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Realpolitiker der Revolution

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Aus: Ausgabe vom 20.01.2024, Seite 12 / Thema


Lenin

Meister jäher Wendungen. Vor 100 Jahren starb Wladimir Iljitsch Lenin
Von Reinhard Lauterbach

Die Bolschewiki haben die russische Revolution nicht gestartet. Aber sie haben erreicht, dass der
Sozialismus in Russland die ersten Jahre überlebt hat. Wladimir Iljitsch Uljanow, Kampfname Lenin,
war der erste Organisator dieses Überlebens.

Die Ursache der Revolution, die am 8. März 1917 (nach altem russischem Kalender am 25. Februar,
daher der gängige Name »Februarrevolution«) begann, war sozusagen ein multiples Organversagen
des zaristischen Systems. Demonstrationen von Petersburger Arbeiterfrauen für eine bessere
Brotversorgung führten zu Solidarisierungen seitens der Garnison, die sich weigerte, gegen die
Demonstrantinnen vorzugehen. Die russische Bourgeoisie, die sich aus Sorge um den Schutz ihres
Eigentums und unter dem Schock der ersten russischen Revolution 1905–1907 mit dem Zarensystem
arrangiert hatte wie die deutsche nach 1848 mit der preußischen Monarchie, kündigte dem System die
Gefolgschaft auf, nachdem sich der Staat als unfähig erwiesen hatte, an den Fronten zu siegen. Drei
Monate vor den Hungerunruhen in Petersburg hatte Pawel Miljukow, Fraktionsvorsitzender der
großbürgerlichen »Konstitutionellen Demokraten« in der Staatsduma, in einer Rede zehn Misserfolge
der vergangenen Jahre aufgezählt und jedesmal rhetorisch gefragt, ob dies auf Dummheit oder auf
Verrat zurückzuführen sei. Das Zarensystem war am Ende; es gab im Frühjahr 1917 bis auf den
Hochadel und die Grundbesitzerklasse niemanden mehr, der für das alte System zu kämpfen und zu
sterben bereit war. Entsprechend ging die nachfolgende Implosion des Zarismus innerhalb weniger
Wochen vonstatten.

Sozialismus als Tagesaufgabe

Von Lenin stammt die berühmte Beschreibung einer revolutionären Situation: Sie liege vor, wenn »die
oben nicht mehr weitermachen können und die unten nicht mehr weitermachen wollen«. Sie ist klar auf
die russische Situation im Frühjahr 1917 gemünzt. Lenins historische Leistung besteht darin, dieses
Machtvakuum schnell diagnostiziert und als einmalige historische Chance für die sozialistische
Bewegung erkannt zu haben: der alte Staat ohne Massenbasis, der Repressionsapparat zersetzt und
desorientiert, gleichzeitig das Proletariat als unmittelbarer Klassengegner unvorbereitet auf die

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Notwendigkeit, an dessen Stelle zu treten. Die Macht lag auf der Straße, man musste sie nur nehmen.
Wie es Napoleon Bonaparte gesagt hatte: »On s’engage, et puis on voit« – man nimmt den Kampf auf,
der Rest ergibt sich.

Für diese Chance nahm es Lenin in Kauf, seine Rückkehr nach Russland mit einer politischen
Kompromittierung zu beginnen: der berühmten, mit Duldung der deutschen Reichsleitung organisierten
Fahrt im plombierten Waggon von der Schweiz durch Deutschland und Schweden bis nach Finnland,
das damals noch zu Russland gehörte. Der Vorwurf des bürgerlichen Russlands, ausgerechnet der
radikalste Revolutionär habe sich vom imperialistischen Konkurrenten instrumentalisieren lassen, ließ
nicht lange auf sich warten. Lenin war es egal. Er setzte darauf, dass die Leute schlicht genug hatten
vom Krieg und den Frieden von jedem nehmen würden, der ihn auf glaubhafte Weise zu bringen
versprach.

Lenins Orientierung auf den Sozialismus als Tagesaufgabe, wie er sie kurz nach seiner Ankunft in
Russland in den sogenannten Aprilthesen formulierte, war in seiner eigenen Partei umstritten. Die
Kader der Bolschewiki, die im Inland den Krieg überlebt hatten und nach und nach aus den
Gefängnissen oder Verbannungsorten zurückkehrten, dachten ursprünglich in den Gleisen des
sozialdemokratischen Mainstreams jener Jahre. Nach dem Ende des spätfeudalen Zarensystems
müsse zunächst der Kapitalismus eingeführt werden, um die Grundlagen für den Sozialismus zu
schaffen: wirtschaftlich durch die Entwicklung der Produktivkräfte, politisch durch eine
parlamentarische Demokratie, in der die Sozialisten für Arbeiterrechte im Sinne der westeuropäischen
Sozialdemokratie zu kämpfen hätten – aber eben nicht sofort um die Staatsmacht.

Lenin versuchte erst gar nicht, diese durch jahrzehntelange sozialdemokratische Theoriebildung
gefestigte Auffassung theoretisch zu widerlegen. Ihm genügte es, die Vertreter dieser Stadientheorie –
allen voran Karl Kautsky, den Chefideologen der Zweiten Internationale – auf das wüsteste zu
beschimpfen und dabei auch vor linguistischen Neuprägungen wie »Chwostismus« (von chwost – der
Schwanz/Schweif) nicht zurückzuschrecken. Und er entwickelte in der im Sommer 1917 in Windeseile
heruntergeschriebenen Broschüre »Staat und Revolution« das Konzept eines Staates, der einerseits
objektiv schon deshalb seinen Charakter als Unterdrückungsapparat verliere, weil die politische Macht
ja im Interesse der Bevölkerungsmehrheit ausgeübt werde, und in dem andererseits »jede Köchin
regieren« könne, sofern sie die vier Grundrechenarten beherrsche. Vorstellungen, an die er sich schon
ein halbes Jahr später, als die Bolschewiki die Staatsmacht errungen hatten, nicht mehr gern erinnern
ließ und denen er auch praktisch ungerührt zuwiderhandelte. Nicht mehr Absterben des Staates,
sondern Ausbau der staatlichen Kontrolle über immer weitere Bereiche der Gesellschaft hieß nun die
Parole, nicht mehr Köchinnen an die Macht, sondern Werbung um bürgerliche Spezialisten und Appelle
an den russischen Patriotismus ehemaliger Offiziere der Zarenarmee.

Die Arbeiterräte, die Lenin noch im Sommer 1917 als neue Form proletarischer Selbstverwaltung
gefeiert hatte, erwiesen sich in der Folge als unfähig, die mit der Revolution nicht verschwundene
Komplexität einer Industriegesellschaft im Krieg zu bewältigen. Sie wurden in dem Maße, in dem die
Bolschewiki ihre Macht konsolidierten, politisch entwertet und praktisch durch ein rapide wachsendes
Netz an Behörden ersetzt. Ob die effizienter waren, ist eine andere Frage. Die sowjetische Bürokratie,
an der Lenin in seinen späten Lebensjahren so oft verzweifelte, war das Kind einer Revolution, die
nach ihrem Sieg mehr sein musste als eine Umwälzung, nämlich auch eine Verwaltung.

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Lenin wusste, dass den Bolschewiki die Zeit davonlief und das Fenster der politischen Gelegenheit,
das der Zusammenbruch des alten Systems im Frühjahr 1917 geöffnet hatte, nicht auf Dauer
offenstehen würde. Deshalb drückte er aufs Tempo, wollte die Machtfrage zuspitzen. Auch das
bürgerlich-sozialdemokratische Russland begann sich in der zweiten Jahreshälfte 1917 zu
organisieren, was in der Vorbereitung einer Konstituierenden Versammlung, die eine Verfassung für die
neue russische Republik ausarbeiten sollte, Ausdruck fand. Die Provisorische Regierung bereitete, so
unfähig und zerstritten sie auch war, das Verbot der Bolschewiki vor, reaktionäre Generäle führten ihre
Truppen gegen das revolutionäre Petrograd; es war ein Wettlauf darum, welche Seite als erste Fakten
schaffen würde. Der Petrograder Arbeiterrat behielt in diesem Rennen knapp die Nase vorn: klassisch
die Szene, in der Vertreter des Arbeiterrates der Konstituierenden Versammlung am Abend das Licht
abdrehten (»Genossen, die Garde ist müde«) und am nächsten Morgen die Türen zum
Versammlungssaal verschlossen hielten. Zu einer zweiten Sitzung des Gremiums kam es nicht mehr.

Prekäre Allianz

Der in seinem unmittelbaren Verlauf unblutige Umsturz des 25./26. Oktober (nach gregorianischem
Kalender: 7./8. November) 1917 stützte sich militärisch auf die Garnison der Hauptstadt Petrograd
sowie auf Arbeitermilizen. Er beruhte aber mindestens ebensosehr auf der Passivität großer Teile der
Gesellschaft und der Handlungsunfähigkeit großer Teile der Armee, der die Bauernsoldaten
davongelaufen waren. Denen war wichtiger, bei der erwarteten Landverteilung ihr Stück Boden
abzubekommen. Diese Koalition negativen Inhalts begünstigte die punktuelle Machtübernahme durch
die Bolschewiki, aber sie sollte schon schnell ihre Kehrseite zeigen: mangelnde Bereitschaft der
Bauern, für die Revolution in der fernen Hauptstadt weiterzukämpfen. Solange es darum ging, die
Herrschaft der Gutsbesitzerklasse zu brechen, hielt das Bündnis von Arbeitern und Bauern. Aber es
hielt nicht lange darüber hinaus.

Rosa Luxemburg sah das Prekäre dieser Allianz schon in ihrer Anfang 1918 im Gefängnis verfassten
Schrift über die russische Revolution. Sie wies darauf hin, dass das historische Ergebnis der
russischen Revolution auf dem Lande gewesen sei, eben jene Klasse bäuerlicher Kleinbesitzer
hervorzubringen, die Karl Marx im »18. Brumaire des Louis Bonaparte« als konservativste Schicht
jeder bürgerlichen Gesellschaft gekennzeichnet hatte. Eine Schicht, die der langjährige
Ministerpräsident des Zaren, Pjotr Stolypin, nach der ersten Revolution der Jahre 1905–1907 gezielt zu
schaffen versucht hatte – auf brachliegendem staatlichem Land in Sibirien, um die Gutsbesitzerklasse
nicht zu schädigen, aber gleichzeitig mit dem Ziel, genau jener Agrarrevolution vorzubeugen, die
zwischen 1917 und 1920 faktisch stattfand. In ihr entstand die Klasse dieser bäuerlichen Kleinbesitzer
zwar unter maximaler Schädigung der Gutsbesitzer und Plünderung ihrer »Adelsnester«, aber sie blieb
eine Klasse der Kleinbesitzer.

Das wurde zum existentiellen Problem für die selbsterklärte Arbeiter- und Bauernmacht. Denn die
Städte, auf deren Industrieproletariat die Bolschewiki sich sozial und politisch stützten, benötigten
zwangsläufig die Zufuhr landwirtschaftlicher Produkte. Die aber konnten die Bauern – wegen der
kriegsbedingten Zerrüttung der landwirtschaftlichen Infrastruktur, dem Mangel an Zugtieren usw. – nicht
in der nötigen Menge liefern, und vielfach wollten sie es auch nicht. Sie hatten die Revolution für sich
gemacht, und auch sie wollten sich sattessen. Appelle der Bolschewiki an den guten Willen und die
Solidarität der Bauern mit den städtischen Arbeitern halfen nur sehr begrenzt. So ging die revolutionäre

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Staatsmacht schnell dazu über, landwirtschaftliche Produkte zu beschlagnahmen, beschönigend
»Kriegskommunismus« genannt. Das aber brachte weder die gewünschten materiellen Ergebnisse,
noch festigte es das Klassenbündnis zwischen Arbeitern und Bauern.

Als Lenin im Frühjahr 1921 den Übergang zur »Neuen Ökonomischen Politik« (NÖP) proklamierte, die
genau das legalisierte, was sich in den Jahren des Bürgerkriegs auf dem Lande faktisch
herausgebildet hatte, schränkte er gleichzeitig durch das Fraktionsverbot innerhalb der Partei die
interne Diskussionsmöglichkeit erheblich ein. Er wusste warum: Der Sozialismus als Tagesaufgabe,
den er 1917 proklamiert hatte, war als Parole überlebt. Das kam einem politischen Bankrott gleich, den
niemand aussprechen sollte.

Aber Lenin bestand angesichts der objektiv verzweifelten ökonomischen Lage darauf, dass der
Kurswechsel unumgänglich sei. Was jetzt entstand, war ein ökonomisches Mischsystem, in dem die
politische Macht der Bolschewiki über die »Kommandohöhen der Volkswirtschaft« die einzige
Sicherung vor einer spontanen Restauration des Kapitalismus war. Lenin wusste das, aber er räumte
es öffentlich nur äußerst ungern ein. Es brauchte die halbprivate – und ursprünglich sicherlich nicht zur
Veröffentlichung bestimmte – Situation eines Gesprächs mit Clara Zetkin im Sommer 1921 für sein
Eingeständnis, natürlich hätten auch die Bolschewiki große Fehler gemacht: »Meint ihr, wir hätten die
Revolution ›gemacht‹, ohne daraus zu lernen? Und wir wollen, dass auch ihr daraus lernt. (…) Wir
dürfen nicht dichten und träumen. Wir müssen die weltwirtschaftliche und weltpolitische Situation
nüchtern sehen, ganz nüchtern, wenn wir den Kampf gegen die Bourgeoisie aufnehmen und siegen
wollen.«¹

Pragmatische Nationalitätenpolitik

Dieser Pragmatismus war Lenins große politische Stärke. Sein Leitprinzip war das Überleben der
Sowjetmacht inmitten einer feindlichen Umgebung. Diesem Ziel ordnete er alles andere unter. Als sich
Sowjetrussland im Winter 1917/18 einseitig aus dem Ersten Weltkrieg zurückzog und das an der
Ostfront siegreiche deutsche Kaiserreich mit drakonischen Friedensbedingungen auf eine maximale
Schwächung Russlands und die Abtrennung weiter Randgebiete, darunter praktisch der gesamten
Ukraine, abzielte, trat er dafür ein, diese Bedingungen zunächst zu akzeptieren. Er wusste, dass
militärischer Widerstand beim damaligen Zustand der russischen Armee illusorisch gewesen wäre, und
er hoffte darauf, dass eine spätere Revolution in Deutschland es erlauben würde, diese Bedingungen
rückgängig zu machen. Lenin dachte in längeren Zeitabschnitten und hielt sich genau deshalb
Rückzüge in konkreten Situationen offen. Was nicht ausschloss, dass er nach der Niederlage im
sowjetisch-polnischen Krieg 1920 die Hoffnung auf die internationale Revolution als »unseren
politischen Rechenfehler« wertete.² Sezessionen von Randgebieten Russlands, die nach Lage der
Dinge nicht zu verhindern waren, nahm Lenin ohne großen Widerstand hin: so die Wiederherstellung
der polnischen Staatlichkeit – Polen war seit 1915 ohnehin von den Mittelmächten besetzt, stand also
nicht mehr unter russischer Kontrolle –, die Abspaltung Finnlands und der Ostseegouvernements, die
sich ebenfalls zum Zeitpunkt des Kriegsendes unter deutscher Besatzung befanden.

Anders war es mit Gebieten, die aus damaliger russischer Perspektive unverzichtbar waren. Etwa der
Ukraine. Sie war Russlands wichtigste Kornkammer, gleichzeitig die Region, in der der größte Teil der
Kohle und des Eisens gewonnen wurde, die das Land für seine industrielle Entwicklung benötigte.

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1917 hatte sich in Kiew eine bürgerlich-sozialdemokratische »Zentralrada« etabliert, die sich unter der
Provisorischen Regierung noch mit einer losen Autonomie im Rahmen des russischen Reiches
zufriedengab, deren bestimmende Kräfte aber unter dem Eindruck der Oktoberrevolution zum
Separatismus übergingen. Wenn Lenin die Ukraine, die die Bolschewiki zu diesem Zeitpunkt ohnehin
nicht kontrollierten, den Deutschen zur Ausplünderung überließ, setzte er im Stillen darauf, die neuen
Herren würden sich in der ukrainischen Bevölkerung schnell so unbeliebt machen, dass den Ukrainern
die Allianz mit Russland als die vorteilhaftere Variante einleuchten würde. Genauso kam es.³
Kurzlebige Marionettenregimes von deutschen Gnaden kamen und gingen, Armeen der »Weißen«
fanden in der Landbevölkerung keinen Rückhalt, weil sie die Herrschaft der Gutsbesitzer zurückbringen
wollten.

Was noch blieb, war die politische Herausforderung. Die »Zentralrada« hatte gezeigt, dass inzwischen
ein ukrainisches Nationalbewusstsein entstanden war, das durchaus mehr war als die »Kaffeehaus-
Fatzkerei«, die Rosa Luxemburg darin hatte sehen wollen. So verfolgte Lenin gegenüber der Ukraine
eine Doppelstrategie, auch wenn ihm Luxemburg dies als Opportunismus ankreidete. Mit der
»Fatzkerei« war praktisch zu rechnen. Lenins Antwort: Einerseits einigte er sich mit Polen im Frieden
von Riga (März 1921) de facto auf eine neuerliche Aufteilung der Ukraine nach dem Vorbild der
russisch-polnischen Friedensschlüsse des 17. Jahrhunderts. Die Aufteilung war für Russland sogar
vorteilhaft, weil sie die Westukraine und das dort besonders virulente Problem des ukrainischen
Nationalismus Polen überließ, das mit dieser Herausforderung in den nächsten 20 Jahren weder
politisch noch polizeilich fertig wurde. Andererseits machte Lenin den 75 Prozent der Ukraine, die bei
Russland verblieben, ein Integrationsangebot: die Gründung einer Ukrainischen Sowjetrepublik, wo es
vor 1917 nur russische Gouvernements und die Rede von einem »Kleinrussland« gegeben hatte.

Diese Ukrainische Sowjetrepublik bekam als vermeintliche Dreingabe noch den ganzen Donbass, die
Region um Charkow und die Schwarzmeerküste zugeschlagen – Regionen, die mehrheitlich russisch
oder multinational besiedelt waren. Das geschah durchaus gegen den Willen der örtlichen
Revolutionäre. Die dort im Bürgerkrieg entstandenen Sowjetrepubliken verwahrten sich ausdrücklich
dagegen, in die Ukraine eingegliedert zu werden, wie sowjetisch sie auch immer sein mochte. Es half
ihnen aber nichts. Denn genau so, wie sie waren: ethnisch und kulturell russisch und sozial proletarisch
geprägt, sollten sie ein Gegengewicht gegen den »kleinbürgerlichen ukrainischen Nationalismus«
darstellen und verhindern, dass die ukrainische Sowjetrepublik auf dumme Gedanken kam.

Es war im Grunde das, was Russland mit der Instrumentalisierung des antifaschistischen Aufstands im
Donbass seit 2014 zu wiederholen versuchte – erfolglos, weil die neue Staatsmacht in Kiew lieber auf
den Donbass verzichtete als auf ihre ukrainische Identitätspolitik. Was im heutigen Russland als
»politische Atombombe gegen die russische Staatlichkeit« geschmäht wird, war in Wahrheit ein
geschickter Schachzug, um diese russische Staatlichkeit in veränderter Form bis auf weiteres auch in
der Ukraine aufrechtzuerhalten. Dass dieses Konstrukt siebzig Jahre später der Sowjetunion um die
Ohren fliegen würde, konnte Lenin nicht voraussehen. Hätte Stalin 1939 nicht angestrebt, sich aus den
Trümmern des von Nazideutschland besiegten Polens die 1920 verlorene Westukraine samt ihren
eingeborenen Nationalfaschisten zurückzuholen, hätte die Entwicklung auch ganz anders verlaufen
können.

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Die ersten Jahre der Sowjetmacht waren auch bei Lenin von der Hoffnung geprägt, die Isolation, in die
das revolutionäre Russland international geraten war, würde nicht lange dauern. Deshalb unterstützte
Sowjetrussland sozialistische Revolutionäre in anderen Ländern im Rahmen seiner Möglichkeiten,
ohne sich aber gleichzeitig den Weg zu zwischenstaatlichen Verhandlungen mit ihren bürgerlichen
Gegnern zu verbauen. Klassisches Beispiel war der mit Deutschland geschlossene Vertrag von
Rapallo 1922. Wieder so ein Beispiel Leninschen Pragmatismus: diplomatische Anerkennung, Verzicht
auf Reparationen und Entschädigungen für enteignetes deutsches Eigentum und die Aufnahme von
Handelsbeziehungen waren Lenin wichtiger als die sozialistische Revolution in Deutschland. Ein Jahr
später, nach dem Scheitern des Aufstands in Mitteldeutschland, redete er den Ungeduldigen unter den
deutschen Kommunisten ins Gewissen: »Auf dem Papier und im Kongresssaal ist es leicht, in einem
von objektiven Bedingungen gereinigten, luftleeren Raum die Revolution zu ›machen‹ als ›glorreiche
Tat der Partei allein‹, ohne Massen. Letzten Endes ist das gar keine revolutionäre, sondern eine ganz
spießbürgerliche Auffassung.«⁴

Warnungen am Lebensende

Lenin war der letzte, der sich über die vielen Unzulänglichkeiten und das Unfertige des Sozialismus in
Russland getäuscht hätte. Seine späten Schriften sind voll von Warnungen, das Experiment könne
genausogut fehlschlagen, könne scheitern an den unentwickelten materiellen Verhältnissen, der
fehlenden »politischen Kultur«, dem Bürokratismus. Intern konnte er darüber sogar bittere Witze
reißen. So berichtet Clara Zetkin in ihren »Erinnerungen an Lenin« auch, wie Lenin ihr aus einem Brief
vorgelesen habe, den er aus einem Kinderheim erhalten habe: »Sehen Sie, liebe Clara, wir machen
auf allen Gebieten Fortschritte, ernste Fortschritte. Wir lernen Kultur, wir waschen uns schon und gar
täglich. Bei uns arbeiten schon die Kinderchen im Dorf am Aufbau Sowjetrusslands mit. Und da sollten
wir fürchten, nicht zu siegen?«⁵

Darüber, wie sich Sowjetrussland weiterentwickelt hätte, wenn Lenin nicht nach mehreren
Schlaganfällen ab 1922 praktisch arbeitsunfähig geworden und 1924 mit 53 Jahren verstorben wäre,
lässt sich nur spekulieren. Lenins späte Versuche, den parteiinternen Aufstieg Stalins zu verhindern,
könnten darauf hindeuten, dass er vielleicht länger an der von ihm initiierten NÖP festgehalten und der
Sowjetunion eine stärker konsum- als akkumulationsorientierte Entwicklung gegönnt, sich vielleicht mit
einer privaten Landwirtschaft arrangiert hätte – zumal deren Produktionsergebnisse zufriedenstellend
waren. Andererseits waren die Probleme, für die Stalin seine brachialen Lösungen suchte, nicht
eingebildet. Und Lenin hatte zu Lebzeiten schon demonstriert, dass er notfalls zu radikalen politischen
Kehrtwenden bereit war.

Anmerkungen

1 Clara Zetkin: Erinnerungen an Lenin. Berlin 1957, online unter: www.projekt-


gutenberg.org/zetkin/lenin/chap002.html

2 Ebd.

3 Literarisch gestaltet ist diese Epoche in Michail Bulgakows Roman »Die Weiße Garde«.

4 Zetkin, a. a. O.

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5 Ebd.

Leserbrief von Onlineabonnent/in Norbert L. aus Marseille

Dass Lenin Schwierigkeiten gehabt haben soll, Fehler oder Schwierigkeiten zuzugeben, und
dazu ein privates Gespräch mit Clara Zetkin benötigt haben soll, kann niemand bestätigen,
der schon eine gewisse Menge von Lenin-Schriften gelesen hat. Das von L. zitierte »Wir
dürfen nicht dichten und träumen. Wir müssen die weltwirtschaftliche und weltpolitische
Situation nüchtern sehen« hat Lenin sinngemäß viele Male auch öffentlich geäußert, nicht nur
beim trauten Tee mit Clara Zetkin. Gerade in seinem »Brief an die amerikanischen Arbeiter«
sprach er über weite Strecken von nichts anderem als von eigenen, sowjetischen Fehlern,
ohne zu minimieren, im Gegenteil. Allerdings: Er hat Fehler nicht nur »zugegeben«, sondern
auch das Entstehen von Fehlern aus der jeweiligen Situation und den historischen
Bedingungen erklärt. Nicht zu vergleichen mit den Bundestagsparteien, die nur eine Sorte von
eigenen Fehlern kennen, nämlich PR-Fehler: an sich richtige Inhalte sind halt »nicht genug
vermittelt/kommuniziert« worden. Selbst das »Fraktionsverbot« wurde nicht einfach dekretiert,
sondern Lenin hat inhaltlich und ausführlich das Für und Wider von Fraktionen diskutiert
(wobei das Wider schließlich den Ausschlag gab). Zum Untertitel »Meister jäher Wendungen«:
Kann man wohl so sagen; das heißt aber nur, dass er offenbar überhaupt nicht dogmatisch
war. Ein Segler muss eben unter Umständen jähe Wendungen machen, wenn er nicht bei
heftigen Windböen kentern oder beim Auftauchen einer Sandbank auf Grund laufen will. Bei
stürmischen Wetterbedingungen ist dies ständig nötig, und niemand wird bestreiten wollen,
dass die Jahre 1917 ff. in Russland stürmisch waren. Letztlich kommt es nicht auf Anzahl oder
Jähigkeit von Manövern an, sondern darauf, dass der Kompass in Ordnung ist und man trotz
Zickzackkurs eine klare Vorstellung von der allgemeinen Richtung hat, in die man sich
bewegen will. An letzterem hat es Lenin offenbar nicht gemangelt.

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Leserbrief von Bernd Jacoby aus Wiesbaden (23. Januar 2024 um 11:53 Uhr)

Ganz herzlichen Dank für den guten und anregenden Artikel, Reinhard Lauterbach und jW.
Macht er doch Lenin ein Stück weit lebendig, besser noch dessen Kunst, politisch real und
doch revolutionär zu denken. Dass bei der historischen Bedeutung der Figur immer auch
einige merkwürdige untote »Anhänger« erweckt werden, ist wahrscheinlich unvermeidlich. D.i.
aber nicht dem Artikel geschuldet, sondern einem Pawlowschen Reflex, der eben Tote zum
Leben erweckt. Ob sie wohl auch im Mausoleum liegen und deshalb so wütend sind?

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Leserbrief von Onlineabonnent/in Cilly K. (22. Januar 2024 um 23:10 Uhr)

Ich bin sehr erstaunt und empört, dass die junge Welt diesen Beitrag von R. Lauterbach
anlässlich des 100. Todestages von Wladimir Iljitsch Lenin abdrucken ließ! Es ist keine
Würdigung, sondern ein nicht nachlassender Angriff auf die Person Lenins. Eine
Schmähschrift ohnegleichen! Geschickt und aalglatt laviert Herr L. Thesen in den Text, die
eine Würdigung Lenins negieren. Fakten werden verniedlicht und er bleibt bei seiner
herablassenden unseriöser Wortwahl. Er macht Lenin in allen Situationen lächerlich – einfach
widerlich! Abwertend und bösartig verletzend. Eine unwürdige Schreibweise zu einem so
wichtigen Thema! Herr L. lässt wie in all seinen Artikeln mit Vorliebe Vermutungen einfließen:
könnte, sollte, müsste – die an der Seriosität seiner Artikel zweifeln lassen. Ich frage mich
jedes Mal, woher Herr L. sein politisches Wissen herausfischt, welche Quellen er in seinem
Sinne darstellt – entstellt. Einige historische Fakten zur Erinnerung: Die revolutionäre
Bewegung wurde während des Ersten Weltkrieges durch die wirtschaftlichen und politischen
Widersprüche in Russland gefördert, die zur Verelendung der Werktätigen führten. Im Januar
setzten in Petrograd, Moskau, Baku u. a. Städten eine breite Streikbewegung ein, die in der
zweiten Februarhälfte ausgeprägten politischen Charakter annahm. Es streikten 676.000
Arbeiter, davon im Februar 95 Prozent unter politischen Losungen wie »Nieder mit dem
Zaren«. Am 11.3. begann der Generalstreik in Petrograd in einen bewaffneten Aufstand
hinüberzuwachsen. Am 12.3. (27.2.) rief in Petrograd das Russische Büro der SDAPR zum
bewaffneten Aufstand gegen die zaristische Herrschaft und zur Bildung einer provisorischen
revolutionären Regierung auf. Die rasche Verbrüderung der Soldaten mit den Arbeitern führte
zum Sieg der Revolution. Noch am selben Abend befand sich Petrograd, einen Tag später
auch Moskau in den Händen der Arbeiter und Soldaten, die auf Initiative der Bolschewiki
Sowjets der Arbeiter– und Soldatendeputierten bildeten.

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Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (22. Januar 2024 um 16:05 Uhr)

(…) Es geht schon gut los: »Die Bolschewiki haben die Russische Revolution nicht gestartet.
Aber sie haben erreicht, dass der Sozialismus in Russland die ersten Jahre überlebt hat.«
Was wird da noch kommen, denkt man. Etwa, wie von vielen Sozialismusleugnern: Der frühe
Sozialismus war gar nicht schlecht, aber dann … Man wird auch in diesem Artikel nicht
»enttäuscht«. Empathie Fehlanzeige. Statt dessen Distanz und Klugscheißerei, sogar
Geschichtsfälschung. Lenin sei ein »Meister jäher Wendungen«. Taktische Rückzüge werden
bei Lauterbach zu »radikalen politischen Kehrtwenden«. Es fehlt hier der Platz, die vielen
»Irrtümer« des Autors aufzuzählen. Dafür nur noch ein Beispiel: »Vorstellungen, an die er sich
schon ein halbes Jahr später, als die Bolschewiki die Staatsmacht errungen hatten, nicht mehr
gern erinnern ließ und denen er auch praktisch ungerührt zuwiderhandelte. Nicht mehr
Absterben des Staates, sondern Ausbau der staatlichen Kontrolle über immer weitere
Bereiche der Gesellschaft hieß nun die Parole«. Wie könnte dieser völlig neue Staat, schon
wenige Monate nach dem Oktober 1917 absterben? Die Kapitalisten hätten sich gefreut.
Lenin in Staat und Revolution Teil 5: »Der Staat stirbt ab, insofern es keine Kapitalisten, keine
Klassen mehr gibt und man daher auch keine Klasse mehr unterdrücken kann (…) Der Staat
wird dann völlig absterben können, wenn die Gesellschaft den Grundsatz ›Jeder nach seinen
Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen‹ verwirklicht haben wird.« Der ganze Artikel
wirkt wie eine lustlos ausgeführte Auftragsarbeit. Ein bisschen recherchiert, ob man etwas
findet, womit man dem großen Lenin am Zeug flicken und womit man die grandiose Tatsache
der Oktoberrevolution relativieren könnte. Ein Möchtegernhistoriker (bürgerlich) vergreift sich
an einem Giganten.

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