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NOVEMBER 2023
I nt e r v i ew : D o rot h e a Wa g n e r
D
ie Kindheit von Suzanne Heywood wirkt wie aus
einem Spielfilm: Sie segelte mit ihren Eltern und
ihrem Bruder jahrelang um die Welt, auf den Spuren
einer Reise, die Kapitän James Cook einst unternommen hatte.
Heywood war sieben Jahre alt, als die Familie ihr altes Leben in
England hinter sich ließ. Ursprünglich hatten ihre Eltern die
gemeinsame Reise für drei Jahre angesetzt. Es wurden zehn.
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In Essays und in ihrem kürzlich erschienenen Buch
»Wavewalker« – so hieß das Segelboot ihrer Familie –
beschreibt die heute 54-Jährige immer wieder, wie sich diese
Reise als Kind anfühlte. Nach ihrem Studium arbeitete sie
einige Jahre im Staatsdienst. Heute ist sie dreifache Mutter und
leitet unter anderem die Geschäfte einer
Investmentgesellschaft. Ihr Mann Jeremy war bis zu seinem Tod
vor wenigen Jahren ein hochrangiger britischer Beamter. Den
Videoanruf beantwortet Heywood in Business-Kleidung.
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Wenn Sie an die zehnjährige Reise denken, die Sie mit
Ihren Eltern als Kind unternommen haben – welche
positiven Erinnerungen haben Sie dann?
Viele. Zunächst ist es fantastisch, auf dem Meer zu sein.
Mehr als die Hälfte unseres Planeten ist davon bedeckt. Wir
sahen Wale und Delfine. Einmal sind wir an einem
explodierenden Vulkan vorbeigesegelt. Ich habe Menschen
aus sehr unterschiedlichen Gemeinschaften aus
verschiedenen Teilen der Welt kennengelernt. Also wuchs
ich mit einem Verständnis dafür auf, was uns als Menschen
verbindet, auch wenn wir sehr unterschiedlich leben. Ich bin
heute gut darin, mit sehr unterschiedlichen Menschen
Gespräche zu führen, und bin sehr tolerant gegenüber
anderen Kulturen. Das sind die Dinge, an die ich gern denke
und die sich positiv aus dieser Kindheit entwickelt haben.
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tagelang im Bauch des Schiffes sein mussten.
Hier gilt wieder: Häufig werden die Geschichten von Eltern,
die mit ihren Kindern reisen, von den Eltern erzählt – und
Segelgeschichten fast immer vom Segler. Aus ihrer
Perspektive ist das aufregend. Mein Vater hatte sich eine
sehr gefährliche Route ausgesucht, um die Welt zu
umsegeln. Wir fuhren auf der Route von Captain Cooks
dritter Reise, was bedeutete, dass wir einige der
gefährlichsten Ozeane der Welt durchqueren mussten, in
denen es sehr große Wellen und viele Stürme gibt.
Deswegen war ich als Kind manchmal Tage, manchmal
Wochen unten in den Kabinen gefangen und durfte nicht an
Deck kommen. Ich sah an diesen Tagen oft kaum Tageslicht,
weil wir nur winzige Bullaugen in den Seiten des Schiffes
hatten. Mein einziger Freund war mein jüngerer Bruder. Wir
hatten wenig Spielzeug an Bord und hatten nichts wie einen
Computer, Internet oder einen Fernseher. Und in einem
Sturm kann man nicht mal Karten spielen, weil sich das
Boot so heftig bewegt.
Wie isoliert Sie sich gefühlt haben, weil Sie durch das
Reisen keine normalen Freundschaften führen konnten,
erzählen Sie immer wieder. Mit wem haben Sie denn
gesprochen, wenn Sie eigentlich gern etwas mit einem
Freund oder einer Freundin geteilt hätten?
Bis ich vielleicht elf oder zwölf war, haben mein Bruder und
ich miteinander gespielt. Danach wurde es für mich
schwierig auf dem Boot, weil ich andere Freunde haben
wollte. Eine Teenagerin braucht Freunde, mit denen sie über
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all das reden kann, was während der Pubertät passiert –
darüber, dass man versucht, die Welt zu verstehen und zu
einer eigenständigen Person zu werden. An meinen
Tagebüchern ist deutlich erkennbar, wie unglücklich ich
wurde, weil ich häufig über meine Einsamkeit schrieb und
über meine Verzweiflung, so isoliert zu sein. Ich hatte später
ein paar Brieffreunde – Kinder, die ich getroffen hatte, als
ich für kurze Zeit in Australien zur Schule ging. Aber wenn
ich ihnen schrieb, war mir bewusst, dass meine Eltern die
Briefe sehen können. Deswegen war ich sehr vorsichtig
damit, unser Leben zu kritisieren. Wie bei den Eltern heute
auf Instagram war es meinen Eltern immer sehr wichtig,
unser Leben der Außenwelt als etwas Wundervolles zu
präsentieren.
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du zur Schule gegangen bist, und ordnet dich damit ein.
Aber nicht nur das, ich wusste ja auch nichts über
Popmusik, über das Fernsehen, ich hatte keinen
Gesprächsthemen. Mir sagte am Anfang jemand, er sei nie
jemandem begegnet, der schlechter ist im Small Talk als ich.
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Dinge – ins Kino, ins Museum oder in einen Park zu gehen,
um mit Freunden zu spielen. Und ich verpasste all die
normalen frühen Beziehungserfahrungen. Im Buch erzähle
ich von einem Jungen, in den ich mich in Australien
verknallt hatte. Wir hatten uns einmal geküsst, dann
entschied mein Vater, dass es an der Zeit war,
weiterzusegeln. All das war frustrierend. Aber was die Zeit
besonders schwierig gemacht hat, war die schlechte
Beziehung zu meiner Mutter. Sie hat zum Beispiel
manchmal wochenlang nicht direkt mit mir geredet und
mich nur über andere in der dritten Person angesprochen.
Mit meiner Erfahrung, eine schwierige Mutter zu haben, bin
ich natürlich nicht allein. Aber weil wir auf einem Boot
lebten, konnte ich ihr nicht ausweichen.
Ihre Mutter hat Sie in den ersten Jahren auf dem Boot
selbst unterrichtet, bevor Sie an einer Art Fernschule
lernten. Was denken Sie über das Konzept Home
Schooling?
Als jemand, die es erlebt hat, betrachte ich es mit großer
Vorsicht. Ein Kind zu unterrichten, ist ein sehr
ernstzunehmender Job. Meine Mutter behauptete, sich
darum zu kümmern. Aber in der Realität hatte sie nur einen
kleinen Stapel mit Mathe- und Englischaufgaben, die sie ab
und zu mit uns machte. Und selbst wenn man die
Unterrichtsstunden gut hinbekommt, muss man auch noch
all die anderen Erfahrungen ausgleichen, die Kinder in der
Schule machen würden. Die Möglichkeit, Freundschaften zu
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schließen, vielleicht Sport zu machen, Musik zu erleben.
Und außerdem nimmt man ein Kind auch aus allen
schützenden sozialen Strukturen, wenn man es aus der
Schule nimmt. Wenn in der Familie oder bei dem Kind etwas
nicht passt, gibt es niemand anderen, der das erkennen und
einschreiten kann. Es fällt ein wichtiges Sicherheitsnetz für
die Kinder weg. Ich erinnere mich nicht daran, dass in
meiner ganzen Kindheit jemals jemand eingeschritten und
nach meinem Wohlergehen gefragt hätte.
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gemeint, die man vorher nicht kannte und danach nie
wieder sieht. Was Kinder – vor allem ältere Kinder –
brauchen, sind echte Freundschaften. Zweitens: Man muss
die Schulbildung ernstnehmen. Und drittens: Selbst wenn
man das alles tut, muss man immer noch seinen Kindern
zuhören. Wenn sie tief unglücklich sind, muss man
aufhören. Man darf ihnen nicht den eigenen Traum
aufzwingen.
Ihre Mutter starb vor einigen Jahren. Ihr Bruder und Ihr
Vater widersprechen Ihrer Darstellung. Ihre Kindheit
sei zu weiten Teilen reich an Abenteuer und Spaß
gewesen, sagt Ihr Bruder. Mit Ihrem Vater haben Sie
wegen des Streits um die unterschiedlichen
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Erinnerungen länger keinen Kontakt mehr. Er
widerspricht Ihnen auch in Details. Was sagen Sie dazu?
Es war die Entscheidung meines Vaters, jede Beziehung zu
meinen Kindern und mir zu beenden – das machte er im Jahr
2019. Die Angst vor der Wut meines Vaters war einer der
Gründe, warum ich so lange damit gewartet habe, das Buch
zu schreiben: Ich wusste, dass er niemals tolerieren würde,
dass ich eine Geschichte erzähle, die sich von seiner
unterscheidet. Er sagt, dass es wundervoll war, zehn Jahre
lang auf einem Boot zu leben. Ich sage, das war es nicht. Ich
glaube, dass beide Aussagen stimmen können. Es war der
Traum meiner Eltern, während ich es mir nicht aussuchen
konnte, dort zu sein. Ich spreche auch meinem Bruder seine
Erfahrung nicht ab. Er hatte eine viel bessere Zeit, weil
meine Mutter zu ihm viel netter war als zu mir. Er schien
auch Bildung nicht so sehr zu vermissen wie ich. Ich glaube
nicht, dass meine Erfahrung auf der »Wavewalker« der
meines Vaters oder meines Bruders entspricht. Was ich
aufgeschrieben habe, ist die Wahrheit, die ich erlebt habe.
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konnte. Die Logbücher meines Vaters und die Tagebücher
meiner Mutter. Die Erinnerungen – und manchmal
Tagebücher – von allen Crew-Mitgliedern, die auf dem Boot
waren und die ich finden konnte. Alle Interviews, die mein
Vater während unserer Reise Zeitungen gegeben hat. Unsere
Reisepässe. Auch die Tagebücher, die ich geschrieben habe,
seit ich zehn war. Ich bin traurig darüber, dass ich keinen
Kontakt mehr zu meinem Vater habe. Aber mir war es
wichtiger, meine Geschichte wahrhaftig zu erzählen als so
zu tun, als wäre die Vergangenheit etwas, das sie nicht war.
Mein Vater verlangte, dass ich aufhören solle, mein Buch zu
schreiben. Nachdem es veröffentlicht war, schrieb ich ihm,
um zu sagen, dass er mir die Vergangenheit nicht erklären
oder sich dafür entschuldigen müsse. Alles, was ich von ihm
brauche, sei, dass er akzeptiere, dass ich es so erlebt habe.
Er hat mir nicht zurückgeschrieben.
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