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2011 Book Bildungssoziologie Karl Mannheim Kopie 2
2011 Book Bildungssoziologie Karl Mannheim Kopie 2
Karl Mannheim wurde 1893 in Budapest geboren. Sein Vater war Textilhändler
und seine Mutter Hausfrau. Mannheim war Jude. Er besuchte das Gymnasium
und begann sein Philosophiestudium in Budapest. 1912 wechselte er nach
Deutschland, wo er in Berlin, Freiburg und Heidelberg bei Simmel, Heidegger,
Husserl, Racker!, Max und Alfred Weber studierte. 1918 promovierte Mannheim
mit der Arbeit "Strukturanalyse der Erkenntnistheorie". 1926 folgte seine Habili-
tation an der Universität Heidelberg mit seiner Arbeit, die 1984 unter dem Titel
,,Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens" veröffentlicht wurde.
1926 begann er als Privatdozent in Heidelberg zu arbeiten. 1930 erfolgte seine
erste Berufung als Professor für Soziologie und Nationalökonomie in Frankfurt
am Main. 1933 emigrierte Mannheim nach England, wo er zunächst als Lecturer
für Soziologie an der London Schools of Economies lehrte. Mannheim wurde
,,Daher müssen wir unsere Aufmerksamkeit darauf richten, was die Gesellschaft vou
ihren Mitgliedern erwartet. ( ... ) Wenn wir also die Erziehung untersuchen, müssen
wir unsere Aufmerksamkeit auf die Soziologie richten, weil sie Zusammenhänge
darstellt, in denen sich psychologische und philosophische Interpretatiouen ausdrü-
cken lassen" (Mannheim/Stewart 1973: 28).
In diesem Zitat kommt neben der Bedeutung der Soziologie für die Erziehungs-
wissenschaft auch Mannbeims und Stewarts Präferenz für multidisziplinäres
Arbeiten und ihr Bezug zu Nachbardisziplinen der Soziologie zum Ausdruck.
Die Soziologie ist für die Erziehung wichtig, weil Erzieherinnen und LehrerIn-
nen ohne ein Verständnis der Gesellschaft auch nicht in der Lage sind, die Men-
schen, die sie erziehen, auf diese Gesellschaft vorzubereiten.
Nun machen Mannbeim und Stewart eine interessante Ergänzung: ,,Dem
Verständnis sozialer Institutionen und ihren offenkundigen Auswirkungen müs-
sen wir die Erkenntnis hinzufügen, dass diese Institutionen latente Einflüsse
ausstrahlen" (MannbeimlStewart 1973: 28). Die soziologische Anslyse, die für
Erziehung wichtig ist, soll sich also auch auf nicht offen deklarierte oder unmit-
telbar erkennbare Einflüsse sozialer Institutionen erstrecken und diese zum Vor-
schein bringen, da auch diese latenten Einflüsse für die Erziehung bedeutsam
sind. Mit latenten Einflüssen ist folgendes gemeint:
,,Hinter dieser augenfiilligen Fassade steht die Routine des Schulbesuchs, der Pünkt-
lichkeit, der Unterordnung unter die Autorität, der Ruhe in der Klasse, der Anerken-
nung der Hierarchie - Präfekten, Lehrer, Direktoren. Diese Faktoren stellen den la-
tenten Inhalt dar, den der Schulorganisation zugrunde liegenden Effekt Was ich den
,manifesten' Inhalt der schulischen Arbeit genannte habe, wird durch das aktive
Lernen dargestellt. Der latente Inhalt wird durch das passive Lernen dargestellt, das
heißt durch die Gewohnheiten, die Daten, die durch regehnäßigen, vertrauten, steti-
gen Kontakt ntit einem Zustand über den wir nicht mehr nachzudenken brauchen"
(Mannheim/Stewart 1973: 162-163).
Sie sprechen von den Anordnungen des Mobiliars im Klassemaum, die dazu da
sind, die Aufmerksamkeit zu definieren. ,,Das Pult trägt dazu bei, den Ernst des
erwarteten Verhaltens anzudeuten; die Reihen sollen die Ordnung in Planung
und Benehmen demonstrieren, die die Lehrer von ihren Schülern erwarten, und
die Sitzordnung stellt als Ganzes eine ,Einheit' für den Unterricht im Klassen-
raum dar" (MannbeimlStewart 1973: 160). Mannbeim und Stewart schildern,
dass der Lehrer als Einziger frei umhergehen darf. Sie kommen zur Bedeutung
physischer Beziehungen in Erziehungs- und Lernprozessen: ,,Die physischen
Beziehungen sind von Bedeutung, weil sie das sehr oft undurchdachte Grundge-
rüst abgeben, auf dem sich die Beziehungen im Klassenraum und die Einstellun-
gen hinsichtlich der Lehrer-Schüler-Arbeit aufbauen" (MannbeimlStewart 1973:
32 3. Kapitel: Karl Mannheitn: Soziologisches Wissen als Voraussetzung fiir Erziehung
161). Manniteim und Stewart verdeutlichen mit ihrer Erweiterung der soziologi-
schen Analyse durch Einbeziehung latenter Einflüsse, dass sich soziale Bezie-
hungen, Wabrnebmungen, Handlungen und soziale Strukturen auch auf dieser
Ebene abspielen. Anband ihrer Beispiele führen sie ausgewählte Bereiche in der
Schule als eine zentrale Erziehungs- und Bildungseinrichtung vor. Ich werde im
siebenten Kapitel mit Foucault noch stärker auf diesen Bereich der latenten Ein-
flüsse eingehen.
Es soll nun eine weitere Begründung für die Notwendigkeit soziologischen
Wissens für Erziehung und Unterricht erläutert werdeu. Da Mannheim von der
sozialen Einbettung von Erziehung ausgeht, kann diese auch nicht isoliert in
formalen, für Erziehung vorgesehenen Einrichtungen stattfmden, sondern muss
in Einklang gebracht werden mit weiteren Institutionen, die eine Rolle im Leben
der Kinder und Jugendlichen spielen. Verschiedene erzieherische Einrichtungen
wie Heime oder Fürsorger sollen zusammen mit der Schule und untereinander
arbeiten (vgl. Manniteim 1951). In der späteren Schrift erweitern Manniteim und
Stewart diese Forderung:
Es gibt ihrer Ansicht nach drei Gründe für die Ausweitung des Erziehungsbe-
griffs:
Zum ersten Punkt: In einer demokratischen Gesellschaft wird nicht mehr nur
noch ein kleiner Teil der Bevölkerung - die Elite - erzogen bzw. unterrichtet,
sondern alle Kinder und Jugendliche erhalten Unterricht. ,,Die Verbreitung des
Ideals der allgemein bildenden Erziehung musste das, was gelehrt wurde, und die
ganze Vorstellung dessen, wie es gelehrt werden sollte, umwandeln" (Mann-
3. Kapitel: Karl Mannheim: Soziologisches Wissen als Voraussetzung fiir EIZiehung 33
Ich komme nun zu Mauuheims zweitem Gedanken, dem, dass Erziehung der
Schaffung eines bestimmten menschlichen Typen dienen soll. Dieses normative
Ziel von Erziehung rührt ebenfalls unmittelbar aus der Erfahrung des National-
sozialismus her:
"Obwohl die Gründe, die zu ihrem Zusannnenbruch fiihrten, sehr kompliziert waren,
und in erster Linie auf die Mängel der modernen wirtschaftlichen und politischen
Ordnung zurückzufiihren sind, kann niemand leugnen, dass das Fehlen jedes geisti-
gen Widerstandes zu diesem Zusannnenbruch wesentlich beigetragen hat. Es war
nicht nur die Tatsache, dass das Erziehungssystem jener Länder fiir Massenerzie-
hung ungeeignet war, auch die außerhalb der Schule wirkenden psychologischen
Vorgänge wurden sozial nicht wirklich integriert und führten so notwendigerweise
zu Chaos und Auflösung" (Mannheitn 1951: 105).
vom Beitrag der Erziehung und Bildung zur Reproduktion von Gesellschaft zu
ihrem möglichen Beitrag zur Heratellung einer neuen Gesellschaft. Dies ist eine
Verbindung von soziologischer und normativer Perapektive auf Erziehung und
Bildung.
Abschließende Betrachtung
Eio großes Verdienst von Manoheim, neben der Demonstration der Bedeutung
der Soziologie für Erziehung und Bildung, ist seio Hioweis auf den Einfluss der
sozialen Gruppe und damit seioe Abkehr von der Erziehung des einzeluen Men-
schen, der losgelöst von Familie und peers konzipiert wurde. Diese Erweiterung
ist für heutige Erziehungseinrichtungen und -methoden selbstveratändlich. Aller-
dings kann dieser weite Erziehungsbegriff auch problematisch seio, da eine Ab-
grenzung zu lebenslanger Sozialisation schwierig wird. Bei Manoheim ist alles,
was auf Menschen einwirkt, wichtig für Erziehung, und so ist es schwer, Erzie-
hung als eioen spezifischen gesellschaftlichen Bereich eiozugrenzen.
Auch Manoheims normative Perspektive auf Erziehung und Bildung ist we-
nig trennscharf, da sie kaum iohaltlich gefiillt ist. Außer, dass Menschen sich
demokratisch verhalten sollen, wird kaum klar, was diesen neuen Menschenty-
pus, der durch Erziehung und Bildung geschaffen werden soll, ausmachen soll.
Manoheims bildungssoziologischer Beitrag ist wichtig, da er zeigt, wie
Verbiodungen und Zugriffe auf unterachiedliche Disziplinen fruchtbar gemacht
werden können.