Sie sind auf Seite 1von 789

Adorno

Theodor W.

Vorträge
1949–1968
Suhrkamp
SV
Theodor W. Adorno
Nachgelassene Schriften
Herausgegeben vom
Theodor W. Adorno Archiv

Abteilung V:
Vorträge und Gespräche
Band 1

Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)


Theodor W. Adorno
Vorträge
1949-1968

Herausgegeben von
Michael Schwarz

Suhrkamp

Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)


Düsseldorf Sa,
Nov 26th 2022, 16:25

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2019.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek


Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2019


© Suhrkamp Verlag Berlin 2019
Alle Rechte vorbehalten,
insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags
sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen,
auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form
(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)
ohne schriftliche Genehmigung des Verlages
reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme
verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Für Inhalte von Webseiten Dritter,
auf die in diesem Werk verwiesen wird,
ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich,
wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte
waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.
eISBN 978-3-518-76139-7
www.suhrkamp.de

Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)


Inhalt

Vorträge
Städtebau und Gesellschaftsordnung (1949) . . . . . 9
Die Aktualität der Soziologie (1951) . . . . . . . . . . 30
Ad Proust (1954) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
Zur Einführung in die neue Musik (1954) . . . . . . 77
Zum Verhältnis von Individuum und Gesellschaft
heute (1957) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
Kultur und Culture (1957) . . . . . . . . . . . . . . . . 156
Abhängigkeit des Ausbildungszieles von den Stu-
denten und ihren Erwartungen (1957) . . . . . . . . 177
Die menschliche Gesellschaft heute (1957) . . . . . 189
Probleme der Musikkritik (1958) . . . . . . . . . . . . 223
Die autoritäre Persönlichkeit (1960) . . . . . . . . . . 239
Die Einheit von Forschung und Lehre unter den ge-
sellschaftlichen Bedingungen des 19. und 20. Jahr-
hunderts (1961) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265
Musikalische Bildung heute (1962) . . . . . . . . . . . 300
Improvisationen über Wedekind (1962) . . . . . . . . 330
Ist Aberglaube harmlos? (1962) . . . . . . . . . . . . . 352
Der Begriff der politischen Bildung (1963) . . . . . 377
Richard Strauss – Fragen der kompositorischen
Technik (1964) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387
Die Formprinzipien der zeitgenössischen Musik
(1966) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419
Aspekte des neuen Rechtsradikalismus (1967) . . . 440
Die Musik im Europa von heute – Deutschland
(1968) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468
Einführung zur Aufführung des Pierrot lunaire
(1968) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485
Stichworte zu den Vorträgen . . . . . . . . . . . . . . . . 499
Anmerkungen des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . 589
Editorische Nachbemerkung . . .. . . . . . . . . . . . . . . . 761
Register . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . 771

Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)


Vorträge
1949-1968
Städtebau und Gesellschaftsordnung
9. 12. 1949

[. . .]1 Die Frage der Schönheit einer Stadt ist ein Problem im
Sinne der Kunstästhetik schlechterdings. Wenn wir von der
Schönheit einer Stadt reden, dann meinen wir dabei eigent-
lich nicht die bloß formale Schönheit der Gebilde, und wir
meinen sicher auch nicht das, was wir ›Ausdruck‹ in her-
kömmlichem Sinne in einer Dichtung oder in der Musik
nennen, sondern in einem bestimmten Sinne nimmt die
Schönheit der Stadt – wenn ich einmal in philosophischen
Begriffen reden darf – eine Art von Mittelstellung ein zwi-
schen dem Naturschönen und dem Kunstschönen, das heißt,
es ist gar nicht so, daß die bestimmt geprägte Intention, die
eindeutige Idee, die einer Stadt zugrunde liegt, über ihre
Schönheit entscheidet, sondern das, was uns an einer Stadt,
etwa an einer alten Stadt wie Bamberg oder Rothenburg als
schön anspricht, das ist ein merkwürdiges Verschlungen-Sein
von Formen und organischer Entwicklung auf der einen Seite
und der Spur des Geschichtlichen auf der anderen Seite, das
sich dann in eine Art von Ausdruck verwandelt und zu uns re-
det. Der Ausdruck einer Stadt ist das Gewesene, was [als] die
Geschichte, das Vergangene aus dem Gegenwärtigen zu uns
spricht.
Ich glaube, jede Betrachtung der Schönheit einer Stadt, die
sich auf eines der beiden Momente, also auf das Moment der
Kunstschönheit auf der einen Seite und dieses eigenartige
Moment der historischen Schönheit auf der anderen festlegen
wollte, würde eigentlich das Phänomen verfehlen. Die ganze
Fragestellung nach der Stadt als einem Kunstschönen gehört
einer außerordentlich späten Phase an. Sie ist wohl hervorge-
gangen aus den Reformbestrebungen, die in England Denker
wie Ruskin und William Morris im 19. Jahrhundert eingelei-
tet haben als Reaktion zur Industrialisierung.2 Diese Bestre-
bungen haben in Deutschland eigentlich im Jugendstil dann
zu der Konsequenz des planvoll Schönen im Städtebau ge-

9
führt, das gerade Ihnen hier in Darmstadt von der Künstler-
kolonie3 her in einem der schönsten Beispiele vertraut ist.
Diese Konzeption der Stadt als eines Kunstschönen setzt4
eigentlich voraus, daß das historische Element des Schönen
im Städtebau nicht mehr trägt, daß es frei schwingt. Die
Schönheit der Stadt ist etwas, was gemacht, was hergestellt
werden muß, anstatt daß es sich in dieser Schwebe zwischen
den Elementen bildet. Das Problem, das sich an dieser Stelle
ergibt, ist bereits ein gesellschaftliches Problem. Es deutet
nämlich zurück auf die Situation des Bürgertums, die sich
daraus ergibt, daß auf der einen Seite das Bürgertum seinem
ökonomischen Prinzip nach, also dem ungebundenen, ent-
fesselten Unternehmerkapitalismus nach, ein wildes Bauen
entbunden hat, auf der anderen Seite aber der Verwüstung,
die dieses wilde Bauen angerichtet hat, sich selber bewußt
wird und nun versucht, von seinen eigenen Voraussetzungen,
von seinem eigenen Boden dieses gesellschaftlich verursachte
Unglück mit rein ästhetischen Mitteln zu heilen. Es ist ohne
Zweifel ein gesellschaftliches Problem, ob es möglich ist, daß
eine bestimmte Gesellschaftsordnung Verstümmelungen oder
Bindungen, die mit ihr regelmäßig verbunden sind, dadurch
heilt, daß sie auf sie reflektiert und auf Grund von ästheti-
schen Spekulationen verfährt. Sie alle wissen ja, daß dann die
Bewegung der ›Neuen Sachlichkeit‹ in einem weitesten Sinne
genau jene Bestrebungen eines freischwebenden Schönen in
der Architektur, das aus sich selbst heraus lebt und nur für sich
selbst sein will, auf das eindringlichste entwickelt hat. Dies
läuft in Wahrheit darauf hinaus, ob jene Form der Gesell-
schaft, der die Auflösung jedes traditionellen Stils wesentlich
ist, aus ihrem Wollen und aus Freiheit über ihre historische
Bestimmung hinweg einen solchen Stil wieder schafft.
Sie sehen an diesem ersten Beispiel bereits, daß Fragen des
Städtebaus unlöslich verbunden sind mit dem Kreis der Ge-
sellschaft, innerhalb dessen er sich abspielt. Ich glaube aber,
daß die Betrachtungsweise, die ich in einem weitesten Sinne
›kommunalpolitisch‹ nennen möchte, genauso unangemessen

10
ist wie die rein ästhetische Betrachtungsweise, und zwar nicht
bloß deshalb, weil sie partiell ist und weil sie es versäumt,
anstelle von Zusammenhängen zwischen der Gesellschaft nur
gleichsam Probleme beschränkter Art, wie Zusammenset-
zung einer Gruppe, berufsmäßiger Aufbau einer Stadt, Be-
völkerungsstatistik und andere Dinge anstelle der Struktur zu
setzen. Das ist es gar nicht, sondern ich glaube – und das ist
wahrscheinlich ein Problem, das Ihnen aus Ihrer eigentlichen
Arbeit her ständig vertraut ist, das ich aber vielleicht doch
als Gesellschaftstheoretiker einmal anführen muß –, daß der
kommunalpolitische Blick fast notwendig gleichbedeutend
ist mit einem verwaltungsmäßigen, mit einem administrati-
ven Blick. Es scheint in dem Wesen eines solchen Blickes zu
liegen, wenn der Städtebau vom Spezialisten aus als ein Pro-
blem erfaßt wird, das von oben her, also von denen aus, die
kraft der gesellschaftlichen Arbeitsteilung dazu autorisiert
sind, gelöst wird, daß aber eigentlich die Menschen, für die
gebaut wird, dabei verhältnismäßig wenig zu sagen haben. Ich
lasse es dahingestellt, ob die Menschen, für die gebaut wird,
jemals so viel zu sagen hatten, wie es vielleicht der romanti-
schen Anschauung erscheint. Das ist wahrscheinlich nicht der
Fall gewesen. Aber immerhin wird von vornherein der Be-
wohner durch den kommunalpolitischen Blick – ich möchte
beinahe sagen – zu einem Objekt gemacht, anstatt daß er das
Subjekt wird. Darin reflektiert sich wieder ein gesellschaft-
liches Moment, daß unsere Gesellschaft so ist, daß die Men-
schen, die ihr angehören, in einem weitesten Maße gar nicht
über ihr eigenes Schicksal frei befinden können, gar nicht ihre
eigene Existenz wirklich frei selbst bestimmen, sondern daß
sie in einem allerweitesten Maße abhängig sind von objekti-
ven gesellschaftlichen Strukturen, die sie an diese und keine
andere Stelle verweisen, denen sie gehorchen, denen sie sich
fügen müssen. Wenn ich hier gleich einmal mit der Frechheit
eines Philosophen eine Forderung anmelden darf, dann wäre
es die, daß es eine der wichtigsten Aufgaben für den Städte-
planer ist, daß er nicht die eigene Situation verabsolutiert,

11
sondern daß er sich dieses Verhältnis, das ich zu umreißen ver-
sucht habe, bewußtmacht und daß er versucht, in jedem Au-
genblick den Bewohner nicht als das Objekt zu sehen, das an
diese oder jene Stelle gebracht werden, für das gebaut werden
muß, der aber eigentlich der höheren Einsicht sich zu fügen
hat, sondern daß die Reflexion auf den Menschen selber
eigentlich das wichtigste Anliegen ist, das dahintersteht. Mit
anderen Worten, ich glaube, wir dürfen bei der Frage des Wie-
deraufbaus der Städte nicht der allgemeinen Verdinglichung
verfallen, die darin besteht, daß Menschen Objekte der Insti-
tutionen sind, und nicht, daß die Institutionen um der Men-
schen willen da sind.
Nun lassen Sie mich gleich an dieser Stelle den Verdacht
der Naivetät ablehnen. Ich weiß so gut wie irgendeiner von
Ihnen, daß eine solche Forderung viel leichter aufgestellt als
durchgeführt ist. Ich weiß so gut wie Sie, daß wenn man alle
Menschen etwa drauflosbauen ließe, wie sie es selber wollen,
daß dann nicht nur Greuel herauskämen, sondern wahr-
scheinlich auch Dinge, die in keiner Weise praktikabel wären.
Aber es ist doch ein Unterschied. Der Unterschied ist etwa
der, wie Sie ihn in der Medizin beobachten können, wo es
unzählige Kliniken gibt, bei denen Sie, wenn Sie hineinge-
hen, das Gefühl haben, daß Sie wirklich die Objekte der Kli-
nik sind und daß Sie eigentlich um der Klinik willen da sind
und nicht die Klinik um Ihretwillen. In einer gut geleiteten
Klinik wird man aber doch merken, daß das, was mit den Pa-
tienten geschieht, nicht nur abstrakt, sondern in einer kon-
kreten Rücksicht auf die einzelnen Menschen geschieht. Wie
das möglich ist, ob es etwa ratsam wäre, wenn man ständige
Beiräte aus der Bevölkerung ernennen würde, die bei dem
Plan der wiederaufzubauenden Stadt mitwirken, darüber steht
mir kein Urteil zu. Ich könnte mir vorstellen, daß das Arbei-
ten mit solchen Beiräten keineswegs durchaus erfreulich wäre.
Aber ich könnte mir auf der anderen Seite doch vorstellen,
daß, soweit es sich nicht um die Platzgestaltung handelt, son-
dern soweit es sich um die wirklich menschlichen Anliegen

12
handelt, die dabei zu berücksichtigen sind, daß ein solcher
ständiger Kontakt mit den Menschen anstatt ihrer bloßen
Einordnung in die Zellen und Pläne sich als sehr vorteilhaft
erweisen würde.
Sie haben danach ungefähr gesehen, in welcher Weise ich
das zu umreißen vorhatte, wovon ich Ihnen sprechen wollte.
Was ich vorhabe, ist zweierlei. Ich möchte Ihnen einzelne
Beispiele geben für die Verflechtung von Städtebau und Ge-
sellschaft, die sich mir historisch aufdrängen, und ich möchte
dann in einem kurzen Schlußteil ein paar Folgerungen daraus
ziehen in bezug auf die gegenwärtige Situation.
Zunächst zur Frage von Städtebau und Gesellschaft als ei-
ner historischen Frage. Das prinzipielle Beispiel, das ich dazu
geben möchte, das eigentlich kein Beispiel ist, sondern das
diese ganze Problematik behandelt, ist der Unterschied, der
Ihnen allen aus der Literatur vertraut ist, von sogenannten
spontan entstandenen und sogenannten geplanten, planmäßig
entstandenen Werken. Ich hatte Gelegenheit, über diese Fra-
ge wenige Worte mit Herrn Prof. Gruber5 zu sprechen, und
ich freue mich, daß er mir meinen Verdacht bestätigt hat, daß
es wahrscheinlich auch bei der mittelalterlichen Stadt mit der
Spontaneität nicht so weit her ist, wie wir gedacht haben,
sondern daß in Wirklichkeit wahrscheinlich alle oder ein un-
endlich großer Teil von Städten nicht so organisch gewachsen
sind, wie es aussieht, sondern ihnen in gewissem Sinne ein
Plan zukommt. Aber es mag sich verhalten, wie es wolle. Ich
glaube, daß dieser Unterschied von gewachsenen und spon-
tan entstandenen Städten ein gesellschaftlicher Antagonis-
mus, ein gesellschaftlicher Widerspruch ist, der sich greifen
läßt, der eigentlich durch die ganze bisherige Geschichte oder
Vorgeschichte sich hindurchzieht. Nämlich auf der einen
Seite haben die geplanten Städte, also die in einem drasti-
schen Sinne geplanten Städte – jeder weiß in Deutschland von
Mannheim,6 um eines der ausgeprägtesten Beispiele zu nen-
nen –, die den Vorteil der Rationalität haben, den Vorteil, daß
in ihnen der Schmutz des Irrationalen in einem weitesten

13
Sinne vermieden wird, daß sie Licht und Luft haben, daß sie
in einem bestimmten Sinne den Lebensbedürfnissen und den
Verkehrsbedürfnissen angemessen sind. Sie haben aber auf der
anderen Seite an diesen Städten immer das Gefühl – vielleicht
kann man sagen – der Entfremdung, das Gefühl, daß diese
Städte den Menschen als gewaltsam von außen ihnen aufge-
zwungen gegenüberstehen. Anders ist es bei den Städten, die
uns heute als romantische Städte erscheinen, so daß sie zwar
den Menschen nahe sind, daß in ihnen jener Widerspruch des
von oben her Gesehenen und des einzelmenschlichen Da-
seins weitgehend überwunden erscheint, daß aber dafür diese
Städte den sinnvoll verstandenen Bedürfnissen der Menschen
nicht angemessen erscheinen. Es ist wahrscheinlich so, daß
die ganze bisherige Geschichte unter diesem Antagonismus,
unter dieser Antagonie von Rationalität und Irrationalität
steht, daß die Irrationalität auf der einen Seite dem Mensch-
lichen in einem höheren Maße Rechnung trägt als das Ge-
plante, daß sie dann aber gleichzeitig als eine rückständige
und den Menschen Leid zufügende Form sich erweist, wäh-
rend die Rationalität das Moment des Fortschrittlichen auf-
zeigt, des Planvollen, dafür aber nicht eigentlich das Anliegen
der Menschen selber ist, sondern etwas, was von oben her,
von Herrschaft her ihnen aufgezwungen und angetragen ist.
Wenn wir einmal annehmen, daß dieser Antagonismus von
Irrationalität und Rationalität als ein Unauflösliches wirklich
die Geschichte durchdringt, dann wäre wohl die Hypothese
nicht zu weit hergeholt, daß er sich schlechterdings schließt
erst in einer wahrhaft demokratischen, in einer ihrem Inhalt
nach demokratischen Gesellschaft, in der die Menschen wirk-
lich die Meister ihres eigenen Schicksals, die Subjekte der
Gesellschaft und nicht deren Objekte wären.
Nun lassen Sie mich in diesem Zusammenhang gleich
kommen auf die beliebte Frage nach dem Grund der Schön-
heit mittelalterlicher Städte. Diese Frage wird ja gewöhnlich
so gestellt, daß man fragt: ›Sind diese Städte wirklich geplant
gewesen oder haben sie ihre Schönheit lediglich der hand-

14
werklichen Tradition zu verdanken?‹ Aber lassen Sie mich
einmal von der Frage absehen, ob diese sogenannte ästheti-
sche Schönheit eine rein ästhetische ist oder ob in sie irgend-
ein Moment von Sehnsucht eingeht, das von uns projiziert
wird, das rein ästhetisch gar nicht zu messen ist, sondern lassen
Sie uns einmal diese Schönheit so unterstellen, wie sie gerade
zu uns gesprochen hat, wenn wir unvoreingenommenen Sin-
nes nach Würzburg oder nach Bamberg gekommen sind. Da
möchte ich doch wenigstens unterstellen, daß die Frage nach
dem Grund jener Schönheit vielleicht nicht in dem Problem
zwischen Städteplanung und Tradition liegt, sondern in der
gesellschaftlichen Struktur, die bei jenen Städten zugrunde
lag. Das waren ja durchweg Gebilde der einfachen Markt-
wirtschaft, in denen zwar wohl für den Markt produziert
wurde, aber in der die Produktionsmittel von den Produzie-
renden noch nicht getrennt waren, in denen die gesamten
Verhältnisse übersichtlich waren und in denen vor allem auch
aus einer Reihe von soziologischen und ökonomischen
Gründen, die ich jetzt nicht ausführen kann, die Struktur des
Gemeinwesens selber einen weitgehend statischen Charakter
hatte, sich nicht wesentlich weiterentwickelt hat. Nehmen
Sie nun einmal eine solche Struktur einer relativ statischen
und weitgehend noch hauswirtschaftlich gebundenen Markt-
wirtschaft an, dann ist es so, daß innerhalb dieser Stadtkerne
ein so weites Maß der Übereinstimmung des industriellen
Interesses der Bürger und des Gesamtinteresses der Stadt
herrscht, daß eben durch diese zugrundeliegende Gesell-
schaftsstrukur von selbst, einfach weil hier kein Antagonismus
zwischen dem einzelnen und dem Ganzen besteht, jene Art
von Harmonie zwischen dem Vielseitigen und der Einheit
zustande gekommen ist, welche uns als die Schönheit an den
mittelalterlichen Städten so anspricht. Es wäre also die Lösung
dieser Frage gar nicht so sehr darin zu suchen, ob nun irgend-
welche Bauherren sich das ausgesucht haben oder ob die
Handwerker es von selbst gemacht haben, sondern sie würde
einfach darin liegen, daß die Bedürfnisse jedes einzelnen ihn

15
dazu vermocht haben, genau so zu bauen, wie es dann dem
sich erhaltenden Ganzen eigentlich angemessen gewesen ist.
Sie können hier sehen, daß selbst ein solch scheinbar rein äs-
thetisches Problem, das der besonderen Schönheit der mittel-
alterlichen Städte, auf eine spezifisch gesellschaftliche Formel,
auf die statisch soziologische Form, innerhalb deren sich diese
Städte gebildet haben, zurückzuführen ist. Nebenbei gesagt,
eine der berühmtesten Signaturen dieser Schönheit ist ja, daß
die Straßen damals durchweg Fluchtpunkte gegeben haben
und daß infolgedessen eine Art von guter Endlichkeit in die-
sen Straßen vorgelegen hat. Dies ist nur wieder gesellschaft-
lich und historisch bedingt. Diese Begrenztheit der Straßen
erklärt sich nur aus ihrem gesellschaftlichen Zweck, daß die
Städte sich selbst genügten und im Prinzip nicht über sich
hinauswiesen. Nicht, daß kein Verkehr gewesen wäre zwi-
schen den Städten, selbstverständlich war er, trotzdem bildete
die Stadt in ihrem Hauptgewicht in sich eine geschlossene
ökonomische Einheit. Bei den heutigen Städten, bei denen
das nicht mehr der Fall ist, wäre der Gedanke, die einzel-
nen Straßen derart durch besondere zielhafte Gebäude abzu-
schließen, ein Widersinn und wäre gar nicht durchzuführen.
Es ist vielleicht überhaupt so, daß die überkommene ästheti-
sche Lehre, daß nur solche begrenzten Straßen eigentlich
schön seien, sich auch in anderen Künsten wie in der Musik
dahin geändert hat, daß es eine Schönheit des Unendlichen,
des nicht Abgeschlossenen, des Fragmentarischen gibt, die
auf einer ganz anderen Ebene liegt, während ich es für denk-
bar halte, daß unsere Städteästhetik noch auf dem Standpunkt
der klassischen Begrenztheit steht, die für die künstlerische
Entwicklungsfreiheit überholt ist.
Ein weiteres Problem ist das Problem des Mietshauses. Ich
sagte Ihnen bereits vorhin, es ist eine erstaunliche Tatsache,
daß es über das ungeheuer wichtige Problem des Mietshauses
kaum eine Literatur gibt. Es ist wohl entstanden aus dem ›hô-
tel‹ der französischen Entwicklung, das ursprünglich für die
Adligen Wohnung war und das sich dann allmählich schon im

16
17. Jahrhundert in das Mietshaus verwandelt hat. Ich möchte
auf das generelle Problem des Mietshauses hier gar nicht ein-
gehen, vor allem deshalb, weil das Material, das hierüber vor-
liegt – sieht man etwa von den Schriften von Werner Hege-
mann7 ab –, außerordentlich beschränkt ist. Ich möchte Sie
auf ein spezifisches Problem dabei hinweisen. Wir sind ge-
wöhnt, im allgemeinen sehr abschätzig von dem Typus der
Mietskasernen zu reden. Diejenigen von Ihnen aber, die ro-
manische Länder kennen, vor allem die, die Paris kennen,
werden von dorther einen Typus des Mietshauses kennen,
dem all das Abschreckende, das Abscheuliche, das den Miets-
häusern des 19. Jahrhunderts eignet, ganz und gar abgeht. Sie
werden darauf sofort sagen: ›Diese schönen Mietshäuser, wie
sie in Paris stehen, diese hohen schönen Mietshäuser, wie sie
aber auch zum Teil in der früheren Altstadt von Wien zu se-
hen sind, tragen in sich noch etwas wie Stil, während im
19. Jahrhundert, nach dem Klassizismus des Jahrhunderts,
einfach jeder solche Stilbegriff zerbrach‹. Mir scheint aber,
daß der Hinweis auf den Stil hier eine Art von praktikablen
Prinzipien darstellt, daß Sie damit genau das bereits voraus-
setzen,8 was eigentlich untersucht werden sollte. Man müßte
doch wirklich fragen, was es heißt, daß hier Stil waltet und
daß dort kein Stil mehr waltet, und was die gesellschaftlichen
Gründe dafür sind. Dabei ergibt sich dann sehr schnell, daß
ein solch allgemeiner Begriff wie der des Baus von Woh-
nungen als Handelsobjekten allein gar nicht ausreicht, son-
dern es handelt sich hier schon um sehr viel speziellere
Begriffe. Der wichtigste davon scheint mir der zu sein, daß
während des Merkantilsystems, also während jener Form der
früheren klassischen Gesellschaft, bei der der sich entfalten-
de Kapitalismus unter einer allgemeinen Reglementierung
durch die Regierung stand, von vornherein dem entfesselten
Konkurrenzprinzip, das natürlich in diesem System mitent-
halten war, ein Riegel vorgeschoben war und daß deshalb ein
Moment des Planvollen da war, das die schlimmsten Barbarei-
en, die sonst wahrscheinlich schon damals verübt worden wä-

17
ren, verhindert hat. Sie stoßen hier auf eine Paradoxie, die wir
von den Gesellschaftswissenschaften her recht oft zu beob-
achten Gelegenheit hatten, nämlich die, daß gerade gewisse
scheinbar rückständige Institutionen wie etwa feudale Rest-
bestände oder wie die Rolle der Höfe innerhalb der Organi-
sation des ganzen geistigen Lebens keineswegs bloß einen
negativen Einfluß auf die Entfaltung des Geistigen hatten,
sondern daß in ihnen gerade ein gewisses Maß an geisti-
ger Unabhängigkeit, an Zartheit, an Rücksicht gedieh, das in
dem fortschrittlichen, sich selbst überlassenen, wild geworde-
nen Kapitalismus nicht gewaltet hat. Ich nehme an, daß der
eigentliche Grund dafür, daß unsere Städte seit dem 19. Jahr-
hundert so grau geworden sind, darin zu suchen ist, daß dann
erst der Unternehmerkapitalismus wirklich ganz losgelassen
worden ist. Da erst hat sich jene furchtbare Polarisierung des
Städtebaus ergeben, die mir eigentlich als das Beängstigendste
erscheint, nämlich auf der einen Seite das Ideal des hochherr-
schaftlichen Büffets, der überdekorativen protzigen Wohn-
burg, und auf der anderen Seite jenes Gebilde, das Schinkel als
Haus ohne Architektur charakterisiert hat,9 wie es ihm zum
ersten Male begegnet ist, also die Mietskasernen, jener Typ,
wie er etwa im Norden von Berlin10 gestanden hat. Die Welt
hat sich polarisiert, könnte man sagen, nach dem Kurfürsten-
damm und nach der Ackerstraße. Die Abscheulichkeit der
Ackerstraße ist das genaue Komplement der Abscheulichkeit
des Kurfürstendamms. Das endgültige Aufgespalten-Sein der
Gesellschaft in miteinander unverträgliche Klassen hat sich in
der Architektur gespiegelt, und zwar in dem Sinne, daß nicht
nur die Armenquartiere ihr verfallen sind, sondern daß die
der Reichen an dieser Häßlichkeit ihren vollen Anteil auch
genommen haben. Ich möchte sagen, daß diese Polarisierung
der Stadt des 19. Jahrhunderts nach zwei Prinzipien von Häß-
lichkeit unmittelbar der Ausdruck der Aufspaltung der Ge-
sellschaft selber ist und in diesem Sinne interpretiert ist und
daß es unmöglich wäre, etwa von einem der beiden Pole al-
lein aus hier eine Korrektur vorzunehmen. Die Häßlichkeit

18
der Mietskaserne besteht wahrscheinlich nicht darin, daß die
Mietskaserne schmucklos ist, sondern sie besteht darin, daß
die Mietskaserne von vornherein gar nicht gedacht ist im Sin-
ne der Bewohner, vom Standpunkt des Bewohners aus als ei-
nes Subjekts, das darin wohnt und es sich wohl sein lassen soll,
sondern daß sie von vornherein konzipiert ist als ein Tausch-
objekt, das möglichst wenig kostet und möglichst viel ein-
bringt. Dieses Moment der Verbilligung verbunden gleich-
zeitig mit dem monumentalen Etwas-vorstellen-Wollen, das
hat wahrscheinlich erst den Typus der Mietskaserne hervor-
gebracht. Ich glaube, [daß] eine Analyse, warum die Mietska-
serne im proletarischen Sinne trotz ihrer Schmucklosigkeit so
häßlich ist und warum diese Art der Schmucklosigkeit Bei-
spiel jener Schönheit ist, die wir heute gelernt haben, im
Schmucklosen zu erblicken, daß eine Lösung dieser Frage
eine ästhetische und eine soziologische Frage wäre, der es sich
sehr wohl verlohnen würde nachzugehen. Vielleicht erlauben
Sie es mir als einem Außenseiter, Sie auf dieses immerhin
beunruhigende Problem einmal hinzuweisen. Die These ist
die, daß nicht etwa eine allgemeine ökonomische Kategorie
wie die des Mietshauses über den Wert oder Unwert der städ-
tischen Gesamtstruktur entscheidet, sondern die konkrete
Stellung, die das betreffende Teil innerhalb der Gesellschaft
einnimmt. Wenn das Mietshaus in der sich entfaltenden bür-
gerlichen Gesellschaft vom Individuum den eigentlichen An-
stoß erhält, dann drückt sich dies auch rein ästhetisch aus.
Wenn das aber nicht mehr der Fall ist, wenn die Entmenschli-
chung des Menschen gesellschaftlich so sehr fortschreitet, daß
der Begriff des Wohnens selber erschüttert wird und die
Wohnung sich in ein gesellschaftliches Objekt verwandelt,
dann wird das Gleichgewicht, das einmal etwas Hochwertiges
erzeugt hat, gestört und etwas Häßliches und etwas Abscheu-
liches herauskommen. Das ist die Problematik, auf die Sie hier
am Mietshaus hingewiesen wurden.
Nun noch ein drittes Beispiel für den Zusammenhang
städtebaulicher Probleme mit gesellschaftlichen Formen. Die

19
herrschende Hausform in England ist – wie Sie alle wissen –
das Einfamilienhaus; das sind jene Häuser, die Sie in London
überall zu Hunderttausenden, wenn nicht zu Millionen fin-
den. In New York haben wir etwas Ähnliches in den sogenann-
ten ›brownstone houses‹, jenen düsteren Gebäuden in den
Straßen Manhattans, die nur an gewissen Stellen durchbro-
chen sind von den Wolkenkratzern und den wolkenkratzerar-
tigen riesigen ›apartment houses‹. Die einzelne Wohnung, das
›flat‹, wie man es in London nennt, ist demgegenüber eine
Neuheit, der in England immer eine Art proletarischer Slums
anhaftet. Diese Form ist nicht wirklich heimisch geworden.
Wenn Sie diese Einfamilienhäuser ansehen – wenn Sie zum
ersten Mal in angelsächsische Länder kommen, dann wird es
Ihnen wahrscheinlich ähnlich ergehen, wie es mir als einem
Laien in der Architektur da ergangen ist –, Sie werden eine Art
von Schock empfinden. Dieser Schock besteht darin, daß alle
diese Einfamilienhäuser sich einander ähnlich sehen, ja daß sie
einander gleich sind. Sie brauchen auch nur in den bekannten
Darstellungen über Städtebaukunst jene Bilder von englischen
Städten anzusehen und Sie werden sehen, daß es dort lange
Reihen von Einfamilienhäusern gibt, die sich wie ein Ei dem
anderen ähnlich sind. Worin beruht nun dieser Schock? Er be-
ruht keineswegs darin, daß diese große Einheit gleich ist, nicht
in der abstrakten Gleichheit miteinander, sondern er beruht,
wenn ich mich nicht irre, darin, daß hier Gebäude sich ähnlich
sind, einander gleichen, jedes einzelne dem anderen, daß aber
jedes auftritt mit dem Anspruch, ein Einzigartiges, ein Beson-
deres zu sein. Es ist der Schock des Doppelgängers, das Prinzip
des zur Fratze erklärten Doppelgängers. Es ist der Schock, den
wir erfahren, wenn wir etwa zwei eineiigen Zwillingen be-
gegnen, die doch den Anspruch darauf haben, zwei individu-
elle Menschen zu sein, [die] physiologisch so gleich geprägt
sind, daß sie ihrer Individualität eigentlich enthoben sind. Dies
ist in dem angelsächsischen Typus des Einfamilienhauses bis zu
einem äußersten Extrem entwickelt. Das Problem, das ich hier
bezeichnet habe, ist wiederum ein gesellschaftliches Problem.

20
Denn es handelt sich hier um einen Antagonismus, der auf
dem Grund der bürgerlichen Welt, vor allem in ihrer angel-
sächsischen Form, überhaupt liegt, daß nämlich auf der einen
Seite jeder Bürger die Ideologie hat, sich für einzigartig, un-
verwechselbar zu halten, und diesen Anspruch erhebt, daß
aber andererseits durch die Gesellschaft Werte nach ganz ab-
strakten Einheiten, wie aufgewandte Zeit und aufgewandtes
Geld, gemessen werden, daß dadurch Differenzen zwischen
den Menschen ihrer realen Existenzform nach unendlich her-
abgesetzt sind, so daß die Menschen – extrem ausgedrückt –
sich zwar für Individuen halten, aber ihrem realen Gewicht11
in der Gesellschaft nach es unendlich viel weniger sind. Das
wirkt sich auch in der Architektur darin aus, daß sie aus öko-
nomischen Gründen, nämlich um billiger erstellbar zu sein,
[zum Einheitsstil] tendiert. Sie dienen wirklich nur jenen sich
selbst genügenden ökonomischen Einheiten, auf der anderen
Seite wird aber an der Individuation festgehalten, so daß diese
Zwillingshäuser entstehen, von denen jedes tut, als wäre es das
einzige auf der Welt, und die doch alle miteinander ganz gleich
sind.
Der Grund, warum ich Ihnen dieses Problem erklärt habe,
ist der, daß die Probleme des Städtebaus die grundsätzlichen
Widersprüche der Gesellschaft selber widerspiegeln, welche
den betreffenden Typus Stadt hervorbringen. Wenn es also ein
grundsätzlicher Antagonismus der kapitalistischen Welt des
19. Jahrhunderts ist, daß die Menschen sich selber als Individu-
en erscheinen, in Wirklichkeit aber bloße Figuren des kapitali-
stischen Kampfes sind, dann drückt sich dieser Widerspruch
ganz unmittelbar aus. Die Häßlichkeit jener Gebilde ist nichts
anderes, als daß an diesen Gebilden der Widerspruch zutage
tritt. Vielleicht haben diese Ausführungen genügt, Ihnen zu
zeigen, wie tief scheinbar bloß ästhetische oder technische
Probleme des Städtebaus mit gesellschaftlichen zusammen-
hängen.
Ich möchte nun versuchen, einige Ansichten über die ge-
genwärtige Situation zu erläutern. Ich habe nicht etwa vor,

21
Ihnen gegenüber nun Folgerungen zu ziehen aus dem, was
ich bis jetzt gesagt habe, dazu ist das, was ich Ihnen dargelegt
habe, viel zu rhapsodisch und ich kann keinen Anspruch auf
Systematik erheben. Aber ich kann versuchen, Ihnen zu zei-
gen, wie die Erwägungen, die ich jetzt angestellt habe, auch
zutreffen für moderne Probleme des Städtebaues, nachdem
Sie die Gedanken kennengelernt haben, in denen sich meine
Erwägungen zu dieser Frage ungefähr bewegen.
Die erste Erwägung, die ich Ihnen hier zeigen möchte, ist
die, daß ich glaube, daß der Wiederaufbau unserer Städte
nicht geschehen kann im Sinne des Historismus. Dieses Bei-
spiel ist außerordentlich ernst. Es fällt mir sehr schwer, an die-
ser Stelle angesichts der Erfahrungen, die ich in den vier Wo-
chen gemacht habe, die ich in Deutschland bin,12 so radikal zu
reden, wie ich es aber als Ästhetiker empfinde. Vielleicht ist es
sogar das Beste, wenn ich Ihnen von dieser meiner eigenen
Schwierigkeit einige Worte sage. Der Schock, den die zer-
störten Städte hervorbringen, und zwar vor allem die zerstör-
ten Stadtkerne, die schwer zerstörten alten Stadtkerne, ist der-
art, daß es wahrscheinlich keinem von uns möglich ist, die
Erfahrungen, die er da macht, ganz zu absorbieren, damit fer-
tig zu werden. Wir stehen einer Welt gegenüber, einer realen
Welt, die den Charakter eines Angsttraums angenommen
hat.13 Überall da, wo wir unter Schocks stehen, die wir nicht
beseitigen können, entfalten wir vom Psychologischen her
immer wieder die Tendenz zum Wiederholungszwang,14 also
die Tendenz, die Situation, die wir nicht bewältigt haben,
wiederherzustellen, um auf diese Weise sie jetzt zu bewälti-
gen. Ich glaube, daß der Gedanke, einfach das Unsagbare un-
geschehen zu machen, die Städte wieder so herzustellen, wie
sie waren, auf Grund des Katastrophischen und Nichtabsor-
bierbaren, das hier geschehen ist, fast unabweisbar ist. Ich
empfände es als frivol und leichtsinnig, wenn ich den Ernst,
der darin liegt, nicht sehr stark betonen möchte, denn ich
glaube allerdings, die Unfähigkeit der Menschen, heute über-
haupt einem Vergangenen die Treue zu halten, und die Ten-

22
denz der gegenwärtigen Menschheit, der vom Positivismus
entscheidend bestimmten technologischen Menschheit, alles
das, was nicht mehr unmittelbar da ist, zu verwerfen und alles
das, was historisch ist, auf den Mist zu werfen, hat zu den
grauenvollen Beispielen geführt, die wir im Faschismus alle-
samt erlebt haben. Wir möchten aber nicht, daß wir der Ver-
gangenheit, dem Historismus, nachgehen dürfen, und zwar
nicht bloß deshalb, weil, wie mir gewöhnlich entgegenge-
stellt wird, die Wiedererrichtung der alten Städte den moder-
nen Verkehrs- und Lebensbedürfnissen unangemessen wäre.
Ich glaube an diese Sache mit den Verkehrsverhältnissen gar
nicht so sehr. Ich kenne eine Menge von südländischen Städ-
ten wie Neapel oder wie Paris, die winklig und altmodisch
sind, die jedoch mit ihrem Autoverkehr besser fertig werden
als viele amerikanische Städte. Das ist eine auf den ersten
Blick sehr paradoxe Sache. Das hängt zum Teil davon ab, wie
die Menschen selber zu der Technik sich verhalten. Wenn ein
Süditaliener gewohnt ist, so vertraut mit seinem Auto umzu-
gehen, es zu behandeln vermag wie sein Vater einen Eselskar-
ren, dann wird er in einer winkligen Stadt viel besser fertig
werden wie ein moderner amerikanischer Fahrer, der nur ge-
wohnt ist, im Auto zu hetzen, und der im Grunde von vorn-
herein überhaupt nur nach dem Maß von Autobahnen zu
denken gelernt hat.
Ich glaube, daß es sich dabei schon um etwas sehr viel Tie-
feres handelt, nämlich daß wir, wenn wir die Städte in ihrer
traditionellen Gestalt wieder aufbauen würden, damit eine
Form der Gesellschaft beschwören würden, die eigentlich
nicht mehr existiert.
Lassen Sie mich hier an dieser Stelle einen philosophischen
Gedanken sagen, auch wenn viele von Ihnen der Philosophie
skeptisch gegenüberstehen mögen. Die Tradition besteht
nicht darin, daß man unmittelbar das weitermacht oder imi-
tiert, was zuvor gewesen ist, sondern es gibt sehr oft in der
Geschichte der Kunst Beispiele dafür, daß die wahre Kraft der
Tradition sich geltend macht im Gegenschlag, in dem, was

23
sich dem Gewesenen als ein völlig Anderes entgegensetzt, was
aber gerade durch diesen Gegensatz die Kraft des Gewesenen
recht eigentlich bezeugt. Es wird sich da sehr oft ergeben, daß
die unterirdische Kraft, die einen solchen Gegenschlag führt,
mehr mit der wirklichen Tradition gemein hat, tiefer mit ihr
zusammenhängt als das, was nur ihren toten Abdruck bildet,
ohne aus dieser selber hervorzugehen. Deshalb glaube ich in
der Tat, daß wir vielleicht den zerstörten Städten bessere
Treue halten, wenn wir sie nicht in ihrer gewesenen Form
wieder aufbauen, als wenn wir es tun würden. Ich sagte, die
zerstörten Stadtkerne widersprechen ihrem Wesen nach der
modernen Gesellschaft. Ich sagte auch, daß ich nicht glau-
be, daß das berühmte Verkehrsproblem hier entscheidet. Ich
möchte Ihnen wenigstens andeuten, worin ich das Entschei-
dende sehe. Diese Stadtkerne setzten doch durchweg eine
individualistische Gesellschaft voraus, die eigentlich noch
orientiert ist an der Vorstellung einer geschlossenen Haus-
wirtschaft, in der die Produktionsstätte und die Stätte des Le-
bens miteinander zusammengehören, wie es im Dorf der Fall
gewesen ist. Heute aber, in einer hochindustriellen Gesell-
schaft, sind diese beiden Dinge voneinander getrennt. Es gibt
in diesem eigentlichen Sinne ein ›home‹ überhaupt nicht
mehr. Wenn man an gesellschaftlichen Grundbedingungen
den Städtebau orientieren wollte, die ihrem ökonomischen
Grund nach nicht mehr vorhanden sind, dann würde man da-
mit allerdings sklavisch einer historisierenden Romantik ver-
fallen, die dann in der Nähe von gewissen Intentionen des
19. Jahrhunderts münden müßte, von denen wir uns trennen
müssen. Die Gefahr, die ich meine, ist die, daß, wenn wir
Nürnberg wieder aufbauen, wie es einmal gewesen ist, das,
was dabei herauskäme, nicht das alte Nürnberg, sondern ein
Spielzeugladen in der Form des alten Nürnberg wäre.
Ich möchte hier nochmals eine prinzipielle gesellschaft-
liche Erwägung anregen. Es ist doch so, daß eine der beäng-
stigendsten Erfahrungen, die man machen kann, wenn sol-
che Katastrophen, wie sie über unsere Städte gekommen

24
sind, vergangen sind, gar nicht etwas ist, was so aus der Luft
kam, wie es tatsächlich aus der Luft gekommen ist, sondern
daß diese Katastrophen nur die Exekutoren von gesellschaftli-
chen Gesamttendenzen sind, die sich hier vielleicht in einem
Brennpunkt zusammengedrängt haben, die aber als Ganzes
gar nicht mehr aufzuhalten sind. Frivol könnte man vielleicht
sagen, daß die Zerstörungen der Städte einen großen Akt
des Wegräumens jener Bestandteile der Städte darstellen, die
nicht nur dem Wesen der Gesellschaft nicht mehr angemessen
sind, sondern die denen, die gezwungen waren, darin zu
wohnen, auch nicht entfernt jenes Glück gegeben haben, das
wir empfunden haben, wenn wir solche alten Städte gesehen
haben. Ich möchte annehmen, daß das Glück, das jene Ästhe-
ten empfunden haben, etwas außerordentlich Verschiedenes
ist gegenüber der Existenzform eines kleinen Friseurs, der im
vierten Stock dort wohnte. Ich glaube, daß hier wirklich auf
Grund jener allgemeinen Problematik, die zwischen Städte-
bau und Ästhetik besteht, wir uns alle nicht treiben lassen dür-
fen von unserem ästhetischen Bedürfnis. Ich kann Ihnen sa-
gen, daß ich selber meine frühe Kindheit in der Altstadt von
Frankfurt verbracht habe15 und daß ich immerhin einige jener
Lebensbedingungen in dieser Altstadt gesehen habe und daß
ich sehr gut weiß, daß es einen Unterschied gibt im Blick des
ästhetischen Betrachters einer Stadt und dem des Bewohners
einer solchen Stadt.
Sie könnten mich nun fragen: ›Soll der Wiederaufbau der
Stadt sodann mit der Gesamttendenz der Zeit gehen?‹ Es ist
auf diese Frage ungeheuer schwer zu antworten. Es gibt kei-
nen Punkt eigentlich, in dem ich so zögernd bin zu antwor-
ten, wie gerade an diesem. Ich möchte eigentlich nur das Pro-
blem stellen. Dieses Problem scheint mir aber doch das zu
sein, daß die moderne Architektur zwar notwendig ist in ih-
rem Wesen, daß wir also nicht gegenüber dem Wesen der
modernen Architektur auf eine ältere zurückkommen, daß
aber die moderne Architektur doch in sich selber auch etwas
verkörpert von der Entfremdung und Erkaltung der Welt, in

25
der wir heute leben. Es besteht die Gefahr einer materialisti-
schen Massenkultur, der Truststil, auf der einen Seite der Fa-
brikblock, auf der anderen Seite die Siedlung. Es ist das Be-
streben, die Unterschiede von Stadt und Land aufzuheben,
das Land in bedenklicher Weise den Städten ähnlich zu ma-
chen. Ich erinnere Sie an die von Neonlicht verschandelten
Dörfer, während auf der anderen Seite die Städte selber an
ihren Rändern ausgefranst sind und trübselig in das Land
übergehen. Es scheint mir geradezu zur Konsequenz dieses
Stils zu gehören, der in die Baracke, in die Laubenkolonie und
schließlich in das Lager übergeht, wie ja überhaupt wahr-
scheinlich das gesellschaftliche Problem des Städtebaues im-
mer nur bestimmt ist von den Punkten aus, von denen der
größte gesellschaftliche Druck ausgeht, und dieser größte ge-
sellschaftliche Druck hat sich eben heute in der Institution der
Massenlager gezeigt. Nebenbei gesagt, der Wahnsinn unserer
gegenwärtigen Gesamtverfassung kommt wohl in nichts so
sehr zutage wie darin, daß in einer Welt, in der die techni-
schen Möglichkeiten, allen Menschen eine anständige Woh-
nung zu geben, so überwältigend sind, daß in dieser gleichen
Welt also ungezählte Menschen in Lager – beinahe hätte ich
gesagt – gesperrt werden. Das ist eine Tendenz, die keines-
wegs auf die sogenannten kapitalistischen Länder beschränkt
ist, sondern es ist so, daß der Lager- oder Barackenstil in der
Sowjetunion und in Rußland selber sich auch in einer gera-
dezu unheimlichen Weise ausbreitet. Ich würde also sagen,
daß diese Tendenz, die Welt in ein System von Lagern zu ver-
wandeln, dem dann nur einige I. G.-Hochburgen gegenüber-
ständen, etwas ist, das wir nicht, etwa weil es in der Zeit liegt,
unterschreiben wollen, sondern ich würde sagen, daß es doch
das Anliegen des Städteplaners trotz all der Schwierigkeiten,
denen er sich gegenüberfindet, sein sollte, in jedem Augen-
blick daran zu denken, Häuser zu planen, Städte zu planen, in
denen freie Menschen wohnen können und nicht Produzen-
ten und Konsumenten, nicht Privatiers oder Angestellte
oder Arbeitgeber. Ich möchte sagen, daß das allerdings die

26
entscheidende gesellschaftliche moralische Forderung ist, die
überhaupt an den Städtebauer heute zu ergehen hat.
Erlauben Sie mir, daß ich hier auf ein ganz konkretes Pro-
blem unmittelbar eingehe, das ist nämlich die Frage, womit
der Wiederaufbau anzufangen habe. Ich glaube, daß solche
sehr drastischen Fragen des Tages gerade gesellschaftlich von
größter Bedeutung sind. Es ist die Kontroverse, ob man zuerst
Wohnstätten wiedererrichten soll oder zuerst Produktions-
stätten. Der gesunde Menschenverstand sagt, natürlich muß
man erst Produktionsstätten aufrichten, denn es muß ja alles
erst wieder in Betrieb kommen. Ich will dem gesunden Men-
schenverstand gar nichts Böses nachsagen, aber ich kann mich
des Verdachtes nicht ganz erwehren, daß dabei die Interessen
der Unternehmer, die das sagen, nicht ganz so unbeteiligt sind
und sie dabei ihren eigenen Vorteil mehr im Auge haben, als
es vielleicht im Ausdruck erscheint. Meine eigene unmaß-
gebliche Meinung ist die, daß man unmittelbar für den Men-
schen selber Wohnungen erstellt, in der er in einer men-
schenwürdigen Weise existieren kann, anstatt zunächst wieder
Sektbuden aufzumachen, daß man allerdings dann wahr-
scheinlich auch dazu kommen muß, die Produktion wieder
in Gang zu bringen. Das setzt eigentlich einen Blick voraus,
der unsere Menschen als Menschen betrachtet und nicht als
Anhängsel einer Maschinerie der Zivilisation.
Ich möchte Ihnen nur noch eines zum Schluß sagen. Ich
hatte vorhin die Gefahr des romantischen Historismus ge-
schildert. Sie könnten mich jetzt mit gutem Grund etwas der
Romantik bezichtigen und könnten sagen: ›Ja, wenn Sie da-
von reden, daß man die Menschen beim Bauen als Subjekte
denken soll und nicht als Objekte, dann begeben Sie sich ein-
mal an unsere Stelle und verhandeln Sie einmal mit den Men-
schen, dann werden Sie sehen, daß die erbittertsten Wider-
stände in jeder Beziehung von den Menschen kommen, mit
denen Sie da zu reden haben!‹ Sie könnten mir vorhalten, wie
es ein mir befreundeter Architekt einmal ausdrückte, daß das
Bauideal, das ihm da entgegenschlägt, das ist, daß auf dem

27
Dach ein Storchennest sich befindet und der Keller als ein
Luftschutzkeller ausgebaut ist.16 Ich möchte die Menschen,
mit denen wir es zu tun haben, in dieser Hinsicht in keiner
Weise beschuldigen. Ich weiß von meiner eigenen ästheti-
schen Erfahrung aus der Musik ganz genau, daß die erklärten
Widerstände in erster Linie von den Konsumenten kommen
und nicht von denen, die produzieren. Wenn ich Ihnen des-
halb sagen wollte, verhalten Sie sich zur Frage des Wiederauf-
baues nicht als Diktatoren, sondern folgen Sie dabei demo-
kratisch dem Volkswillen, dann aber nicht sklavisch, denn was
sonst dabei herauskäme, wäre so primitiv und kitschig, daß ei-
nem die Haare zu Berge stehen würden. Ich glaube, in diesem
Problem drückt sich wieder etwas Gesellschaftliches aus. Es ist
nämlich doch wohl so, daß die gesellschaftliche Gesamtent-
wicklung die Menschen so gewandelt hat, daß sie auf Grund
der Erkaltung der Beziehungen der Menschen zueinander
befallen sind von einer Sehnsucht, die sie nach rückwärts
drängt, und daß gleichzeitig diese Gesellschaft ihnen den
Weg zu einer besseren und menschenwürdigeren Zukunft
abschneidet. Wenn die Konsumenten, also diejenigen, für
die wir bauen sollen, uns so reaktionär entgegentreten, dann
würde ich sagen, das ist in letzter Instanz auch nicht die
Schuld der Menschen, die uns so entgegentreten, wenn es
überhaupt eine Schuld ist, sondern sie reflektieren darin nur
eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung, indem sie immer
rationeller wird, zugleich aber auch immer dumpfer und im-
mer rückständiger, immer materieller. Dieser Widerspruch,
der mit seiner Blut-und-Boden-Ideologie zugleich mit der
Technisierung aufs äußerste zutage gekommen ist, ist selber
ein Vorwurf gegen die Gesellschaft. Wir sind als Fachleute
gern versucht, alles einfach mit einer hochmütigen Bewe-
gung erledigen zu dürfen. Wenn das nun stimmt, dann würde
die Aufgabe, die sich für den Städteplaner heute ergibt, wahr-
scheinlich doch die sein, daß der Fachmann mit all seinem
Fachwissen und all dem Wissen um die Probleme, die ich be-
zeichnet habe, gegen die Menschen deren eigene Anliegen zu

28
verteidigen hat, daß wir also in jedem Augenblick aus unse-
rem hohen Bewußtsein das realisieren müssen, was die wah-
ren Interessen der Menschen sind, die uns gegenübertre-
ten, und daß wir selbst, wenn sie uns als dumpfe, rückständige
und beschränkte kleinbürgerliche Menschen entgegentreten,
trotzdem für sie handeln, indem wir das von uns als richtig Er-
kannte auch gegen sie vertreten. Das kann nicht so gesche-
hen, daß wir das vom grünen Tisch aus dekretieren, sondern
nur so, daß wir mit den Menschen selber in eine konkrete
Auseinandersetzung eintreten. Ich möchte sagen, die Funk-
tion des modernen Städtearchitekten wäre genau die gleiche,
die wir gewohnt sind, in der Kunst mit einem einfachen und
mir sehr lieb gewordenen Wort zu bedenken: ›Wir haben
Avantgardisten zu sein!‹

29
Die Aktualität der Soziologie
23. 2. 1951

[. . .] Ich möchte Ihnen allen danken, daß Sie heute abend so


zahlreich hier erschienen sind. Ich glaube, daß ich das auch
[er]hoffen darf als eine Bekundung des Interesses an der Sache
und nicht etwa des Interesses an den wenigen und, wie ich
gleich sagen möchte, bescheidenen Bemerkungen, die ich Ih-
nen zu dem heutigen Gegenstand über die Aktualität der So-
ziologie zu machen gedenke, denn es gehört ja zu dem Wesen
gerade unserer Disziplin, daß man sich sehr schwer einen all-
gemeinen Überblick über das Sachgebiet gibt, daß man sich
dabei ins Unverbindliche verliert und daß die Substantialität
dessen, was wir etwa geistig zu bieten haben, wirklich in der
konkreten Arbeit erst zu erringen ist in einem sehr weiten
Maße. Auf der anderen Seite sehe ich mich eben doch ge-
zwungen, Ihnen eine Reihe von relativ allgemeinen Pro-
blemstellungen anzudeuten, aber ich bin mir dessen bewußt,
daß es sich dabei, um einen Ausdruck des von Herrn Grafen
Solms17 erwähnten Husserl aufzunehmen, notwendig um
›formale Anzeigen‹18 handeln muß, und ich möchte Sie von
vornherein also bitten, gerade in diesem Punkt eine gewisse
Nachsicht walten zu lassen.
Nun, um auf die Aktualität der Soziologie heute hinzuwei-
sen, und gar noch unter dem besonderen Gesichtspunkt des
Verhältnisses von Soziologie und Politik, würde es ja eigent-
lich schon genügen, Sie an die jüngste Vergangenheit dieser
Wissenschaft zu erinnern, die, wie Sie wissen, bei den Natio-
nalsozialisten ›persona non grata‹ gewesen ist und die, wenn
nicht offiziell, so de facto, von ihnen unterdrückt worden ist.
Vielleicht ist es nicht die schlechteste Begründung des Rech-
tes der Soziologie, wenn wir uns überlegen für einen Augen-
blick, was eigentlich die Nationalsozialisten zu diesem Haß
veranlaßt hat. Ich würde den Grund darin sehen, daß die
Nationalsozialisten eben deshalb, weil es sich bei ihnen ja dar-
um gehandelt hat, eine Politik, die den Interessen, den realen

30
Interessen der Menschen entgegengesetzt war, trotzdem den
Menschen aufzureden, sich unendlich darum bemüht haben,
von dem eigentlichen Lebensprozeß der Gesellschaft, von
den tragenden kollektiven Vorgängen, die unsere Existenz
bestimmen, abzulenken, und die Soziologie ist ihnen zu-
nächst einmal einfach verdächtig deshalb gewesen, weil sie es
nicht zu tun hat mit dem Abguß von der Realität, den sie den
Menschen aufschwatzen wollten, um mit der Realität nach
Belieben schalten zu können, sondern weil es der Soziologie
eben wirklich um das zu tun ist, was eigentlich intern des ge-
samten gesellschaftlichen Prozesses sich abspielt, und, neben-
bei gesagt, würde ich genau das, was ich Ihnen mit diesen
Worten andeute, als die Aufgabe der Soziologie auffassen.
Bitte nehmen Sie das nicht als Definition; ich bin mir dessen
bewußt, daß man gerade so komplexe Wissenschaften wie die
unsrige nicht definieren kann, und ich darf dem vielleicht
hinzufügen, daß ich als Philosoph Hegelianer genug bin, um
gegen jede Erörterung, die mit Definitionen einsetzt, eine
tiefe Skepsis zu hegen.19
Nun, die Nationalsozialisten wollten ablenken, entweder
auf ein Phantasma von Natur, das sie anstelle des Geschicht-
lich-Gesellschaftlichen gerückt haben und das seinen be-
stimmtesten Ausdruck in der Rasse-Ideologie gefunden hat,
oder sie wollten die Menschen ablenken auf die Sphäre der
machtpolitischen Organisation, auf Begriffe wie Außenpoli-
tik, Partei und wie diese Worte alle heißen. Es herrschte da im
Grunde eine tiefe Angst vor dem, was wir nennen könnten
die Selbstbesinnung der Gesellschaft. Eine Angst davor, daß
im Augenblick, in dem die Menschen sich des Zusammen-
hanges, der zwischen ihnen herrscht und der sich in der Pro-
duktion und Reproduktion ihres Lebens durchsetzt, daß,
wenn sich die Menschen dieser Zusammenhänge bewußt
werden könnten, daß dann eben jenes ganze despotische Sy-
stem wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen müßte, wäh-
rend sie sich so lange sicher gefühlt haben, wie sie statt dessen
einen frei erfundenen begrifflichen Überbau haben errichten

31
können. Nun, die Aktualität der Soziologie in dieser Situation
besteht genau darin, daß sie hinarbeitet auf jene Art der Selbst-
besinnung der Gesellschaft, die das nationalsozialistische Re-
gime unterbunden hat, die heute nach meiner Überzeugung
von dem anderen totalitären System ebenfalls unterbunden
wird und die eben doch die Voraussetzung dafür bildet, daß
überhaupt schließlich doch noch etwas wie eine menschen-
würdige Gesellschaft zusammenkommt, ehe eine unvorstell-
bare Katastrophe alles unter sich begräbt. Diese Selbstbesin-
nung, diese Wahrheit eines Wissens der Gesellschaft von sich
selber und damit der Realisierung ihrer Freiheit, die ist aber
um so angezeigter, als durch die unbeschreibliche Kompli-
ziertheit des gesellschaftlichen Apparats, der gesellschaftlichen
Mechanismen heute die wahren Zusammenhänge im vorwis-
senschaftlichen Bewußtsein in einem weiten Maße verstellt
sind, verdeckt sind, so daß die natürliche Menschenvernunft
längst nicht mehr dazu ausreicht, das Getriebe zu durchschau-
en, sondern daß eben jener gesunde Menschenverstand, den
wir nicht beachten wollen, eben wirklich der Hilfe der diszi-
plinierten Wissenschaft bedarf, um überhaupt auch nur das zu
erkennen, was oft wie ein blindes, anonymes Schicksal über je-
dem einzelnen zu stehen scheint. Diese Aufgabe schließt nun
aber zugleich auch einen philosophischen Aspekt ein, und ich
möchte an dieser Stelle mit ihrer großen philosophischen Tra-
dition20 nachdrücklich hervorheben, daß ich nicht nur der
Überzeugung bin – daß nicht nur das Institut für Sozialfor-
schung,21 das zu vertreten ich die Ehre habe, der Überzeugung
ist –, daß Philosophie und Soziologie sich nicht schematisch
voneinander trennen lassen, sondern im Gegensatz dazu, daß
wir darüber hinaus glauben, daß diese beiden durch die akade-
mische Arbeitsteilung voneinander getrennten Sachgebiete
dem Wesen nach miteinander etwas zu tun haben. Es ist ja lei-
der immer noch so, daß die Philosophie in Deutschland heute
insofern etwas von dem autoritären Erbe festhält, als zwar im-
merzu von der Konkretheit der Fragestellungen die Rede ist,
im Namen dieser Konkretheit aber auf Strukturen des Men-

32
schen überhaupt oder des Seins überhaupt verwiesen wird, die
der Verflechtung in den tatsächlichen gesellschaftlichen Zu-
sammenhang enthoben sind. Die Aufgabe der Soziologie aber
wäre es gerade, die Wahrheit selbst in dieser Verflechtung zu
begreifen.
Nun, ich darf vielleicht hier unterstreichen, was Herr Graf
Solms gerade gesagt [hat], daß es sich dabei nicht um einen
Soziologismus im Sinne eines Relativismus handelt, der da
sagt, es gibt keine Wahrheit, weil jede Erkenntnis gesellschaft-
lich bedingt sei. Ich glaube, diese sehr triviale Ansicht besteht
eigentlich nur so lange, wie man der gesellschaftlichen Pro-
blematik fremd und äußerlich gegenübersteht, während im
Augenblick, wo man wirklich in gesellschaftliche Fragen ein-
dringt, diese sogenannte Relativität der Erkenntnis an dem
Verpflichtenden der gesellschaftlichen Einsicht selber zunich-
te wird. Andererseits meine ich, daß gerade das Hegelsche
Erbe, das darin besteht, die Wahrheit und den Lebensprozeß
der Menschheit zusammenzudenken, heute in einem weiten
Maße aufgehoben ist in der konkreten Analyse der Gesell-
schaft, für die ja die Hegelsche »Phänomenologie des Geistes«
in der deutschen Tradition jedenfalls das erste Paradigma uns
allen geliefert hat. Die Annahme einer gegenüber dem gesell-
schaftlichen Prozeß invarianten und gegenüber diesem Pro-
zeß indifferenten Wahrheit scheint mir ein Rückfall zu sein
hinter gerade jene Elemente der Tradition des deutschen
Denkens, die die produktivsten sind, weil sie weder die Wahr-
heit an das bloß Seiende verraten haben, noch auf der anderen
Seite den Begriff der Wahrheit so ins Abstrakte überspannt
haben, daß er dadurch seine Verpflichtung, seine Verbind-
lichkeit für die Wirklichkeit verloren hat und daß dadurch erst
recht die Wirklichkeit dem blinden Spiel der Kräfte preisge-
geben worden ist.
Nun, ich erinnere mich daran, daß in der Zeit vor Hitler
Heidegger einmal den Satz geprägt hat, gegenüber der philo-
sophischen Arbeit verhalte sich die Soziologie22 wie ein Fas-
sadenkletterer, der von außen an dem Haus heraufklettere

33
und ausraube, was die anderen darin wirkten.23 Ich glaube,
daß dieser Vergleich illoyal ist und daß er nicht die Wahrheit
wiedergibt, und wenn ich an dieser Stelle etwas aus der phi-
losophischen Arbeit sagen darf, so wäre es das, daß ich viel
eher der Ansicht bin, daß die philosophische Problematik in
ihrem eigenen Herzen, in ihrem eigenen Zentrum auf gesell-
schaftliche Zusammenhänge stößt, als daß ich der Ansicht
bin, daß man von außen her gesellschaftliche Probleme etwa
an Probleme der Ethik oder der Erkenntnistheorie herantra-
gen muß. Ich will damit nicht leugnen, daß gerade mit der so-
genannten Wissenssoziologie sehr viel Unfug angestellt wor-
den ist und daß man wirklich also etwa Versuche gemacht hat
wie die, die Kantsche Philosophie aus der besonderen gesell-
schaftlichen Situation des preußischen Beamtentums in der
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts abzuleiten.24
Nun, ich glaube, von den wirklich verantwortlichen So-
ziologen, das heißt von denen, denen es ernst ist mit der Ver-
flechtung der Wahrheit und der Gesellschaft, gerade unter
diesen wird sich schwerlich einer finden, der glaubt, daß die
Fragen, um die es hier geht, auf eine so einfache Weise gelöst
werden können. Ich bin weit entfernt davon, Ihnen hier etwa
nun ein Generalrezept für das Problem, um das es sich han-
delt, anbieten zu wollen, aber ich meine allerdings, daß man
hier weder mit der relativistischen Unbefangenheit durch-
kommt noch auf der anderen Seite mit dem dogmatischen
Absolutismus, der die gesellschaftliche Besinnung fernhält,
sondern daß hier und genau an dieser Stelle eine der verant-
wortlichsten und wichtigsten Aufgaben liegt, denen sich die
Soziologie überhaupt zu widmen hat, wenn sie ihre geistige
Bestimmung, ihre humane Bestimmung erfüllen will. Aber
darüber hinaus möchte ich doch sagen, daß die Aktualität
der Soziologie sich keineswegs in geisteswissenschaftlichen
Fragestellungen, in ihrer Beziehung zur Philosophie, in der
Aufgabe zur Konkretisierung der Philosophie erfüllt, sondern
es wäre selbst eine allzu idealistische Auffassung von unserer
Wissenschaft, wenn wir daran vorbeisehen wollten, daß die

34
gegenwärtige deutsche Situation in aller Drastik und in al-
ler Unmittelbarkeit der gesellschaftswissenschaftlichen For-
schung bedarf. Das, was sich in Deutschland zugetragen hat,
ist in einem so weiten Maß in der Tat ein Kollektives gewesen.
Es betrifft bis in die allerhandgreiflichsten und sichtbarsten
Dinge wie die Zerstörung der Städte so sehr die Gesellschaft
in ihrem Zusammengeschlossen-Sein und nicht bloß das ein-
zelne Individuum, daß planlose und Lösungen im Sinn des
Laisser-faire-Prinzips heute weitgehend ausgeschlossen sind.
Soziologie aber ist das einzige wissenschaftliche Organon ver-
nünftiger Planung im Bereich dieser deutschen Probleme, das
heute existiert, und es herrscht gerade an dieser Stelle eine
unmittelbare Übereinstimmung zwischen der philosophi-
schen Forderung nach gesellschaftlicher Selbstbesinnung und
der, ich möchte sagen, materiellen Forderung danach, daß,
was heute real geschieht, gemessen wird an den Notwendig-
keiten der Gesellschaft.
Ich will Ihnen dafür nur einige Beispiele in aller Kürze ge-
ben, damit Sie sehen, daß es sich hier wirklich um sehr drasti-
sche Dinge handelt. Da ist etwa die Flüchtlingsfrage, die sich
nur lösen läßt, wenn wir sowohl objektiv wie subjektiv von
den Flüchtlingen alles wissen, was zu wissen notwendig ist.
Hier handelt es sich nun deshalb um ein im eigentlichen Sin-
ne soziologisches Problem, weil gerade, soweit das subjektive
Bewußtsein der Flüchtlinge in Frage steht, eine ganze Reihe
von Erscheinungen in den Vordergrund treten, die, nur
gleichsam in einer extrem zugespitzten Form, Dinge enthal-
ten, die mit der Problematik des gesamten Zustandes zusam-
menhängen. Es ist in einer Reihe von Einzeluntersuchungen
über Flüchtlinge, auf die ich jetzt nicht eingehen möchte, im-
mer wieder darauf hingewiesen worden, daß bei den Flücht-
lingen die Unmittelbarkeit des Einzelinteresses das Interesse
am Ganzen, also das im weitesten Sinne politische Interesse,
überwiegt.25 Nun, im allgemeinen wird das dann erklärt aus
der besonderen Lage der Flüchtlinge. Ich würde aber sagen,
daß wir an den Flüchtlingen, wie es fast immer an extremen

35
Phänomenen der Fall ist, Dinge studieren können, die die
Gesellschaft auch in ihrem mittleren Durchschnitt, in ihrer
ganzen Breite betreffen, und ich würde sagen, daß das Phäno-
men der Entfremdung von der Politik, das Problem der Re-
privatisierung, das gleichsam die Schattenseite der modernen
Massengesellschaft darstellt, daß dieses Schlüsselproblem des
gegenwärtigen Zustands sich gerade an den Flüchtlingen in
besonders drastischer Weise finden läßt, und damit zusammen
hängen natürlich auch alle die Fragen, die mit der politischen
Zukunft der Flüchtlinge und etwa ihrer politischen Funktion
in der Gestaltung der deutschen Dinge zusammenhängen.
Eine ähnliche Frage ist die Frage, die mit dem physischen
Wiederaufbau und dem Wohnungswesen zusammenhängt.
Auch hier handelt es sich um weit mehr, möchte ich sagen, als
bloß um Bestandsaufnahmen von Wohnungssuchenden, von
Wohnungsmöglichkeiten und ähnliche mehr oder weniger
grob empirische Feststellungen. Denken Sie nur daran, daß
in einem weiten Maße ein Widerspruch herrscht zwischen
dem, was objektiv an Wohnlösungen für die überwiegende
Anzahl der Wohnungssuchenden angezeigt wäre, nämlich
weitgehend standardisierte, genormte Wohnungen, die den
objektiven Bedürfnissen Rechnung tragen, und auf der ande-
ren Seite den subjektiven Geschmack der Wohnungssuchen-
den, der in einem sehr weiten Maße festhält an individualisti-
schen Vorstellungen des Wohnens, wie sie aus dem späten
19. Jahrhundert eigentlich herstammen.
Hinter einem solchen Widerspruch, wie den objektiven
Bedürfnissen und der subjektiven Spiegelung des Bedürfnis-
ses, stehen die größten, grundsätzlichen Fragen unserer mo-
dernen Gesellschaft überhaupt, zum Beispiel wie es kommt
und welchen Sinn das eigentlich hat, daß das Bewußtsein
der Menschen so viel langsamer sich umwälzt als die tatsächli-
chen gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen die Men-
schen leben. Und ein derartiges grundsätzliches Problem der
Gesellschaft läßt sich eben in dieser Sphäre besonders ein-
dringlich studieren. Und lassen Sie mich schließlich als ein

36
drittes aktuelles Problem hier noch nennen die ganze Frage
des Verhältnisses der Soziologie zu der Wissenschaft von der
Politik,26 eine Frage, die ja heute gerade im Zentrum der all-
gemeinen akademischen Diskussion steht. Ich würde nämlich
sagen, die Entscheidung der Frage, ob Politik eine Sonder-
sphäre darstelle, der auch eine wissenschaftliche Sonder-
behandlung gebühre, das ist selbst eine Frage, die in einem
weiteren Sinn in den Umkreis unserer, der soziologischen,
Wissenschaft fällt. Die politischen Probleme im engeren Sinn
stellen nur den institutionellen Abguß des gesellschaftlichen
Kräftespiels dar, während es selber vor aller institutionellen
Verdinglichung nur von der gesellschaftlichen Wissenschaft
ergriffen werden kann. Zugleich aber ist Politik, Politik als
Beruf, in der Tat in gewissem Sinn verselbständigt gegenüber
der realen Gesellschaft, und es gibt etwas wie eine berufliche
Sondersphäre ›Politik‹. Aber diese Abspaltung der Politik vom
unmittelbaren lebendigen Leben der Menschen selbst, die ist
ebenso wie die andere, die gesellschaftliche Seite der Politik,
als ein gesellschaftliches Phänomen zu begreifen, und beide
Fragen würden fallen in den Problemkreis einer philoso-
phisch orientierten und dabei empirisch streng disziplinierten
Soziologie. Sie können hier in der Tat etwas erkennen von
dem philosophischen Hintergrund der Gesellschaftswissen-
schaft, auf den ich hingewiesen habe, denn dieses Problem des
Verhältnisses von Gesellschaft und Politik, das ich natürlich,
wie alle Gegenstände, nur streifen kann, das bietet ja ein un-
mittelbares Modell für die philosophische Aktualität der So-
ziologie dar, von der ich ausging, nämlich von der Aufgabe,
den sinnhaft27 erstarrten begrifflichen Abguß des Lebens, wie
er immer mehr über die verwaltete Welt sich ausbreitet, durch
eine Selbstkritik des Bewußtseins zu überwinden. Da aber die
Überwindung nicht möglich ist, wenn man dem institutionell
verhärteten, entfremdeten Leben nun etwa zur Ergänzung
einfach eine romantische Metaphysik entgegenstellt, so liegt
hier die ausgezeichnete Aufgabe der Soziologie vor, nämlich
daß sie in den Menschen wiederum das Bewußtsein erweckt,

37
daß diese Welt, die ihnen als eine fremde und in entscheiden-
der Hinsicht als eine unmenschliche Welt gegenübersteht,
eben doch zugleich eine Welt von Menschen ist, daß sie auf
die Menschen und ihre lebendigen Beziehungen zurückver-
weist und daß sie schließlich nur von der Gestaltung dieser
Beziehungen und der Gestaltung der Menschen selbst aus
verändert werden kann.
Nun, so viel von der allgemeinen Aktualität der Soziologie.
Aber was ich Ihnen damit gesagt habe, ist nun in der Tat viel
zu allgemein und Sie werden alle fragen, welche Soziologie
denn nun eigentlich aktuell sei, denn ich verkenne nicht, daß
der Begriff der Soziologie so vielschichtig und so vage ist wie
der Gegenstand der Gesellschaft, der dabei in Rede steht, der
dabei das Problem darstellt, mit dem wir uns auseinander-
zusetzen haben. Nun, ich glaube, man kann diesem Problem
am nächsten kommen, wenn man einige Abgrenzungen kri-
tischer Art vornimmt und dadurch das sagt, was heute die
besonderen Gefahrenquellen der Soziologie darstellt. Ich
glaube, daß, wenn wir uns in einigen Stichworten darüber
verständigt haben, daß wir uns dann sehr viel leichter auch
verständigen werden über die Idee einer Soziologie, wie sie
heute zu fassen ist. Nun, da möchte ich zunächst sagen: Die
Situation heute ist so, daß die traditionelle deutsche Soziolo-
gie, in der auch ich aufgewachsen bin und der wir so große
Leistungen verdanken, heute in ihrer unmittelbaren über-
kommenen Form der gegenwärtigen Realität nicht mehr ge-
nügt. Und zwar, wenn ich mich nicht täusche, aus zwei we-
sentlichen Gründen. Der eine dieser beiden Gründe ist ihr
weitgehend spekulativer Charakter, der andere ist, daß sie sich
in einem weiten Maße, teils mit, teils gegen ihren eigenen
Willen, in den Dienst der ideologischen Verschleierung ge-
stellt hat. Die Faktenfremdheit des deutschen Denkens im
menschlich-gesellschaftlichen Bereich hat sich ergeben dar-
aus, daß, nachdem die großen idealistischen Systeme zergan-
gen sind, in denen es unternommen war, die konkrete
menschliche Realität mit der Konstruktion des Begriffs zur

38
Deckung zu bringen, gleichsam nur noch die begriffliche
Konstruktion übriggeblieben ist, aber immer dünner gewor-
den ist und immer mehr die eigentliche Fühlung mit der
Konzeption verloren hat, während diese Konzeption selber
dann immer mehr einer Art von empirischer Forschung, von
bloßem Empirismus überlassen worden ist, der dann in dieser
Abspaltung von den philosophischen Konzeptionen nicht
mehr herangereicht hat an die Lösung der Aufgaben, um die
es sich handelt. Ich brauche hier nur an die im übrigen sehr
bedeutende Leistung von Dilthey mit ihrer sonderbaren Mi-
schung aus Hegelschen Impulsen und positivistischem Empi-
rismus zu erinnern,28 um Ihnen diese Gefahr klarzumachen.
Nun, ich erinnere weiter an ein gewiß so verdienstliches
Buch, das Ihnen wohl allen bekannt ist, von Tönnies über
»Gemeinschaft und Gesellschaft«.29 Dann können Sie sehen,
wie dünn im Laufe dieser Entwicklung die Begriffe geworden
sind, und je dünner die Begriffe geworden sind, eine um so
größere Gewalt mußten sie dann der Realität antun, um nur
ja alles, was überhaupt begegnet ist, unter ein derartig enges
und beschränktes Thema zu zwingen. Es resultiert daraus eine
bestimmte Art der Respektlosigkeit gegenüber dem Seien-
den, die dann, ganz gewiß entgegen der Gesinnung von Ge-
lehrten, wie Tönnies einer war,30 schließlich doch geholfen
hat, eine Stimmung vorzubereiten, in der man ohne Rück-
sicht auf die ›stubborn facts‹, auf die unwiderleglichen Ele-
mente der Realität, gerade im Bereich der gesellschaftlichen
Konstruktion sich berechtigt geglaubt hat, irgendwelche
Werthierarchien starr und ohne jede Kontrolle aufzurichten,
die dann schließlich geendet haben in der Unterscheidung
derer, die umgebracht werden sollen von Staats wegen, und
derer, mit denen das nicht der Fall ist.
Ich glaube, daß es falsch wäre und daß es oberflächlich
wäre, gerade diese finstere und abgründige Seite des spekula-
tiven Gesellschaftsdenkens nicht ganz eindeutig auszuspre-
chen. So unsinnig es ist, dem humanen deutschen Idealisten
die Schuld am Nationalsozialismus aufzubürden, so wahr ist es

39
doch, daß die Verachtung für die Empirie, in der wir alle groß
geworden sind, mit dazu geholfen hat, die Voraussetzungen
für paranoide Systeme wie den Nationalsozialismus zu ent-
wickeln. Und ich glaube allerdings, daß die empirische So-
zialwissenschaft – und ich meine das sehr ernst – zu den
wichtigsten Gegenkräften gehört, die, wenn sie entwickelt
werden, verhindern können, daß noch einmal ein totalitärer
Wahn, gleichgültig welcher Form auch, die Menschen er-
greift.31 Vielleicht darf ich Ihnen gerade aus unserer eigenen
konkreten Arbeit ein Beispiel dafür geben. In der Untersu-
chung über die ›autoritätsgebundene Persönlichkeit‹, die wir
in Berkeley in Kalifornien durchgeführt haben,32 sind wir un-
ter anderem darauf gestoßen, daß im Antisemitismus, den wir
da besonders studiert haben, unter bestimmten sozialen Be-
dingungen das Objekt des Rassenwahns beliebig durch ande-
re Objekte zu ersetzen ist, das heißt, daß Menschen, die aus
mehr oder weniger zufälligen sozialen Gründen daran verhin-
dert sind, gerade nun Antisemiten zu sein, die aber ihrem So-
zialcharakter, ihrer gesamten sozialpsychologischen Struktur
nach so geartet sind, daß sie eigentlich antisemitisch sein
müßten, daß diese Leute dann durch irgendwelche anderen
Völker den Antisemitismus ersetzen.33 Wenn ich Ihnen sage,
daß sie dabei die armenischen oder die griechischen Minder-
heiten in Amerika sich ausgesucht haben, so werden Sie das
nicht weiter erstaunlich finden. Wenn ich Ihnen aber sage,
daß auch die Schweden sich unter denen befinden, denen
dann solche Personen alles das aufbürden, was gemeinhin den
Juden aufgebürdet wird, dann würden Sie schon sehen, einen
wie entscheidenden Beitrag durch einen solchen Aufweis die
empirische Soziologie wirklich leisten kann, um Wahnsyste-
me zu verhindern.
Ich möchte mich darauf beschränken zu sagen, daß die
große deutsche Soziologie, indem sie versucht hat, einen
Bereich des rein Gesellschaftlichen, der Formen der Verge-
sellschaftung, auszukristallisieren,34 dabei in einem sehr wei-
ten Maße auch der Tendenz gedient hat, abzulenken von den

40
tatsächlichen Kräften, von dem realen Kräftespiel, das die
Gesellschaft bestimmt, und daß sie infolgedessen dann eine
Tendenz entwickelt hat, Begriffe, etwa wie den der Zweck-
rationalität,35 an die Stelle der Kräftemomente innerhalb der
gesellschaftlichen Dynamik zu setzen, auf welche die reale
Analyse eigentlich hinweisen sollte. Es ist kein Zufall, wenn
im Zusammenhang der sogenannten ›wertfreien‹ Sozio-
logie,36 der es immer in erster Linie um die begriffliche
Reinheit und ähnliche Dinge zu tun war, Gebilde zustande
gekommen sind wie die im übrigen an scharfsinnigen Be-
obachtungen so reiche »Soziologie des Parteiwesens« von
Robert Michels,37 die aber daran doch wohl krankt, daß hier
bestimmte Phänomene der Erstarrung des modernen Par-
lamentarismus und des modernen Parteisystems, die mit
ganz spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen während
der letzten 30 oder 40 Jahre zusammenhängen, nun der Form
des Parteisystems mehr oder minder aprioristisch überhaupt
zugeschrieben werden; und man könnte gerade geistesge-
schichtlich an dem Schicksal der Ideen von Robert Michels
das Verhängnis dieser Betrachtungsweise nachweisen, als ge-
rade diese Konstruktion dann von Spengler,38 der ja bekannt-
lich nicht [. . .] hat, mehr oder minder wörtlich übernommen
worden ist und insofern seine gesamte Theorie der Ablösung
der Demokratie durch den Cäsarismus,39 die einen so unge-
heuren Einfluß dann auf die heraufkommende nationalsoziali-
stische Ideologie ausgeübt hat, eigentlich aus dieser formal-
soziologischen Konstruktion von Robert Michels herstammt.
Ich möchte auf diesen Punkt nicht weiter eingehen, ich glau-
be aber, daß [durch] derartige Gefahren die Notwendigkeit
einer viel stärkeren Orientierung der Soziologie an dem Fak-
tischen in einem sehr verantwortlichen Sinne, nämlich im
Sinne des exakt zu Beobachtenden und dessen, was nicht sich
auflöst in bloße begriffliche Operationen, erwiesen ist.
Damit habe ich aber nur die eine Seite bezeichnet dessen,
was ich zur Problematik unserer Wissenschaft sagen wollte,
nämlich die Seite, die sich beschäftigt mit dem Fragwürdig-

41
Werden der Tradition, aus der wir kommen. Aber es gibt eine
andere Gefahr, die sich von der entgegengesetzten Seite heute
bereits ebenso deutlich abzeichnet, obwohl vielleicht diejeni-
gen unter Ihnen, die mit unserer Wissenschaft nicht unmittel-
bar vertraut sind, von dieser anderen Gefahr sich noch keine
so explizite Rechenschaft geben, wie ich [sie] eben versucht
habe mit Hinblick auf die, sagen wir, vorwiegend geisteswis-
senschaftliche Soziologie Ihnen zu geben. Das ist nämlich die
Gefahr eines begriffslosen Empirismus, bei dem die Fakten
aus Angst vor Metaphysik so angehäuft werden, daß sie über-
haupt keinen Sinn mehr haben. Während in Deutschland
noch mit den Resten einer idealistischen Gesellschaftsideolo-
gie zu kämpfen ist, ist unterdessen aus der Liquidation des
Idealismus bereits eine neue Ideologie geworden, und diese
neue Ideologie übt gerade auf viele Angehörige der jüngeren
Generation eine merkwürdige Faszination aus. Es handelt
sich um eine bestimmte Art des Positivismus, der unmittelbar
die Naturwissenschaften als Modell ansieht und der die ge-
samte, sagen wir, Rickert-Diltheysche Problematik40 nicht
bewältigt, sondern vergißt und schließlich also in der Barbarei
eines bloßen Registrierens, in der Barbarei des bloßen Zensus
zu versinken droht. Die Gründe, die diese Anschauung so fas-
zinierend machen, sind keineswegs bloß die materiellen, daß
mit der Beschäftigung mit derartigen Dingen im allgemeinen
mehr oder minder einträgliche Stellungen verbunden sind.
Daraus würde ich am letzten denen, die auf diese Stellungen
angewiesen sind, einen Vorwurf machen. Es ist viel eher wohl
das merkwürdige Bedürfnis, das in der jungen Generation so
verbreitet ist, nach Einsichten, die absolut hieb- und stichfest
sind, nach Einsichten, bei denen man nichts mehr zu riskieren
braucht, möchte ich sagen, und dieses Sekuritätsideal, das
wird dann sehr häufig mit der Sinnlosigkeit dessen bezahlt,
was man weiß. Dazu kommt eine weitere Faszination durch
jede Art von technischer Apparatur in einem weitesten Sinn,
also auch geistig-technischer Apparatur, die ja weit über die
Bewunderung von Automodellen [hinaus] heute auch wirk-

42
sam ist und die also gerade den Methoden, die human zu-
nächst einmal doch eher das Gegenteil auslösen sollten, einen
solchen Reiz zu verleihen scheint.
Ich denke hier besonders an zwei Gefahren, und ich glau-
be, daß ich die Kollegen, die sich mit konkreten soziologi-
schen Dingen abgeben, um so eher darauf aufmerksam ma-
chen kann, als ich glaube, vor dem Vorwurf der idealistischen
Fremdheit gegenüber den empirischen Aufgaben durch das
gesichert zu sein, was unser eigenes Institut dauernd arbeitet.
Aber gerade deshalb, meine ich, bedürfen wir an dieser Stelle
der besonderen selbstkritischen Wachheit.41 Die eine Gefahr
ist die von begriffslosen Erhebungen, also von Erhebungen,
bei denen man etwa darauf ausgeht, zunächst einmal, ohne
überhaupt recht zu wissen, was man wissen will, über irgend-
einen bestimmten Sektor alles in Erfahrung zu bringen, was
sich überhaupt in Erfahrung bringen läßt. Wo aber keine sehr
spezifische und keine durchdachte Problemstellung zugrunde
liegt, da kann im Prinzip auch nichts herauskommen. Es ist
eine Grundregel aller empirischen Soziologie, daß man nichts
Wesentliches an Resultaten aus Erhebungen gewinnen kann,
was man nicht zunächst an Gedanken hineingesteckt hätte.
Freilich soll damit nicht die Möglichkeit ausgeschlossen wer-
den, daß man, wenn man sich einmal überhaupt etwas ge-
dacht hat, dann am Material selber, etwa durch plötzlich sich
ergebende Korrelationen, Einsichten gewinnt, die man nicht
vorher schon hätte vorwegnehmen können. So ist es nicht ge-
meint, denn sonst brauchten wir keine empirischen Untersu-
chungen überhaupt anzustellen, aber daß empirische Erhe-
bungen dann prinzipiell zur Sterilität verdammt sind, wenn
sie nicht vorweg an einer sorgfältig durchgearbeiteten Theo-
rie gewonnen sind, ich glaube, dafür liegen heute sehr drasti-
sche Beispiele insofern vor, als Studien, in denen man darauf
verzichtet hat, allerorten – nicht nur in Deutschland – in ei-
nen Krisenzustand zu geraten scheinen.
Die zweite und die vielleicht noch viel ernstere Gefahr
aber, der gerade die empirische Soziologie gegenübersteht, ist

43
die, daß sie vereidigt wird auf verwaltungstechnische, auf so-
zialfürsorgerische und ähnliche Fragen, daß also gleichsam
das pragmatistische, das praktische Element in der Soziologie
verabsolutiert wird auf Kosten eines jeglichen Zusammen-
hanges mit der Totalität und mit der Wahrheit. Die unmittel-
bare praktische Wendung innerhalb sozialer Einzelsektoren
tendiert dazu, das Unwesentliche anstelle des Wesentlichen
zu setzen und die Menschen nicht als Subjekte, sondern als
Verwaltungsobjekte zu denken. Die volle Erfaßbarkeit eines
solchen, verwaltungsmäßig zu behandelnden Sektors, die so-
genannte Exaktheit, die hier erzielt werden kann, geht regel-
mäßig auf Kosten der Relevanz dessen, worauf es in Wirk-
lichkeit ankommt.
Ich möchte gerade hier Gelegenheit nehmen, denn doch
zu sagen – da diese Bewegung, von der ich eben spreche, ja
weitgehend in Annäherung an amerikanische Methoden er-
folgt –, daß in Amerika selbst einem solchen Verfahren gegen-
über längst die große Skepsis herrscht und daß an dieser Stelle
es eine wirkliche Gefahr wäre, wenn man in Deutschland
amerikanische Methoden nachahmen wollte, die durch die
besten amerikanischen empirischen Soziologen längst weit
überholt sind. Ich darf Sie nur daran erinnern, daß Professor
Robert Lynd, der Verfasser der berühmten Studien »Middle-
town« und »Middletown in Transition«, die einen solch unge-
heuren Einfluß in der ganzen Welt geübt haben, in einem spä-
teren Werk »Knowledge – for what?«42 die Forderung nach
sinnvoller soziologischer Problemstellung anstelle von blinder
Faktenanhäufung aufs allernachdrücklichste gestellt hat. Aber
ich möchte hier doch Ihnen etwas sagen. Nämlich ich möchte
hier mich schützen davor, daß Sie glauben, daß ich nun wieder
einmal die allzu bequeme und allzu billige Forderung nach
einer sogenannten Synthese des spekulativen Denkens, des
theoretischen Denkens in der Soziologie und der empirischen
soziologischen Arbeit Ihnen vortragen würde. Wer ernsthaft
sowohl als philosophischer Theoretiker der Gesellschaft wie
als empirischer Soziologe gearbeitet hat, der weiß, daß der

44
Abstand zwischen den in beiden Bereichen zu findenden Er-
kenntnissen so groß ist, daß die Hoffnung, jede Theorie wäre
eines Tages empirisch einzulösen, als ein Abschieben ad calen-
das graecas angesehen werden muß. Es gebührt sowieso Miß-
trauen allen solchen wissenschaftlichen Problemstellungen,
die da sagen: ›So weit sind wir noch nicht, so reif sind wir noch
nicht, das kann vielleicht in ferner Zukunft einmal gesche-
hen‹. Eine solche kontemplative Haltung, die die Lösung der
drängendsten geistigen Aufgaben gleichsam der Zeit in ab-
stracto vorbehält, die ist dem Philosophen und dem Gelehrten
überhaupt wohl nicht gestattet. Es ist intellektuell redlicher,
den Bruch, von dem ich Ihnen gesprochen habe – oder jeden-
falls, um es weniger schroff zu sagen, die Spannung –, zwi-
schen der empirischen Sozialforschung und der Theorie der
Gesellschaft offen auszusprechen und zu versuchen, sich über
seine tiefer liegenden Gründe Rechenschaft zu geben, als
durch die Rede von der Synthese die Sache zu verkleistern.
Ich kann diesen Grund Ihnen natürlich jetzt in diesen sehr
rhapsodischen Bemerkungen nicht entfalten, aber so viel darf
ich doch andeuten, daß dieser Grund in der Gesellschaft selbst
liegt, nämlich darin, daß in unserer Gesellschaft, weil sie eine
tief widerspruchsvolle ist, die Phänomene, die sie nach außen
darbietet, also das, was an ihr meß- und zählbar ist, nicht ohne
weiteres Ausdruck des Wesens dieser Gesellschaft sind, son-
dern daß sie zugleich dieses Wesen vielfältig auch verbergen.
Das Wesen selber in der Gesellschaft ist nicht unmittelbar
dingfest zu machen, sondern erschließt sich erst dem konse-
quenten Denken, das über die bloßen Fakten hinausgeht,
während es zugleich mit den Fakten sich erfüllt. Es gibt keine
Wahrheit, auch in der Gesellschaftswissenschaft nicht, die
nicht zugleich Interpretation wäre, und der Gedanke, daß der
denkende, der theoretisch gerichtete Gelehrte hineininter-
pretiere, diese Argumentation läuft regelmäßig auf die Sabo-
tage der Wahrheit selbst hinaus.
Ich möchte hier nur noch von den Problemen, denen gera-
de die empirische Sozialforschung gegenübersteht, in aller

45
Eile zwei Ihnen andeuten, ehe ich dazu übergehe, Ihnen we-
nigstens einige der Forderungen zu umreißen, von denen ich
der Ansicht bin, daß sie an die empirische Gesellschaftswis-
senschaft zu richten sind. Das eine ist das Problem der gesell-
schaftlichen Totalität. Auf der einen Seite ist es klar, daß alle
Phänomene, mit denen wir es überhaupt heute in dieser ver-
gesellschafteten Welt zu tun haben, vermittelt sind durch das
Ganze der Gesellschaft hindurch; daß es also nichts gibt, was
rein das wäre, als was es sich uns gibt, sondern daß in allem
sich ausdrückt, daß alle Beziehungen zwischen Menschen,
die unmittelbaren und die vergegenständlichten, eben Aus-
druck des Zusammenhangs der Gesellschaft zu einem Ganzen
sind. Nun, aber diese Art der Vermittlung läßt sich nicht un-
mittelbar in den Griff bekommen. Ich darf Ihnen vielleicht
hier gerade ein sehr drastisches Beispiel aus einer mir naheste-
henden Untersuchung nennen,43 um Ihnen zu zeigen, was
ich meine. Stellen Sie sich vor, es würde etwa von einer empi-
rischen Studie untersucht das Verhältnis von Institutionen
und Menschen innerhalb eines abgegrenzten sozialen Sek-
tors, dann wird, wenn Sie sich im Rahmen dieses abgegrenz-
ten Sektors halten, es so erscheinen, als wäre das Verhältnis der
Menschen zu den Institutionen wesentlich bedingt durch die
Beschaffenheit der Institutionen in dem Sektor, dem sie sich
gegenüberfinden. Aber ob die Menschen etwa ein bestimm-
tes Gericht in einer Stadt viel oder wenig zur Schlichtung ih-
rer Angelegenheiten in Anspruch nehmen, das liegt ja in
Wahrheit nicht daran, wie nun dieses besondere Gericht –
oder nicht nur daran, lassen Sie mich besser sagen –, wie die-
ses besondere Gericht funktioniert, wie sein Personalbestand
ist, wie seine Verfahrensweise ist, sondern es liegt etwa daran,
wie das allgemein herrschende kulturelle Klima, wie die all-
gemein herrschende Ideologie die Menschen präformiert in
bezug auf die Frage: ›Soll ich wegen der mich beschäftigen-
den Fragen zu Gericht laufen oder soll ich das lieber nicht
tun?‹ Und infolgedessen ist eine bloß auf Sektoren gerichtete
Untersuchung von vornherein abgeschnitten davon, diese

46
wesentlichsten Elemente ganz in sich einzubegreifen, wäh-
rend umgekehrt die Totalität selber, das, was also hier die Ver-
mittlung darstellt, sich eigentlich nur von der entwickelten
Theorie aus überhaupt bestimmen läßt, sich aber nicht be-
stimmen läßt innerhalb der empirisch genau übersichtlichen
Ausschnitte, auf die sich die Forschung bezieht.
Das zweite Problem, das ich Ihnen ebenfalls nur in weni-
gen Worten andeuten möchte, ist das Problem der Verdingli-
chung. Durch die Methoden der empirischen Soziologie ist
notwendig selbst ein Dingfestmachen [bedingt]. Sie müssen
dadurch, daß Sie alles zählbar und meßbar machen, was über-
haupt empirische Soziologie heißen will – und empirische
Soziologie, die sich um Quantifizierung drückt, ist ja ein ›höl-
zernes Eisen‹ –, also alles, was Sie hier mit den empirisch kon-
trollierbaren Methoden ergreifen wollen, müssen Sie damit in
gewisser Weise verdinglichen. Sie müssen es zu einem Fak-
tum machen, das aus seinem Sinnzusammenhang bis zum ge-
wissen Grade ausgebrochen wird, auch ausgebrochen aus der
lebendigen Dynamik, in der es sich abspielt. Nun ist aber auf
der andern Seite genau diese Verdinglichung, genau diese
Tatsache des Dingfestmachens, des Erstarrens, selber eines der
wesentlichsten Anliegen der Soziologie, und Sie kommen in-
folgedessen hier zu einem Problem, das vielleicht von fern die
Naturwissenschaftler unter Ihnen erinnern mag an eine Pro-
blematik, die sich heute in der Quantenphysik auch abzeich-
net.44 Nämlich Sie kommen hier dazu, daß zwischen dem
Forschungsinstrument und dem zu erforschenden Gegen-
stand insofern sich bestimmte logische Schwierigkeiten her-
ausbilden, als das Forschungsinstrument selber bedingt ist in
einem weiten Maße von eben jenen Phänomenen im Gegen-
stand, die durch das Forschungsinstrument eigentlich erst zu
erklären wären. Vielleicht darf ich Ihnen das gerade mit ei-
nem Beispiel ebenfalls erläutern.
Als ich den musikalischen Teil des »Princeton Radio Re-
search Project« leitete,45 hatte ich die Theorie vertreten, daß
Menschen, die sich mit ernster Musik befassen und diese ern-

47
ste Musik nur durch das Radio kennen, daß deren Beziehung
zu dieser ernsten Musik in einer bestimmten Weise ato-
mistisch oberflächlich Prestige hat, kurz, verdinglicht ist.46
Und wir waren vor die Aufgabe gestellt, diese These nun ir-
gendwie unter Beweis zu stellen. Mein damaliger Assistent47
machte sich mit großem Eifer an die Aufgabe heran – ich sel-
ber wäre nie auf die ingeniöse Idee gekommen, die ihm
kam –, nämlich, er stellte eine Liste von Komponisten auf, die
er von einer Reihe von Experten bewerten ließ nach ihrer all-
gemeinen Qualität, und suchte dann festzustellen, wie diese
ernsten Komponisten verschiedenen Ranges bei nur durch
Radio gebildeten Hörern und bei solchen Hörern abschnit-
ten, die auch eine andere musikalische Bildung hatten. Die
Resultate, die herauskamen, haben in der Tat meine Hypo-
these im wesentlichen bestätigt. Aber ich bin dieses Trium-
phes nicht recht froh geworden aus dem Grunde, weil ja eine
solche Aufteilung von Komponisten in so und so geartete, ein
solches Dingfestmachen der Komponisten, auch noch unter
Heranziehung von so bedenklichen Wesen, wie Experten es
zu sein pflegen, mir selber Ausdruck genau jenes prestigemä-
ßigen [Denkens] zu sein schien, das gerade mit dieser Unter-
suchung selbst eigentlich kritisiert und herausgestellt werden
sollte. Aber die Schwierigkeit, um die es sich hier handelt, die
ist nicht eine Schwierigkeit dieser einzelnen Studie, sondern
sie bezieht sich eben wirklich auf die prinzipielle Problematik
der empirischen Soziologie gegenüber der Erkenntnis der ei-
gentlichen Sinnzusammenhänge, und ich gebe Ihnen dieses
Beispiel nur deshalb, um Ihnen zu zeigen, daß eben die The-
se, wie ich sie vorhin ausgesprochen habe, nämlich von dem
Spannungsverhältnis zwischen empirischer Soziologie und
Theorie der Gesellschaft, daß dieses Problem äußerst ernst
und äußerst schwer zu nehmen ist und daß wir uns vor allen
Sonntagsphrasen über die kommende Synthese zwischen bei-
den Disziplinen zu hüten haben.
Nun, lassen Sie mich schließlich Ihnen versuchen einige
wenige Forderungen zu umreißen, von denen ich glaube, daß

48
sie an die Soziologie erhoben werden müßten. Die erste die-
ser Forderungen scheint mir die zu sein nach einer Integra-
tion all der Wissenschaften, die an der Gesellschaft überhaupt
beteiligt sind. Einige von Ihnen werden, wenn sie ›Integra-
tion‹ hören, wahrscheinlich erschrecken, weil sie dieses Wort
bis zum Überdruß vernommen haben. Aber dazu ist doch zu
sagen, daß zwar diese Forderung nach einer Integration der
verschiedenen Wissenschaften immer wieder erhoben wird,
aber daß eigentlich nie Ernst mit ihr gemacht wird, sondern
daß es im allgemeinen eben wirklich dabei bleibt, daß ein paar
Kollegen sich zusammensetzen und gemeinsame Colloquien
abhalten oder gar, daß zu allgemeinen Vorlesungen für Hörer
aller Fakultäten aufgefordert wird, die dann von den Studie-
renden – und im allgemeinen ganz zu Unrecht – wie die Pest
gemieden werden. Also, auf diese etwas ideologische Weise
läßt sich das Problem nicht lösen, sondern es läßt sich nur auf
die Weise lösen, daß sich in allem Ernst, und zwar an konkre-
ten und weitschichtigen Forschungsaufgaben, die Vertreter
verschiedener Fachdisziplinen zusammenfinden. Der Gegen-
stand Gesellschaft in der umfassenden Weite, in der ich den
Begriff hier zu brauchen mir gestattet habe, der faßt ja in der
Tat alle möglichen Disziplinen zusammen. Dazu gehören die
Soziologie im engeren Sinne, die Philosophie, die Geschich-
te, die Psychologie, die Ethnologie und etwa auch die heute
in Amerika unter dem Namen ›cultural anthropology‹ ent-
wickelten Wissenschaften, ebenso auch selbstverständlich
zahlreiche der einzelnen geisteswissenschaftlichen Diszi-
plinen. Und es würde nun also darauf ankommen, daß man
sich etwa zusammensetzt und bestimmte Gegenstände he-
raushebt, sagen wir zum Beispiel die Erforschung der Be-
wußtseinsstruktur, wie sie heute in Deutschland vorherrscht,
oder der typischen Bewußtseinsstrukturen, wie sie heute in
Deutschland vorherrschen, und daß an einem derartigen
Thema dann in einer sehr genau geplanten Weise und unter
Klärung der sich überschneidenden Aspekte alle diese Diszi-
plinen mitwirken. Es ist allerdings meine Ansicht, daß wir der

49
Soziologie nicht dienen, wenn wir versuchen, sozusagen eine
Sphäre der reinen oder absoluten Soziologie durch Abgren-
zung von anderen Wissenschaften herauszuschälen – das, was
dabei herauskäme, wäre wahrscheinlich nur ein sehr dünner
Abguß –, sondern daß das, worum es geht, vielmehr das ist,
eine ganze Reihe von Wissenschaften miteinander zu verei-
nen und sich vor Überschneidungen gar nicht zu fürchten,
aber zu vereinen eben unter dem Gesichtspunkt der Analyse
der tragenden Lebensprozesse der gegenwärtigen Gesell-
schaft.
Ich möchte in diesem Zusammenhang nur in aller Kürze
noch sagen, daß sich das ganz besonders auch bezieht auf das
Verhältnis zur Psychologie. Man hat eine Zeitlang geglaubt,
daß es eine Art besondere Massenpsychologie oder Sozial-
psychologie gibt. Ich erinnere Sie nur an das sicherlich den
meisten von Ihnen, wenigstens dem Namen nach, bekannte
Buch von Gustave Le Bon.48 Aber gerade diesem Buch ge-
genüber hat ja Sigmund Freud, dessen Beitrag zu unserer
Wissenschaft außerordentlich schwer zu nehmen ist, den sehr
detaillierten und sehr zwingenden Nachweis unternommen,
daß die Qualitäten, die von Le Bon den Massen qua Massen
zugeschrieben werden, ihrerseits durchaus ihre Wurzel haben
innerhalb der Triebdynamik der einzelnen Individuen und
daß es bei den vorgeblichen ›Masseninstinkten‹, von denen
etwa McDougall geredet hat, sich in Wirklichkeit um die
Mechanismen der Identifikation handelt, die am Individuum
sich studieren lassen.49 Soweit es die Soziologie mit mensch-
lichen, und zwar genauer, mit irrationalen Verhaltensweisen
zu tun hat, sind diese am Modell der individuellen Psycholo-
gie zu entwickeln, die zur konkreten Erkenntnis von Sozial-
phänomenen, wie etwa dem totalitären Massenwahn, ent-
scheidend beiträgt, die aber – und das möchte ich wieder zur
Einschränkung sagen – selber wiederum nur innerhalb objek-
tiver sozialer Zusammenhänge gilt. Also, mit anderen Wor-
ten, eine sinnvolle Sozialpsychologie gilt nur innerhalb der
objektiven gesellschaftlichen Bedingungen. Soweit sich die

50
Soziologie von der Psychologie wesenhaft unterscheidet,
geht es nicht darum, daß der Mensch als geselliges Wesen sich
grundsätzlich anders verhielte wie als Individuum – wobei
übrigens Unterschiede der Verhaltensweisen in Einzel- und
Gruppensituationen nicht geleugnet werden sollen –, son-
dern darum, daß die Soziologie nicht nur und keineswegs in
erster Linie Wissenschaft von den Menschen und ihren Be-
ziehungen ist, sondern ebenso auch von ihrer Isolierung, ih-
rer Entfremdung, der Entmenschlichung ihrer Beziehungen,
kurz, von all dem, was an ihrem gesellschaftlichen Schicksal
sich nicht aus ihrem sogenannten Innenleben rein begreifen
läßt.
Der Gegenstand der Soziologie ist also in einem weiten
Maße das tragende objektive Fundament unserer Gesellschaft,
insbesondere die Organisationsformen, durch welche die Ge-
sellschaft heute sich produziert und reproduziert. Ich nenne
hier etwa nur das Problem der Bürokratie, das heute in vielen
Ländern im Zentrum der Diskussion steht, aber auch etwa
Probleme wie das Problem der Gewerkschaften, des Verhält-
nisses der gewerkschaftlichen Organisation zur Organisation
der großen Industrie, die mit den Streiks zusammenhängen-
den objektiven Probleme und alle Fragen dieser Art. Diese
objektiven Momente sind mindestens ebenso wichtig – und
ich möchte sagen: noch wichtiger für unsere Wissenschaft als
die Beobachtung gesellschaftlicher Verhaltensweisen von In-
dividuen oder von Gruppen, mit denen sehr weit heute die
Soziologie verwechselt wird. Soziologie in dem Sinne, in
dem ich versucht habe, ihre Idee anzudeuten, hat es prinzipi-
ell nicht nur mit den Menschen und ihrem Verhalten, son-
dern ebenso mit den objektiven Kräften zu tun, von denen ihr
Verhalten abhängt. Dabei handelt es sich nicht nur um die so-
genannte Einwirkung bestimmter gesellschaftlicher Institu-
tionen auf sie, wie zum Beispiel Armeen, Parteien, Kirchen,
sondern vor allem auch um die objektiven Mechanismen, die
in ihrem Zusammenleben über den Köpfen der Menschen
hinweg wirksam sind und die andererseits doch wiederum

51
von den Menschen verändert werden können, denn diese
Mechanismen sind ja, wie ich bereits zu Anfang sagte, in letz-
ter Instanz doch wieder von Menschen gemacht. Ein einfa-
ches Beispiel ist der Aberglaube, man könne etwa über große
politische Tendenzen sich ein vollständiges und zureichendes
Bild machen, wenn man sich beschränkt auf Polls, Meinungs-
erhebungen und ähnliche Dinge. Ich glaube, wenn man im
Jahre 1932, im Herbst 1932, eine Meinungsforschung ange-
stellt hätte in Deutschland, dann wäre ein Resultat dabei her-
ausgekommen, das ganz und gar dem widersprochen hätte,
was dann wenige Monate später sich zugetragen hat. So wich-
tig es ist zu wissen, in welcher Richtung die politische An-
schauung des Volkes sich bewegt, so wird man doch nur dann
eine zuverlässige Prognose stellen können, wenn man weiß,
was die Interessen und die Politik der Schlüsselgruppen sind,
die die ökonomisch wichtigsten Positionen innehaben und
die im weiten Maße das Verhalten der Menschen selber zu
steuern in der Lage sind.
Dann weiter möchte ich dem hinzufügen, daß das Studium
dieses Wechselspieles bedeutet, es nicht beim Studium von
Verhaltensweisen als Tatbeständen bewenden zu lassen, son-
dern an der gerade von der deutschen Soziologie zu ihrer gro-
ßen Zeit nachdrücklich erhobenen Forderung des Verstehens
festzuhalten. Nur wird es bei diesem Verstehen sich nicht
mehr um das Begreifen eines sogenannten subjektiven Sinnes
[handeln], wie es bei Simmel noch formuliert war,50 also eines
geistigen Festhaltens, sondern eben [um das Begreifen] der
objektiven Gesetzmäßigkeiten, die, wenn ich so sagen darf,
von den subjektiven Verhaltensweisen der Menschen aus-
gedrückt werden. Wissenschaftspraktisch heißt das, daß wir
verstehende Theorien formulieren müssen, aber derartig in
Forschungskategorien übersetzen, daß die Richtigkeit oder
Falschheit des Verstehens selber entscheidbar ist. Schließlich
möchte ich noch sagen, daß das, was ich kritisch Ihnen an-
deutete über den Widerspruch zwischen dinghaften Metho-
den und dem Problem der Verdinglichung selber als einem

52
Problem der zeitgenössischen Gesellschaft, daß das doch nicht
ganz so schroff und so absolut gilt, wie ich es Ihnen hingestellt
hatte. Die Soziologie muß sich bemühen, gerade auch neue
empirische Methoden zu entwickeln, durch die dieses Mo-
ment überwunden wird, also vor allem Methoden, durch
die gegenüber erstarrten Phänomenen die Dynamik sichtbar
wird und wo anstelle bloß registrierter Fakten, ohne daß an
Strenge der wissenschaftlichen Disziplin etwas verloren wäre,
das Verstehen tritt. Im allgemeinen ist es ja so, daß in der So-
ziologie für qualitative Fülle mit statistischen Mängeln oder
mit dem [fehlenden] repräsentativen Charakter der Erhebung
zu bezahlen ist. Es darf aber aus dem lebendigen Umgang mit
Fragen der Sozialforschung gesagt werden, daß dieser Wider-
spruch sich als nicht so starr erweist, wie er dem Neuling je-
weils erscheint, sondern daß bei genügender Insistenz der Ar-
beit die Methoden der empirischen Sozialforschung selbst so
flexibel werden können, daß sie ihre eigene Starrheit über-
winden helfen.
Vielleicht darf ich Ihnen zum Abschluß hier etwas von der
laufenden Untersuchung unseres eigenen Instituts sagen, die
genau an dieser Stelle angesiedelt ist. Wir haben eine Reihe
von Gruppenexperimenten durchgeführt, die so sind, daß
Gruppen von zehn bis fünfzehn Personen zusammengeru-
fen werden, die einem standardisierten ›Grundreiz‹ ausgesetzt
sind, dann im Anschluß an diesen ›Grundreiz‹ völlig frei
miteinander diskutieren, wobei dann der Versuchsleiter eine
Reihe ebenfalls standardisierter Argumente und Gegenar-
gumente einwirft.51 Nun, die Fülle, die dieses Material gibt
zu einer ganzen Reihe der allerdringlichsten Probleme der
gegenwärtigen deutschen Ideologie, ist erstaunlich, und ich
glaube, daß das Material in gewisser Weise zur Kenntnis des
gegenwärtigen deutschen Bewußtseins wirklich einzigartig
genannt werden darf. Aber Sie könnten darauf entgegnen: ›Ja,
dieses Material, das ist aber ganz [unrepräsentativ],52 Sie ha-
ben ja gar keine Vergleichsmöglichkeiten. Wie ist es sinnvoll
möglich, daraus Folgerungen zu ziehen?‹ – Nun, darauf wür-

53
de ich sagen, erstens hat sich eindeutig erwiesen, daß, wenn
wir einmal in der Lage sein werden, diese Studie, die zunächst
als Pilotstudie durchgeführt war, auch mit streng statistisch
organisierten Querschnitten durchzuführen, daß keinerlei
Grund besteht anzunehmen, daß die Ergebnisse dabei dürf-
tiger oder weniger vergleichbar ausfallen. Weiter aber hat sich
gezeigt, und zwar bei der Ausarbeitung eines sehr detaillierten
›scoring manuals‹, also eines Handbuches für die Interpreta-
tion, daß dieses Material trotz seiner außerordentlichen Fülle
zugleich doch auf Grund dessen, was wir philosophisch ›ob-
jektiven Geist‹ nennen würden,53 eine so feste Struktur in sich
selbst hat, daß diese 120 oder 130 voneinander unabhängigen
Protokolle, von denen die meisten ungefähr 80 Maschinen-
seiten lang sind, sich auf eine ganze Reihe von Kategorien re-
duzieren lassen, ohne daß dabei von der Fülle des Materials
oder von der Fülle der darin enthaltenen sozialpsychologi-
schen Einsichten etwas verlorenginge. Mit anderen Worten
also, es gilt gerade hier, wo es darum geht, die empirische Ar-
beit der Soziologie mit dem sinnvollen theoretischen Element
der deutschen Tradition zu verbinden, denn doch das Wort
›Bangemachen gilt nicht‹, und ich möchte meine Ausführun-
gen mit dieser etwas optimistischen Note schließen und im
übrigen nur wiederholen, was Herr Graf Solms zu Eingang
gesagt hat, nämlich, daß es zum Wesen einer derartigen Be-
sprechung gehört, daß man mehr von Problemen redet als
von Lösungen, aber ich glaube, daß das nicht eine Schwäche
unserer Wissenschaft ist, sondern daß das eben ausdrückt,
daß es in dieser Wissenschaft noch um echte und lebendige
Fragestellungen geht und daß wir noch nicht selber uns in je-
nem Stadium des verdinglichten Bewußtseins befinden, des-
sen Überwindung ich als die eigentliche Aufgabe der gesell-
schaftlichen Einsicht ansprechen möchte.

54
Ad Proust
Januar 1954

Meine Damen und Herren, liebe Kommilitoninnen und


Kommilitonen.
Wenn man mir vor 30 Jahren gesagt hätte, daß mir die Auf-
gabe zufalle, eine neue Ausgabe von Marcel Proust in Deutsch-
land einzuleiten, dann würde ich das wohl mit einigem Un-
glauben von mir gewiesen haben. Nicht nur mit Hinblick
auf die außerordentliche Schwierigkeit einer solchen Auf-
gabe, sondern auch darum, weil mir ein derartiges Beginnen
überflüssig erschienen wäre, einfach deshalb nämlich, weil
dem Werk von Proust eine solche Gewalt und Authentizität
innewohnt, daß ich mir kaum hätte vorstellen können, daß
es nach 30 Jahren noch eines Menschen bedarf, der darauf
einen Kreis von geistig Aufgeschlossenen eigens hinweisen
muß.
Aber die Situation sieht doch anders aus. Proust ist in
Deutschland versäumt worden, und nicht nur infolge des
Dritten Reiches, das mit Gewalt die Publikation der »Re-
cherche du temps perdu« unterbrochen hat, sondern eigent-
lich ist die ganze deutsche Proust-Ausgabe gescheitert. Sie hat
von Anbeginn unter einem sehr ungünstigen Stern gestan-
den. Die Übersetzung des ersten Romanes »Du côté de chez
Swann« wurde von einem sehr maßgebenden Mann außeror-
dentlich ungünstig besprochen.54 Ich lasse es dahingestellt, ob
mit Recht oder Unrecht, die einzelnen Argumente waren si-
cher richtig. Aber der Erfolg davon war, daß Menschen, die in
keiner Weise berufen sind, über die Fragen zu urteilen, um
die es sich dabei handelt, geglaubt haben, nun den Proust ein-
fach, weil er doch so schlecht übersetzt sei, von sich abschüt-
teln zu können, und von diesem Anfangsschock hat sich die
deutsche Rezeption Prousts eigentlich nie wieder ganz er-
holt. Auch als [es] dann die großartigen Übersetzungen von
Benjamin und Hessel55 gab, welche den zweiten und dritten
Roman, also »À l’ombre des jeunes filles« und »Le côté de

55
Guermantes« einschlossen,56 da war bereits der Kontakt emp-
findlich gestört und die verschiedenen Verlage, die sich mit
der Herausgabe dieser Übersetzungen befaßten, die haben
das allesamt nicht überlebt,57 so daß es zu der Publikation des
eigentlichen Kernstücks des gesamten Werkes [»Sodome et
Gomorrhe«] überhaupt nicht mehr gekommen ist. Es ist ein
Kuriosum, das ich Ihnen vielleicht hier sagen darf, daß man
nicht einmal ganz genau mehr feststellen kann, ob die Über-
setzung dieses Kernstücks des Romans, auf das ja der ur-
sprüngliche Plan des Buchs sich beschränkt hatte, überhaupt
zustande kam oder nicht. Benjamin hat mir oft gesagt, das
Manuskript sei fertig, aber es sei dann bei der Wanderung
zwischen den Verlagen verlorengegangen,58 aber wie das mit
Autoren häufig zu gehen pflegt, es ist möglich, daß es sich da-
bei auch um eine [Wunschphantasie]59 gehandelt hat und daß
in Wirklichkeit das Manuskript nie zustande kam; jedenfalls
gehört das durchaus in das Ambiente des deutschen Proust
hinein, daß man damit nicht so recht Bescheid weiß. Ich
glaube, man tut der Geschichte des deutschen Proust kein
Unrecht, wenn man sagt, daß Proust in der Zeit, in der er er-
schien, nämlich in den späten zwanziger oder frühen dreißi-
ger Jahren, bereits auf ein geistiges Klima stieß, daß er, im Jar-
gon jener Jahre, zu ›untragbar‹ war, und es will mir scheinen,
wenn ich Proust lese, als wäre überhaupt das ganze Dritte
Reich nur erfunden worden, um alles, aber auch schlechter-
dings alles an Reaktionsformen, was dieser Roman verkör-
pert, zu zerstören und zu verbieten. Es gibt da schlechterdings
also nichts Verbindendes, und es ist um so erstaunlicher, als
Proust seiner Gesinnung nach und auch politisch, dem expli-
ziten politischen Inhalt seines Werkes nach, alles eher als ein
Revolutionär oder ein Kritiker der Gesellschaft war. Gewiß,
er hat in dem Streit um Dreyfus sich auf die Seite von Dreyfus
gestellt,60 was bei ihm, als dem ›Halbjuden‹, immerhin nicht
weiter verwunderlich ist, aber abgesehen davon, kann man
wohl von Proust und seiner ganzen Existenzform schlechter-
dings nicht sagen, daß sie irgend etwas Revolutionäres im äu-

56
ßeren Sinn enthalten hat. Trotzdem hat dieses Werk durch
eine Art von innerer Sprengkraft, durch eine Art von innerer
Nonkonformität, eine Art von Schock ausgelöst, über den
man nie ganz hinweggekommen ist. Und ich bin glücklich,
im wörtlichsten Sinne glücklich, daß nun heute in dem Au-
genblick, in dem mein Freund Suhrkamp61 die neue Ausgabe
veranstaltet,62 es damit vorbei ist. In diesem Augenblick be-
reits ist die neue Übersetzung des ersten Bandes, also die
Übersetzung von »Du côté de chez Swann« ausverkauft,63 das
ist immerhin für das gesamte Werk ein sehr gutes Zeichen.
Was mit Proust in Deutschland verlorengegangen ist, das ist
nun nicht so sehr ein Muster. Es gibt ja Romane, deutsche
Romane, die sich an Proust orientiert haben, ich nenne nur
zwei, der eine der meines verstorbenen Freundes Hermann
von Grab, »Der Stadtpark«,64 der andere »Farben zu einer
Kinderlandschaft« von dem Grafen Erik Wickenburg,65 bei-
des außerordentlich zarte und subtile Gebilde, die insgesamt
ohne das Proustsche Modell nicht zu denken gewesen wären.
Aber es handelt sich viel weniger darum, als um die Frage
des Maßstabs, den Proust aufstellt. Wie man jedem Gedicht in
deutscher Sprache, auch solchen, die der Georgischen Schule
unendlich fernstehen, anhört, ob sie geistig vor oder nach
George liegen, so müßte es, meine ich, auch mit darstellender
Prosa in Deutschland sein. Man müßte unterscheiden kön-
nen, ob es vor-proustische oder nach-proustische Prosa ist.
Ich möchte dem die Formel geben, daß Proust das Exempla-
rische mit dem Avancierten verbinde, mit anderen Worten,
daß das Proustische Werk zwar durchaus ein avantgardisti-
sches, also allen konventionellen, vorgeformten Normen ent-
zogenes Werk sei, daß es aber gleichzeitig eine Art von Allge-
meinverbindlichkeit und Notwendigkeit in sich enthält, die
es jener ganzen Sphäre enthebt, die man sonst mit Begriffen
wie dem des Experimentellen oder des Willkürlichen zu be-
zeichnen sucht. Nun, worin liegt das Exemplarische dieses
Werkes? Ich möchte dem mikrologischen Dichter, der die
Kraft des Allgemeinen ganz und gar in die Darstellung des

57
Besonderen setzt, darin treu bleiben, daß ich nun nicht etwa
versuche, Ihnen eine allgemeine Charakteristik, sei es des
Werkes oder sei es des Mannes, zu geben, die notwendig zer-
fließen müßte und die verfehlen müßte, das bei Ihnen anzu-
rufen, um was es hier eigentlich geht. Ich möchte auch nicht,
wie es die nächste Versuchung [für einen dem] Fach nach als
Philosophen Definierten wäre, auf die in Proust enthaltene
Philosophie, als auf einen angewandten Bergsonianismus66
oder, wie manche sagen, gar als einen in Romanform über-
setzten Platonismus,67 eingehen. Ich glaube überhaupt – und
ich meine, damit begegnet man einem heute recht verbreite-
ten Irrtum der Ästhetik –, daß dasjenige, was ein Autor an
Philosophie in sein Werk hineinpumpt, mit dem philosophi-
schen Gehalt des Werkes selber in keiner Weise identisch ist.
Wenn ich boshaft wäre, könnte ich sagen, daß diese hineinge-
pumpte Philosophie, also die sogenannte Weltanschauung des
Autors, sehr häufig nur dazu da ist, den Mangel eines solchen
objektiven philosophischen Gehaltes der Gestaltung selber ei-
gentlich zuzudecken. Und es gilt auch für Proust, obwohl
dessen Werk von langen und oftmals sehr schwierigen theore-
tischen Betrachtungen, wie denen über das Wesen der Zeit,
durchsetzt ist. Ich darf vielleicht hier einfügen – ich habe das
auszuführen versucht in einer Arbeit, die im nächsten Heft
der »Neuen Rundschau« stehen wird –, daß auch diese Refle-
xionen bei Proust nicht als dem Formganzen enthobene, ab-
strakte Erwägungen zu verstehen sind, sondern daß sie ei-
gentlich selber auch einen Bestandteil bilden des ›monologue
intérieur‹, das heißt, daß sie eigentlich überhaupt nur gelten
als selber ein Stück des Stoffes, der in dem Roman unter dem
Apriori der Form des Romans behandelt wird, daß [sie] aber
keineswegs, wie zum Beispiel bei Gide68 oder gelegentlich bei
Thomas Mann, es beanspruchen, ungebrochen und unab-
hängig von der Form des Romans eigenständige theoretische
Gebilde eigentlich darzustellen.69 Nun, von alldem also will
ich Ihnen heute nichts erzählen, auch nichts, jedenfalls nicht
wesentlich etwas, von dem berühmten Prinzip der unwillkür-

58
lichen Erinnerung, der ›mémoire involontaire‹, die Marcel
Proust von Bergson übernommen und die er in einem be-
stimmten Sinn angewandt hat.70 Ich verspreche Ihnen also,
nichts von der berühmten Madeleine zu erzählen,71 die ja un-
terdessen zu einer Art von Volksnahrungsmittel geworden ist.
Lassen Sie mich lieber statt dessen versuchen, von eigenen Er-
fahrungen mit diesem Werk auszugehen, und auf diese Weise
versuchen, in seine Objektivität einzudringen. Dieser etwas
ungewöhnliche Weg wird sich vielleicht, so hoffe ich wenig-
stens, rechtfertigen durch das, was ich Ihnen eben zur Erklä-
rung dann da zu sagen habe.
Der Name ›Proust‹ ist mir zum ersten Male begegnet im
Jahre 192572 auf einer Autofahrt in [den Dolomiten], und
zwar in einer Nummer des »Neuen Wiener Journals«, ei-
nes durch die Polemik von Karl Kraus berüchtigten Wiener
Schmierblattes.73 In diesem abscheulichen Blatt stand ein
ebenfalls nicht gerade sehr hoch rangierender Aufsatz von
Stefan Zweig, der einiges aussagte über das Leben Prousts,
über seine Arbeitsweise und über die Art seines Romans.74
Obwohl ich schon damals über die literarische Qualität von
Stefan Zweig mir wenig Illusionen machte, hat mich bei der
Lektüre dieses Aufsatzes ein Gefühl von Faszination ergriffen,
längst ehe ich ein Wort des Werkes selber las. Es ging mir da-
mit ungefähr so – und ich glaube, dann bewegt man sich be-
reits in dem Proustschen Bannkreis –, wie man sich etwa in
den Namen einer Frau verlieben kann, auch wenn man die
betreffende Frau noch nie gesehen hat und gar nichts anderes
von ihr weiß als eben diesen Namen. Es schien mir, es müsse
das, wovon Proust handelt, mit dem Allerpersönlichsten und
mir selber Verschlossensten, womit ich es zu tun hatte, auf
eine fast idiosynkratische Weise zusammenhängen, so etwa,
als ob ich hätte erröten müssen, wenn ich den Namen ›Proust‹
nur hörte. Und dieses Gefühl eines befangenen Hingerissen-
seins hat sich dann bei der wachsenden Beschäftigung mit
Proust eigentlich nur verstärkt. Benjamin sagte mir einmal
ganz im gleichen Sinn, er sei entschlossen, nicht ein Wort von

59
Proust mehr zu lesen, als er selbst zu übersetzen habe, weil ihn
sonst eine Art von Süchtigkeit dem Werk gegenüber ergriffe
und er sich zu eigenem Produzieren dann nicht mehr fähig
fühle. Der Ausdruck ›Süchtigkeit‹, darf ich sagen, charakteri-
siert wohl überhaupt sehr viel von der Proustschen Atmo-
sphäre, nicht nur weil Proust in den späten Jahren seiner
Krankheit ja wohl selber in klinischem Sinne ein Süchtiger
war,75 sondern weil das Verhältnis zum Leben und vor allem
das Verhältnis zu seiner literarischen Darstellung ein Klima
von Obsession, von Süchtigkeit besitzt, das sich dann bei der
Lektüre nur allzuleicht mitteilt.
Nun, meine Damen und Herren, Sie werden mich fragen,
was solche privaten Passionen von ein paar Schriftstellern mit
der Sache selbst, also mit der von Proust eigentlich zu tun hät-
ten. Nun ist aber das Merkwürdige, daß die magnetische Kraft
Prousts offenbar jeden Leser reizt, der darübergerät, der über-
haupt fähig ist, Gebilde dieses Niveaus einigermaßen wahr-
zunehmen, auch solche Menschen, denen Proust, den Vor-
aussetzungen ihrer geistigen und gesellschaftlichen Existenz
nach, keineswegs vorgestellt ist. Man könnte sagen, Proust
plaudere die Geheimnisse eines jeden aus, und das [be]zeich-
net eigentlich den genauen Ansatzpunkt, von dem aus ich Ih-
nen einen kleinen Pfad in dieses Dickicht zeigen möchte.
Das Werk Prousts ist seinem Charakter nach ja scheinbar
von dem denkbar privatesten Charakter. Die Darstellung ist
alles eher als kommunikativ, denken Sie nur etwa an die lan-
gen und selbst für deutsche, geschweige französische oder
englische Ohren übermäßig komplizierten Sätze, oder den-
ken Sie an die unendlich langen Absätze, die es allen, die an
der Massenkultur verdummt sind, zu einer unendlich mühse-
ligen Aufgabe machen, sich durch den Proust hindurchzu-
finden. Es ist bei allem kontemplativen Sich-Versenken und
bei allem Charme und bei allem Duft eine außerordentlich
unbequeme, anstrengende und ungemütliche Lektüre. Dazu
kommt, daß die Sorgen, wenn ich so schnoddrig einmal re-
den darf, mit denen die »Recherche du temps perdu« sich ab-

60
gibt, die Sorgen eines Luxusgeschöpfs sind, mit denen wohl
kaum einer der Leser da in Deutschland heute noch ohne
weiteres sich zu identifizieren vermag, noch dazu eines
Luxusgeschöpfes von abseitiger und verfehlter Triebstruktur.
Die Gesellschaft, die er behandelt, ist französische Aristokra-
tie aus der Spätzeit des Kapitalismus, also aus einer Epoche, in
der dieser Gruppe, die hier dargestellt wird, dieser Schicht,
die dargestellt wird, gesellschaftlich schon gar keine wirklich
entscheidende Bedeutung mehr zukommt, die eigentlich be-
reits gar nicht mehr wesentlich über das Schicksal der Men-
schen zu bestimmen hat. Und dazu kommt ein Kreis von
Menschen, sei es von Snobs, sei es von Parasiten, die mit die-
ser Welt zusammenhängen, freilich auch die Welt der Bedien-
ten, wie immer es auch damit sei, jedenfalls eine reine Sphäre
des Konsums, während das Wesentliche, also die ganze Sphäre
der gesellschaftlichen Produktion, die Sphäre der Politik, die
Sphäre der gesellschaftlichen Bewegung, überhaupt aus die-
sem Werk völlig ferngehalten ist, gleichsam dagegen abge-
blendet, könnte man sagen, und nur im Negativ, nämlich in
dem Zerfall jener esoterischen Luxusgesellschaft, ist etwas
von der großen, eigentlichen gesellschaftlichen Tendenz un-
seres Zeitalters überhaupt zu spüren, nicht etwa unmittelbar
in der Behandlung der Stoffe. Es ist also insofern das genaue
Gegenteil dessen, was man heute etwa als ›poésie engagée‹ be-
zeichnet.76 Nun, die meisten Menschen wollen auch von die-
ser Sphäre gar nichts wissen, vielleicht deshalb, weil sie etwas
in sich selber unterdrücken müssen, was auf den Reiz dieser
Exklusivität, die eines der großen Themen Prousts bildet, nur
allzusehr anspricht, und weil sie eben darum diesen Charme
sich verwehren müssen. Aber auch was Proust über alle diese
abseitigen Gegenstände aussagt, bezieht sich nicht etwa auf
ihre Struktur – wer also etwa eine Soziologie der französi-
schen großen Gesellschaft oder des Snobismus bei Proust su-
chen wollte, der wäre auch da grimmig enttäuscht –, sondern
es geht immer und ausschließlich um höchst spezifische, ein-
malige und unverwechselbare Erfahrung. Wenn je ein Werk

61
dem eigenen Geist, der eigenen Gesinnung nach individuali-
stisch gewesen ist, so war es das von Proust. Es ist bestimmt
durch die Ausnahmesituation des Schreibenden ebensowohl
wie durch seinen Willen, so weit wie möglich nur das durch-
zulassen, was dem allgemeinen Zugriff sich entzieht, was
nicht durch die Allgemeinbegriffe bereits vorgeformt ist, von
denen ja Bergson einmal gesagt hat, daß sie wie Konfektions-
kleider um den Körper der Dinge sich legen und um die
Dinge schlottern würden.77 Nun, also bei Proust handelt es
sich im doppelten Sinn um das Ideal ›haute couture‹. Ein
Kranker hat es der Welt zeigen wollen, die ihn aus sich aus-
schließt. Wenn ich nicht Angst hätte vor naturwissenschaft-
lichen Gleichnissen und wenn ich nicht wüßte, welches Un-
heil heutzutage angesichts der beispiellosen Entwicklung der
Naturwissenschaften angerichtet wird, wenn man deren
Kategorien auf Phänomene des objektiven Geistes überträgt,
so würde ich sagen, man habe es bei Proust zu tun mit einer
Anstrengung zur geistigen Atomzertrümmerung. Es geht für
ihn eigentlich darum, das τδε τι [tode ti], das Allerindividu-
ellste, das vom Begriff Unerfaßte trotzdem denkend darzu-
stellen, durch den Begriff zu durchdringen und in diesem an-
statt im Allgemeinen78 der Kräfte innezuwerden, auf die es
eigentlich ankommt, und freilich solcher Kräfte, die um ein
Vielfaches diejenigen übertreffen, die von der normalen, all-
täglichen, klassifizierenden Begriffsbildung eigentlich erfaßt
werden.
Nun, meine Damen und Herren, das ist so eine Behaup-
tung, und da ich annehme, daß die meisten von Ihnen als
Bürger dieser Universität solche Behauptungen nicht ohne
weiteres hingehen lassen, daß Sie sich nichts vormachen las-
sen wollen, werden Sie mich doch zunächst einmal alle fra-
gen: ›Ja, wie ist das eigentlich möglich, wie soll das sein, daß
hier also die Darstellung des Allerindividuellsten und des Al-
lerausgefallensten, daß die objektive Bedeutung haben soll?‹79
Und auf diese Frage nun möchte ich versuchen, Ihnen Rede
zu stehen. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ich möchte

62
hier nicht etwa das allgemeine Cliché Ihnen wiederholen, das
besagt, daß die Verbindlichkeit und Gewalt von Kunstwerken
zunehme mit der Kraft jeweils ihrer individuellen Prägung. Es
handelt sich bei Proust hier um etwas viel Bestimmteres und
auch um etwas viel Erregenderes, nämlich wirklich um die
Kraft des ›mea res agitur‹, die in der hermetischen Abschlie-
ßung nicht auf ›mea res‹, sondern auf die ›res‹ des anderen,
nämlich eben die des Dichters [zurückgeht]. Man könnte
übertreibend sagen, daß jeder, der Dichtungen dieses Typus
gewachsen ist, bei den speziellsten Beobachtungen Prousts
das Gefühl hat ›So, genau so ist es, so bin ich selber, das hätte
mir auch passieren können‹. Ich möchte Ihnen dafür wenig-
stens ein Beispiel geben, ich weiß nicht, ob es Sie alle über-
zeugt, mir jedenfalls hat es einen sehr großen Eindruck ge-
macht. In einem der späten Teile des großen Werkes – ich
glaube, es ist entweder in »Albertine disparue« oder im er-
sten Band von »Le temps retrouvé« – erhält der Erzähler ein
freundliches Grußtelegramm, das unterzeichnet ist im Na-
men Albertines. Albertine, eine der weiblichen Hauptfiguren
des gesamten Romanwerks, ist die Geliebte des Erzählers ge-
wesen. Sie ist zu diesem Zeitpunkt bereits längst tot, aber eine
Reihe von Verkettungen hat es dahin gebracht, daß das Tele-
gramm, das übrigens von einer anderen Jugendliebe des Er-
zählers herrührt, mit dem Namen ›Albertine‹ signiert war.80
Nun, ich glaube, man kann schwer auf diese Geschichte an-
ders reagieren als mit dem Gefühl ›So ist es, genau so ge-
schieht es‹, und vielleicht darf ich dem noch hinzufügen,
überall, wo das Proustsche Werk solche Art von Evidenz her-
stellt, gibt es einen Schmerz. Ich frage nun: Was ist das – dieses
unmittelbare, fast körperhafte Gefühl der Allgemeinverbind-
lichkeit des Allerspeziellsten? Indem ich Ihnen darauf und nur
darauf zu antworten suche, hoffe ich, Ihnen wenigstens einen
der zentralen Impulse des Proustschen Werkes vergegenwär-
tigen zu können.
Sie wissen, daß ein großer Teil dieses Werkes der Kindheit
gewidmet ist, und es ist allbekannt, daß er als eine seiner

63
wesentlichsten Aufgaben die präzise Wiederherstellung von
Kindheitserinnerungen sah. Darin liegt ja die oft bemerkte
Analogie des Proustschen Werkes mit der Psychoanalyse.
Nun,81 ich glaube, an dieser Stelle liegt der Schlüssel für jenes
Faszinierende, und zwar in einer der scheinbaren Esoterik
Prousts sehr widersprechenden und, beinahe möchte ich sa-
gen, in einer demokratischen Weise. Jedes Kind nämlich, dem
nicht bereits in den allerersten Jahren seiner Existenz die Re-
aktionsfähigkeit ausgetrieben ward, verfügt über die Mög-
lichkeit der unendlich differenzierten Erfahrung. Ich erinnere
mich an einen Klassenkameraden, aus dem nach der Ordnung
unseres Lebens gar nichts Besonderes geworden ist. Wir wa-
ren vielleicht zwölf Jahre alt, als wir im französischen Unter-
richt den »Geizhals« von Molière lasen.82 Jener Klassenkame-
rad machte mich darauf aufmerksam, daß der Lehrer den Titel
»L’Avare« in einer bestimmten Weise aussprach, die mangeln-
de Bildung, ein minderes Milieu verriet. Er sagte »L’Avarre«
und das harte ›r‹ in »L’Avare« klang an einen provinziellen
Dialekt, den des Westerwaldes an. Mein Kamerad meinte,
zwischen der Aussprache dieses ›r‹ und dem Gegenstand
herrschte ein solcher Widerspruch, daß man diesem im übri-
gen ausgezeichneten Lehrer gar nicht recht glauben könne,
daß er der französischen Sprache mächtig sei. Nun, diese Be-
obachtung eines zwölfjährigen Jungen könnte bei Proust ste-
hen, und wenn ich mich nicht täusche, ist jedes bürgerliche
und unter einigermaßen behüteten Bedingungen aufgewach-
sene Kind solcher Beobachtungen mächtig, aber wir verlieren
die Fähigkeit, diese Beobachtungen zu machen, wir verlieren
die Fähigkeit, so zu reagieren. Der Zwang, uns anzupassen,
verbietet uns dieses genaue Abhören, Abklopfen der Realität.
Genau davon hat Proust an einer verhältnismäßig frühen Stel-
le des Werkes Rechenschaft abgelegt, wie ich Ihnen über-
haupt vielleicht den Tip geben darf für die Lektüre Prousts,
daß sehr viele der Bemerkungen, der verstreuten Bemerkun-
gen in den ersten Teilen des Romans gewissermaßen Signale
sind, die Sie auf den späteren Weg vorbereiten und erst dann

64
ganz eingeholt werden, wenn Sie das ganze Werk kennen. Ich
möchte Ihnen diese kleine Stelle vorlesen, weil sie, ich glaube,
besser als alles andere diesen besonderen Impuls Ihnen cha-
rakterisiert, den ich für einen Schlüssel in dem Werk halte.
»Bei diesen Gartenbesuchen meiner Großmutter nach dem
Abendessen«, heißt es da, »gab es etwas, was sie veranlaßte, ins
Haus zurückzukehren: wenn nämlich in einem der Augen-
blicke, da der Turnus ihres Spaziergangs sie wie eine Motte an
die beleuchteten Fenster des kleinen Salons führte, wo gerade
auf dem Spieltisch die Liköre serviert wurden, meine Groß-
tante ihr zurief: ›Bathilde! Komm doch und gib acht, daß
dein Mann keinen Kognak trinkt!‹ Um sie zu necken nämlich
(sie hatte in die Familie meines Vaters einen so anderen Geist
hineingebracht, daß alle sie neckten und quälten) veranlaßte
meine Großtante meinen Großvater, dem die Schnäpse ver-
boten waren, ein paar Tropfen zu trinken. Meine arme Groß-
mutter ging also ins Haus und beschwor ihren Mann, keinen
Kognak zu trinken; er wurde böse, trank trotzdem sein Gläs-
chen, und meine Großmutter ging traurig, entmutigt und
gleichwohl lächelnd davon, denn sie war so demütigen Her-
zens und so gutartig, daß ihre Zärtlichkeit für die anderen und
die geringe Wichtigkeit, die sie von ihrer eigenen Person und
ihren Leiden machte, sich in ihrem Blick in einem Lächeln
versöhnten, das ganz im Gegensatz zu dem, was man auf den
meisten Gesichtern liest, Ironie nur gegen sich selbst enthielt;
uns alle streiften ihre Augen wie mit einem Kuß, denn sie
konnte ihre Lieben nicht anschauen, ohne sie leidenschaftlich
mit dem Blick zu streicheln.« Und nun sagt er so von sich:
»Sobald ich hörte: ›Bathilde, komm doch und gib acht, daß
dein Mann keinen Kognak trinkt!‹ tat ich, an Feigheit bereits
ein Mann, was wir alle tun, wenn wir groß sind und Leiden
und Ungerechtigkeiten mitansehen müssen: ich wollte nicht
sehen; ich stieg schluchzend im Hause hoch unter das Dach
hinauf, wo neben dem Schulzimmer ein kleiner Raum lag,
der nach Iris roch und außerdem von einem wilden Johannis-
beerstrauch durchduftet wurde, welcher draußen zwischen

65
den Mauersteinen wuchs und einen Blütenzweig durch das
halboffene Fenster schob.«83
Nun also, dieses ›feige wie ein Mann‹ ist ein Motto zu dem
ganzen Proust. Man kann sagen, daß dieser nach den üblichen
Maßstäben verzärteltste aller Dichter jedenfalls diesem einen
sich entzogen hat, feige wie ein Mann zu sein, nämlich die
Reaktionen sich zu erhalten [suchte], die man als Kind hat
und die einem vom Leben sonst eigentlich ausgetrieben wer-
den. Der Zwang, sich anzupassen, verbietet uns später die-
ses genaue Abhören und Abklopfen der Realität, soweit sie
uns unmittelbar in unserer lebendigen Erfahrung begegnet.
Würde man sich sein ganzes Leben so verhalten, so wäre es für
uns kaum erträglich. Ich glaube, fast jeder kann darauf die
Probe machen, wenn er einmal im Gespräch sich die Mühe
nimmt, anstatt geradehin die Gegenstände zu behandeln, die
Obertöne, vor allem die Momente des Falschen, Gemachten,
Herrschgierigen, Schmeichelnden, Sich-Aufspielenden oder
was immer es sein mag, zu beobachten, die in der eigenen
Stimme ebenso liegen wie in der des Partners. Wenn man
zum Beispiel ein Band abhört, auf dem die eigene Stimme
aufgenommen ist, dann kann man diese einigermaßen schok-
kierende Erfahrung fast allemal machen. Nun, Proust, könnte
man beinahe sagen, hat das ganze Leben die eigene Stimme
und die aller anderen Menschen ungefähr mit jener Nähe und
zugleich jener Fremdheit abgehört, mit der wir zuhören,
wenn wir eine solche Bandaufnahme oder eine solche Radio-
aufnahme von uns selbst uns anhören. Wäre man aller jener
Obertöne in jedem Augenblick sich voll bewußt, so müßte
das eine solche Verzweiflung bedeuten an der Welt und an ei-
nem selber, an dem, was die aus jedem einzelnen gemacht hat,
daß einem die Lust und wahrscheinlich auch die Kraft vergin-
ge, weiter mitzuspielen. Das Geheimnis Prousts also wäre, daß
er den Verzicht auf diese Reaktionsfähigkeit nicht mitge-
macht hat, daß er der Möglichkeit der ungeschmälerten Er-
fahrung aus der Kindheit die Treue hielt und daß er mit aller
Reflexion und Bewußtheit des Erwachsenen die Welt so un-

66
deformiert wahrnahm, wie man es als Kind vermag. Nun ja,
er war ja ein Erwachsener und er war alles andere, kann ich Sie
versichern, als infantil. Das bedeutet aber, daß, um diese Lei-
stung zu vollbringen, die dem Kind selbstverständlich ist, man
geradezu eine heroische Anstrengung machen muß, und von
diesem Heroismus ist das gesamte Proustsche Werk durch-
wachsen, dieser Heroismus ist gewissermaßen der Kontra-
punkt zu der Proustschen Sensibilität, und er allein ist es, der
diese Sensibilität der Gefahr des Verzärtelten, des in sich selber
Verliebten, eigentlich enthebt. Es handelt sich beinahe in je-
nem Sicherhalten der Reaktionsfähigkeit um etwas wie eine
Yogi-Technik. Die Naivetät Prousts ist die einer zweiten, ist
eine zweite, eine gleichsam künstlich hergestellte Naivetät, so
wie Jens Peter Jacobsen, der mit dem Werk Prousts recht viel
gemeinsam hat, einmal den Begriff der zweiten Naivität ein-
geführt hat.84 Übrigens darf ich vielleicht den Philosophen
unter Ihnen sagen, daß bei Hegel selbst ein ähnliches Motiv
auch sich findet, dort, wo er davon spricht, daß auf jeder Stufe
der Dialektik, also durch jede Vermittlung hindurch, eine
neue Unmittelbarkeit, wenn Sie wollen, eine neue Art von
Anschaulichkeit, sich wieder herstelle und daß nicht etwa
durch die Reflexion die Unmittelbarkeit oder die Naivetät
verlorengehe, sondern in einem gewissen Sinn in einem un-
endlichen Prozeß sich immer und immer wieder bilde.85
Nun, so ist es bei Proust denn auch. Man kann sagen, daß in
der Haltung des verwöhnten Kindes oder in der Haltung des
verwöhnten Amateurs, die Proust mit so großer Konsequenz
eingenommen hat, etwas von dieser Naivetät steckt. Wenn
zum Beispiel ein Reisender auf einem Schiff, ein Luxusrei-
sender auf einem Schiff, sich mit Matrosen unterhält, die auf
diesem Schiff schwere Arbeit zu leisten haben, dann hat das,
was der Reisende zu den Matrosen sagt, und mag er ein noch
so gebildeter und differenzierter Mensch sein, auch immer
gegenüber der Härte der Leistung, die von ihnen erwartet
wird, etwas Naives und etwas Kindliches, und wenn die
Matrosen nicht ganz hartgesotten sind, so werden sie dann

67
auch eine gewisse Neigung haben, über einen, der so zu ih-
nen freundlich redet, ohne von der Schwere ihres Schicksals
eine rechte Vorstellung zu haben, ein wenig zu lächeln. Nun,
man kann sagen, daß von dieser Naivetät des Nicht-ganz-
Drinseins, von dieser Naivetät des Zuschauers, des bloßen
Betrachters, eigentlich Proust sehr viel hat und daß seine
spezifische Haltung zusammenhängt gerade mit diesem Sich-
Raushalten, mit diesem Nicht-ganz-Mitmachen, das gleich-
zeitig ihm die Reflexion erlaubt, aber auch gleichzeitig ihn
aus jenem Betrieb draußen hält, der den Menschen sonst die
Kindlichkeit nimmt, und daß gerade in seiner Vergeistigung
und Differenziertheit selber, möchte ich beinahe sagen, das
Moment des Kindlichen, nicht des Infantilen, also des in
einem großen und echten Sinne Kindlichen bei ihm sich
durchhält.
Nun, das überwältigende Gefühl des Bekannten im Ausge-
fallensten, das von Proust ausgeht, das rührt, wenn ich mich
nicht irre, daher, daß er eben durch diese beispiellose Diszi-
plin dessen mächtig bleibt, was jeder einzelne als Kind wußte
und verdrängte und was ihn nun mit der Macht des Vertrau-
ten anspricht. Was an Proust so individuell und, wenn ich sa-
gen darf, so ausgefallen erscheint, das ist es gar nicht an sich,
sondern es ist es dadurch, daß wir uns nicht mehr getrauen,
daß wir nicht mehr die Kraft und nicht mehr den Mut haben,
es so wahrzunehmen. Eigentlich ist gerade das das Verspre-
chen des Allgemeinen, und Proust stellt das wieder her. Viel-
leicht darf ich sagen, daß an dieser Stelle ein entscheidender
Unterschied zu Bergson liegt, der Prousts Verwandter im
wörtlichen und im oberflächlichen Sinn gewesen ist.86 Bei
beiden geht es ja dem Programm nach um die Wiederher-
stellung von Leben und Erfahrung gegenüber der Verding-
lichung, gegenüber der Welt der Konvention. Bergson aber
sieht den Weg dazu in einem fessellosen Sich-Anpassen an
wechselnde Situationen, wenn Sie wollen, in blinder Konfor-
mität,87 Proust dagegen gerade darin, dieser Anpassung sich
zu entziehen und die Organe der Kindheit sich intakt zu er-

68
halten. Daher vertraut denn auch Bergson der Intuition88 als
einer reinen Passivität und wehrt sich eigentlich gegen alle tä-
tige »Anstrengung des Begriffs«,89 während Proust gerade für
die Intuition die unendliche Anspannung eines Fechters ver-
langt und im übrigen sein Werk durchwegs mit einem außer-
ordentlichen Aufgebot von Rationalität, ich möchte sagen,
von gesundem Menschenverstand und von wirklicher psy-
chologischer Kenntnis polstert, füllt, und erst auf dem Boden
dieses Fonds also von gesundem Menschenverstand und
wirklicher Welterfahrung erhebt sich dann jene Kraft der
Intuition, also jene Kraft der Wiederherstellung des Verges-
senen durch die Erinnerung, die eigentlich sein Werk aus-
macht. Er steht also dem Problem von Ratio und Anschauung
oder von Rationalität und unbewußter Erinnerung weit we-
niger einfach gegenüber als Bergson, er hat alldem gegenüber
einen viel dialektischeren Standpunkt in der Gesinnung sei-
nes Werkes selber, aber ich deute Ihnen das nur an, denn ich
habe Ihnen ja versprochen, auf das Problem der [mémoire in-
volontaire] nicht näher einzugehen.
Nun darf man freilich auch das sich nicht so einfach vor-
stellen, denn auch diese Fähigkeit von Proust, von der ich
Ihnen hier spreche, die setzt ja doch eine außerordentliche
Anpassungsfähigkeit wieder voraus, und wenn wir recht be-
richtet sind, dann hat das Leben von Proust unter dem Zei-
chen eines outrierten und fast beleidigenden Taktgefühls
gestanden. Ich kann mich freilich bei den biographischen Be-
richten über ihn und vor allem bei der Lektüre seines eigenen
Werkes doch dem Eindruck nicht ganz entziehen, daß es auch
dabei um eine Art von List sich gehandelt hat, daß er gewis-
sermaßen das Leben bestechen wollte, und es entbehrt nicht
ganz der Ironie, daß dieser taktvollste aller Menschen, wie in
seinen Biographien verschämt zugestanden wird, die Gunst
der Menschen, die er sich als Studienobjekte züchten wollte,
dadurch erhalten hat, daß er, wie er es sich leisten konnte, sie
ohne Unterschied des Geschlechts mit überreichen Geschen-
ken überhäufte. Nun, indem ich Ihnen das sage, deute ich auf

69
ein Moment des Schockierenden und des äußerst Unbehagli-
chen an Proust hin, und ich bin allerdings der Meinung, daß
die Substanz eines Schriftstellers immer an den Stellen liegt,
an denen er schockiert. Ich glaube, so ist es auch bei Proust.
Nun, das hat keineswegs bloß den Grund, daß er das bürgerli-
che Tabu über die sogenannte ›Treibhauspflanze‹90 herausfor-
derte, also über den, der sich nicht den Wind hat um die Nase
wehen lassen. Es hängt auch nicht damit zusammen, daß er
sich mit dem Thema des Snobismus abgegeben hat, der ja be-
sonders im Zeitalter der totalitären Regimes beider [Arten]
besonders suspekt ist, nach dem Motto, daß man den Dieb
halten solle. Ich glaube auch nicht einmal, daß der Grund da-
für ist, daß zu den Hauptthemen des Werks die Homosexuali-
tät gehört, deren Apologie ja wohl ursprünglich eines der we-
sentlichen Anliegen zum mindesten des [Bandes »Sodome et
Gomorrhe«] darstellte, sondern es geht eigentlich vielmehr
darum, daß [. . .] ein jeder der weitgeschwungenen und diffi-
zilen Sätze Prousts darauf hinausläuft, eine kurrente Meinung
außer Kurs zu setzen. Man kann sagen, daß das Gesetz dieses
Romans, das Formgesetz dieses Romans, das ist, daß das Le-
ben gegen den Strich gebürstet wird. Es geht immer alles an-
ders.
Ich will Ihnen wenigstens ein kurzes Beispiel dazu sagen.
Da gibt es in »Du côté de chez Swann« die Geschichte von ei-
nem Onkel, Onkel Adolphe, den er irgendwie sehr geliebt
hat, und er besucht dann diesen Onkel, und bei dem Onkel
befindet sich gerade dessen ›Mätresse‹, muß man ja wohl nach
der altertümlichen Redeweise jener Sphäre sagen, und er, der
Erzähler verliebt sich sofort unendlich in die Mätresse und ist
unendlich dankbar und glücklich, daß er bei seinem Onkel
die Begegnung mit einem so reizvollen und zugleich so ver-
botenen Wesen hat. Und der Onkel deutet ihm an, er dürfe
von der Sache zu Hause nichts erzählen, er ist aber so übervoll
mit seinem Glück, daß er das nicht vermag und irgendwie
doch mit der Geschichte herausplatzt, und seine überaus bür-
gerlichen Eltern nehmen daran fürchterlichen Anstoß und

70
verbieten es ihm, je wieder zu dem Onkel zu gehen. Nun
spielt sich folgendes ab: Wenige Tage danach begegnet er dem
Onkel auf der Straße, er möchte auf den Onkel losgehen, er
möchte den Hut ziehen, im Augenblick, wo er den Hut zieht,
fällt ihm aber ein, daß dieser Akt, seinen Hut zu ziehen, ei-
gentlich der Wärme seines Gefühls und der überströmenden
Dankbarkeit für die Bekanntschaft jener Dame in keiner Wei-
se entspreche, und er müsse eigentlich also auf den Onkel los-
stürzen und ihn umarmen oder ihm die Hand küssen oder
sonst irgend etwas tun, und bis er diesen Entschluß faßt, ist
der Onkel schon entschwunden. Der Onkel aber seinerseits
folgert richtig, daß die Familie ihm verboten hat, nach jener
Begegnung weiterhin mit ihm zu verkehren, verzeiht ihm die
Sache nie, und weder der Erzähler noch die Familie hat je-
mals im Leben wieder ein Wort mit diesem Onkel gespro-
chen.91
Nun, dieses Beispiel ist ein Beispiel für jene Idee des
Gegen-den-Strich-Kämmens, des Verfremdens, des Immer-
alles-anders-Gehens, wie sie für das ganze Werk von Proust
bezeichnend ist. Ich darf vielleicht sagen – und ich sage das im
Gedanken an die Schriftsteller unter Ihnen, die nun über das
Werk Prousts sich hermachen werden und für die es eine Ver-
suchung zur Imitation sein wird; ich weiß von dieser Versu-
chung nur allzuviel selber zu berichten –, es ist deshalb so eine
fragwürdige Sache, sich an Proust zu binden im Sinne einer
wie sehr auch verfeinerten Nachahmung, weil ohne diese Fä-
higkeit des Verfremdens, also ohne diese Gewalt, das Akzep-
tierte außer Kurs zu setzen, die ganze sogenannte Subtilität
wirklich etwas von läppischer Nabelbeschauung, etwas von
Eitelkeit hat. Nun, diese Fähigkeit des Verfremdens, die be-
zieht sich aber nicht nur auf solche Details wie das Beispiel,
das ich Ihnen sagte, sondern sie bezieht sich auch auf das kate-
goriale Gefüge gewissermaßen, auf den Zusammenhang, in
dem das Proustische Werk eigentlich überhaupt steht, mit an-
deren Worten, auf die Person. Und hier glaube ich einholen
zu können, wenn ich Ihnen zu Anfang sagte, daß das Proust-

71
sche Werk das Exemplarische mit dem Avancierten verbinde.
Proust hat durch die unendliche Genauigkeit in der Erfah-
rung des Individuellen die Illusion von der Einheit des Indivi-
duums zerstört. Er ist ein dialektischer Dichter auch in dem
Sinn, daß die konsequenteste Vollendung des psychologi-
schen Romans bei ihm dessen Auflösung bewirkt, daß das er-
greifend inwendige Bild der Imago anstelle der Fiktion des
ganzen ungeteilten Menschen tritt. Ich fand diesen Gedanken
zu meiner Freude bestätigt in der Kultursoziologie von Ar-
nold Hauser,92 die mir erst zu Gesicht kam, nachdem ich diese
Gedanken zu Proust bereits formuliert hatte.93 Also, wenn
zwei von so verschiedenen Ecken an die Dinge herangehende
Menschen wie Hauser und ich auf denselben Gedanken ver-
fallen, dann ist ja wohl einige Hoffnung, daß an der Sache et-
was dran ist.
Nun, insofern also, als die Einheit der Person aufgelöst und
damit die ganze Sphäre des Psychologischen durch ihre Ra-
dikalisierung zugleich auch negiert wird, ist Prousts Werk
trotz [Elstir] und Bergotte, also trotz Monet94 und Anatole
France,95 später als impressionistisch. Es bringt den Impres-
sionismus zum Bewußtsein seiner selbst und damit an die
Schwelle der objektiven Konstruktion. Die Analogie zu Cé-
zanne96 drängt sich auf. Ich möchte aber ihre Ausführung lie-
ber solchen überlassen, die in Fragen der malerischen Technik
zuständiger sind, als ich es zu sein beanspruchen darf. Das
Werk Prousts ist der Versuch einer Darstellung der inneren
und äußeren Realität durch das Instrument der Existenz eines
Menschen ohne Haut. Dafür aber ist ein Preis zu zahlen. Es ist
bekannt, daß Proust jedenfalls in späteren Jahren auch auf
Gesellschaften stets seinen Pelzmantel anbehielt, um ihn nur
beim Abschied für einen Augenblick auszuziehen und um da-
durch den Kontrast zwischen der Zimmertemperatur und der
Kälte draußen, auch der eines Sommerabends, zu mildern. So
hat der Hautlose auch geistig in Pelzmänteln existiert. Es ist
sehr paradox: Um die schrankenlose Leidensfähigkeit sich zu
erhalten, an der bei ihm die Möglichkeit des Glücks haftet,

72
hat er versucht, mit den kunstvollsten Veranstaltungen Leiden
von sich fernzuhalten. Sein Märchenmodell ist die Prinzessin
auf der Erbse. Sein Vater, der berühmte Arzt und Chef des
französischen Hygienewesens, hat einen Ausdruck geprägt,
der in die allgemeine Sprache international eingegangen ist,
den des ›cordon sanitaire‹.97 Proust hat diesen Begriff verin-
nerlicht. Sein ganzes Leben steht unter dem Gesetz des ›cor-
don sanitaire‹, um der Möglichkeit willen, das von sich fern-
zuhalten, das mit groben Stößen die Reaktionsfähigkeit des
Kindes abstumpfen könnte. Der Proustsche Narzißmus, an
dem man am ehesten Anstoß nehmen könnte, hat genau diese
Funktion. Aus gleichsam metaphysischen Gründen, um der
Möglichkeit also des ungeschmälerten Reagierens willen,
sind ihm gute Manieren wichtiger als Charaktere, Freund-
lichkeit wichtiger als Güte, und seine manische Bindung an
die ›society‹ ist aus dieser Quelle gespeist. Die Frage, ob er
eine Salonexistenz führte um des Werkes willen oder ob sein
Werk aus seiner Salonexistenz sich ablöste, halte ich für müßig
und ebenso die oft lächerlichen Verteidigungen Prousts gegen
den Vorwurf des Snobismus, wie etwa auch [Paul Morand] sie
vorgenommen hat.98 Hätte nicht Proust an diese Dinge sein
Herzblut gegeben, wäre er nicht ganz und gar das gewesen,
was schockiert, so hätte niemals sein Werk die Allgemeinheit
des Besonderen erreicht. Er befindet sich darin in der Tat in
der Tradition von Baudelaire, an dessen Titel ja wohl der des
zweiten Proustschen Romans »À l’ombre des jeunes filles en
fleurs« in gewisser Weise anspielt, denn diese ›jeunes filles en
fleurs‹ sind ja nun wirklich alle ›fleurs du mal‹. Es handelt sich
wirklich bei Proust um den Versuch des bis zu der Auflösung
seiner selbst getriebenen, bis zur Selbsterhellung getriebenen
Spleens. Vielleicht hat sogar seine Homosexualität etwas mit
dem ›cordon sanitaire‹ zu tun. Schlüge es nicht allen heute
anerkannten psychologischen Theorien ins Gesicht, so wäre
man versucht zu sagen, Proust sei homosexuell geworden, um
sich nicht dem Risiko der unfreundlichen Antwort einer
Dame auszusetzen. Im Ernst gesprochen, ist wohl auch darin

73
das rätselhafte Bedürfnis, nicht aus dem eigenen Bannkreis
herauszutreten, bei dem zu bleiben, was man selber ist, um
durch diese Vorsicht keines der Registrierung des Seelischen
geltenden Organe einer Gefahr auszusetzen, etwa so, wie
Proust sein Zimmer, besonders in den späteren Jahren, sich
als eine Art von Mutterschoß einrichtete. Aber nichts wäre
falscher, als in all diesen Veranstaltungen Feigheit oder
Schwäche zu vermuten. Vielmehr hat Proust gerade diese
Regungen für die Timidität, die für den ans Bild der Mutter
Fixierten entscheidend muß gewesen sein, umgeschaffen in
die Stärke. Die übermäßige Anfälligkeit seiner seelischen Or-
gane gegen den Schmerz hat diese Organe erst so differenziert
gemacht, daß sie Bilder treffen und festhalten konnten, anstatt
sie zu Begriffen aufzubereiten. Das bei sich selbst Bleiben,
sich auf sich selbst Zurücknehmen und dabei die unerhörteste
Kontaktfähigkeit sich Erhalten, ist nur die Fassade einer gei-
stigen Disziplin, die nichts vom Erfahrenen verlorengehen
lassen will. Nichts könnte diese Seite Prousts genauer be-
zeichnen, als daß er, der vielleicht das Begehren nach einer
Frau überhaupt nicht kannte, die Imago der jungen Mädchen
im glanzvollsten seiner Romane »À l’ombre des jeunes filles
en fleurs« vollkommener und zwingender beschworen hat als
je ein anderer. Wenn er von Renoir gesagt hat, daß man seit
den Bildern von Renoir die Welt nicht anders mehr sehen
könnte, als daß in jedem Blick auch etwas von dem Renoirs
auf seinen Gemälden mit eingeht,99 dann würde ich sagen,
man kann auch kein junges Mädchen mehr sehen, ohne daß
etwas von diesem Blick Prousts auf die ›jeunes filles en fleurs‹
in diesen Blick mit eingegangen ist.
Die Treue zur Reaktionsweise der Kindheit ist Treue zur
Idee des Glücks, das Proust um keinen Preis der Welt sich
wollte abhandeln lassen. Übrigens ist er wohl außer Bach-
ofen100 der einzige Fall eines Multimillionärs von geistiger
Produktivität größten Stils gewesen. Aber er hat diese gesell-
schaftliche Position wirklich im Sinn des ›noblesse oblige‹ auf-
gefaßt. Das Privileg, das ihm die schrankenlose und beleidi-

74
gende Feinheit erlaubte, hat er als Verpflichtung genommen,
so zu sein, wie eigentlich alle sein müßten und einmal alle sein
werden. Pierre[-Quint] hat in einem sonst recht bescheide-
nen Buch101 mit Recht von ihm mit Hinblick auf seinen soge-
nannten gesellschaftlichen Ehrgeiz einmal gesagt, er habe in
jedem modernen Salon ein Märchenschloß und in jeder ab-
getakelten alten Prinzessin eine Fee aus Tausendundeiner
Nacht erblickt, etwa wie Proust es selber an der Stelle be-
schreibt, die seine erste Berührung mit der Aristokratie dar-
stellt, nämlich seine Beobachtung der Duchesse de Guerman-
tes, [Oriane] de Guermantes, bei der Hochzeit, die in »Du
côté de chez Swann« beschrieben wird.102 Aber diese Inten-
tion aufs Glück hat er sich unendlich schwer gemacht. Sie
bedeutet bei ihm ein Nicht-sich-abspeisen-Lassen, so ver-
schränkt sie sich mit der Erkenntnis; das Proustsche Glücks-
bedürfnis ist eines mit dem nach der ungeschmälerten, von
keiner Konvention zugeschütteten Wahrheit. Diese Wahrheit
aber ist der Schmerz, und darum ist das Organ, mit dem
Proust an Bildern des Glücks sich festsaugt, jene fast unbe-
grenzte Leidensfähigkeit. Selbst seine Krankheit, das Asthma,
dem die psychische Komponente kaum wird gefehlt haben,
scheint eine Veranstaltung zum Leiden um der fessellosen Er-
fahrung willen. Damit aber tritt Proust ein in die große Tradi-
tion des französischen Romans, denn all das Leben, das er be-
schreibt, ist nichts anderes als jenes Greifen nach dem Glück,
das allenthalben es verweigert findet. Proust ist auf der Spur
von Stendhal, Balzac und Flaubert, dem letzten Desillusions-
romantiker. Was er erzählt, ist die Geschichte vom unerreich-
baren oder gefährdeten Glück; darum steht unter seinen psy-
chologischen Gegenständen die Eifersucht obenan. Dieser
Rhythmus ist das einzige, was sich inmitten des Unwieder-
holbaren wiederholt – in der Beziehung von Swann zu Odet-
te, der des Erzählers zu Albertine103 und der der eigentlichen
Zentralfigur, des Barons Charlus, zu dem minderen Geiger
Morel. Auf die Frage nach der Möglichkeit von Glück ant-
wortet Proust mit der Darstellung der Unmöglichkeit von

75
Liebe. Das Thema der Homosexualität ist damit bei ihm aufs
tiefste verschränkt, [daß] der Liebe die Erfüllung a priori ver-
sagt ist. Es gibt Liebende bei Proust, aber nur als unglücklich
Liebende. Die Vollendung des individuellen Differenziert-
seins bedeutet zugleich die Isolierung und die radikale Ent-
fremdung. Die fessellose Glücksmöglichkeit, Glücksbereit-
schaft macht zugleich ihre eigene Erfüllung unmöglich. So
wird bei Proust, den die Franzosen nicht umsonst als einen
Deutschen empfanden und kritisierten, alles Einzelne und
Vergängliche nichtig wie in der Hegelschen Philosophie.104
Es ist die Polarität von Glück und Vergänglichkeit, die Proust
verweist auf Erinnerung als das Medium, in dem allein unbe-
schädigte Erfahrung weit über die Unmittelbarkeit hinaus
sich herstellt und in der das Vergängliche überwunden er-
scheint. Das, die Dauer des nicht Unmittelbaren, sondern des
Erinnerungsbildes, ist die Wurzel des sogenannten Proust-
schen Ästhetizismus, der an seinem Ende bei ihm wie bei Va-
léry die Dimension der abgründigen Tiefe gewinnt.105 Das
Nietzschesche »Denn alle Lust will Ewigkeit«106 ist der Kanon
dieser Kunstgesinnung. Das Glück, das sich nichts will abkau-
fen lassen, heißt der unbedingte Verzicht auf den Trost. Lieber
wird um des ganzen Glückes willen das ganze Leben preis-
gegeben, als ein Zug von ihm akzeptiert, der nicht am Maß
des äußersten Glückes gemessen wäre. Diese Preisgabe, das ist
die innere Geschichte, die von der »Recherche du temps per-
du« erzählt wird. Die totale Erinnerung ist die Antwort [auf]
die totale Vergängnis, und Hoffnung liegt einzig bei der
Fähigkeit, dieser Vergängnis unbestechlich innezuwerden
und sie festzuhalten in der Schrift. Proust hat in buchstäbli-
chem Sinne den eigenen Tod beschrieben, er ist ein Märtyrer
des Glücks.

76
Zur Einführung in die neue Musik
29. 6. 1954

Meine Damen und Herren,

manche von Ihnen werden wahrscheinlich befürchten, daß


ein sturer Fachmann kommt und Ihnen bestenfalls etwas aus
seiner Erfahrung von der neuen Musik erzählt – oder ein
Historiker, der Ihnen irgendwelche historischen Einteilun-
gen gibt, die Sie, wie Herr Professor Brill107 soeben gesagt
hat, zum Teil in einem so wesentlichen Maß noch befremden.
Es besteht bei einem Vortrag oder bei einer Arbeitsgemein-
schaft über neue Musik in einem Kreis wie dem unseren die
Gefahr, daß der Vortragende eine Unwahrhaftigkeit begeht,
indem er ein Interesse oder gar eine positive Teilnahme vor-
aussetzt und mit törichter Harmlosigkeit nun von seinen Din-
gen redet; während gerade die Abwesenheit dieses Interesses,
unter Umständen eine gewisse Voreingenommenheit gegen
den Gegenstand das ist, worum es sich eigentlich handelt. Ich
möchte Sie also zunächst einmal darüber beruhigen, daß ich
Ihnen nicht hier sogenannte wissenschaftliche Resultate vor-
trage, unbekümmert darum, wie ich selber zu diesen Dingen
stehe. Ich selbst bin ja der Definition meiner Arbeit nach ein
Professor für Philosophie und Soziologie und habe als Sozio-
loge und gerade auch als Kunstsoziologe sehr eingehende Ge-
legenheit, die Fragen der Rezeption neuer Kunst überhaupt
zu studieren und zu durchdenken. Ich bin von jeder Illusion
frei, und ich bin auch, so hoffe ich, frei von der Unverschämt-
heit, ein Interesse vorauszusetzen, bei dem es zunächst in der
Welt, so wie sie heute beschaffen ist, gar nicht klarsteht, ob
man das moralische Recht hat, ein solches Interesse über-
haupt zu verlangen; denn daß es mit der Kunst überhaupt
heute nach all dem, was geschehen ist und was weiter droht,
anders bestellt ist als in einer Zeit, in der man sich naiv auf die
Kultur verlassen konnte, das ist wohl sicher und darüber
herrscht zwischen uns Einigkeit.

77
Ich möchte nun versuchen, anstatt Ihnen zunächst die
neue Musik abzuleiten oder zu erklären oder zu rechtfertigen,
auszugehen von Ihrer eigenen Stellung, wie ich sie mir etwa
denke. Ich möchte versuchen, Antworten zu entwickeln aus
Ihrem eigenen Bewußtseinsstand der neuen Musik gegen-
über. Ich nehme an, daß sehr viele von Ihnen – wahrschein-
lich die große Mehrheit – der neuen Musik indifferent, mit
einer gewissen reservierten Gleichgültigkeit gegenüberste-
hen, vielleicht nicht mit dem offenen Haß, der ihr noch vor
30 Jahren entgegengebracht wurde; aber ich möchte sagen, es
ist seitdem nicht besser, sondern eher schlimmer geworden,
insofern, als eigentlich sich niemand mehr über künstlerische
Dinge überhaupt nur aufregt, als man ihnen so entgegen-
kommt, wie wenn es eine Tätigkeit von und für Spezialisten
wäre, denen man diese Freude in Gottes Namen lassen soll,
die einen aber selber nicht allzuviel angehen. Es wird dann
wahrscheinlich auch einige unter Ihnen geben, die wirklich
sehr heftig und sehr negativ auf die neue Musik reagieren.
Und ich möchte gerade auch an diese unter Ihnen mich wen-
den und möchte versuchen, Ihnen zu zeigen, woher diese
Widerstände rühren und was es damit auf sich hat. Wahr-
scheinlich sind auch einige unter Ihnen, die mit einer gewis-
sen Freundlichkeit dem entgegensehen, was da kommt, aber
ich möchte uns Ihr Vertrauen nicht dogmatisch vorgeben.
Warum sollen wir uns – oder warum sollen Sie sich für
neue Musik überhaupt interessieren? Denn wenn ich mich
dafür interessiere, dann ist das in Gottes Namen mein Schick-
sal, und ich habe keinerlei Recht, Ihnen das aufzuzwingen
und von Ihnen etwas Ähnliches vorweg zu verlangen. Dann
wollen wir uns unterhalten über die Gründe des Widerstan-
des. Von da aus möchte ich Ihnen etwas über die spezifischen
Momente in der Sache selbst sagen, auf die diese Widerstände
sich beziehen; ich möchte also von den Widerständen aus ei-
nen Begriff von der Sache entwickeln und zeigen, warum,
was sie zurückstößt, in der Sache selbst ist. Und dann schließ-
lich – und das möchte ich eigentlich dem letzten Teil meines

78
Vortrags überlassen – werde ich Ihnen einige Hinweise ge-
ben, wie Sie, wenn Ihnen das der Mühe wert erscheint, diese
Widerstände überwinden können.
Nun möchte ich zunächst einmal abgrenzen, wovon, von
welcher Musik wir überhaupt reden. Es gibt natürlich gute
und schlechte neue Musik, genauso wie es gute und schlechte
alte Musik gibt. Daß es gute und schlechte alte Musik gibt,
wird ja heute nur allzuleicht vergessen, aber ich glaube, jeder,
der sich einmal mit der Massenproduktion des 17. Jahrhun-
derts beschäftigt hat, mit diesen ungezählten Suiten, die von
sogenannten kleinen Meistern, die keine waren, damals her-
gestellt worden sind, der wird mir zustimmen, daß ein unend-
liches Maß an Armseligem auch damals vorgelegen hat. Ich
will nun versuchen, heute von guter neuer Musik und nicht
von schlechter zu sprechen, denn ich meine, wenn ich irgend
etwas Ihnen hier mitbringe, dann ist es eine gewisse kritische
Erfahrung in bezug auf die Qualität, und ich kann Ihnen
vielleicht ersparen, mit solchen Dingen sich abzugeben, die
die Anstrengungen nicht wirklich lohnen. In Deutschland
herrscht wegen einer gewissen Abgesperrtheit von der inter-
nationalen Situation in bezug auf neue Musik einige Verwir-
rung der Maßstäbe. Einzelne Komponisten gelten heute in
Deutschland als große Figuren, die einfach dem komposi-
torischen Niveau nach, ganz gleich ob modern oder nicht
modern, diesen Rang in Wirklichkeit nicht verdienen, be-
stenfalls einigermaßen geschickte Friseure, die aber für die
ernsthafte große Musikbewegung unserer Zeit eigentlich gar
nicht zählen.
Sie werden vermutlich geneigt sein, mir zuzugeben: ›Ja, es
gibt natürlich gute und schlechte moderne Musik‹, aber viele
von Ihnen werden diese Scheidung etwa so vollziehen: ›Gute
moderne Musik, das ist solche Musik, die mich anspricht, bei
der ich mitkann; schlechte moderne Musik, das ist solche, die
verrückt ist, die überhaupt keinen Zusammenhang enthält,
mit der ich gar nichts anfangen kann‹. Nun, so leicht wollen
wir es uns nicht machen; denn gerade sehr vieles von der

79
Musik, die Ihnen in diesem Sinn ablehnenswert erscheint, ist
in Wirklichkeit gerade so beschaffen, daß sie am allerkonse-
quentesten verfährt, das höchste Formniveau hält. Wenn Sie
nach jener Einteilung sich richten, dann werden Sie dazu
kommen, daß Sie vermittelnde, gemäßigte Musik, die ir-
gendwie zwischen dem Traditionellen und dem Neuen steht,
für das Gute halten, während Sie das, was nun aus den neuen
Funden der Musik die volle Konsequenz zieht, eben gerade
um dieser Konsequenz, ich möchte beinahe sagen, um der ei-
genen Lauterkeit willen für etwas Schlechtes und Fragwürdi-
ges halten. Ich will keineswegs behaupten, daß alle radikale
Musik deshalb eo ipso gut sei. Ich weiß zum Beispiel, daß,
seitdem die Zwölftonmusik in eine etwas bedenkliche Mode
gekommen ist, auch alle möglichen Nichtkönner und Narren
sich dieser radikalen Sprache bedienen, aber wir wollen uns
hier doch wesentlich bemühen um die eigentlich exponierte
moderne Musik, um die moderne Musik, die ganz konse-
quent ist, und nicht um die mittlere, die, wie ich neulich in
Iserlohn sagte, nach dem Grundsatz ›modern, aber nicht zu
sehr‹ verfährt,108 und das schon einfach aus dem praktischen,
simplen Grund, daß, wenn Sie die extremen Dinge wirklich
verstehen, Ihnen die mittleren Dinge von selbst zufallen wer-
den.
Die Schwierigkeiten der eigentlich extremen Musik rühren
im Verhältnis zur gemäßigten daher – und das hilft Ihnen viel-
leicht zu einer ersten Orientierung –, daß in ihr die Änderun-
gen, die Neuerungen sich auf alle musikalischen Dimensionen
gleichermaßen beziehen, daß also in ihnen nicht nur die
Harmonie, nicht nur der Klang, sondern auch die Melodie-
bildung, die Formbildung, die Farbe, der Kontrapunkt, alles,
was es überhaupt gibt, umgeschmolzen wird, während in der
harmloseren und verständlicheren Musik immer nur einzelne
Dimensionen von den Neuerungen betroffen worden sind,
während die anderen Dimensionen mehr oder minder so blei-
ben, wie es gewöhnlich gewesen ist. Das bequeme Gehör kann
sich bei dieser sogenannten gemäßigten Musik an das halten,

80
was es schon kennt, und nimmt dafür gewissermaßen aus
Gnade und Barmherzigkeit das Ungewohnte auch in Kauf.
Nun, glaube ich, leuchtet es zunächst ästhetisch Ihnen al-
len ein, daß, wenn man einmal sich entschlossen hat, in einer
Dimension der Musik Änderungen zu vollziehen, diese Än-
derungen die anderen Dimensionen notwendig auch mitbe-
treffen, mit anderen Worten also: Die Komponisten, die es
mit der Sache selbst ernst meinen und nicht darauf ausgehen,
von vornherein ihren Hörern zu schmeicheln und mit ihren
Hörern einen billigen Frieden zu schließen, das werden gera-
de die sein, die sich nicht mit solchen partiellen Neuerungen
begnügen.
Ich will Ihnen einmal ein ganz einfaches Beispiel geben.
Nehmen Sie einmal an – ich improvisiere –, Sie haben ei-
nen Musiker, der eine sehr dissonante Harmonie gebraucht,
aber eine sehr primitive Rhythmik: [Musikbeispiel]. Dann wer-
den Sie sofort, einfach durch den markierten Rhythmus, ver-
stehen, wohin das will. Aber es besteht ein Widerspruch
zwischen der simplen symmetrischen Rhythmik, die hier
herrscht, und der aufgelösten Harmonik und Melodik, die ja
dann auch verlangt, daß die Rhythmik entsprechend diffe-
renziert ist. Sie können also eigentlich dasselbe Muster nicht
immerzu wiederholen, sondern Sie müßten es abwandeln,
auflockern. Je weiter Sie natürlich in solcher Konsequenz ge-
hen, je mehr Sie also dann etwa die Rhythmik genauso diffe-
renzieren wie die Harmonik und die Melodik, um so schwe-
rer wird es aufzufassen sein. Ich sage das nur, um Ihnen einmal
zu zeigen – in einer sehr groben und übertriebenen Weise,
aber man muß ja, um diese Dinge überhaupt zu verdeut-
lichen, immer etwas übertreiben –, warum es zu dieser Er-
schwerung und Komplizierung kommt, die gerade die radi-
kale Musik besonders schwierig macht.
Dann möchte ich zur ersten Orientierung hinzufügen: Die
moderne Musik zerfällt in eine Reihe von Schulen. Das war
in jeder anderen Epoche ebenso, aber der Gegensatz der
Schulen heute ist viel extremer, als er in der traditionellen

81
Musik gewesen ist. Wenn Sie also einen Song von Kurt Weill
spielen, wie er Ihnen allen bekannt ist, aus der »Dreigroschen-
oper«,109 und dann ein Klavierstück von Schönberg, dann
wird zwischen den beiden Stücken unendlich viel weniger
Gemeinsames sein, als wenn Sie »Parsifal«110 und ein reifes
Werk von Brahms miteinander vergleichen. Es drückt sich
darin jenes in der Geschichte der neueren Kunst seit Riegl111
immer wieder konstatierte Phänomen aus, daß es etwas wie
einen einheitlichen Stil überhaupt nicht mehr gibt.
Ich nehme von der Behandlung also zunächst einmal die
Musik aus, die zwar heute geschrieben ist, aber mit den tradi-
tionellen Mitteln mehr oder minder weiterwurstelt – Musik
wie die von Rachmaninow oder von Sibelius oder in weitem
Maß auch Pfitzner112 –, ich nehme also die Musik aus, die
jenseits des Bruchs, des Befremdenden liegt, auf das es hier ei-
gentlich ankommt. Aber auch innerhalb der nun wirklich
modernen Musik gibt es ganz verschiedene Schulen, die
etwa, die man im allgemeinen ›Wiener Schule‹ nennt, die
Schule der strikten Atonalität, aus der sich dann die Zwölf-
tontechnik ergeben hat, deren hervorragendste Meister Ar-
nold Schönberg, Anton von Webern und Alban Berg, mein
verstorbener Lehrer, sind.113 Das ist die Schule, der ich selber
mich am nächsten weiß. Ihre Werke sind in der Tat die, wel-
che die größten Schwierigkeiten bereiten, und auf diese
möchte ich mich konzentrieren. Es gibt dann aber, abgesehen
davon, die außerordentlich verbreitete und wirksame Schule
des sogenannten Neoklassizismus. Ich glaube, ich darf hier
deshalb von der Behandlung absehen, weil es sich dabei
durchweg um viel einfachere Gebilde handelt, die, wenn Sie
die komplizierten verstehen, Ihnen wirklich keine erhebli-
chen Schwierigkeiten bereiten werden, um so weniger, als ein
Teil gerade der wichtigsten Komponisten dieser Schule in ih-
rer späteren Zeit eigentlich die Musik ihrer Jugend mehr oder
minder widerrufen hat und irgendwie im sicheren Hafen ge-
landet ist. Das gilt für Strawinsky,114 und es gilt leider in einem
noch höheren Maß für den ursprünglich eminent begabten

82
Paul Hindemith, der sich heute ja wirklich in einen völligen
Akademismus zurückbegeben hat.115
Dann gibt es vor allem die in östlichen Ländern vor dem
Sieg der Russen sehr verbreiteten Schulen des mehr oder
minder radikalen Folklorismus, die angeknüpft haben an
bestimmte Elemente der Volksmusik. Ihr hervorragendster
Meister war, abgesehen von Strawinsky, der verstorbene gro-
ße ungarische Komponist Béla Bartók. Ich möchte auch dar-
auf nicht eingehen, weil die Dinge, die bei Bartók etwas
schwieriger zu verstehen sind, ebenfalls aus der Behandlung
der Wiener Schule folgen.
Noch ein Wort: Es wird manche unter Ihnen geben, die
sich unter moderner Musik nun auch den Jazz denken. Ich
möchte auf die Behandlung des Jazz116 verzichten, einfach
deshalb, weil ich den Jazz nicht zu der modernen Musik rech-
ne. Der Jazz gehört im Grunde in den Bereich der leichten
Musik; er stellt in gewissen Fällen kühne und interessante
Praktiken bei, um innerhalb des Grundbereichs der sehr vul-
gären und primitiven Schlagermusik eine gewisse Abwechs-
lung zu bieten. Aber erstens sind die angeblichen Neuerun-
gen innerhalb des Jazz längst vorher von der ernsten Musik
mit unvergleichlich viel größerer Konsequenz durchgeführt
worden, und auf der anderen Seite bewegen sich die Neue-
rungen im Jazz im Gegensatz zu dem, was eine diensteifrige
Presse uns immer wieder einzureden versucht, in einem so
unbeschreiblich engen Raum, der ganze Jazz ist zu einem sol-
chen Maß von Interessen des Kommerzialismus beherrscht,
ist so sehr standardisierte Ware, daß es bereits ein Symptom
der allgemeinen künstlerischen Begriffsverwirrung heute ist,
wenn man Stücke, in denen die Dissonanzen in Wirklichkeit
bloße Verhüllungen von Konsonanzen, bloße Manieren sind,
die mit der Konstruktion gar nichts zu tun haben, wenn man
das bereits mit ernster Musik verwechselt. Es liegt mir ganz
fern, mich etwa über den Jazz moralisch zu entrüsten und in
ihm eine Entartungserscheinung zu sehen. Ich finde ihn nur
langweilig, nur tongewordenes Coca-Cola.

83
Warum also soll uns überhaupt neue Musik interessieren?
Eines habe ich bereits angedeutet: Ein solcher Zwang, sich für
etwas zu interessieren, besteht überhaupt nicht. Wir sind kei-
ne Bildungsphilister, und die Tatsache, daß irgend etwas zur
sogenannten Kultur gehört, rechtfertigt an sich die Betrach-
tung des Phänomens oder das Ernstnehmen dieses Phäno-
mens in einer Welt, in der die Menschheit darum zu ringen
hat, ob sie überlebt, zunächst einmal überhaupt nicht. Also,
wenn jemand unter Ihnen mir offen sagt: ›Ich habe andere
Sorgen, mir ist das gleichgültig‹, dann habe ich nicht das ge-
ringste Recht, ihm etwa mit erhobenem Zeigefinger und
wohlweise zu sagen: ›Ja, aber Sie müssen sich dafür interessie-
ren, man muß doch wissen, was in unserer Zeit vorgeht‹. Das
ist lächerlich! Ich bin sehr froh, daß gerade an dieser Stelle
zwischen Gottfried Benn, mit dem ich mich gestern abend
noch kurz darüber unterhalten konnte,117 und mir vollkom-
mene Einigkeit herrscht. Aber allerdings, wenn man über-
haupt sich um Fragen der modernen Kunst ernstlich bemüht,
dann muß man sich wohl zunächst einmal über eine Ent-
scheidung klarwerden, daß nämlich das, was mit Grund ›mo-
derne Kunst‹ genannt werden kann, kein Genußmittel ist,
nichts, womit man seine Freizeit möglichst angenehm zu-
bringt, sondern daß es etwas sein muß, was uns wesentlich an-
geht, was etwas ausspricht und formt, was in uns selber ist, was
die Widersprüche gestaltet, die in uns selber und in der Welt
liegen, etwas, aus dem wir die Wahrheit über uns selber erfah-
ren können. Und ich würde allerdings sagen, daß die Züge
der neuen Musik, die Ihr Befremden und Ihren Widerstand
finden, genau damit etwas zu tun haben. Nun, darin liegt
nicht bloß eine Abgrenzung von der Konsumentenmusik,
von den Musikwaren, die im allgemeinen auf uns losgelassen
werden, sondern auch eine von der traditionellen Musik. Wir
sollen uns darüber nicht täuschen – und das möchte ich doch
gerade in diesem Kreis sehr ernst und sehr nachdrücklich sa-
gen –, die traditionelle Musik, mit ihren großen Namen, hat
heute etwas Museales. Ich bin der letzte, der die Größe des-

84
sen, was in der Vergangenheit musikalisch produziert worden
ist, herabsetzen möchte. Aber ich glaube allerdings, daß die
Rolle, die die große Musik im öffentlichen Bewußtsein spielt,
heute weithin eine ideologische Rolle ist, daß diese Musik
eine Art Zimmerschmuck bietet, mit dem man sich die eigne
Bildung bestätigt, daß sie aber unendlich weit entfernt ist
von dem, was eigentlich mit uns selber vorgeht. Wenn man
glaubt, man könne die traditionelle Musik besser verstehen als
die neue, ist eine gewisse Täuschung im Spiel, das heißt, man
kann bei der traditionellen Musik zwar die eingeschliffenen
Formen, die gewohnten Klang- und Tonverbindungen und
all diese Dinge leichter verstehen als in der modernen, die an
solchen Konventionen einem wenig oder nichts vorgibt, aber
die Anstrengung der Identifikation mit einer Musik, die unse-
rem eigenen Bewußtseinsstand so fern ist wie Bach, scheint
mir unendlich viel größer zu sein als die Anstrengung, Schön-
berg zu verstehen. Wenn man mit dem Verständnis von Mei-
stern wie Bach oder Beethoven es ernst meint, sich nicht nur
damit begnügt, die Fassade der Form wahrzunehmen, son-
dern wirklich dahinterkommen will, was das eigentlich soll,
dann ist das eigentlich sehr viel schwerer, als die moderne
Musik zu erfassen. Aber diese entsteht nicht etwa als bloßer
abstrakter Protest gegen dies Museale der traditionellen Mu-
sik, sondern aus sehr bestimmten Notwendigkeiten, die in
der Sache selbst liegen. Sie dürfen sich das nicht so vorstellen,
als wären einige Künstler auf die Idee gekommen: ›Nun laßt
uns mal etwas Neues machen‹, sondern die Motive, die zu
dem Neuen geführt haben, liegen in der Sache selbst, und
wenn man die Geschichte überblickt – ich will Sie mit Histo-
rischem nicht langweilen –, dann ist der Weg, der zu der aller-
radikalsten modernen Musik geführt hat, eigentlich ein Weg
sehr zarter, allmählicher Übergänge, deren wichtigste Statio-
nen vielleicht doch der »Tristan«118 von Wagner und dann
etwa die »Elektra«119 von Richard Strauss bilden. Nun, mit
diesem Versuch, daß die Musik etwas ausspricht, was uns
selbst wesentlich ist, und daß sie darauf verzichtet – wenn ich

85
das einmal abgekürzt so sagen darf –, Ideologie zu sein, bloß
eine tönende Fassade des Lebens, eine Art Schmuck unserer
Existenz zu geben, damit hängen die befremdenden und
schwierigen Momente der modernen Musik zusammen.
Zunächst fällt die ganze Geschichte der modernen Musik
in die geistige Bewegung des Widerstandes gegen die immer
mehr anwachsende Konventionalisierung und Erstarrung des
gesamten Lebens, also in einen Zusammenhang, wie er in der
Philosophie durch die Lebensphilosophie, durch Nietzsche,
durch Bergson etwa charakterisiert worden ist. Ohne dieses
Moment des Widerstands gegen den Konventionalismus und
gegen das Eingeschliffene kann man überhaupt das Wesen
der modernen Musik nicht verstehen; sie ist der Ausdruck ei-
ner der Gegenbewegungen gegen die Verdinglichung aller
menschlichen Beziehungen, die das Dasein wie mit einer Eis-
schicht überzogen hat, ein Versuch, demgegenüber zunächst
die menschliche Unmittelbarkeit überhaupt wieder zur Gel-
tung zu bringen. Nun, das klingt, wenn man das so hört, sehr
einleuchtend. Wer von uns hätte nicht in seinem Leben etwas
von diesem Widerstand gegen die versteinerten Verhältnis-
se120 in sich verspürt? Aber, meine Damen und Herren, genau
an dieser Stelle sitzt die eigentliche Schwierigkeit für das
Verständnis der modernen Musik, und ich glaube, wenn Sie
diese grundsätzliche Schwierigkeit zunächst einmal realisie-
ren, dann verstehen Sie von dort aus die einzelnen Momente,
auf die ich dann später zu sprechen kommen werde, sehr viel
besser. Nämlich, die gesamte traditionelle Musik kannte ein
festes Bezugssystem, in dem man mehr oder minder hat vor-
aus- und zurückhören können. Ich habe das einmal so ausge-
drückt, daß in der traditionellen Musik die Musik bereits für
den Hörer hört.121 Noch Schumann konnte in einer seiner
theoretischen Abhandlungen schreiben, man könne etwa
daran erkennen, ob ein Mensch musikalisch sei, ob er, wenn
er eine Seite umblättert, schon ungefähr weiß, wie dann die
Musik weitergeht.122 Nun, dieses Weitergehen kommt da-
von, daß man das System der Tonalität, also das Bezugssystem,

86
so kennt, daß die Kanäle so genau vorgezeichnet sind, daß
man durch dieses Vorgezeichnetsein sich zurechtfindet. Die
Vorgegebenheit ist in der modernen Musik eigentlich wegge-
fallen, jedenfalls in der, von der ich heute spreche; in geringe-
rem Maß in der halbtraditionellen, in der kompromißleri-
schen Musik, von der ich heute nicht sprechen will. Und die
eigentlichen Schwierigkeiten in der modernen Musik kom-
men fast immer davon, daß man nicht die Ereignisse an einem
solchen, einem zur zweiten Natur123 gewordenen, vorgege-
benen Koordinatensystem messen kann, sondern daß man ge-
zwungen ist, ganz und gar jedes Ereignis für sich selbst zu hö-
ren und für sich selbst zu vollziehen. Ich darf Ihnen hier
vielleicht – verzeihen Sie, wenn ich so pedantisch spreche –
als Grundregel für das Verständnis moderner Musik sagen: Sie
können sie nur dann verstehen, wenn Sie versuchen, in jeden
Akkord hineinzuhören, jeden methodischen Zusammen-
hang, der sich in der Musik selbst herstellt, zu vollziehen un-
mittelbar so, wie er sich lebendig gibt, und nicht etwa durch
Bezug auf ein außerhalb gelegenes System, an dem das Ganze
sich mißt. Nebenbei gesagt, der Unterschied zwischen Tona-
lität und Atonalität ist genau dieser Unterschied.
Das nächste Moment, auf das ich Sie aufmerksam machen
möchte und das ich für sehr wesentlich halte, ist, daß die Mu-
sik auf das verklärende und schmückende124 Moment ganz
und gar verzichtet, daß sie also nicht jenen Charakter des Af-
firmativen, des Bestätigenden hat, den die traditionelle Musik
in so eminentem Maß besaß. Wenn Sie Beethoven oder gar
wenn Sie Wagner hören, dann wird immer irgendwie das Da-
sein oder ein Held oder sonst irgend etwas darin verherrlicht,
gelobt, geschmückt. Und das geht bis in die Musiksprache
selbst ein, die unendlich viele schmückende, ornamentale
Elemente enthält. Gegen dieses ornamentale Moment hat
sich in der Musik ein ganz ähnlicher Widerstand durchgesetzt
wie in der Architektur und in der Malerei. In der Architektur
ist Ihnen allen dieses Moment des Widerstandes gegen das
Schmückende geläufig; in der Musik besteht er aber nun dar-

87
in, daß beim Abschlagen der Ornamente genau das fortfällt,
wodurch gewöhnlich die Musik in einer symmetrischen Wei-
se weitergesponnen wird und wodurch sie in einem gewis-
sen glatten Sinn schön, wohllautend, angenehm wirkt. Aber
noch mehr. Sie alle wissen ja, daß die moderne Malerei etwas
damit zu tun hat, daß die traditionelle Perspektive aufgelöst
worden ist, daß die Bilder seit dem Kubismus, seit dem konse-
quenten analytischen Kubismus von Picasso und Braque nicht
mehr mit der Perspektive im üblichen Sinn operieren. Der
Sinn dessen ist ganz ähnlich wie der, von dem ich Ihnen hier
spreche, der Verzicht auf das schmückende und verklärende
Element gewesen, das heißt, die Malerei sollte nicht mehr
scheinen, sollte nicht etwas anderes vortäuschen als das, was
sie als Malerei selber ist. Nicht umsonst heißt ja der französi-
sche Terminus für Perspektive ›trompe-l’œil‹, also ›Augentäu-
schung‹, und genau auf diese Täuschung, dieses Moment des
Illusionären sollte verzichtet werden.
Die übliche Art der Harmonie nun, die wir in der traditio-
nellen Musik gewohnt sind, hat auch etwas derartig Täu-
schendes, sie täuscht gewissermaßen einen tiefen Raum vor,
in dem wir uns ergehen können. Auf dieses Täuschende der
Harmonie, auf dieses täuschende Gefühl der Raumtiefe hat
die moderne Musik ganz ähnlich verzichtet wie die moderne
Malerei, nicht etwa deshalb, weil die modernen Musiker des-
sen nicht mehr mächtig wären, sondern, weil man anstelle
dieses Moments von Illusion, des Zaubers, der hier hervorge-
rufen wird, versucht, sich allein auf die Logik der Sache selbst
zu beschränken. Sie werden mich fragen und mit Recht fra-
gen: ›Ist uns damit nicht unendlich viel verlorengegangen?‹
Darauf kann ich Ihnen nur antworten: Ja, es ist uns damit un-
endlich viel verlorengegangen, und ich glaube, es gehört zu
der Dummheit der Apologetik der modernen Musik – übri-
gens auch der modernen Malerei –, daß sie einem immer ein-
reden will: ›So schön wie der Raffael und der Beethoven ist
das noch immer, das können wir ja alles auch und das haben
wir alles auch‹. Das ist eine furchtbare Primitivität und eine

88
furchtbare Verflachung. Es liegt in jedem Fortschritt in der
Kunst, daß mit ihm auch unendlich viel verlorengeht. Ich
könnte Ihnen zum Beispiel im Detail zeigen, wieviel verlo-
rengegangen ist etwa mit dem Übergang des Stils von Bach zu
dem Stil, der dann in Mozart seine größte Verkörperung ge-
funden hat, und es ist sicher noch viel mehr verlorengegangen
in der Wendung zu der radikalen modernen Musik. Ich bin
der letzte, der Sie darüber betrügen will. Aber ich glaube al-
lerdings, es ist der modernen Musik nicht mehr verlorenge-
gangen, als dem Leben selber in der Entwicklung der letzten
200 Jahre auch verlorengegangen ist, und ich würde sagen,
daß eine Produktion, die nicht auch diesen Verlust in sich aus-
prägt und die nicht wirklich dem entspricht, was aus uns ge-
worden ist, ›was die Welt aus uns gemacht hat‹,125 daß eine
solche Kunst eben wirklich bloß eine romantische Rück-
phantasie, die Beschwörung von etwas längst nicht mehr Sub-
stantiellem ist und daß sie uns im Grunde auch gar nicht mehr
gelingen kann. Wenn jemand heute versuchen würde, etwa
zu schreiben wie Beethoven, dann käme etwas schrecklich
Verlogenes und überdies sehr Brüchiges heraus; denn man
kann sich mit Gewalt weder geistig in einen Stand zurückver-
setzen, in dem diese Art der Erfülltheit möglich war, noch
auch in den technischen Horizont, der umschrieben, der de-
finiert war durch die Mittel, die damals vorgelegen haben. Es
käme nur etwas wie eine Art von frömmelndem Kunstgewer-
be heraus, wie es ja zum Beispiel in der späten Produktion von
Hindemith nur allzu häufig ist.
Ich glaube, daß man heute dem Ideal des Wahren und des
Schönen – um diese Worte einmal in den Mund zu nehmen,
die ich nicht gern in den Mund nehme – viel mehr Gerech-
tigkeit widerfahren läßt, indem man die Negativität und das
Leiden ausspricht, als indem man so tut, als ob die Welt noch
geschlossen und sinnvoll wäre. Es gibt geschichtliche Stun-
den, in denen nur bei dem Ausdruck der Negativität, nur bei
dem ungeschminkten und ungeminderten Ausdruck des Lei-
dens überhaupt noch der Gedanke an die Erfüllung und das

89
Glück aufbewahrt wird, und ich glaube, daß jeder, der heute
unmittelbar das Positive ausspricht, bei den Amoretten der
Filme von Walt Disney landet,126 bei der Reklame, wenn Sie
wollen bei Coca-Cola, wenn es auch die Reklame fürs Leben
im allgemeinen ist. Und das Ernstnehmen des Erfüllens und
des Glücks liegt gerade darin, daß auch die Kunst ausspricht,
wie es in einem Gedicht von Karl Kraus, der dieser Musik
geistig so nahesteht, heißt: ›Was hat die Welt aus mir ge-
macht‹. Es geht daraus auch bereits hervor, warum ich die üb-
liche Apologetik der modernen Musik für so falsch halte, die
etwa sagt: ›Ja, seht einmal zu, wie schön ist das alles auch‹. In
einem höheren Sinn ist es allerdings schön, denn in der Kraft
des Standhaltens gegenüber der Negativität liegt auch ein un-
endliches Moment von Schönheit. Aber im traditionellen
Sinn ist es nicht schön, kann solche Schönheit auch gar nicht
von sich aus beanspruchen und will es nicht.
Eine weitere Schwierigkeit der modernen Musik liegt in
folgendem Moment: Der alten, der traditionellen Musik ist
ungeheuer viel abgenommen worden durch die Schemata, in
denen sie sich bewegt. Schönberg hat einmal den Witz ge-
macht, Chopin habe nur Fis-Dur zu nehmen brauchen, und
es war schon schön.127 Der modernen Musik ist das alles nicht
mehr vorgegeben. Und infolgedessen muß sie wirklich das
tun, was einmal Kafka an einer Stelle sagt, wo er von dem
ganz gründlichen Theaterdirektor spricht, der, um sein Thea-
ter wirklich seinem Ideal entsprechend gestalten zu können,
schließlich die Schauspieler selbst zeugen muß, so daß einmal
ein Besucher ihn dabei findet, wie er die Windeln eines so-
eben neu geborenen Kindes wäscht, das mit zwanzig Jahren
einmal ein großer Schauspieler sein soll.128 Ein bißchen in der
Situation befindet sich in der Tat der moderne Komponist,
der durch die Konstruktion und durch das Ausformen, das
rücksichtslose Ausformen des eigenen Gebildes erst die Kon-
sequenz und die Stimmigkeit herstellen muß, die von der tra-
ditionellen Musik bereits eben in der Weise vorgegeben war
oder vorgegeben scheint, wie von Chopins Fis-Dur-Klängen

90
gesagt wird. Unter den Verzichten, die für die Musik charak-
teristisch sind, befinden sich nicht nur die auf Wohllaut, auf
die üblichen Harmonien, auf die üblichen tonalen Tonver-
bindungen, sondern dieser Verzicht bezieht sich vor allem
auch darauf, daß man sich die großen Formen der traditionel-
len Musik nicht mehr vorgeben lassen kann, daß die Organi-
sation des Ganzen zu einem Problem geworden ist, wie sie es
nie vorher war. Das ist es wohl, was es Ihnen am meisten er-
schwert, sich in der modernen Musik überhaupt noch zu-
rechtzufinden.
Viele von Ihnen werden sich unter anderem auch darüber
beklagen, daß die moderne Musik so schrecklich kompliziert
ist, und werden sich fragen: ›Warum muß das denn so kompli-
ziert sein?‹ Ich verschmähe es, Ihnen hier die psychologische
Erklärung zu geben, daß diese Kompliziertheit daher kommt,
daß die modernen Menschen halt so schrecklich kompliziert
geworden sind. Ob sie wirklich heute so viel komplizierter
sind, als sie vor 70 oder 80 Jahren waren, möchte ich offen-
lassen. Die Kompliziertheit der neuen Musik rührt zum Teil
daher, daß durch eine außerordentlich dichte und in sich ver-
schränkte Arbeit, also dadurch, daß die Dinge vom Kompo-
nisten selbst mit eisernem Griff zusammengehalten werden,
etwas von jener inneren Einstimmigkeit und Organisation
wieder hergestellt werden soll, die der Musik durch diese Ent-
wicklung eben verlorengegangen ist. Sie können darauf ent-
gegnen: ›Warum haben wir die Krott gefressen?129 Wenn Ihr
dann doch wieder eine Einheit herstellen müßt, warum laßt
Ihr es dann nicht bei der guten alten?‹ Darauf, glaube ich,
habe ich Ihnen schon geantwortet: Eben deshalb nicht, weil
die alte nicht mehr trägt. Wenn Sie zum Beispiel versuchen
würden, diese sehr differenzierten Ereignisse, von denen ich
Ihnen gesprochen habe, innerhalb von traditionellen Form-
schemata wie der Sonate auszusprechen, dann würde sich so-
fort ein Widerspruch zwischen der Form des Ganzen und den
Einzelergebnissen herstellen, der ästhetisch den Ohren eines
empfindlichen Künstlers jedenfalls unerträglich wäre.

91
Schließlich möchte ich nur noch darauf hinweisen, daß ein
Moment der Notwendigkeit von alldem in dem unbeschreib-
lichen Anwachsen der MassenkuItur liegt. Je mehr alle mögli-
chen künstlerischen Bereiche vom Geschäft in einem weite-
sten Sinn beschlagnahmt werden und je mehr unser eigenes
Innere mit Stapelwaren beliefert wird, um so extremer wer-
den selbstverständlich die Widerstände der Künstler gegen al-
les von dieser Art, und um so pointierter wird der Gegensatz.
Wenn Sie sich eine Sekunde – und ich appelliere wieder an
die Malerei, weil hier die Dinge ja in gewisser Weise mehr
obenauf liegen und eher zu greifen sind als in der Musik –
daran erinnern, wie durch die Fotografie der Malerei ein
großer Teil ihrer traditionellen Aufgaben entzogen und die
Malerei immer mehr dazu gezwungen worden ist, sich statt
dessen auf nur der Malerei eigene Gebiete zu begeben und auf
die Nachahmung der Außenwelt zu verzichten, dann können
Sie sich etwa vorstellen, warum auch die moderne Musik im-
mer weniger ihren Frieden mit der Welt hat machen können.
Sie will nicht mehr verdoppeln, nicht mehr dem, was ist, eine
Aureole verleihen.
Zu alldem muß ich Ihnen nun freilich noch etwas sagen:
Ich möchte Sie davor warnen, sich das so vorzustellen, als
handele es sich in der modernen Musik um ein Sich-Anpas-
sen an die sogenannte geistige Situation, um ein bloßes Nach-
laufen des Künstlers hinter der Zeit, weil es halt irgendwie
so sein muß, wie die ganze Zeit ist. So sehen die Dinge in
Wirklichkeit nicht aus, sondern die Probleme, von denen ich
Ihnen bis jetzt gesprochen habe, haben eigentlich ihre Sub-
stantialität nur darin, daß sie aus der Sache selbst, aus den
kompositorischen Problemen folgen. Sie müssen sich darüber
klar sein, daß Kunstwerke eine immanente Logik haben oder,
wie Schönberg einmal gesagt hat, daß man eigentlich mit
dem ersten Takt, den man schreibt, eine Art von Verpflich-
tung eingeht,130 man könnte fast sagen, einen Vertrag unter-
schreibt, den man dann zu erfüllen hat. Die Konsequenz, von
der ich Ihnen gesprochen habe und die für die wirklich radi-

92
kale moderne Musik charakteristisch ist, besteht nun eigent-
lich darin, daß man versucht, dieser immanenten Logik im-
mer mehr zu folgen.
Ich sprach Ihnen bereits von dem letzten großen Gegensatz
zweier Schulen in der traditionellen Musik, dem zwischen der
Schule von Wagner und der von Brahms. Das sieht von außen
so aus, als ob die beiden ganz gut nebeneinander bestehen
könnten, als ob es so eine Art Pantheon der Kultur gebe, in dem
für alle möglichen Werte nebeneinander Raum ist. Ich glaube,
daß die wirklich eindringende künstlerische Erfahrung sich
mit diesem Pluralismus sogenannter künstlerischer Werte nur
sehr schwer zufriedengeben kann. Auf der einen Seite haben
Sie bei Wagner eine großartige Erneuerung der musikalischen
Mittel im einzelnen, aber dabei eine gewisse Primitivität in der
Konstruktion der Musik, einen Verzicht auf die unendlich rei-
chen und entwickelten Mittel des Komponierens im Sinne der
unablässigen Variation, der thematischen Arbeit, wie sie vor al-
lem von dem Klassizismus, von Haydn, Mozart und Beethoven
erarbeitet worden sind. Auf der anderen Seite haben sich bei
Brahms zwar diese Mittel der thematischen Arbeit, der Kon-
struktion ungeheuer gesteigert, aber sie bleiben angewandt auf
ein traditionalistisches Material, während das Material selber
verlangen würde, nun auch in diesen weitergetriebenen Kon-
struktionsprozeß eingeschmolzen, von der Konstruktion er-
faßt zu werden. Was Schönberg getan hat, ist, ganz vergröbert
ausgedrückt, ein Versuch, die Innovationen, die Wagner im
Material im einzelnen vollzogen hat, mit der Kraft der Kon-
struktion im großen, wie sie von Brahms herrührt, zu vereini-
gen. Man kann sagen, daß die moderne Musik gerade in ihrer
Schwierigkeit das Resultat einer Synthesis von Brahms und
Wagner ist, aber nicht äußerlich, indem man diese beiden Mo-
mente, diese beiden Komponisten zusammenaddiert, sondern
in dem Sinn, daß aus den innersten Anforderungen, den in-
nersten Desideraten, die hier und dort vorhanden sind, die
Konsequenz gezogen wird. Damit wird aber das Verständnis
immer schwieriger, denn es konzentriert sich in solchem mu-

93
sikalischen Kunstwerk so viel, daß es immer mehr gleichzeitig
aufzufassen gilt. Wenn Wagner in Sequenzen komponiert hat,
so geschah das sicher zum Teil auch mit der unbewußten In-
tention, daß das Einzelne, die neuen Klänge, die neuen Far-
ben so viel zumuten, daß man sie unablässig wiederholen
muß, um die Auffassung leichter zu machen. Umgekehrt hat
Brahms den Menschen die Auffassung dadurch erleichtert,
daß die ungeheuer reiche Konstruktion des musikalischen
Zusammenhangs bei ihm an relativ simplem, oft volkslied-
ähnlichem Material sich vollzogen hat. Die moderne Musik
verzichtet auf diese Krücken für das Hören und verlangt des-
halb eine außerordentlich erhöhte Konzentration. Überhaupt
ist die Frage des Verständnisses der neuen Musik weitgehend
eine der Konzentration. Es kommt nicht darauf an, daß Sie ir-
gendwelche Spielregeln kennen, nach denen die neue Musik
konstruiert sein soll, oder daß Sie irgend etwas wissen, was da-
hinterstehen soll. Sie müssen sich bei der neuen Musik genau-
so Ihrem Gehör überlassen wie bei der traditionellen Musik
auch, aber Sie müssen mit einer ganz anderen Anspannung
hören, weil Ihnen ja das Schema hier nichts abnimmt, weil die
Musik nicht für Sie hört, sondern weil jedes einzelne Ereignis
und ebenso das Ganze für sich steht und von Ihnen verlangt,
gewissermaßen mitkomponiert zu werden.
Ich habe Ihnen aber versprochen, auszugehen von Ihren
eigenen Widerständen und den Begriff der moderneren Mu-
sik wesentlich aus Ihren Widerständen zu entwickeln, und ich
möchte doch versuchen, dieses Versprechen zu halten. Ich
sagte eben, daß die Musik die Barriere des Konventionellen
durchschlägt und daß sie einen auf seelische und reale Mo-
mente hinweist, die man sonst vielfach auch sich selber gerne
verschweigt. Wenn man der konventionellen Reaktionswei-
te den Gesellschaftsvertrag kündigt, wenn man gewisserma-
ßen nicht mehr mitspielt mit all den präparierten, vorgege-
benen, sicheren Begriffen, in denen man sich erging, dann
macht man sich selber damit das Leben sehr viel schwerer.
Wenn man sich anpaßt an das, was nun einmal gilt, hat man es

94
bekanntlich immer sehr viel leichter. Daher rührt ja das Ihnen
allen sattsam bekannte Phänomen des Mitläufertums. Nun, es
gibt so etwas nicht nur in der Politik.
Eine der Hauptquellen für das mangelnde Verständnis der
neuen Musik ist, daß der, welcher nicht in ihr lebt, an sie mit
Erwartungen von der traditionellen Musik aus herangeht und
daher notwendig enttäuscht wird. Wenn Sie das verstehen
wollen, möchte ich Sie – ich sage etwas sehr Paradoxes – er-
muntern zu einer bestimmten Art von Naivetät, nämlich
dazu, daß Sie sich nicht von dem, was Sie bereits von der Mu-
sik wissen oder zu wissen glauben, leiten lassen, sondern daß
Sie versuchen, soweit das geht, sich rein dem Phänomen zu
überlassen, sich aufzuschließen, um aus der Sache selbst her-
aus zu hören. Ich bin mir klar darüber, daß das sehr viel leich-
ter gesagt als getan ist, das heißt, wir alle sind durch unsere
Bildung durch die kulturelle Tradition in einem solchen Maß
präformiert, daß wir sie nicht ohne weiteres abschütteln kön-
nen, und das sollen wir auch gar nicht. Aber wir sollen versu-
chen, die Tradition in einer sublimierten, vergeistigten und
verfeinerten Gestalt aufzuheben, anstatt sie in ihrer groben
und äußerlichen Gestalt als Maßstab von außen heranzubrin-
gen und dann das zu verwerfen, was diesem handfesten und
derben Maßstab der Tradition nicht entspricht.
Was Atonalität nun eigentlich heißt, ist natürlich nicht, daß
es keine Töne gibt, sondern es handelt sich genauso um Töne
wie in jeder anderen Musik. Es gibt kein schlechteres Argu-
ment, als wenn man immer wieder behauptet, das ist über-
haupt keine Musik. Alles, was sonst Musik ausmacht, also der
sinnvolle Zusammenhang musikalischer, klingender Elemen-
te, die in ihrem Ablauf ein zwingendes und konsistentes Gan-
zes bilden, das gilt für diese Kunst genauso wie für die tradi-
tionelle auch. Sonst ist sie wirklich schlecht. Atonalität heißt
in Wirklichkeit nur, daß die Stützen, die aus dem tonalen Be-
zugssystem kommen, weggefallen sind und daß man sich ganz
und gar zu konzentrieren hat auf die konkrete Gestalt des äs-
thetisch Einzelnen.

95
[Pause]
Es gibt in den Phänomenen der neuen Musik Bestürzen-
des. Anstatt es Ihnen zu erklären, möchte ich lieber erklären,
wie es dazu kommt. Das verbreitetste Argument ist das der
Häßlichkeit, des Mißtönenden. Mißton heißt Kakophonie,
und Kakophonie heißt für die meisten Menschen Dissonanz.
Wenn ich mich nicht irre, ist freilich dieses Argument heute
schon gar nicht mehr so aktuell, vor allem auch, weil durch
gewisse harmlose Musik die Dissonanzen den Menschen
schon mehr oder minder so zugänglich gemacht worden sind,
daß man gewissermaßen dagegen geimpft worden ist. Ich
möchte übrigens hier noch historisch einfügen, daß der Ein-
wand der Dissonanz gegen jede neue Stufe in der Musikge-
schichte regelmäßig erhoben worden ist, zum Beispiel selbst
gegen Mozart, der heute als der Inbegriff der klassischen Se-
renität gilt. Er wurde ›dissonanzenreich‹ gescholten, und ver-
glichen mit den mittleren Komponisten seiner Zeit, ist er das
auch wirklich gewesen.131 Seit es so etwas wie tonale Musik
gibt, also seit dem Ende des Mittelalters, haben die Komponi-
sten eigentlich immer einen unterirdischen Hunger nach der
Dissonanz gehabt, und nur mit Rücksicht auf das Publikum,
das es immer mit dem Glatten und Bequemen gehalten hat,
haben sie diesen Hunger nicht stillen können. Im 17. Jahr-
hundert schon gab es einen italienischen Komponisten, den
Fürsten Gesualdo da Venosa, der in bezug auf dissonante Bil-
dungen und Chromatik außerordentlich weitgegangen ist.132
Ich könnte Ihnen aus Wagner – aus dem »Tristan« und aus der
»Götterdämmerung« – unzählige sehr dissonante Bildungen
spielen; im »Parsifal« verzichtet er gelegentlich auf die Auflö-
sung. Damit aber berühre ich etwas für die neue Musik sehr
Charakteristisches, das sie von der traditionellen Musik we-
sentlich unterscheidet.
Ich sagte eben, schon beim späten Wagner werden die ex-
tremen Dissonanzen oft nicht mehr aufgelöst. In der moder-
nen Musik ist das Moment eigentlich radikal geworden, das
heißt, Dissonanzen werden überhaupt nicht mehr aufgelöst,

96
oder: es gibt keine Konsonanzen mehr. Ich könnte das Expe-
riment machen, Ihnen einen atonalen, also einen nur aus Dis-
sonanzen bestehenden Satz zu improvisieren und dann einen
tonalen Akkord dazwischenzuspielen, und Sie würden sofort
den tonalen Akkord darin als etwas Falsches hören. Die Kon-
sonanz würde wie eine Dissonanz, wie ein ordinärer Klecks
darin klingen. Die fortgeschrittene Zeit läßt mich darauf ver-
zichten, dieses Experiment mit Ihnen durchzuführen, und ich
bitte Sie, es mir auf mein Wort zu glauben, daß es sich wirk-
lich so verhält.
Der Gegensatz von Dissonanz und Konsonanz besteht
nicht mehr, und dadurch verliert der Dissonanzbegriff eigent-
lich seine Bedeutung überhaupt. Sobald es nur Dissonanz
gibt, könnte man sagen, gibt es gar keine Dissonanz mehr,
sondern jeder einzelne Klang hat ein bestimmtes Leben in
sich selbst. Erwin Stein133 hat einmal geschrieben, die Poly-
phonie, also die Vielstimmigkeit, bezöge sich heute auch auf
den einzelnen Akkord.134 Die einzelnen Akkorde leben in
sich selbst, haben in sich selbst eine sehr reiche Spannung,
ganz ähnlich wie die Melodik auch. Es ist wichtig für die Ent-
wicklung der modernen Musik, daß überhaupt der Unter-
schied zwischen der Harmonie und der Melodie eigentlich
immer mehr herabgesetzt wird, das heißt, daß die Harmonie
in sich selbst genauso konkret und spannungsreich ist, wie die
Melodik es schon länger war, und daß in der Harmonie alles
Formelhafte, das Kleingeld der Dreiklänge, vollkommen be-
seitigt ist. Es handelt sich hier darum, daß man lernt, die inne-
ren Spannungen der Harmonie gut herauszuhören. Wer ein-
mal gehört hat, wie weich in sich solche dissonanten Klänge
gebaut sind, dem wird aufgehen, daß die Dissonanzen an sich
gar nicht häßliche oder abstoßende Klänge sind, sondern
daß die Schönheit oder Nichtschönheit des Klanges wirklich
weitgehend abhängt von der Setzweise.
Ein Hören übrigens, das, wie ich das genannt habe, kulina-
risch ist,135 das heißt, das den einzelnen Akkord, die Musik
dem einzelnen Klang nach wertet, danach, ob der Klang gut

97
schmeckt oder nicht, ein solches Hören ist infantil. Richard
Wagner hat schon an einer wenig bekannten Stelle einmal ge-
schrieben, daß es Zeit sei, daß die Musik selber, die ja be-
kanntlich die jüngste der großen Künste ist, erwachsen wer-
de.136 Diese Forderung läuft darauf hinaus, daß das geistige
Moment, daß die einzelnen klanglichen Ereignisse Träger
musikalischer Bedeutungen werden und nicht isolierte sinn-
liche Reize bleiben, sich in einem immer stärkeren Maß rea-
lisiert.
Es ist aber andererseits auch wieder so, daß der modernen
Musik, da, wo sie es erstrebt, die sinnliche Schönheit keines-
wegs fremd ist; sondern ob die sinnliche Schönheit des Klan-
ges angestrebt wird oder nicht, hängt von der Intention des
Werkes und auch vom Ton des einzelnen Komponisten ab.
Alban Berg hat in ganz besonderem Maß einen hohen Sinn
für das Moment des sinnlich schönen Klanges gehabt, etwa so,
wie von dem Kubisten Juan Gris,137 der einen unendlichen
Sinn für die Harmonie der Farben und der Konstruktion hat-
te, eine Art von Klassizität herbeigeführt wurde. Der zweite
Satz der »Lyrischen Suite für Streichquartett«138 gehört an
Zartheit des Ausdrucks und gleichzeitig an sinnlicher Süße
des Klanges zum Schönsten, was es gibt. Wenn man schon
immer von dem spricht – und ich habe das selbst sehr unter-
strichen –, was die neue Musik gegenüber der alten verliert,
sollte man doch auch einmal von dem sprechen, was sie ge-
winnt, nämlich eben einen Reichtum an klanglichen Mög-
lichkeiten und an innerer Flexibilität. Außerordentlich cha-
rakteristisch für Berg ist besonders die Kunst der Vermittlung,
darin ist er sein Leben lang ein strenger Wagnerianer geblie-
ben. Wagner hat ja bekanntlich gesagt, daß das Komponieren
die »Kunst des Überganges« sei,139 und bei Berg beruht eigent-
lich alles auf unendlich feinen und subtilen Übergängen,140
durch die seine Sätze aufs dichteste zusammengehalten wer-
den. Seine Musik zerfällt also nicht in auseinanderweisende
Extreme und ist trotzdem unendlich reich an Gestalten, an
Charakteren.

98
Dieser Gestaltenreichtum ist überhaupt etwas sehr We-
sentliches für die eigentlich moderne Musik. Ich darf Ihnen
hier vielleicht eine kleine Anweisung zum Hören geben:
Versuchen Sie, diesen Reichtum an voneinander verschie-
denen Gestalten aufzufassen! Die relativ größere Eingängig-
keit der Musik von Hindemith oder Strawinsky oder auch
von Bartók beruht in vielem darauf, daß darin über einem
durchgehaltenen Klangdessin mehr oder minder nur ein
Thema, eine Grundgestalt gebracht wird und daß damit auf
das eigentlich entscheidende Mittel der höheren Organi-
sation von Musik, nämlich das Mehrthematische, also den
Konflikt und das Auseinanderlegen verschiedener Gestalten,
verzichtet wird. Nun ist das Merkwürdige, daß gerade in
diesem die Wiener Schule sehr traditionalistisch ist. Darin
knüpft sie nun wirklich an Beethoven und an Brahms an,
bei denen ja auch die Kunst eigentlich darin besteht, einen
sehr großen Reichtum an Gestalten aus einem Minimum
an Grundmaterial heraus zu entwickeln. Nun komponierte
aber Berg insofern auch wieder sehr anders als viele andere
radikale Musiker, als durch diese Kunst der Vermittlung ein
Moment bei ihm zurücktritt, von dem ich Ihnen bereits
gesprochen hatte, nämlich das anti-ornamentale. Seine Mu-
sik bezahlt also gewissermaßen für diese sinnliche Schönheit
und Rundung einen Preis: daß sie eben darin doch nicht
ganz mit dem Ornamentalen, Vermittelnden und Schmük-
kenden aufräumt. Die Musik von Schönberg und anderen
geht darin viel weiter. Wenn man schon von dem Einwand
des Häßlichen spricht, dann ist dabei, abgesehen von der
Frage der Dissonanz, vor allem daran zu denken, daß viel-
fach die Kontraste unmittelbar aneinandergefügt und nicht
miteinander – so wie bei Berg – vermittelt werden, weil
eben die Vermittlung selber als etwas Überflüssiges, Orna-
mentales verstanden wird. Die Kunst des Hörens besteht hier
zum Teil darin, daß Sie fühlen, daß der Kontrast hier oft ein
Mittel ist, durch das der Zusammenhang eigentlich herge-
stellt wird. Nebenbei gesagt, bei Mozart – Sie werden viel-

99
leicht darüber erstaunt sein – ist diese Art der Formbildung
durch das Aneinanderfügen von Kontrasten sehr verbreitet.
Man muß freilich den Unterschied zwischen einer Fortset-
zung und einem Thema ganz lebendig hören können, und
erst wenn Sie dieses verschiedene Gewicht der einzelnen the-
matischen Ereignisse ganz richtig erfassen, werden Sie fähig
sein, über die Kontraste wegzuhören und die Einheit gerade
in den Extremen zu fühlen, anstatt Einheit nur da wahrzu-
nehmen, wo vermittelt wird. Diese Aufgabe, Kontraste zu-
sammenzuhören als sich auseinanderlegende Momente des
Sinnes, ist eines der allerwichtigsten Prinzipien, um die es sich
bei dem Verständnis neuer Musik überhaupt handelt.
Verständlich ist Ihnen weiter der Einwand des Unmelodi-
schen. Ich glaube, er ist besonders ungerecht. Ich möchte bei-
nahe sagen, es verhält sich gerade umgekehrt. Wenn wir an
Melodik in traditioneller Musik, vor allem in der romanti-
schen Musik denken, die den Begriff des Melodischen weit-
gehend geprägt hat, dann ist die Melodik darin in einem sehr
weiten Maß bloße Umschreibung der Harmonie. Die Melo-
die ist um die Harmonie herumgelegt, ohne wirklich rein als
Linie empfunden zu sein, und die Schwierigkeit der moder-
nen Melodik besteht nun weitgehend darin, daß hier die Me-
lodie ganz freigesetzt ist, sich rein aus ihrer eigenen Triebkraft
heraus entfaltet. In Wirklichkeit geht es um die Emanzipation
der Melodie. Als besonders schwierig gilt dabei natürlich, daß
die Intervalle zum Teil ungewohnt sind. Diese Intervalle lernt
man dann richtig zusammenhören, wenn man sie nicht mehr
implicite auf Dreiklänge und auf die Tonalität bezieht, son-
dern wenn man fähig ist, ihre innere Spannung herauszuhö-
ren. Das kann man schon am frühen Schönberg, am noch
tonalen Schönberg lernen. Die frühen Werke von Schönberg
werden ja in Deutschland merkwürdig vernachlässigt. Es geht
mit dieser Musik etwas komisch zu. Von den frühen Werken
wird gesagt: ›Ach Gott, das ist ja noch wie Wagner. Das haben
wir schon so weit hinter uns‹, und von den anderen: ›Das ist
Zwölftonmusik, das können wir nicht verstehen‹. Nun, bei-

100
des ist gleich äußerlich. Ich werde später noch darauf kom-
men, daß die Frage Zwölfton- oder nicht Zwölftonmusik in
keiner Weise, weder für die Sache selbst noch für ihr Ver-
ständnis, etwas Entscheidendes ist, und ich möchte Sie drin-
gend davor warnen, etwa zu glauben, daß zum Verständnis
der neuen Musik eine Kenntnis des sogenannten Zwölftonsy-
stems nötig sei. Die Zwölftontechnik ist nichts anderes als ei-
ne Anordnung der Töne, etwa wie ein Maler seine Farben auf
seiner Palette anordnet, aber um ein Bild zu verstehen, müs-
sen Sie davon ja auch nichts wissen. Sie müssen das Bild rich-
tig sehen, und Sie müssen die Musik richtig hören, die dabei
herauskommt. Überhaupt möchte ich einmal das ganz Primi-
tive und Derbe aussprechen, daß die neue Musik, genau wie
jede andere Musik auch, gehört, lebendig vom Hörer vollzo-
gen werden will und daß die Vorstellung, daß es dabei irgend-
welcher intellektueller Hilfsoperationen bedarf, daß man sich
das auf dem Umweg über den Kopf klarmachen muß, ein rei-
ner Aberglaube ist. Was man nicht lebendig hören kann, ist
eben nicht Musik geworden und hat überhaupt keinen Sinn.
An der Stelle gilt vor allem: ›Bangemachen gilt nicht!‹
Aber ich wollte von etwas anderem sprechen, von dem
jungen Schönberg.141 Es zeigt sich nämlich, daß die Unter-
schiede zwischen dem jungen und dem späten Schönberg gar
nicht so entscheidend sind, sondern, wenn Sie diese frühen
Werke – die den ganzen Reichtum der Faktur, den Reichtum
an Gestalten, an Kontrasten, die Polyphonie bereits voll aus-
gebildet haben, die dann später von der Tonalität sich emanzi-
pieren –, wenn Sie diese tonalen Stücke verstehen können,
dann verstehen Sie die späten Werke ohne weiteres auch.
Diejenigen unter Ihnen, die also – und ich hoffe, daß es mir
gelingt, einige von Ihnen dazu zu veranlassen – mit Schön-
berg sich weiter abgeben wollen, kann ich nicht nachdrück-
lich genug auf die Jugendwerke Schönbergs hinweisen, die
Ihnen gewisse äußerliche Schwierigkeiten, wie die der Disso-
nanz und der Atonalität, noch nicht bereiten, in denen aber
die entscheidenden, inneren, strukturellen Momente der spä-

101
teren Entwicklung alle vorhanden sind. Ich glaube, ich kann
Ihnen versprechen, wenn Sie etwa die beiden ersten Streich-
quartette Schönbergs und die »Kammersymphonie« op. 9 und
auch die frühen Lieder richtig hören können, dann werden
Ihnen die verrufenen späten Stücke gar keine Schwierigkei-
ten mehr machen.
Ich komme auf einen anderen, sehr verbreiteten Einwand –
ich habe ihn vorhin während der Pause in einem Gespräch,
das ich unfreiwillig überhört habe, auch von einem von Ihnen
vernommen. Es wurde gesagt: ›Ja, wenn man sich also intel-
lektuell mit diesen Dingen beschäftige, dann sei das ja ganz
einleuchtend, aber unmittelbar sei es doch nicht so‹. Wenn es
mir möglich ist, überhaupt mit dem, worum ich mich an-
strenge, Sie zu erreichen, dann möchte ich Sie bitten, dies
Urteil zu suspendieren. Das, was uns sehr leicht in der Musik
als das sogenannte natürliche oder emotionale Element er-
scheint, ist in Wahrheit häufig nichts anderes als der Rück-
stand der Konventionen, die uns zur zweiten Natur geworden
sind, und das, was wir für intellektuell zu halten versucht sind,
einfach das, wogegen wir von diesen Konventionen abge-
sperrt werden.
Im übrigen möchte ich doch sagen: Es gibt überhaupt kei-
ne hochorganisierte Kunst, in der das sogenannte intellektu-
elle Moment, das Moment der geistigen Organisation, sich
nicht mit dem rein sinnlich-anschaulichen Moment in einer
wesentlichen Weise verbinden würde. Unter den entschei-
denden Impulsen der modernen Musik war sicher nicht der
geringste, wenn auch nicht der allein maßgebende, der, gera-
de die Kraft des Ausdruckes freizusetzen. In der traditionellen
Musik ist ja mit bestimmten Formen im allgemeinen auch ein
bestimmter Ausdruck assoziiert, also im allergröbsten: Dur ist
freudig und Moll ist traurig, und wenn einmal beides sich
überschneidet und einmal gleichzeitig, wie an einer sehr ge-
nialen Stelle am Schluß des ersten Aktes von »Tristan«, Dur
und Moll oder zwei Tonarten so ineinanderklingen, daß das
Aufeinanderprallen von höchstem Glück und tiefster Ver-

102
zweiflung ausgedrückt wird, dann ist das schon eine verwege-
ne Ausnahme. Nun, die neue Musik hat sich darum bemüht,
Traumprotokolle aufzusetzen, also wirklich die Gefühle in
ihren feinsten Ausdrucksregungen ganz unmittelbar wieder-
zugeben, ohne diese schon eingefahrenen, eingeschliffenen
Assoziationen zwischen bestimmten Formeln und bestimm-
ten angeblichen Ausdrucksmomenten hinzunehmen, die in
Wirklichkeit in diesen Formeln schon längst gar nicht mehr
fühlbar werden. Beethoven hat einmal zu seinem Neffen bei
einer Gelegenheit gesagt: ›Vieles, was dem bloßen Natur-
talent des Komponisten zugeschrieben wird, rührt in Wahr-
heit einzig vom geschickten Gebrauch des verminderten
Septimakkords her‹. Ich zitiere das Wort wörtlich, so wie
Beethoven es gesagt hat.142 Sie merken daran, daß gegen die-
sen üblichen Begriff des Gefühls und der Inspirationen schon
Beethoven selber skeptisch rebelliert hat. Und aus dieser von
Beethoven bereits formulierten Skepsis hat dann die moderne
Musik die Konsequenz gezogen, indem sie wirklich versucht
hat, den Ausdruck der Seele selbst, des Gefühls zu geben, an-
statt einem mit Clichés des Gefühls aufzuwarten.
Damit komme ich nun zu der Sphäre des dritten großen
Komponisten der Wiener Schule, der meines im Jahre 1945
auf die unsinnigste Weise ums Leben gekommenen Freundes
Anton von Webern.143 In vieler Hinsicht der radikalste Kom-
ponist, war er ein Lyriker, der nach Kraft und Zartheit des
Ausdrucks seinesgleichen sucht. Heutzutage wird ja mit den
Dissonanzen, mit denen gerade Webern ausschließlich ope-
riert, etwas leicht umgegangen. Es kostet nichts mehr, solche
Dissonanzen zu schreiben. Bei ihm aber hat jeder dieser neu-
en Akkorde, vor fast 50 Jahren konzipiert, wirklich noch das
Moment des Zum-ersten-Mal, daß mit ungeheurer Vorsicht,
zögernd, etwas Ungeheuerliches eingeführt wird, und diese
Aura des Zum-ersten-Mal, des Gewagten, ist noch heute be-
wahrt, so daß man hinter dieser Stille, hinter dieser Pianissimo-
Musik irgendwie das drohende Fortissimo einer gewaltigen
Katastrophe vorfühlt, ähnlich wie in der Lyrik von Trakl.144

103
Findet man Webern bloß intellektualistisch und merkt
nicht, was da mitschwingt, dann, glaube ich, bestehen große
Zweifel, ob man auch das versteht an Gefühlsregungen, was
in der romantischen Musik etwa wiedergegeben ist. Ich
möchte Ihnen ein paar Sätze lesen, die Schönberg über die
»Bagatellen für Streichquartett«145 geschrieben hat und die Sie
besser als jedes andere Wort in diese Sphäre einleiten können:
»So eindringlich für diese Stücke die Fürsprache ihrer Kürze,
so nötig ist andrerseits solche Fürsprache eben für diese Kür-
ze. Man bedenke, welche Enthaltsamkeit dazu gehört, sich so
kurz zu fassen. Jeder Blick läßt sich zu einem Gedicht, jeder
Seufzer zu einem Roman ausdehnen. Aber: einen Roman
durch eine einzige Geste, ein Glück durch ein einziges Auf-
atmen auszudrücken: zu solcher Konzentration findet sich
nur, wo Wehleidigkeit in entsprechendem Maße fehlt. Diese
Stücke wird nur verstehen, wer dem Glauben angehört, daß
sich durch Töne etwas nur durch Töne Sagbares ausdrücken
läßt.«146
Also, hier haben Sie das äußerste Ideal des Expressionismus,
denn die Musik läßt es sich angelegen sein, Regungen auszu-
drücken, die so subtil, so zart und so unterschwellig sind, daß
das Wort nicht mehr an sie heranreicht; sie fängt gleichsam an
der Stelle an, an der die Lyrik aufhört.
Oft steht bei Webern ein Takt, ja eine Note für das, was
sonst eine ganz lange Entwicklung darstellt, aber dennoch
kehren in seinen Miniaturen alle Elemente der Formbildung
wieder, nur daß eben ein Ton ein Thema, ein Pizzicatoklang
eine Überleitung ist, daß ein Tremolo am Steg eine bestimm-
te Schlußwirkung hat und daß zwei heftig ausbrechende No-
ten den Höhepunkt erreichen und eigentlich das in sich ver-
körpern, was in der traditionellen Musik nur durch lange
Spannungsfelder, ausgeführte Steigerungen überhaupt gege-
ben werden kann. Auf der anderen Seite aber ist von der
Schönberg-Schule selbst immer wieder hervorgehoben wor-
den, daß hier bei aller inneren Notwendigkeit nun wirklich
viel geopfert wird, nämlich die Möglichkeit der Musik, sich

104
in der Zeit zu entfalten, große Zeitflächen zu artikulieren und
zu beherrschen. Schönberg selber, der gerade diese Möglich-
keit in seinen kleinen Klavierstücken op. 19147 als erster eröff-
net hat, ist dabei dann im Gegensatz zu Webern nicht stehen-
geblieben, sondern hat die Probleme der sogenannten großen
Form, der Artikulation von Musik in der Zeit wieder aufge-
nommen; auch deshalb, weil diese Miniaturen wirklich ein
für allemal geprägt sind und nicht ad infinitum sich weiter-
treiben lassen. Der Gedanke, daß nun andere Komponisten
kommen und ebensolche Quartettstücke schreiben, hat etwas
Absurdes; sie haben etwas Hermetisches, Igelhaftes, Stacheli-
ges, das sich gegen jede Nachahmung, gegen jedes Angreifen
eigentlich sträubt. Nur von den Extremen her läßt sich die
Entwicklungstendenz begreifen, sie erschöpft sich darin nicht.
Sobald man sich nun aber wieder um das Problem der gro-
ßen Form ernsthaft kümmert, um so mehr müssen solche
Gebilde in sich selbst organisiert sein. Und diese Organisati-
on, also vor allem das Gewebe der Vielstimmigkeit, das sie
eigentlich bewirkt, ist es, was dem Laien so vielfach intellek-
tualistisch und unverständlich dünkt. Das Mittel, durch das
Schönberg und die Schönberg-Schule das erreicht haben,
ist – ich habe das bereits angedeutet – das Mittel der variativen
Durchführung oder, wie ich vielleicht besser sagen könnte,
der universalen Variation. Aus einem Minimum von themati-
schen Gegebenheiten wird mit höchster Ökonomie ein Ma-
ximum an voneinander kontrastierenden Gestalten gewon-
nen. Es handelt sich also um ein Prinzip, ähnlich dem, was
von Kant unter dem Namen der Einheit in der Mannigfaltig-
keit bezeichnet worden ist;148 es wird eine möglichst große
Mannigfaltigkeit von Kontrasten und von sich auseinander
entwickelnden Gestalten angestrebt, aber diese Gestalten sind
trotzdem alle so aufeinander bezogen durch das hinter ihnen
stehende Material, daß noch in ihrer völligen Divergenz die
Einheit fühlbar ist.
Meine Damen und Herren, ich habe Ihnen damit, ohne
das Wort zu nennen, zunächst einmal rein aus der Problema-

105
tik der Sache heraus das Prinzip entwickelt, das Ihnen allen
geläufig ist unter dem Namen der Zwölftontechnik, und ich
glaube, Sie sind hierhergekommen, um über diese Technik
auch etwas zu erfahren. Ich habe Sie bereits davor gewarnt, sie
zu überschätzen. Es handelt sich vor allem in der Zwölfton-
technik nicht darum, daß durch das sogenannte Zwölftonsy-
stem eine Art Ersatz für die Tonalität geschaffen worden sei,
daß also, nachdem man glücklich von dem einen Bezugssy-
stem sich befreit hat, das immerhin für sich hatte, historisch
entstanden und jedem Menschen in Fleisch und Blut überge-
gangen zu sein, nun ein willkürlich ausgedachtes und in ge-
wisser Weise unverbindliches neues gesetzt wurde. Das ist
nicht der Sinn der Zwölftontechnik, und es wird im Namen
von Zwölftontechnik heute von Komponisten, die tatsäch-
lich damit umgehen, wie wenn es eine Art Tonalitätsersatz sei,
ein entsetzlicher Unfug angestiftet. Ich möchte das hier ein-
mal in aller Deutlichkeit aussprechen. Aber ich möchte dazu
allerdings sagen, ob solche Musik, so wie die von Schönberg
und Berg oder Webern es war, sinnvoll oder sinnlos ist, das
kann man sehr genau entscheiden. Dafür gibt es eine Reihe
von Kriterien in der Sache, die ich Ihnen jetzt nicht ent-
wickeln kann,149 Kriterien freilich, denen die offiziellen
Musikkritiker in keiner Weise gewachsen sind, die ja über-
haupt hinter diesen Dingen ganz desorientiert hertappen und
im allgemeinen nur versuchen, irgendwie mitzuschwimmen.
Immerhin kann ich Ihnen ein solches Kriterium zur Beurtei-
lung von Zwölftonmusik angeben. Ich hatte Ihnen eben ge-
sagt, daß die Zwölftontechnik eigentlich nichts anderes ist als
das Gebot, daß alle musikalischen Ereignisse thematisch sein
müssen, daß alles, jeder Ton, der vorkommt, variativ auf ein
zugrundeliegendes Urmaterial bezogen sein muß. Nun, die-
ses Organisationsprinzip hat natürlich nur dort einen Sinn,
wo die Ereignisse selber so komplex sind, daß sie ohne dieses
Prinzip sich nicht organisieren, daß sie ohne dieses Prinzip
keine Gestalt annehmen. Und man kann schlechte Zwölfton-
musik regelmäßig daran erkennen, daß es Musik ist, die im

106
Grunde durch andere Mittel ganz handgreiflich organisiert ist
und die nur zusätzlich, weil man eben heute Zwölftontechnik
schreibe, auch mit Reihen herumwirtschaftet. Man kann sa-
gen, daß Musik, die in sich selbst nicht die denkbar komple-
xeste Fügung hat, der Zwölftontechnik gar nicht bedarf, blo-
ße Überbestimmung ist, und daß sie einen Sinn nur dort hat,
wo sie die Einheit in einem überreichen Mannigfaltigen her-
stellt. Dazu gehört natürlich auch, daß wirkliche Musik so
durchgebildet sein muß, daß jeder Ton, jedes Motiv, jede Ge-
stalt ihre Funktion als Thema, als Übergang, als Spannung, als
Fortsetzung, als Steigerung, als Auflösung haben muß, daß
jede Note im Ganzen einen rein musikalischen Sinn gibt. Wo
das nicht der Fall ist, da ist die Zwölftontechnik grober Un-
fug.
Ich möchte mich aber nicht in theoretischen Erörterungen
ergehen, sondern Ihnen wenigstens kurz zeigen, was das mit
der Zwölftontechnik nun auf sich hat. Ich sagte Ihnen schon,
es ist eine radikale Technik der Variation. Das bedeutet nichts
anderes, als daß der Komponist jeweils einem Stück eine so-
genannte Reihe zugrunde legt, die möglichst alle zwölf Töne
der chromatischen Skala in sich enthält, möglichst alle Töne,
um zu vermeiden, daß einem besonderen Ton ein Überge-
wicht zukommt, das wieder eine Art Tonalität ergeben wür-
de. Ich hatte Ihnen eingangs bereits gesagt, daß tonale Ereig-
nisse in dieser nichttonalen Musiksprache notwendig falsch
klingen und notwendig unadäquat sind. Und nun besteht die
Zwölftontechnik darin, daß aus dieser einen Grundreihe al-
les, was überhaupt vorkommt, entwickelt wird, wobei diese
Grundreihe aber auch selber abgewandelt, umgekehrt ge-
bracht, auf alle anderen Stufen transponiert werden kann. Da
gibt es unzählige Möglichkeiten. Jedenfalls bedeutet es nichts
anderes, als daß aus einem genau definierten Material durch
eine strenge Variationstechnik alles entwickelt und auf diese
Weise vollkommene Einheit geschaffen wird – also nur ein
Organisationsprinzip und nichts, was Sie nun unmittelbar hö-
ren müßten. Sie dürfen nicht etwa bei Zwölftonmusik darauf

107
lauern: höre ich nun diese Reihe? – im Gegenteil, wenn Sie
die Reihe hören, dann klappert die Maschinerie –, sondern
was Sie wahrnehmen sollen, das ist eben nur die Organi-
sation, die Einheit, die in solcher Musik selber drinsteckt. Ge-
rade das, worum es sich hier eigentlich handelt, ist gar nichts
Neues, vielleicht gar nichts Entscheidendes. Der Idee nach
steckt es schon in der traditionellen Musik, vor allem bei
Brahms, den ich übrigens für einen der größten Komponisten
halte. Er hat die Technik der motivischen Variation schon sehr
weit getrieben. Wie vielfach bei ihm geht es in der Zwölfton-
technik zu: Die Intervalle zwischen den Tönen sind eine Art
von Rohmaterial, das dann umgeschmolzen und zu vollkom-
men anderen Gestalten verarbeitet wird.
Gewöhnlich hört man, das ist doch alles ausgedacht und
intellektuell. Wenn das intellektuell und ausgedacht ist, dann
ist bei Beethoven und bei Brahms, wenn Sie wollen, auch alles
ausgedacht; unter der Oberfläche liegende organisierende
Beziehungen gibt es bei diesen Komponisten genauso wie in
der modernen Musik, nur daß sie unter Rückgriff auf viel
ältere Techniken der mittelalterlichen Polyphonie heute noch
viel strenger gehandhabt werden. Gerade an der Stelle, wo die
Menschen meinen, es handele sich um etwas schrecklich
Neues, ist es am wenigsten der Fall. Ich möchte Ihnen darum
wirklich raten, lassen Sie Gott einen guten Mann und lassen
Sie die Reihen Reihen sein. Wenn Sie diese Musik hören,
versuchen Sie lediglich zu verstehen, was Thema, was Fort-
setzung ist, aber auch das nicht etwa intellektuell, indem Sie
sich sagen: ›Aha, Thema!‹, sondern indem Sie rein spontan
mitvollziehend, lebend[ig] hören, den Zusammenhang erfas-
sen – dann kommen Sie hundertmal weiter, als wenn Sie sich
über die Zwölftontechnik Sorgen machen.
Nebenbei bemerkt, ist der überwältigende Teil der Werke
von Schönberg – und nach meiner Ansicht gerade die wich-
tigsten – gar nicht in der Zwölftontechnik geschrieben, und
es ist nur eine ganz äußerliche Etikettierung, wenn man heute
sagt, Schönberg ist der Erfinder der Zwölftontechnik. Die

108
Zwölftontechnik hat sich als eine Art von Nebenprodukt aus
seinem Komponieren ergeben, ist aber in keiner Weise das
Zentrum dessen, worum es sich eigentlich handelt.
Lassen Sie mich versuchen, Ihnen zu erklären, wie man
eine lang ausgesponnene asymmetrische Melodie des reifen
Schönberg wie den Anfang des ersten Klavierstücks aus
op. 23150 als Melodie hören kann. Sie gliedert sich in zwei Tei-
le von annähernd gleicher Länge. Der erste besteht aus einem
Vorder- und Nachsatz und endet mit einer Art von Halb-
schluß; der zweite ist viel mannigfaltiger gebaut, aus kurzen
Phrasen mit einem Fortsetzungsmotiv, und bringt nach einer
abermaligen Pause die Steigerung und das Ende des ganzen
Formteils. Die Einheit wird herbeigeführt durch die charak-
teristischen Intervalle von kleiner Sekunde und kleiner Terz.
Nun möchte ich daraus wenigstens eine Folgerung ziehen,
die Sie vielleicht auch auf andere Werke der modernen Musik
anwenden können. Ich habe Ihnen unter der Hand eine Rei-
he von Begriffen eingeschmuggelt, Ausdrücke wie ›Halb-
schluß‹, ›Abklingen‹, ›Vorder- und Nachsatz‹, ›Steigerung‹,
›Höhepunkt‹ und ähnliches. Sie haben das wahrscheinlich gar
nicht bemerkt, sondern haben unmittelbar mit diesen Begrif-
fen einen Sinn verbunden. Ich glaube, darin steckt eigentlich
das ganze Geheimnis für das Hören neuer Musik, daß Sie ler-
nen, diese Funktion jedes Einzelereignisses unmittelbar wahr-
zunehmen und dabei mitzugehen. Es ist das Wichtigste beim
Hören neuer Musik, daß man sich dazu bringt, solcher Form-
relationen unmittelbar gewahr zu werden, sozusagen mitzu-
denken, etwa wie man in der gesprochenen Prosa die Syntax,
Nebensätze, Thesen und Argumente, Gedanken und Fortset-
zungen sogleich als solche wahrnimmt. Dazu bedarf es natür-
lich einer gewissen Schulung, aber deren bedarf es in der tra-
ditionellen Musik auch, und das, worauf es eigentlich in der
traditionellen Musik ankommt, ist auch viel mehr das Ver-
ständnis dieses subkutanen Sinnzusammenhangs als die Ver-
trautheit mit den auffälligen, zutage liegenden Schemata.
Also, wenn man Beethoven richtig verstehen will, muß man

109
eigentlich in jedem Werke auch das Isolierte, das je Einzelne
dieses Werkes, seine Spannungsfelder, seine Auflösungen, alle
diese Dinge realisieren, und das ist viel wichtiger als das Be-
zugssystem, die Sonatenform, die mehr oder minder standar-
disiert ist – wenn ich den ordinären Ausdruck gebrauchen
darf – und die in allen Werken von Beethoven immer wieder-
kommt.
Wenn wir diese Spannungsfelder, diese der je einzelnen
Komposition eigenen Strukturen in der traditionellen Musik
nicht gewahren, sondern statt dessen uns ans Schema halten,
verstehen wir auch die traditionelle Musik nicht. Neulich,
bei einer Tagung in Iserlohn, hat der frühere Kultusmini-
ster Metzger gesagt, daß er durch die neue Musik, wie sie in
Darmstadt gepflegt worden ist, eigentlich die traditionelle erst
richtig verstanden hätte.151 Und ich muß sagen, mir schien
das eine außerordentlich aufschlußreiche Bemerkung. Man
kann wahrscheinlich überhaupt in der Geschichte Vergange-
nes nur von der Gegenwart aus verstehen, und es ist eine
Selbsttäuschung des Historismus zu glauben, daß man das Ge-
genwärtige aus dem Vergangenen verstehen kann und nicht
umgekehrt. Das wollte ich gerade an dieser Stelle besonders
hervorheben.
Meine Damen und Herren, ich habe allmählich das Ge-
fühl, daß ich Ihre Aufmerksamkeit über Gebühr in Anspruch
genommen habe, und ich möchte Ihnen jetzt Gelegenheit zu
Fragen geben.
[Es folgt eine Frage, die sich auf den esoterischen Charakter der
neuen Musik bezieht.]
Adorno: Ich denke in bezug auf diese angeblich esoterische
und individualistische Musik eigentlich sehr demokratisch.
Ich glaube – das Interesse an Musik einmal vorausgesetzt,
wenn man also nicht zu dem in der Psychologie als ›Amusie‹
bezeichneten Typus gehört, also unfähig ist, überhaupt Inter-
valle zu unterscheiden, wo also eine gewisse Art musikalischer
Farbenblindheit besteht –, daß jeder Mensch, der überhaupt
musikalisch aufnahmefähig ist, der die Kraft der Selbstbesin-

110
nung aufbringt, sich nicht von vornherein von seinem Vorur-
teil leiten zu lassen, sondern sich dem Phänomen aufzuschlie-
ßen, grundsätzlich diese Musik genauso gut verstehen kann,
wie heute ein paar Menschen sie verstehen, und daß viel
mehr die verhärtete Einrichtung unserer ganzen Kultur und
der ungeheure Wust an Clichés und Stereotypen, die darüber
in Umlauf gebracht werden, es verhindert, als daß es der
Sache selbst nach unmöglich ist.
Frage: Als Hauptmerkmal der modernen Musik wird im-
mer wieder herausgestellt, daß kein Bezugssystem mehr vor-
handen sei. Nun wollte ich fragen: Gilt das wirklich in dieser
Ausschließlichkeit bei der modernen Musik?
Adorno: Ich bin Ihnen außerordentlich dankbar für diese
Frage, ich glaube, das hilft uns dazu, etwas Wesentliches auf-
zuklären. Ich stimme mit Ihnen vollständig überein. Man
muß ja solche Dinge, wenn man sie überhaupt zum Bewußt-
sein bringen will, in einem gewissen Maß zunächst einmal
übertreiben, und die Arbeit besteht dann darin, daß man so
differenziert, daß schließlich die Wahrheit herauskommt. Es
wäre Unsinn zu sagen, daß es überhaupt kein Bezugssystem in
der modernen Musik gibt. Es gibt allerdings heute einige
Komponisten, die, wie ich es neulich einmal ausgedrückt
habe, ›radikal‹ mit ›ratzekahl‹ gleichsetzen152 und die wirklich
versuchen, überhaupt alles, was nur irgendwie an strukturelle
Momente der musikalischen Sprache gemahnt, zu eliminie-
ren, weil sie erst das für wirklich konsequent halten. Und hier
kommt man der Monomanie schon recht nahe.
Ich glaube, der Unterschied, nach dem Sie gefragt haben,
läßt sich recht konkret angeben, nämlich das Bezugssystem,
das als veraltet und als erstarrt weggefallen ist, ist das Bezugssy-
stem der Tonalität, also das um den Dreiklang, um das Modula-
tionsschema und alle diese Dinge geordnete System. In diesem
System haben sich nun die musiksprachlichen Momente her-
ausgebildet, Thema, Übergang, Fortsetzung, Ausspinnung,
Nachsatz, Steigerung, Abklingen, Durchführung, Konflikt,
Höhepunkt, Spannungsfeld, Auflösungsfeld. Alle diese Kate-

111
gorien, die ich Ihnen angedeutet habe, sind entstanden im
Rahmen der Tonalität. Nun ist die Tonalität dahin, aber diese
Kategorien überleben. Und der Unterschied, ich möchte sa-
gen, des Musikalischen und Unmusikalischen, besteht eigent-
lich darin, daß man diese Kategorien, die, wenn Sie wollen,
auch etwas Umfassendes, etwas Nichtisoliertes haben, die eine
Art höherer Logik der Musik darstellen als die bloße Tonalität,
verwandelt, aber bewahrt, mit anderen Worten, daß man sinn-
voll komponiert. Aber ich möchte Ihnen gegenüber ganz auf-
richtig sein: An der Stelle, die Sie hier berührt haben, liegt in
der Tat das allerernsteste und schwierigste Problem der neuen
Musik. Denn diese musiksprachlichen Mittel, von denen wir
schon gesprochen haben, sind nicht nur äußerlich und zufällig
in der Tonalität entstanden, sondern sie hängen bis zu einem
gewissen Grad ihrem Sinn nach auch mit der Tonalität zusam-
men, so daß also, wenn die Komponisten des ›Ideals des Ratze-
kahlen‹, von denen ich Ihnen gesprochen habe, diese Momen-
te beseitigen wollen, sie der nicht ganz falsche Instinkt leitet,
daß in diesen Formelementen immer noch ein Stück Tonalität
mitgesetzt ist, mitschwingt. Eliminiert man diese Elemente
aber ganz, dann ist die Musik wirklich an der Grenze, an der sie
in Unsinn, in etwas übergeht, was überhaupt einen geistigen,
einen Sinnzusammenhang gar nicht mehr bildet. Wie man
diese beiden Forderungen – auf der einen Seite die Formspra-
che der Musik ihrem jetzigen Material angemessen zu gestal-
ten, auf der anderen aber trotzdem sie nicht dem Chaotischen
und Sinnlosen zu überantworten –, wie man diesen beiden
Forderungen gerecht wird, das ist eigentlich die brennende
Frage, der wir heute gegenüberstehen und auf die eine Ant-
wort noch gar nicht abzusehen ist. Kunst besteht ja nicht im si-
cheren, unproblematischen Stil, sondern ist ein Spannungs-
feld, und wenn ich Ihnen etwas übermittelt habe, dann ist es
gerade eine Ahnung davon.
Frage: [undeutlich]
Adorno: Ja, da würde ich sagen: einen Weg zur Gemein-
schaftskunst gibt es für die Kunst und von der Kunst aus über-

112
haupt nicht. Ich bin darin genauso radikal wie Herr Benn. Ich
meine, es hat an dieser Stelle gar keinen Sinn, sich irgend et-
was vorzumachen. Die Frage der Gemeinschaftskunst ist eine
Frage der Konstitution unserer Gesellschaft, und daß es in ei-
ner in sich gespaltenen Gesellschaft mit Bildungsmonopol,
Arbeitsmonotonie und Kulturindustrie etwas wie eine Ge-
meinschaftskunst überhaupt geben soll, halte ich für eine pure
Illusion. Was uns an ›Gemeinschaftskunst‹ serviert wird, halte
ich für bloße Regression, bloße Rückbildung auf ein in
Wirklichkeit historisch längst überwundenes Stadium, und
ich glaube, daß das eigentlich gar kein Gewicht hat. Aller-
dings [glaube ich auch], daß, wenn man in einer Gesellschaft
den Menschen die Möglichkeit, die Voraussetzung, die innere
Freiheit gäbe, alles das zu vollziehen an künstlerischen, geisti-
gen Operationen, was ich versucht habe, Ihnen anzudeuten,
daß es dann allen Menschen genauso offen ist, wie es heute
uns offen ist, die wir in diesem Raum versammelt sind. Daß
aber andererseits aus der Gemeinschaft als solcher, also daraus,
daß die Musik irgendwie die Menschen zu einer Gemeinde
zusammenfaßt, ein Wert entstünde, das vermag ich eigentlich
nicht zu sehen, sondern ich bin da viel eher der Ansicht des
großen katholischen Theologen Theodor Haecker, der ein-
mal gesagt hat, daß so, wie die Welt heute organisiert ist, es
viel weniger darauf ankommt, Gemeinschaften zu stiften, als
schlechte, irrationale Gemeinschaften, die in Wirklichkeit
die Menschen unterdrücken, die ihnen angehören, auszulö-
schen.153 Ich bin an dieser Stelle – ich will Ihnen auch hier
kein X für ein U vormachen – in denkbar schärfstem philoso-
phischen Gegensatz zu dem, was man so musikalische Volks-
und Jugendbewegung und ähnliche Dinge nennt, und ich
halte alle die Lösungen, die dort propagiert worden sind,
wenn ich das ganz drastisch sagen darf, für kryptofaschi-
stisch.154
Frage: [undeutlich]
Adorno: Ja, ich bin der Ansicht, daß dieses Problem außer-
ordentlich ernst ist, denn auf der einen Seite ist es ökono-

113
misch so, daß die Kunst heute ohne staatliche Hilfe nicht exi-
stieren kann, auf der anderen Seite ist es für den staatlichen
Funktionär ohne weiteres gar nicht möglich, diese Funktion
für die Kunst wirklich auszuüben. Ich würde sagen, die Kunst
des Staates, die Staatskunst besteht eben darin, an die Schlüs-
selstellungen Menschen zu bringen, die wirklich fähig sind,
qualifizierte Urteile zu fällen. Andererseits glaube ich, daß das
keine Zauberei ist, sondern daß man dafür Kriterien entwik-
keln kann und daß die Erwägungen, die ich Ihnen heute vor-
gelegt habe, im Grunde, wenn man die Menschen nicht
künstlich durch irgendwelche falschen Gemeinschaftsbegriffe
davon abbringt, den Menschen durchaus auch zugänglich
sind. Das ist genauso wie mit jeder anderen Funktion, die der
Staat zu vergeben hat, nämlich arbeitsteilig läßt sich das auch
nur vollziehen dadurch, daß man wirklich zuständige Fach-
leute an die entscheidenden Stellen beruft. Ich gebe zu, daß es
schwer ist, die Fachleute wirklich zu finden, die diesen Din-
gen gewachsen sind, weil ein großer Teil der Menschen, die
sich in diesem Bereich, in der Musik, für Fachleute halten, in
Wirklichkeit den eigentlichen Fragen schon gar nicht mehr
gewachsen sind. Das ist eine sehr ernste soziologische Frage,
und ich hätte soziologisch sehr vieles zu sagen. Im Augen-
blick, da ich von der Musik spreche, kann ich nur sagen, be-
schränke ich mich mit dieser Forderung, durch Aufwand der
ganzen Intelligenz und der ganzen Differenziertheit und des
ganzen Instinkts, den man für Menschen hat, Menschen her-
anzuziehen, die von diesen Fragen im Ernst etwas verstehen.
Solche Menschen gibt es gar nicht so wenige, wie es vielleicht
manchmal den Anschein hat.
Frage: [undeutlich]
Adorno: Ich bin in solchen Dingen sehr vorsichtig. Ich habe
das Gefühl, daß im allgemeinen Bemühungen, die sich auf
die Mittel richten anstatt auf die Sache selbst, mehr in den
Bereich der Bastelei als der Kunst gehören. Also, was ich bis
jetzt an Proben von Vierteltonmusik155 oder von sogenannter
elektronischer Musik156 gehört habe, das hat mich in keiner

114
Weise überzeugt. Es scheint mir künstlerisch äußerst beschei-
den. Daß aber diese Techniken unter Umständen einmal für
einen sinnvollen künstlerischen Zweck mobilisiert werden
können, würde ich mir jedenfalls nicht zutrauen, ab ovo aus-
zuschließen.
Ich darf übrigens vielleicht hier noch zu dem, was Sie ge-
sagt haben, etwas ergänzen, was ich vielleicht vorhin versäumt
habe. Wir haben natürlich immer noch ein Bezugssystem in-
sofern, als wir noch immer mit der chromatischen Skala kom-
ponieren und mit der Identität der Oktave, daß also mit jeder
Oktave bis zu einem gewissen Maße Gleiches wiederkehrt.
Insofern also ist nicht jedes Bezugssystem auch vom Material
her beseitigt. Aber dieses Bezugssystem ist unendlich viel
weiter als das relativ enge der Tonalität. In der Musik hat sich
ein Übergang etwa abgespielt wie der zwischen der moder-
nen Physik, die mit nichteuklidischen Geometrien operiert
und die euklidische Geometrie nur als einen Spezialfall gelten
läßt, und auf der anderen Seite der klassischen Newtonschen
Physik, die die euklidische Geometrie als die naturgegebene
voraussetzt.
Frage: [undeutlich]
Adorno: Hindemith hat das einmal gemacht, solche Sachen
sind ohne weiteres möglich. Ich glaube nur nicht, daß es an
der Sache selbst sehr viel verändert. Denn schauen Sie, diese
Stücke, wie die von Webern etwa, sind so genau bezeichnet,
jede einzelne Note hat so genau ihre Akzente und was weiß
ich noch alles, daß die Objektivität der Interpretation da-
durch eigentlich bereits gewährleistet ist. Also, ob man das
nun so genau aufschreibt oder ob man das sogleich direkt auf
Grund einer solchen Aufzeichnung in ein Band hinein-
schneidet, macht wenig Unterschiede. Die Tendenz ist, daß
heute die musikalische Interpretation immer mehr zurück-
tritt zugunsten eben der endgültigen Kodifizierung des
Kunstwerks selber. Darum kommt man schwer herum. Auch
dafür ist ein Preis zu zahlen, ein sehr hoher Preis. Ich bin mir
dessen durchaus bewußt.

115
Frage: Ich wollte auf etwas anderes hinaus, ich wollte fra-
gen, ob das niemand gemacht hat, durch Zeichnungen neue
Klangkombinationen zu erzeugen, die bisher den Instrumen-
ten vorbehalten blieben.
Adorno: Ja, solche Versuche hat man auch gemacht, aber ich
glaube, daß die entscheidenden Dinge eben doch wirklich
immer von der Komposition ausgehen und nicht von außer-
musikalischen Veranstaltungen.
Frage: Es ist für uns auch jetzt noch sehr schwierig zu unter-
scheiden, was ist gute und was ist schlechte neue Musik . . .
[undeutlich].
Adorno: Dazu will ich sagen, ob es sich später herausgestellt
hat, ist in vielen Fällen gar nicht so sicher. Aber ich würde
etwas anderes sagen: Selbst wenn man diese Relativität alles
Künstlerischen nach einem höchsten Gesichtspunkt, ich
möchte sagen, der absoluten Wahrheit gegenüber zugibt, so
ist doch zunächst einmal ein ungeheurer Bereich da, wo man
sich gar keine solchen philosophischen Sorgen zu machen
braucht, wo man also relativ sehr handfest unterscheiden
kann, was etwas taugt und was nichts taugt. Wenn man sich
schon einmal dabei bescheidet und das offenläßt, wo die von
Ihnen eben angeführte, ich möchte sagen, metaphysische
Frage der Relativität des ästhetischen Urteils ins Spiel kommt,
dann würde das für eine sinnvolle Kunstpolitik wahrschein-
lich schon ausreichen. Und das, glaube ich, könnte man tun.
Aber um Ihre Frage im Ernst zu beantworten, hätten wir heu-
te etwas anderes erörtern müssen, als es in meinem Vortrag
geschah. Ich hätte nämlich mit Ihnen über die Frage des
musikalischen oder überhaupt des ästhetischen Kriteriums
sprechen müssen. Ich konnte Ihnen nur einzelne Hinweise in
dieser Richtung geben, und Sie dürfen mich da auch nicht
überfordern, ein Schelm gibt mehr, als er hat. Ich meine,
wenn ein anderes Mal Gelegenheit wäre, würde ich Ihnen
sehr gern Rede und Antwort stehen.
Ich möchte nur noch bitten, mir zu sagen, ob der Herr,
der die Frage wegen der Gemeinschaft gestellt hat, ob er

116
nun befriedigt ist von dem, was ich gesagt habe, oder ob er
darauf noch etwas sagen möchte.
Frage: [undeutlich]
Adorno: Ja, ich habe nun gerade versucht zu zeigen, daß
dieses scheinbar Subjektive in einem eminenten Maß eben
doch eine innere Logik und Konsistenz hat. Ich würde davor
warnen, wie es gerade in Kreisen der Gemeinschaftsbewe-
gung üblich ist, mit Begriffen wie ›subjektiv‹ und ›objektiv‹
herumzuoperieren. Ich würde sagen, daß ein Mensch, der
heute eine gemeinschaftsmäßige Faktur der Musik posiert,
die eigentlich dem Gehalt nach gar nicht vorgesehen ist, in
Wahrheit viel subjektivistischer ist als ein Künstler, der die
volle Konsequenz aus dem Stand des Materials zieht, auch
wenn er sich dabei von der Verständlichkeit weiter entfernt.
Was die Frage der Kirchenmusik anlangt, so maße ich mir
da keinerlei Urteil und keinerlei Zuständigkeit an. Ich kann
nur sagen, daß ich die Lage des Kirchenmusikers heute nicht
beneide.
[Bekanntgabe von Herrn Prof. Dr. Brill]
Adorno: Ich möchte Ihnen nur noch danken für die
Freundlichkeit, die Sie mir entgegengebracht haben.

117
Zum Verhältnis von
Individuum und Gesellschaft heute
13. 2. 1957

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

als ich es übernahm, das Schlußreferat der Hochschulwoche


zu halten,157 habe ich den Bemerkungen, die ich Ihnen vor-
zutragen die Absicht habe, den Titel »Individuum und Ge-
sellschaft heute« verliehen. Dieser Titel – lassen Sie mich das
sogleich sagen – ist zu großsprecherisch. Ich wollte damit le-
diglich ausdrücken, in welcher Zone sich die Gedanken be-
wegen, die ich Ihnen kommunizieren will, aber es liegt mir
selbstverständlich ganz fern, das zu tun, was man mit einem
heute nun allerdings schon allzu gründlich kompromittierten
Ausdruck sagen kann, nämlich einen ›Entwurf‹ vorzule-
gen.158 Einmal ist es selbstverständlich, daß dafür zwei Kurz-
stunden schlechterdings nicht ausreichen würden, dann aber
ist meine eigene theoretische Position derart, daß ich an die
Möglichkeit eines solchen Entwurfs, an eine solche Totale,
nicht glaube. Und es wird wohl aus dem, was ich Ihnen nun
sagen will – so hoffe ich wenigstens –, hervorgehen, warum
ich das nicht für möglich159 halte. Ich habe also statt dessen
mich dafür entschieden, lediglich einige Nervenpunkte im
Verhältnis von Mensch und Gesellschaft zu erörtern, und ich
strebe in voller Absicht eine umfassende Systematik nicht an.
Nun, Nervenpunkte sind im allgemeinen, wie Sie wissen,
Punkte, die ein wenig schmerzempfindlich sind, und so
möchte ich Sie doch darauf vorbereiten, daß die Dinge, die
ich Ihnen zu sagen habe, sofern sie überhaupt einiges Ge-
wicht besitzen, eine gewisse Tendenz haben, weh zu tun. Ich
glaube, das ist nicht unnütz zu sagen, weil ich mir dessen be-
wußt bin, daß eine Reihe der Aussagen, die ich mache, in ei-
nem sehr pointierten Gegensatz zu heute allgemein im deut-
schen Klima verbreiteten Denkgewohnheiten stehen, und es
ist fast unvermeidlich, daß sie daher gewisse Abwehrreaktio-

118
nen auslösen. Ich möchte Sie nun bitten, so sehr es geht, auf
diese Abwehrreaktionen zunächst einmal zu verzichten. Das
will nicht heißen, daß ich Sie dazu ermutigen möchte, das,
was ich Ihnen nun sage, zu schlucken, wie wenn es eine dog-
matische Weisheit wäre, die es nicht ist. Aber ich möchte Sie
bitten, gerade die Gedanken, die Sie befremden und die von
dem Tonfall, der in dem geistigen Klima in Deutschland heu-
te verbreitet ist, abweichen, zunächst einmal an Sie heran-
kommen zu lassen und darüber nachzudenken, anstatt sich
dem Automatismus zu überlassen ›Nun ja, das ist ein überstei-
gerter Intellektueller‹ oder gar sich von vornherein mit Ur-
teilen wie dem des ›Überspitzten‹ zufriedenzugeben. Mir ist
dieser Vorwurf der Überspitztheit in meinem Leben schon so
oft gemacht worden, daß ich einmal mich dazu bekennen
möchte, zum anderen aber auch der Ansicht Ausdruck ver-
leihe, daß es zu dem Wesen der Wahrheit gehört, überspitzt
zu sein, das heißt, sich mit der glatten und gerundeten Ober-
fläche der konventionellen Meinung nicht zufriedenzu-
geben. Und wo Wahrheit nicht sucht in Extreme zu dringen,
ist sie zwar angenehmer und verbreitet ein wohliges Klima
des Einverständnisses, scheint mir aber von vornherein zur
Unfruchtbarkeit mehr oder minder verdammt zu sein. Ich
möchte Ihnen dabei von vornherein sagen, daß die Anschau-
ungen, die ich Ihnen vortrage, im Gegensatz stehen zu sehr
vielem, was auch in der deutschen Sozialwissenschaft und in
der deutschen Philosophie verschiedener Schattierungen
heute vorgetragen wird, und ich möchte Sie darum bitten,
nun nicht etwa dogmatisch die Ansichten, die Ihnen so als
die verbreiteten bekannt sind, gegenüber den meinen als die
wahren zu unterstellen, denn in beiden Bereichen gibt es
nicht so etwas wie eine feststehende und bestätigte Lehrmei-
nung, sondern die Wahrheit liegt hier eigentlich in der Kraft
des Gedankens und in der Kraft des Arguments selbst.
Ich möchte Sie besonders darauf vorbereiten, daß die Din-
ge, die ich Ihnen zu sagen habe, sich sehr wesentlich unter-
scheiden von den Ansichten, die Arnold Gehlen Ihnen ver-

119
mutlich vorgetragen hat,160 dessen Vortrag ich leider nicht
hören konnte und der leider auch heute nicht zugegen ist,
sonst könnte es vielleicht zu einer sehr fruchtbaren Diskus-
sion kommen.161 Aber ich bin mit seiner Theorie denn doch
hinlänglich vertraut, um Ihnen einiges auch über diese Theo-
rie sagen zu dürfen.
Schließlich möchte ich Ihnen noch sagen oder Sie bitten,
sich vor einer Art des verbreiteten Fehlschlusses zu hüten, daß
man nämlich dort, wo an Wunden gerührt wird, so wie es
mein Freund Franz Böhm ja gestern ohne Zweifel auch getan
hat,162 für diese Wunden den verantwortlich macht, der auf
sie hinweist, anstatt daß man die Ursache in dem Zustand
sieht, der dabei betrachtet wird. Der französische Aufklärer
Helvétius hat einmal den Satz ausgesprochen, daß die Wahr-
heit noch niemals geschadet hat, außer dem, der sie aus-
gesprochen hat,163 und ich glaube, daß das in der Tat eine
allgemeine Maxime ist, die man, gerade wenn man es mit
kritischen Gedanken und kritischen Theorien zu tun hat,
befolgen sollte.
Nun, meine Damen und Herren, ich möchte, um Sie ein-
zuleiten in das spezifische Klima dessen, was ich Ihnen nun
auseinandersetzen will, auf einen Unterschied des Tonfalls
hinweisen, der sich mit einem ganz bestimmten Wort verbin-
det, nämlich mit dem Wort ›der Mensch‹. In der Endzeit des
Ersten Weltkrieges, den ja ohne Frage manche unter Ihnen,
ebenso wie ich selber, als junge Menschen oder als Jünglinge
miterlebt haben, hat dieses Wort ›der Mensch‹ auch eine gro-
ße Rolle gespielt. Ich erinnere nur an Titel wie den des
damals sehr wichtigen Buches von Leonhard Frank »Der
Mensch ist gut«164 oder des Buches von Ludwig Rubiner
»Der Mensch in der Mitte«165. Wenn Sie nun da vergleichen,
was heute unter dem Namen ›des Menschen‹ so alles in die166
Welt geht, dann werden Sie finden, daß dabei eine ganz we-
sentliche, ich würde sogar sagen, eine entscheidende Diffe-
renz herrscht, obwohl man doch zunächst denken sollte, daß
der Mensch eine Art Konstante sei, die einem Dynamischen

120
und in sich Bewegten wie der Gesellschaft fest entgegensteht.
Lassen Sie mich gleich zu Anfang Ihnen sagen, daß ich genau
diese Vorstellung, also die Vorstellung von der Invarianz, von
der Festigkeit und Unveränderlichkeit der Menschennatur im
Gegensatz zu der Bewegtheit und Dynamik der Gesellschaft,
für einen Fehlschluß halte und für einen Rückfall in Denkge-
wohnheiten, welche die Philosophie und die Wissenschaft,
die ich allerdings nicht in den gleichen Gegensatz bringen
möchte wie Arnold Gehlen, längst überwunden haben. Heu-
te kann man immer wieder solchen Sätzen begegnen wie ›Es
kommt auf den Menschen an‹. Aber wenn man dem näher-
geht, dann wird man finden, daß weniger davon die Rede ist,
daß der Mensch in der Mitte sein solle, als etwa daß der
Mensch der Mittelpunkt des Betriebs sei. Ich glaube, es gibt
ein Buch, das heißt »Der Mensch im Mittelpunkt des Betrie-
bes«167 – ich habe das nicht erfunden, wie Sie etwa denken
könnten –, nun, ich glaube, daß der bloße Hinweis auf die
Differenz des Tons hier das Entscheidende ist.
In der Zeit unmittelbar gegen Ende des Ersten Weltkrieges
und in den ersten Jahren der Weimarer Republik, in denen,
ich möchte sagen, die Gesellschaft noch einen gewissen Cha-
rakter des Offenen hatte, in denen man das Gefühl hatte, es ist
alles noch möglich, da sollte der Ausdruck ›der Mensch‹ be-
deuten, daß gegenüber dem Krieg, gegenüber dem, was nun
angetan, gegenüber den verhärteten Verhältnissen und Kon-
ventionen die Unmittelbarkeit menschlicher Beziehungen
aus Freiheit wieder hergestellt werden soll.
Heute dagegen bedeutet die Rede vom Menschen im all-
gemeinen so etwas wie Pflege. Das heißt, alle diese Reden
vom Menschen heute gehen aus von der Tatsache, die ich die
»verwaltete Welt« genannt habe,168 also von der Tatsache, daß
die einzelnen Menschen, die einzelnen Subjekte eigentlich
durch die Übermacht der Ordnungen und institutionellen
Verhältnisse, denen sie gegenüberstehen, gar nicht mehr rich-
tig Menschen, gar nicht mehr richtig Subjekte sind, und
wenn dann vom Menschen geredet wird, dann bedeutet das

121
eigentlich, daß im Rahmen dieser Entmenschlichung oder
Verdinglichung – die wir, soweit wir Beamte sind, ja alle in
unseren Funktionen täglich am eigenen Leibe erfahren, ich
genauso gut wie Sie, nebenbei bemerkt –, daß also da der
Mensch eingebaut, gepflegt werden soll. Der Ausdruck ›hu-
man relations‹ und der Gedanke der Pflege von ›human re-
lations‹ zeigt Ihnen, glaube ich, diesen Unterschied sehr dra-
stisch. Wenn Sie die Vorstellungen von Leonhard Frank oder
von Rubiner etwa mit der Idee der Pflege [von] ›human rela-
tions‹ vergleichen würden, dann würde dabei sofort eine Iro-
nie sich einstellen, die ihren Grund eben darin hat, daß gerade
dadurch, daß gewissermaßen von oben her, also institutionell,
die Beziehungen zwischen den Menschen gepflegt werden
sollen, eben jene Forderung, der Mensch sei in der Mitte oder
der Mensch sei im Zentrum, bereits negiert ist, die gleichzei-
tig die ideologische Attraktion dieser Rede, es käme nur auf
den Menschen an, eigentlich ausübt.169
Nun, lassen Sie mich hier nicht über das Ziel schießen. Ich
sage Ihnen zwar, daß ich mich zu der Überspitztheit bekenne,
aber ich möchte diese Überspitztheit nicht mit einem Mangel
an Besonnenheit erkaufen. An dem Satz, daß der Mensch in
der Mitte sei oder daß es auf den Menschen ankomme, ist
selbstverständlich auch ein Moment der Wahrheit dran. Und
dieses Moment der Wahrheit gilt es festzuhalten, wenn man
von der Problematik, mit der wir hier befaßt sind, etwas ver-
stehen will. Das heißt, die versteinerten Verhältnisse, die wir
alle erfahren, wenn wir etwa den Unterschied wahrnehmen
zwischen den Funktionen und dem Zwang der objektiven
Verfahren, die wir anwenden müssen, und unseren eigenen
menschlichen Impulsen, diese versteinerten Verhältnisse sind
ja nicht vom Himmel gefallen, sondern sie sind alle, wie man
in angelsächsischen Ländern sagen würde, ›man-made‹, sie
sind von Menschen gemacht, sie sind ihrerseits in mensch-
lichen Verhältnissen entsprungen, und selbst der härtestgesot-
tene Institutionalist würde heute nicht mehr, wie es etwa
zur Zeit von Filmer, dem großen Gegner von John Locke,170

122
die Mode war, versuchen, diese Verhältnisse unmittelbar auf
göttliche Rechtsordnungen zurückzuführen, sondern auch
Institutionalisten, wie zum Beispiel Gehlen, suchen diese In-
stitutionen abzuleiten aus der Beschaffenheit und der Not-
durft der Menschen selbst.171 Nun, man könnte sagen, daß es
also insofern wirklich auf den Menschen ankommt, als man
die menschliche Wurzel, also die Wurzel im gesellschaftlichen
Prozeß, aufzudecken hätte, die diese Verhältnisse haben, und
daß es weiter insofern auf den Menschen ankommt, als es die
Aufgabe eines jeglichen von uns, soweit er verantwortlich ist,
sein sollte, darauf hinzuarbeiten, daß menschliche Verhält-
nisse hergestellt werden, das heißt, daß dieses Moment der
Heteronomie [beseitigt wird], dieses Moment, daß wir bloße
Funktionäre sind und selbst, wenn wir an sogenannten leiten-
den Positionen uns befinden, eigentlich nur unendlich wenig
vermögen, nun wirklich bessernd und helfend in das Leben
der Bedrängten einzugreifen, daß wir das eben zu verändern
suchen.
Aber diese These, daß es auf den Menschen ankommt, gilt
nicht unmittelbar. Die Wissenschaft vom Menschen oder,
wie ich es in meiner Sprache denn doch lieber nennen möch-
te, die Wissenschaft von der Gesellschaft, muß dem Rechen-
schaft tragen, daß in der Welt, in der wir leben, das heißt also
in der geschichtlichen und unendlich komplexen Welt, in der
wir leben, die Institutionen zunächst einmal tatsächlich den
Primat haben. Man macht sich einer Ideologie – ›Ideologie‹
in dem exakten Sinn der Verschleierung verstanden – schul-
dig, wenn man so tut, als ob diese Verhältnisse und die Verhal-
tensweisen der Menschen unmittelbar aus den Menschen
heute zu erklären wären. Die Menschen heute sind weitge-
hend Funktionen des Institutionellen, der Einrichtung der
Welt, und nicht umgekehrt, und eben deshalb muß der, dem
es mit dem Begriff des Menschen ernst ist, nun nicht etwa
darangehen zu sagen: ›Der Mensch ist immer gleich und es
kommt darauf an, aus dem Wesen des Menschen abzuleiten,
was gut ist‹, sondern er muß versuchen, eben jene Momente

123
des Institutionellen zu ändern oder zu beeinflussen, die ge-
genüber dem Menschen heute real den Primat nun einmal
haben.
Nun, dem ist noch etwas hinzuzufügen. Es gibt nämlich
schlechterdings keinen Begriff, auch den des Menschen
nicht, der, abgelöst von der Praxis, in der er steht, und von der
Konstellation, in der er vorkommt, an sich wäre, sondern
noch die wahrste Theorie – also etwa auch der in abstracto si-
cherlich wahre Satz, wie er mit der Kantischen Ethik überein-
stimmt, daß es auf den Menschen ankomme, das heißt also,
daß der Mensch Zweck und nicht Mittel sein solle172 –, selbst
dieser Satz kann zu einer Lüge und zu einer Ideologie wer-
den, wenn so getan wird, als ob [es] unmittelbar heute auf die
Menschen, ihre Pflege oder die Unmittelbarkeit mensch-
licher Beziehungen ankäme, während es gerade so ist, daß
durch die Verhältnisse eine solche Unmittelbarkeit zur Ohn-
macht verdammt ist. Ich möchte sagen, daß ein Begriff, der
scheinbar so allgemein ist wie ›der Mensch‹ und die Beschaf-
fenheit des Menschen, daß der nun in einem ganz besonderen
Maße die Eigenschaft hat, für ideologische Zwecke miß-
braucht zu werden, [weil aus ihm alle konkreten geschicht-
lichen Bestimmungen über das Menschenwesen herausfal-
len.]173 Die Unwahrheit liegt hier eben nur darin, daß in
solchen Fällen doch unmittelbar auf den Menschen rekurriert
wird, also so getan wird, als ob die Verhältnisse unmittelbar
aus der Beschaffenheit der Menschen erklärt werden können,
wo in Wahrheit die Menschen Anhängsel an die Maschinerie
sind und aus ihrer anthropologischen oder psychologischen
oder ontologischen Beschaffenheit nun zu der Erklärung des
Zustandes und zu der Erklärung der Gewalt, die der Zustand
über uns ausübt, unmittelbar gar nichts abgeleitet werden
kann. Ich möchte beinahe sagen, daß der Begriff des Men-
schen in seiner Abstraktheit, die ja weiß Gott zunächst keine
so besonders emotionale Farbe besitzt, gleichwohl heute
zur Ideologie taugt, weil er in dem gegenwärtigen Bewußt-
sein als eine Art von Herzenswärmer fungiert, das heißt, im

124
Augenblick, wo die Menschen hören: ›Nun ja, aber schließ-
lich sind wir doch alle Menschen, und es kommt nur auf den
Menschen an‹, da fühlt man sich gewissermaßen geborgen
und vergißt darüber, daß es eben nicht auf den Menschen,
sondern auf die konkreten Beziehungen der lebendigen
Menschen und auf das Verhältnis der Menschen zu den Ein-
richtungen, den Eigentumsverhältnissen und der gesellschaft-
lichen Objektivität ankommt.
Sie können darauf die Probe machen. Sie müssen nur ir-
gendwo unter honetten Leuten einmal einen leisen Zweifel
daran geltend machen, daß es auf den Menschen ankomme,
und Sie werden sogleich sich einer Art von Feindseligkeit ge-
genüberfinden, so wie wenn Sie selber nun der Unmensch
wären, indem Sie das bezweifeln; wie es denn überhaupt zu
der Signatur des gegenwärtigen Zeitalters gehört, daß der, der
die Sache des Menschlichen vertritt, eben deshalb, weil er auf
Herzenswärmer und Verklärungen dieser Art verzichtet, in
den Ruf der Unmenschlichkeit gerät, während gerade die, die
es immerzu mit dem Menschen zu tun haben, nur allzuleicht
dazu neigen, eben im Namen des Menschen unmenschliche
Verhältnisse gerade zu apologetisieren und zu verklären. Aber
darüber noch später etwas.
Es läßt sich nicht von Unterschieden der Macht und der
Ohnmacht, etwa von den Unterschieden der gesellschaftli-
chen Gliederung, wenn vom Menschen überhaupt die Rede
ist, absehen. Nun, heute gibt es ja bereits den ›Mensch‹-Jar-
gon, eine ganze Sprache, die aus dem entleerten Begriff des
Menschen abgeleitet ist, die ich den »Jargon der Eigentlich-
keit« getauft habe.174 Sie alle kennen diesen Jargon, und ich
darf vielleicht an Ihr Mißtrauen appellieren, wann immer er
Ihnen vorkommt. Solche Worte wie ›Eigentlichkeit der Be-
gegnung‹, ›ins Gespräch kommen‹ und alle diese Dinge gehö-
ren dahin, und das seltsam Hohle, das alle diese Begriffe ha-
ben, rührt eben daher, daß sie so tun, als ob wesentlich etwas
durch ein unmittelbares Zueinanderkommen der Menschen
modifiziert werden könnte, während auch soweit die Men-

125
schen zueinanderkommen, sie eben immer noch in das Ganze
eingespannt bleiben. Besonders charakteristisch dafür ist etwa
die von Martin Buber entwickelte Ich-Du-Theorie,175 deren
Absurdität man sich wohl am einfachsten dadurch klarma-
chen kann, daß ja die Menschen normalerweise ›Sie‹ zuein-
ander sagen, jedenfalls in Deutschland und entsprechend in
Frankreich, und nur in Ausnahmesituationen ›Ich‹ und ›Du‹,
und daß, wenn nun die Menschen so tun, als ob sie in einem
Ich-Du-Verhältnis zueinander stünden, sie damit also einen
Zustand zwischen sich selber fingieren, der ihnen, wenn nur
die leiseste reale Probe darauf gemacht würde, sofort in seiner
Fragwürdigkeit offenbar wird, denn in dem gleichen Augen-
blick, wo die Menschen, die sich als Ich und Du begegnen
sollen, dann in das ›echte Gespräch‹ kommen, werden sie ja,
wenn sie nicht gar zu schlecht erzogen sind, denn doch ›Sie‹
zueinander sagen.
Nun, wie es sich auch immer damit verhalten mag, Sie wer-
den vielleicht glauben, daß ich mit alldem mehr ein etwas va-
ges und in der Sphäre des Feuilletonismus beheimatetes geisti-
ges Klima charakterisierte und angriff, und Sie werden mit
Recht erwarten, daß man hier in dem Rahmen dieser Hoch-
schulwochen darüber hinausgeht. Damit komme ich nun in
der Tat zu einem sehr entscheidenden Punkt, nämlich dazu,
daß ich glaube, daß in der neuesten Entwicklung, in der jüng-
sten Entwicklung der Gesellschaftswissenschaften in der Tat
diese Dinge, die ich Ihnen eben allgemein und sozusagen im
Bereich des kulturellen Klimas präludierend beschrieben
habe, daß die in der Tat auch im Bereich der eigentlichen Wis-
senschaften gelten. Ich möchte dabei vor allem hinweisen auf
eine Tatsache, die für die sogenannte ›Wissenschaft vom Men-
schen‹176 heute charakteristisch ist. Das ist nämlich ihre Ten-
denz gegen die Psychologie, eine Tendenz, die sie besonders
stark in Deutschland hat. Es wird gleichsam die Aura, der
Nimbus des Wesens Mensch überhaupt als eines Wesenhaften,
von oben Gesetzten und dadurch Bestätigten ausgespielt ge-
gen die Erfahrung des empirischen einzelnen Menschen, und

126
die Erfahrung des konkreten einzelnen Menschen wird durch
diese Denkweise von vornherein angeschwärzt, so als ob sie
destruktiv und weiß Gott was sonst noch alles wäre, das heißt,
als ob sie von vornherein gegen die Würde des Menschenwe-
sens verstieße, vor allem dann, wenn auf die Triebstrukturen
der Menschen dabei wesentlich eingegangen wird. Und es
wird dabei aus dem Begriff des Menschen heraus so operiert,
daß auf der einen Seite von dem Triebcharakter der Menschen
in einem weiten Maße abstrahiert wird, weil dadurch die be-
stimmten und konkreten Motive der Menschen gegenüber ei-
ner Invariantenlehre entfallen, auf der anderen Seite aber ten-
diert diese Art Wissenschaft wiederum dazu, das sogenannte
Böse im Menschen zu hypostasieren, also so zu tun, als ob be-
stimmte negative Momente dem Menschen notwendig und
schlechterdings innewohnen. Es ist beinahe so, wie wenn man
heute aus der Tatsache der Erbsünde eine Art Ideologie ma-
chen würde, das heißt, gleichfalls sich freuen würde, wenn ich
so reden darf, über das erbsündige Wesen des Menschen, weil
man im Augenblick, wo man sich dieser ursprünglich bösen
Menschennatur einmal anthropologisch versichert hat, dann
ja ohne weiteres abgeleitet werden kann, daß es der Unfreiheit
und des Druckes bedürfe, um dieses Böse im Menschenwesen
unter Kontrolle zu halten. Lassen Sie mich en passant nur ein-
fügen, daß, wie in sehr vielen Dingen, auch in diesen Zügen
die gegenwärtige sogenannte ›Wissenschaft vom Menschen‹
nur eine etwas gespenstische Wiederholung von Gedanken
darstellt, die in der bürgerlichen Frühzeit bereits alle gegen-
wärtig gewesen sind und die nun, nachdem in der Tat die bür-
gerliche Gesellschaft in weitem Maß an ihrer eigenen Freiheit
verzweifelt, wieder ausgegraben werden, ein etwas gespensti-
sches Scheinleben beginnen.177 Man könnte in dieser ganzen
Sphäre von einer Art von Auferstehung, von [Resurrektion]
reden, nur eben von einer Auferstehung, die alle Züge des
Geisterhaften und des Sekundären besitzt.
Lassen Sie mich auch hier nicht über das Ziel schießen, und
lassen Sie mich sagen, daß in der antipsychologischen Rich-

127
tung des Denkens über den Menschen heute auch ein Mo-
ment der Wahrheit ist, das man nicht verloren geben sollte,
nämlich diesen Satz, daß es ja in der Tat viel mehr auf die über-
greifenden objektiven Zusammenhänge als auf das Seelenle-
ben des einzelnen ankommt, wo es darum geht, wesentliche
Verhaltensweisen der Menschen zu erklären. Der Bereich, in
dem wir als psychologische Subjekte, als die einzelnen über-
haupt handeln, ist relativ beschränkt und gehört lediglich der
Privatsphäre an. Man könnte beinahe sagen, wir reagieren
psychologisch überhaupt nur insoweit, als wir Konsumenten
sind, während wir überall dort, wo wir im Produktionsprozeß
stehen, von unserer sogenannten Psychologie absehen müs-
sen und uns rational oder jedenfalls im Sinne objektiver
Zweckordnungen verhalten müssen. Aber trotzdem scheint
es mir, daß in dem Versuch, diesen Begriff des Menschen nun
selber zu einem absoluten und statischen zu machen und der
Gesellschaft entgegenzusetzen, ein äußerst verhängnisvoller
Irrtum steckt.
Ich bin in die etwas peinliche Lage versetzt, durch den
Stand der Diskussion über diese Dinge, heute auch darin ge-
wissermaßen einen Kampf zum zweiten Male aufnehmen zu
müssen, der in Wirklichkeit bereits längst durchgefochten ist,
und es gehört wohl auch zu den bedenklichen Symptomen
unseres Zeitalters, daß entscheidende Errungenschaften des
18. und des frühen 19. Jahrhunderts, also Errungenschaften,
die, datierend von, sagen wir, Helvétius, den ich schon nann-
te, und Holbach178 bis zu Hegel und Marx, einfach in Verges-
senheit geraten sind und daß man infolgedessen wieder dog-
matisch, frisch-fröhlich so reden kann, als ob, grob gesagt,
Kant überhaupt niemals gelebt hätte. Das hängt nun seiner-
seits wieder mit der Ihnen allen ja wohl bekannten Krise der
Bildung heute zusammen und auch mit jenem Verlust eines
Bewußtseins historischer Kontinuität, auf den mein Kollege
Hermann Heimpel in Göttingen mit so großem Recht und
so großem Nachdruck hingewiesen hat.179 Ich darf hier viel-
leicht sagen, daß diese Elemente, also Verfall der Bildung und

128
des historischen Bewußtseins, ihrerseits nun nicht etwa bloße
Bildungstatsachen sind, sondern daß sie mit einer Rückbil-
dung überhaupt des Bewußtseins insgesamt zusammenhän-
gen, die diesem Bewußtsein immer mehr die Fähigkeit zur
Kritik und zur Selbstbesinnung nimmt und es immer mehr
zur bloßen Anpassung nötigt. Ich möchte Sie aber hier darauf
aufmerksam machen, daß die Kontroverse über den Men-
schen, auf die ich hier eingehe, eigentlich vor mehr als 100
Jahren durchgekämpft worden ist, ohne daß das im allgemei-
nen Bewußtsein heute noch gegenwärtig wäre, und es ist
doch vielleicht erlaubt, innerhalb einer solchen Hochschul-
woche gerade darauf hinzuweisen.
Ich möchte dabei Ihnen einige Stellen vortragen aus dem
Jugendwerk von Marx, und zwar sowohl aus dem sogenann-
ten »Philosophisch-ökonomischen Fragment«180 wie auch aus
der »Deutschen Ideologie«181. Ich darf dabei vielleicht hinzu-
fügen, daß es ja mit Marx heute auch so eine merkwürdige Sa-
che ist. Auf der einen Seite gerät man sofort, wenn man den
Namen Marx in den Mund nimmt und gar Stellen von Marx
verliest, gleichsam in den Geruch, man wolle damit den ori-
entalischen Despoten, die in der Ostzone und überhaupt in
dem ganzen Ostblock sich breitmachen und die aus Marx eine
grauenhafte Despotie entwickelt haben, nach dem Munde re-
den. Ich möchte von vornherein mit allem Nachdruck das zu-
rückweisen und gleichzeitig aber jenen Herren das Recht ab-
sprechen, überhaupt über Marx zu verfügen, wie wenn er ihr
Privateigentum wäre. Was sie aus Marx gemacht haben, ist
eine grauenvolle Entstellung und hat mit den Texten, wie sie
dastehen, nicht das mindeste zu tun, und man kann demge-
genüber nur daran appellieren, die Texte selber sich anzuse-
hen und nicht den Galimathias, den man da drüben als dialek-
tischen Materialismus verzapft, für die von Marx gemeinte
Sache zu halten. Auf der anderen Seite ist man aber nun inner-
halb der Sozialwissenschaft, und gerade innerhalb der gewich-
tigsten Sozialwissenschaft heute, immerzu in Gefahr, daß,
wenn man von Marx redet – übrigens ganz ähnlich, wenn

129
man auch von Freud redet –, daß gesagt wird: ›Ach, das ist ja
alles überholt, das sind ja alles Dinge aus dem 19. Jahrhundert,
das ist‹, was weiß ich, ›naturalistisch-mechanistisch‹ und wie
sonst diese Schimpfworte alle lauten mögen, ›und heute ha-
ben wir ja die Ganzheit und sind viel moderner und sind über
diese altmodischen Dinge längst hinausgekommen‹. Nun,
meine Damen und Herren, es ist nicht meine Aufgabe, Ihnen
hier ein philosophisches Kolleg zu halten, und ich möchte Sie
damit auch wirklich nicht langweilen, aber ich darf Sie doch
vielleicht dazu ermutigen, gerade diesen Behauptungen ge-
genüber eine besondere Skepsis sich zu bewahren. Wann im-
mer uns heute von irgendwelchen geistigen Phänomenen –
das gilt zum Beispiel auch etwa in einer ganz anderen Sphäre
von Ibsen182 – versichert wird, das sei gänzlich überholt und
für den modernen Menschen uninteressant, wo immer uns
das mit einem bestimmten Automatismus entgegengeschleu-
dert wird, können Sie sicher sein, daß eine Wunde in Wirk-
lichkeit vorliegt, daß es da etwas gibt, was in Wahrheit unerle-
digt ist, und der bloße Hinweis auf die Zeit, die ja an sich
etwas ganz Abstraktes ist und mit dem Inhalt der Theorie zu-
nächst gar nicht zusammengebracht werden kann, soll von der
Besinnung über die Sache selber dabei dispensieren.
Nun, ich gebe Ihnen also zunächst ein paar solcher Stellen
von Marx, an denen Sie ganz gut sehen können, wie diese
Kontroverse schon vor mehr als 100 Jahren, vor erheblich
mehr als 100 Jahren jetzt, durchgefochten worden ist. Ich
muß Ihnen nur zur Voraussetzung sagen, daß Feuerbach, der
materialistische Philosoph Feuerbach gegenüber Hegel den
Versuch gemacht hatte, den Begriff des Geistes einzuschrän-
ken und den Begriff des Geistes, der ja bei Hegel mit der To-
talität alles Seienden gleichbedeutend ist, zu ersetzen durch
den Begriff des Menschen.183 Und Marx – und das ist sicher
etwas, was vielen von Ihnen nicht bekannt ist und manche
von Ihnen interessieren dürfte – hat demgegenüber, wenn Sie
wollen, gerade Hegel wieder aufgenommen, also in gewisser
Weise gegenüber dem Materialisten Feuerbach an die Tradi-

130
tion des deutschen Idealismus angeknüpft, indem er nachge-
wiesen hat, daß dieser Begriff des Menschen nicht verabsolu-
tiert, nicht als ein Isoliertes genommen werden darf, sondern
daß dieser Begriff des Menschen selbst gedacht werden muß
als ein gesellschaftlich Produziertes, als ein in sich selbst Dyna-
misches.
Ich lese Ihnen ein paar derartige Stellen vor, die Sie viel-
leicht doch etwas überraschen werden. »Also«, heißt es da –
ich zitiere nach der Ausgabe von Landshut –, »ist dieser gesell-
schaftliche Charakter der allgemeine Charakter der ganzen Be-
wegung; wie die Gesellschaft selbst den Menschen als Menschen
produziert, so ist sie durch ihn produziert. Die Tätigkeit und
der Geist, wie ihrem Inhalt, sind auch der Entstehungsweise
nach gesellschaftlich; gesellschaftliche Tätigkeit und gesellschaftli-
cher Geist. Das menschliche Wesen der Natur ist erst da für den
gesellschaftlichen Menschen; denn erst hier ist sie für ihn da als
Band mit dem Menschen, als Dasein seiner für den anderen und
des anderen für ihn, wie als Lebenselement der menschlichen
Wirklichkeit; erst hier ist sie da als Grundlage seines eigenen
menschlichen Daseins. Erst hier ist ihm sein natürliches Dasein
sein menschliches Dasein und die Natur für ihn zum Menschen
geworden. Also die Gesellschaft ist die vollendete Wesensein-
heit des Menschen mit der Natur, die wahre Resurrektion der
Natur.«184
Oder – heißt es an einer anderen Stelle: »Es ist vor allem
zu vermeiden, die ›Gesellschaft‹ wieder als Abstraktion dem
Individuum gegenüber zu fixieren. Das Individuum ist das
gesellschaftliche Wesen«185 – seine Anspielung auf die Lehre
des Aristoteles, daß der Mensch von Natur aus ein ζfω̃ον
πολιτικν [Zoon politikon], ein gesellschaftliches Wesen eben
sei.186 »Seine Lebensäußerung – erscheint sie auch nicht in
der unmittelbaren Form einer gemeinschaftlichen, mit anderen
zugleich vollbrachten Lebensäußerung – ist daher eine Äuße-
rung und Bestätigung des gesellschaftlichen Lebens.«187 – Oder
an einer anderen Stelle, die nun gerade der modernen An-
thropologie gegenüber äußerst pointiert die Differenz aus-

131
spricht, auf die es mir hier eigentlich ankommt: »Denn nicht
nur die fünf Sinne, sondern auch die sogenannten geistigen
Sinne, die praktischen Sinne (Wollen, Lieben etc.), mit einem
Wort der menschliche Sinn, die Menschlichkeit der Sinne wird
erst durch das Dasein seines Gegenstandes, durch die ver-
menschlichte Natur. Die Bildung der fünf Sinne ist eine Arbeit
der ganzen bisherigen Weltgeschichte.«188 – Oder nehmen
Sie so einen Satz: »Und wie alles Natürliche entstehen muß, so
hat auch der Mensch seinen Entstehungsakt, die Geschichte, die
aber für ihn eine gewußte und darum als Entstehungsakt mit
Bewußtsein sich aufhebender Entstehungsakt ist. Die Ge-
schichte ist die wahre Naturgeschichte des Menschen.«189
Nun, ich glaube, diese Zitate dürften für den Augenblick
genügen. Vielleicht darf ich Ihnen noch sagen, daß es die
wichtigste Forderung ist, die Marx in diesen Frühschriften er-
hebt, daß man eben nicht stehenbleibt bei der Abstraktion der
Menschen,190 sondern daß man auf den konkreten Menschen
eingeht und daß man diesen konkreten Menschen begreift in
seiner Wechselwirkung mit der Gesellschaft, von der er her-
vorgebracht wird und die er auf der anderen Seite selbst her-
vorbringt.
Sie werden dabei schon ungefähr sehen, wieviel – denn ich
glaube, daß diese Gedanken in der Tat eine sehr eindringende
Kritik der heutigen Invariantenlehren des Menschen bedeu-
ten –, wieviel dann an der Invariantenlehre sich nicht halten
läßt. Ich darf Ihnen gerade vielleicht einige der wesentlichsten
Punkte nennen, damit wir sozusagen das Fazit dieser An-
schauung, die ich Ihnen vorgetragen habe, uns zunächst ein-
mal festhalten können.
Einmal ist erschüttert damit der Gedanke von der Inva-
rianz, dem Bleibenden, dem Ewigen des Menschen. Dazu
möchte ich folgendes sagen: Es liegt mir fern – bitte mißver-
stehen Sie mich nicht so, als ob ich nun sagen wollte, es gäbe
ein solches bleibendes und invariantes Moment des Men-
schen überhaupt nicht. Das wäre natürlich eine Lächerlich-
keit, und ich hoffe, daß niemand mich einer solchen Torheit

132
für fähig hält. Denn selbstverständlich sind die Menschen in
der von uns überblickbaren Geschichte durch eine Reihe von
Dingen – was weiß ich, die Anzahl ihrer Wirbel und die Be-
schaffenheit ihres Körpers und etwa auch durch jene eigen-
tümliche und heute so populäre Unfertigkeit bei der Geburt
und solche Dinge – bezeichnet, auf die der Anthropologe
Portmann ein so großes Gewicht legt191 und auf deren groß-
artige Entdeckung nun also heute die Anthropologie sich
stützt. Aber es kommt ja nun nicht etwa darauf an, diese soge-
nannten Invarianten zu leugnen, sondern es kommt darauf an
zu verstehen, daß sie je nach den Konstellationen, also je nach
der gesellschaftlichen Gesamtwirklichkeit, in der sie sich fin-
den, eine vollkommen verschiedene Funktion haben. Von
der Unbehaustheit des Menschen, von der Unfertigkeit des
Embryos zu reden, ja, das mag, wenn Sie sozusagen den Em-
bryo in abstracto, nämlich in der Klinik beobachten, wo er auf
die Welt kommt, zutreffen, aber der ganze Unterschied um
Leben oder Sterben ist doch der, ob dieser Embryo nun tat-
sächlich in einer Wildnis auf die Welt kommt und ob es dann
was weiß ich welcher mehr oder minder zufälliger Dinge be-
darf, damit er überleben kann, oder ob er von vornherein be-
reits unter Bedingungen geboren wird, unter denen diese
Unbehaustheit tatsächlich nur noch am äußersten Rande als
eine Möglichkeit erscheint, während jedenfalls in unserer
bürgerlichen Gesellschaft die Säuglinge im allgemeinen zu ih-
rem Glück ganz gut behaust sind. Und so geht es mit all diesen
Dingen, all diese Invarianten möchte ich nicht leugnen, ich
möchte nur sagen, daß sie einen ganz verschiedenen Stellen-
wert haben, je nach dem Punkt, an dem sie in der Geschichte
auftreten, und darüber hinaus möchte ich sagen, daß, wenn
man nun abstrahiert und sagt: ›Ja, es kommt aber doch auf das
Unveränderliche an, und das andere ist bloß akzidentell, das
andere ist sozusagen bloße Zutat‹, daß man dann sich genau
um das betrügt, was eigentlich das Wesentliche ist, nämlich
um das Verhältnis zwischen den Menschen und der Gesell-
schaft. Wenn man schon einmal, wie es denn doch die mo-

133
derne philosophische Anthropologie tut, zugesteht oder so
großen Nachdruck darauf legt, daß der Mensch ein ζfον
πολιτικν [Zoon politikon] sei, dann bedeutet das wesentlich
auch doch genau dieses, daß man dann nicht sich beruhigt,
indem man das in abstracto feststellt, sondern daß man sein
gesellschaftliches Wesen dann auch in dem Sinn verfolgt, daß
man die Relationen bestimmt, die auf jeder Stufe zwischen
dem Menschen und der Gesellschaft bestehen; daß man also
einsieht, daß es nicht auf das Individuum an sich, losgelöst
von der Gesellschaft, ankommt, sondern daß das Individuum
bis in seine innerste Zusammensetzung hinein von der Ge-
sellschaft bestimmt ist und daß es demgegenüber eigentlich
viel schwerer ist, gerade das Individuierte, das, was von der
bloßen Gesellschaft sich unterscheidet, als das Gegenteil zu
bestimmen.
Weiter folgt aus diesen Überlegungen von der Gesellschaft,
daß es deshalb nicht auf den Menschen unmittelbar an-
kommt, weil eben alle Beziehungen zwischen den Men-
schen, und zwar wahrscheinlich schon von einem sehr frühen
Stadium an, gesellschaftlich vermittelt sind, während die so-
genannte bloße Unmittelbarkeit dessen, was Menschen an
sich sind, oder wie die einzelnen Menschen sich zueinander
verhalten, gegenüber diesem gesellschaftlichen Wesen ein
Randphänomen ist. Das Pathos, das aus dieser abstrakten Idee
des Menschen folgt, das ist eigentlich nichts anderes als, ich
möchte sagen, eine Art Nachhall der Theologie, der Lehre
von [der] Gottesebenbildlichkeit des Menschen, der aber in
dem Augenblick sein Recht verliert, wo man nicht mehr die
Courage hat zu sagen, daß man in der Tat an diese Gottes-
ebenbildlichkeit denkt. Genau das zu sagen, sträubt sich aber
die moderne philosophische Anthropologie, indem sie jeden
Menschen rein als Naturwesen bestimmen möchte, ihm
trotzdem aber jenes transzendente Pathos zuspricht, das nur in
der Theologie beheimatet wäre.
Lassen Sie mich schließlich, ehe wir jetzt die Pause ma-
chen, Ihnen noch sagen, daß hier noch an ein weiteres trüge-

134
risches Moment zu denken ist, das gerade mit diesem Pathos
sehr wesentlich zusammenhängt, nämlich an das Moment der
Innerlichkeit. Es schaut in all diesen Anschauungen so aus, als
ob das Menschenwesen wesentlich ein von innen her, von der
Beschaffenheit des Menschen bei sich selber zu erschließen-
des wäre. Aber wir wissen heute, daß diese Kategorie der In-
nerlichkeit selber, wie sie vor allem durch den Protestantismus
und dessen Säkularisierung in der großen deutschen Philoso-
phie uns gegenwärtig ist, ein Entsprungenes ist, denn ich
glaube, Sie brauchen nur ein wenig die Antike zu kennen, um
zu wissen, daß es hier einen solchen Begriff wie den der In-
nerlichkeit gar nicht gibt und daß das Menschenwesen aus der
reinen Innerlichkeit abzuleiten deshalb trügerisch ist, weil der
Mensch sich verinnerlicht zu einem Individuum, zu einem
Subjekt in dem emphatischen Sinn eigentlich überhaupt nur
dadurch wird, daß er in seinem Verhältnis zu anderen Men-
schen, das heißt zur Gesellschaft, sich selbst bestimmt, sich,
wie Hegel das genannt hat, ›entäußert‹192 und darum über-
haupt sich als ein Einzelwesen erst produziert. Und diese
merkwürdige Verschränkung gerade von Innerlichkeit und
Gesellschaft wird von den allzu innerlichen Auffassungen von
den Menschen, wie sie auch in solchen Begriffen wie ›Men-
schenbild‹193 heute geistern, unterschlagen.
Ja, ich glaube, wir haben jetzt sozusagen die Halbzeit er-
reicht und müssen eine kleine Pause machen, und ich darf
dann versuchen, noch an einer Reihe von konkreteren Punk-
ten die Dinge etwas näher zu bestimmen, die ich Ihnen ange-
deutet habe, wobei ich dann auch vielleicht noch kritisch et-
was eingehen darf auf einige der Thesen der repräsentativen
philosophischen Anthropologie.
[Pause]
Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen zunächst
doch ein wenig konkreter zeigen, daß gerade der Rekurs auf
die Grundbeschaffenheit des Menschen als einer Invarianten
im Gegensatz zu der konkreten gesellschaftlichen Bestim-
mung des Menschen sich mit sehr bestimmten gesellschaftli-

135
chen Anschauungen, und zwar repressiven, unterdrückenden,
assoziiert. Das möchte ich Ihnen zunächst ausführen und
möchte dann gerade an der Kategorie, an welcher der Begriff
der Invarianz vor allem haftet, nämlich dem Begriff des Indi-
viduums, Ihnen zeigen, wie sehr es in der Tat gesellschaftlich
vermittelt ist und wie sehr in der Tat das, was den eigentlichen
Gegenstand des Vortrags bildet, nämlich Individuum und
Gesellschaft, ein gesellschaftliches Verhältnis miteinander ein-
geht, und ich möchte dann, wenn die Zeit dazu bleibt, viel-
leicht noch auf ein paar dafür besonders wesentliche, konkre-
te Momente wie etwa die Frage der Familie heute194 oder die
Frage der Organisation oder das Verhältnis zu Institutionen
eingehen. All das muß notwendig fragmentarischen Charak-
ter tragen, aber ich bitte Sie zu berücksichtigen, daß ich Ihnen
ja in der Tat nur gleichsam ein Denkmodell entwickeln kann,
wie man nach der von mir vertretenen Auffassung diese Fra-
gen verstehen sollte, und daß ich Ihnen nicht etwa ein soge-
nanntes System bieten kann, vor allem auch deshalb nicht,
weil ich dem Begriff des Systems selber äußerst skeptisch ge-
genüberstehe.
Ich beziehe mich bei den Nachweisen, die ich Ihnen zu-
nächst geben möchte, auf die vierte Auflage des Buches von
Gehlen »Der Mensch«, die im Jahre 1950, wie ich Ihnen wohl
schon sagte, herausgekommen ist, und Sie mögen daran also
sehen, wie diese Dinge doch in die zeitgenössische, in die
jüngste Form der Anthropologie hineinwirken. Gleich am
Anfang heißt es da: »So, wie die Anatomie eine allgemeine
Wissenschaft vom Bau des menschlichen Körpers ist, muß
auch eine Gesamtauffassung ›des Menschen‹ möglich sein,
denn da wir niemals im Zweifel sind, ob ein Wesen ein
Mensch ist oder nicht, da weiter der Mensch wirklich eine
echte Gattung bildet, sind wir zu der Erwartung berechtigt,
daß eine allgemeine Anthropologie einen eindeutigen Ge-
genstand haben wird.«195 Nun, ich würde sagen, dieser Satz
hat den Fehler sehr vieler scheinbar selbstverständlicher Sätze,
daß unter seiner Allgemeinheit sich eigentlich das Problem

136
verbirgt, das heißt, man braucht gar nicht diese Tatsachen zu
leugnen, daß die Menschen ein Gattungswesen sind und daß
sie durch gewisse gemeinsame Merkmale charakterisiert wer-
den, ohne daß man daraus doch folgern dürfte, daß durch den
Rekurs auf diese ihnen allgemeinen Merkmale nun etwas
Wesentliches herauskäme, denn in den verschiedenen Kon-
stellationen, in denen die Menschen leben, können diese
Momente etwas ganz Verschiedenes bedeuten, und gerade
wenn man eine solche Allgemeinheit des Menschenwesens
annimmt, die von der Geschichte und der Gesellschaft als
ihrer wahren und inneren Bestimmung absieht, hat man
dann die Möglichkeit, unvermerkt alle möglichen Kriterien,
die dem Menschenwesen an sich zukommen sollen, einzu-
schmuggeln, zu ›erschleichen‹, wie Kant gesagt haben wür-
de,196 die in Wirklichkeit diesem Menschenwesen als solchem
gar nicht zuzurechnen sind.
Gehlen meint, »im Menschen liegt ein ganz einmaliger,
sonst nicht versuchter Gesamtentwurf der Natur vor«197.
Nun, diese Rede, die ja nicht zufällig mit der Terminologie
von Heidegger, in der der Begriff des ›Entwurfs‹ eine große
Rolle spielt,198 sich embrouilliert, ist außerordentlich charak-
teristisch. Sie haben es auf der einen Seite hier mit einer natu-
ralistischen Vorstellung zu tun, das heißt also, es wird von je-
der theologischen Möglichkeit einer Schöpfung abgesehen.
Das ist dann für den Inhalt dieser Lehre sehr entscheidend,
weil ja eben auch die negative Grundansicht über den Men-
schen, die Gehlen dabei vertritt, geradezu darin entspringt,
daß jede Vorstellung von Transzendenz des Menschen abge-
wiesen ist. Trotzdem aber wird dieser Natur, die wir denn
doch anders als eine blinde, als bloßen Drang, so wie bei
Schopenhauer199 oder beim späten Scheler,200 uns kaum vor-
stellen könnten, trotzdem wird dieser Natur ein ›Entwurf‹ zu-
geschrieben; also es wird dieser Natur zugeschrieben gleich-
sam eine Idee des Menschen, die ein für allemal festgelegt sei
und der man sich zu beugen habe, die invariant sei, obwohl
der Begriff eines Entwurfs seinem eigenen Sinn nach ja einen

137
Entwerfenden, ein Subjekt, also ja gewissermaßen einen
Geist voraussetzt. Mit anderen Worten, es wird hier versucht,
die Natur selber, wenn ich mich philosophisch ausdrücken
darf, zu ontologisieren, die Natur selber so zu wenden, als ob
in ihr gewisse reine Ideen liegen würden, denen wir dann
mehr oder minder uns zu unterwerfen haben, wodurch von
vornherein die Möglichkeit, daß wir diese angeblich na-
turgegebenen Strukturen verändern, ausgeschlossen ist. Sie
können hier ebenso die Inkonsequenz, das Brüchige dieses
Denkens erkennen wie auch die ideologische Funktion, die
anzunehmen es auf dem Sprung steht, denn wenn die Natur
in der Tat einen solchen Entwurf hat, obwohl man nicht
weiß, wer da was entwirft, dann bleibt uns ja von vornherein
nichts anderes übrig, als diesem Entwurf der Natur zu gehor-
chen, also gewissermaßen noch einmal das zu werden, was
wir ohnehin sind – nebenbei bemerkt, eine Aufforderung,
auf die fast die gesamte sogenannte Existentialphilosophie
heute hinausläuft, auf die bloße Wiederholung, auf die Er-
munterung, möchte ich sagen, zur bloßen Wiederholung
dessen, was wir ohnehin sind, auf Kosten des Gedankens einer
Änderung der Verhältnisse und damit einer Änderung von
uns selbst.
Nun, Sie können das weiterverfolgen, etwa in der folgen-
den Formulierung: »das ›Unfertigsein‹ gehört zu seinen«,
nämlich des Menschen, »physischen Bedingungen, zu seiner
Natur, und in dieser Hinsicht ist er ein Wesen der Z uc ht :
Selbstzucht, Erziehung, Züchtung als In-Form-Kommen
und In-Form-Bleiben gehört zu den Existenzbedingungen
eines nicht festgestellten Wesens«.201 Nun, hier haben Sie den
Zusammenhang, auf den ich Sie eigentlich heute aufmerksam
machen wollte, geradezu zum Greifen. Hier wird ja also auf
jene heute so allbeliebte Theorie angespielt, daß der Mensch
von Hause aus unfertig sei, daß also der Säugling nicht in der-
selben Weise sein Leben reproduzieren könne wie ein frisch
geworfenes kleines Tier. Und was nun alles mit dieser doch
wirklich etwas bescheidenen biologischen Einsicht angefan-

138
gen wird, wozu die alles herhalten muß, das ist doch wirklich
erstaunlich, und ich möchte Sie sozusagen wenigstens zu die-
sem Staunen bringen; man könnte ja zunächst denken, daß
diese armen kleinen Wesen, die auf die Welt kommen, auf
Grund dieser Unfertigkeit also zunächst einmal Liebe und
Schutz brauchen. Ich muß mich wenigstens zu der Sentimen-
talität bekennen, daß das die erste Reaktion wäre, die ich auf
eine solche These hätte. Aber anders Herr Gehlen, bei dem
die Vorstellung also, daß dieses Wesen als Unfertiges auf die
Welt kommt, zunächst einmal die Assoziation des Begriffs
›Zucht‹ auslöst. Also, ›wer seine Kinder lieb hat, der züchtige
sie‹, damit sind offenbar auch schon die Säuglinge gemeint.
Ich möchte jedoch denken, daß der Begriff ›Zucht‹ hier in ei-
ner doppelten Weise mißbraucht wird, nämlich einmal damit,
daß hier die Herstellung einer bestimmten Art von Naturqua-
litäten, von, wie man früher gesagt hat, ›rassischen‹ Qualitä-
ten, eigentlich als eine Aufgabe der Humanität angesehen
wird, während sie in Wirklichkeit doch eben gerade zu dem
krudesten Naturalismus und zu dem Inhumanen gehören. Er
spricht auch in der Tat von ›Züchtung‹, dann aber wird ge-
sagt, daß diese Schwäche des Menschen von Hause aus not-
wendig mache, daß man den Menschen in Zucht nehme, daß
man ihn diszipliniere, mit anderen Worten, daß man seine
Freiheit nicht respektiere. Wir könnten das auch so wenden,
daß, weil diese Art biologischer Anthropologie zunächst ein-
mal feststellt, daß wir, wenn wir auf die Welt kommen, keine
freien Wesen sind, daraus nicht etwa die Folgerung gezogen
wird, wir sollten durch unsere Erziehung und gar durch die
Einrichtung unseres Lebens zu freien Wesen gemacht wer-
den, sondern der Naturalismus drückt sich darin auch hier
wieder aus, daß nun, weil wir ursprünglich unfrei seien, diese
Unfreiheit womöglich noch verstärkt werden soll, wiederholt
werden soll, daß wir uns also gewissermaßen Institutionen zu
beugen haben, auch wenn wir ihren Sinn nicht verstehen und
wenn sie unseren Interessen entgegengerichtet sind, das wird
hier gewissermaßen aus einem invarianten Urverhältnis ab-

139
geleitet. Sie können also hier ganz deutlich sehen, daß die
scheinbare Neutralität eines solchen Urentwurfs vom Wesen
Mensch, die von der Gesellschaft absieht, gerade dazu führt,
daß bestimmte gesellschaftliche Formen, die ihrerseits ver-
gänglich sind, wie also hier etwa die heteronomen, die uns
entgegengesetzten, uns unterdrückenden Formen der Zucht
und des Gehorsams daraus abgeleitet werden. Es steht dahin-
ter die allerdings sehr verbreitete Denkgewohnheit, vor der
ich Sie vielleicht doch in diesem Zusammenhang auch war-
nen darf, zu glauben, daß das, was zuerst einmal war, daß das
Ursprüngliche eben dann das Unveränderliche sei.
Das sich als modern fühlende anthropologische Denken
heute, dem ich allerdings die Qualität des Modernen gründ-
lich absprechen möchte, ist in dieser Richtung ganz und gar
zurückgefallen hinter die Einsicht, vor allem von Hegel202
und dann auch von Nietzsche,203 daß das Entsprungene Ur-
sprung sein kann, daß also, mit anderen Worten, das Ent-
sprungene nicht aufgeht in dem, was von Anfang an und was
von je gewesen ist, sondern man möchte versuchen, damit
gewissermaßen uns zu vereidigen auf das einmal Gegebene,
während doch die Freiheit und die Vernunft selber ein Ent-
springendes sind, die zwar irgendwie auch aus unserer Aus-
einandersetzung mit der Natur hervorgehen, aber dann über
diesen bloßen Naturzustand durch die Reflexion wesentlich
hinausgehen.
Nun, ich möchte Ihnen hier wenigstens noch ein paar Stel-
len sagen, an denen Ihnen zugleich deutlich wird, wie, ich
möchte sagen, widersinnig diese Konstruktion ist, indem sie
nämlich genau die Ordnung, die eigentlich eine Ordnung der
Übernatur ist, also die Ordnung aus Vernunft oder die Ord-
nung aus Freiheit, zu rechtfertigen versucht aus bloßer Natur,
wodurch doch diese Ordnung ihrem eigenen Sinn wider-
spricht. So heißt es in einer späten Stelle, ganz ähnlich übri-
gens wie bei Hobbes204: »Der schon am Anfang des Buches
berührte Satz, daß der Mensch ein Z uc ht we se n ist, erhält
hiermit seine Bestätigung. Die mit dem Dasein des Menschen

140
chronisch und in jeder Generation neu gesetzte Aufgabe der
Formierung des Antriebslebens«, mit anderen Worten also
der Versagung der Triebe, um es auf gut Deutsch zu sagen,
»wird von der Erziehung, nach ihr von der Selbstzucht des
Menschen unter immer neuen Bedingungen notwendig
immer neu angefaßt. Der Inbegriff der Formierung heißt
S it tl ic hkei t, und sie ist, wie hier nachgewiesen wurde, eine
allein beim Menschen vorhandene biologische Notwen-
digkeit.«205 Mit anderen Worten also, um das in einfaches
Deutsch zu übersetzen, die Tatsache der Versagung, die Tatsa-
che, daß wir unsere natürlichen Bedürfnisse nicht erfüllen
können in der Welt, in der wir leben, die wird hier nicht etwa
zu der Konsequenz geführt, daß die Welt so einzurichten sei,
daß es der Versagung nicht mehr bedarf – und eine solche
Möglichkeit ist in der Welt, in der wir heute leben, bei dem
heutigen Stand der Produktionsmittel ja in Wirklichkeit ab-
sehbar –, sondern es wird im Gegenteil aus dieser gesellschaft-
lich gegebenen Versagung, in der ihrerseits doch nichts ande-
res als der gesellschaftliche Druck eigentlich sich anmeldet,
gefolgert, daß auf Grund dessen, daß von Natur aus der
Mensch gleichsam zuwenig hätte, nun er auch für alle Zu-
kunft zuwenig haben soll und es gewissermaßen zu seiner ei-
genen Sache, zur Selbstzucht, zur Verinnerlichung machen
müsse, auf die Erfüllung seines eigenen Daseins zu verzichten.
Sie können also hier unmittelbar sehen, wie eine solche Inva-
riantenlehre der Anthropologie sich mit reaktionären gesell-
schaftlichen Vorstellungen, nämlich mit der Vorstellung von
der unabdingbaren Notwendigkeit von Unterdrückung, ver-
bindet.
Ich glaube, ich darf nach diesen wenigen Andeutungen
darauf verzichten, auf diese Dinge hier kritisch weiter einzu-
gehen. Ich hatte eigentlich vor, viel mehr darüber zu sagen,
aber ich hatte die mir zur Verfügung stehende Zeit, wie es in
solchen Fällen geht, weit überschätzt. Ich darf Sie auch hier
nur auffordern, die Gedanken, die ich Ihnen angemeldet
habe, weiterzuverfolgen und selber weiterzudenken, und ich

141
glaube, Sie werden dann sehr genau erkennen, was es also rea-
liter mit der Rede vom Menschen für eine Bewandtnis hat,
daß sie nämlich darauf hinausläuft, eigentlich uns einreden zu
wollen, daß wir auf Grund der Fehlbarkeit unserer ursprüng-
lichen menschlichen Beschaffenheit mit der Fehlbarkeit der
Verhältnisse uns abfinden sollten. Und diese Tendenz der
modernen Sozialwissenschaft, das Gegebene, weil uns gleich-
sam die Kraft fehlt, darüber hinauszudenken, auch noch zur
Norm zu machen und in uns selbst zu wiederholen, das
scheint mir in der Tat der Gegenstand der Kritik zu sein und
scheint mir nicht etwas zu sein, was positiv hinzunehmen ist,
und das, nebenbei bemerkt, ist der Punkt, in dem ich auch
methodisch entscheidend von Herrn Gehlen abweiche, näm-
lich der Punkt, in dem ich der Ansicht bin, daß eine solche
Kritik eben von der Philosophie her, also von der Selbstbesin-
nung der Wissenschaft her zu leisten ist und daß der bloße
Wissenschaftsbetrieb in dieser Hinsicht nicht etwa über die
Philosophie als ein höheres Stadium von Aufklärung hinaus-
geht, sondern daß er hinter die Philosophie zurückfällt.206
Nun, ich hatte Ihnen versprochen, diese Dinge Ihnen et-
was näher zu entfalten am Begriff des Individuums. Das bio-
logische Einzelwesen ist ja noch nicht Individuum, sondern
der Begriff des Individuums ist ein Reflexionsbegriff. Ich will
damit sagen, der Mensch wird Individuum nicht dadurch,
daß er auf die Welt kommt, sondern dadurch, daß das Einzel-
wesen seinem eigenen Bewußtsein nach sich als ein von der
amorphen Gattung Unterschiedenes weiß und sich selbst in
Gegensatz zu der Gattung setzt, und erst indem es sich dieses
Gegensatzes bewußt wird, indem es diesen Gegensatz aus-
trägt, eigentlich dann zu einem bewußten Gesellschaftswesen
wird. Die Idee einer vernünftigen Gesellschaft setzt also ih-
rem eigenen Sinn nach genau diesen Vorgang der Individua-
tion voraus, der in einer Philosophie wie der von Gehlen
schlechterdings keinerlei Raum findet. Dieser Begriff des In-
dividuums ist, wie ich sagte, ein geschichtlich Entsprungenes,
und ich würde denken – obwohl man hier wohl einiges ein-

142
wenden kann und es sich um eine sehr komplizierte Kontro-
verse handelt, bei der ich mich vor Simplifizierungen hüten
möchte –, daß er verhältnismäßig jungen Datums ist, denn
ich möchte, mit anderen Worten also, auf die Frage, wieweit
es in der Antike diese Kategorie der Individualität eigentlich
gegeben habe, nicht eingehen; es wäre sehr viel dafür und
sehr viel dagegen zu sagen. Vielleicht darf ich dann noch spä-
ter wenigstens ein Wort über diese Sache äußern. Jedenfalls,
das, was uns unter dem Namen Individuum vertraut ist, das ist
kaum viel älter als das Ende des Mittelalters oder der Beginn
der Renaissance. Also, die ersten Individuen im spezifischen
Sinn, von denen wir wissen, das sind doch eben etwa Petrarca
oder Montaigne oder die Gestalt des Hamlet, und ich möchte
hinzufügen, daß der Begriff des Individuums wieder in einem
ganz bestimmten Verhältnis zum Tode auch steht, nämlich
daß die absolute Werthaftigkeit, die absolute Substantialität
des Einzelwesens im Abendland jedenfalls erst in dem Au-
genblick aufgegangen ist, in dem der Glaube an ein ewiges
Leben, der ja diesen Begriff relativiert und positiv über-
schritten hat, hinfällig geworden ist. Das Individuum setzt
eigentlich in gewisser Weise wirklich das Hamletsche »Der
Rest ist Schweigen«207 als seine notwendige Bedingung vor-
aus. Aber ich möchte das jetzt hier nicht weiter verfolgen. Je-
denfalls dürfen wir sagen, daß dieser Begriff des Individu-
ums – und das ist keine Neuigkeit – wesentlich verbunden ist
mit dem Ursprung der bürgerlichen Gesellschaft als einer
Tauschgesellschaft, in der der Kontrahent durch über das gan-
ze Dasein sich ausbreitende Tauschakte sowohl sein Verhalten
dem anderer kommensurabel macht wie durch diesen Ver-
gleich im Tausch seine eigene Bestimmung als das, was er für
sich selbst ist, eigentlich erst recht findet. Ich glaube, um die-
sen etwas schwierigen Gedanken, den ich hier unter dem
Druck der Zeit nur dogmatisch aussprechen kann, Ihnen we-
nigstens etwas zu erläutern, Sie brauchen sich nur zu verge-
genwärtigen, wie sehr die Qualitäten, die wir uns gewöhnt
haben, als Qualitäten des Individuums zu bezeichnen, zusam-

143
menhängen mit spezifischen – ja, früher würde man gesagt
haben: Bürgertugenden, um dieses geschichtlichen Charak-
ters der Kategorie der Individualität selbst innezuwerden. Da
ist also etwa der Begriff der Autonomie, der Selbstentschei-
dung, die ja in der Tat voraussetzt, daß die Menschen nicht
mehr Leibeigene, bloße abhängige Funktionäre von Feudal-
herren sind, sondern daß sie auf dem freien Arbeitsmarkt
durch ihr selbständiges Verhalten weitgehend ihr Schicksal
bestimmen. Man kann sagen, es gibt überhaupt nur soweit
Individualität, wie diese Kategorie der Individualität gesell-
schaftlich honoriert wird, das heißt, wieweit das Individuum
zugleich sich auch bewährt als die adäquate Form, in der es
sich selbst – das biologische Einzelwesen nämlich – in der Ge-
sellschaft erhalten kann. Denken Sie etwa auch an den Begriff
der persönlichen Identität.
Ja, wenn Sie etwa in Amerika, wie ich es getan habe, lange
leben und Gelegenheit hatten, mit Negern als Dienstboten
ziemlich viel zu tun zu haben, mit Menschen, bei denen also
das Gefüge der bürgerlichen Gesellschaft noch nicht so sehr in
ihre Innerlichkeit eingegangen ist, wie es bei uns der Fall ist,
dann werden Sie merken, daß die gar nicht so in sich fest sind,
daß sie zum Beispiel gar nicht so das Bewußtsein der zeitli-
chen Kontinuität ihrer Existenz haben, sondern daß sie, wenn
sie ein paar Dollars verdient haben, dann Gott den guten
Mann sein lassen, diese paar Dollars aufzehren und sich dann
sagen, nun, dann wird es schon irgendwie weitergehen –
während also dieses Sich-Durchhalten in der Zeit eben mit
Kapitalbildung, mit Sparsamkeit, mit Denken an die Zukunft,
mit all diesen Begriffen der spezifisch bürgerlichen Gesell-
schaft zusammenhängt. Ähnlich ist es mit dem Begriff der
Festigkeit, mit dem, was wir in einem prägnanten Sinn uns
gewöhnt haben, Charakter zu nennen, der eben auch voraus-
setzt, daß man gerade dadurch, daß man in gewisser Weise der
Gesellschaft widersteht und autonom sein eigenes Schicksal
verfolgt, dann auch die Welt meistern kann. Der Vorblick ge-
hört ebenso dazu, oder es gehört dazu der Sinn für Unabhän-

144
gigkeit und das, was man so ›Zivilcourage‹ nennt. Ich glaube,
wenn Sie den Begriff des Individuums im prägnanten Sinne
überdenken, wird Ihnen allen offenbar sein, daß diese Mo-
mente, die ich hier etwas rhapsodistisch aufgezählt habe, not-
wendig dazugehören und daß wir von ihnen gar nicht abse-
hen können, und es wird Ihnen ebenso deutlich sein, daß es
sich hier nun nicht um Invarianten und Grundeigentüm-
lichkeiten des Menschen schlechterdings handelt, sondern
um Eigenschaften, die durch sehr konkrete gesellschaftliche
Verhältnisse produziert worden sind. Das hat also nun eine au-
ßerordentlich ernste Konsequenz, und das scheint mir eben
für das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft heute
schlechterdings entscheidend zu sein. Wie diese Kategorien
nämlich entsprungene sind, durch die das Individuum sich
gebildet hat, so sind wir heute im Begriff, diese Qualitäten
wieder einzubüßen, weil sie von der Gesellschaft nicht mehr
honoriert werden. Es gibt also in der Tat etwas wie eine Krise
des Individuums, und es kann so etwas wie eine Krise des In-
dividuums nur deshalb geben, weil dieser Begriff, wie ich
einleitend bereits generell sagte, gesellschaftlich vermittelt ist
und weil er infolgedessen mit dem Inhalt der Gesellschaft
selbst auch entscheidende Modifikationen durchmacht.
Heute, in einer Welt, die, wie ich vorhin sagte, verwaltete
Welt ist, in der also ökonomisch die großen Konzerne herr-
schen und in der dann diese ökonomischen Herrschaftsver-
hältnisse sich auch darin widerspiegeln, daß in unzähligen
nicht unmittelbar ökonomischen Sektoren des Lebens die
Menschen weitgehend Objekte zentraler Planung und zen-
traler Verwaltung sind, werden diese Qualitäten des Individu-
ums eigentlich nicht mehr honoriert. Es kommt für die Men-
schen heute und in der Welt, in der wir leben, [um] sich
behaupten zu können, auf etwas anderes an. Es ist heute viel
wichtiger für die Menschen geworden, sich an die jedem ein-
zelnen gegenüber übermächtigen Verhältnisse anzupassen, als
daß es für die Menschen darauf ankäme, sich zu behaupten.
Wer einmal in einen relativ fremden kulturellen Bereich ge-

145
worfen worden ist, so wie ich es als Emigrant in meinem Le-
ben erfahren habe, der wird in noch viel stärkerem Maße,
solange er in seinem eigenen Milieu lebt, erfahren, welcher
Druck zur Anpassung, gerade zur Aufgabe der eigenen Indi-
vidualität und der autonomen Entscheidung auf den einzel-
nen ausgeübt wird. Und es wäre nun falsch – und damit darf
ich noch einmal zurückkommen auf den Gedanken, den ich
bereits andeutete, von der wechselseitigen Vermittlung von
Gesellschaft und Individuum –, sich vorzustellen, daß vor al-
lem bei den jungen Menschen, also bei den Menschen, die
nicht mehr in den Kategorien oder innerhalb des Gefüges ei-
ner individualistischen Gesellschaft herangewachsen sind, daß
bei den jungen Menschen dieser Druck zur Anpassung und
diese Gegentendenz zur Individuation etwas bloß Äußerli-
ches wären. Individualität wird heute von den meisten Men-
schen in der Tat als eine Last empfunden, und je stärker sie
ausgebildet ist, also je mehr Menschen heute genau die Quali-
täten haben, die man im Sinn, sagen wir, des Kantschen oder
auch noch Hegelschen Ideals des Bürgers als positiv bewertet
hat, um so schwerer wird es für die Menschen, durch dieses
Leben durchzukommen, um so mehr werden sie als Eigen-
brötler gebrandmarkt, wie etwa jener Mann, dessen Schicksal
mir bekannt ist, der Filialleiter irgendeines großen Konzerns
in Amerika gewesen ist – ein deutscher Emigrant – und der
seine Stelle verloren hat mit der Begründung, er sei zu aktiv,
er wolle zu rasch vorwärtskommen, mische sich zu sehr in alle
möglichen Funktionen, die eigentlich nicht die seinen seien,
und sei infolgedessen eigentlich unbrauchbar. Dieser Mann
ist sozusagen das Opfer seiner eigenen Individuation in der
modernen Welt geworden.
Nun, das ist aber keine bloß äußerliche Tatsache, sondern
das ist etwas, was bereits in den Menschen selber, in den jun-
gen Menschen sich widerzuspiegeln beginnt, das heißt, der
Satz, den einmal eine Figur von Brecht in einem Stück sagt:
»Ich will ja gar kein Mensch sein«,208 scheint ja in der Tat bei
ungezählten Menschen heute das bürgerliche Ideal des kate-

146
gorischen Imperativs verdrängt zu haben, das heißt, in einer
Art von Trotz gewissermaßen negieren die Menschen ihre ei-
gene Individualität, leugnen, noch Individuen sein zu wollen,
um auf diese Weise besser in die Welt hineinpassen zu kön-
nen. Nebenbei bemerkt, wenn ich das nur anmerken darf,
hier scheint mir genau der Schlüssel für gewisse Probleme
wie die des jugendlichen Verbrechertums, der sogenannten
›Halbstarken‹ und gewisser ›fads‹ wie jetzt des ›Rock ’n’ Roll‹
und ähnlicher Dinge zu liegen. Man muß diese Dinge selbst
aus der gesellschaftlichen Dynamik konkreter erklären als da-
mit, daß man sich damit bescheidet zu sagen: ›Nun ja, die ha-
ben keinen Halt oder kein Elternhaus mehr‹. Das ist eine viel
zu allgemeine und eine sehr untriftige Art der Erklärung.
Man will kein Subjekt sein, weil man keines ist und weil die
Möglichkeit, eines zu sein, abgeschnitten wird.
Meine Damen und Herren, ich halte es für recht wichtig,
an dieser Stelle etwas einzufügen über einen Begriff, der vie-
len von Ihnen auf den Lippen liegen wird und der fast auto-
matisch sich einstellt, der mir aber gerade in diesem Zusam-
menhang doch sehr bedenklich erscheint. Das ist der Begriff
der ›Vermassung‹. Alexander Mitscherlich, der bedeutende
Heidelberger Psychologe, von dessen Werken vielleicht man-
cher von Ihnen Notiz genommen hat,209 hat einmal einen
Aufsatz begonnen, in dem er eine Anekdote reproduziert hat,
die ich Ihnen erzählen möchte.210 Es ist eine riesige Massen-
versammlung, sagen wir im Berliner Sportpalast oder an einer
ähnlichen Stätte, und es spricht irgendein demagogischer
Redner neuesten Stils. Stellen Sie sich vor eine Mischung aus
Hitler und Billy Graham,211 und er hält also eine wilde An-
sprache an die Menschen, die da sind, und auf dem Höhe-
punkt schreit er also schließlich: ›Und wer und was, meine
lieben Freunde, ist an alledem schuld? Die Vermassung und
immer wieder nur die Vermassung.‹ Darauf steigt ein tosender
Beifall von 30 000 Menschen.
Nun, ich glaube, das charakterisiert ganz gut, was es heute
mit dem Begriff der Vermassung auf sich hat. Dieser Begriff

147
gehört nämlich auch seinerseits zu den ablenkenden Begrif-
fen, die die Wahrheit über das Verhältnis von Individuum und
Gesellschaft heute verdecken. Es liegt nicht an der Vermas-
sung. Es liegt nicht daran, daß die Menschen von sich aus Mas-
sen wären und Massen bilden würden. Es liegt auch nicht an
der bloßen Quantität, sondern der Begriff der Masse selbst ist
ein qualitativer Begriff. Das will sagen, die Gesellschaft, in der
wir leben, entqualifiziert die Arbeit, nimmt den Menschen
objektiv die Möglichkeit, in der Weise, in der ich es Ihnen an-
gedeutet habe, als Individuen sich selbst zu bestimmen, und
würdigt dadurch die Menschen zur Masse herab. Daß die
Menschen heute eine Masse sind, auch das ist keine bloße Na-
turqualität der Menschen, sondern ist etwas, was ihnen ange-
tan wird, und daß sie immer eine Masse bleiben sollen, ist
nicht einzusehen. Der große Theologe Kierkegaard hat ein-
mal gesagt, man könne zwar alles mögliche tun, man könne
Statistiken machen, man könne die Menschen wie das Vieh
behandeln, aber man könne die Menschen nicht wie das Vieh
richten, und es sei eigentlich überhaupt die Aufgabe, die
Menschen aus diesem blinden Verband, indem man sie ihrer
selbst bewußtmacht, herauszunehmen.212 Aber man darf nicht
etwa diesen Begriff der Masse selber seinerseits verabsolutie-
ren, denn die Rede vom ›Massenmenschen‹ ist ein genaues
›Haltet den Dieb!‹, das heißt, es wird den Opfern, denen also,
die so eingespannt sind, daß sie als selbständige Wesen gar
nicht mehr handeln können, zu allem anderen auch noch auf-
gerechnet, daß sie so gemacht worden sind, und es wird so ge-
tan, als ob das an ihrer eigenen naturgegebenen Unwürdigkeit
und Erbärmlichkeit läge. Ich halte ein solches Denken im tief-
sten für unmoralisch, und wenn Sie mir das Pathos verzeihen,
dann würde ich sagen, wir alle sollten uns hüten, einem sol-
chen Begriff Vertrauen entgegenzubringen. Dieser Begriff ist
ja äußerst verführerisch, denn die Phänomene, um die es sich
dabei handelt, also die Menschen, die in idiotische Filme ren-
nen, die Menschen, die glauben, das, was der Herr Graham
ihnen anzubieten hat, sei Religion, die Menschen, die die il-

148
lustrierten Zeitungen lesen, und die Menschen, die bereit
sind, in jedem Augenblick sich wieder irgendeinem Diktator,
er mag nun Chruschtschow oder Hitler heißen, an den Hals
zu werfen – sie haben ja wirklich alle diese Charakteristiken,
die man unter dem Begriff des ›Massenmenschen‹ zusammen-
faßt, nur bricht dabei die Reflexion zu früh ab, das heißt, daß
diese Menschen diese Eigenschaften haben, das liegt wieder,
um darauf zurückzukommen, an dem Institutionellen, also
daran, daß ihnen die Einrichtung der Gesellschaft eine andere
Möglichkeit als diese eigentlich gar nicht läßt, und ist ihnen
deshalb nicht vorzuwerfen. Man könnte also sagen, daß die
Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft selbst, welche das In-
dividuum einmal gezeitigt hat, heute die Tendenz hat, das In-
dividuum bereits auch wieder zu kassieren. Das will also sagen,
weil das Individuum mit den Qualitäten, die es einmal beses-
sen hat, heute im Sinne der gesellschaftlichen Ordnung eine
nützliche gesellschaftliche Funktion nicht mehr erfüllen kann,
deshalb regrediert das Individuum selber auf diesen vorindivi-
duellen, auf diesen vorindividuierten Zustand, und dieses ge-
sellschaftliche Phänomen der Rückbildung ist es dann eben,
das sich in dem Begriff der Vermassung widerspiegelt. In einer
Welt der universalen Fungibilität, mit anderen Worten, in ei-
ner Welt, in der, wenn wir es einmal ganz primitiv sagen, ten-
denziell jeder Mensch durch jeden anderen bereits beginnt er-
setzbar zu werden, ist für das Individuum klassischen Stils
eigentlich überhaupt kein Raum mehr gelassen, und das Sein
der meisten Menschen ist durch die Welt, in der wir leben, nur
noch als ein Sein-für-Anderes bestimmt, und wenn man zu
uns heute immer vom Sein predigt, so ist auch das eigentlich
nur ein Übertäuben eben dessen, daß gerade das Sein, nämlich
das An-sich-Sein des Menschen, liquidiert worden ist zugun-
sten eines bloßen Für-Andere-Seins. Es wird um so mehr über
das Sein peroriert in der Welt, in der wir leben, je weniger Sein
es eigentlich bei den Menschen mehr gibt. Der Begriff des
Seins ist also zu einer bloßen komplementären Ideologie ei-
gentlich erniedrigt worden.

149
Nun, Sie könnten immerhin sagen, es sei mit dem Indivi-
duum doch nicht ganz so schlimm, denn es gelten zwar all
diese Dinge für die Berufssphäre, aber nicht ebenso für die
Sphäre des privaten, des innerlichen Lebens oder, um es ordi-
närer auszudrücken, für die Sphäre der Konsumtion. Ich halte
auch diese Ansicht für zu harmlos und zu optimistisch. Zu-
nächst glaube ich allerdings, daß, da der Mensch sich wesent-
lich durch seine gesellschaftliche Arbeit bestimmt und entfal-
tet, daß das, was er an sich ist, sich wesentlich zuträgt in der
Arbeitssphäre. Wir sind in einem höheren Sinn das, was wir in
unserer Arbeit sind, als das, was wir in dem Augenblick sind,
in dem wir von unserer Arbeit und damit unserer objektiven
gesellschaftlichen Funktion absehen. Aber ganz abgesehen
von diesem Gedanken, wie ihn Hegel und Goethe übrigens
auch bereits mit größerem Nachdruck vertreten haben,213
ganz abgesehen von diesem Gedanken, ist es so, daß auch der
Glaube, wir wären in der Konsumsphäre oder in unserem Pri-
vatleben eigentlich Herr unserer selbst, daß dieser Gedanke
auch bereits eine Fiktion geworden ist. Man kann wohl sagen,
daß heute der Begriff der Privatsphäre wesentlich herabge-
sunken ist zu dem, was man mit einem abscheulichen Aus-
druck, mit ›Freizeit‹ bedacht hat, worin ohne weiteres auch
dieser Begriff bereits als ein Anhängsel an die Maschinerie be-
zeichnet ist und worin gleichzeitig auch sich die Ohnmacht
dieser ganzen Sphäre ausdrückt, wie es etwa in einem Begriff
wie ›Freizeitgestaltung‹ liegt, bei dem die humoristische Ne-
benbedeutung, die dieser Ausdruck gewonnen hat, noch das
Erfreulichste ist. Aber wie muß es schon mit der Freizeit, also
mit dem Leben, das den Menschen für sich selbst in dieser
Welt übrigbleibt, bestellt sein, wenn die ›Gestaltung‹ dieser
Zeit mit einem Mal den Menschen zu einer Aufgabe wird,
das weist doch offenbar auf die Sphäre der Produktion, auf die
Sphäre der Nicht-Freizeit zurück. Davon abgesehen aber, ist
die sogenannte Konsumsphäre innerhalb unserer hochkon-
zentrierten und hochorganisierten Wirtschaft ja auch bereits
in einem eminenten Maß verwaltet, das heißt, um es mit ei-

150
nem Wort zu sagen, die Güter und die Möglichkeiten des Le-
bens, die der überwältigenden Mehrheit von Menschen zu
ihrer Freizeit überhaupt zur Verfügung stehen, sind bereits
gesellschaftlich präformiert, die Auswahl ist außerordentlich
beschränkt, und diese gesellschaftliche Präformiertheit voll-
zieht sich bereits in dem Sinn, daß sie auf den Konformismus,
also auf die Entindividualisierung der Menschen abzielt und
die Menschen noch einmal künstlich zu den Massenmitglie-
dern macht, als welche man sie dann hinterher noch einmal
beschimpft. Es ist in der Tat so, daß das berühmte ›Lieschen
Müller‹, das man zum Prototyp des Massenmenschen ge-
macht hat, nicht nur dadurch zustande kommt, daß es an eine
kleine Stenotypistin eine läppische Zumutung wäre, eine
Persönlichkeit zu sein, während diese Persönlichkeit gar keine
Möglichkeit ihrer Realisierung mehr fände, sondern weil au-
ßerdem dieses ›Lieschen Müller‹ von den Filmen, die sie zu
sehen gezwungen ist, erst recht zu ›Lieschen Müller‹ gemacht
wird, wobei das Satanischste dann womöglich der Augenblick
ist, in dem ein solcher Film ›Lieschen Müller‹ auch noch das
›Lieschen Müller‹ verspottet, denn auch damit ist ja heute
bereits zu rechnen.214
Mit anderen Worten also, wenn Sie glauben, daß meine
Vorstellung von dem Schrumpfen und der Liquidation des
Individuums eine zu negativistische und nun in der Tat eine
überspitzte sei, ich glaube, dann genügt es, wenn Sie diese Er-
wägungen über die einzige Sphäre anstellen, in der wir sozu-
sagen noch etwas wie Individuen zu sein glauben, damit Sie
sehen können, wie sehr diesem Begriff der Individualität tat-
sächlich das Mark entzogen worden ist. Die Folgerung, die
daraus zu ziehen ist, ist die nun – und ich glaube, das ist nicht
unwichtig, hier auch festzuhalten –, daß, wollte man etwa
dem Begriff der sogenannten ›Vermassung‹ oder den Phäno-
menen, die ich beschrieben habe, entgegen an die Menschen
die Forderung richten, sie möchten sich verinnerlichen oder
sie möchten Individuen werden, daß diese Forderung, in ab-
stracto erhoben, etwas ganz Lächerliches hat. So ist die Sub-

151
stanz nicht zu retten, die der Begriff des Individuums trotz al-
lem hat, daß man die Menschen in einer Welt, die es ihnen
verwehrt und die es im Grunde ihnen verbietet, dazu noch ei-
gens ermutigt.
Ich möchte hier an dieser Stelle doch ein paar Worte über
eine weitere Kategorie sagen, die sich heute auch sehr großer
Beliebtheit erfreut, das ist nämlich die Kategorie des ›Leitbil-
des‹.215 Im »Faust« heißt es bekanntlich – ich hoffe, Sie halten
mich nicht für einen alten Schullehrer, wenn ich anfange,
»Faust« zu zitieren –, der »gute Mensch in seinem dunklen
Drange ist sich des rechten Weges wohl bewußt«216. Ich glau-
be, Sie brauchen nur eine Sekunde einmal das, was man heute
so über ›Leitbild‹ [vernimmt], daß dem Menschen Leitbilder
geboten werden müßten, mit diesem Satz zu vergleichen, um
zu sehen, wie jämmerlich es um die Kategorie des Individu-
ums heute eigentlich bestellt ist. Das Vertrauen von Goethe,
das sich darin ausspricht, ist das, daß die Individualität etwas
Substantielles ist, das heißt, daß sowohl in dem einzelnen
Menschen wie in der Gesellschaft eben die Qualitäten bereits
vorgegeben sind, die ihm so etwas wie den rechten Weg, die
richtige Entwicklung, das richtige Verhalten vorschreiben.
Im Augenblick, wo man nun aber glaubt, demgegenüber ein
sogenanntes ›Leitbild‹ verordnen zu müssen, wobei im allge-
meinen dann übrigens die vorhin so ausgiebig zitierte ›Zucht‹
dann doch eine sehr auffallend große Rolle spielt, in diesem
Augenblick ist bereits die Substantialität dessen, wozu die
Menschen zu erziehen sind, die Substantialität dessen, was sie
eigentlich werden könnten, hinfällig geworden. Es stellt sich
dann sofort die Frage, wer dieses Leitbild eigentlich zu ent-
werfen habe, und in diesem Begriff, ein Leitbild zu ›entwer-
fen‹ des autonomen Menschen, der Persönlichkeit, steckt ja
bereits Heteronomie drin. Es wird dann gewissermaßen die
Persönlichkeit ihrerseits wieder zu einer Sache der verwalten-
den Planung gemacht, die dafür zu sorgen habe, daß es solche
Persönlichkeiten gebe, während es doch gerade das Wesen der
Persönlichkeit ausmacht, daß sie die Momente in sich ausbil-

152
det, die einer solchen verwaltenden Planung sich ihrerseits
entziehen. Im Augenblick, wo ein solches Leitbild konstru-
iert werden muß, wo es gesetzt werden muß, anstatt daß es
wirklich in den Menschen dumpf und unbewußt gegenwär-
tig ist, wohin es sie treibt, in dem Augenblick ist, möchte ich
sagen, die Herrschaft der verwalteten Welt genau auf den Be-
reich ausgedehnt, von dem man sich die Heilung von den
Wundmalen der verwalteten Welt eigentlich verspricht. Man
kann das, was der Mensch zu sein habe, und das, worauf der
Mensch hinauswolle, nicht abstrakt dekretieren, wenn man
nicht in der Tat hinter die große Philosophie, hinter Hegel
also, zurückfallen will. Es gibt kein unmittelbares Leitbild des
Menschen, nach dem man sich heute zu richten habe, son-
dern ein solches Leitbild, soweit es substantiell ist, könnte sich
gar nicht anders entfalten als durch die ausgeführte Kritik der
Gesellschaft und freilich durch die in dieser ausgeführten kri-
tischen Theorie der Gesellschaft auch implizierte Kritik des
Individuums. Denn, meine Damen und Herren, das darf ich
vielleicht noch sagen: Wir wissen nicht, wie der Mensch zu
sein hat, und auch wenn wir ein positives Leitbild der Gesell-
schaft entwerfen wollten, wenn wir etwa angeben wollten,
die Gesellschaft hat so und nicht anders zu sein, dann würden
wir mit einem solchen positiven Leitbild der Gesellschaft zu-
rückfallen hinter alle jene Denker, die uns gezeigt haben, daß
der Gedanke einer richtigen Einrichtung der menschlichen
Dinge nicht darin besteht, daß man sich freischwebend ein
Bild macht und dann gewalttätig die Welt danach einrichtet,
sondern daß es darauf ankommt, die objektiven Möglichkei-
ten, die in der Gesellschaft selbst sich abzeichnen, damit die
Dinge in Ordnung kommen, daß man aus Freiheit und Spon-
taneität diese Möglichkeiten befördert.
Aber Sie würden mich sehr falsch verstehen, meine Damen
und Herren, wenn Sie das, was ich Ihnen damit angedeutet
habe, nun auffassen wollten als eine Art von Defaitismus. Wir
wissen zwar nicht, was das Leitbild des Menschen sei, und wir
wissen auch eigentlich, wenn wir ganz ehrlich sind, nicht, was

153
das Leitbild der Gesellschaft sei, obwohl wir wahrscheinlich
bei dem heutigen Stand der Entwicklung über die positive
Einrichtung der Gesellschaft merkwürdigerweise mehr sagen
könnten als über die positive Einrichtung des Menschen.
Aber wir wissen sehr genau und wir wissen sehr bestimmt,
was mit der Gesellschaft und damit auch mit uns selber, mit
einem jeden einzelnen von uns falsch ist. Das heißt – und dar-
in möchte ich mich zu der Tradition der Philosophie, vor al-
lem zu der Tradition von Hegel, am Schluß noch einmal aufs
nachdrücklichste bekennen –, wir haben die Möglichkeit,
unsere Gesellschaft und unsere eigene Existenz, unser ganzes
Leben an seinem eigenen Begriff zu messen, so wie ich es an
einigen Beispielen wie immer auch fragmentarisch in diesen
knappen Stunden versucht habe, Ihnen vorzudenken. Wir
können sehr wohl die Punkte feststellen, an denen unsere Ge-
sellschaft ihrem eigenen Begriff, dem nämlich einer durch-
sichtigen Verbindung der Menschen zur Erhaltung ihres eige-
nen Lebens, nicht entspricht, und wir können sehr wohl auch
die Wundmale der Menschen, der einzelnen Menschen, ihre
Ichschwäche,217 ihre tendenzielle Erkrankung, ihr neuroti-
sches Wesen, ja ihre psychotischen Neigungen, die heute im-
mer stärker werden, die können wir alle sehr genau angeben,
auch wenn wir des Richtigen im abstrakten Begriff nicht
mächtig sind. Kein Psychiater etwa oder kein Psychoanalyti-
ker, der es ernst meint, wird es jemals wagen, uns zu sagen, er
wisse, wie der richtige, der normale, der gesunde, der vollent-
wickelte Mensch sei, vor allem schon deshalb nicht, weil ein
solcher Begriff eines richtigen Menschen unabhängig von der
Welt, in der er lebt, und ohne auf diese Welt seinem eigenen
Wesen nach bezogen zu sein, gar nicht gedacht werden kann,
aber deshalb wird trotzdem jeder anständige Psychologe und
jeder anständige Psychiater Ihnen sagen können, wenn er es
mit einem bestimmten Menschen zu tun hat, an welchen
Stellen die Wunde liegt, wo es weh tut, und dasselbe ist bei
der Gesellschaft auch zu bemerken. Es mag ja ganz richtig
sein, daß alle möglichen abstrakten gesellschaftlichen Ideale

154
heute hinfällig geworden sind. Aber daß eine Gesellschaft, die
sich in zwei starre Machtblöcke aufgeteilt hat, die ständig in
jedem Augenblick im Begriff sind, übereinander herzufallen
und gegen den Willen der überwältigenden Mehrheit der
Menschen, die unter ihnen leben, schließlich die Menschen
zu vernichten, daß eine solche Gesellschaft ihrem eigenen
Begriff widerspricht, ich glaube, das können wir doch sehr
wohl wissen. Und wir können auch den Wahnsinn wahrneh-
men, der darin besteht, daß eine Menschheit, deren techni-
sche Mittel ausreichen würden, heute bereits die Welt zu ei-
nem Paradies zu machen, in dem, daß kein Kind und keine
alte Frau in der ganzen Welt an irgendeiner Stelle mehr zu
hungern brauchte, daß eine solche Welt wahrscheinlich den
größeren Teil ihres Sozialprodukts in die Herstellung von
Vernichtungsmitteln setzt. Ja, um diesen Wahnsinn zu durch-
schauen, dazu braucht man kein positives Leitbild von der
Gesellschaft zu besitzen. Und ich würde sagen, daß ich mich
keineswegs eines Negativismus schäme, der darin bestünde,
daß ich sage, das Positive heute, wie es uns heute möglich
ist, liegt eigentlich darin, daß wir versuchen, so gut es in unse-
rer Kraft steht, diesem Negativen, diesem Zustand der dro-
henden realen und der schon verwirklichten geistigen Ent-
menschlichung doch endlich ein Ende zu setzen.

155
Kultur und Culture
7. 6. 1957

[Meine sehr verehrten Damen und Herren,]218

Kultur heißt soviel wie Pflege, von dem lateinischen ›colere‹,


und zwar bedeutet, wie vielen von Ihnen gegenwärtig ist,
dieses ›colere‹ ja ursprünglich die Tätigkeit des Landmannes,
des agricola, also ein bestimmtes Verhältnis zur Natur, die
Pflege der Natur. Man kann in einem allerallgemeinsten
Sinn wohl sagen, daß, wann immer man überhaupt von Kul-
tur spricht, es sich um ein Bereich handelt, in dem sich die
Auseinandersetzung von den Menschen mit der Natur ab-
spielt. Aber diese sehr allgemeine und vielleicht etwas vage
Vorstellung von Kultur, die läßt sehr verschiedenartigen
Möglichkeiten Raum, und es ist mir vielleicht erlaubt, zur
Vereinfachung oder jedenfalls zur erhöhten Plastizität der
Fragestellung Ihnen zwei typische Bedeutungen herauszuar-
beiten, die mit dem Kontrast amerikanischer und deutscher
Kultur mir zusammenzuhängen scheinen. Auf der einen Seite
kann nämlich Kultur heißen soviel wie die Bewältigung der
Natur durch den Menschen im Sinne ihrer Beherrschung,
und zwar der Herrschaft sowohl über das äußere, uns wider-
strebende Naturmaterial wie auch im Sinn der Beherrschung
über die naturhaften Kräfte in den Menschen selber, also im
Sinne der zivilisatorischen Kontrolle über das menschliche
Triebleben und über das Unbewußte. Man mag diesen Kul-
turbegriff bezeichnen als einen, dessen Substanz wesentlich
die Gestaltung der Wirklichkeit ist. Nun, ich möchte damit
nicht etwa sagen, daß in Amerika die Wirklichkeit selber in
einem radikalen Sinn gestaltet, als ob die Wirklichkeit selber
ihrer Naturwüchsigkeit – in einem positiven Sinn nun diesen
Prozeß genommen – entkleidet wäre, sondern in einem ge-
wissen Sinn sind die sozialen Prozesse drüben sicher genauso
blind wie in irgendeinem anderen Teil der Welt auch. Aber
jedenfalls die Idee von Kultur, die drüben vorwaltet, das ist

156
doch eine Idee, die wesentlich gewonnen ist an der Gestal-
tung der Wirklichkeit – und zwar vor allem an der Gestaltung
der gesamtgesellschaftlichen Wirklichkeit, der Beziehungen
der Menschen zueinander, der Bändigung der Natur und der
Verfügung über ihre Ressourcen zumal durch die Technik,
wie es Ihnen allen ja vertraut ist. Dem steht nun aber ein an-
deres Moment im Kulturbegriff gegenüber. Pflegen heißt ja
nicht einfach dasselbe wie herrschen. Die Natur pflegen heißt
nicht einfach die Natur unterdrücken und die Natur ausbeu-
ten, sondern in diesem Begriff der Pflege ist auch enthalten
das Moment des Bewahrens, das Moment, daß also das, was
von den Menschen angeeignet, was unter ihre Herrschaft ge-
bracht wird, dabei nicht radikal gebrochen, nicht ausgerottet
werden soll, sondern gleichzeitig in seinem eigenen Wesen
erhalten [werden soll]. Also, wenn ich Ihnen diese Idee der
Kultur gerade illustrieren darf: Wenn es etwa einen sehr guten
Wein gibt, der ein Kunstprodukt ist, der also in einem kom-
plizierten Fermentierungsprozeß aus den Trauben gewonnen
ist, dem man aber gleichzeitig doch noch die Erde oder die
Trauben, aus denen er gekeltert ist, anschmeckt, wie es in ge-
wissen sehr guten Landweinen und vor allem etwa in fran-
zösischen Weinen der Fall ist, dann ist ein solcher Wein ein
spezifisches Produkt von Kultur, und diese Idee der Kultur als
des Bewahrens dessen an Natur, was zugleich von mensch-
licher Kraft aufgehoben ist, diese Idee liegt der europäischen
Kulturkonzeption, dem europäischen Kulturbegriff jeden-
falls, dem, was wir unter Kultur denken, in einem sehr weiten
Maß zugrunde. Das bedeutet nun immer aber auch eine ge-
wisse Stufe des Eingedenkens, der Selbstbesinnung des Men-
schen auf sich selber, wenn Sie wollen der Verinnerlichung,
durch die die unmittelbare Gewalt über die Natur gebrochen
ist.
Nun, dieser Kulturbegriff hat resultiert, zumal in Deutsch-
land, in Deutschland vielleicht mehr als in irgendeinem ande-
ren Lande der Welt, in dem, was man im prägnanten Sinn mit
›Geisteskultur‹ bezeichnen kann, also in einer Kultur, die sich,

157
um diesen Begriff Ihnen auch sehr drastisch zu erläutern, we-
sentlich darstellt in dem, was man große Werke, sei es der
Kunst, sei es der Philosophie, sei es auch der Wissenschaft,
nennt. Die Unterschiede zwischen den beiden Kulturbegrif-
fen, die ich Ihnen zunächst etwas abstrakt, nämlich wirklich
von der begrifflichen Seite her erläutert habe, die haben sel-
ber wieder ihre Wurzel in den realen gesellschaftlichen Pro-
zessen in beiden Ländern, nämlich darin – und ich rede wie-
der etwas kraß und übertreibend –, daß Amerika ein reines
Land der bürgerlichen Revolution ist, in dem die bürgerliche
Revolution nicht nur mit Erfolg durchgedrungen ist, son-
dern, man könnte beinahe sagen, die Voraussetzung über-
haupt der gesamten amerikanischen Gesellschaft bildet, ein
Land also, dessen Idee oder dessen Grundlage, dessen reale
Grundlage es überhaupt gewesen ist, eine Gesellschaft im
konsequent bürgerlichen Sinn durchzuführen und einzurich-
ten. Umgekehrt wissen Sie alle, daß das Schicksal der bürger-
lichen Revolution in Deutschland außerordentlich proble-
matisch geblieben ist. Die bürgerliche Revolution im Sinn
der französischen Revolution ist in Deutschland auch im Jahr
1848 mißlungen, und als sie dann schließlich wenigstens der
Form nach zu gelingen schien, im Jahr 1918, da war die ge-
sellschaftliche Gesamtgruppierung bereits schon wieder so
verändert, daß diese Kategorien alle eine völlig andere Be-
deutung gehabt haben. Das ist vielleicht deshalb nicht ganz
überflüssig zu betonen, weil man damit erklären kann, daß
der Begriff der Kultur in Deutschland jene eigentümliche
Vergeistigung erfahren hat, von der ich spreche. Ich glaube,
es ist kaum nötig, auf die ungeheuere positive Bedeutung die-
ser Vergeistigung hinzuweisen, darauf hinzuweisen, daß die
deutsche Musik und die deutsche Philosophie diesem Prozeß
sich verdanken. Es ist aber vielleicht, wenn auch weniger an-
genehm, so doch nicht minder notwendig, daran zu erinnern,
daß dieser Prozeß der Spiritualisierung der Kultur bis zu ei-
nem gewissen Grad eine Kompensation dafür ist, daß die Ge-
staltung der Wirklichkeit im Sinn der Ideale der französischen

158
Revolution oder der englischen Revolution, im Sinn also der
bürgerlichen Ideale nicht gelungen ist. Man hat gleichsam die
Energien nach innen gewandt, weil sie durch das feste Gefüge
der überlebenden halb absolutistisch-feudalen Ordnung in
der Realität sich nicht haben verwirklichen können. Es ist da-
durch also der deutschen Kultur nicht nur die geistige Über-
legenheit gegeben, sondern zugleich auch ein Moment des
Mangels an Realität. Jenes Phänomen, das in dem Hölder-
linschen Satz, die Deutschen seien tatenarm, doch gedan-
kenvoll,219 ausgesprochen ist, diese Tatsache, die ist nicht
eine Qualität der Naturgegebenheit unseres Volkes, seiner ur-
sprünglichen Beschaffenheit, sondern sie ist eine Funktion
der geschichtlichen Dynamik und sie hat nun dazu geführt,
daß wir dazu tendieren, die Sphäre des Geistes absolut zu set-
zen und zu vergessen, daß in allem Geistigen eigentlich eine
Anweisung an die Verwirklichung des Geistes mit enthalten
ist, daß ein Geist, der bloß sich selbst genügt und der jeder Be-
ziehung auf die Gestaltung der Wirklichkeit sich entäußert
hat, eigentlich kein Geist mehr ist.
Nun, aus dem, was ich Ihnen angedeutet habe, folgt viel-
leicht bereits, daß die beiden Konzeptionen von Kultur, die
nicht bloß begriffliche Konzeptionen sind, sondern hinter
denen das gesellschaftliche Schicksal der beiden Länder steht,
ihre negativen Momente auch haben. In Amerika ist es so,
daß der Begriff der Kultur, wie wir es in unserer unausrottba-
ren philosophischen Sprache nennen würden, ganz und gar
›immanent‹ ist, das heißt, die amerikanische Kultur erschöpft
sich eigentlich in der Gestaltung der äußeren Dinge, der Be-
ziehungen zwischen den Menschen, und soweit es ein Geisti-
ges gibt, das nicht unmittelbar sich darin erschöpft, wird es
doch auch gemessen daran, was es unmittelbar nun beiträgt zu
dem Leben der Menschen, was man sozusagen davon hat. In
eins damit aber, daß jede Art der Transzendenz der Kultur ge-
genüber der Realität des gesellschaftlichen Zusammenlebens
vergessen wird, wird auch die kritische Funktion der Kultur,
also eben jenes Hinausweisen eines jeglichen Geistigen über

159
das, was bloß ist, entweder ganz abgeschafft, oder sie wird so
neutralisiert, daß von ihr eigentlich wenig übrigbleibt. Die
negativen Momente unserer eigenen Konzeption von Kultur
demgegenüber sind ein bestimmtes Element des Unver-
pflichtenden der Kultur, des Verzichts auf Eingriff, des Ver-
gessens daran, daß der Gedanke der Kultur als der bewußten
Auseinandersetzung mit der Natur in und außer uns eben we-
sentlich auch eine Gestaltung der Wirklichkeit, zumal der po-
litischen Wirklichkeit heißt. Und man übertreibt wohl kaum,
wenn man sagt, daß die unendliche Sublimierung dessen, was
wir Geisteskultur nennen, bezahlt wird mit Elementen der
Roheit, der Krudheit innerhalb unseres gesellschaftlichen Le-
bens, im Zusammenleben zwischen den Menschen und ins-
besondere auch in den Formen des politischen Lebens. Wenn
es zutrifft, was man immer wieder hört, daß einige der furcht-
barsten Henker, die der Nationalsozialismus hervorgebracht
hat, sich, wenn sie sich von ihren Schandtaten erholt haben,
nicht nur Platten von Bruckner-Symphonien haben vorspie-
len lassen, sondern auch noch diese Musik wirklich gut ver-
standen haben220 – und ich glaube, wir haben lernen müssen,
daß es solche Antinomien wirklich gibt, daß man gleichzeitig
ein Henker sein und eine Bruckner-Symphonie verstehen
kann –, dann würde das nur sozusagen die extreme Probe auf
jenes Moment der Neutralisierung der Kultur, ihrer Abspal-
tung als ein Sonderbereich gegenüber der Realität sein, das
ich Ihnen eben angedeutet habe.
Nun, die Vorurteile oder die falschen Urteile, die die bei-
den Völker aneinander vollziehen, die dürften, ganz schlicht
gesagt, im wesentlichen doch wohl darin bestehen, daß die
beiden Kulturbegriffe, die ich Ihnen entwickelt habe, ganz
ungebrochen und unvermittelt aufeinander angewandt wer-
den. Wir also sehen vorweg Kultur als Geisteskultur an, und
wenn wir mit der amerikanischen Gestaltung des Lebens und
den zivilisatorischen Formen in Amerika zu tun haben, dann
haben wir eine gewisse Neigung dazu, eben jenes unselige
Urteil ›Die haben ja keine Kultur‹ auszusprechen, ein Vorur-

160
teil, das dann allerdings durch gewisse Phänomene innerhalb
der amerikanischen Geisteskultur, die zu verleugnen ich der
allerletzte wäre, recht sehr provoziert wird. Umgekehrt ist es
bei den Amerikanern, für die Kultur eben ein bestimmtes
Verhältnis zwischen den Menschen und in der Wirklichkeit
bedeutet, ein sehr naheliegendes und kaum weniger gefährli-
ches Vorurteil, deshalb, weil sie unsere Kultur als eine in je-
nem Sinn ästhetisch beschränkte, als eine Art bloßes Spiel, als
eine bloße Bilderwelt erfahren, diese Bilderwelt als Schwindel
abzutun, wobei dann einfach ein gewisser Mangel an Tra-
dition und an Erfahrung in spezifisch geistigen Dingen, der
drüben herrscht und der seine besondern soziologischen
Gründe hat vor allem darin, daß es ja in Amerika keine alte
Feudalschicht gibt, in gewisser Weise amalgamiert wird. Das
pragmatisch Unrealisierbare unserer Kultur erscheint ihnen
dann so als eine Art von Schwindel, und wenn meine ameri-
kanischen Beobachtungen, die sich auf eine sehr lange Erfah-
rung gründen, mich nicht ganz betrügen, dann wird der in ei-
nem europäischen Sinn kultivierte Mensch dem Mißtrauen
begegnen, daß er eigentlich jemand ist, der sich nicht so recht
getummelt hat, und es ist darin ein berechtigtes Moment der
Kritik an der Privilegiertheit, die in unserer Kultur immer
steckt, mit der Rancune gegen den, der in dem Betrieb des
Alltags sich nicht erschöpft, zu einer nicht durchwegs glückli-
chen Verbindung gelangt.
Lassen Sie mich nun zunächst Ihnen doch etwas sagen über
das deutsche Amerikabild. Am deutschen Amerikabild fällt
zunächst auf das Cliché von dem sogenannten amerikani-
schen Materialismus. Wenn man nach Amerika kommt, dann
ist wahrscheinlich doch eine der stärksten Erfahrungen die
überwältigende Fülle an Gütern, die einem dort angeboten
werden, und ich werde manchmal den Verdacht nicht los, daß
in dem Gedanken, daß eine Welt, die so viele Güter hervor-
bringt, daß das eine bloß materialistische Welt sei, daß da ein
klein wenig auch etwas mitschwingt von den Trauben, die ei-
nem zu hoch hängen221. Gerade hier nun, glaube ich, wäre

161
eine besondere Vorsicht und eine besondere Zartheit gebo-
ten. Denn diese Gütermenge, der man in Amerika begegnet,
die hat einen Zug, den man dem, der ihn nicht unmittelbar
erfahren hat, vielleicht nur schwer beschreiben kann, den
man aber auch nicht verleugnen und den man vor allem nicht
gering anschlagen soll. Es steckt darin etwas vom Schlaraffen-
land. Sie müssen nur einmal durch einen sogenannten ameri-
kanischen ›supermarket‹, so einen dieser Riesenmärkte ge-
hen, wie sie vor allem in den neuen großen Städten und
Zentren des amerikanischen Westens sich finden, und Sie
werden irgendwie – das Gefühl mag noch so trügerisch und
oberflächlich sein –, Sie werden irgendwie das Gefühl haben,
es gibt keinen Mangel mehr, es ist die schrankenlose, die voll-
kommene Erfüllung der materiellen Bedürfnisse überhaupt.
Aber hier sollten wir uns doch sehr ernst fragen: Steckt nicht
in aller Kultur, in unserem europäischen Sinn, im Sinn der
geistigen Kultur, etwas wie eine Anweisung auf diese utopi-
sche Erfüllung darin? Erinnern Sie sich an irgendein großes
Gebilde der europäischen Geisteskultur. Ich unterscheide
hier gar nicht zwischen Deutschland und Europa, ich habe zu
lange in Amerika gelebt, um nicht wenigstens insofern ame-
rikanisiert zu sein, als mir in gewissen Dingen doch Europa
sehr zusammengerückt ist zu einer Einheit. Denken Sie an
»Romeo und Julia« von Shakespeare. Ja, die überwältigende
Kraft dieses Stücks, die würde doch wohl kaum existieren,
wenn die Idee dieses Stückes nicht die Erfüllung, die schran-
kenlose Erfüllung der Liebe, und zwar der vollen erotischen
Liebe zwischen diesen beiden Menschen wäre, wenn in die-
sem Stück nicht etwa als Tendenz, aber doch als die Kraft-
quelle, aus der all das lebt, das stünde: ›Es soll Glück sein, die
Menschen sollen sich einander gewähren können, es soll er-
füllt sein, es soll nicht verboten sein‹ – dann wäre selbst das
Gedicht von der Nachtigall und der Lerche,222 das eines der
höchsten Gedichte ist, die je ein Mensch in einer europäi-
schen Sprache geschrieben hat, eben wirklich, auch als Kunst-
werk, auch als geistiges Gebilde, arm.

162
Es gehört zu den merkwürdigsten Eindrücken, die man in
Amerika hat, wenn man ein wenig amerikanische Kinder be-
obachtet. Ich will gar nicht sagen, daß das immer ein reines
Vergnügen ist. Es kann einem passieren, daß einem, wenn
man nichtsahnend über die Straße geht, von einem Kind ein
Stein nachgeworfen wird, und wenn man dann in das Haus
geht und sich bei den Eltern darüber beschwert, daß einem
dann die Eltern vorwerfen, daß man nicht genügend von ›pro-
gressive education‹ verstünde. Die Art, in der jedes amerikani-
sche Kind eigentlich ununterbrochen einen sogenannten ›ice
cone‹, einen Kegel mit Eiscreme essen kann, in jedem Augen-
blick eine Art Erfüllung des Kinderglücks finden kann, nach
dem unsere Kinder im allgemeinen sich die Hälse ausreißen
und ausrenken, das ist wirklich ein Stück der erfüllten Utopie
in dem Sinn, daß es etwas so von der Friedlichkeit, dem Man-
gel an Angst und Bedrohung hat, das man sich in einem chilia-
stischen Reich eigentlich vorstellt. Überhaupt diese Güterfül-
le, diese Tatsache, daß der Mangel zurücktritt, trotz all dem,
was wir von den großen amerikanischen Romanciers zumal
über den Süden, den amerikanischen Mezzogiorno, wissen,
das verleiht doch der alltäglichen Erfahrung ein Moment der
Friedlichkeit und des Unaggressiven, das uns in Europa fast
vollkommen verlorengegangen ist. Es handelt sich hier wirk-
lich um eine Kategorie der Freundlichkeit, die man besonders
und gerade unter sogenannten einfachen Leuten – bei Men-
schen an Tankstellen, bei dem Bäcker, der einem das Brot ab-
liefert, bei dem Mann, der einem das Gebirgswasser ins Haus
bringt, weil man das gewöhnliche Leitungswasser nicht recht
trinken kann –, die man da beobachten kann, eine Art Durch-
dringung der Gesamtgesellschaft mit einer Humanität im un-
mittelbaren Verhalten, die recht wohl darüber zu entschädigen
vermag, daß die betreffenden Leute die Namen Bach und
Beethoven vielleicht nicht ganz so korrekt aussprechen, wie
wir glauben, daß es zur Bildung nun einmal dazugehöre.
Ich weiß sehr genau, daß es auch in Amerika, dem Land
des Monopolkapitalismus, nichts umsonst gibt. Und wenn

163
ich von der Güterfülle und dem Schlaraffenland gesprochen
habe, so bin ich nicht so naiv zu glauben, daß nicht auch drü-
ben diese Güterfülle in einer bestimmten Proportion zu der
Kaufkraft derer stünde, die sie zu erwerben haben. Immerhin,
und auch wenn man weiß, daß in Amerika genau wie sonst-
wo in der Welt und in einer noch viel durchorganisierteren
und rücksichtsloseren Weise für den Profit produziert wird
und nicht für die Menschen, ist es doch so, daß durch die un-
geheuere Steigerung der technischen Apparatur, die sich drü-
ben findet, einfach die Gebrauchsgütermenge, die den Men-
schen zur Verfügung steht, so viel größer ist, daß trotz dieses
Profitmotivs für die einzelnen Menschen immer noch sehr
viel mehr dabei abfällt. Ich wiederhole, auch drüben ist nichts
umsonst. Aber das kann man wohl sagen, daß das bürgerliche
Prinzip, das mit dem Prinzip der Humanität ja nun doch ein-
mal sehr eng zusammenhängt, drüben radikal bis zu Ende
nicht nur gedacht, sondern auch getrieben ist. Es ist eine reine
Tauschgesellschaft. Nun, das heißt nicht nur, daß alles um des
Profits willen geschieht – und man kann in einem gewissen
Sinn sagen, daß in Amerika alles um des Profits willen ge-
schieht und daß man irgendwie die Spuren des Tauschs auf
dem Markt noch bis in die sublimsten menschlichen Bezie-
hungen hinein verfolgen kann –, es heißt aber auch zugleich,
diese Universalität des Tauschbetriebs, daß alle für alle da sind
und daß kein Mensch sich eigentlich so in sich selbst und in
der Beschränktheit seines je eigenen Interesses verhärtet, wie
es in unserem alten Europa doch nun einmal der Fall ist. Es
herrscht eine unendlich viel größere Nähe von der politi-
schen Form der Demokratie und dem Lebensgefühl der
Menschen selbst. [. . .]223
Wir sind geneigt dazu, den Begriff der Anpassung, des Ad-
justment, der in der amerikanischen Kultur eine so sehr große
und sehr gefährliche Rolle spielt, wirklich bloß als ein Nega-
tivum, also als die Auslöschung der Spontaneität, der Autono-
mie des einzelnen Menschen, all dieser Qualitäten anzusehen.
Es ist wahrscheinlich ein Trugbild, ein Trugbild, das im übri-

164
gen von Goethe und von Hegel in eminentem Maß kritisiert
worden ist, zu glauben, daß der Prozeß der Humanisierung,
der Vermenschlichung, der Kultivierung sich von innen nach
außen abspiele, sondern er spielt sich wesentlich auch, und
grade, durch die ›Entäußerung‹ ab, wie Hegel das genannt
hat.224 Wir werden nicht dadurch eigentlich Menschen, wir
machen uns nicht dadurch zu Menschen, daß wir uns selbst
als je einzelne verwirklichen, sondern dadurch, daß wir aus
uns herausgehen und daß wir in diesem Aus-uns-Herausge-
hen zu andern Menschen in Beziehung treten und in gewis-
sem Sinn an sie uns aufgeben. Und durch diese Veräußerli-
chung oder Entäußerung hindurch erst bestimmen wir uns als
Individuen und nicht dadurch, daß wir, wie es Wilhelm von
Humboldt etwa in seinem Bildungsbegriff225 von uns erwar-
tet hat, uns selber gleichsam wie Pflänzchen mit Wasser be-
gießen, nur damit wir allseitig gebildete Persönlichkeiten
werden. Nun, dieses Moment, das unter dem abscheulichen
Begriff der ›Extrovertiertheit‹ in Amerika ja geradezu geprie-
sen wird, dieses Moment hat eben in Amerika sich in einem
sehr positiven Sinn bewährt.
Ich möchte Ihnen etwas vielleicht recht Schockierendes
hier sagen. Ich denke hier an die Kategorie des ›keep smiling‹,
des obligaten Lächelns. Man wird in Amerika immer wieder
dem begegnen, daß jedes Ladenmädchen, wenn es Sie be-
dient, oder wer immer es ist, entzückend lächelt. Und Sie
werden darüber zunächst schockiert sein, denn Sie werden
dabei fühlen, daß dieses Lächeln zunächst einmal gar nicht das
Lächeln dieses Individuums ist, daß es dazu nicht nur von sei-
nem Chef angehalten wird, sondern daß es diese Art zu lä-
cheln in einer sogenannten ›charm school‹ [Lachen im Audito-
rium], also in einer Schule der Charmantheit, gelernt hat. Sie
werden das dem Lächeln auch noch irgendwie ansehen. Aber
ich glaube, wir sollen es uns damit nicht zu leicht machen. Es
ist wahrscheinlich so, daß ein Mensch, der unter äußerem
Zwang auf diese Weise zur Freundlichkeit gebracht wird,
dann doch eher auch zu einer gewissen Humanität in seinem

165
Verhältnis zu den andern Menschen kommt als jemand, der
nur um mit sich selbst identisch zu sein – als ob diese Identität
mit sich selbst immer wünschbar wäre –, ein bösartiges, ver-
muffeltes Gesicht macht und einem von vornherein bedeutet,
daß der andere Mensch für ihn eigentlich nicht existent sei
und in seine Innerlichkeit, die dann vielfach gar nicht exi-
stiert, nicht hereinzureden habe. Also, ich würde deshalb sa-
gen, wir sollten, ohne dabei im geringsten diese negativen
Momente zu verkennen, uns darum bemühen, nicht selber –
gerade indem wir über die Oberflächlichkeit uns entrüsten –
oberflächlich und undialektisch uns zu verhalten.
Die Art der Entäußerung des amerikanischen Lebens, die
ich Ihnen charakterisiert habe, ließe sich bezeichnen als ein
universaler Sieg der Aufklärung, im Sinn des gesamteuropäi-
schen Aufklärungsprozesses. [. . .]
Es gibt in Amerika, trotz des Hays Office226 und trotz aller
möglichen muffigen Institutionen wie den Frauenorganisa-
tionen,227 von denen Sie ja wohl auch schon einige Greuel-
taten vernommen haben werden, trotz alldem unendlich viel
weniger Tabus, unendlich viel weniger Blindes, dem die Men-
schen blind gehorchen und das dann gerade um der Blindheit
des Gehorsams willen Destruktionstendenzen zeitigt, als es
das bei uns gibt. Es gibt etwa in Amerika eine Freiheit der
Diskussion, eine Art der Möglichkeit, über die Dinge zu re-
den, die nicht nur bei uns real sich nicht findet, sondern die
bei uns außerdem auch noch verdächtig gemacht würde, in-
dem man etwa sagen würde in unserem deutschen, sehr be-
denklichen Jargon der Eigentlichkeit – ich zitiere eine deut-
sche Äußerung: ›Es kommt nicht auf Diskussionen, sondern
auf Begegnungen an‹,228 was schließlich nur besagen kann,
daß in einer trüben Zone des Miteinander das Moment des
Gedankens, der sich am anderen reibt, und der Vernunft in
ihren verschiedenen Gestalten, die sich aneinander abarbei-
ten, bei uns abgeschnitten wird. Ich hatte vorhin von dem
amerikanischen Verhältnis zu den Kindern geredet. Ich glau-
be, daß wir uns doch kaum vorstellen können, in welchem

166
Maß in dieser amerikanischen Kultur die Kinder freier, weni-
ger unterdrückt und unter weniger Gewalt heranwachsen, als
das selbst heute noch bei uns der Fall ist, und vor allem, in
welchem Maß doch die Errungenschaften der neuen Psycho-
logie in Amerika in die Gestaltung selbst des täglichen Lebens
eingedrungen sind. Eine Mutter, die weiß, mag es auch noch
so grob und oberflächlich sein, daß, wenn sie ihr Kind ver-
prügelt, daß das Kind dann möglicherweise dafür mit einer
Neurose als Erwachsener zu bezahlen hat, eine solche Verhal-
tensweise scheint mir immer noch der Humanität näher zu
sein als eine Verhaltensweise, die, indem sie vornehm erklärt,
man sei ja über Freud längst heraus und Freud reiche etwa an
die Tiefe unserer Existenz nicht heran, nun die Psychoanalyse
überhaupt zum alten Eisen wirft und letztlich sich darauf her-
ausredet, daß, wenn man die Kinder ordentlich verprügelt,
daß sie dann bessere Soldaten werden. [Lachen im Auditorium]
Also, ich würde schon sagen, daß man dieses Element hier,
gerade wo es um die Kritik der sogenannten Flachheit geht,
mit einbeziehen soll und daß man sich darüber klar sein soll,
daß doch also die Freiheit von Autorität, in einem sehr spezi-
fischen und in einem sehr fruchtbaren Sinn, in Amerika wei-
ter gediehen ist als bei uns.
Nun, wenn ich hier von Freiheit von Autorität rede, so
komme ich damit allerdings an einen sehr schwierigen Punkt.
In einem Sinn ist sicherlich das Verhalten der Menschen in
Amerika weniger autoritär als bei uns, weniger autoritätsge-
bunden als bei uns. In einem anderen Sinn ist es wahrschein-
lich autoritätsgebundener. Lassen Sie mich daran Sie erin-
nern, daß ich Ihnen sagte, daß das bürgerliche Prinzip, also
das Prinzip einer reinen Tauschgesellschaft in Amerika bis zur
äußersten Konsequenz durchgeführt ist. Das bedeutet nun
aber auch, daß mehr oder minder alle die Instanzen eingezo-
gen, kassiert werden, die über dieses Tauschprinzip und über
den geschlossenen Betrieb der Gesellschaft hinausweisen. Das
ist im Grunde wohl daran schuld, daß es einen Begriff des
Geistes, der der Substanz nach mit dem unseren vereinbar

167
wäre, in der Breite der amerikanischen Kultur als ein Substan-
tielles nicht gibt, sondern daß, wo es in unsrem europäischen
Sinn Geist in Amerika gibt, dieser Geist von vornherein als
oppositioneller Geist, als Nonkonformismus erscheint, zur
Zeit von Edgar Allan Poe und dann von Concord,229 also von
Emerson und Thoreau, nicht anders als zur Zeit von Melville
oder schließlich heute von der avantgardistischen amerikani-
schen Literatur. Durch dieses Moment, daß alle für alle sind
und daß alles, was ist, nur ein Für-Anderes und nicht ein An-
sich ist, bildet sich eine Art des Drucks heraus, die in gewisser
Weise viel größer ist als der autoritäre Druck, der auf uns
lastet, nämlich eben der Druck der Konformität, also der
Druck, so zu sein wie alle andern und bis in die innersten Ver-
haltensweisen sich nicht zu unterscheiden, nicht aufzufal-
len.230 Es ist, nebenbei bemerkt, gerade dieses Element der
Konformität und des Drucks der Konformität, der es uns Eu-
ropäern in Amerika so besonders schwermacht, das heißt, wir
haben meistens nur die Wahl, entweder davor zu kapitulieren
und dann diese Kapitulation zu bezahlen mit einer Art von
kritikloser Überidentifikation mit Amerika, die bei vielen
Emigranten sich etwa gefunden hat und heute noch findet,
oder in die Isolierung zu gehen, uns abzukapseln und es zu ei-
ner wirklichen Dialektik zwischen der amerikanischen Er-
fahrung und dem, was wir selber sind, gar nicht recht kom-
men zu lassen. Und es scheint wirklich so, als ob ein Drittes
kaum überhaupt irgendeinem Menschen möglich sei. Das ist
vielleicht die tragische Fatalität, die in der Beziehung von
deutscher und amerikanischer Kultur heute jedenfalls sich ab-
spielt.
Wenn ich Ihnen dieses negative Element der sogenannten
amerikanischen Kultur ebenfalls ganz drastisch illustrieren
soll, so möchte ich Ihnen ein Wort von Hölderlin nennen, das
lautet: »Ich verstand die Sprache des Äthers, die Sprache der
Menschen verstand ich nie«231. Nun, es gibt heute genü-
gend nicht-konformistische Dichter, die sich als Professoren
an irgendwelchen Colleges mehr oder minder bescheiden,

168
manchmal auch gar nicht so bescheiden, durchschlagen, als
daß nicht etwa auf dem Wege der geistigen Apperzeption und
Reflexion auch ein solches Wort wie dieses Hölderlinwort
sich in der amerikanischen Diskussion fände. Aber daß es zu-
nächst dem amerikanischen Lebensgefühl unendlich fern-
liegt, daß ein Amerikaner einen zunächst fragen würde: ›Was
soll das überhaupt heißen, ich verstand die Sprache des
Äthers? Der Äther spricht doch gar keine Sprache, es gibt kei-
ne andere Sprache als die der Menschen, und was du die Spra-
che des Äthers nennst, das ist ja nur in Wirklichkeit eine psy-
chologische Projektion deiner eigenen Sprache‹, daß Ihnen
also, was weiß ich, jeder amerikanische normale Collegestu-
dent das zunächst entgegenhalten wird und daß das ganze Le-
bensgefühl im Zeichen dieses Bewußtseins steht – ich glaube,
das wird sich schwer bestreiten lassen. In der amerikanischen
Kulturdiskussion, auf dem Niveau der Massenkultur jeden-
falls, begegnet einem oft eine Frage etwa dergestalt – und die
Kombination an sich spricht schon für oder vielmehr gegen
sich: ›Wie kommt es, daß Amerika bis heute noch keinen
Beethoven oder keinen Tschaikowsky hervorgebracht hat?‹
Ich zitiere auch das wörtlich aus einer ungeheuer verbreiteten
amerikanischen Publikation.232 Nun, darauf wäre zu sagen,
daß das Ich-Ideal der amerikanischen Kinder, das Ich-Ideal,
an dem man überhaupt seine Leistung mißt, von vornherein
in Amerika so verschieden ist, daß es zu dem Willen, ein
Beethoven oder ein Tschaikowsky zu werden – wenn Sie mir
die Barbarei einer solchen Formulierung durchgehen lassen –,
überhaupt eigentlich gar nicht recht kommen kann. Ein
Kind, das darauf im Ernst verfiele, das würde wahrscheinlich
in seiner Klasse als ein ›sissy‹, als ein feminines, tendenziell ho-
mosexuelles Schwesterchen schon von Anfang an durchge-
prügelt werden und würde überhaupt kaum Chancen haben,
sich richtig zu entwickeln, wenn es im Ernst solche Aspiratio-
nen überhaupt hätte. Das Ich-Ideal, an dem man sich bildet,
ist das Ich-Ideal des Erfolgs, der gleichsam die gesellschaftli-
che Honorierung der eigenen Existenz darstellt, weil ja im

169
Sinn des von mir Ihnen angedeuteten amerikanischen Kultur-
ideals eben überhaupt in der realen Gesellschaft die Macht
gesucht wird, durch die Kultur sich bewähren und sich bestä-
tigen soll. Es fehlt ganz und gar die Vorstellung der nicht ho-
norierbaren Qualität, außer eben bei den Expatriates und den
bewußten Nonkonformisten. Nun könnten Sie mich fragen,
das Besondere und das Exzeptionelle und das nicht im Beste-
henden Aufgehende, das hat es halt überall in der ganzen Welt
schwer. Wenn man sich vorstellt, was in Deutschland um das
Jahr 1800 etwa an Geist sich geregt hat, oder wenn man sich
vorstellt, was überhaupt im gesamten Europa um das Jahr
1910 – nun im Sinn der Geisteskultur gesprochen – an geisti-
gen Energien freigeworden ist, dann wird man doch sehen,
daß, nun nach dem Maßstab der Geisteskultur jedenfalls, die
gesamtgesellschaftlichen Voraussetzungen für die Bildung be-
deutender und nicht mit dem Bestehenden harmonisierender
Leistungen bei uns viel größer waren. Es fehlt gleichsam die
Schutzhülle, die Isolierschicht, in der jene Art von Talent sich
bildet, die nicht sogleich aufgeht in der Angleichung an das,
was anders ist. Es fehlen vor allem drüben die feudalen, die
nicht marktmäßigen Residuen der Gesellschaft, und es fehlt,
wie ich andeutete, ebenso auch eine alte Oberschicht. Und es
ist ja eine merkwürdige Dialektik, daß in Europa gerade das
Element des Modernen, des Avantgardistischen, dessen, was
nicht honoriert wird, materiell und auch geistig lebt von
Rückständen gerade einer vorkapitalistischen Ordnung, in
der das Tauschprinzip noch nicht universal durchgesetzt ist.
Wir haben es drüben mit einer durch und durch vergesell-
schafteten Gesellschaft zu tun. Man kann etwa immer wieder
solchen Äußerungen begegnen wie, daß ein Mensch, der
glaube, daß er in seiner theoretischen Überzeugung recht und
all die andern oder eine große Mehrheit von anderen Men-
schen unrecht haben, daß das von vornherein ein tendenziel-
ler Geisteskranker, ein Paranoiker sein müsse, während genau
in diesem Moment des Widerstands, dem in der Tat dann die
paranoiden Elemente selten fehlen, überhaupt jede geistige

170
Freiheit und jede geistige Produktivität eigentlich waltet. Ich
darf hier vielleicht noch auf ein Moment hinweisen, an das
gewöhnlich, wenn man von dieser Problematik spricht, gar
nicht gedacht wird. Das ist nämlich, daß eine ganze geistige
Sphäre, die für das europäische Gesamtbewußtsein zentral ist,
in Amerika ausgefallen ist, nämlich das Bereich der spekulati-
ven Metaphysik in einem allerweitesten Sinn.233 Jedenfalls ist
es in der Breite des amerikanischen Lebens so gewesen, daß
der positive Glaube an die Religion, und zwar an die Reli-
gion in einem sektenhaft starren und positiven Sinn, wie er
durch den Begriff des Fundamentalismus etwa bezeichnet
wird, unmittelbar abgelöst worden ist durch den ebenso posi-
tiven und, wenn Sie wollen, unflexiblen Glauben an die Wis-
senschaft, ihre positiven Resultate, an das, was man messen
und zählen kann, während die Sphäre des autonomen, sich in
sich selbst reflektierenden, des eigentlich freien Gedankens
dazwischen doch wesentlich ausgefallen ist. Und ich glaube,
nur wenn man sich darüber klar ist, daß Amerika durch die
Erfahrung des spekulativen Gedankens substantiell nicht
wirklich hindurchgegangen ist, kann man gewisse Tendenzen
des amerikanischen Geistes – ich denke jetzt vor allem eben
gerade an die amerikanische Wissenschaft – sich recht vorstel-
len. Da ist etwa die universale Neigung, wenn man einen Ge-
danken ausspricht, daß man sogleich gefragt wird: ›Where is
the evidence?‹, also wo ist der Beweis für diesen Gedanken,
das heißt, wo sind die Tatsachen, auf die du diesen Gedanken
zurückführen kannst.234 Auch dieses Motiv hat etwa gegen-
über einer gewissen Neigung des wild gewordenen Gedan-
kens bei uns, der sich selber dekretiert und absolut setzt, etwas
Heilsames, etwas sehr Positives gegen die bloße Dogmatik.
Aber er hat zugleich auch das Negative, daß er in einer Art
von Denkverbot terminiert. Mir ist von einem befreundeten
Professor erzählt worden, daß an der Columbia-Universität
einmal einem Studenten der Kunstgeschichte zu Anfang sei-
ner Arbeit gesagt wurde: ›You are here in order to do research,
not to think‹. [Lachen im Auditorium] Nun, das ist eine Karika-

171
tur und ist sicher eine Seltenheit, aber es zeigt eben jenes au-
ßerordentlich bedenkliche negative Element.
Lassen Sie mich dem nur noch hinzufügen, daß diese re-
pressiven Tendenzen des Konformismus nun auch ökono-
misch zusammengefaßt sind in dem gewaltigen System der
amerikanischen Kulturindustrie, die eine Art totales, ver-
dinglichtes System geradezu der Heteronomie eigentlich dar-
stellt. Es ist ein alles ineinbegreifender Mechanismus, der
nichts, schlechterdings gar nichts draußen läßt, der auch die
geistige Organisation nicht draußen läßt. Es ist also etwa für
einen Schriftsteller in Amerika etwas fast Selbstverständliches,
daß, wenn er eine Arbeit irgendwo einreicht, daß ihm dann
gesagt wird, diese Arbeit, die brauche ein ›editing‹, die müsse
also irgendwie bearbeitet werden, damit sie marktfähig und
verkäuflich wird. Und ich weiß, daß, als eine Arbeit von mir
in einem der angesehensten amerikanischen wissenschaftli-
chen Journale angenommen war, mir die Arbeit dann gesandt
wurde mit einem ›editing‹, durch das ich meine eigenen Ge-
danken nicht wiedererkannt habe. Als ich darauf die Arbeit
zurückzog, bekam ich einen ebenso freundlichen wie ver-
ständnislosen Brief darauf, in dem zu lesen stand, daß doch
gerade dieses Magazin – es war kein Magazin, sondern eine
wissenschaftliche Zeitschrift – der Einheit, mit der sämtli-
che Artikel eben ›geeditet‹ würden, seine außerordentliche
Wirksamkeit verdanke, und es sei doch wahrscheinlich von
mir außerordentlich töricht, daß ich diese Chance, meine
Gedanken, von denen nichts mehr übriggeblieben war, unter
die Leute zu bringen, nun also versäumen würde.235 [Lachen
im Auditorium] Daß es einem passieren kann, daß von einem
Buch, das also nicht in der üblichen Weise aufgebaut ist, son-
dern etwa dialektisch sich fortbewegt, daß es einem dann pas-
sieren kann, daß von diesem Buch gesagt wird, es sei ›badly
organized‹, weil nicht vor und nach jedem Paragraphen gesagt
wird, wo er hinführt, was er soll und überhaupt, wozu das
Ganze da ist, möchte ich nur nebenbei bemerken. In dieselbe
Sphäre gehört etwa in der Musik die fast universale Gepflo-

172
genheit des Arrangements oder die Zurichtung aller erdenk-
lichen Dinge für den Film. Auch daß man etwa gefragt wird
bei einer Publikation sogleich: ›At which audience do you
aim?‹, anstatt daß die Sache selbst gewertet wird, daß also eine
Publikation zunächst gesehen wird in Kategorien ihres mög-
lichen Wirkungszusammenhangs anstatt als eine Sache für
sich, ist wohl für das sehr bezeichnend.
Daß etwa die Art, mit der man in Deutschland dazu ten-
diert, den Jazz, den amerikanischen Jazz – wobei dann immer
aber gesagt wird, der Jazz, den ich meine, das ist gar nicht der
allgemeine Jazz, sondern ist ein ganz besonderer Jazz –, mit
avantgardistischen Tendenzen in der Musik zusammenzuwer-
fen und zu konfundieren, das ist ebenso ein Symptom dieser
völligen Desorientierung, die daher kommt, daß wir in Euro-
pa den Schleier der Standardisierung, den die Kulturindustrie
über alles legt – oder ein adäquateres Bild würde sagen: die
Cellophanhülle, in die alles durch die Kulturindustrie ver-
packt wird, nicht recht zu durchdringen vermögen.
Hierher gehört natürlich auch das Problem der histori-
schen Kontinuität. Wir pflegen ja den Amerikanern sehr den
Mangel an historischem Sinn ebenso wie überhaupt den
Mangel an Tradition vorzuwerfen, das ist ein Ladenhüter so-
zusagen des kulturkonservativen europäischen Antiamerika-
nismus. Gerade hier aber, glaube ich, liegt die gröbste Unge-
rechtigkeit deshalb vor, weil nicht, wie es hüben und drüben
von Ideologen immer wieder behauptet wird, die amerikani-
sche Kultur, wenn man ihr nur Zeit läßt, recht gemütlich zu
wachsen und sich zu entfalten, der deutschen oder der ge-
samteuropäischen nacheifern wird – sondern gerade umge-
kehrt glaube ich, daß die geschichtliche Gesamttendenz auf
eine Amerikanisierung von Europa herausläuft, zu der man
kritisch stehen mag, so sehr man nur will, die man aber zu-
nächst jedenfalls als eine für Europa entscheidende Tatsache
anzuerkennen hat. Und gerade hierher gehört auch das Pro-
blem des Verlusts an historischem Bewußtsein. Mein Göt-
tinger Kollege Hermann Heimpel hat ja in seinen Arbeiten,

173
ohne dabei übrigens, soweit mir erinnerlich ist, auf Amerika
zu exemplifizieren, sehr eingehend gezeigt, daß das deutsche
geschichtliche Bewußtsein in einer Art Zerfall ist, das heißt,
daß auch wir dazu tendieren, alles das zu vergessen, wovon
wir den Amerikanern vorzuwerfen pflegen, daß sie es nicht
wüßten.236 In all diesen Dingen ist nicht etwa Amerika zu-
rückgeblieben, sondern Europa hinkt hinter Amerika her,
und wenn es schon um das schiefe Verhältnis zur Geschichte
geht, so mag man wohl die Frage aufwerfen, ob die falsche
deutsche Renaissance des Lüchowschen Restaurants in New
York237 nicht immer noch dem Amerikanismus vorzuziehen
ist, mit dem wir aus Rothenburg längst ein Verkaufsobjekt
gemacht haben, und ich hätte beinahe gesagt, auch [aus] Salz-
burg. Aber wir können sicherlich von den Amerikanern das
lernen, daß wir die Verhältnisse, in die wir hineingeboren
sind, nicht länger, wenn Sie mir den Amerikanismus gestat-
ten, ›for granted‹ nehmen, daß wir nicht länger die kulturellen
Verhältnisse, in denen wir leben, selber so betrachten, als ob
sie naturgegeben wären, sondern wir können von ihnen ler-
nen, auch der eigenen Geschichte und den eigenen Bedin-
gungen der Existenz gegenüber eine Art von Freiheit zu ge-
winnen, die wir bis heute eigentlich gar nicht so recht haben.
Ich möchte nur hier ein Beispiel Ihnen noch sagen. Ein mir
befreundeter Pianist hat mir vor einiger Zeit erzählt – ein
deutscher Pianist –, daß er bei der Überfahrt von Amerika
nach Südamerika mit jemand zusammen gefahren wäre, der
sich danach erkundigte, was er tue, und als er hörte, daß er
Pianist sei, sagte der Mann ihm: ›Well, many entertainers now
go to South America‹.238 Nun, der Freund von mir war dar-
über außerordentlich entrüstet, und er hat mit dieser Entrü-
stung sicher recht gehabt; es ist eine Barbarei, einen Men-
schen, der also Beethoven-Sonaten und Schumann spielen
will, als eine Art Spaßmacher von vornherein zu sehen. Aber
ich möchte sagen, selbst hier, in diesem Moment, daß man
daran gemahnt wird, daß auch die oberste Kunst, wie Tho-
mas Mann es einmal genannt hat, eine Art von »höherem

174
Jux«239 sei, ist etwas, woran wir Artisten ein wenig Selbst-
besinnung lernen könnten, und gerade eine Einschränkung
des Absolutheitsanspruchs dessen, was wir tun, der uns wahr-
scheinlich nur zugute kommt. Ich halte für meinen Teil für
viel bedenklicher in der amerikanischen Kultur als diese Vor-
stellung vom ›entertainer‹, die mir ja auch nicht gerade nahe-
liegt, die Tendenz, die Kultur gewissermaßen in Regie zu
nehmen, zu einer Sache von Komitees älterer Damen zu ma-
chen. Auch hier möchte ich allerdings sagen, daß auch diese
Situation, wie sie sich etwa in dem Stumpfsinn der meisten
musikalischen Programme ausprägt, drüben nicht absolut ge-
setzt werden darf, sondern es ist hier doch so, daß sich da
etwas Ähnliches anbahnt wie vielleicht in Rom zu helle-
nistischen Zeiten, daß nämlich durch den Ausverkauf der eu-
ropäischen Intellektuellen, durch den Ausverkauf der eigent-
lichen Träger der europäischen Kultur, die in hellen Haufen
nach Amerika gehen, unter Umständen doch ein Umschlag
erfolgen kann. [. . .]
Nun, meine Damen und Herren, wenn Sie mich fragen,
was soll man nun mit Rücksicht auf das Verständnis der bei-
den Kulturen tun, so bin ich zunächst dazu geneigt – wie im-
mer, wenn man mich fragt, was man tun soll – zu antworten,
man soll zunächst einmal versuchen, nicht stur auf dem je ei-
genen Standpunkt zu beharren, sondern die Dinge so kom-
plex zu sehen und die Dinge so zu begreifen, wie ich es heute
abend, wie immer auch unzulänglich, versucht habe, Ihnen
klarzumachen. Das wird hier und dort erschwert. Dort durch
jenes merkwürdige Gefühl, man sei ›God’s own country‹, das
ja von Kulturkritikern drüben sehr viel analysiert worden ist,
bei uns durch eine bestimmte Art des kollektiven Narzißmus,
die eigentlich jeden kritischen Gedanken heute in Deutsch-
land, den man über deutsche Dinge anmeldet, verdrängen
läßt und darauf von vornherein den Gegenschlag des ›Ja –
aber‹ produziert. Aber ich meine – und damit möchte ich
schließen –, es kommt nicht darauf an, daß man einfach, weil
man so nett und so freundlich und so aufgeklärt ist, sich ge-

175
genseitig versteht. Es kommt auch nicht darauf an, daß man
sieht, das hat seine guten Seiten und jenes hat seine guten
Seiten und seine schlechten Seiten. Wenn mein Vortrag in
diesem Sinn verstanden würde, dann, glaube ich, würde er
nicht richtig verstanden. Sondern ich glaube, es kommt wirk-
lich darauf an, daß man am Eigenen wie an dem Anderen des
kritischen Gedankens mächtig bleibt, anstatt daß man vor der
Übermacht dessen, was hier und dort nun einmal so ist, kapi-
tuliert und sagt: ›Das ist so, das muß so sein, das muß man hin-
nehmen‹. Das, was wir versuchen sollten zu überwinden, dort
und hier, ist eigentlich nichts anderes als die Verhärtung gegen
den kritischen Gedanken überhaupt, und ich wollte eigent-
lich nicht mehr, als Ihre eigenen Gedanken anzuregen zu ei-
ner gewissen Verflüssigung dieser geronnenen Gegensätze,
die ich freilich anders als in ihrer geronnenen Form Ihnen
nicht präsentieren konnte, eben deshalb, weil sie heute in ei-
ner verdinglichten Welt nun einmal geronnen sind.

176
Abhängigkeit des Ausbildungszieles
von den Studenten und ihren Erwartungen
12. 7. 1957

Meine Damen und Herren,

[. . .]240 beiden Momente, Bildungsziel und Bedürfnis ausein-


anderweisen. Der traditionelle Begriff der Bildung, in dem
wir alle noch groß geworden sind, wird, wenn ich das so vul-
gär ausdrücken darf, heute nicht mehr honoriert. Es ist zwar
immer wieder von ›Allgemeinbildung‹ die Rede, es ist immer
wieder die Rede von der Notwendigkeit, daß ein Mensch ei-
nen weiten Horizont habe, aber das alles hat doch so ein we-
nig den Charakter der Garnierung eines Bratens und ist von
den Menschen, die außerhalb unserer eigenen, der akademi-
schen Sphäre so reden, nicht so ganz ernst gemeint, sondern
bedeutet eigentlich ja noch eine Art zusätzliche Qualität, die
zu der Verwendbarkeit im praktischen Sinn und der Kenntnis
solcher Dinge, die die Voraussetzung für die Arbeit in dem so-
genannten realen Leben, was immer das sein mag, ausma-
chen, hinzutreten soll. Das Bildungsziel ist, so könnte man sa-
gen, bei uns heute nicht mehr in dem Sinn substantiell, daß
ein stillschweigendes und unproblematisches Einverständnis
herrschte zwischen der Universität, der Gesellschaft, unter
den Lehrern und unseren Schülern, aus dem heraus dann das,
was sich an Bildung abspielt, folgen würde. Ich pflege, um das
zu illustrieren, auf eine kleine terminologische Differenz zu
verweisen, die mir recht charakteristisch dünkt. Im »Faust« –
und verzeihen Sie, wenn ich nun gar anfange, »Faust« zu zitie-
ren – steht jener berühmte Satz, es sei der »gute Mensch in
seinem dunklen Drange sich des rechten Weges wohl be-
wußt«241. Wenn Sie an die Inflation denken, die heute das
Wort ›Leitbild‹ ergriffen hat, dann macht Ihnen das wohl die
Differenz sehr drastisch klar, die ich hier vorab herausheben
möchte, das heißt, gerade deshalb, weil der gute Mensch in
seinem dunklen242 Drange des rechten Weges sich nicht mehr

177
bewußt ist, weil also zwischen dem Dunklen, dem nicht mehr
Erhellten, und dem Bewußten und rational Artikulierten
nicht mehr jener Zusammenhang herrscht, von dem wir we-
nigstens zu unterstellen lieben, daß er in den 50 oder 60 Jah-
ren des sogenannten geistigen, des sogenannten deutschen
Klassizismus geherrscht habe, deshalb wird immerzu die
Frage nach dem Leitbild gestellt, die Frage nach dem, wozu
wir nun eigentlich zu erziehen hätten. Und es ist da eine Art
von Hexerei im Spiel, im Augenblick, in dem man nach ei-
nem solchen Leitbild fragen muß, in dem das Erziehungsziel
nicht mehr dem Erziehungsprozeß selber immanent ist, son-
dern gleichsam etwas draußen, woraufhin er gelenkt werden
soll, in diesem Augenblick will es tatsächlich nicht mehr ge-
raten.
Es hat nun konkret den Aspekt, daß zwei Momente unver-
mittelt und bis zu einem gewissen Grad einander antagoni-
stisch gegenüberstehen, nämlich auf der einen Seite die wie
immer auch modifizierten und kritisch verwendeten Vorstel-
lungen, die wir selber von Bildung sei es noch mitbringen
oder in unserem Bemühen um diese Fragen uns erworben ha-
ben, und auf der anderen Seite das, was die Studenten von
sich aus wollen, oder wenigstens, was sie brauchen, um mit
Hilfe dessen, was sie bei uns lernen, für ihr Leben erwerben zu
können. Nun beides, möchte ich sagen, ist gleichermaßen
problematisch. Das Bildungsziel ist deshalb problematisch,
weil es eben, wie ich sagte, diesen merkwürdig abstrakten und
unverbindlichen Charakter hat, der es dann so leicht dazu
bringt, daß es in eine bloße Ideologie übergeht, daß es den
Charakter der Kaisers-Geburtstagsrede hat, in der dann also
kurz vor dem Kaiserhoch erklärt wird, daß es auf die Bewah-
rung der höchsten Güter des Wahren, Guten und Schönen
ankomme, oder um noch etwas Grausligeres zu sagen, daß es
auf die Bewahrung der ›Kulturwerte‹ oder gar, wie Troeltsch
in einer schwachen Stunde es formuliert hat, auf die ›Kultur-
synthese‹ ankomme.243 Auf der anderen Seite aber ist – und
daran ist kein Zweifel – zum mindesten dieses Bewußtsein,

178
daß man die Universitätskrise betrachtet, ehe man sehr genau
in die Fragen des tatsächlichen Bewußtseins der Studieren-
den eingestiegen ist, ebenfalls problematisch und nicht min-
der problematisch jene gewisse Haltung des ›Was brauchen
wir?‹ – ›Was brauchen wir nicht?‹, jene Haltung, die durch
das wahrhaft verfluchte und unselige Wort ›Ballast‹ vielleicht
am charakteristischsten definiert wird, jene Tendenz zur
Geistfeindschaft, jene Tendenz, den Geist überhaupt als einen
Luxus abzuschaffen, der man jedenfalls als einem Extrem
doch immer wieder begegnet, begegnen wird. Es hilft dage-
gen sowenig die sture Berufung auf das tradierte Bildungs-
ideal, mit dem in dieser Welt ja wirklich kein Hund mehr hin-
ter dem Ofen hervorzulocken ist, wie auf der anderen Seite
die Anpassung an eine sich bemerkbar machende Tendenz,
die schließlich darauf hinausliefe, daß überhaupt dem Geist
jegliche Transzendenz geraubt würde, jegliche Transzendenz
in dem ganz einfachen Sinn, daß er dann aufhörte, mehr zu
sein als ein bloßes Hilfsmittel zur Reproduktion dessen, was
ohnehin ist, was ohnehin der Fall ist. Patentlösungen aber,
Lösungen, die man ein für allemal anbieten könnte, gibt es
darum nicht, weil das Problem, das ich Ihnen kurz exponiert
habe, ja nicht ein bloß innerakademisches, sondern ein ge-
samtgesellschaftliches Problem ist, das uns zwar intra muros
immer wieder begegnet und von dem wir daher auch leicht
uns verführen lassen zu glauben, daß es mit den spezifischen
Bedingungen unserer Universität zusammenhinge, und das in
der Tat auch zahlreiche akademische hat, aber es ist äußerst
schwer, diese spezifisch akademischen Aspekte des Problems
von den gesamtgesellschaftlichen zu trennen, wie ich viel-
leicht hier überhaupt anmerken darf, daß es ein gar nicht zu
verachtendes und sehr ernstes Problem überhaupt der Sozio-
logie darstellt, wieweit irgendwelche Phänomene, die man
beobachtet, den spezifischen Dingen zuzurechnen sind, an
denen diese Symptome oder Erscheinungen zutage kommen,
und inwieweit diese besonderen Verhältnisse dabei in Wahr-
heit Träger sind von weit allgemeineren, im Wesen der ge-

179
genwärtigen Gesellschaft selber ruhenden Tendenz[en]. Ich
darf hier vielleicht nur an einige Momente erinnern, die als
gesamtgesellschaftlich[e] in Betracht kommen. Das erste ist
natürlich, daß in der spätindustriellen Gesellschaft das huma-
nistische Bildungsideal deshalb problematisch geworden ist,
weil es mit den Notwendigkeiten dieser Gesellschaft unmit-
telbar längst nicht mehr zusammenhängt. Der Satz von Vol-
taire ›Où il n’y a pas le vrai besoin, il n’y a pas le vrai plaisir‹,244
der gilt in der Tat auch hier, in dem Sinn nämlich, daß, wo ein
substantielles Bedürfnis der gesellschaftlichen Existenz nach
irgendwelchen geistigen Gütern oder überhaupt nach ir-
gendwelchen Gütern nicht mehr herrscht, daß dann diese
Güter nicht mehr unangefochten davon weiterexistieren
können, sondern daß sie davon angefressen werden und eine
gewisse Tendenz bilden, zur bloßen Dekoration zu entarten.
Also, ich brauche Sie nur etwa daran zu erinnern, daß ein Be-
griff wie der der in sich gefestigten, harmonischen, autono-
men, widerstandsfähigen, unbeirrten Persönlichkeit, wie er ja
das Zentrum der klassizistischen deutschen Bildungslehre von
Wilhelm von Humboldt ausmacht, heute einfach deshalb an
Substanz verloren hat, weil die Bedürfnisse, die in der Wirt-
schaft und Verwaltung an die Menschen gestellt werden, so,
von einer solchen Art sind, daß sie dieses Ideal sei es außer
Kurs setzen, sei es geradezu negieren. Das heißt also, in der
verwalteten Welt kommt es viel mehr auf Anpassung, auf
Wendigkeit, auf die Fähigkeit des Sicheinordnens, auf solche
Qualitäten an als darauf, daß man nun unbeirrt sich selbst als
Persönlichkeit einsetzt. Ich glaube, es ist kein frevelhafter Ma-
terialismus, wenn man sagt, daß die Vorstellung von dieser
Selbständigkeit der Individualität doch ganz wesentlich zu-
sammenhängt mit dem Gedanken des freien Unternehmer-
tums, in dem auf sich selbst gestellte Menschen in der Realität
etwas Wesentliches erreichen, während für unsere gegenwär-
tige Gesellschaft dieser Typus zum mindesten nicht mehr als
ein Archetypus bezeichnet werden kann. Nun, bitte verste-
hen Sie mich nicht falsch, ich weiß sehr genau, daß auch in

180
vergangenen gesellschaftlichen Phasen die Zahl der freien
Unternehmer gegenüber der der anderen Mitglieder dieser
Gesellschaft überaus beschränkt gewesen ist, aber man kann
doch sagen, daß von dieser Vorstellung des liberalen, sich
selbst bestimmenden, auf sich selbst stehenden einzelnen, der,
indem er seine eigenen Intentionen verfolgt, eben damit der
Harmonie des Ganzen dient, daß von dieser Vorstellung je-
denfalls die hochliberale Ära in einem wesentlichen Umfang
bestimmt worden ist. – Ich füge weiter hinzu an solchen ge-
samtgesellschaftlichen Bedingungen die Erwähnung der tra-
ditionellen Gesellschaftsstruktur und der an sie gebundenen
Kultur, ohne daß ein substantiell anderes an sie gebunden ge-
wesen wäre. Also, man braucht nur einmal etwa – wenn ich
ein Beispiel wählen darf aus einem Bereich, der mir besonders
naheliegt –, man braucht nur einmal daran zu denken, wie
wenige Menschen relativ im Vergleich zur Bevölkerungszahl
heute innerhalb der sogenannten Gebildetenschicht noch
selber Klavier spielen lernen und auf diese Weise mit der gro-
ßen Musik in einem selbständigen Sinne sich vertraut ma-
chen, um sich klar darüber zu sein, wie wenig heute mehr das,
was man Kultur im Sinne der Kulturgüter, der großen Werke
der Kunst, der Philosophie, der Wissenschaft nennt, den
Menschen, soweit sie nicht hoch spezialisiert sind, unmittel-
bar gegenwärtig ist, und das Problematische dabei, das, was
eigentlich alle unsere Bemühungen um die sogenannte Bil-
dungskrise so außerordentlich ernst macht, was diesen Din-
gen den Stachel gibt, das ist die Tatsache, daß zwar diese in
aller Beschränktheit doch in sich relativ homogene und for-
mende bürgerliche, hochbürgerliche, liberale Kultur zwar
vergangen ist, daß sich aber an ihrer Stelle eigentlich nichts
anderes zeigt als die von der Kulturindustrie verwaltete Mas-
senkultur, die man nur fälschlich und irreführend mit spät-
bürgerlicher ›Mittelstandsgesellschaft‹ bezeichnet,245 während
es sich dabei in Wirklichkeit um ein weitgehend bloß ideolo-
gisches und seiner geistigen Substanz nach außerordentlich
problematisches Gebilde handelt.

181
Schließlich ist wohl auch noch gestattet, daran zu erinnern,
daß der Geist selbst dadurch, daß er sich in der Phase, die wir
erlebt haben, so unsagbar blamiert hat, daß er es also so sehr hat
an der Kraft fehlen lassen, dem namenlosen Unheil, das unter
dem Namen der totalitären Regime beider Färbungen in die
Welt gegangen ist, zu widerstehen, daß dadurch der Geist sel-
ber, den wir, die wir hier versammelt sind, ja alle geneigt sind,
als ein unproblematisches und als ein sozusagen unbezweifel-
bares [Substantielles] anzusetzen, durch seine eigene Schuld,
muß man wohl sagen, an Autorität unendlich viel verloren
hat, wozu noch hinzuzufügen ist, daß die philosophische Ge-
samtentwicklung insofern das auch ausdrückt, als jene Lehre
von dem Primat des Geistes über die Realität, die im deut-
schen Idealismus zugleich der geistige Kern jenes Bildungs-
klassizismus gewesen ist, von dem ich gesprochen habe, un-
wiederbringlich verloren ist, und zwar nicht etwa deshalb
verloren, weil die Menschen so böse, schlecht, oberflächlich
und ungeistig geworden wären, sondern aus dem viel ernste-
ren Grund, daß die Theorie selber, die den Primat des Geistes
behauptet hat über alles Seiende oder gar die Identität des
Geistes mit allem Seienden, als solche eben sich als unwahr
erwiesen hat, nicht länger da ist. Füge ich dem noch hinzu,
daß durch die Massengesellschaft von heute ein ungeheurer
Zustrom von Menschen in die geistige Welt erfolgt, die ihren
traditionellen Voraussetzungen nach viel weniger dazu qua-
lifiziert sind als der relativ sehr kleine Bestandteil der Be-
völkerung, der früher daran teilgehabt hat, dann habe ich
unsystematisch, aber doch dafür wenigstens durch einige Ner-
venpunkte Ihnen abgesteckt, warum ich in der Tat glaube, daß
diese Bildungskrise eine gesamtgesellschaftliche Krise ist und
daß wir einen sehr gefährlichen Fehler machen wollten, wenn
wir sie der Universität lediglich zurechnen wollten oder wenn
wir gar uns damit beschieden, nun über den Geisteszustand ei-
nes erheblichen Teils der uns anvertrauten Studierenden in
Klagen auszubrechen. Diese Sentimentalität steht uns nicht
an, und ich glaube, die erste Voraussetzung überhaupt zum

182
Besseren wäre die, daß wir von einer solchen Sentimentalität
uns grundsätzlich frei machen. Das bedeutet aber nichts an-
deres, als daß wir notwendig, wenn uns in unserm dunklen
Drange – und ich sage ausdrücklich ›in unserem dunklen
Drange‹ und nicht als ein ›Leitbild‹ – ein Besseres doch vor Au-
gen steht, daß wir dabei auf das Bewußtsein der uns anvertrau-
ten akademischen Jugend rekurrieren müssen, daß wir uns
darum bekümmern müssen, wie es damit wirklich aussieht,
anstatt uns dabei zu bescheiden, daß wir am grünen Tisch, wie
man das so sagt, Modelle der Universitätsreform ausarbeiten,
die etwa von dem Bildungsziel her oder gleichsam von oben
her in einer undialektischen Weise über diese Gegebenheiten
sich einfach hinwegsetzt. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich
möchte damit – und ich glaube, daß gerade ich kaum in Ge-
fahr bin, in diesem Sinn, in diesem Geist mißverstanden zu
werden –, ich möchte damit nicht etwa dem im mindesten das
Wort reden, daß wir nun aus lauter Angst, unsere Abnehmer,
die Studenten zu verlieren, die etwa in die Fachschulen oder
sonstwohin, etwa nach Amerika abwandern könnten, daß wir
uns nun diesem Bewußtseinsstand der Studenten einfach an-
zupassen haben und daß wir ihnen nach dem Munde reden
sollen und daß wir ihnen sozusagen einreden sollen, daß man
besser Handschuhe verkaufen kann, wenn man eine Hölder-
lin-Ode interpretieren kann. Das ist selbstverständlich dabei
nicht gemeint, sondern im Gegenteil, es wird sich fraglos aus
einer Kenntnis dieses Zustands der Studierenden ein Moment
auch der sehr fruchtbaren Reibung und des sehr fruchtbaren
Widerstandes ergeben. Ich hoffe Gelegenheit zu haben, im
Laufe dessen, was ich Ihnen noch sagen will, darauf sehr viel
spezifischer zu kommen. Aber ohne daß man das weiß, was da
bei den Studierenden – nicht bei den246 Studierenden, son-
dern bei einem sehr großen Teil der Studierenden – vorliegt,
und ohne daß man das sehr schwernimmt und sehr schwer in
Rechnung setzt, ohne das ist wirklich alles andere in einem
problematischen Sinn akademisch, nämlich mit Ohnmacht
geschlagen, und wenn es uns mit der Universitätsreform ernst

183
ist, dann kommt es uns ja darauf an, daß diese Universitätsre-
form wirklich zu etwas führe, und nicht etwa, daß sie uns bloß
die narzißtische Befriedigung verleiht, daß sie in irgendeiner
Weise die Ideale widerspiegelt, die nun einmal mehr oder
minder die unsrigen sind. Zugleich aber – und das möchte ich
doch mit Rücksicht auf die Tatsachen, die ich Ihnen nun vor-
trage, sehr hervorheben – ist es auch deshalb sehr wichtig, sich
einmal näher um das Bewußtsein der Studenten zu kümmern,
weil ein Teil der Aussagen, die wir aus unserer lebendigen Be-
obachtung, aber mehr noch vom Hörensagen zu machen ge-
neigt sind, doch sehr simplifiziert ist. Man kann, gerade wenn
man einen negativen Zustand erfährt, solang man diesen nega-
tiven Zustand nicht sehr genau sich anschaut und analysiert,
dadurch auch zu einem nach der schwarzen Seite übertrie-
benen und insofern unrealistischen Urteil kommen, und ich
würde sagen, daß, wenn man also in das Problem des Bewußt-
seins der Studierenden näher eindringt, sich da doch gewisse
Korrekturen und gewisse Ansätze ergeben, die man sonst,
wenn man diese Dinge nur mit der Haltung des Kulturkri-
tikers, über die ich ja schon sonst einiges Kritische gesagt
habe,247 beredet, dann nur allzuleicht verfehlt.
Nun, die Daten aus unserer Studentenumfrage,248 die sich
übrigens auf Frankfurter Studenten beziehen, sind, wie man
das in der Sozialforschung nennt, ein bißchen ›kalt‹, sie gehen
also zum Teil auf mehrere Jahre zurück; ob sie heute und in
welchem Sinn sie heute anders ausfielen, das ist eine Frage,
die sich nur empirisch wirklich streng beantworten ließe. Ich
würde allerdings denken, daß sie zum mindesten eine gewisse
Tendenz anzeigen, und wenn nicht die communis opinio an
dieser Stelle überhaupt vollkommen den Tatsachen entfrem-
det ist und neben den Tatsachen herläuft, dann ist es doch
wohl so, daß das ›Wirtschaftswunder‹ gerade im Sinne einer
Steigerung eines gewissen vulgärmaterialistischen Bewußt-
seins noch ein übriges beigetragen hat. Ich mache also diese
Einschränkung einer relativen [Geltung] nur deshalb, um
mich davor zu schützen, daß man mir nachsagt, ich behaupte,

184
Dinge gelten heute und hier, von denen wir das nicht genau
wissen, aber ich glaube doch, daß ich wenigstens sagen darf,
daß es recht gut motiviert ist anzunehmen, daß es so arg viel
unterschiedlich noch nicht ist.
Nun, in der »Phänomenologie« von Hegel findet sich be-
reits das Problem als eines der Zentralprobleme der Dialektik,
daß in der bürgerlichen Gesellschaft ein entscheidender Wi-
derspruch bestünde zwischen dem, was Fichte »Die Bestim-
mung des Menschen«249 genannt hat, zwischen den Neigun-
gen, Talenten, Bedürfnissen, Anlagen der Menschen, und auf
der anderen Seite dem, was in der arbeitsteiligen bürgerlichen
Gesellschaft, die ganz bestimmte Anforderungen an sie stellt,
die ihnen selbst oft fremd sind, an sie herantritt. Ich glaube,
dieser Widerspruch hat sich innerhalb der geschichtlichen
Gesamtbewegung sehr weit entfaltet, sehr weit fortbewegt.
Und wenn mich [nicht] alles täuscht, dann ist das für die
gegenwärtige Situation Charakteristische nun eben das, daß
das Anwachsen der Quantität dieses Widerspruchs eine neue
Qualität hervorgebracht hat, von der ich jetzt Ihnen einiges
sagen möchte, ehe ich mir gestatte, Ihnen nun eine Reihe der
von uns erarbeiteten Daten [zu unterbreiten,] freilich mehr in
illustrierender Absicht als in der, Ihnen bündige Resultate zu
geben.
[. . .]250
Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen zum Schluß
noch ein paar Worte sagen über das, was zu tun sei. Ich möch-
te vorweg der Ansicht Ausdruck verleihen, daß eine soge-
nannte Synthese in dem Sinne, daß man also auf der einen
Seite die Bildung von oben her zu konservieren trachtet, sie
aber auf der anderen Seite mit den sogenannten praktischen
Desideraten verbindet, mir eine zu äußerliche und zu ober-
flächliche Anschauung zu sein scheint. Ich bin da in der Tat
der Meinung, die Arnold Schönberg einmal formuliert hat in
dem Satz, daß der einzige Weg, der nicht nach Rom führe,
der Mittelweg sei.251 Ich möchte aber doch wenigstens drei
Momente hervorheben – damit wir von Anbeginn hier aus

185
der Sphäre mehr oder minder sei es erbaulicher oder sei es
pessimistischer Allgemeinheiten herauskommen –, bei denen
ich mir denken könnte, daß ein sinnvolles Anknüpfen doch
möglich sei. Auf der einen Seite – das ist das erste – finden Sie
ja, wenn auch in der verwässerten Gestalt von ›Überblick‹ und
solchen Dingen, die Ideologie der Bildung doch bei einem
verhältnismäßig sehr großen Teil der Studenten. Dieser Be-
griff der Allgemeinbildung ist zwar selber pragmatisiert, aber
es gilt da doch wohl auch nur der Operettensatz: »Hab’ ich
nur deine Liebe, die Treue brauch’ ich nicht«252. Das heißt, im
Augenblick, in dem einmal überhaupt die Menschen da Blut
geleckt haben, in dem sie überhaupt einmal mit der Sphäre ei-
nes nicht praktisch verwendbaren Geistes in Berührung ge-
kommen sind, nimmt diese Sphäre ja selber auch eine Art von
Glanz und etwas Lockendes und etwas Schönes an, und die
Menschen kommen dann doch, vor allem, wenn wir ihnen
dabei helfen, vielleicht zu dem Bewußtsein, daß sie sich durch
ihren hartgesottenen Realismus da eigentlich etwas verbieten,
was sie in Wahrheit sich selbst wünschen, und daraus ließe
sich hier vielleicht doch etwas erreichen – wie ich überhaupt
der Ansicht bin, daß man es sich ja mit der Kritik und dem
Aburteilen sogenannter Ideologien deshalb nicht so leicht-
machen soll, weil in Ideologien, damit sie die Menschen
überzeugen, immer auch Wahrheitsmomente enthalten sind
und weil man, indem man an diese Wahrheitsmomente an-
knüpft, es anders machen kann. Wenn ein Mensch einen sehr
schlechten Charakter hat, aber rationalisiert, also alle mögli-
chen scheinbar guten und edlen Motive für sein Verhalten an-
gibt, dann zeigt das ja zum mindesten, daß diese Motive ja in
irgendeiner Weise doch auch in seinem geistigen Haushalt er-
scheinen, und je ernster man nun selbst diese Dinge nimmt
und je näher man ihn dazu bringt, dann auch die Konsequen-
zen zu ziehen, um so eher ist es möglich, nun doch die Situa-
tion vielleicht zu wenden.
Dann ist – und das möchte ich gerade hervorheben, nach-
dem ich Ihnen vorher etwas über die Verdinglichung des Be-

186
wußtseins bei den sogenannten Fachspezialisten gesagt habe –
doch zu sagen, daß überall dort, wo ein bestimmtes253 Fachin-
teresse vorliegt, wo also Menschen in einer bestimmten lei-
denschaftlichen Weise an einen Gegenstand gebunden sind,
doch auch ein geistiges Element notwendig enthalten [ist]. Es
gibt keinen Menschen, keinen Handwerker zum Beispiel,
der an seinem Handwerk leidenschaftlich interessiert ist –
dadurch, daß es ihm auf eine Sache ankommt, die ihm dabei
nicht nur Mittel zum Zweck ist, sondern an der er sich abar-
beitet und in der er überhaupt gleichsam sich erst selbst be-
stimmt, indem er sich daran abarbeitet –, in dem nicht ein
Moment des Geistigen auch angelegt wäre.254 Und meine
Ansicht, wenn ich das auf einem Beine stehend255 gerade
noch andeuten darf, ist eigentlich die, daß, indem man bei
den von Ibsen so genannten ›Fachmenschen‹256 gerade dieses
spezialistische Sonderinteresse nicht etwa in allgemeine Bil-
dungsmotive auflöst, sondern es so intensiviert, daß den
Menschen durch die Versenkung in ihre Sache selber ein
Licht aufgeht, daß gerade da, wo man sozusagen vom Gene-
rellen am weitesten sich entfernt, der Weg zu der eigentlichen
Allgemeinheit am kürzesten ist. Man darf nicht glauben, daß
das Verhältnis des Geistes zu dem Geistfremden gleichbedeu-
tend sei mit dem Verhältnis der abstrakten Allgemeinheit zu
dem bloß Konkreten, sondern gerade mitten durch die Kon-
kretion257 hindurch führt überhaupt der Weg einer mögli-
chen Sublimierung, einer möglichen Vergeistigung.
Und schließlich ist zu sagen, daß, wenn die Beobachtun-
gen [zutreffen], die ich Ihnen heute nur andeuten konnte, daß
in dem Konkretismus, in dem Utilitarismus, den wir also bei
dem hier demonstrierten zweiten Studententyp258 gefunden
haben, der Trotz eine so große Rolle spielt, wenn sie also
wirklich mit Gewalt sich etwas versagen, was sie eigentlich
wollen, daß, wenn wir wirklich Pädagogen sind – und wir
sind ja dazu keineswegs alle in gleichem Maß begabt, und ich
würde am letzten von mir behaupten, daß ich das vermöchte,
aber als ein Desiderat, glaube ich, dürfen wir das doch aufstel-

187
len –, wenn es uns gelänge, diesen Trotz den Menschen be-
wußtzumachen, sie zu dem Selbstbewußtsein überhaupt ihrer
eigenen Situation zu wecken, daß wir dann weiterkämen.
Und ich würde das nun doch vielleicht etwas erweitern in
dem Sinn, daß ich sagen würde, daß der Weg, der über die
Probleme, die ich Ihnen heute kursorisch andeuten durfte,
hinausführt, eigentlich allein der Weg der Selbstbesinnung,
der konkreten Selbstreflexion in der Sache ist und nicht etwa
das generelle Predigen vom Idealen, das man dem entgegen-
hält. Wenn es allerdings gelingt, den Menschen selber bewußt-
zumachen, daß das, was sie sagen, eigentlich gar nicht das ist,
was sie meinen, dann glaube ich, daß von daher die Dinge
sich wenden lassen. Denn ich möchte noch einmal sagen, die
Situation ist hier nicht eindeutig, sondern ist in Wirklichkeit
eine antagonistische Situation, eine widerspruchsvolle, und
eine widerspruchsvolle Situation hat zwei Seiten, und wir
dürfen nicht aus Schrecken vor der einen Seite vergessen, daß
die andere Seite sich vielleicht doch auch noch zum Sprechen
bringen läßt. Das ist alles, was ich Ihnen heute vortragen
wollte.

188
Die menschliche Gesellschaft heute
16. 10. 1957

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

zunächst möchte ich Frau Dr. Kriebel259 für ihre so sehr


freundliche Aufnahme danken und Ihnen allen für die Auf-
merksamkeit, die Sie mir an diesem letzten Morgen der
Hochschulwochen260 widmen. Ich weiß, daß das für viele
von Ihnen ein gewisses Opfer bedeutet, daß es viele von Ih-
nen nach Hause drängt. Um so mehr weiß ich es zu schätzen,
daß Sie zu diesem Vortrag geblieben sind.
Nun ist, meine Damen und Herren, das Thema ›Die
menschliche Gesellschaft heute‹ äußerst anspruchsvoll formu-
liert. Der Anspruch, der darin liegt und der manche von Ih-
nen überrascht haben mag, war nicht im Sinn dessen, was wir
meinten, sondern es sollte damit nur angedeutet werden, daß
dieser letzte Vortrag den Versuch machen will, sich ein wenig
über die Feststellungen der Einzelwissenschaften, die er aller-
dings voraussetzt, zu erheben und Ihnen unverblümt etwas
zu sagen über wesentliche Fragen der gegenwärtigen Gesell-
schaft. Der Hinweis darauf ist vielleicht deshalb nicht ganz
unnütz, weil wir gerade in dem wissenschaftlichen Bereich,
der dem Thema ›Die Gesellschaft heute‹ zugeordnet ist, näm-
lich in der Soziologie, heute der Tendenz begegnen, sich im-
mer mehr auf Einzelsektoren, auf Einzelprobleme zu be-
schränken, teils weil diese Einzelprobleme mit bestimmten
Anforderungen der Verwaltung und der Wirtschaft in allen
Bereichen übereinstimmen, teils weil in der soziologischen
Wissenschaft, und zwar gerade in Deutschland, eine gewisse
Enttäuschung Platz gegriffen hat.
Früher war die deutsche Soziologie ja wesentlich, wie man
das so nennt, eine spekulativ-theoretische Wissenschaft. Sie
hat sich hergeleitet von der Philosophie. Sie kann ihren Ur-
sprung in Hegel261 nicht verleugnen, hat auch gar keinen
Grund dazu. Aber diese spekulative Neigung, auf Grund von

189
konsequentem Denken Aussagen über die Gesellschaft als
ganze zu machen, ohne daß diese Aussagen im einzelnen stets
durch harte Fakten erhärtet werden können, hat dann eben
doch auch dazu geführt, daß die Soziologie sich dazu herge-
geben hat, wahnhaften Lehren zu Hilfe zu kommen. Nicht
direkt – es hat wenige unter den deutschen Soziologen gege-
ben, die wirkliche Nationalsozialisten geworden sind,262 und
insgesamt war die Soziologie den Nazis auch gar nicht er-
wünscht.263 Aber eine Reihe der spekulativen Begriffe der
Soziologie wurden in der unvermeidlich verwässerten und
heruntergekommenen Weise, die alles sogenannte national-
sozialistische ›Geistesgut‹, wie man das so schön genannt hat-
te, kennzeichnet, eben doch verwertet. Ich darf Sie dabei
etwa erinnern an das Begriffspaar, das den Titel des berühm-
ten Buches von Ferdinand Tönnies abgibt, »Gemeinschaft
und Gesellschaft«.264 Diese beiden Begriffe, die von dem ehr-
würdigen Gelehrten ganz anders gemeint waren, sind dann in
das nationalsozialistische Vokabular eingedrungen in der Wei-
se, daß ›Gemeinschaft‹ nun einfach ein Positives, nämlich die
Verbundenheit der durch ›Blut und Boden‹ Zueinandergehö-
rigen bezeichnen sollte, während ›Gesellschaft‹ die böse Ver-
bindung der rationalistisch-kapitalistischen westlichen Länder
vorab charakterisieren sollte, wobei natürlich, wenn ich das
vorwegnehmen darf, unterschlagen worden ist, daß auch in
Deutschland, als einem hochindustrialisierten Land, in Wirk-
lichkeit alles eher als Gemeinschaft vorwaltete; daß in
Deutschland die Menschen also nicht in einem so unmittel-
baren Verband gelebt haben wie ein Clan oder eine Horde in
primitiven oder rein agrarischen Gesellschaften, sondern daß
es sich immer um Gesellschaft, nicht um Gemeinschaft han-
delte und daß die ganze Gemeinschaft, die man uns serviert
hat, eigentlich nur ein äußerlicher Aufputz war, der an das
Wesen der Gesellschaft überhaupt nicht rührte.
Nun, meine Damen und Herren, ich habe das Stichwort
›Wesen‹ gegeben. Und damit darf ich vielleicht versuchen,
doch etwas näher das einzugrenzen, was ich Ihnen in der

190
knappen mir zur Verfügung stehenden Zeit heute gern vor-
tragen möchte. Es kann sich in einem Vortrag über die
menschliche Gesellschaft nicht darum handeln, daß man diese
Gesellschaft in ihrer Ausgebreitetheit und Fülle entwickelt.
Das wäre nicht nur nicht möglich, weil die Zeit für ein derar-
tiges Unterfangen nicht ausreicht, sondern auch deshalb, weil
ich, und ich glaube, ich darf wohl sagen, heutzutage irgendein
Soziologe, einer solchen Aufgabe, einer extensiven Darstel-
lung der gegenwärtigen Gesellschaft kaum ganz gewachsen
wäre. Im Gegenteil, Werke, die sich eine solche Gesamtdar-
stellung zur Aufgabe machen, bekommen sehr leicht etwas
Dünnes, etwas gewaltsam Konstruierendes und bleiben doch
hinter der Fülle sehr weit zurück. Aber – und das ist vielleicht
eine gewisse Rechtfertigung der fragmentarischen Bemer-
kungen, die ich Ihnen vorlege – die Gesellschaft besteht ja
auch in einem gewissen Sinn gar nicht in dieser extensiven
Fülle. Um Ihnen das etwas drastisch zu erläutern: Die Gesell-
schaft, in der wir heute leben, das ist nicht die, welche etwa in
dem sehr hübschen »Hessenatlas« erscheint, den gewiß man-
che von Ihnen auch gesehen haben.265 Sie wird nicht dadurch
bezeichnet, daß hier ein paar Bauern auf einem Weiler woh-
nen und Raps anbauen und dort irgendwelche Schweine-
züchter sind und dann, daß sich da in der Nähe ein Eisenham-
mer befindet, und dann, daß man in die Städte kommt und
daß dort große Elektrizitätswerke sind und vielleicht auch ei-
nige Banken und daß, wenn man nun alle diese Dinge kennt
und begriffen hat, man dann etwas von der gegenwärtigen
Gesellschaft weiß. Ich möchte nichts gegen den »Hessenatlas«
sagen, und ich glaube auch, daß man mit Rücksicht auf
konkrete Anschauungen von der Gesellschaft aus dergleichen
Werken recht viel lernen kann. Aber ich glaube doch, daß,
wenn sich Ihr Bild von der Gesellschaft an derartigen Vorstel-
lungen orientieren würde, Sie dann, indem Sie den Fakten
treu bleiben, indem Sie sich also an all das halten, was sich da
auf der Oberfläche der Erde so nahe zueinander findet, durch
diese Treue dem Eigentlichen untreu würden. Es kann eben

191
wirklich eine bestimmte Art von Treue in Untreue umschla-
gen, wie Sie ja das alle aus der deutschen Überlieferung, etwa
der des »Nibelungenliedes«, zur Genüge kennen. Die Gesell-
schaft bildet nicht ein Nebeneinander von mehr oder minder
aufeinander bezogenen einzelnen Sozialgebilden wirtschaft-
licher, politischer, kultureller Art, sondern es herrscht ein
bestimmtes Abhängigkeitsverhältnis, worin manche Sozial-
gebilde dominieren, während andere bloße Funktionen die-
ser großen und maßgebenden Sozialgebilde sind. Diese maß-
gebenden Sozialgebilde sind, wie Sie das in dem im Sinn
unserer gegenwärtigen Gesellschaftsordnung fortgeschritten-
sten Land, in Amerika, sehr rein, wie in einem Reagenzglas
studieren können, die großen industriellen Unternehmun-
gen, von denen alles andere abhängt. Das hat sich in Europa
aus einer Reihe von Gründen, auf die ich jetzt nicht eingehen
kann, noch nicht so rein, wenigstens nicht so augenfällig
durchgesetzt wie drüben. Aber man darf doch wohl ohne
Übertreibung sagen, daß die Tendenz dazu auch hier in Euro-
pa gilt. Wenn man also von der menschlichen Gesellschaft
heute spricht, muß man doch wohl sprechen von den Phäno-
menen oder Gesetzen, die mehr oder minder herrühren von
der Konzentration der gesellschaftlichen Macht in gewissen
überstarken Gebilden, und dem Gegensatz dazu, der Ohn-
macht der einzelnen Menschen. Also, um noch einmal auf
unseren Sozial-Atlas zurückzukommen: Der Mann, dem das
hübsche Schwein gehört, das da fotografiert ist, dem gehört
dieses Schwein zwar im Sinn des juristischen Besitztitels,
wenn Sie aber näher nachsinnen, dann wird er von allen mög-
lichen Krediten abhängig sein. Er wird in einer Reihe von
Verbänden drin sein, ohne die er überhaupt nicht durchkäme,
und seine Selbständigkeit wird, auch wenn er sich selbst noch
im kräftigen bäuerlichen Bewußtsein für einen absolut Selb-
ständigen hält, doch in einem weiten Maße bereits herabge-
setzt sein. Wenn man die gegenwärtige Gesellschaft verstehen
will, soll man darum nicht einfach die einzelnen Sozialgebilde
nebeneinander studieren, sondern etwas über die tragenden

192
Gesetze der Abhängigkeit auszumachen versuchen, denen
alle einzelnen Sozialgebilde und vor allem auch jeder einzelne
Mensch, jedes einzelne Individuum unterworfen sind.
Sie alle werden vernommen haben, daß heutzutage unun-
terbrochen davon die Rede ist, daß es nur auf den Menschen
ankomme, daß der Mensch im Betrieb, der Mensch im Staat,
der Mensch in internationalen Beziehungen und weiß Gott
sonstwo das eigentliche Ziel bildet. Gerade dieses ewige Re-
den vom Menschen stimmt mich etwas skeptisch. Wahr-
scheinlich erachten es viele nur deshalb für notwendig, im-
merzu vom Menschen zu reden, ihn uns allen immerzu als
Brei um das Maul zu schmieren, weil jeder von uns in seinem
Inneren weiß, daß das nicht der Fall ist, weil wir uns selbst in
unendlich weitem Maß als bloße Objekte der gegenwärtigen
Gesamtverfassung fühlen und weil man uns darüber bewußt
oder unbewußt beruhigen will.
Sie werden einwenden, daß die gegenwärtige Gesellschaft
so verzweigt und unübersichtlich und kompliziert sei, daß
einem jeden einzelnen es eigentlich schon gar nicht mehr
möglich wäre, sich ein Bild von dem Ganzen zu machen. So-
gar die Theorie der Gesellschaft soll einigen amerikanischen
Forschern wie Robert Merton zufolge sich nur auf ›middle
range theory‹ beschränken,266 also nicht die allgemeinsten
Bewegungsgesetze, sondern immer nur Bewegungsgesetze
oder überhaupt Sozialgesetze für einzelne Bereiche aufstel-
len. Das scheint ein Ausdruck dafür zu sein, daß es mit jener
Frage nach dem gesellschaftlichen Wesen, die ich Ihnen ge-
genüber der bloßen gesellschaftlichen Erscheinung ange-
schnitten habe, eine fragwürdige Bewandtnis hat. Ich möchte
aber der These von der übermäßigen Kompliziertheit und
Unübersichtlichkeit unserer modernen Gesellschaft wider-
sprechen – nicht nur aus rein wissenschaftlichen Motiven,
sondern auch im Gedanken an Sie selber. Ich möchte Ihnen
ein bißchen dabei helfen, daß Sie sich nicht bange machen
lassen. Es ist durchaus möglich, daß man einem so lange vor-
erzählt, daß etwas unübersichtlich und unverständlich sei, bis

193
man es selber glaubt und bis man sich selber einredet, es sei in
der Tat unverständlich. Es gehört aber zu den geistigen Lei-
stungen, die von einem jeden bewußten Menschen heute ver-
langt werden sollten, wenn er überhaupt sich selbst behaupten
will, daß er solcher Suggestion nicht erliegt, daß er sich also
nicht von vornherein sagt: ›Ach, das ist ja doch alles viel zu
kompliziert für mich, da lasse ich besser die Finger davon‹. Ge-
wiß ist die moderne Gesellschaft unabsehbar verzweigt und
hat rein quantitativ – einfach schon durch die um ein Vielfa-
ches angewachsene Bevölkerungszahl –, auch quantitativ ein
Moment der Unübersichtlichkeit angenommen. Aber dem-
gegenüber sind ihre Grundstrukturen heute nicht unüber-
sichtlicher, sondern im Gegenteil durchsichtiger geworden, als
sie früher es waren, so viel durchsichtiger, daß jeder Mensch,
der die Dinge unbefangen sieht und sich nicht ein X für ein U
vormachen läßt, eigentlich fähig sein sollte – und auch seinen
Voraussetzungen nach fähig ist –, den Mechanismus zu durch-
schauen, von dessen Vorbereitungsinstanzen so viele kassiert
wurden. Wieso trotzdem die meisten Menschen nicht dazu
kommen, diese im Grunde verhältnismäßig einfachen geisti-
gen Operationen zu vollziehen, deren es bedürfte, das ist eine
andere Frage, auf die ich Ihnen im Laufe dieses Vortrages we-
nigstens eine andeutende Antwort hoffe geben zu können.
Aber ich möchte doch zunächst im Sinne dieser meiner
Behauptung von der Durchsichtigkeit der gegenwärtigen
Gesellschaft einige Dimensionen angeben, einige Motive, an
denen Sie einsehen können, daß es sich dabei nicht um eine
leere Behauptung handelt, sondern um etwas sehr real Ge-
sellschaftliches. Die anwachsende Durchsichtigkeit der Ge-
sellschaft ist selbst eine Funktion der gegenwärtigen gesell-
schaftlichen Gesamtentwicklung. Der Hinweis auf diese
Momente mag Ihnen auch eine erste Vorstellung von einer
Reihe wesentlicher Aspekte dieser Gesellschaft bieten. Zu-
nächst also möchte ich Sie dabei erinnern an ein Wort, das
sehr berühmt geworden ist: den Ausdruck des verstorbenen
amerikanischen Präsidentschaftskandidaten Wendell Willkie

194
›one world‹.267 Die Entwicklung nicht nur der Technik, son-
dern auch der gesellschaftlichen und staatlichen Organisa-
tionsformen, hat es mit sich gebracht, daß die Länder nahe
aneinandergerückt sind und, was mir gegenüber diesen, ich
möchte sagen, verkehrstechnischen Aspekten noch viel we-
sentlicher erscheint, einzelne Länder sind in einer neuen Art
voneinander abhängig. Das Kräftespiel, das heute in der gan-
zen Welt waltet, ist wirklich als ein einheitliches anzusehen.
Wenn noch vor hundert Jahren irgendwelche dynastischen
Kämpfe in einem Staat wie Afghanistan sich abgespielt haben
mögen, dann waren das wirklich wesentlich Angelegenheiten
der Afghanen und haben die anderen Mächte verhältnismäßig
sehr wenig betroffen. Wenn heute derartiges in Afghanistan
geschieht, dann können wir von vornherein sicher sein, daß
es sich entweder um eine Konspiration der Sowjets oder um
amerikanische Ölinteressen handelt und daß, was scheinbar
unabhängig in einem solchen Lande sich zuträgt, in Wirk-
lichkeit eine Funktion der großen Machtkonflikte innerhalb
der gesamten Welt ist.
Sie können mir entgegenhalten, es gäbe doch die zurück-
gebliebenen Länder, die sogenannten ›underdeveloped coun-
tries‹, über die ebenso viele Studien gemacht werden, und die
sich ja auch in den aufkommenden Nationalismen in allen
möglichen Staaten so sehr bemerkbar machen. Nun, ich will
die Existenz dieser ›underdeveloped countries‹ weiß Gott
nicht bestreiten, auch nicht sagen, daß sie allesamt bereits in
den Kraftfeldern, sei es des Sowjetbereiches, sei es des ame-
rikanischen Bereiches, ganz aufgehen würden. Aber sie wer-
den doch wesentlich in ihrer heutigen Struktur und in ihrem
heutigen Verhalten bestimmt durch den Gegensatz oder
durch die Spannung, in der sie sich zu der großen vereinheit-
lichenden Tendenz innerhalb der gesamten Welt befinden.
Sie werden wesentlich dadurch definiert, daß sie in irgendei-
ner Weise an den Segnungen der fortgeschrittenen Produkti-
onsformen teilhaben und damit den Lebensstandard ihrer Be-
völkerung heben, mit anderen Worten, daß sie sich ebenfalls

195
industrialisieren möchten, und insofern ist die gesamte Be-
wegung dieser sogenannten unterentwickelten Länder selbst
eine Funktion der kapitalistischen oder rationalisierenden
Gesamttendenz in der Welt. Die Gesellschaft heute ist also,
wenn ich so sagen darf, integral, total vergesellschaftet. Es gibt
eigentlich keinen Sektor mehr, der nicht in den allgemeinen
Funktionszusammenhang hineinfiele. Es gibt keine Exterri-
torialität in der Gesellschaft mehr. Fast alles gesellschaftlich
Einzelne, was man überhaupt vorfindet, entwickelt sich aus
seiner Funktion in dem Ganzen. Dem entspricht die Verklei-
nerung der Welt nicht nur durch die Mittel der Technik, die
es uns heute erlauben, in der kürzesten Zeit von Frankfurt
nach New York oder nach Pakistan oder wo immer es sei hin-
zugelangen, sondern auch durch die Mittel der Kommunika-
tion, das Radio und alle ähnlichen Dinge, die, einige Sprach-
kenntnisse vorausgesetzt, es längst gestatten, in jedem Teil der
Welt Nachrichten zu hören und zu empfangen, die aus einem
anderen Teil der Welt kommen. Das ist allein schon deshalb
nicht unwichtig, weil es zu den Tendenzen des gegenwärti-
gen Zeitalters andererseits gehört – und ich deute Ihnen da-
mit bereits etwas von den Widersprüchen an, unter denen wir
heute leben –, daß in jedem einzelnen Land, keineswegs bloß
in den totalitären Staaten, die Nachrichten, die wir bekom-
men, so sehr gefiltert sind, daß wir, wenn wir von diesen Mit-
teln der internationalen Kommunikation keinen Gebrauch
machen, von den allerwichtigsten Tatsachen, wie zum Bei-
spiel von den Abrüstungsverhandlungen in London,268 nur
ein ganz einseitiges und außerordentlich getrübtes Bild er-
halten. Auf der einen Seite sind wir durch die Technik in der
Lage, alles, was an jedem Punkt der Erde geschieht, gewis-
sermaßen unmittelbar ohne Verzug wahrzunehmen, aber
gleichzeitig sind in allen Ländern Filter eingebaut, die es ver-
hindern, daß wir Dinge erfahren, oder jedenfalls korrekt und
objektiv erfahren, die mit den Interessenlagen der jeweils ge-
rade herrschenden Regierungen unvereinbar sind. Besonders
wichtig wäre zu untersuchen, wie in den freien Ländern, die

196
es in der Welt noch gibt, trotz ihrer politischen Freiheit diese
merkwürdigen Mechanismen der Filtrierung der öffentlichen
Meinung sich durchsetzen. Sie sehen, wir Soziologen haben
es mit einer ganzen Reihe von Problemen zu tun, die nicht
nur schwer zu lösen und sehr interessant sind, sondern die
auch für die Praxis von unmittelbarer Bedeutung wären,
wenn es gelänge, sie zu lösen.
All das aber sind noch relativ äußerliche, relativ zufällige
Momente, die beitragen zu jenem Phänomen, das ich als das
tendenzielle Durchsichtig-Werden der Gesellschaft bezeich-
net habe. Das, worum es geht, kann ich Ihnen vielleicht am
besten erläutern, indem ich, ohne irgendwie etwa auf fach-
ökonomische Kontroversen einzugehen, Sie erinnere an den
Gegensatz zwischen der heutigen Wirtschaftsweise in fast al-
len Ländern und der Wirtschaftsweise, wie sie vor dem soge-
nannten Hochliberalismus während des 19. Jahrhunderts oder
noch früher in England seit dem Ende des 18. Jahrhunderts
charakteristisch gewesen ist. Jenes berühmte freie Kräftespiel
der Wirtschaft, der freien Konkurrenz, durch das sich blind,
lediglich nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage, die
Wirtschaft und schließlich die Gesamtgesellschaft reprodu-
ziert haben soll, ist weitgehend außer Kraft gesetzt. Bitte ver-
stehen Sie das nicht falsch. In der westlichen Welt gibt es ja
keine Planwirtschaften. Aber erstens haben sich die ökono-
mischen Einheiten, die über die Welt bestimmen, so sehr ver-
größert, daß durch diese Vergrößerung an sich schon der
Konkurrenzmechanismus alten Stils wesentlich herabgesetzt
wurde, und durch die Trustgesetzgebungen in den verschie-
denen Ländern hat sich daran verhältnismäßig wenig geän-
dert. Dann aber sind die Gefahren der Wirtschaftskrisen – seit
der letzten großen, die ja den Faschismus und schließlich den
Krieg ausgelöst hat, sie begann im Jahre 1929 und hat in Ame-
rika bis etwa 1934 gedauert –, die Gefahren, diese Gesellschaft
gewissermaßen sich selbst zu überlassen, sind derart ange-
wachsen, daß auch in den klassischen kapitalistischen Län-
dern, in denen man an die freie Konkurrenz und an das Spiel

197
der freien Kräfte noch heute unbedingt glaubt, unter der
Hand eine Unmenge von Kontrollen eingebaut worden sind,
die eine Wiederholung einer solchen Katastrophe bis heute
verhindert haben.
All das zusammengenommen, bedeutet jedenfalls, daß,
während man in einem Teil der Welt an der Fassade einer
Marktwirtschaft mehr oder minder festhält oder während so-
gar wirklich in bestimmten Sektoren so etwas wie eine freie
Marktwirtschaft weiterhin operiert, trotzdem ein Moment
der Planung in die Gesamtgesellschaft eingegangen ist, das
eben jene Blindheit und Irrationalität weitgehend abschafft,
die früher geherrscht hat. Je mehr aber von gesellschaftlichen
Ereignissen geplant werden kann, je mehr also nicht mehr auf
Grund seiner blinden Dynamik, sondern auf Grund von Vor-
herberechnung geschehen kann, um so durchsichtiger wird
selbstverständlich auch der gesellschaftliche Mechanismus sel-
ber. Die angebliche Undurchsichtigkeit bezieht sich dem-
gegenüber wirklich nur auf das quantitative Anwachsen der
Gesellschaft. Mit dieser universalen Tendenz in der Welt zu
einer, wenn ich so sagen darf, Rationalisierung der Gesell-
schaft hängt nun zusammen, daß die irrationalen Institutio-
nen, die früher für die Gesellschaft charakteristisch gewesen
sind, die Monarchie, das Feudalsystem, wo es das noch gab,
die Kirchen, soweit sie politische, gesellschaftskontrollierende
Mächte gewesen sind, ihre gesellschaftliche Kontrollfunktion
mehr und mehr einbüßen, daß die gesellschaftliche Kontrolle
immer mehr übergeht an diejenigen Instanzen, die in der Tat
das reale Leben der Menschen in der Gesellschaft reproduzie-
ren, nämlich eben an die wirtschaftlichen. Jedenfalls die alten
Privilegien sind in unserer Gesellschaft weitgehend hinfällig
geworden. Hegel hat, wie manchem von Ihnen vielleicht be-
kannt ist, die Theorie der ›List der Vernunft‹ entwickelt, die
übrigens schon in der Kantischen Geschichtsphilosophie an-
gelegt ist, nämlich, daß große geschichtliche Tendenzen sich
durchsetzen über den Köpfen der Beteiligten hinweg und
sehr häufig sogar gegen den Willen derer, die Geschichte ma-

198
chen.269 Man kann das in Deutschland, im Deutschland ge-
rade der letzten Dezennien, sehr genau studieren, wo ja das
Hitler-Regime seiner Ideologie nach, also seinem offiziellen
Anspruch nach, sich in schärfsten Gegensatz gesetzt hat zu der
angeblich gleichmacherischen Tendenz des Liberalismus, wo
man an einen Neuadel geglaubt hat, wo man versucht hat,
eine neue privilegierte Schicht zu schaffen – denken Sie an
den SS-Staat270 und die Ordensburgen271 und an all diese Din-
ge –, wo aber in Wirklichkeit trotz solcher Ideologien die
traditionellen Mächte im Sinn einer totalen Rationalisierung
der Gesellschaft, wenn auch einer totalen Rationalisierung
für Zwecke des Krieges, außer Kraft gesetzt wurden. Man
kann sagen, daß in diesem Sinn Hitler, der immer wieder
erklärt hat, daß er den Liberalismus ausrotten wolle,272 in
Deutschland gegen seinen Willen die bürgerliche Revolu-
tion, die ja vorher in Deutschland mißlungen war, nachgeholt
hat, indem er eigentlich sowohl die feudalen Privilegien wie
die Privilegien derjenigen Mächte, die mit dem Feudalismus
und den monarchischen Residuen noch zusammengehangen
haben, liquidierte um seiner eigenen totalen Herrschaft wil-
len. Nun ist diese Herrschaft zum Glück gebrochen worden,
aber die alten, traditionellen Mächte kehren nicht wieder. Da-
durch, daß wir heute wirklich in einer reinen Marktwirtschaft,
in einer rein von den Gesetzen der Wirtschaft beherrschten
Gesellschaft leben, dadurch ist ebenfalls die Gesamtstruktur
der Gesellschaft sehr viel durchsichtiger geworden.
Das hat eine recht merkwürdige Konsequenz. Unter den
Klagen, mit denen man sich mit der gegenwärtigen Gesell-
schaft beschäftigt, ist eine besonders verbreitet, die über die
anwachsende Spezialisierung und damit darüber, daß die ein-
zelnen Funktionen zuwenig mehr sich gegenseitig verstehen
könnten. Nun, ich will gar nicht leugnen, daß es eine ganze
Reihe von Bereichen gibt, in denen es damit seine Richtig-
keit hat. Also, wer sich nicht wirklich jahrelang mit den mo-
dernsten Ergebnissen der Physik abgegeben hat, der wird
wohl die heute besonders aktuellen Probleme der Atomfor-

199
schung nicht begreifen können, und wer nicht sehr intensiv
mit bestimmten Tendenzen innerhalb der Musik sich abgege-
ben hat, der wird im allgemeinen gewissen Phänomenen der
modernen Musik etwa ziemlich ratlos gegenüberstehen.
Aber ich habe meine sehr ernsten Zweifel, meine Damen
und Herren, ob diese Spezialisierung der Welt, dieses Zerfal-
len der Welt in unverbundene und von Experten verwaltete
Funktionen tatsächlich das Letzte ist, und ob nicht gerade in
dieser Spezialisierung sich eine neue Art von Privileg gewis-
sermaßen verschanzt, ohne daß diese Art der Spezialisierung
wirklich von der Sache her derart gefordert wäre, wie man es
uns unablässig in die Ohren hämmert. Für diesen Zweifel
glaube ich ein ganz handfestes Motiv Ihnen anmelden zu
können, mit keiner anderen Absicht, als Sie etwas hellhörig
zu machen, wenn man Ihnen etwas von Spezialisierung und
von den Gefahren der Spezialisierung vorredet. Es will mir
nämlich so scheinen, daß durch die anwachsende Rationali-
sierung nicht nur der industriellen Produktion, die das Mo-
dell abgibt für alle anderen gesellschaftlichen Funktionen,
sondern [auch durch] die Rationalisierung innerhalb des Le-
benszusammenhanges insgesamt die einzelnen Funktionen,
die den einzelnen Menschen zufallen, gleichsam immer klei-
ner werden. Je kleiner aber eine gesellschaftliche Funktion ist,
um so entqualifizierter wird sie. Das will nichts anderes sagen,
als daß, wenn sie etwa den Prozeß der Herstellung irgendei-
nes industriellen Produkts in immer kleinere Teiloperationen
zerlegen – und auf diesen Zerlegungen und Teiloperationen
beruht ja seit der Manufakturperiode, also seit 300 Jahren, der
gesamte moderne Produktionsprozeß –, um so mehr die Teil-
funktionen einander sich ähneln. Je kleiner eine funktionelle
Einheit wird, um so mehr büßt sie ein von ihrer Verschieden-
heit von den anderen. Also, wenn Leute an einem laufenden
Band stehen, wo jeder nur einen ganz bestimmten Handgriff
zu machen hat, bis an dem anderen Ende das Auto fertig aus-
gespien wird, dann ist es relativ gleichgültig für jeden einzel-
nen Mann, an welcher Stelle dieses laufenden Bandes er sich

200
befindet, weil eigentlich die Funktionen, die jeder einzelne
zu erfüllen hat, doch dadurch, daß es nur ein minimaler
Handgriff ist, ähnlich sind. Dieser Prozeß beschränkt sich
aber, möchte ich denken, keineswegs nur auf die industrielle
Produktion, sondern greift auf alle möglichen Funktionen
über. In Amerika ist es zum Beispiel bereits so, daß, wenn ein
junger Mensch Psychologie studiert oder Soziologie, das, was
er lernt, gar nicht so sehr verschieden ist. Aber nicht deshalb,
weil dabei die sachliche Einheit Psychologie und Soziologie
so sehr in sein Blickfeld träte, [sondern] deshalb, weil er in
beiden Bereichen eigentlich wesentlich nur Techniken, Me-
thoden, Verfahrensweisen lernt, insbesondere Statistik, und
die ist in den beiden Bereichen gar nicht so sehr verschieden,
so daß sie also mit einer gewissen Beliebigkeit die Psycholo-
gen und die Soziologen gegeneinander austauschen können.
Mit anderen Worten, auf der einen Seite hat die Tendenz der
modernen Gesellschaft während der letzten 300 oder 350 Jah-
re eben durch die Aufspaltung der ursprünglich einheitlichen
handwerkerlichen Prozesse in Einzelfunktionen ohne alle
Frage die Spezialisierung gefördert. Und es gibt sicherlich
auch heute noch sehr große Sektoren, in denen diese Spezia-
lisierung sinnvoll, funktionell gerechtfertigt ist. Aber auch die
Spezialisierungstendenz, meine Damen und Herren, kann
sich überschlagen und die Funktionen können sich schließ-
lich einander so annähern – durch ihre Aufspaltung nämlich –,
daß der Übergang von der einen Funktion zu der anderen
möglich ist.
Meine Damen und Herren, das, was ich Ihnen hier gesagt
habe, ist, wenn es zutrifft, wichtig für meine Eingangsbe-
hauptung von dem Immer-durchsichtiger-Werden der Ge-
sellschaft. Denn es bedeutet, daß wir gar nicht so, wie man es
uns glauben machen will, jeweils nur in unserem besonderen
Eckchen der Welt einen Ausschnitt der Welt verstehen könn-
ten, sondern daß man uns gewissermaßen von einer Stelle an
die andere Stelle ohne gar zu große Umstände transponieren
kann und daß wir dann fähig wären, an jeder beliebigen Stelle

201
zu funktionieren und das zu leisten, was wir eigentlich sollten.
Damit zusammen hängt natürlich das Potential, daß jedem
einzelnen von uns im Grunde der aufbauende Zusammen-
hang der Welt immer durchsichtiger werden kann. Wenn
meine Behauptung von der fortschreitenden Rationalität der
Welt – wie sie übrigens in solcher Schärfe erstmals von Max
Weber formuliert worden ist,273 während die Entwicklung al-
les überboten hat, was Max Weber je sich hat träumen lassen –,
wenn diese Behauptung zutrifft, dann nähert die Gesamtheit
der Gesellschaft eigentlich dem Produktionsplan einer gigan-
tischen Fabrik sich, einer Riesenfabrik zur Ausbeutung und
zur Beherrschung der Natur. Und eine solche Fabrik hat na-
türlich gar nichts Geheimnisvolles, sondern ist in all ihren we-
sentlichen Momenten zu durchschauen.
Nun, meine Damen und Herren, im engsten Zusammen-
hang damit steht etwas, was von vielen Soziologen außeror-
dentlich betont wird und was Sie sicher, soweit Sie sich um
den Fortschritt der Wissenschaft bekümmern, auch vernom-
men haben, nämlich die Nivellierungstendenz innerhalb der
gegenwärtigen Gesellschaft.274 Ich muß sagen, man sollte mit
dem Begriff der Nivellierungstendenz ein bißchen vorsichtig
umgehen. Auf der einen Seite ist es ganz sicher richtig, daß
etwa die alten Klassenunterschiede an der Fassade immer
mehr zurücktreten, das heißt, daß sozusagen das, was noch an
ständischen Unterschieden, an feudalen Unterschieden in der
Gesellschaft merkbar war – der Gegensatz zwischen dem
Herrn und dem geringen Mann oder wie solche Kategorien
lauten mögen –, verschwindet in einer Zeit, wo jedes Töch-
terchen eines Werkmeisters sich Nylonstrümpfe kaufen kann
und wo junge Arbeiter jenes berühmte Motorrad sich kaufen
können, über das mit so viel Behagen heute zusammenge-
schrieben wird. Aber diese Nivellierungstendenz gilt nur für
die äußeren Lebensformen und vor allem auch für das Be-
wußtsein der Angehörigen der verschiedenen Klassen. In der
Tat dürfte schon in der Sprache zwischen einem jungen ge-
hobenen Arbeiter und einem jungen Akademiker heutzutage

202
ein viel geringerer Unterschied sein als früher. Ein gehobener
Arbeiter mag sogar materiell besser daran sein als sehr viele
Angehörige des alten Mittelstandes – Angestellte, Beamte
und was noch alles. An dem Grund aber, daran, daß es nach
wie vor den Gegensatz von gesellschaftlicher Macht und ge-
sellschaftlicher Ohnmacht gibt, und dem schlichten Gegen-
satz von arm und reich, daran hat sich eigentlich nichts geän-
dert. Wenn man jener vielbemerkten Nivellierungstendenz
gerecht werden will, sollte man das Problem ganz anders stel-
len, nämlich so, daß man sich fragt, wie kommt es, daß die in
Wahrheit Ungleichen so gleich aussehen und so gleich den-
ken? Aber nicht in der Form, daß man sagt: ›Ach, Klassen
oder Stände oder alles das, das gibt es nicht mehr, wir befin-
den uns eigentlich heute in einer Gesellschaft der universalen
Gleichheit‹. Der Besitz eines Motorrades bedeutet noch lange
keine Gleichheit, und wenn ein Werkmeister oder ein Ober-
steiger in einem Bergwerk heute mehr verdient als ein Volks-
schullehrer, bedeutet das nicht, daß wir in einer klassenlosen
Gesellschaft leben, wie einmal gelegentlich jemand das for-
muliert hat,275 sondern daß die Differenzen zwischen den
Klassen an einer anderen Stelle aufzusuchen sind als der der
Einkommensunterschiede zwischen dem Volksschullehrer
und dem Obersteiger.
Von einer wesentlichen Tendenz heute ist aber noch zu re-
den, nämlich der Tendenz, daß der Stand der gegenwärtigen
Technik prinzipiell allen Menschen eine ungeheure Fülle von
Gütern zu garantieren scheint und eine Befriedigung der Be-
dürfnisse weit über das alte Maß hinaus. Das gilt wahrschein-
lich sogar für die Länder des Ostblocks, bei denen zwar der
Lebensstandard, wie wir alle wissen, viel niedriger ist als bei
uns und in der ganzen westlichen Welt, aber doch wahr-
scheinlich höher als früher, in jenen Zeiten, da Länder wie
China und übrigens auch Rußland von periodisch wieder-
kehrenden Hungersnöten heimgesucht wurden. Selbstver-
ständlich hat es mit diesem Anwachsen der Gütermenge in
der westlichen Welt auch seine merkwürdige Bewandtnis.

203
Umsonst ist ja in unserer Welt bekanntlich nur der Tod. Alle
diese Güter werden nicht nur fabriziert, um uns zu befriedi-
gen, sondern zunächst und vorab um des Profits willen. Aber
trotzdem ist dabei die Gütermenge selbst und die Qualität der
Güter so angewachsen, daß, im Gegensatz zu der traditionel-
len sozialistischen Verelendungstheorie,276 ohne alle Frage der
Lebensstandard ungezählter Menschen unendlich angewach-
sen ist. Man müßte schon ein sturer Dogmatiker sein, wenn
man das nicht anerkennen möchte. Man kann sagen, daß ge-
rade durch die Entwicklung der letzten zwanzig Jahre – und
solche Entwicklungen werden ja bekanntlich immer durch
Kriege ungeheuer gefördert – der Stand der technischen Pro-
duktivkräfte so gestiegen ist, daß das Anwachsen der Quanti-
tät in eine neue Qualität umschlug, das Absehbarwerden eines
Zustandes, in dem es Mangel eigentlich für keinen Menschen
mehr zu geben braucht –, so wie es der verstorbene Roosevelt
in seinen berühmten »Vier Punkten« ja authentisch formu-
liert hat.277 Und eine Welt, in der wir wissen, daß eigentlich
kein Kind mehr Hunger zu haben brauchte, hat einen ganz
anderen Aspekt angenommen, ist in einem positiven Sinn viel
durchsichtiger geworden als jene Welt unserer Eltern, in der
man achselzuckend uns gesagt hat, es kann nicht für alle ge-
nug Kaviar geben. Wahrscheinlich wäre es bei dem heutigen
Stand der Technik sogar möglich, die Störzucht in geeigneten
Gewässern derart zu fördern, daß der berühmte ›Kaviar für
das Volk‹ ausreichte. Auch dieses Sprichwort, das anzeigen
soll, daß in der Welt eigentlich nicht genug für alle da sei, ist
gleich den meisten Sprichwörtern heute außer Kurs gesetzt.
Ich glaube, Sie können überhaupt von den strukturellen Än-
derungen, denen unsere Welt unterliegt, sich ein recht gutes
Bild machen, wenn Sie einmal den Schatz der überlieferten
Sprichwörter durchmustern, die wir noch als Kinder gelernt
haben. Sie werden dann sehen, daß, angefangen von dem
Handwerk, das einen ›goldenen Boden‹ haben soll, bis zum
›Krug, der so lange zum Brunnen geht, bis er bricht‹ – wäh-
rend Herr Franco heute noch frisch-fröhlich regiert278 –, Sie

204
kaum irgendein Sprichwort finden werden, das man noch so
gebrauchen kann, wie unsere Eltern geglaubt haben, daß es
gebraucht werden könnte.
Hinzu kommt neuerdings die Frage der Beherrschung der
kosmischen Kräfte, die einen völlig neuen Aspekt in die Welt
gebracht hat, einen Aspekt des Verfügbarwerdens einer pro-
duktiven Kapazität, der, obwohl die positive Benutzung die-
ser Kräfte bekanntlich auf sich warten läßt, uns doch anzeigt,
daß die alte Vorstellung einer auf Mangel basierenden Welt
anachronistisch ist und daß man eigentlich uns nur deshalb
noch zu einer Welt des Mangels verhält, weil es Interessen
gibt, die dagegen sind, daß der Mangel endlich aufhört. Ich
glaube, dieses Allereinfachste und Schlichteste sollte man ein-
mal aussprechen, so wie ich es eben ausgesprochen habe. Im
gleichen Augenblick wird man gewissen Suggestionen von
der Dunkelheit und Unverständlichkeit der Welt nicht länger
unterliegen.
Gerade die Momente, die ich eben hervorgehoben habe,
werden einem besonders deutlich, wenn man sich in Amerika
befindet, wo ich ja die ganze Emigrationszeit verbracht habe.
Amerika ist sicherlich das in gewisser Weise reinste kapitalisti-
sche Land, also das Land, in dem man wirklich am wenigsten
irgend etwas umsonst haben kann. Wenn man dann nach Eu-
ropa zurückkommt, hat man sogar in einem gewissen Sinn das
Gefühl des Beschenktwerdens, also das Gefühl, daß man hier
freier von der Allherrschaft des Tausches ist. Trotzdem aber
hat man in Amerika immer auch etwas von dem Gefühl des
Schlaraffenlandes, daß einem die Früchte in den Mund wach-
sen. Eine so unbeschreibliche Fülle von Gütern ist verfügbar,
daß die alten Vorstellungen von Mangel, Armut, Kargheit
und all dem Abscheulichen, was die Armut und die Kargheit
auch an menschlicher Verkümmerung und menschlicher
Verengung mit sich bringen, etwas Überholtes annehmen.
Und wir in Deutschland sind, glaube ich, gerade in diesem
Punkt weder ökonomisch noch gar psychologisch bis heute
dieser Entwicklung so ganz gefolgt.

205
Im Zusammenhang mit den Tendenzen, die ich Ihnen be-
zeichnet habe, bahnen sich auch gewisse anthropologische
Veränderungen, also gewisse Veränderungen in den Menschen
selbst an, die jener Entwicklung zugute kommen dürften, von
der ich Ihnen eben gesprochen habe: eine bestimmte Art der
Ernüchterung der Jugend, eine Mischung aus Skepsis auf der
einen Seite und ohne [den] Glauben, es hängt an uns, wir kön-
nen es selber schaffen, es muß nicht so sinnlos und blind mehr
weitergehen, wie es bis jetzt der Fall gewesen ist. Potentiell sind
alle Menschen heute bereits sehr gewitzigt, sie lassen nach all
dem Schwindel, den man ihnen zumal im Dritten Reich vor-
gemacht hat, wenig mehr sich einreden. Wenn nicht andere
und sehr starke Mächte dem entgegenwirken, können sie ei-
gentlich auch von sich aus das Getriebe durchschauen.
Ich möchte an dieser Stelle etwas unterbrechen und möch-
te dann die zweite Halbzeit, die mir zur Verfügung steht, dazu
benutzen, Ihnen einiges zu sagen über die Tendenzen, die de-
nen, die ich Ihnen bis jetzt angedeutet habe, entgegengesetzt
sind, und Ihnen damit wenigstens einen Einblick gewähren in
das, was mir nun in der Tat das Wesentliche der menschlichen
Gesellschaft heute erscheint, nämlich in ihren antagonisti-
schen Charakter, also in die fast bis zum Unerträglichen an-
gewachsenen Spannungen, die in einer Welt, die ein Paradies
sein könnte, bewirken, daß sie morgen bereits wieder eine
Hölle sein kann.

[Zweiter Teil:]

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

nach dem, was ich Ihnen versucht habe anzudeuten, sollte


man zunächst einmal unter den Menschen, die dieser Gesell-
schaft angehören, das erwarten, was man etwa mit dem Aus-
druck ›gesteigertes Lebensgefühl‹ bedenken mag, so wie der

206
berühmte Ausspruch von Ulrich von Hutten am Beginn des
bürgerlichen Zeitalters es verkündet hat, wo dieser verfolgte
und todkranke Mensch erklärte, es sei eine Freude zu leben.279
Es ist aber nun zunächst einmal das Auffälligste, daß trotz der
Dinge, die ich Ihnen auseinandergesetzt habe und die das Po-
tential der gegenwärtigen Menschheit schwerlich übertrei-
ben, von dieser Freude zu leben gar nicht so arg viel zu spüren
ist. Das tatsächliche Lebensgefühl der Menschen ist in weitem
Maß zumindest das von Apathie, darüber hinaus eine be-
stimmte Art des sturen Verfolgens der je eigenen Interessen
und, wenn man nur ein bißchen weitergeht, ein Unbehagen,
wie es auf die Formel gebracht worden ist in der Schrift von
Sigmund Freud »Das Unbehagen in der Kultur«, die ja nun
bald dreißig Jahre alt ist, aber heute von ihrer Aktualität kaum
etwas verloren haben dürfte.280 Man hat sogar für dieses son-
derbare Gefühl, das wohl in der ganzen zivilisierten Welt ver-
breitet ist, in der Schweiz einen eigenen Namen geprägt. Man
spricht dort allgemein von ›Malaise‹.281 Dieses Malaise wird
dort viel diskutiert, trotz der gerade in der Schweiz bekannt-
lich besonders blühenden Prosperität. Das ist sehr merkwür-
dig, deshalb auch, weil ja wirklich nach der Katastrophe, die
mit Hitler über die Menschheit hereingebrochen ist, die Ent-
wicklung der Jahre danach über alles hinausgeht, was man in-
nerhalb der nächstbetroffenen Länder erwarten konnte.
Aber Sie alle wissen ja auch, daß in der großen Literatur der
gesamten Welt, also in der Literatur, die ernst genommen
werden kann und die sich nicht mit der bloßen Fabrikation
von Herzenswärmern beschäftigt, in der Tat der Begriff der
Angst, und wenn nicht der Begriff der Angst, dann der tat-
sächliche Ausdruck von Angst und Schaudern, im Zentrum
steht und daß wir, die wir glauben, einigermaßen das zu füh-
len, was an der Zeit ist und was nicht an der Zeit ist, daß uns
eigentlich ein künstlerisches Gebilde, das nicht an jener Angst
sich mißt, fast unerträglich geworden ist.
Ein Moment dabei ist ganz ohne Frage das Gedächtnis an
das, was geschehen ist, daß man nicht nach Auschwitz – kein

207
Mensch innerhalb des Zusammenhangs mit der Gesellschaft –
ungebrochen noch einmal des Lebens sich freuen könnte. Mir
erscheint ein Moment gerade des Unheils, daß das Bewußt-
sein dieser Dinge so sehr verdrängt ist, daß es den Menschen
wirklich vielfach dünkt, als wäre Hitler eine Art von Be-
triebsunfall auf der Bahn des Fortschritts gewesen, als handele
es sich bei der Ermordung von Millionen von Menschen auf
den Schlachtfeldern und in den Konzentrationslagern um
eine Ausnahmeerscheinung, die zwar sehr bedauerlich sei,
über die man aber besser nicht redet. Ich glaube, daß man mit
diesem Trauma nur fertig werden kann, wenn man es wirk-
lich ins Bewußtsein hebt, anstatt etwa Gegenrechnungen auf-
zumachen und zu erklären: ›Na ja, Dresden ist ja auch ver-
nichtet worden‹. So einfach ist es nicht. Allein die Tatsache,
daß so etwas überhaupt in dieser Welt, von deren Potential ich
Ihnen gesprochen habe, möglich gewesen ist, daß diese Welt
den Hitler hat groß werden lassen, ihm so lange zugeschaut
hat, bis er all diese Dinge anrichten konnte, beweist ja zur Ge-
nüge, daß nicht alles so rosig ist wie das sogenannte Potential.
Wie lassen jene Erfahrungen sich bewältigen? Ich meine,
nicht anders als durch Selbstbesinnung. Zu ihr gehört aber
wohl auch, daß man die Hitlersche Explosion selbst nicht als
ein dem System Fremdes und Äußerliches betrachtet. In der
Gesellschaft, in der wir leben, wachsen zugleich auch Kräfte
heran, die dies zerstörende Potential in sich haben und unter
deren Vollstreckern der Hitler vermutlich nicht der letzte ge-
wesen ist. Ich glaube, daß wir nur dann, wenn wir Hitler sozu-
sagen als ein Stück von uns selber, als das legitime Kind unserer
Gesellschaft betrachten, anstatt bloß als einen von außen her,
wie Tamerlan und Dschingis Khan,282 in die zivilisierte Welt
eingebrochenen Unhold, die innere Freiheit gewinnen mö-
gen, mit jenen Phänomenen fertig zu werden, deren Riesen-
schatten über unserer Welt liegt und um so dichter zu werden
sich anschickt, je weniger mehr die Menschen es wagen, an das
Unheil der zwölf Jahre überhaupt sich zu erinnern. Wie we-
nig es hier sich um ein Einmaliges handelt, das dürfte mit dem

208
Grund des Unbehagens, von dem ich Ihnen gesprochen habe,
sehr eng zusammenhängen. Die Angst, unter der wir alle ir-
gend leiden, ist nicht, wie Herr Heidegger es uns glauben ma-
chen möchte,283 eine Art von metaphysischer Gestimmtheit,
kein Urphänomen des Wesens Mensch, gesetzt mit Tod und
[. . .], sondern etwas sehr Geschichtliches und Spezifisches. Die
heute in Deutschland konsumierte Philosophie tut ein beson-
deres Unrecht daran, die spezifischen Momente der Angst, un-
ter denen wir stehen, in schlechter Ewigkeit zu verflüchtigen.
Es ist der Menschheit zwar der Absprung in den Kosmos
gelungen. Sie alle wissen, daß der Satellit nun mehr oder min-
der geräuschvoll über unseren Köpfen dahinzieht und uns
hoffentlich nicht auf den Kopf fallen wird.284 Aber gleichzei-
tig – und ein krasserer Ausdruck unserer Situation ließe sich
überhaupt nicht finden – sind die Menschen, die sich anschik-
ken, Mond und Gestirne zu erobern, immer noch nicht fähig,
ihre eigenen Angelegenheiten auch nur so weit vernünftig zu
ordnen, daß sie vor dem Allernächsten, das ihnen bevorsteht,
nicht zittern müßten. Die höchste Form der Naturbeherr-
schung, die die Menschheit, deren Geschichte ja eine Ge-
schichte fortschreitender Naturbeherrschung ist, bis heute er-
reicht hat, die Herrschaft über die im Innern der Atome
aufgespeicherten Kräfte – und das ist doch wohl auch kein
Zufall, sondern hängt zusammen mit der Struktur der Gesell-
schaft, in der die Erfindungen gemacht werden –, hat bis jetzt
im wesentlichen nur ihr destruktives Potential entwickelt.
Wir können mit den Kräften des Kosmos, über die wir verfü-
gen, zwar heute wahrscheinlich tendenziell die Erde unbe-
wohnbar machen, auch in die Luft sprengen, aber es ist noch
nicht gelungen, diese Kräfte der Reproduktion unseres Le-
bens und des Lebens der Natur dienstbar zu machen. Sicher-
lich gibt es bei der Größendimension dieser Kräfte auch be-
sondere Schwierigkeiten. Aber es will mir doch scheinen, daß
es zumindest symbolisch für den gegenwärtigen Zustand ist,
daß man, und zwar stets unter dem Blickpunkt des Kriegs-
potentials, die überwiegende Anstrengung darauf verwendet

209
hat, um mit diesen Kräften Unheil anzurichten, während ihre
positive Verwendung bis jetzt über Versprechungen des Ty-
pus, daß man einmal Zentralheizungen mit Atomenergie be-
dienen könne, noch nicht allzusehr hinausgekommen ist und
während andere unerschöpfliche Kräftereservoirs für die Re-
produktion des Lebens, wie die Sonnenenergie, bis heute
überhaupt noch nicht angezapft worden sind, wie man in
Amerika sagen würde.
Nun, wenn ich einen altmodischen Ausdruck aus der Spra-
che des Sozialismus benutzen darf, von der man Ihnen ja heute
auf allen Gassen verkündet, daß sie durch die Entwicklung der
Menschheit völlig überholt sei, dann ist es der vom Anwach-
sen der gesellschaftlichen Widersprüche. Ein Extrem ist er-
reicht. Auf der einen Seite sind die produktiven Kräfte, sowohl
die Fähigkeiten der lebendigen Menschen wie die Kräfte der
Technik, durch die sie ihre eigenen Kräfte vervielfachen, aufs
äußerste gesteigert. Zugleich aber hat die Gesellschaft Züge
der Verhärtung, der Verfestigung angenommen, die es nicht
nur verhindern, daß diese Kräfte der Menschheit wirklich zu-
gute kommen, sondern in denen die Tendenz sich ausdrückt,
daß das Ganze schließlich in die Luft gesprengt wird. Und die-
sen Zustand zu ändern, meine Damen und Herren, das ist
heute nicht eine Sache der weltfremden Utopie, wie man es
einmal uns hat glauben machen wollen, sondern die vernünf-
tige Einrichtung der Welt ist gleichbedeutend geworden mit
dem Überleben der Menschheit. Entweder es gelingt dieser
Gesellschaft, eine Form zu finden, in der sie nicht an ihren ei-
genen ökonomischen, innen- und außenpolitischen [Gegen-
sätzen] zugrunde geht, oder es ist wirklich aus. Die altmo-
dische Frage nach der Weltverbesserung ist überholt. Nur
diejenigen, denen an einer wirklichen Veränderung der Ge-
sellschaftsstruktur gelegen ist, sind noch die wahren Konser-
vativen, während diejenigen, die im Namen des Konservati-
vismus und des Bewahrenden zu dieser Ordnung stehen, nur
Scheite beitragen zu jenem Scheiterhaufen, der dann eines
Tages aufflammen und alles verzehren wird.

210
Von keiner Wissenschaft und von keiner Politik sollten wir
uns die Einsicht verkümmern lassen, daß die Kräfte der
Menschheit und ihre Technik in unversöhnlichen Gegensatz
getreten sind zu der fortbestehenden Einrichtung der Welt.
Dieser Gegensatz droht nicht bloß, wie das früher in der Ge-
schichte immer wieder der Fall war, die gesellschaftlichen
Verhältnisse zu sprengen, sondern das Fortleben der Mensch-
heit unmöglich zu machen. Das ist der wahre und konkrete
Grund der Angst, den wir uns nicht durch irgendwelche ge-
weihten und hochtönenden Worte verdunkeln lassen sollen,
wie denn heute überhaupt der Gebrauch der edlen Worte im
allgemeinen nur noch dazu taugt, uns sehr Unedles übersehen
zu machen.
Aber ich will zunächst Ihnen doch einmal einiges ganz
Konkretes sagen über die Gründe jenes Unbehagens, das in
der Welt gespürt wird und das auch jeder einzelne von uns in
der einen oder anderen Weise trotz der Prosperität verspürt;
wobei ich die noch verhältnismäßig harmlose Erwägung, ob
die Prosperität anhält und ob nicht eher irgendwelche Wirt-
schaftskatastrophen der Zukunft uns bedrohen, beiseite lassen
möchte. Ich habe Ihnen auseinandergesetzt, daß die Gesamt-
tendenz der gesellschaftlichen Entwicklung die der anwach-
senden Konzentration der Sozialgebilde sei und damit das
Verschwinden all jener vermittelnden Zwischenschichten,
sowohl sozialer Schichten der Menschen wie auch sozialer
Gebilde, die uns früher den Einblick in das Funktionieren
oder das Nicht-Funktionieren des Gesamtmechanismus ver-
stellt haben. Das hat aber einen außerordentlich fatalen As-
pekt. Das theoretische Durchsichtig-Werden der Gesellschaft
ist nicht dasselbe wie [das], daß die Menschheit praktisch ih-
rer selbst mächtig wäre, sondern wir finden die Sozialgebilde,
die gewissermaßen immer einfacher, immer durchsichtiger
und rationaler strukturiert und gebildet sind, gewissermaßen
fertig vor. Sie sind etwas Anonymes, Festes und Überwälti-
gendes, dem wir uns gegenüberfinden und dem wir unterge-
ordnet sind. Sprach ich vorhin von der anwachsenden Ratio-

211
nalität der Welt im Sinne jenes berühmten Ausspruchs von
Max Weber, so bedarf das jetzt einer entschiedenen Ein-
schränkung. Bei unendlicher Rationalität und Vernünftigkeit
der Mittel zur Naturbeherrschung und zur gesellschaftlichen
Herrschaft bleibt der Zweck des Ganzen, der die Selbsterhal-
tung der Menschheit sein müßte, weitgehend irrational. Un-
ser Leben hängt nach wie vor doch ab von den blinden Inter-
essen der größten Gebilde, denen wir unterworfen sind und
die zwar alles in ihrem Sektor planen, die aber nicht ihrerseits
einem Plan unterstehen, [der einer] der lebendigen Subjekte
wäre. Auch diese unendlich rationale im Sinne – wie ich es
vorhin sagte – einer Riesenfabrik aufgebaute Welt ist insofern
irrational, als es nicht unsere Welt ist, als wir sie nicht aus Frei-
heit und Solidarität, aus unserer eigenen Vernunft bestim-
men, sondern wir sind abhängig von der Vernunft oder,
möchte ich sagen, Unvernunft jener Sozialgebilde selber. Mit
einem Ausdruck aus der klassischen deutschen Philosophie ist
es nach wie vor eine entfremdete285 Welt, eine kalte, eine uns
[fremd] gegenüberstehende Welt, die mehr stets droht, uns zu
bloßen Funktionen herabzusetzen. Das wissen Sie als Beamte
am allerbesten. Im Augenblick, wo Sie hinter Ihrem Schreib-
tisch sitzen, haben Sie im wesentlichen doch nur die Funktio-
nen zu erfüllen, die Ihnen durch die je gestellten Aufgaben
vorgezeichnet werden und in deren Bereich für individuelle
Entscheidungsfreiheit nur verhältnismäßig geringer Raum
ist. Bitte verstehen Sie das nicht falsch. Ich selbst bin Beamter
wie Sie, und in jedem Examen, das ich abzuhalten habe, oder
in jeder Frage eines Stipendiums, über die ich zu entscheiden
habe, sehe ich mich genau denselben Fragen gegenüber. Wir
wissen ja, daß heute selbst die Schule, in der so lange etwas
wie individuelle Freiheit der Entscheidung bei den Lehrern
gegolten hat, immer mehr zu einem Objekt der Verwaltung
wird, so wie mein Freund Hellmut Becker es in seiner Arbeit
über »Die verwaltete Schule« eindringlich dargestellt hat.286
Analoge Tendenzen lassen sich auch bei uns in der Universität
feststellen. Es geht dabei nicht um Mißstände, nicht um et-

212
was, was man beliebig beseitigen kann, sondern jene Tenden-
zen kommen mit einer Art höllischer Notwendigkeit aus der
Sache. Sie können zum Beispiel dem ungeheuren Andrang
von Studierenden in gewissen Fakultäten und der Stoffmen-
ge, die ihnen in diesen Fakultäten geboten werden muß, nur
durch eine gewisse Schematisierung des Studiengangs und
des Examengangs gerecht werden. Dadurch tritt auch hier
ein, was ich allgemein einmal mit dem Ausdruck der ›ver-
walteten Welt‹ bedacht habe287. Innerhalb dieser verwalteten
Welt ergreift einen jeden von uns stets wieder das Gefühl der
Ohnmacht. Man hat das Gefühl, sozialen Mächten sich ge-
genüberzufinden, denen gegenüber die eigene Entscheidung
unendlich wenig vermag. Dies Gefühl gilt keineswegs bloß
bei sogenannten untergeordneten Funktionen, sondern auch
bei den allerobersten. Das ist die Kehrseite dessen, was ich Ih-
nen vorhin als Verwalten der Spezialisierung auseinanderge-
setzt habe. Der an der Spitze irgendeiner Verwaltung stehende
Mann ist genauso durch Vorentscheidungen, durch ihm vor-
gezeichnete enge Alternativen, durch politische Rücksich-
ten, die er zu nehmen hat, gebunden, genauso der Funktionär
seiner Apparatur wie ein kleiner Beamter, der nach einem
Verfahrensplan seine Funktionen zu erfüllen hat. Wir sind alle
in denselben Mechanismus eingespannt. Dabei ist die Situa-
tion des Beamten, von der ich hier ausgegangen bin, nicht
einmal die charakteristischste, weil es in unserem Sektor seit
der absolutistischen Bürokratie immer ähnlich gewesen ist.
Vorab zu denken aber ist an die Gebilde der Wirtschaft, bei
denen längst nicht mehr der Idealtyp288 des freien selbständi-
gen Unternehmers den Menschen vor Augen steht, der nach
eigenem Ermessen handelt, sondern weit eher der Angestell-
te. Das spiegelt sich dann auch im Bewußtsein der Menschen
wieder. Wir haben etwa bei Untersuchungen über das Be-
wußtsein der Studenten festgestellt, daß Ungezählte gar nicht
mehr den Ehrgeiz haben, an die Spitze von Unternehmungen
zu kommen, selbständige Verantwortung zu tragen, sondern
lieber statt dessen mit einem gewissen Maß von Sicherheit an

213
eine mittlere Stelle gelangen wollen, wo für sie gesorgt wird,
wo sie aber die letzten, maßgebenden Entscheidungen nicht
zu treffen haben.289 Die Menschen unterschreiben alle bereits
die eigene Ohnmacht noch einmal und lassen es in der eige-
nen Ohnmacht sich mehr oder minder wohl sein. So kommt
jene Apathie, zumal jene politische Apathie, zustande, die
dann schließlich hilft, daß alles so bleibt, wie es ist, und der
Katastrophe zutreibt, von der man reden muß, wenn man
nicht in eitles Geschwätz verfallen will.
Auch der Ohnmächtigste könnte heute all dies durch-
schauen, das ist kein Privileg für Intellektuelle oder Akademi-
ker. Kein Mensch, der nicht sich verblenden lassen will, müß-
te die Welt, die ein Paradies sein könnte und doch droht, das
Gegenteil zu werden, mehr hinnehmen, sondern die Ver-
nunft eines jeglichen würde ausreichen, die recht schlichten
gedanklichen Operationen durchzuführen, für die ich Ihnen
wenigstens einige Modelle entworfen habe. Daß die Men-
schen das trotzdem nicht vollbringen, daß sie trotzdem unge-
zählte Entscheidungen politischer Art treffen, von denen man
befürchten muß, daß sie zur Verstärkung des Unheils beitra-
gen, das liegt nicht daran, daß die Menschen nicht denken
könnten, sondern daran, daß sie darauf verzichten, weil die
zunehmende Einsicht gerade in jene Widersprüche, von de-
nen wir sprachen, ihnen das Leben schwermacht und ihnen
zusätzliches Leiden bereitet. Sie folgen gewissermaßen der
Linie des geringsten Widerstandes und halten sich mehr oder
minder an das kleine Glück, das ihnen die bestehenden Ver-
hältnisse bieten, stecken den Kopf in den Sand, weil, wenn sie
im Ernst sehen würden, wo das Ganze hintreibt, dann das Le-
ben in dieser Welt ihnen sehr schwer würde und ihre psychi-
sche Ökonomie es ihnen offenbar nicht recht erlaubt, das auf
sich zu nehmen. Also, der alte Berliner Spruch ›Du bist doof,
du hast’s gut!‹ scheint zu den wenigen Sprichwörtern zu ge-
hören, die noch nicht außer Kraft gesetzt sind. Wenn ich Ih-
nen einen Rat geben darf: Sie sollen sich nicht imponieren
lassen, auch nicht von der Wissenschaft, sondern sich in Got-

214
tes Namen auf Ihren gesunden Menschenverstand verlassen,
der heute längst nicht mehr mit der Wissenschaft ohne weite-
res übereinstimmt. Gerade die Sozialwissenschaft hat heute
viele Institutionen,290 durch [die] sie eigentlich dem gesun-
den Menschenverstand das Seine entwinden will, anstatt ihn
zu kräftigen. Lassen Sie sich also nicht beirren durch hochtö-
nende Buchtitel wie ›Der Mensch im Mittelpunkt der Gesell-
schaft‹ – ich weiß nicht, ob es ein solches Buch gibt, aber
wenn nicht, dann wird es sicher morgen erscheinen –, lassen
Sie sich nicht dumm machen, vor allem nicht einreden, daß,
was da in der akademischen Welt gedeiht, nun ohne weiteres
die höhere Einsicht vertritt, sondern denken Sie daran, daß,
im Gegensatz zu der offiziellen Bildungswelt, in der des Vol-
kes immer auch eine Tradition der Skepsis, der Ironie, des wa-
chen Bewußtseins am Werke war, vielleicht die beste Quelle,
um die Welt zu verändern, über welche die Menschheit heute
überhaupt verfügt.
Jenes Gefühl des Unbehagens wird weiter hervorgerufen
durch das Mißverhältnis zwischen den menschlichen und den
technischen Produktivkräften. Es ist keine Entdeckung von
mir, daß den Menschen ihre eigenen Kräfte davongelaufen
sind, daß sie mit der von ihnen entbundenen Entwicklung in
vieler Hinsicht nicht recht Schritt halten. Ich spreche hier gar
nicht so sehr von der Frage der Verständlichkeit der Atom-
physik als davon, daß wir den psychologischen Ressourcen
nach in unzähligen Sektoren hinterherhinken und das auch
gar nicht ohne weiteres ändern können. Günther Anders hat
in seinem jüngsten Buch dieses Problem in den Mittelpunkt
gerückt – für meinen Geschmack etwas zu psychologi-
stisch291 –, aber er hat doch mit recht viel Grund darauf hin-
gewiesen, daß gerade dadurch, daß die Menschen fühlen, daß
ihnen die Technik entglitten ist, daß sie ihnen inkommensu-
rabel geworden ist, [sie] eine Angst ergreift, die sich dann in
allen möglichen irrationalen Explosionen ausdrücken kann.
Auch dies Mißverhältnis ließe sich wahrscheinlich ändern,
wenn den Menschen in einem immer stärkeren Maß das Be-

215
wußtsein erweckt würde, daß die Technik wirklich, wie man
das früher einmal genannt hat, nur ein verlängerter Arm der
Menschen selber ist und daß schließlich auch die beängsti-
gendsten Ergebnisse der modernen Wissenschaft wie die so-
genannte Kybernetik,292 also die Lehre von den Denkmaschi-
nen, die man heute zu entwickeln beginnt, in letzter Instanz
auf uns zurückweisen. Es hängt an uns und nicht an den
Maschinen, welcher Gebrauch von diesen gemacht wird. Ich
möchte Sie, wenn Sie mir das Schulmeisterliche verzeihen,
davor warnen, die Technik als solche für das Malaise – für das
Unbehagen – verantwortlich zu machen. Sie ist nicht der
Grund des Unheils und sie könnte sehr wohl das Gegenteil
werden; das Unheil liegt darin, daß die Rationalität der Tech-
nik in eine im Grunde noch fortbestehende irrationale Ge-
sellschaft eingespannt wird. In einer vernünftigen Gesellschaft
würde die Technik jene beängstigenden Momente verlieren,
so wie sie in früheren Zeiten, als noch nicht jener Gegensatz
zwischen technischen Produktivkräften und Gesellschaft be-
stand, ja in der Tat dieses dämonische Moment noch nicht
hervorkehrte. Auch auf die Technik will man eigentlich nur
ablenken. Es hängt sowenig an ihr, wie es an den Menschen
liegt, sondern an der objektiven Verfassung der Welt, deren
Funktion jeder einzelne von uns und deren Funktion eben
auch die Technik, nämlich der Gebrauch der Technik ist.
Dann schließlich trägt bei zu jenem Malaise das Bewußt-
sein der Blindheit des historischen Verlaufs selber, also jenes
Bewußtsein, das ich Ihnen zu Beginn dieses zweiten Vortra-
ges bereits angedeutet habe, als ich Ihnen sagte, daß die Zwek-
ke nach wie vor irrational und nur die Mittel in einem unge-
heuren Maß rationalisiert seien, das heißt, daß dem letzten
Zweck der Technik eigentlich nicht nachgefragt wird, son-
dern daß sie, wie wir das in der Geschichtsphilosophie nen-
nen, fetischisiert, daß sie um ihrer selbst willen betrieben wird
und daß die Fühlung mit ihrem menschlichen Zweck weitge-
hend ihr entzogen worden ist. Dasselbe gilt natürlich für die
großen gesellschaftlichen Gesamtprozesse, denen wir unter-

216
worfen sind. So hat neulich in einem Aufsatz im »Spiegel«,
den Sie wahrscheinlich alle gelesen haben, der Atommedizi-
ner Haber ganz unbefangen – und ich muß sagen, recht
schön – die Frage aufgeworfen, ob man überhaupt so recht
wisse, warum man durchaus einen Satelliten haben, warum
man unbedingt auf den Mond fliegen wolle, und hat geant-
wortet, die Lösung des gesamten Komplexes hinge davon ab,
zu welchem Ende denn diese Dinge gut seien.293 Sobald ein
viel klareres Bewußtsein der Zwecke der Technik und der
Zwecke des gesellschaftlichen Prozesses selbst erweckt ist als
heute, sobald man sich nicht mehr stur auf die Entwicklung
von Techniken und einzelnen Mitteln vereidigen läßt, kön-
nen diese Tendenzen doch weitgehend verändert werden.
Schließlich darf ich Sie noch darauf aufmerksam machen,
daß die von den Menschen heute geforderte Anpassung ihnen
offensichtlich so viel zumutet, daß sie den Forderungen nach
einer solchen Anpassung nicht mehr gewachsen sind. Daraus
folgt dann eine gewisse Überidentifikation der Menschen mit
dem Bestand der Welt, das Absterben ihres kritischen Vermö-
gens, sie löken, wie ich das einmal nennen durfte, nicht ge-
gen den Stachel, sondern mit dem Stachel,294 sie tun das, was
man in der Theorie der Psychoanalyse einmal ›Identifikation
mit dem Angreifer‹ genannt hat,295 das heißt, sie machen sich
selbst zu Anwälten dessen, was ihnen blind widerfährt, anstatt
daß sie versuchen, es zu ändern, eben deshalb, weil sie das Be-
wußtsein der möglichen Änderung schon gar nicht mehr er-
fahren, weil in ihnen die Perspektive schon ganz abgestorben
ist, daß es überhaupt geändert werden könnte. Wie ein Ge-
fangener schließlich seine vier Wände liebt, so können sie gar
nichts anderes mehr, als die Welt so lieben, wie sie nun einmal
ist.
Da ich mich in Zeitnot befinde, so möchte ich Sie gerade
mit Rücksicht auf diese Frage noch auf die Schrift von Sig-
mund Freud »Das Unbehagen in der Kultur« hinweisen, der
diese Gedanken, die ich Ihnen eben angedeutet habe, unter
einem ganz anderen Gesichtspunkt, nämlich unter dem Ge-

217
sichtspunkt der Ökonomie der menschlichen Triebe außer-
ordentlich radikal und mit großer Konsequenz entwickelte.
Er hat darin vor allem auch von den Zerstörungstrieben, den
zerstörenden Tendenzen gehandelt,296 die gerade durch den
Druck der Zivilisation in einem jeden von uns wachgerufen
werden und die sicher eines der gefährlichsten Potentiale da-
für abgeben, daß die Welt, wie sie ist, schließlich doch explo-
dieren wird. Ich möchte dem noch das eine hinzufügen, daß
diese Stimmung des Unbehagens endlich einen Grund hat,
den man leicht übersieht, daß nämlich für den Fortschritt ein
sehr hoher Preis von großen Schichten zu zahlen ist, die ver-
armen, die expropriiert werden oder die wenigstens ihren ge-
sellschaftlichen Status verlieren. Je größer das Reservoir der
Menschen wird, die diesen Preis des Fortschritts zu bezahlen
haben, um so mehr wächst natürlich auch das Reservoir des
Ressentiments und des Unbehagens am Fortschritt an und
um so mehr dann auch jene Kräfte, die schließlich bereit sind,
den Fortschritt in die Bahn der puren Zerstörung zu lenken.
Aber es wäre doch falsch, wenn man dieses Unbehagen we-
sentlich als eine bloß in den Menschen lokalisierte, als eine so-
zialpsychologische Tatsache registrieren wollte, sondern sie
hat eben höchst reale objektive Gründe. Der wichtigste ist,
daß die Gesellschaft trotz aller Fortschritte, die sie gemacht
hat, und trotz der absehbaren Beseitigung des Mangels nach
wie vor charakterisiert wird durch den Widerspruch von
Macht und Ohnmacht, in weitem Maß auch den von Armut
und Reichtum. Und dieser Widerspruch dauert auch in der
Prosperität unserer Bundesrepublik unvermindert an. Er ist
nur in einer gewissen Weise unsichtbar geworden, wie denn
überhaupt die Frage der ›Visibilität‹ – wie wir das in der So-
ziologie nennen –, also die Frage, welche Gruppe jeweils
sichtbar ist, und welche sozialen Phänomene sich erkennen
lassen und welche nicht, immer wichtiger wird in einer Ge-
sellschaft, die so sehr ihren eigenen Schleier erzeugt wie die
unsere. Zum Beispiel, die überaus große Gruppe der Sozial-
rentner, die nach wie vor an der Grenze des Lebensnotwendi-

218
gen selbst in Deutschland dahinvegetieren, ist zerstreut. Sie ist
verhältnismäßig wenig sichtbar. Sie hat keine straffe Organi-
sation und keine Sprecher. Ich glaube, es ist gut, an solche
Dinge zu erinnern, weil wir durch die Reden über das ›Wirt-
schaftswunder‹, seien auch diese Reden ironisch getönt, das
Allereinfachste vergessen, daß nämlich der Umkreis derer,
die daran partizipieren, selbst bei uns beschränkt ist. Das
Unbehagen hat doch wesentlich damit zu tun, daß die Welt
selbst ihren sozialökonomischen Voraussetzungen nach für die
weitaus meisten Menschen immer noch außerordentlich un-
behaglich ist, nur daß diese unbehagliche Situation der mei-
sten Menschen heute nicht mehr so in Erscheinung tritt wie
im 19. Jahrhundert, wo Arbeiter mit eingefallenen Wangen
nach Hause gekommen sind, etwa so, wie Sie sie auf den Blät-
tern von Käthe Kollwitz finden. Die Gesellschaft hat unter-
dessen die Technik in der Integration entwickelt, durch die es
ihr gelang, Armut zwar nicht abzuschaffen, aber weithin un-
kenntlich zu machen.
Hinzu gehört die im Grunde völlig unvernünftige Aufspal-
tung der Welt in zwei von Vernichtungswaffen starrende
Blöcke, die unmittelbar nicht nur sich insgesamt, sondern
jeden einzelnen mit dem Tod bedrohen. Das gesellschaftliche
Unbehagen stammt sehr wesentlich aus diesem Wissen, daß
in jedem Augenblick [das Ganze] explodieren könnte. Hinzu
kommt, daß diese Möglichkeit gar nicht so sehr von dem
Willen der Regierungen abhängt, sondern, wie wir wissen,
unter Umständen in einer Art von anonymer Fatalität, von
anonymer Zwangsläufigkeit herbeigeführt werden kann, so
daß am Schluß eigentlich niemand es gewollt haben will, nie-
mand es geplant hat und doch das Unheil da ist. Das Wichtig-
ste wäre wohl zu lernen, dieses Gespalten-Sein der Welt in
zwei unmittelbar zur Vernichtung ansetzende Blöcke in ir-
gendeiner Weise zu modifizieren. Es ist nicht meine Aufgabe,
hier mit Ihnen über Politik zu reden, aber ich würde sagen,
daß allein die Tatsache, daß nicht dieses Problem als das aller-
dringendste uns vor Augen steht und daß man so tut, als ob

219
die Möglichkeit einer solchen Katastrophe gerade durch de-
ren Vorbereitung hinausgezögert würde, daß dieses Verdrän-
gen der möglichen Katastrophe mir selbst ein Stück Verhäng-
nis zu sein scheint, was gewiß nicht sagen will, daß man dabei
den Krokodilstränen glauben soll, die von sowjetischer Seite
im Namen der Bewahrung des Friedens vergossen werden.
Ich mache mir darüber keine Illusionen. Aber die Vorberei-
tung des Krieges – die Mittel haben dann doch ihre eigene
Dynamik.
Lassen Sie mich schließlich hier noch, als eines der Mo-
mente des Verhängnisses, das unverminderte Andauern des
internationalen Nationalismus anführen. Während der Na-
tionalismus eigentlich seinen Sinn verloren hat, gibt es ja kein
unterentwickeltes, kein auch nur einigermaßen zurückge-
bliebenes Volk mehr, das da nicht mit Hilfe etwa demonstrie-
render Studenten und irgendwelcher Offiziersjuntas, die sich
der Macht bemächtigen wollen, plötzlich wieder den Begriff
der Nation ins Zentrum stellen würde, in einem Zeitalter, in
dem, gegenüber dem längst nicht mehr abstrakten Begriff der
Menschheit, der naturwüchsige [. . .] Begriff Nation wirklich
seine Substanz verloren hat. Das alles wird verstärkt durch die
Tendenzen des Zwangskonsums und der Massenkultur, in die
die Menschen eingespannt sind und in der ihnen unablässig297
alles das eingehämmert wird, was sie dazu bringt, an dem be-
stehenden Zustand auch im eigenen Bewußtsein festzuhalten,
anstatt ihn kritisch zu durchschauen.
Nun, meine Damen und Herren, ich habe Ihnen im zwei-
ten Teil versucht zu zeigen, welche negativen Aspekte den po-
sitiven gegenüberstehen, und ich möchte vielleicht nur noch
sagen, daß Sie das nicht so verstehen sollen, als ob es sich hier
um zwei gewissermaßen voneinander unabhängige Seiten
handeln würde – auf der einen Seite das Positive und auf der
anderen Seite das Negative, das man nur einfach wegnehmen
kann. Sondern in der Dynamik dieser Gesellschaft der fort-
schreitenden Rationalität und Naturbeherrschung selber liegt
zugleich auch das Anwachsen jener negativen Momente. Sie

220
kommen gewissermaßen durch die progressiven selber zu-
stande. Die Reaktion ist selbst eine Funktion des Fortschritts.
Dies Ineinander-verflochten-Sein der beiden Momente ist
eigentlich die geschichtliche Fatalität, aus der es einer ihrer
selbst mündig werdenden Menschheit obliegt, schließlich
doch auszubrechen. Ich glaube nicht, daß Sie von mir verlan-
gen werden, daß ich Ihnen ein Rezept gebe, wie man das ma-
chen soll. Das geht über die Kräfte irgendeines einzelnen
Menschen, und wir wissen, wie wenig die Menschheit aus der
Geschichte lernt, wie wenig mit Rezepten geholfen ist. Aber
ich glaube, einiges wäre doch schon geholfen, wenn Sie zu-
nächst einmal sowohl das unerhörte positive Potential wie die
grauenhafte Drohung, die damit verflochten ist, sich völlig
vorurteilslos, und ohne sich irgendwie von herrschenden Pa-
rolen umnebeln zu lassen, zum Bewußtsein bringen würden
und wenn Sie dabei einiges an Kraft des Widerstandes gewin-
nen würden gegen diese Kräfte. Das heißt nicht etwa, daß Sie
sich dem Fortschritt entgegenstellen und nach den alten Bin-
dungen rufen sollten. Aber Sie sollen nicht einfach blind einer
Dynamik sich anvertrauen, deren Unheilvolles selber offen-
bart ist. Vergessen Sie vor allem, wenn die Frage gestellt wird,
›Was soll man tun?‹, eines nicht: Die Frage setzt eigentlich so
etwas wie ein gesellschaftliches Gesamtsubjekt voraus; wie
wenn sich Menschen verschiedener Klassen oder Gruppen
oder Machtblöcke um den berühmten runden Tisch setzen
könnten und dort in gemeinschaftlicher Beratung feststellen,
wie es am besten zu machen sei. Diese Vorstellung, wie sie
etwa den Spielregeln der unmittelbaren Demokratie ent-
spricht, scheint mir überholt innerhalb einer Gesamtverfas-
sung der Welt, in der die Interessengegensätze zwischen den
einzelnen Gruppen der Gesellschaft so extrem sind, daß es
ein solches Gesamtsubjekt, das sich da durch Verständigung,
durch Diskussion herauszubilden und das Ganze in Ordnung
zu bringen vermöchte, eigentlich gar nicht gibt.
Bewußtsein aber – und ich kann nicht mehr als versuchen,
Sie zum Bewußtsein zu ermutigen –, Bewußtsein ist dasselbe

221
wie die anwachsende Kraft des Widerstandes, des Wider-
standes nicht gegen irgendwelche bestimmten Gruppen oder
Mächte, sondern des Widerstandes gegen die Blindheit, ge-
gen die Fatalität dessen, was über uns ergeht. [. . .] und hier ha-
ben wir dem nichts anderes entgegenzusetzen als die Konse-
quenz unseres eigenen Gedankens. Im Augenblick bleibt uns
nicht viel anderes übrig, als diesen Widerstand durch Be-
wußtsein zu kräftigen, also in Gedanken unseres Selbst mäch-
tig zu bleiben. Vielleicht entspringen darin dann doch auch
Formen der Realisierung, die dem Unheil Einhalt gebieten.

222
Probleme der Musikkritik
6. 5. 1958

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

obwohl wir in einer Zeit leben, in der offenbar alles noch


schneller vergessen wird, als das stets schon der Fall war, wer-
den manche von Ihnen sich wohl noch an einen Ukas des
Herrn Goebbels erinnern, in dem er die Kunstkritik und die
Musikkritik verbot und durch den einigermaßen läppischen
Begriff der ›Kunstbetrachtung‹ ersetzte.298 Nun sind die Ur-
sachen dieses Manövers ja recht offenbar, der kritische Ge-
danke als solcher erschien dem Regime gefährlich, und die
Abschaffung der Kritik zugunsten einer bloß zustimmen-
den Betrachtung sollte auch in dieser Sphäre so etwas wie
Gleichschaltung bewirken. Aber wie alle nationalsozialisti-
schen Maßnahmen in gewisser Weise sich angelehnt haben an
Dispositionen innerhalb der Massen, die sie dann wieder diri-
giert haben, so war es auch mit jener Unterdrückung der Kri-
tik. Es gibt zu der Kunstkritik im allgemeinen und vielleicht
zu der Musikkritik im besonderen eine Haltung, die sehr ver-
breitet ist und die man wohl als ambivalent bezeichnen darf.
Während auf der einen Seite nämlich ungezählte Menschen
ihre Ansichten über die Musik, die sie hören, mehr oder min-
der fertig von ihrem Musikkritiker beziehen, neigen sie, viel-
leicht aus geheimer Wut eben darüber, doch auch dazu, ihn
für einen Schädling zu halten, für einen böswilligen, hämi-
schen, neidischen Menschen, der mehr oder minder als Para-
sit an dem existiert, was andere geschaffen haben, der dem
Genius Knüppel zwischen die Beine wirft und der in Wirk-
lichkeit also nur eine negative anstelle einer aufbauenden Tä-
tigkeit verrichtet. Diese Anschauung ist in der musikalischen
Sphäre selbst kodifiziert worden durch die Konzeption Ri-
chard Wagners von Beckmesser als dem Kritiker aus Ressen-
timent, eine Konzeption, der ja, wie Sie wissen, der damals
sehr einflußreiche Kritiker Eduard Hanslick zum Vorbild ge-

223
dient hat.299 Diese Vorstellung von dem Meckerer und Kriti-
kaster, von dem Kritiker also, der eigentlich nur aus Wut, weil
er selber nichts Produktives zustande bringt, an anderen her-
umnörgelt, wird zunächst einmal ganz handfest dadurch wi-
derlegt, daß gerade in der Musik die bedeutendsten Kritiker
wohl, die es überhaupt gegeben hat, selbst produktive Kom-
ponisten gewesen sind.
Der Kritiker ist Autorität zugleich und wegen seiner Auto-
rität eine mehr oder minder unbeliebte und fragwürdige Figur.
Das Hauptargument, das gegen ihn gebraucht wird, ist das, daß
die Musikkritiker ununterbrochen sich blamiert hätten, daß
die Geschichte der Musikkritik überhaupt die Geschichte ei-
ner einzigen Blamage sei, angefangen von jenen Schreibern
zur Zeit von Bach, die ihn als ›überkompliziert‹ gegenüber pri-
mitiveren und weniger begabten Zeitgenossen wie Telemann
in den Schatten stellten,300 bis in unsere eigene Zeit, wo in der
Tat Banausen aller Art mit dem Gestus der Autorität und des
Besserwissens über große Komponisten wie über Schönberg,
über Alban Berg, über Strawinsky hergefallen sind. Man
braucht alles das gar nicht zu bestreiten – obwohl man immer-
hin sagen könnte, daß zuweilen denn doch auch die Kritiker
gewisse Phänomene richtig gesehen haben und durch ihr Vo-
tum überhaupt Änderungen in der Bewertung musikalischer
Phänomene hervorgerufen haben, die dann danach die Ge-
schichte der Rezeption von Musik sehr nachdrücklich geprägt
haben. Ich erinnere hier etwa an die seinerzeit berühmt gewor-
dene Kritik, die Paul Bekker in der »Frankfurter Zeitung« über
die »Alpensinfonie« von Richard Strauss, und zwar aus dem
Schützengraben, publizierte, eine Kritik, die eigentlich zum
ersten Mal den Glauben an Richard Strauss [als] den fortge-
schrittenen, avantgardistischen Komponisten, den Führer der
Moderne erschütterte und zeigte, daß er bereits erstarrt und
einer Art von Konvention verfallen war.301
Aber wie immer es damit sich verhalten mag, die Ge-
schichte im Sinn dessen, was übrigbleibt, was überlebt, ge-
genüber dem, was in den Schatten tritt und vergessen wird, ist

224
selber keine absolute Instanz, in der Musik ganz gewiß keine,
und deshalb ist der Hinweis auf geschichtliche Urteile gegen-
über den individuellen Fehlurteilen der Kritiker wohl auch
nicht so sehr schlüssig. Ich möchte nur daran erinnern, daß
einer der genialsten und, man darf sagen, anachronistisch fort-
geschrittensten Komponisten, der Fürst Carlo Gesualdo da
Venosa, der an der Wende des 16. und 17. Jahrhunderts gelebt
hat, vollkommen in Vergessenheit geraten ist, obwohl er die
kühnsten chromatischen Neuerungen von Richard Wagner
vorweggenommen hat, und daß er erst heute überhaupt wie-
der allmählich in seiner Bedeutung gesehen wird.302 Ich er-
innere an das Schicksal, das Mussorgski zu seinen Lebzeiten
widerfahren ist,303 und ich darf aus der jüngsten Vergangen-
heit hier den Namen von Alexander Zemlinsky304 nennen,
der in dem Umkreis der neuen Wiener Schule, also in dem
Umkreis zwischen Brahms, Mahler und Schönberg, eine au-
ßerordentlich bedeutende Figur ist und von dem mir neulich
einer der begabtesten und höchst qualifizierten jungen Diri-
genten sagte, daß er nicht einmal seinen Namen kenne und
noch nicht eine Note von ihm jemals gehört habe.305 Und ich
würde sagen, daß es eine wesentliche Aufgabe gerade der
Kritiker ist, etwas von dem Unrecht wiedergutzumachen, das
solchen Meistern widerfahren ist, so wie es ja insbesondere
Claude Debussy als Kritiker mit Mussorgski in der Tat gelun-
gen ist.306 Mit anderen Worten, das Verhältnis des Kritikers
zur Geschichte ist nicht einfach das, daß er ein Vabanquespiel
zu spielen hat, ob nun die Urteile, die er fällt, von der Ge-
schichte vindiziert werden oder nicht, sondern er ist sehr oft
auch eine Revisionsinstanz der Geschichte und er hat gleich-
sam die Aufgabe, gegen den Strom der Urteile anzugehen, die
von der fable convenue bestätigt sind. Ähnlich etwa, wie be-
deutende Literaturkritiker es auch tun müssen und wie es der
souveränen und selbständigen Literaturkritik zu danken ist,
daß Pseudo-Klassiker wie Theodor Körner gestürzt wur-
den307 und daß große Dichter wie Georg Büchner eigentlich
erst 100 Jahre nach ihrem Tod an ihre Stelle gerückt sind.

225
Aber diese Aufgabe des Kritikers, diese Funktion, die Ge-
schichte zu revidieren, die bezieht sich nun keineswegs nur
auf positive Phänomene, auf die Wiederentdeckung oder auf
die Rettung, sondern sie bedeutet – und das ist fast noch
wichtiger – auch die permanente Verpflichtung, geschicht-
lich geprägte Convenus, im Sinne von Gipsklassikern, von
etablierten positiven Werten, die von der Sache her sich als
problematisch erweisen, zu zerstören. Und durch diese nach
meiner Überzeugung sehr wesentliche Arbeit im Dienst der
künstlerischen Wahrheit verstärkt sich die Ambivalenz dem
Kritiker gegenüber, der in dem Augenblick, in dem er mit der
Negativität des Begriffs Ernst macht, die Hegel als das Wesen
des Begriffs überhaupt bestimmt hat,308 sich sofort einem Haß
aussetzt, von dem nur der vielleicht die rechte Vorstellung
sich macht, der solche Dinge selber einmal durchgefochten
hat. Ich erinnere mich daran, daß schon, als ich vor vielen
Jahren einmal in recht vorsichtiger Weise die beliebte Verkop-
pelung der Namen Bach und Händel in Zweifel zog,309 mich
eine Flut von Beschimpfungen erreichte und daß Händel-
Vereine und ähnliche Institutionen Protestbriefe schrieben,
weil ich ihren organisierten Gott herabgesetzt hatte. Und als
ich in einer noch viel vorsichtigeren Weise in dem Band »Dis-
sonanzen« es wagte, an dem Glauben an Heinrich Schütz, der
in bestimmten, sehr genau definierten Kreisen heute wirklich
eine Art von ›sacred cow‹, von heiliger Kuh, ist, Kritik anzu-
melden, da war die Wut darüber größer als über alles andere
an Unbequemem, was ich dort gesagt hatte, obwohl ich die
Qualitäten von Schütz keineswegs in Frage gestellt hatte, son-
dern nur darauf hingewiesen hatte, daß diese Qualitäten, wie
es einer besonderen geschichtlichen Situation entspricht, bei
ihm eben noch gar nicht voll entfaltet sind, sondern gleich-
sam Ansätze, die dann erst in dem Werk von Bach selber eben
zur großen und in sich selbst vollkommenen Kunst sich ent-
faltet haben.310 Ähnliche Dinge könnte man über Gluck etwa
auch sagen, und ich meine, daß solche Revisionen deshalb
keine bloße Sache des ›debunking‹ sind, also des bloßen Nie-

226
derreißens um des Niederreißens willen, weil ein genuines
Verhältnis zur Musik überhaupt nur dort besteht, wo die
Werke lebendig, das heißt in ihrer Wahrheit oder Unwahr-
heit, in ihrer Wahrheit oder Falschheit erfahren werden, wäh-
rend die blinde Akzeptierung von Kunstwerken als ein für
allemal geprägten Ewigkeitswerten diese lebendige Bezie-
hung unterbricht und die Werke dadurch, daß sie sie zu Feti-
schen macht, gleichzeitig tötet und unterhöhlt. Darum meine
ich also, man müsse diese Arbeit leisten. Die meisten dieser
Revisionen übrigens, von denen ich eben gesprochen habe,
sind insofern keine, als unter Musikern diese Dinge eigentlich
mehr oder minder bekannt sind. Aber die Musiker pflegen ja
im allgemeinen nicht gerade sehr artikuliert in ihren verbalen
Fähigkeiten zu sein und behalten das für sich, während das all-
gemeine Publikum eben immer noch die Normen sozusagen
aus dem Komponisten-Quartett bezieht, und die Polemik,
um die es sich hier handelt, ist also eigentlich die gegen diese
Art der infantilen Urteilsbildung in der Musik. Und gerade
das führt zu Widerständen und zu Haß, nach der altbeliebten
Formel, daß Kritik etwas wegnehme, daß sie den Menschen
etwas nehme, anstatt es ihnen zu geben. Negation an sich ist
heute ja überhaupt in unserer verwalteten Welt weitgehend
suspekt, und das Verdächtigmachen jedes kritischen Gedan-
kens ist nicht das unwirksamste unter den Mitteln, durch
welche heute die allgemeine Konformität des Gedankens sich
herstellt.
Nun, wenn die Kritiker den Komponisten und den Kom-
positionen vielfach Unrecht getan haben – und ich bin der
letzte, das zu bestreiten –, so haben umgekehrt die Komponi-
sten und die Geschichte ihnen auch Unrecht getan, so wie ich
es Ihnen bereits angedeutet habe am Falle Hanslick-Beck-
messer, an der Fehlkonstruktion des Kritikers aus Ressenti-
ment. Gerade die Schriften von Hanslick, bei denen ein ge-
wisser philiströser Unterton und ein gewisser Unterton des
professoralen Besserwissens sich nicht überhören läßt, sehen
heute trotzdem wesentlich anders aus als zu der Zeit um 1870,

227
als die »Meistersinger« geschrieben wurden.311 Die Ästhetik
von Hanslick312 als die Ästhetik einer autonom in sich gestal-
teten Musik, anstelle einer Musik, die lediglich der Imitation
von Ausdrucksregungen gilt, ist durch die nachfolgende Ent-
wicklung der gesamten Musik in all ihren Richtungen, kann
man heute sagen, eigentlich doch wieder auch zu ihrem
Recht gekommen, obwohl bestehen bleibt – und so komplex
sind diese Dinge –, daß Hanslick großen Werken, großen
Komponisten wie Wagner und auch Bruckner gegenüber
sich eng und borniert erwiesen hat.313 Es würde die aktuelle
Aufgabe einer Musikkritik sein, nicht etwa nun verbohrt eine
solche Kontroverse weiterzuführen, sondern über diese Kon-
troverse hinauszukommen, sich über sie zu erheben, und die
Wahrheit und die Falschheit dieser Momente, so wie sie
dann im Lauf der geschichtlichen Entwicklung sich entfaltet
haben, in sich selbst aufzunehmen und zu artikulieren. Mit
anderen Worten also, es gehört nicht zu den geringsten Auf-
gaben einer genuinen Musikkritik, Geschichte in sich hinein-
zunehmen und zugleich zu ihrem Teil etwas dazu beizutra-
gen, Geschichte selber zu vollziehen.
Nun, der Grundfehler der üblichen Auffassung von der
Musikkritik dürfte der sein, daß das zuinnerst geschichtliche
Wesen des Kunstwerks ebenso wie das der Kritik – und beides
hängt untrennbar zusammen – verkannt wird und daß man
sich eine Vorstellung von der Kritik macht etwa von der Art,
als ob droben irgendwelche unveräußerlichen, fixsternhaften
Ewigkeitswerte wie Sterne an einer altmodischen Dekoration
zu der »Zauberflöte«314 festgemacht wären und als ob der Mu-
sikkritiker nun zu schnappen hätte nach jenen herunterhän-
genden Sternen und als ob seine Qualität schließlich danach
sich entschiede, ob es ihm gelingt, diese Ewigkeitswerte zu
ertappen oder nicht zu ertappen, als ob er gewissermaßen ein
Vabanquespiel auf das Bleibende hin spielen würde. Aber
meine Damen und Herren, der Gehalt aller Kunstwerke und
zumal der Gehalt der Zeitkunst par excellence, der Musik, ist
selber durch und durch geschichtlich, und deshalb stehen die

228
Werke selber auch in der Geschichte. Das vielleicht führt uns
dazu, den Ansatz für die Musikkritik selber vernünftiger zu
wählen, vernünftiger zu begreifen, als das im allgemeinen der
Fall ist. Man müßte Musikkritik – und das gilt vielleicht nicht
nur für die Musik – sehen als ein Moment der Entfaltung der
Werke selber in der Zeit, als ein Moment, dessen sie selber
bedürfen, um eigentlich zu leben. Durch die Kritik treten an
den Werken neue Schichten hervor, und dieses Hervortre-
ten-Lassen neuer und zunächst in den Texten verschlossener
Schichten an den Werken, das ist eigentlich das, was eine ver-
antwortliche Kritik an der Musik vollbringen sollte, viel eher
als nur ein für allemal fest darüber Urteile zu fällen, ob dieses
oder jenes schlecht sei.
Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben, an dem das vielleicht
deutlich wird. Im letzten Jahr hatte ich in Kranichstein Gele-
genheit, in einem Konzert nacheinander das vierte Quartett
von Bartók zu hören und die »Chansons madécasses« von
Ravel.315 Nun, ein jeder Musiker weiß, daß so nach außen
Bartók der viel modernere, der avanciertere Komponist ist,
während Ravel in die impressionistische Generation hinein-
gehört. Es zeigte sich nun aber – so schien es mir wenigstens
bei dieser Aufführung –, daß in Wahrheit diese Lieder, diese
Kammerlieder von Ravel sehr viel differenzierter, sehr viel ar-
tikulierter und in sich durchkonstruierter waren als das nach
außen hin viel ruppigere Stück von Bartók. Die Frage der
Modernität eines Werkes hängt nicht nur an der Fassade der
darin verwandten Mittel, sondern an seinen inneren Kon-
struktionsprinzipien, und diese tiefere, diese latente Moder-
nität tritt unter Umständen erst gerade dann hervor, wenn der
Reiz der Fassadenphänomene bereits abgestorben ist – etwa
wie in der bildenden Kunst möglicherweise uns heute Manet
ein modernerer Maler erscheint, als es mit van Gogh noch der
Fall ist. Ja, solche Strukturveränderungen im geschichtlichen
Bild herbeizuführen und gewissermaßen dem Leben der
Kunstwerke selber auf diese Weise beizustehen, das würde mir
eine sehr legitime Aufgabe der Kritik scheinen.

229
Es folgt daraus wohl, daß die Kritik nicht abzielt auf ein ab-
straktes Jenseits ein für allemal seiender Werte, gewisserma-
ßen platonischer Ideen, daß sie nicht eine richtende Instanz
ist, sondern daß sie ein geschichtlich notwendiges Moment
im Leben der Werke ist. Das hat nun aber, wenn ich mich
nicht täusche, eine einigermaßen paradoxe Konsequenz. Die
Objektivität nämlich von Kritik scheint mir um so verbürgter
zu sein, oder lassen Sie mich es lieber so formulieren, die
Möglichkeit der objektiven Geltung von Urteilen über Mu-
sik scheint mir um so größer zu sein, je mehr der Kritiker
Partei zu nehmen vermag und je mehr er verzichtet darauf,
die Fiktion zu machen, er stünde gewissermaßen als eine un-
abhängige Instanz irgendwo jenseits und urteile, wie man das
in der Soziologie einmal genannt hat, als ein freischwebender
Intellektueller.316 Nur durch die Identifikation mit einer
Sache hindurch, beinahe hätte ich gesagt, nur durch die Liebe
zu einer Sache hindurch, die dann auch die Form des Has-
ses anzunehmen vermag, vollzieht sich jene geschichtliche
Wahrheit, auf welche die Musikkritik abzielt, und nicht durch
einen pseudo-souveränen, etwa historischen Überblick über
das Ganze, der das Engagement nicht kennt und der, um
abermals mit Hegel zu reden, nur deshalb über den Sachen ist,
weil er nicht in den Sachen ist.317
Dabei hat alle Kritik, indem sie Reflexion ist, indem sie
Gedanken ist, indem sie also sich bei dem, was nun einmal da
ist, nicht bescheidet, ein werdendes Moment in sich, ein dy-
namisches Moment, und man könnte sagen, daß durch dieses
grundsätzlich Dynamische, mit dem, was ist, sich nicht Be-
scheidende, eigentlich der Begriff einer ›konservativen Kritik‹
in sich selbst widerspruchsvoll ist, daß Kritik ihrem eigenen
Wesen nach eigentlich nur als weitertreibende möglich ist,
daß jede eigentliche Kritik in sich immer die Theorie oder
das Potential dessen ist, was es noch nicht gibt, und das ist eine
Bestimmung der Kritik, durch welche natürlich die übliche
Unterscheidung zwischen dem sogenannten Schöpferischen
und dem bloß Sekundären der kritischen Tätigkeit wesentlich

230
modifiziert wird. In diesem Sinn darf der Kritiker wirklich als
der Repräsentant der Nachwelt, des Idealtypus der Nachwelt
jedenfalls, gelten. Wenn Walter Benjamin einmal die Aufgabe
des Kritikers so definiert hat, er müsse dem Werk gegenüber
der Anwalt des Publikums gegen das Publikum, also gegen
die jetzt und hier vorfindlichen, gängigen Meinungen sein,318
dann trifft das, so will es mir scheinen, dieses Phänomen au-
ßerordentlich genau. Es läßt sich daraus ableiten eine Norm
für das kritische Verhalten, nämlich die, daß ein legitimer
Kritiker niemals schielen darf auf die Wirkung, die das Werk
auf das Publikum ausübt, und niemals schielen darf vollends
auf die Wirkung, die seine eigenen Worte auf das Publikum
ausüben, sondern daß er es bloß und ausschließlich mit der
Sache zu tun hat. Man hat mir oft den Vorwurf gemacht,
daß ich dadurch doch wesentliche gesellschaftliche Momente
an der Musik übersehen würde, und man hat mir angekrei-
det, daß das gerade bei einem Soziologen eine etwas wi-
derspruchsvolle Haltung sei. Ich würde darauf antworten, daß
das gesellschaftlich Richtige in der Kunst niemals etwas ande-
res sein kann als das, was der eigenen ästhetischen Wahrheit
nach selber das Richtige eben ist.
Nun, wenn ich sagte, daß nur durch die Parteinahme oder,
wenn Sie mir den Goetheschen Ausdruck erlauben, durch die
›Parteiischkeit‹319 hindurch die Objektivität der Kritik ge-
raten könne, so liegt darin ein bestimmtes Verhältnis des Kri-
tikers zum cénacle, zu der Gemeinschaft der Künstler, zu dem
Atelier sozusagen drin. Ich glaube, daß es in der Tat keine
Kritik gibt, die etwas taugt, die diese Tuchfühlung nicht hat,
und daß ein Mensch, der, etwa aus dem musikhistorischen
Seminar ausgebrütet, nun über Musik urteilt, ohne daß er die
Probleme kennt, die die Komponisten in ihrer eigenen Arbeit
bewegen oder auch die reproduzierenden Künstler in ihrer
eigenen Arbeit bewegen, daß der mehr oder minder unver-
bindliche Bildungsurteile bloß von außen her fällen wird, die
für die Sache selber höchst unmaßgeblich sind. Auf der
andern Seite liegen darin natürlich sehr schwere Gefahr-

231
momente. Ich denke dabei nicht nur an das Moment der pri-
vaten Kontakte zwischen Künstler und Kritiker, die die soge-
nannte kritische Objektivität angeblich erschüttern – ich
würde diese Gefahr nicht einmal so sehr tragisch nehmen –,
sondern ich denke vor allem daran, daß die Parteiischkeit, von
der ich redete, sehr leicht zu einer schlechten Parteiischkeit
werden kann, nämlich zu der Anschauung, es sei etwas darum
schon gut, weil es zu einer bestimmten Schule gehört, was
natürlich in gar keiner Weise der Fall ist.
Wenn ich noch einmal auf meine eigene Erfahrung rekur-
rieren darf, so habe ich versucht, mich gerade darin immer
sehr zu kontrollieren und auch der eigenen Schule gegenüber,
der Schule, aus der ich hervorgegangen bin, also der neuen
Wiener Schule gegenüber, gleichzeitig Treue und Unabhän-
gigkeit mir zu erhalten. Das ist ein wenig wie ›Pressfreiheit
und Zensur‹, aber das Leben besteht ja nun einmal aus derarti-
gen Paradoxien, und wie man es macht, ist es eigentlich im-
mer falsch. Jedenfalls meine ich, der parteiische Kritiker, den
ich als das Ideal bezeichnet habe, müßte zugleich doch immer
tendenziell jener Vogel sein, der das eigene Nest beschmutzt,
um dieses Schimpfwort, dieses abscheuliche Schimpfwort, ins
Positive zu wenden, wie ich denn überhaupt glaube, daß die-
ses Wort insgesamt, die Haltung, die dieses Wort insgesamt
ausdrückt, etwas sehr Fragwürdiges ist, dem man, so gut man
es überhaupt kann, widerstehen soll. Der Kritiker hat gewis-
sermaßen die Aufgabe, das theoretische Gewissen der eigenen
Schule, der eigenen Partei darzustellen und deren Selbstkritik
zu geben, auch auf die Gefahr hin sogar, daß er dann zu Zei-
ten als ein Renegat verschrien wird, wie es mir mit der Arbeit
über »Das Altern der Neuen Musik«320 geschehen ist, ohne
daß ich mir deshalb der Kontinuität meiner Arbeit gegenüber
große Gedanken machen konnte. Diese Selbstkritik nun der
eigenen Schule gegenüber, von der ich gesprochen habe, die-
se Selbstkritik ist überhaupt eine zentrale kritische Kategorie.
Die Qualität eines Kritikers dürfte sich nämlich daran erwei-
sen, daß er die eigenen Kategorien und Erfahrungen, denen

232
er treu sein muß, an denen er festhalten muß, von denen er
recht eigentlich lebt, wenn er kein Mann der moluskenhaften
Impression werden will, doch suspendieren kann, daß er doch
von all dem loskommen kann, was er ein für allemal weiß und
erfahren hat, wenn ihn eine große, neue, qualitativ andere Er-
fahrung überwältigt. Er muß also gleichzeitig zu sich stehen
und muß doch dem anderen offen sein, und die Selbstkritik,
von der ich gesprochen habe, besteht wesentlich darin, daß er
immer es vermag, diese beiden zunächst einander widerspre-
chenden Forderungen aneinander zu messen und ihnen nach-
zukommen.
Meine Damen und Herren, bitte mißverstehen Sie das bei-
leibe nicht so, als ob ich damit vom Kritiker verlangen wollte,
daß er einen absoluten Relativismus predigt und sich dadurch
herausredet, daß er sagt: ›Alle kritischen Urteile sind ja relativ,
und auch, was ich als Kritiker sage, ist im Grunde ganz un-
maßgeblich‹. Gewisse Kritiker, so zum Beispiel der von mir
sehr verehrte Ernest Newman, haben diesen erkenntnistheo-
retischen Weg beschritten,321 aber ich glaube, daß, indem
man einen Satz ausspricht, diesem Satz bereits der Anspruch
der Wahrheit innewohnt und daß die Versicherung, es sei nur
meine werte persönliche Meinung, diesem Wahrheitsan-
spruch der Sache selber gegenüber eigentlich dann völlig
gleichgültig bleibt. Sondern es handelt sich darum, daß man
gerade im Festhalten des Urteils und in dem Ändern des Fest-
gehaltenen, das einem von der Sache aufgezwungen wird, et-
was von jenem Prozeß gewissermaßen noch einmal vollzieht,
der der Prozeß der Wahrheit selber, der, man könnte beinahe
sagen, der geschichtliche Prozeß eigentlich ist. Man könnte in
diesem Sinn sagen, daß Kritik, Musikkritik, nichts anderes
heißt als der permanente Versuch, mit dem Gedanken den
eigenen Erfahrungen nachzukommen.
Nun, viele von Ihnen, meine Damen und Herren, werden
daraufhin sagen, es sei damit eine Gefahr von extremem Sub-
jektivismus heraufbeschworen. Aber die Wahrheit ist kein
Resultat der Durchstreichung des Subjekts. Wahrheit kommt

233
nicht dadurch zustande, daß ich aufhöre, ein reagierender und
lebendiger Mensch zu sein, sondern sie kommt zustande nur
durch das Subjekt hindurch, nur vermittelt durch es. Ohne
etwas wie spontane subjektive Erfahrung gibt es überhaupt
keine ästhetische Wahrheit, sondern nur verdinglichte, kunst-
fremde Konstatierungen. Freilich bleiben diese subjektiven
Regungen, diese spontanen Erfahrungen, mit denen alle Kri-
tik notwendig anhebt, nur ein Moment. Es gibt ein entge-
gengesetztes Moment, das zu der Arbeit des Kritikers not-
wendig dazugehört, nämlich das strengste Sachverständnis,
die Disziplin in der Sache selber, der man sich unbedingt
überlassen muß. Es gibt also kein bloßes Konstatieren von
Gefallen und Mißfallen, sondern es gibt statt dessen die um-
fassende Verpflichtung, an der Sache selber das zu zeigen, was
dem Sinn der Sache nach wahr oder falsch ist. Sie mögen dar-
an etwas erkennen mit Rücksicht auf das Verhältnis des Kri-
tikers zum Geschmack. Dieses Verhältnis ist in Deutschland
nicht sehr glücklich. Ich würde sagen, es ist geradezu das Ver-
hängnis einer sehr verbreiteten Form musikalischer Kritik bei
uns, daß diese Sphäre des Geschmacks verkümmert ist und
daß sehr viele Kritiker glauben, durch das, was sie für Ethos
halten, sich von dem Geschmack gewissermaßen dispensieren
zu können, und ich glaube, in dieser Hinsicht tut man gut
daran, von den romanischen Ländern, bei denen ja der Ge-
schmack die zentrale Kategorie des künstlerischen Urteils ist,
zunächst einmal sehr, sehr viel und ohne jeden moralischen
Hochmut zu lernen. Auf der andern Seite aber ist das Ge-
schmacksurteil nicht das letzte, nicht das absolut geltende
Kriterium, das es für solche Dinge gibt, sondern man muß die
Fähigkeit haben, auch über das Geschmacksurteil sich er-
heben zu können, über den bloßen Geschmack dort hinaus-
zugelangen, wo es sich um Gebilde handelt, denen gegenüber
der Geschmack eben dann doch eine untergeordnete, eine
wirklich bloß kulinarische, genüßlerische Kategorie bleibt,
wo eben die Wahrheit der Sache selber, die künstlerische Idee
darüber hinausgeht. Ich würde sagen, daß etwa die Haltung

234
Debussys gegenüber dem größten Komponisten seiner eige-
nen Epoche, gegenüber Gustav Mahler,322 eben wesentlich
doch daher rührt, daß er im Geschmack eine gewisse Enge
besaß, daß der Geschmack für ihn das Letzte war und daß er
das für geschmacklos halten konnte, was eben wirklich mehr
ist als Geschmack, was die sichere, gefügte sinnliche Oberflä-
che des Kunstwerks durchschlagen hat.
Ich darf Ihnen vielleicht in aller Kürze einige Typen von
produktiv weitertreibender Kritik wenigstens umreißen,
meine Damen und Herren. Da ist zunächst der Typus, den ich
den des geleitenden Kritikers nennen möchte, dessen höch-
stes Beispiel wohl Schumann ist, der nicht nur in seiner be-
rühmten Arbeit über Brahms, dem berühmten Aufsatz über
Brahms, als erster auf dessen Größe hingewiesen hat,323 son-
dern der auch schon an einigen Jugendarbeiten von Chopin,
an denen es für uns recht schwer ist, überhaupt das eigentlich
Chopinsche schon so ganz wahrzunehmen, den Genius er-
kannte324 und mit einer Art, die der Haltung der Schumann-
schen Musik selber ebenbürtig ist, auf diese seine Freunde
eben hingewiesen hat. Hier in solchen Fällen wird die Auto-
rität des Kritikers zur Hilfe für die weitertreibende Tendenz.
Kritik heißt in diesem Fall, der eigenen Zeit voraus sein.
Weiter möchte ich Sie aufmerksam machen auf den Typus
des Kritikers, den progressiven Typus des Kritikers, den man
vielleicht den Anti-Philister nennen kann und dessen größtes
Beispiel Hugo Wolf ist.325 Hugo Wolf hat in einer Zeit als
Kritiker gelebt, in der die offizielle Romantik der Richtung
von Schumann, Mendelssohn, auch bereits Brahms zur Pro-
fessoren-Musik erstarrt war und sich akademisch eingerichtet
hatte, zu einer Zeit also, in der die Idee des sogenannten guten
Musikers höchst bedenklich geworden war, und er hat es sich
zur Aufgabe gesetzt, das, was in den »Meistersingern« selber –
die übrigens das Vorbild der gesamten Produktion von Hugo
Wolf sein dürften –, was in den »Meistersingern« künstlerisch
gestaltet ist, nun zur künstlerischen Norm überhaupt zu erhe-
ben und gewissermaßen den Standpunkt des Walther Stolzing

235
einzunehmen als Kritiker gegenüber dem Beckmesser, und er
hat dadurch eine gewisse schulstubenhafte Enge, die gewis-
sermaßen das Korrelat zu der Gediegenheit und Gefügtheit
von Musik abgibt, zu durchbrechen und ein Maß an frischer
und fremder Luft hereinzulassen [gesucht], wie es vorher
noch nicht der Fall war. Dabei allerdings – und ich glaube, es
ist nicht überflüssig, darauf hinzuweisen –, dabei allerdings hat
Hugo Wolf auch bereits die Gefahr, daß dieser Hinweis auf
das freie, ungebundene, nur von der Phantasie gezeugte
Kunstwerk auf Kosten der konstruktiven Disziplin geht und
daß dadurch gewissermaßen das dilettantische Moment in die
Kunst hereingelassen wird, ohne das es allerdings schwer ab-
geht.
Schließlich möchte ich Sie im Zusammenhang damit noch
erinnern an Claude Debussy, von dem ich bereits sprach, der
bereits in einer Zeit lebte, in der die sicheren handwerklichen
Kriterien allesamt erschüttert gewesen sind, und der infolge-
dessen als erster, ich möchte sagen, den Fachmann, den Mann
vom cénacle, den Antidilettanten326 zum Kritiker erklärt hat
und dessen gesamte kritische Arbeiten ein einziger Versuch
sind, eben diese strenge sachliche Zuständigkeit in das Zen-
trum der musikalischen Kritik eigentlich zu rücken, bei dem
aber dann auch schon etwas wie die Gefahr sich andeutet, die
der Wolfischen Kritik genau entgegengesetzt ist, nämlich die
Gefahr einer etwas spezialistenhaften Verengung. Nun, alle
diese Kritiker sind zugleich Komponisten gewesen, und das
heißt, daß sie die Probleme, die in der Sache selber liegen, am
allergenauesten gekannt haben, und in diesem Sinn müßte
wohl jeder Kritiker Komponist sein, daß er die Logik der
Komposition, die Notwendigkeit oder Nichtnotwendigkeit
einer jeden Note bis ins letzte nachzuvollziehen vermag, dar-
über Rechenschaft zu geben vermag. Er darf vor allem nie-
mals sich begnügen mit der bloßen Konstatierung, mit dem
bloßen fertigen Verdikt, sondern er muß explizit oder implizit
in jedem Augenblick fähig sein, die Urteile, die er fällt, in der
Tat aus der Sache heraus zu begründen. Diese Aufgabe ist oft

236
sehr schwierig, vor allem deshalb, weil sehr komplexe, mo-
derne Werke es nicht erlauben, beim ersten Hören ein derart
bündiges Urteil nun zu fällen und gleichzeitig zu begründen.
Wo das nicht der Fall ist, würde ich sagen, ist es die richtige
Haltung des Kritikers, daß er seinen Eindruck als Eindruck
niederschreibt, fixiert, aber auch als Eindruck und mit einer
gewissen Bescheidenheit formuliert und die wirkliche ein-
dringende Kenntnis sich vorbehält, um zu einem wirklichen
Urteil zu kommen, aber nicht schon antizipiert. Im übrigen
ist es merkwürdig, man kann im allgemeinen bei bedeuten-
den Werken, zum Beispiel bei denen des jungen französischen
Komponisten Pierre Boulez,327 die Qualität schon beim er-
sten Hören wahrnehmen, selbst dann, wenn man nicht fähig
ist, die außerordentlich komplexe Komposition bis ins einzel-
ne durchzuhören und bis ins einzelne die Struktur wirklich zu
verstehen. Und ich würde sagen, daß solche Spannungen
zwischen Qualitätssinn und völligem Durchhören etwas sind,
was in der Arbeit des Kritikers selbst durchaus auch zum Aus-
druck kommen darf.
Meine Damen und Herren, ich bin am Ende dessen, was
ich Ihnen heute über den sehr ausgebreiteten Komplex der
Musikkritik sagen wollte. Manche Aufgaben der Musikkri-
tiker sind ja recht drastisch. Und es gilt auch hier der Satz
›Bangemachen gilt nicht‹. Also etwa Formniveaus, der Unter-
schied zwischen Werken von hohem Niveau und von solchen
auf niedrigem Niveau, die es sich bequem machen – solche
Probleme sind von der Kritik durchaus und jederzeit zu lei-
sten, auch auf die Gefahr hin, daß auf den allerhöchsten Form-
niveaus, wo die schwersten Fragen sich stellen, schließlich
ein Schatten von Relativität das kritische Urteil bezeichnet.
Weiter kann die Musikkritik ganz sicher entgegenarbeiten
dem Moment an Bildungsverlust, an Verlust von Autonomie
und von Verständnis, die wie in allen Sphären des gegenwär-
tigen Lebens so auch in der Musik zu bewahren ist, denn Kri-
tik heißt eigentlich gar nichts anderes, als der Musik gegen-
über sich autonom, als ein selbständiger Mensch zu verhalten

237
und die Autonomie zu stärken. Dadurch ist jede eigentliche
Kritik, sie mag es wollen oder nicht, zugleich auch Kritik an
der Gesellschaft, und deshalb liegt auf der Kritik auch ein ge-
wisser Druck. So ist ein Kritiker, der irgendwelchen sehr an-
erkannten und berühmten Komponisten oder gar lebenden
Interpreten und Interpretinnen widerspricht, in Gefahr, in
die allergrößten Schwierigkeiten zu geraten, und während es
so aussieht, als ob der Kritiker im allgemeinen die armen
Künstler schikaniere, ist vielleicht heute bereits unter dem
Druck eben jenes Konformismus der Kritiker und die Situa-
tion des Kritikers selber die eigentlich gefährdete, vielleicht
die, die sich ihrem Ende zuneigt einfach deshalb, weil der
herrschende Konformismus sie nicht mehr dulden will. Um
so wichtiger aber ist es, daß man, wenn man überhaupt Kriti-
ker ist und kritisch denkt, als ein solcher kritischer Denker, sei
es auch auf verlorenem Posten, aushält und möglichst unbe-
stechlich und möglichst unnachgiebig gegen[über] dem, was
einem zugemutet wird, an dem festhält, was das Leben der
Sache selber ausmacht, so wie man als Subjekt diese Sache
eben erfährt. Mit dem Anwachsen des Drucks gegen den kri-
tischen Gedanken, so könnte man sagen, wächst das Recht,
wächst die Funktion des kritischen Gedankens selber. Heute
gibt es wahrscheinlich bereits weniger das, was man einmal
die »Krisis der Musikkritik« genannt hat,328 als vielmehr eine
Bedrohung und Verdrängung überhaupt alles nicht konfor-
mierenden Gedankens. Und auf das Nichtkonformierende,
auf das, was anders ist als das, was bloß ist, darauf kommt es in
jeder Kunst und ganz gewiß in der Musik allein an. Infolge-
dessen kann man wohl sagen, daß gerade in dem Moment, das
an der Kritik am meisten diffamiert wird, nämlich in dem
Moment des Beunruhigenden und Negativen, in der Musik
das Bewahrende aufgehoben ist und daß Musik ohne diese
Kraft der Negation selber überhaupt nicht mehr bewahrt
werden könnte.

238
Die autoritäre Persönlichkeit
4. 5. 1960

[. . .] Es wird Sie vielleicht ein wenig erstaunen, in einer Ta-


gung, die den Problemen von Autoritarismus und Nationalis-
mus gewidmet ist, einem Vortrag zu begegnen, der doch we-
sentlich einen psychologischen Akzent trägt oder jedenfalls
im ersten Augenblick zu tragen scheint. Sie werden wohl zu-
nächst annehmen, daß dieses Problem in der Weise, in der es
eben auf dieser Tagung gestellt ist, sich eigentlich vorweg im
Bereich der Politologie bewegt oder allenfalls der Soziologie.
Selbstverständlich unterschätze ich diesen Aspekt nicht – ich
werde darauf später noch kommen –, ich möchte aber das
tun, was einmal Freud in seiner Frühzeit von der Psychoana-
lyse gesagt hat,329 ich möchte nämlich nicht etwa die allge-
mein geltenden und allgemein bekannten Zusammenhänge
ausradieren und durch irgendwelche mehr oder weniger
schrullenhaften Theorien ersetzen, sondern ich möchte nur
den Dingen, die Ihnen ohnehin gegenwärtig sind, einiges
hinzufügen, jedoch nur solches, das im Rahmen sozialer und
politischer objektiver Gegebenheiten Stellenwert besitzt.
Andererseits aber habe ich auch meine guten Gründe dafür,
diesen psychologischen Aspekt einmal etwas stärker in den
Vordergrund zu stellen, als dies gewöhnlich der Fall ist. Die
Begründung dafür hoffe ich Ihnen im Laufe meiner Ausfüh-
rungen geben zu können.
Zunächst möchte ich versuchen, Ihnen zu erklären, war-
um das Problem, mit dem wir auf dieser Tagung befaßt sind,
auch unter psychologischen Aspekten behandelt werden
kann. Lassen Sie mich zunächst erst einmal ruhig annehmen,
daß wir, wenn wir von psychologischen Motivationen im
prägnanten, im spezifischen Sinn reden, dabei mehr oder
minder an irrationale Motivationen denken, im Gegensatz zu
den bewußten Motivationen, die etwa mit der ›Realitätsprü-
fung‹,330 der Erfahrungsrealität zusammenhängen und die in-
folgedessen von vornherein mehr auf die objektiven, sozialen

239
und politischen Gegebenheiten bezogen sind, als das mit den
spezifisch psychologischen Determinanten zu sein pflegt.
Nun ist es aber so, daß der Nationalismus jeglicher Gestalt ja
darauf beruht, daß er den Menschen Opfer auferlegt, die eine
gewisse Art der Irrationalität ansprechen. Aggressiver Natio-
nalismus ist gar nicht anders möglich, als daß von Menschen
Opfer der verschiedensten Art verlangt werden, angefangen
von den Opfern, die etwa mit der Art der militärischen Aus-
bildung verbunden sind, bis schließlich zu der unmittelbaren
Gefahr für das eigene Leben und das der ganzen Gruppe im
Kriegsfall, also Opfern, die nicht ohne weiteres mit Rationa-
lität im üblichen Sinn, also mit den Interessen der Selbsterhal-
tung, der Selbstbewahrung, und auch nicht unmittelbar mit
der Bewahrung der Interessen der Gemeinschaft vereinbar
sind, zu der das eigene Individuum gehört.
Die Geschichte ist ja unendlich reich an Beweisen dafür,
daß gerade die Explosionen des Nationalismus den Nationen
zum Unglück verholfen haben und nicht zum Glück. Und
wenn man sich heute etwa die Propaganda des Nationalsozia-
lismus ansieht, dann wird man dabei auf die merkwürdige
Tatsache stoßen, daß das Versprechen des Glücks, der Erfül-
lung, der Positivität eigentlich eine merkwürdig geringe Rol-
le dabei spielt und daß eher eine Art Glorifizierung des Op-
fers, der Negativität des Verzichts, schließlich des Todes dort
zu finden ist, wie sie besonders in Deutschland ihre lange Vor-
geschichte hat in der Glorifizierung des sogenannten Tragi-
schen, auf die sich unser Volk von jeher – Gott sei’s geklagt –
besonders viel zugute getan hat. Nun kann es sein, daß der
Nationalismus einen gewissen Widerspruch involviert zwi-
schen dem, für was die Menschen eingespannt werden, und
ihrem vernünftigen rationalen Zweck. Der Widerspruch
kann nur dadurch gemeistert werden, daß an psychologische
Dispositionen, an psychologische Potentiale appelliert wird,
die in den Menschen selber bereits liegen, die die Vorausset-
zung dafür schaffen, daß Menschen wirklich bereit sind, sich
einsetzen zu lassen für Zwecke, die ihnen den persönlichen

240
Untergang bringen können, wo sie darüber hinaus ihr Volk
und – heute muß man wohl sagen – die gesamte Menschheit
mit dem Untergang bedrohen können. Infolgedessen also hat
die Sphäre der Psychologie als eine irrationale Sphäre ihre
notwendige Funktion innerhalb der objektiven Problematik
des Nationalismus.
Es wäre der Nationalismus, und zwar ein militanter, ag-
gressiver Nationalismus, ohne diese psychologischen Stimuli
eigentlich gar nicht vorstellbar. Insofern haben wir, auch
wenn wir nicht zum Psychologismus neigen – und ich möch-
te ausdrücklich sagen, daß meine eigene philosophische Posi-
tion, wie manche von Ihnen wissen, der psychologistischen
schroff entgegengesetzt ist –, trotzdem die psychologischen
Momente sehr schwer in die Waagschale zu werfen. Ich darf
vielleicht hier einschalten, daß der Psychologismus, der als
eine philosophische oder als eine totale Position der ernste-
sten Kritik unterliegt, natürlich gar nichts zu tun hat mit der
Anerkennung psychologischer Erkenntnisse im Bereiche
dessen, wohin diese psychologischen Erkenntnisse gehören.
Vielmehr kann man von Psychologismus ja wohl nur da re-
den, wo der Versuch gemacht wird, Objektivitäten irgend-
welcher Art, die nicht wesentlich in [Subjektivem] liegen und
nicht wesentlich in den irrationalen Dispositionen, eben
trotzdem aus psychologischen Motiven zu erklären. Diese
Unterscheidung also zwischen der ihrer Grenzen bewußten
psychologischen Erkenntnis und dem Psychologismus als ei-
ner Philosophie möchte ich von vornherein festhalten.
Wir haben es also mit dem Problem von Persönlichkeiten
zu tun, die wir als ›autoritätsgebundene Persönlichkeiten‹ be-
zeichnen, einfach auf Grund dessen, daß zwischen diesem
Persönlichkeitstyp – zwischen diesem charakterologischen
Typ, wie wir sagen – und dem objektiven politischen Natio-
nalismus ein sehr starker Zusammenhang besteht. Ich habe
Ihnen schon gesagt – und vielleicht führt uns das bereits etwas
weiter in die Sache hinein –, daß die Funktion, die objektive
Funktion des autoritätsgebundenen Charakters die ist, die

241
Menschen dazu zu bringen, sich für irrationale Ziele einspan-
nen zu lassen, die sie selbst zerstören. Man kann dem auch die
Wendung geben, daß die spezifischen Charaktertypen, um
die es sich dabei handelt, eigentlich jene Charaktertypen sind,
die dazu tendieren, die Gewalt und den Zwang, der ihnen an-
getan wird von der Welt, so wie diese nun einmal eingerichtet
ist, noch einmal sich selbst anzutun und dann, wenn möglich,
auch noch anderen Menschen, vor allem solchen Menschen,
die schwächer sind als sie selbst, und den Druck zunächst wei-
terzugeben. Der Anpassungsmechanismus an eine Welt, de-
ren gesellschaftliche Maschen so eng gesponnen sind, daß den
Menschen eigentlich kaum ein Weg bleibt, scheint aus ein-
sichtigen psychologischen Gründen um so besser zu gelingen,
je mehr die Menschen – und ich brauche dieses Wort jetzt
kritisch – es vermögen, diese Welt, die heteronom ist, die also
von ihnen etwas verlangt, was mit ihrer Selbstbestimmung,
ihrer Freiheit unvereinbar ist, und die Anforderungen dieser
Welt zu ihren eigenen zu machen, zunächst einmal, um in
dieser Welt überhaupt leben und sich durchsetzen zu können.
Aber es gilt hier ja die allgemeine psychologische Beobach-
tung, daß solche Anpassungstendenzen immerhin auch wei-
ter dazu tendieren, sich zu verselbständigen, sich zu sedimen-
tieren, zu Strukturen der Charaktere der Menschen selber zu
werden. Es handelt sich hier um ein Phänomen, das von der
Tiefenpsychologie, und zwar in ihrer strengen und kompro-
mißlosen Gestalt, in der Theorie von Sigmund Freud, formu-
liert worden ist; das heißt, die Formulierung stammt in ihrer
wörtlichen Gestalt von der Tochter Sigmund Freuds, von
Anna Freud, die unter den verschiedenen Formen der Ver-
drängung oder der Abwehr, von feindlichen Triebmechanis-
men, eine »Identifikation mit dem Angreifer« genannt hat.331
Gemeint ist damit der Mechanismus, der besagt, daß die
Triebenergien, die man selbst unterdrücken muß, so verwan-
delt werden – und die sind ja bekanntlich plastisch, die lassen
sich umformen –, daß sie selbst in den Dienst jener Instanz
treten, vor der man sich fürchtet und unter der es einem ei-

242
gentlich schlechtgeht und von der man zuinnerst auch weiß,
daß sie einem nur Gefahren bringt. Ich glaube, ich kann Ih-
nen jetzt auf sehr einfache Weise zeigen, daß es sich hier kei-
neswegs, wie man leicht gerade der strengen Psychoanalyse
vorwirft, um irgendwelche abwegigen, sonderbündlerischen
Spekulationen handelt, sondern daß es dabei nur um die prä-
gnantere Formulierung eines recht allgemeinen Tatbestandes
geht, wenn ich Sie etwa an einen Typus erinnere, dem Sie alle
einmal begegnet sein werden, nämlich dem Typus des alten
Soldaten, der aus seiner Militärzeit erzählt, der berichtet, er
sei fürchterlich geschliffen worden, er hätte es sehr schwer ge-
habt, es wäre ihm also nichts erspart geblieben, der aber dann
hinzufügt, es sei doch eigentlich seine schönste Zeit gewesen.
Hier begegnet Ihnen bereits ein Phänomen, das man in der
Fachsprache der Psychologie mit ›ambivalent‹ bezeichnet.
Das heißt, daß Menschen, die in dieser Weise sich mit dem
Angreifer identifizieren und sich gegen ihre eigenen Interes-
sen wenden müssen, dies, eben weil es im Widerspruch zu
ihren eigenen Interessen steht, schwerlich so sanft und so
drucklos gelingt, sondern daß in ihnen dann auch widerstre-
bende Regungen vorhanden sind, Regungen, die also feind-
selig gegenüber der Umwelt sind. Diese feindseligen, aggres-
siven Regungen, die veranlaßt werden durch den Druck, der
auf den Menschen selber lastet, treten dann auch noch in den
Dienst jener Instanz, mit der sie sich identifizieren, das heißt,
die Wut, die sich in ihnen durch die Unterdrückung ihrer
eigenen Instinkte staut, wendet sich auch gegen die andere
Gruppe, mit der sie ringt. All das ist so irrational, daß Sie dar-
an erkennen werden, daß man mit dem Blick auf die sozialen
Gegebenheiten allein nichts so ohne weiteres erklären kann,
sondern daß man dabei schon auch nach dem Charakter zu
fragen hat.
Dabei ergibt sich in der Tat eine außerordentlich ernste so-
zialpsychologische Konstellation, und ich glaube, daß es für
unsere Arbeit notwendig ist, sich dieses Ernstes zunächst ein-
mal bewußt zu werden, wenn wir uns nicht damit begnügen

243
wollen, daß wir, die wir in der Abwehr dieser Dinge ja einig
sind, in der Freude über diese Übereinstimmung, die zwi-
schen uns fraglos darin herrscht, übersehen, welches tatsäch-
liche Gewicht jenen anderen Tendenzen zukommt. Auf der
einen Seite nämlich ist die Welt tatsächlich in einem weiten
Maße autoritär eingerichtet. Wir leben zwar im Westen Gott
sei Dank unter demokratischen Formen, aber auf der anderen
Seite ist es aus sozialen Gründen, die ich in diesem Vortrag
nicht behandeln kann, da ich mich ja wesentlich auf die psy-
chologischen Aspekte beschränken möchte, doch so, daß die
Freiheit des Individuums in einem beträchtlichen Maß einge-
schränkt ist, das heißt, daß eben deshalb, weil das soziale Netz
so eng gesponnen ist, die Menschen unablässig sich so verhal-
ten müssen, wie, um einen heute beliebten Ausdruck der So-
zialpsychologie zu verwenden, die ›soziale Rolle‹ – der Aus-
druck stammt von [Talcott Parsons]332 – es verlangt, in die sie
nun einmal hineinversetzt sind. Die Einrichtung unseres Le-
bens, und vor allem die Einrichtung unserer ökonomischen
Verhältnisse, ist selbst in einem so weiten Maß autoritär, daß
die Menschen, wie man ganz schlicht sagt, immerzu sich fü-
gen müssen. Dieses ›Sich-Fügen‹ wird den Menschen da-
durch erleichtert, daß sie sich selber bewußt und unbewußt
unablässig vorsagen: ›Du mußt dich fügen, du mußt dich fü-
gen‹. Ich erinnere mich heute noch, daß meine Eltern einmal
unser Dienstmädchen dabei erwischt hatten, das mir als ganz
kleinem Jungen einen Vortrag gehalten hatte, ich müsse mich
fügen.333 Ich bin heute noch meinen Eltern dankbar, daß
sie interveniert und die autoritären Neigungen des Mäd-
chens beschnitten haben, die dann später, nämlich im Dritten
Reich, um so drastischer durchgebrochen sind. Auf der ande-
ren Seite ist es nun so, daß innerhalb der Massen sich autori-
täre Dispositionen, also Dispositionen zur Identifikation mit
der Macht, in ungeheuer starkem Maße finden. Der Beweis
dafür ist einfach die Massenbasis des Dritten Reichs, die wir
ja alle unmittelbar erlebt haben. Und es wäre vollkommen il-
lusionär anzunehmen, daß nun durch die politisch-militäri-

244
sche Niederlage diese psychologische Basis für die Identifika-
tion mit der Autorität in den Massen einfach verschwunden
wäre. Die Situation ist also so, daß auf der einen Seite die au-
toritären Einrichtungen der Gesellschaft aufeinander zukom-
men und miteinander konvergieren, soweit es sich nicht um
unsere politischen Institutionen handelt, und daß auf der an-
deren Seite das gleiche für die autoritären Neigungen inner-
halb der Menschen selbst gilt. Infolgedessen ist der Raum der
Freiheit, in dem wir existieren, in Wahrheit unendlich viel
kleiner, unendlich viel schmaler und eingeschränkter, als wir
es uns vorstellen, solange eben auf diesen autoritären Dingen
bei uns im Westen noch ein gewisses Tabu liegt, und das,
glaube ich, bedingt die Notwendigkeit dieses Studiums der
autoritären Persönlichkeit.
Lassen Sie mich übrigens hinzufügen, damit von keiner
Seite Mißverständnisse aufkommen, daß diese autoritäre Per-
sönlichkeit keineswegs ein spezifisch deutsches Phänomen ist.
Der Faschismus ist zwar in Deutschland zur Macht gekom-
men, indem er sich dieser Dispositionen bedient hat. Dies ist
aber viel mehr aus objektiven Konstellationen zu erklären,
und in anderen Ländern gibt es diese Dispositionen selbstver-
ständlich auch. Wir haben ja in unserem Institut für Sozialfor-
schung den Begriff der autoritären Persönlichkeit im wesent-
lichen an amerikanischem Material und an amerikanischen
Forschungen entwickelt, und diejenigen, die dem Ursprung
dieser Dinge nachgehen, darf ich aufmerksam machen auf das
Buch »The Authoritarian Personality«, das wir im Jahre 1950
veröffentlicht haben.334 Es belegt sehr umfangreich und ein-
gehend die Dinge, die ich Ihnen heute nur kursorisch und
skizzenhaft in der Zahl ihrer Aspekte andeuten kann. Wenn
Sie sich vorstellen, daß, um es an etwas ganz Aktuellem zu
exemplifizieren, offensichtlich Chessman nur deshalb hinge-
richtet worden ist,335 weil die politischen Instanzen, die ihn
hätten begnadigen können, gefürchtet haben, daß eine solche
Begnadigung sie im Herbst Wählerstimmen336 kosten könn-
te, und wenn Sie sich weiter klarmachen, daß die irrationale

245
Wut bei einem Menschen wie Chessman, den man ja weiß
Gott nicht wie einen Heiligen zu stilisieren braucht, seinen
Tod um jeden Preis gefordert hat, dann können Sie sich viel-
leicht eine Vorstellung darüber machen, wie groß die Gefahr
ist, daß, wenn einmal wieder in irgendeiner Weise Gelegen-
heit ist, daß der autoritäre Charakter in legalitärer Form, also
rationalisiert durch Legalität und offizielle Macht, zur Gel-
tung kommt, auch jene destruktiven und wirklich finsteren
Momente obenauf kommen, von denen wir ja im Dritten
Reich genug erfahren haben. Und es wäre wohl äußerst
oberflächlich zu glauben, daß durch das politische Schicksal
diese Dinge ein für allemal erledigt wären, denn die psycholo-
gischen wie überhaupt auch die ideologischen Momente ha-
ben eine außerordentliche Zähigkeit zu beharren und fortzu-
dauern, auch in Situationen, die ihnen an sich fremd sind oder
die mit ihnen scheinbar gar nichts zu tun haben.
Der Punkt, an dem dieser autoritätsgebundene Charakter
evident wird, ist das Vorurteil. Und die Aktualität, die diese
Dinge in Deutschland gewonnen haben, hängt mit dem Vor-
urteil ja unmittelbar zusammen, und ich glaube, wir alle sind
aufgerüttelt worden zur Beachtung dieser Dinge durch die
antisemitischen Exzesse, die sich im Winter des vergangenen
Jahres abgespielt haben.337 Ich darf vielleicht, ohne mich dem
Verdacht der Eitelkeit auszusetzen, lediglich der Dokumenta-
tion wegen sagen, daß ich in einem Vortrag im letzten No-
vember,338 den auch Herr Professor Jacobsen339 gehört hat,
dieses Potential bereits sehr eingehend behandelt habe, ohne
daß bereits das Material der antisemitischen Exzesse vorgele-
gen hätte, was aber wohl doch ein gewisser Beweis dafür ist,
daß die theoretischen Überlegungen, die ich hier anstelle,
richtig sind, auch wenn sie nicht in allen Einzelheiten durch
sogenannte empirische Daten ausgefüllt werden können.
Lassen Sie mich also zunächst Ihnen ein paar Worte über
das Problem des Vorurteils sagen und von dort aus dann über-
gehen zu einer skizzenhaften Phänomenologie des vorurteils-
vollen Charakters. Jeder von Ihnen kennt Vorurteile und hat

246
Vorurteile. Aber Sie alle wissen auch, daß, wenn man in die-
sem Zusammenhang, der uns hier zusammengerufen hat, von
Vorurteilen spricht, einem dabei doch etwas sehr Spezifisches
vor Augen steht. Ohne Vorurteil, also ohne Vorwegnahme
eines Zukünftigen, ohne daß man also Urteile fällt, die etwas
betreffen, was noch gar nicht eingetreten ist, und es als eine
Art von Gewißheit behandelt, könnten wir gar nicht leben.
Wenn man zum Beispiel bei einem roten Verkehrslicht die
Straße überschreitet, ist zwar in dem Augenblick das Auto,
das einen überfährt, noch nicht da, aber man tut doch gut dar-
an, das Vorurteil zu haben, daß es im Bruchteil einer Sekunde
wohl da sein wird und daß es einen dann tatsächlich überfährt.
Ohne solche Orientierungspunkte der Antizipation ist voll-
ends im Geistigen irgend etwas wie Erfahrung überhaupt gar
nicht möglich. Ich darf vielleicht sagen, daß in der »Kritik der
reinen Vernunft« von Kant, die ja nun wirklich genug anti-
dogmatisch und aufklärerisch in ihrer Gesinnung ist, der Be-
griff der »Antizipation der Wahrnehmung«, also der Vorweg-
nahme künftiger Erfahrung, als eine notwendige Bedingung
der gegenwärtigen Erfahrung eine wesentliche Rolle spielt.
Die Antizipationen der Wahrnehmung gehören bei Kant zu
den »Grundsätzen«, auf denen die Möglichkeit von inhalt-
licher Erfahrung selber überhaupt beruht.340
Wenn wir also von Vorurteilen im engeren Sinne reden,
dann zeigt sich dabei ein Moment, das sich von solchen Vor-
urteilen unterscheidet, nämlich jenes, das ich Ihnen bereits
vorweg genannt habe, das Moment der Irrationalität. Die ver-
nünftige Begründung, wie sie im Falle unseres Vorurteils bei
dem Verkehrslicht vorliegt, fehlt, und eine mehr oder weni-
ger unbegründete Überzeugung, eine, für die auch der Vor-
urteilsvolle zwar Brusttöne, aber selten wirkliche Motive bei-
bringen kann, tritt an ihre Stelle. Es gibt zum Beispiel in
England ein außerordentlich weitverbreitetes Sprichwort, das
besagt, alle Einwohner von Wales, also die Waliser seien Die-
be.341 Es ist nun im allgemeinen nicht anzunehmen, daß die
Leute, die das sagen, die Waliser so gut kennen wie wir die

247
Verkehrsverhältnisse im Falle unseres obigen Beispieles vom
roten Verkehrslicht. Ferner ist nicht einzusehen, warum gera-
de die Waliser mehr Diebe unter sich haben sollten als andere
Landschaften. Und es ist schließlich ein höchst bedenkliches
Verfahren, das aber für die autoritätsgebundene Persönlich-
keit überhaupt sehr charakteristisch ist, daß man von solchem
höchst problematischen Oberbegriff aus nun schließt auf das
Individuum und von ihm etwa sagt, weil er ein Waliser ist,
muß er ein Dieb sein. Das ist dasselbe Schema, wie man es in
Deutschland von den Juden schlechthin hatte. Mit einem sol-
chen unexakten Allgemeinbegriff will man das Individuum
dingfest machen; das Individuum, das sich aber in seiner Gat-
tung doch niemals erschöpft, wird hier trotzdem als ein bloßes
Gattungswesen behandelt. Das hängt natürlich tief mit dem
Nationalismus zusammen, der die einzelnen Personen nur als
Repräsentanten ihrer biologischen Gattung herausstellt und
der glaubt, mit ihren speziellen Eigenheiten nur von der Gat-
tung her fertig zu werden.
Aber ich glaube, daß auch das, was ich Ihnen hier über die
Irrationalität eines solchen Vorurteils gesagt habe, eigentlich
noch nicht an das Zentrum des Problems heranreicht, mit
dem wir es bei der autoritätsgebundenen Persönlichkeit zu
tun haben. Das, worum es eigentlich geht, ist eine bestimmte
Art der Starrheit, der Verhärtung. Wir haben dafür den Aus-
druck des ›pathischen‹ Vorurteils eingeführt.342 Es ist das Vor-
urteil von Menschen, die auch nicht durch Erfahrungen, die
diesem Vorurteil entgegenstehen, davon abgebracht werden
können. Ich glaube, wenn Sie nach dem Unterschied zwi-
schen dem Vorurteil als einer legitimen Antizipation und dem
pathischen Vorurteil suchen, dann liegt er genau an dieser
Stelle. Es gibt kein anderes Kriterium als das, daß die Men-
schen, die zwar auch vorwegnehmen, durchaus ihre Schema-
ta haben, ohne die die Realität nicht bewältigt werden kann,
aber nicht pathogen sind und sich jederzeit durch die Erfah-
rung korrigieren lassen, während das bei den spezifisch vor-
urteilsvollen Persönlichkeiten nicht der Fall ist, eben weil sie

248
eine eigentümliche Verhärtung und Starrheit haben. Es sind
im allgemeinen Menschen, bei denen eine wirkliche lebendi-
ge Beziehung zu den Objekten, also eine lebendige ›Objekt-
besetzung‹, wie man das in der Psychoanalyse ausdrückt,343
nicht vorhanden ist, sondern bei denen, man kann sagen, das
Subjekt mit seinen eigenen fix und fertigen Überzeugungen
sich verabsolutiert und über das, was an Konträrem von der
Welt an es herangebracht wird, sich einfach hinwegsetzt. Das,
nebenbei bemerkt, ist wohl einer der Gründe, warum die
Wendung zum Subjekt, die ich jedenfalls in diesem Vortrag
vollziehe, legitim ist, weil diese Menschen selbst, mögen sie
sich auch noch so sehr objektiv aufspielen, in Wirklichkeit
den anderen Menschen, das Andere, das, was nicht ihr bloßes
Ich ist, gar nicht an sich herankommen lassen, sondern ihr Ich
verabsolutieren. Deshalb ist den Bedingungen nachzugehen,
unter denen dieses nun einmal so beschaffene Ich sich eigent-
lich konstituiert.
Es sind also Menschen, die eigentlich sich selbst als Indivi-
duum verabsolutieren oder – um auf unseren großen Gegen-
stand zu kommen –, falls diese Verabsolutierung ihrer selbst
als eines Einzelindividuums ihnen nicht gelingt, durch einen
komplizierten Identifikationsmechanismus das Kollektiv, dem
sie sich zurechnen, als dessen Glied sie sich fühlen, absolut
schätzen, gewissermaßen als ein gigantisches aufgeblähtes Ich,
das sie nun verherrlichen und in dessen Sinn sie nun also han-
deln. Man kann vielleicht sagen, daß der autoritätsgebundene
Charakter, der Charakter also, der das eigentliche Gefahren-
moment darstellt, mit dem wir es hier zu tun haben, dadurch
charakterisiert ist, dadurch bezeichnet wird, daß er unfähig
ist, überhaupt Erfahrungen zu machen, sondern daß er ei-
gentlich derartig eingestellt ist, daß die Welt für ihn von vorn-
herein nur eine Art Material ist, an dem er sich mehr oder
minder manipulativ betätigt, dem er das einprägt, aus dem er
das projiziert, was in ihm vorweg vorhanden ist, der aber
spröde und verhärtet ist gegen jegliche Erfahrung des Neuen,
wahrscheinlich deswegen, weil er nun schon in einem sehr

249
frühen Stadium seiner Entwicklung gewissermaßen die Or-
gane abgestumpft hat, durch die er etwas wahrnehmen könn-
te, und eben dadurch auf sich selbst zurückgeworfen ist, in
sich selbst gestaut ist. Wenn Sie mir gestatten, an dieser Stelle
einen praktischen Durchblick zu geben, dann würde ich
sagen, daß daraus zum Beispiel folgt, daß der Kultus von
Begegnungen mit früher verfemten Minderheiten allein
wahrscheinlich sehr wenig hilft, abgesehen davon, daß hier
das berühmte Problem des [›preaching to the saved‹], also ›den
Geretteten predigen‹ besteht, das heißt, daß die Menschen,
die diese Begegnungen etwa suchen, im allgemeinen schon
von vornherein solche sind, die von der nationalistischen Ag-
gression mehr oder minder frei sind. Und es ist so, daß, selbst
wenn man die anderen, die autoritätsgebundenen zu solchen
Begegnungen bringen könnte, sie die anderen Menschen
entweder bereits so sehr unter einem Cliché sehen, daß sie
mit ihrer wirklichen Erfahrung gar nicht an sie heranreichen,
oder – und das ist der noch viel häufigere und spezifischere
Fall –, daß sie sich so verhalten – und dazu habe ich ein sehr
reiches Material –, daß sie sagen: ›Die einzelnen Israelis, die
ich kennengelernt habe, sind prächtige Leute‹, aber an ihrer
Meinung, daß die Juden insgesamt eine Bande von Blutsau-
gern, Verschwörern und Nichtstuern sind, daran ändert das
nichts.
Ich glaube also, daß die Arbeit, die hier zu leisten ist, viel
mehr am Subjekt anzusetzen hat, das heißt, daß eigentlich al-
les darauf ankommt, daß wir, und zwar schon in den frühen
Phasen der infantilen Entwicklung, es lernen, die Menschen
so frei zu machen und gleichzeitig so in sich zu kräftigen, daß
sie fähig werden, überhaupt spezifische Erfahrungen zu ma-
chen. Wie wenig tatsächlich etwa der autoritäre Antisemitis-
mus mit seinem Objekt zu tun hat, ist uns ja in der Phase jener
Schmierereien sehr nachdrücklich vor Augen geführt wor-
den, wo man gewissermaßen experimentell eine alte These
bestätigt hat, die Professor Horkheimer344 und ich schon in
der »Dialektik der Aufklärung« in den »Elementen des Anti-

250
semitismus« eingehend entfaltet haben.345 Daß nämlich der
moderne Antisemitismus mit den Juden kaum etwas zu tun
hat, hat sich daran gezeigt, daß diese Leute, die diese Haken-
kreuze geschmiert haben, durchweg solche waren, die in ih-
rem ganzen Leben noch nicht einen lebenden Juden gesehen
haben und gar keine Vorstellung davon haben, was das für
Leute sind – eine Beobachtung, von der ich denken würde,
daß sie in ihrer sozialpsychologischen Tragweite noch gar
nicht recht gesehen worden ist.
Lassen Sie mich dem noch eine weitere These hinzufügen.
Ich habe Ihnen gesagt, daß der autoritätsgebundene Charak-
ter eine Art von abgekürzter Anpassung an die autoritär ein-
gerichtete Welt sei. Wenn Sie mir einmal gestatten, einen
Begriff aus der Philosophie zu gebrauchen, der von Hegel
stammt, nämlich den der uns entfremdeten, der verdinglich-
ten Welt, dann läßt sich wohl mit Grund sagen, daß der auto-
ritätsgebundene Charakter im wesentlichen ein Mensch ist,
der in sich das Bild dieser verhärteten, verdinglichten Welt re-
produziert. Die Welt des autoritätsgebundenen Charakters ist
eine Welt des verdinglichten Bewußtseins, darüber hinausge-
hend eine Welt des verdinglichten Unbewußten. Und das ist
wohl die ›Bedingthaftigkeit‹, anstelle der Fähigkeit, über-
haupt eigentlich zu leben. Das ist wohl das, was wir als Hegels
Moment der Verhärtung charakterisieren können. Diese Ver-
härtung drückt sich in einer ganzen Reihe von Momenten
aus, zum Beispiel darin, daß diese Menschen, die, wie ich Ih-
nen vorhin gesagt habe, in Wahrheit, aber ohne es selbst zu
wissen, ihre eigene Subjektivität verabsolutieren, gerade dazu
tendieren, nach außen hin das Subjektive, die Regung, das
Menschliche, das Spontane zu verdammen; es sind eben jene
Menschen, die das schöne Wort ›Humanitätsduselei‹ erfun-
den haben, und es sind auch jene Menschen, die das nicht
minder schöne Wort ›Realpolitik‹ erfunden haben und die in
jedem Augenblick bereit sind, mit diesen Kategorien zu ope-
rieren.346 Sie verhalten sich im allgemeinen kategorisch, starr,
unansprechbar und reagieren auf Argumente überhaupt nicht

251
außer mit Wut, indem sie sie heftig von sich abwehren und
den, der mit solchen Argumenten an sie herantritt, als einen
Verräter oder als ein minderwertiges Subjekt brandmarken.
Ich möchte Ihnen zur Charakteristik dieses Typus eine Be-
obachtung vorlesen, die aus einer Studie stammt, die sich auf
das Verhältnis der deutschen Bevölkerung zu Frankreich be-
zieht,347 und wo ein Mensch von spezifisch autoritätsgebun-
denem Charakter folgendes geantwortet hat: »Der Franzose
ist schlampig; er hält das Haus nicht in Ordnung, oder wenn
der Tisch oder Stuhl repariert werden muß, macht er es
nicht.« An späterer Stelle desselben Interviews hat derselbe
Mann gesagt: »Im allgemeinen habe ich Ordnung und Sau-
berkeit angetroffen«. Das Interessante hierbei ist, daß hier der
Widerspruch ganz unverarbeitet bleibt und ganz offen zutage
tritt, auf der einen Seite das Cliché und auf der anderen Seite
seine Erfahrung, daß es anders ist, das heißt seine Beobach-
tung, daß es anders ist. Aber diese beiden Momente sind nicht
etwa integriert, sondern stehen unverbunden, ganz hart ne-
beneinander, und eben jene Einheit, die diese divergenten
Momente zusammenbringt, jene Synthese der Erfahrung ist
jenem Menschen nicht gelungen. Eine andere Person aus
derselben Untersuchung hat sich [so] geäußert: »Vom Fran-
zosen als Nation halte ich gar nichts. Ich lehne sie deshalb ab,
weil sie als Ganzes, als politischer Faktor zur Zeit nur versa-
gen, weil sie auch uns gegenüber kein Entgegenkommen zei-
gen und nicht vergessen können, was war. Den Franzosen
schlechthin als Einzelperson schätze ich sehr, ja außerordent-
lich.«
Sie sehen also, an ganz verschiedenen Stellen tritt derselbe
Widerspruch auf. Wir haben auch ein überwältigendes Ma-
terial desselben Widerspruchs aus unserem amerikanischen
Material. Es handelt sich also hier nicht um empirische Zu-
fälle, sondern um Äußerungen, die etwas Wesentliches zu der
Sache selbst sagen. Daraus geht ohne weiteres hervor, daß das
die Menschen sind, die zu der Subsumtion und dem starren
Klassifizieren neigen. Es ist etwa heute noch zu beobachten

252
in unserer Sprache des Alltags, daß Menschen sagen: ›Der
Russe . . .‹, ›Der Amerikaner . . .‹ oder ›Der Russe ist ein min-
derwertiger Mensch‹ oder ›Der Amerikaner wird nie Kultur
haben‹, ›Der Franzose ist schlampig‹ und wie all diese Formu-
lierungen sonst heißen. Ja, wir können darauf zwar sagen:
›Das ist so eine Stereotypie, die aus der Sprache des Barras üb-
riggeblieben ist, und du bist ein spitzfindiger Mensch, wenn
du daraus weiß Gott was für Folgerungen ziehst‹. Aber erstens
gibt es schon sehr zu denken, daß diese Kategorien in einem
starr hierarchischen System wie dem der alten Wehrmacht
entstanden sind, aber es gibt noch mehr zu denken, daß sie
festgehalten werden in einer Welt, in der doch die Erfahrun-
gen die Menschen darüber hätten belehren können, daß es
nicht ›den‹ Amerikaner, ›den‹ Franzosen gibt, sondern nur
einzelne Amerikaner und einzelne Franzosen, aber trotzdem
hält sozusagen der Kollektivgeist an diesen Formulierungen
fest.
Ich möchte Sie beinahe warnen vor dem Einwand des ge-
sunden Menschenverstandes, der derartige Dinge zu leicht
nimmt und für bloße lapsus linguae hält, weil gerade in solchen
verhärteten Knoten im allgemeinen sich die Symptomatik von
Verhältnissen zeigt, die sehr ernst sind. Noch ernster aber ist
eine ebenfalls mit dem Klassifikatorischen zusammenhängen-
de Tendenz dieses Charaktertypus, nämlich die Tendenz,
zweiwertig zu denken, also die Welt aufzuteilen, schlicht ge-
sagt, in Schafe und Böcke, in die Guten und in die Geretteten
auf der einen Seite und in die Bösen, vorweg, a priori, Ver-
dammten und Verurteilten, ohne daß es Vermittlungskatego-
rien dazwischen gibt und vor allem auch ohne daß nachgefragt
würde, ob im allgemeinen diese Menschen selber, die man in
dieser Weise subsumiert, in diesem Begriff ganz und gar aufge-
hen.
Diese Zweiwertigkeit geht im allgemeinen zusammen mit
einem ebenfalls primitiven Schema, nämlich der Differen-
zierung der in-groups und der out-groups348. Die Gruppe
also, zu der man sich selbst zählt – und es ist verhältnismäßig

253
gleichgültig, welches Volk das ist –, wird mit allen erdenklich
guten Eigenschaften ausgestattet und wird zu den Geretteten
gezählt, während die anderen, die man als negativ verwirft
und die man selbst entweder verdrängen muß oder jedenfalls
nicht dort haben will, als die Verdammten gelten. Das ist die
Fremdgruppe oder mindestens die Minderheit im eigenen
Bereich, mit der man es gerade zu tun hat. Dahinter steht nun
ein Moment, das doch wieder eines gewissen Blicks auf die
Gesellschaft bedarf, nämlich das Moment, das der amerikani-
sche Psychologe [Hermann Nunberg mit dem Begriff]349 der
›Ichschwäche‹ charakterisiert hat.
Ich kann auf die sehr komplizierte Problematik des Ver-
hältnisses von gesellschaftlichen und psychologischen Deter-
minanten hier nicht eingehen, aber es handelt sich hier doch
offenbar um eine für die gegenwärtige Lage sehr bezeichnen-
de Art der psychologischen Deformation, daß jeder einzelne
Mensch starr ist, daß er institutionellen Mächten von über-
wältigender Kraft gegenübersteht, sich diesen Institutionen
gegenüber ohnmächtig fühlt und daß er sich dadurch in sei-
nem eigenen Narzißmus oder, schlicht gesagt, in seiner Eitel-
keit – aber Eitelkeit nur im tiefenpsychologischen Sinne ver-
standen – geschädigt fühlt. Ich meine hier mit Narzißmus und
tiefenpsychologischer Eitelkeit – für die Psychologen sage
ich das – einfach jene Form der Eitelkeit, die darin besteht,
daß die Libido, die Liebesfähigkeit, die von äußeren Objekten
oder von anderen Menschen abgezogen wird, statt dessen auf
das eigene Ich verlegt wird, also daß dieses Ich eben dazu ten-
diert, sich zu verabsolutieren. Das eigene Ich hat es aber sehr
schwer, sich zu verabsolutieren, der Mechanismus ist viel-
mehr der, daß es sich erst einmal mit seiner eigenen Gruppe,
mit der in-group, identifiziert und dann dieser in-group den
Charakter des Absoluten zuspricht, den es sich als einzelner
Mensch nicht ohne weiteres aneignen kann.
Ich möchte Ihnen zu diesem kollektiven Narzißmus ein
Beispiel geben aus dem Verhalten gegenüber den Franzosen,
das mir deshalb so geeignet erscheint, weil es gewissermaßen

254
aus der Feuerzone des Problems Antisemitismus herausge-
nommen ist und weil es etwas betrifft, was im heutigen deut-
schen Bewußtsein gar keine so schrecklich große Rolle mehr
spielt, weil sich aber zeigt, daß einer solchen Gruppe wie den
Franzosen gegenüber dann ganz ähnliche Dinge vorkommen.
Ich möchte ganz en passant sagen, daß auch anderen Gruppen
gegenüber, die man als out-groups innerhalb der eigenen
Gruppe empfindet, wie den Flüchtlingen und Fremdarbei-
tern gegenüber, ganz ähnliche Dinge auftreten. Da hieß es
also etwa – und das belegt den kollektiven Narzißmus: »Wir
sind schwerfälliger in den Dingen, die uns beschäftigen, der
Franzose geht in allem leichter darüber hinweg. So kaufte ich
zum Beispiel für DM 950,– Dachziegel, um das Dach zu er-
neuern, obwohl es nicht mal mein Kind ist, das das Haus erbt,
wenn ich nicht mehr da bin. Es soll nicht gleich mit Schwie-
rigkeiten anfangen. Ein Franzose hätte das wohl nicht ge-
macht. Er hätte das Geld lieber verjuxt.« Sie können hieran
sehen, wie fern diese Urteilsbildung von der Realität ist, dar-
an, daß ein jeder Mensch, der ein bißchen über Frankreich
Bescheid weiß, weiß, daß gerade in Frankreich der Familien-
sinn und die Sparsamkeit für die Familie sehr hoch entwickelt
sind. Aber solche Dinge berühren die Stereotype gar nicht,
und eben um Ihnen das zu zeigen, gebe ich Ihnen die Belege.
Ein anderer Beleg: »Die Franzosen sind faul, sie sind deshalb
selbst an ihrem Elend schuld. Wem es dagegen in Deutschland
schlechtgeht, der findet nur keine Arbeit.«
Sie sehen hier, in welcher Weise die Stereotypie der Eintei-
lung in Gute und Böse und der autoritäre Nationalismus sich
unmittelbar miteinander verbinden. Es gehört nun weiter
dazu, daß dieser Narzißmus, also diese Genugtuung, die man
dadurch hat, daß man sich selbst erhöht und sich selbst glori-
fiziert, eine Art von Befriedigung bietet, daß man also anstelle
dessen, was einem sonst in der Realität abgeht, was einem
sonst versagt wird, wie wir das in der Tiefenpsychologie nen-
nen, ›Ersatzbefriedigungen‹ hat, indem man sich selbst als den
Höheren und den Besseren stilisiert, und zwar im allgemei-

255
nen noch mit der besonderen Nuance, daß man das Opfer, das
man bringt, obwohl man nicht nach seiner Legitimität fragt,
sich als eine besonders gute Eigenschaft anrechnet.350 Dem-
gegenüber wird die Triebbefriedigung, das also, was sich
nicht versagt, von vornherein als etwas Minderwertiges und
Schlechtes bezeichnet. Das bezieht sich ganz besonders auf
das Verhältnis zur Sexualität, die man – ich meine den autori-
tätsgebundenen Charakter – im allgemeinen jedenfalls in sein
Bewußtsein nicht hereinläßt, die man aber dem anderen
Menschen als lasterhaft, gefährlich und dunkel zuschreibt –
wobei dann noch die Tendenz hinzukommt, daß diese Men-
schen immerzu glauben, daß die anderen irgendwelche Ver-
schwörungen im Dunkeln machen. Die ganze Vorstellung
von dem Unheil, das im Dunkeln brütet, ist ja eine Projekti-
on, die daraus zu erklären ist.
Ich will Ihnen auch dafür, wieder aus derselben Untersu-
chung, ein paar Beispiele geben. Wohlverstanden, diese Bei-
spiele sind nicht etwa durch Fragen provoziert, sondern es
handelt sich hier um freie Interviews, in denen man den Men-
schen Gelegenheit gegeben hat, sich über ihr Verhältnis zu
Frankreich zu äußern. Da heißt es also über Frankreich: »Die
Sauberkeit ist nicht so groß, die Frauen schmücken sich mehr
und gehen lieber in die Bars, und die Familie muß zurückste-
hen. Der französische Haushalt ist sicher nicht so wertvoll wie
ein deutscher. Sie geben zum Beispiel lieber eine Mark fürs
Kino aus, während die deutsche Hausfrau zum Beispiel lieber
für eine neue Tischdecke spart. Auch wenn die französische
Frau nichts zu essen hat, ist Geld für Schminke da. Sie putzen
sich und malen sich gern an. Das kann ich nun mal ganz und
gar nicht leiden. Sie sehen äußerlich adrett aus, aber im Haus-
halt soll es desto schlimmer aussehen. Doch die französische
Frau ist locker. Es gibt zwar überall solche und solche, aber in
Frankreich ist es schon wesentlich mehr als in Deutschland.«
Oder: »Der Franzose steht gerne spät auf, ißt gern gut zu Mit-
tag, liebt die leichte Muse, die Ehemoral steht auch nicht hoch
im Kurs. Ich als nordischer Menschentyp lehne das ab.«

256
Sie sehen also, daß auch diese Menschen sich selber nur als
Repräsentanten eines allgemeinen Oberbegriffs verstehen,
nämlich hier des ›nordischen Menschen‹, der anscheinend
auch so etwas wie ein anständiges Essen ablehnt. Wir kommen
hier auf einen Mechanismus des autoritätsgebundenen Cha-
rakters, den ich für sehr grundlegend halte, nämlich auf den der
Projektivität, darauf, daß man irgendwelche Regungen, die
man, sei es aus innerlichen Gewissensgründen, also auf Grund
der Zensur des Über-Ichs, oder sei es auch auf Grund äußerer
Konventionen, in sich selbst unterdrückt oder die man jeden-
falls sich selbst nicht zugibt, daß man diese [Regungen] auf
andere Menschen überträgt, anderen Menschen das nachsagt.
Diese Projektivität ist ein Grundmechanismus des autoritäts-
gebundenen Charakters, ganz ähnlich wie in einer bestimm-
ten Form der Geisteskrankheit, nämlich in der Paranoia – wie
man überhaupt wohl sagen darf, daß es sehr starke strukturelle
Beziehungen zwischen autoritätsgebundenen Charakteren
und den Paranoiden gibt, nur eben mit dem einen Unter-
schied, daß durch die Sozialisierung bestimmter Wahnideen,
wie etwa der, daß die Juden an allem schuld seien, den betref-
fenden Menschen gewissermaßen ihre individuelle Geistes-
krankheit erspart bleibt. Statt dessen können sie sozusagen als
Individuen scheinbar gesund bleiben, dadurch daß sie sich ei-
nem objektiven Wahn, wie dem Antisemitismus, der Hexen-
verfolgung oder der Negerverfolgung in Amerika und was es
sonst geben mag, verschreiben.
Diese Kollektivierung ergibt nun ein merkwürdiges Kli-
ma, das für die Gemeinschaft der Autoritätsgebundenen sehr
bezeichnend ist, nämlich so ein augenzwinkerndes Einver-
ständnis: ›Na ja, wir wissen ja schon, wer an allem schuld ist.
Uns braucht man nichts zu sagen, und man darf es ja auch
nicht sagen‹. In diesem finsteren und brütenden Einverständ-
nis steckt dann schon die Bereitschaft, gewissermaßen als die
verschworene Gemeinschaft aller rechtlich, sauber, edel und
gesund denkenden Menschen irgendwie über die anderen
Menschen herzufallen. Diese Menschen, die ja nun auch im-

257
mer in der Dimension der Hierarchie denken, in der Dimen-
sion von stark und schwach, die eigentlich nur dann sich vor-
wagen, wenn sie sich durch Stärke gedeckt fühlen, haben
denn auch immer wieder die Tendenz zu sagen: ›Na ja, ande-
re, die denken ebenso‹. Sie finden das heute etwa in der Anti-
semitismus-Diskussion, in der sehr häufig gesagt wird: ›Na ja,
Antisemitismus hat’s immer gegeben‹, als ob das irgend etwas
über die Begründung der Sache aussagen würde. Das besagt
zunächst einmal nichts anderes, als daß es autoritätsgebunde-
ne Charaktere immer gegeben hat. Aber daß es etwas immer
gegeben hat, ist ja noch keine Rechtfertigung.
Es gehört aber zu diesem Charakterzug zentral dazu, daß
das, was Macht hat, was sich behauptet hat, was irgendwie in
der Geschichte sich als stark durchgesetzt hat, daß das eben
darum auch etwas Legitimes sein soll. Es sind also Menschen,
die von vornherein die Macht anbeten und die dazu tendie-
ren, überhaupt die ganze Realität nach der Dimension oben
und unten, stark und schwach in der Hierarchie zu sehen.
Etwa die überwertige Bedeutung, die bei den Nationalsozia-
listen eine künftige Hierarchie mit allen möglichen sorgfältig
miteinander abgestuften [. . .]351
Besonders gefährlich aber und besonders charakteristisch
gerade für die paranoide Struktur ist, daß diese Charakter-
typen in ihrem Vorurteil und in ihrer Aggression kein Ende
finden. Wenn ich Sie daran erinnern darf, daß ich Ihnen zu
Beginn gesagt habe, daß diese Menschen im allgemeinen ihr
eigenes Ich absolut setzen und Erfahrungen nicht richtig an
sich herankommen lassen, haben Sie dafür bereits die Erklä-
rung. Es ist so, wie wenn der Mechanismus ihrer subjektiven
Geltung dadurch, daß er nicht seinen Widerstand an den an-
deren, an dem Material der anderen Menschen findet, nun
ununterbrochen weiterläuft und ununterbrochen weitergeht,
so wie die Königin in dem Märchen, die nicht leben kann,
wenn auch nur weit, weit hinter den Bergen eine existiert, die
schöner sein soll als sie selber. So finden diese Menschen auch
keine Grenze. Und wo einmal das Vorurteil anfängt, geht es

258
immer weiter. Es ist für diese ganze Argumentation äußerst
charakteristisch, daß oft ausgegangen wird von ganz partiellen
und relativ unwichtigen Beobachtungen oder Behauptun-
gen, aus denen dann die ungeheuerlichsten Konsequenzen
gezogen werden.
Ich gebe Ihnen hierfür aus einer anderen Studie352 auch ei-
nen charakteristischen Beweis. Erlassen Sie mir hier die wis-
senschaftliche Methodologie und die Begründung der Me-
thoden der einzelnen Studien, ich muß mich in diesen paar
Stunden wirklich darauf beschränken, Ihnen die wichtigsten
Resultate zu geben, damit Sie hier etwas davon haben. Ich
möchte nicht, daß wir von den eigentlichen sachlichen Fra-
gen durch methodologische Betrachtungen abgeführt wer-
den, die ja hier doch nur oberflächlich bleiben könnten. Fol-
gendes Beispiel, die Untersuchung stammt aus dem Jahre
1951: »Daß Juden zu Osterfeiern arische Kinder schlachten,
das kann man doch nicht so einfach aus der Luft greifen, denn
es ist ja also in früheren Zeiten schon so gewesen, daß man
immer sagte, der Jude, der fing mit einem Bauchladen an und
ein Warenhaus war das Ende. Nur Pfiffigkeit kann das ja nicht
sein, denn andere Leute sind ja schließlich auch nicht auf den
Kopf gefallen. Sie sind skrupelloser, die Juden, sie gehen über
Leichen. Sie haben nicht die Hemmungen wie die anderen
Menschen.«353 Sie finden hier, wenn wir diese Äußerungen
mal etwas näher besehen, daß die metaphorische Wendung
›Sie gehen über Leichen‹, die sich hier zuerst einmal nur auf
die ebenfalls nur angebliche und legendäre geschäftliche
Skrupellosigkeit bezieht, dann einfach durch die Assoziation
›Leiche‹ dazu benutzt wird, Wahnideen wie die des Ritual-
mordes, des Schlachtens von Kindern auch zu rechtfertigen,
denn die Juden haben es ja demzufolge mit den Leichen zu
tun, sie bringen einen um, und es ist ganz klar, daß [es] von
dieser Projektion aus zu der Auffassung ›Also müssen auch die
Juden umgebracht werden‹ nur ein ganz kleiner Schritt ist.
Wie es ja überhaupt zu der Projektivität mit dazugehört, daß
man nicht nur auf die anderen, auf die out-groups, die eige-

259
nen Verbrechen und Triebregungen projiziert, sondern eben-
so auch, daß man sie dazu gleich noch bestraft und den sadisti-
schen Lustgewinn einheimst, der damit verbunden ist.
Man kann weiter sagen, daß bei den Menschen, um die es
sich hier handelt, die Affekte außerordentlich flach sind, daß
sie eigentlich, um es auch wieder schlicht auszudrücken, gar
nicht richtig etwas fühlen. Wir haben diese Flachheit des
Affekts in Amerika bereits sehr eingehend studiert unter der
Form des Konventionellen.354 Es sind also Menschen, die sich
im allgemeinen an Konventionen halten und bei denen auch
die positiven Werte, das heißt die positiven Werturteile, fast
immer den Charakter einer eigentlichen Äußerlichkeit ha-
ben, wobei physische Eigenschaften wie etwa Gesundheit –
›mens sana in corpore sano‹ – oder physische Sauberkeit oder
derartige Qualitäten eine überwertige Rolle spielen. Da sagte
zum Beispiel ein Mann: »Wollte einmal nach Paris fahren,
mußte aber davon Abstand nehmen. Ich hörte von Mitreisen-
den, daß sie entsetzt waren über die Toilettenverhältnisse, die
hygienisch unmöglich sind.« Also, das bloße Hörensagen über
die Toiletten in Frankreich, die bei einem solchen Urteil eine
große Rolle spielen, hat den Mann dazu geführt, daß er nicht
nach Paris gefahren ist, wobei er dem zugleich institutionell
die geblähte und narzißtische Fassung gibt: ›Ich mußte davon
Abstand nehmen‹. Derselbe Mann sagt dann aber, und das ist
wieder charakteristisch: »Die Franzosen, die ich kennenge-
lernt habe, waren immer sauber«. Das ist genau dasselbe Bei-
spiel, wie ich es vorher gebracht habe: ›Aber die Juden, die ich
kennengelernt habe, waren immer nette Leute, aber die ande-
ren Juden, vor allem die aus dem Osten zugewandert sind,
sind alle Verbrecher‹. Selbst in diesem selektiven Mechanis-
mus spielt noch das narzißtische Element herein, nämlich:
›Meine, die ich kenne, die sind natürlich gut, weil ich sie als
eine Art Eigenbesitz beschlagnahmen kann, während die an-
deren die Bösen und Schlechten sind‹.
Dieses Moment der Affektverarmung hat sich ja in der
Wirklichkeit in einem außerordentlich hohen Maß doku-

260
mentiert in der grauenhaften Biographie des Kommandanten
von Auschwitz, von Höß,355 bei dem sich ja überhaupt das
verdinglichte Bewußtsein am allerextremsten zeigt, der auch
die Menschen schließlich nur noch dinghaft, nämlich als ein
Rohmaterial für Fabriken, das heißt für Todesfabriken ansah,
in denen eben nichts anderes produziert wird als eben Lei-
chen und Haufen von Gold, die aus den Goldgebissen der
Menschen gemacht werden. Man kann sagen, daß das Extrem
des Typus, den wir hier beschrieben haben,356 dadurch cha-
rakterisiert ist, daß er nicht nur selber nicht lebt, also nicht
mehr selber seine lebendigen Erfahrungen macht, sondern
daß er auch die anderen Menschen gar nicht als Lebende
wahrnimmt, sondern nur als Material für Manipulationen,
eben, wie man sagt, als ›Menschenmaterial‹.
Ich glaube, daß ich Ihnen damit wenigstens einen Umriß
der autoritätsgebundenen Persönlichkeit gegeben habe. Ich
bin Ihnen noch einige Ergänzungen schuldig, nämlich eine
Antwort auf die Frage, warum ich mich hier so sehr mit dem
psychologischen und nicht mit dem objektiv-sozialen Aspekt
befaßt habe. Auf diese Frage kann ich Ihnen nun tatsächlich
nur mit einem fertigen Ergebnis aus unseren amerikanischen
Untersuchungen über die autoritätsgebundene Persönlich-
keit antworten. Wir haben dort verschiedene Skalen [. . .] ver-
wandt – ich muß mir versagen, diesen Begriff hier im einzel-
nen zu erläutern –, also verschiedene Forschungsinstrumente,
durch die man die Intensität von Charakterstrukturen und
Ideologien hat feststellen können. Es hat von diesen Ska-
len, deren Validität Sie mir eben nun einmal glauben müssen,
eine Skala gegeben zur Messung des Antisemitismus, und es
hat eine charakterologische Skala gegeben, eine sogenannte
F-Skala, die wir jetzt als eine A-Skala auf deutsche Verhältnis-
se anzuwenden im Begriff sind, also eine Skala zur Ermittlung
des autoritätsgebundenen Charakters, und es hat schließlich
eine Skala zur Messung von politischen und ökonomischen
Ideologien gegeben.357 Dabei hat sich nun etwas sehr Merk-
würdiges gezeigt, nämlich daß der Antisemitismus voller Kor-

261
relationen war mehr mit den charakterologischen Dimensio-
nen, die ich Ihnen eben kurz entwickelt habe, als mit den
politischen und ökonomischen Dimensionen. Es haben also,
mit anderen Worten, mehr solche Menschen zu einem mili-
tanten Antisemitismus tendiert, die jene Charakterstruktur
hatten, die ich Ihnen entwickelt habe, als Menschen, die eine
bestimmt geartete, etwa extrem konservative oder reaktionäre
Ideologie hatten. Das überschneidet sich natürlich. Sehr oft
haben sie beides. Aber die Korrelation nach der charaktero-
logischen Seite war weitergehend als die nach der politisch-
ökonomischen Ideologie. Das hat uns dann doch darauf ge-
bracht, eben auf diese Charaktere besonderen Wert zu legen.
Bitte verstehen Sie das nun nicht so, als ob ich die Probleme
des autoritären Nationalismus einfach aus dem Charakter er-
klären wolle, sondern ich habe Ihnen zu Anfang gesagt und
ich glaube auch nach wie vor, daß das so ist, daß vor allem für
die Aktualisierung von autoritären Tendenzen objektive poli-
tische und ökonomische Gegebenheiten viel wichtiger sind.
Aber in der heutigen Massengesellschaft können ja solche
Tendenzen sich nur durchsetzen, wenn sie eine Massenbasis
haben, und ihre Massenbasis haben sie eben in den Disposi-
tionen, die ich versucht habe, Ihnen einigermaßen zu be-
schreiben. Sie sind gewissermaßen das Potential, gewisser-
maßen das Reservoir, aus dem dann im Ernstfall, in akuten
politischen Augenblicken diese Bewegungen, wie sie sich ja
zu nennen pflegen, schöpfen können.
Es ergibt sich, nebenbei bemerkt, daraus noch eine andere
Konsequenz, nämlich die, daß der autoritätsgebundene Cha-
rakter sich keineswegs auf die politische Rechte oder den
Rechtsradikalismus zu beschränken braucht, sondern es gibt
selbstverständlich auch so etwas wie einen kommunistischen
Autoritarismus; dieser setzt bestimmt auch auf autoritätsge-
bundene Persönlichkeiten, die sich als Kommunisten fühlen,
einfach deshalb, weil die totalitäre Form der Herrschaft dieser
Struktur besonders angemessen ist. Ich habe einmal von einer
berühmten Frau gehört, Kommunisten seien immer beschei-

262
den.358 Wenn also solche Menschen glauben, daß sie im Besitz
der rechten Theorie seien und daß sie damit auch ohne wei-
teres im Besitz der höheren Weisheit, der höheren Erfahrung
und der höheren Intelligenz seien, so ist das im wesentlichen
dasselbe, was ich Ihnen hier vom autoritätsgebundenen Men-
schen entwickelt habe. Es ist nur in der Richtung der Frage-
stellung nach der Verbindung von kommunistischer Ideolo-
gie und autoritätsgebundenem Charakter noch nicht genug
untersucht worden. Diese Untersuchungen müßten durch
gewisse Momente des humanistischen Erbes hindurchstoßen,
die in der kommunistischen Ideologie selbst heute im Zeit-
alter der totalitären Diktatur noch übriggeblieben sind. Es ist
deshalb nicht ganz leicht, darauf den Finger zu legen, aber es
wäre durchaus wichtig, diesen Zusammenhängen doch ein-
mal genauer nachzugehen.
Ich möchte nun zum Schluß also nur noch einmal sagen,
daß die maßgeblichen objektiven Bedingungen das Klima
sind, dem die Menschen ausgesetzt sind, und daß dieses Klima
in unendlich vieler Hinsicht dazu tendiert, diese autoritäts-
gebundene Charakterstruktur zu verstärken. Ich glaube, Sie
brauchen nur einmal durch unsere beliebtesten Illustrierten
zu blättern, um das zu verstehen. Es gehört hierzu etwa auch
die Tatsache, daß die Eltern sich veranlaßt sehen, die Ereignis-
se der Nazizeit, an denen sie ja irgendwie aktiv oder passiv be-
teiligt waren, vor ihren Kindern dadurch zu rechtfertigen, daß
sie die sogenannten guten Seiten daran herausheben.
Charakteristisch für die gesamte Gesinnung ist schließlich
noch ein Phänomen, das ich Ihnen doch stichwortartig nen-
nen möchte, nämlich das Phänomen des tolerierten Exzesses.
Es sind also Menschen, bei denen, um Freud zu zitieren, das
›Unbehagen in der Kultur‹ außerordentlich groß ist, im Grun-
de Menschen mit sehr starken Destruktionstendenzen, die die
ganze Zivilisation in die Luft sprengen möchten. Der militan-
te Nationalismus, der ja mit der Trieblust zusammenhängt,
geht durchaus in diese Richtung. Auf der anderen Seite aber
gehört es nun aber wieder zu der Radfahrernatur, daß sie sich

263
zu solchen Exzessen nur getraut, wenn diese Exzesse irgend-
wie gesellschaftlich approbiert sind. Hitler hat seinerzeit nur
deshalb mit seinen sieben Getreuen angefangen, sein Unheil
anzurichten, weil er, und zwar ganz richtig, schon gespürt
hat, daß ganz wichtige und einflußreiche Gruppen dahinter-
stehen,359 und es gehört infolgedessen zu dem ganzen System
dazu die perverse Kombination der Gewalttat, des Unrechtes,
des Verbrechens mit seiner eigenen Legalität. Daß Hitler nach
der Ermordung der wirklichen oder angeblichen Röhm-Ver-
schwörer am 30. Juni 1934 sogleich diesen Akt für rechtens
hat erklären lassen,360 ist wohl historisch ein äußerst sinnfäl-
liger Ausdruck dieses Trends zum tolerierten oder erlaubten
Exzeß, zum legalisierten Exzeß. Das ganze politische System
bedeutet typisch die Gratifikation, daß nun die kontrollierten
und gebändigten Instinkte losgelassen werden, aber im Na-
men dessen, was sie sonst gerade gedämpft hat, und daß man
sozusagen alles nach Herzenslust treiben kann, was man sich
sonst verbietet, und dabei auch noch ein gutes Gewissen hat.
Auch dieses Potential ist wahrscheinlich immer vorhanden,
ob es konstant ist oder sich ändert, das ist eine sehr schwere
Frage. Ich würde denken, je dichter das gesellschaftliche Netz
wird, um so dichter wird der gesellschaftliche Druck, auch in
Zeiten der Prosperität. Und ich würde denken, ohne mich
dabei allzusehr festlegen zu wollen, daß er anwächst. Jeden-
falls aber ist die gesellschaftliche Tendenz so sehr in der Rich-
tung auf das Totalitäre, daß die Selektionsmechanismen, die
diese Dinge ausnützen wollen, in diesem Reservoir ihre gro-
ße Chance haben. [. . .]361

264
Die Einheit von Forschung und Lehre
unter den gesellschaftlichen Bedingungen
des 19. und 20. Jahrhunderts
8. 11. 1961

[Peter Schneider:]362 Kollegen, meine Damen und Herren, ich


darf heute zum siebenten Male unsere Mainzer Universitäts-
gespräche eröffnen. Wenn man davon ausgeht, daß die Zeit die
Mutter der Institution ist, könnte man zum Schluß kommen,
daß unsere Mainzer Universitätsgespräche zum mindesten im
Begriff der Institutionalisierung sich befänden. Das mag einen
freuen, daß das, was im Zeichen des Experimentes und als Ex-
periment begonnen wurde, sich etabliert hat. Aber zu jeder
Freude gehört die entsprechende Sorge; in diesem Fall wird
die Sorge im Hinblick auf den Satz deutlich, daß die Zeit nicht
nur die Mutter der Institution, sondern auch die Mutter der
Langeweile sei. Und nicht zuletzt deshalb freue ich mich au-
ßerordentlich, heute abend Sie, verehrter Herr Adorno, in un-
serem Kreise begrüßen zu dürfen, denn was man Ihnen auch
vorwerfen mag, eines kann man Ihnen nicht vorwerfen, daß
Ihr Denken in den ausgetretenen Bahnen der Langeweile sich
vollziehe – dieses Denken, in dem sich Soziologie und Philo-
sophie glücklichst verbinden, welches sensibel und präzise zu-
gleich die Wendungen, die oft zu überraschenden Wendun-
gen der Zeit zu registrieren vermag. Wir sind Ihnen dankbar,
daß Sie dieses Thema, das wir unseren Universitätsgesprächen
als Leitfaden gegeben haben, einleiten: die Problematik von
Lehre und Forschung als einem Konstitutionsprinzip unserer
Universität unter den Bedingungen des 19. und 20. Jahrhun-
derts. Ich darf Sie bitten, das Wort zu ergreifen.

Adorno: Prorektor,363 verehrte Kolleginnen und Kollegen,


meine Damen und Herren, liebe Kommilitoninnen und
Kommilitonen!
Die Aufgabe, die ich kurzfristig übernommen habe und
die es mir nicht erlaubt hat, ein Manuskript auszuarbeiten,

265
was vielleicht von manchem von Ihnen mehr als günstig emp-
funden wird, fasse ich so auf, daß ich nicht etwa geistesge-
schichtlich Ihnen einen Abriß über das Verhältnis von For-
schung und Lehre während der letzten 150 Jahre gebe, im
übrigen eine Aufgabe, die sich auf einem Fuße stehend364 an-
ständigerweise gar nicht in Angriff nehmen ließe. Um so we-
niger, als immerhin – davon konnte ich mich in den paar Ta-
gen vergewissern – bei Humboldt selber, an den man ja hier
in erster Linie denkt, eine explizite Theorie über die Einheit
von Forschung und Lehre, die man bei dem klassisch-huma-
nistischen Ideal des 19. Jahrhunderts voraussetzt, gar nicht,
formuliert jedenfalls [nicht], vorzuliegen scheint, es sei denn,
daß mir in der Eile es nur entgangen ist, diese Einheit bei der
Durchsicht der Humboldtschen Texte zu entdecken.365 Ich
glaube vielmehr, daß ich den Vergleich zwischen der Proble-
matik dieses Einheitsbegriffs von Forschung und Lehre und
der gegenwärtigen Situation sachlich auffassen soll, das heißt
so, daß ich Ihnen einiges sage über die Möglichkeiten und
Schwierigkeiten, die schon zu der Zeit der sogenannten klas-
sischen deutschen Philosophie diese Kategorien enthalten ha-
ben, daß ich Ihnen dann versuche zu entwickeln, in einer ge-
wissen idealtypischen Abbreviatur, was sich daran geändert
hat, und daß ich Ihnen dann, wie es ja nun einmal unumgäng-
lich ist, wenigstens sehr kursorisch einiges über das sage, was
man nun in der gegenwärtigen Situation etwa tun könnte mit
der Unzufriedenheit [, die] wohl bei uns allen stillschweigend
vorausgesetzt werden muß. Lassen Sie mich thesenhaft sagen,
daß die Einheit von Forschung und Lehre eigentlich dasselbe
ist wie der Begriff der Bildung, also nur in dem Äther der Bil-
dung so etwas wie diese Einheit vorgestellt werden kann, und
daß auf der anderen Seite, wo eine solche Einheit wirklich ge-
lingt, man auch von etwas wie einer verwirklichten, einer
realisierten Bildung sprechen darf. Ich werde deshalb also von
vornherein eben um dieses inneren Zusammenhanges willen
mich nicht an die Verbaldefinition ›Einheit von Forschung
und Lehre‹ halten, sondern werde die Problematik, die spezi-

266
fische, um die es dabei geht, immer in dem Horizont des Bil-
dungsproblems behandeln und dabei dann allerdings auf spe-
zifische und sicher auch auf eine Reihe ganz konkreter Fragen
dieser Einheit eingehen.
Man könnte nun sagen, daß ohne die Einheit von For-
schung und Lehre, ohne also dieses substantielle Element von
Bildung – das ich zunächst einmal so dogmatisch benenne,
aber zu dessen Konkretion ich dann doch vielleicht einiges
beitragen kann –, daß ohne diese Einheit von Forschung und
Lehre eine Universität eigentlich gar nicht vorstellbar ist, son-
dern daß sie sich dann unvermeidlich aufspaltet in die Fach-
schule auf der einen Seite und das Forschungsinstitut auf der
anderen. Das ist die eine Seite der Sache und eine recht plau-
sible. Dem steht nun aber – und ich kann mir nicht helfen,
ich muß auch diesen Komplex dialektisch behandeln – entge-
gen, daß diese Einheit selber heute realgesellschaftlich außer-
ordentlich problematisch ist, und darüber hinaus, daß das nicht
nur als eine Art von gesellschaftlicher Fehlentwicklung etwa
unserer Bildungsanstalten zu betrachten ist, sondern daß auch
theoretisch diese Einheit problematisch geworden ist, so wie
der Bildungsbegriff ja selber in einer außerordentlich akuten
Krise sich befindet. Ich möchte nun die Bedingungen dieser
Einheit erst darstellen und dann die heutigen Zustände in ei-
nem groben Kontrast erörtern und einige Perspektiven disku-
tieren. Wenn ich Ihnen sagte, daß dieses Problem im übrigen
bei Humboldt nicht thematisch ist, so dürfte die Erklärung
darin liegen – und das ist auch der Eindruck, den man ge-
winnt, wenn man die einschlägigen Schriften von Fichte, also
den »Deduzierten Plan«, der sich auf die Berliner Universität
bezieht,366 oder die außerordentlich wichtigen und bedeu-
tenden Vorlesungen von Schelling zur Einleitung in das aka-
demische Studium367 liest –, daß der Begriff der Universität
dabei von vornherein schon nachdrücklich gefaßt ist, daß das
so viel mehr bedeutet, als etwa jemand, der heute in eine Uni-
versität hineingerät, sich darunter vorstellt, daß durch diesen
emphatischen Begriff der Universität als einer Gemeinschaft

267
und als einer Stätte der Bildung diese Einheit als problemati-
sches Phänomen eigentlich überhaupt noch gar nicht visiert
ist. Man pflegt ja im allgemeinen erst dann über solche Ge-
genstände nachzudenken, wenn sie entweder nicht mehr exi-
stieren, wenn sie zu verschwinden beginnen, wenn sie von
der »Furie des Verschwindens« ergriffen werden, wie es in der
»Phänomenologie des Geistes« heißt,368 oder wenn zum min-
desten ihre innere Existenzberechtigung nicht mehr fraglos ist.
Der Begriff der Bildung, wie er [vorausgesetzt war] zur
Zeit von Humboldt oder, wie ich es sagen möchte, in der gro-
ßen Periode des deutschen Idealismus, also ungefähr in der
Periode [, die] vom Erscheinen der ersten Ausgabe der »Wis-
senschaftslehre«369 – das war wohl 1794, wenn ich mich nicht
irre – bis zum Tode Hegels 1831 reicht, diese große Blütezeit
der deutschen Universitäten hat ja erstaunlich kurz gedauert.
Wir vergessen immer, daß eigentlich diese ungeheure Blüte
ein Augenblick war, daß das kaum länger gedauert hat als die
Zeit, die uns heute von den frühen dreißiger Jahren trennt.
Diese ganze Sphäre des deutschen Idealismus hat die Bildung
vorausgesetzt in einem ganz spezifischen Sinn, wie er gewon-
nen war ursprünglich in der Kantischen Philosophie und wie
er zugrunde liegt auch dort, wo er, wie bei Hegel, gar nicht
mehr so sehr eigentlich das Thema bildet, nämlich die auto-
nome, über ihr eigenes Schicksal, über ihr inneres und äuße-
res Schicksal entscheidende, mündige, selbständige Person.
Dieser Gedanke von Autonomie qua Mündigkeit ist von dem
deutschen Idealismus nicht zu trennen, und wer ein Gefühl
hat für den Wechsel des Klimas, der nach der ersten Genera-
tion, also nach Kant, sich vollzogen hat bei Fichte, der wird
gerade spüren, daß der Begriff der Autonomie, der bei Kant
ja noch relativ [choris]370 gegenüber der realen Gesellschaft
ist,371 von Anfang an schon bei Fichte durchaus konkret auf
die gesellschaftliche Verwirklichung bezogen ist, daß dabei
unter dem autonomen Subjekt nicht mehr bloß das transzen-
dentale Subjekt verstanden wird, sondern eigentlich eine
Gesellschaft, die sich selber ihre Gesetze gibt.372 Nun, also die

268
Bildung oder die Einheit von Forschung und Lehre rechnet
mit in diesem Sinn gebildeten Autonomen, und auf der an-
deren Seite möchte sie aus sich Gebildete entlassen, wobei es
dem Klima dieses Denkens durchaus entspricht, auch dieser
merkwürdig zirkulären Konzeption der Wirklichkeit, daß
eigentlich das, was hier als Bildung geschaffen werden soll,
zugleich als ein Substantielles immer schon da sein soll, damit
überhaupt die Menschen das erfahren, was hier zu erfahren
ist. Der grundsätzliche Wandel, der sich mit der Einheit von
Forschung und Lehre vollzogen hat, dürfte der sein, daß auf
der einen Seite dieses Ideal von Bildung, das damals höchst
drastisch und höchst real gesellschaftlich vorgestellt wurde,
gescheitert ist und daß auf der anderen Seite die Gesellschaft,
in der wir leben, den Menschen in weitem Maße die Bedin-
gungen eben jener Autonomie verweigert, die, wie ich ange-
deutet habe, Voraussetzung solcher Bildung ist.
Sie müssen sich vorstellen, daß die Bildungsschicht um das
Jahr 1800, also etwa um die Zeit, in der das deutsche geistige
Leben in der Jenenser Universität sich konzentrierte, daß in
dieser Zeit die Bildungsschicht relativ homogen war und daß
die Kooption zu dieser Bildungsschicht deshalb keine großen
Schwierigkeiten machte, weil auch diejenigen Söhne aus sehr
armen und dürftigen Familien, die sich als Hofmeister oder
wie immer sonst durchschlagen mußten, um in diese Bil-
dungsschicht hineinzukommen, doch schon als Pfarrerssöh-
ne, als Lehrersöhne oder was immer das gewesen sein mag,
trotz ihrer gedrückten materiellen Stellung zu der Bildung
ein wesentliches Verhältnis gehabt haben. Das ist kein Zufall.
Sondern die Tatsache, daß in dieser produktivsten Zeit der
deutschen Universität der Begriff der Bildung die Menschen
so ergriffen hat, daß in der Bildung so etwas wie Einverständ-
nis geherrscht hat, das wird man wohl damit zusammenbrin-
gen, daß alle diese Menschen, von denen ich hier rede, eben
doch getragen wurden von der Welle der bürgerlichen Eman-
zipation, des Aufschwungs der bürgerlichen Gesellschaft und
der Verselbständigung der bürgerlichen Gesellschaft gegen-

269
über der Unmündigkeit, in der sie sich gerade in Deutschland
ja viel länger gehalten hatte als in den westlichen Ländern, wo
wenigstens die ökonomische Entwicklung der politisch-insti-
tutionellen weit vorausgeeilt war. Ich glaube, man muß sich
das [nicht] so vorstellen, als ob nun unmittelbar diese Men-
schen, wie es eine primitive materialistische Geschichtsan-
sicht sich vorstellen würde, ihren materiellen, handgreiflichen
Interessen nach an dem bürgerlichen Aufschwung partizipiert
hätten; Sie wissen ja alle, daß die Existenz dieser Träger des
deutschen Geistes um diese Zeit durchaus bescheiden verlau-
fen ist, mit wenigen Ausnahmen, und daß einige der größten
Produktivkräfte jener Periode von Lenz373 über Hölderlin374
bis zu Georg Büchner375 ja in der größten Armut gestorben
sind. Aber es ist doch so, daß das Gefühl, teilzuhaben an einer
Gesamtbewegung, durch die die Emanzipation der eigenen
Klasse sich vollzieht, daß also das Gefühl, daß man, wenn ich
so sagen darf, mit dem Weltgeist schwimmt, wie es in der He-
gelschen Philosophie, vor allem in der »Phänomenologie«, so
sehr zum Ausdruck kommt, daß dieses Gefühl doch die Men-
schen beseelt hat und daß es etwas Wesentliches mit dem Bil-
dungsbegriff zu tun hat, der deshalb für sie verpflichtend war,
weil Bildung für sie eben doch – ich werde darauf noch zu
sprechen kommen – mit dieser Verselbständigung wesentlich
identisch war. Nun ist aber für diese Zeit des deutschen Klas-
sizismus und des deutschen Idealismus, die man fast als die
Zeit der deutschen Universitäten bezeichnen dürfte, etwas
sehr entscheidend: daß [sie] nämlich trotz dieser Momente
der bürgerlichen Emanzipation – und Sie müssen nur einen
Text von Fichte, dem jüngeren, früheren Fichte [lesen], um
das zu finden – doch noch sich bewegt, wie das auch der hi-
storischen, realen Situation von Deutschland entspricht, wo
ja die Revolution nicht stattgefunden hat, innerhalb von Ele-
menten eines aufgeklärten Absolutismus. Ich glaube, daß man
dieses Moment im allgemeinen in diesem Zusammenhang
doch sehr unterschätzt. Es ist nämlich so, daß zu dieser Zeit
die Konsequenzen einer voll emanzipierten Bildung im de-

270
mokratischen Sinn, wie sie also etwa in unserem Examenswe-
sen, im Leistungsprinzip, in dem Prinzip einer lediglich ratio-
nal ausgelesenen Bürokratie sich widerspiegelt – so wie Max
Weber in dem Kapitel über Herrschaftssoziologie in »Wirt-
schaft und Gesellschaft« es außerordentlich eindringend dar-
gestellt hat376 –, daß das trotz dieses bereits sich emanzipieren-
den bürgerlichen Bildungsideals noch nicht sich durchgesetzt
hat, sondern daß, wenn ich einmal so sagen darf, die Modelle
oder die Schemata der Bildung und damit auch der Einheit
von theoretischer und praktischer Bildung, also von Forschung
und Lehre, noch durchaus aus einer gegliederten und hierar-
chischen Gesellschaft bezogen waren und daß dadurch die
ganzen Probleme, die nun durch die volle gesellschaftliche
Emanzipation sich aufgeworfen haben, in dieser Zeit eben so
noch nicht sich gestellt haben. Es hat also vor allem noch kein
losgelassenes Leistungsprinzip gegeben. Und ich möchte an-
nehmen, daß die außerordentliche, bevorzugte, privilegierte
Situation, die geistige Situation der deutschen Universitäten
zu jener Zeit genau damit zusammenhängt, daß sie einen Au-
genblick darstellt, nämlich den Augenblick der Befreiung des
bürgerlichen Geistes, aber in einer Welt, [die,] wie Hegel es
genannt haben würde, noch etwas über eine substantielle Bil-
dung verfügt hat, das heißt, in der die Vorstellungen, was nun
ein gebildeter Mensch eigentlich sei, relativ unproblematisch
von der damaligen aristokratischen Gesellschaft übernom-
men worden sind. Ich glaube, wenn man unter diesem Aspekt
den »Wilhelm Meister«, die »Wanderjahre« vor allem,377 liest,
dann wird man das im allgemeinen bestätigt finden. Das ist
zunächst einmal zu den soziologischen Voraussetzungen zu
sagen, gerade bei uns in Deutschland.
Hinzu kommt, wenn ich noch ein paar soziologische Wor-
te sagen darf, die außerordentliche Übersichtlichkeit inner-
halb der deutschen Universitäten, also das quantitative Mo-
ment der relativ kleinen Anzahl von Studenten. Ich möchte
Ihnen nicht viel hier mit Zahlen aufwarten, ich begnüge mich
damit, Ihnen zu sagen, daß selbst in dem großen Logik-Kol-

271
leg von Hegel in Berlin, das also doch wahrscheinlich im
engeren philosophischen Bereich die größte Attraktion aus-
geübt hat, wenn ich recht unterrichtet bin, nur ungefähr
30 Studenten gewesen sind, und ein Seminar von Hegel – ja
da werden, da er wohl einigermaßen noch einmal unter diesen
30 selektiert hat, nicht viel mehr als zwölf Leute dabeigewe-
sen sein.378 Geradezu idyllische, paradiesische Zustände, wenn
man an das denkt, was ein Hochschullehrer heutzutage vor
sich hat. Es hat damals noch so etwas gegeben wie eine face-
to-face-Beziehung zwischen den Studenten und den Profes-
soren, also die Möglichkeit des unmittelbaren Kontakts, und
die Einheit von Forschung und Lehre ist an diesen unmittel-
baren Kontakt ja sehr wesentlich gebunden. Ich selber kann
an mir, [si parva licet componere] magnis, ständig beobach-
ten, daß, wenn ich die Möglichkeit habe, etwa über meine ei-
genen Arbeiten, meine eigenen theoretischen Arbeiten mit
meinen Studenten zu sprechen, anstatt mich bloß in Texte
mit ihnen im Seminar oder in den Vorlesungen zu versenken,
daß dann davon, von dieser Forschung, in die ich sie hinein-
zuziehen suche, ein ganz anderer Impetus ausgeht als von
dem, was man ihnen sonst etwa übermittelt.
Die Homogenität ist zudem gefordert schon durch die be-
schränkte Zahl der Angehörigen der Bildungsschicht. Je klei-
ner bis jetzt eine Schicht überhaupt ist, um so homogenere
kulturelle Formen pflegt sie ja aus sich hervorzubringen,
während sich sonst das Phänomen des sozialen Hohlraumes
darstellt. Bitte verachten Sie nicht diese etwas roh quantitati-
ven Bemerkungen, die ich mache, allzu sehr, ich glaube eben,
daß hier doch die quantitativen Verhältnisse, daß also über-
haupt die Übersichtlichkeit einer solchen Gesellschaft, in der
etwa die monströsen Formen des Großkonzerns noch nicht
bestanden haben und in der die Gesellschaft selber in ihrem
Gefüge noch einigermaßen jedem Gebildeten durchsichtig
war, daß die zur Bildung wesentlich beigetragen hat, denn
man kann viel leichter gebildet in einer Gesellschaft sein, die
man verstehen kann – dieses Verstehen ist ja die Bildung sel-

272
ber –, als man es in einer Gesellschaft sein könnte, in der diese
Möglichkeit der Durchsichtigkeit eben beschränkt ist. Aber
wenn ich hier von dem Umschlag der Quantität in die Qua-
lität rede, so denke ich dabei auch ebenso an eine wirklich
qualitative, eine geistige Einheit. Und ich glaube, das ist nun
wirklich ein Moment, das wir alle zu unterschätzen geneigt
sind, und zwar auch wir sogenannten professionellen Philoso-
phen, die wir ja wahrscheinlich darin immer noch im Bann
von Denkgewohnheiten des 19. Jahrhunderts stehen, daß wir
gerade diese Bewegung viel zu sehr unter der Kategorie der
sogenannten großen Denker sehen, während in Wirklichkeit
hier ein ›symphilosophein‹, und das, meine ich, weit über ei-
nen philosophischen Fachbereich hinaus, stattgefunden hat,
von dem wir uns keine Vorstellung mehr machen. Wenn von
der ersten Arbeit von Hegel, die veröffentlicht worden ist, von
der »Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems«
es bis zu einer späten philologischen Entdeckung ungewiß
war, wer der Autor sei,379 so ist das für diese Gemeinsamkeit
sehr symptomatisch. Ich möchte hier doch einmal – und viel-
leicht kann ich die geistesgeschichtlich Interessierten unter
Ihnen damit ein wenig anregen – der Vermutung Ausdruck
geben, daß der deutsche Idealismus in jenen 30 oder 35 Jah-
ren, von denen ich spreche, nicht nur eine Philosophie war,
sondern der Elan der gesamten geistig emanzipierten Klasse
in Deutschland, alles Wirkliche substantiell aus dem Geiste
heraus zu begreifen. Und nur, wenn wir an diesen in einem
sehr emphatischen Sinn philosophischen Elan denken, also
daran, daß diese Menschen alle, von dem großen theoreti-
schen Denker bis zu dem jüngsten und harmlosesten Adep-
ten, geglaubt haben, daß die Welt offen ist in dem Sinn, daß
sie aus Geist ganz und gar sich begreifen läßt, weil sie selber
Geist sei, nur dann können wir auch verstehen, daß Bildung
und damit die Einheit von Forschung und Lehre eine sol-
che Gewalt damals gehabt hat. Ich erinnere nur daran, daß in
dieser Zeit es eine Art gemeinsame philosophische Sprache
gegeben hat, wie sie heute für uns überhaupt kaum mehr

273
vorstellbar ist, und zwar eine Sprache, die bis in die Physik
hineingereicht hat – ich erinnere etwa an die ›Fragmente ei-
nes jungen Physikers‹ von Ritter380 –, und daß diese Gemein-
samkeit, dieses Medium oder, wie Hegel es immer nennt,
dieser ›Äther‹,381 der alles durchdringt, sich auch in den Be-
reich der Naturwissenschaften damals noch erstreckt hat, wo-
bei ein gerade symbolischer Vorgang der sein dürfte, daß in
Jena ein Anhänger von Hegel – es dürfte in den späteren
neunziger Jahren gewesen sein, ich erinnere mich im Augen-
blick nicht an die Jahreszahl –, daß ein Adept der Schelling-
schen Naturphilosophie ein junges tuberkulöses Mädchen
nach den Methoden der Naturphilosophie medizinisch be-
handelt hat, worauf das arme Mädchen prompt gestorben
ist.382 Ich erwähne diesen Tod, weil mir das symbolisch zu
sein scheint für mehrere Dinge, ein[mal] nämlich für dieses
Phänomen des Auseinandertretens der philosophischen Bil-
dung und der Naturwissenschaften, das eklatant wurde zum
ersten Mal an der Naturphilosophie aus der Hegelschen »En-
zyklopädie«,383 aber dann auch [dafür] – und das geht viel-
leicht weiter –, daß eben doch das Schicksal, das [zu] jener
Zeit, nach der wir so leicht mit einer romantischen Sehnsucht
zurückblicken, sich vollstreckte, auch nicht ganz unverdient
war, sonst wäre nämlich das Mädchen nicht gestorben. Und
dafür möchte ich eben diese Sache als symbolisch ansehen,
damit Sie gewissermaßen hier schon die Schattenseite jener
Einheit von Philosophie und Bildung und vor allem jener
Einheit zwischen der philosophischen Lehre und der konkre-
ten wissenschaftlichen Forschung sehen, die schon da[mals]
nicht mehr so recht zusammengeklappt haben. Ich darf mir
vielleicht eine Sekunde lang die Abschweifung gestatten, Ih-
nen zu sagen, daß das Phänomen, auf das ich Sie hier verwei-
se, diese eigentümliche kollektive Einheit, die das Bewußtsein
der Epoche des deutschen Idealismus bezeichnet, zum Teil
erklären dürfte die für uns in manchen Texten ja prohibitive
Schwierigkeit der großen philosophischen Schriftsteller der
Epoche, vor allem die der nachfichteschen Schriftsteller. Man

274
hatte so viel an Sprache gemeinsam, daß man, wenn ich es so
ausdrücken kann, durch diese Gemeinsamkeit in einem ge-
wissen Horizont der Unschärfe noch das Vage, das nicht ganz
eindeutig Formulierte hat verstehen können; und vieles, was
dann später an diesem Idealismus als fragwürdig sich darge-
stellt hat, was dann von Positivisten jeglicher Art ihm als Un-
klarheit des Begriffs, als Dogmatik, als Begriffsdichtung, als
was weiß ich alles vorgeworfen worden ist, hängt in Wirklich-
keit damit zusammen, daß man in einem solchen homogenen
Sprachmedium, das zugleich auch ein homogenes geistiges
Medium ist, viel mehr verstehen kann, als dem rationalen Ge-
halt der einzelnen Sätze nach unmittelbar zu verstehen ist.
Nachdem diese Einheit dann einmal verpufft ist, stehen dann
sehr viele solche Sätze und Texte gewissermaßen in ihrer Blö-
ße da, sie sind nicht mehr in jenes Medium eingehüllt, und
von dann ab erst beginnen sie ihre eigentlichen Schwierigkei-
ten zu bereiten.
Was ich Ihnen zur Homogenität gesagt habe, das ist aber
nun nicht etwa bloß so als etwas Atmosphärisches, als eine
Gestimmtheit dieses Denkens mehr oder minder vage zu ver-
stehen, sondern das hängt in der Tat mit dem Inhalt jener Phi-
losophie oder mit dem Inhalt jenes Geistes zusammen. Und
zwar ist als Inhalt dem zentral der Gedanke der Einheit von
Theorie und Praxis, wie er von Fichte zum ersten Mal radikal
formuliert worden ist, indem er aus dem Kantischen Gedan-
ken der ursprünglichen Erzeugung die Idee der freien ›Tat-
handlung‹384 herausgelesen hat und damit den Primat der
praktischen Vernunft auf die Erkenntnistheorie ausgedehnt
hat. Die Einheit von Forschung und Lehre ist nichts ande-
res als die zur Institution gewordene Einheit von Theorie
und Praxis, und der Nachdruck, den sie in jener Periode [an-
nimmt], hängt eben damit zusammen. Wo die Forschung in
der Freiheit des Gedankens besteht, nämlich im Produzieren,
also darin, daß nicht ein schon Vorgegebenes angeeignet,
sondern daß es ursprünglich erzeugt wird – und dieser Ge-
danke der ursprünglichen Erzeugung hängt nicht nur in den

275
Wolken als die Tat des transzendentalen Subjekts, sondern
wird in einem gewissen Sinn von jedem einzelnen tätigen Be-
wußtsein verlangt –, da braucht auch die Philosophie oder die
Wissenschaft noch nicht fertige Lehren mitzuteilen, sondern
sie kann ihre Adepten in den lebendigen Denkprozeß ein-
beziehen. Es ist dann keine Fiktion, daß wir mit unseren Stu-
denten denken, während wir uns unberechtigterweise ein-
bilden, daß wir’s eh schon besser wüßten, sondern dieses
gemeinsame Denken geht auf den philosophischen Begriff
der ursprünglichen Erzeugung zurück und ist damit erst die
Bezugnahme auf die Antike, auf das Sokratische Ideal und das
Platonische Ideal des ›symphilosophein‹, die in dieser Zeit ja
allgegenwärtig war,385 [es] hängt genau mit diesem inhaltli-
chen Moment der Konzeption des deutschen Idealismus zu-
sammen.
Dazu kommt – und ich kann auf die philosophischen Be-
gründungszusammenhänge nicht eingehen jetzt, sondern ich
kann das nur thetisch formulieren –, daß in jener Epoche
Geist und Welt als kommensurabel, wenn nicht, wie sehr
auch vermittelt, doch schließlich als identisch vorgestellt wer-
den. Die Welt soll nicht registriert werden von dem Bewußt-
sein und der Wissenschaft, sondern sie soll begriffen werden,
und sie kann begriffen werden deshalb, weil sie selbst Begriff
ist, also von innen her. Kant hatte sich gegen das Begreifen
von innen her mit dem Amphiboliekapitel der »Kritik der rei-
nen Vernunft« noch sehr heftig gewandt,386 aber wenn in ei-
nem Punkt die nachkantische Entwicklung sich gegen ihn
gewandt hat, dann ist es dieser Punkt, und das, was nun wirk-
lich das Bewußtsein verloren hat – und ich würde sagen: zu
seinem Unglück, aber doch mit einer Notwendigkeit verlo-
ren hat –, ist eben diese Vorstellung, die Welt begreifen zu
können, weil eben die damals selbstverständliche Setzung,
daß die Welt als solche sinnvoll sei, von dem Gang der Ge-
schichte so grauenhaft dementiert worden ist.
Die damit gesetzte Aktivität nun, mit diesem Begreifen der
Welt als sinnvoll, die wird vorgestellt nicht als die des Einzel-

276
bewußtseins, sondern als die eines allgemeinen Subjekts und
damit, wenn man das einmal in die Sprache der Realität über-
setzt, als die Leistung auch einer realen Gemeinschaft von
Menschen, nämlich von den Denkenden, den Forschern, den
Intellektuellen, und die Vorstellung von dem Subjekt als ei-
nem allgemeinen, das nur seine eigene Allgemeinheit erst ler-
nen muß, wie es in der Hegelschen »Phänomenologie« in
ihren Anfangskapiteln entfaltet wird,387 diese Vorstellung hat
also durchaus diesen Sinn, daß das Allgemeine zugleich auch
als die umfassende Gemeinschaft der Geister gedacht werden
soll.
Damals hieß also Forschen soviel wie Geist haben, und
Lehren heißt soviel wie Geist in Praxis umsetzen. Bei Fichte
ist das am stärksten, während dann bei Hegel in seiner Spätzeit
allerdings schon etwas von dem sich anzeigt, was wir heute
mit dem Begriff der ›Neutralisierung‹ der Bildung bezeich-
nen würden.388
Bildung ist damals noch nicht Bildung ›zu etwas‹. Die Fä-
cher sind noch nicht gefestigt. Wissenschaft soll mit Philoso-
phie gleich sein und soll deshalb die spekulative Selbstrefle-
xion aller Fächer, also das geistige Bewußtsein aller Fächer
von ihrem geistigen Gehalt notwendig beinhalten. Die Phi-
losophien damals haben sich entweder ›Wissenschaftslehre‹
oder, wie der ursprüngliche Titel der »Phänomenologie« und
der endgültige Titel der »Logik« von Hegel, geradezu ›Wis-
senschaft‹ genannt.389 Heute dagegen – das ist sehr charakteri-
stisch für diese Differenz – sind Philosophien, die sich ›Wis-
senschaft‹ nennen, eigentlich nur noch solche Philosophien,
wie nämlich die extrem positivistischen, die eigentlich der
Philosophie sich entgegensetzen und die ja Antiphilosophien
sind, wenn man sie ihrem eigenen Sinn nach versteht. Wer
über materiale Wissenschaftsgebiete wie jener Ritter oder
wie Carus390 oder auch wie etwa Goethe damals reflektiert
hat, der ist noch nicht als Dilettant gebrandmarkt worden.
Eine Situation, die wir unter dem Terror der einzelwissen-
schaftlichen Verantwortung heute uns gar nicht mehr vor-

277
stellen können, während alles das, was wir an jener Zeit als
Schwung, als Tiefe, als Größe der Anschauung bewundern,
genau mit einer Freiheit zusammenhängt, die heute im allge-
meinen von jedem Professor seinen Studenten im ersten Se-
mester verwiesen würde. Ich glaube, wir müssen diesen Ge-
gensatz uns einmal so schroff zum Bewußtsein bringen, wie
ich es hier ausspreche, damit wir nicht in ein bloß ästhetisch
kontemplatives Verhältnis zu jenen glücklichen Zeiten gera-
ten. Daß es aber zu dieser Diskreditierung der freien Refle-
xion kam, das ist kein Zufall, sondern es ist selber notwendig
als Kritik der Begriffsmythologie, also der Vergötzung des Be-
griffs, die sich im Rahmen der großen Philosophie nun ein-
mal tatsächlich vollzogen hat. Schlecht aber ist, daß es wider-
rufen wurde deshalb, weil man dadurch ein gesellschaftlich
Abgeleitetes, nämlich die Arbeitsteilung zwischen den Wis-
senschaften, hypostasiert hat. Ich würde also, wenn Sie mir das
Moralisieren gestatten, meine Damen und Herren, sagen, daß
man weder den vergangenen Zustand unbedacht loben noch
den gegenwärtigen, unter dem wir leiden, als den positiven
und fortgeschrittenen einfach hinnehmen soll. Im Idealismus
steckt also ein Moment von Wahrheit drin, das wir nicht zu
romantisieren, sondern als Wahrheit zu erkennen haben, die
Kritik an der bloßen Arbeitsteilung, und zwar in der Lehre
eben von der ursprünglichen Erzeugung, die allen bestimm-
ten, besonderen wissenschaftlichen Inhalten vorhergehen soll.
Ich darf hier vielleicht anmerken, daß, wenn es uns gelingt,
die Erfahrungsgehalte des Idealismus, also das, was als ›Stel-
lung dieses Bewußtseins zur Objektivität‹391 zugrunde liegt,
und nicht etwa bloß die einzelnen und zum Teil sehr proble-
matischen Philosopheme zu ergründen, daß durch eine sol-
che Reduktion des Idealismus auf seine Erfahrungsgehalte,
auf das, was eigentlich als Stellung zur Realität sich darin nie-
derschlägt, daß dann der Idealismus wahrscheinlich sich sehr
viel günstiger präsentieren wird, als er es heute unter dem
Terror der Existentialphilosophie tut, die ja nun also wirklich
den Idealismus so behandelt, als wenn er zum alten Eisen ge-

278
worfen werden könnte. Ich kann das hier nicht ausführen,392
ich darf das nur gerade antippen.
Nun, die Einheit von Forschung und Lehre, die am Bil-
dungsbegriff ihre Substanz hat, war aber damals schon pro-
blematisch. Man darf den Geist, von dessen Gestalt ich Ihnen
einiges angetippt habe, den Geist des deutschen Idealismus,
nicht unmittelbar [für] die Realität jener Zeit nehmen, und
nicht nur nicht unmittelbar, sondern man darf ihn vielleicht
überhaupt nicht dafür nehmen. Ich habe Ihnen von dem in-
tersubjektiven, kommunikativen Wesen des Subjekts gespro-
chen, das damals zugrunde gelegen hat. Mit anderen Worten,
die Einheit von Forschung und Lehre, wie sie im Bildungs-
begriff ihre Substanz hat, ist vorgestellt worden als Gemein-
schaft, und diese Gemeinschaft war in Wirklichkeit schon
damals retrospektiv, was vielleicht gerade mit jenen aristokra-
tischen Modellen einer Elite, die dabei zugrunde gelegen ha-
ben, doch zusammenhängt. Das Kollegium, das hier gedacht
wird, ist eine Art von Insel in der in Wahrheit bereits atomi-
sierten bürgerlichen Gesellschaft, und die exzentrischen
Züge, die zum Teil sehr putzigen Züge, die Sie gerade an dem
Universitätsentwurf des radikalsten deutschen Idealisten,
nämlich Fichtes,393 finden können, die dürften eben damit
zusammenhängen, daß hier eine Art von platonischer, halb
retrospektiver Utopie entworfen worden ist, die eben alle die
Züge hat, die Konstruktionen gesellschaftlicher Art anneh-
men, wenn sie von der realen gesellschaftlichen Basis radikal
sich entfernen. Man könnte sagen, daß die ›pädagogische
Provinz‹ von Goethe394 die Katze aus dem Sack läßt, wenn Sie
mir das falsche Bild durchgehen lassen, das heißt, daß also in
der ›pädagogischen Provinz‹ jenes Partikulare, Insulare, Abge-
spaltene jener Bildungswelt zutage kommt, das ich allgemein
behauptet habe. Und das ist eben das Zeichen dafür, daß jene
schmale und homogene Bildungsschicht, von der ich Ihnen
geredet habe und die uns die Vorstellung eines goldenen Zeit-
alters des Geistes erweckt, eben in Wahrheit doch ihren Bil-
dungsbegriff von oben her, aus dem Begriff, könnte man sa-

279
gen, gesetzt hat, daß er zwar substantiell in dieser Schicht
gewesen ist, daß er aber keineswegs in der bürgerlichen Ge-
sellschaft als ganzer substantiell war, auf die sich doch die Er-
wägungen dieser bürgerlich emanzipierten Denker notwen-
dig beziehen mußten.
Denken Sie daran – um nur etwas zu erwähnen, was in den
Schriften dieser Denker bereits erscheint –, daß die Differenz,
die man dann später als die Differenz zwischen der Rolle [dar-
gestellt hat], die dem einzelnen Individuum in der bürgerli-
chen Gesellschaft zufällt, und seiner Bestimmung an sich, also
seiner ›menschlichen Bestimmung‹, wie Fichte es genannt
haben würde,395 damals schon gegenwärtig war. In der »Phä-
nomenologie« von Hegel gibt es einen ganzen Abschnitt, in
dem er darstellt, daß das, was die Welt von uns verlangt und
was sie aus uns macht, mit dem, als was wir uns selber wissen,
in Kontrast ist.396 Und er hat dann in einer Weise versucht,
versichernd über diesen Konflikt, den er bereits gewahrt hat,
hinwegzubringen, der eben der Charakter des ohnmächtig
Tröstlichen und der bloßen Versicherung eben nur allzu deut-
lich auf die Stirn geschrieben steht. Nun, man könnte sagen,
daß die Universität schon zu dieser Zeit ein Versuch gewesen
sei, diese Differenz zwischen dem, was wir als Menschen
sind – wie man noch unter Rückgang auf naturrechtliche
Konzeptionen es damals ausgedrückt hätte –, und unserer so-
zialen Funktion dadurch auszugleichen, daß man sich gehal-
ten hat an die noch nicht beruflich fixierte Situation der jun-
gen Menschen, die ihnen zwischen ihrer Existenz und ihrer
Rolle gewissermaßen eine Atempause gewährt und die au-
ßerdem zusammenfällt mit einer Phase ihrer psychologischen
und geistigen Entwicklung, in der sie selber noch nicht durch
die Rolle definiert werden, in der sie selber noch keine Fach-
menschen sind. Aber dadurch, daß allein durch diese Be-
schränkung auf die Jugend, wie sie dann später in der Jugend-
bewegung noch viel krasser wiedergekommen ist, diese
Einheit eine Art Ausnahmezustand jenseits des realen Pro-
duktionsprozesses der bürgerlichen Gesellschaft geworden ist,

280
dadurch hat dieser Ausnahmezustand auch ein Moment der
romantischen Willkür und der Vergeblichkeit. Daher kommt
es, daß etwa in dem Entwurf von Fichte, von dem ich Ihnen
gesprochen habe, die Universitäten aus der Gesellschaft her-
ausgegliedert werden und [mit] ordenshaften Vorstellungen
der Universität, die zwar nicht bei Humboldt397 und Schleier-
macher,398 aber gerade bei Fichte um so nachdrücklicher vor-
liegen – wie übrigens dann etwas später analog in Frankreich
auch die Konzeption der Wissenschaft als der herrschenden
Macht des Lebens bei Auguste Comte399 –, mit solchen or-
denshaften, sektiererhaft-elitären Zügen versetzt [sind].
Also, ich wiederhole, in der Realität war der Unterschied
zwischen damals und jetzt nicht entfernt so radikal, wie es uns
dünkt, und ich glaube, auch das muß einmal ausgesprochen
werden, Fichte, Schelling, Hölderlin und der junge Hegel –
von Schopenhauer, der in eine bereits spätere Periode fällt, will
ich hier gar nicht reden – haben im Grunde schon ganz ähn-
lich über den Fachmenschen geklagt, wie er heute seit Ibsens
»Hedda Gabler«, wo der Ausdruck geprägt worden ist,400 sich
darstellt. Hegel und Goethe, der reife Hegel und der reife
Goethe, die im übrigen in zentralen Motiven ihrer Stellung
in all diesen Komplexen miteinander übereinstimmen, haben
den Fachmenschen nun, bei Hegel unter dem Namen einer
notwendigen Entäußerung, für den Geist zu erretten gesucht.
Sie haben dabei das Wahre gesagt, daß [es] ohne das Moment
der Entäußerung, ohne das Moment der Selbsteinschränkung
oder, wie es bei dem späten Goethe heißt, der ›Entsagung‹401
nicht möglich ist, wenn überhaupt noch, so etwas wie eine
homogene Gemeinschaft in der immer mehr sich entformen-
den Gesellschaft aufrechtzu[er]halten. Das Falsche aber an
den großartigen Konzeptionen der beiden und jenem Ele-
ment an ihnen, dem sie beide den Namen des Realisten ver-
dankten, ist das, daß sie jene Versöhnung zwischen der gesell-
schaftlichen Realität und der menschlichen Bestimmung
durch die Entäußerung, durch die Entsagung, durch die Ver-
fachlichung, als etwas Geleistetes, etwas Positives unterstellt

281
haben, während in Wirklichkeit es zu dieser Versöhnung im
allgemeinen gar nicht gekommen ist. Die Einheit des Gan-
zen, die der Gesellschaft sowohl wie die der Universität als ei-
ner Stätte des Geistes, war nicht existent. Die Invektiven
Fichtes sowohl wie Schellings gegen den geistlosen Universi-
tätsbetrieb ihrer Zeit könnten heute geschrieben sein.
Ich erinnere Sie nur noch einmal daran, daß, wie es den
Ursprüngen der damaligen Bildungsschicht entspricht, sie im
allgemeinen auch real doch recht einflußlos war. Es hat sich
zwar aus ihnen bis zu einem gewissen Grad die Bürokratie re-
krutiert, es wurde damals von einem Offizier oder von einem
hohen Verwaltungsbeamten wohl irgendwie verlangt, daß er
die Hegelsche Philosophie gekannt oder verstanden hat. Aber
an den tatsächlichen Schlüsseln der Macht sind die in diesem
Sinn durch die spekulative Metaphysik Gebildeten wahr-
scheinlich damals ganz genausowenig gewesen, wie das heute
der Fall ist. Und ich glaube, nur wenn wir uns darüber klar
werden, können wir auch die Notwendigkeit des Wandels,
der demgegenüber sich vollzogen hat, richtig einsehen. Sonst
übrigens, wenn nicht dieses Moment der realen Ohnmacht
des idealistischen Geistes ihn wie ein Schatten begleitet hätte,
wäre es schwer vorstellbar, daß so jäh, wie es nach dem Tode
Hegels geschah, diese ganze Bewegung wie ein Stein im Was-
ser versunken ist und daß dann nur auf eine sehr künstliche
und gewaltsame und ephemere Weise mit der Berufung
Schellings nach Berlin noch so eine Art von Nachblüte zu-
stande gebracht worden ist.402 Das Motiv der objektiven Un-
wahrheit des Idealismus, mit anderen Worten also das, daß die
Identität des Wirklichen und des Geistes nicht behauptet
werden kann – und Sie verzeihen, wenn ich Ihnen das hier so
dogmatisch hinstelle, wie es Ihnen plausibel sein wird, ohne
daß ich hier selbstverständlich auch nur entfernt es mir anma-
ßen kann, diese Dinge philosophisch zu entfalten –, und auf
der anderen Seite die gesellschaftliche Unrealisiertheit des
Idealismus, daß nämlich die Welt, in der er gedacht wurde,
nicht Griechenland, nicht das Hölderlinsche Griechenland,

282
sondern Prosa, verdinglicht war und auch in Deutschland vor
der industriellen Revolution bestanden hat, das sind zwei Sei-
ten des gleichen Sachverhaltes. Und daraus würde folgen, daß
schon die klassische Konzeption der Einheit von Forschung
und Lehre Ideologie ist in einem sehr prägnanten Sinn, näm-
lich insofern im prägnanten Sinn, als ja das, was wir, wenn wir
den Begriff der Ideologie nicht ungeziemend ausweiten, un-
ter Ideologie denken, eigentlich etwas ist, was gut wäre, wenn
es existierte, und dessen Unwahrheit darin besteht, daß es ei-
nem Existierenden zugeschrieben wird, das im Gegensatz zu
dem Anspruch, der erhoben wird, mit dem Begriff, den die
Ideologie ausbildet, nicht verwirklicht ist. Das Unwahre ist
also diese Nichtexistenz oder das, was dann bei Humboldt
oder bei dem späten Hegel als eine Art separierte, von der ge-
samtgesellschaftlichen Wirklichkeit abgespaltene Bildung er-
scheint.
Nun, ich nenne noch einmal die positiven Momente, die
sich dann ergeben würden, wenn dieses Ideal tatsächlich rea-
lisiert wäre, weil wir ja im Begriff diese Positivität festhalten
müssen. Die Forschung wäre durch die Einheit [mit] ihrer
Darstellung und Kommunikation nicht länger branchenhaft
abgekapselt und fetischisiert, das heißt, sie wäre nicht länger
gegen die Gesellschaft verblendet. So zum Beispiel könnte
man sich gut denken, daß die Einseitigkeit des technologi-
schen Fortschrittes in der Richtung auf eine bloße Steigerung
der Produktion, und nicht in der Richtung auf die Einrich-
tung eines menschenwürdigen Produktionsprozesses oder der
Verteilungsmechanismen oder eines menschenwürdigen Ver-
hältnisses zur Natur, eben nur dadurch entstanden ist, daß die
Forschung gegenüber den gesellschaftlichen Problemen sich
abgedichtet und sich fetischisiert hat. Ein jüngstes Beispiel da-
für etwa ist die starre Dogmatik, zu der die Forschung unter
Benutzung eines problematischen Wissenschaftsbegriffs ge-
genüber der Psychoanalyse gekommen ist, die also als etwas
angeblich nicht streng durch Forschungen Realisierbares
draußen gehalten wird, während man mit unvergleichlich viel

283
weniger substantiellen und bündigen Erkenntnissen, sofern
sie nicht an Tabus rühren, wie es die Psychoanalyse tut, eben
doch sehr viel glimpflicher verfährt.
Umgekehrt wäre dann aber auch die Lehre nicht länger,
wie es heute der Fall ist, dogmatisch, tot, fertig, resultathaft,
sondern sie stünde in einer lebendigen Beziehung zu den
Hörern und wäre dadurch in sich selbst lebendig. Sie würde
das schlecht autoritäre Moment verlieren, das die Universi-
tätslehre – und ich glaube, daß Sie, meine Kollegen, mir das
zugeben werden – innerhalb unseres gegenwärtigen Univer-
sitätsbetriebes, ob wir es wollen oder nicht, immer noch hat.
Man muß nur an die Schwierigkeiten denken, bei Diskussio-
nen etwa Studenten zunächst einmal zum Sprechen zu brin-
gen, um sich zu vergegenwärtigen, wie ernst dieses Problem
der schlechten Autorität der akademischen Lehre ist. Ich hof-
fe, daß, wenn wir zur Diskussion kommen, Sie von dieser
Angst und diesen Autoritätsstrukturen sich nicht werden ty-
rannisieren lassen. Je weniger getrennt die Lehre von der For-
schung ist, desto mehr würde sie zur Selbstkritik und dadurch
auch zur Kritik sowohl an der Realität wie an dem Bewußt-
sein, das sie bedrängt.
Die Trennung von Forschung und Lehre hat nicht nur ihre
Gründe – und das muß man hier wohl auch nachdrücklich
sagen – in der gesellschaftlichen Organisation, etwa im An-
wachsen der rational bürgerlichen Verwaltung und ähnlichen
Momenten, sondern sie hat auch ihren sachlichen Grund, das
heißt, sie gründet einfach in immanenten Notwendigkeiten
der Forschung. Je entwickelter und differenzierter eine Diszi-
plin, desto weiter entfernen Forschung und Lehre bis heute
sich notwendig voneinander, und dabei ist im allgemeinen die
Forschung der Lehre voraus, was dann wieder für die Lehre
seine sehr verhängnisvollen Konsequenzen hat, weil die Lehre
dadurch immer so ein bißchen hinterm Berg zu sein scheint
und die Studenten eigentlich immer das Gefühl haben, daß
das, was man ihnen übermittelt, gar nicht das ist, was sie ei-
gentlich erwarten und weswegen sie in die Universität kom-

284
men. Das ist einer der Gründe, warum so viele Studenten mit
Recht von der Universität enttäuscht sind. Ich möchte über-
haupt hier mit allem Nachdruck sagen, daß ich die Enttäu-
schung so vieler Studenten von der Universität für völlig legi-
tim halte, nur daß ich dabei allerdings glaube, daß es sich dabei
nur in seltenen Fällen um individuelles Verschulden handelt,
sondern daß es hier wirklich um strukturelle Dinge geht.
Die Philosophie ist ein bißchen besser dran. In ihr können
also Forschung und Lehre – ich hoffe, darauf noch mit ein
paar Worten eingehen zu können – noch eher zusammen-
kommen, aber das Glück ist deshalb so ein bißchen prekär, es
ist uns deshalb nicht so ganz wohl dabei, weil dieses Glück ja
nur deshalb gewährt ist, weil es einen eindeutigen, bestimm-
ten Fortschritt in der Philosophie so wie in den positiven
Wissenschaften nicht gibt. Das heißt deshalb, weil wir Philo-
sophen im Grunde gar keine Spur gescheiter sind als der Pla-
ton oder der Aristoteles es waren, deshalb ist es auch für uns
möglich, mit denselben sogenannten ursprünglichen Proble-
men immer wieder mit unseren Studenten anzufangen und
sie zu durchdenken, während mit Recht die Einzelwissen-
schaften gerade darüber ein bißchen lächeln und sagen: ›Na,
nun fangen die also schon wieder an zu fragen, ti en [einai],
was das sei, eigentlich nun gewesen sei, was das Sein eigent-
lich sei‹.
Nun, ideologisch auf der anderen Seite ist an dem Hum-
boldtschen Ideal – wenn ich mit einem Wort es nun doch
mehr spezifizieren darf auf die Frage von Forschung und Leh-
re –, daß die Einheit von Forschung und Lehre unmittelbar
im Bildungswesen zu verwirklichen sei und nicht vermittelt
durch die Gesamtgesellschaft, die von ihm wie von den ande-
ren Denkern der Zeit als die befreite unmittelbar hingenom-
men wird und die, abgesehen von jenem berühmten Paragra-
phen in der Rechtsphilosophie von Hegel,403 nicht als ein
über sich selbst wesentlich Hinaustreibendes gedacht wird.
Bildung ist bei Humboldt ganz ähnlich wie bei Hegel ein
Ressort des Geistes und, obwohl es sehr viele Stellen gibt, die

285
das Gegenteil besagen – ich wage es nicht, hier in die Hum-
boldt-Philosophie einzutreten –, doch ein Selbstzweck, der
abgetrennt ist von der Verwirklichung der Idee. Hier tritt ein
tiefer Widerspruch zutage. Auf der einen Seite ist das Hege-
lisch-Goethesche Ideal der Entäußerung, das heißt der parti-
kularen Realisierung der Bildung und der selbstgenügsamen
Bildung des Individuums für sich als Selbstzweck, unter Ver-
zicht auf Realisierung, und auf der anderen Seite hält dann
Humboldt doch noch den allgemeinen Bildungsbegriff im
Sinn universaler Humanität aufrecht, ohne daß sein Denken
fähig gewesen wäre, aus objektiven Gründen fähig gewesen
wäre, diesen Widerspruch zu meistern. Man kann wahr-
scheinlich zeigen – ich möchte hier dem pädagogischen
Herrn Fachvertreter404 nicht ins Handwerk pfuschen –, aber
man kann wahrscheinlich zeigen, wie bei Humboldt diese
beiden Motive mehr oder minder unglücklich aneinander
sich abarbeiten. Die Neutralisierung der Bildung zu einem
Geisteszustand des Individuums ist eine Not, die [Einsicht] in
die Unrealisierbarkeit der Bildung im Bestehenden, welche
sie zum Rückzug nötigt; aber indem sie diesen Zustand posi-
tiv hinnimmt, bekommt das Ganze auch so etwas falsch Resi-
gniertes, obwohl man auch hier, meine Damen und Herren,
sehr differenziert denken muß, denn ohne dieses Sich-Zu-
rücknehmen der Bildung auf sich selbst, dieses Herausgehen,
dieses Zurückgehen aus der gesellschaftlichen Realität, wie es
Bildung oder Wissenschaft in den angelsächsischen Ländern
gemeint hat, wären wahrscheinlich die größten Resultate
nicht nur der Metaphysik, sondern etwa auch der Musik nie-
mals realisiert worden. Trotzdem muß man sagen, daß durch
die Abspaltung und Hypostasis der Bildungsbegriff auch in
sich berührt wird. Er kann da nicht unschuldig für sich allein
weitervegetieren, sondern er hat in seiner eigenen Zusam-
mensetzung auch dafür zu zahlen. Man hat immer wieder von
›Bildungsdünkel‹ und von ›Hochmut der Eliten‹ gesprochen
und sich das so vorgestellt, als ob das etwa eine Entartung sei,
die einfach auf bestimmte Organisationsformen innerhalb der

286
Universität zurückzuführen ist. Ich glaube, das ist eine zu
oberflächliche Ansicht. Denn in dem Augenblick, in dem die
Bildung sich zum Selbstzweck wird, in dem sie zum Gut wird
und zum Besitz wird und nicht mehr auf ihre universale
Realisierung in der Gesellschaft drängt, nimmt sie jenes
Moment der Eitelkeit, des Sich-besser-Dünkens und Andere-
Ausschließens ihrem eigenen Begriff nach an, und die Entar-
tung der Bildung zu einer solchen Eitelkeit und schließlich zu
dem schlechten Klassenbewußtsein der akademischen Grup-
pe ist, wenn ich so sagen darf, schon in den größten Bildungs-
konzeptionen des deutschen Idealismus tele[ologisch ange-
legt].
Nun, meine Damen und Herren, ich möchte mich jetzt
beschränken – da ich sehe, daß ich nicht entfernt so schnell
mit meinem Programm fertig werde, wie ich es in meiner
Unschuld mir eingebildet habe – auf Andeutungen über den
gegenwärtigen Zustand. Es ist das vielleicht nicht ganz illegi-
tim, weil ich in meiner Darstellung des Bildungsbegriffs und
des Einheitsbegriffs des deutschen Idealismus ja, wenn ich es
nicht gar zu blöd angefangen habe, Ihnen die Verzahnungen
für die Differenz von dem heutigen Zustand schon einiger-
maßen angegeben habe. Was also, wenn ich es schlagworthaft
sagen darf, heute mit der Einheit von Forschung und Lehre,
die untrennbar ist von der Bildungsidee, geschehen ist, das ist
ein Doppeltes. Auf der einen Seite hat man der Bildungsidee,
soweit sie Ideologie war, also mit anderen Worten, soweit sie
von dem Gedanken ihrer realen Verwirklichung sich abge-
spalten hat, [die Rechnung]405 dafür präsentiert. Was an der
Bildung zugrunde geht, könnte man sagen, hat die Bildung
selber verschuldet. Auf der anderen Seite aber hat man auch
den Wahrheitskern, den der Bildungsbegriff hat, ihren eige-
nen Wahrheitsgehalt verdrängt. Man hat, wenn ich es so aus-
drücken darf, das Kind mit dem Bade ausgeschüttet und
glaubt nun also in einer Art von verzweifelter Identifikation
mit dem Angreifer, nun unter dem Namen des ›Konkreten‹,
des ›Auftrags‹ oder wovon auch immer, eben die Beschrän-

287
kung, die durch den Verfall des Bildungsbegriffs gesetzt ist,
als ein Positivum bejahen, ja unter Umständen sogar als das
metaphysisch Höhere rechtfertigen zu dürfen. Es ist sicherlich
so, daß gegenüber dem gesellschaftlichen Bedürfnis nach Ge-
bildeten, wie es um das Jahr 1810 bestanden haben mag –
man müßte dem einmal sehr energisch nachgehen, wie es da-
mit in Wirklichkeit ausgesehen hat –, die Gesellschaft heute
den Informierten und den Techniker verlangt. Sie hören das
ununterbrochen, ich geniere mich fast, es Ihnen zu wieder-
holen. Ich möchte deshalb lieber Ihnen hier einen Floh ins
Ohr setzen und sagen, daß es immerhin unentschieden ist, ob
dieses Verlangen nach dem Informierten und dem Techniker
tatsächlich gefordert ist durch den gegenwärtigen Stand der
technischen Produktivkräfte, also durch das, was den Men-
schen möglich wäre, oder ob es lediglich durch gesellschaftli-
che Bedingungen verlangt wird, denn man sollte ja gerade an-
nehmen, daß durch den Fortschritt der Technik und damit
durch die Fortschritte der Quantifizierung jeder Mensch zu
allen möglichen Leistungen qualifiziert ist und daß infolge-
dessen es also dieser Spezialisierung eigentlich gar nicht so
bedarf. Immer wenn eine solche Sache wie die der Notwen-
digkeit der Spezialisierung, wenn die so von allen bl[ökend]
nachgesprochen wird, dann – wenn ich noch einmal als Mo-
ralist reden darf – ist es angebracht, zunächst einmal ein ordent-
liches Fragezeichen dahinter zu setzen und sich zu überlegen,
ob nicht genau an den Stellen, wo scheinbar alle einig sind,
[diese Schwierigkeit] sitzt.406
Diesem Bedürfnis, über dessen Legitimität man ja also nun
verschiedener Ansicht sein kann, entspricht die akademische
Lehre als bloße undialektische Übermittlung von Kenntnis-
sen ohne aktive Beteiligung der Studenten. Das Mittun der
Studenten in der Universität wird zu einer Praxis der Ein-
übung, es verhält sich etwa so, wie das Klavierüben sich zu ei-
ner Komposition verhält, wenn ich fünfundzwanzigmal die
»Waldstein-Sonate« hintereinander übe, damit ich sie glatt
spielen kann, dann habe ich damit die »Waldstein-Sonate«

288
noch nicht komponiert. Und es hat etwas außerordentlich
Unehrliches, wenn die Einübung mit der produktiven Tätig-
keit verwechselt wird. Es ist also diese Aktivität, zu der in der
gegenwärtigen Organisationsform die Studenten in einem
weiten Maße gezwungen sind, nicht mehr Produktion eines
nicht bereits Vorgedachten oder Kodifizierten, sondern ei-
gentlich ein Vorgang der bloßen Reproduktion. Und im
Grunde wäre das, was dieser Typus des Unterrichts besorgt,
besser durch Lektüre zu leisten. Ich tippe hier nur die Frage
an, wieweit nicht überhaupt unsere Form des akademischen
Unterrichts, der zurückdatiert auf eine Zeit, in der die Schrif-
ten noch nicht allgemein durch den Druck zugänglich waren,
archaische Züge hat und ob wir nicht, wenn wir den akade-
mischen Unterricht auf den Stand der Zeit bringen wollen,
gerade darüber sehr energisch einmal reflektieren sollten.
Dazu kommt das ebenso Bekannte, daß, sobald es nun ein-
mal in den Universitäten auf die Übermittlung von positivem
Wissen ankommt und nicht darauf, die Fähigkeit zu autono-
mem Denken zu entwickeln, sofort dann so viel zu vermitteln
ist – gar nicht erst heute –, daß im allgemeinen zum Denken
und zur autonomen Forschung überhaupt gar keine Zeit
mehr bleibt, wobei der Widerspruch resultiert, auf den gerade
die bildungssoziologische Beobachtung immer wieder stößt,
daß die dabei erworbenen angeblichen praktischen Fähigkei-
ten und Erkenntnisse dann von den wirklichen Praktikern,
also etwa in der Wirtschaft, gar nicht so sehr honoriert wer-
den, sondern daß die dann immer darüber zetern, daß, wäh-
rend wir uns abzappeln, die Universitäten sich abzappeln, nur
ja praktisch genug sein zu dürfen, daß gerade das, was von den
Universitäten praktisch abgeliefert wird, besonders weltfremd
sei. Ich mache Sie hier nur auf diesen Widerspruch aufmerk-
sam, ohne jetzt in seine Dialektik eindringen zu wollen. Die
Gesellschaft kann nicht länger auf das Bedürfnis nach Bildung
rechnen. Sie alle haben etwas von der Krise des Individuums
gehört, und ich kann Ihnen diese Krise jetzt nicht auch noch
entfalten. Jedenfalls aber hat diese Krise hier doch diesen ei-

289
nen Aspekt, daß derjenige, der nicht als Einzelner in der Welt
mehr glaubt, sein eigenes reales Schicksal bestimmen zu kön-
nen, daß für den auch die Bildung zu einer Art von Schmuck
wird, dessen er gar nicht mehr bedarf. Das im allgemeinen
vernehmbare Verlangen nach gebildetem Nachwuchs bezieht
sich in Wirklichkeit – wir haben das bei einer Befragung des,
wenn ich so sagen darf, ›Kundenkreises‹ der Resultate der
Universitätsbildung in Wirtschaft und Verwaltung feststellen
können407 –, es bezieht sich meist auf Verkäufertugenden.
Wenn einem da gesagt wird, daß die Studenten nicht nur
Fachkenntnisse haben sollen, sondern daß sie gebildete Men-
schen sein sollen, so wird, wenn man der Sache auf den
Grund geht, darunter sehr häufig verstanden, daß sie, um die
Autos besser verkaufen zu können, nicht nur von Autos, son-
dern auch von [den] »Duineser Elegien« reden können sollen,
und ich glaube, das bekommt vielleicht den Autos gut, ganz
sicher aber nicht den »Duineser Elegien«.408
Denn die Einheit von Forschung und Lehre setzt autono-
me Hörer voraus. Aber sowohl ihrem Selbstbewußtsein wie
der Entwicklung ihrer geistigen Fähigkeit nach sind sie das
kaum. Es fehlt vor allem das Moment der Spontaneität, also
das Moment einer Aktivität, die nur dann möglich ist, die nur
dann substantiell ist, wenn man auch glauben kann, daß man
aus dieser Aktivität heraus selbst etwas Entscheidendes leistet.
Es verkümmert aber auch, wie Günther Anders etwa entwik-
kelt hat,409 die Phantasie, und es verkümmert, wie man be-
sonders in Amerika Gelegenheit hat zu beobachten, offenbar
auch die Tugend des Gedächtnisses, kurz, alle die Tugenden,
die mit dem Individuum als einem selbständigen, vorblicken-
den, sich selbst behauptenden gemeint sind, demgegenüber
heute eher Tugenden wie Wendigkeit, Anpassungsfähigkeit,
Nachgiebigkeit verlangt werden. Gerade das, was man als das
erste erwartet von einem Studenten, nämlich die Fähigkeit,
selber etwas zu denken, tritt zurück hinter den technischen
Fähigkeiten, die sich rationalisieren mit dem wissenschaftli-
chen Bedürfnis nach absoluter Sicherheit. Das Sekuritätsideal,

290
das heute ja überhaupt bezeichnend ist, erstreckt sich auch auf
den Geist. Die Menschen haben im allgemeinen überhaupt
nur noch Sinn für solche geistigen Inhalte, die sie als ganz
sicher bezeichnen können, sie möchten auch geistig nichts
riskieren und sie rationalisieren dann diese Angst mit einem
falschen Hochmut gegenüber dem [. . .] Geistreichen410 oder
Windigen. Es wird zwar vom deutschen Idealismus mit gro-
ßem Respekt geredet, aber wenn ein Mensch im Ernst die
geistigen Qualitäten [auf]weisen würde, die Fichte oder He-
gel oder irgendeiner von ihnen gehabt hat, dann würde man
ihn wahrscheinlich davonjagen oder, wahrscheinlicher noch,
man würde ihn durch unsere pädagogischen Veranstaltungen
so brechen, daß von dem, von seiner menschlichen Bestim-
mung nichts übrigbliebe. Ich mache gerade hier in diesem
Zusammenhange immer die sehr merkwürdige Erfahrung,
daß, wenn ich mit Studenten zu tun habe, daß ihnen nicht
etwa das am schwersten fällt, was man nach überkommener
Vorstellung von der Jugend für das Schwierigste hält, nämlich
sich zu disziplinieren, die eigene Arbeit zu entäußern, strenge
Maßstäbe zu entwerfen – das können sie eh, damit kommen
sie sozusagen schon auf die Universität –, aber sich etwas ein-
fallen zu lassen, an den Dingen etwas zu sehen, sich etwas auf-
gehen zu lassen, was nicht schon da war, also das Primäre, das
man also nach den überlieferten Vorstellungen gerade der
noch nicht verunstalteten Jugend [nachsagt], das ist das Aller-
schwerste. Und ich muß geradezu Seminare abhalten – ich
sage Ihnen das wörtlich so, wie es ist –, um die angeblich pri-
mären Fähigkeiten, also die Fähigkeiten des Einfalls, des An-
den-Sachen-etwas-Sehens zu entwickeln, und ich komme
mir dann dabei immer so vor, als ob das Alter schäumen wür-
de, während die Jugend demgegenüber einen Standpunkt
von Gesetztheit einnimmt, vor dem ich manchmal erschrek-
ke. Man ist also dann wirklich manchmal so in einer Situation
wie der eines Freundes von mir, der einmal seinen Hund bel-
len gelehrt hat.411 Ich will dabei nicht etwa die Studenten mit
Hunden vergleichen, sondern damit [sagen], daß die natürli-

291
che, spontane Regung überhaupt erst als ein Resultat der Bil-
dung, wenn überhaupt, erworben werden kann und daß ge-
rade an diesen Stellen eigentlich die größten Schwierigkeiten
sitzen.
Meine Damen und Herren, ich möchte hier sehr offen
über das Allerernsteste, nämlich über den Funktionswandel
der Wissenschaft reden, und zwar vor allem der Geisteswis-
senschaft, für die ich selber ja zu reden habe. Einmal hat die
Wissenschaft der Befreiung des Geistes gedient, und mit mehr
oder minder unbedingter Gewißheit sollte sie dem hetero-
nomen Dogma sich entgegensetzen, wir sollten also nur das
annehmen, was wir unmittelbar und in seiner Notwendigkeit
einsehen. Heute aber ist dieses Ideal hypostasiert worden, die-
ses Ideal des zweifelsfrei Gewissen hypostasiert worden, um
sich dem Denken zu widersetzen. Im Idealismus – ich habe
das bereits angedeutet, als ich Ihnen von den Titeln der Werke
von Fichte sprach – hat die Wissenschaft ein ungeheures Pa-
thos besessen. Es geht zurück auf die Aufklärung, zu der ja
Kant und Fichte und auch Hegel ein durchaus positives Ver-
hältnis unterhielten und die eigentlich nur von Schelling und
dem, was von Schelling sich ableitet, so verlästert worden ist,
wie es dann, traurig genug, im späteren 19. Jahrhundert All-
gemeingut des deutschen Bewußtseins geworden ist. Lesen
Sie etwa den [»Esquisse« von Condorcet],412 an den ich in den
letzten Tagen herangekommen bin, dann werden Sie dieses
Pathos der Wissenschaft in einer für uns fast rührenden Weise
finden. Wissenschaft wird da dem Inbegriff der Fertigkeiten
gleichgesetzt, durch die der Mensch über die Tierheit sich er-
hebe.413 Sie ist also das Organ des Fortschrittes. Unterdessen
hat nun die Geschichte die Äquivalenz von Fortschritt und
Wissenschaft dementiert. Ich brauche nur das eine Stichwort
›Atombombe‹ zu geben, und Sie wissen alle, was ich damit
meine. Die Fortschritte der Wissenschaft verbinden sich mit
drastischen Rückschritten nicht nur der Gesellschaft, sondern
auch des freien, nicht gebundenen Geistes. Aber das Pathos
der Wissenschaft, das allein aus der Vorstellung jener Gleich-

292
wertigkeit von Wissenschaft und Fortschritt aus dem 18. Jahr-
hundert stammt, das ist der Wissenschaft geblieben, und es ist
buchstäblich fetischisiert worden. Nachdem jene Einheit ein-
mal durchschnitten ward, sind unendlich viele Wissenschaf-
ten, vor allem in den Geisteswissenschaften, sich selbst zum
Endzweck geworden und deshalb verkümmert. Und es blü-
hen eigentlich nur die, mit denen der Weltgeist ist, das heißt
die Naturwissenschaften, diejenigen, die technologisch ver-
wertbar sind. Viele Geisteswissenschaften haben vor sich sel-
ber – ich rede hier vollkommen rückhaltlos, meine Damen
und Herren – gar keine andere [raison d’être] als die, Wissen-
schaft zu sein. Im tiefsten wissen sie [um] diese Insuffizienz
von sich selber und ziehen aus ihr ein Ressentiment, das sie
vorweg um jene eigentliche Produktivität bringt. Um jenem
Begriff von Wissenschaft, der sich weitgehend von den histo-
rischen Schulen und andererseits von den Naturwissenschaf-
ten, auch in den Geisteswissenschaften, herleitet, zu genügen,
wird alles das verboten, was der Wissenschaft überhaupt einen
Sinn geben kann, weil es die Spielregeln verletzt, die einmal
Abwehr von Aberglauben meinten, während sie selbst längst
zum Aberglauben wurden.
Ich kann [mir] nicht versagen, Ihnen hier eine kleine Ge-
schichte aus einem geisteswissenschaftlichen Gremium zu
erzählen, in dem eine bestimmte Arbeit wegen ihrer voll-
kommenen Geistlosigkeit und ihres sturen Faktenglaubens
kritisiert worden ist, und es ist dann zu ihrer Verteidigung ein
Herr von bekanntem Namen aufgestanden und hat gesagt:
»Ja, wenn der Kollege an dieser Arbeit das Element der gei-
stigen Vermittlung vermißt, dann ist diese Vermittlung doch
eo ipso dadurch geleistet, daß diese Arbeit eben angenommen
worden ist in dem Bezirk jener Wissenschaft, zu der sie hinzu-
gehört.« Also, wenn das nicht geradezu ein [Fall] von Feti-
schismus ist, daß der Geist, der an der Wissenschaft in Frage
steht, dadurch bewiesen werden soll, daß eine Arbeit zu dieser
Wissenschaft gehört, dann weiß ich überhaupt nicht, was Fe-
tischismus ist, und ich würde denken, daß, wenn die Geistes-

293
wissenschaften, also die mir zunächst[liegenden] Disziplinen,
nicht über diese Dinge radikal neu nachdenken und sich auch
damit begnügen, nun bestimmte Philosopheme sich von au-
ßen her als Geist zu infiltrieren, wie es mit Heidegger so viel-
fach geschieht, daß dann unseren Geisteswissenschaften keine
gute Prognose zu stellen ist.
Ich versage es mir hier, Ihnen über die Gründe dieser Phä-
nomene noch viel zu sagen. Die soziologischen Gründe sind
ja ebenso bekannt wie die innerhalb der Universitätsorganisa-
tion. Da ich Sie nicht viel länger in Anspruch nehmen will,
darf ich Sie hier vielleicht auf den Text über »Theorie der
Halbbildung« hinweisen, der sehr viel dazu enthält, der sei-
nerzeit im »Monat« erschienen ist und der jetzt in dem Essay-
band erscheinen wird, den mein Freund Horkheimer und ich
im Augenblick eben in Vorbereitung haben.414
Noch ein paar Worte, meine Damen und Herren, wirklich
nur ein paar Worte zu der Frage, was man hier tun soll. Zu-
nächst glaube ich, ist es ein Fehler, wenn man immer sofort
fragt ›Was kann man denn tun?‹. Genau der Geist, der sofort
etwas tun will, ist derselbe Geist, der keiner mehr ist. Und ich
würde denken, es ist wichtig, an dieser Stelle zunächst einmal
innezuhalten. Ich halte es für fruchtbarer, die Momente, die
ich Ihnen entwickelt habe, zur Reflexion zu bringen, ihrer
sich bewußt zu werden, anstatt viel zu schnell mit Rezepten
aufzuwarten, wie es anders zu machen ist. Die Möglichkeiten
einer Veränderung der Dinge, die ich Ihnen gesagt habe, sind
gesellschaftlich beschränkt, denn wir müssen uns darüber klar
sein, daß die krisenhaften Phänomene, die wir hier innerhalb
der Universität an unseren Studenten und auch an uns selbst
beobachten, daß die zwar konkret uns in der Universität er-
scheinen, daß sie aber doch nur Epiphänomene sind von
Strukturveränderungen, die in der Gesellschaft selbst sich zu-
tragen. Daher nutzen keine soziologisch naiven Universitäts-
reformen, und das, nebenbei bemerkt, ist einer der Gründe,
warum wir an unserem Institut so nachdrücklich dem Un-
tersuchungsgebiet der Bildungssoziologie uns zugewandt ha-

294
ben.415 Aber andererseits, weil heute ja alles, was es überhaupt
gibt, dieser gesellschaftlichen Problematik unterliegt und in
die Gesellschaft als Ganzes sich nicht eingreifen läßt, darf man
sich damit auch nicht begnügen. Sonst wird der Hinweis auf
die Gesellschaft zu einer leeren Auskunft und die Soziologie
wirklich so zu einer Art Allerweltsmittel, auf das man das ab-
schiebt, was man in den bestimmten und konkreten wissen-
schaftlichen Zusammenhängen nicht mehr zu leisten vermag.
Das Problem der Verbesserung also, das Problem der partiku-
laren Änderung wird durch die Übermacht der Totalität neu
gestellt.
Ich beschränke mich auf ein paar Worte über Disziplinen,
in denen ich mich einigermaßen zuständig fühle, also über das
Verhältnis von Forschung und Lehre in der Philosophie und
in der Soziologie. Ich möchte dabei mich beziehen auf eine,
wie mir scheint, recht fruchtbare Unterscheidung, die mein
Kollege Dahrendorf in einem Vortrag oder in einem Diskus-
sionsbeitrag vor ein paar Wochen auf dem Tübinger Soziolo-
gentag gemacht hat, nämlich den Unterschied zwischen ge-
schlossenen Wissenschaften, wo also ein positiver gegebener
Lehrgehalt einfach vorzutragen ist, und offenen Wissenschaf-
ten.416 In den geschlossenen ist die Trennung von Forschung
und Lehre wohl unmittelbar überhaupt nicht abzuschaffen,
sondern eben nur zu reflektieren und dadurch vielleicht zu
verändern, also bewußter zu scheiden zwischen Dingen, wie
sie in Lehrbüchern stehen, und solchen, die notwendig auf
den lebendigen Gedanken verwiesen werden. Ich könnte
über eine Reihe konkreter Geisteswissenschaften, zum Bei-
spiel über die mir sehr naheliegende Disziplin der Musik-
wissenschaft, hier auch einiges sagen, und ich glaube, einiges
ganz Drastisches zur Bezeichnung von Problemstellungen,
aber ich möchte doch insofern am Schluß auch mich selber
als Fachmensch deklarieren, [als] ich mich hier an die Fächer
Philosophie und Soziologie halte, obwohl ich mir klar dar-
über bin, daß diese Fächer gerade dadurch definiert werden,
daß sie nicht in diesem Sinne Fächer sind.

295
Zur Philosophie habe ich folgende Vorschläge, auch die
nur eben stichworthaft. Die philosophische Vorlesung, wenn
sie heute überhaupt noch einen Sinn haben soll, muß Refle-
xion sein. Sie soll prinzipiell nicht das wiederkäuen, was ra-
tionell aus Büchern anzueignen ist. Wenn Kant an einer Stelle
sagt, daß man nicht Philosophie lernen solle, sondern daß
man nur philosophieren lernen könne,417 dann hätte daraus
der philosophische Unterricht tatsächlich die Konsequenz zu
ziehen. Das heißt, eigentlich die einzige Form eines men-
schenwürdigen philosophischen Unterrichts scheint mir die
zu sein, spontan selber, wenn man das kann, zu denken und
die Studenten dadurch am Denkprozeß teilhaben zu lassen,
während die geronnene Form des Gedankens, der objekti-
vierte Gedanke, eben dem Buch gehört. Wenn dann in die
Vorlesung ein Moment des Experimentellen kommt, wenn
man dabei auch dazu kommt, etwa sich selbst zu korrigieren,
oder sich in Widersprüche verwickelt, solange man sie nicht
vertuscht, sondern wenn man sie austrägt, so scheint mir das
dabei nur das kleinere Übel zu sein. Ich glaube, daß Georg
Simmel insofern einen sehr richtigen Instinkt hatte, als er,
wenn ich recht berichtet bin, in seinen Vorlesungen prinzi-
piell ohne Manuskript aufgetreten ist418 und eigentlich nichts
anderes getan hat, als in Worten so zu sprechen, wie man
stumm spricht, wenn man dabei ist, etwas niederzuschreiben.
Ich glaube, das wäre allein schon eine Forderung an den phi-
losophischen Unterricht, die ihm mit all den Gefahren, die
ich dabei durchaus sehe, eine Art von Fruchtbarkeit geben
könnte, die er sonst nicht hat, und meine eigenen Versuche in
dieser Richtung, sie mögen so problematisch sein, wie sie
wollen, haben jedenfalls in ihrer Wirkung auf die Studenten
mich darin eher bestärkt.
In dem Philosophischen Seminar, wo Texte erarbeitet wer-
den, geht es nicht in erster Linie um Philologie. Es gibt natür-
lich gewisse schwierige Texte, schwierige Platontexte oder
Aristotelestexte, bei denen man um die Philologie nicht her-
umkommt, wenn man nicht dilettantischen Unsinn reden

296
will. Aber es geht um ihr Verständnis und um ihren Wahr-
heitsgehalt. Ich möchte hier die These vertreten, daß das Ver-
ständnis philosophischer Texte überhaupt nicht möglich ist
ohne Kritik. Man kann nur das verstehen, was man in seiner
eigenen Wahrheit versteht, und man kann die Wahrheit eines
Gedankens nur verstehen, wenn diese Wahrheit zugleich
auch der Index des Falschen ist,419 also wenn diese Wahrheit
geschieden wird von der Unwahrheit. Ein Gedanke im übri-
gen, der ja Platon gar nicht fern gelegen hat. Sonst gibt es
bei anspruchsvollen Texten überhaupt kein Verständnis. Also,
wenn ich etwa in einem Seminar das Zweite Buch der »Gro-
ßen Logik« von Hegel behandele420 und dabei auf den sprin-
genden Punkt des Übergangs vom Grund, also von den reinen
Wesensbestimmungen, den reinen Reflexionsbestimmungen
[zur] Existenz421 komme, wo nun wirklich die größte sachli-
che Schwierigkeit, ich würde denken, die [Subreption] der
Hegelschen Philosophie liegt, dann genügt es hier nicht, dar-
zustellen, was der Hegel sich gedacht hat, oder vielmehr, es
genügt nicht, das darzustellen, was in den Texten herausge-
kommen ist – was der Hegel sich gedacht hat, wissen wir ja
sowieso nicht –, sondern wir können das nur verstehen, wenn
wir dabei die aufgeworfenen Sachfragen in all ihrem Ernst
und nicht als bereits vorentschiedene behandeln.
Was die Doktorarbeiten und Habilitationsschriften an-
langt, so meine ich, sollten sie in der Philosophie möglichst
aus den Sachfragen entwickelt werden, die in den Seminaren
aufkommen. Wenn jemand eine Doktorarbeit oder gar eine
Habilitationsschrift sich sucht, um ein Thema zu finden, über
das, wie man das so schön sagt, noch nicht gearbeitet sei, dann
ist das von vornherein eine hoffnungslose Sache, und ich
mache es mir jedenfalls in der Philosophie zum Gesetz, je-
den Menschen, der also mit derartigen Vorschlägen zu mir
kommt, höflich daran zu erinnern, daß das also dem Begriff
der Philosophie jedenfalls nicht entspricht. Und es sollten da-
bei diese Arbeiten nicht nur entwickelt werden aus den Semi-
narreferaten, obwohl die besten Referate oft sehr gute An-

297
satzpunkte darstellen, sondern sie sollten vor allem auch
entwickelt werden aus Motiven der lebendigen Diskussion,
bei denen im allgemeinen das Produktivste dabei heraus-
kommt. Die Diskussion sollte von vornherein auch [unter]
dem Gesichtspunkt dieser Produktivität des ursprünglichen
Denkens stehen. Ich bin deshalb auch dagegen, die Ober-
seminare so mit einer Art von Ritual abzudichten und zu
sperren, sondern jeder soll die Möglichkeit haben, nun hier
wirklich so frei, wie es nur geht, zu denken, und wenn sich
dabei zeigt, daß jemand schwätzt – es gibt ja bekanntlich
einen Typus von Studenten, der kein Problem vorübergehen
lassen kann, ohne sich dabei zu Wort zu melden und irgend
etwas zu sagen –, dann muß in Gottes Namen der Seminar-
direktor Manns genug sein, ihm sanft, aber energisch zum
Schweigen zu verhelfen, ohne das geht es nicht.
Ich möchte da noch besonders empfehlen in diesem Zu-
sammenhang, als ein Medium dieser Einheit von Forschung
und Lehre – und ich hoffe, Sie sind mir nicht böse, wenn ich
am Ende so daherspreche und so ein bißchen aus der Pistole
mit ein paar ganz konkreten Vorschlägen komme –, als ein
besonderes Mittel hat sich mir dabei das Protokoll erwiesen,
das nämlich ebenso ein pädagogisches Mittel ist. Man lernt
Diskussionen verstehen, wenn man sich so auf sie konzen-
triert, daß man sie protokollarisch wiedergibt. Dann hat es
den Sinn, dem Seminar konzentriert mitzuteilen, was an we-
sentlichen Motiven aufgekommen ist. Und dann ist das Pro-
tokoll im allgemeinem auch zugleich, außer [in] diesem päd-
agogischen Sinn, ein Forschungsinstrument insofern, als ein
guter Protokollant nun wirklich die neu auftretenden Motive
festhält, von denen aus dann weitergegangen werden kann.
In der Soziologie, um auch darüber noch ein Wort zu sa-
gen, sind Forschung und Lehre auf eine verhältnismäßig ein-
fachere und glücklichere Weise dadurch zu verbinden, daß
man hier die Möglichkeit hat, Seminare als Praktika anzu-
legen, und daß man weiter die Möglichkeit hat, schon in einem
verhältnismäßig frühen Stadium Studenten zu Forschungspro-

298
jekten, zu konkreten Untersuchungen heranzuziehen. Und
es zeigt sich dann immer, daß gerade da, wo man nun Studen-
ten nicht einfach Dinge vorträgt, sondern von Anfang an sel-
ber zunächst in relativ schlichten Aufgaben sie an der For-
schung aktiv beteiligt, daß dann durch die Aufgaben solcher
Aktivität die Spontaneität und die Selbständigkeit auch au-
ßerordentlich entwickelt werden. Das setzt allerdings die Exi-
stenz von Instituten voraus, die mit den Seminaren verbunden
sind, in denen Forschungsaufgaben in Angriff genommen
werden können, die ihrerseits wirklich wissenschaftlichen
Kriterien genügen und die nicht, wie sehr vieles in soziologi-
scher Untersuchung und im kleinen Rahmen, etwas Ama-
teurhaftes haben.
Das ist so ungefähr das, was ich Ihnen zu dem Problem von
Forschung und Lehre, und an Vorschlägen, wie es zu gestalten
[wäre], heute sagen wollte. Ich glaube, ich kann mit nichts
besser schließen als mit dem Wort, mit dem Arnold Schön-
berg die Vorrede seiner »Harmonielehre« begonnen hat, weil
dieses Wort eigentlich das ausdrückt, was als Einheit von For-
schung und Lehre einem akademischen Lehrer, wenn er den
Lehrberuf ernst nimmt und wenn er zugleich nicht vollkom-
men verknöchert und abgestorben ist, eigentlich als das Ideal
vor Augen steht. Er hat nämlich an dieser Stelle gesagt in sei-
ner »Harmonielehre«: »Dieses Buch habe ich von meinen
Schülern gelernt«.422

299
Musikalische Bildung heute
23. 2. 1962

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

wenn man von musikalischer Bildung redet, so muß man da-


bei ausgehen von der Zweiteilung in Berufsmusiker und in
Publikum – und muß die Frage der musikalischen Bildung in
ihren verschiedenen Zusammenhängen auch verschieden be-
handeln. Daß man sich an diese Scheidung halten muß und
daß man diesen Unterschied überhaupt zum Kanon dessen
machen muß, was man zum Problem der musikalischen Bil-
dung etwa sagt, ist selber bereits der Ausdruck jenes krisen-
haften Zustandes, der die musikalische Bildung heute über-
haupt und prinzipiell problematisch macht, daß es nämlich
auf der einen Seite eine Gruppe von Spezialisten gibt, für die
die Musik zwar durchsichtig ist, die aber, man könnte fast sa-
gen, so nahe sind, daß ihre Beziehung zur Musik von vorn-
herein etwas Inzestuöses hat, während auf der anderen Seite
das Publikum gegenüber dem, was heute musikalisch im
Ernst sich zuträgt, und zwar nicht nur in der Sphäre der Kom-
position, der Produktion, sondern auch in der Sphäre der
musikalischen Reproduktion, in einem weiten Maß bezie-
hungslos ist und nach mehr oder minder der Sache selbst
äußerlichen Kategorien auf Musik reagiert.
Diese Dichotomie also ist eine gesellschaftliche, vorgege-
bene, an die man sich zu halten hat, wobei ich mir die Freiheit
nehme, der Lage der Musiker selbst, in dem, was ich Ihnen
fragmentarisch genug vortrage, vor dem Zustand der Nicht-
musiker den Vorrang zu erteilen aus Gründen, die Sie viel-
leicht aus dem, was ich Ihnen zu entfalten hoffe, entnehmen
werden, aber freilich, um ganz ehrlich zu sein, auch dem ge-
nius loci huldigend, denn in dieser Hochschule wende ich
mich eben doch, jedenfalls der Idee nach, zunächst einmal in
weitem Maß an Musikstudierende und an Berufsmusiker. Ich
möchte dabei gleich sagen, daß der Begriff der Bildung, von

300
dem ich rede, der musikalischen Bildung, in sich eine gewisse
Doppeldeutigkeit enthält, die auf der einen Seite sich bezieht
auf die Ausbildung, die spezifisch musikalische fachliche Aus-
bildung, und auf der andern Seite auf Bildung in dem weite-
ren und umfassenden Sinn, der ebenso die Frage nach Bildung
überhaupt heute einschließt wie die Frage nach musikalischer
Bildung, die, abgesehen von der fachlichen Ausbildung, das
Verständnis von Musik allererst ermöglicht. Ich werde diese
Aspekte nicht schematisch auseinanderhalten, sondern so,
wie es meine Überlegungen im einzelnen mit sich bringen,
auf die verschiedenen Momente dabei eingehen, die eben
doch so miteinander verflochten sind, daß es der Sache äußer-
lich wäre, wenn man sie durch eine Art Disposition trennen
und strikt also sie nacheinander abhandeln wollte.
Nun, ich gehe also aus von der Frage der Bildung der Mu-
siker selbst und dabei von dem Begriff ihrer Ausbildung. Sie
werden oder viele von Ihnen werden denken, das sei doch
eigentlich kein großes Problem, über das es sich lohnt, viel
Aufhebens zu machen. Man besuche eben eine musikalische
Hochschule oder man studiere privat Musik und lerne dabei
das, was es zu lernen gibt, das Handwerk. Man lerne anstän-
dig Klavier spielen oder Geige spielen oder man lerne die
theoretischen Fächer, um ein Komponist zu werden, und da-
mit sei alles in seiner rechten Ordnung, vorausgesetzt, daß
man nur eben Talent genug hat. Genau diese scheinbar selbst-
verständliche Voraussetzung ist nun aber problematisch ge-
worden. Und ich glaube, darauf sollte man zuerst einmal hin-
weisen, wenn man über das Problem musikalischer Bildung
überhaupt heute Rechenschaft sich gibt. Bereits dieses Ele-
mentare, also die Ausbildung von Musikern in ihrem eigenen
Fach, ist in keiner Weise mehr etwas so zweifelsfrei Gewisses,
wie es vielleicht – es ist schwer, das verbindlich zu beurtei-
len – früher einmal der Fall gewesen ist. Zunächst ist dabei
daran zu denken, daß es heute in der Musik keine sichere, kei-
ne in sich gegründete Tradition mehr gibt, an die sich diese
verschiedenen Momente der musikalischen Ausbildung nun

301
fest anschließen könnten. Man hat nicht mehr vorgegeben,
wie etwas zu spielen sei, etwa der selbstverständliche Zusam-
menhang zwischen einem Publikum und einem Kreis von
solchen, die es verstünden und nach denen man sich dabei
richten könnte, ist zerrissen, ja, das Recht und die Möglich-
keit überhaupt, Musik zu machen, hat selber ein Fragwürdi-
ges angenommen, durch das es die Naivetät, die Selbstver-
ständlichkeit verliert, durch die man einmal früher vor allzu
vielen Reflexionen geschützt war. Also, der Satz von Beetho-
ven, daß man über Generalbaß sowenig wie über den Kate-
chismus nachdenken sollte,423 der ist sicherlich heute nicht
mehr in Geltung – übrigens, daß Beethoven in dieser Form
ihn ausgesprochen hat, dürfte bereits selber der Beweis dafür
sein, daß sich an dieser Stelle schon zu seiner Zeit ein Problem
aufgerichtet hat, das er nur willentlich von sich abgewiesen
hat, um auf diese Weise nicht in die Situation jenes berühm-
ten Tausendfüßlers zu geraten, der nicht mehr gehen kann,
wenn er seine Füße zählt, während wir heute unabdingbar
allesamt als Musiker zu solchen Tausendfüßlern geworden
sind.
Man könnte das auch so ausdrücken, daß heute eigentlich
durch die geistige Gesamtentwicklung von jedem Musiker
Autonomie verlangt wird, also verlangt wird, daß er selber
verantwortlich und verbindlich über das entscheidet, was er
zu tun hat, daß aber zugleich die Kräfte in den Menschen und
die gesellschaftlichen Kräfte, die eine solche Verantwortung
nun wirklich erlauben würden, nicht in gleicher Weise mitge-
wachsen, ja, daß sie in einem weiten Maß verkümmert sind,
so daß eine wachsende Disproportion zwischen der Aufgabe
und den Möglichkeiten ihrer Erfüllung sich herstellt. Wenn
man einmal annimmt, daß in allen musikalischen Dingen, wie
übrigens in anderen auch, die Sphäre der Produktion, der ei-
gentlich produktiven Arbeit, Schlüsselcharakter hat, dann ist
eben der Schlüssel für das Phänomen, das ich Ihnen im Au-
genblick zu beschreiben suche und das ich für das Ausgangs-
phänomen der Problematik musikalischer Bildung halte, eben

302
darin zu suchen, daß es eine naive musikalische Produktion
nicht mehr geben kann, weil, wie jeder Komponist weiß,
ebenso das Material, mit dem wir komponieren, wie die For-
men, mit denen wir komponieren, problematisch geworden
sind, weil uns nichts mehr vorgegeben ist, woran wir uns hal-
ten können, weil wir permanent in der Situation jenes Kafka-
schen Theaterdirektors sind, der sich seine Schauspieler selbst
erzeugen und sie selbst aufziehen muß, um vielleicht nach
zwanzig Jahren einmal richtig Theater spielen zu können.424
Nun, mit anderen Worten also, man muß auf das reflektie-
ren als Musiker heute, über das nachdenken, was man tut, und
kann nicht unmittelbar dem, was man tut, sich überlassen.
Und man muß nicht nur technisch, wie das schon immer war,
darauf reflektieren, ob man es richtig tut, sondern muß diese
Reflexion weit über das gewohnte Maß etwa der Selbstkon-
trolle eines ausübenden Künstlers, eines ausübenden Virtuo-
sen hinaus steigern, man muß eigentlich ein bewußter Mensch
werden.
Ich möchte hier bereits andeuten, daß daraus schon eine
sehr ernste Schwierigkeit im Bereich selbst der unmittelbar-
sten praktischen musikalischen Ausbildung folgt, daß nämlich
das, was wir im allgemeinen in dem musikalischen Unterricht
uns aneignen, in keiner Weise heranreicht an das, was eigent-
lich von uns verlangt wird im Sinn dieses Ideals von Autono-
mie, an das heranreicht, was wir eigentlich von uns erwarten
müssen. Und zwar gar nicht so sehr deshalb, weil der Unter-
richt, wie er das ja wohl immer war, hinter der fortgeschritte-
nen Praxis zurückgeblieben ist, sondern weil ein jeglicher
Unterricht, um überhaupt möglich zu sein, sich ja in einer
gewissen Sphäre von allgemein verbindlichen Regeln, Vor-
schriften, Rezepten bewegen muß – etwas anderes ist in ge-
ordnetem, systematisiertem Unterricht sehr schwer mitzutei-
len –, während die Problematik des richtigen Musizierens,
wie es von musikalischer Bildung erzogen werden soll, ja ge-
rade darin besteht, daß man sich nicht nach Rezepten richtet;
wie jede einzelne Komposition in sich heute die Notwendig-

303
keit hat, in sich selber als ein je Einzelnes ohne Rücksicht auf
alle ihm äußerliche Allgemeinheit durchgebildet zu sein.
Nun, indem ich Ihnen spreche von dieser Notwendigkeit
von Autonomie, von künstlerischer Selbstbestimmung und
von Bewußtwerdung und indem ich Ihnen sage, daß zugleich
allein schon durch den unbeschreiblichen Druck der Mas-
senkultur, die auf uns lastet, aber auch durch die allgemeine
Bildungskrise, die zu einer Art Schwächung des Ichs führt,
sich eine Disproportion herausgestellt hat, komme ich auf
ein weiteres spezifisches Moment der Schwierigkeit musi-
kalischer Bildung: nämlich daß gerade sehr viele Musiker da-
durch, daß sie diese Not fühlen, daß sie fühlen, daß zwischen
ihrem Metier, ihrem Handwerk im engeren Sinn, und dem
geistigen Gesamtstand der Epoche und der Bildung insgesamt
etwas wie ein unheilbarer Bruch herrscht, der sich von ihnen
aus kaum überbrücken läßt, daß sie darauf mit einer Art Ver-
stocktheit reagieren, indem sie sich auf ihr Handwerk zurück-
ziehen und in einem rauhen und keineswegs immer herzli-
chen Ton erklären: ›Ach Gott, das alles, das geht uns ja gar
nichts an, das sind ja alles solche intellektuellen Geschichten,
was sollen wir uns damit abplagen, wir müssen anständig un-
sere Terzen spielen und unser Legato egalisieren und was es
sonst an schönen Dingen gibt, unsere Flageolettgriffe mög-
lichst rein und ohne Nebengeräusche produzieren, und dann
ist schon alles in Ordnung‹. Nun, aber gerade dadurch werden
die Fragwürdigkeiten verstärkt, denn man verläßt sich dabei
auf eine Reihe von Momenten, die man für selbstverständ-
lich, für gegeben hält, die es in Wirklichkeit gar nicht sind. Es
ist ein unter Musikern und auch unter Musikfreunden außer-
ordentlich verbreitetes Vorurteil, ja ein universales Vorurteil,
daß das Bewußtsein eigentlich schade. Die Musik, die ja eine
unbegriffliche Kunst ist, ist in besonderem Maß der Ideologie
des Unbewußten verschworen. Das ist eben der Ausdruck des
Ausschlusses von Bildung, während genau diese Unkraft zur
Reflexion, diese Unfähigkeit also, die ursprünglichen Im-
pulse ins Bewußtsein zu erheben und doch ihnen zu folgen,

304
dann das Musizieren selbst in einer gewissen Sphäre der sturen
und ein bißchen renitenten und aufsässigen Handwerkerei
hält, die dann die Qualität der Darstellung selber immer wie-
der herabdrückt.
Nun, ich weiß oder ich nehme an, daß sehr viele unter Ih-
nen sind, meine Damen und Herren, die an dieser Stelle mir
nicht folgen werden und die mir darauf sagen werden: ›Ja um
Gottes willen, willst du denn haben, daß nun alle Musiker
oder alle Menschen, die zur Musik sich liebend verhalten, daß
das so böse Intellektuelle werden, wie du einer bist?‹ Nun, ich
will Ihnen das wirklich nicht zumuten, so böse bin ich ja nun
wieder gar nicht, aber immerhin glaube ich, daß es einen
Rechtsgrund dafür in der Sache selber gibt. Das heißt, Kunst-
werke sind eben doch nicht nur der Inbegriff ihrer sinnlichen
Erscheinung. Sie bestehen nicht nur darin, daß man ihre sinn-
lichen Momente möglichst exakt realisiert, sondern durch
den Zusammenhang dieser sinnlichen Elemente weisen diese
sinnlichen Bestandteile oder, wie man sagen könnte mit
Brecht, ihre ›kulinarischen‹ Bestandteile425 über sich hinaus.
Und eine Art der Interpretation, die sich nur festmacht an den
sinnlichen, kulinarischen Qualitäten und die dadurch den
Zusammenhang und die Funktion der sinnlichen Elemente
versäumt, durch die sie zu einem Geistigen werden, die hält
im Grunde die Musik auf dem Niveau der Kochkunst, der ich
im übrigen gar nichts Böses nachsagen möchte, etwas gut Ge-
kochtes kann man wenigstens essen, aber eine bloß kulinari-
sche Musik, vor der kann man sich bloß übergeben. [ La c h en
i m Aud it or iu m] Das ist wohl der wesentliche Unterschied,
der hier zu machen wäre.
Also, mit anderen Worten, das prinzipiell ungeistige und
verstockte Verhalten der Musik gegenüber, das darin besteht,
daß man von den Problemen sowohl der Komposition wie
der Darstellung, die ein jedes Werk aufwirft, nichts wissen
will, hält sich dadurch nicht etwa besonders rein in dem Ma-
terial der Musik, ist dadurch nicht besonders nahe an der Sa-
che, sondern läuft dann eben immer auch rein musikalisch auf

305
eine gewisse Spießbürgerei und Sturheit heraus, die sich dann
schließlich auch in den allerunmittelbarsten Qualitäten der
Wiedergabe [kundtut.] [. . .]
Es ist, nebenbei bemerkt, die Angst, etwas durchs Bewußt-
sein zu verlieren, die überhaupt in aller Kunst etwas sehr Be-
denkliches hat. Dort, wo die eigentliche künstlerische Spon-
taneität, die wirkliche Phantasiekraft stark genug ist, da braucht
man nicht zu fürchten, sie durchs Bewußtsein zu verlieren,
etwa wie ein Gymnastikmädchen fürchtet, daß es seine nicht
vorhandene Originalität verliert, wenn es anständig tanzen
lernt, sondern die Originalität ist, wie es an einer großartigen
Stelle bei Goethe heißt, etwas, was selber überhaupt erst sich
bildet426. Die Originalität ist nicht etwas Primäres und Un-
mittelbares, sondern eigentlich etwas Erworbenes und etwas
sehr schwer Erworbenes, und man darf unter keinen Umstän-
den sie nun so mit dem gleichsetzen, was so gewissermaßen
vom Himmel herunterfällt.
Nun, was ich hiermit gesagt habe, das gilt nicht nur für die
Komposition, also nicht nur für den Typus von Komponisten,
die glauben, daß sie durch Reflexion ihre Unmittelbarkeit
verlieren, und deren Unmittelbarkeit dann unweigerlich dar-
auf hinausläuft, daß sie immer wieder nur das machen, was die
andern vor ihnen auch gemacht haben, sondern das gilt eben-
so auch für die Reproduktion. Dadurch, daß, wie ich ange-
deutet habe, die Traditionen zerfallen sind oder unverbindlich
geworden sind, an denen die Reproduktion von Musik, die
Wiedergabe von Musik ihr wahrscheinlich übrigens immer
schon sehr fragwürdiges Maß gehabt hat, dadurch ist eigent-
lich jedes Werk heute zum Problem geworden. Man kann sa-
gen – ich würde das ästhetisch vertreten und habe versucht,
das sehr ernst zu entfalten –, daß überhaupt eigentlich jedes
Kunstwerk ein Unmögliches ist, daß jedes Kunstwerk ein
›tour de force‹ ist, das versucht, einander widersprechende
und unvereinbare Kräfte doch irgendwie zusammenzubrin-
gen und eine Resultante aus ihnen zu erreichen, und ich
glaube, man fängt erst dann an, Kunstwerke wirklich zu ver-

306
stehen, wenn man der Momente inne wird, durch die ein je-
des Kunstwerk, das es wirklich ist, eben dadurch zugleich in
sich selbst unmöglich wird. Nun, ich würde sagen, was ich
unter ›Problem‹ in diesem prägnanten Sinn verstehe, dessen
der Musiker innewerden muß, ließe sich fast bezeichnen als
das Bewußtsein der Unmöglichkeit eines jeden Werkes.
Vielleicht sind einige unter Ihnen, die bei der Analyse einer
schlechten Reproduktion des Berg-Konzertes zugegen gewe-
sen sind, die ich vor ein paar Monaten an dieser Stelle gegeben
habe427. In diesem Konzert handelt es sich – und eigentlich
war das der Sinn der Analyse – auch darum, Momente zu ver-
einigen in der Wiedergabe, die eigentlich nicht zu vereinigen
sind. Und man kommt an die Reproduktion dieses Werkes
erst heran, wenn man diesen Antagonismus, dieses Unverein-
bare seiner Momente wirklich verstanden hat. Es hat sich da-
mals darum gehandelt, wenn ich gerade daran erinnern darf,
zu zeigen, daß auf der einen Seite dieses Werk vollkommen in-
einander gearbeitet ist, so daß also kein Moment, kein Ton,
kein Akzent irgendwie heraussticht oder herausfällt, daß alles
ganz dicht verwoben ist, daß es aber doch in all seinen einzel-
nen Momenten so artikuliert, so verdeutlicht werden muß,
daß in diesem unterschiedslosen Ganzen trotzdem die einzel-
nen Momente voneinander unterschieden sind. Und diese
beiden Forderungen schließen sich eigentlich aus, und das
Kunststück besteht darin, nun dieses einander Ausschließende
trotzdem miteinander zu vereinen. Ich kann mich nicht darauf
einlassen, Ihnen jetzt ästhetisch diesen Gedanken in seiner All-
gemeinheit zu entfalten. Aber ich würde sagen, daß es durch-
aus vertretbar ist, daß eigentlich jedes musikalische Werk in ei-
nem ähnlichen Sinn die Vereinigung von Unvereinbarem ist
und daß man überhaupt erst als ein bewußter und autonomer
Musiker in dem Augenblick anfängt, es richtig zu interpretie-
ren, in dem man, wenn ich es wieder einmal ganz überspitzt
sagen darf, seiner eigenen Uninterpretierbarkeit inne wird.
Nun, zu der Frage dieser Unzulänglichkeit selbst der besten
Ausbildung gegenüber der lebendigen Musik ist vor allem

307
hinzuweisen auf den Bruch, das ›cultural lag‹,428 also das Zeit-
intervall zwischen Ausbildung und Moderne, das es bis zu ei-
nem gewissen Grad immer schon gegeben hat, das aber heute,
nachdem es eine allgemein verbindliche Musiksprache nicht
mehr gibt, bis in ein zerstörendes Extrem angewachsen ist.
Daraus folgt nun, daß – und es ist daraus keinem Menschen
ein Vorwurf zu machen, sondern all die Dinge, die ich Ihnen
sage, folgen wirklich aus objektiven Gegebenheiten der Si-
tuation, deshalb sind sie so ernst –, daraus folgt, daß unzählige
unter den Musikern, die ausgebildet werden, vor allem unter
den Reproduzierenden, zu der Moderne eigentlich keine Be-
ziehung haben, sondern sie wie eine Art von bittrer Pille
schlucken aus dem, was man wohl so mit Ausdrücken wie
›kulturellem Verantwortungsgefühl‹ bezeichnet, also meinen,
sie müßten es spielen, ohne daß sie viel Freude daran haben,
und das bedeutet ja dann im allgemeinen, daß die andern, dies
zu hören, auch nicht so arg viel Freude daran haben können.
Und weil man nichts davon hat, weil sie weder also praktisch,
in bezug auf ihre Karriere oder in bezug auf Geld, im allge-
meinen so arg viel davon haben, noch auch selber als Musiker
sehr viel davon hat, also gar keine wirkliche Beziehung dazu
hat, dadurch kommen diese schrecklichen Pflicht- und Kon-
zessionsschulzenaufführungen moderner Musik zustande, die
dann in Wirklichkeit der modernen Musik mehr Bärendien-
ste erweisen, als daß sie ihr irgend etwas Gutes nun wirklich
antäten, so daß es kaum übertrieben ist zu sagen, daß die über-
wältigende Mehrheit aller Aufführungen von moderner Mu-
sik eigentlich hier mehr schaden als nutzen und daß man – ich
glaube, ich habe das schon einmal hier angedeutet –, daß man
schließlich dazu kommt, Schönberg und seiner Schule recht
zu geben, wenn sie eine starke Tendenz entwickelt haben, die
Aufführungen ihrer eigenen Werke in immer wachsendem
Maß zu sabotieren. Es gilt eben auch für die Musik der Satz
von Voltaire, daß dort, wo es kein wahres Bedürfnis gibt, daß
es dort auch nicht das wahre Vergnügen, das »vrai plaisir« ge-
ben könne.429

308
Nun, dadurch stellt sich ein einigermaßen auf den Kopf
gestellter Zustand, ein etwas pervertierter Zustand her. In
Wahrheit ist doch überhaupt ganz verständlich nur die zeitge-
nössische Produktion, insofern als sie allein aus den gleichen
anthropologischen und psychologischen und gesellschaftli-
chen Bedingungen kommt, die unsre eigenen sind. Und alle
vergangene Musik hat demgegenüber doch etwas uns Ent-
rücktes, in das wir uns nur – sagen wir einmal, mit dem be-
denklichen Wort – ›einfühlen‹, ohne daß es, selbst wenn es
um die berühmtesten und authentischsten Werke sich han-
delte, ganz und gar zu uns spräche. Die fortgeschrittenste Pro-
duktion hat immer für die gesamte Musik Schlüsselcharakter,
das heißt, auch die zurückliegende Produktion ist eigentlich
nur von der fortgeschrittensten aus zu verstehen, die die
merkwürdige Eigentümlichkeit hat, daß sie auch das Vergan-
gene in seiner inneren Zusammensetzung, in seiner Struktur
überhaupt erst eigentlich uns freilegt. Früher ist das ganz an-
ders gewesen als heute. Mein Marburger Kollege Engel hat
neulich in einem Vortrag, den er bei uns im Institut für So-
zialforschung gehalten hat,430 darauf hingewiesen, daß es in
früheren Jahrhunderten eigentlich nur so üblich gewesen
wäre, daß man zeitgenössische Musik gespielt hat, und daß es
bereits eine ungeheure Anstrengung war, überhaupt irgend
etwas Älteres auszukramen. Als man zur Zeit von Händel eine
›Society for Ancient Music‹ in London gegründet hat,431 da
hat diese ›Gesellschaft für alte Musik‹ nicht weiter zurückge-
griffen als ungefähr 30 Jahre. Heute ist es gerade umgekehrt,
das heißt, heute ist eigentlich unsere gesamte musikalische
Bildung mehr oder minder museal oder archivarisch, während
das, was unsre eigene Sache ist und was in Wirklichkeit uns
das Nächste sein müßte, die zeitgenössische Produktion, nur
am Rande mitgeschleift wird. Daraus folgt selbstverständlich
auch eine weitere Disproportion der musikalischen Bildung,
nämlich daß diese Bildung selber ganz retrospektiv ist und daß
zwischen dem, worauf sie sich bezieht, und unseren eigenen
Erfahrungen aus unserer Epoche, abgesehen von dem aller-

309
engsten Kreis der an neuer Musik Beteiligten, ein wirklicher
Zusammenhang überhaupt nicht existiert.
Nun, das einzige, was dagegen wohl helfen kann, ist, daß
man bei wirklichen Meistern studiert, die in der Praxis der
modernen Komposition unmittelbar drinstehen. Aber ich
möchte zugleich sagen: Eine der Folgerungen daraus wäre,
daß man gerade in der schulmäßigen Praxis, in der Ausbil-
dung, die man in der Musik erfährt, nun nicht etwa Kom-
promisse zwischen dem Alten und dem Neuen macht, die
nun wirklich nach dem Schönbergschen Wort ›niemals nach
Rom führen‹,432 sondern daß man in der schulmäßigen Aus-
bildung in der Musik die allerrigorosesten Anforderungen im
Sinne von vergangener Praxis stellt. Also, ich würde sagen, es
ist ebenso wichtig, wenn man ein Komponist werden will,
daß man bei einem wirklichen Meister studiert, wie es not-
wendig ist, daß man strengen Palestrinasatz lernt, das ist dabei
wohl das Allerwichtigste, und zwar nicht etwa nur dreistim-
migen strengen Palestrinasatz, sondern auch vierstimmigen
strengen Palestrinasatz mit allem, was dazugehört, und ich
möchte, wenn ich einmal so praktisch und konkret reden
darf, vertreten, daß es eigentlich auch für jeden sogenannten
ausübenden Musiker ›de rigueur‹ sein müßte, daß er dazu an-
gehalten werden müßte, unter allen Umständen mit diesen
Disziplinen nicht bloß am Rande und zur Orientierung sich
zu befassen, sondern daß er durch sie ganz und gar hindurch-
gehen müßte, etwa ähnlich wie bei einem Maler auch heute
noch verlangt wird, daß er ordentlich Akt zeichnen kann,
selbst wenn er als ein autonomer Maler niemals mehr daran
dächte, überhaupt irgendeine gegenständliche Figur zu zeich-
nen oder zu malen. Diese Forderung der strikten komposito-
rischen Ausbildung vor allem auch für Sänger und Instru-
mentalisten, glaube ich, wäre wenigstens eines der Mittel,
dem Zerfall der musikalischen Bildung unter den Musikern
selbst durch die anwachsende Arbeitsteilung entgegenzuwir-
ken, und nur, wenn man durch die Kenntnis dieser Diszipli-
nen fähig ist, die Anatomie der Werke, die man darstellen will,

310
wirklich bis ins Innerste herein zu verstehen, nur dann ist man
wohl fähig, heute noch sie adäquat wiederzugeben.
Nun, alle die Dinge, die ich Ihnen bis jetzt genannt habe,
haben noch etwas verhältnismäßig Harmloses und, wenn Sie
so wollen, Äußerliches. Es liegt aber dem Problem der Bil-
dung etwas viel Tieferes in der Musik heute zugrunde. Näm-
lich die Frage, wieweit die Menschen in der Musik heute
überhaupt noch Erfahrungen machen wollen und inwieweit
sie dazu fähig sind, Erfahrungen zu machen. Es ist schon ge-
raume Zeit, ich weiß nicht wieviel Jahre her, daß mein
Freund Ernst Krenek formuliert hat, daß das, was ihn eigent-
lich an der Jugend musikalisch beunruhige, ihr Mangel an
Neugierde sei,433 und ich glaube, dieser Mangel an Neugier-
de gilt immer noch. Ich möchte mich hier gar nicht darauf
einlassen, Ihnen weitläufig zu analysieren, woher das kommt,
woher anstelle dieser Neugierde, die eigentlich der Motor
wirklicher Bildung wäre, das Sichabfinden kommt mit dem,
was nun einmal so ist. Ich darf statt dessen, unter Verzicht auf
die theoretische Begründung dieser Dinge, die sich theore-
tisch sehr wohl begründen lassen, Ihnen nur von einer Erfah-
rung erzählen, die ich in einer eminent musikalischen Fami-
lie, in einer also exzeptionell musikalischen Familie gemacht
habe, wo die Tochter schließlich nach einer viele Generatio-
nen zurückreichenden Tradition Berufsmusikerin geworden
ist, wobei sich dann aber gezeigt hat, daß sehr vieles von der
Musik, die in ihrem eigenen Milieu völlig selbstverständlich
und beheimatet war, ihr überhaupt nicht mehr vertraut gewe-
sen ist, daß dieses junge Mädchen zum Beispiel den »Tristan«,
um nur das Allerkrasseste zu sagen, überhaupt nicht gekannt
hat, was sie damit begründet hat, daß sie so viel zu lernen und
zu tun hätte, daß sie nicht dazu käme. Nun, diese Abwehr, die
braucht man ja wohl wirklich nicht zu glauben. Es ist wirklich
eine Abwehr. Es ist eben offenbar doch so, daß die Menschen,
wie in der Realität so auch in der Musik, sich so bedroht –
und so unsicher – fühlen von dem Offenen und Chaotischen,
das sie um sich herum erfahren, daß sie gleichsam im Siche-

311
ren, im Gedeckten, unter einem Dach bleiben wollen. Aber
dieses Bedürfnis nach Sekurität ist, wie übrigens auch in der
Wirklichkeit, etwas sehr Verhängnisvolles. Das heißt, es ist
wahrscheinlich so, daß der, der sich nicht ins Offene getraut,
der nicht neugierig ist, daß der eben dadurch Dingen verfällt,
die erst recht ohnmächtig und machtlos sind und die eine Be-
ziehung zwischen der Musik und der Wahrheit, also das, was
eigentlich den Geist von Musik ausmacht, überhaupt gar
nicht mehr zulassen, gar nicht mehr dulden.
Dieses Sekuritätsbedürfnis, dieses Sicherheitsbedürfnis, ist
wohl eine der größten Gefahren musikalischer Erfahrung
heute überhaupt. Und ich glaube, daß es sehr gut wäre, wenn
gerade die jungen Menschen, anstatt diesem Impuls sich zu
überlassen, einmal über ihn nachdenken würden und sich
Rechenschaft darüber gäben, ob sie sich nicht in weitem Maß
selber das verbieten, wonach sie eigentlich verlangen. Natür-
lich stützt sich das dann, wie alles Schlechte, auf irgendwelche
Notwendigkeiten des täglichen Lebens wie den Betrieb und
die Anforderungen des Betriebs, der einem zu den wesent-
lichen Dingen keine Zeit lasse. Nun, dieser Vorrang des Be-
triebs ist ja etwas sehr Merkwürdiges. Das hängt wohl damit
zusammen, daß auf der einen Seite ein Unmaß an Möglich-
keiten des materiellen Verdienstes für Musiker heute offen ist,
das es früher nicht gegeben hat, daß aber auf der anderen Seite
die Situation der Musiker selber materiell immer noch so be-
engt ist, daß sie, wenn sie von diesen Möglichkeiten keinen
Gebrauch machen, eigentlich gar nicht auf dem Niveau leben
können, materiell gesprochen, ganz schlicht materiell gespro-
chen, auf dem die Menschen sonst heute leben, und es gehört
ja zu der Signatur unseres Zeitalters, daß so etwas wie Armut
mit Würde in ihr eigentlich nicht mehr oder kaum mehr
möglich ist. Es kommt aber noch dazu der ungeheure Eifer,
den die Menschen heute überhaupt haben, sich in Aufgaben,
die ihnen gestellt werden, einzuordnen, sich anzupassen an
die übermächtigen Verhältnisse, die eben übermächtig auch
sind in der Musik. Während der geistigen Lage der Musik nach

312
es auf Autonomie ankäme, werden diese ununterbrochenen
Anforderungen von außen, daß man allen möglichen Dingen
nachzukommen, Aufgaben zu erfüllen, hier und dort zu er-
scheinen habe, so übermächtig, daß gerade dadurch das nicht
sich bildet, worauf es ankäme, denn der Begriff der Bildung
hat ja schließlich überhaupt keinen Sinn, wenn er sich nicht
bezieht darauf, daß man zu einem starken Ich, also wirklich
zu einem selbständigen und bewußten Menschen wird.
Nun, alles das – das darf ich vielleicht doch dazu etwas all-
gemeiner sagen – bezieht sich darauf, daß die Krise der Aus-
bildung, von der ich bis jetzt gesprochen habe, und die Krise
der Bildung selbst eigentlich nicht voneinander zu trennen
sind, sondern die Tatsache, daß es mit der Bildung selbst heute
so fragwürdig bestellt ist, das wirkt sich dann auch darauf
aus, daß bis in die Fragen der technischen Kategorien herein
die Ausbildung selber durch diese Krise der Bildung, durch
die Fragwürdigkeit des ›Wozu man gebildet wird‹ tangiert
wird. [. . .]
Technik und Anpassung stehen ja sowieso in einem merk-
würdigen Verhältnis. Je mehr die Menschen sich an den Geist,
den sogenannten Geist des Zeitalters anpassen, desto mehr
wird bei ihnen, bei den Musikern, auch der Begriff der Tech-
nik verselbständigt. Ich glaube, ich stehe nicht im Verdacht,
den technischen Momenten der Musik zuwenig das Ihre zu-
zuschreiben, man wird mir im allgemeinen ja eher das Ge-
genteil nachsagen. Aber indem die Technik isoliert wird von
dem, wozu sie dient, von der Sache, indem sie also zu einer
Art von Selbstzweck der ›efficiency‹ wird, vollzieht sich eine
Abspaltung von Mitteln und Zwecken, die der Verselbständi-
gung der Methoden gegenüber dem, wozu sie da sind, in der
Gegenwart überhaupt entspricht, und durch diese Entfrem-
dung der sogenannten Technik von den Aufgaben, denen sie
dient, wird dann die Technik selbst, wenn sie auf die Aufga-
ben retrovertiert, auf sie zurücktransportiert werden soll, eben
notwendig auch zu etwas Unzulänglichem. Ich glaube, man
könnte, und zwar bis in die sogenannte Avantgarde hinein, sa-

313
gen, es sei die Signatur des gegenwärtigen Zustandes, Bil-
dungszustandes der Musiker – und ich hoffe niemanden zu
beleidigen, aber ich glaube, man soll die Dinge doch einmal
so ernst aussprechen, wie sie sind –, daß sie eigentlich über-
haupt nicht mehr wissen, was eigentlich ein Kunstwerk ist.
Ich sage, das reicht bis in die Avantgarde hinein, und ich will
damit sagen, daß etwa die Tendenz[en] zur Bastelei, zu ir-
gendwelchen Spielereien, die mit dem Kunstwerk selbst gar
nichts und mit der Aufbereitung irgendwelcher äußerlicher
Materialien zu tun haben, auch diesen Aspekt wenigstens ha-
ben, daß der Begriff eines in sich durchgebildeten und sinn-
vollen Kunstwerks dabei dem Bewußtsein bereits entglitten
ist. Sie könnten darauf mir nun antworten – und ich bin weit
davon entfernt, diese Antwort leichtzunehmen –, daß ein
Künstler ja notwendigerweise gar nicht wissen müsse, was ein
Kunstwerk sei, mit anderen Worten, daß ein Künstler kein
Ästhetiker sein müsse, so wie Kant ja auch an einer Stelle der
»Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« einmal geschrieben
hat, daß man, um ein guter Mensch zu sein, nicht Moralphi-
losophie studiert haben müsse, weil ja eben das Sittengesetz
ein schlechterdings Gegebenes sei.434 Und das Convenu, die
verbreitete Meinung, läuft geradezu darauf hinaus, daß ein
Künstler es eigentlich gar nicht wissen darf. Aber das hat sich
heute doch verändert. Das heißt, diese Möglichkeit, ein be-
deutender Künstler zu sein, ohne zu wissen, was ein Kunst-
werk ist, die hat es gegeben in Perioden, in denen, wie Hegel
gesagt haben würde, der Geist der Kunst ›substantiell‹ war, das
heißt, wo er im Leben der Gemeinschaft als ein Sicheres und
Fragloses vorgegeben ist, während heute, wo davon keine
Rede mehr sein kann, derjenige, der nicht weiß, was ein
Kunstwerk ist, an allen Ecken und Enden in Gefahr ist, abzu-
gleiten und in die bedenklichsten Dinge hineinzugeraten –
etwa auf die Weise, daß sehr viele sogenannte naive Künstler
und besonders auch Musiker dadurch, daß sie nicht den wirk-
lichen Begriff eines Kunstwerks haben, den Unterschied zwi-
schen einem Kunstwerk und den Anforderungen, die von der

314
Kulturindustrie an sie herangebracht werden und die mit
Kunst nicht mehr zu tun haben, als daß sie deren reines Ge-
genteil sind, überhaupt gar nicht merken, sondern daß sie so
reagieren, wie mir einmal eine Dame gesagt hat: ›Na ja, also
früher, da ist man halt in Wiesbaden in die Symphoniekon-
zerte gegangen und jetzt, da geht man in die Radio City
Music Hall‹ – also wie wenn diese Dinge gewissermaßen aus-
tauschbar wären, ohne daß man die qualitative Differenz da-
zwischen überhaupt noch sieht. Das Beispiel, das ich Ihnen
gegeben habe, mag Ihnen kraß und übertrieben und an den
Haaren herbeigezogen erscheinen, aber ich glaube, wenn Sie
einmal, gerade unter diesem Aspekt des Wissens, was ein
Kunstwerk ist, sich in Amerika umtun würden, so wie ich es
getan habe, dann würden Sie sehr rasch entdecken, daß das,
was ich sage, in gar keiner Weise übertrieben ist, und ich neige
auch darin der Ansicht zu, daß die europäische Entwicklung
eher der amerikanischen darin zustrebt, als daß sie von ihr ei-
gentlich sich entfernt. Hier wird natürlich das Problem der
Halbbildung akut, von der ich glaube, daß sie überhaupt über
das gesamte Bewußtsein sich ausbreitet, das informierte Be-
scheidwissen im Gegensatz zu der guten alten ländlichen Nai-
vetät, das aber doch von dem seiner selbst bewußten und sich
durchsichtigen Geist viel entfernter ist, als jeweils ein naiver
Zustand ihm hat entfernt sein können. Dieses Moment der
Halbbildung, also des Auseinandertretens hier, in diesem en-
geren Sinn, des Auseinandertretens des Bewußtseins eines
Künstlers von seinen Problemen, von dem, was er wirklich
macht, hat bereits eine lange Vorgeschichte. Übrigens hat die
Bildung der Musiker merkwürdig fluktuiert. Im allgemeinen
liest man und hört man so, daß erst seit dem 19. Jahrhun-
dert, am Ende des 19. Jahrhunderts die Musiker wahrhaft ge-
bildet worden seien – Schumann wird da gewöhnlich als die
Schwelle genannt –, während sie das früher nicht gewesen
wären. Nun, so einfach ist es nicht. Bach etwa ist sicherlich
auf seine Weise, im Sinn also eines Lateinschullehrers, ein au-
ßerordentlich gebildeter Mensch gewesen im Sinn eines be-

315
stimmten Bildungsideals des Barocks, und ganz sicher ist es
mit vielen der großen Musiker des 16. Jahrhunderts auch so
gewesen; während andererseits gerade heute nun dieser Bil-
dungsstand – der unter Musikern vielleicht am reinsten von
Debussy verkörpert worden ist, der ja nun wirklich auch was
von Literatur verstanden hat, der mit Mallarmé befreundet
war435 und der die besten Gedichte komponiert hat, die er
nur hat finden können –, dieses Bildungsniveau der Musiker
im Sinn eines Auf-dem-fortgeschrittensten-Stand-der-Epo-
che-sich-Befindens, das scheint heute wieder in Auflösung
befindlich zu sein.
Ich würde denken, daß auch Schönberg bis zu einem ge-
wissen Grad ein Opfer dieses Phänomens der Halbbildung
geworden ist. Die Dinge, die mir an der Produktion von
Schönberg problematisch erscheinen, weisen, soweit sie sich
subjektiv, also nach Begriffen des Künstlers ausdrücken lassen,
auf Halbbildung zurück – etwa darin, daß er in dem eigenen
Werk durch subalterne und dem Geist seiner Musik unan-
gemessene Texte herumwütete oder daß er von einem be-
stimmten Zeitpunkt an, nämlich als es mit dem Expressionis-
mus vorbei war, der als geistige Bewegung auch ihn getragen
hat, gar nicht mehr so recht wußte, was er nun eigentlich gei-
stig zu tun hätte, und daß er dabei also zum Beispiel in seinen
religiösen Werken auf gewisse Banalitäten und Allerwelts-
weisheiten geraten ist, die man sich kaum vorstellen kann. Es
ist von dem Theologen Günther gerade in bezug auf die
»Moses und Aron«-Oper436 über diese Seite von Schönberg,
die wirklich, wenn das Wort je einen Sinn hat, tragisch ge-
nannt werden kann, ja schon einiges gesagt worden.437
Schönberg war eben auf der einen Seite ein Fachmann, auch
in dem etwas beschränkenden und verengenden Sinn, den
dieser Ausdruck hat, weit mehr als etwa Wagner, der diese
Enge überhaupt nicht gehabt hat, und war dann gewisserma-
ßen als Ergänzung dazu ein Theosoph, dessen geistiges Be-
dürfnis so ein wenig sich an dem gesättigt hat, was Gundolf
einmal ›Hintertreppenklatsch aus der Geisterwelt‹ genannt

316
hat.438 Ich glaube, man muß, wenn man gewisse Insuffizien-
zen an Schönberg heute bezeichnen will, gerade auf diese
Momente doch auch hinweisen und darf sie nicht verschwei-
gen.
Nun, ich will Ihnen weiter wenigstens ein paar Beispiele
dafür geben, was dieser Mangel an Bildung nun für Musiker
bedeutet. Ich glaube, eines der wichtigsten Phänomene, um
die sich’s hier handelt, ist der Mangel an Einsicht in die innere
Möglichkeit oder Unmöglichkeit von Formen – daß also sehr
wenige Musiker dieses Gefühl hatten, wie es etwa Brahms in
höchstem Maß besessen hat oder Debussy in höchstem Maß
besessen hat: ›Das ist möglich, das geht, das kann man heute
und das kann man nicht‹ –, also etwa jene Innervationen, die
Brahms dazu geführt haben, das Ideal des großen Adagios
Beethovenschen Schlages, das ihm doch sicher auch vor-
geschwebt hat, in seiner reifen Zeit von sich fernzuhalten,
weil er gespürt hat, daß also dieses extensiv sich aussingende
Adagio, daß das in dieser Weise nicht mehr geht. Es passiert
immer wieder, daß Musiker, einfach weil sie nicht auf diese,
ich möchte sagen, geschichtsphilosophische Möglichkeit
oder Unmöglichkeit der Formen reflektieren, dann Formen
schreiben, die nicht gehen, so wie einmal ein junger und da-
mals sehr berühmter Musiker meinem damaligen Lehrer Se-
kles,439 als der ihn wegen eines Werkes interviewte und daran
Kritik übte, sagte: ›Ja, ja, damals hab’ ich noch so in diesem
fugierten Stil gestanden‹ – als ob man heute so einfach Fugen
schreiben könnte in demselben Sinn, in dem man das im
18. Jahrhundert getan hat. In dieselbe Sphäre gehört die Zu-
fälligkeit der meisten Urteile über moderne Werke, die le-
diglich dem sogenannten Geschmack und der Wirkung oder
dem, wie sie sich spielen, zuzuschreiben sind, die aber der
Sache nach ganz zufällig sind und bei denen dann ganz häufig
einfach also der Effekt und eine gewisse Gemäßigtheit, durch
die die Werke noch irgendwie kommunizierbar sind, das po-
sitive Urteil bedingen, während ja gerade diese Werke im all-
gemeinen problematischen Wertes sind. Also, ich möchte hier

317
zum Beispiel die Mode nennen, die Variationen von We-
bern440 bei jeder Gelegenheit als modernen Konzessions-
schulzen aufzuführen. Ich möchte über das Werk, das ein sehr
großes Problem seiner Qualität nach bildet, hier gar nichts sa-
gen. Es hat sicherlich seine Beliebtheit dem zu verdanken, daß
es rein pianistisch verhältnismäßig geringe Anforderungen
stellt und trotzdem scheinbar sehr extrem, nämlich durch sei-
ne Kargheit sich darstellt. Ja, aber um ein solches Werk über-
haupt zu verstehen, um zu wissen, was das bedeutet, muß
man sozusagen erst einmal wissen, was alles dabei weggelassen
ist. Man muß, um es mit Valéry auszudrücken, man muß alle
die ›Refus‹ kennen,441 die in einem solchen Werk enthalten
sind, und man muß es eigentlich im Zusammenhang der ge-
samten und der komplexesten modernen Musik spielen. Wo
das nicht geschieht und wo jemand darauf losgelassen wird,
der all das nicht in sich hat, kommt dann einfach also ein ba-
nausischer Stumpfsinn in Zwölftontechnik heraus, der in
nichts besser wäre, als wenn man irgendeine belanglose Spiel-
musik herunterdudelt.
Es gehört in denselben Bereich, um weiter Ihnen etwas
Konkretes hier zu nennen, die Angst vor Extremen, zum Bei-
spiel bei Instrumentalisten die Angst bei extremen entmate-
rialisierten oder gar sogenannten häßlichen Klängen: ›Das
klingt nicht‹, während es ja in der modernen Musik unend-
lich viel gibt, was gar nicht klingen soll, weil der Klang selber
ja eine Dimension der Darstellung der kompositorischen
Idee, des kompositorischen Gedankens ist, und ob das nun
reizvoll und angenehm klingt oder nicht reizvoll und ange-
nehm klingt, das hängt völlig ab von der geistigen und musi-
kalischen Funktion, die die Dinge haben, und darf nicht iso-
liert genommen werden. Oder auch etwa, um etwas anderes
mehr aus der Sphäre des Kapellmeisters zu nehmen: ›So lang-
sam kann man so was nicht spielen‹, gleichsam, ›wenn ich das
so furchtbar langsam spiele, dann verlassen die Leute ja flucht-
artig den Saal‹. Ja, aber wenn wo steht, bei einem Adagio
steht, also Viertel gleich 54, dann muß man’s so langsam spie-

318
len, vorausgesetzt, daß der Komponist kein Trottel war, son-
dern gewußt hat, was er gewollt hat. Und dann wird sich im
allgemeinen zeigen, daß erst, wenn man es so langsam spielt,
wie man es nicht spielen kann, der Sinn dabei heraustritt. Das
wären also solche Beispiele, konkret musikalische Beispiele
dafür, wohin dieser Mangel an Bildung führt, den ich hier ge-
radezu gleichsetzen möchte der Anpassung an eine in Wirk-
lichkeit gar nicht mehr gültige und verbindliche Tradition.
Denn wie’s halt gemacht wird, wie man’s gewohnt ist zu spie-
len – und damit meine ich auch die Aufführungen von Beet-
hoven und Mozart –, das ist fast stets heute falsch und kon-
ventionell, und man fängt überhaupt erst dann [an], ein
Musiker zu werden, indem man zunächst einmal gegen alles
das, was einem so fertig als gültig ins Haus geliefert wird, ein
großes Fragezeichen setzt. Und außerdem reicht genausowe-
nig der sogenannte Geschmack, in dem ja immer das Moment
der Willkür drinsteckt, daß es genauso gut ein anderes sein
kann. Natürlich muß man Geschmack haben, man muß gute
musikalische Manieren haben, man darf keine Zier machen
und man darf keine falschen ausgetitschten Ritardandi ma-
chen und man darf also alle die Greuel nicht begehen, die
jeder gute Instrumentallehrer oder Gesanglehrer einem eh
abgewöhnt. Das ist selbstverständlich. Aber wenn es nur bei
diesem Geschmack bleibt, wenn man also nicht dazu kommt
zu sehen, daß auch alle diese Geschmacksmittel in Wirklich-
keit sich objektiv determinieren aus der Gestalt der Werke
heraus, dann sind sie ganz gleichgültig und unverbindlich.
Ich möchte hier ein Wort sagen über die Bildung und die
sogenannte Naturmusikalität, denn manche könnten mich so
mißverstehen, als ob ich nun einseitig alles auf die Bildung
schieben wollte und dieses Moment der Naturmusikalität, der
ursprünglichen Musikalität dabei einfach unter den Tisch fal-
len ließe. Nun, das ist selbstverständlich nicht der Fall. Wenn
man nicht also dieses Moment der Naturmusikalität, der ur-
sprünglichen Musikalität hat, dann geht es überhaupt nicht.
Ich möchte beinahe sagen, wenn in der Musik das letzte biß-

319
chen vom ›grünen Wagen‹,442 das letzte bißchen vom Vaga-
bunden getilgt ist, dann verstummt wirklich die Musik und
geht also in eine bloß philiströse Praxis über, die genauso
langweilig und erbärmlich ist wie die graue des Alltags, in
dem man sonst zu existieren hat. Aber diese Musikalität ist ja
selber nichts Letztes und nichts Unmittelbares. Das, was wir
für unsere natürliche musikalische Anlage halten, das ist in
sich selber bereits unendlich vermittelt, es steckt in ihm selber
schon drin die ganze Gesellschaft, ein Unmaß an Konventio-
nen, an sedimentierten Gewohnheiten. Etwa unendlich vie-
les an Aufführungsidealen, was wir für natürlich musikalisch
halten, ist nur zweite Natur dadurch, daß wir es eben nicht
anders gehört haben. Und ich glaube, daß die wahre Musika-
lität eben darin sich bewährt, daß das Naturmoment sich
durchhält, während es zugleich selbstkritisch in der Reflexion
auf sich diese falschen Momente eben von sich abstößt. Übri-
gens, verstehen Sie mich bitte an der Stelle nicht falsch. Ich
möchte nicht etwa, wenn ich von der Bedeutung der Bildung
rede, dabei sagen, daß es bei Musikern auf das ankommt, was
man in Amerika ›formal education‹ nennt. Ich glaube zum
Beispiel nicht, daß in bezug auf das Problem irgend etwas
weiterhilft, wenn man von Musikern, damit sie studieren dür-
fen, das Abitur verlangt. Ich glaube, wenn man diese Forde-
rung in früheren Jahrhunderten rigoros aufrechterhalten hät-
te, daß dann unseren sämtlichen großen Komponisten die
musikalische Laufbahn wäre verschlossen gewesen. Ich meine
also gerade an dieser Stelle, so einfach ist die Sache nicht, daß
durch das, was man mit einem längst problematisch geworde-
nen Ausdruck ›Allgemeinbildung‹ nennt, das Bildungspro-
blem zu bewältigen wäre, sondern die Bildung des Musikers,
wie ich sie meine, die kann einen Sinn haben nur als konkrete
musikalische Bildung, die in dem Material selbst sich bewegt.
Aber es ist trotzdem so, daß die Stärke von Naturmusikalität
sich darin zeigt und darin bewährt, daß sie festgehalten, aber
dabei zugleich sublimiert wird. Und eben das ist nun wirklich
der Begriff von Bildung überhaupt. Und damit bin ich hier an

320
der Stelle, wo ich den Zusammenhang von Ausbildung und
Bildung in der Musik eigentlich bezeichnen kann. Bildung ist
eigentlich das Festhalten, das Bewahren von Natur, die nicht
unterjocht, nicht ausgerottet und zertrümmert, aber gleich-
zeitig doch so gepflegt und so sublimiert wird, daß sie das
Barbarische und Primitive dabei verliert. Das ist, nebenbei
bemerkt, genau der Bildungsbegriff, wie ihn Wilhelm von
Humboldt, der ja heute zu Unrecht, glaube ich, so viel verlä-
stert wird,443 vor 150 Jahren entwickelt hat.
Nun, ich würde sagen, daß der bloße Musikant, also der
Typus Musiker, der diesem Aspekt von Bildung nicht sich
stellt, daß der allerdings am allerleichtesten schon dadurch,
daß er gar nicht weiß, worauf es ankommt, geneigt ist, auszu-
verkaufen und sich an irgendwelche Dinge zu verlieren, die
sehr problematisch sind. Dahin gehört die Anekdote von je-
nem ausländischen und sicherlich sehr naiven Sänger, der von
seinem Theaterdirektor befragt, nachdem er angibt, daß er
den Cavaradossi444 und den Don José445 studiert habe, wie es
denn nun mit Mozart stünde, die Antwort gibt, daß außer-
halb von Deutschland Mozart wenig benötigt werde. Nun,
die, genau diese Naivetät, die sich in diesem Ausspruch aus-
spricht und die im Grunde die Haltung unzähliger Musiker
ist, die sich genauso benehmen, diese musikantische Naivetät
ist zugleich, wie Sie allein durch die Negation von Mozart
hier erkennen können, eigentlich der absolute Widerspruch
von Musik. Und ich würde sagen, diese Art von Naivetät zu
brechen, ist wirklich eine ernste und eine entscheidende Auf-
gabe musikalischer Bildung.
Die Naivetät selber wird im Zeitalter der Massenkultur
auch so zu einer Art von Ware, die man wie ein natürliches
Monopol verkaufen kann und aus der man womöglich noch
ein gutes Geschäft machen kann. Es läßt sich sicher schon im
späteren 19. Jahrhundert zeigen, daß die Naivetät in etwas Ver-
hängnisvolles und Negatives in der Musik umgeschlagen ist,
wo also dann solche richtigen musikalischen Naturtalente wie
etwa Dvořák eben durch diese Naivetät, also dadurch, daß in

321
ihr Werk die Kraft der Reflexion nicht eingegangen ist, dann
doch Musik produziert haben, die schließlich so brüchig ist,
daß sie sich tatsächlich nicht halten kann. Und noch etwas:
Durch diese Unreflektiertheit, durch dieses Sichorientieren
an je gestellten Aufgaben, werden gerade die Naturmusiker,
die meinen, sich besonders rein zu erhalten, zu Funktionären,
zu Lakaien des Betriebs, so wie ja zwischen Vagabunden und
ähnlichen asozialen Personen und dem Konformismus von
jeher eine sehr tiefe Beziehung geherrscht hat, das heißt, sie
sind von vornherein gesonnen, sich nach dem zu richten, was
man halt so von ihnen verlangt, und genauso wie sie das Beet-
hoven-Konzert spielen, werden sie dann auch, wenn sie ent-
sprechend höher honoriert werden, in Hollywood 24 Stun-
den hintereinander an einem Tag dieselbe schwachsinnige
Phrase aus irgendeiner Filmpartitur heruntergeigen. Also,
dieses Moment, glaube ich, könnte Ihnen schon einen sehr
konkreten Ansatz für das bezeichnen, wo Bildung einzuset-
zen hätte.
Nun, indem ich Ihnen aber von dieser Problematik der
Bildung rede, möchte ich wenigstens Sie aufmerksam machen
darauf, daß die Musiker das ja fühlen – aber daß dadurch, daß
von diesen Dingen nicht voll Rechenschaft gegeben wird,
ungezählte Musiker sich mit einer Art von Bildungssurroga-
ten begnügen, daß sie etwa ihren sogenannten handwerker-
lichen und technischen Problemen von außen her eine Art
sogenannter Weltanschauung mehr oder minder fertig hinzu-
fügen, so wie es ja schon mit Schopenhauer bei Wagner pas-
siert ist und wie es dann immer weiter der Fall ist. Es wäre eine
gar nicht reizlose Aufgabe, die Probleme sehr vieler zeitge-
nössischer Komponisten unter dem Gesichtspunkt der Bil-
dungskrise einmal darzustellen. Das ist noch nicht geschehen
und ich habe auch nicht die Absicht, es zu tun, aber ich
möchte wenigstens auf das Problem Sie einmal aufmerksam
machen. Man könnte zum Beispiel bei Strawinsky – ich habe
vorhin schon bei Schönberg als einem Repräsentanten von
Halbbildung in diesem Sinn gesprochen –, man könnte bei

322
Strawinsky zeigen, daß bei ihm die ästhetische Bildung im
Sinn einer Kenntnis von avancierten pariserischen Parolen
und die rein innermusikalische Fähigkeit der Gestaltung aus-
einandergewiesen haben und daß er gewissermaßen aus ei-
nem abstrakten ästhetischen Programm heraus, also aus Bil-
dung, die aber nicht substantiell war, die also nicht in seine
eigene Gestaltung wirklich eingegangen ist, dann diesen gan-
zen Neoklassizismus erfunden hat und durchexerziert hat, fast
40 Jahre lang, durch den dann also schließlich seine eigene
ungeheuere Begabung mehr oder minder steril geworden ist,
während das Genie Schönberg so groß war, daß ihm schließ-
lich und Gott sei Dank die Halbbildung doch nichts hat an-
haben können. Oder Sie könnten unter diesem Gesichts-
punkt Hindemith sehen, bei dem nun entgegengesetzt dieses
Bewußtsein der Halbbildung oder des Ausgeschlossenseins
des musikalischen Handwerkers von der Bildung zu einer Art
von Rancune geführt hat, die ihn dann zu jener Gesinnung
des verstockten Handwerkers, der nicht nach rechts und links
sieht, gebracht hat, der dann schließlich in seiner Spätproduk-
tion also auch allen möglichen kunstgewerblichen Dingen
verfällt und der eben um dieser Verstocktheit und Enge willen
dann gar nicht dazu gekommen ist, sein Potential zu realisie-
ren. Oder Sie könnten an Benjamin Britten in diesem Zu-
sammenhang denken, der nun sicherlich ein sehr gebildeter
Mensch ist, ein ›Oxford man‹, das Produkt einer großen eng-
lischen Universität446 – ›sophisticated‹, wie man da sagt, und
mit allen ästhetischen Hunden gehetzt –, der aber nun einfach
von dieser Ästhetik her glaubt, die Musik lenken zu können,
während die eigentlich musikalischen, kompositorischen
Prozesse, das Handwerk, von ihm geradezu verachtet und
negligiert werden, so daß die Werke, die zustande kommen,
dann handwerklich ganz insuffizient sind. Also, es ist gewis-
sermaßen der genaue Gegenpol darin, das Gegenmodell zu
Hindemith. Nun, ich muß Ihnen nicht sagen, daß die sehr
komplexen Probleme all dieser Komponisten nicht durch das
Problem der Bildung erschöpft sind. Aber ich wollte Ihnen

323
wenigstens zeigen, daß die Frage der Bildung auch für die in-
nere Zusammensetzung der Musik all dieser Menschen eine
ganz spezifische und eine erhebliche Bedeutung hat.
Nun, ich glaube, ich habe es kaum mehr nötig, Desiderate
an das, was ich Ihnen gesagt habe, anzuknüpfen. Ich möchte
nur eines noch aussprechen, das implizit in dem enthalten
war, was ich Ihnen bereits sagte, nämlich daß es nicht nur da-
mit getan ist für den Musiker, daß er auf die Musik, auf die
musikalischen Darstellungsprobleme und auf die Möglichkeit
des eigenen Ansatzes reflektiert, sondern er darf auch seiner
sozialen Umwelt gegenüber nicht sich naiv verhalten, wenn
er nicht, wenn ich es hart ausdrücken soll, anstelle von einem
Künstler wieder zurücksinken will in das, was die Musiker
lange genug gewesen sind, nämlich in den Stand eines Lakai-
en. Er muß sich darüber klar sein, daß es heute einen Konflikt,
einen unabdingbaren Konflikt zwischen der möglichen Re-
zeption von Musik und der Sache selbst gibt. Und er muß in
diesem Konflikt sich wirklich hart und streng und illusionslos
entscheiden und darf kein verschmiertes Bewußtsein haben
und darf sich nicht vormachen, daß es irgendwie doch ein
mittleres Einverständnis gäbe zwischen der Sache selbst und
seiner möglichen Rezeption. Er muß weiter unter allen Um-
ständen heute als ein bewußter Musiker dem Problem des
strukturellen Musizierens sich stellen, also dem, Musik als ei-
nen geistigen Gesamtzusammenhang, als eine funktionelle
Einheit darzustellen, der alles andere unterzuordnen ist. Und
die Voraussetzung dafür ist für den ausübenden, für den inter-
pretierenden Musiker die Analyse. Praktisch möchte ich sa-
gen, daß sicherlich einer der wichtigsten Wege dazu ist, daß
man Musik lesen lernt und nach dem Lesen sie sich exakt vor-
stellt und disponieren lernt und daß man unbedingt als Instru-
mentalist versucht, nach Partituren zu studieren und nicht
etwa nach Stimmen, und daß die Selbstkontrolle sich vor al-
lem darauf richtet, daß nun das, was bei der Analyse als das
Problem und die Aufgabe hervorgetreten ist, sich auch reali-
siert, anstatt daß die Kraft der Selbstkontrolle etwa auf die sen-

324
suellen, auf die bloß kulinarischen Elemente verzettelt wird.
Sie werden bemerkt haben, aber ich möchte es doch noch
eigens hervorheben, daß die Forderungen der musikalischen
Bildung, die ich Ihnen hier entwickelt habe, nicht ein ›weg
von der Musik‹ sind, daß ich also nicht glaube, daß das Pro-
blem der Bildung in der Musik heute dadurch gelöst werden
kann, daß man so einen allgemeinen Bildungsüberblick sich
erwirbt, wie es viele Musiker tun, die Bücher sammeln oder
schlechte Bilder oder sich sonst irgendwelche Kenntnisse an-
horten, weil ihnen sonst ihr Handwerk zu langweilig wird.
Sondern ich glaube, daß der Weg der Bildung des Musikers
nur dadurch möglich ist, daß man sich in die musikalischen
Probleme mit einer viel größeren Intensität versenkt als bisher
und daß man das gesamte Bewußtsein zu dieser Versenkung
selber mobilisiert. Die Bildung des Musikers liegt im Zen-
trum der Werke beschlossen und nicht in einer allgemeinen
Orientierung außerhalb dieser Werke.
Ich meine nun – die Zeit ist sehr fortgeschritten und ich
möchte Ihre Aufmerksamkeit nicht länger mißbrauchen,
meine Damen und Herren –, daß die musikalische Bildung
der Nichtmusiker im Grunde heute vor dem Problem steht,
eigentlich dem gerecht zu werden, was ich über die Bildung
der Musiker gesagt habe. Das heißt, nur der ist heute über-
haupt noch fähig, Musik zu verstehen, der es auf sich nimmt,
auch diese Schwierigkeiten auf sich zu nehmen. Damit ist es
nun ein schweres Problem, denn von Kennerschaft von Musik
außerhalb des engsten musikalischen Umkreises kann ja be-
kanntlich nicht mehr die Rede sein. Es gibt nicht mehr die
Sphäre von ›cour et ville‹, die irgendwelche festen Maßstäbe
oder Standards einer solchen Kennerschaft uns gewähren
würde. Dazu ist der Prozeß der Spezialisierung zu weit fortge-
schritten, und es gibt eben für den Nichtmusiker wahrschein-
lich keine andere Möglichkeit – ich drücke auch das sehr ex-
trem aus –, der Musik gerecht zu werden, als daß er auch sich
selbst zu einem Spezialisten macht, so wie es in besseren Zei-
ten ja übrigens durchaus der Fall gewesen ist, denn die Men-

325
schen, die die letzten Quartette zuerst gehört haben und nach
der Überlieferung sogleich von ihnen begeistert gewesen
sind,447 in den späten zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts,
die müssen ja schließlich schon Spezialisten gewesen sein, da-
mit sie damit überhaupt irgend etwas haben anfangen können.
Nun wird weitgehend heute die Beziehung ersetzt durch
die öffentliche Meinung – also dadurch, daß die Menschen,
weil sie eine solche spezifische Beziehung zur Musik nicht ha-
ben, sich an dem orientieren, was man halt so sagt. Ich habe
mir den Spaß gemacht, im Zusammenhang einer größeren
musiksoziologischen Arbeit, eine Reihe von solchen Stereo-
typen über moderne Musik mir zusammenzustellen.448 Ich
möchte die als typische Formen des musikalischen Geblökes
bezeichnen, und ich bin überzeugt, wenn man einem großen
Kreis etwa diese Ansichten vorlegen würde, man fände eine
unendliche Zustimmung zu ihnen. Ich will Ihnen so ein paar
dieser Sätze vorlesen, Sie werden sie sofort alle wiederkennen:
›Ja, bei Alban Berg, da kann ich noch mit. Aber Schönberg,
das ist doch zu intellektuell.‹ Oder: ›Die neue Musik ist ge-
nauso kalt und unmenschlich wie unsere Welt.‹ Oder: ›Wo
bleibt denn hier das Gefühl?‹ Oder: ›Ja, wo soll denn das alles
hinführen? Wo soll denn das alles hinaus?‹ – als ob’s darauf an-
käme und nicht auf das, was es jetzt ist. Oder: ›Das alles sind
Übergangserscheinungen.‹ [Lachen im Auditorium] Oder: ›Ich
glaube nicht, daß diese Musik jemals sich durchsetzen wird
und so verständlich werden wird wie die Klassik.‹ Nun, ich
glaube, wann immer Sie irgendeiner Aussage dieses Typus be-
gegnen, können Sie sicher sein, daß es keinerlei Verständnis
von Musik gibt und daß es sich also wirklich um Geblök han-
delt. Man könnte ja immerhin, wenn man gar zu gutartig ist,
mir daraufhin entgegenhalten: ›Ja, wenn alle das so sagen,
vielleicht haben sie doch recht, das könnt’ doch auch so sein,
daß was dran ist und daß sie deshalb alle so reagieren‹. Nun,
dazu möchte ich sagen, wenn was dran wäre, wenn das wahr
wäre, dann hätte es nicht die Form dieser Stereotypie, son-
dern würde sich als eine spezifische Erfahrung ausdrücken

326
und würde nicht von vornherein in Clichés erscheinen, de-
nen man anmerkt, daß es einer dem anderen nachblökt, ohne
daß es zu der Erfahrung der Sache dabei überhaupt noch ge-
kommen ist. Im übrigen bitte ich Sie, mir heute zu erlassen,
Ihnen im einzelnen zu zeigen, daß all diese Aussagen wirkli-
cher Unsinn sind und daß sie durchaus objektiv, durch Kon-
frontation mit den Tatsachen zu widerlegen sind. Ich möchte
Sie einfach bitten, das Vertrauen zu mir zu haben, daß ich Ih-
nen das zeigen könnte, und zwar sehr stringent zeigen könnte.
Nun hat sich zwischen die mangelnde musikalische Erfah-
rung und die Menschen heute eine Zwischenschicht dazwi-
schen geschoben, die man in Amerika mit der Sphäre der
›music appreciation‹ bezeichnet, also die Sphäre der Würdi-
gung.449 Das ist die Sphäre dieser Literatur, die also so mit sol-
chen Titeln wie ›Die Musik und du‹ und Formeln ähnlicher
Art sich einführt und die die Musik dadurch verfälscht, daß sie
sie darstellt, als wäre sie für die Menschen da, eine Art Kon-
sumartikel, der es den Menschen möglichst angenehm und
hübsch machen will. Aber gerade durch diese Anpassung der
Musik an die Menschen, die durch diese Würdigungsliteratur
vollzogen wird, wird die Musik selber, nämlich das, was sie an
sich ist, verraten. Und indem die Musik auf diese Weise zu
den Menschen, wenn ich so sagen darf, herabgewürdigt wird,
werden die Menschen um genau das betrogen, was ihnen da-
durch versprochen wird, nämlich um die Musik selbst. Es wird
ein bloß informatorisches Wissen gesetzt anstelle des Wissens
von der Sache selbst.
Ich kann heute nicht mehr reden, eben der Zeit wegen,
von dem Problem der musikalischen Kritik, das hier unter der
Analyse der öffentlichen Meinung natürlich auch eine ent-
scheidende Rolle spielte. Während ich der Ansicht bin, daß es
der Kritik wesentlich bedarf, damit die Werke sich selbst ent-
falten, muß man dem doch heute wohl das hinzufügen, daß in
einem so weiten Maß auch die Kritik selbst den eigentlichen
Problemen entfremdet ist, daß ihr jedenfalls die Autorität, die
sie in der öffentlichen Meinung hat, nicht zukommt. Es gibt

327
eben ungezählte kritische Urteile, die in Wirklichkeit nur Ra-
tionalisierungen, wie man das in der Psychoanalyse nennt,450
sind für das eigene Unverständnis oder für die Sachfremdheit
derer, die sie äußern. Es gab eine Zeit – noch Paul Bekker hat
diesem Typus angehört –, wo die Musikkritik wirklich so et-
was wie Autonomie gehabt hat und wo sie dem allgemeinen
Geblök sich entgegengestellt hat. Ich erinnere Sie nur an die
wirklich sehr großartigen und kühnen Polemiken, die Paul
Bekker gegen die »Alpensinfonie« von Richard Strauss und
gegen das Oratorium »Von deutscher Seele« von Pfitzner ge-
richtet hat451 – zwei Polemiken, die sicherlich für den Durch-
bruch der neuen Musik von einer sehr erheblichen Relevanz
gewesen sind. Nun, etwas Ähnliches gibt es in der Musik heu-
te nicht, sondern eben diese Beziehungslosigkeit, also ganz
einfach, daß die meisten Kritiker nicht zu dem cénacle gehö-
ren, in dem man eigentlich allein noch entscheiden kann, was
etwas taugt und was nicht taugt, das hat dazu geführt also, daß
es diese Art autonomer Kritik nicht mehr gibt, sondern daß
die Kritik mehr und mehr zu einer Art Informationsmittel
von irgendwelchen möglichst schnell in der Welt herumrei-
senden Leuten geworden ist, die darüber aufklären, ob nun
also Herr X in Japan und Herr Y in Valparaiso nun auch, weil
es schon gar nicht anders geht, die »Siebente Symphonie« von
Beethoven immer noch einmal dirigiert hätten.
Nun, ich glaube also, daß dieser Typus der Musikkritik, der
in sich selber eigentlich das verlernt hat, worauf es ankäme, zu
urteilen, daß die Autorität, die er immer noch in der Öffent-
lichkeit hat, in einem völligen Mißverhältnis steht zu dem,
was er eigentlich heute noch bedeuten kann. Und während
ich durchaus der Ansicht bin, daß es der Kritik bedarf, und
während ich glaube, daß die Diffamierung der Kritik selber
ein Stück jenes armseligen musikalischen Irrationalismus ist,
der aus der Musik einen Naturschutzpark machen will, ist an-
dererseits zu sagen, daß, um eine adäquate Beziehung zwi-
schen den Menschen herzustellen und der Musik, die Kritik
nicht mehr ausreicht, deren Aufgabe ja Benjamin wirklich

328
unübertrefflich formuliert hat in dem Satz: »Das Publikum
muß stets Unrecht erhalten und sich doch immer durch den
Kritiker vertreten fühlen«452 – während es heute eigentlich
immer Recht durch den Kritiker erhält, aber dafür in seiner
Wahrheit vom Kritiker gerade nicht mehr vertreten wird.
Meine Damen und Herren, ich möchte schließen. Ich bin
mir dessen bewußt, daß all die Dinge, die ich Ihnen gesagt
habe und die ich Ihnen kritisch gesagt habe, eigentlich noch
auf dem Niveau des Symptoms sind und daß die wahren
Gründe wirklich in den tiefen Gesteinsschichten unserer Ge-
sellschaft liegen und daß die gesamtgesellschaftliche Proble-
matik sich gleichsam nur vervielfacht und noch einmal dar-
stellt innerhalb der Zellen der Musik und der musikalischen
Bildung. Das, worum es hier geht, kann ganz gewiß nicht rein
von der Musik aus, nicht aus reiner musikalischer Gesinnung
und wohl auch kaum durch bessere Information gar oder
durch bessere musikalische Erziehung überkompensiert wer-
den. Ich habe einmal formuliert, daß es »kein richtiges Leben
im falschen« geben könne.453 Das gilt sicherlich für die Musik
auch. Aber ich glaube, etwas gibt es doch, nämlich daß man
all dieser Dinge sich einmal wirklich bewußt wird, daß man
auf sie reflektiert. Es gehört ja zu den Chancen, die eine de-
mokratisch organisierte Gesellschaft einem gibt, daß man
über diese Dinge wenigstens offen reden kann. Und ich bin
besonders dankbar Herrn Professor Mohler,454 daß er mir die
Gelegenheit gegeben hat, hier über diese Dinge so offen zu
reden. Von dieser Chance soll man Gebrauch machen und
soll über diese Dinge alle einmal wirklich nachdenken, anstatt
daß man das, was so nun einmal ist, wie es ist, für selbstver-
ständlich nimmt und sich darin wohl fühlt. Sowenig ich glau-
be, daß man es durch reines Bewußtsein, durch reine Über-
legung ändern kann, würde ich doch sagen, daß heute, so wie
die Situation heute ist, in der Musik wie sonstwo, eigentlich
der Prozeß der Bildung anhebt genau in dem Augenblick, in
dem man ihrer eigenen Unmöglichkeit, der Unmöglichkeit
von Bildung heute gewahr wird. – Ich danke Ihnen sehr.

329
Improvisationen über Wedekind
28. 4. 1962

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

indem ich mich zuerst bei Herrn Weitz455 für die so überaus
freundlichen Worte bedanke, die er zu meiner Einführung
gefunden hat, möchte ich zunächst einen Schrecken abweh-
ren, der manche von Ihnen vielleicht ergriffen hat, wenn Sie
gesehen haben, daß ich hier mit ein paar papierenen Seiten
und gar einem Band unterm Arm erschienen bin.456 Nun, ich
bin zwar ein professioneller Philosoph, aber ich bin, wenn ich
das sagen darf, keineswegs ein Ontologe, und ich würde mich
dann denn doch mehr als ein Theaterkind bezeichnen, und
infolgedessen will ich es halten bei dem, als was diese paar
Worte von mir Ihnen angekündigt sind. Es werden also wirk-
lich Improvisationen sein, und wenn ich mir da so etwas auf-
geschrieben habe, dann, die Wahrheit zu sagen, nur deshalb,
weil ich Angst hätte, daß ich mich sonst so fortreißen lasse,
daß ich Ihre Geduld übermäßig strapazieren würde.
Man kann und man soll über Wedekind schreiben, verant-
wortliche Dinge über ihn schreiben. Ein Manuskript zu zük-
ken und über Wedekind vorzulesen hätte etwas unsagbar Lä-
cherliches, etwas Lächerliches selbst dann, wenn man sich
darüber klar ist, daß in dem Habitus des großen Kabarettisten,
der Wedekind ja gewesen sein muß, auch ein sonderbares Ele-
ment von abwegiger und querer Würde sich befunden hat, das
vielleicht einem solchen Unterfangen gar nicht so abgeneigt
wäre. Ich denke da an den Wedekind, der mit Vorliebe einen
Frack angelegt hat, der freilich dadurch entsühnt wurde, daß
er, wenn man Wedekinds eigener Lyrik trauen darf, ein wenig
speckig gewesen ist.457 Nun, ich glaube eben deshalb, weil
Wedekind mit dem Begriff der Würde des arrivierten be-
rühmten Mannes, der Autorität, mit all diesen Kategorien so
gar nichts zu tun hat, daß ich ihn auch nicht würdigen kann,
sondern vielmehr wenigstens ein paar Elemente Ihnen nen-

330
nen [möchte], die dem dienen könnten, was man vielleicht
die Herstellung, nicht einmal die Wiederherstellung, sondern
die Herstellung dieses Dichters nennen könnte. Er selbst hat ja
seine ein wenig satanische Freude auch daran gefunden, wo
immer Würde und wo immer würdige Personen ihm begeg-
net sind, sie zu demaskieren. Und unter den sozial progres-
siven und sozialkritischen Aspekten seines Werkes war viel-
leicht nicht einmal der geringste einer, den er mit Zeitgenossen
etwa wie Heinrich Mann geteilt hat, nämlich die Entzaube-
rung von Honoratioren und Notabeln. Wenn wir heute auf
dem Theater dem Dr. Schön aus der »Lulu«458 begegnen, dann
können wir, die wir schon wissen, was später wird geschehen,
uns das vielleicht gar nicht mehr so richtig vorstellen, aber
dieser Dr. Schön ist ja ein hochmögender Zeitungsbesitzer,
heute würde man wohl sagen: ein Konzernherr, und es wird
also gezeigt, daß eine solche Respektsperson genausowenig
vor den Versuchungen des Sexus gefeit ist wie etwa der –
allerdings weniger einem Nietzscheschen ›Herrenmenschen‹
nachgebildete – Professor Unrat von Heinrich Mann.459 Kurz
also, es gilt, Wedekind der Würdigung zu entreißen. Er ist
kein Klassiker der Moderne, der, weil er nun einmal all das ge-
leistet habe, ohne das das Kommende nicht denkbar wäre, so
seine Nische verdient, und er ist auch nicht ein Vorläufer der
Moderne, sondern er ist gegenwärtig auf seinen eigenen Fü-
ßen und hat auf seinen eigenen Füßen zu stehen. Es ist neu-
lich in einer öffentlichen Kontroverse über Wedekind, die
manche von Ihnen vielleicht gelesen haben, von jemandem,
der ihm nahesteht und der für ihn plädiert hat, geltend ge-
macht worden, man müsse Wedekind aus seiner Zeit verste-
hen.460 Ich finde diese Argumentation nicht nur mörderisch
für das Theater, denn wer will schon auf dem Theater etwas
sehen, was man aus seiner Zeit verstehen muß und was in-
folgedessen unmittelbar einem nichts bedeutet, sondern ich
finde – und das halte ich für sehr viel ernsthafter –, daß diese
nachsichtige und etwas flügellahme Apologie dem Dichter ei-
gentlich bitteres Unrecht tut. Mit anderen Worten, Wedekind

331
ist nicht, wie man Ihnen immer wieder weismachen will und
wie Sie es in Provinzkritiken wahrscheinlich lesen können,
sobald einmal jemand sich an den Unbequemen heranwagt,
veraltet. Daß er veraltet sei, daß er uns nichts mehr angehe, das
selbst ist ein Stück Ideologie. Ich will gar nicht leugnen, daß es
in der Literatur unendlich viel Veraltetes gibt und daß es ein
Problem des Veraltens gibt. Aber ich möchte Sie wenigstens
aufmerksam machen auf eine Möglichkeit, die ich einmal vor
Jahren an Ibsen glaubte konstatieren zu dürfen – daß nämlich
der Eifer, mit dem man einen Künstler als ›veraltet‹ etikettiert,
dazu dient, die Momente in seinem Werke, die nicht erledigt
sind, vor allem solche Momente, die auf ein in der Realität in
unserer Gesellschaft nicht Erledigtes hinweisen, dadurch zu
entgiften, daß man sagt, alles das gelte gar nicht mehr.461 Den
Psychologen ist ja seit einer Arbeit von Erich Fromm462 ver-
traut die Tendenz, daß man dort, wo man irgendwelchen un-
bequemen Verantwortungen des Ichs sich entziehen, aber
auch nicht allzu tief ins Unbewußte sich einlassen will, den ab-
strakten Zeitfaktor dafür verantwortlich macht, eben jenen
Zahn der Zeit, der ja bekanntlich so manche Tränen getrock-
net hat und auch über diese Wunde Gras wachsen lassen wird.
Nun, von ›Wunde‹ kann man hier in einem sehr ernsten und
in einem sehr strengen Sinn reden. Und wenn Sie nicht mir
den Vorwurf machen, daß ich diese Assoziation zu Tode hetze,
dann würde ich sagen, diese Wunde, das Peinliche, das davon
ausgeht, daß die Dinge, die Wedekind angerührt hat, nicht
verändert oder – wie man heute so oft sagt – nicht bewältigt
worden sind, das wird umgedeutet, als ob es nichts anderes
wäre als das Peinliche, das ein Mensch etwa hat, der aus der
Mode gekommene Kleider trägt, während in Wirklichkeit
gerade der Schock, den das altmodisch Moderne in einem
gewissen Sinne bei Wedekind ausübt, mit seinem eigenen
Gehalt, nämlich mit der Verschränkung des Sexus und der
Geschichte, in einem sehr tiefen Zusammenhang steht.
Nun, wenn man von Wedekind als ›veraltet‹ spricht, dann
pflegt man das im allgemeinen damit zu begründen, daß die

332
Sexualtabus, die er attackiert habe, nicht mehr gelten, er ren-
ne gewissermaßen offene Türen ein. Nun, dieses Argument –
von dem ich mir nicht einbilde, daß ich es wegräumen kann,
denn es stehen hinter solchen Clichés viel zu starke emotio-
nale Quellen, als daß sie verschwänden, auch wenn man sie
widerlegt –, diese Anschauung ist ganz einfach nicht wahr.
Wedekind hat – ich glaube, das kann ein jeder sagen, der mit
einiger Freiheit des Geistes in seine Werke sich versenkt –
nicht den stillschweigend tolerierten außerehelichen Ge-
schlechtsverkehr gemeint, mit dem festen Freund sonntags
nachmittags und der erpreßten Heirat am Ende. Darum geht
es bei ihm nicht, sondern es geht um nicht weniger als um die
Entfesselung des Sexus in einem Sinn, von dem unsere Ge-
sellschaft heute nicht nur nichts sich träumen läßt, sondern in
einem Sinn, der in Wahrheit auf eben dieselben wilden Affek-
te der Abwehr treffen würde, auf die Wedekind zu seinen
Lebzeiten getroffen ist und auf die auch etwa die Jugend-
schriften von Sigmund Freud getroffen sind, mit denen We-
dekind mehr gemeinsam hat, als man auf den ersten Blick er-
kennen kann. Wie wenig es damit seine Wahrheit hat, mit
dieser angeblichen Beseitigung der Sexualtabus, von der man
uns immer wieder vorfaselt und die man womöglich auch
noch beklagt, das können Sie ganz einfach sich daran klarma-
chen, daß es heute noch genügt, private Affären sogenannter
Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens – ich glaube, so
nennt man das – auszukramen, um die Betreffenden aus ihren
Positionen, ihren Machtpositionen zu verjagen; und zwar ist
das eine Verfahrungsweise, die von allen politischen Richtun-
gen gegen alle politischen Richtungen gleichermaßen geübt
wird, was ja wohl ein Indiz dafür ist, daß es sich hier um einen
genuinen Kulturbesitz handelt. Weiter aber – und ich glaube,
damit kommt man an Wedekind noch näher heran – ist bei
ihm, lassen Sie mich sagen, thematisch gar nicht allein die
Freisetzung dessen, was man in der Psychoanalyse die ›geni-
tale Sexualität‹ nennt, also eben die sogenannte normale Ge-
schlechtlichkeit, sondern seine erotische Konzeption hat eine

333
merkwürdige Neigung, das Abweichende in sich einzube-
greifen, das, was nach wie vor als pervers gilt, oder das, was
man gebildeter – psychologisch, psychoanalytisch – mit den
›Partialtrieben‹ bezeichnet.463 Es ist bei ihm zentral nicht die
Art Sexualität, die als natürliche Grundlage der Familie von
der Gesellschaft eingeordnet und integriert ist, sondern eben
jene Gestalten des Sexus, die jedenfalls mit der traditionellen
gesellschaftlichen Ordnung unvereinbar sind. Wedekind selbst
ist so weit gegangen, einmal in einer Äußerung über »Die
Büchse der Pandora« zu sagen, die Heldin sei nicht Lulu, also
das eigentlich verführerische weibliche Sexualwesen, sondern
die Lesbierin Geschwitz, die sich für sie aufopfert.464 Nun,
man muß das ein bißchen ›with song and [dance]‹ verstehen,
Wedekind hat gelegentlich zu seiner Verteidigung Dinge vor-
gebracht, die einen sozusagen ethischen Akzent gesetzt ha-
ben, um dadurch den Zensoren Sand in die Augen zu streuen,
was ihm übrigens leider nur selten gelungen ist. Aber auch in
solchen Äußerungen ist ja gewöhnlich ein Gran von Wahr-
heit, und wenn man sich sozusagen den erotischen Kosmos
von Wedekind ansieht, dann wird man finden, daß immer
wieder und an einer zentralen Stelle es dabei um das geht, wo
der Sexus der Gesellschaft weh tut, wobei die Assoziation
›weh tun‹ vielleicht ebenfalls nicht zufällig ist, weil in einer
der zentralen Konzeptionen von Wedekind, die unvollendet
geblieben und bis heute auch noch nicht veröffentlicht ist,465
es sich, wenn man dem darüber berichtenden Biographen
glauben darf, wesentlich um den Aspekt des Sadismus han-
delt – also um einen Komplex, der ja dann im Surrealismus
und auch in dem Existentialismus Sartrescher Prägung in den
Mittelpunkt des reflektierenden Bewußtseins gerückt ist.
Ich möchte zunächst einmal darauf aufmerksam machen,
daß die Wedekindsche Stellung zum Sexus gar nicht denkbar
ist ohne die Verteidigung dessen, was man mit ›Dirne‹ oder
mit ›Prostitution‹ bezeichnet. Und es ist in diesem Zusam-
menhang wohl sehr aufschlußreich, daß trotz jener tolerier-
ten sexuellen Freizügigkeit, von der ich Ihnen gesprochen

334
habe, die Diffamierung der Dirne nicht nur noch andauert,
sondern daß es zu dieser Diffamierung fast gar nicht mehr
kommt, weil die Prostitution in allen Ländern – ich nehme
an, auch bereits in den Entwicklungsländern – systematisch
ausgerottet wird. Nun, Wedekind ist kein Romantiker der
Dirne gewesen, und von ihm und keinem anderen stammt ja
der Satz aus dem letzten Akt der »Büchse der Pandora«, daß es
nichts Traurigeres gebe als ein Freudenmädchen,466 und es
gibt unzählige Passagen von ihm, in denen er ebenso die Exi-
stenz der Dirne als unglücklich und traurig und verhängnis-
voll bezeichnet wie auch der Grenzen inne wird, die in dem
erotischen Bereich selber dem Glück in der Sphäre der Prosti-
tution gesetzt sind. Es gibt ein Stück von Wedekind, das ist ei-
nes der glanzvollsten von ihm und heißt »Tod und Teufel«,467
in dem geradezu der Hauptgegenstand ist, daß die beiden
Partner in einem Bordell grenzenlos aneinander enttäuscht
sind, worauf ebenso die Vertreterin eines Sittlichkeitsvereins,
die das Mädchen zu retten versucht, wie andererseits der
Kuppler Casti Piani, der aus der »Lulu«-Tragödie in diesen
Einakter noch einmal verschlagen wird, einen vollkomme-
nen Zusammenbruch erleben, der dazu führt, daß Casti Piani
als ein wahrhaft tragischer Held, aber auf eine ironische, ge-
brochene Weise dargestellter tragischer Held, sich das Leben
nimmt. Nun, diese seltsame Stellung von Wedekind, der auf
der einen Seite zum Apologeten der Prostitution wurde, weil
er gesehen hat, daß das eigentlich die Stelle ist, an der der Se-
xus der Gesellschaft weh tut, und der von dieser, wenn Sie so
wollen, exzentrischen Stelle aus seinen Angriff, seinen kriti-
schen Angriff auf die Gesellschaft geführt hat, dieser Tendenz
zur Emanzipation der Prostitution oder zur Rettung der Pro-
stitution stehen merkwürdig diese Dinge gegenüber, die also,
wenn Sie so wollen, eine Kritik der Prostitution oder, lassen
Sie mich richtiger sagen, etwas wie Trauer über die Prostitu-
tion beinhalten.
Nun, so viel darf man über die heutige Situation sagen, daß
die Scheinbefreiung des Sexus den Sexus selber auch affiziert

335
hat, daß der Sexus also heute – und ich bitte Sie zu verzeihen,
wenn ich noch einmal psychologisch rede – in einer Weise
vom Narzißtischen, also auf das eigene Ich gesetzten Strebun-
gen ersetzt, usurpatorisch besetzt worden ist, die von jener
Gewalt eigentlich nichts mehr übriglassen, die bei Wedekind
den Gegenstand bildet. Wedekind hat demgegenüber in einer
sehr nachdrücklichen Weise formuliert – in dem Fragment
»Sonnenspektrum«, das ebenfalls in einem Freudenhaus, aber
in einem sozusagen lebensreformerisch jugendstilhaften Freu-
denhaus spielt, in dem läßt er die Bordellwirtin einer Novizin
sagen, daß es keinen Weg zum Glück gebe als den, andere
glücklich zu machen,468 eine Formulierung, die dem, was aus
dem Sexus heute geworden ist, wohl vollkommen wider-
spricht. Die Ernüchterung affiziert den Sexus selber. Es droht
etwas wie Desexualisierung der Sexualität, und mit der an-
geblichen Befreiung des Sexus ist der Duft, oder ich möchte
englisch sagen: der ›flavour‹, das Aroma des Sexuellen selber,
ich möchte fast sagen, angekränkelt, in Mitleidenschaft ge-
zogen, um den bei Wedekind alles geht. Noch indem es
geschieht, geschieht es eigentlich nicht. In der durchratio-
nalisierten, verwalteten Welt, in der wir existieren, wird alles
Glück, weil es nicht der reinen Selbsterhaltung dient, wenn
Sie so wollen, albern. Und das ist das Reversbild dessen, daß
die Zweckmäßigkeit der rationalen Welt, die eigentlich das
Glück gar nicht duldet, selber fürchten muß, der Albernheit
überführt zu werden. Noch indem es geschieht also, ge-
schieht es eigentlich oder möglichst nicht. Und man könnte
hier die Frage fragen, die sicherlich bei Wedekind eine Rolle
gespielt hat, bei dem der Gedanke an die sexuelle Befreiung
mit dem an strenge sexuelle Rituale aufs merkwürdigste [sich]
verschränkt hat, ob Lust ohne Verbot überhaupt möglich sei.
Nun, dieser Horizont, also dieser Horizont, daß auf der ei-
nen Seite etwas wie die Befreiung des Sexus thematisch ist,
daß aber auf der anderen Seite in dieser Befreiung selbst ein
Moment des Widerspruchs gefunden wird, das genügt be-
reits, Ihnen anzuzeigen, daß Wedekind kein engagierter Sozi-

336
alkritiker, kein Mann der einfachen Emanzipation war und
daß er deshalb auch nicht, wie man Ihnen einreden will, mit
den Emanzipationsbewegungen aus den neunziger Jahren
oder aus den ersten unseres Jahrhunderts veraltet sei. Im Ge-
genteil. Wedekind, dem es keineswegs an patriarchalischen
und, ich möchte sagen, auch recht unangenehmen patriar-
chalischen Zügen gefehlt hat, ist ein Gegner der Frauen-
emanzipation gewesen, er hat sie als unweiblich, als asexuell
bekämpft, wie er denn auch ganz richtig in der Emanzipati-
onsbewegung der Frauen, im Suffragettentum ein Moment
der Sexualfeindschaft gefühlt hat, das sich ja dann überall dort
zeigt, wo die sogenannte Frauenbewegung in irgendeiner
Weise zur Machtergreifung gelangt. Er war ein ›Frauenlob‹
und deshalb kein Mann der Emanzipation. Das ist eine Diffe-
renz von Ibsen, dem er im übrigen eine höchst skurrile und in
gewisser Weise kindische, zugleich aber ungemein phantasie-
volle allegorische Deutung des »Baumeister Solness« gewid-
met hat.469 Diese Arbeit über Ibsen ist unfreundlich. Sie diffa-
miert eigentlich Ibsen und sie diffamiert grade die Gestalt der
[Hilde Wangel], die für Wedekind offensichtlich zu sehr ein
selbständiges Ich war, als daß er sie als Frau hätte tolerieren
mögen – wie ja denn auch Lulu, die auf alle Fragen, wie die,
ob sie die Wahrheit reden könne, immer nur »Ich weiß es
nicht« antwortet, alles ist, nur eben kein Ich, sondern, wie wir
sagen würden, ein triebhafter Ichcharakter. Aber diese Arbeit
über den »Baumeister Solness« ist deshalb so interessant, wenn
ich sie grade hier nennen darf, weil sie in einer höchst merk-
würdigen Weise zeigt, daß Wedekind, der sicher zu dieser Zeit
keine Ahnung von Freud gehabt hat,470 zu einer Interpreta-
tion gelangt rein auf Grund seiner eigenen Erfahrung vom
Sexus, die außerordentlich erinnert an spätere psychologische
Interpretationen aus der psychoanalytischen Schule, die man
Kunstwerken gewidmet hat. Es ist nämlich das Ganze für ihn
sozusagen eine Chiffrierung, eine allegorische Chiffrierung
für die unbewußte Erfahrung Ibsens von dem Schicksal seines
eigenen Alterns.471

337
Es ist hier zu sagen, daß diese Beziehung zur Psychoanalyse
bei Wedekind, trotzdem er eigentlich gar kein Psychologe
war, sehr weit geht. Man kann sagen, daß es sehr wenig Psy-
chologie, sehr wenig Ich-Psychologie in seinen Stücken gibt,
daß sie aber auf der anderen Seite grade an psychoanalytischer
Bilderkraft sehr viel von dem haben, was etwa in den Schrif-
ten des genialen Psychoanalytikers Groddeck unter dem Na-
men »Der Mensch als Symbol« erscheint.472 Wenn Sie etwa
sich ansehen die Szene im »Erdgeist«, wo, nachdem Dr. Schön
weggegangen ist, der groteske Greis Schigolch, der Athlet
Rodrigo und der Gymnasiast Hugenberg, eine Hosenrolle,
zusammen auftreten,473 dann wird man das Gefühl nicht los,
daß es in diesen drei Gestalten, die in dem bürgerlichen Salon
plötzlich unter den Möbeln hervorgekrochen kommen, sich
handelt um so etwas wie Exkretionen des Unbewußten, in
einer Weise, die außerordentlich verwandt ist mit gewissen
Darstellungen des Surrealismus, vor allem von Max Ernst.
Der Held der »Lulu«-Tragödie Dr. Schön selbst könnte ja
ohne weiteres eine jener im Gehrock irgendwelche Unziem-
lichkeiten verübenden Personen sein, wie Sie sie etwa in dem
graphischen Werk von Max Ernst »La femme 100 têtes« oder
auch in dem »Lion de Belfort« finden können.474
Nun, diese merkwürdige Stellung von Wedekind, der die
Emanzipation des Sexus gewollt hat und gleichzeitig die
Emanzipation der Frau nicht gewollt hat, der etwas wie Frei-
heit gewollt hat, aber in dessen Werk die Produkte der Zensur
eine so große Rolle spielen wie eben diese Imagines, diese
Exkretionen, von denen ich Ihnen gesprochen habe, die hat
einen Grund in der Sache. Wedekind ist auf die Grenze der
erotischen Utopie in der bestehenden Gesellschaft gestoßen.
Darin variiert sich etwas wie ein Ibsen-Schüler, nämlich [er]
hat sich, mag er es auch leugnen, gebildet an der zentralen
Konzeption von Ibsen, der des Gregers Werle in der »Wild-
ente«, der die Wahrheit und die Freiheit will und in der beste-
henden Gesellschaft nichts anderes erreicht als Unheil und
dessen sittliche Forderung schließlich dazu führt, daß der ein-

338
zige intakte Mensch in der Welt, in der er sich bewegt, das
halbwüchsige Mädchen, trostlos zugrunde geht, Selbstmord
begeht in einem sinnlosen Opfer. So hat Wedekind gewußt,
daß es kein Wahres und Richtiges im Falschen geben kann.
Das ist einer der Motoren seiner Dramatik, und ich würde
denken, auch das ist ein Moment, das heute nicht ein Tüttel-
chen weniger aktuell ist, als es vor 50 oder 60 Jahren war. Die
erotische Utopie hat bei ihm von Anbeginn den Charakter
der Unmöglichkeit. Sie hat das Moment des Luftwurzeln-
Treibens, das ja auch in dem Jugendstil – ich erinnere Sie nur
an dessen Blumenornamentik – eine so große Rolle spielt.
Übrigens, wenn ich den Ausdruck ›erotische Utopie‹ ge-
brauche, dann entferne ich mich dabei nicht so weit von dem
philologischen Boden wie diejenigen, die meine Versuche
von philosophischen Interpretationen literarischer Dinge
wegen ihrer mangelnden Philologie beargwöhnen, denken
könnten. Es ist bezeugt, daß er die gesamte utopistische Lite-
ratur aufs genaueste studiert hat475 und insbesondere die von
Saint-Simon476. Er hat denn also auch in einem seinerzeit sehr
berühmten Drama jenen Widerspruch zwischen der eroti-
schen Utopie und ihrer notwendigen Schranke selbst gestal-
tet, nämlich in der »Hidalla«, dem Stück von dem Lebensre-
formator Karl Hetmann,477 der einen »Verein zur Züchtung
von Rassemenschen« gründet, aus dem er selber, weil er häß-
lich ist, sich ausschließt, und der schließlich zugrunde geht in
dem Augenblick, nachdem er endgültig lächerlich geworden
ist, in einer sehr Wedekindischen Szene: [als] der Zirkusdi-
rekter Cotrelly ihm das Angebot macht, bei ihm als dummer
August einzutreten, hängt er sich schleunigst an einem für
solche Gelegenheiten reservierten Strick auf.478 Der Dichter
hat also selbst bereits den Sozialreformer objektiviert und hat
eben dadurch seine eigene unmittelbare Stellung zu den – wie
soll man sagen – kulturpolitischen Zielen, die man ihm un-
terschoben hat, in ein dialektisches Licht gerückt. Aber das
ist, glaube ich, noch gar nicht das Tiefste, das zu diesem Punkt
zu sagen wäre, sondern jene Ambivalenz, oder lassen Sie mich

339
richtiger sagen, jene Antinomie, jenes Bewußtsein der inne-
ren Widersprüchlichkeit reicht bei Wedekind herein bis in die
erotische Utopie selbst. Sie war nämlich derart, daß sie das
Glück, das sie meint – ein durchaus männliches und, lassen
Sie mich sagen, männlich-sadistisches Ideal –, als ein in sich
Unmögliches erkennen muß. Auch diese Problematik ist,
wenn Sie dem Soziologen diese Reminiszenz nicht verübeln,
von einer langen Vorgeschichte in dem utopischen Denken,
und zwar gerade im Umkreis der Saint-Simonisten, nachdem
ich den Namen von Henri Saint-Simon Ihnen schon einmal
genannt habe. Enfantin hat eine ähnliche Vorstellung von der
fessellosen sexuellen Emanzipation gehabt wie Wedekind,
während der andere bedeutende Schüler Saint-Simons, Ba-
zard, eben deshalb ihn angegriffen hat, weil er und besonders
auch seine Frau behauptet haben, daß eben dadurch, daß die
Frau, wie es im Sinn von Enfantin lag und wie es im Sinn von
Wedekind lag, sich schlechterdings und ohne Vorbehalt zum
Sexualobjekt mache, also befreie von den sexuellen Tabus, die
sie einschränkten, [sie] ihre eigene Freiheit verliere und daß
dadurch die männliche, patriarchale Form der Herrschaft ei-
gentlich nur sich durchsetze.479 Dieser Widerspruch, der da
schon auftaucht und der übrigens in gewisser Weise auch bei
Freud vorkommt in dem Konflikt zwischen der durchs Be-
wußtsein freigesetzten Sexualität und der Forderung, den
Sexus bewußt dem Realitätsprinzip480 unterzuordnen, das ist
eigentlich der Motor der Wedekindschen Dramatik – ein
Motor, durch den er eben als etwas unvergleichlich viel Kom-
plexeres und Hintergründigeres sich erweist, als es jenes Cli-
ché darstellt, von dem ich ausgegangen bin.
Wir verdanken eine Biographie Wedekinds Artur Kut-
scher. Sie war auf drei Bände angelegt. Soviel ich weiß, ist der
dritte nie mehr erschienen,481 an sich schon ein Symptom
dafür, wie sehr das öffentliche Bewußtsein Wedekind ver-
nachlässigt hat. Nun, diese Biographie gehört zu den unschätz-
baren Dokumenten, in denen eine außerordentliche Material-
kenntnis mit vollkommenem Unverständnis sich paart, so daß

340
keinerlei theoretische Meinung des Autors das Verständnis
und die Interpretation der abgründigen Aspekte des Gegen-
stands einem verbaut. In diesem Werk nun wird ausführlich
dargestellt ein Fragment, ein fragmentarisches großes Prosa-
werk von Wedekind, das wohl als Chef-d’œuvre geplant war
und das den Namen »Die große Liebe« führen sollte.482 Aus
diesem großen Prosawerk ist ein Teil, sozusagen die Jugend-
geschichte, wenn man sagen darf, publiziert und allgemein
zugänglich, nämlich dieses seltsame Stück »Mine-Haha oder
über die körperliche Erziehung der jungen Mädchen«,483 das
ich Ihnen allen zur Lektüre aufs angelegentlichste anempfeh-
len kann, wenn ich mich nicht irre, ist es das Bedeutendste,
was wir von Wedekind überhaupt besitzen. Nun, in diesem
Stück, in diesem Roman »Die große Liebe« sollte es gehen, ja,
um eine erotische Utopie, die durchaus im Zeichen des Ge-
dankens des Sichaufopferns gestanden hat. Aber – sagt Kut-
scher, und ich sehe keinen Anlaß, daran zu zweifeln – über
der Arbeit zu diesem Werk ist Wedekind zu schweren Zwei-
feln gekommen.484 Da ist einer der Helden, der sogenannte
»Götterknabe«, der, nachdem er also in den sogenannten
»Knabenhof« geführt wird, »bei der jubelnden Begrüßung nur
die Sehnsucht« hat, »allein zu sein«,485 bei dem also genau
jenes Dem-Kollektiv-gleichsam-als-Objekt-zugeeignet-Sein,
das bei Wedekind intendiert war, von Anfang an etwas auch
wie Leiden bedeutet. »Über die äußerliche und drakonische
Rechtsprechung«, fährt Kutscher fort, »urteilt er wegwerfend.
Er wehrt sich gegen den Ausschluß von den Jahreszeitenfei-
ern«, bei denen er nicht teilnehmen darf – das sind die großen
Opferfeste –, »sondern erkennt im Gegenteil, daß sich die
Knaben nicht so leicht wie die Mädchen von der Todeswol-
lust in Bann halten lassen, ihrer Kraft wegen. Den Wettkampf
hält er nicht für geeignet, den wirklichen Wert des Menschen
zu offenbaren«, und so weiter. »Dem Knaben bedeutete der
Opfertod gewiß das herrlichste Los, jetzt aber kommt ihm die
tiefe Traurigkeit«, die er einmal darüber hatte, »nicht Opfer
gewesen zu sein, lächerlich vor, denn sie entsprang«, sagt Kut-

341
scher, »nicht der Natur, sondern der künstlich anerzogenen
Begeisterung.«486 Also mit anderen Worten, auch in dem Pa-
radies der sexuellen Anarchie ist die Schlange oder, wie man
vielleicht richtiger sagen sollte, der Wurm, insofern sich dieses
Paradies wendet gegen die Vorstellung der Freiheit, die ihrer-
seits doch selbst wieder diesem Entwurf zugrunde liegt.
Nun, »Mine-Haha« – und ich glaube, das ist eine für das
Problem Wedekind sehr wichtige Tatsache – ist zu dem gro-
ßen Kunstwerk geworden, das es ist, einem der wenigen
großen Dokumente des Surrealismus in Deutschland, ver-
gleichbar Lautréamont oder auch [Apollinaire], durch den
Fragmentcharakter, durch das Unaufgelöste, das herrührt von
Wedekinds Verzweiflung an der erotischen Utopie. Wenn Sie
das Fragment lesen, so wie Wedekind es veröffentlicht hat,
dann hat es keinen Schlüssel, dann fehlen also genau jene Teile,
von denen Kutscher berichtet und durch die das Ganze sich
erhellen sollte. Aber gerade dadurch – und das ist wieder et-
was sehr Surrealistisches –, daß dieser Darstellung der Kopf
abgeschlagen ist, daß man also vor allem nicht weiß, was sie
eigentlich bedeutet, dadurch beginnt das Ganze in einer
merkwürdigen Weise zu fluoreszieren: eine Art Mischung aus
Traum-Amerika, Kythera und Schreckenskammer, die wirk-
lich wohl kaum mit etwas anderem verglichen werden kann
als gewissen Partien aus dem »Amerika«-Roman von Kaf-
ka.487 Es wäre, nebenbei bemerkt, einmal sehr der Mühe
wert, überhaupt der Rolle des Traum-Amerika, der Imago
von Amerika in der deutschen Literatur vor der Hitlerschen
Zeit nachzugehen.
Nun, das Problem, um das es hier geht, läßt sich auch aus-
sprechen in der Form, es sei das der Trennung von Sexus und
Eros. Wedekind nimmt Partei für den von der Agape abge-
spaltenen, entwürdigten Sexus, ähnlich wie Nietzsche und
wie ursprünglich auch Freud. Darin war er sicherlich auch ein
Jugendstildichter und ein Dichter der Emanzipation. Er hat
gesehen, daß hier ein wunder Punkt der Gesellschaft dadurch
liegt, daß sie gerade vermöge der Entsexualisierung des Eros,

342
also vermöge der sogenannten reinen Liebe, die Anpassung
der Menschen an ihre Zwecke und an ihre Normen erzwingt,
und er hat dagegen protestiert. Er hat verkannt – und diese
Verkennung hat in seinem Werk die Narben hinterlassen, die
vielleicht, mit George zu reden, ›die Wunden sind, aus denen
seine Lichter strahlen‹488 –, er hat verkannt, daß diese Tren-
nung auch den Sexus verstümmelt und verunstaltet hat und
nicht nur den Eros. Hemmungslose physische Nähe, Liebe
ohne Ekel gibt es nicht dort, wo der Sexus so ganz von der
Liebe isoliert ist, wie es die erotische Utopie Wedekinds, die
Dirnen-Utopie gelehrt hat. In dieser Sphäre ist in Wahrheit
alles wie unter Cellophan, und das mindert die Lust, welche
die Dirne weder ganz gewährt noch auch, im Gegensatz zu
Wedekinds Glauben, der an dieser Stelle ein wenig naiv ge-
wesen ist, selber empfindet. Alle Lust wird weniger, als sie ist,
wenn sie nichts anderes ist als Lust. Und aus dieser Dialektik
der Liebe gibt es keinen Ausweg. Wenn ich von ›Dialektik der
Liebe‹ rede, dann habe ich Ihnen damit, glaube ich, das Stich-
wort gegeben dafür, warum Wedekind ein Dramatiker ge-
worden ist. Nämlich deshalb, weil eben seine gesamte Dich-
tung oder jedenfalls alle die Werke von ihm, die zählen, der
Entfaltung dieser in der Sache selbst gelegenen Dialektik gel-
ten, und das Drama ist ja nun doch wohl einmal die Form, die
dort entsteht, wo in der Sache selbst eine Dialektik waltet, die
nicht nach der einen oder anderen Seite wie durch einen
Spruch zu schlichten ist, sondern die sich selbst vollziehen
und darstellen muß. Das ist, könnte man sagen, die Rechtfer-
tigung der dramatischen Form von der Struktur ihres Gegen-
standes her. Und diese Dialektik wird bei ihm zur Kraft der
Konstruktion in einem fast technologischen Sinn, in einem
Sinn, der übrigens vielfach an Sade erinnert,489 bei dem es
auch so etwas wie ein Ineinanderspiel von Technik und Eros
gibt. Ich kann das jetzt nicht weiterverfolgen. Ich glaube, daß
hier ein Aspekt des Wedekindschen Werkes liegt, der in sehr
tiefe und wohl auch neuartige Zusammenhänge führen wür-
de. Ich überlasse Ihnen das zum Weiterdenken.

343
Nun, ich deute damit wohl bereits an, daß die Aktualität
Wedekinds, von der ich Ihnen gesprochen habe, zugleich
künstlerisch ist. Die Sache verschränkt sich mit dem Wahr-
heitsgehalt bei ihm. Um Ihnen noch einmal zu antworten auf
den Einwand des Veralteten: Die Enge der Schule, die »Früh-
lings Erwachen«490 darstellt, ist nicht mehr, sie existiert nicht
mehr, obwohl mehr von ihr übrig sein mag, als man so weiß.
Aber ohne diese Enge der Schule wäre nicht zu denken jenes
Bild von Melchiors Studierzimmer mit Pult und Lampe und
dem Tee, den die Mutter bringt,491 jenes Bild, das als ein Ver-
gängliches etwas hat wie Ewigkeit. Oder es wäre nicht jener
Abend im Uferried, in der Selbstmordszene Moritz Stie-
fels,492 der so wirkt, als wäre durch diese Situation, durch den
bevorstehenden Tod überhaupt das erst dechiffriert, gedeutet,
was eine solche Stimmung, wie man das wohl genannt hat,
ausdrückt, als leuchte ein solcher Abend vom Tod dessen, der
ihm verfällt. Ich will sagen, meine Damen und Herren, daß es
nicht so ist, daß man in den Kunstwerken ihr Vergängliches
und ihr Bleibendes voneinander abziehen kann, sondern daß
gerade das, was als Künstlerisches dauert, eine um so größere
Chance des Überlebens hat, je tiefer es seinen Sachgehalten,
seinen geschichtlichen Gehalten eingesenkt ist.
Nun, wenn ich Wedekind eine solche ästhetische Dignität
zuspreche, die seine eigenen Stoffschichten überdauert, dann
ist damit gesagt, daß seine Dramatik niemals das war, als was
sie im Grunde in den gängigen Einwänden heute stets noch
verkannt wird, nämlich daß sie mit dem Naturalismus über-
haupt nichts zu tun hat. Und ein wirkliches Verständnis ist
überhaupt nur dann möglich, wenn man von jeder Beziehung
Wedekinds auf das naturalistische Theater sich gänzlich ge-
trennt hat. Die Elemente der empirischen Realität, die ja bei
ihm immer vorkommen, werden durch die Kraft einer sei es
auch vergänglichen Satire auf je bestehende Zustände zu einer
Bilderwelt, die weiterlebt. Kutscher sagt an einer Stelle, es
hätte Wedekind eigentlich etwas wie eine Mythologie vorge-
schwebt, und fügt dann naiv, aber gar nicht töricht hinzu, daß

344
ihm eine solche Mythologie nicht hätte gelingen können, das
habe doch wohl seinen Grund darin, daß heute überhaupt
Mythologien eigentlich nicht mehr sich schreiben ließen.493
Nun, das Wort ›Mythologie‹ mag Wedekind vorgeschwebt
haben, es trifft sicher nicht das, was gemeint ist, aber gibt doch
einen gewissen Hinweis auf die Schicht, um die es bei Wede-
kind wirklich geht. Die Lichtquelle dieser Schicht, die un-
sichtbare und gebrochene, ist jene Utopie, die auch hinter der
Imago des Zirkus als der Welt von zweckfernen Opfern steht,
nämlich einer Sklaverei der Lust, wobei man bei ihm eine
Konzeption unterschieben darf, die gar nicht so verschieden
ist von der, die der Marquis de Sade einmal in einer Eingabe
verfochten hat, in der er unter den Menschenrechten vertrat,
daß ein jeder Mensch ein Anrecht auf den Körper eines jeg-
lichen anderen habe.494 Solche nie ausgesprochenen, höchst
exzentrischen Gedanken darf man wohl unter den Motoren,
unter den objektiven Motoren bei Wedekind vermuten. Nun,
aber dadurch, daß diese Bedeutung, diese Intentionen von
ihm abgeschnitten, von ihm verweigert werden, nicht nur
weil er sie nicht aussprechen mag, sondern weil sie in jene
Widersprüche verwickeln, von denen ich Ihnen gesprochen
habe, deshalb kommt es bei ihm zu einer Bilderwelt, zu einer
›imagerie‹, wie man das heute in Frankreich nennt, die eine
Farbe empfängt von dem Unsäglichen, das deshalb unsäglich
ist, weil es unmöglich ist. Es wird also die empirische Welt, in
der diese Stücke mit ihren Zirkusstilisierungen spielen, unter
dem erotomanischen Blick zu einem Imaginären. Und dieses
Moment der imagerie, das bedeutet jene Verewigung des
Zeitlichsten, von der ich Ihnen gesprochen habe, als der Ge-
stalt des Sex-Appeal von 1890 oder von 1900. Daß das Zeit-
lichste das Ewige sei – und zwar das Zeitlichste in einer ähn-
lich diffamierten Weise, wie die Dirne diffamiert ist, nämlich
das Zeitliche als Mode –, daß dort die Ewigkeit zu suchen sei,
das ist wohl die tiefste, wenn ich es so nennen darf, metaphysi-
sche Innervation von Wedekind gewesen. Und darin nähert
seine imagerie sich dem, was Benjamin in dem Barockbuch

345
mit dem Ausdruck ›dialektisches Bild‹ benannt hat. Ein Satz
wie der Benjaminsche, daß ewig »eher eine Rüsche als eine
Idee« sei,495 der wäre längst nicht das schlechteste Motto für
die beiden »Lulu«-Dramen.
In dieser bedeutungslosen imagerie, die mit dem Sexus auf
eine tiefe Weise verwachsen ist, einem Sexus, der dem Ausge-
zogenen und nicht dem Nackten gilt, darin hat Wedekind ex-
poniert eine Kunst, die, wie er es nennt, ›körperliche Kunst‹
sein soll gegen ›geistige Kunst‹,496 so wie er denn auch nach
Analogie des Ausdrucks ›Kunstmaler‹ den Ausdruck ›Kunst-
künstler‹ geprägt hat,497 um diesen Kunstkünstler aufs grim-
migste zu verspotten. Er war in diesen Theoremen nicht gera-
de sehr abgründig und tief, er war überhaupt kein Philosoph,
und ich bin der letzte, der daraus ihm einen Vorwurf machen
würde, wie denn überhaupt die Gehalte von Wedekind, die
Wahrheitsgehalte von Wedekind mit dem Ideengehalt seiner
Stücke in keiner Weise zusammenhängen und vielfach gera-
dezu das Gegenteil von dem Ideengehalt dieser Stücke sind.
Man könnte sagen, diese Konzeption einer körperlichen
gegen die geistige Kunst sei deshalb töricht, weil ja Kunst
a priori ein Geistiges ist, weil sie sonst eben buchstäblich zum
Zirkus würde, und das sind selbstverständlich auch die Zir-
kus-Dramen Wedekinds nicht. Aber ich glaube, man tut gut,
auch bei solchen Gaucherien lieber zu suchen nach dem, was
eigentlich damit gemeint ist, was dahintersteht, als sich mit
einer solchen fix und fertigen Kritik zu begnügen. Wedekind
wollte heraus aus der Kunst, soweit die Kunst Ideologie, so-
weit sie affirmativ, soweit sie Schein ist. Er hat geahnt, daß
Kunst – und das ist ein Problem, wie es dann etwa an einem
extremen Gegenpunkt von Valéry gestellt worden ist; übri-
gens darf ich in diesem Zusammenhang sagen, daß auch Ste-
fan George, wenn ich einer Erzählung von Frau Elli Gundolf
Glauben schenken darf, von allen zeitgenössischen deutschen
Dichtern Wedekind am höchsten geschätzt hat498 –, Wede-
kind also, sage ich, hat geahnt, daß die Kunst um so weiter sich
von sich selbst, von ihrem Wahrheitsgehalt entfernt, je reiner

346
sie zu sich selber kommt, je mehr sie ein jegliches aus sich aus-
scheidet, das ein anderes ist als ihre eigene Form. Und dadurch
ist in Wedekind gleichsam aus der Dialektik der Form selbst
jenes formfremde Barbarische, im herkömmlich ästhetischen
Sinn Unzulängliche hineingeraten, auf das mit Rücksicht auf
die Wedekindsche Sprache Herr Weitz in seinen einführen-
den Worten bereits hingewiesen hat. Es gibt bei Wedekind so
etwas wie ein erwachendes Bewußtsein der Problematik von
Geist als Intention, vom Geist als dem, was in die Stücke hin-
eingelegt, hineingesteckt, von Stücken bedeutet wird. Er war
vielleicht einer der ersten Künstler, der nicht nur gesehen,
sondern in seinen eigenen Werken realisiert hat, daß es auf die
›peinture‹ selber, auf das, was das Stück macht, ankommt und
nicht auf das, was man dabei denkt und dabei will. Und zwar
vielleicht gerade deshalb ist er dazu gekommen, weil er gese-
hen hat, daß das, was er will, sich eigentlich gar nicht wollen
lassen kann. Insofern ist das Wedekindsche Theater etwas wie
eine Vorform der Krise des Sinnes in der Dramatik, wie Sie
sie heute im Gesamtwerk von Samuel Beckett auf ihre höch-
ste Spitze getrieben finden. Es gibt ja tatsächlich auch bei
Wedekind Witze, die als Zirkus-Witze ganz verwandt sind je-
nen abgestumpften, intentionslosen Kalauern, mit denen die
Werke Becketts, vor allem »Fin de partie«, durchsetzt sind.499
Wenn zum Beispiel in dem »Liebestrank«, den Sie ja nun bald
hier hören werden,500 das Ganze zentriert ist um den Zirkus-
witz, daß der Liebestrank nur dann wirkt, wenn man, wäh-
rend man ihn trinkt, um keinen Preis an einen Bären denkt –
ein logisches Problem ersten Ranges, denn indem man mit
ungeheurer Anstrengung dafür sorgt, daß man nicht an einen
Bären denkt, denkt man ja an einen Bären. Also, Sie haben
hier sozusagen die Hegelsche Dialektik auf ihre Normalform
gebracht. Ja, ein solcher Witz, der im Grunde in der Absurdi-
tät terminiert, der eigentlich die Intention, den Gedanken
selber Lügen straft, dahin schießt wirklich Wedekind. Und
grade der Zirkusdichter Wedekind weist über alle Produktion
seiner eigenen Zeit hinaus und trifft damit eine Schicht der

347
Erfahrung, die heute erst überhaupt in furchtbarer Weise uns
sich erschlossen hat als die Welt, in der eigentlich es nichts
mehr zu lachen gibt, es sei denn über das Lachen selbst.
Jene Tendenz zur körperlichen Kunst, wie ich sie Ihnen
eben interpretiert habe, können Sie vielleicht nur dann ver-
stehen, wenn Sie sie zusammendenken etwa mit der Verach-
tung, die der junge Picasso und seine Freunde für das offizielle
Theater hatten, die ja auch prinzipiell nur ins Varieté oder in
den Zirkus501 gegangen sind, oder [wenn Sie denken] an die
Haltung von Guillaume Apollinaire, der ja den »Poète assassi-
né« geschrieben hat,502 in dem er den Dichter als einen Magus,
der dem verborgenen metaphysischen Sinn der Welt Stimme
verleiht, zum Tode verurteilt hat. Die Krise des dichterischen
Sinnes bei Wedekind ist eigentlich das erste Mal – die Krise
des metaphysischen Sinnes, also die Möglichkeit, daß wirklich
die Welt selber keinen Sinn habe und daß deshalb auch das
Drama keinen haben könne – so schroff gestellt, wie sie dann
ohne das Wedekindsche Bilderwerk in der gegenwärtigen
Dramatik hervortritt. Man kann sagen, daß er gemerkt hat,
daß die Kunst zugrunde geht dadurch, daß sie von der Kultur
gefressen wird. Und er hat deshalb versucht, aus der Kultur
auszubrechen, eine Kunst zu schreiben, die, wenn Sie so wol-
len, eine Anti-Kunst ist in einem ganz analogen Sinn zu dem,
in dem man heute von Anti-Dramatik oder von Anti-Helden
redet.503 Nun, das definiert zugleich auch die Position, die er
in den literarischen Schulstreitigkeiten objektiv einnimmt. Es
handelt sich nicht um seine eigenen Überzeugungen, die sind
recht unmaßgeblich, sondern es handelt sich wirklich um das,
was ein Werk, das weit über das Bewußtsein des Autors hin-
ausgeht, objektiv eben darstellt. Dieses Werk steht gegen Na-
turalismus, das habe ich Ihnen gesagt, es steht aber ebenso
auch gegen die gesamte Neuromantik, wie es ja die Formel
gegen ›Kunstkünstler‹ verrät, in der ja unter anderem auch
polemisch der Ausdruck ›l’art pour l’art‹ verschlüsselt ist.
Nun, es liegt nahe, deshalb Wedekind dem Expressionis-
mus zuzurechnen oder, wie das literarhistorische Übung ist,

348
ihn wenigstens zu einem der Vorläufer des Expressionismus
zu machen. Ich möchte auf diese Streitigkeiten nicht einge-
hen, weil sie auf gewisse Definitionsfragen von literarischen
Richtungen führen, die ich im allgemeinen nicht für frucht-
bar halte. Aber man muß, man sollte jedenfalls an eines erin-
nern. Die Ausgangssituation der expressionistischen Dichtung
ist ja eine von radikaler Entfremdung, von einem Auseinan-
derklaffen zwischen dem Ich und der empirischen Realität,
die es beiden nicht mehr gestattet, bruchlos noch so zusam-
menzukommen, wie es von der Neuromantik konzipiert war,
die da glaubte, indem sie von Äußerem redet, zugleich von
der Seele selbst sprechen zu können, so wie Hugo von Hof-
mannsthal es programmatisch formuliert hat.504 Das, was man
im allgemeinen vom Expressionismus versteht, bezieht man
in dieser Entfremdungssituation meist auf das Subjekt. Man
denkt leicht unter Expressionismus den unmittelbaren Aus-
druck der von der gegenwärtigen Welt abgespaltenen und
darum auch ihrer Bildersprache nicht mehr mächtigen Seele.
Aber diese Fassung des Begriffs Expressionismus ist zu eng.
Für den Expressionisten war von Anbeginn auch die Mög-
lichkeit, ebenso auf die Seite der entfremdeten, dadurch ge-
wissermaßen mechanisch gewordenen, vergegenständlichten
Dingwelt sich zu schlagen wie auf die Seite des Subjekts. Der
Begriff des Expressionismus läßt also, wenn Sie mir die etwas
windige Formulierung durchgehen lassen, ebenso Raum für
das, was man unter dem Ausdruck des Kubismus etwa in den
westlichen Ländern bezeichnet hat, wie für die im engeren
Sinn expressionistischen Bewegungen der Malerei in Deutsch-
land, den »Blauen Reiter« und vor allem die »Brücke«. Nun,
Wedekind gehört, wenn Sie ihn einmal den deutschen Ex-
pressionisten zurechnen, auf die Seite dieses kubistischen Ex-
pressionismus, also auf die Seite der Konstruktion der ent-
fremdeten Dingwelt, die für ihn ja in Übereinstimmung ist
mit seiner Grunderfahrung, die Welt des Körperlichen, des
Intentionslosen, dem Beseelten Entgegengesetzten gegen-
über der Seele, die die Herrschaft usurpiert, in ihr eigenes

349
Recht wieder einzusetzen. Insofern gehört er – das ist von der
Literarhistorie natürlich längst konstatiert worden505 – wirk-
lich mehr auf die Seite von Dichtern wie Sternheim und Kai-
ser als auf die der großen expressionistischen Lyriker wie etwa
Trakl.
Hier liegt – in dieser merkwürdigen subjektfeindlichen
Identifikation mit der Dingwelt als einer entfremdeten, bei
der das höhere Recht gesehen wird als bei der Seele, die unter
ihr leidet – die innerste Beziehung zwischen Wedekind und
Brecht. Ein Stück wie der »Baal«, der ja eine Parodie auf ein
orthodox expressionistisches Seelendrama des späteren Nazis
Hanns Johst ist,506 kommt gerade in dieser Komplexion der
Wedekindschen Verhaltensweise sehr nahe. Wie tief die Be-
ziehung von Brecht zu Wedekind ist, das können Sie sich
kaum vorstellen. Mir selber hat der Dichter mehr als einmal
erzählt – ich weiß nicht, ob es nicht auch irgendwo von ihm
kodifiziert ist, jedenfalls muß es ihm einen ungeheuren Ein-
druck gemacht haben –, daß in dem »Marquis von Keith«507
Wedekind als Schauspieler an der Stelle, wo der Marquis von
Keith davon spricht, daß er ein Krüppel sei und hinke, drei
oder vier hinkende Schritte gemacht habe, sonst aber wäh-
rend des ganzen Stückes normal gegangen sei.508 Und ich bin
nie ganz das Gefühl losgeworden, daß entscheidende Katego-
rien der Brechtschen Dramaturgie, wie die einer an die Situa-
tion gebundenen, von der persönlichen Identität abgelösten
Gestik – überhaupt die Kritik der Einheit der Person, in die
man sich einfühlt, gegenüber dem Mann, der Mann ist,509 das
heißt, einer so gut wie der andere, weil er je nach der ein-
schlägigen Situation verschieden sich verhält –, durch diese
Erfahrung, die ich Ihnen genannt habe, in Brecht ausgelöst
worden sind; und auch das mag ein Zeugnis dafür sein, wie
unendlich weit die Problematik von Wedekind über die soge-
nannte Zeitproblematik hinausgeht.
Diese Parteinahme für Ding und Leib, für das der Seele
Entfremdete, für das, was der Seele so entfremdet ist wie der
Sexus dem Eros, das wird nun auch zu der Sprachform, von

350
der merkwürdigerweise Max Halbe einmal entdeckt hat, daß
sie eigentlich beruhe auf dem Mißverständnis in Perma-
nenz,510 und die ihrerseits sich der Verdinglichung als eines
Kunstmittels bedient, die den Zeitungsjargon als Reflexbe-
wegung gleichsam spricht und dadurch, daß sie ihn spricht,
ihn selber zum Sprechen bringt – darin viel spätere Tenden-
zen vor allem der großen amerikanischen Lyrik vorweg-
nimmt. Die Selbstentfremdung, von der die Werke Wede-
kinds erfüllt sind, terminiert in etwas wie Subjektlosigkeit, so
wie Lulu eigentlich kein Subjekt ist, oder wie sie ja keine See-
le hat und wie sie deshalb, weil sie keine Seele hat, geliebt
wird, geliebt von den Männern und geliebt von dem Dichter.
So geht es – und auch das erinnert im tiefsten an Beckett – in
der Dichtung Wedekinds der Konzeption des Subjekts selber
ans Leben. Es gibt kein Subjekt, weil es eine unmittelbare
Sprache der Seele nicht mehr gibt, sondern weil gesprochen
wird nur in Trümmern der Dingwelt. Diese künstlerische
Zusammensetzung des Werkes von Wedekind hat einen
Fluchtpunkt – und tatsächlich hat Wedekind Werke geschrie-
ben, die an diesem Fluchtpunkt sich finden oder auf ihn hin-
weisen –, nämlich sie nähert sich dem Ballett. Es ist in Wede-
kind geträumt oder konzipiert eine Dichtung ohne Sprache,
eine Dichtung des Verstummens. Und heute erst, wo die Fra-
ge der Dichtung überhaupt jene des Weitermachens ist, wie
es im »L’innommable« heißt,511 also die Frage, wie Dichtung
ohne Sprache eigentlich noch möglich ist – erst heute wird
dieses Moment, diese tiefste Konzeption von Wedekind in ih-
rer abgründigen Bedeutung ganz absehbar. Das, was wie We-
dekind die Kraft des Zum-ersten-Male hat, das wird nicht
überholt, sondern es überflutet das, was daraus wurde, weil es
hinausgreift über das, was überhaupt daraus hat werden kön-
nen. Man hat deshalb nicht an Wedekind sich zu erinnern,
sondern man hat kraft dessen, was nach ihm kam in der Welt
und in der Dichtung, ihn überhaupt erst einzuholen. – Ich
danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

351
Ist Aberglaube harmlos ?
30. 11. 1962

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

es wird Sie vielleicht erstaunen, im Rahmen dieser Hoch-


schulwochen und in einem Kreis so seriöser Menschen, die so
sehr an rationale Verfahren gewöhnt sind, wie es, ich möchte
sagen, in der Definition des höheren Beamten liegt, über ein
so unseriöses Thema wie den zeitgenössischen Aberglauben
etwas zu hören, und noch dazu aus dem Munde von jemand,
der, wenn ich das sagen darf, im allgemeinen mit ebenso se-
riösen Dingen beschäftigt ist wie Sie. Ich möchte gleich vor-
ausschicken, daß ich dabei nicht daran interessiert bin, über
den Aberglauben als solchen, über seinen Inhalt zu sprechen
oder auch gar den Aberglauben zu widerlegen, was ich für
ganz gleichgültig halte. Ich begnüge mich damit, daß bereits
Leibniz, der ja während des Barock lebte, als die Astrologie
und Alchimie eine besondere Macht über die Menschen
ausgeübt haben, daß Leibniz damals erklärt hat – sozusagen
schon vor der großen Aufklärungszeit –, daß unter allen Wis-
senschaften die einzige, die er verachte, die Astrologie sei.512
Ich beschäftige mich also mit diesen Phänomenen nicht we-
gen ihrer Wichtigkeit als solcher und auch nicht, um an ihnen
im Sinne der Aufklärung, die die Falschheit nachweist, Kritik
zu üben, denn das ist längst geschehen. Immerhin meine ich,
daß man sogar die unmittelbare Wichtigkeit des Aberglau-
bens nicht unterschätzen soll, denn – die statistischen Anga-
ben der Meinungsforschungsinstitute schwanken darüber –
nach den konservativsten Schätzungen glauben etwa 30 % der
bundesdeutschen Bevölkerung an die Astrologie, und daß
irgend etwas an der Astrologie dran sei, das glauben sogar
noch viel mehr Leute.513 So unwichtig in der Stellung des ge-
genwärtigen Bewußtseins, wie wir uns leicht einbilden, ist
das Ganze nicht. Aber der Grund, warum ich mich damit be-
schäftige, ist vielmehr ein soziologischer. Ich möchte wenig-

352
stens einige Aspekte an dem Aberglauben zeigen, die mir
aufschlußreich scheinen für den Zustand der Gesellschaft ins-
gesamt, und möchte den Aberglauben in seiner gegenwärtig
sozial wirksamen Gestalt Ihnen vorführen als eine Art von
Modell oder als Symptom einer Bewußtseinslage, eines Be-
wußtseinsstandes, der heute sich außerordentlich ausbreitet.
Man kann am Aberglauben wie im Reagenzglas eine Reihe
von sozialen und vor allem sozialpsychologischen Tendenzen
beobachten, die in anderen Bereichen weit weniger harmlos
sind als der Aberglaube. Es werden ja sicher viele der Ansicht
zuneigen, daß der Aberglaube harmlos sei. Ich möchte vor-
weg sagen, daß ich diese These von der Harmlosigkeit nicht
teile, und was ich Ihnen nun auseinandersetzen will, das hat
eigentlich keinen anderen Zweck, als Ihnen zu zeigen, war-
um ich den Aberglauben oder vielmehr die Mechanismen,
die hinter dem heutigen kommerzialisierten Aberglauben
stehen, für keineswegs harmlos halte. Ich möchte aber doch
erst noch etwas sagen über die Haltung, die in der Annahme
der Harmlosigkeit sehr oft sich ausspricht und die selber auch
charakteristisch ist. Wenn nämlich gebildete und leidlich auf-
geklärte Menschen über so etwas wie den Aberglauben re-
den, dann pflegt das gewöhnlich mit einer Art von gutmü-
tiger Ironie zu geschehen, so wie: ›Na ja, wir wissen ja, daß
da eigentlich nichts dran ist, und wir wissen auch, daß man
uns das aus irgendwelchen Interessengründen aufschwatzen
will, daß man uns betrügen will, aber was tut das eigentlich‹.
Ich glaube, daß genau diese Art von Ironie, die, ungeheuer
verbreitet, eine gegenwärtige Haltung ist und die übrigens
auch unter den Abergläubischen selber eine erhebliche Rolle
spielt, etwas sehr Bedenkliches ist, weil sie einen Kompromiß
darstellt dazwischen, daß man den Phänomenen, die man
mit solcher Ironie bedenkt, mißtraut, und zwar mit großem
Grund mißtraut, daß man sie aber auf der anderen Seite, weil
sie in unserer Gesellschaft nun einmal eine so erhebliche Rol-
le spielen, doch irgendwie passieren läßt, sich ihnen, ich
möchte fast sagen, unterwirft, sie akzeptiert, einfach deshalb,

353
weil sie da sind und weil so viel hinter ihnen steht. Und das tut
man dann auf die Weise, daß man zwar ein Mentalreservat
macht, indem man sie belächelt, aber zugleich sich eben doch
so verhält, als ob man nichts Ernstes dagegen hätte. Es ist diese
Haltung Ausdruck der allgemeinen Tendenz zur Neutralisie-
rung des Geistes, wie sie sich in der Neutralisierung unserer
Bildung insgesamt zeigt. Und genau diese Neutralisierung,
also die Tendenz überhaupt, Geistiges, welcher Art auch im-
mer, nur noch zu registrieren, es in Bildungsgut zu verwan-
deln, es zu verdinglichen, wenn ich es so nennen darf, im
Gegensatz dazu, daß man es wirklich ernst nimmt und als ein
selbständiger und rationaler Mensch dazu sich verhält, das
halte ich eben auch für ein Symptom des sehr bedenklichen
Zustandes. Und ich möchte von vornherein uns davor war-
nen, daß wir hinter diese Bildungsüberlegenheit uns ver-
schanzen, in deren Schutz, eben vermöge der Neutralisie-
rung, dann alle möglichen und sehr trüben Dinge gedeihen
können.
Es ist ja zunächst einmal eine Frage, wieso in unseren ach
so aufgeklärten Zeiten so etwas wie Aberglauben in weitem
Maß überhaupt möglich ist, weil es dem Zustand der Aufge-
klärtheit ja eben doch widerspricht. Es wäre darauf zu sagen,
daß zwar die Aufklärung sich auf den gesamten Bereich des
›Herrschaftswissens‹, wie Scheler es genannt haben würde,514
also auf den gesamten Bereich der technischen Zivilisation
und ihrer Anhängsel bezieht, daß aber, aus Gründen, die hier
auseinanderzusetzen sehr weit führen würde, diese Aufklärung
ihre Grenze hat in dem psychologischen Zustand der Men-
schen. Weil nämlich die Menschen selber gar nicht derart ih-
rer mächtig sind, wie eine aufgeklärte Gesellschaft es voraus-
setzt, bleiben in unserer rationalisierten Gesellschaft, in der
verwalteten Welt, ungezählte irrationale Sektoren übrig, und
gerade dadurch, daß sie eigentlich der Rationalität widerspre-
chen, nehmen sie dann ein so, ich möchte sagen, vergiftetes
und innerlich unwahres und problematisches Wesen an. Sie
müssen aber weiter, um die Rolle des gegenwärtigen Aber-

354
glaubens richtig verstehen zu können, zunächst einmal sich
darüber klar sein, daß es sich hier nicht um ein primäres Phä-
nomen handelt, also nicht um abergläubische Vorstellungen,
die in den Menschen selber unmittelbar lebendig sind, son-
dern daß es sich um das handelt, was ich mit »Aberglaube aus
zweiter Hand« bezeichnet habe,515 das heißt, daß es sich um
Vorstellungen handelt, die angekurbelt werden, und zwar an-
gekurbelt aus materiellen Interessen, im wesentlichen aus den
Interessen von Zeitschriften und Zeitungen, dadurch ihre
Auflagen zu erhöhen und eben sich zu verbreiten. Sie können
sagen, die Tatsache, daß sie verbreitet werden, die beweist ja
nun schon, daß eben doch die Menschen so abergläubisch
sind wie die Zeitungen und Zeitschriften. Ich glaube, auch
hier muß man sich davor hüten, den ganzen Komplex zu
oberflächlich zu sehen. Dispositionen dieser Art finden sich in
den gegenwärtigen Massen ohne allen Zweifel in sehr weit-
gehendem Maß, aber sie werden dann durch diesen von oben
her manipulierten, standardisierten Aberglauben gewisserma-
ßen mobilisiert, und während diese Institutionen sich wahr-
scheinlich darauf herausreden, daß die Menschen so sind, daß
die Menschen, wie das lateinische Sprichwort sagt, betrogen
sein wollen,516 benutzen sie das selbst, um die Menschen in
einen Zustand von Abhängigkeit zu sich zu bringen.
Hier können Sie zunächst schon einmal sehen, warum sol-
che Phänomene wie der »Aberglaube aus zweiter Hand«
soziologisch so relevant sind. Sie können hier wie in einer
Nußschale überhaupt etwas von dem Mechanismus der ge-
genwärtigen Massenkultur studieren, die ja auch darin be-
steht, daß sie, indem sie an Gegebenheiten in den Massen an-
knüpft, die Massen in einer ganz bestimmten Weise steuert,
lenkt und in Abhängigkeit bringt. Man kann also beinahe
sagen, daß in aller Massenkultur ›die Massen‹ die Ideologie
derer sind, die sie ausbeuten oder die sie manipulieren wollen.
Die Voraussetzung dafür, daß das möglich ist, ist nun ein
Zustand, den ich als ›sozialisierte Halbbildung‹ bezeichnen
möchte. Das heißt, die Menschen, die für den Aberglauben

355
anfällig sind, das sind im allgemeinen, wenn ich zu ihrer phä-
nomenologischen Charakteristik ein paar Worte sagen darf,
solche, die die Naivetät, die die Unschuld des Geistes verloren
haben, vor allem also auch Menschen, die nicht etwa mehr in
traditionellen, religiösen Vorstellungen wirklich fest verwur-
zelt sind, sondern die schon irgendwie kritisch geworden sind
und die sozusagen nicht mehr einfach das übernehmen, was
man ihnen sagt, sondern die hinter das Getriebe schauen wol-
len – zugleich aber Menschen, die weder ihrer Bildung nach
noch auch ihrer psychologischen Beschaffenheit nach die
Kraft haben oder auch nur den Willen haben, das gegenwär-
tige Getriebe und die in vieler Hinsicht ja zunächst als un-
durchsichtig erscheinende Gesellschaft wirklich zu durch-
dringen, und die deshalb zu einer Art von Ersatzrationalität
greifen, wie eben der Aberglaube eine ist, wie [sie] denn
überhaupt – und das ist für ihn charakteristisch – dem Aber-
glauben, mit anderen großen Heteronomien unserer Zeit
wie dem Faschismus und dem, was man im Osten mit dem
Ausdruck ›Diamat‹517 bezeichnet, so außerordentlich leicht
verfallen. Diese Voraussetzung ist gegeben in dem Zustand
unserer Gesellschaft insgesamt, die zwar durch ihre Kommu-
nikationsmittel Informationen in einem früher undenkbaren
Umfang verbreitet, die aber aus sehr tiefen strukturellen Grün-
den es nicht vermocht hat, die Menschen, die sie mit diesen
Informationen beliefert, selber zu autonomen und rationalen
Wesen zu machen, die nun eigentlich fähig wären, aus diesen
Informationen selber die Folgerungen zu ziehen.
Nun möchte ich zunächst einmal kurz Ihnen ein paar
Punkte angeben, was eigentlich die Leute von diesem soziali-
sierten und kommerzialisierten Aberglauben haben, wobei
ich mich nicht so sehr auf individuelle Astrologen und derar-
tige Leute oder Fachzeitschriften stützen möchte – das ist
wieder eine Sache für sich –, sondern auf die sozial relevante
Seite des Aberglaubens beschränken [werde], wie sie in den
Astrologiespalten ungezählter Tageszeitungen und weitver-
breiteter illustrierter Zeitungen eine Rolle spielt. Ich sagte

356
Ihnen, in unserer Gesellschaft, in der es ja keine unmittelba-
ren Beziehungen, keine ›face to face relations‹, wie man in
Amerika sagt, zwischen den Menschen mehr gibt, sondern in
der das Funktionale sich überall vor die Unmittelbarkeit der
Beziehungen geschoben hat, in dieser Gesellschaft verspricht
zunächst einmal der Aberglaube Kurzschlußlösungen. Wäh-
rend also, um das eigene Schicksal in der Gesellschaft zu ver-
stehen, außerordentlich schwierige und anstrengende und
sehr oft auch unbequeme und peinliche Reflexionen nötig
wären, damit der Mensch zu seinem Selbstverständnis in die-
ser Gesellschaft und zum Verständnis seiner sogenannten
›sozialen Rolle‹ gelangt, bietet ihm die Astrologie eine Art
Scheinorientierung dadurch, daß sie stillschweigend behaup-
tet: ›Na ja, das steht alles in den Sternen geschrieben und du
mußt dich einfach nach den Sternen richten, dann ist schon
alles in Ordnung‹. Diese Kurzschlüssigkeit dispensiert gerade
eben von Bildung selber, die ja ein langwieriger Prozeß ist,
und verheißt den Menschen etwas, wozu sie sowieso von dem
gegenwärtigen Reklamewesen und der Einrichtung der Ge-
sellschaft angehalten werden, nämlich dazu zu glauben, jetzt,
hier, unmittelbar im nächsten Augenblick bekomme ich schon
all das geliefert, wodurch ich in der Welt mich zurechtfinde,
während man natürlich in Wirklichkeit durch das, was [man]
da aus den Sternen, die zwar nicht lügen, aber auch nicht
die Wahrheit sagen, sondern gar nichts sagen, was man aus de-
nen dann serviert bekommt, [nur Scheinorientierung be-
kommt.] Dann liegt aber noch etwas anderes darin, das mit
dieser Kurzschlußlösung zusammenhängt. Die Sozialpsycho-
logie hat nachgewiesen, daß man in der heutigen Gesellschaft
in einem sehr weiten Maß bei den Menschen von ›Ichschwä-
che‹ reden kann,518 das heißt, daß sie tendenziell herabgesetzt
werden zu Zentren bedingter Reflexe, ohne daß sie demge-
genüber aus eigenem noch viel entgegenzusetzen hätten. Ich
möchte gar nicht in die psychologischen Mechanismen dieser
Ichschwäche jetzt eindringen, ich möchte nur auf ein ganz
einfach Soziologisches hinweisen, das auch denen unter Ih-

357
nen einleuchten dürfte, die nicht tiefenpsychologisch interes-
siert oder orientiert sind, nämlich darauf, daß ja die tatsächli-
che Entscheidungsmöglichkeit von uns allen heute durch die
Übermacht der Institutionen, sowohl der großen wirtschaft-
lichen Gruppen wie auch der hochkonzentrierten Verwal-
tungsmacht, außerordentlich herabgesetzt ist. Wenn ich gera-
de hier an Ihre und, ich darf sagen, unsere eigene Erfahrung
appellieren darf, dann ist es ja so, daß wir als sogenannte höhe-
re Beamte unaufhörlich erfahren, daß wir in Wirklichkeit gar
nicht die Entscheidungsfreiheit und Souveränität besitzen,
die uns durch unsere Position eigentlich zugemutet wird und
die man von uns erwartet und vor allem die wir selbst von uns
erwarten, sondern daß wir durch unzählige Bedingungen,
nicht nur die rationalen Verfahrensordnungen, sondern auch
etwa durch den Zwang, rasche Entscheidungen herbeizufüh-
ren, durch Situationen, die von vornherein auf Alternativen
zugespitzt sind und unsere selbständige Entscheidung gar
nicht mehr gestatten, daß wir also unaufhörlich eingeschränkt
sind und daß gerade dort, wo man eigentlich eine autonome,
wirklich freie Entscheidung erwartet, sich diese Entscheidung
in ungezählten Fällen darauf beschränkt, daß wir ein Ak-
tenstück von dem linken Aktenhaufen der unerledigten auf
die rechte Seite der erledigten Akten befördern. Wenn schon
wir, die wir doch zu einer relativ privilegierten Gruppe ge-
hören, diese Erfahrung machen der Abhängigkeit und der
Entscheidungsbeschränkung, wie wird es dann den armen
und beengten Menschen ergehen, auf die der kommerziali-
sierte Aberglaube zugeschnitten ist. Er nimmt ihnen, wenig-
stens symbolisch, wenigstens der Form nach, die Entschei-
dungen ab, zu denen sie sich unaufhörlich aufgerufen und
veranlaßt fühlen, während sie zugleich wissen und fühlen, daß
sie diese Entscheidungen in Wirklichkeit gar nicht fällen kön-
nen. Die psychodynamische Leistung, wenn ich es einmal so
ausdrücken darf, die der Aberglaube vollbringt, die geschieht
darin, daß er ausgleicht zwischen den Entscheidungen, die
von jedem von uns als einem Bürger einer freien und autono-

358
men demokratischen Gesellschaft erwartet werden, und der
tatsächlichen Unfreiheit, die es uns aus inneren und äußeren
Gründen eminent erschwert, diese selbständige Entscheidung
tatsächlich zu treffen. Dieser Widerspruch, an dem wir alle
unaufhörlich leiden, der wird nun abermals, wenigstens zum
Schein, von der Astrologie dadurch aufgelöst, daß sie uns die
Entscheidungen ihrem Anspruch nach abnimmt, indem sie so
tut, als ob diese Entscheidungen alle für uns bereits getroffen
wären, eben durch die Sterne, deren Autorität dabei, und zwar
im allgemeinen stillschweigend und unbefragt, vorausgesetzt
worden ist.
Dann kommt etwas weiteres hinzu. Sie alle kennen die
heute im Schwang befindlichen Theoreme darüber, daß nach
der Neutralisierung der großen Religionen die Gesellschaft
oder die Existenz für die Menschen überhaupt keinen Sinn
mehr habe. Ich möchte dahingestellt sein lassen, wie es mit die-
ser Frage nach dem sogenannten Sinn bestellt ist, ich möchte
mich vielleicht auf das Aperçu dabei beschränken, daß in dem
Augenblick, wo man nach einem solchen Sinn, also einem
der eigenen Existenz äußeren, nicht in ihr selber enthaltenen,
zu fragen beginnt, eigentlich schon alles verloren ist und daß
die sogenannte Problematik des Sinnes dort anfängt, wo man
nach ihm fragen muß. Aber ich möchte das jetzt nicht weiter-
entwickeln. Jedenfalls ist es aber so, daß die Astrologie den
Menschen abermals auch eine Art von Ersatzsinn anbietet,
und zwar auch hier wiederum im Sinne einer Kompromiß-
lösung dazwischen, daß sie, aufgeklärt in dem Sinn, im allge-
meinen an eine göttliche, an einen personalen Willen der
Gottheit gebundene Vorsehung nicht recht glauben, aber auf
der anderen Seite es doch nicht dabei aushalten, daß nichts
anderes sein soll als dieses bloße Dasein. Und der Trick, den
nun die Astrologie dabei verübt, der besteht in nichts ande-
rem, als daß die Notwendigkeiten, denen wir in unserem Da-
sein unterliegen, durch die Astrologie selber so präsentiert
werden, als ob diese Notwendigkeiten, an denen wir gerade
leiden und an denen wir den Mangel an Sinn empfinden, als

359
ob diese uns fremde und für uns darum sinnlose Notwendig-
keit selber eigentlich der Sinn wäre, nach dem wir suchen,
wobei dann ganz im Sinne des Naturalismus, des aufgeklärten
Bewußtseins, die Autorität, die einmal ihre Stelle in der Reli-
gion hatte, einem bloß Natürlichen, nämlich eben den Ster-
nen und ihren Konstellationen zugeschrieben wird. Es steckt
also in der Astrologie auch noch so ein Stück von Rückfall in
die Naturreligion, so ein Stück von unausgegorenem Panthe-
ismus, man könnte sagen, Überreste des Monismus von vor
fünfzig Jahren drin. Aber das Ganze ist so autoritär, das heißt
so sehr nur darauf abgestellt, daß man es schlucken soll, daß es
solche Voraussetzungen, wie sie dabei hereinspielen, selber
eigentlich niemals den Menschen ganz bewußtmacht.
Es ist übrigens in diesem Zusammenhang noch wichtig
und es verdient darauf hingewiesen zu werden, daß die gro-
ßen Religionen, und zwar mit gutem Grund, von jeher gegen
den Aberglauben außerordentlich kritisch gewesen sind und
daß infolgedessen, wenn der Aberglaube heute auch noch so
mit einer Art religiösem Anspruch auftritt, das nicht nur un-
ter dem Gesichtspunkt der Aufklärung, sondern ebenso auch
unter dem der Theologie eine höchst fragwürdige Ange-
legenheit ist, weil ja hier genau jene Immanenz des Lebens,
jener bloß natürliche Lebenszusammenhang vergottet wird,
gegen den die Idee einer transzendenten Gottheit eigentlich
gestanden hat und heute auch noch steht. Es ist also eine Art
von naturalistischer Religion oder auch eine Art von Natur-
religion, auf die die Menschen zurückgebildet werden, wobei
dieser Gedanke der Zurückbildung, den ich hier erreicht
habe, Sie vielleicht zugleich hinweist auf ein sehr Wesentli-
ches an dem Aberglauben, nämlich daß er insgesamt über-
haupt der Versuch ist, Tendenzen der Regression, die in den
Menschen heute überhaupt außerordentlich stark sind, also
der psychologischen Rückbildung auf infantile Wesen, diesen
Regressionsprozeß sei es auszubeuten und an ihn anzuknüp-
fen oder ihn womöglich gar durch die infantilen Vorstellun-
gen, die [beteiligt] werden, noch zu verstärken. Dabei ist nun

360
aber charakteristisch, daß der Aberglaube, der diese Regres-
sion betreibt und der einem rationalen Verhalten sich ent-
gegensetzt, sozusagen ein parasitäres Verhältnis zur Religion,
gleichzeitig auch ein parasitäres Verhältnis zur Wissenschaft
hat. Das heißt, daß er fast immer so auftritt, als ob er Wissen-
schaft wäre, und er beutet in gleicher Weise wie die Irra-
tionalität auch die Wissenschaftsgläubigkeit der Menschen
aus, er beutet ihre Überzeugung aus, daß alles, was in der
Wissenschaft vorgeht, eben von einer absoluten Dignität sei.
Gerade dieser Wissenschaftlichkeitsanspruch, der ist nun au-
ßerordentlich raffiniert, denn es ist so, daß ohne Frage die
Astrologie wissenschaftliche Erkenntnisse in einer gewissen
Weise ausbeutet. Auf der einen Seite beutet die Astrologie die
Astronomie aus. Das heißt, ein Astrologe wird im allgemei-
nen sich sorgfältig hüten, über die Sterne und ihre Konstella-
tion irgend etwas zu sagen, was für den betreffenden Tag oder
für die betreffende Stunde nicht zuträfe. Ich habe neulich eine
etwas sonderbare Gerichtsentscheidung gelesen, an die ich
Sie vielleicht erinnern darf, obwohl viele von Ihnen sie wahr-
scheinlich viel besser kennen als ich, die gesagt hat, daß ein
Astrologe, um sein Handwerk ausüben zu dürfen, über gründ-
liche Kenntnisse verfügen müsse, sonst wäre er ein Scharla-
tan,519 das heißt, er muß wirklich die Konjunktionen der Ge-
stirne ganz genau angeben können, wie wenn das bereits
wissenschaftlich oder rational wäre, denn es geht ja nicht dar-
um, ob die Konstellationen der Sterne richtig bezeichnet
werden, sondern es geht darum, ob zwischen diesen Konstel-
lationen der Sterne und uns ein einsichtiger Zusammenhang
besteht. Nun, andererseits von der Wissenschaft entlehnt ist
aber auch das, was die Astrologie über die Menschen sagt. Das
heißt, eine Populärpsychologie wird vorausgesetzt, die sehr
oft bei den Leuten, die diese Spalten zusammenschmieren,
sich verbindet mit einer wirklich sehr raffinierten, abgebrüh-
ten und skeptischen Kenntnis der Menschen und ihrer In-
stinkte, so daß also auch in der psychologischen Sphäre die
Astrologie wirklich etwas wie wissenschaftliche Kenntnisse

361
zur Verfügung hat, nur daß sie freilich etwa das, was sie von
Tiefenpsychologie weiß, im umgekehrten Sinn verwendet,
nämlich in dem Sinn, vermöge dieser Kenntnisse die Men-
schen in ihrer Irrationalität zu befestigen. Das Scheinhafte
dieser Wissenschaftlichkeit, dieses Wissenschaftlichkeitsan-
spruchs besteht nun in Wirklichkeit nur darin – aber dieses
›nur‹ trägt einen schweren Akzent und es geht dabei ums
Ganze –, daß diese beiden Sphären, nämlich die populärpsy-
chologische Erfahrung auf der einen Seite und die Astrono-
mie auf der anderen, so behandelt werden, stillschweigend,
ohne daß das je überhaupt ins Bewußtsein erhoben würde, als
ob zwischen ihnen ein bündiger Zusammenhang bestünde;
während so wenig ein solcher eindeutiger Zusammenhang be-
steht, daß sich statistisch, wie ich mir von statistischen Freun-
den habe sagen lassen, die Sache nicht einmal widerlegen läßt,
weil nämlich so viele Variable sich zusammenfinden, um so et-
was wie den Zusammenhang von Gestirnen und Psychologie
zu erweisen, daß auch nur die wissenschaftliche Überprüfung
der Behauptung außerordentlich schwer wird.520 Ich hoffe,
daß nicht ein Anhänger der Astrologie unter Ihnen ist, der
daraus, daß man die Sache nicht überprüfen kann, nun etwa
die Folgerung zieht, es müsse also doch etwas daran sein.
Meine Damen und Herrren, das ist also die Pseudowissen-
schaftlichkeit. Ich glaube, Sie können sich gerade die Wirkung
dieses Aspekts nicht groß genug vorstellen. Ich war einmal
unvorsichtig genug, mich auf eine Fernsehsendung einzulas-
sen521 – vielleicht haben einige von Ihnen sie gesehen –, wo
ich so einiges zur Sozialkritik des Aberglaubens vorgetragen
habe, während unabhängig von mir, ohne daß ich mit ihm
etwa diskutiert hätte, auch ein Astrolog aufgenommen war.522
Dieser Astrolog, der erschien in einer behaglichen Joppe,
lebte in einem schönen, behaglichen, friedlichen und mo-
dern eingerichteten Bauernhaus mit Strohdach, machte sich
mit seinen Instrumenten zu schaffen und zeigte irgendwel-
che Kurven der Gestirne, mit denen es ganz sicher ihre Rich-
tigkeit hatte, und es ging überhaupt von ihm der Ausdruck

362
der vertrauenerweckenden Gediegenheit und zugleich der
menschlichen Wärme aus, während ich gezeigt wurde in
einem modernen wissenschaftlichen Institut, hinter einem
Schreibtisch sitzend, und von vornherein den Eindruck eines
kaltherzigen und bösen rationalen Menschen machte, so daß
einfach durch die Versuchsanordnung, wenn ich so sagen
darf, die Wirkung zugunsten des astrologischen Herrn und
nicht zugunsten meiner Argumente prädeterminiert gewesen
ist, wobei eben gerade diese scheinhafte Kombination einer
angedrehten und selber verlogenen Wärme und mensch-
lichen Nähe – so der gute Onkel, der sich um das Schicksal
der Menschen bekümmert – mit rationaler wissenschaftlicher
Gediegenheit – er arbeitet mit Sextanten und machte ein
nachdenkliches Gesicht, wenn er die Kurven der Sterne ver-
folgte – ihm eben eine Massenwirkung, einen Massenappeal
verschafft, dessen unsereiner sich schwerlich erfreuen kann.
Wenn ich sagte, daß das Ganze weniger harmlos sei, als es sich
gibt, so kann man das wohl doch nur unter Bezugnahme auf
bestimmte tiefenpsychologische Dinge bezeichnen. Wenn
nämlich die These stimmt, daß wir alle heute leiden, in einem
weiten Maß leiden unter eben jener Heteronomie der gesell-
schaftlichen Verfassung, die auf uns liegt, dann haben wir alle
gewisse Destruktionstendenzen unbewußter Art. Wir wün-
schen irgendwie unbewußt, damit wir endlich unsere Ruhe
haben – lassen Sie es mich einmal so vulgär und schlicht aus-
drücken –, daß die ganze Chose in die Luft geht. Und dieser
unbewußte Wille, der wird nun von der Astrologie ausge-
beutet, indem sie an alle möglichen Verfolgungsphantasien
der Menschen anknüpft und immerzu mit dem Gedanken der
Katastrophe und des Unheils spielt, der in unser aller Unbe-
wußtem ja liegt und der im übrigen von der paranoiden Ver-
fassung der Welt, die ja selbst wirklich in die Luft gehen kann,
uns ständig auch noch nahegelegt wird. Und mit diesen De-
struktionsphantasien wird gespielt von der Astrologie. Sie gibt
den Menschen gewissermaßen die Hoffnung auf die große
Generalexplosion, gibt ihnen aber gleichzeitig auch die Hoff-

363
nung, daß, wenn sie sich richtig verhalten, nämlich wenn sie
den Sternen parieren, vielleicht diese Explosion doch nicht
stattfinden wird.
Ich habe gesagt, es ist eine paranoide Verhaltensweise. Der
aus der Psychiatrie bekannte analoge Fall ist der von Ver-
folgungswahnsinnigen, die etwa ein Haus anstecken, aber
gleichzeitig den Eimer mit Wasser daneben stellen, mit dem
der von ihnen selbst entzündete Brand gelöscht werden soll.
Das Verhalten dieses Paranoikers ist ein bißchen das der astro-
logischen Spalten oder jedenfalls das, auf was diese Spalten,
übrigens sehr rational und sehr schlau, ausgerichtet sind. Und
schließlich liegt darin, daß der moderne Aberglaube, wie ich
Ihnen bereits sagte, durch Massenmedien betrieben wird und
standardisiert ist durch das Moment, das ich in der Formulie-
rung von der ›sozialisierten Halbbildung‹ zum Ausdruck ge-
bracht habe, noch eine wesentliche Funktion, die er für die
Menschen hat, nämlich die, daß sie fühlen, indem sie auch
dabei sind, indem sie auch inbegriffen sind, dazuzugehören,
nicht länger isoliert zu sein. Wenn Sie etwa Heiratsannoncen
in den Zeitungen sich ansehen, was eine sehr lehrreiche Be-
schäftigung ist, dann werden Sie dabei finden, daß in einer
beängstigend häufigen Weise die Menschen, die da einen so-
genannten Partner suchen, sich selbst als ›Stier‹ oder als ›Jung-
frau‹, oder wie immer diese einfachen Zeichen des Tierkrei-
ses heißen mögen, affichieren. Und man hat dann das Gefühl,
daß sie sich selber schon unter dem Gesichtspunkt der idioti-
schen Definitionen erfahren, die der populären Astrologie zu-
folge nun einmal den Charakter einer ›Jungfrau‹ oder eines
›Stiers‹ oder eines ›Zwillings‹ eben ausmachen sollen, und daß
sie, wenn sie schon sonst gar nichts sind und zu sonst gar
nichts sich zugehörig fühlen, wenigstens die Gratifikation be-
kommen, daß sie nun ein ›Stier‹ oder eine ›Jungfrau‹ sind, eine
Gratifikation, die etwa ähnlich ist der, daß wir ja doch alle
Zeitgenossen eben sind.
Ich habe Ihnen mit diesen Dingen vielleicht schon eine
Struktur der Astrologie gesagt, die überhaupt für unsere ge-

364
genwärtige Kultur sehr charakteristisch ist und die vor allem
von der Massenkultur, der Kulturindustrie insgesamt ausge-
beutet wird. Die Astrologie ist ja, könnte man sagen, eine
Sparte der Kulturindustrie, und zwar eine, in der die Kultur-
industrie etwas von dem ausplaudert, was sie in ihren geschlif-
feneren und fortgeschritteneren Produkten nicht mit der-
selben Naivetät verrät, nämlich das, was die Astrologie den
Menschen bietet, das sind Ersatzbefriedigungen. Während
die Astrologie den Menschen alles mögliche Schöne ver-
spricht aus den Sternen, das dann aber doch nie eintritt – das
heißt, es ist meist dann von einer so trivialen Art, daß es ent-
weder eintreten kann oder nicht, es ist gleichgültig, ob es
eintritt –, sind diese astrologischen Spalten immer so organi-
siert, daß sie selber, also das Versprechen, anstelle der Erfül-
lung dessen treten, was sie eigentlich angeben. Das heißt, die
Menschen haben bereits Lustgewinn daraus, daß ihnen etwas
Gutes versprochen wird, sie haben auch einen Lustgewinn aus
dem Spielen mit dem Untergang und der Katastrophe, sie
haben einen Lustgewinn daraus, daß sie persönlich sich ange-
sprochen fühlen vermöge der Pseudo-Individualisierung –
der Spaltenonkel spricht ja immer so, als ob er das letzte Müt-
terchen im letzten Kaff, indem er sagt, daß sie zwischen 12
und 13 Uhr besonders vorsichtig zu sein habe, in sein sehr
weites Herz geschlossen hätte. Alle diese Dinge geben den
Menschen selber bereits die Gratifikation, die sie von der
Realität nicht sonst eigentlich erhalten. Ich möchte hier Sie
besonders darauf aufmerksam machen, daß die Astrologie mit
dem Narzißmus spielt, also mit der Eitelkeit der Menschen,
ganz schlicht gesagt. Das heißt, daß die Ratschläge, die erteilt
werden, und die ganze Art, mit der die Astrologie sich an die
Menschen wendet, erstens einmal ihnen schon dadurch eine
Wichtigkeit verleihen, daß sie sich mit ihnen beschäftigt und
so tut, als ob sie mit jedem einzelnen spezifisch sich beschäfti-
gen würde, zweitens aber dadurch, daß sie die Menschen so
anspricht – die Massen, an die sie sich wendet –, als ob jeder
einzelne ein ganz besonders wertvoller, begabter und tüchti-

365
ger Mensch eben wäre. Dieses Spielen mit der Eitelkeit, diese
stellvertretende Bestätigung ohnmächtiger und unablässig ge-
demütigter Menschen, das ist wohl eines der stärksten Fer-
mente, die diese Wirkung hat, wie ja im übrigen auch der ge-
genwärtige Kollektivismus und pathische Nationalismus
wesentlich aus solchen Mechanismen der Eitelkeit bestehen.
Das heißt, die ohnmächtigen und ihrer Nichtigkeit sich weit
bewußten Menschen werden vor sich selbst dadurch zu etwas,
daß sie ›Sowjetmenschen‹ oder daß sie ›Deutsche‹ oder daß sie
sonst irgendwie Mitglieder eines Kollektivs werden, und dazu
ist dann schließlich der ›Stier‹ und die ›Jungfrau‹ gerade gut
genug. Ein weiteres Moment ist das, und das hat wieder die
Astrologie mit der Kulturindustrie in manchen von deren
Sparten gemeinsam, daß sie den Menschen, die sie so indivi-
dualisiert, gleichzeitig Hilfe verspricht, daß sie ihnen Rat-
schläge gibt, die dazu führen sollen, daß sie mit ihrem Leben
besser fertig werden. Wenn man nun diese Ratschläge sich
ansieht, dann laufen sie im allgemeinen auf vollkommene Tri-
vialitäten heraus, und während so getan wird, als ob man sich
in die Probleme der Menschen versenkt, und während bis
zu einem gewissen Grad sogar die wirklichen Probleme der
Menschen dabei erörtert werden, sind die Ratschläge, die ih-
nen erteilt werden, und die Hilfe, die ihnen erteilt wird, ganz
nichtig; sie laufen eben nur darauf heraus, daß die Menschen
das Gefühl haben, es wird gesorgt, es wird an uns gedacht,
aber irgendwelche realen Konsequenzen folgen daraus nicht.
Gerade nun auf dieser Beraterrolle der Astrologie beruht die
Argumentation der Leute – es ist auch ein recht bekannter so-
zialpsychologischer Kollege von mir unter ihnen523 –, die das
Ganze als etwas Harmloses und womöglich doch Positives
und Erfreuliches betrachten. Es ist ganz sicher so, daß es kei-
nem Menschen etwas schadet, wenn gesagt wird – vor allem
an einem Tag, wo der Astrologieschreiber weiß, daß ein be-
sonders lebhafter Straßenverkehr herrscht –, daß man im
Auto vorsichtig fahren soll. Ein solcher Rat an sich kann si-
cher nichts schaden. Trotzdem halte ich selbst diesen Rat, ab-

366
gesehen von seiner Blödsinnigkeit, nicht für so harmlos und
positiv, wie er sich gibt, weil ja in ihm doch der Anspruch
steckt, daß die Sterne diese Verkehrsregeln den Menschen ge-
geben haben, und der Mechanismus der Verdummung, der
angekurbelt wird, indem die Verkehrsregeln, denen wir doch
alle mehr oder minder zu parieren haben, sich so darstellen,
als ob es dazu ausdrücklich des Willens der Sterne bedürfte,
dieser Mechanismus der Verdummung wirkt natürlich durch-
aus negativ. Natürlich kann nicht eine einzige astrologische
Kundgabe die Menschen verdummen, und wenn man etwa
Erhebungen, eine Studie über Verdummung machen würde,
wäre eine solche Studie dadurch sehr schwer durchzuführen,
weil ja der verdummende Einfluß von diesen Mechanismen
außerordentlich schwer im einzelnen dingfest zu machen ist.
Aber Sie dürfen nicht vergessen, daß unter diesen Mechanis-
men der Verdummung der Aberglaube nur einer ist und daß
sich hier ein Kontinuum erstreckt, das von den Sternen über
die Wichtigkeit der Damen Soraya524 und Margaret525 bis zu
den vollkommenen Verbiegungen der Realität in dem übli-
chen Film reicht, und daß die Menschen so von diesen kul-
turindustriellen Sparten umstellt sind, daß ihnen tatsächlich
nichts anderes mehr übrigbleibt, als dem sich zu fügen bis zu
einem gewissen Grad, wobei ja das Sichfügen, das Gehorchen
sowieso die Idee dieser Medien ist. Ich muß sagen, daß längst
nicht alle Bevölkerungen der Erde wirklich glauben, daß es
das Wichtigste in der Welt ist, ob man ein ›Stier‹ oder eine
›Jungfrau‹ ist, und daß Frau Soraya der wichtigste Mensch ist,
den es in der Welt gibt. Das erklärt sich im Grunde nur damit,
daß, während die Menschen an diesen Schwindel glauben, sie
doch nie ganz daran glauben, daß in ihnen doch eine aktive
Ambivalenz herrscht, die den Schwindel auch als Schwindel
durchschaut, und daß infolgedessen – genauso konsequenz-
los, wie die Ideologie ist, die von dorther verbreitet wird – sie
doch auch für sich selbst bis zu einem gewissen Grad kon-
sequenzlos bleibt. Trotzdem kann man sich dem Gefühl, so
schwer das wissenschaftlich zu [belegen] ist, nicht versagen,

367
daß das System der Kulturindustrie als Ganzes schon etwas
wie jenen Typus produziert, von dem die Kulturindustrie be-
hauptet, daß sie ihn bedienen müsse.
Neben dem Appell an Eitelkeit ist auch der Appell an
Angst, und das geschieht nun so, daß er, um die Menschen
nicht abzuschrecken, gemildert wird. Es kommen immer
Drohungen vor, aber dann auch Beistand von den Sternen,
beides gleich irreal. Man kann das sozial so interpretieren, daß
gemeint sind eben abhängige Menschen und solche Men-
schen, die für ihr Schicksal schlechterdings nicht verantwort-
lich sein können; das wird dann so gewandt, daß die Sterne
von der Abhängigkeit sie entlasten. Die Voraussetzung des ge-
samten Verhaltens, das von der Astrologie angekurbelt wird,
ist die, daß alles durch privates Verhalten, also wenn man als
Einzelmensch den Sternen gemäß sich verhält, gebessert wer-
den kann, eine Voraussetzung, die natürlich völlig im Wider-
spruch zu der Unfähigkeit des einzelnen steht, an den Verhält-
nissen, in die wir eingespannt sind in der verwalteten Welt,
von sich aus wirklich und im Ernst etwas zu ändern.
Der Astrologe – um noch ein bißchen konkreter zu werden
und wenigstens mit ein paar Worten noch an das konkrete
Phänomen der astrologischen Spalten heranzukommen, wie
ich sie besonders in Amerika systematisch untersucht habe –,
der steht vor einer schwierigen Aufgabe. Er muß ja die Fik-
tion machen – ich sagte Ihnen das schon –, als ob er die Men-
schen, an die er sich wendet, alle persönlich kennen würde
und als ob er an ihnen persönlich Anteil nähme. Genau darauf
beruht die Übertragungssituation, die Bindung, die der astro-
logische Schreiber mit seinen Opfern herstellen will. Nun ist
das sehr schwer, denn in Wirklichkeit kennt er sie ja nicht. Es
ist sehr interessant – und bei dem Studium dieser Dinge kann
man wirklich die Herren Astrologen psychologisch bewun-
dern lernen –, mit welcher Schlauheit sie ihre Opfer und de-
ren Reaktionsweisen einkalkulieren, wie [der Astrologe] sich
da aus der Affäre zieht. Das heißt, das, was er sagt, muß immer
konkret genug sein, um so zu klingen, als ob es für die spezifi-

368
schen Menschen etwas Spezifisches bedeutete, aber auf der
anderen Seite darf es doch nicht zu leicht widerleglich sein.
Dazu helfen zwei Dinge. Einmal der Appell an Glücksbedürf-
nis und Eitelkeit. Wenn nämlich die Spalte dieses Bedürfnis in
sich befriedigt, dann knüpft sie an so starke psychologische
Bedürfnisse der Menschen an, daß sie dann über die Wahrheit
oder Unwahrheit des Gesagten nicht zu viele Gedanken sich
dabei mehr machen. Dann aber kommt dazu, daß zumindest
die Konflikte, die die astrologische Spalte behandelt und die
sie an den Menschen demonstriert, selber typisch genug sein
müssen für verbreitete reale Konflikte, daß eine gute Chance
ist, daß die Menschen in den Konflikten, von denen die Rede
ist, sich selbst wiedererkennen, und das wird meisterhaft von
den Spalten im allgemeinen gehandhabt. Übrigens ist auch
die Pseudo-Individualisierung eines in Wahrheit Standardi-
sierten eine allgemeine Struktur der kulturindustriellen Pro-
dukte, so wie etwa die meisten der Konsumfilme, während
sie sich so geben, als ob sie ein individuelles und spezifisches
Kunstwerk mit spezifischen Menschen wären, eigentlich im-
mer dasselbe Skelett nur mit verschiedenen Bildern umhän-
gen und mit verschiedenen Farben anmalen.
Man muß also typische Situationen kennen von unlösbaren
Konflikten. Nun, der formale Aufbau ist im allgemeinen so,
daß diese Konflikte, deren prinzipielle Unlösbarkeit von den
astrologischen Schreibern gewußt wird, zum Schein dadurch
aufgelöst werden, daß das Unvereinbare in der Zeit verteilt
wird. Wenn schon durch die wechselnden Konstellationen
der Gestirne der abstrakte Zeitfaktor zum entscheidenden
Grund der ganzen Botschaften der Astrologie gemacht wird,
dann wird darüber hinaus nun noch einmal die Zeit, die ja be-
kanntlich schon über manche Wunde hat Gras wachsen las-
sen, ganz genau nach diesem schönen Sprichwort als das ei-
gentlich sinngebende Prinzip von der Astrologie behandelt,
wobei sie anknüpfen an einen Zug der Ichschwäche, von der
ich Ihnen bereits geredet habe, nämlich an die Neigung von
Menschen mit schwachem Ich, alle Probleme, die sie haben,

369
von sich selbst und ihrem Individuum weg auf den abstrakten
Zeitfaktor zu übertragen. Widersprechende Forderungen, die
typisch an die Menschen ergehen, werden also auf die Zeit
transponiert, es wird aus dem ›entweder – oder‹ tendenziell
ein ›erst – dann‹ gemacht, und zwar nach einem sehr einfa-
chen und auch empirisch vorfindlichen Schema, dem Sche-
ma von Arbeit und Muße. Der Rat, den hier die Astrologie
erteilt im allgemeinen, ist wiederum nichts als eine Verdop-
pelung dessen, was wir im allgemeinen tun müssen, nämlich
wir sollen im allgemeinen tagsüber arbeiten und haben
abends die Möglichkeit, uns zu entspannen. Nun, die Astro-
logie, vor allem in ihrer hochrationalisierten amerikanischen
Gestalt, in den amerikanischen Zeitungen, die sagt: ›Am Vor-
mittag soll man realistisch sein, die Aufgaben im Leben erfül-
len, und am Abend, da soll man sich was gönnen, soll eine
gute Zeit haben‹. Dabei steht aber die gute Zeit selber wieder
nur stellvertretend ein für die Arbeit. Das heißt, man darf es
sozusagen nie zu bunt treiben, sondern die gute Zeit, die man
haben soll, das Vergnügen, das man haben soll, soll im allge-
meinen in den sogenannten ›einfachen Freuden‹ des Lebens
bestehen, die man ja deshalb vor allem den armen Menschen
so gerne als Ideal preist, weil sie zu anderen als den einfachen
Freuden des Lebens ohnehin meist keinen Zugang haben.
Dabei wird sehr auf eine reinliche Trennung gehalten von Ar-
beit und Vergnügen. Es wird sozusagen das Arbeitsteilungs-
prinzip noch auf die innere Ökonomie der Menschen ange-
wandt: Wenn man also arbeitet, soll man das eigentlich ganz
streng nur im Sinn des Realitätsprinzips, des Eigeninteresses
der zu verfolgenden Vorteile tun und soll das nicht dadurch
beflecken, daß man auf irgendwelche dummen, das heißt
selbständigen und unverwertbaren Gedanken dabei kommt.
Das Ideal der Reinlichkeit spielt dabei überhaupt in die-
sen Spalten eine sehr große Rolle. Das Glück aber, das die
Menschen in der Freizeit haben sollen, das ist nur Mittel zum
Zweck, es ist sozusagen das Prinzip ›Kraft durch Freude‹, und
nach den Anweisungen der Astrologiespalte sollen selbst die

370
Vergnügungen praktische Vorteile bringen. Es wird etwa in
der amerikanischen Zeitung, die ich besonders analysiert
habe,526 den Menschen nahegelegt, daß sie, wenn es Männer
sind, mit einem hübschen Mädchen, und wenn es Mädchen
sind, mit irgendeinem Mann am Abend ausgehen und sich
amüsieren sollen, aber nie fehlt dabei der Hinweis, daß aus
diesem Kontakt auch wesentliche geschäftliche Vorteile sich
schließlich doch ergeben würden. So sieht also in dieser Pra-
xis das Realitätsprinzip aus. Dann weiter werden kontradik-
torische Forderungen auf eine gemeinsame Formel gebracht
wie die, daß man auf der einen Seite ein starkes Individuum
sein soll, besonders in Amerika nach dem Ideal des ›rugged
individualism‹,527 also des rücksichtslosen, realitätsgerechten
Konkurrenten, daß man auf der anderen Seite aber sich fügen
muß, was wieder der sozialen Realität entspricht, in der ja der
Typus des unabhängigen, selbständigen Geschäftsmannes ge-
genüber dem Funktionär und dem Angestellten zurücktritt.
Und auch das wird biphasisch auseinandergenommen, wobei
aber die Orientierung, wie Riesman das genannt hat, nach
außen,528 die Orientierung also an dem Effekt, immer über-
wiegt und der Gedanke an die Durchbildung des einzelnen
Menschen in sich selbst tendenziell zurücktritt. Nun, dieses
nach außen Orientierte führt zu einer systematischen Über-
bewertung des Kleinlich-Praktischen, die ebenso an den
kleinbürgerlichen Charakter anknüpft, auf den diese Dinge ja
gemünzt sind und der sowieso zum Geiz und zur Pedanterie
zu tendieren pflegt, andererseits aber auch wieder sehr reali-
stisch darin ist, daß die Aktivität, die die meisten Menschen
überhaupt entfalten können, ja wirklich sich tendenziell auf
sehr nichtige und äußerliche Dinge, wie in Amerika etwa das
Waschen vom Auto am Sonntagvormittag und ähnliche Ver-
anstaltungen, beschränkt. Das wird nun ungeheuer angekur-
belt. Es herrscht überhaupt so etwas, was man vielleicht als
einen ›unrealistischen Realismus‹ bezeichnen soll. Die Men-
schen werden angehalten zu realistischen Veranstaltungen
und Verhaltensweisen, die aber selber, wenn man sie näher be-

371
sieht, so kleinlich und so gleichgültig sind, daß sie in der Rea-
lität, der sie sich anpassen sollen, in Wirklichkeit gar nichts
vermögen, ihr gegenüber ganz gleichgültig und ganz nichtig
sind. So etwa wie jene Spiele, die man sich ausgedacht hat,
daß Angestellte einmal im Jahr den Chef spielen sollen, so
werden die Leute in der Spalte angeredet wie die Angestell-
ten, die als Chef genommen werden. Auch etwa, zum Beispiel,
es wird den Leuten, von denen man ja im allgemeinen anneh-
men darf, daß sie zu den ärmeren Bevölkerungsgruppen ge-
hören, empfohlen, Schemata und Diagramme dessen auszu-
arbeiten, wie sie ihr Einkommen am besten disponieren und
am besten verwerten. Die Freude an diesen fetischistischen
Veranstaltungen und der Zeichnung von Diagrammen und
solchen Dingen, gegenüber dem armseligen Einkommen, bei
dem man wahrscheinlich sowieso nicht weiß, wie es langt,
und bei dem man deshalb dann nur von solchen Diagrammen
ganz enthoben ist, die fetischistische Freude, solche Schemata
zu entwicklen, die betrügt darüber, daß es eigentlich gar nicht
so arg viel dabei zu schematisieren gibt. Eine große Rolle da-
bei spielt auch etwa der Rat, daß man hinter den Kulissen mit
Vorgesetzten eine bestimmte Art von Aktivität entfalten soll,
ein Ausdruck dafür, daß vor allem in Amerika, wo die Kon-
zentration des Kapitals ja noch viel weiter fortgeschritten ist
als bei uns, auf dem normalen Konkurrenzweg [man] schon
kaum mehr glaubt, richtig vorwärtskommen zu können –
oder auch nach dem Leistungsprinzip nicht glaubt, vorwärts-
kommen zu können –, so daß es also solcher Veranstaltungen
eben mehr oder minder trüber Art, durch Konnexionen be-
darf. Das hängt wohl überhaupt mit gewissen sehr verhäng-
nisvollen Tendenzen des Übergangs unserer Gesellschaft in
eine geschlossene und hierarchische Gesellschaft zusammen.
Ich kann darauf jetzt, schon allein der fortgeschrittenen Zeit
wegen, nicht eingehen.
Ebenso werden auch in den ökonomischen Ratschlägen
zwei einander widersprechende Tendenzen verfolgt. Auf der
einen Seite wird nämlich gesagt: ›Sei konservativ, also halte

372
dich streng innerhalb deines Rahmens‹, auf der anderen aber:
›Sei modern und mache Neuanlagen‹. Nun, darin steckt fol-
gendes: Wer nämlich nichts riskiert und wer nichts investiert,
der geht im Konkurrenzkampf vor die Hunde, wer aber zu-
viel investiert, der geht ebenso vor die Hunde, und man weiß
nicht, wie man es also tun soll. Man hat das Gefühl, als ob die
Leute auf der einen Seite zu Abzahlungsgeschäften ermutigt
werden, weil die für die Wirtschaft insgesamt gut sind, gleich-
zeitig aber davor gewarnt [werden], weil in den Abzahlungs-
verträgen die Gefahr einer Wirtschaftskrise drinliegt. Es über-
tragen sich also Widersprüche in der wirtschaftlichen Struktur
selber auf die Verhaltensweisen, die man den Menschen emp-
fiehlt, und da hat nun wieder die Spalte ihren biphasischen
Weg, ihren zweiteiligen Weg, indem man halt im allgemeinen
so am Tag sparsam und am Abend verschwenderisch sein soll,
und dahinter steht die Vorstellung, daß sich das dann irgend-
wie ausgleichen wird, ohne daß das Problem selber durch-
dacht wäre.
Eine große Rolle spielen die sogenannten menschlichen
Beziehungen dabei, die Familie, wobei die Familie in Wirk-
lichkeit immer eigentlich erscheint als eine Macht, der man
zu gehorchen hat. In Wirklichkeit steht immer das Bild nör-
gelnder und mahnender Familienangehöriger dahinter, und
die Ratschläge beziehen sich darauf, daß man mit dem Ge-
spenst der Familie auf eine möglichst geschickte und schlaue
Weise fertig wird, ohne daß irgend etwas wie Wärme in den
Beziehungen angenommen wird. Wenn von Freunden die
Rede ist, so werden die im allgemeinen mit Vorgesetzten
identifiziert, und es ist sehr sonderbar, hier habe ich eine ganz
merkwürdige Sache beobachtet, es wird nämlich immer ge-
sagt, man soll sich an seine neuen Freunde halten und soll sich
möglichst vor den alten Freunden hüten, was auch wieder mit
dieser Realitätsgerechtigkeit zusammenhängt. Man soll sozu-
sagen aus seinem Leben all das eliminieren im Sinn dieses
Aberglaubens, was nicht unmittelbaren Nutzen bringt, und
sich auf das beschränken, wovon man jetzt und hier etwas hat,

373
im Sinne eines ›give and take‹, eines ›gib und nimm‹. Sie kön-
nen allein an einem solchen Detail, wie dem, das ich hier zur
Illustration herausgegriffen habe, sehen, wie wenig harmlos
diese Ratschläge sind.
Nun, meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß.
Ich konnte Ihnen in dieser gedrängten Stunde leider nicht
entfernt alle die Aspekte vortragen, die ich Ihnen eigentlich
habe vortragen wollen. Aber ich möchte doch wenigstens
noch etwas Abschließendes sagen: Die Menschen, die die
Astrologie und die Mentalität, die ich Ihnen eben bezeichnet
habe, für harmlos halten, die werden wahrscheinlich im allge-
meinen dann darauf sich herausreden, daß die Botschaften,
die einem hier mit dem falschen Anspruch auf Rationalität529
zukommen, daß die relativ vernünftig wären und daß sie dazu
dienen würden, unter den Menschen etwas wie Ordnung zu
verbreiten. Während das Leben, in dem wir leben, ein ent-
formtes und chaotisches Leben sei, sei ein solcher Anspruch
auf Ordnung eben gut, und es sei gut, wenn die Menschen,
sei es auch aus den trübsten Quellen, zur Ordnung so ange-
halten werden, wie es hier geschieht. Nun, ich würde darauf
sagen: erstens, daß der Begriff der Ordnung nicht an sich ein
Gutes ist, sondern daß die Verherrlichung der Ordnung als
solcher gegenüber dem Inhalt und der Gestalt der Ordnung
bereits Ausdruck eines heteronomen und geschwächten Be-
wußtseins ist, dem es gar nicht mehr darauf ankommt, daß die
Welt vernünftig und nach der eigenen Einsicht gestaltet wird,
sondern nur noch, um mit Brecht zu reden, darauf, daß man
etwas hat, woran man sich halten kann.530 Und wenn das,
woran man sich halten kann, so blind von außen gesetzt ist,
daß man selber darin eigentlich gar nicht sich wiederfindet,
sondern daß die Ordnung nur noch auf das blinde Sichfügen
herausläuft, dann wird dadurch der Anspruch dieser Ordnung
entwertet. Das heißt, es wird dann eine Ordnung propagiert,
die in Wahrheit in Widerspruch zu den realen Interessen der
Menschen tritt, die von dieser Ordnung umfaßt sein sol-
len. Und das, was mir nun eigentlich das Problematische die-

374
ses Symptoms erscheint und warum ich den Geist, den die
Astrologie erweckt, für alles eher als harmlos halte, das ist
das, daß sie dieses Gefühl für Ordnung schlechthin im Sinne
einer ganz undefinierten und vagen Abhängigkeit erweckt,
ohne daß sie noch mit der Rechtfertigung der Ordnung sich
überhaupt abgibt, in die die Menschen sich einlassen sollen.
Ich meine, gerade diejenigen konservativen Apologeten der
Astrologie, die auf das Ordnungsargument sich herausreden,
dürften die letzten sein, die dem Argument des Platon sich
entgegensetzen, dessen ethische Lehre ja wesentlich darauf
herausläuft, daß subjektive Verhaltensweisen nur dann legitim
sind, wenn ihnen auch objektive Wahrheit zukommt. Hier
aber wird die Objektivität der Wahrheit nicht befragt, son-
dern sie wird auf eine dogmatische, blinde und noch dazu un-
wahrhaftige Weise unterstellt als etwas, was in den Sternen
gegeben sei, und ich bin allerdings der Ansicht, daß eine Ord-
nung, die an sich nicht wahr ist, die sich in sich nicht vor den
Menschen legitimieren kann, daß die auch nicht, wie einem
dann so immer wieder betont wird, für die Menschen, die
nach einer solchen Ordnung sich richten, gut sein kann. Das
ist eigentlich das Motiv – und ich bitte Sie zu entschuldigen,
wenn ich nun doch philosophisch rede –, das ist eigentlich das
philosophische Motiv, das mich zu der Einsicht gebracht hat,
daß die Astrologie das Symptom einer Gesamttendenz ist, die
außerordentlich verhängnisvoll ist, und daß das, was sich an
ihr entnehmen läßt, gar nicht ihre unmittelbare Wirkung,
aber die Gesamttendenz unserer Welt, die in ihr sich aus-
spricht, daß die alles andere als harmlos ist.
Sie ist aber auch – und damit möchte ich schließen – in ei-
nem tiefen Sinne antidemokratisch. Denn der demokratische
Staat, in dem wir leben, beruht ja auf der Voraussetzung, daß
in ihm die Willensbildung erfolgt durch mündige, ihrer selbst
bewußte und autonome Menschen. Wenn nun die Men-
schen, von deren Selbständigkeit, von deren Urteilsfähigkeit,
von deren Vernunft die Gestaltung der Realität abhängt, von
vornherein durch das System, das vielleicht seinen krassesten

375
Ausdruck im organisierten Aberglauben findet, so herabge-
setzt werden, daß sie zu einer solchen selbständigen Willens-
bildung, zu einer solchen vernünftigen Entscheidung nicht
mehr fähig sind, wenn also diese sämtlichen Techniken, für
die ich Ihnen ein Beispiel hier entwickelt habe, eigentlich es
verhindern, daß die Menschen unserer Gesellschaft über-
haupt noch autonome Menschen werden, dann tritt dadurch
ihrer Form nach, unabhängig von allem besonderen Inhalt,
diese gesamte Theorie bereits in Gegensatz zu der Idee der
Demokratie selbst. Und wenn man also hier nun sagt: ›In ei-
ner Demokratie, da soll man jedem Tierchen sein Pläsierchen
lassen, und wenn die Menschen gerne Astrologie haben, na
dann soll man ihnen das doch geben‹, dann ist das im tiefsten
verlogen, weil der Fluchtpunkt der Techniken der Manipu-
lation, die ich Ihnen hier erläutert habe, die Unfreiheit der
Menschen und ihre blinde Hörigkeit ist, und ich würde aller-
dings denken, daß damit auf die Dauer auch die Idee der De-
mokratie selber nicht gefördert, sondern untergraben wird.
Und deshalb glaube ich, ist es berechtigt, wenn Sie alle dem
Gesamtkomplex ihre kritische Aufmerksamkeit zuwenden,
den ich an einem besonders krassen Symptom, gewisserma-
ßen wie im Reagenzglas, vor Ihnen zu untersuchen die Freu-
de hatte. – Ich danke Ihnen.

376
Der Begriff der politischen Bildung
1. 2. 1963

Das, was ich heute möchte nun, ist eigentlich etwas sehr Be-
scheidenes. Ich möchte Sie nämlich dazu bringen, daß Sie
einsehen, daß auch Ihre politische Bildung sich nicht damit
begnügen darf, daß Sie nun also politische Verfahrensregeln
oder das Parteienwesen oder den Gang der politischen Ver-
waltung oder irgendwelche Phänomene dieser Art kennen-
lernen und etwa fähig sind, im Examen ganz genau anzugeben,
was notwendig ist, damit eine Gesetzesvorlage ein Gesetz
wird, und wie der Bundesrat sich dabei zu verhalten hat und
weiß Gott was sonst noch, sondern daß, damit Sie wirklich
zu einem lebendigen Verständnis der Politik gelangen, mit
anderen Worten, daß die Politik für Sie nicht ein bloßes Fas-
sadenphänomen ist, daß Sie dabei gesellschaftlich, daß Sie
soziologisch denken müssen, daß Sie also des realen gesell-
schaftlichen Kräftespiels innewerden müssen, das unter den
offiziellen Institutionen liegt.

Ich möchte zunächst ein paar Worte sagen über das Phäno-
men der Personalisierung, das mir geradezu ein Schulfall zu
sein scheint für ein falsches Bewußtsein, das dadurch zustande
kommt, daß die Sphäre der Politik isoliert wird und daß man
sie infolgedessen einseitig festlegt auf die Politik betreibenden
und über Politik entscheidenden Menschen. Das hat selber
seine sozialen Gründe. Je kälter die Welt wird, je weniger wir
alle fähig sind, über unser eigenes Schicksal in der Gesellschaft
zu entscheiden, je mehr wir die Gesellschaft daran spüren, daß
es weh tut, und je vermittelter auch alle Beziehungen zwi-
schen den Menschen sind – und auch die allerengsten und
intimsten Beziehungen unter den Menschen stehen unter
dem Gesetz des Marktes, des Tausches, haben ein Moment
von Fremdheit, das jeder einzelne in irgendeiner Weise aufs
schmerzlichste an sich selber in dieser Welt erleben wird und
erleben muß –, je mehr also diese Prozesse, die man solche der

377
gesellschaftlichen Entfremdung oder Vergegenständlichung
oder Verdinglichung in der Tradition sowohl der großen Phi-
losophie wie der großen Gesellschaftstheorie genannt hat,
fortschreiten, um so mehr tendieren die Menschen in einem
verblendeten und falschen Bewußtsein dazu, die Welt, in der
sie sonst quasi erfrieren würden, für ihr eigenes Bewußtsein
zu vermenschlichen, die entmenschlichte Welt sich so darzu-
stellen, als ob es eine menschliche wäre, die von Menschen
unmittelbar abhängt. Und dann werden also irgendwelche
prominenten Figuren so ungeheuer wichtig, als ob es also
darauf ankäme, welche Person nun in der Politik diese oder
jene Rolle spielt. Es wird, wenn ich so sagen darf, die Politik
nach demselben Modell gesehen wie dem der illustrierten
Zeitschriften, die uns einreden wollen, daß also, ob die Prin-
zessin Margaret ein Kind bekommt und ob die Ex-Kaiserin
Soraya wieder heiratet, das Phänomene von der größten
Wichtigkeit für uns alle wären, während diese Fragen abge-
sehen von den zwei oder drei davon unmittelbar betroffenen
Personen, für jeden einzelnen von uns vollkommen gleich-
gültig sind. Nun, von einer ähnlichen Gleichgültigkeit ist aber
auch die Rolle der Personen in der Politik. Sie können das
zum Beispiel an der amerikanischen Wahltechnik beobach-
ten, die vollkommen personalisiert ist, während es rein um
Tickets, also um Programme von Parteien geht, hinter denen
ganz bestimmte Mächtegruppen stehen. Je objektiver, je ver-
dinglichter die Kräfte werden, um so mehr tendieren die
Menschen dazu, sie zu personalisieren. Es werden also Kon-
flikte zwischen Interessen- und Machtkonstellationen auf
Personen verschoben. Und dadurch kommen Scheinlösun-
gen politischer Konflikte zustande, wie Sie sie auch in unse-
rem eigenen politischen Leben beobachten können, etwa von
der Art wie die Ersetzung eines mißliebigen Politikers durch
einen anderen, der vielleicht charakterlich anders geartet ist
als der vorhergehende, der aber seiner objektiven Funktion
und Wirkung nach, dem nach, wofür er einsteht, und dem
nach, was er in dem politischen Kräftespiel bewirkt, von sei-

378
nem Vorgänger möglicherweise sich gar nicht so schrecklich
unterscheidet.

Wir beobachten sehr häufig, daß Schüler in der politischen


Bildung durch die Isolierung der Politik vom gesellschaftli-
chen Kräftespiel nun ihr politisches Urteil nicht orientieren
an den realen Kräften, sondern an Ideen und an moralischen
Normen, die angeblich hinter der Politik stehen sollten. Es
wird also etwa das Recht oder das Verfahren, jedenfalls das ab-
geleitete Geistige, der Begriff, anstelle der politischen Reali-
tät gesetzt. Es ist erstaunlich, in welchem Maß die von uns
befragten Schüler531 immer wieder, wenn wir sie nach politi-
schen Dingen gefragt haben, dabei von politischen Ideen und
Begriffen reden und in welchem Maß [sie] die Mächte und
die Machtkonflikte, die in Wirklichkeit über unser Leben
[bestimmen], wie wir alle dumpf wissen, darüber vergessen.
Dadurch erfolgt eine Art Idealisierung der Politik, es werden
aus realen Kämpfen gleichsam Schattenkämpfe, und das wirk-
liche Getriebe wird nicht erkannt oder es wird zu bloß zufälli-
gen Konflikten der Individuen herabgesetzt. Die Konsequenz
daraus ist nun alles eher als harmlos. Sie besteht nämlich darin,
daß die Idealsphäre, in der sich diese Art politischer Ideologie
bewegt, also der Kampf, der Schattenkampf der Begriffe,
dann auch zu einer Art Idealisierung der Politik selbst führt,
indem man, da die Politik eine Sache von Ideen, eine idea-
listische Sache sei, sie bestimmten Gruppen zuschreibt, die
kraft ihrer gesellschaftlichen Position zu diesen Idealen eine
besondere Nähe und Affinität hätten und die dazu befähigt
wären, in diesem idealen Sinn zu fungieren, obwohl das in
Wirklichkeit gar nicht der Fall ist.
Das ist also der Übergang – mit anderen Worten – von der
Idealisierung der Politik zu der Elitetheorie, die ja, wie Sie
wissen, in dem Faschismus und in dem Nationalsozialismus
eine entscheidende Rolle gespielt hat, die aber in dem politi-
schen Gesamtbewußtsein, wie wir es im Institut für Sozialfor-
schung zu studieren Gelegenheit haben, in dem Bewußtsein

379
der Bevölkerung auch in unsrer Demokratie ein sehr zähes
Leben hat. Sie dürfen eben, meine Damen und Herren – und
ich kann das nicht nachdrücklich genug sagen und deshalb
wiederhole ich es –, die politische Form, unter der wir leben,
mit dem realen gesellschaftlichen Bewußtsein der Menschen
nicht gleichsetzen. Man kann in einer Demokratie leben und
kann trotzdem seinem Bewußtsein nach ganz und gar von
Vorstellungen und Formen beherrscht sein, die mit der De-
mokratie, selbst wenn man sich sogar zu ihr bekennt, wie das
sehr viele Menschen heute tun, unvereinbar sind.
Die Elitetheorie hat nun aber die Tendenz, daß das Apoliti-
sche, also das Absehen von dem realen Kräftespiel zugunsten
einer ideal oder als idealistisch vorgestellten kleinen Minder-
heit selbst zu einem Politikum wird, nämlich der Bereitschaft,
die gesellschaftliche Kontrolle diesen Eliten einzuräumen und
selber gar nicht mehr das Bewußtsein der eigenen Verant-
wortlichkeit, der eigenen Mündigkeit zu haben, überhaupt
auch nicht einmal mehr als Möglichkeit das festzuhalten, was
von der Realität uns ohnehin außerordentlich erschwert
wird, nämlich unser eigenes Schicksal als gesellschaftliche We-
sen selbständig und frei zu bestimmen. Der Begriff der Masse,
der Gegenbegriff zur Elite, hat ja heute ein merkwürdiges
Schicksal erfahren. Alexander Mitscherlich hat einmal in ei-
nem Aufsatz die Anekdote berichtet von dem Demagogen,
der in einer riesigen Massenversammlung am Schluß brüllt –
20 000 Zuhörer sind da –: ›Und wer, liebe Volksgenossen, ist
an alledem schuld? Die Vermassung und immer wieder nur
die Vermassung!‹ Und darauf erfolgt zehn Minuten lang
dröhnender Beifall der 20 000 Menschen.532
Man hat ja unterdessen Techniken entwickelt – der Natio-
nalsozialismus war durch die Rassetheorie darin besonders
ingeniös –, die Elitetheorie so zu wenden, daß sogar eine Ma-
jorität, also alle die, die nicht Juden waren, die also die über-
wältigende Mehrheit waren, sich als die Elite, etwas Auser-
wähltes und etwas Besonderes haben fühlen können. Es ist das
einer der merkwürdigen und paradoxen Kompromisse, die

380
zwischen den realen Bedingungen der Massengesellschaft
und der elitären Ideologie getroffen worden sind. Sie können
sich danach vorstellen ungefähr, was es mit der Massenfeind-
schaft und der Elitetheorie, die ja ursprünglich von dem ita-
lienischen faschistischen Theoretiker Vilfredo Pareto ent-
wickelt worden ist,533 was es damit auf sich hat. Und dieses
Potential nun eines elitären Denkens, wie wir das in der
Soziologie nennen, spielt als ein antidemokratisches Poten-
tial in der Analyse des politischen Bewußtseins eine große
Rolle.
In den wenigen Schulklassen etwa, in denen der Sozial-
kundeunterricht wirkliche soziologische Kategorien und
Fragestellungen einschließt, wo also auf das wirkliche Kräfte-
spiel der Gesellschaft anstatt bloß auf die formalen Kategorien
der Verfahrensweise eingegangen wird, da konnten wir im
Gegensatz dazu in der Untersuchung, von der ich Ihnen ge-
sprochen habe und die jetzt in ihrem letzten Stadium der
Niederschrift sich befindet, feststellen, daß der Anteil über-
zeugter Demokraten unter den Schülern merklich höher ist
als in solchen Klassen, wo ein solcher soziologisch akzentu-
ierter Sozialkundeunterricht nicht stattfindet. Und wir haben
hier geradezu ›demokratisch‹ gleichsetzen können mit der
entschiedenen Ablehnung von elitären Vorstellungen in dem
Sinn, daß irgendwelche Gruppen sich selber als Elite stilisie-
ren und erklären – das gehört nämlich zum Begriff der Elite
wesentlich dazu –, und ebenso auch [mit der] Ablehnung der
autoritären Staatsformen. Die Wirksamkeit eines soziolo-
gisch orientierten Unterrichts in politischer Bildung auf die
Strukturen des politischen Bewußtseins, die zeigt sich auch
darin, daß in diesen Klassen, also denen, die was von Soziolo-
gie gelernt haben, die Neigung zu autoritätsgebundenen Re-
aktionen, die Disposition zu Vorurteilen, etwa dem antisemi-
tischen oder dem negerfeindlichen, weitaus geringer ist als in
solchen Klassen, in denen man sich nur mit formaler Politik
oder politischer Geschichte befaßt und in denen soziologi-
sche Themen nicht vorkommen.

381
Es sind also in Sozialkunde mit Soziologie 42 Prozent über-
zeugte Demokraten, und 25 sind es nur in solchen [Klassen],
wo Sozialkunde ohne Soziologie betrieben wird. Solche, de-
ren Ansichten in sich widerspruchsvoll sind, gibt es da 44 Pro-
zent unter denen, die was von Soziologie lernen; wo es keine
Soziologie gibt, 54. Und solche, die direkt und offen autoritär
sind, die sind unter den soziologisch Gebildeten nur 14 Pro-
zent, unter denen, die nichts von Soziologie wissen, 21 Pro-
zent.534 Was nun das Entscheidende, nämlich die Einstellung
zur Autorität und zum autoritären Staat anlangt, so sind die
Verhältnisse noch sehr viel extremer, wo es also um Verhält-
nisse der Größenordnung 1:2 sich handelt. Es wird vergessen,
daß Demokratie schließlich die Verfassung der Gesellschaft
selbst sein soll, in der das Leben der Menschen selbst nach ih-
rem freien Willen und autonom sich vollzieht, daß das Volk
und jeder einzelne sich selbst bestimmt und daß die Gesamt-
heit der Beziehungen zwischen den Menschen nach ihrem
freien Willen sich bestimmt. Wo die Politik zu einer Sonder-
sphäre gemacht wird, da überläßt man all diese Entscheidun-
gen den Institutionen und den relativ blinden gesellschaftli-
chen Mächten, etwa den Eigentumsverhältnissen, so wie sie
nun einmal sind. Und die Demokratie wird dann allenfalls
noch so etwas wie eine Art von Rechtsschutz gegen Fälle
grober Willkür, gegen grobe Übergriffe, oder ein System der
Regierung, dem man eine Chance gibt, solang es gut geht,
denn unter der Demokratie haben wir ja also nun den großen
wirtschaftlichen Aufschwung erlebt. Aber durch diese Ab-
spaltung der Politik von dem Lebensprozeß der Gesellschaft
selbst würde man dann auch bereit sein, wenn man etwa hof-
fen würde, unter einer anderen politischen Verfassung ein
größeres Stück von dem Kuchen der Weltproduktion für sich
abzuschneiden, darauf so bereitwillig zu verzichten, wie das
im Faschismus bereits der Fall war. Ich will nicht sagen, daß
das heute tatsächlich so ist, denn die Schrecken des Faschis-
mus sind uns als unmittelbare Bedrohung des Lebens zu ge-
genwärtig, als daß im Ernstfall die Menschen so dächten, wie

382
ich es Ihnen eben als Schreckbild an die Wand gemalt habe.
Aber die Möglichkeit jedenfalls eines solchen Denkens durch
die Formalisierung des Demokratiebegriffs und durch den
Verzicht auf inhaltliche Demokratie des Lebens selbst, diese
Möglichkeit ist doch außerordentlich stark, eben deshalb,
weil man unter Demokratie eben nur einen Inbegriff von
Verfassungsbestimmungen und Spielregeln sieht und die Au-
tonomie und Selbständigkeit des eigenen gesellschaftlichen
Verhaltens, also daß die Gesellschaft selber aus dem freien und
vernünftigen Willen der Menschen soll eingerichtet werden
können, gar nicht mehr überhaupt in den Blick bekommt,
weil die Übermacht der Institutionen der Welt so groß ist,
daß man schon kaum mehr die Freiheit und sicher nicht mehr
die Kraft hat, sich vorzustellen, daß es anders sein könnte. Es
wird dabei – und ich glaube, das ist das Entscheidende – gar
nicht einmal nur verkannt, daß es soziale Momente gibt. Sie
hören ja immerzu etwa von ›Betriebsklima‹, und es schallt von
allen Gassen, daß also auf die sogenannten ›zwischenmensch-
lichen Beziehungen‹ und ähnliche Dinge Rücksicht zu neh-
men sei. Aber darum geht es nicht. Sondern das, was verkannt
wird, ist die Objektivität der Gesellschaft, ist, daß die Gesell-
schaft ihre eigenen objektiven Formen und Gesetze hat, die in
den Verhältnissen der Verfügung über die Mittel der Produk-
tion und in der gesellschaftlichen Macht schließlich bestehen.
Und die werden also von diesem isoliert politischen Denken
in die rechtlich-politischen Formen oder in das bloße Den-
ken der einzelnen Subjekte aufgelöst, der Begriff der Objek-
tivität der Gesellschaft wird aufgeweicht. Und wenn ich Ihnen
sagen darf, was mir jedenfalls die Aufgabe einer sinnvollen
Soziologie allein erscheint, dann würde es sein, das Bewußt-
sein der objektiven gesellschaftlichen Verhältnisse zu erwek-
ken und dieses Bewußtsein der objektiven gesellschaftlichen
Verhältnisse auch unter den Menschen zu verbreiten, damit
sie die Verhältnisse im Ernst verbessern.

383
Die subjektiv gerichteten unter den großen Soziologen, wie
etwa Max Weber, haben trotz allem etwa in der Bedeutung,
die sie objektiven Phänomenen wie der Bürokratisierung535
der Welt zugemessen haben, von dieser gesellschaftlichen
Objektivität eben doch ein entscheidendes Bewußtsein ge-
habt. Aber den anderen wird Politik zu einer arbeitsteiligen
Sondersphäre, die vom Gesamtleben der Gesellschaft getrennt
sei. Diese arbeitsteilige Sondersphäre wird dann gern soge-
nannten Spezialisten überlassen, die’s für einen machen. ›Er
wird’s schon machen‹, ›der Führer weiß alles‹, ›der Führer
wird’s schon für uns schaffen‹, hieß es im Dritten Reich, aber
etwas davon ist eben durch diese Trennung der Politik von der
Gesellschaft auch heute noch übrig, und man selber desinter-
essiert sich kontemplativ daran so lang, wie man nur glaubt,
daß es da irgendwo einen gescheiten Professor im Wirt-
schaftsministerium gibt, der dafür sorgt, daß also die Hoch-
konjunktur möglichst lange andauert.
Andererseits wird der, der nun die Politik zu seiner Spezial-
aufgabe macht, der also ›Politiker von Beruf‹ wird, wie es bei
Max Weber heißt,536 der also das Gesamtwohl als ein Partiku-
lares betreibt, eben deshalb verdächtig. Das genaue Korrelat
zu dieser Vergleichgültigung oder Neutralisierung der Politik
ist dann die Rancune, die in Amerika tief eingewurzelte und
verbreitete Rancune gegen den Politiker, gegen den Berufs-
politiker, die sich auch bei uns in Deutschland ganz deutlich
anzeigt und in der so etwas steckt wie das Ressentiment dar-
über, daß, nachdem ich es nun nicht selber tue, was ich ei-
gentlich selber tun müßte, daß dann der, der es besorgt, weil
ich’s ihm überlassen habe, daß der ein bedenklicher Mann sei,
der mir eigentlich nur das Fell über die Ohren zieht. Und die-
ses Mißtrauen gegen den Politiker, das durch die Verhältnisse
selbst, die sozialen Verhältnisse, so geprägt wird, wie ich ver-
sucht habe, es Ihnen zu entwickeln, das wird dann selber sehr
leicht zu einer Macht, um Mißtrauen gegen die Demokratie
zu säen und zu sagen: ›Also, mit diesem ganzen Cliquenwe-
sen, dieser ganzen korrupten Politik muß endlich mal Schluß

384
gemacht werden‹. Die Nazis haben gesagt ›Schluß mit dem
Parteienwesen‹,537 sie haben in gewisser Weise ja die Politik
abgeschafft, wenn Sie so wollen, sie haben sie total gemacht
und haben sie abgeschafft. Und es muß also ein starker Mann
anstelle der Politiker her, der den in solchen Fällen immer zur
Verfügung stehenden Augiasstall, der zum eisernen Vorrat
gehört, nun also endlich dann einmal ausfegen soll, eine anti-
demokratische Tendenz, die in dem Schoß der Demokratie
selber heranwächst.538
Ich glaube auch keineswegs, daß etwa solche Dinge wie die
Kenntnis der sogenannten demokratischen Spielregeln, also
die Dinge, die wir an dem unangenehmen Versammlungslei-
ter kennen und dem Apparatschik, daß die etwas Schlechtes
und Verächtliches seien. Ich glaube schon, daß derjenige, der
in das Mächtespiel der Politik eingreift, in irgendeiner Weise
über diese Apparatur auch verfügen muß, denn wie ich im-
mer wieder Gelegenheit habe zu beobachten, vollziehen sich
im allgemeinen machtpolitische Entscheidungen sehr selten
offen als solche, sondern fast immer durch den Apparat der
formalisierten und genormten, scheinbar objektiven Verfah-
rensweisen hindurch, und infolgedessen, wenn man sie nicht
kennt und wenn man nicht sozusagen also diese Praktiken mit
ihrem eigenen Maß messen und nach ihrer eigenen Gesetz-
lichkeit zur Ordnung rufen kann, dann ist man ihnen als ein
Dummchen, als ein Naiver mehr oder minder wehrlos ausge-
liefert.
Aber ich meine eigentlich noch viel mehr. Man kann ja sa-
gen – und es gibt eine berühmte Theorie, die das gesagt hat –,
daß die Politik selber auch eine Gestalt des Überbaus über der
Gesellschaft sei,539 insofern sie Verfahrensregeln und Perso-
nen der unmittelbaren Verfügung über die scheinbar neutra-
len gesellschaftlichen Institutionen verwechselt mit der ge-
sellschaftlichen Objektivität selber, also mit den Institutionen,
in denen die gesellschaftliche Macht eigentlich besteht. Man
kann, wiederhole ich, sagen, daß insofern die Politik Ideolo-
gie sei. Aber ich glaube – und ich mute Ihnen damit ein wenig

385
etwas zu, ich mute Ihnen damit etwas zu, was vielleicht mit
Ihrem gesunden Menschenverstand gar nicht so ohne weite-
res in Übereinstimmung zu bringen ist –, Politik ist nicht nur
Ideologie, sondern eine ausgezeichnete Ideologie insofern,
als in den Mitteln der politischen Willensbildung und der
politischen Machtapparatur selber auch das Potential einer
Veränderung eben der Struktur liegt, die anders als mit politi-
schen Mitteln sich gar nicht herstellen läßt. Also, wenn ich es
zugespitzt sagen soll – und man wirft mir ja oft vor, daß ich
eine Neigung zu zugespitzten Formulierungen hätte –, die
Politik ist die Gestalt der Ideologie, die in sich die Möglich-
keit der Abschaffung von Ideologie enthält. Nun, wenn ich
gesagt habe, daß Politik eigentlich als Soziologie zu bestim-
men sei, dann bedeutet das immer zugleich auch, daß auf
Grund der gesellschaftlichen Einsicht in die tragenden gesell-
schaftlichen Strukturen mit den zur Verfügung stehenden
Mitteln der politischen Willensbildung eingegriffen wird.
Schließlich lassen Sie mich sagen, daß es Situationen gibt,
in denen Politik keineswegs nur zu bestehen braucht in posi-
tiver, aktiver Teilnahme, sondern daß sie ebenso – und viel-
leicht leben wir in einer solchen geschichtlichen Stunde –
auch bestehen kann im Widerstand gegen eine falsche Politik.
Es gibt Zeiten und Situationen, solche, in denen die positiven
Programme diskreditiert sind oder keine Aussicht auf ihre
Verwirklichung haben, in denen überhaupt die wahre Politik,
also die Politik, die dem Begriff einer richtigen Gesellschaft
dient, sich zusammengezogen hat in den Widerstand.

386
Richard Strauss –
Fragen der kompositorischen Technik
3. 7. 1964

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

wenn ich heute abend unter Musikern als Musiker spreche,


so wird es Ihnen gewiß verständlich sein, wenn ich nicht
wesentlich mit sogenannten ästhetischen Fragen mich be-
schäftige, sondern versuche, einiges über technische Kompo-
sitionsprobleme bei Strauss zu sagen. Allgemeinere ästheti-
sche Aspekte habe ich in einer Arbeit gegeben, von der Teile
vom Radio übertragen worden sind und aus der Sie andere in
ein paar Wochen im Radio hören können,540 wenn Sie etwa
das unselige Verlangen tragen sollten, das zu hören, so daß ich
also diese Dinge heute vernachlässigen kann, wenn auch na-
türlich gewisse Überschneidungen dabei sich nicht ganz ver-
meiden lassen.
Ich darf aber doch sagen – was manchen von Ihnen keine
große Überraschung sein wird –, daß Festreden zu halten mir
nicht gegeben ist und daß es mir auch nicht gegeben ist, etwa
das Ihnen vorzutragen, was man mit einem wahrhaft grausli-
chen Ausdruck ›Würdigung‹ nennt, mit der falschen Perspek-
tive einer distanzierten und überlegenen Gerechtigkeit, die
im allgemeinen keinen anderen Grund hat, als daß derjenige,
der dieser Haltung sich befleißigt, den, den er mit dieser Hal-
tung malträtiert, überlebt hat. Ich halte das auch für generell
unfruchtbar und setze mich lieber dem Verdacht der Pietät-
losigkeit aus, als daß ich die Tatsache, daß vor ein paar Tagen
der Geburtstag von Richard Strauss zum hundertsten Mal
sich gejährt hat, nun zu törichten Lobreden mißbrauche. Ge-
nauso fern aber liegt es mir nun auch, aus der schlechten und
nicht existenten Superiorität des Nachgeborenen heraus nun
einfach, weil wir es ›so herrlich weit gebracht‹ haben, Strauss
etwa unter Stilbegriffen abzuwerten. Sondern ich glaube, daß
das einzige, was man einer bedeutenden und in sich so außer-

387
ordentlich komplexen Gestalt wie Strauss gegenüber anstän-
digerweise tun kann, das ist, daß man sucht, durch Erkenntnis
wesentlicher Fragen seines Werkes und seines Verfahrens ihm,
so gut das halt möglich ist, Gerechtigkeit widerfahren zu las-
sen. Ich möchte dabei zugleich aber doch auch gewisse Erwä-
gungen anschließen – da die Katze das Mausen bekanntlich
nicht läßt –, die sich auf den Begriff der Kompositionstechnik
generell beziehen, und möchte gewisse Wechselwirkungen
zwischen diesem gewöhnlich jedenfalls unreflektiert hin-
genommenen und dabei in sich keineswegs einfachen Begriff
und dem Werk von Richard Strauss Ihnen wenigstens an-
deuten.
Nun, der Begriff der Kompositionstechnik ist verhältnis-
mäßig jungen Datums. Er ist sicher überhaupt erst in all-
gemeinen Schwang gekommen durch das Werk Richard
Straussens, und ich kann mich noch deutlich daran erinnern,
daß man in meiner Kindheit etwa von der ›blendenden Tech-
nik‹ von Strauss gesprochen hat, ohne daß ich mir darunter
zunächst so etwas ganz Genaues hätte vorstellen können. Ich
glaube, die Älteren unter Ihnen werden sich an diese etwas
vage Vorherrschaft des Begriffs der Technik erinnern.
Die Sache ›Technik‹, also die Sache der bewußten und
strukturell verantwortlichen Verfügung über das komposito-
rische Material, ist selbstverständlich unvergleichlich viel äl-
ter, und jeder Mensch, der ernst mit Bach sich abgegeben hat,
weiß selbstverständlich, daß es bei Bach etwas wie Komposi-
tionstechnik gibt, obwohl das Wort viel später aufkam und,
soweit mir im Augenblick jedenfalls geläufig ist, nicht einmal
von Beethoven gebraucht worden ist. Trotzdem würde ich
denken, daß das, was man spezifisch unter Kompositionstech-
nik zu denken hat, zum ersten Mal vielleicht in das Bewußt-
sein gehoben wurde durch eine Äußerung, die überliefert
wird von Beethoven und die er seinem Neffen gegenüber tat
und die lautet, daß viele Wirkungen, welche das Publikum
einfach dem Naturgenie des Komponisten zuschreibe, in
Wirklichkeit durch die geschickte Verwendung des vermin-

388
derten Septimakkords sich erklären.541 Nun, gerade die bis an
die Grenze des Zynismus gehende Nüchternheit des Wortes
›geschickt‹, das da verwandt wird, und die Bezeichnung eines
ganz bestimmten und zu jener Zeit noch besonders wirk-
samen Akkords, der übrigens im Werk von Richard Strauss
eine sehr erhebliche Rolle spielt, deuten ja darauf hin, daß hier
also eine Erfahrung zum ersten Mal angemeldet worden ist.
Könnte man sagen, daß Technik allgemein zunächst der Inbe-
griff der aufzuwendenden Mittel sei, deren die Realisierung
des Komponierten, die Verwirklichung des Komponierten in
dem gesamten klanglichen Material nach all seinen Dimen-
sionen bedarf, so liegt im Begriff der Technik darüber hinaus
noch etwas mehr, nämlich daß die Technik, also die Verfah-
rensweise des Komponisten, gegenüber dem ihm einfach Vor-
gegebenen, gegenüber dem musiksprachlichen Material, vor
allem gegenüber den jeweils eingeschliffenen musikalischen
Idiomen, sich verselbständigt hat, daß also die Verfahrensweise
des Komponisten, wenn Sie es so wollen, nicht einfach mehr
oder minder von der Tradition geregelt wird, sondern daß sie
von dieser Tradition sich abgelöst hat und als eine in sich selbst
reflektierte Beherrschung dessen, was man ›musikalische Na-
tur‹ nennen kann, dem Material gegenübertritt. Es leuchtet
wohl ohne weiteres ein, daß diese Verselbständigung der Tech-
nik gegenüber dem Material ebenso wie gegenüber der Mu-
siksprache, dem Idiom, sehr tief zusammenhängt mit dem
geschichtlichen Prozeß der Subjektivierung, der Emanzipati-
on des Subjekts von den alten, überkommenen Ordnungen,
und daß mit fortschreitender Emanzipation der Subjektivität
gleichzeitig dieser Begriff der Technik fortschreitet.
Es liegt nun aber darin zugleich auch ein trennendes Mo-
ment, ein Moment der Negation im Hegelschen Sinn. Indem
das Subjekt sich verselbständigt, setzt es sich eben als ein Selb-
ständiges der verbrauchten und vorgegebenen Sprache auch
gegenüber. Und diese Verselbständigung des Subjekts und der
Verfügung über die Mittel, die das Subjekt in der Komposi-
tion aufwendet, in der steckt bereits auch drin das Potential,

389
daß die Technik selber gegenüber dem, was ich vorhin ›das
Komponierte‹ genannt habe, also gegenüber den konkreten
kompositorischen Aufgaben, gegenüber der Realisierung der
kompositorischen Idee, wenn ich es einmal so nennen darf,
ebenfalls [sich] selbständig macht und daß sie dadurch gewis-
sermaßen hinausschießt über das, als was ich sie zunächst ein-
mal bestimmt habe, nämlich eben als der Inbegriff der aufzu-
wendenden Mittel zur Realisierung des Komponierten,
sondern daß sie eben durch diesen Prozeß der Trennung und
Verselbständigung in sich schon jene Tendenz der Technifi-
zierung oder, wenn ich es mit dem abschätzigen Wort be-
zeichnen soll, der Routine hat, das jedenfalls sehr lang in dem
Begriff der Kompositionstechnik mitgeschwungen hat. Und
ich glaube, in dieser objektiven Tendenz, die in der Verselb-
ständigung der Technik als eines zugleich Progressiven und in
sich selber eben durch die Ablösung von dem Gehalt Proble-
matischen [sich] manifestiert, in diesem objektiven geschicht-
lichen Moment, das im Begriff der Technik steckt, möchte
ich vermuten, liegt der wahre Grund für die Schwierigkeiten
und Probleme, die uns bei Richard Strauss als faßbar techno-
logische Probleme begegnen.
Nun hat dieser Begriff der Technik, der ja verflochten ist
mit der Entwicklung der technischen Produktivkräfte, auch
der materiellen Produktion insgesamt, eine eigentümliche
Doppelbödigkeit: Auf der einen Seite, kann man sagen, ist
dieser Begriff der Technik nämlich objektiv, das heißt, er be-
deutet die integrale Verwirklichung der Sache selbst. Technik
in diesem äußersten und höchsten Sinn wäre einfach der In-
begriff des Vermögens, eine kompositorische Sache wirklich
adäquat nach all ihren Dimensionen zu verwirklichen und aus
ihrer eigenen Konsequenz heraus zu entfalten. Zugleich aber
liegt im Begriff der Technik immer schon, und von Anbeginn
schon, auch etwas anderes drin, nämlich der Inbegriff der
Wirkungen, die auf Subjekte, auf Menschen, ausgeübt wer-
den. Erst in einer relativ sehr späten und sehr reflektierten
Phase haben diese beiden Vorstellungen voneinander sich ge-

390
schieden und sind in eine gewisse Antithese zueinander ge-
rückt. Bei Richard Strauss jedenfalls ist es so, daß sie bereits
aufeinanderprallen und in ein außerordentlich schwieriges
Verhältnis miteinander treten.
Nun ist gewiß beides nicht unvermittelt. So wie ja auch ge-
schichtlich eben Wirkung und Autonomie des Kunstwerks
nicht unvermittelt zueinander sind, sondern erst in einem
langen und sehr schmerzvollen Prozeß sich voneinander ge-
trennt haben. Realisieren heißt, um von dem objektiven Be-
griff auszugehen, die Idee oder die Sache ins Phänomen, ins
leibhaft Erklingende zu setzen, und dadurch ist sie bereits der
Wirkung zugewandt, denn man kann ja den Inbegriff der er-
scheinenden Phänomene, von denen, welchen sie erschei-
nen, zwar durch idealtypische Konstruktionen trennen, aber
in Wirklichkeit doch außerordentlich schwer. Auf der andern
Seite aber ist es so, daß der vollkommen konsequente Be-
dacht542 auf die Wirkung, wenn also eine Sache als Wirkungs-
zusammenhang völlig durchgebildet ist, daß dann dieser völ-
lig durchgebildete Wirkungszusammenhang – und das gilt
eigentlich bei Richard Strauss in besonderem Maß – sich sei-
nerseits in so etwas wie die Gesetzmäßigkeit der Sache entfal-
tet. Sie müssen außerdem bedenken, daß zwischen diesen
beiden Momenten insofern ein geschichtlicher Prozeß ob-
waltet, als, je mehr die Gesellschaft sich in eine Tauschgesell-
schaft verwandelt, je mehr alles, was in ihr geschieht, zu einem
›für andere‹ wird, damit der Begriff der Wirkung gegenüber
der reinen und autonomen Sache jedenfalls in bestimmtem
Sinn immer mehr hervortritt. Ich erinnere nur en passant für
die ästhetisch Interessierten unter Ihnen daran, daß die Kon-
stitution des Kunstwerks als eines Wirkungszusammenhanges
mit dem Überwiegen der subjektiven Vernunft gegenüber
der objektiven Vernunft und der Sache selber auf eine sehr
tiefe Weise zusammenhängen.
Nun, ich sagte, je mehr Musik zu einem Tauschobjekt, zu
einer Ware wird, desto mehr steigt543 das zweite Moment von
Technik, das des Inbegriffs der Wirkung an, und es liegt darin

391
beides, ebenso eine außerordentliche Steigerung der techni-
schen Produktivkräfte wie andererseits auch ihre Fesselung.
Die Steigerung liegt eben in dem, was man gerade neuer
Kunst so gern angekreidet hat, zum Beispiel Riemann Arnold
Schönberg, nämlich die Suche nach dem Neuen, der Drang
nach Erweiterung, der Drang, über den Umkreis des bereits
Gewohnten hinauszugehen und der Subjektivität Bereiche
des Sichausdrückens zu erobern, die ihr vorher versagt gewe-
sen sind.544 Die Fesselung liegt darin, daß dieser Begriff der
Wirkung sehr leicht übergeht in das, was Richard Wagner mit
einem sehr genialen Ausdruck »Wirkung ohne Ursache« ge-
nannt hat,545 also in den Effekt, und vor allem, daß die auto-
nome Durchbildung der Musik durch die Rücksicht auf den
Wirkungszusammenhang, also auf präsumtive oder reale Hö-
rer eingeschränkt wird. Das Extrem dessen ist die gesamte
Sphäre der leichten Musik, so wie sie sich von einem be-
stimmten Zeitpunkt an – die Schwelle dürfte die Mozartsche
»Zauberflöte« sein – von der ernsten und autonomen Musik
getrennt hat.
Dieser zweite Begriff ist, kann man wohl sagen, ein spezi-
fisch bürgerlicher Begriff. Chopin schreibt einmal in einem
Brief, daß die große Gesellschaft, die aristokratische Gesell-
schaft, eigentlich das Verständnis für die Musik aufbrächte,
aber daß sie so zerstreut und mit anderen Dingen beschäftigt
sei, daß sie eigentlich nicht recht dazu käme, weil sie zu viele
gesellschaftlichen Verpflichtungen hätte, während die Bürger,
das reiche Bürgertum zumal, eigentlich immer nur etwas Er-
staunliches, eine Glanzleistung, also eben Technik in dem
Sinn genießen wollten, wie er uns etwa von bestimmten Kla-
vierbändigern her vertraut ist.546 Das ist den Wundern der
materiellen Produktion nachgebildet, man will etwas Fabel-
haftes sehen, man will sozusagen etwas geboten bekommen,
und daß einem etwas geboten wird, geht eigentlich bereits auf
die Kosten der Sache selbst, die in der Kunst ja eher die Ten-
denz hat, sich in sich zurückzuziehen, und jeder wirklich be-
deutend durchgebildeten Kunst eignet insofern, als sie sich

392
von der Wirkung zurücknimmt, wenn Sie so wollen, auch ein
Moment des Asketischen, und es ist vielleicht einer der tiefen
Mängel gerade von Strauss, daß dies asketische Moment ihm
in einem so weiten Maß abgeht. Demgegenüber ist das bür-
gerliche Convenu das, daß Kunst zwar ernst sein soll, nämlich
erhaben, aber doch um Gottes willen nicht zu ernst, eben et-
was ›für andere‹ und nichts ›an sich‹. Und es wird gleichsam
ihr Fetischcharakter, also daß sie tauschbar ist, daß sie etwas
›für anderes‹ ist, dann noch einmal genossen547 und so be-
trachtet, als ob er eigentlich ein Selbstzweck wäre.
Man muß dem entgegenhalten, daß hier eine eigentümli-
che Dialektik waltet – und alles, was ich da sage, ist, obwohl
es so allgemein klingt, bereits ad hominem, nämlich ad homi-
nem Strauss gesagt –, daß gerade dadurch, daß eine Kunst sich
bemüht, wie man so schön sagt, für den Menschen oder, wie
diese Kunst in Wahrheit sagt, für den Kunden da zu sein, daß
sie dadurch, daß sie also an ihre Kunden sich adaptiert, in
Wirklichkeit eben dadurch sie um das betrügt, sie um das
bringt, was sie ihnen nur dann geben könnte, wenn sie in sich
selber objektiv und rein durchgestaltet wäre. Das führt dann
also zu dem Gegensatz der glanzvollen Fassade auf der einen
Seite und dem nicht vollkommen Durchgebildeten in der Sa-
che selbst. Man könnte in all diesen Fällen des zweiten Be-
griffs von Technik, des Wirkungsbegriffs der Technik, reden
von ihrem partikularen Begriff, das heißt, die Mittel treten
hier in Wirklichkeit anstelle der Zwecke, die verschwinden,
und die Mittel der künstlerischen Darstellung werden als sol-
che verehrt im Sinn eines Zusammenhangs, der übrigens kei-
neswegs auf die Musik und überhaupt nicht auf die Kunst be-
schränkt ist, sondern der für das ganze sogenannte bürgerliche
Dasein gilt. Das, was man auf Amerikanisch das ›know-how‹
nennt, also die Verfahrensart, wie man’s macht, nimmt nach
diesem Begriff der Technik allmählich die Stelle des Wozu,
nämlich des Komponierten ein.
Ich kann mich aus meiner Kindheit noch sehr gut daran er-
innern, wie die Reklametrommel für die »Frau ohne Schat-

393
ten« gerührt wurde – das muß so um das Jahr 1915 oder ’16
herum gewesen sein, ich weiß die Zahl nicht auswendig. Und
ich erinnere mich noch deutlich daran, daß damals die Gazet-
ten548 von diesem Werk eigentlich nichts anderes zu berichten
wußten, als daß in ihm chinesische Gongs verwendet würden.
Nun, zu Ehren von Strauss sei gesagt, daß diese Gongs in der
»Frau ohne Schatten« denn doch eine recht untergeordne-
te Rolle spielen.549 Aber daß man eben darauf oder auf den
Hammer in der »Sechsten Symphonie« von Mahler550 oder
ähnlich also auch auf die angeblichen ›Tausend‹, die in der
»Achten Symphonie« von Mahler losgelassen werden,551 einen
solchen Wert gelegt hat, das zeigt diesen Fetischcharakter der
Ware in der Musik doch wohl deutlich genug an. Neben-
bei bemerkt, sind solche Dinge in der populären Wirkung
der Elektronik heute ganz sicher in einer durchaus analogen
Weise spürbar.
Nun, damit und mit dem Stichwort Reklame, mit dem ich
hier gar nichts Depretiatives552 sagen möchte, sondern nur
eine Sphäre umreißen, damit ist man bereits mitten in dem
Kraftfeld, das da Richard Strauss heißt. Einerseits wird bei
ihm Technik als Inbegriff aller erdenklicher Wirkungen pro-
duktiv. Auf der andern Seite aber verkümmert durch die
ständige Rücksichtnahme seine Musik, und diese Verküm-
merung, die ist nicht etwas abstrakt, etwa als Stilbegriff, zu
Konstatierendes, sondern diese Verkümmerung selbst ist in
der technischen Problematik von Richard Strauss, wenn ich
es so ausdrücken darf, dingfest zu machen.
Nun muß man aber, wenn man davon bei Strauss redet, das
von vornherein differenzieren, wenn man nicht wirklich in
viel zu groben Kategorien über Strauss reden will. Es ist näm-
lich – und das scheint mir nun wirklich ja fast das Gesetz für
das Phänomen Strauss zu sein – bei ihm nicht einfach so, daß
seine Musik berechnet wäre auf Wirkungen über die Men-
schen, etwa wie es in der leichten Musik der Fall ist, obwohl
es an solchen Momenten zum Beispiel in den Schlüssen, den
berühmten Stimmorgien, die vor allem in den späteren Wer-

394
ken von Strauss sich austoben, an diesem Moment sicher
nicht fehlt. Sondern das Eigentümliche von Strauss und das,
was – wenn ich es so einmal nennen darf – vielleicht seine
Idee definiert, ist, daß er versucht hat, die beiden Begriffe der
Technik zu verschmelzen, also die Totalität der Wirkungen
mit Technik in dem objektiven Sinn, also mit anderen Wor-
ten, mit dem fortgeschrittensten, zu seiner Zeit fortgeschrit-
tensten Stand der Mittel der Kunstmusik, die überhaupt da-
mals verfügbar gewesen sind.
Ich glaube, in diesem Sinn, daß ihm so etwas vorgeschwebt
hat wie die Utopie dieser doppelten Technik, also einer Tech-
nik, die auf der einen Seite in der Sache selbst sehr hohes Ni-
veau hält, die aber auf der andern Seite doch ganz und gar nach
den genau eingeschätzten Bedürfnissen einer Hörerschaft sich
richtet; daran ist auch genau etwa zu erklären, wieso Strauss
und Hofmannsthal bei dem Werk, das sie ja wohl beide für ihre
zentrale gemeinsame Schöpfung gehalten haben, nämlich der
»Frau ohne Schatten«, so etwas vorgeschwebt hat wie eine
neue »Zauberflöte«.553 Ich hatte vorhin schon das Stichwort
›Zauberflöte‹ genannt, denn die »Zauberflöte« war ja tatsäch-
lich das letzte Werk, in dem beides, der totale Wirkungszu-
sammenhang und die größte autonome Durchbildung der
Musik vollkommen sich zusammengefunden hatten.
Aber – und damit kommt man nun zu der Problematik von
beiden, aber von Strauss vor allem – es war zu spät. Die beiden
Sphären, die in der »Zauberflöte« noch zusammenfinden, sind
bereits dem ganzen objektiven Stand des Komponierens nach
so auseinandergetreten, daß sie aus Stilwillen, aus der Inten-
tion der künstlerischen Beschwörung heraus, sich nicht mehr
haben zusammenbringen lassen. Das Autonome, das wahrhaft
Durchgebildete ist, wie man das oft hämisch sagt, aber wie es
nur einem gesellschaftlichen Sachverhalt sachlich entspricht,
esoterisch geworden. Es ist nicht mehr in der alten, traditio-
nellen Weise mit Kommunikation vereinbar, und selbst bei
größter Drastik der Ausformung sind die alten Wirkungszu-
sammenhänge nicht zu erreichen.

395
Es ist unter diesem Aspekt sicherlich ebenso begreiflich,
daß die beiden bedeutendsten Werke von Strauss – und das ist
eine Binsenweisheit, wenn ich Ihnen wiederhole, daß diese
bedeutendsten Werke eben nun doch »Salome«554 und »Elek-
tra«555 sind –, daß die es eben nie zu einer solchen Popularität
gebracht haben wie der »Rosenkavalier«556. Und die Rück-
wendung des »Rosenkavaliers«, die sich im »Rosenkavalier«
eben manifest vollzieht, hängt offensichtlich damit zusam-
men, daß er gesehen hat, daß diese Synthesis von Wirkung
und Sache sich nicht realisiert hat, das heißt, daß die Wirkung
bei einer so durchgebildeten Sache nicht zu haben war, und
da hat er dann eben an der Sache einiges nachgelassen und der
Wirkung um so kräftiger nachgeholfen. Nun, da zeigt sich
aber dann sogleich, daß das, was so wirksam geworden ist wie
der »Rosenkavalier«, nicht mehr stimmig ist, sondern daß der
Primat der Wirkung die Wirkung dann à la longue beein-
trächtigt, und das ist das eben gewesen, was sich bei Strauss auf
die Dauer durchgesetzt hat.
Ich möchte hier nun doch ein paar Worte wenigstens ein-
fügen über diese Wendung, die Strauss dann genommen hat
und die man auf die Formel bringen kann, daß, wenn es
wirksam sein soll, eben die Wirksamkeit und dieser Begriff
der Technik in den Vordergrund treten. Es reift nämlich das
Populäre heran bei Strauss inmitten des scheinbar Esoteri-
schen. Und daran können Sie sehen, wie sehr in der Wen-
dung, die das Esoterische bei Strauss genommen hat, nämlich
der Wendung zu dem Piekfeinen, Erlesenen, zugleich der
Wirkungszusammenhang schon drinsteckt. Wenn ich es sehr
grob, mit einem sehr groben Vergleich illustrieren soll, ganz
ähnlich, wie die berühmtesten Dichtungen aus der Periode
des Jugendstils, dem Richard Strauss ja zugehört, bei aller
Esoterik und allem scheinbaren Sich-von-dem-Markt-Zu-
rücknehmen auf sehr krasse Wirkungen abzielen, um den
Markt zu erobern. Ich erinnere Sie nur an das Werk von
D’Annunzio, etwa an die »Gioconda«,557 deren Genialität ich
übrigens gar nicht bestreiten möchte, die aber doch eben ein

396
reines Schauerdrama und Wirkungsdrama ist. Ganz Analoges
gilt selbstverständlich auch für das berühmteste Stück von
Maeterlinck, für die »Monna Vanna«,558 und in der Prosa wäre
eben an den »Dorian Gray« von Oscar Wilde zu erinnern, der
gleichzeitig den esoterischen Ästhetizismus aufs höchste ver-
herrlicht und, man muß schon sagen, ein ganz handfester
Schundroman ist.559 Also, diese merkwürdige Verschränkung,
die man so oft einfach dem Temperament und der besonderen
individuellen Artung von Richard Strauss zuschreibt, die
steckt irgendwie in der geschichtlichen Konfiguration der
Epoche und des ganzen Jugendstils eben schon drin.
Es ist übrigens, wenn ich hier von dem späteren Strauss et-
was sagen darf, sehr manifest, daß er von einem bestimmten
Punkt an, nämlich von dem »Rosenkavalier« und sicher von
der »Ariadne«560 an, auf die »Feuersnot« zurückgreift, die si-
cherlich nicht sein meisterlichstes Werk ist und die vor allem
durch ihren über die Maßen törichten Text561 schwer kom-
promittiert wird, die aber ganz sicher das originellste Werk,
wenn ich es so ausdrücken darf, doch das Strausseschste Stück
von Strauss ist und die unter allen Umständen deshalb ver-
diente, daß man sie wieder spielt, wobei nur sich jemand fin-
den müßte, der Liebe und Phantasie genug aufbrächte, um
den Text – und ich drücke mich in der Sphäre des Textes aus –
so ›aufzumöbeln‹, daß also die schlimmsten Greuel dabei ver-
mieden werden. Es ist erstaunlich, wie bis in die Thematik
hinein, zum Beispiel in der fast wörtlichen Antizipation des
Themas des Octavian, die »Feuersnot« den »Rosenkavalier«
vorwegnimmt.
Ich möchte Sie aber in diesem Zusammenhang noch auf et-
was anderes aufmerksam machen, was Ihnen wieder zeigt, in
welcher merkwürdigen Weise die Dinge verklammert sind –
daß nämlich überall dort, wo Strauss in seinem avanciertesten
Werk, der »Elektra«, um des zunächst rein ästhetischen, rein
immanenten, nicht kalkulatorischen Bedürfnisses nach Kon-
trasten willen, Auflösungsfelder oder Entspannungsfelder dis-
poniert, daß er da zu Bildungen gelangt, die bis in die Thema-

397
tik hinein in diesem allerkühnsten Werk den »Rosenkavalier«
antizipieren. Ich sage das nun wirklich in einem gewissen Sinn
apologetisch, nämlich um Ihnen damit zu zeigen, daß, wenn
man sich das so vorstellt, daß der Strauss einfach, um mehr
Geld zu verdienen, später banalere Musik gemacht hat, die Sa-
che so einfach sich nicht verhält und daß die Frage der Banalität
bei Strauss bis tief in die Zentren der gesamten musikalischen
Reaktionsweise hinein zurückzuverfolgen ist.
Ich kann es mir nicht versagen, Ihnen wenigstens ein paar
Takte anzuschlagen aus der »Elektra«, und zwar aus der Chry-
sothemis-Szene, die wörtlich, so wie sie da steht, auch im
»Rosenkavalier« stehen könnte. – Es ist also aus der ersten
großen Chrysothemis-Szene. [Musikbeispiel: Elektra, 4 Takte
nach Ziffer 86 bis Ziffer 89] Und so weiter. Sie sehen also hier
[. . .] steht dann [Musikbeispiel: Adorno variiert diese Stelle].
[Da ist der] »Rosenkavalier« antizipiert. Die Stelle ist deshalb
merkwürdig – und ich kann es mir nicht versagen, darauf Sie
aufmerksam zu machen –, weil man schwer schlagender die
Problematik der ganzen Sphäre der Programmusik bezeich-
nen könnte, denn wenn also genau die gleichen nicht nur
melodischen Einfälle, sondern Komplexionen, kompositori-
schen Gestalten, auf der einen Seite eine mykenische Prinzes-
sin und auf der anderen eine Tanzfigur aus dem wienerischen
Dixhuitième illustrieren können, dann wird ja wohl dadurch
das Illustrationsprinzip selber einigermaßen ad absurdum ge-
führt. Aber das nur nebenbei – ästhetisch –, ich möchte auf
diesen ganzen Komplex heute gar nicht weiter eingehen.
Nun, ich habe hier gesprochen von der Nötigung, die zu
diesem Verfahren von Strauss erfahren wird, unter dem Ge-
sichtspunkt des Kontrastes. Die Bildung nach Kontrasten
oder, wie ich es genannt habe, das Überraschungsprinzip562
ist bei Strauss zentral. Einerseits ist der Kontrast ein immanen-
tes Kompositionsmittel. Und zwar ist es so, daß je mehr die
traditionellen kompositorischen Formen außer Aktion ge-
setzt werden, desto wichtiger wird das Mittel des Kontrasts für
die Artikulation des Verlaufs. Es ist wichtig unter diesem As-

398
pekt, daß Beethoven auch in den großen symphonischen Sät-
zen, die man doch so oft dem Drama und seiner Antithetik
vergleicht, mit wenigen und überwältigenden Ausnahmen
wie gewissen Stellen in der »Eroica«, mit Kontrasten außeror-
dentlich sparsam verfährt und statt dessen durch eine unge-
heuer detaillierte und ziselierte Kleinarbeit die voneinander
verschiedenen Gestalten durch einander vermittelt. Und der
reife Wagner ist fast kontrastscheu, so sehr, daß selbst die ent-
scheidende Zäsur im »Parsifal«, der Ruf der Kundry,563 noch
so vorbereitet ist, daß er gleichzeitig eine Überraschung ist
und doch fast unmerklich aus dem Gewebe des Vorhergehen-
den herauswächst.
Erst in der Romantik, und zwar vor allem in der national
getönten Romantik und in den Verfallsformen der Roman-
tik, also etwa bei Tschaikowsky, wo dann die Liedähnlichkeit
der einzelnen Themen immer mehr zunimmt, nimmt auch
die Kontrastgestalt der Sätze immer mehr zu. Die themati-
schen Komplexe treten immer weiter auseinander, und sie
treten vielfach dann schon so weit auseinander, daß sie eigent-
lich nur noch äußerlich vom Skelett der Form zusammenge-
halten werden und gar nicht mehr eigentlich in sich selber
vermittelt sind. Es ist ganz sicher nun eine der entscheidenden
Neuerungen der modernen Musik, daß in ihr nun wirklich
der Kontrast gegenüber diesem bloßen potpourrihaften Aus-
einanderfallen in Unvereinbares zu einem konstitutiven Prin-
zip der Gestaltung und ihrer Einheit selber wird. Und nicht
umsonst ist in dem ersten in einem strengen Sinn modernen
Stück, das geschrieben worden ist, in dem ersten Klavierstück
aus op. 11564 von Schönberg, gleich zu Anfang das Mittel des
Kontrasts in einer Weise gespannt, wie es vorher nie da war,
aber eben dadurch auch zugleich von dieser potpourrihaften
Aneinanderreihung des Abweichenden kuriert.
Nun, bei Strauss spielt das auch eine sehr große Rolle, aber
durchaus unter dem Gesichtspunkt der Wirkungstechnik, die
nämlich eigentlich den Hörer nicht ausläßt, dem ununter-
brochen Neues, Abwechslungsreiches, voneinander sich Ab-

399
hebendes soll geboten werden. Schon bei Berlioz, von dem
Strauss ja herstammt, findet sich die Formel vom ›imprévu‹,
von dem Unvorhergesehenen, als einem wesentlichen Mo-
ment der Programmusik.565 Und dieses Prinzip des ›imprévu‹,
der Überraschungseffekt, konstituiert dann bei Strauss also
die Überraschungstechnik, wobei aber nun beides sich zu-
sammenfindet, nämlich die Überraschung in Permanenz, die
aber so weit getrieben wird, daß fast die Überraschung sich
selber wieder aufhebt, das heißt, daß durch die Allseitigkeit
der Überraschungswirkungen doch wieder so etwas wie ein
einheitlicher Stil sich herausbildet.
Sie können daran sehen, wie subtil eigentlich die Fragen
des technischen Gelingens oder Mißlingens bei Strauss sind,
denn was je überwiegt, hängt an einem Haar. Schon in der
»Salome« zum Beispiel drohen die Kontraste der Jochanaan-
Strophen und ihre Diatonik die Totalität der Symphonik zu
sprengen. Auf der andern Seite aber ist dramatisch gerade
durch diese außerordentlich drastische Kontrastbildung die
Wirkung der »Salome« garantiert. Die »Salome« wird dadurch
eigentlich erst musikdramatisch möglich, während sie, wenn
sie mit minder drastischen und, wenn man so will, [minder]
rohen Mitteln operieren würde, wahrscheinlich als eine
Oper, also als ein dramaturgisch in sich folgenreich durchge-
bildetes Gebilde, gar nicht richtig sich realisieren würde.
Schließlich hat Strauss – und Hofmannsthal, man muß bei
diesen Dingen doch wohl den Namen Hofmannsthals immer
mitdenken566 – aus der technischen Idee des Kontrasts die
ganze Form, ja den poetischen Gehalt eines der wichtigsten
und fesselndsten Werke, der »Ariadne«, erzeugt, wo der Kon-
trast der beiden Elemente von Opera seria und Opera buffa
zum überwölbenden Stilprinzip des Ganzen wird, aber auch
die Fügung aller Details unablässig bis ins einzelne bedingt
und dadurch eben die Steifheit und Starrheit sozusagen der
offiziellen Stilgattungen zerbricht. Man könnte sagen, die
»Ariadne« ist insofern nun wirklich ein Unikum, als in ihr
Stilbruch und Stilprinzip fast zur Identität gebracht worden

400
sind. Daran läßt sich ermessen, wie komplex die Fragen von
Technik, Technik des Ganzen wie der Details, bei Strauss
sind. Und dem möchte ich nun ein wenig nachgehen.
Ich möchte zunächst Sie also aufmerksam machen auf die-
jenigen technischen Momente bei Strauss, die ich als ›pro-
gressiv‹ bezeichnen möchte, ohne lange geschichtsphilosophi-
sche Erörterungen über das, was der Begriff des Fortschritts in
der Musik bedeutet und wieweit er sich halten läßt, sondern
ganz einfach in dem Sinn, was ein Musiker, der im Ernst über
den Inbegriff der Mittel der Epoche verfügen will, heute
noch, und fast würde ich sagen, heute erst recht an Strauss ler-
nen kann. Da würde ich sagen: Zunächst hat Strauss in die
Musik ein Moment der Großzügigkeit gebracht – und ich ge-
brauche das Wort ›Großzügigkeit‹, wohl wissend, daß das
Moment des Großmäuligen und das Moment also, ja, des wil-
helminisch sich Überziehenden dabei mitklingt –, aber das
hat er doch in die Musik gebracht in dem Sinn, daß eigentlich
immer und in jedem Augenblick bei ihm der Vorrang des
Ganzen herrscht, daß alle Einzelheiten sich an dem Ganzen
messen in einer Weise, wie es vor Strauss kaum der Fall war.
Es ist uns das heute fast zu einer selbstverständlichen Forde-
rung der Komposition geworden. Und ich glaube wirklich –
und das ist nun, wenn Sie mir nicht böse sind, meine Damen
und Herren, doch so ein Stück Würdigung, nämlich ein biß-
chen historistisch gedacht –, ich glaube, wir vergessen dabei
ganz einfach, daß dieses Moment der absoluten Vorherrschaft
des Ganzen über alle Details, jedenfalls seitdem einmal die
Beethovensche Einheit unwiederbringlich verloren ward, auf
eine ganz andere Weise, nämlich durch die Souveränität des
organisierenden und mit seinem Stoff umgehenden Kom-
ponisten wieder in die Welt überhaupt hineingebracht wor-
den ist. Das partikulare Richtig und Falsch der Schule entfällt
bei Strauss. Die Komponiervirtuosität überflügelt bei ihm alle
Schulfuchserei, oder man könnte es auch so ausdrücken, daß
bei ihm endgültig jene Identität von Harmonielehre und
Kompositionskunst zersprengt worden ist, die etwa der soge-

401
nannten mitteldeutschen Schule, also den Verfallszeiten der
Tradition von Schumann und Mendelssohn zum Verhängnis
geworden ist. Ein alter Analytiker von Strauss, dessen »Salo-
me«-Analyse ich als Junge studiert habe – es war ein Kompo-
nist namens Schattmann –, hat von der »Salome«-Partitur ge-
schrieben, daß sie scheinbar von Fehlern wimmele, aber
Strauss wisse, was klingt.567 Nun, das ist gewiß sehr naiv, weil
das nur Fehler sind eben im Sinn der gängigen Harmonieleh-
re, aber der Sinn für das Ganze hat eben bei Strauss wirklich
diese eigentümliche Fähigkeit, nicht nur gewisse Unstimmig-
keiten der Details nachträglich zu rechtfertigen, sondern sie
auch noch, möchte ich fast sagen, zu verlangen. Das heißt,
nur dadurch, daß kunstvoll und absichtlich gewisse Details
vergleichgültigt werden, kunstvoll vergleichgültigt werden,
nur dadurch setzt sich dann bei Strauss eben der Primat des
Ganzen so durch. Wenn Sie also etwa an den Anfang des Vor-
spiels, des Instrumentalvorspiels zu dem Vorspiel der »Ariad-
ne« denken und das einfach – ja, ich möchte sagen – so nach
den Kriterien des guten Musikers nehmen, dann werden Sie
finden, das ist arg viel C-Dur und er kommt von dem C-Dur
überhaupt nicht vom Fleck weg, er bleibt darauf hängen.
Wenn Sie aber das sehr schnelle Tempo bedenken und wenn
Sie dabei das Wirkungsmoment bedenken, daß hier dieses
C-Dur für das etwas Protzige der Atmosphäre steht, die aus-
gedrückt werden soll, und wenn Sie vor allem daran denken,
daß hier so weitbögig gedacht wird, daß man hier gar nicht
mehr die Fortschreitung von einem Akkord zum andern ver-
langt, sondern daß [durch] diesen ganzen endlosen C-Dur-
Akkord am Anfang wie in einem riesigen Bogen zusammen-
gesehen wird, wie es weitergeht, da können Sie ganz deut-
lich sehen, wie gegenüber den traditionellen Forderungen
des sogenannten guten Musikertums der Schule eben diese
Straussische Großzügigkeit sich durchsetzt. Man könnte von
einer Technik der höheren Gerechtigkeit reden, allerdings
mit der Einschränkung, daß dabei eben im einzelnen doch
zufällige und willkürliche Gebilde sich einstellen.

402
Das zweite Moment, auf das ich Sie hinweisen möchte, als
ein eminent progressives, das aber auch in gewisser Weise bei
uns selbstverständlich, ja allzu selbstverständlich geworden ist
und dadurch die Kraft gerade verliert, die es bei Strauss hat, ist
die Emanzipation der Metrik. Sie alle wissen, daß Richard
Wagner die Forderung nach korrekter Deklamation aufge-
stellt hat und damit sich gegen das Skandieren von vierzeili-
gen Strophen im üblichen Sinn gewandt hat,568 und Sie wis-
sen auch, wie in den »Meistersingern« der Hans Sachs dem
Beckmesser, der eben in der alten mechanisch-symmetri-
schen Weise skandiert, mit seinem Schusterhammer die Lehre
erteilt.569 Das war nun aber bei Wagner doch noch im wesent-
lichen innerhalb der Grenzen der üblichen zweitaktigen, ge-
radtaktigen Bildungen, also im Grunde doch innerhalb des
Bereichs der achttaktigen Periode gewesen, und wenn die
Melodiebildung bei Wagner in einem so weiten Umfang de-
klamatorisch ist, so hängt das genau damit zusammen, daß nur
dadurch, daß gewissermaßen die Stimme dazu spricht, diese
Geradzahligkeit der Metrik, an der er im Sinn der Tradition
noch festgehalten hat, bewahrt werden kann.
Auch da ist Strauss nun durchaus der Künstler der Emanzi-
pation. Die freie Sprachmelodie wird nun wahrhaft melodie-
bildend, nicht mehr bloße Deklamation, sie wird strukturell
und schwingt weit über die abgegrenzten Periodengrenzen
hinaus. Denken Sie nur etwa an das Ihnen allen geläufige Lied
»Traum durch die Dämmerung«,570 wo auf die Worte »Nun
geh’ ich hin zu der schönsten Frau«, auf dem Wort ›schönsten‹
eine Dehnung erfolgt, die dann die ganze Metrik von der
sonst etwas mechanischen Wiederholung des Begleitmotivs
emanzipiert. Übrigens, wenn ich die historische Bemerkung
einschalten darf, Ansätze dieser Art finden sich eigentlich vor-
her [als] bei Strauss in der romantischen Tradition nur bei
Mendelssohn. Die Asymmetrien bei Schubert sind ganz an-
derer Art. Bei Mendelssohn gibt es durchaus Bildungen dieser
Art, zum Beispiel die Dehnung bei »Leise zieht durch mein
Gemüt . . . Kling hinaus ins Weite«,571 wo eine Dehnung des

403
Achttakters um einen ganzen Takt erfolgt. Es ist in diesem
Zusammenhang vielleicht nicht ganz uninteressant, daß
Strauss sich selbst einen ›Mendelssohnianer‹ genannt hat,572
und eine Analyse der Zusammenhänge zwischen Strauss und
Mendelssohn könnte außerordentlich ergiebig sein.
Jedenfalls das, was ich hier prinzipiell meine, ist, daß bei
Strauss jenes Moment des Pingeligen, Kleinlichen, Kleinbür-
gerlichen, das gerade die deutsche Romantik der Innerlich-
keit durch die sturen Symmetrieverhältnisse angenommen
hatte, überwunden ist, daß die Musik aus sich heraus schwingt,
daß sie nicht nach den Taktstrichen, sondern daß sie nach
ihrem eigenen Rhythmus organisiert ist. Und dieses Prinzip
dann auch auf die Harmonik und auch auf die innere Gestalt
der Melodik zu übertragen, war dann die Konsequenz, die die
neue Musik aus Strauss gezogen hat; wie man überhaupt in
sehr vielen Hinsichten sagen kann, daß die moderne Musik
der zu sich selbst gekommene, der in sich selbst konsequent
durchgebildete Strauss eigentlich sei.
In dieselbe Sphäre gehört das, was man die Straussische
›Lockerheit‹ nennen kann. Nämlich, daß bei ihm die kom-
pakten Flächen vielfach [sich] aufgelöst haben als Vorform
dessen, was man dann in der neuen Musik so vielfach als
Aphoristik beobachtet und auch so viel gescholten hat. Das
gesamte Vorspiel, ich meine das ganze Vorspiel auf dem Thea-
ter zu der »Ariadne«,573 ist gerade für diese Technik der Auf-
lockerung das authentische Prinzip. Er hat sozusagen wieder
zum ersten Mal die Nötigung gefühlt, Luft in die Musik zu
bringen oder, wie manche Impressionisten in der Malerei es
getan haben, ein Stück oder Stücke unbemalter Leinwand
durch die bemalte Fläche eben zu dieser Auflockerung durch-
sehen oder durchhören zu lassen, und diese Forderung ist
heute noch verbindlich. Sie müssen auch hier verstehen, da
wir ja wirklich unter technischem Aspekt reden, meine Da-
men und Herren, daß es sich dabei nicht einfach um eine Fra-
ge des sogenannten kompositorischen Temperaments oder
des Individualstils handelt, sondern daß dem eine objektive

404
Nötigung zugrunde liegt. Die Komplexität des Satzes ist ja
bei Strauss doch außerordentlich gesteigert worden, auch ge-
genüber Wagner, vor allem eben in den beiden revolutionären
Werken, der »Salome« und der »Elektra«. Je mehr aber diese
Komplexität anwächst, desto mehr bedarf der Satz, um eben
das Klobige und Dicke zu verhindern, eben jener Auflocke-
rung, die Strauss entdeckt hat. Ich darf hier vielleicht über-
haupt sagen, daß Strauss geradezu ein Genie der Kompensa-
tion gewesen ist, daß er also überall dort, wo sich aus seinen
Neuerungen Schwierigkeiten und Probleme ergeben haben,
mit einem wahrhaft genialen Instinkt auf Auskunftsmittel ge-
sonnen hat, durch die sozusagen das Verlustkonto, das in der
Musik durch solche Neuerungen sich herstellt, ausgeglichen
worden ist und doch so etwas wie wenigstens der Schein eines
Gleichgewichts, der Schein einer Homöostase sich hergestellt
hat. Er ist allerdings, das muß man dazu auch sagen, auch hier,
wie übrigens in allen Dingen, nicht ganz konsequent gewe-
sen, sondern sein Bedürfnis nach Kontrasten führt ihn dann
immer wieder dazu, den aufgelockerten Partien nun ganz in
sich geschlossene Gebilde gegenüberzustellen. Und gerade
diese geschlossenen Gebilde, deren erstes und für alle späteren
vorbildliches der kurze Zwiegesang von Elektra und Orest
nach der Wiedererkennung ist, diese geschlossenen Gebilde
sind dann die Fermente der Rückbildung bei Strauss und alles
dessen geworden, was man füglich das Reaktionäre bei ihm
nennen darf.
Es gibt eben bei ihm überhaupt eine Tendenz zur Polarisie-
rung. Der Stil von Strauss, und die Straussische Technik, ent-
wickelt sich immer eben aus dem Bedürfnis, das eine durch
das andere zu konterkarieren oder auszugleichen, nach Extre-
men hin, wie also dem Extrem der völlig lockeren Arabeske
und dem Extrem des völlig ausgepinselten melodisch-harmo-
nischen Komplexes. Dadurch wird es auf der einen Seite au-
ßerordentlich reich und vielgestaltig, auf der andern Seite
aber wird diese Polarisierung bei ihm, wenn ich so sagen darf,
so überspannt, daß es dann kaum mehr möglich ist, diese aus-

405
einandertretenden Extreme unter etwas wie eine komposito-
rische Einheit zusammenzubringen. Also, jene As-Dur-Me-
lodie in der »Elektra« und der Wiedererkennungsakkord,574
der dieser Szene unmittelbar vorausgeht, das geht eben wirk-
lich, das explodiert so nach zwei verschiedenen Seiten, daß also
von einer wirklichen Einheit, anders als durch den gekleister-
ten harmonischen Übergang, hier nicht mehr die Rede sein
kann.
Ich möchte nun auch etwas sagen zu der Straussischen Stel-
lung [zur] Tonalität – und möchte auch dabei Ihnen einige
der Straussischen Neuerungen bezeichnen. Man sagt mit
Recht, daß Strauss trotz der Dissonanzen von »Salome« und
»Elektra« die Tonalität nie ganz verlassen habe. Das ist sicher
richtig, das heißt, man kann immer, auch bei den kühnsten
Dissonanzen von Strauss, sozusagen angeben, wofür sie ste-
hen, die normalen harmonischen Bildungen unter der Ober-
fläche dieser komplexen Harmonien gewissermaßen heraus-
klauben und sie in die einfachen, simplen harmonischen
Bildungen übersetzen, gar nicht so sehr verschieden, wie das
etwa heutzutage bei den berühmten und so viel gepriesenen
Dissonanzen des Jazz der Fall ist. Aber doch ist dieser Satz, daß
Strauss die Tonalität nicht verlassen habe, zwar richtig in die-
sem handgreiflichen Sinn, aber so ganz richtig ist er doch
wieder nicht. Denn, meine Damen und Herren, Tonalität ist
ja nicht einfach ein Vorrat an Akkorden und Akkordverbin-
dungen. Das ist eine viel zu äußerliche, ich möchte sagen,
eine viel zu ›klangmaterielle‹ Vorstellung von der Tonalität.
Das, was Tonalität unter dem Gesichtspunkt der funktionel-
len Harmonik, also unter dem Gesichtspunkt der Organisa-
tion der Musik durch die Anlage der Tonsprache ist, ist viel
mehr. Die Tonalität ist ein Bezugssystem. Das will sagen, daß
in der Tonalität alle harmonischen Einzelereignisse ihren Ort
haben, ihre feste Zuständigkeit. Und nun muß man wohl
doch sagen – und das hat etwa die Wut und die Rancune von
Heinrich Schenker sehr scharfsinnig beobachtet –, daß die
Tonalität als Bezugssystem von Strauss gesprengt worden

406
ist.575 Die einzelnen Akkorde sind zwar tonale Akkorde oder
Deckbilder von tonalen Akkorden, aber wo jeder Akkord
und wo jedes einzelne harmonische Ereignis in der Konstruk-
tion des Ganzen hingehört, das ist nun nicht mehr so ausge-
macht. Und das, was doch einmal vor 50 oder 60 Jahren an
Strauss so schockiert hat, das ist genau diese Kraft zur Heimat-
losigkeit der einzelnen akkordischen Gebilde, daß die Klänge
eben bei ihm nicht mehr wissen, wo sie hingehören, daß sie
nicht mehr wie Kühe in ihren Stall traben, sondern daß jeder
Klang für sich selber stehen muß oder wenigstens sich selbst
legitimieren muß in dem konkreten und spezifischen Zusam-
menhang, in dem er jeweils sich findet. Und diese Forderung,
die bei Strauss implizit angemeldet ist, die ist allerdings heute
noch genauso verbindlich. Bei Strauss war auch sie nicht ganz
verbindlich, er schwankt auch hier zwischen dem absoluten
Für-sich-gestellt-Sein der Ereignisse und Trümmern der üb-
lichen traditionellen Bezugssysteme der Tonalität, und das ist
ohne Frage bei ihm eine technische Schwäche, daß diese bei-
den Prinzipien bei ihm nicht kohärent organisiert sind. Er hat
eben auch für diese Tendenz, die lokale Zuständigkeit der
Akkorde zu suspendieren, sofort nach Kompensationen ge-
sucht.
Nun ist aber in diesem Zusammenhang die Suche nach
Kompensationen außerordentlich fruchtbar gewesen. Und
ich möchte Sie hier wenigstens auf einige dieser sehr frucht-
baren Entdeckungen hinweisen. Eine der wichtigsten ist die
Entdeckung dessen, was man mit ›Leitharmonien‹ bezeich-
nen kann. Das sind also Harmonien, die so auffällig gefügt, so
von dem anderen abweichend sind, daß sie sich einprägen
und daß sie innerhalb des gesamten Zusammenhangs eben
doch sehr eindeutig die Form organisieren und artikulieren.
Wenn man sich etwa beobachtet, wenn man also mit einem
nichtanalytischen Ohr, ganz naiv zunächst einmal in die »Sa-
lome« geht, so werden sich einem dabei wahrscheinlich mehr
solche Leitharmonien einprägen als bestimmte Themen oder
Motive oder Strukturen. Ich will Ihnen für solche Leitharmo-

407
nien auch ein paar Beispiele wenigstens andeuten, die dann
auch außerordentlich wichtig geworden sind in der weiteren
Entwicklung der gesamten modernen Musik, etwa schon von
der »Verklärten Nacht« von Schönberg an.
Da ist also etwa, um bei der »Elektra« zu bleiben, das, was
für das Elektra-Thema selber charakteristisch ist, dieser Klang
[Musikbeispiel: Elektra, Takt 6 nach Ziffer 1], den man natürlich
auch als eine Vorhaltsbildung analysieren kann, bei dem man
aber schließlich eben diese Komplexität und nicht die Mög-
lichkeit seiner Auflösung hört und der als solcher überall, wo
er auftritt, das Ganze [. . .]576. Oder in der »Salome« diese
Wendung [Musikbeispiel: Salome, Takt 2 bis 4 nach Ziffer 75]
oder diese Wendung in der »Salome« [Musikbeispiel: Salome,
Takt 5 nach Ziffer 9 bis Ziffer 10] – das sind Leitharmonien, die
immer wiederkehren. Wenn ich Sie erinnere an die Bedeu-
tung von Leitharmonien bei Schönberg, wie die: [Musikbei-
spiel: Anfang des Stücks »Heimweh« aus dem »Pierrot lunaire«] –
dann werden Sie hier fast unmittelbar etwa zwischen diesem
Klang [Musikbeispiel: »Heimweh«, Akkord aus Takt 1] und die-
sem Klang [Musikbeispiel: Salome, Takt 5 bis 6 nach Ziffer 9]
den Zusammenhang sehen.
Ein weiteres Mittel, das er hier verwendet, ist das von Li-
nien, die kompensieren sollen für den scheinbaren Verlust
des harmonischen Zusammenhangs. Das kann man beson-
ders gut vielleicht an dem Anfang, dem berühmten und mit
Recht berühmten Anfang der »Salome« erkennen, wo nach
damaligen Begriffen die wesentlichen Harmonien doch eben
sehr weit voneinander entfernt liegen, nicht mehr ohne wei-
teres zusammengebracht werden können, obwohl sie theore-
tisch verhältnismäßig leicht zu analysieren wären als auskom-
ponierte Akkorde der Neapolitanischen Sext, also im Sinn
dieser [Musikbeispiel: Adorno spielt eine Kadenz mit Neapolitani-
schem Sextakkord]. Aber indem nun dieser ganze Komplex so
selbständig wird, wird der Zusammenhang schon nicht mehr
so deutlich wie in der üblichen, eingebürgerten Kadenz. Da-
durch treten die Harmonien weit auseinander, und Strauss

408
kompensiert das durch eine Linie, eine Gegenstimme, die zu-
gleich eine programmatisch-poetische Bedeutung hat, näm-
lich das Gleiten des Mondes evozieren soll. Der Anfang lautet
also so: [Musikbeispiel: Salome, Takt 1 bis Ziffer 4, nach Klavier-
auszug, Gesangsstimmen angedeutet].[. . .]577
Nun, was ich Ihnen zeigen wollte, ist das: Das harmonische
Schema, also dieses Schema [Musikbeispiel: Salome, Takt 1 bis
ein Takt vor Ziffer 2, harmonischer Auszug] – wenn ich so den
Choral gewissermaßen angeben soll – war für diese Zeit of-
fenbar sehr viel Zumutung. Infolgedessen findet er, um die
auseinanderweisenden harmonischen Komplexe zusammen-
zuhalten, diese Gegenstimme in den Geigentremoli, die so
heißt: [Musikbeispiel: Salome, II. Violinen von Takt 3 bis 7] –
dann senkt sie sich wieder eine Sekunde [Musikbeispiel: II. Vio-
linen Takt 3 bis 4 nach Ziffer 1], bleibt hier auf dem C lang
hängen und geht dann wieder weiter [Musikbeispiel: Takt 3
nach Ziffer 2 bis Ziffer 4, Violinen, Akkorde und Holzbläser ange-
deutet] in die Höhe. Sie haben also hier, wenn Sie wollen, ei-
nen Ansatz eines später in der neuen Musik sehr wichtigen
Prinzips, nämlich daß man durch die Stimmführung die Har-
monien bindet, und damit eine der Motivationen für das
Hervortreten der Polyphonie in der neuen Musik als eines
Organisationsmittels, das zu einem wesentlichen Maß das
übernimmt, was früher einmal einfach die Akkordführung
geleistet hat.
Lassen Sie mich wenigstens ein paar Worte über die Poly-
phonie bei Strauss sagen, obwohl ich sehr weit führen und
den Rahmen des Abends weit überschreiten würde, wenn ich
Ihnen eine genaue Analyse davon gäbe. Strauss hat ausdrück-
lich in der Bearbeitung der Berliozschen Instrumentations-
lehre gesagt, daß er die Polyphonie als Mittel zum Zweck
betrachte, nämlich um das Orchester damit zu entbinden.578
Daher ist sein Kontrapunkt ein, wenn Sie so wollen, um-
schreibender oder schmückender Kontrapunkt und nicht
eine primäre kontrapunktische Konstruktion wie bei Bach
oder bei Schönberg oder großen polyphonen Komponisten.

409
Sondern es steht im Grunde da das sehr Praktische, ich möch-
te sagen, wieder auf die Wirkung Bedachte dahinter, daß nur
Stimmen eigentlich klingen und keine isolierten Füllnoten.
Aber trotzdem war auch das sehr fruchtbar. Es hat sich näm-
lich damit bei Strauss auch der Kontrapunkt von der Schul-
mäßigkeit emanzipiert, die ihm selbst bei einem immerhin
kontrapunktisch so phantasievollen Komponisten wie Bruck-
ner noch innegewohnt hat. Der Kontrapunkt wird, damit er
klingt, beseelt und wird expressiv. Das Gewebe wird so reich,
daß die Bedeutung der reinen harmonischen Stufen demge-
genüber vielfach schon zurücktritt.
Ich möchte Ihnen wenigstens, wenn ich das darf, die For-
mel für die Straussische Kontrapunktik angeben, nämlich daß
zwei oder mehr Stimmen mehr oder minder willkürlich
kombiniert werden, aber eingepaßt werden in festgehaltene
Harmonien, oft nur in einen einzelnen Akkord oder in be-
stimmte Harmoniefortschreitungen, so daß gleichzeitig eben
dieses sehr dichte Gewebe resultiert, aber doch so etwas wie
ein harmonischer Choral wenigstens rudimentär enthalten
bleibt. Allerdings ist wegen eben dieses schmückenden Cha-
rakters, von dem ich Ihnen bei dem Straussischen Kontra-
punkt gesprochen habe, dieser nie so plastisch, wie primäre
große Kontrapunktiker ihre Kontrapunkte schreiben, son-
dern hat ein bißchen etwas Schwimmendes und gerät also
auch nie so ganz durchsichtig. Außerdem ist gerade in diesem
Bereich des beseelten Kontrapunkts Strauss der Routine be-
sonders rasch verfallen und hat eigentlich schon sehr früh so-
zusagen Formeln für den beseelten Kontrapunkt erfunden,
zum Beispiel Kombinationen von übergebundenen Triolen
mit einem Viertel – jeder, der Strauss kennt, weiß sofort, was
ich dabei meine –, die dann vor allem also in den Spätwerken
sozusagen auf Kommando sich einstellen und sofort benutzt
werden können, wenn er eben das Bedürfnis danach fühlte.
Er hat schon Wagner merkwürdigerweise für einen Kontra-
punktiker gehalten,579 ist aber musikdramatisch in einem
kontrapunktischen Moment, nämlich dem der Motivkombi-

410
nation, doch weit über ihn hinausgegangen. Das motivische
Leben beginnt bei Strauss das Generalbaßdenken zu verdrän-
gen, bleibt allerdings dabei auf halbem Wege stehen. Wie ich
schon sagte, es gibt dann eben doch immer wieder geschlos-
sene rein harmonisch-motivisch gedachte Komplexe.
Dann wenigstens noch ein paar Worte über die formbil-
dende Funktion der Farbe. Strauss hat einmal davon gespro-
chen – und das ist sehr erleuchtend –, es sei weise von einem
guten Instrumentator, bestimmte Instrumente oder auch be-
stimmte Instrumentengruppen über lange Strecken in sehr
ausgedehnten Kompositionen schweigen zu lassen, damit
sie dann, wenn sie wieder eintreten, eine desto drastischere
und desto schlagendere Wirkung ausüben.580 Nun, in dieser
Faustregel steckt im Grunde rudimentär schon drin, daß die
Farbe gerade das nicht ist, als was sie die Kritikerphrase immer
wieder entwürdigt, nämlich das sogenannte ›bunte Gewand‹,
in das die Musik gekleidet wird, sondern daß sie selber ein
strukturelles Moment ist, das heißt, daß die Disposition der
Farbe selber zu der Realisierung der Form etwas Wesentliches
beiträgt. So ist er denn auch tatsächlich oft verfahren, beson-
ders in den Spätwerken, etwa in dem »Capriccio«,581 wo er
die an sich äußerst originelle Farbformidee hat, ein Streich-
sextett als Einleitung zu komponieren, das dann noch weit bis
in die Oper selber hineinreicht, ehe das ganze Orchester
überhaupt verwendet wird. Oder denken Sie an den ganz auf
Holzbläser beschränkten Anfang der »Daphne«.582 Allerdings
sind gerade in diesen Spätwerken diese Momente schon so im
Sinn des Effekts auskalkuliert und sind, ich möchte sagen, so
klotzig oder so klebrig, daß um die formbildende Wirkung,
die dabei angestrebt wird, in den Spätwerken583 Strauss we-
sentlich sich selber bringt.
Aber von einem anderen formbildenden Moment der Far-
be möchte ich reden, das weniger bekannt und vielleicht viel
produktiver ist. Das ist nämlich die Figur des Leitinstruments.
Das ist besonders ausgenutzt in der »Ariadne«, die ja über-
haupt trotz der sehr archaisierenden und rückwärtsgewandten

411
Tendenz großer Partien in anderer Hinsicht technisch das Be-
wußteste und Durchsichtigste von Strauss ist. In der »Ariad-
ne« ist es bereits so, daß bestimmten Personen, dramatischen
Personen, oder Personengruppen bestimmte Instrumente
zugeordnet werden, und zwar so, daß, und zwar auf eine
höchst diskrete und unauffällige Weise, die Gestalt der Ariad-
ne selber vielfach vom Harmonium grundiert wird, ohne daß
das Harmonium dabei auffällig würde, während die vulgäre
Opera-buffa-Szene durch das Klavier charakterisiert wird,
wobei Strauss schon gewissermaßen das, was man ›Pariser Be-
setzung‹584 genannt hat, also diesen gewissen etwas vulgären
Kaffeehausklang, den das Klavier erst im 19. Jahrhundert an-
genommen hat, in den Dienst der farblichen Wirkung stellt.
Nun, dieses Moment ist von Berg unmittelbar aufgegriffen
worden in der »Lulu«,585 wo ja auch dann bestimmte Instru-
mente und bestimmte Instrumentenkombinationen zur Arti-
kulation der dramatischen Form bestimmten Figuren beige-
sellt sind.
Ich möchte in diesem Zusammenhang noch erwähnen,
daß mir eines der großen Verdienste die Ausdehnung des Or-
chesterklangs bei Strauss nach dem Extrem des Tosenden hin
erscheint, daß er sozusagen die mittlere, kulinarische Ökono-
mie des Orchesterklangs, der ja einem nicht weh tun darf,
doch gesprengt hat und daß in genau dem, was man wohl vor
einer oder zwei Generationen am meisten an ihm bemängelt
hat, nämlich in dem sogenannten Lärmenden, eben in dem
Moment, in dem wirklich das durchbricht, was von der mitt-
leren Zivilisation verleugnet und in edle Anmut umgebogen
wird, daß er also zum mindesten in den großartigsten Explo-
sionen in der »Elektra« sehr energisch sich [dem] entgegenge-
setzt hat. Es gibt bei ihm, dem kulinarischen Komponisten
par excellence, höchst merkwürdigerweise Elemente, in de-
nen gerade das kulinarische Prinzip der Musik negiert wird.
Aber ich darf vielleicht dem die Vermutung anschließen, daß
überall dort, wo das kulinarische Prinzip in der Musik wahr-
haft negiert wird, es zugleich auch in einem gewissen Sinn

412
aufgehoben wird. Das heißt, daß eigentlich der überhaupt
nicht die rechte Freude an der Dissonanz hat, der nicht gleich-
zeitig die rechte Freude an den üppigen Terzen hat, deren
Übereinanderschichtung ja eben die dissonante Harmonik
[negiert.] [. . .]586
Nun, dem stehen aber nun eine Reihe von Mängeln ent-
gegen. Ich möchte diese Mängel nicht bis ins einzelne Ihnen
aufführen und sie analysieren, möchte Sie aber doch wenig-
stens andeuten um der Gerechtigkeit wegen. Die Souveräni-
tät, mit der Strauss verfährt, wird vielfach zur Gewaltsamkeit.
Es wird nicht aus der Komposition die Konsequenz gezogen,
sondern die Komposition wird in einer etwas managerhaften
Weise von oben her gesteuert, beherrscht, und zwar eben
nach dem Maß ihrer Wirkung, und dadurch kommt es immer
wieder zu den technischen Brüchen, die davon kommen, daß
die Sache nicht rein durchgebildet ist, denn ein Künstler bil-
det eine Sache nur dann rein durch, wenn er sie nicht von sich
aus rein in die Gewalt nimmt, sondern wenn er in ihr erlischt
und mit einer Art von produktiver Spontaneität der Sache, die
er gestaltet, sich selber anpasst. Es fehlt in diesem Sinn bei
Strauss vor allem die Durchbildung im Sinne der kleinen, der
Mikroformstruktur, also nach Vordersatz und Nachsatz, Fort-
setzungscharakteren, Durchführungscharakteren, die es bei
ihm überhaupt kaum gibt. Alles das ist ein bißchen unter-
schiedslos auf der gleichen Stufe, ein Nachlassen der Span-
nungsintensitäten, eben [das], wie es in der traditionellen und
dann wieder in der neuen Musik in der Durchbildung dieser
einzelnen Formteile gelegen war, das fehlt eben bei ihm ganz.
Und ebenso fehlt es an einer wirklichen Relation zwischen
dem motivischen Leben und dem Gesangsmelos, nur daß an-
stelle der Wagnerschen Deklamation dann bei ihm mehr und
mehr entweder überzogene, melodisierende Melodien treten
oder schließlich die schönen Töne, bei denen, man möchte
fast sagen, die jeweiligen Stars der Wiener Oper immer be-
reits einkalkuliert sind. Man muß doch wohl sagen, um der
Gerechtigkeit das Ihre zu geben, daß, wenn ich vorher sagte,

413
daß das Pingelige und Kleinliche, das Kleinbürgerliche der
späteren deutschen Romantik bei Strauss aufgehört hat, daß
das doch seine zwei Seiten hat, das heißt, daß Brahms, dem
man den Vorwurf einer gewissen akademischen Kleinlichkeit
nicht ganz wird ersparen können, eben doch Strauss gegen-
über dieselbe Wahrheit des bis ins einzelne Durchgeformten
und Durchorganisierten hat, die er schon zu seiner Zeit ge-
genüber der neudeutschen Schule587 hatte, die nur in all die-
sen Dingen natürlich nicht entfernt so talentvoll und nicht so
konsequent war, wie Strauss es gewesen ist. Es gibt bei Strauss
weder einen reinen Satz noch, wenn man zu den obersten
Stilkategorien fortschreitet, etwas wie reinen Stil.
Es ist vor allem bei Strauss das Verhältnis von Vertikale und
Horizontale nicht ausgetragen, und dadurch werden beide af-
fiziert. Die Harmonie wird durch die hinzugefügten selbstän-
digen Stimmen oft bis zur Unverständlichkeit getrübt, anstatt
wirklich erzeugt zu sein, und die Kontrapunkte ihrerseits sind
in Gefahr, zu Formeln zu degenerieren. Auch das ist eine dia-
lektische Sache, denn es ist sicher eines der großen Verdienste
von Strauss, daß beide Dimensionen, die harmonische und
die melodisch-kontrapunktische, bei ihm ihr eigenes Recht
zu beanspruchen beginnen, während sie vorher ja doch in der
späteren Romantik in einer mehr oder minder clichéhaften
Weise einander folgten. Aber die Tragik von Strauss, wenn Sie
so wollen, liegt darin, daß, indem er das Eigenrecht dieser
beiden Dimensionen anmeldet, sie eben doch immer weiter
auseinanderklaffen. Und unter diesem Aspekt könnte man
durchaus die Zwölftontechnik verstehen als den Versuch, das,
was in Strauss angemeldet ist, nämlich die identische Durch-
bildung dieser beiden, die gleich starke Durchbildung dieser
beiden Dimensionen, doch wieder zu synthesieren, indem
beide auf ein in letzter Instanz ihnen Gemeinsames gebracht
werden.
Es ist weiter zu sagen, daß die Kritik an der Tonalität, die er
geübt hat und die ich Ihnen vorhin als eine der großartigsten
Entdeckungen von ihm bezeichnet habe, daß diese Kritik der

414
Tonalität bei ihm nicht zu einem rein musikalischen konse-
quenten neuen Organisationsprinzip geführt hat, wie die
konsequente Atonalität es darstellt, sondern daß immer gleich-
sam behelfsmäßig, nämlich von der sogenannten ›poetischen
Idee‹ aus organisiert wird, in den symphonischen Dichtungen
durch das Programm und in den Opern durch die mehr oder
minder psychologische Anpassung an die je gegebenen dra-
matischen Augenblicke. Dadurch haben die Straussischen
Formen ihre eigentümliche Unverbindlichkeit, eine der auf-
fälligsten Sachen bei Strauss, vor allem jener merkwürdige
Charakter der Schlüsse. Strauss ist ja der Komponist, der keine
Schlüsse schreiben kann, als einer der ganz wenigen. Und die
überaus effektvoll angesetzten Schlüsse, die so oft bei Strauss
sich finden, sind eigentlich nur die Kompensation dafür, daß
die Musik aus sich selbst heraus, aus ihrer eigenen Schwung-
kraft heraus, niemals so zu ihrem Ende findet, wie sie es bei
völlig durchgebildeter, großer Musik eben vermag. Sie ist,
ganz wie es in dem metaphysischen Begriff des ›bloßen Le-
bens‹, des um seiner selbst willen verherrlichten Lebens liegt,
der ja bei Strauss eigentlich den Gehalt ausmacht, im Grunde
unfähig, sich zum Schluß zusammenzufügen, sondern nur
fähig, gewissermaßen abzubrechen. Ich lasse offen, ob nicht
gerade in diesem in Wahrheit unverständlichen und unver-
söhnten Abbrechen sehr gegen die Straussische Intention ins-
geheim etwas wie eine sehr große Wahrheit sich versteckt,
aber das würde nun den Rahmen einer technologischen Be-
trachtung weit überschreiten.
Zur Frage des Klanges möchte ich sagen, daß bei ihm der
Klang eben doch sich von der Komposition weitgehend ab-
löst und eben deshalb auch als Klang nicht gut ist, das heißt
zum Kulinarischen eben, wie ich schon andeutete, sehr oft
ausartet. In seiner merkwürdigen Kompositionsfremdheit
oder, wenn Sie wollen, Geistfremdheit wird der Straussische
Klang immer zu süß, und deshalb schmeckt er eigentlich auch
nicht mehr. Überdies herrscht dann bei Strauss sehr vielfach
ein Widerspruch zwischen der außerordentlichen Prätention

415
des Klangreizes bei ihm und dem Dürftigen, was dann in die-
sem Klangreiz erscheint. Die überreiche Fassade hebt, könnte
man sagen, die relative Armut der dahinter sich abspielenden
kompositorischen Ereignisse erst recht hervor. Am drastisch-
sten können Sie das beobachten an einem Stück wie dem
Tanz der Salome, wo die Differenz zwischen dem ungeheuer
aufwendigen Klingklang und den, man muß schon wirklich
sagen, dürftigen rein musikalischen Ereignissen geradezu dra-
stisch ist. Das Schmückende des Klanges ist einerseits unöko-
nomisch, das heißt entspricht nicht der künstlerischen Öko-
nomie, daß die Mittel nicht mehr sein dürfen als die Sache, ist
aber andererseits dann auch in sich selbst problematisch, näm-
lich nicht durchzuhören, und wird damit zum Schleier vor
den kompositorischen Vorgängen.
Ich habe Ihnen diese kritischen Dinge wenigstens in aller
Kürze noch angedeutet, weil man gerade ihre Bedeutung für
die neue Musik kaum überschätzen kann. Einerseits führt die
Straussische Emanzipation vom Idiom und damit seine For-
derung der autonomen Durchbildung aller musikalischen Di-
mensionen bis an die Schwelle der neuen Musik. Rufer hat
sogar bei Strauss in der »Arabella«588 einmal eine reine Zwölf-
tongestalt entdeckt.589 Die Freude an der Entdeckung ist mir
nur dadurch getrübt worden, daß ich gefunden habe, als ich
die Stelle mir dann näher angesehen habe, daß es sich dabei
um eine chromatische Tonleiter handelt [Lachen im Auditori-
um], und dadurch ist dann also die Entdeckung nicht mehr so
weit her. Andererseits aber hat Strauss alle die Forderungen,
die aus seinen Gebilden aufsteigen, abgebogen und durch sei-
ne rückläufige Gesamtentwicklung das, wenn möglich, auch
noch ideologisch sanktioniert. Man sagt kaum zuviel, wenn
man die These wagt, es sei die neue Musik die ›bestimmte
Negation‹ von Richard Strauss, die ihn aber zugleich positiv –
ich rede sehr hegelisch,590 meine Damen und Herren – in sich
›aufhebt‹. Und seine maßlose Wut gegen die neue Musik, die
er gleichzeitig bekämpft hat – aber immer mit dem Akzent:
›Na, das hab’ ich doch eigentlich schon längst gemacht‹,591

416
wie wenn es dadurch, daß er’s gemacht hätte, schon bereits
schlecht würde [Lachen im Auditorium] –, diese maßlose Wut
rührt daher, daß die neue Musik ihn gleichsam mit sich selbst
konfrontiert hat, daß sie seinem Potential recht gibt gegen das
von ihm Realisierte.
Nun, meine Damen und Herren, das weist noch einmal
zurück auf das Problem von Technik als der integralen
Durchbildung. Ich sagte Ihnen, daß sie als Verfügung immer
zugleich auch schlechte Verselbständigung wird gegenüber
dem Material und dem Komponierten. Ohne diese Verselb-
ständigung gibt es überhaupt kein Fortschreiten in der Musik,
denn musikalischer Fortschritt heißt ja nicht, daß die Kom-
positionen immer besser und besser werden – das könnte nur
ein Kind sich so vorstellen –, sondern daß die Verfügung über
das Material eben immer weiter geht. Aber eben dadurch ver-
strickt sie sich, nicht durch moralische Defekte oder durch
Mangel an Talent, sondern, ich möchte sagen, aus dem eige-
nen Schwergewicht der Technik selber heraus, in eben das,
was die triviale Sprache mit ›Kompositionstechniken‹ be-
zeichnet, in Routine, in Äußerlichkeit des Verfahrens gegen-
über der Sache, in einen Überschuß der Technik über ihren
eigenen und strengen Begriff. Und dieses Moment, genau
dieses Moment der Verselbständigung der Technik, ist ver-
klammert, ist schuldhaft verklammert bei Strauss mit der Prä-
ponderanz der Wirkung, die eben diese Äußerlichkeit gegen-
über der Sache ist. Sie können von hier aus die Mahnung von
dem expressionistischen Schönberg gegen die »alleinseligma-
chende Technik«592 so verstehen, sozusagen [als] die Notwen-
digkeit der Musik, die gerade durch Künstler wie Strauss hier
gesetzt war, sich auf eine Art von Nullpunkt gegenüber der
Kultur zurückzuziehen, auf dem sie doch nicht bleiben konn-
te, sondern von dem aus sie dann von neuem Technik kristal-
lisieren mußte, so wie es bei Schönberg der Fall war, der ja ge-
genüber Strauss auch der konsequente und bessere Techniker
war. Es liegt darin eine unausweichliche Dialektik. Es geht so-
wenig ab ohne die technologische Dimension, wie es abgeht

417
ohne ihre immerwährende Selbstbesinnung und ihre im-
merwährende Selbstkritik. Heute, könnte man sagen, ist die
Spirale in einem gewissen Sinn wieder zu demselben Punkt
zurückgekehrt, auf dem sie bei Strauss auf niedrigerer techno-
logischer Stufenleiter bereits einmal sich befunden hat, näm-
lich, bei den besten Technikern ist heute bereits wieder die
Gefahr des Kulinarischen erreicht, und die Krise, die man
heute in der Musik spürt, ist insofern auch wieder eine Krise
des Glaubens eben an die alleinseligmachende Technik. Die
Frage der Kündigung der Technik ist wieder aktuell gewor-
den wie im frühen Expressionismus, und darum ist die Besin-
nung nicht über die Mängel, sondern über die Antinomien in
dem Werk von Richard Strauss, wenn ich mich nicht täusche,
keine bloße Angelegenheit des historischen Rückblicks, son-
dern von unmittelbarer Aktualität für die Situation der Musik
heute und hier. – Ich danke Ihnen sehr für Ihre Aufmerksam-
keit.

418
Die Formprinzipien der zeitgenössischen Musik
28. 4. 1966

Ja, meine Damen und Herren,

zunächst möchte ich Ihnen für die reizende Aufnahme dan-


ken, die meine Frau und ich hier gefunden haben, und möch-
te Ihnen sagen, daß ich sehr froh bin, daß ich bei Ihnen spre-
chen kann. Die Möglichkeit, die Sie mir bieten, gerade über
Probleme der modernen Musik in ihrer fortgeschrittensten
Gestalt zu sprechen, ist ja ein Symbol für eben jene Änderun-
gen des geistigen Klimas, die ich zu meiner Freude so vielfach
gefunden habe und die es mir natürlich noch sehr viel leichter
machen, zu Ihnen zu sprechen. Nun, lassen Sie mich Ihnen
zunächst sagen: Ich habe einen Vortrag über Probleme der
»Form in der neuen Musik« im vergangenen Jahr als Eröff-
nung der Kranichsteiner Kurse bei Darmstadt gehalten, und
zwar als Einleitung zu einem Kongreß, der sich nur mit
Formproblemen beschäftigt hat. Der Vortrag ist auf Deutsch
erschienen in der »Neuen Rundschau«,593 einer literarischen
Zeitschrift, die vom Fischer Verlag herausgegeben wird, die
sich aber auch mit anderen ästhetischen und auch gesell-
schaftlichen Fragen vielfach beschäftigt. Nun, glaube ich, ist
es besser, einfach damit wir uns verstehen, wenn ich nicht
etwa diesen Text, der übrigens zu allem anderen auch sehr
lang ist, vorlese, sondern wenn ich versuche, Ihnen einige,
wenigstens einige der Hauptgedanken danach frei zu entwik-
keln. Denn die sprachlichen Schwierigkeiten sind eben –
obwohl ich weiß, daß Sie alle Deutsch können – doch bei
solchen Dingen nicht zu unterschätzen, und außerdem be-
trachte ich das, was ich Ihnen sagen möchte, wirklich mehr als
Grundlage für eine Diskussion denn so als einen feierlichen
akademischen Vortrag, wo man sich auf ein Katheder stellt
und seine Weisheit von sich gibt, ohne daß einem von irgend
jemand widersprochen wird, eine Berufskrankheit, zu der wir
Universitätslehrer allgemein ja nur allzusehr neigen.

419
Nun, also der Begriff der Form – er hat einen doppelten
Sinn, wenn es sich um Musik handelt. Auf der einen Seite
gibt es den ästhetischen Formbegriff. Der bedeutet eigentlich
alles das an dem Kunstwerk, wodurch es Kunstwerk und nicht
bloße Wiedergabe der Realität ist, also alle die Momente,
durch die ein Kunstwerk, sei es einheitlich, sei es in sich ge-
brochen oder vielfältig, sich als ein in sich selbst sinnvoll Kon-
stituiertes erweist. Diesem ästhetischen Formbegriff, dem
steht nun ein musikalischer Formbegriff, zunächst jedenfalls,
entgegen, wie er Ihnen allen vertraut ist aus dem, was man
›musikalische Formlehre‹ im engeren Sinn nennt, also die
Lehre von der innerzeitlichen Anordnung der einzelnen mu-
sikalischen Ereignisse, wobei man im allgemeinen bei ›Form‹
eben an gewisse vorgegebene Typen denkt, die man dann stu-
diert und die man anwendet – also die Sonatenform oder die
Rondoform oder einfachere, die ein-, drei- oder mehrteilige
Liedform, oder unter Umständen kann man auch die Fuge als
eine derartige Form bezeichnen, obwohl das bereits gewisse
Schwierigkeiten involviert, weil die Fuge sich eigentlich
mehr auf ein Prinzip der Arbeit eines musikalischen Stückes
bezieht, als daß sie eine feste Regel der zeitlichen Abfolge
darstellt. Auf der anderen Seite ist es aber auch in der Fuge so,
daß etwa durch den Modulationsplan, der sich in der Mitte in
entferntere Tonarten bewegt und am Ende in die Grundton-
art wieder zurückzukehren pflegt, oder vor allem auch durch
die regelmäßige Folge von Durchführungsteilen und von
Zwischenspielen doch auch so etwas, wenigstens rudimentär,
wie eine Formorganisation gegeben ist. Ich denke dabei an
den klassischen Fugentypus, der von Bach eigentlich entwik-
kelt worden ist in seiner Reinheit und wie er dann nach Bach
in dieser Weise nie wieder erreicht worden ist.
Nun, wenn ich einmal zunächst von dem zweiten, von
dem engeren musikalischen Formtyp reden darf – und ich
werde später versuchen, einiges zu sagen über das Verhältnis
dieser beiden Formbegriffe, des ästhetischen und des musika-
lischen, zueinander –, dann möchte ich zunächst einmal dar-

420
auf hinweisen, daß man das Problem der Form sehr leicht zu
oberflächlich faßt, indem man Form und Inhalt voneinander
trennt, so wie es vor allem also in der Theorie des sogenann-
ten ›sozialistischen Realismus‹ in der Musik in weitem Maße
der Fall gewesen ist. Ich brauche über die Problematik des Be-
griffes des Realismus Ihnen hier in diesem Kreise wahr-
scheinlich nicht viel zu sagen. Sie haben alle damit viel zu sehr
sich herumquälen müssen, als daß ein Ausländer Ihnen dazu
irgend etwas Besonderes zu erklären hätte. Aber ich möchte
doch wenigstens auf ein Moment hinweisen, das viel spezifi-
scher ist. Nämlich die sogenannten Formen, die tradierten
musikalischen Formen, sind – zum Teil jedenfalls – sedimen-
tierter, also geronnener Inhalt. Ich glaube, denjenigen von
Ihnen, die wissen, daß in der Wirtschaft gewisse Formen, wie
etwa die Geldform, etwas wie geronnene lebendige Prozesse,
geronnene Arbeit, darstellen,594 denen wird von der Lehre
der gesellschaftlichen und dialektischen Ökonomik her gera-
de dieser Gedanke gar nicht so fremd sein. Also, um Ihnen das
Allersinnfälligste dabei zu sagen: Das Beispiel, auf das man zu-
erst dabei kommt, ist die Rondoform, ja ohne alle Frage aus
einem Rundtanz entstanden und aus dem Gegensatz von ei-
nem einzelnen Vorsänger und einem Chorus, einem ensem-
bleähnlichen Chorus, der dann mit einem Refrain immer
wieder auftritt – also das Verhältnis von Couplet und Refrain,
wie wir es in der vulgären Musik ja heute noch in seiner pri-
mitivsten Gestalt finden, das steckt in dieser Form drin. Ich
würde sagen, daß so etwas wie geronnener Inhalt, sedimen-
tierter Inhalt eigentlich in jeder dieser musikalischen Formen
drinsteckt und daß es eine der Bedingungen des wirklichen
musikalischen Verständnisses ist, dieses inhaltliche Moment
nachzuvollziehen.
Ich meine damit gar nicht, daß man sich dessen bewußt
sein muß, also daß man etwa bewußt über die inhaltlichen
Implikate595 der Sonate oder irgend etwas Ähnliches dabei
sich orientieren muß. Aber zu dem, was man so versteht unter
dem Begriff des Musikalisch-Seins, oder zu dem, was man

421
meint mit dem Begriff des musikalischen Sinnes, dazu, also zu
diesen ganzen Organen für musikalischen Zusammenhang
gehört dazu, daß man dieses inhaltliche Moment mit inner-
viert. Musik hören heißt eigentlich immer auch Inhalte mit-
vollziehen, nur sind diese Inhalte gewissermaßen abgeblen-
det, man sieht sie nicht, man hat sie nicht voll bewußt
gegenwärtig, sondern sie sind eben wirklich in diese formalen
Relationen verwandelt und werden in diesen gespürt. Und
ob das der Fall ist, ob das gelingt, das entscheidet ebenso über
den Rang einer Komposition wie auch darüber, ob man Mu-
sik wirklich lebendig nachzuvollziehen vermag. Also, wer ein
Rondo richtig vorträgt, vortragen will, von dem wird eben
stillschweigend erwartet, daß er diese Relationen – wie ich sie
also sehr vergröbernd bezeichnet habe – von Couplet und
Refrain so darstellt, daß man, auch wenn das gar nicht mehr
offenbar ist, doch noch etwas von diesen Grundkategorien
spürt. Mein verstorbener Lehrer und Freund Alban Berg596
war ein besonderer Meister darin, ich möchte sagen, die
Formtypen, so wie sie überkommen sind, zwar durch eine
ungeheure Differenziertheit der musikalischen Sprache auf-
zulösen und zu überwinden, aber doch diesen Formsinn –
eine jegliche Phrase also, wenn Sie wollen –, dieses latent in-
haltliche Moment eines jeden Formteiles zu mobilisieren.
Wenn Sie sich unter diesem Gesichtspunkt einmal etwa ein
Stück [wie] die »Lyrische Suite für Streichquartett« von Berg
anschauen und anhören, werden Sie ohne weiteres merken,
wenn Sie einen wirklich analytischen Blick haben, also wenn
Sie genau sehen, wie das eigentlich alles motiviert und gear-
beitet ist, wie ich das meine.
Nun aber ist es so, daß in der Musik der Inhaltsbegriff all-
mählich dann doch übergegangen ist immer mehr an das mu-
sikalische Detail. Das hängt zusammen mit der Subjektivie-
rung der Musik, die mit dem Aufkommen des bürgerlichen
Zeitalters, also mit dem Generalbaßzeitalter, dem ›stile rap-
presentativo‹ zusammenhängt und mit der Entwicklung des
Ausdrucksmoments, das ja seinen ersten Niederschlag bei

422
Monteverdi eben in der berühmten Klage der Ariadne597 ge-
funden hat und das seitdem immer wesentlicher wurde. Das
Verhältnis also von Form und Inhalt hat sich dann innerhalb
der bürgerlichen Gesellschaft immer mehr artikuliert in dem
Sinn, daß das Inhaltliche nicht etwa die Abbildung der äuße-
ren Realität ist, sondern der Ausdruck von Regungen, die
zwar fingiert sind – also nicht reale Regungen, sondern ge-
spielte Regungen, wenn Sie so wollen –, die aber schließlich
doch ihr Modell an realen seelischen Regungen von Men-
schen haben. Der Träger dieses Ausdrucksmoments ist in
einem immer wachsenden Maß das musikalische Detail, die
Einzelerfindung, die einzelne Harmonik, auch die melo-
disch-motivische Einzelerfindung geworden. Und es bestand
nun eine ständige Dialektik zwischen jenen Formen, von de-
nen ich Ihnen gesprochen habe, und diesen inhaltlichen Mo-
menten, die die Musik hat. Man darf nun – und das möchte
ich gleich sagen, um den dialektischen Gedanken sehr ins
Zentrum zu rücken – sich dieses Verhältnis von Form und In-
halt um Gottes willen nicht äußerlich vorstellen, also nicht so,
als ob die Formen Schemata wären, in die man dann irgend-
wie einen Inhalt hineinpackt. Sondern die große Musik, also
die Musik, die man mit einem mir wenig angenehmen Aus-
druck die ›klassische Musik‹ und die ›romantische Musik‹ zu
nennen pflegt, aber vor allem eben der Wiener Klassizismus,
wie er von Haydn bis – ich würde wagen zu sagen – Schubert
reicht, dieser Wiener Klassizismus, der besteht nun im we-
sentlichen darin, daß diese inhaltlich expressiven Momente
und die Formmomente durch einander vermittelt sind. Das
Medium dazu ist die Sprache der Tonalität. Die Tonalität ist
ebenso fähig, Formen zu organisieren – oder lassen Sie mich
lieber sagen: war ebenso dazu fähig, Formen zu organisieren
[wie Ausdruck zu ermöglichen]. Man kann ja sagen, daß in
gewisser Weise die Kadenzform das Urbild, die Urzelle der
Sonatenform überhaupt ist, wie auf der anderen Seite die
Tonalität, die ja wesentlich in der Organisation von Span-
nungsverhältnissen besteht, das Medium war, das der Musik

423
eigentlich ihren Ausdruck erlaubt hat. Also, ohne die Dur-
Moll-Tonalität und vor allem auch ohne den Einbau von Ne-
benstufen und chromatischen Nebenstufen und dieser ganzen
Dinge, auf die ich jetzt nicht einzugehen brauche, die Ihnen
ja auch allen bekannt sind – ohne das wäre die Musik zum
Ausdruck nicht fähig geworden. So ist also die dynamische
Form par excellence, die Sonate, gleichzeitig eine wesentlich
subjektive Form gewesen. Die Dynamik der Sonate hat ei-
gentlich immer etwas gehabt – so vor allem bei Beethoven –
von dem Subjekt, das sich in seinen eigenen Regungen expo-
niert, dann gleichsam auf Widerstand trifft, sich also mit dem
Allgemeinen nicht eines weiß, und das durch einen Prozeß
hindurch schließlich doch zur Versöhnung oder zur Identität
mit dem Allgemeinen gelangt. Also, die eigentliche Größe
der klassischen Musik, das, wodurch sie heute eigentlich noch
zu uns spricht, wenn wir sie wirklich wahrzunehmen und zu
verstehen in der Lage sind, die besteht darin eben, daß in ihr
in einem solchen lebendigen dialektischen Prozeß die Mo-
mente der Form und des Inhalts sind; wie man denn wohl
ohne viel Übertreibung sagen kann, daß zwischen den Struk-
turelementen – ich spreche hier lediglich von Strukturele-
menten und nicht von Ausdruckselementen –, den Struktur-
elementen der Beethovenschen Musik und den Kategorien
der »Wissenschaft der Logik« von Hegel die tiefste Überein-
stimmung besteht598 – die beiden sind nicht umsonst Zeitge-
nossen gewesen. Es ist dabei jeder Einfluß auszuschließen. Ich
bin überzeugt, daß Beethoven nie eine Zeile von Hegel gele-
sen hat, obwohl er sich angeblich mit Kant beschäftigt haben
soll,599 und es gehört ja zu den merkwürdigsten Phänomenen
in der »Ästhetik« von Hegel, in den musikästhetischen Teilen,
daß der Name Beethoven darin gar nicht vorkommt, sondern
als eigentlich der Musiker, der dem Hegelschen Ideal am
nächsten kommt, Rossini bezeichnet wird, und man weiß,
daß, als Hegel hier in Wien ein paar Monate gewesen ist, daß
er geradezu von einer wilden Leidenschaft für die Musik von
Rossini ergriffen worden ist und jeden Abend in die Oper ge-

424
rannt ist, um Rossini zu hören.600 Nun aber, ich weise darauf
nur deshalb hin, um zu zeigen, wie wenig die Probleme, um
die es sich hier handelt, solche der privaten Psychologie oder
der privaten Musikalität oder der privaten Weltanschauung
sind, in welchem Maß sie Ausdruck von objektiven Tenden-
zen sind, also von dem sind, was bei Hegel mit ›Weltgeist‹ et-
was pathetisch metaphysisch bezeichnet wird.601 Der Zeit-
geist in Beethoven und in Hegel, der spricht also wirklich
dieselbe Sprache.
Ich sagte schon, daß der Rang der Werke danach sich be-
mißt, wie tief die Vermittlung dieses Form- und Inhalts-
moments gelungen ist. Wenn etwa sehr viele der späteren
romantischen Musik problematisch ist, dann hängt das sehr
wesentlich damit zusammen, daß dann wirklich zwar auf der
einen Seite die subjektiven Momente, also die Ausdrucksmo-
mente und damit auch die melodische Einzelerfindung sich
verselbständigen, aber dann die Form ihnen gegenüber im-
mer mehr an organisierender Kraft einbüßt und zu einer blo-
ßen Schablone wird, in die sie eingefügt werden, ohne daß –
könnte man sagen – die Einzelmomente von sich aus die
Form noch erzeugen. Wenn Sie etwa an die Symphonien von
Tschaikowsky denken, dann werden Sie als Musiker durchaus
sehen, was ich mit dieser Verflachung des Verhältnisses von
Ganzem und den Teilen meine. Aber wenn dann im Lauf des
19. Jahrhunderts diese innere Vermittlung von Form und
Inhalt, also von subjektivem Einzelimpuls und objektiver
Struktur, die dabei immer vorgeordnet war und als solches
Vorgegebenes immer noch – ich möchte sagen – ein architek-
tonisch feudales Moment mitgeschleppt hat, wenn die im
Verlauf des 19. Jahrhunderts immer weniger gelungen ist,
dann hat das doch sehr tiefe Gründe, nämlich, daß eben auch
in der Realität die Versöhnung des Allgemeinen und Beson-
deren, wie Hegel sie gelehrt hat, in Wirklichkeit nicht gelun-
gen ist; daß das Allgemeine und das Besondere in der bürger-
lichen Gesellschaft, im Gegensatz etwa zu der Lehre von
Smith, der geglaubt hat, daß dank einer ›unsichtbaren Hand‹

425
die Totalität aller Einzelinteressen gleichzeitig die Garantie ei-
nes Wohlbefindens der Gesamtheit sei,602 [unversöhnt blie-
ben,] daß das nicht geklappt hat aus Gründen, die in diesem
Kreis zu entwickeln, ich ja wohl auch nicht nötig habe. Durch
diese Tendenz in der Gesellschaft ist die Vereinheitlichung in
der Musik auch immer problematischer geworden, und zwar
auch hier in dem Sinn, daß ja wie in einer fensterlosen Mona-
de, also ohne daß die Musik auf die gesellschaftliche Realität
hinschielt, in ihr, immanent, ohne daß sie’s weiß, Struktur-
probleme und Spannungen der Gesellschaft in immer wach-
sendem Maß sich durchsetzen. Man kann ja sagen, daß es für
die Qualität von Kunst entscheidend ist, wieweit sie es ver-
mag, in sich selbst irgendwie die tragenden gesellschaftlichen
Spannungen auszudrücken [und] in gewisser Weise durch die
Integration, die die Kunstwerke üben, über diese Spannung
hinauszuweisen und hinzuweisen auf einen versöhnten Zu-
stand, der ja nun doch allerdings noch nicht ist. Je mehr nun
die subjektiven Kräfte angewachsen sind – und ich halte es für
wichtig, daß man dieses Anwachsen der subjektiven Kräfte
nicht als Dekadenz, nicht als Fessel, als bürgerlichen Indivi-
dualismus einfach abtut, sondern daß man sich darüber klar
wird, daß diese subjektive Differenzierung eine unendliche
Produktivkraft war, daß mit dieser fortschreitenden Differen-
zierung und Subjektivierung eben die Menschen auch in der
Kunst wie in der Realität fähig geworden sind, Erfahrungen
zu machen und darzustellen, die ihnen früher gar nicht mög-
lich waren –, durch dieses Anwachsen der subjektiven Kräfte
und der subjektiven Differenzierung sind nun aber die vorge-
gebenen, wie ich sagte, noch halb feudalen Formen – und es
gehört ja zur bürgerlichen Gesellschaft aus tiefen Gründen
dazu, daß sie in ihrem Formenschatz gleichzeitig die Feuda-
lität negiert und doch die formalen Elemente konserviert
hat –, sind die vorgegebenen Formen im engeren Sinn des
musikalischen Formbegriffs immer mehr zu Schablonen her-
abgesunken, sind immer äußerlicher geworden, sind immer
weniger verbindlich geworden.

426
Man kann sagen, daß korrelativ zu dem Begriff der fort-
schreitenden Subjektivierung der Musik auf der anderen Seite
eine Verdinglichung der musikalischen Formen [vor]gegan-
gen ist, wie sie ihren extremsten Ausdruck gefunden hat na-
türlich in dem ganzen Bereich der sogenannten Unterhal-
tungsmusik, der sogenannten ›popular music‹, von der ich
wirklich sagen würde, daß sie also der Abhub der Verdingli-
chung ist, und von der ich deshalb sehr schwer eigentlich ver-
stehen kann, daß sie auch dort, wo man der Verdinglichung so
kritisch gegenübersteht, immer noch aus allen Lautsprechern
tönt. Aber es ist nicht an mir, über dieses Problem zu urteilen.
Die Wechselwirkung, die im Klassizismus geherrscht hat, die
ist zergangen. Nun, ich glaube, aus dem, was ich Ihnen hier
darlegen möchte – und notwendig abstrakt, ich meine, in
einem solchen kurzen Vortrag ist das natürlich unmöglich,
diese Dinge alle so zu konkretisieren, wie es von Ihnen mit
Recht erwartet werden könnte –, aber der entscheidende Ge-
danke, den ich in diesen paar Worten Ihnen heute vormittag
gern kommunizieren möchte, meine Damen und Herren,
der ist der, daß die Entwicklung der neuen Musik, und zwar
in ihrer radikalen Gestalt, also in der Gestalt, in der sie mit den
sogenannten vorgegebenen musikalischen Formen auch die
vorgegebene Harmonie, die vorgegebene Art der Melodie-
bildung, all das aufgelöst hat, daß das nicht ein Zufall ist, daß
das also nicht daran liegt, daß sozusagen die Menschen, die
Individuen, von der Gemeinschaft sich immer mehr entfernt
haben und Narren auf eigene Faust603 geworden sind, son-
dern es liegt darin ein Moment – ja, lassen Sie mich sagen –
der Kritik an der traditionellen Musik selber. Es gibt da einen
sehr schönen Satz von Paul Valéry – ich habe ihn neulich auch
in Prag zitiert –, daß das Beste im Neuen einem alten Bedürf-
nis entspreche.604 Das gilt sicher im besonderen Maß auch für
die neue Musik, indem sie des Formelwerks sich ganz entle-
digt hat. Nun ist aber zum Formelwerk nicht nur die Form-
organisation, also etwa die Sonatenform, geworden, sondern
die Tonalität selber, die ja, wie ich Ihnen sagte, die Vorausset-

427
zung dafür ist und mit alldem zusammenhängt, sie hat sich
selber in eine Art von bloßer Spielmarke, in eine Art Spiel-
markensystem verwandelt, in kleine Münzen – man wird ja
bei den immer wiederkehrenden Formeln der Tonalität den
Gedanken an Münzen, die überall einzusetzen und gegenein-
ander auszutauschen sind, sowieso nicht los –, so daß also die
neue Musik in diesem Sinn als Kritik der traditionellen Musik
zu betrachten ist.
Ich möchte diesen Gedanken wenigstens an einem Modell
doch versuchen, Ihnen ein bißchen konkreter zu machen.
Nämlich an dem Problem der Reprisen, also an dem Problem
der mehr oder minder wörtlichen, wenn auch durch die mo-
dulatorische Abwandlung sehr kunstvoll veränderten Wie-
derkehr des Gleichen. Die Sonate war, wie ich Ihnen sagte –
und das hängt eben wesentlich mit der Emanzipation des
Subjekts, aber überhaupt mit der bürgerlichen Gesellschaft im
Gegensatz zur feudalen und absolutistischen zusammen –,
eine wesentlich dynamische Form. Demgegenüber bedeutet
die Reprise, also die – cum grano salis verstanden – wörtliche
Wiederkehr eines Gleichen, ein statisch architektonisches
Element, das im tiefsten mit dieser entbundenen Dynamik
nicht vereinbar gewesen ist. Wenn Sie wollen – es würde sich
lohnen, wenn einmal ein Musikwissenschaftler dem sehr de-
tailliert nachginge, aber leider beschäftigt sich die Musikwis-
senschaft im allgemeinen ja viel zu wenig mit der Musik,
nämlich mit den Strukturproblemen der Musik –, könnte
man schon zeigen bei Mozart, daß eine Art von Unbehagen
an der Reprise waltet, das sich darin zeigt, daß die Durchfüh-
rungen, die ja bei Mozart oft sehr kurz und rudimentär sind,
trotzdem gleichsam ihre Impulse an die Reprise weitergeben,
so daß die Reprise etwa manchmal mit der Durchführung fast
verschmolzen erscheint und die Wiederkehr des Gleichen
erst in einem relativ späten Stadium, beim Einsatz des zweiten
Themenkomplexes, voll erreicht ist. Ich denke dabei etwa an
die Klaviersonate in B-Dur.605 Wenn Sie sich die Sonate ein-
mal unter diesem Gesichtspunkt ansehen, werden Sie das fin-

428
den. Ich halte diesen Ausspruch von Mahler, daß für ihn das
Interesse an einem Mozartquartett im allgemeinen bei dem
Teilstrich ende, weil es danach schematisch würde,606 nicht
gerade für das Profundeste, was er in seinem Leben gesagt
oder getan hat – bei aller Bewunderung und Verehrung, die
ich für Mahler hege, ich glaube nicht, daß ich sagen muß, wie
positiv ich zu Mahler stehe. Nun, bei ihm, bei dem die Dyna-
mik noch in einem ganz anderen Sinn entfesselt und weiter-
gegeben ist, als das bei Mozart der Fall war, wird natürlich die
Reprise immer mehr zu einem Problem. Man hat überhaupt,
würde ich denken, gegenüber der Idee des heroischen Klassi-
zismus das Moment der Spannung, das – ich möchte sagen –
in sich antagonistische Moment in Beethoven viel zu wenig
berücksichtigt bis heute. Und zwar meine ich dabei nicht
etwa den Themendualismus und diese Dinge, sondern ich
meine die Widerspruchhaftigkeit, die diese Musik in gewisser
Weise in sich selbst hat; weil sie auf der einen Seite radikal dy-
namisch ist, auf der anderen Seite aber, weil sie tonal ist, eben
doch von den Strukturmomenten, die in der Tonalität gesetzt
sind, sich nicht ganz löst. Manche von Ihnen werden viel-
leicht den Ausspruch von Beethoven kennen – ich glaube, er
hat ihn dem Neffen gegenüber einmal getan –, daß man über
den Generalbaß, also mit anderen Worten, über die Grund-
lehre von der Tonalität sowenig nachdenken dürfe wie über
den Katechismus.607 Nun, ich nehme sonst solche subjektiven
Aussprüche bei der Analyse von Musik nicht so furchtbar
wichtig, aber bei einem so reflexiven Künstler wie Beethoven
muß man so etwas ja doch ernst nehmen, und es zeigt sich
darin etwas sehr Interessantes, nämlich, daß er offenbar selber
bereits gespürt hat, daß die Art Dynamik, die er gemeint hat,
mit den Mitteln der Tonalität, des Generalbasses, an denen er
festgehalten hat, nicht mehr darzustellen ist. Immer wenn die
Menschen verbieten, daß über irgend etwas nachgedacht
wird und sagen, man muß es schlucken wie eine Pille, man
muß daran glauben, ist das ja der Ausdruck dafür, daß in ih-
rem eigenen Bewußtsein der Gedanke bereitliegt, daß die Sa-

429
che nicht ganz so einfach ist. Nun aber, wenn wir einmal diese
Reflexion von Beethoven einen Augenblick beiseite lassen,
dann ist es so, daß man gerade in den entscheidenden Werken
von Beethoven finden kann, daß die Reprise bei ihm nicht
mehr die einfache Wiederkehr des Gleichen ist, obwohl sie
die Wiederkehr des Gleichen ist, sondern daß der Reprisen-
beginn fast immer eine Pointe ist. Also, bei Beethoven selbst
ist die Reprise, die Wiederkehr der Reprise, gleichsam das
›tour de force‹, das Kunststück, auf das er hinarbeitet. Und die
großen Werke, die entscheidenden Werke von Beethoven,
fast alle – ich spreche jetzt nicht von den letzten Quartetten,
sondern ich spreche von den sogenannten klassizistischen
Werken von Beethoven, also von der »Eroica«, von der »Ap-
passionata« und »Waldstein-Sonate«, von den großen mittleren
Quartetten, den »Rasumovsky-Quartetten«, von all diesen
Werken, von der »Kreutzer-Sonate« und auch von der »Neun-
ten Symphonie«, die ich, trotzdem sie in die Spätzeit fällt, ih-
rer Faktur nach dem klassischen, dem klassizistischen Beetho-
ven zurechne –, Sie können in all diesen Werken beobachten,
daß der Eintritt der Reprise, daß das ganze Werk eigentlich
mit unendlicher Kunst darauf angelegt ist, daß der Eintritt der
Reprise, trotzdem er eigentlich durch die Dynamik nicht er-
laubt wird, als gerechtfertigt erscheint. Die Reprise bei Beet-
hoven scheint dann im allgemeinen so zu sagen: ›So ist es, so
muß es sein und dem mußt du dich unterwerfen‹. Die Beet-
hovenschen Reprisen – das finden Sie besonders großartig,
aber für mein Gefühl auch besonders furchtbar in der Reprise
des ersten Satzes der »Neunten Symphonie« – haben fast im-
mer etwas Repressives, also immer etwas von dem, daß das
Individuum sich mit dem identifizieren muß, was allgemein
ist, was immer wiederkehrt und wogegen es nicht ankann,
und insofern prägt eben gerade in dieser überwältigenden
Kraft der großen Beethovenschen Reprisen sich die Unver-
söhntheit des Allgemeinen und Besonderen im Leben der
Menschen, also in der bürgerlichen Gesellschaft, besonders
aus. Ich möchte, da ich schon ein paar Mal von Hegel gespro-

430
chen habe, in diesem Zusammenhang vielleicht darauf auf-
merksam machen, daß in der »Phänomenologie des Geistes«
von Hegel sich etwas ganz Ähnliches findet. Das Werk ist so
gebaut bekanntlich, daß es also enden soll mit dem absoluten
Wissen als der vollendeten Identität von Subjekt und Objekt.
Wenn Sie nun aber das Kapitel über das absolute Wissen lesen,
dann werden Sie enttäuscht, deshalb, weil Ihnen dann in die-
sem Kapitel selbst eigentlich nur ein Resumé des gesamten
Werkes geboten wird und Ihnen gesagt wird: ›Ja, das absolute
Wissen, das du hast, das besteht genau in dem Prozeß, den du
durchmessen hast‹. Und zu dem absoluten Wissen, also zu
dem Freien, zu dem Transzendierenden, das man hier erwar-
tet, zu dem kommt es dann eigentlich gar nicht. Also, man
kann sagen, daß auch die »Phänomenologie« von Hegel im
Sinne einer – lassen Sie mich sagen: repressiven Reprise kom-
poniert ist; und Hegel würde Spott und Hohn gehabt haben
für den, der nun das absolute Wissen am Ende erwartet hätte,
weil er gesagt hätte: ›Ja, du willst aus der Dialektik mit diesem
absoluten Wissen herausspringen, aber das absolute Wissen ist
ja die Dialektik selber‹, infolgedessen bleibt am Ende gar
nichts anderes übrig als dieses Selbstbewußtsein der Dialektik.
Nun, also bei Beethoven liegt da etwas ganz Ähnliches vor.
Man kann also sagen, daß die gesamte Sonatenform in sich
widerspruchsvoll ist in diesem Sinn, daß sie die sogenannten
musikalischen Formen, die ihr vorgegeben sind, mit ihren ei-
genen dynamischen Impulsen nicht versöhnen konnte, und
deshalb mußte nicht nur die Sonatenform, sondern die ge-
samte traditionelle Sprache der Musik hinab. Ich glaube –
und es fällt mir sehr schwer, in der Realismusdebatte zu ver-
stehen, daß man das nicht einsieht –, daß es auch in der Musik
etwas wie eine Dialektik von Produktivkräften und Produk-
tionsverhältnissen gibt, wobei also die sogenannten Formen
gleichsam die Musik gewordenen Produktionsverhältnisse
sind und die Produktivkräfte, also die subjektiven Kräfte, die
sind, die dagegen rebellieren. Und ich glaube, daß eine Be-
trachtung der Musik, die, anstatt ihre immanente Dialektik

431
von Produktivkraft und Produktionsverhältnis auszutragen,
die Musik nur an ihren äußerlichen Maßstäben mißt, daß das
eine Betrachtung ist, die eigentlich überhaupt nicht verstan-
den hat, was mit Dialektik eigentlich gemeint ist. Und wenn
Sie von mir wissen möchten, warum ich also in einem so radi-
kalen und extremen Maß mich mit der Sache der modernen
Musik identifiziere, dann ist der Grund dafür nicht nur, daß
das Fleisch von meinem Fleisch und Bein von meinem Bein
ist, das heißt, daß ich als Musiker einfach primär in dieser
Richtung reagiere – das ist so, ich bin ein Schüler von Berg
und komme also völlig aus dieser Welt –, sondern ich finde
eben doch auch, daß im Sinn einer philosophischen Kon-
struktion der Musik eine andere Möglichkeit gar nicht bleibt.
Nun, die neue Idee, die sich damit abzeichnet, wäre die,
daß die Form sich ergibt aus der Spezifikation der Werke, daß
also die Form nicht mehr ein allgemeines Schema ist, sondern
daß die Form aus den Werken selber aufsteigt. Und dabei al-
lerdings zeigen sich sehr merkwürdige Dinge. Ich kann dar-
auf – ich möchte auch nicht zu lange sprechen – jetzt nicht
eingehen. Aber ich möchte wenigstens auf ein Beispiel Sie
hinweisen, das ich in dem Buche »Der getreue Korrepetitor«
eingehend betrachtet habe608 und von dem ich nicht weiß, ob
es manche von Ihnen vielleicht gesehen haben. Nehmen Sie
ein Stück wie die »Sechs Bagatellen« von Anton von Webern,
dann ist es so, daß also diese Stücke nicht nur reprisenlos sind,
sondern überhaupt athematisch sind, also die äußersten Kon-
sequenzen dessen gezogen sind, was Ihr Kollege und mein
alter Kollege Alois Hába einmal den »Musikstil der Freiheit«
genannt hat.609 Sie sind also athematisch. Wenn Sie sich diese
Stücke aber genau ansehen und genau analysieren, dann fin-
den Sie, daß etwa im ersten Stück, obwohl es auf jede Anleihe
bei der traditionellen Sonatenform verzichtet, rein aus dem
Eigengewicht der Konstruktion heraus doch so etwas wie ein
bis aufs äußerste konzentrierter, bis auf zwölf Takte zusam-
mengedrängter Sonatensatz dabei herauskommt, einfach weil
die Grundidee dieser Stücke, nämlich erst Musik hinzustel-

432
len, dann eine Art von Knoten zu schürzen und dann diesen
Knoten aufzulösen, dem Geist nach eben doch Sonate ist. Ich
möchte also, wenn ich auch das auf eine These bringen darf,
die These so formulieren, daß, je rückhaltloser eine Musik
sich in sich selbst, in ihre ihr eigene spezifische Gestalt ver-
senkt, sie eine um so größere Chance hat, dann aus sich selbst
heraus doch das Allgemeine wiederzugewinnen, mit dem
Allgemeinen sich zu versöhnen, anstatt daß sie das Allgemei-
ne von außen herbeiziehen müßte.
Nun ist das in der Entwicklung der neuen Musik nicht so
einfach gegangen, wie ich es Ihnen eben sag[t]e, und ich glau-
be, ich wäre unaufrichtig und ein schlechter Dialektiker,
wenn ich Ihnen hier einfach eine Lobrede auf die moderne
Musik singen wollte, ohne daß ich dabei sage, daß in unserer
neuen Musik – und ich kann nicht stark genug wiederholen,
daß ich das als meine eigene Sache betrachte und damit iden-
tifiziert bin – sich eben doch große Probleme ergeben. Das,
was ich Ihnen eben von Webern angedeutet habe, das hat sich
ja doch in Stücken des allerkürzesten Umfangs realisiert.610
Das Problem der sogenannten großen Form ist bei ihm bis auf
seine letzte Phase, auf die ich jetzt nicht eingehen kann, relativ
unbeachtet geblieben, eben deshalb, weil in sehr kurzen Di-
mensionen eine Art von Identität zwischen der Form und
dem Einzelereignis ohne weiteres zu erlangen war, weil ja ge-
wissermaßen die Musik überhaupt nur aus dem Einzelereig-
nis bestanden hat, so daß also das Problem ›Wie integriere ich
eine musikalische Totalität mit dem musikalischen Einzeler-
eignis?‹ für ihn sich nicht gestellt hat, so daß man sagen kann –
und ich möchte damit gewiß nichts Herabsetzendes über
meinen verstorbenen Freund Webern sagen, sondern möchte
nur der Wahrheit die Ehre geben –, daß das eigentliche Form-
problem, also die Frage der Organisation großer Zeitflächen,
musikalischer Zeitflächen bei Webern nicht wirklich ange-
faßt worden ist. In der heroischen Frühzeit, in der revolutio-
nären Frühzeit der neuen Musik, also in der Zeit etwa zwi-
schen 1908 und dem Ersten Weltkrieg – viel länger ist das ja

433
nicht gewesen, ähnlich wie in der Malerei übrigens der Ku-
bismus –, hat man die Versuche gemacht, die Form wirklich
rein aus dem subjektiven Impuls heraus zu gestalten – und ich
würde denken, daß manche dieser Versuche, wie etwa die
»Fünf Orchesterstücke« von Schönberg, vor allem das letzte
dieser Orchesterstücke, oder wie die »Erwartung« von Schön-
berg, die ich für eines seiner großen Meisterwerke halte, oder
auch die »Drei Orchesterstücke« von Alban Berg, etwa das
dritte Orchesterstück von Alban Berg611 –, da hat man also
wirklich Versuche einer rein von unten aufsteigenden, also
rein aus dem Impuls kommenden Formkonstruktion ge-
macht. Diese Entwicklung ist dann abgerissen, sie ist bei
Schönberg schon abgerissen im »Pierrot lunaire«, von dem
Sie alle ja wissen, daß er bereits, längst ehe man an Neoklassi-
zismus gedacht hat,612 eine ganze Reihe sogenannter traditio-
neller Formen, wenn auch in sehr kurzem Rahmen, wieder
zitiert, also Passacaglia, Doppelkanon, Fuge, Serenade, Barca-
role, Liedformen. Eine ganze Reihe solcher traditioneller
Formen werden wieder aufgenommen, was hier eine eigent-
lich gebrochene, expressive Funktion hat, die mit diesem glä-
sernen imaginären Reich etwas zu tun hat, das in diesem
höchst merkwürdigen Werk errichtet wird, das ja gleichsam
wie eine Art von Beschwörung der Welt des Jugendstils aus
dem Geiste des Expressionismus ist. Aber ich möchte auf die-
se Stilprobleme nicht eingehen, ich sehe mit Absicht über-
haupt in dem, was ich heute sage, von diesen Stilfragen weit-
gehend ab. Jedenfalls hat man dann in immer wachsendem
Maß doch, wenn man große Formen hat organisieren wollen,
sich der traditionellen Form wieder bedient, nachdem die
Zwölftontechnik von Schönberg ja ausdrücklich zu dem
Zweck erfunden war, so etwas wie die Konstruktion großer
Formen wieder möglich zu machen. Ich sage nur en passant,
daß die seit dem Aufsatz von Erwin Stein von 1924 immer
wieder nachgebetete Behauptung, daß in freier Atonalität
große Formen nicht möglich seien und daß es deshalb der
Zwölftontechnik bedürfe,613 daß diese Behauptung zumin-

434
dest unbewiesen ist, das heißt, es gibt Werke in völlig freier
Atonalität, zum Beispiel den großen Marsch aus den »Drei
Orchesterstücken« von Alban Berg, die ohne irgendwelche
Anleihe bei der Zwölftontechnik trotzdem als große Form,
und zwar sehr überzeugend, organisiert sind. Ich darf viel-
leicht die Gelegenheit benützen – und Sie werden das nicht
als schulmeisterlich verübeln, meine Damen und Herren –,
sehr davor zu warnen, nun unter dem Begriff der Zwölfton-
technik überhaupt die gesamte neuere Entwicklung zu subsu-
mieren. Es ist keineswegs alle moderne Musik – und gerade
die allerradikalste ist es nicht gewesen – Zwölftonmusik, son-
dern die Zwölftontechnik ist eine Art von Rationalisierung
der Funde und der Konsequenzen, die in der freien Atonalität
sich befunden haben. Aber durch diese Rationalisierung ist
dann die Freiheit oft in einer verhängnisvollen Weise ein-
geschränkt worden, und damit hängt zusammen, daß eben
Schönberg bis auf seine allerletzte Phase doch wieder traditio-
nelle Formen herangezogen hat. Erst hat er sie, wie im »Pier-
rot« und in der »Serenade«, halb ironisch zitiert herbeigeholt,
aber dann hat er sie immer ernster genommen, und man kann
eigentlich sagen, daß das spätere Leben, das musikalische Le-
ben von Schönberg, etwa von dem dritten Quartett an,614
oder vom ersten Satz des dritten Quartetts, also vor allem in
den Spätwerken, ein einziger Versuch war, von dieser ihn sel-
ber doch offenbar auch nicht mehr überzeugenden Reprise
der traditionellen Formen loszukommen, wobei diese Wie-
deraufnahme traditioneller Formen wohlverstanden sich
nicht nur auf die Architektur bezieht, sondern auch auf die
›peinture‹, auf die innere ›fibre‹ dieser Musik, das heißt, die
Themengestaltung selber nähert sich dann auch der vorato-
nalen, also der etwa der ersten »Kammersymphonie« immer
stärker an, der Schnitt der Themen etwa im vierten Quartett
und der Schnitt der Themen aus der »Kammersymphonie« –
dazwischen waltet ja doch eine geradezu erstaunliche Ähn-
lichkeit. Und es ist sicher kein Zufall, daß Schönberg gerade
in dieser Phase nach einem Menschenalter, also nach 40 Jah-

435
ren, den Entwurf der »Zweiten Kammersymphonie« wieder
aufgenommen und schließlich auch vollendet hat.615
Nun, es ist offenbar – und Schönberg selbst hat es gelegent-
lich ausgesprochen616 – außerordentlich schwer möglich in
der Musik, daß man alle Dimensionen gleichzeitig umpflügt
und revolutioniert. So ist es ja bekanntlich bei Strawinsky ge-
wesen, wo überhaupt nur eine Dimension, nämlich die soge-
nannte rhythmische, wirklich durchgeformt worden ist. Und
wenn dann also Strawinsky drei Jahrzehnte lang mindestens,
wenn nicht vier, in einen schließlich furchtbar langweiligen
Akademismus verfallen ist, dann hängt das damit zusammen.
Und die Neuerungen von Schönberg waren offenbar auch für
sein Genie – und wenn man von ›Genie‹ reden darf, muß man
das wohl doch bei ihm – doch so weitgehend, daß er also die
Architekturprobleme nicht auch hat bewältigen können. Es
hat sich also dadurch eine gewisse Diskrepanz ergeben auch
bei Schönberg, die geherrscht hat zwischen den harmoni-
schen und melodischen Mitteln und instrumentalen, farbli-
chen Mitteln auf der einen Seite und der Formorganisation
und der zeitlichen Organisation auf der anderen Seite.
Nun, ich glaube, wenn Sie mir bis hierher gefolgt sind,
dann wird Ihnen die jüngste Entwicklung, jedenfalls ihrer In-
tention nach, sehr deutlich. Ich möchte dabei gar nicht über
das Gelingen oder Mißlingen der einzelnen Werke reden,
sondern nur sozusagen über die geschichtliche Logik dieser
Mittel. Nämlich, diese ganze Entwicklung, wie man sie also
mit dem Namen ›Kranichstein‹, mit dem Namen der ›Darm-
städter Schule‹ zusammenbringt und wie ich sie für doch am
wesentlichsten repräsentiert halte durch Boulez617 und Stock-
hausen,618 die ist eigentlich davon inspiriert, daß man ver-
sucht hat, die sämtlichen Dimensionen der Musik gleich weit
in den Griff der totalen Konstruktion, also dieses subjektiven
Durchpflügens, dieses Durchformens zu bekommen, also alle
Dimensionen der Musik – wenn Sie so wollen – zu emanzi-
pieren. Aber gleichzeitig, je mehr sie emanzipiert werden, um
so schwieriger wird dann auch wieder die Integration, und

436
diese ungeheure Schwierigkeit der Integration, die führt
dann allerdings sehr leicht dazu, daß man sie äußerlich inte-
griert, daß man also gewissermaßen nach Formeln sucht, die
so lauten sollen, daß die Zeitverhältnisse in der Musik, also
das, was Form im engeren musikalischen Sinn bedeutet, und
die harmonischen und melodischen Verhältnisse, daß das alles
vereinheitlicht wird. Dabei ergibt sich ein sehr schweres Pro-
blem, daß nämlich Zeit im Einzelton, wo Zeit lediglich die
Schwingungsverhältnisse bezeichnet, etwas objektiv Physi-
kalisches ist, was wir an der Tonhöhe und dem Intervall
gar nicht wahrnehmen, während Zeit in dem musikalischen
Formsinn das bedeutet, was an Zeitverhältnissen ins von uns
wahrzunehmende Phänomen fällt, also die Zeitverhältnisse
bezeichnet, die wir dabei hören. Diese Problematik reckt sich
sofort auf. Ich möchte dabei nur das eine noch streifen, daß es
eine sehr merkwürdige Sache ist, wie wenig die Musik der
gewonnenen Freiheit sich eigentlich gefreut hat. Und ich sel-
ber, ich für meinen Teil habe das ewige Geblöke, daß die
Musik wieder irgendwelche objektiven Bindungen braucht,
nie verstanden. Ich sehe darin ebenso den Ausdruck einer ge-
wissen subjektiven Schwäche, daß die Menschen der eigent-
lichen Freiheit noch gar nicht recht fähig sind, wie aller-
dings auch den Ausdruck eines viel ernsteren Problems, daß
nämlich, indem das Allgemeine nun völlig in das Besondere
aufgelöst ist, das Allgemeine dadurch, daß es etwas wie eine
Musiksprache gar nicht mehr gibt, mit fast prohibieren-
den Schwierigkeiten verbunden ist. Aber, meine Damen und
Herren, gerade an diesem Punkt möchte ich unter keinen
Umständen mißverstanden werden. Ich kenne diese Schwie-
rigkeit und Problematik nur allzu genau, und in einer Arbeit
von mir, die viel zitiert worden ist und, ich muß leider sagen,
die auch viel mißbraucht worden ist, in der Arbeit über das
»Altern der Neuen Musik« habe ich gerade dieses Problem
gestellt.619
Aber ich möchte mit allem Nachdruck sagen, wenn man
angesichts dieser Schwierigkeit nun glaubt, etwa wieder auf

437
die gute alte Tonalität in offener oder verkappter Form zu-
rückgreifen zu können oder zu dürfen, um auf die Weise es
wieder zu leisten, dann ist man im Irrtum. Alle Komponisten,
die diesen Versuch gemacht haben, ich nenne aus jüngster
Zeit nur Henze, der zur Darmstädter Schule gehört hatte,
dann das als Zwangsjacke empfunden hat und herausgesprun-
gen ist und der dann doch in eine recht konventionelle Mu-
siksprache zurückgefallen ist620 – das geht also nicht. Einen
Weg zurück gibt es nicht. Es gibt die ungeheuren Schwie-
rigkeiten einer solchen Durchorganisation der Musik, die
nicht äußerlich auferlegt, sondern die durch das lebendi-
ge Gehör vermittelt, die vom lebendigen Gehör erzeugt ist.
Das Komponieren ist, wie schon Schönberg gesagt hat, durch
die Zwölftontechnik nicht leichter, sondern unendlich viel
schwieriger geworden.621 Aber jeder, der dieser Schwierig-
keit sich nicht fügt oder der – lassen Sie mich sagen – dieser
Schwierigkeit sich nicht stellt, der ist hinter den Stand der
Problematik eigentlich zurückgefallen und kommt als Kom-
ponist in einem höheren Sinn ernsthaft nicht in Betracht.
Wenn ich nun zurückkehren darf zu dem, was ich zu An-
fang sagte, so würde ich sagen, daß das Problem der totalen
Organisation des Kunstwerkes, des musikalischen Kunstwer-
kes – also die totale Organisation von innen her, die notwen-
dig geworden ist, weil die alten, dem Kunstwerk von außen
her gesetzten Formen ihre Substantialität verloren haben,
wenn ich die Konsequenz aus diesem Gedanken ziehen soll
für die Unterscheidung der beiden Formbegriffe, mit denen
ich eingesetzt habe, so würde ich sagen, auf die Gefahr hin,
vielleicht manche durch Formalismus zu schockieren, aber
ich glaube, nach dem, was ich gesagt habe, werden Sie mich
nicht für einen Formalisten halten – darin besteht, daß also
nun tatsächlich alles in der Musik Form wird, also alles von
der inneren Organisation des Kunstwerkes ergriffen wird und
daß damit also diese Divergenz des ästhetischen und des rein
musikalischen Formbegriffs schließlich aufgehoben wird.
Und dazu allerdings bedarf es der Formphantasie. Ich möchte

438
jetzt länger über den Begriff der Formphantasie mich nicht
auslassen, wir kommen vielleicht in der Diskussion darauf,
aber ich glaube, daß – und das hängt mit traditionellen Ele-
menten, etwa mit der Vorstellung, die Phantasie des Kompo-
nisten habe im Einzeleinfall oder in der interessanten Harmo-
nisierung zu stecken – man den Gedanken der Formphantasie
viel zu wenig gepflegt hat. Berg, den ja viele meiner jungen
musikalischen Freunde so ein bißchen als altmodisch behan-
deln,622 ist gerade darin außerordentlich modern und fortge-
schritten gewesen, daß bei ihm die Formphantasie außeror-
dentlich hoch entwickelt gewesen ist. Und ich würde also
sagen, daß die einzige Möglichkeit, über diese Schwierigkei-
ten hinauszukommen, die ich versucht habe, Ihnen zu be-
zeichnen, aber von denen ich Ihnen zugleich auch versucht
habe zu zeigen, daß man nicht auf dem Weg des geringsten
Widerstandes darüber hinwegkommen kann, die Möglich-
keit eines Begriffes von Formphantasie [ist] wie auch die kon-
krete Entwicklung dieser Formphantasie bei den einzelnen
Komponisten.
Ja, um nicht zu viel Zeit von unserer Diskussion zu stehlen,
darf ich vielleicht hier aufhören, damit wir zur Diskussion
kommen.

439
Aspekte des neuen Rechtsradikalismus
6. 4. 1967

Ja, meine sehr verehrten Damen und Herren,

ich möchte versuchen, nicht etwa mit dem Anspruch auf


Vollständigkeit Ihnen eine Theorie des Rechtsradikalismus
zu geben, sondern in losen Bemerkungen einige Dinge her-
vorzuheben, die vielleicht Ihnen nicht allen so gegenwärtig
sind. Ich möchte damit also andere theoretische Interpre-
tationen nicht außer Kraft setzen, aber ich möchte einfach
versuchen, das, was man so allgemein über diese Dinge denkt
und weiß, ein bißchen zu ergänzen.
Ich habe im Jahr 1959 einen Vortrag gehalten »Was bedeu-
tet: Aufarbeitung der Vergangenheit«,623 in dem ich die These
entwickelt habe, daß der Rechtsradikalismus dadurch sich er-
klärt oder daß das Potential eines solchen Rechtsradikalismus,
der damals ja eigentlich noch nicht sichtbar war, dadurch sich
erklärt, daß die gesellschaftlichen Voraussetzungen des Fa-
schismus nach wie vor fortbestehen. Ich möchte also davon
ausgehen, meine Damen und Herren, daß die Voraussetzun-
gen faschistischer Bewegungen trotz des Zusammenbruchs
gesellschaftlich, wenn auch nicht unmittelbar politisch, nach
wie vor fortbestehen. Dabei denke ich in erster Linie an die
nach wie vor herrschende Konzentrationstendenz des Kapi-
tals, die man zwar durch alle möglichen statistischen Künste
aus der Welt wegrechnen kann, an der aber im Ernst kaum ein
Zweifel ist. Diese Konzentrationstendenz bedeutet nach wie
vor auf der anderen Seite die Möglichkeit der permanenten
Deklassierung von Schichten, die ihrem subjektiven Klassen-
bewußtsein nach durchaus bürgerlich waren, die ihre Privile-
gien, ihren sozialen Status festhalten möchten und womög-
lich ihn verstärken. Diese Gruppen tendieren nach wie vor zu
einem Haß auf den Sozialismus oder das, was sie Sozialismus
nennen, das heißt, sie verschieben die Schuld an ihrer eigenen
potentiellen Deklassierung nicht etwa auf die Apparatur, die

440
das bewirkt, sondern auf diejenigen, die dem System, in dem
sie einmal Status besessen haben, jedenfalls nach traditionel-
len Vorstellungen, kritisch gegenübergestanden haben. Ob
sie das heute noch tun und ob ihre Praxis das heute noch ist,
das ist eine andere Frage.
Nun, der Übergang zum Sozialismus oder, bescheidener
gesagt, auch nur zu sozialistischen Organisationen ist diesen
Gruppen von jeher sehr schwer geworden, und ist es heute,
zumindest in Deutschland – und meine Erfahrungen bezie-
hen sich naturgemäß in erster Linie auf Deutschland –, noch
viel schwerer, als das früher der Fall war. Vor allem deswegen,
weil ja die SPD, die deutsche sozialdemokratische Partei mit
einem Keynesianismus, einem Keynesschen Liberalismus,
identifiziert ist,624 der auf der einen Seite zwar die Potentiale
einer Veränderung der Gesellschaftsstruktur, die in der klassi-
schen Marxischen Theorie gelegen waren, abbiegt, anderer-
seits aber doch die Bedrohung der Verarmung, jedenfalls in
der Konsequenz, für die Schichten, von denen ich gespro-
chen habe, verstärkt. Ich erinnere an die einfache Tatsache der
schleichenden, aber doch sehr bemerkbaren Inflation, die ja
eine Konsequenz eben des Keynesschen Expansionismus ist,
und ich erinnere weiter an eine These, die ich eben auch in
jener Arbeit vor acht Jahren entwickelt habe und die unter-
dessen sich doch sehr zu aktualisieren beginnt, nämlich daß
trotz Vollbeschäftigung und trotz all dieser Prosperitätssym-
ptome das Gespenst der technologischen Arbeitslosigkeit
nach wie vor umgeht in einem solchen Maß, daß im Zeitalter
der Automatisierung, die ja in Zentraleuropa noch zurück ist,
aber ohne Frage nachgeholt werden wird, auch die Men-
schen, die im Produktionsprozeß drin stehen, sich bereits als
potentiell überflüssig – ich habe das sehr extrem ausge-
drückt –, sich als potentielle Arbeitslose eigentlich fühlen.625
Hinzu kommt natürlich noch die Angst vor dem Osten,
ebenso wegen des niedrigeren Lebensstandards dort wie
wegen der Unfreiheit, die ja doch unmittelbar und sehr real
von den Menschen, auch von den Massen, erfahren wird, und

441
dazu, jedenfalls bis vor kurzer Zeit,626 das Gefühl der außen-
politischen Bedrohung.
Es ist nun an die eigentümliche Situation zu erinnern, die
herrscht mit Rücksicht auf das Problem des Nationalismus im
Zeitalter der großen Machtblöcke. Innerhalb dieser Blöcke
lebt nämlich der Nationalismus doch fort als Organ der kol-
lektiven Interessenvertretung innerhalb der in Rede stehen-
den Großgruppen. Es ist gar kein Zweifel daran, daß sozial-
psychologisch und auch real es eine sehr verbreitete Angst
davor gibt, in diesen Blöcken aufzugehen und dabei auch in
der materiellen Existenz schwer beeinträchtigt zu werden.
Also, soweit es sich etwa um das agrarische Potential des
Rechtsradikalismus handelt, ist die Angst vor der EWG627 und
den Konsequenzen der EWG für den Agrarmarkt hier sicher
außerordentlich stark.
Zugleich aber – und damit berühre ich den antagonisti-
schen Charakter, den der neue Nationalismus oder Rechtsra-
dikalismus hat – hat [er] angesichts der Gruppierung der Welt
heute in diese paar übergroßen Blöcke, in denen die einzel-
nen Nationen und Staaten eigentlich nur noch eine unterge-
ordnete Rolle spielen, etwas Fiktives. Es glaubt eigentlich
niemand mehr so ganz daran. Die einzelne Nation ist in ihrer
Bewegungsfreiheit durch die Integration in die großen Macht-
blöcke außerordentlich beschränkt. Man sollte nun daraus
aber nicht etwa die primitive Folgerung ziehen, daß deswe-
gen der Nationalismus, wegen dieser Überholtheit, keine
entscheidende Rolle mehr spielt, sondern im Gegenteil, es
ist ja sehr oft so, daß Überzeugungen und Ideologien gerade
dann, wenn sie eigentlich durch die objektive Situation
nicht mehr recht substantiell sind, ihr Dämonisches, ihr wahr-
haft Zerstörerisches annehmen. Die Hexenprozesse haben
schließlich nicht stattgefunden in der Zeit des Hochthomis-
mus, sondern in der Zeit der Gegenreformation, und etwas
Ähnliches dürfte es mit dem, wenn ich es so nennen darf, ›pa-
thischen‹ Nationalismus heute auch auf sich haben. Dieses
Moment des Angedrehten, sich selbst nicht ganz Glaubenden

442
hat er übrigens schon in der Hitlerzeit gehabt. Und dieses
Schwanken, diese Ambivalenz, zwischen dem überdrehten
Nationalismus und dem Zweifel daran, der dann wieder es
notwendig macht, ihn zu überspielen, damit man ihn sich
selbst und anderen gleichsam einredet, das war damals auch
schon zu beobachten.
Nun, aus diesen recht simplen Thesen möchte ich ein paar
Konsequenzen zunächst einmal ziehen. Ich glaube, es erklärt
sich nämlich aus dem, was ich Ihnen gesagt habe, nämlich daß
es sich im Grunde um eine Angst vor den Konsequenzen ge-
samtgesellschaftlicher Entwicklungen handelt, das, was von
Meinungsforschungsinstituten allseitig beobachtet worden ist
und was auch aus unsrer eigenen Arbeit sich bestätigt hat, daß
nämlich die Anhänger des Alt- und Neufaschismus heute
quer durch die Gesamtbevölkerung verteilt sind. Ich glaube,
daß die sehr verbreitete Annahme, es handele sich bei alldem
um spezifisch kleinbürgerliche Bewegungen, wie [eine] uns
zuletzt noch im französischen Poujadismus628 vor Augen ge-
standen hat, zwar in bezug auf, wenn ich so sagen darf, den
Sozialcharakter dieser Bewegungen zutrifft, daß diese These
sicherlich aber nicht zutrifft mit Rücksicht auf die Verteilung,
obwohl sicherlich gewisse kleinbürgerliche Gruppen auch
unter den Anfälligen sind, vor allem also kleine Einzelhändler,
die durch die Konzentration des Einzelhandels in Warenhäu-
sern und ähnlichen Institutionen unmittelbar bedroht sind.
Außer den Kleinbürgern spielen sicher eine hervorragende
Rolle die Bauern, die sich ja in einer permanenten Krise be-
finden, und ich würde denken, daß so lange, wie es nicht
wirklich gelingt, das Agrarproblem auf eine radikale, nämlich
nicht subventionistische und künstliche und in sich wieder
problematische Weise zu lösen, solange man nicht wirklich zu
einer vernünftigen und rationalen Kollektivierung der Land-
wirtschaft gelangt, daß dieser schwelende Herd dauernd be-
stehen bleibt.
Darüber hinaus gibt es aber auch in diesen Bewegungen
insgesamt so etwas wie einen sich verschärfenden Gegensatz

443
der Provinz gegen die Stadt. Auch bestimmte einzelne Grup-
pen, wie zum Beispiel die kleinen Winzer in der Pfalz in
Deutschland, scheinen besonders anfällig zu sein. Soweit es
sich um die Frage nach dem industriellen ›backing‹ dieser Be-
wegungen handelt, liegen bei uns bis jetzt wirklich konkrete
Belege dafür nicht vor. Man muß in all diesen Dingen sehr
vorsichtig sein, daß man nicht zu schematisch denkt und etwa
also mit dem Schema von der Industrie, die den Faschismus
forciert – man darf damit nicht so leichtfertig operieren. Man
muß sich dabei auch vergegenwärtigen, daß ja der Faschis-
mus, dessen Apparatur stets eine Tendenz hat, sich auch den
tragenden ökonomischen Interessen gegenüber zu verselb-
ständigen, auch für die große Industrie ja keine Annehmlich-
keit ist und daß man in Deutschland zum Faschismus als einer
›Ultima ratio‹ geschritten ist, nämlich im Augenblick der nun
wirklich ganz großen Wirtschaftskrise, die also für die damals
bilanzmäßig bankrotte Ruhr-Industrie eine andere Möglich-
keit offenbar nicht gelassen hat.
Natürlich gibt es Kaders alter Nazis. Aber auch hier möch-
te ich sagen, und zwar einfach auf Grund von Beobachtun-
gen, die innerhalb der empirischen Sozialforschung vorlie-
gen, daß man nicht glauben soll, daß es sich lediglich um die
sogenannten ›Unbelehrbaren‹ handelt, über die man dann so
etwas die Achseln zuckt. Es werden fraglos auch Junge ange-
zogen, insbesondere auch Typen der Art, die, sagen wir, so als
Fünfzehnjährige um 1945 den Zusammenbruch erlebt haben
und bei denen dann außerordentlich stark so dieses Gefühl
liegt: ›Deutschland muß wieder obenauf kommen‹.
Ich darf sozialpsychologisch hier vielleicht sagen, obwohl
ich weiß Gott diese Dinge nicht für primär psychologische
Fragen halte, daß ja im Jahr 1945 die wirkliche Panik, die
wirkliche Auflösung der Identifikation mit dem Regime und
der Disziplin, nicht, wie etwa in Italien, stattgefunden hat,
sondern daß das bis zuletzt kohärent geblieben ist. Die Iden-
tifikation mit dem System ist in Deutschland nie wirklich ra-
dikal zerstört worden, und darin liegt natürlich auch eine der

444
Möglichkeiten, daß gerade von den Gruppen, von denen ich
eben spreche, daran angeknüpft wird.
Man hört ja sehr oft, gerade also mit Rücksicht auf solche
Kategorien wie ›Die ewig Unbelehrbaren‹ und wie solche
Trostphrasen sonst lauten mögen, die Behauptung, es gebe so
einen Bodensatz von Unbelehrbaren oder von Narren, einen
sogenannten ›lunatic fringe‹, wie man in Amerika es nennt, in
jeder Demokratie.629 Und es steckt dann darin so ein gewisses
quietistisch bürgerlich Tröstendes, wenn man sich das so vor-
sagt. Ich glaube, man kann darauf nur antworten: Gewiß sei in
jeder sogenannten Demokratie auf der Welt etwas Derartiges
in variierender Stärke zu beobachten, aber doch nur als Aus-
druck dessen, daß dem Inhalt nach, dem gesellschaftlich-
ökonomischen Inhalt nach, die Demokratie eben bis heute
nirgends wirklich und ganz sich konkretisiert hat, sondern
formal geblieben ist. Und die faschistischen Bewegungen
könnte man in diesem Sinn als die Wundmale, als die Narben
einer Demokratie bezeichnen, die ihrem eigenen Begriff
eben doch bis heute noch nicht voll gerecht wird.
Ich möchte weiter, wenn es sich darum handelt, gewisse Cli-
chévorstellungen über diese Dinge zurechtzurücken, auch sa-
gen, daß das Verhältnis dieser Bewegungen zur Ökonomie ein
strukturelles Verhältnis ist, daß es also eben in jener Konzentra-
tionstendenz und der Tendenz zur Verelendung steckt, daß
man es sich aber nicht zu kurzfristig vorstellen kann und daß
man, wenn man etwa einfach Rechtsradikalismus mit Kon-
junkturbewegungen gleichsetzt, zu sehr falschen Urteilen ge-
langen kann. So waren die Erfolge der NPD in Deutschland630
bereits einigermaßen alarmierend vor dem ökonomischen
Rückschlag631 und haben diesen gewissermaßen antizipiert
oder, wenn Sie wollen, diskontiert. Sie haben gleichsam eine
Angst und einen Schrecken vorweggenommen, wenn man so
sagen soll, der dann erst ganz akut geworden ist.
Mit diesem Wort des Antizipierens des Schreckens glaube
ich nun wirklich etwas sehr Zentrales berührt zu haben, das,
soweit ich sehen kann, in den üblichen Ansichten über den

445
Rechtsradikalismus viel zu wenig berücksichtigt wird, näm-
lich die sehr komplexe und schwierige Beziehung, die hier
herrscht, zu dem Gefühl der sozialen Katastrophe. Man
könnte reden von einer Verzerrung der Marxischen Zusam-
menbruchstheorie, die in diesem sehr verkrüppelten und fal-
schen Bewußtsein stattfindet. Auf der einen Seite wird nach
der rationalen Dimension hin gefragt: ›Wie soll das weiterge-
hen, wenn es etwa einmal eine große Krise gibt?‹ – und für
diesen Fall empfehlen sich diese Bewegungen. Aber sie haben
auf der andern Seite etwas gemeinsam mit jener Art von ma-
nipulierter Astrologie von heute, die ich für ein sozialpsycho-
logisch außerordentlich wichtiges und charakteristisches
Symptom halte, daß sie nämlich in gewisser Weise die Kata-
strophe wollen, daß sie von Weltuntergangsphantasien sich
nähren, so wie sie übrigens, wie wir aus den Dokumenten
wissen, auch der ehemaligen Führungsclique der NSDAP gar
nicht fremd gewesen sind.
Wenn ich psychoanalytisch reden sollte, würde ich sagen,
es sei sicherlich nicht die geringste der Kräfte, die hier mobili-
siert werden, daß an den unbewußten Wunsch nach Unheil,
nach Katastrophe in diesen Bewegungen appelliert wird.
Aber ich möchte doch dem hinzufügen – und ich spreche da-
mit gerade zu denen unter Ihnen, die mit Recht gegen eine
bloß psychologische Deutung gesellschaftlicher und politi-
scher Phänomene skeptisch sind –, daß dieses Verhalten kei-
neswegs nur psychologisch motiviert ist, sondern auch seine
objektive Basis hat.632 Wer nichts vor sich sieht und wer die
Veränderung der gesellschaftlichen Basis nicht will, dem
bleibt eigentlich gar nichts anderes übrig, als wie der Richard
Wagnersche Wotan zu sagen: ›Weißt Du, was Wotan will?
Das Ende‹633 – der will aus seiner eigenen sozialen Situation
heraus den Untergang, nur eben dann nicht den Untergang
der eigenen Gruppe, sondern wenn möglich den Untergang
des Ganzen.
Wenn ich noch etwas sagen darf über den spezifisch deut-
schen Aspekt des Anstiegs der NPD, so spielt hier sicher eine

446
sehr wesentliche Rolle die Funktion des Begriffs der Organi-
sation. Die NPD hat zum ersten Mal, schon allein durch die
Angleichung ihres Namens an die anderen Parteien, so etwas
wie einen organisatorischen Massenappell ausgeübt,634 ohne
das sektiererische Aroma zu haben, das die rechtsradikalen
Vorreiter der NPD, nämlich die Sozialistische Reichspartei635
und wie sie alle hießen, gehabt haben. Es wirkt in Deutsch-
land – und das ist nun wohl ein spezifisch Deutsches, das sich
nicht ohne weiteres wird auf Österreich übertragen lassen –
das Straffe und Zentralistische, während alles, was auch nur
entfernt an Sekte gemahnt, was also nicht von vornherein so
auftritt, als ob wunders was dahinterstünde, in Deutschland
suspekt ist und keinen Massenappell ausübt. Es gehört zu den
Grundstücken der deutschen Ideologie, daß es keine Einzel-
gänger geben soll. Man hat nicht umsonst dem Hindenburg
immer wieder das ›Seid einig, einig, einig!‹ in den Mund ge-
legt,636 und der Kampf gegen das ›Parteiunwesen‹, also der
Gedanke, daß der politische Kompromiß an sich selbst bereits
eine Verfallsform sei, das ist im deutschen Bürgertum so tief
eingewurzelt, daß bis heute auch durch die Veränderung der
politischen Form an dieser Ideologie noch nicht sehr viel sich
geändert hat.
Man will also etwas hinter sich haben, und das erklärt die
große Rolle des sogenannten ›Bandwagon-Effekts‹637 wie
man das in Amerika nennt, in Deutschland, das heißt, daß
diese Bewegungen durchwegs so auftreten, als ob sie bereits
sehr große Erfolge gehabt hätten, und durch die Vorspiege-
lung, daß sie also die Garanten der Zukunft seien und Gott
weiß was alles hinter ihnen steht, die Menschen anziehen. Es
spielt hier sicher noch, in diesem Einigkeitskomplex, herein
die Tatsache, daß gerade also in der Bundesrepublik der Na-
tionalstaat ja etwas ist, was sich mit ungeheurer Verspätung
überhaupt erst realisiert hat, im Vergleich vor allem also zu
England und zu Frankreich. Und die Menschen in Deutsch-
land scheinen in einer immerwährenden Angst um ihre natio-
nale Identität zu leben, eine Angst, die zu der Überwertigkeit

447
des Nationalbewußtseins sicher das Ihrige beiträgt. Etwa die
Panik, die die Deutschen bei der Idee der Spaltung ergreift,
dürfte ebenfalls darin ihre Erklärung finden.
Man sollte diese Bewegungen nicht unterschätzen wegen
ihres niedrigen geistigen Niveaus und wegen ihrer Theorie-
losigkeit. Ich glaube, es wäre ein völliger Mangel an poli-
tischem Blick, wenn man deshalb glaubte, daß sie erfolglos
sind. Das Charakteristische für diese Bewegungen ist viel-
mehr eine außerordentliche Perfektion der Mittel, nämlich in
erster Linie der propagandistischen Mittel in einem weitesten
Sinn, kombiniert mit Blindheit, ja Abstrusität der Zwecke,
die dabei verfolgt werden. Und ich glaube, daß gerade diese
Konstellation von rationalen Mitteln und irrationalen Zwek-
ken, wenn ich’s einmal so abgekürzt ausdrücken soll, in ge-
wisser Weise der zivilisatorischen Gesamttendenz entspricht,
die ja überhaupt auf eine solche Perfektion der Techniken
und Mittel hinausläuft, während der gesamtgesellschaftliche
Zweck dabei eigentlich unter den Tisch fällt. Die Propaganda
ist vor allem darin genial, daß sie bei diesen Parteien und die-
sen Bewegungen die Differenz, die fraglose Differenz zwi-
schen den realen Interessen und den vorgespiegelten falschen
Zielen ausgleicht. Sie ist wie einst bei den Nazis geradezu die
Substanz der Sache selbst. Wenn Mittel in wachsendem Maß
für Zwecke substituiert werden, so kann man beinahe sagen,
daß in diesen rechtsradikalen Bewegungen die Propaganda
ihrerseits die Substanz der Politik ausmacht. Und es ist ja kein
Zufall, daß die sogenannten Führer des deutschen National-
sozialismus, die Hitler und Goebbels, eben in erster Linie
Propagandisten waren und daß ihre Produktivität und Phan-
tasie in die Propaganda hereingegangen ist.
Ich meine übrigens, daß man deshalb auch die Konflikte in
den deutschen Führungsgremien der NPD nicht übertreiben
soll. Wenn mein Eindruck richtig ist, dann hat der sogenannte
harte oder radikale Flügel gesiegt.638 Es ist dabei zu erinnern
an das ehemalige Verhältnis zwischen der NSDAP zu den Hu-
genbergschen Deutschnationalen.639 Diese haben nach wie

448
vor keine Massenbasis, und die Massenbasis scheint gerade
mit jenem Moment der Katastrophenpolitik, des sich selbst
Übertreibenden, wenn Sie wollen, mit jenem Moment des
Wahnhaften, geradezu zusammenzugehen.
Es ist übrigens in diesem Zusammenhang wohl interessant
und sollte einmal von der politischen Wissenschaft und auch
vor allem von den Politikern selbst, die solche Dinge analysie-
ren, beachtet werden, daß solche Strukturen trotz der Kata-
strophen eine merkwürdige Konstanz haben, daß also trotz
der großen Katastrophe etwas Ähnliches wie die Tatsache,
daß die Deutschnationalen dann in dem Machtkampf den
Nationalsozialisten unterlegen sind, daß sich das einfach in-
nerhalb der Machtkämpfe, innerhalb der NPD einfach so zu
wiederholen scheint.
Politische Gruppierungen überdauern Systeme und Kata-
strophen. In Deutschland scheinen zum Beispiel alte natio-
nalsozialistische Zentren wie Nordhessen, wo es bereits in
den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts eine wilde an-
tisemitische Bewegung gab, oder wie Nordbayern besonders
anfällig zu sein.640 Gruppen, die sich als zugleich anti-schwarz
und anti-rot empfinden, tendieren mit dieser doppelten Front-
stellung fast a priori zum Rechtsradikalismus, und ich könnte
mir vorstellen, daß gerade in bezug auf diese Struktur Sie in
Österreich ähnliche Beobachtungen machen. Dabei ist na-
türlich nicht zu unterschlagen das Manipulierte und Ange-
drehte all dieser Bewegungen, daß sie etwas vom Gespenst
eines Gespensts haben. Es wäre falsch, wenn man heute etwa
in Deutschland, und es wäre hysterisch, wenn man heute in
Deutschland unter diesen Dingen sich etwas wie eine sponta-
ne Massenbewegung vorstellen würde. Wohl aber kann eine
solche sich herausbilden, wenn das durch die objektiven Be-
dingungen gegebene Potential ergriffen und in sich zuspit-
zenden Situationen gesteuert wird. Und in diesem Fall ist es
wohl sicher richtig, daß die extremistischen Gruppen nach
einer Dynamik, die sich immer wieder in diesen Situationen
zeigt, die Oberhand gewinnen. Heute ist es sicher nicht so-

449
weit, aber man darf auf der andern Seite auch die von den
Meinungsforschern ermittelten und im übrigen keineswegs
so geringen Zahlen für das Potential des Rechtsradikalismus
nicht als Invarianten nehmen. Daß dabei nicht ganz dran ge-
glaubt wird, macht es nicht besser. Es enthält das zwar die
Möglichkeit, an die bei der Abwehr anzuknüpfen ist – man
kann da diese Widersprüchlichkeit und dieses nicht ganz Ge-
glaubte sicher benutzen, um gegen diese Tendenzen anzu-
gehen –, aber es steckt darin auch die Möglichkeit und das
Potential dieser Bewegungen selber, daß sie in Wahnsysteme
sich steigern, und es kann ja wohl gar kein Zweifel mehr sein,
daß also sogenannte Massenbewegungen faschistischen Stils
mit Wahnsystemen eine sehr tiefe strukturelle Beziehung ha-
ben. – Hier spielt sicher eine erhebliche Rolle jener anthro-
pologische Typ, den ich in der »Authoritarian Personality«
den »manipulativen Typ« genannt habe641 – übrigens zu einer
Zeit, als all das Material über die Himmlers und Höß’ und
Eichmanns noch gar nicht bekannt war, sondern lediglich auf
Grund von Material, das uns damals aus der empirischen So-
zialforschung zugefallen ist. Das sind also Menschen, die
gleichzeitig kalt, beziehungslos, strikt technologisch geson-
nen, aber ja in gewissem Sinn eben doch irre sind, wie also in
einem prototypischen Maß es Himmler gewesen ist. Und die-
se merkwürdige Einheit von Wahnsystem und technologi-
scher Perfektion, die scheint in der Aszendenz zu sein und in
diesen Bewegungen überhaupt wieder eine entscheidende
Rolle zu spielen.
Auf der andern Seite, meine Damen und Herren, muß
man natürlich die Differenzen von der Weimarer Zeit sehr
stark hervorheben, wenn man nicht nun wieder schematisch
in Analogien denken will. Die Nachwirkung der Niederlage
ist hier zuerst zu nennen. Diese Niederlage wurde allerdings
überdeckt durch die Periode der Prosperität. Und hier ist nun
allerdings bei der Abwehr dieser Dinge entscheidend anzuset-
zen. Man soll nicht in erster Linie mit ethischen Appellen, mit
Appellen an die Humanität operieren, denn das Wort ›Huma-

450
nität‹ selber und alles, was damit zusammenhängt, bringt ja
die Menschen, um die es sich handelt, zum Weißglühen,
wirkt wie Angst und Schwäche, etwa ähnlich so, wie in be-
stimmten Vorgängen, die mir bekannt sind, die Erwähnung
von Auschwitz zu Rufen wie ›Hoch Auschwitz‹ geführt hat
und die bloße Erwähnung jüdischer Namen bereits zum Ge-
lächter.642
Das einzige, was man – ich nehme das hier vorweg, weil ich
das für eine der zentralsten Sachen halte mit Rücksicht auf die
Gegenwehr gegen diese Bewegung –, das einzige, was mir
nun wirklich etwas zu versprechen scheint, ist, daß man die
potentiellen Anhänger des Rechtsradikalismus warnt vor des-
sen eigenen Konsequenzen, daß man ihnen klarmacht eben,
daß diese Politik auch seine eigenen Anhänger unweigerlich
ins Unheil führt und daß dieses Unheil von vornherein mit-
gedacht worden ist, so wie ja Hitler schon früh den Ausdruck
»Dann schieße ich mir lieber eine Kugel vor den Kopf« ge-
braucht und dann bei jeder Gelegenheit wiederholt hat. Also
man muß, wenn man gegen diese Dinge im Ernst angehen
will, auf die drastischen Interessen derer verweisen, an die sich
die Propaganda wendet. Das gilt besonders bei der Jugend, die
man warnen muß vor dem Drill in jeglicher Gestalt, vor der
Unterdrückung ihrer privaten Sphäre und in ihrem Lebens-
stil. Und man muß sie warnen vor dem Kultus einer soge-
nannten Ordnung, die ihrerseits vor der Vernunft nicht sich
ausweist, vor allem vor dem Begriff der Disziplin, die als
Selbstzweck präsentiert wird, ohne daß auch nur noch die
Frage des ›Disziplin für was?‹ dabei gestellt würde. Etwa auch
die Fetischisierung alles Militärischen, wie sie in solchen
schönen Ausdrücken wie ›der soldatische Mensch‹ [Lachen im
Auditorium] sich ausdrückt, gehört selbstverständlich in diesen
Zusammenhang.
Weiter ist als ein Unterschied zu erinnern an die politische
Verflechtung. Deutschland jedenfalls ist heute nicht mehr in
dem Sinn auch nur der Möglichkeit nach politisches Sub-
jekt, wie das in der Weimarer Zeit der Fall gewesen ist. Es be-

451
steht die Drohung sogar, daß gerade durch diese Bewegung
Deutschland aus dem weltpolitischen Zug, aus der weltpoliti-
schen Tendenz überhaupt herausfällt und nun wirklich voll-
kommen provinzialisiert wird. Das setzt einerseits real viel
engere Grenzen einer solchen Politik, es sei denn, daß in an-
deren und viel mächtigeren Ländern ebenfalls der Rechtsra-
dikalismus sich durchsetzen sollte. Auf der andern Seite aber
erzeugt gerade das Wut. Und diese Wut dürfte dann beson-
ders in dem sich austoben, was man so mit ›kulturellem Sek-
tor‹ zu bezeichnen pflegt. [Lachen im Auditorium] Ich würde
deshalb sagen, daß – wenn ich einmal ganz schweigen darf
von den Interessen, die man als geistiger Mensch ganz unmit-
telbar an diesen Dingen hat –, daß auch unter dem Gesichts-
punkt der Politik die Symptome der Kulturreaktion und der
angedrehten Provinzialisierung mit besonderer Wachsamkeit
beobachtet werden müssen, weil das, einfach weil die außen-
politische Bewegungsfreiheit diesen Bewegungen abgeht, der
Bereich ist, in dem sie am meisten sich austoben können und
sicherlich versuchen und noch mehr versuchen werden, sich
auszutoben. Da gibt es eine ganze Reihe designierter Feinde.
Hierher gehört etwa die Imago des Kommunisten. In der
Weimarer Republik war es so, daß die kommunistische Partei
eine numerisch sehr starke Partei war643 und daß die politi-
sche Rivalität zwischen den Nazis und den Kommunisten im-
merhin eine gewisse Plausibilität besessen hat, obwohl durch
die Stellung der Reichswehr damals auch schon die reale Be-
deutung dessen, was man damals kommunistische Drohung
genannt hat, sicher sehr übertrieben worden ist. Heute gibt es
keine kommunistische Partei mehr in Deutschland,644 und
damit hat der Kommunismus wirklich eine Art von mythi-
schem Charakter angenommen, das heißt, er ist völlig ab-
strakt geworden, und diese eigentümliche Abstraktheit, die
führt dann wieder dazu, daß man einfach alles, was einem ir-
gendwie nicht paßt, unter diesen Gummibegriff des Kommu-
nistischen subsumiert und als kommunistisch abwehrt. Zum
Beispiel, der berüchtigte ›Kongo-Müller‹, ein Mann, der in

452
Deutschland sich aufgehalten hat, ein Deutscher, der unter
den Söldnern im Kongo eine offenbar besonders grausliche
Rolle gespielt hat, der hat also erklärt, wo immer in der Welt
gegen den Kommunismus zu kämpfen sei, da werde er sich
sofort zur Verfügung stellen, denn das sei ja im Sinn der De-
mokratie.645
Nun, das ist abgespalten von jeder Kenntnis der Sache. Es
ist zu einem reinen Schreckwort geworden. Eine gewisse
Rolle spielt dabei nur – auch als ein Schreckbegriff – der Be-
griff des Materialismus, wobei man in einer ganz trüben Wei-
se den Materialismus des Gewinnstrebens und des Interesses
am materiellen Vorteil mit der materialistischen Theorie der
Geschichte konfundiert und sich so benimmt, als ob die, die
dieses System verändern wollen, eben deshalb die Vulgärma-
terialisten wären, die nur mehr haben wollen.
Ich glaube, daß es übrigens zu den merkwürdigen Schei-
dungen innerhalb des Klassenbewußtseins gehört, die es heu-
te noch gibt – und wir haben dafür recht handfestes Mate-
rial –, daß also die in einem weitesten Sinn mit dem
bürgerlichen Klassenbewußtsein Identifizierten sich im all-
gemeinen als Idealisten betrachten, während die Arbeiter, die
die Zeche ja nach wie vor zu bezahlen haben, eben doch
demgegenüber nach wie vor eine gewisse Art von Skepsis ha-
ben, die zwar wenig mit der Theorie zu tun hat, aber die im-
merhin dem ideologischen Wesen dieses sogenannten Idealis-
mus, der ein Vulgäridealismus ist – es gibt nämlich nicht nur
Vulgärmaterialismus, sondern es gibt auch Vulgäridealismus –,
mit einer außerordentlichen Schärfe also gegenübersteht.646
Dann sind natürlich eine ›bête noire‹, vor allem solange
man nicht offen antisemitisch sein kann und solange man
auch nicht die Juden umbringen kann, weil das ja bereits ge-
schehen ist, sind besonders verhaßt die Intellektuellen. Das
Wort ›Linksintellektueller‹ gehört ja auch zu diesen Schreck-
worten. Es wird dabei appelliert zunächst einmal auch an das
deutsche Mißtrauen gegen den, der nicht in Amt und Würde
ist, der nicht eine feste Position hat, der sozusagen als ein Va-

453
gant im Leben, als ein ›Luftmensch‹,647 wie man das früher in
Polen genannt hat, betrachtet wird. Wer in die Arbeitsteilung
sich nicht einfügt, wer also nicht durch seinen Beruf an eine
bestimmte Position und dadurch auch an ganz bestimmte Ge-
danken gebunden ist, sondern wer die Freiheit des Geistes
sich bewahrt hat, der ist also nach dieser Ideologie eine Art
von Lump und soll geschliffen werden. Es spielt dabei natür-
lich noch die uralte Ranküne des Handarbeiters gegen die
geistige Arbeit herein, aber sich selbst gänzlich unkenntlich
geworden und in einer vollkommen verschobenen Weise.
Weil diese Bewegungen, die ja, wie ich sagte, prinzipiell
überhaupt nur Machttechniken sind und keineswegs von ei-
ner durchgebildeten Theorie ausgehen, weil die ohnmächtig
sind gegen den Geist, wenden sie sich gegen die Träger des
Geistes. Wie einmal Valéry, der ja nicht gerade linksverdäch-
tig ist, sehr schön formuliert hat: »Wenn einer gescheiter ist als
man selbst, so ist er ein Sophist«.648 [Lachen im Auditorium] Es
wird dabei also die Trennung von sogenanntem Verstand und
sogenanntem Gefühl verdinglicht. Ich kann es mir nicht ver-
sagen in diesem Zusammenhang, Sie darauf aufmerksam zu
machen, daß die Beobachtungen, die ich über die Rolle des
Begriffs des Existentiellen und der Existenz in der Existential-
philosophie jedenfalls des zentraleuropäischen Gepräges im
»Jargon der Eigentlichkeit« gemacht habe, daß sich die bestä-
tigt haben. So wurde neulich in einer Polemik gegen eine
Professorin, die den Rechtsradikalen nicht in den Kram paß-
te, gesagt: ›Wir diskutieren nicht mit ihr, sondern hier handelt
es sich um existentielle Gegensätze‹.649 Sie können also daran
sehen, wie unmittelbar der Begriff des Existentiellen hier in
den Dienst des Irrationalismus, der Abwehr der rationalen
Argumentation, des diskursiven Denkens überhaupt bereits
tritt. Und ich glaube allerdings, daß das vergiftete Klima der
Existentialphilosophie, das im deutschen Sprachbereich nun
einmal herrscht, eine sehr erhebliche Schuld für die Vorberei-
tung des Anti-Intellektualismus unter den Intellektuellen
trägt.

454
Selbstverständlich ist auch nach wie vor, trotz alldem, der
Antisemitismus eine ›Planke in der Plattform‹.650 Er hat die
Juden, kann man sagen, überlebt, und daher rührt seine eige-
ne gespenstische Gestalt. Es wird dabei vor allem auch das
Schuldgefühl durch eine Rationalisierung abgewehrt: ›Etwas
muß doch daran sein, sonst hätte man sie nicht umgebracht‹.
Es hängt aber nun natürlich einstweilen unter der offiziellen
Gesetzgebung ein Tabu über diesen Dingen. Aber noch das
Tabu über der Erwähnung der Juden wird zu einem Mittel
der antisemitischen Agitation, nämlich so mit diesem augen-
zwinkernden: ›Wir dürfen ja nichts darüber sagen, aber wir
verstehen uns unter uns. Wir alle wissen, was wir meinen.‹
Und die bloße Erwähnung etwa eines jüdischen Namens ge-
nügt dieser Technik der Anspielung bereits, um bestimmte
Effekte hervorzurufen.
Eine Technik übrigens der neuen Manipulation des Anti-
semitismus, auf die ich Sie aufmerksam machen möchte, da-
mit Sie sie vielleicht ein bißchen näher studieren und dagegen
sich zur Wehr setzen, ist der kumulative Effekt. Die »Solda-
ten-Zeitung«, also die »National-Zeitung«,651 hat es zu einer
außerordentlichen Virtuosität entwickelt, niemals in irgend-
einer Nummer etwas zu schreiben, was so weit ginge, daß
nach der herrschenden ja recht dezidierten Gesetzgebung
gegen den Antisemitismus oder gegen Neonazismus einge-
schritten werden könnte.652 Andererseits aber, wenn man sich
so eine Reihe von Nummern hintereinander ansieht, muß
man wirklich schon vom Geist des Formalismus geradezu ge-
schlagen sein, um nicht zu sehen, was sie meinen. [Beifall im
Auditorium] Und diese Gefahr, diese zu einer hochentwickel-
ten Technik gesteigerte Form der Anspielung, gehört also zu
den Dingen, die man nicht nur genau studieren und dingfest
machen soll, sondern man müßte doch wohl auch versuchen,
legale Mittel zu finden, durch die es einem demokratischen
Staat möglich wäre, dagegen einzuschreiten.
Nun, was die Ideologie anlangt, so ist diese Ideologie durch
die Gesetzgebung an ihrer vollen Äußerung verhindert. Man

455
kann sagen, daß alle ideologischen Äußerungen des Rechts-
radikalismus gekennzeichnet sind durch einen permanenten
Konflikt zwischen dem Nicht-sagen-Dürfen und dem, was,
wie ein Agitator neulich es nannte,653 die Zuhörerschaft zum
Sieden bringen soll – und das hat sie nicht zum Sieden ge-
bracht, kann ich Ihnen zu Ihrer Beruhigung verraten. Nun,
dieser Konflikt ist aber nicht nur äußerlich, sondern der
Zwang zur Anpassung an demokratische Spielregeln bedeutet
auch eine gewisse Änderung in den Verhaltensweisen, und in-
sofern liegt darin doch auch ein Moment – ja, wie soll man
sagen – der Gebrochenheit, die diese Bewegungen im Stadi-
um ihres Revenanttums nun einmal haben. Das offen Antide-
mokratische fällt weg. Im Gegenteil: Man beruft sich immer
auf die wahre Demokratie und schilt die anderen antidemo-
kratisch. Und in den Konzessionen an demokratische Spiel-
regeln liegt ein gewisser Widerspruch. Das demagogische
Element kann sich nicht so ungehemmt mehr entfalten. Ich
erinnere etwa an das Problem der innerparteilichen Demo-
kratie, das ja in Deutschland von der Verfassung garantiert
ist.654 Wo die innerparteiliche Demokratie verletzt wird,
droht das Verbot. Wird sie aber innegehalten, so ist diese poli-
tische Form im Grunde unvereinbar mit dem, was man dabei
verficht. Auch das ein Moment, das für die Gegenwirkung
beachtet werden sollte.
Dem Inhalt nach ist natürlich diese Ideologie, soweit sie
überhaupt eine selbständige, durchgebildete Ideologie ist –
und ich halte das Ideologische gegenüber dem politischen
Willen dranzukommen, wirklich für ganz sekundär –, aber
soweit ist sie eben doch wesentlich gespeist von der Nazi-
ideologie. Es ist erstaunlich, wenn man die Dokumente
liest, wie wenig zu dem alten Repertoire an Neuem hinzu-
gekommen ist, wie sekundär und aufgewärmt es ist. Allen-
falls hat man versucht, die europäische Integration zu usur-
pieren, etwa von einer ›Nation Europa‹ zu reden,655 aber
gerade das hat sich offenbar als sehr wenig zugkräftig erwie-
sen aus den Gründen des Nationalismus als eines Versuchs

456
der Selbstbehauptung inmitten der Integration, der dann
doch stärker ist. Auch da ist eine Art von Widerspruch.
Eine sehr starke Rolle spielt offensichtlich in der Ideolo-
gie – und damit bezeichne ich nun wirklich ein wissenschaft-
liches Problem, aber ein Problem, von dem ich mir nicht an-
maße, daß ich Ihnen eine wirkliche Lösung geben könnte –,
eine sehr erhebliche Rolle spielt der Antiamerikanismus, der
ja auch in dem Wort von den ›plutokratischen‹ Nationen und
in diesen Dingen in der Nazizeit vorgebildet war.656 Es wird
versucht im Sinn dieses Antiamerikanismus, den Gedanken
von der ›dritten Kraft‹ Europa657 zu usurpieren. Was hinter
dem Antiamerikanismus steckt, das ist schwer zu sagen. Wahr-
scheinlich ist es zum Teil das Anknüpfen an etwas real Emp-
fundenes, nämlich daran, daß man auch unter der formalen
Demokratie, eben durch das Blocksystem, die volle Freiheit
der politischen Entscheidung sich vorenthalten glaubt – und
nicht nur vorenthalten glaubt. Ich möchte hier, vielleicht darf
ich das en passant sagen, darauf hinweisen, daß keineswegs
alle Elemente dieser Ideologie einfach unwahr sind, sondern
daß auch das Wahre in den Dienst einer unwahren Ideologie
dabei tritt und daß das Kunststück der Gegenwehr wesentlich
ist, den Mißbrauch auch der Wahrheit für die Unwahrheit
aufzuspießen und dagegen sich zu wehren. Die wichtigste
Technik, durch die die Wahrheit in den Dienst der Unwahr-
heit gestellt wird, ist die, daß an sich wahre oder richtige Be-
obachtungen aus ihrem Zusammenhang herausgeschnitten,
isoliert werden, also daß etwa gesagt wird: ›Unterm Hitler ist
es uns doch, eh’ er den dummen Krieg gemacht hat, sehr gut
gegangen‹, ohne daß gesehen würde, daß diese ganze Kon-
junktur der Jahre von ’33 bis ’39 lediglich durch die hektische
Kriegswirtschaft, durch die Vorbereitung des Krieges über-
haupt möglich gewesen ist. Und so gibt es hundert Dinge.
Jedenfalls hier wird angeknüpft also an den ganzen Kom-
plex der Selbständigkeit, auf die ja die Demokratie hinausläuft
und die gleichzeitig doch in dem herrschenden System nicht
voll realisiert wird. Es hat, wenn meine Beobachtung mich

457
nicht trügt, zu den wirksamsten Parolen des Neofaschismus
gehört, daß sie Wendungen gebrauchten wie ›Man kann wie-
der wählen‹.658 Oder daß sie – unter Variation eines Slogans
von Goebbels, nämlich von den ›Systemparteien‹659 – von
den ›Lizenzparteien‹660 gesprochen haben, also von den Par-
teien, die lizenziert von den ehemaligen Besatzungsmächten
gewesen seien. Und dies war ungeheuer wirksam, weil die
Menschen das Gefühl hatten, nun gerade mit dieser Bewe-
gung, die die Freiheit abschaffen will, gleichsam wieder in
den Besitz der Freiheit, der freien Entscheidungsmöglichkeit,
der Spontaneität zu gelangen. Ich glaube, daß es wichtig wäre,
wenn man gerade mit diesem Motiv, das mit dem des Anti-
amerikanismus sehr verschmolzen ist, wenn man damit ein-
mal sich genau auseinandersetzen würde.
Wesentlich ist an dieser Ideologie ihr Bruchstückhaftes.
Viele ›Planken‹ wie die Expansion nach dem Osten, der ei-
gentliche Imperialismus sind nolens volens weggefallen. Es
fehlt völlig die Perspektive »morgen die ganze Welt«,661 und
dadurch hat das Ganze so ein bißchen etwas Schwungloses
und noch viel mehr auf die Verzweiflung Gestelltes, als das
unterschwellig im Nationalsozialismus auch schon vorhanden
war. Aber ich möchte noch einmal sagen, daß es im Faschis-
mus nie eine wirklich durchgebildete Theorie gab, daß im-
mer sous-entendu war, daß es auf Macht, begriffslose Praxis,
schließlich auf unbedingte Herrschaft ankam und daß dem-
gegenüber der Geist, wie er in der Theorie sich niederschlägt,
etwas Sekundäres ist. Und gerade das hat dann natürlich auch
wieder ideologisch diesen Bewegungen jene Flexibilität ver-
liehen, die man so vielfach beobachten kann. Es liegt das im
übrigen auch im Geist der Zeit, die Vorherrschaft einer be-
griffslosen Praxis, und das hat nun auch seine Konsequenz für
die Propaganda.
Lassen Sie mich zum Schluß nun Ihnen einiges über die
Propaganda sagen, die ich ja, wie ich Ihnen andeutete, eigent-
lich für das Zentrum, für die Sache selbst in gewisser Weise,
halte. Diese Propaganda gilt weniger der Verbreitung einer

458
Ideologie, die, wie ich Ihnen sagte, viel zu dünn ist, als dem,
daß Massen eingespannt werden. Die Propaganda ist also vor-
wiegend eine massenpsychologische Technik. Zugrunde liegt
dabei das Modell der autoritätsgebundenen Persönlichkeit,
und zwar heute genau wie zur Zeit von Hitler oder wie bei
den Bewegungen des ›lunatic fringe‹ in Amerika oder wie ir-
gendwo sonst. Die Einheit liegt in diesem Appell an die auto-
ritätsgebundene Persönlichkeit. Es wird immer wieder gesagt,
daß diese Bewegungen allen etwas versprechen, und das ist als
Charakteristik der Theorielosigkeit richtig. Aber es ist doch
insofern falsch, als in diesem Appell an den autoritätsgebun-
denen Charakter eine sehr spezifische und sehr pointierte
Einheit liegt. Sie werden niemals auch nur eine Äußerung
finden, die dem Schema der autoritätsgebundenen Persön-
lichkeit nicht entspricht. Und wenn man gerade diese Struk-
tur des Appells an die autoritätsgebundene Persönlichkeit auf-
deckt, so bringt das nun wirklich die Rechtsradikalen zum
Weißglühen, und ich würde sagen, das ist immerhin ein Be-
weis dafür, daß in dieser Struktur ein Nervenpunkt getroffen
wird. Die unbewußten Tendenzen, welche die autoritätsge-
bundene Persönlichkeit speisen, werden also nicht etwa von
dieser Propaganda bewußt gemacht, sondern im Gegenteil,
sie werden noch mehr ins Unbewußte gedrängt, sie werden
künstlich unbewußt gehalten. Ich erinnere dabei nur an die
überwertige Bedeutung sogenannter Symbole, die ja für alle
diese Bewegungen charakteristisch ist.662
Wenn man aber auf diese Dinge dann zu sprechen kommt,
dann werden die Herrschaften plötzlich ganz wissenschaft-
lich, erklären, daß der Aufweis der autoritätsgebundenen Per-
sönlichkeit, daß der nicht mit der notwendigen Exaktheit sta-
tistisch bewahrheitet sei und was es sonst alles mögliche gibt,
und benutzen die Mittel eines pervertierten Positivismus
dazu, die Erfahrung, die lebendige Erfahrung zu inhibieren.
Das, nebenbei bemerkt, ist der Punkt, an dem die Probleme,
über die ich gestern abend vor Ihnen sprechen durfte,663 mit
denen, die ich heute behandele, unmittelbar konvergieren.

459
Verhaßt ist vor allem natürlich die Psychoanalyse, und der
Anti-Intellektualismus, die Angst davor, daß das Unbewußte
bewußt wird, und der autoritäre Charakter, die bilden hier
eine Art von Syndrom miteinander. Diese Propagandatech-
nik bezieht sich nun ebenso auf gewisse formale Züge wie auf
mehr oder minder isolierte einzelne Inhalte. Es ist schon seit
langer Zeit meine Überzeugung – und Horkheimer und ich
haben noch in Amerika an diesem besonderen Problem gear-
beitet –, daß es sich um eine relativ kleine Zahl immer wie-
derkehrender standardisierter und vollkommen vergegen-
ständlichter Tricks handelt, die ganz arm und dünn sind, die
aber auf der andern Seite gerade durch ihre permanente Wie-
derholung ihrerseits einen gewissen propagandistischen Wert
für diese Bewegungen gewinnen.664
Zum Formalen möchte ich zunächst einmal Sie aufmerk-
sam machen auf eine Sache, auf die man sich in der Abwehr
einstellen muß, und das ist gar nicht so einfach. Das ist näm-
lich der Appell an den Konkretismus, wie ich es genannt
habe.665 Es [wird] – und das wird offenbar gerade von der
NPD in Deutschland sehr kultiviert – immerzu gearbeitet mit
der Anhäufung von Daten, besonders von Zahlen, denen
man im allgemeinen gar nichts entgegnen kann, und zwar
also mit diesem Unterton: ›Was? Das weiß doch jedes Kind!
Und Sie wissen nicht, daß seinerzeit der Rabbiner Nuss-
baum666 gefordert hat, daß alle Deutschen kastriert werden
sollen?‹ Also solche völlig irren und phantastischen Geschich-
ten. Ich habe das Beispiel eben erfunden, wohlverstanden,
[Lachen im Auditorium] aber so von dieser Art sind also die Ar-
gumente. Es wird mit Kenntnissen geprotzt, die sich schwer
kontrollieren lassen, die aber eben um ihrer [Un]kontrollier-
barkeit willen dem, der sie vorbringt, eine besondere Art von
Autorität verleihen. Ich glaube, es wird deshalb gut sein, daß
man von vornherein besonders wachsam dort ist, wenn mit
solchen scheinbar ganz konkreten Behauptungen operiert
wird. Das ist verschmolzen mit der berühmten Hitlerschen
Technik der plumpen Lüge. So hat die NPD in deutschen

460
Wahlversammlungen, und zwar offenbar systematisch, die
Zahlungen, die Wiedergutmachungszahlungen, an Israel ums
Zehnfache vergrößert.667 Das ist aber dann herausgekom-
men, und es ist energisch dagegen demonstriert worden, und
sie sind dadurch nun in erhebliche Schwierigkeiten gelangt.
Ebenfalls in denselben Zusammenhang gehört die ›Salami-
Methode‹, wie man das mit einem schnoddrigen deutschen
Ausdruck nennt, das heißt, daß man von einem Komplex ein
Stück abschneidet, dann noch eins und noch eins. Also, es
wird etwa mit der pseudowissenschaftlichen Pedanterie, die
diesen Bewegungen eigentümlich ist, an den Zahlen der er-
mordeten Juden gezweifelt. Und es wird erst gesagt: ›Ja, es
waren ja nicht sechs Millionen, sondern nur fünfeinhalb‹, und
wenn man dann einmal soweit ist, dann ist zunächst über-
haupt verdächtig, daß welche ermordet worden sind, und am
Schluß wird es dann so dargestellt, als ob’s überhaupt umge-
kehrt gewesen wäre. [Lachen im Auditorium] Ich glaube also,
daß man diese Dinge besonders wachsam betrachten soll.
Dann weiter ist sehr charakteristisch für diese Art des Den-
kens – und das ist gleichsam das Komplement zu dem Kon-
kretismus – der Formalismus. Besonders gern ein Formalis-
mus juridischer Art. Daß also etwa gesagt wird, daß das
Münchner Abkommen668 ja freiwillig von den westlichen
Mächten auch unterzeichnet worden sei, daß es infolgedessen
noch geltendes Recht sei und mit allen daraus entfließenden
Ansprüchen etwa auf das Sudetenland, und was es sonst noch
gibt.
Dann sagte ich, glaube ich, schon – nein, ich habe noch
nicht davon gesprochen, das ist eine Sache, ich weiß nicht, ob
sie auch für Österreich gilt, für Deutschland gilt sie sicher, ich
könnte mir denken, daß sie auch hier akut ist: das, was ich den
Trick des Offiziellen oder des Amtlichen nennen möchte –,
daß nämlich diese Gruppen durch ihre Nomenklatur sich so
gebärden, als ob sie von irgendwelchen offiziellen Stellen ge-
deckt und gefördert wären. Also, zum Beispiel die verbreitet-
ste rechtsradikale Zeitschrift, die für Studenten bestimmt ist,

461
nennt sich »Studenten-Anzeiger«, was so aussieht, für den
Naiven, als ob sie von einer studentischen Organisation her-
ausgegeben wäre und die Studentenschaft hinter sich hätte,
während sie in Wirklichkeit eine rein propagandistische Sa-
che ist.669 Ebenso wird das Wort ›deutsch‹ monopolisiert. Es
wird alles Erdenkliche deutsch genannt, während die entge-
gengesetzten Parteien einfach, weil sie eben in Deutschland
beheimatet sind und hier fungieren, genauso deutsch sind wie
die, die das Wort monopolisieren.
Auf einen Trick möchte ich hier aber doch noch eingehen,
weil er gar nicht nur ein Trick ist, sondern weil man dem sehr
ernsthaft immer wieder begegnet. Das ist nämlich der Trick:
›Man muß doch eine Idee haben‹. Das ist eine Sache, die man
auch unter relativ harmlosen und nur beschränkten Men-
schen findet, die so sagen: ›Na ja, was soll aus dieser Jugend
werden? Diese Jugend hat keine Idee, und die geben ihr doch
wenigstens eine Idee.‹ Nun, ich habe Ihnen vorhin von Vul-
gäridealismus gesprochen. Ich glaube, das ist geradezu der
Prototyp dessen, was ich mit Vulgäridealismus gemeint habe.
Es wird nämlich hier der Begriff der Idee pragmatisch in sein
Gegenteil versetzt. Das heißt, die Idee soll nicht um dessent-
willen da sein, weil sie wahr ist, nicht um ihres objektiven Ge-
halts willen, sondern nur aus dem pragmatistischen Grund,
daß man ohne Idee gewissermaßen nicht soll leben können,
daß es gut sein soll, daß man eine Idee hat. Was der Inhalt der
Idee ist, das ist gleichgültig. Aber wenn man nur recht auf den
Tisch schlägt und sagt: ›Wir haben eine Idee‹, dann ist das
dann schon bereits das wirksame Surrogat für eine solche
Idee. [Lachen im Auditorium] Also, ich würde sagen, daß man
gerade an dieser Stelle, wo also die Berufung auf ›Man muß
doch wieder eine Idee haben‹ erfolgt, daß man da also auch
besonders wachsam sein soll.
Was den Nationalismus anlangt, so tritt er in der Propagan-
da im allgemeinen nicht generell auf, sondern mit großem
Geschick konzentriert er sich auf allergische Punkte. Zum
Beispiel die Behauptung, daß die Deutschen in der Welt dis-

462
kriminiert würden, worauf doch zunächst ganz einfach zu sa-
gen ist, daß es nach dem Ungeheuerlichen, das geschehen ist,
eher das Überraschende ist, wie wenig eigentlich an Rancune
in der Welt danach übriggeblieben, wie schnell vergessen
worden ist. Oder es wird gesprochen von der Mißachtung na-
tionaler Symbole, eine Sache, die dann unmittelbar in Wutan-
fälle und in Gewaltaktionen zu übersetzen ist. Die Verselb-
ständigung des Symbols gegenüber dem damit Gemeinten
gehört auch zu diesen allergischen Punkten, die man einmal
sehr genau analysieren [müßte]. Der Grund ist wahrschein-
lich der, daß in den Symbolen eben als ihr Ausdrucksgehalt
noch ganz andere Dinge mitschwingen als nur das Nationale,
wofür sie angeblich einstehen, und daß das Unbewußte auf
ganz andere Drohungen reagiert, wenn diese Symbole also
angeblich nicht genug respektiert werden, als diese Propagan-
da es vortäuscht. – Ähnlich ist auch die Neigung, etwa Men-
schen, die die Oder-Neiße-Linie670 anerkennen möchten, als
›Landesverräter‹ zu brandmarken. Ähnliche Dinge gab’s auch
schon, ›Erfüllungspolitiker‹ hieß das damals in der Weimarer
Republik. Das ist der Komplex der ›punitiveness‹, den man
vielleicht am besten mit ›Straffreudigkeit‹, nämlich den ande-
ren gegenüber, übersetzen könnte.671
Neulich hat in Deutschland eine große Institution der öf-
fentlichen Kommunikation eine Besprechung mit ein paar
NPD-Führern gehabt, um dahinterzukommen, was sie nun
eigentlich an konkreten Vorschlägen hätten. Und das einzige,
was dabei herauskam an konkreten Vorschlägen, und das ist
sehr bezeichnend, ist: Die Todesstrafe für die Mörder von
Taxichauffeuren müßte wieder eingeführt werden.672 [Lachen
im Auditorium] Das ist, ich mein’, das klingt sehr läppisch und
unbeträchtlich, zeigt aber, welche Rolle der mit Rechtsideen
getarnte Sadismus in diesen Dingen nach wie vor spielt.
Ich erspare es mir, Ihnen im einzelnen andere dieser für die
jetzige Situation charakteristischen Tricks zu analysieren.
Zum Beispiel die Phrase: ›Was jeder Negerstaat darf, das sol-
len wir nicht dürfen?‹ – wobei nur zu fragen wäre, was eigent-

463
lich? Oder die These vom Ausverkauf der deutschen Wirt-
schaft an fremdes Kapital, bei gleichzeitigem Kapitalmangel
innerhalb der deutschen Industrie. Oder die These von der
Überfremdung durch Gastarbeiter – wobei nach wie vor der
Bedarf an Arbeitskraft, selbst bei steigender Arbeitslosigkeit,
in einer ganzen Reihe von Berufen, und zwar denen der
niedrigsten Handarbeit, so groß ist, daß dieses Bedürfnis nach
Fremdarbeitern – ich sage lieber ›Fremdarbeiter‹ als ›Gast-
arbeiter‹, weil ich ›Gastarbeiter‹ für einen ideologischen Aus-
druck halte –, dieses Bedürfnis besteht dabei fort. Dann na-
türlich der ganze Komplex ›Entartete Kunst‹, ›Sauberkeit‹,
›saubere Leinwand‹673 [Lachen im Auditorium] und was sonst
mit diesen Dingen also zusammenhängt.
Dann gehört hierher der Komplex ›Schluß mit dem
Schuldbekenntnis‹, das sowieso eigentlich niemals wirklich
verlangt worden ist. [Lachen im Auditorium] Dann, daß der
Nationalsozialismus erst gesund und dann ›ausgeartet‹ ge-
wesen sei. Überhaupt die Lehre vom gesunden Kern. [Lachen
im Auditorium] Dann die These von der Aufrechnung der
Schuld. Und schließlich die Polemik gegen NS-Prozesse,
wobei Fritz Bauer einmal die sehr richtige Bemerkung ge-
macht hat, daß dieselben Leute, die auf die Wiedereinführung
der Todesstrafe drängen, die Straffreiheit für die Mörder von
Auschwitz fordern,674 eine Sache, auf die man ja doch wohl in
diesem Zusammenhang hinweisen soll, obwohl ich nicht
leugne, daß es hier einen sehr ernsten Widerspruch gibt, ei-
nen Widerspruch, an dem ich mir theoretisch einigermaßen
den Schädel eingerannt habe.675
Nun, zur Frage der Abwehr lassen Sie mich nur noch ganz
wenige Worte sagen. Ich glaube, die ›Hush-Hush‹-Taktik,
also die Taktik, diese Dinge totzuschweigen, hat sich nie be-
währt, und es ist sicher heute bereits diese Entwicklung viel
zu weit gegangen, als daß man damit noch durchkäme. Daß
man nicht moralisieren, sondern an die realen Interessen ap-
pellieren soll, habe ich Ihnen bereits gesagt. Ich wiederhole es
nur noch mal. Vielleicht darf ich dabei auch an ein amerika-

464
nisches Forschungsergebnis erinnern aus unserer »Authorita-
rian Personality«, wo sich nämlich gezeigt hat, daß auch die
vorurteilsvollen Persönlichkeiten, die also durchaus autoritär,
repressiv, politisch und ökonomisch reaktionär gewesen sind,
an der Stelle, wo es sich um ihre eigenen durchsichtigen, für
sie selbst durchsichtigen Interessen gehandelt hat, ganz anders
reagieren.676 Also, die waren etwa Todfeinde der Roosevelt-
Regierung, aber [bei] solche[n] Institutionen, die ihnen, wie
etwa der Mieterschutz oder die Verbilligungen der Medi-
zin,677 unmittelbar zugute gekommen sind, da hat der Anti-
Rooseveltianismus sofort sein Ende gehabt und da haben sie
sich relativ rational verhalten. Diese Spaltung in dem Be-
wußtsein der Menschen, die scheint mir einer der aussichts-
reichsten Ansatzpunkte für eine Gegenwirkung in dem Sinn
zu sein, von dem ich gesprochen habe.
Ein weiteres Moment ist die Wendung nach innen. Das
heißt, daß man in der Abwehr versucht, bewußtzumachen,
daß dieser ganze Komplex der autoritätsgebundenen Persön-
lichkeit und der rechtsradikalen Ideologie in Wirklichkeit sei-
ne Substanz gar nicht an den designierten Feinden hat, gar
nicht an denen hat, gegen die man dabei tobt, sondern daß es
sich dabei um projektive Momente handelt, also daß die ei-
gentlichen Subjekte einer Studie, die, die man zu begreifen
und zu verändern hätte, die Rechtsradikalen sind und nicht
die, gegen die sie ihren Haß mobilisiert haben. Nun, meine
Damen und Herren, ich bin nicht so naiv zu glauben, daß
man mit dieser Wendung nach innen unmittelbar bei den
Menschen, um die es sich handelt, sehr viel erreichen könn-
te, denn es gehört – ich kann das jetzt nicht mehr im einzel-
nen Ihnen auseinandersetzen, warum –, es gehört zu diesem
Syndrom wesentlich dazu, daß diese autoritätsgebundenen
Charaktere unansprechbar sind, daß sie nichts an sich heran-
kommen lassen. Trotzdem aber hat – und ich bitte Sie zu ver-
zeihen, wenn ich hier noch einmal auf die »Authoritarian
Personality« zu sprechen komme –, trotzdem hat sich gezeigt,
daß einfach dadurch, daß die Persönlichkeiten, die so und

465
nicht anders sich verhalten, zu einem sozialpsychologischen
Problem gemacht werden, daß über sie, daß über den Zusam-
menhang ihrer Ideologie und ihrer psychologischen, ihrer so-
zialpsychologischen Beschaffenheit nachgedacht wird, daß
das zum Problem wird, daß dadurch eine gewisse Naivetät des
sozialen Klimas sich aufgelöst hat und eine gewisse Entgiftung
doch wohl eingetreten ist. Und ich könnte mir denken, daß
das auch im deutschen Sprachbereich, in den verschiedenen
Ländern, in denen deutsch gesprochen wird, daß das auch ei-
nige Aussicht verspricht.
Schließlich sollte man die Tricks, von denen ich gespro-
chen habe, dingfest machen, ihnen sehr drastische Namen ge-
ben, sie genau beschreiben, ihre Implikationen beschreiben
und gewissermaßen versuchen, dadurch die Massen gegen
diese Tricks zu impfen, denn schließlich will niemand ein
Dummer sein oder, wie man in Wien sagen wird, niemand
will die ›Wurzen‹ sein. Und daß das Ganze auf eine giganti-
sche psychologische Wurztechnik, auf einen gigantischen
psychologischen Nepp herausläuft, das ist wohl durchaus zu
zeigen.
Nun, meine Damen und Herren, ich wiederhole, daß mir
bewußt ist, daß der Rechtsradikalismus kein psychologisches
und ideologisches Problem ist, sondern ein höchst reales und
politisches. Aber das sachlich Falsche, Unwahre seiner eige-
nen Substanz zwingt ihn, mit ideologischen, das heißt in die-
sem Fall mit propagandistischen Mitteln zu operieren. Und
deshalb muß man ihm, abgesehen vom politischen Kampf mit
rein politischen Mitteln, in seiner eigensten Domäne sich
stellen. Aber nun nicht Lüge gegen Lüge setzen, nicht versu-
chen, genauso schlau zu sein wie er, sondern nun wirklich mit
einer durchschlagenden Kraft der Vernunft, mit der wirklich
unideologischen Wahrheit dem entgegenarbeiten.
Vielleicht sind manche unter Ihnen, die mich fragen wer-
den oder die mich fragen würden, wie ich nun über die Zu-
kunft des Rechtsradikalismus denke. Ich halte diese Frage für
falsch, denn sie ist viel zu kontemplativ. In dieser Art des Den-

466
kens, die solche Dinge von vornherein ansieht wie Naturka-
tastrophen, über die man Voraussagen macht wie über Wir-
belwinde oder über Wetterkatastrophen, da steckt bereits eine
Art von Resignation drin, durch die man sich selbst als politi-
sches Subjekt eigentlich ausschaltet, es steckt darin ein schlecht
zuschauerhaftes Verhältnis zur Wirklichkeit. Wie diese Dinge
weitergehen und die Verantwortung dafür, wie sie weiterge-
hen, das ist in letzter Instanz an uns. – Ich danke Ihnen für Ihre
Aufmerksamkeit.

467
Die Musik im Europa von heute – Deutschland
29. 3. 1968

Meine Damen und Herren,

bei den Bemerkungen, die ich Ihnen heute improvisierender-


weise vortrage, möchte ich mich an einen Grundsatz von Sig-
mund Freud halten, der für seine Disziplin beansprucht hat, er
wolle nicht etwa bekannte Erkenntnisse bestreiten oder ihnen
widersprechen, aber ihnen einiges hinzufügen, was nicht im
allgemeinen Bewußtsein liegt und was unter Umständen als
wichtiger sich herausstellen mag denn das allgemein Bekann-
te.678 So möchte ich also dem Musikleben gegenüber mich
verhalten. Ich möchte zunächst einige grundsätzliche Erwä-
gungen anstellen und dann kurz noch auf spezifische Formen
des Musiklebens eingehen. Ich glaube, keine Erwägung[en]
über das Musikleben heute, die nicht von vornherein ein
Moment, wenn ich es kraß sagen soll, der Verlogenheit in sich
haben sollen, dürfen darum sich herumdrücken, daß dem so-
genannten Musikleben, wie aller auferstandenen Kultur, ein
Moment des Ausgehöhlten, Unterminierten anzumerken ist,
vergleichbar etwa jenem Aspekt des nicht ganz Überzeu-
genden, nicht ganz Wahren von wiederaufgebauten Städten.
Dieses Ausgehöhlte, nicht ganz Stichhaltige hat wahrschein-
lich das Musikleben schon viel länger charakterisiert als in
unsrer Zeit nach 1945. Es ist aber nach der Katastrophe, nach
der europäischen Katastrophe, flagrant geworden, so daß man
sich diesem Eindruck nicht entziehen kann, und eigentlich
müßte jede vernünftige Erwägung über das Musikleben dar-
an sich ankristallisieren, wie und ob überhaupt es möglich sei,
von diesem Moment der Scheinhaftigkeit der Fassade das
Musikleben zu kurieren.
Nun, ich maße mir nicht an, heute so weit zu gehen. Ich
möchte nur versuchen, zunächst einmal, das in einigen Mo-
menten zu konkretisieren. Da ist wohl zuerst daran zu er-
innern, daß in dem Musikleben eine Art von Vormacht der

468
gesellschaftlichen Verhältnisse, der Produktionsverhältnisse
herrscht, oder, wie ich es einmal ausgedrückt habe, »das Mu-
sikleben«, das sogenannte Musikleben, »ist kein Leben für die
Musik«,679 sondern in erster Linie unmittelbar und mittelbar
ein Leben für den Profit, das dann die Musik, beinahe müßte
man sagen, mitschleift. Nun, das war schon sehr lange so, si-
cherlich, seitdem die Musik ihres feudalen und zünftlerischen
Schutzes und auch ihrer Fesseln sich entäußerte und zu einer
Ware auf dem freien Markt wurde. Aber gegenüber der hoch-
liberalistischen Zeit in der zweiten Hälfte oder in dem letzten
Drittel des 19. Jahrhunderts hat dabei doch etwas Wesentli-
ches sich verändert. Man kann das vielleicht bezeichnen als
das Heraufkommen des musikalischen Dirigismus – wobei
ich Sie aber nicht gleich an Dirigenten zu denken bitte –, also
einer planvollen Steuerung des gesamten Musiklebens von
oben her, durch die der freie Markt und die freie Willensbil-
dung des Publikums noch viel mehr in den Hintergrund tritt,
als das früher der Fall war. Diese Tendenz ist in Übereinstim-
mung mit der wirtschaftlichen Tendenz zur Konzentration
und Monopolisierung.
Man muß freilich sagen, daß es mit dem Einfluß der Musik
Hörenden auf die Musik nie so sehr weit her war, daß also das
Prinzip des freien Marktes in der Musik nie ganz rein sich
durchgesetzt hat, daß von jeher etwa die Planungen von Kon-
zertserien oder von Opernspielplänen von bestimmten Gre-
mien vorgenommen worden sind, ohne daß die Hörer allzu-
viel dabei hätten zu sagen gehabt, daß sie das dann mehr oder
minder geschluckt haben, was ihnen geboten wurde. Aber
wie in den meisten gesellschaftlichen Phänomenen sind auch
in der Musik diese Tendenzen heute in eine zur universalen
Planung übergegangen.
Nun wäre es aber naiv, wenn man, wie es sehr häufig ge-
schieht, diese Tendenz einfach und naiv in Gegensatz bringen
wollte zu dem Willen und zu dem Geschmack der Hörer. Be-
stünde ein solcher Gegensatz tatsächlich, dann wären längst
im Musikleben, das ja nicht zu den unmittelbaren Bedürfnis-

469
sen der Menschen unmittelbar beiträgt, Explosionen erfolgt,
und die hat es nicht gegeben. Man muß sich, um der Realität
gerecht zu werden, etwas wie Wechselwirkungen vorstellen.
Auf der einen Seite sind die dirigistischen Standards von heu-
te, also die Spielregeln der Auswahl und auch der Qualität des
Gebotenen, die dem Publikum, wie man so sagt, auferlegt
werden. Diese dirigistischen Standards sind ihrerseits Verstei-
nerungen von Verhaltensweisen, und zwar von Verhaltens-
weisen der Musik Hörenden, die einmal in einiger Freiheit
erworben wurden. So sind zum Beispiel die Schemata leichter
Musik aus der Tanzmusik im 19. Jahrhundert, ja, man muß
wohl sagen, in freier Konkurrenz und nach einem natürlichen
Selektionsverfahren entstanden und ebenso die Sprache, die
sich da ausgebildet hat. Aber diese ursprünglich frei entstan-
denen Geschmackskriterien und Verhaltensweisen haben
sich verfestigt, sind, man muß fast sagen, versteinert und neh-
men dadurch jenen Charakter zwangshafter Wiederholung
an, der gerade also das Hören der überwältigenden Menge des
Gebotenen, der sogenannten leichten Musik also, so peinlich
macht.
Auf der andern Seite bestimmt nun der Dirigismus aus-
wählend den Geschmack, vor allem dadurch, daß er Unge-
zähltes und Wichtiges – sogenannte schwierige und proble-
matische, moderne Werke in erster Hinsicht, aber auch vieles
aus der Vergangenheit – nicht durchläßt. Aber indem er diese
selektive Wirkung ausübt, knüpft er immer zugleich an das
Vorhandene, an den bereits existenten Publikumsgeschmack
an. Ich glaube, es wäre eine der Sache angemessene Formulie-
rung, daß der Dirigismus der Musik heute nicht etwa, wie
man es so oft hört, das musikalische Bewußtsein schafft, daß
er es aber reproduziert, und eben durch diese von oben her
angestellte und betriebene Reproduktion wird es verding-
licht. Ein Beispiel dieser Verdinglichung ist das Auseinander-
weisen von ernster und Unterhaltungsmusik, die man beide
schon am ersten Ton, wenn Sie etwa im Radio erklingen, er-
kennen kann, ohne daß es die Wechselwirkungen zwischen

470
beidem gibt, die einmal, und zwar für beide Sphären, so pro-
duktiv gewesen sind. Exemplarisch dafür ist etwa die berühm-
te Frage, die ein amerikanischer Klavierlehrer an seinen Schü-
ler in der ersten Stunde so häufig soll richten, nämlich ob er
›popular‹ oder ›classical music‹, also ob er leichte oder ernste
Musik studieren wolle.
Nun, sehr viele Musiksoziologen betrachten als Basis des
Musiklebens das ›Musikerlebnis‹, also das, was die Menschen
von der Musik haben, wie sie auf die Musik reagieren, wie sie
Musik erleben.680 Mir scheint, gerade auch bei soziologischer
Reflexion, dieser Rückgang auf das Musikerlebnis problema-
tisch, aus eben dem Grund, den ich Ihnen zu Beginn bereits
angedeutet habe: daß nämlich die gesellschaftlichen Verhält-
nisse der Produktion viel entscheidender sind für die Gestal-
tung des Musiklebens als die Reaktionen der einzelnen Men-
schen auf die Musik. Es ist deshalb so problematisch, von dem
Musikerlebnis auszugehen, weil wir so verteufelt wenig dar-
über wissen, und zwar vor allem deshalb, weil es außer durch
geschulte Fachleute, also eine ganz kleine Minorität, kaum in
Worte zu bringen ist. Aber es ist auch dieses sogenannte Mu-
sikerlebnis bei zahllosen, wahrscheinlich auch bei der über-
wiegenden Anzahl der Menschen an sich unbewußt oder
vorbewußt und ganz diffus. Die Schwierigkeiten der wissen-
schaftlichen Hörererforschung, die also auf dieses Musikerleb-
nis eingehen, rühren daher. Wir wissen zum Beispiel kaum,
was Befragte überhaupt meinen, wenn sie von Musik reden.
Die Bedeutungen, die sie mit den Worten verbinden, und die
objektiv musikalischen weisen offensichtlich sehr weit ausein-
ander, und nur gelegentlich bekommt man in diese Differenz
einen Einblick, die es zeigt, wie wenig verbindlich solche Aus-
sagen von Menschen über das, was sie selbst an der Musik erle-
ben, sind. So nennen sehr viele Menschen ›Melodie‹ etwas
ganz Eingeengtes, nämlich eine undurchbrochene und in
symmetrischen Verhältnissen ablaufende Oberstimmenmelo-
die, und jede Melodie, die dem nicht genügt, also eine, die sich
unabhängig davon, vor allem von den Schemata der Rhythmi-

471
sierung, entfaltet, die finden sie unmelodisch und zerrissen.
Oder viele Menschen sagen, es käme ihnen bei der Musik auf
den ›Rhythmus‹ an. Dabei meinen sie aber nicht Rhythmus im
Sinn des Inbegriffs aller zeitlichen Verhältnisse innerhalb der
Musik, sondern einen eigens hervorgehobenen, akzentuier-
ten und vor allem mehr oder minder starr durchlaufenden
Rhythmus, im Gegensatz zu dem differenzierten und mit dem
jeweils Komponierten verschmolzenen Rhythmus, also, was
die Menschen so oft ›Rhythmus‹ nennen, ist, musikalisch
gesehen, gerade das rhythmisch Unterentwickelte und Primi-
tive, das, was eigentlich musikalischen Anforderungen an
Rhythmus vielfach nicht genügt.
Solche Beispiele mögen Ihnen zeigen, daß das vielberufene
›Musikerlebnis‹ etwas Fragwürdiges und jedenfalls kein Letz-
tes und Gegebenes ist. Wichtiger aber als diese mehr oder
minder auf die Erkenntnis des Musiklebens abzielenden Be-
obachtungen, die ich Ihnen angegeben habe, ist etwas Objek-
tives am Musikerleben, nämlich, daß es nicht die Basis, das
letzthin Gegebene ist, sondern ein in sich Vermitteltes, und
zwar ein gesellschaftlich Vermitteltes. Diese Vermittlung, also
daß die Menschen in ihrem Urteil und in ihrem Verhalten zur
Musik gar nicht, wie sie es meinen, sie selbst sind, sondern
nur Echo der Umwelt, in der sie leben, das ist ihnen vermut-
lich meist unbewußt, und gerade deshalb, weil sie den Unter-
schied zwischen ihrem eigenen und dem gesellschaftlich Vor-
geformten nicht bemerken, deshalb ist diese Vorformung so
besonders wirksam. Sie dürfte sich beziehen ebenso auf die
Anpassung der Urteile über Musik, die die Menschen fällen,
an vorgegebene gesellschaftliche Standards wie wahrschein-
lich auch bereits auf das Hören selber.
Wie sehr das beim Urteil der Fall ist, das können Sie daran
etwa entnehmen, in welchem Maß die Menschen, wenn sie
über Musik reden, kurrenter, mehr oder minder verhärteter
Phrasen und Clichés sich bedienen681 wie etwa, wenn sie auf
Neues stoßen, der: ›Ist das überhaupt noch Musik?‹, oder
wenn sie einen Sänger hören, wie sie sich dann über die Stim-

472
me ergehen und sich an der Musik selber desinteressieren,
oder wie sie von einem Pianisten die Technik rühmen, ohne
den Zusammenhang der sogenannten Technik mit der Sache
wahrzunehmen. In diesen Verhaltensweisen spielen Namen
von Autorität und Prominenzen eine so unverhältnismäßige
Rolle, daß wahrscheinlich durch diese Namen das Urteil
bereits determiniert wird. Die amerikanischen Sozialpsycho-
logen Cantril und Allport haben schon vor Jahren Experi-
mente angestellt, in denen sie Hörergruppen Schallplatten
vorspielten mit vertauschten Etiketten, also Platten kleiner
Provinzkapellmeister mit dem Namen Toscaninis verbanden
und solche von Toscanini mit denen von ganz unbekannten
Dirigenten, und es hat sich gezeigt, daß die Reaktionen dabei
nicht nach den Aufführungen sich gerichtet haben, sondern
einfach nach den Etiketten, mit denen sie versehen waren.682
Das mag Ihnen zeigen, wie sehr das sogenannte Hörerlebnis
selber ein abgeleitetes ist.
Man muß dabei und bei der Rolle des Vorgeformten und
Phrasenhaften berücksichtigen, daß ja die Musik, abgesehen
von dem tatsächlichen Musikerlebnis, also dem, was die Mu-
sik für die Menschen selbst bedeutet, noch eine ganz andere
Funktion hat, nämlich einfach die, daß sie zum Gegenstand
eines leeren Geredes wird, das über die Stummheit und
Gleichgültigkeit der Beziehung von Menschen vielfach hin-
wegträgt. Es scheint mir, daß auch die Kritik, vor allem inso-
fern sie sich auf Informationen über Musik beschränkt, anstatt
in die Sachverhalte einzudringen, dieser Funktion von Musik
als einem Objekt von Kulturgeschwätz [sich] einfügt. Kritik,
die wirklich ihre menschliche Bestimmung erfüllte, hätte
eben dem entgegenzuarbeiten, sie hätte nicht die Meinungen
des Publikums, wie man das so schön sagt, zu bilden, sondern
hätte darauf hinzuwirken, daß das Publikum selbständig ur-
teilen kann. Sie hätte beizutragen zu jener Erziehung zur
Mündigkeit, die ja wohl überhaupt eine der entscheidenden
Anforderungen in einer demokratischen Gesellschaft ist. Die
lediglich auf Informationen geeichte Kritik dagegen läßt still-

473
schweigend, auch ohne daß sie das nur sagte, durch die Art, in
der sie sie nennt und immer wieder zitiert, die Institutionen
und Prominenzen des Musiklebens als gleichsam gottgewollt
erscheinen, und eben dies Verhältnis wäre zu verändern,
wenn das Musikleben wirklich eine angemessene und wahr-
hafte Beziehung zwischen den Menschen und der Musik
werden sollte.
Nun, ich sagte Ihnen, daß die Vermitteltheit nicht nur auf
das Urteil, sondern vermutlich auf das Hören selber sich er-
streckt. Eine solche Behauptung klingt auf den ersten Anhieb
paradox, denn Hören gilt ja als ein sinnlich Unmittelbares
und nicht als etwas durch den Verstand Determiniertes, in das
also solche Vermittlungen eingingen. Aber so einfach ist es
mit dem musikalischen Hören auch nicht bestimmt. Hören
von Kunst enthält in sich selber notwendig immer auch gei-
stige Momente, ist kein bloß sinnliches Reagieren, und eben
dadurch geht es über diese vermeintliche bloße Unmittelbar-
keit hinaus. Ich erinnere hier an eine Tatsache, die ich einmal
auf die Formel brachte, mit Rücksicht auf die Schlager, die
leichte Musik, daß diese Art Musik ›für den Hörer hört‹,683
das heißt, daß sie bereits so komponiert ist, daß sie durch ihre
eigene schematische Beschaffenheit das Hören in ganz be-
stimmte Bahnen lenkt, es kanalisiert, bestimmte Erwartungen
hervorbringt in den Menschen und diese Erwartungen dann
befriedigt, ja, daß sie gelegentlich den Charakter eines psy-
chologischen Tests annimmt, den die Menschen erfüllen müs-
sen, aber unter Umständen auch nicht erfüllen, wie das etwa
bei bestimmten Praktiken des Jazz unverkennbar ist.
Aber man soll nun nicht glauben, daß diese Vermitteltheit
des Hörens sich bloß auf die leichte Musik beschränkt. Sie gilt
auch für die ernste Musik, und zwar, um nur schlagworthaft
das anzudeuten, vor allem durch das Phänomen der Tonalität.
Tonalität ist ja nichts an sich Gegebenes, sondern eine Ratio-
nalisierung der natürlichen Obertonverhältnisse, sie ist aber
zu einem Phänomen der zweiten Natur geworden. Während
nun die Tonalität in der ernsten Produktion, und zwar, wie

474
mir scheinen will, auf Nimmerwiedersehen, hinab mußte,
objektiv überholt wird, wird sie durch die Praktiken des Mu-
siklebens, in denen die wirklich zählende moderne Produk-
tion nur einen minimalen Raum einnimmt, derart durch
endlose Wiederholungen in die Menschen hineingerammt,
und alles, was anders ist, kaum an sie herangebracht, so daß
also die Tonalität für die Menschen zu der Sprache der Musik
schlechthin wird und daß ihr Musikerlebnis, also ihr Hören,
vorweg schon bestimmt ist dadurch, ob es den Spielregeln der
Tonalität genügt oder ob es dem nicht genügt. Das, was ob-
jektiv fällig ist aus rein musikalischen Gründen, also eine Mu-
sik, die von jenen kanalisierten Formeln sich ganz freige-
macht hat, dieses eigentlich objektiv allgemein Geforderte
erscheint als eine isolierte Spezialität. Ich möchte darauf
aufmerksam machen, daß überhaupt heute das Musikleben
in mehr oder minder voneinander durch Mauern geschie-
dene Spezialitäten – wie ›geistliche Musik‹, ›Barockmusik‹,
›Oper‹, ›moderne Musik‹ oder was es sonst sei – zerfällt, ohne
daß diese Sparten produktiv wie etwa noch zur Zeit des
Mozart der »Zauberflöte« ineinanderwirken würden. Dem
Dirigismus der Musik, der alles einfaßt und gewissermaßen
alles zu einer gigantischen Verwaltungseinheit bringt, dem
entspricht – übrigens auch analog zu gesellschaftlichen Ten-
denzen – Atomisierung nach Sparten im einzelnen, die streng
arbeitsteilig voneinander gegliedert werden und die sowenig
mehr miteinander zu tun haben sollen wie eben leichte und
ernste Musik.
Trotz der Schwierigkeiten, über das sogenannte Musiker-
lebnis etwas Verbindliches auszumachen, möchte ich doch
wenigstens ein paar Beobachtungen über das sogenannte
Musikerlebnis beitragen, die gewisse Folgerungen zulassen,
denen allerdings dabei ein gewisser spekulativer Charakter
innewohnt. Da wäre zunächst zu denken an das, was ich den
›Hörmasochismus‹ getauft habe.684 Das wichtigste Dokument
dafür sind die Hörerbriefe an Rundfunkgesellschaften, die
sich darüber beklagen, immerzu beklagen, daß den Hörern zu

475
viel, zuviel Ernstes zugemutet würde, wo also drinsteht: ›Das
ist zu hoch für mich‹, ›Wir wollen keine Opusmusik, sondern
lieber mehr Ziehharmonika‹ und dergleichen. Es ist eine
eigentümliche Neigung, sich selbst gering einzuschätzen, fast
möchte man sagen, eine Neigung zur Selbstverachtung. Wenn
ich mich nicht täusche, dann ist die Beliebtheit der leichten
Musik weithin ein Phänomen des Ressentiments, man könn-
te extrem sagen, etwas wie Genuß der eigenen, einem gesell-
schaftlich angetanen Erniedrigung. In dieser Musik werden
alle Distanzen herabgesetzt. Auf der einen Seite tritt die Mu-
sik nicht mehr als ein selbständig Forderndes dem Hörer ge-
genüber, auf der andern Seite klopft sie ihm aber auch auf die
Schulter. Es ist eine Sphäre unablässiger Intimitäten, etwas
wie eine Verletzung der Menschenwürde. Daran habe ich an-
geknüpft, als ich für das heute verbreitete Massenhören – und
das ist nun schon 30 Jahre her – den Begriff des ›regressiven
Hörens‹ einführte.685 Ich habe damit nicht gemeint, daß die
Menschen etwa im Hören Rückschritte gemacht hätten,
denn Millionen von Menschen sind ja überhaupt erst in unse-
rer Zeit durch die sogenannten Massenmedien mit Musik in
Berührung gekommen. Wohl aber wollte ich damit sagen,
daß typische Hörverhaltensweisen in unsrer Zeit einem re-
gressiven, nämlich einem in sich geschwächten, nur nach au-
ßen orientierten Menschentypus entsprechen, so wie er dann
später etwa in dem bekannt gewordenen Buch von Riesman
über »die einsame Masse« beschrieben worden ist.686
Eine weitere Beobachtung an dem sogenannten Musiker-
lebnis ist die seltsame und mit einem maßlosen Affekt belaste-
te Überwertung von Mitteln anstatt von Zwecken. Ich nannte
vorhin schon die Rolle, die in Gesprächen über Musik Stim-
men spielen. Nun, ich darf vielleicht eine kleine Erfahrung
erzählen, die ich vor ein paar Jahren in Wien machte, wo ich
die gewiß bescheidene Forderung aufstellte, daß Stimmen
auch in der Oper Mittel zur Darstellung der Werke sein soll-
ten und nicht Selbstzweck.687 Nun, ich weiß genau, daß es
mit der Stimme eine schwierige Bewandtnis ist, daß sie, eben

476
als Ausdruck lebendiger Menschen, nicht nur Mittel ist, son-
dern daß ihr auch ein gewisses Eigenrecht zukommt, das ich
gar nicht leugnen würde. Aber die Wut, die ich ausgelöst
habe,688 indem ich es wagte, an der Heiligkeit der Stimme als
Selbstzweck zu zweifeln, die beweist eben doch eben dieses
Phänomen, daß Mittel zu Zwecken werden, das mit allge-
mein gesellschaftlichen Tendenzen, etwa der affektiven Beset-
zung aller Formen von Technik, sehr tief zusammenzuhängen
scheint. Das wird dann dabei natürlich verschmolzen mit in-
stitutionellen Interessen, hier des dirigistischen Startheaters,
die sich mit dem Affekt ›Wenn ich in die Oper geh’, will ich
eine schöne Stimme hören‹ verbündeten.
Nun, diese Hinweise, die ich Ihnen gab, mögen bestätigen,
daß das sogenannte Musikerlebnis in weitem Maß als Ideolo-
gie fungiert. Musik überhaupt im gegenwärtigen Musikleben
ist eine Art Naturschutzpark der Irrationalität oder dessen,
was die Menschen für irrational halten, und steigt an mit der
Rationalisierung der Arbeit und der Rationalisierung in der
Einrichtung der Gesellschaft; und schließlich wird diese Irra-
tionalität der Musik selber dirigistisch, von oben her sorgfältig
gepflegt, etwa durch all die Phrasen von dem ›Zauberreich der
Musik‹ oder von dem ›Wunder Karajan‹,689 die die Publizistik
in Ahnungslose hineinrammt. Die Rolle von Musik ist also
weitgehend eine der Ablenkung von der Realität und ande-
rerseits die der Verklärung, daß sie auf diese Realität also eine
Art Licht wirft, oder vielleicht richtiger und weniger edel aus-
gedrückt, daß sie sie anheizt oder anwärmt, im krassen Ge-
gensatz zu der Rolle, die Ratio, Vernunft, in der Musik selber
spielt, eine Rolle, die keineswegs von einem solchen Böse-
wicht wie mir entdeckt worden ist, sondern die in der Musik-
soziologie von Max Weber geradezu im Zentrum steht.690
Nun, dadurch trägt Musik dazu bei, insgesamt ein falsches
Bewußtsein zu erzeugen, und gleichzeitig wird innermusika-
lisch durch diese verbissene Irrationalität, also den Haß auf je-
des bewußte Verhältnis zur Musik, auch deren adäquate Auf-
fassung, das richtige Hören verhindert. Musik verstehen heißt

477
nämlich soviel wie richtig hören, und das wäre waches, kon-
zentriertes und bewußtes Hören. Wer sich aber im Dösen bei
Musik festmacht und dieses Dösen womöglich noch mit
Gefühl verwechselt, der betrügt dadurch sich selbst und die
Musik.
Nun, diese Präformation des musikalischen Verhaltens ist
aber gesamtgesellschaftlich und keineswegs nur eine in der
beschränkten Sparte der Musik. Sie knüpft an an bestimmte
geschichtliche Veränderungen, die die Menschen heute
durchgemacht haben, von denen ich einige nannte, wie die
Ichschwäche, die Bereitschaft zum Mitmachen, zur Anpas-
sung um jeden Preis, das Fremdgesteuert-Sein ohne Konti-
nuität, dafür aber freilich auch mit gewissen früher unbekann-
ten Qualitäten wie dem fixen Reagieren und dem Sinn für
die sportliche Höchstleistung, wie sie etwa in den fortge-
schrittensten oder in den vollkommensten ›Spitzenleistun-
gen‹ – das Wort ist ja wohl zuständig – des Jazz sich beobach-
ten lassen.
Zwischen diesen Fähigkeiten nun und dem Vorrat der Mu-
sik, der den Menschen geboten wird, herrscht eine vollkom-
mene Diskrepanz, diese Verhaltensweisen und das, was die
Menschen zu hören bekommen, das weist völlig auseinander,
und wenn ich zu Anfang sagte, daß an dem ganzen Musikle-
ben etwas tief in Unordnung sei, dann ist wohl diese Diskre-
panz der entscheidende Grund dafür. Die Anpassung an alles
schlechterdings Gebotene führt überdies zu einer völligen
Wertblindheit oder befestigt Wertblindheit, wofern sie vorher
schon gegeben war. Insbesondere wird Unterhaltungsmusik
todernst genommen. Der Unterschied von Unterhaltungs-
musik und ernster Musik dringt überhaupt schon gar nicht
mehr ins Bewußtsein. Und das ist gewissermaßen die Quit-
tung dafür, wie sehr auch die sogenannte ernste Musik in ih-
rer Einebnung in das Musikleben zu einer bloßen Ideologie
geworden ist.
Man sagt immer, die Massenmedien setzten die Aktivität,
die musikalische Aktivität, herab. Nun, dem ließe sich zu-

478
nächst einmal a priori entgegensetzen, daß ja die musikali-
schen Interessen Unzähliger durch jene Medien überhaupt
erst erweckt worden sind. Vernünftig schiene mir die Hypo-
these, daß die so vielbeklagte musikalische Konsumentenhal-
tung heute, die zu bestreiten ich der letzte wäre, gar nicht so
sehr von den Massenmedien als solchen determiniert wird,
wie daß sie in einen gesamtgesellschaftlichen Zug fällt, dem
dann freilich auch die Kulturindustrie sich einfügt.
Übrigens möchte ich im Zusammenhang der so weitver-
breiteten Klagen über den Verfall musikalischer Aktivität doch
einmal etwas sagen gegen einen weitverbreiteten falschen und
schlecht romantischen Begriff von Aktivität im Sinn eines
›do it yourself‹, so als ob es auf das Tun in einem drastisch
äußerlichen Sinn ankäme, während unterdessen das, was man
da angeblich selbst machen wird, anderswo, nämlich von den
hochspezialisierten Fachmusikern besser besorgt wird. Jener
Kultus der Aktivität um ihrer selbst willen ist regressiv in dem
Sinn, daß er hinter dem Stand der musikalischen Produk-
tivkräfte weit zurückblieb. Richtig, konzentriert hören, ließe
sich wohl sagen, ist aktiver, als wenn man schlecht etwas fie-
delt.
Nun, meine Damen und Herren, nach diesen Erwägungen
darf ich wohl einiges noch spezifisch zum Musikleben sagen.
Ich würde das Musikleben grob gliedern in das offizielle Mu-
sikleben, also Oper, Konzertinstitutionen, auch offizielle Kir-
chenmusik, dann in wirklich oder scheinbar diesem Musik-
leben opponierende Institutionen, dann in die sogenannten
Massenmedien und schließlich in das, was man den ›Unter-
grund‹ des Musiklebens nennen könnte, ein Bereich, von
dem man meistens nur als von ›Volksmusik‹ hört, während
dieser Begriff, dieser offizielle Begriff von Volksmusik an die-
sen Untergrund der Musik kaum heranreicht, der überhaupt
erst zu erforschen wäre. Nun, das internationale Musikleben,
das ist wesentlich der Bereich der sogenannten musikalischen
Festivals, der großen gesellschaftlichen Veranstaltungen, wo
das, was man früher ›internationale Gesellschaft‹ nannte und

479
was heute wesentlich darin besteht, daß es sich selbst mit einer
nicht mehr existenten internationalen Gesellschaft verwech-
selt, wo das also zusammenkommt.
Nun, die Kritik dieser Phänomene liegt so zutage, daß ich
mich damit nicht aufhalten möchte. Es ist die Kritik des
Kommerzialismus, die Kritik der Oberflächlichkeit, des fal-
schen Glanzes. Aber ich möchte dem doch das hinzufügen,
daß diese Kritik ihrerseits vielfach Züge von Ressentiment
hat, wie alles Schimpfen auf Snobismus ja etwas von den ›zu
sauren Trauben‹691 hat und von der Wut darüber, daß man sel-
ber ausgeschlossen ist von dem, woran man gern teilhaben
möchte, obwohl es vielleicht wirklich gar nicht so arg sinnvoll
ist, daran teilzuhaben.
Jedenfalls muß man zugestehen, daß auch das offizielle
Musikleben gegenüber allem Abweichenden Momente der
Überlegenheit hat. Es stehen diesem Musikleben tatsächlich
die besten Solisten zur Verfügung, deren Zahl im übrigen,
wenn die unsystematische Beobachtung nicht trügt, merk-
würdig zu schrumpfen scheint. Es stehen die besten Orche-
ster, auch die besten Dirigenten zur Verfügung. Man kann in
der Festivalkultur des internationalen Musiklebens beobach-
ten, daß die Waren tatsächlich zunächst einmal nach ihren
Äquivalenten getauscht werden, wenn es hier schon um Wa-
ren geht. Es wird also den Leuten für die hohen Eintrittsprei-
se, die sie da in Salzburg692 oder sonstwo zu zahlen haben,
wirklich etwas geboten, das heißt, sie erfahren die Dinge in
der nach den gegenwärtigen mechanisch-technischen Stan-
dards höchsten Perfektion. Aber es geht dabei die kulinari-
sche, die bloß sinnliche Qualität der Musik immer auf Kosten
der geistigen. Der mechanische Perfektionismus geht auf Ko-
sten der adäquaten Darstellung der Struktur, und außerdem
haben die Produktionen dieser Art von offiziellem Festival-
musikleben immer etwas Zusammengewürfeltes und nicht
auf seiner Höhe des Perfektionismus zu Haltendes, die Betei-
ligten laufen dann wieder auseinander, es gibt ein paar hoch-
polierte Glanzaufführungen und dann ist nichts übrig.

480
Bezeichnend ist auch hier eine fast vollkommene Fremd-
heit zu der im Ernst modernen Produktion. Zwar werden ge-
legentlich Konzessionsschulzen geboten, aber schon mit dem
Gestus, daß eigentlich jeder darauf gefaßt ist, daß man davon
nicht allzuviel halten, es nicht gar zu ernst nehmen solle. Und
vielfach werden moderne Autoren bei diesen internationalen
Anlässen nur aus nationalistischen Gründen, als Repräsentan-
ten des zeitgenössischen Komponierens ihrer Länder geboten,
ohne Rücksicht auf ihre Qualität und sogar sehr oft in unmit-
telbarem Widerspruch zu der tatsächlichen Qualität.
Hier wäre auch wenigstens en passant zu erwähnen das
Problem des Stagione-Theaters gegenüber dem Repertoire-
Theater.693 Die Einwände, die gegen das Stagione-Theater zu
erwähnen sind, liegen auf der Hand, daß nämlich das Sta-
gione-Theater eben ein wirklich gründliches Durchbilden
der Aufführungen und vor allem auch die Schaffung einer
Tradition, eines festen Ensembles, also all der Dinge, wie sie
mit dem Namen Gustav Mahler verbunden sind,694 nicht zu-
läßt. Aber der gesellschaftliche Druck, der Druck der institu-
tionellen Organisation ist offensichtlich so groß, daß tatsäch-
lich das Repertoire-Theater, die Repertoire-Oper gegen die
Stagione- und Festival-Oper kaum mehr sich behaupten
kann. Das Starsystem dringt auch dort ein, wo die stärkste
Tradition eines festen Operntheaters noch existiert, und die
Operntheater müssen sich ihm anpassen. Das hat wahrschein-
lich auf die Dauer sehr verhängnisvolle Folgen für die Sub-
stanz des Musiklebens überhaupt, falls eine solche noch da ist.
Das lokale Musikleben dagegen scheint durch diesen Per-
fektionismus und die Möglichkeiten der Massenmedien im
Niedergang. Es ist unmöglich, Publikum für ernste und ex-
ponierte Dinge in dem lokalen Bereich tatsächlich zu mobili-
sieren. Die Opern können kaum ihre Spielpläne aus eigenem
noch bestreiten, trotzdem bestimmte Schichten, über die wir
soziologisch auch einiges wissen, ein spezifisches Bedürfnis
nach Opern haben. Liederabende und Kammermusik gehen
zurück. Das hat fatale Konsequenzen, weil dadurch der Sinn

481
für musikalische Binnenstrukturen verkümmert, ein Sinn für
das bloß Quantitative, für den großen Apparat scheint zu tri-
umphieren. An alldem ist allerdings auch das lokale Musik-
leben schuld, das eine soziale Basis fingiert, nämlich eine tra-
ditionsbewußte kulturtragende Schicht, die in dieser Weise
gar nicht mehr vorhanden ist, und das ein Ideal der Gediegen-
heit betreibt, dem die wirkliche Angemessenheit der Auf-
führungen selten noch genügt. Gerade das, was man einmal
mit Grund ›gediegenes Musizieren‹ nennen mochte, also
die wirklich durchgearbeitete und sorgfältige Interpretation,
scheint seit dem Schönbergschen Verein für musikalische Pri-
vataufführungen695 in einer höheren Gestalt allein noch bei
denen aufgehoben, die dem Ideal des Gediegenen scheinbar
am fernsten stehen, nämlich bei der Avantgarde.
Nun, zu den abweichenden Sphären gehört zunächst die,
welche ich die ›Abendmusiksphäre‹ nennen möchte, mit ih-
ren sektiererhaften Zügen, die aus der Jugendmusikbewegung
entstanden ist. Ich habe dieses Phänomen ja gerade im Süd-
deutschen Rundfunk seinerzeit in den Vorträgen »Kritik des
Musikanten«696 eingehend charakterisiert, und ich glaube, ich
brauche darauf heute nicht mehr näher einzugehen. Ich
möchte nur darauf hinweisen, daß an der Ausrottung genui-
ner Kammermusik, der großen Kammermusik von Haydn bis
Webern, und ihrem Ersatz durch die zu Unrecht so genannte
und sehr fragwürdige ›Barockmusik‹ diese Sphäre ihre emp-
findliche Schuld trägt. Es ist die Sphäre des Ranküne-Hörens
par excellence, und sie wird favorisiert von jener Schicht, die
wie Jürgen Habermas es nannte, sich selbst als absinkende
Elite vorkommt,697 und in diesem Bereich leben ideologisch
autoritäre Tendenzen unterhalb der Demokratie auch im Mu-
sikleben fort.
Demgegenüber gibt es nun als die im Ernst abweichenden
Formen avantgardistische Institutionen wie Darmstadt oder
Donaueschingen.698 Sie sind die einzige Möglichkeit bei der
fast hermetischen Abgeschlossenheit des offiziellen Musik-
lebens, mit der fortgeschrittenen Praxis, [Adorno korrigiert sich:]

482
mit der fortgeschrittenen Produktion, meine ich, überhaupt
noch in Kontakt zu kommen. Der Aufführungsstandard ist
durchwegs sehr hoch, vor allem deshalb, weil es sich um Krei-
se handelt, in denen zwischen Komponisten und Interpretie-
renden der engste Kontakt herrscht und wo die Komponisten
selber auch interpretieren. Natürlich gibt es die Gefahr, daß
diese avantgardistischen Institutionen neutralisiert werden da-
durch, daß sie in tolerierte Sondersparten sich verwandeln. Es
gibt die Gefahr des Inzestuösen eines Musiklebens von Fach-
leuten für Fachleute. Aber diese Gefahr, die ich nicht leugne,
die einen aber auch nicht in Panik versetzen soll, die ist, durch
die Situation vorgezeichnet, die einzige Möglichkeit, durch
welche die von den Produktionsverhältnissen gefesselten mu-
sikalischen Produktivkräfte heute überhaupt sich regen
können. Und demgegenüber hat die Klage über angebliche
›Geschmacksdiktatur‹ etwas Verlogenes, vor allem wenn man
bedenkt, wie gering der Prozentsatz wirklich avancierter
Musik im Musikleben und sogar in den relativ unabhängigen
Massenmedien ist.
Man hört immer wieder den Topos: ›Hat sich nicht so et-
was wie Darmstadt oder Donaueschingen heute überlebt?‹,
analog etwa zu den Standardfragen, ob die »Gruppe 47« noch
ein Lebensrecht hat. Nun, ich meine, diese Sorgen sind meist
nicht die solcher, die darüber hinaus sind, sondern solcher, die
dahinter zurückblieben. Mich erinnert das an die Geschichte
von dem kleinen Mädchen, das vor einem Schäferhund sich
fürchtete, ihn lange betrachtete und dann fragte: ›Wie alt
kann eigentlich ein solcher Hund werden?‹ Die Situation ist
abermals paradox: In der verwalteten Gesellschaft ist dieser
auch im Musikalischen wie in allem Geistigen nur mit organi-
satorischen, dirigistischen Mitteln zu widerstehen.
Meine Damen und Herren, ich bin am Ende mit meinen
etwas rhapsodischen Anmerkungen. Ich muß es mir versagen,
heute Ihnen noch etwa die Vorschläge über Massenmedien zu
machen oder vorzutragen,699 wie ich sie am Ende des »Ge-
treuen Korrepetitors« ziemlich eingehend entfaltet habe.700

483
Ich meine nur, daß eine Veränderung des Musiklebens vor
allem auf dessen Entideologisierung hinarbeiten müßte, also
auf eine adäquate Beziehung zur Sache, daß sie strukturelles
Hören fördern müßte.701 Es scheint mir das vernichtendste
Urteil über das gegenwärtige Musikleben zu sein, daß die
überwältigende Zahl aller Aufführungen, auf die man heute
stößt, in einer einsichtigen und demonstrierbaren Weise
falsch sind. Demgegenüber aber würde ich, und gerade als
Soziologe, schwer betonen, daß nur das immanent künstle-
risch Wahre und Fortgeschrittene auch gesellschaftlich rich-
tig, wahr und fortgeschritten zu sein vermag. – Ich danke
Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

484
Einführung zur Aufführung des Pierrot lunaire
31. 5. 1968

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

mir ist die Ungeduld gegenwärtig, die einen im allgemeinen


ergreift, wenn man einem besonderen musikalischen Ereignis
entgegensieht und aufgehalten wird durch den berüchtigten
Mann, früher im Frack, heute wenigstens im schwarzen An-
zug, der einem vorher mehr oder weniger einschlägige Dinge
vortragen will oder soll. Ich verspreche Ihnen, mich so kurz
zu fassen, wie es geht. Aber vielleicht kann ich Ihnen doch ein
paar Worte sagen über dieses Werk,702 dessen Ruhm doch
wohl in keinem Verhältnis steht zu dem Grad der Vertraut-
heit, auch der Musiker, mit der Sache selbst. Der »Pierrot« ist
ja wohl das bekannteste und erfolgreichste Stück der freien
Atonalität. Es ist schon vor dem Ersten Weltkrieg berühmt
geworden durch die Tourneen unter der Leitung von Schön-
berg mit Albertine Zehme,703 an denen damals Eduard Steu-
ermann704 als Pianist hervorragend beteiligt gewesen ist. Und
man kann wohl sagen, daß dieses Werk wie wenige andere
der radikalen neuen Musik zum Durchbruch verholfen hat.
Man könnte also demnach sehr leicht denken, daß ein Kom-
mentar wirklich unnötig sei. Aber grade in dieser Qualität der
scheinbaren Bekanntheit, der scheinbaren Vertrautheit dieses
Werkes scheint mir nun doch wieder so etwas wie die Not-
wendigkeit von gewissen Erklärungen sich abzuzeichnen.
Und das hängt wohl auch zusammen mit dem stilistischen
Ort dieses Werkes. Denn es ist ein Werk, das sich auf Jugend-
stildichtungen de pur sang bezieht und an dem selber auch
gewisse jugendstilhafte Züge, ähnlich wie bereits an den Ge-
orgeliedern705 von Schönberg, unverkennbar sind. Während
das Werk an Kunst der Komposition, an Raffinement der Ver-
fahrungsweise alles hinter sich läßt, was Schönberg vorher ge-
schrieben hat, ist es doch in einem gewissen Sinn gegenüber
den radikal expressionistischen Stücken, also vor allem gegen-

485
über der »Erwartung«, der »Glücklichen Hand« oder den bei-
den ersten Zyklen von Klavierstücken,706 eher ein Schritt zu-
rück im Sinne eben des Jugendstils. Es hat gewisse – wenn
man so sagen darf, ohne daß man mißverstanden wird –, ge-
wisse ornamentale oder dekorative Elemente. Es ist nicht in
dem Sinn mehr rigoros asketisch gegen alles Schmückende
und sinnlich Lockende, wie es die vorhergehenden Werke
gewesen sind. Und die Frage ist nun, wie es mit diesem leisen
Zurückgehen sich verhält, einem Zurückgehen übrigens, das
in gewisser Weise in der Zwölftontechnik dann sich fort-
gesetzt hat, wie denn überhaupt die Zusammenhänge zwi-
schen diesen noch frei atonalen 21 Stücken707 und der späte-
ren Zwölftonphase von Schönberg viel enger sind, als man im
allgemeinen annimmt. Ich werde darauf noch zurückkom-
men.
Dieselbe Wendung etwa zu dem Gebrauch von mehr oder
minder überlieferten Formen, wie sie von dem radikal ex-
pressionistischen Schönberg ausgeschlossen waren, die Sie im
»Pierrot« finden, die ist dann auch fortgesetzt in den früheren
Werken der Zwölftontechnik. Aber man kann wirklich an
dem »Pierrot lunaire« so ein Stück Dialektik des Fortschritts
studieren. Während es in einer Hinsicht hinter die fortge-
schrittensten, nämlich die asymmetrischsten Positionen des
Expressionismus sich zurückbegibt, also nicht in demselben
Sinn, den Ausdruck von Alois Hába zu gebrauchen, ›Musik-
stil der Freiheit‹708 ist, wie es die »Erwartung« gewesen ist,
geht es in einem bestimmten Sinn auch über den Expressio-
nismus hinaus als das erste Stück von Schönberg, in dem
wirklich die konstruktivistischen Kräfte der neuen Musik frei
werden. Und gerade diese konstruktivistischen Momente, die
postexpressionistischen, und die Jugendstilmomente sind auf
die merkwürdigste Weise ineinander verschränkt.
Nun, wenn ich von Jugendstil rede, dann werden Sie
selbstverständlich sofort an die Gedichte denken. Es ist sehr
billig und deshalb allgemein beliebt, auf diesen Gedichten
herumzuhacken und ihnen nachzuweisen, daß sie eine Art

486
Secondhand-décadence sind, daß sie so um – nun, sagen wir –
etwa 50 Jahre verspätet das tun, was einmal in dem Baudelai-
reschen Paris in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts
üblich war. Und sie bezeugen das vor allem auch durch eine
gewisse Roheit gelegentlich des Humors und eine gewisse
Grobschlächtigkeit, die mit dem Anspruch des Ästhetizismus,
der hier waltet, nicht recht vereinbar ist. Ich glaube aber trotz-
dem, daß man damit dem Phänomen gar nicht gerecht wird.
Ich lege darauf besonderen Wert, weil man der an sich ausge-
zeichneten jüngsten Aufnahme des »Pierrot lunaire« unter
Pierre Boulez709 eine unsägliche Einleitung eines Herrn bei-
gegeben hat,710 bei dem der Eifer zu zeigen, daß diese Ge-
dichte eben von Herrn Albert Giraud711 und nicht von Bau-
delaire sind, sich verquickt mit einer Art von, sagen wir,
Gesundheit, die an sehr trübe und finstere Quellen gemahnt,
und das allein sollte zur Vorsicht diesen Gedichten gegenüber
veranlassen. Es ist im übrigen gar nicht so selten, daß Gedich-
te, die von einer Bewegung getragen werden, ohne daß sie
selber in dieser Bewegung die entscheidenden und avancier-
ten Positionen einnehmen, für Musik sich als besonders er-
giebig erweisen – so etwa wie die beiden großen Zyklen von
Wilhelm Müller, die Schubert komponiert hat.712 Solche Ge-
bilde haben genug Qualität, auch genug Hintergrund, um zur
Musik zu inspirieren, sind aber andererseits doch nicht so
autonom, daß sie die Möglichkeit des Komponierens eben
dadurch ausschlössen. Wenn man die Müller-Kompositionen
von Schubert vergleicht mit solchen der größten Goethe-Ge-
dichte wie »Über allen Gipfeln ist Ruh«,713 dann wird man
sehr leicht verstehen können, was ich dabei meine.
Tatsächlich haben diese Dichtungen ihre Funktion gegen-
über dem Komponisten recht genau erfüllt, indem sie ihn
nämlich angeregt haben, eine Art von ›paradis artificiel‹ musi-
kalisch zu errichten, eine in sich hermetisch verschlossene,
reine Phantasielandschaft oder vielleicht – es kommt hier
wirklich sehr auf die Nuance an – etwas wie einen imaginären
Raum, der sich wie unter Glas befindet und dabei auch bis in

487
den Klang hinein etwas eigentümlich Gläsernes annimmt, so
wie wenn die Luft des natürlichen Lebens davon ausgeschlos-
sen wäre.
Dabei ist ein Schmerzliches dieses gesamten Ausdrucks
nicht zu verkennen. Man wird eben doch den »Pierrot« in die
große Tradition – ich meine jetzt die Musik – des europäi-
schen Weltschmerzes einbegreifen dürfen, und auch die der
Ironie. Und ich glaube, Sie werden des Tons dieses Werkes
dann am treuesten sich versichern, meine Damen und Her-
ren, wenn Sie darin gleichzeitig das Glück eines solchen von
jeder Rücksicht auf die Realität entbundenen imaginären
Raums fühlen und ebenso den Schmerz, der sich eben in der
Fremdheit zu der auswendigen Realität dabei kundgibt.
Nun, diese künstliche Phantasielandschaft hat sich in den
Vorwürfen von Schönberg längst vorher manifestiert, wie in
den Georgeliedern, die ja einen Zyklus aus dem »Buch der
hängenden Gärten«, also auch einem künstlichen Paradies,
auskomponieren – übrigens ein Zyklus, mit dem der »Pier-
rot« der Form nach sehr viel gemein hat –, und auch in den
Maeterlinckschen »Herzgewächsen«,714 die ja auch also diese
eigentümliche Treibhausatmosphäre besitzen. Der »Pierrot
lunaire« ist, wie Sie vielleicht wissen, eine Auftragskompositi-
on,715 und damit mögen die leise nach rückwärts gewandten
Züge des Werkes – Sie müssen das sehr zart verstehen mit die-
sem ›nach rückwärts gewandt‹ – zusammenhängen. Aber
trotzdem ist es eben so, daß dieser Auftrag, der Schönberg von
außen zugekommen ist, selber in eine Tradition, in einen Zu-
sammenhang fällt, den seine eigene Musik längst vorher rea-
lisiert hat.
Nun, das Neue in dem »Pierrot« ist wirklich, daß aus dieser
Art von in sich hermetisch abgeschlossener imaginärer Land-
schaft ein ganzer Kosmos geworden ist. Durch seine Ab-
geschlossenheit nun aber, dadurch, daß er jede Reminiszenz
auch an die traditionelle Musik scheinbar von sich fernhält,
drängt er erstmals ganz und gar zu der autonomen Konstruk-
tion, die hier nun wirklich unmittelbar die Funktion dessen

488
ist, daß gleichsam diese Musik die Fäden zu der kommunika-
tiven Tradition so sehr abgeschnitten hat. Es ist ein Stück, in
dem erstmals also das konstruktive Prinzip mit dem expressi-
ven sich zusammengefunden hat – jene beiden Momente, de-
ren Bewegung ja den Rhythmus des Schönbergschen Œuvres
insgesamt abgeben.
Ich möchte Sie hier hinweisen auf ein besonders schwieri-
ges Stück aus dem »Pierrot lunaire«, aus dem dritten Teil,
nämlich den »Mondfleck« – und darf Ihnen vielleicht als eine
Art Höranweisung gleich dazu sagen, daß es nicht möglich
und wahrscheinlich nicht einmal intendiert ist, daß man die-
ses Stück ganz und gar durchhört, daß man also die entwik-
kelte Polyphonie ganz und gar versteht. Sondern das, worauf
es ankommt, ist hier nur wirklich das Gefühl eines in sich
Kreisenden, Rückläufigen, Geschlossenen, Gefangenen, wie
es auch in dem Text ausgedrückt ist, während man nicht hof-
fen soll, die ganz exzeptionell schwierigen rein kompositori-
schen Veranstaltungen, die dabei im Spiel sind, bis ins einzel-
ne mitzuverfolgen. Darin ist das schon ganz ähnlich wie in der
Zwölftontechnik, in der man ja auch nicht etwa das Schicksal
der einzelnen Reihen hörend mitvollziehen kann.
Dieses Stück – das möchte ich Ihnen doch der Kuriosität
halber vorher sagen – ist eine der kunstvollsten Kombinatio-
nen, die es seit den Niederländern, und diese, selbst Ockeg-
hem,716 weit überbietend, wohl überhaupt gegeben hat. Es
handelt sich um folgendes: Das Stück wird bestritten von zwei
Kanons, die simultan verlaufen und die sich völlig getreu in
der Mitte krebsgängig entwickeln und wieder in den Anfang,
und zwar ton- und noten- und pausengetreu, zurückbege-
ben. Von diesen Kanons ist einer, der von der Klarinette ange-
führt wird, melodieführend, während ein anderer allerdings
schon von vornherein mehr ein Begleitsystem bildet. Nun
aber läuft gleichzeitig mit diesem krebsgängigen Doppel-
kanon eine dreistimmige Fuge, die nun aber ihrerseits nicht
krebsgängig ist, sondern, wenn ich so sagen darf, wie eine
ganz normale Fuge durchläuft, so daß Sie also hier übereinan-

489
dergelegt haben eine rückläufige und eine fortschreitende
Form – das sind Ideen, die dann später in der Geschichte der
neuen Musik von unabsehbarer Tragweite gewesen sind. So
hat vor allem Berg immer wieder große Formen geschrieben,
die ganz in sich rückläufig sind wie etwa das »Allegro miste-
rioso« in der »Lyrischen Suite«,717 und hat auch dann immer
wieder Stücke geschrieben, in denen rückläufige und fort-
schreitende Formen dann übereinandergelagert worden sind
wie vor allem in dem Finale des »Kammerkonzerts«.718 Einer
der Ursprünge der Technik der Krebse, die dann später in der
Zwölftontechnik so entscheidend geworden ist, liegt genau
hier in der rückläufigen, und zwar streng krebsgängigen Be-
handlungsart einer ganzen Form.
Aber damit ist es noch nicht getan. Und es gibt Ihnen viel-
leicht wenigstens einen Blick in die ungeheure Ökonomie
der Schönbergischen Werkstatt, wenn ich Sie auf folgendes
hinweise: Der Anfang, das Anfangsglied des Kanons, des
Hauptkanons, mit dem der »Mondfleck« anfängt, und das Fu-
genthema, das begleitend fast gleichzeitig hinzutritt, sind
zwar völlig anders rhythmisiert, stimmen aber trotzdem, ohne
zusammenzufallen in der Komposition, tongetreu miteinan-
der überein, so daß also der engste Zusammenhang besteht
zwischen den beiden Hauptereignissen, nämlich dem melo-
dieführenden Kanon und der dreistimmigen Fuge; so daß also
auch hier dafür gesorgt ist, daß diese heterogenen Momente,
die durch die äußerste Kunst der Kombination hier zusam-
mengebracht werden, doch nicht ganz heterogen sind, son-
dern durch diese thematische Identität miteinander verbun-
den bleiben. Herr Billing hat die große Liebenswürdigkeit,
Ihnen diese thematische Verwandtschaft am Klavier zu de-
monstrieren, also auf der einen Seite das Kanonmodell der
Klarinette und auf der andern die Melodie der Fuge, wobei
ich Sie zu beachten bitte, die Identität der Töne und gleich-
zeitig die völlige Differenz der Rhythmen. Es wird also mit
diesen Tönen im Grunde schon hier ganz genauso verfahren
wie später mit den Reihen in der Zwölftontechnik. [Zu Klaus

490
Billing:] Wenn Sie die Liebenswürdigkeit hätten [. . .] Klari-
nette [Musikbeispiel: Pierrot lunaire Nr. 18 »Der Mondfleck«,
Klarinette, Takt 1 bis 3]. Und die Fuge: [Musikbeispiel: ebd.,
Klavier, Takt 1 bis 4]. Also Sie sehen hier die Art, in der das
Reihenprinzip im Grunde schon verwandt ist, wobei Sie na-
türlich, da das alles sehr rasch vorüberrauscht, diese Identität
nicht etwa wahrnehmen können, aber sie fühlen in der au-
ßerordentlich strikten Bindung des Zusammenhangs.
Es spielen überhaupt – und das habe ich zunächst mit
dem ›Schritt nach rückwärts‹ gemeint – große vorgegebene
Formen im »Pierrot«, in Übereinstimmung mit seiner gebro-
chenen, halb ironischen Gesamthaltung, erstmals wieder eine
große Rolle, wie sie bei dem radikal expressionistischen
Schönberg ausgeschlossen waren, also etwa die Passacaglia,
mit der der zweite Teil beginnt, der äußerst kunstreiche Spie-
gelkanon des Stückes »Parodie« aus dem letzten Teil, aber
auch einfachere traditionelle Typen sind benutzt wie Walzer.
Es gibt sogar zwei Walzer, die scheinbar höchst irrational im
ersten Teil ganz rasch aufeinander folgen. Es sind »Columbi-
ne« und »Valse de Chopin«, die dann aber trotzdem so gear-
beitet sind, daß sie, obwohl es zwei Walzer sind, doch nie auf
eine Monotonie verfielen. Dann ist die Form der Serenade
benutzt, der Barcarole und schließlich auch die eines ganz
einfachen Liedes in einem umschriebenen Quasi-E-Dur, mit
dem der ganze Zyklus schließt.
Auch darin, in diesem Gebrauch, in diesem Rückgriff, von
Formtypen liegt eine gewisse Verwandtschaft zu den ersten
Zwölftonwerken. Nur daß eben durch dieses spielerisch iro-
nische Moment das hier noch nicht jenen neoklassizistischen
Einschlag hat, den etwa die Klaviersuite719 von Schönberg
und manche anderen Werke aus der ersten Zwölftonzeit be-
sessen haben. Diese Formen werden also nicht einfach wie-
derverwandt oder beschworen, sondern sie werden, wenn ich
es so ausdrücken darf, in dem Innenraum dieser Musik ge-
spiegelt, so wie wenn die Welt in zerbrochenen Glasstücken
widerschiene, wenn ich mich eines Gleichnisses bedienen

491
darf, das ich vor mehr als 40 Jahren für das Stück einmal ge-
braucht habe.720 Das wichtigste Mittel für diesen ganz eigen-
tümlich gebrochenen Charakter ist die Art der Melodiebil-
dung. Man könnte von ›geschrumpften Melodien‹ sprechen,
die auf eine merkwürdige Weise halb thematisch, aber doch
etwas unverbindlich sind, selbst dann, wo sie ausgesponnen
werden. Am deutlichsten wird Ihnen dieser spezifisch melo-
dische Charakter, der dem ganzen »Pierrot« zugrunde liegt
und der die genaueste Analyse, typische Analyse, verdiente,
auf den ich Sie jetzt aber nur hinweisen kann, in dem Stück
»Heimfahrt« aus dem dritten Teil. [Zu Klaus Billing:] Wenn Sie
vielleicht hier auch gerade diese charakteristische Melodie
die Liebenswürdigkeit hätten anzugeben. [Musikbeispiel: Nr. 20
»Heimfahrt«, Klarinette, Geige, Violoncello, Takt 1 bis Takt 2]
Das ist die Begleitung natürlich. [Musikbeispiel: ebd., Takt 3 bis
Takt 6] Das Lied, von dem ich Ihnen sprach, am Ende, dieses
Lied wird einer Art von Störungsaktionen unterworfen. Es ist
ein gestörtes, man könnte fast sagen, zerrüttetes Lied, das an
bestimmten Stellen quasi steckenbleibt und erst ganz am
Schluß dann in Bewegung kommt und sich wirklich aus-
schwingt.
Nun, solche Erwägungen führen zu der Frage nach der Be-
deutung des Melodramatischen, also nach der Bedeutung der
Sprechstimme, die in diesem Werk vorkommt und die, was
doch festgehalten zu werden verdient, durchaus als musika-
lisches Element benutzt ist. Sie ist nicht nur in genauen
Rhythmen, sondern sogar in andeutungsweisen Tonhöhen
notiert,721 die allerdings sich lediglich auf die Proportionen
zwischen den gegebenen Höhen und nicht auf die absoluten
Tonhöhen beziehen, wie Schönberg jedenfalls in der späteren
Phase seiner Probenarbeit am »Pierrot«, bei der ich häufig zu-
gegen gewesen bin, es bestätigt hat.
Nun, Schnebel hat jüngst über den Parameter Sprache in der
neuen Musik wirklich Entscheidendes gesagt,722 worauf ich
Sie nur aufmerksam machen möchte, ohne es zu wiederholen.
Hinzufügen möchte ich nur das, daß im »Pierrot« die Sprache

492
als eine Art Verfremdungsmoment in die Musik hineingenom-
men wird. Sie stellt auf der einen Seite die abgebrochene Be-
ziehung zu – ja, man kann wohl nicht anders sagen –, zu der
Welt draußen eben doch her. Auf der andern Seite aber wird
gerade dadurch, daß die Musik in diesem ungeheuer dichten
musikalischen Zusammenhang erscheint, die Sprache selber
auch zu etwas Uneigentlichem, der naturalistischen Sprache
weit Entrückten. Man muß hier denken an die Vorschrift, die
der ermordete Paul Kornfeld in der Vorrede zu dem expressio-
nistischen Drama »Die Verführung« gegeben hat, wo er von
den Schauspielern verlangt, sie sollten hier so sprechen, wie sie
niemals sonst in ihrem ganzen Leben sprechen würden.723
Es ist also, als ob durch die Sprechstimme die durch den
hermetischen Charakter ausgeschlossene Realität Einlaß fän-
de und gerade dadurch den Charakter der Entfremdung, der
Abgeschlossenheit besonders nachdrücklich hervorhöbe, daß
der Kontrast dazu eben auch erscheint, und gerade [mit] die-
sem merkwürdigen Moment der Brüchigkeit, also dem, daß
das Werk nicht im traditionellen Sinn so etwas wie geschlos-
sene Einheit fingiert, gerade damit hat sein Wahrheitsgehalt
sehr viel zu tun.
Ähnlich bestellt ist es um die Harmonik, die zwar durchaus
atonal ist, aber polytonale Elemente enthält. Das heißt also,
die Akkorde und Akkordverbindungen werden oft bestritten
von Akkorden, die an sich aus verschiedenen Tonarten stam-
men, aber simultan gespielt werden, nicht nur die berühmten
Terzen am Schluß, sondern auch sonst sehr häufig, ohne daß
aber dabei nun mechanisch zwei Tonarten, entlegene Tonar-
ten, gleichzeitig erschienen, sondern diese Harmonien sind
dabei doch immer ganz genau ausgehört. [Zu Klaus Billing:]
Wenn Sie vielleicht hier die Liebenswürdigkeit hätten, etwa
diese eine etwas konzertante Stelle aus der »Valse de Chopin«
zu spielen, die diesen Charakter sehr deutlich wiedergibt.
[Musikbeispiel: Nr. 5 »Valse de Chopin«, Klavier, Takt 14 bis 22]
Oder vielleicht auch noch, um von dieser besondern »Pier-
rot«-Harmonik Ihnen einen Geschmack zu geben, daß Sie

493
das Spezifische daran wirklich wahrnehmen, den Anfang von
»Heimweh«, dem ersten Lied des dritten Teils. [Musikbeispiel:
Nr. 15 »Heimweh«, Klavier, Anfang bis Takt 6]
Der Klang, der Instrumentalklang des »Pierrot«, der übri-
gens vielleicht das größte Zeugnis der Schönbergschen
Meisterschaft in diesem Werk ist, hat etwas zugleich gläsern
Entwirklichtes, wie etwa schon die allerersten Takte es zei-
gen, mit denen Sie sofort mittendrin sind. [Zu Klaus Billing:]
Vielleicht, wenn Sie grade nur den Klang der ersten Takte an-
geben würden, mit der Geige, mit dem Pizzicato. [Musikbei-
spiel: Nr. 1 »Mondestrunken«, Geige und Klavier, Anfang bis Takt
4] Es ist ein Klang eigentlich der permanenten Attacke. Jenes
Gläserne ist dann in dem Klang des modernen Kammeror-
chesters, wo also das Xylomarimba seine Triumphe feiert,
und vor allem also in dem Klang von Boulez zu einem wahren
Triumph gelangt.724 Es erinnert überhaupt daran, dadurch,
daß es zugleich, ich möchte sagen, ein bestimmtes fast sadisti-
sches Moment des Attackierenden mit einer ganz eigentümli-
chen Suavität, Süße, verbindet, wie sie etwa den Klang der
»Lulu« von Berg schon antizipiert. Dieser ganze Klang hat ein
Element, das man mit dem französischen Impressionismus
zusammenbringen kann, aber es ist, wenn Sie mir das Schlag-
wort aus der Malerei durchgehen lassen, so etwas wie abstrak-
ter Impressionismus, also ein Impressionismus, der nicht
Stimmungen oder ähnliches wiedergibt, sondern der gleich-
sam absolut wird.
Dieser Klang nun hat aber abermals zugleich konstruktive
Funktion. Die wechselnden Charaktere der Lieder werden
durch die in allen verschiedene Kombination der Instrumente
herausgearbeitet. Jedes einzelne Stück hat allein schon durch
seine Palette, also durch die Anordnung der darin verwandten
Instrumente seinen eigenen Grundklang, ist dann aber, auch
durch Einbeziehung unendlich vieler Spielweisen wie ›Flat-
terzunge‹, ›col legno‹, ›flautando‹, ›am Griffbrett‹ und was es
sonst noch alles gibt, wieder unendlich modifiziert. Die Skala
der Setzweise reicht von der Einstimmigkeit, also der Mono-

494
die des »Kranken Mondes«, bis zu dem Gebrauch aller Instru-
mente wie im »Mondfleck« und an einzelnen Stellen, doch
wird mit dem Tutti des Kammerensembles, der fünf Instru-
mente, überaus sparsam umgegangen.
Ich möchte Sie noch aufmerksam machen dabei auf die
Relation des verwendeten Apparats zur Struktur. Sind Stücke
mehr oder minder einfach komponiert wie die »Serenade«
des dritten Teils oder wie »O alter Duft«, so ist auch der in-
strumentale Apparat relativ einfach, während bei sehr kom-
plexen Stücken wie dem »Mondfleck« eben auch der Apparat
sehr viel reicher ist. Ähnlich wechseln auch ganz bunt mitein-
ander ab höchst kontrapunktische Stücke mit ganz durchaus
homophon harmonischen, und die Charaktere wechseln also
nicht nur durch den Ton, durch den Charakter, sondern auch
rein durch die Kompositionsweise.
Lassen Sie mich zum Schluß nur noch ein Wort sagen über
die Form. Ich kann hier zunächst nur das wiederholen, was
ich mehrfach über die Schönbergschen Georgelieder gesagt
habe – und ich hoffe, gerade Frau Henius nicht damit zu lang-
weilen, die sich das vor einigen Tagen in Kiel hat anhören
müssen725 –, nämlich daß die Form des Zyklus gleichsam die
Form ist, wenn es keine objektiven Formen mehr gibt, also
eine Form, die zugleich ganz offen, ohne vorgegebene Struk-
turen ist, aber doch dadurch, daß sie einen gewissen Weg be-
zeichnet, etwas wie eine Art von Artikulation des Ganzen
herstellt, denn es bedarf ja keines Wortes, daß bei einem
Künstler wie Schönberg die bloße Nebeneinanderstellung
der Charaktere und ihr bunter Wechsel nicht ausreicht, son-
dern daß es eben doch so etwas geben muß wie Einheit in der
Mannigfaltigkeit. Diese Einheit ist in der dramatischen, in ei-
ner quasi dramatischen Idee gelegen. Übrigens hat Frau Zeh-
me bei den ersten Aufführungen den Pierrot, ich würde nicht
denken sehr glücklicherweise, im Kostüm gesprochen.726 Der
erste Teil ist einstimmend im Sinn einer dramatischen Exposi-
tion. Der zweite ist durchaus tragisch im Sinne der Künstler-
tragik des Baudelaireschen »Albatros«,727 die hier überhaupt

495
erst ihr musikalisches volles Äquivalent gefunden hat. Von der
Passacaglia »Nacht«, einer Art, ja, man muß sagen, wie hinge-
tuschten und dadurch wieder halb ironischen Weltunter-
gangsphantasie, bis zu dem ungeheuer pathetischen und ern-
sten Stück »Die Kreuze«. Nach dem Zentrum dieses zweiten
Teils, der Enthauptung – Pierrot lunaire wird unzählige Male
in diesen Stücken hingerichtet, um immer wieder aufzuerste-
hen, die psychoanalytischen Hinrichtungsphantasien spielen
hier eine große Rolle –, nach der Enthauptung als dem ei-
gentlichen Schwerpunkt des Ganzen gibt es ein längeres – das
heißt, es ist gar nicht lang, es wirkt nur länger – Instrumen-
talzwischenspiel, das eine Art Choralbearbeitung der Flöten-
melodie des »Kranken Mondes« ist und das als Durchführung
des ganzen Stückes wirkt. Diese fünfzehn Takte im übrigen
sind wirklich etwas wie die Urzelle zu allen möglichen Din-
gen von Berg. Wer sich damit einmal beschäftigt, der wird ge-
rade hier finden, wie eng die Zusammenhänge zwischen den
beiden Komponisten sind.
Der dritte Teil dann ist eine Art imaginärer Lösung. Man
könnte sprechen von der Heimkehr aus einem Niemandsland
in ein Niemandsland. Hier ist dann Raum für die großen
Spielformen ebenso wie für die allereinfachsten und solche,
wie die aus wechselnden Hauptstimmen gefügte »Heim-
fahrt«, die in ihrer Technik des wechselnden obligaten Rezi-
tativs an das letzte der »Orchesterstücke« op. 16728 unmittelbar
anknüpft.
Dabei ist nun aber auch hier wieder das große Formgefühl
Schönbergs in der Art sichtbar, daß von einem bestimmten
Punkt an – ganz ähnlich übrigens wie in dem »Marteau« von
Boulez, dessen unmittelbares Vorbild ja der »Pierrot« auch
nach der Ansicht von Boulez selber ist729 –, daß, sage ich, von
einem bestimmten Punkt an, etwa nach der »Serenade«, sich
dann die letzten Stücke zusammenschließen zu einer großen
aus sich heraus entrollenden Form, von der dann nur der Epi-
log »O alter Duft« wie durch einen Doppelpunkt gewisser-
maßen abgetrennt ist.

496
Ja, meine Damen und Herren, ich glaube, ich habe es da-
nach nicht nötig, Ihnen noch Kommentare zu den einzelnen
Stücken zu geben, zumal ich zur Charakteristik der einzelnen
doch versucht habe, alles mögliche Ihnen beizufügen. Ich
möchte Ihre Geduld nicht länger in Anspruch nehmen, und
ich glaube, es ist an diesem Augenblick das richtige, wenn die
unmittelbare Interpretation durch meine Freundin Carla
Henius und durch das Ensemble – das sich dieser Aufgabe mit
so ungeheurer Energie und Liebe unterzogen hat730 –, wenn
wir nun unmittelbar zu der Interpretation übergehen, wobei
wir im übrigen die Absicht haben, daß das ganze Werk nach
einer kurzen Pause wiederholt werden wird. – Ich danke
Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

497
Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
Stichworte zu den Vorträgen
T. W. Adorno Motive zu »Städtebau und Gesellschaft«.731
Dez. 49
Daß ein Nichtarchitekt und nicht Kunsthistoriker redet.
Entfremdung. Spezialistentum und administrativer oder technologischer Blick.
Städtebau erscheint entweder als ästhetisches oder historisches oder kommunalpolitisches Problem.732
Keine Literatur über die gesellschaftlichen Wurzeln.
Ich möchte versuchen, Ihnen das Problem des Zusammenhangs zwischen Gesellschaftsstruktur – dem rea-
len Lebensprozeß der Gesellschaft – und dem Städtebau zu bezeichnen, weil ich glaube, daß das Bewußt-
sein dieses Problems zur verantwortlichen Lösung der Sie unmittelbar betreffenden Fragen des Wiederauf-
baus beitragen kann. Es erhellt, daß es sich dabei nicht bloß um ästhetische Fragen handelt.
Notsituation. Aber nicht indifferent gegen Schönheit. Anti-Protz

501
Stadtschönheit überhaupt keine rein ästhe künstlerische, sondern ein mittleres zwischen diesem und dem
Natürlichen.733 Unablösbar vom Ausdruck des Geschichtlichen, der Spur des Lebens, damit einem Gesell-
schaftlichen.
Die rein ästhetische Problemstellung des Städtebaus gehört erst einer Spätphase an, dem Jugendstil.734 Sie
setzt geradezu das Erlöschen eines verbindlichen Stils voraus, und weist damit auf einen gesellschaftlichen
Zustand: den da dem späten Bürgertum die Verwüstung des Lebens durch sein eigenes Prinzip, das des Un-
ternehmertums, zum Bewußtsein kommt, und daß es versucht, darüber hinwegzugehen. Das aber, und be-
sonders auch die Frage nach der Möglichkeit einer solchen »frei schwebenden« Schönheit, wie sie seit Loos
und Corbusier kritisiert ward, ist aber ein gesellschaftliches Problem. Kann eine Gesellschaftsform ästhe-
tisch sich von den eigenen ökonomischen Voraussetzungen unabhängig machen?
Ebenso das die kommunalpolitische Betrachtung. Sie ist wesentlich administrativ: sie verwaltet Menschen,
plant für sie, schafft Abhilfe, nimmt sie mit all dem wesentlich als Objekte. Das weist aber zurück auf eine
gesellschaftliche Tendenz, die ich – ohne Kritik, rein sie als solche bezeichnend – Bureaukratisierung nen-
nen möchte, und dies Verhältnis, das gerade der planende Techniker so leicht als ein Naturverhältnis sich
vorstellt, ist ein gesellschaftliches, unabtrennbar vom Übergang zu einer monopolistischen Planwirtschaft,
also, wie sehr auch unvermeidlich, doch keineswegs selbstverständlich.
Plan: I. an einigen historischen Fragen den Zus.[ammenhang] von Städtebau und Gesellschaft exponieren
II. einige wesentliche Gesellschaftsprobleme des Städtebaus heute, mit besonderer Rücksicht auf die deut-
sche Situation, bezeichnen
III. thesenhaft formulieren, was etwa ein Sozialphilosoph zur Lösung dieser Probleme beitragen kann.

502
I. a) Die berühmte Frage (Unwin) nach dem Grund der Schönheit mittelalterlicher Städte
Geplant oder handwerkliche Tradition
Ist diese Schönheit selber nicht zum Teil eine Spiegelung der Sehnsucht nach warmen und konkret über-
schaubaren Lebensverhältnissen?
Gibt es auch häßliche alte Städte – das Beschränkende, Enge, des Verhältnisses zur Natur entäußerte – das
Spielzeugmoment, wenn einmal funktionslos geworden.
(Vergleich mit schlechter alter Musik).
Aber die Schönheit unterstellt: liegt die Lösung nicht jenseits der Frage von Plan und Tradition bei der ge-
sellschaftlichen Struktur jener Gebilde.
Marktwirtschaft und Handwerk, keine Trennung von Produktionsmitteln und Produzenten, einfache Re-
produktion.
Durchsichtigkeit des Verhältnisses solange jene Statik waltet. Kein Antagonismus zwischen der Totalität
und dem Einzelnen. Diese Unmittelbarkeit und Harmonie bringt ein zugleich reich gegliedertes und ein-
heitliches zustande mit den Fluchtpunkten von Rathaus Kirche Toren Spital usw. Hausbau ohne Profitin-
teresse, durch Gebrauch, nicht Tausch definiert, daher wirklich an sich, nicht für anderes seiend usw.735
I. b) Mietshaus geht aufs 18. wenn nicht 17. Jahrhundert zurück. Vom »Hotel« aus.
Völliger Mangel einer Sozialgeschichte des Mietshauses.
Unterschied der alten Pariser Mietshäuser von denen des 19. Jahrhunderts, zumal der Gründerjahre.
Erklärt mit »Stil«, aber der ist das Problem, nicht die Lösung.
Unterschied eines merkantilistisch-regulierten und noch nicht zur Massenproduktion entwickelten, und

503
eines losgelassenen Unternehmertums.
Spekulation = Verbilligung der Gestehungskosten + maximalem Profit
Schein als Kategorie des späten sich als herrschend setzenden Bürgertums dessen eigenem Prinzip die
Ostentation widerspricht. Daher Kitsch, 19. Jahrhundert polarisiert nach Kaserne und falschem Palast.
Dies ein Gesellschaftliches.736

Die Häßlichkeit der Mietskaserne nicht daß es schmucklos, sondern daß es rein als Tauschobjekt, nicht
vom Wohnenden aus konzipiert ist. Zwang. »Kaserne«.
These: es entscheidet also nicht eine abstrakt-ökonomische Kategorie wie Mietshaus, sondern ihre Stel-
lung in der konkreten gesellschaftlichen Dynamik.
c) Die herrschende Hausform in angelsächsischen Ländern das Einfamilienhaus.
Klinkenhäuser mit Stufen in London, Brownstone Houses in New York.
Das Flat in London eine Art Neuerung, das Apt. [Apartment] House in New York gehört zur jüngsten
Phase und entspricht auch gar nicht unserem Mietshaus, weil mehr dem Hotel angenähert, viel weniger
auf lange Dauer des Aufenthalts und [x] Privatheit angelegt.
Überhaupt in U. S. A. Wohnen viel weniger ein Bleiben, viel größere Mobilität.
Die Gleichheit der Einfamilienhäuser und das Bestürzende das davon ausgeht: ein als Einziges Auftretendes
dupliziert zu sehen.
»Pseudoindividualisierung«.
Noch das slum Parodie der Villa.
Gesellsch.[aftliche] Interpretation. Schein der Individuation im Bürgertum wo jeder für sich agiert aber re-

504
duziert ist auf ein so abstraktes daß alle einander gleichen.737
Individuation als Schein.
These: die Probleme des Städtebaus spiegeln die Widersprüche der Gesellschaft, welche den betreffenden
Typus Stadt hervorbringt.

II. a) gegen Historismus. Schon seit Jugendstil + Sachlichkeit. Heut extrem


Nicht bloß weil den modernen Lebensbedingungen unangemessen, sondern weil er eine nichtexistente
Form der Gesellschaft ohnmächtig beschwört, und damit notwendig verfälscht.
Tradition ist nicht die Nachahmung des Gewesenen, sondern sehr oft der Widerspruch zu diesem, in dem
die Kraft des Gewesenen fortwirkt.
Historismus hieße aber: die zerstörten Städte so wieder aufbauen wie sie waren.
Sehr große Versuchung dazu durch die Unassimilierbarkeit der Katastrophe.
Aber die zerstörten Stadtkerne widersprechen ihrem Wesen nach der modernen Gesellschaft. Das Ver-
kehrsproblem ist nur das sinnfälligste Zeichen jener Überholtheit.738

Wie in vielen anderen Stücken ist die Katastrophe nichts der gesellschaftlichen Entwicklung Fremdes, son-
dern deren Exekutor.
b) soll Architektur nun einfach mit der Tendenz mitgehen?
Nein, sondern muß Kritik an dieser mitdenken.
Moderne Architektur so antinomisch wie die Geselllschaft.
Vom Schein befreit, aber entfremdet.

505
739
Nicht entscheiden ob anders möglich, aber Problem stellen, nicht naiv mitlaufen.
Monopolstil einer manipulierten Massenkultur, Werkblock + Siedlung = Baracke = Lagerstil.740 Falsche
Aufhebung Stadt + Land.
Auch dies durch die Notlage befördert.
Während man von dieser ausgeht, darf sie nicht als Absolutes genommen werden.
Der Unsinn, den die Trümmer uns vordemonstrieren, ist der einer Welt die die eigene Zerstörung in sich
trägt.
Der Plan der Stadt müßte an dem beim heutigen Stand des produktiv Möglichen sich orientieren, nicht das
sich Fügen zum Lebensgesetz erheben.
Planen wo freie Menschen wohnen könnten, nicht Privatiers oder Angestellte oder Arbeiter.
c) Konkretes Beispiel für Bewußtsein gesellschaftlicher Fragen.
Sollen zuerst Wohnungen oder Geschäfte aufgebaut werden.
»Produktion muß wieder in Gang kommen« klingt plausibel, gilt aber prinzipiell nur für eine Gesellschaft
in der die Menschen bloße Anhängsel an den Produktionsapparat sind wie heute überall, auch in der S. U.
Verdacht der Ideologie im Dienst von »vested interests«.
Gedanke an unmittelbare Bedürfnisbefriedigung.
Wenn die Menschen menschenwürdig wohnen, wird das andere sich schon finden.
d) Also: Menschen als Subjekte, nicht als Administrations-Objekte
Überall versuchen ihre realen Interessen und nicht nur das von oben, organisatorisch Gesehene zu verwirk-
lichen.
Ungeheure Schwierigkeit unter gegenwärtigen Bedingungen.

506
Wäre möglich nur durch ein Planen in ständigem Kontakt, etwa mit Vertretern der Bevölkerung und zwar
der Sektoren auf denen der schwerste Druck lastet.
Problem: Widerspruch zwischen Bewußtstein und Lage der Menschen.
Reaktionäre Massenanschauungen in Deutschlands.
Storchennest und Luftschutzkeller.
Gesellschaftlich auch dies produziert: Leiden unter der Entfremdung.
Der Fachmann muß gegen die Menschen deren eigene objektive Interessen vertreten.
Geplante und spontane Städte als Gesellschaftsproblem.
Rationalität = Entfremdung
Irrationalität = Druck
perennierender Antagonismus der Gesellschaft.
dies vielleicht an den Anfang des I. Teils.

507
23. Februar 1951741
T.W. Adorno
Schema zu dem Marburger Vortrag
»Die Aktualität der Soziologie«
______
Erster Satz: Um die Aktualität der Soziologie zu begründen, genügt der Hinweis auf ihre Unterdrückung unter dem national-
sozialistischen Regime.
A. Hinweis auf die Aktualität der Soziologie durch deren Unterdrückung unter den Nazis.

Sinn: Ablenkung vom eigentlichen Lebensprozess der Gesellschaft, entweder auf das Phantasma des Natür-

508
lichen (Rasse), oder auf die Sphäre der machtpolitischen Organisation (Partei, Aussenpolitik usw.)
Angst davor, dass die eigentlichen realen Kräfte anstelle eines blossen begrifflichen Überbaues sichtbar wer-
den. Angst vor Selbstbesinnung der Gesellschaft.
Aktualität der Soziologie besteht genau darin, diese Wahrheit zu erkennen.
Diese Kräfte sind durch die Kompliziertheit des gesellschaftlichen Apparats heute dem vorwissenschaftlichen Bewußtsein weit-
hin verdeckt.
Dies ist zugleich ein philosophisches Ziel.
Denn die heutige Philosophie in Deutschland reflektiert noch insofern den NS Geist, als im Namen der
»Konkretheit« auf Strukturen entweder des Menschen oder des Seins verwiesen wird, die der Verflechtung
in den gesellschaftlichen Zusammenhang enthoben sind.
Aufgabe der Soziologie ist es, die Wahrheit selbst in dieser Verflechtung zu begreifen.
Das Hegel’sche Erbe, die Wahrheit und den Lebensprozess der Menschheit zusammen zu denken, wird be-
wahrt in der konkreten Analyse der Gesellschaft.
Die Annahme einer gegenüber dem gesellschaftlichen Prozess invarianten und indifferenten Wahrheit ist
ein Rückfall hinter die Tradition der deutschen Philosophie in ihrer fortgeschrittenen Gestalt.
Relativismus als Schreckgespenst: Soziologie ist nicht Wissenssoziologie.
Der seinerzeit von Heidegger geprägte Satz, die Soziologie verhalte sich zur Philosophie wie ein Fassaden-
kletterer, hat keine Wahrheit mehr, nachdem das Haus eingestürzt ist.
Rußland. Gesellschaftstheorie fetischisiert. Demgegenüber die Verpflichtung, den realen Lebensprozeß der Gesellschaft zu er-
kennen und die Ideologie dieser Realität zu konfrontieren. Die Ostzone darf nicht den Begriff der Gesellschaft monopolisie-
ren. Zitatenzwang. Stalin als Wissenschaftler.

509
B. Von Aktualität der Soziologie ist aber keineswegs bloss im geistesgeschichtlichen sondern in einem viel
nachdrücklicheren Sinn zu reden.
Der totale Zusammenbruch Anfang, und der innere Zusammenhang der Nachkriegsfragen lässt keine Lösungen zu,
in denen bestehende gesellschaftliche Verhältnisse ignoriert oder als selbstverständlich vorausgesetzt wer-
den, sondern die elementarsten Fragen bedürfen es bedarf zu ihrer Lösung soziologischer Forschung und
Besinnung, sowohl was besondere Verhältnisse wie was die gesellschaftliche Gesamtstruktur anlangt, wenn
sie nicht ins Leere greifen wollen.
Kollektivprobleme unmittelbarer Art schließen planlose Lösungen aus. Soz.[iologie] ist das wissenschaftliche Organ gesell-
sch.[aftlicher] Planung
Zwei Beispiele:
1. Die Flüchtlingsfrage, die sich nur lösen lässt, wenn wir sowohl objektiv wie subjektiv von den Flüchtlin-
gen alles wissen, was zu wissen notwendig ist.
Beispiel eines echt soziologischen Problems: Ihr Desinteressement an objektiven Fragen, die Vorherrschaft
des blossen Einzelinteresses, und wie kann verhindert werden, dass diese Gruppe auf Grund ihrer besonde-
ren Beschaffenheit aufs Neue einer totalitären Ideologie zum Opfer fällt.742
2. Die Frage des Wiederaufbaues.
Beispiel eines echt soziologischen Problems: Der Widerspruch zwischen dem objektiv Günstigsten und
dem subjektiven Geschmack der Wohnungssuchenden.
C. Schliesslich Hinweis auf das Problem der Politik.
Die Diskussion über politische Wissenschaften.

510
Die Entscheidung der Frage, ob Politik eine Sondersphäre darstellt, ist eine soziologische Frage, und. Die
politischen Probleme stellen nur den institutionellen Abguss des gesellschaftlichen Kräftespieles dar, wäh-
rend es selber, vor aller institutionellen Verdinglichung, nur von der gesellschaftlichen Wissenschaft ergrif-
fen werden kann.
Zugleich aber ist Politik in der Tat, als »Beruf«, in gewissem Sinn vergegenständlicht.
Dies ist zugleich Beispiel für die philosophische Aktualität der Soziologie: den dinghaft erstarrten begriffli-
chen Abguss des Lebens, wie er im Spätkapitalismus immer mehr über die verwaltete Welt sich ausbreitet,
durch eine Selbstkritik des Bewusstseins zu überwinden.
Also Aber nicht diesem dinghaften Begriff Abguß, wie es der Irrationalismus tut, eine Lebens-Metaphysik
entgegenstellen, sondern sie ihn durch die immanente kritische Analyse im Begreifen der Totalität des ge-
sellschaftlichen Lebensprozesses aufheben.
D C. Es war von der Aktualität der Soziologie die Rede.
Aber welche Soziologie ist aktuell?
Damit wird ein Konflikt berührt, der das Wesen der deutschen soziologischen Situation umschliesst.
1. Das Ungenügen an der traditionellen deutschen Soziologie.
Zwei Gründe, die sich miteinander eng berühren:
die blosse Spekulation und die Ideologie.
a. Faktenfremdheit des deutschen Denkens im menschlich-gesellschaftlichen Bereich.
Das Medium der freien begrifflichen Konstruktion, das aus dem klassischen Idealismus kommt und das in
der späteren Phase der deutschen Soziologie etwa zu Gebilden wie dem Buch von Tönnies geführt hat, hat
als seine Kehrseite Respektlosigkeit vor dem Tatsächlichen mit sich geführt und dadurch mit die Stimmung
vorbereiten helfen, die schliesslich dazu führte, dass willkürlich erfundene Theorien ungeprüft übernom-

511
men werden konnten.
So unsinnig es ist, dem humansten deutschen Idealismus die Schuld am Nationalsozialismus aufzubrum-
men, so wahr ist es doch, dass die Verachtung für die Empirie, in der wir alle gross geworden sind, mit dazu
geholfen hat, Voraussetzungen für paranoide Systeme, gleich dem Nationalsozialismus, zu entwickeln.
Dagegen stellt die Soziologie, wie sie in den westlichen Ländern entwickelt worden ist, unschätzbare Ge-
genkräfte bei. und es ist kaum eine Übertreibung, zu sagen, dass die Unanfälligkeit der angelsächsischen
Länder gegen die totalitäre Infektion sich zu nicht geringem Teil dem Geiste der Soziologie verdankt, der
insbesondere in Amerika das gesamte Leben beherrscht.
(Hinweis auf die Schlüsselstellung der Soziologie im amerikanischen Berufsleben und damit auch in der öf-
fentlichen Schätzung)
Beispiele: Fungibilität des AS [Antisemitismus]
Kontradiktorischer Charakter der AS. [antisemitischen] Ideologie
b. Die ideologische Funktion der grossen deutschen Soziologie.
Hinweis auf die Grundintention der Max Weber’schen Religionssoziologie.
(Troeltsch-Zitat) Begriffliche Distinktionen wie Überbau–Unterbau. Nivellierung auf klassifikatorische Begriffe, anstelle
der Analyse des realen Kräftespiels.
Zum Beispiel Zweckrationalität. Die Soziologie des Parteiwesens von Robert Michels und ihre denunziatori-
sche Funktion.
Wirkung auf Spengler.
Jüngste Gestalt: Die Wissenssoziologie als Relativismus.
Das Gemeinsame aller dieser Bestrebungen:

512
»Formen der Vergesellschaftung«, unabhängig von dem tragenden Lebensprozess der Gesellschaft, zu be-
ziehen analysieren.
die Soziologie abzuspalten von der Kritik der Gesellschaft,
(»Wertfreiheit«)
und vor allem die eigentlichen philosophischen Impulse der Soziologie, die auf die Vereinigung von Wahr-
heit und gesellschaftliche Wirklichkeit abzielen, auszutreiben.
Demgegenüber lässt sich paradox sagen, dass die viel pragmatischer orientierte und ihrem Bewusstsein nach
von der Philosophie ganz getrennte empirische amerikanische Soziologie dem eigentlich philosophischen
Impuls treuer ist als die ambitiöse geisteswissenschaftliche deutsche.
An dieser Stelle liegt die Notwendigkeit einer Selbstkritik der deutschen Soziologie und einer echten Be-
fruchtung durch die besten empirischen Methoden.
Notwendigkeit, die deutsche Soziologie von der Befassung mit bloss geistigen Phänomenen, der Analyse
blosser Reflexionsformen zu emanzipieren und auf die realen gesellschaftlichen Fragen selber zu beziehen.
c. Damit ist aber nur die eine Seite der gegenwärtigen Problematik der Soziologie bezeichnet.
Eine nicht minder grosse zeichnet sich heute bereits ab:
die eines begriffslosen Empirismus, bei dem die Fakten aus Angst vor Metaphysik so angehäuft werden,
dass sie überhaupt keinen Sinn mehr haben.
Während in Deutschland noch mit den Resten der idealistischen Ideologie zu kämpfen ist, ist die Liquida-
tion des Idealismus selber längst zu einer neuen Ideologie, der blinden Verherrlichung dessen was ist, ge-
worden, und diese übt gerade auf die jüngere Generation eine ungeheure Faszination aus. Es handelt sich um

513
eine Art des Positivismus, der unmittelbar die Naturwissenschaften für die Gesellschaftswissenschaften als Modell ansieht und
die gesamte Rickert-Diltheysche Problematik – nicht bewältigt, sondern vergißt.
Es spielt hier sowohl das Bedürfnis nach Sekurität, nach Einsichten, die absolut hieb- und stichfest sind,
hinein – und diese Sekurität wird meist mit der Sinnlosigkeit bezahlt – wie auch die Faszination durch
technische stream-lined Verfahren und deren Reflex in der Quantifizierung um jeden Preis.
Besonders ist an zwei Gefahren zu denken:
(1) Begriffslose Erhebungen (Darmstädter Studie – ohne den Namen zu nennen) in denen, weil keine Pro-
blemstellung zugrundeliegt, auch nichts herauskommen kann.
Es ist eine Grundregel aller empirischen Soziologie, dass man nichts Wesentliches an Resultaten heraus-
bekommt, was man nicht zunächst an Gedanken hineingesteckt hat, wodurch die Möglichkeit nicht ausge-
schlossen werden soll, dass einem, wenn man sich überhaupt etwas gedacht hat, am Material selber Neues
aufleuchtet.
(2) Die Verengung der Soziologie auf verwaltungstechnische, sozial-fürsorgerische und ähnliche Fragen,
also gleichsam die Verabsolutierung des pragmatistischen Elementes auf Kosten des Zusammenhanges mit
der Wahrheit.
Hier ist besonders auf das Problem der Cow-Soziologie743 einzugehen.
Oft hat man das Gefühl, als würden heute in Deutschland die hochentwickelten und hochdifferenzierten
Techniken der amerikanischen empirischen Soziologie, indem man von Vorstellungen ausgeht, die vor 30
Jahren dort gegolten haben werden, geradezu karikiert
(Das gilt besonders für das Gebiet der Meinungsforschung, wo man noch vielfach Haltung, tiefwurzelnde
Überzeugungen und sedimentierte Weltanschauungen mit den gleichen Fragebogen- und Interviewme-

514
thoden glaubt behandeln zu können, wie sie etwa für die Ermittlung von Präferenzen für ein Auto oder
eine Zigarettenmarke gelten mögen.)
Die unmittelbar praktische Wendung innerhalb sozialer Einzelsektoren tendiert dazu, das Unwesentliche anstelle des Wesent-
lichen zu setzen und die Menschen nicht als Subjekte, sondern als Verwaltungsobjekte zu denken. Unterscheidung beschränk-
ter Einzelursachen (z. B. Verhältnisse in einem besondren Betrieb) anstelle struktureller Gesetzmäßigkeiten. s. u.
Volle Erfaßbarkeit, Exaktheit auf Kosten der Relevanz
Demgegenüber daran erinnern, dass gerade einer der amerikanischen Soziologen, deren vorbildliche Wir-
kung auf die allerorten in Europa emporgesprossenen Community Studies entscheidend war, Robert
Lynd, in seinem Buch »Knowledge for what« die Forderung nach sinnvoller soziologischer Problemstel-
lung anstelle blinder Faktenanhäufung aufs nachdrücklichste gestellt hat.
Hinweis auch auf die Arbeiten von Lazarsfeld und unsere eigenen Studies in Prejudice und unsere neue
Technik.
Zugleich aber das Zugeständnis, dass die oft erhobene Forderung nach einer Synthese von theoretischer
und empirischer Soziologie sich als chimärisch herausstellt.
Wer ernsthaft sowohl als philosophischer Theoretiker der Gesellschaft wie als empirischer Soziologe gear-
beitet hat, der weiss, dass der Abstand zwischen den in beiden Bereichen zu findenden Erkenntnisse so gross
ist, dass die Hoffnung, jede Theorie wäre eines Tages empirisch einzulösen, ein Abschieben ad kalendas
Graecas bedeutet.
Mißtrauen gegen ferne Zukunft.
Es ist intellektuell redlicher, diesen Bruch offen auszusprechen und zu versuchen, sich über seine tieferlie-
genden Gründe Rechenschaft zu geben, als durch die Rede von der Synthese die Sache zu verkleistern.744

515
Der Grund liegt in der Gesellschaft selbst, nämlich darin, dass in unserer Gesellschaft, weil sie eine antago-
nistische ist, die Phänomene nicht ohne weiteres Ausdruck des Wesens sind, sondern gleichzeitig dieses
Wesen vielfach auch verbergen.
Das Wesen selbst ist nicht unmittelbar dingfest zu machen, sondern erschliesst sich erst dem konsequenten
Denken, das, während es sich mit den Fakten sättigt, zugleich über diese hinausgeht.
Es gibt keine Wahrheit ohne Interpretation, und der Gedanke von dem »Hineininterpretieren« läuft auf die
Sabotage der Wahrheit hinaus.
Von den Problemen, welche die Grenze der empirischen Soziologie bezeichnen, sollen wenigstens zwei
angedeutet illustriert sein:
(1) Das Problem der gesellschaftlichen Totalität, das als solches nicht unmittelbar empirisch in Griff zu be-
kommen ist.
Beispiel Darmstadt, Einwirkung von Institutionen auf Menschen.
Nicht unmittelbar messbar, sondern vermittelt durch Gesamtgesellschaft.
Totalität ist eine theoretische Kategorie, und der Zwang zum Ausschnitt, an den alle empirische Soziologie
gebunden ist, bedeutet notwendig, dass die Totalität, welche die Formen der Gesellschaft vermittelt, nicht
getroffen werden kann.
Beispiel etwa Untersuchungen über Rassenzusammenstösse in einer bestimmten Gemeinde, die man an
Ort und Stelle studiert und auf Gründe wie Wohnverhältnisse, jugendliche Gangs usw. zurückführt, und
glaubt, dass man etwa durch die Beseitigung besonderer soziologischer Mißstände in dieser Gemeinde das
Rassenvorurteil überwinden kann.
In Wirklichkeit aber ist es durch die Kultur als ganze, das geistige Klima, den objektiven Geist vermittelt,
und die in der Gemeinde gelegenen besonderen Gründe mögen zwar mitspielen, sind aber doch nur Mani-

516
festationen einer Totalstruktur.
(2) Das Problem der Verdinglichung
Da durch die Methoden der empirischen Soziologie selbst notwendig ein Dingfestmachen bedingt ist, fi-
xieren sie, können sie das gesellschaftliche Grundphänomen der Verdinglichung nicht in den Griff bekom-
men.
Das Beispiel aus der Musiksoziologie über den Versuch, atomistisches Hören zu messen (genau nachsehen)

Eine wirklich fruchtbare Entwicklung der empirischen Soziologie in Deutschland setzt Besinnungen über
deren Grenzen voraus wie die hier angedeuteten.
D. Einige Forderungen an die zu entwickelnde deutsche Soziologie.
1. Die Forderung nach Integration.
Diese immer wieder auf dem Papier erhobene, aber nie ernsthaft in Angriff genommen.
Da in den Bereich der Soziologie in einem weitesten die Grundprobleme der Gesellschaft umfassenden Sinne zahl-
reiche Aspekte fallen, die in anderen Wissenschaften behandelt werden, so muss für die Sozialwissenschaft
Soziologie die akademische Arbeitsteilung überwunden werden.
Die Arbeitsteilung selbst kann nicht von der Soziologie vorausgesetzt werden, sondern ist ihrerseits ein
Thema der Soziologie, die sowohl die Notwendigkeit und das Recht wie die Begrenzung dieser Arbeits-
teilung zu begreifen hat.
Eine auf blosse Erhebungen über Bevölkerungen beschränkte Soziologie müsste zu einer blossen Technik
entarten.

517
Es bedarf der Durchführung der ihrer Aufgaben gemeinsam mit Philosophie, Geschichte, Psychologie, Eth-
nologie und auch den heute in Amerika unter dem Namen »Cultural Anthropology« entwickelten Wis-
senschaften, ebenso auch mit zahlreichen geisteswissenschaftlichen Disziplinen.
Nicht genug an Symposien, Allgemeinvorlesungen usw. – Verbindung zu Aufgaben, die durch die Einheit des Gegenstands
bestimmt sind.
2. Einiges über das Verhältnis von Psychologie und Soziologie.
Soziologie kann nicht, wie es der Gewohnheit sogenannter sauberer, logischer Definitionen entspräche,
durch Ausschluss der individuellen Psychologie definiert werden.
Etwas gegen Definitionen.
Dann bleiben für die Motivation von sozialen Verhaltensweisen nur gewisse Ausnahmezustände übrig, wie
sie etwa von LeBon beschrieben worden sind, und die in der Realität des subjektiven Verhaltens entscheidenden
Mechanismen kämen nicht vor.
Überdies ist die Annahme einer von der individuellen geschiedenen Kollektivpsychologie durch die kriti-
sche Arbeit der Tiefenpsychologie, besonders durch Werke wie Freuds Massenpsychologie und Tiefen
Ichanalyse überholt.
Soweit es die Soziologie mit menschlichen und zwar genauer irrationalen Verhaltensweisen (und diese sind
ja der eigentliche Gegenstand der Psychologie) in einer individualistischen Gesellschaft zu tun hat, sind
diese am Modell der individuellen Psychologie zu entwickeln, die zur konkreten Erkenntnis von Sozial-
phänomenen, wie etwa dem totalitären Massenwahn, entscheidend beiträgt, selber aber wiederum nur in-
nerhalb objektiver sozialer Zusammenhänge gilt.
Es wäre verhängnisvoll, wenn diese Wechselwirkung, anstatt eine der wichtigsten Gegenstände der Er-

518
kenntnis zu bilden, durch departementalen Formalismus zerschnitten würde.
Soweit sich die Soziologie von der Psychologie wesenhaft unterscheidet, geht es nicht darum, dass der
Mensch als geselliges Wesen sich grundsätzlich anders verhält wie als Individuum, wobei übrigens Unter-
schiede der Verhaltensweisen in Einzel- und Gruppensituationen keineswegs geleugnet werden sollen.
Sondern es geht darum, dass die Soziologie nicht nur und keineswegs in erster Linie Wissenschaft von den
Menschen und ihren Beziehungen ist, sondern ebenso auch von ihrer Isolierung, ihrer Entfremdung, der
Entmenschlichung ihrer Beziehung, kurz all dem, was aus an ihrem gesellschaftlichen Schicksal sich nicht
aus ihrem sogenannten Innenleben zureichend begreifen lässt.745
3. Darin ist eine wesentliche weitere Forderung einbegriffen.
Soziologie in dem Sinne, in dem ich versucht habe, ihre Idee anzudeuten, hat es prinzipiell nicht nur, wie
es heute in der engeren Soziologie in entscheidendem Masse der Fall ist, mit den Menschen und ihrem Ver-
halten, sondern ebenso mit den objektiven Kräften zu tun, von denen ihr Verhalten abhängt.
Dabei handelt es sich nicht nur um die sogenannte Einwirkung bestimmter gesellschaftlicher Institutionen
wie zum Beispiel Parteien, Armeen, Kirchen, sondern vor allem um die objektiven Mechanismen, die im
Zusammenleben der Menschen über deren Köpfen wirksam sind und andererseits doch wieder von den
Menschen verändert werden können, denn diese Mechanismen sind ja in letzter Instanz doch wieder von
Menschen gemacht.
Einfaches Beispiel: Der Aberglaube, man könne etwa über politische Tendenzen durch Polls, Meinungs-
erhebungen, sich ein zuverlässiges Urteil bilden. Erinnern an Situation hier Herbst 1932.

519
So wichtig es ist, zu wissen, in welcher Richtung die politische Anschauung des Volkes sich bewegt, so wird
man doch nur dann eine zuverlässige Prognose stellen können, wenn man weiss, was die Interessen und die
Politik der Schlüsselgruppen sind, die die ökonomisch wichtigsten Positionen innehaben und in weitem
Masse das Verhalten der Menschen selber zu steuern in der Lage sind.
Man kann über politische Trends nicht mit denselben Mitteln sich orientieren wie darüber, welche von
zwei Automarken die beliebtere ist.
Es handelt sich hierbei selber um eine gegenüber dem 19. Jahrhundert ansteigende Tendenz.
Heute werden die subjektiven Verhaltensweisen aller Die Einzelnen in weitem Maße Funktionen der objekti-
ven Bedingungen, denen gegenüber der Einzelne, und erschiene er auch noch so mächtig, ohnmächtig ist.
Es genügt nicht, zu studieren, wie Menschen auf »Reize« reagieren, wenn hinter diesen Reizen sich nicht
nur die entscheidenden Mächte ihres Lebens verbergen, sondern wenn ihr ganzes Sein und Bewusstsein
von diesen Reizen bestimmt wird.
Eine der wichtigsten konkreten Aufgaben der Soziologie ist es vielmehr, das Funktionieren der fungiblen
Einzelnen in einer vergesellschafteten Gesellschaft zu studieren.
4. Die Untersuchung dieses Wechselspieles bedeutet aber, es nicht beim Studium von Verhaltensweisen als
Tatbeständen bewenden zu lassen, sondern an der gerade von der deutschen Soziologie zu ihrer grossen
Zeit so nachdrücklich erhobenen Forderung des Verstehens festzuhalten.
Nur wird es bei diesem Verstehen sich nichtmehr um das Begreifen eines subjektiven Sinnes, eines »Geisti-
gen«, sondern eben der objektiven Gesetzmässigkeiten handeln, die hinter den subjektiven Verhaltensweisen
stehen.
Das heisst wissenschaftspraktisch: beverstehende Theorien formulieren, aber derart in Forschungskatego-

520
rien übersetzen, dass die Richtigkeit oder Falschheit des Verstehens selber entscheidbar wird.
Beispiele aus Berkeley-Untersuchung:

Dieses Verstehen schliesst die geschichtliche Dimension ein.


Was an gesellschaftlichen Phänomenen zum Verstehen gebracht wird, ist stets sedimentiertes Vergangenes
oder das Potential von Zukünftigem. (Begriff der Suszeptibilität)
Das nicht Verstehbare ist die abstrakte Gegenwart und die Blindheit so vieler im engeren Sinne soziologi-
scher Untersuchungen hängt genau damit zusammen, dass sie ihren Gegenstand betrachten, als finge mit
ihm jedesmal die Welt von vorne an.
Die Einbeziehung der geschichtlichen Dimension in empirische Untersuchungen in das von dem was ist,
gehört zu den wichtigsten und bis jetzt ernsthaft überhaupt noch nicht in Angriff genommenen Aufgaben
der empirischen Soziologie.
Hier gilt es eine Synthesis amerikanischer Methoden und der deutschen Tradition zu erringen.
3. Schliesslich zum Widerspruch zwischen dinghaften Methoden und der Verdinglichung als Gegenstand:
Die Soziologie muss sich bemühen, gerade auch neue empirische Methoden zu entwickeln, durch die das
dinghafte Moment überwunden wird, also vor allem Methoden, durch die gegenüber erstarrten Phäno-
menen die Dynamik sichtbar wird und wo anstelle bloss registrierter Fakten, ohne dass an Strenge der wis-
senschaftlichen Disziplin etwas nachgelassen wäre, deren Verstehen tritt.
Es ist ja im allgemeinen so, dass in der Soziologie für qualitative Fülle mit sogenannten statistischen Män-
geln[,] sowohl was den repräsentativen Charakter der Erhebung wie die Quantifizierbarkeit der Resultate
anlangt, zu zahlen ist.

521
Es darf aber aus dem lebendigen Umgang mit Fragen der Sozialforschung gesagt werden, dass dieser Wi-
derspruch sich als nicht so starr erweist wie er dem Neuling jeweils erscheint, sondern dass bei genügender
Insistenz der Arbeit die Methoden der empirischen Sozialforschung so flexibel werden können, dass sie ihre
eigene Starrheit überwinden helfen.
Darin sehen wir unsere eigene Aufgabe.
Zum Schluss Beschreibung unseres eigenen Gruppenexperimentes.
[Zur Einführung in die neue Musik]

Notizen für 3 Vorträge 29. Juni 1954


I
Nicht als Fachmann über eine Sache, deren Interesse bei den Hörern fragwürdig sondern Versuch, von de-
ren eigenem Bewusstseinsstand auszugehen. Indifferenz, eher antipathisch, bei einigen offene Feindselig-
keit, kaum bei einem positive Einstellung, bestenfalls abwartende Neugier.
Ich will versuchen an diesen Bewusstseinsstand anzuknüpfen.
Also fragen:
1. Warum sollen Sie sich für neue Musik überhaupt interessieren?
a) Immanente Qualität: Freiheit b Irreversibilität

522
2. Was ist der Grund Ihres eigenen Widerstands?
3. Was sind die spezifischen Momente, auf die dieser Widerstand sich konzentriert, und warum sind sie
aus der Sache notwendig?
4. Wie können Sie, wenn es sich lohnt, diese Widerstände überwinden, mit anderen Worten, neue Mu-
sik richtig hören.

Vorher Abgrenzung dessen, was ich behandle: gute und schlechte neue Musik, ebenso wie gute und
schlechte alte.
Ich will versuchen, von der guten zu sprechen, die Kriterien sollen sich aus der Sache selbst ergeben.
Warnung vor der Gleichsetzung der guten mit der vernünftigen und der schlechten mit der verrückten.
Eher umgekehrt: Relation der Qualität zur inneren Konsequenz.
Schönbergschule = allseitige Konsequenz
Daher konzentriere ich mich auf die wirklich exponierten Dinge und spreche Ihnen nicht von Musik, die
heute geschrieben wird, aber auch zu andern Zeiten hätte geschrieben werden können oder solcher, die
simpel und primitiv ist, oder solcher, die wie Strawinsky und Hindemith wieder zurück zum alten gefun-
den hat.
Überzeugung, daß, wenn Sie die exponierten Dinge verstehen, Sie alles andere auch verstehen.
Übersicht über die Schulen. Deutsche Situation
Ausdrücklich nicht vom Jazz die Rede, den man irrtümlich heute zur modernen Musik rechnet. Kurz be-
gründen.

523
ad 1):
Vorausgesetzt, daß Musik nicht als Genußmittel betrachtet wird sondern als Kunst, die uns im wesentlichen
angeht und etwas von der Wahrheit über uns selber ist.
Nicht bloß Abgrenzung von der Konsumentenmusik sondern auch von der traditionellen, die aufs bloße
Bildungsgut hinuntergekommen ist.
Musealer Charakter des offiziellen Konzertbetriebs.
Aber nicht neu um des Neuen willen sondern weil es zu einem Bestimmten drängte. Schönbergs + Weberns Zögern.
Was an der wirklich modernen Musik schwierig ist, hängt damit zusammen.
a) Widerstand gegen die sich immer mehr ausbreitenden Konventionalisierung. Daher Hauptschwie-
rigkeit, daß man nicht in den vorgeformten Bezugssystemen hört, sondern jedes Ereignis für sich.
b) Verzicht auf das verklärende, schmückende Element. Täuschung, Perspektive, Trompe l’œil
c) Ausdruck der Negativität und des Leidens und das Recht dieses Ausdrucks
Gegen Apologetik
d) Die Musik muß die sonst ihr durch Schemata vorgegebene Organisation selbst liefern. Problem der
Konstruktion.
e) Verzicht auf vorgegebene Formtypen
f) Der pointierte Gegensatz zur Massenkultur (Vergleich von Malerei und Photographie)
g) Das kritische Moment in der Musik selbst.746

Doppelte Notwendigkeit: einmal der geistigen Situation gerecht zu werden, dann aber die der Logik der
Sache selbst.

524
Demonstrieren am Gegensatz von Brahms und Wagner und der Notwendigkeit der Durchdringung der
beiden Prinzipien.
Besonders hervorheben, daß Kunstwerke immanente Logik haben und daß diese sehr oft von der Leichtig-
keit der Auffassung sich entfernt.
Gegen die Auffassung, daß das Kunstwerk einem etwas geben müsse, die nach dem Modell des Konsum-
guts gebildet ist.
Kunstwerke sind immer auch Waren, aber doch auch mehr,
Man muß dem Kunstwerk selber etwas geben, nämlich Konzentration und Anstrengung, damit es einem
etwas gibt, sonst bleibt es ein Geplätscher, und das ist eigentlich die Kernfrage im Verhältnis zur modernen
Musik.
II
ad Widerstand und Abwehrmechanismus:
Die neue Musik durchschlägt die Hülle des Konventionellen und macht einen auf seelische und reale Mo-
mente aufmerksam, die man sonst gern sich selber verschweigt.
Ähnlich wie in der Psychoanalyse. Das Schockmoment.
747
Klavierstücke op. 19 und den Begriff der Expression entwickeln.
Eingehen auf das Lachen als auf eine Abwehrreaktion.
Stellen aus dem Sacre und das hier ganz anders geartete Schockmoment, das Wilde, Ausbrechende, Kultur-
feindliche. Erinnert an die Barbarei in der eigenen Kultur.
ad homines: daß gerade Bildungsträger und Menschen der Ordnung eine Tendenz haben, diese Widerstän-
de besonders zu verstärken. Da sie in der Tradition eine Art Besitz zu hüten glauben und die Ordnung be-

525
sonders gefährdet fühlen. Aufforderung zur Selbstbesinnung.
Aber nicht beim Schock um des Schock willens stehen bleiben. Neue Musik nicht pour épater le bour-
geois, obwohl man dies Moment als Durchbrechen der Konvention nicht unterschätzen und einfach abtun
soll. Sondern die schockierenden Momente hängen immer mit der Sache zugleich zusammen.
Ich suche Ihnen also im einzelnen diese Momente zu beschreiben und zu erklären. Dabei gehe ich wieder
aus von Ihren eigenen Vorstellungen, d. h. von den mehr oder minder standardisierten Argumenten gegen
die neue Musik.
Ich versuche dann, diese Argumente in konkrete musikalische Begriffe zu übersetzen und Ihnen zu zeigen,
was für einen Sinn diese Dinge haben.
Neue Musik sei:
a) häßlich, mißtönend
b) unmelodisch
c) intellektualistisch, ohne Gefühl
d) willkürlich und beziehungslos
e) unverständlich, sinnlos

Zweierlei vorausschicken:
1. Der Faktor der Ungewohntheit, daß durch den eingeschliffenen Musikbetrieb die neuen Dinge un-
endlich viel weniger gehört werden, dadurch unnatürlich erscheinen, während das andere zweite Na-
tur geworden ist.

526
2. Die Einwände, die Sie haben, lassen sich auf eine gemeinsame und relativ einfache Grundtatsache be-
ziehen, nämlich die Abwesenheit des Bezugssystems der Tonalität. In traditioneller Musik hört die
Musik für den Hörer. Beispiel Hänschen klein. In der neuen Musik muß er dem einzelnen Ereignis
unablässig folgen.

Den Begriff der Atonalität erläutern. Nicht daß es keine feste Tonart mehr gibt, ist das wesentliche, son-
dern daß überhaupt die harmonischen und melodischen Ereignisse nicht auf Tonarten im traditionellen
Sinn mehr bezogen werden.
ad häßlich, mißtönend:
Häßlichkeit bezogen auf Dissonanz. Heute schon im Abklingen, da durch Nachahmer und Vermittler Dis-
sonanzen eingebürgert und in der Geschichte der Musik jede Erweiterung der Mittel als Dissonanzen-
reichtum denunziert wurde. (Mozart) Aber die neue Musik hat darin in der Tat etwas anderes, nicht zu Ni-
vellierendes. Es gibt nur noch Dissonanz, d. h. der Unterschied von Konsonanz und Dissonanz ist über-
haupt aufgehoben. Dissonanzen nicht an sich häßlich. Beispiel für schöne vieltönige Klänge. Pierrot. Berg.
2. Satz Aber die sinnliche Schönheit des Klangs ist nicht das einzige Kriterium, sondern der Komponist
kann, wo die Sache es befiehlt, auch ohne Rücksicht darauf Klänge wählen. Gegen kulinarisches Hören.
Was an den Dissonanzen eigentlich schockiert, ist nicht ihre Häßlichkeit, sondern das Moment der Span-
nung, deren Unaufgelöstheit verübelt wird. Dazu ist zu sagen, daß dies Gespannte, Unaufgelöste selber mit
unserem Bewußtseinsstand zu tun hat, damit daß es infantil und zu primitiv ist, die Lösung der Spannung
sich immer von außen, nämlich vom eingeschliffenen Schema der Harmonien vorgeben zu lassen.748 Auch
die neue Musik strebt in einem höheren Sinn Gleichgewicht an, aber durch den Verlauf des Ganzen und
nicht durch einzelne konventionelle Lösungen. Also vorab Zwang des unkonventionellen Hörens.

527
ad unmelodisch:
Konventioneller, d. h. an der Harmonie orientierter und diese umschreibender Melodiebegriff.749 In
Wahrheit Melodie emanzipiert, kein Ornament um die Harmonie750 mehr. Beispiele. Hinweis auf Poly-
phonie. Kompliziertheit und extreme Einfachheit
ad intellektualistisch, ohne Gefühl:
Gegen eingeschliffene Gefühlsassoziationen, Ausdruck nie das einzige Moment der Musik, sondern ihm
gegenüber auch das der rein musikalischen Logik. Belege für Werke des größten Ausdrucks, eventuell We-
bernstück.751 Je weniger man sich aufs Schema verlassen kann, um so mehr muß die Sache in sich organi-
siert sein, und das ist es, was den Laien oft als intellektualistisch erscheint. Hinweis auf das Prinzip der the-
matischen Arbeit und der universalen Durchführung. Ableitung der Zwölftontechnik, deren Sinn und
Warnung vor deren Überschätzung.752
ad willkürlich, beziehungslos:
auf zwei Momente eingehen:
1. Die Frage des Schlusses. Wieder Abwesenheit des Schemas, Schließen aus der eigenen Schwerkraft,
Sch[l]üsse nicht auf den guten Taktteil.
2. Die sogenannte Zerrissenheit. Prinzip des Kontrasts. Innere Einheit wichtiger als die äußere. Beleg
Schönberg op. 6. Dazu sagen, daß diese Schwierigkeiten viel entscheidender als die Dissonanz usw.
und daß man gerade hierauf sich konzentrieren muß.

ad unverständlich sinnlos:
Es fehlt an Verkehrslichtern, sinnfälligen Außengliederungen, man muß sich der Sache selbst überlassen.
Organisation in der Tat viel schwieriger als früher und Bedrohung durchs Chaotische. Läßt sich aber nicht

528
durch willkürliche Beschwörung älterer Ordnungsmittel vermeiden. Übergang zur Höranweisung als des
einzigen Mittels, mit dieser Sache fertig zu werden.
op. 23, No. 1.
[Zum Verhältnis von Individuum und Gesellschaft heute]

Materialien für Nauheim.


Einl.[eitung] Keine Gesamtdarstellung sondern Nervenpunkte.
»Der Mensch« 1918 und heute.
Der Mensch in der Mitte.
Implikationen: »Der Mensch ist gut« d. h. Protest gegen den Krieg.
»Der Mensch im Mittelpunkt des Betriebs«
»Es kommt auf den Menschen an« – nicht auf das, was ihm geschieht, nicht die Institutionen.
Der Mensch in der Mitte und human relations.
Reale Bedeutung der Niederung der Sprache: Resignation in Bezug auf Änderung der Realität.

529
Wahrheitsmoment: auch die versteinerten und entmenschlichten Verhältnisse man-made.
Es käme wirklich auf den Menschen an.
Aber nicht unmittelbar.
Die Wissenschaft vom Menschen muß dem Primat der Institutionen gerecht werden,
wenn sie nicht lügen will.
Was Menschen tun, hängt heute nur in geringstem Maß von ihnen ab. Verweis auf uns selbst.
Dies wird verkannt.
Kein Begriff, keine Theorie an sich, abgelöst von Praxis und Konstellation, und wären sie noch so wahr, |
sind davor gefeit, Ideologien zu werden.
»Der Mensch« besonders: je entmenschlichter, desto mehr muß er als Herzenswärmer fungieren. Demago-
gische Funktion des Wortes. Das Erlebnis mit Adler.
Gerade die Abstraktheit des Begriffs qualifiziert ihn dazu besonders: sie läßt von den entscheidenden realen
Unterschieden der Macht und Ohnmacht absehen.
Der es gibt bereits einen Mensch-Jargon. Kategorien die aus dem entleerten Begriff des Menschen partizi-
pieren.753
»Eigentlichkeit«, Begegnung. Mischung aus Jugendbewegung, Heidegger und ihres Inhalts beraubten theo-
logischen Reminiszenzen.
Ich-Du Beziehung – während man Sie zueinander sagt.754
Wissenschaft partizipiert an alledem, indem sie sich als Wissenschaft vom Menschen, anstatt von bestimm-
ten Menschen und menschlichen Verhältnissen, handelt. aufspielt.
Dabei geht sie auch gegen Psychologie:
1) die Aura des Wesens Mensch gegen den empirischen Einzelnen

530
2) es wird aus dem Begriff des Menschen so operiert, daß
a) vom Sexus abstrahiert | Scheinmaterialismus der »Situationen« usw.
b)das Böse hypostasiert wird.
Die herabgesunkne Anthropologie. | Recht am Antipsychologischen. Unrecht: das Apologetische.
Begriff des Menschen tendiert stets zur Ideologie.
Zitate aus der n Deutschen Ideologie Jugendschriften von Marx. NB das Vergessen, das Wiederaufwärmen erledig-
ter Kontroversen durch den Bildungsverlust.
Motive 1, 3, 4, 5, 6, 7755
1) Invarianz, Bleibendes, Ewiges.
2) Unmittelbarkeit gegen Vermittlung, wie bei Sein.
3) das Pathos das in der Idee des Menschen, nach dem Sturz des Humanismus, mitklingt. »Deutsche
Menschen«.
4) Innerlichkeit. Einfügung Gehlen756
Kritik ad 1) das Invariante ist äußerst dünn und gibt keine Bestimmungen her.
Entfalten am Begriff des Individuums.
Das biologische Einzelwesen ist nicht Individuum, wie Gehlen meint.
Die Kategorie des Individuums als Entsprungene. | NB Wann, in welcher Klasse hat es schon Individuen gegeben!
Sich im Tauschakt setzende.
Der objektiv-geschichtlich geforderte Charakter des Individuums.
Einige seiner Bestimmungen, und: wozu. Autonomie, Identität: Festigkeit, Vorblick, Unabhängigkeit, Courage
wird heute kassiert, da gesellschaftlich überflüssig.

531
Zerstreutes Eigentum wird ersetzt durch Verwaltung.
Kritik der kurrenten Theorie des Massenmenschen: dieser gesellschaflich konstituiert, nicht »vom Men-
schen her«.757
nicht schicksalhaft, sondern Konsequenz der ökonomischen Konzentration und der ihr entsprechenden
logischen Formen. Daher auch nicht »vom Menschen her« zu kurieren.
Individualität als Ballast. Dies dann trotzig akzeptiert: »ich will ja gar kein Mensch sein«.
Vermassung letztlich als Funktion gesellschaftlicher Ohnmacht.
Man will kein Subjekt sein, weil man keines ist und die Möglichkeit abgeschnitten ist. Vermassung durch Mas-
senproduktion
Beleg der Vergänglichkeit von Indiv[idualität]: keine Schwelle mehr. Are you an introvert or an extrovert?758
Das gleiche Tauschprinzip, das das Individuum, um Vergleichbarkeit zu stiften und im Sinne von ruggedness,
geschaffen hatte, zieht es unter dem Monopol wieder ein.
Universale Fungibil[it]ät. Sein für anderes
Ad 2 A eben damit Bestimmung als Anhängsel der Maschine.
Es kommt nicht auf den Menschen an.
Er ist kein Subjekt im Produktionsprozeß
kaum " " Konsumtionsprozeß (Zwangskonsument)
Kritik der Ansicht von der Konsumentenkultur.
Mensch nur noch in der Privatsphäre »Freizeit«.
Auch diese schon ergriffen, Tendenz zur universalen Vergesellschaftung, »Erfassung«.
Diese erläutern an einer Ideologie, die sich gerade auf »den Menschen« beruft: die musikalische Jugend-

532
bewegung.
Was vom Subjekt übrig ist, verkommt durch seine Ohnmacht zum Naturschutzpark, zum bloßen Schein.
Schon bei Humboldt. Individuum wählt mit seiner logischen Notwendigkeit. Jacob Burckhardt.
Gegen die positivistische Wissenschaft, die das registriert, anstatt zu kritisieren. Tendenz der Wissenschaft, diese
Tatsachen, zusammen mit repressiven, als neue »Bindung« zu bejahen.
Maß der Kritik: die Widersprüche, in die in diesem Zustand »der Mensch« allenthalben gerät.
Belege dafür: Beleg: wie wenig, bei weitgehender Institutionalisierung, selbst an den Spitzen von »dem Menschen« abhängt.
Vorgezeichnetheit der Entscheidungen.
Daher müßig Individualität zu predigen, oder an das Unverlierbare zu glauben, wenn es schon verloren ist!
Verhältnisse schaffen, in de[nen] freie Menschen existieren können.
ad vocem Leitbild. Die Sprachschicht »Eigentlichkeit[«] und »in etwa«, Metaphysik und Verwaltung.
»der gute Mensch in seinem dunklen Drange«.
Wer gibt ein Leitbild. Wenn es existiert, heißt es nicht so. Soll es geschaffen werden, so ist es schon faul. Moment der Will-
kür im scheinbar Objektiven.
Sein Recht, seine Durchsichtigkeit.
Gegen das abstrakte Dekret. Rückfall hinter Hegel.
Kritik »Werte« zu setzen, weil es gut wäre, welche zu haben. »Bindungen«.
Es gibt kein unmittelbares Leitbild des Menschen. Wo es erfragt wird, ist es schon unmöglich, d. h. nicht substantiell.
Hierher die Problematik der modernen Familiensoziologie. Sie ist heute in Mode.
Die Notstandssituation kann nicht zur Norm erhoben werden. Bunker als Ideal.
Notstandstendenz nicht zu generalisieren.

533
generell Familientendenz rückläufig. Also knüpft nicht einmal an die Gegebenheit an.
Aber: ist es zu wünschen?
Die Funktion der Familie ändert sich. Gegen Hofstätters Annahme eines Familieninstinkts.759
Sie war zeitweise roh repressiv.
hat im bürgerlichen Zeitalter progressive, umhegende Züge angenommen, Proust.
zugleich aber die negativen verinnerlicht. Kritik: Ibsen, Freud.
Charakteristisch, daß diese Kritik heute – aus Obdachlosigkeit – verdrängt wird.
Der Familie wird heimgezahlt. (wie den meisten »Bindungen«)
Das Bedürfnis legitim; die Form seiner Befriedigung falsch.
Unvereinbarkeit der Naturalform Familie mit der rationalen Gesellschaft.
An der Familie verrät sich, daß die Gesellschaft selbst, trotz ihrer Rationalität, irrational ist.
Beispiel: Bauernarbeit.
Das Advozieren der Familie als rational (zum Schutz der bestehenden Verhältnisse) geplante Irrationalität.
Dies selber hängt mit der Massengesellschaft zusammen:
a) ihr Druck läßt die Menschen regredieren
b) diese Regression wird von einer bestimmten Art von Sozialwissenschaft verstärkt und gesteuert.
Umgekehrte Psychoanalyse.
Forderung pro Analyse.
Schelskys760 Einwand: hochbürgerliche und neue Familie, Gleichrangigkeit der letzteren ist gewiß leicht
zu widerlegen.
Aber er transzendiert die Familie.

534
Schelsky möchte konservieren und muß doch zugeben, daß das Konservierte selber etwas Rationales ist.
Seine Haltung in sich zwiespältig: das Restaurative stärker.
Das Absurde im Begriff Gegenaufklärung. Der Begriff der irrationalen, heteronomen Rechtfertigung von Institutio-
nen ist mit der Idee der Aufklärung unvereinbar.
Die zu beobachtenden rückläufigen Tendenzen widerlegen nicht, anthropologisch, die Tendenz der sich
entfaltenden Vernunft, sondern rühren selber von der Unvernunft des Bestehenden her.
Nicht, daß Intimität, Pianissimo nicht mehr möglich sei. Alles Glück haftet daran.
Aber es zum Programm erhoben, es wollen, dient dem Obskurantismus.
Der Einwand, ich predigte die Entfremdung.
Entfremdung als Kategorie überschätzt; der junge Marx kann besser geschluckt werden.
Es kommt nicht so sehr auf die Wiederherstellung der Unmittelbarkeit an als auf die Beseitigung des
Druckes.
Aber freilich, gegen die partielle Herstellung eines Scheins der Unmittelbarkeit, der die Verblendung nur
verstärkt.
Weil die Verhältnisse stärker heute sind als die Menschen, müssen die Verhältnisse erst geändert werden um
die Menschen zu ändern.
Das sagt nichts gegen menschliche Beziehungen, aber gegen den Wahn, sie rührten ans Wesen.
Dazu dienen gerade sie dem[x] Schlechten, Manipulationen.
Human relations als Erhöhung der Produktivität. Cow sociology.

535
Schönheit der Arbeitsstätte.
Die Ontologien + Anthropologien heute sind hochrationalisierte Herzenswärmer.

Schuld trägt nicht die Organisation als solche, in abstracto.


Klagen über ihr Anwachsen passen der verwalteten Welt in den Kram, gerade sie hat sie befördert. Luft-
schutzkeller und Storchennest.
Organisation bewußt geschaffener und gesteuerter Zweckverband.
Werkzeugcharakter.
Beziehungen der Menschen vermittelt, nicht unmittelbar.
Vermittlung nicht an sich schlecht.
Zur Kritik des Begriffs Entfremdung aus der Vorlesung.761
Positive Momente: Freiheit, Vernunft gehen selber an Entfremdung auf.
Nicht die Organisation und Rationalität an sich schlecht, sondern ihre Irrationalität, d. h. wenn der letzte
Zweck, oder die Beziehung auf die Zwecke irrational ist.
Beides der Fall: a) Die Blindheit des Ganzen, die sich durch die partikulare Organisation verstärkt.
Beispiel 3. Reich.
b) Expansionstendenz der partikularen Organisation,
s. Darmst.[städter] Gespr.[äch] 23.762
Anstelle des Warenfetischismus alten Stils tritt heute der Fetischismus der Organisation.
Org. schlecht, wo ihre Interessen nicht mehr die der Zusammengeschlossenen sind.
Immanente Kritk der Org: wieweit sie ihre Funktion erfüllt.

536
Schein des Schicksalhaften der Organisation durchs Anwachsen ihrer Macht.
Das von Menschen für Menschen Geschaffene.
Was ist, wird heute zur Ideologie seiner selbst.
Hauptthese S. 26
Stellung der Organisation im Gesamtprozeß.
Die Drohung im Zu wenig an Org. Kein Zurück hinter die Org.
Gegen Personalisierung des Organisationsproblems.
Bürokratie als Sündenbock der verwalteten Welt.
Rettung des Schemas F S. 27.
»Bedrohung des Menschen«.
Gegen den abstrakten Gegensatz »des« Menschen und der Gesellschaft.
Gegen den Begriff Vermassung.
Massen als Produziertes.
[763Das längst Durchgekämpfte der Kritik des Menschen. Signatur des Zeitalters: gespenstische Wiederho-
lung alter Kontroversen (Zerfall der Bildung und des historischen Bewußtseins).
»Deutsche Ideologie«.]764
Dabei geht es nicht darum, invariante Momente des Menschen zu leugnen. Genausowenig wie eine kon-
kret gerichtete Untersuchung der allgemeinen Begriffe entraten kann.
Aber der Stellenwert wechselt.
Die Abstraktionsschnitte nicht zufällig

537
Beispiel Paretos Begriff der Konsistenz (= sozialen Konformität) unter dem – anthropologisch – sozial völ-
lig Ungleichnamiges zusammengestellt wird.
Es ist ein entscheidender Unterschied, ob man etwa die Angst dem Menschen als Befindlichkeit zurechnet
oder aus der Furcht vor der universalen Überflüssigkeit eines jeden in unserer Gesellschaft, und der vor der
Vernichtung heute[,] erklärt. Selbst wenn im Verhältnis zum Tode immer so etwas steckt ( – vielleicht, weil
es in der falschen Gesellschaft nie auch nur richtigen Tod gegeben hat), wird das Entscheidende übersehen.
Wie man stirbt, ist sehr wesentlich. Macht man den Menschen Mut zu ihrer Angst, so sanktioniert das die ängsti-
genden Verhältnisse, schon ehe sie ausdrücklich sanktioniert werden. – Ähnlich: Geworfenheit.765 Unter-
schied eines Unverständlichen oder etwa eines Irrationalen, in das man geworfen wird.
Etwas gegen die abgestandene Heideggerei: Verflachung durch Tiefe. Der leere Allgemeinbegriff ist nicht treffend.
Korrelativ dazu das Verhältnis zu den Institutionen, die um der Menschennatur willen sanktioniert werden.
Das Regressive darin: Verzicht auf Kritik, die das Wesen aller Wissenschaft ist.
Institution per se = Fetischisierung des Mittels.
Neo-Hobbismus.
Differenz: die Abstraktheit der Ideologie, Institutionen überhaupt.
Drin schon: keine mehr verbindlich, Position der Rationalität.
Diese ist aber gerade mit dem Institutionalismus unvereinbar.
Die Theorie negiert sich selbst – darum ist sie so böse.

Ad Bedrohung. Bedrohlich ist der Zustand insofern, als er das Heranwachsen derer verhindert, die etwa ihn
wenden könnten.

538
Reproduktion in den Menschen
Entschwinden der objektiven Vernunft aus dem Blickfeld (S. 31)

Verhältnis zur Organisation.


Milderung der Härte, aber auch Gefahr der Ideologie. Elsie.766 Human Relations.
Nicht zuviel sondern zu wenig O[rganisation]: ihr Schlechtes ihr Partikulares.
Möglichkeit des Umschlags.
Kritik der Ideologie des Spezialisten. Das Moment des sich Verschanzens.
Gegen die Fiktion des runden Tisches bei Änderungsvorschlägen.
Stärkung des Bewußtseins.
Schützen vor a) Positivism[us] = bloßem Hinnehmen
b) irrationalen Inselchen inmitten der Rationalität.
Individuum nicht nur ohnmächtig, wenn es das Bewußtsein des Ganzen hat. Gegen die Ideologie der 1000 Au-
gen.767 Das Durchschlagen der Verblendung nur bei Einzelnen möglich.
Erster Schritt ist Einsicht, welche Illusionslosigkeit verbindet mit dem Gedanke, der das Andere will.

Einleitung: Keine Totale, kein Entwurf.


»Nervenpunkte«.

539
Gegen Vorstellung einer Einigkeit in den Sozialwissenschaften.
Gegen das Schlucken sekundärer, schon problematischer Philosopheme.
Die Wahrheit liegt, wo es weh tut. Ernst.
Gegen die Abwehr, es sei »überspitzt«.
Dem Intellektuellen nicht zur Last legen, was in der Realität steckt.
»Die menschliche Gesellschaft heute«768
Vortrag, 16. Oktober 1957

Wildungen 1957

Ausgehen von der angeblichen Unübersichtlichkeit und Undurchsichtigkeit der modernen Gesellschaft,
die deren Verständnis erschwert.

Diese Ansicht ist Trug, die Gesellschaft zwar ungeheuer verzweigt, aber in ihren Grundstrukturen viel
durchsichtiger als je zuvor, und das Problem nur, warum sie trotzdem nicht erkannt wird.

540
Motive der Durchsichtigkeit:
a) Tendenzieller Zusammenschluß der Welt zu einer Gesellschaft,769 auch die sogenannten unterentwik-
kelten Länder in gewisser Weise Funktion der entwickelten. Verkleinerung der Welt durch Verkehr und
Kommunikation.
b) Tendenzielles Außerkrafttreten des blinden Kräftespiels, gesellschaftliche Planung auch in den nicht
totalitären Staaten.
c) Absterben irrationaler Institutionen, zum Beispiel der Monarchie, des Feudalismus, der Religion als
politischer Macht, Verbürgerlichung = Entzauberung = Anwachsen der Rationalität.
d) Rationalisierung und Quantifizierung der Arbeitsprozesse macht die alten Privilegien weithin hinfäl-
lig.770 Annäherung und Ersetzbarkeit der Funktionen. Spezialisierung Fassadenphänomen. Z. B. Psych[ologie] +
Soz[iologie] in Amerika
e) Im Zusammenhang damit die viel bemerkte Nivellierungstendenz. Sogleich ihre Grenzen sagen, darauf
hinweisen, daß das Entscheidende, das Verschwinden des Mangels nur in einem relativ schmalen Sektor der
Menschheit herrscht und auch dort prekär ist.771
f) Der Stand der Technik scheint prinzipiell die Fülle der Güter und die Befriedigung der Bedürfnisse zu
garantieren. Anwachsende rationale Kontrolle der äußeren und inneren Natur durch die Wissenschaft.
Stand der technischen Produktivkräfte so gesteigert, daß die Quantität in die Qualität umschlägt.772 Hin-
weis auf die Beherrschung der kosmischen Kräfte, auf die Automation, auf die absehbare Kontrolle der
innermenschlichen, das heißt psychologischen Irrationalitäten.
g) Sich anbahnende anthropologische Veränderungen, die Ernüchterung der Jugend, Entzauberung der
Welt zum ersten Mal auch subjektiv gespiegelt, potentiell die Menschen so gewitzigt, daß sie das Getriebe
durchschauen können.

541
All dem entspricht aber nicht das tatsächliche Lebensgefühl der Menschen. Angst, Malaise, Unbehagen.
Krasses Beispiel für den Grund: während den Menschen der Absprung in den Kosmos gelungen ist, sind
sie zugleich unfähig, ihre Angelegenheiten einigermaßen zu ordnen. Satellit und Kriegsdrohung.
Die Lehre vom Anwachsen der Antagonismen hat sich bis zum Grotesken bewährt.773

Gründe des Unbehagens:


a) Die Übermacht der objektiven Sozialgebilde, vor allem der großen Mächte der Wirtschaft und Politik,
über das Individuum, Gefühl der Ohnmacht anwachsend seit dem Ende der liberalen Gesellschaft.774 Dazu
gleich sagen, daß diese Ohnmacht nicht eine Ohnmacht der einzelnen Vernunft ist, sondern daß ein Ein-
zelner, wenn er sich nicht dumm machen und sich nicht imponieren läßt, die Zusammenhänge in weitem
Maße durchschauen kann, und daß vollends die Wissenschaft es vermöchte, wenn sie es sich nicht verbie-
ten würde.775
b) Disproportion zwischen menschlichen und technischen Produktivkräften, das von Anders bezeichnete
Problem. Mißverhältnis ebenso in Kunst.
c) Das Bewußtsein der Blindheit des geschichtlichen Verlaufs, der Irrationalität in der Entwicklung der
Technik selber. Die als metaphysische Gestimmtheit mißverstandene und verewigte Angst hat einen höchst
realen geschichtlichen Boden.
d) Die von den Menschen heute der Gesellschaft gegenüber geforderte Anpassung mutet ihnen offenbar
so viel zu, daß sie der Forderung nicht mehr gewachsen sind.776 Hierzu die Überidentifikation, das Abster-
ben des kritischen Vermögens, das mit dem Stachel löken.

542
Reale Basis dieser subjektiven Reflexionsformen:
a) Das unverminderte Andauern der gesellschaftlichen Widersprüche, Nivellierung bloßer Schein, selbst
in Deutschland beschränkter Bereich der Prosperität. Hinweis auf Sozialrentner. »Und die einen stehn im
Dunkel . . . «777
b) Die irrationale Aufspaltung der Welt in zwei feindselige, von Vernichtungswaffen starrende Blöcke, die
unmittelbar das Leben jedes Einzelnen mit dem Tod bedrohen. Irrationalität dieses Gegensatzes. In der
westlichen Welt, weil mit der Verteidigung gegen den Osten eine Entwicklung begründet wird, durch die
genau das bedroht wird, was der Westen vorm Osten voraus hat. Im Osten durch eine barbarische Herr-
schaft Hohn aus dem Sozialismus gemacht; Andauer des Gegensatzes Macht – Ohnmacht heute wichtiger
als das Abgefüttert werden; Befriedigung der Bedürfnisse setzt die Freiheit des Menschen, sein eigenes Le-
ben zu bestimmen, voraus, Vollbeschäftigung ist nicht das Ideal, sondern schrankenlose Erfüllung der Be-
dürfnisse.
c) Die Fortdauer des Nationalismus, obwohl er sich überschlagen hat. Seine Fusion mit Rußland. Die
Emanzipation der unterentwickelten Länder als Drohung der Zurückschraubung der Menschheit auf ein
überwundenes Niveau.
d) Das Problem des Zwangskonsums und der Massenkultur, das die Menschen nicht freiläßt. Die Verstär-
kung des Schleiers gerade wegen der Durchsichtigkeit.
e) Die synthetische Wiederbelebung von Bindungen, die eigentlich gar keine Substanz mehr haben.
Das Problem Steine statt Brot
778
a) Wer?

543
kein Gesamtsubjekt
b) Bewußtsein = Steigerung des Widerstands.
keine Rezepte
Weder blind sich überlassen noch gute alte Zeit.
Keine zusätzlichen Reservatsphären
c) Rekurs auf Erfahrung
Stellung zur Wissenschaft
Obwohl wir in einer Zeit leben, in der offenbar alles noch schneller vergessen ward als stets schon . . .

6. Mai 1958

Musikkritik heute

Goebbels Ukas gegen Kritik.


Der unmittelbare Zweck: Unterdrückung kritischen Denkens.
Darüber hinaus Stimmung ausgebeutet: der Kritiker als Bösewicht, der dem Genius Knüppel zwischen die
Beine wirft. Beckmesser, Meckern. Der Kritiker Autorität und verhaßt (Priesterkönig).
Ambivalenz zur Autorität.

544
Hauptargument: was sie schon alles falsch beurteilten, von Bach bis Schönberg.
Gegenbeispiele: richtige Urteile: Paul Bekker die Alpensymphonie (Sturz Straussens).
Aber: die Geschichte, im Sinn dessen, was bekannt bleibt, ist keine Instanz.

Beispiele Carlo Gesualdo da Venosa


Zemlinsky (Solti).

Kritiker haben, unter anderem, auch die Funktion der Revision der Geschichte, ähnlich wie in der Litera-
tur. Z. B.: Webern. Atonalität gegen Neoklassik.
Auch negativ: Convenus erschüttern: Schütz, Händel, Gluck. Musikern bekannt, aber Angst.
Größte Widerstände, Wut, das Wegnehmen. Negation an sich suspekt.
Der Fall der Missa.
Weiter: tun die Kritiker den Komponisten unrecht, so die Komponisten – und die Geschichte – ihnen.
Hanslick-Beckmesser. / Die Fehlkonstruktion vom Kritiker aus Ressentiment. Wahrheitstmoment an
Hanslick gegen die poetisierende Ästhetik heute hervorgetreten. Trotzdem bleibt seine Inferiorität gegen
große Kunstwerke.
Aktuelle Aufgabe der Musikkritik: über solche Kontroverse sich erheben, also Geschichte in sich hinein-
nehmen und vollziehen.

Grundfehler im Verhältnis zur M[usikkritik]: Vorstellung von den fix droben hängenden Ewigkeitswerten,
nach denen man schnappt und die man trifft oder nicht trifft. – Das Bleibende.

545
Aber der Gehalt der Werke ist selbst geschichtlich und steht in der Geschichte.
Man muß Kritik als ein Moment der Entfaltung der Werke sehen, dessen sie selbst bedürfen. In ihr treten
neue Schichten hervor.
Beispiel: Bartók »moderner« als Ravel.
Aber die Chansons Madégasses sind, nach Absterben des materialen Reizes, fortgeschrittener, differenzier-
ter, uns näher vielleicht als vieles von Bartók. Kritik muß das sagen.
Daraus folgt: Kritik kein abstraktes Jenseits, keine richtende Instanz, sondern ein geschichtlich notwendi-
ges Moment.
Mit anderen Worten: ihre Objektivität desto größer, je mehr sie Partei nimmt. – Gegen die Fiktion des
Freischwebenden. – Nur durch Identifikation hindurch wahr.
Sie hat dabei, als Reflexion, Negation, ein dynamisches, werdendes Moment. – Konservative Kritik wider-
spricht streng dem eigenen Begriff.
Die wahre Kritik treibt weiter. Theorie dessen, was noch nicht ist.
Repräsentant der Nachwelt. Benjamins Theorie vom Anwalt des Publikums gegen das Publikum. – Darf
nicht auf Wirkung schielen.
Verhältnis zum cénacle, den Künstlern. Tuchfühlung. Selbst Künstler sein.
Antinomie: man muß dazugehören und darf nicht verschrieben sein.
Der Kritiker soll der Vogel sein, der das eigene Nest beschmutzt.
Das theoretische Gewissen: Theorie der eigenen Partei und deren Selbstkritik.779
Das Altern der neuen Musik.

546
Selbstkritik überhaupt eine zentrale kritische Kategorie.
Die Qualität eines Kritikers erweist sich daran, daß er die eigenen Kategorien und Erfahrungen, die er fest-
halten muß, wenn er kein Mann der moluskenhaften Impression sein will, doch zu suspendieren vermag,
wenn ihn die Erfahrung dazu nötigt, dezidiert und offen. Nicht: alles relativ.
Sondern im Festhalten und Ändern, im Prozeß, liegt die Wahrheit.
Kritik heißt eigentlich: mit dem Gedanken den eigenen Erfahrungen nachkommen.
Angebliche Gefahr des Subjektivismus.
Aber die Wahrheit ist kein Resultat der Durchstreichung des Subjekts, sondern durch es vermittelt.
Ohne spontane subjektive Erfahrung gibt es überhaupt keine ästhetische Wahrheit, sondern nur verding-
lichte, kunstfremde Konstatierung.
Dies freilich nur ein Moment: es bedarf seines Gegenteils, des strengsten Sachverständnisses, der Disziplin
an der Sache. Kein bloßes Konstatieren von Gefallen und Mißfallen.
Verhältnis zum Geschmack: der Kritiker muß ihn, als Gesamtniveau der Zeit, haben, darf aber nicht bei
ihm beharren. Er muß zugleich über dem Geschmack sein, wie große Kunst es erheischt.
Debussys Versagen vor Mahler. Fehlt oft in Deutschland, wo man glaubt, ihn durch Ethos ersetzen zu kön-
nen.
Einige Typen produktiver, das heißt weitertreibender Kritik:
der geleitende Kritiker: Schumann im Verhältnis zu Brahms. (Beispiel des Symphonischen an den ersten
Sonaten von Brahms). Auch Chopin, bei dem er an einigen für uns höchst uncharakteristischen Stellen die
Klaue wahrnahm: Beispiel. – Hier wird die Autorität des Kritikers zur Hilfe für die weitertreibende Ten-
denz. – Kritik heißt voraus sein.780 Der Kritiker gegen den Philister. Hugo Wolf. Der Muff des guten Musi-

547
kers, das Erweiternde, Anti-Akademische. Dabei schon Gefahr des Verlusts an handwerklicher Sicherheit,
Verkennen Brahmsens.

Der Kritiker im Zeitalter des Zerfalls der sicheren Kriterien: Debussy. Der Fachmann gegen den Dilettan-
ten, das Hereinnehmen technischer Maßstäbe, dabei freilich bereits Gefahr der spezialistischen Verengung.
Ein Wiener Freund von mir sprach da von Horaks Musikschule
Alle die Genannten waren Komponisten.
Die alte Frage: muß er Komponist sein, es selber besser können.
Lessings Antwort gilt, aber: er muß Komponist sein, das heißt alle in der Sache gelegenen Probleme kennen.
Seine eigentlichen Gegenstände: die aktuelle Produktion, die über alles, auch die Reproduktion entscheidet.
Unbedingte technische Zuständigkeit gefordert.
Immanente Kritik die allein fruchtbare: das Bewegungsgesetz der Sache vollziehen. – Von der Notwendig-
keit jeder Note, oder ihrem Gegenteil, Rechenschaft geben! Zugleich aber beweglich halten, das Werk
nicht fetischisieren, innen und außen sein, die Gesellschaft kennen ( – auch die Wirkung der eigenen
Worte).
Gegenbeispiel: die »vorzüglich gearbeitete Fuge«, die »blendende Instrumentation«.
Kein Feuilletonist und kein sturer Fachmann.
Schwierigkeiten heute, wenn man will Krisis der Kritik: keine vorgegebenen Maßstäbe (die freilich gerade
immer schon das Problematische waren). Gegensatz italienische Oper. Keine verbürgte Tradition mehr.
Die musikalischen Bildungsinstitutionen reichen für die Bildung der Kritik nicht aus:
das Konservatorium übermittelt bloß die Tradition, die nicht mehr substantiell ist.

548
Das musikhistorische Seminar verleitet fast zwangsweise zum Historismus und zur bloßen Stilkritik, z. B.
beim Bachstil oder den Bearbeitungen der Kunst der Fuge. Der Stil entscheid[e]t nicht. »Style and idea«.
Wohl einzige Möglichkeit: bei einem bedeutenden Komponisten lernen. Gefahren der Kritik heute.
1) die bloße Information, Anekdote, Geschichten erzählen. Kritiker als informatorischer Agent, Reise-
büro, Funktionär der verwalteten Welt. Dienst am Kunden, das heißt an dem was es so alles gibt. So-
weit Information, daß man eine Vorstellung bekommt, wie es war. Der alte Korngold.
Anpassung gegenüber Autonomie.
Diese Gefahr heute viel aktueller als die Korruption des Bestechlichen oder die Aufgeblähtheit des
Postenbesitzers.
2) Mangel sachlicher Zuständigkeit wegen Bruch zwischen Bildung und Produktion. Herumriechen
und Herumtappen. Schwierigkeiten in der Situation: Unmöglichkeit der Beurteilung komplexer
Werke beim ersten Hören.
Beispiel: Instrumentaleinleitung von Kreneks Orpheus und Eurydike.
Daher Unsinn wie
Zerrissenheit für Vielgliedrigkeit
Vitalität für Laufen (Beispiel).
Möglichst vorherige Partiturkenntnis, sonst lieber vertagen (da bei vorüberrauschender Musik Lage
anders als bei Bildern). Eindruck als Eindruck geben.
Boulez.
Forderung: unbedingt begründetes Urteil, kein bloßes Verdikt. Nicht Kritik über die Idee der Sache

549
hinweg, z. B. an ungewohnten Tempi (Kolisch). Dies wohl das Bedenklichste am gegenwärtigen kri-
tischen Betrieb.
Möglichkeiten von Kritik im Radio: Toscanini. Hier Möglichkeit des Belegs, des Aufweisens. Bei-
spiel Stelle aus 4. Symphonie von Brahms. Dies keine Stilfragen (klassisch und romantisch), sondern
solche des musikalischen Sinnes.
Kritische Fähigkeit in Musik: die, Sinnvolles von Sinnlosem zu unterscheiden.
Darauf allein kommt es an: nicht darauf, ob Fräulein X. die Schumannphantasie ein bißchen besser
spielt als Herr Y.
Das Läppische der Kritik an Bekanntem: Seklesanekdote.
Aufgabe des Kritikers: den Übergang vom klangsinnlichen Moment der Musik zum geistigen zu voll-
ziehen.
3) Ersatz des geistigen Verständnisses durch fertig bezogene, etwa historistische, meist reaktionäre Kul-
turphilosophie und gesunde Ansichten. Der Typus des Gralshüters.
»Ist das noch Musik«. Vor 30 Jahren Haß auf das expressive, heute auf das konstruktive Element. »Pa-
piermusik«.
4) Der Mitläufer, der Angst hat, etwas zu versäumen und Unsinn von Sinn nicht mehr unterscheiden
kann.

Faßliche Aufgaben: Herstellung von Formniveaus.


Relativität im höchsten läßt eine breite Zone des Entscheidbaren frei.
Beispiel Bach und Fischer E-dur Fuge.
Stilausreden und Wertblindheit.

550
Mobilisierung von Intelligenz im Dienste der Dummheit.
Dem Bildungsverlust, Autonomieverlust, der Konfusion entgegenarbeiten (Jazz), Ju-
gendmusik. Kritik heißt Stärkung der Autonomie.
Dadurch zugleich Kritik an der Gesellschaft.
Deren Druck und der Kritiker (Fall Elly Ney781). Mit Anwachsen des Drucks wächst
die Funktion des Kritikers.
Gefahr heute weniger Krisis der Kritik als Bedrohung und Verdrängung des nicht konformierenden Ge-
dankens, auf den es in der Kunst allein ankommt.
Das Negative an sich suspekt.
In der Negation steckt das Bewahrende.
Einheit von Forschung und Lehre Mainz, 8.11.1961

Einleitung

Nicht historisch sondern sachlich. Ohne Einheit von Forschung und Lehre eigentlich keine Universität,
sondern Fachschule und Institut. Die Einheit selbst jedoch real und theoretisch problematisch geworden.
Es sollen ihre Bedingungen dargestellt und heutige Zustände erörtert und einige Perspektiven diskutiert
werden. Bei Humboldt selbst erscheint übrigens Einheit von Forschung und Lehre nicht ausdrücklich –
wahrscheinlich weil sie der damaligen Universitätsidee von selbst sich verstand.

551
Grundlagen zur Zeit von Humboldts Idee von Bildung qua Autonomie der mündigen Subjekte. Rechnet
mit Gebildeten, will Gebildete entlassen.

Bildung a) gescheitert
b) Bedingungen von Autonomie verweigert.

Um 1800 relative Homogeneität der Bildungsschicht, bruchlose Kooption. Bildung an den Aufschwung
der bürgerlichen Gesamtklasse gebunden. Dabei noch das Element des aufgeklärten Absolutismus wie bei
Goethe: hierarchische Aufgaben, die etwas wie Bildung verlangen. Noch kein losgelassenes Leistungsprin-
zip. Max Weber zur Dialektik des Berechtigungswesens.
Quantitativ – Übersichtlichkeit. Die kleinen Kollegien und Seminare. Selbst bei Hegel. Face to face-Be-
ziehung von Professor und Student. Homogeneität schon durch beschränkte Zahl der Bildungsschicht ge-
fördert.

Qualitativ – geistige Einheit, das homogene Medium des deutschen Idealismus, der nicht nur eine Philoso-
phie war, sondern der Elan der geistig emanzipierten Klasse, alles Wirkliche substantiell aus dem Geist
zu begreifen. Gegen Betrachtungsweise nach großen Denkern. Döderlein782 Die gemeinsame Sprache des
Idealismus als Bildungsmedium: Verständlichkeit des Unverständlichen. Horizont der Vagheit bei Schelling und
Hegel. Bis in die Physik hinein (Ritter). Medizin und Naturphilosophie (Schelling). Krise in Hegels Natur-
philosophie.

552
Diesem Idealismus zentral der Gedanke der Einheit von Theorie und Praxis seit Fichte. Daher Forschung
und Lehre eins. Wo die Forschung in der Freiheit des Gedankens besteht, im Produzieren, braucht sie nicht
fertige Lehre mitzuteilen, sondern kann die Adepten in den lebendigen Denkprozeß einbeziehen. Das So-
kratische Ideal Überdies werden Geist und Welt als kommensurabel vorgestellt. Die Welt soll nicht registriert
sondern begriffen werden, weil sie selbst Geist ist. Die damit gesetzte Aktivität ist als eine gemeinsame der
Universitas literarum vorgestellt. Das Subjekt als Allgemeines. Forschen gleich Geist haben, Lehre gleich Geist
in Praxis umsetzen, am stärksten bei Fichte, beim späten Hegel schon neutralisiert.

Bildung noch nicht »Bildung zu etwas«. Die Fächer noch nicht verfestigt, Wissenschaft soll mit Philosophie
gleich sein und deshalb die Selbstreflexion aller Fächer beinhalten. Die Philosophen nennen sich Wissenschaft;
heute nur die Antiphilosophien Wer über materiaelle Wissenschaftsgebiete reflektiert noch nicht als Dilettant ge-
brandmarkt. Daß es dazu dieser Abwertung kommt, ist kein Zufall, sondern notwendig als Kritik der Begriffs-
mythologie, schlecht aber als Hypostasis der Arbeitsteilung. Man darf also weder den vergangenen Zustand
unbesonnen loben, noch den gegenwärtigen als positiv hinnehmen. Im Idealismus steckt die Kritik an der
Arbeitsteilung. In der Lehre von der ursprünglichen Erzeugung, die sein Kern von Kant bis Hegel bleibt.
Etwas zur »Rettung« des Idealismus.

Die Einheit von Forschung und Lehre, die am Bildungsbegriff ihre Substanz hat, war aber schon damals pro-
blematisch. Man darf nicht den Geist des deutschen Idealismus unmittelbar für die Realität nehmen. Sie wird vorgestellt
als Gemeinschaft, im Grund damals schon retrospektiv, da Kollegium als eine Art Insel in der bürgerlichen
Gesellschaft (besonders bei Fichte). Pädagogische Provinz. Eben dies Zeichen des von oben her Gesetzten und

553
nicht wahrhaft Substantiellen jenes Bildungsbegriffs. Damals schon Differenz von Rolle und menschlicher
Bestimmung (Hegel). er hat nur darüber versichernd getröstet. Die Universität als Versuch, diese Differenz unter
Ausnutzung der noch nicht beruflich fixierten Situation der Jugend und ihrer Psychologie zu revozieren. Das
hat die Male romantischer Willkür und Vergeblichkeit. Beweis: die Herausgliederung der Universität bei
Fichte, die ordenshaften Vorstellungen der Universität, verwandt den späteren Ordensvorstellungen von
der Wissenschaft bei Comte. In der Realität der Unterschied nicht so radikal wie man denkt. Fichte, Schel-
ling, Hölderlin und der junge Hegel, vollends Schopenhauer haben im Grund schon ähnlich über den Fach-
menschen geklagt, wie er heute, seit Ibsen, sich darstellt. Hegel und Goethe, die in zentralen Motiven
übereinstimmen, haben den Fachmenschen, als Entäußerung, zu retten versucht, mit dem Richtigen, daß
es ohne dies Moment nicht möglich ist; mit dem Falschen, daß sie ihm dogmatisch die Versöhnung zuge-
schrieben haben. Die Einheit des Ganzen – der Gesellschaft und der Universität als einer Stätte des Gei-
stes – war nicht existent. Die Invektiven Fichtes und Schellings gegen den geistlosen Universitätsbetrieb
könnten heute geschrieben sein.
Symptom die relative Ohnmacht der idealistischen Elite, ihre Einflußlosigkeit gegenüber dem halb absolu-
tistischen Staat, der Druck der Armut. Der tatsächliche Machtbereich mehr auf Bildung von Beamten als
auf die entscheidenden gesellschaftlichen Positionen bezogen. Das allein erklärt den jähen Zusammen-
bruch des Idealismus.

Das Motiv der objektiven Unwahrheit des Idealismus qua Philosophie783 und seine gesellschaftliche Un-
realisiertheit: daß eben die Welt nicht Geist sondern Prosa, verdinglicht ist, sind zwei Seiten des gleichen
Sachverhalts.

554
Danach ist schon die klassische Konzeption der Einheit von Forschung und Lehre Ideologie im prägnante-
sten Sinn. Diese Einheit wäre gut, wenn sie existierte. Das Unwahre ist, daß sie als existent oder bei Hum-
boldt als im isolierten Bildungsbereich herstellbar vorgestellt wird.

Das Gute: die Forschung wäre durch die Einheit mit ihrer Darstellung und Kommunikation nicht länger
branchenhaft abgekapselt und fetischisiert, das heißt gegen die Gesellschaft verblendet. Beispiel: Einseitig-
keit des Fortschritts in der Richtung nach Steigerung der Produktion. Psychoanalyse
Die Lehre wäre nicht länger dogmatisch, tot, fertig resultathaft sondern in lebendiger Beziehung zu den
Hörern, dadurch in sich selbst lebendig. Sie würde das schlecht autoritäre Moment verlieren, das ihr bis
heute innewohnt (Schwierigkeiten, etwa in einem Seminar die Studenten zum Sprechen zu bringen). Je
weniger getrennt die Lehre von der Forschung, desto mehr würde sie zur Selbstkritik und dadurch auch
zur Kritik.

Die Trennung von Forschung und Lehre hat nicht nur ihre Gründe in der gesellschaftlichen Organisation,
etwa im Anwachsen der rational bürgerlichen Verwaltung und ähnlichen Momenten, sondern auch ihren
sachlichen Grund. Je entwickelter und differenzierter eine Disziplin, desto weiter entfernen Forschung
und Lehre bis heute notwendig sich voneinander. Im allgemeinen die Forschung der Lehre voraus. Die
Prärogative der Philosophie besteht darin, daß es in ihr, und das ist ein doppelseitiges Glück, nicht ebenso

555
eindeutig Entwicklung gibt wie in den sogenannten positiven Wissenschaften.784 Daran erinnern, daß
auch in einer rationaleren Gesellschaft als unserer die Arbeitsteilung nicht verschwinden könnte, sondern
nur ihre Vergegenständlichung.

Ideologisch am Humboldtschen Ideal die Vorstellung, daß jene Einheit unmittelbar im Bildungswesen zu
verwirklichen sei, nicht vermittelt durch die Gesamtgesellschaft, die von ihm unreflektiert hingenommen
und bejaht wird. Bildung ist bei ihm ganz ähnlich wie bei Hegel ein Ressort des absoluten Geistes, ein
Selbstzweck, von der Idee abgetrennt. Hier tritt ein tiefer Widerspruch zwischen dem Goethisch-Hegel-
schen Ideal der Entäußerung, das heißt der partikularen Realisierung der Bildung und der selbstgenügsa-
men Bildung des Individuums für sich als Selbstzweck unter Verzicht auf Realisierung auf. Die eingehende
Analyse Humboldts könnte wahrscheinlich zeigen, daß das revolutionär idealistische Motiv einer sich ver-
wirklichenden und sich entäußernden Bildung und das resigniert individualistische in seiner Lehre sich an-
einander abarbeiten.785 Die Neutralisierung der Bildung zu einem Geisteszustand des Individuums ist eine
Not: die Einsicht in die Unrealisierbarkeit der Bildung im Bestehenden, welche die Bildung zum Rückzug
nötigt, aber indem sie diesen Zustand positiv hinnimmt auch falsch resignativ.786 Durch die Abspaltung und
Hypostasis wird der Bildungsbegriff in sich berührt. Hochmut und Dünkel von Eliten, die von der Bildung
nichts haben als das Privileg, sind keine Entartungen sondern Folgen aus der Beschaffenheit des klassischen
deutschen Bildungsbegriffs selber.

556
Was heute mit der Einheit von Forschung und Lehre – die untrennbar ist von der Bildungsidee – geschieht,
ist, daß einmal der Ideologie die Rechnung präsentiert, andererseits der Wahrheitsgehalt, den sie meint,
verdrängt wird.787 Nur in dieser Komplexität, nicht in einfacher Anpassung an den Zustand läßt sich das
Problem richtig fassen.

Die Gesellschaft verlangt den Informierten und den Techniker: es steht dahin, ob wegen des Stands der
Produktivkräfte oder nur wegen der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse; dem Stand der Technik
nach wäre wahrscheinlich die Spezialisierung bereits überwunden. Diesem Bedürfnis entspricht die akade-
mische Lehre als bloße undialektische Übermittlung von Kenntnissen ohne aktive Beteiligung der Studen-
ten: ihr Mitmachen wird zur Einübung, nicht zur Produktion eines nicht bereits Vorgedachten oder Kodi-
fizierten. Im Grund wäre dieser Typus des Unterrichts besser durch die Lektüre zu leisten. Dazu das
allgemein Bekannte, daß, sobald es einmal auf die Übermittlung von positivem Wissen und nicht die Ent-
wicklung der Fähigkeit zu autonomem Denken ankommt, so viel zu übermitteln ist, daß im allgemei-
nen zur Forschung überhaupt keine Zeit bleibt.788 Die Gesellschaft kann nicht länger auf das Bedürfnis
nach Bildung rechnen. Krise des Individuums.789 Wer in der Welt nicht sein eigenes Schicksal bestim-
men kann, für den wird Bildung zu einer Art von Schmuck. Das im allgemeinen vernehmbare Verlan-
gen nach gebildetem Nachwuchs bezieht sich meist auf Verkäufertugenden: wer die Kunden besucht,
soll nicht nur von Autos sondern auch von den Duineser Elegien reden können. Gegensatz zur Substanz
des Bildungsbegriffs.

Die Einheit von Forschung und Lehre setzt autonome Hörer voraus. Sowohl ihrem Selbstbewußtsein nach

557
wie der Entwicklung ihrer geistigen Fähigkeit nach. Diese Autonomie fehlt, nämlich die Spontaneität.790
Gerade was man als das erste erwartet, die Fähigkeit, selber etwas zu denken, tritt zurück hinter technischen
Fähigkeiten, die sich rationalisieren mit dem wissenschaftlichen Bedürfnis nach absoluter Sicherheit. Die
Rolle das Sekuritätsideals.

Beispiele: Schwierigkeiten der qualitativen Analyse, das heißt, daß die Studenten sich nicht trauen,
sich etwas einfallen zu lassen.

Was man der Jugend zuerst zutraut, fällt ihr am schwersten. Nicht die Disziplin.
Gelegenheit zum Fragestellen nicht genutzt.
Die autoritätsgebundene Struktur der Studenten will beruflich unmittelbar verwertbare Kenntnisse.

Identifikation mit der eigenen Heteronomie.

Funktionswechsel der Wissenschaft. Einmal hat sie der Befreiung des Geistes gedient und mit mehr oder
minder unbedingter Gewißheit sollte sie dem Dogma sich entgegensetzen. Heute ist dies Ideal hyposta-
siert, um sich dem Denken zu widersetzen. Ungeheures Pathos der Wissenschaft im Idealismus, zurückge-
hend auf die Aufklärung, zu der Kant und Fichte ein durchaus positives Verhältnis hatten; sie ist erst seit
Schelling vom deutschen Geist verlästert worden. Im Esquisse von Condorcet ungeheures Pathos des Be-
griffs der Wissenschaft. Sie wird dem Inbegriff der Fertigkeiten gleichgesetzt, durch die der Mensch über

558
die Tierheit sich erhebt: sie ist das Organ des Fortschritts. Unterdessen hat die Geschichte die Äquivalenz
von Fortschritt und Wissenschaft dementiert. Die Fortschritte der Wissenschaft verbinden sich mit drasti-
schen Rückschritten der Gesellschaft. Aber das Pathos der Wissenschaft, das allein aus der Vorstellung jener
Äquivalenz aus dem 18. Jahrhundert stammt, ist der Wissenschaft geblieben. Es ist buchstäblich fetischisiert.
Denn nachdem jene Einheit durchschnitten ward, sind unendlich viele Wissenschaften, vor allem Geistes-
wissenschaften, sich selbst zum Endzweck geworden und verkümmert; es blühen nur die, mit denen der
Weltgeist ist, die technologisch verwertbaren. Viele Geisteswissenschaften haben überhaupt keine andere
raison d’être als die, Wissenschaft zu sein. Im tiefsten beweisen sie es selber und ziehen daraus ein Ressenti-
ment, das sie vorweg um jede eigentliche Produktivität bringt. Um jenem Begriff von Wissenschaften, der
sich weitgehend von den historischen Schulen und von den Naturwissenschaften herleitet, zu genügen,
verbieten sie alles, was der Wissenschaft überhaupt einen Sinn geben könnte, als weil es die Spielregeln ver-
letzt, die einmal Abwehr von Aberglauben meinten, während sie längst zum Aberglauben wurden.

Hinweis auf die Äußerung des Kollegen, es wäre ein völlig geistloses geisteswissenschaftliches Werk trotz-
dem geistig vermittelt, weil es zu der betreffenden akademischen Disziplin dazu gehört.

Die sozialen Motive für das Anwachsen der Heteronomie, für jene Dumpfheit, die produktives Denken
und damit die Einheit von Forschung und Lehre verbietet, sind zum Teil sehr drastisch. Erinnern an die
Zahlen: Quantität schlägt in Qualität um. In einem Seminar von 800 Teilnehmern wird Einheit von For-
schung und Lehre zum Hohn.791

559
Zustrom neuer traditionsarmer Schichten mit dem Wunsch nach Ausbildung, nicht Bildung.792 Das Mo-
ment des nichts mitbekommen Haben, der Bilderlosigkeit.

Zuspitzen: Bildung selbst als Ballast. Wer ein Gedicht von Hölderlin versteht, kann kein Texter werden.

Dies auch auf der Seite der Lehrer: Rückzug auf die eigene Arbeit wird gewissermaßen in die Freizeit ver-
legt, schlechtes Gewissen, wenn man etwas produziert. Der Professor in der Defensive, gegen die Studen-
ten, die ihn am Arbeiten verhindern. Dies und die darin liegenden psychologischen Komplikationen si-
cherlich einer der Gründe des oft beklagten Mangels an Kontakt.
Der Typus des subalternen heteronomen Lehrangestellten in der Aszendenz. Der Assistent als Professor Gei-
stige Freiheit als literatenhaft, spekulativ usw. verübelt. Der falsche Stolz auf Wissenschaftlichkeit. Das
Schimpfwort geistreich. Hierher etwas über den Zustand der deutschen Universitäten ohne Juden.

Die Vorlesung wird zum Textbuch und durch ein solches ersetzbar, das Seminar zum Repetitorium.

Was tun? Zuerst sich bewußt werden. Vorweg sagen, daß die Möglichkeiten der Veränderung gesellschaftlich
beschränkt. Keine soziologisch naive Universitätsreform. Aber andererseits, weil heute alles der gesell-
schaftlichen Problematik unterliegt, und in die Gesellschaft unmittelbar kaum sich eingreifen läßt, dabei

560
auch nicht sich begnügen. Das Problem der Verbesserung wird durch die Übermacht der Totalität neu ge-
stellt.

Unterschied geschlossener und offener Wissenschaften (Dahrendorf). In den geschlossenen ist die Tren-
nung wohl überhaupt nicht abzuschaffen, höchstens bewußter zu scheiden zwischen Dingen, die in Lehr-
büchern stehen und solchen, die notwendig auf lebendige Kommunikation verwiesen sind.

Ich beschränke mich auf einige Gedanken über offene Wissenschaften, und zwar über die Disziplinen, für
die ich selbst akademisch einstehe, obwohl ich zu anderen Geisteswissenschaften auch einiges zu sagen
hätte.
Philosophie

1) Vorlesung als Reflexion. Soll prinzipiell nicht wiederkäuen, was rationaler aus Büchern anzueignen ist.
Philosophische Vorlesungen sollen dem Kantischen Diktum, Philosophieren lehren, Genüge tun. Der
richtige Instinkt Simmels. Die Schwierigkeiten dabei: Mangel an Stoff usw. für Examina in den Kauf zu
nehmen. Problem der Examensforderung in Philosophie.

2) Seminar. Wo Texte erarbeitet werden, geht es um ihr Verständnis und um ihren Wahrheitsgehalt, nicht
um philologische Fragen. Interpretation möglich nur durch Kritik. Sonst gibt es kein Verständnis eines an-
spruchsvollen Textes. Beispiel: Hegel, Übergang von Grund zur Existenz, oder Materialismus-Seminar.

561
3) Doktorarbeiten und Habilitationsschriften aus dem Seminar entwickeln, und zwar nicht nur aus Refera-
ten, sondern vor allem auch aus Motiven der lebendigen Diskussion. Forderung an Produktivität dabei.
Keine fetischistische Abdichtung der Oberseminare, dafür aber nur solche reden lassen, die im Ernst die
Probleme fördern.

4) Das Protokoll als pädagogisches Mittel und als Forschungsinstrument.


Soziologie

Einheit von Forschung und Lehre in dieser offenen Wissenschaft verhältnismäßig glücklich in der Form des
Seminars als Praktikum. Darüber hinaus Studenten heranziehbar zu Forschungsprojekten.

Versuch zur Produktivität zu erziehen gegen die Tabus der offiziellen Wissenschaft.

A-Skala.
Qualitative Analyse.

Schließen mit Schönberg: dieses Buch habe ich von meinen Schülern gelernt.

562
Vortrag in der Musikhochschule am 23.2.1962 22.2.1962

Musikalische Bildung heute

Ausgang von der Zweiteilung in Beruf und Publikum.


Diese Gegebenheit, darum muß man von ihr ausgehen, auch sie selbst reflektieren. In ihr selbst schon Bildungs-
krise: das Inzestuöse des Fachmanns, das Beziehungslose der anderen.
A Bildung der Musiker.
Scheinbar selbstverständlich: »Ausbildung«.
Aber darin Problem

563
1) Keine sichere Tradition, nach der man sich richten kann.
Autonomie ohne Möglichkeit, sie zu verwirklichen.
Die Unverbindlichkeit des Gelernten für die Praxis.
Komposition und theoretische Fächer.
Reflexion auf das, was man tut; nicht unmittelbar.
Gegen die versteckte Handwerkerei: daß Bewußtsein schade. »Ideologie des Unbewußten«
Ausdruck des Ausschlusses von Bildung; zugleich immanent untriftig.
Argument dagegen: Die Werke selbst geistige, erschließen sich erst dem Geist.
Die Angst, etwas zu verlieren, als das Dilettantische. Gymnastikmädchen Debussy.
Durchs Antidilettantische der Bruch befördert. Auch Fachmann beschränkt. Debussy vs. Mahler.
Gilt auch für die Reproduktion.
Durch Zerfall lebendiger Überlieferung jedes Werk als Problem
Die Unmöglichkeit jeden Werkes.
Der Interpret muß das Problem bestimmen
Beispiel: Berg-Konzert.

2) Das lag zwischen Ausbildung und Moderne.


Seine Notwendigkeit heute ableiten. Nominalismus; Absenz des Allgemeinbegriffs.
Modern als bittere Pille. Beziehungslosigkeit. Man hat nichts davon, deshalb versteht man es nicht. Im dop-
pelten Sinn: für sich und praktisch. Où il n’y a pas le vrai besoin, il n’y a pas le vrai plaisir.
Perversion des Zustands. In Wahrheit nur das Neue verständlich. Früher umgekehrt. Schlüsselcharakter der

564
fortgeschrittensten Produktion.
Bei Meister studieren. Werke analysieren. Aber für möglichst strenge schulmäßige Ausbildung, wie Akt-
zeichnen. Vor allem strenger Kontrapunkt. Einschränkung als Schule des Refus. Studium in den Extremen. Unbe-
dingt kompositorische Ausbildung, auch für Sänger und Instrumentalisten.

3) Problem der Erfahrungen. Etwas viel Tieferes. Krenek: »nicht neugierig mehr«.
Beispiel Franz und Helene.
Es geht um die Erfahrungsfähigkeit, die verkümmert.
Das Sekuritätsbedürfnis, nicht aus dem Überdachten herauszutreten.
Die Angst als Fessel.
»Keine Zeit«.
Der Vorrang des Betriebs. Ökonomische Gründe. Konjunktur + Armut.
Das sich in Aufgaben Einordnen.
Problem der Autonomie.
Verwechslung von Heteronomie und Bindungen.

4) Bildungskrise in der Ausbildung. Musikalische Bildung unterliegt der Bildungskrise insgesamt.


Die Konfiguration von Technik und Anpassung. Die Isolierung von Technik, Methode, von der Sache gründet im
instrumentellen Denken. Substitution von Mitteln für Zwecke.
Nicht wissen, was ein Kunstwerk ist.
Reicht bis tief in die Avantgarde: Basteln.

565
Man könnte sagen: ein Künstler muß es nicht wissen. Heute aber doch.
Das Problem der Halbbildung. Historische Fluktuation der Bildung von Musikern.
Schon bei Wagner. Sein Schlucken von Weltanschauungen mit Paranoia spezifisch Halbbildung.
Schönbergs Problem ist ein Bildungsproblem.
Das Wüten in den eigenen Werken durch Texte. Fachmann (als Lehrer mit Rezepten) und Theosoph. Das
Herabsinken unter sich selbst.

5) Konkrete Beispiele.
Mangel an Einsicht in die innere Möglichkeit von Formen.
Das »Es liegt mir« anstatt Qualität.
Techniker mit Rezepten.
Urteile über moderne Werke (Wirkung und: wie sie sich spielen; die Zufälligkeit dabei).
Die Mode der Webern-Variationen. Billig schießen. Unverständlich ohne Kenntnis des Gesamtkomplexes.
Angst vor Extremen. Zum Beispiel: »Das klingt nicht« – auch wo es gar nicht klingen soll. Oder: »So lang-
sam kann man das nicht spielen« – auch wenn es so geschrieben steht.
Das sich Verlassen auf Tradition (das heißt, wie es halt gemacht wird, das heißt fast stets konventionell und
falsch) und auf Geschmack, als ein Willkürliches. Gute musikalische Manieren haben; ihr Positives und ihr
Umschlag ins Mechanische. Nicht in die Gesetzlichkeit der Werke eindringen.

6) Bildung und sogenannte Naturmusikalität.


Diese als Problem. In ihr steckt unendlich viel drin; Umittelbarkeit vermittelt. Daher auch nicht absolut; trügerisch.

566
Ein notwendiges Moment.
Ohne sie geht es nicht (gegen den Ressentimenttyp) (gegen Abiturzwang usw.)
Wo die letzte Spur Grüner Wagen getilgt, keine Kunst mehr.
Aber der Vagabund tendiert zum Lakaien.
Aber dDie Stärke von Naturmusikalität zeigt sich darin, daß sie sublimiert und festgehalten wird: eben dies
ist Bildung. (Humboldt)

7) Bildungssurrogate der Musiker.


Weltanschauung, die der sogenannten Technik äußerlich aufgeklatscht wird.
»Ästhetik« – Stilwille von außen.
Man könnte die Problematik der zeitgenössischen Musik einmal unter dem Gesichtspunkt der Bildung darstellen.
Auch Strawinsky, wie Schönberg, ein Bildungsproblem: die substantielle Bildung wird ersetzt durch Stil-
gesinnung.
Hindemith: Rancune des Handwerkers. Gegen die Haltung der Verstocktheit des Praktikers.
Britten: sophisticated Oxford man, aber kein Musiker. Bildung äußerlich.
Der Ersatz das Anhorten von Kenntnissen. Der Belesene, der Sammler usw.

8) Der Funktionswechsel der Universität Naivetät.


Wird, im Zeitalter der Massenkultur, zum kunstfeindlichen Konformismus.
Schon im späteren neunzehnten Jahrhundert die naiven Musiker problematisch (Dvorak).

567
Naiv heißt: sich nach der Welt richten. Geht nur, solange kein Bruch zwischen Produktivkraft + Produktionsverhältnis.
Mozart wird äußerlich Deutschland wenig benoetigt [?].
Programme. Die Konzessionsstücke. Wiederholung des Immergleichen als Legitimation. Konzessions-
schulzen. Circulus vitiosus mit dem Publikum. – Spielen als playing up to.

9) Einige Desiderate.
Selbstreflexion: Notwendigkeit, ein bewußter Mensch zu werden.
Reflexion auf die soziale Umwelt, anstatt sie hinzunehmen. Einsicht in den Konflikt von Sache und Re-
zeption.
Reflexion auf die eigene Arbeit.
Unabhängigkeit von der Autorität der Vorbilder.
Vorrang der Produktion.
Musik lesen und nach der Imagination disponieren. Unbedingt nach Partituren, nicht Stimmen studieren.
Analyse als Voraussetzen.
Strukturell hören.
Funktion, Sinn der Momente.
Selbstkontrolle in der Realisierung des Erkannten.

B793 Einige Worte über musikalische Bildung der Nichtmusiker.


Keine Kennerschaft mehr.
Soziologisch: nicht mehr cour et ville.
Musikalisch: die Spezialisierung.

568
ernsthafte Möglichkeit nur: sich zum Spezialisten machen.
Kulinarische Haltung verfehlt die Sache. Der »schöne Ton« z. B. ist bei einer Darstellung von Beethovens Violinkonzert
nur akzidentell.
Der Ersatz der Beziehung durch die öffentliche Meinung.
Kategorien des Geblöks. Schutzimpfung.
»Ja, bei Alban Berg, da kann ich mit, aber Schönberg, das ist doch zu intellektuell« – »Die neue Musik ist
genau so kalt und unmenschlich wie unsere Welt« – »Wo bleibt das Menschliche, das Gefühl« – »Ja, wo soll
denn das alles hinführen« – »Das alles sind Übergangserscheinungen«. »Ich glaube nicht, daß diese Musik
jemals sich durchsetzen wird und so verständlich werden wie die Klassik«
Frage: wenn alle es sagen, ist nicht etwas dran?
Dagegen spricht die Stereotypie.
Objektive Unwahrheit, Widerlegbarkeit.

Die Zwischenschaltung der Sphäre Würdigung. »Du und die Musik«.


Information und anekdotisches Wissen ersetzt Beziehung zur Sache.
Musikalische Erfahrung heute = Kraft des Widerstandes
Kein Vertrauen auf Kritik.Siehe nächste Seite 6 a794 !
Durchschauen der Fassade des Musiklebens.
Gegen Bildungsfetischismus.

Schluß795

569
Dessen bewußt, daß all dies viel zu tief liegt, als um nur innermusikalisch korrigiert zu werden.
»Es gibt kein richtiges Leben im Falschen« – auch musikalisch.
Nur Möglichkeit: bewußt zu machen.
Bildung heute setzt ein mit der Einsicht in ihre Unmöglichkeit.
23.II.62

– 6a –

Auf Kritik herumhacken: irrationalistische bürgerliche Kunstreligion, Angst um unkontrollierbaren Le-


bensbezirk, Aversion aller schlechten Positivität gegen ihre Erschütterung.
Subjektive Reaktion des Kritikers nicht der Objektivität des Urteils entgegengesetzt sondern dessen Be-
dingung: jedoch nicht sie undialektisch als Besitz hüten.
Für Recht der Kritik: ihre Abschaffung durch die Nazis.
Geschichtliche Entfaltung der Werke ereignet sich im kritischen Medium (Geschichte der Kritik Beet-
hovens).
Aufgabe der Kritik: Benjamin: Das Publikum muß stets Unrecht erhalten und sich doch immer durch den
Kritiker vertreten fühlen.
Liberalität der eigenen Meinung gegen die öffentliche: Paul Bekker Angriffe auf Strauss und Pfitzner. (Frankfur-
ter Zeitung, auch hier Grenzen des »Das geht zu weit«).
Ende der Liberalität: Information statt Arbeit, Bindung an Auftraggeber, sich angenehm machen. Grund: mangelnde Zustän-
digkeit. Bei einer Musik nur noch das cénacle zuständig, zu dem die Kritiker sollen gehören; dort aber sofort Parteiischkeit.

570
Lockung für die Kritiker mitzublöken, wenig zu tun mit ihren Richtungen. Zum Beispiel bei Gurrelie-
dern: Wagnernachfolge, Ende des spätromantischen Stils – auf das hinweisen, was sowieso, nach Brahms,
jeder Esel hört. Aufgabe des Kritikers fängt an beim Nachweis des spezifisch Neuen dieser Partitur, daß in
dem geläufigen Idiom ein Neues, Ursprüngliches komponiert ward
Nach dieser Logik: Mozart bloßer Haydn-Nachfolger.
Nichtverstehen geht über ins Urteil. Ablehnung vieler neuer Werke resultiert daraus.
Genuine Erfahrung von Musik eins mit Kritik.
Wedekind

»Es sind Ihnen Improvisationen über Wedekind angekündigt.«


Wirklich Improvisationen.
Möglichkeit zu schreiben – nicht feierlichen Vortrag zu halten, selbst wenn einer seiner Aspekte, die Vor-
liebe für den freilich speckigen Frack etwas dergleichen geduldet hätte.

W. nicht zu würdigen sondern herzustellen. Würdigung grotesk.


Respektspersonen demaskiert (Schön).
Der Würdigung ihn entreißen.
Kein Klassiker oder Vorläufer der Moderne. Auf eigenen Füßen gegenwärtig. »Aus seiner Zeit verstehen.« Das

571
Nachsichtige, Flügellahme daran.
Eben dies nicht. W nicht veraltet.
Daß er es sei, ist ein Stück Ideologie. Das Veraltete als das nicht Erledigte. Eben das schockiert. Das Peinli-
che der Wunde wird umgedeutet ins Peinliche aus der Mode gekommener Kleider.

1) Die von ihm attackierten Sexualtabus gelten nicht mehr, »offene Türen«.
Dies aber gar nicht wahr.
W hat nicht den stillschweigend tolerierten außerehelichen Geschlechtsverkehr gemeint, mit dem festen
Freund sonntags nachmittags und der er presstenzwungenen Heirat am Ende, sondern die Entfesselung des
Sexus. Davon keine Rede.
Heute noch können sogenannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens durch Auskramen ihrer Affären
gestürzt werden, und zwar solche aller politischen Bekenntnisse.
Geächtet sind weiter die Abweichungen, Partialtriebe, die nicht eingeordnete Sexualität, die bei W zentral
ist. Nach seinem Wort ist die Geschwitz die Heldin.
Bei W die Verteidigung der Dirnen. Verfolgung der Dirnen, die verschwinden in allen Ländern, als Sym-
bol der Freiheit, dabei keine Illusion über sie. W hatte sie auch nicht, Tod und Teufel.
Scheinbefreiung affiziert den Sexus. Das Narzißtische. Bei W dagegen: kein Weg zum Glück, als andere
glücklich machen.
Die tolerierte Erotik hat die Passion abgeschafft.
Die Ernüchterung erstreckt sich auf den Sexus selbst. In der rationalen Welt wird das Glück albern, wie
umgekehrt die Glückseligkeit der rationalen Welt albern ist.

572
Desexualisierung der Sexualität.
Noch indem es geschieht, geschieht es möglichst nicht.
Gibt es Lust ohne Verbot?
Bei W selbst melancholische Reflexionen im Freudenhaus.

2) W war kein engagierter Sozialkritiker, kein Mann der Emanzipation. Frauenemanzipation als unweib-
lich bekämpft. Frauenlob.
Differenz zu Ibsen, dem er eine skurril allegorische, nicht freundliche Deutung des Baumeister Solneß ge-
widmet hat, die unendlich viel psychoanalytische Interpretationen von Kunstwerken antizipiert.
A propos zum Psychoanalytischen. »Der Mensch als Symbol.« Schigolch, Rodrigo[,] Hugenberg Exkre-
tionen des Surrealismus. Max Ernst.
Grund in der Sache: er ist auf die Grenze der erotischen Utopie in der bestehenden Gesellschaft gestoßen.
Darin Ibsen-Schüler: Gregers Werle, Unmöglichkeit der Wahrheit im Falschen. Die Utopie als Unmögli-
ches, Luftwurzel: das Offene am Jugendstil, bezeugt Ws Kenntnis der utopischen Literatur, auch von St.
Simon.
In einem zentralen Stück ist das thematisch: der Sexualreformer Karl Hetman[n] als dummer August.
Der Dichter objektiviert den Reformer.
Reicht aber bis in die erotische Utopie selbst.
Sie war derart, daß sie das Glück, das sie meint – ein männlich-sadistisches Ideal – als unmöglich erkennt.
Problem schon bei den St. Simonisten, Bazard gegen Enfantin.
Kutscher, die »Große Liebe«, »Todeswollust[«] K II 139, Minehaha, zugleich eine pädagogische Provinz
und eine unausgesprochene Utopie. Minehaha wird zum großen Kunstwerk – einem der wenigen großen

573
Dokumente des Surrealismus in Deutschland – durch den Fragmentcharakter, das Unaufgelöste, das von
Ws Verzweiflung an der erotischen Utopie sich herleitet. Ein Traumamerika als Kythera und Schreckens-
reich.
Ähnlich Sonnenspektrum.
Problem der Trennung von Sexus und Eros.
W nimmt Partei für den von der Agape abgespaltenen, entwürdigten Sexus. (Wie Nietzsche und ursprüng-
lich Freud.)
Wunder Punkt der Gesellschaft, die eben dadurch Anpassung erzwingt. Aber W hat verkannt, daß die
Trennung auch im Sexus Narben zurückließ.
Hemmungslose physische Nähe, Freiheit vom Ekel nicht, wo der Sexus ganz isoliert ist.
Alles unter Cellophan.
Das mindert die Lust, welche die Dirne – im Gegensatz zu Ws Glauben – ohnehin nicht empfindet.
Alle Lust wird weniger, als sie ist, wenn sie nichts ist als Lust.
Kein Ausweg aus der Dialektik der Liebe.
Darum muß er Dramatiker sein. Diese Dialektik wird zur Kraft der Konstruktion, in einem fast technischen Sinn (Sade)
All das heute so offen wie zu seiner Zeit.

3) Damit aber auch künstlerisch aktuell.


Verschränkung von Sache und Wahrheitsgehalt.
Die enge Schule ist nicht mehr, obwohl mehr von ihr ist, als man weiß. Aber ohne sie nicht das Bild von
Melchior und Moritz.

574
Melchiors Studierzimmer mit Pult und Lampe, und dem Tee.
Der Abend im Uferwind,796 wo Moritz sich tötet nur ewig durch seine vergängliche Situation, als leuchte
ein solcher Abend vom Tod dessen, der ihm verfällt.
Ws Dramatik nie naturalistisch.
Die Elemente der empirischen Realität werden durch die Kraft vergänglicher Satire zu einer Bilderwelt,
die lebt. Intention auf Mythologie.
Ihre Lichtquelle – unsichtbar, gebrochen – ist die erotische Utopie, wie sie hinter der imago des Zirkus als
der Welt des zweckfernen Opfers steht, der Sklaverei der Lust.
Freiheit als Hörigkeit aller an alle wie bei Sade.
Bilderwelt nicht eine von Bedeutungen sondern empfängt Farbe von einem – als unmöglich – Unsäglichen.
Das Empirische wird unter dem erotomanischen Blick zum Imaginären.
Dies Moment der imagerie ist zeitlich: Verewigung des Zeitlichsten, als der Gestalt des sex appeal von 1890.
Daß das Zeitlichste das Ewige sei ist Ws Geheimnis und dem Veralten inkommensurabel. Dialektische Bil-
der. »Ewig eher eine Rüsche als eine Idee«.
Denn der Sexus haftet an der Mode.
Sexuell das Ausgezogene[,] nicht das Nackte. Gerade das heute verdrängt.

Körperliche gegen geistige Kunst, Kunst-Künstler. W darin wie in vielem unendlich naiv, überhaupt im
Ideengehalt; was bleibt ist das nicht Ideelle.
Kunst a priori ein Geistiges.
Polemisch gemeint: gegen Kunst als Ideologie.

575
Kunst als Beziehung auf ihre Andersheit. Ahnung, daß Kunst um so weiter sich von sich entfernt, je näher
sie sich selber kommt.
Erwachendes Bewußtsein der Problematik von Geist als Intention, dem Gemeinten, Eingelegten.
Vorform der Krise des Sinnes.
Das Ideal des Intentionslosen.
Absurdität des Zirkus (Beckett). Der Witz vom Bären.
Verwandte Tendenzen in Frankreich, Picasso, Apollinaire, Poète assassiné.
Durchschlagen der Kulturimmanenz.
Die erotische Utopie als Ausbruch.
Das Sardonische: Bewußtsein seiner Unmöglichkeit.
Gegen Naturalismus und Neuromantik

Aber nicht Expressionismus.


Die Situation des Auseinanderklaffens von Seele und Dingwelt.
»Kubismus«. Sternheim, Kaiser. Der antiexpressionistische Brecht.
Dessen Anekdote von W.

W Parteigänger des Leibes, für die entfremdete Dinghaftigkeit.


Kontingenz, Mißverständnis, Fremdheit der Personen, Thomas Mann. Halbe.
Die dinghafte Sprache als Kunstmittel.

576
»Zeitungsdeutsch« als Reflex.
Selbstentfremdung, Subjektlosigkeit. Nicht meßbar am Begriff des Dichters als Subjekt.
Sprache aus Träumen797 der Dingwelt.
Ballett.
Die Tendenz zum Verstummen.
Was die Kraft des Zum ersten Mal hat, wird aber nicht überholt, sondern überflügelt das, was daraus wird,
weil es hinausgreift über das, was daraus werden kann.
Man hat nicht an W sich zu erinnern, sondern kraft des Späteren ihn überhaupt erst einzuholen.
26.6.1964

Strauss – Vortrag am 3. Juli 1964 in der Hochschule für Musik Frankfurt

Vor Fachleuten über Technik. – Kritik an Strauss ihn ernst nehmen.


Ihn dialektisch behandeln. Auch er darf nicht gewürdigt werden.

Begriff der Kompositionstechnik. Sache älter (Bach); durch Reflexion in sich verändert. Dessen Neuheit. Beet-
hovens Wort vom Septimakkord. Allgemein Inbegriff der aufzuwendenden Mittel zur Realisierung des
Komponierten. Verselbständigung von Technik setzt Freiheit des Komponisten voraus, »Verfügung über
das Material«. Trennung von Subjekt und Idiom. Darin auch Problematik

577
Doppelbödigkeit:
a) Technik = integrale Verwirklichung der Sache selbst (objektiv)
b) Technik = Inbegriff der – auf Subjekte – anzustrebenden Wirkungen

Beides nicht unvermittelt. Realisieren = ins Phänomen setzen, nach außen kehren. Dadurch der Wirkung
zugewandt. Tritt aber mit anwachsender Tauschgesellschaft auseinander.
Ähnlich wie Verhältnis objektiver und subjektiver Vernunft.
Geschichtlich variierend. Je mehr Musik Tauschobjekt, auf den Markt verwiesen, desto mehr wächst das
zweite an. Es liegt darin beides: Steigerung und Fesselung der Produktivkraft.
Steigerung: »Was Neues finden«, erweitern. Gerade das gern diffamiert.
Fesselung: »Wirkung ohne Ursache«, Einschränkung autonomer Durchbildung durch Rücksicht auf die
Wirkung. – Extrem: die gesamte leichte Musik.

Spezifisch bürgerlicher Begriff von Technik. Das Erstaunliche sehen. Nachgebildet den Wundern der ma-
teriellen Produktion. Der Gestus des »Na, das ist ja fabelhaft«. – Kunst soll nicht zu ernst sein, ein Für etwas,
nichts an sich. Ihr Fetischcharakter der Ware genossen.
Gerade das Für die Kunden, das sie im Namen des Menschen zu Konsumenten herabsetzt, ist immer auch
Betrug an ihnen.
Die glanzvolle Fassade und das nicht Durchgebildete der Sache selbst.
Fixierung an den partikularen Begriff der Technik, die Mittel anstelle der Zwecke. Das know how, das Wie

578
man’s macht, nimmt die Stelle des Wozu, des Komponierten ein.

Erinnerung an die Reklame für die Frau ohne Schatten wegen der chinesischen Gongs, die gar nicht so wich-
tig sind. ähnlich heute vielfach Elektronik.
Damit ist man im Kraftfeld von Strauss. Einerseits wird Logik Technik als Inbegriff der Wirkungen bei ihm
produktiv; andererseits verkümmert durch Wirkung die Technik.
Qualifizieren: Wirkung bei ihm nicht einfach die Berechnung wie in der leichten Musik, obwohl es an die-
sem Moment nicht fehlt. (Stimm-Feste)
Was Strauss vorschwebte, war ein totaler Zusammenhang von Wirkungen, der zugleich auf der Höhe des
fortgeschrittensten Standes der Kunstmusik seiner Zeit sein sollte, »zwanglos mit Niveau«. – Er wollte nicht
umsonst eine zweite Zauberflöte schreiben, die auseinander gebrochenen Hälften des musikalischen Kos-
mos, die autonome Produktion und den Konsum, vermöge einer Kompositionstechnik nochmals zusam-
menschweißen, die beides deckt.

Aber zu spät, beides zu weit auseinander.


Das Autonome esoterisch, selbst bei größter Drastik der Wirkungen nicht breit wirksam. Die bedeutend-
sten Werke, Salome und Elektra, sind denn auch nicht populär.

Das Wirksame (Rosenkavalier) nicht mehr stimmig.


Bei Primat der Wirkung und der über die Sache selbst Wendung zum Rosenkavalier nur konsequent. Wenn
Wirkung alles, soll es halt wirken.

579
Dabei ruft reift das Populäre im Rahmen inmitten des anderen scheinbar Esoterischen heran.
a) Rückgriff des späteren Strauss auf die Feuersnot, sein eigentümlichstes Werk (bis zur Thematik des Ro-
senkavalier). Auch auf Ele
b) Die Wirkungsmomente schon in der Elektra, und zwar immanent erzeugt (Auflösungsfelder und
Kontrastbedürfnis). Chrysothemis. X Beleg798

Über das Problem des Kontrasts überhaupt etwas sagen. Zentral bei S[trauss]
Einerseits ist Kontrast ein immanentes Kompositionsmittel.
Je mehr die traditionelle Form außer Aktion gesetzt wird, desto wichtiger wird es für die Artikulation des
Verlaufs.
Beethoven sehr sparsam, der reife Wagner fast kontrastscheu.
In Romantik geringen Ranges immer mehr angewachsen, bis zur Desintegration (Tschaikowsky). (Natio-
nalkomponisten; Liedmelodien)
In neuer Musik formkonstitutiv (Schönberg op. 11).
Andrerseits Kontrast Wirkung par excellence, den Hörer nicht auslassen, l’imprévu, Überraschungstech-
nik.
In Strauss findet sich beides zusammen. Überraschung in Permanenz, die Tendenz ihrer Selbstaufhebung
in einem Stil.
Was überwiegt hängt an einem Haar:
schon in Salome drohen die Kontraste der Jochanaanstrophen und ihrer Diatonik zu sprengen.
Knalleffekt wie »als Morgengabe« im Rosenkavalier.

580
Andererseits aus der technischen Idee des Kontrasts die ganze Form, ja der poetische Gehalt der Ariadne
erzeugt, der Kontrast von Opera seria und Opera buffa wird zum überwölbenden Stilprinzip und zum Stil-
bruch in eins. Daran lässt sich ermessen, wie komplex die Frage der Straussischen Technik ist.
Zu dieser Dialektik, daß im Spätwerk die Rücksicht auf die Wirkung diese annuliert.

Das technisch Progressive, was sich lernen läßt.


1) Großzügigkeit, das heißt Kriterium des Ganzen. Das partikulare Richtig und Falsch entfällt: Kompo-
niervirtuosität überflügelt die Schulfuchserei. Identität von Harmonielehre und Komposition gesprengt (auch
über Harmonielehre: ästhetisch) Schoattmann: »von Fehlern wimmelt«. Beispiel etwa Ariadne-Vorspiel.
Technik der höheren Gerechtigkeit. Gefahr der Zufälligkeit, Willkür im Einzelnen.
799
2) Emanzipation der Metrik. Beispiel schon »Traum durch die Dämmerung«. Das Wagnersche De-
klamationsprinzip hatte diese nur wenig affiziert. Jetzt schwingt die freie Sprachmelodie über die ab-
gezirkelten Periodengrenzen. Gegen das Pingelige, die mechanischen Achttakter. Musik aus sich her-
aus schwingend, nicht nach den Taktstrichen. Empfindlichkeit gegen Symmetrie sein Verdienst.
800
3) Damit zusammenhängend Lockerheit. Auflösung des Kompakten. Vorform dessen, was man dann
in der neuen Musik als Aphoristik moniert hat. Die Idee der Luft in der Musik. Heute noch verbind-
lich. Je komplexer der Satz wird, desto mehr bedarf er, als Gegenmittel, der Luft. – Allerdings darin
nicht konsequent – immer wieder Gegenmittel kompakter Flächen. – Bei Strauss Tendenz zur Pole-
miarisierung. – Deren Negatives.

581
4) Stellung zur Tonalität. Man setzt sagt mit Recht, daß er, trotz der Dissonanzen von Salome und Elek-
tra, diese nie verlassen habe. Aber doch nicht ganz zu Recht. Denn Tonalität ist ja nicht einfach ein
Vorrat an Akkorden und Akkordverbindungen. Sie ist ein Bezugssystem, in dem alle harmonischen
Einzelereignisse ihren Ort haben. Dies Bezugssystem hat er gesprengt – das, nicht die einzelnen soge-
nannten Kühnheiten, war das Schockierende an ihm. Die Klänge wissen nicht mehr, wo sie hingehö-
ren. Jeder muß für sich selbst und in seinem spezifischen Zusammenhang stehen. Das ist heute noch verbind-
lich. Bei Strauss war es das nicht ganz – es schwankt zwischen dem absoluten Für sich Gestelltsein der
Ereignisse und Trümmern der traditionellen Bezüge; das ist eine technische Schwäche. Er hat sie zu
kompensieren gesucht. Überhaupt: seine Technik unablässige Suche nach Kompensationen. Das hat
sehr interessante Funde produziert, z. B.:
801
Leitharmonien (Salome, Elektra; ähnlich bei Schönberg und Berg). Diese Leitharmonien müs-
sen charakteristisch sein, deshalb nicht aus dem Fundus. Gebildet durch Zusatz harmonisierender
Töne; wirken atonal.
802
Linien als Bindemittel (Salome)
Strophische Bildungen aus dem Text (Salome)
Einheit großer Komplexe als »Sätze« über ein Motiv im selben Tempo (Ochs I. Akt; Mandr yka-
Erzählung). Mit Vorliebe Presto. – Rudimentär autonome musikalische Formen im Musikdrama.
803
Aber nicht schematisch. Beziehung zu Berg. Von daher dann die Stilisierungen, durch die das im-
mer äußerlicher wird.

5) Polyphonie. »Mittel zum Zweck«, um das Orchester zu entbinden, daher uneigentlicher, schmücken-

582
der oder umschreibender K[ontra]p[unkt]. – Es klingen nur Stimmen, keine isolierten Füllnoten. Aber doch
auch sehr fruchtbar: Emanzipation des Kp von der Schulmäßigkeit. Er wird, damit er klingt, beseelt,
expressiv (Wirkung produktiv). Das Gewebe wird so reich, daß die Bedeutung der reinen harmoni-
schen Stufen doch vielfach dahinter zurücktritt. Das typische Verfahren: 2 oder mehr Stimmen mehr oder min-
der willkürlich kombinieren, sich reibend an festgehaltenen Harmonien oder Harmoniefortschreitungen.804 Aller-
dings, wegen des Schmückenden, selten durchsichtig. – Die melodisch ausschwingenden
Gegenstimmen. Freilich rasch klischiert, Kp-Formeln. – Er hielt schon Wagner für kontrapunktisch,
ging aber musikdramatisch in einem kontrapunktischen Moment, der Motivkombination, weit über
ihn hinaus. Das motivische Leben beginnt das Generalbaßdenken zu verdrängen, bleibt freilich auf
halbem Weg stehen. Immer wieder rein harmonisch-motoriivische Komplexe.
6) Formbildende Funktion der Farbe.
Von Instrumentation her: Instrumente oder ganze Gruppen schweigen lassen, um sie dann desto
wirksamer einzusetzen (vgl. Bearbeitung der Instrumentationslehre von Berlioz). – Z. B. Anfang Capric-
cio und Daphne
Leitinstrumente in Ariadne. Harmonium, Klavier.
Ausdehnung des Orchesterklangs nach den Extremen: dynamischer Kontrast, das Monströse – als Positi-
vum, weit übers Kulinarische hinaus, das Tosende – und das Kammerorchester. Dies freilich als Pseu-
domorphose.

Was heißt all dies als Technik? Machen, nicht aushören. Wir würden sagen: zu wenig materialgerecht, zu
wenig aus diesem geschöpft. Daher bei technischer Meisterschaft technische Mängel:

583
1) Die Souveränität als Gewaltsamkeit. Es wird nicht die Sache die reine ausgehört kompositorische Konse-
quenz gezogen, sondern sie wird gesteuert, beherrscht, nach dem Maß erwarteter Wirkung.
Dadurch immer wieder Brüche: nicht rein wirklich durchgebildet, vor allem nicht die Mikroformen
nach Vorder- und Nachsatz, Fortsetzungscharakter, Durchführung (es gibt bei Strauss eigentlich
keine).
Oberster Ausdruck dessen die fast universalen Stilbrüche. – Bruch zwischen motivischem Leben und
Gesangsmelos. Die Melodien entweder überzogen, oder nur »schöne Töne«. – Das Recht im Kleinli-
chen, das Durchorganisieren. Brahms behält auch Strauss gegenüber seine dieselbe Wahrheit wie gegen
die Neudeutschen. Es gibt bei Strauss weder einen reinen Satz noch einen reinen Stil.
2) Verhältnis von Vertikale und Horizontale nicht ausgetragen. Dadurch oft beides affiziert: die Harmo-
nik getrübt, anstatt wirklich erzeugt zu sein; die Kontrapunkte in Gefahr, zu Formeln zu degenerie-
ren. Je mehr beide Dimensionen in Strauss ihr eigenes Recht zu beanspruchen beginnen, desto un-
versöhnter klaffen sie auseinander. Von hier aus Zwölftontechnik verstehen.

3) Tonalität. Es gibt kein autonomes, rein musikalisches Organisationsprinzip an ihrer Statt, wie die
konsequente Atonalität. Organisiert wird immer – in den symphonischen Dichtungen und in den
Opern – von dem poetischen Vorwurf her. Daher die eigentümliche Unversbindlichkeit der Straussi-
schen Formen. Zeigt sich vor allem an den Schlüssen.

4) Zur Frage des Klangs. Die Phrase von der »blendenden Instrumentation«. Aber gut klingt nur, was

584
kompositorisch gerechtfertigt – »ausinstrumentiert« – ist. Löst sich der Klang von der Komposition
ab, so ist er auch als Klang nicht mehr gut. Das Kulinarische ist, in seiner Kompositions- (= Geist-)
Fremdheit immer zu süß und schmeckt auch nicht mehr.
Überdies: Widerspruch zwischen dem Anspruch des Klangreizes und dem Dürftigen, was in ihm sich
vollzieht. Die überreiche Fassade hebt die Armut der dahinter sich abspielenden kompositorischen
Ereignisse erst recht hervor. Zum Beispiel im Tanz der Salome. Der technische Mangel des Schmük-
kenden. Es ist einerseits unökonomisch, andererseits dann aber auch nicht durchzuhören und wird
zum Schleier vor den kompositorischen Vorgängen.
Man kann die Bedeutung alles dessen für die neue Musik kaum überschätzen. Einerseits führt die Straussi-
sche Emanzipation vom Idiom und damit seine immanente Forderung der autonomen Durchbildung aller
Dimensionen dicht an deren Schwelle (Rufer hat in der Arabella Zwölftonbildungen nachgewiesen, in
dem Zdenka-MutterMatteo-Komplex). Andererseits hat er alle die Forderungen, die aus seinen Gebilden
aufsteigen, abgebogen und durch seine rückläufige Gesamtentwicklung das auch noch ideologisch sanktio-
niert. Man sagt kaum zuviel: die neue Musik ist die bestimmte Negation von Richard Strausss, die ihn in
sich aufhebt. Seine Wut daher, weil sie ihn gleichsam mit sich konfrontiert, seinem Potential recht gibt ge-
gen das von ihm Realisierte.

Schluß
Das weist zurück auf das Problem von Technik selbst. Idee der integralen Durchbildung.

585
Die bedeutet aber, als Verfügung, immer auch eine Verselbständigung gegenüber dem Material und dem
Komponierten.
Ohne diese Verselbständigung kein Fortschritt des Komponierens, aber sie verstrickt sich unaufhaltsam in
eben das, was die triviale Sprache mit einem Techniker der Komposition meint: Routine, Äußerlichkeit
des Verfahrens gegenüber der Sache. Überschuß der Technik in ihrem eigenen Begriff. Eben dies Moment
ist bei Strauss verklammert mit der Präponderanz der Wirkung, die eben diese Äußerlichkeit gegenüber
der Sache ist.
Von hier aus die Mahnung von Schönberg zur Zeit des Expressionismus gegen die »allein seeligmachende
Technik« zu verstehen.
Nullpunkt gegen Kultur. – Kann darauf nicht bleiben: Technik kristallisiert je sich neu.
Aber Schönberg war selber, gegen Strauss, auch der konsequentere und bessere Techniker.
Darin eine unausweichliche Dialektik – ohne die technologische Dimension so wenig wie durch ihre Kri-
tik.
Heute Spirale wieder bei Strauss im Begriff des technologischen Kunstwerks – bei den besten Technikern
sogar schon wieder mit der Gefahr des Kulinarischen. – Frage nach der Kündigung der Technik würde aktuell wie
im Expressionismus.
Darum ist die Besinnung über die Antinomien von Strauss etwas wie eine über die Urgeschichte des ge-
genwärtigen Komponierens.

586
[Stichworte für den Vortrag »Die Musik im Europa von heute – Deutschland« (Teilabdruck, letzter Teil)]

[. . .]
ad 3)
Massenmedien, vor allem Radio. Hat durch die zunehmende Rolle des Fernsehens gerade musikalisch eine
gewisse Freiheit zurückgewonnen.
Probleme der Massenkommunikation großer Musik: ist sie es noch (Ausnahmesituation, Verschleiß, tendenziell Konsumgut)
Druck der U-Musik, deren ungeheures, quantitatives Überwiegen.
Keine »leichte Muse«; Frage, ob die Massenmedien dieses fraglos von den Hörern ausgehenden, in musika-
lischer Verdummung terminierenden Drucks sich erwehren könnten. Ähnlich wie Papis Kino.
Aufklärung über musikalischen Schund als Erziehungsaufgabe.

587
Schwierigkeiten des Radios wie Mißverhältnis zwischen dem Bedarf der Maschine (Schoens Wort von der
Wurstmaschine805) und hochqualifizierten Werken. –
Zu rechnen mit Hörern im Stand der Zerstreuung, schweres Handicap. –
Planvolle Intentionen neben Abspiegelung des Musiklebens.
Kaum Forderung durchartikulierter, reflektierter Programmpolitik.
Bei der ungeheuren quantitativen Bedeutung einige Vorschläge.
a) Archiv sachlich exemplarischer Aufführungen
b) Entwicklung rundfunkspezifischer Musik: s. Elektronik.
c) Einblick in musikalische Struktur und Anatomie durch Analysen am klingenden Material und Sendung
von Proben. Gegen Monopol der Fertigaufführung. Verflüssigung des musikalischen Bewußtseins
Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
d) Form des running comment und der kontrollierbaren Kritik am Material. NB meine Erfahrung mit der
Missa.

Schluß
In der totalen Gesellschaft sind die Probleme des Musiklebens primär gesellschaftlich und wären nur gesell-
schaftlich zu lösen.

Forderung: Versachlichung des Musiklebens:


Entideologisierung = Hinarbeiten auf adäquates Verhältnis zwischen Sache und Hörendem.
Der Betrieb ist nicht die Kultur, für die er sich hält.
Keine Sachlichkeit à la Motorik usw., sondern richtiges Bewußtsein vom Differenziertesten.

588
Strukturelles Hören.
Überwältigende Zahl aller Aufführungen in demonstrierbarer Weise falsch.
Heute besonders: dirigistisches Musizieren; Fertigfabrikat, ohne den Widerstand der Impulse in der Sache
selbst.
Adäquate Beziehung zur Sache könnte auch helfen, den Bruch zwischen Gesellschaft und Musik zu schlie-
ßen – nicht deren Anpassung.

Nur das immanent, künstlerisch Wahre und Fortgeschrittenste vermag auch gesellschaftlich richtig und
wahr zu sein.
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Anmerkungen des Herausgebers


Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Abkürzungen

Adornos Schriften werden nach der Ausgabe der Gesammelten Schrif-


ten (hrsg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel
Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz, Frankfurt a. M.
1970 ff.) zitiert. Dabei gelten die Abkürzungen:

GS 2: Kierkegaard.KonstruktiondesÄsthetischen.2. Aufl.,1990
GS 3: Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der
Aufklärung. Philosophische Fragmente. 3. Aufl., 1996
GS 4: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten
Leben. 2. Aufl., 1996
GS 5: Zur Metakritik der Erkenntnistheorie / Drei Studien zu
Hegel. 5. [recte: 4.] Aufl., 1996
GS 6: Negative Dialektik / Jargon der Eigentlichkeit. 5. Aufl.,
1996
GS 7: Ästhetische Theorie. 6. Aufl., 1996
GS 8: Soziologische Schriften I. 4. Aufl., 1996
GS 9·1: Soziologische Schriften II. Erste Hälfte. 3.Aufl., 1997
GS 9·2: Soziologische Schriften II. Zweite Hälfte. 3.Aufl., 1997
GS 10·1: Kulturkritik und Gesellschaft I: Prismen / Ohne Leitbild.
2. Aufl., 1996
GS 10·2: Kulturkritik und Gesellschaft II: Eingriffe / Stichworte /
Anhang. 2. Aufl., 1996
GS 11: Noten zur Literatur. 4. Aufl., 1996
GS 12: Philosophie der neuen Musik. 2. Aufl., 1990
GS 13: Die musikalischen Monographien. Wagner, Mahler,
Berg. 4. Aufl., 1996
GS 14: Dissonanzen. Einleitung in die Musiksoziologie. 4. Aufl.,
1996
GS 15: Theodor W. Adorno und Hanns Eisler, Komposition für
den Film. Der getreue Korrepetitor. 2. Aufl., 1996
GS 16: Musikalische Schriften I: Klangfiguren. II: Quasi una fan-
tasia. Musikalische Schriften III. 2. Aufl., 1990
GS 17: Musikalische Schriften IV: Moments musicaux. Im-
promptus. 1982
GS 18: Musikalische Schriften V. 1984
GS 19: Musikalische Schriften VI. 1984
GS 20·1: Vermischte Schriften I. 1986
GS 20·2: Vermischte Schriften II. 1986

591
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Zitate aus unveröffentlichten Briefen von Adorno wurden Korres-


pondenzen entnommen, die sich im Theodor W. Adorno Archiv er-
halten haben; die Archivsignatur ist jeweils angegeben.

592
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Städtebau und Gesellschaftsordnung

Adorno hat diesen Vortrag – den ersten nach seiner Rückkehr aus
der Emigration – am 9. Dezember 1949 beim Städtebaulichen Kollo-
quium der Technischen Hochschule Darmstadt gehalten. Er wurde
abgedruckt in: Adorno. Eine Bildmonographie, hrsg. vom Theodor
W. Adorno Archiv, Frankfurt a. M. 2003, S. 214-228.
Überliefert sind, unter der Signatur Vt 21, Motive zu »Städtebau und
Gesellschaft«, also Stichworte, auf die Adorno sich improvisierend
stützte. Sie werden diplomatisch-getreu wiedergegeben. Druckvor-
lage für den Vortragstext ist eine mit »hk« gezeichnete Transkription,
die als Typoskript (Vt 22) und als Typoskript-Durchschlag (Vt 23) im
Nachlaß aufbewahrt worden ist. Die Nachschrift ist überschrieben
mit: Vortrag von Prof. Adorno beim städtebaulichen Kolloquium der Techn.
Hochschule Darmstadt am 9. Dezember 1949 über [Absatz] »Städtebau und
Gesellschaftsordnung«. Leider ist der Anfang des von Adorno Ausge-
führten nicht erhalten; hier müssen die Stichworte (s. S. 501-507) für
den Vortragstext eintreten.

1. Drei Punkte in eckigen Klammern bezeichnen Lücken in der


Überlieferung der jeweiligen Vorträge.

2. Ruskin wurde konjiziert für Rosebean. – Adorno bezieht sich auf


das »Arts and Crafts Movement«: eine »Reformbewegung englischer
Künstler und Kunsthandwerker Ende des 19. Jahrhunderts unter Ein-
fluss von John Ruskin und William Morris, die sich im Zeitalter der
industriellen Massenproduktion um eine Erneuerung des Kunst-
handwerks bemühte. Die auch sozial engagierte Bewegung wurde
wegweisend für den Jugendstil, den Deutschen Werkbund und das
Bauhaus.« (Brigitte Riese/Hans-Joachim Kadatz, Seemanns Sach-
lexikon Kunst & Architektur, Leipzig 2008, S. 31)

3. Die Künstlerkolonie wurde 1899 durch Großherzog Ernst Lud-


wig (1868-1937) gegründet, der die Architekten Joseph Maria Ol-
brich (1867-1908) und Peter Behrens (1868-1940) sowie weitere Ju-
gendstilkünstler und Kunsthandwerker nach Darmstadt berief. Auf
der Mathildenhöhe wurden u. a. der Hochzeitsturm, das Ernst-Lud-
wig-Haus, das Haus Behrens und das Haus Olbrich errichtet.

4. Konjiziert für sagt.

593
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

5. Der Architekt, Stadtplaner und Denkmalpfleger Karl Gruber


(1885-1966) hatte von 1933 bis 1954 den Lehrstuhl für Städtebau an
der Technischen Hochschule Darmstadt inne. In Leipzig erschien
1937 »Die Gestalt der deutschen Stadt« (Wiederauflage München
1952). Nach Kriegsende entwarf Gruber Pläne für den Wiederauf-
bau von Darmstadt.

6. Kennzeichnend für die Mannheimer Innenstadt, zwischen Rhein


und Neckar gelegen, ist ein planmäßig angelegtes Gitternetz von
Straßen, die Mannheimer Quadrate. Die Anlage geht auf die Zeit um
1600 zurück.

7. Der Architekt und Schriftsteller Werner Hegemann (1881-1936).


Adorno denkt hier wohl vor allem an Hegemanns architekturkriti-
sche Schrift »Das steinerne Berlin. Geschichte der größten Mietska-
sernenstadt der Welt« (Berlin 1930), die Benjamin besprochen hatte
(vgl. Walter Benjamin, Kritiken und Rezensionen, hrsg. von Hein-
rich Kaulen, Berlin 2011, S. 280-286 [Werke und Nachlaß, Bd. 13]).

8. Konjiziert für voraussagen.

9. Der Architekt und Maler Karl Friedrich Schinkel (1781-1841)


hatte am 17. Juli 1826 bei einem Besuch in Manchester über die dor-
tigen Fabrikbauten in seinem Tagebuch notiert: »Die ungeheuren
Baumassen, blos von einem Werkmeister, ohne alle Architektur und
nur für das nackteste Bedürfnis allein aus rothem Backstein aufge-
führt, machen einen unheimlichen Eindruck.« (Aus Schinkels Nach-
laß. Reisetagebücher, Briefe und Aphorismen. Mitgetheilt und mit
einem Verzeichniß sämmtlicher Werke Schinkel’s versehen von Al-
fred Freiherrn von Wolzogen, Dritter Band, Berlin 1863, S. 114) –
Möglicherweise kannte Adorno die Tagebuchnotiz durch Werner
Hegemann, der sie in »Das steinerne Berlin« (a. a. O. [s. Anm. 7],
S. 257) zitiert.

10. Adorno kannte den Norden Berlins aus der Vorkriegszeit durch
Besuche bei seiner späteren Ehefrau Gretel Karplus, die bis 1937 in
der Prinzenallee gewohnt hatte.

11. Konjiziert für Gewinn.

594
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

12. Adorno war am 2. November 1949 nach Frankfurt zurückge-


kehrt.

13. Am 3. November 1949 hatte Adorno in seinem Tagebuch no-


tiert: Lang durch die Stadt. Erst die Bockenheimer Landstraße, für Frank-
furt intakt, d. h. nur etwa jedes 2. Haus kaputt. Überall die wildeste
Wiederaufbau-Aktivität. Die Oper ist ausgebrannt und grinst: Dem Wah-
ren Schönen Guten. Goethestraße, Goetheplatz kaum zu erkennen. Vor
der Hauptwache eine Ruine. Charlottes Zeilpalast ausgebrannt, doch das
Parterre in Betrieb. Die Katharinenkirche, wo ich konfirmiert bin, zerstört;
ebenso Agathens Liebfrauenkirche. Ging die Neue Kräme. Die Altstadt ist
ein nightmare, ein Angsttraum in dem man alles an der falschen Stelle
sieht, so den ganzen Dom, vom Römerberg aus. Der einsam erhaltene
Gerechtigkeitsbrunnen auf dem verwüsteten Römerberg. Erst auf dem Eiser-
nen Steg kam mir das Phantastische des Ganzen recht ins Gefühl; mir
war als wäre ich nicht da. (Adorno. Eine Bildmonographie, a. a. O.
[s. S. 593], S. 210 f.)

14. Adorno nimmt mit Wiederholungszwang einen Begriff auf, den


Sigmund Freud – vor allem in seiner Schrift »Jenseits des Lustprin-
zips« (1920) – geprägt hat. Vgl. Sigmund Freud, Gesammelte Werke.
Chronologisch geordnet, unter Mitwirkung von Marie Bonaparte,
Prinzessin Georg von Griechenland, hrsg. von Anna Freud, E. Bi-
bring, W. Hoffer, E. Kris und O. Isakower, Bd. XIII: Jenseits des Lust-
prinzips/Massen-Psychologie und Ich-Analyse/Das Ich und das Es,
4. Aufl., Frankfurt a. M. 1963, S. 17.

15. Die Wohnung der Familie Wiesengrund befand sich in der


Schönen Aussicht 9, am Mainufer der Altstadt von Frankfurt am
Main. 1914 zog die Familie nach Oberrad, etwas außerhalb der Stadt.

16. Vgl. dazu auch GS 4, S. 120 und GS 8, S. 440. Der befreundete Ar-
chitekt ist vermutlich Ferdinand Kramer (1898-1985), der 1952 Bau-
direktor der Frankfurter Johann Wolfgang Goethe-Universität wur-
de und dies Amt bis 1964 ausübte.

595
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Die Aktualität der Soziologie

Den Vortrag über Die Aktualität der Soziologie hat Adorno am 23. Fe-
bruar 1951 im Auditorium maximum der Universität Marburg ge-
halten. Der Kontext, eine studentische Arbeitstagung über die »So-
ziologie des Politischen«, wird durch zeitgenössische Presseberichte
beleuchtet. Drei Zeitungsartikel sind dazu in Adornos Nachlaß vor-
handen: aus der Oberhessischen Zeitung (26. Februar), der Marbur-
ger Presse (27. Februar) und der Neuen Zeitung (27. Februar). In der
Marburger Presse war zu lesen: »Die Studenten des Soziologischen
Seminares veranstalteten vom 23. bis 25. Februar gemeinsam mit Stu-
denten der Sozialwissenschaften aus Frankfurt und Darmstadt eine
Wochenend-Arbeitstagung, die unter das Motto ›Soziologie des Politi-
schen‹ gestellt war. [Absatz] Auftakt der Tagung bildete der Vortrag
von Prof. Th. W. Adorno (Institut für Sozialwissenschaften [sic!]
Frankfurt) über das Thema ›Die Aktualität der Soziologie‹. Prof. Graf
Solms (Marburg) eröffnete die Zusammenkunft und wies darauf hin,
daß die studentische Initiative besonders zu begrüßen sei. Er wandte
sich gegen weitverbreitete Vorurteile, die man der Soziologie entge-
genbringe, denn die Soziologie sei keineswegs eine sensationelle An-
gelegenheit – die Zusammenkunft solle den Beweis dafür erbringen.«
(Za 149)
Erhalten hat sich in Adornos Nachlaß ein neunseitiges Schema zu
dem Marburger Vortrag »Die Aktualität der Soziologie«. Es ist in drei
handschriftlich umgearbeiteten Typoskripten (Vt 25-27) vorhanden,
von denen eins (Vt 27) von Adorno selbst bearbeitet worden ist und
ihm als Vorlage für die Improvisation diente (s. S. 508-521 der Stich-
worte.) – Für die Herstellung des Vortragstextes wurde eine Tran-
skription herangezogen, die als Typoskript im Nachlaß überliefert ist
(Vt 28). Sie ist von Adorno nicht bearbeitet worden.

17. Max Graf Solms (1893-1968) »studierte 1913 und wieder seit
1920 Staatswissenschaften und Geschichte in Heidelberg, München
und Marburg/Lahn und wurde 1927 bei Ferdinand Tönnies an der
Universität Kiel promoviert. 1932 habilitierte er sich für Soziologie
in Marburg (Die Bestellung der Organträger in den Menschengruppen),
wo er 1941-58 apl. Professor der Soziologie war. Er veröffentlichte
u. a. Kritik der Nationalismen, Sozialismus und Freiheit (1946) und Ana-
lytische Gesellungslehre (1956).« (Deutsche Biographische Enzyklopä-
die, hrsg. von Walther Killy und Rudolf Vierhaus, Bd. 9, München

596
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

1998, S. 365) Die »Analytische Gesellungslehre« ist, versehen mit


Unterstreichungen, Anstreichungen und Marginalien, in Adornos
Nachlaßbibliothek vorhanden.

18. Der Begriff der formalen Anzeige geht eher auf die Philosophie
Martin Heideggers als auf die von Edmund Husserl zurück. Vgl. § 25
von Heideggers »Sein und Zeit« (Tübingen 1927), etwa den ersten
Satz dieses Paragraphen.

19. Am ausführlichsten hat Adorno in einer philosophischen Vorle-


sung vom Sommersemester 1962 die Problematik der Definition be-
handelt; vgl. dazu jetzt: Theodor W. Adorno, Philosophische Terminolo-
gie I und II, hrsg. von Henri Lonitz, Frankfurt a. M. 2016, S. 12-40. –
Zur Kritik der Definition als bloß äußerliche Bestimmtheit vgl. Georg
Wilhelm Friedrich Hegel, Werke. Auf der Grundlage der Werke von
1832-1845 hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel,
Frankfurt a. M. 1970 ff., Bd. 6: Wissenschaft der Logik II, S. 512-519.

20. Zu denken ist an die Marburger Schule des Neukantianismus,


die mit den Namen Hermann Cohen (1842-1918), Paul Natorp
(1854-1924) und Ernst Cassirer (1874-1945) verbunden ist.

21. Am 26. Juli 1949 wurde die Gesellschaft für Sozialforschung ins
Vereinsregister eingetragen, im Folgejahr das Institut für Sozialfor-
schung neu gegründet. Die offizielle Eröffnung des neuen Instituts-
gebäudes fand erst einige Monate nach Adornos Vortrag, am 14. No-
vember 1951 statt.

22. Konjiziert für Philosophie.

23. »Dergleichen ist zwar heute dasjenige, was viele am meisten und
ausschließlich an der Wissenschaft interessiert – ihre psychologische
und soziologische Bedingtheit –, dergleichen ist aber Fassade. Der-
gleichen Soziologie verhält sich zur wirklichen Wissenschaft und ih-
rem philosophischen Verständnis wie ein Fassadenkletterer zum Ar-
chitekten oder – um nicht so hoch zu gehen – zum rechtschaffenen
Handwerker.« (Martin Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphy-
sik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, Freiburger Vorlesung Winter-
semester 1929/30 [Gesamtausgabe Bd. 29/30], hrsg. von Friedrich-
Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a. M. 2004, S. 379)

597
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

24. Adorno könnte an Max Scheler (1874-1928) gedacht haben,


wahrscheinlicher noch an Karl Mannheim (1893-1947), mit dessen
Wissenssoziologie er sich in einem einige Wochen zuvor, am 11. De-
zember 1950 gesendeten Rundfunkvortrag für den RIAS auseinan-
dergesetzt hatte. Vgl. dazu auch die kritischen Arbeiten Neue wertfreie
Soziologie (GS 20·1, S. 13-45) und Das Bewußtsein der Wissenssoziologie
(GS 10·1, S. 31-46). Mannheim spricht verschiedentlich über Kants
Moralphilosophie; indes eine Stelle, die diese aus der gesellschaftlichen
Situation des preußischen Beamtentums ableitet, konnte nicht ermittelt
werden.

25. Im Rahmen der Darmstädter Gemeindestudie, einer empiri-


schen Untersuchung, die das 1949 gegründete Institut für Sozialwis-
senschaftliche Forschung Darmstadt in Zusammenarbeit mit dem
Institut für Sozialforschung durchführte, wurden zwischen 1949 und
1951 Interviews über die Lage der Flüchtlinge geführt. Protokollierte
Gruppeninterviews mit Flüchtlingen gehörten zu dem Erhebungs-
material der Studie. Auch im Zusammenhang des »Gruppenexpe-
riments« (s. Anm. 51) wurden 1950/51 Erhebungen bei Flüchtlings-
gruppen durchgeführt. Vermutlich bezieht Adorno sich auf diese
Untersuchungen.

26. Auf einer großen Konferenz in Waldleiningen, bei der u. a.


Wolfgang Abendroth, Hermann Brill, Theodor Eschenburg, Max
Horkheimer, Eugen Kogon, Dolf Sternberger, Otto Suhr, Alfred
Weber und Georg August Zinn anwesend waren, wurde im Septem-
ber 1949 über die Frage beraten, wie politische Wissenschaften an
den Universitäten und Hochschulen in Westdeutschland einzufüh-
ren seien. Weitere Konferenzen in Berlin (März 1950) und König-
stein (Juli 1950) stellten die Weichen für die Begründung einer eigen-
ständigen Disziplin der Politikwissenschaft.

27. Möglicherweise zu konjizieren: dinghaft.

28. Wilhelm Dilthey (1833-1911) begründete die Erkenntnistheorie


der Geisteswissenschaften in Abgrenzung von den Methoden der
Naturwissenschaften. Seine Arbeit zur »Jugendgeschichte Hegels«
(1906) war bedeutsam für die ›Hegel-Renaissance‹ zu Beginn des
20. Jahrhunderts.

598
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

29. Ferdinand Tönnies (1855-1936) publizierte »Gemeinschaft und


Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Socialismus als
empirischer Culturformen« (Leipzig 1887). Das Buch erschien 1912
in zweiter Auflage, bis 1935 erlebte es sechs weitere. Es errang in
Kreisen der Jugendbewegung eine gewisse Popularität und hatte
weitreichenden Einfluß auf die deutsche Soziologie. Tönnies dia-
gnostizierte die Auflösung der gemeinschaftlichen »Kultur des Volks-
tums« und die Durchsetzung der »Zivilisation des Staatstums«. Der
Gemeinschaftsbegriff, in seiner Entgegensetzung gegen den der Ge-
sellschaft, wurde später von den Nationalsozialisten instrumentali-
siert (›Volksgemeinschaft‹).

30. Tönnies wurde im April 1930 Mitglied der SPD. Er lehnte Hitler
und den Nationalsozialismus ab. Den Machthabern unliebsam ge-
worden, wurde er im September 1933 ohne Pension von der Univer-
sität Kiel entlassen.

31. Vgl. dazu auch den am 14. Dezember 1951 in Weinheim gehal-
tenen einflußreichen Vortrag Die gegenwärtige Stellung der empirischen
Sozialforschung in Deutschland (jetzt GS 8, S. 478-493). Adornos Wein-
heimer Vortrag weist Überschneidungen mit dem hier abgedruckten
über Die Aktualität der Soziologie auf.

32. Die Untersuchung wurde Mitte der 1940er Jahre in einer Ko-
operation zwischen dem Institut für Sozialforschung (Institute of
Social Research) und der Berkeley Public Opinion Study Group um
R. Nevitt Sanford und Daniel J. Levinson durchgeführt. Zu den Er-
gebnissen vgl. The Authoritarian Personality, by T. W. Adorno, Else
Frenkel-Brunswik, Daniel J. Levinson, R. Nevitt Sanford in collabo-
ration with Betty Aron, Maria Hertz Levinson and William Morrow,
New York 1950. (Studies in Prejudice. Vol. I.) – Die Kapitel, die
Adorno allein oder zusammen mit anderen Autoren geschrieben hat,
sind abgedruckt in: GS 9·1, S. 143-509.

33. Vgl. dazu den Abschnitt über The »functional« character of anti-
semitism in The Authoritarian Personality, ebd., p. 609-612, v. a. p. 611.

34. Die große deutsche Soziologie meint hier wohl Ferdinand Tönnies,
Georg Simmel und vor allem Max Weber.

599
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

35. Zum Begriff der Zweckrationalität vgl. die einschlägige Bestim-


mung von Max Weber: »Zweckrational handelt, wer sein Handeln
nach Zweck, Mittel und Nebenfolgen orientiert und dabei sowohl
die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die Nebenfol-
gen, wie endlich auch die verschiedenen möglichen Zwecke gegen-
einander rational abwägt [. . .].« (Max Weber, Wirtschaft und Gesell-
schaft, Grundriß der verstehenden Soziologie, Fünfte, revidierte
Auflage, besorgt von Johannes Winckelmann, Studienausgabe, Tü-
bingen 1980, S. 13)

36. Zum Begriff der Wertfreiheit vgl. Max Weber, Die »Objektivität«
sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis [1904], in:
ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. 3., erweiterte
und verbesserte Aufl., hrsg. von Johannes Winckelmann, Tübingen
1968, S. 146-214, v. a. S. 146-148; vor allem aber Max Weber, Der
Sinn der »Wertfreiheit« der soziologischen und ökonomischen Wis-
senschaften [1917], ebd., S. 489-540.

37. Robert Michels (1876-1936) publizierte 1911 in Leipzig »Zur


Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie«. Die
»Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppen-
lebens«, wie das Buch im Untertitel heißt, knüpfen an die Soziologie
Max Webers an; sie gelten als Michels’ Hauptwerk. Michels stellt ein
»ehernes Gesetz der Oligarchie« auf und schreibt: »Wer Organisation
sagt, sagt ohnehin Tendenz zur Oligarchie [. . .] Mit zunehmender
Organisation ist die Demokratie im Schwinden begriffen« (S. 32 f.);
und in der »Schlußbetrachtung«: »Das Führertum ist eine notwendi-
ge Erscheinung jeder Form gesellschaftlichen Lebens.« (S. 383) – Mi-
chels, der von Deutschland nach Italien übergesiedelt war, wurde
Anhänger Benito Mussolinis und trat 1928 dem Partito Nazionale
Fascista bei.

38. Das Hauptwerk des Geschichtsphilosophen Oswald Spengler


(1880-1936) ist »Der Untergang des Abendlandes«; es erschien in
zwei Bänden 1918 und 1922.

39. Von dem »Cäsarismus«, der gegenwärtig wieder hervortrete,


handelt Spengler vor allem im zweiten Band von »Der Untergang des
Abendlandes«. In einer Fußnote heißt es: »Die deutsche Verfassung
von 1919, also schon an der Schwelle der absteigenden Demokratie

600
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

entstanden, enthält in aller Naivität eine Diktatur der Parteimaschi-


nen, die sich selbst alle Rechte übertragen haben und niemand ernst-
haft verantwortlich sind. Die berüchtigte Verhältniswahl und die
Reichsliste sichern ihnen die Selbstergänzung. Statt der Rechte des
›Volkes‹, wie sie die Verfassung von 1848 der Idee nach enthielt, gibt
es nur solche der Parteien, was harmlos klingt, aber den Cäsarismus
der Organisationen in sich schließt. In diesem Sinne ist sie allerdings
die fortgeschrittenste Verfassung des Zeitalters; sie läßt das Ende
bereits erkennen; einige ganz kleine Änderungen, und sie verleiht
Einzelnen die unumschränkte Gewalt.« (Oswald Spengler, Der Un-
tergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltge-
schichte, Zweiter Band: Welthistorische Perspektiven, 16.-30. Aufl.,
München 1922, S. 573) Vgl. dazu auch Adornos Arbeit Spengler nach
dem Untergang (jetzt in: GS 10·1, S. 47-71; v. a. S. 56).

40. Die Rickert-Diltheysche Problematik meint hier den Versuch der


Begründung der Geisteswissenschaften bzw. historischen Wissen-
schaften, die sich vom Modell der Naturwissenschaften löst. Vgl.
dazu vor allem: Heinrich Rickert, Die Grenzen der naturwissen-
schaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die histo-
rischen Wissenschaften, 3. und 4. verbesserte und ergänzte Aufl.,
Tübingen 1921; Wilhelm Dilthey, Einleitung in die Geisteswissen-
schaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesell-
schaft und der Geschichte, Erster Band, Leipzig 1883; Wilhelm
Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissen-
schaften, Berlin 1910 (Abhandlungen der preußischen Akademie der
Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse).

41. Konjiziert für Wahrheit.

42. Robert S. Lynd (1892-1970) und Helen M. Lynd (1894-1982)


veröffentlichten: Middletown. A Study in Contemporary American
Culture, New York 1929; dieselben, Middletown in Transition. A
Study in Cultural Conflicts, New York 1937. Diese beiden empirisch
ansetzenden Untersuchungen waren Vorbild für die Darmstädter
Gemeindestudie. Zu Lynds Kritik der Faktenhuberei in den Sozial-
wissenschaften vgl. Robert S. Lynd, Knowledge for What? The
Place of Social Science in American Culture, Princeton 1939.

601
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

43. Vgl. zu dem folgenden vor allem Klaus A. Lindemann, Behör-


de und Bürger. Das Verhältnis zwischen Verwaltung und Bevölke-
rung in einer deutschen Mittelstadt, Darmstadt 1952 (Gemeindestu-
die. Monographie 8). Diese Publikation war eins der Resultate der
Darmstädter Gemeindeuntersuchung. Adorno schrieb eine Einfüh-
rung zur Lindemannschen Monographie (jetzt in: GS 20·2, S. 634 bis
639).

44. Vermutlich ist gedacht an die »Unschärferelation«, die Unmög-


lichkeit, gleichzeitig Ort und Impuls eines Teilchens genau zu be-
stimmen.

45. Ab Ende Februar 1938 war Adorno Mitarbeiter bei dem von der
Rockefeller Foundation geförderten »Princeton Radio Research
Project«, dessen Gesamtleitung bei Paul F. Lazarsfeld (1901-1976) lag.
Adorno war für die »Music Study« des Projekts leitend verantwort-
lich.

46. Vgl. dazu Theodor W. Adorno, Current of Music. Elements of a


Radio Theory, hrsg. von Robert Hullot-Kentor, Frankfurt a. M. 2006
(Nachgelassene Schriften I/3); v. a. das Kapitel The Radio Symphony:
An Experiment in Theory, ebd., S. 219-245.

47. George Simpson (1904-1998), dessen Mitarbeit im »Princeton


Radio Research Project« Adorno auch in Wissenschaftliche Erfahrun-
gen in Amerika charakterisiert (vgl. GS 10·2, S. 715 f.).

48. Die »Psychologie des foules« von Gustave Le Bon (1841-1931)


wurde 1895 in Paris publiziert. Es ist das bekannteste Buch der Mas-
senpsychologie der 1890er Jahre, zu der etwa auch Arbeiten von Ga-
briel Tarde (1843-1904) und Scipio Sighele (1868-1913) zu rechnen
sind. Le Bons Schrift hatte sich zur Aufgabe gesetzt, die ›Massenseele‹
wissenschaftlich zu untersuchen. 1908 erschien unter dem Titel
»Psychologie der Massen« die deutsche Übersetzung des Wiener
Philosophen Rudolf Eisler – des Vaters von Hanns Eisler – in erster
Auflage.

49. Vgl. Sigmund Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse


[1921], in: ders., Gesammelte Werke, a. a. O. [s. Anm. 14], Bd. XIII,
S. 71-161. In Kapitel II dieses Buches behandelt Freud »Le Bon’s

602
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Schilderung der Massenseele« (S. 76-87); im darauf folgenden Kapitel


setzt er sich u. a. mit dem Buch »The Group Mind« (Cambridge
1920) von William McDougall (1871-1938) auseinander (S. 90-94).
Bereits in der Einleitung (Kapitel I, S. 74) meldet Freud an: »Die
Massenpsychologie behandelt also den einzelnen Menschen als Mit-
glied eines Stammes, eines Volkes, einer Kaste, eines Standes, einer
Institution oder als Bestandteil eines Menschenhaufens, der sich zu
einer gewissen Zeit für einen bestimmten Zweck zur Masse organi-
siert. Nach dieser Zerreißung eines natürlichen Zusammenhanges
lag es dann nahe, die Erscheinungen, die sich unter diesen besonde-
ren Bedingungen zeigen, als Äußerungen eines besonderen, weiter
nicht zurückführbaren Triebes anzusehen, des sozialen Triebes – herd
instinct, group mind –, der in anderen Situationen nicht zum Ausdruck
kommt. Wir dürfen aber wohl den Einwand erheben, es falle uns
schwer, dem Moment der Zahl eine so große Bedeutung einzuräu-
men, daß es ihm allein möglich sein sollte, im menschlichen Seelen-
leben einen neuen und sonst nicht betätigten Trieb zu wecken.«

50. Der Philosoph und Soziologe Georg Simmel (1858-1918) publi-


zierte 1892 eine Studie über »Die Probleme der Geschichtsphiloso-
phie«, die ab der eingreifend umgearbeiteten zweiten Auflage (1905)
große Bedeutung für die Methodendiskussion in den Sozialwissen-
schaften hatte. Vgl. zum Begriff des Verstehens Georg Simmel, Die
Probleme der Geschichtsphilosophie. Eine erkenntnistheoretische
Studie, 4. Aufl., München und Leipzig 1922, S. 35-42. – Max Weber
hat an Simmels Ansätze zu einer Theorie des Verstehens kritisch an-
geknüpft; vgl. seine berühmte Definition: »Soziologie (im hier ver-
standenen Sinn dieses sehr vieldeutig gebrauchten Wortes) soll hei-
ßen: eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen
und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich er-
klären will. ›Handeln‹ soll dabei ein menschliches Verhalten (einerlei
ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen,
wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen sub-
jektiven Sinn verbinden.« (Max Weber, Soziologische Grundbegrif-
fe, in: Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O. [s. Anm. 35], S. 1)

51. Vgl. dazu Gruppenexperiment. Ein Studienbericht, bearbeitet


von Friedrich Pollock, Geleitwort von Franz Böhm, Frankfurt a. M.
1955 (Frankfurter Beiträge zur Soziologie. Im Auftrag des Instituts
für Sozialforschung hrsg. von Theodor W. Adorno und Walter Dirks,

603
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Bd. 2). – Das »Gruppenexperiment« wurde vom Institut für Sozial-


forschung in den Jahren 1950 und 1951 durchgeführt. Die Reaktio-
nen der Versuchsteilnehmer auf Themen wie ›Konzentrationslager‹,
›Terror‹, ›Ausrottung der Juden‹ oder ›Angriffskrieg‹ wurden der
Analyse unterzogen. Zu dem von Adorno verfaßten Kapitel Schuld
und Abwehr des »Gruppenexperiments« vgl. jetzt GS 9·2, S. 147-325.
Zum ›Grundreiz‹ vgl. den ›Colburn-Brief‹, das fiktive Schreiben ei-
nes Sergeanten der Besatzungsarmee, der seine Eindrücke von den
Deutschen schildert (Gruppenexperiment, S. 501-503, und GS 9·2,
S. 142 f.).

52. Das Typoskript weist an dieser Stelle eine Lücke auf. Anstelle der
Konjektur unrepräsentativ wäre auch eine andere möglich; etwa hetero-
gen.

53. Der Begriff des objektiven Geistes wurde von Hegel geprägt, bei
dem er zwischen subjektivem und absolutem steht. Wilhelm Dilthey
und Georg Simmel haben dem Begriff modifizierte Verwendungen
gegeben, die offenbar dem näherkommen, worauf Adorno hier zu
zielen scheint: überindividuelle, geronnene soziale Realität.

Ad Proust

Den Vortrag zur deutschen Neuausgabe von Marcel Prousts Roman-


werk »À la recherche du temps perdu« hat Adorno zum ersten Mal
auf dem Frankfurter Verleger-Abend gehalten, am 12. November
1953. Der Anlaß war das Erscheinen von »In Swanns Welt« im Suhr-
kamp Verlag. Sodann wurde der Vortrag, ebenfalls ohne festes Manu-
skript, im Januar 1954 im Heidelberger Collegium Academicum und
am 5. Februar 1954 in der Aula der Universität Göttingen in variier-
ter Form wiederholt. Schießlich hielt Adorno ihn noch einmal am
14. Mai 1955 in Freiburg, im Literarischen Salon von Maria Proelss
(1890-1962) und Hanni Rocco (1896-1990), die er aus jungen Jahren
kannte.
Der Vortrag, der hier zum Abdruck gelangt, ist der Heidelberger;
er weist geringfügige Überschneidungen mit den beiden Texten Zu
Proust auf, die in Band 11 der Gesammelten Schriften stehen (vgl.
S. 669-675). Unter den Zuhörern in Heidelberg war auch Alexander
Mitscherlich (1908-1982), der Adorno am 27. Januar 1954 – welches

604
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Datum als Terminus ad quem für den Vortrag genommen werden


kann – einen Dankesbrief geschrieben hat.
Überliefert ist das neunseitige, ad Proust überschriebene Konzept
für den Vortrag (Vt 44), ein Typoskript mit verschiedenen hand-
schriftlichen Schichten. Die maschinenschriftliche Schicht, die vom
8. November 1953 (also vier Tage vor dem Frankfurter Verleger-
Abend) datiert, wurde von Adorno später mit Kugelschreiber, Tinte
und Bleistift eigenhändig ergänzt. Er hat sich offenbar nicht nur bei
dem Frankfurter, sondern auch bei dem Heidelberger Vortrag auf
dies Konzept gestützt, das nicht nur Stichworte fixiert, sondern stel-
lenweise sogar textidentisch mit dem Vorgetragenen ist. Aus diesem
Grund wurde darauf verzichtet, den Entwurf Vt 44 in den vorliegen-
den Band aufzunehmen.
Als Druckvorlage für den Vortrag dient das handschriftlich korri-
gierte und ergänzte Typoskript Vt 47. Auf dessen erster Seite hat
Adorno mit Bleistift notiert: Wörtliche Niederschrift / des Heidelberger
Vortrags / Jan. 1954 / Freiburg, 14. Mai 1955. Die maschinenschrift-
liche Schicht dieses Typoskripts stellt die Niederschrift, will sagen,
Transkription des Heidelberger Vortrags dar, der auf Band aufge-
nommen wurde. Leider hat die Tonaufnahme sich nicht erhalten. –
Die Nachschrift Vt 47 enthält einige Spatien im Text, vor allem für
Titel, die der Bearbeiter oder die Bearbeiterin nicht verstanden hat.
Die meisten dieser Aussparungen wurden maschinenschriftlich oder
von unbekannter Hand gefüllt, wobei offenbar nicht auf die Band-
aufnahme zurückgegriffen werden konnte. – Adorno hat die Tran-
skription nicht durchgehend bearbeitet, aber noch mehrmals zur
Hand genommen; gewiß vor dem Vortrag am 14. Mai 1955. Jeden-
falls finden sich auf Vt 47 Korrekturen, Marginalien und Einfü-
gungen von Adornos Hand, mit Bleistift und mit Kugelschreiber.
Die Transkription insgesamt blieb indes lücken- und fehlerhaft. Ge-
geben wird der Text, der dem nahekommt, was Adorno im Januar
1954 in Heidelberg gesagt hat. – Der Titel Ad Proust wurde vom
Herausgeber eingesetzt.

54. Unter dem Titel »Der Weg zu Swann« war 1926 in dem Verlag
Die Schmiede der erste Band von Prousts Romanzyklus in einer
Übersetzung von Rudolf Schottlaender (1900-1988) erschienen.
Diese Übersetzung wurde von dem Romanisten Ernst Robert Cur-
tius (1886-1956) einer vernichtenden Kritik unterzogen. Vgl. Ernst
Robert Curtius, Die deutsche Marcel-Proust-Ausgabe/Eine Um-

605
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

frage, in: Die literarische Welt, Nr. 2, 8. Januar 1926, S. 4. Im letzten


Absatz der Besprechung resümiert Curtius: »›Du Côté de chez
Swann‹ ist – das dürfte deutlich geworden sein – vom Verdeutscher
übel zugerichtet worden. Es ist ungefähr so, wie wenn Debussy für
die Mundharmonika ›arrangiert‹ würde. Wenn es nur einzelne Ent-
gleisungen wären, aber es handelt sich um Hunderte von Verstößen,
die in ihrer Summierung über das Tragbare hinausgehen.«

55. Der mit Walter Benjamin befreundete Schriftsteller, Lektor und


Übersetzer Franz Hessel (1880-1941).

56. Vgl. Marcel Proust, Auf den Spuren der verlorenen Zeit. Zwei-
ter Roman. Im Schatten der jungen Mädchen. Übersetzt von Walter
Benjamin und Franz Hessel, Berlin o. J. [1927]; Marcel Proust, Auf
den Spuren der verlorenen Zeit. Dritter Roman. Die Herzogin
von Guermantes. Übersetzt von Walter Benjamin und Franz Hessel,
2 Bde., München 1930. – Die beiden Übersetzungen wurden von
Hella Tiedemann-Bartels als Supplement-Bände II und III der »Ge-
sammelten Schriften« Walter Benjamins herausgegeben (Frankfurt
a. M. 1987).

57. Der 1921 gegründete Verlag Die Schmiede mußte 1928 Konkurs
anmelden. Die 1922 erworbenen deutschen Rechte an Proust wur-
den dem Piper Verlag übertragen, der seit Ende der zwanziger Jahre
sein Programm auf internationale Literatur ausweitete.

58. Benjamin schrieb am 18. September 1926 an Gershom Scholem,


die Übersetzung von »Sodome et Gomorrhe« liege »seit langem
von mir übersetzt im Manuscript beim Verlage« (Walter Benjamin,
Gesammelte Briefe, Bd. III: 1925-1930, hrsg. von Christoph Gödde
und Henri Lonitz, Frankfurt a. M. 1997, S. 195). Das Manuskript der
Benjaminschen Übersetzung ist verschollen.

59. Die maschinenschriftliche Vorlage signalisiert hier eine Lücke; sie


wurde von unbekannter Hand ergänzt durch »Wunschphantasie?«.

60. Der französische Artilleriehauptmann Alfred Dreyfus (1859 bis


1935) wurde 1894 wegen angeblichen Verrats militärischer Geheim-
nisse zu lebenslänglicher Deportation verurteilt. Ab 1896 kamen Fäl-
schungen, Unregelmäßigkeiten und antisemitische Hintergründe

606
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

des Prozesses ans Licht. Die Zweifel an der Schuld des Verurteilten
wuchsen. Die Affäre erregte große öffentliche Aufmerksamkeit und
spaltete Frankreich – in die Dreyfusards, die eine Urteilsrevision for-
derten, und ihre Gegner (Anti-Dreyfusards). Am 15. Januar 1898 ver-
öffentlichte die Zeitung »Le Temps« eine unter anderem von Proust
unterzeichnete Petition für die Wiederaufnahme des Prozesses. Die
Revision setzte 1899 eine zehnjährige Gefängnisstrafe fest, die in
eine Begnadigung umgewandelt wurde. Erst 1906 wurde Dreyfus
vollständig rehabilitiert.

61. Zur Freundschaft und Zusammenarbeit von Peter Suhrkamp


(1891-1959) und Theodor W. Adorno vgl. »So müßte ich ein Engel
und kein Autor sein«. Adorno und seine Frankfurter Verleger. Der
Briefwechsel mit Peter Suhrkamp und Siegfried Unseld, hrsg. von
Wolfgang Schopf, Frankfurt a. M. 2003.

62. Auf eine Umfrage nach den stärksten Eindrücken 1953 hatte
Adorno geantwortet: An erster Stelle möchte ich die Neuausgabe von
»Du côté de chez Swann« nennen, mit der mein Freund Suhrkamp eine
vollständige Übertragung der gesamten »Recherche du temps perdu« eröff-
net. (Die Neue Zeitung, 25. Dezember 1953; vgl. jetzt: GS 20·2,
S. 734) – Übersetzt von Eva Rechel-Mertens (1895-1981), einer ehe-
maligen Mitarbeiterin von Ernst Robert Curtius, erschienen im
Suhrkamp Verlag die Bände: In Swanns Welt, 1953; Im Schatten jun-
ger Mädchenblüte, 1954; Die Welt der Guermantes, 1955; Sodom
und Gomorra, 1955; Die Gefangene, 1956; Die Entflohene, 1957;
Die wiedergefundene Zeit, 1957.

63. »In Swanns Welt« war am 26. Oktober 1953 in einer Auflage von
4000 Exemplaren im Suhrkamp Verlag erschienen, plus 200 Bände
für den Vertrieb durch den Rascher Verlag in der Schweiz. Die Lei-
nenausgabe kostete 19,80 DM, Halbleder 25 DM.

64. Der Prager Erzähler Hermann Grab (1903-1949), der auch


als Jurist, Pianist, Musikkritiker und -pädagoge arbeitete, war mit
Adorno seit etwa 1924 befreundet. 1935 publizierte er den Roman
»Der Stadtpark«. Als das Buch im Zeitbild-Verlag (Wien und Leip-
zig) erschien, war im Klappentext zu lesen: »Es ist echte Poesie, die
dieses Buch atmet. Erzählt wird uns die Geschichte eines zarten Kna-
ben, der materieller Sorgen entrückt mit allen anderen Lebenspro-

607
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

blemen in eine Berührung gerät, die zu Konflikten führt. Kinder-


freundschaften entstehen und vergehen, eine Kinderliebe blüht auf,
die Schule wirft Schatten auf das Dasein. Alles wird ernst genommen
und hinterläßt melancholische Einschnitte in der Lebenslinie dieses
frühreifen Knaben. Über dem Ganzen liegt die hauchzarte Däm-
merung eines Herbstnachmittages.« (Zit. nach: Lexikon deutsch-
jüdischer Autoren, redaktionelle Leitung: Renate Heuer, Bd. 9,
München 2001, S. 270) Grab emigierte 1939 über Frankreich und
Portugal in die USA, wo er bis zu seinem Tod in New York an Musik-
schulen unterrichtete. – Adornos Nachruf ist jetzt nachzulesen in
GS 20·2, S. 465 f. Zum Briefwechsel vgl. Malte Spitz, Theodor W.
Adorno/Hermann Grab: Bericht einer unveröffentlichten Korre-
spondenz (Sonderdruck 5), Berlin 2017.

65. Der aus adeliger Familie stammende österreichische Journalist


und Schriftsteller Erik Wickenburg (1903-1998) wurde 1928 Feuille-
tonredakteur der »Frankfurter Zeitung«. 1932 publizierte er den au-
tobiographischen Roman »Farben zu einer Kinderlandschaft«.

66. Henri Bergson (1859-1941), seit 1900 Professor für Philosophie


am Collège de France, bedeutender Vertreter der Lebensphilosophie.

67. Vgl. dazu vor allem Ernst Robert Curtius, Französischer Geist
im neuen Europa, Stuttgart, Berlin und Leipzig 1925, S. 134-145.
Die Seitenverweise beziehen sich auf das letzte Kapitel des Aufsatzes
»Marcel Proust«; es ist mit »Platonismus« überschrieben. – Weiter
vorn vergleicht Curtius Prousts Werk mit dem von Bergson (ebd.,
S. 35, vgl. auch S. 38).

68. Konjiziert für Wied.

69. Adorno bezieht sich auf seinen Aufsatz Valéry Proust Museum,
worin es heißt: Durchwegs bei Proust sind die Reflexionen, durch deren
Gebrauch er auf die ältere vor-flaubertsche Übung des Romans zurückgreift,
nicht bloße Betrachtungen über das Dargestellte, sondern durch unterirdische
Assoziationen mit diesem zusammengewachsen und fallen dergestalt wie
die Erzählung selbst ins große ästhetische Kontinuum, das des inwendigen
Selbstgesprächs. (Valéry Proust Museum, in: Die neue Rundschau, Jg. 64
[1953], Heft 4, S. 552-563, hier S. 555; vgl. jetzt GS 10·1, S. 184).

608
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

70. Vgl. dazu den Abschnitt II von Walter Benjamins Aufsatz Ȇber
einige Motive bei Baudelaire«. Benjamin schreibt, Proust habe »auf
Bergsons Theorie der Erfahrung die Probe« gemacht. »Das reine Ge-
dächtnis – die mémoire pure – der Bergsonschen Theorie wird bei
ihm zur mémoire involontaire – einem Gedächtnis, das unwill-
kürlich ist.« (Walter Benjamin, Gesammelte Schriften. Unter Mit-
wirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hrsg.
von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. I·2,
3. Aufl., Frankfurt a. M. 1990, S. 609) Zur »mémoire pure« vgl. vor
allem den Anfang des 3. Kapitels von Henri Bergson, Matière et Mé-
moire. Essai sur la relation du corps à l’esprit, Paris 1896. Deutsch:
Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwi-
schen Körper und Geist, 2. bis 4. Tausend. Neu übersetzt von Julius
Frankenberger, Jena 1919. (Diese Ausgabe hat sich in der Bibliothek
Adornos erhalten.)

71. Vgl. Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit,
Bd. I: In Swanns Welt, Deutsch von Eva Rechel-Mertens, Frankfurt
a. M., Zürich 1954, S. 70 ff.

72. Konjiziert für 1924. – Vgl. dazu Adornos Stichworte, die die Be-
gegnung mit dem Werk von Proust auf 1924 oder 25 datieren (Vt 44/
1). Der Aufsatz von Stefan Zweig, von dem Adorno im folgenden
spricht (s. Anm. 74), ist für 1924 nicht nachweisbar; das legt die Kon-
jektur 1925 nahe.

73. Karl Kraus (1874-1936) nahm in der »Fackel« unermüdlich das


»Neue Wiener Journal« und dessen Herausgeber Jakob Lippowitz
aufs Korn, vor allem wegen der plagiatorischen Publizistik des
›Diebsblattes‹ – so Kraus – und wegen seiner Annoncenpraxis.

74. Vgl. Stefan Zweig, Marcel Prousts tragischer Lebenslauf, in:


Neue Freie Presse, 27. September 1925, Beilage, S. 27 f. Wiederab-
druck in: Stefan Zweig, Zeit und Welt. Gesammelte Aufsätze und
Vorträge 1904-1940, hrsg. von Richard Friedenthal, Stockholm
1943, S. 21-31; auch in: Stefan Zweig, Zeiten und Schicksale, Aufsät-
ze und Vorträge aus den Jahren 1902-1942, hrsg. und mit einem
Nachwort versehen von Knut Beck, Frankfurt a. M. 1990, S. 277 bis
285.

609
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

75. In Prousts Korrespondenz und in Berichten seiner Haushälterin


Céleste Albaret ist immer wieder von Veronal und Opiaten die Rede,
von denen der Schwerkranke sich Linderung der zum Lebensende
hin sich verschlimmernden Symptome versprach.

76. Die Bezeichnungen ›poésie engagée‹ und vor allem ›littérature


engagée‹ waren seit Jean-Paul Sartres Schrift »Qu’est-ce que la littéra-
ture« (1947/48) verbreitet.

77. Henri Bergson schreibt in der »Einführung in die Metaphysik«


(französisch-deutsch, hrsg., übersetzt und eingeleitet von Sabine
S. Gehlhaar, Cuxhaven 1988, S. 27): »Nichts ist so einfach wie zu sa-
gen, daß das Ich Vielheit oder Einheit oder eine Synthese von beiden
sei. Einheit und Vielheit sind hier Vorstellungen, die man nicht auf
den Gegenstand zuschneiden muß, die man schon fertiggestellt fin-
det und die man nur aus einem Haufen auswählen muß, Konfek-
tionskleider, die sowohl Peter als auch Paul passen, weil sie nicht die
Form eines von beiden darstellen. Aber ein Empirismus, der diesen
Namen verdiente, ein Empirismus, der nur nach Maß arbeitet, sieht
sich verpflichtet, eine absolut neue Anstrengung zu unternehmen. Er
schneidet für den Gegenstand einen Begriff zurecht, der nur auf die-
sen Gegenstand paßt, ein Begriff, von dem man kaum noch sagen
kann, daß er noch ein Begriff ist, weil er nur auf diese einzige Sache
angewandt wird.«

78. Marginalie von Adornos Hand: Aber nicht im Sinn der Philosophie
[x] Welt.

79. Konjiziert für: [. . .] daß hier also die Darstellung des Allerindividu-
ellsten und des Allerallgemeinsten, des Allerausgefallendsten also, daß die ob-
jektive Bedeutung haben sollen.

80. Das Telegramm stammt von Gilberte, der Jugendliebe des Er-
zählers, der sich verliest. Vgl. dazu Marcel Proust, Auf der Suche
nach der verlorenen Zeit. VI: Albertine, Berlin 1976, S. 279-284.

81. Marginalie von Adornos Hand: Differenz.

82. »L’Avare« wurde in Adornos Klasse im Sommerhalbjahr 1919


und im Winterhalbjahr 1919/20 gelesen, in der Obersekunda. Er war

610
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

damals ein 15- und 16-jähriger Schüler. Der Lehrer war vermutlich
Wilhelm Otto Nicolay.

83. Vgl. Marcel Proust, In Swanns Welt, a. a. O. [s. Anm. 71], S. 21 bis
23.

84. Der Begriff der zweiten Naivität konnte in den Werken des däni-
schen Schriftstellers Jens Peter Jacobsen (1847-1885) wörtlich nicht
ermittelt werden. In dem Vortragsentwurf (Vt 44/5) nennt Adorno
in diesem Zusammenhang den Roman »Niels Lyhne« (1880), Jacob-
sens bekanntestes Werk. An anderer Stelle (vgl. GS 10·1, S. 212) be-
zieht Adorno sich auf »Der burde have været Roser« (1881), deutsch:
»Es hätten Rosen da sein müssen«, wo sich der Begriff der zweiten
Naivität finde.

85. Vgl. Hegel, Werke, a. a. O. [s. Anm. 19], Bd. 8: Enzyklopädie der
philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, S. 156.

86. 1892 heiratete Bergson Louise Neuburger, die die Tochter der
Cousine von Marcel Prousts Mutter war; Proust war Trauzeuge.

87. Bergsons Negation der Verdinglichung, im Namen des Leben-


digen, falle – so Adorno auch in Zur Metakritik der Erkenntnistheorie –
dem Konformismus anheim: Die Verabsolutierung des intuitiven Erken-
nens entspricht praktisch einer Verhaltensweise absoluter Anpassung: ver-
worfen wird, was versäumt, »auf seine Umgebung aufzumerken, sich nach
ihr zu richten« und statt dessen »sich in seinem Charakter wie in einem
festen Turm einmauert«. (GS 5, S. 54) Adorno zitiert aus: Henri Berg-
son, Das Lachen, Meisenheim/Glan 1948, S. 75.

88. Der Begriff der Intuition ist in Bergsons Philosophie zentral. Vgl.
etwa Henri Bergson, Denken und schöpferisches Werden, übers.
von Leonore Kottje mit einer Einführung von Friedrich Kottje,
Meisenheim/Glan 1948, S. 126-148.

89. Mit der Anstrengung des Begriffs nimmt Adorno eine Hegelsche
Formulierung auf: »Worauf es deswegen bei dem Studium der Wissen-
schaft ankommt, ist, die Anstrengung des Begriffs auf sich zu neh-
men.« (Hegel, Werke, a. a. O. [s. Anm. 19], Bd. 3: Phänomenologie
des Geistes, Frankfurt a. M. 1986, S. 56)

611
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

90. Vgl. den Aphorismus Treibhauspflanze in den Minima Moralia,


GS 4, S. 183 f.

91. Vgl. Proust, In Swanns Welt, a. a. O. [s. Anm. 71], S. 116-123.

92. Arnold Hauser, Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, 2


Bde., München 1953; vgl. vor allem Band 2, S. 500 f.

93. Adorno hatte diese Gedanken zu Proust am 8. November 1953 in


dem Vortragsentwurf formuliert (vgl. Vt 44/6) und am 12. Novem-
ber 1953 in dem Proust-Vortrag beim Frankfurter Verleger-Abend
ausgesprochen.

94. Der Maler Claude Monet (1840-1926) ist eins der Vorbilder für
die Gestalt Elstirs in der »Recherche«.

95. Der Schriftsteller Anatole France (1844-1924) gehört zu Prousts


Vorbildern für die Gestalt Bergottes in der »Recherche«.

96. In Adornos Deutung bringt auch die späte Malerei Paul Cézan-
nes (1839-1906) den Impressionismus an die Schwelle der objektiven Kon-
struktion – die zu Picasso und zum Kubismus führt.

97. Über den Vater Adrien Proust (1834-1903) heißt es in dem


»Marcel Proust Lexikon«: »1866 bricht in Frankreich die Cholera aus.
[. . .] Um der Krankheit den Weg nach Europa zu versperren, über-
nimmt er von seinen Lehrern Tardieu und Fauvel das wirksame
Prinzip des ›Sperrgürtels‹ [cordon sanitaire]. [. . .] 1884 erhält er als
Nachfolger Fauvels den Posten des Generalinspektors der Gesund-
heitsämter sowie 1885 die Stellung als Hygieneprofessor an der medi-
zinischen Fakultät« (Philippe Michel-Thiriet, Das Marcel Proust
Lexikon, aus dem Französischen von Rolf Wintermeyer, Frankfurt
a. M. 1992, S. 145 f.).

98. An welche Äußerungen von Paul Morand Adorno hier dachte,


wurde nicht ermittelt.

99. »Die Leute von Geschmack sagen uns heute, Renoir sei ein gro-
ßer Maler des achtzehnten Jahrhunderts. Wenn sie das behaupten,
vergessen sie die ›Zeit‹, vergessen, daß es selbst mitten im neunzehn-

612
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

ten vieler Zeit bedurfte, bis man in Renoir den großen Künstler be-
grüßte. Um zur Anerkennung zu gelangen, geht der ursprüngliche
Maler, der ursprüngliche Künstler zu Werk wie ein Augenarzt. Die
Behandlung mit seiner Malerei oder seiner Prosa ist nicht immer an-
genehm. Ist sie fertig, so sagt uns der Arzt: Jetzt sehen Sie hin. Und
siehe da, die Welt (die nicht einmal erschaffen worden ist, sondern so
oft erschaffen wird, wie ein ursprünglicher Künstler auftritt) er-
scheint uns ganz anders als die frühere, aber vollkommen klar. Frauen
gehen über die Straße, ganz andere als ehedem, denn es sind Renoirs,
eben die Renoirs, in denen wir früher Frauen zu sehen uns geweigert
hatten.« (Marcel Proust, Guermantes, Übersetzt von Walter Benja-
min und Franz Hessel, Frankfurt a. M. 1987, S. 323) – Zur Überset-
zung dieser Stelle von Eva Rechel-Mertens vgl. Marcel Proust, Auf
der Suche nach der verlorenen Zeit, Bd. III: Die Welt der Guerman-
tes, Frankfurt a. M., Zürich 1959, S. 479 f.

100. Johann Jakob Bachofen (1815-1887) entstammte einer wohl-


habenden Baseler Patrizierfamilie von Seidenbandfabrikanten. 1961
publizierte er sein Hauptwerk »Das Mutterrecht. Eine Untersu-
chung über die Gynaikokratie der Alten Welt nach ihrer religiösen
und rechtlichen Natur«.

101. Das von Adorno bezeichnete Buch ist Léon Pierre-Quint,


Marcel Proust. Sa vie, son œuvre, Paris 1925. – Ebd., S. 176 heißt es:
»Dès son enfance, il a entendu parler d’une des habitantes de cette
contrée merveilleuse, de la duchesse de Guermantes. Il l’imagine
aussi belle qu’une fée. Un jour, il l’aperçoit de loin dans une église à
Combray, et il ne comprend pas qu’elle soit faite de chair et d’os
comme le commun des mortels.« (Freundlicher Hinweis von Florent
Perrier, Rennes)

102. Beschrieben wird die Hochzeit der Tochter von Monsieur Per-
cepied in der Kirche von Combray, wo der Erzähler die Herzogin
zum ersten Mal erblickt. Vgl. Proust, In Swanns Welt, a. a. O. [s.
Anm. 71], S. 259-265. Dazu auch in Adornos Kleinen Proust-Kom-
mentaren, GS 11, S. 206 f.

103. Einfügung von Adornos Hand: von St. Loup zu Rachel.

613
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

104. In dem Aufsatz Erfahrungsgehalt schreibt Adorno: Das Goethisch-


Mephistophelische Prinzip, daß alles, was entsteht, wert ist, daß es zugrun-
de geht, sagt bei Hegel, die Vernichtung alles Einzelnen sei bedingt von
der Vereinzelung selber, der Partikularität, dem Gesetz des Ganzen: »Das
Einzelne für sich entspricht seinem Begriffe nicht; diese Beschränktheit
seines Daseyns macht seine Endlichkeit und seinen Untergang aus.« (GS 5,
S. 317) Vgl. zu diesem Zitat Hegel, Werke, a. a. O. [s. Anm. 19], Bd. 8:
Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse,
1830. Erster Teil: Die Wissenschaft der Logik. Mit den mündlichen
Zusätzen, S. 368.

105. Vgl. dazu den von Adorno 1953 in der »Neuen Rundschau«
(Jg. 64, Heft 4, S. 552-563) publizierten Aufsatz Valéry Proust Museum
(jetzt GS 10·1, S. 181-194); zum Proustschen Ästhetizismus ebd.,
S. 189 f. – Ferner auch Der Artist als Statthalter. Zu Valéry’s Degas-
Buch, in: Merkur, Jg. 7 (1953), S. 1034-1045; jetzt GS 11, S. 114-126.

106. »Oh Mensch! Gieb Acht! / Was spricht die tiefe Mitternacht? /
›Ich schlief, ich schlief –, / ›Aus tiefem Traum bin ich erwacht: – /
›Die Welt ist tief, / ›Und tiefer als der Tag gedacht. / ›Tief ist ihr
Weh –, / ›Lust – tiefer noch als Herzeleid: / ›Weh spricht: Vergeh! /
›Doch alle Lust will Ewigkeit –, / ›– will tiefe, tiefe Ewigkeit!‹«
(Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra I–IV. Kritische Studi-
enausgabe Bd. 4, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari,
München 1999, S. 404)

Zur Einführung in die neue Musik

Zur Einführung in die neue Musik dienten die Überlegungen, die


Adorno am 29. Juni 1954 im Rahmen der Hessischen Hochschulwo-
chen für staatswissenschaftliche Fortbildung in Bad Wildungen vor-
trug. Tags zuvor war er dort zum ersten Mal mit Gottfried Benn zu-
sammengetroffen, der bei den Hochschulwochen am 27. Juni 1954
über »Probleme der Lyrik« gesprochen hatte.
Adornos Vortrag wurde abgedruckt in: Vorträge, gehalten anläß-
lich der Hessischen Hochschulwochen für staatswissenschaftliche
Fortbildung, 27. Juni bis 3. Juli 1954 in Bad Wildungen, Bd. 6, Bad
Homburg vor der Höhe und Berlin 1955, S. 54-80. Dort wurde er
von der folgenden Vorbemerkung begleitet: Der Autor glaubt ohne

614
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Unbescheidenheit den Satz Rudolf Borchardts für sich in Anspruch nehmen


zu können, daß er gewohnt sei, zwischen den Gattungen zu scheiden. Die
Differenz zwischen dem, was er schreibt und was lediglich den Anforderun-
gen des Gegenstandes gehorcht, und dem gesprochenen Wort, das auf Kom-
munikation abzielt, dünkt ihm entscheidend. Er publiziert also den Vortrag
nur mit größtem Vorbehalt und betont ausdrücklich, daß es sich um die
wortgetreue stenografische Nachschrift von frei Gesprochenem handelt. Be-
absichtigt war, Hörer in ein Gebiet einzuführen, von dem der Autor nicht
voraussetzen durfte, daß die Hörer damit bereits vertraut seien. Er hat den
Vortragscharakter unangetastet gelassen und nur die gröbsten sprachlichen
Fehler und die auffälligsten Wiederholungen beseitigt: nichts ist weniger zu
erwarten als ein geformter Text. Fortfallen mußten alle die Stellen, die sich
auf die Musikbeispiele bezogen, die entweder auf Band oder auf dem Kla-
vier vorgespielt wurden. Die Betrachtungen, die daran sich anschlossen,
wären ohne das musikalische Material selbst unverständlich geblieben. Vie-
les von dem, was im Vortrag behauptet ist, konnte jedoch erst an jenen
Beispielen erhärtet werden. [Absatz] Schließlich darf der Autor auf einige
seiner Publikationen hinweisen, in denen die Gedanken des Vortrags ver-
antwortlicher und differenzierter sich finden: die »Philosophie der Neuen
Musik« (Tübingen 1947 [recte: 1949]), den 1953 in der Neuen Rundschau
erschienenen und jetzt in den »Prismen« enthaltenen Gedenkaufsatz über
Arnold Schönberg und schließlich den Aufsatz »Zum Verständnis Schön-
bergs« aus den Frankfurter Heften.
Adorno ging extemporierend von Stichworten aus, die er sich ge-
macht hatte; überliefert ist ein Typoskript mit eigenhändigen Er-
gänzungen (Vt 74). Diese Notizen für 3 Vorträge 29. Juni 1954 – so die
Überschrift – bieten Zusatzmaterial gegenüber dem 1955 (in zwei,
nicht drei Teilen) gedruckten Vortrag. Offenbar konnte Adorno
nicht alles ausführen, was in der Disposition (s. S. 522-528) vorgese-
hen war.
Der edierte Vortragstext folgt dem in Band 6 der Schriftenreihe
der Hessischen Hochschulwochen. Zum Text dieser Publikation ist
freilich zu sagen, daß Adorno ihn kaum richtig kontrolliert haben
kann. Ist in der Vorbemerkung zu lesen, der Autor habe die gröbsten
sprachlichen Fehler beseitigt, so haben sich in das Publizierte gleichwohl
empfindliche Mängel und Textverderbnisse eingeschlichen: Etwa
Reichtum der Fraktur (statt Faktur), Häcker (statt Haecker) oder auch
Naivität (bei Adorno sonst stets Naivetät) sind stehengeblieben. Der-
gleichen wurde hier, wie sonst, vom Herausgeber stillschweigend
emendiert.

615
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

107. Hermann Brill (1895-1959) studierte Rechtswissenschaft, poli-


tische Ökonomie, Soziologie und Philosophie. Er war in Wider-
standsgruppen gegen den Nationalsozialismus aktiv. Brill wurde
1945 von der amerikanischen Militärregierung zum Ministerpräsi-
denten von Thüringen ernannt; 1948 Honorarprofessor für Staats-
recht an der Universität Frankfurt a. M. An der Einrichtung der
Hessischen Hochschulwochen für staatswissenschaftliche Fortbil-
dung war er maßgeblich beteiligt. Seit 1951 lehrte Brill an der Hoch-
schule für Verwaltungswissenschaft in Speyer. 1953 publizierte er
»Aufgaben und Grenzen der Verwaltung«. – Am 24. Juli 1959 schrieb
Adorno an die Witwe Martha Pluskat Brill: Ich darf die Gelegenheit
ergreifen, Ihnen zu sagen, daß mich das Hinscheiden Ihres Mannes aufs
tiefste getroffen hat. Sie wissen wohl, daß ich ihn noch ganz wenige Tage
vor seinem Tod gesehen habe, und mein letztes Auftreten in Wildungen
war das unmittelbare Ergebnis unseres Gespräches. Er wird mir unvergessen
bleiben, nicht nur um seiner Menschlichkeit willen, sondern auch als einer
der letzten Sozialisten, die noch wußten, was Sozialismus eigentlich ist.
(Br 203/1)

108. Adorno hatte am 22. Mai 1954 im Rahmen der »Sauerland-


Kulturwochen Iserlohn 1954« an einem öffentlichen Rundgespräch
über »Die kulturelle Situation der Mittelstadt« teilgenommen. Eine
Transkription dieses Gesprächs, an dem neben Adorno unter ande-
ren auch Heinrich Gremmels, Karl Korn, Jacques Lacant, Ludwig
Metzger, Albert Schulze-Vellinghausen und N. R. A. Vroom betei-
ligt waren, hat sich im Nachlaß von Adorno erhalten (Ge 78). In ei-
nem seiner Gesprächsbeiträge sagte Adorno: Es scheint mir nämlich,
dass die Vorstellung von einem sogenannten »mittleren Weg« zwischen dem
Traditionellen und dem Fortgeschrittenen [. . .] eigentlich genau das ist, was
in dem »Unheil« der heute vorfindlichen Architektur herrscht und eigentlich
die Schuld trägt –! [. . .] Ich würde allerdings sagen, es gibt ja einen Zeit-
geist, einen – beinahe hätte ich hegelianisch gesagt – Volksgeist –, der sich
durch alle möglichen Kanäle hindurchzwängt und nach dem Wort verfährt:
Modern – aber nicht zu sehr! (Ge 78/19)

109. Musikalische Nummern der »Dreigroschenoper« sind mit


»Songs« benannt. Das Stück von Bertolt Brecht mit Musik von Kurt
Weill wurde am 31. August 1928 im Berliner Theater am Schiff-
bauerdamm uraufgeführt.

616
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

110. Das »Bühnenweihfestspiel« »Parsifal« von Richard Wagner, am


26. Juli 1882 bei den zweiten Bayreuther Festspielen uraufgeführt.

111. Der österreichische Kunsthistoriker Alois Riegl (1858-1905)


hat in seinem Buch über »Spätrömische Kunstindustrie« den Begriff
des ›Kunstwollens‹ geprägt, worauf Adorno sich hier mit etwas wie
einen einheitlichen Stil offenbar bezieht. Im ›Kunstwollen‹ einer Epo-
che gelangt, so Riegl, »die Art und Weise zum Ausdruck, wie der
Mensch jeweilig die Dinge gestaltet oder gefärbt sehen will«. (Alois
Riegl, Spätrömische Kunstindustrie, Wien 1927, S. 401)

112. Die Komponisten Sergej Wassiljewitsch Rachmaninow (1873


bis 1943), Jean Sibelius (1865-1957) und Hans Pfitzner (1869-1949).

113. Adorno ging im März 1925 nach Wien, um bei Alban Berg
(1885-1935) kompositorische Studien zu betreiben. Dort wurde er
auch mit Arnold Schönberg (1874-1951) und Anton Webern (1883
bis 1945) persönlich bekannt.

114. Der Komponist Igor Strawinsky (1882-1971), den Adorno in


der Philosophie der neuen Musik (1949) Arnold Schönberg gegenüber-
gestellt hatte. Strawinsky ließ in den 1950er Jahren, mit Werken wie
»Cantata« (1952), »Septett« (1953) und »Canticum Sacrum« (1955),
den neoklassizistischen Stil hinter sich und adaptierte Verfahren der
Zwölftontechnik – eine Wendung, die für Adorno noch nicht voll-
ständig absehbar war, als er im Juni 1954 den Vortrag hielt.

115. Vgl. zu Paul Hindemith (1895-1963) Adornos Dokumentation


Ad vocem Hindemith (GS 17, S. 210-246).

116. Vgl. zu Adornos Behandlung des Jazz Hektor Rottweiler [i. e.


Adorno], Über Jazz, in: Zeitschrift für Sozialforschung, hrsg. im
Auftrag des Instituts für Sozialforschung von Max Horkheimer, Jg. V
(1936), Heft 2, S. 235-259 (jetzt in: GS 17, S. 74-108); Theodor
W. Adorno, Zeitlose Mode. Zum Jazz, in: Merkur, Jg. 7 (1953),
Heft 6, S. 537-548 (jetzt in: GS 10·1, S. 123-137).

117. Über diese Unterhaltung schrieb Adorno zwei Jahre später,


nach dem Tod Benns, an dessen Witwe: Mit ihm selber bin ich nur
einmal zusammengetroffen, an einem wahrhaft unvergeßlichen Abend, in

617
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Wildungen, wo wir beide – und das war keinem an der Wiege geweissagt
worden – vor den Beamten des Hessischen Ministerpräsidenten über Fragen
der neuen Kunst sprachen. [. . .] Anstatt daß ich Ihnen große Worte mache,
darf ich Ihnen vielleicht einen Satz schreiben, den er mir an jenem Abend
sagte, und der sich mir unvergeßlich eingeprägt hat: »Immer spricht die
Bande vom schöpferischen Menschen, und wenn sie einmal einem begeg-
nen, dann werden sie frech.« (Adorno an Ilse Benn, 16. Juli 1956,
Br 95/1)

118. Richard Wagner, Tristan und Isolde (Uraufführung am 10. Juni


1865 in München).

119. Die einaktige Oper »Elektra«, nach Text von Hugo von Hof-
mannsthal, wurde am 25. Januar 1909 in der Dresdner Hofoper ur-
aufgeführt. – Vgl. auch Adornos Ausführungen über »Elektra« in
dem Vortrag über Richard Strauss unten, S. 397 f. und 405 ff.

120. Adorno nimmt eine Marxsche Formulierung auf. Vgl. Karl


Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in:
Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 1, Berlin 1957 [MEW 1],
S. 381: »Man muß jede Sphäre der deutschen Gesellschaft als die partie
honteuse der deutschen Gesellschaft schildern, man muß diese verstei-
nerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, daß man ihnen
ihre eigne Melodie vorsingt!«

121. S. Anm. 683.

122. Ein Aphorismus der »Musikalischen Haus- und Lebensregeln«


lautet: »Was heißt denn aber musikalisch sein? Du bist es nicht, wenn
du, die Augen ängstlich auf die Noten gerichtet, dein Stück mühsam
zu Ende spielst; du bist es nicht, wenn du (es wendet dir jemand etwa
zwei Seiten auf einmal um) stecken bleibst und nicht fortkannst. Du
bist es aber, wenn du bei einem neuen Stück das, was kommt, ohnge-
fähr ahnest, bei einem dir bekannten auswendig weißt, – mit einem
Worte, wenn du Musik nicht allein in den Fingern, sondern auch im
Kopf und Herzen hast. –« (Robert Schumann, Gesammelte Schrif-
ten über Musik und Musiker, hrsg. von Dr. Heinrich Simon, Dritter
Band, Leipzig o. J. [1889], S. 171)

618
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

123. Adorno nimmt mit der zweiten Natur einen von Hegel gepräg-
ten Begriff auf (vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts,
§ 4, Werke, a. a. O. [s. Anm. 19], Bd. 7, S. 46).

124. Vgl. dazu Arnold Schönbergs Wort: »Die Musik soll aber nicht
schmücken, sie soll bloss wahr sein.« Es wurde von Karl Linke über-
liefert (vgl. Alban Berg u. a., Arnold Schönberg, München 1912,
S. 77). Adorno zitiert es GS 12, S. 46.

125. »Wie fand ich das Geheimnis wieder? / Man hatte mich darum
gebracht. / Was hat die Welt aus uns gemacht! / Ich dreh’ mich um,
da blüht der Flieder.« (Karl Kraus, Schriften, hrsg. von Christian Wa-
genknecht, Bd. 9: Gedichte, Frankfurt a. M. 1989, S. 269 [»Flieder«])
Adorno hat den Vers oft zitiert, vgl. etwa GS 6, S. 292; GS 10·1,
S. 156; GS 17, S. 326 oder GS 18, S. 580.

126. Vermutlich ist gedacht an »Fantasia«, einen zweistündigen Zei-


chentrickfilm der Disney Studios aus dem Jahr 1940, in dem Musik
u. a. von Bach, Tschaikowsky, Strawinsky, Mussorgski und Schubert
verwendet wird. Unterlegt mit der Musik von Beethovens »Sechster
Sinfonie«, umspielen Amoretten einige der animierten Szenen.

127. Die Äußerung Schönbergs konnte nicht nachgewiesen werden.

128. »Theaterdirektor, der alles von Grund auf selbst schaffen muß,
sogar die Schauspieler muß er erst zeugen. Ein Besucher wird nicht
vorgelassen, der Direktor ist mit wichtigen Theaterarbeiten beschäf-
tigt. Was ist es? Er wechselt die Windeln eines künftigen Schauspie-
lers.« (Franz Kafka, Tagebücher und Briefe, Prag 1937, S. 119) In sei-
nem Exemplar dieser Ausgabe (NB Adorno 1735) hat Adorno die
Stelle – aus einem von Kafkas Quartheften – angestrichen. Er zitiert
sie auch in der Philosophie der neuen Musik (vgl. GS 12, S. 101).

129. »Zwei Schwaben sehen eine eklige Kröte. Der eine macht dem
anderen ein Angebot: ›I geb dir zeah Mark, wenn du sell Krott
frißsch.‹ Der andere würgt sie mit quellenden Augen hinunter. Als
ihnen eine zweite Kröte über den Weg hüpft, macht der andere dem
einen das Angebot: ›I geb dir deine zeah Mark wieder, wenn du dui
Krott frißscht!‹ Interessiert an der Rückgabe des Scheins, erfüllt der
eine die Forderung und bekommt seine zehn Mark wieder. Nach ei-

619
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

ner Weile sagt der eine zum andern: ›Zu was hent mir jetzt eigentlich
boide a Krott gfressa?‹« (Thaddäus Troll, Deutschland deine Schwa-
ben. Vordergründig und hinterrücks betrachtet. Illustriert von Gün-
ter Schöllkopf, Berlin, Darmstadt, Wien 1969, S. 78)

130. Vgl. dazu die Passage in »Brahms, der Fortschrittliche«: »Mo-


zart muß vor allem als dramatischer Komponist angesehen werden.
[Absatz] Die materielle oder psychologische Anpassung der Musik an
jeglichen Wechsel der Stimmung oder der Handlung ist das wesent-
lichste Problem, das ein Opernkomponist meistern muß. Unfähig-
keit in dieser Hinsicht würde Zusammenhanglosigkeit – oder,
schlimmer, Langeweile – schaffen. Die Rezitativtechnik entgeht die-
ser Gefahr, indem sie motivische und harmonische Verpflichtungen
und deren Konsequenzen meidet.« (Arnold Schönberg, Stil und
Gedanke. Aufsätze zur Musik, hrsg. von Ivan Vojtěch, Frankfurt
a. M. 1976, S. 46)

131. Das bekannteste Beispiel dafür ist Mozarts Streichquartett


C-Dur, KV 465 (»Dissonanzen-Quartett«).

132. Don Carlo Gesualdo (1566-1613) wurde 1586 regierender


Fürst von Venosa. Sein kompositorisches Schaffen besteht aus geist-
lichen Werken zwischen Renaissance und Barock und ist geprägt von
häufiger Verwendung von Chromatik und unerwartetem Tonart-
wechsel.

133. Der österreichische Dirigent und Musikwissenschaftler Erwin


Stein (1885-1958) war einer der ersten Schüler von Schönberg. Er
studierte gleichzeitig Musikwissenschaft bei Guido Adler. 1920 war
er einer der Vortragsmeister in Schönbergs Verein für musikalische
Privataufführungen und Dirigent des Wiener Pierrot-Ensembles.
Von 1924 bis 1930 war er verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift
»Pult und Taktstock« bei der Universal Edition. Stein emigrierte
1938 nach England und arbeitete für Boosey & Hawkes. Zu seinen
Publikationen gehören: Praktischer Leitfaden zu Schönbergs »Har-
monielehre«, Wien 1923; Arnold Schönberg, Briefe, ausgewählt und
hrsg. von Erwin Stein, Mainz 1958. – Vgl. Adornos Nachruf in der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 20. September 1958 (jetzt in:
GS 19, S. 463 f.)

620
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

134. Vermutlich bezieht Adorno sich auf Erwin Stein, Einführung,


in: Pult und Taktstock. Fachzeitschrift für Dirigenten, Heft 1 (1924),
S. 1-5. Darin heißt es: »Die neue Musik stellt Auffassung und Ohr
des Dirigenten vor neue Probleme: die freie elastische Gestaltung
des Vortrages, das Hören von falschen Noten in vielstimmigen dis-
sonanten Akkorden, die Abtönung feinster Klangschattierungen.«
(S. 4)

135. Bereits in dem aphoristischen Text Widerlegungen, 1931 in der


Zeitschrift »Die Musik« publiziert, hatte Adorno den Wahrheitsan-
spruch der neuen Musik in Widerspruch zur kulinarischen [Kategorie] des
schmeckenden Genießens gebracht (GS 18, S. 26). In dem Vortrag dach-
te Adorno aber wohl eher an eine Stelle aus dem zuerst 1953 publi-
zierten Aufsatz Arnold Schönberg. 1874-1951, die vom kulinarischen Hö-
ren handelt (GS 10·1, S. 158).

136. Vgl. dazu auch GS 13, S. 167 und GS 16, S. 548. – An welche
wenig bekannte Stelle bei Richard Wagner Adorno hier denkt, konnte
nicht ermittelt werden.

137. Der spanische Maler Juan Gris (1887-1927), eigentlich José


Victoriano González, gehört zu den Begründern des »Synthetischen
Kubismus«. Gris war von dem Kunsthändler und -schriftsteller
Daniel-Henry Kahnweiler (1884-1979) gefördert worden, mit dem
Adorno seit Anfang der fünfziger Jahre befreundet war.

138. Die »Lyrische Suite für Streichquartett« (entstanden 1925/26)


wurde am 8. Januar 1927 durch das Kolisch-Quartett uraufgeführt.
Der zweite Satz trägt die Bezeichnung »Andante amoroso«. Zu
Adornos Deutung der »Lyrischen Suite« vgl. GS 13, S. 451-462.

139. »Meine feinste und tiefste Kunst möchte ich jetzt die Kunst des
Ueberganges nennen, denn mein ganzes Kunstgewebe besteht aus
solchen Uebergängen: das Schroffe und Jähe ist mir zuwider gewor-
den [. . .] Das ist denn nun auch das Geheimniss meiner musikali-
schen Form, von der ich kühn behaupte, dass sie in solcher Ueber-
einstimmung und jedes Détail umfassenden klaren Ausdehnung
noch nie auch nur geahnt worden ist.« (Richard Wagner an Mathilde
Wesendonck in Zürich, Paris, Samstag, 29. Oktober 1859, in: Ri-
chard Wagner, Sämtliche Briefe, Bd. 11: 1. April bis 31. Dezember

621
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

1859, hrsg. von Martin Dürrer, redaktionelle Mitarbeit Isabel Kraft,


Wiesbaden, Leipzig, Paris 1999, S. 329)

140. Adornos 1968 in Wien erschienenes Buch über den Komponi-


sten trägt den Titel Berg. Der Meister des kleinsten Übergangs.

141. Vgl. dazu ausführlich Theodor W. Adorno, Der junge Schönberg


(1955), in: ders., Kranichsteiner Vorlesungen, hrsg. von Klaus Reichert
und Michael Schwarz, Berlin 2014, S. 9-122.

142. »›Lieber Junge, die überraschenden Wirkungen, welche viele


nur dem Naturgenie der Komponisten zuschreiben, erzielt man oft
genug ganz leicht durch richtige Anwendung und Auflösung der
verminderten Septimenakkorde.‹ Beethoven soll diese Worte zu Karl
Hirsch, einem Enkel [Johann Georg] Albrechtsbergers, den er kurze
Zeit aus Pietät gegen den einstigen Lehrer in der Harmonielehre un-
terrichtete, geäußert haben.« (Paul Bekker, Beethoven, achtes bis
zehntes Tausend, Berlin o. J. [1912], S. 189) In Adornos Exemplar
dieser Ausgabe ist der Passus angestrichen.

143. Anton von Webern war, als die Rote Armee sich Wien näherte,
nach Mittersill geflohen. Vor dem Haus seiner Tochter Christine und
seines Schwiegersohnes Benno Mattel, der in Schwarzmarktgeschäfte
verwickelt war, wurde er bei einer Razzia am 15. September 1945
durch drei Schüsse eines amerikanischen Soldaten tödlich verletzt. –
Zur Freundschaft zwischen Adorno und Webern vgl. Anton Webern,
Briefe an Theodor W. Adorno. Transkribiert und mit Anmerkungen
versehen von Rolf Tiedemann, in: Musik-Konzepte Sonderband,
Anton Webern I, hrsg. von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn,
München 1983, S. 6-22.

144. An welche Stücke Adorno hier denkt, erhellt eine Passage aus
seinem Aufsatz über Anton von Webern (1959): Oft, gerade in Weberns
Orchesterstücken, aber auch in einzelnen Wendungen der auf diese [die
Orchesterstücke op. 6] folgenden Stücke für Geige und Klavier op. 7 und
für Cello und Klavier op. 11 ist dies dreifache Pianissimo, das Allerleiseste,
der drohende Schatten eines unendlich entfernten und unendlich mächtigen
Lärms: so klang, im Jahre 1916, auf einer Waldchaussee bei Frankfurt, der
Kanonendonner von Verdun, der bis dahin trug. Hier berührt Webern sich
mit Lyrikern wie Heym und Trakl, den Propheten des Krieges von 1914:

622
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

das fallende Blatt wird zum Boten kommender Katastrophen. (GS 16,
S. 118)

145. Anton Webern, Sechs Bagatellen für Streichquartett, op. 9


(1911/13), uraufgeführt bei den Donaueschinger Musiktagen am
19. Juli 1924.

146. Vgl. Arnold Schönberg, 1924. Vorwort zu Weberns Sechs Ba-


gatellen für Streichquartett op. 9, in: Schoenberg/Berg/Webern, Die
Streichquartette der Wiener Schule. Eine Dokumentation, hrsg. von
Ursula v. Rauchhaupt, München, Hamburg o. J. [1972], S. 126 f.

147. Arnold Schönberg, Sechs kleine Klavierstücke, op. 19 (1911).

148. Zur Einheit in der Mannigfaltigkeit vgl. etwa die Stelle: »Sie [alle
Erscheinungen] können also nicht anders apprehendiert, d. i. ins em-
pirische Bewußtsein aufgenommen werden, als durch die Synthesis
des Mannigfaltigen, wodurch die Vorstellungen eines bestimmten
Raumes oder Zeit erzeugt werden, d. i. durch die Zusammensetzung
des Gleichartigen und das Bewußtsein der synthetischen Einheit die-
ses Mannigfaltigen [. . .]«. (Immanuel Kant, Kritik der reinen Ver-
nunft [Werkausgabe III], hrsg. von Wilhelm Weischedel, 12. Aufl.,
Frankfurt a. M. 1992, S. 205 [B 202 f.])

149. Vgl. dazu aber Kriterien der neuen Musik (1957), in: Adorno,
Kranichsteiner Vorlesungen, a. a. O. [s. Anm. 141], S. 233-380; zur um-
gearbeiteten Druckfassung vgl. GS 16, S. 170-228.

150. Arnold Schönberg, Fünf Klavierstücke, op. 23 (1920/1923).

151. Ludwig Metzger (1902-1993) war von 1945 bis 1950 Oberbür-
germeister der Stadt Darmstadt und vom 10. Januar 1951 bis zum
2. Dezember 1953 Minister für Erziehung und Volksbildung des
Landes Hessen. Adorno war am 22. Mai 1954 bei dem öffentlichen
Rundgespräch über »Die kulturelle Situation der Mittelstadt« in Iser-
lohn mit Ludwig Metzger zusammengetroffen (s. Anm. 108). In ei-
nem Gesprächsbeitrag von Metzger heißt es: »Aber mir war gerade
bei der modernen Musik etwas sehr Interessantes widerfahren – ich
bin kein Musiksachverständiger, ich bin nur ein Musikliebhaber,
wenn Sie das Wort ›nur‹ nicht als etwas Minderes betrachten wollen.

623
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

(Ich glaube, dass es auf die ›Liebhaber‹ sehr wesentlich ankommt und
dass sie etwas Außerordentliches bewirken können.) Ich habe dabei
folgendes erfahren: Zunächst einmal ist einem vieles fremd gewesen.
Wenn man aber auch einmal einfach um der Fairneß willen bereit ist,
etwas zu ›arbeiten‹ – ich glaube, es ist allerdings Voraussetzung, dass
man etwas arbeitet, man kann das nicht nur genießen –, wenn man
sich also müht, einmal ›hinter die Dinge zu kommen‹ und wenn man
damit gewisse Dinge erfährt, dann setzt das ein, was vom Extremen
hier zu sagen ist, nämlich die scheidende Funktion. Und ich kann aus
meiner eigenen Erfahrung sagen: die Tatsache, dass ich gerade bei
diesen Kursen immer wieder moderne Musik gehört habe, hat nicht
nur mein Ohr für die moderne Musik geschärft, sondern sie hat auch
mein Ohr geschärft für die klassische und zurückliegende Musik!
(Beifall. Zuruf: Sehr gut!) Und das scheint mir außerordentlich
wichtig zu sein, denn damit fängt man an zu scheiden; das ist die Auf-
gabe des Extremen! Und in dieser unerbittlichen Musik – einer Mu-
sik, die orientiert ist an der Unerbittlichkeit unserer Zeit, wird man-
ches, was man früher genossen hat, unerträglich! Und anderes aus der
alten Musik wird auf einmal noch sehr viel deutlicher und strahlen-
der!« (Ge 78/25)

152. Adorno bezieht sich auf seinen Vortrag Das Altern der Neuen
Musik, den er, zwei Monate zuvor, am 26. April 1954 bei den »Tagen
zeitgenössischer Musik« gehalten hatte und der am 28. April 1954
vom Süddeutschen Rundfunk gesendet worden war (vgl. jetzt GS 14,
S. 143-167. Zur Gleichsetzung von radikal mit ratzekahl, ebd., S. 160).

153. »Der Weg des Heils kann nicht sein die Zusammenschweißung
einer Masse, sondern eher ihre Zertrümmerung« (Theodor Haecker,
Tag- und Nachtbücher, München 1949, S. 185). – Adorno zitiert
den Satz auch in Zur Musikpädagogik (vgl. GS 14, S. 110).

154. Zu Adornos Auseinandersetzung mit der musikalischen Ju-


gendbewegung vgl. seine Kritik des Musikanten (GS 14, S. 67-107). –
Den Vorwurf des »Kryptofaschismus« hat Adorno auch in der Rund-
funkfassung der Kritik des Musikanten vorgebracht (Erstsendung im
Süddeutschen Rundfunk, 25. Mai und 1. Juni 1956); in der Druck-
fassung steht an der Stelle Boxfreudigkeit (vgl. GS 14, S. 88).

624
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

155. Adorno dürfte hier vor allem an vierteltönige Kompositionen


des tschechischen Komponisten Alois Hába (1893-1973) und seiner
Schüler gedacht haben, die er bereits 1927 erwähnt (vgl. GS 19,
S. 115).

156. Bereits 1950 hatte es bei den Internationalen Ferienkursen für


Neue Musik eine Vortragsreihe »Die Klangwelt der elektronischen
Musik« gegeben. Am 9. Juli 1951 hielt Adorno auf der Darmstädter
Arbeitstagung zum Thema Musik und Technik den Vortrag Musik,
Technik und Gesellschaft. Von Werner Meyer-Eppler wurden im Rah-
men dieser Tagung Möglichkeiten der elektronischen Klangerzeu-
gung demonstriert. Pierre Schaeffer stellte in einem Vortrag über »La
musique concrète« kompositorische Ergebnisse vor. Die Ferienkurse
von 1953 brachten Veranstaltungen mit Herbert Eimert, dem Grün-
der des Studios für elektronische Musik des Nordwestdeutschen
Rundfunks (Köln), der dort Entwickeltes präsentierte. Karlheinz
Stockhausens ebenfalls in dem Kölner Studio entstandene Kompo-
sition »Gesang der Jünglinge«, die Adorno sehr schätzte, wurde erst
1956, zwei Jahre nach dem Vortrag vorgeführt.

Zum Verhältnis von Individuum


und Gesellschaft heute
Adorno sprach Zum Verhältnis von Individuum und Gesellschaft heute
am letzten Tag der siebzehnten Hessischen Hochschulwochen für
staatswissenschaftliche Fortbildung, die vom 3. bis 13. Februar 1957
in Bad Nauheim stattfanden.
Zwei Wochen vor dem Vortrag, am 30. Januar 1957, schrieb er
an Klaus Ziegler: Am 13. Februar habe ich vor den Beamten des Hessi-
schen Ministerpräsidenten in Nauheim zwei Vorträge zum Abschluß einer
Hochschultagung zu halten, die sich mit der Frage »Individuum und Ge-
sellschaft heute« befassen. Sie vorher zu textieren, fehlt mir die Zeit, aber
sie werden auf Band aufgenommen. Wenn es mir gelingt, die Transkription
der Bänder rasch genug zu erhalten, so könnte ich, bei intensiver Redak-
tion, daraus gewiß einen Text herstellen, den Sie [in die Festschrift für
Helmuth Plessner] aufnehmen könnten, und würde versuchen, dabei so
zu verfahren, daß es sich mit älteren Publikationen von mir, wie vor allem
dem Organisationsaufsatz aus den Darmstädter Gesprächen [vgl. GS 8,
S. 440-456], möglichst wenig überschneidet. (Br 1708/15) Der Plan,

625
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

den Vortrag in die Festschrift für Plessner aufzunehmen, wurde spä-


ter verworfen.
Einen Tag nach der Bad Nauheimer Veranstaltung, am 14. Februar,
schrieb Adorno an Max Horkheimer: Auch die Sache in Nauheim war
überaus erfreulich, mit minutenlangem Beifall und großem Getue. Da in
der vorigen Woche Gehlen gesprochen hatte, hatte ich mir von Habermas
eine Reihe besonders schöner Gehlen-Zitate zusammenstellen lassen, die
ich kritisch behandelte. Zum Kontrast gab ich ein paar Stellen aus dem
ökonomisch-philosophischen Manuskript und der Deutschen Ideologie, in
denen sich zeigt, wie sehr der Begriff des Menschen nur gesellschaftlich
vermittelt ist. Auf diese These hatte ich die beiden Vorträge – sie waren
durch eine halbstündige Pause getrennt und dauerten zusammen zwei
Stunden – gestellt, und ich glaube, ich habe die These auch, wie man
hierzulande so schön sagt, herübergebracht. Überschneidungen mit Ihrem
Vortrag sind vermieden, so daß wir also, wenn wir wollen, beide Texte bei
allen möglichen Gelegenheiten zur Verfügung haben. Der meinige ist auf
Band aufgenommen, und ich werde ihn danach so weit redigieren, daß er
gebrauchsfähig ist. (Theodor W. Adorno/Max Horkheimer, Brief-
wechsel 1927-1969, Bd. IV: 1950-1969, hrsg. von Christoph Gödde
und Henri Lonitz, Frankfurt a. M. 2006, S. 395 f.) Die von Jürgen
Habermas zusammengestellten Gehlen-Zitate haben sich im Nachlaß
Adornos erhalten (Vt 97); ebenso Exzerpte aus Marx’ »Jugendschrif-
ten« (Vt 98), aus denen Adorno ein paar Stellen gab.
Eingeladen von der Ortsvereinigung Hannover der Goethe-Ge-
sellschaft in Weimar, hat Adorno den Vortrag auch am 30. Oktober
1957 in Hannover (Beethovensaal der Stadthalle) gehalten. Für die
Ankündigung wurde von ihm das Folgende formuliert: Der Vortrag
»Individuum und Gesellschaft heute« setzt sich vor allem zur Aufgabe, die
naive Gegenüberstellung dieser beiden Begriffe zu überwinden und ihre
wechselseitige Vermitteltheit darzutun. Dabei wird auch an verbreiteten
Strömungen der gegenwärtigen philosophischen Anthropologie, besonders
aber an der modischen Verabsolutierung des Begriffs »des« Menschen Kritik
geübt. (Vt 105/1) – Adorno hat den Vortrag ebenfalls auf einer Veran-
staltung des Liberalen Arbeitskreises in München gehalten (Saal des
Wirtschaftsministeriums, 23. Mai 1958); dann noch einmal, wieder-
um im Rahmen der Hessischen Hochschulwochen, am 17. März
1962 in Bad Sooden-Allendorf – jeden dieser späteren Vorträge
wahrscheinlich in leicht variierter Version.
Der von Adorno korrigierte und durchredigierte Text des Vor-
trags vom 13. Februar 1957 erschien zuerst in: Vorträge, gehalten an-

626
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

läßlich der Hessischen Hochschulwochen für staatswissenschaftliche


Fortbildung, 3. bis 13. Februar in Bad Nauheim, Siebzehnter Band,
Bad Homburg vor der Höhe [u. a.] 1957, S. 168-184. Wiederabdruk-
ke erfolgten 1959 in Bd. 22 der Reihe der Hochschulwochen (S. 166
bis 182) sowie 1963 in Bd. 38 (S. 171-188). In Adornos Todesjahr er-
schien ein Teilabdruck in: Begegnungen. Lesebuch für Gymnasien,
Bd. 7, Hannover 1969, S. 336-342.
Adorno hat dem Erstdruck die folgende Bemerkung vorangestellt:
Das Folgende ist das auf Tonband aufgenommene Protokoll eines Vortrages,
den der Autor am 13. Februar 1957 in Bad Nauheim gehalten hat. Es
wurden nur die gröbsten sprachlichen Korrekturen vorgenommen und Wie-
derholungen beseitigt; die Form des Vortrages selbst, die sich von der eines
Aufsatzes grundsätzlich unterscheidet, blieb erhalten, auch wo sie den theo-
retischen und literarischen Ansprüchen des Autors nicht genügt. Nicht ver-
säumen möchte er hervorzuheben, daß die Motive des Vortrags allesamt der
gemeinsamen Arbeit mit Max Horkheimer angehören.
Adorno hat sich vor dem Vortrag Stichworte und Notizen ge-
macht – Materialien für Nauheim überschrieben –, um sich beim frei-
en Sprechen darauf zu stützen. Sie dokumentieren auch, daß Adorno
in dem Vortrag nur einen Teil dessen vorbringen konnte, was er sich
vorgenommen hatte. Auf das Problem der Familie und die Familien-
soziologie Helmut Schelskys etwa konnte er nicht mehr eingehen.
Ich hatte die mir zur Verfügung stehende Zeit, heißt es im zweiten Teil
des Vortrags, weit überschätzt. Die Materialien für Nauheim sind im
Theodor W. Adorno Archiv unter der Signatur Vt 99 archiviert und
sind hier bei den Stichworten abgedruckt, s. S. 529-539.
Unsere Druckvorlage ist keine der erschienenen Publikationen.
Vielmehr war es geboten, dem edierten Text die maschinenschriftli-
che Schicht von Vt 100 zugrunde zu legen. Diese Transkription gibt
das wieder, was Adorno ausführte. Indes hat er, als er etwa Anfang
Mai 1957 den Vortrag für den Druck vorbereitete, auf dem Typo-
skript Vt 100 eingreifende Umarbeitungen vorgenommen, die für
den vorliegenden Abdruck unberücksichtigt bleiben müssen. Neben
den Bearbeitungsspuren von Adorno (Tinte) weist das Typoskript
Bleistiftkorrekturen unbekannter Hand auf, die vermutlich von der
Person stammen, die die Transkription angefertigt hat.

157. Die »Hessischen Hochschulwochen für staatswissenschaftliche


Fortbildung« im Februar 1957 umfaßten (neben einer Eröffnungs-
rede von Wilhelm Arnoul) Vorträge von Theodor Litt, Hugo Freund,

627
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Franz Fendt, Hans Peters, Herbert Weichmann, Arnold Gehlen,


Helmut Ridder, Bernard von Brentano, Franz Roh, Franz Böhm
und Theodor W. Adorno.

158. Adorno hat hier vor allem Schriften von Martin Heidegger im
Sinn (etwa »Sein und Zeit«, § 31, wo Heidegger vom »Entwurfcha-
rakter des Verstehens« handelt). Zur Kompromittierung des Aus-
drucks Entwurf, der durch Heidegger modisch wurde, vgl. eine Pas-
sage aus dem Jargon der Eigentlichkeit (GS 6, S. 497): Dort spricht
Adorno von dem Begriff des Entwurfs in Sein und Zeit, der tatsächlich in
der Folge alle möglichen anderen, meist behaglich verwässerten ontologischen
Entwürfe wachsen ließ. Mit geschulter Strategie modelte der spätere Heideg-
ger ihn um. Hatte in den Entwurf des Philosophierenden auch etwas von
der Freiheit des Gedankens wider bloße Posi[ti]vität sich gerettet, so wird
er, als einer des Seins selber, zu einem sich Entwerfenden, das dem Gedan-
ken die Freiheit verschlägt.

159. Konjiziert für nötig.

160. Arnold Gehlen sprach über »Die Entwicklung der Anthropolo-


gie von der Philosophie zur Erfahrungswissenschaft«. Der Vortrag
wurde publiziert im siebzehnten Band der Schriftenreihe der Hessi-
schen Hochschulwochen, a. a. O. [s. S. 627], S. 84-99.

161. Die von Adorno gewünschte Diskussion mit Arnold Gehlen ist
erst später zustande gekommen. Zunächst in größerer Diskussions-
runde: Am 28. und 29. Oktober 1960 nahmen Adorno und Gehlen
in Rüdesheim am Rhein an einer internen Tagung der Deutschen
Gesellschaft für Soziologie teil. Auf dem VII. Deutschen Kongreß für
Philosophie, der vom 21. bis 25. Oktober 1962 unter dem General-
thema »Evolution und Fortschritt« in Münster (Westfalen) stattfand,
trafen sie wieder zusammen. Das erste der Rundfunkgespräche zwi-
schen Adorno und Gehlen wurde unter dem Titel Öffentlichkeit – was
ist das eigentlich? vom Südwestfunk (Baden-Baden) am 18. März 1964
gesendet; Karl W. Boetticher fungierte als Gesprächsleiter. Die
beiden weiteren Radiogespräche waren: Ist die Soziologie eine Wissen-
schaft vom Menschen? (Südwestfunk, Sendung in der Reihe »Radio-
Essay«: 3. Februar 1965) und Soziologische Erfahrungen in der modernen
Kunst (Südwestfunk, Sendung: 28. März 1966). Schließlich gab es
eine Fernsehdiskussion mit dem Gesprächsleiter Alexander von

628
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Cube: Freiheit und Institution. Ein soziologisches Streitgespräch (WDR,


Aufnahme: 3. Juni 1967). – Die drei Radiogespräche zwischen
Adorno und Gehlen wurden vom Quartino Verlag als CDs publi-
ziert: Theodor W. Adorno, Kultur und Verwaltung. Vorträge und Ge-
spräche, München 2008.

162. Der Jurist, Ökonom und Politiker Franz Böhm (1895-1977), in


den Jahren 1948/49 Rektor der Frankfurter Universität, war Vorsit-
zender des Stiftungsvorstands des Instituts für Sozialforschung.
Böhm hatte am 12. Februar 1957 über »Das Vorurteil als Element to-
taler Herrschaft« gesprochen. Der Vortrag findet sich in der Publika-
tion der Hessischen Hochschulwochen, a. a. O. [s. S. 627], S. 149-167.

163. »Die Aufdeckung der Wahrheit ist nur für den verderblich, der
sie ausspricht.« (Claude Adrien Helvétius [1715-1771], Vom Men-
schen, seinen geistigen Fähigkeiten und seiner Erziehung, hrsg.,
übersetzt und mit einer Einleitung von Günther Mensching, Frank-
furt a. M. 1972, S. 402) Mit dem Zitat ist das fünfte Kapitel im neun-
ten Abschnitt überschrieben.

164. Der pazifistische Schriftsteller Leonhard Frank (1882-1961),


der 1915 ins Schweizer Exil ging, publizierte das Buch »Der Mensch
ist gut« (Zürich 1918), eine Sammlung von fünf Novellen, die der
Autor als »aufwühlendes, direkt wirkendes Manifest gegen den
Kriegsgeist« verstanden wissen wollte. Die »den kommenden Gene-
rationen« gewidmeten Erzählungen, die Leiden und Greuel des
Kriegs zum Ausdruck bringen, appellieren zugleich an den »guten
Menschen«. Das Buch hatte in der Endzeit des Ersten Weltkrieges eine
außerordentliche Wirkung.

165. Der Schriftsteller Ludwig Rubiner (1881-1920) war Mitarbei-


ter von Franz Pfempferts Zeitschrift »Aktion«, von Herwarth Wal-
dens »Sturm« und von René Schickeles »Weißen Blättern«. Sein be-
kanntester Text ist »Der Dichter greift in die Politik« (1912). Von
1915 bis 1918 lebte Rubiner als Kriegsgegner in der Schweiz, schrieb
für die »Neue Zürcher Zeitung« und gab die Exilzeitschrift »Zeit-
Echo« (1917/18) heraus. 1917 publizierte er die Aufsatzsammlung
»Der Mensch in der Mitte«.

166. Konjiziert für der.

629
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

167. Unter dem Titel »Der Mensch im Mittelpunkt des Betriebes«


sind in Bibliothekskatalogen zwei Hochschulschriften aus dem Jahr
1954 verzeichnet; eine von Horst Kuhnert und eine von Gerhardt
Gruber. Ungewiß ist, ob Adorno sich auf eine davon bezogen hat.

168. Rolf Tiedemann vermerkt, daß Adorno »gelegentlich die


Priorität der Wortprägung für die Kritische Theorie beansprucht
hat, sich allerdings nicht erinnern konnte, ob Horkheimer oder er
selbst als erster von verwalteter Welt gesprochen habe« (vgl. Adorno,
Ontologie und Dialektik [1960/61], hrsg. von Rolf Tiedemann, Frank-
furt a. M. 2002, S. 399).

169. Konjiziert für [. . .] eben jene Forderung, der Mensch sei in der
Mitte bereits negiert oder der Mensch sei im Zentrum, die gleichzeitig die
ideologische These dieser Rede: ›Es käme nur auf den Menschen an‹,
eigentlich ausübt.

170. Robert Filmer (1588-1653) entwickelte in seiner Schrift »Patri-


archa, or The Natural Power of Kings«, die zu seinen Lebzeiten als
Manuskript zirkulierte, eine Staatslehre, die auf Ideen des »Divine
Right of the Kings« basierte. Nach Wiederherstellung der Stuart-
monarchie wurde die Schrift 1680 von den Royalisten gedruckt und
diente legitimatorischen Zwecken (vgl. Patriarcha and Other Politi-
cal Works of Sir Robert Filmer, Edited from the original sources and
with an Introduction by Peter Laslett, Oxford 1949, p. 51-126) – In
dem ersten seiner »Two Treatises of Government« (1690 anonym er-
schienen) wandte der englische Philosoph John Locke (1632-1704)
sich gegen Vorstellungen Filmers und seiner Anhänger, namentlich
gegen die Annahme, politische Gewalt sei im Kern nichts anderes als
die des Vaters über die Familie (vgl. John Locke, The False Principles
and Foundation of Sir Robert Filmer, And His Followers, are
Detected and Overthrown; deutsche Ausgabe: John Locke, Zwei
Abhandlungen über die Regierung, hrsg. und eingeleitet von
W. Euchner, Frankfurt a. M., Wien 1967).

171. Arnold Gehlen hatte in »Der Mensch« (Berlin 1940) die


Grundlegung einer philosophischen Anthropologie vorgelegt. Der
Mensch sei gegenüber der Tierwelt ein ›Mängelwesen‹, das vor allem
durch ›Instinktreduktion‹ und physische Unangepaßtheit bestimmt
werden kann; zudem sei er durch ›Antriebsüberschuß‹ gekennzeich-

630
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

net. Die biologisch-anthropologischen Thesen führen Gehlen zu ei-


ner Lehre der Institutionen. Der Mensch bedürfe stabilisierender In-
stitutionen, die die Instinkt- und Verhaltensunsicherheit ausgleichen
und sein Handeln regulieren. Im ersten Teil von »Urmensch und
Spätkultur«, ein Jahr vor Adornos Vortrag erschienen, führte Gehlen
seine Institutionenlehre fort.

172. Vgl. in Kants »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« (1785):


»Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in
der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals
bloß als Mittel brauchest.« (Immanuel Kant, Kritik der praktischen
Vernunft. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten [Werkausgabe
VII], hrsg. von Wilhelm Weischedel, 11. Aufl., Frankfurt a. M. 1991,
S. 61 [BA 66 f.])

173. Aus der Überarbeitung Adornos hier übernommen, da die


Stelle in der Bandtranskription unverständlich ist.

174. Vgl. etwa GS 8, S. 454; GS 14, S. 76; GS 5, S. 42. – Sieben Jahre


nach dem Vortrag erschien dann: Theodor W. Adorno, Jargon der
Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie, Frankfurt a. M. 1964.

175. Vgl. Martin Buber, Ich und Du, Leipzig 1923.

176. Adorno denkt hier vor allem an die Anthropologie von Arnold
Gehlen, auf die er zuvor in dem Vortrag schon eingegangen war.

177. Ein Handexemplar des Druckes (Vt 109) hat an dieser Stelle
Adornos Marginalie: Hobbes.

178. Der Schriftsteller und Aufklärungsphilosoph Paul Henri Thiry


d’Holbach (1723-1789) war Mitarbeiter der »Encyclopédie«, zu der
er viele naturwissenschaftliche Artikel beitrug. Der Religionskritiker
und Atheist vertrat einen materialistischen Determinismus. Sein
Hauptwerk ist »Système de la nature, ou des lois du monde physique
et du monde moral« (1770).

179. Vgl. dazu etwa »Geschichte und Geschichtswissenschaft«,


Heimpels Einleitungsvortrag auf dem Ulmer Historikertag 1956.
Darin heißt es etwa: »[. . .] wir sind in den letzten Jahren faktisch ein

631
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Volk ohne Geschichte geworden, durch Schuld und Schicksal. Die-


ser Zustand der Geschichtslosigkeit wird andauern, so lange die
Brücke des Bewußtseins über die Zeit von 1933 bis 1945 nicht wie-
der gebaut ist, so lange wir diese Zeit behandeln, als wären wir damals
nicht gestrauchelt und hätten eigentlich nicht gelebt, als müßten wir
nicht jene Zeit in die Kontinuität unserer Geschichte einstellen.«
Und: »Der moderne Mensch ist aber im Begriff, sein eigenes Le-
ben zu vergessen. Der vorwissenschaftliche historische Sinn ist
geschwächt, dieser Nährboden von Geschichtsschreibung und Ge-
schichtsforschung vielfach ausgelaugt, die Traditionen schwach,
unsicher, verscherzt und unglaubhaft. Der Mensch ohne Geschichte
aber ist der Barbar.« (Hermann Heimpel, Der Mensch in seiner Ge-
genwart. Acht historische Essays, Göttingen 1957, S. 200 und 218)

180. Gemeint sind die »Ökonomisch-philosophischen Manuskripte


aus dem Jahre 1844« (jetzt in: MEW, Ergänzungsband I, Berlin 1968,
S. 465-588). Sie wurden, nach der Erstpublikation 1932, auch unter
dem Namen »Pariser Manuskripte« bekannt und ermöglichten einen
erweiterten Zugang zu dem Werk von Marx und seiner Rezeption
der Hegelschen Dialektik.

181. Vgl. Karl Marx/Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie. Kri-


tik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten
Feuerbach, B. Bauer, und Stirner, und des deutschen Sozialismus in
seinen verschiedenen Propheten [entstanden 1845/46], in: dies.,
Werke, Bd. 3 [MEW 3], Berlin 1958, S. 9-530.

182. Vgl. das 57. Stück der Minima Moralia. Unter dem Titel Ausgra-
bung steht dort: Vielleicht ist es aber derart um alles Veralten bestellt. Es
erklärt sich nicht aus der bloßen zeitlichen Distanz, sondern aus dem Ur-
teilsspruch der Geschichte. Sein Ausdruck an Dingen ist die Scham, die
den Nachgeborenen im Angesicht der früheren Möglichkeit ergreift, der er
zum Leben zu helfen versäumte. Was vollbracht war, mag vergessen werden
und bewahrt sein in der Gegenwart. Veraltet ist stets nur was mißlang, das
gebrochene Versprechen eines Neuen. Nicht umsonst heißen die Frauen
Ibsens »modern«. Der Haß gegen die Moderne und der gegens Veraltete
sind unmittelbar das Gleiche. (GS 4, S. 104)

183. Den Begriff des Geistes durch den des Menschen zu ersetzen
bestimmt Ludwig Feuerbachs (1804-1872) Stellung zum Idealismus

632
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

seit der Schrift »Zur Kritik der Hegelschen Philosophie« (1839). Das
Denken von Feuerbach, der in den Jahren zwischen 1824 und 1826
bei Hegel studiert hatte, wandte sich in Richtung eines anthropolo-
gischen Materialismus.

184. Karl Marx, Die Frühschriften, hrsg. von Siegfried Landshut,


Stuttgart 1953 [Kröners Taschenausgabe, Bd. 209], S. 237 [»National-
ökonomie und Philosophie« (1844)]. Adorno zitiert hier und im fol-
genden aus den »Pariser Manuskripten«.

185. Ebd., S. 138.

186. Vgl. Aristoteles, Politik. Übersetzt und mit einer Einleitung so-
wie Anmerkungen hrsg. von Eckart Schütrumpf, Hamburg 2012,
S. 6 [Buch I, Kapitel 2; 1253a].

187. Marx, Frühschriften, a. a. O. [s. Anm. 184], S. 238 [»National-


ökonomie und Philosophie« (1844)].

188. Ebd., S. 242.

189. Ebd., S. 275.

190. So Marx’ Kritik an Feuerbach, vgl. ebd., S. 353.

191. Der Schweizer Biologe Adolf Portmann (1897-1982) war seit


1931 Professor in Basel. Er betonte in seinen Schriften die Sonder-
stellung des Menschen wegen seiner »physiologischen Frühgeburt«
(›extrauterines Erstjahr‹). Die These wurde von Arnold Gehlen
übernommen.

192. Der Gedanke der Entäußerung ist für Hegel zentral. »Geist« wird
von ihm verstanden als ein sich entäußernder und in sich zurückkeh-
render. Vgl. zum Begriff der Entäußerung etwa in der »Phänomeno-
logie des Geistes«, a. a. O. [s. Anm. 89], S. 364: »Wodurch also das In-
dividuum hier Gelten und Wirklichkeit hat, ist die Bildung. Seine
wahre ursprüngliche Natur und Substanz ist der Geist der Entfremdung
des natürlichen Seins. Diese Entäußerung ist daher ebenso Zweck als
Dasein desselben [. . .].«

633
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

193. Das »Darmstädter Gespräch 1950«, an dem Adorno teilgenom-


men hatte, führte den Titel »Das Menschenbild in unserer Zeit«. –
Auch diverse Vorträge der »Hessischen Hochschulwochen« im Fe-
bruar 1957 hatten das Wort »Menschenbild« im Titel (Hugo Freund:
»Das Menschenbild der heutigen Medizin«; Bernard von Brentano:
»Das Menschenbild in der modernen Literatur«; Franz Roh: »Das
Menschenbild in der Malerei und Plastik des 20. Jahrhunderts«).

194. S. dazu Anm. 760.

195. Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung
in der Welt, 4., verbesserte Aufl., Bonn 1950, S. 11 f.

196. In den Schriften von Immanuel Kant kommt der »Fehler der
Erschleichung«, die Warnung vor dem »vitium subreptionis« in viel-
fachen Verwendungen vor. Er liege etwa dann vor, wenn »Erschei-
nungen« für »Dinge an sich« gehalten werden.

197. Gehlen, Der Mensch, a. a. O. [s. Anm. 195], S. 15.

198. S. Anm. 158.

199. In der Philosophie Arthur Schopenhauers (1788-1860) be-


zeichnet Drang »die Objektität des Willens auf der alleruntersten Stu-
fe«. »Wille« ist für Schopenhauer irrational. »So sehn wir denn hier,
auf der untersten Stufe, den Willen sich darstellen als einen blinden
Drang, ein finsteres, dumpfes Treiben, fern von aller unmittelbaren
Erkennbarkeit.« (Arthur Schopenhauer, Sämtliche Werke. Nach der
ersten, von Julius Frauenstädt besorgten Gesamtausgabe, neu bearbei-
tet und hrsg. von Arthur Hübscher, 2. Aufl., Die Welt als Wille und
Vorstellung, Erster Band, Wiesbaden 1949, S. 178 [2. Buch, § 27])

200. Der Philosoph und Soziologe Max Scheler wirkte ab 1919 als
ordentlicher Professor in Köln, von 1928 bis zu seinem Tode in
Frankfurt am Main, wo er den Lehrstuhl von Hans Cornelius über-
nahm. Er zählt zu den Begründern der Philosophischen Anthropolo-
gie. Von »dem allem Werden, Keimen, Wachsen, Zeugen zugrunde
liegenden bild- und ideenfreien Drange« ist bereits 1926 in »Die Wis-
sensformen und die Gesellschaft« (jetzt: Bern und München 1960,
S. 442) die Rede. Vgl. dann die zuerst 1928 erschienene Abhandlung

634
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

»Die Stellung des Menschen im Kosmos«, in: Max Scheler, Späte


Schriften, Mit einem Anhang hrsg. von Manfred S. Frings [Gesam-
melte Werke, Bd. 9], Bern und München o. J. [1976], S. 13, 15-17,
22, 34, 42 und 55. Auch in nachgelassenen Manuskripten Schelers ist
»der Drang, oder wie Schopenhauer sagt, der ›ideenblinde Wille‹«
(ebd., S. 247) thematisch.

201. Gehlen, Der Mensch, a. a. O. [s. Anm. 195], S. 33.

202. Vgl. etwa: »Den Anfang macht das, was an sich ist, das Unmit-
telbare, Abstrakte, Allgemeine, was noch nicht fortgeschritten ist.
Das Konkretere, Reichere ist das Spätere; das Erste ist das Ärmste an
Bestimmungen.« (Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Phi-
losophie, in: Werke, a. a. O. [s. Anm. 19], Bd. 18, S. 59)

203. »Die andre Idiosynkrasie der Philosophen ist nicht weniger ge-
fährlich: sie besteht darin, das Letzte und das Erste zu verwechseln.
Sie setzen das, was am Ende kommt – leider! denn es sollte gar nicht
kommen! – die ›höchsten Begriffe‹, das heisst die allgemeinsten, die
leersten Begriffe, den letzten Rauch der verdunstenden Realität an
den Anfang als Anfang. Es ist dies wieder nur der Ausdruck ihrer Art
zu verehren: das Höhere darf nicht aus dem Niederen wachsen, darf
überhaupt nicht gewachsen sein . . . Moral: Alles, was ersten Ranges
ist, muss causa sui sein. Die Herkunft aus etwas Anderem gilt als Ein-
wand, als Wert-Anzweiflung.« (Nietzsche, Kritische Studienausgabe
[Bd. 6], a. a. O. [s. Anm. 106], S. 70) Vgl. zu Adornos Text die Paral-
lelstelle in der Metakritik der Erkenntnistheorie (GS 5, S. 25 f.), die diese
Passage aus Nietzsches »Götzen-Dämmerung« heranzieht.

204. Der englische Philosoph Thomas Hobbes (1588-1679) wandte


sich in der einflußreichen Schrift »De Cive« (Paris 1642) gegen die
auf Aristoteles zurückgehende Ansicht, der Mensch sei von Natur
ein zur Gesellschaft geeignetes Wesen (ζfον πολιτικν). Sein Dasein
im Naturzustand hat Hobbes als das von Vereinzelten gefaßt und mit
dem der Tierheit verglichen (»homo homini lupus«). Der Mensch
werde erst »durch Zucht zur Gesellschaft geeignet« (Thomas Hob-
bes, Vom Menschen. Vom Bürger. Übersetzt und hrsg. von Günter
Gawlick, Hamburg 1959, S. 76). – Vgl. in diesem Zusammenhang
auch Adorno, Philosophische Terminologie, a. a. O. [s. Anm. 19], S. 586
bis 606.

635
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

205. Gehlen, Der Mensch, a. a. O. [s. Anm. 195], S. 391.

206. Konjiziert für [. . .] daß er gegen die Philosophie auf das bloße Un-
terschreiben des Betriebs [. . .] ist.

207. »Hamlet«, 5. Akt, 2. Szene.

208. Adorno bezieht sich auf die Oper »Aufstieg und Fall der Stadt
Mahagonny« von Bertolt Brecht (Text) und Kurt Weill (Musik), ur-
aufgeführt am 9. März 1930 in Leipzig. – Paul Ackermann sagt zu sei-
nen Freunden: »Oh, Jungens, ich will doch gar kein Mensch sein.«
(Bertolt Brecht, Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, in: ders.,
Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hrsg. von
Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Mül-
ler, Berlin/Weimar, Frankfurt a. M. 1988-2000; Bd. 2: Stücke 2, Ber-
lin/Weimar, Frankfurt a. M. 1988, S. 351.

209. Der Psychoanalytiker, Sozialpsychologe und Mediziner Alex-


ander Mitscherlich (1908-1982), der während der Nazizeit mehrmals
verhaftet worden war, nahm nach dem Krieg als Beobachter und Be-
richterstatter am Nürnberger Prozeß gegen NS-Ärzte teil. Seit 1947
war er Herausgeber der Zeitschrift »Psyche«. Mitscherlich wurde
1952 zum außerplanmäßigen Professor für psychosomatische Medi-
zin in Heidelberg berufen. Von seinen Arbeiten bis 1957 sind im
Nachlaß von Adorno unter anderem die folgenden vorhanden:
Alexander Mitscherlich/Fred Mielke, Das Diktat der Menschenver-
achtung. Aus der deutschen Ärztekommission beim amerikanischen
Militärgericht I in Nürnberg. Eine Dokumentation vom Prozeß ge-
gen 23 SS-Ärzte und deutsche Wissenschaftler, Heidelberg 1947;
Alexander Mitscherlich/Fred Mielke, Wissenschaft ohne Mensch-
lichkeit. Medizinische und eugenische Irrwege unter Diktatur, Bü-
rokratie und Krieg, Mit einem Vorwort der Arbeitsgemeinschaft der
westdeutschen Ärztekammern, Heidelberg 1949 (das Exemplar ent-
hält die handschriftliche Widmung »Professor T. W. Adorno in be-
ster Verbundenheit / Alexander Mitscherlich / 21.1.52«); Alexander
Mitscherlich, Meditationen zu einer Lebenslehre der modernen
Massen, in: Merkur 11 (1957), Heft 3, S. 201-213 [Teil I], und Heft 4,
S. 335-350 [Teil II].

636
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

210. Adorno bezieht sich auf Alexander Mitscherlich, Massenpsy-


chologie ohne Ressentiment, in: Die neue Rundschau, Jg. 64 (1953),
Heft 1, S. 56: »Ein witziger Mann hat sich folgende Geschichte aus-
gedacht: Politische Großversammlung, die Arena gefüllt bis zum
letzten Platz, ein Teppich von Menschen und Gesichtern in den auf-
steigenden Reihen, der Redner in vollem Zug. Er sagt: ›Die Ver-
massung ist an allem schuld.‹ Orkanartiger Applaus.«

211. Der baptistische Prediger Billy Graham (1918-2018), eigentlich


William Franklin Graham Jr., wurde durch Zeitungskolumnen,
Buchpublikationen, Rundfunkbeiträge und vor allem auch riesige
Massenveranstaltungen weltweit bekannt. Zu seinen größten Evan-
gelisierungskampagnen (»crusades«) gehört die im Londoner Raum
von März bis Mai 1954.

212. Søren Kierkegaard läßt in »Die Krankheit zum Tode« (übersetzt


und mit Nachwort von H[ermann] Gottsched, Gesammelte Werke,
Bd. 8, Jena 1911, S. 120) seinen Anti-Climacus sagen: »Ein Gericht!
Ja, wir Menschen haben ja gelernt und die Erfahrung lehrt ja, daß,
wenn es auf einem Schiffe oder in einer Armee Meuterei gibt, soviele
schuldig sind, daß man die Bestrafung aufgeben muß; und wenn das
Publikum, das hochgeehrte gebildete Publikum oder das Volk schul-
dig ist, dann ist es nicht bloß kein Verbrechen, dann ist es den Zeitun-
gen zufolge, auf die man wie auf das Evangelium und die Offenba-
rung bauen darf, Gottes Wille. Woher kommt das? Das kommt
daher, daß sich ein Gericht auf den einzelnen bezieht. Man richtet
nicht en masse; man kann Leute en masse totschlagen, en masse auf sie
spritzen, ihnen en masse schmeicheln, kurz auf mancherlei Weise
Leute wie Vieh behandeln, aber Leute wie Vieh richten kann man
nicht, denn Vieh kann man nicht richten; ob auch noch so viele ge-
richtet werden, so wird, wenn das Richten Ernst und Wahrheit ent-
halten soll, jeder einzelne gerichtet. [Fußnote:] Sieh, darum ist Gott
›der Richter‹, weil vor ihm keine Menge ist, sondern nur einzelne.«
Adorno führt diese Passage auch in seinem Buch über Kierkegaard an
(vgl. jetzt GS 2, S. 122 f.).

213. Hegel hat in dem Kapitel über »Herrschaft und Knechtschaft«


in der »Phänomenologie des Geistes« den Gedanken der bildenden
Kraft der Arbeit vertreten. »Die Arbeit hingegen ist gehemmte Begier-
de, aufgehaltenes Verschwinden, oder sie bildet.« (Hegel, Werke, Bd. 3,

637
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

a. a. O. [s. Anm. 89], S. 153) – Zur Bestimmung des Menschen durch


gesellschaftliche Arbeit bei Goethe vgl. vor allem den Roman »Wil-
helm Meisters Wanderjahre oder Die Entsagenden« (s. Anm. 377).

214. Ein paar Tage vor Adornos Vortrag, am 8. Februar 1957 war der
Film »Schütze Lieschen Müller« (mit Maria Sebaldt in der Titelrolle)
in Kinos angelaufen, worauf Adorno offenbar anspielt.

215. Vgl. dazu Ohne Leitbild (GS 10·1, S. 291-301).

216. »Ein guter Mensch in seinem dunklen Drange / Ist sich des
rechten Weges wohl bewußt.« (Johann Wolfgang Goethe, Faust. Der
Tragödie erster Teil, v. 328 f.)

217. Adorno übernimmt den Begriff Ichschwäche von Hermann


Nunberg, Ichstärke und Ichschwäche, in: Internationale Zeitschrift
für Psychoanalyse, Bd. 24 (1939), S. 49-61.

Kultur und Culture

Zum Abdruck kommt hier der Vortrag, mit dem Adorno unter dem
Titel Sind amerikanische und deutsche Kultur vergleichbar? am 7. Juni
1957 im neuen Gebäude des Münchener Amerika-Hauses aufgetre-
ten ist. Er wurde vom Bayerischen Rundfunk mitgeschnitten und
unter dem Titel Kultur und Culture am 10. September 1957 – wahr-
scheinlich leicht gekürzt – im Nachtstudio (22 bis 23 Uhr) gesendet.
Kultur und Culture dürfte derjenige von Adornos Vorträgen sein,
der, freilich mit Variationen, am häufigsten von ihm gehalten wor-
den ist. Eingeladen vom Deutsch-Amerikanischen Institut, sprach
Adorno zum ersten Mal am 30. November 1956 im Mannheimer
Amerika-Haus über dies Thema. Der Vortrag wurde angekündigt
unter dem Titel Amerikanische und deutsche Kultur – sind sie vergleich-
bar? In der Ankündigung hieß es: Der Vortrag will die starre und
unfruchtbare Alternative zwischen dem naiven Akzeptieren des Amerikani-
schen einerseits und andererseits dem ebenso naiven Ausspielen der europäi-
schen Kulturtradition dagegen überwinden und damit die Frage, inwieweit
deutsche und amerikanische Kultur vergleichbar sind, neu stellen. Dabei wird
er auf die problematische Auffassung des Begriffs Kultur, soweit sie nur gei-
stig-künstlerische Erzeugung meint und die materielle ausschließt, eingehen

638
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

und die vielfach falschen Vorstellungen von amerikanischer Kultur, die einfach
deutsche Bedingungen auch in den U. S. A. voraussetzen und zugleich mit
den gesellschaftlichen Gestaltungskräften die des Nonkonformismus in Ame-
rika unterschätzen, richtigzustellen suchen. (Vt 89) Weitere Vorträge er-
folgten am 17. Dezember 1956 in Hanau, veranstaltet von der Histor-
ical Society der Third Armored Division, wobei Adorno englisch
(über Some aspects of a comparison between German and American culture)
sprach; am 11. Januar 1957 in Heidelberg (Amerika-Haus), unter
dem Titel Deutsche und amerikanische Kultur – sind sie vergleichbar?; am
10. Mai 1957 in Frankfurt (Amerika-Haus); am 22. Oktober 1957 auf
Englisch in der Frankfurter Universität, eingeladen von der Third
Armored Division; wahrscheinlich am 25. Oktober 1957 in Koblenz
(Rathaussaal oder Aula des Staatlichen Görres-Gymnasiums), einge-
laden von dem Amerika-Haus und der Volkshochschule Koblenz;
am 31. Oktober 1957 in Hannover, eingeladen vom Amerika-Haus;
am 15. November 1957 in Darmstadt (Amerika-Haus), eingeladen
vom Deutsch-Amerikanischen Institut Darmstadt; am 4. März 1958
in Marburg (Auditorium maximum der Philipps-Universität), einge-
laden vom Deutsch-Amerikanischen Institut und der Volkshoch-
schule Marburg; am 6. Mai 1958 in Berlin (Studentenhaus am Stein-
platz), eingeladen von der Urania; am 9. Juli 1958 in Bad Wildungen
im Rahmen der Hessischen Hochschulwochen für staatswissen-
schaftliche Fortbildung. Am 12. Oktober 1962 dann schrieb Adorno
an Max Horkheimer: In der Sitzung der Amerikagruppe habe ich gestern
eine längere Einleitungsrede gehalten, die ich aus Kultur und Culture be-
stritt. (Adorno/Horkheimer, Briefwechsel Bd. IV, a. a. O. [s. S. 626],
S. 696) Weitere Vorträge erfolgten: am 5. März 1963 in Essen, Ameri-
ka-Haus; am 7. November 1963 in Nürnberg (Amerika-Haus),
eingeladen vom Deutsch-Amerikanischen Institut/Amerika-Haus
Nürnberg und der Lessing-Gesellschaft Nürnberg e. V.; am 28. Fe-
bruar 1964 in Münster (Fürstenberghaus der Westfälischen Wil-
helms-Universität), eingeladen von der Volkshochschule Münster
e. V.; am 4. März 1964 in Aachen (Roter Hörsaal der TH), eingeladen
von der Deutsch-Britischen Gesellschaft in Aachen; am 6. März 1964
in Köln, Amerika-Haus und Deutsch-Amerikanische Gesellschaft;
und dann noch einmal vor dem 24. November 1966 in Wuppertal
(Barmer Concordia), eingeladen von der Deutsch-Amerikanischen
Gesellschaft. – Stets war der Vortrag unter einem der beiden Titel
Kultur und Culture oder Deutsche und amerikanische Kultur – sind sie ver-
gleichbar? (oder einer Variante dieses Titels) angekündigt.

639
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Der Münchner Vortrag vom 7. Juni 1957 wurde gedruckt in:


Vorträge, gehalten anläßlich der Hessischen Hochschulwochen für
staatswissenschaftliche Fortbildung, 29. Juni bis 9. Juli 1958 in Bad
Wildungen, Dreiundzwanzigster Band, Bad Homburg v. d. Höhe,
Berlin, Zürich 1959, S. 246-259. Dort ist dem Text die folgende Vor-
bemerkung beigegeben. So dankbar der Autor die Initiative der Leitung
der Hochschulwochen zu schätzen weiß, welche die dort gehaltenen Vorträ-
ge den Teilnehmern als Privatdruck zugänglich macht, so sehr zögert er
gleichwohl, der Publikation zuzustimmen. Er ist sich dessen bewußt, daß
in seiner Art von Wirksamkeit gesprochenes und geschriebenes Wort noch
weiter auseinandertreten als heute wohl durchweg. Spräche er so, wie er um
der Verbindlichkeit der sachlichen Darstellung willen schreiben muß, er blie-
be unverständlich; nichts aber, was er spricht, kann dem gerecht werden,
was er von einem Text zu verlangen hat. Je allgemeiner die Gegenstände
sind – und der des hier veröffentlichten Vortrags war fatal allgemein formu-
liert – um so mehr verstärken sich die Schwierigkeiten für einen, dem jüngst
ein Kritiker freundlich attestierte, seine Produktion gehorche dem Satz »Der
liebe Gott wohnt im Detail«. Wo ein Text genaue Belege zu geben hätte,
bleiben dergleichen Vorträge notwendig bei der dogmatischen Behauptung
von Resultaten stehen. Er kann also für das hier Gedruckte die Verantwor-
tung nicht übernehmen und betrachtet es lediglich als Erinnerungsstütze für
die, welche bei seiner Improvisation zugegen waren und welche über die
behandelten Fragen selbständig weiterdenken möchten auf Grund der be-
scheidenen Anregungen, die er ihnen übermittelte. Darin, daß allerorten
die Tendenz besteht, die freie Rede, wie man das so nennt, auf Band
aufzunehmen und dann zu verbreiten, sieht er selbst ein Symptom jener
Verhaltensweise der verwalteten Welt, welche noch das ephemere Wort,
das seine Wahrheit an der eigenen Vergänglichkeit hat, festnagelt, um den
Redenden darauf zu vereidigen. Die Bandaufnahme ist etwas wie der Fin-
gerabdruck des lebendigen Geistes. Indem der Autor von der liebenswürdigen
Bereitschaft der Kursleitung Gebrauch macht, all das unumwunden auszu-
sprechen, hofft er, wenigstens einigen der Mißdeutungen vorzubeugen, de-
nen er sonst unweigerlich sich aussetzte. T. W. A. – Adorno hat in der
Publikationsreihe der Hochschulwochen nicht die Fassung – als
Transkription aufbewahrt unter Signatur Vt 94 – zum Druck ge-
bracht, die er bei den Hochschulwochen (am 9. Juli 1958 in Bad Wil-
dungen) hielt. Vielmehr griff er auf eine Tonbandtranskription des
Vortrags im Münchener Amerika-Haus zurück. Diese – freilich recht
unzulängliche – Nachschrift hat sich im Nachlaß von Adorno erhal-
ten (ein Typoskript, vorhanden als Hektographie und als Durch-

640
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

schlag, Signatur Vt 92 und Vt 95). – Ein Teil des Münchner Vortrags


ist als Tonaufnahme im Rahmen einer CD-Edition von Quartino er-
schienen: Zeitgeist und Eigensinn. Theodor W. Adorno, Elias Ca-
netti, Thomas Mann u. a. – Vorträge und Gespräche, 6 CDs, Mün-
chen 2009.
Grundlage für den hergestellten Text ist die Tonaufzeichnung des
Vortrags, den Adorno am 7. Juni 1957 im Münchener Amerika-Haus
gehalten hat. Sie ist leider nicht vollständig – wurde auf eine Stunde
zusammengeschnitten – und findet sich auf einem Tonband, das im
Adorno Archiv unter der Signatur TA 72 archiviert ist.

218. Die Anrede ist auf der Tonaufnahme nicht überliefert; sie wur-
de nach den Transkriptionen Vt 92 und Vt 95 ergänzt.

219. Vgl. den Anfang von Hölderlins Gedicht »An die Deutschen«:
»Spottet nimmer des Kinds, wenn noch das alberne / Auf dem Rosse
von Holz herrlich und viel sich dünkt, / O ihr Guten! auch wir sind /
Tatenarm und gedankenvoll!«

220. Vgl. dazu: Max Frisch, Kultur als Alibi, in: Der Monat, Jg. 1
(1949), Heft 7 [April 1949], S. 82-85; Wiederabdruck in: Max Frisch,
Öffentlichkeit als Partner, Frankfurt a. M. 1967, S. 15-24. Darin heißt
es auf S. 20 f.: »Leider bin ich nicht imstande, kurz und bündig zu sa-
gen, was wir unter Kultur verstehen sollen. Zu den entscheidenden
Erfahrungen aber, die unsere Generation hat machen müssen, gehört
meines Erachtens die vielfach offenbarte Tatsache, daß, um es mit einem
namentlichen Beispiel anzudeuten, ein Mann wie Heydrich, der
Mörder von Böhmen, ein hervorragender und sehr empfindsamer
Musiker gewesen ist, der sich mit Geist und echter Kennerschaft, so-
gar mit Liebe hat unterhalten können über Bach, Händel, Mozart,
Beethoven, Bruckner. Nennen wir es, was diese Menschenart aus-
zeichnet, eine ästhetische Kultur. Ihr besonderes Kennzeichen ist die
Unverbindlichkeit. Es ist eine Geistesart, die das Erhabenste denken
und das Niedrigste nicht verhindern kann, eine Kultur, die sich säu-
berlich über die Forderungen des Tages erhebt.«

221. Nach der Äsop zugeschriebenen Fabel sagt der Fuchs über die
Trauben, die er nicht erreichen kann: ›Sie sind noch nicht reif, ich
mag keine sauren Trauben‹.

641
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

222. Vgl. William Shakespeare, Romeo und Julia, 3. Akt, 5. Szene.


Julia: »Willst du schon gehn? Der Tag ist ja noch fern. / Es war die
Nachtigall, und nicht die Lerche, / Die eben jetzt dein banges Ohr
durchdrang; / Sie singt des Nachts auf dem Granatbaum dort. /
Glaub’, Lieber, mir: es war die Nachtigall.« (Shakespeare, Romeo
und Julia. Deutsch von A. W. von Schlegel, Berlin, Leipzig o. J. [ca.
1912], S. 88)

223. Der Text der Tonbandtranskription (Vt 95) bietet an dieser


Stelle den folgenden, als Tonaufnahme (TA 72) nicht überlieferten
Passus: Dadurch kommt in das amerikanische Leben ein Moment von
Friedlichkeit, von Gutartigkeit hinein, das wir gerade nach der aufgestauten
Bosheit und dem aufgestauten Neid aus den Jahren 1933 bis 1945 in
Deutschland nicht leichtfertig nehmen und nicht leichtfertig verwerfen soll-
ten. In Amerika ist ein Moment – ich möchte beinahe sagen – der Un-
aggressivität der Menschen zu finden, das mit dem Begriff realer Humanität
sehr viel mehr zu tun hat, als wir so im allgemeinen wissen. Diese reale
Humanität hängt ihrerseits wieder damit zusammen, daß in einer rein
bürgerlichen Tauschgesellschaft wie der amerikanischen die Demokratie
selbst mit ihren Spielregeln und Verfahrensweisen unendlich viel substantiel-
ler ist als jedenfalls bei uns in Deutschland, das heißt, daß hier nicht die
demokratischen Formen dem Volk selber als etwas ihm Fremdes gegenüber-
stehen. Wenn man etwa in soziologischen Studien in Deutschland immer
wieder solchen Aussagen begegnet wie: ›Wir sind noch nicht reif zur Demo-
kratie‹ – und ich habe manchmal das Gefühl, als ob in Deutschland
60 Millionen Menschen sagen könnten, wir seien noch nicht reif zur Demo-
kratie, wobei jeder einzelne immer die 59 999 999 anderen Menschen
meint –, dann wären derartige Aussagen in Amerika schlechterdings un-
denkbar. Die Formen der parlamentarischen Demokratie reichen auch bis
in alle möglichen Gruppen, in Clubs, in Schulklassen, in Gott weiß was
alles herein und prägen sich dadurch sehr viel stärker aus, als das bei uns
bis heute denkbar ist. Es herrscht in Amerika eine unvergleichlich viel
größere Nähe zwischen den politischen Formen und dem Leben. Ich möchte
damit nicht etwa sagen, daß Amerika vor der Gefahr eines Umkippens zu
totalitären Herrschaftsformen gefeit sei. Eine solche Gefahr liegt in der Ten-
denz der modernen Gesellschaft selber, und es wäre ganz lächerlich, von
irgendeinem Land der Welt heute anzunehmen, daß diese Gefahr nicht
überdauerte, daß das Problem des Totalitarismus sich nicht jederzeit aufs
neue so stellen könnte, wie wir es heute auf so schmerzliche Weise in
Frankreich erleben. Aber es ist doch zu sagen, daß wahrscheinlich die Resi-

642
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

stenzkraft gegen totalitäre Strömungen in Amerika größer ist als – ja, ich
wage beinahe zu sagen – in irgendeinem europäischen Land, mit Ausnah-
me vielleicht von England, das ja in sehr viel mehr Hinsichten, als wir
gewohnt sind anzunehmen, eine Art von Bindeglied zwischen Amerika
und dem kontinentalen Europa darstellt.

224. S. Anm. 192.

225. Vgl. zum Bildungsbegriff von Wilhelm von Humboldt (1767 bis
1835) die vielzitierte Formulierung: »Der wahre Zwek des Men-
schen – nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern wel-
chen die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt – ist die
höchste und proportionirlichste Bildung seiner Kräfte zu einem
Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste, und unerlassliche
Bedingung. Allein ausser der Freiheit erfordert die Entwikkelung der
menschlichen Kräfte noch etwas andres, obgleich mit der Freiheit
eng verbundenes, Mannigfaltigkeit der Situationen. Auch der freieste
und unabhängigste Mensch, in einförmige Lagen versezt, bildet sich
minder aus.« (Wilhelm von Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die
Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, in: ders., Schrif-
ten zur Anthropologie und Geschichte, Werke in fünf Bänden,
Bd. I, hrsg. von Andreas Flitner und Klaus Giel, Berlin 1960, S. 64)
Im 2. Kapitel dieser Frühschrift (1792) von Humboldt wird Bildung
organologisch begriffen, im Vergleich mit dem Wachstum der Pflan-
zen. – Humboldt hat allerdings auch stark die Wechselwirkung mit
»Welt« betont; vgl. das unter dem Titel »Theorie der Bildung des
Menschen« bekannte Fragment (ebd., S. 234-240).

226. Das Hays Office, eigentlich »The Motion Picture Producers and
Distributors of America« (M. P. P.D.A.) wurde 1922 nach Skandalen
in der amerikanischen Filmwirtschaft eingerichtet, um einer Zensur
von regierungsamtlicher Seite zuvorzukommen. Die inoffizielle
Bezeichnung geht auf den Anwalt Will H. Hays (1879-1954) zurück,
der von 1922 bis 1945 Chairman dieser Institution und Mitautor des
1930 veröffentlichten ›Production Code‹ war – moralischer Richt-
linien darüber, was in Hollywood gemacht werden darf und was
nicht.

227. Vermutlich denkt Adorno an puritanisch-christliche Organi-


sationen, die gegen Prostitution oder Alkoholkonsum angingen (wie

643
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

etwa die 1874 in Cleveland gegründete »National Woman’s Christian


Temperance Union«) oder an der Filmzensur beteiligt waren.

228. Wessen Äußerung Adorno hier zitiert, konnte nicht ermittelt


werden. – Zum Wort Begegnung im Jargon der Eigentlichkeit vgl. auch
GS 6, S. 464 f.

229. In Concord (Massachusetts), nordwestlich von Boston, lebten


die Schriftsteller Ralph Waldo Emerson (1803-1882) und Henry Da-
vid Thoreau (1817-1862).

230. Der Text der Tonbandtranskription (Vt 95) bietet an dieser


Stelle den folgenden, als Tonaufnahme (TA 72) nicht überlieferten
Satz: Diese Erfahrung ist in aller Schärfe zuerst von Tocqueville formuliert
worden.

231. In Friedrich Hölderlins Gedicht »Da ich ein Knabe war . . .«


(1798) heißt es: »Ich verstand die Stille des Aethers, / Der Menschen
Worte verstand ich nie.«

232. Adorno bezieht sich auf ein von der American Association for
Adult Education herausgegebenes Buch von Willem van de Wall.
Darin heißt es: »If an American school or epoch of great music ever
comes, it will be because the Joneses of Main Street and the hundreds
of Smiths from Florida to Seattle seriously and extensively practice
playing, singing, composing; because the community and the publi-
shers give them a chance to be performed and heard, and audiences
clamor for them. Then American Palestrinas, Bachs, Beethovens,
and Tschaikowskis will appear, just as they have arisen from the many
Italians writing motets and operas, and Germans writing fugues,
sonatas, and symphonies.« (Willem van de Wall, The Music of the
People, New York 1939 [zuerst 1938], p. 120 [Studies in the Social
Significance of Adult Education in the United States]) – Vgl. dazu
auch Adornos zu Lebzeiten nicht erschienene Rezension, jetzt in:
GS 19, S. 373 f.

233. Der Text der Transkription (Vt 95) bietet hier den folgenden,
als Tonaufnahme nicht überlieferten Satz: Namen wie Emerson, Royce,
Whitehead sagen, soweit es um den objektiv herrschenden Geist geht, kaum
etwas dagegen.

644
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

234. Vgl. dazu den posthum publizierten Aphorismus Prokrustes


(GS 4, S. 295-297, hier S. 295) sowie den Aufsatz Wissenschaftliche Er-
fahrungen in Amerika (GS 10·2, S. 702-738, hier S. 704).

235. Ich hatte in der Psychoanalytischen Gesellschaft in San Francisco


einen Vortrag gehalten und der zuständigen Fachzeitschrift zur Publikation
gegeben. In den Korrekturfahnen entdeckte ich, daß man sich nicht mit
der Verbesserung stilistischer Mängel begnügt hatte, die dem Einwanderer
unterlaufen waren. Der gesamte Text war bis zur Unkenntlichkeit entstellt,
die Grundintention nicht wiederzuentdecken. Auf meinen höflichen Protest
empfing ich die nicht minder höfliche, bedauernde Erklärung, die Zeitschrift
verdanke ihren Ruf eben ihrer Praxis, alle Beiträge einem solchen editing,
einer solchen Redaktion, zu unterwerfen. Sie verschaffe ihr die Einheitlich-
keit; ich sei mir nur selbst im Wege, wenn ich auf ihre Vorzüge verzichtete.
Ich verzichtete dennoch [. . .] (GS 10·2, S. 698) – Es handelt sich um die
Arbeit Social Science and Sociological Tendencies in Psychoanalysis, die
Adorno am 27. April 1946 vor der San Francisco Psychoanalytic As-
sociation vorgetragen hatte. Der Text ist jetzt abgedruckt im Anhang
von: Wolfgang Bock, Dialektische Psychologie. Adornos Rezeption
der Psychoanalyse, Wiesbaden 2018, S. 623-642. – Zur deutschen
Fassung dieser Arbeit vgl. Die revidierte Psychoanalyse (GS 8, S. 20-41).

236. S. Anm. 179.

237. Das Lüchow’s am Union Square in Manhattan, 1882-1982, war


von August Guido Lüchow gegründet worden. Es war Amerikas be-
rühmtestes deutsches Restaurant.

238. Vermutllich der mit Adorno befreundete Pianist und Kompo-


nist Eduard Steuermann (1892-1964), dessen Schwester Rosa mit ih-
rer Familie in den 1940er Jahren in Buenos Aires lebte.

239. Im Kapitel XXXIV (Schluß) von Thomas Manns Roman


»Doktor Faustus« heißt es: »Für den Nicht-Künstler ist es eine recht
intriguierende Frage, wie ernst es dem Künstler mit dem ist, was ihm
das Angelegentlich-Ernsteste sein sollte und zu sein scheint; wie
ernst er sich selbst dabei nimmt und wieviel Verspieltheit, Mumm-
schanz, höherer Jux dabei im Spiele ist.«

645
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Abhängigkeit des Ausbildungszieles von


den Studenten und ihren Erwartungen
Im Sommersemester 1957 veranstaltete der Chicago-Ausschuß der
Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main, in
dem – im Rahmen eines seit 1948 bestehenden akademischen Aus-
tauschprogramms – Wissenschaftler der Universitäten von Chicago
und von Frankfurt zusammenarbeiteten, ein Seminar über das The-
ma »Universität und moderne Gesellschaft«. In diesem Kontext hielt
Adorno am 12. Juli 1957 einen Vortrag mit dem Titel Abhängigkeit des
Ausbildungszieles von den Studenten und ihren Erwartungen. Er steht im
Zusammenhang mit der 1952-1954 vom Institut für Sozialforschung
durchgeführten Erhebung »Universität und Gesellschaft« (vgl. dazu
GS 20·2, S. 685-688), auf die Adorno sich auch bezieht.
Druckvorlage bildet eine unvollständige, sechzehnseitige Band-
transkription, die als Typoskript mit handschriftlichen Korrekturen
im Nachlaß von Adorno vorhanden ist (Vt 112). Sie war in einer
Mappe mit der Beschriftung aufbewahrt: »TWA/Vortrag vor dem
Chicago-Ausschuß der Uni über ›Bildungsziele‹, 12.7.57 (Bandtran-
skription)«.
Leider ist ein großer Teil des Referats – möglicherweise fast die
Hälfte – nicht erhalten. Es fehlt der Anfang, vor allem aber das Mit-
telstück, in dem Adorno sich auf Ergebnisse der Studentenbefragung
des Projekts »Universität und Gesellschaft« bezog. Kann von diesem
Mittelstück Adornos wörtlicher Text nicht gegeben werden, so im-
merhin auf das verwiesen werden, was daraus in einer Bearbeitung
von Christoph Oehler publiziert wurde. Vgl. dazu: Institut für Sozi-
alforschung, Frankfurt am Main, Die Abhängigkeit des Ausbildungs-
zieles von den Studienerwartungen der Studenten, Bericht, erstattet von
Theodor W. Adorno, bearbeitet von Christoph Oehler, in: Universi-
tät und moderne Gesellschaft. Referate und Diskussionsbeiträge zu
dem im Sommer 1957 vom Chicago-Ausschuß der Johann Wolfgang
Goethe-Universität in Frankfurt am Main veranstalteten Seminar,
hrsg. von Chauncy D. Harris und Max Horkheimer, Frankfurt a. M.
1959, S. 82-87 (jetzt in: GS 20·2, S. 689-697).

240. Auch im Typoskript der Nachschrift (Vt 112) stehen hier Aus-
lassungspunkte.

241. S. Anm. 216.

646
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

242. Das Wort dunklen ist in der Vorlage (Vt 112/1) unterstrichen.

243. Zum Begriff der Kultursynthese – er wurde hier konjiziert für


Kulturthese – vgl. das Kapitel »Der Begriff der gegenwärtigen Kul-
tursynthese in seinem Verhältnis zum Historisch-Individuellen und
zum Ethisch-Allgemeinen« in: Ernst Troeltsch, Gesammelte Schrif-
ten, Bd. 2: Der Historismus und seine Probleme, Erstes Buch: Das lo-
gische Problem der Geschichtsphilosophie, Tübingen 1922, S. 164
bis 179.

244. In Voltaires »Précis de l’ecclésiaste« (Paris 1759) heißt es: »J’ac-


cablai mon esprit de trop de nourriture; / A prévenir mon goût
j’épuisai tous mes soins; / Mais mon goût s’émoussait en fuyant la na-
ture. / Il n’est de vrais plaisirs qu’avec de vrais besoins.« (Les Œuvres
complètes de Voltaire, Bd. 49A, Voltaire Foundation, Oxford 2010,
p. 208) Voltaires »Précis« – die kleine Schrift wurde im Jahr des Er-
scheinens nach einem Gerichtsurteil verbrannt – paraphrasiert das
biblische Buch Kohelet.

245. Zu denken ist hier an die auf Helmut Schelsky zurückgehende


Vorstellung der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« (vgl. Helmut
Schelsky, Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart.
Darstellung und Deutung einer empirisch-soziologischen Tatbe-
standsaufnahme, 2. Aufl., Stuttgart 1954, S. 218). Ebd. spricht Schels-
ky von der »Herausbildung einer nivellierten kleinbürgerlich-
mittelständischen Gesellschaft, die ebenso wenig proletarisch wie
bürgerlich ist, d. h. durch den Verlust der Klassenspaltung und sozia-
len Hierarchie gekennzeichnet wird«.

246. Das Wort den ist in der Vorlage (Vt 112/9) unterstrichen.

247. Vgl. dazu Theodor W. Adorno, Kulturkritik und Gesellschaft, in:


ders., Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft, Berlin, Frankurt a. M.
1955, S. 7-31; jetzt in: GS 10·1, S. 11-30.

248. Die Studentenumfrage war Teil der Erhebung »Universität und


Gesellschaft«, die das Institut für Sozialforschung unter Mitwirkung
des Instituts für vergleichende Sozialwissenschaften in den Jahren
1952-1954 durchgeführt hatte. Sie wurde durch eine Professorenbe-
fragung und eine Expertenbefragung, bei Praktikern aus Wirtschaft

647
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

und Verwaltung, ergänzt. In dem Vorwort zum Forschungsbericht über


»Universität und Gesellschaft«, der 1956 in hektographierter Form her-
gestellt wurde, heißt es darüber: Die Studentenbefragung ging hervor
aus einem Praktikum des Instituts; in ihren früheren Phasen wurde sie von
Hans Sittenfeld unter Assistenz von Helmut Wagner geleitet; später trug
die Hauptlast der Auswertung und der Formulierung des Forschungsberichts
Christoph Oehler, assistiert von Jutta Thomae. (GS 20·2, S. 688)

249. Vgl. Johann Gottlieb Fichte, Die Bestimmung des Menschen,


Berlin 1800; jetzt in: Johann Gottlieb Fichte, Werke 1799-1800, hrsg.
von Reinhard Lauth und Hans Gliwitzky unter Mitwirkung von
Erich Fuchs, Kurt Hiller, Walter Schieche und Peter K. Schneider,
Stuttgart-Bad Cannstadt 1981, S. 145-311 (J. G. Fichte-Gesamtaus-
gabe I, 6).

250. Vgl. zu dem hier fehlenden Teil Theodor W. Adorno und


Christoph Oehler, Die Abhängigkeit des Ausbildungszieles von den Stu-
dienerwartungen der Studenten, GS 20·2, S. 689-697.

251. »Denn der Mittelweg ist der einzige, der nicht nach Rom
führt.« (Arnold Schönberg, Drei Satiren für gemischten Chor, op. 28,
Universal Edition, UE 8586, S. 3)

252. »Hab’ ich nur deine Liebe, die Treue brauch’ ich nicht«: So beginnt
das Lied der Fiametta in Franz von Suppés Operette »Boccaccio«,
Uraufführung Wien 1879 (vgl. Boccaccio. Komische Oper in 3 Ak-
ten von F. Zell und Richard Genée, Musik von Franz von Suppé,
Hamburg o. J. [ca. 1920], S. 64 [No 6. Lied]).

253. Konjiziert für geringes.

254. In der Transkription steht wörtlich: Es gibt keinen Menschen,


keinen Handwerker z. B., der an seinem Handwerk leidenschaftlich interes-
siert wäre, der nicht dadurch, dass es ihm auf eine Sache ankommt, die
ihm dabei nicht nur Mittel zum Zweck ist, sondern an der er sich abarbei-
tet, und in der er überhaupt gleichsam sich erst selbst bestimmt, in der er
sich daran abarbeitet, in dem nicht ein Moment des Geistigen auch angelegt
wäre. (Vt 112/13 f.)

648
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

255. Auf einem Beine stehend: Lieblingswendung Adornos für eine


kurzgefaßte Improvisation. Das Wort geht zurück auf eine Geschich-
te über Rabbi Hillel im Talmudischen Traktat Šabbath (31a): »Aber-
mals ereignete es sich, daß ein Nichtjude vor Šammaj trat und zu ihm
sprach: Mache mich zum Proselyten unter der Bedingung, daß du
mich die ganze Tora lehrst, während ich auf einem Fuße stehe. Da
stieß er ihn fort mit der Elle, die er in der Hand hatte. Darauf kam er
zu Hillel und dieser machte ihn zum Proselyten und sprach zu ihm:
Was dir nicht lieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht. Das ist die
ganze Tora und alles andere ist nur Erläuterung; geh und lerne sie.«
(Der babylonische Talmud, nach der ersten zensurfreien Ausgabe un-
ter Berücksichtigung der neueren Ausgaben und handschriftlichen
Materials ins Deutsche übersetzt von Lazarus Goldschmidt, Bd. I,
o. O. [Darmstadt] 2002, S. 521 f.)

256. Adorno bezieht sich auf das Drama »Hedda Gabler« (1890) von
Henrik Ibsen (1828-1906), worin Hedda von ihrem Mann Jörgen
Tesman als von einem Fachmenschen spricht.

257. Konjiziert für Konzeption.

258. Der zweite Studententyp wird von Adorno und Oehler wie folgt
charakterisiert: Den zweiten Typ repräsentiert ein Betriebswirt im siebenten
Semester. Seine Berufspläne kennzeichnet er folgendermaßen: »Industrie oder
Bank – nicht festgelegt, wir sind ja ganz nüchterne Leute, die nicht, wie Phi-
losophen, aufs Ideelle achten. Ich will Geld verdienen.« Sein Berufsplan
stand für ihn schon etwa zwei Jahre vor dem Abitur fest. Sein Vater, ein Leh-
rer, überließ ihm die Wahl des Studienfaches, sagte aber: »Werd’ nur nicht
Lehrer, die werden schlecht bezahlt.« Nach dem Abitur, bevor er sich zu sei-
nem Studium entschloß, wollte er einen Beruf ergreifen, der ihn »nach kurzer
Lehrzeit rasch zu Gewinn bringen sollte«. Aus diesem Plan ist nichts gewor-
den, »es fehlte an Anknüpfungspunkten« (Beziehungen). [Absatz] Er ist
ganz an dem orientiert, was er Praxis nennt: »Was man im Laufe des Studi-
ums lernt, ist teilweise brauchbar, aber teilweise für die Praxis Ballast, und
zwar im Verhältnis 50 zu 50«; damit meint er »Überspitzungen in der Theo-
rie«. Er hat nie Vorlesungen und Übungen außerhalb der Fächer, die er für
das Examen braucht, gehört; nur in Mainz, wo er früher studierte, mußte er
das obligatorische studium generale absolvieren und hat dabei die »Sachen, die
am nächsten lagen« gewählt. Bei Überschneidung von Vorlesungen würde
sein Fach, die Betriebswirtschaftslehre, immer den Ausschlag geben. Die Ge-

649
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

fahr der Verzettelung sieht er nicht; man könne sich ja strikt an die Studien-
ordnung halten. Ein Stipendium nähme er nur für ein halbes Jahr an und nur
dann, wenn es »großzügig und im Ausland« wäre, weil es ihn »Zeit, Zeit
meines Lebens« kosten würde, die er anscheinend lieber dem beruflichen Auf-
stieg widmen möchte. Für ihn »persönlich« ist das Studium nicht mehr als
eine besondere Art der Berufsausbildung. Beziehungen zwischen Fakultäten
existieren seiner Ansicht nach nur noch bei der wirtschaftswissenschaftlichen
und juristischen Fakultät, »durch Scheine. Philosophen und Naturwissen-
schaftler könnten in Buxtehude sein«. Deshalb hielte er es für richtig, wenn
man die Universitäten auflöste. [Absatz] Bei einer unbefriedigenden Aus-
kunft des Seminarlehrers auf eine ihm wichtig erscheinende Frage würde er
nicht auf Antwort bestehen, denn »sonst verärgere ich den Mann. Kommt
darauf an, ob ich auf ihn angewiesen bin. Bin Utilitarist, das haben Sie ja
hoffentlich gemerkt«. In solchen Wendungen steckt wohl Aggression gegen-
über dem, von dem er annimmt, daß er über »Utilitarismus« die Nase rümpft.
[Absatz] Wenn er genügend freie Zeit hätte, seinen verschiedenen Interessen
nachzugehen, würde er sich mit folgendem beschäftigen: »Essen, Trinken,
Schlafen, Vergnügen, Achtzehn-Zimmer-Villa am Comer See«. – Bezeich-
nend ist es auch, daß er an das Weiterbestehen der auf der Universität ge-
schlossenen Freundschaften nur unter der Voraussetzung glaubt, »daß nicht
zu krasse gesellschaftliche Unterschiede entstehen im Laufe der Zeit«.
(GS 20·2, S. 694-696)

Die menschliche Gesellschaft heute

Überlegungen über Die menschliche Gesellschaft heute trug Adorno im


Rahmen der zwanzigsten Hessischen Hochschulwochen für staats-
wissenschaftliche Fortbildung am 16. Oktober 1957 in Bad Wildun-
gen vor. Es war dies der letzte Tag der Hochschulwochen, die am
6. Oktober begonnen hatten und unter dem Gesamtthema »Gesell-
schaft und Staat« standen.
Der Text wurde unter dem Titel Die widerspruchsvolle Gesellschaft
gedruckt in: Vorträge, gehalten anläßlich der Hessischen Hochschul-
wochen für staatswissenschaftliche Fortbildung, 6. bis 16. Oktober
1957 in Bad Wildungen, Zwanzigster Band, Bad Homburg vor der
Höhe, Berlin, Zürich 1958, S. 251-272. Ebd., S. 251 findet sich die
Notiz wieder, die Adorno auch der Publikation von Kultur und Cul-
ture vorangestellt hatte (s. S. 640) und in der er seine Vorbehalte gegen
den Druck des frei gesprochenen Wortes anmeldete.

650
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Erhalten haben sich, unter der Signatur Vt 114, drei Typoskript-


Seiten mit den Stichworten, die Adorno als Strukturhilfe und Impro-
visationsgrundlage dienten. Das Typoskript wurde von Adorno vor
dem Vortrag handschriftlich – mit Bleistift und mit Tinte – ergänzt.
Die Notizen sind unserer Edition beigegeben (s. S. 540-543).
Druckvorlage für Adornos Text ist nicht der – redigierte – Privat-
druck in der Reihe der Hessischen Hochschulwochen, sondern die
Bandtranskription, die, betitelt mit Die widerspruchsvolle Gesellschaft,
sich als Typoskript im Nachlaß befindet (Vt 115). Sie gibt das von
Adorno Gesagte wörtlicher wieder, ohne sich freilich der Eingriffe,
wenn auch geringer, ganz zu enthalten.

259. Susanne Kriebel (1911-1984), seit 1950 Referentin im Landes-


personalamt Hessen, war an der Vorbereitung und Durchführung der
Hessischen Hochschulwochen entscheidend beteiligt. 1968 publi-
zierte sie darüber: Staatswissenschaftliche Fortbildung im öffent-
lichen Dienst: Die Hessischen Hochschulwochen, in: Gegenwarts-
aufgaben der öffentlichen Verwaltung, hrsg. von Fritz Morstein
Marx, Köln u. a. 1968, S. 317-337.

260. Die zwanzigsten Hochschulwochen für staatswissenschaftliche


Fortbildung, vom 6. bis 16. Oktober in Bad Wildungen, umfaßten
(neben der Eröffnungsrede von Arno Hennig und dem Schlußreferat
von Adorno) die folgenden Vorträge: Hermann L. Brill: Gegenstand
und Methode der Politik als Wissenschaft; Heinz Maus: Bemerkun-
gen zur soziologischen Theorie; Wilhelm Hennis: Zum Problem der
deutschen Staatsanschauung; Joachim Schultz: Staat und Parteien;
Wolfgang Hirsch-Weber: Staat und Gewerkschaften; Johann Baptist
Hirschmann: Kirche und Staat [1]; Karl Gerhard Steck: Kirche und
Staat [2]; Maria Borris: Staat und Verbände; Ernst Fraenkel: Staat und
Einzelpersönlichkeit; Walter Hagemann: Die öffentliche Meinung –
Instrument oder gesellschaftliches Bewußtsein; Wilmont Haacke:
Was heißt »Publizistik«?; Helmut Hammerschmidt: Rundfunk; Her-
mann Schaffner: Theater; Max Lippmann: Film.

261. »Als erster deutscher Soziologe gilt Lorenz von Stein (1815-
1890) – ein studierter Jurist und Philosoph, dessen Denken stark von
Hegel beeinflusst war.« (Volker Kruse, Geschichte der Soziologie,
Konstanz 2008, S. 122)

651
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

262. Vgl. dazu Dirk Kaesler, Die frühe deutsche Soziologie 1909 bis
1934 und ihre Entstehungs-Milieus. Eine wissenschaftssoziologische
Untersuchung, Opladen 1984 (Studien zur Sozialwissenschaft,
Bd. 58). Nach Kaeslers Untersuchung, die sich auf 39 Personen aus
dem Gründungsumfeld der Deutschen Gesellschaft für Soziologie
bezieht, war ein Drittel der Soziologen pro-nationalsozialistisch ein-
gestellt, u. a. Hans Freyer, Robert Michels, Karl Valentin Müller, Karl
Heinz Pfeffer, Erich Rothacker, Werner Sombart und Othmar
Spann.

263. »Etwa zwei Drittel jener knapp über 50 Hochschullehrer, die


vor 1933 in Deutschland regelmäßig an Hochschulen Soziologie
lehrten – häufig neben anderen Fächern wie Philosophie, Volkswirt-
schaftslehre oder Staatswissenschaften –, wurden nach 1933 aus dem
akademischen Leben vertrieben. Die überwiegende Mehrzahl dieser
Professoren und Privatdozenten verließ Deutschland« (Christian
Fleck, Soziologie, in: Handbuch der deutschsprachigen Emigration
1933-1945, hrsg. von Claus-Dieter Krohn, Patrik von zur Mühlen,
Gerhard Paul und Lutz Winckler unter redaktioneller Mitarbeit von
Elisabeth Kohlhaas in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für Exil-
forschung, Darmstadt 1998, Sp. 894).

264. S. Anm. 29.

265. Vgl. Der Hessische Ministerpräsident – Landesplanung –, Hes-


senatlas. Karten und Kartogramme, Wiesbaden 1952. – Zu den 15
landeskundlichen Karten gehört erläuternd, ebenfalls als Loseblatt-
sammlung: Der Hessische Ministerpräsident – Landesplanung –,
Hessen-Atlas. Landschaft, Geschichte, Bevölkerung, Kultur, Wirt-
schaft und Verkehr des Landes Hessen und seiner Nachbargebiete.
Mit einem Geleitwort des Hessischen Ministerpräsidenten [Georg-
August Zinn], Als Manuskript gedruckt [Wiesbaden 1953].

266. Der amerikanische Soziologe Robert K. Merton (1910-2003)


schrieb in »Social Theory and Social Structure. Toward the Codifica-
tion of Theory and Research« (Glencoe, Ill. 1949, p. 5): »Throughout
this book, and quite explicitly in Part I, the term sociological theory
refers to logically interconnected conceptions which are limited and
modest in scope, rather than all-embracing and grandiose. Through-
out I attempt to focus attention on what might be called theories of the

652
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

middle range: theories intermediate to the minor working hypotheses


evolved in abundance during the day-by-day routines of research,
and the all-inclusive speculations comprising a master conceptual
scheme from which it is hoped to derive a very large number of em-
pirically observed uniformities of social behavior.«

267. Der amerikanische Politiker Wendell Willkie (1892-1944) war


Gegenspieler von Franklin D. Roosevelt, dem er als republikanischer
Kandidat bei der Präsidentschaftswahl 1940 unterlag. Der Titel seines
Buches »One world« (New York 1943) wurde zur politischen Parole.

268. Die Londoner Abrüstungskonferenz zwischen den USA, Groß-


britannien, Kanada, Frankreich und der UdSSR endete am 6. Sep-
tember 1957 ohne Ergebnis.

269. Zur List der Vernunft vgl. etwa Hegel, Werke, a. a. O. [s.
Anm. 19], Bd. 12: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte,
S. 49.

270. Die SS wurde als Eliteorganisation des Nationalsozialismus ver-


standen; Heinrich Himmler, der »Reichsführer SS«, sprach von ei-
nem »soldatischen Orden nordisch bestimmter Männer«. – Zum
Begriff SS-Staat vgl. Eugen Kogon, Der SS-Staat. Das System der
deutschen Konzentrationslager, München 1946. Diese Ausgabe hat
sich in der Nachlaßbibliothek von Adorno erhalten.

271. Die Ordensburgen waren ab 1936 – in Sonthofen (Allgäu), Crös-


sinsee (Pommern) und ›Vogelsang‹ (Nordeifel) – errichtet worden.
Dort sollte eine nationalsozialistische Elite mit dem »Willen zum
Führen [. . .], zum Herrsein« (Robert Ley) herangebildet werden.

272. Vgl. etwa Hitlers Neujahrsbotschaft vom 31. Dezember 1932,


in der es von dem Nationalsozialismus heißt: »Bürgerlicher Liberalismus
und internationaler Marxismus waren und sind seine gemeinsamen Feinde.
[Absatz] Ihre endliche Überwindung und restlose Ausrottung wird
unser Volk allein zu der ihm eigenen Kraft zurückführen.« (Hitler. Re-
den Schriften Anordnungen, Februar 1925 bis Januar 1933, Bd. V,
Teil 2, hrsg. und kommentiert von Christian Hartmann und Klaus A.
Lankheit, München 1998, S. 297)

653
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

273. Vgl. etwa die prägnante Formulierung in Max Webers Rede


»Wissenschaft als Beruf«, gehalten 1919 in München: »Die zuneh-
mende Intellektualisierung und Rationalisierung bedeutet also nicht
eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, un-
ter denen man steht. Sondern sie bedeutet etwas anderes: das Wissen
davon oder den Glauben daran: daß man, wenn man nur wollte, es je-
derzeit erfahren könnte, daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen
unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, daß man viel-
mehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne.
Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt.« (Max Weber, Wis-
senschaftslehre, a. a. O. [s. Anm. 36], S. 594)

274. S. Anm. 245.

275. Adorno spielt an auf eine Formulierung von Marx, der den Be-
griff der klassenlosen Gesellschaft freilich nicht positiv ausgeführt hat.
Vgl. Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie
(Rohentwurf) 1857-1858, Berlin 1953, S. 77.

276. Die Verelendungstheorie geht auf »Das Kapital« von Karl Marx
zurück. Im 23. Kapitel des Ersten Bandes seines Buches behandelt
Marx »Das allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation«.
Dies bedingt »eine der Akkumulation von Kapital entsprechende
Akkumulation von Elend. Die Akkumulation von Reichtum auf
dem einen Pol ist also zugleich Akkumulation von Elend, Arbeits-
qual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer De-
gradation auf dem Gegenpol, d. h. auf Seite der Klasse, die ihr eignes
Produkt als Kapital produziert.« (Karl Marx, Das Kapital. Kritik der
politischen Ökonomie, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke,
Bd. 23 [MEW 23], Berlin 1984, S. 675)

277. Adorno bezieht sich auf die »Four Freedoms«, die Präsident
Franklin D. Roosevelt (1882-1945) in der Jahresbotschaft an den
amerikanischen Kongreß am 6. Januar 1941 verkündet hatte. Über
die dritte der »Freedoms« heißt es in deutscher Übersetzung: »Die
dritte Freiheit ist Freiheit von Not. Das bedeutet, gesehen vom
Gesichtspunkt der Welt, wirtschaftliche Verständigung, die für jede
Nation ein gesundes, friedliches Leben gewährleistet – überall in der
Welt.« (Die vier Freiheiten, in: Präsident Roosevelt, Amerika und
Deutschland 1936-1945. Auszüge aus Reden und Dokumenten,

654
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

hrsg. im Auftrage der Regierung der Vereinigten Staaten, o. O. u. o. J.


[1946], S. 37)

278. Der spanische General Francisco Franco (1892-1975) regierte


von 1936 bis zu seinem Tode.

279. Der streitbare humanistische Publizist Ulrich von Hutten


(1488-1523), der einem fränkischen Rittergeschlecht entstammte,
war Hauptverfasser des zweiten Teils der anonym veröffentlichten
»Epistolae obscurorum vivorum« (»Dunkelmännerbriefe«, 1515) und
schrieb zahlreiche antipäpstliche Pamphlete. Nach einem bewegten
und kämpferischen kurzen Leben starb er an seinem letzten Zu-
fluchtsort, der Insel Ufenau im Zürichsee, an den Folgen der Syphi-
lis. – Am 25. Oktober 1518 schrieb Hutten an Willibald Pirckhei-
mer: »O seculum! O literae! Iuvat vivere, etsi quiescere nondum
iuvat, Bilibalde. Vigent studia, florent ingenia. Heus tu accipe laque-
um, barbaries, exilium prospice!« (Willibald Pirckheimers Brief-
wechsel, III. Band, Unter Verwendung der Vorarbeiten von Emil
Reicke und Josef Pfanner bearbeitet von Helga Scheible, hrsg. von
Dieter Wuttke, München 1989, S. 422) Übersetzung: »O Jahrhun-
dert! O Wissenschaften! Es ist eine Freude zu leben, wenn auch noch
nicht, sich zur Ruhe zu setzen, Willibald. Es blühen die Studien, die
Geister regen sich! Du nimm den Strick, Barbarei, und mache dich
auf Verbannung gefaßt!«

280. Freuds Schrift »Das Unbehagen in der Kultur« erschien 1930 in


Wien. Sie steht jetzt in: Sigmund Freud, Gesammelte Werke, a. a. O.
[s. Anm. 14], Bd. XIV: Werke aus den Jahren 1925-1931, 3. Aufl.,
Frankfurt a. M. 1963, S. 419-506.

281. Das Wort von der Schweizer Malaise, das dort schon vor 1957
kursierte, wurde erst 1964 durch eine vielbeachtete Publikation von
Max Imboden (»Helvetisches Malaise«) zur geprägten Formel.

282. Die Mongolenherrscher Tamerlan, das ist Timur-Lenk (1336


bis 1405), und Dschingis Khan (gestorben 1227) sind durch grausame
Feldzüge bekannt.

283. Vgl. § 40 von »Sein und Zeit« (»Die Grundbefindlichkeit der


Angst als eine ausgezeichnete Erschlossenheit des Daseins«).

655
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

284. Am 4. Oktober 1957 war der sowjetische Satellit »Sputnik 1« in


die Erdumlaufbahn gebracht worden. Die Raumfahrt hatte begon-
nen, und die Sowjetunion war den USA vorangeeilt. Das Ereignis lös-
te im Westen vielfach fassungsloses Staunen aus, den ›Sputnikschock‹.

285. Adorno denkt hier an Hegel, der, vor allem in der »Phänome-
nologie des Geistes«, den Begriff der Entfremdung philosophisch ge-
prägt hat. Vgl. aber auch die »Ökonomisch-philosophischen Manu-
skripte« (1844) des jungen Karl Marx, der Hegels Begriff der
»Entfremdung« kritisch aufgenommen und auf die kapitalistische
Produktionsweise bezogen hat.

286. Vgl. Hellmut Becker, Die verwaltete Schule. Gefahren und


Möglichkeiten, in: Merkur, Jg. 8 (1954), S. 1155-1177 [Dezember
1954].

287. S. Anm. 168.

288. Adorno nimmt einen von Weber geprägten Begriff auf. Vgl.
zum Idealtypus Max Weber, Die »Objektivität« sozialwissenschaft-
licher und sozialpolitischer Erkenntnis, a. a. O. [s. Anm. 36], S. 190 f.
und S. 203-205.

289. Vermutlich ist das Forschungsprojekt »Universität und Gesell-


schaft« gemeint.

290. Konjiziert für Intuitionen.

291. Vgl. Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Über


die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, Mün-
chen 1956. Eins der Hauptmotive dieses Buches ist das »promethei-
sche Gefälle«, die »A-synchronisiertheit« im Verhältnis der Menschen
zur technischen Welt: »unsere Seelen sind weit hinter dem Metamor-
phose-Stand unserer Produkte, also unserer Welt, zurückgeblieben«
(ebd., S. 18).

292. Als Begründer der Kybernetik gilt der amerikanische Mathe-


matiker Norbert Wiener (1894-1964). Mit seinem Werk »Cybernet-
ics or Control and Communication in the Animal and the Machine
(1948; deutsche Ausgabe 1963) prägte Wiener diesen Begriff.

656
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

293. Vgl. dazu: In fünf Jahren zum Mond? Ein Spiegel-Gespräch


mit dem Raumfahrt-Mediziner Professor Dr. Heinz Haber, in: Der
Spiegel, 11 (1957), Heft 42 (16. Oktober 1957), S. 46-58.

294. Heute löken die meisten mit dem Stachel. (T. W. Adorno, Minima
Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Berlin, Frankfurt a. M.
1951, S. 198; jetzt in: GS 4, S. 122)

295. Vgl. dazu das Kapitel »Die Identifizierung mit dem Angreifer«
in der Schrift »Das Ich und die Abwehrmechanismen« (1936) von
Anna Freud; jetzt in: Die Schriften der Anna Freud, Bd. 1: 1922-
1936, München 1980, S. 293-304.

296. Vom »Destruktionstrieb« handelt Freud vor allem in Kapitel VI


seiner Schrift über »Das Unbehagen in der Kultur«. Vgl. Freud, Un-
behagen, a. a. O. [s. Anm. 280], S. 476-481.

297. Konjiziert für unabhängig.

Probleme der Musikkritik

Unter dem Titel Probleme der Musikkritik ist ein Vortrag archiviert,
den Adorno im Nachtstudio des Senders Freies Berlin (SFB) am
6. Mai 1958 frei eingesprochen hat. Laut Bandpaß des Rundfunkar-
chivs wurde er am 22. Mai 1958 gesendet.
Neben der Tonaufnahme (TA 202), die der Textherstellung zu-
grunde gelegt wurde, sind im Theodor W. Adorno Archiv Typo-
skripte (Vt 135-137) mit Stichworten für den Gedankenverlauf des
Vortrags vorhanden. Sie sind mit Musikkritik heute überschrieben. Es
sei vor allem auch auf das letzte Drittel dieser Notizen hingewiesen
(s. den Abdruck von Vt 137, S. 544-550), das einiges an Fragen, The-
men und Problemen benennt, die, vermutlich aus Zeitnot, unausge-
führt blieben.

298. Am 27. November 1936 sagte Joseph Goebbels auf der »Jahres-
tagung der Reichskulturkammer und der Deutschen Arbeitsfront-
NS-Gemeinschaft ›Kraft durch Freude‹«: ». . . Ich habe mich deshalb
veranlaßt gesehen, in einem Erlaß vom heutigen Tage die Kritik
überhaupt zu verbieten und sie durch die Kunstbetrachtung oder

657
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Kunstbeschreibung ersetzen zu lassen.« (Zit. nach: Musikkritik –


Musikbetrachtung. Reichsminister Dr. Goebbels zur Kunstkritik, in:
Zeitschrift für Musik. Monatsschrift für eine geistige Erneuerung der
deutschen Musik. Gegründet 1834 als »Neue Zeitschrift für Musik«
von Robert Schumann, Jg. 104 (1937), Heft 3 [März 1937], S. 259)

299. Mit der Figur des pedantischen Stadtschreibers Sixtus Beck-


messer in »Die Meistersinger von Nürnberg« (1868) karikierte Ri-
chard Wagner den österreichischen Musikkritiker Eduard Hanslick
(1825-1904). In frühen Konzeptionen der »Meistersinger« sollte die
Gestalt den Namen »Hans Lick« oder »Veit Hanslich« tragen. Hans-
licks Kritiken erscheinen ab 1846 in der »Wiener Allgemeinen Mu-
sik-Zeitung«, ab 1847 in der »Wiener Zeitung«, 1853-1864 in »Die
Presse«, 1864-1901 in der »Neuen Freien Presse« sowie in anderen
Periodika. Er war wohl der prominenteste Musikkritiker seiner Zeit.
1856 habilitiert, wurde Hanslick 1861 zum außerordentlichen, 1870
zum ordentlichen Professor und 1886 zum Hofrat ernannt.

300. Einschlägig ist hier die Kritik, die der Komponist und Musik-
kritiker Johann Adolf Scheibe (1708-1776), ein Freund Georg
Philipp Telemanns, in seiner Zeitschrift »Der Critische Musicus«
übte; er sprach vom »verworrenen Wesen« und der »allzugrossen
Kunst« der Stücke von Bach (vgl. Scheibe, Kritik an Bachs Komposi-
tionsweise, Hamburg, 14.5.1737, in: Fremdschriftliche und gedruck-
te Dokumente zur Lebensgeschichte Johann Sebastian Bachs 1685
bis 1750, Kritische Gesamtausgabe, vorgelegt und erläutert von Wer-
ner Neumann und Hans-Joachim Schulze, Kassel 1969, S. 286 f.
[Bach-Dokumente, Bd. II]).

301. Vgl. »Eine Alpensinfonie«. Besprochen von Paul Bekker. Im


Felde, 28. Oktober, in: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt, Jg. 60,
Nr. 305, 1. Morgenblatt, 3. November 1915, S. 1-3. Wiederabdruck:
Paul Bekker, Eine Alpensinfonie. Ein Feldpostbrief (1915), in: ders.,
Kritische Zeitbilder, Berlin 1921, S. 106-117. – Paul Bekker, Urauf-
führung der Kantate Hans Pfitzners »Von deutscher Seele«, Frankfur-
ter Zeitung und Handelsblatt, Jg. 66, Nr. 76, Abendblatt, 28. Januar
1922, S. 1.

302. S. Anm. 132. – 1957 erschien der erste Band der Gesamtausgabe
Gesualdos (»Sämtliche Werke«), hrsg. von Wilhelm Weismann und

658
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Glenn E. Watkins. Große Bedeutung für die Wiederentdeckung Ge-


sualdos hatten auch Igor Strawinsky und Robert Craft.

303. Der 1839 geborene russische Komponist Modest Petrowitsch


Mussorgski war, in finanzelle Schwierigkeiten geraten, ab 1863 in
subalterner Beamtenstellung tätig. Als sein Hauptwerk gilt die Oper
»Boris Godunow« (1874). Viele seiner Werke waren unvollendet und
unaufgeführt geblieben, als Mussorgski, vereinsamt und an Alkoho-
lismus leidend, 1881 in Sankt Petersburg starb. So auch die Opern
»Chowanschtschina« (1873-1880) und »Der Jahrmarkt von Sorot-
schintzy« (1876-1881), deren Frankfurter Aufführungen Adorno
1924 und 1929 besprach (vgl. GS 19, S. 40-43 und 155 f.).

304. Mit einem Vortrag, den Adorno am 22. Dezember 1959 im


Norddeutschen Rundfunk hielt, wollte er dazu beitragen, den Na-
men Alexander von Zemlinskys (1871-1942) aus der Vergessenheit
zu heben. Zur Vorbereitung erbat er sich von der Witwe Louise
Zemlinsky unveröffentlichtes Notenmaterial; er schrieb ihr am
12. März 1959: Sehr gelegen wäre mir an Kompositionen, früheren Liedern
vielleicht, in denen das für das Schaffen Ihres Herrn Gemahls so charakte-
ristische Moment einer Durchdringung Brahmsischer, Wagnerischer und
Mahlerscher Elemente deutlich ist. Die unvergleichlich schönen Maeter-
linck-Lieder kenne und besitze ich selbstverständlich. (Br 1699/5) –
Adorno hat den Text seines Zemlinsky-Vortrags 1963 in die Samm-
lung Quasi una fantasia. Musikalische Schriften II aufgenommen (vgl.
jetzt GS 16, S. 351-367).

305. Wie die Stichworte Adornos dokumentieren (s. S. 544), ist der
Dirigent Georg Solti (1912-1997) gemeint.

306. Vgl. die Rezension von Mussorgskis Liedzyklus »Kinderstube«,


die Debussy am 15. April 1901 in »La Revue blanche« publizierte. Sie
wurde in den Band »Monsieur Croche antidilettante« aufgenom-
men, der allerdings erst 1921, nach dem Tod Debussys erschien (s.
Anm. 326). Vgl. jetzt: Claude Debussy, Monsieur Croche et autres
écrits, Paris 1987, p. 28-30. In deutscher Übersetzung: Claude De-
bussy, Modest Mussorgskij, in: ders., Musik und Musiker. Ins Deut-
sche übertragen von Hansjürgen Wille und Barbara Klau, Potsdam
o. J. [1948], S. 44-48.

659
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

307. Theodor Körner (1791-1813), der als Lützower Jäger in den


antinapoleonischen Kriegen fiel, wurde durch patriotische Dichtun-
gen und vor allem seine Kriegslyrik einem breiten Publikum bekannt
und zum Idol der Jugend stilisiert. In der Zeit des Nationalsozialis-
mus wurde er als deutscher ›Heldendichter‹ verehrt. Erst nach 1945
ging das Interesse an Körner stark zurück. Die kritische Aufarbeitung
seiner Rezeptionsgeschichte erfolgte ab Mitte der siebziger Jahre des
20. Jahrhunderts.

308. Vgl. dazu die Stellen in der Vorrede der »Phänomenologie des
Geistes«: »[. . .] der Ernst, der Schmerz, die Geduld und Arbeit des
Negativen [. . .]«. Und: »Die Tätigkeit des Scheidens ist die Kraft und
Arbeit des Verstandes, der verwundersamsten und größten oder viel-
mehr der absoluten Macht. Der Kreis, der in sich geschlossen ruht
und als Substanz seine Momente hält, ist das unmittelbare und darum
nicht verwundersame Verhältnis. Aber daß das von seinem Umfange
getrennte Akzidentelle als solches, das Gebundene und nur in seinem
Zusammenhange mit anderem Wirkliche ein eigenes Dasein und
abgesonderte Freiheit gewinnt, ist die ungeheure Macht des Ne-
gativen; es ist die Energie des Denkens, des reinen Ichs.« (Hegel,
Werke, Bd. 3, a. a. O. [s. Anm. 89], S. 24 und 36) Vgl. dazu auch GS 6,
S. 48.

309. Zur Kritik der Verkoppelung der Namen Bach und Händel vgl.
Kleiner Zitatenschatz von Theodor Wiesengrund-Adorno, Frankfurt
a. M., in: Die Musik, Jg. 24 (1932), Heft 10, S. 734-738 [Juli 1932].
Dort hatte Adorno geschrieben: Bei allem schuldigen Respekt vor Hän-
del, es wäre an der Zeit, endlich die lächerliche Koppelung zu beseitigen,
die immer noch den Namen Bachs an den seinen bindet. [. . .] Man braucht
die Größe von Händels Spätwerken und manchen erfüllten Augenblick in
den früheren, auch die Reinheit vieles melodisch Einzelnen nicht zu ver-
kennen und wird doch eingestehen müssen, daß beim überwiegenden Teil
der Händelschen Produktion, nach sehr konkreten und zuverlässigen Maß-
stäben der Technik, die musikalische Qualität Aufführungen heute nicht
mehr zu rechtfertigen vermag; während bei Bach selbst in der Fülle der
Kantaten kaum eine sich finden wird, die nicht mit immer frischen Perspek-
tiven die Darbietung lohnte. (Ebd., S. 737) Vgl. dazu jetzt, mit kleinen
Varianten, GS 16, S. 274.

660
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

310. Vgl. Kritik des Musikanten, in: Theodor W. Adorno, Dissonan-


zen. Musik in der verwalteten Welt, Göttingen 1956, S. 73; vgl. jetzt
GS 14, S. 78 f.

311. Einen ersten Textentwurf für »Die Meistersinger von Nürn-


berg« hatte Richard Wagner bereits 1845 niedergeschrieben. Das
Textbuch wurde in den Jahren 1861/62 verfaßt, die Komposition
1867 abgeschlossen. Die Uraufführung fand am 21. Juni 1868 im Kö-
niglichen Hof- und National-Theater in München statt.

312. Konjiziert für Beckmesser. – Die Ästhetik von Hanslick ist in sei-
ner Schrift »Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision
der Aesthetik der Tonkunst« (Leipzig 1854), die auch in vielen Folge-
auflagen Verbreitung fand, grundlegend formuliert.

313. Hanslick hatte 1846 die enthusiastische Kritik einer Auffüh-


rung von Richard Wagners »Tannhäuser« publiziert. »In den folgen-
den Jahren löste sich Hanslick von der Ästhetik der ›Zukunftsmusik‹
und konnte Wagners Konzeption des musikalischen Dramas [. . .]
nichts abgewinnen. Indes richtete er sich in seiner Abhandlung Vom
Musikalisch-Schönen erst im Vorwort der zweiten Auflage von 1858
explizit gegen Liszt und Wagner. Die Schrift wurde trotz allem als
polemische Streitschrift gegen die ›Neudeutschen‹ aufgefaßt; seit-
dem galt Hanslick als entschiedener Gegner der Kunst Wagners.«
(Das Wagner-Lexikon, hrsg. im Auftrag des Forschungsinstituts für
Musiktheater Thurnau von Daniel Brandenburg, Rainer Franke und
Anno Mungen, Laaber 2012, S. 294)

314. Adorno spielt offenbar an auf Karl Friedrich Schinkels be-


rühmte Dekoration zu Mozarts »Zauberflöte«.

315. Am 15. Juli 1956 fand, im Rahmen der Darmstädter Ferienkur-


se, in der Orangerie das Konzert »Meisterwerke neuer Kammermu-
sik« statt. Auf dem Programm standen die Sonate für Klavier (1924)
von Igor Strawinsky, »Le merle noir« für Flöte und Klavier (1951) von
Olivier Messiaen, die Sonate für Violoncello und Klavier (1915) von
Claude Debussy, »Chansons madécasses« für Sopran, Flöte, Violon-
cello und Klavier (1926) von Maurice Ravel, Vier Stücke für Geige
und Klavier op. 7 (1910) von Anton Webern und das 4. Streichquar-
tett (1928) von Béla Bartók. Letzteres wurde vom Quatuor Parrenin

661
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

gespielt, die Interpreten der Ravel-Lieder waren Ilona Steingruber


(Sopran), Severino Gazzelloni (Flöte), Maurits Frank (Violoncello)
und Helmut Roloff (Klavier).

316. Adorno denkt hier an eine Formulierung Karl Mannheims:


»Jene nicht eindeutig festgelegte, relativ klassenlose Schicht ist (in Al-
fred Webers Terminologie gesprochen) die sozial freischwebende Intel-
ligenz.« (Karl Mannheim, Ideologie und Utopie, Bonn 1929, S. 123)

317. »Solche Bemühungen mit dem Zwecke oder den Resultaten


sowie mit den Verschiedenheiten und Beurteilungen des einen und
des anderen sind daher eine leichtere Arbeit, als sie vielleicht schei-
nen. Denn statt mit der Sache sich zu befassen, ist solches Tun immer
über sie hinaus; statt in ihr zu verweilen und sich in ihr zu vergessen,
greift solches Wissen immer nach einem Anderen und bleibt viel-
mehr bei sich selbst, als daß es bei der Sache ist und sich ihr hingibt.«
(Hegel, Werke, a. a. O. [s. Anm. 19], Bd. 3, S. 13)

318. Benjamin schrieb in der »Einbahnstraße« (Berlin 1928): »XIII.


Das Publikum muß stets Unrecht erhalten und sich doch immer
durch den Kritiker vertreten fühlen.« (Walter Benjamin, Werke und
Nachlaß, Bd. 8: Einbahnstraße, hrsg. von Detlev Schöttker unter
Mitarbeit von Steffen Haug, Frankfurt a. M. 2009, S. 36 [»Die Tech-
nik des Kritikers in dreizehn Thesen«].

319. Das »Deutsche Wörterbuch« der Brüder Grimm weist zwar das
Wort ›Parteiischkeit‹ nach, bringt aber keine Beispiele. Bei Goethe
konnte es nicht ermittelt werden.

320. Über Das Altern der Neuen Musik s. Anm. 152. Zur Kritik an
Adornos Arbeit vgl. vor allem Heinz-Klaus Metzger, Intermezzo I.
Das Altern der Philosophie der Neuen Musik, in: die Reihe. Infor-
mationen über serielle Musik, hrsg. von Herbert Eimert unter Mit-
arbeit von Karlheinz Stockhausen, Heft IV: junge Komponisten,
Wien · Zürich · London 1958, S. 64-80; außerdem: E. [Herbert Ei-
mert], Intermezzo II. Adorno und Kotschenreuther, ebd., S. 81-84.
Hier werden Zitate aus Adornos Arbeit über Das Altern der Neuen
Musik mit solchen von Hellmut Kotschenreuther zusammengestellt,
der scharf gegen das ›Revoluzzertum‹ der jungen Darmstädter Kom-
ponisten polemisiert hatte.

662
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

321. Der Musikhistoriker und -kritiker Ernest Newman – eigent-


lich: William Roberts (1868-1959) – publizierte 1933-1946 die vier-
bändige Biographie »The Life of Richard Wagner«, deren Bände II
bis IV Adorno in der »Zeitschrift für Sozialforschung« besprach (vgl.
GS 19, S. 371 f. und S. 400-412). Zur Haltung Newmans gegenüber
der Musikkritik vgl. GS 14, S. 369 f. und GS 19, S. 575. Newman zog
sich erst 1958 von der Kritikertätigkeit zurück.

322. Vgl. dazu Alma Mahler-Werfels Erinnerung an den 17. April


1910, als Mahler seine »Zweite Symphonie« im Pariser Trocadéro
dirigierte: »Plötzlich sah ich mitten im zweiten Satz von Mahlers
Zweiter Symphonie, wie Debussy, Dukas und Pierné sich erhoben
und weggingen. Dies war deutlich genug. Sie äußerten nachher, es
sei ihnen zu Schubertisch gewesen; auch dieser aber sei ihnen fremd,
zu wienerisch, zu slavisch.« (Alma Mahler-Werfel, Erinnerungen an
Gustav Mahler, 3. Aufl., Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1972, S. 198)
Adorno bezieht sich auch in seiner Mahler-Monographie (GS 13,
S. 167 f.) auf dieses Vorkommnis, das allerdings nur durch Mahler-
Werfel – eine nicht immer zuverlässige Quelle – überliefert worden
ist.

323. Robert Schumanns berühmte Arbeit über Brahms erschien am


28. Oktober 1853 unter dem Titel »Neue Bahnen«. Es war Schu-
manns letzter Aufsatz für die 1834 in Leipzig gegründete »Neue Zeit-
schrift für Musik«, die er zehn Jahre selbst geleitet hatte.

324. Die Berliner »Allgemeine Musikalische Zeitung« brachte am


7. Dezember 1831 Robert Schumanns Besprechung von Chopins
Klaviervariationen über das Thema ›Là ci darem la mano‹ (›Reich’
mir die Hand, mein Leben‹) aus Mozarts »Don Giovanni«. Von der
Schumannschen Rezension ist besonders das Wort »Hut ab, ihr Her-
ren, ein Genie« bekannt geworden. Vgl. Robert Schumann, Ein
Werk II, in: ders., Gesammelte Schriften über Musik und Musiker,
Bd. 1, Leipzig 1854, S. 5.

325. Vgl. dazu Hugo Wolf ’s musikalische Kritiken, Im Auftrage des


Wiener akademischen Wagner-Vereins hrsg. von Richard Batka
u[nd] Heinrich Werner. Mit einem Bildnis, Leipzig 1911 [Reprint
1976]. Die in dem Band versammelten Kritiken schrieb Hugo Wolf
(1860-1903) zwischen 1884 und 1887 für das »Wiener Salonblatt«.

663
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

326. Vgl. dazu Debussy, Musik und Musiker, a. a. O. [s. Anm. 306].
Der Titel der französichen Originalausgabe ist »Monsieur Croche
antidilettante«. Die Nachbemerkung der deutschen Publikation
(S. 172) lautet: »Die erste französische Ausgabe des vorliegenden Bu-
ches ist 1921, drei Jahre nach dem Tod Claude Debussys, erschienen.
Es enthält eine Auswahl von Kritiken und Betrachtungen, die der
große ›musicien français‹ in den Zeitschriften ›Gil Blas‹ und ›Revue
Blanche‹ veröffentlicht hat. [Absatz] Die Figur des ›Monsieur Cro-
che‹ will symbolisch verstanden werden: mit ›croche‹ bezeichnet
man im Französischen die Achtelnote.«

327. Pierre Boulez (1925-2016) studierte ab 1944 in Paris Komposi-


tion u. a. bei Olivier Messiaen und René Leibowitz. Zu den bedeuten-
den Werken von Boulez gehört für Adorno an erster Stelle der »Mar-
teau sans maı̂tre«. An Walter Dirks schrieb Adorno am 19. September
1956: Nach dem marteau sans maitre kann ich nicht mehr daran zweifeln,
daß das wirklich eine kompositorische Kraft des allerersten Ranges ist
(Br 315/9).

328. Adorno selbst hatte 1935 unter dem Pseudonym Hektor Rott-
weiler in der Wiener Musikzeitschrift »23« (Nr. 20/21, S. 5-15) einen
Aufsatz Zur Krisis der Musikkritik publiziert (vgl. jetzt GS 20·2, S. 746
bis 755).

Die autoritäre Persönlichkeit

Eingeladen vom Institut für staatsbürgerliche Bildung in Rheinland-


Pfalz, sprach Adorno, auf einer Tagung über »Autoritarismus und
Nationalismus«, am 4. Mai 1960 in Ingelheim (Fridtjof-Nansen-
Haus) über Die autoritäre Persönlichkeit. Nahezu alle Beiträge dieser
Arbeitstagung sind abgedruckt in: Autoritarismus und Nationalis-
mus – ein deutsches Problem? Bericht über eine Tagung veranstaltet
vom Institut für staatsbürgerliche Bildung Rheinland-Pfalz im Fridt-
jof-Nansen-Haus in Ingelheim geleitet von Prof. Dr. Karl Holzamer,
Frankfurt a. M. 1963. Der Band beinhaltet, neben dem Geleitwort
des Tagungsleiters Karl Holzamer, einem Vorwort von K. D. Hart-
mann und einer Einführung von Walter Jacobsen, die Referate von
Karl Dietrich Bracher, Heinz Wiesbrock, Wanda von Baeyer-Katte,
Lorenz Bessel-Lorck, Max Horkheimer, Klaus Eyferth, Günther

664
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Rönnebeck, Wally Schmelzer und Abel Miroglio. Nicht publiziert


wurden die Vorträge von Walter Jaide und von Adorno, der seinen
nicht zum Abdruck freigegeben hat.
Druckvorlage ist die Transkription, die nach einer Bandaufnahme
vom Institut für staatsbürgerliche Bildung in Rheinland-Pfalz ange-
fertigt worden ist. Wolfgang Götz übersandte sie Adorno am 12. Juli
1961. Die Vortragstranskription weist einige Lücken bei nicht ver-
standenen Wörtern auf, die der Herausgeber durch Konjekturen [in
eckigen Klammern] zu ergänzen suchte. Sie ist als hektographiertes
Typoskript überliefert, von dem sich zwei Exemplare im Theodor W.
Adorno Archiv befinden (Vt 155 und 156).

329. Sigmund Freud sagt in den »Vorlesungen zur Einführung in die


Psychoanalyse« (1917): »Es kommt überhaupt nicht so häufig vor,
daß die Psychoanalyse etwas bestreitet, was von anderer Seite be-
hauptet wird; sie fügt in der Regel nur etwas Neues hinzu, und gele-
gentlich trifft es sich freilich, daß dies bisher Übersehene und nun
neu Dazugekommene gerade das Wesentliche ist.« (Sigmund Freud,
Gesammelte Werke, a. a. O. [s. Anm. 14], Bd. XI: Vorlesungen zur Ein-
führung in die Psychoanalyse, 4. Aufl., Frankfurt a. M. 1966, S. 38)

330. Adorno nimmt einen Freudschen Begriff auf. Vgl. zur Reali-
tätsprüfung Sigmund Freud, Metapsychologische Ergänzung zur
Traumlehre, in: Gesammelte Werke, a. a. O. [s. Anm. 14], Bd. X,
S. 422-425.

331. S. Anm. 295.

332. Der Begriff der sozialen Rolle ist, im angelsächsischen Sprach-


raum, vor allem durch Ralph Linton (1936) und George Herbert
Mead (1934) in Soziologie und Sozialpsychologie eingeführt wor-
den. Seine Aufnahme durch Ralf Dahrendorf, vor allem in der
Schrift »Homo Sociologicus« (1958), ist für die deutsche Soziologie
einflußreich geworden. Vermutlich hat Adorno hier – die Druckvor-
lage weist an der Stelle eine Lücke auf – den Namen des amerikani-
schen Soziologen Talcott Parsons (1902-1979) genannt, auf den er
sich in dem Zusammenhang auch sonst bezieht. Vgl. etwa Theodor
W. Adorno, Einführung in die Dialektik (1958), hrsg. von Christoph
Ziermann, Berlin 2010, S. 152; dazu ebd., S. 384 (Anm. 153) und
385 f. (Anm. 155).

665
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

333. Adorno meint die Hausangestellte der Familie Wiesengrund,


die er Annachen nannte (vgl. Theodor W. Adorno, Briefe an die Eltern
1939-1951, hrsg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz, Frankfurt
a. M. 2003, S. 21).

334. Vgl. The Authoritarian Personality, a. a. O. [s. Anm. 32].

335. Der wegen Raubes und Vergewaltigung 1948 zum Tode verur-
teilte Caryl Chessman (geb. 1921) wurde am 2. Mai 1960 (zwei Tage
vor Adornos Vortrag) in der Gaskammer des Gefängnisses San Quen-
tin hingerichtet; der Hinrichtungstermin war mehrfach verschoben
worden.

336. Adorno meint die Präsidentschaftswahl in den USA im Herbst


1960. Sie wurde am 8. November 1960 von John F. Kennedy gewon-
nen, dem demokratischen Kandidaten, der gegen den Republikaner
Richard Nixon nominiert worden war. Kennedy löste als Präsident
Dwight D. Eisenhower (Republikanische Partei) ab, der acht Jahre
lang amtiert hatte.

337. In der Nacht vom 24. auf den 25. Dezember 1959 wurden die
Kölner Synagoge und ein Widerstandsdenkmal von zwei Mitglie-
dern der Deutschen Reichspartei antisemitisch und neonazistisch
beschmiert. In der Folge dieses Anschlags kam es in der Bundesrepu-
blik zu Hunderten weiteren antisemitischen Vorfällen mit Schmäh-
und Drohbriefen und mit Schmierereien an Synagogen und auf
Friedhöfen. Größere Ausschreitungen hatte es in der Nacht zum
10. Januar 1960 auch in Frankfurt am Main gegeben. Das Institut für
Sozialforschung unternahm daraufhin eine Umfrage-Untersuchung
über die Reaktionen in der Frankfurter Bevölkerung auf die
Schmieraktionen. Vgl. dazu die Monographie von Peter Schönbach,
Reaktionen auf die antisemitische Welle im Winter 1959/1960,
Frankfurt a. M. 1961 (Frankfurter Beiträge zur Soziologie. Im Auf-
trag des Instituts für Sozialforschung hrsg. von Theodor W. Adorno
und Walter Dirks, Sonderheft 3).

338. Gemeint ist der Vortrag Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergan-
genheit, gehalten auf der Erzieherkonferenz des Deutschen Koordi-
nierungsrats der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammen-
arbeit, Wiesbaden, 6. November 1959; vgl. jetzt GS 10·2, S. 555-572.

666
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

339. Walter Jacobsen (1895-1986) war 1946 Gründungsmitglied des


»Berufsverbands Deutscher Psychologinnen und Psychologen«. Von
1952 bis 1960 leitete er das Referat »Psychologie« der Bundeszentrale
für Heimatdienst (Vorgängerinstitution der Bundeszentrale für poli-
tische Bildung). In dieser Funktion hatte Jacobsen 1956 eine Studie
des Instituts für Sozialforschung über den »Verband der Heimkehrer«
initiiert, in dem ehemalige Kriegsgefangene sich zusammengeschlos-
sen hatten. Jacobsen war auch an der Vorbereitung der Ingelheimer
Tagung über »Autoritarismus und Nationalismus« maßgeblich betei-
ligt. – Über den Vortrag Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit
schrieb Adorno am 8. Januar 1960 an Jacobsen: angesichts der Ereignis-
se der letzten Wochen glaube ich nicht unbescheiden zu sein, wenn ich
dieser Arbeit eine gewisse Tragweite zumesse, da sie das, was geschehen ist,
in einer gewissen Weise erklärt und ableitet.(Un 90/39)

340. Zu den »Antizipationen der Wahrnehmung«, die bei Kant zu


den »Grundsätzen des reinen Verstandes« gehören, vgl. Kritik der rei-
nen Vernunft, a. a. O. [s. Anm. 148], S. 208-216 [A 167-176 / B 207
bis 218].

341. Nicht ermittelt.

342. Adorno bezieht sich auf die gemeinsam mit Horkheimer ge-
schriebene Dialektik der Aufklärung: Der Begriff des Pathischen wird
in der These VI der Elemente des Antisemitismus eingeführt (vgl. Max
Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Phi-
losophische Fragmente, Amsterdam 1947, S. 220-235; jetzt in: GS 3,
S. 211-225).

343. Adorno verwendet einen Freudschen Begriff. Vgl. zur Ob-


jektbesetzung bei Sigmund Freud, Gesammelte Werke, a. a. O. [s.
Anm. 14], Bd. X, S. 140 f.; Bd. XIII, S. 125 und 256 ff.; Bd. XV, S. 125.

344. Max Horkheimer (1895-1973), von 1930 bis 1933 Ordinarius


für Sozialphilosophie an der Frankfurter Universität, war ab 1932
Herausgeber der »Zeitschrift für Sozialforschung«. Zwischen 1942
und 1944 arbeitete er mit Adorno an der Dialektik der Aufklärung.
Zusammen mit Samuel H. Flowerman gab er die »Studies in Preju-
dice« heraus, als deren erster Band The Authoritarian Personality er-
schien. Aus der Emigration zurückgekehrt, erhielt Horkheimer 1949

667
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

in Frankfurt am Main eine ordentliche Professur für Philosophie und


Soziologie, die er bis 1962 innehatte.

345. Vgl. die These VII der Elemente des Antisemitismus, etwa die
Stelle: Wenn die Massen das reaktionäre Ticket annehmen, das den Punkt
gegen die Juden enthält, gehorchen sie sozialen Mechanismen, bei denen die
Erfahrungen der einzelnen mit Juden keine Rolle spielen. (Horkheimer/
Adorno, Dialektik der Aufklärung, a. a. O. [s. Anm. 342], S. 236; vgl.
jetzt GS 3, S. 227)

346. Der Begriff Realpolitik kam in den Jahren nach der gescheiter-
ten Revolution von 1848 auf; er gelangte vor allem durch eine Schrift
von August Ludwig von Rochau (»Grundsätze der Realpolitik«,
1853) in die öffentliche Diskussion. Später wurde der Begriff beson-
ders auf die Politik Otto von Bismarcks bezogen.

347. Es handelt sich um eine im Auftrag des französischen Hohen


Kommissariats angefertigte Studie über das Frankreichbild der deut-
schen Bevölkerung. Vgl. dazu der hektographierte Forschungsbe-
richt, der sich in der Bibliothek des Instituts für Sozialforschung un-
ter der Signatur IfS 113 188 erhalten hat: Institut für Sozialforschung,
Image de la France. Un sondage de l’opinion publique allemande (ré-
publique fédérale), 3 Bände, 1953/54. Der Forschungsbericht faßt
die Ergebnisse einer im Wintersemester 1953/54 durchgeführten
Befragung von 1800 Personen aus der Bundesrepublik zusammen.
Am 21. Juli 1958 schrieb Adorno darüber an Nels Anderson: Under
separate cover I send you the French original of our socalled Imago-Studie
on German attitudes toward France. Since we ourselves are rather critical
as to the methodology of the study it should under no circumstances be made
known in the present version. This is the main reason why the results of
the work will be published only in the Oehler article. (Un 21/2) Vgl. zu
diesem Artikel Christoph Oehler, Vorurteile im Bild der Deutschen
von Frankreich, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsy-
chologie, Jg. 10 (1958), Heft 2, S. 249-255.

348. Von der Differenzierung der in-groups und der out-groups handelt,
die soziologische Terminologie prägend, William Graham Sumner
in »Folkways«, seinem 1906 erschienenen bekanntesten Buch. Vgl.
William Graham Sumner, Folkways. A Study of the Sociological Im-
portance of Usages, Manners, Customs[,] Mores, and Morals, With a

668
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Special Introduction by William Lyon Phelps, New York 1960, p. 27.


Deutsch wird das Begriffspaar mit »Eigengruppe« und »Fremdgrup-
pe« wiedergegeben.

349. Lücke in der Transkription. – Zu Hermann Nunberg s.


Anm. 217.

350. In der tiefenpsychologischen Theorie Sigmund Freuds kommt


Ersatzbefriedigung eher marginal vor; einschlägiger ist der Begriff
der Ersatzbildung. Freud spricht auch von einer kollektiven »nar-
zißtischen Befriedigung«: Unterdrückte würden durch »die Berech-
tigung, die Außenstehenden zu verachten, [. . .] für die Beeinträch-
tigung in ihrem eigenen Kreis entschädigt« (Sigmund Freud,
Gesammelte Werke, Bd. XIV, a. a. O. [s. Anm. 280], S. 334).

351. Die Lücke ist durch den Wechsel des Tonbands bedingt.

352. Vgl. zu der von Adorno bezeichneten anderen Studie: Gruppen-


experiment, a. a. O. [s. Anm. 51].

353. Adorno zitiert aus Protokoll 34 des »Gruppenexperiments«.


Vgl. dazu auch die Variante in GS 9·2, S. 282.

354. »Conventionalism« gehört zu den neun »variables« der für The


Authoritarian Personality konstruierten »F scale« (s. Anm. 357). Die
Faschismus-Skala berücksichtigt: »conventionalism«, »authoritarian
submission«, »authoritarian aggression«, »anti-intraception«, »super-
stition and stereotypy«, »power and ›toughness‹«, »destructiveness and
cynicism«, »projectivity« und »sex« (vgl. The Authoritarian Personality,
a. a. O. [s. Anm. 32], p. 228).

355. Rudolf Höß (1900-1947) wurde 1922 Mitglied der NSDAP und
1934 der SS. Im selben Jahr wurde er Block- und Rapportführer im
KZ Dachau, 1938 Adjutant im KZ Sachsenhausen. Von 1940 bis 1943
war Höß Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz. 1946
wurde Höß durch die britische Militärpolizei festgenommen. Wäh-
rend der Haft verfaßte er autobiographische Aufzeichnungen, die
unter dem Titel »Kommandant in Auschwitz« (Stuttgart 1958) von
Martin Broszat herausgegeben wurden. Darin heißt es zum Beispiel:
»Ohne Erbarmen, eiskalt mußten wir so schnell wie möglich die Ver-

669
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

nichtung betreiben. Jede Rücksicht, auch die geringste, würde sich


später bitter rächen. Dieser harten Konsequenz gegenüber mußte ich
meine menschlichen ›Hemmungen‹ zutiefst begraben. Ja, ich muß
offen gestehen, diese menschlichen Regungen kamen mir – nach
solchen Gesprächen mit Eichmann – beinah wie Verrat am Führer
vor. Es gab für mich kein Entrinnen aus diesem Zwiespalt. Ich mußte
den Vernichtungsvorgang, das Massenmorden weiter durchführen,
weiter erleben, weiter kalt auch das innerlich zutiefst Aufwühlende
mitansehen. Kalt mußte ich allen Vorkommnissen gegenüberste-
hen.« (S. 129) – Vgl. auch aus Adornos Aufsatz Zur Bekämpfung des
Antisemitismus heute (1962): Der Typus von Charakter, der – wenn ich
mich nicht irre – psychologisch heute in unserem Zusammenhang der be-
drohliche ist, gleicht viel eher dem, welchen ich in der »Authoritarian
Personality« den manipulativen genannt habe. Es sind jene pathisch kalten,
beziehungslosen, mechanisch verwaltenden Typen wie Himmler und der
Lagerkommandant Höss. (GS 20·1, S. 373)

356. Vgl. den Abschnitt über den manipulativen Typus in The Au-
thoritarian Personality, a. a. O. [s. Anm. 32], S. 767-771; vgl. jetzt
GS 9·1, S. 486-491.

357. Im Rahmen der Untersuchungen über die autoritätsgebundene Per-


sönlichkeit, die den Nachweis eines demokratiefeindlichen und auto-
ritären Potentials in der US-amerikanischen Gesellschaft brachten,
wurden Skalen zur Messung von Antisemitismus (»A-S scale«), Fa-
schismus (»F scale«), Ethnozentrismus (»E scale«) und politisch-öko-
nomischem Konservatismus (»PEC scale«) konstruiert. Each scale was
a collection of statements, with each of which the subject was asked to
express the degree of his agreement or disagreement. (The Authoritarian
Personality, a. a. O. [s. Anm. 32], p. 13). – Zur Anwendung der charakte-
rologischen Skala auf deutsche Verhältnisse (A-Skala) vgl. Michaela von
Freyhold, Autoritarismus und politische Apathie. Analyse einer Skala
zur Ermittlung autoritätsgebundener Verhaltensweisen, Frankfurt
a. M. 1971 (Frankfurter Beiträge zur Soziologie. Bd. 22.) Das zentrale
Thema dieser Arbeit ist die Gültigkeit und Anwendbarkeit der A(u-
toritarismus)-Skala. Die A-Skala wurde im Wintersemester 1959/60
in Adornos soziologischem Hauptseminar Zum Studium des autori-
tätsgebundenen Charakters entworfen. Sie sollte ein deutsches Äquiva-
lent für die F-Skala der Authoritarian Personality sein. Die F-Skala »ist
ebenso wie die A-Skala eine ›Likert-Skala‹. Eine derartige Autorita-

670
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

rismus-Skala besteht aus einer Reihe von Sätzen, die die Befragten
mit schwacher, mittlerer oder starker Ablehnung oder aber mit
schwacher, mittlerer beziehungsweise starker Zustimmung beant-
worten können. Die Antworten auf ›autoritäre‹ Sätze werden dann
folgendermaßen verrechnet: starke Ablehnung: 1; mittlere Ableh-
nung: 2; schwache Ablehnung: 3; unentschieden: 4; schwache Zu-
stimmung: 5; mittlere Zustimmung: 6; starke Zustimmung: 7; die
Punkte für ›demokratische‹ Sätze lauten umgekehrt: starke Ableh-
nung: 7; starke Zustimmung: 1. Für jeden Befragten wird dann der
Gesamtpunktwert (total-score) als Summe der Punkte für die einzel-
nen Sätze ermittelt.« (Ebd., S. 18)

358. Welche berühmte Frau Adorno meint, konnte nicht ermittelt


werden.

359. Vgl. zur Erhellung die Parallelstelle in einer Vorlesung von


Adorno: Man war nämlich von vornherein sich dabei sicher, daß die
›powers that be‹ dahinterstehen, – so wie Hitler in den Bierkellern von
sich und seinen sechs Kameraden gesprochen hat, die ganz alleine es auf
sich genommen hätten, während sie von Anfang an Querverbindungen zur
schwarzen Reichswehr besessen haben und die schwarze Reichswehr ja
bekanntlich nur eine Branche der weißen Reichswehr gewesen ist. (Adorno,
Ontologie und Dialektik, a. a. O. [s. Anm. 168], S. 174) Dazu aus der
Anmerkung von Rolf Tiedemann (ebd., S. 379): »Hitler war im Sep-
tember 1919 in München der Deutschen Arbeiterpartei mit der Mit-
gliedsnummer 555 beigetreten; ›er war nicht, wie er stets vorgab, das
siebte Mitglied [. . .], sondern höchstens das siebte Mitglied des Aus-
schusses‹, in den der erste Parteichef, Anton Drexler, ihn gebeten
hatte, ›als Werbeobmann einzutreten‹ (vgl. Ian Kershaw, Hitler 1889-
1936, übers. von Jürgen Peter Krause und Jörg W. Rademacher,
2. Aufl., Stuttgart 1998, S. 171).«

360. »Für den 30. Juni [1934] befahl Hitler die höheren SA-Führer
zu einer Besprechung nach Bad Wiessee. Dort erschien er am frühen
Morgen überraschend mit der SS-Leibstandarte ›Adolf Hitler‹, ver-
haftete [Ernst] Röhm und andere SA-Führer aus den Betten heraus,
ließ sie nach München ins Gefängnis bringen und dort zum größten
Teil erschießen. Röhm wurde, nachdem er sich geweigert hatte,
Selbstmord zu begehen, am 1. Juli erschossen.« Zur Rechtfertigung
wurde am 3. Juli 1934 das »Gesetz über Maßnahmen der Staatsnot-

671
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

wehr« erlassen: »Einziger Artikel. Die zur Niederschlagung hoch-


und landesverräterischer Angriffe am 30. Juni, 1. und 2. Juli 1934
vollzogenen Maßnahmen sind als Staatsnotwehr rechtens.« (Zitate
nach: Das dritte Reich, hrsg. von Eberhard Aleff, mit Beiträgen von
Walter Tormin, Eberhard Aleff, Friedrich Zipfel, 11. Aufl., Hanno-
ver 1979, S. 56 f.)

361. In der Vorlage (Vt 156/26) steht am Ende die Bemerkung: »Ab-
schließend verwies Professor Dr. Adorno auf das folgende Referat
von Professor Dr. Horkheimer. Die beiden Referenten waren über-
eingekommen, sich die gestellte Aufgabe zu teilen. Professor Dr.
Adorno betonte, er habe deshalb mit Absicht den ganzen Komplex
der Bekämpfung der Dinge kaum berücksichtigt.« – Zum Referat
von Max Horkheimer vgl. ders., Sozialpsychologische Forschungen
zum Problem des Autoritarismus, Nationalismus und Antisemitis-
mus, in: Autoritarismus und Nationalismus, a. a. O. [s. S. 664], S. 61
bis 66. Vgl. dazu jetzt: Gedanken zur politischen Erziehung, in: Max
Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 8: Vorträge und Aufzeich-
nungen 1949-1973, hrsg. von Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt
a. M. 1985, S. 147-155.

Die Einheit von Forschung und Lehre


unter den gesellschaftlichen Bedingungen
des 19. und 20. Jahrhunderts
Dem Problem der Einheit von Forschung und Lehre galten die Überle-
gungen, die Adorno am 8. November 1961 im Rahmen des Studium
generale der Mainzer Johannes Gutenberg-Universität vortrug.
Wörtlich wurde der Vortrag nicht publiziert. Doch eine detaillierte
Zusammenfassung, besorgt von Erhard C. Denninger, ist gedruckt
in: Die Einheit von Forschung und Lehre als Problem der moder-
nen Hochschule. Zwei Vorträge und vier Vortragsprotokolle, zusam-
mengefaßt von Erhard Denninger, Günter Eifler und Gerd Roel-
lecke [Mainzer Universitätsgespräche, Wintersemester 1961], o. O.
[Mainz] 1962, S. 5-10.
Ein zwölfseitiges Typoskript überliefert den relativ ausführlichen,
oft aber nur stichwörtlich gefaßten Entwurf. Adorno hat sich beim
Vortrag darauf gestützt, mußte aber aus Zeitgründen einige Stich-
worte überspringen. Von diesem Typoskript sind ein Durchschlag

672
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

(Vt 174) sowie das Original (Vt 175) vorhanden, das von ihm eigen-
händig ergänzt worden ist. Der Entwurf wird unten mitgeteilt
(s. S. 551-562).
Adornos Vortrag wurde von den Mainzer Veranstaltern mitge-
schnitten. Auf dieser Grundlage entstand die – an einigen Stellen lük-
kenhafte Transkription, die als (u. a. von Gretel Adorno handschrift-
lich bearbeitetes) Typoskript im Nachlaß aufbewahrt ist und als
Druckvorlage fungiert (Vt 177).

362. Die Transkription im Nachlaß (Vt 177) weist nicht aus, wer vor
Adornos Vortrag die begrüßenden Worte sprach. Mit hoher Wahr-
scheinlichkeit war es Peter Schneider; er hatte Adorno in die Johan-
nes Gutenberg-Universität nach Mainz eingeladen (vgl. Ei 281). Mit
der Übernahme der Leitung des »Studium Generale« durch Schnei-
der waren 1958 die »Mainzer Universitätsgespräche« eingeführt wor-
den. Die ersten »Universitätsgespräche« standen unter dem Titel
»Das Experiment und die Grenzen des Experimentierens«. Auf die-
sen Titel nimmt der Redner Bezug.

363. Der angesprochene Prorektor ist der Gräzist Walter Marg (1910
bis 1983).

364. S. Anm. 255.

365. Bei der Durchsicht der Humboldtschen Texte hat Adorno sich ver-
mutlich von einem Assistenten unterstützen lassen. Im Nachlaß ist
ein zweiseitiges Typoskript Forschung und Lehre bei Humboldt vorhan-
den (Vt 173), auf dem sich, nach einer Vorbemerkung, vier Exzerpte
aus Humboldts »Politischen Denkschriften« (hrsg. von Bruno Geb-
hardt, Berlin 1903 [= Bd. X von Humboldts »Gesammelten Schrif-
ten«]) finden. In der Vorbemerkung heißt es: »Das Verhältnis von
Forschung und Lehre wird bei Humboldt als ein institutionelles Ver-
hältnis innerhalb der Universität nicht thematisch. Wo er das Wesen
der Universität erörtert, geschieht dies stets in Abgrenzung zu ande-
ren Schularten.« Die Exzerpte sind Humboldts Antrag auf Errich-
tung der Universität Berlin vom 12.–14. Mai 1809 (Politische Denk-
schriften, S. 141) sowie seinem Aufsatz »Über die innere und äussere
Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin«
von 1809/1810 (Politische Denkschriften, S. 253, 257 und 251) ent-
nommen.

673
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

366. Vgl. Johann Gottlieb Fichte, Deducirter Plan einer zu Berlin zu


errichtenden höhern Lehranstalt, in: Johann Gottlob Fichte, Nach-
gelassene Schriften 1807-1810, hrsg. von Reinhard Lauth, Hans Gli-
witzky, Erich Fuchs und Peter K. Schneider unter Mitwirkung von
Ives Radrizzani und Anna-Maria Schurr-Lorusso (J. G. Fichte-Ge-
samtausgabe II, 11), Stuttgart-Bad Cannstadt 1998, S. 65-170. – Der
»Deducirte Plan« wurde 1807 für die preußische Regierung ge-
schrieben und erst posthum publiziert (Stuttgart und Tübingen
1817). Walter Benjamin nennt ihn Fichtes »mutige Denkschrift zur
Gründung der Berliner Universität« (Brief an Herbert Blumenthal
vom 15. Mai 1914, in: Walter Benjamin, Gesammelte Briefe, Bd. I:
1910-1918, hrsg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz, Frankfurt
a. M. 1995, S. 226). Fichte wirkte ab 1810 als Professor an der neuer-
richteten Berliner Universität und wurde im folgenden Jahr ihr erster
gewählter Rektor.

367. Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums,


in: Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings sämmtliche Werke. Er-
ste Abtheilung, Fünfter Band: 1802.1803., Stuttgart und Augsburg
1859, S. 207-352. Die Vorlesungen, die Schelling im Sommer 1802
an der Universität Jena hielt, sind zuerst 1803 erschienen. Vgl. vor al-
lem die erste dieser Vorlesungen; sie handelt »Ueber den absoluten
Begriff der Wissenschaft« (ebd., S. 211-222). – Im Wintersemester
1960/61 beabsichtigte Adorno, ein philosophisches Proseminar über
Schellings Studium-Vorlesungen abzuhalten; es kam nicht zustande.

368. »Kein positives Werk noch Tat kann also die allgemeine Frei-
heit hervorbringen; es bleibt ihr nur das negative Tun; sie ist nur die
Furie des Verschwindens.« (Hegel, Werke, Bd. 3, a. a. O. [s. Anm. 89],
S. 435 f.)

369. Konjiziert für Wissenschaftliche Geschichte. – Johann Gottlieb


Fichte hat seine »Wissenschaftslehre« stets neu gefaßt; sie ist in mehr
als 20 verschiedenen Ausarbeitungen dokumentiert. In der Fassung
von 1794/95 – es handelt sich um eine Schrift, die zuerst bogenweise
(zwischen Juni 1794 und April 1795) herausgegeben wurde, aber
noch zu Fichtes Lebzeiten weitere Auflagen erfuhr – hat die »Wis-
senschaftslehre« die stärkste Wirkung entfaltet. Vgl. zum Text jetzt:
Johann Gottlieb Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschafts-
lehre als Handschrift für seine Zuhörer, in: ders., Werke 1793-1795,

674
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

hrsg. von Reinhard Lauth und Hans Jacob unter Mitwirkung von
Manfred Zahn, Stuttgart-Bad Cannstadt 1965, S. 173-451 (J. G. Fich-
te-Gesamtausgabe I, 2).

370. Choris (nach griech. χωρίς = getrennt) wurde konjiziert für


juris.

371. Den Begriff der Autonomie faßt Kant vor allem als die des Wil-
lens. Vgl. seine »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« (1785),
worin die »Autonomie des Willens« als »oberstes Prinzip der Sittlich-
keit überhaupt« dargestellt wird. »Das Prinzip der Autonomie ist also:
nicht anders zu wählen, als so, daß die Maximen seiner [des Willens]
Wahl in demselben Wollen zugleich als allgemeines Gesetz mit
begriffen sei[e]n«. (Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten,
a. a. O. [s. Anm. 172], S. 74)

372. Vgl. dazu die frühen Schriften von Fichte: »Einige Vorlesungen
über die Bestimmung des Gelehrten« (1794) und »Grundlage des
Naturrechts« (1796-1797).

373. Der 1751 geborene Schriftsteller Jakob Michael Reinhold Lenz


schrieb die Dramen »Der Hofmeister« (1774) und »Die Soldaten«
(1776). Wenig später zeigten sich erste Anzeichen einer psychischen
Erkrankung. Seine Versuche, eine gesicherte Existenz aufzubauen,
scheiterten. 1792 starb er elend in Moskau.

374. Der psychisch erkrankte Friedrich Hölderlin (1770-1843) wur-


de von 1807 bis zu seinem Tode im Haushalt des Tübinger Schreiner-
meisters Ernst Zimmer gepflegt.

375. Georg Büchner (1813-1837) starb an den Folgen einer Typhus-


infektion. Sein Freund Wilhelm Schulz schrieb 1851: »Mit einer
flüchtigen Bemerkung auf seinem Todesbette: ›Hätte ich in der Un-
abhängigkeit leben können, die der Reichthum gibt, so konnte et-
was Rechtes aus mir werden‹ – wies er selbst auf den tieferen, auf den
socialen Grund seines frühzeitigen Todes.«

376. Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O. [s.


Anm. 35], Zweiter Teil, Kapitel IX: Soziologie der Herrschaft,
S. 541-868; hier vor allem S. 576-579.

675
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

377. Johann Wolfgang von Goethe veröffentlichte 1795/96 den Bil-


dungsroman »Wilhelm Meisters Lehrjahre«. »Wilhelm Meisters
Wanderjahre oder Die Entsagenden« erschien 1821. In loser An-
knüpfung an die »Lehrjahre« führte die Rahmenerzählung die Ge-
schichte von Wilhelm Meister fort. 1829 publizierte Goethe eine
zweite Fassung der »Wanderjahre«.

378. Hegel pflegte zwei Vorlesungen parallel zu halten und kam da-
mit auf etwa 100 bis 250 Hörer. Die Hörerzahlen für die stets im
Sommer gehaltenen Logik-Vorlesungen lauten: 1819: 102; 1820: 82;
1821: 92; 1822: 74; 1823: 56; 1824: 83; 1825: 56; 1826: 110; 1827: 85;
1828: 138; 1829: 132; 1830: 93; 1831: nicht ermittelt. An der Vorle-
sung über Gottesbeweise (1829) nahmen 200 Hörer teil. – Seminare
im heutigen Sinn hat es bei Hegel noch nicht gegeben. (Freundliche
Mitteilung von Walter Jaeschke)

379. Hier liegt offenbar ein Irrtum Adornos vor. Hegel publizierte
1798 anonym »Vertrauliche Briefe über das vormalige staatsrecht-
liche Verhältniß des Waadtlandes (Pays de Vaud) zur Stadt Bern«. Die
gegen die Berner Stadtaristokratie gerichteten Briefe, verfaßt von
Jean-Jacques Cart und im französischen Original zuerst 1793 in
Paris erschienen, wurden von Hegel übersetzt, eingeleitet und
mit Anmerkungen versehen. Seine Herausgeberschaft wurde 1909
von Hugo Falkenheim nachgewiesen (Eine unbekannte politische
Druckschrift Hegels, in: Preußische Jahrbücher, hrsg. von Hans Del-
brück, Bd. 138, November 1909, Berlin 1909, S. 193-210). Die Au-
torschaft von Hegels Schrift über die »Differenz des Fichte’schen und
Schelling’schen Systems der Philosophie« (1801) hingegen war nie
zweifelhaft.

380. Der Physiker Johann Wilhelm Ritter (1776-1810) gehörte zum


Kreis der Jenaer Romantik. Er trat, wie Novalis und Friedrich Schle-
gel, als Fragmentarist hervor. Vgl. Fragmente aus dem Nachlasse ei-
nes jungen Physikers. Ein Taschenbuch für Freunde der Natur, hrsg.
von J. W. Ritter, Heidelberg 1810.

381. Der Begriff des Äthers kommt bei Hegel in mannigfaltigen Zu-
sammenhängen vor, etwa auch in der Vorrede der »Phänomenologie
des Geistes« (Werke, a. a. O. [s. Anm. 19], Bd. 3, S. 29). Hegel spricht
in der »Phänomenologie« auch vom »Äther des reinen Bewußtseins«

676
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

(ebd., S. 363), in den »Vorlesungen über die Philosophie der Reli-


gion« vom »Äther des reinen Gedankens« (Bd. 17, S. 419).

382. Schelling selbst hatte Auguste Böhmer (1785-1800), Tochter


seiner späteren Ehefrau Caroline, nach Methoden des schottischen
Arztes John Brown behandelt. Auguste Böhmer starb am 12. Juni
1800 in Bad Bocklet, und Schelling wurde vorgeworfen, ihren Tod
durch seine Heilversuche mitverursacht zu haben.

383. Georg Wilhelm Friedrich Hegels »Enzyklopädie der philoso-


phischen Wissenschaften im Grundrisse«, aus Vorlesungen hervorge-
gangen, 1817 erschienen, in den Auflagen 1827 und 1830 verändert
und erweitert, stellt sein ganzes System im Zusammenhang dar. Die
Naturphilosophie bildet den zweiten Teil der »Enzyklopädie«, die
daneben auch Logik und Philosophie des Geistes umfaßt.

384. Vgl. dazu die »Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre«


von 1794/95, worin es über die »Thathandlung« heißt: »Wir haben
den absolutersten, schlechthin unbedingten Grundsaz alles mensch-
lichen Wissens aufzusuchen. Beweisen, oder bestimmen läßt er sich
nicht, wenn er absoluterster Grundsaz seyn soll. [Absatz] Er soll die-
jenige Thathandlung ausdrücken; die unter den empirischen Bestim-
mungen unsers Bewustseyns nicht vorkommt, noch vorkommen
kann, sondern vielmehr allem Bewustseyn zum Grunde liegt, und
allein es möglich macht.« (Fichte, Grundlage der gesammten Wis-
senschaftslehre, a. a. O. [s. Anm. 369], S. 255)

385. Eine Symphilosophie wurde in dieser Zeit namentlich von den


Frühromantikern Friedrich Schlegel und Novalis konzipiert.

386. In den Ausführungen zur »Amphibolie der Reflexionsbegriffe«


in der »Kritik der reinen Vernunft« spricht Kant, gegen Leibniz, dem
Verstand die Fähigkeit ab, »der Dinge innere Beschaffenheit« zu er-
kennen (vgl. Kritik der reinen Vernunft, a. a. O. [s. Anm. 148], S. 292
[A 270/B 326]).

387. Vgl. dazu vor allem das Kapitel »Die sinnliche Gewißheit oder
das Diese und das Meinen« sowie darauf folgende in der »Phänome-
nologie des Geistes« (vgl. Hegel, Werke, Bd. 3, a. a. O. [s. Anm. 89],
S. 82 ff.).

677
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

388. In der Negativen Dialektik heißt es dazu: In Hegels später Konzep-


tion von der Bildung ist diese bloß noch wie ein dem Subjekt Feindliches
beschrieben: »Die Bildung ist daher in ihrer absoluten Bestimmung die
Befreiung und die Arbeit der höheren Befreiung, nämlich der absolute
Durchgangspunkt zu der, nicht mehr unmittelbaren, natürlichen, sondern
geistigen, ebenso zur Gestalt der Allgemeinheit erhobenen unendlich sub-
jektiven Substantialität der Sittlichkeit. – Diese Befreiung ist im Subjekt
die harte Arbeit gegen die bloße Subjektivität des Benehmens, gegen die
Unmittelbarkeit der Begierde, so wie gegen die subjektive Eitelkeit der
Empfindung und die Willkür des Beliebens. Daß sie diese harte Arbeit ist,
macht einen Theil der Ungunst aus, der auf sie fällt. Durch diese Arbeit
der Bildung ist es aber, daß der subjektive Wille selbst in sich die Objektivi-
tät gewinnt, in der er seiner Seits allein würdig und fähig ist, die Wirklich-
keit der Idee zu seyn.« (GS 6, S. 329 f.) Adorno zitiert aus den »Grund-
linien der Philosophie des Rechts«; vgl. in der Ausgabe der Werke,
a. a. O. [s. Anm. 19], Bd. 7, S. 344. – In den Zusammenhang gehört
auch, daß Hegel in seiner Spätzeit, anders als noch in der »Phänome-
nologie des Geistes«, den Begriff des »absoluten Geistes« auf die
Sphären der Kunst, der offenbaren Religion und der Philosophie re-
duziert – und in Adornos Deutung damit neutralisiert (vgl. GS 8,
S. 132).

389. Die »Phänomenologie des Geistes« wurde, laut Titelblatt der


Erstausgabe von 1807, als »Erster Theil« des »Systems der Wissen-
schaft« publiziert. In der Vorrede des Buches schreibt Hegel, daß »die
Erhebung der Philosophie zur Wissenschaft an der Zeit ist« (a. a. O.
[s. Anm. 89], S. 14). Wissenschaft gilt ihm als Singularetantum. – He-
gels »Wissenschaft der Logik« erschien 1812-1816 in zwei Bänden.

390. Der Arzt, Maler und Philosoph Carl Gustav Carus (1789-1869)
war mit einer Vielfalt von Wissensgebieten befaßt: Chemie, Anato-
mie, Medizin, Psychologie, Philosophie, Theologie und Malerei.
Adorno kannte den von Paul Stöcklein herausgegebenen und mit
einem Nachwort versehenen Band: Carl Gustav Carus, Gedanken
über große Kunst, o. O. [Wiesbaden] 1947.

391. Adorno variiert eine Hegelsche Formulierung. Vgl. den Ab-


schnitt »Vorbegriff« im ersten Teil der »Enzyklopädie« (§§ 19-83);
dort werden die »drei Stellungen des Gedankens zur Objektivität«
behandelt (vgl. Hegel, Werke, a. a. O. [s. Anm. 19], Bd. 8, S. 67-180).

678
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

392. Vgl. ausführlich Adorno, Erfahrungsgehalte der Hegelschen Philo-


sophie, in: Archiv für Philosophie, Bd. 9 (1959), Heft 1/2, S. 67-89
(jetzt in: GS 5, S. 295-325).

393. S. Anm. 366.

394. Adorno bezieht sich auf »Wilhelm Meisters Wanderjahre« (s.


Anm. 377). Darin bringt Wilhelm, die Titelgestalt des Romans, sei-
nen Sohn Felix zur Ausbildung in die »pädagogische Provinz«, einen
gesellschaftsfernen, geschlossenen Raum der Erziehung, bei dessen
Darstellung Goethe sich von dem pädagogischen Institut inspirieren
ließ, das der Berner Patrizier Philipp Emanuel von Fellenberg im
Schweizer Hofwyl gegründet hatte.

395. S. Anm. 249.

396. Auf welchen Abschnitt in Hegels »Phänomenologie des Geistes«


Adorno sich hier bezieht, ist dem Herausgeber dunkel geblieben;
möglicherweise ist das Kapitel »Die Tugend und der Weltlauf« ge-
meint (vgl. Hegel, Werke, Bd. 3, a. a. O. [s. Anm. 89], S. 283-291).

397. Zu Humboldts Vorstellungen der Universität vgl. die in Anm. 365


angeführte Denkschrift »Über die innere und äußere Organisation
der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin«, jetzt in: Wil-
helm von Humboldt, Schriften zur Politik und zum Bildungswesen,
Werke in fünf Bänden, Bd. IV, hrsg. von Andreas Flitner und Klaus
Giel, Darmstadt 1964, S. 255-267.

398. Der Theologe, Philosoph und Pädagoge Friedrich Schleierma-


cher (1768-1834) war zusammen mit Wilhelm von Humboldt an der
preußischen Bildungsreform und namentlich der Gründung der Ber-
liner Universität beteiligt, an der er ab 1810 als ordentlicher Professor
der Theologie lehrte. Im Zusammenhang mit der geplanten Univer-
sitätsgründung publizierte Schleiermacher: Gelegentliche Gedanken
über Universitäten im deutschen Sinn. Nebst einem Anhang über
eine neu zu errichtende, Berlin 1808. Wiederabdruck in: Die Idee
der deutschen Universität. Die fünf Grundschriften aus der Zeit ihrer
Neubegründung durch klassischen Idealismus und romantischen
Realismus, Darmstadt 1956, S. 219-308.

679
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

399. Der französische Philosoph Auguste Comte (1798-1857) war


in seiner Jugend Schüler und Sekretär von Henri de Saint-Simon
(s. Anm. 476). 1830-1842 erschien in Paris sein sechsbändiges Haupt-
werk »Cours de philosophie positive«. Am Anfang des »Cours« erläu-
tert Comte das »Dreistadiengesetz« des menschlichen Geistes, der
sich vom theologischen über das metaphysische zum wissenschaft-
lichen oder positiven Zustand (Stadium) hin entwickele. Seine Kon-
zeption der positiven Wissenschaft gipfelt in der Soziologie, der er
auch gesellschaftlich eine Führungsrolle zusprach. Sie bekommt in
Comtes späteren Werken, namentlich im »Système de politique posi-
tive« (Paris 1851-1854), maßgebende Bedeutung für eine neue »Reli-
gion der Menschheit«.

400. S. Anm. 256.

401. Vgl. dazu vor allem »Wilhelm Meisters Wanderjahre oder Die
Entsagenden« (s. Anm. 377). Das Thema Entsagung zieht sich, Zu-
sammenhang bildend, durch die Rahmenerzählung und viele der
eingelegten Novellen des Goetheschen Altersromans. In dessen
zweiter Fassung (1829) entscheidet sich die Titelgestalt, der Idee
»vielseitiger Bildung« zu entsagen und den Beruf des Wundarztes zu
erlernen. Durch ärztliche Kunst gelingt es Wilhelm, am Ende des
Romans, seinen verunglückten Sohn Felix zu retten. – Entsagung
und Selbsteinschränkung sind in den »Wanderjahren« verbunden mit
der Idee der Gemeinschaft. Zur Frage vielseitiger Bildung läßt Goethe
die Gestalt des Montan sagen: »Ja es ist jetzo die Zeit der Einseitigkei-
ten; wohl dem, der es begreift, für sich und andere in diesem Sinne
wirkt. Bei gewissen Dingen versteht sich’s durchaus und sogleich.
Übe dich zum tüchtigen Violinisten und sei versichert, der Kapell-
meister wird dir deinen Platz im Orchester mit Gunst anweisen. Ma-
che ein Organ aus dir und erwarte, was für eine Stelle dir die
Menschheit im allgemeinen Leben wohlmeinend zugestehen werde.
[. . .] Sich auf ein Handwerk zu beschränken, ist das Beste.« (Johann
Wolfgang Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre. Maximen und
Reflexionen, hrsg. von Gonthier-Louis Fink, Gerhart Baumann und
Johannes John, München 1991, S. 270 [Münchner Ausgabe, Bd. 17])

402. Schelling war nach dem Regierungsantritt von Friedrich Wil-


helm IV. nach Berlin berufen worden, um – so der preußische Kö-
nig – die »Drachensaat« des Hegelianismus auszurotten. Die erste

680
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Vorlesung hielt Schelling am 15. November 1841. Zu seinen Hörern


zählten Michail Alexandrowitsch Bakunin, Jacob Burckhardt, Fried-
rich Engels und Søren Kierkegaard. Die Vorlesungen waren kein
großer Erfolg, und bereits 1846 zog sich Schelling von der universitä-
ren Lehrtätigkeit zurück.

403. Adorno meint den Paragraphen 246 in der Rechtsphilosophie von


Hegel, worin es heißt: »Durch diese ihre Dialektik wird die bürgerli-
che Gesellschaft über sich hinausgetrieben, zunächst diese bestimmte
Gesellschaft, um außer ihr in anderen Völkern, die ihr an den Mit-
teln, woran sie Überfluß hat, oder überhaupt an Kunstfleiß usf. nach-
stehen, Konsumenten und damit die nötigen Subsistenzmittel zu su-
chen.« (Hegel, Werke, a. a. O. [s. Anm. 19], Bd. 7, S. 391)

404. Nach Ausweis der Stichworte (s. Anm. 785) ist der Pädagoge
Hans Weil (1898-1972) gemeint, der 1930 mit einer Arbeit über »Die
Entstehung des deutschen Bildungsprinzips« promoviert und 1932
bei Paul Tillich und Carl Mennicke in Frankfurt am Main habilitiert
wurde.

405. Konjiziert für direkt nun.

406. Die Transkription ist an dieser Stelle unvollständig; sie lautet:


[. . .] wo scheinbar alle einig sind, diesen . . . -sitzt.

407. Adorno bezieht sich auf die Expertenstudie innerhalb des For-
schungsprojekts »Universität und Gesellschaft« (s. Anm. 248). 1953
wurden im Rahmen dieser Erhebung Interviews mit Praktikern aus
Wirtschaft und Verwaltung geführt. »Befragt wurden 200 Personen
aus 159 Betrieben, Verbänden sowie staatlichen und kommunalen
Dienststellen, die entweder über die Einstellung von Akademikern
entscheiden oder auf sie beratend Einfluß nehmen; daneben aber
auch solche, die auf Grund ihrer Aufsichtsfunktionen oder ihrer Ar-
beit in Verbänden und Berufsorganisationen die Akademiker und
ihre Aufgaben in den verschiedenen Arbeitsbereichen überblicken.«
(Ulrich Gembardt, Akademische Ausbildung und Beruf, in: Köl-
ner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 11 [1959],
Heft 2, S. 223-249; das Zitat S. 223, Fußnote) Vgl. dazu auch: Institut
für Sozialforschung (Hrsg.), Universität und Gesellschaft (Teil III):
Expertenbefragung, hektographierter Forschungsbericht, 1953.

681
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

408. Zwei Spatien im Typoskript der Druckvorlage Vt 177, jeweils


vor dem Wort Elegien, wurden von unbekannter Hand (vermutlich
einer Sekretärin Adornos) durch Duineser ersetzt. Diese Ergänzung
hat der Herausgeber in den Text übernommen. Siehe dazu auch die
Stichworte, S. 557. – Duineser Elegien ist der Titel einer Sammlung
von zehn Elegien (1912-1922) des Dichters Rainer Maria Rilke. Ihr
Name leitet sich von Schloß Duino bei Triest ab, wo Rilke 1912 Gast
der Fürstin Marie von Thurn und Taxis war.

409. Vgl. Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, a. a. O. [s.


Anm. 291]; vor allem das Kapitel »Die Ausbildung der moralischen
Phantasie und die Plastizität des Gefühls«, S. 271-276.

410. In der Transkription steht hier: gegenüber dem . . . los Geistreichen.

411. Gemeint ist Max Horkheimer.

412. Zur Konjektur »Esquisse« von Condorcet – die Nachschrift weist


an dieser Stelle eine Lücke auf – s. S. 558. – Zwei Jahre später wurde
der »Esquisse« in einer zweisprachigen Ausgabe, gefördert vom Insti-
tut für Sozialforschung, neu herausgebracht. Vgl. Condorcet, Ent-
wurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des mensch-
lichen Geistes, hrsg. von Wilhelm Alff, Frankfurt a. M. 1963. Die
deutsche Übertragung besorgte Alff in Zusammenarbeit mit Her-
mann Schweppenhäuser.

413. Vgl. etwa am Anfang der »Esquisse« die Stelle: »Schon beginnt
die Morgenröte der Wissenschaft zu dämmern; der Mensch sondert
sich ab von den anderen Tierarten und scheint nicht länger wie sie
beschränkt auf die bloße individuelle Vervollkommnung.« (Ebd.,
S. 33)

414. Theorie der Halbbildung erschien zuerst in: Deutsche Gesell-


schaft für Soziologie, 1909-1959, Verhandlungen des vierzehnten
Deutschen Soziologentages vom 20. bis 24. Mai 1959 in Berlin,
Stuttgart 1959, S. 169-191; dann in: Der Monat, Jg. 11 (1958/59),
Heft 132, S. 30-43; schließlich in: Max Horkheimer/Theodor W.
Adorno, Sociologica II. Reden und Vorträge, Frankfurter Beiträge zur
Soziologie, Bd. 10, Frankfurt a. M. 1962, S. 168-192. Vgl. jetzt GS 8,
S. 93-121.

682
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

415. Vgl. dazu etwa die Erhebung »Universität und Gesellschaft«


(s. S. 646 sowie Anm. 248 und Anm. 407); zu einer zwischen 1957
und 1960 durchgeführten Studie: Jürgen Habermas, Ludwig von
Friedeburg, Christoph Oehler, Friedrich Weltz, Student und Politik.
Eine soziologische Untersuchung zum politischen Bewußtsein
Frankfurter Studenten, Neuwied 1961; zu einer von 1959 bis 1961
von der DFG geförderten Untersuchung: Manfred Teschner, Politik
und Gesellschaft im Unterricht. Eine soziologische Analyse der poli-
tischen Bildung an hessischen Gymnasien, Frankfurt a. M. 1968
(Frankfurter Beiträge zur Soziologie, Bd. 21); zu einem 1960 initiier-
ten Forschungsprojekt: Heribert Adam, Studentenschaft und Hoch-
schule. Möglichkeiten und Grenzen studentischer Politik, Frankfurt
a. M. 1965 (Frankfurter Beiträge zur Soziologie, Bd. 17); zu Adornos
einzigem bildungssoziologischen Seminar: Theodor W. Adorno,
Einleitung in das soziologische Hauptseminar »Probleme der Bil-
dungssoziologie«, 8. November 1960, hrsg. von Dirk Braunstein, in:
WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung, Jg. 12 (2015), Heft 1,
S. 153-167. Diese Seminareinleitung datiert genau ein Jahr vor dem
hier abgedruckten Mainzer Vortrag.

416. Vom 19. bis 21 Oktober 1961 fand in Tübingen die Interne Ar-
beitstagung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie statt, Auftakt
für den ›Positivismusstreit‹ in der deutschen Soziologie. Die Haupt-
referate, zum Thema »Die Logik der Sozialwissenschaften«, hielten
Karl Popper und Adorno. Die Leitung der anschließenden Diskus-
sion hatte Ralf Dahrendorf (der auf der Tagung keinen Vortrag hielt).
Offenbar hat Dahrendorf die Unterscheidung zwischen geschlossenen
und offenen Wissenschaften in einem Diskussionsbeitrag zu der Tagung
gemacht, der nicht gedruckt wurde. Vgl. dazu auch Ralf Dahren-
dorf, Anmerkungen zur Diskussion der Referate von Karl R. Popper
und Theodor W. Adorno, in: Theodor W. Adorno, Ralf Dahrendorf,
Harald Pilot, Hans Albert, Jürgen Habermas, Karl R. Popper, Der
Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, 5. Aufl., Darmstadt
und Neuwied 1976, S. 145-153.

417. »Man kann also unter allen Vernunftwissenschaften (a priori)


nur allein Mathematik, niemals aber Philosophie (es sei denn histo-
risch), sondern, was die Vernunft betrifft, höchstens nur philosophieren
lernen. [Absatz] Das System aller philosophischen Erkenntnis ist nun
Philosophie. Man muß sie objektiv nehmen, wenn man darunter das

683
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Urbild der Beurteilung aller Versuche zu philosophieren versteht,


welche jede subjektive Philosophie zu beurteilen dienen soll, deren
Gebäude oft so mannigfaltig und so veränderlich ist. Auf diese Weise
ist Philosophie eine bloße Idee von einer möglichen Wissenschaft,
die nirgend in concreto gegeben ist, welcher man sich aber auf man-
cherlei Wegen zu nähern sucht, so lange, bis der einzige, sehr durch
Sinnlichkeit verwachsene Fußsteig entdeckt wird, und das bisher ver-
fehlte Nachbild, so weit als es Menschen vergönnt ist, dem Urbilde
gleich zu machen gelingt. Bis dahin kann man keine Philosophie ler-
nen; denn, wo ist sie, wer hat sie im Besitze, und woran läßt sie sich
erkennen? Man kann nur philosophieren lernen, d. i. das Talent der
Vernunft in der Befolgung ihrer allgemeinen Prinzipien an gewissen
vorhandenen Versuchen üben, doch immer mit Vorbehalt des
Rechts der Vernunft, jene selbst in ihren Quellen zu untersuchen
und zu bestätigen, oder zu verwerfen. « (Kant, Kritik der reinen Ver-
nunft, a. a. O. [s. Anm. 148], S. 699 f. [A 837 f./B 865 f.])

418. Georg Simmel pflegte Vorlesungen, Vorträge und Reden stets


frei zu halten. Eine Ausnahme hat er gelegentlich bei einem komple-
xen Thema gemacht. Zahlreiche Charakterisierungen von Simmels
Vorlesungstätigkeit sind versammelt in: Buch des Dankes an Georg
Simmel. Briefe, Erinnerungen, Bibliographie. Zu seinem 100. Ge-
burtstag am 1. März 1958 hrsg. von Kurt Gassen und Michael Land-
mann, Berlin 1958, S. 139-308.

419. Adorno spielt an auf Spinozas Wort: »est enim verum index sui
et falsi«. Deutsch: »Denn das Wahre ist der Prüfstein seiner selbst und
des Falschen.« (Baruch de Spinoza, Briefwechsel, Übersetzung und
Anmerkungen von Carl Gebhardt, Hamburg 1977, 76. Brief [an Al-
bert Burgh], S. 286)

420. Adorno hatte gemeinsam mit Max Horkheimer im Winter-


semester 1959/60 und im Sommersemester 1960 ein zweiteiliges
philosophisches Hauptseminar über Hegels »Logik« abgehalten (je-
weils donnerstags von 18-20 Uhr).

421. Vgl. Hegel, Werke, a. a. O. [s. Anm. 19], Bd. 6, S. 119-123.

422. Vgl. Arnold Schönberg, Harmonielehre, 3., vermehrte und


verbesserte Aufl., o. O. [Wien] 1922, S. V.

684
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Musikalische Bildung heute

Am 23. Februar 1962 sprach Adorno in der Staatlichen Hochschule


für Musik, Frankfurt am Main, über Musikalische Bildung heute.
Philipp Mohler, der 1958 Direktor der Musikhochschule geworden
war, lud Adorno immer wieder zu Vorträgen ein. So kamen etwa
auch der Vortrag über Richard Strauss (1964) und die Einführung zur
Aufführung des Pierrot lunaire (1968) zustande, die der vorliegende
Band enthält.
Adorno hat sich für den Vortrag über musikalische Bildung am
22. Februar 1962 Notizen gemacht (Manuskript Vt 182), diese dann
abtippen lassen und das achtseitige Typoskript wiederum hand-
schriftlich ergänzt (Vt 184). So – auf für ihn typische Weise – entstand
die Vorlage, auf die er sich bei seinen Einlassungen stützte. Sie ist
überschrieben mit Vortrag in der Musikhochschule am 23. 2. 1962 / Mu-
sikalische Bildung heute (s. S. 563-570).
Adornos Vortrag in der Frankfurter Musikhochschule ist mitge-
schnitten worden und auf einem Tonband überliefert, das im Adorno
Archiv die Signatur TA 117 trägt. Die Tonaufnahme wurde zur
Grundlage für die Textherstellung genommen.

423. Beethoven »erklärte Religion und Generalbaß für in sich abge-


schlossene Dinge, über die man nicht weiter disputieren soll«. (Anton
Schindler, Biographie von Ludwig van Beethoven, hrsg. von Eber-
hardt Klemm, Leipzig 1988, S. 430)

424. S. Anm. 128.

425. Adorno bezieht sich auf Brechts »Mahagonny«-Anmerkungen,


worin die Oper als kulinarisch – dem Genuß dienend – beschrieben
wird. (Vgl. Bertolt Brecht, Anmerkungen zur Oper »Aufstieg und
Fall der Stadt Mahagonny«, in: Werke, a. a. O. [s. Anm. 208], Bd. 24:
Schriften 4: Texte zu Stücken, Berlin/Weimar, Frankfurt a. M. 1991,
S. 74-85)

426. Adorno denkt an eine Stelle aus Goethes biographischer Skizze


über den Landschaftsmaler Jakob Philipp Hackert (1737-1807), über
den es darin heißt: »Er verfertigte hierauf manche fleißige Studien,
nicht weniger mit vielem Verdienst ausgeführte Kopien nach Claude
le Lorrain, Swanevelt, Moucheron, Berghem, Asselyn u. s. w., welche

685
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

bald durch den Hofrat Trippel ins Publikum zerstreut wurden und,
ohne den Künstler weiter bekannt zu machen, verschwanden, bis er
endlich, geleitet von seinem eigenen Genius und mit einem durch
jene Originale auf die besondern Schönheiten der Natur aufmerk-
sam gewordenen Auge, mit vollkommen geübter Hand, viel nach der
Natur, wenigstens teilweise, was ihm von schönen Bäumen der Tier-
garten bei Berlin und Charlottenburg darboten, in einer übrigens für
den Landschaftsmaler nicht günstigen Gegend zu zeichnen anfing
und allmählich zu eigenen Originalen hinaufstieg.« (Goethes Sämt-
liche Werke, Jubiläums-Ausgabe, Vierunddreißigster Band: Schriften
zur Kunst. Mit Einleitung und Anmerkungen von Wolfgang von
Oettingen, Zweiter Teil, Stuttgart, Berlin o. J. [1904], S. 200) In sei-
nem Exemplar dieses Bandes hat Adorno das Ende des zitierten Satzes
unterstrichen und mit der Randbemerkung versehen: dies ist gut.

427. Adorno hatte die Analyse einer schlechten Reproduktion des Berg-
schen Violinkonzerts (vgl. jetzt GS 15, S. 338-368) am 8. Dezember
1961 gegeben. In der »Frankfurter Neuen Presse« stand darüber am
11. Dezember 1961 zu lesen: »Alban Bergs problematisches Violin-
konzert, wiedergegeben auf einer Schallplatte ungenannter Her-
kunft, war der äußere Anlaß eines Vortrags des Philosophen und Mu-
siksoziologen Professor Dr. Theodor Adorno in der Frankfurter
Musikhochschule über ›Interpretationsfragen Neuer Musik‹. [. . .] In
einer zweistündigen gründlichen Demonstration machte der ehema-
lige Berg-Schüler aus seiner genauen Kenntnis der Materie durch
Vergleiche einzelner Phasen des auf der Platte konservierten Konzer-
tes mit den von ihm selbst am Flügel gespielten Passagen klar, wie
verfälschend die Fehlinterpretation wichtiger Einzelheiten auf das
Gesamtkunstwerk wirkt.«

428. Mit ›cultural lag‹ nimmt Adorno einen von William Fielding
Ogburn (1886-1959) soziologisch geprägten Begriff auf; vgl. dessen
Buch »Social Change with Respect to Culture and Original Nature«
(New York 1922).

429. S. Anm. 244.

430. In der Vorrede der Vorlesungen zur Einleitung in die Musiksozio-


logie schrieb Adorno: In der Vorlesung hatte der Autor wenigstens ver-
sucht, den Studenten zu zeigen, wie wenig Musiksoziologie in dem sich

686
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

erschöpft, was er vortrug, indem er die Herren Hans Engel – den Verfasser
des historisch akzentuierten Werkes ›Musik und Gesellschaft‹ –, Alphons
Silbermann, den Exponenten der empirischen Forschungsrichtung in der
Musiksoziologie, und Kurt Blaukopf, der höchst produktive Perspektiven
des Zusammenhangs von Akustik und Musiksoziologie eröffnete, zu Gast-
vorlesungen einlud. (GS 14, S. 175) Hans Engel (1894-1970) war von
1946 bis 1967 ordentlicher Professor für Musikwissenschaft an der
Philipps-Universität Marburg. Er sprach, im Rahmen von Adornos
musiksoziologischer Vorlesung vom Wintersemester 1961/62, am
30. Januar 1962 über Fragen des Musiklebens.

431. Vermutlich meint Adorno die Academy of Ancient Music. Sie


wurde 1726 in London als Academy of Vocal Music gegründet; we-
nige Jahre später umbenannt.

432. S. Anm. 251.

433. In Kreneks Prager Referat auf dem 1. Internationalen Kongreß


für Musikerziehung (gehalten am 8. April 1936, zwei Monate später
abgedruckt in der Wiener Musikzeitschrift »23«) heißt es: Zur Musik
gelangt der junge Mensch »durch Zufall, je nach individueller Be-
gabung und Einstellung seiner Umwelt oder auf dem Abweg des
Unterhaltungsbedürfnisses. Woher soll ein so unvorbereiteter
Mensch später die Lust hernehmen, sich mit der Entwicklung der
Musik auseinanderzusetzen, ihre Ergebnisse kennenzulernen, Auf-
führungen neuer Musik zu besuchen und, wo solche nicht stattfin-
den, etwa gar nach ihnen zu verlangen? Er weiß ja gar nicht, daß in
der Musik etwas vorgeht, was ihn irgendwie berühren könnte, er hat
es nie erfahren und ist darum nicht neugierig. Die schwerste Läh-
mung der Beziehung zwischen Musikschaffen und Publikum beruht
darauf, daß die heutige Jugend nicht mehr neugierig ist. Kann es uns
wundern, wenn die Inhaber einflußreicher Positionen, die aus sol-
chem Bildungsgang hervorgetreten sind, gegen die neue Musik be-
stenfalls indifferent, wenn nicht geradezu feindselig eingestellt sind?«
(Ernst Krenek, Was erwartet der Komponist von der Musikerzie-
hung?, in: 23. Eine Wiener Musikzeitschrift, Nr. 26/27 [Doppel-
nummer], 8. Juni 1936, S. 19-26, hier S. 22 f. – Unter dem Pseud-
onym Hektor Rottweiler hat Adorno, in der Folgenummer von
»23«, mit einem offenen Brief an Ernst Krenek auf dessen Referat ge-
antwortet (vgl. jetzt: Musikpädagogische Musik, GS 18, S. 805-812).

687
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

434. Vgl. in der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«: »Es wäre
hier leicht zu zeigen, wie sie [die moralische Erkenntnis der gemei-
nen Menschenvernunft], mit diesem Kompasse in der Hand, in allen
vorkommenden Fällen sehr gut Bescheid wisse, zu unterscheiden,
was gut, was böse, pflichtmäßig, oder pflichtwidrig sei, wenn man,
ohne sie im mindesten etwas Neues zu lehren, sie nur, wie Sokrates
tat, auf ihr eigenes Prinzip aufmerksam macht, und daß es also keiner
Wissenschaft und Philosophie bedürfe, um zu wissen, was man zu
tun habe, um ehrlich und gut, ja sogar, um weise und tugendhaft zu
sein.« (Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, a. a. O. [s.
Anm. 172], S. 31 [A 21 f./B 21 f.])

435. Debussy, der bereits in seiner Studentenzeit am Pariser Konser-


vatorium das Gedicht »Apparition« von Stéphane Mallarmé vertont
hatte, lernte diesen im Herbst 1890 kennen. Er nahm oft an den
Dienstags-Zusammenkünften (»mardis«) bei Mallarmé teil, wo er mit
Dichtern und Malern dieses Kreises zusammentraf. Ausgehend von
einem Text Mallarmés, komponierte Debussy »Prélude à l’après midi
d’un faune« (1891-1894), uraufgeführt am 22. Dezember 1894. Zu
seinen letzten Kompositionen gehören die Lieder auf »Trois poèmes
de S. Mallarmé« (1913).

436. Arnold Schönberg begann, auch unter dem Eindruck antise-


mitischer Vorfälle, sich ab Anfang der 1920er Jahre verstärkt mit jüdi-
schen Themen zu befassen. Die Idee zu der dreiaktigen Oper »Moses
und Aron« reicht bis ins Jahr 1923 zurück. Schönberg ließ das Werk
1937 unvollendet; die Musik zum dritten Akt ist nur in Form einiger
Skizzen überliefert. Adorno hörte am 2. Juli 1951 den »Tanz um das
goldene Kalb« aus »Moses und Aron«, ein Konzert, das im Zusam-
menhang der Darmstädter Ferienkurse stattfand. Die Oper wurde
konzertant am 12. März 1954 in Hamburg, szenisch am 6. Juni 1957
in Zürich uraufgeführt – Vgl. auch Adorno, Sakrales Fragment. Über
Schönbergs Moses und Aron (GS 16, S. 454-475).

437. Vgl. Joachim Günther, Moses, Aron und Gott. Die theologische
Frage in Arnold Schönbergs Oper, in: Der Tagesspiegel, 15. Oktober
1959. Darin heißt es etwa: »Daß Schönberg ein letzter ›Romantiker‹,
ein letzter Wagnertyp des schöpferischen Künstlers war, zeigt, wenn
man es sonst nicht wüßte, indirekt sein Textbuch zu ›Moses und
Aron‹, zeigt vor allem die selbständig-subjektive Theologie darin, die

688
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

dieser Text an den biblischen Motiven zur Anwendung bringt, die


aber auch seine oft so papieren wirkende Schwäche ausmacht. [. . .]
Schönberg hat nicht ›Moses und Aron‹, sondern nur eine erste ab-
strakte Spiegelung dieses Verhältnisses in seinem eigenen, den re-
ligiösen Wirklichkeiten vom Unglauben und der Freigeisterei wie-
der zugewandten Geiste auf die Bühne gebracht.« – Der Publizist,
Essayist und Kritiker Joachim Günther (1905-1990) studierte zu-
nächst Philosophie, Literaturgeschichte und Kunstgeschichte an der
Berliner Universität; von 1950-1954 absolvierte er ein Studium der
Theologie an der Kirchlichen Hochschule in Berlin. Günther war
Mitgründer (1954) und Herausgeber der Zeitschrift »Neue Deutsche
Hefte«, in der Adorno viele seiner Aufsätze publizierte.

438. »[. . .] die ganze neuere Mystik und Theosophie bleibt altkluges
Reportergerede, Hintertreppenklatsch übers Jenseits, nicht weil sie
inhaltlich wahnschaffen ist, sondern weil ihr Ton die Leere und Platt-
heit verrät« (Friedrich Gundolf, George, 3., erweiterte Aufl., Berlin
1930, S. 61).

439. Adorno wurde 1919 Kompositionsschüler von Bernhard Sekles


(1872-1934), der seit 1896 Lehrer am Hoch’schen Konservatorium in
Frankfurt am Main war.

440. Die Eduard Steuermann gewidmeten dreisätzigen Variationen


für Klavier op. 27 (1935-1936), uraufgeführt von Peter Stadlen am
26. Oktober 1937 in Wien. Die Klaviervariationen waren das erste
Werk Weberns, das bei den Internationalen Ferienkursen für Neue
Musik in Darmstadt gespielt wurde – Stadlen führte sie am 31. Juli
1948 auf.

441. Zum Begriff des Refus vgl. Valérys »Lettre sur Mallarmé« (zu-
erst 1927 erschienen in »La Revue de Paris«), worin es heißt: »Le tra-
vail sévère, en littérature, se manifeste et s’opère par des refus.« (Paul
Valéry, Œuvres I, Édition établie et annotée par Jean Hytier, Paris
1957, S. 641) In deutscher Übersetzung: »Strenge Arbeit vollzieht
und manifestiert sich in der Literatur durch Verweigerung.« (Paul Valé-
ry, Zur Literatur [Werke, Bd. 3], hrsg. von Jürgen Schmidt-Rade-
feldt, Frankfurt a. M. 1989, S. 264)

689
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

442. Die Formulierung ist vor allem durch Thomas Manns »Tonio
Kröger« bekannt, der sich versichert hält, »doch kein Zigeuner im
grünen Wagen« zu sein. – »Der grüne Wagen« war der Name eines
österreichischen Tourneetheaters, das etwa auch mit den Namen von
Marianne Hoppe und William Dieterle – Freunden von Adorno –
verbunden ist.

443. Adorno dürfte hier vor allem an eine an Martin Heidegger an-
knüpfende Pädagogik gedacht haben. Einen scharfen Angriff auf
Humboldts Bildungsbegriff unternahm Theodor Ballauff (Die
Grundstruktur der Bildung, Weinheim 1953); vgl. auch Schriften
von Klaus Schaller oder Otto Friedrich Bollnow. Gemäßigter ist die
Kritik von Theodor Litt (Das Bildungsideal der deutschen Klassik
und die moderne Arbeitswelt, Bonn 1955). Die Vorwürfe gegen
Humboldt – zum Beispiel: Wirklichkeitsfremdheit, Intellektualis-
mus, Gemeinschaftsfeindlichkeit – behandelt im einzelnen: Irmgard
Kawohl, Wilhelm von Humboldt in der Kritik des 20. Jahrhunderts,
Ratingen bei Düsseldorf 1969.

444. Der Maler Mario Cavaradossi (Tenor) aus Giacomo Puccinis


Oper »Tosca« (1900).

445. Der Sergeant Don José (Tenor) aus Georges Bizets Oper »Car-
men« (1875).

446. Der englische Komponist Benjamin Britten (1913-1976) stu-


dierte bei Frank Bridge und dann bei John Ireland am Royal College
of Music in London.

447. Wilhelm von Lenz berichtet über Aufführungen der letzten


Quartette: »Das Publikum war nach Umständen begeistert, erstaunt,
oder fragend, doch aus Ehrfurcht nie absprechend. Es begriff – oder es
begriff auch nicht. Bei der 1. Produktion des B Quartetts [op. 130],
als noch die Fuge das Finale bildete, mußten die kleinen Zwischen-
sätze in B Moll und B Dur, auf stürmisches Verlangen, wiederholt
werden (wie bei jeder öffentlichen Produktion der wir beiwohnten).
Die Fuge ging unverstanden vorüber. Beethoven erwartete mich
nach der Aufführung im nächstgelegenen Gasthause. Ich erzählte
ihm, daß die beiden Stücke wiederholt werden müssen. ›Ja! sagte er
hierauf ärgerlich, diese Leckerbissen! Warum nicht die Fuge?‹« (Wil-

690
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

helm von Lenz, Beethoven. Eine Kunst-Studie, Fünfter Theil, Vier-


ter Theil, III. Periode op. 101 bis op. 138, Hamburg 1860, S. 218 f.)

448. Vgl. Adornos Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische


Vorlesungen, Frankfurt a. M. 1962, S. 152 ff.; jetzt in: GS 14, S. 335 ff.

449. Vgl. dazu Adornos Studie über die »NBC Music Appreciation
Hour«, deren amerikanischer Text sich in Current of Music (a. a. O. [s.
Anm. 46], S. 247-317) findet. Wesentliche Teile dieser Arbeit sind
eingegangen in das Kapitel Die gewürdigte Musik aus dem Getreuen
Korrepetitor (vgl. jetzt GS 15, S. 163-187).

450. Sigmund Freud zufolge wurde der Begiff der Rationalisierung


1908 von seinem Schüler Ernest Jones in die psychoanalytische
Theorie eingeführt. Vgl. dazu Ernest Jones, Rationalisation in Eve-
ry-Day Life, in: The Journal of Abnormal Psychology, Vol. III (1908-
1909), p. 161-169. »Der Inhalt dieser Erstlingsarbeit«, schreibt Freud
1929, »ist noch heute aufrecht; unsere junge Wissenschaft war durch
sie um einen wichtigen Begriff und einen unentbehrlichen Terminus
bereichert worden.« (Sigmund Freud, Ernest Jones zum 50. Geburts-
tag, in: Freud, Gesammelte Werke, Bd. XIV, a. a. O. [s. Anm. 280],
S. 554)

451. Zu Bekkers Polemik gegen »Eine Alpensinfonie« s. Anm. 301.

452. S. Anm. 318.

453. Vgl. den letzten Satz von Asyl für Obdachlose aus Adornos Mini-
ma Moralia (a. a. O. [s. Anm. 294], S. 59; jetzt in: GS 4, S. 43).

454. Der Komponist und Musikwissenschaftler Philipp Mohler


(1908-1982) war von 1958 bis 1976 Direktor der Staatlichen Hoch-
schule für Musik in Frankfurt am Main und hatte dort bis 1978 einen
Lehrauftrag für Komposition inne. Unter seiner Direktion hielt
Adorno, der von der Musikhochschule zuvor ignoriert worden war,
dort insgesamt 19 Vorträge.

691
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Improvisationen über Wedekind

Mit Frank Wedekind hatte Adorno sich bereits um 1920 beschäftigt:


Wahrscheinlich noch zu Schulzeiten schrieb er den Aufsatz Frank
Wedekind und sein Sittengemälde »Musik«, den Rolf Tiedemann 1974
in Band 11 der Gesammelten Schriften zum ersten Mal publizierte
(S. 619-626). 1932 hielt Adorno im Südwestfunk, dem Frankfurter
Radio, einen Vortrag Über den Nachlaß Frank Wedekinds (ebd.,
S. 627-633), will sagen über den achten und neunten Band von We-
dekinds »Gesammelten Werken«.
Am 9. März 1962 schrieb Adorno an Peter Szondi, daß ich in
Darmstadt Ende April[,] Anfang Mai eine Art Conférence über Wedekind
mache, bei Gelegenheit einer Aufführung der Posse »Der Liebestrank«. Da
ich längst eine sehr belastete Arbeit über Wedekind projektiert habe, paßt
mir das ganz gut in den Kram. (Br 1519/11) Die Conférence über Wede-
kind wurde auf Einladung des Landestheaters Darmstadt am 28. April
1962 gemacht; die projektierte Arbeit hingegen nicht geschrieben.
Hans-Joachim Weitz vom Darmstädter Landestheater schrieb
Adorno am 11. April 1962: »[. . .] nur der Ordnung halber darf ich Ih-
nen nochmal mit dem besten Dank Ihre Zusage bestätigen, innerhalb
unserer Vortragsreihe im Theater im Schloß (Vortragssaal der Lan-
des- und Hochschulbibliothek) am Samstag, dem 28. April, 20 Uhr,
über Wedekind zu sprechen; als Titel hatten Sie ›Improvisationen zu
Wedekind‹ genannt. Das Honorar beträgt DM 500,–.« (Ve 34/9) Da
Adorno jedoch im Brief an Weitz vom 19. März wie auch in den
Stichworten, die ihm als Leitfaden dienten, von Improvisationen über
Wedekind sprach, wurde dieser Titel gewählt und nicht »Improvisa-
tionen zu Wedekind«, wie der Vortrag in Programmen des Landes-
theaters angekündigt worden war.
Die Stichworte sah Adorno in begrenzender Funktion; sie sollten
ihn daran hindern, sich fortreißen zu lassen, wie es eingangs des Vor-
trags heißt. Sie sind in drei Schritten entstanden: Adorno schrieb am
26. April mit der Hand Notizen nieder (5 Blatt, Vt 188), ließ sie von
einer Sekretärin in Maschinenschrift übertragen und ergänzte das
Getippte wiederum eigenhändig (5 Blatt, Vt 190). Das Typoskript
mit Adornos handschriftlichen Hinzufügungen fungierte als Vorlage
für das Extemporierte; es ist auf S. 571-576 wiedergegeben.
Druckvorlage für den Vortrag Improvisationen über Wedekind ist
eine in mancher Hinsicht unzulängliche und verderbte Transkription
(Vt 192). Sie enthält flagrante Fehler und Irrtümer wie »Titelchen«

692
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

anstatt Tüttelchen, »Kriegers Werle« anstatt Gregers Werle und wurde


an solchen Stellen vom Herausgeber stillschweigend korrigiert.

455. Der Dramaturg Hans-Joachim Weitz (1904-2001) wurde in der


Nazizeit mit Berufsverbot belegt. 1951-1953 war er am Stadttheater
Basel, 1953-1961 Chefdramaturg der Bühnen der Stadt Köln, 1961 bis
1965 künstlerischer Beirat am Landestheater Darmstadt, das er zu-
sammen mit Gerhard F. Hering und Hans Bauer wesentlich prägte.
Weitz trat auch als Goethe-Herausgeber hervor.

456. Gemeint sind die Stichworte, auf die Adorno sich improvisie-
rend stützte, und der zweite Band von Artur Kutscher, Frank Wede-
kind. Sein Leben und seine Werke, München 1927 (erster Band:
1922; dritter Band: 1931). Aus dem zweiten Band hat Adorno im
Vortrag zitiert (s. S. 341 f.).

457. Adorno bezieht sich offenbar auf Wedekinds Gedicht »Mor-


genstimmung«:
Leise schleich’ ich wie auf Eiern
Mich aus Liebchens Paradies,
Wo ich hinter dichten Schleiern
Meine besten Kräfte ließ.
Traurig spiegelt sich der bleiche
Mond in meinem alten Frack;
Ach die Wirkung bleibt die gleiche,
Wie das Kind auch heißen mag.
Wilhelmine, Karoline,
’s ist gesprungen wie gehupft,
Nur daß hier die Unschuldsmiene,
Dort dich die Routine rupft.
(Frank Wedekind, Werke. Kritische Studienausgabe in acht Bänden
mit drei Doppelbänden, hrsg. unter der Leitung von Elke Auster-
mühl, Rolf Kieser (†) und Hartmut Vinçon [Darmstadt 1994-2013],
Bd. 1/I, hrsg. von Elke Austermühl, Darmstadt 2007, S. 629)

458. Frank Wedekinds Tragödie »Lulu«, bestehend aus den beiden


Stücken »Erdgeist« (1895) und »Die Büchse der Pandora« (1903
[Buchausgabe]). Bei der Uraufführung des »Erdgeistes«, am 25. Fe-

693
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

bruar 1898 in Leipzig, hatte Wedekind selbst Dr. Schön, den wohlha-
benden dritten Ehemann von Lulu, gespielt. – Zu Alban Bergs Oper
»Lulu« s. Anm. 585.

459. Vgl. Heinrich Mann, Professor Unrat oder Das Ende eines Ty-
rannen, München 1905. – Die Geschichte des Gymnasialprofessors
Raat, der einer Sängerin und »Barfußtänzerin« verfällt, wurde beson-
ders auch durch die Verfilmung (»Der blaue Engel«, 1930) bekannt.

460. Vermutlich meint Adorno einen namentlich nicht gezeichne-


ten »Spiegel«-Artikel, der von einer laufenden Verfilmung des
»Lulu«-Stoffs unter dem Regisseur Rolf Thiele berichtete (vgl. Wi-
der die Damen, in: Der Spiegel, Jg. 16 (1962), Nr. 4, 24. Januar 1962,
S. 50-52). In dem Leserbrief von Tilly Wedekind, auf den Artikel rea-
gierend, heißt es: »Auch die Gretchen-Tragödie muß man aus ihrer
Zeit begreifen.« (Der Spiegel, Nr. 7 vom 14. Februar 1962, S. 9 f.)

461. S. Anm. 182.

462. Vgl. Erich Fromm, Zum Gefühl der Ohnmacht, in: Zeitschrift
für Sozialforschung, Jg. VI (1937), S. 95-118; vor allem S. 103: »Beim
Glauben an die Zeit [. . .] besteht die Erwartung, dass sich ›mit der
Zeit‹ schon alles machen werde. Von Konflikten, zu deren Lösung
man sich selbst ausserstande fühlt, wird erwartet, dass die Zeit sie
schon lösen werde, ohne dass man selbst das Risiko einer Entschei-
dung auf sich nehmen muss.«

463. Zum Begriff der Partialtriebe vgl. Sigmund Freud, Drei Ab-
handlungen zur Sexualtheorie, in: ders., Werke, a. a. O. [s. Anm. 14],
Bd. V: Werke aus den Jahren 1904-1905, S. 92-94; ders., Vorlesungen
zur Einführung in die Psychoanalyse [1916/17], ebd., Bd. XI, S. 327.

464. »Die tragische Hauptfigur dieses Stückes ist nicht Lulu, wie von
den Richtern irrtümlich angenommen wurde, sondern die Gräfin
Geschwitz. Lulu spielt, von einzelnen Intrigen abgesehen, in allen
drei Akten eine rein passive Rolle; die Gräfin Geschwitz dagegen
gibt im ersten Akt den Beweis einer, ich darf getrost sagen, über-
menschlichen Selbstaufopferung. Im zweiten Akt wird sie durch den
Gang der Handlung zu dem Versuch gezwungen, das auf ihr lastende
furchtbare Verhängnis der Unnatürlichkeit unter Aufbietung aller

694
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

seelischen Energie zu überwinden, worauf sie im dritten Akt, nach-


dem sie die entsetzlichsten Seelenqualen mit stoischer Fassung ertra-
gen, als Verteidigerin ihrer Freundin den Opfertod stirbt.« (Frank
Wedekind, Vorwort [zu: »Die Büchse der Pandora« (1913)], in: Kriti-
sche Studienausgabe, a. a. O. [s. Anm. 457], Bd. 3/I, hrsg. von Hart-
mut Vinçon, Darmstadt 1996, S. 544) Das Vorwort, in dem Wede-
kind auf drei Gerichtsurteile gegen »Die Büchse der Pandora« Bezug
nimmt – die Tragödie wurde in Berlin, München und Wien zur öf-
fentlichen Aufführung nicht zugelassen –, erschien zuerst in der Aus-
gabe von 1906. Wedekind kämpfte bis zu seinem Tod um eine Auf-
führung. Für die Ausgabe letzter Hand (1913) behielt er das Vorwort
bei. Nun führte Wedekind für seine Doppeltragödie den Titel »Lulu.
Tragödie in fünf Aufzügen« ein. – Vgl. zu dem Zusammenhang auch
Artur Kutscher (Wedekind, Erster Band, a. a. O. [s. Anm. 456], S. 375):
»Wedekind selber hat geäußert, [Vorwort zur 5. und 6. Auflage] die
Geschwitz sei die tragische Hauptperson der ›Büchse der Pandora‹.
Diese Behauptung ist eine Notlüge, die von den Tatsachen der
künstlerischen Gestaltung corrigiert wird. Lulu ist natürlich die tra-
gische Hauptperson. Wedekind hat mir gestanden, er habe das gesagt
in der Hoffnung, die juristisch zensorischen Beanstandungen des
Schlusses seiner Dichtung dadurch beheben zu können, daß er die
Aufmerksamkeit auf die Geschwitz lenke.«

465. Mit der unvollendeten zentralen Konzeption meint Adorno den


Werkkomplex, der bei dem berichtenden Biographen Kutscher unter
dem Titel »Die große Liebe« behandelt ist (vgl. Kutscher, Zweiter
Band, S. 121-182). Siehe dazu auch Adornos Bemerkungen unten,
S. 341 f., und Anm. 482. – Der ursprüngliche Arbeitstitel des von
Wedekind geplanten utopischen Romans war »Hidalla«. Das unvoll-
endete Romanmanuskript erhielt für den Druck (1901 und 1903)
den Titel »Mine-Haha«. Die Idee einer Fortsetzung bzw. eines Neu-
beginns des Projekts griff Wedekind ab 1906 unter dem Arbeitstitel
»Die große Liebe« wieder auf (vgl. Frank Wedekind, Studienausgabe,
Bd. 5/I, hrsg. von Hartmut Vinçon unter Mitarbeit von Friederike
Becker, Miroslav Brei und Martin Hahn, Darmstadt 2013, S. 1054 f.
und S. 1132 ff.).

466. Lulu sagt im Dritten Aufzug der »Büchse der Pandora«: »Gibt es
etwas Traurigeres auf dieser Welt als ein Freudenmädchen!« (Kriti-
sche Studienausgabe, Bd. 3/I [s. Anm. 464], S. 597)

695
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

467. Wedekind hatte das Stück zuerst am 4. Juli 1905 unter dem Ti-
tel »Totentanz. Drei Szenen« in der »Fackel« von Karl Kraus publi-
ziert. Noch im selben Jahr (doch mit der Angabe 1906 im Impres-
sum) erschien die erste Buchausgabe. Ab der dritten Auflage (1909)
wurde der Titel geändert in »Tod und Teufel (Totentanz)«. – Die Ur-
aufführung fand am 2. Mai 1906, einen Tag nach Wedekinds Heirat
mit Tilly Newes, im Nürnberger »Intimen Theater« statt. Wedekind
war dabei in der Rolle des Mädchenhändlers Casti Piani zu sehen,
seine Frau in der der Prostituierten Lisiska.

468. »Es gibt eben nur einen Weg in dieser Welt, um wirklich glück-
lich zu sein, das ist, daß man alles tut, was man kann, um Andere so
glücklich wie möglich zu machen.« Zitiert nach Kutscher, der »Das
Sonnenspektrum« auf S. 326-336 im ersten Band seiner Biographie
behandelt; das Zitat findet sich auf S. 334. – Das Drama »Das Sonnen-
spektrum« ist unabgeschlossen geblieben und wurde erst 1921 in dem
Band der »Dramen, Entwürfe, Aufsätze aus dem Nachlaß« Wede-
kinds publiziert (vgl. Gesammelte Werke, Neunter Band, Georg
Müller Verlag München, S. 133-178). Vgl. jetzt Kritische Studien-
ausgabe, Bd. 3/I [s. Anm. 464], S. 699: »Und merke dir, es giebt eben
nur einen Weg in dieser Welt um wirklich glücklich zu sein, das ist,
daß man alles thut, was man kann, um Andere so glücklich wie mög-
lich zu machen.«

469. Wedekinds Arbeit erschien zuerst unter dem Titel »Schriftstel-


ler Ibsen/(›Baumeister Solneß‹)« in der »Neuen Zürcher Zeitung«
Nr. 243 vom 2. September, Nr. 244 vom 3. September, Nr. 245 vom
4. September und Nr. 246 vom 5. September 1895; vgl. jetzt Kriti-
sche Studienausgabe, a. a. O. [s. Anm. 457], Bd. 5/II, S. 131-144.

470. Die entscheidenden Schriften Sigmund Freuds waren zu dieser


Zeit, um 1895 noch nicht erschienen.

471. Zur allegorischen Chiffrierung vgl. in Wedekinds Essay: »Mir war


Hilde Wangel vom ersten Moment an als eine oberflächlich individu-
ell maskierte Allegorie erschienen. Dieser Eindruck verstärkte sich
bei nochmaliger Lektüre des Stückes, und so kam ich denn dazu, ohne
meinem Empfinden den geringsten Zwang anzutun, das Personen-
verzeichnis des ›Baumeister Solneß‹ in folgender Weise zu interpretie-
ren: / Baumeister Holward Solneß – Schriftsteller Henrik Ibsen. /

696
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Frau Aline Solneß, seine Gattin – die alte dramatische Schule (Ibsen
als Theaterdichter in Christiania). / Dr. Herdal, Hausarzt – Ibsens
Objektivität. / Knut Brovik, ehemals Architekt, jetzt Assistent bei
Solneß – die alte Generation. / Ragnar Brovik, sein Sohn, Zeichner –
die junge Generation. / Kaja Fosli, seine Nichte, Buchhalterin –
Ibsens Familiendrama. / Fräulein Hilde Wangel – Ibsens Jugendidea-
lismus.« (Wedekind, Schriftsteller Ibsen, a. a. O. [s. Anm. 469], S. 133)

472. Vgl. Georg Groddeck, Der Mensch als Symbol. Unmaßgeb-


liche Meinungen über Kunst und Sprache. Mit 14 Bildtafeln im An-
hang, Wien 1933.

473. Vgl. »Erdgeist«, Vierter Aufzug, Achter Auftritt.

474. Max Ernst publizierte 1929 in Paris seinen ersten Collageroman


»La femme 100 têtes«, mit einem »Avis au lecteur par André Breton«.
Das Exemplar 743 dieser auf 1003 Stück limitierten Ausgabe hat sich
in der Nachlaßbibliothek von Adorno erhalten. – »Le Lion de Bel-
fort« ist eins der fünf Hefte betitelt, aus denen der dritte Collage-
roman von Max Ernst besteht. Er erschien unter dem Titel »Une se-
maine de bonté« 1934 in Paris (eine spätere Ausgabe, Berlin 1963, ist
im Nachlaß Adornos vorhanden).

475. Wedekind studierte die utopistische Literatur vor allem im Zu-


sammenhang mit seinem Projekt »Die große Liebe«. Er las u. a. Pla-
tons »Staat«, Thomas Morus’ »Utopia« und Campanellas »Sonnen-
staat«.

476. Der utopistische Sozialtheoretiker Henri de Saint-Simon


(1760-1825) – eigentlich: Claude-Henri de Rouvroy, Comte de
Saint-Simon – kann dem französischen Frühsozialismus zugerechnet
werden. Er verfolgte sozialreformerische Ideen und propagierte die
wissenschaftliche Reorganisation der Gesellschaft im Zeichen der
Industrie. Zu seinen Schriften gehören »Du système industriel«
(1821, deutsch: Vom industriellen System), »Catéchisme des indu-
striels« (1823/24, deutsch: Katechismus der Industriellen) und »De
l’organisation sociale« (1824, deutsch: Von der Gesellschaftsorgani-
sation). – Zur Saint-Simon-Lektüre bei Wedekind vgl. Kutscher,
a. a. O. [s. Anm. 456], Zweiter Band, S. 144 f., 149, 156. Kutscher er-
wähnt namentlich »Le nouveau Christianisme« (1825, deutsch: Das

697
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

neue Christentum, 1911), Saint-Simons bekanntestes Werk, das auf


die Verbesserung der Lebensbedingungen der ärmsten gesellschaftli-
chen Klasse zielt.

477. »Hidalla oder Sein und Haben«, ein Schauspiel in fünf Akten,
erschienen 1904. Die fünfte und sechste Auflage trägt den Titel »Karl
Hetmann, der Zwergriese (Hidalla)«. – »Hidalla« war mit Erfolg am
18. Februar 1905 am Münchner Schauspielhaus uraufgeführt wor-
den. Berühmt war das Drama seinerzeit auch durch Auftritte Wede-
kinds, der den Lebensreformator Karl Hetmann spielte. – Das Schau-
spiel »Hidalla« steht jetzt in der Kritischen Studienausgabe, Bd. 6,
Darmstadt 2007, S. 39-98.

478. V. Akt, vgl. ebd., S. 96-98.

479. Claire Bazard (1794-1883), geb. Joubert, heiratete mit 17 Jahren


Saint-Amand Bazard (1791-1832); die beiden hatten vier Kinder. Sie
gehörten zur Gruppe der Saint-Simonisten um Barthélemy Prosper
Enfantin (1796-1864), die sie im November 1831 verließen. Gründe
des Ausscheidens waren – nach Gottfried Salomon-Delatour, dessen
Publikation zum Saint-Simonismus Adorno zumindest aus der Pro-
jektphase kannte – Differenzen über »die Emanzipation des Fleisches
und die Rolle der Frau. Die Kritik des Eigentums und vor allem des
Erbrechts, mußte zur Kritik der bürgerlichen Familie führen; und es
mußte die Frauenfrage neben die soziale Frage treten. Wenn Enfan-
tin die Liebe gegen die Ehe ausspielte, so trat er offen auf gegen die
Heuchelei der unauflöslichen Verbindung und rechtlichen Unter-
ordnung der Frau in der bürgerlichen Ehe. [. . .] Wenn Enfantin das
katholische Christentum mit seiner unlösbaren Ehe angreift und die
Disziplin der Keuschheit und Schamhaftigkeit aus der Verachtung
des Fleiches erklärt, so tritt dagegen Bazard für die christliche Ehe
ein, die die Sklaverei in Form der Polygamie beseitigt und die Stel-
lung der Frau in der feudal-kriegerischen Zeit allein zu heben ver-
mocht habe. Während Enfantins Anspruch der Ausbeutung der Frau
Vorschub leiste und das Privileg des Mannes wiederherstelle, habe
die wahre Assoziation ihre Grenze an der intimen Sphäre.« (Die Leh-
re Saint-Simons. Eingeleitet und hrsg. von Gottfried Salomon-Dela-
tour, Neuwied 1962, S. 21)

698
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

480. In der psychoanalytischen Theorie Sigmund Freuds wird das


»Realitätsprinzip« – Anpassung an Realitätsforderungen – dem
»Lustprinzip« entgegengesetzt. Freud hat den Begriff des »Realitäts-
prinzips« 1911 in den »Formulierungen über die zwei Prinzipien des
psychischen Geschehens« eingeführt (vgl. Freud, Gesammelte Wer-
ke, a. a. O. [s. Anm. 14], Bd. VIII: Werke aus den Jahren 1909-1913,
Frankfurt a. M. 1964, S. 231 f.).

481. Hier irrt Adorno; der dritte Band der Wedekind-Biographie


war 1931 in München erschienen (s. Anm. 456).

482. Vgl. dazu Kutscher, Zweiter Band, S. 121-151. Wedekind hat


für »Die große Liebe« umfangreiche Literaturstudien betrieben. Sei-
ne Aufzeichnungen zu dem Projekt sind jetzt abgedruckt in der Kri-
tischen Studienausgabe, Bd. 5/I, a. a. O. [s. Anm. 465], S. 917-1012.
»Die große Liebe« war von Wedekind ursprünglich als großes Prosa-
werk gedacht, ab 1907 aber entwickelte die Konzeption sich in Rich-
tung dramatischer Ideen.

483. Mine-Haha oder über die körperliche Erziehung der jungen


Mädchen. Aus Helene Engels schriftlichem Nachlaß hrsg. von Frank
Wedekind, München 1903. Das Prosawerk wurde zuerst 1901 in der
Zeitschrift »Die Insel« publiziert. Vgl. jetzt: Studienausgabe, Bd. 5/I
[s. Anm. 465], S. 839-883.

484. Vgl. Kutscher, Zweiter Band, a. a. O. [s. Anm. 456], S. 152.

485. Ebd, S. 150. Auch die folgenden Zitate finden sich ebd.

486. Ebd.

487. Vgl. Franz Kafka, Amerika, hrsg. von Max Brod, München
1927; in der »Kritischen Ausgabe« Kafkas jetzt unter dem Titel: Der
Verschollene (hrsg. von Jost Schillemeit, Frankfurt a. M. 1983).

488. Adorno bezieht sich auf ein Gedicht aus »Das Jahr der Seele«
(»Überschriften und Widmungen«, »Zu meinen träumen floh ich
vor dem volke . . .«): »Und führer sind in meinen finsternissen / Die
lichter die aus deinen wunden strahlen.« (Stefan George, Werke,
Ausgabe in zwei Bänden, Bd. 1, München, Düsseldorf 1958, S. 137)

699
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

489. Über den Marquis de Sade (1740-1814) vgl. Juliette oder Aufklä-
rung und Moral, den 2. Exkurs in der Dialektik der Aufklärung (GS 3,
S. 100-140; hier v. a. S. 107 f. und 114).

490. Die »Kindertragödie« »Frühlings Erwachen« erschien zuerst


1891 in Zürich. Die Uraufführung fand erst am 20. November 1906
an den Berliner Kammerspielen statt (Regie: Max Reinhardt).

491. Vgl. »Frühlings Erwachen«, Zweiter Akt, Erste Szene.

492. Vgl. »Frühlings Erwachen«, Zweiter Akt, Siebente Szene.

493. Über die Dichtung »Die große Liebe« schreibt Kutscher: »Rund
24 Jahre – allerdings mit längeren Unterbrechungen – beschäftigte
sich Wedekind mit seinem Gegenstande. Er begann mit dem Idyll und
wußte sich schließlich nicht zwischen Roman und Drama zu ent-
scheiden. Ausgehend von den Utopisten und von Rousseau trieb er
literarische Studien, von deren Ernst und Umfang seine Privatbiblio-
thek, seine mit zahllosen Strichen und Bemerkungen versehenen
Quellenwerke und die vielen Auszüge seiner Notizbücher künden.
Mit der ihm eigenen Neigung zu Systematik strebte er nach einer Art
von Mythologie nicht nur, weil erst diese ihm Beruhigung versprach,
sondern weil er, und nur er unter den Dichtern seiner Zeit, wußte
oder doch ahnte, wie sehr eine große Kunst ihrer bedürfe. Daß er dies
Gebäude nicht zustande brachte, lag nur zum Teil an seiner geringen,
in der Ungleichheit seiner Elemente beruhenden mythenbildenden
Kraft, das war auch in der Zeit und ihren Zuständen begründet.«
(Kutscher, Wedekind, a. a. O. [s. Anm. 456], Zweiter Band, S. 121 f.)

494. Vgl. de Sade, La philosophie dans le boudoir (1795); darin vor


allem der Exkurs »Français, encore un effort si vous voulez être répu-
blicains«.

495. »Entschiedene Abkehr vom Begriffe der ›zeitlosen Wahrheit‹ ist


am Platz. Doch Wahrheit ist nicht – wie der Marxismus es behaup-
tet – nur eine zeitliche Funktion des Erkennens sondern an einen
Zeitkern, welcher im Erkannten und Erkennenden zugleich steckt,
gebunden. Das ist so wahr, daß das Ewige jedenfalls eher eine Rüsche
am Kleid ist als eine Idee.« (Benjamin, Gesammelte Schriften, a. a. O.
[s. Anm. 70], Bd. V·1: Das Passagen-Werk, hrsg. von Rolf Tiede-

700
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

mann, S. 578 [N 3, 2]) Vgl. auch: »Ich formulierte, ›daß das Ewige je-
denfalls eher eine Rüsche am Kleid ist als eine Idee‹. Dialektisches
Bild« (ebd., S. 118 [B 3, 7]). – In Walter Benjamins Barockbuch, dem
»Ursprung des deutschen Trauerspiels« (Berlin 1928), kommt der
Ausdruck ›dialektisches Bild‹ wörtlich nicht vor. Möglicherweise hat
Adorno, das »Passagen-Werk« meinend, sich versprochen.

496. Adorno bezieht sich auf Wedekinds Kommentar zu seinem


Stück »Fritz Schwigerling oder Der Liebestrank« (entstanden 1892,
gedruckt 1899, uraufgeführt 1900); dort heißt es: »Meine Begeiste-
rung für den Zirkus, die mich Jahre hindurch beseelte, sollte in dem
Stück zum Ausdruck gelangen. Eine Verteidigung und Rechtferti-
gung körperlicher Kunst gegenüber geistiger Kunst. Verteidigung
des Persönlichen in der Kunst gegenüber Engherzigkeit, Schulmei-
sterei und Unnatur.« (Frank Wedekind, Kritische Studienausgabe,
a. a. O. [s. Anm. 457], Bd. 5/II, S. 431)

497. Den Ausdruck ›Kunstkünstler‹ führt Adorno auch an anderer


Stelle an (Wedekind hat das gegen Maeterlinck notiert und über die
Kunst-Künstler gespottet, GS 7, S. 459), er konnte jedoch bei Wede-
kind nicht nachgewiesen werden. – Vgl. auch »Ein Artifex« von
Dehmel (aus dem Dritten Abschnitt des Bandes »Erlösungen. Ge-
dichte und Sprüche«): »Kunstkünstler – Meister in Kostümchen /
für menschenleere Heiligtümchen – / da prunkt sein Lebenswerk:
ein Rühmchen.« (Richard Dehmel, Gesammelte Werke, Erster
Band, Berlin 1906, S. 137) Nicht auszuschließen, daß ein Irrtum
Adornos vorliegt.

498. Adorno hatte Elisabeth Gundolf (1893-1958) – die Ehefrau von


Friedrich Gundolf, der dem George-Kreis angehörte – in der engli-
schen Emigration kennengelernt. Vermutlich bezieht Adorno sich
auf eine mündliche Mitteilung.

499. Vgl. dazu den im Jahr zuvor – 1961 – erschienenen Versuch, das
Endspiel zu verstehen (jetzt in: GS 11, S. 281-321).

500. Eine Woche nach Adornos Vortrag, am 5. Mai 1962, fand im


Landestheater Darmstadt die Premiere einer Neuinszenierung von
»Der Liebestrank (Fritz Schwigerling)« statt. Die Regie führte Hans
Bauer. Weitere Aufführungen waren am 6. und am 15. Mai 1962.

701
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

501. Von der Begeisterung für Varieté und Zirkus zeugt das Ballett
»Parade« (1917), für das Pablo Picasso Vorhang, Bühnenbild und Ko-
stüme entwarf (Konzept: Jean Cocteau; Musik: Erik Satie; Choreo-
graphie: Léonide Massine).

502. Vgl. Guillaume Apollinaire, Le Poète assassiné, Paris 1916; Der


gemordete Dichter, Deutsch von Walter Widmer und Paul Noack,
Wiesbaden 1967.

503. Begriffe wie ›Anti-Held‹ und ›Anti-Theater‹ kamen in den


1950er Jahren auf. Sie wurden vor allem auf das Absurde Theater be-
zogen. Eugène Ionescos »Kahle Sängerin« (»La Cantatrice chauve«,
1950) trägt den Untertitel »Anti-Stück« (»Anti-pièce«).

504. In »Das Gespräch über Gedichte« (1903) von Hugo von Hof-
mannsthal (1874-1929) sagt »Gabriel«: »Wollen wir uns finden, so
dürfen wir nicht in unser Inneres hinabsteigen : draußen sind wir zu
finden, draußen. Wie der wesenlose Regenbogen spannt sich unsere
Seele über den unaufhaltsamen Sturz des Daseins. Wir besitzen unser
Selbst nicht : von außen weht es uns an, es flieht uns für lange und
kehrt uns in einem Hauch zurück.« (Hugo von Hofmannsthal, Pro-
sa II, hrsg. von Herbert Steiner, Gesammelte Werke in Einzelausga-
ben, Frankfurt a. M. 1959, S. 82 f.) Adorno zitiert diese Passage in sei-
nem Aufsatz über George und Hofmannsthal (vgl. jetzt GS 10·1, S. 228).

505. Vergleiche Wedekinds mit Carl Sternheim und Georg Kaiser


wurden schon früh gezogen. Vgl. etwa Franz Blei, Über Wedekind,
Sternheim und das Theater. Fünfzehn Kapitel, Leipzig 1915; Rudolf
Kayser, Die Nachfolger Wedekinds: Kaiser und Sternheim, in: ders.,
Das junge deutsche Drama, Berlin o. J. [1924], S. 27-32 (Volk und
Kunst, Heft 2). Späterhin: Paul Lüth, Frank Wedekind und Carl
Sternheim, in: ders.: Literatur als Geschichte, Deutsche Dichtung
von 1885 bis 1947, Erster Band, Wiesbaden 1947, S. 175-188; Mar-
syas [i. e. Martin Berath], Wedekind, Sternheim und die Unken, in:
Aufbau 3 (1947), Bd. 2, S. 66-68.

506. »Der Einsame. Ein Menschenuntergang« (1917), ein Stück von


Hanns Johst über Christian Dietrich Grabbe. – Bertolt Brecht soll,
nach einem anonymen Bericht aus Artur Kutschers theaterwissen-
schaftlichem Seminar, die Absicht geäußert haben, mit dem »Baal«

702
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

eine Antithese zu Johsts Grabbe-Drama zu schreiben. »Der Einsame«


sollte durch »Baal eine dramatische Biographie« übertrumpft werden
(vgl. Bertolt Brecht, Notizbücher, Bd. 1: 1918-1920, hrsg. von Mar-
tin Kölbel und Peter Villwock, Berlin 2012, S. 382). Brecht, der den
»Einsamen« 1918 in den Münchener Kammerspielen gesehen hatte,
schickte Johst ein Typoskript des »Baal« und schrieb ihm im Januar
1920: »vielleicht hat es Sie nachträglich doch verstimmt, daß ich stel-
lenweise den gleichen Vorwurf benutzt habe wie Sie im ›Einsamen‹,
wiewohl darauf bei mir kein Nachdruck liegt und ich die Nabel-
schnur noch vollends abbeißen kann, indem ich die Szenen heraus-
werfe, wenn Sie es wünschen [. . .]« (Bertolt Brecht, Briefe 1913-
1956, Bd. 1: Texte, Berlin, Weimar 1983, S. 55).

507. Wedekind publizierte 1901 in München »Marquis von Keith.


(Münchener Scenen). Schauspiel in fünf Aufzügen«. In der zweiten
Auflage von 1907 – die letzte von Wedekind bearbeitete Fassung –
trägt das Schauspiel den Titel »Der Marquis von Keith«. – Auf der
Bühne war das Stück zunächst erfolglos geblieben, was Wedekind,
der seit 1900 Schauspielunterricht genommen hatte, dazu bewog,
selbst die Rolle des Marquis zu übernehmen.

508. Vgl. dazu Brechts Nachruf auf Wedekind, am 12. März 1918 in
»Augsburger Neueste Nachrichten« erschienen: »Seine Vitalität war
das Schönste an ihm. Ob er einen Saal, in dem Hunderte von Studen-
ten lärmten, ob er ein Zimmer, eine Bühne betrat, in seiner eigen-
tümlichen Haltung, den scharfgeschnittenen, ehernen Schädel etwas
geduckt vorstreckend, ein wenig schwerfällig und beklemmend: es
wurde still. Obwohl er nicht sonderlich gut spielte – er vergaß sogar
das von ihm selbst vorgeschriebene Hinken immer wieder und hatte
den Text nicht im Kopf –, stellte er als Marquis von Keith manche Be-
rufsschauspieler in den Schatten. Er füllte alle Winkel mit sich aus. Er
stand da, häßlich, brutal, gefährlich, mit kurzgeschorenen roten Haa-
ren, die Hände in den Hosentaschen, und man fühlte: den bringt kein
Teufel weg. Er trat im roten Frack als Zirkusdirektor vor den Vor-
hang, Hetzpeitsche und Revolver in den Fäusten, und niemand ver-
gaß je wieder diese metallene, harte, trockene Stimme, dieses eherne
Faunsgesicht mit den ›schwermütigen Eulenaugen‹ in den starren
Zügen. Er sang vor einigen Wochen in der Bonbonniere zur Gitarre
seine Lieder mit spröder Stimme, etwas monoton und sehr unge-
schult: Nie hat mich ein Sänger so begeistert und erschüttert.« (Ber-

703
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

tolt Brecht, Frank Wedekind, in: ders., Werke, a. a. O. [s. Anm. 208],
Bd. 21: Schriften I, Berlin/Weimar, Frankfurt a. M. 1992, S. 35)

509. Anspielung auf Bertolt Brechts Stück »Mann ist Mann« (Urauf-
führung 1926, Erstdruck 1927).

510. Mit Bezug auf eine Lesung von Wedekinds »Sonnenspektrum«


schreibt Max Halbe: »Die Eigentümlichkeit des Wedekindschen
Dialogs – eine sehr bewußte und berechnete Eigentümlichkeit – be-
steht darin, daß die Personen in einer geradezu aufreizenden Weise
aneinander vorbeireden, keiner auf den Gedanken des andern rea-
giert, als sprächen sie nicht dieselbe Sprache, wären vielmehr von den
verschiedensten Weltkörpern auf diesen kleinen, windigen Planeten
heruntergeschneit und keiner wüßte vom andern, warum und
wozu.« (Max Halbe, Jahrhundertwende. Geschichte meines Leben
1893-1914, Danzig 1935, S. 159 f.)

511. Am Ende von Becketts »L’Innommable« steht: » [. . .] man muß


weitermachen, ich kann nicht weitermachen, man muß weiterma-
chen, ich werde also weitermachen, man muß Worte sagen, solange es
welche gibt, man muß sie sagen, bis sie mich finden, bis sie mir sagen,
seltsame Mühe, seltsame Sünde, man muß weitermachen, es ist viel-
leicht schon geschehen, sie haben es mir vielleicht schon gesagt, sie
haben mich vielleicht bis an die Schwelle meiner Geschichte getra-
gen, vor die Tür, die sich zu meiner Geschichte öffnet, es würde mich
wundern, wenn sie sich öffnete, es wird ich sein, es wird das Schwei-
gen sein, da wo ich bin, ich weiß nicht, ich werde es nie wissen, im
Schweigen weiß man nicht, man muß weitermachen, ich kann nicht
weitermachen, ich werde weitermachen.« (Samuel Beckett, Molloy.
Malone stirbt. Der Namenlose. Drei Romane, 3. Aufl., Berlin 2014,
S. 566) Die deutsche Übersetzung ist von Elmar Tophoven.

Ist Aberglaube harmlos ?

Aberglaube ist nicht nur ein Thema von Adornos Schriften, sondern
kehrt vor allem in den Jahren zwischen 1958 und 1962 auch als sol-
ches von Vorträgen wieder. Hatte Adorno bereits in den Minima
Moralia, 1944-1947 niedergeschrieben, Thesen gegen den Okkultismus
formuliert (vgl. GS 4, S. 273-280) und 1952-1953 die Astrologie-

704
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

kolumne der »Los Angeles Times« sozialpsychologisch untersucht


(vgl. GS 9·2, S. 7-120), so ist er auch mit mündlichen Beiträgen zu
diesen Gegenständen aufgetreten. Am 19. April 1958 hielt er auf dem
Wiesbadener Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Psychothera-
pie und Tiefenpsychologie den Vortrag Aberglaube aus zweiter Hand
(eine spätere Fassung steht in GS 8, S. 147-176) und nahm an einem
Rundgespräch »Sicherung und Magie« teil. Modifiziert wiederholte
Adorno den Wiesbadener Vortrag, als er auf Einladung der Mann-
heimer Abendakademie und Volkshochschule am 30. Januar 1959 in
der Mannheimer Kunsthalle sprach; der Titel lautete: Aberglaube aus
zweiter Hand. Zur Sozialpsychologie der astrologischen Mode. Am
25. April 1959 trat Adorno im Rahmen der Hessischen Hochschul-
wochen für staatswissenschaftliche Fortbildung in Bad Wildungen
auf und sprach über Soziologie des Aberglaubens. Dieser Vortrag wurde
1960 in Band 27 der von den Hochschulwochen veranstalteten Pu-
blikationsreihe gedruckt (und fünf Jahre später von Adorno für den
Sender Freies Berlin noch einmal eingesprochen). Am 23. Mai 1962
hielt Adorno in der Berliner Urania den Vortrag Zur Soziologie des
Aberglaubens.
Die Frage Ist Aberglaube harmlos? behandelte Adorno am 30. No-
vember 1962 bei den Hessischen Hochschulwochen in Bad Nau-
heim. Der Vortrag blieb ungedruckt; er ist, anders als üblich, in der
Reihe der Hochschulwochen nicht erschienen. Statt dessen wurde,
auf Adornos Veranlassung, in Band 41 (1964) noch einmal Soziologie
des Aberglaubens aus Band 27 abgedruckt.
Als Druckvorlage dient das Typoskript Vt 199, überschrieben mit
(Zur Problematik der öffentlichen Meinung) / Ist Aberglaube harmlos? Der
Text dieser Transkription ist mangelhaft – über einen Astrologen
heißt es, er arbeite mit »sechs Tanten« (statt Sextanten) – und war an
dergleichen Stellen zu emendieren. Das Typoskript weist mehrere
Korrekturschichten auf, auch Bearbeitungsspuren (Bleistift) von
Gretel Adorno, die den Charakter einer Textredaktion haben. Unse-
re Textherstellung hält sich an das Getippte – läßt die Nachbearbei-
tung außer acht –, um möglichst das zu geben, was Adorno in Bad
Nauheim gesagt hat.

512. In einem Brief an Louis Bourguet vom 3. Januar 1714 schrieb


Leibniz: »Je ne meprise presque rien (excepté l’Astrologie judicaire et
tromperies semblables), pas même les Mystiques« (Die philosophi-
schen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, hrsg. von C[arl].

705
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

I[mmanuel]. Gerhardt, Dritter Band, Hildesheim 1960 [Unveränder-


ter Nachdruck der Ausgabe Berlin 1887], S. 562). – Adornos Quelle
war vermutlich Friedrich Ueberweg: »Leibniz war eine durchaus
versöhnende Natur, sein Ziel war die Vereinigung des Verschieden-
sten, die Aussöhnung des sich scheinbar Entgegengesetzten, wie er
sich auch in Schriften unter dem Namen Pacidius einführt. Er sagt,
er verachte völlig nur solches, was auf bloße Täuschung hinauslaufe,
wie die astrologische Wahrsagekunst; er billige beinahe alles, was er
lese, und finde selbst an der lullischen Kunst noch etwas Achtungs-
wertes und Brauchbares. Er hält dafür, die Wahrheit sei verbreiteter,
als man anzunehmen pflege, und spricht von einer perennis philoso-
phia; die Mehrheit der Sekten habe recht in einem großen Teile ihrer
affirmativen, aber nicht in ihren meisten negativen Sätzen.« (Fried-
rich Ueberwegs Grundriss der Geschichte der Philosophie, Dritter
Teil: Die Philosophie der Neuzeit bis zum Ende des achtzehnten
Jahrhunderts, Berlin 1924, S. 315)

513. Vgl. dazu eine Allensbacher Untersuchung über die Einstel-


lung zur Astrologie: Auf die Frage »Glauben Sie an einen Zusam-
menhang zwischen dem menschlichen Schicksal und den Sternen«
antworteten im März 1950 30 % mit ›Ja‹, 20 % mit ›Unentschieden‹
und 50 % mit ›Nein‹. Die entsprechenden Umfragewerte waren im
Dezember 1951: 31 % ›Ja‹, 17 % ›Unentschieden‹, 52 % ›Nein‹; im
November 1952: 27 % ›Ja‹, 21 % ›Unentschieden‹ und 52 % ›Nein‹.
Vgl. Institut für Demoskopie, Gesellschaft zum Studium der öffent-
lichen Meinung m. b. H., Astrologie. Ein Bericht über die Einstel-
lung der Bevölkerung, o. O. u. o. J. [Allensbach 1953], S. 8.

514. »Ich glaube, es gibt drei oberste Werdensziele, denen Wissen die-
nen kann und dienen soll: Erstens dem Werden und der Entfaltung
der Person, die weiß – das ist ›Bildungswissen‹. Zweitens dem Wer-
den der Welt und (vielleicht) dem zeitfreien Werden ihres obersten
Soseins und Daseinsgrundes selbst, die in unserem menschlichen
Wissen und jedem möglichen Wissen um Welt und Weltgrund zu
ihrer eigenen Werdens›bestimmung‹ kommen, oder doch zu etwas,
ohne das sie ihre Werdensbestimmung nicht erreichen können.
Dieses Wissen um der Gottheit willen heiße ›Erlösungswissen‹. Und
es gibt drittens das Werdensziel der praktischen Beherrschung und
Umbildung der Welt für unsere Ziele und Zwecke – jenes Wissen,
das der Pragmatismus sehr einseitig, ja ausschließlich im Auge hat.

706
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Das ist das Wissen der positiven ›Wissenschaft‹, das ›Herrschafts-‹ oder
›Leistungswissen‹.« (Max Scheler, Die Wissensformen und die Ge-
sellschaft, Leipzig 1926, S. 250) Scheler – s. auch Anm. 200 – gehört
mit der angegebenen Schrift zu den Begründern der Wissenssozio-
logie.

515. Vgl. dazu T. W. A., Aberglaube aus zweiter Hand, in: Max Hork-
heimer/Theodor W. Adorno, Sociologica II. Reden und Vorträge,
Frankfurt a. M. 1962, S. 142-167. In den »Drucknachweisen« zu die-
sem Abdruck heißt es: Eine vorläufige, sehr abweichende Fassung in:
Psyche, Jahrgang 12, Heft 1, 1959, S. 561 ff. Der volle amerikanische Origi-
naltext erschien im Jahrbuch für Amerikastudien, Band 2, 1957. – Die
Untersuchung wurde in Amerika und an amerikanischem Material durch-
geführt, als der Autor, 1952-53, die Hacker-Foundation in Beverly-Hills,
Cal., wissenschaftlich leitete. Dieser und Dr. Frederick Hacker, der die
Durchführung der Studie ermöglichte und vielfache Anregungen beitrug,
gebührt der Dank des Autors.

516. Das lateinische Sprichwort: ›Mundus vult decipi‹.

517. ›Diamat‹ war als Kürzel für ›dialektischer Materialismus‹ geläu-


fig. Er bildete zusammen mit ›Histomat‹, dem ›historischen Materia-
lismus‹, Zentralbegriffe der marxistisch-leninistischen Lehre in den
Ostblockstaaten.

518. S. Anm. 217.

519. Einem Astrologen, der zugleich auch ein Eheanbahnungsinsti-


tut, Graphologie, Hand- und Augendiagnose sowie die Aufstellung
von »Biorhythmen« und »Tattwa-Berechnungen« betrieb, wurde das
entgeltliche Wahrsagen verboten. Er sei unzuverlässig, weil ihm die
erforderlichen fachlichen Fähigkeiten fehlten. Ein gewerbsmäßiger
Astrologe müsse über eine gewisse Sachkunde verfügen. Seine Kun-
den hätten Anspruch auf eine fachgerechte Leistung. Diese bestehe
darin, daß das Horoskop »nach den Regeln der Kunst« erstellt werde.
(Oberverwaltungsgericht Bremen, 16. Oktober 1962). – Drei Jahre
später wurde das Bremer Urteil vom Bundesverwaltungsgericht revi-
diert.

707
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

520. Eine Parallelstelle aus dem Vortrag Aberglaube aus zweiter Hand
(Sender Freies Berlin, 5. Oktober 1965) erhellt den Zusammenhang:
Was die sogenannte statistische Überprüfung der astrologischen Behauptun-
gen anlangt, so möchte ich mich hier auf Mitteilungen meines Kollegen
Gunzert, des Direktors des Frankfurter Statistischen Amts beziehen, der
mir schön und einleuchtend auseinandergesetzt hat, daß im Augenblick,
wo man versucht, überhaupt irgendwelche Korrelationen zwischen den von
den Sternen stammenden Daten und dem Schicksal einzelner Menschen
herzustellen, diese Korrelationen so ungeheuer verzweigt und vielfach wer-
den, daß irgendwelche vernünftigen Aussagen nicht mehr möglich sind.
(TA 203). Rudolf Gunzert (1906-1981) leitete seit 1950 das Statisti-
sche Amt. Er war von 1956 bis 1977 Honorarprofessor für Statistische
Methoden der empirischen Sozialforschung an der Frankfurter Uni-
versität und gehörte von 1957 bis 1981 dem Direktorium des Instituts
für Sozialforschung an.

521. Heinz Huber (Süddeutscher Rundfunk) hatte im November


1958 im Institut für Sozialforschung mit Adorno ein Interview ge-
führt. Ausschnitte daraus wurden Teil einer Fernsehsendung, die am
12. Dezember 1958 unter dem Titel »Astrologie. Tatsachen und Mei-
nungen« lief. Weitere Beiträger der Sendung waren Hans Bender,
Fritz Riemann, Thomas Ring und Joachim Nordmeyer. – Über sein
Ungenügen an der Fernsehsendung schrieb Adorno: Die Diskussion,
die dort, gewissermaßen als Ergebnis, ein non liquet stehen ließ, wo ich
glaubte, daß es sich um den klotzigen Unterschied von Wahrheit und Un-
wahrheit handelt, ermutigt mich jedenfalls nicht dazu, mich weiterhin an
Schaustellungen zu beteiligen, bei denen ich zwar, wie man das so nennt,
»eingesetzt« werde, bei denen mir aber die Möglichkeit fehlt, auf die Gestal-
tung, und damit auf die Wirkung des Ganzen, wirklich entscheidenden
Einfluß zu nehmen. (Brief vom 16. Dezember 1958 an Dr. med.
Scholar, Br 1353/2)

522. Gemeint ist der Astrologe, Schriftsteller, Maler und Psychologe


Thomas Ring (1892-1983). Zu seinen Publikationen gehören: Das
Lebewesen im Rhythmus des Weltraumes, Stuttgart 1939; Der
Mensch im Schicksalsfeld, Stuttgart 1941; Astrologische Menschen-
kunde, Zürich 1956 (Bd. 1: Kräfte und Kräftebeziehungen) und 1959
(Bd. 2: Ausdruck und Richtung der Kräfte).

523. Der Sozialpsychologe Peter R. Hofstätter (1913-1994).

708
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

524. Soraya Esfandiary Bakhtiary (1932-2001), die deutsche Vorfah-


ren hatte, wurde 1951 Ehefrau des Schahs von Persien, Mohammad
Reza Pahlavi. Die Ehe wurde 1958 gelöst. Soraya stand in den fünf-
ziger Jahren im Fokus der deutschen Boulevardpresse.

525. Princess Margaret (1930-2002) war die jüngere Schwester der


britischen Königin Elisabeth II. Über ihr privates und gesellschaft-
liches Leben wurde in Boulevardmedien viel berichtet.

526. Die »Los Angeles Times«.

527. Das Schlagwort rugged individualism (deutsch etwa: robuster,


rauer oder krasser Individualismus) wurde 1928 von Herbert Hoover,
1929 bis 1933 Präsident der USA, geprägt.

528. Adorno bezieht sich auf David Riesmans Buch »The Lonely
Crowd«; darin heißt es: »The type of character I shall describe as
other-directed seems to be emerging in very recent years in the upper
middle class of our larger cities [. . .]. What is common to all the
other-directed people is that their contemporaries are the source of
direction for the individual – either those known to him or those
with whom he is indirectly acquainted, through friends and through
the mass media. This source is of course ›internalized‹ in the sense
that dependence on it for guidance in life is implanted early. The
goals toward which the other-directed person strives shift with that
guidance: it is only the process of striving itself and the process of pay-
ing close attention to the signals from others that remain unaltered
throughout life. This mode of keeping in touch with others permits
a close behavioral conformity, not through drill in behavior itself, as
in the tradition-directed character, but rather through an exceptional
sensitivity to the actions and wishes of others.« (The Lonely Crowd.
A Study of the Changing American Character by David Riesman
with Nathan Glazer and Reuel Denney, Abridged by the Authors,
New York 1953, p. 34 und 37 f.) Riesman stellt dem ›other-directed
character‹ nicht nur den traditionsgeleiteten (›tradition-directed‹),
sondern auch den innengeleiteten (›inner-directed‹) Charakter ent-
gegen.

529. Konjiziert für Irrationalität.

709
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

530. »Aber dieses ganze Mahagonny / Ist nur, weil alles so schlecht
ist / Weil keine Ruhe herrscht / Und keine Eintracht / Und weil es
nichts gibt / Woran man sich halten kann.« (Bertolt Brecht, Aufstieg
und Fall der Stadt Mahagonny, a. a. O. [s. Anm. 208], S. 337)

Der Begriff der politischen Bildung

Von Ulla Illig im Auftrag der Walter-Kolb-Stiftung als Gastreferent


eingeladen, sprach Adorno am 1. Februar 1963 im Frankfurter Haus
Dornbusch vor Stipendiaten des Hessenkollegs über den Begriff der
politischen Bildung. Die von der Stiftung geförderten Stipendiaten wa-
ren Berufsschüler, denen auf dem zweiten Bildungsweg der Zugang
zum Abitur ermöglicht werden sollte. Nach dem Vortrag fand eine –
so Adorno – intensive Diskussion über das Ausgeführte statt.
Adornos Ausführungen wurden vom Hessischen Rundfunk auf-
gezeichnet, aber nur in Teilen am 27. Juni 1963 gesendet: Unter dem
Titel »Politische Bildung als Verständnis der Gesellschaft«, in der Sen-
dereihe »Bildungsfragen der Gegenwart«, waren vier Ausschnitte aus
dem Vorgetragenen zu hören; mit einer redaktionellen Einleitung
und Kommentaren von Elmar Gunsch.
Der Vortrag scheint überhaupt nur unvollständig, nämlich in den
Teilen dieser knapp halbstündigen Radiosendung (TA 137 im Theo-
dor W. Adorno Archiv) erhalten zu sein. Zwar ist auch eine Band-
transkription vorhanden (Vt 200) – sie wurde vom Studienbüro zur
Soziologie der politischen Bildung erstellt, das dem Institut für So-
zialforschung angegliedert war –, aber auch diese im übrigen recht
unzuverlässige Nachschrift überliefert nur die Ausschnitte, die am
27. Juni 1963 gesendet worden waren. Die Tonaufnahme TA 137 liegt
den edierten Textteilen zugrunde. Sie wurden im Druck durch Leer-
zeilen getrennt.

531. Das Institut für Sozialforschung hatte Gymnasiasten wie auch


Volks-, Mittel- und Berufsschüler nach politischen Vorstellungen
und Haltungen befragt. Ergebnisse der Schüleruntersuchungen wur-
den erst einige Jahre später publiziert. Vgl. dazu Institut für Sozialfor-
schung, Zur Wirksamkeit politischer Bildung, Teil I: Eine soziolo-
gische Analyse des Sozialkundeunterrichts an Volks-, Mittel- und
Berufsschulen, Heft 3 der Forschungsberichte der Max-Traeger-
Stiftung, Frankfurt a. M. 1966. Im darauffolgenden Jahr erschien die

710
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

überarbeitete und gekürzte Fassung des Forschungsberichts: Egon


Becker, Sebastian Herkommer, Joachim Bergmann, Erziehung zur
Anpassung? Eine soziologische Untersuchung der politischen Bil-
dung in den Schulen, Schwalbach bei Frankfurt am Main 1967. –
Zur Befragung der Gymnasiasten vgl. Manfred Teschner, Politik und
Gesellschaft im Unterricht, a. a. O. [s. Anm. 415]; dazu die von
Adorno und Ludwig von Friedeburg gezeichnete Vorrede, ebd.,
S. 7-9 (jetzt in: GS 20·2, S. 671-673). Teschner schreibt in der Einlei-
tung von »Politik und Gesellschaft im Unterricht«: »Befragt wurden
im Sommer 1961 19 Oberprimen mit 337 Schülern aus 10 Gymnasi-
en in schriftlichen Klassenzimmer-Interviews anhand eines vorgete-
steten Fragebogens. Ausführliche Gespräche wurden mit 28 Lehrern
sowie 10 Experten geführt, die in der Verwaltung, als Direktoren
oder an Hochschulen tätig sind. [Fußnote:] an der Feldarbeit waren
neben dem Verfasser wesentlich beteiligt Egon Becker und Sebastian
Herkommer.« (S. 15)

532. S. Anm. 210.

533. Der italienische Ökonom und Soziologe Vilfredo Pareto


(1848-1923), aus adeliger Familie stammend, entwickelte – wie in
Italien auch Gaetano Mosca (1858-1941) und Robert Michels (s.
Anm. 37) – eine soziologische Elitetheorie (Modell einer »Zirkulati-
on der Eliten«). Vgl. dazu sein 1916 publiziertes, 1700 Seiten umfas-
sendes Hauptwerk »Trattato di Sociologia Generale«. Eine umfang-
reichere deutsche Übersetzung dieser Schrift erschien 1955 in
Tübingen: Vilfredo Pareto, Allgemeine Soziologie, ausgewählt, ein-
geleitet und übersetzt von Carl Brinkmann, besorgt von Hans Wol-
fram Gerhard. 1923 wurde Pareto von dem faschistischen Diktator
Benito Mussolini (1883-1945) zum Senator auf Lebenszeit ernannt.
Mussolini bot Pareto auch den Posten des italienischen Delegierten
auf der Genfer Abrüstungskonferenz an. Theoretiker des italieni-
schen Faschismus, den Pareto nur in seinen Anfängen erlebte, wie
auch Mussolini selbst haben sich auf ihn berufen. – Zur Kritik Ador-
nos an Pareto vgl. Beitrag zur Ideologienlehre, in: GS 8, S. 457-477.

534. Vgl. zu den von Adorno genannten Zahlen auch Tabelle 30 in


Teschner, Politik und Gesellschaft im Unterricht, a. a. O. [s.
Anm. 415], S. 75.

711
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

535. Der Begriff der Bürokratisierung kommt bei Max Weber viel-
fach und in unterschiedlichen Zusammenhängen vor. In »Die drei
reinen Typen der legitimen Herrschaft« (1922) heißt es: »Die ganze
Entwicklungsgeschichte des modernen Staates insbesondere ist
identisch mit der Geschichte des modernen Beamtentums und bü-
rokratischen Betriebes [. . .], ebenso wie die ganze Entwicklung des
modernen Hochkapitalismus identisch ist mit zunehmender Büro-
kratisierung der Wirtschaftsbetriebe. Der Anteil der bürokratischen
Herrschaftsformen steigt überall.« (Weber, Wissenschaftslehre, a. a. O.
[s. Anm. 36], S. 477)

536. Adorno bezieht sich auf Max Webers Schrift »Politik als Beruf«
(München, Leipzig 1919), hervorgegangen aus einem Vortrag, den
Weber am 28. Januar 1919 in München gehalten hatte.

537. Vgl. etwa Joseph Goebbels bei einer Kundgebung im Berliner


Lustgarten am 9. Juli 1932: »Die Parteien müssen weg! Die politi-
schen Bonzen werden aus ihren Sesseln herausgejagt. Es wird kein
Pardon gegeben.« (Goebbels-Reden, Bd. 1: 1932-1939, hrsg. von
Helmut Heiber, Düsseldorf 1971, S. 49)

538. Möglicherweise fehlt auch an dieser Stelle ein Teil des Vortrags.

539. Vgl. aus dem Vorwort von Karl Marx, Zur Kritik der Politi-
schen Ökonomie (1859): »In der gesellschaftlichen Produktion ihres
Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem
Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die
einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktiv-
kräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse
bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis,
worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und wel-
cher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen.
Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen,
politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das
Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr ge-
sellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.« (Karl Marx/
Friedrich Engels, Werke, Bd. 13 [MEW 13], Berlin 1961, S. 8 f.)

712
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Richard Strauss –
Fragen der kompositorischen Technik
Zum Zentenarium am 11. Juni 1964 war vom zweiten Programm des
Hessischen Rundfunks, unter dem Titel Hundertjährige Jugend, Ador-
nos Vortrag über Richard Strauss gesendet worden, dessen vollstän-
dige Fassung jetzt in Band 16 (S. 565-606) der Gesammelten Schriften
steht. Wenige Wochen später, am 3. Juli, sprach er noch einmal über
den Komponisten: Die Improvisationen über Richard Strauss – Fragen
der kompositorischen Technik, die Adorno in der Frankfurter Hoch-
schule für Musik vortrug, sind zwar nicht frei von Überschneidun-
gen mit dem Rundfunkvortrag, dürfen aber durchaus als eigenstän-
dig gelten.
Adornos vorbereitende Arbeit für den Vortrag in der Musikhoch-
schule ist dreistufig dokumentiert: Er begann am 26. Juni mit hand-
schriftlichen Notizen (Vt 219), ließ davon eine maschinenschriftliche
Fassung erstellen (Vt 220) und ergänzte das Typoskript-Original ei-
genhändig durch weitere Stichworte (Vt 221). So entstanden die
Aufzeichnungen, die Adorno am 3. Juli 1964 als Vorlage benutzte.
Sie sind auf S. 577-586 wiedergegeben.
Bei dem Strauss-Vortrag kann die Herstellung des Textes auf zwei
Tonbänder (TA 102 und 103) zurückgreifen, die zum Nachlaß Ador-
nos gehören.

540. Am 19. Juni 1964, eine Woche nach dem hundertsten Geburts-
tag von Strauss, schrieb Adorno an Hans Otte von Radio Bremen:
Immerhin habe ich unterdessen den großen Vortrag über Richard Strauss
zustande gebracht, der in einer kurzen Fassung vom hiesigen Rundfunk
gesendet worden ist und in toto in ein paar Wochen wiederholt wird.
(Ru 85/9) Die Sendung Hundertjährige Jugend am 11. Juni umfaßte
neben Adornos Vortrag auch ein Lied aus dem »Krämerspiegel«
(op. 66, Nr. 7) sowie die Tondichtung »Macbeth« (op. 23). Eine Sen-
dung des Strauss-Vortrags in toto konnte beim Hessischen Rundfunk
nicht nachgewiesen werden. Aber von Radio Bremen, das die Bän-
der im Juni 1964 vom Hessischen Rundfunk angefordert hatte, ist
Adornos Rundfunkbeitrag vollständig, in zwei Teilen, Ende 1964
gesendet worden.

541. S. Anm. 142.

713
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

542. Konjiziert für Verdacht.

543. Konjiziert für wirkt.

544. In dem Musik-Lexikon von Hugo Riemann heißt es über


Schönberg: »[. . .] ein durch die Extravaganzen der Faktur seiner neu-
esten Werke zum Protest herausfordernder Komponist, dem aber
trotz seiner Sucht, Unerhörtes zu leisten, Talent nicht abzusprechen
ist, und der auch in seinen früheren Werken ein normales Gesicht
zeigt (Richtung Liszt-Wagner-Strauß). [. . .] Seine 1911 erschienene
›Harmonielehre‹ ist ein seltsames Gemengsel von theoretischen
Rückständigkeiten und Befangenheiten, die aus S. Sechters System
herrühren, und hypermoderne Verneinung aller Theorie. Das naive
Geständnis des Verfassers, daß er ›nie eine Musikgeschichte gelesen
habe‹, gibt den Schlüssel für dieses beispiellos dilettantische Mach-
werk. Das ›Kunsthandwerk‹, welches Sch. zu lehren vorgibt, ist Gott
sei Dank heute noch dem Gemeingefühl fremd.« Das Zitat folgt:
Hugo Riemanns Musik-Lexikon. Neunte vom Verfasser noch voll-
ständig umgearbeitete Auflage nach seinem Tode (10. Juli 1919) fer-
tiggestellt von Alfred Einstein, Berlin 1919 (Jubiläums-Ausgabe),
S. 1066.

545. Aus Richard Wagners Schrift »Oper und Drama«: »Das Ge-
heimnis der Meyerbeerschen Opernmusik ist – der Effekt. [. . .] Wol-
len wir daher genauer Das bezeichnen, was wir unter diesem Worte
verstehen, so dürfen wir ›Effekt‹ übersetzen durch ›Wirkung ohne Ur-
sache‹.« (Richard Wagner, Dichtungen und Schriften. Jubiläumsaus-
gabe in zehn Bänden, hrsg. von Dieter Borchmeyer, Bd. 7: Oper und
Drama, Frankfurt a. M. 1983, S. 98)

546. Chopin schrieb aus London am 2. Juni 1848 an Graf Adalbert


Grzymala: »Der Bourgeois-Klasse muß man etwas Erstaunliches,
Mechanisches bringen, was ich nicht kann; die vornehme Welt, die
viel reist, ist hoffärtig, doch gebildet und gerecht, wenn sie gewillt ist,
sich etwas näher anzusehen, doch von tausend Dingen so sehr in An-
spruch genommen, so eingeschlossen in ihre konventionelle Lange-
weile, daß es ihr gleichgültig ist, ob die Musik gut oder schlecht, da
sie sie doch von früh bis abends anhören muß.« (Chopin, Gesammel-
te Briefe, übersetzt und hrsg. von Dr. A[lexander]. von Guttry, mit
vierundzwanzig Tafelbeilagen, München 1928, S. 382 f.)

714
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

547. Konjiziert für gewonnen. S. auch die Stichworte, S. 578.

548. Die Uraufführung der 1914 bis 1917 entstandenen Oper »Die
Frau ohne Schatten« fand am 10. Oktober 1919 an der Wiener
Staatsoper statt; einige Tage später wurde das Werk an der Semper-
oper in Dresden aufgeführt. Tatsächlich wurde aber schon ab 1915 in
Zeitungen über die in Arbeit befindliche Oper von Richard Strauss –
auch ihre Handlung und die voraussichtliche Orchesterbesetzung –
berichtet (Vossische Zeitung, 26. November 1915; Dresdner Neueste
Nachrichten, 27. November 1915; Berliner Zeitung, 17. Januar
1916; Wiener Sonn- und Montagszeitung, 23. Oktober 1916; Berli-
ner Zeitung, 3. November 1916). Im Jahr der Uraufführung erschie-
nen zahlreiche weitere Artikel, etwa auch einer von Paul Bekker
(Frankfurter Zeitung, 17. und 18. Oktober 1919), den Adorno hier
freilich kaum im Sinn haben wird. Welche Gazetten er meint, konnte
nicht ermittelt werden.

549. Chinesische Gongs – wie auch eine Glasharmonika – kommen


für besondere Effekte der Zauberoper zum Einsatz; etwa am Ende
der ersten Szene des ersten Aktes (»Erdenflug«).

550. Die Hammerschläge im vierten Satz der »Sechsten Symphonie«


a-Moll, uraufgeführt am 27. Mai 1906 in Essen.

551. »Achte Symphonie« Es-Dur, genannt ›Symphonie der Tau-


send‹, uraufgeführt am 12. September 1910 in München.

552. Vgl. franz. ›dépréciativ‹ (›abwertend‹, ›pejorativ‹).

553. Vgl. dazu Hofmannsthals Brief an Strauss vom 20. März 1911,
worin er dem Komponisten die Idee zu »Die Frau ohne Schatten« –
»ein Zaubermärchen, worin zwei Männer und zwei Frauen einander
gegenüberstehen« – vorträgt: »Das Ganze, wie ich es da in der Luft
hängen sehe (aber es ist noch unfertig, noch fehlen mir wichtige
Zwischenglieder), verhielte sich, beiläufig gesagt, zur ›Zauberflöte‹
so wie sich der ›Rosenkavalier‹ zum ›Figaro‹ verhält: das heißt, es be-
stände hier wie dort keine Nachahmung, aber eine gewisse Analogie.
Die bezaubernde Naivität vieler Szenen der ›Zauberflöte‹ kann man
natürlich nicht erreichen, aber der Einfall ist, glaub ich, sehr glück-
lich und sehr ergiebig.« (Richard Strauss/Hugo von Hofmannsthal,

715
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Briefwechsel, hrsg. von Willi Schuh, 5., ergänzte Aufl., Zürich, Frei-
burg i. Br. 1978, S. 112 f.)

554. »Salome« wurde am 9. Dezember 1905 in der Dresdener Hof-


oper uraufgeführt.

555. Zur »Elektra« (1909) s. Anm. 119.

556. »Der Rosenkavalier«, eine Komödie für Musik in drei Aufzü-


gen nach Text von Hugo von Hofmannsthal, wurde am 26. Januar
1911 in der Dresdener Hofoper mit großem Erfolg uraufgeführt.
1926 wurde Straussens populärste Oper unter der Regie von Robert
Wiene verfilmt.

557. »La Gioconda« (Mailand 1899) von Gabriele D’Annunzio


(1863-1938). D’Annunzio schrieb das Drama für Eleonora Duse, die
bei der Uraufführung und in Tourneen mit großem Erfolg die Figur
der Silvia – eine in Liebe zu ihrem Künstlergatten sich aufopfernde
Frau – spielte.

558. Maurice Maeterlinck, Monna Vanna, Paris 1902.

559. Schon in seinem Aufsatz über George und Hofmannsthal (1939/


40) hatte Adorno angemerkt: [. . . ] der ›Dorian Gray‹ reklamiert l’art
pour l’art und ist ein Kolportageroman. In Deutschland hat diese Tendenz
auf der Bühne sich durchgesetzt. Die Vorbilder waren d’Annunzios ›Gio-
conda‹ und Maeterlincks ›Monna Vanna‹. Hofmannsthal hing mit der
Sphäre schon vor seiner Kollaboration mit Richard Strauss zusammen.
(GS 10·1, S. 205) – Der in Dublin geborene, ab 1879 in London le-
bende Schriftsteller Oscar Wilde (1854-1900) hatte seinen Roman
»The Picture of Dorian Gray« 1891 veröffentlicht. 1893 erschien in
französischer Sprache sein Drama »Salomé« (englisch 1894, »Salo-
me«), das in deutscher Übersetzung von Hedwig Lachmann (1903)
der Oper von Richard Strauss zugrunde liegt.

560. Die Erstfassung der »Ariadne auf Naxos«, nach Text von Hugo
von Hofmannsthal, wurde am 25. Oktober 1912 zur Eröffnung des
Kleinen Hauses des Stuttgarter Hoftheaters uraufgeführt und hatte
keinen großen Erfolg. Die zweite Fassung, auf die Adorno sich auch
an späteren Stellen des Vortrags bezieht, umfaßt das etwa vierzig-

716
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

minütige Vorspiel »im Hause eines großen Herrn«. Die Urauffüh-


rung der neuen Bearbeitung fand am 4. Oktober 1916 in der Wiener
Hofoper statt.

561. Das Libretto zu dem »Singgedicht« »Feuersnot« op. 50 (1901)


schrieb Ernst von Wolzogen (1855-1934) – der Gründer des Kaba-
retts »Überbrettl« –, der sich beim Verfassen des Textes auf eine Sage
(»Das erloschene Feuer zu Audenaerde«) stützte.

562. Adorno bezieht sich offenbar auf den Rundfunkvortrag Hun-


dertjährige Jugend vom 11. Juni 1964. Gedruckt erschien der Text un-
ter dem Titel Richard Strauss. Geboren 11. Juni 1864, in: Neue Rund-
schau, Jg. 75 (1964), Heft 4, S. 557-587. Vgl. jetzt GS 16, S 565-606;
zum Überraschungsprinzip S. 581, 595 f. und 601.

563. Kundrys Ruf »Parsifal!« im Zweiten Aufzug.

564. Drei Klavierstücke, op. 11 (1909/10).

565. Hector Berlioz (1803-1869), der entscheidende Bedeutung für


die Entwicklung der neueren Programmusik hatte, schrieb im »Post-
Scriptum« seiner »Mémoires«: »Les qualités dominantes de ma musi-
que sont l’expression passionnée, l’ardeur intérieure, l’entraı̂nement
rhythmique et l’imprévu.« (Mémoires de Hector Berlioz, membre de
l’Institut de France, comprenant ses voyages en Italie, en Allemagne,
en Russie et en Angleterre, 1803-1865, Paris 2010, p. 487) Deutsch:
»Die Haupteigenschaften meiner Musik sind leidenschaftlicher Aus-
druck, innere Glut, rhythmischer Schwung und überraschende
Wendungen.« (Hector Berlioz, Lebenserinnerungen. Ins Deutsche
übertragen und hrsg. von Dr. Hans Scholz. Mit einem Bildnis, Mün-
chen 1914, S. 523)

566. »Ariadne auf Naxos« (1912/1916) war, nach »Elektra« (1909)


und »Der Rosenkavalier« (1911), das dritte Gemeinschaftswerk von
Strauss und Hofmannsthal. Aus der Zusammenarbeit entstanden
auch »Die Frau ohne Schatten« (1919), »Die ägyptische Helena«
(1928) und »Arabella« (1933).

567. »Das durchaus Persönliche an der Salomepartitur dürfte ledig-


lich die musikalische Faktur sein, die Art, wie der Tondichter erfindet

717
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

und aus dem musikalischen gedanklichen Materiale seinen kompli-


zierten Riesenbau aufführt. Dieses spielende und sichere Handhaben
kontrapunktischer Technik, verbunden mit einer einzigartig entwik-
kelten Kenntnis klanglicher Werte, läßt oft ein Partiturbild entstehen,
das dem Auge zunächst vielleicht voller ›Fehler‹ zu sein scheint. Aber
Richard Strauß weiß, was klingt und was klanglich sekundären Wer-
tes ist, und so eben vermag er in seiner überlegenen Art mit den Kon-
trapunkten umzugehen. Dazu kommt die genaue Kenntnis karakte-
ristischer Farbenwerte bis zu der Hervorbringung reiner ›Geräusche‹
herab.« (Salome. Musikdrama in einem Aufzuge nach Oscar Wilde’s
gleichnamiger Dichtung in deutscher Übersetzung von Hedwig
Lachmann von Richard Strauß, Dichtung und Musik erläutert von
Alfred Schattmann, Berlin o. J. [1907], S. 32 [Schlesinger’sche Musik-
Bibliothek, Opernführer No. 100])

568. Die Deklamation nach dem natürlichen, sinngemäßen Sprach-


akzent hebt Wagner ab vom metrischen Skandieren. Zum Beispiel
des Jambus schreibt er in »Oper und Drama«: »Die Unschönheit die-
ses Metrons, sobald es – wie in unseren Schauspielen – ununterbro-
chen vorgeführt wird: ist an und für sich beleidigend für das Gefühl;
wird nun aber – wie es gar nicht anders möglich ist – seinem eintöni-
gen Rhythmus zuliebe dem lebendigen Sprachakzente noch der
empfindlichste Zwang angetan, so wird das Anhören solcher Verse
zur vollständigen Marter; denn, durch den verstümmelten Sprachak-
zent vom richtigen und schnellen Verständnisse des Auszudrücken-
den abgelenkt, wird dann der Hörer mit Gewalt angehalten, sein Ge-
fühl einzig dem schmerzlich ermüdenden Ritte auf dem hinkenden
Jamben hinzugeben, dessen klappernder Trott ihm endlich Sinn und
Verstand rauben muß. – Eine verständige Schauspielerin ward von
den Jamben, als sie von unseren Dichtern auf der Bühne eingeführt
wurden, so beängstigt, daß sie für ihre Rollen diese Verse sich in Pro-
sa ausschreiben ließ, um durch ihren Anblick nicht verführt zu wer-
den, den natürlichen Sprachakzent gegen ein dem Verständnisse
schädliches Skandieren des Verses aufzugeben. Bei diesem gesunden
Verfahren entdeckte die Künstlerin gewiß sogleich, daß der ver-
meintliche Jambe eine Illusion des Dichters war, die sofort ver-
schwand, wenn der Vers in Prosa ausgeschrieben und diese Prosa mit
verständlichem Ausdrucke vorgetragen wurde; sie fand gewiß, daß
jede Verszeile, wenn sie von ihr nach unwillkürlichem Gefühle aus-
gesprochen und nur mit Rücksicht auf überzeugend verständliche

718
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Kundgebung des Sinnes betont wurde, nur eine oder höchstens zwei
Silben enthielt, auf denen ein bevorzugendes Weilen mit verschärfter
Betonung zugleich notwendig war [. . .]« (Wagner, Dichtungen und
Schriften, a. a. O. [s. Anm. 545], S. 234 f.)

569. Im Zweiten Aufzug der »Meistersinger von Nürnberg«: Beck-


messers Ständchen mit Hans Sachs als »Merker« der sinnwidrig fal-
schen Betonungen.

570. »Traum durch die Dämmerung«, nach einem Gedicht von


Otto Julius Bierbaum, ist das erste der »Drei Lieder mit Klavierbe-
gleitung« op. 29, von Richard Strauss 1895 komponiert.

571. »Gruß« (»Leise zieht durch mein Gemüt«), nach einem Gedicht
von Heinrich Heine, der fünfte der »Sechs Gesänge« op. 19 von Felix
Mendelssohn Bartholdy, 1830 komponiert. Die erste Strophe des
Gedichtes lautet: »Leise zieht durch mein Gemüt / Liebliches Geläu-
te. / Klinge, kleines Frühlingslied, / Kling hinaus ins Weite.«

572. Nicht ermittelt.

573. Das gesamte burleske Vorspiel, also der erste Teil der zweiten
Fassung der »Ariadne auf Naxos« (s. Anm. 560).

574. Der siebentönige Akkord in der Anagnorisis-Szene, nach Elek-


tras Aufschrei »Orest«. Vgl. dazu (mit Notenbeispiel) GS 15, S. 194 f.;
ferner GS 16, S. 593.

575. Heinrich Schenker mochte mehr noch als an Wagner an Strauss den-
ken, als er von der Zerstörung der Urlinie bei den Komponisten der neu-
deutschen Schule sprach. Sein erhobener Zeigefinger deutet auf eine Schwä-
che Straussens: daß dieser zwar harmonisch die Akkorde ebenso wie die
Sigel ihrer Verbindung aus dem wie immer auch modifizierten Fond
schöpft, aber nicht jene Verpflichtung achtet, welche die Mittel der Form-
organisation aufbürden. (GS 16, S. 585)

576. Unverständliches Wort; möglicherweise charakterisiert.

577. Wenige kommentierende Worte Adornos sind unverständlich.

719
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

578. Strauss schreibt über Hector Berlioz: »[. . .] diesem kühnen


Neuerer, dem genialen Farbenmischer, diesem eigentlichen Schöp-
fer des modernen Orchesters fehlte vollständig der Sinn für die Poly-
phonie. [. . .] Und nur wahrhaft sinnvolle Polyphonie erschließt die
höchsten Klangwunder des Orchesters. Ein Orchestersatz, in dem
ungeschickt oder, sagen wir nur, gleichgültig geführte Mittel- und
Unterstimmen sich befinden, wird selten einer gewissen Härte ent-
behren und niemals die Klangfülle ergeben, in der eine Partitur er-
strahlt, bei deren Ausführung auch die zweiten Bläser, zweiten Vio-
linen, Bratschen, Violoncelli, Bässe sich in der Belebung schön
geschwungener melodischer Linien seelisch beteiligen. Dies ist das
Geheimnis der unerhörten Klangpoesie der Tristan- und Meistersin-
gerpartitur, wie nicht minder des für ›kleines Orchester‹ geschriebe-
nen Siegfriedidylls [. . .]« (Instrumentationslehre von Hector Berlioz.
Ergänzt und revidiert von Richard Strauss, Teil I, Leipzig o. J. [1904],
S. III [»Vorwort«]).

579. Vgl. das in der voranstehenden Anmerkung stehende Zitat aus


Strauss’ Vorwort zur »Instrumentationslehre« von Hector Berlioz.
Ferner ebd. die Passage: »Es wird meistens so sehr betont, der Fort-
schritt Richard Wagners, des Vollenders des modernen Orchesters,
gegen Hector Berlioz, dessen Schöpfer, liege ausschließlich auf dem
Gebiete des tieferen Gehaltes seiner dichterischen und musikalischen
Ideen. Doch sind es (natürlich stets mit den vernünftigen Einschrän-
kungen) drei wesentlich technische Punkte [. . .]. Dies ist: erstens die
Anwendung des reichsten polyphonen Stiles; zweitens seine Ermög-
lichung im größten Maßstabe durch Erfindung und Einführung des
Ventilhornes; drittens die Übertragung einer bisher nur im Solokon-
zert gewagten Virtuosentechnik auf alle Instrumente des Orchesters
(von Beethoven allerdings schon in seinen letzten Streichquartetten,
wenn auch noch nicht in der Symphonie, gefordert).«

580. »Dagegen gibt es dem Streichquartett die reichste Gliederung,


bei nicht zu sehr mit Bläsern überladenen Stellen, die Violoncells als
alleinigen Baß zu verwenden und ab und zu nur durch Pizzicati der
Kontrabässe zu verstärken, wenn man es nicht vorzieht, – wie es auch
Wagner zuerst in den Meistersingern mit vollstem Bewußtsein ge-
tan – die Kontrabässe große Strecken weise ganz schweigen zu las-
sen.« (Ebd., S. 88)

720
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

581. Strauss’ letzte Oper »Capriccio. Ein Konversationsstück für


Musik in einem Aufzug«, nach Textvorlage des Dirigenten Clemens
Krauss, am 28. Oktober 1942 in der Münchener Staatsoper uraufge-
führt.

582. Strauss’ Oper »Daphne. Bukolische Tragödie in einem Auf-


zug«, nach Textvorlage von Joseph Gregor, am 15. Oktober 1938 in
den Sächsischen Staatstheatern Dresden uraufgeführt. Das Werk ist
Karl Böhm gewidmet, der die Uraufführung leitete.

583. Konjiziert für Spätwirkungen.

584. Pariser Besetzung in der Salonmusik des 19. Jahrhunderts meint:


Klavier, Violine, Violoncello, Flöte und Cornet (vgl. Tobias Wid-
maier, Salonmusik, in: Handwörterbuch der musikalischen Termi-
nologie. Im Auftrag der Akademie der Wissenschaften und der Lite-
ratur · Mainz nach Hans Heinrich Eggebrecht hrsg. von Albrecht
Riethmüller, Stuttgart o. J., S. 16).

585. Alban Berg hat ab 1928 an der Oper »Lulu« gearbeitet. Zugrun-
de liegen die Dramen »Erdgeist« und »Die Büchse der Pandora« von
Frank Wedekind. Berg konnte die Oper nicht mehr vollenden. Sie
wurde in den Jahren 1962-1974 von Friedrich Cerha ergänzt.

586. Durch den Wechsel des Tonbandes Lücke in der Tonauf-


nahme.

587. Der Begriff neudeutsche Schule wurde 1859 von Franz Brendel
(1811-1868) in seiner Eröffnungsrede auf der Leipziger Tonkünstler-
versammlung eingeführt. Brendel war verantwortlicher Redakteur
der »Neuen Zeitschrift für Musik« und Theoretiker des sich als fort-
schrittlich verstehenden ›neudeutschen‹ Komponistenkreises, der
sich um Franz Liszt versammelt hatte. Neben Liszt galten Wagner
und Berlioz als Vorbilder; vor allem Musikdrama und Sinfonische
Dichtung wurden gepflegt. Brahms, der den ›Neudeutschen‹ gegen-
über ablehnend eingestellt war, wurde von diesen als akademisch und
traditionalistisch angesehen.

588. »Arabella«, eine »Lyrische Komödie in drei Aufzügen« nach


Textdichtung von Hugo von Hofmannsthal. Die Oper wurde am

721
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

1. Juli 1933 in der Dresdner Staatsoper unter der Leitung von Cle-
mens Krauss uraufgeführt.

589. Josef Rufer (1893-1985) hatte in Wien Privatunterricht bei Ar-


nold Schönberg und Alexander Zemlinsky genommen. Er folgte
Schönberg 1925 nach Berlin und war bis 1933 Assistent in dessen
Meisterklasse an der Akademie der Künste. Der Musiktheoretiker
publizierte 1952 »Die Komposition mit zwölf Tönen«. Rufer wurde
1956 Dozent für Zwölftontechnik an der Berliner Hochschule der
Künste. 1957 katalogisierte er in Los Angeles den Nachlaß von Ar-
nold Schönberg, über dessen Werk er ein grundlegendes Buch publi-
zierte (Kassel 1959). 1962 übernahm er die Leitung der Schönberg-
Gesamtausgabe. – Zur vermeintlichen Zwölftongestalt im ersten Akt
der Arabella vgl. Josef Rufer, Die Komposition mit zwölf Tönen,
Berlin und Wunsiedel 1952, S. 22 f. [Stimmen des XX. Jahrhunderts,
Bd. 2]. Vgl. auch Adornos Stichworte (s. S. 585): Rufer hat in der Ara-
bella Zwölftonbildungen nachgewiesen, in dem Zdenka-MutterMatteo-
Komplex.

590. Zum Begriff der bestimmten Negation vgl. Hegel, Werke, a. a. O.


[s. Anm. 19], Bd. 3, S. 74, und Bd. 5, S. 49. An dieser Stelle heißt es:
»Das Einzige, um den wissenschaftlichen Fortgang zu gewinnen – und um
dessen ganz einfache Einsicht sich wesentlich zu bemühen ist –, ist die
Erkenntnis des logischen Satzes, daß das Negative ebensosehr positiv
ist oder daß das sich Widersprechende sich nicht in Null, in das ab-
strakte Nichts auflöst, sondern wesentlich nur in die Negation seines
besonderen Inhalts, oder daß eine solche Negation nicht alle Negation,
sondern die Negation der bestimmten Sache, die sich auflöst, somit be-
stimmte Negation ist; daß also im Resultate wesentlich das enthalten
ist, woraus es resultiert [. . .]«. – Zur »Aufhebung« sagt Hegel: »Es ist
hierbei an die gedoppelte Bedeutung unseres deutschen Ausdrucks
aufheben zu erinnern. Unter aufheben verstehen wir einmal soviel als
hinwegräumen, negieren, und sagen demgemäß z. B., ein Gesetz,
eine Einrichtung usw. seien aufgehoben. Weiter heißt dann aber
auch aufheben soviel als aufbewahren, und wir sprechen in diesem
Sinn davon, daß etwas wohl aufgehoben sei.« (Werke, Bd. 8, S. 204)

591. Vgl. dazu etwa Strauss’ Tagebucheintrag von 1941: »Ob auf
dem Wege der sogenannten Atonalität, hinter der sich (mit Ausnah-
me eines gewissen Hindemith, der statt lausbübischen Unfugs besser

722
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

anständige Mittelmäßigkeit produzieren sollte, wenn er schon durch-


aus componieren will und mit Ausnahme des Narrheit simulie-
renden oder vielleicht anormalen Schönberg) bis jetzt nur größester
Dilettantismus u. völlige Impotenz breit gemacht hat, noch Kombi-
nationen möglich sind u. Gefühlswerte geschaffen werden können,
die über meine ›schroffsten‹ Stellen in Frau o. Schatten [. . .] hinaus-
gehen, entzieht sich meiner Erkenntnis.« (Zit. nach: Walter Wer-
beck, Richard Strauss und die musikalische Moderne, in: Richard
Strauss und die Moderne. Bericht über das Internationale Symposi-
um München, 21. bis 23. Juli 1999, hrsg. von Bernd Edelmann, Bir-
git Lodes und Reinhold Schlötterer, Berlin 2001, S. 36) – Über »Sa-
lome« und »Elektra« sagte Strauss 1942: »Beide Opern stehen in
meinem Lebenswerk vereinzelt da: ich bin in ihnen bis an die äußer-
sten Grenzen der Harmonik, psychischer Polyphonie (Klytämnestras
Traum) und Aufnahmefähigkeit heutiger Ohren gegangen.« (Ri-
chard Strauss, Erinnerungen an die ersten Aufführungen meiner
Opern, in: ders., Betrachtungen und Erinnerungen, hrsg. von Willi
Schuh, Zweite, erweiterte Ausgabe 1957, Zürich und Freiburg i. Br.
1957, S. 230)

592. Arnold Schönberg schrieb in »Probleme des Kunstunterrichts«


(zuerst publiziert in: Musikalisches Taschenbuch 1911, Jg. 2, S. 22 bis
27): »Von manchem Autor behauptet man, er hätte zwar Technik, je-
doch keine Erfindung. Das ist falsch: er hat entweder keine Technik
oder auch Erfindung. Der hat nicht Technik, der etwas geschickt
nachahmen kann, sondern die Technik hat ihn. Die Technik irgend
einiger anderer. Wer genau hinzusehen vermag, muß erkennen, daß
solche Technik schwindelhaft ist. Nichts stimmt wirklich, alles ist nur
geschickt überpoliert. Alles ist ungenau, nichts fügt sich von selbst,
nichts hält zusammen; aber von weitem sieht es fast wie echt aus. [. . .]
Das zeigt mir, wozu ein wahrhafter Kunstlehrer seine Schüler zu
führen hätte: zu dieser strengen Sachlichkeit, die vor allem das aus-
zeichnet, was wirklich persönlich ist. So könnte ein Kunstlehrer auch
den Talentierten dazu bringen, solche Äußerungen zu tun, die eine
Persönlichkeit angemessen ausdrücken. Der Glaube an die alleinse-
ligmachende Technik müßte unterdrückt, das Bestreben nach Wahr-
haftigkeit gefördert werden.« (Zitiert nach: Schönberg, Stil und Ge-
danke, a. a. O. [s. Anm. 130], S. 166 f.)

723
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Die Formprinzipien der zeitgenössischen Musik

Ende April 1966 unternahm Adorno, in Begleitung seiner Frau Gre-


tel, eine Vortragsreise in die Tschechoslowakei und besuchte die
Städte Prag, Brünn und Bratislava. Unter anderem sprach er am
27. April auf einer Veranstaltung der Janáček-Akademie in Brünn
über Die Formprinzipien der zeitgenössischen Musik. Am Folgetag wie-
derholte Adorno diesen Vortrag beim Verband slowakischer Kompo-
nisten in Bratislava.
Der extemporierte Vortrag stand in inhaltlich enger Beziehung zu
dem über Form in der neuen Musik, den Adorno am 20. Juli 1965 bei
den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik gehalten hatte
(vgl. jetzt GS 16, S. 607-627). Adorno sagt eingangs, er wolle versu-
chen, wenigstens einige der Hauptgedanken des Darmstädter Vortrags
frei zu entwickeln.
Eine maschinenschriftliche Transkription (Vt 246) bietet den
überlieferten Text, der dem hergestellten unserer Edition zugrunde
liegt. Das Typoskript wurde Adorno am 22. Juli 1966 von Oskar El-
schek übersandt, dem Chefredaktor der slowakischen Zeitschrift
Slovenská Hudba (Bratislava), in der eine Übersetzung des Vortrags
erschien. Vgl. dazu Theodor Wiesengrund Adorno, Formové prin-
cı́py súèasnej hudby, in: Slovenská Hudba, Jg. 10 (1966), Heft 9,
S. 385-391. Der Abdruck enthält die nachgestellte Bemerkung: »AU-
TORIZOVANÝ ZÁZNAM Z PREDNÁŠKY PROF. T. W. ADORNA
PREDNESENEJ V BRATISLAVE V APRÍLI T. R./Preložila Valéria
Neumannová« [Autorisierte Aufzeichnung des Vortrags von Prof.
T. W. Adorno, gehalten in Bratislava im April dieses Jahres/Es über-
setzte Valéria Neumannová].

593. Adorno hatte den Vortrag am 20. Juli 1965 im Darmstädter


Seminar Marienhöhe gehalten. Er eröffnete den Kongreß »Form in
der Neuen Musik«, der im Rahmen der Ferienkurse stattfand. Vgl.
den Teilabdruck in: Theodor W. Adorno, Earle Brown, Carl Dahl-
haus, Roman Haubenstock-Ramati, Mauricio Kagel, György Ligeti,
Form in der Neuen Musik, hrsg. von Ernst Thomas, Mainz 1966,
S. 9-21 (Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik X); vollständig in:
Neue Rundschau, Jg. 77 (1966), Heft 1, S. 19-34 (vgl. jetzt GS 16,
S. 607-627).

724
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

594. Vgl. in »Das Kapital« von Karl Marx: »Wie jede Ware kann das
Geld seine eigne Wertgröße nur relativ in andren Waren ausdrücken.
Sein eigner Wert ist bestimmt durch die zu seiner Produktion er-
heischte Arbeitszeit und drückt sich in dem Quantum jeder andren
Ware aus, worin gleichviel Arbeitszeit geronnen ist.« (MEW 23,
a. a. O. [s. Anm. 276], S. 106)

595. Konjiziert für Indikate.

596. Adorno hatte 1925 bei Alban Berg in Wien Kompositionsunter-


richt genommen. Vgl. zu ihrer Freundschaft: Theodor W. Adorno/
Alban Berg, Briefwechsel 1925-1935, hrsg. von Henri Lonitz, Frankfurt
a. M. 1997.

597. Der italienische Komponist Claudio Monteverdi (1567-1643)


war von 1590-1612 Hofmusiker im Dienst der Gonzaga in Mantua.
Von der Oper »L’Arianna«, die dort am 28. Mai 1608 uraufgeführt
wurde, ist nur das Lamento (»Lasciate mi morire . . .«) der Titelgestalt
erhalten, das als Höhepunkt des monodischen Stils gilt. Das »Lamen-
to d’Arianna« ist auch in einer fünfstimmigen Fassung überliefert;
diese hat Monteverdi in das 6. Madrigalbuch (1614) aufgenommen.

598. In dem geplanten Buch über Ludwig van Beethoven, das


Adorno nicht mehr abschließen konnte, wollte er dessen Musik mit
Hegels »Wissenschaft der Logik« (1812-1816) konfrontieren und
strukturelle Übereinstimmungen herausarbeiten. 1944 notierte er:
Die Beethovenarbeit muß zugleich die Philosophie der Musik geben, näm-
lich das Verhältnis der Musik und der begrifflichen Logik entscheidend
bestimmen. Nur dann ist die Konfrontation mit der Hegelschen »Logik«,
und damit die Interpretation Beethovens, keine Analogie, sondern die Sache
selbst. (Theodor W. Adorno, Beethoven. Philosophie der Musik. Frag-
mente und Texte, hrsg. von Rolf Tiedemann, 2. Aufl., Frankfurt
a. M. 1994, S. 31 [NaS I·1, fr. 26])

599. Beethovens Nachlaßbibliothek gibt keinerlei Hinweis darauf,


daß er Hegel rezipiert hätte. Auch in seinem Tagebuch, das zahlreiche
Lektüre-Exzerpte enthält, finden sich keine, die Hegel beträfen (vgl.
Maynard Solomon, Beethovens Tagebuch, hrsg. von Sieghard Bran-
denburg, Mainz 1990). – »Kants Allgemeine Naturgeschichte und Theo-
rie des Himmels befand sich in der Ausgabe von 1798 in Beethovens

725
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Nachlaß. Daraus finden sich bei Beethoven viele Exzerpte«. Indessen


»wäre es doch unbillig zu glauben, Beethoven habe Kants kritische
Schriften studiert« (Das Beethoven-Lexikon, hrsg. von Heinz von
Loesch und Claus Raab, Laaber 2008, S. 371).

600. Hegel hielt sich vom 20. September bis zum 5. Oktober 1824 in
Wien auf. Auf Empfehlung der Sängerin Anna Pauline Milder-
Hauptmann besuchte er Aufführungen der italienischen Oper. Am
29. September schrieb Hegel an seine Frau: »›Barbier von Sevilla‹ von
Rossini! zum zweitenmal; ich habe nun bereits meinen Geschmack
so verdorben, daß dieser Rossinische ›Figaro‹ mich unendlich mehr
vergnügt hat als Mozarts ›Nozze‹, – ebenso wie die Sänger unendlich
mehr con amore spielten und sangen; – was ist das herrlich, unwider-
stehlich, sodaß man nicht von Wien wegkommen kann.« (Briefe von
und an Hegel, hrsg. von Johannes Hoffmeister, Bd. 3: 1823-1831,
Hamburg 1954, S. 64 f. [Philosophische Bibliothek, Bd. 237])

601. Weltgeist ist ein zentraler Begriff der Hegelschen Geschichts-


philosophie. Vgl. dazu vor allem die »Vorlesungen über die Philoso-
phie der Geschichte« (Werke 12, a. a. O. [s. Anm. 19]), worin der
Begriff passim in verschiedenen Zusammenhängen vorkommt. Die
»welthistorischen Individuen« bezeichnet Hegel als »Geschäftsführer
des Weltgeistes« (ebd., S. 46).

602. Vgl. Adam Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of
the Wealth of Nations, London 1776. Smiths Theorem von der ›un-
sichtbaren Hand‹ (›invisible hand‹), wonach Eigeninteresse das Ge-
meinwohl fördere, findet sich im Vierten Buch der »Inquiry«: »Da
also jeder einzelne danach trachtet, sein Kapital möglichst in der hei-
mischen Erwerbstätigkeit einzusetzen und diese Erwerbstätigkeit so
auszurichten, daß die größte Wertschöpfung erfolgt, arbeitet jeder
einzelne notwendigerweise darauf hin, das jährliche Volkseinkom-
men möglichst groß zu machen. In der Regel hat er freilich weder
die Absicht, das Gemeinwohl zu fördern, noch weiß er, wie sehr er
es fördert. Wenn er die heimische Erwerbstätigkeit der ausländischen
vorzieht, denkt er nur an seine eigene Sicherheit; und wenn er diese
Erwerbstätigkeit so ausrichtet, daß die größte Wertschöpfung erfolgt,
denkt er nur an seinen eigenen Vorteil, und dabei wird er, wie in vie-
len anderen Fällen auch, von einer unsichtbaren Hand geleitet, ei-
nem Zweck zu dienen, der nicht in seiner Absicht lag. Für die Gesell-

726
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

schaft ist es gar nicht immer von Schaden, daß dieser nicht in seiner
Absicht lag. Indem er sein eigenes Interesse verfolgt, fördert er häufig
das der Gesellschaft wirksamer, als wenn er sich tatsächlich vor-
nimmt, es zu fördern.« (Adam Smith, Untersuchung über Wesen und
Ursachen des Reichtums der Völker. Aus dem Englischen übersetzt
von Monika Streissler, hrsg. und eingeleitet von Erich W. Streissler,
Tübingen 2005, S. 467)

603. Vgl. die Schlußzeile von Goethes Gedicht »Den Originalen«:


»Ich bin ein Narr auf eigne Hand.« (Johann Wolfgang Goethe, Sämt-
liche Werke nach Epochen seines Schaffens, Münchner Ausgabe,
hrsg. von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert,
Norbert Miller und Gerhard Sauder, Bd. 9: Epoche der Wahlver-
wandtschaften. 1807-1814, München 1987, S. 68)

604. »Das Beste im Neuen entspricht einem alten Bedürfnis.« (Paul


Valéry, Windstriche. Aufzeichnungen und Aphorismen, Übertragen
von Bernhard Böschenstein, Hans Staub, Peter Szondi, Wiesbaden
1959, S. 174)

605. Konjiziert für E-dur. – Adorno bezieht sich auf Mozarts im


Februar 1789 komponierte Klaviersonate B-Dur, KV 570.

606. Der Ausspruch von Gustav Mahler konnte nicht ermittelt wer-
den.

607. S. Anm. 423.

608. Vgl. Adornos Interpretationsanalyse Anton Webern: Sechs Baga-


tellen für Streichquartett op. 9, in: Theodor W. Adorno, Der getreue Kor-
repetitor. Lehrschriften zur musikalischen Praxis, Frankfurt 1963, S. 127
bis 151; jetzt in: GS 15, S. 277-301.

609. Vgl. Alois Hábas Aufsatz »Casellas Scarlattiana – Viertelton-


musik und Musikstil der Freiheit«, in: Musikblätter des Anbruch,
Jg. 11 (1929), S. 331-334.

610. »Ungefähr 1911 habe ich die ›Bagatellen für Streichquartett‹


[op. 9] geschrieben, lauter kurze Stücke, die zwei Minuten dauern;
vielleicht das Kürzeste, das es in der Musik bisher gegeben hat. Ich

727
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

habe dabei das Gefühl gehabt: Wenn die zwölf Töne abgelaufen sind,
ist das Stück zu Ende. Viel später bin ich draufgekommen, daß das
alles im Zuge der notwendigen Entwicklung war. Ich habe in mei-
nem Skizzenbuch die chromatische Skala aufgeschrieben und in ihr
einzelne Töne abgestrichen. – Warum? – Weil ich mich überzeugt
hatte: der Ton war schon da. – Es klingt grotesk, unbegreiflich, und
es war unerhört schwer.« (Anton von Webern, Der Weg zur Neuen
Musik, hrsg. von W[illi]. Reich, Wien 1960, S. 55)

611. Arnold Schönberg, Fünf Orchesterstücke, op. 16 (1909); »Er-


wartung«. Monodram in einem Akt, op. 17 (1909); Alban Berg, Drei
Orchesterstücke, op. 6 (1914).

612. Der Neoklassizismus, für den der Rückgriff insbesondere auf


musikalische Formen des 18. Jahrhunderts charakteristisch ist, kam in
der Zeit um 1920 auf.

613. Zu Erwin Stein s. Anm. 133. – Über Kompositionen in freier


Atonalität sagt Stein: »Zu den interessantesten von ihnen gehören
jene Stücke aphoristischen Charakters, denen es Kürze erlaubt, dem
Formproblem recht eigentlich aus dem Wege zu gehen.« (Erwin
Stein, Neue Formprinzipien, in: Musikblätter des Anbruch, Jg. 6
[1924], S. 287 f.)

614. Arnold Schönberg, Streichquartett Nr. 3, op. 30; komponiert


1927 im Auftrag von Elizabeth Sprague Coolidge, uraufgeführt am
19. September 1927 durch das Kolisch-Quartett.

615. Arnold Schönberg hatte bereits 1906 mit der Komposition der
»Zweiten Kammersymphonie« begonnen. Nachdem die Arbeit 1907
und 1916 wieder zur Hand genommen worden war, blieb sie dann
über viele Jahre liegen. Ein Kompositionsauftrag der New Friends of
Music führte 1939 zur Wiederaufnahme und zum Abschluß des
Werkes.

616. Arnold Schönberg schrieb in dem Aufsatz »Neue und veraltete


Musik, oder Stil und Gedanke«: »[. . .] immer, wenn die eine der bei-
den Richtungen, eine der beiden Hauptdimensionen der Tonkunst,
ausschließlich bearbeitet wird, bleibt die andere dermaßen zurück,
daß die nächste Welle dann die Weiterentwicklung der vernachlässig-

728
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

ten Dimension bringen muß. Wenn also ein Zeitalter, den kontra-
punktischen Stil vernachlässigend, nur die Horizontale entwickelt hat
und dabei zu einer besonderen Kunstfertigkeit in der Abrundung
und Inhalterfüllung einer einzigen, einer Hauptstimme gelangt ist,
dann muß es das nächste Bestreben fähiger Musiker sein, die errun-
genen Kunstfertigkeiten nun auch in einer Mehrstimmigkeit zu ver-
suchen. [Absatz] Und umgekehrt: Hat die Inhaltsüberladung und die
übermäßige Raumbeanspruchung – denn sie muß sich, da sie nur den
oberen Raum des Klanges benützt, breiter, gedehnter ausdrücken –, hat
also eine Musik der Oberstimme, die die Unterstimmen leerlaufen
läßt, zu einer Breite der Darstellung geführt, welche beginnt, schär-
feren Köpfen lästig zu werden, so muß naturgemäß die nächstfolgen-
de Komponistengeneration wieder das Bestreben zu einer kürzeren,
den musikalischen Raum in allen seinen Dimensionen gleichmäßig
ausnützenden Kompositionsweise zeigen.« (Schönberg, Stil und Ge-
danke, a. a. O. [s. Anm. 130], S. 466 f.)

617. Zu Pierre Boulez s. Anm. 327. Boulez war von 1955-1967 Do-
zent bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik.

618. Der Komponist Karlheinz Stockhausen (1928-2007) nahm 1951


zum ersten Mal an den Darmstädter Ferienkursen teil; ab 1953 als
Dozent.

619. S. Anm. 152 und 320.

620. Der Komponist Hans Werner Henze (1926-2012), der bei


Wolfgang Fortner in Heidelberg studiert hatte, nahm 1946 zum er-
sten Mal an den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in
Darmstadt teil. 1948 lernte er dort René Leibowitz kennen. Henze
nahm Unterricht bei Leibowitz (und bei Josef Rufer), betrieb inten-
sive Studien der Zwölftontechnik und verwendete diese in Kompo-
sitionen. Einige Jahre später wandte Henze, der 1953 nach Italien
übersiedelte, sich von der Darmstädter Avantgarde ab. In Texten di-
stanzierte er sich von den Serialisten; Kompositionen wie »Ode an
den Westwind« (1954) und vor allem »König Hirsch« (1956) doku-
mentieren seine neue ästhetische Position. – Adorno schreibt an an-
derer Stelle: Manche der begabtesten deutschen Komponisten indessen lei-
den derart an dem Determinismus, daß sie auszubrechen versuchen. Unter
ihnen steht an erster Stelle Hans Werner Henze. In Arbeiten wie der Oper

729
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

»König Hirsch« jedoch hat der Ausbruchsversuch nicht ins ersehnte Reich
der Freiheit, in eine wahrhafte ›musique informelle‹ geführt, sondern nach
rückwärts, in den Kompromiß. (GS 18, S. 138)

621. Das Wort Schönbergs konnte nicht nachgewiesen werden.

622. Adorno hatte sich insbesondere über Kommentare empört, die


Pousseur den Schriften Bergs in der französischen Ausgabe beigege-
ben hatte. Vgl. Alban Berg, Écrits. Choisis, traduits et commentés par
Henri Pousseur, Monaco-Ville 1957.

Aspekte des neuen Rechtsradikalismus

Den Vortrag über Aspekte des neuen Rechtsradikalismus hat Adorno in


einer Veranstaltung des Verbands Sozialistischer Studenten Öster-
reichs am 6. April 1967 im Neuen Institutsgebäude der Wiener Uni-
versität gehalten. Zwei Tage später schrieb Manfred Scheuch darüber
in der sozialdemokratischen »Arbeiter-Zeitung«: »Hunderte Studen-
ten drängten sich zu einer Vorlesung, die für niemanden verpflich-
tend gewesen wäre, zahlten Eintritt dafür, nahmen mit unbequemen
Sitzen auf den Stufen des großen Vortragssaales oder mit Stehplätzen
vorlieb, diskutierten mit dem Vortragenden bis in die späten Abend-
stunden.«
Im Palais Schwarzenberg, wo Adorno bei seinem Wiener Aufent-
halt logierte, machte er sich am 2. April 1967 Notizen als Grundlage
für das freie Sprechen (Stichworte Vortrag Rechtsradikalismus: sieben
handschriftlich dichtbeschriebene Seiten, Vt 282). Die für Adornos
Präparation eines Vortrags ungewöhnlich umfangreichen und detail-
lierten Notizen – oft in ganzen Sätzen – nehmen seine Formulierun-
gen zumeist wörtlich vorweg. Darum wurde darauf verzichtet, die
Stichworte im Anhang dieses Bandes wiederzugeben. – Der Vortrag
beim sozialistischen Studentenverband ist akustisch überliefert und
kann seit 2012 auf einer Webseite der Österreichischen Mediathek
nachgehört werden. Die Textherstellung folgt der Tonaufnahme.

623. S. Anm. 338.

624. Die Wirtschaftstheorie des Keynesianismus geht auf den engli-


schen Nationalökonomen John Maynard Keynes (1883-1946) zu-

730
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

rück, der 1936 sein grundlegendes Werk »The General Theory of


Employment, Interest and Money« publiziert hatte. – 1966 war, nach
Jahren des Aufschwungs, die Volkswirtschaft der BRD in eine tiefe
Krise geraten. Unter dem Wirtschaftsminister Karl Schiller (SPD), der
seit dem 1. Dezember 1966 dem Kabinett der Großen Koalition ange-
hörte, wurde die Rezession mit Mitteln einer staatlichen Konjunktur-
politik bekämpft, die sich an Keynesianischen Ideen orientierte.

625. Adorno bezieht sich auf den Vortrag Was bedeutet: Aufarbeitung
der Vergangenheit [s. Anm. 338] aus dem Jahr 1959, worin es heißt:
Noch inmitten der Prosperität, selbst während des temporären Mangels an
Arbeitskräften fühlt insgeheim wahrscheinlich die Mehrheit der Menschen
sich als potentielle Arbeitslose, Empfänger von Wohltaten und eben damit
erst recht als Objekte, nicht als Subjekte der Gesellschaft: das ist der über-
aus legitime und vernünftige Grund ihres Mißbehagens. (GS 10·2, S. 565)

626. Nach der Kuba-Krise (1962) hatte es zwischen den USA und
der Sowjetunion Verhandlungen über eine Rüstungskontrolle gege-
ben. 1963 war ein ›heißer Draht‹ zwischen Washington und Moskau
eingerichtet und ein Vertrag über die Begrenzung von Kernwaffen-
versuchen (›Atomteststopabkommen‹) geschlossen worden.

627. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, abgekürzt EWG,


war durch die ›Römischen Verträge‹ am 25. März 1957 gegründet
worden. Gründungsmitglieder waren Belgien, die BRD, Frankreich,
Italien, Luxemburg und die Niederlande. Zu den Vertragszielen ge-
hörten die Einrichtung eines gemeinsamen Marktes und die Einfüh-
rung einer gemeinsamen Agrarpolitik.

628. Der französische Politiker Pierre Poujade (1920-2003) stieg


Mitte der fünfziger Jahre »zum Wortführer einer breiten Protestbe-
wegung von Bauern, Handwerkern und Händlern der Provinz auf.
Poujade wandte sich, kleinbürgerliche und antisemitische Ressenti-
ments ansprechend, gegen die Großindustrie wie gegen marxistische
Parteien und Gewerkschaften und verteidigte den französischen Ko-
lonialismus. 1956 errangen die Poujadisten einen überraschend ho-
hen Wahlerfolg (11,6 %, 52 Mandate), verloren aber bald wieder an
Boden; seit 1962 ist der Poujadismus nicht mehr parlamentarisch auf-
getreten.« (Brockhaus. Die Enzyklopädie in vierundzwanzig Bän-
den, Bd. 17, Leipzig · Mannheim 1998, S. 420)

731
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

629. Der Ausdruck lunatic fringe soll durch den amerikanischen Prä-
sidenten Theodore Roosevelt (1858-1919) popularisiert worden
sein. So schrieb er etwa in »An Autobiography« (New York 1913,
p. 225): »Then, among the wise and high-minded people who in self-
respecting and genuine fashion strive earnestly for peace, there are
the foolish fanatics always to be found in such a movement and always
discrediting it – the men who form the lunatic fringe in all reform
movements.«

630. Die »Nationaldemokratische Partei Deutschlands« wurde am


28. November 1964 gegründet. Bereits im Folgejahr erreichte sie bei
den Bundestagswahlen 2 Prozent. Bei Kommunalwahlen im März
1966 kam die NPD in Oldenburg auf 11,2 Prozent und in Bayreuth
auf 8,4 Prozent. Großes Aufsehen erregte die Partei, als sie am 6. No-
vember 1966 bei Landtagswahlen in Hessen mit 7,9 Prozent (8 Man-
date) und am 20. November 1966 in Bayern mit 7,4 Prozent
(15 Mandate) in die Parlamente einzog. Die NPD erreichte 1967
ihren Höchststand von 28 000 Mitgliedern.

631. Im Jahre 1966 brach zum ersten Mal seit 1949 das Wirtschafts-
wachstum ein, die Folge waren höhere Arbeitslosenzahlen und ein
Rückgang der Investitionen.

632. Der anakoluthische Teilsatz Wenn es sich wirklich, wie ich zu Ein-
gang thesenhaft vorausgestellt habe . . . wurde hier im Text nicht wieder-
gegeben.

633. Im dritten Aufzug des »Siegfried« (Szene mit Erda): »Du bist –
nicht, / was du dich wähnst! / Urmütter-Weisheit / geht zu Ende: /
dein Wissen verweht / vor meinem Willen. / Weißt du, was Wotan
will? / Dir Unweisen / ruf ’ ich ins Ohr, / daß sorglos ewig du nun
schläfst! / Um der Götter Ende / grämt mich die Angst nicht, / seit
mein Wunsch es will!«

634. »Die Gründung der NPD 1964 erfolgte unter dem Vorzeichen
der ›Sammlungsbewegung‹, als Versuch der organisatorischen Zu-
sammenfassung disparater Elemente und möglichst breiter Reich-
weite in das Lager des etablierten Rechtskonservatismus und als
Versuch, die Isoliertheit des Gettos zu durchbrechen durch den
parteiförmigen Auftritt in der Öffentlichkeit der Mehrheitskultur.«

732
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

(Peter Dudek/Hans Gerd Jaschke, Entstehung und Entwicklung des


Rechtsextremismus in der Bundesrepublik. Zur Tradition einer be-
sonderen politischen Kultur, Bd. 1, Opladen 1984, S. 174)

635. Die am 2. Oktober 1949 von ehemaligen NSDAP-Mitgliedern


gegründete Sozialistische Reichspartei (SRP) erzielte vor allem in
Niedersachsen Erfolge, wo sie bei den Landtagswahlen 1951 auf 11 %
kam. Mit Urteil vom 23. Oktober 1952 wurde sie vom Bundesverfas-
sungsgericht verboten. – Vgl. auch Adornos Besprechung von Otto
Büsch und Peter Furth, Rechtsradikalismus im Nachkriegsdeutsch-
land. Studien über die »Sozialistische Reichspartei« (SRP), Berlin,
Frankfurt a. M. 1957 (jetzt in: GS 20·1, S. 386-388).

636. Die letzten Worte Attinghausens in Friedrich Schillers »Wil-


helm Tell«: »Seid einig – einig – einig –«.

637. Zum ›Bandwagon-Effect‹ (deutsch: Mitläufer-Effekt) vgl. Paul


F. Lazarsfeld/Bernard Berelson/Hazel Gaudet, The People’s Choice.
How the Voter makes up his Mind in a Presidential Campaign, New
York 1944, p. 107 ff. Diese Studie wurde beim Präsidentschaftswahl-
kampf 1940 in Ohio durchgeführt. Vgl. dazu in der deutschen Aus-
gabe: »›Bandwagon effect‹: Man schließt sich der Partei an, die in der
Popularität etwas voraus ist. Man will also auf der siegreichen Seite
sein« (Paul F. Lazarsfeld/Bernard Berelson/Hazel Gaudet, Wahlen
und Wähler, Soziologie des Wahlverhaltens, Neuwied und Berlin
1969, S. 216).

638. Zwischen Friedrich Thielen, dem Bundesvorsitzenden der


NPD, und seinem Stellvertreter Adolf von Thadden war es ab Februar
1967 zum offenen Machtkampf gekommen. Von Thadden und sie-
ben weitere – vornehmlich aus der 1965 aufgelösten Deutschen
Reichspartei stammende – Mitglieder wurden im März 1967 von
Thielen wegen parteischädigenden Verhaltens ausgeschlossen. Dar-
aufhin wurde Thielen von seinem eigenen Landesverband Bremen
ausgeschlossen. Die auch mit juristischen Mitteln geführten Aus-
einandersetzungen zwischen den Gruppierungen zogen sich über
Wochen hin. Thadden wurde Bundesvorsitzender, Thielen verließ
am 8. Mai 1967 die NPD und gründete die Nationale Volkspartei
(NVP).

733
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

639. Der Medienunternehmer und Politiker Alfred Hugenberg


(1865-1951) wurde 1928 Vorsitzender der republikfeindlichen
Deutschnationalen Volkspartei (DNVP). Seine Zusammenarbeit mit
der NSDAP trug zum Aufstieg Hitlers bei.

640. Vgl. dazu in »Der Spiegel« (Nr. 49 vom 28. November 1966,
S. 39 f.): »Die verblüffendste Erkenntnis, die sich aus den Wahl-
ergebnissen gewinnen läßt, aber ist, daß Deutschlands Rechte
durchweg dort wieder emporstrebt, wo sie seit je stark gewesen ist.
Wo einst Völkische, Deutschnationale oder Nazis triumphierten,
kommt heute auch die NPD an. [. . .] In Bayreuth, Walhalla der
Wagnerianer, bekam die NSDAP 1930 fast 40 Prozent, die NPD jetzt
13,9. In Kulmbach, wo das stärkste Bier der Welt gebraut wird,
stimmten damals 38,1 Prozent für die Nazis, nun für die National-
demokraten 11,2 Prozent. [Absatz] Im nördlichen Hessen wucher-
ten schon vor der Jahrhundertwende Blut-und-Boden-Ideale. Von
dort zogen damals antisemitische Gefolgsleute aus dem ›Bauernver-
ein‹ des Marburger Bibliothekars Boeckel in den Reichstag. 1924
fingen Deutschnationale Volkspartei und Völkischer Block (eine Art
Wählervereinigung der damals verbotenen NSDAP und Deutsch-
Völkischen Freiheitspartei) im Hessenkreis Waldeck 53, im Kreis
Hersfeld 37,4 und im Dillkreis gar 48,5 Prozent der Wähler. NPD-
Ziffern heute: Kreis Waldeck 11,3 Prozent, Kreis Hersfeld und Dill-
kreis je 10,7 Prozent.«

641. S. Anm. 356.

642. Gemeint sind Vorgänge um den nationalsozialistischen Histori-


ker Taras Borodajkewycz (1902-1984), der seit 1955 einen Lehrstuhl
an der Wiener Hochschule für Welthandel innehatte. Als er auf einer
Pressekonferenz am 23. März 1965 den »jüdischen Anwalt Rosen-
zweig erwähnte, brach das Publikum in höhnisches Gelächter aus,
und als sich Borodajkewycz stolz zu seiner Mitgliedschaft in der
NSDAP bekannte, erntete er erneut Beifall. [Absatz] Schon am darauf
folgenden Tag, dem 24. März 1965, kam es zu Demonstrationen ge-
gen Borodajkewycz, die am 31. März 1965, als sich Tausende De-
monstrierende in der Wiener Innenstadt versammelten, einen Hö-
hepunkt erreichten. Aber auch die Anhängerschaft Borodajkewyczs
versammelte sich und skandierte ›Heil Borodajkewycz‹, ›Juden raus‹
und ›Hoch Auschwitz‹.« (Handbuch des Antisemitismus. Juden-

734
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

feindschaft in Geschichte und Gegenwart, hrsg. von Wolfgang Benz,


Bd. 4: Ereignisse, Dekrete, Kontroversen, Berlin, Boston 2011, S. 60)

643. Die am 30. Dezember 1918 durch den Zusammenschluß des


Spartakusbundes und der Internationalen Kommunisten Deutsch-
lands in Berlin gegründete Kommunistische Partei Deutschlands
(KPD) hatte Ende 1932 mehr als 300 000 Mitglieder und etwa 6 Mil-
lionen Wähler.

644. Die KPD war am 17. August 1956 vom Bundesverfassungsge-


richt als verfassungswidrig erklärt und aufgelöst worden.

645. Siegfried Müller (1920-1983), genannt ›Kongo-Müller‹, war


1964/65 im kongolesischen Bürgerkrieg als Söldner an der Nieder-
schlagung des Aufstands gegen die Regierung von Moise Tschombé
beteiligt. In einem Interview vom 10. November 1965, geführt von
zwei DDR-Journalisten, sagte Müller: »Wir haben für die westliche
Zivilisation gekämpft, wir haben für den Kongo gekämpft, der Kon-
go bedeutet in diesem Falle die westliche Zivilisation, einschließlich
Europa, einschließlich unserer NATO, das habe ich ja allen Belgiern
erklärt, der Kongo ist ein NATO-Fall. Er ist nicht wie ein Spielchen
so daneben, sondern der Kongo ist ein NATO-Fall, der Kongo ist ein
Fall, wo wir Europa gegen den Kommunismus verteidigen.« (Walter
Heynowski/Gerhard Scheumann, Der lachende Mann. Bekenntnis-
se eines Mörders, Berlin [Ost] o. J. [1966], S. 80)

646. Vgl. dazu den im Institut für Sozialforschung vorhandenen


hektographierten Forschungsbericht: Zum politischen Bewußtsein
ehemaliger Kriegsgefangener. Eine soziologische Untersuchung im
Verband der Kriegsheimkehrer, Frankfurt a. M. 1957, S. 117 f.

647. Nicolas Berg verweist darauf, daß die meisten Wörterbücher –


etwa Grimm, Dornseiff, Duden – oder auch allgemeine Nachschla-
gewerke wie Brockhaus oder Meyers Konversationslexikon den Be-
griff Luftmensch nicht verzeichnen. »Lediglich in der populären eng-
lischsprachigen Jiddisch-Enzyklopädie von Leo Rosten informiert
ein Eintrag ›luftmentsch‹ – im Amerikanischen auch ›luftmentsh‹
oder ›luftmensh‹ geschrieben – über einige Bedeutungen: Er sei das
Äquivalent für einen Tagträumer, einen unpraktischen Zeitgenossen
und jemanden ohne feste Arbeit, der nur gelegentlich ein festes Ein-

735
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

kommen, dafür aber vielseitige Begabungen habe.« (Nicolas Berg,


Luftmenschen. Zur Geschichte einer Metapher, Göttingen 2008,
S. 9 [= toldot. Essays zur jüdischen Geschichte und Kultur, hrsg. von
Dan Diner, Bd. 3])

648. »Man nennt den andern einen Sophisten, wenn man fühlt, daß
man dümmer ist als er.« (Valéry, Windstriche, a. a. O. [s. Anm. 604],
S. 99)

649. Gemeint ist, wie auch Adornos Stichworte (Vt 282/4) zu dem
Vortrag belegen, Helge Pross (1927-1984). Pross war seit 1954 wis-
senschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialforschung. Sie ha-
bilitierte sich 1963 an der Frankfurter Universität und lehrte ab 1965
auf einer ordentlichen Professur für Soziologie in Gießen. – In einer
Diskussion mit Studenten am 5. Dezember 1967 sagte Adorno: Mei-
ne Gießener Kollegin Helge Pross, die ja, wie Sie wissen, früher hier Pri-
vatdozentin gewesen ist, die ist wegen einer Enquete, die sie durchgeführt
hat, von rechtsradikaler Seite wüst angegriffen worden. Und in einem der
Blättchen der NPD, in dem sie denunziert war, kam ausdrücklich vor: ›Wir
wünschen keine Diskussion mit Frau Professor Pross, hier gibt es überhaupt
keine Diskussion, sondern hier gibt es nur existentielle Entscheidung.‹ [La-
chen im Auditorium] Mir hat die Äußerung Spaß gemacht, weil sie mei-
ne eigenen Beobachtungen aus dem Jargon der Eigentlichkeit in einer mir
selbst unerwarteten Weise bestätigt hat. (Frankfurter Adorno Blätter VI.
Im Auftrag des Theodor W. Adorno Archivs hrsg. von Rolf Tiede-
mann, München 2000, S. 163)

650. Adorno zitiert eine Formulierung aus der Dialektik der Aufklä-
rung (a. a. O. [s. Anm. 342], S. 236; vgl. jetzt GS 3, S. 226).

651. Die »Deutsche Soldaten-Zeitung«, 1951 gegründet, richtete


sich zunächst vor allem an ehemalige Angehörige der deutschen
Wehrmacht. Nachdem die Zeitung in wirtschaftliche Schwierigkei-
ten geraten war, wurde sie 1958 zu 50 % und 1960 vollständig von
Gerhard Frey (1933-2013) übernommen, der als Herausgeber und
Chefredakteur fungierte und das Organ zum auflagenstärksten der
extremen Rechten in der Bundesrepublik machte. Bis 1962 erschien
die Zeitung monatlich, danach wöchentlich. Frey gelang es, ihre
Auflage bis Ende der sechziger Jahre auf über 100 000 Exemplare zu
steigern. Das nationalistische und antisemitische Blatt erfuhr mehrere

736
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Namenswechsel; 1963 wurde es in »Deutsche National-Zeitung und


Soldaten-Zeitung« umbenannt.

652. Gegen Gerhard Frey, »den Herausgeber der ›Deutschen Natio-


nalzeitung‹ wurden bisher 123 Strafanträge (wegen Verstoß gegen
§§ 90a, 93, 95, 96, 96a, 130, 140 und 189 StGB) gestellt, die er alle er-
folgreich überstanden hat – ebenso wie einige Beschlagnahmungen
seines Blattes in der Bundesrepublik und in Österreich.« (Hermann
Bott, Die Volksfeind-Ideologie. Zur Kritik rechtsradikaler Propa-
ganda, Stuttgart 1969, S. 17)

653. Nicht ermittelt.

654. In Artikel 21, Absatz 1 des Grundgesetzes heißt es über die Par-
teien: »Ihre innere Ordnung muß demokratischen Grundsätzen ent-
sprechen.« Fehlt einer Partei die innere demokratische Ordnung, so
droht das Verbot wegen Verfassungswidrigkeit (vgl. Artikel 21, Ab-
satz 2).

655. »Nation Europa« war der Titel einer 1951 von Arthur Ehrhardt,
einem ehemaligen SS-Sturmbannführer, gegründeten rechtsextre-
men Zeitschrift, die unter diesem Titel bis 1990 – sodann umbenannt
in »Nation & Europa« – bestand. Zur Konzeption der Zeitschrift ge-
hörte rassistisch die Begründung der Dominanz der ›Europiden‹ (vgl.
Dudek/Jaschke, Rechtsextremismus, a. a. O. [s. Anm. 634], S. 50).

656. Zur Propaganda der Nationalsozialisten gehörte die Forderung


nach ›Brechung der Zinsknechtschaft‹. ›Plutokratie‹ wurde von ih-
nen mit den politischen Systemen der USA und Großbritanniens
gleichgesetzt. Während des Zweiten Weltkriegs erschienen zahlrei-
che Propaganda-Publikationen, die die angelsächsischen Feind-
mächte als ›Plutokratien‹ diffamierten.

657. Die Vorstellung von Europa als dritter Kraft zwischen den Welt-
mächten USA und Sowjetunion hatte, auch in Reaktion auf den Kal-
ten Krieg, in den sechziger Jahren besonderen Aufschwung erlebt (ist
aber älterer Provenienz). Rechtsradikale Gruppierungen eigneten
sich die Parole an.

737
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

658. Mit dem Slogan »Man kann wieder wählen – Man wählt NPD«
war diese Partei 1965 in die Bundestagswahl gezogen.

659. Der Kampf gegen die Weimarer »Systemparteien« – SPD, Zen-


trum und DDP (ab 1930 DStP) – war ein Zentralstück der Goebbels-
schen Propaganda. Dazu gehörten verwandte Parolen wie »System-
presse«, »Systempolitiker« usw.

660. Das Schlagwort »Lizenzparteien« spielte in der Rhetorik der


NPD eine wichtige Rolle. Angelehnt an »Lizenzpresse« (in der Besat-
zungszeit zwischen 1945 und 1949), diente es zur Diffamierung der
Bonner Parteien als Erfüllungsgehilfen der Alliierten.

661. »Es zittern die morschen Knochen« von dem NS-Poeten und
Liedermacher Hans Baumann (1914-1988). Der Refrain lautet: »Wir
werden weiter marschieren, / wenn alles in Scherben fällt, / denn
heute gehört uns Deutschland / und morgen die ganze Welt.« Es war
in der Nazizeit eines der bekanntesten und meistgesungensten Lie-
der.

662. Zum Verständnis dessen, was Symbol hier bezeichnet, vgl. eine
Passage der Dialektik der Aufklärung: Der Sinn des faschistischen Formel-
wesens, der ritualen Disziplin, der Uniformen und der gesamten vorgeblich
irrationalen Apparatur ist es, mimetisches Verhalten zu ermöglichen. Die
ausgeklügelten Symbole, die jeder konterrevolutionären Bewegung eigen
sind, die Totenköpfe und Vermummungen, der barbarische Trommelschlag,
das monotone Wiederholen von Worten und Gesten sind ebensoviel organi-
sierte Nachahmung magischer Praktiken, die Mimesis der Mimesis. (GS 3,
S. 209)

663. Eingeladen vom Verband Sozialistischer Studenten Öster-


reichs, sprach Adorno in der Wiener Universität am 5. April 1967
Zum Problem des sozialen Konflikts heute. Vgl. dazu jetzt: Anmerkungen
zum sozialen Konflikt heute, GS 8, S. 177-195.

664. Zwei Monate vor dem Vortrag, am 13. Februar 1967, hatte
Adorno Max Horkheimer eine Liste rechtsradikaler Propaganda-
tricks geschickt. Sie enthält folgende Aufstellung: Diskriminierung des
Deutschen / Mißachtung nationaler Symbole / Schluß mit Schuldbekennt-
nis, dessen Karikatur, »Strich darunter« / NS = erst gesund, später erst ausge-

738
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

artet. »Gesunder Kern« / Pochen auf formalem Recht: Münchner Abkom-


men. (Getarnter Revanchismus) / Preisgabe der Ostgebiete = Landesverrat
(wie früher »Verzichtpolitiker«) / »Was jeder Negerstaat darf, sollen wir nicht
dürfen« / Internationale Solidarität des Faschismus / Unabhängigkeit von
Amerika / Deutschland für Wiedergutmachung ausgeblutet / Gegen NS-
Prozesse / Aufrechnung der Schuld, Verkleinerungstrick / Ausverkauf der
deutschen Wirtschaft / Überfremdung durch Gastarbeiter / Verrat am deut-
schen Bauern / Man muß eine Idee haben, »Idealismus« aus pragmatischen
Gründen / Fiktion verhinderter Selbstbestimmung, »Man kann wieder wäh-
len« / »Lizenzparteien« (entsprechend »Systemparteien«) / Linksintellektu-
elle anstelle von Juden / Entartete Kunst / Hure als Leitbild / Wahrheitsmo-
ment im Dienst der Lüge s. Gruppenexperiment 330 f., 338 f. / Akkumulative
Wirkung an der Grenze der Legalität (Nationalzeitung) / Gesagtes als Chif-
fre für Verschwiegenes. (Zitiert nach: Adorno/Horkheimer, Briefwech-
sel Bd. IV, a. a. O. [s. S. 626], S. 798 f.) – Im Nachlaß Adornos haben
sich, aus den Jahren zwischen 1943 und 1949, diverse Konvolute von
›devices‹ (Propagandatricks) erhalten. Im Rahmen der mit Unter-
stützung des American Jewish Commitee durchgeführten »Studies in
Prejudice« wurden Flugblätter, Broschüren und Reden amerikani-
scher Hetzapostel analysiert; vgl. zu den Ergebnissen: Leo Lowen-
thal/Norbert Guterman, Prophets of Deceit. A Study of the Tech-
niques of the American Agitator, New York 1949.

665. Vgl. etwa GS 8, S. 116, S. 518 f., S. 527 f.; GS 9·2, S. 28, S. 63,
S. 375; GS 10·2, S. 537.

666. Der Rabbiner Max Nussbaum (1908-1974) war von 1964 bis
1968 Chairman der amerikanischen Sektion des Jüdischen Weltkon-
gresses.

667. Die »Deutschen Nachrichten«, das Wochenblatt der NPD,


brachten am 22. Januar 1965 den Aufmacher »40 Milliarden für Isra-
el?«. Hermann Bott (a. a. O. [s. Anm. 652], S. 100) schreibt darüber:
»[. . .] die gesamten Zahlungen an politisch, rassisch und religiös Ver-
folgte, die Entschädigungen für widerrechtliche Haft, geraubtes Ver-
mögen, Witwen- und Waisenrenten werden generell den Juden oder
dem Staat Israel zugerechnet. Wider besseres Wissen versucht die
NPD, in ihrer Zeitung den deutschen Steuerzahler mit der Titel-
schlagzeile ›40 Milliarden für Israel?‹ zu erschrecken [. . .] drei Mona-
te später lautet die Titelschlagzeile ›Es geht um über 3 Milliarden‹«. –

739
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Über entsprechende Äußerungen in Wahlversammlungen der NPD


konnte nichts ermittelt werden.

668. Das Münchner Abkommen zwischen Deutschland, Großbri-


tannien, Italien und Frankreich wurde am 29./30. September 1938
von Adolf Hitler, Neville Chamberlain, Benito Mussolini und Édou-
ard Daladier unterzeichnet. Es verpflichtete die an der Münchner
Konferenz nicht beteiligte Tschechoslowakei dazu, bestimmte Ge-
bietsteile (›Sudetenland‹) an das Deutsche Reich abzutreten. Groß-
britannien und Frankreich versuchten damit, einen Krieg zu vermei-
den.

669. »Der ›Deutsche Studenten-Anzeiger‹ erscheint als ›Unabhängi-


ges Forum deutscher Hochschüler‹ siebenmal jährlich in den Seme-
stermonaten im National-Verlag, Hannover, 1965 im 5. Jahrgang.
[. . .] Die Namen der im Impressum genannten Studenten wechsel-
ten. Geblieben sind die ›Gesprächspartner der älteren Generation‹,
die für den ›Deutschen Studenten-Anzeiger‹ (DSA) schreiben. Dar-
unter befinden sich Johannes F. Barnick, Herbert Cysarz, Emil Fran-
zel, Peter Kleist und Kurt Ziesel.« (Heinz Brüdigam, Der Schoß ist
fruchtbar noch . . . Neonazistische, militaristische, nationalistische
Literatur und Publizistik in der Bundesrepublik, 2., neubearbeitete
Aufl., Frankfurt a. M. 1965, S. 224) Die Auflagen der Zeitschrift be-
wegten sich im fünfstelligen Bereich. In dem von Waldemar Schütz
geleiteten National-Verlag erschien auch die NPD-Wochenzeitung
»Deutsche Nachrichten«.

670. Die Oder-Neiße-Linie war – vorbehaltlich der endgültigen


Regelung durch einen Friedensvertrag – im August 1945 durch das
Potsdamer Abkommen als Grenze zwischen Deutschland und Polen
bestimmt worden.

671. Die deutsche Ausgabe von Adornos Beiträgen zur Authoritarian


Personality übersetzt punitiveness zumeist mit Strafbedürfnis (vgl. Theo-
dor W. Adorno, Studien zum autoritären Charakter. Aus dem Ameri-
kanischen von Milli Weinbrenner. Vorrede von Ludwig von Friede-
burg, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1976, S. 197, 216, 237 und 343). An
anderen Stellen wählt Weinbrenner die Formulierungen Hang zu
strafen (ebd., S. 238), Strafsucht (S. 263) und Strafwille (S. 318).

740
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

672. Ungewiß, worauf Adorno sich bezieht. – In einer rechtsradi-


kalen Zeitschrift stand am 4. August 1961 zu lesen: »Kein Erbar-
men mehr! [. . .] Zunehmende Gewaltverbrechen fordern härtere
Maßnahmen. [. . .] Wenn ein Verbrecher weiß, daß er nach einem
Mord und Raub an einem Taxifahrer ins Jenseits befördert wird,
wenn man ihn erwischt, wird er sich die Sache doch etwas überle-
gen und vor der Tat mehr zurückschrecken, als wenn er sich die
Rechnung aufmacht, durch gute Führung und ähnliche Pluspunkte
doch nicht sein ganzes Leben hinter Zuchthausmauern sitzen zu
müssen. [. . .] Was [. . .] die Taxifahrer betrifft, so kann es nicht mehr
wie bisher weitergehen. Es muß etwas geschehen und zwar bald!«
(Zit. nach: Institut für Sozialforschung an der Johann Wolfgang
Goethe-Universität, Über rechtsradikale Tendenzen in der west-
deutschen Presse 1961. Von Peter Schönbach, Wilke Thomssen,
Rolf Tiedemann, Frankfurt/Main 1966 [Als Manuskript vervielfäl-
tigt], S. 126)

673. Adorno spielt an auf die »Aktion Saubere Leinwand«, die im


Herbst 1964 ihren Ausgang von Ingmar Bergmans skandalisiertem
Film »Das Schweigen« genommen hatte. Sie war gegen das, wie es
hieß, ›Filmgeschäft mit Schamlosigkeit und Sexualität‹ gerichtet und
forderte ›sittlich saubere und moralische‹ Filme. In dem Zusammen-
hang hatte der CDU-Bundestagsabgeordnete Adolf Süsterhenn
1965 – erfolglos – eine Grundgesetzänderung beantragt.

674. Der Jurist Fritz Bauer (1903-1968), der 1936 nach seiner Amts-
enthebung und Internierung im Konzentrationslager nach Däne-
mark emigrierte, kehrte 1949 nach Deutschland zurück. Während
der Frankfurter Auschwitz-Prozesse in den Jahren 1963-1965 war er
als Generalstaatsanwalt des Landes Hessen der Vertreter der Anklage.
Zu der von Adorno angezogenen Bemerkung vgl. Fritz Bauer, Zu den
Nazi-Verbrecherprozessen. Gespräch im NDR (1963), in: ders., Die
Humanität der Rechtsordnung. Ausgewählte Schriften, hrsg. von
Joachim Perels und Irmtrud Wojak, Frankfurt a. M. 1996, S. 101-117:
»Wenn es im allgemeinen um fremde Täter geht – Sittlichkeitsdelin-
quenten, Betrüger, Diebe –, dann ist das Publikum jederzeit gerne
bereit, ›Kopf ab‹ zu verlangen, eine harte Strafe, ohne sich mit dem
Menschen zu beschäftigen. [. . .] Bei den Nazi-Prozessen sind die
Leute in höherem Maße engagiert. Das erleben wir immer. Leute,
die im Alltag hart und pharisäerhaft sind und andere hart verurteilen,

741
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

sind ganz anders, wenn es plötzlich um sie selber geht. Und die härte-
sten Männer und Frauen, die sonst harte Strafen verlangen, stehen
vor uns weinend und bitten um Verständnis, wenn es um ihre Fami-
lienmitglieder geht.« (Ebd., S. 109)

675. Adorno bezieht sich auf die Negative Dialektik; vgl. in der Erst-
ausgabe (Frankfurt a. M. 1966), S. 280; jetzt GS 6, S. 282.

676. Vgl. dazu den Abschnitt Political issues close to the subject in der
Authoritarian Personality, a. a. O. [s. Anm. 32], p. 714-718; jetzt GS 9·1,
S. 414-418.

677. Franklin D. Roosevelts Politik des »New Deal« setzte eine Viel-
zahl von kurzfristigen Hilfen wie auch nachhaltig angelegten Refor-
men durch, die die soziale Sicherheit der Bevölkerung verbessern
sollten. In der Authoritarian Personality (ebd.) werden in dem Zusam-
menhang auch Maßnahmen des »Office of Prize Administration«
(OPA) sowie »public health insurance« genannt.

Die Musik im Europa von heute - Deutschland

Diese Bemerkungen zum Musikleben in Deutschland waren der


fünfte Teil einer Sendereihe des Süddeutschen Rundfunks (SDR), die
unter dem Titel »Die Musik im Europa von heute« lief. Adorno
schrieb am 12. September 1967 an Willy Gaessler vom SDR über den
geplanten Vortrag: Ich bin sehr froh, daß Sie mit meiner Absicht einver-
standen sind, daß ich den Beitrag frei auf Band einspreche, und daß das
in Frankfurt geschehen soll. Ebenso bin ich mit den Honorarbedingungen,
1500,00 DM, einverstanden. [Absatz] Zugrunde liegen würden dem Vor-
trag das Kapitel »Musikleben« [vgl. GS 14, S. 308-330] aus der »Einlei-
tung in die Musiksoziologie« und gewisse Motive über die Soziologie des
deutschen Musiklebens, aus dem Vortrag, den ich [am 24. November
1966] vor dem Deutschen Musikrat hielt [vgl. GS 17, S. 167-188]. Natür-
lich wird, wie es bei mir in solchen Fällen immer zu gehen pflegt, kein
Satz wörtlich wiederholt werden, sondern ich werde alles auflockern, impro-
visatorisch umformen, und ich denke, es wird mir genug Neues einfallen.
(Ru 64/6) Der Vortrag wurde am 27. Oktober 1967 im Studio des
Hessischen Rundfunks eingesprochen und am 29. März 1968 vom
Süddeutschen Rundfunk gesendet.

742
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Weist Adorno in dem zitierten Brief an Gaessler auf Beziehungen


zu anderen eigenen Arbeiten hin, so hat er die Improvisation auch
durch Notizen vorbereitet, die ihm die Stichworte gaben. Im
Adorno Archiv ist ein Typoskript vorhanden, dessen Original
(Vt 290) – auch zwei Durchschläge (Vt 288 und 289) sind erhalten –
von Adorno handschriftlich bearbeitet und ergänzt worden ist. Es ist
überschrieben mit Musikvortrag für den Süddeutschen Rundfunk Stutt-
gart (27.10.1967). Da viele von Adornos Stichworten das Vorgetragene
wörtlich vorwegnehmen, wurde auf ihre vollständige Wiedergabe
verzichtet; die »Stichworte zu den Vorträgen« sollten nicht mit Re-
dundanzen belastet werden. Abgedruckt werden (auf S. 587 f.) nur
die Notizen zu dem aus Zeitgründen nicht mehr Ausgeführten. –
Textgrundlage für den Vortrag ist die Aufnahme, die sich auf einem
Tonband findet (TA 47).

678. S. Anm. 329.

679. Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie, a. a. O. [s. Anm. 448],


S. 130; vgl. jetzt GS 14, S. 309.

680. Exemplarisch dafür Alphons Silbermann (1909-2000), Ador-


nos musiksoziologischer Antipode, an den er hier vor allem gedacht
haben dürfte: »Nur das Musikerlebnis kann als soziale Tatsache Aus-
gangspunkt und Mittelpunkt der Musiksoziologie sein; denn als Tat-
sache kann es durch Natur, Veränderung und Abhängigkeit auf das
genaueste festgelegt, umschrieben und beobachtet werden.« (Al-
phons Silbermann, Die Stellung der Musiksoziologie innerhalb der
Soziologie und der Musikwissenschaft, in: Kölner Zeitschrift für So-
ziologie und Sozialpsychologie, Jg. 10 [1958], Heft 1, S. 102-115; hier
S. 113) Die Frage nach dem ›Musikerlebnis‹ war einer der zentralen
Punkte in der Kontroverse zwischen Adorno und Silbermann, die
sich über Jahre erstreckte.

681. Konjiziert für bedeuten.

682. Adorno arbeitete 1938-1940 im Princeton Radio Research


Project (s. Anm. 45) mit den Psychologen Hadley Cantril (1906 bis
1969) und Gordon W. Allport (1897-1967) zusammen. Cantril hatte
gemeinsam mit Hazel Gaudet und Herta Herzog die Panik unter-
sucht, die 1938 durch Orson Welles’ Radiosendung »Invasion from

743
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Mars« ausgelöst worden war (vgl. Invasion from Mars: A Study in the
Psychology of Panic, New York 1940.) – Zu den Experimenten mit
Hörergruppen: Eine entsprechende Stelle in den »Soziologischen Ex-
kursen« gibt den Nachweis: Hadley Cantril/Gordon W. Allport, The
Psychology of Radio, Salem 1935 (vgl. Institut für Sozialforschung,
Soziologische Exkurse. Nach Vorträgen und Diskussionen, Frank-
furt a. M. 1965, S. 105). Indessen konnte in dem Buch kein Hinweis
auf die Experimente mit vertauschten Etiketten gefunden werden; der
Name Toscaninis kommt nicht vor. – Eine kurze Beschreibung von
»Experimental Studies of Prestige Suggestion« findet sich unter dem
Namen von Hadley Cantril in: Psychological Bulletin, Volume
XXXIV (1937), p. 528. Im Rahmen dieser »Studies« fanden vermut-
lich die von Adorno angezogenen Experimente statt.

683. Vgl. dazu aus Adornos Aufsatz On Popular Music (in: Studies in
Philosophy and Social Science, Volume IX/1941, p. 17-48): The com-
position hears for the listener. This is how popular music divests the listener
of his spontaneity and promotes conditioned reflexes. Not only does it not
require his effort to follow its concrete stream; it actually gives him models
under which anything concrete still remaining may be subsumed. The sche-
matic build-up dictates the way in which he must listen while, at the same
time, it makes any effort in listening unnecessary. Popular music is »pre-
digested« in a way strongly resembling the fad of »digests« of printed mate-
rial. (p. 22). Vgl. jetzt Adorno, Current of Music, a. a. O. [s. Anm. 46],
S. 418; ferner auch GS 4, S. 229.

684. Vgl. dazu T. W. Adorno, Über den Fetischcharakter in der Musik


und die Regression des Hörens, in: Zeitschrift für Sozialforschung,
Jg. VII (1938), Heft 3, S. 350; jetzt in: GS 14, S. 45.

685. Adorno bezieht sich wiederum auf den Aufsatz Über den Fetisch-
charakter in der Musik und die Regression des Hörens, a. a. O., S. 321-356,
vor allem S. 339 ff. (vgl. GS 14, S. 14-50, v. a. S. 34 ff.).

686. S. Anm. 528.

687. Adorno bezieht sich auf die Diskussion über »Stagione- oder
Ensembleoper«, die, veranstaltet von der Österreichischen Gesell-
schaft für Musik, am 16. Mai 1966 im Wiener Palais Palffy stattgefun-
den hatte. Daran nahmen neben Adorno Hans Hotter, Hermann

744
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Juch, Rolf Liebermann, Herbert Schneiber, Erwin Thalhammer und


(als Diskussionsleiter) Helmut A. Fiechtner teil. Adorno hatte gefor-
dert, daß man die Menschen, die im allgemeinen die Oper frequentieren,
lehrt, eine Oper als Kunstwerk und nicht als eine Art von zoologischem
Garten von schönen Stimmen und anderen physiologischen Abnormitäten
zu betrachten. Und an späterer Stelle: Ich bin der Ansicht, daß die Stim-
me in der Oper, wenn die Oper ein Kunstwerk ist, ein Instrument ist und
nicht Selbstzweck, und ich halte den Kult der Stimme um ihrer selbst
willen ja also für ein im Grunde kulinarisches, also für ein Verhältnis, wie
man’s zu gutem Essen hat, was etwas sehr Schätzbares sein mag, aber was
also diesseits überhaupt der Idee der Kunst liegt. Und ich würde sagen, daß
genau das Moment der Kunstfremdheit, das man also immer wieder der
Oper gegenüber konstatieren kann, genau mit diesem – wie soll man sa-
gen – Stimmmaterialismus zusammenhängt, der also zu der Erfahrung
dessen, was ein in sich konsequent durchgeformtes und artikuliertes Kunst-
werk ist, noch nicht gelangt ist. Damit meine ich in gar keiner Weise, daß
nicht die Stimme ein sehr wesentliches Element als Träger der musikalischen
Kraft eines lebendigen Menschen zu sein hat, aber die Stimme abgelöst von
dem musikalischen Zweck ist heute ein Fetisch [. . .]. (TA 367)

688. Vgl. vor allem die polemische Glosse von Hermi Löbl in der
Wiener Boulevardzeitung »Express«, teilweise wiedergegeben in:
Theodor W. Adorno/Lotte Tobisch, Der private Briefwechsel, hrsg.
von Bernhard Kraller und Heinz Steinert, Wien 2003, S. 144.

689. Adorno spielt an auf Karl Löbl, Das Wunder Karajan, Bayreuth
1965.

690. Vgl. Max Webers Studie »Die rationalen und soziologischen


Grundlagen der Musik« (1921). Dieser für die Musiksoziologie
grundlegende Text war als Anhang der zweiten (1925) bis vierten
(1955) Auflage seines Nachlaßwerks »Wirtschaft und Gesellschaft«
(1921) angefügt und ab der fünften Auflage (1972) wieder ausge-
schieden worden.

691. S. Anm. 221.

692. Die 1917 von Hugo von Hofmannsthal, Max Reinhardt, Ri-
chard Strauss u. a. gegründeten Salzburger Festspiele.

745
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

693. Vgl. dazu die in Anm. 687 erwähnte Diskussion über »Stagio-
ne- oder Ensembleoper«.

694. Gustav Mahler übernahm 1897 die Leitung der Wiener Hof-
oper, die er einer Reihe von gegen den Routinebetrieb gerichteten
Reformen unterzog. Diese bezogen sich auf die Schaffung eines fe-
sten Sängerensembles, die Repertoirebildung, die Probenarbeit, das
Gesamtkonzept der Aufführung, die szenische Darstellung und das
Bühnenbild – wobei ab 1903 die Zusammenarbeit mit dem Maler
und Grafiker Alfred Roller entscheidend war. Auch den äußeren
Opernbetrieb suchte Mahler zu verändern (Bekämpfung des Cla-
queurwesens oder des Zu-spät-Kommens bei der Aufführung).
Mahler wirkte bis 1907 als Hofoperndirektor.

695. Arnold Schönberg »gründete im November 1918 den ›Verein


für musikalische Privataufführungen‹, in dem sich die Autonomie
von Musik ungeschmälert und unabhängig von der Publikumsgunst
durchsetzen konnte. Die Werke – Orchesterwerke in Fassungen für
Klavier oder für Kammerorchester – wurden gründlich von ›Vor-
tragsmeistern‹, darunter Berg und Webern, einstudiert und oftmals
wiederholt. Öffentliche Kritik, Beifalls- oder Mißfallensäußerungen
waren untersagt; die Programme entwarf Sch[önberg]. Als der Verein
1921 wegen der Inflation seine Arbeit einstellen mußte, hatte er in
117 Konzerten insgesamt 154 Werke 353 mal aufgeführt, darunter
vor allem Werke von Reger, Debussy, Bartók und Schönberg.«
(Giselher Schubert, [Artikel] Schönberg, Arnold (Franz Walter), in:
Metzler Komponisten Lexikon. 340 werkgeschichtliche Porträts.
Mit 313 Abbildungen, hrsg. von Horst Weber, Stuttgart, Weimar
1992, S. 699)

696. Der Süddeutsche Rundfunk hatte, in der Reihe »Radio-Es-


say«, Adornos Kritik des Musikanten in zwei Teilen gebracht: am
25. Mai (Ideologie der Singbewegung) und am 1. Juni 1956 (Künstlerische
Ansprüche der Kompositionen und Aufführungen). Zur Druckfassung
der beiden Vorträge s. Anm. 310.

697. Die Formulierung konnte in Schriften von Habermas wörtlich


nicht nachgewiesen werden. Vermutlich bezieht Adorno sich auf
Jürgen Habermas u. a., Student und Politik, a. a. O. [s. Anm. 415].
Vgl. darin vor allem die von Habermas geschriebenen Abschnitte

746
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

»Das Bild vom absteigenden akademischen Mittelstand«, »Das Ge-


sellschaftsbild der inneren Werte« und »Das Gesellschaftsbild der gei-
stigen Elite«, S. 165-186. Jürgen Habermas verweist in einem Brief
an den Herausgeber auch auf zahlreiche im Institut für Sozialfor-
schung mit Adorno geführte Gespräche.

698. Die Darmstädter Ferienkurse und die Donaueschinger Musik-


tage. Die »Internationalen Ferienkurse für Neue Musik« wurden
1946 von Wolfgang Steinecke, dem Kulturreferenten der Stadt
Darmstadt, begründet. Adorno nahm 1950 zum ersten Mal daran
teil. 1955, 1956, 1957, 1961 und 1966 hielt er im Rahmen der Ferien-
kurse mehrteilige Vorlesungen (vgl. dazu Adorno, Kranichsteiner Vor-
lesungen, a. a. O. [s. Anm. 141]). – Die 1921 gegründeten »Donau-
eschinger Musiktage für zeitgenössische Tonkunst« – so die offizielle
Bezeichnung in den 1950er und 60er Jahren – waren nach der Nazi-
zeit wiederbelebt worden. Sie wurden ab 1950 zwei Jahrzehnte lang
von Heinrich Strobel (Südwestfunk) geleitet.

699. Adorno konnte die Vorschläge über Massenmedien aus Zeitgrün-


den nicht mehr vorbringen. Siehe dazu aber die Stichworte seines
Konzeptes, S. 587 f.

700. Vgl. Über die musikalische Verwendung des Radios, in: Adorno,
Der getreue Korrepetitor, a. a. O. [s. Anm. 608], S. 217-248; jetzt in:
GS 15, S. 369-401.

701. Zu Adornos Begriff strukturellen Hörens vgl. GS 15, S. 159 f.,


184-186 und 245-247.

Einführung zur Aufführung des Pierrot lunaire

Bei Gelegenheit einer Aufführung des »Pierrot lunaire« in der Staat-


lichen Hochschule für Musik, Frankfurt am Main, trug Adorno am
31. Mai 1968 Einführendes zu dem Melodramen-Zyklus von Arnold
Schönberg vor. Er wurde unterstützt von dem Pianisten Klaus Bil-
ling, der am Klavier die Musikbeispiele gab.
Die Tonaufnahme von Adornos Vortrag (TA 116) liegt dem edier-
ten Text zugrunde. Sonstiges Material ist dazu nicht erhalten.

747
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

702. »Pierrot lunaire« für eine Sprechstimme, Klavier, Flöte (auch


Piccolo), Klarinette (auch Baßklarinette), Geige (auch Bratsche) und
Violoncello, 1912.

703. Die Schauspielerin und Sängerin Albertine Zehme (1857 bis


1946), der sich der Kompositionsauftrag für »Pierrot lunaire« ver-
dankte (s. dazu auch Anm. 715), übernahm die Sprecherrolle bei der
von Schönberg geleiteten Uraufführung am 16. Oktober 1912 im
Berliner Choralionsaal und bei der daran anschließenden ersten
Tournee. Diese brachte den »Pierrot« 1912 an folgenden Orten zur
Aufführung: 19. Oktober: Hamburg, 31. Oktober: Breslau, 2. No-
vember: Wien, 5. November: München, 11. November: Stuttgart,
14. November: Karlsruhe, 15. November: Mannheim, 17. Novem-
ber: Frankfurt am Main, 22. November: Greiz (vgl. Arnold Schön-
berg, Sämtliche Werke, Abteilung VI: Kammermusik, Reihe B,
Bd. 24, 1: Melodramen und Lieder mit Instrumenten, hrsg. von
Reinhold Brinkmann, Mainz / Wien 1995, S. 223). Nur ein Teil die-
ser Aufführungen wurde von Schönberg selbst dirigiert.

704. Eduard Steuermann (s. auch Anm. 238), Schüler Busonis und
Schönbergs, war 1925 Adornos pianistischer Lehrer und bis zu sei-
nem Tode eng mit ihm befreundet; vgl. Adornos Nachruf Nach
Steuermanns Tod (jetzt GS 17, S. 311-317) und »Die Komponisten
Eduard Steuermann und Theodor W. Adorno. Aus ihrem Brief-
wechsel«, in: Adorno-Noten, hrsg. von Rolf Tiedemann, Berlin
1984, S. 40-72.

705. Arnold Schönberg, 15 Gedichte aus »Das Buch der hängenden


Gärten« von Stefan George für eine Singstimme und Klavier, op. 15
(1907-1909).

706. »Erwartung«. Monodram in einem Akt, op. 17 (1909); »Die


Glückliche Hand«. Drama mit Musik, op. 18 (1910-1913); Drei Kla-
vierstücke, op. 11 (1909); Sechs kleine Klavierstücke, op. 19 (1911).

707. Die 21 Stücke des »Pierrot lunaire« sind wie folgt bezeichnet:
[Erster Teil:] 1. Mondestrunken, 2. Columbine, 3. Der Dandy, 4.
Eine blasse Wäscherin, 5. Valse de Chopin, 6. Madonna, 7. Der kran-
ke Mond, [Zweiter Teil:] 8. Nacht (Passacaglia), 9. Gebet an Pierrot,
10. Raub, 11. Rote Messe, 12. Galgenlied, 13. Enthauptung, 14. Die

748
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Kreuze, [Dritter Teil:] 15. Heimweh, 16. Gemeinheit, 17. Parodie,


18. Der Mondfleck, 19. Serenade, 20. Heimfahrt, 21. O alter Duft.

708. S. Anm. 609.

709. Die »Pierrot«-Aufnahme unter der Leitung von Pierre Boulez


(Paris 1961), mit Helga Pilarczyk, wurde 1963 als WERGO-LP WER
60001 publiziert. – Für den NDR hatten Adorno und Boulez am 26.
November 1965 ein Gespräch geführt, in dem es um den Vergleich
zweier Aufnahmen des »Pierrot lunaire« von Arnold Schönberg ging: der
Einspielung unter Arnold Schönberg mit Erika Wagner-Stiedry
(1940) und der von Boulez selbst.

710. Gemeint ist Helmut Kirchmeyer und dessen Aufsatz »Die zeit-
geschichtliche Symbolik des Pierrot lunaire« (1962), der der von
Boulez eingespielten Platte beigegeben ist. Darin heißt es: »Den
Text nahm sich Schönberg aus einer deutschen Übersetzung eines
französisch geschriebenen belgischen Gedichtes, das 1884 erschien
und den belgischen Dichter Albert Giraud zum Verfasser hat. Gi-
raud, ein heute so gut wie vergessener Name, gehörte der Brüsseler
Literatengruppe ›Le Parnasse de la Jeune Belgique‹ an und war ganz
auf den makabren, untergangsbewussten Schreibstil eingeschworen,
wie er im Gefolge des französischen Pessimismus im Ausgang des
vorigen Jahrhunderts die französisch sprechenden Länder überkom-
men hatte. Seine Strophen aus dem Pierrot lunaire, einer unter den
Masken der altitalienischen Commedia-del-Arte-Figuren vorgetra-
genen scharfzüngigen Gesellschaftskritik, lassen es nur so von Blut
triefen und enthalten allerhand geschmacklose Albernheiten, deren
schwülstig-unangenehme sprachliche Wendungen die krankhafte
Reizbarkeit einer Epoche spiegeln, die eine Art Fäulnisgeruch für
unabdingbar hielt und viel Fleiß und Genialität auf nach Meinung
späterer Beurteiler mehr oder weniger perverse Phantasien ver-
schwendete. Virtuos beherrscht Giraud in diesen seinen Versen jenes
in der damaligen romanischen Literatur für modern und vornehm
gehaltene Spiel mit der ironischen Skepsis an jedem und allem,
jene Tuerei und Überhebung, die bei äußerer formelhafter Eleganz
keinen Glauben mehr in sich trug und das gesamte Denken bis
zur kommenden Katastrophe des Dreyfuß-Prozesses nivellierte, ent-
inhaltete und relativistisch verfremdete. Dieser Stil, an dem vom
Kunstmittel aus gesehen die Ironie noch das beste war, brachte den

749
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Franzosen den Ruf von der décadence ein und beherrschte auch noch
die Atmosphäre der frühen Schönbergzeit.«

711. Albert Giraud (1860-1929) publizierte 1884 in Paris die Ge-


dichtsammlung »Pierrot lunaire. Rondels bergamasques«. Otto Erich
Hartleben besorgte die 1891 fertiggestellte deutsche Neudichtung
dieser Lyrik, die Arnold Schönberg als Vorlage seiner auswählenden
Komposition diente.

712. Vgl. Franz Schubert, Die schöne Müllerin, op. 25, D 795 (1823);
ders., Winterreise, op. 89, D 911 (1827). Die beiden Liederzyklen für
Singstimme und Klavier basieren auf Gedichtfolgen von Schuberts
Zeitgenossen Wilhelm Müller (1794-1827). Müller hatte die Ge-
dichte in der Sammlung »Sieben und siebzig Gedichte aus den hinter-
lassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten« publiziert, die in
zwei Bänden 1821 (nach Titelblatt; de facto 1820) und 1824 erschien.

713. Franz Schubert vertonte »Über allen Gipfeln ist Ruh« um 1823
(op. 96, Nr. 3; D 768).

714. »Herzgewächse« für hohen Sopran, Celesta, Harmonium und


Harfe, op. 20 (1911). Schönbergs Lied beruht auf der deutschen
Übertragung des Gedichtes »Feuillage du cœur« aus Maurice Mae-
terlincks »Serres chaudes« (1889).

715. Albertine Zehme hatte am 10. März 1912 einen Vertrag mit
Schönberg über die Komposition der Melodramen (»mindestens
zwanzig Gedichte«) geschlossen.

716. Der Komponist Johannes Ockeghem (ca. 1410-1497) gilt als ei-
ner der bedeutendsten Vertreter der Frankoflämischen Schule, die ei-
nen kunstvollen polyphonen Stil herausbildete. Ockeghem schrieb
Messen, Motetten und Chansons.

717. S. Anm. 138.

718. Alban Bergs »Kammerkonzert für Klavier und Geige mit


13 Bläsern«, Arnold Schönberg zum 50. Geburtstag gewidmet, ent-
stand zwischen 1923 und 1925. Es wurde am 20. März 1927 in Berlin
uraufgeführt; der Dirigent war Hermann Scherchen.

750
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

719. Die 1921-1923 entstandene Suite für Klavier, op. 25.

720. Über »Pierrot lunaire« heißt es in Zur Vorgeschichte der Reihen-


komposition: Das Werk zitiert denn auch zum ersten Mal wieder traditio-
nelle Formen: Walzer, Passacaglia, Lied, Kanon, Choralbearbeitung, Fuge.
Mit jenem unbestechlichen ontologischen Takt aber, jenem Sinn fürs ge-
schichtsphilosophisch Mögliche und Nichtmögliche, der Schönbergs Rang
unter den größten Komponisten bestätigt, hat er dabei niemals, wie die
Neoklassizisten, Formkonventionen beschworen. Jene Formen stehen alle-
samt – wie es die verspielten Jugendstilgedichte nahelegen – unter einer
Ironie, die bis in ihr Gefüge reicht. Ihre Objektivität selber wächst gleichsam
inmitten der Glaswände des einsamen Subjekts: die Maeterlinckschen
›Herzgewächse‹, die Schönberg kurz vorher vertonte, könnten dem ganzen
›Pierrot‹ zum Motto dienen. Seine Objektivität ist eine im Bereich des
objektlosen Innen. Das prägt die Formgesinnung durchaus. Im Glashaus
werden die Formen nicht, wie man das so nennt, wiederbelebt, sondern aus
der Materialstruktur und dem Kompositionsprozeß erzeugt: so bleiben sie
subjekt-eigen. (GS 16, S. 82) Zur Vorgeschichte der Reihenkomposition
(1958) greift auf den Aufsatz über Schönbergs Orchesterstücke op. 16
zurück (jetzt GS 18, S. 335-344), den Adorno 1927, also, wie er sagt,
vor mehr als 40 Jahren in »Pult und Taktstock« publiziert hatte. In die-
sem Aufsatz von 1927 ist allerdings von einem Gleichnis zerbrochener
Glasstücke nichts zu finden.

721. Arnold Schönberg schreibt im Vorwort zum »Pierrot lunaire«:


»Die in der Sprechstimme durch Noten angegebene Melodie ist (bis
auf einzelne besonders bezeichnete Ausnahmen) nicht zum Singen
bestimmt. Der Ausführende hat die Aufgabe, sie unter guter Berück-
sichtigung der vorgezeichneten Tonhöhen in eine Sprechmelodie um-
zuwandeln.« (Arnold Schönberg, Sämtliche Werke, Abteilung VI:
Kammermusik, Reihe A, Bd. 24: Melodramen und Lieder mit
Instrumenten, hrsg. von Reinhold Brinkmann, Mainz, Wien 1996,
S. 12a)

722. Vermutlich bezieht Adorno sich auf Dieter Schnebel, Sprache


als Musik in der Musik, in: Schweizer Monatshefte, Jg. 46 (1966),
Heft 6, S. 560-575. Ein Sonderdruck dieses Aufsatzes hat sich in der
Nachlaßbibliothek von Adorno erhalten.

751
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

723. Paul Kornfeld (1889-1942) schrieb in dem »Nachwort an den


Schauspieler« zu dem Stück »Die Verführung. Eine Tragödie in fünf
Akten« (2. und 3. Aufl., Berlin 1918, S. 164): »Der Schauspieler in
diesem Stück bemühe sich nicht, so zu tun, als würde der Gedanke
und das Wort, dem er Ausdruck zu geben hat, erst in dem Augenblik-
ke, da er es ausspricht, in ihm entstanden sein; muß er auf der Bühne
sterben, so gehe er nicht vorher ins Krankenhaus, um sterben zu ler-
nen, und nicht in die Kneipe, um zu sehen, wie man’s macht, wenn
man betrunken ist. Er wage es, groß die Arme auszubreiten und an
einer sich aufschwingenden Stelle so zu sprechen, wie er es niemals
im Leben täte; er sei also nicht Imitator und suche seine Vorbilder
nicht in einer dem Schauspieler fremden Welt, kurz: er schäme sich
nicht, daß er spielt, er verleugne das Theater nicht und soll nicht eine
Wirklichkeit vorzutäuschen suchen, die ihm einerseits niemals voll
gelingen könnte, die andererseits aber auch nur dann aufs Theater zu
stellen wäre, wenn die dramatische Kunst sich so heruntergebracht
hätte, nur eine mehr oder weniger gelungene und, sei es mit Empfin-
dungen, sei es mit moralischen Forderungen, sei es mit Aphorismen
durchtränkte Imitation der körperlichen Realität und der Psyche des
Alltags zu sein.« – Kornfeld, der 1933 nach Prag emigrierte, wurde
1942 im Ghetto Litzmannstadt (Łódź) ermordet.

724. Adorno denkt an Pierre Boulez’ Komposition »Le Marteau


sans maı̂tre«, auf Texte von René Char, für Altstimme, Altflöte, Gi-
tarre, Vibraphon, Xylomarimba, Schlagzeug und Viola (1952-1955;
Neufassung 1957).

725. Am 24. Mai 1968 sprach Adorno auf Einladung der Stadt Kiel
und des Vereins der Musikfreunde, im Rahmen des 3. Musica-Nova-
Konzerts, über Schönbergs George-Lieder op. 15. Voran gingen sei-
ne Anmerkungen zu Georges Lyrik (vgl. jetzt GS 11, S. 523-535). An
diesem Abend führte Adorno zusammen mit der Mezzosopranistin
Carla Henius (1919-2002) auch seine Klavierlieder nach George-Ge-
dichten op. 7 auf.

726. Albertine Zehme trat im Pierrot-Kostüm auf und bestand dar-


auf, daß das Instrumentalensemble unsichtbar hinter einem Wand-
schirm spielte. Eduard Steuermann schrieb 1963 darüber: »Mrs.
Zehme insisted on appearing in the costume of Pierrot and on being
alone on the stage. The instrumentalists and the conductor, Schoen-

752
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

berg, were behind a rather complicated screen – complicated because


on a small stage it was not quite simple to build the screen so that the
speaker should see the conductor but the audience not.« (Zitiert nach:
Schönberg, Sämtliche Werke, Bd. 24, 1, a. a. O. [s. Anm. 703], S. 244)

727. Charles Baudelaires Gedicht »L’Albatros« aus »Les Fleurs du


mal« (Paris 1861) lautet:
Souvent, pour s’amuser, les hommes d’équipage
Prennent des albatros, vastes oiseaux des mers,
Qui suivent, indolents compagnons de voyage,
Le navire glissant sur les gouffres amers.
À peine les ont-ils déposés sur les planches,
Que ces rois de l’azur, maladroits et honteux,
Laissent piteusement leurs grandes ailes blanches
Comme des avirons traı̂ner à côté d’eux.
Ce voyageur ailé, comme il est gauche et veule !
Lui, naguère si beau, qu’il est comique et laid !
L’un agace son bec avec un brûle-gueule,
L’autre mime, en boitant, l’infirme qui volait !
Le Poète est semblable au prince des nuées
Qui hante la tempête et se rit de l’archer;
Exilé sur le sol au milieu des huées,
Ses ailes de géant l’empêchent de marcher.
(Charles Baudelaire, Œuvres complètes. [Vol.] I. Texte établi, présen-
té et annoté par Claude Pichois, Paris 1975, S. 9 f.) – In deutscher
Übersetzung von Stefan George (Sämtliche Werke in 18 Bänden,
Bd. XIII/XIV, Stuttgart 1983, S. 12) lautet das Gedicht:
Der Albatros
Oft kommt es dass das schiffsvolk zum vergnügen
Die albatros · die grossen vögel · fängt
Die sorglos folgen wenn auf seinen zügen
Das schiff sich durch die schlimmen klippen zwängt.
Kaum sind sie unten auf des deckes gängen
Als sie · die herrn im azur · ungeschickt
Die grossen weissen flügel traurig hängen
Und an der seite schleifen wie geknickt.

753
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Er sonst so flink ist nun der matte steife.


Der lüfte könig duldet spott und schmach:
Der eine neckt ihn mit der tabakspfeife ·
Ein andrer ahmt den flug des armen nach.
Der dichter ist wie jener fürst der wolke ·
Er haust im sturm · er lacht dem bogenstrang.
Doch hindern drunten zwischen frechem volke
Die riesenhaften flügel ihn am gang.

728. Das letzte der »Fünf Orchesterstücke«, op. 16 (1909) von Ar-
nold Schönberg trägt die Bezeichnung »Das obligate Rezitativ«.

729. Vgl. dazu Pierre Boulez, Dire, jouer, chanter, in: La Musique et
ses problèmes contemporains[,] 1953-1963 (Cahiers de la compagnie
Madeleine Renaud – Jean-Louis Barrault), Paris o. J. [1963], p. 300-
321; Wiederabdruck in: Pierre Boulez, Regards sur autrui (Points de
repère, tome II). Textes réunis et présentés par Jean-Jacques Nattiez et
Sophie Galaise, o. O. [Paris] 2005, p. 75-93; zur deutschen Fassung
vgl. Pierre Boulez, Sprechen, Singen, Spielen, in: ders., Werkstatt-
Texte, aus dem Französischen von Josef Häusler, Frankfurt a. M.
1972, S. 124-141. – In diesem Text, ursprünglich eine Konzert-Ein-
leitung in Basel, legt Boulez Gemeinsamkeiten und Unterschiede
zwischen dem »Pierrot lunaire« und dem »Marteau sans maı̂tre« dar.

730. Carla Henius hatte die Titelpartie des »Pierrot« in dem an-
schließenden Konzert übernommen. »Als wir«, schreibt Henius über
das Zustandekommen der Veranstaltung, die »Aufführung von
Schönbergs ›Pierrot Lunaire‹ ankündigten, war der Saal schon fast zu
klein. Wir hatten hierfür aus allen Instrumentalklassen der Hoch-
schule die besten Schüler zusammengeholt. Dieses Miteinander von
studierenden Anfängern und kampferprobten Spezialisten funktio-
nierte reibungslos, und beide Teile profitierten voneinander. Adorno
hielt nicht nur den Einführungsvortrag, sondern leitete auch die Pro-
ben. Er genoß das sehr und trat keineswegs als Autorität auf, indem er
nur aus gesichertem Wissen gute Ratschläge erteilte. Da er jederzeit
bereit war, das Risiko der musikalischen Realisierung mit uns zu tei-
len, war er immer ebensosehr Partner wie auch letzte Instanz – im
selben Boot mit uns und zugleich eine Art Polarstern, der die Rich-
tung wies.« (Carla Henius, Adorno als musikalischer Lehrmeister

754
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

[1970], in: dies., Schnebel, Nono, Schönberg oder Die wirkliche und
die erdachte Musik. Essays und Autobiographisches, Hamburg 1993,
S. 85)

Stichworte zu den Vorträgen

731. Am rechten Seitenrand: Histoire de l’urbanisme [von] Pierre Lave-


dan [Bd. 1: Paris 1926; Bd. 2: Paris 1941] Raymond Unwin, Grundlagen
des Städtebaus [Berlin 1910].

732. Am rechten Seitenrand: gesellschaftlich nicht demographisch sozio-


metrisch usw. sondern Strukturproblem der gesellsch. Totalität.

733. Am linken Seitenrand: Ausdruck, nicht Form

734. Am linken Seitenrand: Ruskin Morris. Verweis auf Darmstadt.

735. Am linken Seitenrand doppelte Anstreichung und Marginalie:


Perspektivischer Straßenabschluß als gesellschaftliches Problem (und als ästhe-
tisches)

736. Am linken Seitenrand: Der Antagonismus entspricht der modernen


Klassenstruktur/Ackerstraße und Kurfürstendamm

737. Am linken Seitenrand: [x] Pseudofeudal. My home is my castle

738. Am linken unteren Seitenrand: Geschlossene Hauswirschaft in


Konsumsphäre festgehalten

739. Am linken Seitenrand: Ich kann.

740. Am linken Seitenrand: Das Lager als Wohnform ist der Ausdruck
des absoluten gesellschaftlichen Wahnsinns.

741. Die primäre Schriftschicht ist in normalem Schriftgrad, hand-


schriftlich Hinzu- und Eingefügtes ist – hier und im folgenden – in
kleinerem wiedergegeben.

755
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

742. Am linken Seitenrand: Spezialfall des Problems des Indifferentis-


mus i. d. Massengesellschaft.

743. Vgl. GS 8, S. 453.

744. Am linken Seitenrand: Die Gesellschaftsstruktur ist nicht aus Ein-


zelsektoren herauszuabstrahieren.

745. Am linken Seitenrand: Gegenstand der Soziologie: Überbau[?],


in[s]besondere die Organisation, durch welche die Gesellschaft sich reprodu-
ziert, z. B. Problem der Bürokratie, der Gewerkschaften, des Streiks usw.

746. Adorno hat das unter Punkt g) Notierte eingekreist und zu


Punkt c) – vor die Stelle Gegen Apologetik – verschoben.

747. Am linken Seitenrand: op. 19

748. Am linken Seitenrand: Wagner Erwachsenwerden der Musik

749. Am linken Seitenrand: Schönberg op. 7

750. Konjiziert für Melodie.

751. Am linken Seitenrand: Webern op. 5, 2

752. Am linken Seitenrand: Brahms Anfang d[es]. Klav. Quintetts


[op. 34].

753. Am linken Seitenrand: Dazu gehört, daß unmenschlich die Kritik


scheint.

754. Am linken Seitenrand: Gütige Menschen als Tugendböcke. Albert


Schweitzers Funktion.

755. Die Ziffern sind in roter Schrift. Die Ziffer »4« ist dreifach un-
terstrichen.

756. Einfügung Gehlen in roter Schrift.

757. Am linken Seitenrand das eingekreiste Wort: Mitscherlich.

756
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

758. Unter den vielfach wechselnden Mitarbeitern, die im Princeton Pro-


jekt an mir vorüberzogen, befand sich eine junge Dame. Nach ein paar
Tagen faßte sie Vertrauen zu mir und fragte mit vollendeter Liebenswürdig-
keit: »Dr. Adorno, would you mind a personal question?« Ich sagte: »It
depends on the question, but just go ahead«, und sie fuhr fort: »Please tell
me: are you an extrovert or an introvert?« (GS 10·2, S. 711 f.)

759. Vgl. Peter R. Hofstätter, Einführung in die Sozialpsychologie,


Stuttgart, Wien 1954, S. 334 ff.

760. Adorno bezieht sich auf Helmut Schelsky, Wandlungen der


deutschen Familie in der Gegenwart, Dortmund 1953 (s. Anm. 245);
er hatte vor, dies Buch in dem Vortrag kritisch zu behandeln. – Alfred
Trommershausen hatte am Tag nach dem Vortrag, für diesen dan-
kend, an Adorno geschrieben: »Schade war übrigens, daß Sie nicht
mehr, wie ursprünglich von Ihnen angesagt, von der Familie spre-
chen konnten. Sie wären sicher in eine kritische Betrachtung im
Hinblick auf Schelsky eingetreten.« Adorno antwortete: Zu Schelskys
Familiensoziologie habe ich ein umfangreiches Konvolut kritischer Notizen,
aus dem ich längst einen Aufsatz machen wollte; ich bin nur bis jetzt unter
dem unvorstellbaren Druck meiner Verpflichtungen nicht dazu gekommen,
und mußte die sehr karg bemessene Zeit, die mir für Eigenes überhaupt
bleibt, auf mir näher liegende Entwürfe verwenden. Immerhin dürften Sie
einiges in dem Kapitel über Familie aus den »Soziologischen Exkursen«
(Band IV der »Frankfurter Beiträge zur Soziologie«) finden, für die ich ja
in weitem Maße verantwortlich bin. (Br 1565/1 f.)

761. Adorno meint die Vorlesung über Probleme der Moralphilosophie


vom Wintersemester 1956/57. Am 5. Februar 1957 hatte er zur Kritik
des Begriffs Entfremdung gesprochen (vgl. Vo 1458-1460).

762. Vgl. Adornos Einleitungsvortrag in: Darmstädter Gespräch.


Individuum und Organisation. Im Auftrag des Magistrats der Stadt
Darmstadt und des Komitees Darmstädter Gespräch 1953 unter Mit-
arbeit von Egon Vietta hrsg. von Fritz Neumark, Darmstadt 1954,
S. 23. Ebd. spricht Adorno von der Ausweitung der Organisationen –
schon Max Weber hat dargetan, daß der Drang dazu jeglicher Organisation
innewohnt. Dieser Expansionsdrang jedoch verläuft bis heute einzig in der
Bahn des Funktionierens. Immer neue Sektoren werden in den Mechanis-
mus hineingezogen und beherrschbar. (Vgl. jetzt GS 8, S. 442)

757
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

763. Eckige Klammer im Manuskript, in grauer Farbe.

764. Dito.

765. Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, § 29 und § 38.

766. Vgl. GS 8, S. 453.

767. Vgl. dazu »die drei Agitatoren« in »Die Maßnahme« (1930) von
Bertolt Brecht: »Sieh nicht nur mit deinen Augen! / Der einzelne hat
zwei Augen / Die Partei hat tausend Augen.« (Brecht, Werke, a. a. O.
[s. Anm. 208], Bd. 3: Stücke 3, Berlin/Weimar, Frankfurt a. M. 1988,
S. 91)

768. Hinzufügung von fremder Hand.

769. Am linken Seitenrand: »One world«.

770. Am linken Seitenrand: Rationalität meint Durchsichtigkeit auch


der Hierarchie der Funktionen.

771. Am linken Seitenrand: Motorenräder keine Gleichheit. Warnung


vor dem Obskurantismus. Egalitäre Ideologie gegen reale Differenzen.

772. Am linken Seitenrand: Erzählen von Amerika.

773. Am linken Seitenrand: Die höchste Form der Naturbeherrschung


bis heute wesentlich zerstörend.

774. Am linken Seitenrand: nicht mehr Unternehmer sondern Angestell-


ter als soziales Modell.

775. Am linken Seitenrand: Aber: die Menschen verzichten aufs Den-


ken, weil es leiden macht. Du bist doof, du hasts gut. Nicht Wissen wollen.

776. Am linken Seitenrand: Freud Unbehagen. Destruktionstendenz,


Defaitismus. Stimmung derer, die die Zeche zu bezahlen haben.

777. Vgl. die Schlußverse der »Moritat von Mackie Messer«: »Denn
die einen sind im Dunkeln / Und die andern sind im Licht / Und

758
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

man siehet die im Lichte / Die im Dunkeln sieht man nicht.« (Bertolt
Brecht, Werke, a. a. O. [s. Anm. 208], Bd. 19: Prosa 4, Berlin/Weimar,
Frankfurt a. M. 1988, S. 320.

778. Am linken Seitenrand: was tun.

779. Am linken Seitenrand: ad Partei: Bedenken nicht so sehr wegen


privater Gefahr der Clique, sondern wegen schlechter Parteiischkeit: etwas
sei schon gut, weil es zur Schule gehört. Mein Versuch.

780. Am linken Seitenrand: Das über die technische Konsistenz Hin-


ausgehende.

781. Ein Berliner Kritiker hatte der Pianistin Elly Ney (1882-1968)
vorgeworfen, sie habe Beethoven falsch interpretiert. Unter dem
Druck von Leserzuschriften mußte der Kritiker seinen Hut nehmen.

782. Gemeint ist der 1909 geborene Privatgelehrte Johann Ludwig


Döderlein, der 1959 im Institut für Sozialforschung einen Vortrag
gehalten hatte. Döderlein hatte 1938 im Nachlaß von Friedrich Im-
manuel Niethammer (1766-1848) über 3000 Briefe wiederent-
deckt – u. a. von Goethe, Schiller, Hölderlin, Jean Paul, Pestalozzi,
Wilhelm von Humboldt, Fichte, Hegel, Schelling, Friedrich Schle-
gel und Novalis –, die das geistige Beziehungsgeflecht in der Zeit des
Deutschen Idealismus dokumentieren.

783. Am linken Seitenrand: d.h. der Identitätsthese

784. Am linken Seitenrand: Daher mehr Einheit möglich.

785. Am linken Seitenrand: Hans Weil.

786. Am linken Seitenrand: Aber auch produktiv Innerlichkeit: Musik.

787. Am linken Seitenrand: Kind mit Bad.

788. Am linken Seitenrand: es ist dabei meist gar nicht so praktisch.

789. Am linken Seitenrand: entfalten.

759
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

790. Am linken Seitenrand: Auch Phantasie, Gedächtnis usw.

791. Am linken Seitenrand: auch Gutachten [?].

792. Am linken Seitenrand: positiv aber mit Problemen.

793. B eingekreist.

794. 6 a eingekreist.

795. Schluß eingekreist.

796. So in den Stichworten; zu konjizieren: Uferried.

797. So in den Stichworten; zu konjizieren: Trümmern.

798. X Beleg in roter Farbe.

799. Rotes Kreuz am linken Seitenrand.

800. Am linken Seitenrand: Ariadne-Vorspiel

801. Rotes Sternchen am linken Seitenrand.

802. Rotes Sternchen am linken Seitenrand.

803. Rotes Sternchen und Anstreichung am linken Seitenrand.

804. Am Kopf der Seite: wenn möglich Beispiel

805. Schoens Wort von der Wurstmaschine konnte nicht ermittelt wer-
den. Möglicherweise bezieht Adorno sich auf eine mündliche Äuße-
rung, die Ernst Schoen (1894-1960), bis 1933 Programmleiter des
Frankfurter Rundfunks, gemacht haben könnte.

760

Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)


Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Editorische Nachbemerkung
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Zum 50. Todestag von Theodor W. Adorno erscheinen zwanzig


Vorträge, die er nach seiner Remigration zwischen 1949 und 1968
gehalten hat. Sie behandeln musikalische und soziologische, aber
auch pädagogische, politische und literarische Themen. Die Vorträ-
ge der Nachkriegsjahre bis 1954 beziehen sich auf die Situation im
zerstörten und kulturell verödeten Deutschland. Es geht um Fragen
des Wiederaufbaus, um die Neubegründung der von den National-
sozialisten unterdrückten Soziologie, um Aufschlüsse über Entwick-
lungen und Errungenschaften der neuen Musik und um den empha-
tischen Hinweis auf den großen Schriftsteller Marcel Proust, dessen
Rezeption in Deutschland versäumt worden ist. Auch spätere Vorträge
setzen am Problem des Traditionsbruchs an, und es gehört zu ihren
Motiven, der herrschenden Erinnerungslosigkeit in Deutschland
entgegenzuarbeiten: durch das kritische Sich-Einlassen auf idealisti-
sche Bildungskonzeptionen (S. 267-287), den Rückbezug auf den
jungen Marx (S. 129-132), den Nachdruck auf der Aktualität Frank
Wedekinds (S. 331 f.) oder die Behandlung der Wiener Schule und
des »Pierrot lunaire« (S. 485 bis 497).
Adornos Bemühen war, solche Themen – verhehlte, verabschie-
dete oder verdrängte – nach der Zeit des Nationalsozialismus neu in
die Rezeption und Diskussion einzubringen. Wie verhält es sich zum
kulturellen Klima der Adenauer-Jahre? Wie steht es zu den Rück-
wendungen auf eine vermeintlich unbeschädigte, bessere Tradition,
die ja symptomatisch für das nachfaschistische, sich wirtschaftlich sta-
bilisierende Deutschland waren? Dem Rausch des Wiederaufbaus
entsprach der des Wiederentdeckens, der Reprisen und Rückgriffe
auf einen Vorrat des Vorbildhaften und Approbierten, auf eine Tradi-
tions- und Kulturgläubigkeit, auch dazu dienend, die Katastrophen-
erfahrung abzustreifen und eigene Schuld zu verdrängen. Doch dem
Kulturleben war ein Moment des Ausgehöhlten, Unterminierten anzu-
merken [. . .], vergleichbar etwa jenem Aspekt des nicht ganz Überzeugen-
den, nicht ganz Wahren von wiederaufgebauten Städten (S. 468). Es sei
nach der europäischen Katastrophe flagrant geworden: Die anastati-
sche Kultur bleibt unglaubhaft, das aus Ruinen Auferstandene un-
wirklich und schattenhaft, und das Bewußtsein davon wird durch
Betriebsamkeit übertäubt.
Dem Verfall der Bildung und des geschichtlichen Bewußtseins
entgegenzutreten kann, so Adorno, nicht im Sinne des Historismus
geschehen. Bei vergangenen Bezugsgrößen und Überlieferungswer-
ten stehenzubleiben, Schutz bei Würdigem und Konsolidiertem zu

763
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

suchen, traditionelle Formen der Kultur und Bildung zu reproduzie-


ren wird deren Sinn und Gehalt verfehlen. Die Vorträge folgen einer
Idee von Tradition, die nicht antiquarisch oder restaurativ ist, die
nicht im Imitieren und im toten Abdruck besteht, sondern Treue
und lebendige Beziehung zum Vergangenen gerade in seiner Ver-
wandlung erweist. Adorno hat das schon im Städtebau-Vortrag ausge-
sprochen (S. 24).
Breiten Raum nehmen Reflexionen zur Bildung ein. Dies betrifft
vor allem Vorträge aus den Jahren zwischen 1957 und 1963: Individu-
um und Gesellschaft heute, Kultur und Culture, Abhängigkeit des Ausbil-
dungszieles von den Studenten und ihren Erwartungen, Die Einheit von
Forschung und Lehre, den auf die Frankfurter Musikhochschule zuge-
schnittenen Vortrag über Musikalische Bildung sowie den über den Be-
griff der politischen Bildung. Während in zeitgenössischen pädagogi-
schen Diskursen sich eine ›realistische Wende‹ abzuzeichnen begann,
suchte Adorno wesentliche Bestimmungen des idealistischen Bil-
dungsbegriffs zu retten. Sosehr dieser der Kritik unterliegt, insofern
Bildung verabsolutiert, zum Selbstzweck gemacht wird, sofern sie
abgeschnitten bleibt von gesellschaftlich-politischer Praxis, sowenig
dürfe auf der anderen Seite die Idee der Bildung preisgegeben wer-
den. Im Bewußtsein, daß der Bildungsidealismus von Grund auf
fragwürdig geworden war – er hatte Genozid und Krieg nicht ver-
hindern können; gebildete Menschen hatten sich dem Nazitum ver-
schrieben –, knüpft Adorno noch einmal kritisch an ihn an.
Von profunder Bildung, das bloß Fachlich-Disziplinäre über-
schreitend, die Grenzen zwischen Philosophie und sachhaltigen
Wissenschaften durchbrechend, war Adorno gefragt als Dozent des
Studium generale. In diesem Zusammenhang hat er an den Hoch-
schulen von Freiburg, Mainz, Braunschweig und (wahrscheinlich)
Heidelberg gesprochen. Für das Studium generale wurden Arbeits-
gemeinschaften eingerichtet oder Vorträge angeboten, vor allem
über interdisziplinäre Themen. Als Adorno 1961 im Rahmen des
Studium generale der Mainzer Johannes Gutenberg-Universität über
das Problem der Einheit von Forschung und Lehre sprach, kam er auf
Notwendigkeiten und Bedenklichkeiten wissenschaftlicher Speziali-
sierung zu sprechen, wobei ihm die idealistische Epoche – Goethe,
Hegel und Humboldt – als Folie diente. Was seine eigene Vortragstä-
tigkeit betraf, so sah Adorno auch die fragwürdigen Seiten des Er-
weiterungsdrangs, der ihn auf Felder etwa der Pädagogik, der bilden-
den Kunst oder des Städtebaus führte. Er wollte – und die Menge der

764
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Einladungen, die ihn erreichten, hat dies Bedenken verstärkt – nicht


unumschränkt über alles reden, nicht die Grenzen zum Dilettantis-
mus überschreiten. So begründete Adorno seine Absage, wenn er
eingeladen wurde, über Gegenstandsbereiche zu sprechen, in denen
er sich als nicht hinreichend sachkundig sah.
Es waren vor allem auch politisch-pädagogische Vorträge, die
stark in der Öffentlichkeit wirkten. Bekanntlich hatte Adorno nicht
unwesentlich Anteil daran, daß Aufarbeitung der Vergangenheit in
Deutschland auf die Tagesordnung kam. Er warnte – folgenreich für
die Entwicklung der politischen Kultur in der Bundesrepublik – vor
dem Faschismus, der latent in Stellung bleibe, solange demokratische
Lebensformen nicht anhaltend eingebürgert werden. Solange die
Menschen Demokratie nicht zu ihrer eigenen Sache machen, bilden
sich in ihr selbst faschistische Tendenzen aus. Adorno hat diese The-
matik in den Vorträgen über die autoritäre Persönlichkeit (1960) und
politische Bildung (1963) fortgeführt. Indes sah er sich vor die Not-
wendigkeit gestellt, mit dem Nachleben des Nationalsozialismus
auch offen antidemokratische, alt- und neufaschistische Bewegungen
zu behandeln. In dem Vortrag von 1967 hat er den Rechtsradikalis-
mus thematisiert, der sich (alarmierend und das Vertrauen in die de-
mokratische Entwicklung erschütternd) in virulenten Wahlerfolgen
der NPD manifestierte. Bereits Jahre vor dem Rechtsdrall war die poli-
tische Öffentlichkeit alarmiert worden: Eine antisemitische Schmier-
welle war 1959/60 durch das Land gegangen; binnen zweier Monate
wurden über 600 Straftaten registriert. Adorno geht auf diese Ereig-
nisse ein (S. 445 und 246). Der Vortrag Aspekte des neuen Rechtsradika-
lismus, wird man sagen müssen, hat sich als nachhaltig erwiesen, hat
in vielem eine triste, beunruhigende Aktualität.
Oft hat sich Adorno als Philosoph und Intellektueller gegen die
communis opinio gewandt. In einem Vortrag spricht er gegen das
Geblök, den ungeheuren Wust an Clichés und Stereotypen über neue
Musik, die auf breiter Ebene bereitliegen, in einem anderen gegen
heute allgemein im deutschen Klima verbreitete Denkgewohnheiten. Er sah
es als seine Aufgabe an, schale Convenus und Meinungsmuster anzu-
greifen. Um so mehr überrascht – auch das bedeutet Improvisation –,
wenn er Partei nimmt für den Common sense, den vorwissenschaftli-
chen Menschenverstand: Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf: Sie sol-
len sich nicht imponieren lassen, auch nicht von der Wissenschaft, sondern
sich in Gottes Namen auf Ihren gesunden Menschenverstand verlassen, der
heute längst nicht mehr mit der Wissenschaft ohne weiteres übereinstimmt.

765
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

[. . .] lassen Sie sich nicht dumm machen, vor allem nicht einreden, daß,
was da in der akademischen Welt gedeiht, nun ohne weiteres die höhere
Einsicht vertritt, sondern denken Sie daran, daß, im Gegensatz zu der
offiziellen Bildungswelt, in der des Volkes immer auch eine Tradition der
Skepsis, der Ironie, des wachen Bewußtseins am Werke war, vielleicht die
beste Quelle, um die Welt zu verändern, über welche die Menschheit heute
überhaupt verfügt. (S. 214f.) Daß nicht die akademische Welt der Bil-
dung, sondern Tradition von unten gegenwärtig das größte Verände-
rungspotential haben soll, nimmt sich in Adornos Mund vielleicht
merkwürdig aus. Es gibt aber einen Hinweis darauf, wie weit er, an-
ders als es das Vorurteil will, von Elitevorstellungen und Massen-
feindschaft entfernt ist (die er in dem Vortrag über Politische Bildung
in einem Atemzug mit faschistischen Theorien nennt).
Adornos Bildungspraxis, wie sie sich in Vorträgen äußert, galt be-
sonders auch einem nichtakademischen Publikum. Von 1954 bis
1962 hat er insgesamt acht Mal an den Hessischen Hochschulwochen
für staatswissenschaftliche Fortbildung teilgenommen. Dort sprach
er vor (und mit) Laien und oft über Themen, die nicht oder nur am
Rande zu den Arbeitsgebieten der anwesenden Staatsbediensteten
gehörten. Von geistiger Aufgeschlossenheit und lebendiger Teilnah-
me, die Adorno in diesen Foren, wie auch in anderen der Erwachse-
nenbildung, vorfand, zeigte er sich überrascht. Man könne dort spre-
chen, ohne das Niveau zu senken, die Ansprüche zu ermäßigen,
ohne falsche Pädagogisierung der Stoffe. Und er war davon über-
zeugt, dazu beitragen zu können, das Hörerverständnis – etwa von
schwierigen Werken der neuen Musik – wesentlich zu befördern.
Ein improvisierender Vortrag sei freilich vor allem als Diskussions-
grundlage aufzufassen. Er solle nicht bloß Monolog sein und Dozie-
ren, sondern bedürfe der kritischen Durchleuchtung im Gespräch.
Wie die akademischen Veranstaltungen verstand Adorno auch seine
Vorträge nicht als einspruchslose Lehrsituationen. Das Monologisie-
ren hat er als Berufskrankheit der Universitätslehrer bezeichnet
(S. 419). Leider sind die Diskussionen, wenn denn solche im An-
schluß an Adornos Beiträge stattfanden, in der Regel nicht überlie-
fert. Eine Ausnahme ist das Publikumsgespräch nach dem Einfüh-
rungsvortrag zur neuen Musik (S. 110-117).
Als Vorgaben für eine weitere Diskussion und Anregungen zum
kritischen Mitdenken sollten die Vorträge nach Adornos Wunsch
dazu beitragen, daß Hörerinnen und Hörer Fähigkeiten zu selbstän-
digen Anknüpfungen entwickeln. Darin lag für ihn auch die Leben-

766
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

digkeit philosophischen Denkens. Adorno zitierte Immanuel Kant,


man könne niemals Philosophie, höchstens nur philosophieren lernen
(S. 296). Er selbst wollte nicht fertige Lehrinhalte mitteilen, sondern
zum eigenen Verstandesgebrauch ermutigen. Ich überlasse Ihnen das,
sagte Adorno in dem Vortrag über Frank Wedekind, zum Weiter-
denken.
Adorno hat viele Arbeiten und Essays vorgetragen, bevor sie im
Druck erschienen. Er verlas sie vor Anwesenden oder sprach sie im
Rundfunkstudio ein. (Im Radio hat Adorno selten frei gesprochen –
außer natürlich in Gesprächen –, und damit hängt zusammen, daß
die Vorträge dieses Bandes überwiegend solche vor Präsenzpublikum
waren.) Zeitgenossen haben berichtet, daß dem Auditorium vielfach
unverständlich blieb, was er von einem ausformulierten Manuskript
ablas. Es war ja nicht für Hörer bestimmt, nicht mit Hinsicht auf eine
konkrete Vortragssituation und das Verstehensniveau von Adressaten
geschrieben. Georg Solti zufolge sollen Premierenbesucher der
»Lulu« »Aufhören!« geschrien haben, als Adorno 1960 über Bergs
Oper sprach. Adorno war sich darüber im klaren, daß es das Publi-
kum überfordern konnte, wenn er seine dicht gearbeiteten Texte
vorlas. Spräche er so, wie er um der Verbindlichkeit der sachlichen Darstel-
lung willen schreiben muß, er bliebe unverständlich, heißt es sogar (S. 640).
Doch das Verständnis der Zuhörer war Adorno wichtig. Seine Vor-
träge sprechen nicht die Sprache der Exklusivität. Zumeist sind sie
leichter aufzufassen als seine Schriften. Publikumsorientierung und
Wirkungsbezug treten stärker hervor – situative Rücksicht, pragma-
tische Zugewandtheit in der Beachtung des ›aptum‹, Ausgang vom
Bewußtsein der Rezipienten: Ich möchte nun versuchen, [. . .] auszuge-
hen von Ihrer eigenen Stellung, wie ich sie mir etwa denke. Ich möchte
versuchen, Antworten zu entwickeln aus Ihrem eigenen Bewußtseinsstand
(S. 78). Ein Gutteil der Vorträge hat einleitenden, heranführenden,
vermittelnden oder überblickshaften Charakter. Nicht nur indem sie
weniger Voraussetzungswissen verlangen, kommen sie der Aufnah-
me entgegen. Sie wirken, wie Adorno wußte, auch durch das leich-
tere Element des Spontanen: Ich habe wiederholt – so zuletzt bei mei-
nem frei improvisierten Wagner-Vortrag in Berlin – die Erfahrung gemacht,
daß meine Dinge, wie man so sagt, besser »herüberkommen«, wenn ich
nicht nach einem Manuskript lese, das nun einmal, wie ich schon so bin,
unvermeidlich dicht und gepanzert würde. (Ru 85/1)
Nun will es recht verstanden sein, wenn er von freien Improvisatio-
nen spricht. Ganz unvorbereitet waren sie nicht. Adornos Kunst des

767
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Vortrags ist organisierte Spontaneität; er stützte sich auf Stichworte,


die ihm zur Vorstrukturierung, als Erinnerungsstütze und Leitfaden
dienten. Das konnten wenige Notizen sein, ein detaillierteres Sche-
ma, die Sammlung von Exzerpten oder (wie im Fall des Proust-Vor-
trags) ein umfangreicheres Konzept mit ausformulierten Passagen.
Hinterlassene Materialien dokumentieren Art und Grad der Präpara-
tion.
Zur Vorbereitung der Improvisationen über Wedekind machte
Adorno sich Notizen, ließ diese von einer Sekretärin abtippen, und
die entstandene maschinenschriftliche Vorlage wurde in einem drit-
ten Schritt von ihm wiederum handschriftlich ergänzt. (Der typische
Vorgang des Abschreibens und eigenhändigen Ergänzens konnte
sich, wie Archivmaterialien zu anderen Vorträgen zeigen, wiederho-
len.) Eingangs des Wedekind-Vortrags sagte Adorno: Ich würde mich
dann denn doch mehr als ein Theaterkind bezeichnen, und infolgedessen
will ich es halten bei dem, als was diese paar Worte von mir Ihnen angekün-
digt sind. Es werden also wirklich Improvisationen sein, und wenn ich mir
da so etwas aufgeschrieben habe, dann, um die Wahrheit zu sagen, nur
deshalb, weil ich Angst hätte, daß ich mich sonst so fortreißen lasse, daß
ich Ihre Geduld übermäßig strapazieren würde. (S. 330) Adorno sah die
Stichworte auch in begrenzender Funktion; sie halten eine Linie fest,
bieten Ankerpunkte, um gerade bei einem Thema, das ihm sehr am
Herzen liegt, Digressionen zu vermeiden. Kontrolliert werden soll
das Sprunghaft-Assoziative mündlicher Rede, die zu Schlenkern und
Abschweifungen neigt.
Oft ist gesagt worden, Adorno rede wie gedruckt. Daß er so arti-
kuliert und prononciert zu sprechen pflegte, trug offenbar zu dieser
Einschätzung bei. Offenbar [besitzt] meine Stimme die unselige Eigen-
schaft [. . .], so zu klingen, als ob, was ich sage, druckfertig wäre, während
es das doch keineswegs ist (Ei 492/3 f.). Freilich wird der Eindruck des
Druckfertigen nicht nur der Stimme oder Sprechweise Adornos zu-
zurechnen sein. Flüssig und unverkrampft, hier und da über lange
Bögen und Satzperioden hin sprechend, hat er durch Redekunst,
Sprachkraft, Denkleidenschaft fasziniert. Geistige Anspannung
merkt man dem Formulierten nicht an; es wirkt anstrengungslos und
aus sicherer Geläufigkeit kommend. Pausen, Hesitationslaute oder
grammatische Fehler gibt es kaum. Die oft ungewöhnlich langen,
zum Verschachtelten tendierenden Sätze sind in den meisten Fällen
richtig gebaut; selten anakoluthisch. Der Herausgeber hatte wenig zu
korrigieren.

768
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Wie man von wiederholten Äußerungen von Adorno weiß, hat er


konsequent das gesprochene vom gedruckten Wort getrennt. Ein
improvisierender Vortrag war für ihn radikal verschieden von einem
Text, wie er in Druck geht. Und dem Gesprochenen gegenüber
glaubte er, wie er am 17. Februar 1960 an Erich Doflein schrieb, auch
eine gewisse Liberalität beanspruchen zu dürfen – man darf da nicht alles
so auf die Goldwaage legen. Es hatte nicht den strikten sprachlichen
und stilistischen Anforderungen zu gehorchen, denen seine Essays
und Aufsätze in ihrer Werkgestalt unterlagen. Bei den schriftlichen
Reflexionsformen waren gewissenhaft genaue Formulierungen, ko-
härente Faktur und rigoros gesteigerte Textdichte verlangt. An
diesen Forderungen gemessen, mußten die Vorträge unzulänglich
erscheinen: nichts aber, was er spricht, kann dem gerecht werden, was er
von einem Text zu verlangen hat (S. 640). Schriftstellerisches Ethos und
Formbewußtsein ebenso wie sprachkritische Überlegungen führten
Adorno dazu, seine Vorträge zu marginalisieren. Und sie ließen ihn
zögern, etwas schwarz auf weiß zu geben, das nicht in wiederholten
Durchgängen den Abklopf- und Kontrollmöglichkeiten des Schrei-
bens unterworfen worden war. Die Publikation seiner Vorträge hat er
im allgemeinen abgelehnt. Von dem Prinzip, nichts Gesprochenes
drucken zu lassen, wich er nur selten ab. Eine Ausnahme, schrieb
Adorno an Wolfgang Götz (der um die Freigabe des Vortrags über
Die autoritäre Persönlichkeit gebeten hatte), habe er bisher nur bei den
Wildunger Hochschulkursen gemacht, die lediglich als Privatdruck für den
Teilnehmerkreis erschienen und in denen eine Vorbemerkung auf die Motive
aufmerksam macht, die ihn zu seinen Bedenken bestimmten (siehe die
Vorbemerkung S. 640).
Die Vorträge sind akustisch oder schriftlich überliefert. Als Text-
grundlage dienen Tonaufnahmen oder – wenn eine solche nicht vor-
handen ist – Transkriptionen, zumeist aus dem Nachlaß von Adorno.
Nicht selten (zumal dann, wenn Adorno sie nicht durchgesehen hat)
weisen die Transkriptionen empfindliche Mängel und Textverderb-
nisse auf. Bei der Textherstellung waren sie gründlich zu prüfen. Ge-
nerell wurde angestrebt, den Wortlaut des tatsächlich Gesagten zu ge-
ben. Näheres zur Textherstellung findet sich in kurzen editorischen
Einführungen, die am Anfang der Anmerkungen zu den betreffen-
den Vorträgen stehen.
Sind im Nachlaß Notizen oder andere Vortragsmaterialien vor-
handen, auf die Adorno sich stützte, so werden sie abgedruckt (siehe
S. 500-588). Drei Gründe legen dies nahe: Gliederung und Argu-

769
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

mentationsstruktur des jeweiligen Vortrags werden deutlicher; Hin-


tergründe (manchmal auch der Selbstzensur zum Opfer Gefallenes)
werden erhellt; schließlich können Umrisse dessen gegeben werden,
was Adorno etwa aus Zeitgründen nicht mehr ausgeführt hat. Wo
aber das Präparierte und Notierte die Formulierungen des Vortrags
wörtlich vorwegnimmt und gegenüber diesem wenig Weiteres bie-
tet, wird davon abgesehen, es wiederzugeben.
In den editorischen Anmerkungen werden offene und verdeckte
Zitate nachgewiesen, Anspielungen deutlich gemacht, Erläuterun-
gen zu Personen und Werken gegeben sowie Hintergründe und
Sachbezüge erhellt. Auf interpretierende oder im engeren Sinn kom-
mentierende Anmerkungen wird weitgehend verzichtet und ebenso
darauf, Parallelstellen in den Schriften Adornos zu geben (in denen
sich mannigfache Querbezüge und Selbstwiederholungen finden).
Bibliographische Angaben wurden möglichst den autopsierten Pu-
blikationen entnommen und nicht bis ins letzte vereinheitlicht. Die
Signaturangaben (»Br . . .«, »Vt . . .«, »Ge . . .« usw.) beziehen sich auf
Materialien des Theodor W. Adorno Archivs, Frankfurt am Main.
Für Auskünfte ist der Herausgeber vielen verpflichtet, die hier
nicht genannt werden können. Ihnen allen gilt mein herzlicher
Dank. Ausdrücklich gedankt sei vor allem Christoph Gödde und
Henri Lonitz, den Herausgebern von Adornos Nachgelassenen Schrif-
ten, meinen Kolleginnen und Kollegen Oliver Kunisch, Ursula
Marx, Nadine Werner und Erdmut Wizisla, sowie – für zahlreiche
Hilfen und Hinweise – Andreas Arndt, Marie Baxmann, Dirk
Braunstein, Reinhard Kapp, Caroline Lura, Karel Markus, Jürgen
May, Lukas Meisner, Eberhard Ortland, Florent Perrier, Mario C.
Schmidt, Jérôme Seeburger, Reiner Speck, Malte Spitz, Christian
Stampfl, Hartmut Vinçon und Kathrin Witter.

770

Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)


Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Register
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Das Personenregister erschließt den Text der Vorträge, Adornos Stich-


worte und die Anmerkungen. Indirekte Erwähnungen sind ohne beson-
dere Kennzeichnung aufgenommen worden. Kursiv gesetzte Seitenzah-
len verweisen auf die Erwähnungen in den Anmerkungen.

Abendroth, Wolfgang 598 Bakunin, Michail Alexandro-


Adam, Heribert 683 witsch 681
Adler, Guido 620 Ballauff, Theodor 690
Adler, H[ans] G[ünther] 529 Balzac, Honoré de 75
Adorno, Gretel 419, 594, 673, Barnick, Johannes F. 740
705, 724 Barrault, Jean-Louis 754
Äsop 641 Bartók, Béla 83, 99, 229, 545,
Albaret, Céleste 610 661, 746
Albert, Hans 683 Batka, Richard 663
Albrechtsberger, Johann Georg Baudelaire, Charles 73, 487, 495,
622 609, 753 f.
Aleff, Eberhard 672 Bauer, Bruno 632
Alff, Wilhelm 682 Bauer, Fritz 464, 741 f.
Allport, Gordon W. 473, 743 f. Bauer, Hans 693, 701
Anders, Günther 215, 290, 542, Baumann, Gerhart 680
656, 682 Baumann, Hans 738
Anderson, Nels 668 Bazard, Claire 340, 698
»Annachen« [Hausangestellte der Bazard, Saint-Amand 340, 573,
Familie Wiesengrund in Frank- 698
furt a. M.] 666 Beck, Knut 609
Apollinaire, Guillaume 342, 348, Becker, Egon 711
575, 702 Becker, Friederike 695
Aristoteles 131, 285, 296, 633, 635 Becker, Hellmut 212, 656
Arnoul, Wilhelm 627 Beckett, Samuel 347, 351, 575,
Aron, Betty 599 704
Asselijn, Jan 685 Beethoven, Karl van 103, 388,
Austermühl, Elke 693 429
Beethoven, Ludwig van 85,
Bach, Johann Sebastian 85, 89, 87-89, 93, 99, 103, 108-110,
163, 224, 226, 315, 388, 409, 163, 169, 174, 288, 302, 317,
420, 544, 548, 550, 577, 619, 319, 322, 326, 328, 388, 399,
641, 644, 658, 660 401, 424 f., 429-431, 545, 568,
Bachofen, Johann Jakob 74, 570, 577, 580, 588, 619, 622, 641,
613 644, 685, 690 f., 720, 725 f., 759
Baeyer-Katte, Wanda von 664 Behrens, Peter 593

773
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Bekker, Paul 224, 328, 544, 570, Bollnow, Otto Friedrich 690
622, 658, 691, 715 Bonaparte, Marie 595
Bender, Hans 708 Borchardt, Rudolf 615
Benjamin, Walter 55 f., 59 f., 231, Borchmeyer, Dieter 714
328 f., 345 f., 531, 546, 570, Borodajkewycz, Taras 734
575, 594, 606, 609, 613, 662, Borris, Maria 651
674, 700 f. Bott, Hermann 737, 739
Benn, Gottfried 84, 113, 614, Boulez, Pierre 237, 436, 487,
617 f. 494, 496, 549, 664, 729, 749,
Benn, Ilse 617 f. 752, 754
Benz, Wolfgang 735 Bourguet, Louis 705
Berath, Martin 702 Bracher, Karl Dietrich 664
Berchem, Nicolaes Pietersz. 685 Brahms, Johannes 82, 93 f., 99,
Berelson, Bernard R. 733 108, 225, 235, 317, 414, 524,
Berg, Alban 82, 98 f., 106, 224, 547, 549, 570, 583, 620, 659,
307, 326, 412, 422, 432, 434 f., 663, 721, 756
439, 490, 494, 496, 527, 564, Brandenburg, Daniel 661
568, 582, 617, 619, 621-623, 686, Brandenburg, Sieghard 725
694, 721, 725, 728, 730, 746, 750 Braque, Georges 88
Berg, Nicolas 735 f. Braunstein, Dirk 683
Bergman, Ingmar 741 Brecht, Bertolt 146, 305, 350,
Bergmann, Joachim 711 374, 576, 616, 636, 685, 702-704,
Bergson, Henri 58 f., 62, 68 f., 710, 758 f.
86, 608-611 Brei, Miroslav 695
Berlioz, Hector 400, 409, 583, Brendel, Franz 721
717, 720 f. Brentano, Bernard von 628, 634
Bessel-Lorck, Lorenz 664 Breton, André 697
Bibring, Edward 595 Bridge, Frank 690
Bierbaum, Otto Julius 719 Brill, Hermann 77, 117, 598, 616,
Billing, Klaus 490-494, 747 651
Bismarck, Otto von 668 Brinkmann, Carl 711
Bizet, Georges 690 Brinkmann, Reinhold 748, 751
Blaukopf, Kurt 687 Britten, Benjamin 323, 567, 690
Blei, Franz 702 Brod, Max 699
Blumenthal, Herbert 674 Broszat, Martin 669
Bock, Wolfgang 645 Brown, Earle 724
Boeckel, Otto 734 Brown, John 677
Böhm, Franz 120, 603, 628 f. Bruckner, Anton 160, 228, 410,
Böhm, Karl 721 641
Böhmer, Auguste 677 Brüdigam, Heinz 740
Böschenstein, Bernhard 727 Buber, Martin 126, 631
Boetticher, Karl W. 628 Büchner, Georg 225, 270, 675

774
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Büsch, Otto 733 D’Annunzio, Gabriele 396, 716


Burckhardt, Jacob 532, 681 Debussy, Claude 225, 235 f.,
Burgh, Albert 684 316 f., 547, 563, 606, 659, 661,
Busoni, Ferruccio 748 663 f., 688, 746
Degas, Edgar 614
Calvelli-Adorno, Agathe 595 Dehmel, Richard 701
Calvelli-Adorno, Franz 564 Delbrück, Hans 676
Calvelli-Adorno, Helene 564 Denney, Reuel 709
Campanella, Tommaso 697 Denninger, Erhard C. 672
Canetti, Elias 641 Dieterle, William 690
Cantril, Hadley 473, 743 f. Dilthey, Wilhelm 39, 42, 513,
Cart, Jean-Jacques 676 598, 601, 604
Carus, Carl Gustav 277, 678 Diner, Dan 736
Casella, Alfredo 727 Dirks, Walter 603, 664, 666
Cassirer, Ernst 597 Disney, Walt 90, 619
Cerha, Friedrich 721 Döderlein, Johann Ludwig 552,
Cézanne, Paul 72, 612 759
Chamberlain, Neville 740 Drexler, Anton 671
Char, René 752 Dreyfus, Alfred 56, 606 f., 749
Chessman, Caryl 245 f., 666 Dschingis Khan 208, 655
Chopin, Frédéric [Fryderyk] 90, Dudek, Peter 733, 737
235, 392, 491, 493, 547, 663, Dürrer, Martin 622
714 Dukas, Paul 663
Chruschtschow, Nikita Sergeje- Duse, Eleonora 716
witsch 149 Dvořák, Antonı́n 321, 567
Cocteau, Jean 702
Cohen, Hermann 597 Edelmann, Bernd 723
Colli, Giorgio 614 Eggebrecht, Heinrich 721
Comte, Auguste 281, 553, 680 Ehrhardt, Arthur 737
Condorcet, Marie-Jean-Antoine- Eichmann, Adolf 450, 670
Nicolas de Caritat, Marquis de Eifler, Günter 672
292, 558, 682 Eimert, Herbert 625, 662
Cornelius, Hans 634 Einstein, Alfred 714
Craft, Robert 659 Eisenhower, Dwight D. 666
Cube, Alexander von 628 f. Eisler, Hanns 602
Curtius, Ernst Robert 605-608 Eisler, Rudolf 602
Cysarz, Herbert 740 Elisabeth II. 709
Elschek, Oskar 724
Dahlhaus, Carl 724 Emerson, Ralph Waldo 168, 644
Dahrendorf, Ralf 295, 560, 665, Enfantin, Barthélemy Prosper
683 340, 573, 698
Daladier, Édouard 740 Engel, Hans 309, 687

775
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Engels, Friedrich 537, 618, 626, 337, 340, 342, 468, 518, 533,
632, 654, 681, 712 573, 595, 602 f., 655, 657, 665,
Ernst, Max 338, 572, 697 667, 669, 691, 694, 696, 699, 758
Ernst Ludwig [Großherzog von Freund, Hugo 627, 634
Hessen und bei Rhein] 593 Frey, Gerhard 736 f.
Eschenburg, Theodor 598 Freyer, Hans 652
Euchner, Walter 630 Freyhold, Michaela von 670
Eyferth, Klaus 664 Friedeburg, Ludwig von 683, 711,
740
Falkenheim, Hugo 676 Friedenthal, Richard 609
Fauvel, Antoine Sulpiz 612 Friedrich Wilhelm IV. 680
Fellenberg, Philipp Emanuel von Frings, Manfred S. 635
679 Frisch, Max 641
Fendt, Franz 628 Fromm, Erich 332, 694
Feuerbach, Ludwig 130, 632 f. Fuchs, Erich 648, 674
Fichte, Johann Gottlieb 185, Furth, Peter 733
267 f., 270, 273-275, 277,
279-282, 291 f., 552-554, 558, Gaessler, Willy 742 f.
648, 674-677, 759 Galaise, Sophie 754
Fiechtner, Helmut A. 745 Gassen, Kurt 684
Filmer, Robert 122, 630 Gaudet, Hazel 733, 743
Fink, Gonthier-Louis 680 Gawlick, Günter 635
Fischer, Johann Caspar Ferdinand Gazzelloni, Severino 662
550 Gebhardt, Bruno 673
Flaubert, Gustave 75, 608 Gebhardt, Carl 684
Fleck, Christian 652 Gehlen, Arnold 119-121, 123,
Flitner, Andreas 643, 679 136-142, 531, 626, 628-631,
Flowerman, Samuel H. 667 633-636, 756
Fortner, Wolfgang 729 Gehlhaar, Sabine S. 610
Fraenkel, Ernst 651 Gembardt, Ulrich 681
France, Anatole 72, 612 Genée, Richard 648
Franco, Francisco 204, 655 George, Stefan 57, 343, 346, 485,
Frank, Leonhard 120, 122, 629 488, 495, 689, 699, 701 f., 716,
Frank, Maurits 662 748, 752-754
Franke, Rainer 661 Gerhard, Hans Wolfram 711
Frankenberger, Julius 609 Gerhardt, Carl Immanuel 705 f.
Franzel, Emil 740 Gesualdo, Don Carlo 96, 225,
Frauenstädt, Julius 634 544, 620, 658 f.
Frenkel-Brunswik, Else 599 Gide, André 58
Freud, Anna 242, 595, 657 Giel, Klaus 643, 679
Freud, Sigmund 50, 130, 167, Gielen, Rosa 645
207, 217 f., 239, 242, 263, 333, Giraud, Albert 487, 749 f.

776
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Glazer, Nathan 709 Habermas, Jürgen 482, 626, 683,


Gliwitzky, Hans 648, 674 746 f.
Gluck, Christoph Willibald 226, Hacker, Friedrich (Frederick) 707
544 Hackert, Jakob Philipp 685 f.
Goebbels, Joseph 223, 448, 458, Haecker, Theodor 113, 615, 624
544, 657 f., 712, 738 Händel, Georg Friedrich 226,
Gödde, Christoph 606, 626, 666, 309, 544, 641, 660
674 Häusler, Josef 754
Göpfert, Herbert G. 727 Hagemann, Walter 651
Goethe, Johann Wolfgang von Hahn, Martin 695
150, 152, 165, 177, 231, 271, Halbe, Max 351, 576, 704
277, 279, 281, 286, 306, 487, Hammerschmidt, Helmut 651
533, 551, 553, 555, 614, 638, Hanslick, Eduard 223, 227 f., 545,
662, 676, 679 f., 685 f., 693, 727, 658, 661
750, 759 Harris, Chauncy D. 646
Götz, Wolfgang 665 Hartleben, Otto Erich 750
Gogh, Vincent van 229 Hartmann, Christian 653
Goldschmidt, Lazarus 649 Hartmann, Klaus D. 664
Gottsched, Hermann 637 Haubenstock-Ramati, Roman
Grab, Hermann 57, 607. 724
Grabbe, Christian Dietrich 702 f. Haug, Steffen 662
Graham, Billy 147 f., 637 Hauser, Arnold 72, 612
Gregor, Joseph 721 Haydn, Joseph 93, 423, 482, 570
Gremmels, Heinrich 616 Hays, Will H. 643
Grimm, Jacob 662 Hecht, Werner 636
Grimm, Wilhelm 662 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich
Gris, Juan 98, 621 31, 33, 39, 67, 76, 128, 130, 135,
Groddeck, Georg 338, 697 140, 146, 150, 153 f., 165, 185,
Gruber, Gerhardt 630 189, 198, 226, 230, 251, 268,
Gruber, Karl 13, 594 270-274, 277, 280-283, 285 f.,
Grzymala, Adalbert 714 291 f., 297, 314, 347, 389, 416,
Günther, Joachim 316, 688 f. 424 f., 430 f., 509, 533, 552 f.,
Gundolf, Elisabeth 346, 701 555, 561, 597 f., 604, 611, 614, 616,
Gundolf, Friedrich 316, 689, 701 618 f., 632 f., 635, 637, 651, 653,
Gunsch, Elmar 710 656, 660, 662, 674, 676-679, 681,
Gunzert, Rudolf 708 684, 722, 725 f., 759
Guterman, Norbert 739 Hegel, Marie 726
Guttry, Alexander von 714 Hegemann, Werner 17, 594
Heiber, Helmut 712
Haacke, Wilmont 651 Heidegger, Martin 33, 137, 209,
Hába, Alois 432, 486, 625, 727 294, 509, 530, 537, 597, 628,
Haber, Heinz 217, 657 655, 690, 758

777
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Heimpel, Hermann 128, 173 f., 395, 400, 618, 702, 715-717, 721,
631 f. 745
Heine, Heinrich 719 Hofstätter, Peter R. 533, 708, 757
Helvétius, Claude Adrien 120, Holbach, Paul-Henri Thiry d’
128, 629 128, 631
Henius, Carla 495, 497, 752, 754 f. Holzamer, Karl 664
Hennig, Arno 651 Hoover, Herbert 709
Hennis, Wilhelm 651 Hoppe, Marianne 690
Henze, Hans Werner 438, 729 f. Horak, Eduard 547
Hering, Gerhard F. 693 Horkheimer, Max 250, 294, 460,
Herkommer, Sebastian 711 598, 617, 626 f., 630, 639, 646, 664,
Herrmann, Friedrich-Wilhelm 667 f., 672, 682, 684, 707, 738 f.
von 597 Hotter, Hans 744
Hertz Levinson, Maria 599 Huber, Heinz 708
Herzog, Herta 743 Hübscher, Arthur 634
Hessel, Franz 55, 606, 613 Hugenberg, Alfred 448, 734
Heuer, Renate 608 Hullot-Kentor, Robert 602
Heydrich, Reinhard 641 Humboldt, Wilhelm von 165,
Heym, Georg 622 180, 266-268, 281, 283, 285 f.,
Heynowski, Walter 735 321, 532, 551, 554-556, 566,
Hillel [Rabbi Hillel] 649 643, 673, 679, 690, 759
Hiller, Kurt 648 Husserl, Edmund 30, 597
Himmler, Heinrich 450, 653, 670 Hutten, Ulrich von 207, 655
Hindemith, Paul 83, 89, 99, 115, Hytier, Jean 689
323, 523, 567, 617, 722
Hindenburg, Paul von 447 Ibsen, Henrik 130, 187, 281, 332,
Hirsch, Karl 622 337 f., 533, 553, 572 f., 632, 649,
Hirschmann, Johann Baptist 651 696 f.
Hirsch-Weber, Wolfgang 651 Illig, Ulla 710
Hitler, Adolf 33, 147, 149, 199, Imboden, Max 655
207 f., 264, 342, 384, 443, 448, Ionesco, Eugène 702
451, 457, 459 f., 599, 653, 671, Ireland, John 690
734, 740 Isakower, Otto 595
Hobbes, Thomas 140, 538, 631,
635 Jacob, Hans 675
Hölderlin, Friedrich 159, 168 f., Jacobsen, Jens Peter 67, 611
183, 270, 281 f., 553, 559, 641, Jacobsen, Walter 246, 664, 667
644, 675, 759 Jaeschke, Walter 676
Höß, Rudolf 261, 450, 669 f. Jaide, Walter 665
Hoffer, Wilhelm 595 Jaschke, Hans Gerd 733, 737
Hoffmeister, Johannes 726 Jean Paul [eigentlich: Johann Paul
Hofmannsthal, Hugo von 349, Friedrich Richter] 759

778
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

John, Johannes 680 Kotschenreuther, Hellmut 662


Johst, Hanns 350, 702 f. Kottje, Friedrich 611
Jones, Ernest 691 Kottje, Leonore 611
Juch, Hermann 744 f. Kraft, Isabel 622
Kraller, Bernhard 745
Kadatz, Hans-Joachim 593 Kramer, Ferdinand 595
Kaesler, Dirk 652 Kraus, Karl 59, 90, 609, 619, 696
Kafka, Franz 90, 303, 342, 619, Krause, Jürgen Peter 671
699 Krauss, Clemens 721 f.
Kagel, Mauricio 724 Krenek, Ernst 311, 549, 564, 687
Kahnweiler, Daniel-Henry 621 Kriebel, Susanne 189, 651
Kaiser, Georg 350, 576, 702 Kris, Ernst 595
Kant, Immanuel 34, 105, 124, Krohn, Claus-Dieter 652
128, 137, 146, 198, 247, 268, Kruse, Volker 651
275 f., 292, 296, 314, 424, 553, Kuhnert, Horst 630
558, 561, 598, 623, 631, 634, Kutscher, Artur 340-342, 344 f.,
667, 675, 677, 683 f., 688, 725 f. 573, 693, 695-697, 699 f., 702
Karajan, Herbert von 477, 745
Karplus, Gretel s. Gretel Adorno Lacant, Jacques 616
Kaulen, Heinrich 594 Lachmann, Hedwig 716, 718
Kawohl, Irmgard 690 Landmann, Michael 684
Kayser, Rudolf 702 Landshut, Siegfried 131, 633
Kennedy, John F. 666 Lankheit, Klaus A. 653
Kershaw, Ian 671 Laslett, Peter 630
Keynes, John Maynard 441, 730 f. Lauth, Reinhard 648, 674 f.
Kierkegaard, Søren 148, 637, 681 Lautréamont, Comte de [eigent-
Kieser, Rolf 693 lich: Isidore Lucien Ducasse]
Killy, Walther 596 342
Kirchmeyer, Helmut 749 f. Lavedan, Pierre 755
Klau, Barbara 659 Lazarsfeld, Paul Felix 515, 602,
Kleist, Peter 740 733
Klemm, Eberhardt 685 Le Bon, Gustave 50, 518, 602
Knopf, Jan 636 Le Corbusier [eigentlich: Charles-
Kölbel, Martin 703 Édouard Jeanneret-Gris] 501
Körner, Theodor 225, 660 Leibniz, Gottfried Wilhelm 352,
Kogon, Eugen 598, 653 677, 705 f.
Kohlhaas, Elisabeth 652 Leibowitz, René 664, 729
Kolisch, Rudolf 549, 621, 728 Lenz, Jakob Michael Reinhold
Kollwitz, Käthe 219 270, 675
Korn, Karl 616 Lenz, Wilhelm von 690 f.
Kornfeld, Paul 493, 752 Lessing, Gotthold Ephraim 547
Korngold, Julius 548 Levinson, Daniel J. 599

779
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Levinson, Maria s. Hertz Levin- Mannheim, Karl 598, 662


son, Maria Marg, Walter 673
Ley, Robert 653 Margaret [Countess of Snowdon]
Liebermann, Rolf 745 367, 378, 709
Ligeti, György 724 Marx, Karl 128-132, 385, 441,
Likert, Rensis 670 446, 530, 535, 537, 618, 626,
Lindemann, Klaus A. 602 632 f., 654, 656, 712, 725
Linke [Lincke], Karl 619 Massine, Léonide 702
Linton, Ralph 665 Mattel, Benno 622
Lippmann, Max 651 Mattel, Christine [geb. Webern]
Lippowitz, Jakob 609 622
Liszt, Franz 661, 714, 721 Maus, Heinz 651
Litt, Theodor 627, 690 McDougall, William 50, 603
Llull, Ramon [Raimundus Lullus] Mead, George Herbert 665
706 Melville, Herman 168
Locke, John 122, 630 Mendelssohn Bartholdy, Felix
Lodes, Birgit 723 235, 402-404, 719
Löbl, Hermi 745 Mennicke, Carl 681
Löbl, Karl 745 Mensching, Günther 629
Loesch, Heinz von 726 Merton, Robert K. 193, 652 f.
Löwenthal, Leo 739 Messiaen, Olivier 661, 664
Lonitz, Henri 597, 606, 626, 666, Metzger, Heinz-Klaus 622, 662
674, 725 Metzger, Ludwig 110, 616, 623 f.
Loos, Adolf 501 Meyer-Eppler, Werner 625
Lorrain, Claude 685 Meyerbeer, Giacomo 714
Lüchow, August Guido 174, 645 Michel, Karl Markus 597
Lüth, Paul 702 Michel-Thiriet, Philippe 612
Lynd, Helen Merrell 601 Michels, Robert 41, 512, 600,
Lynd, Robert Staughton 44, 514, 652, 711
601 Mielke, Fred 636
Milder-Hauptmann, Anna
Maeterlinck, Maurice 397, 488, Pauline 726
659, 701, 716, 750 f. Miller, Norbert 727
Mahler, Gustav 225, 235, 394, Miroglio, Abel 665
429, 481, 547, 563, 659, 663, Mitscherlich, Alexander 147,
715, 727, 746 380, 604, 636 f., 756
Mahler-Werfel, Alma 663 Mittenzwei, Werner 636
Mallarmé, Stéphane 316, 688 f. Mohler, Philipp 329, 685, 691
Manet, Édouard 229 Moldenhauer, Eva 597
Mann, Heinrich 331, 694 Molière [eigentlich: Jean-Baptiste
Mann, Thomas 58, 174, 576, 641, Poquelin] 64, 610
645, 690 Monet, Claude 72, 612

780
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Montaigne, Michel de 143 Nordmeyer, Joachim 708


Monteverdi, Claudio 423, 725 Novalis [eigentlich: Friedrich von
Montinari, Mazzino 614 Hardenberg] 676 f., 759
Morand, Paul 73, 612 Nunberg, Hermann 254, 638, 669
Morris, William 9, 593, 755 Nussbaum, Max 460, 739
Morrow, William 599
Morstein Marx, Fritz 651 Ockeghem, Johannes 489, 750
Morus, Thomas 697 Oehler, Christoph 646, 648-650,
Mosca, Gaetano 711 668, 683
Moucheron, Frederik de 685 Oettingen, Wolfgang von 686
Mozart, Wolfgang Amadeus 89, Ogburn, William Fielding 686
93, 96, 99, 228, 319, 321, 392, Olbrich, Joseph Maria 593
395, 428 f., 475, 527, 567, 570, Otte, Hans 713
579, 620, 641, 661, 663, 715,
726 f. Pahlavi, Mohammad Reza 709
Mühlen, Patrik von zur 652 Palestrina, Giovanni Pierluigi da
Müller, Karl Valentin 652 310, 644
Müller, Klaus-Detlef 636 Pareto, Vilfredo 381, 537, 711
Müller, Siegfried 452 f., 735 Parsons, Talcott 244, 665
Müller, Wilhelm 487, 750 Paul, Gerhard 652
Mungen, Anno 661 Perels, Joachim 741
Mussolini, Benito 600, 711, 740 Perrier, Florent 613
Mussorgski, Modest 225, 619, 659 Pestalozzi, Johann Heinrich 759
Peters, Hans 628
Natorp, Paul 597 Petrarca, Francesco 143
Nattiez, Jean-Jacques 754 Pfanner, Josef 655
Neuberger, Louise 611 Pfeffer, Heinz 652
Neumann, Werner 658 Pfempfert, Franz 629
Neumannová, Valéria 724 Pfitzner, Hans 82, 328, 570, 617,
Neumark, Fritz 757 658
Newes, Tilly s. Tilly Wedekind Phelps, William Lyon 669
Newman, Ernst 233, 663 Picasso, Pablo 88, 348, 575, 612,
Newton, Isaac 115 702
Ney, Elly 550, 759 Pichois, Claude 753
Nicolay, Wilhelm Otto 611 Pierné, Gabriel 663
Niethammer, Friedrich Pierre-Quint, Léon 75, 613
Immanuel 759 Pilarczyk, Helga 749
Nietzsche, Friedrich 76, 86, 140, Pilot, Harald 683
331, 342, 573, 614, 635 Pirckheimer, Willibald 655
Nixon, Richard 666 Platon 58, 276, 279, 285, 296 f.,
Noack, Paul 702 375, 697
Nono, Luigi 755 Plessner, Helmuth 625 f.

781
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Pluskat Brill, Martha 616 Riethmüller, Albrecht 721


Poe, Edgar Allan 168 Rilke, Rainer Maria 290, 557,
Pollock, Friedrich 603 682
Popper, Karl 683 Ring, Thomas 708
Portmann, Adolf 133, 633 Ritter, Johann Wilhelm 274, 277,
Poujade, Pierre 443, 731 552, 676
Pousseur, Henri 730 Rocco, Hanni 604
Proelss, Maria 604 Rochau, August Ludwig von 668
Pross, Helge 736 Röhm, Ernst 264, 671
Proust, Adrien 73, 612 Roellecke, Gerd 672
Proust, Jeanne 611 Rönnebeck, Günther 664 f.
Proust, Marcel 55-76, 533, Roh, Franz 628, 634
604-614 Roller, Alfred 746
Puccini, Giacomo 690 Roloff, Helmut 662
Roosevelt, Franklin D. 204, 465,
Raab, Claus 726 653 f., 742
Rachmaninow, Sergej 82, 617 Roosevelt, Theodore 732
Rademacher, Jörg W. 671 Rosenzweig, Wilhelm 734
Radrizzani, Ives 674 Rossini, Gioachino 424 f., 726
Raffael 88 Rosten, Leo 735
Rauchhaupt, Ursula von 623 Rothacker, Erich 652
Ravel, Maurice 229, 545, 661 f. Rousseau, Jean-Jacques 700
Rechel-Mertens, Eva 607, 609, Royce, Josiah 644
613 Rubiner, Ludwig 120, 122, 629
Reger, Max 746 Rufer, Josef 416, 585, 722, 729
Reich, Willi 728 Ruskin, John 9, 593, 755
Reichert, Klaus 622
Reicke, Emil 655 Sade, Donatien-Alphonse-
Reinhardt, Max 700, 745 François, Marquis de 343, 345,
Renaud, Madeleine 754 574, 700
Renoir, Auguste 74, 612 f. Saint-Simon, Claude Henri de
Resa Pahlawi, Mohammad 339 f., 573, 680, 697 f.
s. Mohammad Reza Pahlavi Salomon-Delatour, Gottfried 698
Richter, Karl 727 Sanford, R. Nevitt 599
Rickert, Heinrich 42, 513, 601 Sartre, Jean-Paul 334, 610
Ridder, Helmut 628 Satie, Erik 702
Riegl, Alois 82, 617 Sauder, Gerhard 727
Riehn, Rainer 622 Schaeffer, Pierre 625
Riemann, Fritz 708 Schaffner, Hermann 651
Riemann, Hugo 392, 714 Schaller, Klaus 690
Riese, Brigitte 593 Schammai [Rabbi Schammai] 649
Riesman, David 371, 476, 709 Schattmann, Alfred 402, 580, 717 f.

782
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Scheibe, Johann Adolf 658 92 f., 99-102, 104-106, 108 f.,


Scheible, Helga 655 185, 224 f., 299, 308, 310,
Scheler, Max 137, 354, 598, 316 f., 322 f., 326, 392, 399,
634 f., 706 f. 408 f., 417, 434-436, 438, 482,
Schelling, Caroline [Caroline 485-497, 523, 525, 527 f., 544,
Schlegel, verw. Böhmer] 677 548, 562, 565, 567 f., 570, 580,
Schelling, Friedrich Wilhelm 582, 585 f., 615, 617, 619-623,
Joseph 267, 273 f., 281 f., 292, 648, 684 f., 688 f., 714, 717, 722 f.,
552-554, 558, 674, 676 f., 680 f., 728-730, 746-756
759 Schöttker, Detlev 662
Schelsky, Helmut 534, 627, 647, Scholar, [?] 708
757 Scholem, Gershom 606, 609
Schenker, Heinrich 406, 719 Scholz, Hans 717
Scherchen, Hermann 750 Schopenhauer, Arthur 137, 281,
Scheuch, Manfred 730 322, 553, 634 f.
Scheumann, Gerhard 735 Schopf, Wolfgang 607
Schickele, René 629 Schottlaender, Rudolf 605
Schieche, Walter 648 Schubert, Franz 403, 423, 487,
Schillemeit, Jost 699 619, 663, 750
Schiller, Friedrich (von) 733, 759 Schubert, Giselher 746
Schiller, Karl 731 Schütrumpf, Eckart 633
Schindler, Anton 685 Schütz, Heinrich 226, 544
Schinkel, Karl Friedrich 18, 594, Schütz, Waldemar 740
661 Schuh, Willi 716, 723
Schlegel, August Wilhelm 642 Schultz, Joachim 651
Schlegel, Caroline s. Caroline Schulz, Wilhelm 675
Schelling Schulze, Hans-Joachim 658
Schlegel, Friedrich 676 f., 759 Schulze-Vellinghausen, Albert
Schleiermacher, Friedrich 281, 616
679 Schumann, Robert 86, 174, 235,
Schlötterer, Reinhold 723 315, 402, 547, 549, 618, 658,
Schmelzer, Wally 665 663
Schmid Noerr, Gunzelin 672 Schurr-Lorusso, Anna-Maria 674
Schmidt-Radefeldt, Jürgen 689 Schwarz, Michael 622
Schnebel, Dieter 492, 751, 755 Schweitzer, Albert 756
Schneiber, Herbert 745 Schweppenhäuser, Hermann 609,
Schneider, Peter 265, 673 682
Schneider, Peter K. 648, 674 Sebaldt, Maria 638
Schöllkopf, Günter 620 Sechter, Simon 714
Schoen, Ernst 587, 760 Sekles, Bernhard 317, 549, 689
Schönbach, Peter 666, 741 Shakespeare, William 143, 162,
Schönberg, Arnold 82, 85, 90, 636, 642

783
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Sibelius, Jean 82, 617 Strauss, Richard 85, 224, 328,


Sighele, Scipio 602 387-418, 544, 570, 577-586,
Silbermann, Alphons 687, 743 618, 658, 685, 691, 713-723, 745,
Simmel, Georg 52, 296, 561, 599, 760
603 f., 684 Strawinsky, Igor 82 f., 99, 224,
Simon, Heinrich 618 322 f., 436, 523, 525, 567, 617,
Simpson, George 48, 602 619, 659, 661
Sittenfeld, Hans 648 Streissler, Erich W. 727
Smith, Adam 425, 726 f. Streissler, Monika 727
Sokrates 276, 552, 688 Strobel, Heinrich 747
Solms, Max zu 30, 33, 54, 596 f. Süsterhenn, Adolf 741
Solomon, Maynard 725 Suhr, Otto 598
Solti, Georg 544, 659 Suhrkamp, Peter 57, 607
Sombart, Werner 652 Sumner, William Graham 668
Soraya [Soraya Esfandiary Bakhtia- Suppé, Franz von 648
ry] 367, 378, 709 Swanevelt, Herman 685
Spann, Othmar 652 Szondi, Peter 692, 727
Spengler, Oswald 41, 512, 600 f.
Spinoza, Baruch de 684 Tarde, Gabriel 602
Spitz, Malte 608 Tardieu, Ambroise 612
Sprague Coolidge, Elizabeth 728 Telemann, Georg Philipp 224, 658
Stadlen, Peter 689 Teschner, Manfred 683, 711
Stalin, Josef 509 Thadden, Adolf von 733
Staub, Hans 727 Thalhammer, Erwin 745
Steck, Karl Gerhard 651 Thiele, Rolf 694
Stein, Erwin 97, 434, 620 f., 728 Thielen, Friedrich 733
Stein, Lorenz von 651 Thomae, Jutta 648
Steinecke, Wolfgang 747 Thomas, Ernst 724
Steiner, Herbert 702 Thomssen, Wilke 741
Steinert, Heinz 745 Thoreau, Henry David 168, 644
Steingruber, Ilona 662 Thurn und Taxis, Marie von 682
Stendhal [eigentlich: Marie- Tiedemann, Rolf 609, 622, 630,
Henri Beyle] 75 671, 692, 700 f., 725, 736, 741, 748
Sternberger, Dolf 598 Tiedemann-Bartels, Hella 606
Sternheim, Carl 350, 576, 702 Tillich, Paul 681
Steuermann, Eduard 485, 645, Timur-Lenk (Tamerlan) 208, 655
689, 748, 752 f. Tobisch, Lotte 745
Steuermann, Rosa s. Rosa Gielen Tocqueville, Alexis de 644
Stirner, Max 632 Tönnies, Ferdinand 39, 190, 511,
Stockhausen, Karlheinz 436, 625, 596, 599
662, 729 Tophoven, Elmar 704
Stöcklein, Paul 678 Tormin, Walter 672

784
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Toscanini, Arturo 473, 549, 744 Weber, Horst 746


Trakl, Georg 103, 350, 622 Weber, Max 202, 212, 271, 384,
Trippel, Alexander 686 477, 512, 551, 599 f., 603, 654,
Troeltsch, Ernst 178, 512, 647 656, 675, 712, 745, 757
Troll, Thaddäus 620 Webern, Anton (von) 82,
Trommershausen, Alfred 757 103-106, 115, 318, 432 f., 482,
Tschaikowsky, Pjotr Iljitsch 169, 523, 527, 544, 566, 617, 622 f.,
399, 425, 580, 619, 644 661, 689, 727 f., 746, 756
Tschombé, Moise 735 Wedekind, Frank 330-351,
571-576, 692-704, 721
Ueberweg, Friedrich 706 Wedekind, Tilly 694, 696
Unseld, Siegfried 607 Weichmann, Herbert 628
Unwin, Raymond 502, 755 Weil, Hans 681, 759
Weill, Kurt 82, 616, 636
Valéry, Paul 76, 318, 346, 427, Weinbrenner, Milli 740
454, 608, 614, 689, 727, 736 Weischedel, Wilhelm 623, 631
Vierhaus, Rudolf 596 Weismann, Wilhelm 658
Vietta, Egon 757 Weitz, Hans-Joachim 330, 347,
Villwock, Peter 703 692 f.
Vinçon, Hartmut 693, 695 Welles, Orson 743
Vojtěch, Ivan 620 Weltz, Friedrich 683
Voltaire [eigentlich: François- Werbeck, Walter 723
Marie Arouet] 180, 308, 564, Werner, Heinrich 663
647 Wesendonck, Mathilde 621
Vroom, Nicolaas R. A. 616 Whitehead, Alfred North 644
Wickenburg, Erik 57, 608
Wagenknecht, Christian 619 Widmaier, Tobias 721
Wagner, Helmut 648 Widmer, Walter 702
Wagner, Richard 82, 85, 87, 93 f., Wiene, Robert 716
96, 98, 100, 102, 223, 225, 228, Wiener, Norbert 656
235, 311, 316, 322, 392, 399, Wiesbrock, Heinz 664
403, 405, 410, 413, 446, 524, Wiesengrund, Maria 666
565, 570, 580-582, 617 f., 621, Wiesengrund, Oscar 666
658 f., 661, 663, 688, 714, Wilde, Oscar 397, 716, 718
717-721, 732, 756 Wille, Hansjürgen 659
Wagner-Stiedry, Erika 749 Willkie, Wendell 194, 653
Walden, Herwarth 629 Winckelmann, Johannes 600
Wall, Willem van de 644 Winckler, Lutz 652
Walzel, Camillo [Pseudonym: Wintermeyer, Rolf 612
F. Zell] 648 Wojak, Irmtrud 741
Watkins, Glenn E. 659 Wolf, Hugo 235 f., 547, 663
Weber, Alfred 598, 662 Wolzogen, Alfred von 594

785
Düsseldorf Sa, Nov 26th 2022, 16:25

Wolzogen, Ernst von 717 Zemlinsky, Louise 659


Wuttke, Dieter 655 Ziegler, Klaus 625
Ziermann, Christoph 665
Zahn, Manfred 675 Ziesel, Kurt 740
Zehme, Albertine 485, 495, 748, Zimmer, Ernst 675
750, 752 Zinn, Georg August 598, 652
Zell, F. s. Camillo Walzel Zipfel, Friedrich 672
Zemlinsky, Alexander von 225, Zweig, Stefan 59, 609
544, 659, 722

Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)


Düsseldorf Sa,
Nov 26th 2022, 16:25

Als Theodor W. Adorno 1949 aus dem amerikanischen Exil


nach Deutschland zurückkehrte, nahm er nicht nur seine
Lehr- und Forschungstätigkeit an der Frankfurter Universität
sowie am Institut für Sozialforschung wieder auf, sondern
machte sich alsbald als öffentlicher Intellektueller einen
Namen. Adornos beachtlicher Einfluss auf die Debatten der
Nachkriegszeit verdankte sich auch seinen außeruniversitären
Vorträgen, in denen er pointiert zu den verschiedensten ge-
sellschaftlichen Entwicklungen Stellung nahm.
Der Band versammelt 20 dieser Vorträge, die er zwischen
1949 und 1968 gehalten hat. Das Spektrum der Themen ist
breit: Es geht um das Suchtpotential von Prousts Prosa und
um die Kompositionstechnik von Richard Strauss, um Fragen
des Städtebaus und der Pädagogik, um Aberglauben und An-
tisemitismus, um die autoritäre Persönlichkeit und den neuen
Rechtsradikalismus. Ihren besonderen Reiz gewinnen die
Vorträge aus ihrer freien Form: Sie wollen keine Traktate sein,
sondern verstehen sich als Improvisationen, die zum eigenen
Verstandesgebrauch anregen sollen. Oder wie Adorno selber
sagt: »Ich überlasse Ihnen das zum Weiterdenken.«

Michael Schwarz, geboren 1964, ist wissenschaftlicher Mit-


arbeiter des Walter Benjamin Archivs der Akademie der
Künste, Berlin.

Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)

Das könnte Ihnen auch gefallen