurde. „Ich habe genug“ von Johann Sebastian
„Dann sind Sie genau meine Zielgruppe!“ Bach auf. Die Basspartie sang mein
Ich fragte mich, ob ich mit 65 Jahren an- Freund Thomas Oertel aus Leipzig.
fangen sollte, Orchesterdirigieren zu ler- Es spielten der Oboist Xavier Duss
nen. aus der Vogtlandphilharmonie Greiz-
Reichenbach und das Kammerorchester
Nach kurzem Zögern sagte ich zu und des Robert-Schumann-Konservatoriums
meldete mich für den Herbstkurs an. Zwickau. Das wurde für mich am Ende
Dort sollte ebenfalls am „Lobgesang“ ge- meines 66. Lebensjahres eine wunder-
arbeitet werden. Zwischendurch nahm bare Premiere. Seit dieser Zeit habe ich
ich noch einige Unterrichtsstunden bei fast in jedem Jahr ein kleines Konzert
Herrn Sandmann in seiner Zwickauer dirigiert. Dazu suchte ich mir unter mei-
Wohnung, wo er mir zunächst bei- nen Freundinnen und Freunden jeweils
brachte, wie man eine Partitur vorberei- ein kleines Streichorchester aus. Einmal,
tet. Erst beim dritten Mal durfte ich diri- bei Mozarts Konzert für Flöte, Harfe
gieren und er saß am Klavier. Ich staunte und Orchester, spielten dazu auch noch
immer wieder, wie er so flüssig die riesige je zwei Oboen und Klarinetten. Bei der
Partitur spielen und dabei noch gleichzei- Suche nach den jungen Instrumentalisten
tig alle Fehler des Dirigenten beobachten half mir das Konservatorium ganz ent-
konnte. scheidend.
52 | UND IMMER WIEDER MUSIK

Nun plane ich, mein Ausscheiden aus dem Verfügung zu stellen. Wenn alles gut
Stadtrat mit einem kleinen Ab­schluss­ geht, könnte dieser Abschied aus der
konzert im Bürgersaal des Rathauses zu Kommunalpolitik (kein Abschied von
begehen. Dazu gab es bereits Gespräche der Musik) kurz vor der nächsten Kom­
mit der Oberbürgermeisterin Constance mu­nalwahl im Mai 2024 erfolgen.
Arndt und mit der Theater­leitung. Der
Intendant versprach mir sogar, die­ ses Schließ­lich darf man wohl mit 77 Jahren
kleine Konzert in das offizielle Pro­ aus der aktiven Kommunalpolitik aus-
gramm aufzunehmen und mir ausrei­ scheiden, was ja kein Abschied von Musik
chend Musikerinnen und Musiker zur und Politik sein muss.

Geduld aber bringt Erfahrung;


Erfahrung aber bringt Hoffnung;
Hoffnung aber lässt nicht zu Schanden werden.
Römerbrief Kap. 5
SCHLUSSBETRACHTUNG | 53

Schlussbetrachtung
42 Jahre meines Lebens habe ich in einer als einen Kompromiss, ganz im Gegen­
Diktatur verbracht. Es wäre schön, wenn satz zu meinen damaligen Kolleginnen
ich mindestens genauso lange in der und Kolle­gen. Diese betrachteten mich
Demokratie leben könnte. Dabei werde bis zum Jahr 1989 als Nörgler, Spinner
ich in Ostdeutschland bleiben, obwohl und realitätsfernen Widerspruchsgeist.
es der Teil unseres Landes ist, der stär- Die­ses Bild über mich änderte sich in
ker von Putinfreundlichkeit und rechtem der ostdeutschen Bevölkerungsmehrheit
Gedankengut geprägt ist als der westliche im Herbst 1989 schlagartig. Plötzlich
Teil unseres Vaterlandes. Ob sich das war ich kein Spinner mehr, sondern ein
ändern lässt? Ja, zum Beispiel durch das Held.
Reden und Schreiben über das Leben im
Osten, wie ich es mit dieser Autobiografie Ob sich das Selbstbild der angepassten
versuche. ostdeutschen Bevölkerung in diesem
Herbst ebenso schlagartig veränderte?
Die überwiegende Mehrheit der Ost­deut­ Ich denke, dass dies nicht der Fall war.
schen meiner Generation hatte sich an die Wer möchte schon die Leistung in der er-
Herrschaftsverhältnisse der DDR ange- sten Hälfte seines Lebens gering achten?
passt. Diese Menschen gingen selbstver- Deswegen beobachte ich in der hiesigen
ständlich zur Wahl, um ohne Benutzung Bevölkerung eine Hinwendung zum auto-
eines Stiftes die Stimmzettel in die Urne ritären Russland. So wie man damals den
zu werfen. Sie beteiligten sich gewohn- Widerstand gegen das SED-Regime als
heitsmäßig an den Demonstrationen illusionär abqualifizierte und damit seine
zum 1. Mai, die die Verbundenheit der Anpassung an dieses Regime rechtfertig-
Bevölkerung mit der Regie­ rung sicht- te, so sieht man jetzt die Verteidigung der
bar machen sollte. Sie waren Mit­glieder Ukraine gegen die russische Aggression
im sogenannten Freien Deutschen Ge­ als illusionär an. Für mich stellt sich die
werkschaftsbund (FDGB), der alles an- Frage, ob das Bild Wolodymyr Selenskyjs
dere als eine Gewerkschaft war. Ich geste- in der ostdeutschen Bevölkerung sich
he, dass auch ich nach einigem Drängen irgendwann auch vom Spinner zum
der Betriebsleitung in mei­ nem ersten Helden wandeln wird. Ich hoffe, dass ich
Arbeits­verhältnis in diese Pseudo­gewerk­ diesen Umdenkungsprozess noch erleben
schaft ein­trat. Darauf kann ich zwar nicht werde. Aber er wird wohl erst mit dem
stolz sein, aber ich betrachte diesen Schritt Sieg der Ukraine beginnen.

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