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BALKANSTAATEN II

Jugoslawien nach 1945


Von Florian Bieber

Die Geschichte Jugoslawiens zwischen 1945 teile zu diskreditieren.1 Die Kommunistische stems lehnte sich Jugoslawien in den ersten
und 1991 ist je nach zeitlicher Perspektive Partei und das neue Jugoslawien vertraten Nachkriegsjahren eng an die Sowjetunion an.
zugleich die Chronologie eines Erfolges und nicht mehr ein nationales Partikularinteresse, In einzelnen Bereichen bestanden jedoch be-
jene eines Scheiterns. Bis in die frühen acht- wie dies noch im Königreich, vertreten durch reits vor dem Bruch mit Stalin 1948 wichtige
ziger Jahre galt Jugoslawien als Erfolg. So- das Königshaus Karadjordjević und die Bel- Unterschiede. So blieb die Landwirtschaft
wohl auf internationaler als auch innenpoli- grader Elite, der Fall war. Dies ging einher mit überwiegend in privater Hand. 1949 befand
tischer Ebene schien der Staat die Gründe für der Anerkennung von Mazedoniern und sich 91,4 Prozent des Landes im Besitz von
das Scheitern des ersten Jugoslawiens über- Montenegrinern als eigenständigen Natio- Bauern.5
wunden zu haben. Mit wirtschaftlichem Nie- nen2 und der Gründung von sechs Republi-
dergang, Scheitern einer jugoslawischen De- ken innerhalb Jugoslawiens, die jedoch nach Der Konflikt mit Stalin und
mokratisierung und dem Zerfall Jugoslawi- sowjetischem Vorbild bis in die sechziger der jugoslawische Sonderweg
ens durch extremen Nationalismus wurde Jahren nur wenig faktische Eigenständigkeit Außer Albanien gelang Jugoslawien als einzi-
Jugoslawiens ein Inbegriff für das Versagen besaßen. Die Kommunistische Partei Jugo- gem Land des kommunistischen Osteuropa
eines multinationalen Staates. slawiens (ab 1952 Bund der Kommunisten der Bruch mit der Sowjetunion. Obwohl bis
Die Geschichte Jugoslawiens zwischen Jugoslawiens) war in den ersten Nachkriegs- zum Juni 1948 die Beziehungen zwischen
Zweitem Weltkrieg und Staatszerfall läßt sich jahren von der Möglichkeit überzeugt, eine Jugoslawien und der Sowjetunion insgesamt
in folgende Phasen teilen: jugoslawische nationale Identität zu schaffen, gut waren, finden sich bereits in den ersten
Von Kriegsende bis zum Konflikt mit Stalin, in der die verschiedenen Einzelnationalismen Nachkriegsjahren die Ursachen des späteren
1945–1948 verschmelzen würden. Ob diese Identität die Zerwürfnisses. Da die Partisanen unter Füh-
Der Konflikt mit Stalin und der jugoslawi- Charakteristika eines integralen nationalen rung der Kommunistischen Partei Jugoslawi-
sche Sonderweg, 1948–1968 Bewußtseins annehmen oder lediglich die be- en großteils selbst befreit hatten und auch die
Der kroatische »Frühling« und Liberalisie- stehenden Nationalismen ergänzen und so- anschließende Machtkonsolidierung mit nur
rung, 1968–1972 mit abschwächen sollte (dies war die Sicht geringfügigem Einfluß durch die Sowjetunion
Dezentralisierung und das Ende der Ära von Edvard Kardelj), wurde nie vollends ge- erreicht hatten, besaß die Partei eine Legitimi-
Titos, 1972–1980 klärt.3 Dieses Projekt fußte großteils auf der tät, die bei der Machtübernahme den kommu-
Die Krisen nach Titos Tod, 1980–1987 kommunistischen Sicht der nationalen Frage, nistischen Parteien in den anderen Republi-
Nationalismus und der Zerfall Jugoslawiens, die die Partei aus der UdSSR übernahm: Na- ken nicht gegeben war. Das Selbstbewußtsein
1987–1991 tionalismus als Ausdruck der Bourgeoisie Titos und der Partei stellte indirekt die absolu-
würde durch die Errichtung einer kommuni- te Dominanz Stalins und der Sowjetunion in
Jugoslawien nach Kriegsende stischen Herrschaftsform langsam ver- Frage. Ideologische Unterschiede gewannen
Zwischen dem Ende des Königreich Jugosla- schwinden. Die Anerkennung des Nationa- erst nach dem Bruch an Wichtigkeit.
wien im April 1941 durch die deutsche Beset- lismus als bleibendes Phänomen unter kom- Nach einem Abzug sowjetischer Exper-
zung und anschließende Zerschlagung des munistischer Herrschaft in den sechziger Jah- ten aus Jugoslawien im März 1948 erklärte
Staates und der Ausrufung des Antifaschisti- ren führte jedoch zu einem Wandel in der das Informationsbüro der kommunistischen
schen Rates der Volksbefreiung Jugoslawiens Politik des Bundes der Kommunisten, auf Parteien nach einer Tagung in Bukarest den
(AVNOJ) im November 1942 lagen nur an- den später noch eingegangen wird. Ausschluß der Kommunistischen Partei Ju-
derthalb Jahre. Der Bruch zwischen den bei- In den frühen Jahren kommunistischer goslawiens und verurteilte die Führungsspit-
den Jugoslawien hätte jedoch kaum größer Herrschaft folgte Jugoslawien einem ähnli- ze um Tito. Trotz der Anklage durch die
ausfallen können. Bis zum letztlichen Erfolg chen Entwicklungsweg wie die anderen Staa- Kominform brach die jugoslawische Füh-
der Partisanenverbände und der Bildung ei- ten Mittel- und Osteuropas. Schrittweise rung erst zögerlich mit Stalin – längst nach-
ner Regierung des Demokratischen Föderati- wurden Oppositionsparteien verdrängt und dem Stalin bereits mit ihr gebrochen hatte.
ven Jugoslawien im März 1945 vergingen fast letztlich verboten, bürgerliche Freiheiten Jugoslawien trieb weiterhin die Einführung
vier Jahre Krieg, mit hunderttausenden Op- wurden aufgehoben. Da sich große Teile der eines sozialistischen Wirtschaftsmodells nach
fern, Besatzung und innerjugoslawischem möglichen Opposition durch ihre Unterstüt- sowjetischem Vorbild voran.6 Zugleich be-
Bürgerkrieg. Neben der unerwarteten Wie- zung der Kriegsverlierer diskreditiert hatten gann die Partei die tatsächlichen und ver-
derbelebung Jugoslawiens als Staat, fand der und keine politische Alternative im Rahmen meintlichen Anhänger der Kominform aus
Jugoslawismus als Ideologie durch die Kom- des jugoslawischen Staatswesens formlierten, der Partei auszuschließen und in »Umerzie-
munistische Partei neuen Rückhalt. Dies war konnte die Kommunistische Partei bereits in hungslager« auf der berüchtigten Gefängnis-
umso überraschender, als das erste Jugoslawi- den ersten Monaten nach Kriegsende ihre insel Goli Otok an der kroatischen Küste
en viel dazu beigetragen hatte, die jugoslawi- Dominanz festigen.4 einzuweisen.7
sche Idee in den Augen breiter Bevölkerungs- Im Aufbau eines kommunistischen Sy- Erst nachdem eine Rückkehr in das so-

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zialistische Lager ausgeschlossen schien und goslawische Identität unter sozialistischem auf, in erster Linie die serbische Bevölkerung
Westeuropa und die Vereinigten Staaten die Vorzeichen aufzubauen. Obwohl Geheim- zu fördern, wie dies während der Unterdrük-
nötige Unterstützung nach Wegfall der so- dienst und Polizei unter der Kontrolle Ran- kung der Albaner durch Ranković üblich ge-
wjetischen Hilfen und Märkte anboten, ent- kovićs auch serbische Nationalisten verfolg- wesen war. Nach den Unruhen der Albaner
stand ab 1949 schrittweise der »jugoslawische ten, bestand zwischen dieser zentralistischen 1968 und deren Forderungen nach größerer
Weg«. Die häufigen institutionellen Umge- Politik und nationalistischen Interessen in Autonomie forderte die Partei größere Au-
staltungen Jugoslawiens – es gab alleine vier Serbien eine Übereinstimmung, die Konti- tonomierechte für die Provinz und verstärkte
verschiedene Verfassungen zwischen 1946 nuität zur Zwischenkriegszeit signalisierte. wirtschaftliche Förderung.11 Die Rolle der
und 1974 – zeigten, daß der Sonderweg nicht Der Sturz Rankovićs wurde somit unter brei- Albaner – einer nichtslawischen Minderheit –
ideologisch festgelegt war, sondern bis zum ten Teilen der albanischen Bevölkerung des war im Staat Jugoslawien nie ausreichend ge-
Ende Jugoslawiens neu verhandelt wurde. Kosovo und bei Muslimen in Bosnien, die klärt. Die zunehmende Selbstverwaltung der
Außenpolitisch durch Blockfreiheit geprägt, oftmals Ziele der repressiven Politik Ran- Albaner und des Kosovo insgesamt rief ser-
bemühte sich Jugoslawien durch die Einfüh- kovićs gewesen waren, als ein Befreiungs- bische Kritik hervor. Die lokale Partei wurde
rung der Arbeiterselbstverwaltung um eine schlag gesehen. Ranković war jedoch nicht der »Diskriminierung« und der »Förderung
»authentische« kommunistische Politik. Von der alleinige Vertreter der zentralistischen Li- des Irredentismus« beschuldigt.12
größerer Bedeutung für die Bevölkerung, nie. Vielmehr bedeutete seine Absetzung ei- Aufgrund der Schwächung des zentrali-
und hierin lag der wichtigste Unterschied zu nen Wechsel in der Linie des Bundes der stischen Flügels nach dem Sturz von Ranko-
anderen Staaten unter kommunistischer Kommunisten, der sich später in einer weit- vić gelangte in Serbien der weniger zentrali-
Herrschaft, war die partielle Liberalisierung gehenden Dezentralisierung des Staates nie- stische und undogmatische Parteiflügel an die
des gesellschaftlichen Lebens. Die Reisefrei- derschlug. Macht. Die Zentralisten besaßen vorüberge-
heit der Bevölkerung (mit Ausnahmen) und hend keine ausreichende Machtbasis in Ser-
die Versorgung mit Konsumgütern führten Liberalisierung und der bien, um die von den anderen Republiken
zu einer deutlich besseren Lebensqualität. Kroatische »Frühling« betriebenen Verfassungsreformen zu verhin-
Obwohl von Liberalisierung oder einer politi- Im Rahmen der beginnenden Dezentralisie- dern. Die Vorschläge des serbischen Parla-
schen Öffnung, insbesondere in den fünf- rung Jugoslawiens begannen die Republiken, ments dienten in Folge als Grundlage der
ziger Jahren, kaum die Rede sein konnte, eine eigenständige Politik zu verfolgen. In der Verfassungsreform, die von der jugoslawi-
durchdrangen Zensur, Bespitzelung und Folge gelangten in den meisten Republiken schen Parteiführung 1971 in Brioni diskutiert
Überwachung nicht in gleichem Maße die wirtschaftliche und kulturelle Interessen der und vom Bund der Kommunisten und dem
Gesellschaft wie in anderen kommunisti- Republik beziehungsweise der jeweils domi- Bundesparlament im Juni des selben Jahres
schen Staaten. nanten Nation auf die politische Agenda. Ins- angenommen wurde. Diese Reformen gin-
In einer weiteren Unterscheidung zum besondere die Dominanz des Zentrums, gen weiter als die Verfassung, die drei Jahre
sowjetischem System begann in Jugoslawien symbolisiert durch Belgrad, auf wirtschaftli- später verabschiedet wurde. Die Verfas-
eine Diskussion um die Dezentralisierung des cher und sprachlicher Ebene wurde in Slo- sungsänderung führte das Vetorecht der Re-
Landes. Obwohl die Verfassung von 1946, wenien und Kroatien, aber auch in Mazedo- publiken für alle wichtigen Beschlüsse des
eine Kopie der sowjetischen Verfassung von nien Auslöser einer eigenständigen Politik. Bundesparlaments und der Bundesregierung
1936, Jugoslawien als eine Föderation be- Die größte Bedrohung dieser Entwicklung ein. Die Kompetenzen des Bundesstaates
schrieb, blieb der Staat stark zentralisiert. für das kommunistische Jugoslawien ging wurden auf Außenpolitik, Verteidigung und
In der Zeit zwischen dem siebten und vom »kroatischen Frühling« 9 aus. Der »kroa- Sicherheit sowie die Erhaltung des einheitli-
dem achten Kongreß des Bundes der Kom- tische Frühling« begann als ein Politikwandel chen Marktes beschränkt. Weiters verdeut-
munisten, von 1958 bis 1964, war noch keine des kroatischen Bundes der Kommunisten. lichte die Finanzierung des Bundes die kon-
Entscheidung zwischen Zentralisierung und Die ursprünglich tolerantere Linie der kroati- föderale Struktur des Staates. So wurden
Föderalisierung gefallen. Josip Broz Tito be- schen Partei wandelte sich schon bald zu Bundesinstitutionen und das Bundesbudget
vorzugte zu jener Zeit zwar eine limitierte einer nationalistischen Politik, insbesondere in erster Linie durch Abgaben der Republi-
Dezentralisierung, förderte jedoch gleichzei- durch einflußreiche Organisationen außer- ken finanziert. Die Reformen führten auch
tig die autoritäre Kontrolle der Partei, was halb des Parteiapparates wie die kroatische die Präsidentschaft als Exekutive ein, die aus
tendenziell eine Zentralisierung einschloß. Kulturorganisation Matica Hrvatska und die je drei Mitgliedern der Republiken und zwei-
Erst auf dem Parteikongreß 1964 wurden katholische Kirche. Dem Bund der Kommu- en der autonomen Provinzen bestand.
entscheidende Reformen beschlossen, und nisten blieb keine andere Wahl, als dem zu- Die liberalen und nationalistischen Strö-
die Zentralisten gerieten zunehmend in die nehmend nationalistischen Diskurs zu fol- mungen in den Republiken alarmierten zu-
Minderheit. Dieser Prozeß wurde durch die gen. Die beiden dominanten Themen kroa- nehmend die etablierte Parteiführung um
Absetzung von Aleksander Ranković von sei- tischer Nationalisten waren die wirtschaftli- Tito. In der Folge mußte die kroatische Par-
nen Ämtern und seinen anschließenden Par- che Dominanz des Zentrums Belgrad und die teiführung um Mirko Tripalo und Savka
teiausschluß verdeutlicht. Ranković war nicht kulturelle Unterordnung der kroatischen un- Dabčević-Kučar Ende 1971 zurücktreten,
nur Vize-Präsident, sondern auch der desi- ter die »serbokroatische« Sprache und Kul- und die Matica Hrvatska wurde geschlossen.
gnierte Nachfolger von Tito gewesen.8 tur.10 In Kroatien verloren 5000 Funktionäre ihre
Mit der Absetzung Rankovićs wandelte Neben den zunehmend radikalen Forde- Ämter, und 50 000 Parteimitglieder traten aus
sich die Einstellung des Bundes der Kommu- rungen der kroatischen Nationalisten began- dem Bund der Kommunisten Kroatiens aus
nisten gegenüber dem Jugoslawismus und nen auch die anderen Nationen in Jugoslawi- oder wurden ausgeschlossen. 1972 folgte der
der politischen Organisation des Landes. Die en ihre Forderungen zu artikulieren. So ver- erzwungene Rücktritt der serbischen Partei-
Ranković-Ära verkörperte eine unitaristische trat die lokale Parteiorganisation im Kosovo führung. Marko Nikežić und Latinka Perović
Linie, die sich bemühte, eine einheitliche ju- zunehmend albanische Interessen und hörte waren während der Krise 1971 durch ihre

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anti-nationalistische Position aufgefallen und sich auch auf politischer Ebene beobachten, lang zweier Achsen. Die erste Achse be-
bemühten sich um eine Modernisierung des wo sich der Bund der Kommunisten auf stimmte, ob die Republik oder Provinz eine
Bundes der Kommunisten, konzentrierten Republiksebene nur um die Partikularinter- Konföderation beziehungsweise eine Beibe-
ihre politische Aufmerksamkeit jedoch aus- essen der jeweiligen Republik bemühte und haltung der föderalen Verfassung von 1974
schließlich auf Serbien. Die Unterdrückung sich kaum um landesweite Entwicklungen anstrebte oder eine Rezentralisierung ver-
liberaler Tendenzen in ganz Jugoslawien kümmerte.17 langte. Entlang der zweiten Achse gliederten
machte die beiden prominenten Politiker zu Die Bundesinstitutionen waren damit sich die Republiken nach ihren politischen
Zielscheiben, insbesondere nachdem sie die nur ein mit den Republiken gleichgestellter und wirtschaftlichen Zielen. Die eine Gruppe
Absetzung von anderen Führungsmitglie- Akteur. Aufgrund der Einparteienherrschaft strebte eine Liberalisierung des Systems an,
dern der kroatischen Kommunisten bei der konnten die einzelnen Einheiten des Staates während eine zweite eine konservative Linie
Unterdrückung des »kroatischen Frühlings« ohne die Teilnahme des Zentrums miteinan- vertrat. Neben der Stärkung der Republiken
nicht unterstützten.13 Ähnlich wie in Kroatien der verhandeln und zusammenarbeiten. Die und ihrer politischen Eliten war für Serbien
und Slowenien folgte auch in den anderen Hauptaufgabe des Bundesstaates neben Au- die Eigenständigkeit seiner beiden Provinzen
Republiken die Absetzung des liberalen Par- ßenpolitik und Verteidigung18 war die Um- Vojvodina und Kosovo von großer Bedeu-
teiflügels. verteilung von Geldern zur Förderung der tung. Für Serbien war die Gleichsetzung der
unterentwickelten Republiken und Provin- beiden autonomen Provinzen mit den ande-
Die Dezentralisierung Jugoslawiens zen (Bosnien-Herzegowina, Montenegro, ren Republiken in der Praxis ein wesentliches
Trotz der Beendigung des »kroatischen Früh- Mazedonien und Kosovo).19 Da die Republi- Motiv nationaler Mobilisierung in den achtzi-
lings« und der Absetzung von Liberalen in- ken und Provinzen als Hauptakteure selbst ger Jahren.23 Obwohl die Provinzen formal
nerhalb der Partei in allen Republiken wurde Interessen an der Umverteilung hatten, ent- Bestandteil der Republik Serbiens blieben,
die Dezentralisierung in den folgenden Jah- weder als Geldgeber und somit bemüht, ih- waren sie in der Praxis unabhängige Einhei-
ren vorangetrieben. Diese Reformen, die mit ren Anteil zu reduzieren, oder als Empfänger ten. In die jugoslawische Präsidentschaft so-
dem achten Kongreß des Bundes der Kom- mit der Absicht, größere Geldmittel zu erhal- wie in den Bund der Kommunisten und an-
munisten 1964 begonnen hatten, mündeten ten, entwickelten sich die Bundesinstitutio- dere wichtige staatliche und parastaatliche
in die Verfassung von 1974. Die Ziele der nen zu Verhandlungsforen für die Aushand- Organen entsandten die Provinzen ihre Re-
Reformen in den frühen siebziger Jahren lung von Kompromissen zwischen den Re- präsentanten unabhängig von der serbischen
wurden oftmals durch vier Komponenten publiken. Die finanzielle Umverteilung rück- Republik. Als einziger bedeutender Unter-
beschrieben: Dezentralisierung, Entstaatli- te damit in das Zentrum der Beziehungen schied zwischen Provinzen und Republiken
chung, Entpolitisierung und Demokratisie- zwischen den Republiken. Sie nahm später in den späten siebziger und frühen achtziger
rung.14 Davon wurde lediglich eine Dezen- eine nationale Komponente an. Dadurch litt Jahren besaßen die Provinzen kein Sezes-
tralisierung erreicht. Die »Entstaatlichung« nicht nur die für Geldtransfers notwendige sionsrecht, das jedoch auch für die Republi-
durch die Schaffung der Arbeiterselbstver- Solidarität, es öffnete sich auch eine Arena für ken indirekt und unklar formuliert war.24
waltung führte in der Realität meist zu einem andere nationale Spannungen, die zuneh- Weiters besaßen die Einwohner der Provin-
Anwachsen der Bürokratie auf der Ebene der mend offen ausgetragen wurden. Auch auf zen keine Provinzstaatsbürgerschaft, son-
Republiken. Diese Reformen stellten viel- anderer Ebene blieben die Beziehungen zwi- dern die der Republik Serbien, was jedoch
mehr einen »Ersatz für einen nie abgeschlossenen schen den Republiken nicht spannungsfrei. von nur geringer praktischer Bedeutung war.
Entstaliniseriungsprozeß« dar.15 Anstatt gesamt- So entbrannte ein Konflikt zwischen Slo- Beide Provinzen durften nach der Verfas-
jugoslawische Wirtschaftsreformen anzu- wenien und den anderen Republiken sowie sung in den eigenen Kompetenzbereichen
strengen, reduzierten sich die Neuerungen der Bundesverwaltung über den Straßen- auch selbständige Beziehungen zu anderen
auf Dezentralisierung und einen Machttrans- bau.20 Obwohl solche Differenzen nach 1974 Staaten aufbauen.
fer hin zu den Republiken. Da in den meisten nichts grundsätzlich Neues darstellten, wurde
Republiksparteien in den vorangehenden erstmals ausführlich in den Medien der Repu- Nach Tito – Die Krise
Jahren eine »Säuberungswelle« durchgeführt bliken darüber berichtet. Auf diese Weise Das deklarierte Motto von »Nach Tito –
worden war, konnten Opportunisten und übertrugen sich die Konflikte von einer klei- Tito« konnte nach dem Tod des Präsidenten
Dogmatiker innerhalb der kommunistischen nen Elite auf ein breiteres Publikum.21 auf Lebenszeit nur wenige Jahre eingehalten
Parteien eine bestimmende Position einneh- Die Verfassungsreformen führten zu ei- werden. Bereits die Verfassung von 1974 sah
men. Damit verschlechterten sich die Chan- ner Stärkung der Parteiführung in den Repu- vor, daß nach dem Tod Titos die Führung
cen auf eine Reform der Wirtschaftspolitik bliken und deren Verwandlung in autonome Jugoslawiens durch eine achtköpfige Präsi-
oder gar eine Demokratisierung des Systems. Herrschaftsbereiche der jeweiligen Eliten. dentschaft von Vertretern der sechs Republi-
Die gesamte jugoslawische Struktur gestaltete Die Konföderalisierung in den siebziger Jah- ken und beiden autonomen Provinzen über-
sich autokratischer und antidemokratischer ren brachte eine neue Politikergeneration in nommen würde.25 Nur Tito persönlich konn-
als in den späten sechziger und frühen siebzi- Jugoslawien hervor, die ihre Machtbasis in te eine Blockade des Systems verhindern. Die
ger Jahren.16 erster Linie in einer der jeweiligen Republiken Präsidentschaft übernahm zwar formal alle
Das Fehlen einer zentralen Kontrolle besaß. Dies stärkte, zunächst auf wirtschaft- Macht Titos nach dessen Tod, sie besaß je-
über die Wirtschaft sowie die Abwesenheit licher Ebene, Partikularinteressen, die zu ei- doch weder den Willen noch die politische
eines freien Marktes schufen ein atomisiertes ner späteren Orientierung auf eine Natio- Stärke, den Republiken Lösungen aufzu-
wirtschaftliches System. Innerhalb der nalpolitik der Republiken beitrugen.22 Ohne zwingen, umso weniger, als sich die Präsi-
Selbstverwaltungseinheiten wurde nur wenig Rückhalt in einer Republik ließ sich nach diumsmitglieder aus den Republiken rekru-
oder gar nicht auf die Bedürfnisse des jugosla- Titos Tod kaum noch Politik gestalten. tierten. Somit beschränkte sich die Rolle der
wischen Marktes, geschweige denn des Welt- Die Politik der Republiken nach Verab- Präsidentschaft auf die Vertretung nach au-
marktes, geachtet. Die Fragmentierung läßt schiedung der Verfassung gliederte sich ent- ßen. Im Inneren diente die Präsidentschaft als

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mit der Veröffentlichung der Neuen
Beiträge zur Biographie Titos. Obwohl
die Publikation Tito nicht kritisierte,
begann mit ihr seine Demystifizie-
rung. Kurz darauf wurde die Inhaf-
tierung von stalintreuen jugoslawi-
schen Kommunisten von Schrift-
stellern wie dem ehemaligen Partisan
Antonije Isaković und Historikern
kritisch betrachtet.29 Mit einer nüch-
ternen Kritik an der Errichtung des
kommunistischen Machtmonopols
nach dem Zweiten Weltkrieg durch
die Verfassungsrechtler Vojislav
Koštunica und Kosta Čavoški wur-
de 1984 ein weiteres Tabu gebro-
chen.30 Zuletzt wurde auch die do-
minante Interpretation des Zweiten
Weltkriegs durch serbische und
kroatische Historiker und Schrift-
steller in Frage gestellt.31 Obwohl
diese kritischen Betrachtungen nur
langsam eine breite Öffentlichkeit
erreichten, brachen sie die Interpre-
tationshoheit des Bundes der Kom-
munisten über die jüngere Vergan-
genheit.
Die Veröffentlichung des inoffi-
ziellen »Memorandums« der Serbi-
schen Akademie der Wissenschaft
und Künste 1986 und im folgenden
Jahr des »Beitrags zu einem slowenischen
Nationalprogramm« in der sloweni-
schen Zeitschrift Nova Revjia zeigte,
Forum zum Ausgleich der Republiksinter- vorschlägen, fand sie sich nicht in der Lage, daß die Öffnung Jugoslawiens in erster Linie
essen.26 Obwohl die Nachfolge in Jugoslawi- sich auf die nötigen Reformen zu einigen.28 nationalistische Strömungen begünstige, die
en besser geregelt war als in den meisten Zugleich zeigten die Studentenproteste in den jeweiligen Republiken von den Medien
anderen Diktaturen, erwies sich das wirt- albanischer Studenten in Priština, die gewalt- wohlwollend aufgegriffen wurden.32 Durch
schaftliche und politische Erbe der Tito-Ära same Unterdrückung durch die Polizei im die Dezentralisierung richtete sich die entste-
für seine Nachfolger als erdrückend. Auf- Kosovo und die hysterische Reaktion in Ser- hende Kritik an der Menschenrechtslage und
grund der »Säuberungen« innerhalb der Par- bien, daß sich Nationalismus weiterhin de- mangelnder Demokratisierung überwiegend
tei in den frühen siebziger Jahren verfügte die stabilisierend auf den Staat auswirken konnte. gegen die Partei- und Republiksführung. Re-
Führungsriege des Bundes der Kommuni- Auf der einen Seite forderte ein bedeutsamer formdebatten in Jugoslawien wurden in der
sten kaum über populäre Kräfte, die den Teil der albanischen Bevölkerung die Aufwer- Folge zwischen Eliten und intellektueller Op-
Herausforderungen gewachsen waren. Nach tung des Kosovo als Republik Jugoslawiens, position in den Republiken beziehungsweise
Jahren der Stabilität und wachsenden wirt- ein Schritt, der nach der Verfassung von 1974 zwischen den verschiedenen Republiksfüh-
schaftlichen Wohlstandes zeigte sich bereits in erster Linie symbolische Bedeutung besaß. rungen geführt.
kurz nach dem Tod Titos, daß das System auf Andererseits wurde in Serbien erstmals die
wackeligen Füßen stand. Die erdrückenden Abwanderung der serbischen Bevölkerung Wachsender Nationalismus und Zerfall
Schulden von über zwanzig Milliarden Dol- aus dem Kosovo thematisiert. Die Kritik an Ab 1987 spitzte sich die Diskussion um die
lar, deren Rückzahlung nach dem Tod Titos der Lage der Serben im Kosovo durch serbi- Zukunft Jugoslawiens zwischen Serbien und
erwartet wurde, machten Jugoslawien zu ei- sche Medien, Partei und auch durch Intellek- Slowenien zu, während die meisten anderen
nem der höchstverschuldeten Länder der tuelle und die serbische orthodoxe Kirche, Republiken und Provinzen (mit Ausnahme
Welt.27 Eine zweistellige Inflationsrate und der zunehmend Zugang zur Öffentlichkeit des Kosovo) eine eher passive Position ein-
steigende Arbeitslosigkeit wirkten sich in den gewährt wurde, war zugleich ein Zeichen zu- nahmen. Die slowenische Parteiführung, er-
frühen achtziger Jahren negativ auf den Le- nehmender Meinungsfreiheit und Ausdruck mutigt durch die zunehmend selbstbewußte
bensstandard der meisten Einwohner Jugo- von neu erstarkendem Nationalismus. Presse und Intellektuelle, forderte eine Stär-
slawiens aus. Obwohl die Partei die schwieri- Nach dem Tod Titos begann auch eine kung der Republiken gegenüber dem Bundes-
ge wirtschaftliche Lage anerkannte, so zu- Neubewertung der Tito-Ära in der Wissen- staat. Zugleich setzte sich die slowenische
nächst durch die Einsetzung der Krajger- schaft. Den unerwarteten Anfang macht der Führung für eine Liberalisierung des politi-
Kommission zur Ausarbeitung von Reform- offizielle Biograph Titos Vladimir Dedjier schen Systems ein. In Serbien gelangte nach

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einem parteiinternen Coup 1987 Slobodan erst sekundär auf wirtschaftlichen Gründen, für die Zunahme des Nationalismus bei den
Milošević an die Macht, nachdem er durch die was eine Annäherung weiter erschwerte. jugoslawischen Eliten.
Forderung nach einem härteren Durchgrei- Durch die gegensätzlichen Positionen der Die Zunahme des Nationalismus in der
fen im Kosovo innerhalb Serbiens zu einem Republiken wurde im Verlauf von 1990 deut- Bevölkerung läßt sich insbesondere um den
Volkshelden avanciert war, der eine repressi- lich, daß Jugoslawiens kaum zu erhalten war. Konflikt im Kosovo ab 1981 beobachten.
ve Politik gegen die innerserbische Oppositi- Die Ereignisse 1991 besiegelten das Endes Einige Autoren betonen besonders den Kon-
on mit der Forderung nach einer Rezentra- Jugoslawiens. Die Unabhängigkeitserklärun- flikt zwischen urbanen und ländlichen Be-
lisierung Jugoslawiens verband.33 Obwohl gen Sloweniens und Kroatiens am 25. Juni völkerungsgruppen in Jugoslawien. Die länd-
Miloševićs parteiinterne »Säuberungen« zu- 1991 bedeuteten das Ende Jugoslawiens, lichen Gruppen werden hierbei meist als die
nächst keinen Bruch zu vorangegangener auch wenn die internationale Anerkennung Hauptträger des Nationalismus identifiziert.41
Praxis im Bund der Kommunisten darstell- erst im Jänner 1992 erfolgte. Spätestens mit Dieser Ansatz basiert großteils auf Moder-
ten, zeigte er sich schon bald bereit, Medien Kriegsausbruch in Kroatien im Juli war der nisierungstheorien, die von einer unvollstän-
und wohlorganisierte Massen zu seinem Vor- Erhalt Jugoslawiens ausgeschlossen. digen Modernisierung ländlicher Gebiete in
teil einzusetzen. Während die Machtkämpfe Jugoslawien ausgehen und somit den Auf-
innerhalb der Partei zuvor meist hinter ver- Theorien zum Zerfall Jugoslawiens stieg des Nationalismus als einen Konflikt
schlossenen Türen stattgefunden hatten, ließ Auch mehr als zehn Jahre nach dem Zerfall zwischen urbaner Moderne und ländlicher
er nun die von ihm kontrollierten Medien Jugoslawiens besteht in der wissenschaftli- Vormoderne sehen. Die nationalistische Mo-
daran teilhaben und sicherte sich somit die chen Diskussion kaum Einstimmigkeit über bilisierung, wie sie ab den späten achtziger
öffentliche Unterstützung, die ihm letztlich die Gründe des Zerfalls Jugoslawiens.35 Ne- Jahren in Serbien und ab 1990 auch in Kroa-
zum Durchbruch verhalf. Massendemonstra- ben verschiedenen theoretischen Erklä- tien und den meisten anderen Republiken
tionen 1988–89 in Jugoslawien richteten sich rungsansätzen lassen sich langfristige struktu- Jugoslawien hervortritt, ist jedoch ohne die
gegen die Führungen der Provinzen Voj- relle Gründen von kurzfristigen Auslösern Führungsrolle (urbaner) politischer und intel-
vodina und Kosovo sowie gegen die monte- unterscheiden. Weiters muß auch zwischen lektueller Eliten kaum denkbar.
negrinische und andere Republiksführungen, Ursachen der Zerfalls und Gründen für die Bei der Betrachtung jugoslawischer Eli-
die noch nicht der neuen Milošević-treuen hieraus folgenden Kriege im ehemaligen Ju- ten fällt der Blick auf politische und intellektu-
Führung angehörten. Durch eine geschickte goslawien differenziert werden.36 elle Eliten. Die Bedeutung intellektueller Eli-
Mischung aus Inszenierung und Kanalisie- Im Rahmen der langfristigen strukturel- ten liegt überwiegend in der Popularisierung
rung weitverbreiteter Frustrationen in der Be- len Entwicklungen, die einen Staatszerfall be- von Nationalismus und in der ideologischen
völkerung über die politische und wirtschaft- günstigt haben, werden generell das institu- Vorbereitung für die Instrumentalisierung
liche Lage zogen hunderttausende Serben tionelle Gefüge des sozialistischen Jugoslawi- des Nationalismus durch politische Eliten.42
durch Jugoslawien, meist mit wohlor- en und der wirtschaftliche Abstieg des Lan- Spätsozialistischen sowie postsozialistischen
ganisierten Kosovo-Serben als Kern, und ver- des genannt. politischen Eliten gilt die Aufmerksamkeit
liehen den Machtwechseln in der Vojvodina, Das institutionelle Argument kritisiert die anderer Erklärungsmuster. Die Berufung auf
im Kosovo und in Montenegro quasi-demo- Überbetonung der Nationszugehörigkeit in Nationalismus aus machtpolitischen Grün-
kratische und nationalistische Glaubwürdig- den Institutionen multinationaler Staaten all- den oder aus Überzeugung wird hierbei als
keit. Diese Zurschaustellung von Macht und gemein und in Jugoslawien insbesondere und Hauptauslöser des Staatszerfalls und der
Nationalismus bestärkte die Nationalbewe- hält diese für eine Konfliktursache.37 Die In- Kriege gesehen. Hier wurde Nationalismus
gungen in den anderen Republiken. stitutionalisierung nationaler Identität kann durch Eliten aufgrund seines Manipulations-
Nach dem Zerfall des Bundes der Kom- sich nach dieser Ansicht im Krisenfall leichter und Mobilisierungspotentials genutzt.43
munisten Jugoslawiens 1990 und vor dem in einen nationalen Konflikt verwandeln.38 Obwohl diese vielfältigen Erklärungsan-
Hintergrund des Falls kommunistischer Re- Insbesondere die föderale Ausgestaltung Ju- sätze oftmals in scheinbarem Widerspruch
gime im übrigen Osteuropa standen 1990 goslawiens, identifiziert mit der Verfassung zueinander stehen, stellt jedoch erst deren
freie Wahlen in Jugoslawien an. Obwohl die von 1974, hat meist »nationale« Republiken Verknüpfung den Schlüssel zum Verständnis
Bundesregierung durch den reformorientier- geschaffen, die bereits zahlreiche Attribute des Staatszerfalls Jugoslawiens dar. Die
ten Ministerpräsidenten Ante Marković ab souveräner Staaten besaßen.39 Kombination der verschiedenen Ansätze ist
1988 an Glaubwürdigkeit gewonnen hatte, Der wirtschaftliche Ansatz betont den vonnöten, um diesen Prozeß begreifen, der
fanden Wahlen nur auf Republiksebene statt wirtschaftlichen Niedergang Jugoslawiens sich über mindestens ein Jahrzehnt vollzogen
– ein deutlicher Indikator des Kräfteverhält- nach dem Tod Titos durch die hohe Schul- hat und in dessen Verlauf verschiedenste
nisses in Jugoslawiens am Ende der achtziger denlast. Dies führte letztlich zu einer Vertei- Strukturen und Akteure zum Tragen kamen.
Jahre. Bei den Wahlen siegten in allen Repu- lungskrise, die den Zerfall begünstigte.40
bliken außer in Serbien und Montenegro Par- Obwohl institutionelle wie auch wirt- Was bleibt vom Jugoslawismus?
teien, die sich für eine stärkere Eigenständig- schaftliche Faktoren den Staatszerfall begün- Mehr als zehn Jahre nach dem Zerfall der
keit der Republiken einsetzten. Die politische stigt haben, vermögen sie alleine nicht, diesen Sozialistischen Föderativen Republik Jugo-
Linie Serbiens zeigte ähnlich auch kaum Prozeß zu erklären. Hierfür gilt es verstärkt slawien hörte auch die Bundesrepublik Jugo-
Rücksicht auf den Bundesstaat.34 Obwohl einen Blick auf die Entwicklung in Jugoslawi- slawien auf zu bestehen. Unabhängig von der
keine der neuen und alten Regierungsparteien en in letzten Jahren vor dessen Ende zu politischen Entwicklung Jugoslawiens in den
offen eine Auflösung Jugoslawiens forderten, werfen. Die Rolle verschiedener Akteure tritt letzten Jahrzehnten konnte sich insbesondere
war der Status quo in allen Republiken unan- hier in den Vordergrund. Während einige in den siebziger und achtziger Jahren ein
nehmbar. Die Forderungen nach der Um- Ansätze die wachsende Bedeutung von Na- kultureller Raum in Jugoslawien etablieren,
strukturierung Jugoslawiens beruhten in er- tionalismus in der Bevölkerung betonen, su- der mehr zum Entstehen einer gemeinsamen
ster Linie auf nationalen Überlegungen und chen andere Erklärungsmuster die Ursachen Identität beitrug als der offizielle Jugoslawis-

26 HISTORICUM , Winter 2002/2003


mus, der in den vorangegangenen Jahrzehn- Decaying Totalitarianism, EUI Working Papers tionen im kommunistischen Jugoslawien)
ten praktiziert worden war.44 Bei der Volks- RSC 94/9, Florenz 1994, 10 f.; 33. oder Ansätze ohne wissenschaftlichen Wert
zählung 1991 identifizierten sich mehr als 17. Rusinow, Yugoslav Experiment 1948–1974 (zum Beispiel uralter ethnischer Haß oder der
(Anm. 13), 322. Kampf der Kulturen) diskutiert.
700 000 Einwohner Jugoslawiens als »Jugo-
18. Die Republiken verfügten über eine parallelle 36. Ein Überblick über verschiedene Erklärungs-
slawen«.45 Obwohl kaum zu ermessen ist, auf Territorialverteidigung, die jedoch stark von ansätze findet sich bei Dejan Jović, The Dis-
welches Jugoslawien sich diese Eigen- der jugoslawischen Volksarmee abhängig war. integration of Yugoslavia. A Critical Ap-
bezeichnung bezog, kann kein Zweifel beste- Hierzu siehe James Gow, Legitimacy and the proach to Explanatory Approaches, European
hen, daß der Zerfall Jugoslawiens für viele Military. The Yugoslav Crisis, London 1992, 45– Journal of Social Theory 4/1 (2001), 101–120.
Einwohner des Staates eine Herausforderung 51, 57–59. 37. Die wichtigsten Vertreter dieses Ansatzes sind
in bezug auf die eigene Identität darstellte. 19. Siehe Burg, Conflict (Anm. 8), 279–290. Vesna Pešic, Krieg um Nationalstaaten, in:
Noch bei der Volkszählung in Serbien 2002 20. Sabrina Petra Ramet, Nationalism and Federalism Thomas Bremer/Nebojša Popov/Heinz-
beschrieben sich 80721 Einwohner als »Ju- in Yugoslavia, Bloomington, In. 1992, 166–174. Günther Strobbe (Hg.), Serbiens Weg in den
21. Burg, Conflict (Anm. 8), 277, 279. Krieg, Berlin 1998, 26–27; Valerie Bunce, Sub-
goslawen«.46 Der Zerfall Jugoslawiens bedeu-
22. Vgl. Stefan Plaggenborg, Die Entstehung des versive Institutions. The Design and the Destruction of
tete nicht nur den Wegfall jugoslawischer Nationalismus im kommunistischen Jugosla- Socialism and the State, Cambridge 1999.
Identität, sondern auch die Dominanz natio- wien, Südostforschungen 56 (1997), 399–421. 38. Donald L. Horowitz, Democracy in Divided
naler Identitäten, die wenig Raum für jene 23. Verfassung der Sozialistischen Föderalen Re- Societies, Journal of Democracy 4/4 (1993), 18–
ließ, die sich nicht nur mit einer Nation iden- publik Jugoslawien (21.2.1974), Art. 1 und 2. 38.
tifizieren wollten oder konnten.47 24. Das Sezessionsrecht war in der jugoslawi- 39. Der Wettbewerb zwischen den Republiken als
schen Verfassung von 1974 nur in der Präam- quasi zwischenstaatlichen Wettbewerb wird
bel zu finden und besaß nur eine deklarato- deutlich in Sabrina Petra Ramet, Nationalism
Anmerkungen rische Bedeutung. Zudem wurde dieses Recht and federalism in Yugoslavia. 1962–1991, Bloo-
1. Siehe unter anderem Ivo Banac, The National in der Verfassung nicht den Republiken, son- mington, In. 1992.
Question in Yugoslavia. Origins, History, Politics, dern den sechs Nationen (Serben, Slowenen, 40. Diese Argumentation wird insbesondere von
Ithaca/London 1994. Kroaten, Muslimen, Montenegrinern und Ma- Susan Woodward in Balkan Tragedy. Chaos and
2. 1963 wurden auch Muslime als eigenständige kedoniern) zugestanden, nicht jedoch den Na- Dissolution after the Cold War, Washington 1995,
Nation anerkannt. tionalitäten (Albanern und Ungarn). Siehe vertreten.
3. Paul Shoup, Communism and the Yugoslav Natio- Monika Beckmann-Petey, Der jugoslawische Fö- 41. Sabrina Petra Ramet, Nationalism and the
nal Question, New York/London 1968, 205– deralismus, München 1990, 128–131. ›Idiocy‹ of the Countryside: The Case of Ser-
207. 25. Burg, Conflict (Anm. 8), 325. bia, Ethnic and Racial Studies 19/1 (1996), 70–
4. Siehe Srećko M. Džaja, Die politische Realität des 26. Ebenda, 327–328. 87; Bogdan Bogdanović, Die Stadt und der Tod,
Jugoslawismus (1918–1991). Mit besonderer Be- 27. Steven K. Pavlowitch, The Improbable Survivor. Klagenfurt 1994.
rücksichtigung Bosnien-Herzegowinas, München Yugoslavia and its Problems, 1918–1988, Colum- 42. Florian Bieber, Die Rolle und Verantwortung
2002, 93–121. bus, Oh. 1988, 143. nationalistischer serbischer Intellektueller
5 . Ebenda, 117. 28. Hierzu siehe Jens Reuter, Der XII. Kongreß beim Auseinanderbrechen Jugoslawiens, in:
6. Ebenda, 121–123. des BdKJ, Südosteuropa 7–8 (1983), 380–382. Martina Winkler/Andreas Westerwinter
7. Hierzu siehe Ivo Banac, With Stalin against Tito. 29. Oskar Gruenwald, Yugoslav Camp Literature: (Hg.), WortEnde. Intellektuelle im 21. Jahrhun-
Cominformist Splits in Yugoslav Communism, Itha- Rediscovering the Ghost of a Nation’s Past– dert?, Leipzig 2001, 69–86.
ca/London 1988. Present–Future, Slavic Review 46/3-4 (1987), 43. V. P. Gagnon, Jr., Ethnic Conflict and Inter-
8. Steven L. Burg, Conflict and Cohesion in Socialist 513–528. national Conflict. The Case of Serbia, in: Mi-
Yugoslavia. Political Decision Making Since 1966, 30. Vojislav Koštunica/Kosta Čavoški, Party Plu- chael E. Brown u. a. (Hg.), Nationalism and
Princeton 1983, 28–29. ralism or Monism: Social Movements and the Political Ethnic Conflict, Cambridge Ma./London 1997,
9. Benannt in Anlehnung an den »Prager Früh- System in Yugoslavia, 1944–1949, Boulder Co./ 132–167. Einige Autoren schränken die Be-
ling«. New York 1985. deutung weiter auf einzelne Persönlickeiten
10. Džaja, Die politische Realität des Jugoslawis- 31. Wolfgang Höpken, Von der Mythologisie- ein, so insbesondere auf Slobodan Milošević.
mus (Anm. 4), 137–146. rung zur Stigmatisierung: »Krieg und Revolu- Hierzu siehe Slobodan Antonić, Zarobljena
11. Jens Reuter, Die albanische Minderheit in Ju- tion« in Jugoslawien 1941–1948 im Spiegel zemlja. Srbija za vlade Slobodana Miloševića, Bel-
goslawien, in: Roland Schönfeld (Hg.), Natio- von Geschichtswissenschaft und historischer grad 2002.
nalitätenprobleme in Südosteuropa, München 1987, Publizistik, in: Eva Schmidt-Hartmann (Hg.), 44. Andrew Baruch Wachtel, Making a Nation,
133–148. Kommunismus und Osteuropa. Konzepte, Perspekti- Breaking a Nation. Literature and Cultural Politics
12. Wayne S. Vucinich, Nationalism and Com- ven und Interpretationen im Wandel, München in Yugoslavia, Stanford 1997.
munism, in: ders. (Hg.), Contemporary Yugo- 1994, 165–201. 45. Savezvni zavod za statistiku, Prvi rezultati Popisa
slavia. Twenty Years of Socialist Experiment, Ber- 32. Jasna Dragović-Soso, ›Saviours of the Nation‹, stanovništva, domačinstava, stanova i poljoprivrednih
keley/Los Angeles 1969, 275–276. Serbia’s Intellectual Opposition and the Revival of gazdinstava 1991. godine, Popis 1991, CD-ROM,
13. Dennison Rusinow, The Yugoslav Experiment Nationalism, London 2002, 177–194. Belgrad 1998.
1948–1974, London 1977, 318–326. 33. Zu dem slowenisch-serbischen Konflikt siehe 46. Republikčki zavod za statistiku, Republika Srbije,
14. »Demokratisierung« bezog sich lediglich auf Viktor Meier, Wie Jugoslawien verspielt wurde, Saopštenje 295, 24.12.2002.
den Bund der Kommunisten und bedeutete München 1996, 67–112. 47. Siehe zum Beispiel Vesna V. Godina, The
keineswegs einen politischen Pluralismus au- 34. So argumentiert Daniele Conversi, daß es sich outbreak of nationalism on former Yugoslav
ßerhalb der Partei. Gary K. Bertsch, The Re- im Fall Jugoslawiens um eine Sezession des territory: a historical perspective on the pro-
vival of Nationalisms, Problems of Communism Zentrums handelt. Daniele Conversi, Central blem of supranational identity, Nations and
22/6 (1973), 3. Secession: Towards a new anlytical concept? Nationalism 4/3 (1998), 409–422.
15. Laslo Sekelj, Yugoslavia: The Process of Disinte- The case of former Yugoslavia, Journal of Ethnic
gration, Boulder, Co./Highland Lakes, NJ. and Migration Studies 26/2 (2000), 333–355.
1993, 181. 35. Hierbei werden nicht einseitig nationale Er- Dr. Florian Bieber, Nationalism Studies, Central
16. Vojin Dimitrijević, The 1974 Constitution as a klärungsversuche (zum Beispiel Unterdrük- European University, Nador utca 9, H–1051 Buda-
Factor in the Collapse of Yugoslavia or as a Sign of kung der jeweiligen Nation durch andere Na- pest, Ungarn, bieberf@gmx.net

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