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67. Jahrgang, 34–36/2017, 21.

August 2017

AUS POLITIK
UND ZEITGESCHICHTE
Russische
Revolution
Ivan Krastev Ekaterina Makhotina
ANALOGIE ZUM JAHR 1917? ERINNERUNG AN DIE
WAS UNS DIE RUSSISCHE RUSSISCHE REVOLUTION
REVOLUTION ÜBER DONALD IM HEUTIGEN RUSSLAND
TRUMP SAGEN KANN
Jan Kusber
Manfred Hildermeier FURCHT VOR DEM
DIE RUSSISCHE REVOLUTION BOLSCHEWISMUS. RUSSLAND
UND IHRE FOLGEN UND DER WESTEN NACH
DER RUSSISCHEN REVOLUTION
Gerd Koenen
SPIEL UM WELTMACHT. Brigitte Studer
DEUTSCHLAND UND DIE GLEICHBERECHTIGUNG
RUSSISCHE REVOLUTION NACH 1917? FRAUEN IN
DER KOMMUNISTISCHEN
Tobias Rupprecht
INTERNATIONALE
DIE RUSSISCHE REVOLUTION
UND DER GLOBALE SÜDEN

ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE


FÜR POLITISCHE BILDUNG
Beilage zur Wochenzeitung
Russische Revolution
APuZ 34–36/2017
IVAN KRASTEV EKATERINA MAKHOTINA
ANALOGIE ZUM JAHR 1917? ERINNERUNG AN DIE RUSSISCHE
WAS UNS DIE RUSSISCHE REVOLUTION REVOLUTION IM HEUTIGEN RUSSLAND
ÜBER DONALD TRUMP SAGEN KANN Wie wird Russland die historische Zäsur
Nicht wenige Menschen halten Donald Trumps von 1917 feiern? Zum hundertsten Jubiläum
Sieg bei der Präsidentschaftswahl in den USA für erscheint die Russische Revolution vor allem
das Ergebnis eines russischen Komplotts. Und als ein geschichtspolitisches Instrument, mit
so liegt hundert Jahre nach der Oktoberrevolu- dem Putin und seine Administration nationalen
tion die Analogie zur deutsch-bolschewistischen Konsens beschwören wollen.
Zusammenarbeit auf der Hand. Seite 27–32
Seite 04–08
JAN KUSBER
MANFRED HILDERMEIER FURCHT VOR DEM BOLSCHEWISMUS.
DIE RUSSISCHE REVOLUTION RUSSLAND UND DER WESTEN NACH
UND IHRE FOLGEN DER RUSSISCHEN REVOLUTION
Russland erlebte 1917 zwei Umstürze: den Russland und der Westen sind ein begriffliches
Februaraufstand, dem die Autokratie zum Opfer Gegensatzpaar, das eine lange Tradition hat
fiel, und den Oktobercoup, der zur Alleinherr- und älter ist als die Oktoberrevolution 1917. Es
schaft der Bolschewiki führte. Die Ereignisse erhielt mit der Russischen Revolution jedoch
vom Oktober sind nicht ohne das Februarregime aufgrund der Furcht vor dem Kommunismus im
und seine Probleme denkbar. Westen eine neue Qualität.
Seite 09–14 Seite 33–38

GERD KOENEN BRIGITTE STUDER


SPIEL UM WELTMACHT. DEUTSCHLAND GLEICHBERECHTIGUNG NACH 1917?
UND DIE RUSSISCHE REVOLUTION FRAUEN IN DER KOMMUNIS­T ISCHEN
Das Deutsche Reich hat den Bolschewiki im INTERNATIONALE
Oktober 1917 zur Machteroberung verholfen Die Russische Revolution verankerte gesetzlich
und sie in einer entscheidenden ersten Phase die Gleichstellung der Geschlechter. Doch trotz
aktiv gestützt. Durch die Überdehnung seiner der verkündeten Emanzipation waren Frauen in
Besatzungsgebiete im Osten trug es jedoch der So­wjet­union immer wieder mit schwierigen
entscheidend zur eigenen Niederlage bei. Entscheidungen zwischen politischen und
Seite 15–20 familiären Pflichten konfrontiert.
Seite 39–44
TOBIAS RUPPRECHT
DIE RUSSISCHE REVOLUTION
UND DER GLOBALE SÜDEN
Kolonialherrschaft, wirtschaftliche Unterent-
wicklung und soziale Ungleichheit nährten
auch in weiten Teilen Asiens, Afrikas und
Lateinamerikas eine verklärende Sicht auf den
russischen Herbst 1917. Kaum ein Land des
globalen Südens blieb davon unberührt.
Seite 21–26
EDITORIAL
Am 23. Februar 1917 des julianischen Kalenders kam es in Petrograd, dem
heutigen St. Petersburg, zu einer schicksalhaften Demonstration, bei der sich die
Wut über die sozialen Verhältnisse, die anhaltende politische und ökonomische
Krise sowie die enormen Kriegslasten im Zarenreich Bahn brach. Es waren vor
allem streikende Arbeiterinnen und Soldatenmütter, die beim Protestmarsch den
Ton angaben und gegen die Brotknappheit aufbegehrten. Die Unruhen markier-
ten den ersten Tag der Februarrevolution, die die autokratische Herrschaft des
Zaren beendete. Wenige Monate später folgte die Oktoberrevolution, im Zuge
derer Lenin und die Bolschewiki die Staatsmacht an sich rissen.
Die Geschehnisse von 1917, die zusammengefasst auch als „Russische Revo-
lution“ bezeichnet werden, wurden zum Ereignis von globaler Bedeutung. Linke
aus aller Welt blickten voller Erwartungen auf die sich formierende So­wjet­union,
mit der die kommunistische Utopie Realität zu werden schien. Die bald diktato-
rische Herrschaft sowie die systematische Anwendung von Gewalt und Terror
gegen jegliche Opposition begleiteten die Umsetzung der bolschewistischen
Vision. Der „Rote Oktober“ löste weltweit Revolutionsfurcht und Antikommu-
nismus aus, entfachte aber ebenso Faszination und Begeisterung.
Wie bei allen historischen Jahrestagen werden auch zum hundertsten Jubi-
läum der Russischen Revolution Analogien bemüht – um Zusammenhänge zu
veranschaulichen, Argumente zu stärken oder politische Gegner zu dämoni-
sieren. Besonders die aktuelle russische Führung um Präsident Wladimir Putin
greift häufig auf Vergangenes zurück, um die eigene Politik zu legitimieren. Der
Umgang des Kreml mit dem Revolutionsjubiläum zeigt aufs Neue, wie schwer
er sich tut, mit dem Erbe der So­wjet­union umzugehen. Anders als der Sieg im
„Großen Vaterländischen Krieg“ lassen sich die Umwälzungen von 1917 und
der anschließende Bürgerkrieg nur schwer als Triumph feiern.

Lorenz Abu Ayyash

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APuZ 34–36/2017

ESSAY

ANALOGIE ZUM JAHR 1917?


Was uns die Russische Revolution
über Donald Trump sagen kann
Ivan Krastev

Jahrestage sind wie Flächenbombardements: Sie on der Krim 2038 stattgefunden hätte – dem Jahr,
bewerfen uns mit „Lektionen“ aus der histori- in dem sich Hitlers „Anschluss“ Österreichs zum
schen Forschung, mit wissenschaftlichen Ab- hundertsten Mal jährt – und nicht 2014, hundert
handlungen, Romanen, Konferenzen, Filmen Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs, dann
und Ausstellungen, und sie verlangen bedin- wäre die Reaktion des Westens womöglich anders
gungslose Kapitulation. Es sind historische Jah- ausgefallen. 2014, tief beeindruckt von der Lektü-
restage, die heute unsere politische Vorstellungs- re von Christopher Clarks faszinierendem Buch
welt prägen. „Die Schlafwandler“, fürchteten zahlreiche west-
2014 genügte es, in irgendeine Buchhandlung liche Entscheidungsträger, dass eine härtere Re-
Londons, Paris oder Berlins vorbeizuschauen, um aktion auf die russische Aggression einen weite-
zu entdecken, dass sie von Büchern zum Ersten ren großen Konflikt in Europa auslösen könnte.
Weltkrieg buchstäblich okkupiert waren. Man- Vermutlich wurde ihre Zurückhaltung auch da-
che behaupten, in den vergangenen Jahren seien von beeinflusst, was sie über den zufälligen Aus-
mehr als tausend Bücher zum Ersten Weltkrieg bruch des Ersten Weltkriegs gelesen hatten, und
allein auf Englisch veröffentlicht worden. Diese sie waren weniger empfänglich für die Analogien
Bücher, die wir alle lesen, oder über die wir le- zu 1938 und für die Argumente der Kosten der
sen, heizen bestimmte Befürchtungen an und las- Appeasement-Politik.
sen gewisse zukünftige Entwicklungen greifbarer In diesem Zusammenhang ist der hundertste
erscheinen als andere. Jahrestag der Russischen Revolution – samt Bü-
Historische Jahrestage haben etwas Magi- cher und Filme, die aus diesem Anlass veröffent-
sches: Die Magie entstammt unserer Obsession licht werden – eine gute Gelegenheit, um aus den
für runde Zahlen und hat mit rationalen Argu- aktuellen Entwicklungen in der Welt schlau zu
menten wenig zu tun. Sie bestätigt die Beobach- werden: eine Welt, in der scheinbar verschiedene
tung des Historikers Tony Judt, dass wir heute Gesellschaften zunehmend unglücklich mit „dem
das Interesse daran verloren haben, die Geschich- alten Regime“ sind, in der das Konzept der Revo-
te zu verstehen beziehungsweise nachzuvollzie- lution aber vom Bereich der Politik in den Bereich
hen, was die historischen Akteure getan haben der Technologie übergegangen ist. Der Sieg Donald
und warum sie es getan haben. Dieses Interesse Trumps bei der US-Präsidentschaftswahl 2016 wird
haben wir ersetzt mit der „Vorstellung, dass (…) zwar allgemein als radikaler politischer Umbruch
aus der Vergangenheit nur zu lernen sei, sie nicht betrachtet, aber wofür der Umbruch steht und wel-
zu wiederholen“.01 che langfristigen Folgen er hat, bleibt unklar.
Was wäre gewesen, wenn der Fall der Berliner
Mauer sich nicht in dem Jahr ereignet hätte, in dem KEINE GUTE REVOLUTION
sich die Französische Revolution zum zweihun-
dertsten Mal jährte? Hätten wir die Umwälzun- 1967, vor fünfzig Jahren, wurde die Russische Re-
gen in Mittel- und Osteuropa anders interpretiert? volution noch als unvollendet betrachtet. Die so-
Womöglich würde das, was wir heute die „Revo- wjetische Regierung feierte sie mit einer Militär-
lution von 1989“ nennen, auch anders bezeichnet. parade in Moskau und großen Reden im Kreml.
Ein anderes Beispiel: Wenn die russische Annexi- Die Russische Revolution bildete den Kern der

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Russische Revolution APuZ

Legitimität des sowjetischen Staates sowie der krieg hat die Revolution als Gründungsmythos
sowjetischen soft power. Tausende gegensätzli- der postsowjetischen russischen Identität er-
che Meinungen zu den globalen Auswirkungen setzt. Eine repräsentative Bevölkerungsumfrage
der Revolution wurden im Osten und Westen hat kürzlich ergeben, dass die russische Öffent-
veröffentlicht. Sowohl für die kommunistischen lichkeit Stalin für den bedeutendsten politischen
Machthaber als auch für einige der einflussreichs- Führer Russlands aller Zeiten hält. Lenin ist ver-
ten Kritiker der sowjetischen Lebensverhältnisse loren gegangen.05
waren die Ideale der Revolution ein Ausgangs- Bezeichnend für die negative Verwendung des
punkt: Während die Apologeten des sowjetischen Revolutionsbegriffs ist Nikolai Starikows popu-
Systems ihre Legitimität als Erben der Revoluti- läres Geschichtsbuch „1917“ aus dem Jahr 2012.
on behaupteten, warfen die Dissidenten in der Dessen Botschaft deckt sich mit der offiziellen
So­wjet­union der Kommunistischen Partei vor, sie russischen Geschichtspolitik, wonach Revolutio-
würde die Prinzipien der Revolution pervertieren nen nichts anderes sind als erfolgreiche verdeck-
und verraten. te Operationen feindlicher Geheimdienste. Sta-
1991 hatte das Wort „Revolution“ im post- rikows Buch hat keinerlei historischen Wert. Es
kommunistischen Russland noch eine positive ist eine klassische Verschwörungstheorie, die ge-
Konnotation, und Boris Jelzin, der erste demo- schrieben wurde, um den Verfolgungswahn der
kratisch gewählte Präsident des Landes, war stolz herrschenden Eliten im heutigen Russland zu
darauf, dass er als Revolutionsführer betrachtet rechtfertigen. Das Buch ist in etwa so glaubwür-
wurde. Dies ist heute nicht mehr der Fall. „Revo- dig wie die „Geständnisse“ der Opfer der Mos-
lution“ ist insgesamt ein negativ besetzter Begriff. kauer Prozesse zwischen 1936 und 1938, als Sta-
Die Möglichkeit, die „gute“ Revolution vom Fe- lin alle möglichen Opponenten in der KPdSU in
bruar von der „bösen“ Revolution vom Oktober Schauprozessen aus dem Weg räumte. Die große
1917 abzugrenzen, gehört der Vergangenheit an.02 Bedeutung des Buchs besteht darin, dass es in al-
Im heutigen Russland Wladimir Putins lautet die len großen Buchhandlungen Moskaus prominent
offizielle Losung: Es gibt keine gute Revolution. ausgestellt ist. Starikows Geschichte von 1917
Deshalb ist es wenig überraschend, dass die russi- liest sich wie eine frühere Version der Kreml-
sche Regierung entschieden hat, den hundertsten Darstellung der Ereignisse in der Ukraine 2014.
Jahrestag des kommunistischen Oktoberumstur- Starikow zufolge war der Hauptgrund für
zes nicht zu begehen. Und auf die Frage nach der die Revolution von 1917 der verzweifelte Ver-
Bedeutung der Russischen Revolution antworte- such der westlichen Großmächte, insbesondere
te Putin: „Das muss jeder für sich selbst entschei- Großbritanniens, den unaufhaltsamen Aufstieg
den“.03 Der heutige Kreml wird die Geburt des Russlands Anfang des 20. Jahrhunderts zu stop-
sowjetischen Jahrhunderts nicht feiern. Er wird pen. Im Gegensatz zu den „gängigen“ Verschwö-
den Anlass auch nicht dazu nutzen, Lenin zu be- rungstheorien, nach denen der deutsche General-
graben oder das heutige Russland vom kommu- stab für die Revolution verantwortlich war, legt
nistischen Erbe zu distanzieren. Starikow eine noch aufregendere Variante vor: Er
Zu Recht merkte der Philosoph Pierre Hass- führt die Zerstörung des russischen Reichs auf die
ner vor einem Jahrzehnt an: „Eine der schockie- finsteren Taten der Briten zurück. Es sei der bri-
rendsten Eigenschaften von Putins Politik ist sein tische Geheimdienst gewesen, der hinter der Fe-
Versuch, Kontinuität sowohl zur zaristischen als bruarrevolution steckte. Und laut Starikow war
auch zur sowjetischen Vergangenheit zu behaup- der Plan, nicht nur Londons damaligen Verbün-
ten.“04 Der sowjetische Sieg im Zweiten Welt- deten Russland zu destabilisieren, sondern die
Herausbildung der Achse Moskau-Berlin zu ver-
01 Tony Judt, Das vergessene 20. Jahrhundert, München 2010,
hindern, die das Potenzial gehabt hatte, Europa
S. 9 f. im Interesse der Europäer neu zu gestalten. Man
02 Siehe hierzu auch den Beitrag von Ekaterina Makhotina in mag sich über Starikows Ausführungen lustig
dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). machen, aber seine Arbeit ist bezeichnend für den
03 Zit. nach Caryl Emerson, The Revolutionary Specters of Rus-
Umgang mit der Russischen Revolution im heu-
sian Letters, 12. 6. 2017, www.nytimes.com/​2017/​06/​12/opinion/
the-revolutionary-specters-of-russian-letters.html.
04 Pierre Hassner, Russia’s Transition to Autocracy, in: Journal of 05 Vgl. Levada, Wydajuschtschijesja Ljudi, 26. 6. 2017, www.
Democracy 2/2008, S. 5–15, hier S. 7. levada.ru/​2017/​06/​26/vydayushhiesya-lyudi.

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APuZ 34–36/2017

tigen Russland: Die Dämonisierung der Revolu- Die Analogie zu 1917 legt nahe, dass die Rus-
tion – jeglicher Revolution – bildet den Kern der sen in die US-Politik eher wegen Hillary Clinton,
politischen Legitimität des gegenwärtigen Regi- die sie verabscheuten, intervenierten als wegen
mes in Moskau. Donald Trump, den sie mochten. Obgleich es eine
Historische Ereignisse, die den Lauf der Ge- gewisse ideologische Nähe zwischen Trump und
schichte verändern, werden entweder als unaus- Putin gibt, erklärt sie die Logik des Kreml nicht.
weichlich und schicksalhaft interpretiert oder als Gewiss: Das kaiserliche Deutschland hegte kei-
Intervention einer ausländischen Macht. Und da nerlei Sympathien für Lenins revolutionäre Träu-
sich der Kommunismus erledigt hatte, verlager- me. Wäre der eigenwillige Bolschewik Deutscher
ten viele historische Darstellungen ihren Schwer- gewesen, hätte die Obrigkeit ihn ins Gefängnis
punkt vom Aufstand der Massen hin zu Spiona- geworfen. Lenin war aber Russe und der deutsche
ge-Erzählungen. Viele aktuelle Schriften halten Führungsstab der Ansicht, die verschiedenen re-
die Revolution von 1917 für wenig mehr als ein volutionären Gruppen seien für Deutschland im
deutsches Komplott und schildern etwa, wie – in Krieg hilfreich. Also wurden sie unterstützt. Ber-
den Worten Winston Churchills – die deutsche lins Ziel war es, Russland dazu zu bringen, sich
Reichsregierung „Lenin wie einen Pestbazillus in aus dem Krieg zurückzuziehen – oder zumin-
einem plombierten Waggon aus der Schweiz nach dest Chaos in Russland zu stiften. Die Deutschen
Russland“ befördert hat.06 prägten ein eigenes Wort für diese spezifische Art
Dass Revolutionen auch außerhalb Russlands der Einflussnahme: „Revolutionierungspolitik“.
als Komplotte gedeutet werden, zeigt nicht zuletzt Es scheint, als sei es 2016 auch Moskaus Haupt-
die Artikelserie der „New York Times“ zum Revo- ziel gewesen, Unruhe zu erzeugen. Deshalb wäre
lutionsjubiläum. Unter den Dutzenden Autorin- es irreführend, ideologische oder andere Ver-
nen und Autoren zum Thema „Red Century“ be- knüpfungen zwischen dem Kreml und dem ame-
schäftigt sich etwa der Historiker Sean Mcmeekin rikanischen Präsidenten zu unterstreichen. Was
mit der Frage „War Lenin ein deutscher Agent?“,07 der Kreml an Trump schätzt, ist sein Störpotenzi-
und die Historikerin Catherine Merridale erläutert, al und weniger sein Kooperationspotenzial.
„wie deutsche Kondome die Russische Revolution Die russische Geschichte lehrt uns auch: Aus
finanzierten“.08 Sicht eines Politikers wie Lenin, dessen Ziel die
Überraschenderweise sind es gerade die ver- Revolution war, liegt der wirkliche Feind im
schwörungstheoretischen Deutungen der Ur- Inneren. So wie Deutschland die Bolschewiki
sprünge und Folgen der Russischen Revolution, als Instrumente zur Erreichung der deutschen
die uns helfen, die „Revolution“ von 2017 in den Kriegsziele betrachtete, sah Lenin Deutschland
USA zu verstehen. als Instrument, um seine Revolution zu verwirk-
lichen. Lenin zufolge ging es den tatsächlichen
TRUMP UND LENIN Revolutionären nicht darum, den externen Feind
zu besiegen, sondern die eigene Regierung. Für
Heute halten viele Menschen den Wahlsieg Trumps Trump gilt wahrscheinlich Ähnliches. Und ob-
für nichts anderes als das Ergebnis eines russischen wohl es unwahrscheinlich ist, dass der US-Prä-
Komplotts. Wenn wir also verstehen, warum die sident persönlich mit den Russen konspirierte,
Deutschen 1917 den Bolschewiki halfen und was hätte er wohl nichts dagegen gehabt, wenn ande-
danach geschah, erfahren wir vielleicht, warum re die russische Unterstützung ausgenutzt hätten,
Moskau versucht gewesen sein könnte, Trumps um ihn bei der Präsidentschaftswahl zu helfen.
Wahlkampfteam zu helfen, und was als Nächstes Trumps einzige Prämisse war, neben „America
kommt. First“, der Wahlsieg. So wie Lenin die russische
Obrigkeit und nicht Deutschland als Haupthin-
06 Zit. nach Catherine Merridale, Lenins Zug. Eine Reise in die dernis für die Entwicklung des Landes sah, neig-
Revolution, Frank­furt/M. 2017, S. 19. te Donald Trump dazu, Amerikas kosmopoliti-
07 Sean Mcmeekin, Was Lenin a German Agent?, 19. 6. 2017, sche Eliten als größte Bedrohung für die USA zu
www.nytimes.com/​2017/​06/​19/opinion/was-lenin-a-german-
­betrachten.
agent.html.
08 Catherine Merridale, How German Condoms Funded the
Auch wenn der Präsident und sein Team wäh-
Russian Revolution, 17. 7. 2017, www.nytimes.com/​2017/​07/​17/ rend des Wahlkampfs wissentlich oder unwis-
opinion/german-condoms-russian-revolution.html. sentlich mit Moskau kollaborierten, bedeutet es

06
Russische Revolution APuZ

deshalb aus meiner Sicht keineswegs – entgegen einzige Verbrechen war das Zögern. (…) Er hat-
der Befürchtungen vieler Trump-Kritiker –, dass te kein Problem damit, ‚credo quia absurdum‘
die neue Administration gegenüber Russland [‚ich glaube, weil es unvernünftig ist‘] zu prokla-
freundlich gesonnen sein oder von Russland kon- mieren, und ähnelte dem bekannten russischen
trolliert werden wird. Paradoxerweise macht die Spielzeug, dem Stehaufmännchen, dessen abge-
vorgebliche Einmischung Russlands in die US- rundetes Unterteil ein Stück Blei enthält, sodass
Wahl zugunsten von Trump eine Kooperation es sich wieder aufrichtet, sobald du es umstößt“.
zwischen den USA und Russland sogar weniger Die Ausrichtung auf den Politikstil ist genau
wahrscheinlich. Die Angst des Weißen Hauses, das, was Lenin und Trump teilen. Und Trumps
als nachgiebig gegenüber Moskau wahrgenom- Chefstratege Stephen Bannon bezieht sich wohl
men zu werden, übertrumpft seine Bereitschaft, auch eher auf den Politikstil als auf die Ideolo-
mit Russland zusammenzuarbeiten. Dies könnte gie, wenn er sich selbst ironisch als „Leninisten“
tatsächlich das Muster der US-Außenpolitik un- bezeichnet.10
ter Trump werden. Es überrascht also nicht, dass Erklärungsansätze für Trumps Politikstil –
viele von Trumps Politiken – etwa sein Beharren der wie ein Sammelsurium unterschiedlicher
auf eine Erhöhung der Militärausgaben sowohl Leitlinien anmutet – konzentrieren sich auf seine
seitens der europäischen Alliierten als auch sei- offenbar narzisstische Persönlichkeit. Eine Aus-
tens der USA – genau das Gegenteil davon sind, nahme machen diejenigen Verschwörungstheore-
was Moskau erhoffte. tiker, die ihn als Handpuppe des Kreml betrach-
Insbesondere die Demokraten sollten aus ten. Die meisten Beobachter haben erst spät das
1917 eine Lektion lernen und aufhören, von ei- Ausmaß erkannt, in dem Trump sich selbst als
ner Amtsenthebung zu träumen: Die Aufde- revolutionären Rebell mit der Mission sieht, das
ckung der mutmaßlichen russischen Verbindun- „alte Regime“ zu demontieren. Trump zufolge
gen von Trump wird den US-Präsidenten nicht ist Amerika nicht der Sieger, sondern der tatsäch-
automatisch delegitimieren. Die Geschichte von liche Verlierer in der Welt, die nach dem Ende
Lenins Weg zur Macht in einem versiegelten des Kommunismus entstanden ist. Trump glaubt
Waggon war der russischen Öffentlichkeit wohl nicht, dass die amerikanische Ideologie (Liberalis-
bekannt – die Provisorische Regierung erließ so- mus) und die amerikanischen Institutionen (Ge-
gar Haftbefehl gegen Lenin und versuchte, ihm waltenteilung) den Kern von Amerikas globaler
wegen Landesverrats den Prozess zu machen –, Führungsstärke ausmachen, sondern die Quelle
aber das genügte nicht, um ihn oder die Revolu- der offengelegten amerikanischen Schwäche sind.
tion zu diskreditieren. In einer Atmosphäre poli- Trump sieht die USA zu Beginn des 21. Jahrhun-
tischer Polarisierung vertraut man Führungsper- derts in einer ähnlichen Weise, wie Lenin Russ-
sönlichkeiten nicht wegen ihrer Person, sondern land zu Beginn des 20. Jahrhunderts sah.
wegen ihrer Feinde. Das galt für Lenin, und das Trump ist zwar offensichtlich kein „Lenin-
gilt für Trump. In den Augen vieler Republikaner Lover“, aber seine Taktiken gehören ins Nach-
mag Präsident Trump den falschen Charakter ha- schlagewerk für alle Revolutionäre. In seiner Exe­
ben, aber er hat die richtigen Feinde. ku­tiv­tätigkeit handelt er nach der militärischen
1924, kurz nach Lenins Tod, schrieb der da- Devise shock and awe, Schrecken und Furcht.
malige Landwirtschaftsminister der Provisori- Die Taktik ist darauf ausgerichtet, den Kongress
schen Regierung und Parteivorsitzende der So- durcheinanderzubringen, seine Gegner unerwar-
zialrevolutionären, Wiktor Tschernow, einen tet zu treffen und seine Anhängerschaft gegen das
Artikel in der Zeitschrift „Foreign Affairs“.09 Establishment aufzuwiegeln. Trump geriert sich
Darin riet er zukünftigen Historikern, dass als Anführer einer globalen Bewegung, die anti-
sie sich weniger auf Lenins Ideologie, sondern elitär, antiliberal, globalisierungskritisch und na-
eher auf seinen Politikstil konzentrieren sollten, tionalistisch eingestellt ist. „Was wir heute erle-
wenn sie seine Erfolge verstehen wollen. „Für ben“, sagte Stephen Bannon im Februar 2017 der
ihn bedeutete Politik Strategie (…). Das einzi- „Washington Post“, „ist die Geburt einer neuen
ge einzuhaltende Gebot war der Sieg (…); das
10 Siehe Ronald Radosh, Steve Bannon, Trump’s Top Guy, Told
09 Victor Chernov, Lenin: A Contemporary Portrait, in: Foreign Me He Was a „Leninist“, 22. 8. 2016, www.thedailybeast.com/
Affairs 3/1970 (1924), S. 471–477. steve-bannon-trumps-top-guy-told-me-he-was-a-leninist.

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APuZ 34–36/2017

politischen Ordnung“.11 Der unglaubliche Ver- meisten russischen Bewunderer Trumps, etwa der
gleich mit Lenin ermöglicht uns, die revolutionä- rechtsradikale Philosoph Alexander Dugin, Putin
re Natur des Wandels zu ergründen, den Donald gegenüber loyal sind, träumen sie auch davon, die
Trump in die amerikanische Politik hineingetra- kosmopolitischen Eliten aus dem Weg zu räumen,
gen hat. die hinter Putin stehen. Das Risiko besteht darin,
dass Trumps Revolution sich von einem externen
RISIKO FÜR PUTIN Verbündeten in einen internen Feind des Putin-
Regimes verwandeln könnte.
Die Geschichte von 1917 ist möglicherweise auch Wer im heutigen Moskau etwas Zeit verbringt,
für Russlands Präsident Wladimir Putin und wird mit Überraschung feststellen, dass gewöhn-
den Kreml aufschlussreich. Der Plan der deut- liche Russen im Gegensatz zur Mehrheit der Eu-
schen Reichsregierung, die revolutionären Kräfte ropäer eine positive Einstellung zu Trump haben.
in Russland zu unterstützen, um letztlich eigene Ein Grund dafür ist, dass sie der Konfrontation
geopolitische Ziele zu erreichen, nahm kein gutes Russlands mit dem Westen überdrüssig sind. Ein
Ende. Die Revolution beendete zwar Russlands weiterer ist, dass sie Trumps zynische Sicht auf
Teilnahme am Ersten Weltkrieg, verbreitete je- die internationale Politik teilen. Wie Trump ha-
doch in ganz Europa das Revolutionsfieber – und ben sie nie an Win-Win-Situationen in der inter-
brachte den Bürgerkrieg sogar nach Deutschland. nationalen Politik geglaubt.
Putins Russland ist mit einem ähnlichen Risiko Sie vergleichen Trump mit einem frühen Bo-
konfrontiert: Laut einem jüngeren Bericht eines ris Jelzin: impulsiv, charismatisch, nur seiner Fa-
kremlnahen Think Tank könnte die populistische milie vertrauend und bereit, das Parlament zu
Strategie – Polarisierung von Eliten und „gemei- bombardieren, wenn es der Zementierung seiner
nem Volk“, vermeintliche Ablehnung ideologi- Macht dient. Das Problem für den Kreml ist, dass
scher Slogans, Propagieren einfacher Lösungen Jelzin ein Revolutionsführer war und Putin ent-
bei gleichzeitiger Affinität zu sozialen Medien – schieden hat, 2017 zu einem Jahr zu machen, in
zukünftig auch in Russland von der Opposition dem Revolutionen nicht gefeiert, sondern verur-
erfolgreich angewandt werden. Und sie könnte teilt werden.
zu einer ernsthaften Bedrohung für die politische Die Ironie der gegenwärtigen Situation liegt
Ordnung des Landes werden.12 darin, dass Moskau hundert Jahre nach der Rus-
Obwohl Moskau auf Donald Trumps Wahl- sischen Revolution riskiert, denselben Fehler zu
sieg anfänglich euphorisch reagierte, hat sich wiederholen, den Deutschland 1917 gemacht hat:
die Stimmung verändert. Allmählich wird die zu glauben, dass es geopolitische Ambitionen
Trump-Präsidentschaft nicht mehr als Vorteil, verwirklichen kann, indem im Ausland Revolu-
sondern als Bedrohung aufgefasst. Moskau wird tionen angeheizt werden. Auf der anderen Seite
langsam klar, dass die Wachablösung im Weißen riskieren die Amerikaner, zu übersehen, dass die
Haus keine große Veränderung in den russisch- gegenwärtige Revolution in Washington nicht
amerikanischen Beziehungen mit sich bringen einfach durch die Einmischung Russlands zu er-
wird. Es ist für den Kreml besonders gefährlich, klären ist. Schließlich wissen wir heute, dass Le-
dass einige nationalistische Kreise in Russland nin kein deutscher Agent war und dass Trump
Trumps aufrührerischen Ansatz bewundern. Im auch kein russischer Agent ist. Revolutionen zum
Januar 2017 war Putin zum ersten Mal seit seiner Guten wie zum Schlechten sind vor allen Dingen
Rückkehr in den Kreml 2012 nicht der am häu- hausgemacht.
figsten genannte Name in den russischen Medi-
en: Es war der Name „Trump“. Und obwohl die Übersetzung aus dem Englischen: Sandra H. Lustig,
Hamburg.
11 Zit. nach Philip Rucker/Robert Costa, Trump’s Hard-line Actions
Have an Intellectual Godfather: Jeff Sessions, 30. 1. 2017, www.
washingtonpost.com/ac393f66-e4d4-11e6-ba11-63c4b4fb5a63_
story.html?utm_term=.2960c616bd54.
IVAN KRASTEV
12 Vgl. Ekaterina Buravich, Kremlin Experts Predicted the Rise of
Populism in Russia According to the Western Model, 23. 4. 2017,
ist Direktor des Centre for Liberal Strategies
https://newsworld.co/kremlin-experts-predicted-the-rise-of-popu- in Sofia und ständiges Mitglied am Institut für
lism-in-russia-according-to-the-western-model. die Wissenschaften vom Menschen in Wien.

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Russische Revolution APuZ

DIE RUSSISCHE REVOLUTION


UND IHRE FOLGEN
Manfred Hildermeier

Zum Schulwissen gehört, dass sich in der Nacht chen „Verlierer“, der Konstitutionellen Demo-
vom 25. auf den 26. Oktober 1917 in Petrograd kraten, zurück, die als politische Speerspitze des
– wie St. Petersburg ab Herbst 1914 hieß – eine Liberalismus im späten Zarenreich gelten kön-
Revolution vollzogen habe, aus der die So­wjet­ nen. Dieser Sichtweise zufolge befand sich die
union als erster sozialistischer Staat der Welt her- politische Entwicklung Russlands alles in allem
vorging.01 Letzteres bleibt richtig, aber die be- auf gutem Wege, trotz des unzeitgemäßen auto-
griffliche Kennzeichnung der Ereignisse ist schon kratischen Regimes und trotz sozialer Verwer-
seit Längerem korrigiert worden. Was in die- fungen und Krisen. Die sogenannte erste Revo-
sen Tagen – laut gregorianischem Kalender am lution von 1905/06 hatte den Zaren gezwungen,
7./8. November02 – geschah, war ein umsichtig, einer Volksvertretung, der „Duma“, zuzustim-
wenn auch verdeckt vorbereiteter Staatsstreich, men und eine Verfassung zu verkünden. Auch
ein Putsch, der sich auf die Übernahme der städ- wenn die verbrieften Rechte der Duma begrenzt
tischen Garnisonen stützte. Wenn „Revolution“ waren, veränderte ihre bloße Existenz den legis-
einen fundamentalen, von gewaltsamen Massen- lativen und politischen Entscheidungsprozess im
protesten begleiteten Umsturz auch der wirt- Reich grundlegend. Fortan wurde jedes wichtige
schaftlichen und sozialen Verhältnisse meint, Gesetz in ihren Ausschüssen und im Plenum be-
dann fand eine solche nicht statt. Allerdings wur- raten. Zeitungen entstanden, die den unterschied-
de mit der Machtübernahme der Grundstein da- lichen politischen Strömungen in und außerhalb
für gelegt. der Volksvertretung als Forum dienten und eine
In der Geschichte der Neuzeit gehörten Revo- publizistische Öffentlichkeit begründeten.
lution und Krieg fast immer zusammen. Wenn ei- Nach dem Abklingen der Unruhen 1907 fass-
ner Revolution kein Krieg voranging, dann folgte te auch die Wirtschaft wieder Tritt. Russland
er ihr nach. Der Russische Bürgerkrieg von 1918 blieb zwar deutlich hinter den damals führenden
bis 1921, dessen Grausamkeit und Blutzoll die des Industriestaaten Deutschland, Großbritannien,
Weltkriegs übertrafen, war im Kern ein solcher den Vereinigten Staaten und Frankreich zurück,
nachgeholter Revolutionskrieg. Erst der Sieg der nahm aber den nächsten Rang noch vor der öster-
„Roten“ gegen die „Weißen“ besiegelte definitiv reichisch-ungarischen Doppelmonarchie ein. In
das Schicksal der alten Ordnung in Russland. Erst den größeren Städten formierte sich eine Gesell-
um diese Zeit war endgültig klar, dass die begon- schaft von Besitz und Bildung, die sich in der lo-
nene soziale, wirtschaftliche und kulturelle Um- kalen Selbstverwaltung und in den entsprechen-
wälzung Bestand haben würde. Nur mit Blick auf den Gremien der Gouvernements engagierte und
den Gesamtzeitraum von Ende 1917 bis Sommer zur tragenden Schicht liberaler Parteien wurde.
1921 sollte man daher von einer Revolution in der Die große Mehrheit der Bauernschaft litt der-
üblichen Wortbedeutung sprechen. weil nach wie vor darunter, dass die Äcker zu
klein waren und zu wenig Ertrag abwarfen. Das
ZWEI ERKLÄRUNGSMUSTER Zarenreich durchlebte einen durchaus krisenhaf-
ten Prozess des Übergangs von einer agrarischen
In diesem Sinn ist auch in der historischen For- zu einer industrialisierten Gesellschaft und des
schung über „die“ Russische Revolution disku- entsprechenden Wandels der politischen Ord-
tiert worden. Zwei Erklärungsmuster dominie- nung. Vor allem die Autokratie, das heißt die ab-
ren seit den 1950er Jahren: Eine erste Deutung solute Monarchie russischer Prägung, wehrte sich
geht auf das Selbstverständnis der hauptsächli- hartnäckig gegen die Beschneidung ihrer Kompe-

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tenzen durch ein vollberechtigtes Parlament. So schwer. Die Arbeiterschaft blieb ein Fremdkör-
hielten soziale Spannungen zwar unvermindert per in einem Staat, der noch weitgehend vom tra-
an, aber über kurz oder lang hätte die absolute ditionellen Beamten- und grundbesitzenden Adel
Monarchie nachgeben und der Transformation in geprägt war, und in einer Gesellschaft, die neue
eine konstitutionelle, möglichst sogar demokra- Eliten nur widerwillig akzeptierte. Laut dieser
tische Ordnung zustimmen müssen – wenn der sozialgeschichtlichen Deutung hat die ungleich-
europäische Krieg nicht ausgebrochen wäre, der mäßige Entwicklung von Wirtschaft, Gesellschaft
enorme finanzielle und wirtschaftliche Lasten mit und Staat zu politisch-sozialen Spannungen ge-
sich brachte. Er führte zu Versorgungsengpässen, führt, die das Zarenreich letztlich zerrissen. Auch
Hunger und Not, verschärfte die sozialen Gegen- dieses Erklärungsmuster weist dem Ersten Welt-
sätze und trieb die Massen auf die Straßen. Ohne krieg mit seinen Sonderlasten einen großen Stel-
Krieg – so die Quintessenz dieser Sichtweise – lenwert zu; genau genommen aber nur als zusätz-
keine Revolution. liche Ursache der Revolution, nicht als einzige
Dieser Deutung trat in den 1960er Jahren eine und auch nicht als hauptsächliche.
sozialgeschichtlich unterfütterte entgegen, die auf Inwieweit beide Deutungen in gleichem Maße
längerfristige Prozesse verwies. Sie diagnostizier- überzeugen, hängt in vielerlei Hinsicht von der
te eine schwere Strukturkrise, die sich vor allem Perspektive des Betrachters ab. In den vergan-
aus der Unvereinbarkeit zwischen der alten, vom genen Jahrzehnten ist die sozial- und struktur-
grundbesitzenden Adel und der unbeschränkten geschichtliche allerdings klar ins Hintertreffen
Monarchie geprägten Ordnung und neuen sozi- geraten. Alle neueren Darstellungen laufen, wie
alen Schichten und politischen Kräften ergab, die modifiziert auch immer, auf eine Bestätigung der
als Folge der Industrialisierung seit der Aufhe- liberalen Kernannahme hinaus: Ohne Krieg wäre
bung der Leibeigenschaft 1861 entstanden war. eine evolutionäre Entwicklung denkbar gewesen,
Die Textilfabriken, Eisenhütten und Stahlwerke die einen radikalen Bruch und einen sozialisti-
brauchten Arbeiter. Vor allem die großstädtische schen Staat erübrigt hätte.
Bevölkerung wuchs rasch; Elendsviertel mit ih- Auch wenn diese Sicht gegenwärtig wieder
ren sozialen Problemen entstanden. Zugleich bil- dominiert, ist nicht zu leugnen, dass die Ent-
dete sich eine Unternehmerschaft, die zwar klein wicklung des Jahres 1917 Argumente für beide
blieb, jedoch nach der Jahrhundertwende nicht Sichtweisen enthält. Man sollte nicht vergessen,
nur wirtschaftlich an Bedeutung gewann. Wich- dass Russland 1917 zwei Umstürze erlebte: den
tiger aber war, dass die parallele gesamtgesell- Februar­auf­stand, dem die Autokratie zum Opfer
schaftliche Modernisierung eine neue akademisch fiel, und den Oktobercoup, der nach kurzer Koa-
qualifizierte Elite hervorbrachte, die gemeinsam litionsregierung mit den Linken Sozialrevolutio-
mit dem liberalen Adel Ansprüche auf Teilhabe nären zur Alleinherrschaft der Bolschewiki führ-
am politischen Gestaltungsprozess, gipfelnd in te. Beide Phasen legen nicht nur den Vergleich
der Forderung nach einer Volksvertretung, erhob. mit den moderaten Anfangs- und den radikalen
Bei alledem beharrte die Autokratie nicht Endjahren der Französischen Revolution nahe.
nur auf der Unbeschränktheit ihrer politischen Sie korrespondieren auch mit den skizzierten
Macht. Darüber hinaus tat sie sich, in dem durch- ­Deutungen.
aus zutreffenden Bewusstsein, dass das Funda- Das Februarregime stand in deutlicher Konti-
ment ihrer Macht auf dem Lande lag, mit den nuität zur konstitutionell-liberalen Entwicklung
neuen sozialen Schichten und ihren Wünschen im Zarenreich. Auch wenn der Krieg dessen Un-
tergang herbeiführte und die mögliche Evolution
im realen Geschehen in eine Revolution mündete,
01 Für übergreifende Darstellungen zur Russischen Revolution
und weiterführende Literaturverweise siehe Helmut Altrichter,
verschaffte es vielen Forderungen und Wünschen
Russland 1917: Ein Land auf der Suche nach sich selbst, Paderborn der einstigen Opposition praktische Geltung.
2017; Orlando Figes, Russland. Die Tragödie eines Volkes: Die Nur war die neue demokratische und freiheitli-
Epoche der russischen Revolution 1891 bis 1924, Berlin 2014; che Ordnung höchst labil. Bald setzten ihr dis-
Manfred Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion 1917–1991,
ruptive Kräfte und radikale Gegner zu. Sie nutz-
München 20172 (i. E.).
02 Wenn nicht anders angemerkt, richtet sich im Folgenden die
ten die Konflikte und Verwerfungen, denen die
Datierung nach dem jeweils geltenden Kalender, bis Februar 1918 langfristig-strukturelle Deutung besonderes Ge-
war dies in Russland der julianische. wicht verlieh. So gesehen, blickten die sogenann-

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Russische Revolution APuZ

ten Optimisten als Beleg ihrer Thesen primär auf mit dem Arbeiter- und Soldatendeputiertenrat
den Februar und die „Pessimisten“ primär auf ein weiteres Repräsentativorgan gebildet. In An-
den Oktober. Umso mehr sollte eine Gesamt- knüpfung an ein ähnliches Gremium von 1905
schau beides berücksichtigen und der Einsicht entstanden, vertrat es andere soziale Schichten
Rechnung tragen, dass die Ereignisse vom Okto- und andere politische Gruppen, die als deren An-
ber 1917 nicht ohne das Februarregime und seine wälte auftraten; tonangebend waren vor allem
Probleme denkbar sind. menschewistische Sozialdemokraten und Sozi-
alrevolutionäre, während die Bolschewiki noch
VERLAUF DER REVOLUTION keine Rolle spielten. Insofern spiegelte sich in
dieser sogenannten Doppelherrschaft ein fun-
Dem genannten engeren und üblichen Verständ- damentaler Tatbestand der damaligen russischen
nis von Revolution entsprach nur der Februar­ Gesellschaft wider: ihre tiefe Spaltung.
umsturz: Er war das Resultat von spontanen In stärkerem Maße als bisher war die neue
Massendemonstrationen gegen unerträglich ge- Ordnung auf Kompromisse angewiesen. Fak-
wordene Lebensbedingungen. Der Protest be- tisch mussten alle wichtigen Entscheidungen der
gann am 23. Februar 1917 des julianischen Ka- Regierung von beiden Organen abgesegnet wer-
lenders, das heißt am 8. März westeuropäischer den. Dies funktionierte anfangs nicht zuletzt des-
Zeitrechnung, dem Internationalen Frauentag, halb, weil die Menschewiki den Liberalen aus der
mit einem Protestmarsch von Frauen aus dem Pe- Duma die Macht freiwillig überließen – lehrte sie
trograder Arbeiterviertel gegen den Mangel an ihre orthodox-marxistische Geschichtsideologie
Brot und Milch sowie, in einem extrem kalten doch, dass dem eben überwundenen „feudalis-
Winter, an Holz und Kohle. Der Aufstand endete tischen“ Stadium der historischen Entwicklung
am 2. März mit der Abdankung des Zaren. ein „bürgerlich-kapitalistisches“ folgen müsse,
Am selben Tag trat eine neue Regierung an in dem den Repräsentanten der „Bourgeoisie“
die Öffentlichkeit, die allgemeine, demokratische auch die politische Führung gebühre. Erst als es
Wahlen für eine Verfassungsgebende Versamm- zu Massendemonstrationen gegen eine diploma-
lung vorbereiten und bis zu deren Einberufung tische Note des Außenministers Pawel Milju-
amtieren sollte. Hinter dieser „Provisorischen kow kam, der den Alliierten die Fortsetzung des
Regierung“ stand ein sogenanntes Duma-Komi- Kriegs und die Solidarität auch des neuen Russ-
tee aus führenden Parlamentsabgeordneten der lands zusicherte, musste die erste, rein liberale
liberalen Parteien, das sich am Ende der Streik- Regierung zurücktreten.
woche, als die alte Herrschaft faktisch schon zu- Der Anfang Mai gebildeten neuen Regierung
sammengebrochen war, gebildet hatte, um die gehörten auch Vertreter der gemäßigten sozialis-
öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Dies tischen Parteien an. Insofern schien eine Verstän-
konnte nur mit Zustimmung des Oberkomman- digung über die sozialen und politischen Gräben
dos der Armee geschehen. Die Generäle waren hinweg nun sogar leichter geworden zu sein. Die-
zu dem Entschluss gekommen, dass die Monar- se Hoffnung erwies sich jedoch schon bald als
chie nicht mehr in der Lage sei, die unerlässliche Irrtum. Es gelang auch der Koalition nicht, die
Stabilität im Hinterland zu gewährleisten. Letzt- Hauptprobleme der neuen Ordnung in den Griff
lich hatten sie mit ihrem Votum den widerstre- zu bekommen.
benden Zaren zum Thronverzicht gezwungen Am drängendsten war fraglos die Aufgabe,
und das Duma-Komitee ermuntert, die Macht den Krieg zu beenden. Die überwiegend bäuer-
zu übernehmen. Dabei ließen sie sich von einem lichen Soldaten waren kampfesmüde; spätestens
Gedanken leiten: den Krieg trotz der bisheri- nach dem Sturz der Autokratie wollten sie nach
gen Niederlagen im Bündnis mit Frankreich und Hause, um bei der erwarteten Landreform nicht
Großbritannien doch noch zu einem siegreichen zu kurz zu kommen. Überdies hatte eine frühe
Ende zu bringen. Mithin opferten die Generäle, Resolution des Sowjets das Ende der Unterord-
die gewiss keine Revolutionäre waren, die Mon- nung der Soldaten unter die Offiziere verfügt.
archie für das Überleben der Nation. Die Armee befand sich in Auflösung. Dies war
Allerdings war die neue politische Ordnung der Regierung bewusst. Sie stand aber zugleich
von Anfang an labil, da sie auf zwei Säulen ruh- unter dem massiven Druck der Alliierten, den
te: Zeitgleich mit dem Duma-Komitee hatte sich Krieg fortzusetzen, und sie wollte dies mehrheit-

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APuZ 34–36/2017

lich auch selbst. So fasste sie Ende Mai 1917 den terstützt hatten, den Kampf an. Zu einer ersten
fatalen Entschluss zu einer neuen Offensive, zu Kraftprobe kam es Anfang Juli anlässlich von
deren Unterstützung auch die Todesstrafe wieder Massendemonstrationen gegen den unglückli-
eingeführt wurde. Der Angriff scheiterte kläglich. chen Beschluss zur neuen Offensive. Noch be-
Fortan war die Desertion nicht mehr zu stoppen hielt die Provisorische Regierung die Oberhand.
und der Rückhalt des Februarregimes unter den Doch das Blatt wendete sich im August, als der
Soldaten endgültig verloren. offene Putsch des neuen Oberbefehlshabers der
Nicht glücklicher operierte die Provisorische Armee, General Lawr Kornilow, scheiterte – wa-
Regierung in der Agrarfrage. Es war ehrenwert, ren es doch die bolschewistischen Arbeitermili-
dass sie der Konstituierenden Versammlung bei zen (Rote Garden), die sich als zuverlässigste Ver-
dieser Grundentscheidung über die wirtschaftli- teidiger Petrograds erwiesen.
che und soziale Struktur des neuen Staates nicht In der Hauptstadt des Reiches – und was hier
vorgreifen wollte und mit konkreten Maßnah- geschah, war entscheidend – sahen sich die erbit-
men zögerte. Immerhin kam sie den Erwartungen terten Feinde der Provisorischen Regierung nun
der Bauern, die mit rund 80 Prozent die Bevölke- im Aufwind. Auf Drängen Lenins, der seine Par-
rungsmehrheit stellten, so weit entgegen, dass sie tei einmal mehr, wie schon im April, mit kompro-
Landkomitees einsetzte, um eine Umverteilung missloser Hartnäckigkeit auf seine Linie brachte,
vorzubereiten. Mehr aber geschah nicht – auch, bereitete sie unter dem Deckmantel des „Mili-
weil sich Sozialisten und Liberale über einen zen- tärischen Revolutionskomitees“ des Sowjets ei-
tralen Aspekt des Problems nicht einigen konn- nen Umsturz vor. Dieses wurde ursprünglich zur
ten: ob Enteignungen erlaubt sein und Entschädi- Verteidigung der Hauptstadt gegen die deutsche
gungen dafür gezahlt werden sollten. Umso eher Armee gegründet, die schon in Riga stand. Der
sahen sich die Bauern berechtigt, zur Selbsthilfe Umsturz gelang am 25./26. Oktober, als die Bol-
zu greifen. Sie nahmen sich mit Gewalt, worauf schewiki die Mehrheit des Exekutivkomitees des
sie seit Jahrhunderten durch ihrer Hände Arbeit soeben zusammengetretenen Zweiten Allrussi-
einen Anspruch zu haben glaubten. Faktisch voll- schen Kongresses der Arbeiter- und Soldaten­räte
zog das Dorf seine eigene Revolution. erringen konnten.
Und auch auf die dritte Herausforderung, die Dass die neuen Herren aus anderem Holz ge-
dramatische Verschlechterung der allgemeinen schnitzt waren als die Provisorische Regierung,
materiellen Lage, fand die Regierung keine Ant- machten sie noch am Morgen nach der Macht-
wort. Zwar folgte dem Februarumsturz eine Wel- übernahme klar. Ihre ersten beiden Dekrete be-
le von Lohnerhöhungen. Ferner mussten sich die stätigten den Bauern den Besitz des Landes, das
Unternehmer der langjährigen gewerkschaftli- diese sich mit Gewalt genommen hatten, und ver-
chen Hauptforderung nach einem Achtstunden- kündeten einen sofortigen Waffenstillstand. Da-
tag beugen. Die Besserungen erwiesen sich aber mit sicherten sie sich die Loyalität der breiten
schnell als Strohfeuer. Tatsächlich schlitterte die Masse der Bevölkerung. Demagogie siegte über
Wirtschaft nach drei Jahren Krieg und einer Re- zögerliche Realpolitik.
volution immer weiter auf den Abgrund zu. Die Auch die nachfolgenden Maßnahmen dienten
Arbeitslosigkeit stieg, die Inflation galoppierte. vor allem dem einen Zweck, die Macht zu behaup-
Im Sommer konnte die syndikalistische Rätebe- ten, die man unter günstigen Umständen in der
wegung schale Triumphe feiern, als viele Fabri- Hauptstadt ergriffen hatte. Die atemberaubende
ken von den Arbeitern in eigene Regie genom- Selbstgewissheit und die Unerbittlichkeit, mit der
men wurden – weil sie bankrott waren und kein Lenin für sich und seine Anhänger die ausschließli-
Unternehmer mehr Interesse an ihnen hatte. che Kompetenz beanspruchte, haben ihm zu Recht
Dies alles war Wasser auf die Mühlen der ra- den Ruf eingetragen, ein fanatischer Ideologe und
dikalen Gegner des Februarregimes. Als solche durchsetzungsstarker Politiker zugleich gewesen
setzte sich seit der Rückkehr Lenins und ande- zu sein. So wie er schon vor dem Oktobercoup
rer Parteiführer im Wesentlichen eine Partei in Kritiker zum Verstummen gebracht hatte, die ei-
Szene: die bolschewistische. Lenins „Aprilthe- nen Aufstand für verfrüht hielten, so bekämpfte er
sen“ sagten der „bürgerlichen“ Regierung, die danach alle, die für eine gesamtsozialistische Re-
auch seine Genossen (unter anderem Stalin) so- gierung eintraten. Erst als die Bolschewiki aus ei-
eben noch gemeinsam mit den Menschewiki un- ner Position der Stärke verhandeln konnten, ließ

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Russische Revolution APuZ

er sich auf eine Koalition mit den Linken Sozialre- Umsturzes gegen eine Koalition antibolschewis-
volutionären, die den Umsturz unterstützt hatten, tischer Kräfte, unter denen die Reste der zaristi-
ein. Es passte aber durchaus in seine Strategie, dass schen Armee und Monarchisten mehr und mehr
es schon Mitte März 1918 über die Zustimmung die Oberhand gewannen. Die Anhänger und Par-
zum Diktatfrieden von Brest-Litowsk, den die teien des Februars, die eine „dritte Kraft“ hatten
deutschen Generäle der faktisch wehrlosen Revo- bilden wollen, aber über keine eigenen bewaffne-
lutionsregierung aufzwangen, zum Bruch kam. So ten Einheiten verfügten, wurden zerrieben. Zwi-
viel Realpolitik mochten Lenins Partner nicht ak- schen bolschewistischer Alleinherrschaft und
zeptieren. Damit ergab sich, was er ohnehin woll- rückwärtsgewandter Militärdiktatur blieb kein
te: Endgültig lag „alle Macht“ nicht, wie die Parole Platz für eine freiheitlich-demokratische Alter-
vom Oktober gelautet hatte, beim Sowjet, sondern native. Im dreijährigen, vor allem im Süden und
bei den ­Bolschewiki. Osten ausgetragenen Konflikt, gelang es den neu-
Parallel fielen in diesen Monaten auch andere en Herren, nicht nur den europäischen Reichsteil,
Kernentscheidungen über die Struktur der neuen sondern auch den Kaukasus, Mittelasien und den
Herrschaftsordnung. Gleich nach dem Umsturz Fernen Osten unter ihre Kontrolle zu bringen.
begann die Verfolgung der Liberalen. Sie galten als Faktisch entstand das alte Imperium unter dem
ideologische Hauptfeinde, mit denen der prokla- Banner von Hammer und Sichel neu.
mierte Rätestaat nichts zu tun haben wollte. In der Vor allem drei Faktoren kommen als Ursa-
aufgeheizten Stimmung kam es zu brutalen Ge- chen für diesen Sieg in Betracht: Erstens verfüg-
walttaten, denen sich die prominenten Konstituti- ten die Bolschewiki über Zentralrussland und
onellen Demokraten nur durch Flucht entziehen damit über die größeren demografischen, admi-
konnten; die meisten fanden sich bald im Süden, an nistrativen und sonstigen Ressourcen; ihre Fein-
der Seite der „weißen“ Generäle, wieder. de mussten dagegen mit der menschenleeren Pe-
Größere Vorsicht mussten die neuen Macht- ripherie vorlieb nehmen. Zweitens gelang ihnen
haber gegenüber den anderen sozialistischen Par- fraglos eine militärische Meisterleistung, indem
teien walten lassen, die Rückhalt in der Bevölke- sie in kürzester Zeit eine eigene Armee, die „Rote
rung genossen und im Sowjet vertreten waren. Armee“, aus dem Boden stampften, hierfür erfah-
Außerdem hatten sie das Kernanliegen der Fe­ rene Offiziere des alten Regimes gewannen und
bruarrevolution, die Einberufung einer Konsti- auch in ihren eigenen Reihen erstaunlich viele
tuierenden Versammlung, von Beginn an unter- Talente fanden. Dies war das Werk des allgegen-
stützt. Auch nach der Machtergreifung im Namen wärtigen Kriegskommissars Leo Trotzki, dessen
der Räte wagten sie nicht, die für Anfang Novem- Sonderzug an allen Fronten auftauchte und zum
ber anberaumten Wahlen abzusagen. Dennoch lag propagandistisch wirksamen Symbol des Sieges
auf der Hand, dass beide Institutionen nicht mit- wurde. Vor allem aber zahlte sich drittens der tak-
einander zu vereinbaren waren: Die Versamm- tische Schachzug Lenins aus, sich mit den Eman-
lung stand für eine parlamentarische Demokra- zipationsbewegungen der nichtrussischen, meist
tie, in der obendrein die Sozialrevolutionäre als islamischen Nationalitäten im Osten und Südos-
Wahlsieger das Sagen gehabt hätten, die Räte für ten zu verbünden. Es war diese Allianz, die den
einen Sowjetstaat. So musste die Entscheidung Bolschewiki unschätzbares Engagement zuführte
fallen, als die Konstituierende Versammlung am und letztlich ihr Überleben sicherte. Formal zoll-
5. Januar 1918 im Taurischen Palais zusammen- te ihr der föderale Charakter der bald gegründe-
trat. Als alle Abgeordneten im Morgengrauen des ten Russischen Sozialistischen Föderativen Sow-
folgenden Tags gegangen waren, umstellten Rote jetrepublik (RSFSR) Tribut. Auf einem anderen
Garden das Gebäude und ließen niemanden mehr Blatt stand, dass der Buchstabe „F“ mit der Wirk-
hinein. Damit war der Weg frei für die förmliche lichkeit wenig gemein hatte, weil er sich mit dem
Begründung einer Räterepublik. monopolistischen Anspruch der neuen Herr-
schaft nicht vertrug und bald vergessen wurde.
BÜRGERKRIEG Auch in anderer Hinsicht zahlten Russland
und manche nichtkonforme Revolutionäre der
Der Bürgerkrieg, der im Frühsommer 1918 end- ersten Stunde einen hohen Preis für den Endsieg.
gültig begann, verschärfte die Polarisierung dra- Denn der Bürgerkrieg wurde zur Hochphase des
matisch. Offen kämpften nun Verteidiger des Zentralismus, außerordentlicher Organe wie der

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APuZ 34–36/2017

allmächtigen, extralegal und paramilitärisch ope- ten mit den Bauern auch die große Masse der Be-
rierenden Geheimpolizei Tscheka sowie einer völkerung gegen sich auf. Besonders in den Gou-
ausgeprägten Militarisierung des staatlich-öffent- vernements an der Wolga und in Sibirien kam es
lichen Handelns. Treibende Kraft war auch hier – zu offenen Unruhen. In Tambow bildete sich so-
neben Trotzki im Militär – Lenin. Die „nächsten gar eine regelrechte Partisanenbewegung (Anto-
Aufgaben der Sowjetmacht“ lauteten ihm zufol- nowschtschina), die der Tscheka anderthalb Jah-
ge: Kontrolle und Disziplin, „Einmannleitung“ re zu schaffen machte. Doch auch dieser „grüne“
und Unterordnung. Auf der Strecke blieben end- Aufstand hatte gegen die überlegenen Kräfte und
gültig die Freiheiten und der Pluralismus, die der die Brutalität der Tscheka keine Chance. In der
Februar erkämpft und der Oktober noch nicht Polarisierung zwischen „Rot“ und „Weiß“ wurde
völlig beseitigt hatte. sie ebenso zerrieben wie die Parteien der Proviso-
Nicht nur andere Parteien mussten in den rischen Regierung.
Untergrund flüchten; auch andere Meinungen So begann das Regime, das am Ende von vier
unter den Bolschewiki wurden gerügt und unter- Jahren Revolution und Revolutionskrieg üb-
drückt. Für „Linke Kommunisten“, „Demokra- rig geblieben war, in sehr anderer Gestalt seinen
tische Zentralisten“ und andere Oppositionelle, Aufbau, als die Gegner der zaristischen Autokra-
die Anstoß nahmen an der Bevormundung der tie und auch noch manche Sympathisanten des
Basis durch eine neue Obrigkeit, war kein Platz Oktoberumsturzes erhofft hatten. Von den Frei-
in einem Regime, das um sein Überleben kämpf- heiten des Februars für alle Bürger war schon
te. Und selbst die Räte, die den Staat laut Verfas- bei Jahresende wenig geblieben. Aber auch die
sung formal trugen, hatten gefügig zu sein. Die Partizipationsrechte, die die Räterepublik (ge-
Hoffnung einiger Unverdrossener – darunter ein mäß der Verfassung vom April 1918) ihrer Kli-
letztes Häuflein Menschewiki, deren Popularität entel förmlich verlieh, fielen bald einer Zentrali-
wieder gestiegen war –, das Kriegsende werde ih- sierung der Verfügung über alle Ressourcen und
nen zu einer Renaissance verhelfen, wurde bitter einer Herrschaft zum Opfer, die vor keiner Ge-
enttäuscht. Der 10. Parteitag vom März 1921 be- walt zurückschreckte. Zwei Ereignissen kommt
schloss förmlich und definitiv, jegliche Fraktions- dabei besondere symbolische Bedeutung zu: der
bildung zu verbieten. Was in der Ausnahmesitua- blutigen Niederschlagung des Aufstands der Ma­
tion entstanden war, wurde zum Regelfall. trosen von Kronstadt im März 1921, die im Ok-
Am teuersten aber kam die Bolschewiki zu ste- tober 1917 entscheidend zum Umsturz beigetra-
hen, dass sie die Unterstützung der Bauernschaft gen hatten; und der gleichfalls äußerst brutalen
verloren. Denn zur Machtbehauptung gehör- Vernichtung der Rebellen in Tambow.
te die Notwendigkeit, die Versorgung der städ- Auch wenn Lenin klug genug war, den Bau-
tischen Bevölkerung einigermaßen zu sichern. ern in Gestalt der „Neuen Ökonomischen Poli-
Zu diesem Zweck verfielen sie gleich zu Beginn tik“, die zeitgleich ausgerufen wurde, Konzessi-
des Bürgerkriegs auf die unglückliche Idee, den onen zu machen, spricht gerade im Licht dieser
Klassenkampf aufs Dorf zu tragen. „Komitees drakonischen Strafaktionen immer weniger dafür,
der Dorfarmut“ sollten ausfindig machen, wo die dass sie auf Dauer gedacht war. Es hatte durchaus
„reichen“ Bauern vermeintlich ihr Getreide hor- seine Berechtigung, dass Stalin seine „Revolution
teten und es dem Staat vorenthielten. Die Taktik von oben“ als Rückgriff auf die „heroische Peri-
scheiterte kläglich, weil sich das Dorf – entgegen ode“ des „Kriegskommunismus“ pries. Wie im-
den ideologischen Erwartungen, aber getreu einer mer man die Kontinuitätsfrage beantwortet – eine
jahrhundertealten Tradition gegenseitiger Hilfe – mögliche Fortentwicklung des Regimes, so wie es
bemerkenswert solidarisch zeigte. 1921 bestand, war der Stalinismus allemal.
So offenbarten die neuen Machthaber ihr wah-
res Gesicht und griffen zu nackter Gewalt: Re-
quisitionsschwadronen der Tscheka raubten den
Bauern das letzte Korn von den Tennen, wobei MANFRED HILDERMEIER
sie auch das Saatgut nicht schonten. Damit mach- ist emeritierter Professor für Osteuropäische
ten sie nicht nur eine fürchterliche Hungersnot, Geschichte an der Georg-August-Universität
die zwischen 1921 und 1922 rund fünf Millionen Göttingen.
Opfer forderte, unausweichlich, sondern brach- m.hildermeier@phil.uni-goettingen.de

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Russische Revolution APuZ

SPIEL UM WELTMACHT
Deutschland und die Russische Revolution
Gerd Koenen

Die Rolle, die das Deutsche Reich für die Macht­ renmonarchie, der reaktionärsten und barbarischs-
eroberung der Bolschewiki im Oktober 1917 und ten Regierung“02 unter allen Kriegführenden,
für den Aufstieg der UdSSR zu einer Weltmacht brachte ihn unvermeidlich in eine faktische Inte-
eigenen, neuen Typs gespielt hat, lässt sich kaum ressengemeinschaft mit der deutschen Weltkriegs-
überschätzen, allerdings leicht unterschätzen. Hit- strategie, in der die „Revolutionierung“ des russi-
lers „treubrüchiger Überfall“ (wie der damalige schen Vielvölkerreichs eine umso zentralere Rolle
sowjetische Regierungschef Wjatscheslaw Molo- spielte, je mehr sich die deutschen Armeen im Stel-
tow im Radio sagte) im Juni 1941 hat vielfach ver- lungskrieg festrannten. Das erst eröffnete Lenin
dunkelt, wie es bis zu diesem Punkt gekommen und seiner auf wenige Tausend Gefolgsleute ge-
ist. Denn tatsächlich resultierte dieser existenzielle schmolzenen Minipartei die reale Möglichkeit, sei-
Zusammenstoß aus einer gegenseitigen Fixierung nen zentralen Losungen folgend „den Weltkrieg in
und Abhängigkeit, die man bis auf die Anfänge ei- einen Bürgerkrieg zu verwandeln“ und „Russland
ner deutsch-bolschewistischen Zusammenarbeit aus den Angeln zu heben“ – wie es ihm im Revolu-
im Herbst 1915 zurückdatieren könnte.01 tionsjahr 1917 dann auch tatsächlich gelang.
Für die Berliner Reichs- und Heeresleitung war
STRATEGISCHE die 1915 begonnene, aktive Zusammenarbeit mit
ZUSAMMENARBEIT verschiedenen russischen Revolutionären nur eine
Aktion unter vielen, im Erfolgsfall allerdings eine,
Seit ihren Anfängen war die Partei Lenins im Par- die weiteste Perspektiven eröffnete: „Der Sieg und
teienspektrum des Zarenreichs die am stärksten als Preis der erste Platz in der Welt ist aber unser,
auf Deutschland orientierte Gruppierung. Das galt wenn es gelingt, Russland rechtzeitig zu revoluti-
nicht nur für die politisch-ideologische Ausrich- onieren und dadurch die Koalition [der gegneri-
tung am Marxismus als einem „wissenschaftlichen schen Mächte] zu sprengen“, schrieb im Dezem-
Sozialismus“ deutscher Prägung. Für einen erhebli- ber 1915 der Botschafter in Kopenhagen, Ulrich
chen Teil des bolschewistischen Gründungskaders Graf Brockdorff-Rantzau, der diese Kontakte ein-
diente die deutsche technisch-indus­tri­elle Organi- gefädelt hatte, in einer Denkschrift an Reichskanz-
sationskultur auch als Vorbild für eine durchgrei- ler Theobald von Bethmann Hollweg.03
fende Modernisierung ihres eigenen Landes. Die Dass der Führer der Bolschewiki auf die ver-
anderen russischen Sozialisten, die Sozialdemokra- schiedenen, diskreten Anbahnungen schließ-
ten der Menschewiki oder die Partei der Sozialre- lich einging, ist nicht überraschend, und im We-
volutionäre, waren dagegen eher auf angelsächsi- sentlichen ist man dabei nicht auf Vermutungen
sche oder französische Vorbilder orientiert. angewiesen. Eher könnte man sich wundern,
Dass die deutschen Mehrheitssozialdemokra- in welch sensationell aufgebauschter Weise bis
ten als die stärkste Partei der Sozialistischen Inter- heute über das „deutsche Gold“ geraunt und
nationale entgegen allen Schwüren beim Kriegs- orakelt wird, das den Kitt für jenen „Teufels-
ausbruch im Sommer 1914 für die Kriegskredite pakt“04 gebildet haben soll, der den Bolschewi-
und Massenmobilisierungen ihres Landes optier- ki mit der Durchschleusung Lenins von seinem
ten, so wie es das Gros der russischen, der franzö- Schweizer Exil nach Petrograd im „plombier-
sischen und der englischen Sozialisten ebenfalls ta- ten Zug“ im April 1917 erst den Weg zur Macht
ten, änderte nichts an Lenins Grundhaltung. Seine eröffnete. Aber man kann sich umgekehrt auch
Politik des „revolutionären Defätismus“, das heißt wundern, mit welch frommer Scheu ein Gutteil
des aktiven Eintretens für „die Niederlage der Za- der seriösen Geschichtsschreibung diese für die

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APuZ 34–36/2017

Geschichte des 20. Jahrhunderts höchst bedeut- Tatsächlich verschob Lenin damit auch schon alle
same, in ihren Grundzügen klar nachweisbare hergebrachten Grundsätze und Perspektiven eines
Kollusion zwischen der deutschen Reichslei- Sozialismus marxistischer Prägung, wenn er 1916
tung und Lenins Exilorganisation immer wieder schrieb: „Wer „eine ‚reine‘ soziale Revolution er-
ins Nebensächliche abdrängt und verbannt. wartet, der wird sie niemals erleben.“ Neben den
Dieses geheime Einverständnis materialisierte Kämpfen von Fabrikarbeitern, vor allem in den
sich weniger in den Geldtransfers und sonstigen Zentren der Rüstungsindustrien, seien als Fol-
Hilfestellungen, sondern vor allem in der Schaf- ge des Weltkriegs vielmehr zu erwarten: weltwei-
fung einer politischen Handlungslinie und Her- te Aufstände unterdrückter Nationen und Natio-
stellung einer Kräftekonstellation, die Deutsch- nalitäten; Angriffe halbproletarischer bäuerlicher
land eine reale Chance auf den Sieg im Weltkrieg Massen gegen Grundeigentümer und Kirche; Sol-
eröffnen und die Bolschewiki an die Macht tragen datenmeutereien gegen sämtliche Gewalten; so-
beziehungsweise dort halten würde – ein Zusam- wie Rebellionen kleinbürgerlicher Schichten mit
menspiel, das 1917/18 sehr reale Gestalt annahm, all ihren „reaktionären Phantastereien“, wie sie
die weltpolitische Situation der Zwischenkriegs- in Russland von den antisemitischen Pogromis-
zeit zwischen 1919 und 1933 entscheidend mitbe- ten der „Schwarzhunderter“, im Westen von den
stimmt hat und selbst mit dem epochalen Zusam- entstehenden, vorerst noch namenlosen „faschis-
menstoß von 1941 nicht endete. tischen“ Bewegungen vertreten wurden.06
Lenin hatte diese Weichenstellung im Herbst Die Bolschewiki, hieß das, mussten diejenigen
1915 in einem Moment eingeleitet, da seine Ver- sein, die bereit wären, den Tiger all der „dunk-
bindungen nach Russland zum größten Teil ab- len“, anarchischen, vielleicht sogar reaktionären
gebrochen waren und er sich auf seinen winzigen Leidenschaften der Massen zu reiten, ihnen sogar
Zürcher Hausstaat mit Frau, Schwiegermutter die Sporen zu geben, um die alte Welt, die sich ge-
und einer Handvoll Helfern zurückgeworfen sah. rade zerfleischte, endgültig in Trümmer zu legen
Das Notizbuch seiner Frau Nadeschda Krups- und inmitten dieses Tumults im eigenen Namen
kaja, die sein persönliches Sekretariat bildete, und ihrer geschichtlichen Mission folgend nach
enthielt 1915/16 gerade noch zwanzig operative der Macht zu greifen.
Kontaktadressen in Russland, darunter die seiner
beiden Schwestern in Petrograd.05 LENINS WEG ZUR MACHT
Aber selbst unter den radikalsten europäi-
schen Kriegsgegnern – die bei der Konferenz von Unmittelbar nach Zimmerwald traf Lenin sich
Zimmerwald Anfang September 1915, wie Trotz- mit Alexander Helphand, einem Führer der Rus-
ki bemerkte, in vier Fiaker (Pferdekutschen) pass- sischen Revolution von 1905, der den Plan einer
ten – fand Lenin sich fast völlig isoliert. Selbst die Zusammenarbeit mit dem exilierten Bolschewi-
Handvoll seiner engsten Gefolgsleute konnte sei- kenführer an die deutsche Reichsleitung herange-
nen rasenden Polemiken gegen die „Sozialpazifis- tragen hatte und auch öffentlich für ein „Bündnis
ten“, die für ein Ende des Weltkriegs „ohne Anne- von preußischen Bajonetten und russischen Pro-
xionen und Kontributionen“ eintraten, und seiner letarierfäusten“ zum Sturz des Zarentums eintrat.
Vision einer Verwandlung des Weltkriegs in ei- Später behauptete Lenin, diesen alten Bekannten
nen gesamteuropäischen Bürgerkrieg nicht folgen. nach kurzer, heftiger Debatte „mit dem Schwanz
zwischen den Beinen“ hochkant hinausgewor-
fen zu haben. Das mag so gewesen sein – oder
01 Für übergreifende Darstellungen siehe Gerd Koenen, Der auch nicht. Jeder sichtbare Kontakt war natürlich
Russland-Komplex. Die Deutschen und der Osten 1900–1945,
hochriskant.
München 2005.
02 Wladimir I. Lenin, Der Krieg und die russische Sozialdemokra-
Aber gleich danach schickte Lenin Jakub
tie, in: Lenin Werke (LW), Bd. 21, Berlin (Ost) 1960, S. 19. Hanecki nach Kopenhagen, der seit seiner Kra-
03 Brockdorff Rantzau an Bethmann Hollweg, 6. 12. 1915, in: kauer Exilzeit vor 1914 so etwas wie der Major-
Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (PA-AA), Deutschland domus seines verbliebenen kleinen Partei- und
Nr. 131, Bd. 18, Bl. 97–100.
Hausstaats war. Schon im Oktober 1915 nahm
04 Sebastian Haffner, Der Teufelspakt. Die deutsch-russischen
Beziehungen vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg, München 2002.
05 Vgl. Robert Service, Lenin. Eine Biographie, München 2000, 06 Wladimir I. Lenin, Die Ergebnisse der Diskussion über die
S. 311 f. Selbstbestimmung, in: LW, Bd. 22, Berlin (Ost) 1960, S. 363 f.

16
Russische Revolution APuZ

dieser unter seinem Familiennamen Fürstenberg durch eine große Volksrevolution – an der die Bol-
als Teilhaber und Geschäftsführer an der Grün- schewiki so gut wie keinen Anteil gehabt hatten –
dung einer ins Kopenhagener Handelsregis- gestürzt worden war. Wie eng und interessiert die
ter eingetragenen Import-Export-Firma teil, die deutsche Seite die Entwicklung verfolgte, zeigt die
Helphand zusammen mit dem professionellen Vollzugsmeldung des Residenten der deutschen
Handelsagenten des Berliner Generalstabs und Abwehr in Stockholm, die die Oberste Heereslei-
deutschen Sozialdemokraten Georg Sklarz ini- tung am 17. April an das Auswärtige Amt weiter-
tiiert hatte. Alles war offensichtlich vorbereitet leitete: „Eintritt Lenins nach Russland geglückt.
und besprochen. Und Hanecki war keine rand- Er arbeitet völlig nach Wunsch.“08 Das besagte
ständige Figur. Der Sohn einer Bankiersfamilie sehr wenig über Lenin, umso mehr aber über die
war seit 1912 der umsichtige Organisator aller Fi- Interessen der deutschen Seite – mit denen Lenin
nanzoperationen Lenins und seiner Partei bis zu seinerseits revolutionäre Politik machen konnte.
dessen Rückkehr nach Russland im April 1917 – Der Zusammenfall der deutschen imperialen
eine Fahrt, die ebenfalls von Helphand und Ha­ Interessen und der Interessen Lenins war im Re-
necki eingefädelt und begleitet wurde. Nach der volutionsjahr 1917 weder für Freund noch Feind
Oktoberrevolution wurde er erster Chef der Zen- zu übersehen. Schon bei seiner Ankunft auf
tralbank und Organisator des Außenhandelsmo- dem Finnischen Bahnhof hatte Lenin in seinen
nopols der Sowjetrepublik sowie Hüter des für „April-Thesen“ jede Unterstützung der neuen,
weltrevolutionäre Zwecke gehorteten Schatzes demokratischen, aus Sozialisten und Liberalen
im Keller des Moskauer Kreml. 1937 würde Stalin gebildeten und von den Führern des Petrograder
ihn wie alle überlebenden Teilnehmer und Zeu- Arbeiter- und Soldatenrats unterstützten Koali-
gen dieser deutsch-bolschewistischen Zusam- tions-Regierung verweigert und stattdessen be-
menarbeit erschießen lassen. dingungslose Opposition geschworen. Von noch
Über die weitgespannten und wegen des Blo- größerem Gewicht als alle sozialen Agitationen,
ckadebruchs äußerst gewinnträchtigen Transak- mit denen die Bolschewiki inmitten des allge-
tionen des Kopenhagener Handelskontors, und meinen wirtschaftlichen Zusammenbruchs die
nicht über direkte Geldtransfers aus den Repti- Betriebsbesetzungen der Arbeiter und wilden
lienfonds der deutschen Reichsregierung, dürfte Landnahmen der Bauern unterstützten und an-
das Gros der Finanzierungen bis zum April 1917 heizten, war ihre Gegnerschaft gegen die Frie-
gelaufen sein. Ebenso wichtig oder noch wichtiger densbemühungen des Petrograder Sowjet. Dieser
waren vermutlich aber die konspirativen Verbin- hatte den Mittelmächten schon gleich nach sei-
dungswege als solche, die allein den Zusammen- ner Konstituierung einen „Frieden ohne Annexi-
halt von Exilführung und Inlandskader sichern onen und Kontributionen“ angeboten und auch
konnten. Die „Geschäftspartner“ in Petrograd die westlichen Alliierten aufgefordert, sich dem
waren ebenfalls Bolschewiki, die dort diverse anzuschließen. Aber da weder die einen noch
Tarnfirmen unterhielten und die Überschüsse aus die anderen darauf eingingen, sondern stattdes-
den Verkäufen der Schmuggelware (von Kondo- sen für neue Entscheidungsschlachten rüsteten,
men bis Bleistiften) abzweigten und auf Konten traten Sowjet wie Regierung für eine Politik des
leiteten, die der aus polnischem Adel stammende „revolutionären Defensismus“ ein. Im Klartext
Rechtsanwalt Mieczysław Kozłowski (später ein hieß das: Gewehr bei Fuß zu stehen, die eigenen
Mitglied des Tscheka-Kollegiums und Obersten Fronten nicht zu entblößen und ein chaotisches
Revolutionstribunals) für die Petrograder Partei- Auseinanderfallen der Armee bis zu einem allge-
organisation verwaltete – die davon unter ande- meinen Waffenstillstand zu verhindern.
rem ihre Untergrunddruckerei unterhielt.07 Dieses Auseinanderfallen hatte jedoch längst
Keine besonderen Geheimnisse bieten auch begonnen: Die Welle von Offiziersmorden und
die Modalitäten der Durchschleusung Lenins Massendesertionen, die schon im April 1917 ein-
und mehrerer Schübe russischer Kriegsgegner in
„plombierten“ Sonderzügen im April und Mai
08 Das Telegramm findet sich im Original reproduziert im Ka-
1917, nachdem Zar Nikolaus II. Wochen zuvor
talog des Museums für Kommunikation Berlin, Netze des Krieges.
Kommunikation 14/18, Dok. 5. Zu den Umständen der Reise siehe
07 Siehe hierzu Michael Futrell, Northern Underground, London Werner Hahlweg (Hrsg.), Lenins Rückkehr nach Russland 1917: Die
1963, S. 145. deutschen Akten, Leiden 1957.

17
APuZ 34–36/2017

setzte, entsprang der miserablen Versorgung, der letzten demokratischen Wahlen im Oktober/No-
quälenden Untätigkeit, den grassierenden Gerüch- vember 1917 auf ein knappes Viertel der Stimmen
ten über konterrevolutionäre Verschwörungen brachten – in Petrograd, Moskau und einigen an-
sowie dem Wunsch der bäuerlichen Soldaten, bei deren russischen Städten die Staatsmacht an sich
der Landverteilung im Dorf dabei zu sein. Aber reißen. Dafür brauchten sie, da es kaum Gegen-
teilweise hatte dieser spontane „Schützengraben- wehr gab, nur kleine Kontingente von Garni-
Bolschewismus“ auch schon mit der politischen sonstruppen und Roten Garden.
Agitation der Bolschewiki zu tun, die sich einen
schlagkräftigen Druck- und Presseapparat aufge- VOM WELTKRIEG
baut hatten und gerade auch unter Soldaten und ZUM BÜRGERKRIEG
Unteroffizieren neuen Anhang gewannen. Sie be-
haupteten, die Provisorische Regierung sei nichts Die Machteroberung der Bolschewiki vollzog sich
als ein williges Instrument der imperialistischen unter dem einhelligen Beifall der deutschen Öf-
Mächte des Westens und habe nur deshalb den Za- fentlichkeit, zumal sie an der Front Züge einer ein-
ren beseitigt, um den Krieg verstärkt fortzusetzen. seitigen Kapitulation der russischen Armeen trug.
„Verbrüderung“ hieß eines der Stichwor- Die offiziöse „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“
te in Lenins „April-Thesen“, mit denen er sei- meldete: „Das Ziel, für das das Volk kämpfte, näm-
ne Partei gleich nach seiner Rückkehr auf eine lich Vorschlag eines sofortigen demokratischen
völlig neue revolutionäre Perspektive ausrichte- Friedens, Aufhebung des Rechtes der Grundei-
te. Diese „Verbrüderung“ gab es bereits an den gentümer, Land zu besitzen, Aufsicht der Arbeiter
Fronten – allerdings in sehr einseitiger Art und über die Erzeugung und Bildung einer Regierung
Weise. Tausende Soldaten waren, von deutschen des Arbeiter- und Soldatenrates, ist gesichert.“ Der
Flugblättern eingeladen, mit weißen Fahnen auf sozialdemokratische „Vorwärts“ schrieb: „Die ma-
die deutsche Seite hinübergegangen, wo Marke- ximalistische Regierung schafft Ordnung“, und
tenderwagen mit Wodka, Zigaretten und Bor- stellte Lenin den Lesern in einer biografischen
dellen lockten. Deutsche Propagandaoffiziere, Skizze näher vor, die mit den wohlwollenden Wor-
oft Sozial­demokraten, kamen, ebenfalls mit wei- ten endete: „Einen solchen Charakter braucht jetzt
ßen Fahnen, auf die russische Seite hinüber, lie- die russische Arbeiterklasse, wenn sie ihre histori-
ßen Zeitungen in russischer Sprache und mit Ti- schen Forderungen erfüllt sehen will.“09
teln wie „Towarisch“ (Genosse) zirkulieren und Der neue Staatssekretär im Auswärtigen Amt,
sagten den Soldaten, sie sollten nicht länger für Richard von Kühlmann, erklärte in einer Nieder-
die imperialistischen Interessen Frankreichs und schrift für den Vortrag beim Kaiser am 3. Dezem-
Englands ihr Blut vergießen. Dasselbe forderten ber 1917: „Erst die Mittel, die den Bolschewiki
die bolschewistischen Zeitungen und Flugblätter. auf verschiedenen Kanälen und unter wechseln-
Als der neue Regierungschef, der Sozialrevo- der Etikette von unserer Seite dauernd zuflos-
lutionär Alexander Kerenski, im Juni 1917 ver- sen, haben es ihnen ermöglicht, die ‚Prawda‘, ihr
suchte, den Zerfall zu stoppen, indem er nach Hauptorgan auszugestalten und die anfangs sch-
dem Vorbild der Französischen Revolution „das male Basis ihrer Partei stark zu verbreitern. Die
Vaterland in Gefahr“ erklärte und eine Offensive Bolschewiki sind nun zur Herrschaft gelangt;
einleitete, endete das in einem Desaster. Die ver- wie lange sie sich an der Macht halten können,
lustreichen Rückzüge der unter roten Fahnen an- ist noch nicht zu übersehen. Sie brauchen zur Be-
getretenen russischen Armeen – gefolgt von neu- festigung ihrer eigenen Stellung den Frieden; und
en deutschen Vormärschen – bedeuteten nicht auf der anderen Seite haben wir alles Interesse da-
nur den Anfang vom Ende der Provisorischen ran, ihre vielleicht nur kurze Regierungszeit aus-
Regierung, sondern den Zerfall der demokrati- zunutzen.“10
schen Massenbewegungen überhaupt.
Die Revolution wurde zur Involution, zum
Kollaps aller inneren Organe des Staates und der 09 Zit. nach Alfred Opitz, Die russische Revolution des Frühjahrs
1917 im Echo führender Tageszeitungen des zeitgenössischen
Gesellschaft. Inmitten dieses in Hunderte klei-
Deutschland, in: Osteuropa 4/1967, S. 235–257.
ner und großer „Republiken“ zerfallenden Impe- 10 Zit. nach Maschinenschriftl. Ausarbeitung mit handschriftl. Ver-
riums konnten die Bolschewiki – die es als eine besserungen, 3. 12. 1917, gezeichnet: St.S. (wohl „Staatssekretär“),
Protest- und gleichzeitig Ordnungspartei in den in: PA-AA, Deutschland Nr. 131, Geh. (Geheim), Bd. 18, Bl. 112 ff.

18
Russische Revolution APuZ

Dagegen erklärte der General Erich Ludendorff Lenin ließ sich von diesen Sirenengesängen nicht
jedem, der es hören wollte: „Die russische Revoluti- beirren. Dass der Waffenstillstand und die Friedens-
on ist kein Glücksfall für uns gewesen, sondern die verhandlungen in Brest-Litowsk den Mittelmäch-
natürliche und notwendige Folge unserer Kriegs- ten in dem auf Messers Schneide stehenden Welt-
führung.“ Für die Großoffensive im Frühjahr 1918 konflikt einen enormen Vorteil verschafften, war
in Frankreich, mit der er eine militärische Entschei- ihm selbstverständlich klar. Er nahm das nicht nur
dung zu erzwingen hoffte, bevor die amerikanische in Kauf, sondern seine Regierung verschärfte die Si-
Verstärkung eintraf, forderte er im Osten „klare Ver- tuation durch die einseitige Kündigung aller Bünd-
hältnisse (…) und schnelles Handeln“: großflächige nisverträge, die Kassierung der riesigen Kriegs- und
Okkupationen der baltischen Gebiete und der ost- Vorkriegsschulden Russlands sowie die Veröffentli-
polnischen Gebiete, separate Verhandlungen mit den chung der „Geheimabkommen“ über die alliierten
Ukrainern, die sich gerade für unabhängig erklärt Kriegsziele, was den deutschen Darstellungen über
hatten, und ein klares Diktat gegenüber den Bolsche- die Ursachen des Kriegs – nämlich den Wunsch der
wiki, die er als bloße Glücksritter und bezahlte Ma- westlichen Mächte, das Deutsche, das Habsburger
rionetten für eine kurze Übergangsperiode ansah.11 und das Osmanische Reich niederzuhalten oder
Die überspannten Selbsteinschätzungen der aufzuteilen – weit entgegenkam.
Politiker und Militärs in Berlin fanden ihr genau- Obwohl Lenin in seiner eigenen Partei und
es Pendant in den dramatischen, teilweise pani- Regierung anfangs mit dieser Politik fast völlig al-
schen Lageeinschätzungen und Ausblicken der lein stand, suchte er nicht nur ein stilles, taktisches
Alliierten, die fest davon überzeugt waren, dass Bündnis, sondern eine enge, durch eine Reihe von
die Machteroberung der Bolschewiki eine „deut- Zusatzverträgen sanktionierte Verbindung mit
sche Revolution auf russischem Boden“ gewe- dem preußisch-deutschen Kaiserreich, trotz des-
sen sei. Dem britischen Generalstabschef William sen weiträumigen Landnahmen in den ehemaligen
Robertson zufolge würde ein effektiver deutsch- westlichen Reichsgebieten Russlands, vom Balti-
bolschewistischer Separatfrieden die Aussichten kum bis zur Ukraine. Zwar konnte er allen inner-
auf einen alliierten Sieg im Jahre 1918 – trotz der parteilichen Gegnern des Diktatfriedens plausibel
amerikanischen Truppen – zunichtemachen.12 vorrechnen, was ein revolutionärer Widerstands-
Die Verkündung der „14 Punkte“ durch US- krieg bedeutet hätte. Aber die Kosten der Un-
Präsident Woodrow Wilson am 8. Januar 1918 war terschrift waren noch ungleich höher: Die eben
denn auch vorrangig von dem Bemühen diktiert, die geschlossene Koalition mit den linken Sozialrevo-
Verhandlungen in Brest-Litowsk zwischen der bol- lutionären zerbrach; der Bürgerkrieg entbrannte
schewistischen Räteregierung und den Mittelmäch- jetzt an allen Fronten; das Land, auch Zentralruss-
ten zu torpedieren. Wilson erkannte die einseiti- land selbst, zerfiel; und die Alliierten sahen sich le-
ge Machtusurpation der Bolschewiki – die gerade gitimiert, die Häfen im Norden, Süden und Osten
dabei waren, die frei gewählte Verfassungsgeben- Russlands zu besetzen, um zu verhindern, dass die
de Versammlung auseinanderzujagen – de facto an dort gelagerten Waffenarsenale und Nachschub-
und ignorierte völlig die Unabhängigkeitserklärun- depots den Deutschen in die Hände fielen.
gen der nichtrussischen Republiken. Während er Umgekehrt hätte Lenins Regime, wenn es sich
den politischen Preis für das Deutsche, das Habs- dem deutschen Diktat verweigert hätte, die Un-
burgische und das Osmanische Reich bis zur dras- terstützung der eben unterdrückten Oppositions-
tischen Amputation oder völligen Auflösung ihrer parteien zurückgewinnen und sich womöglich so-
Staatsverbände mittels des Selbstbestimmungs- gar der Loyalität eines Großteils der städtischen
rechts ihrer Völker erhöhte, verlangte er den Kolo- Bürgerschaften versichern können. Genau das war
nialmächten in Paris und London wenig ab, die im der Grund, warum er diesen Weg nicht ging, son-
Gegenteil zu den designierten Mandats- und Ga- dern stattdessen den eines kompromisslos geführ-
rantiemächten der neuen Weltordnung und des neu ten, internen Bürgerkriegs, der sich nicht auf die
zu gründenden „Völkerbunds“ wurden. Niederschlagung der aktiven „weißen“ Gegner be-
schränkte, sondern mit den Mitteln eines neuarti-
gen, zugleich physischen und sozialen, in diesem
11 Erich Ludendorff, Meine Kriegserinnerungen 1914–1918,
Berlin 1919, S. 448.
Sinne „totalitären“ Terrors den Widerstand aus allen
12 Vgl. Werner Baumgart, Deutsche Ostpolitik, Wien–München Schichten der Bevölkerung, einschließlich der orga-
1966, S. 45 f. nisierten Arbeiterschaften, brach und zerschlug.

19
APuZ 34–36/2017

Mehr noch: Im Mai 1918, während die aus- flikte hinaus war sie als eine Art „Gegen-Völker­
gedünnten deutschen und österreichischen Trup- bund“ konzipiert, der zusammen mit einer aktiven
pen, ohne auf Widerstand zu stoßen, durch die sowjetischen Außenpolitik ein Bündnis mit allen
ganze Ukraine hindurch und bis zum Don vor- möglichen nationalrevolutionären und revisionis-
stießen, gab er die vieldeutige Parole aus: „Lerne tischen Bestrebungen schmieden und so die von
vom Deutschen!“; Deutschland vertrete nicht nur den westlichen Siegermächten dominierte „Ver-
„den bestialischen Imperialismus, sondern auch sailler Weltordnung“ zu Fall bringen sollte.
das Prinzip der Disziplin, der Organisation, des Zwar blieb der Einfluss der überall entstehen-
harmonischen Zusammenwirkens auf dem Bo- den, von Moskau geführten und finanzierten kom-
den der modernsten maschinellen Industrie, der munistischen Kampfbünde und Kaderparteien auf
strengsten Rechnungsführung und Kontrolle“.13 die modernen Sozialbewegungen und Klassen-
Die Aufgabe der Bolschewiki sei es, „vom Staats- kämpfe des Zeitalters beschränkt, trotz der rasen-
kapitalismus der Deutschen zu lernen, ihn mit al- den Nachkriegsinflation und der 1929 beginnenden
ler Kraft zu übernehmen“, so wie Peter der Gro- kapitalistischen Weltwirtschaftskrise. Die neue so-
ße „die Übernahme der westlichen Kultur durch wjetische Führung um Stalin konnte aber die Wi-
das barbarische Russland beschleunigte, ohne da- dersprüche zwischen den „alten“ (hegemonialen)
bei vor barbarischen Methoden des Kampfes ge- und den „neuen“ (revisionistischen) Mächten ak-
gen die Barbarei zurückzuschrecken“.14 tiv nutzen, um mal mit der einen und mal mit der
anderen Seite eine eigene Weltpolitik zu betreiben,
UMSTURZ DER VERSAILLER allen voran mit dem besiegten und „geknebelten“
WELTORDNUNG Deutschen Reich. Hitler war es, der 1933 die mehr
als zehnjährige konspirative Zusammenarbeit von
Die Leninsche Frage „Wer wen?“, das heißt wer Reichswehr und Roter Armee beendete, nur um im
letztlich wen für sich eingespannt hatte, beant- August 1939 durch einen neuen Pakt mit Stalin den
wortete sich im Spätsommer 1918 beim Zusam- Zweiten Weltkrieg gegen den Westen zu eröffnen.
menbruch der deutschen Fronten in Frankreich. Wenn Stalin dem Chef der Komintern, Ge-
Das deutsche Kaiserreich hatte den Bolschewi- orgi Dimitroff, Tage nach Kriegsbeginn erklärte,
ki mit zur Macht verholfen und sie in einer ent- Hitler werde eine Zeitlang „gute Dienste bei der
scheidenden ersten Phase aktiv gestützt – und Zerschlagung des Weltkapitalismus“ tun, dürf-
hatte durch die Überdehnung seiner Besatzungs- te er sich ganz auf der Linie von Lenins kühner
gebiete im Osten entscheidend zur eigenen Nie- Nutzung des vergeblichen deutschen Griffs nach
derlage beigetragen, die sich im Westen vollzog. Weltmacht gesehen haben. Nur waren Hitlers Vi-
Die Bolschewiki dagegen konnten sich nicht nur sionen eines arisch-germanischen Weltreichs Plä-
in Kernrussland behaupten, sondern im Feuer ei- ne ganz anderen, wahnwitzigeren Formats – die
nes langen Bürgerkriegs einen neuen multinatio- sich im Juni 1941 mit einer verheerenden Wucht
nalen Machtkader schmieden und auf dem Boden gegen die überrumpelte Rote Armee richteten.
des alten zarischen Vielvölkerreichs einen neuen Nicht proletarische Klassenkämpfe haben so-
Suprastaat, eine „Union sozialistischer Sowjetre- mit den Weg für die Serie kommunistischer Macht­
publiken“, gründen. eroberungen und Staatsgründungen im 20. Jahr-
Mehr als das: Inmitten des globalen Zusam- hundert eröffnet, die schließlich „von der Elbe bis
menbruchs der Weltordnung am Kriegsaus- zum Jangtse“, von Osteuropa und Jugoslawien
gang konnten sie eine Kommunistische Interna- über Vietnam und Korea bis nach China reichten,
tionale (Komintern) als eine einheitliche, von der sondern die beiden imperialistischen Weltkriege,
Moskauer Zentrale dirigierte bolschewistische die – wie Lenin jedenfalls begriffen hat – Weltre-
„Weltpartei“ ins Leben rufen, die der globalen volutionen eigener, monströser Art gewesen sind.
Umwandlung des Weltkriegs in einen Weltbür-
gerkrieg dienen sollte. Über alle sozialen Kon-
GERD KOENEN
ist promovierter Historiker und Publizist. Im Septem­
13 Wladimir I. Lenin, Die Hauptaufgabe unserer Tage, in: LW,
Bd. 27, Berlin (Ost) 1960, S. 150.
ber 2017 erscheint sein Werk „Die Farbe Rot.
14 Ders., Über „Linke“ Kinderei und über Kleinbürgerlichkeit, in: Ursprünge und Geschichte des Kommunismus“.
ebd., S. 333. gerd.koenen@t-online.de

20
Russische Revolution APuZ

DIE RUSSISCHE REVOLUTION


UND DER GLOBALE SÜDEN
Tobias Rupprecht

Die Russische Revolution ließ kaum ein Land der doba schlossen sich in revolutionären Verbänden
Welt unberührt. Sie löste die erste globale politi- zusammen. Kubanische Tabakarbeiter und Un-
sche Massenbewegung aus, die Menschen ver- abhängigkeitsaktivisten in Niederländisch-Indien
schiedenster Ethnien und Kulturen, Männer wie gründeten ihre eigenen Räte, die sie nach russi-
Frauen, Arbeiter wie Intellektuelle einschloss. Sie schem Vorbild „Sowjets“ nannten. Protest- und
radikalisierte eine Generation von Sozialisten, und Streikwellen gingen um die Welt. Karl Marx und
sie inspirierte Künstler weltweit. Auch die literari- Lenin gesellten sich zu Montezuma und Emilia-
sche Avantgarde in Mexiko war begeistert: „Russ- no Zapata als Helden der zeitgleich verlaufenden
lands Lungen blasen zu uns, den Wind der sozia- Mexikanischen Revolution. In den europäischen
len Revolution“, schrieb der mexikanische Dichter Kolonialreichen in Asien und Afrika radikalisier-
Manuel Maples Arce in seinem 1924 erschienenen ten sich nationale Befreiungskämpfer und sahen
Werk „Die Stadt. Ein bolschewistisches Über-Ge- sich nun als Teil einer globalen Bewegung. Mit
dicht in fünf Gesängen“.01 Die von ihm begrün- den russischen Kommunisten teilten viele von ih-
dete Estridentismo-Bewegung forderte, überkom- nen einen messianischen Glauben an eine Wen-
mene artistische Formen über Bord zu werfen, so de zu globaler Gerechtigkeit durch Vernichtung
wie die Revolutionen ihrer Zeit überkommene po- allen Übels. Durch die Bolschewiki wurde Russ-
litische Systeme hinweggefegt hatten. Doch viele land so zum Zentrum der Auflehnung gegen die
Künstler und Denker in Russland standen selbst globale Hegemonie des Westens.
im eisigen Gegenwind der Revolution: Schon 1921 Für Lenin war der Zweck der Revolution
wurde Nikolai Gumiljow, führender Vertreter der in Petrograd die Vorbereitung der kommunis-
Akmeisten und Afrika-Enthusiast, zusammen mit tischen Weltrevolution gewesen. Ursprünglich
Hunderten Intellektuellen in Petrograd einer fa- dachte er aber erst an Revolutionen in den entwi-
brizierten Verschwörung bezichtigt und als War- ckelten Industrieländern des Westens, die dann,
nung an die kritische russische Intelligenz von den wenn die gesellschaftlichen Bedingungen es er-
Bolschewiki kurzerhand erschossen. laubten, in den kolonialen Territorien fortgesetzt
Der jahrzehntelangen Faszination für die Rus- würden. Besondere Hoffnung setzte die 1919 in
sische Revolution im globalen Süden tat ihre von Moskau gegründete Kommunistische Internati-
Beginn an unfassbare Gewaltgeschichte keinen onale (Komintern) auf das Proletariat des Deut-
Abbruch. Kolonialherrschaft, wirtschaftliche Un- schen Reiches. Doch noch im gleichen Jahr schei-
terentwicklung und soziale Ungleichheit – und terte in Berlin der Spartakusaufstand, bei dem die
deren geschickte Instrumentalisierung durch die Regierung mit Freikorps gegen kommunistische
sich formierende So­wjet­union – nährten in weiten Aufständische vorging. Schließlich vereitelte im
Teilen Asiens, Afrikas und Lateinamerikas eine „Deutschen Oktober“ 1923 die Reichsregierung
verklärende Sicht auf den russischen Herbst 1917. den letzten Versuch, die Weltrevolution nach
Deutschland zu holen.
GESCHEITERTE In Moskau hatte man da bereits einen stärke-
WELTREVOLUTION ren Fokus auf koloniale Territorien in Asien und
Afrika gelegt. Der Parteitheoretiker und spätere
Als die Bolschewiki im Oktober 1917 der Provi- Komintern-Vorsitzende Nikolai Bucharin argu-
sorischen Regierung die Macht entrissen und die mentierte, koloniale Aufstände würden die im-
sozialistische Revolution ausriefen,02 hörten die perialistischen Mächte von ihren Märkten und
Völker die Signale: Studenten von Peking bis Cór- Rohstoffen abschneiden und damit die Krise des

21
APuZ 34–36/2017

Kapitalismus beschleunigen.03 Um die „Völker Sneevliet forderte indonesische Sozialisten auf,


des Orients“ gegen ihre imperialen Herren aufzu- dem Beispiel Russlands zu folgen. Borodin, Roy
bringen, war deren zahlenmäßig schwindend ge- und Maring trafen schließlich in China aufeinan-
ringes Proletariat aber nicht genug. Die Komintern der, wo sie sowohl beim Aufbau der KP Chinas
legte sich deshalb auf ihrem zweiten Weltkongress mithalfen als auch enorme sowjetische Unterstüt-
1920 darauf fest, Bündnisse mit „bourgeoisen Na- zung für die chinesischen Nationalisten unter Sun
tionalisten“ zu schmieden. Lenin und Bucharin lie- Yat-Sen organisierten.
ferten den theoretischen Unterbau für diese fun- Um weitere Anhänger aus dem globalen Sü-
damentale Neuorientierung des Marxismus. Der den für die Sache der Revolution zu gewinnen,
damalige Komintern-Vorsitzende Grigori Sinow- organisierte die Komintern Besuche in die So­
jew rief beim Kongress der Völker des Ostens in wjet­union. Der rebellische brasilianische Offi-
Baku Tausende Teilnehmer aus Turkestan, der Tür- zier Luís Carlos Prestes wurde aus seinem boli-
kei, Persien und der arabischen Welt zum Dschihad vianischen Exil nach Moskau geholt, um dort die
gegen den britischen Imperialismus auf.04 brasilianische Revolution vorzubereiten (die 1935
Lenins Schriften zum Imperialismus wurden scheiterte). Ein eigenes „Negerbüro“ der Roten
in zahlreiche Sprachen übersetzt und über die Ko- Gewerkschafts-Internationale versammelte füh-
mintern weltweit verteilt. In der Mongolei, wo rende Köpfe des Panafrikanismus wie den Trini-
Peking die Kontrolle verloren hatte, präsentierte dader George Padmore, den Jamaikaner Marcus
sich der Bolschewismus gegenüber dem globalen Garvey und afroamerikanische Künstler der Har-
Süden als Pfad zu nationaler Unabhängigkeit und lem-Renaissance. Als besonders fruchtbares Ter-
staatlich forcierter Modernisierung. Die Rote Ar- rain zur Gewinnung künftiger kommunistischer
mee und eine kleine Gruppe mongolischer Unab- Kader erwies sich Paris, wo zahlreiche Intellek-
hängigkeitskämpfer hatten 1921 die Stadt Urga er- tuelle aus Lateinamerika sowie den asiatischen
obert. Die neuen Herrscher machten daraus Ulan und afrikanischen Kolonien lebten. Schon 1925
Bator („Roter Held“), die Hauptstadt der ersten schätzte die französische Polizei, dass ein Viertel
kommunistischen Volksrepublik, und gestalteten aller etwa 4000 Chinesen in Paris Kommunisten
das Land nach sowjetischem Vorbild um. geworden seien.05 Die vom deutschen Kommu-
Transnationale Komintern-Agenten trugen die nisten Willi Münzenberg finanzierte Liga gegen
Ideen und Praktiken der Oktoberrevolution in den Imperialismus und koloniale Unterdrückung
den Rest der Welt: Jules Humbert-Droz aus der in Brüssel umwarb antikoloniale Prominente wie
Romandie war an der Gründung der Kommu- den Gründer der peruanischen Alianza Popular
nistischen Parteien (KP) in Argentinien und der Revolucionaria Americana (APRA), Víctor Haya
Schweiz beteiligt. Der in den USA ausgebildete de la Torre, und den Präsidenten des African Nati-
Weißrusse Michail Borodin reiste durch Latein- onal Congress (ANC), Josiah Gumede. Auf ihren
amerika, Skandinavien und die Türkei, um beim Reisen in die junge So­wjet­union der 1920er Jah-
Aufbau revolutionärer Kader zu helfen. Tan Ma- re wurden sie als Befreiungshelden gefeiert. Der
laka, indonesischer Komintern-Aktivist, pendelte Kontrast zu Verfolgung und Diskriminierung
jahrelang zwischen Südostasien, der So­wjet­union, im Westen überzeugte auch viele Nichtkommu-
den Niederlanden und den Philippinen. Der In- nisten vom sowjetischen Wohlwollen gegenüber
der Manabendra Nath Roy gründete noch im De- dem globalen Süden. Jawaharlar Nehru, erster
zember 1917 den Vorläufer der KP Mexikos, dann Ministerpräsident des unabhängigen Indiens, war
kommunistische Kaderschmieden im sowjetischen 1927 durch die So­wjet­union geführt worden und
Zentralasien und einige Jahre später die KP Indi- erinnerte sich später: „Sowjetrussland, trotz eini-
ens. Der niederländische Sozialist Henk „Maring“ ger unerfreulicher Aspekte, übte eine starke Fas-
zination auf mich aus, und es schien der Welt eine
01 Manuel Maples Arce, Urbe. Súper-poema bolchevique en 5 Nachricht der Hoffnung zu verkünden.“06
cantos, Mexiko 1924.
02 Siehe hierzu auch den Beitrag von Manfred Hildermeier in
dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). 05 Vgl. Michael Goebel, Anti-Imperial Metropolis. Paris and the
03 Dietrich Beyrau, Petrograd. Die russische Revolution und der Seeds of Third-World-Nationalism, Cambridge MA 2015, S. 181.
Aufstieg des Kommunismus, München 2001, S. 231–249. 06 Zit. nach Laxman Singh Rathore, Political Ideas of Jawaharlal
04 Christopher Andrews, The KGB and the World, London 2005, Nehru, in: Sobhag Mathur/Shankar Goyal (Hrsg.), Spectrum of
S. 2. Nehru’s Thought, New Delhi 1994, S. 1–32, hier S. 25.

22
Russische Revolution APuZ

In der So­wjet­union der 1920er und 1930er Jah- on Frantz Fanon und den Befreiungsbewegungen
re erhielten viele künftige postkoloniale Eliten da- der 1960er Jahre über den deutsch-amerikanischen
rüber hinaus eine jahrelange Ausbildung. An der Ökonomen André Gunder Frank und der latein-
Universität für die Werktätigen des Orients, 1921 amerikanischen Dependencia-Theorie bis hin zu
in Moskau gegründet und 1930 nach Taschkent säkularen und islamistischen Antizionisten.
verlegt, trafen Malaien auf Algerier, Tibeter auf Ma- Bis zur Russischen Revolution waren mar-
oris, Fidschianer auf amerikanische Indianer und xistische Theoretiker wie die Liberalen für einen
türkische Poeten auf deutschsprachige Kameruner grenzenlosen Markt und gegen Wirtschaftsnatio-
wie Joseph Ekwe Bilé, den Gründer der Berliner nalismus eingetreten. Marx und die Sozialdemo-
„Liga zur Verteidigung der Negerrasse“. Hier lern- kraten des 19. Jahrhunderts sahen den protekti-
ten unter anderem der vietnamesische Revolutio- onistischen Staat als Repressionsinstrument der
när Ho Chi Minh, Kenias erster Ministerpräsident Bourgeoisie, den kapitalistischen Freihandel da-
Jomo Kenyatta und zahlreiche ANC-Aktivisten gegen als historisch notwendige Etappe, die das
marxistisch-leninistische Theorie und revolutionä- Weltproletariat vor der sozialistischen Revoluti-
re Praxis. Alte bolschewistische Haudegen teilten on zusammenbrächte.07 Doch im revolutionären
ihre Erfahrung in Untergrundarbeit, Militärtakti- Russland hatten die Kommunisten Marx’ histori-
ken sowie Gewerkschafts- und Parteiaufbau; aber schen Determinismus auf den Kopf gestellt – und
auch Mathematik, Russisch und Philosophie stan- sich zunächst mehr um den Machterhalt als um
den auf dem Stundenplan. Die meisten Chinesen die Wirtschaft gekümmert. Bucharin wandte sich
in der So­wjet­union studierten an der 1925 gegrün- schließlich 1918 gegen die europäischen Sozialis-
deten Sun-Yat-Sen-Universität in Moskau. Ein be- ten und sprach sich für einen völlig verstaatlichten
trächtlicher Teil der künftigen kommunistischen Außenhandel aus. Lenin, vor allem an staatlicher
Funktionärselite, darunter auch die in Paris ange- Kontrolle der Gesellschaft im Russischen Bürger-
worbenen Deng Xiaoping und Tschu Enlai, erhielt krieg interessiert, ließ sich von Walther Rathe­naus
hier seine ideologische Prägung. Modell der zentral gelenkten Planwirtschaft ins-
pirieren, die die Ressourcenverteilung im milita-
ILLIBERALER ristischen Deutschen Reich während des Ersten
ANTIIMPERIALISMUS Weltkriegs gewährleistet hatte. Sozialismus be-
deutete von nun an staatliche Kontrolle zumin-
Trotz aller Mühen der Komintern folgte auf die dest der Kommandohöhen der Wirtschaft.08
Russische Revolution keine Weltrevolution. Statt- Auch der Aufbau politischer Strukturen nach
dessen hatte der Umsturz der Bolschewiki die 1917 erfolgte gemäß den Erfordernissen des Bür-
Ansätze sowohl eines liberalen parlamentari- gerkriegs und der konstant bedrohten Herr-
schen Systems als auch alternativer sozialistischer schaft der Bolschewiki. Ihren Sieg verdankten die
Modelle in Russland zerstört. Lenin schuf einen Kommunisten schließlich ihren effizienten Kom-
neuen Typ autoritärer Herrschaft, für dessen Le- mandostrukturen und der Organisations- und
gitimation er auch den Nationalismus nichtrussi- Ordnungsleistung des leninistischen Einparteien-
scher Völker des Zarenreichs nutzte. Zusammen systems. Dessen Erfolg war wohl das wirkmäch-
mit Bucharin entwarf er ein wirkmächtiges Deu- tigste Signal, das von der Russischen Revoluti-
tungsmuster des Imperialismus als Auswuchs des on ausging. Der Machterhalt der Bolschewiki im
Kapitalismus, das auch auf den globalen Süden Russischen Bürgerkrieg bewies, dass man mit ei-
übertragen wurde. Antiimperialismus bedeute- ner straff organisierten Minderheit in agrarisch-
te nun eine affirmative Haltung zum Nationalis- rückständigen Weltregionen nicht nur ein Ancien
mus und die Ablehnung politischen Pluralismus Régime stürzen, sondern sich auch langfristig dem
und wirtschaftlichen Liberalismus. Antikoloniale Westen widersetzen und seine eigenen Moderni-
Bewegungen weltweit erhielten mit diesem illibe- sierungsvorstellungen durchsetzen kann. Die Ko-
ralen Antiimperialismus einen theoretischen Un- mintern bestand daher darauf, dass alle Mitglie-
terbau und eine gemeinsame Sprache. Auch spä-
tere Generationen von Antiimperialisten, die sich
07 Vgl. Reza Ghorashi, Marx on Free Trade, in: Science & Socie-
explizit von der So­wjet­union distanzierten, stehen ty 1/1995, S. 38–51, hier S. 43.
in dieser auf Lenin zurückgehenden Tradition: 08 Siehe Daniel Yergin/Joseph Stanislaw, The Commanding
vom französischen Vordenker der Dekolonisati- Heights, New York 1998, S. 12.

23
APuZ 34–36/2017

derparteien sich an den leninistischen Kader- und Parteilinie gefolgt, die mehr und mehr sowjetische
Kommandotyp anpassten, und schloss alle Grup- Staatsinteressen statt der Ideale des Weltkommu-
pierungen aus, die sich verweigerten.09 nismus vertrat. Damit verloren die KPs in den
Nicht nur Marxisten sahen die im Stahlbad von meisten Ländern ihren ohnehin schwachen Rück-
Revolution und Bürgerkrieg geschaffene Kader- halt in der Bevölkerung. Nach sowjetischen Schät-
partei als einen effizienten nichtwestlichen Weg zungen gab es am Vorabend des Zweiten Welt-
zu moderner nationaler Staatlichkeit. Dieser As- kriegs auf dem ganzen afrikanischen Kontinent
pekt der Russischen Revolution stand besonders gerade einmal 5000 Kommunisten.11 Aber der mili-
im kolonialen Asien und Afrika im Vordergrund tärische Sieg der So­wjet­union über das „imperialis-
der Wahrnehmung. Unter Einfluss von Kommu- tische“ Deutschland und der darauffolgende ideo-
nisten gründete sich 1941 die vietnamesische na- logische Konflikt mit den „kapitalistischen“ USA
tionale Befreiungsbewegung Viet Minh gemäß sorgten für eine anhaltende globale Wirkmächtig-
den straffen Organisationsprinzipien der leninis- keit der Russischen Revolution im globalen Süden.
tischen Kaderpartei – inklusive Zellenstruktur, Während das sowjetische System in weiten Teilen
„demokratischem Zentralismus“ und schießfreu- Osteuropas und in Nordkorea auf den Bajonet-
digem Sicherheitsapparat. Auch die chinesischen ten der Roten Armee exportiert wurde, suchten ab
Nationalisten der Kuomintang kopierten Lenins Ende der 1940er Jahre lokale Eliten in Afrika, La-
Kommandostrukturen unter direkter Anleitung teinamerika und den restlichen Teilen Asiens wie-
von sowjetischen Militärberatern und Komintern- der aus eigenem Antrieb Inspiration in Moskau.
Agenten – bis 1927 Tschiang Kai Schek Tausende In China waren sowohl Tschiang Kai Scheks
chinesische Kommunisten massakrieren ließ und nationalistische Kuomintang als auch Mao Tse-
Stalin daraufhin die Zusammenarbeit mit „bour- tungs KP mit sowjetischer Unterstützung nach
geoisen Nationalisten“ vorerst beendete. Dennoch leninistischem Vorbild geschaffen worden. Als
inspirierte das Einparteiensystem weiterhin nicht- sich Mao 1949 endgültig im Chinesischen Bür-
marxistische Bewegungen und Potentate der Zwi- gerkrieg durchsetzen konnte, holte er Zehntau-
schenkriegszeit: Atatürk, die italienischen Faschis- sende sowjetische Spezialisten ins Land, die im
ten und auch die Nationalsozialisten übernahmen umfangreichsten Entwicklungshilfeprogramm
teilweise Parteistrukturen, Propagandatechniken, der Weltgeschichte den chinesischen Staat nach
Mobilisierungsstrategien, Massenorganisationen sowjetischem Muster neu erschufen. Weite-
und wirtschaftliche Konzepte wie die Fünfjahres- re Zehntausende Chinesen erhielten ihre Aus-
pläne von den antiwestlichen Modernisierern im bildung in der UdSSR und richteten nach ihrer
Osten. Und Sayyid Qutb, Gründer der Muslim- Rückkehr das Wirtschaftssystem, das Bildungs-,
bruderschaft, übernahm Lenins Ideen einer radi- Gesundheits- und Rechtswesen, die Massenmedi-
kalen antiwestlichen revolutionären Avantgarde – en und auch die chinesische Architektur und Ma-
freilich ohne deren antireligiöse Komponente.10 lerei am sowjetischen Vorbild neu aus. Maos Si-
Mit der Machtübernahme Stalins und seiner cherheitschef Kang Sheng, selbst ein ehemaliger
Verkündung des „Sozialismus in einem Land“ Komintern-Agent, der noch in den 1930er Jahren
schwand zunächst das sowjetische Interesse am in Moskau die Methoden von Stalins Sicherheits-
globalen Süden. Leo Trotzki, Vordenker der Welt- apparaten studiert hatte, errichtete nun das chine-
revolution, wurde in Stalins Auftrag in Mexiko er- sische Sicherheitsministerium Gonganbu: Nach
mordet. Als 1943 die Komintern aufgelöst wurde, dem Vorbild des Gulag schuf er das chinesische
waren viele ihrer Agenten bereits in Moskau hinge- Straflagersystem Laogai und initiierte stalinisti-
richtet worden. Die KPs des globalen Südens hat- sche Säuberungen innerhalb der KP Chinas.
ten diese „Säuberungen“ mit zahlreichen Parteiaus- Von den 1950er bis in die 1980er Jahre über-
schlüssen imitiert und waren stets der Moskauer nahm eine ganze Reihe weiterer Staaten der sich
formierenden Dritten Welt nach eigenständigen
09 Vgl. Victor Augusto Piemonte, La Internacional Comunista Revolutionen das aus der Oktoberrevolution her-
y los comienzos del Secretariado Sudamericano a través de la vorgegangene sowjetische Gesellschaftsmodell.
sistematización regional del proceso de bolchevización, in: Historia
Ho Chin Minhs kommunistisches Nordvietnam
Crítica 64/2017, S. 101–118.
10 Vgl. Odd Arne Westad, The Global Cold War, Cambridge
2007, S. 46–57; Steven Marks, How Russia Shaped the Modern 11 Siehe Zbigniew Brzezinski, Africa and the Communist World,
World, Princeton 2003, S. 299–232. Stanford 1963, S. 237.

24
Russische Revolution APuZ

exportierte es ab Mitte der 1970er Jahre weiter in tel der Weltbevölkerung. Das sowjetische Modell
den Süden des Landes, nachdem sich die USA zu- hatte darüber hinaus aber noch enorme Auswir-
rückgezogen hatten; daraufhin auch nach Laos, kungen auf viele andere postkoloniale Staaten. Im
und in den 1980er Jahren nach Kambodscha, wo Zuge der Dekolonisierung waren überall im glo-
es den Autogenozid der von China unterstützten balen Süden traditionelle Quellen von Autorität
Roten Khmer mit einer Invasion beendete. Kuba und politischer Legitimität in agrarischen Gesell-
unter Fidel Castro passte sich nach einer relativ ei- schaften zusammengebrochen. Für deren post-
genständigen ersten postrevolutionären Dekade koloniale Eliten bot der leninistische Einpartei-
ab Ende der 1960er Jahre vollständig an das sow- enstaat einen reproduzierbaren nichtwestlichen
jetische Parteimodell an. In den 1960er und 1970er Modellpfad zu moderner Staatlichkeit. Das Ka-
Jahren schien sich so für manche sowjetische In- derprinzip verlangte höchste Disziplin und ideo-
ternationalisten zu erfüllen, was während des Sta- logische Treue von den Parteimitgliedern, die aber
linismus gescheitert war: „Das Echo unserer bal- alle austauschbar blieben. Über lokale Parteiko-
tischen Aurora hallt um die ganze Welt“, schrieb mitees und -zellen in Gewerkschaften, Schulen,
der Dichter Dmitry Kovalev, „Grüße Afrika, Universitäten und Militär penetrierte und kon-
Grüße weit entferntes Kuba!“12 Südjemen und So- trollierte das Parteivolk die Gesellschaft. Der Po-
malia stießen in den 1970er Jahren freiwillig zum litologe Samuel Huntington hatte schon in den
sowjetischen Lager; nach dem Zerfall des portu- 1960er Jahren diese Schaffung postrevolutionärer
giesischen Kolonialreichs auch Angola, Mosam- politischer Ordnung und moderner Staatlichkeit
bik und Guinea-Bissau. als die genuine Leistung des Weltkommunismus,
Der umfangreichste Import von Ideen der Ok- ja als das einflussreichste politische Konzept des
toberrevolution in die Dritte Welt erfolgte ab Mitte 20. Jahrhunderts gesehen.14
der 1970er Jahre in Äthiopien. Als sich der Armee- In einigen multiethnischen Ländern des glo-
general Mengistu Haile Mariam nach dem Sturz des balen Südens war es wohl in der Tat nur dem au-
äthiopischen Kaisers Haile Selassie als neuer star- toritären Sozialismus leninistischer Prägung zu
ker Mann des christlich-orthodox geprägten Lan- verdanken, dass die zum nation building erforder-
des etablierte, suchte er – wie schon einige seiner liche politische Stabilität erhalten blieb. So konn-
nichtmarxistischen Vorgänger – Unterstützung in ten etwa Sukarno, erster Präsident von Indonesi-
Moskau. Um ihre Gewaltexzesse gegenüber politi- en, und Julius Nyerere, erster Regierungschef des
schen Gegnern und der hungernden einfachen Be- unabhängigen Tansanias, mit der sozialistischen
völkerung zu rechtfertigen, verwendeten die äthio- Rhetorik und der Organisationsleistung ihrer
pischen Kommunisten explizit das Vokabular des von Lenin inspirierten Massenparteien ethnische
Russischen Bürgerkriegs: Kategorien wie „Roter Konflikte im Zaum halten und somit die territo-
Terror“ und „Weiße Reak­tion“ wurden den grund- riale Integrität gewährleisten. In der ehemaligen
sätzlich verschiedenen Gegebenheiten am Horn britischen Goldküste schuf der antikoloniale gha-
von Afrika übergestülpt; lokale Konflikte als Klas- naische Befreiungsheld Kwame Nkrumah einen
senkämpfe zwischen Feudalherren, Kapitalisten sozialistisch geprägten Einparteienstaat, der auf
und Proletariat interpretiert. Noch 1984 auf dem der Macht der Convention People’s Party basier-
Gründungskongress der marxistisch-leninistischen te, und ließ sich dabei von George Padmore, dem
Arbeiterpartei Äthiopiens, erklärte sich diese stolz ehemaligen Chef des kommunistischen „Neger-
als „Erbin der Großen Oktoberrevolution“.13 büros“, beraten. Auch Sekou Touré, erster Prä-
sident des unabhängigen Guineas, und Modi-
EXPORTSCHLAGER bo Keïta, in den 1960er Jahren Staatspräsident in
EINPARTEIENSTAAT Mali, hatten über ihre früheren Kontakte mit eu-
ropäischen KPs das sowjetische Modell kennen-
Die sozialistische Welt, deren Regime sich unmit- gelernt und übernahmen mit großzügiger Unter-
telbar auf die Oktoberrevolution beriefen, um- stützung aus Moskau Elemente daraus für ihren
fasste zu Beginn der 1980er Jahre etwa ein Drit- eigenen Staatsaufbau. Hinter einer Fassade der
Demokratie und sozialistischer Rhetorik erlaubte
12 Nikolaj Anciverov/Sergej Polikarpov, Tebe Kuba! Stichi, Mos-
kau 1961. 14 Vgl. Samuel Huntington, Political Order in Changing Societies,
13 Siehe Westad (Anm. 10), S. 250–287. New Haven 1968.

25
APuZ 34–36/2017

dies die zentrale Kontrolle aller entscheidenden (…) für die Millionen in den Entwicklungslän-
gesellschaftlichen Systeme: von Bildung und Me- dern, die Opfer von Kolonialismus, Unterdrü-
dien über die Wirtschaft hin zu den Sicherheits- ckung von Nationen und Ungleichheit.“16 Un-
organen – nicht hinreichend jedoch über das Mi- term Strich blieb wenig von diesen Hoffnungen
litär, das in den 1960er und 1970er Jahren viele auf emanzipatorische Effekte des bolschewisti-
dieser euphorischen sozialistischen Experimente schen Umsturzes – weder in Russland noch im
beendete, aber gerne auf die geschaffenen Repres- globalen Süden. Was einst als verheißungsvolle
sionsorgane zurückgriff. In Zaire etwa verließ Epochenwende gefeiert wurde, erscheint aus der
sich der vom Westen gestützte Diktator Mobu- Warte des hundertjährigen Jubiläums eher als ein
tu Sese Seko, trotz seines militanten Antikommu- Teil katastrophaler Fehlentwicklungen, die sich
nismus, ebenfalls auf ein Einparteiensystem in- aus der Urkatastrophe des Ersten Weltkriegs er-
klusive Politbüro.15 gaben. Zu den Abermillionen Toten durch politi-
Auch in Asien und dem Nahen Osten erfreu- schen Terror, Säuberungen und Hungersnöte in
te sich das Einparteiensystem großer Beliebt- der kommunistischen Welt stießen weitere zahl-
heit unter postkolonialen Regimen. Nach ihrer lose Opfer von Kontroll- und Planungsutopien
Niederlage zog sich die leninistisch organisierte im globalen Süden, die sicher nicht nur die Russi-
Kuomintang nach Taiwan zurück und herrschte sche Revolution allein verursachte, aber dennoch
dort bis in die 1980er Jahre als Staatspartei. Der nachhaltig von ihr geprägt waren.
griechisch-orthodoxe Syrer Michel Aflaq, auch Die auf Lenin und Bucharin zurückgehen-
er einst kommunistischer Student im Paris der de Verbindung von Sozialismus mit staatlicher
1920er Jahre, bezog sich auf die Organisations- Kontrolle der Wirtschaft erwies sich als beson-
leistung Lenins, als er 1947 die Baath-Partei aus ders verhängnisvoll für viele Länder Afrikas und
der Taufe hob. Seit 1963 regiert sie in Syrien; spä- Lateinamerikas. China, Vietnam und Laos hinge-
ter mit einem Ableger lange Zeit im Irak. gen zeigen heute, dass eine Verbindung von leni-
Besonders Militär und Geheimdienste vieler nistischem Autoritarismus und deregulierter Wirt-
arabischer Staaten arbeiteten eng mit der So­wjet­ schaft ein tragfähiges illiberales Konzept moderner
union zusammen: Hafiz al-Assad, Vater Baschar Staatlichkeit sein kann. Lenins Schatten schwebt
al-Assads Vater, durchlief seine militärische Aus- sowohl über vielen heutigen politischen Systemen
bildung in der UdSSR; ebenso sein Bruder Rifaat, des globalen Südens als auch über antiimperialen
der den machtvollen syrischen Sicherheitsapparat Denkmustern, wird aber in der Regel nicht als sol-
aufbaute, sowie ein beträchtlicher Teil der ägyp- cher wahrgenommen. Es sieht dementsprechend
tischen Sicherheitsorgane bis Ende der 1970er nicht danach aus, als würde das hundertjährige Ju-
Jahre. Darüber hinaus lieferte die So­wjet­union biläum der Russischen Revolution nennenswerte
gigantische Mengen an Waffen an befreundete politische Wirkmacht entwickeln. Als zahlreiche
Regime des globalen Südens und trug so dazu bei, Medien Anfang 2017 kalauernd die Rückkehr Le-
dass die Gewalttradition der Oktoberrevolution nins in Lateinamerika verkündeten, war das kein
fortgeführt wurde. Hinweis auf eine erneute Verklärung der Bolsche-
wiki. Gemeint war Lenín Moreno, frisch geba-
SCHLUSS ckener Präsident Ecua­dors, der wie zigtausende
Lateinamerikaner, Südafrikaner und Inder seiner
Die auf die Russische Revolution projizierten Generation einen Namen trägt, der an die großen
Erlösungsfantasien von Intellektuellen erhielten Hoffnungen erinnert, die die Russische Revoluti-
durch die Gewaltgeschichte des Kommunismus on jahrzehntelang im globalen Süden weckte.
einige Dämpfer, hielten aber fast bis zum Ende
der So­wjet­union an. Noch 1978 schrieb der süd-
afrikanische Schriftsteller und Antiapartheidak- TOBIAS RUPPRECHT
tivist Alex La Guma: „Die Oktoberrevolution ist promovierter Historiker an der University of Exeter.
1917 öffnete eine neue Ära der Weltgeschichte Seine Forschungsschwerpunkte sind Lateinamerika-
nische und Osteuropäische Geschichte, die Rolle von
15 Vgl. Maxim Matusevich, Africa in Russia. Russia in Africa,
Kultur und Religion in Internationalen Beziehungen
Trenton 2007. sowie wirtschaftliche Ideengeschichte.
16 Alex La Guma, A Soviet Journey, Moskau 1978, S. 229. t.rupprecht@exeter.ac.uk

26
Russische Revolution APuZ

ERINNERUNG AN DIE RUSSISCHE


REVOLUTION IM HEUTIGEN RUSSLAND
Ekaterina Makhotina

Im August 2007 prophezeite der liberale Oppo- deralversammlung, formulierte Wladimir Putin
sitionelle Wladimir Ryschkow den Ausbruch ei- die Hauptlinie des Erinnerungsdiskurses für das
ner Revolution im Jahre des hundertsten Jubi- Gedenkjahr 2017 – elf Monate vor dem Jahres-
läums der Russischen Revolution. Seine Vision tag der Oktoberrevolution und nur zwei Mona-
begründete er mit der Schwäche der demokra- te vor dem der Februarrevolution. Der Vergleich
tischen Institutionen und mit der anhaltenden mit den langfristigen Vorbereitungen für andere
wirtschaftlichen Krise. Diese beiden Faktoren Feierlichkeiten, etwa zu denen des „Tags des Sie-
würden das Vertrauen des Volkes in den „Auto- ges“ am 9. Mai, macht die marginale Bedeutung
kraten“, Präsident Wladimir Putin, schwächen der Revolutionsfeiern deutlich.
und zum Umsturz führen.01 Steht die Revolution Die historische Lehre der Revolution besteht
also kurz bevor? Tatsächlich verdeutlichten die in der „Versöhnung“ und der „nationalen Ein-
Demonstrationen Ende März und am 12. Juni tracht“, so Putin.02 Die Hauptbotschaft des Ge-
2017, zu denen der Oppositionspolitiker Alexej denkjahres ist: Die Revolution darf sich nicht
Nawalny aufgerufen hatte, die Unzufriedenheit wiederholen – eine Botschaft, die über unter-
Vieler mit der Führung des Landes, und sie of- schiedliche Ausstellungen, Vortragsreihen und
fenbarten ein großes Protestpotenzial. Ähnlich Reenactments vermittelt werden soll. Mit der
wie im Februar 1917, als Rufe wie „Weg mit dem Umsetzung betraute Putin die Russländische
Zaren“ erklangen und die Marseillaise gesungen Historische Gesellschaft – eine semistaatliche
wurde, riefen die Demonstranten 2017 „Weg mit Institution unter dem Vorsitz seines Vertrauten
Putin“ und stimmten die Nationalhymne Russ- Sergej Naryschkin.
lands an. Das Motiv „Versöhnung“ soll auch in Denk-
Es gibt jedoch einen wichtigen Unterschied: malform verfestigt werden: Für den 4. Novem-
Der Protest 2017 stellte sich bewusst nicht als re- ber 2017 ist die Eröffnung eines Versöhnungs-
volutionäre Bewegung dar. Ist der Grund hier- denkmals in Sewas­topol auf der Krim geplant.
für die Revolutionsmüdigkeit der Menschen? Laut dem Kulturminister Wladimir Medinski
Oder ist das geschichtspolitische Mantra der rus- soll dieses Denkmal an die Opfer beider Bür-
sischen Führung, „Nie wieder Revolution“, so gerkriegsparteien, der „Roten“ und der „Wei-
wirkungsmächtig? Im Folgenden soll den Fragen ßen“, erinnern und die Tragik der nationalen
nachgegangen werden, welche Rolle die Revolu- Spaltung 1917 verdeutlichen.03 Der Ort für die
tionserinnerung in der heutigen Geschichtspo- Denkmalerrichtung ist symbolträchtig: Er ver-
litik Russlands spielt und welche gesellschaftli- weist einerseits auf den historischen Ort des
chen Diskurse die Diskussion um das Jahr 1917 Bürgerkriegsendes im europäischen Teil Russ-
­prägen. lands – von der Krim verließen die Reste der ge-
schlagenen Weißen Armee 1920 Russland.04 An-
REVOLUTION ALS dererseits wird die „Versöhnungsfrage“ in die
UNBEQUEME ERINNERUNG Gegenwart projiziert und damit ein nationaler
Konsens in der aktuellen Frage der Zugehörig-
Es ist bemerkenswert, dass das hundertste Jubilä- keit der Krim beschwört.
um der Russischen Revolution, ihr Erbe und die Die „Versöhnung“ als sinngebende Logik
„historischen Lehren“ sehr spät zum Gegenstand der Revolutionserinnerung ist nicht minder be-
der offiziellen Geschichtspolitik wurden. Erst merkenswert als der späte Zeitpunkt der Rede
im Dezember 2016, in einer Rede vor der Fö- zu den Jubiläumsplänen. Wird doch „die Heil-

27
APuZ 34–36/2017

kraft des Vergessens“ meistens sofort nach der aus wie der Oktoberumsturz in Petrograd. Damit
Beendigung eines Bürgerkriegs, als innere Befrie- unterscheidet sich die Erinnerung an 1917 von
dung, verordnet. In Russland liegen hundert Jah- der an den Zweiten Weltkrieg, die ein unumstrit-
re dazwischen, und doch ist das Motiv der Ver- tenes, zentrales Element des nationalen Stolzes
söhnung für die aktuelle politische Führung sehr ist. Sie unterscheidet sich auch von der faktisch
wichtig. Dies äußert sich in den politischen Re- nichtpräsenten Erinnerung an den Ersten Welt-
den, der kollektiven Erinnerung und der offiziel- krieg. Da es sich bei der Oktoberrevolution um
len Geschichtspolitik. den Gründungsmythos des Sowjetstaates han-
delt, steht die Revolutionserinnerung in Verbin-
Politische Reden dung mit der Wahrnehmung der Sowjetzeit und
In den Reden vor der Duma und im Kreml wird des Stalinismus. So offenbart sich, dass Russland
der Begriff der Revolution negativ besetzt. Mit auch ein Vierteljahrhundert nach dem Ende der
Verweis auf die sogenannten Farbrevolutio- So­wjet­union in der Frage tief gespalten ist, wie an
nen – Massenproteste, die die Machtverhältnis- diese Zeit zu erinnern ist.
se in vielen der ehemaligen Sowjetrepubliken in-
frage stellten – sollen Schreckensszenarien von Offizielle Geschichtspolitik
Chaos, Bürgerkrieg und Blutvergießen im ge- Russlands Geschichtspolitik besteht aus dem ge-
sellschaftlichen Bewusstsein verankert werden. zielten und selektiven Rückgriff auf die stolzen
Das Schreckgespenst des drohenden Zerfalls und und glorreichen Ereignisse einer tausendjähri-
des Bürgerkriegs dient als Begründung für eine gen Geschichte. Bindeglied dieses Rückgriffs ist
verordnete Eintracht und Versöhnung als na- die militärische Ruhmesgeschichte Russlands, die
tionale Aufgabe. Teil dieses Bedrohungsszena- anhand von siegreichen Schlachten und Kriegs-
rios ist auch das Gespenst des destabilisieren- herren erzählt wird.05 Im Zentrum des Narrativs
den Einflusses des Auslands, was zusätzlich eine steht die Erinnerung an den „Großen Vaterlän-
Konfliktprojektion nach außen ermöglicht: Jene dischen Krieg“ zwischen 1941 und 1945. Da die
Kräfte, die zu Veränderung und Machtwechsel Kriegserinnerung auch im biografischen und all-
aufrufen, werden als „Verräter der Nation“ oder täglichen Gedächtnis der Russen den wichtigsten
ausländische Agenten diffamiert. Deutlich ver- Platz einnimmt, können sich viele Menschen mit
stärkt hat sich die Revolutionsphobie der politi- diesem Narrativ identifizieren. Beachtenswert ist,
schen Eliten in Russland mit der Majdan-Revo- dass die russische Führung das Revolutionsge-
lution in Kiew. denken an das Weltkriegsgedenken gekoppelt hat.
So ist seit 2005 der Tag der Oktoberrevolution,
Kollektive Erinnerung laut gregorianischem Kalender der 7. November,
Das Motiv der Versöhnung wird verwendet, um ein „Tag des militärischen Ruhmes“ – in Erinne-
eine gesellschaftliche Diskussion über die Revo- rung an die Revolutionsparade am 7. November
lution zu vermeiden. In der Tat gilt die Russische 1941 während der Schlacht um Moskau.
Revolution 1917 als polarisierendes Element der Das Jahr 1917 selbst verschließt sich einer
russischen und sowjetischen Geschichte. Kaum sinnstiftenden Ruhmesgeschichte – das Motiv der
ein anderes Ereignis trennt die heutige russische Versöhnung stellt in diesem Zusammenhang le-
Gesellschaft so sehr und löst so starke Emotionen diglich eine Notlösung dar. Im hundertsten Ju-
biläumsjahr konnten die russischen Machthaber
01 Wladimir Ryschkow, Rossiju zhdet revoljucija 2017 god, die Revolution nicht ignorieren. Ebenso wenig
13. 8. 2007, https://versia.ru/vladimir-ryzhkov-rossiyu-zhdyot- konnte sie den kommunistischen Parteien über-
revolyuciya-2017-god.
lassen werden. Das Motiv der Versöhnung soll
02 Wladimir Putin, Rede vor der Föderalversammlung, 1. 12. ​2016,
http://kremlin.ru/events/president/news/​53379/work. Vgl. hierzu
von den Ereignissen 1917 wegführen und den
ausführlich Ekaterina Makhotina, Die Revolution 1917 in Russlands Blick auf den Bürgerkrieg und auf die Bedeutung
Geschichtspolitik, in: Osteuropa 6–8/2017 (i. E.). der nationalen Einheit lenken.
03 Wladimir Medinskij, Privetstvennoe slovo, in: Staatsmuseum
der russischen Zeitgeschichte (Hrsg.), 100 let Velikoj Rossijskoj Re-
voljucii. Osmyslenie vo imja konsolidacii, Materialy kruglogo stola, 05 Vgl. Philipp Bürger, Geschichte im Dienst für das Vater-
Moskau 2017, S. 9–13. land. Eckpunkte einer neuen russländischen Geschichtspolitik,
04 Siehe hierzu auch den Beitrag von Jan Kusber in dieser Dissertation, Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien
Ausgabe (Anm. d. Red.). München-Regensburg (i. E.).

28
Russische Revolution APuZ

HISTORISCHER KONTEXT te das neue Deutungsparadigma die Verantwor-


DER REVOLUTIONSERINNERUNG tung nach außen: Schuld hatte der „ausländische“
Marxismus, der dem russischen Geist „wesens-
Historische Jubiläen erinnern nicht nur an ver- fremd“ gewesen sei.
gangene Ereignisse. Im Zeitverlauf offenbaren sie Zwar hob Jelzin anfangs noch die Februarre-
auch, wie sich die Perspektive auf die jeweiligen volution positiv hervor, aber eine viel wichtigere
Ereignisse wandelt und diese entsprechend poli- Rolle spielte in den 1990er Jahren die Herrschaft
tisch instrumentalisiert werden. Das wird auch der Romanow-Dynastie und die Gegner der Bol-
an der Entwicklung der Revolutionserinnerung schewiki im Bürgerkrieg, die Weiße Armee. Eine
in Russland deutlich. 1987, zum siebzigsten Jah- breite Rezeption fanden die Memoiren der Wei-
restag der Revolution und in der Zeit der Perest- ßen Armeeführer wie Anton Denikin sowie von
roika, knüpfte Michail Gor­ba­tschow noch an die politischen Emigranten wie Iwan Iljin, Nikolaj
positive Assoziation an, die mit dem Revolutions- Berdjaew und Sergej Bulgakow.07
begriff verbunden war. Er bezeichnete die Peres- Die Ereignisse in Petrograd wurden als smu-
troika nicht als „Reform“, sondern als „Revolu- ta, als Zeit der Wirren, beschrieben und das Jahr
tion“. In seiner Kreml-Rede 1987, „Oktober und 1917 nicht mehr mit der Französischen Revolu-
Perestroika: Die Revolution geht weiter“, machte tion verglichen, sondern stand für einen russkij
er deutlich, dass die Stalinzeit eine tragische Ver- bunt (russischen Aufstand), einem sinn- und gna-
irrung der sowjetischen Geschichte war. Ähnlich denlosen Aufbegehren des Volkes. Die Spontani-
wie Nikita Chru­sch­tschow vor ihm schlug er den tät und Gewaltbereitschaft der Volksmassen, des
Kurs „zurück zu Lenin“ vor. Er löste die Februar- Pöbels, der als ochlos bezeichnet wird, wurde zum
revolution aus dem Schatten der Oktoberrevoluti- gängigen Erklärungsmuster für die Oktoberrevo-
on und bezeichnete sie als „die erste Erfahrung der lution.08 Dem ochlos fehlte es, so die Deutung, an
realen Demokratie“.06 Intelligenz und Geduld, um sich auf die liberalen
Doch die sowjetische Deutung der Revoluti- Reformer zu verlassen. Die Bolschewiki hinge-
on konnte sich nicht bis heute halten. Die rasante, gen hätten mit ihren volksbezogenen Parolen die
gesellschaftlich vorgetragene, radikale Umwer- Massen aufgehetzt und so die Macht an sich geris-
tung der Sowjetepoche stieß den „Großen Ok- sen. Ochlos und ochlokratija wurden im Diskurs
tober“ von seinem Podest. Mit dem Bedeutungs- der 1990er Jahre zu populären Begriffen, um Kri-
verlust Gor­ba­tschows und dem Triumph Boris tik an Jelzins Reformkurs zurückzuweisen.
Jelzins 1991 begann die Abwertung des sowjeti- Aufgrund sozialer und wirtschaftlicher Pro-
schen Gründungsmythos. Die traditionelle Be- bleme in Russland im Laufe der frühen 1990er
zeichnung, „Große Sozialistische Oktoberrevo- Jahre sank Jelzins Popularität, und die Nöte lös-
lution“, wurde als Symbol historischer Lügen ten bei vielen Russen eine Sowjetnostalgie aus.
dem Spott preisgegeben: In einer weit verbreite- Die Demonstrationen an den Jahrestagen der
ten Redensart hieß es, „weder groß, noch sozia- Oktoberrevolution, veranstaltet von der Kom-
listisch, noch Revolution, noch kalendarisch im munistischen Partei der Russischen Föderation,
Oktober“. Vor allem nach der Abwehr des Au- erhielten wieder mehr Zulauf. Jelzin reagierte da-
gustputsches 1991, als eine Gruppe von Funkti- rauf, indem er den vorrevolutionären orthodoxen
onären der KPdSU versuchte, Gor­ba­tschow ab- Feiertag zum Gedenken an die Befreiung Mos-
zusetzen, stand die Oktoberrevolution für den kaus im Polnisch-Russischen Krieg 1612 wieder
„Weg in die Katastrophe“. Mit dieser Deutung einführte und ihn auf den Tag der Oktoberrevo-
legitimierten sich die neuen Machthaber um Jel- lution legte. Ab 1996 versuchte er, eine Umdeu-
zin. Das ehemalige Schlüsselereignis der Welt- tung vorzunehmen: Der 7. November sollte zu-
geschichte bekam Bezeichnungen wie „Putsch“, künftig als „Tag der Eintracht und Versöhnung“
Umsturz“, „Staatsstreich“ oder „Machtergrei- begangen werden, als Mahnung zu Einigkeit und
fung“. Die Revolution – wie auch generell al-
les So­ wje­
tische – blieb während der gesamten
07 Besondere Beachtung fanden die Memoiren von Anton Deni-
Ära Jelzin negativ konnotiert. Zudem verlager-
kin, Otschcerki Russkoj Smuty, Paris 1921.
08 Paradigmatisch in dieser Hinsicht war das Werk von Wladimir
06 Michail Gor­ba­tschow, Oktjabr’ i Perestroika. Revoljucija Buldakow, Krasnaja smuta. Priroda i posledstwija revoljicionnogo
prodolzhaetsja, Moskau 1987, S. 6. nasilija, Moskau 1997.

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APuZ 34–36/2017

gegen Zerwürfnisse. Somit bemühte bereits Jelzin aura wird überblendet: Der 7. November bleibt
das Motiv der Versöhnung, wenn auch ohne grö- für Kommunisten und Sowjetnostalgiker erhalten
ßere Wirkung. und wird zudem für die nichtkommunistisch ori-
entierte Bevölkerung anschlussfähig gemacht.
„EVOLUTION Anlässlich des Revolutionsjubiläums war es
STATT REVOLUTION“ eine besondere Herausforderung für die russische
Führung, die Begrifflichkeit zu vereinheitlichen –
Mit der Amtseinführung Putins wurde Ge- variierte doch die begriffliche Spannbreite zwi-
schichtspolitik noch bedeutsamer, um Herrschaft schen einem „Putsch“ und der „Großen Sozialis-
zu legitimieren. Von Anfang an lautete die De- tischen Oktoberrevolution“. Für die Konzeption
vise: Evolution statt Revolution. Dies illustriert der vereinheitlichten Schulbücher für das Fach Ge-
auch ein Zitat aus Putins Rede vor der Föderalver- schichte, die es in Russland seit 2013 gibt, hatten
sammlung 2001: „Der Zyklus der Revolutionen ist sich die beteiligten Historiker und Mitarbeiter des
zu Ende, es wird weder Revolutionen noch Kon- Bildungsministeriums auf den Kompromiss „Gro-
terrevolutionen geben.“09 Putin versprach Stabili- ße Russländische Revolution“ geeinigt. Durch
tät und die Entwicklung in kleinen Schritten – ein diesen Begriff wurden die Februarrevolution, die
Ansatz, der nach den wirtschaftlichen und politi- Oktoberrevolution und die Zeit dazwischen zu-
schen Turbulenzen der 1990er Jahre in der russi- sammengefasst. Diese „Große Russländische Re-
schen Gesellschaft auf Zuspruch stieß. volution“ wird zusammen mit dem Ersten Welt-
Die auffälligste Abgrenzung zu Jelzin besteht krieg und dem Bürgerkrieg im Kapitel „Zeit der
in der verstärkten Hinwendung Putins zum so- großen Erschütterungen“ abgehandelt. Diese Rah-
wjetischen Erbe.10 Dabei ging es Putin weder mung – Krieg, Entbehrung und Leid – verstärkt die
um eine Idealisierung noch um eine Dämonisie- Tragik in der Perspektive auf das Revolutionsjahr.
rung des So­ wje­tischen, sondern um eine Her-
vorhebung historischer Momente, die in der Be- DREI DEUTUNGEN
völkerung anschlussfähig sind. Dabei wird das DER REVOLUTION
So­wje­tische nicht als politisch-ökonomische Al-
ternative zum Kapitalismus wahrgenommen, son- Abseits der Bestrebungen, die Russische Revolu-
dern erscheint vollständig losgelöst von seiner so- tion als tragische, zur Versöhnung mahnende Ge-
zialistischen Komponente. schichte zu erzählen, gibt es heute eine Vielzahl un-
Die Entwicklung der Jubiläen zur Oktober- terschiedlicher Deutungen der Ereignisse von 1917,
revolution ist charakteristisch für diese Politik: die anhand von drei Modellen dargestellt werden
2004 wurde der „Tag der Vertreibung der polni- können. Sie unterscheiden sich in der Bewertung
schen Besatzer“ wieder auf sein korrektes Datum, der Februar- und der Oktoberrevolution und den
den 4. November, zurückverlegt und bekam den ihnen zugrunde liegenden Idealen; der Charakte-
Namen „Tag der Einheit des Volkes“. Gleichzeitig ristika, die Lenin und Stalin zugeschrieben werden,
wurde am 7. November ein neuer „Tag des militä- und der Beziehung zwischen „Volk“ und „Elite“.
rischen Ruhmes“ eingeführt: der „Tag der Parade
auf dem Roten Platz anlässlich des 24. Jahrestages Imperial-konservative Deutung
der Oktoberrevolution 1941“. Hier offenbart sich In der konservativen Deutung sind die Größe
deutlich die Taktik der neuen populistischen Ge- und Stärke des Staates der Bewertungsmaßstab.
schichtspolitik: Die Revolutionserinnerung wird Die Geschehnisse werden in einem Begriff als
zwar formal erhalten, jedoch in das übergreifende „Februar-Oktoberrevolution“ zusammengefasst
Narrativ des Großen Vaterländischen Kriegs und und ausschließlich negativ gedeutet: als Pogrom,
der Schlacht um Moskau eingebettet. Die vom als Zerstörung und Katastrophe, die den Zerfall
Staat gefürchtete „revolutionäre“ Erinnerungs- des Imperiums verursachte.11 Diese Deutung der
Revolution als „nationale Schande“ entstand be-

09 Wladimir Putin, Poslanie Federal’nomu Sobraniju Rossijskoj Fe-


deracii, 3. 4. 2001, http://kremlin.ru/events/president/transcripts/​ 11 Vgl. Minakov, Russkij konservatizm 20 veka: idejnaja reakcija
21216. na katastrofu 1917 g, in: Rossijskij Institut strategičeskich issledova-
10 Vgl. Ilja Kalinin, Nostalgic Modernization: The Soviet Past as nij (Hrsg.), Stoletie velikoj russkoj katastrofy 1917 goda, Moskau
„Historical Horizon“, in: Slavonica 2/2011, S. 156–166. 2017, S. 90–99.

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Russische Revolution APuZ

reits 1917 und kehrte ab 1991 in den öffentlichen 1999 sprach Putin über das Erfordernis einer Ideo-
Diskurs zurück. Der Kommunismus erscheint als logie, in deren Mittelpunkt Patriotismus, Großstaat-
eine wesensfremde Ideologie, die dem russischen lichkeit und genuin russische Werte stehen müssen.
Volk von außen gewaltsam aufgedrückt wurde. Seit der Rückkehr Putins in den Kreml 2012 gehö-
In Anlehnung an die Slawophilen des 19. Jahr- ren Patriotismus und „traditionelle“ Werte sowie
hunderts und die Eurasier der Gegenwart wer- Verweise auf konservative Denker zum Stan­dard­
den sowohl Marxismus als auch Liberalismus als reper­toire seiner öffentlichen Auftritte.
andersartig verstanden. Das „Desaster 1917“ war Mit der imperial-konservativen Deutung lässt
in diesem Modell das Werk von irrational han- sich die Revolution auf zwei verschiedene Arten
delnden Personen: bolschewistischen Fanatiker- instrumentalisieren: zum einen gegen liberale und
Gruppen, Freimaurern, jüdischen Verschwörern westliche Ideale, die als Schwäche dargestellt wer-
oder ausländischen Agenten. den, und zum anderen gegen die heutige Kom-
Während die Februarrevolution in die Reihe munistische Partei Russlands, der man vorwirft,
der Palastrevolten des 18. Jahrhunderts eingeord- Machtgewinn über nationale Interessen zu stellen.
net wird, folgten auf die Oktoberrevolution die
„Herrschaft des Teufels“ und das Ende des „tra- Sozialistische Deutung
ditionellen heiligen Russlands“. In diesem Deu- Die sozialistische Deutung der Revolution be-
tungsmuster werden sowohl die sozialen Gründe stimmte die Erinnerungskultur in der So­ wjet­
für den revolutionären Protest als auch das Miss- union bis zu ihrem Zerfall. Im Diskurs heutiger
trauen der Bevölkerung gegenüber dem Zaren ig- russischer Kommunisten hat die Oktoberrevolu-
noriert – Schuld trägt vor allem die liberale Büro- tion ihren zentralen Platz behalten und wird nach
kratie, die sich illoyal verhielt. wie vor als die Geburtsstunde der „Sowjetmacht
Damit eng verbunden ist auch die unter- der Arbeiter und Bauern“ gefeiert. Auch die Fe-
schiedliche Deutung von Lenin und Stalin. Wäh- bruarrevolution als „bourgeoise Revolution der
rend Lenin für den fremdartigen, kosmopoliti- kapitalistischen Klasse“ hat ihren Platz im Schat-
schen Kommunismus steht und ihm Verrat an der ten des Oktobers behalten. Die offizielle Defini-
Nation vorgeworfen wird, erscheint Stalin weit- tion der Ereignisse von 1917 als „Große Russ-
aus positiver: Er steht für die Wiederherstellung ländische Revolution“ wird von den Verfechtern
des Imperiums, den Sieg im Großen Vaterländi- dieses Modells zurückgewiesen.
schen Krieg und allgemein für die Rückbesin- Die Oktoberrevolution ist somit vor allem
nung auf patriotische Werte. Sehnsuchtsort und weniger ein Symbol für den
2007 brachte sich der bekannte nationalkon- Aufbruch. Nicht Lenins Utopie der sozialen Ge-
servative Autor Alexander Solschenizyn („Archi- rechtigkeit steht im Zentrum, sondern die Sehn-
pel Gulag“) mit dem vielbeachteten Text „Über- sucht nach der „siegreichen“ Zeit unter Stalin und
legungen zur Februarrevolution“ in den Diskurs den „stabilen“ Jahren unter Leonid Breschnew.
ein.12 Solschenizyn deutete die Februarrevoluti- So hat die Oktoberrevolution das Sowjetsystem
on als negatives Schlüsselereignis des 20. Jahrhun- gebracht, das sich im Zweiten Weltkrieg gegen
derts, als eigentliche „Katastrophe“, und beklag- das nationalsozialistische Deutschland behaupten
te die Unfähigkeit des Zaren, den revolutionären konnte, und Stalin erscheint in dieser Deutung als
Unruhen entgegenzutreten. Der schwache Zar „großer Führer“ und „starke Hand“.13
habe keinen Widerstand gegen das „liberal-radika- Das sozialistische Modell zeichnet sich durch
le Feld“ geleistet und Russland so der „nationalen eine starke Ambivalenz aus: Auf der einen Seite
Ohnmacht“ überlassen. Der Text Solschenizyns wird die positive Deutung des „Großen Okto­bers“
war für die politischen Eliten von hohem Wert: Er beibehalten, auf der anderen Seite gibt es auch hier
begründete die Notwendigkeit, den „Liberalen“ eine negative Konnotation des Revolutionsbegriffs.
entschlossen entgegenzutreten und legitimierte Die Majdan-Revolution in Kiew und die Demons-
Gewalt gegen revolutionäre ­Bedrohungen. trationen nach den russischen Parlamentswahlen
Die imperial-konservative Deutung der Revolu- 2011, der sogenannte Bolotnaja-Protest, werden
tion wird von den politischen Eliten gestützt. Bereits als Manipulationen amerikanischer Geheimdiens-

12 Alexander Solschenicyn, Razmyschlenija nad Fevral’skoj 13 Jurij Igritskij, Lenin i Stalin, in: Rossija i sovremenyj mir 2/2013,
revoljuciej, 5. 3. 2007, http://polit.ru/article/​2007/​03/​05/fevral. S. 6–28.

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APuZ 34–36/2017

te gedeutet. Die Februarrevolution wird in diesem Menschewiki. Grigorij Jawlinski, der Vorsitzen-
Zusammenhang als erste Farbrevolution interpre- de der linksliberalen Partei Jabloko, deutet den Fe-
tiert und zur negativen Abgrenzung herangezogen. bruar als Versuch russischer Eliten, das Land aus
einem „Zustand des Verfalls“ herauszuführen, ver-
Liberale Deutung bunden mit der Hoffnung auf Modernisierung und
Auch das liberale Deutungsmodell gibt es seit der einer Zukunft in Europa. Dieser Hoffnung hätten
Russischen Revolution. Es wurde maßgeblich von die Bolschewiki ein Ende gesetzt.15 Deutlich klingt
Pawel Miljukow geprägt, Vorsitzender der Partei hier die Analogie der autokratischen Herrschaft
der Konstitutionellen Demokraten und wichtiger der Bolschewiki zu der von Putin durch.
Akteur der Februarrevolution.14 Dieses Modell
macht einen deutlichen Unterschied zwischen SCHLUSS
der Februar- und der Oktoberrevolution: Wäh-
rend die Februarrevolution als Reaktion auf eine Alle drei Perspektiven knüpfen an aktuelle poli-
tiefe Systemkrise des Imperiums interpretiert und tische Kontexte an, wobei die imperial-konserva-
somit als folgerichtig und unumgänglich gedeutet tive Deutung in der Öffentlichkeit am präsentes-
wird, steht der Oktober für einen gewaltsamen ten ist. Für die russische Führung, Putin und seine
Umsturz, der von einer Partei angeführt wurde, Administration, ist das tragischste an der Revolu-
die es lediglich im richtigen Moment verstand, tion und ihren Folgen der Verlust des Imperiums.
das Volk zu mobilisieren. Die Februarrevoluti- Putin bezeichnete Lenins sofortigen „Frieden
on als Durchbruch der Demokratie scheiterte im ohne Annexionen und Kontributionen“ als Verrat
Oktober 1917 – die Geschichte nahm ihren ver- an den nationalen Interessen und dessen Beharren
hängnisvollen Lauf und führte zum verbrecheri- auf dem Selbstbestimmungsrecht der Völker als
schen und totalitären Sowjetsystem. Nach dem eine „Zeitbombe für den russischen Staat“.16 Der
liberalen Modell ist die individuelle Freiheit das Bewertungsmaßstab der Russischen Revolution
höchste Gut, deren Einschränkung weder von ei- ist in diesem Fall die imperiale Größe Russlands.
ner Ideologie noch vom Streben nach staatlicher Auch die traditionelle sowjetische Perspek-
Größe gerechtfertigt werden kann. In den aktu- tive auf die Russische Revolution ist nach wie vor
ellen Schulbüchern schlägt sich vor allem diese verbreitet. Es handelt sich dabei meist um eine
Deutung nieder: Die Februarrevolution wird als wehmütige Sichtweise, die von der älteren Bevöl-
Chance und Aufbruch der russländischen Demo- kerung eingenommen wird und mit einer Sowjet-
kratie dargestellt, wohingegen die Oktoberrevo- nostalgie einhergeht.
lution für den Auftakt zum Totalitarismus steht. Der Ruf der Liberalen nach der Revolution,
Bemerkenswert sind die Unterschiede in den wie er noch vor zehn Jahren erklang, ist 2017
Positionen der Liberalen von damals und heute: höchstens noch in leisen Tönen zu vernehmen.
Während die Liberalen 1917 die traditionellen Putins Beschwören der Stabilität und die wahrge-
Gewohnheiten des ungebildeten, „faulen“ Volkes nommene oder auch nur erhoffte Besserung der
als Ursache für das Scheitern der Demokratie be- Lebensverhältnisse schwächten den Drang nach
schrieben und die Misserfolge der Intelligenzija radikalen Veränderungen.
mit der Gewaltbereitschaft der Volksmassen er- Zum hundertsten Jubiläum erscheint die Rus-
klärten, führen die Liberalen von heute das Schei- sische Revolution vor allem als ein geschichtspo-
tern nicht mehr auf den Antagonismus zwischen litisches Instrument, mit dem die gegenwärtige
„Volk“ und „Elite“ zurück, sondern auf das Han- politische Führung die Sehnsucht nach tatsächli-
deln der Bolschewiki und den Repressionscha- cher Veränderung befriedigen kann.
rakter des Sowjetstaates.
Heutige Liberale sehen sich oft in einer Tradi-
tion der Konstitutionellen Demokraten oder der EKATERINA MAKHOTINA
ist promovierte Historikerin und wissenschaftliche
Mitarbeiterin an der Universität Bonn. Ihre
14 Vgl. Pawel Miljukow, Istorija vtoroj russkoj revoljucii, Sofia 1921.
Forschungsschwerpunkte sind Erinnerungskultur
15 Vgl. Grigorij Jawlinskij, Vozvraschenie k fevralju, 27. 2. 2017,
www.yabloko.ru/publikatsii/​2017/​02/​27_0.
im östlichen Europa sowie die Geschichte der
16 Protokoll der Sitzung des interregionalen Forums vom Gefängnisse im frühzeitlichen Russland.
25. 1. 2016, http://kremlin.ru/events/president/news/​51206. emakhotina@uni-bonn.de

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Russische Revolution APuZ

FURCHT VOR DEM BOLSCHEWISMUS


Russland und der Westen nach der Russischen Revolution
Jan Kusber

Russland und der Westen sind ein begriffliches Im März 1917 versicherte der Außenminis-
Gegensatzpaar, das eine lange Tradition hat und ter der neuen Provisorischen Regierung Pawel
älter ist als die Oktoberrevolution 1917. Dieses Miljukow hingegen in einer Depesche allen Aus-
Gegensatzpaar war nicht nur für russische und landsvertretern in Russland: Das neue Kabinett
westliche Eliten im 18. und 19. Jahrhundert wich- werde „internationale Verpflichtungen Russlands
tig, um sich ihrer selbst klar zu werden, sondern achten“ und „alle ihre Energie der Erringung des
auch als politisches Argument: Es wurde etwa in Sieges widmen“.01 Daran hatten die westlichen
den innerrussischen Debatten zwischen den soge- Alliierten jedes Interesse. Schließlich waren die
nannten Westlern und Slavophilen um die Mitte Mittelmächte, insbesondere das Deutsche Reich,
des 19. Jahrhunderts, im „Great Game“ zwischen weit in das Territorium Russlands vorgerückt
Russland und Großbritannien um die Expansion und hatten mit dem unter Militärverwaltung ste-
in Asien oder am Vorabend des Ersten Weltkriegs henden Land „Ober Ost“ ein Gebietskomplex
genutzt; ebenso aber auch nach der Oktoberrevo- geschaffen, der weißrussische, ukrainische und li-
lution, in der Zwischenkriegszeit und im Kalten tauische Territorien umfasste.
Krieg. Als politisches Argument erfährt dieser Die Provisorische Regierung war weit ent-
Gegensatz in der Ära Putin neue Aktualisierun- fernt davon, ihre Kriegsziele, wie den Griff nach
gen. Es scheint, als seien die 1990er Jahre wäh- den Meerengen am Bosporus, zu erreichen. Den-
rend der Präsidentschaft Boris Jelzins hier eher noch versicherte sie den Botschaftern Großbri-
eine Ausnahme gewesen. tanniens, Frankreichs und Italiens ihre Entschlos-
Mit der Oktoberrevolution erhielt der Ge- senheit zum „Siegfrieden“. Die realitätsfernen
gensatz eine neue, in den internationalen Bezie- Kriegsziele, wie auch überhaupt die Bereitschaft,
hungen wirksame Qualität, weil er ideologisch den Krieg fortzusetzen, wurden in die Öffentlich-
stark aufgeladen wurde und die Furcht vor dem keit „durchgestochen“ und führten zu Demons-
Kommunismus im Westen omnipräsent war. Im trationen in Petrograd unter Parolen wie „Nieder
Folgenden soll erkundet werden, wie diese neue mit Miljukow“ und „Nieder mit dem Krieg“. Le-
Qualität entstand. nin, der im April 1917 im Triumph nach Petro-
grad zurückgekehrt war, hatte eines erreicht: Die
RUSSLAND Provisorische Regierung hatte ihre Glaubwür-
ALS BÜNDNISPARTNER digkeit verloren; und die Bolschewiki, die sich die
Forderungen der Zimmerwalder Konferenz ei-
Mit der Februarrevolution 1917, die das Regime nes Friedens ohne Kontributionen und Annexio-
des Zaren zum Einsturz brachte und die 300-jäh- nen zu eigen gemacht hatten, gewannen über den
rige Herrschaft der Romanows beendete, stell- Sommer 1917 Zulauf. Im Herbst 1917 besaßen
te sich in London und Paris die Frage, ob es ge- die Alliierten in der Provisorischen Regierung so-
lingen würde, Russland im Krieg zu halten: Es mit nur noch einen Partner ohne Rückhalt.
schien zwingend, um die Mittelmächte besiegen Die Revolution lag auf der Straße und Lenin,
zu können. Dagegen stand der Wunsch vieler in der nach kurzzeitigem Exil in Finnland und Ka-
Russland nach Frieden. Die Soldaten des Imperi- relien nach Petrograd zurückgekehrt war, hob sie
ums waren kriegsmüde und wollten nach Hause, auf. Die im Vergleich zur Februarrevolution we-
die Nationalitäten des Imperiums begannen über nig spektakuläre Oktoberrevolution brachte die
eine Autonomie, im Falle der Polen gar über eine Bolschewiki an die Macht.02 In ihren ersten De-
Unabhängigkeit, nachzudenken. kreten lösten die Bolschewiki jene Versprechen

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APuZ 34–36/2017

ein, die ihr zunächst einen gewissen Rückhalt ver- den konventionellen diplomatischen Traditio-
schafft hatten. Bereits am nächsten Tag wurde von nen brachen. Insbesondere als am 7. Januar 1918
den neuen russischen Machthabern ein Dekret Leo Trotzki die Führung der sowjetischen De-
über das Land erlassen, in dessen Folge die von legation übernahm, waren die Deutschen über
den Alliierten so dringend benötigte Front gegen dessen Verhandlungsführung ebenso irritiert
die Mittelmächte zusammenbrach. Zeitgleich folg- wie die entfernten westlichen Beobachter. Trotz-
te ein Dekret über den Frieden, wodurch sich für ki schmeichelte einerseits seinem Gegenüber am
die Mittelmächte eine starke militärische Entlas- Verhandlungstisch, andererseits hielt er revoluti-
tung an ihrer Ostfront abzeichnete, die sie drin- onäre Reden, die sich an die Unterdrückten der
gend für Schlachten an der Westfront benötigten. Welt richteten. Mit dem Aufruf zum weltweiten
Vor und nach der Oktoberrevolution waren Kampf gegen den Imperialismus sollte die Über-
die Bolschewiki für die Alliierten schwer einzu- kommenheit traditioneller außenpolitischer Me-
schätzen. Allgemeine Furcht vor dem Kommu- thoden vorgeführt werden. Zuvor kündigte er an,
nismus ging einher mit der Frage, wie sich die er werde „einige revolutionäre Proklamationen
Bolschewiki praktisch in der Außenpolitik ver- an die Völker erlassen und dann die ganze Bude
halten würden. Lenin, Leo Trotzki, Adolf Jof- [das Volkskommissariat für Äußeres] schlie-
fe, Georgi Tschitscherin und andere Protagonis- ßen“.03 Diese Politik der Irritation verhalf ihm
ten der sowjetischen Außenpolitik sollten in den zu kurzfristigem Erfolg, zumindest zu Aufmerk-
folgenden Jahren in ganz verschiedenen Rollen samkeit. Sein Ziel sei „weder Krieg noch Frie-
agieren: als Streiter für das Selbstbestimmungs- den“, und diese Aussage wurde international als
recht der Völker, als Vorkämpfer des russischen eine grundsätzliche wahrgenommen.
und internationalen Proletariats und Kämpfer ge- Die Machtmittel hatten freilich die Deut-
gen imperialistische Räuber, als Vertreter eines schen in der Hand, die durch eine Wiederauf-
So­wjet­russ­land der Arbeiter und Bauern. Es war nahme der Kriegshandlungen in der Operation
für die Regierungen von Großbritannien, Frank- „Faustschlag“ am 3. März 1918 den Frieden von
reich und den USA, die im April 1917 in den Brest-Litowsk erzwangen, in dem Russland etwa
Krieg eingetreten waren, schwer einzuschätzen, ein Drittel seines europäischen Territoriums ver-
was ideologischer Grundsatz, was vordergründi- lor. Diese sowjetische Politik der Irritation, die
ge Rhetorik war und was den Kern sowjetrussi- Schwierigkeit, ideologischen Grundsatz und prag-
scher Außenpolitik ausmachte. In einem postu- matische Handlung unterscheiden zu können,
lierten Ziel trafen sich die Regierung Woodrow prägte also auch die Wahrnehmung Sowjetruss-
Wilsons und die Bolschewiki freilich rhetorisch: lands bei Mächten der Entente und den USA: Die-
dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, das ses neue Regime stellte sich ganz bewusst nicht in
die Deutschen mit ihrem Expansionsdrang ein- die Rechtsnachfolge der Regierung des Zaren oder
schränken wollten. Lenin kostete es Ende 1917 der Provisorischen Regierung. Es lehnte beispiels-
wenig, dieses Selbstbestimmungsrecht zu propa- weise ab, eine Rückzahlung von Krediten, die aus
gieren, das die USA vor allem für Polen durchge- Frankeich und Großbritannien teilweise schon
setzt wissen wollten, da diese Territorien von den vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs nach Russ-
Mittelmächten besetzt waren. land geflossen waren, zu übernehmen. Es war da-
Am 5. Dezember 1917 vereinbarten Russ- her nach dem Zusammenbruch der Mittelmächte
land und die Mittelmächte einen später mehrfach bereits im November 1918 klar, dass dieses Re-
verlängerten zehntägigen Waffenstillstand. Am gime nicht auf der Seite der Siegermächte an der
22. Dezember wurden im weißrussischen Brest- Pariser Friedenskonferenz 1919/20, insbesondere
Litowsk Friedensverhandlungen eröffnet. Diese in Versailles, beteiligt werden würde. Vielmehr be-
gerieten für die Deutschen, aber auch die Welt- gannen im Westen die Diskussionen darüber, ob
öffentlichkeit zu einem Lehrstück über die neu- die neu entstehenden Staaten im Nordosten Euro-
en Formen sowjetischer Außenpolitik, die mit pas unterstützt werden sollten.04

01 Zit. nach Manfred Hellmann, Die russische Revolution 1917, 03 Leo Trotzki, Mein Leben, Berlin 1930, S. 327.
München 19692, S. 160 f. 04 Siehe Charlotte Alston, Britain, Anti-Bolshevik Russia and the
02 Siehe hierzu auch den Beitrag von Manfred Hildermeier in Border States at the Paris Peace Conference, 1919, in: History
dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). 91/2006, S. 24–44.

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Russische Revolution APuZ

Im Falle Polens war die Sache eindeutig: Der die Hände der Deutschen noch der Bolschewiki
Pianist und Politiker Ignacy Paderewski hatte bei fallen sollten.05 Ebenso betonten amerikanische
einer Konzerttournee durch die Vereinigten Staa- Politiker die Verpflichtung, der Tschechoslowa-
ten, die amerikanische Öffentlichkeit für die Sa- kischen Legion – sie bestand aus Kriegsgefange-
che eines eigenen polnischen Staates gewonnen. nen der zerschlagenen k. u. k. Armee – zur Hilfe
Es ging der polnischen Delegation um Roman eilen zu wollen, als diese 1918 in die gegründe-
Dmowski in Versailles nur noch um die Frage, te Tschechoslowakei zurückkehren wollte. An-
welche Grenzen dieser Staat haben sollte. Gera- gesichts der enormen Distanz zwischen Archan-
de der Verlauf einer Ostgrenze zwischen Polen gelsk und den Tschechoslowaken in Sibirien war
und Sowjetrussland war – nachdem der Frieden diese „Verpflichtung“ eher ein Vorwand.
von Brest-Litowsk mit der Novemberrevoluti- Die Expeditionstruppe konnte mehrere hun-
on in Deutschland annulliert worden war – Be- dert Kilometer in das Landesinnere vorstoßen,
standteil der Unabhängigkeitskriege der Esten, vereinzelte Kämpfe zwischen den alliierten und
Letten, Litauer, Polen aber auch der Ukrainer. roten Truppen zogen sich durch das ganze fol-
Auch im Russischen Bürgerkrieg der „Roten“ gende Jahr, ohne dass eine strategisch bedeutsame
gegen die „Weißen“, die eben nicht das Selbst- Entscheidung herbeigeführt werden konnte. Im
bestimmungsrecht der Völker akzeptierten, son- Juli 1919 verließen daher die verbliebenen auslän-
dern der alten Vision eines Imperiums anhingen, dischen Einheiten Nordrussland. In den Entente-
setzte sich der Erste Weltkrieg fort. Es war die Ländern stand die zunehmend kriegsmüde Öf-
„weiße“ Idee eines ungeteilten Russland, die dazu fentlichkeit der Intervention immer ablehnender
führte, dass auch die Vertreter der Weißen Bewe- gegenüber. Die Interventionen bargen gar die Ge-
gung in Versailles nicht offiziell teilnahmen. Eine fahr des Revolutionsexports in sich: Im Dezember
in den westlichen Hauptstädten und in den Dele- 1918 landete ein französisch-griechisches Kontin-
gationen auf der Pariser Friedenskonferenz ganz gent von 1000 Mann in Odessa. Unterstützt wur-
andere Frage war allerdings die nach der Unter- de es von einem französischen Flottenverband.
stützung der Weißen Bewegung in ihrem Kampf Als sich das Kriegsgeschehen näherte, kam es zu
gegen die Bolschewiki. einem Aufstand in der französischen Schwarz-
meerflotte, bei der die rote Fahne gehisst wurde.
INTERVENTIONEN Die Meuterer erzwangen im April 1919 den Rück-
IM RUSSISCHEN BÜRGERKRIEG zug Frankreichs und machten zugleich deutlich,
dass die Vision der Bolschewiki durchaus Attrak-
Die Unterstützung der Weißen hatte de facto be- tivität besaß. Die letzten Truppen der Entente-
reits Anfang 1918 begonnen. Brest-Litowsk be- Mächte verließen Odessa am 7. April 1919.
lastete das Verhältnis zu den Entente-Mäch- Am längsten währte die ausländische Präsenz
ten nachhaltig. Zur Sicherung ihrer Interessen im größten Pazifikhafen des ehemaligen Zaren­
in Russland und um einer weiteren deutsch-so­ reichs, in Wladiwostok. Schon im April 1918
wje­tischen Annäherung entgegenzuwirken, wur- waren einzelne japanische und britische Verbän-
den noch während des Weltkriegs Truppen nach de hier an Land gegangen. Ihnen folgte auch ein
Russland entsandt. Da die europäischen Häfen amerikanisches Expeditionskorps mit etwa 8000
Russlands an der Ostsee für die Alliierten noch Soldaten. Wladiwostok sollte als Nachschublinie
nicht erreichbar waren, landete das erste briti- für die sibirischen Truppen des Admirals Alexan-
sche Kontingent bestehend aus 600 Soldaten im der Koltschak dienen, der als Reichsverweser die
Juni 1918 in Murmansk am Arktischen Ozean. meiste Unterstützung innerhalb der Weißen Be-
Dieser Hafen, fernab vom russischen Kernland, wegung zu haben schien. Bis zu deren Niedergang
wurde zwar von den Briten besetzt, weitere Ak- 1920 blieben die alliierten Soldaten in Sibirien. Als
tionen wurden allerdings nicht durchgeführt. Ein die Kommunisten 1920 in Tschita die Fernöstli-
weiteres Landungsunternehmen fand im August che Republik gründeten, die als ein erster Vorpos-
1918 in Archangelsk statt. Hier landeten zuerst ten zur sozialistischen Revolutionierung Chinas
600 britische und französische Soldaten. Sie wur- betrachtet wurde, gründeten 70 000 Mann starke
den später durch ein US-Kontingent von 5000
Mann verstärkt. Offizieller Anlass war die Si- 05 Zu den USA siehe Robert L. Willett, America’s Undeclared
cherung der dortigen Waffendepots, die weder in War, 1918–1920, Washington D. C. 2003.

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japanische Interventionstruppen 1921 die soge- tischen Truppen jedoch und drängten sie in der
nannte Küstenrepublik. Im Kampf zwischen bei- Folge bis in die Ukraine zurück, die bald sowje-
den Staaten setzten sich schließlich die Bolsche- tisch wurde.
wiki durch. Sie erreichten Wladiwostok allerdings Diese Wende bedeutete jedoch noch nicht
erst im Dezember 1922 – nach der Integration der das Ende des Kriegs: Im Frieden von Riga, der
Fernöstlichen Republik in die So­wjet­union. Die am 18. März 1921 unterzeichnet wurde, stimmte
letzte ausländische Intervention auf dem Boden Sowjetrussland einem Waffenstillstand und Frie-
des asiatischen Russlands war beendet. densvertrag zu, der Polen erhebliche Gebiete im
Auch wenn die Bedeutung der Invasionstrup- Osten zusicherte und eine Grenzregelung für Po-
pen in der sowjetischen Historiografie überhöht len bot, die ethnisch-religiöse Konflikte mit sich
wurde, um den Sieg der von Trotzki organisier- brachte. Das offizielle Geschichtsbild der So­wjet­
ten Roten Armee größer erscheinen zu lassen, war union sah den Krieg als Teil der ausländischen
ihr militärischer Einfluss auf die Entscheidung im Interventionen während des Russischen Bürger-
Bürgerkrieg gering. Die deutsche Besetzung bis kriegs. Das Bestreben des nichtkommunistischen
zum Kollaps des Kaiserreichs im November 1918 Polen, die Unabhängigkeit von Sowjetrussland
war eine viel größere Bedrohung für den jungen zu erreichen beziehungsweise zu erhalten, wurde
Sowjetstaat als die an der Peripherie eingreifenden als Parteinahme für die Weißen und als Versuch
Kontingente der Entente-Mächte. Weitaus wichti- verstanden, die Ausbreitung der proletarischen
ger waren alliierte Lieferungen und Hilfsleistungen Revolution nach Westen zu blockieren. So wurde
an die Weiße Armee in Sibirien und in Südrussland. der Krieg als „Krieg gegen Weiß-Polen“ bezeich-
Winston Churchill behauptete später, dass 1919 net. In der Volksrepublik Polen folgte die offizi-
England 100 Millionen Pfund und Frankreich zwi- elle Geschichtsschreibung nach der erfolgten So-
schen 30 und 40 Millionen Pfund für die weißen wjetisierung ebenfalls dieser Linie.
Truppen in Russland ausgegeben hätten.06 Nicht Doch der Ausgang des Kriegs hatte aus der Sicht
alle waren jedoch so unbedingt in ihrer Unterstüt- der Zeitgenossen nicht nur Bedeutung für Polen,
zung der Weißen wie Churchill gewesen, der sich sondern für ganz Europa. Die Niederlage der Ro-
als Erster Lord der Marine für ein viel weiterge- ten Armee bei Warschau stoppte das Vordringen des
hendes britisches Engagement eingesetzt hatte. Kommunismus nach Westen, sodass So­wjet­russ­land
Auch in dem weitgehend parallel verlaufen- seine Hoffnungen, die Weltrevolution über die „Lei-
den Polnisch-So­ wje­tischen Krieg unterstützten che Polens“ nach Westeuropa exportieren zu kön-
die Entente-Mächte das neu entstandene Polen nen, vorerst aufgeben musste. Der britische Bot-
nicht in dem Ausmaß, in dem Churchill es wo- schafter in Berlin und Leiter der Mission der Entente
möglich erstrebt hätte. Der Krieg, der von pol- in Polen, Edgar Vincent, fasste dies als Augenzeuge
nischer Seite mit verschiedenen gegnerischen mit folgenden Worten ganz im Geist der Zeit zusam-
Akteuren um die polnische Ostgrenze geführt men: „Wenn Karl Martell die Invasion der Sarazenen
wurde, richtete sich nicht von vornherein gegen mit seinem Sieg in der Schlacht bei Tours nicht auf-
die Bolschewiki, auch wenn die polnischen Eli- gehalten hätte, so würde heute in den Schulen von
ten stramm antikommunistisch eingestellt waren. Oxford der Koran gelehrt (…). Wenn es Piłsudski
Diese Haltung darf man bei aller Breite des Spek- (…) in der Schlacht bei Warschau nicht gelungen
trums vielleicht als wesentliche Klammer der Eli- wäre, den triumphalen Vormarsch der Roten Ar-
ten Polens in der Gründungsphase der Zweiten mee zu stoppen, so hätte dies nicht nur eine gefährli-
Polnischen Republik sehen. Anfänglich erzielten che Wende in der Geschichte des Christentums zur
die Polen in diesem Krieg große Erfolge und be- Folge, sondern eine fundamentale Bedrohung der
setzten weite Landstriche der Ukraine einschließ- gesamten westlichen Zivilisation. Die Schlacht bei
lich Kiews. Bald warf die Rote Armee sie jedoch Tours rettete unsere Vorfahren vor dem Joch des
bis ins polnische Kernland zurück, sodass eine Korans; es ist wahrscheinlich, dass die Schlacht bei
Niederlage und Besetzung Polens erwartet wur- Warschau Mitteleuropa und ebenso einen Teil West-
de. In der Schlacht von Warschau, dem „Wunder europas vor einer sehr viel größeren Gefahr rettete;
an der Weichsel“, schlugen die Polen die sowje- der fanatischen sowjetischen Tyrannei.“07

06 Vgl. Winston Churchill, The World Crisis. The Aftermath, Bd. 4, 07 Zit. nach Norman Davies, The Polish-Soviet War, London
London 1929, S. 256. 1972, S. 265.

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Russische Revolution APuZ

Diese Sicht prägte die Auffassung vieler in den kennungen: Es folgten Italien, Norwegen, Öster-
neu entstandenen Staaten des nordöstlichen Eu- reich, Griechenland, Schweiz, China, Dänemark
ropa. Ob in Polen, Estland oder Lettland, die sich und Frankreich.
ebenfalls im Verlauf des Jahres 1918 für unabhän- Die Zurückhaltung des Westens bei der An-
gig erklärten und die Unabhängigkeit sowohl ge- erkennung hatte sicher vor allem auch damit zu
gen Deutschland 1918 als auch gegen die Bolsche- tun, dass Moskau ein Instrument zur Verfügung
wiki 1918/19 behaupteten: Revolutionsfurcht und stand, das umso gefährlicher erschien, als es unter-
Antikommunismus stifteten einen Grundkonsens. halb der staatlichen Ebene angesiedelt und geeig-
In Tallinn und Riga enttäuschte es vor diesem Hin- net war, die innenpolitischen Szenen jeweils mit
tergrund, dass Großbritannien, Frankreich und dem Ziel der Destabilisierung oder gar des revolu-
die USA mit der Anerkennung der neuen Staaten tionären Umsturzes durcheinanderzuwirbeln: die
zögerten, auch wenn sie deren antikommunisti- Kommunistische Internationale (Kom­intern). Sie
sche Bollwerkfunktion anerkannten.08 entstand nach Vorläufern 1919 auf Initiative Le-
nins. Die Etablierung des Sowjetsystems hatte zur
ZWISCHEN EXKLUSION Spaltung zahlreicher linker Parteien in einerseits
UND ANERKENNUNG reformorientierte sozialdemokratische und ande-
rerseits Kommunistische Parteien (KP) mit revo-
Umso wichtiger war es für die neu entstande- lutionärem Anspruch geführt. Die KPs sollten von
nen Staaten sowie für Litauen, dass sich die sow- Moskau aus organisiert werden: Auf dem I. Welt-
jetische Regierung dazu verstand, ihre jeweiligen kongress 1919 waren 51 Delegierte aus 29 Ländern
Grenzen 1920 in Friedensverträgen zu garan- anwesend. Diese vertraten, abgesehen von den
tieren. Lettlands Hauptstadt Riga wurde 1921 Bolschewiki und der Deutschen KP, nur kleine
Schauplatz der erwähnten Friedensverhandlungen und weniger bedeutende revolutionäre Gruppen.
zwischen Sowjetrussland und Polen. Damit war Die Komintern sollte nach dem Vorbild des de-
die Westgrenze Sowjetrusslands vertraglich gere- mokratischen Zentralismus Lenins eine straff or-
gelt, die Ukraine wurde im Bürgerkrieg mit Ge- ganisierte Weltpartei mit nationalen Sektionen bil-
walt (re)integriert. Auch Georgien, Aserbaidschan den. Bei der Wahl der Mittel wurden gewaltsame
und Armenien gingen nach einem Zwischenspiel Machtergreifungen ausdrücklich legitimiert.
bis 1924 in der dann gegründeten So­wjet­union Auf dem II. Weltkongress der Komintern
auf. Was fehlte, war die Anerkennung durch die 1920 mussten die KPs ihre Eigenständigkeiten
ehemaligen Entente-Mächte und die USA. weiter aufgeben: Das in Moskau eingerichte-
Der britische Premierminister David Lloyd te Exekutivkomitee der Komintern, das von der
George plädierte allerdings 1920 für eine Ret- KPdSU dominiert wurde, steuerte die Politik der
tung Russlands durch Handel und formulierte Komintern und passte sie flexibel den Vorgaben
damit das Konzept des „Wandels durch Annähe- und Bedürfnissen sowjetischer Außenpolitik an.
rung“ avant la lettre. In dieser Absicht wurde am Alle Gliederungen wurden verpflichtet, „einen
16. März 1921 ein Handelsabkommen zwischen parallelen Organisationsapparat zu schaffen, der
Moskau und London geschlossen, das für So­wjet­ im entscheidenden Moment der Partei behilflich
russ­land die De-facto-Anerkennung darstellte. In sein wird, ihre Pflicht gegenüber der Revolution
Moskau wurde eine britische Handelsmission ge- zu erfüllen“.09 Perspektivisch führte diese Politik
gründet. Tatsächlich trug das Handelsabkommen zu mehrfachen Spaltungen innerhalb der KPs in
zu einer Stabilisierung des sowjetischen Regimes den westlichen Ländern. Auch die Unterwande-
bei, das sich mit der „Neuen Ökonomischen Po- rung der teilweise sehr einflussreichen Gewerk-
litik“ für ausländische Investoren und qualifizier- schaftsbewegungen, etwa in England, gelang nur
te Arbeitskräfte öffnete. Drei Jahre später – im zum Teil. Aufstandsversuche wie in Deutschland
Februar 1924 – nahmen die aus Sowjetrussland zwischen 1919 und 1923, die misslangen, waren
und anderen Sowjetrepubliken hervorgegangene Teil des Konzepts. Sie scheiterten freilich an den
So­wjet­union mit Großbritannien diplomatische kaum aus Moskau steuerbaren Eigendynamiken
Beziehungen auf. 1924 wurde zum Jahr der Aner- vor Ort, und auch der Putschversuch in Estland

08 Vgl. William A. Fletcher, The British Navy in the Baltic, 09 Zit. nach Peter Lübbe, Kommunismus und Sozialdemokratie,
1918–1920, in: Journal of Baltic Studies 2/1976, S. 134–144. Berlin–Bonn 1978, S. 75.

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1924 blieb Episode. Als die So­wjet­union versuch- SCHLUSS


te, die Tätigkeit der britischen Gewerkschaften
im Generalstreik 1926 zu unterwandern, drang In der amerikanischen Haltung zeigte sich jene
die Londoner Polizei in das Gebäude der Han- Ambivalenz, die sich auch in anderen westlichen
delsvertretung der UdSSR ein. Moskau brach da- Staaten beobachten ließ. Einerseits wurde das sich
raufhin im folgenden Jahr die diplomatischen Be- schnell entwickelnde diktatorische, bald totalitä-
ziehungen (bis 1929) ab. Stalin, nach Lenins Tode re System in der So­wjet­union angeprangert und
nach wenigen Jahren zum alleinigen Führer der der Gegensatz „Russland gleich Unfreiheit versus
So­wjet­union aufgestiegen, nutzte diese außenpo- Westen gleich Freiheit“ aufgebaut und damit eine
litische Krise, um die Neue Ökonomische Poli- Denkfigur variiert, die es auch schon vor dem Re-
tik zu beenden und den „Aufbau des Sozialismus volutionsjahr 1917 gegeben hatte. Andererseits
in einem Land“ zu propagieren. Diesen hatte nun versuchten die Entscheidungsträger im Westen,
auch die Komintern abzusichern. diese Vereinfachung in der Praxis zu umgehen,
Der spektakulärste Erfolg war in dieser Hin- indem sie Wirtschafskontakte pflegten, pragma-
sicht sicherlich das Moskauer Protokoll, das am tischen Abkommen zustimmten und sich auf die
9. Februar 1929 zwischen der So­wjet­union, Po- wandelnden Formen formeller und informeller
len, Rumänien, Lettland und Estland, später der Außenpolitik (wie im Falle der Komintern) ein-
Türkei und Litauen geschlossen wurde. Es setzte stellten. Zudem schien nach der Weltwirtschafts-
den Briand-Kellogg-Pakt – und damit den Ver- krise 1929 die Diktatur sowjetischen Typs als das
zicht, internationale Streitigkeiten mit militäri- kleinere Übel. Dies lag weniger an den autori-
scher Gewalt zu lösen – für die Unterzeichner- tären Regimen in Südost- und Ostmitteleuropa,
Staaten vorfristig in Kraft. Die Initiative ging vom die in dieser Zeit bereits existierten oder entstan-
stellvertretenden sowjetischen Außenkommissar den, sondern vielmehr am Aufstieg des National­
Maxim Litwinow aus, der die internationale Um- sozialismus nach 1933.
welt, vor allem aber die Nachbarstaaten von der Am generellen Misstrauen des Westens änder-
Friedenspolitik der So­wjet­union überzeugen und te er jedoch wenig: Am Münchner Abkommen
die sowjetische Sorge um die kollektive Sicherheit vom 30. September 1938, in dem Hitler das Su-
demonstrieren sollte. detenland zugesprochen bekam, um wenig spä-
Litwinows Politik der Annäherung an die ter nach der Tschechoslowakei zu greifen, wurde
Westmächte war mithin durchaus erfolgreich: die So­wjet­union nicht beteiligt. An eine Interven­
1932 gelang es der So­wjet­union, mit Frankreich tion wie nach der Oktoberrevolution in Russland
einen Nichtangriffsvertrag abzuschließen. Am zugunsten der Tschechoslowakei dachten Frank-
2. Mai 1935 wurde der Beistandsvertrag zwischen reich und Großbritannien nicht.
beiden Ländern unterzeichnet. Ein weiterer Er- Der Nichtangriffsvertrag zwischen Hitler
folg war 1934 die Aufnahme der So­wjet­union in und Stalin vom 23. August 1939 schien das Miss-
den Völkerbund. Sie erhielt sogar einen Sitz im trauen zu rechtfertigen. Russland (in Gestalt der
Ständigen Rat des Völkerbundes. So­wjet­union) und der Westen blieben sich fremd,
Erst kurz zuvor, 1933, hatten die USA die So­ trotz des dann gemeinsamen Gegners im Zweiten
wjet­union diplomatisch anerkannt. Dieser späte Weltkrieg. Der Kalte Krieg nach 1945 zeigte dies
Schritt hatte auch mit der in den USA tief ver- deutlich, und auch die heutigen Beziehungen sind
wurzelten Kommunismusfurcht zu tun, die zwar von der Fremdheit geprägt.
nicht mehr solche Züge trug wie unmittelbar nach
der Oktoberrevolution, als in der „Ersten Roten
Angst“ bis 1920 knapp 10 000 Menschen wegen
unamerikanischer Umtriebe verhaftet wurden,
aber das Misstrauen blieb. Die US-amerikanische
Gesandtschaft im lettischen Riga hatte beispiels- JAN KUSBER
weise die Beobachtung kommunistischer Um- ist Professor für Osteuropäische Geschichte an
triebe im östlichen Europa als Hauptaufgabe.10 der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Sein
Schwerpunkt ist die Geschichte Russlands und
10 Vgl. Claudia Breuer, Die „Russische Sektion“ in Riga, Stuttgart der So­wjet­union.
1995. kusber@uni-mainz.de

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Russische Revolution APuZ

GLEICHBERECHTIGUNG NACH 1917?


Frauen in der Kommunistischen Internationale
Brigitte Studer

Politische Aktivistinnen aus aller Welt blickten in intern und der KPs auf, dennoch waren Frauen
den 1920er Jahren voller Erwartungen auf die Er- in deren Führungsetagen kaum vertreten.03 Ei-
eignisse im ersten sozialistischen Staat der Welt – der nerseits wollten die Parteien Frauen einbezie-
Sowjetunion. Viele von ihnen waren zunächst be- hen und leiteten auch entsprechende Maßnah-
geistert von den gesellschaftlichen Errungenschaf- men ein. Andererseits wurden ihre Bemühungen
ten, die die Russische Revolution 1917 den Frauen untergraben vom Fehlen einer theoretischen
brachte. Schließlich waren es vor allem Arbeiterin- Auseinandersetzung und vom mangelnden Be-
nen und Soldatenmütter, die am 23. Februar (juli- wusstsein für die Produktion von Geschlechter-
anischer Kalender), beziehungsweise dem Welt- differenz im Alltag.
frauentag am 8. März (gregorianischer Kalender), Um die Frauenemanzipation zu fördern, wur-
beim Protestmarsch in Petrograd den Ton angaben. den innerhalb kommunistischer Organisationen
Und in der Tat verankerte die Revolution gesetz- spezielle Strukturen aufgebaut: 1917 die Frau-
lich die Gleichstellung der Geschlechter und setzte enabteilung des Zentralkomitees der KPdSU, im
den Grundstein für einen Wohlfahrtsstaat, der die August 1920 das Internationale Frauensekretariat
freie und kostenlose medizinische Abtreibung er- der Komintern sowie Frauenabteilungen inner-
möglichte sowie Kinderhorte und Beratungsstellen halb der anderen KPs.
für Mütter einrichtete.01 Darüber hinaus eröffnete Die Frauenabteilung der KPdSU organisier-
sich Frauen im Kontext der Revolution und des an- te Delegiertentreffen, um weniger organisierte
schließenden Bürgerkriegs neuer Spielraum für po- Frauen wie Hausfrauen, Büroangestellte, Dienst-
litisches und gesellschaftliches Handeln. Zwar war botinnen sowie Arbeiterfrauen zu mobilisieren.
die Öffnung politischer Organisationen für die Mit- In diesen „Schulen des Kommunismus“ sollten
wirkung von Frauen eine Errungenschaft der Arbei- Frauen erste politische Erfahrungen sammeln
terbewegung im 19. Jahrhundert, aber Anfang der und die Gelegenheit erhalten, sich theoretische
1920er Jahre war sie alles andere als die Regel. Grundlagen anzueignen. In Deutschland, wo
Die Kommunistischen Parteien (KP) in aller Frauen 1928 ein Sechstel der insgesamt 130 000
Welt spiegelten aber nicht nur die Verheißung von Mitglieder der KP ausmachten, bildeten sich star-
Emanzipation wider, sondern ebenso die realen ke Frauenorganisationen. Mit Forderungen, wie
Grenzen im Kampf um Gleichberechtigung: Wie des Rechts der Frauen auf ihren eigenen Körper,
wurde mit dem Thema Gleichstellung von Mann setzten sie sich für die Entkriminalisierung von
und Frau in den frühen Jahrzehnten des sowjeti- Schwangerschaftsabbrüchen sowie den Zugang
schen und internationalen Kommunismus umge- zu Verhütungsmitteln ein.04 In Frankreich, wo
gangen? Welcher politische Handlungsspielraum der Frauenanteil in der Partei weit geringer war
wurde Frauen innerhalb der Kommunistischen In- – 1924 lag er bei rund vier Prozent –, machte sich
ternationale (Komintern) gewährt? Und inwieweit die Partei für das Frauenstimmrecht stark.05
machten Frauen davon Gebrauch? Diesen Fragen Der Frauenanteil in der Führungsetage der
soll im Folgenden nachgegangen werden.02 Komintern betrug nur etwa vier Prozent. Eini-
ge wenige Frauen stiegen allerdings bis an ihre
NEUE, ABER EINGESCHRÄNKTE Spitze auf: etwa Angelica Balabanowa (1919), die
MÖGLICHKEITEN Deutsche Clara Zetkin (1920 bis 1933), Dolores
Ibárruri in den 1930er Jahren und Maria Krylo-
Die Geschlechtergleichheit tauchte praktisch wa während des Zweiten Weltkriegs. Auch die
von Beginn an in den Programmen der Kom- Kommunistische Universität der nationalen Min-

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derheiten des Westens wurde zwischen 1925 und tariats von Georgi Dimitroff, der zwischen 1935
1936 mit Maria Frumkina von einer Frau geleitet. und 1943 Generalsekretär der Komintern war:07
Ebenfalls unter weiblicher Führung standen An- Unter den zwölf Beschäftigten im Sekretariat wa-
fang der 1930er Jahre mit Klawdia Kirsanowa die ren zwei Frauen: die Stenografin und die Schreib-
Internationale Lenin-Schule und die Internatio- kraft. Innerhalb der Komintern war die Über-
nale Rote Hilfe mit Elena Stassowa. setzungsabteilung eindeutig diejenige mit dem
Besondere Chancen auf politische Ämter bo- höchsten Frauenanteil. Ihr Organisationsplan
ten sich Frauen in dem neu gegründeten Inter- weist 62 Stellen auf, 28 davon explizit für weib-
nationalen Kommunistischen Frauensekretariat, liche Schreibkräfte. Tatsächlich waren dort noch
das mit ehemaligen Funktionärinnen der Sozia- weit mehr Frauen als Übersetzerinnen oder Kor-
listischen Internationale sowie der Frauenbewe- rektorinnen tätig, doch geben die Stellenbezeich-
gung besetzt wurde. Dazu bemerkte die fran- nungen in diesem Fall keinen Aufschluss über das
zösische Feministin Madeleine Pelletier, als sie Geschlecht. Trotz männlicher Dominanz besetz-
1920/21 das kommunistische Russland bereiste: ten eine Reihe von Frauen mittlere Positionen.
„Anders als beispielsweise Frankreich verweigert Häufig wurden sie von kommunistischen Orga-
Russland Frauen nicht das Recht, sich mit öffent- nisationen als Kurierinnen eingesetzt, zweifellos
lichen Angelegenheiten zu befassen.“06 Doch das aufgrund der Tatsache, dass Frauen in den Augen
Geschlecht blieb auch in der sowjetischen Ge- der Polizei traditionell als „unschuldig“ und apo-
sellschaft ein bestimmendes Merkmal für Macht- litisch galten.
verhältnisse. Pelletier stellte darüber hinaus fest,
dass Frauen in den Ministerien zumeist als junge KLASSE GEGEN
Schreibkräfte arbeiteten und Führungspositionen GESCHLECHT
nach wie vor Männern vorbehalten blieben.
Die gleiche geschlechterspezifische Arbeitstei- Viele Frauen, sei es in Sowjetrussland, sei es im
lung fand sich auch in der Komintern: Einige we- Westen, packten die Gelegenheit beim Schopf,
nige Frauen hatten Führungspositionen inne, weit als sich ihnen die Aussicht auf Emanzipation und
mehr übten hingegen Verwaltungstätigkeiten oder auf verantwortungsvolle Lohnarbeit innerhalb
sogenannte technische Funktionen aus (Sekreta- kommunistischer Organisationen bot. Auch an
riat, Übersetzung, Botendienst). Verdeut­lichen der Basis lockten kommunistische Organisatio-
lässt sich dies an der Neugestaltung des Sekre- nen Aktivistinnen an, von denen nicht alle Ar-
beiterinnen waren. Beeinflusst von der Tradi­tion
des sozialdemokratischen Feminismus, boten die
01 Zur Frauen- und Geschlechterpolitik der frühen So­wjet­union Parteien auch Hausfrauen Platz. War denn die
siehe Carmen Scheide, Kinder, Küche, Kommunismus. Das Wech-
Ausbeutung der Gattin durch den Gatten nicht
selverhältnis zwischen sowjetischem Frauenalltag und Frauenpolitik
von 1921 bis 1930 am Beispiel Moskauer Arbeiterinnen, Zürich
auch eine Form der Ausbeutung? Dabei stand
2001; Wendy Goldman, Women, the State, and Revolution: Soviet die kommunistische Frauenpolitik zu Beginn vor
Family Policy and Social Life, 1917–1936, Cambridge 1993; Joy dem Dilemma, widersprüchliche Positionen ver-
Chatterjee, Ideology, Gender and Propaganda in the Soviet Union, einen zu wollen – etwa Frauen von „Töpfen und
in: Left History 2/1999, S. 11–28.
Pfannen“ zu befreien und zugleich den „Schutz
02 Dieser Artikel basiert auf Brigitte Studer, The Transnational
World of the Cominternians, Basingstoke 2015, Kap. 2, The New
für Mutter und Kind“ zu garantieren.08
Woman. In den frühen 1920er Jahren gab es noch
03 Siehe Elizabeth Waters, In the Shadow of the Comintern: The zahlreiche gesellschaftliche Debatten über das
Communist Women’s Movement, 1920–43, in: Sonia Kruks et al. Konzept der „Neuen Frau“, über neue Lebens-
(Hrsg.), Promissory Notes: Women in the Transition to Socialism,
entwürfe und über eine geschlechtsspezifische
New York 1989, S. 29–56.
04 Vgl. Atina Grossmann, German Communism and New ­Women:
Neuordnung. Diese verstummten aber in der
Dilemmas and Contradictions, in: Helmut Gruber/Pamela Graves
(Hrsg.), Women and Socialism. Socialism and Women, New York–
Oxford 1998, S. 135–168. 07 Siehe Brigitte Studer, Die Kominternstruktur nach dem 7.
05 Christine Bard/Jean-Louis Robert, The French Communist Weltkongress. Das Protokoll des Sekretariats des EKKI über die
Party and Women. 1920–1939, in: Gruber/Graves (Anm. 4), Reorganisierung des Apparates des EKKI, 2. Oktober 1935, in:
S. 321–347, hier S. 323. Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der
06 Madeleine Pelletier, Mon voyage aventureux en Russie com- deutschen Arbeiterbewegung 1/1995, S. 25–53.
muniste, Paris 1996 (1922), S. 94 f. 08 Siehe Grossmann (Anm. 4), S. 140.

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Russische Revolution APuZ

zweiten Hälfte der 1920er Jahre zunehmend – zielter fokussierte. Solche Berufsfelder, in denen
nicht zuletzt, weil progressive Positionen über nur wenige Frauen tätig waren, passten schlecht
neue Formen des Alltagslebens mit der linken zu den vorherrschenden Vorstellungen von Weib-
Opposition unter Leo Trotzki in Verbindung ge- lichkeit. Zum anderen neigten die Parteien dazu,
bracht wurden. Alexandra Kollontai, jene Figur, die Artikulation von Klassenbewusstsein aus-
die dieses Denken wie keine andere für den Wes- schließlich in der Partei und den Gewerkschaften
ten verkörperte, nahm nie wieder öffentlich zu zu verorten. Dies waren sozial und kulturell von
diesen Fragen Stellung. So spiegelte sich im neu- Männern dominierte Bereiche. Von männlicher
en Familiengesetzbuch von 1926 bereits ein tra- Sozialisation geschaffene Räume politischen Ak-
ditionelleres und konservativeres Bild der Frau tivismus wurden daher als Ausdruck von Klas-
wider, indem es diese mit familiärer Abhängig- senbewusstsein betrachtet. Für andere Formen,
keit assoziierte. Das Bild der Politikkommissarin, die charakteristisch waren für weibliche Lebens-
das während der Phase des Russischen Bürger- räume, galt dies im Allgemeinen hingegen nicht:10
kriegs in Mode gewesen war, wich einer traditi- Boykottierten Hausfrauen ein Geschäft mit zu
onelleren Darstellung. Wobei die KPs im Wes- hohen Preisen, wurde das nicht so hochgeschätzt
ten für ihre Propaganda eine andere Darstellung wie ein Streik von Stahlarbeitern.
des weiblichen Proletariats verwendeten, die ganz Um zu verstehen, warum Frauen in der Po-
im Gegensatz zum glücklichen Bild sowjetischer litik der Bolschewiki nur eine zweitrangige Rol-
Frauen stand: Ausgebeutete Proletarierin, be- le einnahmen, muss man sich vor Augen führen,
nachteiligte Mutter, nur der Kommunismus wird dass der Kommunismus der Kategorie „Ge-
dich befreien! schlecht“ nahezu jedwedes symbolisches Kapital
Doch die kommunistischen Organisationen für die Strukturierung der Machtverhältnisse ab-
hatten Schwierigkeiten, weibliche Identität zu gesprochen hat. Entscheidend war die Klassenpo-
definieren. Ein vom Interesse der Arbeiter unab- sition, die sich aber aus der Stellung im Produkti-
hängiges Interesse einer Frau war suspekt – ent- onssektor ableitete.
scheidendes Kriterium für kommunistische Po- Die relative organisatorische Autonomie der
litik war die Klasse, nicht das Geschlecht. Dies Frauenabteilungen wurde nach und nach be-
führte zu einem ernsten Problem bei der Klassi- schnitten durch die ständig fortschreitende Zen-
fizierung. In welche soziale Kategorie sollten Ar- tralisierung. Die „Kommunistische Fraueninter-
beiterinnen eingeordnet werden? Frau oder Pro- nationale“, die monatlich mit einer Auflage von
letarierin? Und noch komplizierter: Was war mit 10 000 Exemplaren erscheinende Frauenzeit-
Hausfrauen? Anders als die Frauenabteilung der schrift der Komintern, wurde 1925 eingestellt.
KPdSU, die eine tragende Rolle der Frauen bei Der letzte Internationale Kommunistische Frau-
der Umgestaltung der Gesellschaft einforderte, enkongress fand 1926 statt. In der zweiten Hälfte
neigten Parteiführungen sowohl in der So­wjet­ der 1920er Jahre wurden die Frauenabteilungen
union als auch im Westen dazu, sie als negativen der KPs durch einfache Kommissionen ersetzt.
Einfluss zu betrachten: Je nach Darstellung waren Trotz Proteste seitens der Belegschaft verlor das
Frauen mit „falschem“ Bewusstsein behaftet oder von Clara Zetkin und später von Hertha Sturm
hatten überhaupt kein Klassenbewusstsein.09 (wirklicher Name Edith Fischer) geführte Inter-
Da der Stellenwert im politischen Kampf vom nationale Sekretariat 1926 seinen autonomen Sta-
Klassenbewusstsein bestimmt war, wurden Frau- tus und wurde eine Abteilung der Komintern.
en in zweierlei Hinsicht ausgegrenzt: Zum einen Nach Elena Stassowas Ablösung durch drei Män-
wurde Klassenbewusstsein vorrangig mit den Ar- ner 1920 wurde das Sekretariat des Zentralkomi-
beitern in bestimmten Sektoren in Verbindung tees der KPdSU nie wieder von einer Frau gelei-
gebracht, etwa Eisen und Stahl oder Baugewer- tet.11 Zugleich sank in den meisten europäischen
be, auf die sich die politische Aktivität immer ge- Parteien die Zahl der weiblichen Mitglieder sowie
der Frauenanteil in Führungsgremien.

09 Siehe Elizabeth A. Wood, The Baba and the Comrade: Gen-


der and Politics in Revolutionary Russia, Bloomington 1997; Wendy 10 Vgl. Joan Wallach Scott, Gender and the Politics of History,
Z. Goldman, Industrial Politics, Peasant Rebellion and the Death of New York 1999, S. 53–67.
the Proletarian Women’s Movement in the USSR, in: Slavic Review 11 Siehe Barbara Evans Clements, Bolshevik Women, Cambridge
1/1996, S. 46–77. 1997, S. 197 f.

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Etwas verallgemeinert scheint es, dass Mitte die Hauptrolle zu. Es war ihre Aufgabe, das Leben
der 1920er Jahre alleinstehende Frauen und sol- zu „schmücken“, wie Stalin sich ausdrückte. Und
che, die aus der Mittelschicht stammten, aus den es war ihre Pflicht, es mittels Mutterschaft zu re-
KPs verschwanden. Diese Erosion erklärt sich produzieren – eine gesellschaftliche Funktion, auf-
zum Teil durch die zunehmende Verherrlichung gewertet durch die Einbeziehung von „staatlichem
der Arbeiter. Sie war aber auch Folge dessen, dass Schutz der Interessen von Mutter und Kind“ in Ar-
die KPs den Feminismus, wie er in Frankreich tikel 122 der sowjetischen Verfassung von 1936.
von Madeleine Pelletier, in Großbritannien von Trotz des neuen Schwerpunkts auf der Kin-
Stella Browne und in der So­wjet­union von Ale- dererziehung blieb der Beitrag der Frauen an
xandra Kollontai vertreten wurde, immer vehe- der Produktion genauso unverzichtbar wie zu-
menter ablehnten. vor. Die Zeitschrift „UdSSR im Bau“ drückte
es schon 1935 wie folgt aus: „Die Freude an der
GESCHLECHT INNERHALB Mutterschaft und die Freude an der Arbeit wi-
DER KLASSE dersprechen sich in der UdSSR nicht, sondern er-
gänzen sich.“13 Der Preis, der hierfür zu bezahlen
In den 1930er Jahren nahmen die visuellen Dar- war, bestand in der Intensivierung und quasi of-
stellungen des sowjetischen Lebens eine Wendung fiziellen Bestätigung der „Doppelbelastung“ von
zum Weiblichen, wie die Zeitschriften „UdSSR Frauen, als die Kinderkrippen und weitere ihnen
im Bau“ sowie „Arbeiter Illustrierte Zeitung“ zugesagte Dienstleistungen ausblieben.
umfassend belegen. Fotografien von weiblichen Wie reagierten ausländische Kommunisten in
Stoßarbeiterinnen und lachenden Traktorfahre- der So­wjet­union und die westeuropäischen KPs
rinnen fanden auch in der westlichen kommunis- auf diese ideologische Wende? Zwar war die kom-
tischen Presse weite Verbreitung. Das Geschlecht munistische Welt eine transnationale Welt, ge-
war nicht nur ein Instrument inländischer Mobi- prägt von gemeinsamen politischen Orientierun-
lisierung und ausländischer Propaganda gewor- gen und geteilten kulturellen Werten, Regeln und
den, sondern entwickelte sich auch zu einem Mit- Vorschriften. Zugleich war sie aber auch eine hi-
tel, um das Verhältnis zwischen Staat und Volk erarchische, in der die So­wjet­union für sämtliche
darzustellen. In zahlreichen Gemälden des Sozia- KPs das Vorbild war. Und in der Tat beschränkte
listischen Realismus wurde der Staat von „Väter- sich die Rückkehr zu einem bestimmten Konser-
chen Stalin“ verkörpert, die Nation selbst hinge- vatismus in Geschlechterfragen nicht auf die So­
gen von Frauen.12 wjet­union. Vor allem in der zweiten Hälfte der
Dieser Rückgriff auf Geschlechterunterschiede 1930er Jahre wurde die sowjetische Politik von
war nicht nur figurativ. Die üblicherweise Frauen westeuropäischen Kommunisten adaptiert. Es ist
zugeschriebenen Werte und Veranlagungen wur- jedoch wichtig zu betonen, dass diese Umstellung
den aufgewertet, da das stalinistische System nun nicht nur aufgrund der sowjetischen Entwick-
die angebliche Bereitschaft von Frauen zur Selbst- lung geschah, sondern auch eine Angleichung an
aufopferung um des Familienwohls willen als un- das eigene unmittelbare kulturelle Umfeld war.
entbehrlich für die Lebensfähigkeit der sowjeti- Die kognitive Anpassung verlief nicht für
schen Gesellschaft bezeichnete. Zugleich wurde die alle reibungslos. Das Gesetz „Zum Schutz von
Identifizierung der Frau mit ihrer Rolle als Haus- Mutterschaft und Kindheit“ vom Mai 1936, das
frau und Mutter, die die Bolschewiki in den Jahren Schwangerschaftsabbrüche unter Strafe stellte,
nach der Revolution noch als reaktionär betrach- und die seiner Verabschiedung vorangegange-
tet hatten, gefördert. Die Hausfrau stellte nun keine ne Kampagne in den Tageszeitungen „Prawda“
potenzielle Bedrohung mehr für die Politik und die sowie „Iswestija“ stießen zum Teil auf Unver-
Ziele des Regimes dar, sondern diente im Gegen- ständnis seitens der im Land lebenden westli-
teil als Mittel zu deren Umsetzung. Im Bestreben, chen Kommunisten.14 Häufig wurden prakti-
die sowjetische Gesellschaft zu „zivilisieren“, um
„Kultiviertheit“ zu fördern, fiel der „Neuen Frau“
13 UdSSR im Bau 6/1935.
14 Für diese Debatte siehe Rudolf Schlesinger, The Family in the
12 Vgl. Susan E. Reid, All Stalin’s Women: Gender and USSR, London 1949, S. 251–269; Robert W. Thurston, The Soviet
Power in Soviet Art of the 1930s, in: Slavic Review 1/1998, Family during the Great Terror. 1935–1941, in: Soviet Studies
S. 133–173. 3/1991, S. 553–574, hier S. 557.

42
Russische Revolution APuZ

sche Einwände vorgebracht, etwa jene, die in flikt befand. Da die Verantwortung für die Be-
der sowjetischen Presse verschleiert wurden – treuung und Erziehung der Kinder Frauen zufiel,
zum Beispiel das Fehlen von Verhütungsmit- war ihr politisches Engagement immer auch mit
teln und Kinderbetreuungsangeboten. Es gab Ambivalenzen und Widersprüchen verbunden –
aber auch grundsätzliche Abneigung gegen das mit Konsequenzen für sie selbst und für die Or-
Gesetz. Schockiert waren insbesondere Ärztin- ganisationen. So unentbehrlich Frauen für das
nen wie Martha Ruben-Wolf, die eine führende Funktionieren der KPs und des Apparats der Ko-
Kämpferin in der Kampagne für die Legalisie- mintern sein mochten, wurden sie doch zumeist
rung der Abtreibung in Deutschland gewesen in untergeordnete Funktionen abgedrängt. Zu-
war und selbst Schwangerschaftsabbrüche vor- dem setzten die KPs sie meist in „Frauenjobs“
genommen hatte. Wie konnte etwas, das die ein, etwa in den Antikriegs- und Hilfsorganisa-
Kommunistinnen und Kommunisten in der ka- tionen. Diese Bereiche „weiblichen“ politischen
pitalistischen Welt als emanzipatorisches Recht Engagements galten in der Hierarchie der Kom-
für Frauen einforderten, in der So­wjet­union ab- intern und der KPs als weniger bedeutend als die
geschafft werden? typischerweise von Männern abgedeckten und als
Mochte es hier und da auch Proteste geben, „wirklich“ politisch angesehenen Ämter. Inner-
so passten sich die westlichen Parteien der neu- halb der kommunistischen Bewegung deckte sich
en sowjetischen Ausrichtung rasch an. Die Ver- die Arbeitsteilung zwischen Männern und Frau-
herrlichung der Familie fand auf bemerkens- en mit der traditionellen Assoziierung des einen
werte Weise Ausdruck in der Selbstinszenierung Geschlechts mit dem öffentlichen Bereich und
des Vorsitzenden der KP Frankreichs, Maurice des anderen mit dem privaten.
Thorez. Auch in der Rhetorik und dem Pro- Frauen selbst neigten zu der Auffassung, ihre
gramm seiner Partei spiegelte sich die Aneignung politische Tätigkeit sei der von Männern unter-
von „Familienwerten“ wider.15 Andere Partei- geordnet, vor allem der ihres eigenen Mannes.
en zogen gleich: So verwendete beispielsweise in Selbst wenn sie Kader waren und sich als solche
der zweiten Hälfte der 1930er Jahre die KP der bezeichneten, wie beispielsweise Jeannette Ver-
Schweiz eine Bildsprache, die die mit der Familie meersch, die zweite Frau von Maurice Thorez,
assoziierte gesellschaftliche und individuelle Sta- schränkten sie ihre politische Tätigkeit zugunsten
bilität aufwertete. Dabei wurde zwar suggeriert, ihrer Rolle als Mutter ein oder, um ihren Mann
die Familie sei für Männer und Frauen gleicher- bei dessen Arbeit zu unterstützen, gaben sie ganz
maßen wichtig. Doch die Mutterrolle wurde im auf.16 Peggy Dennis, auch sie die Frau eines Par-
Gegensatz zur Vaterrolle weniger als gesellschaft- teivorsitzenden, die selbst viele Jahre für die Ko-
liche Funktion betrachtet, sondern eher als „na- mintern tätig gewesen war, akzeptierte nach ihrer
türliche“ Eigenschaft von Frauen. Zur damaligen Rückkehr in die Vereinigten Staaten den Ver-
Zeit hatte eine Kommunistin auch eine Mutter zu lust ihrer „individuellen öffentlichen Identität“.
sein – wie schwierig diese Doppelrolle war, wur- Nicht imstande, ihre Rolle als Aktivistin mit der
de jedoch meist ignoriert. als Ehefrau in Einklang zu bringen, beschloss sie,
die Arbeit ihres Ehemanns Gene als die ihre an-
MUTTER UND zunehmen, ihre Hilfsfunktion als Parteiarbeit zu
REVOLUTIONÄRIN? definieren: „Gene, seine Arbeit und seine Bedürf-
nisse sublimierten sich zu meinem persönlichen
Das Leben als kommunistische Aktivistin brach- politischen Beitrag.“17
te insbesondere in der So­wjet­union häufig eine Die Komintern bot Frauen zwar eine damals
Lebensrealität mit sich, in der sich die Rolle der seltene Gelegenheit für politisches Engagement
Kommunistin mit der Rolle der Mutter im Kon- und Zugang zu einem öffentlichen Bereich, der
ihnen bis dato verwehrt geblieben war. Dort wa-
15 Siehe Annie Kriegel (Hrsg.), Communismes au miroir fran- ren Frauen nicht bloß passive Teilnehmerinnen,
çais. Temps, cultures et sociétés en France devant le communis-
me, Paris 1974, S. 131–160; Eric D. Weitz, The Heroic Man and
the Ever-Changing Woman: Gender and Politics in European 16 Vgl. Annette Wieviorka, Maurice et Jeannette. Biographie du
Communism, 1917–1950, in: Laura L. Frader/Sonya O. Rose couple Thorez, Paris 2010, S. 277.
(Hrsg.), Gender and Class in Modern Europe, Ithaca 1996, 17 Peggy Dennis, The Autobiography of an American Communist,
S. 311–352. Westport–Berkeley 1977, S. 89.

43
APuZ 34–36/2017

sondern Akteurinnen. Aber die politischen Betä- Einklang zu bringen, ein Modell, das von Partei-
tigungsfelder, die Frauen offenstanden, waren eng en in anderen Ländern diskursiv teilweise über-
verknüpft mit den privaten und den häuslichen. nommen wurde.
Trotz wiederholter Absichtserklärungen zuguns- In dieser Hinsicht stellte das von den Kom-
ten der Gleichstellung von Mann und Frau war munisten in der zweiten Hälfte der 1930er Jah-
das kommunistische System durchdrungen von re geförderte familienzentrierte kulturelle Modell
einer symbolischen Gewalt, die den gesellschaft- keine schlichte Rückkehr zu konservativen Wer-
lichen Wert der Lohnarbeit von Frauen sowie de- ten dar, sondern drückte aus, was die Historike-
ren politischer Aktivität herunterspielte. In der rin Barbara Evans Clements „modernisierten Pa-
Geschlechterordnung blieb der Kommunismus in triarchalismus“ nannte.19 Darüber hinaus stellte
seinen bolschewistischen und stalinistischen Va- es den Keim eines modernen Verständnisses der
rianten nicht verschont von dem, was der Philo- Rolle der Frauen dar, wie es sich in den Indus-
soph Roland Barthes den „Realitätseffekt“ nann- triegesellschaften der Nachkriegszeit allmählich
te, der Etwas als natürliches Phänomen etabliert durchsetzte. Doch diese neue Darstellung der
und damit aber genau das sozial konstruiert, was Identität von Frauen hielt an der alten Hierarchie
angeblich natürlich ist. Auch der Kommunismus zwischen verschiedenen Rollen fest: Die Mutter
ging von „natürlichen“ und somit vermeintlich kam vor der Arbeiterin, die Gattin gab der politi-
unabänderlichen Differenzen zwischen den Ge- schen Arbeit ihres Mannes Vorrang vor der eige-
nossinnen und Genossen aus, womit er diese Dif- nen, und die Kommunistin handelte zuallererst,
ferenzen aber eben zementierte.18 um ihre Kinder und diejenigen zu beschützen, die
sich nicht selbst helfen konnten.
SCHLUSS Zusammenfassend lässt sich festhalten: In der
Selbstdarstellung des sowjetischen Staates wa-
Weibliche Bilder und soziale Rollen erwiesen sich ren die Bemühungen zur Emanzipation äußerst
als flüchtiger und widersprüchlicher im Vergleich erfolgreich. Tatsächlich verlautete in der neu-
zu den stabileren und konsistenteren Darstellun- en Verfassung von Dezember 1936, die Gleich-
gen maskuliner Identität. Das kämpferische Vor- stellung von Frauen und Männern sei erreicht –
bild der frühen 1920er Jahre war auf beide Ge- ein Standpunkt, den die kommunistische Presse
schlechter anwendbar, wenn auch unterschiedlich in aller Welt verbreitete. Doch das Verhältnis
in seinen Auswirkungen hier wie dort. In ähnli- zwischen dem Egalitarismus in den politischen
cher Weise wurde der nach 1935 ergehende Auf- Vorstellungen einerseits und der gesellschaft-
ruf, Familienpflichten zu übernehmen, sowohl lichen Praxis andererseits war zwiespältig und
an Männer als auch an Frauen gerichtet. Zudem konfliktgeladen. Trotz der offiziell verkünde-
beharrte der kommunistische Diskurs in der So­ ten Gleichstellung waren weibliche Kader in der
wjet­union wie in Westeuropa ständig darauf, die Komintern immer wieder mit schwierigen Ent-
Ehe sei eine Beziehung zwischen „gleichberech- scheidungen zwischen politischen und familiä-
tigten“ Genossen. Es war nur so, dass die Priori- ren Pflichten konfrontiert.
täten, die dies implizierte, unterschiedlich waren.
Wenn Männer zur Ordnung gerufen wurden, ge- Übersetzung aus dem Englischen: Peter Beyer, Bonn.
schah dies in erster Linie, um Arbeitsdisziplin vo-
ranzutreiben – die Mitarbeiterfluktuation stellte
eines der großen Probleme der UdSSR dar. Doch
die Stabilisierung von Zuhause wie Arbeitsplatz
war ein Ziel, das auch die Länder des Westens ver-
folgten – allerdings forderte man in der So­wjet­
union, im Gegensatz zu anderswo, Frauen nicht BRIGITTE STUDER
dazu auf, ihre Arbeit aufzugeben, es sei denn, es ist Professorin für Schweizer und Neueste
handelte sich um Kader. Man erwartete von ihnen Allgemeine Geschichte am Historischen Institut der
vielmehr, die Mutterschaft mit der Lohnarbeit in Universität Bern. Ihre Forschungsschwerpunkte sind
die Sozial- und Kulturgeschichte des Kommunismus
18 Roland Barthes, Le discours de l’historie, Paris 1967. und Stalinismus.
19 Clements (Anm. 11), S. 275. brigitte.studer@hist.unibe.ch

44
AUS POLITIK
UND ZEITGESCHICHTE
Call for Papers
ZUM THEMA „MEERE UND OZEANE“

Meere und Ozeane sind nicht nur komplexe Ökosysteme und vielfältige Lebensräume für unzählige
Arten, sondern auch für den Menschen extrem wichtig: Seit Jahrtausenden dienen sie als Nahrungs-
quelle und Rohstofflieferant, zudem sind sie ein entscheidender Faktor im Weltklimageschehen. Sie
sind zugleich globalisierte Wirtschaftsräume, Schauplätze kriegerischer Auseinandersetzungen, Rück-
zugs- und Sehnsuchtsorte, Inspiration für Kunst und Literatur sowie vielfach schlicht Müllkippen.
Mit all den unterschiedlichen und zunehmenden Nutzungen durch den Menschen sind häufig politi-
sche Fragen verbunden, weshalb Meere und Ozeane immer wieder Gegenstand internationaler Ver-
handlungen und Regulierungsbemühungen sind. Die natur- und sozialwissenschaftliche Erforschung
der Meeresräume und ihrer historischen, gegenwärtigen und zukünftigen Verbindung mit Land und
Menschen spielt dabei eine wichtige Rolle, liefert sie doch die Wissensgrundlage, auf der politische
Entscheidungen getroffen werden.

Zum Ende des gleichnamigen Wissenschaftsjahres widmet sich die Ausgabe 52/2017 von „Aus Politik
und Zeitgeschichte“ (APuZ) dem Thema „Meere und Ozeane“. Dafür suchen wir sechs wissenschaft-
liche Beiträge (bis zu 26 000 Zeichen inkl. Fußnoten), die sich aus unterschiedlichen fachlichen Per-
spektiven mit dem Thema in Geschichte und Gegenwart auseinandersetzen.

Exposés mit einem Umfang von höchstens 4000 Zeichen können bis zum 15. September 2017 per E-Mail
an apuz@bpb.de eingereicht werden. Aus den Exposés sollen die zugrunde liegenden Leitfragen, die
Struktur des Beitrags und die Vorgehensweise der Autor(inn)en klar hervorgehen. Bitte fügen Sie auch
einen Kurzlebenslauf bei.

Die Auswahl aus den Exposés wird von der APuZ-Redaktion vorgenommen. Kriterien sind Wissen-
schaftlichkeit, Originalität und politische Relevanz. Die Autor(inn)en haben anschließend bis Anfang
November 2017 Zeit, ihre Beiträge zu schreiben. Diese werden in der Print- wie auch in der On-
line-Ausgabe der APuZ veröffentlicht.

Bundeszentrale für politische Bildung


Redaktion „Aus Politik und Zeitgeschichte“
Adenauerallee 86
53113 Bonn

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Fachtagung
Im Schatten von Auschwitz …
Studienfahrten planen zu fast vergessenen Orten nationalsozialistischer Massenverbrechen

20.–21. November 2017, Umweltforum, Berlin brechen und sorgt dafür, dass diese Orte heute
weitestgehend unbekannt sind – geographisch
Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges wurde das wie erinnerungskulturell.
Konzentrationslager Auschwitz zum Synonym des in-
dustriellen Massenmordes. Inzwischen besuchen jährlich Die Fachtagung möchte die weniger präsenten
fast zwei Millionen Menschen die Gedenkstätte. Vernichtungslager und -orte in Osteuropa in das
Sie ist zu einem Tourismusmagneten geworden. öffentliche Bewusstsein rücken und Möglichkeiten
aufzeigen, wie sie im Rahmen von Studienfahrten
Doch nur einen Teil der Opfer nationalsozialistischer besucht werden können.
Massenverbrechen ermordeten die Nationalsozialisten
in Auschwitz-Birkenau. Viele weitere vergasten sie in Angesprochen sind Multiplikatorinnen und Multi-
Kulmhof, Belzec, Treblinka und anderen Vernichtungs- plikatoren, die Studienfahrten zu Gedenkstätten
lagern oder erschossen sie in Kamjanez-Podilskyj, und Orten nationalsozialistischer Massenverbrechen
Blagowschtschina und vielen weiteren Orten. planen, organisieren oder durchführen, sowie
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Institutionen,
Der Fokus auf Auschwitz verengt die Perspektive auf Stiftungen, Vereinen und Verbänden, die Gedenk-
die Schauplätze nationalsozialistischer Massenver- stättenfahrten fördern und finanzieren.

Anmeldung und weitere Informationen online unter:


www.bpb.de/im-schatten
1
Herausgegeben von der
Bundeszentrale für politische Bildung
Adenauerallee 86, 53113 Bonn
Telefon: (0228) 9 95 15-0

Redaktionsschluss dieser Ausgabe: 11. August 2017


Nächste Ausgabe
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Anne-Sophie Friedel EUROPA
Jonas Geske (Praktikant)
Christina Lotter (Volontärin)
Johannes Piepenbrink
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