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71. Jahrgang, 16/2021, 19.

April 2021

AUS POLITIK
UND ZEITGESCHICHTE
Sowjetunion
Maike Lehmann Jochen Hellbeck
DAS (POST-)SOWJETISCHE DIE SOWJETUNION
ALS POLITISCHE UND IM KAMPF GEGEN
IDENTITÄTSRELEVANTE HITLER-DEUTSCHLAND
RESSOURCE
Frank Grüner
Julia Obertreis JUDEN UND
SOWJETUNION GLOBAL JÜDISCHES LEBEN
IN DER SOWJETUNION
Jörg Baberowski
SOWJETISCHE GESCHICHTE Irina Scherbakowa
ALS GEWALTGESCHICHTE SACKGASSE
SOWJETVERGANGENHEIT
Susanne Schattenberg
NACH STALIN:
DAS FUNKTIONIEREN
DER UDSSR

ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE


FÜR POLITISCHE BILDUNG
Beilage zur Wochenzeitung
Sowjetunion
APuZ 16/2021
MAIKE LEHMANN JOCHEN HELLBECK
DAS (POST-)SO­WJE­T ISCHE ALS POLITISCHE DIE SOWJETUNION IM KAMPF GEGEN
UND IDENTITÄTSRELEVANTE RESSOURCE HITLER-DEUTSCHLAND
Die Begriffe des „So­wje­tischen“ und des Die Aufklärung über deutsche Gewaltverbrechen
„Postso­wje­tischen“ scheinen zunächst schlicht durch sowjetische Beobachter rüttelte auch im
eine Chronologie zu umreißen. Doch gleichzei- Westen auf. Materiell wie konzeptionell hatte
tig sind sie politisch aufgeladen und analytisch, die Sowjetunion eine entscheidende Rolle beim
sie stehen in einer spezifischen Tradition und Sieg gegen das nationalsozialistische Deutsch-
verzeichnen ihre eigenen Konjunkturen. land inne.
Seite 04–09 Seite 32–39

JULIA OBERTREIS FRANK GRÜNER


SO­WJET­U NION GLOBAL JUDEN UND JÜDISCHES LEBEN
Bereits die Revolution 1917 verursachte ein IN DER SO­WJET­U NION
internationales Beben und verbreitete Furcht Mit dem Sturz des zarischen Regimes im März
wie Hoffnung zugleich. Mit dem Kalten Krieg 1917 begann für die jüdische Bevölkerung
wurde die So­wjet­union zur „Supermacht“ und eine neue Epoche. Doch antireligiöse Politik,
im Globalen Süden zur Entwicklungshelferin Antisemitismus und Antizionismus ließen den
mit Hintergedanken. Wunsch nach Emigration vor allem nach 1945
Seite 10–17 immer stärker werden.
Seite 40–47
JÖRG BABEROWSKI
SO­WJE­T ISCHE GESCHICHTE IRINA SCHERBAKOWA
ALS GEWALTGESCHICHTE SACKGASSE SOWJETVERGANGENHEIT
Der so­wje­tische Staat stand auf einem Fun- Vor knapp 30 Jahren wurde das Ende der
dament, das mit Gewalt errichtet wurde. Das So­wjet­union vertraglich besiegelt. An ihrem
Regime setzte seine Gewaltexzesse überall dort Erbe, insbesondere dem stalinistischen, trägt das
ins Werk, wo es seiner Herrschaft nicht sicher heutige Russland immer noch schwer. Blicke
zu sein glaubte. Erst Nikita Chru­sch­tschow zurück und auf die aktuelle Geschichtspolitik
beendete den Terror. zeigen, warum dies so ist.
Seite 18–24 Seite 48–52

SUSANNE SCHATTENBERG
NACH STALIN:
DAS FUNKTIONIEREN DER UDSSR
Die Forschung zur späten So­wjet­union hat
in den vergangenen zwei Jahrzehnten einen
Aufschwung erlebt. Dominierte in den 1990er
Jahren die Stalinismusforschung, ist es jetzt
die Forschung zur Zeit nach 1953 unter der
Herrschaft Chru­sch­tschows und Breschnews.
Seite 25–31
EDITORIAL
Am 4. Oktober 1957 schoss die So­wjet­union ihren Satelliten „Sputnik“ erfolg-
reich ins All. Diese Pioniertat löste im Westen einen Schock aus: nicht die
USA, sondern der kommunistische Gegenspieler im Kalten Krieg hatte beim
space race technologisch die Nase vorn. Im August 2020, nach der ersten Welle
der Corona-Pandemie, legte Moskau erneut im globalen Wettlauf vor. Doch
ein erneuter „Sputnik-Schock“ nach Zulassung des ersten Corona-Vakzins
­„Sputnik V“ durch russische Behörden blieb bisher weitgehend aus.
Die Bezugnahme auf tatsächliche oder vermeintliche Erfolge der So­wjet­
union ist Teil der aktuellen (Geschichts-)Politik der Russischen Föderation. Das
So­wje­tische existiert neben dem Postso­wje­tischen, also den Erfahrungen mit den
Umwälzungen und Unsicherheiten nach 1991, weiter. Die größte erinnerungs-
kulturelle Rolle spielt dabei der Sieg der Roten Armee im „Großen Vaterländi-
schen Krieg“, der mit dem Überfall NS-Deutschlands auf die So­wjet­union vor
80 Jahren, am 22. Juni 1941, begann und mit der Kapitulation der Wehrmacht
am 8./9. Mai 1945 endete. Mittlerweile geht die Forschung von etwa 27 Millio-
nen Opfern auf so­wje­tischer Seite aus.
Dieses Opfer im Kampf gegen den Faschismus vermochte es allerdings nicht,
die Gewalt gegen die eigene Bevölkerung zu stoppen, die mit dem „Großen Ter-
ror“ von 1937 einen Höhepunkt erreicht hatte. Die „Ströme“ in die „Gefängnis­
kanalisation“, wie Alexander Solschenizyn sie detailliert in seinem „Archipel
Gulag“ (1974) aufzählt, flossen während und nach dem Krieg weiter. Knapp
30 Jahre nach dem Ende der So­wjet­union ist die Auseinandersetzung mit dem
Stalinismus und seinen Folgen noch nicht beendet. Der Schock, den die Stalin-
Zeit ausgelöst hat, wirkt bis heute gesellschaftlich nach.

Anne Seibring

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APuZ 16/2021

VON DER HARTNÄCKIGKEIT


EINES ATTRIBUTS
Das (Post-)So­wje­tische als politische
und identitätsrelevante Ressource
Maike Lehmann

Mittlerweile ist es 30 Jahre her, dass der so­wje­ union stelle die größte geopolitische Katastrophe
tische Staat zu existieren aufhörte. Mit ihm ende- des 20. Jahrhunderts dar,02 in Russland wie im
ten auch der Kalte Krieg und die bipolare Auftei- postso­wje­tischen Raum Zustimmung. Immerhin
lung der Welt in einen durch Moskau weitgehend hatten Finanzreformen und -krisen wiederholt
dominierten sozialistischen Block und westliche Familienersparnisse vernichtet; Arbeitsverhält-
liberale Staaten, die ihre konkurrierenden Gesell- nisse bleiben bis heute fragil. Auch widerlegten
schaftsmodelle mithilfe von Entwicklungspro- die kriminelle Gewalt auf den Straßen postso­
grammen, wirtschaftlichen Kooperationen, Bil- wje­tischer Städte der 1990er Jahre und die zahl-
dungsaustausch und militärischen Einsätzen in reichen Bürgerkriege an der ehemaligen so­wje­
damals als „Dritte Welt“ und „blockfreie Staaten“ tischen Peripherie den westlichen Mythos eines
bezeichneten Regionen zu etablieren suchten. Auf gewaltfreien ­Regimewechsels.
die euphorische Rede vom „Ende der Geschich- Trotz der Berichte über diese Zustände irri-
te“, die den umfassenden Sieg des Liberalismus tierte Putins Aussage im Westen. Hier wird der
postulierte,01 folgten im Westen der Entwurf von Zerfall der multiethnischen So­wjet­union keines-
Transformationstheorien, die die Härten des Zu- wegs als Tragödie, sondern als Befreiung angese-
sammenbruches lediglich als eine Übergangszeit hen, und positive Erinnerungen an die Sowjetzeit
entwarfen, die mittels einer Schocktherapie umso als fehlgeleitete, da vergessliche, verharmlosende
schneller überwindbar wäre. „Nostalgie“ gefasst.03 Zugleich werden Rechts-
Mittlerweile ist eine ganze Generation ohne beugung, Korruption, die Schwäche der Zivil-
eigene Erfahrung mit dem Staatsozialismus auf- gesellschaft, Zustimmung für Putins Geopolitik
gewachsen. Doch die So­ wjet­
union bleibt prä- oder auch die regelmäßige Nennung Stalins als
sent. Denn auch die Nachgeborenen, nicht nur bedeutendste Figur in der russischen Geschich-
ihre vor 1991 aufgewachsenen Eltern und Groß- te04 als Ausweis für ein noch nicht überwunde-
eltern, wurden durch die So­wjet­union und ihren nes so­ wje­
tisches Erbe gewertet. Diese konträ-
Zusammenbruch geprägt. So halten sich positive ren Interpretationen sind Grund genug, sich das
Bezugnahmen etwa auf die entscheidende Rolle (Post-)So­wje­tische als Attribut und seine unter-
der So­wjet­union im Zweiten Weltkrieg, auf die schiedlichen Bedeutungen näher anzusehen.
Breschnew-Zeit oder gar auf Stalin als erfolg-
reichen Manager der so­wje­tischen Modernisie- CHRONOLOGIE UND POLITIK
rung. Dies sind Abschnitte in der Geschichte,
die trotz der Millionen Opfer, die Krieg und Ter- Die Begriffe des „So­ wje­
tischen“ und des
ror forderten, und der Einschränkung von Mei- „Postso­wje­tischen“ scheinen zunächst schlicht
nungs- und Versammlungsfreiheit in der späten eine Chronologie zu umreißen – 70 Jahre So­
So­wjet­union nicht nur in Russland mit Erfolgen, wjet­union einerseits, das „Danach“ andererseits.
Sicherheit und globalem Status in Verbindung Doch jenseits dieser Zeitfolge signalisieren diese
gebracht werden. Entsprechend fand die De- Attribute auch etwas anderes: Sie sind so poli-
klaration des ehemaligen KGB-Offiziers Wla- tisch aufgeladen wie analytisch, sie stehen in ei-
dimir Putin, der Zusammenbruch der So­wjet­ ner spezifischen Tradition und verzeichnen ihre

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Sowjetunion APuZ

eigenen Konjunkturen. So markierte das Attri- Das Amalgam aus so­wje­tischen Erwartun-
but des Postso­wje­tischen in der Berichterstat- gen, so­wje­tischer Sprache und so­wje­tischen Ver-
tung der 1990er Jahre zunächst einen Übergang, haltensweisen einerseits und postso­ wje­
tischen
der – eingeläutet durch die Auflösung des politi- Adaptionsleistungen und Praktiken anderer-
schen Systems und den Denkmalsturm auf Sta- seits fiel vor allem AnthropologInnen bald ins
tuen so­wje­tischer Führer, dann veralltäglicht in Auge. So hatte etwa Caroline Humphrey be-
durch den Westen inspirierten Namen neuer, nun reits in den 1980er Jahren Feldforschungen auf
in privater Hand befindlicher1234 Geschäfte05 – die einer nach Karl Marx benannten Kolchose im
Loslösung vom Sozialismus als Ideologie und ostsibirischen Burjatien vorgenommen. Sie stell-
Weltbild verhieß. Auch die Kultur- und Sozial- te Mitte der 1990er Jahre fest, dass das So­wje­
wissenschaften wandten sich nach 1991 zunächst tische nicht einfach ad acta gelegt war, trotz Kri-
dem vermeintlich Neuen zu, etwa religiösen tik an der Politik des so­wje­tischen Staates und
Praktiken und wirtschaftlichen Aktivitäten, die der Existenz so­wje­tischer Arbeitslager, die nicht
in einem Kontrast zur antireligiösen Propagan- zuletzt die gewaltsame Kollektivierung und
da des untergegangenen Sowjetstaates und sei- Zwangsansiedlung von Burjaten im Stalinismus
ner Planwirtschaft standen.06 Jenseits der Adap- deutlich machten. Auch die Loyalität zum rus-
tionsleistung an unsichere Zeiten, in denen etwa sischen Staat stand keineswegs infrage. Vielmehr
Religiosität einen neuen Halt versprach, übersah fand Humphrey heraus, dass die zur Gruppe der
diese Perspektive aber oft, dass es trotz Ressenti- mongolischen Völker gehörenden BurjatInnen
ments etwa gegenüber Juden und Muslimen so- eine als „rückständig“ verstandene Identifika-
wie der Verfolgung von Sekten und Untergrund- tion als MongolInnen ablehnten. Denn sie ge-
kirchen spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg in hörten zu den Gruppen, die vor 1991 vor allem
der So­wjet­union durchaus gestattet war, Religi- als nicht-sesshafte, traditionelle Strukturen fort-
on auszuüben, sofern sie sich im Rahmen staat- schreibende, abergläubische und somit antimo-
lich kontrollierter Kirchenstrukturen bewegte.07 derne Gemeinschaft imaginiert wurden. Doch
Hinzu kommt, dass Moralvorstellungen von laut desselben staatlich beförderten Diskur-
nach 1991 bekehrten Gläubigen gleichermaßen ses konnten sie ihre Rückständigkeit überwin-
von Kirchenlehren wie von im Sozialismus pro- den, indem sie die emanzipatorisch und aufklä-
pagierten Werten geprägt waren.08 rerisch gefassten Modernisierungsvisionen des
multiethnischen Sowjetstaates verinnerlichten.
Die Langzeiteffekte dieser Vorstellungen spie-
01 Francis Fukuyama, The End of History?, in: The National gelten sich nach 1991 darin wider, dass BurjatIn-
Interest 16/1989, S. 3–18. nen sich nicht als solche, sondern in Anlehnung
02 Vgl. Heiko Pleines, Nach dem Ende der So­wjet­union,
an überethnische, staatsbürgerliche Kategori-
10. 10. 2014, www.bpb.de/192802.
03 Vgl. Walter Sperling Die Ruinen von Grosny. Nostalgie,
en identifizierten – waren sie vorher Sowjetbür-
Imperium und Geschichte im postso­wje­tischen Russland, in: gerInnen, sahen sie sich nun als RussländerIn-
Historische Anthropologie 2/2015, S. 290–315. nen.09 Wenige Jahre nach dem Zusammenbruch
04 Das unabhängige Levada-Zentrum erhebt dazu regelmäßig der So­wjet­union mochte es aber nicht überra-
Daten und hat einen Anstieg von positiven Stellungnahmen zu
schen, dass auch Alltagspraktiken und -regeln,
Stalin zwischen 2008 und 2018 festgestellt. Vgl. Levada-Center,
The Perception of Stalin, 17. 4. 2018, www.levada.ru/en/​2018/​
Vorstellungen von Erfolg und Scheitern und die
04/​17/the-​perception-​of-​stalin. Logiken sozialer Distinktion von im Stalinismus
05 Vgl. Alexei Yurchak, Privatize Your Name. Symbolic Work etablierten Regeln geprägt blieben.10
in a Post-Soviet Linguistic Market, in: Journal of Sociolinguistics Nach 2000 wurde dann verschiedentlich das
3/2000, S. 406–434.
Ende der postso­wje­tischen Zeit ausgerufen, meist
06 Vgl. Chris Hann (Hrsg.), Postsocialism. Ideals, Ideologies and
Practices in Eurasia, London 2002.
07 Vgl. Ulrike Huhn, Glaube und Eigensinn. Volksfrömmigkeit 09 Im Sinne einer nicht ethnisch-russischen, sondern staatsbür-
zwischen orthodoxer Kirche und so­wje­tischem Staat, 1941–1960, gerlich-russländisch definierten Identität. Entsprechend ist „Russ-
Wiesbaden 2014; Eren Tasar, Muslim and Soviet. The Institutio- ländische Föderation“ der korrekte Name für das multiethnische
nalization of Islam in Central Asia, 1943–1991, New York 2017. Russland.
08 Vgl. Jarret Zigon, Aleksandra Vladimirovna. Moral Nar- 10 Vgl. Caroline Humphrey, Marx Went Away, But Karl Stayed
ratives of a Russian Orthodox Woman, in: Mark Steinberg/ Behind. Updated Edition of The Karl Marx Collective. Economy,
Catherine Wanner (Hrsg.), Religion, Morality, and Community in Society, and Religion in a Siberian Collective Farm, Ann Arbor
Post-Soviet Societies, Bloomington 2008, S. 85–114. 1998, insb. S. VII-XIX.

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APuZ 16/2021

in Zusammenhang mit den Versuchen Russlands, der postso­wje­tischen Ära endlich zum Durch-
sich als geopolitischer Hegemon zu reetablieren, bruch verholfen werden, hatte die Vorannah-
und einer Abkehr von einer Reformpolitik im me gelautet. Solche Vorannahmen schwingen
postsowjetischen Raum, die auf eine Demokra- dann auch in der Feststellung mit, dass mit dem
tisierung im westlichen Sinne ausgerichtet war.11 Ende der 1990er Jahre viele Staaten im postso­
Das Chaos der 1990er Jahre befeuerte nicht nur wje­tischen Raum von diesem „richtigen“ Weg
eine Sehnsucht nach sozialer Absicherung und immer mehr abwichen. Die kritische Berichter-
politischer Stabilität, die die Bevölkerung in der stattung zur zunehmend autoritär und auf eine
späten So­ wjet­
union als Normalität kennenge- Führungsfigur fokussierte Politik in diesen Staa-
lernt hatten. Dieses Chaos diskreditierte auch die ten, Menschenrechtsverletzungen, Korruption
Demokratie, die für die Mehrheit der Bevölke- und ökonomischer Raubbau an Gesellschaft
rung in der Russländischen Föderation nun nicht und Umwelt sowie die Verweise auf Russlands
mehr mit ihren großen Versprechen, sondern mit Großmachtambitionen enthielten immer eine
permanenter Instabilität assoziiert war. Orien- doppelte Referenz, die nun stärker sichtbar wur-
tierung brachten neue Zeithorizonte in Gestalt de: Sie setzte die liberale westliche Demokratie
einer affirmativen Einordnung der so­wje­tischen und die von ihr propagierten Werte als universa-
Geschichte in eine längere Kontinuität russischer len Referenzrahmen, für den Staaten im postso­
imperialer Größe, die es schon in den 1990er Jah- wje­tischen Raum mit ihrer Abweichung von
ren gab, aber durch Putin und russische Intellek- dieser Ordnungsvorstellung wieder als Kon-
tuelle nun verstärkt referenziert wurde.12 Doch trast, als das „Andere“ dienten. Dieses „Ande-
diese positiven Bezugnahmen auf die Sowjet­zeit re“ wurde als Bedrohung gelesen, nicht zuletzt
und das Zarenreich waren mehr als eine Erwei- aufgrund der geopolitischen Konsequenzen rus-
terung des Betrachtungszeitraumes. Russland sischer Großmachtambitionen. Deren Verunsi-
stellte sich damit in eine längere politische Tradi- cherungspotenzial wird ausgeglichen durch eine
tion, in der Sicherheit und Stärke großgeschrie- umso bestimmtere Beharrung auf dem „eige-
ben wurden, die brutale Modernisierungspolitik nen“ Modell, der eigenen Identität. Der Begriff
des Stalinismus und der Sieg im Zweiten Welt- des Postso­wje­tischen markiert somit nicht ein-
krieg nicht in Bezug auf ihre Kosten und Opfer fach einen Zeitabschnitt, sondern verweist auch
reflektiert, sondern die Heroisierung der Opfer- auf die jeweilige politische Position und dahin-
bereitschaft der Bevölkerung politisch instru- terstehende Identitätskonstruktionen.
mentalisiert wurden. Eben diese Interpretation
der Rolle Russlands und der So­wjet­union, die DIE TRADITION DES „ANDEREN“
sich wie jede Traditionsbildung selektiv der Ver- ALS RESONANZRAUM
gangenheit bedient,13 ist im Westen traditionell DES (POST-)SO­WJE­T ISCHEN
negativ besetzt.
Spätestens hier entpuppt sich das Postso­ Hierfür lieferte eine Tradition Bilder und Zu-
wje­tische als ein politischer und, wie das So­wje­ schreibungen, die nicht erst in der Zeit des Kal-
tische, ein politisierter Begriff. Während er in ten Krieges Verbreitung gefunden hatten. Als
Russland mit Chaos assoziiert blieb, implizier- Beispiel können Karikaturen dienen, die im Wes-
te er im Westen den Abschied vom Staatssozi- ten die russische Politik kommentierten und zu-
alismus als einer „anderen“ Ordnung. In dieser gleich positionierten. So wurde Putin im Kontext
Perspektive waren Russland und andere ehema- der russischen Invasion in Georgien 2008 als Kra-
lige Sowjetrepubliken nach 1991 auf dem „rich- ke dargestellt, der nicht nur den Kaukasus, son-
tigen“ Weg. Demokratie und Recht sollte in dern auch das Baltikum, die Ukraine und Bela-
rus in den Würgegriff nahm. Einen Oktopus mit
11 Vgl. Kevin M. F. Platt, The Post-Soviet Is Over. On Reading Putins Kopf zierte auch die Titelseite einer Aus-
the Ruins, in: Republics of Letters 1/2009, https://arcade.stan- gabe des „Economist“ zur russischen Einfluss-
ford.edu/rofl/post-​soviet-​over-​reading-​ruins. nahme auf den US-Präsidentschaftswahlkampf
12 Vgl. Isabelle de Keghel, Die Staatssymbolik des neuen Russ-
2016.14 Diese Karikaturen zitierten Darstellungen
land. Traditionen – Integrationsstrategien – Identitätsdiskurse,
Münster 2008.
13 Vgl. Eric Hobsbawn/Terence Ranger, The Invention of Tradi- 14 Siehe The Economist, 22. 2. 2018, www.economist.com/
tion, Cambridge 1992. weeklyedition/​2018-​02-​24.

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Sowjetunion APuZ

Stalins in den 1930er Jahren, die die Angst vor ei- diente als aufregender Kontrast für das Selbstbild
nem Sieg des Kommunismus nicht nur im Spa- westlicher Autoren und LeserInnen.
nischen Bürgerkrieg versinnbildlichten, oder eine Nach 1917 fungierte dann die So­wjet­union
Europakarte von 1877, die Russlands Agieren in als Projektionsfläche unterschiedlichster politi-
der Balkankrise ebenfalls mit einer Krakenallego- scher Bewegungen und den Zyklen ihrer Iden-
rie kommentierte.15 Weitere Kriege und Krisen titätskonstruktionen: Intellektuelle aus Asien
produzierten Varianten dieser entmenschlichten und Afrika sahen sich in ihrem Kampf gegen
Darstellung Russlands sowie der So­wjet­union – die westliche Kolonialpolitik durch die Unter-
wie Russland als Bär oder Wolf, das auf Euro- stützung der in Moskau ansässigen Kommunis-
pakarten den als Menschen dargestellten west- tischen Internationale (Komintern) bestärkt.18
und südeuropäischen Ländern die Zähne zeigt, Der Einfluss der Komintern auf Kommunisti-
oder Stalin, der als sich gen Westen vorarbeiten- sche Parteien weltweit produzierte wiederum
des menschenfressendes Monster auf Landkarten Bedrohungsszenarien eines langen Armes Mos-
des Kalten Krieges präsentiert wird. Diese Bilder kaus im Westen, obwohl die Sowjetführung sehr
illustrieren so sehr die Kritik an russischer be- bald das Projekt der Weltrevolution ans Ende ih-
ziehungsweise so­wje­tischer Politik, wie sie das rer politischen Prioritätenliste gesetzt hatte und
Selbstbild des Westens untermauern: die Imagina- die Komintern selbst von der Radikalisierung
tion Russlands beziehungsweise der So­wjet­union der Arbeiterschaft infolge der Weltwirtschafts-
als unberechenbares, „unvernünftiges“, „barba- krise kaum profitieren konnte. Während die Na-
risches“ Tier bestätigt das Bild einer zivilisatori- tionalsozialisten ihre Rassen- und Expansions-
schen Überlegenheit des aufgeklärten Westens. politik unter anderem mit dem Bild von Slawen
Identitätskonstruktion mittels Abgrenzung als unzivilisierten „Untermenschen“ legitimier-
zum „Anderen“ ist kein Alleinstellungsmerk- ten, fuhren westeuropäische Intellektuelle selbst
mal des westlichen Russlanddiskurses. Das antike zu Hochzeiten des stalinistischen Terrors nach
Rom wie die italienische Renaissance produzier- Moskau auf der Suche nach einer politischen Al-
ten ähnliche Bilder von den „Barbaren“ nördlich ternative zum europäischen Faschismus.19 Die
der Alpen. Der Historiker Larry Wolff hat un- Studentenbewegungen von 1968 waren wiede-
tersucht, wie sich diese Nord-Süd-Polarisierung rum eklektisch in ihrer Auswahl sozialistischer
der (Un-)Zivilisiertheit mit der französischen Lehren – neben Lenin wurden Mao und Trotzki
Aufklärung in einen Ost-West-Gegensatz ver- studiert, um die Kritik an den Missständen der
lagerte, mit dem die Beschreibung von Dunkel- westlichen Industriegesellschaften auf eine theo-
heit und Barbarei im „Osten“ die neue Ära der retische Grundlage zu stellen.20 Zugleich fanden
westlichen Vernunft in ein umso helleres Licht Berichte über die Verbrechen des Stalinismus im
tauchte.16 Beliebte „Reiseberichte“ des 18. Jahr- Westen eine breite Resonanz. So befeuerte etwa
hunderts etwa von Giacomo Casanova oder des die Publikation von Alexander S ­olschenizyns
Lügenbarons Münchhausen exotisierten dieses ­„Archipel Gulag“ 1974 nicht nur die Legitimi-
Bild des Russischen Reiches mit Beschreibun- tätskrise der Sozialistischen Parteien in Frank-
gen eines vermeintlich ungebändigten Sexualtrie- reich und diente rechtsnationalen Kreisen in
bes oder Schilderungen von Banketten, bei denen der Bundesrepublik zur Relativierung der nati-
echte Bären die Speisen auftrugen.17 Dieses wenig onalsozialistischen Verbrechen.21 Ein Exemplar
an Realitäten vor Ort interessierte Bild Russlands des Buches durfte zugleich in keinem Haushalt
­fehlen, der etwas auf sich hielt.

15 Vgl. How Communism Works. Keep This Pamphlet Mo-


ving (1938), in: Frank Jacobs, Cartography’s Favourite Map 18 Vgl. Elisabeth McGuire, Red at Heart. How Chinese Com-
Monster. The Land Octopus, 5. 7. 2011, https://bigthink.com/ munists Fell in Love with the Russian Revolution, Oxford 2017.
strange-​maps/​521-​cartographys-​favourite-​map-​monster-​the-​ 19 Vgl. Karl Schlögel, Terror und Traum. Moskau 1937,
land-​octopus; Serio-Comic War Map For the Year 1877, www. München 2008; Katerina Clarke, Moscow. The Fourth Rome,
landkartenarchiv.de/satire.php?​q=​rose_revised_edition_se- Cambridge 2011.
rio_comic_war_map_for_the_year_​1877. 20 Vgl. Gerd Koenen, Das Rote Jahrzehnt. Unsere kleine deut-
16 Vgl. Larry Wolff, Inventing Eastern Europe. The Map of sche Kulturrevolution 1967–1977, Köln 2001.
Civilization on the Mind of the Enlightenment, Stanford 1994. 21 Dazu führten etwa rechtsnationale Publikationen wie die
17 Vgl. ebd.; Rudolph Erich Raspe, The Travels and Surprising „Deutsche National-Zeitung“ in den 1970er Jahren die Schriften
Adventures of Baron Munchhausen, New York 1888 [1785]. Alexander Solschenizyns und Lew Kopelews ins Feld.

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Die zyklische Reproduktion solcher iden- oft genauso schwer voneinander zu trennen wie
titätsrelevanten Bilder und Bezugnahmen auf Tradition von dem, was man als das (post)so­wje­
Russland und die So­wjet­union bilden den Re- tische Erbe bezeichnen könnte. „Erbe“ ist das
sonanzraum, in dem wir die Attribute „so­wje­ spezifische Reservoir an Ereignissen, Erfahrun-
tisch“ und „postso­wje­tisch“ im politischen Sin- gen und Erinnerungen, die Gesellschaften in ih-
ne weiterhin verwenden. Sie kommen besonders ren Wahrnehmungen, Emotionen, Reflexen und
in Krisen zum Zuge, wie etwa während der völ- Verhaltensmustern nachhaltig prägen. Es bildet
kerrechtswidrigen Annexion der Krim 2014. die Grundlage für „Tradition“ als selektive Be-
Jenseits des Mobilisierungseffektes innerhalb der zugnahme auf die Vergangenheit, geht über sie
russischen Gesellschaft schufen sie auch Klar- jedoch hinaus und umfasst damit auch das, was
heit und Einheit im „Westen“. Dieser war sich man sich nicht aussuchen kann.
zu dem Zeitpunkt unschlüssig über seine Rolle Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg
im eskalierenden Bürgerkrieg in Syrien, und die im postso­wje­tischen Raum ist ein Beispiel für
EU rieb sich im Streit über den Euro-Rettungs- die erfolgreiche Mobilisierung dieses Erbes für
schirm und die Staatsschuldenkrise in Griechen- eine fortgesetzte Traditionsbildung. Während
land auf. im Westen die Bedrohungsszenarien des Kalten
In diesem Resonanzraum verschwimmt die Krieges den entscheidenden Beitrag der So­wjet­
Definitionsschärfe des So­wje­tischen und Postso­ union zum Sieg über das „Dritte Reich“ aus dem
wje­tischen genauso wie in der Identitätspolitik Bewusstsein verdrängten, bildet der „Sieg über
des Kremls.22 Letzterer vermag Kontinuität und den Faschismus“ beziehungsweise der „Große
Bruch mitunter meisterlich zusammenzubringen Vaterländische Krieg“ den emotionalen Schlüssel
und in politisches Kapital umzuwandeln, etwa für eine positive Identifikation mit der So­wjet­
wenn Putin verkündet: „Wer die So­wjet­union union vor wie nach 1991. Bezeichnenderwei-
nicht vermisst, hat kein Herz, wer sie sich zu- se wurde der Krieg zu einer Identitätsressource
rückwünscht, hat keinen Verstand.“23 Dieser viel auch für Gruppen, die vor und nach 1945 unter
zitierte Ausspruch unterstreicht, dass das So­wje­ staatlicher Unterdrückung und gesellschaftlicher
tische zählt, obwohl die So­wjet­union nicht mehr Exklusion gelitten hatten, noch bevor der Staat
existiert und ihr Ende anerkannt wird. Jenseits überhaupt begann, Kriegserinnerung zu instru-
einer bewussten Traditionsbildung wird hier mentalisieren.24 Dass sich bis heute nachgebore-
aber auch jenseits des Politischen ein Erbe adres- ne Generationen mit diesem Sieg identifizieren,
siert, das bis heute fortwirkt. Bezeichnenderwei- wird zwar staatlich befeuert durch den geschick-
se haben sich dann auch Vorschläge für Nach- ten Einsatz unter anderem von so­ wje­tischen
folgeattribute für das (Post-)So­ wje­tische nicht Kriegsliedern bei Popkonzerten am Tag des Sie-
wirklich etabliert, um den Einfluss der Lebens- ges (9. Mai) oder von Gedenkmärschen etwa im
zeit und -erfahrung der heute in der Russländi- sibirischen Novosibirsk, dem tatarischen Kasan,
schen Föderation Lebenden auf den Punkt zu im kirgisischen Bischkek oder dem Treptower
bringen. Park in Berlin, bei denen die TeilnehmerInnen
Plakate mit dem Bild von Familienmitgliedern
DAS (POST-)SO­WJE­T ISCHE tragen, die am Zweiten Weltkrieg teilgenom-
ALS ERBE men hatten.25 Letztere waren jedoch ursprüng-
lich eine Graswurzelinitiative, deren Erfolg und
Somit bedienen wir uns dieser Attribute weiter- Übernahme durch den russischen Staat letztlich
hin, zumal sie auch jenseits vermeintlich klarer auf die übergenerationelle emotionale Bindung
politischer Implikationen auch diffusere soziale an das Thema Kriegsteilnahme zurückgeht. Und
und kulturelle Konstellationen immer noch am während die recht breite Definition von Kriegs-
besten umreißen. Dabei sind Politik und Kultur
24 Vgl. Amir Weiner, Making Sense of War. The Second World
War and the Fate of the Bolshevik Revolution, Princeton 2001;
22 Vgl. dazu auch Jutta Scherrer, Russland verstehen? Das Harriet Murav/Gennadyi Estraikh (Hrsg.), Soviet Jews in World
postso­wje­tische Selbstverständnis im Wandel, 11. 11. 2014, War II. Fighting, Witnessing, Remembering, Boston 2014.
www.bpb.de/194818. 25 Vgl. dazu Beiträge in Mischa Gabowitsch/Cordula Gda-
23 Putin – Kto ne zhaleet ot razpade SSSR, u togo ne serdtsa, niec/Ekaterina Makhotina (Hrsg.), Kriegsgedenken als Event. Der
in: Argumenty i fakty, 16. 12. 2010. 9. Mai 2015 im postsozialistischen Europa, Paderborn 2017.

08
Sowjetunion APuZ

teilnahme in diesen staatlich geförderten Mär- tischen Elementen, das Humphrey in den 1990er
schen eine neue postso­wje­tische Tradition dar- Jahren in Burjatien beobachtete, bis heute fort.
stellt, gehört zum Erbe der So­wjet­union, dass Referenzen auf offiziell propagierte Ideale und
sich Familien auch daran erinnern, dass in Ge- so­wje­tische Filmklassiker tauchen bis heute in
fangenschaft geratene oder unter deutscher Be- Alltagskonversationen auf und markieren die
satzung zwangsrekrutierte SowjetbürgerInnen Sprechenden als Teil derselben Gemeinschaft.
als vermeintliche VaterlandsverräterInnen im Auch wenn Lenin mittlerweile eher selten zi-
Gulag landeten.26 Auch Invaliden konnten kaum tiert wird, prägen vor 1991 erlernte Sprech- und
mit staatlicher Hilfe rechnen.27 Sichtweisen weiterhin die Verhandlung von Zu-
Ähnlich emotional, aber bislang weniger Teil gehörigkeit, auch im Konflikt. So erntete etwa
einer ausgesprochenen Tradition, sind die Erin- Alexey Navalny 2017 Spott, als er in einem
nerungen an den Systemwechsel und die Erfah- Fernsehinterview behauptete, Usbeken würden
rung von Chaos der 1990er Jahre. Das Trauma Alexander Puschkin nicht kennen, worauf zahl-
klingt an etwa in den Apellen von Eltern und reiche UsbekInnen mit Rezitationen des Dich-
LehrerInnen an Kinder und Jugendliche, sich ters in den sozialen Medien reagierten.28 Was wie
nicht an regimekritischen Demonstrationen zu ein kleines Detail in einem Konflikt um die Rei-
beteiligen. Die in Ton und Körpersprache ent- sefreiheit von postso­wje­tischen Arbeitsmigran-
haltene Angst vor einer Destabilisierung sowie tInnen erscheinen mag, hat im postso­wje­tischen
einer Wiederkehr von Gewalt unterlegt die mit Raum umso mehr Bedeutung. Denn beide Sei-
Handykameras festgehaltenen Mahnungen ein- ten validierten lange nach dem Zerfall der So­
drücklich. Ähnliche Effekte sind in der Ableh- wjet­union einen fest verankerten Maßstab für
nung etwa des Euromaidans in Russland und die Zugehörigkeit zu einer kultivierten Sowjet-
dem trotz kremlkritischer Proteste bislang mehr- gemeinschaft, den aber alle unabhängig von ih-
heitlich auf Stabilität zielenden Wahlverhalten zu rer ethnischen Herkunft erfüllen konnten. Hier
sehen – beide spiegeln die negative Erfahrung fällt Politik mit Alltag in einer sehr spezifischen
mit den politischen Umbrüchen der Transfor- Art und Weise zusammen, für die wir bei aller
mationszeit in Russland, die sich dann auch die Situativität und Ambivalenz um das Attribut des
Berichterstattung der staatlichen Medien zunut- (Post-)So­wje­tischen nicht herumkommen.
ze macht.28
Vor diesem Hintergrund erscheint die so­wje­
tische Vergangenheit umso attraktiver. Die Er-
innerungen an eine im Krieg gewonnene, auf
Völkerfreundschaft und Solidarität gebaute Ge-
meinschaft und Stabilität überdecken die Erfah-
rungen etwa von ethnischer Diskriminierung
und abnehmender sozialer Mobilität in der spä-
ten So­wjet­union. Obwohl widersprüchlich, zäh-
len alle diese Elemente zu den Realitäten einer
(post)so­wje­tischen Gesellschaft, deren Hete-
rogenität die Sozial- und Kulturwissenschaften
weiterhin beschäftigt. Immerhin schreibt sich
das Amalgam aus so­wje­tischen und postso­wje­

26 Vgl. Ekaterina Makhotina, Der Krieg der Toten und der


Krieg der Lebenden. Russlands Familien haben ein tieferes
Wissen über „1945“, als dem Kreml lieb sein kann, 9. 5. 2019,
www.nzz.ch/ld.1479685. MAIKE LEHMANN
27 Vgl. Beate Fieseler, Die Invaliden des „Großen Vaterländi- ist promovierte Historikerin und forscht zu
schen Krieges“, in: Osteuropa 4–6/2005, S. 207–218.
Osteuropa, insbesondere zur So­wjet­union. Ihr
28 Vgl. Russian Opposition Leader Aleksei Navalny Is Facing a
Social-Media Backlash After Making a Controversial Comment
aktueller Schwerpunkt liegt auf der Geschichte des
About Uzbeks, 16. 6. 2017, www.rferl.org/a/navalny-​uzbeks/​ Austausches so­wje­tischer Intellektueller mit dem
28559046.html. Westen.

09
APuZ 16/2021

SO­WJET­U NION GLOBAL


Exportmodell – Drehscheibe – Aggressor
Julia Obertreis

Bereits das Zustandekommen und die frühe Exis- wirkungen und trugen etwa in den USA 1919 zu
tenz der So­ wjet­union lösten gewaltige globale einer rassistischen Gewaltentladung bei oder in
Druckwellen aus. Als erster sozialistischer Staat Deutschland zu einem hohen Maß an Brutalität
der Welt, Revolutionsträger sowie ideologischer beim Vorgehen von Freikorps gegen An­hän­ger*­
Wegweiser machte der junge Sowjetstaat in den innen der Münchner Räterepublik.01 Auch in Ar-
1920er und 1930er Jahren von sich reden, als Ex- gentinien bezogen sich Anfang 1919 gewalttätige
portmodell für Planung, Entwicklung und Kul- Konflikte zwischen Streikenden und konterrevo-
tur. Vor allem nach 1953, mit dem Sieg im Zwei- lutionären Freikorps auf die Bolschewiki, und die
ten Weltkrieg im Rücken und nach Stalins Tod, meist aus Russland eingewanderten Jüdinnen und
war die So­wjet­union nicht nur zunehmend global Juden wurden Opfer von Attacken, da man sie als
vernetzt, sondern auch in vielen Teilen der Welt „Russen“ mit „Kommunisten“ gleichsetzte.02 In
engagiert und muss als „Supermacht“ im Kalten Japan sorgte die Kunde von der Revolution über
Krieg sowie als internationaler Player ersten Ran- die 1920er Jahre hinweg zu einer zunehmend
ges gelten. Im Folgenden werden einige Schlag- rücksichtslosen Unterdrückung der gesamten
lichter auf die globalhistorische Dimension der linken Opposition sowie zu einer Ausdifferen-
Geschichte der So­wjet­union geworfen. Dabei ist zierung der politischen Strömungen und Zu-
zu berücksichtigen, dass an der Schnittstelle der kunftsentwürfe im rechten Spektrum, von natio-
beiden Teildisziplinen Osteuropäische Geschich- nal-liberal über monarchistisch bis ­faschistisch.03
te und Globalgeschichte erst seit etwa zehn Jah- Die negative Rezeption der Oktoberrevolu-
ren intensiver geforscht wird. Bisher wurden zum tion wurde vielfach durch den antisemitischen
Teil Forschungsperspektiven auf etablierte The- Topos der „jüdischen Verschwörung“ bezie-
men wie den Kalten Krieg weiterentwickelt, zum hungsweise der „Judäo-Kommune“ angereichert.
Teil aber auch neue inhaltliche Akzente gesetzt, Zurückgehend auf die Beteiligung von Revoluti-
darunter die vielfältigen Verbindungen der Ge- onären aus jüdischen Familien in Russland, die al-
schichte des östlichen Europas zum global wirk- lerdings in aller Regel kaum Verbindung zur Re-
samen Prozess der Dekolonisation. ligion hatten und gesamtrussisch geprägt waren,
zeichneten Revolutionsgegner eine hässliche Frat-
DIE REVOLUTION VON 1917 – ze des hakennasigen Juden, der die Revolution an-
FURCHT UND HOFFNUNG geleitet habe und nach der Weltherrschaft strebe.
IN DER WELT In der entsprechenden Bildpropaganda wurden
jüdische und kommunistische Symbole oft mitei-
Die Oktoberrevolution von 1917 wurde inter- nander kombiniert. Die „Judäo-Kommune“ wur-
national umgehend und entgegengesetzt inter- de in Polen zuvorderst durch den polnisch-so­
pretiert: als Schreckgespenst wie als Fanal für die wje­tischen Krieg von 1920 eine feste Größe im
Weltrevolution. Für die Konservativen und Rech- politisch-ideologischen Haushalt der Rechten und
ten in vielen Ländern war sie ein Horrorszenario prägte das polnische Nationsverständnis über das
und eine unmittelbare Bedrohung, ähnlich wie es 20. Jahrhundert hinweg.04 Und in Deutschland
die Französische Revolution in ihrer Zeit gewe- transportierten die Publikationen des Deutschbal-
sen war. Die Abwehrhaltungen und -kämpfe, die ten Alfred Rosenberg das Amalgam von Antibol-
sich aus der großen Furcht vor der kommunis- schewismus und Antisemitismus in das Weltbild
tischen Revolution, der „roten Gefahr“ oder red Adolf Hitlers und die nationalsozialistische Pro-
scare, speisten, hatten früh sehr handfeste Aus- paganda – mit weitreichenden ­Folgen.05

10
Sowjetunion APuZ

Auf der anderen Seite löste die Oktober- satz der „gelebte Internationalismus“, den die
revolution riesige Hoffnungen auf Befreiung, Agent*­innen in der Komintern erfuhren.08 Die
mehr Selbstbestimmung und einen „Revoluti- politischen Erfolge der Organisation, die nach
onenbrand“ aus, nicht nur in Europa. In vielen der anfänglichen Hoffnung auf die Weltrevoluti-
Ländern sahen Linke sich in der Hoffnung auf on während der 1920er und 1930er Jahre immer
Revolution im eigenen Land und auf die „Weltre- mehr zu einem Machtinstrument Moskaus im
volution“ bestärkt. In Deutschland hielt sich diese Kontext des Stalinismus wurde, sind differenziert
Hoffnung über die gescheiterte Novemberrevolu- zu beurteilen und insgesamt eher gering. In Japan
tion von 1918 hinaus. Hier kam es noch 1923 zu etwa war die Kommunistische Partei zunächst
dem erfolglosen Versuch, eine „deutsche Okto- unabhängiger von der Komintern als oft darge-
berrevolution“ zu vollbringen. Eine Kommission stellt und erst seit 1928 wegen japanisch-chinesi-
mit dem Journalisten und Politiker Karl Radek, scher Zusammenstöße und der wachsenden Ag-
der vor dem Ersten Weltkrieg auch in Deutsch- gressivität des japanischen Imperialismus nach
land aktiv gewesen war, wurde vom Moskauer außen auf Moskauer Linie.09
Zentralkomitee nach Deutschland entsandt, um Nicht nur die sozialistisch-kommunistische
in der KPD auf die Revolution hinzuwirken, die Revolution, sondern auch die zentrale Planwirt-
dann an der mangelnden Militanz der deutschen schaft erwies sich als attraktives Exportmodell:
Ar­beit­er*­innen12345 scheiterte.06 Nach der Phase der so­wje­tischen „Neuen Öko-
Das Ziel der proletarischen Weltrevolution nomischen Politik“ in den 1920er Jahren, mit de-
verfolgte auch die Kommunistische Internationa- nen die Bolschewiki in der Selbstwahrnehmung
le (Komintern), die von Lenin als Dritte Interna- vieler, vor allem junger Parteimitglieder die re-
tionale gegründet wurde und zwischen 1919 und volutionäre Linie verlassen mussten, führte Sta-
1943 bestand. Als „Reisende der Weltrevolution“ lin 1928/29 den Ersten Fünfjahresplan ein. Die
waren Kom­mun­ist*­innen verschiedenster Natio- Fünfjahrespläne (und ein Siebenjahresplan) eta-
nalität und Herkunft unter großem persönlichen blierten sich fortan durchgängig als periodisie-
Risiko im Einsatz, um weltweite Fäden zu spin- rende Planungspraxis, und Planung wurde in der
nen.07 Neben der politischen Überzeugung war, So­wjet­union ein „rationality ritual“,10 das der
so Brigitte Studer, die Motivation für den Ein- Herrschaftslegitimierung diente. Auch interna-
tional wurden so­wje­tische ökonomische Model-
01 Zu den USA vgl. Helke Rausch, Red Scare. Bodenwellen der
le und das zentralistische Planen in den 1920er
russischen Oktoberrevolution in den USA 1918/19, in: Jahrbuch für und 1930er Jahren einflussreich. Der Vorsitzen-
Historische Kommunismusforschung 2017, S. 131–148. Zur Münch- de des Indischen Nationalkongresses und spätere
ner Räterepublik vgl. Jörg Ganzenmüller, Zwischen weltrevolutio- erste Ministerpräsident Indiens Jawaharlal Nehru
nären Hoffnungen und antibolschewistischen Abwehrreaktionen.
schrieb 1933: „Everybody talks of ‚planning‘
Europäische und globale Resonanzen auf die Oktoberrevolution,
in: ders. (Hrsg.), Verheißung und Bedrohung. Die Oktoberrevoluti-
now, and of Five-Year and Ten-Year and Three-
on als globales Ereignis, Köln 2019, S. 9–24, hier S. 16. Year plans. The Soviets have put magic into the
02 Vgl. María Inés Tato, Global Moments, Local Impacts. Ar- word.“11 Auch in den USA hatten unter so­wje­
gentina at the Critical Juncture of 1917, in: Stefan Rinke/Michael tischem Einfluss und angesichts der Großen De-
Wildt (Hrsg.), Revolutions and Counter-Revolutions. 1917 and Its
pression Planungen mit starkem Staat Hochkon-
Aftermath from a Global Perspective, Frank­furt/M.–New York
2017, S. 219–234.
junktur. Die raschen ökonomischen Fortschritte
03 Vgl. Tatiana Linkhoeva, Revolution Goes East. Imperial Russlands wurden anerkannt, und der Planungs-
Japan and Soviet Communism, Ithaca 2020, S. 100–123. kult ließ Technokraten mit Neid Richtung So­
04 Vgl. Agnieszka Pufelska, Die „Judäo-Kommune“ – ein Feind- wjet­union blicken. In den 1930er Jahren „wur-
bild in Polen. Das polnische Selbstverständnis im Schatten des
Antisemitismus 1939–1948, Paderborn 2007.
05 Vgl. Ernst Piper, Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe, 08 Ebd., S. 537.
München 2005, S. 55–75. Siehe auch Karsten Brüggemann, 09 Vgl. Linkhoeva (Anm. 3), S. 160, S. 184.
Migranten aus dem Baltikum als Katalysatoren des Antibolsche- 10 Vgl. Michael Ellman, The Rise and Fall of Socialist Planning,
wismus? Max Erwin von Scheubner-Richter und die Idee der in: Saul Estrin/Grzegorz W. Kolodko/Milica Uvalic (Hrsg.), Tran-
„Weißen Internationale“, in: Ganzenmüller (Anm. 1), S. 101–126. sition and Beyond. Essays in Honor of Mario Nuti, London 2007,
06 Vgl. Otto Wenzel/Manfred Wilke, 1923. Die gescheiterte S. 17–34, hier S. 23.
Deutsche Oktoberrevolution, Münster 2003. 11 Zit. nach Valeska Huber, Introduction. Global Histories of
07 Vgl. Brigitte Studer, Reisende der Weltrevolution. Eine Glo- Social Planning, in: Journal of Contemporary History 1/2017,
balgeschichte der Kommunistischen Internationale, Berlin 2020. S. 3–15, hier S. 3.

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APuZ 16/2021

den die Vereinigten Staaten mit einem Tumult der im Kosmos, das historiografisch bereits recht gut
wirtschaftlichen Planvorschläge konfrontiert“.12 untersucht ist. Die großen so­wje­tischen Erfolge
Staatliche Planung hatte in unterschiedlichsten waren der Launch des ersten Sputnik 1957 und
politischen Systemen den Auftrag, ökonomische mit Juri Gagarin der erste bemannte Weltraum-
Entwicklung zu kanalisieren und weiteren Krisen flug im April 1961. Sie stellten eine riesige He-
vorzubeugen. rausforderung für die USA dar, und nachdem
oft wohl etwas einseitig vom „Sputnik-Schock“
DER KALTE KRIEG – gesprochen worden ist, scheint es heute ange-
SPACE RACE UND raten, eher die Mobilisierung zu betonen, die in
KONFETTIPARADEN den USA als Reaktion auf die so­wje­tischen Er-
folge einsetzte. Diese technologische Mobilma-
Nach dem unter unvorstellbaren Verlusten er- chung führte zur Mondlandung der Amerika-
kämpften Sieg im Zweiten Weltkrieg avancierte ner 1969. In den frühen 1960er Jahren aber war
die So­wjet­union zur Supermacht und zur großen die So­wjet­union klar im Vorteil, und ihre tech-
Gegenspielerin der USA. Der Ost-West-Gegen- nologischen, symbolträchtigen Großtaten führ-
satz ist lange und mit viel Berechtigung vor allem ten in einen rasch entstehenden und umfassen-
als Geschichte von ideologisch-politischer und den Kosmoskult nicht nur in der So­wjet­union,
militärischer Gegner- und Feindschaft zwischen sondern im gesamten Ostblock und darüber hi-
den USA und der So­wjet­union erzählt worden. naus.15 Juri Gagarin und die erste Kosmonautin
Im Unterschied dazu haben neuere Forschungen Walentina Tereschkowa wurden als Held*­innen
die vielfältigen Kontakte zwischen Ost und West, mit Vorzeigebiografien inszeniert in einer Zeit, in
die gegenseitige Beobachtung und das Aufeinan- der die so­wje­tischen Revolutions- und Kriegshel-
der-Reagieren in den Vordergrund gestellt. Der den bereits etwas in die Jahre gekommen waren.
Kalte Krieg brachte nicht nur das Wettrüsten und Besonders Gagarin fungierte in der so­wje­tischen
die durchaus heißen „Stellvertreterkriege“ mit Propaganda als Verbindung zwischen verschiede-
sich, sondern auch Begegnungen, Kooperationen nen Bevölkerungsgruppen (darunter die Jugend
und gegenseitige Beeinflussung verschiedens- und das Militär) und wirksame Identifikations-
ter Akteursgruppen, darunter In­gen­ieur*­innen, folie. Die Beherrschung der Technologie durch
Küns­tler*­innen oder Wis­sen­schaft­ler*­innen.13 den so­wje­tischen Menschen und der Eintritt in
Von einer „geteilten Geschichte“ zu sprechen, die himmlischen Sphären ergaben zusammen ein
ist sehr passend, denn die Doppelbedeutung des attraktives Modell, das Elemente der vor- und
Begriffes im Deutschen verweist auf die wichti- frühso­wje­tischen Fliegerkulte integrierte.16
ge Trennlinie des Eisernen Vorhangs, aber auch Die so­wje­tischen Kosmonauten- und die US-
auf die gemeinsam erlebte und durchlebte Zeit­ amerikanischen Astronautenkulte waren unmit-
geschichte.14 telbar aufeinander bezogen. So ahmte etwa die
Besonders deutlich wird die Verflochtenheit so­wje­tische Seite mit der Zusammenstellung ei-
der Geschichten von Ost und West am Beispiel ner Gruppe von Kosmonauten, die medial prä-
des space race, des Wettlaufs um die Vorherrschaft sentiert wurde, die Inszenierung der amerikani-
schen space boys nach. Hier wie dort entschied
12 Vgl. Steven G. Marks, „Im russischen Spiegelreich“: Wie
man sich bei der Auswahl für Piloten, auch wenn
amerikanische Vorstellungen des Kapitalismus vom so­wje­tischen
Kommunismus geprägt wurden, in: Martin Aust (Hrsg.), Globa- 15 Vgl. James T. Andrews/Asif A. Siddiqi (Hrsg.), Into the
lisierung imperial und sozialistisch. Russland und die So­wjet­ Cosmos. Space Exploration and Soviet Culture, Pittsburgh 2011;
union in der Globalgeschichte 1851–1991, Frank­furt/M. 2013, Eva Maurer (Hrsg.), Soviet Space Culture. Cosmic Enthusiasm in
S. 333–352, hier S. 338. Socialist Societies, New York 2011.
13 Neben zahlreichen weiteren Titeln Sari Autio-Sarasmo/ 16 Vgl. Julia Richers, Himmelssturm, Raumfahrt und „kosmische“
Katalin Miklóssy (Hrsg.), Winter Kept Us Warm. Cold War Symbolik in der visuellen Kultur der So­wjet­union, in: Igor J. Po-
Interactions Reconsidered, Helsinki 2010; Simo Mikkonen/Jari lianski (Hrsg.), Die Spur des Sputnik. Kulturhistorische Expedi-
Parkkinen/Giles Scott-Smith (Hrsg.), Entangled East and West. tionen ins kosmische Zeitalter, Frank­furt/M. 2009, S. 181–209;
Cultural Diplomacy and Artistic Interaction During the Cold Matthias Schwartz, Bote des Weltalls, Ikone des Fortschritts.
War, Berlin–Boston 2019. Heroische und postheroische Figurationen des ersten Kosmonau-
14 Vgl. Shalini Randeira, Geteilte Geschichte und verwobene ten Jurij Gagarin, in: Zaal Andronikashvili (Hrsg.), Kulturhe-
Moderne, in: Jörn Rüsen (Hrsg.), Zukunftsentwürfe. Ideen für ros. Genealogien – Konstellationen – Praktiken, Berlin 2017,
eine Kultur der Veränderung, Frank­furt/M. 2000, S. 87–96. S. 334–365.

12
Sowjetunion APuZ

die so­ wje­


tischen unerfahrener und jünger wa- chelte unaufhörlich. Erste historiografische Pro-
ren.17 Nach ihrer Rückkehr aus dem All wurden bebohrungen in diese Reisen lassen vermuten,
sowohl für Gagarin als auch für John Glenn, der dass der Umgang mit neuen Medien und Medien-
als erster US-Amerikaner einen Weltraumflug ab- formaten (darunter das Fernsehen, private Foto-
solvierte, große Rückkehrfeiern in Moskau bezie- grafie) eine große Rolle in der Berichterstattung
hungsweise New York veranstaltet. Für beide gab und für ihre Wirkungsmacht spielte.20 Zu un-
es eine Konfettiparade. tersuchen wäre bezüglich der Reisen auch, wel-
Die in New York entstandene Feierform war che politischen Auswirkungen sie in den besuch-
bereits in den 1930er Jahren in die So­wjet­union ten Ländern hatten, etwa auf den Zulauf zu den
importiert worden, als die Rückkehrer der be- Kommunistischen ­Parteien.
rühmten Tscheljuskin-Expedition in die Bering-
straße damit geehrt wurden. 1961 in Moskau ver- OST-SÜD-VERBINDUNGEN –
wendete man nicht nur, wie bereits in den 1930er ANTIIMPERIALISMUS
Jahren, anstelle des in New York üblichen zerris- UND AFGHANISTAN
senen Zeitungspapiers Flugblätter mit Willkom-
mensgrüßen, man ließ auch Tauben aufsteigen, Neben der erweiterten Perspektive auf die Ost-
sodass sich der Feierraum in den Himmel hinein West-Beziehungen spürt man neuerdings ver-
erweiterte. Das Geschehen wurde live im Fernse- mehrt den vielfältigen, oft asymmetrischen Be-
hen übertragen, womit eine erfolgreiche Praxis des ziehungen zwischen dem östlichen Europa und
US-Fernsehens nachgeahmt wurde. Die so­ wje­ dem Globalen Süden nach. Zu Recht ist der Ap-
tischen Medienmacher*innen toppten dabei aber pell laut geworden, die Geschichte des Ostblocks
die üblichen amerikanischen Kamerabilder aus und der sich dekolonisierenden Staaten nicht, wie
Hochhäusern durch Aufnahmen aus Hubschrau- bisher meist, als eine von parallelen Strängen zu
bern. Zudem war das Besondere des Medienereig- erzählen, sondern als eine mit verschlungenen
nisses die transnationale und systemübergreifen- Knotenpunkten.21
de Vernetzung, die den US-Ame­r­i­ka­ner*­innen in Nach Stalins Tod kam es zu einer Öffnung
dieser Zeit noch nicht gelang, da Eurovision und und einer deutlich aktiveren so­wje­tischen Aus-
Intervision erstmals bei einer Liveübertragung landstätigkeit in vielen Bereichen und in vie-
kooperierten. Es ging also bei den „wechselseitig le Richtungen einschließlich der „Länder Asiens
konkurrierenden Imitationen“, die an diesem Bei- und Afrikas“, wie sie in so­wje­tischer Rhetorik oft
spiel sehr deutlich werden, nicht nur um die Vor- hießen. Chru­ sch­
tschow gab die eurozentrische
herrschaft im Kosmos, sondern auch um die „Vor- Haltung Stalins auf und betrieb eine rege Reise-
herrschaft im Kommunikationsbereich durch diplomatie. Angesichts der Dekolonisation und
Funk, Satelliten und Kupferdraht“.18 des antiimperialen Kampfes etwa in Südostasien
Gagarin wurde von Moskau als Friedensbot- waren die so­wje­tischen Kommunisten sehr zu-
schafter entsandt und entfaltete eine enorme Rei- versichtlich, dass es zu einem weltweiten revolu-
setätigkeit. Er besuchte über 30 Länder, darun- tionären Prozess kommen und dass die aus der
ter auch eine Reihe von nicht-sozialistischen wie Kolonialherrschaft befreiten Länder sich auf so-
Großbritannien (hier kam es zu einem Treffen mit zialistische Entwicklungswege begeben würden.
der Queen), Japan und Indien.19 Er verkörperte Im gesamten Ostblock glaubte man an die Mög-
eine friedliche, sympathische und weltoffene Sei- lichkeit, in diesem großen Umwälzungsprozess
te der So­wjet­union und gab den Hoffnungen der
Menschen auf eine technologisch gestaltbare, bes-
20 Unveröffentlichte Vorträge von Fabian Schäfer und Julia
sere Zukunft ein Gesicht – und dieses Gesicht lä-
Obertreis im Rahmen der Ringvorlesung „Mondlandungen.
Imaginations- und Rezeptionswelten“, organisiert von Sven
17 Vgl. Klaus Gestwa, „Kolumbus des Kosmos“. Der Kult um Grampp, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg,
Jurij Gagarin, in: Osteuropa 10/2009, S. 121–151, hier S. 130 f. Sommersemester 2019, www.fau.de/​​2019/​​04/news/veran-
18 Sven Grampp, Konfettiparaden in offener Limousine. staltungen/ringvorlesung-​m ondlandungen-​imaginations-​u nd-​
Gagarin und Glenn kehren zurück aus dem Erdorbit. Zur Struk- rezeptionswelten-​2 .
turierungsleistung wechselseitig konkurrierender Imitationen, 21 Vgl. James Mark/Quinn Slobodian, Eastern Europe in the
in: Sandra Rühr/Eva Wattolik (Hrsg.), Medien im Fest – Feste im Global History of Decolonization, in: Martin Thomas/Andrew
Medium, Köln 2017, S. 19–47, hier S. 35. Thompson (Hrsg.), The Oxford Handbook of the Ends of Empire,
19 Vgl. Andrea Rose (Hrsg.), Gagarin in Britain, London 2011. Oxford 2018, S. 351–372, hier S. 352.

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APuZ 16/2021

die Führung übernehmen zu können.22 Nüchter- von Technologien und Know-how, die Entsen-
ner betrachtet war die Dekolonisationswelle mit dung von Spezialisten, der Aufbau von Schulen
ihrem Schlüsseljahr 1960 eine große Herausfor- und Krankenhäusern sowie finanzielle Unter-
derung für die So­wjet­union und den Ostblock, da stützung sind zu nennen. Zu den Projekten in
nun deutlich wurde, dass es Modelle postimpe- Afrika, bei denen die So­wjet­union involviert war,
rialer beziehungsweise postkolonialer Ordnung gehörten die Rekonstruktion des Assuan-Stau-
gab, die nicht (explizit) sozialistisch waren. damms in Ägypten, ein Wasserkraftwerk in An-
Die So­wjet­union war mit dem Globalen Sü- gola, die Unterstützung für die staatlich dirigierte
den vielfältig über Handelsbeziehungen und Landwirtschaft in Ghana oder eine Zementfabrik
Entwicklungshilfe verbunden. Oscar Sanchez-­ in Mali. Der Bau von Kraftwerken und besonders
Sibony betont, dass die So­ wjet­union als neu- Wasserkraftwerken war ein Bereich der Zusam-
er Akteur auf diesem Feld vielfach auf bereits menarbeit, der sich dynamisch entwickelte und
existierende, durch die ehemaligen europäischen in dem die So­wjet­union sich international profi-
Kolonialmächte und westliche Staaten gepräg- lierte. Die aus Sicht der so­wje­tischen Wirtschaft
te Wirtschafts- und Abhängigkeitsstrukturen massiven Investitionen im Globalen Süden recht-
traf, die ihren Einfluss beschnitten. Die holz- fertigten sich weniger ökonomisch als vielmehr
schnittartigen und teils vorurteilsbeladenen An- durch die Aussicht auf anhaltenden oder steigen-
nahmen früherer Literatur über die Haltung der den politischen Einfluss; der oben angesproche-
Staaten beziehungsweise Eliten im Globalen Sü- ne Optimismus diesbezüglich schwand allerdings
den, etwa hinsichtlich eines bloßen Kopieren- auf so­wje­tischer Seite im Laufe der Zeit.27
Wollens westlicher oder so­ wje­ tischer Modelle, Während der Begriff „Dekolonisation“ im
sind durch neuere Forschung mit postkolonialem Ostblock gemeinhin als westlicher Begriff aufge-
Hintergrund infrage gestellt worden; das Bild, fasst und diskreditiert wurde und man hier eher
das wir erhalten, wird zusehends komplexer.23 vom gemeinsamen antiimperialistischen Kampf
Angesichts der relativen Schwäche der sozialisti- mit den Ländern des Globalen Südens sprach,28
schen Wirtschaften im Vergleich zu den kapitalis- nahm die So­wjet­union an den intensiven inter-
tischen nahm im Ostblock allgemein der Export nationalen Debatten um Dekolonisation bezie-
von Waffen, Militär- und Geheimdiensttraining hungsweise die damit einhergehenden Heraus-
sowie Energieprodukten eine wichtige Stellung forderungen der Transformation von Wirtschaft,
ein.24 Dabei wirkten sich die Beziehungen der eu- Politik und Gesellschaft in den betroffenen Län-
ropäischen sozialistischen Staaten zum Globalen dern teil. Die Sowjetrepubliken Zentralasiens und
Süden vielfältig auf die Machtverhältnisse inner- des Kaukasus hatten ihre eigene koloniale Vergan-
halb des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe genheit, die zwar nominell mit der so­wje­tischen
(RGW) aus.25 Herrschaft überwunden worden war, die aber
Die So­wjet­union lockte mit günstigen Öllie- strukturell teils noch mit den gleichen Problemen
ferangeboten und betrieb mit zahlreichen Staaten zu kämpfen hatten wie die ehemaligen Koloni-
den direkten Austausch von Rohstoffen, etwa mit en westlicher Mächte. Gleichzeitig wurden genau
Kuba gegen Zucker.26 Die so­wje­tischen Exporte diese Regionen, vor allem Zentralasien, im so­wje­
aber auf Öl und Gas sowie Waffen reduzieren zu tischen Kontext seit Jahrzehnten als Vorzeigeregi-
wollen, wäre zu kurz gegriffen. Auch der Transfer onen gesehen und als solche nach außen präsen-
tiert. Sie hätten, so die offizielle Sichtweise und
22 Ebd., S. 355 f. Rhetorik, das koloniale Erbe überwunden, den
23 Vgl. Oscar Sanchez-Sibony, Red Globalization. The Political Sprung in die Moderne vollzogen und zeigten die
Economy of the Soviet Cold War from Stalin to Khrushchev,
Transformationskraft des Sozialismus deutlich.
Cambridge 2014, S. 127–131.
24 Vgl. Mark/Slobodian (Anm. 21), S. 358.
25 Vgl. Anna Calori et al., Alternative Globalization? Spaces 27 Neben einer wachsenden Zahl von Einzelstudien siehe als
of Economic Interaction Between the „Socialist Camp“ and the grundlegenden Beitrag Odd Arne Westad, The Global Cold
„Global South“, in: dies. et al. (Hrsg.), Between East and South. War. Third World Interventions and the Making of Our Times,
Spaces of Interaction in the Globalizing Economy of the Cold Cambridge u. a. 2010; als Beitrag von Kolleg*­innen aus Russland
War, München–Wien 2019, S. 1–31, hier S. 5. Elena Kochetkova et al., Soviet Technological Projects and Tech-
26 Vgl. Douglas Rogers, Petrobarter, Oil, Inequality, and the nological Aid in Africa and Cuba, 1960s–1980s, St. Petersburg
Political Imagination in and after the Cold War, in: Current 2017, hier insb. S. 7 ff., S. 16.
Anthropology 2/2014, S. 131–143. 28 Vgl. Mark/Slobodian (Anm. 21), S. 352.

14
Sowjetunion APuZ

Festgemacht wurde dies an Kennziffern der so- wjetrepublik, Taschkent, eine wichtige Rolle zu.
zioökonomischen Entwicklung wie Alphabetisie- 1958 wurde hier die Vereinigung der Afro-Asiati-
rungs- und Bildungsraten, wobei die Erfolge hier schen Schriftsteller gegründet, und seit 1968 fand
tatsächlich beeindruckend waren, dem Aufbau (nach einem erstmaligen Versuch 1958) regelmä-
von Industrien oder der Anzahl der Krankenhäu- ßig zweijährlich das Taschkenter Filmfestival statt,
ser. Bei solchen Parametern lagen die zentralasi- das den vielfach gerade erst aufkommenden nati-
atischen Republiken deutlich vor Nachbarstaaten onalen Filmindustrien des Globalen Südens eine
der Region wie etwa Afghanistan, und auch im Startrampe bieten und der globalen Dominanz
weiteren internationalen Vergleich standen sie gut von Hollywood und Westeuropa etwas entgegen-
da.29 Der Modellcharakter, der Zentralasien zuge- stellen sollte. Auch wenn dieser Anspruch Mos-
schrieben wurde, beförderte internationale Kon- kaus nicht vollkommen erfüllt wurde, war das
takte auf verschiedenen Ebenen. Festival doch eine wichtige Drehscheibe, auf der
Es spricht vieles dafür, dass die Be­woh­ner*­ sich so­wje­tische Kul­tur­funk­tio­när*­innen, Fil­
innen Zentralasiens diese Sichtweise auf die Vor- me­macher*­innen und das Taschkenter Publikum
zeigeregion verinnerlichten und ein gewisses begegneten und in der einige nationale Kinos ihr
so­wje­tisches Überlegenheitsgefühl teilten. Gleich- internationales Debüt gaben. Das Festival 1968 be-
zeitig aber gab es in Expertenkreisen lebhafte De- ehrten unter anderen der Schauspieler Raj Kapoor,
batten darum, wie die fortwährende wirtschaft- einer der populärsten Stars des Hindi-Films von
liche Abhängigkeit von Rohstofflieferungen ins Bollywood, sowie der senegalesische Schriftstel-
Zentrum – ein klares Merkmal kolonialer Ver- ler und Regisseur Ousmane Sembène, der in Mos-
hältnisse – zu überwinden sei. Der Fakt, dass die kau Filmwissenschaften studiert h ­ atte und heute
grundlegenden wirtschaftlichen Entscheidungen als Wegbereiter des Kinos südlich der Sahara gilt.32
im Zentrum getroffen wurden, sowie die zen- Der Vergleich zwischen Literatur und Film er-
trale Planung an sich wurden in diesen Debatten gibt zwar, dass der Film deutlich „freier“ war, denn
zu Kritikpunkten. Zen­tral­as­iat*­innen benutzten der Literaturaustausch war ideologisch aufgelade-
die Dekolonisierungs- und Entwicklungsrhetorik, ner und schon seit Längerem in staatlichen Bahnen
um von Moskau Investitionen in ihre Republi- organisiert.33 Jedoch war auch die so­wje­tische in-
ken und eine weitergehende Industrialisierung zu ternationale Literaturpolitik durchaus kein einfa-
fordern. Ökonom*­innen und So­zial­wis­sen­schaft­ ches Geschäft, wie das Beispiel Indien zeigt.34 Eine
ler*­innen aus der So­wjet­union standen im Aus- Analyse der Kulturvermittlung und -politik der
tausch mit Kolleg*­innen aus anderen Ländern des So­wjet­union im Allgemeinen ergibt, dass diese in
Globalen Südens. Die internationalen Entwick- erster Linie institutionell über die Freundschafts-
lungsdiskussionen drehten sich beispielsweise um gesellschaften geprägt war und weniger auf indivi-
die Frage, ob Frauen in einer entwickelten Gesell- duellen Kontakten, etwa zwischen den Kunstschaf-
schaft in der Industrie arbeiten mussten oder auch fenden, beruhte, was als Manko gesehen werden
im Heimgewerbe tätig sein konnten.30 Solche De- kann. Zudem kam es durchaus häufig vor, dass die
batten wirkten selbstredend auf die innerso­wje­ Ver­tre­ter*­innen der Länder Asiens und Afrikas
tischen Diskurse zurück, wenn auch vieles davon selbstbewusst auf eigene kulturelle Traditionen hin-
erst unter den Bedingungen der Perestroika an wiesen und den Überlegenheitsanspruch der „so­
eine breitere Öffentlichkeit kam.31 Es lohnt sich wje­tischen Zivilisation“ deutlich infrage stellten.35
also, die Entwicklungen inner- und außerhalb der
So­wjet­union zueinander in Bezug zu setzen.
Auch im Bereich der Kulturbeziehungen auf 32 Vgl. Rossen Djagalov, From Internationalism to Postcolonia-
lism. Literature and Cinema between the Second and the Third
der Ost-Süd-Achse kam Zentralasien und ins-
Worlds, Montreal u. a. 2020, S. 137–172.
besondere der Hauptstadt der usbekischen So- 33 Ebd., S. 139 f.
34 Vgl. Andreas Hilger, „Sie bringen das Licht der Sowjet-
29 Vgl. Moritz Florin, Zentralasien, die So­wjet­union und die kultur“. Literaturbeziehungen zwischen der UdSSR und Indien,
Globalgeschichte der Dekolonisation, in: Jahrbuch für Histori- 1945–1964, in: Martin Aust/Julia Obertreis (Hrsg.), Osteu-
sche Kommunismusforschung 2019, S. 67–81, hier S. 72 f. ropäische Geschichte und Globalgeschichte, Stuttgart 2014,
30 Vgl. Artemy M. Kalinovsky, Laboratory of Socialist Develop- S. 197–219.
ment. Cold War Politics and Decolonization in Soviet Tajikistan, 35 Vgl. Ragna Boden, Globalisierung so­wje­tisch. Der Kultur-
Ithaca–London 2018. transfer in die Dritte Welt, in: Aust (Anm. 12), S. 425–442, hier
31 Vgl. Florin (Anm. 29), S. 77. S. 441.

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APuZ 16/2021

Bei der Entwicklungszusammenarbeit zeig- attraktive Alternative zum kapitalistischen Wes-


te sich längerfristig eine Deideologisierung. Aus ten weitgehend obsolet geworden. Jenseits der
Sicht der dekolonisierten Staaten war der Un- leidigen Erzählungen von einem „Ende der Ge-
terschied zwischen westlicher und östlicher schichte“ wirkte sich der Untergang der So­wjet­
Entwicklungshilfe vor dem Hintergrund von union auch weit über Europa hinaus unmittelbar
fortwirkendem Rassismus und Überlegenheitsge- aus. So hing die Abschaffung der Apartheid mit
baren zu vernachlässigen, und international wur- ihm zusammen: Seit 1963 hatte die So­wjet­union
de die Teilung der Welt in Nord und Süd immer den ANC (African National Congress) militä-
deutlicher thematisiert. Hinzu kam das Debakel risch und in Fragen der Menschenrechte unter-
von „Sovietnam“.36 Das internationale Ansehen stützt.38 Jetzt aber verminderte der Untergang der
der So­wjet­union, auch im Globalen Süden, litt So­wjet­union in Südafrika Ängste, dass das Wahl-
massiv unter der folgenschweren Entscheidung, recht für Schwarze in eine kommunistische Dik-
1979 in Afghanistan einzumarschieren. Dagegen tatur münden würde, und trug damit zum Ende
protestierte nicht nur eine Resolution der Verein- der Apartheid bei.39
ten Nationen vom Januar 1980, den Einmarsch Innerhalb der zerfallenden So­wjet­union ging
verurteilten auch zahlreiche Staaten des Globa- der Zusammenbruch bei Weitem nicht so fried-
len Südens. Zudem kam es zu einer großen Boy- lich vonstatten wie oft angenommen. So sind ge-
kottbewegung der Olympischen Sommerspiele in walttätige interethnische Konflikte unmittelbar
Moskau 1980. Die So­wjet­union war infolge des in den Jahren 1989/90 in Zentralasien zu nennen
Afghanistankrieges längerfristig diskreditiert, ob- oder die Toten in Riga beim Einsatz so­wje­tischer
wohl sie sich selbst weiterhin auch in Afghanis- Spezialeinheiten im Januar 1991.40 Die bewaff-
tan als Aufbaukraft sah und „Schulen, Kraftwer- neten Konflikte seit den 1990er Jahren mit den
ke und die Rechte von Frauen“ förderte.37 Tschetschenienkriegen, dem russisch-georgischen
Das Auftreten des so­wje­tischen Staates aus Krieg von 2008 und dem seit 2014 andauernden
der Ost-Süd-Achse betrachtet präsentiert sich Krieg in der Ostukraine können als Nachbeben
demnach komplex und umfasst unter anderem des Zerfalls interpretiert werden. Diese Ge­walt­
die Rollen des „Großen Bruders“, des Gastge- er­eig­nisse, die sich jeweils regional und interna-
bers und des Aggressors. Die skizzierten vielfälti- tional auswirkten, deuten darauf hin, dass die
gen Beziehungen zum Globalen Süden wirkten in Nachwirkungen von 1991 auch in globaler Per-
die So­wjet­union hinein, etwa durch die angespro- spektive noch nicht endgültig abzuschätzen sind.
chenen Dekolonisierungs- und Entwicklungs­ Die Diskussion um Periodisierungen kann
debatten. neue Impulse verleihen. Während in den 1990er
Jahren in West wie Ost das Ende der System-
DAS ENDE DER SO­WJET­U NION – konkurrenz im Vordergrund der Wahrnehmung
KEIN ENDE DER GESCHICHTE stand, dominieren inzwischen internationale Pro-
blemlagen, die auch unsere Sicht auf das 20. Jahr-
Die Jahre 1989 bis 1991 mit dem Zusammenbruch hundert und dessen Periodisierung beeinflussen.
der kommunistischen Regime in Europa sind eine Dazu zählen der Islamismus und der islamisti-
der großen Zäsuren des 20. Jahrhunderts, und der sche Terrorismus, für dessen Geschichte der 1979
endgültige Kollaps der So­wjet­union im Dezem- beginnende so­ wje­tische-afghanische Krieg eine
ber 1991 setzte dabei den Schlusspunkt. Nicht wichtige Etappe darstellt. Dazu zählt etwa auch
nur der Kalte Krieg war damit beendet, und der die internationale Klimapolitik, deren erste gro-
Westen sah sich als Gewinner. Auch eine ganze
Weltordnung war plötzlich verschwunden. Die
38 Vgl. Irina Filatova/Apollon Davidson, The Hidden Thread.
kommunistisch-sozialistische Staatlichkeit blieb Russia and South Africa in the Soviet Era, Johannesburg 2013.
zwar in der Welt noch präsent, aber war doch als 39 Vgl. Rob Nixon, The Collapse of the Communist-Anticommu-
nist Condominium. The Repercussions for South Africa, in: Social
Text 31–32/1992, S. 235–251; Mark/Slobodian (Anm. 21),
36 Mit verschiedenen Perspektiven auf den Krieg Tanja Penter/ S. 363.
Esther Meier (Hrsg.), Sovietnam. Die UdSSR in Afghanistan 40 Vgl. als Überblickswerke Stephen Kotkin, Armageddon
1979–1989, Paderborn 2017. Averted. The Soviet Collapse, 1970–2000, Oxford 2003; Uwe
37 Frank Bösch, Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute Halbach, Das so­wje­tische Vielvölkerimperium. Nationalitätenpo-
begann, München 2020, S. 242, S. 246, Zitat S. 264. litik und nationale Frage, Mannheim 1992.

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Sowjetunion APuZ

ße Konferenz ebenfalls 1979 in Genf mit aktiver Dies gilt ebenso für den jüngst thematisierten
so­wje­tischer Beteiligung4123 stattfand.41 Frank Bösch Aufstieg des Neoliberalismus mit seinem finanz-
hat das Jahr 1979 als „Zeitenwende“ beschrie- und wirtschaftspolitischen „Internationalismus“
ben.42 Und auch wenn sich dieses Jahr für die so­ ganz eigener Art: Die Trias von Deregulierung,
wje­tische Geschichte selbst voraussichtlich nicht Liberalisierung und Privatisierung fand ihre An-
als große Zäsur etablieren wird, so verweist die- hänger unter Reformwilligen auch im östlichen
se Setzung mit ihren inhaltlichen Implikationen Europa, und das bereits vor 1989. Der in jenem
doch darauf, dass die Globalgeschichte sich von Jahr zum ersten Mal als solcher bezeichnete Wa-
den großen Zäsuren durch den Kalten Krieg mit shington Consensus diente in den 1990er Jahren
1945 bis 1949 und 1989 bis 1991 ein Stück weit als Anleitung für die Wirtschaftspolitik in ver-
wird lösen müssen. Für die weitere Verortung der schiedenen postkommunistischen Staaten in der
So­wjet­union in der Globalgeschichte kann dies äußerst schwierigen Phase der „Transformation“.
inspirierend sein. Weitere Themen, die einer globalhistorischen Ver-
tiefung harren, sind unter anderem Gesundheits-
politik und -propaganda sowie die Mitarbeit der
41 Vgl. World Meteorological Organization (WMO), Pro-
ceedings of the World Climate Conference. A Conference of
So­wjet­union in internationalen Organisationen.43
Experts on Climate and Mankind, Geneva 12–23 February
1979, https://library.wmo.int/doc_num.php?​explnum_id=​8346. JULIA OBERTREIS
42 Bösch (Anm. 37). ist Professorin für Neuere und Neueste Geschichte
43 Vgl. Philipp Ther, The Year 1989 and the Global Hegemony
mit dem Schwerpunkt der Geschichte Osteuropas
of Neoliberalism, in: Eleni Braat/Pepijn Corduwener (Hrsg.),
1989 and the West, New York–London 2020, S. 93–121; James
an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-
Mark et al., 1989. A Global History of Eastern Europe, Cam- Nürnberg.
bridge–New York 2019. julia.obertreis@fau.de

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APuZ 16/2021

SO­WJE­T ISCHE GESCHICHTE


ALS GEWALTGESCHICHTE
Jörg Baberowski

Gewalt hat keine Geschichte, denn sie gehört des Deutschen Reichstages könne die Revolution
zur Grundausstattung des Menschen. Sie ist eine keine Rücksicht nehmen, hat Nikolai Bucharin
Konstante menschlichen Handelns. Allenfalls über die Wirklichkeit der proletarischen Dikta-
ihre Formen und Anwendungstechniken haben tur gesagt.02 Es liegt im Wesen der souveränen
sich im Wandel der Zeit verändert. Mit Gewiss- Diktatur, dass sie durch nichts als den Willen der
heit aber lässt sich sagen, dass Staatlichkeit darauf Revolutionäre begrenzt ist, hier und jetzt zu tun,
beruht, Gewalt anzudrohen und auszuüben. Jede was in ihren Augen getan werden muss. Die Dik-
Ordnung muss die Voraussetzungen, auf denen tatur sei eine Herrschaftsform, die sich auf Ge-
sie ruht, jederzeit erzwingen können, vor allem walt stützt und an keinerlei Recht gebunden sei,
dann, wenn sie sich durch eine Revolution in die schrieb Lenin über den proletarischen Staat.03
Welt setzt, die Altes weggeschaffen und delegiti- Das aber kann in der Stunde der Not jeder für
mieren, Neues durchsetzen, bewahren und legiti- sich beanspruchen, weil im rechtsfreien Raum je-
mieren muss. Was immer auch der Ursprung ei- der nur noch um sein Recht kämpft, auf der Welt
ner Rechtsordnung gewesen sein mag, sie muss zu sein.
sich für die Stunde wappnen, in der alles infra-
ge gestellt werden könnte. Deshalb ist Gewalt als ÖFFNUNG UND BEGRENZUNG
latente Drohung auch dann präsent, wenn nie- DES GEWALTRAUMS
mand sie bemerkt. Ordnung und Gewalt sind un-
trennbar miteinander verbunden. Wir hätten kei- Gewalt spricht, wo Macht verloren ist, sagt Hannah
nen Frieden, wenn es niemanden gäbe, der ihn Arendt.04 Wo die Quellen der Macht versiegt sind:
auch gegen seine Verächter erzwingen könnte. Autorität, Tradition, Recht und Gesetz, muss sich
Wer nicht die Macht hat, einen zu schützen, kann Herrschaft mit Gewalt zu Gehör bringen und
auch keinen Gehorsam verlangen, schrieb einst durchsetzen. Und so verwandelte sich der Kampf
Thomas Hobbes.01 um den Staat in einen blutigen Bürgerkrieg, eine
Und dennoch gibt es keine Gewähr dafür, Auseinandersetzung auf Leben und Tod, in dem
dass diejenigen, die im Besitz des Gewaltmono- die Gegner einander das Recht auf Existenz ab-
pols sind, es nur verwenden, um die Rechtsord- erkannten.05 Der russische Bürgerkrieg, der im
nung zu schützen, nicht, um sie zu zerstören. Die Sommer 1918 begann und erst im Jahr 1921 zu
totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts und Ende ging, war ein Krieg totaler Entgrenzung,
ihre Gewaltexzesse haben uns gelehrt, dass von den die Bolschewiki nicht nur deshalb für sich
einem unumkehrbaren Zivilisationsprozess kei- entschieden, weil sie den Bauern und den ethni-
ne Rede sein, der Staat vielmehr selbst zum Ur- schen Minoritäten des Imperiums als das kleins-
heber und Vollstrecker der Zerstörung werden ter aller möglichen Übel erschienen, sondern weil
kann. Der so­wje­tische Staat stand auf einem Fun- sie sich darauf verstanden, von der Gewalt stra-
dament, das mit Gewalt errichtet wurde, denn er tegischen Gebrauch zu machen: durch systema-
verdankte sich einer Revolution, einem Staats- tischen Terror gegen Angehörige der alten Eliten,
streich und keinem Regierungswechsel. Lenins durch ein ausgeklügeltes System der Geiselnah-
souveräne Diktatur legitimierte sich überhaupt me, das Bauern davon abhalten sollte, aus der
nicht im Verweis auf Tradition, Recht und Ge- Roten Armee zu desertieren, durch Razzien und
setz, sondern allein durch den Willen, der sie in Strafexpeditionen, die Einrichtung von Strafla-
die Welt setzte. Man verrichtet, was man will, gern und die zwangsweise Requirierung von Ge-
und was man kann. Auf die Geschäftsordnung treide in den Dörfern.

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Sowjetunion APuZ

Die Bolschewiki standen mit dem Rücken zur selte Soldateska.08 Für die Entfesselung der Fu-
Wand, sie wussten, dass sie keine andere Wahl rien aber mussten Preise entrichtet werden. Der
hatten als zu siegen, und sie siegten, weil sie kei- Bürgerkrieg veränderte Sieger wie Verlierer, Tä-
ne Skrupel hatten, alles zu tun, um an der Macht ter wie Opfer, zeichnete sie für Jahrzehnte, weil
zu12345 bleiben.06 Die Dichterin Sinaida Hippius, die er sie auf einen Stil verpflichtete, dem der Kom-
damals in Petrograd lebte, fasste diese Wirklich- promiss nichts bedeutete, und weil er ihre Wahr-
keit in treffliche Worte, als sie am 1. September nehmungen mit Misstrauen und Furcht auflud:
1918 in ihr Tagebuch schrieb: „Die Bolschewiken Furcht vor der Wiederkehr der totalen Entgren-
haben sich auf physische Gewalt festgelegt, und zung und des Kontrollverlustes.09
das dauerhaft. Damit wurde die Selbstherrschaft Zwar hatten die Bolschewiki unter Beweis ge-
aufrechterhalten. Aber da sie über keine entspre- stellt, dass sie Ordnungen nicht nur zerstören,
chenden Traditionen und Gewohnheiten verfü- sondern auch errichten konnten, und dass der
gen, müssen die Bolschewiken, wenn sie die Sta- Einsatz von Gewalt sich für die Sieger am Ende
bilität der Selbstherrschaft erreichen wollen, die auch auszahlte. Und dennoch stand ihre Herr-
Gewalt in einem gigantischen Ausmaß steigern.“ schaft auch nach dem Sieg im Bürgerkrieg noch
Und sie fährt fort: „Je grausamer die Macht, des- auf schwachen Füßen. Die Kommunikations-
to mehr kann sie sich erlauben und desto mehr er- strukturen waren primitiv, das Misstrauen groß.
laubt man ihr.“07 In den Dörfern hatte der bolschewistische Staat
Als die Bolschewiki die Macht übernahmen, noch kein Zuhause gefunden, in den nationa-
geboten sie allenfalls über die Waffen von Sol- len Republiken mussten sich die neuen Herren
daten und Rotgardisten. Aus der Not mach- auf die Vermittlungsleistungen unzuverlässiger
ten sie bald eine Tugend. Sie öffneten den Ge- Eliten verlassen, außenpolitisch war die So­wjet­
waltraum, in dem sich die Zerstörungswut und union isoliert und geächtet, ein Paria unter den
die Ressentiments von Arbeitern und Soldaten Nationen Europas. Diese Wirklichkeit empfan-
entladen konnten. Aber erst in den Jahren des den Stalin und seine Anhänger als Bedrohung, die
Bürgerkrieges kam es zu einer Professionalisie- sie mit den Methoden des Bürgerkrieges aus der
rung der Gewalt, als das Regime auf Kommis- Welt schaffen wollten.10
sare und Vollstrecker zurückgreifen konnte, die
nunmehr im Dienst des neuen Regimes stan- STAATLICHE GEWALT
den. Die Tscheka, Lenins Geheimpolizei, been- AU ẞ ER KONTROLLE
dete die Gewalt von Jedermann und legte sie in
die Hände des Staates, der nicht weniger grau- Die Kulturrevolution, die 1928 begann, war der
sam mit seinen Gegnern verfuhr als die entfes- Versuch, alte durch neue Eliten auszutauschen,
religiöse Rituale und Feiertage zu kriminalisieren
01 Thomas Hobbes, Leviathan, oder Stoff, Form und Gewalt
und alle konkurrierenden Deutungen des Lebens
eines bürgerlichen und kirchlichen Staates, Frank­furt/M. 1976 aus dem Denken zu entfernen. Priester, Mullahs,
[1651], S. 68. Vgl. Jörg Baberowski, Räume der Gewalt, Frank­ Adlige und Angehörige der alten Elite, Techni-
furt/M. 2015. ker und Ingenieure, wurden nicht nur diskrimi-
02 Nikolaj Bucharin, Programm der Kommunisten, Berlin 1919,
niert und stigmatisiert, sondern auch verhaftet,
S. XXIII.
03 Wladimir I. Lenin, Die proletarische Revolution und der
deportiert, in Lager eingesperrt oder erschossen.
Renegat Kautsky (1918), in: ders., Ausgewählte Werke, Bd. 3,
Berlin (Ost) 19708, S. 80.
04 Hannah Arendt, Macht und Gewalt, München 200818 08 Vgl. George Leggett, The Cheka. Lenin’s Political Police,
[1970], S. 55. Oxford 1981.
05 Vgl. Jörg Baberowski, Der bedrohte Leviathan. Staat und 09 Vgl. Moshe Lewin, The Civil War: Dynamics and Legacy,
Revolution in Russland, Berlin 2021. in: Diane Koenker/William G. Rosenberg/Ronald Grigor Suny
06 Vgl. Vladimir Buldakov, Krasnaja smuta. Priroda i pos- (Hrsg.), Party, State, and Society in the Russian Civil War, Bloo-
ledstvija revoljucionnogo nasilija, Moskau 2014, S. 425–587; mington 1989, S. 399–423.
Aleksandr Latyšev, Rassekrečennyj Lenin, Moskau 1996; Sergej 10 Vgl. Roger Pethybridge, One Step Backwards, Two Steps
Melgunov, Krasnyj terror v Rossii, Moskau 1990 [1924]; Jona- Forward. Soviet Society and Politics Under the New Economic
than Smele, The „Russian“ Civil Wars, 1916–1926. Ten Years Policy, Oxford 1990, S. 121–188; Jörg Baberowski, Der Feind ist
That Shook the World, London 2015. überall. Stalinismus im Kaukasus, München 2003, S. 411–552;
07 Sinaida Hippius, Petersburger Tagebücher 1914–1919, Stephen Kotkin, Stalin. Paradoxes of Power 1878–1928, London
Berlin 2014, S. 377. 2014, S. 661–723.

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Im Frühjahr 1928 versuchte das Regime, ein öf- wachsene gegeneinander auf, er streute die Saat
fentliches Exempel zu statuieren, als es Ingenieu- des Hasses auch in den Dörfern aus. Was aber
re aus dem ukrainischen Donbass in Moskau vor sollte mit den Verbannten, Verschickten und In-
Gericht stellen ließ, um öffentlich zu demonstrie- haftierten geschehen, die aus den Dörfern vertrie-
ren, wer die Feinde waren, was sie getan hatten ben worden waren? Dafür fand das Regime so-
und wie der so­wje­tische Staat mit ihnen verfuhr. gleich eine Lösung: Es wies die Geheimpolizei an,
Seither gehörte die öffentliche Demütigung ver- sie in Lagern und bewachten Siedlungen unter-
meintlicher Volksfeinde zum Stil stalinistischer zubringen, um Wälder zu roden, Staudämme und
Herrschaft.11 Kanäle zu errichten, mit ihren bloßen Händen zu
Aber erst mit dem Beginn von Zwangskol- verrichten, wozu man freie Menschen nicht hät-
lektivierung und Industrialisierung geriet die te zwingen können. Die Kollektivierung war die
staatliche Gewalt außer Kontrolle. Stalins Re- Geburtsstunde des Gulag, jenes gigantischen La-
volution von oben erschöpfte sich nicht in kul- gerkomplexes, dessen Zweck nicht mehr in der
tureller Umwälzung, sie war auch ein Staats- Bestrafung, sondern im ökonomischen Nutzen
bildungsprozess, der aus dem Geist der Gewalt lag und dem Jahr für Jahr neue Häftlinge zuge-
kam. Marx hatte einst von der ursprünglichen führt wurden.13
kapitalistischen Akkumulation gesprochen. Sie Für Sergo Ordschonikidse, Stalins Gefolgs-
schien der proletarische Staat nun zu imitieren. mann und Minister für Schwerindustrie, war der
Rücksichtslos schöpfte er alle Ressourcen des erste Fünfjahresplan ein Ausdruck des bolsche-
Dorfes ab, um den großen industriellen Um- wistischen Willens, Berge zu versetzen und Wun-
schwung ins Werk zu setzen. Das Leben und die der zu vollbringen. Es schien, als gelänge es den
Arbeit von Millionen wurden auf dem Altar so­ Bolschewiki, nicht nur neue Industrielandschaf-
wje­tischer Machbarkeitsfantasien geopfert. Die ten am Reißbrett zu entwerfen und in die Welt zu
Kollektivierung der Landwirtschaft aber diente setzen, sondern auch die Anarchie des Marktes zu
nicht nur dazu, Getreide zu beschaffen. Das Re- überwinden. Die Anarchie der Kommandowirt-
gime zwang die Bauern, Kolchosen beizutreten, schaft aber ließ sich nicht so leicht bewältigen:
Werkzeuge, Vieh und Land in die Verfügungs- Staudämme, die wieder abgerissen werden muss-
gewalt der Kollektivwirtschaft zu legen. Im No- ten, weil sie fehlerhaft konstruiert worden waren,
vember 1929 fasste das Politbüro auf Veranlas- Kanäle, auf denen keine Schiffe fahren konnten,
sung Stalins den Beschluss, sogenannte Kulaken, Betriebe, die Ausschussware produzierten, un-
scheinbar wohlhabende Bauern, aus den Kol- gelernte Arbeiter, die Maschinen ruinierten und
chosen auszuschließen und mit ihren Famili- Betriebsabläufe störten. Stoßarbeiterkampagnen
en nach Sibirien zu deportieren. Mehr als zwei zerrütteten die Produktion, die Fluktuation der
Millionen Menschen wurden auf diese Weise um Arbeitskräfte auf den Baustellen des Kommunis-
ihr Eigentum, um Freiheit und Leben gebracht, mus untergrub Planung und Koordination. Vor
das russische Dorf der staatlichen Gewalt für im- allem aber gelang es dem Regime nicht, die Be-
mer unterworfen. In der Ukraine und in Kasach- wegung von Millionen Menschen zentraler Kon-
stan verhungerten mehrere Millionen Menschen, trolle zu unterwerfen.14
nachdem die Kollektivierung sie um ihre Exis- Aus der Not aber machten die Bolschewiki
tenz gebracht hatte.12 eine Tugend. Sie waren Meister der Improvisati-
Der Krieg gegen die eigene Bevölkerung pro- on, im Kampf gestählt. Diese Meisterschaft hat-
duzierte Aussätzige, Stigmatisierte und Verbann- te sich schon während des Bürgerkrieges gezeigt,
te, er brachte Väter und Söhne, Kinder und Er- und sie zeigte sich auch während der Revolution
von oben, als Stalin der Welt ein Beispiel dafür
11 Vgl. Julie Cassiday, The Enemy on Trial. Early Soviet
gab, dass die Bolschewiki nicht nur jede Festung
Courts on Stage and Screen, DeKalb 2000, S. 110–133; Sheila
Fitzpatrick, Cultural Revolution as Class War, in: dies. (Hrsg.),
The Cultural Front. Power and Culture in Revolutionary Russia, 13 Vgl. Orlando Figes, Die Flüsterer. Leben in Stalins Russland,
Ithaca 1992, S. 149–182. Berlin 2008, S. 141–236; Golfo Alexopoulos, Stalin’s Outcasts.
12 Vgl. Sheila Fitzpatrick, Stalin’s Peasants. Resistance and Aliens, Citizens and the Soviet State, 1926–1936, Ithaca 2003;
Survival in the Russian Village After Collectivization, Oxford Anne Applebaum, Der Gulag, Berlin 2003, S. 81–130.
1994; Lynne Viola, Peasant Rebels Under Stalin. Collectivization 14 Vgl. Stephen Kotkin, Magnetic Mountain. Stalinism as a
and the Culture of Peasant Resistance, Oxford 1996. Civilization, Berkeley 1995.

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Sowjetunion APuZ

im Sturm nahmen, sondern die selbst verursach- lin, die Gefolgschaft um sich zu scharen und auf
ten Krisen dafür nutzten, um Feinde zu markie- seinen Kurs exzessiver Gewalt einzuschwören.
ren und für ihr eigenes Versagen zur Verantwor- Der innere Krieg schien im Licht der internatio-
tung zu ziehen. Der so­wje­tische Staat produzierte nalen Isolation, in die sich die So­wjet­union selbst
Krisen, und er demonstrierte seine Souveränität, gebracht hatte, nicht nur gerechtfertigt, sondern
indem er solche Krisen überwand, ohne an ihnen auch unvermeidlich zu sein. Jeder Kommunist
zu zerbrechen. Im August 1930 schrieb Stalin an konnte nun ein innerer Feind, ein ausländischer
Molotow, man solle „zwei, drei Dutzend Schäd- Spion oder Deserteur sein. „Man muß einander
linge“ im Volkskommissariat für Finanzen er- respektieren und sich aufeinander verlassen“,
schießen und eine „Kontrolle durch Ohrfeigen“ schrieb Stalin in jener Zeit an seinen Vertrauten
einführen.15 Scheinbar war er davon überzeugt, Lasar Kaganowitsch. Die Gefolgsleute müssten
dass die Verbreitung von Furcht und Schrecken „unzertrennlich“ bleiben, so fügte er noch hin-
allein genügte, um der Erfüllung des Fünfjahres- zu. „Dann wird alles gut gehen“. Mit anderen
plans zum Erfolg zu verhelfen. Worten: Die Gefolgsleute mussten sich ihm, dem
Von Anbeginn war der bolschewistische Herrn und Gebieter, bedingungslos unterordnen,
Staatsbildungsprozess mit der Idee verbun- wenn sie überleben wollten.17
den, die neue Elite zu disziplinieren, zuzurich-
ten, auf den Gebrauch der bolschewistischen DER GRO ẞ E TERROR
Sprache und Weltsicht einzuschwören. Diesem UND DER GRO ẞ E
Zweck dienten die neuen Feiertage, Feste, Ritu- VATERLÄNDISCHE KRIEG
ale und Sprachregelungen ebenso wie die perio-
disch wiederkehrenden Parteisäuberungen und Woher konnten die Parteiführer schon wis-
öffentlich aufgeführten Unterwerfungsrituale, sen, wer sich in den Jahren der Kulturrevoluti-
die allen Kommunisten vor Augen führten, wer on und der Kollektivierung mit einem Parteiaus-
Freund und wer Feind war, wer Mitglied in der weis ausgestattet hatte, ob sich unter den Schafen
Partei sein durfte und wer nicht. Die Partei war vielleicht doch noch ein Wolf versteckt hatte, der
Kontrollinstanz und Mobilisierungsinstrument, nur darauf wartete, Unfrieden zu stiften? Sollten
Erziehungsanstalt für Millionen und Vehikel für sich Feinde im Maschinenraum der neuen Ord-
den sozialen Aufstieg. Sie war der eigentliche nung versteckt halten und ließe man sie gewäh-
Ort, an dem der „neue Mensch“ geschmiedet und ren, wäre es um die Existenz des so­wje­tischen
das Vielvölkerreich verklammert wurde. Deshalb Staates bald geschehen, glaubten Stalin und seine
galt ihr die besondere Aufmerksamkeit Stalins Gefolgsleute. Der Feind schien überall zu sein.18
und seiner Gefolgschaft.16 Widerspruch und Dissens verwandelten sich im
Stalin nutzte die Krise, in die er und seine Führungskreis nunmehr in Verrat, der mit dem
Gefolgsleute die So­ wjet­union gestürzt hatten, Verlust der Freiheit oder des Lebens bezahlt
um vermeintlichen Widerstand, Widerspruch werden musste. Stalin räumte Kritiker, poten-
und Dissens mit Gewalt zu brechen. Ein Mann, zielle Widersacher, unzuverlässige Gefolgsleute
dem die Hand nicht zitterte, der das Steuer auch und Satrapen in den Provinzen beiseite, entfalte-
im Sturm fest in der Hand hielt, die Feinde fest te einen selbstzerstörerischen Vernichtungsfeld-
im Blick, so haben seine Gefolgsleute ihn gese- zug innerhalb der Staats- und Parteibürokratie,
hen. Von solchem Autoritätsgewinn machte er dem Zehntausende Kommunisten zum Opfer
nun machtstrategischen Gebrauch. Im Ange- fielen. Damit sichtbar und spürbar wurde, wo-
sicht des Krieges und des Chaos, das der große hin vermeintlicher Ungehorsam führen würde,
Sprung nach vorn ausgelöst hatte, gelang es Sta- ließ Stalin nicht nur in Moskau, sondern über-
all in den Provinzen Schauprozesse inszenieren,
15 Zit. nach Lars Lih/Oleg Naumow/Oleg Chlewnjuk (Hrsg.), um prominente Parteifunktionäre öffentlich als
Stalin. Briefe an Molotow 1925–1936, Berlin 1996, S. 217,
S. 228.
16 Vgl. Malte Rolf, Das so­wje­tische Massenfest, Hamburg 17 Zit. nach Jörg Baberowski, Verbrannte Erde. Stalins Herr-
2006; Jörg Baberowski, Zwischen Furcht und Faszination. Die schaft der Gewalt, München 2012, S. 312.
So­wjet­union im Zeitalter der Moderne, in: Martin Sabrow/ 18 Vgl. dazu die Überlegungen von J. Arch Getty, Origins of
Peter Ulrich Weiss (Hrsg.), Das Zeitalter vermessen: Historische the Great Purges. The Soviet Communist Party Reconsidered,
Signaturen des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2017, S. 56–83. 1933–1938, Cambridge 1985, S. 113–136.

21
APuZ 16/2021

Spione und Saboteure zu überführen und sie zu tet: Der Mordexzess band die Gefolgschaft an die
demütigenden Selbstanklagen zu zwingen, be- Führer, er setzte die Parteifunktionäre und Tsche-
vor sie erschossen wurden. Stalins Gefolgsleute kisten in den Provinzen unter Erwartungsdruck
aus dem Politbüro fuhren in die Provinzen, um und zwang sie, es beim Töten zu Höchstleistun-
„Volksfeinde“ aus den Apparaten zu entfernen gen zu bringen, er disziplinierte die Funktionä-
und die Satrapen zu bestrafen, die bei der Be- re und produzierte eine loyale Aufsteigerelite, die
kämpfung des inneren Feindes versagt hatten. internalisiert hatte, worauf es in Stalins Staat an-
In den ländlichen Regionen wurden Kolchos- kam und was von ihr erwartet wurde. Seither wi-
vorsitzende und Fabrikdirektoren, die kleinen dersprach niemand mehr. Wjatscheslaw Molotow,
Despoten, vor Gericht gestellt und für die öko- Vorsitzender des Rats der Volkskommissare von
nomischen Katastrophen der Vergangenheit ver- 1930 bis 1941, hat 40 Jahre später gegenüber dem
antwortlich gemacht. Solche Verfahren bewirk- so­wje­tischen Journalisten Felix Tschujew erklärt,
ten zweierlei: Sie hielten die Parteifunktionäre in der Terror sei notwendig gewesen, um die So­
Angst und Schrecken und führten den Unbetei- wjet­union von potenziellen Feinden zu befrei-
ligten vor Augen, was auch ihnen jederzeit wi- en. Ohne den Terror hätte die So­wjet­union den
derfahren könnte, wenn sie es an Gehorsam feh- Krieg nicht überstanden. „Das Jahr 1937 war not-
len ließen.19 wendig“, behauptete Molotow. Nach der Revolu-
Im Juli 1937 begann der Massenterror, dem bis tion habe man jede Form des Widerstandes aus-
Ende 1938 mehr als anderthalb Millionen Men- gerottet. Aber es seien Feinde übriggeblieben. Sie
schen zum Opfer fielen, die entweder in Lager hätten sich angesichts der faschistischen Bedro-
gesperrt oder erschossen wurden. Etwa 680 000 hung miteinander verbinden können. „Wir haben
Menschen wurden von sogenannten Dreieraus- es dem Jahr 1937 zu verdanken, daß es während
schüssen (Troiki) im Schnellverfahren zum Tod des Krieges bei uns keine fünfte Kolonne gab.“21
verurteilt, an den Rändern der Städte getötet und Niemand weiß, ob Stalin und Molotow wirklich
in Massengräbern verscharrt. Stalin selbst hat- glaubten, was sie als Motiv für den großen Mord
te die Erschießungen nach Quoten angeordnet: ausgaben. Nikita Chru­sch­tschow war zweifellos
Geistliche, Kulaken, die aus der Verbannung zu- näher an der Wahrheit, als er in seiner Rede über
rückgekehrt waren, Adlige, Angehörige der al- den Personenkult auf dem XX. Parteitag im Fe-
ten Oberschicht und oppositioneller Parteien. bruar 1956 erklärte, dass der Krieg gegen das nati-
Zur gleichen Zeit setzte Stalin auch die nationa- onalsozialistische Deutschland nicht wegen, son-
len Operationen ins Werk, die das Ziel verfolgten, dern Stalin zum Trotz siegreich beendet worden
ethnische Minoritäten aus der Welt zu schaffen, sei.22
die als Trojanische Pferde des benachbarten Aus- Auch in den Jahren des Zweiten Weltkrieges
landes galten, vor allem Polen, Deutsche, Kurden, setzte das Regime seine Gewaltexzesse überall
Koreaner, Griechen, Chinesen, also all jene Men- dort ins Werk, wo es seiner Herrschaft nicht si-
schen, die als Angehörige einer nationalen Mino- cher zu sein glaubte, wo es sich gegen den Wil-
rität entweder in den Grenzregionen oder in den len der Unterworfenen festzusetzen versuchte.
großen Städten der So­ wjet­union lebten. Auch Und es griff auf Verfahren zurück, die es schon
dieser Operation fielen Hunderttausende zum im Inneren der So­ wjet­
union mit Erfolg ange-
Opfer.20 wandt hatte. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt wur-
Was versprachen sich Stalin und seine Ge- den Hunderttausende Polen, Esten, Letten und
folgsleute von der Zerstörung der Partei- und Litauer aus ihrer Heimat vertrieben und nach
Staatsbehörden, was von der Tötung Hunderttau- Sibirien deportiert, die nationalen Eliten dieser
sender, die weder ein Verbrechen begangen noch Staaten entmachtet und liquidiert. Jahre später,
Widerstand geleistet hatten? Die Antwort lau- als die Rote Armee an der Front gegen die Inva-
soren aus Deutschland kämpfte, ließ Stalin eth-
19 Vgl. Roberta T. Manning, Political Terror or Political Theater:
The Raion Show Trials of 1937 and the Mass Operations, in:
Russian History 2/2009, S. 219–253; Michail Šrejder, NKVD 21 Zit. nach Feliks Čuev, Sto sorok besed s Molotovym. Vtoroj
iznutri. Zapiski Čekista, Moskau 1995. posle Stalina, Moskau 2019, S. 405–406.
20 Vgl. Rolf Binner/Marc Junge, Wie der Terror „Groß“ wurde. 22 Vgl. Nikita Chuschtschow, Chru­sch­tschow erinnert sich,
Massenmord und Lagerhaft nach Befehl 00447, in: Cahiers du eingeleitet und kommentiert von Edward Crankshaw, Reinbek
Monde Russe 2–4/2001, S. 557–614. 1971, S. 556–565.

22
Sowjetunion APuZ

nische Minoritäten aus dem Hinterland depor- sen. All diese Menschen wurden stigmatisiert und
tieren: Wolgadeutsche, Kalmücken, Krimtataren, mussten ihr ganzes Leben lang Schweigen bewah-
Tschetschenen und Inguschen, die nach Kasachs- ren. Das Gulag-Imperium füllte sich mit Häftlin-
tan geschafft wurden.23 gen, niemals zuvor waren so viele Menschen in
Als der Krieg zu Ende ging, war die So­wjet­ Stalins Lagern gewesen wie in den späten 1940er
union ein verwüstetes Land, mehr als 20 Millio- ­Jahren.25
nen Menschen waren im Kampf gestorben, den Nicht einmal die Soldaten der siegreichen Ro-
Massakern der Einsatzgruppen zum Opfer gefal- ten Armee konnten sich am Triumph über die
len oder in deutscher Kriegsgefangenschaft um- Wehrmacht erfreuen. Der Ruhm gehörte Stalin al-
gekommen. Das Ende des Krieges aber war nicht lein, nicht den Soldaten, die in seinem Namen bis
das Ende der Gewalt. In der Ukraine und in den nach Berlin marschiert waren, niemand sollte die
baltischen Republiken lieferten Partisanen und Leistungen der Soldaten feiern und bewundern.
Einheiten des NKWD einander blutige Gefechte, Der Diktator wusste sehr genau, dass der Krieg
die bis zum Ende der 1940er Jahre andauerten, aus Tore in die Welt geöffnet und die Vorstellungen
den ukrainischen Dörfern wurden Tausende Bau- vom Leben verändert hatte, dass Millionen Men-
ern deportiert, die ihren Ablieferungsverpflich- schen hofften, nach der Schlacht möge der Ter-
tungen nicht nachgekommen waren und sich ror aus ihrem Leben verschwinden und Frieden
der Wiedereinrichtung der Kolchosen widersetzt herrschen in der So­wjet­union. Jedes Zugeständ-
hatten. Millionen hatten auch den Westen Euro- nis, so glaubte Stalin, wäre der Anfang vom Ende
pas gesehen und erfahren, wie Menschen jenseits seines Regimes gewesen, und so schlossen sich
der so­wje­tischen Grenzen lebten: Kriegsgefange- die Tore wieder. Die So­wjet­union war ein Land
ne, nach Deutschland verschleppte Zwangsarbei- des Schweigens, in dem nur ausgesprochen wer-
ter, Angehörige der Wlasow-Armee und Partisa- den durfte, was die Herrschaft nicht infrage stell-
nen der ukrainischen Nationalbewegung. Sie alle te. „Die Illusion war zerstört“, schrieb Andrei
galten Stalin und seinem Regime als potenzielle Sacha­row in seinen Memoiren über die enttäusch-
Feinde. Die Soldaten der Wlasow-Armee und die ten Hoffnungen der Nachkriegszeit.26
Bandera-Partisanen wurden in Straflager nach Si- In den letzten Lebensjahren des Diktators kam
birien geschickt, ehemalige Kriegsgefangene und es zu einer Wiederbelebung der terroristischen
„Ostarbeiter“ kamen in Filtrationslager, wo darü- Kampagnen, die zwar weniger Opfer forderten,
ber entschieden wurde, ob sie in Freiheit bleiben aber dem Muster der Vorkriegsjahre folgten. Sta-
durften oder in Straflager verbracht werden soll- lin ließ Gefolgsleute aus dem inneren Kreis ver-
ten. Alexander Jakowlew, der später zu den Vor- stoßen und erschießen, er beauftragte Lawrenti
denkern der Perestroika gehören sollte, sah 1945 Beria, Minister für Staatssicherheit, damit, die
am Bahnhof von Jaroslawl mit eigenen Augen, Parteiorganisation von Leningrad in Angst und
wie Heimkehrer aus deutscher Kriegsgefangen- Schrecken zu versetzen, ihre leitenden Funktio-
schaft in Viehwaggons gesperrt und nach Sibiri- näre töten zu lassen und in seinem Heimatland
en abtransportiert wurden. „Eisenbahnwaggons, Georgien nach Feinden und Spionen im Partei-
kleine Fenster mit Eisenstangen, schmale, blas- apparat zu suchen. In den Staaten des Ostblocks
se, verstörte Gesichter an den Fenstern. Und auf wurden Schauprozesse aufgeführt und scheinbar
dem Bahnsteig weinende und jammernde Frau- unzuverlässige Kommunisten getötet, um auch
en.“24 Das Geschrei sei herzzerreißend gewesen. dort der Parteiführung ein Beispiel für die Mög-
Danach seien die Züge nur noch nachts durch den lichkeiten des Stalinschen Regimes zu geben.
Bahnhof gefahren. Wie viele Menschen, die schon
in Deutschland gelitten hatten, mussten den Ter-
25 Vgl. ebd.; Pavel Poljan, Deportiert nach Hause. So­w je­
ror noch ein zweites Mal über sich ergehen las- tische Kriegsgefangene im „Dritten Reich“ und ihre Repatriie-
rung, München 2001, S. 166–187; Sheila Fitzpatrick, Postwar
23 Vgl. Norman Naimark, Fires of Hatred: Ethnic Cleansing Soviet Society. The Return to „Normalcy“, 1945–1953, in:
in Twentieth-Century Europe, Cambridge 2001, S. 85–107; Susan J. Linz (Hrsg.), The Impact of World War II on the So-
Jan T. Gross, Revolution from Abroad. The Soviet Conquest of viet Union, Totowa 1985, S. 129–156; Applebaum (Anm. 13),
Poland’s Western Ukraine and Western Belorussia, Princeton S. 487.
2002, S. 187–224. 26 Andrej Sacharow, Mein Leben, München 1991, S. 67. Vgl.
24 Alexander Jakowlew, Ein Jahrhundert der Gewalt, Berlin Jeffrey Brooks, Thank You, Comrade Stalin. Soviet Public Culture
2004, S. 29. from Revolution to Cold War, Princeton 2000, S. 195–209.

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APuZ 16/2021

Zur gleichen Zeit ergoss sich eine beispiellose Befehl erteilen, Menschen umzubringen, denen
Welle antisemitischer Verfolgung über das Land, kein strafwürdiges Verbrechen vorzuwerfen war.
seit Stalin Juden unter den Verdacht gestellt hatte, Chru­sch­tschow selbst profitierte vom neuen Stil,
mit dem 1948 gegründeten Staat Israel im Bund als er im Oktober 1964 gestürzt wurde und den-
zu stehen und sich gegen die So­wjet­union ver- noch als freier Mann den Kreml verließ.28
schworen zu haben. Auf dem Höhepunkt die- Zwar war die So­wjet­union auch nach Stalins
ser Kampagne wurde der absurde Vorwurf in die Tod kein Rechtsstaat. Der ungarische Aufstand
Welt gesetzt, jüdische Ärzte hätten versucht, den wurde 1956 mit Gewalt niedergeschlagen, 1964
Diktator umzubringen. Stalins Tod im März 1953 wurden in der südrussischen Stadt Nowotscher-
setzte der Hass- und Gewaltkampagne jedoch kassk Hunderte Arbeiter erschossen, die gegen
ein Ende, bevor sie sich überhaupt recht entfal- Preiserhöhungen demonstriert hatten, Dissiden-
ten konnte.27 ten überwacht, bespitzelt, unter Breschnew sogar
in psychiatrische Anstalten eingesperrt.29 Aber
WEGE AUS DER GEWALT was war all das im Vergleich zu den mörderischen
Exzessen des Jahres 1937, zu den Schlachten des
Nikita28930 Chru­sch­tschow beendete den Terror, er Zweiten Weltkrieges, die Millionen Menschen,
verbannte ihn aus dem Arsenal der Herrschafts- Opfer wie Täter, in den Abgrund gerissen und
sicherung und verschaffte auf paradoxe Weise verschlungen hatten. Im Lichte dieser Gewalt
auch den Tätern Entlastung und Erleichterung. war alles, was danach noch zu erleben und zu er-
Denn im Führungskreis wurden Meinungsver- dulden war, nur ein leichter Hauch. Am Ende des
schiedenheiten nicht mehr mit der Erschießung, Jahrhunderts trat die So­wjet­union ab. Mit Gewalt
sondern der Pensionierung der Unterlegenen bei- hatte sie sich in die Welt gesetzt, beinahe friedlich
gelegt. Niemand erwartete von den Mitarbeitern verabschiedete sie sich von ihr. Ein Jahrhundert
des Geheimdienstes noch, dass sie in vorausei- der Gewalt, wie Alexander Jakowlew die Zeit
lendem Gehorsam Tötungsquoten erfüllten. Der der Exzesse genannt hatte, war friedlich zu Ende
neue Stil der Regierung, die kollektive Führung, ­gegangen.30
produzierte Erwartungssicherheit und gab selbst Wahrscheinlich wird man die Nachsicht mit
den Stalinisten und Tschekisten, wonach sie sich den Tätern und das Schweigen der Opfer und ih-
sehnten nach all den Jahren des Krieges und der rer Nachkommen im gegenwärtigen Russland
Gewalt: Sicherheit und Berechenbarkeit. In nur nur verstehen, wenn zu Bewusstsein kommt, was
wenigen Jahren hatte Chru­sch­tschow die So­wjet­ der Stalinismus war und was er angerichtet hat-
union in ein anderes Land verwandelt, die Lager te. Die Nachwirkungen des Terrors sind immer
weitgehend aufgelöst, Deportierten die Rückkehr noch zu besichtigen und zu bestaunen, und wahr-
in ihre Heimat erlaubt, den Geheimdienst an die scheinlich sind sie es, die der autoritären Ord-
Kette des Rechts gelegt und auch manche Ver- nung der Gegenwart einen fruchtbaren Grund
brechen Stalins beim Namen genannt. Nie wie- bereitet haben. Wer will schon Experimente er-
der würden die Führer einander töten oder den leben, nach allem, was die Vorfahren durchlei-
den und erdulden mussten, wenn doch nicht ge-
wiss ist, wie sie ausgehen werden? Es ist leicht,
27 Vgl. Yoram Gorlizki/Oleg Chlewniuk, Cold Peace. Stalin and
the Soviet Ruling Circle 1945–1953, Oxford 2004, S. 143–164;
die Gewalt sprechen zu lassen, aber es ist unend-
Frank Grüner, Patrioten und Kosmopoliten. Juden im Sowjetstaat lich schwer, ihre sozialen und psychischen Fol-
1941–1953, Köln 2008, S. 489–507. Siehe auch den Beitrag von gen zu bewältigen. Eine Jahrhundertaufgabe, die
Frank Grüner in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). ihr glückliches Ende erst finden wird, wenn die
28 Vgl. Jörg Baberowski, Wege aus der Gewalt. Nikita Chru­
Wunden verheilt sind und die Sinnlosigkeit des
sch­tschow und die Entstalinisierung 1953–1964, in: Ulrich Biele-
feld/Heinz Bude/Bernd Greiner (Hrsg.), Gesellschaft – Gewalt
Terrors vergessen ist.
– Vertrauen, Hamburg 2012, S. 401–437; William Taubman,
Khrushchev. The Man and His Era, New York 2004, S. 270–299.
29 Vgl. Vladimir Kozlov, Massovye bezporjadki v SSSR pri
Chruščeve i Brežneve 1953-načalo 1980-ch gg., Moskau 2010,
JÖRG BABEROWSKI
S. 346–420; György Dalos, 1956. Der Aufstand in Ungarn,
München 2006; Jurij Orlow, Ein russisches Leben, München
ist Professor für Geschichte Osteuropas an der
1992, S. 198–253. Humboldt-Universität zu Berlin.
30 Jakowlew (Anm. 24). baberowskij@geschichte.hu-​berlin.de

24
Sowjetunion APuZ

NACH STALIN:
DAS FUNKTIONIEREN DER UDSSR
Susanne Schattenberg

Die Forschung zur späten So­ wjet­


union hat in zunehmend reportagehafte Schilderungen Einzug
den vergangenen zwei Jahrzehnten einen Auf- in die Historiografie. Die Chance dabei ist, neben
schwung erlebt. Dominierte in den 1990er Jah- dramaturgischen Effekten ein „hautnahes Erle-
ren die Stalinismusforschung, ist es jetzt die For- ben“ zu erzeugen; die Gefahr besteht darin, an kri-
schung zur Zeit nach 1953. Die Historiker*­innen tischer Distanz und Analysekraft zu verlieren.
haben sich vom Schock des Zusammenbruchs
erholt; sie fragen nicht mehr nach den Gründen UNTER CHRU­S CH­T SCHOW
für den Zusammenbruch – und warum sie diesen UND BRESCHNEW
nicht vorhergesehen haben –, sondern, warum die
Sowjetunion offenbar so lange sehr gut funktio- Die späte Sowjetzeit wird weitgehend mit der
nierte. Das Masternarrativ wandelt sich also lang- Herrschaft Nikita Chru­sch­tschows (1953–1964)
sam von einer Niedergangs- zu einer Erfolgsge- und Leonid Breschnews (1964–1982) gleich-
schichte – mit jähem Ende. gesetzt. Die Historisierung hat beide Politiker
Darüber hinaus scheint die Zeit der Schulen- von den Pauschalurteilen aus der Zeit des Kal-
bildung und Lagerkämpfe vorbei zu sein. Be- ten Krieges befreit, sodass sie in ihrem Kontext
hakten sich bis 1991 Totalitarist*­innen, die von neu betrachtet werden können. William Taub-
der vollkommenen Durchherrschung der Ge- mans große Chru­sch­tschow-Biografie 2003 war
sellschaft durch Staat und Partei ausgingen, und ihrer Zeit voraus.01 Die Faszination für diesen
Revisionist*­innen, die den sozialen Gruppen gro- scheinbar widersprüchlichen Mann, der es lieb-
ße Handlungsspielräume und Gestaltungskraft te, seine westlichen Gesprächspartner zu provo-
zuschrieben, gesellte sich in den 1990er Jahren die zieren, und für jeden Redenschreiber ein Alb-
Gruppe der Kulturalist*­innen hinzu, die den Mo- traum war, da er ständig vom Manuskript abwich
tor der Geschichte weder in physischer Gewalt und unkontrolliert polterte und drohte, hat eini-
noch in sozialen Gruppen, sondern in den Dis- ge Werke hervorgebracht, wenngleich Lücken be-
kursen verorteten. Heute herrscht dagegen ein stehen bleiben.02 Ein eher kurzes Intermezzo in
nahezu fröhliches Miteinander von verschiede- der Historiografie war der Streit über die wahren
nen Theorien und Zugängen. In der Forschung ist Gründe für Chru­sch­tschows Entstalinisierungs-
es ein zentrales Anliegen, überholte Dichotomi- kurs und die „Geheimrede“ auf dem 20. Parteitag
en wie Stalinist*in/Reformer*in, Sowjetmensch/ 1956. Die von Dissident*­innen vertretene und bis
Dissident*in, öffent­ lich äußern/privat denken dahin unhinterfragte Meinung, Chru­ sch­tschow
aufzugeben und integrale Konzepte zu finden. habe dies aus einer „Bewegung der Seele“ he-
Die neue Integration gilt auch für das Feld der raus getan,03 wurde zwischenzeitlich als naiv ver-
Historiker*­innen selbst. Niemand tritt mehr an, urteilt: Die Abrechnung mit Stalin sei nur eine
andere Herangehensweisen zu verdrängen. Flucht nach vorn und Strategie zum Machterhalt
Zu beobachten ist allerdings ein „Performative gewesen.04 Indes überwiegt weiterhin die Mei-
Shift“. Damit folgt auf die „Macht der Sprache“ nung, nach Stalins Tod hätten die meisten Partei-
die „Macht der Handlung“: Solange eine Person führer ihr Gewissen entdeckt; Terror und Gewalt
zur Parade am 1. Mai ging, unterstützte sie durch hätten nicht mehr ihrem Bild von einem moder-
diese Handlung das System, ganz gleich, was sie nen Sowjetstaat entsprochen.05
dazu sagte oder dachte. Auch sind wirtschaftsge- Geht es bei Chru­sch­tschow darum, ihn der
schichtliche Ansätze zurückgekehrt, die lange ein Exotisierung zu entreißen, steht bei Breschnew
Schattendasein gefristet haben. Schließlich finden im Vordergrund, das Etikett „Stalinist“ zu entfer-

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APuZ 16/2021

nen. Tatsächlich war Breschnew genauso wenig ihr Leben schwappende Kriminalität genauso wie
ein Stalin-Anhänger wie sein Vorgänger Chru­ den Lagerjargon, der sich als subversiver Jugend­
sch­tschow, hielt es aber nach den zwei Putschver- slang ausbreitete.08 Daher fiel auch 1962 die Reak-
suchen gegen Chru­sch­tschow für angeraten, den tion vieler Leser*­innen von Alexander Solscheni-
Stalinisten entgegen zu kommen. Weder war er zyns „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“
die treibende Kraft beim Einmarsch in Prag 1968 so empört aus, weil sie die derbe, vulgäre Sprache
noch bei jenem in Afghanistan12345 1979.06 Dabei geht als Angriff auf die Hochkultur begriffen. Dobson
es nicht um reine Persönlichkeitsprofile, sondern hat damit alle Totalitarist*­ innen widerlegt, die
um die Parteinetzwerke und darum, wie die „Pa- immer implizierten, der Tod des Tyrannen ma-
trone“ die Loyalität ihrer „Klienten“ belohnten che aus allen Untertanen automatisch aufgeklär-
oder bestraften: Stalin verhaftete, Chru­sch­tschow te Subjekte. Während es auf der einen Seite star-
entließ, Breschnew lobte Widersacher weg.07 ke Beharrungskräfte gab, gerade auch mit Blick
auf Familien- und Moralvorstellungen,09 entwi-
HARDLINER ckelten sich auf der anderen Seite die stiljagi, die
UND HIPPIES sich bunt, wild und unangepasst kleideten und
gebärdeten, oder auch Hippies.10 Die Antwort
Nicht nur die Parteiführer, auch die Sowjetmen- waren Nachbarschaftswehren und -gerichte, die
schen werden dem Schwarz-Weiß-Denken des von Staat und Partei weniger oktroyiert wurden,
Kalten Krieges entrissen. Weder waren alle Par- als den Anliegen der verunsicherten Sowjetmen-
teigranden Stalinist*­innen, noch bestand die Be- schen entsprachen. Wie sehr die Entstalinisierung
völkerung nur aus Befürworter*­innen des Tau- eine Erschütterung alter Normen und Richtwerte
wetters. Sehr beeindruckend hat Miriam Dobson und der Kampf um Sagbarkeitsregime war, zeigen
gezeigt, dass die Gesellschaft weder bereit war, auch zahlreiche andere Werke.11
die amnestierten Gulag-Häftlinge als Nachbar*­ Uneinigkeit herrscht angesichts der Frage, ob
innen und Arbeitskolleg*­innen zu akzeptieren, die Dissident*­ innen „Sowjetmenschen“ waren
noch die damit einhergehende Umwertung der oder die direkten Nachfahren der vorrevolutio-
Geschichte. Sie fürchteten die aus den Lagern in nären Intelligenz. Auch wenn ihr Ursprung in der
Chru­sch­tschow-Zeit zu finden ist,12 traten sie erst
01 Vgl. William Taubman, Khrushchev. The Man and His Era,
New York 2003. 08 Vgl. Miriam Dobson, Khrushchev’s Cold Summer. Gulag
02 Vgl. Peter Carlson, K Blows Top. A Cold War Comic Returnees, Crime, and the Fate of Reform after Stalin, Ithaca
Interlude Starring Nikita Khrushchev, America’s Most Unlikely 2009. Siehe auch Grybkauskas (Anm. 7).
Tourist, New York 2009; Jurij Jakovlevič Gerčuk, Krovoizlijanie v 09 Vgl. Deborah A. Field, Private Life and Communist Morality
MOSCH, ili Chruščev v Maneže. 1 dekabrja 1962 goda (Očerki in Khrushchev’s Russia, New York 2007; dies., Everyday Life and
vizual'nosti), Moskau 2008. the Problem of Conceptualizing Public and Private During the
03 Vgl. Roj Aleksandrovič Medvedev, Vom XX. zum XXII. Par- Khrushchev Era, in: Choi Chatterjee et al. (Hrsg.), Everyday Life
teitag der KPdSU. Ein kurzer historischer Überblick, in: Reinhard in Russia. Past and Present, Indiana 2015, S. 163–180.
Crusius/Roj Aleksandrovič Medvedev (Hrsg.), Entstalinisierung. 10 Vgl. Juliane Fürst, Stalin’s Last Generation. Soviet Post-
Der XX. Parteitag der KPdSU und seine Folgen, Frank­furt/M. War Youth and the Emergence of Mature Socialism, Oxford
1977, S. 23–49, hier S. 32. 2010; dies., Flowers Through Concrete. Explorations in Soviet
04 Vgl. Stephan Merl, Berija und Chruscev: Entstalinisierung Hippieland, Oxford 2020; dies./Josie McLellan (Hrsg.), Dropping
oder Systemerhalt? Zum Grunddilemma so­wje­tischer Politik nach Out of Socialism. The Creation of Alternative Spheres in the
Stalins Tod, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 2001, Soviet Bloc, Lanham u. a. 2017; Brian LaPierre, Hooligans in
S. 484–506, hier S. 494; Rudol'f G. Pichoja, Sovetskij Sojuz. Khrushchev’s Russia. Defining, Policing, and Producing Deviance
Istorija vlasti. 1945–1991, Moskva 1998, S. 103 ff. During the Thaw, Madison 2012.
05 Vgl. Amir Weiner, The Empires Pay a Visit. Gulag Returnees, 11 Vgl. Stephen V. Bittner, The Many Lives of Khrushchev’s
East European Rebellions, and Soviet Frontier Politics, in: Journal Thaw. Experience and Memory in Moscow’s Arbat, Ithaca 2008;
of Modern History 2/2006, S. 333–376. Denis Kozlov, The Readers of Novyi Mir. Coming to Terms with
06 Vgl. Susanne Schattenberg, Leonid Breschnew. Staatsmann the Stalinist Past, Cambridge 2013; Polly Jones, Myth, Memory,
und Schauspieler im Schatten Stalins. Eine Biographie, Köln– Trauma. Rethinking the Stalinist Past in the Soviet Union,
Weimar–Wien 2017. 1953–70, New Haven 2013; Polly Jones, Revolution Rekindled.
07 Vgl. Yoram Gorlizki/​O. V. Chlevnjuk, Substate Dictatorship. The Writers and Readers of Late Soviet Biography, Oxford–
Networks, Loyalty, and Institutional Change in the Soviet Union, New York 2019.
New Haven–London 2020; Saulius Grybkauskas, Governing the 12 Vgl. Benjamin Tromly, Making the Soviet Intelligentsia.
Soviet Union’s National Republics. The Second Secretaries of the Universities and Intellectual Life Under Stalin and Khrushchev,
Communist Party, Abingdon–New York 2021. Cambridge 2014.

26
Sowjetunion APuZ

unter Breschnew in Erscheinung, als sie die nach aus Kalkül geschah, um die Bevölkerung mit ei-
1953 erlangten Freiheiten verteidigten und gegen nem „kleinen Deal“ – Konsum gegen Loyalität –
die Verhaftung Andersdenkender aufbegehrten. ruhig zu stellen, oder weil für beide die Linderung
Während die einen sie sehr pathetisch als letzte der Not eine Herzensangelegenheit war.18 Bei-
Erb*­innen und Träger*­innen einer untergegange- de erhöhten die Rente und den Mindestlohn und
nen Kultur beschreiben,13 zeigen die anderen, dass sorgten dafür, dass der Staat die Landarbeiter*­
auch die „Petent*­innen“, wie sie sich selbst be- innen erstmals nicht nur in Naturalien bezahlte.19
zeichneten, Teil der so­ wje­
tischen Kultur waren Auch der Medienkonsum, das Fernsehen, dessen
und sich des so­wje­tischen Jargons bedienten, um Bedeutung lange Zeit von den Parteiführern nicht
ihre Anliegen vorzutragen. Sie argumentierten im, begriffen wurde, die endlos, ohne aufzuschauen,
nicht außerhalb des Systems.14 Wie Jelena Bonner live Reden verlasen, Rundfunk und der Bezug von
über ihren Mann Andrei Sacharow gesagt haben Rock’n’Roll-Musik aus dem Westen sind in den
soll: „Mein Mann ist Physiker – nicht Dissident.“15 Fokus von Historiker*­innen gerückt.20
Mit der Frage „Dissident*in oder Kon­ su­
MEINE WOHNUNG, ment*in?“ wird immer auch die Generationenfra-
MEIN AUTO ge verhandelt: Die Andersdenkenden waren die
Kinder der Erbauer*­ innen der UdSSR, meist in
Chru­sch­tschow und Breschnew erklärten die An- den 1930er Jahren geboren, und damit die zweite
hebung des extrem niedrigen Lebensniveaus zur so­wje­tische Generation. Sie brachten um 1950 die
ersten Aufgabe des Staates beziehungsweise zur „Sputnik-Generation“ oder „Babyboomer“ zur
Generallinie der Partei. Es war ein flächendecken- Welt, die als eher „unpolitisch“ gelten; sie küm-
des Armutsbekämpfungsprogramm. Darüber hi- merten sich hauptsächlich um eine gute Ausbil-
naus versprach Chru­sch­tschow allen Sowjetmen- dung und ihre Karriere.21 Ihre Kinder, die vierte
schen eine eigene Plattenbauwohnung,16 Breschnew Generation, zählen als „zynische Konformisten“
ein Auto, um daran zu schrauben, auf die Datsche oder „Konsumgeneration“, die sich weder um den
zu fahren und Defizitprodukten hinterherzuja- Kommunismus noch dessen Reform noch eine gute
gen.17 Auch hier lässt sich darüber streiten, ob dies Ausbildung scherten, sondern sich ganz materiel-
len Werten verschrieben hatten; das Parteinarrativ
und die Festtagsrituale waren für sie nur noch lee-
13 Vgl. Vladislav Martinovič Zubok, Zhivago’s Children. The Last
Russian Intelligentsia, Cambridge, MA 2011; Jay Bergman, Meeting
re Hülsen.22
the Demands of Reason. The Life and Thought of Andrei Sakharov,
Ithaca 2009; ders., Soviet Dissidents on the Russian Intelligentsia,
1956–1985. The Search for a Usable Past, in: The Russian Review 18 Vgl. James Millar, The Little Deal. Brezhnev’s Contribution to
1992, S. 16–35; Howard L. Bidulph, Soviet Intellectual Dissent Acquisitive Socialism, in: Terry L. Tompson/Richard Sheldon (Hrsg.),
as a Political Counter-Culture, in: Alexander Dallin (Hrsg.), The Soviet Society and Culture. Essays in Honor of Vera S. Dunham,
Krushchev and Brezhnev Years, New York 1992, S. 158–169. Boulder 1988, S. 3–19; Natalya Chernyshova, Soviet Consumer
14 Vgl. Serguei Oushakine, The Terrifying Mimicry of Samizdat, Culture in the Brezhnev Era, Hoboken 2013; Boris Belge/Martin
in: Public Culture 2/2001, S. 191–214; Benjamin Nathans, The Deuerlein, Goldenes Zeitalter der Stagnation? Perspektiven auf die
Dictatorship of Reason. Aleksandr Vol’pin and the Ideas of Rights so­wje­tische Ordnung der Breznev-Ära, Tübingen 2014.
Under „Developed“ Socialism“, in: Slavic Review 4/2007, S. 630– 19 Vgl. Galina Ivanova et al., Entstalinisierung als Wohlfahrt.
663; Ann Komaromi, Samizdat and Soviet Dissident Publics, in: Sozialpolitik in der So­wjet­union 1953–1970, Frankfurt/M.–New
Slavic Review 1/2012, S. 70–90; Friederike Kind-Kovács/Jessie York 2015; Lukas Mücke, Die allgemeine Altersrentenversorgung
Labov (Hrsg.), Samizdat, Tamizdat, and Beyond. Transnational in der UdSSR, 1956–1972, Stuttgart 2013.
Media During and After Socialism, New York–Oxford 2013. 20 Vgl. Sergej Ivanovič Žuk, Rock and Roll in the Rocket City.
15 Zit. nach Benjamin Nathans, When Did Your Eyes Open?, The West, Identity, and Ideology in Soviet Dniepropetrovsk,
in: London Review of Books 9/2010, S. 25 f. 1960–1985, Washington, D. C.–Baltimore 2010; Kristin Roth-Ey,
16 Vgl. Christine Varga-Harris, Stories of House and Home. Moscow Prime Time. How the Soviet Union Built the Media Empire
Soviet Apartment Life During the Khrushchev Years, Ithaca 2015. That Lost the Cultural Cold War, Ithaca–London 2014; Christine
17 Vgl. Lewis H. Siegelbaum, Cars for Comrades. The Life Elaine Evans, Between Truth and Time. A History of Soviet Central
of the Soviet Automobile, Ithaca 2008; Sergej Vladimirovič Television, New Haven 2016; Kirsten Bönker, Television Beyond
Žuravlev, Avtovaz meždu prošlym i buduščim. Istorija Volžskogo and Across the Iron Curtain, Newcastle-upon-Tyne 2016.
avtomobil’nogo zavoda, 1966–2005, Moskau 2006; Esther 21 Vgl. Donald J. Raleigh (Hrsg.), Russia’s Sputnik Generation.
Meier, Breschnews Boomtown. Alltag und Mobilisierung in der Soviet Baby Boomers Talk About Their Lives, Bloomington–​
Stadt der LKWs, Paderborn 2016; Natalʹja B. Lebina, Passažiry Indianapolis 2006.
kolbasnogo poezda. Etjudy i kartine byta rossijskogo goroda 22 Vgl. Alexei Yurchak, Everything Was Forever, Until It Was
1917–1991, Moskau 2019. No More. The Last Soviet Generation, Princeton 2005.

27
APuZ 16/2021

Noch in den Anfängen steckt dagegen die schichte sei schuld daran, dass Historiker*­innen
Forschung über Bäuer*­ innen, über deren All- die Wirtschaftsgeschichte aus dem Blick verloren
tag und Lebensrealität nach 1953 wenig bekannt hätten,28 sehen andere eher eine Chance, beides zu
ist.23 Erstaunlich ist auch, wie wenig bislang zu fusionieren und eine Geschichte zu schreiben, die
Chru­sch­tschows Neulandkampagne publiziert weniger Zahlen und Statistiken als vielmehr Wirt-
wurde, mit der ab 1954 vor allem in Kasachstan schaftsweisen und menschliches Handeln in den
unter entsprechender propagandistischer Beglei- Vordergrund stellt. Bahnbrechend war die The-
tung ödes Land in ertragreiche Ackerflächen ver- se von Oscar Sanchez-Sibony zur „roten Globa-
wandelt wurden.24 Nahezu unerforscht ist, dass lisierung“, nach der die UdSSR immer, auch un-
Bäuer*­innen bis 1974 kein Anrecht auf einen In- ter Stalin, den Handel mit dem Westen gesucht
landspass hatten und damit offiziell ihre Dörfer habe und die Märkte immer verflochten waren.29
nicht verlassen durften. Wie Breschnew es for- In diesem Sinne sind zahlreiche Studien zu den
mulierte: „Der Sozialismus ist im Dorf noch nicht Verhandlungen rund um den Export von „ro-
angekommen.“25 tem“ Gas und Öl entstanden.30 Sehr aufschluss-
reich ist auch eine Arbeit zu Moskaus „kapitalis-
NEUE tischen Bänkern“, die im Westen lebten, um dort
WIRTSCHAFTSGESCHICHTE das Geld für die Handelsgeschäfte zu besorgen.31
Noch gibt es keine erschöpfende Studie zur
Die UdSSR basierte auf einer technischen Utopie staatlichen Planungsbehörde Gosplan, die nicht
und kollabierte am Ende zusammen mit ihr. Zwar nur für die Fünfjahrespläne, sondern auch für
ebbte die Ära der Großbaustellen mit Stalins Tod die Ressourcenverteilung in der gesamten UdSSR
ab,26 aber zumindest Breschnew versuchte ein verantwortlich zeichnete. Ihr Anspruch war, auf
letztes Mal, mit dem Bau der Baikal-Amur-Ma- der Basis gesicherter Daten und Statistiken aus
gistrale an den – vermeintlichen – Enthusiasmus den Republiken und Regionen auf wissenschaft-
der 1930er Jahre anzuknüpfen.27 Auch wenn die licher Basis Produktions- und Wirtschaftsplä-
Zeit der Großprojekte in die Stalin-Ära fiel, be- ne auszuarbeiten, die sowohl realistisch als auch
ginnt die Wirtschaftsgeschichte gerade für die bedarfsgerecht waren. Dass die Realität ganz an-
1960er bis 1980er Jahre zu florieren. Während ders aussah, war kein Geheimnis: Daten und Sta-
Anna Krylova 2016 diagnostizierte, die Kulturge- tistiken wurden gefälscht, Ressourcen wurden oft
nur auf dem Papier, nicht aber in der Praxis zuge-
23 Vgl. Stéphane A. Dudoignon/Christian Noack (Hrsg.), teilt, weshalb sich die Verantwortlichen das Be-
Allah’s Kolkhozes. Migration, De-Stalinisation, Privatisation and nötigte über ihre eigenen Netzwerke beschafften;
the New Muslim Congregations in the Soviet Realm (1950s – der Bedarf der Bevölkerung stand schließlich auf
2000s), Berlin 2014; Katja Bruisch/Nikolaus Katzer, Reconciling
einem ganz anderen Blatt. Und so ist die Behörde
Failure and Success. Soviet Elites and the Collectivized Village,
Stuttgart 2017; Aaron Hale-Dorrell, Corn Crusade. Khrushchev’s
Gosplan nicht nur eine Superbehörde, die kaum
Farming Revolution in the Post-Stalin Soviet Union, New York zu fassen ist; es besteht auch die Gefahr, beim
2019. Erforschen ihrer Institutionen die viel wesentli-
24 Vgl. Michaela Pohl, From White Grave to Tselinograd to cheren Netzwerke und Praktiken zu übersehen.
Astana. The Virgin Lands Opening, Khrushchev’s Forgotten
Diese Geschichte bleibt also vorerst ein Deside-
First Reform, in: Denis Kozlov/Eleonory Gilburd (Hrsg.), The
Thaw. Soviet Society and Culture During the 1950s and 1960s,
rat. Dass Wirtschaften in der UdSSR weder „wis-
Toronto 2014, S. 269–307; Michaela Pohl, Women and Girls in
the Virgin Lands, in: Melanie Ilič/Susan Emily Reid/Lynne Att- 28 Vgl. Anna Krylova, Introduction. The Economic Turn and
wood (Hrsg.), Women in the Khrushchev Era, Houndmills 2005, Modern Russian History, in: The Soviet and Post-Soviet Review
S. 52–74. 2016, S. 265–270.
25 Zit. nach Schattenberg (Anm. 6), S. 358. 29 Vgl. Oscar Sanchez-Sibony, Red Globalization. The Political
26 Vgl. Klaus Gestwa, Die Stalinschen Großbauten des Economy of the Soviet Cold War from Stalin to Khrushchev,
Kommunismus. So­wje­tische Technik- und Umweltgeschichte, Cambridge 2014.
1948–1967, München 2010; Julia Obertreis, Imperial De- 30 Vgl. Per Högselius, Red Gas. Russia and the Origins of Eu-
sert Dreams. Cotton Growing and Irrigation in Central Asia, ropean Energy Dependence, Basingstoke 2013; Jeronim Perović
1860–1991, Göttingen 2017. (Hrsg.), Cold War Energy. A Transnational History of Soviet Oil
27 Vgl. Christopher J. Ward, Brezhnev’s Folly. The Building and Gas, Cham 2017.
of BAM and Late Soviet Socialism, Pittsburgh 2009; Johannes 31 Vgl. Sophie Lambroschini, The USSR’s Capitalist Bankers.
Grützmacher, Die Baikal-Amur-Magistrale. Vom stalinistischen From Financial Cold Warriors to Russian State Bankers. The
Lager zum Mobilisierungsprojekt unter Brežnev, München 2012. Genealogy of a Managerial Elite, Nanterre 2018.

28
Sowjetunion APuZ

senschaftlich“ noch nach Plan lief noch bedarfs- gestellt hat, war die Anziehungskraft, die die
gerecht war, zeigt beispielsweise eine Studie von UdSSR vor dem Krieg auf den Westen ausge-
Alexandra Oberländer, wonach die Währungs- übt hatte, verflogen. Um dem Westen zu bewei-
reform 1961 dazu führte, dass in vielen Regio- sen, dass sie immer noch ein unterstützenswertes
nen der Rubel durch Hühnereier abgelöst wurde Projekt war, bedurfte es lebender Beispiele – der
– die Läden akzeptierten als Zahlungsmittel nur „Bürger*­innen-Diplomatie“.36 Das begann mit
noch Eier.32 dem Import von Filmen, Romanen und Träu-
men,37 setzte sich mit tatsächlichen Reisen ins In-
JENSEITS und Ausland fort,38 fand einen Höhepunkt mit
VON MOSKAU dem Weltjugendtag in Moskau 1957, als erstmals
auch kapitalistische junge Menschen eingela-
Es war und ist ein Problem der Historiografie, dass den waren, die So­wjet­union zu bestaunen,39 und
sie sich stark auf die beiden Metropolen – neben mündete in mehreren Organisationen, die im Sin-
Moskau St. Petersburg –, kaum aber auf die Repu- ne des unter Chru­sch­tschow neu entdeckten „In-
bliken konzentriert. Während sich das für die Zeit ternationalismus“ dem Austausch mit dem Aus-
des Stalinismus wesentlich gewandelt hat, ändert es land und dabei natürlich der Propagierung des
sich für die Zeit nach 1953 erst langsam. Aber gera- so­wje­
tischen Fortschritts dienen sollten.40 Als
de in den vergangenen Jahren konzentriert sich die Mittler zwischen den Welten fungierten schließ-
Forschung darauf, was Entstalinisierung und Sowje- lich auch die in Moskau akkreditierten Auslands-
tisierung für die zentralasiatischen Republiken oder korrespondenten.41
im Kaukasus bedeutete und wie „Sozialismus“ teil-
weise sehr erfolgreich in nationale Kategorien über- KALTER KRIEG
setzt wurde.33 Dabei gerät auch das interethnische
Zusammenleben in den Vordergrund: sei es der zen- Die Forschung zum Kalten Krieg ist und bleibt
tralasiatischen Arbeitsmigrant*­innen, die ihr Glück zentral.42 Eine jüngere Erscheinung ist aber, dass
in den beiden Metropolen suchten, aber sich dort
als Menschen zweiter Klasse wiederfanden,34 seien 36 Vgl. Rósa Magnúsdóttir, Enemy Number One. The United
es inter­ethnische Ehen, die der Staat als Idealbild der States of America in Soviet Ideology and Propaganda,
1945–1959, New York 2019, S. 13.
Völkerfreundschaft propagierte, aber in der Praxis
37 Vgl. Eleonory Gilburd, To See Paris and Die. The Soviet
tief verwurzelte Vorurteile über ethnische Eigen- Lives of Western Culture, Cambridge, MA 2018.
schaften und Zugehörigkeiten offenbarten.35 38 Vgl. Anne E. Gorsuch/Diane Koenker (Hrsg.), Turizm. The
Daneben geraten auch die transnationalen Be- Russian and East European Tourist Under Capitalism and Socia-
ziehungen der Sowjetmenschen ins Visier. Dies lism, Ithaca 2006.
39 Vgl. Pia Koivunen, The 1957 Moscow Youth Festival.
ist der Einsicht geschuldet, dass die UdSSR nach
Propagating a New, Peaceful Image of the Soviet Union, in:
Stalin keineswegs so abgeschottet lebte, wie der Soviet State and Society Under Nikita Khrushchev, London 2011,
Westen oft glaubte. Wie Rosa Magnusdottir fest- S. 46–65; Margaret Peacock, The Perils of Building Cold War
Consensus at the 1957 Moscow World Festival of Youth and
Students, in: Cold War History 3/2012, S. 515–536.
32 Vgl. Alexandra Oberländer, Hatching Money. The Political 40 Vgl. Anne E. Gorsuch/Diane Koenker (Hrsg.), The Socialist
Economy of Eggs in the 1960s, in: Cahiers du Monde russe Sixties. Crossing Borders in the Second World, Bloomington
1–2/2020, S. 231–256. 2013; Tobias Rupprecht, Soviet Internationalism After Stalin.
33 Vgl. Maike Lehmann, Eine so­wje­tische Nation. Nationale Interaction and Exchange Between the USSR and Latin America
Sozialismusinterpretationen in Armenien seit 1945, Frank­furt/M. During the Cold War, Cambridge 2015; Christine Varga-Harris,
2012; Moritz Florin, Kirgistan und die so­wje­tische Moderne. Between National Tradition and Western Modernization. Soviet
1941–1991, Göttingen 2014; Adrienne Lynn Edgar, Nation- Woman and Representations of Socialist Gender Equality as
Making and National Conflict Under Communism, in: Stephen a „Third Way“ for Developing Countries, 1956–1964, in: Slavic
Anthony Smith (Hrsg.), The Oxford Handbook of the History of Review 3/2019, S. 758–781.
Communism, New York 2014, S. 522–538; Artemy Kalinovsky, 41 Vgl. Julia Metger, Studio Moskau. Westdeutsche Korres-
Laboratory of Socialist Development. Cold War Politics and pondenten im Kalten Krieg, Paderborn 2016; Melissa Feinberg,
Decolonization in Soviet Tajikistan, Ithaca 2018. Curtain of Lies. The Battle Over Truth in Stalinist Eastern Europe,
34 Vgl. Jeff Sahadeo, Voices from the Soviet Edge. Southern New York 2017.
Migrants in Leningrad and Moscow, Ithaca 2019. 42 Vgl. Bernd Stöver, Der Kalte Krieg. 1947–1991. Geschichte
35 Vgl. Adrienne Lynn Edgar/Benjamin Frommer (Hrsg.), Inter- eines radikalen Zeitalters, Bonn 2007; Artemy M. Kalinovsky/
marriage from Central Europe to Central Asia. Mixed Families in Craig Daigle (Hrsg.), The Routledge Handbook of the Cold War,
the Age of Extremes, Lincoln 2020. London 2014.

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APuZ 16/2021

er nicht mehr als rein politische Konfrontati- cen überstiegen.45 Aus diesen Beobachtungen
on und atomares Wettrüsten gilt, sondern als ein der „imperialen Überdehnung“ speist sich auch
Phänomen, das sich in sämtlichen gesellschaft- die fortwährende Debatte, ob die Abrüstungs-
lichen Sphären niederschlug. Die beiden poli- bemühungen Chru­sch­tschows 1955 bis 1959,
tischen Systeme wirkten wie zwei magnetische Breschnews 1969 bis 1975 und schließlich
Pole, zwischen denen sich jedes Teilchen unwill- Michail Gor­ba­tschows einem echten Wunsch
kürlich ausrichten musste. Die Primaballerina des nach Wandel entsprangen oder nur der wirt-
Bolschoi Theaters, die in New York Schwanensee schaftlichen Zwangslage geschuldet waren. 46
tanzte, leistete genauso ihren Beitrag zum Sys- Diese Frage lässt sich letztlich nur weltan-
temwettbewerb wie Jurij Gagarin, als er 1961 ins schaulich beantworten: So lange nicht Do-
All flog.43 Neben den Studien zu den einschlägi- kumente auftauchen, in denen das Politbüro
gen Krisen, Konflikten und Stellvertreterkrie- formuliert, dass es sich zu Abrüstungsbemü-
gen hat sich daher eine breite Forschung zu den hungen gezwungen sah, womit nicht zu rech-
kulturellen und gesellschaftlichen Auswirkun- nen ist, bleibt es eine philosophische Frage, ob
gen des Kalten Krieges sowie zu seinen Erschei- man den Motor der Geschichte in der Wirt-
nungsformen jenseits der industrialisierten Welt schaft oder im Weltbild eines Menschen lokali-
entwickelt. siert, oder nicht ohnehin beides Hand in Hand
Es gilt als gesichert, dass Chru­sch­tschow geht. Während sich die Politikwissenschaftler*­
von einem gewaltigen Minderwertigkeitskom- innen mit der Frage befass(t)en, „wer“ schuld
plex getrieben war und jede seiner außenpo- am Kalten Krieg war – die UdSSR wegen ihrer
litischen Handlungen auch darauf zielte, von aggressiven Ideologie (traditionell), die USA,
den USA als gleichberechtigte Supermacht an- weil sie mit der Bombe die UdSSR in die De-
erkannt zu werden. Breschnew hingegen war fensive trieben (revisionistisch), oder beide,
nach dem Einmarsch in Prag 1968 und der Ver- weil sie Fehlwahrnehmungen und Missver-
kündung der sogenannten Breschnew-Doktrin ständnissen unterlagen (postrevisionistisch)
vom Westen als starker, ebenbürtiger Partner –, fragen Historiker*­innen gewöhnlich lieber
akzeptiert. Beide aber unternahmen Anstren- danach, „wie“ etwas kam. Dabei werden zu-
gungen, ihren Weltmachtstatus dadurch zu nehmend nicht nur kulturelle und diskursive
unterstreichen, dass sie möglichst viele „Ent- Unterschiede als „harte Fakten“ eingestuft,47
wicklungsländer“ beziehungsweise Staaten sondern auch Emotionen und Gefühlslagen als
im Globalen Süden zu ihren Partnern mach- entscheidungsrelevant analysiert.48 Die Biogra-
ten und diese mit ihrer Erfolgsstory vom Ag- fen von Chru­sch­tschow, Breschnew und Gor­
rar- zum Industriestaat einerseits sowie mit ba­tschow sind sich darin einig: Es war nicht die
Wirtschaftshilfen und Waffen andererseits um- Wirtschaft, sondern der Wunsch, die Welt zu
warben.44 Dabei hat die Forschung der ver- verändern, der ihre Protagonisten a­ ntrieb.
gangenen Jahre gezeigt, dass trotz des asym-
metrischen Machtverhältnisses Moskau eher 45 Vgl. Ragna Boden, Die Grenzen der Weltmacht. So­wje­tische
der Schwächere war: Der Drang, sich selbst als Indonesienpolitik von Stalin bis Brežnev, Stuttgart 2006; David C.
Engerman, The Second World’s Third World, in: Kritika. Explora-
den USA ebenbürtige Supermacht zu profilie-
tions in Russian and Eurasian History 1/2011, S. 183–211; Lorenz
ren war so groß, dass sich Chru­sch­tschow und Lüthi, Cold Wars. Asia, the Middle East, Europe, Cambridge 2020.
Breschnew regelrecht erpressen und zu Leis- 46 Vgl. Vladislav Martinovič Zubok, A Failed Empire. The
tungen verpflichten ließen, die ihre Ressour- Soviet Union in the Cold War from Stalin to Gorbachev, Chapel
Hill 2007.
47 Vgl. Susanne Schattenberg, Diplomatie als interkultu-
43 Vgl. David Caute, The Dancer Defects. The Struggle for Cul- relle Kommunikation, in: Zeithistorische Forschungen 3/2011,
tural Supremacy During the Cold War, Oxford 2008; Andrew L. S. 457–462.
Jenks, The Cosmonaut Who Couldn’t Stop Smiling. The Life and 48 Vgl. Frank Costigliola, Reading for Emotion, in: ders./
Legend of Yuri Gagarin, DeKalb 2012. Michael J. Hogan (Hrsg.), Explaining the History of American
44 Vgl. Andreas Hilger (Hrsg.), Die So­wjet­union und die Dritte Foreign Relations, New York 2016, S. 356–373; Donald J.
Welt. UdSSR, Staatssozialismus und Antikolonialismus im Kalten Raleigh, „I Speak Frankly Because You Are My Friend“. Leonid
Krieg, 1945–1991, München 2009; ders., So­wje­tisch-indische Ilich Brezhnev’s Personal Relationship with Richard M. Nixon, in:
Beziehungen 1941–1966. Imperiale Agenda und nationale The Soviet and Post-Soviet Review 2018, S. 1–32; Barbara Keys,
Identität in der Ära von Dekolonisierung und Kaltem Krieg, Henry Kissinger. The Emotional Statesman. Bernath Lecture, in:
Göttingen 2018. Diplomatic History 4/2011, S. 587–609.

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Sowjetunion APuZ

KATASTROPHEN im Zeichen von Glasnost andererseits.52 Dennoch


UND KRISE wirkten beide Katastrophen lediglich als Brand-
beschleuniger, keineswegs als Ursachen für das
Mit der Umweltgeschichte hat sich auch die Ka- Ende der UdSSR.
tastrophengeschichte etabliert.49 Es waren zwei Die Frage, warum die UdSSR zusammen-
Katastrophen, die zwar unabhängig von Peres- brach, ist, wie angedeutet, inzwischen vor der
troika und Glasnost stattfanden, aber erst in ihrer erstaunlichen Funktionsfähigkeit verblasst
diesem Rahmen ihre Sprengkraft entwickelten: und damit der Streit „Krise oder Selbstmord“ in
Die Reaktor-Katastrophe von Tschernobyl im den Hintergrund gerückt. Nach der ersten An-
April 1986 zerstörte die technische Utopie von sicht hatte sich die UdSSR delegitimiert: Der
der Beherrschbarkeit der Elemente, das Erdbe- Marxismus-Leninismus war zu einer Kulisse
ben in Armenien 1988 die Illusion vom Wohl- verkommen;53 wirtschaftlich konnte sie mit den
fahrtsstaat. Auch wenn Kate Brown in ihrem sa- USA nicht Schritt halten, der Rüstungswettlauf
genhaften Buch zeigen kann, dass, gemessen an hatte sie an den Rand des Ruins gebracht, und die
westlichen Staaten, die UdSSR große Anstren- aufflammenden Nationalitätenkonflikte taten ein
gungen unternahm, um ihre Bevölkerung zu ret- Übriges, um dem maroden Koloss den Todesstoß
ten, und der Versuch, das Ausmaß der Katastro- zu versetzen.54 Danach war der Zerfall des Viel-
phe zu verschleiern, keineswegs so­ wje­
tischer völkerreichs eine „nachholende Entwicklung“,
Geheimniskrämerei entsprang, sondern im In- die die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“
teresse der weltweit agierenden Atomlobby ge- beendete.55 Zuweilen wird auch ein makrohistori-
schah,50 sprengte die Explosion nicht nur das Re- scher Rahmen bemüht und die Geschichte Russ-
aktordach, sondern auch Teile des Fundaments lands in drei Modernisierungszyklen gepresst:
der UdSSR weg.51 Auch5234678 das verheerende Erdbe- Von Peter I. bis 1856 habe Russland militärisch
ben in Armenien im Dezember 1988 entwickelte aufgeholt, bis 1970 industriell, elektronisch habe
seine politische Sprengkraft erst durch den bereits es dann versagt.56 Dem widersprechen so promi-
offen ausgebrochenen Konflikt um Bergkarabach nente Experten wie der Gor­ba­tschow-Spezialist
einerseits und die neue Medienberichterstattung Archie Brown und Stephen Kotkin.57 Beide ver-
treten pointiert die „Selbstmord-These“ und be-
streiten die Krise: Die Wirtschaft lief schlecht,
49 Vgl. Nigel Raab, All Shook Up. The Shifting Soviet Response
to Catastrophes, 1917–1991, Montreal u. a. 2017; Marc Elie/
aber sie lief, der „militärisch-industrielle Kom-
Klaus Gestwa, Zwischen Risikogesellschaft und Katastrophenkul- plex“ verschlang riesige Ressourcen, aber das traf
turen. Zur Einführung in die Katastrophengeschichte Osteuropas, auch auf die USA zu, und die Bevölkerung hatte
in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 2/2014, S. 161–179. sich in der So­wjet­union in bescheidenem Wohl-
50 Vgl. Kate Brown, Manual for Survival. A Chernobyl Guide
stand eingerichtet. Erst der neue Generalsekre-
to the Future, London 2019.
51 Vgl. Melanie Arndt, Tschernobylkinder. Die transnationale
tär habe so grundlegend an den Säulen des Regi-
Geschichte einer nuklearen Katastrophe, Göttingen 2020. mes gerüttelt, dass er den Zusammenbruch nolens
52 Vgl. Katja Doose, Tektonik der Perestroika. Das Erdbeben volens herbeiführte. „Der Leninismus beging
und die Neuordnung Armeniens, 1985–1998, Wien–Köln–​ Selbstmord, und nichts trat an seine Stelle“,58 so
Weimar 2019.
Kotkin. Die Historisierung der Perestroika-Zeit
53 Vgl. Gerhard Simon, Das Ende der So­wjet­union. Ursachen
und Zusammenhänge, in: Zeitschrift für internationale Fragen
beginnt gerade erst und wird sicher nicht nur für
1/1996, S. 9–21, hier S. 14. ein komplexeres Bild dieser Jahre sorgen, sondern
54 Vgl. Manfred Hildermeier, Geschichte der So­wjet­union auch die Idee von historischen Zwangsläufigkei-
1917–1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialisti- ten weiter in den Hintergrund drängen.
schen Staates mit einem zusätzlichen Kapitel über das postso­
wje­tische Russland 1991–2016, München 20172.
55 Simon (Anm. 53), S. 9.
56 Vgl. Francis Fukuyama, The Modernizing Imperative. The
USSR as an Ordinary Country, in: The National Interest 1/1993,
S. 19–25. SUSANNE SCHATTENBERG
57 Vgl. Archie Brown, Seven Years that Changed the World.
ist Direktorin der Forschungsstelle Osteuropa und
Perestroika in Perspective, Oxford–New York 2007; Stephen
Kotkin, Armageddon Averted. The Soviet Collapse, 1970–2000,
Professorin für Zeitgeschichte und Kultur Osteuro-
Oxford u. a. 2008. pas an der Universität Bremen.
58 Ebd., S. 188. schattenberg@uni-bremen.de

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„WEHE DEM LAND DER VERBRECHER!“


Die Sowjetunion im Kampf gegen Hitler-Deutschland
Jochen Hellbeck

Im August 1944, als so­wje­tische Truppen auf die würde die Soldaten der Roten Armee zum Sieg
deutsche Ostgrenze vorrückten, veröffentlich- führen und den Weg zur Vergeltung bahnen. Die-
te die Zeitung der Roten Armee einen Artikel se Überzeugung durchzog alles, was Ehrenburg
von Ilja Ehrenburg, dem tonangebenden so­wje­ seit den ersten Tagen der deutschen Invasion ge-
tischen Autor der Kriegsjahre. Darin erinnerte schrieben hatte. Sein Artikel vom August 1944
Ehrenburg seine Leser an den höheren Sinn des war ein Ausschnitt aus einer jahrelangen Infor-
Krieges, den sie führten: „Unser Marsch nach mations-, Agitations- und Aufklärungskampagne
Deutschland folgt auf drei finstere Jahre, folgt über den deutschen Krieg im Osten, der auf der
auf die Ukraine, Weißrussland, die Asche unserer völligen Missachtung der moralischen Grundsät-
Städte, das Blut unserer Kinder. Wehe dem Land ze des Humanismus beruhte.
der Mörder! An der deutschen Grenze stehen Millionen Menschen wurden Augenzeugen
nicht nur unsere Truppen. Die Schatten der Op- deutscher Gräueltaten auf so­wje­tischem Boden
fer stehen dort. Wer pocht an Preußens Tore? Die oder erfuhren von ihnen – aus Ehrenburgs Ar-
Toten, Ermordeten, im Gas Erstickten, im Feu- tikeln, politischen Seminaren in der Roten Ar-
er Umgekommenen, die Alten von Trostinez, die mee oder Briefen von Familienangehörigen, die
Kinder von Babi Jar, die Märtyrer von Slawuta, die deutsche Besatzung erlebt hatten. So­ wje­
der Staub und die Asche aus den Öfen, in denen tische Kommentatoren verwiesen auf den Cha-
die Deutschen Millionen wehrloser Menschen rakter der deutschen Gewaltakte, um die eigenen
verbrannt haben. (…) Wohin ziehen diese Schat- Kriegsanstrengungen moralisch zu rechtfertigen:
ten? Nach Königsberg, nach Berlin. Und die Le- Die „so­ wje­
tische Menschheit“ war aufgerufen,
benden folgen den Toten. Nichts hält uns jetzt die „faschistische Barbarei“ um jeden Preis zu be-
noch auf: Kummer und Zorn rauben uns den kämpfen. Dieses – mit detaillierten Informationen
Schlaf. Wehe dem Land der Verbrecher! Wehe über deutsche Gewaltverbrechen unterfütterte –
Deutschland!“01 Narrativ trug entscheidend dazu bei, so­wje­tische
In Darstellungen des Zweiten Weltkrieges fi- Bürger zum Kampf gegen NS-Deutschland zu
guriert Ehrenburg oft als glühender Propagan- mobilisieren. Viele sahen dadurch auch das sta-
dist, dessen Aufrufe an die Soldaten der Roten linistische System entlastet, das selbst ein unge-
Armee, Deutsche zu töten, die exzessive Gewalt heures Ausmaß an politischer Gewalt zu verant-
des deutsch-so­ wje­
tischen Krieges anheizten.02 worten hatte.
Dabei sind andere wichtige Aspekte unbeachtet Das so­wje­tisch geprägte moralische Vokabu-
geblieben: Ehrenburgs Texte lieferten detaillierte lar des Antifaschismus beeinflusste während des
Informationen über die NS-Gräueltaten im Os- Krieges zunehmend auch im Westen die Einstel-
ten und vermittelten eine moralische Haltung, aus lung gegenüber NS-Deutschland. Weltweit kur-
der heraus seine Leser – Frontsoldaten wie zivile sierten Zeitungsberichte oder Filme, die das Leid
Arbeiter in der Kriegswirtschaft – den deutschen in der So­wjet­union dokumentierten und in der
Invasoren entgegentreten und sie besiegen soll- Bevölkerung eine Welle der Sympathie mit dem
ten. Die furchtbaren deutschen Morde auf so­wje­ Land auslösten. So konnte auch ein normativer
tischem Boden sollten nicht vergessen werden: Topos mit dezidiert kommunistischem Charak-
Ehrenburgs Leitartikel hielten die Erinnerung an ter – der leidenschaftliche Kampf gegen die Be-
sie im Gewissen der so­wje­tischen Überlebenden drohung der Menschheit durch die deutschen
wach. Die moralische Empörung über die Ge- Faschisten – im Westen Fuß fasste. Historiker
walttaten der deutschen Besatzer, so glaubte er, weisen darauf hin, dass die Anti-Hitler-Allianz

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Sowjetunion APuZ

von einem tiefen Gefühl der moralischen Überle- wjet­union, in dessen Verlauf die NS-Gewalt im
genheit gegenüber NS-Deutschland zusammen- Zweiten Weltkrieg völlig neue Dimensionen
gehalten wurde, was letztlich eine Voraussetzung und Formen annehmen sollte. Beim Einmarsch
für den Sieg der Alliierten 1945 war. Diese wich- in Polen wandten sich zumindest einige deut-
tige Erkenntnis wird jedoch durch die vorgefass- sche Heerführer gegen den SS-Terror, weil sie
te Überzeugung getrübt, die Moral sei im Westen sich an die Konventionen des Völkerrechts ge-
beheimatet gewesen und dort definiert12 worden.03 bunden sahen.05 Das „Unternehmen Barbaros-
Diese Sicht stelle ich infrage und skizziere, wie sa“ war hingegen von vornherein darauf ange-
so­wje­
tische Schriftsteller, Journalisten, Filme- legt, jeden einzelnen deutschen Soldaten zum
macher und viele weitere Zeugen deutscher Ge- bewussten Akteur des nationalsozialistischen
waltverbrechen eine aktivistische und universale Vernichtungskrieges zu machen. Dieser Feld-
Antwort auf den Nationalsozialismus formulier- zug unterschied sich in Hitlers Augen von allen
ten, die auch für westliche Beobachter einen mo- anderen, weil er gegen den Todfeind des Natio-
ralischen Maßstab setzte. Auch wenn Stalin nach nalsozialismus geführt wurde – den „jüdischen
dem Krieg universalen Idealen abschwor, ändert Bolschewismus“. Mit den im Frühjahr 1941 er-
das nichts an ihrer Bedeutung und Verbreitung lassenen Militärbefehlen wurde verfügt, dass eine
während der Kriegsjahre und der entscheiden- Armee von mehreren Millionen Wehrpflichtigen
den Rolle, die die So­wjet­union – materiell wie ihr Gewissen den Gesetzen der nationalsozia-
konzeptionell – beim Sieg über NS-Deutschland listischen Rassenideologie unterzuordnen hatte.
­innehatte.04 Um sich gegen den „kriminellen“, „grausamen“
und „barbarischen“ so­wje­tischen Feind zu be-
EINE NEUE DIMENSION haupten, wurden deutsche Soldaten angewiesen,
DER GEWALT über die Grundsätze der Menschlichkeit und des
Völkerrechts hinwegzugehen.06 Noch ein Jahr
Der Polenfeldzug mit seiner ungeheuren Zahl zuvor hatte Heinrich Himmler, Reichsführer SS,
an Todesopfern erwies sich im Nachhinein nur die Nationalsozialisten als „zivilisierte Europä-
als Auftakt zum deutschen Krieg gegen die So­ er“ hingestellt, die sich von den „Bolschewis-
ten“ grundlegend unterschieden. Als er Hitler
den Plan präsentierte, die polnischen Juden nach
01 Il’ja Ėrenburg, Gore im!, in: Krasnaja zvezda, 19. 8. 1944,
S. 4. (Maly) Trostinez war ein NS-Vernichtungslager bei Minsk.
Madagaskar zu deportieren, sagte er, das Vorha-
Slawuta ist eine Stadt in der Westukraine, deren große jüdische ben sei „grausam und tragisch“ für die Betroffe-
Gemeinde im Zweiten Weltkrieg von den Deutschen ausgelöscht nen, aber, „wenn man die bolschewistische Me-
wurde. Ehrenburg nannte bewusst Mordstätten aus verschie- thode der physischen Ausrottung eines Volkes
denen Unionsrepubliken, um zu betonen, dass die gesamte
aus innerer Überzeugung als ungermanisch und
Sowjetunion von dem Leid betroffen war und den Auftrag zum
Kampf erteilte.
unmöglich ablehnt, doch die mildeste und bes-
02 Siehe etwa Karel C. Berkhoff, Motherland in Danger: te Lösung“.07 Jetzt, angesichts der Konfrontati-
Soviet Propaganda During World War II, Cambridge, MA 2012, on mit Millionen angeblich mehr tierischer als
S. 182 ff.; Antony Beevor, The Fall of Berlin, New York 2002, menschlicher „Bolschewisten“, sollten die deut-
S. 25 ff.; Peter Jahn (Hrsg.), Ilja Ehrenburg und die Deutschen,
schen Soldaten selbst so grausam und skrupel-
Berlin 1997.
03 So schreibt etwa Richard Overy, die „moralische Koalition“
los vorgehen, wie die NS-Führung es dem Feind
der Alliierten habe „nur soweit funktionieren können, wie der ­zuschrieb.
Westen das dunkle Image seines [so­wje­tischen] Verbündeten Über die Anweisung hinaus, so­ wje­
tische
verdrängen oder zumindest aufhellen konnte“. Richard Overy, Kommissare abzusondern und zu exekutieren,
Why the Allies Won, New York 1995, S. 296.
hatten die Nationalsozialisten nur undeutliche
04 Vgl. zum deutsch-so­wje­tischen Krieg u. a. Wassili Gross-
man, Stalingrad, Berlin 2021 (i. E.) [1952]; Jochen Hellbeck, Die
Stalingrad-Protokolle. So­wje­tische Augenzeugen berichten aus 05 Vgl. Christopher Browning, The Origins of the Final Solu-
der Schlacht, Frank­furt/M. 2012; Wladimir Gelfand, Deutsch- tion, London 2004, S. 15 ff.
land-Tagebuch 1945–1946: Aufzeichnungen eines Rotarmisten, 06 Gerd Ueberschär/Wolfram Wette (Hrsg), „Unternehmen
Berlin 2008; Christian Hartmann, Unternehmen Barbarossa. Barbarossa“. Der deutsche Überfall auf die So­wjet­union, 1941:
Der deutsche Krieg im Osten, München 2013; Dieter Pohl, Die Berichte, Analysen, Dokumente, Frank­furt/M. 1991, S. 302 f.,
Herrschaft der Wehrmacht: Deutsche Militärbesatzung und S. 319 ff.
einheimische Bevölkerung in der So­wjet­union 1941–1944, Frank­ 07 Zit. nach Peter Longerich, Holocaust: The Nazi Persecution
furt/M. 2011. and Murder of the Jews, Oxford 2010, S. 162.

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APuZ 16/2021

Vorstellungen vom Wesen des jüdisch-bolsche- zu nehmen, führte sie die ersten tödlichen Expe-
wistischen Feindes. Sie wurden von den deut- rimente an so­wje­tischen Kriegsgefangenen durch.
schen Sondereinheiten auf breiter Front mör- Ende Januar 1942 waren fast 60 Prozent der bis
derisch in die Tat umgesetzt. Wenn die Soldaten dahin insgesamt 3,35 Millionen so­ wje­tischen
ein so­wje­tisches Haus betraten, stellten sie den Kriegsgefangenen umgekommen.10
verängstigten Bewohnern als erstes die Frage: Um deutsche Soldaten zu Akteuren des natio-
„Jude, Kommunist?“ Wer zu einer dieser Grup- nalsozialistischen Vernichtungskriegs zu machen,
pen gehörte, wurde abgeführt und hingerich- bedurfte es über die Barbarossa-Befehle vom
tet. Interne Berichte der Einsatzgruppen zeigen, Frühjahr 1941 hinaus der ständigen Indoktrinie-
dass beide Begriffe ineinander verschwammen: rung. Sie erfolgte über Operationsbefehle wie die
Die gleichen erschossenen Personen wurden Weisung, die Feldmarschall Walter von Reichen-
einmal als „Kommunisten“, dann wieder als „jü- au am 10. Oktober 1941 an die in der Ukraine sta-
dische Kommunisten“ oder „Juden und andere tionierten Soldaten der 6. Armee erließ. Reichen-
kommunistische Elemente“ eingestuft. Die weit au erinnerte die deutschen Soldaten „im Osten“
verbreitete Ansicht, Juden und Bolschewisten an ihren politischen Auftrag, „das deutsche Volk
seien austauschbar oder Juden seien zumindest von der asiatisch-jüdischen Gefahr ein für allemal
so hartnäckige Unterstützer des bolschewisti- zu befreien“. Sein Befehl forderte ausdrücklich
schen Systems, dass „grundsätzlich jeder Jude“ die Vernichtung von feindlichen männlichen Sol-
als Partisan gelten müsse (wie Himmler seinen daten, weiblichen Soldaten („entartete Weiber“)
Einsatztruppen in Białystok einschärfte), veran- und mutmaßlichen Partisanen als Täter von „art-
lasste die SS schließlich im August 1941, kom- fremder Heimtücke und Grausamkeit“.11
plette jüdische Siedlungen zu vernichten, ein-
schließlich der Frauen, Kinder und Alten.08 Die DOKUMENTATION
Massenmorde an so­wje­tischen Juden begannen DER GRÄUELTATEN
somit als Teil des ideologischen Kampfes, den
der Nationalsozialismus gegen die Repräsentan- Drei Monate, nachdem Reichenau diesen Befehl
ten des „jüdischen Bolschewismus“ führte – ei- erteilt hatte, präsentierte die „Prawda“ ihn ih-
nes Feindes, den die Nazis als primitiv und ter- ren Lesern und nannte ihn „so monströs und zy-
roristisch darstellten. nisch, dass alle Sowjetmenschen und die gesam-
Mit fast dem gleichen Vernichtungseifer, den te zivilisierte Welt davon wissen müssen“.12 Im
sie gegenüber Juden zeigten, töteten die Deut- Mai 1942 veröffentlichte die „Prawda“ Auszüge
schen auch so­ wje­tische Kriegsgefangene. Ihre aus Hermann Görings „Grüner Mappe“, einem
systematische Auslöschung war ein integraler politischen Richtlinienwerk, mit dem angeord-
Bestandteil der NS-Strategie gegenüber der So­ net wurde, die eroberte So­wjet­union unter allei-
wjet­union. Dabei spielte nicht nur das Motiv eine niger Rücksicht auf die Bedürfnisse NS-Deutsch-
Rolle, durch den Hungertod Millionen „unnüt- lands wirtschaftlich vollkommen auszubeuten.13
zer Esser“ loszuwerden. So­wje­tische Kriegsge- Schon im November 1941 hatte Stalin in einer
fangene galten (auch nach der bereits erfolgten Ansprache vor Moskauer Funktionären auf dem
Absonderung und Exekution der Kommissare) Schlachtfeld aufgefundene deutsche Militärbe-
weithin als „Bolschewisten“ – mit allen Konse- fehle zitiert, um das Wesen des „Hitlerismus“
quenzen, die diese Bezeichnung mit sich brachte.
Die deutschen Militärposten waren ausdrücklich
angewiesen, den Waffengebrauch an gefangenen 10 Vgl. Christian Streit, Keine Kameraden. Die Wehrmacht
und die so­wje­tischen Kriegsgefangenen 1941–1945, Bonn 1991;
Rotarmisten mit „besonderer Schärfe“ zu üben.9
Mark Mazower, Hitler’s Empire. How the Nazis Ruled Europe,
Als die SS daran ging, im KZ Sachsenhausen Gas- New York 2008, S. 160 ff.
wagen und in Auschwitz Gaskammern in Betrieb 11 Einige dieser Wehrmachtsbefehle sind dokumentiert in
Ueberschär/Wette (Anm. 6), S. 339 ff.
12 Pravda, 15. 1. 1942; dokumentiert in: Zverstva, grabeži
08 Vgl. Klaus-Michael Mallmann et al. (Hrsg.), Die „Ereignis- i nasilija nemecko-fašistskich zachvačikov, Leningrad 1942,
meldungen UdSSR“ 1941. Dokumente der Einsatzgruppen in der S. 112 ff. Deutsches Original: www.ns-​archiv.de/krieg/untermen-
So­wjet­union, Darmstadt 2011, Ereignismeldungen 19, 27, 32, 60, schen/reichenau-​befehl.php#​begleit.
108, 124; Longerich (Anm. 7), S. 198. 13 Pravda, 4./7. 5. 1942, dokumentiert in: Zverstva, grabeži
9 Ebd., S. 224. (Anm. 12), S. 115 ff.

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Sowjetunion APuZ

und „Faschismus“ zu charakterisieren (beide Be- rückgedrängt hatte, wurde das Bild des Grauens
griffe waren bei ihm gleichbedeutend). Er zitier- durch neue Details ergänzt. Eine Moskauer His-
te zudem aus Hermann Rauschnings kurz zu- torikerkommission befragte Überlebende und
vor erschienenem Buch „Gespräche mit Hitler“: Zeugen der deutschen Besatzung, zunächst in den
„Hitler sagt: Ich befreie den Menschen von den befreiten Gebieten bei Moskau.17 Zudem wurden
erniedrigenden Selbstpeinigungen einer Gewis- Vorbereitungen für die Einrichtung einer Außer-
sen und Moral genannten Chimäre. Das Gewis- ordentlichen Staatlichen Kommission (TschGK)
sen und die Bildung verkrüppeln den Menschen. getroffen, die die deutschen Verbrechen mit Blick
Mein Vorteil ist, dass ich mich durch keinerlei auf Prozesse und Reparationsforderungen nach
theoretische oder moralische Bedenken hemmen Kriegsende systematisch erfassen sollte. Sie nahm
lasse.“14 Die so­wje­tische Führung veröffentlich- ihre Arbeit im November 1942 auf.18 Eine flä-
te deutsche Dokumente, zu denen sie Zugang er- chendeckende Dokumentation deutscher Gräuel-
langte – insbesondere die Barbarossa-Befehle –, taten auf so­wje­tischem Boden durch diese Kom-
um die so­ wje­tischen Kriegsanstrengungen als missionen setzte jedoch erst mit dem anhaltenden
moralischen Feldzug gegen einen verkommenen Befreiungsfeldzug nach dem so­ wje­tischen Sieg
Eindringling zu kennzeichnen. Ehrenburg hatte bei Stalingrad ein.
das von Anbeginn des Krieges getan. Er gehör- Seit Anfang 1942 veröffentlichte die Politi-
te auch zu den ersten so­wje­tischen Beobachtern, sche Verwaltung der Roten Armee Broschüren,
die die Aufmerksamkeit auf die NS-Morde an in denen die Gewaltverbrechen der „deutschen
Juden in den westlichen Teilen der So­wjet­union faschistischen Invasoren“ detailliert dargelegt
lenkten. Am 25. August 1941 war seine Ankla- wurden. Im Frühjahr 1943 fand ein neuer Aus-
ge in der „Prawda“ zu lesen: „Sie töten Kinder druck Eingang in diese Broschüren: die „Massen-
vor den Augen ihrer Mütter. Sie zwingen halb vernichtung der so­wje­tischen Zivilbevölkerung“.
tote alte Männer, Possen zu reißen. Sie vergewal- Die Autoren hoben hervor, dass die Deutschen
tigen Mädchen. Sie metzeln, foltern, verbrennen. die „physische Ausrottung planmäßig und in
Die Namen Belostok, Minsk, Berditschew und großem Maßstab“ betrieben.19 Die Aufdeckung
Winniza werden von bleibendem Schrecken zeu- von Verbrechen beispiellosen Ausmaßes und
gen.“ Ehrenburgs Text schloss mit den Worten: Charakters erschütterte die so­wje­tischen Beob-
„Die ganze Menschheit führt jetzt Krieg gegen achter. Im Juli 1943 tauchten in Krasnodar beim
Deutschland – nicht um Territorialgewinne, son- Prozess gegen elf Sowjetbürger, die sich an NS-
dern um das Recht zu atmen.“15 Gräueltaten gegen so­ wje­tische Zivilisten und
In den ersten Monaten nach dem Einmarsch Kriegsgefangene beteiligt hatten, neue Belege zu
waren auf so­wje­tischer Seite nur vereinzelte Be- den von den Deutschen angewandten Tötungs-
richte über deutsche Gräueltaten gegen Zivilisten methoden auf – insbesondere zum Einsatz von
bekannt. Im November 1941 berichteten die Me- Gaswagen. Mark Trojanowski, ein Kameramann
dien über die Erschießung von etwa 52 000 Kie-
wer Juden – Männer, Frauen und Kinder – in der
Schlucht von Babi Jar/Babyn Jar (russ./ukr.).16 17 Diese Kommission zur Geschichte des „Großen Vaterlän-
dischen Krieges“ führte im Verlauf des Krieges Hunderte von
Nachdem die Rote Armee die Deutschen aus der
Gesprächen mit so­wje­tischen Überlebenden und Zeugen des
Umgebung von Moskau und Südrussland zu- deutschen Besatzungsregimes. Siehe Jochen Hellbeck, The Anti-
fascist Pact. Forging a First Experience of Nazi Occupation in the
Wartime Soviet Union, in: Slavonic and East European Review
14 I. V. Stalin, Sočinenjia. Bd. 15, Moskau 1997. Nach heutigem 1/2018, S. 117 ff.
Forschungsstand hat Rauschning seine „Gespräche mit Hitler“ 18 Vgl. Nathalie Moine, La commission d’enquête soviétique
zumindest teilweise erfunden. Während des Krieges galt das sur les crimes de guerre nazis, in: Le Mouvement Social 1/2008,
Buch jedoch außerhalb Deutschlands als tatsachengetreuer S. 81–109, hier S. 83 f. Nach eigenen Berechnungen der
Bericht. Kommission beteiligten sich rund 32 000 Repräsentanten des öf-
15 Il’ja Ėrenburg, 24 Avgusta 1941 goda, in: Pravda, fentlichen Lebens, vorwiegend Mitglieder der Kommunistischen
25. 8. 1941. Partei, an der Untersuchung von NS-Kriegsverbrechen, und
16 Vgl. Mordechai Altshuler, The Holocaust in the Soviet Mass über sieben Millionen Sowjetbürger sammelten und erstellten
Media During the War and in the First Postwar Years Re-exami- direkt Dokumente für die Kommission. Vgl. Natal’ja S. Lebedeva,
ned, in: Yad Vashem Studies 2/2011, S. 121 ff. Nach Aufzeich- Podgotovka Njurnbergskogo processa, Moskau 1975, S. 26 ff.
nungen der Einsatzgruppen wurden am 29. und 30. September 19 Zverstva nemecko-fašistskich zachvačikov. Dokumenty.
1941 33 771 Juden in Babi Jar/Babyn Jar getötet. Vypusk 7 (N. p. 1943), S. 3.

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APuZ 16/2021

und Filmregisseur, der bei der Verhandlung ein gesamte örtliche Bevölkerung zu politischen
offizielles Kamerateam leitete, schrieb seiner Treffen ein. Sie sollten den Gegensatz von fa-
Mutter aus Krasnodar: „Du wirst den Prozess- schistischer Unmenschlichkeit und so­wje­tischer
verlauf aus der Zeitung kennen. Aber ich muss Menschlichkeit bekräftigen – ein zentrales Motiv
Dir sagen, dass es mir die Kehle zuschnürte, als im fortdauernden ideologischen Kampf der So­
ich die Erzählungen hörte – den Bericht des Arz- wjet­union gegen den Faschismus. Ein Funktio-
tes Dr. Kaselski darüber, wie die Deutschen seine när aus Melitopol, der im Februar 1944 von der
kranken Patienten töteten, den Bericht der Er- Moskauer Historikerkommission befragt wurde,
zieherin Inosemzewa über die Vernichtung der beschrieb die aufwühlende Wirkung einer öffent-
Kinder und andere. Von der Aussage des Zeugen lichen Versammlung, die er wenige Tage nach der
Iwan Iwanowitsch Kotow konnten wir keine Befreiung der Stadt im September 1943 einberu-
Tonaufnahme machen. Er leidet nach einer Koh- fen hatte. Nach seiner Eröffnungsrede sprachen
lenmonoxidvergiftung an Kehlkopflähmung. mehrere Priester und Offiziere der Roten Ar-
Der Mensch ist sozusagen aus dem Jenseits zu- mee. Die letzten Redner waren vier Partisanen –
rückgekehrt. Er hat als einziger wie durch ein „zwei [Partei-]Genossen und zwei Mädchen aus
Wunder den Gaswagen überlebt.“20 Melitopol, die hierhergekommen sind, die Stadt
Neben den Kriegsverbrecherprozessen in verteidigt haben, ihre Familien sind erschossen
Krasnodar und andernorts gab es zahlreiche wei- worden. Das war ein einziges Geflenne, keine
tere Anlässe, bei denen die Bürger der So­wjet­ Versammlung. So ein Grauen, du stehst einfach
union über die „deutsch-faschistischen Gräuelta- nur starr vor Schreck.“22
ten“ ins Bild gesetzt und aufgeklärt wurden. In Solche Treffen fanden überall in den befrei-
befreiten Städten und Dörfern beriefen Politoffi- ten Gebieten statt, auch in den baltischen Repu-
ziere der Roten Armee die Soldaten zu Versamm- bliken und den westlichen Regionen der Ukraine
lungen bei freiliegenden Leichen von Opfern und Weißrusslands, die die So­wjet­union im Zuge
oder in der Nähe ehemaliger Gestapo-Gefäng- des Hitler-Stalin-Pakts annektiert hatte. Hier war
nisse ein. Überlebende aus der Gegend, die selbst die Erinnerung an die so­wje­tische Besatzung und
Zeugen von NS-Gräueln geworden waren, be- Gewalt in der Anfangsphase des Zweiten Welt-
richteten, Agitatoren hielten Vorträge über die kriegs noch frisch. Umso wichtiger war es, die
Schreckenstaten der Deutschen. Auf dem Hö- von der So­wjet­union beanspruchte „Befreierrol-
hepunkt dieser „Rachekundgebungen“ gelobten le“ durch Berichte von Überlebenden des NS-
die versammelten Soldaten feierlich, den Feind Terrors zu untermauern. Dass die Deutschen
mit doppeltem Einsatz zu bekämpfen. Der An- während ihrer Herrschaft über so­wje­tische Ge-
blick deutscher Massaker an Zivilisten übte auf biete nie ähnliche Maßnahmen erwogen haben,
die anwesenden Soldaten eine enorme Mobilisie- ist bezeichnend – solche Appelle waren mit ihrem
rungskraft aus. Er rüttelte sogar Rekruten auf, die Kolonialisierungsprojekt nicht vereinbar. Wie der
Stalin ablehnend gegenübergestanden oder man- Reichenau-Befehl zeigt, sollten so­wje­tische Zi-
gelnde Kampfbereitschaft gezeigt hatten. Ange- vilisten nicht als Bürger angesprochen, sondern
sichts solcher Gräueltaten wurde der moralische durch Furcht vor deutschen Repressalien gefügig
Sinn des Kriegs noch einmal gesteigert: „Da mit gemacht ­werden.
jedem Tag der Besatzung mehr Frauen vergewal- So­wje­tische Fotografen und Filmteams tru-
tigt, mehr Städte zerstört und mehr Mitbürger ge- gen entscheidend dazu bei, die Beweise für die
demütigt und ermordet wurden“, fühlten sich die Gräueltaten in die moralische Erzählung vom
Soldaten verpflichtet, schnell nach Westen vorzu- Kampf des so­wje­tischen Humanismus gegen die
rücken, um Leben zu retten.21 faschistische Unmenschlichkeit einzubinden und
In befreiten Städten beriefen so­ wje­
tische diese Geschichte einem breiten Publikum zu ver-
Amtsträger als eine der ersten Maßnahmen die mitteln. Die Kamerateams, die den Vormarsch
der Roten Armee nach Westen im Bild festhiel-
ten, erhielten die ausdrückliche Anweisung: „Fil-
20 Zit. nach Valerij Fomin (Hrsg.), Kino na vojne. Dokumenty i
men Sie die bestialischen Taten und Verheerungen
fakty, Moskau 2005, S. 208 f.
21 Vgl. Brandon Schechter, The Stuff of Soldiers: A History of
the Red Army in World War II Through Objects, Ithaca 2019, 22 Naučnyj archiv Instituta Rossijskoj istorii Rossiskoj Akademii
S. 115. Nauk, f. 2, razd. VI, op. 11, d. 2, l. 3.

36
Sowjetunion APuZ

der Deutschen, auch die furchtbarsten und belas- derer Rezensent hielt fest: „Man möchte aus dem
tendsten, ohne jegliche ästhetischen Rücksichten. Kinosessel aufspringen und sich den Kämpfern
Die Kameraleute sollten sich beim Drehen dieses auf der Leinwand anschließen, um die Entar-
Materials einzig von der Pflicht leiten lassen, die tung und sinnlose Grausamkeit des Nationalso-
Niedertracht und die brutalen Verbrechen festzu- zialismus ein für alle Mal vom Antlitz der Erde
halten, die die Deutschen auf unserem Boden ver- zu tilgen.“25 Noch stärker als in den USA, wo
übt haben und für die sie eines Tages werden zah- das öffentliche Interesse zumindest bis zur Lan-
len müssen.“23 dung in der Normandie vor allem dem Pazifik-
Dieses Filmmaterial wurde unter anderem in krieg galt, identifizierte sich die Bevölkerung in
Alexander Dowschenkos bekanntem Dokumen- Großbritannien mit dem so­wje­tischen Krieg ge-
tarfilm „Der Kampf um unsere Sowjet-Ukrai- gen Deutschland.
ne“ verwendet, den der Regisseur ursprünglich Die britische und die US-Regierung förder-
„Brennende Ukraine“ genannt hatte. Im Mittel- ten die Sympathie der Bevölkerung für den so­
punkt des Films steht das unaussprechliche Leid, wje­tischen Verbündeten, indem sie Hinweise
das die Ukraine und ihre Bewohner durch die auf den gewalttätigen Charakter des stalinisti-
Deutschen erfahren haben. Während die Kame- schen Staates relativierten oder ihnen sogar ak-
ra über ein geöffnetes Massengrab in Charkow tiv entgegentraten. So gab das britische Infor-
mit den sterblichen Überresten von 14 000 Op- mationsministerium ein Handbuch mit dem
fern des NS-Terrors schwenkt, stimmt ein Spre- Titel „Arguments to Counter the Ideological
cher einen feierlichen Appell an: „Schaut her, ihr Fear of Bolshevism“ heraus, in dem Journalis-
Lebenden! Wendet euch nicht ab von unseren ten nahegelegt wurde, Begriffe wie „Roter Ter-
furchtbaren Gruben. Wir können nicht mehr ver- ror“ als Hirngespinste der Nationalsozialis-
gessen oder verschwiegen werden. Wir sind vie- ten zu betrachten.26 Die US-Regierung unter
le. Wir sind eine gewaltige Schar in der Ukraine. Franklin D. Roosevelt gab bei dem Regisseur
Vergesst uns nicht. Nehmt Rache an Deutschland Frank Capra propagandistische Filme in Auf-
für unsere Qualen.“24 trag, die die So­wjet­union in ausschließlich po-
sitivem Licht zeigten. Der als Dokudrama ange-
REZEPTION legte Spielfilm „Mission to Moscow“ von 1943
IM WESTEN ging so weit, prominente so­wje­tische Kommu-
nisten, die im Zuge der Stalinschen Säuberungen
Der Ruf des Sprechers in Dowschenkos Film er- hingerichtet worden waren, als deutsche und ja-
reichte Zuschauer auf der ganzen Welt. Während panische Agenten hinzustellen.
des Krieges wurden so­wje­tische Dokumentar- Gleichzeitig blieben die westlichen Regierun-
filme über die NS-Gewalt in alliierten Ländern gen argwöhnisch gegenüber propagandistischen
gezeigt und machten dort tiefen Eindruck. Der Bestrebungen, besonders wenn es um Gräueltaten
Film „Moscow Strikes Back“ über den ersten ging. Bereits 1940 waren Berichte, die polnische
Befreiungsfeldzug im Dezember 1941 und Ja- und jüdische Aktivisten zu deutschen Verbrechen
nuar 1942 kam im August 1942 in die US-Ki- in Umlauf gebracht hatten, bei US-Regierungs-
nos und gewann 1943 einen Oscar. Der Film vertretern auf Skepsis gestoßen. Sie befürchteten,
zeichne im Wesentlichen ein „Bild der brutalen wie schon während des Ersten Weltkrieges, durch
Kriegsverheerungen, der monströsen Schändung Propaganda erneut in den Krieg hineingezogen zu
der Menschheit, die die Nazis weltweit entfes- werden.27 Britische Zensoren ließen aus dem Film
selt haben“, schrieb ein Kritiker der „New York „Moscow Strikes Back“ Szenen mit ermordeten
Times“. „Wer ihn sieht, wird unweigerlich tiefe, so­wje­tischen Zivilisten herausschneiden. Sie be-
unversöhnliche Empörung verspüren.“ Ein an- riefen sich darauf, dass die Bilder die Bevölkerung
psychisch verstören könnten. Dabei waren in bri-

23 Zit. nach Valentin Petrovic Michailov/​Valerij Fomin (Hrsg.),


Cena kadra. Každyj vtoroj – ranen, každyj četvertyj – ubit. 25 Zit. nach Michailov/Fomin (Anm. 23), S. 1009 f.
Sovetskaja frontovaja kinochronika 1941–1945, Moskau 2010, 26 Vgl. Overy (Anm. 3), S. 297.
S. 378. 27 Vgl. Michail Kalatosow an I. G. Bolschakow, 1. 11. 1943,
24 Ju. Lukin, Bitva za našu Sovetskuju Ukrainu, in: Krasnaja in: Fomin (Anm. 20), S. 597; Janina Struk, Photographing the
zvezda, Oktober 1943. Holocaust, London–New York 2004, S. 29.

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APuZ 16/2021

tischen Kriegsfilmen immer wieder Bilder von ENTDECKUNG


toten Frauen und Kindern zu sehen, die Opfer DER TODESLAGER
des „Blitzkrieges“ geworden waren. So­wje­tische
Beobachter vermuteten deshalb als eigentlichen Hatte die reihenweise Entdeckung von Massen-
Grund ein Misstrauen der Briten gegenüber dem gräbern in den befreiten Gebieten Russlands und
so­wje­tischen Dokumentarmaterial.28 der Ukraine nach dem Sieg bei Stalingrad die bis-
Im April 1943 versuchte die deutsche Regie- herigen, auf 1941 und 1942 zurückgehenden so­
rung, sich diese Vorbehalte zunutze zu machen: wje­tischen Vorstellungen von NS-Verbrechen be-
Sie startete eine Kampagne, um die Welt über reits weit übertroffen, wurde mit dem Einzug der
das „wahre Gesicht des barbarischen Bolsche- Roten Armee in Polen 1944 erneut eine bis dahin
wismus“ zu unterrichten. In einem russischen undenkbare Dimension deutscher Gräueltaten
Wald bei dem Dorf Katyn hatten die Deutschen offenbar. Der Dokumentarfilmregisseur Roman
die sterblichen Überreste von mehr als 4000 pol- Karmen notierte angesichts des Todeslagers in
nischen Offizieren entdeckt, die 1940 von so­ Majdanek, im Vergleich zu der dort praktizierten,
wje­tischen Sicherheitskräften ermordet worden brutal effizienten „Vernichtung von Menschen
waren. Propagandaminister Joseph Goebbels be- in fließbandartigem Tempo und Ausmaß“ sei
grüßte die Entdeckung als „sehr gute Gelegen- die von den Deutschen in Russland angewand-
heit, die Reinwaschungsversuche am Bolschewis- te Tötung mittels Gaswagen bloß eine „kleinge-
mus, wie sie in England und den USA betrieben werbliche Mordweise“. Karmen hob ein „scho-
werden, auf das drastischste zu widerlegen“.29 ckierendes Detail“ hervor: Die Deutschen hatten
Entgegen seinen Hoffnungen konnte die Nach- die Knochen und die Asche der Opfer benutzt,
richt von Katyn jedoch das Bündnis der Alliier- um Kohl zu düngen, den sie auf nahegelegenen
ten nicht spalten. Das lag nicht unbedingt daran, Feldern anbauten. Ein wesentliches Merkmal
dass die westlichen Regierungen den so­ wje­ des Lagers Majdanek sah er in dessen „europa-
tischen Gegendarstellungen und gefälschten „Be- weiter Bedeutung“: Zugladungen von Menschen
weisen“ Glauben geschenkt hätten, denen zufol- aus Dänemark, Norwegen, der Tschechoslowakei
ge die polnischen Offiziere 1941 von Deutschen und Frankreich waren „hierhergebracht worden,
ermordet worden waren. Der britische Premier nur um vernichtet zu werden“. Karmens Doku-
Winston Churchill etwa vertraute dem Chef der mentarfilmaufnahmen setzen diese Skriptnotizen
polnischen Exilregierung an, er halte die „Bol- bis ins Detail um: Die Kamera zeigt in Großauf-
schewisten (…) der schlimmsten Gräueltaten für nahme die Pässe der Insassen – Franzosen, Itali-
fähig“.30 Wenn er und Roosevelt sich gleichwohl ener, Griechen, Polen. Dass der Film Europa als
dagegen entschieden, den deutschen Behauptun- Opfer von NS-Gewalt darstellte, sollte zweifel-
gen nachzugehen, taten sie dies aus zwei Grün- los die Stellung der Roten Armee als Befreier des
den: Erstens aus einem tiefsitzenden Misstrauen Kontinents unterstreichen (und den gegenteili-
gegenüber jeglicher Form von Gräuelpropagan- gen Behauptungen von deutscher Seite entgegen-
da heraus und zweitens, weil sie den barbarischen wirken). Aber in Karmens Aufzeichnungen wird
Charakter des NS-Systems kannten. Paradoxer- überall auch ein ethisches Anliegen deutlich: „Die
weise war ein Großteil der Informationen darü- ganze Welt, alle künftigen Generationen, müssen
ber ursprünglich von der so­wje­tischen Kriegs- wissen, was sich hinter dem Stacheldraht der ge-
propaganda geliefert worden. samteuropäischen Todesfabrik der Deutschen ab-
gespielt hat.“31
Die so­wje­tischen Entdeckungen und Aufrufe
28 Vgl. Fomin (Anm. 20), S. 647 f., S. 638.
stießen in der übrigen Welt jedoch auf ein geteiltes
29 Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil II, Bd. 8, hrsg.
von Elke Fröhlich, München 1993, S. 104 (14. 4. 1943). Siehe
Echo. Als der Korrespondent Alexander Werth
Anna M. Ciencela/Natalia S. Lebedeva/Wojciech Materski im August 1944 einen ausführlichen Bericht über
(Hrsg.), Katyn: A Crime Without Punishment, New Haven 2007, die Auffindung des Lagers Majdanek an die BBC
S. 1, S. 332. schickte, lehnten die Redakteure in London ihn
30 Zit. nach Claudia Weber, Stalin’s Trap: The Katyń Forest
ab, weil sie eine propagandistische Inszenierung
Massacre Between Propaganda and Taboo, in: Philip G. Dwyer/
Lyndall Ryan (Hrsg.), Theatres of Viol Massacre. Mass Killing
and Atrocity Throughout History, New York–Oxford 2012, 31 Drehbuchnotizen von Roman Karmen (o. D., 1943), in:
S. 170–185, hier S. 174. Michailov/Fomin (Anm. 23), S. 846 ff.

38
Sowjetunion APuZ

der Sowjets vermuteten.32 In Berlin legten die Mi- glorreichen Wege des Vormarsches von Stalingrad
litäraufklärungsexperten der Abteilung Fremde – überall findet man blutige Spuren deutscher
Heere Ost (FHO), die eifrig so­wje­tische Medi- Greueltaten. Du hast viel gesehen und auch viel
enpublikationen studierten, viele Artikel in Ord- erlebt, Auschwitz aber ist das grausamste Zeugnis
nern mit der Bezeichnung „So­wje­tische Greuel­ deutscher Greueltaten.“34
propa­ ganda“ ab. Sie zweifelten ebenso an der Beim Lesen der Feindberichte achteten die
Wahrheit der Berichte wie die BBC-Mitarbei- FHO-Offiziere besonders auf Ehrenburgs Pu-
ter. In einem internen Memorandum vom Ok- blikationen. Ihr Dossier für 1944/45 enthält meh-
tober 1944 zur so­ wje­tischen Berichterstattung rere unkommentierte, vollständige Übersetzun-
über das „sogenannte Vernichtungslager Majdan- gen seiner Artikel, darunter auch den am Beginn
ek bei Lublin“ hieß es: „Neben Juden sollen hier dieses Beitrags zitierten Text vom August 1944.
angeblich auch Vertreter aller europäischen Völ- Die FHO-Leute griffen Ehrenburg als Autor
ker unter Anwendung angeblich ganz besonders heraus, der aus ihrer Sicht allein für die feindli-
raffinierter Methoden liquidiert worden sein“.33 che Gräuelpropaganda verantwortlich zeichnete.
Nach Ansicht der FHO-Experten wurde „die Hätten sie breitflächiger gelesen, wären sie in den
ganze Angelegenheit zu einer gewichtigen Propa- so­wje­tischen Feldzeitungen der letzten Kriegs-
gandaaktion aufgebauscht, die offensichtlich die phase auf eine wahre Flut soldatischer Trauer-,
Aufgabe hat, das Gegenstück zu den deutschen Empörungs- und Rachebekundungen gestoßen,
Enthüllungen von Katyn vom April 1943 darzu- die eine Fülle an detaillierten Belegen persönlich
stellen“. Ein weiterer Zweck sei die Anstiftung miterlebter oder erlittener Schrecken enthiel-
zum Hass.345 ten. Unter den Briefschreibern waren langjährige
Im Februar 1945 bekamen es die FHO-Ex- Soldaten, die auf ihrem Marsch nach Westen auf
perten abermals mit einer Flut so­wje­tischer Be- immer neue Spuren von Verbrechen der Deut-
richte zu tun. Diesmal ging es um das Todeslager schen gestoßen waren. Andere waren aus deut-
Auschwitz, das die Rote Armee einige Wochen scher Gefangenschaft entkommen und berich-
zuvor befreit hatte. Die zahlreichen detaillierten teten vom Alltag in den NS-Lagern, und wieder
Informationen über die Geschichte und Funkti- andere hatten die deutsche Besatzung überlebt
onsweise des Lagers, die von namentlich benann- und sich erst vor kurzem der Roten Armee an-
ten Überlebenden berichtet wurden, machten es geschlossen.35 All diese Briefe waren von dem
den deutschen Lesern offenbar schwer, an ihrem gleichen dokumentarischen Stil und der gleichen
Zweifel festzuhalten: Die Nachrichtenoffiziere anklägerischen Haltung geprägt wie Ehrenburgs
verzichteten diesmal auf eine eigene distanzieren- Artikel, die die Briefschreiber zweifellos kann-
de Kommentierung und ließen die so­wje­tischen ten. Sie bestätigten auch Ehrenburgs wichtigs-
Dokumente für sich sprechen. Unter den über- te Botschaft: Die Erinnerung an die in Gaswa-
setzten Materialien war ein Leitartikel einer Zei- gen Erstickten, die Gefolterten, Verbrannten und
tung für Rotarmisten, in dem festgestellt wur- Gehängten, lebte fort. Sie blieb wach in den so­
de, dass die Deutschen in Auschwitz etwa sechs wje­tischen Soldaten, die auf Berlin vorrückten
Millionen Menschen verbrannt hatten („Töten, und nach Abrechnung dürsteten, die nicht aus-
Brennen, Vergiften – das sind die deutschen Be- blieb und auch Zivilisten nicht v­ erschonte.
rufe“). Darin wurden die Leser direkt angespro-
chen: „Genosse! Du hast viel gesehen auf deinem

32 Wie Werth in seinen Erinnerungen festhält, „gelangten


die Medien des Westens erst durch die Entdeckung der Lager
von Buchenwald, Dachau und Belsen in den westlich besetzten
Gebieten zu der Überzeugung, dass auch Majdanek und Ausch-
witz echt waren“. Alexander Werth, Russia at War 1941–45. A
History, New York 1964, S. 890.
33 National Archives and Records Administration (NARA),
JOCHEN HELLBECK
College Park, MD, T78/483, S. 254 ff.
34 NARA, T78/483, S. 82 ff.
ist Distinguished Professor für Geschichte an der
35 Vgl. Sergej Ušakin/Aleksej Golubev (Hrsg.), XX vek: Pis’ma Rutgers University in New Brunswick, NJ.
vojny, Moskau 2016, S. 580 ff. hellbeck@history.rutgers.edu

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APuZ 16/2021

SOWJETBÜRGER,
RELIGIONSGEMEINSCHAFT,
NATIONALE MINDERHEIT
Juden und jüdisches Leben in der So­wjet­union
Frank Grüner

Mit dem Sturz des zarischen Regimes im März Großstädte des Landes wie Kiew, Charkow, Le-
1917 begann für die jüdische Bevölkerung im ningrad oder Moskau – und mit erheblicher so-
Russischen Imperium eine neue Epoche. Die zialer Mobilität v
­ erbunden.02
Provisorische Regierung hatte als eine ihrer
ersten Maßnahmen die Aufhebung der diskri- UNTER DEM
minierenden Gesetze gegenüber Jüdinnen und BOLSCHEWISTISCHEN REGIME
Juden verfügt. Nicht zuletzt aufgrund der ver-
schiedenen Beschränkungen, die ihnen unter Für die Politik der neuen Machthaber gegenüber
dem autokratischen Regime auf dem Gebiet den Juden spielte eine nicht unerhebliche Rolle,
der Wirtschaft, der Bildung und der Religion dass die Bolschewiki die Besonderheit des osteu-
auferlegt waren, trauerte eine Mehrheit der jü- ropäischen Judentums als einer sowohl ethnisch-
dischen Bevölkerung in Russland weder dem nationalen als auch religiös-kulturell geprägten
Zaren noch dem Ancien Régime nach. Auch Bevölkerungsgruppe nicht verstanden bezie-
hatten die Zaren in dem Ruf gestanden, mit hungsweise ideologisch nicht einordnen konnten.
dem aggressiven Antisemitismus in Russland Der Religionsphilosoph Martin Buber hat in die-
zu sympathisieren, wie er nicht zuletzt in den sem Kontext einmal von der „atypischen“ Exis-
antijüdischen Pogromen 1881/82 und 1903 bis tenzform der Juden gesprochen, die im engeren
1905/06 besonders gewalttätig in Erscheinung Sinne weder als ethnische Gruppe noch als Na-
getreten war. tionalität, sondern als eine aufgrund ihres histo-
Auf der anderen Seite blieb in den ersten Mo- rischen Sonderschicksals „eigentümliche dyna-
naten nach dem Sturz des Zaren völlig unklar, mische Verbindung von Nation und Religion“ zu
was die Zukunft für die jüdische Bevölkerung fassen sei.03
bringen würde. Viele hatten sich zum Zeitpunkt Trotz unterschiedlicher ideologischer Stand-
von Erstem Weltkrieg und Revolution bereits punkte waren sich Lenin und Stalin in ihrem
von Russland abgewandt und waren unter ande- grundsätzlichen Ziel der Assimilation der jüdi-
rem in die Vereinigten Staaten, in das Vereinig- schen Bevölkerung einig. Die politische Situati-
te Königreich, Südafrika, Argentinien und Pa- on verlangte jedoch zunächst ein differenziertes,
lästina ausgewandert; weitere Hunderttausende zum Teil widersprüchlich anmutendes Vorgehen
folgten ihnen bis zum Beginn der 1920er Jahre. gegenüber der jüdischen Minderheit. Einerseits
Zwischen 1870 und den frühen 1920er Jahren verwehrte das Regime den Juden den Status ei-
verließen fast drei Millionen Juden Ost­europa, ner Nation sowie eine autonome nationale Kultur
der Großteil von ihnen emigrierte aus dem Rus- und bekämpfte ihre Religion und Tradition; an-
sischen Imperium beziehungsweise aus Sowjet- dererseits förderte der Sowjetstaat in den 1920er
russland und dem Ende 1918 wiedergegründeten Jahren die Verbreitung der jiddischen Sprache
Polen.01 Aber auch für die in Russland verblie- und den Aufbau einer proletarischen jüdisch-sä-
benen Juden waren die ersten Jahre unter so­wje­ kularen Kultur. Letzteres war freilich nur eine
tischer Herrschaft nach Revolution und Bürger- vorübergehende, taktisch motivierte Maßnahme
krieg vielfach mit Migration – und zwar in die und diente der ideologischen Durchdringung der

40
Sowjetunion APuZ

jüdischen Bevölkerung mit den Ideen des Sozial­ Als größte Gruppe lassen sich die mehr oder
ismus. Das eigentliche Ziel bolschewistischer Ju- weniger stark assimilierten Sowjetbürger jüdi-
denpolitik, also die vollständige Assimilation und scher Herkunft verstehen, die sich aus eigener
Integration der Juden in die neu zu schaffende Überzeugung oder aufgrund der Lebensumstän-
Sowjetgesellschaft, wurde zu keinem Zeitpunkt de kulturell assimiliert hatten und in der jeweili-
ernsthaft infrage gestellt. Von ihrem grundsätz- gen russischen, ukrainischen oder weißrussischen
lich antireligiösen Standpunkt abgesehen, be- Mehrheitsbevölkerung kaum mehr als Juden aus-
trachteten die bolschewistischen Führer die jü- zumachen waren; viele von ihnen lebten in grö-
dische Religion als ein wesentliches Hindernis ßeren Städten, waren mit nicht-jüdischen Sowjet-
auf dem Weg zur Assimilation. Zugleich waren bürgern verheiratet und hatten eine nur schwach
sie davon überzeugt, dass die Religion im Zuge ausgeprägte oder gar keine Beziehung zur jüdi-
des politischen und sozioökonomischen Umbaus schen Religion und Kultur.
der so­ wje­
tischen Gesellschaft rasch an Bedeu- Eine zweite, mit Blick auf ihre zahlenmäßige
tung verlieren würde. Nachdem sich die Erfolge Bedeutung kleinere Strömung bildeten die Juden,
mit Blick auf das „Verschwinden“ der jüdischen die jüdische Tradition und Religion auch unter
Religion aber nicht so schnell und umfassend ein- den Bedingungen des Sowjetregimes als wesent-
stellten, wie das die Sowjetführung erwartet hat- lichen Bestandteil ihres Alltags betrachteten und
te, verfolgte das stalinistische Regime seit dem im Rahmen der Möglichkeiten pflegten; aufgrund
Ende der 1920er Jahre eine Politik, die von einer der antireligiösen Politik der Bolschewiki muss-
bis dahin beispiellosen Verschärfung der Repres- ten sie religiöse Aktivitäten in der Regel im Ver-
sionen gegen jüdische religiöse Institutionen und borgenen praktizieren.05
Bräuche gekennzeichnet123 war.04 Eine dritte Gruppierung schließlich umfasste
Wie sich die etwa 2,7 Millionen Juden ihrer- diejenigen Juden, die sich als Anhänger des bol-
seits gegenüber dem bolschewistischen Regime schewistischen Regimes von jüdischer Tradition
positionierten und wie sie auf die gesellschaft- und Religion losgesagt hatten und eine säkulare
lichen Veränderungen reagierten, hing maßgeb- jiddische Sowjetkultur propagierten.06 Vor allem
lich von Faktoren wie ihrer sozioökonomischen unter ihren prominenten Vertretern, den Reprä-
Stellung, dem Bildungsstand, ihrem Lebensal- sentanten der jiddischen Intelligenz, war eine ex-
ter und nicht zuletzt von ihrer religiösen und plizit jüdisch-kulturelle Identität vorherrschend,
weltanschaulichen Haltung ab. Mit Blick auf die die mitunter auch nationale Züge trug. Über die
1920er und 1930er Jahre lässt sich die heteroge- gesamte So­wjet­union betrachtet, repräsentierten
ne jüdische Bevölkerung in der So­wjet­union zu- die Anhänger der so­wje­tisch-jiddischen Kultur
mindest in drei größere Gruppen unterscheiden, keine Massenbewegung, doch waren sie beson-
die in einem mitunter schwierigen und kon- ders innerhalb des großstädtischen Kulturbe-
flikthaften Verhältnis zueinander standen und triebs sowie in Partei und Staat prominent ver-
deren führende Repräsentanten sich auf ideo- treten und hier vor allem in den 1920er Jahren
logisch-weltanschaulicher Ebene häufig scharf durchaus einflussreich. Insbesondere die Aktivis-
­attackierten. ten der jüdischen Parteisektionen, die bis zu ih-
rer Auflösung 1930 bestanden und und je nach
01 Vgl. Tobias Brinkmann, Jüdische Migration, 3. 12. 2010,
Zeitpunkt bis zu 70 Einheiten mit insgesamt 1500
www.ieg-​ego.eu/brinkmannt-​2010-​de. Aktivisten zählten, trugen maßgeblich zur Um-
02 Vgl. Yuri Slezkine, The Jewish Century, Princeton 2004, setzung des bolschewistischen Programms un-
S. 208. Zum Phänomen der jüdischen Migration in die so­wje­ ter der jiddischsprachigen Sowjetbevölkerung bei
tischen Großstädte siehe exemplarisch die Studie von Gabriele
und waren nicht zuletzt wegen ihres rigiden Vor-
Freitag, Nächstes Jahr in Moskau! Die Zuwanderung von Juden
in die so­wje­tische Metropole 1917–1932, Göttingen 2004.
gehens gegen jüdische Religion und Tradition in
03 Martin Buber, Die Sowjets und das Judentum, in: ders., Der
Jude und sein Judentum. Gesammelte Aufsätze und Reden, Köln
1963, S. 543–554, hier S. 546 f. 05 Vgl. ebd.
04 Vgl. Heinz-Dietrich Löwe/Frank Grüner, Die Juden und die 06 Vgl. Zvi Gitelman, A Century of Ambivalence. The Jews of
jüdische Religion im bolschewistischen Russland, in: Christoph Russia and the Soviet Union, 1881 to the Present, Bloomington–
Gassenschmidt/Ralph Tuchtenhagen (Hrsg.), Politik und Religion Indianapolis 20012, S. 88–114; David Shneer, Yiddish and the
in der So­wjet­union 1917–1941, Wiesbaden 2001, S. 167–205, Creation of Soviet Jewish Culture 1918–1930, Cambridge 2004,
hier S. 195–198. S. 14–29.

41
APuZ 16/2021

der jüdischen Bevölkerung sehr umstritten und heblichem politischen Druck und vielfach mit Ge-
gefürchtet.07 Bis das so­wje­tische Regime nach ei- walt forciert worden war.11
nem Kurswechsel in seiner Politik gegenüber den Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs hatte
Nationalitäten zu Beginn der 1930er Jahre dazu sich das Judentum nach nicht einmal einem Vier-
überging, in wenigen Jahren alle jiddischsprachi- teljahrhundert Sowjetherrschaft von Grund auf
gen Einrichtungen, deren Aufbau es zuvor geför- verändert. Als eine überdurchschnittlich gut ge-
dert hatte, wieder zu schließen, und zahlreiche bildete, in großen Teilen städtisch-moderne und
führende Vertreter der jiddischen Sowjetkultur in die neu entstandene Sowjetgesellschaft inte-
als „jüdische Nationalisten“ zu kritisieren, zeig- grierte Bevölkerungsgruppe hatten die Juden in
te sich die so­wje­tisch-jiddische Intelligenz von beachtlichem Maße an dem gesellschaftlichen
der fruchtbaren Symbiose zwischen jüdisch-sä- Umbau unter dem bolschewistischen Regime
kularer Kultur und bolschewistischem System partizipiert.12 Für viele so­
wje­tische Juden, be-
­überzeugt.08 sonders der jüngeren Generation, die innerhalb
Nachdem praktisch alle Institutionen der der Sowjetgesellschaft sozial aufgestiegen waren
so­wje­
tisch-jiddischen Kultur unter dem sta- und einen Status erreicht hatten, der für ihre El-
linistischen Regime geschlossen worden wa- tern unter den Bedingungen des zarischen Russ-
ren, darunter auch die rund 1100 säkularen jü- lands noch unvorstellbar gewesen war, stellte die
dischen Schulen, und viele ihrer Vertreter vor Entwicklung vom „Schtetl-Juden“ zum moder-
allem im Zuge der stalinistischen „Säuberungen“ nen „Sowjetmenschen“ eine Erfolgsgeschichte
von Staats- und Parteiorganen repressiert wor- dar. Das galt ohne Frage nicht für alle Gruppen
den waren, war diese Strömung Ende der 1930er der jüdischen Bevölkerung im selben Maße; vor
Jahre faktisch ihrer Existenzgrundlage beraubt allem für die religiösen, der traditionellen jüdi-
und zur Bedeutungslosigkeit innerhalb der So­ schen Lebensweise verhafteten Bevölkerungsteile
wjetgesellschaft verdammt worden.09 Ironischer- hatte der forcierte, erzwungene Umbau der Ge-
weise hatte es die jiddische Sowjetintelligenz dem sellschaft unter dem Sowjetregime umfassende
Überfall Hitler-Deutschlands auf die So­wjet­union Diskriminierungen mit sich gebracht.
beziehungsweise dem Zweiten Weltkrieg zu „ver-
danken“, dass sie beziehungsweise eine Reihe ih- WELTKRIEG UND HOLOCAUST
rer Repräsentanten noch einmal für wenige Jahre
in der Kriegs- und Nachkriegszeit eine Rolle spie- Der Zweite Weltkrieg und der Holocaust bildeten
len sollte. Es waren die folgenden „schwarzen Jah- auch für die Juden auf so­wje­tischem Territorium
re“ des so­wje­tischen Judentums zwischen 1939/41 die entscheidende Zäsur in dem an Umbrüchen
und 1953,10 die – maßgeblich bestimmt durch und exzessiver Gewalt reichen 20. Jahrhundert.
die Erfahrungen von Vernichtung, Verfolgung Mit der gewaltsamen Besetzung und dem „An-
und Antisemitismus einerseits sowie von Wider- schluss“ Ostpolens, der baltischen Staaten so-
stand gegen das NS-Regime und seine Handlan- wie der Nordbukowina und Bessarabiens zwi-
ger, Trauer um die Opfer und Rückbesinnung auf schen 1939 und 1941 als Konsequenz aus der
jüdische Kultur und Tradition andererseits – die im deutsch-so­wje­tischen Nichtangriffsvertrag
Frage nach der Stellung und Zukunft der Juden („Hitler-Stalin-Pakt“) vom August 1939 bezie-
im Sowjetstaat neu auf die Agenda setzten. Bis hungsweise in dessen geheimem Zusatzproto-
zu diesem Zeitpunkt lässt sich die Mehrheit der
etwa drei Millionen jüdischen Sowjetbürger als 11 Damit hatten die Juden einen Anteil von etwa 1,8 Prozent
weitgehend in das so­wje­tische System integriert an der Gesamtbevölkerung der UdSSR. Siehe Mordechai
­Alt­shuler (Hrsg.), Distribution of the Jewish Population of the
bezeichnen, auch wenn dieser Prozess – wie die
USSR 1939, Jerusalem 1993, S. 9.
gesellschaftliche Umwälzung insgesamt – mit er- 12 Siehe dazu u. a. ders., Soviet Jewry on the Eve of the Ho-
locaust. A Social and Demographic Profile, Jerusalem 1998; Zvi
07 Vgl. Gitelman (Anm. 6), S. 233–320. Y. Gitelman, Jewish Nationality and Soviet Politics. The Jewish
08 Siehe Shneer (Anm. 6), S. 134–178. Sections of the CPSU, 1917–1930, Princeton 1972; Heinz-Diet-
09 Vgl. Gitelman (Anm. 6), S. 88–114. rich Löwe, Reconstructing in the Image of Soviet Man: The Jews
10 Yehoshua A. Gilboa, The Black Years of Soviet Jewry in the Soviet Union, 1917–1941, in: Cahiers slaves 11–12/2010,
1939–1953, Boston–Toronto 1971. Vgl. Frank Grüner, Patrioten S. 259–303; Benjamin Pinkus, The Jews of the Soviet Union. The
und Kosmopoliten. Juden im Sowjetstaat 1941–1953, Köln–Wei- History of a National Minority, Cambridge–New York 1988;
mar–Wien 2008. Shneer (Anm. 6); Slezkine (Anm. 2), insb. S. 206–274.

42
Sowjetunion APuZ

koll fixierten territorialen Aufteilung Mitteleu- konnte mit Kriegsende aber zunehmend weniger
ropas gerieten schätzungsweise zwei Millionen verdecken, dass Teile der Sowjetbevölkerung mit
Juden neu unter so­wje­tische Herrschaft.13 Diese dem deutschen Besatzungsregime kollaboriert
im Unterschied zu den so­wje­tischen Juden insge- und sich an antijüdischen Verbrechen beteiligt
samt noch vergleichsweise stark in jüdischer Re- hatten, wie das Beispiel des Massakers von Babi
ligion und jüdischem Brauchtum verwurzelten Jar/Babyn Jar (russ./ukr.) bei Kiew gezeigt hat-
Juden waren unter den neuen Machthabern den te.18 Auch hatte die antisemitische Propaganda
radikalen und brutalen Maßnahmen des stalinis- des Besatzungsregimes in der So­wjet­union zum
tischen Regimes mit Blick auf die Transformati- Teil durchaus Wirkung gezeigt, sodass auch nach
on ihrer Sozialstruktur ausgesetzt.14 Noch dra- dem Sieg der So­wjet­union über Hitler-Deutsch-
matischer wirkten sich für die Juden der im Juni land antijüdische Einstellungen virulent blieben
1941 beginnende Überfall des nationalsozialisti- und vor dem Hintergrund der materiellen Nöte
schen Deutschlands auf die So­wjet­union und der der Zeit noch zunahmen.19 Das so­wje­tische Re-
Vernichtungskrieg gegen die Sowjetbevölkerung gime zeigte sich nicht nur unfähig, sondern in der
aus.15 Von den rund 5 Millionen Juden auf dem Mehrheit auch unwillig, auf diese antijüdischen
Gebiet der So­ wjet­union in den Grenzen vom Stimmungen und Übergriffe in der Bevölkerung
22. Juni 1941 wurden von 1941 bis 1945 insgesamt zu reagieren. Das stalinistische Regime forcierte
etwa 2 825 000 Menschen im Holocaust getötet, in den 1940er und 1950er Jahren eine Politik des
die meisten von ihnen, etwa 1 430 000 Personen, Verschleierns des Holocausts auf so­wje­tischem
in der Ukraine, etwa 810 000 in Weißrussland, Boden und unterdrückte den Wiederaufbau jü-
215 000 bis 220 000 in Litauen, 144 000 bis 170 000 disch-gesellschaftlichen Lebens in der So­ wjet­
in der Russischen Sowjetrepublik, etwa 130 000 union. Das Gedenken der jüdischen Tragödie
in Moldawien, 75 000 bis 77 000 in Lettland und sollte offensichtlich nicht die propagierte Einheit
etwa 1000 Personen in Estland.16 der So­wjet­bevölkerung und ihren heldenhaften
Ein Sieg der So­ wjet­
union gegen das Deut- Sieg gegen das faschistische Deutschland infrage
sche Reich war für die so­ wje­tischen Juden in stellten.
den Kriegsjahren faktisch die einzige Hoffnung
auf Überleben. Entsprechend stark engagierten ENTTÄUSCHTE
sich die Juden in der Armee und im Widerstand, NACHKRIEGSHOFFNUNGEN
und verbanden das Schicksal des So­wjet­regimes
eng mit ihrem eigenen.17 Diese hohe Identifika- Nach vier Jahren Vernichtungskrieg und bruta-
tion mit der Roten Armee und der Sowjetmacht ler Besatzungsherrschaft durch das nationalso-
zialistische Deutschland, in deren Kontext ver-
schiedenen Schätzungen zufolge zwischen 20
13 Vgl. Claudia Weber, Der Pakt. Stalin, Hitler und die Ge-
schichte einer mörderischen Allianz, München 2019. Die Schät-
und 30 Millionen Sowjetbürger ums Leben ka-
zungen der jüdischen Bevölkerungszahlen in den zwischen 1939 men und kaum zu beziffernde materielle Verlus-
und 1941 so­wje­tisch besetzten Gebieten bewegen sich zwischen te entstanden, sehnte sich eine körperlich ausge-
1,97 und 2,3 Millionen Menschen. Siehe u. a. Altshuler (Anm. 12), zehrte und psychisch erschöpfte Bevölkerung vor
S. 9, S. 323–328.
14 Zu der vom Sowjetregime erzwungenen „Angleichung“ der
politischen und sozioökonomischen Verhältnisse und dem radikalen 18 Vgl. Martin C. Dean, Collaboration in the Holocaust: Crimes
Vorgehen gegen jüdische Einrichtungen und Organisationen siehe of the Local Police in Belorussia and Ukraine, 1941–44, New York
Norman Davies/Antony Polonsky (Hrsg.), Jews in Eastern Europe 2000. Zur Darstellung der historischen Ereignisse des Massakers
and the USSR, 1939–1946, London u. a. 1991; Dov Levin, The Bal- von Babi Jar/Babyn Jar, bei dem unter deutscher Herrschaft am
tic Jews under the Soviets 1940–1946, Jerusalem 1994, S. 1–155. 29./30. September 1941 unweit von Kiew annähernd 34 000
15 Zum deutschen Vernichtungskrieg in der So­wjet­union siehe jüdische Frauen und Männer von Angehörigen des Sonderkom-
u. a. Babette Quinkert/Jörg Morré (Hrsg.), Deutsche Besatzung mandos 4a der Einsatzgruppe C unter Beteiligung ukrainischer
in der So­wjet­union 1941–1944. Vernichtungskrieg, Reaktionen, Hilfstruppen ermordet worden waren, siehe Eberhard Jäckel/
Erinnerung, Paderborn 2014. Peter Longerich/Julius H. Schoeps (Hrsg.), Enzyklopädie des Ho-
16 Vgl. Il’ja Al’tman, Opfer des Hasses. Der Holocaust in der locaust. Die Verfolgung der europäischen Juden, Bd. I, München–
UdSSR 1941–1945, Gleichen–Zürich 2008, S. 366 f. Zürich 19982, S. 144–147.
17 Vgl. Harriet Murav/Gennady Estraikh (Hrsg.), Soviet Jews in 19 Vgl. Frank Grüner, Did Anti-Jewish Mass Violence Exist in the
World War II. Fighting, Witnessing, Remembering, Boston 2014. Soviet Union? Anti-Semitism and Collective Violence in the USSR
Lesenswert ist auch Arno Lustiger, Zum Kampf auf Leben und Tod! During the War and Post War Years, in: Journal of Genocide
Das Buch vom Widerstand der Juden 1933–1945, Köln 1994. Research 2–3/2009, S. 355–379.

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APuZ 16/2021

allem nach Frieden, dem Ende von Leid und Ent- ren in der Bevölkerung stark um sich greifenden
behrungen sowie nach einer Normalisierung der Anti­semitismus zunehmend erschüttert.22 Die
Lebensverhältnisse.20 Artikulation der jüdischen Hoffnungen, in denen
Angesichts der tief greifenden Krisensituation im Laufe der 1940er Jahre zunehmend ein jüdi-
in der Nachkriegszeit musste das so­wje­tische Re- sches Nationalbewusstsein zum Ausdruck kam,
gime in seinen Berichten über die Lage im Land und die Kommunikation der Erwartungen der
eine insgesamt schlechte Stimmung in der Bevöl- jüdischen Bevölkerung gegenüber dem Sowjet-
kerung konstatieren, die sich zumindest potenzi- regime seit Kriegsende waren auf das Engste mit
ell gegen die Machthaber wenden konnte, auch dem Wirken des Jüdischen Antifaschistischen
wenn Stalin selbst, dessen Popularität als „großer Komitees verbunden.
Führer“ durch den Sieg im Zweiten Weltkrieg ih- Wenige Monate nach dem deutschen Über-
ren Höhepunkt erreicht hatte, nicht infrage ge- fall auf die So­wjet­union hatten sich auf Initia-
stellt wurde. Vom Glanz der Siegermacht strahlte tive oder zumindest mit Unterstützung der So-
in der Nachkriegszeit allerdings wenig in den All- wjetführung eine Reihe zumeist prominenter
tag der Menschen. und einflussreicher Vertreter der so­ wje­tisch-
Eine Mischung aus Hoffnungen auf ein besse- jüdischen Intelligenz zu einem Antifaschisti-
res Leben nach den zerstörerischen Erfahrungen schen Komitee zusammengeschlossen. Unter
von Krieg und Vernichtung und dem Gefühl tie- den 63 Gründungsmitgliedern des Jüdischen
fer Niedergeschlagenheit angesichts des erlebten Komitees befanden sich bekannte Schriftsteller
Leids und Verlustes prägte grundsätzlich auch die wie Wassili Grossman, Abraham Sutzkewer und
Stimmungen in der jüdischen Bevölkerung. Zu- Ilja Ehrenburg, Musiker, Schauspieler, Regisseu-
gleich unterschieden sich die Hoffnungen bezie- re, Dramaturgen, Kritiker, Künstler, Journalis-
hungsweise Erwartungen der Juden aufgrund ih- ten, führende Wissenschaftler und Ärzte sowie
rer spezifischen Erfahrungen in den Kriegs- und hochrangige Militärs und Politiker.23 Zu ihrem
Nachkriegsjahren aber von denen der Mehrheits- Vorsitzenden wählten sie den populären Schau-
gesellschaft. So entwickelte sich in der jüdischen spieler und Leiter des Moskauer Jüdischen The-
Bevölkerung ungeachtet der unterschiedlichen aters, Solomon Michoels, der das Komitee bis
Einstellungen zum bolschewistischen Regime zu seiner Ermordung durch den so­wje­tischen
und der Bewertung der Rolle von jüdischer Kul- Geheimdienst im Januar 1948 leitete. Erklär-
tur und Religion ein Zusammengehörigkeitsge- tes Ziel dieses Komitees war es, sowohl die jü-
fühl, das für die Nachkriegsjahre bestimmend dische Bevölkerung in der UdSSR als auch die
werden sollte.21 Hatten während der Kriegsjahre Weltöffentlichkeit vom heldenhaften antifa-
vor allem die Verbrechen im Zuge der nationalso- schistischen Widerstand der So­wjet­union gegen
zialistischen Rassen- und Vernichtungspolitik im das nationalsozialistische Deutschland zu über-
Zentrum der jüdischen (Selbst-)Wahrnehmung zeugen und durch die Mobilisierung ausländi-
als einer Schicksalsgemeinschaft gestanden, kam schen Kapitals die Rote Armee und die so­wje­
mit Kriegsende der Antisemitismus vonseiten der tische Bevölkerung materiell zu unterstützen.24
so­wje­tischen Bevölkerung als weiteres Bindeglied Nicht nur im Ausland, sondern auch unter der
hinzu. Im Unterschied zu den Kriegsjahren, als jüdischen Bevölkerung der So­wjet­union war das
sich die Juden sowohl mit ihrem Judentum als Jüdische Antifaschistische Komitee schon kur-
auch ihrer Zugehörigkeit zum Sowjetstaat identi- ze Zeit nach seiner Gründung äußerst populär.
fizieren konnten, wurde das Verhältnis von Juden Aus Sicht des stalinistischen Regimes waren sei-
und Sowjet­staat nach 1945 durch das indifferen- ne Aufgaben aber von vornherein eng gesteckt,
te und widersprüchliche Verhältnis des stalinisti- seine Existenz der Notwendigkeit des Krieges
schen Regimes gegenüber dem seit den Kriegsjah- geschuldet und nicht auf Dauer angelegt.

20 Siehe Elena Zubkova, Die so­wje­tische Gesellschaft nach 22 Zum Antisemitismus in der so­wje­tischen Gesellschaft wäh-
dem Krieg. Lage und Stimmung der Bevölkerung 1945/46, in: rend der Kriegs- und Nachkriegsjahre siehe ebd., S. 40–54.
Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 3/1999, S. 363–383; dies., 23 Ebd., S. 268–273.
Russia after the War. Hopes, Illusions, and Disappointments, 24 Vgl. ebd., S. 55–128; Arno Lustiger, Rotbuch: Stalin und
1945–1957, Armonk–New York–London 1998. die Juden. Die tragische Geschichte des Jüdischen Antifa-
21 Zu den Auswirkungen von Judenfeindschaft und Holocaust schistischen Komitees und der so­w je­tischen Juden, Berlin
auf die so­wje­tischen Juden siehe Grüner (Anm. 10), S. 214–410. 1998.

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Sowjetunion APuZ

Das Jüdische Antifaschistische Komitee, ANTISEMITISCHE KAMPAGNEN


dessen Tätigkeit von zahlreichen jüdischen
Partnerorganisationen im Ausland maßgeb- Zwei Initiativen aus den Reihen des Jüdischen
lich unterstützt wurde, existierte bis zu sei- Antifaschistischen Komitees sollten in den fol-
ner gewaltsamen Auflösung durch die Organe genden Jahren schließlich das Schicksal dieses für
der Staatssicherheit im November 1948, hatte die so­wje­tischen Juden in jenen Jahren so wich-
aber bereits mit Kriegsende seine ursprüngliche tigen Organs besiegeln und dem stalinistischen
Funktion verloren. Obwohl dieser einzigen jü- Regime als Anlass für eine antisemitische Ori-
dischen Organisation in der So­wjet­union von- entierung seiner Politik dienen: zum einen der
seiten der Sowjetführung eine primär propa- Stalin gegenüber in einem Memorandum for-
gandistische Funktion zugedacht war, konnte mulierte Vorschlag der Vorsitzenden des Komi-
das Jüdische Komitee angesichts der ka­ta­stro­ tees zur Gründung einer jüdischen Republik auf
pha­len Lage der Mehrheit der so­wje­tischen Ju- der Krim und zum anderen die von Ilja Ehren-
den nicht tatenlos gegenüber dem Ansturm von burg und Wassili Grossman in Angriff genom-
Hilfesuchenden bleiben und wurde zunehmend mene Herausgabe einer Dokumentensammlung
in die Rolle eines „Anwaltes der so­wje­tischen über den Genozid an der jüdischen Bevölkerung
Juden“ gedrängt. in der So­wjet­union, die später als „Schwarzbuch“
In Tausenden von Briefen während des bekannt wurde.26 Während das Krim-Memoran-
Krieges und unmittelbar danach wurde das Jü- dum dem stalinistischen Regime gewissermaßen
dische Antifaschistische Komitee von Juden aus den Vorwand lieferte, dem Jüdischen Antifaschis-
allen Teilen der UdSSR über die katastropha- tischen Komitee als „Teil einer weltweiten zionis-
le Lage der jüdischen Bevölkerung informiert tischen Verschwörung“ den Prozess zu machen,
und dazu aufgefordert, materielle und morali- weil es angeblich zusammen mit den Feinden der
sche Unterstützung für jüdische Sowjetbürger So­wjet­union die Loslösung der Krim von der So­
zu leisten, die sich infolge von Krieg, Holo- wjet­union zum Ziel gehabt habe, machte die so-
caust und antijüdischen Übergriffen vonseiten genannte Schwarzbuch-Affäre deutlich, dass die
der so­ wje­tischen Bevölkerung in einer psy- Vertreter des Jüdischen Komitees durch ihre ge-
chisch wie materiell ausweglosen Situation be- plante Dokumentation der Verbrechen an den Ju-
fanden.25 Sie baten die Vertreter des Komitees, den auf dem Territorium der So­wjet­union dem
gegenüber den so­wje­tischen Organen auf eine Stalin-Regime gewissermaßen auf geschichtspo-
sofortige Besserung der Situation der so­ wje­ litischem Terrain ins Gehege kamen. Besonders
tischen Juden zu drängen. Zahlreiche Schrei- die Kollaboration von Sowjetbürgern mit den
ben ähnlichen Inhaltes gingen direkt an das deutschen Besatzern bei den Verbrechen an der
Zen­tral­ko­mitee, den Ministerrat oder einzelne jüdischen Bevölkerung war aus Sicht des Sow-
führende so­wje­tische Politiker. Offensichtlich jetregimes ein unerwünschtes Thema, das grund-
versprachen sich viele Juden von Stalin und der sätzlich imstande war, die Glaubwürdigkeit der
So­wjet­füh­rung nicht nur eine klar ablehnende neuen so­wje­tischen Meistererzählung über den
Haltung gegenüber antisemitischen Handlun- „Großen Vaterländischen Krieg“ und den „hel-
gen, sondern hofften auch auf schnelle Abhilfe denhaften Widerstand des einmütigen Sowjet-
der drängendsten materiellen Probleme. Zwei- volkes gegen die faschistische Bedrohung“ im
felsohne rechneten viele Juden aufgrund ihres so­wje­tischen Diskurs infrage zu stellen.27 Eine
engagierten antifaschistischen Kampfes und der Veröffentlichung des „Schwarzbuchs“ in der So­
zahllosen Opfer, die Krieg und Holocaust un- wjet­ union wurde daher schließlich verhindert.
ter der jüdischen Bevölkerung gefordert hatten, Die in der Schwarzbuch-Angelegenheit für die
mit besonderer Rücksichtnahme des Regimes so­wje­tischen Juden zum Ausdruck kommen-
nach dem Ende des Krieges – eine Annahme, de fehlende Bereitschaft der so­wje­tischen Füh-
die sich schon sehr bald als folgenschwerer Irr- rung, die Vernichtung der Juden als ein besonde-
tum erweisen sollte. res Phänomen anzuerkennen und ein Gedenken

25 Siehe Simon Redlich, War, Holocaust and Stalinism. A 26 Vgl. Grüner (Anm. 10), S. 70–98.
Documented Study of the Jewish Antifascist Committee in the 27 Vgl. Al’tman (Anm. 16), S. 445–494; Grüner (Anm. 10),
USSR, Luxemburg 1995, S. 225–240. S. 422–429.

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APuZ 16/2021

der jüdischen Opfer zumindest in der jüdischen Parteispitze die Kampagne gegen die „jüdischen
Öffentlichkeit in begrenztem Umfang zu tole- Mörderärzte“ schnell und unbemerkt von der
rieren, vertiefte die Entfremdung von Juden und Agenda nahmen, verschwand der Antisemitismus
Sowjetstaat. Der fehlende oder verschleiernde nicht aus den Köpfen vieler Sowjetbürger und
Umgang mit dem Holocaust in der so­wje­tischen Funktionäre. Die Kriegs- und Nachkriegsjahre
Gesellschaft blieb bis zum Ende der So­wjet­union erwiesen sich daher nicht nur als die „schwarzen
ein neuralgischer Punkt in den Beziehungen zwi- Jahre“ des so­wje­tischen Judentums, sondern auch
schen Juden und Regime. als Schlüsseljahre, in denen das Schicksal der Ju-
Die antisemitische Wende in der Politik der den im Sowjetstaat eine entscheidende Wendung
Sowjetführung – das heißt der Zeitpunkt, ab nahm, die weit über den Tod des Diktators Sta-
dem das stalinistische Regime dazu überging, lin hinausreichte und die Juden zu einer dauer-
den Anti­ semitismus in der Bevölkerung nicht haft diskriminierten Minderheit im Sowjetstaat
nur passiv zu tolerieren, sondern ihn seinerseits machten. Auch die so­wje­tischen Regimes, die auf
als Mittel der aktiven Herrschaftsausübung ein- die stalinistische Terrorherrschaft folgten, ver-
zusetzen – hatte sich allem Anschein nach um wehrten den Juden in letzter Konsequenz eine
1947/48 vollzogen und war in den Kampagnen vollwertige Mitgliedschaft oder gleichberechtigte
gegen den „Kosmopolitismus“ mehr oder minder Bürgerschaft im Sowjetstaat.
offen zum Ausdruck gekommen. Aber während
die Ermordung des Vorsitzenden des Jüdischen VERSCHWINDEN JÜDISCHEN
Antifaschistischen Komitees, Solomon Micho- LEBENS UND SEHNSUCHT
els, im Januar 1948 von getarnten Mitarbeitern NACH EMIGRATION
des so­ wje­
tischen Geheimdienstes in geheimer
Mission erledigt wurde und auch die Auflösung Aus der Perspektive der jüdischen Bevölkerung
des Komitees, die Inhaftierung, das Verhören gab es auch nach Stalins Tod keine Rückkehr zur
und die Verurteilung seiner Mitglieder zwischen „Normalität“ der Vorkriegsjahre. Das so­wje­tische
1948 und 1952 im Verborgenen abgewickelt wur- Regime hatte den Antisemitismus in Gestalt des
den, entfalteten die Kampagnen gegen „Kosmo- Antizionismus in seine Ideologie inkorporiert,
politismus“ und „Zionismus“ in der so­wje­tischen und die Juden fanden sich vor dem Scherbenhau-
Öffentlichkeit einen Grad antisemitischer Hetze fen ihrer gescheiterten Integration in die Sowjet-
und Repression, der in der Sowjetgesellschaft bis- gesellschaft wieder. Das galt vor allem für dieje-
lang nicht vorstellbar gewesen war.28 Die Auflö- nigen Sowjetbürger, die eine jüdische Identität
sung des Jüdischen Antifaschistischen Komitees, hatten und ihr Judentum in der einen oder ande-
der Geheimprozess sowie die Kampagnen gegen ren Weise praktizierten und für die Sowjetgesell-
den „Kosmopolitismus“ standen in einer engen schaft als Juden zu erkennen waren. Sie waren von
Beziehung zueinander, was der großen Mehrheit nun an mit dem Makel des „wurzellosen Kosmo-
der Zeitgenossen in der So­wjet­union allerdings politismus“ behaftet und vermochten nicht mehr
verborgen bleiben musste. Die Führungsriege um von sich abzustreifen, dass sie notorisch als eine
Stalin konstruierte bereits einen weiteren Fall: dem Sowjetvolk fremde und an ihm angeblich
die angebliche Spionagetätigkeit und „Verschwö- „schmarotzende“ Minderheit wahrgenommen
rung jüdischer Mörderärzte“ gegen so­wje­tische wurden. Auch wenn sie in den folgenden Jahr-
Funktionäre, die am 13. Januar 1953 in den so­ zehnten in der Regel nicht mehr, wie noch in der
wje­tischen Massenmedien publik gemacht wurde späten Stalin-Zeit, um ihr Leben zu fürchten hat-
und in ihrer aggressiven antisemitischen Rheto- ten, gehörte die aus solchem Stigma resultieren-
rik und Verschwörungslogik Erinnerungen an die de Diskriminierung in allen ihren Spielarten fort-
finstersten Kapitel des Judenhasses im Zarenreich an zum jüdischen Alltag in der UdSSR. Den Juden
wach werden ließ. Wohl nur der rechtzeitige Tod ihrerseits blieben damit im Grunde auch nur noch
des Diktators am 5. März 1953 konnte umfassen- zwei Optionen: entweder eine möglichst unauffäl-
de landesweite anti­jüdi­sche Repressionen in der lige, das heißt nicht mehr als „jüdisch“ auszuma-
So­wjet­union in dieser Phase verhindern. Doch chende Existenz als Sowjetbürger oder die Hoff-
auch wenn Stalins Nachfolger an der Staats- und nung auf Emigration aus der So­wjet­union.
Jüdisches Leben, sei es in religiöser Hinsicht
28 Vgl. ebd., S. 115–128; Lustiger (Anm. 24), S. 170–256. oder im Sinne einer säkularen jiddischen oder

46
Sowjetunion APuZ

auch jüdisch-nationalen Kultur, konnte sich unter nige hatten sich danach an führende Staats- und
den gegebenen Bedingungen auch in den 1960er Parteiorgane oder das Jüdische Antifaschistische
und 1970er Jahren kaum mehr in nennenswertem Komitee mit der Bitte um Ausreise gewandt.
Umfang entwickeln. Das galt auch für die Jahre Die Ausreise aus der So­wjet­union blieb lange
des sogenannten Tauwetters unter Nikita Chru­ Zeit ein Tabu und wurde, auch als man sie theo-
sch­tschow, der mit seiner berühmten Geheimre- retisch erlaubte, sehr restriktiv gehandhabt. Un-
de auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar ter Chru­ sch­
tschow wurden die Restriktionen
1956 zwar beherzt die Entstalinisierug der so­wje­ diesbezüglich nur wenig gelockert, und die Ge-
tischen Gesellschaft auf den Weg gebracht hatte, nehmigung einer Ausreise blieb die Ausnahme.
dessen Reformeifer aber klare Grenzen kannte. Von 1954 bis 1964 konnten nur 1542 Juden die
So überrascht es mit Blick auf die vorangegange- So­wjet­union auf direktem Weg in Richtung Isra-
nen Jahrzehnte auch kaum, dass Juden in politi- el verlassen.32 Unter Chru­sch­tschows Nachfol-
schen Funktionen, etwa in den lokalen Sowjets ger, Leonid Breschnew, stieg die Zahl der erteil-
oder auf Unionsebene, stark unterrepräsentiert ten Visa für die Ausreise von Juden nach Israel ab
waren. Jiddischsprachige Publikationen in der 1965 deutlich an. Allerdings war es vor allem den
So­wjet­union blieben im Wesentlichen auf weni- Auswirkungen des Sechstagekrieges zwischen Is-
ge Bücher und eine Zeitschrift begrenzt.29 Jüdi- rael und den arabischen Staaten 1967 geschuldet,
sche Schulen, welcher Richtung auch immer, gab dass die Situation für die so­wje­tischen Juden auf-
es gar keine mehr. Im kulturellen Bereich gab es grund der massiven antizionistischen Propagan-
wenige jüdische (Laien-)Theatergruppen oder da und antisemitischen Stimmungen in der So-
Musikensembles, etwa in Moskau oder Vilnius.30 wjetgesellschaft zunehmend unerträglich wurde
Das religiöse jüdische Leben existierte noch an und der öffentliche Druck auf die Sowjetführung
wenigen Orten mit einer sehr begrenzten Zahl nach Genehmigung von Ausreisen anstieg. In den
an Synagogen, Rabbinern und Gemeindemitglie- 1970er und 1980er Jahren nahm die Ausreise von
dern. Die wenigen jüdischen Gemeinden, die es Juden bereits Züge einer Massenemigration an:
noch oder wieder gab, wurden dann in den Jah- Von 1968 bis 1989 verließen etwa 240 000 Juden
ren von 1957 bis 1964 von einer neuen antireligi- die So­wjet­union, etwa 11 Prozent der jüdischen
ösen Kampagne, die stellenweise mit antizionisti- Sowjetbevölkerung. Auch die mit den Begriffen
scher und antisemitischer Propaganda einherging, „Perestroika“ und „Glasnost“ verbundene Re-
in Mitleidenschaft gezogen.31 Erneut wurden Sy- formpolitik des letzten Zentralsekretärs der KP-
nagogen geschlossen und Gemeindeaktivitäten dSU ab 1985 vermochte das Vertrauen vieler Ju-
­reglementiert.32 Darüber hinaus lancierte das So­ den in den Sowjetstaat nicht zurückzugewinnen,
wjet­regime in den Massenmedien eine landeswei- obgleich sich jüdische Religion, Kultur und Wis-
te Kampagne gegen den Judaismus, die unver- senschaft nun wieder freier entwickelten und man
kennbar antisemitischen Charakter hatte. zumindest in Großstädten wie Moskau, Lenin-
Unter diesen Umständen gewann der Wunsch grad, Minsk oder Kiew durchaus von einer neuen
nach Emigration, vor allem nach Israel, für viele Blüte jüdischen Lebens sprechen konnte. In der
Juden stetig an Bedeutung. Bereits in den 1940er zweiten Hälfte der 1980er Jahre breiteten sich in-
Jahren hatte es in der jüdischen Bevölkerung den des Rechtsextremismus und Antisemitismus aus,
kaum verdeckten Wunsch der Ausreise nach Pa- wie sie sich etwa in den Aktivitäten der russischen
lästina gegeben. Das war nicht zuletzt bei dem chauvinistisch-nationalistischen und radikal anti-
Besuch der ersten israelischen Botschafterin Gol- semitischen Bewegung Pamjat („Gedächtnis“)
da Meir in Moskau im Oktober 1948 deutlich manifestierten. Nicht zuletzt dieser Entwicklung
geworden, als sich geschätzt 50 000 so­wje­tische ist es zuzurechnen, dass ein wachsender Teil der
Juden vor der Moskauer Choralsynagoge ver- sowjetischen Juden für die Auswanderung aus
sammelten und die Vertreterin des neu gegründe- der Sowjetunion votierte.
ten jüdischen Staates euphorisch begrüßten. Ei-

FRANK GRÜNER
29 Vgl. Gitelman (Anm. 6), S. 160.
30 Vgl. ebd., S. 161.
ist Professor für Osteuropäische Geschichte an der
31 Vgl. ebd., S. 164–168. Universität Bielefeld.
32 Vgl. ebd., S. 170. frank.gruener@uni-​bielefeld.de

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APuZ 16/2021

ESSAY

SACKGASSE SOWJETVERGANGENHEIT
Zum Erbe der UdSSR in Russland
Irina Scherbakowa

Vor knapp 30 Jahren, im Dezember 1991, wurden viele Völker fühlten sich traditionell zugehörig
die sogenannten Vereinbarungen von Minsk in zu Russland. Die kommunistischen Führer ver-
Beloweschskaja Puschtscha unterzeichnet. Darin sprachen das Recht auf Selbstbestimmung für alle
wurde der Vertrag zur Gründung der UdSSR von Nationen und Gleichheit und Brüderlichkeit al-
1922 außer Kraft gesetzt und damit ihr Ende be- ler Völker. Von dieser neuen Ideologie ging eine
siegelt. Viele Unionsrepubliken wurden zu unab- große Faszination aus. Eingehalten wurden die-
hängigen Staaten. An dem Erbe der So­wjet­union se Versprechungen nie. Die Bolschewiki verstärk-
trägt das heutige Russland immer noch schwer. ten vielmehr den imperialen und zentralistischen
Blicke zurück und auf die aktuelle Geschichtspo- Charakter der Staatsmacht. Die freie Föderation,
litik zeigen, warum dies so ist. die Union unabhängiger Republiken, war reine
Fiktion.
GLEICHHEIT UND BRÜDERLICHKEIT In der Stalinzeit ab den 1920er Jahren be-
ALLER VÖLKER? gannen Säuberungen unter den nationalen Eli-
ten. Davon waren nicht nur die vom Bürgerkrieg
Anfang des 20. Jahrhunderts war das russische verschont gebliebenen Vertreter der alten Eliten,
Imperium ein Vielvölkerreich mit über 181 Mil- sondern auch die neuen so­wje­tischen Kader be-
lionen Menschen. Weniger als 20 Prozent von troffen. Jeder, der der brutalen Industrialisierung
ihnen lebten in Städten, die zentralen Regionen und vor allem der Zwangskollektivierung im
waren überfüllt. Die Bauern besaßen den Boden Wege zu stehen schien, sollte „weggefegt“ wer-
nicht, den sie bewirtschafteten. Die Modernisie- den. So begann die Ausrottung der „bürgerlichen
rung Russlands verlief widerspruchsvoll, die ju- Nationalisten“, die sich durch die ganze Sowjet­
denfeindliche Politik gipfelte immer wieder in zeit hinzog.
Pogromen, und ungelöste nationale Fragen ei- Teil der Stalinschen repressiven Politik wa-
ner überwiegend nicht-russischen Bevölkerung ren auch Deportationen nach dem Nationalitä-
(57 Prozent) setzten das Zarenreich unter Druck. tenprinzip. Vor allem der Zweite Weltkrieg bot
Die Unabhängigkeitsbewegungen, die sich nach einen Vorwand, um ganze Völker zu vertreiben:
seinem Zusammenbruch infolge der Revolutio- Wolgadeutsche und Tschetschenen, Balkaren und
nen 1917 bildeten, wurden rasch von der bolsche- Inguschen, Kalmücken und Krimtataren wurden
wistischen Regierung unterdrückt, das russische des Vaterlandsverrats beschuldigt und deportiert,
Imperium in den alten Grenzen wiederhergestellt Hunderttausende aus ihren angestammten Gebie-
– mit Ausnahme Finnlands, der baltischen Staa- ten gerissen und entwurzelt. Die Zwangsumsied-
ten und Polens, das auch dank der so­wje­tischen lung in fremde Gebiete mit ungewohnten Kli-
Niederlage im polnisch-so­wje­tischen Krieg 1920 maverhältnissen kostete unzählige Opfer, zerriss
unabhängig blieb. viele Familien und richtete Menschen physisch
Dass Bildung und Erhalt der Union gelan- und seelisch zugrunde. Die insgesamt zwölf de-
gen, war nicht allein das Ergebnis des bolsche- portierten Völker der So­wjet­union lebten in der
wistischen Terrors. Die Unabhängigkeitsbewe- Verbannung, unter ständiger Obhut der Sicher-
gungen scheiterten auch an der großen Kluft heitsorgane. Das führte zu anhaltenden Span-
zwischen der armen Bevölkerungsmehrheit und nungen und noch Jahrzehnte später zu schweren
nationalen Eliten. Geopolitische, soziale und Konflikten. Erst nach Stalins Tod wurden einige
psychologische Gründe spielten hier eine Rolle, Völker „rehabilitiert“ und erhielten die Erlaub-

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Sowjetunion APuZ

nis, in ihre ehemaligen Siedlungsgebiete zurück- che kommunistische Zukunft glaubt, an die Völ-
zukehren. Den Krimtataren und Wolgadeutschen kerfreundschaft, treu dem Sowjetstaat und der
blieb bis zum Ende der 1980er Jahre die Rück- Kommunistische Partei ergeben, immer weniger
kehr untersagt, ihre autonomen Republiken wur- überzeugend und akzeptiert. Denn der reale „so­
den nie wiederhergestellt. wje­tische Mensch“, den das System produzier-
Wurde in der so­ wje­tischen Propaganda of- te, war oft eine lumpenisierte, entwurzelte, ihrer
fiziell stetig die „Völkerfreundschaft“, die Ge- Mikroheimat längst verlustig gegangene, in Bara-
meinschaft der so­ wje­tischen Völker und die cken aufgewachsene Person. Er oder sie wusste
multinationale so­ wje­
tische Kultur beschworen selbst nicht, wie man sich bezeichnen sollte, und
und öffentlich zelebriert, war inoffiziell spätes- nicht zufällig verschwand aus dem russischen
tens seit Anfang der 1930er Jahre die „Russifizie- Sprachgebrauch die Anrede. „Genosse“03 blieb
rung“ zum Ziel geworden. Immer stärker wurde nur bei offiziellen Anlässen; „Bürger(in)“ nur vor
das russische Volk in die Rolle des „Großen Bru- dem Gericht. „Dame und Herr“ waren nach der
ders“ gedrückt. Den Russen erging es dabei nicht Revolution abgeschafft worden. Eine Selbstver-
besser als den anderen Völkern der UdSSR, auch achtung war dieser Figur zu eigen, gleichzeitig
sie litten unter Repressalien. Manche Historiker die Verachtung des Anderen. Sie war entmündigt,
sprechen von einer „inneren Kolonisierung“01 – schwankte zwischen Minderwertigkeitskomple-
womit man die Anwendung von Praktiken der xen und Größenwahn.
Kolonialverwaltung und Ausbeutung gegen die Jahrzehnte der Gewalt und der Angst haben
einheimische Bevölkerung innerhalb der Gren- tiefe Spuren in der Gesellschaft hinterlassen. Ty-
zen des Staates bezeichnet. Trotz Konflikten zwi- pische Eigenschaften bildeten sich heraus: das
schen ihnen waren die kritisch gestimmten Ver- „Doppeldenken“ im Orwellschen Sinne, ein in-
treter verschiedener Völker der So­ wjet­
union tellektueller Konformismus, das Misstrauen ge-
geeint in dem Druck und der Gewalt, den der genüber jeglichem „Anderssein“, die Unfähigkeit,
Partei- und Staatsapparat ihnen gegenüber ausüb- frei und unabhängig zu denken, die Nachgiebig-
te. Die Dissidenten – aus Russland, aus der Ukra- keit gegenüber der Propagandalüge, die Isoliert-
ine, aus dem Baltikum – kämpften ab den 1960er heit der Menschen, der Mangel an menschlicher
Jahren „für unsere und eure Freiheit“02 und wur- Solidarität – das sind in vieler Hinsicht Resulta-
den dafür ins Lager gesteckt. te der Verfolgungen, Deportationen und Zwangs-
umsiedlungen, Resultate des Terrors, dessen Ziel
DER SO­WJE­T ISCHE MENSCH – in der Aufsplitterung und Atomisierung der Ge-
EIN PHANTOM sellschaft, der Umwandlung in eine Masse be-
stand, die sich einfach lenken lässt.
Neben der „Völkerfreundschaft“ war die Be- Und deshalb lauteten die wichtigen Fragen
schwörung des „so­ wje­
tischen Menschen“ und der Perestroika-Zeit, die die Gesellschaft da-
der So­wjet­union als der „Gemeinschaft der so­ mals bewegten: Wer ist schuld daran, dass wir
wje­tischen Menschen“ einer der wichtigsten Be- so geworden sind? Und gibt es überhaupt dieses
standteile so­wje­tischer Propaganda. Aber hat es „Wir“? „Sowjetmensch“ und „Sowjetvolk“ beka-
diesen homo sovieticus jemals gegeben, oder war men eine deutlich negative Konnotation. Auch an
dieser nur ein Phantom, eine ideologische Projek- die kommunistische Ideologie glaubte man im-
tion, mit imaginären Charakterzügen versehen? mer weniger. Es war die Phase einer Suche nach
Bis in die 1950er Jahre hinein bezeichneten Selbstidentifikation und eines brennenden Inte-
sich viele Bürger der UdSSR als so­wje­tische Men- resses an der so­wje­tischen Vergangenheit, vor al-
schen in einem positiven Sinne, manchmal jedoch lem an dem, was verborgen und Jahrzehnte lang
auch aus Angst, dass man sie als „antiso­wje­tisch“ geheim gehalten war. Gefordert wurde, die einst
markieren würde. Ab Mitte der 1960er Jahre verbotenen Werke aus Literatur, Film und Kunst
wurde diese symbolische Figur, die an die glückli- der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Hin-
zu kamen Aufrufe, die historische Wahrheit ans
Licht zu bringen, die Geheimarchive zu öffnen.
01 Efim Etkind, Internal Colonization. Russia’s Imperial Experi-
ence, Cambridge 2011.
02 Za naszą i waszą wolność – die Parole der polnischen Unab- 03 Im Russischen gibt es für „Genosse“ – Towaritsch – kein
hängigkeitsbewegung seit dem 19. Jahrhundert. Femininum.

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APuZ 16/2021

Der Türspalt in das schwarze Zimmer der Vergan- Unabhängigkeitsbestrebungen der Tschetschenen,
genheit wurde immer breiter, und was man dort mit den alten Argumenten von Staatsinteresse und
sah und fand, war erschreckend. Die Liste wur- Staatsbedrohung. Im Kern war dieser Krieg ein
de immer länger: die Geheimprotokolle zum Hit- Ergebnis der Abkehr von den Ideen von Freiheit
ler-Stalin-Pakt, Beweise für die Ermordung von und Demokratie Es ging nicht um den Erhalt der
über 20 000 polnischen Offizieren und Polizisten Russländischen Föderation an sich. Es ging viel-
in Katyn und anderswo 1940; Erschießungslis- mehr um Machterhalt um jeden Preis. Dieser, wie
ten für Zehntausende Menschen, von Stalin selbst es damals schien, „kleine“ Krieg dauerte mehrere
unterschrieben; gefälschte Ermittlungsunterla- Jahre lang und hatte verheerende politische und
gen gegen mehr als vier Millionen Opfer des po- moralische Nachwirkungen in ­Russland.
litischen Terrors und vieles andere – all das wur- All das, und der tägliche Kampf ums Überleben
de den Bürgern Russlands als Zeitzeugnisse nach in der neuen Realität, hat die russische Gesellschaft
und nach enthüllt und stellte die Legitimität des dazu gebracht, sich von demokratischen Zukunfts­
kommunistischen Regimes infrage. ideen zu lösen. Es führte auch zu einem dramati-
schen Identitätsverlust für die Bevölkerung des
IDENTITÄTSSUCHE UND größten Teilstücks der ehemaligen so­ wje­
tischen
HISTORISCHE VERANTWORTUNG Zivilisation, der Russländischen Föderation: Das
einstige „Sowjetvolk“ war obsolet geworden, doch
Die Last dieser Vergangenheit, eine tiefe Wirt- einen Ersatz dafür hatte niemand parat.04
schaftskrise, wieder aufgeflammte nationale und Dieser Verlust machte sich umso stärker be-
ethnische Konflikte, der missglückte Putsch von merkbar, als sich in den ehemaligen so­wje­tischen
Anti-Perestroika-Kräften gegen Gor­ba­tschow Republiken, in den baltischen Staaten, in Geor-
im August 1991 – das alles beschleunigte die po- gien, in der Ukraine, eine Geschichtspolitik zu
litischen Prozesse und vor allem den Zerfall der entwickeln begann, in denen Russland einzig als
So­wjet­union. Im Dezember 1991 löste sich die Stalinsches Imperium und als „Täterland“ darge-
jahrzehntelang unerschütterlich scheinende So­ stellt wurde. In diesen neuen Nationalstaaten ent-
wjet­union auf, und die Welt erlebte die Geburt standen Formen der historischen und politischen
von 15 neuen Staaten. Aber der scheinbar leichte, Reflexion, die es ermöglichten, die „eigenen“ Lei-
fast blutlose und schnelle Zerfall der UdSSR, der, den ausschließlich als Ergebnis „fremden“ bösen
wie es damals schien, niemand nachtrauerte, führ- Willens darzustellen. Wenn das eigene Volk nur
te letztendlich zu den schwerwiegendsten Folge- Opfer war, der Nachbar der Täter, gab es politisch
erscheinungen der Perestroika für Russland. wie gesellschaftlich nichts zu verantworten.
Bis Anfang der 1990er Jahre blieb das gesell- In Russland lehnten viele die, wie es ihnen er-
schaftliche Ideal, das man anstrebte, eine gewisse, schien, aufgezwungenen Schuldgefühle ab. Viele
auf die russischen Gegebenheiten zugeschnitte- waren und sind bis heute daher nicht in der Lage,
ne Form der Demokratie, die auch allen Völ- den Grad der historischen Verantwortung der So­
kern Freiheit und Unabhängigkeit bringen sollte. wjet­union gegenüber den Nachbarländern Russ-
Aber bald stellte sich heraus, dass nicht nur der lands anzuerkennen. Auch das Bewusstsein über
Reformprozess, sondern auch die Auflösung der das Ausmaß der Katastrophe, die Russland selbst
So­wjet­union viel schwieriger und schmerzhafter ereilt hat, ist unterentwickelt. Die Frage nach der
verlief, als man es sich vorstellt hatte. Die Kon- historischen Verantwortung blieb ungelöst, und
flikte im Kaukasus und Mittelasien brachten mas- es gab keinen Druck mehr von gesellschaftlicher
senhaft Umsiedler, Flüchtlinge nach Russland, Seite, die kommunistische Herrschaft aufzuarbei-
wo niemand auf sie wartete. Bald spannten sich ten. Die historischen Rollen Lenins, Stalins und
auch die Beziehungen zu den unabhängig gewor- ihrer Mitstreiter blieben ohne Urteil, es gab kei-
denen ehemaligen Sowjetrepubliken an oder zu ne Entscheidungen des Parlaments zu diesen Fra-
denen, die nach Unabhängigkeit strebten. gen. Der sogenannte Prozess gegen die Kommu-
Der Einmarsch russischer Truppen in Tschet- nistische Partei der So­wjet­union, der 1992, mitten
schenien im Dezember 1994 hat gezeigt, dass es
eine der gefährlichsten Versuchungen für Russland 04 Vgl. hier und im Folgenden immer wieder Arsenij Roginskij,
ist, wieder in die Rolle der imperialen Großmacht Erinnerung und Freiheit. Die Stalinismus-Diskussion in der UdSSR
zu schlüpfen. Russland zog in den Krieg, gegen und Russland, in: Osteuropa 4/2011, S. 55–70, insb. S. 60–64.

50
Sowjetunion APuZ

in der Wirtschaftskrise, begann, endete de fac- an den Krieg setzte die offizielle Geschichtspolitik
to ohne Ergebnis. Es gab keine Durchleuchtung die Erinnerung an den Sieg. Die Frage, um welchen
und keine echte Reform der Staatssicherheitsor- Preis dieser Sieg errungen wurde, kam nicht vor,
gane, geschweige denn Lustrationen. ebenso wenig die Fehler der so­wje­tischen Führung,
die zu den Katastrophen von 1941/42 geführt hat-
NEUE GESCHICHTSPOLITIK ten, zu den militärischen Verlusten, zu Millionen
Soldaten, die in die Kriegsgefangenschaft geraten
Als die Putin-Zeit Ende des 20. Jahrhunderts be- waren, Zwangsarbeiter, die von den Besatzern ge-
gann, wurde schnell deutlich, dass sich der Staat waltsam zur Arbeit nach Deutschland verschleppt
auf der Suche nach einem „eigenen“ russischen wurden. Dies alles passte schlecht in das holz-
Weg vom westlichen Demokratiemodell verab- schnittartige Bild der nationalen Geschichte, dass
schiedet und die nationale Idee immer intensi- der Bevölkerung präsentiert wurde.
ver an alten so­wje­tischen Mythen über die er- In diesem Zusammenhang tauchte am ge-
folgreiche stalinistische Modernisierung oder schichtlichen Horizont vieler Russen nun die Fi-
die Umwandlung des Landes in eine Supermacht gur Stalins wieder auf, der nicht als Lenker und
ausrichtet. Die Demokratiebewegung der Peres- Organisator des Massenterrors gesehen wurde,
troika-Zeit, die Mobilisierung einer ganzen Ge- sondern als weiser Staatsmann, großer Moderni-
sellschaft, die in der Befreiung der Länder Osteu- sierer und vor allem als Sieger im Krieg. Dass Sta-
ropas aus der so­wje­tischen Einflusssphäre endete, lin für ganz verschiedene soziale Gruppen immer
der Fall der Berliner Mauer und das Ende des mehr zum Symbol wurde, war kein Zufall. Sei-
Kalten Kriegs wurden als Niederlagen gesehen, ne Gestalt entpuppte sich als überaus standhaft,
der Zerfall der So­wjet­union als Störfall. lebendig und vielschichtig. Stalin verkörperte das
Die Politik schränkte Freiheit und Demokra- russische Imperium und dies – so paradox es auch
tie ein, demokratische Verfahren wurden bloß imi- ist – noch mehr als der letzte russische Zar. Er
tiert, Gerichte waren abhängig vom Staat, freie ge- war Symbol für eine Atommacht, vor der sich der
sellschaftliche Aktivität wurde behindert. Dies lief Westen fürchtete, ein Symbol für Isolationismus
auf eine Art Wiederbelebung so­wje­tischer Prakti- und antiwestliche Propaganda, für Traditionalis-
ken hinaus und verlangte insofern geradezu nach mus und paternalistische Herrschaft, für die Al-
einer Rehabilitierung der so­ wje­
tischen Vergan- ternativlosigkeit einer quasi sakralen Macht. Die
genheit. Es zeichnete sich eine Entwicklung ab, die Menschen in Russland waren immer weniger be-
noch einige Jahre zuvor in der Zeit der Perestroika reit, Stalin als „Staatsverbrecher“ anzuerkennen –
undenkbar gewesen wäre. Die Idee vom Großen weil dies auch das Urteil über den so­wje­tischen
Russland verschmolz im kollektiven Bewusstsein Staat als verbrecherisch nach sich gezogen hätte.
allmählich mit der Sowjetzeit, insbesondere mit Im Großen und Ganzen erwies sich diese
der Stalin-Ära. Anstelle einer ernsthaften, landes- Konstruktion einer nationalen Identität als erfolg-
weiten Diskussion und Aufarbeitung erstand ein reich. Der neuen (alten) Geschichtsrhetorik, unter
nur leicht veränderter so­wje­tischer, patriotisch be- anderem durch massive Propaganda im Fernsehen
gründeter Großmachtmythos wieder auf, der die unter das Volk gebracht, gelang es im kollektiven
Geschichte des Landes als eine Abfolge ruhmrei- Bewusstsein, eine Verknüpfung von Vergangen-
cher heroischer Leistungen zeigt. Dieser Prozess heit und Gegenwart herzustellen. Zusammen mit
wurde zum Bestandteil einer neuen, systemati- der Idee eines neuen Patriotismus und National-
schen staatlichen Geschichtspolitik. stolzes lebten die alten so­wje­tischen Stereotype
Eine wichtige Rolle in den Bemühungen um wieder auf: die Vorstellung vom Westen als – heu-
ein positives Bild von der so­wje­tischen Geschich- te wie früher – Feind und Quelle allen Unglücks
te spielte die Erinnerung an den „Großen Vater- für Russland, von einem Westen, der das Land in
ländischen Krieg“, der mit dem Überfall Hitler- den 1990er Jahren fast in die Knie gezwungen hät-
Deutschlands auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 te; von einer „fünften Kolonne“, die im Auftrag
begann. Er war das einzige Ereignis in dieser Ge- dieses Feindes agierte; von der Feindseligkeit der
schichte, in dessen grundsätzlicher Bewertung sich Nachbarländer, und vieles andere mehr. Die Be-
die öffentliche Meinung immer einig war, und Ur- strebungen, Russland wieder zur Großmacht zu
sprung von Nationalstolz. Aber anstelle von viel- machen, verschmolzen mit imperialen Visionen:
schichtigen, vorwiegend tragischen Erinnerungen Bereits 2005 nannte Putin in einer Ansprache an

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APuZ 16/2021

die Föderale Versammlung den Zusammenbruch ditionalistischen, konservativen und machterhal-


der So­wjet­union „die größte geopolitische Kata- tenden Kräften. Ein Konsens über die Bewertung
strophe des 20. Jahrhunderts“.05 der so­wje­tischen Vergangenheit, über die Rolle
Stalins scheint heute unmöglich. Am eindrück-
ZUKUNFT DER ERINNERUNG lichsten zeigt sich dies an der Unfähigkeit der rus-
sischen Gesellschaft, eine kollektive Identität zu
In den vergangenen Jahren konnte aber auch eine entwickeln. Es existiert keine Vorstellung von der
Gegenströmung wahrgenommen werden. Die Zukunft. In welchem Russland werden wir leben,
Wirtschaftskrise und die überbordende Korrup- einem vermeintlich stabilen, das sich „von den
tion führten zur Unzufriedenheit mit der Funkti- Knien erhebt“ (so ein Leitmotiv Putins) und sei-
onsfähigkeit des Staates, der Justiz und der Poli- nen eigenen Weg geht? Wie sähe dieser Weg über-
zei. Gleichzeitig wurde für viele immer deutlicher, haupt aus? Die Ideologen im Kreml sind nicht in
dass eine Modernisierung ohne endgültige Ab- der Lage, dies zu beantworten – und genau des-
rechnung mit dem Stalinismus, ohne Fortsetzung halb spielt die so­wje­tische Vergangenheit im heu-
dessen, was in den 1990er Jahren abgebrochen tigen Russland eine solch immense Rolle. Histo-
wurde, nicht möglich sein wird. Die jüngsten Er- risch gesehen, ist es eine Sackgasse, aber wie hoch
eignisse in Russland zeigen eine Spaltung der Ge- der Preis für Russland sein wird, sich aus dieser
sellschaft – zwischen dem modernen, gebildeten Sackgasse zu befreien, weiß heute niemand.
und demokratisch eingestellten Teil und den tra-
IRINA SCHERBAKOWA
ist Historikerin, Publizistin und Übersetzerin. Sie ist
05 Zit. nach Alexander Brakel, „Die größte geopolitische Gründungsmitglied von Memorial, einer Menschen-
Katastrophe?“ Eine ambivalente Zwischenbilanz nach 25 Jahren,
6. 12. 2016, www.kas.de/documents/​252038/​253252/​7_do-
rechtsorganisation, die sich unter anderem für die
kument_dok_pdf_​47123_​1.pdf/cbf09275-​1b84-​9 f6e-​5405-​ Aufarbeitung der so­wje­tischen Gewaltherrschaft
d38710066ffc. einsetzt.

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