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KaelDesu

I Grundlagen der Wahrnehmung und


Beobachtung in der Pflege
1 Wahrnehmung · 4
2 Beobachtung · 33
3 Datenerhebung im pflegerischen Alltag · 47
4 Informationsweitergabe · 51

II Beobachtung des gesunden und


kranken Menschen
5 Allgemeinzustand · 64
6 Haut und Schleimhäute · 67
7 Hautanhangsgebilde · 111
8 Puls · 129
9 Blutdruck · 144
10 Körpertemperatur · 159
11 Atmung · 182
12 Schlaf · 204
13 Bewusstsein · 224
14 Körpergröße · 251
15 Körpergewicht · 266
16 Ernährungszustand · 283
17 Urin · 309
18 Stuhl · 326
19 Schweiß · 342
20 Menstruation und Fluor · 350
21 Erbrechen · 360
22 Sputum · 373
23 Schmerz · 380
24 Bewegungen · 400
25 Mimik und Gestik · 414
26 Körperhaltung · 428
27 Gang · 443
28 Stimme und Sprache · 456
KaelDesu
KaelDesu

I
KaelDesu

verstehen & pflegen 2

II
KaelDesu

verstehen & pflegen 2

Wahrnehmen
und Beobachten
Herausgegeben von
Annette Lauber und Petra Schmalstieg

unter Mitarbeit von


Eva Eißing
Marion Weichler-Oelschlägel
Tina Wilhelm

4., aktualisierte Auflage

285 Abbildungen

Georg Thieme Verlag


Stuttgart · New York

III
KaelDesu

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Wichtiger Hinweis


Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Wie jede Wissenschaft ist die Medizin ständigen Entwick-
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; lungen unterworfen. Forschung und klinische Erfahrung er-
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über weitern unsere Erkenntnisse, insbesondere was Behandlung
http://dnb.d-nb.de abrufbar. und medikamentöse Therapie anbelangt. Soweit in diesem
Werk eine Dosierung oder eine Applikation erwähnt wird,
darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass Autoren, Heraus-
geber und Verlag große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass
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kes entspricht.
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tionsformen kann vom Verlag jedoch keine Gewähr über-
nommen werden. Jeder Benutzer ist angehalten, durch sorg-
fältige Prüfung der Beipackzettel der verwendeten Präparate
und gegebenenfalls nach Konsultation eines Spezialisten
festzustellen, ob die dort gegebene Empfehlung für Dosie-
rungen oder die Beachtung von Kontraindikationen gegen-
über der Angabe in diesem Buch abweicht. Eine solche Prü-
fung ist besonders wichtig bei selten verwendeten Präpara-
ten oder solchen, die neu auf den Markt gebracht worden
sind. Jede Dosierung oder Applikation erfolgt auf eigene Ge-
fahr des Benutzers. Autoren und Verlag appellieren an jeden
Benutzer, ihm etwa auffallende Ungenauigkeiten dem Verlag
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Printed in Germany lich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Gren-
zen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des
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2. Auflage 2007 Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und
3. Auflage 2012 die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Sys-
temen.
Zeichnungen: Barbara Gay, Bremen; Christine Lackner,
Ittlingen; BITmap, Mannheim
Umschlaggestaltung: Thieme Gruppe
Umschlagfotos: 䉷 Africa Studio – Fotolia,
䉷 vchalup – Adobe Stock
Satz: Druckhaus Götz GmbH, D-71636 Ludwigsburg
Druck: Grafisches Centrum Cuno GmbH & Co.KG, Calbe

DOI 10.1055/b-005-143657

ISBN 978-3-13-240652-0 1 2 3 4 5 6

Auch erhältlich als E-Book:


eISBN (PDF) 978-3-13-240653-7

IV
KaelDesu

Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser, Interventionen (Band 3) sowie Prävention und Reha-
wir freuen uns, Ihnen hiermit die 4. Auflage der bilitation (Band 4). Inhalte und Themen der einzel-
Lehrbuchreihe verstehen & pflegen vorlegen zu kön- nen Bände der Reihe sind aufeinander bezogen;
nen. Herausgeberinnen und Autorinnen ist es ein An- selbstverständlich ist aber auch eine Einzelnutzung
liegen, mit der vorliegenden Lehrbuchreihe einen möglich. Alle Kapitel wurden für die 4. Auflage in-
Beitrag zu einer fundierten und qualitativ hochwer- haltlich überprüft und aktualisiert; neue Erkenntnis-
tigen Pflegeausbildung zu leisten und Lehrende wie se und Entwicklungen aufgenommen; Layout und
Lernende in ihrem beruflichen Handeln zu unter- grafische Darstellung modernisiert.
stützen. Ihren konstruktiven und ermutigenden Wenngleich für die Aktualisierung eines Werkes
Rückmeldungen, liebe Leserinnen und Leser, entneh- auf viel Bewährtes zurückgegriffen werden kann,
men wir, dass wir dieses Ziel in aller Regel auch errei- stellt der Bearbeitungsprozess Autorinnen und He-
chen. rausgeber dennoch immer wieder vor Herausforde-
Als die Lehrbuchreihe in den Jahren 2001 bis 2004 rungen, von denen die termingerechte Abgabe der
erstmals aufgelegt wurde, befanden sich die Diskus- bearbeiteten Manuskripte nicht zwangsläufig die
sionen um eine Zusammenführung der 3 Pflegeberu- größte ist. In solchen Phasen gewinnt dann eine ver-
fe Altenpflege, Gesundheits- und Krankenpflege so- bindliche und wertschätzende Unterstützung durch
wie Gesundheits- und Kinderkrankenpflege noch in den Verlag an Bedeutung. Unser Dank gilt deshalb
den Anfängen. Heute, 15 Jahre später, geht es stärker den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Georg
darum, den besten Weg der Zusammenführung aus- Thieme Verlags für ihre ausgesprochen motivierende
zuwählen und zu beschreiten. Daher verfolgt auch und engagierte Unterstützung. Danken möchten wir
die 4. Auflage von verstehen & pflegen einen integrati- auch allen Autorinnen und Autoren, die wir für die
ven Ansatz, der gleichermaßen Gemeinsamkeiten Mitarbeit an dieser Auflage gewinnen konnten, und
und Spezifika der Pflegeberufe thematisiert. die – teilweise nun schon über viele Jahre – ihre Ex-
Beibehalten wurde auch der bisherige Aufbau pertise für verstehen & pflegen zur Verfügung stellen.
und die didaktische Konzeption, bei der jeder Band Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, wünschen wir
einen Schwerpunktausführlich thematisiert und da- viel Freude bei der Arbeit mit den Bänden der Lehr-
bei eine konsequent pflegeberufliche Perspektive buchreihe!
einnimmt: Grundlagen beruflicher Pflege (Band 1),
Wahrnehmen und Beobachten (Band 2), Pflegerische Hildesheim und Stuttgart im Oktober 2017

V
KaelDesu

Herausgeberinnen
Dr. rer. cur. Annette Lauber Petra Schmalstieg
Dipl.-Pflegepädagogin (FH) Krankenschwester
Pflegewissenschaftlerin (M.Sc.) Dipl.-Pflegepädagogin (FH), M.A.
Irmgard-Bosch-Bildungszentrum Supervisorin
Auerbachstr. 110 Krankenpflegeschule am St. Bernward Krankenhaus
70376 Stuttgart Treibestr. 9
31134 Hildesheim

Autorinnen
Panajotis Apostolidis* Tina Wilhelm
Gesundheits- und Pflegepädagogin M.A.
Eva Eißing Praxisanleiterin, Kinderkrankenschwester
Lehrerin für Pflegeberufe Gesundheits- und Kinderkrankenpflegeschule der
Sozial-Wissenschaftlerin, B.A. Universitätsmedizin Mainz
Im Steeler Rott 22 Am Pulverturm 13
45276 Essen 55131 Mainz

Sigrid Flüeck*

Marion Weichler-Oelschlägel
Lehrerin für Pflegeberufe
Bachelor of Arts – Nursing – (FH), B.A.
Nordstraße 27
38226 Salzgitter

Die im Buch mit * gekennzeichneten Autoren haben an früheren Auflagen mitgewirkt, und ihre Beiträge sind in der aktuellen
Auflage noch teilweise enthalten.

VI
KaelDesu

Inhalt

I Grundlagen der 3 Datenerhebung im pflegerischen


Alltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
Wahrnehmung und Marion Weichler-Oelschlägel
Beobachtung in der Pflege Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
3.1 Methoden der Datenerhebung . . . . . . . . 47
1 Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 3.1.1 Beobachtung . . . . . . . . . . . . . . . . 47
Eva Eißing 3.1.2 Gespräche . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 3.2 Datenquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48
1.1 Wahrnehmungsprozess . . . . . . . . . . . . . . 5 3.3 Datenarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
1.2 Grundlagen der Wahrnehmung . . . . . . . 6 3.4 Reliabilität und Validität von Daten . . . . 49
1.2.1 Entwicklung der Wahrneh-
mung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 4 Informationsweitergabe . . . . . . . . . . . . . 51
1.2.2 Physiologische Grundlagen der Marion Weichler-Oelschlägel
Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . 7 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
1.2.3 Psychologische Grundlagen der 4.1 Bedeutung und Funktionen der Infor-
Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . 18 mationsweitergabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
1.3 Beeinflussende Faktoren bei der 4.2 Sprache als Instrument der mündlichen
Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 und schriftlichen Informationsweiter-
1.3.1 Physische Einflussfaktoren . . . . 19 gabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
1.3.2 Psychische Einflussfaktoren . . . 25 4.2.1 Umgang mit der Fachsprache . . 57
1.3.3 Soziale Wahrnehmung . . . . . . . 28 4.2.2 Medizinische Terminologie . . . 58
1.4 Wahrnehmung und Wirklichkeit . . . . . . 31

2 Beobachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
Eva Eißing
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 II Beobachtung des gesunden
2.1 Beobachtung als Prozess . . . . . . . . . . . . . 34 und kranken Menschen
2.1.1 Beobachtungsarten . . . . . . . . . . 36
2.2 Beobachtung in der Pflege . . . . . . . . . . . . 37 5 Allgemeinzustand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
2.2.1 Zeitpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Panajotis Apostolidis*, Petra Schmalstieg
2.2.2 Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
2.2.3 Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 5.1 Beobachtungsbereiche . . . . . . . . . . . . . . . 64
2.3 Beeinflussende Faktoren bei der 5.2 Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
Beobachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
2.4 Bedeutung der Beobachtung in der 6 Haut und Schleimhäute . . . . . . . . . . . . . . 67
Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Eva Eißing
2.4.1 Beobachtung als Grundlage für Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
pflegerisches Handeln . . . . . . . . 43 6.1 Aufbau und Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . 68
2.4.2 Ziele der Beobachtung in der 6.2 Allgemeine Beobachtungskriterien und
Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Beschreibung des Normalzustandes . . . 72
2.4.3 Qualität der Beobachtung . . . . . 44 6.2.1 Hautfarbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
2.4.4 Dokumentation . . . . . . . . . . . . . 45 6.2.2 Hautspannung . . . . . . . . . . . . . . 74
2.4.5 Anforderungen an das Pflege- 6.2.3 Hauttemperatur . . . . . . . . . . . . . 74
personal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 6.2.4 Hautoberfläche . . . . . . . . . . . . . . 74
6.2.5 Mundschleimhaut und Anal-
schleimhaut . . . . . . . . . . . . . . . . 74

VII
KaelDesu
Inhalt

6.3 Abweichungen und Veränderungen und 8.2.1 Pulsfrequenz . . . . . . . . . . . . . . . 132


deren Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 8.2.2 Pulsrhythmus . . . . . . . . . . . . . . . 133
6.3.1 Veränderungen der Hautfarbe . 75 8.2.3 Pulsqualität . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
6.3.2 Veränderungen der Haut- 8.3 Abweichungen und Veränderungen und
spannung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 deren mögliche Ursachen . . . . . . . . . . . . 133
6.3.3 Veränderungen der Haut- 8.3.1 Veränderungen der Puls-
temperatur . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 frequenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
6.3.4 Veränderungen der Hautober- 8.3.2 Veränderungen des Puls-
fläche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 rhythmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
6.3.5 Veränderungen der Mund- und 8.3.3 Veränderungen der Puls-
Analschleimhaut . . . . . . . . . . . . 95 qualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
6.4 Ergänzende Beobachtungskriterien . . . . 101 8.4 Ergänzende Beobachtungskriterien . . . . 138
6.5 Besonderheiten bei Kindern . . . . . . . . . . 102 8.5 Besonderheiten bei Kindern . . . . . . . . . . 138
Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm
6.6 Besonderheiten bei älteren Menschen . 105 8.6 Besonderheiten bei älteren Menschen . 140
Eva Eißing Panajotis Apostolidis*, Petra Schmalstieg
6.7 Fallstudien und mögliche Pflege- 8.7 Fallstudien und mögliche Pflege-
diagnosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 diagnosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140

7 Hautanhangsgebilde . . . . . . . . . . . . . . . . 111 9 Blutdruck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144


Eva Eißing Panajotis Apostolidis*, Petra Schmalstieg
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144
7.1 Aufbau und Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . 111 9.1 Technik der Blutdruckmessung . . . . . . . 145
7.2 Allgemeine Beobachtungskriterien und 9.1.1 Direkte Blutdruckmessung . . . . 145
Beschreibung des Normalzustandes . . . 113 9.1.2 Indirekte Blutdruckmessung . . 145
7.2.1 Haare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 9.2 Allgemeine Beobachtungskriterien und
7.2.2 Nägel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Beschreibung des Normalzustands . . . . 150
7.2.3 Hautdrüsen . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 9.2.1 Systolischer Blutdruck . . . . . . . . 150
7.3 Abweichungen und Veränderungen und 9.2.2 Diastolischer Blutdruck . . . . . . . 150
deren Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 9.2.3 Mitteldruck . . . . . . . . . . . . . . . . . 150
7.3.1 Haare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 9.2.4 Blutdruckamplitude . . . . . . . . . . 151
7.3.2 Nägel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 9.3 Abweichungen und Veränderungen des
7.3.3 Hautdrüsen . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Blutdrucks und deren mögliche
7.4 Ergänzende Beobachtungskriterien . . . . 122 Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
7.5 Besonderheiten bei Kindern . . . . . . . . . . 122 9.3.1 Hypertonie . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm 9.3.2 Hypotonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
7.5.1 Haare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 9.4 Ergänzende Beobachtungskriterien . . . . 154
7.5.2 Nägel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 9.5 Besonderheiten bei Kindern . . . . . . . . . . 154
7.5.3 Hautdrüsen . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm
7.6 Besonderheiten bei älteren Menschen . 124 9.6 Besonderheiten bei älteren Menschen . 156
Eva Eißing Panajotis Apostolidis*, Petra Schmalstieg
7.7 Fallstudien und mögliche Pflegediag- 9.7 Fallstudien und mögliche Pflege-
nosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 diagnosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156

8 Puls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 10 Körpertemperatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159


Panajotis Apostolidis*, Petra Schmalstieg Panajotis Apostolidis*, Petra Schmalstieg
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
8.1 Technik der Pulsmessung . . . . . . . . . . . . 130 10.1 Technik der Temperaturmessung . . . . . . 162
8.2 Allgemeine Beobachtungskriterien und 10.1.1 Thermometerarten . . . . . . . . . . 162
Beschreibung des Normalzustandes . . . 132 10.1.2 Indikationen zur Messung der
Körpertemperatur . . . . . . . . . . . 163

VIII
KaelDesu
Inhalt

10.1.3 Durchführung der Körpertem- 11.3.2 Atemfrequenz . . . . . . . . . . . . . . . 190


peraturmessung . . . . . . . . . . . . . 164 11.3.3 Atemtiefe (Atemintensität) . . . 191
10.1.4 Dokumentation der Mess- 11.3.4 Atemrhythmus (pathologische
ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 Atemtypen) . . . . . . . . . . . . . . . . . 192
10.2 Allgemeine Beobachtungs- 11.3.5 Atemmechanik (Atem-
kriterien und Beschreibung des Nor- bewegungen) . . . . . . . . . . . . . . . 194
malzustands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 11.3.6 Atemgeräusche . . . . . . . . . . . . . . 195
10.3 Abweichungen, Veränderungen der 11.3.7 Atemgerüche . . . . . . . . . . . . . . . . 197
Körpertemperatur und deren mögliche 11.4 Ergänzende Beobachtungskriterien . . . . 197
Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 11.5 Besonderheiten bei Kindern . . . . . . . . . . 198
10.3.1 Erhöhte Körpertemperatur . . . . 167 Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm
10.3.2 Verminderte Körpertempera- 11.5.1 Abweichungen und Verände-
tur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 rungen der Atmung . . . . . . . . . . 198
10.4 Ergänzende Beobachtungskriterien . . . . 174 11.5.2 Die besondere Situation des
10.5 Besonderheiten bei Kindern . . . . . . . . . . 176 Früh- und Neugeborenen . . . . . 199
Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm 11.6 Besonderheiten bei älteren Menschen . 200
10.5.1 Technik der Temperatur- 11.7 Fallstudien und mögliche Pflegediag-
messung bei einem Früh- nosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200
geborenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
10.5.2 Technik der Temperaturmes- 12 Schlaf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204
sung bei Neugeborenen, Säug- Marion Weichler-Oelschlägel
lingen und Kleinkindern . . . . . . 177 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204
10.5.3 Abweichungen vom Normal- 12.1 Allgemeine Beobachtungskriterien und
zustand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Beschreibung des Normalzustands . . . . 206
10.6 Besonderheiten bei älteren Menschen . 178 12.1.1 Schlafzyklus und Schlafsta-
Panajotis Apostolidis*, Petra Schmalstieg dien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207
10.7 Fallstudien und mögliche Pflege- 12.1.2 Schlafbedarf . . . . . . . . . . . . . . . . 209
diagnosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 12.1.3 Schlaftypen . . . . . . . . . . . . . . . . . 209
12.1.4 Physiologische Veränderungen
11 Atmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 während des Schlafs . . . . . . . . . 210
Panajotis Apostolidis*, Petra Schmalstieg 12.2 Abweichungen und Veränderungen
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 beim Schlaf und deren Ursachen . . . . . . 211
11.1 Technik der Atemerfassung . . . . . . . . . . . 184 12.2.1 Hypersomnie . . . . . . . . . . . . . . . 211
11.1.1 Dokumentation . . . . . . . . . . . . . 184 12.2.2 Hyposomnie . . . . . . . . . . . . . . . . 212
11.1.2 Indikationen zur Atmungs- 12.2.3 Insomnie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212
erfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 12.2.4 Chronobiologische Störungen . 213
11.2 Allgemeine Beobachtungskriterien und 12.2.5 Parasomnien . . . . . . . . . . . . . . . . 213
Beschreibung des Normalzustands . . . . 185 12.2.6 Nächtliche Myoklonien . . . . . . . 214
11.2.1 Atemvolumina . . . . . . . . . . . . . . 185 12.2.7 Narkolepsie . . . . . . . . . . . . . . . . . 215
11.2.2 Atemfrequenz . . . . . . . . . . . . . . . 187 12.2.8 Schlafapnoe . . . . . . . . . . . . . . . . . 215
11.2.3 Atemtiefe (Atemintensität) . . . 187 12.3 Ergänzende Beobachtungskriterien . . . . 217
11.2.4 Atemrhythmus . . . . . . . . . . . . . . 187 12.4 Besonderheiten bei Kindern . . . . . . . . . . 217
11.2.5 Atemmechanik (Atembewe- Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm
gungen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 12.4.1 Abweichungen und Verände-
11.2.6 Atemgeräusche . . . . . . . . . . . . . . 188 rungen beim Schlaf . . . . . . . . . . 218
11.2.7 Atemgeruch . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 12.5 Besonderheiten bei älteren Menschen . 219
11.3 Abweichungen und Veränderungen Marion Weichler-Oelschlägel
beim Atmen und deren mögliche 12.6 Fallstudien und mögliche Pflege-
Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 diagnosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220
11.3.1 Dyspnoe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189

IX
KaelDesu
Inhalt

13 Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 14.5 Besonderheiten bei Kindern . . . . . . . . . . 256


Marion Weichler-Oelschlägel Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 14.5.1 Somatogramm . . . . . . . . . . . . . . 257
13.1 Allgemeine Beobachtungskriterien und 14.5.2 Perzentilenkurve . . . . . . . . . . . . 257
Beschreibung des Normalzustands . . . . 225 14.5.3 Ermittlung der Körpergröße . . . 257
13.2 Abweichungen und Veränderungen im 14.5.4 Abweichungen und Verände-
Bewusstsein und deren mögliche rungen der Körpergröße . . . . . 259
Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 14.5.5 Ergänzende Beobachtungs-
13.2.1 Störungen des Bewusstseins . . 225 kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260
13.2.2 Störungen der Wahrnehmung . 228 14.6 Besonderheiten bei älteren Menschen . 260
13.2.3 Störungen der Bewegung und Eva Eißing
des Handelns (Apraxien) . . . . . 231 14.6.1 Osteoporose . . . . . . . . . . . . . . . . 260
13.2.4 Störungen der Orientierung . . . 231 14.7 Fallstudien und mögliche Pflegediag-
13.2.5 Störungen des Erkennens nosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261
(Agnosie) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
13.2.6 Störungen des Denkens . . . . . . . 236 15 Körpergewicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266
13.2.7 Störungen des Gedächtnisses . 239 Eva Eißing
13.2.8 Störungen der Aufmerksam- Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266
keit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 15.1 Ermittlung des Körpergewichts . . . . . . . 267
13.2.9 Störungen der Affektivität . . . . 241 15.1.1 Indikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267
13.2.10 Störungen des Ich-Erlebens . . . 243 15.1.2 Verschiedene Messwaagen . . . . 267
13.2.11 Störungen des Antriebs . . . . . . 243 15.1.3 Bedingungen für die
13.3 Ergänzende Beobachtungskriterien . . . . 244 Gewichtsmessung . . . . . . . . . . . 268
13.4 Besonderheiten bei Kindern . . . . . . . . . . 245 15.1.4 Dokumentation . . . . . . . . . . . . . 268
Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm 15.1.5 Ermittlung der Körperober-
13.5 Besonderheiten bei älteren Menschen . 246 fläche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268
Marion Weichler-Oelschlägel 15.2 Allgemeine Beobachtungs-
13.6 Fallstudien und mögliche Pflegediag- kriterien und Beschreibung des Nor-
nosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 malzustandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268
15.2.1 Body-Mass-Index (BMI) . . . . . . 268
14 Körpergröße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 15.2.2 Taille-Hüft-Verhältnis (THV) . . 268
Eva Eißing 15.2.3 Subjektives Normgewicht . . . . . 269
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 15.2.4 Beeinflussende Faktoren . . . . . . 269
14.1 Ermittlung der Körpergröße . . . . . . . . . . 251 15.2.5 Energiebilanz . . . . . . . . . . . . . . . 270
14.1.1 Indikationen zur Messung der 15.3 Abweichungen und Veränderungen des
Körpergröße . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Körpergewichts sowie deren Ursachen . 270
14.1.2 Ermittlung der Körpergröße 15.3.1 Übergewicht . . . . . . . . . . . . . . . . 272
beim Erwachsenen . . . . . . . . . . . 252 15.3.2 Untergewicht . . . . . . . . . . . . . . . 275
14.2 Allgemeine Beobachtungs- 15.4 Ergänzende Beobachtungskriterien . . . . 277
kriterien und Beschreibung des Nor- 15.5 Besonderheiten bei Kindern . . . . . . . . . . 277
malzustands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm
14.2.1 Entwicklung der Körperlänge . 253 15.5.1 Indikation zur Ermittlung des
14.3 Abweichungen und Veränderungen der Körpergewichts . . . . . . . . . . . . . 277
Körpergröße und deren mögliche 15.5.2 Ermittlung des Körper-
Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 gewichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277
14.3.1 Abweichungen der Körper- 15.5.3 Normalzustand . . . . . . . . . . . . . . 278
größe nach „oben“ . . . . . . . . . . . 255 15.5.4 Abweichungen und Verände-
14.3.2 Abweichungen der Körper- rungen des Körpergewichts . . . 279
größe nach „unten“ . . . . . . . . . . 255 15.6 Besonderheiten bei älteren Menschen . 279
14.4 Ergänzende Beobachtungskriterien . . . . 256 Eva Eißing

X
KaelDesu
Inhalt

15.7 Fallstudien und mögliche Pflegediag- 17.1.4 Urinzusammmensetzung . . . . . 311


nosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 17.1.5 Uringeruch . . . . . . . . . . . . . . . . . 311
17.1.6 Spezifisches Gewicht des
16 Ernährungszustand . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Urins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311
Eva Eißing 17.1.7 Urinreaktion . . . . . . . . . . . . . . . . 311
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 17.2 Abweichungen, Veränderungen des
16.1 Allgemeine Beobachtungskriterien und Urins und deren mögliche Ursachen . . . 312
Beschreibung des Normalzustands . . . . 284 17.2.1 Miktionsstörungen . . . . . . . . . . . 312
16.1.1 Nahrungs- und Flüssigkeits- 17.2.2 Veränderungen der Urin-
aufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 menge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316
16.1.2 Gewicht in Abhängigkeit von 17.2.3 Veränderungen der Urinfarbe . 318
der Körpergröße . . . . . . . . . . . . . 287 17.2.4 Veränderungen der Urin-
16.1.3 Haut und Hautanhangs- zusammensetzung, Beimen-
gebilde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 gungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318
16.1.4 Zähne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 17.2.5 Veränderungen des Urin-
16.1.5 Nährstoffaufnahme und geruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319
-verwertung . . . . . . . . . . . . . . . . 287 17.2.6 Veränderungen des spezifi-
16.2 Abweichungen und Veränderungen des schen Gewichts des Urins . . . . . 319
Ernährungszustands sowie deren 17.2.7 Veränderungen der Urin-
Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 reaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319
16.2.1 Störungen der Nahrungs- und 17.3 Ergänzende Beobachtungskriterien . . . . 320
Flüssigkeitsaufnahme . . . . . . . . 288 17.4 Besonderheiten bei Kindern . . . . . . . . . . 320
16.2.2 Störungen der Nährstoffauf- Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm
nahme und -verwertung . . . . . . 293 17.5 Besonderheiten bei älteren Menschen . 321
16.2.3 Mangelerscheinungen . . . . . . . . 293 17.5.1 Funktionelle Inkontinenz . . . . . 321
16.2.4 Über-/Falschernährung . . . . . . . 297 17.6 Fallstudien und mögliche Pflegediag-
16.2.5 Vergiftungen . . . . . . . . . . . . . . . . 298 nosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322
16.3 Ermittlung des Ernährungszustandes . . 299
16.4 Ergänzende Beobachtungskriterien . . . . 299 18 Stuhl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326
16.5 Besonderheiten bei Kindern . . . . . . . . . . 299 Panajotis Apostilidis*, Petra Schmalstieg
Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326
16.5.1 Störung der Nahrungsauf- 18.1 Allgemeine Beobachtungskriterien und
nahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 Beschreibung des Normalzustands . . . . 326
16.5.2 Störung der Flüssigkeitsauf- 18.1.1 Stuhlentleerung . . . . . . . . . . . . . 327
nahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 18.1.2 Stuhlmenge . . . . . . . . . . . . . . . . . 327
16.5.3 Malabsorption und Maldiges- 18.1.3 Stuhlfarbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327
tion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 18.1.4 Stuhlkonsistenz . . . . . . . . . . . . . 327
16.6 Besonderheiten bei älteren Menschen . 302 18.1.5 Stuhlgeruch . . . . . . . . . . . . . . . . . 327
Eva Eißing 18.1.6 Stuhlzusammensetzung . . . . . . 327
16.7 Fallstudien und mögliche Pflegediag- 18.1.7 Chemische Stuhlreaktion . . . . . 327
nosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 18.2 Abweichungen, Veränderungen des
Stuhls und deren mögliche Ursachen . . 327
17 Urin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 18.2.1 Störungen der Stuhlent-
Panajotis Apostolidis*, Petra Schmalstieg leerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 18.2.2 Veränderungen der Stuhl-
17.1 Allgemeine Beobachtungskriterien und menge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332
Beschreibung des Normalzustands . . . . 310 18.2.3 Veränderungen der Stuhlfarbe . 333
17.1.1 Miktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 18.2.4 Veränderungen der Stuhl-
17.1.2 Urinmenge . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 konsistenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333
17.1.3 Urinfarbe, Aussehen . . . . . . . . . 310 18.2.5 Veränderungen des Stuhl-
geruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333

XI
KaelDesu
Inhalt

18.2.6 Veränderungen der Stuhl- 20.5 Besonderheiten bei älteren Menschen . 357
zusammensetzung . . . . . . . . . . . 334 20.6 Fallstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357
18.2.7 Veränderungen der chemi-
schen Stuhlreaktion . . . . . . . . . . 334 21 Erbrechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360
18.3 Ergänzende Beobachtungskriterien . . . . 334 Panajotis Apostolidis*, Petra Schmalstieg
18.4 Besonderheiten bei Kindern . . . . . . . . . . 335 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360
Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm 21.1 Vorgang des Erbrechens . . . . . . . . . . . . . . 360
18.5 Besonderheiten bei älteren Menschen . 337 21.2 Ursachen des Erbrechens . . . . . . . . . . . . . 362
18.6 Fallstudien und mögliche Pflegediag- 21.3 Formen des Erbrechens . . . . . . . . . . . . . . 362
nosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 21.3.1 Einteilung nach dem Zeitpunkt
des Erbrechens . . . . . . . . . . . . . 362
19 Schweiß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 21.3.2 Einteilung nach der Reizung
Panajotis Apostolidis*, Petra Schmalstieg des Brechzentrums . . . . . . . . . . 363
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 21.4 Beobachtung des Erbrechens . . . . . . . . . 364
19.1 Allgemeine Beobachtungskriterien und 21.4.1 Art und Weise des Erbrechens . 364
Beschreibung des Normalzustands . . . . 343 21.4.2 Farbe des Erbrochenen . . . . . . . 364
19.1.1 Schweißmenge . . . . . . . . . . . . . . 343 21.4.3 Menge des Erbrochenen . . . . . . 364
19.1.2 Aussehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 21.4.4 Geruch des Erbrochenen . . . . . . 365
19.1.3 Geruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 21.4.5 Zusammensetzung, Bei-
19.1.4 Lokalisation . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 mengungen des Erbrochenen . 365
19.2 Abweichungen, Veränderungen des 21.4.6 Zeitpunkt und Häufigkeit des
Schweißes und deren mögliche Erbrechens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365
Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 21.4.7 Begleiterscheinungen des
19.2.1 Veränderungen der Menge . . . . 344 Erbrechens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366
19.2.2 Veränderungen des Aus- 21.5 Ergänzende Beobachtungskriterien . . . . 367
sehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 21.6 Besonderheiten bei Kindern . . . . . . . . . . 368
19.2.3 Veränderungen des Geruchs . . 345 Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm
19.2.4 Lokalisation . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 21.7 Besonderheiten bei älteren Menschen . 370
19.3 Ergänzende Beobachtungskriterien . . . . 346 21.8 Fallstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370
19.4 Besonderheiten bei Kindern . . . . . . . . . . 346
Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm 22 Sputum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373
19.5 Besonderheiten bei älteren Menschen . 347 Panajotis Apostolidis*, Petra Schmalstieg
19.6 Fallstudien und mögliche Pflegediag- Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373
nosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 22.1 Beobachtung des Sputums . . . . . . . . . . . 373
22.1.1 Sputummenge . . . . . . . . . . . . . . 374
20 Menstruation und Fluor . . . . . . . . . . . . . . 350 22.1.2 Sputumfarbe . . . . . . . . . . . . . . . . 374
Panajotis Apostolidis*, Petra Schmalstieg 22.1.3 Sputumgeruch . . . . . . . . . . . . . . 375
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 22.1.4 Sputumkonsistenz . . . . . . . . . . . 375
20.1 Beschreibung des Normalzustands . . . . 351 22.1.5 Sputumzusammensetzung und
20.1.1 Menstruation . . . . . . . . . . . . . . . 351 Beimengungen . . . . . . . . . . . . . . 375
20.1.2 Fluor genitalis . . . . . . . . . . . . . . . 351 22.1.6 Zeitpunkt des Auswurfes . . . . . 375
20.2 Abweichungen, Veränderungen bei 22.2 Ergänzende Beobachtungskriterien . . . . 375
Menstruation und Fluor und deren 22.3 Besonderheiten bei Kindern . . . . . . . . . . 376
mögliche Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm
20.2.1 Menstruationsstörungen . . . . . 351 22.4 Besonderheiten bei älteren Menschen . 376
20.3 Ergänzende Beobachtungskriterien . . . . 356 22.5 Fallstudien und mögliche Pflegediag-
20.4 Besonderheiten bei Kindern . . . . . . . . . . 356 nosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376
Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm
20.4.1 Abweichungen, Veränderungen
und deren mögliche Ursachen . 356

XII
KaelDesu
Inhalt

23 Schmerz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 24.3 Ergänzende Beobachtungskriterien . . . . 405


Eva Eißing 24.4 Besonderheiten bei Kindern . . . . . . . . . . 406
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm
23.1 Schmerzentstehung, -leitung und 24.4.1 Abweichungen und Verände-
-wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 rungen der Bewegung und
23.1.1 Schmerzhemmsysteme . . . . . . . 381 deren mögliche Ursache . . . . . . 407
23.1.2 Gestörte Schmerzempfindung . 383 24.5 Besonderheiten bei älteren Menschen . 409
23.1.3 Beeinflussende Faktoren . . . . . . 383 Marion Weichler-Oelschlägel
23.1.4 Bedeutung von Schmerz . . . . . . 384 24.6 Fallstudien und mögliche Pflegediag-
23.2 Schmerzarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 nosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410
23.2.1 Nozizeptorschmerz . . . . . . . . . . 384
23.2.2 Neurogener Schmerz . . . . . . . . . 386 25 Mimik und Gestik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414
23.2.3 Zentraler Schmerz . . . . . . . . . . . 386 Marion Weichler-Oelschlägel
23.2.4 Phantomschmerz . . . . . . . . . . . . 386 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414
23.2.5 Psychogener Schmerz . . . . . . . . 387 25.1 Allgemeine Beobachtungskriterien
23.3 Akuter und chronischer Schmerz . . . . . . 387 und Beschreibung des Normal-
23.3.1 Akuter Schmerz . . . . . . . . . . . . . 387 zustands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414
23.3.2 Chronischer Schmerz . . . . . . . . . 387 25.2 Abweichungen und Veränderungen der
23.4 Beobachtungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . 388 Mimik und Gestik und deren mögliche
23.4.1 Schmerzäußerungen . . . . . . . . . 388 Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418
23.4.2 Schmerzlokalisation . . . . . . . . . 390 25.2.1 Abweichungen und Verände-
23.4.3 Schmerzzeitpunkt, -dauer und rungen der Mimik . . . . . . . . . . . 418
-verlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 25.2.2 Abweichungen und Verände-
23.4.4 Schmerzintensität . . . . . . . . . . . 390 rungen der Gestik . . . . . . . . . . . . 421
23.4.5 Schmerzqualität . . . . . . . . . . . . . 391 25.3 Ergänzende Beobachtungskriterien . . . . 421
23.4.6 Schmerzbegleitende Symp- 25.4 Besonderheiten bei Kindern . . . . . . . . . . 421
tome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm
23.4.7 Auswirkungen auf das Alltags- 25.4.1 Mimikveränderungen bei Kin-
leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 dern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422
23.5 Dokumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 25.4.2 Gestikveränderungen bei Kin-
23.6 Ergänzende Beobachtungskriterien . . . . 392 dern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423
23.7 Besonderheiten bei Kindern . . . . . . . . . . 392 25.5 Besonderheiten bei älteren Menschen . 423
Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm Marion Weichler-Oelschlägel
23.8 Besonderheiten bei älteren Menschen . 395 25.6 Fallstudien und mögliche Pflegediag-
Eva Eißing nosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424
23.9 Fallstudien und mögliche Pflegediag-
nosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 26 Körperhaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428
Marion Weichler-Oelschlägel
24 Bewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428
Marion Weichler-Oelschlägel 26.1 Allgemeine Beobachtungskriterien und
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 Beschreibung des Normalzustands . . . . 428
24.1 Allgemeine Beobachtungskriterien und 26.1.1 Körperhaltung im Sitzen . . . . . . 432
Beschreibung des Normalzustands . . . . 401 26.1.2 Körperhaltung im Stehen . . . . . 432
24.2 Abweichungen und Veränderungen der 26.1.3 Körperhaltung im Liegen . . . . . 432
Bewegungen und deren mögliche 26.2 Abweichungen und Veränderungen der
Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 Körperhaltung und deren mögliche
24.2.1 Störungen der Beweglichkeit . . 402 Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432
24.2.2 Störungen der Koordination 26.2.1 Haltungsstörungen . . . . . . . . . . 432
und Zielgerichtetheit . . . . . . . . . 404 26.2.2 Haltungsschäden . . . . . . . . . . . . 433
24.2.3 Störungen des Körperschemas . 405 26.2.3 Zwangs- und Schonhaltung . . . 435
26.2.4 Kontrakturen . . . . . . . . . . . . . . . . 435

XIII
KaelDesu
Inhalt

26.3 Ergänzende Beobachtungskriterien . . . . 436 27.5 Besonderheiten bei älteren Menschen . 451
26.4 Besonderheiten bei Kindern . . . . . . . . . . 436 Marion Weichler-Oelschlägel
Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm 27.6 Fallstudien und mögliche Pflegdiagno-
26.4.1 Angeborene Haltungsstörun- sen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452
gen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438
26.4.2 Angeborene oder erworbene 28 Stimme und Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . 456
Haltungsschäden . . . . . . . . . . . . 438 Marion Weichler-Oelschlägel
26.5 Besonderheiten bei älteren Menschen . 438 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456
Marion Weichler-Oelschlägel 28.1 Allgemeine Beobachtungskriterien und
26.6 Fallstudien und mögliche Pflegediag- Beschreibung des Normalzustands . . . . 456
nosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 28.1.1 Stimme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456
28.1.2 Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457
27 Gang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 28.2 Abweichungen und Veränderungen in
Marion Weichler-Oelschlägel Stimme und Sprache und deren mögli-
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 che Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458
27.1 Allgemeine Beobachtungskriterien und 28.2.1 Veränderungen der Stimme . . . 458
Beschreibung des Normalzustands . . . . 443 28.2.2 Veränderungen der Sprache . . 459
27.2 Abweichungen und Veränderungen des 28.3 Ergänzende Beobachtungskriterien . . . . 463
Gangs und deren mögliche Ursachen . . 445 28.4 Besonderheiten bei Kindern . . . . . . . . . . 463
27.2.1 Spastischer Gang . . . . . . . . . . . . 445 Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm
27.2.2 Hinken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 28.4.1 Entwicklungsmäßige Voraus-
27.2.3 Steppergang . . . . . . . . . . . . . . . . 446 setzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463
27.2.4 Watschelgang . . . . . . . . . . . . . . . 446 28.4.2 Normale Sprachentwicklung
27.2.5 Ataktischer Gang . . . . . . . . . . . . 446 des Kindes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464
27.2.6 Brachybasie . . . . . . . . . . . . . . . . . 448 28.4.3 Kindliche Sprachstörungen . . . 465
27.2.7 Paretischer Gang . . . . . . . . . . . . 448 28.5 Besonderheiten bei älteren Menschen . 467
27.2.8 Zerebraler Gang . . . . . . . . . . . . . 448 Marion Weichler-Oelschlägel
27.2.9 Apraktischer Gang . . . . . . . . . . . 448 28.6 Fallstudien und mögliche Pflegediag-
27.2.10 Abasie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448 nosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468
27.3 Ergänzende Beobachtungskriterien . . . . 448
27.4 Besonderheiten bei Kindern . . . . . . . . . . 449 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472
Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm
27.4.1 Physiologie des Gehens . . . . . . . 449 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . 498
27.4.2 Gehstörungen . . . . . . . . . . . . . . 449
Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 500

XIV
KaelDesu

I Grundlagen der
Wahrnehmung und
Beobachtung in der
Pflege

II Beobachtung des gesunden


und kranken Menschen
KaelDesu
KaelDesu

I Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung


in der Pflege

Übersicht
1 Wahrnehmung · 4
2 Beobachtung · 33
3 Datenerhebung im pflegerischen
Alltag · 47
4 Informationsweitergabe · 51

Der detaillierten und umfassenden Beobachtung von pflegebedürftigen Menschen kommt


im Rahmen pflegerischen Handelns eine fundamentale Bedeutung zu. Die durch Wahr-
nehmung und Beobachtung gewonnenen Daten sind der Ausgangspunkt für jegliches
pflegerisches Handeln: Sie bilden sowohl die Basis für die Formulierung der Pflegeprob-
leme und der Ressourcen eines Menschen als auch für das Festlegen individueller Pflege-
ziele und die Evaluation pflegerischer Interventionen. Wahrnehmen und Beobachten sind
prozesshafte Vorgänge, welche einer Reihe von Einflussfaktoren unterliegen, die die Wahr-
nehmungs- und Beobachtungsergebnisse verzerren können. Da es in der beruflich aus-
geübten Pflege darüber hinaus zu einem großen Teil um soziale Wahrnehmung und die
Beobachtung von gesunden und kranken Menschen aller Altersstufen geht, ist es für Pfle-
gepersonen von besonderer Bedeutung, diese Einflussfaktoren zu kennen und sich der
Subjektivität ihrer Wahrnehmungs- und Beobachtungsergebnisse bewusst zu sein. Im
Rahmen der Erhebung pflegerelevanter Daten kommt aus diesem Grund der Objektivie-
rung von Daten eine wichtige Rolle zu. Beruflich ausgeübte Pflege findet zudem in der
Regel in einem Pflegeteam statt, bei dem mehrere Pflegepersonen und Angehörige anderer
Berufsgruppen um das Wohl eines Menschen besorgt sind. Eine detaillierte, umfassende
und effiziente Weitergabe von Informationen ist für die Kontinuität der Pflege, das Sicher-
stellen von Qualität und die gesetzlich geforderte Dokumentation der pflegerischen
Leistungen unerlässlich.
In den vier Kapiteln des ersten Abschnitts werden grundsätzliche Überlegungen zum
Wahrnehmungs- und Beobachtungsprozess sowie deren Einflussfaktoren angestellt.
Weiter wird auf die Methoden der Datenerhebung und auf Instrumente und Stellenwert
der Informationsweitergabe in der Pflege eingegangen.

BAND 2 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege 3


KaelDesu

1 Wahrnehmung
1
Eva Eißing

Übersicht
Einleitung · 4
1.1 Wahrnehmungsprozess · 5
1.2 Grundlagen der Wahrnehmung · 6
1.2.1 Entwicklung der Wahrnehmung · 6
1.2.2 Physiologische Grundlagen der
Wahrnehmung · 7
1.2.3 Psychologische Grundlagen
der Wahrnehmung · 18
1.3 Beeinflussende Faktoren bei
der Wahrnehmung · 19
1.3.1 Physische Einflussfaktoren · 19
1.3.2 Psychische Einflussfaktoren · 25
mungen zu vorschnellen und falschen Urteilen über
1.3.3 Soziale Wahrnehmung · 28
andere Menschen führen können. Ein Beruf wie die
1.4 Wahrnehmung und Wirklichkeit · 31
Pflege, in dem soziale Beziehungen nicht nur im the-
Fazit · 31
rapeutischen Team, sondern auch und vor allem zwi-
Literatur · 32
schen Pflegepersonen und den ihnen anvertrauten
Menschen eine zentrale Bedeutung haben, verlangt
Schlüsselbegriffe:
eine professionelle Einstellung zum menschlichen
왘 Wahrnehmung Miteinander. Zur Ausübung der Pflege ist der be-
왘 Wahrnehmungsprozess wusste Umgang mit der eigenen Wahrnehmung und
왘 Soziale Wahrnehmung der Wahrnehmung anderer Menschen unerlässlich.
Hierzu sind Kenntnisse über die verschiedenen
Wahrnehmungsvorgänge sowie die unterschiedli-
chen Einflussfaktoren notwendig.
Einleitung Die Wahrnehmung dessen, was um uns herum
passiert, geschieht selbstverständlich und automa-
Die Wahrnehmung von Reizen über die Sinne ist ein tisch. Sehen, riechen, schmecken, fühlen, hören – mit
komplexer und prozesshaft ablaufender Vorgang, all diesen Wahrnehmungen erschließt sich der
der sowohl bewusst als auch unbewusst geschieht. Mensch seine Welt. Die vielfältigen Informationen,
Hierbei werden sowohl angenehme als auch unange- die die Sinnesorgane aufnehmen, müssen weiterge-
nehme Reize wahrgenommen und verarbeitet. Sie leitet, aussortiert, verglichen, verknüpft und verar-
erzeugen vielfältige Reaktionen im emotionalen Be- beitet werden, um schließlich mit einer Antwort, z. B.
reich und auf der Handlungsebene und sind eng ver- über Muskeln oder Drüsen, zu reagieren. Dem Kör-
bunden mit dem eigenen Empfinden und Erleben. per und besonders dem Gehirn stehen für diese Leis-
Ohne die Wahrnehmung von Reizen ist weder tungen mehr als 100 Milliarden hochspezialisierte
Wachstum und Entwicklung noch Leben möglich. Nervenzellen zur Verfügung, die zusammen mit den
Somit spielt die Wahrnehmung im menschlichen Le- Sinnesorganen die Verbindung mit der Außenwelt
ben eine zentrale Rolle. Sie unterliegt jedoch einer ermöglichen, ohne die weder Kommunikation noch
Reihe von beeinflussenden Faktoren, die zu Wahr- Orientierung möglich wäre.
nehmungsverzerrungen führen können.
Eine besondere Problematik ergibt sich hieraus
für die Wahrnehmung anderer Personen, die sog. so-
ziale Wahrnehmung, bei der verzerrte Wahrneh-

4 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege BAND 2


KaelDesu
1.1 Wahrnehmungsprozess

!
1.1 Wahrnehmungsprozess Merke: Wahrnehmung ist ein ganzheitli-
ches Geschehen und Erleben. 1
Definition: Die klassische Definition von
Wahrnehmung ist die Aufnahme von Reizen aus
der Umwelt mithilfe der Sinnesorgane. Die vielfältigen Informationen, die unser Gehirn er-
hält, werden verarbeitet und z. T. miteinander ver-
Der Mensch braucht Wahrnehmungen, damit er sich knüpft. Wahrnehmung findet nicht isoliert statt, es
in seiner Umwelt orientieren kann. Die Wahrneh- folgt immer eine Reaktion mit nachfolgender Anpas-
mungsreize sind zunächst unspezifisch, d. h. sie wer- sung. Die Verarbeitung des über die Sinnesorgane
den unsortiert über unsere Sinneszellen zum Gehirn gewonnenen Informationsmaterials wird als Wahr-
weitergeleitet und lösen eine Reaktion aus. nehmungsprozess bezeichnet. Er beinhaltet folgen-
de Schritte (Abb. 1.1):
Definition: Prof. Dr. A. D. Fröhlich (1994), Son- 1. Die Aufnahme eines Reizes erfolgt über Sinnes-
derpädagoge und heilpädagogischer Psycholo- zellen. Die Sinneszellen werden auch Rezeptoren
ge, definiert Wahrnehmung als die sinngebende genannt und befinden sich in den entsprechen-
Verarbeitung von inneren und äußeren Reizen unter den Organen, z. B. Auge, Ohr, Haut oder Darm. Sie
Zuhilfenahme von Erfahrung und Lernen. verfügen jeweils über spezifische Strukturen. Die
Riechzellen in der Nase sind z. B. so geartet, dass
Wahrnehmung ist demzufolge ein zentraler Prozess, sie ganz spezielle (Duft-)Moleküle aus der Ein-
der das Informationsmaterial der Sinnesorgane ver- atemluft aufnehmen können.
arbeitet. Dadurch entsteht für den Menschen Bedeu- 2. Nachdem das Aufnahmeorgan erregt ist, erfolgt
tung. Diese Bedeutung kann unterschiedlich ausfal- die Weiterleitung über Nervenbahnen zu den
len und schließt z. B. soziale, emotionale und andere spezifischen Verarbeitungszentren im Gehirn.
Faktoren ein.

Nase
Zunge
Ohr
Gleichgewichtssinn
Auge
Aufnahme
eines Reizes Weiterleitung
über Nerven

Bewegung

Reaktion Muskeln Lagesinn Gehirn/


(z.B. Zentren
Flucht)

Verbindungen
und
andere Weiterleitungen
Hirn-
zentren

Abb. 1.1 Wahrnehmungsprozess

BAND 2 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege 5


KaelDesu
1 Wahrnehmung

Reize der Riechschleimhaut werden z. B. über den


1 Riechnerv an das Riechzentrum übermittelt. 1.2 Grundlagen der
3. Erreicht der Reiz das Zielorgan, wird er von den Wahrnehmung
Hirnzentren verarbeitet. Die Impulse aus der
Riechschleimhaut werden im Riechzentrum zu- Der ungestörte Ablauf des Wahrnehmungsprozesses
sammengesetzt und wir können einen spezifi- ist an intakte und funktionierende Sinnesorgane und
schen Geruch wahrnehmen. Bei diesem Vorgang -zellen, beteiligte Nerven und Gehirnzentren gebun-
werden die ankommenden Reize gruppiert und den. Die Wahrnehmungen sind komplex und die
mit Mustern verglichen, die bereits in nahe gele- Empfindungen so vielseitig, wie es Menschen gibt.
genen Erinnerungsfeldern des Riechzentrums ab- Sie können sowohl körperlicher oder psychischer Art
gespeichert sind. sein als auch eine Kombination aus beidem darstel-
4. Der Reiz kann auch an andere Zentren des Gehirns len.
weitergeleitet werden, da sie teilweise unterei-
nander verbunden sind. Das Riechzentrum ist z. B. 1.2.1 Entwicklung der Wahrnehmung
mit dem Hirnstamm, dem limbischen System und Lange ging man von der Annahme aus, dass Säuglin-
dem Großhirn verbunden. Erkannte Gerüche ge reine Reflexwesen seien. Das bedeutet, sie kom-
werden über diesen Weg als angenehm, unange- men auf die Welt und sind mit Reflexen ausgestattet,
nehm oder gefährlich bewertet, je nachdem, mit die zum Überleben notwendig sind, wie z. B. dem
welchen Erfahrungen und Erinnerungen der Ge- Saugreflex und dem Umklammerungsreflex. Unter-
ruch in Verbindung gebracht wird. suchungen der frühen Embryonalzeit deuten darauf
5. Es folgen Reaktionen in Form von Empfindungen hin, dass ein Embryo über ein eigenes Wahrneh-
wie Ekel, Angst, Freude, Schweißausbruch. Sie mungssystem verfügt, worüber er mit der Mutter in
verfolgen den Zweck der Anpassung bzw. der Ver- Verbindung steht.
änderung. Die Entwicklung des Wahrnehmungssystems
verläuft stufenförmig. Bis zur 12. Schwangerschafts-
Theoretisch kann jeder Reiz, der auf unsere Sinnesor- woche bildet sich die sensorische Basis. Dazu gehö-
gane trifft, den oben genannten Prozess durchlaufen. ren die vibratorische (Vibrationen), die vestibuläre
In der Praxis erreicht jedoch nur ein Bruchteil sämtli- (Gleichgewicht) und die somatische (Körper) Wahr-
cher auf den Organismus treffenden Reize das Be- nehmung. Die Körperwahrnehmung geschieht über
wusstsein. Bevor sie in die verarbeitenden Zentren die Haut und die inneren Organe.
der Großhirnrinde gelangen, passieren sie den Thala- Abb. 1.2 zeigt die Abfolge der Entwicklung der
mus. Der Thalamus filtert die aktuell benötigten Sinne in aufeinander folgenden Entwicklungsstufen.
Informationen heraus und sperrt den Rest aus der Mit Hilfe des Ultraschalls kann dargestellt wer-
bewussten Verarbeitung aus. Er stellt demnach eine den, wie sich ein Embryo auf Bewegungen der Mut-
wichtige Schaltstelle in unserem Gehirn dar. Diese ter einstellt, indem er versucht, Lageveränderungen
Filterung bewahrt vor einer Reizüberflutung. auszugleichen, was durch den vestibulären Sinn er-
Prinzipiell lässt sich die Wahrnehmung äußerer möglicht wird. Berührung und Druck sind stark an
Reize von der Wahrnehmung innerer Reize abgren- Bewegung gebunden. Der Bewegungsspielraum
zen. Während die äußeren Reize direkt über die Sin- wird im weiteren Verlauf der Schwangerschaft im-
nesrezeptoren in den Körper einströmen, gehen in- mer enger und die Wahrnehmung von Druck und Be-
nere Reize von den Rezeptoren innerer Organe wie rührung intensiver. Sie ist während der Geburt am
z. B. Darm oder Magen aus. höchsten.
Die Hörwahrnehmung wird stark beeinflusst
durch die Bauchdecke und Gebärmutter sowie das
Fruchtwasser, wodurch die Frequenzen ausgefiltert
bzw. ihre Intensität verringert werden. Die Hörquali-
tät ist verändert, da die Frequenzen statt über Luft-
schwingungen über den ganzen Körper das Ohr er-
reichen. Diese werden als auditiv-vibratorische Reize
bezeichnet. Beispiele für sog. Doppelreize sind der

6 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege BAND 2


KaelDesu
1.2 Grundlagen der Wahrnehmung

Abb. 1.2 Entwicklungsstufen der Wahr-


nehmung (modifiziert nach Bienstein/Fröh-
lich)
1
visuell

taktil-haptisch

gustatorisch olfaktorisch
(Geschmack) (Geruch)

oral (senso-motorisch)

audio-vibratorisch audio-rhythmisch

vibratorisch vestibulär Berührung (Haut)

Herzschlag der Mutter oder ihre Darm- und Atemge- Prof. Dr. paed. Andreas Fröhlich hat in den 70er-Jah-
räusche. ren das Konzept der basalen Stimulation entwickelt.
Melodien nimmt das ungeborene Kind als audio- Im Rahmen der Basalen Stimulation姞 werden beson-
rhythmische Schwingungen wahr, für die es ein Ge- ders die früh entwickelten (basalen) Wahrneh-
dächtnis entwickelt. Sobald das Kind geboren ist, er- mungssysteme stimuliert mit gleichzeitiger Förde-
reichen Geräusche über Luftschwingungen das Ohr. rung der Reaktionsfähigkeit. Mithilfe dieses Konzep-
Innerhalb weniger Minuten nach der Geburt stellt tes hat er die Persönlichkeit schwerstbehinderter
sich das Neugeborene auf die veränderte Situation Kinder fördern können. In Zusammenarbeit mit Ch.
ein. Eine Art Gedächtnis wird ebenfalls bereits in der Bienstein wurde die basale Stimulation in pflegeri-
Embryonalzeit für alle anderen Wahrnehmungen sche Bereiche integriert. Sie wird besonders bei
der sensorischen Basis gebildet. Menschen mit Wahrnehmungsstörungen erfolgreich
Der Geruchssinn ist an die Einatmung durch die angewendet (s. a. Bd. 4, Kap. 4).
Nase gebunden. Ein neugeborenes Kind kann bereits
nach ein paar Tagen die Mutter am Geruch erkennen Zusammenfassung:
und die Muttermilch schmecken. Das visuelle Sys- Grundlagen der Wahrnehmung
tem bildet sich innerhalb der ersten Monate aus. Wahrnehmung ist ein prozesshaftes Geschehen.
Nach der Geburt entwickelt sich das Wahrneh- In mehreren Schritten findet die Aufnahme über Re-
mungssystem weiter und überlagert schrittweise die zeptoren, die Weiterleitung über Nervenbahnen und
Basiswahrnehmungen des noch ungeborenen Kin- die Verarbeitung in Hirnzentren von Reizen aus der
des. Da sie aber im sensorischen Gedächtnis gespei- Umwelt mithilfe der Sinnesorgane statt.
chert sind, verlieren sie nie ihre emotionale Bedeu- Im Thalamus wird die Aufnahme von Reizen gefil-
tung. Der Vorgang des Tröstens liefert hierfür ein gu- tert und begrenzt.
tes Beispiel: Die Entwicklung des Wahrnehmungssystems ver-
läuft in Stufen und beginnt bereits im Mutterleib.
Beispiel: Nicht nur Kinder, sondern auch er- Das Konzept der basalen Stimulation (Fröhlich)
wachsene Menschen umarmen sich, so dass wird bei Menschen mit Wahrnehmungsstörungen
sich die Körper berühren (= Hautsinn). Un- erfolgreich angewandt.
terstützend streichen die Hände über den Kopf oder
den Rücken. Beruhigend wirkt außerdem ein Hin- und 1.2.2 Physiologische Grundlagen der
Herwiegen des Körpers (= vestibulärer Sinn). Tröstende Wahrnehmung
Worte werden durch die körperliche Nähe auditiv und Die Wahrnehmung ist an intakte Sinnesorgane und
vibratorisch wahrgenommen. Nerven gebunden.

BAND 2 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege 7


KaelDesu
1 Wahrnehmung

In der traditionellen Vorstellung wird mit 5 Sin- Die einzelnen Sinne werden unterschieden in
1 nesorganen wahrgenommen: Auge, Ohr, Nase, Zun- Nahsinne und Fernsinne.
ge, Haut. Heute ist bekannt, dass Rezeptoren in Mus- Die Nahsinne vermitteln dem Körper Informatio-
keln und Gelenken sowie in inneren Organen eben- nen aus dem eigenen Körper, der Eigenwahrneh-
falls Reize aufnehmen und weiterleiten (Tab. 1.1). mung. Sie werden auch als propriozeptive Rezep-
Die einzelnen Sinneserregungen werden in den toren bezeichnet. Hierzu gehören die Rezeptoren der
spezifischen Hirnarealen verarbeitet und mit ande- Muskeln, Sehnen, Gelenke, des Gleichgewichtsorga-
ren Hirnzentren derart verknüpft, dass die vielen nes und einige Hautrezeptoren.
Einzelwahrnehmungen wie zu einem Mosaik zu-
sammengesetzt werden und eine Gesamtempfin-
dung erlebbar wird. Man spricht daher auch von ei-
nem Wahrnehmungssystem.

Tab. 1.1 Wahrnehmungsmöglichkeiten

Wahrnehmungsmöglichkeit Organ und Rezeptor Funktion und Wirkung

1. Sehsinn: visuelles System Auge: Fotorezeptoren 쐌 Raumorientierung und Sicherheit


쐌 Mitwirkung am Bewegungssinn
쐌 positive und negative visuelle Erlebnisse

2. Hörsinn: auditives System Ohr: akustische Sensoren in Form von 쐌 Raum- und Richtungsorientierung
Haarzellen 쐌 Gefahrerkennung
쐌 positive und negative Hörerlebnisse

3. Gleichgewichtssinn: vestibuläres Gleichgewichtsorgan: vestibuläre 쐌 Raum- und Richtungsorientierung


System Sensoren in Form von Haarzellen 쐌 Mitwirkung an der Bewegungswahrnehmung

4. Geruchssinn: olfaktorisches System Riechschleimhaut der Nase: olfaktori- 쐌 Kontrolle der Einatemluft
sche Sensoren in Form von Zilien 쐌 Schutz und Orientierung
(fadenförmige Ausläufer) 쐌 positive und negative Geruchs-
empfindungen

5. Geschmackssinn: gustatorisches Zunge: Chemorezeptoren der 쐌 Kontrolle der Nahrung


System Geschmacksknospen auf der Zunge 쐌 Schutz und Orientierung
쐌 positive und negative Geschmacks-
empfindungen

6. Berührungssinn: haptisch-taktiles Haut: a. Druck und Vibrationen: Orientierung u. Körper-


System a. Mechanorezeptoren eigenwahrnehmung
b. Nozizeptoren b. Schmerzregistrierung: Schutz,
c. Thermorezeptoren Vorbereitung zur Flucht
c. Temperaturwahrnehmung Wärme und Kälte:
Schutz, Orientierung, positive und negative
Empfindungen

7. Muskel- und Gelenksinn: kinästheti- Muskeln, Sehnen und Gelenke: a. Körpereigenwahrnehmung, Beteiligung am
sches System a. Propriozeptoren Gleichgewichtssinn und Bewegungssinn,
b. Nozizeptoren Tonusregulation
b. Schmerzwahrnehmung: Schutz, Flucht

8. Bewegungssinn: kinästhetisches Gleichgewichtsorgan, Muskeln, Sehnen, 쐌 Wahrnehmung von Beschleunigung


System Gelenke und Augen sowie deren Rezep- 쐌 Orientierung und Abschätzungsmöglichkeiten
toren (s. o.) bei Bewegung
쐌 Tonusausgleich
쐌 positive und negative Empfindungen durch
Beschleunigung

9. innerer Organsinn: viszerales System Organe des Brust- und Bauchraumes: 쐌 vegetative Regulation der Organfunktionen
Viszerozeptoren, Nozizeptoren

8 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege BAND 2


KaelDesu
1.2 Grundlagen der Wahrnehmung

Die Wahrnehmung der inneren Organe wird als führen zu Einschränkungen der Blickwinkeleinstel-
viszerale Wahrnehmung bezeichnet, die entspre- lungen und demzufolge zu einem veränderten Seh- 1
chenden Rezeptoren als Viszerozeptoren. eindruck.
Exterozeptive Rezeptoren übermitteln sogenann- Das Auge selbst ist aufgebaut wie eine Kamera.
te Fern- oder Umweltreize wie schmecken, riechen, Durch die Pupille treten Lichtstrahlen in das Auge
hören, sehen, tasten und spüren durch Berührung. und werden von der Linse gebündelt und auf die
Durch sie ist der Mensch unmittelbar mit der Um- Netzhaut (Retina) am hinteren Augapfel gelenkt, die
welt verbunden. die lichtempfindlichen Fotorezeptoren in der Gestalt
90% aller Informationen erreichen über Auge und von Stäbchen und Zapfen enthält. Von der Netzhaut
Ohren das Gehirn, und die restlichen über die ande- gelangen die Impulse über den Sehnerv ins Gehirn,
ren Wahrnehmungskanäle. genauer zum Sehzentrum. Vorher wechseln jeweils
Augen und Ohren sind demnach die wichtigsten die Hälfte der Sehnervenfasern eines jeden Auges auf
Schnittstellen zwischen Außen- und Innenwelt. die gegenüberliegende Seite. Im Sehzentrum werden
Für Pflegende hat diese Erkenntnis eine zentrale die Einzelimpulse verarbeitet und zu einem (Ab-)-
Bedeutung in der Wahrnehmung und Beobachtung Bild zusammengesetzt.
des Menschen. Auf Intensivstationen werden diese Durch das Sehen mit beiden Augen wird der zu
Wahrnehmungen durch Elektroden ersetzt und die sehende Gegenstand aus 2 leicht unterschiedlichen
Ergebnisse auf Monitoren sichtbar gemacht. Diese Blickwinkeln wahrgenommen; in Kombination mit
Form der Patientenüberwachung, auch Monitoring der Sehnervenkreuzung ist das Gehirn in der Lage,
genannt, hat seine Stellung in der modernen Medizin ein dreidimensionales Bild zu konstruieren. Ist das
etablieren können, ist aber für die Gesamteinschät- Sehfeld verändert, leidet das räumliche Einschät-
zung der Patientensituation nicht ausreichend. Statt- zungsvermögen. Betroffene greifen z. B. an Gegen-
dessen ist die Nutzung mehrerer Wahrnehmungska- ständen vorbei.
näle notwendig, z. B. zusätzlich der Hör-, Geruchs- Für die Wahrnehmung einer Gestalt genügen
und Tastsinn. Es genügt nicht, die Fieberhöhe ledig- dem Gehirn allerdings einige wenige Konturen, auch
lich anhand des Fieberthermometers zu ermitteln. Schlüsselkonturen genannt. Das Gehirn fügt den
Vielmehr muss auch die rote Hautfarbe gesehen, die größten Teil aus der Erfahrung und Fantasie hinzu.
heiße, evtl. schweißige Haut gefühlt, eine beschleu- Werden Schlüsselkonturen isoliert angeboten, er-
nigte Atmung gehört und eine gesteigerte Pulsfre- gänzt das Gehirn die fehlende Struktur. Auf diese Art
quenz getastet werden. entstehen optische Täuschungen. Abb. 1.3 zeigt die
Ähnlich verhält es sich bei der Atembeobachtung. „Müller-Lyer-Täuschung“, die darauf beruht, dass ge-
Hier reicht es nicht aus, die Atemfrequenz exakt mit-
tels Elektroden aufzunehmen und am Monitor anzu-
zeigen. Erst in Kombination mit der Wahrnehmung
von Atemgeräuschen und Atemgerüchen wird die
Atembeobachtung sinnvoll.

!
Merke: Für die Pflegekraft ist die Kenntnis
von Anatomie und Physiologie der Sinnesor-
gane wichtig, um Wahrnehmungsverluste
bei Menschen gezielt einschätzen zu können.

a b c
Sehsinn (visueller Sinn)
Das Auge liegt in der Augenhöhle und ist zusammen Abb. 1.3 Wahrnehmungstäuschung: Müller-Lyer-Täuschung.
mit dem Augenlid vor schädlichen Einwirkungen Gerade Linien mit konvexen Kanten (a) erscheinen trotz gleicher
Länge kürzer als solche mit konkaven Kanten (b). Die Ursache liegt
und Austrocknung geschützt. Insgesamt 6 Augen-
darin, dass ein rechter Winkel in geringer Entfernung eine konkave
muskeln ermöglichen dem Augapfel Bewegungen in Perspektive annimmt, in größerer Entfernung manchmal aber
allen 3 Raumachsen. Lähmungen der Augenmuskeln konvex erscheint (c)

BAND 2 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege 9


KaelDesu
1 Wahrnehmung

ge hineinragen, nehmen die Schwingungen auf und


1 leiten die Impulse zum großen Teil über den Hör-
Gleichgewichtsnerv (N. vestibulo-cochlearis) zum
Hörzentrum ins Gehirn.
Wie alle anderen Reize auch, werden die akusti-
schen Reize filtriert, sortiert und zu einer Hörganz-
Ente oder Kaninchen? heit organisiert. Auf diese Art ist es auch möglich,
sich auf bestimmte Hörreize zu konzentrieren und
Abb. 1.4 Wahrnehmungstäuschung: Ente oder Kaninchen? andere auszuschalten.

Beispiel: Ein Mensch, der lange an einer


Abb. 1.5 Wahrnehmungs-
täuschung: junge oder alte Hauptstraße wohnt, hört den Autoverkehr
Frau? nicht mehr. Auf einer geräuschvollen und
lauten Party ist durch Konzentration auf den Ge-
sprächspartner trotz vieler Stimmen im Hintergrund
ein Gespräch möglich.

Das Ohr nimmt Geräusche und Töne in Form von


Schallwellen oder Schwingungen auf. Die Anzahl der
Schwingungen wird in Hertz (Hz) gemessen. Men-
schen können Schwingungen zwischen 20 und
17 000 Hertz wahrnehmen. Während im jugendli-
chen Alter der wahrnehmbare Frequenzumfang noch
sehr groß ist, lässt die Sensibilität mit zunehmendem
rade Linien mit konvexen Kanten länger wirken als Alter nach.
gerade Linien mit konkaven Kanten. Optische Täu- Im Gegensatz zum räumlichen Sehen, das sich auf
schungen stellen demnach Fehlinterpretationen im das Gesichtsfeld beschränkt, ist die akustische
Wahrnehmungssystem dar (s. a. Abb. 1.4 und 1.5). Raumwahrnehmung zu jedem Zeitpunkt aus allen
Der Eindruck von visueller Bewegung entsteht Richtungen möglich. Die Schallwellen werden mit
durch Verschiebung der Bildlage auf der Netzhaut. Er beiden Ohren aufgefangen; sie haben dabei z. T. un-
wird in der Literatur als Bewegungswahrnehmung terschiedlich lange Wege zurückzulegen, was zu
bezeichnet, steht aber in Abgrenzung zur kinästheti- Zeitunterschieden führt.
schen (= Bewegungs-)Wahrnehmung, in welcher der
Körper Bewegung erfährt. Beispiel: Die Schallwelle erreicht das der
Schallquelle zugewandte Ohr früher als das
Hörsinn (auditive Wahrnehmung) andere Ohr.
Schallwellen werden durch die Ohrmuschel aufge-
fangen und durch den äußeren Gehörgang über das Durch den Zeitunterschied ändert sich zudem die
Trommelfell zum Mittelohr geleitet. Im Mittelohr Schallamplitude und damit die Lautstärke. Sowohl
verstärken 3 fein aufeinander abgestimmte und ge- die Zeit- als auch die Amplitudendifferenz sind zwar
lenkig miteinander verbundene Gehörknöchelchen ganz geringfügig, tragen jedoch entscheidend zur Lo-
(Hammer, Amboss und Steigbügel) die Schallwellen kalisation der Schallquelle und somit zur auditiven
und lenken sie zum Hörorgan ins Innenohr. Raumwahrnehmung und -orientierung bei.
Das Hörorgan wird aus der Schnecke gebildet und
besteht aus 3 mit einer lymphähnlichen Flüssigkeit Zusammenfassung:
gefüllten Gängen. Schwingungen lösen wellenartige Visuelle und auditive Wahrnehmung
Bewegungen innerhalb der Flüssigkeit aus, die je 90% aller Informationen erreichen über Auge und
nach Schwingungsgröße unterschiedliche Regionen Ohr das Gehirn.
des Schneckenganges erreichen. Akustische Senso- Zur Patientenüberwachung ist neben dem Sehsinn
ren in Form von Haarzellen, die in die Schneckengän- auch die Nutzung von Hör-, Geruchs- und Tastsinn
notwendig.

10 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege BAND 2


KaelDesu
1.2 Grundlagen der Wahrnehmung

Für die visuelle Wahrnehmung genügen Schlüssel- nehme und/oder angenehme Gefühle aus. Menschen
konturen, der Rest wird vom Gehirn aus Erfahrung mit einem „unangenehmen“ Körpergeruch werden 1
und Fantasie hinzugefügt. deshalb häufig bereits von Anfang an als unsympa-
Akustische Reize werden wie alle anderen Reize fil- thisch eingestuft, während Menschen, die gut rie-
triert. Im Gegensatz zum räumlichen Sehen ist die chen, als sympathisch empfunden werden. Die ge-
akustische Raumwahrnehmung jedoch zu jedem samte Industrie, die mit Pflegemitteln und Duftstof-
Zeitpunkt aus allen Richtungen möglich. fen zu tun hat, hat sich auf dieses Phänomen einge-
stellt. Interessanterweise wird beim Kauf einer Haut-
Gleichgewichtssinn (vestibuläre Wahrnehmung) creme oftmals zuerst der Geruch und danach die
Das Gleichgewichtsorgan befindet sich in unmittel- Wirkung beurteilt.
barer Nachbarschaft zur Schnecke im Innenohr und Neuesten Untersuchungen zufolge ist der Mensch
besteht aus 3 senkrecht zueinander, also in 3 Dimen- in der Lage, mehr als 1 Billion Duftreize zu unter-
sionen, stehenden Bogengängen. Innerhalb der Bo- scheiden. Da es für die unterschiedlichen Geruchs-
gengänge befinden sich, wie in den Gängen der qualitäten kein eigenes, differenziertes Begriffssys-
Schnecke, eine lymphartige Flüssigkeit und Haarzel- tem gibt, ist deren Unterscheidung schwierig. John
len. Durch Bewegungen des Kopfes wird die Flüssig- Earnest Amoore hat die Duftstoffe in ein Schema mit
keit in den 3 Bogengängen ebenfalls bewegt und mit sieben typischen Grundgerüchen eingeordnet, von
ihr die Haarzellen. Diese leiten die Impulse über den denen sich die vielen anderen ableiten lassen: blu-
Gleichgewichtsnerv (N. vestibulo-cochlearis) zum mig, faulig, ätherisch, moschusartig, schweißig,
Gehirn. kampferartig und stechig. Die meisten Gerüche ent-
Aus der Stellung der Härchen in den Bogengängen stehen aus Duftgemischen (Bushdid et al. 2014).
errechnet das Gehirn die Richtung, die Stärke der Der Geruchssinn zeigt, im Gegensatz zu den ande-
Drehbewegung und die Stellung des Kopfes. Gleich- ren Sinnen, eine sehr hohe Anpassung (Adaption).
zeitig erhält das Gehirn Informationen aus den Mus- Der Mensch gewöhnt sich an einen bestimmten Ge-
kel- und Gelenkrezeptoren und schließt sie in die Be- ruch und nimmt ihn bereits nach kurzer Zeit der Ein-
rechnung ein. Auf diese Art entsteht eine ziemlich wirkung nicht mehr oder stark abgeschwächt wahr.
genaue Lageempfindung. Dies erklärt beispielsweise, warum beim Betreten ei-
nes ungelüfteten Zimmers zuerst ein unangenehmer

!
Merke: Das Zusammenspiel aus vestibulä- Geruch wahrgenommen wird, der nach einiger Zeit
rem, visuellem und auditivem Sinn ermög- verschwindet, obwohl noch nicht gelüftet worden ist.
licht eine relativ genaue Orientierung inner- Gerüche besitzen einen sehr hohen Wiedererken-
halb eines Raumes. nungswert, da sie mit Erlebnissen und Erfahrungen
in Verbindung gebracht werden. Zum Beispiel stellen
Geruchssinn (olfaktorische Wahrnehmung) sich Menschen beim Riechen von Sagrotan oder For-
Im oberen Teil der Nasenhöhle ist die Nasenschleim- malin Bilder vor wie sterile Räume, Krankenhaus,
haut mit einem speziellen Riechepithel ausgestattet Krankheit und Leiden. Lebkuchengewürz dagegen
(Regio olfactoria). Die Nervenzellen besitzen faden- erinnert an die Weihnachtszeit und Oregano an Pizza
förmige Ausläufer (Zilien), die in die Schleimhaut ra- und Urlaub. Dieser Effekt sollte in der Pflege berück-
gen. Sämtliche Geruchsstoffe werden durch den sichtigt werden.
Schleim gelöst und erregen die Sinneszellen. Die Bei wahrnehmungsgestörten Menschen können
Weiterleitung der Reize geschieht über Nervenbah- z. B. bekannte, vertraute Gerüche als Erinnerungs-
nen direkt zum Riechkolben (Bulbus olfactorius). auslöser benutzt werden, um auf diese Art die Orien-
Dort erfolgt eine Umschaltung auf den eigentlichen tierung zu fördern. Aber auch bei allen anderen Men-
Riechnerv (N. olfactorius). schen sind bei der Pflege Geruchsvorlieben zu beach-
Der Riechnerv zieht in weitere Teile der Großhirn- ten, z. B. durch Benutzen eigener Pflegemittel und
rinde und zu weiteren Hirnnervenkernen. Dazu ge- Duftartikel.
hören u. a. der Hypothalamus und die Nervenkerne Der Geruchssinn wird teilweise vom Geschmack
des limbischen Systems. Diese Verbindungen und überlagert, da Gerüche durch Diffusion über die
Verknüpfungen erklären die emotionale Bedeutung Mundschleimhaut des Rachens zum Riechepithel ge-
des Geruchs. Gerüche lösen unwillkürlich unange- langen können.

BAND 2 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege 11


KaelDesu
1 Wahrnehmung

Geschmackssinn (gustatorische Wahrnehmung) Die Haut ist besonders empfindlich für mechani-
1 Beim Menschen begrenzen sich die Geschmack- sche Reize. Bereits das Bewegen eines Haares kann
sempfindungen auf 6 verschiedene Geschmacksqua- eine deutliche Empfindung auslösen. Verantwortlich
litäten: süß, sauer, bitter, salzig, umami (fleischig) für Empfindungen sind Rezeptoren unterschiedli-
und fett. Jede diese Geschmacksqualitäten wird cher Typen, die sich überall in der Haut befinden und
durch bestimmte chemische Moleküle ausgelöst. auf Druck, Berührung, Vibration, Wärme, Kälte und
Viele Geschmacksreize der Nahrung bewirken eine Schmerz reagieren.
Mischempfindung. Eine Pampelmuse schmeckt z. B.: Diese Impulse werden über Nervenbahnen zum
süß-sauer-bitter. Rückenmark und von dort zur sensorischen Rinde im
Die Wahrnehmungsrezeptoren für den Ge- Großhirn geleitet. Die sensorische Rinde, auch hinte-
schmack sind die Geschmacksknospen (Caliculi gu- re Zentralwindung (Gyrus postcentralis) genannt,
statori) der Zunge (s. a. Abb. 6.3). Ihre Reize erreichen empfängt alle Signale aus der Peripherie und einigen
das Gehirn über 3 Nerven: Organen. Der „sensorische Homunkulus“ skizziert
1. den Fazialisnerv (N. facialis), landkartenartig die Zuordnung der einzelnen Kör-
2. den Zungen-Schlundnerv (N. glossopharyngeus) perteile bzw. -gebiete entlang der sensorischen Rin-
und de (Abb. 1.6). Die einzelnen Körperregionen sind
3. den Vagusnerv (N. vagus). nicht gleichmäßig verteilt und demnach gibt es auch
unterschiedliche Sensibiltitätsverteilungen.
Der Geschmackssinn ist dem Geruchssinn sehr ähn- Je größer das Areal eines Körperteils in der hinte-
lich. Beide Sinne haben u. a. die Aufgabe, chemische ren Hirnwindung präsentiert ist, desto stärker wird
Stoffezuüberprüfen,bevorsieindenKörpergelangen. er von sensiblen Fasern versorgt. Überprüft wird die
Bei der Geschmackswahrnehmung gibt es unter- sensible Versorgung eines Körperteils mit einer
schiedliche Wahrnehmungsschwellen. Bitter schme- Zwei-Punkt-Diskriminationsschwelle. Hierbei wird
ckende Stoffe werden bereits bei sehr niedriger Kon- die Wahrnehmungsfähigkeit zweier unterschiedli-
zentration wahrgenommen. Die Schwellen für Zu- cher Berührungspunkte eines Körperteils gemessen:
cker, Salz und Säure liegen deutlich höher. Die hohe Ein Zirkel sticht leicht gleichzeitig mit beiden Spitzen
Empfindlichkeit gegenüber Bitterstoffen bildet eine in die Haut. Je besser ein Hautareal sensibel versorgt
Schutzwirkung, da diese oft giftig sind und in höhe- ist, desto mehr Rezeptoren besitzt es und desto enger
rer Konzentration leicht Brech- und Würgereflexe kann der Zirkel gestellt sein, damit die beiden Piek-
auslösen. punkte als 2 Reize wahrgenommen werden.
Ähnlich wie beim Geruchssinn kommt es bei Die größte Sensibilität weisen Finger und Lippen
langandauernden Reizen zur Abnahme der Empfin- auf. Hier werden bereits Abstände von weniger als
dungsstärke. Das bedeutet, dass sich auch der Ge- 5 mm als 2 verschiedene Punkte unterschieden,
schmackssinn anpasst wie z. B. bei der Gewöhnung während im Bereich der Waden ein Abstand bis zu
an bestimmte Gewürze. 45 mm noch als eine Berührung empfunden wird.
Der Hautsinn betrifft die Oberfläche und wird
Hautsinn demnach auch als Oberflächensensibilität bezeich-
Die Haut grenzt den menschlichen Körper von seiner net im Gegensatz zu den Muskeln, Gelenken und Or-
Umwelt ab. Berührungen der Haut sind für die meis- ganen, die der Tiefensensibilität zugeordnet werden.
ten Menschen ein intensives Erlebnis. Als sinnliche Entsprechend der unterschiedlichen Rezeptoren-
Erfahrungen können sie beruhigend, entspannend, typen gibt es unterschiedliche Wahrnehmungsquali-
erotisch anregend, aber auch unangenehm und ab- täten, die zusammen ein System von Hautsinnen bil-
stoßend sein. den. Daraus ergeben sich die folgenden Wahrneh-
Berührung ist eine Möglichkeit der Kontaktauf- mungen:
nahme. Bei der Pflege von schwer kranken Menschen Haptisch-taktile Wahrnehmung,
kommt es immer wieder, z. B. während der Ganz- Temperaturwahrnehmung: Kälte- und Wärme-
körperwaschung, bei Einreibungen und häufig auch sinn,
anstelle von verbaler Kommunikation zu Hautberüh- Schmerzwahrnehmung.
rungen (s. a. Bd. 3, Kap. 3; Bd. 4, Kap. 4).

12 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege BAND 2


KaelDesu
1.2 Grundlagen der Wahrnehmung

Abb. 1.6 Sensorische Rinde – sensori-


scher Homunkulus
1

Kopf
Hals
Arm

Fuß ein
e
Hüft
Ha d

B
Han ger
nd
Fin

gel

f
Rump
enk

le
Da

ta
u
Au me

ni
Ge
Na ge n
s
Ge e
sich
t
Lipp
en

Kiefer und Zähne

Zunge

Pharynx e
eid
gew
Ein

Haptisch-taktile Wahrnehmung 4. Vater-Pacini-Körperchen reagieren nur auf sich


Haptisch-taktil bedeutet greifbar, den Tastsinn be- schnell ändernde Reize wie Vibrationen. Sie be-
treffend. finden sich in der Unterhaut, aber auch in Mus-
Für das Tasten und Fühlen sind 4 verschiedene keln, Sehnen und Gelenken.
Mechanorezeptoren verantwortlich, die sich in den
verschiedenen Hautschichten befinden und jeweils Haarwurzeln sind spiralförmig von Nervengeflech-
nach ihrem Entdecker benannt sind: ten umgeben, die durch Haarbewegungen mecha-
1. Die Merkel-Zellen reagieren langsam auf mecha- nisch gereizt werden. Schwache Reizung führt zu ei-
nische Verformung der Haut und messen die ein- ner Berührungsempfindung, während stärkere Rei-
wirkende Druckstärke. zungen die Vater-Pacini-Körperchen miterregen und
2. Die Meissner-Körperchen sprechen rasch auf somit Druck- und Vibrationswahrnehmungen auslö-
Druckveränderungen an. Als sog. Berührungsre- sen.
zeptoren sind sie besonders zahlreich an den Fin- Mit den Mechanorezeptoren ist der Mensch in der
gerspitzen, Hand- und Fußsohlen, Lippen und äu- Lage, sich einen Teil der Umwelt zu ertasten. Die
ßeren Genitalien vorhanden. Wahrnehmung wird erst vollständig durch die be-
3. Ruffini-Kolben „antworten“ wiederum langsam wusste Zuordnung und Interpretation. Die sensori-
auf Druck- und Dehnungsreize und vermitteln sche Wahrnehmungsleistung wird ausgedehnt und
z. B. Richtung und Stärke von Scherkräften zwi- verglichen mit Informationen, die im Gedächtnis ge-
schen Oberhaut und Unterhaut. Scherkräfte ent- speichert sind. Ein im Dunkeln ertastetes Treppenge-
stehen typischerweise bei bettlägerigen Men- länder kann deshalb als solches erkannt werden.
schen, wenn sie im Bett bei hochgestelltem Kopf-
teil in Richtung Fußende „rutschen“. Ruffini-Kol- Beispiel: Ein blinder Mensch, der nie zuvor
ben befinden sich u. a. in der Haut und in den Ge- Kontakt mit einer Schnabeltasse hatte, kann
lenken. diese als Trinkgefäß durch Tasten allein nicht
sofort einordnen. Dazu bedarf es erst einmal der Trink-
erfahrung.

BAND 2 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege 13


KaelDesu
1 Wahrnehmung

Zusammenfassung: Der Temperaturbereich, in dem eine vollständige


1 Olfaktorische, gustatorische und haptisch- Adaption der Temperaturempfindung stattfindet,
taktile Wahrnehmung wird als die Zone der Indifferenztemperatur bezeich-
Durch Geruchsstoffe erregte Reize werden über den net.
Riechnerv zum Hypothalamus und zu Nervenker- Sie liegt zwischen 33 und 35 ⬚C beim unbekleideten
nen des limbischen Systems geleitet. Dadurch er- Menschen. Oberhalb oder unterhalb dieser Tempe-
klärt sich die emotionale Bedeutung des Geruchs. ratur kommt es zu dauernder Wärme- bzw. Kälte-
Gerüche besitzen einen hohen Wiedererkennungs- empfindung.
wert, der Geruchssinn unterliegt einem starken Ge-
wöhnungseffekt. Schmerzwahrnehmung
Bei der Geschmackswahrnehmung gibt es unter- Schmerzrezeptoren werden auch als Nozizeptoren
schiedliche Qualitäten und Schwellen. bezeichnet und befinden sich überall in der Haut und
Die Haut ist besonders empfindlich für mechanische in Körperorganen.
Reize. Nach unterschiedlichen Rezeptorentypen Ihre Erregungen sind lebensnotwendig, wenn
wird haptisch-taktile Wahrnehmung, Temperatur- auch unangenehm. Der Mensch würde sterben, wür-
und Schmerzwahrnehmung unterschieden. de er nicht durch Schmerz vor schädigenden Einflüs-
Die Wahrnehmung durch Mechanorezeptoren muss sen wie z. B. Hitze, Kälte, Verletzungen usw. gewarnt.
durch im Gedächtnis gespeicherte Informationen Die Schmerzrezeptoren nehmen ebenfalls Juck- und
vervollständigt werden. Kitzelreize auf. Ab einer gewissen Intensität können
auch Mechanorezeptoren Schmerzempfindungen
Temperaturwahrnehmung: Kälte- und auslösen. Auch extreme Geräusche werden nicht
Wärmesinn mehr als laut oder sehr helle Lichtreize nicht mehr
In der Haut konnten bisher keine spezifischen Kälte- als hell, sondern als schmerzhaft wahrgenommen.
bzw. Wärmerezeptoren ausfindig gemacht werden. Die Schmerzrezeptoren bestehen wie die Ther-
Es sind lediglich freie Nervenendigungen, die auf morezeptoren aus freien Nervenendigungen und
Kälte- oder Wärmereize zwischen 10 ⬚C und 45 ⬚C reagieren auf chemische Stoffe, die bei Gewebeschä-
reagieren. Ober- und unterhalb dieser Temperatur- digungen oder Störungen im Gewebestoffwechsel
werte werden Schmerzrezeptoren stimuliert. Extre- entstehen, wie z. B. das Histamin. Der Schmerz ent-
me Kälte-, aber auch extreme Wärmeeinwirkung lö- steht durch Ausschüttung von Neuropeptiden, be-
sen ähnliche Schmerzempfindungen aus und sind sonders der Substanz P und Prostaglandin. Sie stei-
deshalb schlecht zu unterscheiden. gern die Empfindlichkeit der Nozizeptoren. Im Ge-
Wärme- und Kälterezeptoren sind in der Haut un- hirn gibt es daneben Neuropeptide, die die Schmerz-
terschiedlich verteilt und treten insbesondere im weiterleitung hemmen, wie z. B. das Endorphin oder
Mund- und Nasenbereich zahlreich auf. Die Hand be- das Serotonin. Diese Substanzen werden ausge-
sitzt zwar ebenfalls vermehrt Thermosensoren; die schüttet, damit lebensnotwendige Handlungen nicht
Temperaturwahrnehmung wird dort aber vom Tast- auf Grund des Schmerzes unterbrochen werden, wie
sinn überlagert und eignet sich deshalb zur Überprü- z. B. der Fluchtreflex oder das Wegziehen des Fußes
fung von Temperaturen weniger gut. Meist wird die beim Tritt auf eine Glasscherbe.
Badewassertemperatur durch den Handrücken oder Die Schmerzwahrnehmung der Haut, Muskeln,
den Unterarm geprüft. Diese Art der Temperaturein- Sehnen und Gelenke wird als somatischer Schmerz
schätzung kann mitunter gefährlich sein, da die Tem- bezeichnet, der Schmerz in den Organen als viszera-
peraturempfindung sehr wechselhaft ist und zudem ler Schmerz (s. a. S. 380).
schnell adaptiert.
Beeinflusst wird die Temperatur durch die Aus- Wahrnehmung über Muskeln und Gelenke
gangstemperatur der Haut und die Größe des Haut- In den Muskeln, Sehnen und Gelenken befinden sich
bezirks, auf den der Reiz einwirkt. Ein warmes Bad Mechanorezeptoren, auch Propriozeptoren genannt,
von 39 ⬚C wird anfangs noch als heiß und nach ein Thermorezeptoren und Schmerzrezeptoren. Sie wer-
paar Minuten als warm empfunden. den der Tiefensensibilität zugeordnet, da sie im Ge-

14 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege BAND 2


KaelDesu
1.2 Grundlagen der Wahrnehmung

gensatz zur Haut Impulse aus tieferen Körperschich- erforderlich. Während ein neugeborenes Kind sich
ten übermitteln. noch sehr unkoordiniert bewegt, entwickeln sich in 1
den ersten Lebensjahren koordinierte, den Bedürfnis-

!
Merke: Zu den Mechanorezeptoren gehören sen angepasste Bewegungsmuster wie z. B. das auf-
die Muskelspindeln, die Golgi-Sehnenorgane, rechte Gehen und Laufen und zielgerichtetes Greifen.
die Vater-Pacini-Körperchen und die Ruffini- Im Laufe der Entwicklung werden je nach Bedarf
Kolben. und Übung komplexe Bewegungen erlernt wie z. B.
Schreiben, Tanzen, Klavierspielen etc. Die Entwick-
Die zwischen den Muskelfasern liegenden Muskel- lung eines Bewegungsmusters, d. h. wie viel und wel-
spindeln werden bei jeder Dehnung gereizt und in- che Muskeln wie lange und mit welcher Kraft und
formieren das Gehirn über Ausmaß und Geschwin- Ausdehnung an einem Bewegungsablauf beteiligt
digkeit der Muskeldehnung. Die Golgi-Sehnenorga- sind, ist individuell verschieden und von unter-
ne befinden sich zwischen Muskeln und Sehnen, rea- schiedlichen Faktoren abhängig.
gieren ebenfalls auf Dehnungsreize, verhindern al- Bewegungsabläufe laufen wie ein Programm ab
lerdings durch einen speziellen Rückkopplungsme- und werden nicht als Einzelbewegungen, sondern als
chanismus (Feed-back) die Überdehnung von betref- ganzheitlicher Ablauf wahrgenommen, z. B. das Lau-
fenden Muskeln und Sehnen. fen, Atmen, Schreiben usw. Ein Großteil der Motorik
Vater-Pacini-Körperchen nehmen mechanische dient aber nicht der Bewegung, sondern der Haltung
Verformungen in den Gelenken wahr. Dadurch kann und Stellung des Körpers im Raum, was für den unge-
das Gehirn die jeweilige Gelenkstellung errechnen. hinderten Bewegungsablauf unentbehrlich ist. Die
Zusammen mit dem Gleichgewichtsorgan ist die Ori- aufrechte Haltung mit der relativ kleinen Standfläche
entierung im Raum möglich und der Körper weiß, in der Füße ist nur möglich durch ständige Muskelver-
welcher Stellung sich die jeweilige Extremität befin- änderungen (s. a. Bd. 4, Kap. 5).
det. Neben physiologischen Bedingungen sind psy-
Die Wahrnehmung über Muskeln, Sehnen und chische Einflüsse nicht unerheblich an Bewegungs-
Gelenke wird auch als „verborgener sechster Sinn“ abläufen beteiligt. Unterschiede werden besonders
bezeichnet, da mit ihm Bewegungen, Muskeltonus an der Handschrift deutlich, die eine starke individu-
und Haltung der beweglichen Teile unseres Körpers elle Ausprägung aufweist, sowie am Gang, der sich
ständig überwacht und den jeweiligen Umständen durch psychische oder körperliche Erkrankungen
angepasst werden. verändert (s. a. S. 456).
Nur durch diese Eigenwahrnehmung unseres Ohne Bewegung ist keine Bewegungswahrneh-
Körpers ist es möglich, ihn als zu uns gehörig zu erle- mung möglich.
ben. Die Lehre von der Bewegungsempfindung/-wahr-
nehmung wird auch als Kinästhetik bezeichnet und
Bewegungssinn (kinästhetische Wahrnehmung) leitet sich aus dem Wort Kinästhesie ab.
Kinästhetik ist aus verschiedenen Blickwinkeln

!
Merke: Die Bewegung stellt eine grundle-
untersucht und beschrieben worden, und es fließen
gende Voraussetzung für sämtliche mensch-
wichtige Erkenntnisse aus der Verhaltenskybernetik,
liche Funktionen und Interaktionen dar. Jede
der humanistischen Psychologie und aus modernen
Augenbewegung, jede Reaktion des Körpers, jegliches
Tanzformen ein.
Verhalten ist mit Bewegung verbunden.
Die Bewegungsempfindung unterliegt wie alle
anderen Wahrnehmungen auch dem Wahrneh-
Der Bewegungssinn ist die Fähigkeit zur Wahrneh-
mungsprozess. Das Gehirn erhält Signale über Me-
mung von Richtung und Geschwindigkeit von Bewe-
chanorezeptoren der Tiefensensibilität aus Muskeln,
gung.
Sehnen und Gelenken. Die Informationen aus den
Eine Bewegung kommt zustande durch Bewe-
Propriozeptoren, denen des Gleichgewichtsorgans
gungsimpulse von der vorderen Zentralwindung (Gy-
und der visuellen Wahrnehmung werden zusammen
rus präzentralis) zu den einzelnen Muskeln in der Pe-
zu einer einzigen Empfindung gekoppelt und ande-
ripherie. Für die meisten Bewegungen ist ein Zusam-
ren Hirnzentren zur weiteren Verarbeitung zugelei-
menspiel mehrerer Muskeln, sog. Muskelgruppen,
tet, z. B. dem Bewusstsein.

BAND 2 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege 15


KaelDesu
1 Wahrnehmung

Mit dem Bewegungssinn eng verbunden ist die Die „Kinästhetik in der Pflege“ ermöglicht kräfte-
1 Empfindung von Kraft. Der Kraftsinn lässt uns die er- schonendes und rückenschonendes Arbeiten.
forderliche Muskelspannung abschätzen, die not-
wendig ist, einen Widerstand zu überwinden, z. B. Wahrnehmung über innere Organe
das Tragen eines Gewichtes. (viszerale Sensibilität)
Ähnlich wie die Haut, Skelettmuskeln, Sehnen und

!
Merke: Damit Pflegende bewegungsgestörte Gelenke enthalten auch die inneren Organe im Brust-
Menschen mobilisieren können, ist die und Bauchraum Rezeptoren, die Viszerozeptoren.
Wahrnehmung der eigenen Bewegungsab- Die viszerale Sensibilität dient in erster Linie der
läufe wichtig. Homöostase, d. h. dem Gleichgewicht der physiologi-
schen Körperfunktionen.
Werden die eigenen Bewegungen und Bewegungs- Die über die Viszerozeptoren kommenden Infor-
muster erkannt, können sie sinnvoll und ökonomisch mationen werden hauptsächlich über das vegetative
eingesetzt werden, ohne negative Folgen für den ei- Nervensystem geleitet und dazu genutzt, Abwei-
genen Bewegungsapparat, z. B. Rückenschmerzen. chungen von Sollwerten des Körpers zu erkennen
Zudem wird die Wahrnehmungsfähigkeit für gestör- und Gegenmaßnahmen einzuleiten.
te Bewegungsabläufe behinderter Menschen sensi-
bilisiert und somit positiv in den pflegerischen Be- Beispiel: Ein niedriger Blutdruck wird durch
ziehungsprozess eingegriffen. Dehnungsrezeptoren in der Arterienwand
F. Hatch und L. Maietta entwickelten ein kreatives „erkannt“ und die Informationen werden
Handlungskonzept für Pflegende, auf deren Grundla- zum Kreislaufzentrum (vasomotorisches Zentrum) des
ge Interaktionen mit Pflegebedürftigen durch indivi- Gehirns geleitet. Das vasomotorische Zentrum akti-
duelle, der Situation angepasste Bewegung möglich viert den N. sympathicus, der mit einer blutdruckregu-
werden. Dieses Handlungskonzept ist bekannt als lierenden Gegensteuerung reagiert und das physiologi-
„Kinästhetik in der Pflege“ (s. a. Bd. 4, Kap. 3). sche Gleichgewicht wieder herstellt.

!
Merke: Die Anwendung kinästhetischer Die Vorgänge der viszeralen Sensibilität werden
Prinzipien ermöglicht Pflegenden kräftescho- meist gar nicht oder nur zu einem geringen Teil be-
nendes und rückenschonendes Arbeiten. wusst wahrgenommen.
Folgende viszerale Organsysteme werden unter-
Zusammenfassung: schieden:
Temperaturwahrnehmung, Schmerzwahr- Sensoren des Herz-Kreislauf-Systems (kardiovas-
nehmung und Bewegungssinn kuläres System),
Die Zone der Indifferenztemperatur liegt zwischen Sensoren des Lungensystems (pulmonales Sys-
33 und 35⬚. tem),
Temperaturempfindungen können sehr wechsel- Sensoren des Magen-Darm-Systems (gastrointes-
haft sein und schnell adaptieren. tinales System),
Schmerzrezeptoren sind lebensnotwendig, um den Sensoren des Nierensystems (renales System).
Körper vor schädigenden Einflüssen zu schützen.
Die Mechanorezeptoren der Tiefensensibilität, Sensoren des Herz-Kreislauf-Systems
Schmerz- und Thermorezeptoren in Muskeln, Seh- Die Herztätigkeit wird uns nur in extremen Situatio-
nen und Gelenken ermöglichen die Eigenwahrneh- nen bewusst, z. B. bei körperlicher Anstrengung oder
mung des Körpers. bei starker psychischer Anspannung, und zwar in
Ein Großteil der Motorik dient der Haltung, nicht Form von Herzklopfen. Das liegt zum einen an der
der Bewegung des Körpers. Form-, Volumen- und Lageveränderung des Herzens
Die Wahrnehmung eigener Bewegungsabläufe ist im Laufe eines Herzzyklus, zum anderen an der Reiz-
bei der Mobilisation bewegungsgestörter Menschen auslösung anderer Rezeptoren.
wichtig.

16 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege BAND 2


KaelDesu
1.2 Grundlagen der Wahrnehmung

Mit der Herztätigkeit wird beispielsweise der rungsreize nur am Anfang, nämlich im Mundbereich,
Brustkorb mechanisch erschüttert und infolgedes- und am Ende, dem Analkanal, wahrgenommen. Bei 1
sen werden zahlreiche Mechanorezeptoren der Mus- stärkerer Reizung, z. B. durch Aufblasen eines Ballons
keln, Sehnen, Gelenke und Haut aus dem Brustkorb oder Füllen mit Luft, können jedoch Empfindungen
miterregt. Der Herzspitzenstoß kann an der linken im gesamten Magen-Darm-Kanal ausgelöst werden.
Brustwand in Höhe des 5. Zwischenrippenraumes Der Dehnungszustand der Magenwände löst
gefühlt und häufig auch gesehen werden, besonders Hunger-, Sättigungs- oder Völlegefühl aus; eine Deh-
bei Zunahme der Herztätigkeit. nung des Mastdarms verursacht Stuhldrang. Über-
Auch die Pulswelle löst Miterregungen zahlrei- dehnungen und Spasmen werden im gesamten Ma-
cher Mechanorezeptoren in der Peripherie aus, be- gen-Darm-Bereich als typische (Bauch-)Schmerzen
sonders der Vater-Pacini-Körperchen (s. a. S. 15), so- empfunden. Warm- und Kaltempfinden ist lediglich
dass Pulswellen in extremen Situationen ebenfalls in der Speiseröhre und im Analkanal möglich. Im
wahrgenommen werden können. Im Alltag werden Magen kann ein schmerzhaftes Brennen durch
uns die Erregungen nicht bewusst. Erst eine erhöhte bestimmte Reize ausgelöst werden, z. B. durch Alko-
Herztätigkeit und damit ein verbundener erhöhter hol.
Reizzustrom wird als Herzklopfen wahrgenommen. Die an der Verdauung beteiligten Organe Leber,
Gallenblase und Bauchspeicheldrüse werden nur bei
Sensoren des Lungensystems krankhaften Veränderungen wahrgenommen. Die
Die Atembewegungen werden vom Atemzentrum im Leber selbst ist schmerzunempfindlich, kann aber
verlängerten Mark des Gehirns gesteuert. Viszero- ein Druckgefühl hervorrufen infolge starker Vergrö-
zeptoren des Brust- und Bauchraumes sowie Mecha- ßerung und Verdrängung von in der Nähe befindli-
norezeptoren der Atemmuskulatur und des Zwerch- chem Gewebe. Die Bauchspeicheldrüsengang- und
fells melden den Dehnungszustand der Atemmusku- Gallengangmuskulatur enthält Mechano- und Nozi-
latur, Chemorezeptoren den Kohlendioxid- und Sau- zeptoren, die bei Überdehnung, z. B. durch Steine
erstoffgehalt des Blutes. Das Atemzentrum reguliert oder Entzündungen, schmerzhaft reagieren.
entsprechend der Informationen die Impulse für die
Ein- und Ausatmung. Die Atemtätigkeit ist uns, wie Sensoren des Nierensystems
die Herztätigkeit, bei normaler Rhythmik nicht be- Die Urinproduktion in den Nieren und der Transport
wusst, es sei denn, die Aufmerksamkeit wird gezielt durch das harnableitende System in die Harnblase
auf sie gelenkt. Eine willkürliche Beeinflussung des lösen keinerlei Empfinden aus. Dehnungsrezeptoren
Atemablaufs ist begrenzt möglich. in der Blasenwand informieren über den Füllungszu-
Sinkender Sauerstoff- und steigender Kohlendi- stand. Ab einem Füllungszustand von 300 – 400 ml
oxidgehalt des Blutes wird von den Chemorezepto- wird Harndrang ausgelöst. Allerdings kann die
ren registriert und als Luftnot bzw. Lufthunger und Wahrnehmungsschwelle teilweise willkürlich be-
Erstickungsgefühl wahrgenommen. einflusst werden und ist vom Aufmerksamkeitsgrad
Nozizeptoren und Mechanorezeptoren in den abhängig. In extremen Fällen können sogar kleine
Schleimhäuten der Atemwege reagieren auf schädi- Mengen bereits Harndrang auslösen oder erst sehr
gende mechanische und chemische Reize, z. B. große Mengen.
Fremdkörper in der Luftröhre oder giftige Gase, und Stauungen von Urin und Entzündungen lösen ko-
lösen Hustenreflexe aus. likartige Schmerzen aus, wie sie besonders häufig bei
Nierensteinbildung entstehen. Blasenentzündungen
Sensoren des Magen-Darm-Traktes können zu einem dauernden Harndrang führen.
Der Magen-Darm-Kanal gehört zur Körperoberflä-

!
che und ist mit Schleimhaut ausgekleidet. Mechani- Merke: Die Viszerozeptoren der inneren Or-
sche, thermische und chemische Reize werden des- gane dienen dem Gleichgewicht der physio-
halb auch intensiver wahrgenommen als in anderen logischen Körperfunktionen/Homöostase).
inneren Organen. Sie werden uns nur in Extremsituationen bewusst.
Im gesamten Magen-Darm-Kanal befinden sich
Mechanorezeptoren. Allerdings werden Berüh-

BAND 2 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege 17


KaelDesu
1 Wahrnehmung

Selektion bedeutet, dass bestimmte Reize gezielt


1 Die Wahrnehmung ist ein Vorgang, der über ausgeblendet werden, um andere Wahrnehmungs-
verschiedene Wege abläuft. Dies zeigt die inhalte bewusst wahrnehmen zu können. Für unse-
folgende Übersicht: ren Alltag bedeutet die Selektion, dass wir nur das
wahrnehmen, was wir wahrnehmen wollen.
Wahrnehmungswege
Sehsinn,
Beispiel: Pflegekräfte, die auf einer derma-
Hörsinn,
tologischen Station arbeiten, werden ver-
Gleichgewichtssinn,
stärkt Hautveränderungen bei Menschen
Geruchssinn,
Geschmackssinn,
wahrnehmen. Sind sie hingegen in der Psychiatrie ein-
Hautsinn, gesetzt, ist die Wahrnehmung besonders hinsichtlich
Muskeln und Gelenke, Haltung, Gang, Mimik, Sprache und Verhalten sensibi-
Bewegungssinn, lisiert.
innere Organe.
Ergänzung
Der Wahrnehmende fügt seiner tatsächlichen Wahr-
nehmung neue Informationen hinzu. Dies geschieht,
1.2.3 Psychologische Grundlagen der weil ihm die tatsächliche Wahrnehmung zu wenig
Wahrnehmung Informationen liefert, und das Wahrgenomme als
Der Wahrnehmungsprozess beginnt mit dem phy- unvollständiges oder lückenhaftes Element erlebt
siologischen Vorgang der Reizübermittlung zum ver- wird. Diese Lücken werden durch zusätzliche Infor-
arbeitenden Zentrum im Gehirn. Aus den Reizinfor- mationen nach dem Prinzip des Vertrautseins er-
mationen entstehen subjektive Wahrnehmungser- gänzt. Die Informationen stammen aus vertrauten
lebnisse mit entsprechenden Reaktionen. Da der Or- Bildern und Vorstellungen.
ganismus nicht in der Lage ist, alle angebotenen Rei-
ze verarbeiten zu können, greifen neben physiologi- Beispiel: Wenn zur Einschätzung einer Per-
schen auch psychologische Einflüsse in den Wahr- son die Merkmale „Übergewicht“ und „lang-
nehmungsprozess ein. Folgende Mechanismen wer- sam“ nicht ausreichen, sie aber eingeschätzt
den eingesetzt: werden soll, werden u. a. die Eigenschaften „gemütlich“
Selektion, und „geduldig“ ergänzt, um den Menschen ganzheitli-
Ergänzung, cher erleben zu können. Die ergänzenden Eigenschaf-
Organisation und Strukturierung, ten „gemütlich“ und „geduldig“ stellen Rückschlüsse
Interpretation. dar, die nicht stimmen müssen.

Selektion Organisation und Strukturierung


Auf der Ebene der Sinnesangebote besteht ein stän- Die einzeln aufgenommenen Informationen werden
diges Überangebot an sensorischen Informationen. organisiert und strukturiert, damit sie als zusam-
Die beteiligten Organe sind nicht in der Lage diese mengehörig wahrgenommen werden können. Der
Reizflut zu bewältigen und zu verarbeiten. Die Folge Wahrnehmende strebt ein einheitliches Bild an.
ist, dass nicht alles bewusst wahrgenommen werden
kann. Beispiel: Der Reiz „rot“ kennzeichnet noch
Es ist notwendig, dass einige Informationen aus- kein Blut. Erst das Verarbeiten der einzelnen
geblendet werden zugunsten anderer bewusster Reize Farbe, Konsistenz, Menge, Hintergrund,
Wahrnehmungsinhalte. Bei diesem Vorgang der Re- Lokalisation usw. sowie Synthese der Einzelinforma-
duktion und Auswahl der Informationen setzen wir tionen ermöglicht die Wahrnehmung einer Blutung.
gezielt unsere Aufmerksamkeit ein und orientieren Die Bedeutung Lebensgefahr ist an die Interpretation
uns an entsprechenden Notwendigkeiten oder Inte- gebunden (s. u.).
ressen. Das Gehirn kann über das Großhirn zu einem
Teil mitbestimmen, wie viel Reize es zulässt.

18 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege BAND 2


KaelDesu
1.3 Beeinflussende Faktoren bei der Wahrnehmung

Interpretation nehmenden Person samt ihrer Befindlichkeit beein-


Die strukturierten Informationen werden an ver- flusst werden. 1
schiedene Instanzen weitergeleitet und erkannt. Das
Erkennen eines Gegenstandes erfordert nicht nur das 1.3.1 Physische Einflussfaktoren
Sehen oder Fühlen, sondern auch eine Vielzahl von Den physischen Einflussfaktoren der Wahrnehmung
Verknüpfungen im Gehirn, damit die Bedeutung klar liegen physiologische oder pathologische Ursachen
wird. zugrunde.

Beispiel: Das Sehen einer pulsierenden Blu- Physiologisch-physische Einflussfaktoren


tung am Unfallort allein bedeutet noch keine Reize werden über die Sinneszellen in physiologische
Gefahrenerkennung, sondern erst die Ver- Erregungen umgewandelt und durch die Nerven wei-
knüpfung mit dem Bewusstsein und das Wissen der tergeleitet. Die Wahrnehmung ist an gesunde Sinnes-
Folgen, die eine pulsierende (arterielle) Blutung nach organe, das gut funktionierende periphere und zen-
sich ziehen kann. Hierbei spielt die Erfahrung, das Wis- trale Nervensystem gebunden. Da aber die Sinnesor-
sen und das Gedächtnis bzw. Erinnern eine große Rolle. gane ein begrenztes Fassungsvermögen haben, kön-
So bedeutet beispielsweise auch das Sehen einer Kanü- nen nicht alle Reize übermittelt werden. Der Sehnerv
le noch keine Schmerzauslösung. Erst die Verknüpfung kann z. B. nicht mehr als 30 – 50 Reize pro Sekunde
mit der Erinnerung an eine schmerzhafte Injektion löst weiterleiten. Sämtliche Informationen werden vom
Reaktionen aus wie z. B. Angst. Sinnesorgan in einen sog. sensorischen Speicher für
ca. 10 Sekunden „zwischengeleitet“. Werden diese

!
Merke: Selektion, Ergänzung, Organisation Reize nicht weiter verarbeitet, gehen sie verloren.
und Strukturierung sowie Interpretation Daneben ist das Gehirn in der Lage, viele Reize zu
sind psychologische Vorgänge des Wahrneh- gruppieren und zu einer Ganzheit zusammenzuset-
mungsprozesses. zen. Das erfordert Übung für das verarbeitende Sin-
nesorgan. Zunächst werden Wörter aus einzelnen
Zusammenfassung: Buchstaben zusammengesetzt. Nach mehrmaligem
Psycholog. Grundlagen der Wahrnehmung Wiederholen können die (gleichen) Wörter gelesen
Neben physiologischen greifen auch psychologische werden, ohne dass man darüber nachzudenken
Einflüsse in den Wahrnehmungsprozess ein, da der braucht, aus welchen Buchstaben sie bestehen, ob-
Organismus nicht in der Lage ist, alle angebotenen wohl die Anzahl der Reize gleich groß geblieben ist
Reize verarbeiten zu können. wie beim ersten Lesen.
Psychologische Einflüsse auf den Wahrnehmungs- Während die oben beschriebenen Grenzen der
prozess: Selektion, Ergänzung, Organisation und Wahrnehmung angeboren sind, verändern sie sich
Strukturierung, Interpretation. im Alter durch den Alterungsprozess, wovon sämtli-
che Körperorgane betroffen sind.
Durch Müdigkeit ist die gesamte Sinneswahrneh-
1.3 Beeinflussende Faktoren bei mung herabgesetzt wie auch durch den Einfluss von
der Wahrnehmung Medikamenten, vor allem Schlaf-, Beruhigungsmit-
teln und Neuroleptika. Besonders spürbar ist die Be-
Die Wahrnehmung kann sowohl physisch als auch einflussung der Reizverarbeitung durch Drogen- und
psychologisch mehr oder weniger stark beeinflusst Alkoholkonsum.
werden. Auf der einen Seite setzt der menschliche Zu den allgemeinen physiologischen Einflussfak-
Körper den Sinnesorganen Grenzen, innerhalb derer toren auf die Wahrnehmung gehören:
Reize aufgenommen und weitergeleitet werden kön- Gewöhnungseffekt,
nen. Auf der anderen Seite gelingt es dem Gehirn bei Entfaltung der Sinne,
der Reizverarbeitung nicht, ein ganz genaues Abbild Wahrnehmungsschwelle,
entsprechend den aufgenommenen Reizen zu repro- Verschmelzung,
duzieren. Es entstehen lediglich ähnliche Abbilder, Assimilation,
die zudem mehr oder weniger stark von der wahr- Kontrastierung.

BAND 2 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege 19


KaelDesu
1 Wahrnehmung

Gewöhnungseffekt kehrt entwickelt ein gehörloser Mensch verstärkt sei-


1 Beim Betreten eines Raumes kann man sofort den nen visuellen Sinn. Er „hört“ mit den Augen.
Parfümduft oder Zigarettenqualm riechen. Nach ei-
niger Zeit des Aufenthaltes wird der Unterschied we- Die Hirnzellen brauchen offensichtlich eine Aufgabe.
niger oder je nach Reizstärke gar nicht mehr wahrge- Fällt ein Wahrnehmungsbereich im Gehirn aus, bil-
nommen. Den gleichen Effekt gibt es auch beim Ein- den sich unter den Nervenzellen, je nach Anforde-
treten in ein ungelüftetes Zimmer. Anfangs riecht die rung, neue Verknüpfungen mit einem neuen Infor-
„verbrauchte“ Luft noch muffig, später kaum noch. mationsfluss. Untersuchungen haben ergeben, dass
Die Nase „gewöhnt“ sich regelrecht an den Geruch. auf diese Art z. B. Hirnzellen im Sehzentrum bei
Bei der Geräuschwahrnehmung ist es ähnlich. Blindheit keineswegs verkümmern, sondern Hör-
Menschen, die in der Nähe eines Flughafens wohnen, bzw. Tasteindrücke verarbeiten. Wenn Blinde zuhö-
nehmen nach einer bestimmten Zeit die Geräusche ren oder auch mit ihren Fingern die Blindenschrift
beim An- und Abflug kaum noch wahr. Das Ohr hat ertasten, ist ihre Sehrinde aktiv.
sich an die Geräuschkulisse „gewöhnt“.
Auch die Augen passen sich unterschiedlicher Wahrnehmungsschwelle
Lichtstärke an. Weil das Auge für die Anpassungsvor- Die Leistungen der Sinnesorgane weisen Grenzen in
gänge Zeit benötigt, sollte der Übergang von einer ihrer Empfindlichkeit auf. Das menschliche Auge z. B.
hellen zu einer dunklen Umgebung oder umgekehrt sieht Lichtwellenlängen, die zwischen 380 und 750
schrittweise erfolgen. Die normale Zimmerbeleuch- Nanometer liegen. Das menschliche Ohr hört Töne,
tung kann, wenn sie aus der Dunkelheit heraus ein- die zwischen 20 und 17 000 Hertz liegen. Besonders
geschaltet wird, als sehr grell und für die Augen empfindlich ist das Ohr im Bereich zwischen 3000
schmerzhaft empfunden werden. Wird die Lichtin- und 4000 Hertz. In diesem Bereich liegt auch die
tensität nach und nach erhöht, ist es für das Auge an- menschliche Stimme. Die Temperaturrezeptoren
genehmer. Beim morgendlichen Wecken sollte des- reagieren auf Reize, die zwischen 10 und 45 ⬚C liegen.
halb nicht gleich die helle Deckenbeleuchtung einge-
schaltet werden, sondern zunächst eine kleinere Beispiel: Die Wahrnehmungsschwelle wird
Lichtquelle wie z. B. die Leselampe. beeinflusst durch das Verhältnis von Reiz-
stärke zum Ausgangsreiz. Ist der Ausgangs-
Definition: Der Gewöhnungseffekt wird auch reiz niedrig, wird der hinzukommende Reiz stärker
als Adaption bezeichnet und ist von den Eigen- wahrgenommen, und umgekehrt. Deutlich wird dies
schaften der Sensoren eines Sinnesorgans ab- am Beispiel einer Party-Geräuschkulisse. Kommt bei
hängig. Mit Ausnahme des Schmerzes kann eine Adap- ca. 20 miteinander sprechenden Menschen nun ein Ge-
tion bei allen Sinnesorganen beobachtet werden, wo- sprächspaar hinzu, wird der zusätzliche Hörreiz kaum
bei das Ausmaß und der Zeitfaktor bei der Eingewöh- wahrgenommen, im Gegensatz zu einem leeren Raum,
nung unterschiedlich ausfallen. in dem eine Unterhaltung zweier Menschen deutlich
lauter wirkt.
Manche Sinne adaptieren rasch, wie z. B. die Tast-
empfindung der Haut, manche langsamer, wie z. B. In der Nacht ist die Geräuschkulisse insgesamt he-
das Ohr. Nach Beendigung des Reizes kommt es zum rabgesetzt. Eine Nachtwache kann deshalb z. B.
Wiederanstieg der Empfindlichkeit, auch als De- Atemgeräusche, akustische Warnsignale von Infuso-
adaption bezeichnet. maten usw. viel intensiver wahrnehmen als Pflege-
kräfte im Tagdienst.
Entfaltung der Sinne
Genauso wie sich Sinne an bestimmte Reize „gewöh- Verschmelzung
nen“ können, ist eine Entfaltung bestimmter Sinne Viele Reize hintereinander werden nicht einzeln
möglich. wahrgenommen, sondern verschmelzen zu einer
Ganzheit (s. o.). Auf diese Art können Verfälschungen
Beispiel: Ein blinder Mensch entwickelt sei- entstehen, da einzelne Reize überdeckt werden oder
nen Gehör- und Tastsinn besonders weiter. Er eine neue „Ganzheit“ entsteht.
„sieht“ mit seinen Ohren und Händen. Umge-

20 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege BAND 2


KaelDesu
1.3 Beeinflussende Faktoren bei der Wahrnehmung

Beispiel: Parfüm überdeckt auf der Haut die


Kippfigur
körpereigenen Duftstoffe; die einzelnen Düf- 1
te können nicht mehr differenziert werden.
Gleichzeitig vermischen sich aber die Duftstoffe und es
entsteht ein neuer (individueller) Geruch.
Ein weiteres Beispiel stellen die Einzelbilder eines Fil-
mes dar. Das Auge kann die einzelnen Bilder nicht mehr
wahrnehmen, sondern nur noch mehrere Einzelbilder
als Ganzes und durch die leichten Veränderungen in
der Bildfolge als Bewegung.
Der Verschmelzungseffekt wird auch in der Kinder-
krankenpflege z. B. bei der Medikamentengabe be-
nutzt, wo bittere Tropfen auf Zucker geträufelt werden
und somit der Gesamtgeschmack süß wird.
Abb. 1.7 Wahrnehmungstäuschung: Vase oder Gesichter?
Assimilation
Assimilation bedeutet Angleichung bzw. Anpassung,
auf die physiologische Wahrnehmung bezogen die Spezielle pathologisch-physische
Angleichung von Reizen. Einflussfaktoren
Viele körperliche Erkrankungen greifen beeinflus-
Beispiel: Trifft auf das Auge ein Reiz, der aus send in den Wahrnehmungsprozess ein. Neben spe-
verschiedenen Schattierungen einer Farbe ziellen Erkrankungen des Nervensystems sind es vor
besteht, gleicht das Auge an, es macht die allem Begleitsymptome allgemeiner Erkrankungen,
Schattierungen ähnlich, mit dem Ergebnis, dass einzel- die die Sensibilität verändern, wie z. B. fieberhafte In-
ne Farbschattierungen übersehen werden und eine fekte, Brechdurchfälle mit Exsikkose, Stoffwechsel-
einzige Farbe wahrgenommen wird. entgleisungen, Verletzungen der Haut usw.
Eine Besonderheit der Wahrnehmungsverände-
Assimilation findet ebenso in psychologischen Berei- rungen stellen die Synästhesien dar. Ungeregelte
chen bzw. in der Lerntheorie statt. Hier werden neue Querverbindungen im Gehirn sind dafür verantwort-
Situationen mit bekannten verglichen und angegli- lich, dass Sinnesreize Hirnzentren erreichen, die für
chen. diese Sinnesreize im eigentlichen Sinne nicht zu-
ständig sind.
Beispiel: Einzelheiten eines Gerüchtes wer-
den mit eigenen Vorurteilen verglichen und Beispiel: Durch Synästhesien gelangen z. B.
entsprechend modifiziert, bevor es weiter- Sehreize zum Geruchs- oder Hörzentrum
verbreitet wird. oder umgekehrt. Unter physiologischen Be-
dingungen kennen viele die Bildung einer Gänsehaut
Kontrastierung bei Quietschgeräuschen oder beim Hören einer beson-
Die Kontrastierung ist das Gegenteil der Assimilati- ders schönen Melodie.
on. Das Auge verstärkt Farbunterschiede vor einem
hellen oder dunklen Hintergrund, was als Kontrast Bei den Synästhesien bleibt es nicht bei einmaligen
bezeichnet wird. In Abb. 1.7 kann man entweder 2 Erlebnissen. Betroffene hören oder riechen Farben,
Gesichter in Gelb vor einem blauen Hintergrund oder andere wieder fühlen Geräusche. Ähnliche Wahr-
einen blauen Pokal vor einem gelben Hintergrund er- nehmungsveränderungen können durch Einnahme
kennen. Die Wahrnehmung kippt und wir können von Drogen, z. B. LSD, entstehen.
immer nur eine Figur erkennen, nicht beide gleich- Die Einschränkung einer Wahrnehmung bzw. ei-
zeitig. nes Wahrnehmungskanals zieht häufig komplexe
Veränderungen anderer Wahrnehmungen nach sich.

BAND 2 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege 21


KaelDesu
1 Wahrnehmung

Beispiel: Ist eines der beiden Innenohren er- Blindheit entsteht durch Funktionsausfall des Auges
1 krankt, kommt es häufig zu einer Mitbeteili- oder des Sehzentrums. Bei den Augenerkrankungen
gung des Gleichgewichtsorgans. Das bedeu- sind meist Hornhaut-, Netzhauterkrankungen oder
tet, dass nicht nur der Höreindruck vermindert ist, son- das Glaukom für Blindheit, auch Amaurosis genannt,
dern möglicherweise auch Schwindel und eine verän- verantwortlich. Ist die Ursache der Blindheit eine
derte Raumwahrnehmung entsteht. krankhafte Veränderung des Sehzentrums, können
optische Eindrücke nicht verarbeitet und erkannt
werden. Diese Form der Blindheit wird als Seelen-

! Merke: Sämtliche Sinnesorgane können pa-


thologischen Einflussfakoren unterliegen.
blindheit oder visuelle Agnosie bezeichnet.
Je nach Ausmaß einer der oben genannten Seh-
störungen kann die Orientierung hinsichtlich Lage,
Sehsinn Raum und Bewegung mit beeinträchtigt sein und ei-
Störungen des Sehsinns sind sehr vielfältig. Sehr nen Einfluss auf die Lebensqualität haben. Es ist des-
häufig verbreitet sind die Kurz- und Weitsichtigkeit, halb wichtig, den Betroffenen angemessene Hilfen
die durch spezielle Brillengläser bzw. Kontaktlinsen anzubieten und Sicherheit zu vermitteln, damit Ori-
korrigiert werden können. entierung und Kommunikation möglich sind sowie
Ressourcen, z. B. körperliche Mobilität, wirksam
Definition: Die Kurzsichtigkeit wird als My- werden können.
opie, die Weitsichtigkeit als Hyperopie bezeich-
net. Hörsinn
Es gibt viele Ursachen, die zu Hörstörungen führen
Im Alter verändert sich die Linse, sie wird unelas- können. Sie reichen von leichter Schwerhörigkeit bis
tisch, mit verminderter Anpassungsfähigkeit beson- zur völligen Taubheit. Im Bereich des Ohres sind in
ders für das Nahsehen. Die Folge ist die Alterssichtig- erster Linie Schallleitungsstörungen und Schallver-
keit, auch Presbyopie genannt, und bedeutet, dass ei- arbeitungsstörungen für Hörbeeinträchtigungen
ne Lesebrille erforderlich wird. verantwortlich. Schallleitungsstörungen entstehen
Eine Beeinträchtigung des Farbensehens ist be- durch Trommelfellschäden oder Mittelohrentzün-
sonders bei Männern sehr verbreitet. Oft besteht ei- dungen. Auch Veränderungen der Gehörknöchel-
ne Rot-Grün- oder Blau-Gelb-Verwechslung. Eine chen verhindern eine Schallverstärkung im Mittel-
völlige Farbenblindheit ist selten und lässt die Welt ohr. Die durch Schallleitungsstörungen ausgelöste
wie einen Schwarz-Weiß-Film wahrnehmen. Schwerhörigkeit kann durch ein Hörgerät, das den
Lähmungen der Augenmuskeln führen zu Dop- Schall verstärkt, ausgeglichen werden.
pelbildern und das räumliche Sehen wird unmöglich. Dagegen entstehen Schallverarbeitungsstörun-
Die Menschen greifen häufig neben Gegenstände, gen durch Schädigung der Hörsinneszellen im Hör-
z. B. das Wasserglas, oder verhalten sich scheinbar im organ, z. B. infolge chronischer Lärmbelästigung oder
Umgang mit ihnen ungeschickt, indem sie sie um- gestörter Innenohrdurchblutung (Hörsturz). Im Alter
werfen. führen meist degenerative Veränderungen der Sin-
Eine Einschränkung des Gesichtsfeldes kann neszellen zur eingeschränkten Hörempfindung, be-
durch einen Schlaganfall, Gehirntumor oder eine sonders der der hohen Frequenzen. Die Schallverar-
Hirnblutung entstehen. Das Auge kann zwar in die- beitungsstörungen und die Verständigung werden
sem Fall die Lichtimpulse empfangen, aber die Wei- weder durch Hörgeräte noch durch die Erhöhung der
terleitung ist z. B. durch Druck auf den Sehnerv bzw. Sprechlautstärke verbessert. Stattdessen sollte eine
die Sehnervenkreuzung oder beide Sehnerven behin- Unterhaltung in normaler Lautstärke möglichst mo-
dert. Je nachdem, an welcher Stelle die Weiterleitung dulationsarm und unterstützt durch Blickkontakt
gestört ist, ist der Seheindruck tunnelförmig oder in mit dem Betroffenen erfolgen.
der Mitte wie durch einen Balken unterbrochen. Eine dritte Ursache für eine beeinträchtigte Hör-
wahrnehmung liegt in der gestörten Verarbeitung
Definition: Ein rechtsseitiger bzw. linksseitiger der Hörreize im Hörzentrum. Die akustischen Reize
Ausfall des Gesichtsfeldes wird als Hemianopsie können zwar vom (intakten) Hörorgan aufgenom-
bezeichnet. men und weitergeleitet, allerdings vom Hörzentrum

22 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege BAND 2


KaelDesu
1.3 Beeinflussende Faktoren bei der Wahrnehmung

nicht zu einem Hörerlebnis, z. B. zu einer Melodie, Muskeln und Gelenke, die eine aufrechte Körperhal-
zusammengefügt werden. tung registrieren und weiterleiten. Der Körper rea- 1
Diese Art der Taubheit wird als Seelentaubheit giert mit Schwindel und oben genannter vegetativer
oder auditive Agnosie bezeichnet. Symptomatik, was je nach Vorkommen als Seekrank-
heit, Flugkrankheit oder Autokrankheit bezeichnet
Definition: Tinnitus sind Geräusche in Form wird.
von Klingeln, Sausen, Brummen, Pfeifen oder im- Der Gleichgewichtssinn ist eng verbunden mit
mer wiederkehrenden Melodien. Sie können der Körper- und Bewegungswahrnehmung; sie be-
dauerhaft auftreten oder nur in bestimmten Situatio- einflussen sich gegenseitig. Das bedeutet, dass Bewe-
nen, z. B. bei Stress. Die Ursache ist nicht geklärt, aller- gungseinschränkungen Gleichgewichtsstörungen
dings werden Störungen des Hörnervs, Stress und Lärm auslösen können, z. B. bei einer Querschnittlähmung.
als Risikofaktoren für die Entstehung in Betracht gezo- Umgekehrt führen Störungen des Gleichgewichtsor-
gen. Für den Betroffenen sind ständige Hörgeräusche gans je nach Ausprägung zu Bewegungseinschrän-
sehr quälend. kungen bis hin zur Unfähigkeit, koordinierte Bewe-
gungen auszuführen.
Definition: Die Taubheit ist die Unfähigkeit, Das Gleichgewichtsempfinden kann auch bei
akustische Signale wahrzunehmen. Sie kann an- Menschen, die längere Zeit gelegen haben, verändert
geboren oder erworben sein. Die Unterschei- sein. Sie sollten deshalb, und wegen einer möglichen
dung ist für die Sprachentwicklung von Bedeutung. Bei Kreislauflabilität, schrittweise mobilisiert werden,
einer angeborenen oder frühkindlichen Taubheit ist damit sie ihr Gleichgewicht wiederherstellen kön-
auch die Sprachentwicklung gestört. Hieraus kann eine nen.
Taubstummheit resultieren. Auch gelähmte Menschen, die ganze Muskelgrup-
pen nicht mehr für ihren Lageausgleich benutzen
Gleichgewichtssinn können, müssen ihr Gleichgewicht ganz neu organi-
Das Gleichgewichtsorgan reagiert empfindlich auf sieren und erlernen. Erschwerend ist hierbei, dass
bestimmte Reize. Z. B. lösen thermische Reize in möglicherweise wichtige Informationen aus der Tie-
Form von warmem oder kaltem Wasser im Gehör- fensensibilität der Muskeln und Gelenke durch die
gang rotatorische Augenbewegungen aus, die auch Lähmung nicht mehr zur Verfügung stehen und der
als Nystagmus bezeichnet werden. Beim Tauchvor- motorische Feed-Back-Mechanismus zusammen-
gang kann durch Druck auf das Innenohr und Gleich- bricht. Das führt zu einem völlig veränderten Körper-
gewichtsorgan ein Verlust der Raum- und Richtungs- gefühl bis hin zur Verleugnung der gelähmten Kör-
orientierung entstehen. perteile und Störungen des Gleichgewichtes, wie z. B.
Innenohr und Gleichgewichtsorgan sind räumlich bei der Hemiplegie (s. a. Bd. 4, Kap. 5).
und nerval eng miteinander verbunden, wodurch es
nicht selten bei Störungen des einen Organs zu Mit- Geruchssinn
beteiligung des anderen Organs kommt. Ein Laby- Der Geruchssinn kann durch meist harmlose Erkäl-
rinthausfall im Innenohr, z. B. nach einem Hörsturz, tungskrankheiten mit Schnupfen beeinträchtigt
führt nicht nur zu einer Hörbeeinträchtigung, son- sein. Sehr häufig ist die Riechfähigkeit durch chro-
dern auch zu einem Drehschwindel mit Fallneigung. nisch allergische Rhinitiden herabgesetzt. Auch
Da das Gleichgewichtsorgan stark vom vegetati- Hirnverletzungen und -erkrankungen oder Kompli-
ven Nervensystem beeinflusst wird, sind Störungen kationen nach HNO-Operationen können den Ge-
häufig von Übelkeit, Erbrechen und Schweißausbrü- ruchssinn verändern.
chen begleitet.
Bewegungskrankheiten, auch Kinetosen genannt, Definition: Eine herabgesetzte Geruchsemp-
entstehen durch ungewohnt starke Erregung des findlichkeit wird als Hyposmie bezeichnet, ein
Gleichgewichtsorgans, z. B. durch ein schwankendes Fehlen des Geruchssinns als Anosmie. Parosmien
Schiff. Verstärkt wird dieses Missempfinden durch sind geruchliche Fehlwahrnehmungen, d. h. Gerüche
einen widersprüchlichen visuellen Eindruck: Das werden wahrgenommen, ohne dass Geruchsstoffe vor-
Auge vermittelt dem Gehirn einen schrägen Sehein- handen sind.
druck, im Gegensatz zu den Propriozeptoren der

BAND 2 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege 23


KaelDesu
1 Wahrnehmung

Geschmackssinn Definition: Bei der Schmerzüberempfindlich-


1 Störungen des Geschmackssinns führen zum Funkti- keit ist die Sensibilität der Nozizeptoren gestei-
onsausfall, nämlich der Nahrungsprüfung auf evtl. gert, wie z. B. bei Entzündungsprozessen, und
unverdauliche oder giftige Stoffe. Es gibt Wirkstoffe, wird als Hyperalgesie bezeichnet, eine verringerte
die den Geschmack vorübergehend ausschalten, wie Empfindlichkeit als Hypoalgesie. Eine Analgesie ist
z. B. das Kokain. In Zeiten hormoneller Veränderung, das völlige Fehlen von Schmerz. Sie kann sowohl krank-
wie z. B. in der Schwangerschaft, kann es ebenfalls zu haft als auch medikamentös, durch Analgetika, verur-
Geschmacksveränderungen kommen. Hauptsächlich sacht sein (s. a. S. 380).
entstehen sie jedoch durch Tumore oder nach Durch-
trennung der Geschmacksnerven im Rahmen einer Einer angeborenen völligen Schmerzunempfindlich-
Mandel- oder Ohroperation. Verschiedene Hirn- keit liegt ein Defekt innerhalb des Nervensystems
erkrankungen können ebenfalls zu Geschmacks- zugrunde. Betroffene Menschen nehmen gewebe-
ausfällen führen. schädigende Reize nicht wahr. Die Folge sind zahlrei-
che Schäden und Verstümmelungen, die bereits in
Definition: Eine herabgesetzte Geschmacks- der Kindheit entstehen, oder ernsthafte innere Er-
empfindung wird als Hypogeusie, keine Ge- krankungen, die nicht frühzeitig erkannt werden,
schmacksempfindung als Ageusie bezeichnet. weil das Alarmsystem „Schmerz“ nicht funktioniert
Eine Dysgeusie ist eine unangenehme Geschmacks- und zum frühen Tod führt.
wahrnehmung und kann auch bedeuten, dass der Ge- Störungen der Hautsensibilität beeinflussen den
schmack nicht dem Reiz entspricht. Sie tritt am häu- Menschen ganzheitlich und greifen besonders in die
figsten bei Karzinomen auf. Körperorientierung, die Kommunikation, das Warn-
und Schutzsystem vor schädigenden Substanzen ein.
Geschmacksstörungen wirken sich auf die Nah-
rungsauswahl aus und beeinflussen den Ernäh- Muskel- und Gelenksinn
rungs- und Allgemeinzustand. Sind Muskeln, Sehnen und Gelenke sowie deren lei-
tende Nervenfasern krankhaft verändert, z. B. durch
Hautsinn Entzündungen, Verletzungen oder Lähmungen, sind
Störungen der Hautsensibilität umfassen die Berei- die Mechanorezeptoren meist mitbetroffen und so-
che haptisch-taktile Wahrnehmung, Temperatur- mit auch der Informationsfluss zum verarbeitenden
und Schmerzwahrnehmung. Viele Erkrankungen Gehirn mit Auswirkung auf eine veränderte Körper-
bzw. Verletzungen der Haut, des peripheren und haltung und einen veränderten Bewegungsablauf.
zentralen Nervensystems sind mit Veränderungen in Menschen mit schmerzhaften Muskeln, Sehnen oder
allen 3 Bereichen verbunden. Die Wahrnehmungs- Gelenken nehmen typische Schonhaltungen ein. Un-
beeinträchtigung ist dabei abhängig vom Erkran- ter Stressbedingungen erhöht sich der Muskeltonus
kungsausmaß bzw. der Verletzungstiefe. Die Sensibi- bis hin zu einem schmerzhaften Spannungsgefühl.
litätsprüfung der Haut nach Verletzung durch Ver- Zentrale Störungen, z. B. die Halbseitenlähmung
brennung gibt beispielsweise Aufschluss über die infolge eines Schlaganfalls, führen zu einer komple-
Schädigungstiefe. xen Orientierungsstörung des eigenen Körpers. Da
Durchblutungsstörungen der Haut, z. B. durch Ge- sensorische Hirnanteile krankhaft verändert oder
fäßveränderungen oder Kälte, führen zu Missemp- zerstört sind, können Impulse aus der Peripherie,
findungen und Schmerzen sowie Taubheitsgefühlen z. B. aus den Beinen oder den Armen, nicht mehr ver-
bis hin zur Gefühllosigkeit. arbeitet werden, auch wenn die aufnehmenden Sin-
Veränderte Hauttemperaturempfindungen ent- neszellen intakt sind. Die Betroffenen haben Schwie-
stehen durch Schädigungen der Thermorezeptoren rigkeiten, die Begriffe oben und unten sowie rechts
oder der die Temperatur leitenden Nervenbahnen. und links am Körper zu empfinden oder aber ihre
Meist ist der Schmerzsinn (Nozizeption) mitbetrof- Körperachse „verschiebt“ sich zur nicht gelähmten
fen, da die schmerzleitenden Nervenbahnen der Seite und sie versuchen infolge ihrer „verschobenen“
Haut über den gleichen Weg Richtung Zentrum zie- Wahrnehmung, ihr Gleichgewicht in Richtung zur
hen. gelähmten Seite hin zu korrigieren.

24 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege BAND 2


KaelDesu
1.3 Beeinflussende Faktoren bei der Wahrnehmung

Bei Verlust der Eigenwahrnehmung haben Betrof- Unkoordinierte Bewegungsabläufe, z. B. unkon-


fene das Gefühl, Teile ihres Körpers gehören nicht trollierte Armbewegungen, sind oft die Folge von 1
mehr zu ihnen. Die Ursachen liegen hauptsächlich in Kleinhirnerkrankungen oder spastischen Lähmun-
krankhaft veränderten Propriozeptoren sowie dem gen. Die Menschen können sich leicht verletzen, da
propriozeptiven System (leitenden Nervenbahnen, sie die Bewegungen nicht willkürlich stoppen kön-
verarbeitendem Zentrum, s. a. Bd. 4, Kap. 5). nen.

Bewegungssinn Organsinn
Sowohl periphere Störungen der Muskeln, Sehnen Die inneren Organe funktionieren nach dem homö-
und Gelenke als auch deren verarbeitende Reize im ostatischen Prinzip und werden erst wahrgenom-
Gehirn haben einen unmittelbaren Einfluss auf die men, wenn die Aufmerksamkeit auf sie gelenkt wird,
Bewegung und den Bewegungssinn. oder z. B. bei entsprechender Dehnung.
Da das Bewegungsprogramm teilweise unbe-

!
wusst abläuft, besonders sog. Mitbewegungen wie Merke: Schmerzen in den Organen entste-
beispielsweise das Pendeln der Arme beim Gehen hen durch Reizung von Nozizeptoren oder
oder die Gestik und Mimik beim Sprechen, werden in Überdehnungen sowie Spastiken. Sie stellen
erster Linie Bewegungsausfälle oder gestörte Bewe- einen Schutzmechanismus dar und motivieren zur Be-
gungsabläufe wahrgenommen, wie z. B. beim Mor- seitigung der Ursache.
bus Parkinson. Treten bei Bewegungen Schmerzen
auf, werden sie unterlassen bzw. notwendige Bewe- Veränderungen viszeraler Wahrnehmungen, z. B.
gungen schmerzvermindert ausgeführt. Psychische durch Lähmungen, können demnach gefährliche Fol-
Erlebnisse wirken sich sowohl steigernd als auch gen für den Gesamtorganismus nach sich ziehen.
mindernd auf die Motorik und ihre Wahrnehmung Wird eine Blinddarmentzündung wegen Schmerz-
aus. Depressive Menschen erleben Bewegungen häu- unempfindlichkeit nicht erkannt, kann dies tödlich
fig als schwer und bleiern. Das Gefühl kann sich bis enden. Eine Überblähung des Darmes kann zu einem
zur Lähmungsempfindung steigern. Zwerchfellhochstand mit eingeschränkter Atmung
Krankhafte Störungen im Gehirn und Rücken- führen und eine überfüllte Blase reflektorisch zu ve-
mark beeinflussen die Sensorik, d. h. die Information getativen Kreislaufstörungen, besonders bei Men-
von Bewegung wird auf dem Weg zum Gehirn verän- schen mit Querschnittlähmungen.
dert und als verfremdet wahrgenommen, z. B. „wie Die meisten krankhaften Veränderungen der in-
auf Watte zu laufen“ oder „Blei an den Füßen“ zu tra- neren Organe werden nicht durch ihre bewusste
gen. Solche Empfindungen treten typischerweise bei Wahrnehmung, sondern durch Begleitsymptome
der Multiplen Sklerose auf, einer Entzündung der oder andere diagnostische Methoden erkannt.
zentralen Nervenbahnen. Aber auch durch Drogen-
einnahme können ähnliche Phänomene entstehen. 1.3.2 Psychische Einflussfaktoren
Lähmungen führen zum Ausfall der motorischen Wahrnehmung ist ein bewusster Prozess und von
und sensorischen Fähigkeiten im betroffenen Gebiet. Empfindungen begleitet. Sie ist individuell und ab-
Bei der Halbseitenlähmung kommt es infolge von hängig von Erfahrungen und Erlebnissen in der Ver-
Nervenzellschädigungen in der motorischen und gangenheit. Eine Pflegekraft kann z. B. ausgeruht und
sensorischen Großhirnrinde zu spastischen Läh- ausgeglichen oder müde und überreizt sein, und ent-
mungen oder Bewegungsmustern sowie deren ge- sprechend unterschiedlich wird sie Menschen oder
störter Wahrnehmung. Situationen wahrnehmen.
Die Auswirkungen auf die Körper- und Raumori- Auch im psychischen Bereich finden unterschied-
entierung wurden bereits oben beschrieben. Ent- liche Filtervorgänge bzw. Wahrnehmungsverstärker
sprechend dem Bobath-Konzept wird versucht, statt.
durch gezieltes Bewegungstraining neue Bewe- Psychische Einflussfaktoren:
gungsmuster zu entwickeln, dadurch die Sensibilität aktuelle Bedürfnisse,
und das Gleichgewicht zu fördern mit dem Ziel, aktueller emotionaler Zustand,
durch veränderte Bewegungsabläufe Selbstständig- Motivation,
keit zu erreichen. Interesse,

BAND 2 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege 25


KaelDesu
1 Wahrnehmung

Biografie und Lebenserfahrung, einer Wahrnehmungsverzerrung führen, weil viele


1 persönliche Charaktereigenschaften, Reize neben dem Erfolg nicht wahrgenommen bzw.
Einstellungen und Wertvorstellungen, herausgefiltert werden.
soziale Situation,
Reizentzug (Reizdeprivation), Beispiel: Eine Pflegekraft, die Psychiatrie-
Reizüberflutung, Fachpflegekraft werden möchte, ist moti-
Habituation. viert, ihre Beobachtungsfähigkeit hinsicht-
lich psychischer Verhaltensweisen zu schulen und wird
Aktuelle Bedürfnisse ihre Wahrnehmung und Aufmerksamkeit entspre-
Je nach Intensität der eigenen aktuellen Bedürfnisla- chend lenken.
ge wird die Aufmerksamkeit auf das entsprechende
Bedürfnis gelenkt. Je stärker das Bedürfnis wächst, Interesse
desto mehr rücken andere Wahrnehmungen in den Interessen und Vorlieben greifen in die Wahrneh-
Hintergrund oder werden gar nicht mehr wahrge- mung lenkend ein.
nommen.
Beispiel: Eine Pflegekraft, die sich besonders
Beispiel: Hunger lenkt z. B. die Aufmerk- für eine gesunde Lebensweise interessiert,
samkeit mehr und mehr auf alles Essbare. In wird bei den zu Pflegenden besonders auf
hungriger Verfassung wird häufig wesentlich ausgewogene Ernährung und körperliche Mobilität
mehr im Supermarkt eingekauft als im satten Zustand. achten.

Aktueller emotionaler Zustand Biografie und Lebenserfahrung


Stimmungen wie Wut, Depression, Freude und Sor- Die Wahrnehmung wird beeinflusst durch erlebte
gen haben einen ganz erheblichen Einfluss auf die Ereignisse und bewusst in eine bestimmte Richtung
Wahrnehmung. gelenkt.

Beispiel: Ein zorniger Mensch nimmt eher Beispiel: Hat eine Pflegekraft vermehrt Er-
negative Reaktionen seiner Mitmenschen fahrung mit alkoholabhängigen Menschen
wahr als ein entspannter und zufriedener gesammelt, reagiert sie besonders sensibel
Mensch. Ein verliebter Mensch sieht die Welt sprich- auf Alkoholgeruch. Hat eine weibliche Pflegekraft vor-
wörtlich durch eine „rosarote“ Brille. D. h., dass das wiegend männliche Pflegekräfte als besonders rau er-
Verliebtsein die negativen Eigenschaften des Partners lebt, wird sie diese Eigenschaften verstärkt bei allen
wegfiltert. männlichen Pflegekräften wahrnehmen.
Trauernde Menschen sind häufig in ihrem psychischen
Antrieb blockiert; sie ziehen sich sozusagen in sich zu- Persönliche Charaktereigenschaften
rück und sind für Reize aus der Umwelt weniger emp- Je nachdem, welche Eigenschaft sich ein Mensch
fänglich. Eine Pflegekraft, die sich um ihren kranken wünscht oder welche er besitzt, wird er diese ver-
Partner sorgt, wird weniger empfänglich sein für Prob- stärkt bei anderen wahrnehmen. Ein extrovertierter
leme im Pflegeteam und sich möglicherweise durch Mensch, der sich lieber ruhiger erleben möchte, wird
Routinearbeiten ablenken. bevorzugt ruhige Menschen wahrnehmen. Demge-
genüber achtet ein introvertierter Mensch, der gerne
Motivation mehr aus sich herausgehen möchte, eher auf Men-
Definition: Motivation ist die Summe der Be- schen, die offen und temperamentvoller sind.
weggründe, die das menschliche Handeln hin-
sichtlich Inhalt, Intensität und Richtung zum Er- Einstellungen und Wertvorstellungen
folg beeinflusst und kontrolliert. Werte und Normen sind für unsere Sozialisation
wichtig, um uns in der Gesellschaft, in der wir leben,
Die Aufmerksamkeit wird auf bestimmte Reize, die zurecht zu finden und orientieren zu können. Sie
zum Erfolg führen, gelenkt und stärker wahrgenom- sind je nach Kultur unterschiedlich. Während in asia-
men. Motivationsgeleitete Aufmerksamkeit kann zu tischen Ländern das Essen eines Hundes eine Delika-

26 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege BAND 2


KaelDesu
1.3 Beeinflussende Faktoren bei der Wahrnehmung

tesse darstellt, wird Hundefleisch als Nahrungsmit- pulse, wie z. B. Bildung von schwarzen, sich bewe-
tel bei einem Europäer eher Ekel hervorrufen. Die genden Pünktchen. Patienten können diese auch mit 1
Farbe Schwarz assoziiert in westlichen Ländern Fliegen oder Insekten verwechseln. Dies ist zu beach-
Trauer, während die Farbe Weiß das Gleiche in asia- ten, bevor Menschen mit solchen oder ähnlichen
tischen Ländern darstellt. Phänomenen als verwirrt oder psychotisch behan-
delt werden, u. a. durch Gabe von Psychopharmaka,
Soziale Situation die ihrerseits wiederum erheblich in die Wahrneh-
Da wir als soziale Wesen leben, werden persönliche mungsvorgänge eingreifen.
und familiäre Ereignisse unseren Erlebnisspielraum
beeinflussen. Reizüberflutung
Das Gegenteil vom Reizentzug ist die Reizüberflu-
Beispiel: Eine Mutter, die sich um ihr kran- tung, bei der offensichtlich die Filtermechanismen
kes Kind sorgt, wird eine andere sich sorgen- ankommender Reize nicht oder nicht ausreichend
de Mutter ganz anders wahrnehmen als eine funktionieren.
Frau, die keine Kinder hat. Oder eine Pflegekraft, die Es gibt Hinweise, dass beim Autismus dieses Se-
selbst einen Angehörigen zu Hause pflegt, wird Ange- lektionssystem versagt und das Gehirn von unsor-
hörige von Pflegebedürftigen auf einer Pflegestation tierten Reizen überflutet wird. Außerdem fällt es, Be-
anders wahrnehmen als ihre alleinlebende Kollegin. obachtungen zufolge, Autisten schwer, Reize unter-
schiedlicher Wahrnehmungskanäle zu verknüpfen
Reizentzug (Reizdeprivation) wie z. B. Geschmack und Geruch oder Auge und Be-
Definition: Reizentzug bedeutet, dass der wegung, und sie zu einem sinnvollen ganzheitlichen
Mensch nur sehr wenig bis gar keine Reize von Erlebnis zu integrieren. Die Folge einer Reizüberflu-
außen empfängt. tung reicht von Nervosität, Aggressivität über gestör-
te Orientierung bis hin zum sozialen und psy-
Es gibt Untersuchungen, die aufzeigen, dass eine chischen Rückzug.
reizarme Umgebung im Laufe der Zeit Trugwahrneh-

!
mungen und Halluzinationen entstehen lässt. Die Merke: Autosuggestive Verfahren beruhen
Menschen sehen Bilder oder Situationen, die nicht auf dem Prinzip, äußere Reize weitgehend
real vorhanden sind. Auch Umdeutungen von vor- auszuschalten und zur Ruhe zu gelangen.
handenen Gegenständen sind eine mögliche Folge Diese Ruhe ist die Voraussetzung dafür, körpereigene
von Reizentzug. Diese Reaktionen stellen eine Art Reize wahrzunehmen bzw. intensiver zu erleben.
Selbstreizung des Gehirns dar, die auch als sensori-
sche Reizdeprivation bezeichnet wird. Habituation
Zur Reizdeprivation wurden einige Experimente Definition: Mit Habituation wird eine fort-
und Untersuchungen durchgeführt. schreitende Abnahme motorischer und sensori-
scher Reaktionen sowie das veränderte Körper-
Beispiel: Studenten nahmen an einem Isola- gefühl auf einen gleich bleibenden Reizzustand bezeich-
tionsexperiment in einer völlig reizarmen net.
Umgebung teil. Nach spätestens 72 Stunden
traten die ersten intensiven Wachträume und Halluzi- Informationen über die körperliche Beschaffenheit
nationen ein. Die Studenten sahen Lichtpunkte, einfa- erhält das Gehirn durch Bewegung. Verminderte Be-
che geometrische Figuren aber auch gelbe Männchen wegung oder Bewegungslosigkeit, z. B. durch Immo-
usw. Auch Stimmen, Geräusche und immer wiederkeh- bilität verursacht, reduziert den Informationsfluss
rende Melodien wurden gehört. mit Auswirkung auf die körperliche Wahrnehmung.
Gleichermaßen nimmt die Aufmerksamkeit für an-
Zu ähnlichen Reaktionen kann es auch in Situationen dere, z. B. visuelle oder akustische Reize, ab. Bei be-
extremer Monotonie kommen. Pflegebedürftige, wegungseingeschränkten, bettlägerigen Menschen
bettlägerige Menschen, die sich kaum bewegen kön- führen lange Liegezeiten demzufolge zu Störungen
nen, sind gezwungen, überwiegend an die weiße De- des Körperbildes und veränderter Koordinations-
cke oder an die Wand zu starren. Das Auge erlebt zu fähigkeit. Auch räumliche und zeitliche Desorien-
wenig Stimulation. Das Gehirn produziert eigene Im- tiertheit, beeinträchtigte intellektuelle Fähigkeiten

BAND 2 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege 27


KaelDesu
1 Wahrnehmung

und Kommunikationsstörungen können u. a. Folgen Die soziale Wahrnehmung ist das Resultat der So-
1 der Habituation sein. Betroffene Menschen greifen zialisation und beschäftigt sich mit folgenden Fra-
am Wasserglas vorbei oder können es nicht zum gen:
Mund führen. Häufig zu beobachten ist auch das Wie entstehen Eindrücke von anderen Personen?
Festkrallen an Pflegepersonen. Wie verlässlich sind diese Eindrücke?
In einigen Fällen werden Geräusche und Stimmen Welche Faktoren beeinflussen unsere Eindrücke?
fehlinterpretiert und auch die eigene Identität ver- Welche Konsequenz haben diese Einflüsse?
wechselt. Diese Zustände der Verwirrtheit, unter
dem Aspekt der Habituation betrachtet, können Das Problem des ersten Eindrucks
durch Anwendung der Basalen Stimulation, Lage- In der Regel reichen wenige Informationen aus, um
rung und Bewegung gemindert, beseitigt oder ver- sich ein Bild über einen fremden Menschen zu ma-
mieden werden (s. a. Bd. 4, Kap. 4). chen. Das Erinnerungsvermögen für die ersten Infor-
mationen ist besonders gut. Es sind meist einzelne
Zusammenfassung: Eigenschaften, die häufig unbewusst wahrgenom-
Beeinflussende Faktoren – Wahrnehmung men werden, wie z. B. die äußere Erscheinung mit
Aufgrund des begrenzten Fassungsvermögens der der Kleidung, dem Körperbau, die Haltung, die Mi-
Sinnesorgane können nicht alle Reize übermittelt mik, die Stimme usw. Jeder kennt den Ausdruck
werden. „Kleider machen Leute“. Für die Wahrnehmung hat
Die angeborenen Grenzen der Wahrnehmung ver- die Darstellung des Äußeren, z. B. die Kleidung, einen
ändern sich im Alter. informativen Charakter.
Physiologische Einflussfaktoren sind Gewöhnung, An der Kleidung werden Gruppen erkannt, z. B.
Entfaltung, Wahrnehmungsschwelle, Verschmel- Soldaten durch die Uniformen oder Pflegepersonal
zung, Assimilation und Kontrastierung. und Ärzte durch Tragen weißer Dienstkleidung. Wei-
Alle Sinnesorgane können pathologischen Einflüs- ße Kittel werden unterschiedlich wahrgenommen
sen unterliegen. und interpretiert. Kranke Kinder, die bereits
Psychische Einflussfaktoren der Wahrnehmung schmerzhafte, negative Erfahrungen mit Ärzten oder
sind: Aktuelle Bedürfnisse, aktueller emotionaler Pflegepersonal gemacht haben, reagieren häufig ab-
Zustand, Motivation, Interesse, Lebenserfahrung, lehnend, aggressiv oder zurückgezogen auf alle Men-
persönliche Charaktereigenschaften, Einstellungen schen, die einen weißen Kittel tragen. Andererseits
und Wertvorstellungen, soziale Situation, Reizent- flössen Menschen in weißen Kitteln Respekt ein. Ärz-
zug, Reizüberflutung, Habituation. te werden z. T. auch heute noch als „Götter in Weiß“
bezeichnet.
1.3.3 Soziale Wahrnehmung Die Mode gibt den Ton an, bestimmt, was „in“ ist.
Entsprechend wird jemand, der sich modisch kleidet,
Definition: Soziale Wahrnehmung bedeutet als fortschrittlich und modern beurteilt.
die Wahrnehmung von Personen aus der Umge- Aber nicht nur die Kleidung, sondern auch der
bung in Abhängigkeit von der Selbstwahrneh- Körperbau beeinflusst den ersten Eindruck. Je nach-
mung, von sozialen Vergleichsprozessen und Faktoren dem, ob ein Mensch groß oder klein ist, dick oder
aus der Umgebung. Sie wird wesentlich geprägt durch dünn, eine große Nase hat oder einen breiten Mund,
die Persönlichkeitsentwicklung, individuelle Eigen- immer wieder nehmen wir diese Eindrücke auf und
schaften und kulturelle Besonderheiten. vergleichen sie mit Personen, die wir schon kennen,
oder mit uns selbst. Die Erfahrungen, die wir mit den
Auch die oben genannten psychologischen Faktoren bereits bekannten Personen gemacht haben, fließen
beeinflussen die Wahrnehmung unseres sozialen in den ersten Eindruck ein.
Umfeldes. Wir machen uns ein Bild von einem Men- Ensprechend dem eigenen Wertemaßstab wer-
schen, welches die weitere Umgangsweise und Be- den Menschen bereits im Rahmen des ersten Ein-
ziehung beeinflusst. drucks als ungepflegt, intelligent usw. bewertet. Bei
In den Wahrnehmungsprozess fließen Bewertun- einer Pflegekraft, die einen kranken Menschen zum
gen ein; entsprechend sind uns Personen sympa- ersten Mal sieht, kommen noch die Verhaltenswei-
thisch oder unsympathisch. Auf der anderen Seite sen in speziellen belastenden Situationen dazu wie
können wir uns Bewertungen anderer nicht entzie-
hen.

28 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege BAND 2


KaelDesu
1.3 Beeinflussende Faktoren bei der Wahrnehmung

beispielsweise Angst vor Untersuchungen und Ope- Auf die Wahrnehmung bezogen bedeutet der Halo-
rationen oder bei Schmerzen. Effekt eine positive oder negative Beeinflussung der 1
Der erste Eindruck bestimmt, obwohl er zufällig Personenbeurteilung durch Wahrnehmung einiger
und mit vielen Verfälschungen zustande gekommen weniger markanter Eigenschaften, die andere über-
ist, die weitere Verhaltensweise und Wahrnehmung decken. Die Wahrnehmung wird in erster Linie auf
und lenkt den Beziehungsaufbau in eine Richtung. die markanten Eigenschaften gerichtet.
Das Problem des ersten Eindrucks ist die zunächst
fehlende Bereitschaft zur Korrektur. Menschen nei- Beispiel: Eine ordnungsliebende Pflegekraft
gen dazu, an einmal gebildeten Beurteilungen und wird von ebenfalls ordentlichen Kollegen und
Bewertungen festzuhalten. Kolleginnen einen positiven Eindruck haben
Neben dem Anfangseffekt des ersten Eindrucks und geneigt sein, ihnen auch andere positive Eigen-
spielt auch der Endeffekt eine besonders prägende schaften zuzuschreiben und negative zu übersehen.
Rolle. Genauso wie die ersten Informationen beson- Umgekehrt wird sie unordentliche Kollegen und Kolle-
ders gut im Gedächtnis haften, ist auch das Erinne- ginnen eher negativ beurteilen und auch andere nega-
rungsvermögen für die letzten Informationen beson- tive Eigenschaften bemerken.
ders gut ausgebildet.
Logische Fehler

!
Merke: Jede Pflegekraft sollte bei der Über- Der logische Fehler ist dem Halo-Effekt ähnlich. Er
mittlung von Informationen darauf achten, unterscheidet sich dadurch, dass der Beurteilende
dass negative Informationen weder am An- annimmt, dass bestimmte Eigenschaften immer zu-
fang noch am Ende übermittelt werden, und somit der sammen auftreten. Diese Vorstellung ist an Erfah-
Wahrnehmungsspielraum der Pflegebedürftigen und rungen gebunden und individuell unterschiedlich.
Kollegen weniger Einfluss erfährt.
Beispiel: Gebildete Menschen scheuen kör-
Wahrnehmungsverzerrungen perliche Arbeit; unordentliche Menschen
Während des Wahrnehmungsvorganges gehen uns sind faul und muslimische Frauen, die ein
bereits viele Informationen durch physiologische Kopftuch tragen, sind demütig.
und psychische Mechanismen verloren bzw. werden
ergänzt. Die restlichen Informationen, die dann noch Kontrastfehler
psychologischen Einflussfaktoren unterliegen, kön- Hierbei werden Eigenschaften mehrerer wahrge-
nen die Wahrnehmung erheblich verändern. Auch nommener Personen miteinander verglichen und
bei noch so intensiver Anstrengung ist es nicht mög- beurteilt. Die Ergebnisse beeinflussen sich gegensei-
lich, ein wahres Abbild der Wirklichkeit eines ande- tig.
ren Menschens zu erhalten. Es entstehen Wahrneh-
mungsfehler, deren Auswirkungen die gesamte In- Beispiel: Eine Pflegekraft nimmt nachei-
teraktion dynamisch beeinflussen, im Sinne von nander mehrere Personen auf, die am nächs-
Wirkung und Wechselwirkung. ten Tag operiert werden sollen. Die Personen
Zu den häufig auftretenden Wahrnehmungsfeh- reagieren unterschiedlich. Die aufnehmende Pflege-
lern und -verzerrungen gehören: kraft nimmt die erste Person wahr und vergleicht die
Halo-Effekt, nächste Person mit den wahrgenommen Eigenschaften
logische Fehler, der ersten. Ist die erste Person aufgeregt und ängstlich,
Kontrastfehler, wird die Pflegeperson die weiteren Personen im Ver-
Attributierungsfehler, gleich als noch aufgeregter oder als gefasster beurtei-
soziale Urteile. len.

Halo-Effekt Der Vergleich kann aber auch durch Eigenschaften


Definition: Halo bedeutet einen Hof um eine der beurteilenden Person entstehen.
Lichtquelle, die durch Reflexion und Brechung
der Lichtstrahlen hervorgerufen wird. Der Halo-
Effekt wird auch als Hofeffekt bezeichnet.

BAND 2 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege 29


KaelDesu
1 Wahrnehmung

Beispiel: Ist die Pflegekraft selbst sehr be- Verhinderung einer Integration anders denkender
1 herrscht in ihren emotionalen Äußerungen, oder fremder Menschen. Häufige soziale Urteile sind
wird sie diese Eigenschaft im Vergleich zu Einstellungen, Stereotype und Vorurteile.
sich selbst beurteilen und ängstliches Verhalten bei an-
deren Menschen überinterpretieren. Einstellungen: Einstellungen entstehen durch positi-
ve oder negative Bewertungen von Personen oder
Attributierungsfehler Objekten mit Gefühlsbeteiligung und die Bereit-
schaft, sich in bestimmten Situationen entsprechend
Definition: Attribution bedeutet Ursachenzu-
der Einstellung zu verhalten. Die Einstellung ist eng
schreibung des eigenen und fremden Verhaltens,
mit dem Begriff der Meinung verwandt. Während
d. h. das Fragen nach Gründen, die zu einer be-
die Einstellung von längerer Dauer und tiefer in die
stimmten Situation oder einem Verhalten geführt ha-
Person eingeschlossen ist, orientiert sich die Mei-
ben, z. B. „Warum habe ich die Krankheit bekommen?“.
nung eher an konkreten Fragestellungen.

Attributierungen haben Ordnungs- u. Strukturie-


Beispiel: Eine Pflegekraft vertritt die Ein-
rungsfunktion; sie verleihen den Ereignissen Bedeu-
stellung, dass die Funktionspflege gut ist,
tungen und helfen, sie zu erklären, zu kontrollieren
weil sie zeitlich nicht so aufwendig und die
und vorherzusagen. Die Ursachenzuschreibung än-
Stationsarbeit dadurch schneller erledigt ist, was ihr
dert sich je nach Standpunkt der Person. Beispiels-
ein gutes Gefühl gibt. Sie wird den Argumenten der
weise bevorzugt derjenige, der ein Verhalten beob-
ganzheitlichen Pflege eher negativ gegenüberstehen,
achtet, internale Ursachen, z. B. „Arbeitslose sind
wenn sie die Erfahrung gemacht hat, dass auf diese Art
faul.“, und die handelnde Person externale Ursachen,
und Weise nicht alle Stationsarbeiten geschafft worden
z. B. „Ich bekomme altersbedingt keine Arbeit mehr.“
sind und sie in solchen Situationen ein schlechtes Ge-
Das bedeutet, der Beobachter führt das Verhalten ei-
wissen bekommen hat. Das bedeutet, dass sie an ihrer
ner Person auf bestimmte Eigenschaften zurück, oh-
Einstellung festhalten und sich anderen Wahrnehmun-
ne die wahre Verhaltensursache zu kennen. Auf diese
gen verschließen wird, z. B. der Zufriedenheit der Pa-
Weise kommt es zu Verzerrungen in der Wahrneh-
tienten durch eine ganzheitliche Versorgung.
mung (Attributierungsfehler), die sich nachteilig auf
die Interaktion auswirken (vgl. Zimbardo 1995).

Stereotype: Stereotype sind vorgefasste Meinungen


Soziale Urteile
über Merkmale von Mitgliedern einer Gruppe. Das
Soziale Urteile verfolgen den Zweck, die auf uns ein-
heißt, einer bestimmten Person werden bestimmte
strömende Fülle an Informationen zu ordnen und
Eigenschaften zugeschrieben, weil sie einer be-
komplizierte Verknüpfungsvorgänge bei der Beurtei-
stimmten sozialen Gruppe angehört. Stereotype
lung zu vereinfachen. Auf diese Weise wird unsere
können sowohl positiv auch negativ bewertet sein.
Handlungsfähigkeit und Verständigung beschleu-
nigt. Soziale Urteile beeinflussen die soziale Wahr-
Beispiel: Alle Pflegekräfte haben ein Helfer-
nehmung wechselseitig. Sie erleichtern Menschen
syndrom oder alle alten Menschen im Alten-
die Integration in eine Gruppe mit ähnlichem Den-
heim sind hilflos, alle Ordensschwestern sind
ken. Hier erfahren sie Zugehörigkeit und Akzeptanz
barmherzig und gutmütig.
und können ihr Verhalten legitimieren.

Vorurteile: Vorurteile sind negative, herabsetzende


Beispiel: Ein Mensch, der gegen Ausländer
Einstellungen gegenüber Merkmalen einzelner Men-
ist, kann sich in entsprechenden Gruppen
schen oder Gruppen.
ausländerfeindlich verhalten und erfährt
dort Zuspruch. Auf der anderen Seite wird sich ein Geg-
Beispiel: Ein pflegebedürftiger Mensch
ner von Rassismus solchen Gruppen fern halten.
möchte sich nicht von einer dunkelhäutigen
Pflegekraft waschen lassen, weil er das Vor-
Nachteilige Auswirkungen haben soziale Urteile, ins-
urteil hat, dass diese Menschen schlecht riechen und
besondere durch die fehlende Bereitschaft zur Über-
faul sind.
prüfung des Urteils, „Schwarz-Weiß-Malerei“ und

30 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege BAND 2


KaelDesu
Fazit

!
Merke: Soziale Wahrnehmung ist die Wahr- Realität ist. Die Tatsache, dass wir jemanden aus ei-
nehmung von Personen. Sie wird von ver- nem Glas trinken sehen, bedeutet aber nicht, dass der 1
schiedenen Faktoren beeinflusst, die den Ein- Trinkende Durst hat. Es kann auch die Einnahme eines
druck von anderen Menschen entscheidend prägen. in Wasser aufgelösten Medikamentes sein oder der
Genuss eines gut schmeckenden Getränkes. Die
Zusammenfassung: Wirklichkeit stellt sich erst durch Nachfragen heraus.
Soziale Wahrnehmung Besteht jeder Mensch starr auf seiner erlebten Wirk-
Soziale Wahrnehmung wird durch äußere Ein- lichkeit, ohne die Wirklichkeit der anderen mit einzu-
drücke (Kleidung, Körperbau etc.) beeinflusst. beziehen, entstehen Missverständnisse und mit ihr
Anfangs- und Endeffekt des ersten Eindrucks blei- Probleme in der Kommunikation sowie im Gesamt-
ben besonders haften und sollten deshalb möglichst verständnis der Menschen füreinander.
frei von negativen Informationen sein. Die Wirklichkeit ist wie die Wahrnehmung ein
Wahrnehmungsverzerrungen können durch Halo- Prozess, der sich im Austausch zwischen Menschen
Effekt, logische Fehler, Kontrastfehler, Attributie- entwickelt. Die Wahrnehmung bildet immer den
rungsfehler und soziale Urteile entstehen. ersten, das Überprüfen den zweiten Schritt. Ein wei-
nender Mensch muss nicht zwangsläufig traurig
sein, es können auch Freudentränen fließen. Erst das
1.4 Wahrnehmung und Hinterfragen klärt die Situation. Ist das Bemühen um
Wirklichkeit Wirklichkeitsfindung groß, nähert sich die eigene
Wirklichkeit der des Gegenübers.
Der chinesische Weise

!
Ein chinesischer Weiser führte einmal vor den Augen Merke: Für Pflegepersonen nimmt die Schu-
seiner Schüler vier Blinde zu einem Elefanten. Den lung der Wahrnehmungsfähigkeit eine zent-
ersten führte er zum Rüssel, den zweiten zu den Bei- rale Bedeutung ein, da sie in ihrem berufli-
nen, den dritten zum Bauch und den vierten zum chen Alltag häufig Menschen in außergewöhnlichen
Schwanz des Tieres. Sie sollten das Tier betasten und Lebens- und Krisensituationen mit uneindeutigen Re-
daraufhin beschreiben. aktionen begegnen.
„Ein Elefant“, sagte der erste, nachdem er den
Rüssel sorgsam betastet hatte, „ein Elefant ist ein Leidende Menschen reagieren ganz unterschiedlich
langes, weiches, bewegliches Rohr so dick wie mein auf Sorgen, Ängste oder Trauer, z. B. mit Aggressio-
Oberarm“. nen, Depressionen oder auch mit Verdrängungsme-
„Unsinn“, sagte der zweite, „ein Elefant ist viel di- chanismen. In je größerem Maße die Pflegeperson
cker; etwa wie ein Baum, den ich mit beiden Armen bereit und in der Lage ist, die Wirklichkeit des ande-
gerade noch umfassen kann“. ren wahrzunehmen und zu überprüfen, desto kon-
„Ein Baum?“ sagte der dritte, der am Bauch des kreter können Probleme erkannt und Ziele entwi-
Elefanten stand, „eine Tonne, so groß, dass ich mit ckelt werden. Dieses Bemühen stellt eine der wich-
ausgestreckten Armen noch nicht einmal ihren hal- tigsten Voraussetzungen für die effektive Planung
ben Umfang ermessen kann“. sinnvoller Pflegemaßnahmen dar. Je weniger Miss-
„Ihr irrt alle“, sagte der vierte, „ein Elefant ist viel- verständnisse bei der Problemformulierung, desto
mehr wie ein kurzer, biegsamer Stock, an dessen En- weniger wird an den Bedürfnissen der betroffenen
de ein Büschel Reisstroh befestigt ist.“ Der Weise lä- Menschen „vorbeigepflegt“. Somit nimmt eine gute
chelte – die Schüler schwiegen (Konfuzius zitiert Wahrnehmungsfähigkeit auch Einfluss auf die Pfle-
nach Sitzmann, 1995). gequalität.
Mithilfe der Wahrnehmung bildet sich unsere
Wirklichkeit. An der Geschichte von der Beschreibung Fazit: Die Wahrnehmung ist ein Prozess, bei
eines Elefanten wird deutlich, dass wir nur einen klei- dem innere und äußere Reize verarbeitet
nen Ausschnitt aus der Gesamtwirklichkeit wahrneh- werden. Um wahrnehmen zu können, sind
men, den wir zu unserer Wirklichkeit erklären. Wahr- physiologische Voraussetzungen notwendig: Aufnah-
nehmungen sind immer nur (ähnliche) Abbilder von meorgane mit spezifischen Sensoren, Weiterleitungen
bestimmten Situationen oder Zuständen. Wir glau- über Nerven sowie verarbeitende Zentren im Gehirn.
ben, dass das, was wir sehen, fühlen, riechen usw., die

BAND 2 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege 31


KaelDesu
1 Wahrnehmung

Die vielfältigen Informationen, die das Gehirn erhält,


1 werden gefiltert, aussortiert, verglichen, mit anderen Literatur:
Zentren verknüpft und zu einer ganzheitlichen Empfin-
dung verarbeitet. Bienstein, Ch., A. Fröhlich: Basale Stimulation in der Pflege.
8. Aufl. Hogrefe Verlag, Bern 2016
In der traditionellen Vorstellung wird über die fünf
Birbaumer, N., R. F. Schmidt: Biologische Psychologie, 7. Aufl.
Sinne Auge, Ohr, Nase, Zunge und Haut wahrgenom-
Springer Medizin Verlag, Heidelberg 2010
men. Inzwischen sind weitere Wahrnehmungssysteme Bushdid, C., M. O. Magnaso, L. B. Vosshall, A. Keller: Humans
bekannt, die Informationen über die Körperlage, die Can Discriminate More thans 1 Trillion Olfactory Stimuli.
Körperbewegungen und die Körpergrenzen übermit- In: Science 343 (2014) pp. 1370 – 1372
teln und wichtige Elemente für die Orientierung im Fröhlich, A. D. (Hrsg.): Wahrnehmungsstörungen und Wahr-
Raum und die Eigenwahrnehmung darstellen. Spezifi- nehmungsförderung. 11. Aufl. Universitätsverlag Winter
GmbH, Heidelberg 2005
sche Sensoren der inneren Organe sorgen in erster Linie
Gerrig, R.: Psychologie. Begr. von P. Zimbardo. 20. Aufl. Pearson
für ein Gleichgewicht vegetativer Regulationsvorgän- Studium, Hallbergmoos 2016
ge. Hornung, R., J. Lächler: Psychologisches und soziologisches
Die Wahrnehmung kann sowohl physisch als auch Grundwissen für Krankenpflegeberufe. 10. Aufl. Beltz,
psychisch beeinflusst werden und es kann zu vielfälti- Weinheim/Basel 2011
gen Formen von Wahrnehmungsausfällen, -täuschun- Huch, R., K. D. Jürgens (Hrsg.): Mensch Körper Krankheit, Ana-
tomie, Physiologie, Krankheitsbilder, Lehrbuch und Atlas
gen, -verzerrungen, aber auch zu -verstärkungen kom-
für Berufe im Gesundheitswesen, 7. Aufl. Urban & Fischer,
men.
Elsevier GmbH, München 2015
Die soziale Wahrnehmung bezieht sich auf die Per- Hülshoff, T.: Das Gehirn, Funktionen und Funktionseinbußen;
sonenwahrnehmung in Abhängigkeit von der Selbst- eine Einführung für pflegende, soziale und pädagogische
wahrnehmung. Sie dient u. a. dazu, sich innerhalb der Berufe. 3. Aufl. Hans Huber, Bern 2008
Gesellschaft zu bewegen und zu orientieren, sowie sich I care Anatomie Physiologie. Thieme, Stuttgart 2015
Zugehörigkeit und Akzeptanz zu verschaffen. Nolting, H. P., P. Paulus: Psychologie lernen – eine Einführung
und Anleitung. Neuauflage, Beltz, Weinheim, Basel 2016
Für Pflegepersonen ist das Wissen um die Wahrneh-
Peters, U. H.: Wörterbuch der Psychiatrie und medizinischen
mungsvorgänge sowie deren Beeinflussung von Bedeu-
Psychologie. 7. Aufl. Urban & Fischer, Elsevier GmbH, Mün-
tung, besonders im Umgang mit wahrnehmungsbeein- chen 2016
trächtigen Menschen und bei der Auseinandersetzung Sacks, O.: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechsel-
mit interaktionalen Prozessen sowohl in der Pflege- te. Rowohlt, Reinbek 2008
situation als auch im Team. Schwegler, J., R. Lucius: Der Mensch. Anatomie und Physiolo-
gie. 6. Aufl. Thieme, Stuttgart 2016
Zimbardo, P. G.: Psychologie. 7. Aufl. Springer, Berlin 2003

32 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege BAND 2


KaelDesu

2 Beobachtung
Eva Eißing

2
Übersicht
Einleitung · 33
2.1 Beobachtung als Prozess · 34
2.1.1 Beobachtungsarten · 36
2.2 Beobachtung in der Pflege · 37
2.2.1 Zeitpunkt · 37
2.2.2 Hilfsmittel · 37
2.2.3 Systematik · 39
2.3 Beeinflussende Faktoren bei der
Beobachtung · 41
2.4 Bedeutung der Beobachtung in der
Pflege · 43
2.4.1 Beobachtung als Grundlage für
pflegerisches Handeln · 43 Gelegenheiten zur Beobachtung ergeben sich in
2.4.2 Ziele der Beobachtung in der Pflege · 43 der Pflege bei jedem Kontakt zwischen pflegebedürf-
2.4.3 Qualität der Beobachtung · 44 tigen Menschen und Pflegeperson.
2.4.4 Dokumentation · 45 Beobachtung ist eine Kunst, die neben theoreti-
2.4.5 Anforderungen an das Pflegepersonal · 45 schem Wissen und praktischen Fähigkeiten auch
Fazit · 46 Einfühlungsvermögen, Kombinationsfähigkeit und
Literatur · 46 Erfahrung erfordert.
In Abgrenzung zu dem Begriff Beobachtung ist die
Schlüsselbegriffe: Wahrnehmung ein Prozess, bei dem innere und äu-
ßere Reize auf das sensorische System einströmen,
왘 Beobachtung verarbeitet werden und Empfindungen auslösen. Ein
왘 Beobachtungsprozess Filtersystem bewirkt, dass nicht alle Reize, die auf un-
sere Sinneszellen bzw. -organe treffen, die verarbei-
tenden Zentren im Gehirn erreichen (s. a. S. 5). Die
Einleitung Wahrnehmung wird durch physische und psychische
Faktoren beeinflusst und entsprechend unterschied-
Beobachtung ist im Gegensatz zur bloßen Wahrneh- lich erlebt. Demzufolge bilden sich bei den Menschen
mung von Situationen und Gegebenheiten ein be- individuelle Wirklichkeiten (s. a. S. 19).
wusster, systematischer und zielgerichteter Vorgang, Geht die zunächst unspezifische Wahrnehmung
bei dem die Aufmerksamkeit auf einzelne Phänome- in untersuchendes und auf Veränderung hin gerich-
ne gerichtet wird. Durch ihn werden Informationen tetes Betrachten über, entsteht Beobachten.
gewonnen, die eine Anpassung des Handelns an ak- Das bedeutet, die Sinne werden bewusst auf ein
tuelle Situationen ermöglichen. Objekt oder beobachtbares Kriterium hingelenkt, um
Die Beobachtung Pflegebedürftiger gehört zu den es intensiver wahrzunehmen.
wichtigsten pflegerischen Aufgaben, da die hierbei
gewonnenen Informationen die Basis für alle weite- Definition: Beobachten ist eine systematische
ren Schritte im Pflegeprozess darstellen. Sie ist so- und planmäßige Form der Wahrnehmung mit
wohl auf gesunde als auch auf beeinträchtigte Antei- dem Ziel, neue Erkenntnisse zu gewinnen und
le eines Menschen gerichtet und berücksichtigt Entscheidungen zu treffen.
darüber hinaus dessen physische und psychische
Verfassung.

BAND 2 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege 33


KaelDesu
2 Beobachtung

Bei der speziellen Beobachtung in der Pflege richtet Abb. 2.1 verdeutlicht die Struktur des Beobach-
sich die Aufmerksamkeit insbesondere auf die ge- tungsprozesses:
sunden und beeinträchtigten Anteile eines Men- 1. Zunächst wird aus der Fülle der Wahrnehmungs-
schen. Dabei werden Krankheitssymptome, Verhal- reize die Aufmerksamkeit auf einzelne, beobacht-
2 tensweisen sowie das Befinden mit einbezogen. Au- bare Kriterien oder Symptome gelenkt. Dieser
ßer der Wahrnehmung mit unseren Sinnesorganen Auswahlvorgang wird auch als Selektion von
ist der Einsatz spezifischer Methoden wie z. B. das Wahrnehmungsreizen bezeichnet, das Lenken
Benutzen von Messinstrumenten, Befragungen der auf bestimmte Symptome als Fokussierung.
Betroffenen und Angehörigen oder weiterer Pflege-
kräfte notwendig. Die Begriffe Wahrnehmung und Beispiel: Einer Pflegekraft fällt das stark ge-
Beobachtung werden häufig synonym verwendet. rötete Gesicht eines spielenden Kindes auf;
Folgendes Beispiel soll den Unterschied verdeutli- sie lenkt ihre Aufmerksamkeit auch auf die
chen: Haut weiterer Körperteile. Dabei rücken andere Wahr-
nehmungen, wie beispielsweise das Schreien und To-
Beispiel: Das Sehen eines gehbehinderten ben anderer Kinder oder das Verhalten beim Spiel, in
Menschen, der sich mehr humpelnd und mit- den Hintergrund.
hilfe einer Gehstütze fortbewegt, wird als
Wahrnehmung bezeichnet. Wird unsere Aufmerksam- 2. Im nächsten Schritt folgt die Suche nach ver-
keit durch das Humpeln auf weitere Merkmale gelenkt, gleichbaren, bereits bekannten Merkmalen auf-
wie beispielsweise auf die Körperhaltung, das Gleich- grund von vorhandenen Erfahrungen oder Fach-
gewichtsverhalten oder die Mimik des Gehenden, han- wissen. Je größer das Fachwissen ist, desto um-
delt es sich bereits um einen Beobachtungsvorgang. fangreicher sind Vergleichsmöglichkeiten.

Bei der speziellen Beobachtung in der Pflege beginnt Beispiel: Die rote Gesichtshaut kann Aufre-
die Suche nach vergleichbaren Merkmalen, Interpre- gung, Freude, Hitze durch Fieber oder An-
tationsmöglichkeiten und Bewertungen wie z. B.: strengung, aber auch einen hohen Blutdruck,
Handelt es sich um eine Verschleißerscheinung des einen allergischen Hautausschlag oder einen Sonnen-
Hüftgelenks? Trägt der humpelnde Mensch eine brand bedeuten.
schlecht sitzende Beinprothese? Ist die Gehbehinde-
rung Folge einer Lähmung? Hat der Gehbehinderte 3. Daraus entsteht der Wunsch nach Erklärung. Wei-
Schmerzen?, usw. tere Fragestellungen grenzen Interpretations-
möglichkeiten und Überlegungen zur Überprü-
fung ein.
2.1 Beobachtung als Prozess
Beispiel: Fühlt sich die gerötete Haut heiß
Beobachtung ist kein starrer Vorgang, sondern voll- und/oder feucht an? Ist die Hautoberfläche
zieht sich, ähnlich wie die Wahrnehmung, dyna- verändert? Wie ist der Bewusstseinszu-
misch und prozesshaft. Das bedeutet, dass die Ergeb- stand? Wie lange hat das Kind gespielt oder war es in-
nisse der Beobachtung neue Fragen aufwerfen, nach tensiver Sonnenstrahlung ausgesetzt? Wie ist die At-
denen weiter gezielt beobachtet wird. mung, der Puls etc.?
Innerhalb des Beobachtungsprozesses verändern
sich die Daten und das Befinden der Pflegebedürfti- 4. Entsprechend der Fragestellung folgt die Über-
gen, wie z. B. in Notfallsituationen oder während der prüfung. Bei der speziellen Beobachtung in der
Genesung. Diese Veränderungen erfordern eine fle- Pflege setzt dieser Schritt theoretisches Fachwis-
xible Gestaltung der Arbeitsabläufe bzw. eine Anpas- sen voraus.
sung an die Bedürfnisse des Menschens innerhalb
des Pflegeprozesses.

34 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege BAND 2


KaelDesu
2.1 Beobachtung als Prozess

(Waden- 2
wickel)

Fieber?

Abb. 2.1 Beobachtungsprozess

Beispiel: Die Pflegekraft wird entsprechen- 6. Die anschließenden pflegerischen und therapeu-
de Maßnahmen ergreifen wie Hauttempera- tischen Maßnahmen werden sorgfältig und mit
tur fühlen, Messen der Körpertemperatur mit spezieller Aufmerksamkeit geplant und durchge-
einem Fieberthermometer, Hautoberfläche genauer führt. Eine permanente Beobachtung und Über-
betrachten, Atemfrequenz und -tiefe messen, Bewusst- prüfung der durchgeführten Maßnahmen sowie
sein und Reaktion beobachten etc. . . deren Wirkung schließt hier den Kreis des Be-
obachtungsprozesses.
5. Nach der Überprüfung folgt die Bewertung der
beobachteten Ergebnisse. Sie stellt die entschei- Beispiel: Der Arzt ordnet die Gabe eines fie-
dende Voraussetzung für professionelles, pflege- bersenkenden Medikamentes und Wadenwi-
risches und therapeutisches Handeln dar. ckel an. Die Pflegekraft wird die Wirkung der
fiebersenkenden Maßnahmen überprüfen, indem sie in
Beispiel: Die Überprüfung hat ergeben, dass angemessenen Abständen die Körpertemperatur nach-
die Körpertemperatur 39,5 ⬚C rektal beträgt, misst. Sie wird weiterhin auf zusätzliche fiebersenken-
das Kind schläfrig wirkt, die Atmung und der de (Neben-)Wirkungen achten, z. B. Kreislaufverände-
Puls beschleunigt sind, die Haut feucht, aber glatt ist. rungen. Schwitzt das Kind sehr stark, wird die Pflege-
Die daraus resultierende Bewertung stellt Fieber fest, kraft für einen Flüssigkeitsausgleich sorgen und genü-
begleitet von einer Tachykardie und Tachypnoe. gend zu trinken anbieten oder auf die Anordnung einer
Infusionstherapie achten.

BAND 2 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege 35


KaelDesu
2 Beobachtung

2.1.1 Beobachtungsarten Fremdbeobachtung


Die Beobachtung kann auf unterschiedliche Art und Definition: Fremdbeobachtung ist die Beob-
Weise geschehen. Je nachdem, aus welchem Blick- achtung eines anderen Menschen, seines Verhal-
winkel Beobachtung stattfindet, handelt es sich um: tens und seiner Äußerungen.
2 subjektive Beobachtung,
objektive Beobachtung, Pflegende sollten bemüht sein, ihre Beobachtungser-
Selbstbeobachtung, gebnisse so objektiv wie möglich darzustellen. Es ge-
Fremdbeobachtung. staltet sich häufig schwierig, Reaktionen und Verhal-
tensweisen zu beobachten und wertfrei zu doku-
Subjektive Beobachtung mentieren oder im Team zu besprechen, da Wahr-
Definition: Subjektive Beobachtung bedeutet, nehmungseinflüsse und -verzerrungen die Beobach-
dass einseitig aus dem Blickwinkel der eigenen tung beeinflussen und die Ergebnisse nicht selten
Person beobachtet und beurteilt wird, d. h., eine wenig über die tatsächliche Befindlichkeit des Pfle-
einzige Person beobachtet eine andere. gebedürftigen aussagen.

Beispiel: Eine leicht pflegebedürftige, 85 Selbstbeobachtung


Jahre alte Frau wird morgens von einer Pfle- Definition: Die Selbstbeobachtung ist im Ge-
gekraft der Sozialstation versorgt. Seit eini- gensatz zur Fremdbeobachtung auf den eigenen
ger Zeit beobachtet die Pflegekraft eine zunehmende Bewusstseinsablauf gerichtet. Sie wird auch als
Vergesslichkeit und Konzentrationsschwäche. Um ih- Introspektion bezeichnet.
ren subjektiven Eindruck zu überprüfen, entsteht bei
der Pflegeperson der Wunsch nach einem Gespräch mit Wissenschaftlich betrachtet bietet die Selbstbe-
den Angehörigen. obachtung keine genauen Ergebnisse. Ursache dafür
sind die vielen psychischen Einflüsse und die unter-
Objektive Beobachtung schiedlichen Darstellungen von Erlebnissen, die eine
Definition: Eine objektive Beobachtung ist im objektive Überprüfung verhindern.
Gegensatz zur subjektiven Beobachtung sach- Im Umgang mit pflegebedürftigen Menschen bil-
lich, d. h. nicht von Gefühlen und Vorurteilen be- det die Selbstbeobachtung jedoch eine elementare
einflusst. Basis für den Aufbau einer pflegerischen Beziehung
sowohl für die Pflegekraft als auch für den Pflegebe-
Letztlich können Menschen nicht vollständig objek- dürftigen. Der Pflegebedürftige trägt durch die be-
tiv beobachten, weil ihre Wahrnehmung kontinuier- wusste Wahrnehmung und Darstellung seiner Emp-
lich beeinflussenden Faktoren unterliegt (s. a. S. 4); findungen zur Ermittlung seiner individuellen Be-
messbare und nachprüfbare Beobachtungen errei- dürfnisse und Befindlichkeit bei. Die Pflegekraft ist
chen jedoch eine größtmögliche Objektivität. Objek- folglich in der Lage, notwendige Pflegemaßnahmen
tive Beobachtungsergebnisse können durch Messen unter der Berücksichtigung der individuellen Situati-
bestimmter Beobachtungsmerkmale ermittelt wer- on zu planen. Diese Vorgehensweise hilft, Missver-
den, z. B. die Körpertemperatur mittels Fieberther- ständnisse zwischen der Pflegekraft und dem Pflege-
mometer oder die Pulsfrequenz mithilfe der Pulsuhr bedürftigen zu vermeiden und die Zufriedenheit der
(s. a. S. 129 und S. 159). Beteiligten zu steigern.
Eine annähernde objektive Beobachtung von Für die Pflegekraft stellt die Selbstbeobachtung
menschlichem Verhalten und Reaktionen kann er- eine notwendige Voraussetzung dar, ihr pflegeri-
reicht werden, wenn mehrere Personen, unabhängig sches Handeln zu reflektieren. Je differenzierter sie
voneinander, aufgrund eindeutiger Kriterien zum ihre positiven und negativen Gefühle im Umgang mit
gleichen Ergebnis kommen. hilfsbedürftigen Menschen und ihren individuellen
In Bezug auf das Beispiel könnte bei dem an- Reaktionen wahrnehmen und zulassen kann, desto
schließenden Gespräch mit den Angehörigen festge- gründlicher lernt sie, sich mit ihnen auseinanderzu-
stellt werden, dass auch ihnen die zunehmende Ver- setzen und sie zu verarbeiten.
gesslichkeit und Konzentrationsschwäche aufgefal- Die Auseinandersetzung mit den eigenen Gefüh-
len ist und Sorgen bereitet. len ist erforderlich, um psychische Einflussfaktoren

36 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege BAND 2


KaelDesu
2.2 Beobachtung in der Pflege

und Wahrnehmungsverzerrungen zu erkennen so- wie z. B. den Bewusstseinszustand, die Sprache, die
wie deren Beeinflussungen zu mindern (s. a. S. 4). Da- Haut, die Körperhaltung usw.
raus folgend kann sich eine solide Grundlage entwi- Beobachtung kann aber auch planmäßig auf ein-
ckeln, in der eine empathische und offene Begeg- zelne Kriterien gerichtet sein, wie z. B. die postopera-
nung zwischen Pflegepartnern, d. h. Pflegekraft und tive halbstündliche Blutdruck-, Puls- und Bewusst-
2
Pflegeperson, möglich wird. seinskontrolle oder auch die Stundenurinmessung.
Spezielle, meist standardisierte Überwachungsbö-

!
Merke: Abhängig vom Blickwinkel der Be- gen helfen, einen angeordneten Zeitrhythmus kor-
obachtung wird zwischen subjektiver und rekt einzuhalten. Sie dienen ferner dazu, den Verlauf
objektiver sowie Fremd- und Eigenbeobach- der Beobachtungen zu dokumentieren und entspre-
tung unterschieden. chend den gesetzlichen Forderungen nachvollzieh-
bar zu machen.
Zusammenfassung:
Beobachtung als Prozess
2.2.2 Hilfsmittel
Beobachten ist im Gegensatz zum Wahrnehmen ein
An der Beobachtung in der Pflege sind in erster Linie
systematischer, zielgerichteter und selektiver Pro-
unsere Sinnesorgane beteiligt, die jedoch häufig
zess.
durch Hinweise von Betroffenen oder durch Benut-
Beobachtung ist ein prozesshafter Vorgang, der Se-
zen von Hilfsmitteln komplettiert werden müssen.
lektion von Wahrnehmungsreizen, Suchen nach
Eine umfassende Beobachtung kann erreicht werden
vergleichbaren Merkmalen, Fragestellungen und
durch:
Interpretationsmöglichkeiten, ihre Überprüfung
Einsatz der Sinnesorgane,
und Bewertung sowie Überprüfung der Wirkung
Informationen von Pflegebedürftigen und ihren
pflegerischen Handelns beinhaltet.
Angehörigen,
Beobachtung kann auf verschiedene Weise stattfin-
Anwendung spezifischer Instrumente,
den: Subjektive Beobachtung, objektive Beobach-
Anwendung spezifischer Teststreifen,
tung, Selbstbeobachtung, Fremdbeobachtung.
Anwendung von Skalen,
Informationen aus dem Pflegeteam.
2.2 Beobachtung in der Pflege
Einsatz der Sinnesorgane
Die Beobachtung in der Pflege stellt eine der wich- Es sind primär die Fernsinne, die bei der Beobach-
tigsten pflegerischen Aufgaben dar. Der Pflegealltag tung in der Pflege von Bedeutung sind, besonders die
bietet vielfältige Möglichkeiten. Die systematische Augen, Ohren, Nase und Haut (s. a. S. 4). Die Augen
Beobachtung in der Pflege richtet sich nach be- nehmen eine dominante Stellung ein, da sie für fast
stimmten Kriterien und Fragestellungen: alle Beobachtungsbereiche benötigt werden (s. a.
Zeitpunkt (Wann erfolgt Beobachtung?), S. 64 ff). Sie sind unersetzlich sowohl beim Betrach-
Hilfsmittel (Womit erfolgt Beobachtung?), ten einzelner körperlicher Merkmale als auch beim
Systematik (Wie erfolgt Beobachtung?). Ablesen von Daten, die mithilfe von Messinstrumen-
ten ermittelt werden.
2.2.1 Zeitpunkt Aufmerksames Hören wird erforderlich bei der
Beobachtung in der Pflege erfolgt im Rahmen des Beurteilung von Sprache und Stimme. Auch die Un-
Pflegeprozesses. Sie beginnt mit dem Erstkontakt terscheidung verschiedener Geräusche, beispiels-
und wird intensiviert während der Informations- weise bei der Atmung oder beim Gehen, stellt oft-
sammlung bzw. der Pflegeanamnese. mals hohe Anforderungen an den Beobachter.
Spezielle Beobachtung von pflegebedürftigen Die Nase hilft uns, Veränderungen bei Ausschei-
Menschen ist nomalerweise eine kontinuierliche, in dungen und Atmung näher zu differenzieren.
den Pflegealltag integrierte Maßnahme, z. B. wäh- Die Haut ist in ihrer Funktion als Tastorgan fähig,
rend der Körperpflege oder der Hilfestellung bei der den Spannungszustand eines Muskels zu fühlen und
Nahrungsaufnahme. Im Laufe dieser komplexen Bewegungen zu spüren. Die Fingerkuppen tasten den
Pflegehandlungen lenkt die Pflegeperson ihre Auf- Pulsschlag an den Arterien, die Hände fühlen die
merksamkeit gleichzeitig auf mehrere Merkmale Hauttemperatur. Tasten, Berühren und Bewegen er-

BAND 2 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege 37


KaelDesu
2 Beobachtung

möglichen zudem einen Wechsel von der verbalen lich. Diese dienen der annähernd objektiven Siche-
auf die nonverbale Kommunikationsebene. Die non- rung von Beobachtungsergebnissen. Instrumente,
verbalen Äußerungen können besonders bei be- die häufig eingesetzt werden, sind das Blutdruck-
wusstseinseingeschränkten Menschen als wertvolle messgerät, eine Uhr mit Sekundenzeiger, das Fieber-
2 Informationsquelle genutzt werden. thermometer oder die Waage. In speziellen Pflegebe-
Der Geschmackssinn spielt bei der Beobachtung reichen, z. B. auf einer Intensivstation, gibt es viele
in der Pflege heute nahezu keine Rolle mehr. Er wur- spezifische Instrumente. Diese messen, entspre-
de in Zeiten eingesetzt, in denen es noch keine Labor- chend den krankheitsbedingten Erfordernissen, aus-
instrumente gab; z. B. war es üblich, den Urin zu gewählte Beobachtungsmerkmale und stellen sie auf
schmecken, um Zucker im Urin nachzuweisen. Monitoren dar, wie z. B. eine Hirndruckmessung oder
Atemkurve. Dadurch werden engmaschige Kontrol-
Informationen von Pflegebedürftigen und ihren len unabhängig vom Befinden, der Konzentration
Angehörigen und der Aufmerksamkeit der beobachtenden Pflege-
Gewöhnlich wird der pflegebedürftige Mensch im kraft möglich.
Rahmen des Pflegeprozesses kontinuierlich nach sei-

!
nen Bedürfnissen sowie seiner Befindlichkeit be- Merke: Zwar können Apparate einzelne Be-
fragt. Durch den häufigen Kontakt der Pflegekräfte obachtungsmerkmale exakter messen und
zum Pflegebedürftigen entwickelt sich nicht selten die Pflegekräfte entlasten, die Erfassung des
eine intensive Kommunikation mit entsprechendem Menschen in seiner Ganzheitlichkeit kann allerdings
Informationsaustausch. Dabei fließen wesentliche allein durch Apparate niemals erreicht werden.
Anhaltspunkte in die bereits ermittelten Beobach-
tungsergebnisse ein und vervollständigen das Ge- Anwendung spezifischer Teststreifen
samtergebnis. Mittels Teststreifen können hauptsächlich Blut und
Bei Menschen, die sich nicht oder kaum mitteilen Ausscheidungen untersucht werden. Sie geben Aus-
können, stellen Informationen von begleitenden An- kunft über die Mengen an physiologischen und pa-
gehörigen bzw. Einweisungsberichte/Übergabebe- thologischen Inhaltsstoffen, wie z. B. Blut, Zucker, Ei-
richte von betreuenden Einrichtungen oder einwei- weiß, Harnstoff etc. im Urin. Die Handhabung richtet
senden Ärzten eine wertvolle Hilfe dar. sich jeweils nach den Empfehlungen des Herstellers.
Von den Normwerten abweichende Ergebnisse müs-
Beispiel: Eine postoperativ auftretende Un- sen zusätzlich im Labor überprüft werden. In einigen
ruhe und Desorientiertheit eines Menschen Fällen werden Teststreifen in Verbindung mit elek-
kann verschiedene Ursachen haben. Die Be- tronischen Geräten ausgewertet, so z. B. bei der Blut-
fragung der Angehörigen nach üblichen Lebensge- zuckermessung.
wohnheiten, z. B. auch Alkoholkonsum der erkrankten
Person in der Vergangenheit, kann frühzeitig Auf- Anwendung von Skalen
schluss geben und ermöglicht zielgerichtetes pflegeri- Skalen erleichtern die objektive Einschätzung indivi-
sches Handeln. Die Pflegekraft wird daraufhin ihre Auf- duell und subjektiv ermittelter Beobachtungsdaten.
merksamkeit auf spezifische Beobachtungsbereiche Sie kommen häufig bei der Einschätzung eines Risi-
und deren Kriterien richten. Dazu gehören u. a. die kos für bestimmte Veränderungen zum Einsatz, z. B.
Kontrolle von Blutdruck und Puls, die Beurteilung der die Braden-Skala zum Einschätzen des Dekubitus-
Schweißsekretion und die Hautbeobachtung. risikos.

Diese Vorgehensweise bietet die Möglichkeit, nach- Informationen aus dem Team und der
folgende Pflegemaßnahmen konstruktiv und effektiv Dokumentation
zu gestalten. Die Ergebnisse der Beobachtung müssen dokumen-
tiert und im Team ausgetauscht und besprochen
Anwendung spezifischer Instrumente werden. Zum Team gehören alle an der Pflege und
Bestimmte Messkriterien, die durch die Sinne nicht Therapie beteiligten Personen. Erst die Auswertung
oder nur ungenau erfasst werden, machen den Ein- aller Beobachtungsdaten führt zu einem annähernd
satz von Hilfsmitteln oder Instrumenten erforder- objektiven Gesamtbeobachtungsergebnis. Die Doku-

38 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege BAND 2


KaelDesu
2.2 Beobachtung in der Pflege

mentation sollte so genau und wertfrei wie möglich Körperorgane


sein, damit jeder einen ungefähr gleichen Informati- Eine anderes Beobachtungsschema orientiert sich an
onsstand besitzt (s. a. S. 45). einzelnen Körperorganen oder Organsystemen wie
z. B. dem Bewegungs- und Stützapparat, dem Ner-
Zusammenfassung: vensystem, dem Atmungssystem, dem Herz-Kreis-
2
Hilfsmittel für die Beobachtung laufsystem oder den Organen des Verdauungssys-
Beobachten ist eine der wichtigsten pflegerischen tems. Da die Organsysteme in vielen Fällen der äu-
Aktivitäten, die kontinuierlich während des Pflege- ßerlichen Inspektion nicht zugänglich sind, werden
alltags, aber auch planmäßig durch Überprüfung andere diagnostische Möglichkeiten herangezogen.
bestimmter Kriterien stattfindet. Die Anordnung und Auswertung dieser Untersu-
Die eigenen Sinnesorgane und der Informations- chungen unterliegen überwiegend dem ärztlichen
austausch mit den Pflegebedürftigen und ihren An- Bereich. Dazu gehören beispielweise
gehörigen sind wichtige Beobachtungsmöglichkei- Röntgen- und Laboruntersuchungen,
ten. das Aufzeichnen elektrischer Aktionsströme von
Messinstrumente wie Uhr, Fieberthermometer, Herz und Gehirn (EKG und EEG),
Waage und Blutdruckgerät, aber auch spezifische Punktionen einzelner Organe oder
Teststreifen und Skalen sind häufig verwendete endoskopische Untersuchungen.
Hilfsmittel der Beobachtung.
Die auf die Organe gerichtete Beobachtung führt zu
2.2.3 Systematik einer krankheitsbezogenen, medizinischen Betrach-
Beobachtung bedeutet Selektion und Sortieren von tungsweise. Im Vordergrund stehen Funktionen,
wahrgenommenen Informationen kranker Men- Teil- bzw. Restfunktionen und Versagen der Organ-
schen. Damit die Ergebnisse der Beobachtung sinn- systeme. Der Mensch in seiner körperlich-geistig-
voll verarbeitet werden können, ist eine Systemati- seelischen Gesamtsituation rückt hierbei in den Hin-
sierung notwendig. Verschiedene Möglichkeiten tergrund. Die derart ermittelten Beobachtungs- und
kommen je nach Bedarf zur Anwendung: Untersuchungsergebnisse können demnach nur ei-
„Von Kopf bis Fuß“, nen Ausschnitt der ganzheitlichen Betrachtungswei-
Körperorgane, se des Menschen darstellen.
Pflegetheorien,
Klassifikationssystem der Pflegediagnosen, Pflegetheorien
Beobachtungsbereiche. Die Orientierung an Pflegetheorien bzw. Pflegemo-
dellen bietet eine weitere Möglichkeit, Beobachtung
„Von Kopf bis Fuß“ zu systematisieren (s. a. Bd. 1, Kap. 4.3.8).
Bei der „Von Kopf bis Fuß“-Methode wird der gesam- Ein besonders im deutschsprachigen Raum be-
te Körper des Menschen abschnittsweise inspiziert kanntes und angewandtes Modell ist das von Nancy
und untersucht. Beginnend am Kopf werden die Haa- Roper, Winifried Logan und Alison Tierney. In ihrem
re, das Gesicht, die Mimik, die Augen, der Mund, die Werk „Die Elemente der Krankenpflege“ beschreiben
Nase, die Ohren etc. sowohl anatomisch als auch phy- sie ein „Modell des Lebens“. Basierend auf menschli-
siologisch untersucht. Die Sprache und der Hörein- chen Aktivitäten, enthält es alle Elemente der Pflege.
druck sind hierbei ebenso wichtig wie das Sehen, das Die menschlichen Aktivitäten sind in 12 Lebensakti-
Riechen und der Schluckvorgang. vitäten (LA) unterteilt:
Auf diese Art werden sämtliche Teile des Körpers für eine sichere Umgebung sorgen,
gezielt beobachtet. Der Vorteil dabei ist, dass kein kommunizieren,
Körperteil übersehen oder vergessen wird. Es be- atmen,
steht allerdings die Gefahr der verminderten Ge- essen und trinken,
samteinschätzung. ausscheiden,
sich sauber halten und kleiden,
die Körpertemperatur regulieren,
sich bewegen,
arbeiten und spielen,

BAND 2 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege 39


KaelDesu
2 Beobachtung

sich als Mann und Frau fühlen und verhalten,


schlafen, Fragebogen zum Aufnahmegespräch bei
sterben. einem Erwachsenen
(aus: Gordon, M.: Handbuch Pflegediagnosen.
2 Anhand dieser Kategorien können Beobachtungen 5. Aufl. Hans Huber, Hogrefe AG, Bern 2013
sowohl der gesunden als auch der beeinträchtigten S. 53 – 54)
Anteile eines Menschen durchgeführt und doku-
a) Allgemeines Erscheinungsbild, Pflege des
mentiert werden.
Äußeren, Körperpflege

Klassifikationssystem der Pflegediagnosen b) Mundschleimhaut (Farbe, Feuchtigkeit, Läsionen)


Die Analyse aus den Informationen der Pflegeanam-
c) Zähne: Zahnersatz/ Karies Fehlende Zähne
nese sowie der Beobachtung führt zur Problemfor-
Prothese
mulierung bzw. Pflegediagnosestellung. Pflegediag-
nosen dienen dazu, gesundheitliche Probleme von d) Kann Flüstern hören
Menschen zu erkennen, zu benennen und Lösungs-
e) Kann Zeitung lesen Brillenträger
möglichkeiten zu erarbeiten. Gleichzeitig stellen sie
auch eine Abgrenzung zu medizinischen Diagnosen f) Pulsfrequenz Rhythmus Stärke
dar. Pflegediagnosen sind feststehende, standardi- g) Atmung Tiefe Rhythmus
sierte Begrifflichkeiten und national einheitlich ver-
wendbar (s. a. Bd. 1, Kap. 7). h) Atemgeräusche Blutdruck
Marjory Gordons Pflegediagnosen basieren auf i) Händedruck Kann einen Bleistift
der Arbeit der Nordamerikanischen Pflegediagno- aufheben?
senvereinigung (NANDA). Sie hat die Pflegediagno-
sen nach 11 funktionalen Gesundheitsverhaltens- j) Bewegungsfähigkeit Festigkeit der Muskulatur
mustern innerhalb eines pflegerischen Bezugsrah- (Gelenke) (Tonus)
mens geordnet: k) Haut: Knochen- Läsionen Farbver-
Wahrnehmung und Umgang mit der eigenen Ge- vorsprünge änderungen
sundheit,
Ernährung und Stoffwechsel, l) Gang Haltung Fehlende
Ausscheidung, Gliedmaßen
Aktivität und Bewegung, m) Kann folgende Aktivitäten durchführen (Code oder
Schlaf und Ruhe, Grad angeben).
Kognition und Perzeption,
Essen/Trinken Pflege des Äußeren
Selbstwahrnehmung und Selbstkonzept,
Baden/Körperpflege Allgemeine Mobilität
Rollen und Beziehungen,
Toilettengang Kochen
Sexualität und Reproduktion,
Bettmobilität Hausarbeit
Bewältigungsverhalten und Stresstoleranz,
Sich-Kleiden Einkaufen
Werte und Überzeugungen.
n) I.v.-Zugang, Drainagen, Saugdrainagen etc.
Je systematischer und klarer die Ergebnisse der In- (zu spezifizieren)
formationssammlung und der Beobachtung sind, o) Tatsächliches Angegebenes
desto einfacher und zuverlässiger kann eine Pflege- Gewicht Gewicht
diagnose gestellt werden. Informationssammlungen
sowie Beobachtungen können methodisch struktu- p) Körpergröße Temperatur
riert werden durch Informationssammlungs- bzw. Während der Anamnese und Untersuchung
Beobachtungsbögen. Sie erlauben einen Überblick
für Sammlung und Überprüfung pflegerischer q) Orientierung Versteht Ideen und Fragen
Grundinformationen. Die von M. Gordon vorgeschla- (abstrakt, konkret)
genen Fragebögen zum Aufnahmegespräch bei Er- r) Gesprochene Sprache Stimm- und Sprech-
wachsenen und Kindern sehen wie folgt aus: muster

40 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege BAND 2


KaelDesu
2.3 Beeinflussende Faktoren bei der Beobachtung

Beispiel: Die Haut wird systematisch hin-


s) Umfang Wortschatz
sichtlich Farbe, Temperatur, Spannung und
t) Blickkontakt Aufmerksamkeitsspanne Beschaffung der Oberfläche inspiziert und
(Ablenkung) beurteilt. Viele Veränderungen der Haut sind typisch
und können einer Erkrankung zugeordnet werden.
2
u) Nervös (5) oder entspannt (1): Einschätzen von
1. bis 5.
Durch Beobachten weiterer, ergänzender Beobach-
v) Beteiligt (5) oder passiv (1): Einschätzen von tungspunkte erfolgt eine zunehmende Abgrenzung
1. bis 5. und Eingrenzung. Je sorgfältiger und exakter sowohl
die Ergebnisse einzelner und ergänzender Beobach-
w) Interaktion mit Familienmitgliedern, Betreuer,
tungsbereiche zusammenhängend ausgewertet
anderen Personen (soweit anwesend)
werden, desto leichter und transparenter gestaltet
sich auch hier die Problemformulierung und Pflege-
diagnosestellung.

Fragebogen zum Aufnahmegespräch bei


Beispiel: Bei anhaltender Übelkeit und Er-
einem Säugling oder Kleinkind
brechen wird auch die Haut auf ihre Span-
(aus: Gordon, M.: Handbuch Pflegediagnosen.
nung hin überprüft. Gleichzeitig kann die
5. Aufl. Hans Huber, Hogrefe AG, Bern 2013 S. 61)
Stuhlbeobachtung sowie der Ernährungszustand von
a) Gesamteindruck des Säuglings/Kindes Bedeutung sein genauso wie die Beobachtung von
b) Gesamteindruck der Eltern
Blutdruck und Puls, weil Übelkeit und Erbrechen die
Gesamtbefindlichkeit erheblich mindert und sich die
c) Körpergröße/Gewicht Strukturelles Wachstum Pflegeproblematik bis hin zur vitalen Bedrohung durch
des Kindes und Entwicklung Austrocknung und Schocksymptomatik verschärfen
d) Hautfarbe, Hydratation, Hautausschlag, Läsionen kann.

e) Bei Bedarf untersuchen:


Zusammenfassung:
Urin und Stuhl des Kindes/Säuglings
Systematik der Beobachtung
f) Reflexe (altersgerecht?) Blutdruck Die Beobachtung von Pflegebedürftigen kann nach
unterschiedlichen Schemata erfolgen:
g) Atemmuster: Frequenz, Rhythmus
Bei der abschnittsweisen Untersuchung des gesam-
h) Herztöne: Frequenz, Rhythmus ten Körpers besteht die Gefahr der verminderten
i) Säugling/Kind: Ansprechbarkeit, kognitive-Entwick- Gesamteinschätzung.
lung und Entwicklung der Wahrnehmung Die krankheitsbezogene Betrachtungsweise bezieht
sich auf einzelne Organsysteme und betrachtet nur
j) Kind: Blickkontakt, Sprachmuster, Haltung einen Ausschnitt des Menschen.
k) Lächeln (beim Säugling) Andere Beobachtungssysteme können auch Pflege-
modelle bzw. -theorien und die Klassifikation nach
l) Soziale Interaktion (beim Kind): aggressiv/zurückge-
Pflegediagnosen sein.
zogen?
Die in den folgenden Kapiteln behandelten Be-
m) Reaktion auf Ansprache oder Aufforderungen? obachtungsbereiche bilden ein weiteres Beobach-
tungssystem.
Beobachtungsbereiche
Beobachtung kann systematisch nach den in Kap. 5
2.3 Beeinflussende Faktoren bei
aufgeführten Beobachtungsbereichen und deren Kri-
terien regelrecht abgearbeitet werden.
der Beobachtung
Wie die Wahrnehmung wird auch die Beobachtung
durch physische und psychische Faktoren beein-
flusst, die sowohl physiologischen als auch patholo-

BAND 2 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege 41


KaelDesu
2 Beobachtung

!
gischen Ursprung haben können (s. a. S. 19). Bei vie- Merke: Eine zuverlässige (reliable) Beob-
len Pflegepersonen wird die Beobachtung beein- achtung muss allerdings nicht zwangsläufig
flusst durch die eingeschränkte eigene körperliche auch Gültigkeit (Validität) besitzen.
Verfassung, oftmals bedingt durch Müdigkeit, Kräf-
2 temangel, zu wenig Schlaf oder zu lange Dienstzeiten Beispiel: Ein äußerlich ruhig und ausgegli-
mit wenig Freizeitausgleich. Auch Schmerzen, z. B. chen wirkender Mensch, muss nicht zwangs-
Rücken- oder Kopfschmerzen, lenken die Beobach- läufig zufrieden oder ausgeglichen sein. Das
tung eher auf die eigene Befindlichkeit. Der Beobach- ruhig und ausgeglichen wirkende Verhalten kann eine
tungsradius kann durch die geistige Verfassung z. B. Fassade sein, hinter der sich Angst verbirgt.
aufgrund fehlender Motivation, emotionaler Stim-
mungslage und Stress ebenfalls erheblich einge- Die tatsächliche Befindlichkeit kann durch ein Ge-
schränkt sein. In vielen Fällen entstehen aus diesen spräch zwischen den Pflegepartnern herausgefun-
Gründen nicht nur Wahrnehmungsverzerrungen, den werden. Das setzt jedoch voraus, dass der be-
sondern auch Beobachtungsfehler. obachtete Mensch über seine Gefühle reden kann
und dies auch tun möchte.
Beispiel: Eine Pflegekraft leidet durch die
nächtliche Versorgung ihres kranken Kindes Selektion und Fokussierung
unter Schlafmangel und Konzentrations- Wie in Abb. 2.1 dargestellt, wird bei der Beobachtung
schwäche. Im Laufe ihrer anschließenden Frühschicht aus der Fülle der Wahrnehmungsreize die Aufmerk-
übersieht sie bei der postoperativen Versorgung eines samkeit auf einzelne beobachtbare Merkmale gerich-
hirnoperierten Menschen eine Pupillendifferenz mit tet. Das bedeutet, dass einige Wahrnehmungsreize
beginnender Bewusstseinstrübung. In diesem Fall ist aussortiert (selektiert) und die Aufmerksamkeit auf
der frischoperierte Mensch vital erheblich bedroht. besondere Beobachtungsschwerpunkte gelenkt (fo-
kussiert) wird. Bei der Selektion und Fokussierung
Um Beobachtungsdaten exakt auswerten und beur- gehen Informationen verloren, die das Gesamtbe-
teilen zu können, sollten sie möglichst objektiv sein. obachtungsbild der Pflegeperson verzerren können.
Dieser Vorgang erfordert oftmals ein hohes Maß Die Fokussierung der Beobachtung auf ganz be-
an Eigenreflexionsfähigkeit (s. a. S. 36). Besonders stimmte Beobachtungsmerkmale ist in vielen pflege-
schwierig sind Beobachtungen zu objektivieren und rischen Situationen notwendig und zeichnet die Pro-
zu bewerten, die das Verhalten von Menschen oder fessionalität einer Pflegekraft aus. Beispielsweise
ihre Stimmungslage sowie die Selbstbeobachtung stehen bei einem Menschen in einer Schocksituation
betreffen (s. a. S. 36). Nicht selten bestimmen Sympa- die Kontrolle der Vitalzeichen, der Haut und des Be-
thie oder Antipathie zwischen den Pflegepartnern wusstseins im Vordergrund und nicht die Sorge um
die Blickrichtung. Eine von Sympathie gesteuerte die familiäre Situation oder z. B. rheumatisch beding-
pflegerische Beziehung wirkt sich meist entspan- te Bewegungseinschränkungen. Damit aber auch
nend und offen auf den Wahrnehmungs- und Be- diese wichtigen Informationen nicht verloren gehen,
obachtungsprozess aus, eine antipathische Begeg- sollten sie zu einem späteren Zeitpunkt erfragt wer-
nung häufig spannungerzeugend und zurückhal- den. Hilfreich ist deshalb die Durchführung der Be-
tend. obachtung anhand einer Systematik (s. a. S. 39).
Ein Austausch innerhalb des Pflegeteams zur Ver-

!
minderung von Beobachtungsverzerrungen ist bei Merke: Der Beobachtungsprozess wird
der Auswertung subjektiver Daten unbedingt not- hauptsächlich beeinflusst durch Selektion
wendig. und Fokussierung von Wahrnehmungsantei-
Es empfiehlt sich, die subjektiven Daten auf Gül- len.
tigkeit (Validität) und Zuverlässigkeit (Reliabilität)
zu überprüfen (s. a. S. 47).

42 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege BAND 2


KaelDesu
2.4 Bedeutung der Beobachtung in der Pflege

nerhalb des Pflegeprozesses. Durch eine aufmerksa-


2.4 Bedeutung der Beobachtung
me Beobachtung und anteilnehmende Befragung
in der Pflege können Wünsche und Bedürfnisse der erkrankten
Personen ermittelt werden. Außerdem werden Fä-
Wahrnehmung und Beobachtung nehmen einen ho-
higkeiten, Probleme und Ressourcen erkannt, auf de-
2
hen Stellenwert in der pflegerischen Berufsausübung
ren Grundlage Pflegemaßnahmen gezielt geplant
ein. Sie bilden den Ausgangspunkt für den Bezie-
werden können.
hungsaufbau zwischen dem pflegebedürftigen Men-
schen und der Pflegeperson sowie für das pflegeri-

!
Merke: Das Aufspüren von Ressourcen, die
sche Handeln. Eine sorgfältige Beobachtung verfolgt
Förderung und der Erhalt geistiger sowie
vielfältige pflegerische und medizinische Ziele für
körperlicher Fähigkeiten kann besonders bei
den betroffenen Menschen. Eine hohe Beobach-
alten Menschen im Vordergrund stehen.
tungsqualität trägt entscheidend zur Validität und
Reliabilität der Beobachtungsergebnisse bei. Damit
Wo Pflegemaßnahmen wirkungsvoll angewendet
eine möglichst umfangreiche Informationsquelle für
werden, können unnötige Belastungen durch über-
alle an der Pflege und Therapie beteiligten Personen
flüssige und ineffektive Maßnahmen für den zu pfle-
zur Verfügung steht, ist eine möglichst präzise Doku-
genden Menschen vermieden, die Gesundheit geför-
mentation notwendig. Eine qualitativ gute Beobach-
dert und Folgekrankheiten verhindert werden. Die
tung in der Pflege setzt pflegerische Kompetenz vo-
spezielle Beobachtung von bewusstseinbeeinträch-
raus und stellt hohe Anforderungen an die beobach-
tigten und desorientierten Menschen zielt darauf ab,
tende Person.
gefährdende Situationen frühzeitig zu erkennen und
abzuwenden und durch besondere Maßnahmen zu
2.4.1 Beobachtung als Grundlage für fördern, z. B. durch Basale Stimulation姞. Richtet sich
pflegerisches Handeln die Beobachtung insbesondere auf die Kommunika-
Beobachtung bildet die Grundlage für pflegerisches tion und Interaktion, kann durch eine aufmerksame
Handeln innerhalb des Pflegeprozesses. Sie bedeutet und anteilnehmende Umgangsweise eine vertrau-
auch die Fähigkeit und Bereitschaft, auf den Pflege- ensvolle zwischenmenschliche Beziehung aufgebaut
bedürftigen zuzugehen, sich in ihn einzufühlen und werden.
Neugierde bzw. Interesse zu entwickeln. Aufmerk- Um die Einschätzung der Gesamtsituation zu ge-
samkeit, Konzentrationsvermögen, sowie Kontrollen währleisten, sollten das Verhalten des Menschen, das
mindern Beobachtungsfehler. individuelle Erleben von Krankheit und Behinderung
Um den Pflegebedürftigen in seiner Gesamtsitua- sowie die Bewusstseinslage einschließlich der Orien-
tion einschätzen zu können, sind alle am Pflegepro- tierung in die Beobachtung einbezogen werden. In
zess beteiligten Personen, einschließlich ärztliches vielen Fällen ist es jedoch notwendig, sich konkret
und therapeutisches Personal sowie der pflegebe- auf einzelne, spezifische Beobachtungsschwerpunk-
dürftige Mensch, aufgefordert, ihre Beobachtungser- te zu konzentrieren, z. B. in Akut- oder Notfallsitua-
gebnisse zusammenzutragen und zur Verfügung zu tionen.
stellen. Auf diese Art können eine annähernd sichere

!
Einschätzung der gesunden und kranken Anteile des Merke: Mittels der speziellen Beobachtung
Menschen erreicht, eine spezifische Pflegediagnose in der Pflege werden die Pflegebedürftigkeit
ermittelt und weitere Schritte des Pflegeprozesses eines Menschen eingeschätzt, Pflegeproble-
umgesetzt werden. me und Ressourcen ermittelt, die Wirkung durchge-
führter Pflegemaßnahmen beurteilt und die Therapie
2.4.2 Ziele der Beobachtung in der Pflege einschließlich ihrer Wirkung und Nebenwirkung sowie
Die Beobachtungsergebnisse stellen eine der wich- der Krankheitsverlauf überprüft bzw. überwacht.
tigsten Grundlagen für die Pflegediagnosestellung
sowie für das pflegerische Handeln dar. Die Ermitt- Nicht zuletzt trägt eine sorgfältige Beobachtung da-
lung sollte unvoreingenommen und so sachlich wie zu bei, Komplikationen frühzeitig zu erkennen und
möglich durchgeführt werden. Sie ist Bestandteil der zu verhüten. Sie unterstützt die medizinische Diag-
Informationssammlung und der Pflegeanamnese in- nosefindung und damit auch die Auswahl therapeu-

BAND 2 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege 43


KaelDesu
2 Beobachtung

tischer und rehabilitativer Möglichkeiten, weshalb Von entscheidender Bedeutung für die Qualität
Ärzte und alle an der Therapie und Pflege beteiligten der Beobachtung ist das theoretische Hintergrund-
Personen wie z. B. Physiotherapeuten daran teilha- wissen einer Pflegekraft in den Bereichen
ben. Durch die Beobachtung und Beurteilung von Anatomie und Physiologie,
2 Wirkungen und Nebenwirkungen therapeutisch Krankheitslehre,
durchgeführter Maßnahmen sind Pflegepersonen Psychologie und
am krankheitsorientierten, medizinischen Problem- insbesondere der Pflege.
lösungsprozess beteiligt.
Sämtliche Maßnahmen der Gesundheitspflege Erst dadurch können beobachtete Sachverhalte in-
müssen wirtschaftlichen Ansprüchen gerecht wer- terpretiert und professionell beurteilt werden. Das
den. Da eine sorgfältige Beobachtung effiziente pfle- bedeutet, dass die Voraussetzung für eine qualitativ
gerische, therapeutische und rehabilitative Maßnah- hochwertige Beobachtung eine entsprechende Aus-
men ermöglichen, können unnötige Kosten und Fol- bildung ist.
gekosten vermieden und die Aufenthaltsdauer in In- Ein Maßstab für eine gute Beobachtungsqualität
stitutionen des Gesundheitswesens verkürzt wer- stellt die Überprüfung auf Gültigkeit (Validität) und
den. Zuverlässigkeit (Reliabilität) der Beobachtungsdaten
dar (s. a. S. 49).
Zusammenfassung: Anzumerken ist, dass eine stark auf Krankheiten
Die Beobachtung beeinflussende Faktoren bezogene Beobachtung den Blick für den Menschen
Die Beobachtung wird beeinflusst durch in seinem ganzheitlichen Erleben einengt. Das be-
– die eigene körperliche und geistige Befindlich- deutet, eine zielgerichtete Beobachtung schränkt die
keit, Wahrnehmung anderer Phänome ein oder schließt
– Sym- oder Antipathie zwischen Pflegepartnern, sie aus. Es ist möglich, dass dadurch Veränderungen
– durch die Fokussierung auf bestimmte Beobach- in anderen Bereichen oder Zusammenhänge überse-
tungsmerkmale. hen werden.
Ziel der Beobachtung ist es:
– Bedürfnisse der Patienten zu ermitteln, Beispiel: Eine leicht desorientierte, 79-jäh-
– Ressourcen und Probleme zu erkennen, rige Frau liegt nach einer chirurgisch ver-
– gefährdende Situationen und Komplikationen sorgten Oberarmfraktur seit 2 Tagen auf der
rechtzeitig zu erfassen, chirurgischen Station. Im Vordergrund steht die Beob-
– eine vertrauensvolle zwischenmenschliche Be- achtung der Wunde, des Kreislaufs, der Vitalfunktio-
ziehung aufzubauen, nen, der Schmerzen, der Bewusstseinslage sowie die
– unnötige Kosten zu vermeiden. korrekte Lagerung des operierten Armes. Da die Frau
mehrmals eingenässt hat, bekommt sie auf Anordnung
2.4.3 Qualität der Beobachtung des Stationsarztes einen Blasenverweilkatheter gelegt.
Die Aussagekraft (Qualität) eines Beobachtungser- Eine gezielte Beobachtung der Urinausscheidung und
gebnisses ist von verschiedenen Faktoren abhängig. des Miktionsverhalten ist zugunsten der oben aufge-
Die menschliche Beobachtung ist stark an das Funk- führten postoperativen Beobachtungsschwerpunkte in
tionieren der Sinnesorgane gebunden, besonders an den Hintergrund getreten, hätte aber möglicherweise
Augen, Ohren, Nase und Haut. Verschiedene physi- das Legen eines Blasenkatheters verhindern können.
sche und psychische Einflüsse verändern die Wahr-

!
nehmung und infolgedessen auch die Beobachtung Merke: Das bedeutet, dass eine qualitativ
(s. a. S. 6/19). gute Beobachtung, die sich nur auf die kran-
Beim Einsatz spezifischer Instrumente oder Test- ken Anteile des Menschen richtet, nicht im-
streifen ist das Beobachtungsergebnis von der kor- mer einer qualitativ hochwertigen Beobachtung der
rekten Handhabung und Bedienung abhängig. In vie- Gesamtsituation eines Menschen gerecht wird. Um
len Fällen ist vor der ersten Anwendung eine speziel- dies zu erreichen, ist wiederum der Appell an das Pfle-
le Einweisung bzw. Anleitung notwendig oder sogar geteam zu richten, sich sowohl mit den beeinträchtig-
vorgeschrieben, wie z. B. bei Überwachungsmonito- ten als auch den gesunden Anteilen des betroffenen
ren auf der Intensivstation. Menschen auseinanderzusetzen und ihn in die Be-
obachtung einzubeziehen.

44 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege BAND 2


KaelDesu
2.4 Bedeutung der Beobachtung in der Pflege

2.4.4 Dokumentation Hier wird ebenfalls die Notwendigkeit deutlich, den


Für die Dokumentation der Beobachtungsergebnisse betroffenen Menschen mit in die Beobachtung ein-
stehen verschiedene Dokumentationssysteme zur zubeziehen.
Verfügung. Sie sind für nahezu alle Pflegebereiche Die Dokumentation sollte vollständig sein und al-
anwendbar bzw. entsprechend für spezielle Belange le Informationen enthalten, die notwendig sind, um
2
abänderbar. Unterschiedliche Beobachtungsskalen die Pflege eines Menschen übernehmen zu können.
und Einteilungen erleichtern das Eintragen von Besonders im ambulanten Pflegebereich stellt sie
Messergebnissen wie z. B. die Temperatur-, Blut- häufig die einzige Informationsquelle über wichtige
druck- und die Pulskurve. Beobachtungsmerkmale dar, da dort die Pflegekräfte
Während das Eintragen der objektiv gemessenen im Gegensatz zu stationären Einrichtungen überwie-
Beobachtungsergebnisse einfach erscheint, gestaltet gend alleine arbeiten.
sich im Gegensatz dazu das Beschreiben von be- Eine lückenlose Dokumentation von Beobach-
obachtbarem Verhalten und Wirkungen der durch- tungsergebnissen garantiert zudem eine Verlaufs-
geführten Pflege- und Therapiemaßnahmen häufig kontrolle, da sie die Beurteilung der Wirkung von
problematisch. Pflegemaßnahmen auf den Pflegebedürftigen nach-
Um zu prägnanten Beschreibungen zu gelangen, vollziehbar und transparent gestaltet. Es ist deshalb
muss der Beobachtende Begrifflichkeiten verwen- wichtig, dass die Beobachtungsergebnisse präzise
den, die pflegerischen und medizinischen sowie und nicht ungenau formuliert werden.
psychologischen Bereichen allgemein verständlich
sind. Das heißt, dass Pflegekräfte und ärztliches Per- Beispiel: „Fr. X hat einen Blutzucker von
sonal die gleiche Fachsprache sprechen müssen, da- 245 mg/dl“ statt „Fr. X hat einen hohen BZ“.
mit alle an der Pflege Beteiligten unter den verwen- „Hr. Y hat in der Nacht von 19.00 Uhr abends
deten Begriffen auch das Gleiche verstehen (s. a. bis um 7.00 Uhr morgens 950 ml Urin ausgeschieden“
S. 51). statt „hat viel ausgeschieden“. Weitere übliche Formu-
Schwierig ist die Formulierung von Verhaltens- lierung wie z. B. „hat gut gegessen“ oder „hat wenig ge-
weisen, Emotionen und Reaktionen; psychologische trunken“ sollten ebenfalls genau beschrieben werden,
Kenntnisse können dabei hilfreich sein. da die Mengenangaben nicht konkret sind und unter-
Die Dokumentation sollte möglichst wertfrei, d. h. schiedlich interpretiert werden können.
so objektiv wie möglich, dargestellt werden. Da aber
auch subjektive Einschätzungen häufig von diagnos- 2.4.5 Anforderungen an das Pflegepersonal
tischer Bedeutung sind, sollten diese ebenso doku- Die Beobachtung in der Pflege bildet den Ausgangs-
mentiert werden, allerdings als solche gekennzeich- punkt für pflegerisches Handeln und nimmt deshalb
net werden. einen hohen Stellwert ein.
Die Beobachtung der gesunden und kranken An-
Beispiel: Ein 45-jähriger adipöser Mann be- teile des Menschen erfordert mehr als das Begutach-
findet sich aufgrund einer Hypertonie seit 6 ten und Beurteilen einzelner Merkmale. Eine gute
Tagen auf einer medizinischen Station. Der Beobachtung in der Pflege verlangt fundiertes theo-
Blutdruck weist trotz der Gabe blutdrucksenkender retisches Hintergrundwissen mit der entsprechen-
Medikamente hohe Schwankungen auf. Eine Pflege- den Fähigkeit, aus Einzel-(beobachtungs-)ergebnis-
kraft beobachtet, dass der Blutdruck besonders nach sen eine Gesamteinschätzung zu erstellen. Sie erfor-
den täglichen Besuchszeiten im hypertonen Bereich dert zudem Flexibilität und das „sich einstellen kön-
liegt. Sie äußert den Verdacht, dass der Mann mögli- nen“ auf wechselnde Bedingungen. Die Beobachtung
cherweise familiäre Probleme hat. von Verhaltensweisen und Reaktionen im zwischen-
Der beschriebene „subjektive Verdacht“ kann, wenn er menschlichen Bereich setzen psychologische Kennt-
sich als zutreffend herausstellt, zu Veränderungen der nisse voraus und fordert Reflexionsfähigkeit der be-
antihypertensiven Therapie führen. Zur Unterstützung obachtenden Person (s. a. S. 36).
können Problemlösungsmöglichkeiten, Entspannungs- Berufserfahrung erleichtert die Beurteilung, kann
techniken bzw. eine Behandlung in der Psychosomatik aber auch betriebsblind machen; die beobachtende
vorgeschlagen werden. Pflegekraft sollte ihre Beobachtungsergebnisse hin-
terfragen und kontrollieren. Diese Vorgehensweise

BAND 2 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege 45


KaelDesu
2 Beobachtung

vermindert die Gefahr der falschen Situationsein- Die Beobachtung unterliegt wie auch die Wahrneh-
schätzung und Interpretation sowie das Vergessen mung physischen und psychischen Einflussfaktoren des
wichtiger Informationen und voreilige Schlussfolge- Beobachters.
rungen. Die Fähigkeit zur Beobachtung kann durch Schu-
2 lung der Wahrnehmungs- und Aufnahmefähigkeit er-
Zusammenfassung: lernt werden. Ein fundiertes theoretisches Hinter-
Anforderungen an das Pflegepersonal grundwissen ist für eine qualitativ hochwertige
Die Qualität der Beobachtung ist vom Funktionie- Beobachtung notwendig.
ren der Sinnesorgane, vom Fachwissen, von der Die Beobachtung sollte immer auch die gesunden
Überprüfung der Beobachtungsdaten auf Gültigkeit Anteile eines Menschen im Blick haben. Auf diese Weise
und Zuverlässigkeit hin abhängig. können individuelle rehabilitative und gesundheitser-
Sowohl gesunde als auch beeinträchtigte Anteile ei- haltende Maßnahmen eingeleitet und dem betroffenen
nes Menschen sind in die Beobachtung zu integ- Menschen die Möglichkeit gegeben werden, seinen
rieren. Pflegeprozess aktiv mitzugestalten.
Die vollständige und präzise Dokumentation der
objektiven und subjektiven Beobachtungen ist eine
wichtige Informationsquelle und garantiert eine
Literatur:
Verlaufskontrolle.
Arets, J., F. Obex, J. Vaessen, F. Wagner: Professionelle Pflege.
Fazit: Die spezielle Beobachtung in der Pfle- Theoretische und Praktische Grundlagen. Bd. 1, Hans Hu-
ge ist eine systematische und zielgerichtete ber, Göttingen 1999
Form der Wahrnehmung und richtet sich ins- Gerrig, R.: Psychologie. Begr. von P. Zimbardo. 20. Aufl. Pearson
Studium, Hallbergmoss 2016
besondere auf die gesunden und beeinträchtigten An-
Gordon, M.: Handbuch Pflegediagnosen. 5. Aufl. Verlag Hans
teile eines Menschen. Sie erfolgt durch den Einsatz der Huber, Hogrefe AG, Bern 2013
Sinnesorgane und/oder spezieller Hilfsmittel wie z. B. König, J.: Pflegedokumentation im Krankenhaus – gewusst
Messinstrumente. wie. Schnell, sicher und effizient dokumentieren. Schlü-
Beobachtung ist ein dynamischer Vorgang und voll- tersche Verlagsgesellschaft, Hannover 2015
zieht sich prozesshaft. Sie ist in den Pflegeprozess inte- Köther, I.: Altenpflege. 4. Aufl. Stuttgart, Thieme 2016
Rösen, E.: Pflegedokumentation in der Altenpflege. Sachge-
griert und stellt eine der wichtigsten Grundlagen des
recht, sicher und professionell. Elsevier, München 2015
pflegerischen Handelns dar. Damit Ergebnisse der Be-
Zimbardo, P. G.: Psychologie. 7. Aufl. Springer, Berlin 2003
obachtung in der Pflege sinnvoll verarbeitet werden
können ist eine Systematisierung notwendig. Hierbei
gibt es verschiedene Möglichkeiten, z. B. die Orientie-
rung an Pflegetheorien oder Beobachtungsbereichen.

46 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege BAND 2


KaelDesu

3 Datenerhebung im pflegerischen Alltag


Marion Weichler-Oelschlägel

Übersicht
Einleitung · 47 3
3.1 Methoden der Datenerhebung · 47
3.1.1 Beobachtung · 47
3.1.2 Gespräche · 48
3.2 Datenquellen · 48
3.3 Datenarten · 49
3.4 Reliabilität und Validität von Daten · 49
Fazit · 50
Literatur · 50

Schlüsselbegriffe:
왘 Objektive Daten Informationssammlung ermittelten Daten sind die
왘 Subjektive Daten Basis für alle weiteren Schritte im Pflegeprozess (s. a.
왘 Primäre Daten Band 1; Kap. 6). Die Qualität der Datenerhebung ist
왘 Sekundäre Daten ausschlaggebend für die Erfassung der Probleme und
왘 Validität Ressourcen eines hilfsbedürftigen Menschen. Nur
왘 Reliabilität wenn vollständige und zutreffende Informationen
erfasst wurden, können Probleme und Ressourcen
des Betroffenen adäquat abgeleitet werden.
Einleitung Die Ergebnisse der Erhebungen bestimmen letzt-
lich die notwendigen pflegerischen Interventionen.
Der Ermittlung pflegerelevanter Informationen Der Datenerhebung kommt im Rahmen des Pflege-
kommt im Rahmen des Pflegeprozesses eine ent- prozesses folglich eine fundamentale Bedeutung zu.
scheidende Bedeutung zu: Sie ist der Ausgangspunkt Daher ist die Kontinuität in der Erhebung und eine
für die Bestimmung von Pflegeproblemen und Res- stete Aktualisierung der Daten unerlässlich. Nur so
sourcen eines pflegebedürftigen Menschen und be- können z. B. die Wirkungen der Pflegemaßnahmen
einflusst darüber hinaus auch die Festlegung der auf die Menschen registriert und Probleme und Res-
Pflegeziele und -maßnahmen. Pflegerisches Handeln sourcen gegebenenfalls aktualisiert werden. Die ge-
kann nur dann individuell und zielgerichtet erfolgen, wonnenen Informationen können unterschiedlich
wenn die hierfür nötigen Daten vorliegen. Wahrneh- klassifiziert werden: Es werden primäre und sekun-
men und Beobachten sind die zentralen Methoden däre sowie subjektive und objektive Daten unter-
der Informationsgewinnung im pflegerischen Alltag. schieden.
Daneben kommt der Kommunikation in diesem Zu- Informationen bzw. Daten können mithilfe ver-
sammenhang eine große Bedeutung zu. Das folgende schiedener Methoden gewonnen werden. Im pflege-
Kapitel gibt einen Einblick in Methoden der Datener- rischen Alltag werden sie vor allem über die Be-
hebung sowie verschiedene Datenquellen und -ar- obachtung eines Menschen und Gespräche bzw. Be-
ten. fragungen gesammelt.

3.1.1 Beobachtung
3.1 Methoden der Datenerhebung
!
Merke: Wahrnehmen und Beobachten sind
die elementare Basis pflegerischen Handelns.
Die Datenerhebung stellt eine der wichtigsten
Grundlagen pflegerischen Handelns dar. Die in der

BAND 2 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege 47


KaelDesu
3 Datenerhebung im pflegerischen Alltag

Definition: Im Gegensatz zur Wahrnehmung, 3.1.2 Gespräche


die auch unbewusst abläuft, wird die Beobach- Informationen bzw. Daten können v. a. durch Ge-
tung als zielgerichtete und bewusste Wahrneh- spräche gewonnen werden. Das Erstgespräch im
mung von Menschen und Situationen bezeichnet (s. a. Rahmen der Informationssammlung hat eine we-
S. 33). Sie erfolgt sowohl über die menschlichen Sinne sentliche Funktion für die Pflegeanamnese. Im wei-
(s. a. S. 4) wie auch durch den Einsatz von Messgeräten. teren Verlauf des Pflegeprozesses bietet jede Interak-
3 tion mit dem pflegebedürftigen Menschen Gelegen-
Beobachtung über die Sinneswahrnehmung: Be- heit, über Gespräche pflegerelevante Informationen
obachtungen der Beschaffenheit der Hautoberfläche zu erfahren. Auch im Gespräch mit anderen, an Pfle-
können durch Sehen und Tasten erfolgen, die akusti- ge und Therapie beteiligten Berufsgruppen sowie
sche Wahrnehmung ermöglicht u. a. die Beobach- Angehörigen und Freunden der pflegebedürftigen
tung von Atemgeräuschen, der Geruchssinn spielt Person, können Informationen gewonnen werden.
bei der Beobachtung der Urin- und Schweißsekreti-

!
on eine wichtige Rolle. Diese Liste ließe sich beliebig Merke: Datenerhebung im Pflegealltag er-
fortsetzen. Einige Daten lassen sich jedoch nicht un- folgt im Wesentlichen über Beobachtung und
mittelbar mithilfe der Sinne erfassen, sondern erfor- Kommunikation.
dern den Einsatz verschiedener Messgeräte.

Beobachtung über Messungen: Hilfsmittel zur 3.2 Datenquellen


Durchführung unterschiedlichster Messungen wer-
den bei Beobachtungskriterien verwendet, die mit Nach Art der Datenquelle lassen sich primäre und se-
Hilfe der Sinne nicht unmittelbar erfasst werden kundäre Daten unterscheiden.
können, z. B. bei der Ermittlung der Körpertempera-
tur oder bei der Blutdruckmessung. Definition: Als primäre Daten werden jene In-
Die Spannbreite der in der Pflege und Medizin formationen bezeichnet, die Pflegepersonen
zum Einsatz kommenden Geräte ist sehr groß. Sie durch Aussagen und Angaben des pflegebedürf-
reicht von einfachen Pulsuhren bzw. Sekundenan- tigen Menschen selbst erfahren. Sie werden auch Pri-
zeigern von Uhren zur taktilen Ermittlung der Puls- märquellendaten genannt und gelten als besonders
frequenz bis hin zu hochkomplexen, computertech- wertvoll, da sie die Situation, in der sich eine betroffene
nisch gestützten Geräten zur Ermittlung sehr spezifi- Person befindet, in der Regel sehr genau wiedergeben.
scher Daten, wie z. B. der Aufzeichnung der Hirnströ-
me über ein Elektroenzephalogramm (EEG). Ihre Definition: Sekundäre Daten werden aus Se-
korrekte Anwendung erfordert spezifisches Wissen. kundärquellen, wie bspw. aus der Befragung
Technische Geräte kommen bspw. zur kontinu- durch Angehörige, Freunde usw. erhoben. Auch
ierlichen venösen Injektion feindosierter Medika- Daten, die aus Aufzeichnungen, z. B. der Dokumenta-
mente durch Injektionspumpen zum Einsatz. Ver- tion oder früherer Krankengeschichten, erhoben wer-
schiedenste Messgeräte, z. B. ein geschlossenes Urin- den, gelten als sekundäre Daten.
ableitungssystem, ermöglichen exakte Flüssigkeits-
bilanzierungen; über ein Blutzuckermessgerät kann In einigen Fällen sind Sekundärquellen die einzige
die Höhe des Blutzuckerspiegels exakt bestimmt Möglichkeit für die Pflegepersonen und die weiteren
werden. Auch Fieberthermometer, Blutdruckmess- Mitglieder des therapeutischen Teams, überhaupt an
geräte und Waagen gehören zum Pflegealltag. Die Daten zu gelangen, z. B. bei kleineren Kindern oder
Beschreibung ihrer Handhabung erfolgt in den nach- verwirrten Menschen.
folgenden Beobachtungskapiteln.

!
Merke: Primäre und sekundäre Daten er-
gänzen sich und sind für die Pflegepersonen
wichtige Informationsquellen.

48 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege BAND 2


KaelDesu
3.4 Reliabilität und Validität von Daten

!
3.3 Datenarten Merke: Bei der Dokumentation subjektiver
Daten ist es wichtig, darauf zu achten, dass
Neben der Einteilung von Daten nach der Quelle, aus sie als solche gekennzeichnet werden.
der sie gewonnen werden, können subjektive und
objektive Daten unterschieden werden. Die Wahrnehmung des Problems durch den Betroffe-
nen selbst wird als wichtigste Datenquelle innerhalb
Definition: Als objektive Daten werden jene der Situationseinschätzung eingestuft. Da sie jedoch 3
Daten bezeichnet, die von den Pflegenden beob- stets subjektiv ist, muss sie von den Pflegenden
achtet, gemessen und nachgeprüft werden kön- grundsätzlich vorsichtig interpretiert werden.
nen. Um subjektive Daten annähernd vergleichbar und
handhabbar zu machen, können Hilfsmittel zur Ob-
Objektive Beobachtungen gründen sich ausschließ- jektivierung eingesetzt werden. Hierzu gehört bei-
lich auf Fakten, auf messbare Informationen, die in spielsweise die Verwendung einer Skala, die das Er-
systematischer Weise erfassbar sind. Sie bedürfen fassen objektiver Ausgangspunkte für eine Verlaufs-
keinerlei Interpretation; Gefühle oder Vorurteile sei- kontrolle und Evaluation pflegerischer Maßnahmen
tens der erhebenden Person spielen keine Rolle. ermöglicht. Ein Beispiel ist die Schmerzskala, durch
Objektive Daten lassen sich v. a. mithilfe techni- die die subjektive Wahrnehmung „Schmerzintensi-
scher Geräte ermitteln; diese ermöglichen präzise tät“ über Zahlen dargestellt werden kann. Das so er-
Ergebnisse, die sich einer subjektiven Beeinflussung mittelte Schmerzerleben kann beim erneuten Auf-
entziehen. Wichtig ist, bei der Dokumentation ob- treten von Schmerzen als Vergleichswert herangezo-
jektiver Daten die allgemeingültigen Maßeinheiten gen werden. Diese Möglichkeit kann z. B. bei der Kon-
zu verwenden, wie z. B. cm, kg, mmHg, Celsius usw. trolle der Wirksamkeit schmerzlindernder Maßnah-
men eingesetzt werden (Abb. 3.1).
Definition: Als subjektive Daten werden sol-

!
che Informationen bezeichnet, die eng mit der Merke: Die erhobenen Daten können in ob-
jeweiligen Person verknüpft sind. jektive und subjektive sowie primäre und se-
kundäre Daten eingeteilt werden.
Ihre Erhebung ist sehr viel schwieriger, da sie sich in
erster Linie auf die psychosoziale Situation eines
Menschen und sein momentanes Erleben, seine 3.4 Reliabilität und Validität von
Empfindungen, Gefühle, Stimmungen und persönli- Daten
chen Erfahrungen beziehen.
Subjektive Daten sind stets eng mit dem Erleben Im Rahmen der Datenerhebung durch Beobachtun-
und der ihrerseits subjektiven Wahrnehmung der Er- gen und Messungen gilt es zwei wichtige Kriterien zu
hebenden selbst verknüpft. In der Konsequenz sind beachten: Die Messinstrumente, mit deren Hilfe Da-
sie daher nur schwer mit subjektiven Daten anderer ten erhoben werden, müssen reliabel (zuverlässig)
vergleichbar. Dennoch ist ihre Erfassung von immen- und valide (gültig) sein.
ser Bedeutung für die Datenerhebung, da eine allei-
nige Berücksichtigung der objektiven Daten in jedem Definition: Mit Reliabilität wird die Zuverläs-
Fall eine Reduktion von Komplexität und somit ein sigkeit eines Messinstrumentes bei der Verwen-
unvollständiges Bild der Gesamtsituation eines Men- dung durch verschiedene Personen bezeichnet.
schen zur Folge hätte. Ein großer Teil der pflegeri-
schen Beobachtungen hat einen subjektiven Charak-
ter.

Abb. 3.1 Skala zur individuellen Einschätzung der Schmerzintensität 0 ⫽ keine Schmerzen, 10 ⫽ stärkste Schmerzen

BAND 2 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege 49


KaelDesu
3 Datenerhebung im pflegerischen Alltag

Wiederholte Messungen durch verschiedene Pflege-


personen mit einem Messinstrument sollten zu glei-
chen Ergebnissen führen. Wenn beispielsweise drei
! Merke: Neben der Reliabilität ist die Validi-
tät das zentrale Gütekriterium einer Mes-
sung.
Pflegepersonen bei einem pflegebedürftigen Men-
schen unter den gleichen Bedingungen den Blut- Fazit: Datenerhebung im pflegerischen All-
druck messen, kann das Ergebnis dann als zuverläs- tag erfolgt über Beobachtung und Kommuni-
3 sig gelten, wenn bei allen Messungen annähernd der kation. Sie ist wesentlicher Bestandteil der
gleiche Blutdruckwert ermittelt wird. Informationssammlung und stellt die Basis für alle
Umgekehrt ist anzunehmen, dass ein Messinstru- weiteren Schritte im Pflegeprozess dar. Die erhobenen
ment, welches bei wiederholten Messungen dersel- Daten können verschieden klassifiziert werden: Unter-
ben Person trotz gleicher Bedingungen stark unter- schieden werden primäre und sekundäre sowie objek-
schiedliche Messwerte liefert, nicht reliabel ist, d. h., tive und subjektive Daten. Bei der Erhebung und Inter-
keine zuverlässigen Ergebnisse liefert. pretation der Daten sind die Gütekriterien Validität
und Reliabilität zu beachten.

!
Merke: Eine pflegerische Beobachtung gilt
dann als zuverlässig, wenn nach wiederhol-
ten Beobachtungen nahezu das Gleiche
wahrgenommen wird, bzw. wenn verschiedene Beob- Literatur:
achtende im Ergebnis annähernd den gleichen Sach-
verhalt beobachten. Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege
(DNQP): Schmerzmanagement in der Pflege bei akuten
Definition: Unter Validität wird die Gültigkeit oder tumorbedingten Schmerzen. Osnabrück 2017
Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege
eines Messinstrumentes verstanden, d. h., in
(DNQP): Expertenstandard Dekubitusprophylaxe in der
welchem Ausmaß das Messinstrument tatsäch- Pflege. 2. Akualisierung. Osnabrück 2017
lich das misst, was es messen soll. Georg, J., M. Frowein (Hrsg.): Pflegelexikon. ullstein Medical,
Wiesbaden 1999
Beispielsweise kann der Blutdruck eines Menschen Schulte, D. In: I care Pflege. Thieme, Stuttgart 2015
nicht mit einem Thermometer gemessen werden. In Mayer, H.: Pflegeforschung kennenlernen. 6 Aufl., Facultas,
Wien 2014
diesem Fall ist das Messinstrument Thermometer
Reuschenbach, b., C. Mahler: Pflegebezogenes Assessmentin-
kein gültiges Instrument für die Ermittlung des Blut-
strumente. Internationales Handbuch für Pflegeforschung
drucks. Eine übliche Personenwaage wäre bei extrem und -praxis. Huber, Bern 2011
übergewichtigen Personen dann nicht valide, wenn Schnell, R., P.B. Hill, E. Esser: Methoden der empirischen
die Anzeige des maximal messbaren Gewichts das Sozial-Forschung. Oldenburg, München 2014
tatsächliche Körpergewicht der zu wiegenden Per-
son unterschreitet.

50 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege BAND 2


KaelDesu

4 Informationsweitergabe
Marion Weichler-Oelschlägel

Übersicht
Einleitung · 51
4.1 Bedeutung und Funktionen der
Informationsweitergabe · 51 4
4.2 Sprache als Instrument der mündlichen
und schriftlichen
Informationsweitergabe · 56
4.2.1 Umgang mit der Fachsprache · 57
4.2.2 Medizinische Terminologie · 58
Fazit · 61
Literatur · 61

Schlüsselbegriffe:
die Formulierung von Ressourcen und Problemen
왘 Informationsweitergabe des pflegebedürftigen Menschen. Im Rahmen der
왘 Pflegefachsprache prozesshaften Pflege werden kontinuierlich neue,
aktuelle Daten erhoben und die Informationssamm-
lung vervollständigt. Gleichzeitig werden damit auch
die Bedingungen für eine individuelle Pflegeplanung
Einleitung geschaffen, d. h. für die Anpassung der Pflege an die
jeweilige individuelle Situation der betroffenen
Neben der Ermittlung von Daten ist bei der Sicher- Menschen. Voraussetzung hierfür ist die korrekte
stellung der Qualität pflegerischer Dienstleistung die schriftliche und mündliche Weitergabe der Informa-
Kontinuität des Informationsflusses von entschei- tionen.
dender Bedeutung. Die Weitergabe von Informatio- Grundsätzlich ist eine mündliche wie auch
nen in der Pflege erfolgt sowohl in schriftlicher als schriftliche Informationsweitergabe nötig, da
auch in mündlicher Form. Wesentliches Kommuni- immer mehrere Personen an der Pflege eines
kationsmittel ist hierbei das geschriebene und ge- Menschen beteiligt sind,
sprochene Wort. Für die Kommunikation innerhalb die erhobenen Daten für alle Mitglieder des the-
von Berufsgruppen wird häufig die sog. Fachsprache rapeutischen Teams von Bedeutung sind,
verwandt, die die Informationsweitergabe effektiver sie eine Verlaufskontrolle der durchgeführten
gestalten soll. Pflege und eine Evaluation ermöglicht,
Das folgende Kapitel beleuchtet die Bedeutung sie ein Merkmal der Pflegequalität darstellt,
und Funktion der Informationsweitergabe in der die Dokumentation als Nachweis der pflegeri-
Pflege und geht auf die Sprache als deren wichtigstes schen Tätigkeit gilt,
Instrument näher ein. juristische Aspekte berücksichtigt werden müs-
sen.

4.1 Bedeutung und Funktionen Es übernehmen stets mehrere Pflegefachkräfte die


der Informationsweitergabe Verantwortung für einen zu pflegenden Menschen.
Um eine individuelle Pflege zu gewährleisten, ist es
Eine differenzierte, umfassende und kontinuierliche deshalb unerlässlich, dass alle Beteiligten denselben
Informationssammlung ist Voraussetzung für alle Informationsstand besitzen. Neben der mündlichen
weiteren Schritte im Pflegeprozess (s. a. Bd. 1, Kap. 6). Weitergabe spielt hier vor allem die schriftliche Do-
Die gesammelten Daten sind der Ausgangspunkt für kumentation eine große Rolle. Sie ermöglicht jeder-

BAND 2 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege 51


KaelDesu
4 Informationsweitergabe

zeit einen einfachen Zugriff auf alle wichtigen Daten. derzeit verfügbar sind, können sich auch Pflegekräfte
Missverständnisse durch evtl. Hörfehler können ver- nach längerer Abwesenheit, z. B. durch Urlaub,
mieden werden (Abb. 4.1). schnell den notwendigen Überblick verschaffen. Die
Dadurch, dass die schriftlichen Informationen je- Berichtszeiten können verkürzt werden, was bei der

Ab morgen kann Frau Müller mit Frau Müller wird ab jetzt mit der
der Motorschiene mobilisiert werden Motorschiene mobilisiert, 2x täglich,
4 3x täglich,15 Minuten. Außerdem 10 Minuten. Außerdem soll sie mit
soll sie vor der Atemgymnastik mit Sultanol® vor der Atemgymnastik
Sultanol® inhalieren. inhalieren. Bitte sprechen Sie mit der
zuständigen Pflegekraft die Zeiten ab.

Frau Müller soll zur Atemgymnastik Bitte, was soll Frau Müller?
auf den Motorschieber und 2x täglich
vor der Mobilisation mit Sultanol®
inhalieren. Ich möchte gerne die
Zeiten absprechen.

Abb. 4.1 Zeichnung: Fr. Hartmann. Text: Fr. Lauber, Fr. Schachting

52 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege BAND 2


KaelDesu
4.1 Bedeutung und Funktionen der Informationsweitergabe

Einführung neuer Dienstzeitmodelle mit versetztem Beispiel: Eine alte Frau mit einer ausgepräg-
Arbeitsbeginn vorteilhaft ist. Den Pflegefachkräften ten Pflasterallergie wird von 3 verschiedenen
erleichtert es außerdem, die im Rahmen der Pflege- Personen nach eventuell vorhandenen Aller-
planung erhobenen Daten (Probleme, Ressourcen, gien gefragt (Abb. 4.2).
Ziele und Maßnahmen) nachzuvollziehen und um-
zusetzen. Anhand der Dokumentation lässt sich der Verlauf der
Die erhobenen Daten sind häufig nicht nur für die Pflege nachvollziehen. Dies ermöglicht gleichzeitig
Pflegefachkräfte wichtig, sondern für alle Mitglieder die Evaluation, d. h., die Überprüfung der geplanten
des therapeutischen Teams z. B. Ärzte, Physiothera- und durchgeführten Maßnahmen im Hinblick auf ih-
peuten, Seelsorger. Das wiederholte Nachfragen bei ren Wert und ihre Effektivität. Aufgrund dieser Eva-
4
einem hilfsbedürftigen Menschen zu ein und dem- luation ist es dann möglich, Auswahl oder Intensität
selben Sachverhalt durch verschiedene Personen, der Maßnahmen des Pflegeplans zu ändern und den
beispielsweise bei Vorliegen einer Allergie, kann bei Erfordernissen anzupassen.
dem Betroffenen u. a. Gefühle der Unsicherheit hin-
sichtlich der professionellen Kompetenz der an Pfle- Beispiel: Eine Pflegefachkraft ermittelt eine
ge und Therapie beteiligten Personen auslösen. Die Dekubitusgefährdung bei einem alten Mann,
umfassende und allen zugängliche Dokumentation der neu in ein Pflegeheim einzieht und bett-
kann solche Probleme verhindern. lägrig ist. Sie plant eine 2-stündliche 30⬚-Lagerung zur
Verhinderung eines Dekubitus im Sakralbereich und

Zentrale Notaufnahme Frage an Patientin:


Haben Sie irgendwelche Allergien, Unverträglichkeiten?"
"
Antwort der Patientin:
Ja, ich vertrage kein braunes Pflaster."
"

Pflegekraft Patientin Arzt

Station Bei der Pflegeanamnese:


Haben Sie irgendwelche Allergien, Unverträglichkeiten?"
"
Antwort der Patientin (leicht ungeduldig):
Ja, ich vertrage kein braunes Pflaster."
"

Patientin Pflegekraft

Endoskopie Frage an Patientin:


Haben Sie irgendwelche Allergien, Unverträglichkeiten?"
"
Antwort der Patientin (ungeduldig und gereizt):
Ja, ja! Braunes Pflaster!"
"

Pflegekraft Patientin Arzt

Abb. 4.2 Die Allergiefrage

BAND 2 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege 53


KaelDesu
4 Informationsweitergabe

hält diese Maßnahme in der Pflegedokumentation fest. Beispiel: Ein 85-jähriger Mann leidet post-
Die geplante Maßnahme wird regelmäßig von allen an operativ unter einem leichten Durchgangs-
der Pflege Beteiligten durchgeführt und dokumentiert. syndrom. Eine qualitativ hochwertige Infor-
Jedoch entwickelt der alte Mann bereits nach 2 Tagen mationsweitergabe verlangt die Differenzierung der
seines Aufenthaltes eine auffällige Rötung am rechten vorliegenden Desorientierung, die folgendermaßen be-
Trochanter major. Die Pflegefachkraft evaluiert die schrieben werden kann: örtlich und zeitlich desorien-
30⬚-Lagerung allein als nicht ausreichend, um Folge- tiert (jedoch nicht zur Person).
schäden der Bettlägrigkeit zu vermeiden. Sie plant zu-

!
sätzlich eine Weichlagerung mit einer Spezialmatratze, Merke: Nur wenn sowohl der qualitative als
4 ändert den Pflegeplan und führt die Maßnahme durch. auch der quantitative Aspekt in der Informa-
Die Rötung entwickelt sich über Nacht zurück. tionsweitergabe entsprechend berücksich-
tigt werden, ist eine effektive individuelle Pflegepla-
Die Informationsweitergabe ist auch ein Merkmal nung und Durchführung der Pflege möglich.
der Pflegequalität. Sie beinhaltet in diesem Zusam-
menhang vor allem 2 Aspekte: einen quantitativen Somit sind die Qualität und Quantität der Informa-
und einen qualitativen Aspekt. tionsweitergabe auch maßgeblich an der Sicherung
bzw. Förderung der Pflegequalität beteiligt (Abb.

!
Merke: Unter dem quantitativen Aspekt der 4.3).
Informationsweitergabe wird die Weiterga- Im Rahmen der Finanzierung von Pflege wird es
be aller relevanten Informationen verstan- zunehmend wichtig, die erbrachten pflegerischen
den. Leistungen nach außen sichtbar zu machen. Eine
Möglichkeit des Leistungsnachweises ist die Doku-
Je nach individueller Situation eines Menschen kön- mentation der ausgeführten Pflege. Erst wenn dies
nen Informationen aus dem physischen, psy- geschieht, ist der Umfang der Pflege nachvollziehbar
chischen, sozialen etc. Bereich für die Pflege relevant und auch abrechenbar.
sein.

Beispiel: Bei einer Dienstübergabe auf einer


Kinderstation wird den Pflegefachkräften des
Spätdienstes ein 7-jähriger Junge, der in der Datenerhebung
Nacht eingeliefert wurde, vorgestellt. Die zuständige
Pflegefachkraft des Frühdienstes berichtet über die Di-
Informations-
agnose „akute Appendizitis“, den OP-Verlauf und den weitergabe
guten postoperativen physischen Zustand des Jungen.
Darüber hinaus auch über seine momentan sehr angst-
quantitativer qualitativer
besetzte psychische Situation, da die Eltern ihn bislang Aspekt Aspekt
aus beruflichen und familiären Gründen (= sozialer
Aspekt) noch nicht besuchen konnten.
Die Kenntnis von Daten aus den verschiedenen Berei- umfassend, Differenziertheit
chen wirkt sich direkt auf die Ableitung möglicher Pfle- Berücksichtigung Exaktheit
aller pflege- Korrektheit
geprobleme aus. relevanten Daten

!
Merke: Der qualitative Aspekt der Informa-
individuelle
tionsweitergabe bezieht sich auf die Exakt- Pflegeplanung
heit, Differenziertheit und Korrektheit der
angegebenen Informationen.
Ein Merkmal der
Pflegequalität

Abb. 4.3 Informationsweitergabe in der prozesshaften Pflege

54 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege BAND 2


KaelDesu
4.1 Bedeutung und Funktionen der Informationsweitergabe

Weiterhin müssen juristische Aspekte bei der In-


formationsweitergabe berücksichtigt werden. Im nächst konservativ behandelt. In der Folge stellte sich ei-
Gesundheitsreformgesetz (§ 139, 1989) wird von den ne Infektion mit multiresistentem Staphylokokkusareus
Krankenhäusern verlangt, sich an den Maßnahmen ein (. . .). Anschließend wurde ein operatives Débride-
zur Qualitätssicherung zu beteiligen. „Diese Maß- ment sowie eine Vakuumbehandlung eingeleitet, die
nahmen sind auf die Qualität der Behandlung, der nach seiner Entlassung ambulant fortgesetzt wurde.
Versorgungsabläufe und der Behandlungsergebnisse Der Patient verklagte die behandelnden Ärzte auf Zah-
zu erstrecken. Diese Maßnahmen sind so zu gestal- lung von Schmerzensgeld. Er warf ihnen vor, ihn unzurei-
chend umgelagert zu haben, ihm keine Antidekubitus-
ten, dass vergleichende Prüfungen möglich werden.“
Auch die Einrichtungen, die unter die Vorschriften
Matratze sowie ein Antidekubitus-Kissen für den Roll- 4
stuhl überlassen zu haben und ihn mit Blick auf seine In-
des Pflegeversicherungsgesetzes fallen, sind ver-
kontinenz unzureichend gepflegt und gereinigt zu ha-
pflichtet, sich an den Maßnahmen zur Qualitätssi-
ben. Im Übrigen erhob er den Vorwurf, die Ärzte seien
cherung zu beteiligen und die Prüfung der Qualität
ihrer Verpflichtung zur Anordnung und Überwachung
ihrer Leistungen zu ermöglichen (Pflegeversiche-
der Dekubitus-Prophylaxe nicht ausreichend nachge-
rungsgesetz § 80). Basis für die Erfüllung dieser Vor- kommen. Zudem habe es keine ausreichenden Anwei-
schriften ist die Dokumentation. sungen zur fachgerechten Lagerung und Mobilisation
Gleichzeitig dient die Dokumentation der Pflege gegeben.
und Behandlung auch der Beweisbarkeit im Falle ei-
Die Entscheidung
nes zivil- oder strafrechtlichen Prozesses. Durch den
Bundesgerichtshof wurde 1988 der Nachweis und Das Gericht verurteilte den zuständigen Chefarzt, den
die Dokumentation der ärztlichen und pflegerischen Oberarzt und den Stationsarzt als Gesamtschuldner zu
einem Schmerzensgeld in Höhe von 20.000 Euro. Es ste-
Versorgung verbindlich vorgeschrieben (BGH NJW
he fest, dass ihnen ein ärztliches Verschulden, das zu ei-
1978, S. 2337; 1988 S. 762 f). Als Beispiel wird hier das
ner maßgeblichen Gesundheitsbeeinträchtigung des
Bonner Urteil vom 23. 12. 2011 zitiert.
Klägers geführt habe, vorzuwerfen sei (. . .). Unter Be-
rücksichtigung des hohen Gewichts und des Alters sowie
seiner langjährigen Diabetes-Erkrankung sei der Kläger
20.000 Euro Schmerzensgeld – Krankenhaus- ein Hochrisikopatient in Bezug auf eine Dekubitus-Ent-
ärzte haften für Dekubitus stehung gewesen (. . .). Es sei davon auszugehen, dass
Ein Urteil des Landgerichts (LG) Bonn verdeutlicht, dass die Pflegemaßnahmen von den beklagten Ärzten nicht
die sorgfältige Dokumentation hinsichtlich der Dekubi- angeordnet und überwacht worden seien. Das Auftreten
tusprophylaxe unabdingbar ist, um gegen etwaige Haf- schwerwiegender Dekubitaulzera bei Hochrisikopatien-
tungsansprüche gewappnet zu sein. Die dekubitusprä- ten sei nach ständiger Rechtsprechung immer vermeid-
ventiven Maßnahmen müssen ärztlicherseits angeord- bar, d. h., auf grobe Pflege- und Lagerungsmängel oder
net und überwacht werden, die zu ergreifenden Inter- unzureichende ärztliche Anordnung und Überwachung
ventionen sind vollumfänglich zu dokumentieren. zurückzuführen (LG Bonn, Urteil vom 23. 12. 2011, Az: 9
Dekubitus bei Hochrisikopatienten ist immer ver- O 364/08).
meidbar Fazit
Der Fall Die Entscheidung über das, was bei einem Dekubitus-Ri-
Ein an Adipositas, chronischer Niereninsuffizienz, Diabe- sikopatienten zu tun ist, darf nicht allein dem Pflegeper-
tes mellitus und dem Schlafapnoe-Syndrom leidender sonal überlassen werden. Notwendig sind vielmehr ärzt-
Patient wurde mit einem rechtshirnigen Schlaganfall mit liche Anordnungen und Anweisungen zu den zur Ver-
beinbetonter linksseitiger Halbseitenlähmung in ein meidung von Druckgeschwüren durchzuführenden Pfle-
Krankenhaus eingeliefert. Für die Dauer von zwei Mona- gemaßnahmen und deren Überwachung. Dies ist auch
ten wurde er auf der Intensivstation behandelt. Daran zu dokumentieren. (. . .).
schloss sich eine rund vier Wochen andauernde Frühre-
habilitation in einer anderen Klinik an (. . .). Kurz darauf
wurde er wieder in eine andere Klinik verlegt, wobei er Auch das zuletzt 2003 geänderte Krankenpflege-
bettlägerig und weitgehend immobil war. Kurze Zeit gesetz enthält im § 3 Vorschriften zur Dokumenta-
später wurde er aus der dortigen stationären Behand- tion und Informationsweitergabe. So heißt es dort
lung entlassen. Zu diesem Zeitpunkt bestand ein Sakral- u. a., „Die Ausbildung soll insbesondere dazu befähi-
dekubitus 2. Grades. (. . .). Der Dekubitus wurde zu- gen, 1. die folgenden Aufgaben eigenverantwortlich

BAND 2 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege 55


KaelDesu
4 Informationsweitergabe

auszuführen: a) Erhebung und Feststellung des Pfle- Definition: Eine Fachsprache kann beschrie-
gebedarfs, Organisation, Durchführung und Doku- ben werden als: „Sprache (mit einem speziellen
mentation der Pflege, . . . “. Wortschatz und speziellen Verwendungswei-
sen), die für ein bestimmtes Fachgebiet gilt und (auf

!
Merke: Die mündliche und schriftliche voll- Grund terminologischer Festlegungen) eine genaue
ständige und exakte Informationsweitergabe Verständigung u. exakte Bezeichnungen innerhalb die-
ist entscheidend für die Qualität der Pflege. ses Fachgebietes ermöglicht.“ (Duden)

Zusammenfassung: Kennzeichen und Funktionen der Fachsprache sind:


4 Bedeutung und Funktionen der Informa- Zweckhaftigkeit und Sachbezogenheit,
tionsweitergabe Strukturierung von Informationen,
Mündliche und schriftliche Weitergabe von Infor- Eindeutigkeit,
mation ermöglicht eine individuelle Pflegeplanung. Reduktion auf das Wesentliche durch Zusammen-
Patientendaten sind für alle Mitglieder des thera- fassung von Einzelinformationen,
peutischen Teams informativ. Präzision,
Schriftliche, allen zugängliche Dokumentation er- Standardisierung,
leichtert Evaluation und Anpassung der Pflegemaß- geringe Anschaulichkeit.
nahmen.
Pflegequalität beinhaltet quantitative und qualita- Sie unterscheidet sich demnach von der Allgemein-
tive Aspekte der Informationsweitergabe. sprache dadurch, dass sie nur in einem fachlich be-
Die Dokumentation dient auch der Leistungsüber- grenzten Kommunikationsbereich Anwendung fin-
prüfung sowie evtl. als Beweisunterlage. det. Bei den Anwendenden handelt es sich um Men-
schen, die in diesem speziellen Fachbereich tätig
sind. Sie dient v. a. der Verständigung der Fachperso-
4.2 Sprache als Instrument der nen untereinander. Bedingung für das Funktionieren
mündlichen und schriftlichen der Verständigung ist die eindeutige Definition der
Informationsweitergabe einzelnen Fachbegriffe.

Wie bereits beschrieben, ist die kontinuierliche, um- Beispiel: Eine eindeutige Definition von
fassende und exakte Informationsweitergabe ein be- Fachbegriffen in der Pflege sind Pflegediagno-
deutsamer Faktor für die Pflegequalität. Sie sollte in sen. Sie können auch als formal definierte
einer Weise erfolgen, die für die Pflegenden prakti- Pflegeprobleme bezeichnet werden, d. h. jeder Pflegedi-
kabel und überschaubar bleibt. Bei der schriftlichen agnosetitel ist mit einer Definition versehen, und nur,
Informationsweitergabe soll es sich nicht um aus- wenn diese Definition auf ein Problem des pflegebe-
ufernde Berichte handeln; vielmehr sollte sie sich an dürftigen Menschen zutrifft, darf die entsprechende Di-
den Adjektiven „kurz“, „knapp“, „präzise“, „exakt“, agnose verwendet werden (s. a. Bd. 1, Kap. 7). Der Vor-
„umfassend“ und „verständlich“ orientieren. teil dieser Vorgehensweise besteht v. a. darin, dass alle
Pflegenden, die mit dieser vereinheitlichten Terminolo-
Beispiel: Dekubitus 3⬚, ⭋ 8 cm mit Tasche gie arbeiten, genau wissen, was sich hinter den einzel-
(5 cm tief, bei 9 Uhr) am Kreuzbein. nen Pflegediagnosetiteln verbirgt. Gleichzeitig wird
durch die Verwendung von Pflegediagnosen die münd-
liche und schriftliche Informationsweitergabe erleich-
Die Sprache hat einen hohen Stellenwert in der Pfle-
tert und effizienter gemacht.
ge. Dieser wird deutlich beim Aufbau einer Bezie-
hung zu einem pflegebedürftigen Menschen, bei der
Über die Verwendung von Pflegediagnosen wird
Kommunikation im therapeutischen Team, bei der
noch diskutiert. Auch existiert in Deutschland der-
Datenerhebung und Informationsweitergabe, die al-
zeit noch keine anerkannte Pflegefachsprache. Ein
lesamt über das Medium „Sprache“ geschehen. Ins-
großer Teil der aktuell in der Pflege verwendeten
besondere für die schriftliche und mündliche Infor-
Begriffe ist aus anderen Wissenschaftsbereichen
mationsweitergabe haben sich in vielen Berufsgrup-
entnommen, wie z. B. den Sozial- oder Erziehungs-
pen sog. Fachsprachen herausgebildet.

56 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege BAND 2


KaelDesu
4.2 Sprache als Instrument der mündlichen und schriftlichen Informationsweitergabe

!
wissenschaften. Beispiele hierfür sind Begriffe wie Merke: Eine Fachsprache ermöglicht die
Empathie, Bewältigungsstrategien, soziale Kompe- effiziente Kommunikation von Mitgliedern
tenz, Validation, Empowerment u. a. einer Berufsgruppe untereinander.
Häufig finden sich auch Begriffe, die eng mit der
medizinischen Fachsprache verwoben sind, wie bei- 4.2.1 Umgang mit der Fachsprache
spielsweise Pneumonieprophylaxe und postoperati- Die sprachliche Kommunikation spielt in der Betreu-
ve Mobilisation. Sog. „pflegeeigene“ Begriffe entste- ung von Menschen eine große Rolle. Um so wichtiger
hen im Allgemeinen aus der Pflegepraxis und der ist es, darauf zu achten, dass ihnen gegenüber eine
Pflegewissenschaft. Beispiele hierfür sind: angemessene Sprach- und Ausdrucksweise gewählt
Pflegeprozess, wird, um ein gegenseitiges Verständnis zu ermögli-
4
Bezugspflege, chen.
Pflegeforschung, Die meisten Menschen und ihre Angehörigen, so-
Pflegetheorien, fern sie nicht selbst beruflich aus der Pflege oder Me-
Pflegebeziehung. dizin kommen, sprechen die Pflegefachsprache mit
ihren pflegerischen und medizinischen Fachausdrü-
Für viele Begriffe fehlt allerdings noch eine eindeuti- cken nicht.
ge, präzise Definition. Zumeist ergibt sich die eigent-

!
liche Bedeutung der Begriffe aus ihrem Anwen- Merke: Der Fachjargon der Pflegefachkräfte
dungszusammenhang. Eine Fachsprache ist nicht kann also eine ausgrenzende Wirkung ha-
nur von praktischem Nutzen, sondern auch ein ben, wenn nicht differenziert wird, mit wem
Merkmal von Professionalität und zeigt das berufli- in dieser Sprache gesprochen wird.
che Selbstverständnis auf. N. Lang, eine amerikani-
sche Pflegewissenschaftlerin, sagte einmal: „If we Schlimmstenfalls kann der hilfsbedürftige Mensch,
cannot name it, we cannot control it, finance it, teach der im Zentrum des Pflegeprozesses steht, zur Passi-
it, research it or put it into public policy.“ („Wenn wir vität verurteilt werden, da er die Sprache nicht ver-
es nicht benennen können, können wir es nicht be- steht und somit nicht am Pflegeprozess teilnehmen
herrschen, nicht finanzieren, nicht lehren, nicht er- kann. Ein unsensibler Umgang mit fachlicher Spra-
forschen und auch nicht zu einem Bestandteil politi- che wird von Außenstehenden oft als arrogant emp-
scher Entscheidungen machen.“) funden, falsch eingesetzte Fachsprache kann zum
Gleichzeitig ist die Verwendung einer Fachspra- Machtfaktor werden, der die Beziehung zwischen
che auch ein Unterscheidungsmerkmal zwischen pflegebedürftigen Menschen und Pflegefachkräften
Fachkräften und Laien. Der Umgang mit der Fach- nachhaltig stört, indem er unnötigerweise Angst aus-
sprache gilt somit als Professionsmerkmal. löst und verunsichernd wirkt.
Auch in Deutschland wird seit einigen Jahren ver-
stärkt über eine mögliche Pflegefachsprache disku- Beispiel: Eine Pflegefachkraft sagt zu einer
tiert. Einen wichtigen Beitrag zur Etablierung einer älteren Frau, die in ihren Bewegungsmög-
Pflegefachsprache leisten hierbei die Pflegestudien- lichkeiten durch eine Operation stark einge-
gänge. Für die Pflegewissenschaft und -forschung schränkt ist:
hat die Sprache eine elementare Bedeutung, da „Guten Morgen Frau Burg. Nach dem Frühstück führe
durch sie die verschiedenen Bereiche differenziert ich bei Ihnen die Kontrakturenprophylaxe durch.“ Da-
und definiert werden. So ist beispielsweise eine Pfle- bei kann sie nicht davon ausgehen, dass die ältere Frau
geforschung nicht durchzuführen, wenn der zu un- weiß, was unter dem Begriff „Kontrakturenprophyla-
tersuchende Gegenstand nicht eindeutig definiert ist xe“ zu verstehen ist (Abb. 4.4).
und somit kein einheitliches Verständnis hierüber
vorliegt. Diese Schwierigkeit zeigt sich z. B. bei Be- Zusammenfassung:
griffen wie „Ganzheitlichkeit“, „Pflegequalität“ u. a., Umgang mit der Fachsprache
für die noch keine allgemein anerkannte Definition Die Dokumentation der Patientendaten soll kurz,
vorliegt. Darüber hinaus ist eine Pflegefachsprache knapp und das Wesentliche abdeckend sein.
erforderlich, um einen internationalen Austausch zu Die Sprache hat einen hohen Stellenwert in der
ermöglichen. Pflege.

BAND 2 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege 57


KaelDesu
4 Informationsweitergabe

Abb. 4.4 Sprache kann ausgrenzen

Wichtig ist die eindeutige Definition von Fachbe- den. Aus der Kombination eines Simplexes mit einem
griffen, z. B. mithilfe von Pflegediagnosen. Präfix und/oder einem Suffix ergibt sich ein neuer
Da es noch keine anerkannte Pflegefachsprache Bedeutungszusammenhang. Ein Beispiel hierfür
gibt, ergibt sich die Bedeutung der „pflegeeigenen“ zeigt die Tab. 4.1.
Begriffe aus ihrem Anwendungszusammenhang. Sollen Worte abgeleitet werden, muss berück-
Im Umgang mit pflegebedürftigen Menschen ist ei- sichtigt werden, dass in den Wortverbindungen
ne angemessene Ausdrucksweise wichtig, um sie nicht jeweils der vollständige bekannte Baustein
nicht aus dem Pflegeprozess auszugrenzen. existiert, sondern, dass sich der Ausdruck oft aus Tei-
len von Elementen oder sogar leicht veränderten
4.2.2 Medizinische Terminologie Bausteinen zusammensetzt. Wichtig ist es demzu-
Bei der Verständigung der verschiedenen Berufs- folge zu erkennen, von welchem Wort der einzelne
gruppen im Gesundheitswesen hat die medizinische Baustein stammt, d. h., welchem Wortstamm er zu-
Terminologie eine große Bedeutung. zuordnen ist. Um mehrere Wortstämme zu verknüp-
Das bloße Auswendiglernen der Fülle von Fachbe- fen, wird oft ein Bindevokal, meistens ein Binde-O
griffen, die zumeist aus der lateinischen oder grie- benutzt.
chischen Sprache stammen, ist nur schwer leistbar.
Tab. 4.1 Beispiel für die unterschiedliche Bedeutung eines
Werden jedoch die einzelnen Begriffe in ihre Ele-
Wortes in Verbindung mit einem Präfix und einem Suffix
mente zerlegt, lassen sich die Bedeutungen der Wor-
te ableiten. Hieraus ergibt sich eine effiziente Lern- Präfix Simplex Suffix Bedeutung

technik für die medizinische Fachterminologie. Cardia Herz


Das Grundelement eines Wortes wird als Simplex
bezeichnet. Diesem Element können Bausteine vor- Endo- card Herzinnenhaut

geschaltet werden, sog. Präfixe, oder Bausteine ange- Endo- card -itis Entzündung der Herzinnenhaut
hängt werden, die auch als Suffixe bezeichnet wer-

58 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege BAND 2


KaelDesu
4.2 Sprache als Instrument der mündlichen und schriftlichen Informationsweitergabe

Beispiel: Der Wortstamm lautet Aden (Drü- Tab. 4.2 (Fortsetzung)


se), das weitere Element des Wortes lautet Präfix Bedeutung
Sarkom (bösartige Geschwulst); zusammen-
gesetzt lautet das Wort Adenosarkom (bösartige Ge- poly-(gr.) = viel, zahlreich
schwulst aus Drüsengewebe). prae-(lat.) = vor

Eine Übersicht über häufig benutzte Präfixe, gängige re-(lat.) = wieder, zurück

Suffixe und entsprechende Anwendungsbeispiele ist sub-(lat.) = unter(halb)


in den Tab. 4.2 bis 4.5 aufgeführt.
supra-(lat.) = oberhalb 4
Tab. 4.2 Häufig verwendete Präfixe syn-(gr.) = zusammen, mit

Präfix Bedeutung tachy-(gr.) = schnell, beschleunigt

a-(gr..), an-(gr.) = ohne, Mangel an trans-(lat.) = hinüber, durch

a-(lat.), ab-(lat.) = von etwas weg

ad-(lat.) = nach ... hin, zu


Tab. 4.3 Beispiele für die Anwendung von Präfixen
anti-(gr.) = gegen
Präfix Bedeutung
bi-(lat.) = zwei(fach)
anorganisch = nicht organbedingt
brady-(gr.) = verlangsamt
antibakteriell = gegen Bakterien gerichtet
de-(lat.) = (her)ab, ent-
aseptisch = keimfrei
dia-(gr.), di-(gr.) = durch, hindurch, zwischen
bradycard = verlangsamte Herzschlagfolge
dys-(gr.) = fehl-, miss- (cardia = Herz)

en(gr.)-, = innen, hinein, in desorientiert = verwirrt, unorientiert

endo-(gr.) = innerhalb dyspnoeisch = fehlerhaft atmend (pnoe = Luft)

epi-(gr.) = auf endotracheal = innerhalb der Luftröhre


(Trachea = Luftröhre)
ex-(lat.) = (her)aus
Hemiplegie = Halbseitenlähmung
hyper-(gr.) = übermäßig, zuviel
hyperventilierend = zuviel Luft einatmend
hypo-(gr.) = unter(-halb), zu wenig
intraperitoneal = in das Peritoneum (= Bauchfell) hinein
in-(lat.), im-(lat.) = in, hinein, nicht (Verneinung)
kontraindiziert = gegengründig
inter-(lat.) = zwischen
paravenös = neben der Vene
intra-(lat.) = innerhalb, in ... hinein
postoperativ = zeitlich nach der Operation
kontra-(lat.) = gegen
Prophylaxe = Vorbeugung, Verhütung von Krankheiten
mega-(gr.) = groß
sublingual = unterhalb der Zunge (lingua = Zunge)
Oligo-(gr.) = wenig
tachycard = beschleunigte Herzschlagfolge
par(a)-(gr.) = abseitig, neben, abweichend

per-(lat.) = (hin)durch

peri-(gr.) = um, herum

post-(lat.) = zeitlich nach, hinter

BAND 2 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege 59


KaelDesu
4 Informationsweitergabe

Tab. 4.4 Häufig verwendete Suffixe Symptombündel


Suffix Bedeutung
Definition: Mithilfe sog. Symptombündel wer-
den Erkrankungen bzw. mehrere Symptome, die
-alis (lat.) = zugehörig zu bei einer bestimmten Erkrankung parallel auf-
-gen (gr.) = erzeugend, verursachend
treten bzw. auftreten können, gebündelt, d. h. zusam-
mengefasst. Anstelle von Symptombündel wird häufig
-iasis (gr.) = krankhafter Zustand auch der Begriff des „Syndroms“ verwendet. Das Wort
-id, (gr.) -(o)lid (gr.) = ähnlich wie „Syndrom“ kommt aus dem Griechischen und bezeich-
net das „Zusammenspiel“ bzw. Zusammenkommen
4 -itis (gr.) = entzündlich, Entzündung verschiedener Faktoren zu einem bestimmten Krank-
-om, -oma (gr.) = Geschwulstbildung heitsbild.

-ose (gr.) = nicht entzündliche Krankheit


Die Bezeichnung der Symptombündel kann auf ver-
-penie (gr.) = Mangel an schiedene Weise erfolgen:
nach dem Entdecker der Erkrankung und/oder
-phil (gr.) = liebend, neigend zu
durch den Begriff „Morbus“ (lat.: Krankheit), der
-zid (lat.) = tötend jeweils vor dem Eigennamen des Entdeckers der
Erkrankung aufgeführt wird z. B. Morbus Parkin-
son. Allerdings beschreibt nicht jede Kennzeich-
Tab. 4.5 Beispiele für die Anwendung von Suffixen nung mit „Morbus“ ein Symptombündel,
durch die daraus entstehende Erkrankung, z. B.
Suffix Bedeutung
präsuizidales Syndrom oder
karzinogen = krebserzeugend durch die Kürzel der Symptome einer Erkran-
kung, z. B. SIH, schwangerschaftsinduzierte Hy-
mongoloid = ähnlich wie ein Mongole aussehend
pertonie.
Parotitis = Ohrspeicheldrüsenentzündung
Tab. 4.6 zeigt Beispiele für diese möglichen Kenn-
Lipom = Fettgeschwulst
zeichnungen.
Thrombopenie = Mangel an Thrombozyten

biophil = das Leben liebend

fungizid = Pilze tötend

Tab. 4.6 Beispiele für die Kennzeichnung von Symptombündeln

Bezeichnung Beispiel Symptome der Erkrankung

a) nach dem Entdecker Virchow-Trias (von R. Virchow be- 쐌 Gefäßwandschaden


schriebene Trias, die zur Thrombo- 쐌 Hyperkoagulabilität
seentstehung führt) 쐌 verändertes Stromzeitvolumen im Sinne eines
verlangsamten venösen Rückstroms

a) nach dem Entdecker mit Morbus Parkinson (von J. Parkinson 쐌 Akinese


„Morbus“ entdeckte Erkrankung „Paralysis 쐌 Rigor
agitans“) 쐌 Tremor

b) nach der daraus entste- Präsuizidales Syndrom (eine dem 쐌 Einengung


henden Erkrankung Selbstmord vorausgehende charak- 쐌 gehemmte und gegen die eigene Person gerichtete Aggression
teristische Befindlichkeit) 쐌 Selbstmordfantasie

c) nach den Kürzeln der SIH (schwangerschaftsinduzierte 쐌 schwangerschaftsinduzierter Hypertonus


Symptome einer Hypertonie)
Erkrankung

60 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege BAND 2


KaelDesu
Literatur

Zusammenfassung:
Medizinische Terminologie Literatur:
Die medizinische Fachterminologie setzt sich aus
bestimmten Bausteinen der lateinischen und grie- Abt-Zegelin, A., M. W. Schnell: Sprache und Pflege. Hans Hu-
chischen Sprache zusammen. ber, Bern 2005
Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege
In einem Symptombündel, Syndrom, werden ge-
(DNQP): Expertenstandard Dekubitusprophylaxe in der
meinsam auftretende Erkrankungen bzw. Sympto- Pflege. 2. Aktualisierung. Osnabrück 2017
me zusammengefasst. Duden: Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in 12.
„Syndrom-Pflegediagnosen“ beinhalten die Vielzahl Bänden. 27. Aufl. Duden, Mannheim 2017
von Pflegeproblemen bei einem Menschen. Gordon, M.: Handbuch Pflegediagnosen. 5. Aufl. Hans Huber,
4
Hogrefe AG, Bern 2013
Lippert-Burmester, W., Lippert, H.: Medizinische Fachsprache
Fazit: Die Berücksichtigung qualitativer und
leicht gemacht. 6. Aufl. Schattauer, Stuttgart 2014
quantitativer Aspekte bei der mündlichen
Mantz, S.: Kommunizieren in der Pflege. Kompetenz und Sen-
und schriftlichen Informationsweitergabe ist sibilität im Gespräch. Kohlhammer, Stuttgart 2016
für die Qualität der Pflege von großer Bedeutung. Sie si- Pschyrembel Klinisches Wörterbuch, 267. Aufl. de Gruyter,
chert allen an Pflege und Therapie Beteiligten einen Berlin 2017
vergleichbaren Informationsstand. Im Rahmen der In- Spranger, G. In: I care Pflege. Thieme, Stuttgart 2015
formationsweitergabe spielt die Sprache eine heraus- Storsberg, A., C. Neumann, R. Neiheiser: Krankenpflegegesetz.
7. Aufl. Kohlhammer, Stuttgart 2017
ragende Rolle. Fachsprachen dienen der Verständigung
Zegelin, A.: Sprache und Pflege. Ullstein Mosby, Berlin 1997
von Mitgliedern einer Berufsgruppe untereinander.
Die Diskussion über eine Pflegefachsprache wird
Im Internet:
auch in Deutschland verstärkt geführt. Bei dem Um-
https://www.marburger-bund.de/sites/default/files/artikel/
gang mit medizinischen Termini kann durch die Ablei- downloads/landesverbaende/bayern/ 2012/20.000-eu-
tung der einzelnen Wortelemente die Bedeutung des schmerzensgeld-krankenhausaerzte-haften-fuer-dekubi-
Fachausdruckes leichter erfasst und effektiver gelernt tus/urteil-dekubitus-231211.pdf; Stand: 07. 08. 2017
werden.

BAND 2 Grundlagen der Wahrnehmung und Beobachtung in der Pflege 61


KaelDesu
KaelDesu

II Beobachtung des gesunden und kranken Menschen

Übersicht
5 Allgemeinzustand · 64 17 Urin · 309
6 Haut und Schleim- 18 Stuhl · 326
häute · 67 19 Schweiß · 342
7 Hautanhangsgebilde · 111 20 Menstruation und
8 Puls · 129 Fluor · 350
9 Blutdruck · 144 21 Erbrechen · 360
10 Körpertemperatur · 159 22 Sputum · 373
11 Atmung · 182 23 Schmerz · 380
12 Schlaf · 204 24 Bewegungen · 400
13 Bewusstsein · 224 25 Mimik/Gestik · 414
14 Körpergröße · 251 26 Körperhaltung · 428
15 Körpergewicht · 266 27 Gang · 443
16 Ernährungszustand · 283 28 Stimme/Sprache · 456

Abschnitt 2 stellt vierundzwanzig pflegerelevante Beobachtungsbereiche mit den dazu ge-


hörigen Beobachtungskriterien vor. Obwohl die Bereiche einzeln behandelt werden, ist zu
beachten, dass sie sich gegenseitig beeinflussen und in enger Wechselbeziehung zuein-
ander stehen. Nur die Berücksichtigung aller Bereiche kann ein annähernd vollständiges
Bild der Situation eines Menschen ergeben. Sowohl die Einzelbeobachtung als auch die
Beobachtung eines Menschen im Gesamtzusammenhang sind für die Erhebung pflegerele-
vanter Daten von Bedeutung. Die Kriterien der Beobachtungsbereiche gelten für alle Men-
schen gleichermaßen, sowohl für den normalen Zustand als auch für Veränderungen. Es
muss jedoch beachtet werden, dass die subjektive Bedeutung, die sich für den einzelnen
Menschen aus möglichen Veränderungen ergibt, demgegenüber sehr unterschiedlich sein
kann: einerseits stellt nicht jede Veränderung eines Beobachtungsbereiches zwangsläufig
ein Problem für den betroffenen Menschen dar, andererseits können die einzelnen Verän-
derungen durchaus unterschiedliche Probleme verursachen. Ob und wenn ja welches spe-
zifische, individuelle Problem für einen Menschen vorliegt, muss in der konkreten Situa-
tion sorgfältig geprüft werden.
Ausgehend vom Normalzustand werden in den einzelnen Kapiteln Beobachtungskriterien
formuliert sowie Veränderungen und deren mögliche Ursachen beschrieben. Fallstudien
am Ende der jeweiligen Kapitel verdeutlichen die Anwendung des Pflegeprozesses und die
mögliche Integration von Pflegediagnosen.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 63


KaelDesu

5 Allgemeinzustand
Panajotis Apostolidis*, Petra Schmalstieg

Übersicht
Einleitung · 64
5.1 Beobachtungsbereiche · 64
5.2 Bewertung · 64
Fazit · 66
Literatur · 66
5
Schlüsselbegriffe:
왘 Beobachtungsbereiche

5.2 Bewertung
Einleitung
Zur Bewertung des Allgemeinzustandes wird folgen-
Definition: Der Allgemeinzustand beschreibt de Einteilung verwendet:
die körperliche Verfassung eines Menschen bei guter Allgemeinzustand,
einer ersten Betrachtung, unabhängig von evtl. reduzierter Allgemeinzustand,
Krankheitssymptomen. schlechter Allgemeinzustand.

Bereits diese allgemeinen Beobachtungen, die bei Bei der Beurteilung der verschiedenen Bereiche ist
der ersten Begegnung gemacht werden, können immer auch die spezielle Situation, in der sich der
wichtige Hinweise bezüglich des allgemeinen Wohl- betroffene Mensch befindet, zu berücksichtigen. So
befindens, der körperlichen Verfassung und des sind z. B. die Reaktionen von einem Menschen bei ei-
emotionalen Befindens geben. Die Erfassung des All- ner Notfallaufnahme in ein Krankenhaus anders zu
gemeinzustandes ist sowohl Bestandteil der pflege- bewerten, als bei einem bereits seit längerer Zeit ge-
rischen als auch der ärtzlichen Anamnese. planten Krankenhauseintritt.
Da es sich bei diesen im Rahmen der ersten Be- Ereignisse, die plötzlich eintreten, können für den
trachtung beobachteten Veränderungen oder Auffäl- betroffenen Menschen nicht nur lebensbedrohliche
ligkeiten vielfach um subjektive Eindrücke handelt, physische Konsequenzen haben. Sie führen in vielen
sollten sie im weiteren Verlauf durch die spätere Be- Fällen auch zu enormen psychischen Belastungen.
obachtung ergänzt und durch entsprechende Maß- Diese können einen Menschen in seinem gesamten
nahmen validiert werden. Verhalten stark beeinflussen und verändern, bei-
spielsweise kann ein sonst höflicher Mensch in einer
solchen Stresssituation ein ausgesprochen barsches
5.1 Beobachtungsbereiche und gegebenenfalls verletzendes Verhalten in der
Kommunikation zeigen.
Die Beobachtung sollte sich auf das Erscheinungs- Ähnliches gilt bezogen auf das Lebensalter, da
bild, die kognitiven Fähigkeiten, die Kommunikation sich mit zunehmendem Alter physiologische Verän-
und die Mobilität beziehen. Tab. 5.1 beschreibt ver- derungen z. B. im Bereich der Beweglichkeit oder
schiedene Aspekte dieser Beobachtungsbereiche, die auch des Hörvermögens ergeben. So ist eine Schwer-
bei der Beobachtung des Gesamteindrucks eine Ori- hörigkeit bei einem Kind oder Jugendlichen anders
entierungshilfe geben. zu bewerten als bei einem 80-jährigen Menschen.

64 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
5.2 Bewertung

Tab. 5.1 Beobachtungsbereiche zur Einschätzung des Allgemeinzustandes (aus: Brobst, R. et al.: Der Pflegeprozess in der
Praxis. Hans Huber, Bern 1997)

Erscheinungsbild Kognitive Fähigkeiten Kommunikation Mobilität

Alter Bewusstsein Sprache Gehvermögen


쐌 Altersgemäßes Aussehen 쐌 Orientiert; nimmt die 쐌 Spricht in klarem Deutsch 쐌 Geht selbstständig; sicherer
쐌 Sieht jünger oder älter aus als Umgebung wahr oder einer anderer Sprache Gang
angegebenes Alter 쐌 Desorientiert; nimmt die Per- 쐌 Antwortet nur mit einem 쐌 Benutzt einen Stock, Krücken
son, den Raum und die Zeit Wort; reagiert nicht auf oder Gehwagen
Körperliche Verfassung nicht wahr sprachliche Stimulation 쐌 Schwankender, langsamer,
쐌 Gute Kondition, kräftig und 쐌 Verwaschene, heisere, laute, unsicherer oder schlurfender
der Körpergröße angemesse- Stimmung leise, unzusammenhängen- Gang; neigt sich auf eine Sei-
nes Gewicht 쐌 Reagiert angemessen; de, zögerliche, langsame, te; kann das eigene Gewicht
쐌 Schlechte Kondition, gesprächig schnelle oder unlogische nicht tragen
schwach, Über- oder Unter- 쐌 Antwortet einsilbig; Sprache oder Stimme 쐌 Kann sich unabhängig vom
5
gewicht antwortet nur auf direkte Fra- 쐌 Hat Schwierigkeiten, einen Stuhl ins Bett bewegen
쐌 Sichtbare Behinderung, wie gen Satz zu Ende zu bringen, we- 쐌 Braucht Hilfe (von ein, zwei
Amputation oder Lähmung 쐌 Beantwortet Fragen gen Atemnot oder Schmer- oder drei Personen), um vom
쐌 Sichtbare Narben oder Aus- zögernd; schaut zu den zen Stuhl ins Bett zu kommen
schlag Angehörigen, bevor er
antwortet Hören Bewegung
Bekleidung 쐌 Wütend; sagt „Lassen Sie 쐌 Hört gut genug, um die Fra- 쐌 Kann alle Extremitäten bewe-
쐌 Der Jahreszeit angemessene mich in Ruhe“ (oder so ähn- gen zu beantworten gen
oder nicht angemessene Klei- lich); spricht zu den 쐌 Hört schlecht, trägt Hörge- 쐌 Hat eine Schwäche der linken
dung Familienangehörigen laut rät; man muss ihm laut in das oder rechten Körperhälfte;
쐌 Saubere, gepflegte Kleidung und heftig rechte oder linke Ohr spre- Lähmung
쐌 Schmutzige oder zerrissene 쐌 Hält oder meidet Blick- chen 쐌 Kann sich im Bett nicht selber
Kleidung, die nach Alkohol, kontakt 쐌 Taub; liest von den Lippen ab umdrehen
Urin oder Stuhl riecht oder benutzt Zeichensprache 쐌 Ausfahrende oder spastische
Denken Körperbewegungen (genaue
Persönliche Hygiene 쐌 Kann ein Gespräch führen; Sehvermögen Bezeichnung)
쐌 Sauber und gekämmt macht passende Bemerkun- 쐌 Sieht gut genug, um Anlei-
쐌 Ungepflegt; schmutzige gen; versteht Aufforderungen tungen in Deutsch oder einer
Haut, Haare und Nägel; 쐌 Die Gedanken scheinen abzu- anderen Sprache zu lesen
unrasiert schweifen; macht unpassen- 쐌 Trägt eine Brille, immer oder
쐌 Körpergeruch oder auffallen- de Bemerkungen; versteht nur zum Lesen
der Mundgeruch Aufforderungen falsch 쐌 Kann nicht lesen
쐌 Blind
Hautfärbung
쐌 Blass, rötlich, bläulich,
gelblich oder sonnen-
gebräunt

Neben der Situation und dem Alter muss bei der rien gegenseitig beeinflussen. So kann z. B. eine Ein-
Bewertung auch der Umgang mit Veränderungen schränkung in der Beweglichkeit auch Auswirkun-
und Behinderungen berücksichtigt werden. Bei be- gen auf die Ausführung der persönlichen Hygiene,
reits länger bestehenden Defiziten sind oftmals von auf die Kleidung und auf die Stimmung haben. Dies
den Betroffenen entsprechende Bewältigungsstrate- bedeutet, dass nicht allein die Quantität, also die An-
gien entwickelt worden, so dass diese Einschränkun- zahl der beeinträchtigten Kriterien, sondern insbe-
gen keine oder nur eine geringe Beeinträchtigung sondere die Qualität bzw. der Ausprägungsgrad der
des Allgemeinzustandes bewirken. Dagegen können Beeinträchtigung die Beurteilung bestimmen.
neu auftretende Einschränkungen, wie z. B. eine Die Einstufung des Allgemeinzustandes in „gut“,
Aphasie im Rahmen einer Apoplexia cerebri, bis zur „reduziert“ bzw. „schlecht“ ist letztlich stark vom
Entwicklung entsprechender Strategien den Allge- subjektiven Empfinden der beurteilenden Person ab-
meinzustand stark beeinträchtigen. hängig. Deshalb muss in der zu erstellenden Doku-
Bei der Einstufung des Allgemeinzustandes muss mentation unbedingt die Begründung, warum man
weiterhin bedacht werden, dass sich die o. a. Krite- zu dieser Beurteilung gekommen ist, anhand der

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 65


KaelDesu
5 Allgemeinzustand

oben genannten Beobachtungsbereiche angegeben


werden. Nur so wird die subjektive Einschätzung für Literatur:
andere Personen nachvollziehbar.
Brobst, R. et al.: Der Pflegeprozess in der Praxis. Huber, Bern
1997
Fazit: Die Beobachtung des Allgemeinzu-
Holldack, K., K. Gahl: Auskultation und Perkussion. Inspektion
standes erstreckt sich auf 4 Beobachtungsbe-
und Palpation. 15. Aufl. Thieme, Stuttgart 2009
reiche, bei deren Beurteilung Qualität und
Quantität wichtig sind. Bei der Bewertung des Allge- Im Internet:
meinzustandes müssen die aktuelle Situation, das Alter Pschyrembel Online. https://www.pschyrembel.de/;
und vorhandene Bewältigungsstrategien berücksich- Stand: 01. 08. 2017
tigt werden, um die Bedeutung der Situation für den
5 betroffenen Menschen erkennen zu können.

66 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu

6 Haut und Schleimhäute


Eva Eißing

Übersicht
Einleitung · 67
6.1 Aufbau und Funktion · 68
6.2 Allgemeine Beobachtungskriterien und
Beschreibung des Normalzustandes · 72
6.2.1 Hautfarbe · 73
6.2.2 Hautspannung · 74
6.2.3 Hauttemperatur · 74
6.2.4 Hautoberfläche · 74 6
6.2.5 Mundschleimhaut und
Analschleimhaut · 74
6.3 Abweichungen und Veränderungen und
deren Ursachen · 75
6.3.1 Veränderungen der Hautfarbe · 75
6.3.2 Veränderungen der Hautspannung · 77
6.3.3 Veränderungen der Hauttemperatur · 78 der jeweiligen emotionalen Befindlichkeit. Viele
6.3.4 Veränderungen der Hautoberfläche · 79 Stimmungen sind leicht von außen zu beobachten,
6.3.5 Veränderungen der Mundschleimhaut und wie z. B. das Erröten aus Scham oder die plötzliche
Analschleimhaut · 95 Blässe in Schrecksituationen. Dies verdeutlicht die
6.4 Ergänzende Beobachtungskriterien · 101 wichtige kommunikative Funktion der Haut.
6.5 Besonderheiten bei Kindern · 102 Die Verbindung zwischen Haut und Emotionen ist
6.6 Besonderheiten bei älteren auch an vielen alltäglichen Redewendungen zu er-
Menschen · 105 kennen: Ausdrücke wie „sich in seiner Haut wohl-
6.7 Fallstudien und mögliche fühlen“ oder „aus der Haut fahren wollen“ unter-
Pflegediagnosen · 107 streichen ihre Rolle als Spiegel der menschlichen
Fazit · 109 Seele. Große Bedeutung hat sie auch für den Emp-
Literatur · 110 fang von „Nachrichten“. Über Berührungen können
Empfindungen vermittelt und ausgelöst werden.
Schlüsselbegriffe: Die Haut bestimmt darüber hinaus zu einem gro-
ßen Teil das Aussehen und den ersten Eindruck, den
왘 Hautfarbe man von einem Menschen gewinnt. Eine glatte, ma-
왘 Hautspannung kellose Haut wird häufig mit „Gepflegtheit“, „Sorg-
왘 Hautturgor falt für sich selbst“ und auch Gesundheit assoziiert.
왘 Hauttemperatur Dabei unterliegt auch die Haut dem sich wandelnden
왘 Hautoberfläche Schönheitsideal: Zu Anfang des 20. Jahrhunderts galt
왘 Zunge es als Zeichen der Vornehmheit, eine blasse Hautfar-
왘 Mundschleimhaut be zu besitzen, heute ist eher eine gebräunte Haut
왘 Analschleimhaut der erstrebte Teint.
Eine Reihe von Erkrankungen lässt sich an der
Haut beobachten. Da die Haut der Inspektion so gut
Einleitung zugänglich ist, kommt der Hautbeobachtung auch in
der Pflege große Bedeutung zu. Das folgende Kapitel
Die Haut ist das größte Organ des menschlichen Kör- beschreibt die vielfältigen Funktionen der Haut und
pers. Sie erfüllt wichtige Funktionen im sozialen Mit- mögliche physiologische und pathologische Verän-
einander und steht in engem Zusammenhang mit derungen.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 67


KaelDesu
6 Haut und Schleimhäute

6.1 Aufbau und Funktion Die Hornzellen enthalten Keratin und sind dach-
ziegelartig angeordnet. Dazwischen liegt ein Fett-
film, der wie Mörtel für die Festigkeit dieser Haut-
Horn-
schicht schicht sorgt und Wasserverdunstung verhindert.
Basalzell- Die Oberhaut ist gefäßfrei; die Ernährung erfolgt
schicht durch die Lederhaut, mit der sie dicht verzahnt ist.

(Epidermis)
Oberhaut
Papillare In der Basalzellschicht befinden sich die Melano-
Talgdrüse zyten, die unter Einwirkung von UV-Licht das Pig-
Blutgefäße– ment Melanin bilden. Es hat die Aufgabe, tiefere

(Corium, Dermis)

Kutis
Kapillare

Lederhaut
Hautschichten vor der schädigenden UV-Wirkung zu
Schweiß-
drüse schützen. Die Melaninmenge ist für die Braunfär-
Geflechts- bung der Haut verantwortlich. Besonders pigment-
schicht reich sind die Warzenhöfe der Brüste, die Ge-
Haarbalg schlechtsorgane und der Anus.
6 Die Oberhaut ist verschieden dick. An Stellen star-
Fett-
Unterhaut
(Subkutis)
gewebe ker Beanspruchung ist sie ausgeprägter, z. B. an den
Fuß- oder Handballen; an anderen Stellen wiederum
weniger, z. B. an den Augenlidern. Außerdem ist die
Gefäße Oberhaut in der Lage, je nach Bedarf Verdickungen in
Form von Schwielen zu bilden. Die Dicke der Ober-
Mus- haut variiert zwischen 0,03 und 4 mm.
kulatur

Lederhaut (Korium, Dermis)


Abb. 6.1 Aufbau der Haut Die Lederhaut, auch Korium, Dermis oder Geflecht-
schicht genannt, besteht aus einem Bindegewebsge-
flecht mit elastischen Fasern.
Die Haut hat eine Oberfläche von ca. 1,5 – 2 m2 bei ei-
Dadurch wird die Haut dehnbar und begrenzt
nem Gesamtgewicht von 2,5 – 3 kg. Zählt man das
reißfest. Aus der Lederhaut von Tieren wird durch
Unterhautfettgewebe mit, sind es bis zu 10 kg.
Gerben Leder gewonnen, daher ihr Name. Sie enthält

!
viele Blutgefäße, die über kegelförmige Einstülpun-
Merke:
gen, auch Papillare genannt, in die Epidermis hinein-
Die Haut ist das größte Organ des Körpers.
ragen und sie ernähren. Diese Papillare bilden die
Sie erfüllt eine Vielzahl von Funktionen.
Hautleisten an den Händen und Füßen und sind für
den individuellen Fingerabdruck verantwortlich.
Hautschichten
Die Lederhaut enthält außerdem Muskel- und
Die Haut besteht aus 3 Schichten: Oberhaut (Epider-
Nervenfasern, Lymphgefäße, Talg- u. Schweißdrüsen
mis), Lederhaut (Korium, Dermis) und Unterhaut
und Rezeptoren für Kälte-, Wärme-, Druck- und
(Subkutis). Abb. 6.1 zeigt einen schematischen Quer-
Oberflächensensibilität. Pro Tag werden ca. 1 – 2 g
schnitt.
Talg produziert.
Die meisten Talgdrüsen befinden sich im Gesicht
Oberhaut (Epidermis)
mit ca. 800 Talgdrüsen/cm2. Die Anzahl nimmt von
Die Oberhaut, auch Epidermis genannt, wird aus von
oben nach unten ab. Talg besteht aus Fettsubstanzen,
unten nach oben verhornendem, mehrschichtigem
Wasser, Salzen, Harnstoff und Eiweißkörperchen.
Plattenepithel gebildet.
Die Talgdrüsen münden nahe der Hautoberfläche je-
Sie ist in 2 Schichten unterteilt: die oben liegende
weils in einen Haarbalg. Von dort aus gelangt der Talg
Hornschicht und die basal liegende Keimschicht (Ba-
entlang des Haarschaftes an die Hautoberfläche.
salschicht), die ständig neue Hornzellen produziert
Duftdrüsen sind den Schweißdrüsen sehr ähn-
und die älteren Epithelien nach oben drängt. Sind die
lich. Sie produzieren ein duftendes Sekret, welches
Zellen oben angelangt, schuppen sie ab. Dieser Pro-
für den typischen Eigengeruch eines Menschen ver-
zess des Zellwechsels dauert ca. 2 Wochen.

68 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
6.1 Aufbau und Funktion

antwortlich ist. Die Duftdrüsen befinden sich in den Hautfunktionen


Achselhöhlen, im Genital- und Analbereich sowie im Die Haut hat viele, ganz unterschiedliche Funktionen
Bereich der Brustwarzen und beginnen in der Puber- zu erfüllen:
tät mit der Sekretproduktion. Ihre Ausführungsgän- Schutz vor äußeren Einflüssen und Verlust von
ge enden in den Haarfollikeln. Oberhaut und Leder- Wasser und körpereigenen Stoffen,
haut zusammen werden auch als Kutis bezeichnet. Sinneswahrnehmung,
Wärmeregulation,
Unterhaut (Subkutis) Aufnahme von Stoffen von außen (Resorption),
Die Unterhaut, auch Subkutis genannt, besteht aus Speicherfunktion,
lockerem Bindegewebe mit Fetteinlagerungen. Sie Ausscheidung,
enthält Haarbalge, Schweißdrüsen und Rezeptoren Formgebung,
für die Vibrationsempfindungen und die Tiefensen- Kommunikation.
sibilität.
Der Mensch besitzt ca. 2 Mio. Schweißdrüsen, die Schutz vor äußeren Einflüssen und Verlust von
täglich ca. 200 ml Schweiß ausscheiden, bei starker Wasser und körpereigenen Stoffen
6
Anstrengung oder bei Hitze sogar bis zu 10 Liter pro Die Haut ist wie eine Hülle, die den Körper gegen me-
Tag. chanische, chemische, thermische und bakterielle
Zusammen mit dem Talg bildet Schweiß den Säu- Reize schützt. Die Schutzwirkung entsteht durch die
reschutzmantel, auch Hydrolipidmantel genannt. Verhornung, den gebildeten Säureschutzmantel, das
Der pH-Wert liegt zwischen 4,6 und 6,0. Dadurch ist subkutane Fettgewebe und Pigmente (Melanin).
die Haut, wenn auch begrenzt, vor chemischen Ein- Gleichzeitig verhindert die Haut die Verdunstung
flüssen wie z. B. Säuren und Laugen und vor Eindrin- von Gewebewasser bzw. den Verlust körpereigener
gen krank machender Bakterien geschützt. Das Fett- Stoffe.
gewebe isoliert gegen Kälte, bietet den inneren Orga-
nen Polsterung gegen Druck und Stoß und speichert Sinneswahrnehmung
Energie und Wasser. Die Unterhaut befestigt die Ku- Mit den Tastkörperchen können Körperempfindun-
tis an den tiefer liegenden Gewebestrukturen. gen wie Berührung, Druck, Hitze, Kälte, Lage und
Schmerz registriert werden. Mit dieser Wahrneh-
Hauttypen mungsfähigkeit ist der Mensch vor schädlichen Ein-
Im Wesentlichen können 3 Hauttypen unterschieden flüssen gewarnt und kann sich schützen. Über die
werden: fette Haut, trockene Haut und Mischhaut. Sinneswahrnehmung ist der Körper in der Lage, Sig-
Fette Haut ist das Ergebnis einer Überproduktion der nale von Menschen zu empfangen, d. h. zu kommuni-
Talgdrüsen, die häufig noch durch eine verstärkte zieren (s. a. S. 7, Bd. 3, Kap. 3).
Schweißbildung und Hautunreinheiten begleitet
wird. Insgesamt sieht diese Haut grobporig und glän- Wärmeregulation
zend aus. Die Häufigkeit dieses Hauttyps liegt bei Die Haut ist wesentlich an der Körpertemperaturre-
50% der Bevölkerung. gelung beteiligt. Über die Wärmerezeptoren der
Trockene Haut entsteht durch eine verminderte Haut wird die Temperatur wahrgenommen („gemes-
Talgproduktion. Die Haut sieht trocken und spröde sen“) und dem Wärmeregulationszentrum im Hypo-
aus und neigt zu Einrissen. Sehr trockene Haut ist thalamus gemeldet. Das Wärmeregulationszentrum
schuppig und fühlt sich rauh an. vergleicht diesen Wert mit seinem Sollwert und lei-
Die Mischhaut besteht aus fetten und trockenen tet, falls notwendig, temperaturregulierende Maß-
Anteilen. Im Gesicht ist der fette Anteil T-förmig an- nahmen ein. Dies geschieht durch Erhöhung oder
geordnet, d. h. Stirn, Nase und Kinn sind fett, die Drosselung der kapillären Durchblutung. Unterstützt
Wangen und Schläfen dagegen trocken. wird die Wärmeregulation durch Schweißbildung
und Muskelzittern.

!
Merke: Die Bestimmung des Hauttyps hat Aufnahme von Stoffen von außen (Resorption)
große Bedeutung für die Hautpflege. Die Haut ist in der Lage, Stoffe aufzunehmen und an
die Blutbahn abzugeben, wie z. B. Medikamente.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 69


KaelDesu
6 Haut und Schleimhäute

Definition: Die Aufnahme von Stoffen über Zusammenfassung:


Haut und Schleimhaut wird auch als Resorption Aufbau und Funktion der Haut
bezeichnet. Die Haut ist das größte Organ des Körpers.
Sie besteht aus Oberhaut, Lederhaut und Unter-
Beispiel: Insuline oder Impfstoffe können haut.
über eine Injektion ins kutane oder subkuta- Man unterscheidet 3 Hauttypen; fette, trockene und
ne Gewebe eingebracht werden. Von dort aus Mischhaut.
wird das Medikament über Blutgefäße in die Blutbahn Wesentliche Funktionen der Haut sind: Schutz vor
resorbiert und an den gewünschten Wirkungsort äußeren Einflüssen und Verlust von Wasser sowie
transportiert. körpereigenen Stoffen, Sinneswahrnehmung, Wär-
meregulation, Aufnahme von Stoffen von außen,
Perkutan eingebrachte Medikamente, z. B. in Salben, Speicher, Ausscheidung, Formgebung und Kommu-
Cremes und Pflastern, werden nur begrenzt durch nikation.
die Haut resorbiert.
6 Allerdings werden auch unerwünschte, schädli- Schleimhaut (Tunica mucosa)
che Stoffe über die Haut aufgenommen, wie z. B. das Schleimhäute bedecken innere Oberflächen der Ver-
Insektizid E 605 (s. a. Bd. 3, Kap. 12.5). dauungsorgane, der Harn- und Atemwege, der Ge-
schlechtsorgane, des Mittelohrs und der Bindehaut.
Speicher Sie sondern meist Schleim ab, auch Mukos genannt.
Die Haut dient als Speicherorgan für Fett, Zucker, Schleimhäute bestehen aus mindestens 2 Schich-
Kochsalz und Provitamin D. Das Provitamin D wird ten: einer äußeren unverhornten Epithelschicht und
erst durch die Einwirkung von Sonnenlicht zum einer Bindegewebsschicht, auch Lamina propria ge-
wirksamen Vitamin D umgebaut. nannt, mit Blutgefäßen, Nerven und Schleimdrüsen.
Je nach Lokalisation der Schleimhaut können noch
Ausscheidung andere Schichten dazukommen (s. u.).
Über die Talg- und Schweißabsonderung ist die Haut Unter der Epithelschicht befindet sich die Basal-
in der Lage, Soffwechselendprodukte und Flüssigkeit membran mit Stammzellen, aus denen sich die Epi-
auszuscheiden. Die Duftdrüsen sondern spezifische thelzellen entwickeln. Diese werden genau wie bei
Duftkörper ab, die für den individuellen Körperge- der Haut durch ständige Neubildung an die Oberflä-
ruch verantwortlich sind. che gedrängt, wo sie dann innerhalb von 7 – 14 Tagen
abschilfern.
Formgebung Im Verdauungskanal kommen noch zwei weitere
Durch das Unterhautfettgewebe bekommt der Gewebeschichten dazu, eine Muskelschicht, Lamina
menschliche Körper Formen. Besonders deutlich muscularis mucosae genannt, und die bindegewebi-
sind die individuellen Formen im Gesicht erkennbar. ge Verschiebeschicht zwischen der Muskelschicht
An den Hüften und an der Brust hat das Unterhaut- der Schleimhaut und der Muskelwand des Organs,
fettgewebe geschlechtsspezifischen Charakter (s. a. die sog. Submukosa. Sie hilft der Schleimhaut, sich
S. 266). den wechselnden mechanischen Beanspruchungen
anzupassen, die durch die Nahrungsaufnahme und
Kommunikation den Nahrungstransport entstehen. Eine gesunde
Als Grenz- und Kontaktorgan ist die Haut für unsere Schleimhaut bildet eine Barriere gegen das Eindrin-
Körper- und Lageorientierung verantwortlich. Über gen von Keimen. Sie kann Stoffe aufnehmen, z. B.
die Hautrezeptoren werden Berührungen als Infor- Nahrung oder Medikamente, und Stoffe abgeben,
mation zum Gehirn weitergeleitet und dort verarbei- z. B. Schleim. Ähnlich wie die Epidermis grenzt die
tet. Die Reaktionen können ganz unterschiedlich Schleimhaut den Organismus von der äußeren Um-
sein. Einige Reaktionen, wie Freude, Erregung oder welt ab.
Angst, sind an der Haut sichtbar, z. B. die Bildung ro- Je nach Lokalisation werden verschiedene Epi-
ter Flecken im Gesicht oder Halsbereich oder die Ent- thelformen unterschieden. An Stellen hoher mecha-
stehung von Herpesbläschen nach Ekelgefühlen (s. a. nischer Beanspruchung, wie z. B. in der Mundhöhle
Bd. 3, Kap. 3).

70 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
6.1 Aufbau und Funktion

oder im Rachenbereich, aber auch im Analbereich feucht, sondern reinigt Mundhöhle und Zähne, er-
oder der Vagina, gibt es geschichtetes, unverhorntes leichtert das Sprechen und Essen und hält die Mund-
Plattenepithel. Geschichtetes verhorntes Platten- flora im Gleichgewicht. Er besteht zu 99% aus Wasser
epithel finden wir auf der Zunge. Schleimhaut mit und zu 1% aus Mineralien, Fluoriden und Enzymen,
Flimmerepithel wird im Atemtrakt benötigt, um die das Wachstum von Mikroorganismen hemmen.
Staub und Schleim in Richtung Rachen zu beför- Außerdem enthält der Speichel Enzyme, die Kohlen-
dern. Um den wechselnden Bedingungen im Harn- hydrate spalten.
trakt, beispielsweise dem unterschiedlichen Deh- In der Mundhöhle befinden sich Bakterien und
nungszustand der Harnblase, gerecht zu werden, Pilze, die zwar für sie selbst nicht pathogen sind, aber
gibt es in diesem Bereich Übergangsepithelien. das Wachstum von außen aufgenommener Bakte-
Schleimhäute besitzen Drüsen und produzieren rien hemmen. Auch sie bilden einen wichtigen Be-
Sekret, weswegen sie immer feucht sind. Außerdem standteil der gesunden Mundflora. Die Mund-
sind sie gut durchblutet. schleimhaut ist dünner als die Haut; entsprechend
ist die Durchblutung leichter zu beurteilen. Eine gut
6
!
Merke: Intakte Schleimhäute schützen den durchblutete Mundschleimhaut sieht rosig aus.
Körper vor dem Eindringen von Krankheits- Im Bereich der Zahnfortsätze von Ober- und Un-
erregern. terkiefer ist die Mundschleimhaut mit der Knochen-
haut verwachsen. Dieser Bereich wird als Zahnfleisch
Mundschleimhaut oder Gingiva bezeichnet. Das Zahnfleisch ist wie eine
Die Mundschleimhaut kleidet die Mundhöhle aus Manschette um die Zahnkrone gelagert.
(Abb. 6.2). Sie beginnt an den Lippen und besteht aus
deren Innenseiten, dem harten und weichen Gau- Zunge
men, den Innenseiten der Wangen, dem Mundboden Die Zunge ist ein muskulöses Organ, welches von ei-
sowie der Zungenunterseite. Die Haut an den Lippen ner dicken Schleimhaut bedeckt wird. Sie ist durch
geht von der verhornten Epithelschicht an der Innen- das Zungenband mit dem Mundboden verbunden.
seite in die unverhornte Mundschleimhaut über. Durch die Muskeln ist die Zunge sehr beweglich und
Die Mundschleimhaut wird von den speichelpro- wichtig für die Sprache, den Kau- und Schluckvor-
duzierenden Drüsen stets feucht gehalten. Die Spei- gang. Mithilfe der Zunge wird die Nahrung mit Spei-
cheldrüsen produzieren täglich ca. 1 – 1,5 l Speichel. chel vermengt und heruntergeschluckt und die
Die Menge ist von der Nahrungsaufnahme abhängig. Mundhöhle einschließlich der Zähne gereinigt. Die
Die Speicheldrüsen sind paarig angelegt. Unterschie- Zungenoberfläche ist durch zahlreiche Papillen rau
den werden Ohr-, Unterzungen- und Unterkiefer- und gerieft und enthält die Geschmacksknospen für
speicheldrüsen. Speichel hält nicht nur den Mund süss, sauer, salzig, bitter, umani und fett (Abb. 6.3).
Die Epithelzellen der Zunge erneuern sich ca. alle
5 – 7 Tage.

Analschleimhaut
harter und Der Gastrointestinaltrakt endet am Analkanal und
weicher Gaumen
schließt ihn mit dem After ab. Der Analkanal und der
angrenzende Teil des Rektums bilden eine funktio-
Mundhöhle nale Einheit, auch Anorektum genannt. Das Anorek-
tum enthält Schließmuskeln (Sphincter ani internus
Rachen
und externus) und ist dadurch in der Lage, den Gas-
trointestinaltrakt sicher abzuschließen und z. B. bei
Zäpfchen der Defäkation zu öffnen.
Im oberen Abschnitt des Analkanals befindet sich
Lippen
Dickdarmschleimhaut (mehrschichtiges Zylinder-
epithel), die in die äußere Haut des Afters (mehr-
schichtiges, unverhorntes Plattenepithel) überwech-
Abb. 6.2 Mundhöhle selt.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 71


KaelDesu
6 Haut und Schleimhäute

Abb. 6.3 Die Zunge a Zungenoberfläche b zerklüftete Oberfläche der Fadenpapillen c Verteilung der Rezeptoren für die einzelnen
Geschmacksqualitäten. Umani- und fettsensible Zellen sind über die ganze Zunge verteilt.

In der Übergangszone zwischen Darmschleim- Enzymen, reinigen die Mundhöhle und erleichtern
haut und Afterhaut, auch anokutane Grenze genannt, Essen und Sprechen.
befindet sich die Hämorrhoidalzone. Sie besteht aus Im oberen Analkanal befindet sich Dickdarm-
einem polsterartigen Venengeflecht, dichtet den Af- schleimhaut.
ter ab und verhindert, dass flüssiger Darminhalt un-
gewollt austritt. Die Haut um den After ist stärker
6.2 Allgemeine
pigmentiert und sieht braun aus. Sie enthält außer-
dem Haare, Talg-, Schweiß- und Duftdrüsen. Die In-
Beobachtungskriterien und
nervierung erfolgt mit den Ästen des Schambein- Beschreibung des
nervs (N. pudendus). Normalzustandes
Zusammenfassung: Neben speziellen Hauterkrankungen äußern sich ei-
Schleimhaut nige innere und psychische Erkrankungen durch ty-
Die Schleimhaut bedeckt die innere Oberfläche der pische Hautveränderungen, weshalb die Haut auch
Verdauungsorgane, Harn- und Atemwege, Ge- als „Gesundheitsspiegel des Organismus“ bezeichnet
schlechtsorgane, Mittelohr und Bindegewebe. wird. Für Pflegepersonen ist die Beobachtung der
Wie die Oberhaut grenzt die Schleimhaut den Orga- Haut von besonderer Bedeutung. Gelegenheit zur
nismus von der äußeren Umwelt ab. Hautbeobachtung ergibt sich insbesondere bei der
Speicheldrüsen sorgen für Feuchtigkeit im Mund, Körperpflege. Die Haut bietet darüber hinaus Mög-
eine intakte Mundflora durch die Produktion von lichkeiten der Kommunikation, besonders bei Men-

72 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
6.2 Allgemeine Beobachtungskriterien und Beschreibung des Normalzustandes

schen, die in ihrer verbalen Kommunikation einge- Physiologische Hautblässe


schränkt sind. Angst löst reflektorisch über einen gesteigerten Va-
gusreiz eine Kontraktion der Gefäßkapillaren aus

!
Merke: Die spezielle Hautbeobachtung ori- und lässt die Haut blass erscheinen. Menschen, die
entiert sich an den Kriterien Hautfarbe, sich größtenteils innerhalb von Räumen aufhalten
Hautspannung, Hauttemperatur und Be- oder bettlägerig sind, haben zumeist eine blasse
schaffenheit der Hautoberfläche. Hautfarbe, da durch die fehlende Sonneneinstrah-
lung keine Vermehrung der melaninhaltigen Pig-
6.2.1 Hautfarbe mente stattfindet.
Die gesunde Haut ist gut durchblutet und hat bei Blässe kann auch anlagebedingt sein, z. B. durch
hellhäutigen Menschen eine blass-rosa Farbe. Sie ist eine stärker ausgeprägte Oberhaut oder eine vermin-
abhängig von der Durchblutung, dem Gehalt an Hä- derte Hautpigmentierung.
moglobin, der Stärke der Epidermis und der Pigmen-
tierung, d. h. vom Melaningehalt. Weil die Epidermis Striae
nicht an allen Stellen des Körpers gleich dick ist, ist Während der Schwangerschaft kann es zu narben-
6
auch die Hautfarbe nicht am gesamten Körper die ähnlichen, zunächst blau-rötlichen, später gelblich-
gleiche. weißen, strichförmigen Hautveränderungen kom-
men. Sie treten infolge der starken Dehnung der Haut
Physiologische Hautrötung vor allem am Bauch, am Gesäß und an den Brüsten
Eine Hautrötung ist immer ein Zeichen einer ver- auf.
mehrten Durchblutung. Die Gefäße weiten sich,
meist reflektorisch, um Wärme abzugeben. Dieser Physiologische Hautbräune
Vorgang dient der Temperaturregulation und wird Durch Sonneneinwirkung kann die Haut eine bräun-
vom vegetativen Nervensystem gesteuert. liche bis tiefbraune Farbe annehmen. Je nach Haut-
Ebenfalls vom vegetativen Nervensystem gesteu- typ vermehren sich die melaninhaltigen Pigmente
ert ist die Weit- oder Engstellung der Gefäße durch unter UV-Lichteinwirkung. Menschen, die sich über-
emotionale Ereignisse wie Freude, Zorn, Scham oder wiegend draußen an der Luft aufhalten, sind deshalb
Aufregung, erkennbar durch Erröten im Gesicht und leicht bis stark gebräunt.
im Halsbereich. Da Frauen eine dünnere Haut besit- Während der Schwangerschaft können Pigment-
zen als Männer, fällt bei ihnen eine Gesichtsrötung flecken im Gesicht oder Pigmentstreifen zwischen
eher auf. Bauchnabel und Symphyse entstehen. Diese lokale
Gesunde Gefäße weiten sich reflektorisch nach Hyperpigmentierung resultiert aus der hormonellen
einem Kältereiz und lassen die Haut rot aussehen, Veränderung mit Steigerung des melanozytenprodu-
wie z. B. die „rote Nase“ im Winter. Dieser Vorgang zierenden Hormons im Hypothalamus und wird als
wird als reaktive Hyperämie bezeichnet. Eine rote Chloasma gravidarum bezeichnet. Nach der Schwan-
Hautfarbe entsteht auch bei hohen Außentempera- gerschaft verschwinden diese Pigmentflecken wie-
turen. Der Körper erwärmt sich und versucht, durch der.
vermehrte Wärmeabgabe über die Haut ein Anstei- Die gleiche Ursache haben Pigmentflecken, die
gen der Gesamtkörpertemperatur zu verhindern. durch die Einnahme der Antibabypille auftreten.
Der gleiche Mechanismus entsteht bei körperlicher Braune Pigmentflecken können auch angeboren sein
Anstrengung, z. B. durch Sport oder Arbeit. Vom Kör- und am ganzen Körper verteilt vorkommen. Sie sind
per wird vermehrt Wärme produziert und über die ebenso harmlos wie die als Sommersprossen bekann-
Haut nach außen abgegeben. ten, kleinen Pigmentfleckchen, die besonders unter
Eine Besonderheit stellen rote Hautflecken, die Sonneneinwirkung eine braune Farbe annehmen.
sog. Feuermale, dar. Sie entstehen durch lokal be- Unregelmäßig auf der Haut lokalisierte und ver-
grenzte erweiterte Blutgefäße. Feuermale sind ange- schieden große braune Flecken sind auch als Mutter-
boren und verschwinden meist in der Kindheit wie- male bekannt. Hierbei handelt es sich um eine Ver-
der. Sie können aber auch lebenslang bleiben. Feuer- mehrung von Nävuszellen, die den Melanozyten na-
male im Gesicht können zu kosmetischen Problemen he verwandt sind. Diese Muttermale sind gutartig
führen. und anlagebedingt oder erworben.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 73


KaelDesu
6 Haut und Schleimhäute

Physiologische Blaufärbung Nach dem Weinen bilden sich häufig Lid-


Bei Kälteeinwirkung wird die Haut aufgrund der Ge- ödeme.
fäßkontraktion blass-blau bis blau. Besonders gut
sichtbar ist die Blaufärbung an den Lippen, aber auch 6.2.3 Hauttemperatur
an den Händen oder Füßen. Die Stärke der Blaufär- Definition: Die Hauttemperatur wird auch als
bung ist abhängig von der Dauer und der Intensität die Schalentemperatur bezeichnet. Sie ist ab-
der Kälteeinwirkung. Sie kann auch eine blaurote, hängig von der Kapillardurchblutung, der Haut-
netzförmige Zeichnung annehmen, was ihr ein mar- feuchtigkeit, der Raumtemperatur und der Tageszeit.
moriertes Aussehen verleiht. Normalerweise erho- Ihr Wert liegt zwischen 28 und 32 ⬚C.
len sich gesunde Gefäße in kurzer Zeit wieder, was an
der reaktiven Hyperämie erkennbar ist. Die Hauttemperatur dient u. a. der Beurteilung der
peripheren Kreislaufsituation und der Grobeinschät-
Physiologische Gelbfärbung zung bei Fieber.
Durch übermäßigen Karottengenuss lagert sich das Zur Einschätzung des Fieberverlaufs ist die Mes-
6 in der Karotte enthaltene Provitamin A, das sog. Ka- sung der Hauttemperatur jedoch ein unzuverlässiges
rotin, in der Haut ein und lässt sie, je nach Ausprä- Mittel. In diesem Fall muss unbedingt die Kerntem-
gung, eine gelbe bis orangegelbe Farbe annehmen. peratur mit einem Thermometer gemessen werden
Die gelbe Hautfarbe der Asiaten ist ebenfalls durch (s. a. S. 159).
Karotineinlagerung in der Lederhaut bedingt.
Physiologische Hauttemperaturerhöhung
6.2.2 Hautspannung Warm wird die Haut durch eine hohe Außentempe-
Der Spannungszustand der Haut wird auch als Tur- ratur und durch vermehrte körperliche Arbeit. Die
gor bezeichnet. Wärmebildung ist dabei das Ergebnis der erhöhten
Hautdurchblutung (s. a. S. 73).

!
Merke: Man testet den Hautturgor auf 2
Arten: Physiologische Hauttemperaturerniedrigung
Kalt wird die Haut durch eine niedrige Umgebungs-
1. indem man die Haut mit zwei Fingern abhebt und temperatur, bei Aufregung und nach Schwitzen. Die
2. indem man mit einem Finger auf die Haut drückt. Gefäße stellen sich in diesem Fall eng, damit mög-
Der Turgor ist dann normal, wenn sich die Falten lichst wenig Wärme abgegeben wird. Beim Schwit-
beim Loslassen wieder glätten und sich die durch zen wird die Haut über Verdunstungskälte abge-
das Drücken entstandenen Dellen sofort wieder kühlt.
ausgleichen.
6.2.4 Hautoberfläche
Der Turgor ist abhängig vom Grad der Wasserbin- Die normale Hautoberfläche ist glatt, weich und frei
dungsfähigkeit der Haut, von dem Gehalt an elasti- von Defekten. Sie wird aber auch als fett-glänzend,
schen Bindegewebsfasern und dem Anteil an Fettge- trocken, zart, grobporig, glatt, rau, faltig, schuppig,
webe. pickelig, behaart, unbehaart etc. beurteilt.

Physiologische Veränderungen des Hautturgors 6.2.5 Mundschleimhaut und Analschleimhaut


Im Alter lässt die natürliche Hautspannung nach. Die Die gesunde Mundschleimhaut ist feucht, rosig und
Ursache ist ein Nachlassen der Wasserbindungsfä- intakt. Der harte Gaumen hat eine unregelmäßige
higkeit um ca. 1/3 (s. a. S. 105). Oberfläche und ist blasser als die übrige Mund-
Während der Schwangerschaft lagert der Körper schleimhaut. Mit der Mundschleimhaut wird auch
aufgrund des hohen Östrogenspiegels vermehrt die Zungenoberfläche beobachtet. Die Zunge ist nor-
Wasser ein, was in Form von Ödemen im Gesicht, an malerweise wie die Mundschleimhaut feucht, rosig
den Armen, Händen und an den Beinen sichtbar wer- und ohne Belag. Verfärbungen entstehen durch Ge-
den kann. Nach der Geburt fällt der Östrogenspiegel nuss bestimmter Nahrungsmittel, z. B. Braunfärbung
und die eingelagerte Flüssigkeit wird wieder ausge- durch Kaffee, Rotfärbung durch Rote Beete, Blaufär-
schieden. bung durch Blaubeeren.

74 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
6.3 Abweichungen und Veränderungen und deren Ursachen

Eine intakte Analschleimhaut ist äußerlich nicht chung der Gewebedurchblutung, weil hierbei Blut-
zu sehen, beobachtbar ist lediglich die Afterhaut. Sie gefäße abgedrückt werden.
ist durch die stärkere Pigmentierung braun gefärbt Bei Druckentlastung reagieren die Gefäße wie bei
und faltig, wodurch eine Dehnung, beispielsweise der Kälteeinwirkung zunächst mit der hyperämi-
bei der Defäkation, möglich wird. Die Analhaut ent- schen Reaktion, die als Hautrötung zu beobachten
hält reichlich sensible Nervenfasern. Beim Berühren ist. Diese Hautrötung ist das erste Zeichen einer Ge-
der Analhaut ziehen sich die Schließmuskeln webeschädigung durch Druck: dem sog. Dekubitus
(Sphincter ani internus und externus) reflektorisch 1. Grades (s. a. Bd. 4, Kap. 12).
zusammen und üben beim Versuch des Eindringens, Bei einem Hypertonus werden die Gefäße durch
z. B. eines Fieberthermometers, einen Widerstand den erhöhten Druck übermäßig beansprucht und
aus, der willkürlich gelöst werden kann. geweitet, was häufig durch eine Hautrötung, beson-
ders im Gesichtsbereich, auch äußerlich erkennbar
Zusammenfassung: ist.
Allgemeine Beobachtungskriterien und Be- Viele Hautausschläge, z. B. Ekzeme, Exantheme
schreibung des Normalzustandes oder Petechien, sind als Hautrötung erkennbar. Ekze-
6
Bei der Beurteilung der Hautfarbe können physiolo- me sind flächenförmige Rötungen und werden durch
gische Hautrötung, physiologische Hautblässe, Überempfindlichkeiten, beispielsweise durch Kon-
strichförmige Veränderungen, Hautbräune sowie takt mit verschiedenen Stoffen, verursacht. Wichtige
Blau- und Gelbfärbung unterschieden werden. Auslöser von diesen sog. Kontaktekzemen sind z. B.
Die Spannung der Haut (Turgor) ist von der Wasser- nickelhaltige Materialien, Latex, Kosmetika, Seifen
bindungsfähigkeit, vom Anteil Fettgewebe und vom und Bekleidungsstoffe.
Gehalt an elastischem Bindegewebe abhängig. Exantheme haben eine typische fleckenförmige
Die Hauttemperatur ist von äußeren Einflüssen ab- Struktur und treten häufig in Verbindung mit Infekti-
hängig, aber ungeeignet zur Einschätzung von Fie- onskrankheiten auf, wie z. B. Masern, Windpocken
ber. oder Scharlach.
Die normale Hautoberfläche ist glatt, weich und frei Petechien sind punktförmige Blutungen in der
von Defekten. Haut. Sie werden verursacht durch Blutgerinnungs-
Mundschleimhaut und Zunge sind normalerweise störungen.
feucht, rosig und intakt. Eine kirschrote Farbe erhält die Haut durch die
Kohlenmonoxyd-Vergiftung mit Sauerstoffverar-
mung. Kohlenmonoxyd (CO) verbindet sich mit dem
6.3 Abweichungen und Hämoglobin und blockiert es sowohl für die Sauer-
Veränderungen und deren stoffbindung als auch für die Kohlendioxydbindung.
Ursachen Der Organismus „erstickt innerlich“. Die rote Haut-
farbe entsteht durch das gebundene Kohlenmon-
Abweichungen und Veränderungen vom Normalzu- oxyd am Hämoglobin, welches durch die Haut durch-
stand der Haut und der Schleimhäute können vielfäl- scheint. Ursache einer Kohlenmonoxydvergiftung ist
tige Ursachen haben. Aufgrund der zahlreichen häufig das gewollte Einatmen von Autoabgasen in
Funktionen der Haut können aus möglichen Abwei- suizidaler Absicht. Aber auch defekte Kohleöfen in
chungen komplexe Folgeprobleme entstehen. der Wohnung können Kohlenmonoxyd abgeben.
Durch die kirschrote Hautfarbe entsteht fälschlicher-
6.3.1 Veränderungen der Hautfarbe weise der Eindruck, es gehe den vergifteten Men-
Pathologische Hautrötung schen gut, obwohl Lebensgefahr besteht. Weitere be-
Bei der pathologischen Hautrötung versucht der Or- obachtbare Symptome bei der CO-Vergiftung sind
ganismus, durch eine verstärkte Hautdurchblutung Kopfschmerzen, Schwindel, Ohnmacht, Herzversa-
vermehrt Wärme abzugeben, z. B. bei Fieber oder gen und Atemlähmung.
Verbrennungen 1. Grades; dazu gehört auch der Son- Bei Menschen mit einer Polyglobulie, d. h. Ver-
nenbrand. Auch bei längerfristiger Druckeinwirkung mehrung der roten Blutkörperchen (Erythrozyten),
auf ein Gewebe kann es zur Hautrötung kommen. Die ist die Haut leicht bis stark gerötet und kann auch
erhöhte Druckeinwirkung bewirkt eine Unterbre- rotblau aussehen. Die rote Hautfarbe ist auf die Men-

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 75


KaelDesu
6 Haut und Schleimhäute

ge des Hämoglobins, des roten Blutfarbstoffs, im Blut


zurückzuführen. Die Ursache der Polyglobulie ist
chronischer Sauerstoffmangel, den der Körper zu
kompensieren versucht, indem er vermehrt Sauer-
stoffträger, d. h. Erythrozyten, produziert. Betroffen
sind Menschen mit chronischen Lungenerkrankun-
gen oder Menschen, die ständig in Höhenlagen mit
einer sauerstoffarmen Luft leben.

Pathologische Hautblässe
Die pathologische Blässe ist zumeist Folge einer Blut-
zirkulationsstörung oder von Blutarmut. Eine herab-
gesetzte Blutzirkulation tritt reflektorisch im
Schockzustand ein. Der Organismus stellt die Gefäße
6 in der Peripherie, das heißt in Armen, Beinen und
Haut eng und drosselt die Durchblutung in diesen
Bereichen. Das „gewonnene“ Blutvolumen steht so Abb. 6.4 Vitiligo im Hals- und Brustbereich
den lebenswichtigen inneren Organen zur Verfü-
gung, besonders Nieren, Herz und Gehirn, um deren
Funktionen zu sichern.
Eine Blutzirkulationsstörung kann auch lokal be- Fahle, graue Haut
grenzt auftreten, z. B. bei peripheren arteriellen Ge- Bei starkem Kräfteverfall und Auszehrung, wie z. B.
fäßverschlüssen einer Extremität. Das betroffene bei Tumorerkrankungen, kann häufig eine graue
Bein oder der Arm nimmt in diesem Fall im Vergleich Hautfarbe beobachtet werden.
zur anderen Extremität eine blasse bis weiße Haut-
farbe an, da er/es aufgrund des Verschlusses nicht Pathologische Hautbräunung
mehr durchblutet wird. (Hyperpigmentierung)
Blass erscheint die Haut auch bei der Blutarmut, Dieses Symptom kommt bei Morbus Addison, einer
der sog. Anämie, die durch vermindertes Hämoglo- Erkrankung der Nebennierenrinde, vor. Durch feh-
bin im Blut entsteht. lende Produktion von Nebennierenrindenhormonen
fällt die Hemmung der Melanozytenstimulation
Pathologische weiße Haut (Hypopigmentierung) weg. Es folgt eine Hyperpigmentierung der Licht und
Bei der weißen Haut fehlen die Pigmentkörperchen. Druck ausgesetzten Hautstellen. Weitere Symptome
Dieser Pigmentmangel ist angeboren und wird als sind Müdigkeit, gastrointestinale Beschwerden und
Albinismus bezeichnet. Die Haut ist hellrosafarben, Gewichtsverlust.
die Kopf- und Körperbehaarung weißblond, die Au-
gen sind lichtempfindlich mit hellblauer oder rötli- Pathologische Blaufärbung
cher Iris. Da das schützende Melanin fehlt, erkranken Die pathologische Blaufärbung wird auch Zyanose
diese Menschen häufiger an Hauttumoren. genannt und entsteht durch eine mangelnde Sauer-
Eine Besonderheit des Albinimus ist die Weißfle- stoffsättigung im Blut. Beobachtbar ist sie am häu-
ckenkrankheit, auch Vitiligo genannt. Der Melanin- figsten bei Luftnot oder bei chronischen Lungener-
mangel ist bei dieser Erkrankung fleckenförmig ver- krankungen. Für die Blaufärbung ist die Menge an
teilt oder auf einzelne Körperteile beschränkt mit Kohlendioxyd (CO2) angereichertem Hämoglo-
(Abb. 6.4). bin verantwortlich.
Pathologische Striae treten häufig bei Kortikoid- Bei einer ausgeprägten Anämie kann keine Blau-
behandlung oder bei Morbus Cushing auf. Durch die färbung entstehen, da die gesamte Hämoglobinmen-
Erhöhung des Glukokortikoidspiegels kommt es ge geringer ist, dementsprechend auch die mit Koh-
hierbei zur Schädigung der elastischen Bindege- lendioxyd angereicherte.
websfasern in der Lederhaut.

76 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
6.3 Abweichungen und Veränderungen und deren Ursachen

Kreislaufstörungen oder Herzerkrankungen wir- Die Gelbfärbung kann verschiedene Schattierun-


ken sich ebenfalls auf den Gasaustausch in der Lunge gen aufweisen und z. B. als strohgelb, gelbfahl, kup-
aus. In diesem Fall führt ein verlangsamter Blutstrom fergelb, rötlichgelb, schmutziggelb oder gelbbraun
zu einem verzögerten Sauerstoff-/Kohlendioxyd- beschrieben werden.
Austausch mit nachfolgender unzureichender Sauer-
stoffversorgung des Organismus. Schmutziggelbe Haut
Die Blaufärbung ist am besten an Lippen, Mund- Bei einer chronischen Niereninsuffizienz lagert sich
schleimhaut und den Fingernägeln sichtbar, weil hier Urochrom in der Haut ein. In Kombination mit einer
die Haut sehr dünn ist und die Blutgefäße durch- Anämie, die ebenfalls häufig in Verbindung mit der
scheinen. Niereninsuffizienz auftritt, erhält die Haut ein
Eine fahlbläuliche bis marmorierte Hautfarbe schmutziggelbes Aussehen. Die Farbe wird in der Li-
kann bei verminderter Blutzirkulation beobachtet teratur als „Café-au-lait-Farbe“ beschrieben.
werden, z. B. bei Sterbenden.
Zusammenfassung:
Pathologische Gelbfärbung Veränderungen der Hautfarbe
6
Eine krankhafte Gelbfärbung der Haut wird auch als Ursache einer pathologischen Hautrötung kann
Ikterus bezeichnet (Abb. 6.5). Sie entsteht, wenn u. a. sein: Fieber, Verbrennung, Druckeinwirkung,
Gallenfarbstoff aufgrund krankhafter Veränderun- Hypertonus, Ausschlag, CO-Vergiftung oder chroni-
gen, z. B. durch Leber- oder Gallenerkrankungen, ins scher Sauerstoffmangel (Polyglobulie).
Blut und in die Haut gelangt. Der normale Bilirubin- Pathologische Hautblässe ist häufig Folge einer
gehalt im Blut beträgt weniger als 1 mg%. Bei mehr Blutzirkulationsstörung oder von Blutarmut.
als 1,5 mg% Bilirubin im Blut wird dieses an die elasti- Albinismus bezeichnet das angeborene Fehlen von
schen Fasern der Haut und Bindehaut gebunden. Pigmentkörperchen, des schützenden Melanins.
Die Gelbfärbung in der Bindehaut der Augen wird Hyperpigmentierung kann Zeichen von Erkrankun-
auch als Sklerenikterus bezeichnet. Hier ist die Gelb- gen der Nebennierenrinde sein.
färbung meist besonders früh zu sehen, weil die Bin- Zyanose tritt bei Lungenerkrankungen am häufigs-
dehaut normalerweise weiß ist. ten auf, aber auch bei Kreislaufstörungen und Herz-
Eine Gelbfärbung der Haut ohne Gallenfarbstoff- erkrankungen.
vermehrung kann z. B. bei der Vergiftung mit Arsen Gelbe Haut deutet auf Leber-, Gallen- oder auch
oder Nitrofarbstoffen beobachtet werden. Nierenerkrankungen hin.

6.3.2 Veränderungen der Hautspannung


Der Spannungszustand der Haut kann krankheitsbe-
dingt herabgesetzt oder erhöht sein.

Pathologisch herabgesetzter Hautturgor


Die Elastizität der Haut leidet besonders stark bei
Wasserverlusten, z. B. bei Magen-Darm-Erkrankun-
gen mit Durchfall und Erbrechen.
Auch bei schweren, kräftezehrenden Erkrankun-
gen mit hohem Gewichtsverlust und Schwund des
Fettgewebes, wie z. B. bei Krebserkrankungen, ver-
liert die Haut ihre Spannkraft.
In diesen Fällen ist die Haut mit Daumen und Zei-
gefinger in Falten abhebbar und bleibt auch nach Lö-
sen des Griffes einige Sekunden in dieser abgehobe-
Abb. 6.5 Gelbfärbung der Skleren (Sklerenikterus) nen Postition stehen. In extremen Fällen erhält sie ein
pergamentartiges Aussehen. Eine sehr faltige, trocke-
ne Haut wird auch als greisenhafte Haut bezeichnet.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 77


KaelDesu
6 Haut und Schleimhäute

Pathologische Erhöhung des Hautturgors


Die Erhöhung des Hautturgors kann begrenzt oder
flächenhaft auftreten. Lokal begrenzt ist die Erhö-
hung des Hautturgors bei Tumoren, entzündlichen
Schwellungen und Hämatomen. In diesen Fällen ist
eine äußere Erhabenheit der Haut sicht- und tastbar.
Eine flächenhafte Wasseransammlung im Gewe-
be wird als Ödem bezeichnet. Mehrere Ursachen
können dafür in Betracht kommen.
In vielen Fällen ist die Herzinsuffizienz dafür ver-
antwortlich. Durch die verringerte Herzleistung
kann das angebotene Blutvolumen nicht mehr mit
ausreichender Kraft in den Kreislauf gepumpt wer-
den. Das Blutvolumen kann nicht abtransportiert
6 werden und staut sich vor dem Herzen. Die Folge ist
ein erhöhter Druck, der sich rückwirkend fortpflanzt.
Dieser Druck, auch hydrostatischer Druck genannt,
drückt einen Teil des Blutvolumens in das Gewebe
der Beine, des Bauchraumes oder der Leber (bei
Rechtsherzinsuffizienz) bzw. in das Lungengewebe
(bei Linksherzinsuffizienz).
Flächenhafte Ödeme kommen auch bei der Nie-
reninsuffizienz vor. In diesem Fall sind die Nieren
nicht in der Lage, genügend Flüssigkeit auszu-
scheiden, die sich dann ebenfalls im Gewebe einla-
a
gert.
Eine weitere Ursache für Ödeme ist Eiweißman-
gel, der eine herabgesetzte oder fehlende Wasserbin-
dungsfähigkeit, auch kolloidosmotischer Druck ge-
nannt, im Blut bewirkt. Eiweißmangel entsteht bei
einer gestörten Eiweißsynthese, z. B. bei Leberer-
krankungen, bei vermehrter Eiweißausscheidung,
z. B. bei Nierenerkrankungen oder durch Mangeler-
nährung (s. a. S. 293).
Flüssigkeitsaustritt ins Gewebe und Ödembil-
dung kann auch durch Kapillarwandschäden, z. B. bei
Allergien oder durch einen gestörten Lymphabfluss,
entstehen.
b
Je nach Ausmaß der Ödeme bekommt die Haut
Abb. 6.6 a u. b Ödeme an Fuß und Unterschenkel
ein teigiges Aussehen. Nach Eindrücken der Haut bil-
det sich eine Delle, die sich nur langsam zurückbildet
(Abb. 6.6 a u. b). Pathologische Erhöhung der Hauttemperatur
Beim Lungenödem stehen Atemnot und die vitale Bei Fieber ist die Haut- oder auch Schalentemperatur
Gefährdung im Vordergrund. gleichzeitig mit der Kerntemperatur erhöht (s. a.
S. 159). Eine Erhöhung der Hauttemperatur kann
6.3.3 Veränderungen der Hauttemperatur auch Folge eines gesteigerten Grundumsatzes sein,
Die Hauttemperatur kann sowohl krankhaft erhöht z. B. bei einer Schilddrüsenüberfunktion. In diesem
als auch erniedrigt sein. Fall sind sämtliche Stoffwechselvorgänge beschleu-
nigt und es kommt zu vermehrter Wärmebildung
und -abgabe über die Haut.

78 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
6.3 Abweichungen und Veränderungen und deren Ursachen

Eine lokal begrenzte Temperaturerhöhung der Zu den sekundären Effloreszenzen werden u. a. ge-
Haut ist bei verstärkt durchbluteten Hautentzün- rechnet:
dungen, wie z. B. Abszessen, zu beobachten. Abszess,
Kruste (Crusta),
Pathologische Erniedrigung der Hauttemperatur Narbe (Zikatrix),
Kalt wird die Haut, wenn sie nicht ausreichend Schuppe (Squama),
durchblutet ist, z. B. bei erniedrigtem Blutdruck, bei Schorf,
Durchblutungs- und Zirkulationsstörungen (s. a. Erosion,
S. 75). Schrunde (Exkoriation),
Geschwür (Ulkus) und
6.3.4 Veränderungen der Hautoberfläche Rhagaden bzw. Fissuren.
Veränderungen der Hautoberfläche sind häufig „auf
den ersten Blick“ zu erkennen. Mittels der sog. Auf den S. 80 – 90 sind verschiedene Formen von Ef-
„Blickdiagnostik“ können typische Veränderungen floreszenzen dargestellt.
als Hinweise auf zugrunde liegende Erkrankungen
6

!
wahrgenommen werden. Merke: Treten plötzlich über größere Kör-
Veränderungen der Hautoberfläche können ent- perabschnitte Einzeleffloreszenzen auf, wird
stehen durch: dies als Exanthem bezeichnet, auf die
Effloreszenzen (Hautblüten), Schleimhaut bezogen wird von einem Enanthem ge-
Entzündungen, sprochen.
allergische Reaktionen der Haut,
Wunden und Verletzungen, Die Beschreibung der beobachteten Effloreszenzen
Gewebedefekte, muss so genau wie möglich erfolgen. Die Dokumen-
Hautblutungen und Hämatome, tation sollte Auskunft geben über:
Tumore, Effloreszenztyp: z. B. Bläschen, Fleck oder Knoten,
Zirkulationsstörungen, Form (Umriss, Abgrenzung, Umgebung): z. B.
Parasiten. rund, eiförmig oder unregelmäßig,
Oberfläche oder bei Hautdefekten die Basis: z. B.
Effloreszenen blutig, verschorft, nekrotisch,
Definition: Effloreszenzen, auch Hautblüten Größe und Ausdehnung: z. B. 0,5 – 1 cm im Durch-
genannt, stellen einen Oberbegriff für verschie- messer, eurostückgroß, 2 mm tief,
dene Hautveränderungen dar. Die Einteilung der Menge und Gesamtverteilung: z. B. einzeln, über-
Effloreszenzen in eine Typologie wird Effloreszenzen- sät, zusammenfließend (= konfluierend),
lehre genannt. Lokalisation und Sitz: z. B. über den ganzen Kör-
per verteilt, im Gesicht, beide Hände,
Sie ermöglicht dem Betrachter eindeutige Beschrei- Farbe: z. B. gerötet, schwarz, blass,
bungen von Hautveränderungen und erleichtert die Art der Beobachtung: Inspektion, tastbar (pal-
Diagnosestellung. Unterschieden werden primäre pierbar), Befund,
und sekundäre Effloreszenzen. Zeitpunkt der Beobachtung: seit wann, Tageszeit,
Sekundäre Effloreszenzen treten im Anschluss an Verlauf, Entwicklung: Beobachtung über einen
primäre Effloreszenzen auf und sind weniger charak- längeren Zeitraum mit Veränderungen, z. B. zu-
teristisch für die zugrunde liegende Erkrankung. erst Blasen- dann Krustenbildung.
Zu den primären Effloreszenzen gehören:
Fleck (Makel, Makula), Je genauer die Beschreibung in der Dokumentation,
Quaddel (Urtika), desto gezielter ist die Diagnostik möglich, eine er-
Papel (Papula) bzw. Knötchen (Noduli), folgreiche Behandlung, die Verlaufsbeobachtung der
Knoten (Nodus), Effloreszenzen und eine Evaluation der Therapie.
Bläschen (Vesicula), Ggf. ist eine Fotodokumentation angezeigt.
Blase (Vesica, Bulla),
Pustel und Zyste.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 79


6

80
KaelDesu

Beschreibung der primären Effloreszenzen Schematische Darstellung Fotoabbildung

Ein Fleck, auch Makel bzw. Makula genannt, ist eine Farb- Fleck:
veränderung der Haut. Es kann sich um eine Pigmentverän- Pigment Epidermis
derung und/oder eine lokale Überwärmung mit Gefäßer-
weiterung handeln, z. B. bei einer allergischen Reaktion.
Viele Hautveränderungen beginnen mit fleckenhaften Ver-
änderungen. Sommersprossen und Leberflecke sind Farb-
veränderungen durch Pigmente. Tätowierungen sind künst-
6 Haut und Schleimhäute

liche Flecken durch farbige Pigmente, die unter die Haut


gebracht werden.

er w
ei Dermis, Kutis
Gef terte
äße

Abb. 6.7 Schematische Abbildung von einem Fleck

Abb. 6.8 Makula (Fleck)

Beobachtung des gesunden und kranken Menschen


Die Quaddel, auch Urtika genannt, besteht aus einer loka- Quaddel:
len Flüssigkeitsansammlung zwischen Epidermis und Cori-
um. Sie ist erhaben, weich und wegdrückbar. Sie kommt

BAND 2
z. B. als allergische Reaktion nach einem Insektenstich vor.
Viele Quaddeln über den Körper verteilt werden als Nessel-
sucht, auch Urtikaria genannt, bezeichnet.

Ödem
Abb. 6.9 Schematische Abbildung einer Quaddel

Abb. 6.10 Quaddel


KaelDesu

Beschreibung der primären Effloreszenzen Schematische Darstellung Fotoabbildung

Eine Papel (Papula), auch Knötchen (Noduli) genannt, ist Papel:


gekennzeichnet durch eine Vermehrung von Epithel-, Bin-
degewebe oder Blutgefäße. Eine Papel ist bis 5 mm groß.
Ist das Knötchen größer als 5 mm, bezeichnet man es als
Knoten (Nodus) bzw. Tumor. Die Beurteilung eines Knotens
richtet sich nach der Tiefe, der Verschiebbarkeit und Konsis-
tenz. Beispiele für Knoten sind Metastasen und Lipome.

Akanthose = Verbreiterung der Epidermis


Abb. 6.11 Schematische Abbildung einer Papel

BAND 2
Abb. 6.12 Papel

Forsetzung 왔

Beobachtung des gesunden und kranken Menschen


6.3 Abweichungen und Veränderungen und deren Ursachen

81
6
6

82
KaelDesu

Beschreibung der primären Effloreszenzen Schematische Darstellung Fotoabbildung

Bei einem Bläschen (Vesicula) ist die Epidermis oberfläch- Bläschen/Blase:


lich horizontal gespalten und mit Flüssigkeit ausgefüllt.
Bläschen sind weniger als 5 mm groß, wie z. B. jene bei Her-
pes labialis. Größere Bläschen (größer als 5 mm) werden als
Blase (Vesica, Bulla) bezeichnet, z. B. Brandblasen. Blasen
können sowohl intraepidermal als auch subepidermal vor-
kommen.
6 Haut und Schleimhäute

Flüssigkeits-
ansammlung
a Vesikula

Beobachtung des gesunden und kranken Menschen


Abb. 6.14 Blase

BAND 2
b intraepidermale Blase

c subepidermale Blase
Abb. 6.13 a – c Schematische Abbildung einer Blase a Vesi-
kula b intraepidermale Blase c subepidermale Blase
KaelDesu

Beschreibung der primären Effloreszenzen Schematische Darstellung Fotoabbildung

Die Pustel ist eine Blase, die mit Eiter gefüllt ist (s. Abb. 6.13
u. 6.14)

Eine Zyste ist ein von Epithel ausgekleideter Hohlraum, der Zyste:
Sekret enthält. Eine Zyste sieht ähnlich aus wie ein Knoten,
ist beim Betasten jedoch von weicher Konsistenz. Beispiele
sind Follikel- oder Talgzysten der Haut oder der Grützbeutel
(Atherom).

Abb. 6.16 Weichteilzyste im Mundboden links

BAND 2
Abb. 6.15 Schematische Abbildung einer Zyste

Fortsetzung 왔

Beobachtung des gesunden und kranken Menschen


6.3 Abweichungen und Veränderungen und deren Ursachen

83
6
6

84
KaelDesu

Beschreibung der sekundären Effloreszenzen Schematische Darstellung Fotoabbildung

Ein Abszess ist eine Eiteransammlung in einer nicht vorge- Abszess:


bildeten Körperhöhle, gebildet durch einen krankhaften
Prozess. Er ist von einer Rötung umgeben und hat ein grü-
nes bis grün-gelbes Aussehen in der Mitte. Beim Betasten
des Abszesses ist ein leichtes Schwappen zu fühlen, was
auch als Fluktuation bezeichnet wird.
6 Haut und Schleimhäute

Abb. 6.17 Schematische Abbildung von einem Abszess

Beobachtung des gesunden und kranken Menschen


BAND 2
Abb. 6.18 Abszess
KaelDesu

Beschreibung der sekundären Effloreszenzen Schematische Darstellung Fotoabbildung

Eine Kruste (Crista) besteht aus dem eingetrockneten Se- Kruste:


kret eines Hautdefektes. Sie kann serös oder eitrig sein. In
diesem Fall variiert die Farbe von gelb oder grün bis braun.
Besteht die Kruste aus Blut, sieht sie dunkelrot bis schwarz
aus.

Abb. 6.19 Schematische Abbildung einer Kruste

Abb. 6.20 Kreisrundes und entzündlich erythematöses Infiltrat

BAND 2
mit fest haftender gelblich-bräunlicher Kruste

Fortsetzung 왔

Beobachtung des gesunden und kranken Menschen


6.3 Abweichungen und Veränderungen und deren Ursachen

85
6
6

86
KaelDesu

Beschreibung der sekundären Effloreszenzen Schematische Darstellung Fotoabbildung

Eine Narbe (Zikatrix) ist ein Hautersatz. Sie besteht aus bin- Narbe:
degewebig umgewandeltem, geschrumpften Granulations- Epidermis = geschrumpft
gewebe einer geheilten Wunde. Die Haut ist an dieser Stel-
le dünner. Durch Beeinträchtigung der Melanozyten kann
es zu Pigmentverschiebungen kommen im Sinne von zu
viel oder zu wenig Farbstoff. Narbengewebe kann auch
überschießend wachsen, die Narbe erhält dann ein wulsti-
6 Haut und Schleimhäute

ges Aussehen (= Wulstnarbe, Keloid).

Corium
Abb. 6.21 Schematische Abbildung einer Narbe

Abb. 6.22 Narbe mit Keloidbildung. Keloid mit typischer über-

Beobachtung des gesunden und kranken Menschen


schießender Bindegewebsproliferation

Eine Schuppe (Squama) ist eine Hornvermehrung der Schuppe:

BAND 2
obersten Epidermis; sie ist mechanisch abhebbar. Ein Bei-
spiel hierfür ist die Schuppenflechte (Psoriasis vulgaris)

Abb. 6.23 Schematische Abbildung einer Schuppe

Abb. 6.24 Schuppen


KaelDesu

Beschreibung der sekundären Effloreszenzen Schematische Darstellung Fotoabbildung

Schorf ist die Folge von Gewebeuntergang (Nekrose), z. B. Schorf:


nach Verbrennung, Erfrierung oder Durchblutungsstörun-
gen. Die Farbe ist gelb, braun oder schwarz. Schorf ist dünn
und oberflächlich, kann aber bis in die Subkutis reichen.

Abb. 6.25 Schematische Abbildung von Schorf

BAND 2
Abb. 6.26 Schorf

Fortsetzung 왔

Beobachtung des gesunden und kranken Menschen


6.3 Abweichungen und Veränderungen und deren Ursachen

87
6
6

88
KaelDesu

Beschreibung der sekundären Effloreszenzen Schematische Darstellung Fotoabbildung

Eine Erosion ist ein oberflächlicher Hautdefekt mit Gewe- Erosion:


beverlust, der ohne Narbenbildung abheilt. Häufig entsteht Exkoriation
eine Erosion beim Aufplatzen einer Blase oder eines Bläs- Erosion
chens. Eine Erosion kann aber auch durch Kratzen entste-
hen. Reicht die Erosion bis in die oberen Anteile der Leder-
haut, wird dies als Schrunde bzw. Exkoriation bezeichnet,
z. B. bei einer Abschürfung.
6 Haut und Schleimhäute

Abb. 6.27 Schematische Abbildung einer Erosion


und Exkoriation

Beobachtung des gesunden und kranken Menschen


BAND 2
Abb. 6.28 Erosionen der Mundschleimhaut
KaelDesu

Beschreibung der sekundären Effloreszenzen Schematische Darstellung Fotoabbildung

Ein Ulkus, auch Geschwür genannt, ist ein Hautdefekt, der Ulkus:
bis in die tieferen Schichten der Lederhaut und Subkutis
reicht. Charakteristischerweise entsteht ein Ulkus häufig
auf vorgeschädigter Haut. Ein Ulkus weist eine schlechte
Heilungstendenz auf und heilt unter Narbenbildung ab. Ein
häufig vorkommendes Beispiel ist das Ulkus cruris bei chro-
nischem Venenleiden oder das Dekubitalulkus.

Abb. 6.29 Schematische Abbildung von einem Ulkus

BAND 2
Abb. 6.30 Ulcus cruris

Fortsetzung 왔

Beobachtung des gesunden und kranken Menschen


6.3 Abweichungen und Veränderungen und deren Ursachen

89
6
6

90
KaelDesu

Beschreibung der sekundären Effloreszenzen Schematische Darstellung Fotoabbildung

Eine Rhagade (Fissur) entspricht einem spaltförmigen Ein- Rhagade:


riss der Ober- und Lederhaut. Sie ist schmerzhaft und tritt
z. B. an Lippen, Mundwinkeln, After, Brustwarzen, Fingern,
Fußsohlen oder Gelenksbeuge auf (vgl. www.wikipedia.de).
6 Haut und Schleimhäute

Abb. 6.31 Schematische Abbildung von einer Rhagade

Abb. 6.32 Rhagade im Rahmen eines Fußekzems

Beobachtung des gesunden und kranken Menschen


BAND 2
KaelDesu
6.3 Abweichungen und Veränderungen und deren Ursachen

!
Merke: Die differenzierte Dokumentation
von Hautveränderungen ist Voraussetzung
für die Verlaufskontrolle und Evaluation der
therapeutischen Maßnahmen.

Entzündungen
Entzündungen der Haut können sowohl von innen
als auch von außen stammen. Über die Kapillar-
durchblutung gelangen Keime, Toxine oder andere
hautschädigende Substanzen in die Haut, die hierauf
mit einer Entzündung reagiert.
Eine intakte, trockene Haut ist vor Keimen von au-
ßen durch ihre normale Hautflora geschützt. Bei be-
stimmten Erkrankungen, z. B. beim Diabetes mellitus
oder bei Menschen mit einem geschwächten Im-
6
munsystem, ändert sich die Hautflora und sie wird
angreifbar für Keime von außen.
Entzündungszeichen sind:
Rötung (Rubor),
Schwellung (Tumor),
Überwärmung (Calor),
Schmerz (Dolor) und
Funktionseinschränkung (Functio laesa).
Abb. 6.33 Flächenhafte Entzündung z. B. bei Intertrigo

Unterschieden werden die lokale und die flächenhaf-


te Entzündung. Lokale Entzündungen sind auf einen
bestimmten Hautbezirk begrenzt, wie z. B. ein Fu-
runkel (Abb. 7.13) oder ein Abszess (Abb. 6.18).
Zu den flächenhaften Entzündungen gehört z. B.
die Intertrigo (Abb. 6.33). Hier kommt es durch Auf-
einanderliegen von Hautfalten und/oder fehlender
Luftzirkulation zu sog. feuchten Kammern. Die Haut-
partien weichen auf und reiben aufeinander. Die auf-
geweichte oberste Hautschicht reibt sich ab und ver-
liert ihre Schutzwirkung für die darunter liegenden
Haut- und Gewebeschichten, sodass Krankheitserre-
ger, wie Bakterien, Viren und Pilze, eindringen und
Abb. 6.34 Psoriasis der behaarten Kopfhaut
beispielsweise eine Phlegmone, ein Erysipel oder ei-
ne Impetigo auslösen können.
Eine weitere entzündliche Hauterkrankung ist die
Schuppenflechte, Psoriasis genannt. Es handelt sich gerfaktoren ausgelöst, z. B. durch psychischen Stress,
um eine Autoimmunerkrankung, deren Veranlagung mechanische Reizungen der Haut, Infektionen oder
vererbt wird. Die Schuppenflechte ist gekennzeich- Medikamente (z. B. Betablocker).
net durch eine überstürzte Zellneubildung der Epi-
dermis ohne Verhornung. Dadurch entsteht die cha- Allergische Reaktionen der Haut
rakteristische Schuppung. Häufige Lokalisationen Das Immunsystem dient der Abwehr des Körpers ge-
sind der Ellenbogen, die Knie, der behaarte Kopf genüber fremden, krank machenden Stoffen wie z. B.
(Abb. 6.34) und die Umgebung des Anus. Es kann Bakterien und Viren. Aber auch Medikamente und
aber auch der ganze Körper befallen sein. Die Erkran- viele Substanzen, die mit der Haut Kontakt haben,
kung verläuft in Schüben und wird häufig durch Trig- sind für den Organismus „fremd“ und können eine

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 91


KaelDesu
6 Haut und Schleimhäute

immunologische Reaktion auslösen – die sog. allergi-


sche Reaktion. Allergieauslösende Substanzen wer-
den Allergene genannt. Die Reaktion des Immunsys-
tems kann ganz unterschiedlich sein und von einem
lokal begrenzten Kontaktekzem bis zum lebensbe-
drohlichen anaphylaktischen Schock reichen. Aller-
gische Hautausschläge können nahezu alle Formen
von Effloreszenzen hervorbringen (s. S. 79). Die spe-
zielle Diagnostik und Therapie gehört in den Bereich
der Dermatologie.

Wunden und Verletzungen


Wunden können entstehen durch Operationen oder
durch Verletzungen. Sie heilen, je nach betroffener Abb. 6.36 Petechien
6 Hautschicht, mit einer Narbe ab. Die Narbenbildung
ist abhängig von der Tiefe, der Art und der Ausdeh- hen bei Gerinnungsstörungen und sehen aus wie
nung der Verletzung. kleine rote Sommersprossen (Abb. 6.36).
Manche Menschen entwickeln im Bereich von
Narben, besonders nach Verbrennungen oder ande- Tumore
ren Verletzungen, wulstige Bindegewebswucherun- Bei den Hauttumoren werden gutartige (benigne)
gen im Narbenbereich. Diese sog. Wulstnarben wer- und bösartige (maligne) unterschieden. Zu den gut-
den auch als Keloide bezeichnet (s. S. 86). artigen Tumoren gehören z. B. die Leberflecken, auch
Nävuszellnävus genannt (Abb. 6.37). Sie sind gleich-
Gewebedefekte mäßig braun, von unterschiedlicher Größe und
Gewebedefekte entstehen durch Durchblutungsstö- manchmal behaart. Verändern sich Leberflecken auf-
rungen. Dazu zählen der Dekubitus, das Ulcus cruris fällig in Form und Oberflächenbeschaffenheit, soll-
und die Gangrän. ten sie entfernt werden, da die Gefahr der bösartigen
Entartung besteht.
Hautblutungen Warzen sind gutartige, linsen- bis pfenniggroße
Hämatome sind Blutungen ins Gewebe, die durch die und haut- bis braunfarbene Hauttumore.
Raumforderung das Gewebe verdrängen (Abb. 6.35). Gutartige Bindegewebstumore werden als Fibro-
Ihre Menge kann mehrere Liter betragen. Petechien me (Abb. 6.38), Fettgewebstumore als Lipome be-
sind kleine punktförmige Hautblutungen. Sie entste- zeichnet. Gutartige Tumore bilden keine Metastasen,

Abb. 6.35 Hämatom – nach einer intramuskulären Injektion un- Abb. 6.37 Melanozytärer Nävus
ter der Behandlung mit gerinnungshemmenden Arzneimitteln

92 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
6.3 Abweichungen und Veränderungen und deren Ursachen

Abb. 6.38 Fibrom

Abb. 6.39 Ulzerierendes


6
Basaliom auf der Nase

Abb. 6.40 Malignes Melanom in der Auflichtmikroskopie

seren Augen abspielt, kann er auch früh diagnosti-


ziert werden. Hilfreich bei der Beobachtung und Be-
urteilung ist die sog. ABCDE-Regel, mit deren Hilfe
das Melanom vom Leberfleck (Nävuszellnävus) ab-
gegrenzt wird:

können aber je nach Lokalisation und Größe kosme- ABCDE-Regel


tische Probleme bereiten oder behindernd wirken. A = Asymmetrie des Herdes: Leberflecke sind rund
Zu den bösartigen Tumoren gehören z. B. das Ba- und symmetrisch. Melanome wachsen stärker
saliom und das Melanom. Das Basaliom besteht aus asymmetrisch in eine Richtung.
einem weißlichen Randwall mit glatter Oberfläche B = Begrenzung: Die Randzone vom Leberfleck ist
und Ulzerationen oder plattenartige Verhärtungen scharf zur normalen Haut abgegrenzt. Die Haut-
im Zentrum. Aber auch schuppenartige Veränderun- begrenzung des Melanoms weist eine zackige,
gen mit bräunlicher Verfärbung im Zentrum können unregelmäßige und unscharfe Kontur auf.
beobachtet werden. Das Basaliom breitet sich in das C = Colour: Die Braunfärbung eines Leberflecks ist
umliegende Gewebe aus und zerstört es. Von der gleichbleibend, während das Melanom verschie-
Haut aus dringt es in tiefere Gewebeschichten bis denartige Farben aufweisen kann: Brauntöne,
zum Knochen. Die bevorzugte Lokalisation ist das Grau, Weiß, Blau.
Gesicht (Abb. 6.39). D = Durchmesser: Leberflecke behalten meist ihre
Das Melanom ist ein bösartiger Hauttumor der Größe; Melanome breiten sich aus. Verdächtig ist
pigmentbildenden Zellen. Neben anderen Faktoren eine Größe ⬎ 5 mm.
hat in den letzten Jahren die zunehmende Sonnenbe- E = Erhabenheit: Melanome wachsen häufig über
lastung an Bedeutung für die Enstehung eines Mela- das Hautniveau und sind tastbar.
noms gewonnen. Es breitet sich über die Lymphkno-
ten und -bahnen früh aus und metastasiert in Lunge, Die Diagnose eines Melanoms kann nur durch einen
Leber, Herz, Gehirn und Haut. histologischen Befund, d. h. Untersuchung des Gewe-
Melanome haben häufig eine tiefschwarze bis bes, gesichert werden.
dunkelbraune Farbe, können aber verschiedene
Farbnuancierungen aufweisen (Abb. 6.40). Da sich
die Entwicklung des Melanoms unmittelbar vor un-

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 93


KaelDesu
6 Haut und Schleimhäute

Bei der Venenentzündung ist die betroffene Vene


gerötet oder knotig verändert und außerdem
schmerzhaft.
Eine Venenthrombose ist ein Verschluss der tie-
fen Beinvenen. Es kommt zu einem Rückstau und in-
folgedessen zu einer Ansammlung von Flüssigkeit im
Gewebe (Ödem). Das betroffene Bein schwillt an und
verfärbt sich blaurot. Bei der Venenthrombose, auch
Phlebothrombose genannt, ist häufig der Allgemein-
zustand herabgesetzt. Es kommt zu Fieber und Wa-
denschmerz und es besteht die Gefahr einer Lungen-
embolie.
Abb. 6.41 Raynaud-Syndrom

Veränderungen durch Parasiten


6 Unter parasitären Erkrankungen wird der Befall
Zirkulationsstörungen durch Läuse, Flöhe, Wanzen, Milben und Zecken ver-
Zirkulationsstörungen sind Störungen der Durchblu- standen. Sie werden übertragen durch direkten kör-
tung im arteriellen und venösen Bereich. In beiden perlichen Kontakt oder über Kleidung und Bettwä-
Fällen ist die Hautdurchblutung mitbetroffen. sche. Aber auch in Teppichen und Polstermöbeln
Bei den arteriellen Durchblutungsstörungen wird können sich Parasiten, besonders Flöhe und Wanzen,
das betroffene Gewebe einschließlich der Haut nicht einnisten.
mehr oder nur ungenügend mit Sauerstoff und Nähr- Zecken halten sich in Wäldern auf und lassen sich
stoffen versorgt und geht zugrunde. Die Haut wird regelrecht auf die Haut „fallen“, angezogen von den
blass bis weiß, bei Zelluntergang blau bis schwarz. körperlichen Duftstoffen (Abb. 6.42).
Bei Zelluntergang, auch Nekrose genannt, ver- Stiche und Bisse dieser Parasiten lösen auf der
schorft das Gewebe, es kommt zu einer sog. Gangrän. Haut mehr oder weniger heftigen Juckreiz (Pruritus)
Dieser Prozess ist häufig Folge einer Gefäßverände- aus. Die betroffenen Menschen reagieren mit star-
rung im Sinne einer arteriellen Verschlusskrankheit kem Kratzen, was häufig zu Kratzspuren und zusätz-
(AVK) und sehr schmerzhaft. Besonders häufig sind licher Hautschädigung führt. In extremen Fällen
Diabetiker aufgrund von Gefäßsklerosen betroffen kann es zu Sekundärinfektionen kommen.
(diabetische Gangrän). Krätzmilben (Skabies) graben in der Hornschicht
Eine andere Form der arteriellen Durchblutungs- Gänge und lösen so den Juckreiz aus (Abb. 6.43).
störung ist eine anfallsweise auftretende Verengung Einige Parasiten können Infektionskrankheiten
der Fingerendarterien, ausgelöst durch Kältereiz. Die übertragen. Die Pest wird durch den Rattenfloh über-
betroffenen Finger werden zunächst blass bis weiß tragen, die Kleiderlaus überträgt das Fleckfieber und
und später blaurot mit nachfolgender reaktiver Hy- der Zeckenbiss die Borreliose.
perämie. In chronischen Fällen kann es zu Gefäß-
schäden und Nekrosen kommen. Dieses Krankheits-
bild heißt Morbus Raynaud (Abb. 6.41).
Krampfadern, auch Varizen genannt, sind sack-
oder schlauchförmige, geschlängelte Venen, die
durch eine Schwäche der Venenwand verursacht
werden. Sie kommen besonders im Bereich der Beine
vor.
Die Varizen können zu einem Stauungsekzem
führen mit einer nässenden, schuppenden Haut-
oberfläche. Auch Stauungsödeme, geschwürige Ver-
änderungen sowie Venenentzündungen sind mög-
lich. Das aufgrund einer venösen Insuffizienz entste-
hende Unterschenkelgeschwür wird als Ulcus cruris Abb. 6.42 Zeckenbiss
bezeichnet (s. a. Abb. 6.30).

94 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
6.3 Abweichungen und Veränderungen und deren Ursachen

Bei Veränderungen der Hautoberfläche sind zu un-


terscheiden: Effloreszenzen, Entzündungen, allergi-
sche Reaktionen, Wunden und Verletzungen, Gewe-
bedefekt, Hautblutungen und Hämatome, Tumore,
Zirkulationsstörungen und Parasiten.

6.3.5 Veränderungen der Mund- und


Analschleimhaut
Veränderungen der Mundschleimhaut
Die Mundschleimhaut besitzt einen guten Selbst-
schutz durch ihre Speichelproduktion und den lym-
phatischen Rachenring. Veränderungen der Mund-
schleimhaut entwickeln sich daher häufig im Rah-
men von Allgemeinerkrankungen, z. B. bei Fieber, bei
Abb. 6.43 Milbengänge
Erkrankungen, die mit allgemeiner Abwehrschwä-
6
che einhergehen oder bei verminderter Speichelpro-
Zusammenfassung: duktion durch fehlende Kautätigkeit bei Sondener-
Veränderungen der Hautspannung, -tempe- nährung oder Nahrungskarenz.
ratur und -oberfläche Die wichtigsten Veränderungen der Mund-
Die Elastizität der Haut ist herabgesetzt bei Wasser- schleimhaut sind in Tab. 6.1 beschrieben und abge-
verlusten, z. B. nach Durchfall und Erbrechen, und bildet. Im Rahmen der Beobachtung der Mund-
bei starkem Schwund des Fettgewebes, z. B. bei schleimhaut wird gleichzeitig die Zunge beobachtet
Krebserkrankungen. und beurteilt. Beobachtbare Veränderungen an der
Ödeme, flächenhafte Wasseransammlungen im Ge- Zunge sind in Tab. 6.2 beschrieben und abgebildet.
webe, entstehen häufig bei Herz- oder Niereninsuf-
fizienz sowie Eiweißmangel. Veränderungen der Analschleimhaut
Erhöhung der Hauttemperatur erfolgt u. a. bei Fie- Veränderungen der Analschleimhaut können ver-
ber oder Schilddrüsenüberfunktion, Erniedrigung schiedene Symptome verursachen. Häufig kommt es
bei Durchblutungs- und Zirkulationsstörungen. zu Juckreiz, Schmerzen bei der Defäkation (Tenes-

Tab. 6.1 Veränderungen der Mundschleimhaut

Beschreibung Ursache Abbildung

Aphthen (Schwämmchen) sind run- 쐌 häufig in Verbindung


de bis ovale Erosionen mit weißlich- mit Allgemeinerkran-
gelblichem Belag und rotem Rand- kungen, Abwehr-
saum. Sie treten in der Regel an den schwäche oder Ver-
Schleimhautumschlagstellen und dauungsstörungen
Schleimhauttaschen, gelegentlich
auch an der Zunge auf.

Abb. 6.44 Stomatitis mit Aphthen

Rhagaden (Schrunden) 쐌 Entzündungen Abb. 6.31, 6.32


씮 S. 90 쐌 Vitamin- oder Eisen-
mangel

Fortsetzung 왘

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 95


KaelDesu
6 Haut und Schleimhäute

Tab. 6.1 (Fortsetzung)

Beschreibung Ursache Abbildung

Herpes labialis sind Lippenbläschen. 쐌 Herpes-simplex-Viren


Es kommt zunächst zu einer Schwel- (HSV)
lung mit Spannungsgefühl und Juck- 쐌 rezidivierendes Auftre-
reiz an den Lippen, dann zu Bläschen- ten bei Erkrankungen
bildung mit starken Schmerzen. Die mit allgemeiner Ab-
Bläschen eitern, öffnen sich und hin- wehrschwäche
terlassen Erosionen, die u. U. von 쐌 Fieber
gelblichen Krusten bedeckt sind. 쐌 Ekel
쐌 Menstruation
쐌 Magen-Darm-Störun-
gen
쐌 Sonnenstrahlen (Her- Abb. 6.45 Herpes labialis (Primärinfektion)
pes solaris)

6 Eine Stomatitis ist eine Mund- 쐌 Infektionen durch Her- s. a. Abb. 6.44
schleimhautentzündung mit geröte- pes-Viren oder Soor
ter und geschwollener Schleimhaut, 쐌 Aphthen
Schmerzen, Trockenheitsgefühl und 쐌 Vitaminmangelzustän-
unangenehmem Geschmack im de
Mund sowie Mundgeruch (Foetor ex 쐌 fehlende Mundpflege
ore). Menschen mit einer Stomatitis 쐌 s. a. unter Aphthen
verweigern wegen der Symptome und Soorstomatitis
häufig die Nahrungsaufnahme, da 쐌 häufig in Verbindung
diese sehr starke Schmerzen verursa- mit Soor
chen kann.

Der Soorbefall der Mundschleimhaut 쐌 veränderte Mundflora:


und der Zunge ist eine Pilzinfektion Bakterien und Pilze
und wird auch als Soormykose, Kan- hemmen sich nicht
didose der Mundschleimhaut oder mehr gegenseitig am
als Soorstomatitis bezeichnet. Kenn- Wachstum und ver-
zeichen einer Soorstomatitis ist ein mehren sich krankhaft
weißlicher, abwischbarer Belag, der 쐌 allgemeine Abwehr-
nach Abheben eine blutende Erosion schwäche (z. B. Aids)
hinterlässt. Eine chronische Verlaufs- 쐌 Antibiotika- und Zyto-
form mit absteigendem Soorbefall in statika-Therapie
die Speiseröhre und Atemwege ist 쐌 Diabetes mellitus
möglich. 쐌 vorgeschädigte Mund-
schleimhaut: z. B.
Druckstellen durch
Prothesen

Abb. 6.46 Mundsoor

Fortsetzung 왘

96 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
6.3 Abweichungen und Veränderungen und deren Ursachen

Tab. 6.1 (Fortsetzung)

Beschreibung Ursache Abbildung

Eine Gingivitis ist eine Zahnfleisch- 쐌 Zahnstein


entzündung mit rotem, geschwolle- 쐌 s. a. bei Stomatitis
nem und schmerzhaftem Zahn-
fleisch, das beim Zähneputzen blutet.

Eine Xerostomie ist eine abnorme 쐌 Nebenwirkungen ver-


Trockenheit der Mundschleimhaut schiedener Medika-
(Abb. 6.47). Sie sieht trocken und mente, z. B. Beruhi-
matt aus. Begleitsymptome sind gungs- und Schlafmit-
Durst, brennendes Gefühl und Ge- tel, Antiparkinsonmit-
schmacksstörungen. Außerdem ist tel, Mittel gegen Blut-
das Sprechen erschwert. hochdruck und Zyto-
statika
쐌 Exsikkose
쐌 Mundatmung 6
쐌 Strahlentherapie im
Kopfbereich

Abb. 6.47 Xerostomie – Die gesamte Mundschleimhaut ist tro-


cken

Tab. 6.2 Veränderungen der Zunge

Beschreibung Ursache Abbildung

Trocken-borkiger Belag 쐌 Ursache s. trockene


Mundschleimhaut

Grau-weißlicher Belag 쐌 ungenügende mecha-


nische Reibung, z. B.
bei Nahrungskarenz
oder überwiegend
flüssiger
Ernährung

Abb. 6.48 Grau-weißlicher Zungenbelag

Fortsetzung 왘

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 97


KaelDesu
6 Haut und Schleimhäute

Tab. 6.2 (Fortsetzung)

Beschreibung Ursache Abbildung

Lackzunge 쐌 Entzündungen der


쐌 Zungenpapillen sind atrophiert, so- Zunge
dass die Zunge wie gelackt 쐌 Vitamin-B12-Mangel
aussieht 쐌 Eisenmangel
쐌 häufiges Begleitsymptom ist das 쐌 Morbus Crohn
Zungenbrennen (Glossodymie), 쐌 Leberinsuffizienz
besonders beim Vitamin-B12-Man- 쐌 auch psychische Ursa-
gel chen beim Zungen-
brennen sind bekannt,
häufig Angst vor Zun-
genkrebs (Karzino-
phobie)

Himbeerzunge 쐌 Scharlach
6 쐌 Die Zunge sieht aus wie rot 쐌 chronische Erkrankun-
lackiert gen der Verdauungs-
쐌 Hypertrophe Papillen verleihen ihr organe
ein himbeerartiges Aussehen

Abb. 6.49 Himbeerzunge

Fortsetzung 왘

98 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
6.3 Abweichungen und Veränderungen und deren Ursachen

Tab. 6.2 (Fortsetzung)

Beschreibung Ursache Abbildung

Makroglossie 쐌 Down-Syndrom
쐌 Vergrößerung der Zunge 쐌 Akromegalie
쐌 Amyloidose
쐌 Myxödem

Abb. 6.50 Makroglossie

Schwarze Haarzunge (Lingua vilosa 쐌 Veränderungen der


nigra) Mikroflora, z. B. bei
쐌 Die Zunge ist durch einen dunklen, Antibiotikatherapie
pelzigen Zungenbelag gekenn- oder intensiver Ge-
zeichnet brauch von Mundspül-
쐌 Die schwarze Haarzunge ist eine lösungen
harmlose Zungenveränderung 쐌 Hepatopathien
쐌 Die Farbe kann variieren: von 쐌 Vitamin-B-Mangel
schmutzig-weiß bis tiefschwarz 쐌 genaue Ursache ist
쐌 Begleiterscheinungen sind beein- letztendlich nicht ge-
trächtigter Geschmack und gestör- klärt
te Geschmacksempfindung
(Dysgeusie)

Abb. 6.51 Haarzunge

Fortsetzung 왘

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 99


KaelDesu
6 Haut und Schleimhäute

Tab. 6.2 (Fortsetzung)

Beschreibung Ursache Abbildung

Landkartenzunge (Lingua geogra- 쐌 unklar


phica) 쐌 genetischer Faktor
쐌 herdförmige Verhornungsstörung wird diskutiert
der Zungenschleimhaut
쐌 Entstehung von rasch sich verän-
dernden, verschieden großen und
belagfreien Abschilferungsbezirken
der Zunge mit gelb-weißlichen
Randsäumen

Abb. 6.52 Landkartenzunge

men), pathologischen Beimengungen, wie z. B. Blut Analfistel


oder Änderungen der Stuhlgewohnheiten, wie z. B. Eine Analfistel entsteht am häufigsten durch immer
Obstipation aufgrund von Stuhlverhalten. wiederkehrende Infektionen der Analdrüsen. Durch
Besonders belastend wirkt sich eine Stuhlinkonti- die chronischen Entzündungen bildet sich ein röh-
nenz aus. Diese Symptome sind für den Betroffenen renförmiger Gang (= Fistel) zwischen dem Entzün-
unangenehm und oft mit Einschränkungen der Le- dungsort und dem Darmlumen oder der Körperober-
bensqualität in verschiedenen Bereichen verbunden. fläche (Abb. 6.53). Andere Ursachen sind Erkrankun-
Folgende Veränderungen der Analschleimhaut kön- gen wie z. B. Morbus Crohn, Tuberkulose oder Karzi-
nen beobachtet werden: nome. Die betroffenen Menschen klagen über peri-
Analfissur, anale Schmerzen und gelegentlich Eiterabgang. Die
Analfistel, Analfistel neigt zu akuten Entzündungen mit Ab-
Analabszess, szessbildung.
Hämorrhoiden,
Analprolaps. Analabszess
Der Analabszess stellt die akute eitrige Entzündung
Analfissur der perianalen Bindegewebsräume dar. Neben star-
Eine Analfissur ist ein schmerzhafter, ovaler Längs- ken Schmerzen und Fieber kann eine Vorwölbung
einriss der Schleimhaut des unteren Analkanals. Die der perianalen Haut beobachtet werden.
Stuhlpassage verursacht einen starken, brennenden
Schmerz und evtl. Blutabgang, weswegen die Betrof- Hämorrhoiden
fenen nicht selten ihren Stuhl zurückhalten. Die Hei- Hamorrhoiden sind krampfaderähnliche, knotenför-
lung ist häufig verzögert, da der Anus die Fissurnähte mige Erweiterung der Venen im anorektalen Bereich
immer wieder auseinanderzieht. Die Ursache der (Abb. 6.54). Sie können durch einen erhöhten Druck
Entstehung ist nicht endgültig geklärt. Besonders be- im Analkanal, z. B. durch Obstipation mit hartem
troffen sind Menschen mit chronisch hartem Stuhl- Stuhl, durch eine angeborene Bindegewebsschwäche
gang, aber auch solche, die anosexuelle Praktiken und durch einen venösen Rückstau der Pfortader bei
ausüben.

100 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
6.4 Ergänzende Beobachtungskriterien

Abb. 6.54 Hämorrhoide (partieller Mukosaprolaps)


6

Stülpt sich die ganze Rektumwand durch den


Analkanal, handelt es sich um einen Rektumprolaps.
In diesem Fall sind Darmanteile im Analbereich zu
sehen. Häufig ist eine Reposition möglich. Die betrof-
fenen Menschen klagen über Blut- und Schleimab-
sonderungen und Entwicklung einer perianalen Der-
Abb. 6.53 Analfistel, äußere Fistelöffnung mit eitriger Sekretion
bei 5 Uhr in Steinschnittlage matitis oder Ulzeration (Ulcus recti). Die Fähigkeit,
den Stuhl zu halten (Stuhlkontinenz), ist meist be-
einträchtigt bis aufgehoben.

!
Lebererkrankungen entstehen. Berufe mit vorwie- Merke: Die Beobachtung der Analschleim-
gend sitzender Tätigkeiten begünstigen die Hämor- haut stellt einen Eingriff in die Intimsphäre
rhoidenbildung. eines Menschen dar. Sie bedarf deshalb eines
Die Einteilung der Hämorrhoiden erfolgt in 4 Sta- besonders einfühlsamen und vorsichtigen Vorgehens.
dien. Stadium 1 und 2 sind in erster Linie endosko-
pisch beurteilbar. Gelegentlich sind blutige Stuhlauf-
lagerungen, Juckreiz und Brennen zu beobachten. 6.4 Ergänzende
Ab Stadium 2 und 3 können Hämorrhoiden vor- Beobachtungskriterien
fallen (prolabieren) und sind dann äußerlich sicht-
bar. Meist können sie in den Analkanal zurück- Neben den spezifischen Hautkrankheiten gibt es ei-
gedrückt (reponiert) werden. ne Reihe von Erkrankungen, die nicht nur Verände-
In schweren Fällen, Stadium 4, ist die Reposition rungen an der Haut verursachen, sondern auch Aus-
nicht möglich. Schmerzen, Jucken, nässende wirkungen auf andere Beobachtungskriterien haben.
Schleimhautabsonderungen und Ekzeme sind die Deshalb müssen in diesen Fällen auch andere Beo-
Folge. Eingeklemmte Hämorrhoiden schwellen öde- bachtungspunkte beachtet werden. Die folgenden
matös an und verursachen heftige Schmerzen. Verknüpfungen sind ausgewählte Beispiele:

Analprolaps Beispiel: Der Hautstoffwechsel wird erheb-


Bei einem Analprolaps ist die Darmschleimhaut lich von der Ernährung und vom Flüssigkeits-
durch die Analöffnung vorgestülpt und äußerlich haushalt beeinflusst. Mangelerscheinungen
sichtbar. Die Ursachen können z. B. Hämorrhoiden, und Störungen des Flüssigkeitshaushaltes sind als typi-
Analsphincter- sowie Beckenbodenschwäche sein sche Veränderungen an der Haut beobachtbar, zeigen
und durch Pressen bei der Defäkation oder Husten sich z. B. aber auch bei der Menge der Flüssigkeitsauf-
entstehen. nahme und -ausscheidung.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 101


KaelDesu
6 Haut und Schleimhäute

Die Erhöhung der Hauttemperatur kann auf eine loka- Der Hautsinn ist der früheste embryonal entwi-
le Entzündung der Haut zurückzuführen sein, mögli- ckelte Sinn, er wird auch als somatoviszeraler Sinn
cherweise aber auch durch eine Erhöhung der Kern- bezeichnet. Zum Hautsinn gehören die Rezeptoren
temperatur (Fieber) verursacht werden. der Oberflächen- und Tiefensensibilität. Die Rezep-
Eine auffallende Blässe der Haut einer Extremität kann toren sind unterschiedlich verteilt. Kinder verfügen
u. U. durch einen akuten Arterienverschluss bedingt über ca. 6000 Tastkörperchen auf den Fingerkuppen,
sein. Hier ist besonders auf die Schmerz- und periphere Erwachsene hingegen nur über 3000 – 4000.
Pulsbeobachtung hinzuweisen. Eine allgemeine Haut- Der Hautkontakt zwischen Mutter und Kind sollte
blässe, in Kombination mit kaltem, klebrigem Schweiß nach Möglichkeit in den ersten 2 Stunden nach der
auf der Haut, weist auf einen Kreislaufschock hin. Es Geburt weitestgehend bestehen bleiben, um die Ge-
wird in diesem Fall neben der Puls- besonders die Blut- fühlsbeziehung zu fördern. Denn die Berührungs-
druckbeobachtung notwendig. reize sind von großer Bedeutung für die kognitive
Veränderungen der Haut ziehen häufig auch typische und emotionale Entwicklung.
Veränderungen der Hautanhangsgebilde Haare und
6 Nägel mit sich. Sie sollten deshalb immer gleichzeitig Physiologische Besonderheiten der Haut bei
beobachtet werden. Neugeborenen und Säuglingen
Trotz zu erkennenden Gemeinsamkeiten mit der Er-
Zusammenfassung: wachsenenhaut gibt es bei der Neugeborenen- und
Veränderungen der Mund- und Analschleim- Säuglingshaut anatomisch und physiologisch einige
haut Unterschiede. Die gesunde Haut des Neugeborenen
VeränderungenderMundschleimhautundderZunge ist zart, prall, warm, rosig und ohne Schädigungen.
tretenhäufigimZugevonFieber-,Magen-undDarm- Der Hautturgor ist glatt und elastisch. Die Epidermis
erkrankungen sowie Abwehrschwäche auf. ist sehr dünn. Im Vergleich mit einem erwachsenen
Bei Veränderungen der Analschleimhaut sind für den Menschen besitzt ein Neugeborenes oder ein Säug-
Betroffenen besonders belastende und häufig die Le- ling im Verhältnis zu seinem Gewicht eine viel grö-
bensqualität einschränkende Symptome zu beob- ßere Körperoberfläche. Die gesunde Schleimhaut in
achten. Mund, Zunge und Genitalbereich ist rosig, feucht,
Zu den wichtigsten Veränderungen der Analschleim- leicht glänzend und ohne Beläge.
haut zählen Analfissur, Analfistel, Analabszess, Hä-
morrhoiden und Analprolaps. Käseschmiere
Neben der Beobachtung der Haut müssen auch ande- Die Neugeborenenepidermis wird von einer Käse-
re Bereiche berücksichtigt werden, da Hautverände- schmiere (Vernix caseosa) bedeckt. Sie besteht aus
rungen häufig mit anderen Erkrankungen einherge- abgeschilferten Zellen, Haaren und Talgmassen. Die
hen. Käseschmiere stellt einen natürlichen Hautschutz
gegen die aufweichende Wirkung des Fruchtwassers
dar. Sie trägt dazu bei, den Wasserentzug aus der
6.5 Besonderheiten bei Kindern Oberhaut zu verringern. Die bei der Geburt voll akti-
Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm ven Talgdrüsen bewahren die Haut vor dem Aus-
trocknen und halten sie geschmeidig. Sie unterstüt-
Bedeutung der Haut für das Kind zen durch den höheren Feuchtigkeitsgehalt der Haut
Die Haut ist ein wichtiges Kommunikationsmittel das Neugeborene dabei, sich an seine Umgebung au-
zwischen Mutter und Kind. Das Neugeborene wird ßerhalb des Mutterleibes zu gewöhnen.
nach der Geburt auf Brust und Bauch der Mutter ge- Aufgrund ihrer pflegenden Wirkung sollte die
legt. Das Kind kann durch den Hautgeruch und die Käseschmiere nach der Geburt nicht entfernt, son-
bereits im Mutterleib wahrgenommene Stimme dern sanft in die Haut einmassiert werden. Verein-
Kontakt zu seiner Mutter aufnehmen. Gleichzeitig zelt kommt es in den ersten Lebenstagen zu einer
nimmt es den vertrauten Herzschlag wahr. Der Herz- vermehrten physiologischen Schuppung der Neuge-
schlag wird im Mutterleib vom Foetus bereits als Ur- borenenhaut. An Nase, Stirn und Wangen des Kindes
erfahrung erlebt und durch Vibration über die Haut zeigen sich gelegentlich kleine weiße „Hautperlen“.
als vertrautes Merkmal wiedererkannt. Es handelt sind um verdickte und mit gelblichem In-

102 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
6.5 Besonderheiten bei Kindern

halt gefüllte Talgdrüsengänge (Milien), die meist in- sehr dünne und empfindliche Haut reagiert auf be-
nerhalb von 3 Wochen nach der Geburt von alleine stimmte Konzentrationen von Substanzen wie Stuhl,
verschwinden. (s. a. S. 122). Urin, Speichel und/oder bestimmte chemikalische
Pflegemittel mit Hautreizungen.
Körperoberfläche Aufgrund dieser Kenntnisse ist es sehr wichtig,
Im Vergleich zu einem erwachsenen Menschen hat die hygienische Hautpflege des Neugeborenen und
ein Neugeborenes/Säugling im Verhältnis zu seinem Säuglings mit pH-neutralen Pflegeprodukten durch-
Gewicht eine um vieles größere Hautoberfläche, was zuführen. Darüber hinaus führen Reizungen zwi-
zu einer vermehrten Wasserabgabe führt. Die Gefahr schen 2 Hautfalten oder durch Windeln zur Mazera-
der Austrocknung wird außerdem durch die noch tion, dem Aufweichen der Haut und damit zu einem
sehr dünne Epidermis begünstigt. Zusammenbruch der epidermalen Barriere. Die Reiz-
stoffe gelangen so in die Haut des Kindes und bewir-

!
Merke: Bezogen auf das Körpergewicht ist ken Reaktionen und ggf. Ausschläge.
die Körperoberfläche des Säuglings doppelt
so groß wie bei einem Erwachsenen. Somit ist Abweichungen und Veränderungen des
6
die Säuglings- und Kinderhaut besonders vor Aus- Hautzustandes bei Kindern
trocknung zu schützen. Hauterkrankungen bei Kindern können angeboren
oder erworben sein.
Unausgereiftes Geflecht von Hautnerven
Weitere Unterschiede sind die noch nicht voll ausge- Angeborene Hauterscheinungen/-erkrankungen
bildeten Meissner-Tastkörperchen. Die meisten Ner- Naevi („Flecken“) sind aufgrund embryonaler Ent-
ven in der Säuglingshaut haben einen geringen wicklungsstörungen entstandene Fehlbildungen der
Durchmesser und enthalten noch kein Myelin. Die Haut. Sie werden nach den Gewebeanteilen, von de-
Entwicklung des Hautnervengeflechts kann noch bis nen sie ausgehen, unterschieden.
zur Pubertät andauern. Blutgefäß-Naevi
Storchenbiss, erscheint als flacher, tiefrot bis rosa-
Geringere Melaninproduktion farbener Fleck z. B. auf Stirn, Nacken und Rücken
Die Haut des Neugeborenen/Säuglings ist aufgrund und ist auf eine Erweiterung der Kapillargefäße
geringerer Melaninproduktion weniger pigmentiert zurückzuführen.
als die Haut älterer Kinder und Erwachsener. Mela- Naevus flammeus (Feuermal), erscheint als hell-
nin ist für die Haut- und Haarfarbe verantwortlich roter/blauroter scharf umschriebener Fleck, im
und schützt die Haut vor den potenziell schädlichen Gesicht oder an den Extremitäten vorkommend,
Wirkungen der Ultraviolettstrahlung. Die Haut von und ist auf Kapillarerweiterungen in einem be-
Neugeborenen/Säuglingen verbrennt unter direkter stimmten Hautbezirk zurückzuführen. Der Nae-
Sonneneinstrahlung schneller, sie muss deshalb be- vus flammeus im Gesicht, Rumpf oder auf den Ex-
sonders geschützt werden. tremitäten (Portweinmal) kann sich auch einsei-
tig darstellen.
Höhere Anfälligkeit für Reizstoffe und Infekte Hämangiome (Blutschwämme) bilden sich in den
Die aus Keratin bestehende Hornschicht wirkt als ersten Lebensmonaten richtig heraus, erscheinen
physiologische Barriere gegen das Eindringen schäd- als rote, schwammartige, oberflächliche Läsionen
licher Mikroorganismen und schädlicher Chemika- oder als bläulich schimmernd, wenn sie tiefer lie-
lien. Mikroben sind unter normalen Umständen gen. Hämangiome sind gutartige geschwulstarti-
harmlos, doch jede Durchlässigkeit der Haut bedeu- ge Wucherungen von Blutgefäßen aufgrund em-
tet ein Infektionsrisiko. Neugeborene/Säuglinge sind bryonaler Fehlentwicklungen. Sie wachsen in den
durch die Unterbrechung der Haut an der Nabel- ersten Lebensmonaten schnell, um später wieder
schnur besonders infektanfällig. zu schrumpfen. Häufig verschwinden sie bis zum
Die zum Schutz gegenüber bestimmten Bakterien Jugendalter ganz (Abb. 6.55).
notwendige Mikroflora (der pH-Wert liegt bei 6,7)
und das zur Abwehr benötigte Immunsystem sind
bei der Geburt noch nicht voll entwickelt. Die noch

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 103


KaelDesu
6 Haut und Schleimhäute

6
Abb. 6.55 Infantiles Hämangiom (oberflächlich)

Pigment-Naevi
Mongolenfleck, erscheint als schiefergraue bis
grauschwarze Färbung, meist am lumbosakralen
Rumpf, wird ausgelöst durch tieferliegende Mela-
Abb. 6.56 Nävuszellnävus
nozyten, bildet sich jedoch langsam zurück.
Cafe-au-lait-Fleck, erscheint als hellbrauner,
milchkaffeeartiger meist ovaler Fleck unter- ner Mazeration durch zu seltenen Windelwechsel
schiedlicher Größe, der an jeder Stelle des Kör- (Abb. 6.57).
pers auftreten kann. Er entsteht aufgrund ver- Atopische Dermatitis (Neurodermitis, endogenes
mehrten Pigmentgranulats in der Basalschicht Ekzem, atopisches Ekzem) erscheint als kleine ju-
der Haut und bleibt ein Leben lang bestehen. ckende Hautstellen, Knötchenbildung und Verdi-
Naevuszell Naevus, erscheint als scharf abge- ckung der Hautoberfläche, auch flächenhaft gerö-
grenzter dunkelbrauner Fleck unterschiedlicher tet. Die Prädilektionsstellen sind im Neugebore-
Größe, dessen Oberfläche glatt, höckerig, warzen- nen- und Säuglingsalter das Gesicht, bei Klein-
förmig und behaart sein kann. Er kann punktför- und Schulkindern die Ellenbeugen, Kniekehlen,
mig über den ganzen Körper verteilt sein oder Hand- und Fußgelenke. Durch häufiges Kratzen
auch große Hautbezirke bedecken. Er entsteht in- entstehen nässende Wunden, die eine Infektan-
folge endogener oder exogener Störungen der Ge- fälligkeit begünstigen und Infektionen und Su-
websentwicklung. Histologisch findet man mela- perinfektionen der Haut zur Folge haben können.
ninhaltige Zellen mit auffallend großem Kern. Es Die Entstehung ist weitgehend unbekannt, Ursa-
besteht das Risiko einer Umwandlung in ein Me- chen werden im genetischen Bereich vermutet
lanom, deshalb muss eine regelmäßige Kontrolle (Abb. 6.58).
erfolgen (Abb. 6.56). Seborrhoische Säuglingsdermatitis (Milchschorf)
zeigt sich als gelblich dicke, fettige, schuppende
Erworbene Hauterscheinungen/-erkrankungen Hautrötung vorwiegend am Kopf, Hals, in der
Intertrigo (Windeldermatitis/-ekzem) ist eine Achselhöhle und im Windelbereich. Auch hier ist
entzündliche Reizung der Haut im Windelbe- die Ursache unbekannt. Die Hauterscheinung ist
reich, die bei fast allen Säuglingen ein- oder in den ersten 6 Lebensmonaten zu beobachten
mehrmals vorkommt. Erscheinungsformen sind und tritt danach nicht wieder auf (Abb. 6.59).
flächenhafte Rötung, später Papeln und/oder Neonatale indirekte Hyperbilirubinämie ist eine
Bläschenbildung, ausgelöst durch z. B. bakterielle physiologische oder pathologische Gelbfärbung
Besiedlung oder Candida albicans. Sie entsteht der Haut (Ikterus, s. a. S. 75). Sie kann patholo-
durch Kontakt mit Urin und Stuhl und infolge ei- gisch oder physiologisch auftreten, bedingt durch

104 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
6.6 Besonderheiten bei älteren Menschen

Abb. 6.57 Windeldermatitis/Exanthem

Abb. 6.59 Seborrhoische Säuglingsdermatitis (Milchschorf)

Abb. 6.58 Atopische Dermatitis

einen erhöhten indirekten (unkonjugierten) Bili-


rubinspiegel im Blut. Beim Neugeborenen ist der
Ikterus in der ersten Lebenswoche physiologisch,
bedingt durch den Abbau des fetalen Hämoglo-
Abb. 6.60 Impetigo contagiosa
bins. Die gelbe Verfärbung wird am deutlichsten
an den Skleren, Fingernägeln, Fußsohlen, Hand-
flächen und der Mundschleimhaut.
6.6 Besonderheiten bei älteren
Infektiöse Dermatosen
Impetigo contagiosa ist eine durch Bakterien, meist
Menschen
Streptokokken und Staphylokokken, verursachte In- Eva Eißing
fektion der Epidermis. Sie zeigt sich durch oberfläch-
liche, honigfarbene, mit Schorf bedeckte Pusteln und Die typische Altershaut ist welk, schlaff und durch
Bläschen vorwiegend im Gesicht, an den Händen und Faltenbildung infolge nachlassender Elastizität des
im Genitalbereich. Durch engen Kontakt zu anderen Bindegewebes gekennzeichnet (Abb. 6.61). Wesent-
Kindern ist die Ansteckungsgefahr sehr groß. Kinder lich verantwortlich dafür ist die verminderte Was-
mit dieser Erkrankung müssen bis zum Abfallen der serbindungskapazität des Gewebes sowie die nach-
Borken isoliert werden (Abb. 6.60). lassende Wirkung der elastischen und kollagenen
Fasern der Lederhaut.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 105


KaelDesu
6 Haut und Schleimhäute

!
Durch die langsamere Zellteilung wird die Haut Merke: Zur Reinigung von Altershaut sollten
dünner (Atrophie von Dermis, Epidermis und Subku- milde Reinigungsmittel verwendet werden,
tis). Meist kommt es zur Abnahme von Fettgewebe, z. B. Ölbäder, und zur Hautrückfettung Was-
sodass die Haut nochmals an Dicke verliert. Diese ser-in-Öl-Emulsionen (W/O) (s. a. Bd. 3, Kap. 9.2.9).
Umstände führen zu einer erhöhten Gefahr für Ver-
letzungen und Druckgeschwüre. Durch das fehlende Viele ältere Menschen leiden unter Inkontinenz. Bei
Fettgewebe verringert sich auch die Fähigkeit der Frauen sind die Ursachen häufig Gebärmuttersen-
Haut zur Wärmeisolation; aus diesem Grund frieren kungen nach Geburten, bei Männern eine vergrößer-
alte Menschen leichter. te Prostata. Zusammen mit der dünner werdenden
Die Anzahl der Melanozyten verringert sich und Altershaut, dem veränderten Säureschutzmantel
somit die Schutzwirkung vor UV-Licht. Außerdem und einer zunehmenden Hauttrocknung erhöht sich
sind in der Altershaut die Melanozyten nicht mehr die Intertrigogefahr um ein Vielfaches. Eine trockene
regelmäßig angeordnet. Die Haut erhält eine fleckige Haut neigt zu Juckreiz und weist häufig Verletzungen
braune Pigmentierung von unterschiedlicher Größe, durch Kratzspuren auf, die wiederum Eintrittspfor-
6 besonders an den Händen, den Unterarmen und im ten für Bakterien, Pilze und Viren sind.
Gesicht. Diese Pigmentierungen sind auch als „Al- Nachlassende Leistung der Sinnesrezeptoren im
tersflecken“ bekannt (s. a. Abb. 6.61). Alter bedingt Veränderungen der äußeren Wahrneh-
Die Anzahl der Talg- und Schweißdrüsen verrin- mungsfähigkeit. Eine verminderte Druckwahrneh-
gert sich. Infolgedessen nimmt auch die Talg- und mung z. B. kann zur Folge haben, dass erst zu spät
Schweißproduktion ab mit entsprechend negativer oder gar keine Druckentlastungsbewegung durchge-
Auswirkung auf den Säureschutzmantel der Haut. In führt wird und infolgedessen das Risiko für die Ent-
Verbindung mit einer Exsikkose (s. a. S. 288 u. 299) stehung eines Druckgeschwürs (Dekubitus) steigt.
wird die Haut trocken, spröde oder rissig. Neben ei- Insgesamt ist die Altershaut empfindlicher und
ner erhöhten Verletzungsgefahr besteht eine redu- die Wundheilung durch verlangsamte Zellteilung
zierte Fähigkeit zur Keimabwehr und eine erhöhte verzögert. Viele Erkrankungen, z. B. Durchblutungs-
Infektanfälligkeit, besonders bei Bagatellverletzun- störungen oder der Diabetes mellitus, sind Ursache
gen. Dieser Aspekt sollte bei der Auswahl der Pflege- einer eingeschränkten, durch krankhafte Gefäße be-
mittel beachtet werden, weil die Altershaut unter dingten, veränderten Stoffwechsellage. Geschwür-
diesen Umständen besonders angreifbar wird für bildung, z. B. diabetische Gangrän oder Ulcus cruris
Seifen und Laugen. und Hautdefekte bis zum Absterben ganzer Hautbe-
zirke, können die Folge sein.

!
Merke: Die Altershaut weist eine geringere
Wahrnehmungs- und eine eingeschränkte
Regenerationsfähigkeit auf, was zu erhöhter
Verletzungsgefahr und beeinträchtigter Wundheilung
führen kann.

Auch die Mundschleimhaut verändert sich im Alter.


Auch hier wird die Haut dünner, die Regenerations-
zeit länger und die Speichelproduktion geringer.
Hierdurch ergibt sich eine erhöhte Soor-, Stomatitis-
und Parotitisgefahr. Durch mangelhafte Mundpflege,
angetrocknetes Sekret oder auch Nahrungsreste ent-
stehen Borken und Krusten auf der Zunge mit übel-
riechendem Mundgeruch.
Abb. 6.61 Altershaut

106 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
6.7 Fallstudien und mögliche Pflegediagnosen

!
Merke: Es ist darauf zu achten, dass die Pro- 3. Veränderungen an Haut und Schleimhaut können
thesen gut passen und auch eingesetzt wer- kosmetische Probleme darstellen und die betrof-
den. Der Kiefer verformt sich sehr schnell bei fenen Menschen in den sozialen Rückzug trei-
längerfristig herausgenommenen Prothesen. Diese sit- ben.
zen dann nicht mehr optimal, was Druckstellen in der
Mundschleimhaut zur Folge haben kann. Die folgende Fallstudie illustriert ein Beispiel aus
dem ersten Bereich.
Zusammenfassung:
Besonderheiten bei Kindern und älteren Beispiel: Fr. Üppig ist 82 Jahre alt und lebt
Menschen nach einem Schlaganfall seit 3 Jahren im Al-
Die Käseschmiere schützt die Haut von Neugebore- tenheim. Anfangs hatte sie Probleme, ihre
nen gegenüber dem Fruchtwasser und die Talgdrü- Selbstständigkeit aufzugeben. Inzwischen hat sie aber
sen vor dem Austrocknen nach der Geburt. einen guten Kontakt zu Mitbewohnern und Pflegekräf-
Die Körperoberfläche eines Säuglings ist im Ver- ten hergestellt. Fr. Üppig ist seit 10 Jahren Witwe und
gleich zum Erwachsenen fast doppelt so groß, die hat 2 Kinder. Durch den Schlaganfall hat sie eine
6
dünne Epidermis begünstigt zusätzlich die Gefahr rechtsseitige Hemiplegie und eine Urininkontinenz. Sie
der Austrocknung. trägt Windeleinlagen und Inkontinenzwäsche.
Ein noch nicht voll ausgereiftes Geflecht von Haut- Fr. Üppig ist adipös und durch ihre Körperfülle in der
nerven, geringere Melaninproduktion und das noch Mobilität eingeschränkt, kann aber mit Hilfe aufste-
nicht entwickelte Immunsystem machen die Haut hen. Die Pflegepersonen helfen ihr bei der Morgentoi-
von Neugeborenen anfälliger für Infekte und Reiz- lette und setzen sie in ihren Rollstuhl. Die Mahlzeiten
stoffe. nimmt Fr. Üppig gemeinsam mit den anderen Heimbe-
Angeborene Hautveränderungen sind Blutgefäß- wohnern im Aufenthaltsraum ein.
und Pigment-Naevi („Flecken“), zu den erworbenen Seit 2 Tagen hat Fr. Üppig Fieber mit Temperaturen von
Hauterkrankungen zählen u. a. Intertrigo (Windel- über 39 ⬚C rektal. Sie fühlt sich schlapp, hat keinen Ap-
dermatitis), atopische Dermatitis, seborrhoische petit und möchte im Bett bleiben. Durch das Schwitzen
Säuglingsdermatitis, neonatale indirekte Hyperbili- und ihre Urininkontinenz hat sich die Haut, besonders
rubinämie und infektiöse Dermatosen. unter der Brust und in den Leisten sowie in der Kreuz-
Auch die Altershaut ist anfällig für Infektionen, Ver- beingegend stark gerötet. Fr. Üppig klagt über starkes
letzungen und Druckgeschwüre, hat eine verringer- Brennen und Juckreiz sowie Schmerzen beim Wasser-
te Wärmeisolationsfähigkeit und Schutzwirkung lassen. Der Arzt diagnostiziert eine Harnwegsinfektion
vor UV-Licht. und Intertrigo der Haut, unter der Brust und in den
Die im Alter veränderte Mundschleimhaut kann zu Leisten mit Pilzbefall. Er ordnet Antibiotika oral und ei-
Mundgeruch, Soor, Stomatitis und Parotitis führen, ne antimykotische Salbe an. Tab. 6.3 zeigt einen Aus-
durch schlecht sitzende Prothesen entstehen leicht zug aus dem Pflegeplan von Fr. Üppig.
Druckstellen im Kieferbereich. Zu der Fallstudie kann eine Pflegediagnose gestellt
werden, wie sie die Übersicht auf S. 108 zeigt.

6.7 Fallstudien und mögliche Für Fr. Üppig könnte die Pflegediagnose folgender-
maßen lauten:
Pflegediagnosen Gewebeschädigung (Art zu spezifizieren)
b/d (beeinflusst durch) chemische Reizstoffe durch
Pflegeprobleme im Zusammenhang mit Haut- und
Urin und Schweiß
Schleimhautveränderungen lassen sich im Wesentli-
a/d (angezeigt durch) beschädigtes Gewebe: geröte-
chen 3 Bereichen zuordnen:
te Haut, juckende Haut, brennende Haut, beschädig-
1. Veränderungen an Haut und Schleimhaut verur-
te Haut.
sachen häufig Juckreiz und/oder Schmerzen,
2. Hautveränderungen, insbesondere Verletzungen,
sind ideale Eintrittspforten für Krankheitserre-
ger,

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 107


KaelDesu
6 Haut und Schleimhäute

Tab. 6.3 Auszug aus dem Pflegeplan von Fr. Üppig

Pflegeprobleme Ressourcen Pflegeziele Pflegemaßnahmen

쐌 Fr. Üppig hat brennende 쐌 Fr. Üppig ist kooperativ 쐌 Jucken und Brennen ist 쐌 Haut vorsichtig pflegen, keine mechani-
und juckende Hautstel- und kratzt nicht, sie ver- erträglich sche Reibung
len unter der Brust, in steht die Zusammenhän- 쐌 trockene, intakte Haut 쐌 Haut an den betroffenen Stellen trocken-
den Leisten und in der ge zwischen der Haut- unter der Brust, in den halten:
Kreuzbeingegend auf- feuchtigkeit und dem Leisten und in der Kreuz- – Reibung vermindern durch Einlage von
grund von Intertrigo-My- Wundsein beingegend Mull- oder Gazestreifen
kose – alle 2 Stunden Kontrolle auf Urinab-
gang
– keine Gummihosen, um Wärmestau zu
vermeiden
– nach jedem Wasserlassen Reinigung
ohne mechanische Reibung mit lauwar-
mem Wasser ohne Zusatz und Auftra-
gen der antimykotischen Salbe nach
6 Arztanordnung
쐌 Verwendung von Einmalhandschuhen
zum Schutz vor Superinfektion und
Selbstschutz
쐌 Fr. Üppig fühlt sich 쐌 Fr. Üppig kennt diese Be- 쐌 Fr. Üppig hat eine physio- 쐌 für ausreichend Ruhe sorgen
schwach und müde gleiterscheinungen von logische Körpertempera- 쐌 Temperaturkontrolle rektal alle 4 Stunden
wegen ihres Fiebers und früheren fiebrigen Infek- tur 쐌 spezielle Pflegemaßnahmen bei Fieber:
ihrer Harnwegsinfektion ten 쐌 Fr. Üppig hat ausreichen- u. a. Flüssigkeitsersatz, differenzierte, leich-
de Ruhephasen te, kohlenhydratreiche Ernährung, ggf. fie-
bersenkende physikalische Maßnahmen
bei Temperaturen über 39 ⬚C etc.

– mechanische Faktoren (z. B. Druck, Scherkräfte,


Gewebeschädigung (spezifizierte Art) (P) Reibung)
(Gordon 2013, S. 166, NANDA-I 2016) – Strahlung (inkl. Strahlentherapie)
Impaired Tissue integrity (00044) (1986, 1998)
Kennzeichen oder Symptome (S)
Taxonomie II: Domäne 11: Sicherheit/Schutz,
zerstörtes Gewebe
Klasse 2: Physische Verletzung
beschädigtes Gewebe (z. B. Hornhaut, Schleimhaut,
Diagnosetyp (Dokumentationsform): akutelle Pflegedi- Haut, Subkutis)
agnose (PES)
Pflegeergebnis (Outcome)
Funktionelles Gesundheitsverhaltensmuster: Ernährung
Gewebeintegrität: Haut und Schleimhäute
und Stoffwechsel
(Tissue Integrity: Skin and Mucous Membrane)
Definition Strukturelle Unversehrtheit und normale physiologi-
Schädigung der Schleimhaut, der Hornhaut, der Haut sche Funktion von Haut und Schleimhäuten
oder des subkutanen Gewebes
Einflussfaktoren (E) Für den 2. Bereich ist der Fall von Stefan ein Bei-
veränderte Durchblutung spiel.
Ernährungsbezogene Faktoren (z. B. Defizit oder
Überschuss) Beispiel: Stefan, 3 Jahre alt, leidet seit seinem
Flüssigkeitsdefizit 6. Lebensmonat an einer atopischen Dermati-
Flüssigkeitsüberschuss tis, auch als Neurodermitis bekannt. Das Ek-
Wissensdefizit zem breitet sich nach und nach über den ganzen Körper
beeinträchtigte körperliche Mobilität aus. Seine Haut ist verdickt und stark gerötet. Es entste-
(Auslöser von Reizerscheinungen:) hen starke Risse. Im Vordergrund steht jedoch der Juck-
– chemische Reizmittel (Körperausscheidungen, reiz, der besonders nachts auftritt, sodass blutende
Sekrete, Medikamente) Wunden und nässende Hautbereiche entstehen. Durch
– extreme Temperaturen die Zerstörung der Haut infolge „Kratzen“ ist die Gefahr
einer Superinfektion ständig vorhanden. Tab. 6.4 zeigt
einen Auszug aus dem Pflegeplan von Stefan.

108 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
Fazit

Tabelle 6.4 Auszug aus dem Pflegeplan von Stefan

Pflegeprobleme Ressourcen Pflegeziele Pflegemaßnahmen

Stefans Haut weist auf- Die Eltern unterstützen FZ: geschmeidige, intakte Haut 쐌 Fingernägel kurz schneiden
grund des Juckreiz beding- und pflegen Stefan 쐌 Juckreiz ist gelindert und für 쐌 zur Nacht Tragen eines Neurodermitis
ten Kratzens teils blutende Stefan erträglich Overalls, Tragen von „Fäustlingen“
Wunden und nässende Be- 쐌 zusätzliche Hautdefekte 쐌 tagsüber „Kratzkissen“ bereitstellen
reiche auf durch Kratzen werden recht- 쐌 Linola Fett姞 Salbe 3 ⫻ tägl. (7/15/22
zeitig erkannt Uhr) auf ganzen Körper verteilen
쐌 akzeptiert die Fäustlinge für 쐌 orale Antihistaminika nach Arztanord-
die Nacht nung

Stoffwechselstörungen
Hautschädigung (P)* beeinträchtigte sensorische Empfindung
(Gordon 2013, S. 167 – 168, NANDA-I 2016) hervortretende Knochen
Impaired skin integrity (00046) (1975, 1998)
6
Kennzeichen oder Symptome (S)
Taxonomie II: Domäne 11: Sicherheit/Schutz,
Hauptkennzeichen
Klasse 2: Physische Verletzung
Schädigung der Hautoberfläche (Epidermis)
Diagnosetyp (Dokumentationsform): Zerstörte Hautschichten (Dermis)
aktuelle Pflegediagnose (PES) Eindringen in Körperstrukturen (tiefe Ulzerierung).
Funktionelles Gesundheitsverhaltensmuster:
Ernährung und Stoffwechsel Pflegeergebnis (Outcome)
Gewebeintegrität: Haut und Schleimhäute
Definition (Tissue Integrity: Skin and Mucous Membrane)
Veränderte Epidermis (Oberhaut) und/oder Dermis Strukturelle Unversehrtheit und normale physiologi-
(Lederhaut) sche Funktion von Haut und Schleimhäuten
Einflussfaktoren (E) Risikogruppen
äußere Personen . . .
chemische Substanz mit körperlicher Immobilität
Altersextreme mit sensomotorischen Ausfällen (zerebrovaskuläres
Luftfeuchtigkeit Ereignis, Rückenmarkverletzung)
Hyperthermie (oder) in Bewusstlosigkeit
Hypothermie mit Adipositas
mechanische Faktoren (z. B. Scherkräfte, Druck, mit Kachexie
freiheitseinschränkende Maßnahmen) mit Immunschwäche
Medikamente unter einer Strahlentherapie
Feuchtigkeit
körperliche Immobilisierung
Strahlung Für Stefan kann auch eine Pflegediagnose formuliert
werden: Hautschädigung bedingt durch (b/d) me-
innere
chanische Faktoren (Kratzen bei Juckreiz) angezeigt
Veränderungen des Flüssigkeitshaushalts
durch (a/d) Schädigung von Epidermis und Dermis.
veränderte Pigmentierung
(Veränderung des Ernährungszustands
[Adipositas, Kachexie]) Fazit: Die Haut ist wie kein anderes Organ
entwicklungsbezogene Faktoren der äußerlichen Inspektion und Beobachtung
psychogene Faktoren zugänglich und wird hinsichtlich Farbe, Tem-
veränderter Ernährungszustand (z. B. Fettleibigkeit, peratur, Spannung und Oberflächenbeschaffenheit be-
Kachexie) obachtet und beurteilt. Viele Veränderungen der Haut
Veränderung des Turgors (der Elastizität) sind typisch und können bereits durch die sog. „Blickdi-
immunologische Defizite agnose“ einer Erkrankung zugeordnet werden. Durch
Durchblutungsstörungen (z. B. AvK) die Funktionsvielfalt der Haut werden bei Hautverän-
derungen häufig komplexe körperliche Folgeprobleme
* Siehe auch Dekubitus, Stadium II bis IV.
ausgelöst.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 109


KaelDesu
6 Haut und Schleimhäute

Bedeutsam für den Menschen ist auch die kosmeti- Gortner, L., S. Meyer, F. C. Sitzmann: Duale Reihe Pädiatrie.
sche Wirkung der Haut hinsichtlich Aussehen und Kon- 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012
Gordon, M.: Handbuch Pflegediagnosen. 5. Aufl. Hans Huber,
takt; sichtbare Veränderungen können zu erheblichen
Hogrefe AG, Bern 2013
Belastungen in psychischen und sozialen Bereichen
Hoehl, M., P. Kullick (Hrsg.): Gesundheits- und Kinderkranken-
führen. pflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012
Die Beobachtung der Haut schließt die Beobachtung I care Anatomie Physiologie. Thieme, Stuttgart 2015
der Schleimhäute, insbesondere der Mundschleimhaut I care Krankheitslehre. Thieme, Stuttgart 2015
und Analregion, ein. Die Schleimhaut des Gastrointesti- Illing S., M. Claßen (Hrsg.): Klinikleitfaden Pädiatrie. 9. Aufl.
naltraktes ist ohne Hilfsmittel nicht beobachtbar. Spezi- Urban & Schwarzenberg, München 2014
Marent, J.: Garaus der Laus: Kampf den Parasiten. Heilberufe
fische Symptome lassen jedoch Rückschlüsse auf Verän-
2016; 15 – 17, DOI: 10.1007/s00058-016-2030-x
derungen in diesem Bereich zu.
Margulies, A. et al. (Hrsg.): Onkologische Krankenpflege.
Die Altershaut ist dünner und weniger elastisch, die 6. Aufl. Springer, Berlin 2017
Hautfunktionen sind reduziert. In Kombination mit der Moll, I. (Hrsg.): Duale Reihe Dermatologie. Thieme, Stuttgart
verminderten Hautdrüsentätigkeit verändert sich der 2016
6 Säureschutzmantel der Haut, wodurch sie insgesamt NANDA International: Pflegediagnosen. Definitionen und
anfälliger gegenüber Einflüssen von innen und außen Klassifikation 2015 – 2017. Herdmann, T. H., S. Kamitsuru
(Hrsg.): RECOM, Kassel 2016
wird.
Paetz, B. Chirurgie für Pflegeberufe. 23. Aufl. Thieme, Stuttgart
Die Hautbeobachtung nimmt bei den Pflegenden ei- 2017
ne besondere Stellung ein. Im Pflegealltag ergeben sich Pschyrembel Klinisches Wörterbuch. 267. Aufl. de Gruyter,
vielfältige Gelegenheiten, Veränderungen frühzeitig zu Berlin 2017
erkennen und adäquat zu reagieren. Als Kontaktorgan Röcken, M. et al.: Taschenatlas Dermatologie. Grundlagen, Di-
bietet die Haut, besonders bei wahrnehmungsgestör- agnostik, Klinik. Thieme, Stuttgart 2010
Schewior-Popp, S., F. Sitzmann, I. Ullrich (Hrsg.): Thiemes Pfle-
ten Menschen, Möglichkeiten der Kommunikation.
ge. 13. Aufl. Thieme, Stuttgart 2017
Schwegler, J., R. Lucius: Der Mensch. Anatomie und Physiolo-
gie. 6. Aufl. Thieme, Stuttgart 2016
Steidl, S., B. Nigg: Gerontologie, Geriatrie und Gerontopsychia-
Literatur: trie. Ein Lehrbuch für Pflege- und Gesundheitsberufe.
4. Aufl. Facultas, Wien 2014
Abeck, D.: Neue Empfehlungen zur Säuglingspflege. Die Heb-
Weibel, L., M. Theiler, L. Feldmeyer: Hauterkrankungen des
amme 2016; 303 – 306, DOI: 10.1055/s-0042-115553
Säuglings. Pädiatrie up2date 2012; 163 – 185, DOI:
Fischer, K., H. Sobottka, D. Faas (Hrsg.): Klinikleitfaden Kinder-
10.1055/s-0032-1309831
krankenpflege. 4. Aufl. Urban & Fischer, München 2009
Zelder, O.: Lehrbuch der Chirurgie für Krankenpflegeberufe.
Gerlach, U., H. Wagner, W. Wirth: Innere Medizin für Pflegebe-
Ferdinand Enke, Stuttgart 1993
rufe. 8. Aufl. Thieme, Stuttgart 2015

110 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu

7 Hautanhangsgebilde
Eva Eißing

Übersicht
Einleitung · 111
7.1 Aufbau und Funktion · 111
7.2 Allgemeine Beobachtungskriterien und
Beschreibung des Normalzustandes · 113
7.2.1 Haare · 113
7.2.2 Nägel · 115
7.2.3 Hautdrüsen · 116
7.3 Abweichungen und Veränderungen und
deren Ursachen · 116
7.3.1 Haare · 116
7.3.2 Nägel · 118
7
7.3.3 Hautdrüsen · 121 Nicht vergessen werden darf bei all dem, dass
7.4 Ergänzende Beobachtungskriterien · 122 aber auch die Hautanhangsgebilde durch Verände-
7.5 Besonderheiten bei Kindern · 122 rungen auf Krankheiten oder Störungen hinweisen
7.5.1 Haare · 122 können. Einen Überblick hierzu liefert das folgende
7.5.2 Nägel · 123 Kapitel.
7.5.3 Hautdrüsen · 124
7.6 Besonderheiten bei älteren
Menschen · 124 7.1 Aufbau und Funktion
7.7 Fallstudien und mögliche
Pflegediagnosen · 125 Definition: Zu den Hautanhangsgebilden ge-
Fazit · 128 hören die Haare, die Hautdrüsen und die Nägel.
Literatur · 128 Sie entspringen entwicklungsgeschichtlich gese-
hen aus der Haut, bahnen sich ihren Weg durch die
Schlüsselbegriffe:
Hautschichten und münden auf der Hautoberfläche.
왘 Haare
왘 Nägel Haare
왘 Duftdrüsen Haare sind pigmentierte Hornfäden und bedecken
왘 Talgdrüsen den ganzen Körper, mit Ausnahme von Lippen,
왘 Schweißdrüsen Handinnenflächen und Fußsohlen. Während im Tier-
reich das Haarkleid einen wichtigen Schutz vor Aus-
Einleitung kühlung bietet, dient es dem heutigen Menschen
eher als „Schmuck“ bzw. Unterstreichung der Per-
Haare, Nägel und Hautdrüsen werden zu den sog. sönlichkeit, vor allem die Kopf- und Barthaare. Die
Hautanhangsgebilden gerechnet. Im Gegensatz zu Kopfhaare schützen zudem vor starken Sonnen-
früheren Zeiten, in denen die Haare z. B. als Schutz strahlen. Die Augenbrauen verhindern, dass Schweiß
vor Auskühlung dienten, besitzen die Hautanhangs- in die Augen rinnt. Wimpern und Nasenhaare schüt-
gebilde heute eine eher kosmetische Funktion. Durch zen vor Fremdkörpern und Schmutzpartikeln. Über
die Frisur wird die eigene Persönlichkeit unterstri- die Nerven der Haut sind die Haare indirekt am Tast-
chen. Auch die Finger- und Fußnägel sind als Aus- sinn beteiligt.
drucksmöglichkeit der Individualität erkannt wor- Verschiedene Bereiche des menschlichen Körpers
den. Haare und Nägel runden das Gesamtbild ab, sind mit Haaren bedeckt, dabei wird unterschieden
wobei gepflegte Haare und Nägel als Ausdruck eines zwischen
gesunden Körperbewusstseins gelten. Kopfhaar (Capilli),
Barthaaren (Barba),

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 111


KaelDesu
7 Hautanhangsgebilde

Wimpern (Cilia), ist. Melanozyten sondern Pigmente ab, die den Haa-
Augenbrauen (Supercilia), ren ihre Farbe verleihen.
Achselhaaren (Hirci), Ungefähr in der Mitte der Haarwurzel setzt der
Schamhaaren (Pubes), Haarmuskel (M. arrector pili) an. Er besteht aus glat-
Haaren am Naseneingang (Vibrissae), ter Muskulatur und kann das Haar bei Kälte und
Haaren des äußeren Gehörgangs (Tragi). emotionaler Anspannung aufrichten, z. B. durch Bil-
dung der Gänsehaut. Gesteuert wird diese Funktion

!
Merke: über das vegetative Nervensystem.
Das einzelne Haar besteht aus Haarschaft, Am Haarschaft mündet der Ausführungsgang ei-
Haarwurzel und Haarzwiebel (Abb. 7.1). ner Talgdrüse.Das Haar selbst besteht aus weichem
Haarmark (Medulla pili) und der festen Haarrinde
Der Haarschaft (scapus pili) ist der Teil des Haares, (Cortex pili). Die Haarrinde wird aus Hornsubstanz
der aus der Haut herausragt. Die Haarwurzel (Radix gebildet. Die äußerste Schicht (Cuticula) umhüllt das
pili) befindet sich in der Wurzelscheide (vagina pili) Haar wie einen Tannenzapfen. Ihre Plättchen fixieren
der Haut. Der unterste Teil des Haares endet als ver- es ähnlich wie Widerhaken in der Wurzelscheide,
dickte Haarzwiebel (bulbus pili) in der Lederhaut wodurch ein Herausreißen erschwert wird.
7 oder an der Grenze zur Unterhaut. An der Unterseite Die Haare wachsen abhängig von ihrer Lokalisati-
der Haarzwiebel dringt die Haarpapille (Papilla pili) on in unterschiedlicher Dicke, Dichte, Pigmentierung
ein. Hier befindet sich die Wachstumszone mit Blut- und Schnelligkeit.
gefäßen, die für die Haarneubildung verantwortlich
Nägel (Ungues)
Die Nägel bedecken als gewölbte Hornplatten die
Kuppen der Finger und Zehen (Abb. 7.2). Sie dienen
Mark
Rindenschicht
Schuppenschicht a Lunula

b Haarschaft Nagelkörper

b Nagel- Nagel- Nagel-


häutchen wall wurzel

Talgdrüse
Haarmuskel
Haarmark Nagelbett Nageltasche
Haarrinde
c Nagel- Fingerknochen Nagel-
falz wall
Wurzelscheide

Haarzwiebel

Haarpapille

Abb. 7.1 Schnitt durch die Haarwurzel (a) und ein Haar (b) Abb. 7.2 Nagel a Aufsicht b Längsschnitt c Querschnitt

112 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
7.2 Allgemeine Beobachtungskriterien und Beschreibung des Normalzustandes

als Gegendruckunterlage und ermöglichen auf diese sen überhaupt. Sie befinden sich in der Lederhaut
Art das Tasten. Außerdem können mithilfe der Fin- und münden in den Haarbalg. Aber auch nicht be-
gernägel Objekte von geringerer Größe zangenähn- haarte Hautanteile enthalten Talgdrüsen, wie z. B. die
lich gegriffen werden. Nägel sind unempfindlich und Augenlider, die Lippen, die Glans penis, die kleinen
schützen das darunter liegende, schmerzempfindli- Schamlippen und außerdem der Nasen- und Gehör-
che Gewebe. eingang. Die Talgdrüsen produzieren Talg, eine halb-
Der Nagel besteht aus einem körperfernen Teil, flüssige Mischung aus Fett und Zellresten, die der
dem Nagelkörper (corpus unguis), und einem kör- Fettung von Haut und Haaren dient.
pernahen Teil, der Nagelwurzel (radix unguis). Der
Nagelkörper wird aus Keratin gebildet und liegt auf Duftdrüsen
dem Nagelbett (Hyponychium). Die Nagelwurzel be- Die Duftdrüsen (Glandulae sudoriferae apocrinae)
findet sich geschützt in der Nageltasche (Matrix un- ähneln in ihrem Aufbau den Schweißdrüsen. Sie ent-
guis) mit dem Nagelfalz. Der halbmondförmige, wei- wickeln sich erst während der Pubertät. Die Drüsen-
ße Teil des Nagels wird Lunula genannt. An dieser form entspricht einer apokrinen Drüse, d. h. die Zelle
Stelle befindet sich unter dem Nagel die Nagelmatrix. schnürt Teile ihres Zytoplasmas ab und scheidet sie
Sie wandelt Epithelzellen durch Verhornung in tote mitsamt dem produzierten Sekret aus. Dieses Sekret
Nagelzellen um. ist für den individuellen Körpergeruch eines Men- 7
Der Nagel ist U-förmig eingerahmt durch den Na- schen verantwortlich.
gelwall. Nagelhäutchen (Cuticula) überlappen vom
Nagelwall aus die Nagelplatten. Zusammenfassung:
Hautanhangsgebilde
Schweißdrüsen Die aus der Haut entstandenen Hautanhangsgebil-
Definition: Die Schweißdrüsen (Glandulae su- de sind Haare, Hautdrüsen und Nägel.
doriferae eccrinae) sind knäuelförmig gewunde- Haare sind nicht nur Schmuck, sie haben auch
ne, tubuläre, d. h. schlauchförmige Drüsen und Schutzfunktionen.
sind, bis auf wenige Ausnahmen, über der ganzen Nägel schützen schmerzempfindliches Gewebe und
Körperoberfläche verteilt. Sie gehören zu den ekkrinen ermöglichen das Tasten.
Drüsen. Die Sekrete der ekkrinen Drüsen enthalten kei- Die Schweißdrüsen dienen der Temperaturregulie-
ne Membranfragmente. Die Schweißdrüsen befinden rung und der Bildung des Säureschutzmantels der
sich in der Lederhaut und im subkutanen Fettgewebe Haut.
und enden an der Hautoberfläche. Die Talgdrüsen produzieren Fett für Haut und
Haare.
Bei der weißen Bevölkerung beträgt die Anzahl der Die Duftdrüsen sind für den Körpergeruch eines
Schweißdrüsen ca. 100 – 350 pro cm2, bei der Menschen verantwortlich.
schwarzen Bevölkerung ist der Anteil dagegen dop-
pelt so hoch. Die Verteilung der Schweißdrüsen auf
7.2 Allgemeine
der Körperoberfläche ist unterschiedlich. An den
Handinnenflächen und auf der Stirn ist die Anzahl
Beobachtungskriterien und
größer als z. B. an den Oberschenkeln. Die Schweiß- Beschreibung des
drüsen produzieren Schweiß. Er ist wesentlich an der Normalzustandes
Temperaturregulierung sowie an der Bildung des
Säureschutzmantels der Haut beteiligt. Die Steue- 7.2.1 Haare
rung erfolgt über das vegetative Nervensystem. Die Haare sind wesentlich am Aussehen des Menschen
Schweißmenge ist von unterschiedlichen Faktoren beteiligt.
abhängig und kann täglich 0,5 – 10 l betragen (s. a. Sie können anhand folgender Kriterien beobach-
S. 342). tet werden:
Wachstum und Wachstumsgeschwindigkeit,
Talgdrüsen Länge,
Die Talgdrüsen (Glandulae sebaceae, Abb. 7.1) gehö- Menge,
ren entwicklungsgeschichtlich zu den ältesten Drü- Dicke,

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 113


KaelDesu
7 Hautanhangsgebilde

Form, Mensch ca. 60 – 100 Haare, die dann neu gebildet


Farbe, werden.
Beschaffenheit,
Körperverteilung, Dicke
Haarwuchsrichtung. Es wird unterschieden zwischen „feinem Haar“ oder
„dickem, kräftigem Haar“. „Feines Haar“ hat einen
Wachstum und Wachstumsgeschwindigkeit Durchmesser von ca. 50 µm, „dickes Haar“ dagegen
Haare wachsen unterschiedlich in ihrer Länge und ist ca. dreimal so dick. Diesen geringen Durchmesser
Geschwindigkeit. Kopfhaare wachsen ca. 0,3 mm/Tag kann man natürlich nicht sehen. Beobachtbar ist die
bzw. ca. 1 cm/Monat. Sie haben eine Lebensdauer Spannkraft und Festigkeit der Haare. Im Gegensatz
von ca. 4 – 5 Jahren, Wimpern und Augenbrauen da- zu dünnen Haaren erscheint die Frisur bei dicken
gegen nur 4 – 6 Monate. Haaren voluminös und locker fallend.
Die aktive Wachstumsphase wird Anagenphase
genannt. Im Anschluss an die Anagenphase bildet Form
sich die Haarzwiebel zurück (Katagenphase); es Die Form des einzelnen Haares ist entscheidend da-
kommt zur Bildung der sog. Kolbenhaare. In der nun für, ob das Haar glatt herunterhängt oder sich kräu-
7 folgenden Telogenphase, die ca. ein halbes Jahr dau- selt. Beim lockigen Haar ist der Querschnitt des ein-
ert, fällt das Haar aus und wird durch ein neues Haar zelnen Haares oval, beim glatten Haar rund.
ersetzt. Ungefähr 15 – 20% der Kopfhaare befinden
sich in der Telogenphase, der Rest in der Anagenpha- Farbe
se. Nur etwa 1% befindet sich in der Katagenphase. Die Haarfarbe wird bestimmt durch die Zahl und Ak-
tivität der Melanozyten sowie die Abgabe von Pig-
Länge menten im Bereich der Haarwachstumszone. Je nach
Die Länge der Haare ist abhängig von der Wachs- Menge kann die Haarfarbe von weißblond über
tumsschnelligkeit, Wachstumsdauer, Lebenszeit und sämtliche Blond-, Rot- und Braunschattierungen bis
Lokalisation. Anlagebedingt kann die Länge variie- zum tiefen Schwarz reichen. Wer welche Haarfarbe
ren. Besonders bedeutsam und auffällig ist dabei die hat, ist im Wesentlichen anlagebedingt und von Ras-
Kopfhaarlänge. se zu Rasse unterschiedlich. Die Haarfarbe ist künst-
Das Kopfhaar dient dem Menschen als Schmuck lich veränderbar. Sämtliche Farbnuancen stehen
und zur Darstellung der individuellen Persönlichkeit. mittlerweile zur Verfügung. Allerdings wird je nach
Ob die Kopfhaare lang getragen werden oder ob eine Anwendung, ob getönt oder gefärbt, die Haarstruk-
Kurzhaarfrisur bevorzugt wird, ist stark von der Mo- tur mit evtl. negativer Auswirkung auf die Beschaf-
de, aber auch vom persönlichen Geschmack abhän- fenheit verändert. Auch Allergien auf der Kopfhaut
gig. Allerdings gilt, je länger das Haar ist, desto öfter werden immer häufiger beobachtet.
wird es auch mechanischen und chemischen Belas- Graufärbung der Haare ist eine physiologische Al-
tungen wie UV-Strahlen der Sonne, Frisieren, Wa- terserscheinung, welche allerdings bereits ab dem
schen und Föhnen, festgebundenen Zöpfen usw. aus- 20. Lebensalter beginnen kann. Die Ursache liegt in
gesetzt. Das führt nicht selten dazu, dass das Haar einem Pigmentschwund und einer Sauerstoffeinla-
brüchig wird. gerung im Bereich der Wachstumszone.

Menge Beschaffenheit
Am ganzen Körper besitzt der Mensch ca. 5 Mio. Haa- Normalerweise ist der Haarschaft glatt und bricht
re. Davon befinden sich ca. 100 000 auf dem Kopf. nicht. Bei langen Haaren kann mechanische Bean-
Rothaarige besitzen weniger Kopfhaare, ca. spruchung (s. „Haarlänge“) dazu führen, dass das
60 000. Im Vergleich dazu haben Schwarzhaarige mit Haar am Schaftende der Länge nach bricht und splis-
ca. 150 000 Kopfhaaren mehr als die doppelte Menge. sig wird. Es sieht dann wie ausgefranst aus. Durch
Die Haarpapillen werden im Embryonalstadium an- chemische Einwirkungen, besonders Dauerwellen-
gelegt. Sind sie einmal zerstört, können sie nicht oder Färbemittel, kann die Haarstruktur derart ver-
mehr erneuert werden. Dies erklärt, warum Narben- ändert werden, dass die einzelnen, schützenden
gewebe meist haarlos bleibt. Pro Tag verliert der Schuppen nicht mehr glatt am Haarschaft anliegen

114 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
7.2 Allgemeine Beobachtungskriterien und Beschreibung des Normalzustandes

und sich abspreizen. Der ganze Schopf wirkt dann 7.2.2 Nägel
strohig und spröde, der Glanz geht verloren und das Gesunde Nägel bedecken leicht gewölbt die Finger-
Haar lässt sich nur noch mit Mühe durchkämmen. In oder Zehenkuppen. Sie sind glatt, scheinen rosig und
solch einem Fall sollten die Haare gekürzt und auf besitzen eine gewisse Festigkeit. Im Einzelnen kön-
chemische Zusätze verzichtet werden. Das nach- nen folgende Kriterien beobachtet werden:
wachsende Haar ist dann wieder gesund. Wachstum und Wachstumsgeschwindigkeit,
Die Haarbeschaffenheit wird auch durch den äu- Länge,
ßeren Fettanteil bestimmt. Bei verminderter Talg- Form,
produktion ist der Schutz vor mechanischer Reibung Farbe,
sowie vor dem Eindringen chemischer Stoffe und Beschaffenheit.
Wasser nicht mehr voll gewährleistet. Die Folge kann
eine brüchige Haarstruktur sein. Bei vermehrter Wachstum und Wachstumsgeschwindigkeit
Talgproduktion hängt das Haar bereits einige Stun- Die Nägel wachsen unterschiedlich schnell. Wäh-
den nach der Haarwäsche wieder fettig herunter; die rend der Daumen- und der Großzehennagel ca.
Spannkraft lässt nach. Physiologisch tritt eine ver- 0,1 mm/Tag wachsen, beträgt die Wachstumslänge
mehrte Talgproduktion während der Pubertät auf. für den kleinen Zeh nur ca. 0,05 mm/Tag. Entfernte
Aber auch stark entfettende Haarpflegemittel wirken Nägel, z. B. nach hartnäckiger Pilzerkrankung, wach- 7
sich häufig steigernd auf die Talgproduktion aus. sen in ca. 6 – 9 Monaten nach.

Körperverteilung Länge
Männer und Frauen haben eine unterschiedliche Je nach individuellem Geschmack werden die Nägel
Körperbehaarung. Beim Mann kommt es durch den kurz oder lang getragen. Reicht die Nagellänge über
Einfluss der männlichen Geschlechtshormone zum die Finger- bzw. Zehenkuppen hinaus, kann sie stö-
Bartwuchs, zur Brustbehaarung und einer rautenför- rend sein oder je nach Länge sogar verletzen; dies gilt
migen Schambehaarung, deren obere Spitze bis zum insbesondere auch für den Pflegeberuf, handwerkli-
Bauchnabel reicht. Darüber hinaus ist eine stärkere ches Arbeiten oder bei engem Schuhwerk. Je nach
Behaarung der Arme und Beine, des Rückens sowie Modeerscheinung lassen sich vor allem Frauen ihre
der Augenbrauen zu beobachten. Fingernägel bis mehrere Millimeter über die Finger-
Bei der Frau ist die Körperbehaarung spärlicher. kuppe wachsen.
Sie hat keine Brustbehaarung, und die Form der
Schambehaarung ist dreieckig. Die Entwicklung ei- Form
nes Damenbartes, oft erst nach der Menopause auf- Die normale Nagelform ist U-förmig rund und leicht
tretend, wird eher als störend empfunden. In gerin- quergewölbt.
ger Ausprägung tritt er allerdings häufig auf. Er ist
von Rasse zu Rasse unterschiedlich stark ausgeprägt. Farbe
Während der Damenbart bei Frauen aus dem Mittel- Das Nagelbettepithel und die Nagelmatrix sind frei
meerraum, aus Indien und bei negroiden Völkern von Melanin, somit ist der Nagel farblos und transpa-
häufig vorkommt, ist er bei Japanerinnen und Chine- rent. Der Nagel sieht dennoch rosig aus, weil das gut
sinnen eher selten. durchblutete Nagelbett durchscheint. Beim Frieren
ziehen sich die Gefäße zusammen und das Nagelbett
Haarwuchsrichtung wird bläulich, was durch den Nagel zu beobachten
Haare sind am gesamten Körper in einer bestimmten ist. Bei starken Rauchern färben sich die Fingernägel,
Wuchsrichtung angeordnet. Haarbewegungen wer- die mit dem Nikotin der Zigarette in Berührung kom-
den von Nerven registriert. Streichen der Haare mit men, gelblich-braun.
der Wuchsrichtung wirkt beruhigend auf den Ge-
samtorganismus, streichen gegen die Wuchsrich- Beschaffenheit
tung hat demgegenüber eine eher anregende Wir- Nägel sind normalerweise glatt und elastisch. Erst ab
kung. Dies ist z. B. für die Körperpflege von Bedeu- einer gewissen Länge oder bei extremer mechani-
tung (s. a. Bd. 3, Kap. 9, Bd. 4, Kap. 4). scher Einwirkung bricht der die Fingerkuppe überra-
gende freie Teil der Nagelplatte. Durch chemische

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 115


KaelDesu
7 Hautanhangsgebilde

Einwirkung kann der Nagel spröde und brüchig wer-


den, wie z. B. durch häufigen Kontakt mit Spülwasser
7.3 Abweichungen und
und Nagellackentferner. Veränderungen und deren
Ursachen
7.2.3 Hautdrüsen
Schweißdrüsen 7.3.1 Haare
Die Schweißdrüsen sondern Schweiß ab. Die Menge, Viele Erkrankungen beeinflussen den Haarwuchs.
das Aussehen und die Lokalisation des Schweißdrü- Die Beobachtung der Kopf- und Körperbehaarung
sensekretes kann beobachtet werden. Die einzelnen kann über einige Erkrankungen innerer Organe Auf-
Beobachtungskriterien sind in Kap. 19 ausführlich schluss geben. Krankhafte Haarveränderungen wir-
beschrieben. ken sich auf das Aussehen aus und können besonders
bei Frauen einen hohen Leidensdruck auslösen.
Talgdrüsen

!
Die Talgdrüsen produzieren täglich ca. 1 – 2 g Talg, Merke: Pathologische Veränderungen der
der Haut und Haare, ähnlich wie eine Creme, ge- Haare werden insbesondere anhand folgen-
schmeidig hält und für Wasserdichtigkeit sorgt. Talg der Beobachtungskriterien beurteilt:
7 und Schweiß zusammen bilden den Säureschutz- Wachstum,
mantel. Die Produktion der Talgmenge wird beein- Menge,
flusst durch die Geschlechtshormone. Testosteron Farbe,
regt die Bildung an, während Östrogene gegenläufig Beschaffenheit,
wirken. Körperverteilung.

Duftdrüsen Wachstum
Die von den Duftdrüsen abgesonderten Duft- bzw. Liegen Störungen im Haarwachstum vor, können die-
Geruchsstoffe sind in ihrer Zusammensetzung indi- se mittels eines Haarwurzelstatus, auch Tricho-
viduell und für den körperlichen Eigengeruch ver- gramm genannt, nachgewiesen werden. Dazu wird
antwortlich. Die Duftstoffe werden von der Nase, ein Büschel von ca. 50 Haaren mit einer gummierten
dem Sensor, aufgenommen und als Impulse zum Klemme mit einem Ruck herausgerissen. Aus der mi-
Riechzentrum weitergeleitet. Hier entsteht die Ge- kroskopischen Untersuchung der Haarwurzeln las-
ruchswahrnehmung. In Verbindung mit dem limbi- sen sich Rückschlüsse auf das Haarwachstum beein-
schen System bekommt der Geruchssinn einen emo- flussende Faktoren und Erkrankungen ziehen. Haar-
tionalen Charakter. Er kann wohlriechend und anre- wachstumsstörungen beeinflussen die Beschaffen-
gend oder übel riechend und abstoßend auf andere heit der Haare, die Menge, Dicke, Form und letztlich
Menschen wirken (s. a. S. 6 und 342). auch die Haarlänge.

Zusammenfassung: Menge
Allgemeine Beobachtungskriterien Die Menge der Kopf- und Körperbehaarung kann so-
Wachstum und Wachtsumsgeschwindigkeit, Länge, wohl krankhaft vermehrt als auch krankhaft vermin-
Menge, Dicke, Form, Farbe, Beschaffenheit, Körper- dert sein. Am auffälligsten sind dabei Veränderungen
verteilung und Haarwuchsrichtung sind Beobach- der Kopfbehaarung.
tungskriterien für Haare. Haarausfall tritt diffus oder lokal begrenzt auf.
Nägel können nach Wachstum und Wachstumsge- Physiologischer Haarausfall (Alopezie) ist sowohl
schwindigkeit, Länge, Form, Farbe und Beschaffen- beim Mann als auch bei der Frau möglich. Verant-
heit beurteilt werden. wortlich dafür ist hauptsächlich der Einfluss der
Die Produktion der Talgdrüsen hängt von den Ge- männlichen Geschlechtshormone. Beim Mann kann
schlechtshormonen ab. er bereits zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr be-
Die von den Duftdrüsen abgesonderten Stoffe sind ginnen. Zunächst kommt es zur Ausdünnung der
individuell und für den Eigengeruch des Körpers seitlichen Stirnregion und Ausbildung der sog. „Ge-
verantwortlich. heimratsecken“. Später fallen die Haare im Scheitel-
bereich aus – der Scheitel wird immer „breiter“ – bis

116 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
7.3 Abweichungen und Veränderungen und deren Ursachen

zuletzt ein Haarkranz stehen bleibt, die Haartonsur. kreisförmiger Haarausfall bekannt. Zu beobachten
Es kann sich aber auch eine Vollglatze bilden. Die An- sind mehrere kahle, kreisrunde Stellen am Kopf. Sie
lage zur Glatzenbildung ist wahrscheinlich genetisch treten bevorzugt im jungen Erwachsenenalter auf,
festgelegt. Bis heute hat man noch kein Mittel dage- wobei die Ursache unbekannt ist. Lokal begrenzte,
gen gefunden, obwohl die Werbung anderes ver- kahle Hautstellen sind auch Folge von Röntgenstrah-
spricht. len, Verbrennungen und Hautkrankheiten. Eine be-
Bei der Frau kann ein physiologischer Haarausfall sondere Form ist die Trichotillomanie. Es handelt
nach der Menopause durch Östrogenmangel entste- sich um ein psychisch bedingtes, zwanghaftes Aus-
hen (s. a. S. 124). In diesem Fall kommt es zu einer reißen der Haare, am häufigsten bei Kindern.
starken Ausdünnung der Kopfhaare besonders im Eine verminderte Körperbehaarung wird als Hy-
Scheitelbereich. Eine Glatzenbildung ist nicht zu be- potrichose bezeichnet und ist meist anlagebedingt,
obachten. Ein stärkerer Haarausfall bei der Frau kann ebenso wie das völlige Fehlen der Körperbehaarung,
auch nach Geburten oder nach Absetzen der „Pille“ auch Atrichie genannt.
beobachtet werden.

!
Ein diffuser Haarausfall ist häufig eine uner- Merke: Alle unphysiologischen Formen von
wünschte Nebenwirkung einiger Medikamente. Am Haarausfall sind grundsätzlich reversibel, so-
bekanntesten sind die Zytostatika, bei deren Einnah- fern sie früh genug behandelt werden und die 7
me es nicht selten zur Glatzenbildung und Verlust Haaranlage einschließlich der Wachstumszone nicht
der Körperbehaarung kommt. Auch eine hochdosier- gestört ist.
te Strahlentherapie schädigt das Haarwachstum und
führt zu Alopezie. Schwere Allgemeinerkrankungen, Eine verstärkte Körperbehaarung bei ansonsten ge-
bösartige Tumore, Malassimilationssyndrom (s. a. schlechtstypischer Behaarung wird als Hypertricho-
S. 293), fieberhafte Infektionskrankheiten wie z. B. se bezeichnet. Sie kann sowohl lokal begrenzt vor-
Tuberkulose, aber auch langandauernder Stress kön- kommen und ist häufig auf Leberflecken zu beobach-
nen einen diffusen Haarausfall zur Folge haben. Bei ten, als auch generalisiert über den ganzen Körper
bestimmten Vergiftungen, z. B. durch Thallium oder verteilt, wie z. B. nach Langzeiteinnahme von Korti-
Arsen, fallen ebenfalls sämtliche Haare aus sonpräparaten.
(Abb. 7.3).
Ein lokal begrenzter Ausfall der Kopfbehaarung Farbe
wird als Alopezia areata bezeichnet und ist auch als Das Ergrauen der Haare im Alter wird als Canities be-
zeichnet und ist in der Regel nicht pathologisch. Ein
vorzeitiges Ergrauen kann im Rahmen einiger Er-
krankungen entstehen, wie z. B. bei der perniziösen
Anämie, bei der Basedow-Krankheit, beim Cushing-
Syndrom und bei neurovegetativen Störungen. Bei
der Vitiligo (s. a. S. 75) und bei der Alopezia areata
(s. o.) kommt es zu lokal begrenzten grauen Stellen.
Diese herdförmige Form der Ergrauung wird auch als
Poliosis bezeichnet.

Beschaffenheit
Veränderungen in der Haarbeschaffenheit, auch
Haarstruktur genannt, können exogene und endoge-
ne Ursachen haben. Exogene Ursachen sind Einflüsse
von außen und enstehen am häufigsten durch me-
chanische und chemische Beanspruchung (s. a.
S. 113).
Bei den endogenen Ursachen liegt eine Störung
der Haarbildung vor. Die Gründe dafür können z. B.
Abb. 7.3 Diffuser Haarausfall aufgrund einer Thalliumintoxika- eine Unterfunktion der Schilddrüse, Eisenmangel
tion oder schwere Allgemeinerkrankungen sein. Das

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 117


KaelDesu
7 Hautanhangsgebilde

Haar sieht trocken und strohig aus, ist häufig auch Umgekehrt kommt beim Mann eine typisch
brüchig und lässt sich nur schwer kämmen. weibliche Körperhaarverteilung z. B. bei Hodener-
krankungen oder Einnahme von weiblichen Ge-
Körperverteilung schlechtshormonen (Östrogene) vor.
Eine Veränderung des Behaarungstyps ist meist pa-
thologisch und geschlechtsspezifisch, d. h., bei Män- 7.3.2 Nägel
nern entwickelt sich ein weibliches und umgekehrt Hände und Fingernägel sind wie die Kopfhaare sicht-
bei Frauen ein männliches Behaarungsmuster. Die bar und stellen ein Kriterium für ein gepflegtes Äu-
Hauptursache ist eine hormonelle Fehlregulationen. ßeres dar. Krankhaft veränderte Fingernägel sind
Bei der Frau können hormonelle Störungen, d. h. ver- deshalb auch kosmetisch störend.
minderte Östrogenproduktion zugunsten einer An- Wie bei den Haaren, können Nagelveränderungen,
drogenproduktion, dazu führen, dass sie eine typisch neben ganz speziellen Nagelerkrankungen, Sympto-
männliche Körperhaarverteilung bekommt. Solch me für Erkrankungen innerer Organe darstellen.
extreme Hormonstörungen enstehen bei Erkrankun-

!
gen der Adnexen oder durch Einnahme von männli- Merke: Die Beobachtung der Nägel im Hin-
chen Geschlechtshormonen. Der typisch männliche blick auf pathologische Veränderungen ori-
7 Behaarungstyp bei Frauen wird als Hirsutismus be- entiert sich vor allem an folgenden Kriterien:
zeichnet (Abb. 7.4). Kommen zu dem männlichen Be- Wachstum,
haarungstyp noch andere Zeichen der Vermännli- Länge,
chung dazu, wie z. B. Entwicklung einer tieferen Form,
Stimme, Brustverkleinerung und Ausbleiben der Re- Farbe,
gelblutung, so spricht man von Virilismus. Beschaffenheit,
Nagelbett und Umgebung.

Wachstum
Das Nagelwachstum ist abhängig von der Nagelbil-
dung der Nagelmatrix. Wachstumsstörungen wer-
den durch Veränderungen der Nagellänge, -form,
-farbe und -beschaffenheit (s. u.) sichtbar. In extre-
men Fällen wächst der Nagel stark verlangsamt oder
gar nicht mehr.

Länge
Zu kurze Fingernägel können Folge davon sein, dass
die Nägel aufgrund veränderter Nagelbeschaffenheit
abbrechen (s. u.).
Aus Nervosität werden häufig Fingernägel extrem
kurz abgekaut. In schweren Fällen kann sich eine
psychische Erkrankung dahinter verbergen.

Form
Ein übermäßig gewölbter und vergrößerter Finger-
nagel wird als Uhrglasnagel bezeichnet und ist Folge
von chronischem Sauerstoffmangel bei Lungen- und
oder Herzerkrankungen. Gleichzeitig verdickt sich
das Gewebe der Fingerendglieder. Die Finger werden
der veränderten Form wegen als Trommelschlegel-
finger bezeichnet (Abb. 7.5).
Ist die Nagelplatte löffelartig nach innen einge-
Abb. 7.4 Hirsutismus dellt, spricht man von Löffelnagel oder Hohlnagel.

118 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
7.3 Abweichungen und Veränderungen und deren Ursachen

Abb. 7.5 Uhrglasnagel und Trommelschlegelfinger

Abb. 7.7 Weiße Nägel als Begleitsymptom bei Leberzirrhose

punctata) oder streifenförmig (Leukonchia striata). 7


Weiße Nagelverfärbungen können auch durch Trau-
men und Nagelmykosen entstehen oder im Rahmen
einer Leberzirrhose auftreten (Abb. 7.7).
Gelbe bis gelb-graue Nägel sind Folge einer ver-
mehrten Hornproduktion im Nagelbett bei Psoriasis
und Mykosen.
Blaue bis schwarze Verfärbungen entstehen
durch Hämatome im Nagelbett oder durch Melanin-
einlagerung beim Melanom.
Der Nagel kann sich durch Melanineinlagerung
auch braun färben, wie z. B. beim Morbus Addison
oder beim Melanom. Eine andere Ursache für eine
Abb. 7.6 Krallennagel beim alten Menschen
Braunfärbung ist die Einwirkungen von Chemikalien,
wie z. B. Nagellack.
Diese Nägel sind oft zusätzlich brüchig und split-
tern leicht. Die Ursache kann chronischer Kontakt Beschaffenheit
mit Waschmitteln oder anderen Chemikalien sowie Die Beschaffenheit des Nagels wird auch als Nagel-
eine Eisenmangelanämie sein. struktur bezeichnet. Veränderungen werden durch
Bei einem Krallennagel wächst die Nagelplatte Störungen der Nagelbildung im Bereich der Nagel-
krallenartig gekrümmt zur Seite und häufig auch ins matrix verursacht. Das Ausmaß ist vom Befall der
Nagelbett ein (Abb. 7.6). Die Nägel sind sehr hart und Matrix abhängig. Bei leichter Schädigung kommt es
haben oft auch eine raue Oberfläche. Ursächlich zu erhöhter Brüchigkeit (Onychorrhexis). Ist die ge-
kommen falsches Schuhwerk, Nagelverletzungen, ei- samte Matrix befallen, bilden sich nur krümelige
ne venöse Insuffizienz aber auch hohes Lebensalter Hornmassen (Abb. 7.8).
bei entsprechend familiärer Disposition in Betracht. Ursachen für brüchige Nägel sind lokale Nagelpilz-
und Allgemeinerkrankungen, wie z. B. Schilddrüsen-
Farbe überfunktion sowie Kalzium- und Eisenmangel.
Wird die Nagelbildung gestört, kann stoffwechselbe- Bei der Schuppenflechte sind je nach Ausprägung
dingt Luft in die Hornlamelle eindringen und es ent- der Erkrankung ebenfalls die Fuß- und Fingernägel
steht eine Weißfärbung (Leukonchia totalis) der Na- betroffen. Je nach befallener Struktur kommt es ne-
gelplatte. Der weiße Nagelanteil ist abhängig von der ben Farbveränderungen zu einem welligen und krü-
Störungsdauer. Häufig ist sie nur kurzfristig und die meligen Aussehen. Ebenso sind bei der Schuppen-
Weißfärbung entsprechend flecken- (Leukonchia flechte Tüpfelungen möglich. Das sind bis zu steck-

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 119


KaelDesu
7 Hautanhangsgebilde

Eine Nagelablösung (Onycholyse) wird meist


durch Einwirkung von außen verursacht, z. B. durch
mechanische Belastungen mit Hämatombildung
oder durch eine Nagelbettentzündung. Aber auch
Schilddrüsenerkrankungen, Eisenmangel, Schup-
penflechte, Zytostatikaeinnahme und Diabetes mel-
litus können zur Nagelablösung führen.
Wächst der Nagel in das Nagelbett hinein, ent-
steht ein erhöhter Druck mit Verletzungen des Na-
gelbettes und nachfolgender Infektionsgefahr. Der
Grund ist häufig zu enges Schuhwerk. Das Nagelbett
wird zusammengedrückt und „verkleinert“. Der Na-
Abb. 7.8 Bröckelige Nägel gel schiebt sich seitlich in den Nagelwall ein. Auch
unkorrektes Schneiden der Nägel, besonders das
Rundschneiden des Großzehennagels, kann dazu
führen. Eingewachsene Nägel schmerzen stark und
7 müssen oftmals chirurgisch gelöst werden.
Die Entzündung des Nagelbettes wird als Panari-
tium bezeichnet, aber auch Nagelgeschwür oder Um-
lauf genannt. Es ist eine gefürchtete Komplikation bei
Bagatellverletzungen der Finger. Ursache sind
Wundinfektionen mit Eitererregern. Die Entzündung
dringt nicht selten über tiefere Gewebeschichten bis
zum Knochen und zu den Gelenke vor und kann dort
zu Nekrosenbildung führen.
Die Nagelwallentzündung, auch Paronchie ge-
nannt, entsteht durch Bakterien und Pilze. Sie ist, wie
das Panaritium, ebenfalls häufig eine Folge von Baga-
Abb. 7.9 Bau-Reil-Querfurchen tellverletzungen, z. B. bei der Maniküre. Der Nagel-
wall weist hierbei alle klassischen Entzündungszei-
chen auf und kann sich bis zu einem Abszess ausdeh-
nadelkopfgroße Einsenkungen in der Nagelplatte. Es nen (s. a. S. 79).
können jeweils ein oder mehrere Nägel betroffen sein.
Eine besondere Nagelveränderung stellen quer Zusammenfassung:
zur Wachstumsrichtung angeordnete Rillen im Nagel Abweichungen und Veränderungen der
dar, die auch als Querrillen oder Bau-Reil-Querfur- Haare und Nägel
chen (Abb. 7.9) bezeichnet werden. Sie entstehen Erkrankungen der Haare sind vor allem bei der
durch eine phasenweise Störung während der Nagel- Kopfbehaarung zu erkennen.
entwicklung. Ursachen dafür sind Medikamente, z. B. Haarausfall (Alopezie) kann durch Medikamente,
Zytostatika, Vergiftungen, Schockzustände, Infekti- Strahlentherapie, schwere Allgemeinerkrankungen
onskrankheiten, schwere Allgemeinerkrankungen, oder Stress hervorgerufen werden.
aber auch anhaltende psychische Belastungen. Verstärkte Körperbehaarung (Hypertrichose)
Längsrillen können entstehen bei Durchblutungs- kommt bei Leberflecken, aber auch generalisiert
störungen und bei der Schuppenflechte. nach Medikamenteneinnahme vor.
Erkrankungen können auch die Ursache von Er-
Nagelbett und Umgebung grauen sein.
Nagelbetterkrankungen stören das Wachstum der Durch hormonelle Fehlregulationen kann es zu
Nagelplatte nicht. Breiten sie sich allerdings bis zur Hirsutismus bzw. Virilismus kommen.
Nagelmatrix aus, kommt es zusätzlich zu einer Stö- Nagelerkrankungen sind häufig Symptome für Er-
rung der Nagelplattenproduktion. krankungen innerer Organe, z. B. sind Uhrglasnägel

120 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
7.3 Abweichungen und Veränderungen und deren Ursachen

Zeichen von Lungen- oder Herzerkrankungen, wei-


ße Nagelverfärbungen können bei Leberzirrhose
auftreten, Querrillen durch Medikamente oder psy-
chische Belastungen, Längsrillen durch Durchblu-
tungsstörungen entstehen.
Nagelablösungen können die Ursache von Medika-
menteneinnahmen, Traumen oder Erkrankungen
sein.

7.3.3 Hautdrüsen
Schweißdrüsen
Viele Erkrankungen beeinflussen die Schweißsekre- Abb. 7.10 Akne vulgaris mit schwarzen und weißen Mitessern
tion (s. a. S. 342). und entzündlichen Knoten

In Verbindung mit starkem Schwitzen, z. B. bei


Fieber, kann der Schweißdrüsenausgang blockiert
sein und Entzündungen auslösen. Es entstehen hirse-
korngroße, helle Bläschen, evtl. mit einem entzünde- 7
ten roten Hof. Die Bläschen nennt man auch Miliara.
Ein Schweißdrüsenabszess entsteht, wo apokrine
(Duft-)Drüsen vorhanden sind, meist in der Achsel-
höhle und in der Anogenitalregion (s. u.).

Talgdrüsen
Eine übermäßige Talgdrüsenproduktion wird als Se-
borrhö bezeichnet. Haut und Haare glänzen fettig.
Sie entsteht durch Stimulation männlicher Ge-
schlechtshormone während der Pubertät oder z. B.
beim Morbus Parkinson. Außerdem kann sie anlage-
bedingt auftreten.
Abb. 7.11 Entzündliche Knoten und Pusteln bei Rosazea fulmi-
Während der Pubertät ist die Seborrhö häufig mit
nans
einer gleichzeitigen, verstärkten Verhornung der
Epidermis im Haarfollikel verbunden. Durch diese
Verhornung verstopfen die Talgdrüsen. Es bilden sich benbildung und beeinträchtigt häufig die psychoso-
Talgpfropfen, die wie kleine schwarze Pünktchen ziale Lebensqualität des Betroffenen, besonders bei
aussehen und als Mitesser (Komedone) bekannt Befall des Gesichtes.
sind. Die schwarze Farbe entsteht durch Melanin und Eine der Akne verwandte Erkrankung der
oxydierte Fettanteile. Talgdrüsen ist die Rosazea (Abb. 7.11). Sie tritt erst im
Die Talgdrüsen können sich entzünden, wobei ro- 30. – 50. Lebensjahr auf und ist lokal auf Nase und
te, druckschmerzhafte Knötchen oder eitrige Papeln Wangen begrenzt. Es kommt durch Gefäßerweite-
entstehen. Diese hormonabhängige und unter- rung zu einer blauroten Verfärbung und später zu Pa-
schiedlich ausgeprägte entzündliche Erkrankung des pel- und Pustelbildung in den Haarfollikeln. Das ge-
Talgdrüsen-Haarfollikelkomplexes wird als Akne samte betroffene Gebiet vergrößert sich. Die Nase
vulgaris bezeichnet (Abb. 7.10). Sie gehört zu den verdickt sich knollenförmig zur Knollennase, auch
häufigsten dermatologischen Erkrankungen und be- Rhinophym genannt (Abb. 7.12).
trifft nahezu alle Jugendlichen. Die Erkrankung heilt
in der Regel bis zum 25. Lebensjahr ab, kann bei Frau-
en aber auch bis zum Alter von 40 Jahren fortbeste-
hen. In schweren Fällen kann die Akne zu Pustelbil-
dung und sogar zur Abszessbildung führen. Eine tie-
ferreichende, ausgedehnte Akne heilt nur unter Nar-

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 121


KaelDesu
7 Hautanhangsgebilde

Abweichungen und Veränderungen der


Hautdrüsen
Bei Erkrankungen der Schweißdrüsen kommt es
zu Infektionen oder Abzessbildung.
Seborrhö ist eine übermäßige Produktion der
Talgdrüsen, die anlagebedingt oder durch Hor-
monstimulation bzw. Morbus Parkinson entsteht.
Häufige Erkrankungen der Talgdrüsen sind vor al-
lem Akne vulgaris, Rosazea und Furunkel.
Schweißdrüsenabszesse sind die häufigste Er-
krankung der Duftdrüsen.

Abb. 7.12 Glandulärhyperplastische Rosazea mit Rhino- und


Gnatophym
7.4 Ergänzende
Beobachtungskriterien
7 Die Hautanhangsgebilde sind wie die Haut in vielen
pflegerischen Bereichen von besonderer Bedeutung.
Sie sind von der Hautbeobachtung nicht zu trennen,
da Veränderungen der Haut häufig auch Veränderun-
gen der Hautanhangsgebilde nach sich ziehen.
Die Bildung der Hautanhangsorgane sowie deren
Sekretion wird durch die Ernährung beeinflusst. Vor
allem Mangelerscheinungen können an Haaren und
Nägeln sichtbar werden.

7.5 Besonderheiten bei Kindern


Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm
Abb. 7.13 Furunkel

7.5.1 Haare
Die Haut des Neugeborenen trägt noch die Spuren
Eine Entzündung des Haarbalgs mitsamt seiner
des intrauterinen Lebens, u. a. die Lanugobehaarung.
Talgdrüse und Eiterbildung wird als Furunkel be-
Das sind feine Haare, die ca. zu Beginn des 4. Schwan-
zeichnet (Abb. 7.13).
gerschaftsmonats auf der Haut des Feten auftreten.
Mehrere Furunkel nebeneinander mit Verschmel-
4 – 6 Wochen vor der Geburt verliert die Haut im Ge-
zung untereinander kennzeichnen ein Karbunkel.
sicht und am Unterleib die Behaarung. Als ein Reife-
Häufiges Auftreten von Furunkeln bzw. Karbunkeln
zeichen des Neugeborenen gilt, dass die Lanugobe-
kann bei Menschen mit Diabetes mellitus beobach-
haarung nur noch am Rücken zwischen den Schul-
tet werden.
terblättern zu erkennen ist. Ein Frühgeborenes ver-
fügt noch über lange, dicht stehende Lanugobehaa-
Duftdrüsen
rung oder Flaumhaare, vor allem am Rücken. Bis zum
Duftdrüsen sind besonders infektionsgefährdet. Ihr
6. Lebensmonat werden die Flaumhaare durch grö-
Sekret ist alkalisch und stört den Säureschutzmantel
beres, jedoch wenig gefärbtes Wollhaar (Vellushaar)
der Haut. Durch Einwanderung besonders von Sta-
ersetzt. Zum Zeitpunkt der Pubertät entwickelt sich
phylokokken kann es zur Abszessbildung kommen.
das Terminal- oder Endhaar.
Ein bekanntes Beispiel ist der Schweißdrüsenabszess
in der Achselhöhle.

122 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
7.5 Besonderheiten bei Kindern

Das Kopfhaar ist kräftig, seidig und jedes einzelne Juckreiz aus. Das blutsaugende Insekt befestigt
Haar ist erkennbar. Bei der Geburt befinden sich die seine Nissen mithilfe einer Kittsubstanz an den
Haare in einer Ruhephase. Aufgrund der mütterli- Haaren. Aus ihnen schlüpfen nach ca. 8 Tagen
chen Hormoneinwirkung während der Schwanger- neue Läuse aus. Ein Läusebefall kann an steckna-
schaft fällt die Behaarung der Ruhephase nach 2 – 3 delkopfgroßen schwarzen Punkten erkannt wer-
Monaten aus. Diese sog. Säuglingsglatze ist reversi- den, die sich vorwiegend auf der Kopfhaut befin-
bel. Es kann jedoch bis zu 2 Jahren dauern, bis die den. Kopfläuse sind ein ernst zu nehmendes Prob-
Haare nachwachsen. Kinderhaare fetten kaum, sie lem, da sie sehr leicht von Mensch zu Mensch
müssen dennoch von Schmutz und Staub befreit durch Körperkontakt/Kopfhaarkontakt und/oder
werden. durch die gemeinsame Benutzung von Pflege-
utensilien übertragen werden können. Das Abtö-

!
Merke: Kindern, die unter einer Pollenaller- ten der Parasiten und das Entfernen der Nissen
gie leiden, sollten täglich die Haare gewa- muss im Vordergrund stehen.
schen werden, um die Pollen aus dem Haar Farblose, gelblich-weiße Haare kommen beim Al-
heraus zu spülen. binismus (s. a. S. 75) vor.

Abweichungen und Veränderungen der Haare Abweichungen und Veränderungen, der Haare 7
und Kopfhaut Auch bei Kindern kann es zu vorübergehendem
Herdförmiger vorübergehend auftretender Haar- Haarausfall durch Reibung, aufgrund von Derma-
ausfall am Hinterkopf kann durch eine Reibung tosen, Mykosen, Ekzeme, Infektionen oder hor-
des Hinterkopfes auf der Unterlage zustande monelle Veränderungen, kommen.
kommen. Juckreiz der Kopfhaut ist z. B. auf Neurodermitis
Trockenes, brüchiges Haar kann auf eine Fehler- oder Befall durch Kopfläuse zurückzuführen.
nährung und/oder Hypothyreose hinweisen. Aber
auch eine falsche Pflege der Kinderhaare kann die 7.5.2 Nägel
Ursache hierfür darstellen. Die Finger- und Fußnägel des Neugeborenen überra-
Haarausfall (Alopezie) und kreisrunder Haaraus- gen bei der Geburt die Kuppen. Das Nagelbett ist gut
fall (Alopecia areata) (s. a. Abb. 7.4) kann aufgrund durchblutet und die Nägel haben ein rosafarbenes
von Dermatosen (s. a. S. 101) wie z. B. Psoriasis Aussehen. Bei einem Frühgeborenen haben die Nägel
(s. a. Kap. 6, Abb. 6.25), Mykosen, Ekzeme oder die Fingerkuppen noch nicht erreicht.
aufgrund von Infektionen, wie z. B. Fieber und Va-
rizellen entstehen. Weitere Ursachen sind u. a. Abweichungen und Veränderungen der Nägel
chronische Erkrankungen wie z. B. Eisenmangel- und des Nagelbettes
anämie oder hormonelle Veränderungen. Des Strukturveränderungen hinsichtlich Wachstum,
Weiteren können auch Intoxikationen (z. B. Be- Länge, Form, Farbe, Beschaffenheit können bei Kin-
handlung mit Zytostatika) ursächlich für einen dern ebenso auftreten wie bei Erwachsenen.
Haarausfall verantwortlich sein. Aufgrund neuro- Brüchige Nägel kommen bei Vitamin-, Eisen-
tischer Verhaltensstörungen kann es zu einem und/oder Kalkmangel vor.
zwanghaften Haarausreißen (Trichotillomanie) Tüpfel- und Ölnägel haben punktförmige Defekte
kommen, einem Symptom ähnlich dem des Nä- aufgrund Dermatosen (s. a. S. 102) wie z. B. Psoria-
gelkauens, was als Aggression gegen sich selbst zu sis (s. a. Abb. 6.24). Der Nagelrand ist verdickt und
verstehen ist. aufgesplittert. Im Nagel erscheinen quer verlau-
Starker Juckreiz der Kopfhaut kann durch ein en- fende Wachstumsstopplinien.
dogenes Ekzem ausgelöst werden, z. B. bei der Veränderte Nagelform kommt vor bei angebore-
Neurodermitis (s. a. S. 101). Liegt jedoch kein en- nen oder erworbenen Nageldystrophien oder
dogenes Ekzem vor, so ist der Juckreiz oftmals auf auch aufgrund von Nägelkauen.
einen Befall von Kopfläusen zurückzuführen. Die
überall auf der Kopfhaut sitzenden Läuse nehmen
etwa alle 3 Stunden durch ihren Biss Blut auf. Der
dabei abgesonderte Speichel löst den starken

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 123


KaelDesu
7 Hautanhangsgebilde

7.5.3 Hautdrüsen wird. Bei Frauen dünnen die Haare oftmals so aus,
Die zunächst bei der Geburt gut ausgebildeten dass die Kopfhaut durchscheint (s. a. S. 113). Bei sehr
Talgdrüsen verkleinern sich nach der Geburt und dünnem Haar oder Glatzenbildung ist der UV-Schutz
bleiben bis zu Beginn der Pubertät eher klein. Erst für die Kopfhaut herabgesetzt und die Empfindlich-
dann werden sie wieder aktiv und führen zu unter- keit gegenüber Hitze erhöht.
schiedlicher Zusammensetzung des Säureschutz- Bei der Frau verringert sich während und nach
mantels (Lipidfilm) (s. a. S. 116). Durch die unregel- dem Klimakterium die Östrogenproduktion. Es
mäßige Funktionsweise der Talgdrüsen und den da- „überwiegen“ dann die Androgene, die in der Neben-
durch entstehenden veränderten Säureschutzman- niere gebildet werden. Diese Veränderungen werden
tel ist die Widerstandsfähigkeit gegenüber Krank- unter anderem sichtbar durch die Bildung eines Da-
heitserregern (z. B. Bakterien und Pilzen) herabge- menbartes an der Oberlippe und am Kinn sowie eine
setzt. Gleichzeitig kommt es zu einer erhöhten Re- Lichtung der Kopfbehaarung.
sorptionsfähigkeit von auf der Haut aufgebrachten
Medikamenten (Salben, Cremes), Desinfektionsmit- Nägel
teln und chemischen Mitteln in Hautpflegemitteln. Im höheren Alter verändern sich die Nägel. Die Fin-
Auf der anderen Seite kann auch schneller Wasser gernägel werden flacher und dünner, während die
7 verdunsten. Die Austrocknungsgefahr wird ver- Fußnägel stärker verhornen und sich häufig gelblich
stärkt durch die noch sehr dünne Epidermis (s. a. verfärben. Nicht selten krümmen sich die Fußnägel
S. 102). und formen sich zu Krallennägeln (vgl. Abb. 7.6). Die
Folgen sind eine erhöhte Verletzungs- und Entzün-
Abweichungen und Veränderungen der dungsgefahr. Entsprechend ist auf eine sorgfältige
Hautdrüsen Fußpflege zu achten.
Schweißdrüsenabszesse kommen bei abwehrge-

!
schwächten Säuglingen vor. Die tiefsitzenden, Merke: Bei alten Menschen mit Diabetes
walnussgroßen, rötlichen Knoten, die durch Sta- mellitus und/oder peripheren Durchblu-
phylokokken hervorgerufen werden, bilden sich tungsstörungen muss die Fußpflege beson-
bevorzugt am Hinterkopf, Rücken und Gesäß des ders vorsichtig durchgeführt werden, um auch kleinste
Kindes. Sie entleeren gelblich-rahmigen Eiter und Verletzungen zu vermeiden, da zumeist begleitend eine
heilen unter Narbenbildung ab. Störung der Wundheilung vorliegt. Gegebenenfalls ist
Akne entstehen wie bereits im Abschnitt 7.2.3 be- eine Fachkraft hinzuzuziehen.
schrieben während der Pubertät, ausgelöst durch
eine androgenabhängige Talgproduktion.
Talgproduktion
Durch ein Nachlassen der Talgproduktion im Alter
7.6 Besonderheiten bei älteren kommt es zur Veränderung des Säureschutzmantels
Menschen und der Hautfeuchtigkeit, die Haut wird trockener.
Besonders gut beobachtbar ist die trockene Haut an
Eva Eißing
den Schienbeinen. Die Veränderung des Säure-
Haare schutzmantels führt zu erhöhter Infektionsgefahr für
Durch abnehmende Pigmentierung im Alter ergraut die Haut.
das Haar. Anlagebedingt kann dies auch schon im Eine besondere Form der Akne kann sogar im Al-
frühen Alter zwischen 20 und 30 Jahren beginnen. ter auftreten. Sie wird auch Altersakne genannt und
Nahezu alle Hochbetagten besitzen graues Haar. betrifft die sonnenbestrahlten Bereiche der Augen-
Mit zunehmendem Alter wird das Haar dünner. umgebung, die Stirn sowie die Wangen. Diese Akne-
Bei Männern kann die Glatzenbildung bereits früh form entsteht wahrscheinlich durch Degeneration
beginnen, bei Frauen kommt es durch Östrogenman- des Kollagens und die dadurch fehlende Elastizität
gel erst nach der Menopause zu Haarausfall. Im ho- der Haut und der Ausführungsgänge. Im Gegensatz
hen Alter haben Männer nicht selten eine komplette zur Akne vulgaris ist die Altersakne eine nicht ent-
Glatze oder es bleibt ein U-förmiger Haarkranz um zündliche Erkrankung.
den Kopf stehen, der auch als Tonsur bezeichnet

124 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
7.7 Fallstudien und mögliche Pflegediagnosen

Zusammenfassung: Beispiel: Fr. Bertram ist 35 Jahre alt, seit 10


Abweichungen und Veränderungen bei älte- Jahren verheiratet und hat 3 Kinder im Alter
ren Menschen von 3 – 7 Jahren. Vor einigen Wochen ent-
Veränderungen im Alter betreffen sowohl die Haut deckte sie einen ca. haselnussgroßen Knoten in der
als auch die Nägel und die Hautdrüsen. rechten Brust. Inzwischen ist Fr. Bertram operiert und
Bei älteren Männern kommt nicht selten eine Ton- die Diagnose bekannt. Der Knoten war bösartig. Die
sur oder eine Glatze vor, bei Frauen die Bildung ei- rechte Brust, sowie die regionären Lymphknoten in der
nes Damenbartes. Achselhöhle wurden entfernt. Seit 4 Wochen bekommt
Im Alter werden die Nägel flacher und dünner, die Fr. Bertram eine Chemotherapie. Sie fühlt sich sehr
Fußnägel verhornen und krümmen sich stärker und schlapp und ist häufig müde. Ihre Stimmungslage ist
erfordern daher eine besonders sorgfältige Pflege. depressiv, besonders weil ihr fast alle Haare ausgefal-
Die Altersakne tritt durch Degeneration des Kolla- len sind. Sie fühlt sich nicht mehr als vollwertige Frau
gens und dadurch fehlende Elastizität der Haut be- und hat Angst, dass sich ihr Mann von ihr abwendet, da
sonders an den sonnenbestrahlten Bereichen auf. sie jetzt so unattraktiv aussieht.
Wegen ihrer ausgefallenen Haare meidet sie in der letz-
ten Zeit sogar ihren Freundeskreis und geht nicht mehr
7.7 Fallstudien und mögliche gerne aus dem Haus. Ihr Mann sorgt sich sehr um sie 7
Pflegediagnosen und motiviert sie immer wieder, sich durch Aktivitäten
abzulenken.
Erkrankungen der Hautanhangsgebilde können als Die Mutter von Fr. Bertram hilft im Haushalt und bei
isolierte Erkrankungen, aber auch als Begleiterschei- der Kinderbetreuung. Die Kinder sind sehr unkompli-
nungen anderer Erkrankungen auftreten. Häufig ist ziert und geben ihr viel Kraft bei der Bewältigung der
die Haut mitbetroffen. Sind die Symptome sichtbar, Erkrankung und Therapie.
stehen nicht selten soziale Probleme im Vordergrund Ein Beispiel für die Unterstützung von Fr. Bertram be-
und können, je nach Ausmaß, einen hohen Leidens- züglich ihres Haarausfalles ist in dem Auszug aus dem
druck auslösen. Pflegeplan in Tab. 7.1 dargestellt.

Tab. 7.1 Auszug aus dem Pflegeplan von Fr. Bertram

Pflegeprobleme Ressourcen Pflegeziele Pflegemaßnahmen

Fr. Bertrams Stimmungslage 쐌 Der Ehemann ist liebe- 쐌 Fr. Bertram setzt sich mit 쐌 Informationsgespräch mit Arzt vermit-
ist depressiv, da sie sich auf- voll; ihrer Erkrankung ausei- teln, nach Absprache Ehemann hinzuzie-
grund ihrer ausgefallenen 쐌 die Kinder geben ihr Kraft nander hen:
Haare und der fehlenden bei der Krankheitsbewäl- 쐌 weiß, dass die Haare wie- – Nachwachsen der Haare
Brust unattraktiv fühlt tigung der nachwachsen – Möglichkeiten des Brustaufbaues
쐌 Fr. Bertram ist über Un- 쐌 Information über:
terstützungs- und Hilfs- – Selbsthilfegruppe für brustamputierte
angebote informiert und Frauen, evtl. Kontakt herstellen
kann sie annehmen – psychologische Hilfen
쐌 Fr. Bertram redet über – alternative Kopfbedeckungen inkl.
Ängste mit Ehemann/Psy- Haarersatz, nach Absprache Friseurter-
chologen/Frauen aus der min 씮 Perücke
Selbsthilfegruppe/Freunden – spezielle Büstenhalter
쐌 Fr. Bertram kennt Formen 쐌 Gesprächsbereitschaft signalisieren, Kör-
der alternativen Kopfbe- perkontakt bieten
deckung und kann diese
für die Dauer der Thera-
pie akzeptieren
쐌 hat eine positive Grund-
stimmung und ein ver-
bessertes Selbstwertgefühl

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 125


KaelDesu
7 Hautanhangsgebilde

Körperbildstörung* (wiederholte Äußerungen einer) Fokussierung auf die


(Gordon 2013, S. 831 – 832, NANDA-I 2016) frühere Funktion
Disturbed body image (00118) (1973, 1998) (wiederholte Äußerungen einer) Fokussierung auf das
Taxonomie II: Domäne 6: Selbswahrnehmung, frühere Aussehen
Klasse 3: Körperbild
Nebenkennzeichen
Diagnosetyp (Dokumentationsform): aktuelle Pflege- Äußerungen über eine Veränderung der Lebensweise
diagnose (PES) negative Gefühle (oder Wahrnehmungen) über den
Funktionelles Gesundheitsverhaltensmuster: Körper (z. B. Gefühl der Hilflosigkeit, Hoffnungslosig-
Selbstwahrnehmung und Selbstbild keit, Machtlosigkeit)
starke Auseinandersetzung mit der Veränderung
Definition
starke Auseinandersetzung mit dem Verlust
Verwirrung bezüglich des mentalen Bildes über das
Ablehnung, die reale Veränderung zu überprüfen und
eigene Selbst
zu bestätigen
Einflussfaktoren (E) veränderte Fähigkeit, die räumliche Beziehung zwi-
(Nicht-Integration von Veränderungen [z. B. von Kör- schen dem Körper und dem Umfeld einzuschätzen
7 permerkmalen, Körperfunktionen oder Grenzen]) Personalisierung des Körperteils durch Namensge-
(wahrgenommene Entwicklungsmängel/ bung
-schwächen) Personalisierung des Verlustes durch Namensgebung
Adipositas Depersonalisierung des Körperteils durch unpersönli-
biophysisch che Fürwörter
kognitiv Depersonalisierung des Verlustes durch den
kulturell Gebrauch unpersönlicher Fürworte
entwicklungsbedingte Veränderungen Erweiterung der Körpergrenzen, um Objekte aus der
Krankheit Umgebung einzuschließen (z. B. Maschinen, Beat-
Behandlung mungsgerät)
Verletzung Betonung der verbliebenen Stärken (oder)
wahrnehmungsbedingt überzogene Darstellung von erbrachten Leistungen
psychosozial Trauma im Bezug auf den nicht funktionierenden Kör-
spirituelle perteil (absichtlich oder unabsichtlich)
chirurgischer Eingriff Veränderung in der sozialen Einbindung (oder in so-
Trauma zialen Beziehungen)
absichtliches Verbergen von Körperteilen
Kennzeichen oder Symptome (S) absichtliches zur Schau stellen eines Körperteils
Hauptkennzeichen berührt den Körperteil nicht
(Äußerungen über eine tatsächliche oder wahrge- schaut den Körperteil nicht an
nommene Veränderung der Struktur und/oder Funk- Äußerungen über Gefühle, die eine veränderte Sicht-
tion des Körpers oder eines Körperteils) weise auf den eigenen Körper widerspiegeln (z. B.
(Äußerungen über Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit Aussehen, Struktur oder Funktion)
und/oder Machtlosigkeit in Bezug auf den Körper und Äußerungen über Wahrnehmungen, die eine verän-
die Furcht vor Zurückweisung durch andere) derte Sichtweise auf die äußere Erscheinung wider-
(und einer oder mehrere der folgenden Punkte:) spiegeln
(Äußerungen über negative Gefühle gegenüber dem Verhalten, das auf eine Rückmeldung oder Bestäti-
eigenen Körper [z. B. schmutzig, dick, klein, unan- gung zum eigenen Körper gerichtet ist
sehnlich]) Nonverbale Reaktion auf eine reale Veränderung des
(wiederholte Äußerungen negativer Gefühle in Bezug Körpers (z. B. Aussehen, Struktur, Funktion)
auf den Verlust von Körperflüssigkeiten, deren Hinzu- Nonverbale Reaktion auf eine wahrgenommene Ver-
fügen oder über Maschinen/Geräte) änderung des Körpers (z. B. Aussehen, Struktur, Funk-
(wiederholte Äußerungen einer) Fokussierung auf tion)
vergangene Stärken

* Dieser Zustand ist oft Gegenstand von Interventionen


(d. h. ein Einflussfaktor)

126 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
7.7 Fallstudien und mögliche Pflegediagnosen

Eine mögliche Pflegediagnose zu der Fallstudie von


Vermeidendes Verhalten bezüglich des eigenen Kör- Fr. Bertram könnte folgendermaßen lauten:
pers Körperbildstörung
Beobachtendes Verhalten bezüglich des eigenen Kör- b/d (beeinflusst durch) Nichtintegration der Verän-
pers derung
a/d (angezeigt durch):
objektiv
Angst, ihr Mann wendet sicht wegen des Haaraus-
reale Veränderung der Funktion
falls und der Brustamputation von ihr ab,
reale Veränderung der Struktur
Angst vor Ablehnung oder Reaktionen anderer
Verhalten, das eine Rückmeldung oder Bestätigung
zum eigenen Körper sucht
wegen des sichtbaren Haarausfalls,
beobachtendes Verhalten bezüglich des eigenen Kör- Äußerung negativer Gefühle hinsichtlich des Kör-
pers pers (sie fühlt sich nicht mehr als vollwertige und
fehlender Körperteil attraktive Frau).
unabsichtliches Verbergen des Körperteils
unabsichtliches zur Schau stellen des Körperteils Beispiel: Marek, 5 Jahre, ist beim Spielen
vom Klettergerüst gestürzt. Wegen des Ver-
subjektiv
dachts einer Commotio cerebri wurde er zur 7
Furcht vor den Reaktionen anderer
Beobachtung in der Klinik aufgenommen. Während
Pflegeergebnis (Outcome) der Untersuchung durch den Kinderarzt fällt auf, dass
Körperbild (Body Image) Marek sich häufig am Kopf kratzt. Diese Beobachtung
Positive Wahrnehmung der eigenen Erscheinung und wird von der Mutter bestätigt. Auch sie hatte bemerkt,
Körperfunktionen dass Marek sich in den letzten Tagen vermehrt am Kopf
Risikogruppen kratzt. Nach näherer Betrachtung des Kopfes und des
Personen . . . dunklen Kopfhaares findet der Kinderarzt die Ursache.
mit Hemiplegie Die Kopfhaut von Marek ist übersät mit stecknadel-
nach dem Verlust eines Körperteils (z. B. Amputation kopfgroßen schwarzen Punkten, die sich als Kopfläuse
eines Beins, einer Brust) identifizieren lassen.
nach dem Verlust oder der Veränderung einer Körper- Mareks Mutter verfügt über Kenntnisse der Übertra-
funktion (z. B. Fortpflanzungsfunktion, Ausschei- gung, Vermehrung und Bekämpfung der Schmarotzer.
dung) Sie unterzieht sich selbst und alle weiteren Familien-
nach einem Gesichtstrauma mitglieder einer genauesten Kontrolle. Um die Mög-
nach der Implantation eines Schrittmachers lichkeit der Ansteckung einzugrenzen, informiert sie
mit angeborenen Anomalien (sichtbar) die Kindergartenleiterin und die Eltern von Mareks
Freunden.
Marek, der noch zur Beobachtung in der Klinik bleiben
muss, wird zunächst angesichts der Übertragungsge-
fahr von den anderen Kindern in der Klinik ferngehal-
ten. Eine sofortige Therapie wird eingeleitet. Ein ent-

Tab. 7.2 Auszug aus dem Pflegeplan von Marek

Pflegeproblem Ressourcen Pflegeziele Pflegemaßnahmen

Marek leidet aufgrund eines Marek's Mutter verfügt über Marek 쐌 Chemisches oder physikalisches Läuse-
Kopfläusebefalls unter star- Kenntnisse der Übertra- 쐌 Juckreiz ist gelindert mittel nach Anordnung auftragen und
kem Juckreiz gung, Vermehrung und Be- 쐌 besitzt eine intakte Kopf- einwirken lassen (Goldgeist䊛)
kämpfung haut 쐌 Nissen mit „Nissenkamm“ entfernen
쐌 ist frei von Läusen und 쐌 1 ⫻ tgl. Kontrolle der Kopfhaut
Nissen 쐌 Behandlung ggf. wiederholen
쐌 Wäschewechsel nach jeder Behandlung
쐌 Bürsten und Kämme von
Marek reinigen

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 127


KaelDesu
7 Hautanhangsgebilde

sprechender Auszug aus dem Pflegeplan ist in Tab. 7.2


abgebildet. Literatur:

Fazit: Die Beobachtung der Hautanhangsge- Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: Kopfläuse
. . . Was tun? Auflage 12.400.11.15 Köln 2014
bilde bei einem Patienten umfasst die Beur-
Christophers, E., M. Ständer: Haut- und Geschlechtskrankhei-
teilung der Haare, Nägel und Hautdrüsen. ten. 7. Aufl. Urban & Fischer Verlag/Elsevier GmbH. Mün-
Aufgrund ihrer gemeinsamen Entwicklungsgeschichte chen 2003
sind sie eng miteinander verbunden. Deutsch, J., F. G. Schnekenburger (Hrsg.): Pädiatrie und Kinder-
Veränderungen der Hautanhangsgebilde ziehen chirurgie. Thieme, Stuttgart 2017
häufig Veränderungen der Haut nach sich und umge- Fischer, K., H. Sobottka, D. Faas (Hrsg.): Klinikleitfaden Kinder-
krankenpflege. 4. Aufl. Urban & Fischer, München 2009
kehrt. Aus diesem Grund sollten beide Beobachtungs-
Gordon, M.: Handbuch Pflegediagnosen. 5. Aufl. Hans Huber,
bereiche immer zusammen beurteilt werden.
Hogrefe AG, Bern 2013
Haarveränderungen beeinflussen das Aussehen und Gortner, L., S. Meyer, F. C. Sitzmann: Duale Reihe Pädiatrie.
können einen hohen Leidensdruck auslösen. Besonders 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012
betroffen sind Menschen mit (Kopf-)Haarausfall, des- Hoehl, M., P. Kullick (Hrsg.): Gesundheits- und Kinderkranken-
sen Ursachen sowohl physiologisch als auch patholo- pflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012
7 gisch bedingt sein können. Huch, R., K. D. Jürgens (Hrsg.): Mensch Körper Krankheit, Ana-
tomie, Physiologie, Krankheitsbilder. Lehrbuch und Atlas
Viele Erkrankungen der Haut, des Stoffwechsels und
für Berufe im Gesundheitswesen. 7. Aufl. Urban & Fischer,
innerer Organe beeinflussen das Nagelwachstum. Na-
Elsevier GmbH, München 2015
gelveränderungen geben deshalb nicht nur Hinweise Illing, S., M. Claßen (Hrsg.): Klinikleitfaden Pädiatrie. 9. Aufla-
auf dermatologische, sondern häufig auch auf internis- ge Urban & Schwarzenberg, München 2014
tische Erkrankungen. Koletzko, B. (Hrsg.): Kinder- und Jugendmedizin. 14. Aufl.
Krankhafte Veränderungen der Hautdrüsen entste- Springer, Berlin 2013
hen häufig durch Verstopfungen ihrer Ausführungs- Lippert, H.: Lehrbuch Anatomie. 8. Aufl. Urban & Fischer Ver-
lag/Elsevier GmbH. München 2017
gänge und nachfolgenden Entzündungen der Drüsen,
Marent, J.: Garaus der Laus: Kampf den Parasiten. Heilberufe
wie z. B. der Schweißdrüsenabszess, der Furunkel und 2016; 15 – 17, DOI: 10.1007/s00058-016-2030-x
die Akne vulgaris. NANDA International: Pflegediagnosen. Definitionen und
Beim alten Menschen kommt es im Zuge allgemei- Klassifikationen 2015 – 2017. Herdman, T. H., S. Kamitsuru
ner Alterungserscheinungen auch zu Veränderungen (Hrsg.): RECOM, Kassel 2016
der Hautanhangsgebilde mit zum Teil nachlassenden Paetz, B.: Chirurgie für Pflegeberufe. 23. Aufl. Thieme, Stutt-
gart 2017
Funktionen. In Kombination mit altersbedingten Haut-
Pflege Heute. 6. Aufl. Urban & Fischer, München 2014
veränderungen lässt die Widerstandskraft gegenüber
Pschyrembel Klinisches Wörterbuch. 266. Aufl. de Gruyter,
Infektionen dadurch deutlich nach. Berlin 2014
Röcken, M., M. Schaller, E. Sattler, W. Burgdorf: Taschenatlas
Dermatologie. Grundlagen Diagnostik Klinik. Thieme,
Stuttgart 2010
Schwegler, J., R. Lucius: Der Mensch. Anatomie und Physiolo-
gie. 6. Aufl. Thieme, Stuttgart 2016
Tischendorff, F. W.: Blickdiagnostik – CompactAtlas. 5. Aufl.
Schattauer, Stuttgart 2016

128 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu

8 Puls
Panajotis Apostolidis*, Petra Schmalstieg

Übersicht
Einleitung · 129
8.1 Technik der Pulsmessung · 130
8.2 Allgemeine Beobachtungskriterien und
Beschreibung des Normalzustandes · 132
8.2.1 Pulsfrequenz · 132
8.2.2 Pulsrhythmus · 133
8.2.3 Pulsqualität · 133
8.3 Abweichungen und Veränderungen und
deren mögliche Ursachen · 133
8.3.1 Veränderungen der Pulsfrequenz · 133
8.3.2 Veränderungen des Pulsrhythmus · 136
8.3.3 Veränderungen der Pulsqualität · 137
8.4 Ergänzende Beobachtungskriterien · 138 8
8.5 Besonderheiten bei Kindern · 138 Definition: Als Puls wird die durch den systoli-
8.6 Besonderheiten bei älteren schen Blutauswurf des Herzens im Kreislauf ent-
Menschen · 140 stehende Druck- und Volumenschwankung
8.7 Fallstudien und mögliche (Welle) im arteriellen Gefäßsystem bezeichnet.
Pflegediagnosen · 140
Fazit · 141 Die Pulswellengeschwindigkeit ist abhängig von der
Literatur · 143 Dehnbarkeit des durchströmten Blutgefäßes (Aorta
4 – 6 m/s; A. radialis 8 – 12 m/s) und nimmt mit dem
Schlüsselbegriffe: Alter infolge des Elastizitätsverlustes der Blutgefäße
zu.
왘 Pulsfrequenz Die Pulskontrolle ist eine vielfach durchgeführte
왘 Pulsrhythmus Maßnahme bei gesunden und kranken Menschen in-
왘 Pulsqualität
nerhalb und außerhalb des Krankenhauses. Häufig
왘 Pulsdefizit
steht bei der Pulskontrolle die Ermittlung der Herz-
frequenz im Zentrum des Interesses. Neben der Puls-
frequenz sind zusätzlich Pulsrhythmus und Pulsqua-
lität von Bedeutung. Die Kombination dieser 3 Beob-
Einleitung achtungskriterien kann entscheidende Aussagen
über die Vitalfunktionen und Hinweise auf mögliche
Der Puls gehört neben Atmung, Blutdruck und Kör- Erkrankungen des Menschen geben. Da praktisch je-
pertemperatur zu den Vitalzeichen. Da Änderungen de physische und psychische Veränderung des Men-
im Befinden von Menschen im Allgemeinen auch schen eine Pulsveränderung mit sich zieht, spiegelt
Pulsveränderungen mit sich bringen, ist der Puls ein der Puls auch die aktuelle Verfassung oder Befind-
sehr aussagekräftiges Beobachtungskriterium. Die lichkeit von Menschen in besonderen Situationen
Ermittlung der Pulswerte ist eine der ältesten und wider. Beispielsweise ist die Pulsfrequenz bei kör-
häufigsten diagnostischen Maßnahmen. Sie ist ohne perlicher Anstrengung oder freudiger Erregung er-
großen technischen Aufwand durchzuführen, erfor- höht, in Ruhe bzw. im Schlaf ist sie deutlich ernied-
dert jedoch neben einer guten Messtechnik vor allem rigt.
bei der Beurteilung der Pulsqualität Übung und Er-
fahrung. Das Pulsfühlen bietet außerdem Gelegen-
heit zur Begegnung mit dem anderen Menschen.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 129


KaelDesu
8 Puls

8.1 Technik der Pulsmessung Indikationen zur Pulsmessung


Feststellen der Vitalsituation des Menschen (z. B.
Das Tasten des Pulses, das auch als Palpation be- bei Neuaufnahmen),
zeichnet wird, kann überall da erfolgen, wo ober- Überwachung des Menschen bei Verabreichung
flächlich verlaufende Arterien an eine harte Unterla- bestimmter Medikamente (z. B. β-Blocker oder
ge, beispielsweise Knochen oder Muskulatur, ge- Digitalispräparate),
drückt werden können. Grundsätzlich können zen- Kontrolle der Kreislaufbelastbarkeit (z. B. bei
trale und periphere Palpationsstellen unterschieden postoperativer Mobilisation),
werden. Der zentrale Puls wird entweder an der A. Postoperative Überwachung (zum rechtzeitigen
carotis (Halsschlagader) oder an der A. femoralis Erkennen von Komplikationen, z. B. von Nachblu-
(Oberschenkelschlagader) palpiert oder über den tungen oder Narkosenebenwirkungen),
herznahen Blutgefäßen auskultiert, d. h. mit einem Diagnostik arterieller Durchblutungsstörungen,
Stethoskop abgehört. Der periphere, fern vom Her- Reanimation.
zen befindliche Puls kann an den übrigen Arterien
palpiert werden (Abb. 8.1). Messtechnik am Beispiel der A. radialis
Die häufigste Palpationsstelle des Pulses ist die A. ra-
dialis (Speichenschlagader) an der Innenseite des
Handgelenks. Nach dem Auffinden der A. radialis
wird der Puls mit den Fingerkuppen des Zeige-, Mit-
8 a b
tel- und Ringfingers getastet (Abb. 8.2).

A. temporalis

!
(Schläfenarterie) Merke: Der Daumen darf nicht benutzt wer-
den, da er einen eigenen intensiven Puls be-
A. carotis
(Halsschlagader) sitzt und die Gefahr zu groß ist, dass der Beob-
achtende seinen eigenen Puls bei der Messung erfasst.
A. subclavia
(Schlüssel-
beinarterie) Die Arterie wird leicht gedrückt, darf aber nicht ganz
A. brachialis zugedrückt werden, da sonst der Blutfluss unterbro-
(Oberarmarterie) chen wird. Der Puls muss eindeutig zu fühlen sein,
Aorta bevor mit dem Zählen begonnen wird. Zum Pulszäh-
(Haupt- len wird eine Uhr mit Sekundenzähler oder eine spe-
schlagader)
zielle Pulsuhr benötigt (Abb. 8.3). Die Messung be-
A. radialis
(Speichen-
A. femoralis arterie)
(Leisten-
arterie)
A. ulnaris
(Ellenarterie)

A. poplitea
(Kniearterie)

A. tibialis posterior
(hintere Schienbein-
arterie)
A. dorsalis pedis
(Fußrückenarterie)

Abb. 8.1 a u. b Pulspalpationsstellen a zentrale Palpationsstellen Abb. 8.2 Technik des Pulsfühlens
b periphere Palpationsstellen

130 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
8.1 Technik der Pulsmessung

wenn Auffälligkeiten bezüglich der Pulsfrequenz oder


des Pulsrhythmus erfasst werden, ist das Auszählen des
Pulses über eine Minute erforderlich.

Bei der routinemäßigen Pulskontrolle sollte der Pa-


tient vorher 15 – 30 Min. geruht haben. Erneute Mes-
sungen sollten unter gleichen Bedingungen stattfin-
den, da nur auf diese Weise valide, d. h. gültige und
vergleichbare Werte erhoben werden können.

Dokumentation der Messergebnisse


Die Ergebnisse der Pulsmessung werden sofort do-
Abb. 8.3 Puls messen
kumentiert. Dabei sollten dokumentenechte Stifte
benutzt werden, um eine dauerhafte Lesbarkeit zu
ginnt mit der Erfassung des ersten Pulsschlages in garantieren. Verschiedene Systeme können verwen-
der vorgesehenen Messzeit und dauert 15 Sek.; das det werden. In einigen Dokumentationssystemen
Ergebnis wird mit 4 multipliziert, da die Zahl der werden die Werte in Form von Kurven eingetragen,
Schläge/Min. gemessen werden soll. wobei zumeist die Farbe Rot gewählt wird. Hierdurch
ist eine deutliche Unterscheidung zur Temperatur-
8
!
Merke: Bei neu aufgenommenen Patienten kurve gegeben, die i.d.R. parallel in der Farbe Blau
muss der Puls bei der ersten Messung über ei- dokumentiert wird (Abb. 8.4). In anderen Dokumen-
ne Minute ausgezählt und an beiden Armen tationssystemen werden die ermittelten Werte in
kontrolliert werden, um mögliche Durchblutungsstö- Form von Zahlen in die hierfür vorgesehenen Spalten
rungen der Armarterien erkennen zu können. Auch eingetragen (Tab. 8.1). Dokumentiert wird:

Abb. 8.4 a – c Kurvendokumentation a Pulskurve b Temperaturkurve c Kennzeichnung von Besonderheiten

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 131


KaelDesu
8 Puls

Tab. 8.1 Spaltendokumentation

Datenaufkleber Krankenhaus Muster ICD:


– Musterstadt – ICPM:
Diagnosen:

Allergien:

Datum/Krankheitstag 28.9.17/1 29.9.17/2 30.9.17/3 1.10.17/4

Vitalzeichen Uhrzeit Wert Uhrzeit Wert Uhrzeit Wert Uhrzeit Wert

RR 8.00 125/80 8.00 130/80 8.00 125/75 8.00 135/85

16.00 145/90

Puls (arr. = arrythmisch) 8.00 84 8.00 84 8.00 88 8.00 88

16.00 88 16.00 84 16.00 arr. 92 16.00 50앗

Temperattur (axillar) 8.00 36,2 8.00 36,4 8.00 36,8 8.00 36,8
(rec. = rectal)
16.00 36,5 16.00 36,4 16.00 37,4 16.00 36,6

Atmung 8.00 12 8.00 14 8.00 20 8.00 16


8
16.00 15 16.00 14 16.00 24 16.00 18

Größe/Gewicht 176 cm/75 kg

Rot = abweichender Wert

Uhrzeit, Die Pulskontrolle sollte immer unter gleichen Be-


Messergebnisse, dingungen stattfinden, bei der Dokumentation der
Besonderheiten und Veränderungen. Kurve wird häufig die Farbe Rot verwendet.
Uhrzeit, Messergebnisse und Besonderheiten bzw.
In beiden Systemen werden Auffälligkeiten, wie bei- Veränderungen des Pulses werden dokumentiert.
spielsweise Arrhythmien, häufig durch Abkürzungen
(in diesem Fall durch das Kürzel „arr“) gekennzeich-
net, die neben die ermittelten Frequenzwerte ge-
8.2 Allgemeine
schrieben werden. Eine weitere Möglichkeit zur
Kennzeichnung von Veränderungen sind Pfeile, die
Beobachtungskriterien und
auf die Veränderung hinweisen. Sie kommen über- Beschreibung des
wiegend bei der Kennzeichnung von Frequenzab- Normalzustandes
weichungen zur Anwendung (s. Tab. 8.1). Eine ent-

!
sprechende Legende sollte im jeweiligen Dokumen- Merke:
tationssystem enthalten sein. Die allgemeinen Beobachtungskriterien des
Pulses sind:
Zusammenfassung: Pulsfrequenz,
Technik der Pulsmessung Pulsrhythmus,
Bei der Pulskontrolle sind Frequenz, Rhythmus und Pulsqualität.
Qualität ausschlaggebend.
Beim Tasten des Pulses werden zentrale und peri- 8.2.1 Pulsfrequenz
phere Palpationsstellen unterschieden. Definition: Die Pulsfrequenz wird definiert als
Indikationen zur Pulsmessung sind Neuaufnahme, die Zahl der Pulswellen/Min.
Überwachung, Kontrolle, Diagnostik und Reanima-
tion.

132 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
8.3 Abweichungen und Veränderungen und deren mögliche Ursachen

!
Tab. 8.2 Alters- und geschlechtsabhängige Anzahl der Merke: Frequenz und Rhythmus sind objek-
Pulsschläge bei Erwachsenen (aus Pschyrembel: Klinisches tiv messbare Kriterien und können sowohl
Wörterbuch. 263. Aufl. de Gruyter, Berlin 2011)
durch Palpation des Pulses als auch durch
Erwachsene Zahl der Pulsschläge technische Hilfsmittel ermittelt werden. Die Qualität
ist ein subjektives Beobachtungskriterium des Pulses,
Männer 62 – 70/min
dessen Beurteilung Erfahrung und Übung erfordert
Frauen 75/min und nur durch qualifiziertes Pflegepersonal erfolgen
kann.
Senium 80 – 85/min

Sie stimmt meist mit der Herzfrequenz überein und


ist abhängig von den mechanischen effektiven Kon-
8.3 Abweichungen und
traktionen des Herzmuskels sowie beispielsweise Veränderungen und deren
von Alter und Geschlecht eines Menschen. Tab. 8.2 mögliche Ursachen
gibt einen Überblick über die Normalwerte der Puls-
frequenz. 8.3.1 Veränderungen der Pulsfrequenz
Die Pulsfrequenz stimmt beim gesunden Menschen
8.2.2 Pulsrhythmus mit der Anzahl der mechanischen Kontraktionen des
Definition: Unter Pulsrhythmus wird die in re- Herzmuskels überein, da hier die Schlagkraft des
8
gelmäßigen Abständen erfolgende Schlagfolge Herzens groß genug ist, um die Pulswelle in die Peri-
des Herzens verstanden. pherie des Körpers zu treiben. Eine Reihe von physio-
logischen und pathologischen Veränderungen kön-
Die Pulswellen erfolgen normalerweise in regelmä- nen zur Erhöhung oder Verminderung der Pulsfre-
ßigen Zeitabständen und mit gleicher Stärke. quenz führen.

8.2.3 Pulsqualität Bradykardie


Definition: Als Pulsqualität werden die durch Definition: Als Bradykardie wird eine Form der
Palpation oberflächlicher Arterien feststellbaren Pulsfrequenzveränderung bezeichnet, die durch
Eigenschaften des Pulses bezeichnet, die Infor- einen Abfall der Herzfrequenz unter 60 Schläge/
mationen über den Zustand des Herz-Kreislauf-Sys- Min. gekennzeichnet ist (Abb. 8.5).
tems liefern können.
Die Bradykardie kann physiologische und pathologi-
Die feststellbaren Eigenschaften des Pulses sind ei- sche Ursachen haben. Zu den physiologischen Ursa-
nerseits die Füllung der Blutgefäße und andererseits chen gehört der reduzierte Stoffwechsel, wie er bei-
die Härte der Pulswelle. Beide sind insbesondere ab- spielsweise im Schlaf oder bei hungernden Men-
hängig von der Höhe des mittleren arteriellen Dru- schen auftritt. Auch sportlich trainierte Menschen
ckes. Bei der normalen Pulsqualität ist die Spannung, haben, bedingt durch das höhere Schlagvolumen des
d. h. der dem ausgeübten Palpationsdruck entgegen- Herzens, das eine gute Sauerstoffversorgung auch
gesetzte Widerstand der Pulswelle, gut spürbar und bei geringer Herzfrequenz gewährleistet, einen ver-
das Blutgefäß ist gut gefüllt. langsamten Puls.

Abb. 8.5 a – c Veränderungen der Pulsfre-


quenz a normale Pulsfrequenz b Bradykar-
a normale die c Tachykardie
Pulsfrequenz

b Bradykardie

c Tachykardie

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 133


KaelDesu
8 Puls

Die pathologisch bedingte Bradykardie steht häu- Tab. 8.3 Ursachen der Bradykardie
fig im Zusammenhang mit einer Reizung des N. Va- physiologische Ursachen pathologische Ursachen
gus, die als Folge eines erhöhten Hirndrucks z. B. bei
Hirntumoren, Hirnhautentzündung oder einem physiologisch reduzierter pathologisch reduzierter Stoff-
Stoffwechsel (z. B. im Schlaf, wechsel (z. B. bei Hypothyreose)
Hirnödem auftreten kann. Eine pathologische Brady-
bei Hunger)
kardie kann auch kardial bedingt sein, beispielswei-
se durch Störungen im Reizleitungssystem des Her- erhöhtes Schlagvolumen des Vagusreiz (z. B. bei erhöhtem
Herzens (z. B. bei Sportlern) Hirndruck)
zens oder einen Myokardinfarkt. Auch eine Schild-
drüsenunterfunktion, die sog. Hypothyreose, die ei- Störungen im Reizleitungssys-
ne Verlangsamung aller Körperfunktionen zur Folge tem des Herzens
hat, kann zur Verlangsamung der Pulsfrequenz füh-
Medikamenteneinnahme (z. B.
ren. Es gibt außerdem eine Reihe von Medikamen- Narkose-, Schlaf-, Beruhigungs-
ten, die eine Bradykardie verursachen können. Hier- mittel, Digitalis, β-Blocker, Nitro-
zu gehören vor allem: glyzerin, Opiate)

Narkose-, Schlaf- und Beruhigungsmittel,


Digitalis in hoher Dosis,
β-Blocker, Salmonellose,
Nitroglyzerin, Brucellose,
Opiate. Typhus abdominalis,
8
Hepatitis.
Tab. 8.3 zeigt physiologische und pathologische Ur-
sachen im Überblick. Pulsdefizit
Bei einem Pulsdefizit ist die an einer Körperarterie
Relative Bradykardie palpierte, periphere Pulsfrequenz niedriger als die
Bei einer Erhöhung der Körpertemperatur um 1 ⬚C zentrale, über dem Herzen auskultierte Herzfre-
kommt es durch den erhöhten Stoffwechsel zum An- quenz. Zur Ermittlung eines Pulsdefizits wird der
stieg der Pulsfrequenz um ca. 8 Schläge/min. Bei eini- Puls an einer peripheren Arterie palpiert, während
gen Infektionskrankheiten bleibt dieser Anstieg aus. gleichzeitig mit einem Stethoskop die Herzkontrak-
In diesem Fall wird von einer relativen Bradykardie tionen auskultiert werden (Abb. 8.6).
gesprochen, denn im Verhältnis zur erhöhten Kör- Ein Pulsdefizit besteht, wenn bei einer auskultier-
pertemperatur ist der Puls zu langsam. Die relative ten Herzfrequenz von beispielsweise 80 Schlägen/
Bradykardie kann bei folgenden Infektionskrankhei- min eine periphere Pulsfrequenz von beispielsweise
ten auftreten: 60 Schlägen/min getastet wird. Ursache hierfür ist in

Abb. 8.6 Ermittlung eines Pulsdefizits.


Gleichzeitige Auskultation der Herzfre-
quenz und Palpation der Pulsfrequenz an
einer peripheren Arterie durch zwei Perso-
nen

134 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
8.3 Abweichungen und Veränderungen und deren mögliche Ursachen

den meisten Fällen eine unzureichende Pumpleis- Tab. 8.4 Ursachen der Tachykardie
tung des Herzens. Sie reicht nicht aus, um die Puls- physiologische Ursachen pathologische Ursachen
welle bis in die Peripherie des Körpers zu treiben. Zu
beobachten ist dies z. B. bei einer Linksherzinsuffi- körperliche Anstrengung pathologisch erhöhter Stoff-
wechsel (z. B. bei Fieber, Hyper-
zienz oder bei Vorhofflimmern.
thyreose
Andere, nicht mit der Pumpleistung des Herzens
in Zusammenhang stehende Ursachen für ein Puls- seelische Erregung (z. B. Angst, Störungen im Reizleitungssys-
Stress) tem des Herzens
defizit können auftretende Verschlüsse arterieller
Blutgefäße, beispielsweise bei der Arteriellen Ver- Konsum von Genussgiften Medikamenteneinnahme (z. B.
schlusskrankheit (AVK), sein. Hierbei ist der Puls in (z. B. Kaffee, Nikotin) wehenhemmende Mittel)
den betroffenen Arterien jeweils hinter der Ver-
Aufenthalt in großen Höhen vermindertes Sauerstoffange-
schlussstelle nicht mehr zu tasten. (geringere Sauerstoffkonzent- bot (z. B. bei Herzinsuffizienz,
Bei dem angeborenen oder durch Arteriosklerose ration in der Atemluft) hohen Blutverlusten, Störungen
bedingten sog. Aortenbogensyndrom kommt es zu der Lungenbelüftung)

einem Verschluss oder Teilverschluss eines oder


mehrerer, vom Aortenbogen abgehender Kopf- oder
Armgefäße. In der Konsequenz entsteht hierdurch ei- Die Tachykardie kann physiologische und patholo-
ne Differenz zwischen der Pulsfrequenz in den Arte- gische Ursachen haben. Zu den physiologischen Ur-
rien der oberen Körperhälfte und denen der unteren sachen gehören körperliche Anstrengung, seelische
8
Körperhälfte bzw. eine Pulslosigkeit der Armarterien Erregung oder der Konsum von Genussgiften, wie
bei gleichzeitig gut tastbaren Fußpulsen. beispielsweise Nikotin oder Kaffee. Auch bei einem
Bei einer vorliegenden Aortenklappeninsuffi- Aufenthalt in größeren Höhen steigt die Pulsfre-
zienz, die zu einer eingeschränkten Windkesselfunk- quenz, da die Sauerstoffkonzentration der Luft ab-
tion und damit zum ungenügenden Weitertransport nimmt und das Herz schneller schlagen muss, um die
des sauerstoffreichen Blutes in die Peripherie des gleiche Menge an Sauerstoff in den Körper zu trans-
Körpers führt, ist häufig die mit der Herzaktion zeit- portieren.
gleiche Pulsation der Hautkapillaren (Kapillarpuls) Die pathologische Tachykardie hängt häufig mit
am Nagelbett der Finger zu beobachten. einem krankhaft erhöhten Stoffwechsel zusammen,
z. B. bei Fieber oder einer Schilddrüsenüberfunktion.
Zusammenfassung: Hohe Blutverluste, Herzinsuffizienz und Störungen
Bradykardie der Lungenbelüftung, wie sie z. B. bei Asthma bron-
Bradykardie ist eine Veränderung der Pulsfrequenz, chiale auftreten, führen zu einem verminderten Sau-
bei der der Herzrhythmus unter 60 Schläge/min ab- erstoffangebot und können ebenso einen Anstieg der
fällt. Pulsfrequenz verursachen wie Störungen im Reizlei-
Eine pathologische Bradykardie kann bei Hirn-, tungssystem des Herzens. Auch die Einnahme ver-
Schilddrüsen- oder Herzerkrankungen auftreten schiedener Medikamente, wie beispielsweise we-
sowie als Folge einer Medikamenteneinnahme. henhemmender Mittel, können zum Anstieg der
Bei einer relativen Bradykardie infolge von Infekti- Pulsfrequenz führen. Tab. 8.4 zeigt die Ursachen der
onskrankheiten bleibt der Anstieg der Pulsfrequenz Tachykardie im Überblick.
bei erhöhter Körpertemperatur aus.
Ein Pulsdefizit kann bei ungenügender Pumpleis- Paroxysmale Tachykardie
tung des Herzens auftreten, aber auch bei arteriel- Als paroxysmale Tachykardie wird das anfallsweise
len Verschlusskrankheiten. Ansteigen der Pulsfrequenz auf 130 – 220 Schläge/
Min. bezeichnet. Sie kann Minuten bis Stunden an-
Tachykardie dauern. Als Ursachen hierfür kommen sowohl Ent-
Definition: Die Tachykardie ist eine Pulsfre- zündungen des Herzmuskels, Vorhofflimmern und
quenzveränderung mit einem Anstieg der Herz- Vorhofflattern sowie eine Schilddrüsenüberfunktion
frequenz auf über 100 Schläge pro Minute (vgl. oder eine Reizung des Sympathikus in Betracht.
Abb. 8.5).

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 135


KaelDesu
8 Puls

Relative Tachykardie oder Herztumoren, können eine Arrhythmie verursa-


Bei einer Erhöhung der Körpertemperatur um 1 ⬚C chen. Auch die Hypokaliämie, eine häufige Form der
kommt es durch den erhöhten Stoffwechsel zum An- Elektrolytstörung mit Erniedrigung des Kaliums un-
stieg der Pulsfrequenz um ca. 8 Schläge/Min. Liegt ter 3,5 mval/l, die meistens in Kombination mit einer
die tatsächlich gemessene Pulsfrequenz höher als Alkalose auftritt, kann als Ursache für eine Arrhyth-
nach der Temperaturerhöhung zu erwarten, wird mie in Betracht kommen. Des Weiteren kann eine Hy-
dies als relative Tachykardie bezeichnet. poxie, die Verminderung des Sauerstoffpartialdrucks
im arteriellen Blut, die zumeist mit einer verminder-
8.3.2 Veränderungen des Pulsrhythmus ten Sauerstoffversorgung im Gesamtorganismus ein-
Bei einem gesunden Menschen erfolgen die Herz- hergeht, eine Arrhythmie bedingen. Hinzu kommen
schläge in regelmäßigen Abständen. Eine Reihe von eine Reihe von Medikamenten, die zu einer Arrhyth-
Erkrankungen, die sich vor allem auf das Reizlei- mie führen können. Hierzu gehören vor allem:
tungssystem des Herzens auswirken, können zu ei- Chinidin,
ner Störung der Herzschlagfolge führen. Digitalis,
Dopamin.
Arrhythmie
Definition: Unter Arrhythmie wird ein unre- Absolute Arrhythmie
gelmäßiger oder fehlender Rhythmus, i. e. S. eine Die absolute Arrhythmie kann als Sonderform der Ar-
zeitliche Unregelmäßigkeit der elektrischen rhythmie bezeichnet werden, da hier die Schlagfolge
8
Herztätigkeit verstanden (Abb. 8.7). des Herzens zumeist beschleunigt und vollständig
unregelmäßig ist. Myokardinfarkte, die den Unter-
Bei Jugendlichen und Rekonvaleszenten, d. h. bei in gang von Herzmuskelgewebe nach sich ziehen, sind
der Genesungsphase nach einer Krankheit befindli- oft verantwortlich für das Auftreten einer absoluten
chen Menschen, kommt es häufig zu einer atemab- Arrhythmie. Daneben werden als häufige Ursachen
hängigen Veränderung des Pulsrhythmus, der sog. die Schilddrüsenüberfunktion, die sog. Hyperthyreo-
respiratorischen Arrhythmie. Bei dieser physiologi- se, und die Verabreichung zu kalter Bluttransfusio-
schen Veränderung des Pulsrhythmus ist die Pulsfre- nen angesehen. Häufig steht das Auftreten einer ab-
quenz bei der Einatmung, die auch als Inspiration be- soluten Arrhythmie auch im Zusammenhang mit der
zeichnet wird, höher als bei der Ausatmung, dem als als Synkope bezeichneten Bewusstseinsstörung, die
Exspiration bezeichneten Vorgang. Eine Arrhythmie einige Sekunden bis mehrere Minuten andauern
ist in der überwiegenden Zahl der Fälle jedoch auf kann. Diese absolute Unregelmäßigkeit der Schlag-
pathologische Ursachen zurückzuführen, die i.d.R. folge des Herzens kann sich als Tachyarrhythmie so-
mit Störungen der Herztätigkeit, sog. Herzrhythmus- wie als Bradyarrhythmie darstellen.
störungen, in Zusammenhang stehen. Dieser unre-
gelmäßige Herzrhythmus ist als arrhythmische Puls- Extrasystolie
welle zu tasten. Definition: Als Extrasystolie wird das gehäufte
Verschiedene Herzerkrankungen, wie z. B. eine Auftreten von Herzschlägen außerhalb des regu-
Entzündung des Herzmuskels, die sog. Myokarditis, lären Grundrhythmus bezeichnet.

Abb. 8.7 a – d Veränderungen des Puls-


rhythmus a normaler Pulsrhythmus b Ar-
a normaler rhythmie c Extrasystolie d Bigeminie
Pulsrhythmus

b Arrthythmie

c Extrasystolie

d Bigeminie

normale PulsqualitŠt verminderte PulsqualitŠt

136 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
8.3 Abweichungen und Veränderungen und deren mögliche Ursachen

!
Diese sog. Extrasystolen können verspätet und ein- Merke: Bei einem Herzstillstand muss sofort
zeln, vorzeitig oder als Salven vorkommen (Abb. 8.7). die Reanimation mit Herzmassage und Beat-
Unterschieden werden je nach Ursprung der Erre- mung eingeleitet werden.
gungsreize supraventrikuläre Extrasystolen, bei de-
nen die Erregung von den Vorhöfen des Herzens aus- 8.3.3 Veränderungen der Pulsqualität
geht, und ventrikuläre Extasystolen, deren Aus- Die Spannung oder Härte des Pulses ist abhängig von
gangspunkt die Herzkammer darstellt. Extrasystolen dem Druck bzw. von der Intensität der Kontraktio-
können physiologisch bei Nikotinabusus oder starker nen der Herzkammern. Das Schlagvolumen sowie
psychischer Erregung auftreten; pathologisch stehen die zirkulierende Blutmenge beeinflussen das Volu-
sie häufig im Zusammenhang mit einer Schädigung men bzw. den Füllungszustand der Arterien und so-
des Herzmuskels oder Verengung der Herzkranzge- mit auch die palpierbare Pulswelle.
fäße.
Harter Puls
Bigeminie Beim harten Puls ist die Gefäßspannung hart und das
Definition: Als Bigeminie wird eine Herzrhyth- Blutgefäß ist normal gefüllt. Der Puls lässt sich nur
musstörung bezeichnet, bei der jeder Systole schwer unterdrücken. Der harte Puls tritt häufig im
über längere Zeit regelmäßig eine Extrasystole Zusammenhang mit einem Bluthochdruck, der sog.
folgt. Hypertonie, auf.

8
Diese liegt zeitlich vor der zu erwartenden nächsten Druckpuls
regulären Systole, sodass auf je 2 dicht aufeinander Beim Druckpuls ist die Gefäßspannung hart, das Ge-
folgende Herzaktionen eine Pause folgt. Weil bei der fäß ist stark gefüllt und es kommt zur Verlangsa-
Pulsmessung regelmäßige Doppelschläge palpiert mung der Pulsfrequenz auf bis zu 20 Schläge/Min.
werden können, wird diese Veränderung des Puls- Der Druckpuls tritt meist im Zusammenhang mit ei-
rhythmus auch als Zwillingspuls bzw. Bigeminuspuls nem erhöhten Hirndruck, z. B. durch einen Tumor
bezeichnet (Abb. 8.7). Er tritt vor allem bei einer oder ein Trauma, auf.
Überdosierung von Digitalis auf.
Weicher Puls
Tachyarrhythmie Beim weichen Puls ist die Gefäßspannung weich und
Definition: Als Tachyarrhythmie wird eine ab- das Gefäß ist normal gefüllt. Der Puls ist leicht zu un-
solute Arrhythmie mit hoher Frequenz von terdrücken. Ein weicher Puls kann z. B. während ei-
100 – 150 Schlägen/Min. bezeichnet. nes Fieberschubes auftreten. Andere Ursachen kön-
nen ein niedriger Blutdruck, die sog. Hypotonie, oder
Zurückzuführen ist sie häufig auf Störungen der Erre- eine Herzmuskelschwäche, die sog. Herzinsuffi-
gungsbildung im Reizleitungssystem des Herzens, zienz, sein.
die in den meisten Fällen durch schwere organische
Herzerkrankungen, wie z. B. Herzinfarkte oder Herz- Fadenförmiger Puls
kranzgefäßverengungen, entstehen. Der fadenförmige Puls, der auch als Pulsus filiformis
bezeichnet wird, ist ein kaum tastbarer Puls mit klei-
Asystolie ner Pulsamplitude und meist hoher Pulsfrequenz. Er
Definition: Als Asystolie wird die fehlende ist typisch für Kollaps- oder Schockzustände, wie sie
Kontraktion des Herzens, d. h. der Herzstillstand, z. B. bei hohen Blutverlusten auftreten können.
bezeichnet.
Drahtpuls
In diesem Fall kann der Puls weder an einer periphe- Der Drahtpuls ist ein sehr harter Puls, der gekenn-
ren noch an einer zentralen Arterie palpiert werden, zeichnet ist durch gleichzeitigen Anstieg des systoli-
der betroffene Mensch ist bewusstlos, die Atmung schen und diastolischen Blutdrucks. Der Drahtpuls
setzt aus und es können weite, lichtstarre Pupillen kann z. B. bei einer Eklampsie auftreten. Hierbei han-
beobachtet werden. delt es sich um eine in der Schwangerschaft auftre-
tende Erkrankung, die gekennzeichnet ist durch ei-

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 137


KaelDesu
8 Puls

!
nen raschen Anstieg des Blutdrucks und tonisch-klo- Merke: Grundsätzlich gilt: Jede empfundene
nischen Krämpfen mit oder ohne Bewusstlosigkeit. Veränderung des Pulses bezüglich Frequenz,
Rhythmus und Qualität kann bei dem be-

!
Merke: Grundsätzlich gilt: Jede auffällige troffenen Menschen Angst auslösen.
Veränderung des Pulses bezüglich Frequenz,
Rhythmus und Qualität ist sofort dem Arzt Zusammenfassung:
mitzuteilen. Abweichungen und Veränderungen
Bei der Tachykardie steigt die Herzfrequenz auf über
100 Schläge/Min. an. Bei der Bradykardie sinkt sie
8.4 Ergänzende auf unter 60 Schläge/Min.
Beobachtungskriterien Tachykardie und Bradykardie können sowohl phy-
siologisch als auch pathologisch bedingt sein.
Wie in 8.2 beschrieben, sind Veränderungen und Ab- Bei der paroxysmalen Tachykardie steigt die Puls-
weichungen vom Normalzustand des Pulses häufig frequenz anfallsweise auf 130 – 200 Schläge/Min.
ein Zeichen für vorliegende Erkrankungen. Diese Er- an.
krankungen können neben dem Puls auch andere Be- Zu den wichtigsten Veränderungen des Pulsrhyth-
obachtungskriterien beeinflussen. Weil sich aus der mus gehören respiratorische und absolute Arrhyth-
Kombination der verschiedenen Beobachtungen mie, Extrasystolie, Bigeminie, Tachyarrhythmie und
Rückschlüsse auf zugrunde liegende Erkrankungen Asystolie.
8
ergeben, können die einzelnen Beobachtungskrite- Bei den Veränderungen der Pulsqualität unterschei-
rien nicht isoliert voneinander betrachtet werden, det man harten Puls, Druckpuls, weichen Puls, fa-
wenn sich ein vollständiges Bild der Situation eines denförmigen Puls und Drahtpuls.
Menschen ergeben soll. Bei der Beobachtung des Pulses sind weitere Beob-
Bei festgestellten Pulsveränderungen sind des- achtungskriterien wie z. B. Blutdruck, Atmung und
halb auch besonders die anderen Vitalzeichen Blut- Körpertemperatur miteinzubeziehen.
druck, Atmung und Körpertemperatur zu beachten.
Der Zusammenhang zwischen Pulsveränderungen
und Veränderungen anderer Beobachtungskriterien 8.5 Besonderheiten bei Kindern
ergibt sich prinzipiell aus den der jeweiligen Pulsver- Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm
änderung zugrunde liegenden Ursachen. Im Folgen-
den soll anhand einiger Beispiele für Pulsverände- Technik der Pulsmessung
rungen der Zusammenhang mit anderen Beobach- Die Technik der Pulsmessung bei Kindern entspricht
tungskriterien verdeutlicht werden. der bei Erwachsenen. Grundsätzlich ist bei Kindern
wie auch bei Erwachsenen die Pulswelle überall dort
Beispiel: Wird bei der Pulsmessung eine Ta- zu tasten, wo die Arterien oberflächlich verlaufen
chykardie festgestellt, sollte gleichzeitig eine und gegen einen Widerstand, wie beispielsweise
Kontrolle der Körpertemperatur erfolgen, da Knochen oder Muskulatur, gedrückt werden können.
die Tachykardie häufig durch den Anstieg der Körper- Um valide Werte zu ermitteln, muss sich das Kind
temperatur bedingt ist. Als weitere ergänzende Beob- während der Pulskontrolle ganz ruhig verhalten, ins-
achtungskriterien kommen hier beispielsweise besondere bei Früh- und Neugeborenen sollte eine
Schmerzen oder Nachblutungen aus Wunddrainagen Messung im Schlaf bevorzugt werden.
vor allem in den ersten Tagen nach einer Operation in In der Regel wird der Puls an der Speichenschlag-
Betracht. Auch die Beobachtung der Haut bezüglich ver- ader gefühlt. Je nach Alter und Erkrankung des Kin-
mehrter Schweißsekretion oder Zyanose muss im Zu- des bietet sich die Messung des Pulses an bestimm-
sammenhang mit einer Tachykardie erfolgen. ten Palpationsstellen an. Bei Säuglingen ist beispiels-
Die Bradykardie steht häufig im Zusammenhang mit weise der Radialispuls aufgrund eines Fettpolsters
Störungen des Bewusstseins. Deshalb ist bei dieser Art (Speckfalte) schlecht tastbar. Deshalb empfiehlt sich
der Pulsfrequenzveränderung immer auch die Be- hier eine Pulskontrolle an der Fontanelle, der A. bra-
wusstseinslage des betroffenen Menschens und seine chialis oder A. femoralis. Bei Klein- und Schulkindern
Fähigkeit zur Kommunikation zu beachten. kommen besonders die A. carotis, die A. femoralis
oder die A. radialis in Betracht.

138 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
8.5 Besonderheiten bei Kindern

Wie beim Erwachsenen muss auch bei Kindern Tab. 8.5 Pulsfrequenz pro Minute in Abhängigkeit vom
bei jeglicher Verschlechterung des Allgemeinzustan- Lebensalter (aus: Hoehl, M., P. Kullick. Gesundheits- und Kin-
derkrankenpflege. 4 Aufl. Thieme, Stuttgart 2012)
des der Puls an einer zentralen Palpationsstelle kon-
trolliert werden, da bei einer Kreislaufzentralisation Alter Schwankungsbreite je nach Aktivität
mit Engstellung der Gefäße in der Peripherie die kor- (Schlaf – Unruhe)

rekte Pulskontrolle dort unmöglich ist. Frühgeborenes 90 – 190


Bei schwerkranken Kindern werden Herzfre-
quenz und Herzrhythmus mittels EKG-Monitor Neugeborenes 80 – 180

überwacht. Säugling bis 1 Jahr 70 – 170


In der Früh- und Neugeborenenpflege ist die Er-
Kleinkind 70 – 130
mittlung der Herzfrequenz durch Ertasten des Pulses
häufig schwierig. Früh- und Neugeborene werden Schulkind 70 – 110
zudem meist mittels EKG-Monitoring und Pulsox-
Jugendlicher 60 – 90
ymetrie überwacht (Abb. 8.8). Eine gute Alternative
stellt die Erfassung des Pulses mittels Stethoskop dar. Erwachsene 70 – 80
Der Sensor des Pulsoxymeters wird z. B. am Finger
Senioren 70 – 90
oder am Fuß des Frühgeborenen angebracht und
mittels eines Klettverschlusses fixiert. Die Messstelle
sollte, um Drucknekrosen zu vermeiden, 4-stündlich
8
gewechselt werden. Das Pulsoxymeter misst konti- riosus Botalli apertus (Abb. 8.9), tritt eine Verände-
nuierlich die Sauerstoffsättigung des Hämoglobins, rung der Pulsqualität auf, die als springender Puls be-
indem ein Lichtsignal das Gewebe durchdringt. Die zeichnet wird. Das Offenbleiben der fetalen Verbin-
Messung erfolgt immer dann, wenn eine periphere dung zwischen Aorta und Pulmonalarterie von un-
Pulswelle registriert wird. So überwacht das Puls- terschiedlicher Weite macht 10% aller angeborenen
oxymeter die Pulsfrequenz und gleichzeitig die Sau- Herzfehler aus und kommt im Verhältnis 3 : 1 vor al-
erstoffsättigung. lem beim Mädchen vor.

Normalwerte
Die Normalwerte der Pulsfrequenz bei Kindern, die
auch als klinische Referenzwerte bezeichnet werden,
sind altersabhängig und in Tab. 8.5 dargestellt. PDA
Grundsätzlich können alle unter 8.3 beschriebe-
nen Veränderungen der Beobachtungskriterien des
Pulses auch bei Kindern auftreten. Bei Kindern mit
einem offenen Ductus Botalli, dem sog. Ductus arte- Ao

PA As

Ad
Vs

Vd

Abb. 8.9 Ductus arteriosus Botalli apertus. Persistierender


Ductus arteriosus (PDA) Ao ⫽ Aorta, PA ⫽ Pulmonalarterie, Ad ⫽
Atrium dexter, As ⫽ Atrium sinister, Vs ⫽ Ventriculus sinister, Vd ⫽
Ventriculus dexter
Abb. 8.8 Pulsoxymeter

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 139


KaelDesu
8 Puls

Der Rückfluss des Blutes aus der Aorta über die Einschätzung der Leistungsfähigkeit älterer Men-
Pulmonalarterie in den Lungenkreislauf, der sog. schen kommt deshalb der Pulskontrolle vor, wäh-
Links-Rechts-Shunt, lässt wegen des plötzlichen Ab- rend und nach körperlichen Anstrengungen eine
strömens des aus der linken Herzkammer ausgewor- große Bedeutung zu.
fenen Blutes durch den Ductus arteriosus Botalli aus-
kultatorisch ein lautes, kontinuierliches Maschinen- Zusammenfassung:
geräusch hören und erzeugt eine große Blutdruck- Besonderheiten bei Kindern und älteren
amplitude. Diese große Blutdruckamplitude ist bei Menschen
der Pulspalpation als schnelles Ansteigen der Puls- Bei Frühgeborenen wird der Puls mithilfe eines EKG-
welle zu fühlen und wird als springender Puls be- Monitors oder eines Pulsoxymeters überwacht.
zeichnet. Alle Veränderungen der Beobachtungskriterien des
Pulses bei Erwachsenen können auch bei Kindern
Ergänzende Beobachtungskriterien auftreten, jedoch muss bei der Beurteilung der Wer-
Um ein vollständiges Bild der Situation eines Kindes te die emotionale Befindlichkeit stärker berücksich-
zu erhalten, sind wie auch beim Erwachsenen ergän- tigt werden.
zende Beobachtungskriterien zu beachten. Hierzu Bei älteren Menschen ist aufgrund der häufig auf-
gehören vor allem die anderen Vitalzeichen Blut- tretenden Herzmuskelschwäche die Pulsfrequenz
druck, Atmung und Körpertemperatur. Da kleine leicht beschleunigt.
Kinder im Allgemeinen sensibler als Erwachsene auf Die Pulskontrolle vor und nach körperlichen An-
8
Veränderungen der Umgebung, insbesondere auf ei- strengungen ist bei älteren Menschen wichtig.
nen Wechsel von Bezugspersonen, reagieren, muss
bei der Beurteilung der ermittelten Werte besonders
die emotionale Befindlichkeit berücksichtigt wer- 8.7 Fallstudien und mögliche
den. Pflegediagnosen
Beispiel: Herr Paulus, 68 Jahre, wurde nach
8.6 Besonderheiten bei älteren einem Sturz ins Krankenhaus eingeliefert.
Menschen Dort wurde eine Oberschenkelfraktur diag-
nostiziert und anschließend operativ versorgt.
Panajotis Apostolidis*, Petra Schmalstieg
Bei der postoperativen Mobilisation sank der Blut-
Wie aus Tab. 8.2 zu ersehen, ist die Pulsfrequenz bei druck von Herrn Paulus auf 100/70 mmHg ab (norma-
älteren Menschen im Vergleich zu Erwachsenen lerweise ca. 150/80 mmHg), sein Puls erreichte eine
leicht beschleunigt. Dies hängt vor allem mit der im Frequenz von 148 Schlägen/Min. und war stark ar-
Alter häufig autretenden Herzmuskelschwäche zu- rhythmisch mit vermindertem Füllungszustand. Die
sammen, die zur Einschränkung des Herzschlagvolu- Mobilisation musste daraufhin sofort abgebrochen
mens führt. Bei jedem Herzschlag kann nur eine klei- werden.
nere Menge an Blut und Sauerstoff in den Kreislauf Nach dieser Erfahrung sieht Herr Paulus der nächsten
ausgeworfen werden. Um trotzdem eine ausreichen- Mobilisation angstvoll entgegen; gleichzeitig ist er aber
de Sauerstoffversorgung des Organismus zu gewähr- an allen Pflegemaßnahmen sehr interressiert.
leisten, wird die Anzahl der Herzschläge erhöht, was Ein Auszug aus dem Pflegeplan von Herrn Paulus fasst
zum Anstieg der Pulsfrequenz führt. seinen Fall zusammen (Tab. 8.6).
Unter Belastung ist der Anstieg der Herzfrequenz
bei älteren Menschen deutlich geringer als bei jünge- Für Herrn Paulus könnte die Pflegediagnose „Aktivi-
ren, was auf die „Abnutzung“, die sog. Involution des tätsintoleranz Grad III b/d (beeinflusst durch) Bettru-
Reizbildungs- und Leitungssystems des Herzens, zu- he und Ruhigstellung nach OP a/d (angezeigt durch)
rückgeführt werden kann. Für ältere Menschen be- abnorme Herzfrequenz und Blutdruckveränderung
deutet dies, dass ihnen die Anpassung an körperliche als Reaktion auf Aktivität/Belastung“ gestellt wer-
und seelische Belastungen schwerer fällt. Bei der den, wie sie aus der Übersicht auf S. 142 resultiert:

140 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
Fazit

Tab. 8.6 Auszug aus dem Pflegeplan von Herrn Paulus

Pflegeprobleme Ressourcen Pflegeziele Pflegemaßnahmen

Angst vor der Mobilisation – ist interessiert an allen – hat physiologische Kreis- – Information über Sicherheitsmaßnahmen
aufgrund orthostatischer Pflegemaßnahmen laufverhältnisse während im Rahmen der Mobilisation (2 Personen,
Dysregulation der Mobilisation vorher und nachher Kreislaufkontrolle,
– sieht der Mobilisation Beobachtung während der Maßnahme,
angstfrei entgegen Stufenplan)
– kennt den Mobilisations- – Stufenplan gemeinsam mit Herrn P. auf-
plan stellen, z. B.:
1. Tag: Sitzen am Bettrand
2. Tag: Stehen vor dem Bett mit Unter-
stützung
3. Tag: Gehen zum Tisch mit Unterstüt-
zung von 2 Pflegepersonen
4. Tag: Gehen mit Unterarmgehstützen
und Unterstützung durch 1 Pflegeper-
son
5. Tag: Gehen mit Unterarmgehstützen
allein, unter Aufsicht
– kann seine Belastbarkeit – vor und nach jeder Mobilisationsmaß-
einschätzen nahme RR- und Pulskontrolle durchfüh-
ren, während der Mobilisationsmaßnah-
me Pulskontrolle und Beobachtung hin- 8
sichtlich Veränderungen (z. B. Schweiß,
Blässe)
– äußert Veränderungen im – Herrn P. darauf hinweisen, Befindlich-
Befinden (z. B. Schwindel) keitsstörungen sofort zu äußern

– kennt Übungen zur Kreis- – Anleitung zu Bewegungsübungen und


laufaktivierung und führt Übungen zur Aktivierung der Muskel-
diese selbstständig pumpe (Füße kreisen, strecken und
5 ⫻ tgl. durch beugen lassen, Muskeln an- und ent-
spannen). Übungen vor jeder Mobilisa-
tion und mind. 5 ⫻ tgl. durchführen
lassen

Beispiel: Nora wurde vor 2 Tagen als Kind Fazit: Der Puls ist ein Beobachtungskriteri-
einer drogenabhängigen Mutter in der um mit hoher Aussagekraft über die Herz-
38. Schwangerschaftswoche mit einem Ge- Kreislauf-Situation eines Menschen. Nahezu
burtsgewicht von 2700 g geboren. Durch den plötzli- jede psychische und physische Veränderung wirkt sich
chen neonatalen Heroinentzug ist das kleine Mädchen auf den Puls aus. Bei der Messung wird der Puls hin-
extrem unruhig und reizbar und weist eine Tachykar- sichtlich Frequenz, Rhythmus und Qualität beobachtet.
die von 176 Schlägen/min auf. Der Vater kümmert sich Zahlreiche Erkrankungen verursachen eine Verände-
sehr um seine Tochter und verbringt fast den ganzen rung des Pulses, die bei den betroffenen Menschen Un-
Tag bei ihr. sicherheit und Angst auslösen kann.
Ein Auszug aus dem Pflegeplan von Nora ist in Tab. 8.7
dargestellt.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 141


KaelDesu
8 Puls

Aktivitätstoleranz (P)* EKG-Veränderungen auf Grund einer Ischämie


(Gordon 2013, S. 237 – 239, NANDA-I 2016) (spezifiziere Aktivitätsgrad)
Aktivity Intolerance (00092) (1982) (kein Blutdruckanstieg unter Belastung)
Taxonomie II: Domäne 4: Aktivität/Ruhe, (Ruhedyspnö [sofern diese nicht den Ausgangswert
Klasse 4: Kardiovaskuläre/Pulmonale Reaktionen darstellt])
abnorme Herzfrequenz als Reaktion auf Aktivität/
Diagnosetyp (Dokumentationsform): aktuelle Pflege-
Belastung
diagnose (PES)
abnorme Blutdruckveränderung als Reaktion auf
Funktionelles Gesundheitsverhaltensmuster:
Aktivität/Belastung
Aktivität und Bewegung
EKG-Veränderungen auf Grund von Arrhythmien
Definition Äußerungen über Schwäche
Ungenügende physiologische oder psychische Energie, Dyspnö bei körperlicher Anstrengung/Belastung
um erforderliche oder erwünschte alltägliche Aktivitä-
Klassifikation der Funktionsstufen (Gordon,
ten durchzuhalten oder abzuschließen
1987):
Einflussfaktoren (E) Stufe I: Geht normales Schritttempo auf einer
Bettruhe, Bettlägrigkeit ebenen, unbegrenzten Strecke, steigt Treppen über
allgemeine Schwäche eine oder mehrere Etagen, ist aber kurzatmiger als
Missverhältnis zwischen Sauerstoffangebot und gewöhnlich
8 -bedarf Stufe II: Geht normales Schritttempo auf einer
Immobilität ebenen, etwa 150 m langen Strecke oder steigt eine
bewegungsarme bzw. sitzende Lebensweise Etagentreppe langsam, ohne anzuhalten
Stufe III: Geht nicht mehr als 15 m, ohne anzuhalten;
Kennzeichen oder Symptome (S)
kann keine Etagentreppen steigen, ohne anzuhalten
Hauptkennzeichen*
Stufe IV: Dyspnö (Atemnot, Kurzatmigkeit) und
(Angaben über Dyspnoe oder Kurzatmigkeit)
Erschöpfung auch im Ruhezustand
(Beobachtung von Atembeschwerden unter einer
Aktivität) Pflegeergebnis (Outcome)
Äußerungen über Müdigkeit (evaluieren im Kontext Aktivitätstoleranz (Activity Tolerance)
anderer Hinweise) Physiologische Reaktion auf Energie verbrauchende
(Veränderung der Herzfrequenz [vor allem bei Bewegungen bei den täglichen Aktivitäten. Spezifi-
Herz-Kreislauf-Störungen]) ziere zu erreichenden Grad
(Muskelschwäche, Bescherden, Schmerzen [vor allem
Risikogruppen
bei neuromuskuloskelletalen Störungen und/oder
Personen . . .
nach einer energiezehrenden Aktivität])
mit einem Missverhältnis zwischen Sauerstoffver-
(die Herzfrequenz kehrt nach einer energiezehrenden
brauch und -bedarf (z. B. Herz-Kreislauf-, Lungen-
Aktivität nicht innerhalb von 3 min. auf den
erkrankungen; altersbedingte Veränderungen)
Ausgangswert zurück.)
unter zunehmender Aktivität (z. B. Rehabilitation nach
Erfordert sofortige Beachtung und Evaluation einer Herz- oder sonstigen Krankheit)
Unbehagen (oder Thoraxschmerz) bei körperlicher nach langer Bettruhe oder Immobilität, bei
Anstrengung/Belastung schwacher Kondition
(Arrhythmien bei Aktivität [spezifiziere Aktivitätsgrad])
(diastolischer Druckanstieg um 15 mmHg oder mehr
unter Belastung)

* Zwar gibt es eine Reihe von Pflegestudien, jedoch sind


deren Ergebnisse hinsichtlich einiger Indikatoren nicht
stimmig. Man sollte vorsichtig sein und die Aktivität
bei Verdacht auf eine Unverträglichkeit einstellten.

142 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
Literatur

Tab 8.7 Auszug aus dem Pflegeplan von Nora

Pflegeprobleme Ressourcen Pflegeziele Pflegemaßnahmen

Tachykardie bei Unruhe und Vater kümmert sich sehr, Fernziel: – permanente Kontrolle der Pulsfrequenz
Reizbarkeit aufgrund des verbringt viel Zeit bei Nora – Nora hat eine physiologi- mittels Monitor
Drogenentzuges sche Herzfrequenz und – Vater anbieten, bei seiner Tochter zu
einen angemessenen bleiben (gemeinsames Zimmer)
Aktivitätsgrad – für eine ruhige Umgebung/Atmosphäre
(in 4 Wo.) sorgen (z. B. Tür geschlossen halten, lau-
Nahziel: te Geräusche vermeiden, schnelle, ruck-
– fühlt sich sicher und artige Bewegungen vermeiden, feste Be-
geborgen zugsperson)
– Körperkontakt 씮 Vater zum Känguruh
anleiten, hinweisen, Nora bei Unruhe/
Schreien auf den Arm zu nehmen, zu tra-
gen und/oder zu schaukeln

Hoehl, M., P. Kullick (Hrsg.): Gesundheits- und Kinderkranken-


Literatur: pflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012 8
Illing, S., M. Claßen (Hrsg.): Klinikleitfaden Pädiatrie. 9. Aufla-
Fischer, K., H. Sobottka, D. Faas (Hrsg.): Klinikleitfaden Kinder- ge Urban & Schwarzenberg, München 2014
krankenpflege. 4. Aufl. Urban & Fischer, München 2009 Köther, I. (Hrsg.): Altenpflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2016
Gerlach, U., H. Wagner, W. Wirth: Innere Medizin für Pflegebe- NANDA International: Pflegediagnosen. Definitionen und
rufe. 8. Aufl. Thieme, Stuttgart 2015 Klassifikation 2015 – 2017, Herdman, T. H., S. Kamitsuru
Gordon, M.: Handbuch Pflegediagnosen. 5. Aufl. Hans Huber, (Hrsg.): RECOM, Kassel 2016
Hogrefe AG, Bern 2013 Pschyrembel Klinisches Wörterbuch 266. Aufl. de Gruyter,
Berlin 2015

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 143


KaelDesu

9 Blutdruck
Panajotis Apostolidis*, Petra Schmalstieg

Übersicht
Einleitung · 144
9.1 Technik der Blutdruckmessung · 145
9.1.1 Direkte Blutdruckmessung · 145
9.1.2 Indirekte Blutdruckmessung · 145
9.2 Allgemeine Beobachtungskriterien und
Beschreibung des Normalzustands · 150
9.2.1 Systolischer Blutdruck · 150
9.2.2 Diastolischer Blutdruck · 150
9.2.3 Mitteldruck · 150
9.2.4 Blutdruckamplitude · 151
9.3 Abweichungen und Veränderungen des
Blutdrucks und deren mögliche
Ursachen · 151
9.3.1 Hypertonie · 151 nem Glasröhrchen ermittelte. Erst die Entdeckungen
9.3.2 Hypotonie · 153 des italienischen Kinderarztes Scipione Riva-Rocci
9 9.4 Ergänzende Beobachtungskriterien · 154 (1896) und des russischen Militärarztes Nicholai Ko-
9.5 Besonderheiten bei Kindern · 154 rotkoff (1905) ermöglichten die non-invasive Mes-
9.6 Besonderheiten bei älteren sung des Blutdrucks, ohne dass die betroffenen Men-
Menschen · 156 schen narkotisiert werden mussten.
9.7 Fallstudien und mögliche Heute gehört die Blutdruckmessung zu den am
Pflegediagnosen · 156 häufigsten durchgeführten diagnostischen Pflege-
Fazit · 158 maßnahmen, die in der Beobachtung gesunder und
Literatur · 158 kranker Menschen große Bedeutung erlangt hat. Das
folgende Kapitel beschreibt die verschiedenen Arten
Schlüsselbegriffe: der Blutdruckmessung und zeigt mögliche Ursachen
für Veränderungen auf.
왘 Systolischer Blutdruck
왘 Diastolischer Blutdruck Definition: Als Blutdruck (RR) wird der in den
왘 Mitteldruck
Blutgefäßen und in den Herzkammern vorherr-
왘 Blutdruckamplitude
schende Druck bezeichnet (Abb. 9.1).
왘 Hypotonie

왘 Hypertonie
Er kann an einer peripheren Arterie, in Millimeter
Quecksilbersäule (mmHg) bzw. Kilopascal (kPa), ge-
messen werden.
Einleitung

!
Merke: Der Umrechnungsfaktor von mmHg
Der Blutdruck wird wie der Puls, die Atmung und die zu kPa beträgt 0,133.
Körpertemperatur zu den sog. Vitalzeichen gerech- (Beispiel: 120/80 mmHg = 15,96/10,64 kPa).
net. Die Blutdruckmessung geht auf den englischen
Theologen und Wissenschaftler Stephen Hales zu- Der Blutdruck bewirkt die Zirkulation des Blutes in
rück, der 1730 einem narkotisierten Pferd die Hals- den Blutgefäßen und ist abhängig von der Herzleis-
schlagader öffnete und die Höhe des Blutpegels in ei- tung, dem Gefäßwiderstand, d. h. von der Elastizität

144 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
9.1 Technik der Blutdruckmessung

perlicher Anstrengung steigen oder bei Ruhe absin-


3 ken. Um valide Blutdruckwerte zu erhalten, muss die
mmHg

140 2
1 Messung unter vergleichbaren Bedingungen erfol-
120
gen, d. h. es sollte:
100
immer am gleichen Ort (beispielsweise am glei-
80
4 chen Arm),
60 immer entweder im Liegen, im Sitzen oder im
40 8 9 Stehen,
20 5 6 10 immer in Ruhe oder unter Belastung
7
0
Zeit
gemessen werden. Grundsätzlich kann die Blut-
Abb. 9.1 Blutdruckwerte in den einzelnen Kreislaufabschnitten. druckmessung direkt oder indirekt erfolgen.
1 = Linker Ventrikel, 2 = Aorta, 3 = periphere Arterie, 4 = Arteriole,
5 = Kapillare, 6 = große Hohlvene, 7 = zentralvenöser Druck (rech- 9.1.1 Direkte Blutdruckmessung
ter Vorhof), 8 = rechter Ventrikel, 9 = Lungenarterie, 10 = linker
Bei der direkten Blutdruckmessung, die auch blutige
Vorhof (nach Pschyrembel)
Blutdruckmessung genannt wird, handelt es sich um
Messungen des Blutdrucks über einen arteriell lie-
genden Katheter. Bevorzugt werden für die direkte
und vom Tonus der Gefäßwände und dem Blutvolu- Messung die A. radialis und die A. femoralis. Dabei
men. Er schwankt bei jedem Herzschlag zwischen ei- wird mithilfe eines Katheters, der an einen Druckauf-
nem Maximalwert und einem Minimalwert. nehmer angeschlossen ist, der Druck in der Arterie
Der Maximalwert wird auch systolischer Blut- registriert. Der aufgenommene Druck wird mithilfe 9
druck genannt und wird während der Herzmuskel- eines Druckwandlers in sichtbare elektrische Signale
kontraktion erreicht. umgewandelt.
Der Minimalwert oder diastolischer Blutdruck Diese Methode wird bevorzugt während großer
entsteht bei der Herzmuskelerschlaffung. Als mittle- Operationen oder bei Intensivpatienten angewandt,
rer Blutdruck wird der Mittelwert zwischen diastoli- weil sie eine hohe Genauigkeit aufweist und eine
schem und systolischem Wert bezeichnet, die Blut- kontinuierliche Registrierung der Werte ermöglicht.
druckamplitude (vgl. Abb. 9.9) ist die Differenz zwi-
schen dem diastolischen und systolischen Wert. 9.1.2 Indirekte Blutdruckmessung
Neben dem Puls und der Atmung ist der Blutdruck Die indirekte bzw. unblutige Blutdruckmessung geht
eine der wichtigsten Messgrößen zur Beurteilung auf Scipione Riva-Rocci (1863 – 1937) zurück, der die
der Vitalsituation eines Menschen. Da dieser auch palpatorische Methode der Blutdruckmessung ent-
kontinuierlich kontrolliert werden kann, sind Ver- deckte, womit die Möglichkeit der Ermittlung des
laufsbeobachtungen möglich, und es können Rück- systolischen Blutdruckwertes gefunden wurde. Hie-
schlüsse auf Krankheiten abgeleitet werden. Kompli- raus erklärt sich die Abkürzung RR für den Blut-
kationen können durch die Blutdruckmessung früh- druckwert.
zeitig erfasst und vermieden werden. Einige Jahre später wurden von dem russischen
Chirurgen Nicolai Korotkoff (geb. 1874) Geräusch-
phänomene beschrieben (Abb. 9.2), anhand derer es
9.1 Technik der dann möglich wurde, auskultatorisch neben dem
Blutdruckmessung systolischen auch den diastolischen Blutdruck zu er-
mitteln.
Bei einigen Erkrankungen ist es notwendig, verschie- Zur indirekten Blutdruckmessung können folgen-
dene Blutdruckwerte miteinander zu vergleichen, de Geräte verwendet werden:
um die entsprechenden Rückschlüsse auf Erkran- Elektronisches Messgerät bei Monitor-überwach-
kungen daraus zu ziehen. Der Blutdruck ist jedoch ten Patienten (Abb. 9.3) oder Blutdruckgerät mit
keine statische Messgröße, sondern ist Schwankun- Federmanometer nach Recklinghausen (Abb. 9.4)
gen unterworfen. So kann er beispielsweise bei kör- mit Stethoskop.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 145


KaelDesu
9 Blutdruck

Korotkoff-Tšne

Intraarterieller Druck Arterie unter der Manschette Manschettendruck Tšne

Manschettendruck hšher als keine


mmHg

systolischer Blutdruck hšrbaren Tšne


Arterie verschlossen
systolisch
Manschettendruck in Hšhe
des systolischen Drucks hšrbare Tšne
geringe ffnung der Arterie

Manschettendruck zwischen
systolischem und diasto-
lŠngere systolische ffnung lischem Blutdruck hšrbare Tšne
der Arterie

Manschettendruck entspricht
diastolisch Arterie fast wŠhrend der dem diastolischen Blutdruck
gesamten Systole gešffnet Tšne hšrbar

Manschettendruck unterhalb
vollstŠndig gešffnete des diastolischen Blutdrucks Tšne verschwinden
Arterie

Abb. 9.2 Schematische Darstellung von Manschettendruck, Korotkoff-Tönen und Druck in der Arterie
9

Abb. 9.3 Elektronische Blutdruckmessung über Monitor

Abb. 9.4 Blutdruckgerät mit Federmanometer nach Reckling-


hausen

Zur kontinuierlichen Blutdruckmessung oder Halb- oder vollautomatische Oberarm- und


für eine Langzeit-24-Stunden-Blutdruckmessung Handgelenkmessgeräte (Abb. 9.6).
gibt es kleine, tragbare Geräte (Abb. 9.5), die Da-
ten speichern und durch eine Verbindung zu ei-
nem Computer alle Werte darstellen.

146 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
9.1 Technik der Blutdruckmessung

Messtechnik am Beispiel der A. brachialis


Tab. 9.1 zeigt die Vorgehensweise der auskultatori-
schen Blutdruckmessung am Oberarm mithilfe ei-
nes Blutdruckgerätes nach Recklinghausen (s. a.
Abb. 9.7).
Bei der palpatorischen Blutdruckmessung ist nur
der systolische Wert ermittelbar. Hierzu erfolgt das
Anlegen der Manschette wie in Tab. 9.1 beschrieben.
Danach wird der Radialispuls gefühlt und die Man-
schette so weit aufgepumpt, bis der Puls nicht mehr
tastbar ist. Um sicher zu gehen, dass auch bei evtl.
vorliegender Arrythmie eine korrekte Ermittlung er-
Abb. 9.5 Blutdruckmessgerät zur 24-Stunden-Messung folgt, sollten nach dem Verschwinden des Pulses
noch weitere 30 mmHg aufgepumpt werden. Nach-
folgend kann nun der Manschettendruck durch das
Indikationen zur Blutdruckmessung Öffnen des Ventils langsam wieder abgelassen wer-
Es gibt eine Reihe von unterschiedlichen Indikatio- den. Sobald die erste Pulswelle tastbar ist, kann man
nen und Situationen zur Blutdruckmessung, wie z. B.: den Wert am Manometer ablesen. Er entspricht dem
Feststellen der Vitalsituation eines Menschen systolischen Blutdruck.
(z. B. bei Neuaufnahmen, bekannten Herz-, Kreis-
lauf- und Atemwegserkrankungen),
Verlaufskontrolle bei Menschen mit einem zu ho- 9
mmHg
hem Blutdruck, einem zu niedrigem Blutdruck
Manschettendruck
oder Blutdruckschwankungen, 140
systolischer Druck
postoperative Überwachung (zur rechtzeitigen 120
Erkennung von Komplikationen),
Kontrolle der Kreislaufbelastbarkeit z. B. vor, wäh- 80
diastolischer Druck
rend und nach Mobilisationsmaßnahmen, 40
Überwachung der Kreislaufsituation bei Verabrei-
0
chung blutdruckbeeinflussender Medikamente,
bestimmte Krisensituationen, z. B. Schock, Unfall,
Blut- oder Flüssigkeitsverlust.

Manschette

Auskultation
Palpation

Abb. 9.6 Blutdruckmessgerät für das Handgelenk Abb. 9.7 Blutdruckmessung

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 147


KaelDesu
9 Blutdruck

Tab. 9.1 Vorgehen bei der indirekten Blutdruckmessung (aus Juchli, L.: Pflege. Praxis und Theorie der Gesundheits- und
Krankenpflege, 8. Aufl. Thieme, Stuttgart 1997)

Vorgehen Zum Ausschließen von Fehlerquellen ist zu beachten:

Information und gewünschte Lage einnehmen lassen 씮 vor der Messung 1/2 Stunde ruhen lassen, immer den gleichen Arm
wählen (bei Aortenvitien an beiden Armen); nie messen an einem
Arm mit A-Shunt, Verletzung, venösem oder arteriellem Zugang
– im Stehen 씮 frei stehen, nicht anlehnen lassen ⎫
⎪ Unterarm in
– im Sitzen 씮 für Armauflagefläche sorgen ⎬
⎪ Herzhöhe
– im Liegen 씮 entspannte Lage ⎭

Arm leicht beugen und in Herzhöhe abstützen lassen 씮 keine beengenden Kleidungsstücke, Lärmquellen (Radio) abstellen

luftleere Manschette am Oberarm anlegen, Mittelpunkt des Manschette straff anlegen, Schläuche nicht verwickeln, am besten
Gummiballons genau über der A. brachialis nach oben abgehen lassen

Ohransätze des Stethoskops in die Gehörgänge stecken 씮 richtige Lage: nach vorn gegen die Nase

Schallempfänger des Stethoskops am Ort der A. brachialis 씮 Schallempfänger auf Intaktheit prüfen; er muss über der Arterie
(Ellenbeuge) auflegen, Palpation der A. radialis liegen, die Schläuche frei lassen

Ventil am Gebläse schließen. 씮 Manschette nur wenige Sekunden aufgeblasen lassen, längere
Manschette aufblasen, bis der Radialispuls nicht mehr tastbar Stauungen verändern die Werte
ist, und noch 30 mmHg aufpumpen

Stethoskop unter leichtem Druck in der Ellenbeuge aufsetzen 씮 richtige Lage: direkt über der A. brachialis

9 langsames Öffnen des Ventils und Druckentlastung 씮 bei zu raschem Vorgehen kann der erste Ton verpasst werden:
vornehmen maximal 2 – 3 mm/s (normale Pulswelle ca. 0,8 s)

beim ersten pulssynchronen Ton Wert am Manometer 씮 genau ablesen


ablesen
= systolischer Druck

beim letzten Ton wieder ablesen 씮 gemessene Werte sofort aufschreiben


= diastolischer Druck

restliche Luft ganz entweichen lassen 씮 Manometerdruck auf Null

gesamte Luft aus der Manschette ablassen, entfernen

Werte auf Kurve oder Überwachungsblatt schreiben oder 씮 übliche Abkürzungen anwenden
einzeichnen (z. B. st = stehend, l = liegend) bzw. Farben (z. B. rot = im Stehen,
blau = im Liegen)

unerwartete Werte: 씮 nicht bei teilweise entleerter Manschette wieder aufblasen (Luft vor
– Messung wiederholen; Manschette vollständig entleeren dem Wiederaufpumpen ganz ablassen)
und 1 Minute warten 씮 nicht kommentarlos protokollieren
– Werte sofort dem Arzt melden; Messung evtl. nach
15 Minuten wiederholen

!
Indiziert ist diese Form der Blutdruckmessung Merke: Bei der Auswahl des Messortes, in
z. B. bei Notfällen, zur Überwachung bei Transporten den meisten Fällen den Armen, muss bedacht
und Kontrolle bei belastenden Maßnahmen. werden, dass verschiedene Erkrankungen/Si-
Häufige, immer wieder auftretende Fehlerquellen tuationen eine Messung hier verbieten, da es hierdurch
sind in der Tab. 9.2 aufgeführt, sowie Maßnahmen u. U. zu Schmerzen, Schädigungen des Gewebes, der Ge-
zur Vorbeugung und Vermeidung von Fehlern. fäße oder deren Zugängen kommen kann.

148 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
9.1 Technik der Blutdruckmessung

Tab. 9.2 Häufige Fehlerquellen bei der Blutdruckmessung

mögliche Fehlerquellen Maßnahmen zur Vermeidung, Vorbeugung

fehlerhafte Geräte 씮 vor Gebrauch das Gerät überprüfen, ob keine Luft austritt, der Gummi-
ballon richtig sitzt, der Nullpunkt bei leerer Manschette erreicht wird,
das Eichdatum nicht überschritten ist, die Stethoskopmembran unbe-
schädigt ist

falsche Manschettengröße 씮 korrekte Auswahl der Manschettengröße; die Manschette soll 20%
breiter sein als der Durchmesser der Extremität, an der der RR gemes-
sen werden soll

unkorrektes Anlegen der Manschette 씮 überprüfen, ob keine Kleidungsstücke unter der Manschette sind,
Manschette straff, aber nicht zu eng anlegen

einengende Kleidung 씮 Arm freimachen lassen

Manschettendruck wird zu schnell oder zu langsam 씮 Manschettendruck mit 2 – 3 mm/sek absinken lassen
abgelassen

auskultatorische Lücke, d. h. es tritt eine Schalllücke 씮 während des Aufpumpens der Manschette den Radialispuls tasten
zwischen den letzten Korotkoff-Tönen auf

schwach hörbare Geräusche 씮 vor dem Aufpumpen der Manschette den Arm kurz hochhalten lassen,
damit der Venendruck verringert und die Geräusche verstärkt werden

9
Hierzu gehören z. B. Für die indirekte Blutdruckmessung stehen ver-
ein arterieller oder venöser Gefäßzugang, schiedene Geräte zur Verfügung.
Erkrankungen des Knochen-, Muskel- und Bindege- Es gibt zahlreiche Indikationen für die Blutdruck-
webes, messung, die palpatorische Blutdruckmessung wird
bestimmte Hauterkrankungen, bei Notfällen, zur Überwachung und Kontrolle bei
Lymphödeme, Belastung angewandt.
künstliche Verbindungen zwischen einer Arterie
und einer Vene, sog. Shunts. Dokumentation
Die Messergebnisse werden sofort dokumentiert.

!
Merke: Wenn möglich, sollte bei den ersten Die ermittelten Werte werden in den dafür vorgese-
Messungen (z. B. Neuaufnahmen) der Blut- henen Spalten (s. a. Tab. 8.1) oder Kurven (Abb. 9.8)
druck immer an beiden Armen gemessen dokumentiert. Die Angaben des gemessenen Blut-
werden, um Unterschiede, die z. B. durch Gefäßanoma- drucks werden in der Reihenfolge systolischer Blut-
lien hervorgerufen werden, festzustellen. druck/diastolischer Blutdruck (z. B.: 130/80 mmHg)
gemacht. Dokumentiert wird:
Zusammenfassung: Uhrzeit,
Blutdruck Messergebnisse,
Neben Puls und Atmung ist der Blutdruck eine der Besonderheiten und Veränderungen.
wichtigsten Messgrößen zur Beurteilung der Vital-
situation eines Menschen. Besteht eine Blutdruckdifferenz zwischen dem rech-
Der Maximalwert, der systolische Blutdruck, wird ten und dem linken Arm, so muss bei der Dokumen-
während der Herzmuskelkontraktion erreicht, der tation zusätzlich angegeben werden, an welchem
Minimalwert, der diastolische, bei der Herzer- Arm die Messung erfolgt ist. Auffälligkeiten sind so-
schlaffung. fort dem Arzt zu melden.
Der Blutdruck ist Schwankungen unterworfen und
sollte deshalb immer unter vergleichbaren Bedin-
gungen gemessen werden.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 149


KaelDesu
9 Blutdruck

· = rektale Messung), Puls: rot (arr = arrhythmisch), Blutdruck (= RR): schwarz


Abb. 9.8 Temperatur (= Temp.): blau (쑗

9.2 Allgemeine 9.2.2 Diastolischer Blutdruck


Definition: Der diastolische Blutdruck ist der
Beobachtungskriterien und niedrigste Punkt der Druckkurve während der
Beschreibung des Herzdiastole, also während der Erschlaffung des
Normalzustands Herzmuskels (Abb. 9.9 b).

!
Merke: Er liegt normalerweise bei ca. 80 mmHg.
Zu den allgemeinen Beobachtungskriterien
des Blutdrucks werden gezählt: 9.2.3 Mitteldruck
systolischer Blutdruck, Definition: Der Mitteldruck, auch mittlerer
diastolischer Blutdruck, Blutdruck genannt, ist ein zu berechnender
Mitteldruck (mittlerer Blutdruck), Wert, der die Größe des Blutdrucks als treibende
Blutdruckamplitude. Kraft im Körperkreislauf angibt.

9.2.1 Systolischer Blutdruck In den herznahen Arterien ist er fast identisch mit
Definition: Als systolischer Blutdruck wird der dem arithmetischen Mittel von systolischem und
Blutdruck während der Herzsystole, also der diastolischem Blutdruck. In herzfernen Arterien ist
Kontraktion des Herzmuskels, bezeichnet. er etwas niedriger als das arithmetische Mittel
(Abb. 9.9 c). Der Normalwert beträgt ca. 100 mmHg.
Er stellt den höchsten Punkt der Druckkurve
(Abb. 9.9 a) dar und beträgt normalerweise etwa
130 mmHg.

150 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
9.3 Abweichungen und Veränderungen des Blutdrucks und deren mögliche Ursachen

9.3.1 Hypertonie

!
a
mmHg

130 Merke: Als Hypertonie wird die Erhöhung


des systolischen Blutdrucks mit Werten über
d 140 mmHg und/oder des diastolischen Blut-
c
druckes mit Werten über 90 mmHg bezeichnet.
b
80 Tab.9.4 zeigt die von der Deutschen Hochdruckliga
festgelegte Klassifikation der Blutdruckwerte.
Als Synonyme für Hypertonie gelten arterielle
Zeit Hypertonie, Bluthochdruck, Hypertonus und Hoch-
Abb. 9.9 Kriterien der Blutdruckerfassung. a) Systolischer druckkrankheit.
Druck, b) Diastolischer Druck, c) Mitteldruck, d) Blutdruckampli- Der Blutdruck ist natürlichen Schwankungen un-
tude terworfen. Er kann physiologisch hyperton sein bei
erhöhtem Sauerstoff- und Energiebedarf, wie dies
9.2.4 Blutdruckamplitude beispielsweise bei körperlicher Arbeit, bei sportlicher
Definition: Die Blutdruckamplitude Betätigung und bei seelischer Erregung der Fall ist.
(Abb. 9.9 d) ist die Differenz zwischen systoli- Daneben gibt es Störungen, die zu einer pathologi-
schem und diastolischem Blutdruckwert einer schen Hypertonie führen können. Pathophysiolo-
Herzaktion. gisch werden hierbei der Minutenvolumenhochdruck
und der Widerstandshochdruck unterschieden.
Sie ist abhängig von der Elastizität der Gefäßwände; Beim Minutenvolumenhochdruck ist ein erhöh-
dies bedeutet, bei sklerosierten (verengten) Gefä- tes Herzminutenvolumen, d. h. eine gesteigerte 9
ßen, wie sie im Alter häufig vorkommen, ist mit ei- Herztätigkeit, vorhanden. Diese führt zur Erhöhung
nem Anstieg der Blutdruckamplitude zu rechnen. Im besonders des systolischen Blutdrucks.
Normalfall beträgt die Blutdruckamplitude ca. Der Widerstandshochdruck entsteht durch eine
40 mmHg. Erhöhung des Tonus der peripheren Blutgefäße. Die
Tab. 9.3 zeigt die Richtwerte des Blutdruckes ab- Erhöhung des Gefäßwiderstandes führt besonders
hängig vom Alter und von der jeweiligen körperli- zur Erhöhung des diastolischen Blutdrucks.
chen Konstitution. Aufgrund der natürlichen Schwankungen des
Blutdrucks darf erst von einer Hypertonie gespro-
Tab. 9.3 Normalwerte des Blutdrucks chen werden, wenn der Blutdruck bei mehrmaligen
Messungen pathologische Werte aufweist.
Alter Blutdruck in mmHg
(systolisch/diastolisch)

Schulkinder 9 – 12 Jahre etwa 110/70 mmHg


Tab. 9.4 Klassifikation der Blutdruckwerte (Deutsche
Jugendliche/Erwachsene etwa 120/80 mmHg Hochdruckliga, 2013)

Klassifikation Blutdruck Blutdruck


ältere Menschen etwa 140/90 mmHg
(mmHg) (mmHg)
systolisch diastolisch

9.3 Abweichungen und optimal ⬍ 120 ⬍ 80


Veränderungen des
normal 120 – 129 80 – 84
Blutdrucks und deren
hochnormal 130 – 139 85 – 89
mögliche Ursachen
Hypertonie Grad 1 (leicht) 140 – 159 90 – 99
Grundsätzlich kann der Blutdruck sowohl Abwei-
Hypertonie Grad 2 (mittelschwer) 160 – 179 100 – 109
chungen nach oben als auch Abweichungen nach un-
ten aufweisen. Diese Veränderungen können wichti- Hypertonie Grad 3 (schwer) ⱖ 180 ⱖ 110
ge diagnostische Hinweise auf bestehende Erkran-
isolierte systolische Hypertonie ⱖ 140 ⬍ 90
kungen liefern.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 151


KaelDesu
9 Blutdruck

Einteilung der Hypertonie nach Ursachen Kardiovaskuläre Hypertonie: Als kardiovaskuläre


Nach der Ursache werden 2 Formen, die primäre (es- Hypertonie wird die arterielle Hypertonie infolge Er-
senzielle, genuine) und die sekundäre (symptomati- krankung des Herzens oder großer herznaher Gefäße
sche) Hypertonie unterschieden. bezeichnet. Vor allem die Aortenklappeninsuffi-
zienz, Aortenisthmusstenose und die Arteriosklerose
Primäre Hypertonie werden hierzu gerechnet. Ihr vergrößertes Schlag-
Bei der primären Hypertonie ist keine eindeutige or- und Minutenvolumen und die verminderte Dehn-
ganische Ursache feststellbar. Sie stellt mit 90 – 95% barkeit der Gefäße führen zu der typischen systoli-
die häufigste Form der Hypertonie dar. Vermutet schen Drucksteigerung bei normalem oder ernied-
wird, dass diese Form in erster Linie auf genetische rigtem Mitteldruck.
Faktoren, eine zu hohe Kochsalzzufuhr mit der Nah-
rung, Adipositas und andauernden Stress zurückzu- Schwangerschaftshypertonie: Auch während einer
führen ist. Schwangerschaft kann es, zumeist im Rahmen einer
Spätgestose, zu erhöhten Blutdruckwerten kommen.
Sekundäre Hypertonie Der auslösende Mechanismus ist noch nicht geklärt.
Im Gegensatz zur primären Hypertonie ist bei der se-
kundären Hypertonie, die bei ca. 5 – 10% aller Men- Neurogene Hypertonie: Die neurogen bedingte
schen mit Hypertonie vorliegt, eine organische Hypertonie entsteht durch Irritation des Gehirns
Grunderkrankung festzustellen. bzw. Schädigung der für die Kreislaufregulation zu-
ständigen nervalen Strukturen bei einer Hirndruck-
Renale Hypertonie: Die renale Hypertonie ist auf ei- steigerung. Die häufigsten Ursachen für die Hirn-
9 ne Beeinträchtigung der Nierenfunktion durch eine drucksteigerung liegen in Blutungen, Traumen oder
Glomerulopathie oder auf Stenosen der Nierenarte- Tumoren.
rien zurückzuführen. Die eingeschränkte Filterfunk-
tion bewirkt einen Anstieg des Natriumchloridspie- Zusammenfassung:
gels im Blut. Hinzu kommt die Wirkung des Renin- Allgemeine Beobachtungskriterien und Ab-
Angiotensin-Aldosteron-Mechanismus, ausgelöst weichungen
durch die Minderdurchblutung der Niere. Hierbei Die allgemeinen Beobachtungskriterien des Blut-
handelt es sich um Hormone, die eine gefäßveren- drucks sind: systolischer Blutdruck, diastolischer
gende Wirkung besitzen und damit den Blutdruck Blutdruck, mittlerer Blutdruck, Blutdruckamplitu-
erhöhen. Die renale Hypertonie ist die häufigste de.
Form der sekundären Hypertonie. Dokumentiert werden bei einer Messung: Uhrzeit,
Ergebnis und Besonderheiten.
Endokrine Hypertonie: Die endokrine Hypertonie Bei Hypertonie steigt der systolische Blutdruck über
entsteht hauptsächlich bei der Ausschüttung von 140 mmHg, der diastolische über 90 mmHg; patho-
blutdrucksteigernden Hormonen wie beispielsweise physiologisch werden dabei der Minutenvolumen-
Adrenalin, Noradrenalin, Aldosteron oder Glukokor- hochdruck und Widerstandshochdruck unterschie-
tikoiden. Zu einer vermehrten Ausschüttung dieser den.
Hormone kommt es durch Tumore wie beispielswei- Es wird zwischen primärer und sekundärer Hyper-
se dem Phäochromozytom oder Organstörungen wie tonie unterschieden.
z. B. dem Cushing-Syndrom. Bei der sekundären Hypertonie liegt häufig eine or-
ganische Grunderkrankung vor wie z. B. Nierener-
Medikamentöse Hypertonie: Es gibt verschiedene krankung, Tumoren, Herz- oder Hirnerkrankungen.
Medikamente und auch Nahrungsmittel, die zu einer Sie kommt aber auch bei Schwangerschaft vor.
Hypertonie führen können. Hierzu gehören bei-
spielsweise Ovulationshemmer, Antidepressiva, Einteilung nach Schweregraden
Sympathomimetika, Antirheumatika, Hormonprä- Am weitesten verbreitet ist die Einteilung der Hyper-
parate (s. o.), Alkohol oder Lakritze (Glycyrrhicin- tonie nach der Höhe der Abweichung vom Normal-
säure). Sie wirken größtenteils aufgrund einer wert. Tab. 9.5 zeigt die verschiedenen Schweregrade.
Natrium-Retention blutdrucksteigernd.

152 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
9.3 Abweichungen und Veränderungen des Blutdrucks und deren mögliche Ursachen

Tab. 9.5 Schweregrade der Hypertonie (aus: Pschyrembel: Tab. 9.6 WHO-Graduierung der Hypertonie (aus: Gerlach,
Klinisches Wörterbuch. 263. Aufl. de Gruyter, Berlin 2011) U., H. Wagner, W. Wirth: Innere Medizin für Pflegeberufe.
8. Aufl. Thieme, Stuttgart 2015)
Blutdruck (mmHg) diastolisch
systolisch Grad Endorganschäden

Stadium (Schweregrad) 1 140 – 159 90 – 99 WHO-Grad I Hypertonie ohne Endorganschäden


milde oder leichte Hyper-
tonie WHO-Grad II Hypertonie mit Endorganschäden

Stadium (Schweregrad) 2 160 – 179 100 – 109 WHO-Grad III Hypertonie mit kardiovaskulären Folge- und
mittelschwere Hypertonie Begleiterkrankungen (Symptome durch End-
organschäden)
Stadium (Schweregrad) 3 180 – 209 110 – 119
schwere Hypertonie

Stadium (Schweregrad) 4 ⱖ 210 ⱖ 120 Form der Hypotonie sind keine Grunderkrankungen
sehr schwere Hypertonie zu erfassen.
Krise ⬎ 230 ⬍ 90
(kritische Blutdrucksteige- Sekundäre Hypotonie
rung) Die sekundäre Hypotonie, die auch als symptomati-
sche Hypotonie bezeichnet wird, entsteht bei oder
als Folge von Erkrankungen. Eine Ursache hierfür
können Herzerkrankungen wie Herzinsuffizienz
WHO-Einteilung oder Herzinfarkt sein. Weitere Gründe bestehen in
Die WHO hat eine weitere Einteilung der Hypertonie Organveränderungen der Hormondrüsen, wie z. B. 9
entwickelt. Sie unterscheidet nach dem Ausmaß der einer Insuffizienz des Hypophysenvorderlappens
hypertoniebedingten Schäden an den Endorganen, oder der Nebennierenrinde. Des Weiteren kann eine
z. B. Herz, Niere, Gehirn und Augen (Tab. 9.6). symptomatische Hypotonie bei einer paroxysmalen
Tachykardie, Fieber, Hypovolämie und in der

!
Merke: Die Einteilung der Hypertonie kann Schwangerschaft auftreten.
nach den ihr zugrunde liegenden Ursachen Bei allen Ursachen kommt es zur Verminderung
oder ihrem Schweregrad erfolgen. des Herzminutenvolumens und/oder des peripheren
Widerstands des Gefäßsystems.
9.3.2 Hypotonie Bei trainierten Sportlern kann es in Folge der Va-
Da der Blutdruck eine sich ständig verändernde Grö- gotonie ebenfalls zu einer symptomatischen Hypoto-
ße ist, kann er dementsprechend auch unter den nie kommen.
Normalwert abfallen. Eine physiologische Hypotonie
tritt z. B. bei reduziertem Stoffwechsel auf wie er im Orthostatische Hypotonie
Schlaf oder beim Hungern vorkommt. Bei der orthostatischen Hypotonie, die auch als Or-
Von einer pathologischen Hypotonie wird gespro- thostasesyndrom bezeichnet wird, liegt eine Störung
chen, wenn bei der Blutdruckmessung unter Ruhe- der orthostatischen Regulation vor. Dabei kommt es
bedingungen der systolische Druck beim Mann unter zu einem Blutdruckabfall infolge einer Blutverschie-
110 mmHg (14,63 kPa), bei der Frau unter 100 mmHg bung in die Beine beim Übergang vom Liegen oder
(13,3 kPa) und der diastolische Druck unter Hocken zum Stehen. Es entsteht eine zerebrale Man-
60 mmHg (8 kPa) liegt. geldurchblutung mit Schwarzwerden vor den Augen,
Folgende Formen der Hypotonie werden unter- Ohrensausen und Schwindel, die bis zu einer Synko-
schieden: pe, also zu einer Bewusstlosigkeit, führen kann.
Diese Form der Hypotonie kommt häufig bei jünge-
Primäre Hypotonie ren Frauen und Personen vor, die sehr dünn sind.
Unter einer primären Hypotonie, die auch als essen- Auch Menschen, die über längere Zeit immobil wa-
zielle, idiopathische oder konstitutionelle Hypotonie ren, z. B. nach Operationen oder infolge verordneter
bezeichnet wird, wird das dauerhafte Absinken des Bettruhe, können bei der Mobilisation einen ortho-
Blutdrucks ohne Beschwerden verstanden. Bei dieser statischen Kollaps erleiden.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 153


KaelDesu
9 Blutdruck

Zusammenfassung: armen gemessen werden. Bei Früh- und Neugebore-


Hypotonie nen eignen sich auch die Oberschenkel. Um den Blut-
Bei der pathologischen Hypotonie sinkt der systoli- druck bei Kindern zu ermitteln, stehen wie bei er-
sche Druck unter Ruhebedingungen unter 110 bzw. wachsenen Menschen verschiedene Möglichkeiten
100 mmHg (bei Frauen), der diastolische unter zur Verfügung. Besonders beachtet werden muss bei
60 mmHg. Kindern die Größe der Blutdruckmanschette. Eine
Die sekundäre, symptomatische Hypotonie kommt Übersicht der Manschettengröße (Abb. 9.10) in Be-
bei Herzerkrankungen, Organveränderungen, paro- zug zum Oberarmumfang ist in Tab. 9.7 dargestellt.
xysmaler Tachykardie, Fieber, Hypovolämie und in Die elektrische, automatische Messmethode, die
der Schwangerschaft vor. Oszillometrie, wird häufig in der Intensivmedizin,
Bei einer orthostatischen Hypotonie kommt es zu der Notfallversorgung und der Früh- und Neugebore-
einem Blutdruckabfall infolge einer Blutverschie- nenpflege angewendet. Ihr Vorteil besteht zum einen
bung in die Beine mit der Folge einer zerebralen darin, dass die Manschette am Messort belassen
Mangeldurchblutung. werden kann und das Kind nicht durch Anlegen und
Annahme der Manschette zusätzlich belastet wird,
zum anderen kann die Blutdruckmessung in frei
9.4 Ergänzende wählbaren Zeitintervallen und durch einstellbare
Beobachtungskriterien Alarmgrenzen wiederholt werden.
Zusätzlich können mit dieser Methode neben
Viele Hypertoniker klagen über Begleiterscheinun- dem systolischen/diastolischen Blutdruck auch der
gen wie z. B. Kopfschmerzen, Herzklopfen, Augen- mittlere arterielle Druck (MAD) sowie die Pulsfre-
9 flimmern, Ohrensausen und Schwindelerscheinun- quenz ermittelt werden. Bei dieser Methode ist es
gen. Charakteristisch ist die auffallend rote Gesichts- notwendig, den Hautzustand des Kinds unter der
farbe des Hypertonikers. Manschette engmaschig, je nach Häufigkeit der Blut-
Je nach Ursache der Hypertonie müssen weitere druckmessung, zu kontrollieren.
Kriterien beobachtet werden, wie beispielsweise der
Puls, die Ausscheidung und die Bewusstseinslage.
Beim Hypotoniker treten Beschwerden wie z. B.
Müdigkeit, Schwäche, Leistungsminderung, Schwin-
del, Ohnmachtsneigung sowie Blässe und Kühle der
Haut auf. Auch hier müssen weitere Kriterien beo-
bachtet werden wie z. B. Puls und Schweiß, um einen
möglichen Kollaps frühzeitig erkennen zu können.
Daneben müssen je nach Situation auch die Aus-
scheidung und die Bewusstseinlage beurteilt werden
(z. B. hypovolämischer Schock).

9.5 Besonderheiten bei Kindern


Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm

Zur Beurteilung der Herz-Kreislauf-Situation eines


Kinds sollte bei jeder Aufnahmeuntersuchung, ins-
besondere bei Behandlungen mit kreislaufwirksa-
men Mitteln, bei bekannten Nieren- und Herzer-
krankungen, nach operativen Eingriffen und zur all-
gemeinen Vitalzeichenkontrolle nach ärztlicher An-
ordnung, der Blutdruck kontrolliert werden.
Grundsätzlich kann bei Kindern wie auch bei Er- Abb. 9.10 Blutdruckmanschetten in verschiedenen Größen zur
wachsenen der indirekte Blutdruck an beiden Ober- auskultatorischen Blutdruckmessung

154 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
9.5 Besonderheiten bei Kindern

!
Tab. 9.7 Oberarmumfang und Manschettengröße für das Merke: Ist die passende Größe nicht verfüg-
Blutdruckmessen bei Kindern (aus Hoehl, M., P. Kullick bar, sollte immer die nächstgrößere Man-
(Hrsg.): Gesundheits- und Kinderkrankenpflege, 4. Aufl.
Thieme, Stuttgart 2012)
schette gewählt werden, da zu schmale Man-
schetten zu höheren Blutdruckwerten führen.
Alter Oberarmumfang Manschettengröße

Frühgeborenes 5 – 9 cm 3 cm Die direkte Blutdruckmessung, auch als arterielle


oder blutige bezeichnet, ist eine spezielle, für die In-
Neugeborenes 7,5 – 10 cm 4 cm tensivpflege geeignete Methode. Dazu wird mittels
Säugling bis 1 Jahr 10 – 12,5 cm 5 cm einer Kanüle, die in eine große Arterie eingelegt
wird, über einen Druckaufnehmer der Blutdruck er-
Kleinkind 12,5 – 15 cm 7 cm
mittelt. Bei Früh- und Neugeborenen ist dieses Ver-
Schulkind 15 – 20 cm 9 cm fahren auch über die Nabelarterie möglich.

Jugendlicher 20 – 30 cm 12 cm
Normalwerte
Die Blutdrucknormwerte bei Kindern sind altersab-
hängig in Tab. 9.8 dargestellt. In der Früh- und Neu-
geborenenpflege wird häufig der mittlere arterielle

!
Merke: Zur Vermeidung von Hautläsionen, Druck (MAD) beobachtet.
z. B. bei sehr unreifen Frühgeborenen, emp-

!
fiehlt es sich, zwischen Manschette und Ober- Merke: Besonders in der Frühgeborenen-
arm eine Stück Mullbinde zu legen. intensivpflege hilft die Faustregel: vollende-
te Schwangerschaftswoche plus Lebensta- 9
Die Ultraschall-Dopplermessmethode ist eine Mes- ge-MAD-Wert.
sung mittels Manschette und Ultraschalldopplerge-
rät. Sie wird angewendet, wenn z. B. bei Säuglingen Grundsätzlich können alle unter Kap. 9.3 beschriebe-
die Blutdruckmessung nach Riva-Rocci und palpato- nen Veränderungen der Beobachtungskriterien des
risch unzuverlässig ist. Dies kann bei sehr schwer er- Blutdrucks, mit Ausnahme der Schwangerschaft-
krankten Kindern, z. B. Kinder im Schock mit Kreis- hypertonie, auch bei Kindern auftreten.
laufzentralisation, angezeigt sein. Anstelle eines Ste-
thoskops wird ein mit Gel bestrichener Ultraschall-
kopf über der Arterie platziert. Nachdem die Man-
Tab. 9.8 Blutdrucknormwerte in Abhängigkeit vom
schette aufgepumpt wurde, entsteht durch Öffnen Lebensalter (aus: Hoehl, M., P. Kullick. Gesundheits- und
des Luftauslassventils und somit wieder nachlassen- Kinderkrankenpflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012
dem Druck das Dopplergeräusch. Allerdings kann
Alter syst. Blutdruck diast.
auch bei dieser Messmethode nur der systolische in mmHg Blutdruck
Blutdruck ermittelt werden. in mmHg

Frühgeborenes 55 – 70 25 – 35
Blutdruckmanschetten
Die Größe der zu wählenden Blutdruckmanschette Neugeborenes 60 – 80 35 – 50
richtet sich unabhängig von der Wahl der Messme-
Säugling bis 1 Jahr 90 60
thode nach dem Oberarm- bzw. Oberschenkelum-
fang und ist entweder den Herstellerangaben zu ent- Kleinkind 95 60
nehmen oder anhand einer Formel (Oberarmumfang
Schulkind 100 60
⫻ 0,6) – 1,25 cm = Breite der Manschette) auszurech-
nen. Die Auswahl reicht von 1 – 12 cm Breite. Die Jugendlicher 110 70
Wahl der richtigen Manschettengröße ist Vorausset- Erwachsener 120 80
zung für eine korrekte Blutdruckmessung.
Senior 150 90

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 155


KaelDesu
9 Blutdruck

Zusammenfassung: Komplikationen frühzeitig zu erkennen sowie die


Blutdruckmessung bei Kindern pflegerischen Interventionen auf die aktuelle und in-
Bei Kindern ist die Größe der Manschette zur Blut- dividuelle Situation des Menschen abzustimmen.
druckmessung zu beachten.
In der Intensivmedizin wird häufig die Oszillome- Beispiel: Hr. Platt, 65 Jahre, 1,74 m groß,
trie, eine elektrische, automatische Messmethode 93 kg, wurde am Morgen durch seinen Haus-
angewandt, mit der auch der mittlere arterielle arzt in das Krankenhaus eingewiesen mit fol-
Druck gemessen werden kann. gender Diagnose: hypotone Krise mit Arrhythmie und
Bei schwerkranken Kindern wird auch die Ultra- Synkope. Bei der stationären Betreuung fällt die blasse
schall-Dopplermessmethode eingesetzt. Gesichtsfarbe von Hr. Platt auf. Er schwitzt leicht und
Über die Nabelarterie kann bei Neugeborenen auch muss sich nach jeder Anstrengung erholen, da ihm sehr
die direkte, arterielle Blutdruckmessung vorgenom- schwindelig ist. Der Blutdruck beträgt z. Z.
men werden. 100/70 mmHg. Neben einer medikamentösen Therapie
wird eine engmaschige Überwachung von Blutdruck
und Puls sowie eine eingeschränkte Bettruhe (d. h. Auf-
9.6 Besonderheiten bei älteren stehen zur Toilette ist erlaubt) angeordnet. Hr. Platt ist
Menschen bewusstseinsklar und befolgt alle Anweisungen genau,
wobei er jedes Mal sehr interessiert nachfragt.
Panajotis Apostolidis*, Petra Schmalstieg
Im Folgenden wird ein Auszug aus dem Pflegeplan von
Wie aus Tab. 9.3 zu ersehen ist, kommt es mit zuneh- Hr. Platt vorgestellt (Tab. 9.9).
menden Alter häufig zu einer Erhöhung der systoli-
9 schen und diastolischen Blutdruckwerte. Eine Ursa-
che hierfür ist in der verminderten Elastizität der Ge- Verminderte Herzleistung (P)*
fäße, häufig aufgrund von Ablagerungen, zu sehen. (Gordon 2013, S. 267 – 268, NANDA-I 2016)
Daneben kommen verschiedene Herzkreislauf- und Decreased cardiac output (00029) (1975, 1996, 2000)
Gefäßerkrankungen in Betracht. Taxonomie II: Domäne 4: Aktivität/Ruhe,
Des Weiteren treten bei älteren Menschen oft- Klasse 4: Kardiovaskuläre/Pulmonale Reaktionen

mals Störungen der Blutdruckregulation auf. Erhebli- Diagnosetyp (Dokumentationsform): aktuelle Pflege-
che tageszeitliche Schwankungen können zu ortho- diagnose (PES)
statischen Problemen führen und Stürze verursa- Funktionelles Gesundheitsverhaltensmuster:
chen sowie die Anpassung des älteren Menschen an Aktivität und Bewegung
körperliche und seelische Belastungen erschweren Definition
und Verwirrtheitszustände hervorrufen. Zur Ein- Das vom Herzen ausgeworfene Blut genügt den meta-
schätzung der Leistungsfähigkeit ist deshalb die bolischen Anforderungen des Körpers nicht
Blutdruckmessung vor und nach körperlichen An-
strengungen wichtig.
Einflussfaktoren** (E)
veränderte Herzfrequenz
Im Zusammenhang mit der verringerten Sensibi-
veränderter Rhythmus
lität der Osmorezeptoren im Alter und dem damit
verändertes Schlagvolumen
verbundenen herabgesetzten Durstgefühl kommt es
veränderte Vorlast
vielfach zur Dehydratation mit entsprechender hy-
veränderte Kontraktilität
potoner Kreislaufsituation.
veränderte Nachlast

* Falls diese Diagnose gestellt wird: Überweisung zur


9.7 Fallstudien und mögliche ärztlichen Evaluation.
Pflegediagnosen **(Gordon vermerkt bei den Einflussfaktoren dieser Di-
agnose, dass sie dieselben seien wie die Kennzeichen
Wie in Kap. 9.3 ersichtlich, gibt es verschiedene Ursa- und Symptome; die NANDA-I nutzt diese Faktoren zur
chen für eine Blutdruckveränderung. Im Rahmen der Gruppierung von Symptomen, Anm. d. Hrsg.)
Pflege ist die Überwachung der Vitalsituation des
Menschen sehr wichtig, um Veränderungen und

156 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
9.7 Fallstudien und mögliche Pflegediagnosen

Tab. 9.9 Auszug aus dem Pflegeplan von Herrn Platt

Pflegeproblem Ressourcen Pflegeziel Pflegemaßnahmen

Hypotonie mit Kollaps- und Hr. Platt ist Hr. Platt 쐌 Information von Hr. Platt durch den Arzt
Sturzgefahr 쐌 ansprechbar 쐌 kennt die Gefahren der über:
쐌 kooperativ Hypotonie und mögliche – Kollapsgefahr
쐌 interessiert Anzeichen einer drohen- – Anzeichen einer drohenden Ohn-
den Ohnmacht macht
쐌 meldet sich beim Auftre- – Sturzgefahr
ten von Symptomen – Überwachungsmaßnahmen
쐌 akzeptiert die engmaschi- – Bettruhe
gen Kontrollen 쐌 RR- und Pulskontrolle
– Plan liegt im Zimmer
– tagsüber stdl., nachts 2-stdl.
– Beobachtung des Pulses bzgl. Fre-
quenz, Rhythmus, Qualität
쐌 Beobachtung der Bewusstseinlage (bei
allen pflegerischen Maßnahmen)
쐌 Beobachtung der Haut bzgl. Schweiß,
Hautfarbe (bei allen pflegerischen Maß-
쐌 meldet sich zum Aufstehen nahmen)
쐌 erleidet keine Verletzun- 쐌 Hinweis, sich zu melden, wenn er aufste-
gen durch Stürze hen möchte (씮 Begleitung)

Kennzeichen der Symptome (S) veränderte Kontraktilität 9


veränderte(r) Herzfrequenz/Herzrhythmus Rasseln
Arrhythmien Husten
Tachykardie Orthopnö
Bradykardie paroxysmale nächtliche Dyspnö
Veränderungen im EKG verminderte Herzauswurfleistung (⬍ 4 l/min)
Herzklopfen verminderter Herzindex (⬍ 2,5 l/min)
veränderte Vorlast verminderter Schlagvolumenindex (SVI)
Jugularvenenstauung verminderter linksventrikulärer Schlagarbeitsindex
Müdigkeit (LSW)
Ödeme Herzgeräusche S3
Herzgeräusche Herzgeräusche S4
erhöhter Zentralvenendruck (ZVD) verhaltensbezogen/emotional
verminderter ZVD Ruhelosigkeit
erhöhter pulmonal-arterieller Verschlussdruck Angst
(PAWP)
verminderter pulmonal-arterieller Wedge-Druck Pflegeergebnis (Outcome)
(PAWP) Effektivität der Herzauswurfleistung (Cardiac Pump
Gewichtszunahme Effect)
Aus dem linken Ventrikel wird eine adäquate Menge
veränderte Nachlast
Blut gepumpt um den systemischen Perfusionsdruck
feucht-kalte Haut
aufrechtzuerhalten.
(Kurzatmigkeit), Dyspnö
Oligurie
verlängerte kapillare Rückfüllung
Im vorliegenden Fall könnte die Pflegediagnose lau-
verminderte periphere Pulse
ten: verminderte Herzleistung
Schwankungen in den Blutdruckmesswerten
a/d (angezeigt durch) beeinflusst durch (b/d) verän-
verminderter systemischer Gefäßwiderstand (SVR)
derte Nachlast
erhöhter systemischer Gefäßwiderstand (SVR)
verminderter pulmonaler Gefäßwiderstand (PVR)
Schwankungen in den Blutdruckmesswerten,
erhöhter pulmonaler Gefäßwiderstand (PVR) Farbveränderung der Haut (Blässe),
Veränderung der Hautfarbe (Blässe) feucht-kalte Haut.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 157


KaelDesu
9 Blutdruck

Tab. 9.10 Auszug aus dem Pflegeplan von Thorsten

Pflegeproblem Ressourcen Pflegeziel Pflegemaßnahmen

Gefahr der Minderdurchblu- Die Eltern von Thorsten: 쐌 Thorsten erfährt keine 쐌 Kontrolle des Blutdruckes an Armen und
tung der unteren Extremitä- 쐌 sorgen sich um ihn zusätzlichen Komplikatio- Beinen nach Plan (im Zimmer),
ten bei Aortenisthmusste- 쐌 sind an der Pflege interes- nen durch frühzeitiges Manschettengröße: 4 cm
nose mit Blutdruckdifferen- siert Erkennen von Verände- 쐌 Information der Eltern über die Bedeu-
zen zwischen den oberen 쐌 möchten mehr über die rungen tung der Blutdruckmessung bei Thorsten
und unteren Extremitäten Blutdruckmessung erfah- 쐌 Thorstens Eltern sind 쐌 Integration der Eltern in Pflegemaßnah-
ren über die Bedeutung des men, beispielsweise durch Assistenz bei
Blutdrucks als Indikator der Blutdruckmessung
für eine Zunahme der
Aortenisthmusstenose in-
formiert

Beispiel: Bei Thorsten wurde kurz nach der


Literatur:
Geburt eine Aortenisthmusstenose festge-
stellt, die u. a. zu Blutdruckdifferenzen zwi-
Deutsche Gesellschaft für Kardiologie – Herz und Kreislauffor-
schen den oberen und unteren Extremitäten führt. Die schung e. V., Deutsche Hochdruckliga e. V. DHL, Leitlinien
Arme weisen hierbei einen um durchschnittlich für das Management der arteriellen Hypertonie. Im In-
30 mmHg erhöhten Wert auf. Zur Zeit befindet sich ternet: https://www.hochdruckliga.de/tl_files/content/
Thorsten zur genaueren Diagnostik (Herzkatheterun- dhl/downloads/2014_Pocket-Leitlinien_Arterielle_Hyper-
9 tersuchung ist geplant) in der Klinik. Die Eltern, die sich tonie.pdf; Stand: 23. 07. 2017
Fischer, K., H. Sobottka, D. Faas (Hrsg.): Klinikleitfaden Kinder-
sehr um ihr Kind sorgen, sind an der Pflege interessiert
krankenpflege. 4. Aufl. Urban & Fischer, München 2009
und möchten mehr über die Blutdruckmessungen er- Gerlach, U., H. Wagner, W. Wirth: Innere Medizin für Pflegebe-
fahren. In Tab. 9.10 ist ein Auszug aus dem Pflegeplan rufe. 8. Aufl. Thieme, Stuttgart 2015
von Thorsten dargestellt. Gordon, M.: Handbuch Pflegediagnosen. 5. Aufl. Hans Huber,
Hogrefe AG, Bern 2013
Fazit: Der Blutdruck ist ein Beobachtungs- Gortner, L., S. Meyer, F. C. Sitzmann: Duale Reihe Pädiatrie.
4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012
kriterium, das wichtige Aussagen über die
Hoehl, M., P. Kullick (Hrsg.): Gesundheits- und Kinderkranken-
Herz-Kreislauf-Situation eines Menschen er-
pflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012
möglicht. Die entscheidenden Abweichungen vom Nor- Illing, S., M. Claßen: Klinikleitfaden Pädiatrie. 9. Aufl. Urban &
malzustand sind Hypertonie und Hypotonie, wobei je- Schwarzenberg, München 2014
weils primäre und sekundäre Formen unterschieden Köther, I. (Hrsg.): Altenpflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2016
werden. Veränderungen des Blutdrucks können neben NANDA International: Pflegediagnosen. Definitionen und
den körperlichen Symptomen auch massive Ängste bei Klassifikation 2015 – 2017. Herdman, T. H., S. Kamitsuru
(Hrsg.): RECOM, Kassel 2016
den Betroffenen auslösen und sowohl subjektiv als
Menche, N. (Hrsg.): Pflege heute. 6. Aufl. Elsevier GmbH, Mün-
auch objektiv eine vitale Bedrohung darstellen.
chen 2014
Pschyrembel: Klinisches Wörterbuch. 266. Aufl. de Gruyter,
Berlin 2015
Schwegler, J., R. Lucius: Der Mensch. Anatomie und Physiolo-
gie. 6. Aufl. Thieme, Stuttgart 2016
Silbernagel, S., A. Despopoulos: Taschenatlas Physiologie.
8. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012

Im Internet:
www.hochdruckliga.de/bluthochdruck.html;
Stand 07. 09. 2017

158 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu

10 Körpertemperatur
Panajotis Apostolidis*, Petra Schmalstieg

Übersicht
Einleitung · 159
10.1 Technik der Temperaturmessung · 162
10.1.1 Thermometerarten · 162
10.1.2 Indikationen zur Messung der
Körpertemperatur · 163
10.1.3 Durchführung der
Körpertemperaturmessung · 164
10.1.4 Dokumentation der
Messergebnisse · 166
10.2 Allgemeine Beobachtungskriterien und
Beschreibung des Normalzustands · 166
10.3 Abweichungen, Veränderungen der
Körpertemperatur und deren mögliche chanismen der Wärmeproduktion und -abgabe
Ursachen · 167 konstant halten. Die gleich bleibende Körpertempe-
10.3.1 Erhöhte Körpertemperatur · 167 ratur von ca. 37 ⬚C ist für den Menschen deshalb so
10.3.2 Verminderte Körpertemperatur · 173 wichtig, weil hiervon nahezu alle Stoffwechselvor-
10.4 Ergänzende Beobachtungskriterien · 174 gänge des Körpers abhängen. Veränderungen der
Körpertemperatur nach oben bzw. nach unten sind
10.5 Besonderheiten bei Kindern · 176 10
10.5.1 Technik der Temperaturmessung bei in den meisten Fällen Ausdruck einer vorliegenden
einem Frühgeborenen · 177 Erkrankung. Häufig weisen sie auf Störungen hin, be-
10.5.2 Technik der Temperaturmessung bei vor spezifische Symptome vorliegen.
Neugeborenen, Säuglingen und Die Ermittlung der Körpertemperatur gehört zu
Kleinkindern · 177 den am häufigsten durchgeführten pflegerischen Tä-
10.5.3 Abweichungen vom Normalzustand · 177 tigkeiten. Sie bildet die Grundlage für die Auswahl
10.6 Besonderheiten bei älteren von Pflegemaßnahmen zur Unterstützung der Tem-
Menschen · 178 peraturregulierung eines Menschen.
10.7 Fallstudien und Pflegediagnosen · 179
Fazit · 181 Definition: Die Körpertemperatur ist die zur
Literatur · 181 Aufrechterhaltung aller Lebensvorgänge not-
wendige Wärme im Körper. Sie wird in Grad Cel-
sius (⬚C) oder in Grad Fahrenheit (⬚F) angegeben.
Schlüsselbegriffe:
왘 Hyperthermie Abb. 10.1 zeigt eine Vergleichsskala der verschiede-
왘 Hypothermie nen Temperaturwerte sowie die Umrechnungsfor-
왘 Fieber mel. Die Körpertemperatur weist aufgrund der Wär-
meproduktion im Inneren des Körpers Differenzen
auf. Unterschieden werden deshalb die Kerntempe-
ratur und die Schalentemperatur (Abb. 10.2).
Die Kerntemperatur beinhaltet das Innere des
Einleitung Rumpfes und des Kopfes und beträgt im Mittel ca.
37 ⬚C. Die Erhaltung dieser weitgehend konstanten
Der Mensch gehört zu den sog. „homothermen“ Le- Körperkerntemperatur ist lebensnotwendig, da die
bewesen, die ihre Körpertemperatur unabhängig von inneren Organe und das Gehirn darauf angewiesen
der Umgebungstemperatur über verschiedene Me- sind, um korrekt zu funktionieren.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 159


KaelDesu
10 Körpertemperatur

Abb. 10.1 Vergleichsskala der Temperatur gemessen in Grad


Celsius und Grad Fahrenheit (nach: Der große Knaur, Band 18, Lexi-
[K] [°C] [°F] kographisches Institut, München 1985, Seite 7920).
Umrechnungsformel:
100 ⬚C = (⬚F-32) ⫻ 5/9 oder (⬚F-32) ⫻ 0,55
210
⬚F = (⬚C ⫻ 9/5) + 32 oder (⬚C ⫻ 1,8) + 32
370
200
90
190
360
180
80
350 170

160
70
340 150

60 140
330
130

50 120
320
110
40
100
310
90
10 30
300 80

20 70
290 60
Die Schalentemperatur umfasst die Haut und die
10 50 Extremitäten. Abhängig von der Außentemperatur
280 und der Durchblutung weist die Körperoberfläche
40
+ 32
Temperaturen zwischen 28 ⬚C und 33 ⬚C auf. Die Um-
0 gebungstemperatur beeinflusst das Gefälle zwischen
– 30
270 Kern- und Schalentemperatur. So sind beispielswei-
20
se bei hohen Außentemperaturen nur geringe Unter-
10
10 schiede zwischen der Kern- und Schalentemperatur
260
feststellbar.
+ 0
20 – Die Regulation der Körpertemperatur erfolgt
10 durch das thermoregulatorische Zentrum im Hypo-
250
thalamus. Mittels Thermorezeptoren der Haut und
20
30 des Körperinneren werden die aktuellen Tempera-
turwerte an das Regulationszentrum im Hirn gemel-
det. Hier erfolgt ein Vergleich des Istwertes mit dem
Sollwert. Entsprechend der Abweichung werden
dann unterschiedliche Prozesse der Wärmebildung
oder -abgabe aktiviert. Diese verschiedenen Mecha-
nismen zur Regulation der Körpertemperatur sind in
Abb. 10.3 dargestellt.

160 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
Einleitung

Abb. 10.2 Temperaturzonen des Körpers

Kerntemperatur

37°C
36°C
34°C
32°C
31°C
28°C

20°C Raumtemperatur 35°C

Abb. 10.3 Modell der Wärmeregulierung.


Wärmeregulations- (aus: I care Pflege. Thieme, Stuttgart 2015)

zentrum/ 10
Hypothalamus

Sollwert Istwert

Thermo- Thermo-
rezeptoren im rezeptoren in der
Körperkern Körperschale

Wärme-
aufnahme

Wärme- Körper-
bildung temperatur

Wärme-
abgabe

innere und äußere


Einflussfaktoren

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 161


KaelDesu
10 Körpertemperatur

10.1 Technik der


Temperaturmessung
Die Messung der Körpertemperatur ist eine der häu-
figsten Maßnahmen, die bei Unwohlsein und/oder Abb. 10.5 Digitalthermometer (Kaz Europe SA)
dem Auftreten von anderen Symptomen durchge-
führt wird.

10.1.1 Thermometerarten Analoge Thermometer besitzen im Gegensatz zu


Für die Messung stehen verschiedene Temperatur- digitalen Thermometern eine dickere Spitze, die bei
messgeräte (Thermometer) zur Verfügung: rektalen Messungen als angenehmer empfunden
Maximalthermometer, analoges Thermometer, wird. Sie haben eine glatte Oberfläche, die einfach zu
Digitalthermometer, reinigen und zu desinfizieren ist. Außerdem benöti-
elektronisches Thermometer, gen analoge Thermometer im Gegensatz zu digitalen
Infrarot-Ohrthermometer, Thermometern keine Batterien. Als Nachteil der ana-
Thermographie. logen Thermometer sind u. a. die zerbrechliche Glas-
hülle anzusehen, sowie das erforderliche Herunter-
Maximalthermometer schütteln des Flüssigmetalls nach dem Messvorgang.
Bei dem Maximalthermometer handelt es sich um
ein analoges Thermometer. Es besteht aus einer Glas- Digitalthermometer
hülle, in der eine in Zehntelgrade eingeteilte Skala Bei den Digitalthermometern (Abb. 10.5) handelt es
und ein Flüssigkeitsgefäß mit einer luftleeren Kapil- sich um batteriebetriebene Geräte, die einen Tempe-
lare vorhanden sind. Die Skala reicht normalerweise ratursensor an der Spitze, einen Ein- und Ausschalter
10
von 35 – 42 ⬚C. sowie eine digitale Temperaturanzeige besitzen. Die
In dem Depot an der Spitze des Thermometers Dauer der Messung beträgt ca. 30 – 60 Sek. und wird
befindet sich ein ungiftiges Flüssigmetall (Abb. 10.4). durch die Betätigung des Einschalters aktiviert.
Bei Erwärmung dehnt sich das Flüssigmetall aus und Während der Messung blinkt die digitale Tempera-
steigt die Kapillare hoch, bei Abkühlung reißt der turanzeige und zeigt den Messvorgang an. Die Tem-
Metallfaden am Übergang vom Depot zur Kapillare peratursignale werden hierbei in Grade umgewan-
ab. Die maximal gemessene Temperatur bleibt sicht- delt. Das Ende des Messvorganges wird optisch
bar und kann an der Skala abgelesen werden. Vor ei- durch eine nicht mehr blinkende Temperaturanzeige
ner erneuten Messung muss das Flüssigmetall von und akustisch durch einen Signalton angezeigt. Der
der Kapillare in das Depot heruntergeschüttelt wer- gemessene Temperaturwert ist auf dem Sichtfeld des
den. Thermometers ablesbar.
Da diese Thermometer ohne Quecksilber arbei-
ten, bruchsicher, wasserdicht und zudem einfach in
der Handhabung sind, haben sie größtenteils das
Maximalthermometer abgelöst. Vor dem Gebrauch
dieser Digitalthermometer ist jedoch die Gebrauchs-
anweisung genau zu lesen, damit Fehler z. B. durch
Nachlassen der Batterieleistung vermieden werden.

Elektronische Thermometer
Bei den elektronischen Thermometern handelt es
sich um dünne Sonden mit Temperaturfühler und
Monitoranschluss. Sie erlauben eine kontinuierliche
Überwachung der Körpertemperatur und finden zu-
meist Anwendung im Bereich der Intensivmedizin
Abb. 10.4 Maximalthermometer und während Operationen. Häufig werden die Son-

162 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
10.1 Technik der Temperaturmessung

Thermographie
Eine weitere Möglichkeit der Temperaturmessung
ist die Thermographie. Hierbei wird die Wärme-
strahlung des Körpers sichtbar gemacht. Bei der Tele-
thermographie wird die Infrarotstrahlung mittels ei-
ner speziellen Infrarot-Kamera aufgenommen.
Bei der Plattenthermographie, auch Kontakt-
thermographie genannt, kommen Flüssigkeitskris-
talle zur Anwendung, die je nach Temperatur ihre
Farbe verändern. Mit solchen Kristallen gefüllte Plat-
ten werden zur Messung auf die entsprechende Kör-
perregion aufgelegt. Die Ergebnisse sind abhängig
von der Gefäßdurchblutung in dem gemessenen Ge-
biet.

Zusammenfassung:
Körpertemperatur
Bei der Körpertemperatur des Menschen wird die
Kerntemperatur (durchschnittlich 37 ⬚C) und die
Schalentemperatur (zwischen 28 ⬚C und 33 ⬚C) un-
terschieden.
Temperaturmessung ist eine der häufigsten Maß-
nahmen bei Unwohlsein oder anderen Symptomen.
Statt der analogen Maximalthermometer, die auf
10
der Ausdehnung von Flüssigmetall bei Erwärmung
Abb. 10.6 Infrarot-Ohrthermometer (Kaz Europe SA) basieren, werden immer mehr Digitalthermometer
verwendet. Sie sind batteriebetrieben, bruchsicher,
wasserdicht.
den in das Rektum eingeführt, doch können sie auch Elektronische Thermometer, Sonden mit Tempera-
in andere Systeme integriert werden und die Anwen- turfühler und Monitoranschluss werden in der In-
dung so vereinfachen. tensivmedizin und bei Operationen verwendet.
Ohrthermometer, die auf Infrarot-Technik basieren,
Infrarot-Ohrthermometer werden vor allem bei Kindern angewandt.
Eine sehr präzise Messung der Körpertemperatur ist Auch mit Telethermographie und Plattenther-
im Ohr möglich, da das Trommelfell und das Ther- mographie kann die Temperatur gemessen werden.
moregulationszentrum im Gehirn die gleiche Blut-
versorgung besitzen. Veränderungen der Körper- 10.1.2 Indikationen zur Messung der
temperatur sind deshalb auch sofort, ohne Zeitver- Körpertemperatur
zögerung, zu erfassen. Verwendet wird bei diesen Die Ermittlung der Körpertemperatur erfolgt aus un-
Ohrthermometern (Abb. 10.6) die Infrarot-Technik, terschiedlichen Gründen, z. B. zur:
das heißt, es wird die vom Trommelfell abgegebene Beurteilung des aktuellen Zustands eines Men-
Infrarot-Strahlung mit Hilfe eines Sensors gemessen schen und Feststellung eines Ausgangswerts (z. B.
und das Messergebnis auf einem Display angezeigt. bei Neuaufnahmen),
Aufgrund der relativ hohen Anschaffungskosten Einschätzung der Wirksamkeit therapeutischer
finden diese Geräte zur Zeit fast nur in Kinderklini- Maßnahmen, wie z. B. Medikamentengabe und
ken Anwendung. Wie bei allen anderen medizini- physikalische Maßnahmen,
schen Geräten muss auch hier vor Gebrauch die Be- Erkennung typischer Fieberverlaufskurven (s. a.
dienungsanleitung genau gelesen werden, um feh- S. 169 – 171),
lerhafte Messungen zu vermeiden.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 163


KaelDesu
10 Körpertemperatur

frühzeitigen Erkennung von Komplikationen, z. B. begradigt werden. Hierzu wird das Ohr bei Kindern
im Rahmen der postoperativen Überwachung, bei gerade nach hinten, bei Erwachsenen schräg nach
Zytostatikatherapie u. a., oben gezogen und dieser Zug während des gesamten
Erfassung von Durchblutungsstörungen, Messvorganges, der ca. 1 Sek. dauert, beibehalten.
Feststellung des Ovulationszeitpunkts. Die Messspitze wird behutsam in den Gehörgang
eingeführt und die Temperatur durch Drücken des
10.1.3 Durchführung der Aktivierungsknopfs über 1 – 2 Sek. gemessen. Nach
Körpertemperaturmessung der Beendigung kann das Ergebnis auf dem Sicht-
Zur Erfassung der Körpertemperatur stehen ver- fenster abgelesen und dokumentiert werden. Die
schiedene Körperstellen zur Verfügung. Sie sind da- Schutzkappe wird entfernt und verworfen, da ver-
durch gekennzeichnet, dass hier größere Blutgefäße schmutzte und beschädigte Kappen die Ergebnisse
verlaufen und der Messbereich weitestgehend von verfälschen.
der Umgebungstemperatur unbeeinflusst ist.
Sublinguale Temperaturmessung

!
Merke: Die Auswahl des Messorts und da- Die sublinguale Temperaturmessung wird auch als
mit der Messart richtet sich nach dem Alter orale Messung bezeichnet. Das Thermometer wird
des Patienten, der Häufigkeit der Kontrolle, hierzu unter die Zunge rechts oder links neben dem
dem Ziel der Maßnahme, den vorhandenen Geräten Zungenbändchen gelegt und dann für die Dauer des
und vor allem auch nach dem Wunsch des Patienten. gesamten Messvorganges mit den Lippen fest um-
schlossen. Ca. 15 Min. vor der Messung sollte der
Die Messung der Schalentemperatur erfolgt direkt Mensch keine kalten oder heißen Getränke zu sich
an der Hautoberfläche, wobei der Messort zumeist nehmen, um die Ergebnisse nicht zu verfälschen. Bei
von der Indikation bestimmt wird. der Verwendung eines Maximalthermometers wer-
den ca. 4 Min. für die Messung benötigt.
10
!
Merke: Für alle Messarten gilt, dass mög- Auf Grund von Husten, Schnupfen oder anderen
lichst alle Wärme- oder Kältespender aus der Erkrankungen der Atemwege sowie bei Verletzungen
Umgebung zu entfernen sind. im Bereich des Mundes ist diese Messart oftmals
nicht durchführbar, weil der Mund zumeist nicht
Bei Thermometern, die von verschiedenen Men- dauerhaft geschlossen gehalten werden kann. Da die
schen verwendet werden, sollten Einmalschutzhül- Gefahr besteht, dass die Thermometer zerbissen
len benutzt werden. Maximalthermometer können werden, sollten Maximalthermometer nur aus-
zur Desinfektion in eine entsprechend konzentrierte nahmsweise verwendet werden.
Lösung eingelegt und mit kaltem Wasser abgespült
werden. Bei anderen Thermometertypen sind die Axillare Temperaturmessung
Hinweise der jeweiligen Hersteller zu beachten. Bei der axillaren Temperaturmessung wird versucht,
Im Folgenden werden die häufigsten Messmetho- durch das feste Andrücken des Oberarms an die seit-
den vorgestellt, die im pflegerischen Alltag Anwen- liche Brustwand das Temperaturfeld so zu verän-
dung finden. Tab. 10.1 zeigt eine Übersicht der ver- dern, dass sich der Körperkern bis in die Achselhöhle
schiedenen Messpunkte mit ihren Vor- und Nachtei- ausdehnt bzw. verschiebt. Diese Messung ist jedoch
len. Auf die Darstellung der Messung z. B. im Ösopha- sehr ungenau.
gus, in der Pulmonalarterie o. Ä., sowie die Anwen- Für die Temperaturmessung muss die Achselhöh-
dung der Thermographie wurde im Folgenden ver- le trocken sein, Reste von Seifen oder Deos sollten zu-
zichtet. vor entfernt werden. Die Thermometerspitze wird so
eingelegt, dass sie vollständig umschlossen ist. Hier-
Messung im äußeren Gehörgang zu muss während der gesamten Messdauer von ca. 4
Zur Feststellung der Kerntemperatur empfiehlt sich Min. der Arm fest an den Körper gedrückt werden.
die Anwendung eines Infrarot-Ohrthermometers. Ermittelt wird hierbei die Körperschalentemperatur.
Nach dem Einschalten des Gerätes wird die Schutz-
kappe aufgesetzt. Damit die Messspitze einen freien
Zugang zum Trommelfell hat, muss der Gehörgang

164 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
10.1 Technik der Temperaturmessung

Tab. 10.1 Vor- und Nachteile verschiedener Temperaturmesspunkte

Messpunkt Messmethode Messdauer Vorteile Nachteile/Gefahren

Gehörgang 쐌 Messspitze mit Schutzkappe 1 Sek. (spezielles 쐌 Kerntemperatur 쐌 ungenauer Messwert bei unkorrekter
in den äußeren Gehörgang Ohrthermometer) 쐌 kurze Messzeit Platzierung des Sensors
einführen 쐌 kann in allen Körper- 쐌 hoher Anschaffungspreis
lagen gemessen wer-
den, leicht zugängli-
cher Messort
쐌 geringer Einfluss
äußerer Faktoren
쐌 hohe Akzeptanz

sublingual 쐌 Thermometerspitze unter ca. 4 Min.* 쐌 einfache, angenehme 쐌 ungenaue Werte, da leicht beeinfluss-
die Zunge, rechts oder links Methode bar durch Umgebungsverhältnisse
neben dem Zungenbänd- 쐌 gute Akzeptanz 쐌 Gefahr des Zerbeißens des Thermo-
chen platzieren meters, deshalb nur für wache und
쐌 Mund muss während der kooperative Menschen geeignet
gesamten Messdauer ge- 쐌 ungeeignet für Menschen mit Erkran-
schlossen gehalten werden kungen im Nasen-Rachen-Raum und
der übrigen Atemwege

axillar 쐌 tief in der Axilla, Thermome- ca. 4 Min.* 쐌 einfache, angenehme 쐌 nur Körperschalentemperatur
terspitze muss vollständig Methode 쐌 leichte Dislokation durch Lageverän-
umschlossen sein 쐌 hohe Akzeptanz derung des Armes
쐌 festes Andrücken des Armes 쐌 beeinflussbar durch äußere Faktoren
an den Oberkörper über die
gesamte Messdauer

rektal 쐌 2 – 3 cm tief in das Rektum ca. 4 Min.* 쐌 Temperatur ent- 쐌 Beeinträchtigung der Intimsphäre
einführen spricht weitgehend 쐌 geringe Akzeptanz 10
der Kerntemperatur 쐌 Verletzung der Analschleimhaut mög-
쐌 kurze Messdauer lich
쐌 Perforationsgefahr des Darmes bei
Säuglingen und insbesondere bei
Frühgeborenen
쐌 Verfälschung der Werte durch Stuhl
im Rektum

* die Angaben beziehen sich auf die Verwendung eines Maximalthermometers und verkürzen sich bei der Verwendung eines Digitalthermometers

Rektale Temperaturmessung mometers erleichtert wird. Unter leichten Drehbe-


Um die Kerntemperatur zu erfassen, wird zumeist wegungen wird das Thermometer ca. 2 – 3 cm tief in
die rektale Temperaturmessung benutzt. Die Tempe- das Rektum eingeführt.
ratur im Mastdarm liegt ca. 0,5 ⬚C niedriger als die Bei der Verwendung eines Maximalthermome-
Kerntemperatur, die bei der Messung in der Pulmo- ters beträgt die Messdauer ca. 3 – 5 Min. Insbesonde-
nalarterie festgestellt wird, reicht aber für klinische re Kinder und unruhige, verwirrte Menschen sollten
Zwecke vollkommen aus. während der Messdauer nicht allein gelassen wer-
Zur Messung wird ein Thermometer mit abgerun- den. Evtl. muss das Thermometer während dieser
deter Spitze verwendet, um Verletzungen der Anal- Zeit festgehalten werden. Bei der Anwendung dieser
schleimhaut zu vermeiden. Häufig werden aus hy- Messart ist zudem zu bedenken, dass sie einen mas-
gienischen Gründen Plastikschutzhüllen angewen- siven Eingriff in die Intimsphäre eines Menschen
det, wobei darauf geachtet werden muss, dass sie darstellt.
durch die Schweißnähte bei empfindlichen Anal-
schleimhäuten zu Reizungen und Verletzungen füh- Vaginale Temperaturmessung
ren können. Der Mensch wird bevorzugt in Seitenla- Die vaginale Temperaturmessung wird zur Feststel-
ge, mit angezogenen Beinen, gelagert, damit sich der lung der Basaltemperatur eingesetzt.
Anus weit öffnet und somit das Einführen des Ther-

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 165


KaelDesu
10 Körpertemperatur

Definition: Unter Basaltemperatur wird die


morgendliche, vor dem Aufstehen, rektal oder °C
Schlafzeit
vaginal gemessene Temperatur zur Bestimmung
des Zeitpunktes des Follikelsprungs verstanden. 37,2
Postovulatorisch

Sie sollte täglich ermittelt werden. Dazu wird ein Tagesmittel


Thermometer so in die Scheide eingelegt, dass die 37,0
Spitze vollständig umschlossen ist.
Die Messdauer bei der Verwendung eines Maxi- Präovulatorisch
36,8
malthermometers beträgt ca. 3 – 5 Min., die Normal- Tagesmittel
werte zeigen Schwankungen bis zu 1⬚, je nachdem, in
welchem Zyklusabschnitt sich die Frau befindet (s. a. 36,6
S. 166).

10.1.4 Dokumentation der Messergebnisse 36,4


Die Ergebnisse der Temperaturmessung werden im
Dokumentationssystem festgehalten. Je nach Art des
36,2
Systems kann es sich hierbei um eine Kurvendoku-
12 18 24 6 12
mentation oder um eine Spaltendokumentation Tageszeit (Ortszeit)
handeln. Beispiele sind in Kap. 8 in Abb. 8.4 und
Tab. 8.1 gegeben. Für die Darstellung einer Tempera- Abb. 10.7 Tagesrhythmische Schwankungen der Körpertempe-
turkurve wird meist die Farbe Blau gewählt. Hier- ratur während des menstruellen Zyklus
durch ist eine deutliche Unterscheidung zur Pulskur-
ve und Atmungskurve gegeben. Neben den ermittel-
10
ten Werten müssen ggf. zusätzlich die Uhrzeit, die
Messart und Besonderheiten wie z. B. Schüttelfrost steigt sie um ca. 0,4 ⬚C an. Diese erhöhte Temperatur
und Schweißausbruch angegeben werden. bleibt bis zur nächsten Menstruation erhalten und
sinkt dann wieder ab (s. a. S. 165).

!
Merke: Verwendete Abkürzungen wie „SF“ In Abb. 10.7 sind die tageszeitlichen Schwankun-
oder „⬇“ für Schüttelfrost müssen in der Le- gen vor und nach der Ovulation dargestellt.
gende des Dokumentationssystems vermerkt Durch körperliche Belastungen kann sich die
werden. Kerntemperatur ebenfalls erhöhen. Bei schwerer Ar-
beit kann es zu einem Temperaturanstieg um bis zu
2 – 3 ⬚C kommen.
10.2 Allgemeine Beobachtungs- Außerdem kann ein Anstieg der Temperatur bei
kriterien und Beschreibung starker emotionaler Belastung beobachtet werden.
des Normalzustands Verantwortlich für diesen Temperaturanstieg ist so-
wohl bei der körperlichen als auch bei der emotiona-
Die normale Körperkerntemperatur beträgt bei der len Belastung ein daraus resultierender erhöhter
rektalen Messung im Tagesmittel 37,0 ⬚C. Sie unter- Stoffwechsel.
liegt tageszeitlichen Schwankungen, die einen endo- Die Schalentemperatur ist sehr stark abhängig
genen zirkadianen Rhythmus darstellen (s. a. S. 204). von den Umgebungsfaktoren. So kann z. B. eine un-
Am frühen Morgen ist die Körpertemperatur am sachgemäße Auswahl der Bekleidung einen Anstieg
niedrigsten, das Temperaturmaximum ist am späten oder einen Abfall der Schalentemperatur bewirken.
Abend messbar. Diese tagesrhythmischen Schwan-
kungen betragen bis zu 1 ⬚C.
Eine hormonell bedingte Temperaturschwan-
kung zeigt sich im Menstruationszyklus der Frau. In
dem Zeitraum zwischen Menstruation und Ovulati-
on ist die Temperatur niedrig, mit der Ovulation

166 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
10.3 Abweichungen, Veränderungen der Körpertemperatur und deren mögliche Ursachen

Zusammenfassung: Hitzeerschöpfung,
Allgemeine Beobachtungskriterien Hitzschlag,
Die Schalentemperatur wird an der Hautoberfläche Sonnenstich,
gemessen. Durstfieber.
Bei der Messung mit dem Infrarot-Ohrthermometer
muss der Gehörgang begradigt werden. Hitzesynkope
Die sublinguale Messung ist häufig aufgrund von Die Hitzesynkope wird auch als Hitzekollaps be-
Erkrankungen nicht durchführbar, die axillare Mes- zeichnet. Hierbei kommt es aufgrund einer Dehydra-
sung sehr ungenau, bei der rektalen Messung be- tation mit Volumenmangel und einer Vasodilatation
steht Verletzungsgefahr und sie bedeutet einen Ein- zu einer kurzfristigen Bewusstlosigkeit. Begleitet
griff in die Intimsphäre. wird diese Bewusstlosigkeit zumeist von einer Hy-
Die Temperaturkurve wird häufig Blau dokumen- potonie, Bradykardie und leichter Hyperthermie. Als
tiert. Ursache werden starkes Schwitzen mit mangelnder
Tagesrhythmische Schwankungen der Temperatur Flüssigkeitsaufnahme bei schweren körperlichen
betragen bis zu 1 ⬚C. Die Temperaturschwankung Anstrengungen und/oder zu warmer Kleidung ange-
kann hormonell bedingt, durch körperliche oder sehen.
emotionale Belastung hervorgerufen sein.
Hitzemuskelkrämpfe
Bei den Hitzekrämpfen oder der Hitzetetanie handelt
10.3 Abweichungen,
es sich um Muskelkrämpfe, die als Folge eines Hitze-
Veränderungen der schadens auftreten. Sie werden durch Salz- und Flüs-
Körpertemperatur und deren sigkeitsverluste bei starkem Schwitzen und fehlender
mögliche Ursachen Kompensation durch Flüssigkeitszufuhr verursacht.
Häufig treten vor den Krämpfen Mattigkeit, Kopf-
10
Bei den Abweichungen der Körpertemperatur vom schmerzen, Brechneigung sowie eine psychische
Normalwert können sowohl Veränderungen nach Reizbarkeit auf. Beobachtet werden diese Hitze-
oben als auch nach unten festgestellt werden. krämpfe vor allem bei schwerer körperlicher Arbeit
unter Hitzeeinwirkung (z. B. Hochofenarbeiter).
10.3.1 Erhöhte Körpertemperatur
Bei der erhöhten Körpertemperatur wird zwischen Hitzeerschöpfung
Veränderungen, die mit einer Sollwerterhöhung im Bei der Hitzeerschöpfung kommt es ebenfalls zu ei-
Hypothalamus einhergehen, und solchen ohne Ver- nem Elektrolyt- und Flüssigkeitsverlust infolge star-
änderung des Sollwerts unterschieden (s. a. S. 161). ken Schwitzens, z. B. im Zusammenhang mit großen
körperlichen Anstrengungen wie sportlicher Betäti-

!
Merke: Die Veränderungen der Körpertem- gung. Neben gastrointestinalen Symptomen wie
peratur ohne Sollwerterhöhung werden als Übelkeit, Erbrechen und Durchfall kommt es bei der
Hyperthermie, die mit Sollwerterhöhung als Hitzeerschöpfung auch zu Herz-Kreislauf-Störun-
Hyperpyrexie oder Fieber bezeichnet. gen, die bis hin zu einem Volumenmangelschock rei-
chen können. Daneben besteht eine Hyperthermie,
Hyperthermie wobei die Körpertemperatur bis auf über 39 ⬚C an-
Definition: Bei der Hyperthermie handelt es steigen kann.
sich um eine Dysfunktion der thermoregulatori-
schen Möglichkeiten des Körpers. Hitzschlag
Die ausgeprägteste Form der Überhitzung ist der
Zu einer Hyperthermie kommt es demzufolge bei ei- Hitzschlag. Er stellt eine akute lebensbedrohliche Si-
ner vermehrten Wärmezufuhr oder Wärmebildung tuation dar, da die Temperaturregulation im Hypo-
bzw. einer verminderten Wärmeabgabe. Bei der Hy- thalamus aussetzt und eine extreme Hyperthermie
perthermie werden folgende Formen unterschieden: auftritt. Gleichzeitig kommt es zum Versagen der
Hitzesynkope, Schweißproduktion. Die Ursache liegt in einer gro-
Hitzemuskelkrämpfe, ßen Hitzezufuhr bei gleichzeitiger Verhinderung der

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 167


KaelDesu
10 Körpertemperatur

Wärmeabgabe, wie sie beispielsweise bei körperli- den. Die verschiedenen Fiebertypen können nach ih-
cher Anstrengung in großer Hitze und gleichzeitiger rer Ursache und nach ihrem Verlauf eingeteilt werden.
hoher Luftfeuchtigkeit auftritt.
Als Symptome sind bei den betroffenen Men- Schweregrade des Fiebers
schen neben einer Temperaturerhöhung auf bis zu Je nach Höhe der Körpertemperatur werden ver-
40 ⬚C und mehr eine heiße, rote, trockene Haut, Kopf- schiedene Schweregrade unterschieden (Tab. 10.2).
schmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Hypotonie und eine Als Ausgangswert gilt zumeist die rektale Tempera-
Tachykardie zu beobachten. Bei den Betroffenen tur. Bei Körpertemperaturen über 42 ⬚C kommt es
kommt es zu einer extremen Weitstellung der Blut- durch die große Hitze zu einer Eiweißgerinnung im
gefäße, die u. a. zu einer Minderversorgung des Ge- menschlichen Körper, die letztendlich zum Tod
hirns und dadurch bedingt zu einer Bewusstlosigkeit führt.
führen.
Fieberursachen
Sonnenstich Je nachdem, welche Ursache dem Fieber zugrunde
Ein Sonnenstich entsteht durch die unmittelbare liegt, werden verschiedene Fiebertypen unterschie-
Einwirkung von Sonnenstrahlen auf den unge- den:
schützten Körper eines Menschen, insbesondere auf Exogene Pyrogene: Bei den exogenen Pyrogenen
den unbedeckten Kopf und Nacken. Als Folge treten handelt es sich um fieberauslösende Substanzen. Sie
ein roter, heißer Kopf, Kopfschmerzen, Ohrensausen können von verschiedenen Krankheitserregern
und Schwindel auf. Dabei kann es auch zu einer ge- (Bakterien, Viren, Pilzen) abgegeben werden, aber
neralisierten Hyperthermie, verbunden mit Kreis- auch von allergieauslösenden Medikamenten oder
laufkollaps und Bewusstlosigkeit, kommen. Fremdeiweißen stammen. Die exogenen Pyrogene
regen Makrophagen und andere Zellen zur Produkti-
Durstfieber on von endogenen Pyrogenen an. Diese wiederum
10
Durch Flüssigkeitsmangel und einer hieraus resultie- setzen eine Reihe von Reaktionen in Gang, an deren
renden Störung der Wärmeabgabe kann ebenfalls ei- Ende die Bildung von Prostaglandin E steht, welches
ne Temperaturerhöhung ausgelöst werden. Es wird eine Erhöhung des Temperatursollwerts im Hypo-
als Durstfieber bezeichnet und kommt besonders
häufig bei Neugeborenen und Säuglingen vor. Die Be-
zeichnung „Durstfieber“ ist hierbei irreführend, da es
nicht zu einer Sollwert-Verschiebung kommt. malignes Leiden Fremdeiweiße immunolo-
gisches Leiden

Fieber bakterielle Medikamente


Endotoxine
Bei dem Fieber (Febris, Hyperpyrexie) handelt es sich nichtinfek-
um eine Erhöhung der Körpertemperatur als Folge ei- Infektion exogene Pyrogene tiöse Ent-
zündung
ner Sollwertverstellung im Hypothalamus. Es stellt
immer ein Symptom einer Erkrankung dar. Beim Fie-
Operation Trauma
ber werden verschiedene Schweregrade unterschie-
endogene Pyrogene

Tab. 10.2 Schweregrade des Fiebers bei rektaler Messung

Körpertemperatur Schweregrad
Prostaglandin E
37,5 ⬚C – 38,0 ⬚C subfebrile Temperatur
Verstellung der Solltemperatur
38,1 ⬚C – 38,5 ⬚C leichtes Fieber im Hypothalamus

38,6 ⬚C – 39,0 ⬚C mäßiges Fieber

39,1 ⬚C – 40,0 ⬚C hohes Fieber FIEBER

⬎ 40,0 ⬚C sehr hohes Fieber


Abb. 10.8 Pathophysiologie des Fiebers

168 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
10.3 Abweichungen, Veränderungen der Körpertemperatur und deren mögliche Ursachen

thalamus bewirkt. Abb. 10.8 zeigt die Pathophysiolo- Bevor ein genauer Erregernachweis möglich war,
gie des Fiebers. gaben die verschiedenen Fieberverlaufskurven
Stammen die exogenen Pyrogene von Bakterien wichtige diagnostische Hinweise. Heutzutage ist es
ab, wird das Fieber auch als bakterielles Fieber be- fast nicht mehr möglich, einen klassischen Fiebertyp
zeichnet, bei anderen Krankheiterregern wird die mit seiner Verlaufsform zu beobachten, da der Tem-
Bezeichnung infektiöses Fieber verwendet, bei Reak- peraturanstieg durch Medikamente oder physikali-
tionen auf Medikamente oder körperfremde Eiweiße sche Maßnahmen unterdrückt bzw. verändert wird.
kommt auch der Begriff toxisches Fieber zur Anwen- Kontinuierliches Fieber: Die Verlaufskurve beim
dung. kontinuierlichen Fieber (Febris continua) zeigt eine
Endogene Pyrogene: Bei der Zerstörung von Kör- gleichmäßig hohe Temperatur von ca. 39,0 ⬚C. Die Ta-
pergeweben wie beispielsweise bei Operationen, gesschwankungen betragen weniger als 1 ⬚C (Abb.
Traumen und Nekrosen können in dem geschädigten 10.9). Das kontinuierliche Fieber kommt bei Schar-
Gebiet auch endogene Pyrogene freigesetzt werden, lach, Typhus abdominalis und Viruspneumonien vor.
in deren Folge es dann zum Fieber kommt (s. a. Remittierendes Fieber: Bei dem remittierendem
Abb. 10.8). Dieses Fieber tritt ca. 24 Stunden nach der Fieber, das auch als Febris remittens oder nachlas-
Schädigung auf, ist leicht und dauert nicht länger als sendes Fieber bezeichnet wird, zeigt die Tagestem-
5 Tage. Fieber, das durch endogene Pyrogene hervor- peraturkurve eine Differenz von bis zu 1,5 ⬚C auf. Die
gerufen wird und nach Gewebsschädigungen auf- Temperatur erreicht am Abend ihren Höhepunkt und
tritt, wird auch als Resorptionsfieber oder asepti- sinkt dann bis zum Morgen ab. Sie bleibt allerdings
sches Fieber bezeichnet. auch auf dem Tiefstand immer über der Normaltem-
Schädigung des Temperaturregulationszent- peratur. Diese Fieberverlaufskurve (Abb. 10.10) ist
rums: Bei einer Schädigung des zentralen Nerven- typisch für Lokal- oder Hohlrauminfektionen (z. B.
systems, z. B. bei Schädelhirntraumen oder Hirntu- Sinusitis, Harnwegsinfektionen) und für eine Lun-
moren, kann es zu einer Irritation bzw. Schädigung gentuberkulose.
10
des Temperaturregulationszentrums kommen. Das Intermittierendes Fieber: Das intermittierende
hieraus resultierende Fieber ist sehr hoch und wird Fieber (Febris intermittens) zeigt im Tagesverlauf fie-
auch als zentrales Fieber bezeichnet. berfreie Intervalle im Wechsel mit hohen Tempera-
Rheumatisches Fieber: Bei dem rheumatischen
Fieber handelt es sich um eine Zweiterkrankung
nach einem Infekt mit Streptokokken. Nach dem Ab-
klingen der Primärerkrankung (z. B. Angina, Zahn- Tag/Monat
wurzelvereiterung) kommt es zu einem beschwer- Kliniktag 1 2 3 4 5 6 7
defreien Intervall, das 1 – 3 Wochen andauert. Bei 2 Puls Temp.
bis 3% der Betroffenen tritt anschließend ein rheu- blau rot
matisches Fieber auf, als Folge einer Immunreaktion 140 40
auf die Streptokokkentoxine.

Fieberverlaufsformen 120 39
Die Fiebertypen können auch nach ihrem Verlauf
eingeteilt werden. Infektionen mit bestimmten Mi-
kroorganismen haben eine charakteristische Fieber- 100 38
kurve, wobei häufig die Tagesschwankungen der
Temperatur das Bild bestimmen. Hierzu gehören das
kontinuierliche, remittierende und intermittierende 80 37
Fieber. Aber auch Verlaufskurven, die über einen
längeren Zeitraum aufgezeichnet werden, können
charakteristische Kurven aufzeigen, wie z. B. das 60 36
rekurrierende, undulierende oder biphasische Fie- 52
ber.
Abb. 10.9 Kontinuierliches Fieber

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 169


KaelDesu
10 Körpertemperatur

Tag/Monat Tag/Monat
Kliniktag 1 2 3 4 5 6 7 Kliniktag 1 2 3 4 5 6 7
Puls Temp. Puls Temp.
blau rot blau rot
Schüttelfrost
140 40 140 40 Schüttelfrost

120 39 120 39

100 38 100 38

80 37 80 37

60 36 60 36
52 52

Abb. 10.10 Remittierendes Fieber Abb. 10.11 Intermittierendes Fieber

turen. Die Tagesdifferenz beträgt 1,5 ⬚C und mehr


10 Tag/
(Abb. 10.11). Bei den Fieberanfällen kann es durch
Monat
schubweises Einschwemmen von Erregern oder To- Kliniktag 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
xinen in die Blutbahn zu einem Schüttelfrost kom- 41°
recurrens
men. Typisch ist ein solcher Fieberverlauf für eine
Sepsis.
Rekurrierendes Fieber: Die Fieberverlaufskurve 40°
bei dem rekurrierenden Fieber (Febris recurrens)
Temperatur

weist mehrtägige Fieberschübe auf, die sich mit fie-


39°
berfreien Intervallen abwechseln (Abb. 10.12). Es
wird deshalb auch vom Rückfallfieber gesprochen.
Typisch sind solche Verläufe bei Borreliosen, d. h. Er- 38°
krankungen, die durch Borrelien (schraubenförmige
Bakterien, Spirochaeten) hervorgerufen werden, und
37°
für Malaria.
Undulierendes Fieber: Das undulierende Fieber
(Febris undulans) zeigt einen wellenförmigen Ver- 36°
lauf. Es beginnt mit einem langsamen Fieberanstieg,
dem sich einige Tage mit hohem Fieber anschließen. Abb. 10.12 Rekurrierendes Fieber
Danach fällt das Fieber wieder langsam ab und es
kann zu mehreren fieberfreien Tagen kommen. An-
schließend erfolgt eine Wiederholung des beschrie- ve gekennzeichnet. Der Anstieg und der Abfall der
benen Verlaufes (Abb. 10.13). Brucellosen und die Temperatur zeigen in der Fieberkurve die Umrisse ei-
Lymphogranulomatose sind durch einen solchen nes Dromedars (Abb. 10.14), weshalb diese Form
wellenförmigen Fieberverlauf gekennzeichnet. auch als Dromedartyp bezeichnet wird. Das biphasi-
Biphasisches Fieber: Bei dem biphasischem Fie- sche Fieber ist charakteristisch für Virusinfektionen
ber ist der Verlauf durch eine zweigipflige Fieberkur- wie beispielsweise Masern oder Poliomyelitis.

170 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
10.3 Abweichungen, Veränderungen der Körpertemperatur und deren mögliche Ursachen

Tag/
Monat
Kliniktag 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21

41° F. undulans

40°
Temperatur

39°

38°

37°

36°

Abb. 10.13 Undulierendes Fieber

Abb. 10.14 Biphasisches Fieber


Tag/
Monat
Kliniktag 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13

41° Fieber im Dromedartyp

40°
Temperatur

39°
10
38°

37°

36°

Die 1. Fieberphase geht zumeist mit unspezifi- Beim Fieber kommt es zu einer Sollwertverstellung
schen Infektsymptomen einher. Nach einem kurzen im Hypothalamus.
Intervall tritt die 2. Fieberphase auf, die von spezifi- Nach den Ursachen werden das bakterielle, in-
schen Organmanifestationen wie z. B. einem Exan- fektiöse, toxische, aseptische, zentrale und rheuma-
them begleitet wird. tische Fieber unterschieden.
Die Fieberverlaufsformen können kontinuierlich,

!
Merke: Die Einteilung der Fiebertypen kann remittierend, intermittierend, rekurrierend,
nach ihrem Verlauf oder den zugrunde lie- undulierend und biphasisch sein.
genden Ursachen erfolgen.
Fieberstadien
Zusammenfassung: Beim Fieber können 3 verschiedene Stadien unter-
Hyperthermie und Fieber schieden werden, das Stadium
Bei der Hyperthermie liegt eine thermoregulatori- des Fieberanstiegs,
sche Störung vor. der Fieberhöhe und
Formen der Hyperthermie sind Hitzesynkope des Fieberabfalls.
(Hitzekollaps), Hitzemuskelkrämpfe (Hitzetetanie),
Hitzeerschöpfung, Hitzschlag, Sonnenstich und Das Stadium des Fieberanstiegs wird auch als Stadi-
Durstfieber. um incrementi bezeichnet. Der Fieberanstieg kann
langsam oder schnell erfolgen. Bei einem schnellem

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 171


KaelDesu
10 Körpertemperatur

Anstieg und hohem Fieber kann oftmals begleitend Stunden als Krisis bezeichnet. Bei der Lysis ist der
ein Schüttelfrost (s. u.) beobachtet werden. Der Hy- Schweiß großperlig und warm. Im Gegensatz zur Ly-
pothalamus verstellt in diesem Stadium seinen Tem- sis besteht bei der Krisis immer auch eine Kollapsge-
peratursollwert nach oben und der Körper versucht, fahr, die durch ein erneutes Ansteigen der Pulsfre-
seine Wärmeabgabe zu vermindern, z. B. durch Eng- quenz angezeigt wird und bei dem kalter kleinperli-
stellung der Gefäße. Gleichzeitig versucht der Körper ger Schweiß auftreten kann.
auch, durch Muskelzittern die Wärmeproduktion zu

!
erhöhen (Abb. 10.15). Merke:
Das folgende Stadium der Fieberhöhe oder Hitze- Beim Fieberabfall werden Lysis und Krisis un-
stadium wird Fastigium genannt. terschieden.
Als drittes Stadium folgt das Stadium des Fieber-
abfalls, welches auch als Stadium decrementi be- Schüttelfrost
zeichnet wird. Hierbei normalisiert sich der Tempe- Definition: Unter einem Schüttelfrost werden
ratursollwert wieder und die Wärmeabgabe wird unwillkürliche, rasche Zitterbewegungen der
durch starkes Schwitzen und eine Weitstellung der Skelettmuskulatur verstanden.
Gefäße gesteigert (Abb. 10.16).
Ein langsamer, über mehrere Tage andauernder Sie gehen zumeist mit einem Kältegefühl einher.
Abfall wird als Lysis, ein schneller Abfall der Tempe- Physiologisch kann ein Schüttelfrost bei plötzlicher,
ratur auf Werte unter 38,0 ⬚C innerhalb weniger großer Kälteeinwirkung oder langanhaltender Kälte-
einwirkung auftreten (Kältezittern).
Pathologisch kommt es zu einem Schüttelfrost
durch im Blut kreisende Krankheitserreger oder de-
Sollwert ren Toxine, die eine Reizung des Temperaturregulati-
Temperatur steigt
onszentrums verursachen. Diese Irritation hat eine
10
Erhöhung des Temperatursollwerts im Hypothala-
mus zur Folge. Um diesen Sollwert zu erreichen, ver-
sucht der Körper, durch Muskelkontraktionen Wär-
me zu produzieren.
Der Schüttelfrost kann in vier verschiedene Sta-
Wärmeabgabe Wärmeproduktion dien eingeteilt werden (Abb. 10.17).
(Blässe, Frieren) (Zittern, Muskeltonus )

1. Stadium: Temperaturanstieg
Es kommt zum typischen Muskelzittern mit Zähne-
klappern, das bis zum Schütteln des gesamten Kör-
Abb. 10.15 Fieberanstieg
pers führen kann. Daneben besteht ein subjektives
Kältegefühl (Frösteln), die Haut ist blass bis zyano-
tisch.
Sollwert
Temperatur sinkt 2. Stadium: Fieberhöhe
Während dieses Stadiums ist der Betroffene unruhig
und ängstlich. Er klagt zumeist über Durst. Hitzezei-
chen wie beispielsweise eine trockene, heiße Haut
sind zu beobachten.

Wärmeabgabe Wärmeproduktion 3. Stadium: Entfieberung


(Schwitzen) (Muskeln erschlaffen) Das Stadium der Entfieberung ist durch starke
Schweißausbrüche gekennzeichnet. Die Entfiebe-
rung kann sowohl lytisch als auch kritisch erfolgen
(s. o.).
Abb. 10.16 Fieberabfall

172 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
10.3 Abweichungen, Veränderungen der Körpertemperatur und deren mögliche Ursachen

Abb. 10.17 Stadien des Schüttelfrostes

Fieberhöhe
Unruhe
trockene, heiße Haut
Durstgefühl

Temperaturanstieg Entfieberung
Muskelkontraktionen (lytisch oder kritisch)
Zähneklappern starke Schweißausbrüche
Frösteln feuchte, heiße Haut

Reizung des
Wärme- Erschöpfungs-
regulations- schlaf
zentrums

4. Stadium: Erschöpfungsschlaf Tab. 10.3 Schweregrade der Hypothermie bei rektaler


Zur Erholung, Regeneration sinkt die betroffene Per- Messung und Zuordnung der klinischen Symptome

son nach dem Fieberabfall in einen tiefen Erschöp- Körper- Schweregrad klinische Symptome
fungsschlaf. temperatur

⬎ 34,0 ⬚C leichte Kältezittern, Engstellung der 10


!
Merke: Schüttelfrost bedeutet für den be- Hypothermie Gefäße, Schmerzen, Anstieg
troffenen Menschen ein dramatisches Ereig- der Pulsfrequenz und des
nis. Deshalb ist eine intensive psychische Be- Blutdrucks, erhöhter O2-Ver-
brauch
treuung wichtig.
34,0 ⬚C – 27,0 ⬚C mäßige fortschreitende Schmerzun-
10.3.2 Verminderte Körpertemperatur Hypothermie empfindlichkeit, Puls- und
Atmungsverlangsamung,
Bei der verminderten Körpertemperatur ist die Hy-
Arrythmien, Muskelstarre,
pothermie von den Kälteschäden (Erfrierungen) zu Reflexabschwächung, Som-
unterscheiden. nolenz, Bewusstlosigkeit ab
ca. 32,0 ⬚C

Hypothermie ⬍ 27,0 ⬚C schwere allmähliches Erlöschen aller


Definition: Unter einer verminderten Körper- Hypothermie autonomen Körperfunktio-
temperatur oder einer Hypothermie wird das nen bis hin zum Kältetod

Absinken der Körpertemperatur auf Werte unter


35,0 ⬚C verstanden.
krankheitsbedingte Hypothermie,
Physiologisch kann eine Hypothermie im Schlaf auf- akzidentelle Hypothermie,
treten. kontrollierte Hypothermie.
Hinsichtlich der Schweregrade werden eine leich-
te, mäßige und schwere Hypothermie unterschie- Krankheitsbedingte Hypothermie
den. Je nach Schweregrad bzw. Höhe der Körpertem- Krankheitsbedingt kann eine Hypothermie im Rah-
peratur treten verschiedene klinische Symptome auf, men einer schweren Hypothyreose auftreten. Durch
die vom Kältezittern bis zur Asystolie reichen kön- den stark verminderten Stoffwechsel kommt es hier-
nen (Tab. 10.3). Nach ihrer Ursache können verschie- bei zu dem Absinken der Temperatur. Des Weiteren
dene Hypothermieformen unterschieden werden: kann eine Hypothermie bei einer ausgeprägten Ka-
chexie aufgrund der fehlenden Fettdepots auftreten.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 173


KaelDesu
10 Körpertemperatur

Bei zentralen Regulationsstörungen, die bei- Tab. 10.4 Schweregrade der Erfrierung und Zuordnung
spielsweise bei Hirntumoren, Hirnverletzungen oder der klinischen Zeichen

Intoxikationen auftreten können, sind ebenfalls Hy- Schweregrad klinische Zeichen


pothermien zu beobachten. In den letztgenannten
1. Grad: 쐌 Blässe
Fällen wird auch von einer zentralen Hypothermie
(Congelatio 쐌 Abkühlung
gesprochen. erythematosa) 쐌 Gefühllosigkeit
쐌 nach Wiedererwärmung Hyper-
Akzidentelle Hypothermie ämie
쐌 leichte Schmerzen
Bei der akzidentellen Form kommt es durch unbeab- 쐌 Juckreiz
sichtigte Unfälle wie beispielsweise Berg- und Er-
trinkungsunfälle zu einer Kälteexposition. Daneben 2. Grad: 쐌 sofort oder nach einigen Stunden
(Congelatio bullosa) entstehende Blasen, die ohne Nar-
sind besonders hilflose, immobile Menschen gefähr-
benbildung abheilen können
det, die sich längere Zeit in nasser, kalter Umgebung
aufhalten. 3. Grad: 쐌 trockene Nekrosen (Mumifikation)
(Congelatio escharotica) oder blaurote Blutblasen, nach
Eine weitere Risikogruppe stellen Menschen nach
deren Platzen nasse Nekrosen
Drogen-, insbesondere Alkoholkonsum, dar. Der Al- verschiedener Tiefe sichtbar
kohol vermindert die Kälteempfindung, bei gleich- werden
쐌 Abheilung unter Narbenbildung
zeitiger Vasodilatation, Bewusstseinseinschränkung
und reduzierter Gefahrenwahrnehmung.

Kontrollierte Hypothermie Die Entstehung von Kälteschäden wird gefördert


Im Gegensatz zu der akzidentellen Hypothermie han- durch Disposition (abnorme Reaktionsbereitschaft
delt es sich bei der kontrollierten Hypothermie um ei- des Gefäßsystems), Nikotinabusus, das Tragen eng
ne gewollte Herabsetzung der Körpertemperatur. Sie anliegender, nasser Kleidung und die Einwirkung
10
erfolgt z. B. mit Hilfe eines Wärmetauschers bei der von Feuchtigkeit (Nasserfrierung) und Wind.
Anwendung der Herz-Lungen-Maschine oder durch Nach ihrem Schweregrad wird die Erfrierung in 3
Oberflächenkühlung. Grade eingeteilt. Die Tab. 10.4 zeigt die Einteilung
Die kontrollierte Hypothermie führt zu einer He- der Schweregrade mit den entsprechenden klini-
rabsetzung der Stoffwechselvorgänge und ermög- schen Zeichen.
licht eine Verminderung des Sauerstoffverbrauchs.
Sie findet dementsprechend Anwendung bei Opera-
tionen, in deren Verlauf eine teilweise oder vollstän- 10.4 Ergänzende
dige Unterbrechung der Blutversorgung lebenswich- Beobachtungskriterien
tiger Organe erforderlich ist. Insbesondere in der of-
fenen Herzchirurgie, der Neurochirurgie und bei Eine Abweichung der Körpertemperatur vom Nor-
Transplantationen wird die kontrollierte Hypother- malwert ist häufig ein Zeichen für eine vorliegende
mie eingesetzt. Erkrankung. Insbesondere das Fieber ist ein deutli-
ches Krankheitssymptom, weist aber daneben auch
Erfrierungen selbst weitere objektive und subjektive Krankheits-
Bei der Erfrierung (Congelatio) handelt es sich um ei- zeichen auf, die immer mit beobachtet werden müs-
ne durch Kälteeinwirkung hervorgerufene örtliche sen. Abb. 10.18 zeigt diese verschiedenen Begleit-
Gewebeschädigung der Haut und tieferer Gewebe- symptome des Fiebers, die bei der individuellen Pfle-
schichten. Das klinische Bild gleicht dem der Ver- ge eines betroffenen Menschen berücksichtigt wer-
brennung, doch fehlen bei der Erfrierung die Allge- den müssen.
meinerscheinungen, die bei der Verbrennung durch Eine besondere Bedeutung spielen hierbei die Be-
einen Schock und Toxine hervorgerufen werden. Be- obachtung des Pulses und der Atmung, die sich ana-
sonders gefährdet gegenüber Erfrierungen sind die log des Fieberanstiegs verändern. So steigt die Puls-
peripheren Abschnitte der Extremitäten, insbeson- frequenz bei 1⬚ Temperaturerhöhung um ca. 8 – 12
dere die Finger und Zehen sowie Nase, Ohren, Joch- Schläge/min. Durch den erhöhten Stoffwechsel steigt
bein und Kinn. die Atemfrequenz ebenfalls an.

174 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
10.4 Ergänzende Beobachtungskriterien

Objektive Begleit-
erscheinungen
des Fiebers
erhöhte Atemfrequenz
Muskelzittern, Zähne-
- durch erhöhten Stoffwechsel mit
klappern, Schüttelfrost
erhöhtem O2-Bedarf
Subjektive Begleit- - reflektorisch veran-
- Wärmeabgabe über Ausatmungs-
erscheinungen laßte Wärmeproduktion
luft
des Fiebers

gerötete, heisse, Lichtempfind- blasse, kalte Haut


trockene Haut lichkeit - Gefäßkonstriktion zum
- Vasodilatation zur der Augen Schutz vor Wärmever-
Wärmeabgabe bei lust bei Fieberanstieg
erreichtem Sollwert Kopf- und Glieder-
schmerzen
- ständig eröhter
Muskeltonus
- Muskelzittern
trockene, belegte Zunge
- Flüssigkeitsverluste
allgemeine Unruhe - Mundatmung
bis Schlaflosigkeit - verminderte Speichel-
- Stoffwechselerhöhung produktion

Durst
- erhöhter Flüssig-
keitsbedarf bei
Obstipation abwechselndes erhöhtem Flüssig-
keitsverlust
verminderte 10
- verminderte Hitze- und Urinmenge
Darmmotorik Kältegefühl (konzentriert)
bei Flüssigkeits- - Über- oder Un- - Flüssigkeits-
und Bewe- terschreiten des verluste über
gungsmangel Sollwertes die Haut

Schwitzen bei geröteter, Fieberdelirium (Bewußtseins-


heisser Haut trübung mit Wahnideen
- Vasodilatation zur Wärme- allgemeines Krankheitsgefühl und motorischer Unruhe)
abgabe zur Erreichnung des (Schwäche. Müdigkeit, - toxische Wirkung der fieber-
normalen Sollwertes Appetitlosigkeit) erzeugenden Stoffe
(Fiebersenkung) - Stoffwechselerhöhung
- Toxinwirkung

erhöhte Pulsfrequenz
(8 – 12 Schl./Min pro 1°C Temperaturerhöhung
- durch erhöhten Stoffwechsel mit erhöhtem O2-Bedarf
- Erhöhung des Herzminutenvolumens führt zum Ab-
transport fiebererzeugender Stoffe und raschem Trans-
port körpereigener Abwehrstoffe

Abb. 10.18 Subjektive und objektive Begleiterscheinungen des Fiebers

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 175


KaelDesu
10 Körpertemperatur

Bei allen Veränderungen der Körpertemperatur Konduktion: Sie bedeutet Wärmeleitung/Wär-


muss neben Puls und Atmung auch ein Schwerpunkt meabgabe durch das Lagern auf kalten Unterlagen
auf die Beobachtung der Bewusstseinslage und der bei unzureichenden Wärmequellen während
Haut gelegt werden. pflegerischer, diagnostischer und/oder therapeu-
tischer Eingriffe wie z. B. Wickeln, Röntgen und/
Zusammenfassung: oder Intubieren des Frühgeborenen.
Hypothermie und ergänzende Beobach- Evaporation: Hier entsteht Wärmeverlust durch
tungskriterien: Verdampfung. Über die noch unreife durchlässige
Das Absinken der Körpertemperatur, die Hypother- Haut des Frühgeborenen geht Feuchtigkeit verlo-
mie, kann krankheitsbedingt sein, durch Unfälle ren, solange er keine angefeuchtete und ange-
oder nach Drogenkonsum eintreten oder aber als wärmte Luft erhält.
kontrollierte gewollte Herabsetzung der Körpertem- Radiation: Radiation bedeutet Wärmeabstrah-
peratur (z. B. bei Operationen) erfolgen. lung und tritt auf, wenn die Umgebung des Früh-
Bei Erfrierungen handelt es sich um Gewebeschädi- geborenen kälter ist als seine Umgebungstempe-
gungen aufgrund örtlicher Kälteeinwirkung. ratur. Deshalb muss die Raumtemperatur be-
Bei Abweichungen der Körpertemperatur können darfsgerecht reguliert werden (Abb. 10.19).
eine Reihe von subjektiven und objektiven Begleit-
erscheinungen beobachtet werden, wobei insbeson- Die erwünschte und für den Reifungsprozess erfor-
dere der Puls und die Atmung beachtet werden derliche Körpertemperatur eines Frühgeborenen
müssen. sollte 36,7 – 37,3 ⬚C betragen. Zum Schutz vor Aus-
kühlung sollten bei der Versorgung von Frühgebore-
nen wärmeerhaltende Maßnahmen angewandt wer-
10.5 Besonderheiten bei Kindern den. Beispielsweise die Versorgung unter einer Wär-
Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm melampe oder das Tragen einer Mütze außerhalb des
10
Inkubators.
Die Körpertemperatur gibt Auskunft über das Wohl-

!
befinden oder Unwohlsein eines Kindes. Abweichun- Merke: Die Thermolabilität findet ihre Ursa-
gen der normalen Körpertemperatur sind im Kindes- che in der Unreife des temperaturregulieren-
alter häufig und müssen als ein ernst zu nehmendes den Zentrums, in der herabgesetzten Muskel-
Symptom bewertet werden. tätigkeit, im geringen Fettpolster und in der ungenü-
Die Regulierung der Körpertemperatur ist von genden Schweißbildung (s. a. S. 122 u. 346).
verschiedenen Faktoren abhängig, z. B. vom Alter des
Kindes, der Umgebungstemperatur, pathophysiolo-
Evaporation
gischen Veränderungen im Organismus.
Ein Frühgeborenes kann die Körpertemperatur Radiation
nicht selbstständig regulieren. Das im Hypothalamus
liegende Wärmeregulationszentrum ist noch nicht
voll ausgereift. Ein weiterer Faktor ist der hohe Wär- Konvektion
meverlust gegenüber einer zu geringen Wärmepro-
duktion. Die große wärmeabgebende Körperoberflä-
che des Frühgeborenen steht nicht im Verhältnis
zum wärmebildenden Körpervolumen. Eine redu-
zierte Wärmeisolierung der Haut durch Mangel an
subkutanem Fettgewebe ist ein weiteres Indiz für die
schnelle Wärmeabgabe. Zum Verlust der Körperwär-
me des Frühgeborenen an die Umgebung führen
weitere Mechanismen wie die: Konduktion
Konvektion: Sie entsteht durch kalte Luft/Zugluft
aufgrund offen stehender Türen bzw. Inkubator- Abb. 10.19 Mechanismen des Wärmeverlustes beim Frühgebo-
klappen. renen

176 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
10.5 Besonderheiten bei Kindern

10.5.1 Technik der Temperaturmessung bei Die Messung mit einem Infrarot-Ohrthermome-
einem Frühgeborenen ter ist bei korrekter Anwendung und einer kurzen
Je nach Klinikstandard werden unterschiedliche Me- Messdauer für Kinder eine sehr geeignete Methode.
thoden angewendet. Die rektale Temperaturmessung ergibt zwar ei-
Bei Frühgeborenen unter 1500 g erfolgt zunächst nen genauen unverfälschten Wert der Körperkern-
die axillare Messung, um einer Perforation des temperatur, hat aber zum Nachteil, dass sie die In-
Darms vorzubeugen. Die rektale Messung wird bei timsphäre von Kindern beeinträchtigt und deshalb
Frühgeborenen über 1500 g oder bei angeordneter eher abgelehnt wird. Sie ist daher genau abzuwägen
kontinuierlicher Messung angewendet. Da es bei und nur sinnvoll, wenn eine exakte Messung not-
Frühgeborenen keine großen Temperaturunter- wendig ist. Neugeborene, Säuglinge und Kleinkinder
schiede zwischen axillarer und rektaler Messung legt man zur rektalen Messung auf den Rücken oder
gibt, wird in einigen Kliniken axillar gemessen. Le- auf die Seite, das Gesäß auf z. B. einer Windel, da ge-
diglich bei auffälligen Temperaturen von ⬍ 36,5 und legentlich die Einführung der Thermometerspitze
⬎ 37,3 ⬚C wird rektal nachgemessen. Stuhldrang und somit Stuhlabgang auslöst. In diesem
Die Technik der rektalen Messung ist bereits in Fall muss der Messvorgang wiederholt werden.
10.1.3 beschrieben. Allerdings wird bei den Frühge- Während der Messung werden mit einer Hand die
borenen auf die Anwendung einer Plastikschutzhülle Beine des Kinds in Beugehaltung fixiert und mit der
verzichtet. Die harte Schweißnaht kann zu einer anderen Hand das Thermometer festgehalten
Schleimhautläsion im Darm führen. (Abb. 10.20). Bei Säuglingen unter drei Monaten darf
Ein weitere Möglichkeit zur Messung der periphe- das Thermometer nicht mehr als 1,5 cm eingeführt
ren Temperatur ist eine Hauttemperatursonde mit ei- werden um eine Verletzung des Darms zu vermei-
ner scheibenförmigen Elektrode, die peripher an den. Bei älteren Kindern entspricht der Messvorgang
Fußsohle/Fußrücken oder auch am Brustkorb/Bauch den Angaben unter 10.1.3.
des Kindes angebracht werden kann. Diese Elektrode Die orale sublinguale Temperaturmessung sollte
10
leitet die Temperatur an einen Monitor weiter. Es gibt nur bei älteren kooperativen Kindern, die das Ther-
Inkubatoren, die aufgrund des Temperaturergebnis- mometer nicht zerstören/zerbeißen, angewendet
ses ihre Temperatur selbstständig regeln können. werden.
Hier gilt es, die Anweisung des Herstellers zu berück- Die Messung mit einem Infrarot-Haut- oder Stirn-
sichtigen, an welchem Messort die Hauttemperatur- thermometer ist zur Zeit noch nicht evidence-based.
sonde angebracht werden soll. Diese Methode ist be- Hier wird der Infrarotstrahlungsscanner über die
sonders sinnvoll bei unreifen Frühgeborenen. Je ge- Stirn und die Temporalarterie des Kindes geführt.
ringer das Unterhautfettgewebe ist, desto massiver

!
unterliegen die Frühgeborenen Temperaturschwan- Merke: Bei der Anwendung der rektalen
kungen, die auch zu Untertemperatur führen kön- Temperaturmessung müssen die Beine des
nen. Dazu werden digitale Spezialthermometer mit Säuglings und das Thermometer gehalten
erweiterter Messskala von 25 – 42 ⬚C verwendet. werden. Bei Verletzungen, Entzündungen oder Opera-
tionen im Anal- und Darmbereich darf keine rektale

!
Merke: Bei einem Frühgeboren gibt es keine Messung durchgeführt werden.
großen Temperaturunterschiede zwischen
axillarer und rektaler Messung. Letztere darf 10.5.3 Abweichungen vom Normalzustand
aufgrund der Verletzungsgefahr durch Schweißnähte Allgemeine Symptome der Temperaturerhöhung:
nur ohne Schutzhülle durchgeführt werden. Das Kind ist antriebsarm, möchte mehr schlafen
und äußert Unwohlsein.
10.5.2 Technik der Temperaturmessung bei Das Kind hat ein rotes Gesicht, fühlt sich heiß an,
Neugeborenen, Säuglingen und gibt jedoch an zu frieren, und hat glasige Augen.
Kleinkindern Das Kind ist appetitlos, trinkt viel und klagt über
Diese Technik unterscheidet sich im Wesentlichen Übelkeit und Kopfschmerzen.
nicht von der Technik der Temperaturmessung beim Das Kind hat eine Tachypnoe und Tachykardie.
Erwachsenen, die bereits in 10.1 beschrieben wurde.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 177


KaelDesu
10 Körpertemperatur

Abb. 10.20 Rektale Temperaturmessung


beim Säugling

Nach Ermittlung einer stark erhöhten Körpertempe- ist primär von einem zerebralen Krampf nicht zu un-
ratur sollten je nach Anordnung des Arztes fieber- terscheiden. Er tritt häufig bei einem raschen Fieber-
10
senkende Maßnahmen eingeleitet werden. anstieg im Säuglings- und Kleinkindalter auf und be-
Je nach Art und Auslösung des Fiebers und nach darf sofortiger ärztlicher Betreuung. Die Maßnah-
Ermittlung der Fiebertypen stehen folgende Mög- men erstrecken sich auf die Unterbrechung des
lichkeiten zur Verfügung: Krampfanfalles und Senkung der Körpertemperatur.
physikalische Maßnahmen, z. B. Wadenwickel, Daran schließt sich eine engmaschige Überwachung
medikamentöse Maßnahmen, z. B. Gabe von Anti- des Kindes einschließlich einer kontinuierlichen
pyretika, Überwachung der Körpertemperatur an. In diesem
Therapie des Grundleidens, z. B. Gabe von Anti- Fall müssen bereits bei gering erhöhter Temperatur
biotika. fiebersenkende Maßnahmen stattfinden.

Welche Maßnahmen angewendet werden, hängt im


Wesentlichen vom Alter, Zustand und Ursache der
10.6 Besonderheiten bei älteren
Temperaturerhöhung ab. Die Indikation zur Einlei- Menschen
tung von physikalischen Maßnahmen, z. B. Waden- Panajotis Apostolidis*, Petra Schmalstieg
wickeln beim Neugeborenen/Säugling, muss sehr
streng und individuell überlegt werden. Die Temperaturempfindung des Menschen nimmt
Ein mögliches Pflegeproblem ist die Gefahr eines mit zunehmendem Alter ab. Verstärkt wird dies
Flüssigkeitsverlusts durch erhöhtes Schwitzen, und/ durch altersbedingte Erkrankungen wie Arterioskle-
oder Erbrechen der Trinkmenge und dadurch eine zu rose oder Diabetes mellitus. Es kommt hierbei zu ei-
geringe Aufnahme von Flüssigkeit. Besonders Früh- ner Veränderung an dem Blutgefäßsystem mit Min-
geborene, Säuglinge und Kleinkinder haben ein er- derversorgung der Extremitäten. Hierdurch entsteht
höhtes Dehydratationsrisiko und benötigen sofort eine subjektiv und objektiv messbare Temperaturre-
Flüssigkeit. Eine Kontrolle und Dokumentation der duzierung in den Extremitäten. Dies erklärt die „kal-
Ein- und Ausfuhr ist angezeigt. ten Füße“ älterer Menschen.
Ein weiteres Pflegeproblem kann sich durch die Neben den Durchblutungsstörungen kommt es
Auswirkungen eines Fieberkrampfes ergeben, dieser beispielsweise beim Diabetes mellitus auch zu Verän-

178 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
10.7 Fallstudien und mögliche Pflegediagnosen

derungen an Nervenendigungen, die Sensibilitätsstö- Die Pflegediagnose Hyperthermie zeigt die folgende
rungen zur Folge haben und die Temperaturempfin- Übersicht:
dung der älteren Menschen zusätzlich beeinflussen.
Immobilität und Bewegungseinschränkungen kön- Hyperthermie (P)
nen zu Schwierigkeiten bei der Anpassung an die Um- (Gordon 2013, S. 170 – 171, NANDA-I 2016)
gebungstemperatur durch eine verminderte körperli- Hyperthermia (00007) (1986)
che Aktivität und Problemen beim Ankleiden führen. Taxonomie II: Domäne 11: Sicherheit/Schutz,
Klasse 6: Thermoregulation
Zusammenfassung: Diagnosetyp (Dokumentationsform): aktuelle Pflege-
Besonderheiten bei Kindern und älteren diagnose (PES)
Menschen: Funktionelles Gesundheitsverhaltensmuster:
Ein Frühgeborenes kann die Körpertemperatur Ernährung und Stoffwechsel
nicht selbstständig regulieren.
Definition
Mangelndes subkutanes Fettgewebe, ein noch nicht
Erhöhte Körpertemperatur oberhalb des Normbereichs
ausgereiftes Wärmeregulationszentrum sowie Kon-
vektion, Konduktion, Evaporation und Radiation Einflussfaktoren (E)
führen zu Wärmeverlust beim Frühgeborenen. einer heißen Umgebung ausgesetzt sein
Bei Frühgeborenen wird die Temperatur axillar übermäßige Aktivität
oder mit einer Hauttemperatursonde gemessen, die Medikamente
orale, sublinguale Messung ist erst bei älteren Kin- Narkose
dern angebracht. unangemessene Kleidung
Ältere Menschen haben ein geringeres Temperatur- erhöhter Stoffwechsel
Krankheit
empfinden und leiden unter Minderversorgung der
Verletzung
Extremitäten („kalten Füßen“).
Dehydration 10
(Unvermögen oder) reduzierte (Fähigkeit zur)
10.7 Fallstudien und mögliche Schweißbildung

Pflegediagnosen Kennzeichen oder Symptome (S)


Hauptkennzeichen
Wie aus den vorausgegangenen Ausführungen er- Anstieg der Körpertemperatur über den Normbereich
sichtlich, gibt es zahlreiche Ursachen für Tempera- Nebenkennzeichen
turveränderungen. Ebensoviele pflegerische Proble- Fieberkrämpfe
me können sich aus diesen Temperaturveränderun- gerötete Haut
gen und deren Begleiterscheinungen ergeben. Krampfanfälle
Tachykardie
Beispiel: Herr Fallner, 45 Jahre, wurde von Tachypnö
seinem Hausarzt mit der Diagnose „rezidi- fühlbare Überwärmung
vierende Temperaturschübe bis 40,0 ⬚C“ in
Pflegeergebnis (Outcome)
die Klinik eingewiesen. Zur Zeit beträgt die Körpertem-
Wärmeregulation (Thermoregulation)
peratur 39,5 ⬚C rektal. Herr Fallner schwitzt stark. Es Gleichgewicht zwischen wärmeproduktion, -zufuhr
besteht eine Tachykardie von 122 Schlägen/min und ei- und -verlust
ne leichte Tachypnoe. Da Herr Fallner in der letzten Zeit
bereits mehrere Schübe mit teilweise sehr hohen Tem-
peraturen erlitten hat, kennt er die verschiedenen Be-
gleitsymptome. Er äußert Wünsche bezüglich verschie-
dener Maßnahmen, die ihm während solcher Fieber-
schübe Erleichterung und ein verbessertes Wohlbefin-
den verschaffen.
Tab 10.5 zeigt einen Auszug aus dem Pflegeplan von
Herrn Fallner.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 179


KaelDesu
10 Körpertemperatur

Tab. 10.5 Auszug aus dem Pflegeplan von Herrn Fallner

Pflegeproblem Ressourcen Pflegeziele Pflegemaßnahmen

hohes Fieber unbekannter 쐌 kennt Fieberschübe FZ: 쐌 Information des Patienten über die ge-
Genese mit starkem Schwit- 쐌 weiß, welche Maßnah- 쐌 hat Normaltemperatur planten Maßnahmen und Frage nach
zen men ihm Erleichterung NZ: Wünschen
und Wohlbefinden ver- 쐌 erfährt keine Komplika- 쐌 rektale Temperatur-, Puls-, Blutdruck-
schaffen, und äußert die- tionen wie z. B. Kreislauf- und Atmungskontrolle nach Plan (im
se kollaps Zimmer)
쐌 hat verbessertes Wohlbe- 쐌 kühle Abwaschungen und frische Wäsche
finden nach Bedarf
쐌 schwitzt weniger 쐌 kühle Wunschgetränke anbieten (Trink-
쐌 trinkt ausreichend (mind. menge: mind. 3 l/Tag)
3 l/Tag)

Tab. 10.6 Auszug aus dem Pflegeplan von Lara

Pflegeproblem Ressourcen Pflegeziele Pflegemaßnahmen

Temperaturschwankungen 쐌 im Inkubator herrscht ei- 쐌 erfährt keine zusätzlichen 쐌 Kontinuierliche Temperaturkontrolle


und leichte Hypothermie ne ausgeglichene Tempe- Komplikationen durch über Temperatursonde
bei frühgeburtlicher Unreife ratur frühzeitiges Erkennen von 쐌 Positionierung in einem „Nestchen“, ggf.
und fehlendem Unterhaut- 쐌 Mutter besucht Lara Veränderungen zudecken
fettgewebe regelmäßig und nimmt 쐌 Lara hat warme Extremi-
Körperkontakt zu ihr auf täten

10
Die entsprechende Pflegediagnose für Herrn Fallner Die folgende Übersicht zeigt die Pflegediagnose „Ge-
könnte folgendermaßen lauten: fahr einer unausgeglichenen Körpertemperatur“:
Hyperthermie
angezeigt durch (a/d) Anstieg der Körpertempe- Gefahr einer unausgeglichenen Körper-
ratur über das normale Maß hinaus, erhöhte temperatur (P)*
Atemfrequenz und Tachykardie. (Gordon 2013, S. 176, NANDA-I 2016)
Risk for imbalanced body temperature (00005)
Beispiel: Lara ist 6 Tage alt und in der 28 + 2 (1986, 2000)
SSW durch Sektio entbunden. Sie wiegt jetzt Taxonomie II: Domäne 11: Sicherheit/Schutz,
1540 g und ist 40 cm groß. Zur Zeit liegt Lara Klasse 6: Thermoregulation
im Inkubator. Da sie schlecht trinkt, wird ihr die fehlen- Diagnosetyp (Dokumentationsform): Pflegediagnose
de Nahrungsmenge über eine Magensonde zugeführt. (PES)
Die Atmung ist unauffällig, das Hautkolorit rosig bis Funktionelles Gesundheitsverhaltensmuster:
blass, die Extremitäten sind kühl. Die Körpertempera- Ernährung und Stoffwechsel
tur ist noch instabil, es zeigt sich eine leichte Hypother-
Definition
mie um 36,2 ⬚C. Lara bekommt Wärme zugeführt, der
Risiko, dass die Körpertemperatur nicht im Normbe-
Inkubator ist auf 33 ⬚C eingestellt. Die Mutter besucht reich aufrechterhalten werden kann
ihre Tochter regelmäßig und baut über Berührungen
Kontakt zu Lara auf. Einen Ausschnitt aus dem Pflege- Risikofaktoren (R)
plan von Lara zeigt Tab. 10.6. Krankheiten, die die Temperaturregulation beein-
flussen
Verletzungen, die die Temperaturregulation beein-
flussen
veränderte Stoffwechselrate

* Siehe auch „Unwirksame Thermoregulation.“

180 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
Literatur

Fazit: Die Körpertemperatur gehört zu den


Dehydration objektiven Beobachtungsbereichen. Für die
Altersextreme Messung der Körpertemperatur stehen un-
Sedierung (Anästhesie) terschiedliche Thermometerarten zur Verfügung, die in
Gefäßverengende Medikamente Abhängigkeit von der jeweiligen Indikation und dem
Gefäßerweiternde Medikamente Messort verwandt werden. Eine Veränderung der Kör-
extreme Umgebungstemperaturen (kalt/kühl pertemperatur ist immer ein Hinweis auf eine Erkran-
oder warm/heiß) kung. Die häufigste Abweichung stellt das Fieber dar. Es
Inaktivität
weist eine Vielzahl von objektiven und subjektiven Be-
übermäßige Aktivität
gleiterscheinungen auf, die im Rahmen der Pflege be-
Kleidung ist der Umgebungstemperatur nicht
obachtet und berücksichtigt werden müssen.
angemessen
Gewichtsextreme

Pflegeergebnisse (Outcomes)
Literatur:
Wärmeregulation (Thermoregulation)
Gleichgewicht zwischen Wärmeproduktion, -zufuhr
Fischer, K., H. Sobottka, D. Faas (Hrsg.): Klinikleitfaden Kinder-
und -verlust, das zu einer normalen Körpertempera- krankenpflege. 4. Aufl. Urban & Fischer, München 2009
tur führt Geratherm Medical AG. Geratherm䊚 classic. Quecksilberfrei-
Wärmeregulation: Neugeborenes (Thermoregula- es, analoges Fieberthermometer mit Galinstan. Im In-
ternet: http://www.medizinkritik.de/wi_an_schwanger/
tion: Newborn)
PDF/Bedienungsanleitung-Geratherm-classic.pdf; Stand:
Gleichgewicht zwischen Wärmeproduktion, -zufuhr
02. 08. 2017
und -verlust während der ersten 28 Lebenstage
Gordon, M.: Handbuch Pflegediagnosen. 5. Aufl. Hans Huber,
Hogrefe AG, Bern 2013
Hoehl, M., P. Kullick (Hrsg.): Gesundheits- und Kinderkranken-
Die entsprechenden Pflegediagnose von Lara könnte pflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012
10
folgendermaßen lauten: I care Pflege. Thieme, Stuttgart 2015
Unwirksame Thermoregulation Köther, I. (Hrsg.): Altenpflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2016
NANDA International: Pflegediagnosen. Definitionen und
b/d (beeinflusst durch) Unreife bei Frühgeburt,
Klassifikation 2015 – 2017. Herdman, T. H., S. Kamitsuru
a/d (angezeigt durch) Altersextreme (Schwan-
(Hrsg.): RECOM, Kassel 2016
kungen) der Körpertemperatur unterhalb der Pschyrembel Klinisches Wörterbuch. 264. Aufl. de Gruyter,
Normaltemperatur. Berlin 2014
Schettler, G., H. Greten: Innere Medizin: verstehen – lernen –
anwenden. 12. Aufl. Thieme, Stuttgart 2005
Schwegler, J., R. Lucius: Der Mensch. Anatomie und Physiolo-
gie. 6. Aufl. Thieme, Stuttgart 2016
Silbernagl, S., A. Despopoulos: Taschenatlas Physiologie.
8. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012
Teising, D., H. Jipp: Neonatologische und pädiatrische Inten-
siv- und Anästhesiepflege. Praxisleitfaden. 6. Aufl. Sprin-
ger, Berlin 2016

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 181


KaelDesu

11 Atmung
Panajotis Apostolidis*, Petra Schmalstieg

Übersicht
Einleitung · 182
11.1 Technik der Atemerfassung · 184
11.1.1 Dokumentation · 184
11.1.2 Indikationen zur Atemerfassung · 184
11.2 Allgemeine Beobachtungskriterien und
Beschreibung des Normalzustands · 185
11.2.1 Atemvolumina · 185
11.2.2 Atemfrequenz · 187
11.2.3 Atemtiefe (Atemintensität) · 187
11.2.4 Atemrhythmus · 187
11.2.5 Atemmechanik (Atembewegungen) · 187
11.2.6 Atemgeräusche · 188
11.2.7 Atemgeruch · 188 Einleitung
11.3 Abweichungen und Veränderungen beim
Atmen und deren mögliche Atmen ist eine grundlegende und lebensnotwendige
Ursachen · 189 Tätigkeit des Menschen und wird deshalb auch zu
11.3.1 Dyspnoe · 189 den sog. Vitalzeichen gerechnet. Darüber hinaus ist
11.3.2 Atemfrequenz · 190 Atmen eng verknüpft mit der körperlichen, aber
11.3.3 Atemtiefe (Atemintensität) · 191 auch seelischen Verfassung eines Menschen. Körper-
11.3.4 Atemrhythmus (pathologische liche Anstrengung, eine Reihe von Erkrankungen so-
11 Atemtypen) · 192 wie Störungen im emotionalen Befinden wirken sich
11.3.5 Atemmechanik (Atembewegungen) · 194 direkt auf die Atmung aus und können einem Men-
11.3.6 Atemgeräusche · 195 schen buchstäblich „die Luft abschnüren“.
11.3.7 Atemgerüche · 197 Die Tatsache, dass die Atmung nicht nur unwill-
11.4 Ergänzende Beobachtungskriterien · 197 kürlich gesteuert, sondern auch bewusst beeinflusst
11.5 Besonderheiten bei Kindern · 198 werden kann, wird u. a. in Programmen wie z. B. dem
11.5.1 Abweichungen und Veränderungen der Autogenen Training genutzt, um über eine gezielte
Atmung · 198 Steuerung der Atemtechnik einen verbesserten
11.5.2 Die besondere Situation des Früh- und Zugang zum eigenen Körperempfinden zu errei-
Neugeborenen · 199 chen.
11.6 Besonderheiten bei älteren Auch in der Beobachtung des gesunden und kran-
Menschen · 200 ken Menschen kommt dem Beobachtungsbereich
11.7 Fallstudien und mögliche „Atmung“ eine bedeutsame Stellung zu.
Pflegediagnosen · 200
Fazit · 203 Definition: Als Atmung wird der lebenswichti-
Literatur · 203 ge Vorgang bezeichnet, bei dem der Organismus
mit Sauerstoff (O2) versorgt und Kohlendioxid
(CO2) abtransportiert wird.
Schlüsselbegriffe:
왘 Dyspnoe Die Atemwege werden in 2 Abschnitte eingeteilt: die
왘 Tachypnoe oberen und unteren Atemwege. Zu den oberen Atem-
왘 Exspiration wegen gehören die Nase und der Rachenraum, die
왘 Inspiration unteren Atemwege werden von dem Kehlkopf, der
Luftröhre und den Bronchien gebildet.

182 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
Einleitung

Des Weiteren werden die innere und die äußere Bei einem Absinken des Sauerstoffgehalts oder ei-
Atmung unterschieden. Die innere Atmung wird nem Anstieg des Kohlendioxidgehalts werden vom
auch als Gewebeatmung bezeichnet. Sie beinhaltet Atemzentrum Nervenimpulse ausgesendet, die die
den Gasaustausch zwischen dem Blut und den Zel- Muskeln der Throraxwand und des Zwerchfells ver-
len. Die äußere Atmung, auch Lungenatmung oder anlassen, eine Einatmungsbewegung auszulösen.
Respiration genannt, umfasst die Tätigkeit der Lun- Neben dieser chemischen Steuerung der Atmung
gen. Hierbei nimmt das Hämoglobin des Bluts durch existiert noch eine nervale Steuerung. Hierbei wird
die Alveolarwand Sauerstoff auf und gibt die Endpro- über feine Äste des N. vagus in den Alveolen deren
dukte des Stoffwechsels, vor allem Kohlendioxid, ab. Dehnungszustand ermittelt und an das Atmungs-
Der Transport der Luft zwischen der Umgebung zentrum weitergeleitet. Weitere Regulationsmecha-
und den Alveolen wird durch die Atembewegungen nismen (Abb. 11.1), die auf die Atmung einwirken,
ermöglicht. Die Atembewegungen können willkür- sind:
lich durchgeführt werden, doch fast alle Atembewe- Dehnungsrezeptoren der Muskeln und Sehnen,
gungen erfolgen unwillkürlich und werden durch Pressorezeptoren der Aorta und der A. carotis,
das Atemzentrum im verlängerten Mark (Medulla Thermorezeptoren der Haut,
oblongata) gesteuert. Hierzu werden über periphere Schmerzrezeptoren,
und zentrale Rezeptoren der Sauerstoff- und Kohlen- Körpertemperatur,
dioxidgehalt sowie die Wasserstoffionenkonzentra- Hormone (z. B. Adrenalin),
tion (pH-Wert) des Blutes gemessen, die Werte über Einflüsse höherer Zentren des ZNS (Kortex, limbi-
Nervenleitungen dem Atemzentrum übermittelt sches System, Hypothalamus, Pons), z. B. psy-
und dort mit den eingestellten Werten verglichen. chische Erregung.

höhere Zentren 11

Hormone

pH Körpertemperatur
zentrale + extrazellulär Thermorezeptoren (Haut)
H
Antriebe Liquor
PCO Atmungs- Schmerzrezeptoren
2
zentrum

Chemo-
Presso-
rezeptoren
rezeptoren
PO PCO pH
2 2

Dehnungs-
rezeptoren Mechanorezeptoren
Chemorezeptoren ?

Abb. 11.1 Übersicht über die zentralen Atmungsantriebe und die peripheren Rezeptoren, von denen aus die Atmung beeinflusst werden
kann

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 183


KaelDesu
11 Atmung

11.1 Technik der Atemerfassung Feststellung der Sauerstoffkonzentration im Blut


kann beispielsweise ein Pulsoximeter verwendet
Die Beobachtung der Atmung sollte für den Men- werden (s. a. Kap. 8.5, Abb. 8.8) oder eine Blutgasana-
schen unbemerkt erfolgen, da die Atmung willkür- lyse durchgeführt werden.
lich beeinflussbar ist. Es bietet sich an, z. B. eine Puls-

!
messung anzudeuten bzw. die Atmungskontrolle di- Merke: Da die Atmung willkürlich beein-
rekt im Anschluss an eine Pulskontrolle durchzufüh- flusst werden kann, sollte die Beobachtung
ren. Bei der Beobachtung der Atmung werden die In- für den betroffenen Menschen unauffällig er-
und Exspiration als ein Atemzyklus erfasst. Unter Zu- folgen.
hilfenahme einer speziellen Stoppuhr (s. a. Kap. 8,
Abb. 8.3) oder einer Uhr mit Sekundenzeiger werden 11.1.1 Dokumentation
über 1 Minute die Atembewegungen (Atemzyklen) Die ermittelten Werte sind mit dokumentenechten
gezählt. Stiften direkt in das Dokumentationssystem einzu-
Da bei Menschen, deren Atmung sehr flach ist, tragen, die sowohl in Form einer Kurve (s. a. Kap. 8,
Atembewegungen nicht zu erkennen sind, muss eine Abb. 8.4) als auch in Form von Zahlen (s. a. Kap. 8,
andere Technik angewendet werden, bei der die opti- Abb. 8.5) erfolgen kann. Bei den Kurvensystemen
sche Erfassung der Atembewegungen durch eine tak- wird zur Dokumentation der Atmung üblicherweise
tile Erfassung unterstützt wird. Hierzu werden die die Farbe Schwarz gewählt. Da die Temperaturkurve
Handflächen bauchwärts auf den Übergang vom meist in blau und die Pulskurve in rot geführt wird,
Thorax zum Abdomen gelegt (Abb. 11.2). Auf diese ist so eine deutliche Unterscheidung der verschiede-
Weise ist es möglich, sowohl eine Thorax- als auch nen Vitalzeichen möglich.
eine Abdominalatmung zu erfassen. Neben der Anzahl der Atemzüge pro Minute und
Neben der Anzahl der Atembewegungen (Atem- der Uhrzeit müssen weitere Besonderheiten angege-
frequenz) müssen gleichzeitig die Art der Atembe- ben werden. Dies kann direkt in der Kurve bzw. Spal-
wegungen, der Atemrhythmus und das Auftreten te mit Hilfe spezieller Kürzel oder Zeichen gesche-
von Atemgeräuschen und -gerüchen registriert wer- hen, deren Bedeutung in der Legende des Dokumen-
11 den. Zusätzlich erfolgt die Einschätzung der Atemtie- tationssystems verbindlich festgelegt ist.
fe. Um vergleichbare und gültige Ergebnisse zu erhal- Des Weiteren können Besonderheiten oder Auf-
ten, muss darauf geachtet werden, dass die Beobach- fälligkeiten im Pflegebericht niedergeschrieben wer-
tung der Atmung immer unter gleichen Bedingun- den. In diesem Fall muss ein entsprechender Hinweis
gen stattfindet. Bei einer routinemäßigen Atmungs- in der Kurve/Spalte vermerkt und der entsprechende
kontrolle sollte der Betroffene zuvor 15 – 30 Minuten Abschnitt im Pflegebericht besonders hervorgeho-
geruht haben. ben werden.
Eine Erfassung der Atemgase und/oder der Volu-
mina ist nur mithilfe spezieller Geräte möglich. Zur 11.1.2 Indikationen zur Atmungserfassung
Da die Atmung vielfältigen Einflüssen unterliegt, er-
geben sich eine Reihe von unterschiedlichen Indika-
tionen, wie z. B.:
Atemwegserkrankungen (z. B. zur Diagnostik, zur
Verlaufskontrolle),
Erfassung der Vitalsituation des Menschen (z. B.
bei Neuaufnahmen, vor, während und nach Un-
tersuchungen),
Erkrankungen wie z. B. Herz-Kreislauf-Erkran-
kungen, Stoffwechselstörungen,
Kontrolle der Belastbarkeit (z. B. Mobilisation),
postoperative Überwachung (zum rechtzeitigen
Erkennen von Komplikationen, z. B. im Zusam-
menhang mit der Narkose),
Abb. 11.2 Technik der Atemerfassung

184 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
11.2 Allgemeine Beobachtungskriterien und Beschreibung des Normalzustands

!
Überwachung des Menschen bei der Verabrei- Merke: Die Beobachtung der Atmung orien-
chung bestimmter Medikamente (z. B. Spasmoly- tiert sich an den Kriterien:
tika, Sedativa, Analgetika).
Atemvolumina,
Zusammenfassung: Atemfrequenz,
Atmung Atemtiefe (Atemintensität),
Es wird zwischen Gewebe- und Lungenatmung und Atemrhythmus,
der Abdominal- und Thoraxatmung unterschieden. Atemmechanik (Atembewegungen),
Regulationsmechanismen für die Atmung sind Deh- Atemgeräusch,
nungsrezeptoren der Muskeln und Sehnen, Presso- Atemgeruch.
rezeptoren der Aorta, Thermorezeptoren der Haut,
Schmerzrezeptoren, Körpertemperatur, Hormone 11.2.1 Atemvolumina
und Einflüsse höherer Zentren des ZNS. Unter den Atem- oder Lungenvolumina werden ver-
In den Kurvensystemen wird die Atmung mit schiedene Atemgrößen verstanden. Hierzu erfolgt
Schwarz dokumentiert. eine Unterteilung des maximal möglichen Gasvolu-
Eine Atmungserfassung ist indiziert bei Erkrankun- mens der Lungen in statische Volumengrößen, die im
gen, zur Erfassung der Vitalsituation, zur Kontrolle Weiteren kurz definiert werden und in Abb. 11.3 dar-
der Belastbarkeit, postoperativ, bei der Verabrei- gestellt sind. Die Atemvolumina, insbesondere die
chung bestimmter Medikamente. Vitalkapazität, werden beeinflusst durch das Alter,
das Geschlecht, die Körpergröße, den Aktivitätsgrad
und den Trainingszustand eines Menschen
11.2 Allgemeine
(Abb. 11.4). Mithilfe eines Spirometers (Abb. 11.5)
Beobachtungskriterien und können die einzelnen Lungenvolumina bestimmt
Beschreibung des werden.
Normalzustands Eine andere Möglichkeit besteht in der Verwen-
dung eines Ganzkörperplethysmographen. Hierbei
Die normale Atmung (Eupnoe) erfolgt in einer ange- werden die Druckschwankungen, die in einer luft- 11
messenen Atemfrequenz und Atemtiefe. Der Atem- dichten Kammer bei einem Unter- oder Überdruck
rhythmus ist gleichmäßig, die Atembewegungen der Lunge um einen Menschen herum auftreten, ge-
sind nur bei einem genauen Hinsehen erkennbar. Die messen. Veränderungen der Atemvolumina, beson-
Atmung erfolgt unbewusst, entspannt und be- ders der Vitalkapazität, können Hinweise auf ver-
schwerdefrei. Auffällige Atemgeräusche und -gerü- schiedene Erkrankungen und die Leistungsfähigkeit
che sind nicht vorhanden. Aus dieser Beschreibung der Lungen geben.
der normalen Atmung ergeben sich die Beobach- Hierzu gehören das Atemzugvolumen, das inspi-
tungskriterien. ratorische und exspiratorische Reservevolumen, das
Residualvolumen, die Vitalkapazität, die Inspirati-

Abb. 11.3 Verschiedene Atemvolumina


(nach: Schwegler, J., R. Lucius: Der Mensch
– Anatomie und Physiologie, 6. Auflage,
Vitalkapazität 4,5 l

inspiratorisches Thieme, Stuttgart 2016)


Reservevolumen 2 – 3 l

Atemzugvolumen 0,5 l
exspiratorisches
Reservevolumen 1 – 2 l

Residualvolumen 1 – 2 l

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 185


KaelDesu
11 Atmung

a b c
Atem- Atemtiefe
frequenz (AZV)

1 sec inspiratorisches Reservevolumen Atemzugvolumen in Ruhelage exspiratorisches Reservevolumen

Abb. 11.4 Lungenvolumina bei Ruhe (a), Bewegung (b) und An- auch, dass sich die Atmung immer mehr in die Richtung der Einat-
strengung (c). In Ruhe bewegt sich die Atmung nur innerhalb eines mung verschiebt, weil immer mehr des inspiratorischen Reserve-
engen Bandes. Mit zunehmender körperlicher Anstrengung at- volumens ausgeschöpft wird
men wir sowohl schneller als auch tiefer aus und ein. Beachten Sie

geatmet werden kann. Es beträgt zwischen 2000 –


3000 ml.

Exspiratorisches Reservevolumen (ERV)


Definition: Das exspiratorische Reservevolu-
men beschreibt die Luftmenge, die nach normaler
Exspiration noch zusätzlich ausgeatmet werden
kann. Der Normalwert beträgt ca. 1000 – 2000 ml.
11
Residualvolumen (RV)
Definition: Das Volumen, welches nach einer
maximalen Exspiration noch in der Lunge ver-
bleibt, wird als Residualvolumen bezeichnet
und beträgt durchschnittlich 1000 – 2000 ml.
Abb. 11.5 Mit dem Spirometer werden die Lungenvolumina er-
fasst Vitalkapazität (VK)
Definition: Die Vitalkapazität wird auch als
maximales Atemvolumen bezeichnet und be-
schreibt die Luftmenge, die nach maximaler In-
onskapazität, die funktionelle Residualkapazität und spiration maximal ausgeatmet werden kann. Sie setzt
die Totalkapazität. sich zusammen aus dem Atemzugvolumen, dem inspi-
ratorischen und exspiratorischen Reservevolumen. Die
Atemzugvolumen (AZV, Respirationsluft) durchschnittliche Vitalkapazität wird mit 4500 ml an-
Definition: Unter dem Atemzugvolumen wird gegeben.
die Luftmenge verstanden, die in Ruhe, bei nor-
maler Ein- und Ausatmung, mit einem Atemzug Inspirationskapazität (IK)
geatmet wird. Das Atemzugvolumen beträgt ca. 500 ml. Definition: Die Inspirationskapazität setzt sich
aus dem Atemzugvolumen und dem inspirato-
Inspiratorisches Reservevolumen (IRV) rischen Reservevolumen zusammen. Sie be-
Definition: Mit dem inspiratorischen Reserve- schreibt so das Volumen, das nach normaler Exspira-
volumen wird das Volumen bezeichnet, welches tion maximal eingeatmet werden kann. Die Inspira-
nach normaler Inspiration noch zusätzlich ein- tionskapazität beträgt ca. 2500 ml.

186 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
11.2 Allgemeine Beobachtungskriterien und Beschreibung des Normalzustands

Funktionelle Residualkapazität (FRC) mung dar, der von einer kurzen Pause unterbrochen
Definition: Die Summe aus dem exspiratori- wird. Das zeitliche Verhältnis zwischen Einatmung
schen Reservevolumen und dem Residualvolu- und Ausatmung beträgt 1 : 2, d. h. die Exspiration
men ergibt die funktionelle Residualkapazität dauert ca. doppelt so lange wie die Inspiration.
und bezeichnet das Volumen, das nach normaler Exspi-
ration noch in der Lunge enthalten ist. Durchschnittli- 11.2.5 Atemmechanik (Atembewegungen)
ches Volumen: 3000 ml. Definition: Als Atemmechanik wird die Tätig-
keit der Atemmuskulatur (Tab. 11.2) bei der In-
Totalkapazität (TLK) und Exspiration bezeichnet.
Definition: Als Totalkapazität wird das Volu-
men bezeichnet, das nach maximaler Inspira- Die Inspiration erfolgt aktiv durch das Zusammenzie-
tion in der Lunge enthalten ist. Es setzt sich aus hen des Zwerchfells (Diaphragma) und der äußeren
dem Residualvolumen und der Vitalkapazität zusam- Zwischenrippenmuskeln. Hierdurch senkt sich die
men und beträgt ca. 6000 ml. Zwerchfellkuppe und die Rippen werden angehoben,
mit dem Effekt einer Brustkorberweiterung.
11.2.2 Atemfrequenz Im Gegensatz zur Inspiration erfolgt die Exspirati-
Definition: Mit der Atemfrequenz werden die on größtenteils passiv. Hierbei entspannen sich das
Anzahl der Atemzüge/Min. bezeichnet. Die al- Zwerchfell und die äußere Zwischenrippenmuskula-
tersabhängigen Normalwerte sind in Tab. 11.1 tur, wodurch es zum Anheben der Zwerchfellkuppe
aufgeführt. und Absenken der Rippen kommt. Das Thoraxvolu-
men nimmt hierdurch ab. Unterstützt wird die Aus-
Die Relation zwischen Puls- und Atemfrequenz be- atmung durch die Kontraktion der inneren Zwi-
trägt vom 3. Lebensjahr an ca. 4 : 1. schenrippenmuskeln (Abb. 11.6). Die Kontraktion
des Zwerchfells, der Zwischenrippen- und der
11.2.3 Atemtiefe (Atemintensität) Bauchmuskulatur bestimmt den Atemtyp. Unter-
Die Atemtiefe oder -intensität ist in Ruhe gleich schieden werden
bleibend. Sowohl bei einem Anstieg des Kohlendi- die Bauch- oder Zwerchfellatmung (abdominale 11
oxidwerts als auch bei einem Abfall des Sauerstoffge- Atmung)
halts erfolgt eine automatische Regulierung. Bei ei- und die Brust- oder Rippenatmung (kostale At-
nem erhöhtem Sauerstoffbedarf beispielsweise wird mung).
die Stoffwechsellage entsprechend angepasst, indem
die Atemzüge tiefer werden und, wenn dies allein
nicht ausreicht, die Atemfrequenz zusätzlich an-
steigt. Tab. 11.2 Atemmuskulatur

inspiratorische Atemmuskeln inspiratorische Hilfsmuskeln


11.2.4 Atemrhythmus
Die normale Atmung stellt einen regelmäßigen und Diaphragma M. sternocleidomastoideus
gleichmäßigen Vorgang von Einatmung und Ausat- Mm. intercostales externi Mm. scalenus anterior, medius
Mm. intercostales interni et posterior
(parasternaler Teil = MM. M. pectoralis major
intercartilaginei) M. pectoralis minor
Tab. 11.1 Normalwerte der Atemfrequenz
M. serratus posterior superior
M. serratus anterior
Alter Atemfrequenz

exspiratorische Atemmuskeln exspiratorische Hilfsmuskeln


Neugeborene ca. 50 Atemzüge/Min.

6 Monate alter Säugling ca. 40 Atemzüge/Min. Mm. intercostales interni M. rectus abdominis
M. transversus thoracis M. transversus abdominis
1-jähriges Kind ca. 35 Atemzüge/Min. Mm. subcostales M. obliquus externus abd.
M. obliquus internus abd.
6-jähriges Kind ca. 25 Atemzüge/Min. M. erector spinae
M. quadratus lumborum
Erwachsene 16 – 20 Atemzüge/Min. M. serratus posterior inf.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 187


KaelDesu
11 Atmung

Wenn sich das Zwerchfell Wenn sich das Zwerchfell Die äußeren Interkostal- Die inneren Interkostal-
kontrahiert, senkt sich die entspannt, hebt sich die muskeln ziehen sich zu- muskeln ziehen sich zu-
Zwerchfellkuppel. Zwerchfellkuppel wieder. sammen, der Brustkorb sammen, der Brustkorb
hebt sich und damit ver- senkt sich und damit
größert sich das Thorax- nimmt das Thoraxvo-
volumen. lumen wieder ab.

Abb. 11.6 Mechanik der In- und Exspiration. Durch Kontraktion den entstehenden Sog gelangt frische sauerstoffreiche Luft in die
des Zwerchfells und gleichzeitiges Anheben des Brustkorbes ver- Lunge
größert sich das Thoraxvolumen. Die Lunge wird gedehnt. Durch

Senken des Brustkorbs. Vor allem bei Frauen ist die-


ser Atemtyp weit verbreitet (Abb. 11.7).
Wenn sowohl die Zwischenrippenmuskulatur als
auch die Bauchmuskulatur bei der Atmung verwen-
det wird, handelt es sich um den sog. Mischtyp, der
weit verbreitet ist und vor allem bei körperlichen An-
11 strengungen auftritt.

11.2.6 Atemgeräusche
Die normale Atmung erfolgt geräuschlos, doch kön-
nen bei großer körperlicher Anstrengung auch phy-
siologische Atemgeräusche wie das Keuchen auftre-
ten.

11.2.7 Atemgeruch
Die normale Atmung weist keinen wahrnehmbaren
Geruch auf.

Zusammenfassung:
Bauchatmung Brustatmung
Allgemeine Beobachtungskriterien
(abdominal) (kostal)
Atemvolumina sind abhängig von Alter, Geschlecht,
Abb. 11.7 Atemtypen Körpergröße, Aktivitätsgrad und Trainingszustand
eines Menschen.
Atemzugvolumen, inspiratorisches Volumen, exspi-
Die abdominale Atmung ist charakterisiert durch ratorisches Reservevolumen, Residualvolumen, Vi-
überwiegende Bewegungen des Zwerchfells und der talkapazität, Inspirationskapazität, funktionelle
Bauchmuskulatur. Residualkapazität und Totalkapazität sind Parame-
Kennzeichen der kostalen Atmung ist die über- ter bei der Veränderung des Atemvolumens.
wiegende Betätigung der Zwischenrippenmuskula-
tur. Sie bewirkt ein deutlich sichtbares Heben und

188 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
11.3 Abweichungen und Veränderungen beim Atmen und deren mögliche Ursachen

Atemfrequenz, Atemtiefe, Atemrhythmus, Atemme- bezeichnet, die auch im Ruhezustand vorhanden ist.
chanik, Atemgeräusche und Atemgeruch sind wei- Als Zustand höchster Atemnot gilt die Orthopnoe, bei
tere Beobachtungskriterien. der eine Kompensation durch Zuhilfenahme der
Atemhilfsmuskulatur in aufrechter Haltung versucht
wird.
11.3 Abweichungen und
Veränderungen beim Atmen Dyspnoe in Bezug zur In- und Exspiration
und deren mögliche Bezogen auf die Ventilation können eine inspiratori-
Ursachen sche und eine exspiratorische Dyspnoe unterschie-
den werden. Bei der inspiratorischen Dyspnoe ist die
Pathologische Veränderungen der Atmung können Einatmung erschwert und verlängert, der Betroffene
grundsätzlich alle oben beschriebenen Kriterien be- zieht die Luft ein, wobei in einzelnen Fällen ein inspi-
treffen. Zumeist weichen mehrere Beobachtungs- ratorischer Stridor (s. a. S. 195) auftreten kann.
merkmale gleichzeitig von der Norm ab. Im folgen- Ursache für eine inspiratorische Dyspnoe ist die
den Abschnitt sind die Lungenvolumina nicht aufge- Verlegung der oberen Luftwege, beispielsweise be-
führt, da diese nur über verschiedene medizinische dingt durch eine Struma, Kehlkopfschwellungen
Geräte erfasst werden können. oder Fremdkörperaspiration. Eine erschwerte und
verlängerte Ausatmung kennzeichnet die exspirato-
11.3.1 Dyspnoe rische Dyspnoe. Auch hierbei kann ein Stridor auftre-
Definition: Unter einer Dyspnoe wird eine Er- ten. Eine exspiratorische Dyspnoe wird durch Erkran-
schwerung der Atemtätigkeit, die mit einer sub- kungen hervorgerufen, die zu einer Verengung der
jektiven Atemnot einhergeht, beschrieben. Bronchiolen führen, wie beispielsweise das Asthma
bronchiale.
Die Atemnot ist gekennzeichnet durch Lufthunger,
Kurzatmigkeit, Beklemmungsgefühle und Angst. Die Dyspnoe in Bezug zur Ursache
Dyspnoe geht in der Regel mit sichtbar verstärkter Nach der Ursache wird eine tracheale/laryngeale,
Atemarbeit als Ausdruck einer Atmungsinsuffizienz pulmonale, kardiale, metabolische, zerebrale, zirku- 11
einher. latorische und psychische Dyspnoe unterschieden.
Charakteristisch für die Dyspnoe ist eine Steige- Bei der trachealen/laryngealen Form entsteht die
rung der Atemfrequenz, wobei die Atemzüge unge- Dyspnoe durch Einengung der oberen Atemwege z. B.
nügend tief sind und somit eine weitere Beeinträch- durch Fremdkörper oder Obstruktion der Atemwege
tigung des Gasaustausches bedeuten. Neben ver- im Bereich des Kehlkopfs wie beim Krupp, einer ent-
stärkten Atembewegungen, einer Erhöhung der zündlich bedingten Kehlkopfenge.
Atemfrequenz, Unruhe und Angst können Kalt- Die pulmonale Dyspnoe tritt infolge Störungen
schweißigkeit, Tachykardie und die Inanspruchnah- des Gasaustauschs und/oder der Ventilation auf. Die
me der Atemhilfsmuskulatur beobachtet werden. Ursache liegt in Erkrankungen der Atemwege bzw.
Die Dyspnoe kann unterschiedlich eingeteilt wer- der Lunge. Als Folge einer verminderten Gasaus-
den: tauschfläche tritt die Dyspnoe bei restriktiven Er-
in Bezug zur Aktivität, krankungen/Störungen wie z. B. Pneumothorax,
in Bezug zur In- und Exspiration, Pleuraerguss auf. Bei obstruktiven Erkrankungen wie
in Bezug zur Ursache. dem Lungenemphysem und dem Asthma bronchiale
kommt es zu der Atemnot aufgrund der Ventilations-
Dyspnoe in Bezug zur Aktivität störung durch Verengung des Lumens.
Bezogen auf die Aktivität können eine Arbeits- oder Die kardiale Dyspnoe tritt vielfach infolge einer
Belastungsdyspnoe, eine Ruhedyspnoe und Ortho- Herzinsuffizienz auf, wobei das Herz nicht mehr in
pnoe unterschieden werden. der Lage ist, die erforderliche Leistung (Herzminu-
Bei der Arbeits- oder Belastungsdyspnoe tritt die tenvolumen) zu erbringen. Die Folgen können z. B.
Atemnot bei körperlicher Anstrengung auf. In Ruhe ein Lungenödem oder eine Pleuraerguss sein, wo-
normalisiert sich die Atmung wieder, die Atemnot durch die Atemfläche eingeschränkt und die Atem-
verschwindet. Mit Ruhedyspnoe wird die Atemnot not hervorgerufen wird und/oder ein O2-Mangel und

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 189


KaelDesu
11 Atmung

CO2-Anstieg im Blut, was eine vermehrte Atemtätig- Tab. 11.3 Pathologische Ursachen einer Tachypnoe
keit zur Folge hat. Ursache Beispiele
Bei der metabolischen oder azidotischen Dyspnoe
wird durch einen erniedrigten pH-Wert des Bluts vermehrter O2-Bedarf Fieber, maligne Tumore
(⬍ 7,34) das Atemzentrum zu vermehrter Atemar- verminderte Atemfläche Pneumonie, Lungenfibrose,
beit angeregt. Durch diese intensive Atmung soll CO2 Lungenemphysem, Pneumo-,
abgeatmet und somit die Übersäuerung des Bluts Hämatothorax
ausgeglichen werden (s. a. S. 192).
Mangel an Transportkräften Anämie, Blutungen
Durch eine Beeinträchtigung des Atemzentrums,
wie sie beispielsweise infolge eines Schädel-Hirn- Störung der Lungendurch- Lungenembolie, Herzerkran-
blutung kungen
Traumas oder Schlaganfalls auftreten kann, kommt
es zur zerebralen Form der Dyspnoe.
Die zirkulatorische Dyspnoe ist die Folge einer
Störung des O2-Transports. Ursache hierfür ist z. B. werden. Bei einem Aufenthalt in großer Höhe wird
die Anämie, bei der zu wenig Erythrozythen für den die Atemfrequenz ebenfalls gesteigert, da hier ein ge-
Sauerstofftransport zur Verfügung stehen. Durch ei- ringerer Sauerstoffgehalt der Luft vorliegt. Durch die
ne vermehrte Atmung versucht der Körper, diesen erhöhte Anzahl der Atemzüge wird der verminderte
Mangel auszugleichen. O2-Gehalt der Luft ausgeglichen und dem Körper die
Bei einer großen psychischen Erregung kann eine benötigte Sauerstoffmenge zugeführt.
sog. psychische Dyspnoe auftreten. Es kommt hierbei Die pathologischen Ursachen einer Tachypnoe lie-
zur Hyperventilation (s. a. S. 191), die zumeist von gen ebenfalls in einem vermehrten O2-Bedarf der
Angst begleitet wird. Zellen, aber auch in einer verminderten Atemfläche,
einem Mangel an Erythrozyten und in einer Störung

!
Merke: Die erschwerte Atemtätigkeit mit der Lungendurchblutung (Tab. 11.3).
subjektiver Atemnot wird als Dyspnoe be- Ein vermehrter O2-Bedarf der Zellen aufgrund ei-
zeichnet. Die Einteilung der Dyspnoe erfolgt nes erhöhten Stoffwechsels tritt z. B. bei Fieber, aber
11 in Bezug zur Aktivität, zur In- und Exspiration oder in auch bei malignen Tumoren auf. Durch verschiedene
Bezug zur zugrunde liegenden Ursache. Erkrankungen wie beispielsweise die Pneumonie
oder die Linksherzinsuffizienz mit Lungenödem
11.3.2 Atemfrequenz kann die Atemfläche eingeschränkt sein. Die Folge ist
Die Atemfrequenz ist das Beobachtungskriterium ein verminderter Gasaustausch und eine Unterver-
der Atmung, welches vorrangig erfasst wird. Es kön- sorgung des Körpers mit Sauerstoff. Bei großem Blut-
nen hierbei sowohl Abweichungen nach oben (Ta- verlust oder Anämie stehen dem Körper zu wenig
chypnoe) als auch nach unten (Bradypnoe, Apnoe) Transportzellen (Erythrozyten) für die Sauerstoff-
beobachtet werden. Als Eupnoe wird die normale, versorgung des Organismus zur Verfügung. Durch ei-
nicht behinderte Atmung verstanden. ne Lungenembolie, aber auch durch verschiedene
Herzerkrankungen kann es zu einer Störung der Lun-
Tachypnoe gendurchblutung und damit zu einer Unterversor-
Definition: Unter einer Tachypnoe wird eine gung des Körpers mit Sauerstoff kommen. Ein Aus-
beschleunigte Atemfrequenz mit mehr als 20 gleich der Störung wird in allen oben beschriebenen
Atemzügen/Min. verstanden. Fällen durch die Steigerung der Atemfrequenz ange-
strebt.
Sie wird häufig von einer geringen Atemtiefe beglei-

!
tet. Entsteht beispielsweise im Körper ein erhöhter Merke:
Sauerstoffbedarf, so versucht der Organismus, die- Eine Tachypnoe stellt immer einen Versuch
sen erhöhten Bedarf u. a. durch eine Steigerung der dar, ein Sauerstoffdefizit zu kompensieren.
Atemfrequenz auszugleichen.
Physiologisch kann dieser Regulationsmechanis- Bradypnoe
mus bei vermehrter körperlicher Anstrengung und Definition: Unter einer Bradypnoe wird eine
großen Emotionen (z. B. Freude, Angst) beobachtet verlangsamte Atmung mit 4 – 8 Atemzüge/Min.
verstanden.

190 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
11.3 Abweichungen und Veränderungen beim Atmen und deren mögliche Ursachen

Begleitet wird die Bradypnoe fast immer von einer


großen Atemtiefe. Sie kann sowohl physiologisch als
auch pathologisch auftreten.
Eine physiologische Bradypnoe kann bei trainier-
ten Sportlern und bei einem verminderten Stoff-
wechsel, wie er beispielsweise bei großer Entspan-
nung im Schlaf auftritt, beobachtet werden.
Der pathologischen Bradypnoe liegt eine zentrale
Störung zugrunde. Eine mechanische Schädigung
oder Reizung des Atemzentrums erfolgt z. B. bei ei-
nem erhöhten Hirndruck infolge einer Hirnblutung
oder eines Hirnödems. Durch eine metabolische
Azidose oder exogene Intoxikationen mit z. B. Opia-
ten oder Schlafmitteln kann es ebenfalls zu einer
Beeinträchtigung des Atemzentrums kommen, in Abb. 11.8 Pfötchenstellung der Hand (Trousseau-Zeichen)
deren Folge dann eine Bradypnoe zu beobachten
ist.

Apnoe Charakteristischerweise zeigt sich diese Erreg-


Definition: Mit Apnoe wird der Atemstillstand barkeit in einer krampfartigen Pfötchenstellung der
bezeichnet, der als Folge einer peripheren oder Hände (Abb. 11.8), der Parästhesien an Fingern, Ze-
zentralen Atemlähmung oder Verlegung der hen und im Mundbereich (perioral) vorangehen. Bei
Atemwege auftritt. Kindern zeigen sich die schmerzhaften Krämpfe in
Form von Kehlkopfkrämpfen (Stimmritzenkrämp-
Die Apnoe führt innerhalb kürzester Zeit zu irrever- fen) mit Erstickungserscheinungen. Die betroffenen
siblen Schädigungen und nach ca. 5 Min. zum Tod. Menschen schwitzen sehr stark, sind unruhig und
ängstlich. 11
11.3.3 Atemtiefe (Atemintensität) Die Hyperventilation kann
Die Atemtiefe passt sich der jeweils aktuellen Stoff- psychogen,
wechsellage (CO2-Gehalt, O2-Bedarf) an. Die Hyper- metabolisch,
und die Hypoventilation stellen die pathologischen zentral,
Veränderungen der Atemtiefe bzw. Atemintensität hormonell oder
dar. medikamentös bedingt sein.

Hyperventilation Die psychogen bedingte Hyperventilation tritt vor al-


Definition: Unter einer Hyperventilation wird lem bei Ängsten, Aufregung und Prüfungssituatio-
eine im Verhältnis zum erforderlichen Gasaus- nen auf. Eine Hyperthyreose, aber auch Fieber kön-
tausch des Körpers übermäßig gesteigerte At- nen eine metabolische Hyperventilation auslösen.
mung verstanden. Bei Erkrankungen des ZNS (Läsion des Atemzen-
trums, Apoplexie, Meningitis, Enzephalitis, Schädel-
Durch diese übermäßige Atmung kommt es auch zu hirntrauma u. a.) wird von einer zentralen Hyperven-
einem gesteigerten Abatmen von Kohlendioxid, wo- tilation gesprochen. Eine hormonelle Hyperventila-
durch der Kohlendioxidgehalt im Blut abfällt (pCO2 tion kann z.B durch Adrenalin, eine medikamentöse
sinkt = Hypokapnie) und eine Alkalose entsteht. Im Hyperventilation z. B. durch Salizylsäure, die zu einer
Rahmen der Alkalose werden vermehrt Kalziumio- Veränderung im Säure-Basen-Gleichgewicht führt,
nen an Eiweiße gebunden. Folge hiervon ist eine ver- hervorgerufen werden.
minderte Kalziumkonzentration im Serum, die eine
gesteigerte neuromuskuläre Erregbarkeit mit anfall-
artiger Störung der Motorik und Sensibilität (Teta-
nie) auslöst.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 191


KaelDesu
11 Atmung

Hypoventilation 11.3.4 Atemrhythmus (pathologische


Definition: Als Hypoventilation wird die im Atemtypen)
Verhältnis zum erforderlichen Stoffwechselbe- Die normale Atmung ist durch einen gleichmäßigen
darf des Körpers verminderte Atmung, bezogen Rhythmus charakterisiert. Physiologische Verände-
auf die Atemfrequenz und -tiefe, verstanden. rungen können in Abhängigkeit vom aktuellen Akti-
vitätsgrad auftreten. Bei verschiedenen Erkrankun-
Infolge des verringerten Atemminutenvolumens gen ist neben dem Atemrhythmus zugleich auch die
kommt es zu einer Minderbelüftung mit einem Ab- Atemfrequenz und die Atemintensität verändert,
sinken des pO2- (Hypoxämie) und einem Anstieg des sodass sich spezielle pathologische Atemtypen beo-
pCO2-Gehalts (Hyperkapnie). Die Hypoventilation bachten lassen, die periodisch wiederkehren. Zu die-
kann zu minderbelüfteten oder auch luftleeren Al- sen pathologischen Atemtypen, die in Tab. 11.4 auf-
veolarbereichen, sog. Atelektasen, führen, die einen geführt sind, zählen:
Risikofaktor für die Entstehung einer Pneumonie die Cheyne-Stokes-Atmung,
darstellen. die Kussmaul-Atmung,
Ursache für die Hypoventilation ist eine Behinde- die Biot-Atmung,
rung der Atmung, die entweder vom Atemzentrum, die Schnapp-Atmung.
von der Atemmuskulatur oder von den Atemwegen
ausgeht. Cheyne-Stokes-Atmung
Auch eine Schonatmung, die als Folge von Verlet- Die Cheyne-Stokes-Atmung geht zurück auf die iri-
zungen, Operationen und/oder Schmerzen auftritt, schen Ärzte John Cheyne (1777 – 1836) und William
kann sich in Form einer abgeflachten, verlangsamten Stokes (1804 – 1878). Sie stellt eine Form der periodi-
Atmung zeigen. Eine weitere Ursache für eine Hypo- schen Atmung mit rhythmisch wechselnder, zu- und
ventilation stellt eine allgemeine Schwäche z. B. bei abnehmender Atemfrequenz und -amplitude sowie
schweren Grunderkrankungen, nach großen Opera- Atempausen dar. Jede Atemperiode beginnt mit klei-
tionen oder im hohen Lebensalter dar. nen, flachen Atemzügen, die in tiefere, keuchendere
Atemzüge übergehen, um dann wieder immer klei-
11 Zusammenfassung: ner zu werden, bis der pCO2-Gehalt des Blutes zu ge-
Abweichungen und Veränderungen (Atmen) ring ist, um einen Atemreiz auszuüben. Infolge des
Bei der erschwerten Atemtätigkeit, der Dyspnoe, fehlenden Atemreizes kommt es zu einer Atempau-
unterscheidet man nach der Aktivität Arbeits- oder se, während derer der CO2-Spiegel wieder ansteigt.
Belastungsdyspnoe, Ruhedyspnoe und Orthopnoe. Die Atmung beginnt wieder mit kleinen flachen
Nach der Ursache wird eingeteilt in: tracheale/la- Atemzügen, und das beschriebene Atemmuster wie-
ryngeale, pulmonale, kardiale, metabolische, zen- derholt sich.
trale, zirkulatorische und psychische Dyspnoe. Beobachtet wird dieser Atemtyp bei Gehirner-
Eine beschleunigte Atemfrequenz, häufig begleitet krankungen und zerebralen Durchblutungsstörun-
von geringerer Atemtiefe, kennzeichnet die Tachy- gen als Ausdruck einer Schädigung des Atemzen-
pnoe. trums (Unterbrechung hemmender Nervenbahnen),
Bradypnoe wird eine Atmung mit einer Frequenz bei pharmakologischer Sedierung mit Hemmung des
von 4 – 8 Atemzügen/Min. genannt, Apnoe der Atemzentrums (z. B. Morphium) und bei Herzer-
Atemstillstand, der zum Tod führt. krankungen mit verlangsamter Blutzirkulation. Aber
Nach der Atemtiefe wird im Verhältnis zum erfor- auch bei gesunden Personen kann nach einem kurz-
derlichen Stoffwechselbedarf des Körpers zwischen fristigen Aufstieg in große Höhe und im Schlaf eine
Hyperventilation (übermäßig gesteigerter Atmung) Cheyne-Stokes-Atmung durch Abnahme des pO2-
und Hypoventilation (verhältnismäßig verminder- Gehalts bei gleichzeitiger Dämpfung des Ateman-
ter Atmung) unterschieden. triebs im Schlaf auftreten.

Kussmaul-Atmung
Die Kussmaul-Atmung ist nach dem deutschen Inter-
nisten Adolf Kussmaul (1822 – 1902) benannt. Sie ist
gekennzeichnet durch eine rhythmische, abnorm

192 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
11.3 Abweichungen und Veränderungen beim Atmen und deren mögliche Ursachen

Tab. 11.4 Atemtypen

Atmungstyp Atemfrequenz Atemrhythmus Atemtiefe (Atemintensität) Atemmuster Ursache bzw.


je Minute Vorkommen

normale Neugeborene: regelmäßig weder zu flach geräuschlos gesunder Mensch


Atmung = ca. 50 noch zu tief, bzw. Mensch mit ge-
Eupnoe Säuglinge: ca. 40 physiologisch sunder, unbeeinträch-
Kinder: 25 – 35 tiefer bei Seuf- tigter Atmung
Erwachsene: zen, Gähnen,
16 – 20 Schlafen und bei
körperlicher An-
strengung

Cheyne-Stokes- je nach Atem- pathologische zunächst zu große Atmung schlechtes prognosti-


Atmung pausen mehr Regelmäßigkeit oberflächlich, bei tiefen Atem- sches Zeichen bei
oder weniger mit Atempausen dann zuneh- zügen und schweren Herz- und
verlangsamt (Apnoe) mend tiefer, flache kleine Gehirnerkrankungen
wieder abneh- Atmung bei und Vergiftungen
mend bis Atem- Zu- und Abnah-
pause me, geräuschlos
bis keuchend

Kussmaul- kann erhöht oder pausenlose vertiefte große Atmung, Azidose mit Erniedri-
Atmung erniedrigt sein: regelmäßige Atmung tief und ange- gung des pH-Wertes
zu Beginn einer Atmung strengt im Blut durch ver-
Azidose ernied- stärkte Reizung des
rigt, bei zuneh- Atemzentrums, z. B.
mender Azidose starke respiratorische Bewegungen im diabetischen und
erhöht in auffälligem Gegensatz zur schlaf- urämischen Koma
fen Bewegungslosigkeit des (meist)
bewusstlosen Patienten

Biot-Atmung = abhängig von pathologische plötzlich einset- kräftige Atemzü- erhöhter Hirndruck,
Meningische der Länge der Regelmäßigkeit zende tiefe (gro- ge zwischen den z. B. als Folge einer 11
Atmung Atempausen mit Atempausen ße) Atemzüge, Atempausen Hirnhautentzündung
(Apnoe) dann wieder (Meningitis), eines
Atempausen Hirntumors oder
einer Schädelverlet-
zung

Schnapp- vermindert unregelmäßig kurze schnappende Einatmungs- tritt bei schwerster


atmung züge, die durch Zwerchfellkontrak- Schädigung des
tionen hervorgerufen werden Atemzentrums bei
zerebraler Hypoxie
auf und ist Zeichen
des nahenden Todes

tiefe Atmung mit normaler oder erniedrigter Fre- Biot-Atmung


quenz. Sie bewirkt eine Hyperventilation (s. a. S. 191), Die Biot-Atmung geht zurück auf den französischen
wobei der Organismus versucht, durch vermehrtes Physiker Camille Biot (1774 – 1862). Sie stellt eine in-
Abatmen von CO2 eine metabolischen Azidose termittierende Atmung dar. Diese Form der periodi-
(= Übersäuerung des Blutes infolge einer Stoffwech- schen Atmung ist gekennzeichnet durch kräftige
selstörung) zu kompensieren. Atemzüge von gleicher Tiefe, die von plötzlich auf-
Beobachtbar ist die Kussmaul-Atmung beispiels- tretenden Atempausen unterbrochen werden. Das
weise bei einem Menschen mit diabetischem und Atemzentrum reagiert als Folge einer Störung des
urämischem Koma. Nach der Ursache, der Azidose, Atemzentrums nicht mehr auf einen CO2-Reiz, son-
wird dieser Atemtyp auch Azidoseatmung genannt. dern nur noch auf einen O2-Mangel-Reiz.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 193


KaelDesu
11 Atmung

Beobachtet werden kann dieser Atemtyp bei Stö- Es werden hierbei entweder das Abdomen oder der
rungen des Atemzentrums durch direkte Hirnverlet- Thorax kaum an der Atmung beteiligt, sodass die
zung oder erhöhten intrakraniellen Druck (z. B. infol- Atembewegungen nicht oder nur sehr schwer zu er-
ge intrakranieller Blutungen, Meningoenzephalitis, kennen sind.
Hirnödem).
Spezielle Atembewegungen
Schnappatmung Zu den speziellen Atembewegungen zählen neben
Charakteristisch für die Schnappatmung sind kurze, dem Singultus die inverse, die paradoxe und die
schnappende und unregelmäßig einsetzende Einat- asymmetrische Atmung.
mungszüge, denen größere Pausen folgen. Die Einat-
mungszüge werden hierbei durch Zwerchfellkon- Singultus
traktionen und nicht durch Impulse des Atemzen- Der Singultus (Schluckauf) ist eine zumeist harmlose
trums hervorgerufen. Diese unterbrochene Atmung Störung der Atembewegungen. Durch eine Reizung
tritt auf bei schwerster Schädigung des Atemzen- des N. phrenicus kommt es zu einer raschen, unwill-
trums infolge einer zerebralen Hypoxie. Da dieser kürlichen Zwerchfellkontraktion, die zu einem ruck-
Atemtyp vor allem präfinal zu beobachten ist, wird er artigen Einströmen von Luft führt und von einem
auch als sog. agonale Atmung bezeichnet. lauten Atemgeräusch begleitet wird.
Ursache eines Singultus können das Einatmen
11.3.5 Atemmechanik (Atembewegungen) kalter Luft oder das Verzehren von sehr kalten Ge-
Wie bereits beschrieben, erfolgt die In- und Exspira- tränken und Nahrungsmitteln sein. Darüber hinaus
tion durch eine Vergrößerung bzw. eine Verkleine- kann es bei Erkrankungen/Operationen im Bereich
rung des Thorax, wobei die Lungen diesen Bewegun- des Mediastinums und des Abdomens sowie bei En-
gen passiv folgen. Bei verschiedenen Störungen der zephalitiden und Schädelhirntraumen zu einem Sin-
Atmung können übermäßige (zusätzliche) oder un- gultus kommen.
genügende Atembewegungen sowie spezielle Atem-
bewegungen beobachtet werden. Inverse Atmung
11 Bei der inversen oder umgekehrten Atmung kommt
Übermäßige Atembewegungen es durch maximale Zwerchfellbewegungen zu einer
Übermäßige Atembewegungen werden zumeist im Vorwölbung des Abdomens und einer Senkung des
Zusammenhang mit einer Dyspnoe bzw. Orthopnoe Thorax während der versuchten Einatmung. Bei der
beobachtet. Hierbei wird zusätzlich die Atemhilfs- versuchten Ausatmung treten dementsprechend
muskulatur in Anspruch genommen (Tab. 11.2), um eine Einziehung des Abdomens und eine Hebung des
eine Vergrößerung der Atemfläche zu erreichen. Die- Thorax auf. Diese passiven Thoraxbewegungen füh-
se forcierte Atmung mit Aktivierung der Atemhilfs- ren zu einem funktionellen Atemstillstand mit zu-
muskulatur wird auch als Auxiliaratmung bezeich- nehmender Zyanose und fehlenden Atemgeräu-
net. schen.
Die Nasenflügelatmung, bei der die Nasenflügel Ursache für die inverse Atmung ist ein Verschluss
bei jeder Inspiration weitgestellt werden, um mög- der Atemwege im Kehlkopfbereich oder der Trachea
lichst viel Luft aufnehmen zu können, tritt neben durch z. B. Fremdkörper, Schwellung oder einen La-
Atemnotzuständen insbesondere bei bakteriellen ryngospasmus. Da die inverse Atmung eine Lebens-
Pneumonien auf. bedrohung darstellt, müssen Sofortmaßnahmen ein-
Ist während der Inspiration eine Einziehung der geleitet werden.
unteren und/oder seitlichen Interkostalräume zu be-
obachten, so wird von einer Flankenatmung gespro- Paradoxe Atmung
chen. Zu diesen Atembewegungen kommt es bei Ste- Bei der paradoxen Atmung kommt es aufgrund eines
nosen der oberen Luftwege. Stabilitätsverlustes der Brustwand, beispielsweise
bei Rippenserienfrakturen, zum sog. Brustwandflat-
Ungenügende Atembewegungen tern. Hierbei erfolgt bei der Inspiration eine Einwärts-
Ungenügende oder verminderte Atembewegungen bewegung und bei der Exspiration eine Auswärts-
ergeben sich oftmals aus einer Schonatmung (S. 191). bewegung des beweglichen Thoraxwandanteils.

194 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
11.3 Abweichungen und Veränderungen beim Atmen und deren mögliche Ursachen

Asymmetrische Atmung Weite der Luftröhrenzweige können groß-, mittel-


Bewegt sich eine Thoraxhälfte bei der Atmung nicht oder kleinblasiges, bei kleinsten Verzweigungen ein
oder nur in einem verringerten Ausmaß, so handelt sog. Knisterrasseln (Crepitatio) unterschieden wer-
es sich um eine asymmetrische Atmung. Ursachen den.
hierfür können beispielsweise Thoraxverletzungen
oder -missbildungen, ein Pleuraerguss oder auch Stridor
starke Schmerzen sein. Der Stridor ist ein pfeifendes, langgezogenes Ge-
räusch der Atmung bei Verlegung oder Verengung
11.3.6 Atemgeräusche der oberen Luftwege. Je nachdem, ob das Geräusch
Bei der normalen Atmung sind keine Nebengeräu- bei der Ein- oder Ausatmung entsteht, werden ein in-
sche beobachtbar, doch können unter bestimmten spiratorischer und/oder exspiratorischer Stridor un-
Bedingungen auch physiologisch Atemgeräusche terschieden.
auftreten. Oftmals können Atemgeräusche ohne Ein inspiratorischer Stridor ist beispielsweise bei
Hilfsmittel beobachtet werden, doch zur genaueren einer Verlegung der oberen Atemwege durch eine
Abklärung und Bestimmung der Lokalisation emp- Struma oder bei Pseudokrupp beobachtbar, während
fiehlt sich die Auskultation mittels Stethoskop. Beo- ein exspiratorischer Stridor typisch für Asthma bron-
bachtbare Atemgeräusche sind das Schnarchen, Keu- chiale ist.
chen, Giemen, Trachealrasseln, der Stridor und der
Singultus. Singultus
Oftmals gut hörbar ist der Singultus, der ebenfalls
Schnarchen zu den Atemgeräuschen zählt und durch unwillkürli-
Infolge eines Spannungsverlustes der Kiefer- und che Zwerchfellkontraktionen hervorgerufen wird
Zungenmuskulatur im Schlaf kann es physiologisch (S. 194).
zum Schnarchen kommen. Als pathologisch wird das
Schnarchen bezeichnet, wenn es zusätzlich zu Atem- Husten
pausen, sog. Schlafapnoen, kommt (s. a. S. 204). Neben den Atemveränderungen treten oftmals Be-
gleiterscheinungen bei Atemwegserkrankungen auf. 11
Keuchen Hierzu zählen insbesondere der Husten, das Sputum
Physiologisch entsteht Keuchen bei großer körperli- (s. a. S. 67) und die Zyanose (s. a. S. 373). Husten ent-
cher Anstrengung. Erfolgt die Atmung übermäßig steht durch einen reflektorisch ausgelösten oder
anstrengend wie beispielsweise bei der Verlegung willkürlich herbeigeführten kräftigen Ausatmungs-
der Atemwege, so tritt ein pathologisches keuchen- stoß.
des Atemgeräusch auf. Die Exspiration erfolgt gegen die zunächst ver-
schlossene, dann plötzlich geöffnete Glottis. Da dem
Giemen eigentlichen Hustenstoß eine starke Anspannung der
Als Giemen werden „trockene“, hochfrequente pa- exspiratorischen Muskeln vorangeht, entsteht eine
thologische Atemgeräusche bezeichnet. Sie werden Druckerhöhung im Thorax. Beim Öffnen der Glottis
durch Schwingungen von Schleimfäden und Luftsäu- bewirkt der Druckunterschied zwischen Thorax und
len in den Atemwegen bei Asthma bronchiale und umgebender Atmosphäre eine hohe Luftströmung.
spastischer Bronchitis hervorgerufen. Zumeist wird Die ausströmende Atemluft kann dabei Geschwindig-
das Giemen, das während der Exspiration auftritt, keiten von bis zu 1000 km/h erreichen, wobei Fremd-
von einem Brummen oder Schnurren begleitet. körper und Sekrete nach außen befördert werden.
Es sind vielfältige Ursachen von Husten bekannt,
Trachealrasseln wie z. B. Atemwegserkrankungen, Fremdkörper in
Zu den „feuchten“ Atemgeräuschen gehört das Tra- den Atemwegen, Zwerchfellreizungen, z. B. Lachen,
chealrasseln. Hierunter werden grobe Rasselgeräu- das Einatmen von Reizstoffen oder -gasen sowie
sche über der Brust verstanden, die zum Teil bereits Kreislauferkrankungen, die mit Stauungen im Lun-
auf Distanz hörbar sind. Sie entstehen durch Sekret- genkreislauf einhergehen. Aber auch psychische Ur-
ansammlungen in den Atemwegen, beispielsweise sachen können einen Husten auslösen, so beispiels-
bei einer Bronchitis oder einem Lungenödem. Je nach weise das Verlegenheitshüsteln.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 195


KaelDesu
11 Atmung

Zusammenfassung: meist handelt es sich hierbei um einen produktiven


Atemrhythmus, Atemmechanik und Atem- Husten wie beispielsweise bei Bronchitis und Pneu-
geräusche monie.
Zu den pathologischen Atemtypen hinsichtlich des
Rhythmus zählen die Cheyne-Stokes-Atmung, die Zeitpunkt des Hustens
Kussmaul-Atmung, die Biot-Atmung und die Der morgendliche, der nächtliche, der kontinuierli-
Schnappatmung. che Husten sowie der Husten bei psychischer Erre-
In Bezug auf die Atemmechanik werden übermäßi- gung und der Husten nach Kontakt mit Reizstoffen
ge Atembewegungen (Auxiliaratmung, Nasenflü- sind zu unterscheiden.
gelatmung, Flankenatmung) und ungenügende Bei Rauchern, Menschen mit chronischer Bron-
Atembewegungen abgegrenzt. chitis und Bronchiektasen kommt es häufig, bedingt
Spezielle Atembewegungen sind der Schluckauf, die durch nächtliche Sekretansammlungen, zu einem
inverse oder umgekehrte Atmung, die paradoxe und morgendlichen Husten.
die asymmetrische Atmung. Bei einem akuten Druckanstieg im Lungenkreis-
Unter den Atemgeräuschen sind vor allem Schnar- lauf ist oftmals ein nächtlicher Husten in Form eines
chen, Keuchen, Giemen, Trachealrasseln, Stridor, Reizhustens zu beobachten.
Singultus und Husten auffällig. Husten, der kontinuierlich, d. h. über 24 Stunden
verteilt, auftritt, ist beispielsweise bei entzündlichen

!
Merke: Der Husten wird beobachtet hin- Erkrankungen der Atemwege (z. B. grippalen Infek-
sichtlich: ten) festzustellen.
Ein sog. Verlegenheitshüsteln zeigt sich zumeist
der Art des Hustens, bei psychischer Erregung wie Aufregung und Angst.
des Auftretens des Hustens, Reizstoffe wie Nikotin, Staub und Blütenpollen kön-
des Zeitpunkts des Hustens, nen einen Hustenreiz auslösen und auf eine eventu-
der Beziehung zur Körperlage und elle besondere Empfindlichkeit gegenüber diesen
spezifischer Hustengeräusche. Stoffen hinweisen.
11
Art des Hustens Husten in Beziehung zur Körperlage
Es wird zwischen zwei verschiedenen Arten, dem Der Schwerkraft folgend kann z. B. eine Struma im
trockenen und dem produktiven Husten, unterschie- Liegen einen vermehrten Druck auf die Trachea aus-
den. Bei dem trockenen Husten erfolgt, im Gegensatz üben, wodurch ein Hustenreiz ausgelöst werden
zum produktiven Husten, keine Sekretentleerung. Er kann. Dagegen deutet ein Husten, der fast aus-
tritt vor allem bei einer Laryngitis, Tracheitis, begin- schließlich bei aufrechter Körperhaltung auftritt und
nenden Bronchitis, dem Einatmen von Reizgasen im Liegen verschwindet, auf eine Erkrankung des
und psychischer Erregung auf. Zwerchfells hin.
Bei Atemwegserkrankungen mit Sekretbildung
(z. B. chronischer Bronchitis, Pneumonie, Bronchiek- Hustengeräusche
tasen, Lungenabszess) und Erkrankungen mit Stau- Spezifische Geräusche sind beim Husten zu unter-
ungen im kleinen Kreislauf (Linksherzinsuffizienz, scheiden: der aphonische, bellende, bitonale, ku-
Lungenödem) kommt es überwiegend zu einem pro- pierte Husten und stakkatoartige Hustenstöße.
duktiven Husten. Unter einem aphonischen Husten wird ein klang-
loser, heiserer Husten verstanden, der vorwiegend
Auftreten des Hustens bei Stimmbandentzündungen und Lähmungen des
Der Husten kann plötzlich oder langsam aufbauend N. recurrens auftritt.
auftreten. Plötzlicher Husten, der direkt im Moment Für einen bellenden Husten sind kratzige, raue
der Reizung, ohne jegliche Vorwarnung, auftritt, ist Geräusche charakteristisch. Er tritt zumeist bei
z. B. bei einer Fremdkörperaspiration, bei Tracheitis Krupp und Pseudokrupp auf.
und Pertussis zu beobachten. Husten, der von einem metallisch pfeifenden oder
Ein langsam aufbauender Husten kündigt sich in krächzenden Ton begleitet wird, wird als bitonaler
der Regel durch Kratzen, Kitzeln oder andere Miss- Husten bezeichnet. Er wird verursacht durch eine
empfindungen in den oberen Atemwegen an. Zu-

196 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
11.4 Ergänzende Beobachtungskriterien

Kompression der Bronchien, die entweder durch Ammoniakgeruch


Druckeinwirkung von außen oder durch eine Fremd- Der Ammoniakgeruch gleicht dem Geruch fauler Ei-
körperaspiration hervorgerufen wird. er. Er entsteht bei dem Zerfall von Eiweißen, bei-
Bei schmerzhaften Prozessen im Thorax- und Ab- spielsweise bei Ösophagusvarizenblutungen oder
dominalbereich wird der Husten oftmals zur Ver- bei einem Leberkoma.
meidung zusätzlicher Schmerzen abgebrochen. Die-
se Art des Hustens wird demzufolge als kupierter, ab- Fäulnisgeruch
gebrochener oder abgeschnittener Husten bezeich- Als jauchig, stinkend wird der Fäulnisgeruch be-
net. schrieben, der bei eitrigen Atemwegserkrankungen
Typisch für Keuchhusten ist ein stakkatoartiger (z. B. Lungenabszess) und einem Zerfall von Lungen-
Husten, rasch aufeinander folgende Hustenstöße, die gewebe entsteht.
nachts häufiger als tagsüber auftreten. Bedingt durch
eine Verengung der Stimmritze durch einen Laryn- Lebergeruch
gospasmus und/oder zähen Schleim ist bei dem Stak- Der Lebergeruch (Foetor hepaticus) ist ein charakte-
katohusten ein verlängertes hörbares Einatmen be- ristischer Atem- bzw. Mundgeruch nach frischer Le-
obachtbar. Begleitet werden mehrere Hustenanfälle ber oder Lehmerde. Er ist bei schweren Lebererkran-
durch eine zunehmende Dyspnoe mit Zyanose. An- kungen mit Parenchymuntergang, Leberzirrhose und
schließend kommt es zur Entleerung eines zähen, Leberkoma zu beobachten.
glasigen Schleims und einer Periode mit vermin-
derter Hustenreizschwelle. Die Zahl der Hustenan- Uringeruch
fälle schwankt zwischen 5 – 50 Anfälle pro 24 Stun- Der urinartige Geruch der Atemluft wird auch als
den. Foetor uraemicus bezeichnet. Er ist typisch für eine
terminale Niereninsuffizienz. Wichtig bei diesem
11.3.7 Atemgerüche Geruch ist die Unterscheidung zwischen dem Atem-
Der normale Atemgeruch ist unauffällig, doch kön- geruch und dem Körpergeruch nach Urin, der auch
nen auch physiologisch Atem- bzw. Mundgerüche bei inkontinenten Menschen auftreten kann.
auftreten, die teilweise bereits beim Eintritt in einen 11
Raum wahrgenommen werden können. Zu diesen Foetor ex ore
physiologischen Gerüchen zählen die ernährungsbe- Durch einen bakteriellen Abbau von Nahrungsresten,
dingten Atem- und Mundgerüche. Die bekanntesten abgeschilferten Epithelien und Gewebeteilen und/
hiervon sind der Geruch nach dem Verzehr von oder schlecht gereinigten Zähnen kann es zu einem
Knoblauch, Zwiebeln und stark gewürzten Speisen. üblen Mundgeruch (Foetor ex ore) kommen, der bei
Des Weiteren ist ein übler Geruch bei einem längeren der Ausatmung wahrgenommen wird. Darüber hi-
Nüchternzustand feststellbar. naus führen Erkrankungen der Zähne, der Mund-
Spezielle Atemgerüche können, zusammen mit schleimhaut und der Rachenmandeln zu unange-
anderen Beobachtungskriterien, wichtige Hinweise nehmen Atem- und Mundgerüchen.
auf vorliegende Erkrankungen geben. Da mit dem
Kohlendioxid auch oftmals andere Stoffwechselpro-
dukte abgeatmet werden, liegen die Ursachen für pa- 11.4 Ergänzende
thologische Atemgerüche vielfach außerhalb der At- Beobachtungskriterien
mungsorgane. Zu diesen pathologischen Atemgerü-
chen zählen der Aceton-, Ammoniak-, Fäulnis-, Le- Die Atmung gehört zu den Vitalzeichen, die sich oft-
ber- und Uringeruch sowie der üble Mundgeruch mals gegenseitig beeinflussen, sodass bei Störungen
(Foetor ex ore). oder Auffälligkeiten der Atmung immer auch der
Puls, der Blutdruck und ggf. die Körpertemperatur
Acetongeruch mit beachtet werden müssen. Daneben ist insbeson-
Bei einer Azidose, wie sie bei länger andauernden dere die Haut auf Zeichen einer Sauerstoffminder-
Hungerzuständen oder einem Coma diabeticum auf- versorgung, d. h. auf eine Zyanose hin zu kontrollie-
tritt, ist der typische Acetongeruch feststellbar. Der ren. Weitere Begleiterscheinungen wie eventuelles
Atem riecht hierbei nach faulen Äpfeln. Sputum können wichtige Hinweise auf eine vorlie-
gende Erkrankung geben.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 197


KaelDesu
11 Atmung

Je nach Art der Störung bzw. der Ursache der nimmt die Vitalkapazität zu. Die Atemfrequenz sinkt
Atemveränderung kommen als zusätzliche Beobach- beim Kleinkind weiter auf 20 – 25 AZ/Min., beim
tungskriterien die Bewusstseinslage und vor allem Schulkind auf 18 – 20 AZ und erreicht beim Jugendli-
auch Schmerzen in Frage. chen annähernd die Werte des Erwachsenen von
12 – 18 AZ/Min.
Zusammenfassung: Neugeborene und Säuglinge sind obligate Nasen-
Husten atmer, die durch eine Behinderung der Nasenatmung
Es wird zwischen trockenem und produktivem, stark beeinträchtigt werden können. Bei Säuglingen
plötzlich und langsam aufbauendem Husten diffe- ist auch die Bauchatmung zu erkennen, die in
renziert. Abb. 11.7 dargestellt ist.
Je nach Zeitpunkt geschieht die Einteilung in mor- Die Atemerfassung ist, je nach Alter des Kindes,
gendlichen, nächtlichen, kontinuierlichen Husten durch das Auflegen eines Stethoskopes auf den Tho-
oder Verlegenheitshusten. rax, durch Auflegen der Handflächen unterhalb des
Die Körperlage ist ein Hinweis auf eine Erkrankung Brustbeins und bei älteren Kindern unter Andeutung
sowie die Hustengeräusche, die in aphonischen, bel- einer Pulsmessung möglich (s. a. S. 184).
lenden, bitonalen, kupierten oder stakkatoartigen Beim Ermitteln der Atemfrequenz bei Kindern
Husten eingeteilt werden. wird auch auf Atemrhythmus, -geräusche und -ge-
Bei den Atemgerüchen kommen Aceton-, Ammo- ruch geachtet. Die Haut wird auf Farbveränderungen
niak-, Fäulnis-, Leber-, Uringeruch und der Foetor wie z. B. Zyanose oder blass-graues Hautkolorit hin
ex ore vor. beurteilt.

11.5.1 Abweichungen und Veränderungen der


11.5 Besonderheiten bei Kindern Atmung
Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm Veränderungen des Gesundheitszustandes äußern
sich besonders bei einem Neu- und Frühgeborenen
„Es macht seinen ersten Atemzug!“ Dies ist ein Ereig- immer auch in der Veränderung der Atmung. Körper-
11 nis, dem alle Beteiligten bei einer Geburt voll Span- liche, psychogene und soziokulturelle Faktoren neh-
nung beiwohnen. Dieser erste Atemzug eines Neuge- men hier Einfluss.
borenen bedeutet eine wundervolle Anpassung an Ursachen können beispielsweise Infektionen, Er-
die neue, veränderte Umgebung. Vor der Geburt des regungszustände oder eine erhöhte Schadstoffbelas-
Kindes sind die Lungen mit Flüssigkeit (ca. 40 ml/kg tung der Luft sein. Durch die umfassende Beobach-
KG) gefüllt. Bei der normalen Geburt wird das Kind tung der Atmung und möglicher Thoraxveränderun-
durch den Geburtskanal nach außen gedrückt. Da- gen lassen sich Rückschlüsse auf die momentane
durch wird der Thorax des Kindes komprimiert, die Qualität der Ventilation, der O2-Versorgung und das
Lungenflüssigkeit entleert und die Lungenbläschen allgemeine Wohlbefinden des Kindes ziehen.
beim ersten Atemzug des Kindes mit Luft gefüllt. Veränderungen der Atmung sind je nach Ausprä-
Innerhalb einer Minute nach der Geburt atmet gungsgrad an der erschwerten Atmung (Dyspnoe)
das Kind selbstständig. Die Druckverhältnisse im des Kindes zu erkennen. Die Dyspnoe (s. a. S. 189)
Kreislauf sind verändert und die vor der Geburt not- zeigt sich der Altersstufe entsprechend unterschied-
wendigen Kurzschlüsse verschließen sich. 3 Tage lich und kann beobachtet werden als:
nach der Geburt sind alle Lungenbläschen voll entfal- inspiratorische Dyspnoe (Atemnot bei der Einat-
tet. Die Atemtätigkeit ist in der ersten Lebensphase mung, tritt bei Kindern mit verengten oder ver-
unregelmäßig. Um den Gasaustausch zu sichern, legten Atemwegen, bedingt durch Schwellung/
passt sich die Atmung des Kindes den Notwendigkei- Sekretstau, z. B. beim Pseudokrupp, auf,
ten der Umgebung und dem Allgemeinzustand an. exspiratorische Dyspnoe (Atemnot bei der Ausat-
Aufgrund des geringeren Volumens der Lunge va- mung), tritt bei einer Spastik der Bronchien, z. B.
riiert die Atemfrequenz bei einem Frühgeborenen beim Asthma bronchiale, auf,
zwischen 50 – 60 AZ (Atemzüge)/Min. Beim Neuge- Ruhedyspnoe (Atemnot auch in Ruhe),
borenen und Säugling hat die Atemfrequenz bis 30 Orthopnoe (Atmung nur unter Einsatz der Atem-
AZ/Min. abgenommen. Durch das Lungenwachstum hilfsmuskulatur möglich), bei Kindern mit einer
Herzinsuffizienz, bedingt durch einen Herzfehler,

198 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
11.5 Besonderheiten bei Kindern

Nasenflügeln (atmungssynchrone Blähbewegun- Surfactant-Faktore erst ab diesem Zeitpunkt be-


gen der Nasenflügel zur Erweiterung der Atem- ginnt,
wege bei jeder Inspiration) tritt auf bei Früh-/Neu- beim Aspirationssyndrom, durch Aspirieren von
geborenen und Säuglingen mit einer akuten O2- mekoniumhaltigen Fruchtwasser. Eine intraute-
Mangelversorgung, beim Atemnotsyndrom sowie rine Hypoxie führt zu vorzeitiger Abgabe des Me-
bei einer Neugeborenenbronchitis und kindesal- koniums in das Fruchtwasser. Bei vorzeitigen
terspezifischen Pneumonien, Atembewegungen kann das mekoniumhaltige
inspiratorische Einziehungen (sichtbares Einsin- Fruchtwasser in die Lunge aspiriert werden, was
ken der Zwischenrippenräume), treten als thora- zu Obstruktionen der kleinen Bronchien mit Ate-
kale, aber auch als juguläre und epigastrische Ein- lektasen und Emphysem und zu Pneumonien füh-
ziehungen auf. Sie kommen u. a. bei Atemnotsyn- ren kann. Bei einer Aspirationspneumonie ist
drom und bei Asthma bronchiale vor. durch Bakterien infiziertes Fruchtwasser mitver-
antwortlich. Betroffen sind meistens übertragene
11.5.2 Die besondere Situation des Früh- und Neugeborene,
Neugeborenen beim transitorischen Atemnotsyndrom (TRANS),
Frühgeborene haben häufig einen unregelmäßigen durch verzögerte Resorption der fetalen Lungen-
Atemrhythmus. Einer kurzzeitig schnellen Atmung bläschenflüssigkeit kommt es zu einer Tachypnoe
folgen Perioden, in denen langsam oder gar nicht ge- und zu leichten thorakalen Einziehungen. Gefähr-
atmet wird. Diese sog. periodische Atmung bedarf det sind Frühgeborene und durch Sectio entbun-
keiner Behandlung, birgt jedoch eine große Gefahr dene Kinder, deren Brustkorb unter der Geburt
für das Frühgeborene. Das Kind wird ggf. durch eine nicht ausreichend komprimiert wurde,
sanfte Stimulation an den Fußsohlen zum Atmen als Folge angeborener Fehlbildungen der Luftwe-
aufgefordert. ge und Lungen wie z. B. Stenosen der Trachea, öso-
Ein häufiges Erscheinungsbild bei Früh- und gele- phagotracheale Fisteln, Stenosen der Bronchien,
gentlich auch bei Neugeborenen ist das Atemnotsyn- bei angeborenen Herzfehlern und/oder Herzver-
drom (ANS). Die Symptome treten häufig während sagen. Z. B. bei Herzfehlern mit einem Rechts-
der ersten 6 Lebensstunden auf, und zeigen sich in ei- Links-Shunt kommt es zu einer verminderten 11
ner Atemfrequenz von ⬎ 60 Atemzügen/Min., durch Lungendurchblutung und so zu einer Dyspnoe,
eine Nasenflügelatmung, Zyanose bei Atmung unter bei Lungenblutungen, z. B. nach Hypoxie, bei Ge-
Raumluft, sichtbare thorakale Einziehungen und ex- rinnungsstörungen, Austauschtransfusionen,
spiratorisches Stöhnen als ein typisches Atemge- bei Fehlbildungen oder entzündlichen Prozessen
räusch. im Gehirn, z. B. bei Hperventilation durch zere-
Ein Atemnotsyndrom liegt vor brale Schädigung, Hirntumore oder Enzephalitis.
bei der Hyalin-Membrankrankheit (HMK), einem
Mangel an oder Fehlen von oberflächenaktiven Veränderungen der Atmung können bei zu früh ge-
Substanzen (Surfactant-Faktor-Mangel). Der Sur- borenen Kindern ein Zeichen der Unreife sein. Bei
factant-Faktor kleidet die Wände der Lungenbläs- Neugeborenen weisen sie eher auf eine angeborene
chen aus und verhindert, dass bei der Exspiration oder erworbene Erkrankung hin. Über diese Verän-
die Lungenbläschen (Alveolen) zusammenklap- derungen hinaus sind auch andere Beobachtungskri-
pen. Nur so kann der Austausch von Sauerstoff terien hinzuzuziehen. Neben bestehenden respirato-
und Kohlendioxid problemlos erfolgen. Das Feh- rischen Problemen wie dem Atemnotsyndrom sind
len des Surfactant-Faktors führt u. a. zum Kol- häufig kardiovaskuläre, neurologische und Tempera-
labieren der Alveolen und zu Mikroatelektasen. turregulationsprobleme festzustellen.
Die Folge ist ein gestörter Austausch von Sauer- Ein sehr wichtiges Beobachtungskriterium ist die
stoff und Kohlendioxid und eine reduzierte Haut und die kardiale Situation des Frühgeborenen.
Sauerstoffsättigung im Blut, was eine frühzeitige Eine Farbveränderung der Haut wie blasses, graues
Intubation und maschinelle Beatmung erfordert. Aussehen bis hin zur Zyanose, eine Herzfrequenz-
Betroffen sind in erster Linie Frühgeborene, die und Blutdruckabweichung sind immer im Zusam-
vor der 30. Schwangerschaftswoche geboren menhang zu sehen.
werden, da die Lungenreifung mit Bildung des

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 199


KaelDesu
11 Atmung

11.6 Besonderheiten bei älteren 11.7 Fallstudien und mögliche


Menschen Pflegediagnosen
Die Leistungsfähigkeit und die Anpassungsfähigkeit Beispiel: Fr. Leander, 55 Jahre, liegt seit 2 Ta-
des Atmungssystems nimmt mit zunehmendem Le- gen auf der Abteilung für Innere Medizin. Sie
bensalter ab. Es kommt zu einer Erweiterung der Al- wurde mit einem akuten Asthmaanfall durch
veolen und zur Atrophie des Lungengewebes. Die den Notarzt in das Krankenhaus eingeliefert. Nach der
Ringknorpel verlieren an Elastizität und es können Erstversorgung hat sich ihr Zustand zwar verbessert,
degenerative Veränderungen an den Gelenken zwi- doch leidet sie weiterhin an einer ausgeprägten Belas-
schen Wirbelsäule und Rippen auftreten. Die Lungen tungsdyspnoe. Bereits bei leichter körperlicher Aktivi-
sind durch evtl. Verbiegungen (Kyphose, Skoliose) der tät steigt die Atemfrequenz an (ca. 26 AZ/Min.) und die
Brustwirbelsäule in ihrer Entfaltung eingeschränkt. Atemhilfsmuskulatur wird in Anspruch genommen.
Diese Veränderungen führen gemeinsam mit einer Schon nach kurzer Belastung ist Fr. Leander sehr er-
meist parallel verlaufenden Herzinsuffizienz zu einer schöpft. Zudem äußert sie Ängste bzgl. ihrer Atemnot.
Leistungsminderung des alten Menschen im Alltag. Sie leidet bereits seit Jahren an dem Asthma bronchiale
Um dennoch bestimmte Aktivitäten durchführen zu und kennt Astmaanfälle, doch in den letzten Monaten
können, werden verschiedene Strategien angewen- sei es ihr sehr gut gegangen, sodass sie dieser Anfall
det, wie beispielsweise häufigeres Stehenbleiben umso mehr erschreckt hat. Tab. 11.5 zeigt einen Auszug
beim Treppensteigen, um Luft zu holen. aus dem Pflegeplan von Fr. Leander.
Je weiter die degenerativen Veränderungen zu- Für Fr. Leander trifft die Pflegediagnose unwirksamer
nehmen, desto wichtiger ist die genaue Beobachtung Atemvorgang zu, wie sie in der folgenden Übersicht
der Atmung des alten Menschen. Hierdurch können dargestellt ist:
Komplikationen wie z. B. eine Bronchitis, eine Pneu-
monie oder ein beginnendes Lungenödem frühzeitig
erkannt bzw. Maßnahmen zur Vorbeugung getroffen Unwirksamer Atemvorgang (P)
11 werden. Dadurch wird es möglich, diesem Menschen (Gordon 2013, S. 241 – 243, NANDA-I 2016)
zielgerichtet und seinen Möglichkeiten entspre- Ineffective breathing pattern (00032)
chend zu unterstützen. (1980, 1996, 1998)
Taxonomie II: Domäne 4: Aktivität/Ruhe,
Zusammenfassung: Klasse 4: Kardiovaskuläre/Pulmonale Reaktionen
Besonderheiten bei Kindern und älteren Diagnosetyp (Dokumentationsform): aktuelle Pflege-
Menschen diagnose (PES)
Die Atemfrequenz eines Frühgeborenen variiert Funktionelles Gesundheitsverhaltensmuster:
zwischen 50 – 60 AZ/Min., beim Kleinkind sinkt sie Aktivität und Bewegung
auf 20 – 25, beim Erwachsenen auf 12 – 18 AZ/ Min.
Definition
Auch bei Kindern gibt die Atmung Hinweise auf das
Inspiration und/oder Exspiration, die nicht zu einer aus-
Wohlbefinden: inspiratorische Dyspnoe, exspirato-
reichenden Belüftung der Lungen führen
rische Dyspnoe, Nasenflügeln und inspiratorische
Einziehungen sind vor allem zu beobachten. Einflussfaktoren (E)
Bei Früh- und Neugeborenen tritt das Atemnotsyn- Angst
drom auf, es zeigt sich u. a. als Hyalin-Membran- (verminderte Energie oder) Fatigue
krankheit, Aspirationssyndrom, transitorisches Schmerzen
Atemnotsyndrom, infolge von Fehlbildungen, ange- (Wissensdefizit [kompensatorisches Atmen])
Brustkorbdeformation
borenen Herzfehlern oder bei Lungenblutungen.
Adipositas
Bei älteren Menschen kann durch Beobachtung der
Rückenmarkverletzung
Atmung Komplikationen und Erkrankungen vorge-
Körperposition/Lagehaltung
beugt werden.
Ermüdung der Atemmuskulatur

200 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
11.7 Fallstudien und mögliche Pflegediagnosen

Tab. 11.5 Auszug aus dem Pflegeplan von Fr. Leander

Pflegeproblem Ressource Pflegeziele Pflegemaßnahmen

Fr. Leander leidet unter Belas- kennt Asthmaanfälle FZ: hat auch bei Belastung 쐌 Ermittlung des Grades der aktuellen Be-
tungsdyspnoe bei Asthma eine Atemfrequenz im lastbarkeit durch Beobachtung der At-
bronchiale Normbereich mung (Frequenz, Tiefe, Mechanik, Geräu-
쐌 kennt ihre körperliche Be- sche) und Haut (Zyanose) bei allen kör-
lastbarkeit perlichen Aktivitäten
쐌 kennt atemerleichternde 쐌 Oberkörperhoch- und Dehnlagerung
Lagerungen und Atem- (nach Bed.)
übungen zur vertieften
Atmung und führt diese
selbstständig durch
쐌 beherrscht die dosierte 쐌 Anleitung zur vertieften Atmung (Kon-
Lippenbremse, kennt das taktatmung) und der dosierten Lippen-
Ziel der Maßnahme und bremse
wendet sie entsprechend 쐌 Information über Ziel der Übungen (Ver-
an größerung der Atemfläche, Reduktion
der Bronchialobstruktion)
쐌 wendet bei Bedarf atem- 쐌 atemerleichternde Körperhaltungen zei-
erleichternde Körperhal- gen (Kutschersitz, Sitzen vor dem Tisch)
tungen an

neuromuskuläre Störung verlängerte Ausatmungsphase


neurologische Unreife (Zyanose)
muskuloskelettale Beeinträchtigung Orthopnö
Knochendeformation Einnahme der 3-Punkte-Stellung/Kutscherstellung
beeinträchtigte Wahrnehmung Bradypnö
kognitive Beeinträchtigung Tachypnö
Hyperventilation
Pflegeergebnis (Outcome)
11
Hypoventilationssyndrom
Respiratorischer Status: Gasaustausch/Atemvorgang
Kennzeichen oder Symptome (S) (Respiratory Status: Gas Exchange/Ventilation)
Hauptkennzeichen Der alveoläre Austausch von CO2 und O2 erhält die
(Äußerungen über Kurzatmigkeit/Atem- artiellen Blutgaskonzentrationen aufrecht
beschwerden) Bewegung von Luft in die Lunge und wieder heraus
(Ruhe- oder Belastungs-) Dyspnö
Riskogruppen
(Veränderung der Atemfrequenz und/oder)
Personen mit . . .
Veränderung der Atemtiefe
neuromusukoloskelettaler Beeinträchtigung (z. B.
Einsatz der Atemhilfsmuskulatur
Rückenmarkverletzung, Knochendeformität, neuro-
(Atemzüge/min:)
logische Unreife)
– (Säuglinge: ⬍ 25 oder ⬎ 60)
Beeinträchtigung der Wahrnehmung oder des Den-
– (1 – 4 Jahre: ⬍ 20 oder ⬎ 30)
kens
– (5 – 14 Jahre: ⬍ 14 oder ⬎25)
Erschöpfung der Atemmuskulatur
– (Erwachsene ⬎ 14 Jahre: ⱕ 11 oder ⬎24)
Deformität der Thoraxwand
Nebenkennzeichen Hyperventilation
Atmen mit Lippenbremse Hypoventilationssyndrom
Veränderungen der Brustkorbbewegungen
Nasenflügelatmung
(abnorme arterielle Blutgase)
(Fremitus) Für Fr. Leander könnte die Pflegediagnose lauten:
vergrößerter (anteroposteriorer) Durchmesser des Unwirksamer Atemvorgang
Brustkorbs b/d (beeinflusst durch) Angst und Schwinden der
Körperkräfte/Erschöpfung
a/d (angezeigt durch)

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 201


KaelDesu
11 Atmung

Tab. 11.6 Auszug aus dem Pflegeplan von Sonja

Pflegeproblem Ressource Pflegeziel Pflegemaßnahme

Sonja leidet unter einer Sonja atmet spontan FZ: Sonja hat eine physiolo- 쐌 Zufuhr von O2 über N-CPAP (kontinuier-
Ateminsuffizienz aufgrund gische und gleichmäßige lich)
von einem Surfactant-Fak- Belüftung der Lungen 쐌 Überwachung der O2-Sättigung über
tor-Mangel-Syndrom bei 쐌 Besitzt ausreichende Lun- Monitoring
Frühgeburt genbelüftung und Sauer- 쐌 Kontrolle der Tubusdurchgängigkeit und
stoffsättigung Absaugen nach Bedarf
쐌 Atmungskontrolle (Frequenz, Tiefe, Ein-
ziehung) 2-stündlich nach Plan
쐌 Hautbeobachtung (Zyanose) bei jeder
pflegerischen Tätigkeit
쐌 Minimal Handling

Belastung-/Ruhedyspnoe,
Tachykardie,
Einsatz der Atemhilfsmuskulatur, Definition
Äußerungen über Angst. Reduzierte Energiereserven führen zur Unfähigkeit ei-
nes Individuums, eine ausreichende Atmung aufrecht-
Beispiel: Sonja kommt aufgrund einer Pla- zuerhalten
zentainsuffizienz in der 28. Schwanger-
Einflussfaktoren (E)
schaftswoche auf die Welt. Sie wiegt nur
stoffwechselbedingte Faktoren (zu spezifizieren)
1200 g. Zu beobachten sind ein blasses Hautkolorit,
Erschöpfung/Schwäche der Atemmuskulatur
leichtes Stöhnen, Dyspnoe mit Nasenflügelatmung und
eine Atemfrequenz von ⬎ 60 AZ/Min. Sonja leidet unter Kennzeichen oder Symptome (S)
einem Atemnotsyndrom infolge eines primären Sur- Dyspnö
factant-Faktor-Mangels. Als atemunterstützende erhöhte Stoffwechselrate
gesteigerte Ruhelosigkeit
11 Maßnahme erhält sie einen Nasen-CPAP (ein kontinu-
ierlicher positiver Atemwegsdruck wird über einen Tu- Ängstlichkeit
zunehmende Betätigung der Atemhilfsmuskulatur
bus in der Nasenöffnung erzeugt). Das Kind atmet da-
vermindertes Atemzugvolumen
bei spontan. Die weitere Behandlung findet auf einer
erhöhte Herzfrequenz
für Frühgeborene ausgestatteten Intensivstation statt.
erniedrigter pO2
Tab. 11.6 zeigt einen Auszug aus dem Pflegeplan von
erhöhter von pCO2
Sonja.
erniedrigte SaO2
verminderte Kooperation
Die in Frage kommende Pflegediagnose ist in der fol-
genden Übersicht dargestellt: Pflegeergebnis (Outcome)
Respiratorischer Status: Gasaustausch (Respiratory
Status: Gas Exchange)
Beeinträchtigte Spontanatmung (P)* Der alveoläre Gasaustausch von CO2 und O2 erhält
(Gordon 2013, S. 294 – 295, NANDA-I 2016) die arteriellen Blutgaskonzentrationen aufrecht
Impaired spontaneous ventilation (00033) (1992)
Taxonomie II: Domäne 4: Aktivität/Ruhe,
Klasse 4: Kardiovaskuläre/Pulmonale Reaktionen Für Sonja könnte die Pflegediagnose lauten:
Beeinträchtigte Spontanatmung
Diagnosetyp (Dokumentationsform): aktuelle Pflege-
b/d (beeinflusst durch) Unreife der Lungen
diagnose (PES)
a/d (angezeigt durch)
Funktionelles Gesundheitsverhaltensmuster:
Dyspnoe,
Aktivität und Bewegung
Nasenflügelatmung,
* Falls diese Diagnose gestellt wird: sofortige Überwei- Beschleunigung der Herzfrequenz,
sung zur ärztlichen Evaluation. Verminderung der arteriellen Sauerstoffsätti-
gung.

202 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
Literatur

Fazit: Die Erfassung und Beurteilung der At- Gordon, M.: Handbuch Pflegediagnosen. 5. Aufl. Hans Huber,
mung im Rahmen der Pflege von Menschen Hogrefe AG, Bern 2013
Hoehl, M., P. Kullick (Hrsg.): Gesundheits- und Kinderkranken-
bietet die Möglichkeit, schnell einen Über-
pflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012
blick über die aktuelle Vitalsituation eines Menschen
Huch, R., K. D. Jürgens (Hrsg.): Mensch, Körper, Krankheit. Ana-
zu erhalten. Bei der Beurteilung der Atmung sind insbe- tomie, Physiologie, Krankheitsbilder. Lehrbuch und Atlas
sondere die Atemfrequenz, die Atemtiefe und der Atem- für die Berufe im Gesundheitswesen. 7. Aufl. Elsevier
rhythmus von Bedeutung. Sie geben zusammen mit GmbH, München 2015
weiteren Beobachtungskriterien wichtige Hinweise auf Illing, S., M. Claßen (Hrsg.): Klinikleitfaden Pädiatrie. 9. Aufl.
bestehende Erkrankungen bzw. zu erwartende Kompli- Urban & Schwarzenberg, München 2014
Köther, I.: Altenpflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2016
kationen und ermöglichen somit eine frühzeitige Pro-
Menche, N. (Hrsg.): Pflege heute. 6. Aufl. Elsevier GmbH, Mün-
phylaxe.
chen 2014
NANDA International: Pflegediagnosen. Definitionen und
Klassifikation 2015 – 2017. Herdman, T. H., S. Kamitsuru
(Hrsg.): RECOM, Kassel 2016
Literatur: Pschyrembel Klinisches Wörterbuch. 266. Aufl. de Gruyter,
Berlin 2015
Dahmer, J.: Anamnese und Befund: Die symptomorientierte Schettler, G., H. Greten (Hrsg.): Innere Medizin: verstehen –
Patientenuntersuchung: fächerübergreifend – interaktiv – lernen – anwenden. 12. Aufl. Thieme, Stuttgart 2005
praxisbezogen. 10. Aufl. Thieme, Stuttgart 2006 Schewior-Popp, S., F. Sitzmann, l. Ullrich (Hrsg.): Thiemes Pfle-
Epstein, O., G.D. Perkin, D.P. de Bono, J. Cookson (Hrsg.): Anam- ge. 13. Aufl. Thieme, Stuttgart 2017
nese und Untersuchung: auf einen Blick. Elsevier, Mün- Schwegler, J., R. Lucius: Der Mensch. Anatomie und Physiolo-
chen 2006 gie. 6. Aufl. Thieme, Stuttgart 2016
Fischer, K., H. Sobottka, D. Faas (Hrsg.): Klinikleitfaden Kinder- Silbernagel, S., A. Despopoulos: Taschenatlas Physiologie.
krankenpflege. 4. Aufl. Urban & Fischer, München 2009 8. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012
Gerlach U., H. Wagner, W. Wirth: Innere Medizin für Pflegebe- Teising, D., H. Jipp: Neonatologische und pädiatrische Inten-
rufe. 8. Aufl. Thieme, Stuttgart 2015 siv- und Anästhesiepflege. Praxisleitfaden. 6. Aufl. Sprin-
ger, Berlin 2016

11

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 203


KaelDesu

12 Schlaf
Marion Weichler-Oelschlägel

Übersicht
Einleitung · 204
12.1 Allgemeine Beobachtungskriterien und
Beschreibung des Normalzustands · 206
12.1.1 Schlafzyklus und Schlafstadien · 207
12.1.2 Schlafbedarf · 209
12.1.3 Schlaftypen · 209
12.1.4 Physiologische Veränderungen während
des Schlafs · 210
12.2 Abweichungen und Veränderungen
beim Schlaf und deren Ursachen · 211
12.2.1 Hypersomnie · 211
12.2.2 Hyposomnie · 212
12.2.3 Insomnie · 212 fähr ein Drittel unseres Lebens verbringen. Der
12.2.4 Chronobiologische Störungen · 213 Schlaf wird u. a. als „kleiner Bruder des Todes“, „sü-
12.2.5 Parasomnien · 213 ßes Labsal“ oder auch als eine „Gabe der Götter“ be-
12.2.6 Nächtliche Myoklonien · 214 zeichnet. Von Ärzten und Wissenschaftlern werden
12.2.7 Narkolepsie · 215 unterschiedliche Schlaftheorien vertreten, doch eine
12.2.8 Schlafapnoe · 215 schlüssige, abschließende Aussage konnte noch
12.3 Ergänzende Beobachtungskriterien · 217 nicht gemacht werden.
12.4 Besonderheiten bei Kindern · 217 Obwohl der Schlaf noch nicht endgültig erforscht
12.4.1 Abweichungen und Veränderungen beim ist, ist sicher, dass er kein passiver Zustand, sondern
Schlaf · 218 eine aktive, vom Stammhirn gesteuerte Leistung des
Organismus ist. Zudem ist bekannt, dass Gesundheit
12 12.5 Besonderheiten bei älteren
Menschen · 219 und Wohlergehen jedes Menschen entscheidend von
12.6 Fallstudien und mögliche einem ausreichenden, gesunden Schlaf abhängig
Pflegediagnosen · 220 sind. Ein Mensch kann zwar mehrere Wochen ohne
Fazit · 222 Nahrung, aber nur wenige Tage ohne Schlaf leben.
Literatur · 223 Im folgenden Kapitel werden verschiedene For-
men von Schlafstörungen und ihre Auswirkungen
auf den Menschen beschrieben.
Schlüsselbegriffe:
왘 REM-Schlaf Definition: Als Schlaf wird der lebensnotwen-
왘 NREM-Schlaf dige, im Zirkadianrhythmus auftretende Erho-
왘 Insomnie lungszustand bezeichnet, der mit einer verän-
왘 Parasomnien derten Hirnaktivität und Bewusstseinslage einhergeht.
왘 Schlafapnoe

Der Schlaf ist ein Teil des 24-Stunden-Rhythmus, des


Schlaf-Wach-Zyklus. Er beruht auf dem endogenen
Einleitung Tag-Nacht-Rhythmus des Zentralnervensystems.
Der Schlaf ist ein aktiver Erholungsvorgang für die
Was ist eigentlich Schlaf? Viele Menschen, vor allem Stoffwechselvorgänge im Gehirn und ist durch eine
Dichter, Philosophen und Wissenschaftler, haben Bewusstseinsänderung gekennzeichnet. Es handelt
sich immer wieder mit dieser Frage beschäftigt und sich um eine Bewusstseinsminderung, bei der eine
versucht, den Zustand zu erklären, in dem wir unge- gewisse Wahrnehmungsbereitschaft gegenüber der

204 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
Einleitung

Umwelt erhalten bleibt und der Mensch jederzeit schmerzschwelle sinkt (Abb. 12.1). Hierdurch wird
durch einen entsprechend geeigneten Reiz erweck- klar, warum Zahnschmerzen nachts als besonders
bar ist. heftig empfunden werden.
Der Schlaf stellt den physiologischen Ausgleich Als Schlaf-Wach-Zentrum, welches für die Steue-
zum Wachsein dar und kehrt im Zirkadianrhythmus rung des Schlaf-Wach-Rhythmus verantwortlich ist,
wieder, d. h., der Rhythmus entspricht ungefähr (lat. wird vielfach die Formatio reticularis bezeichnet.
circa = um, ungefähr) der Dauer eines Tages (lat. Aufgrund verschiedener Untersuchungen wird heute
dies = Tag). Auch andere Körperfunktionen unterlie- angenommen, dass auch der Transmitter Serotonin
gen diesem Rhythmus, wie z. B. die Körpertempera- maßgeblich an der Steuerung des Schlaf-Wach-
tur und die Stoffwechselfunktionen. Verantwortlich Rhythmus beteiligt ist, indem er u. a. die Freisetzung
für die endogene Steuerung dieses Aktivitätsrhyth- sog. endogener Schlaffaktoren veranlasst. Diskutiert
mus ist im Wesentlichen der paarig angelegte Nuc- werden hier zum einen Substanzen (Faktor S), die
leus suprachiasmaticus (SCN) im Zwischenhirn. sich während des Wachzustands anhäufen und bei
Die Synchronisation, d. h. die zeitliche Abstim- einer bestimmten Konzentration Müdigkeit auslö-
mung des Rhythmus auf die Tag-Nacht-Folge, erfolgt sen. Zum anderen wird das Vorhandensein schlafför-
u. a. durch äußere Zeitgeber, wie das Licht und sozia- dernder Stoffe (DSIP: delta sleep inducing peptide)
le Faktoren, wie beispielsweise Arbeits-, Freizeit- vermutet, die bei Schlafbeginn bzw. während der
und Schlafphasen. Das ist der Grund, weshalb wir bei Schlafphase ausgeschüttet werden.
Helligkeit wach sind und bei Dunkelheit schlafen. Im Gegensatz zu dem Zirkadianrhythmus des Ju-
Hinzu kommt, dass die verschiedenen endogenen gendlichen und Erwachsenen unterliegt der Schlaf
Rhythmen aufeinander abgestimmt sind. So kann des Neugeborenen dem sog. gastrischen oder poly-
beispielsweise festgestellt werden, dass immer phasischen Schlafrhythmus. Hierbei führen angebo-
dann, wenn die Körpertemperatur absinkt, sich Mü- rene primitive Instinkte wie beispielsweise Hunger
digkeit einstellt und fast gleichzeitig auch die Zahn- und Durst zum Erwachen (s. a. S. 217). Erst im weite-

12

relative Ent-
ladungsrate
7
bioelektrische
5
Aktivität
SCN 3
1

[°C]
37°
Körper-
temperatur
36°

mA
3,5
Zahnschmerz-
schwelle 3,0

2,5

12 18 0 6 12 18 0 6 Uhr

Abb. 12.1 Verschiedene endogene Rhythmen. Schlafzeiten cus (SCN) im Zwischenhirn, der Körpertemperatur sowie der
(Bettsymbole) und tägliche Schwankungen der bioelektrischen Zahnschmerzschwelle
Entladungsrate (relative Einheiten) des Nucleus suprachiasmati-

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 205


KaelDesu
12 Schlaf

ren Verlauf des Lebens entwickelt sich der Zirkadian- Tab. 12.1 Beispiel eines Schlaftagebuchs
rhythmus. Datum/Wochentag

aufgestanden um .................h
12.1 Allgemeine
Beobachtungskriterien und Speisen (nach 16.00 h)

Beschreibung des Getränke (nach 16.00 h)

Normalzustands Medikamente (Name, Zeiten)

Definition: Als normaler, gesunder Schlaf Aktivitäten (nach 16.00 h)

wird im Allgemeinen der Schlaf bezeichnet, der besondere Ereignisse,


sich kurze Zeit nach dem Zubettgehen einstellt, Erlebnisse am Tag
in der Dauer dem Alter angemessen ist, nicht durch
tagsüber geschlafen von ............... bis ............... h
mehrmaliges Aufwachen gestört und am Morgen als
erholsam empfunden wird. zu Bett gegangen um ................ h

nächtliche Wachzeiten von ............... bis ............... h


Der Schlaf wird von vielen unterschiedlichen Fakto-
ren beeinflusst. Insbesondere zählen hierzu: Bemerkungen/Besonderheiten
z. B. Träume, Beobachtungen
das Alter (s. a. S. 209),
des Partners
die emotionale Befindlichkeit (z. B. Ärger, Sorgen,
Glück, Aufregung), Befindlichkeit am Morgen und
Bewertung des Schlafs
Umgebungsfaktoren (z. B. Helligkeit, Umgebungs-
(1 = gut – 10 = sehr schlecht)
temperatur, Lärm),
die Einnahme von Genussgiften (z. B. Alkohol,
koffeinhaltige Getränke),
Erkrankungen und/oder deren Symptome und Mithilfe eines Schlaftagebuchs kann der Schlaf
Begleiterscheinungen (z. B. Schmerzen, Übelkeit, über eine längere Zeit beurteilt werden. Der Betrof-
Bewegungseinschränkungen), fene wird gebeten, am Morgen nach dem Erwachen
die Einnahme von Medikamenten. ein Schlafprotokoll auszufüllen (Tab. 12.1). Mithilfe
12
dieser Beobachtungen und Aussagen können Hin-
Das wichtigste Kriterium zur Beurteilung des Schlafs weise auf die Art und Weise der Schlafstörung sowie
ist die individuelle Einschätzung des Menschen bzgl. deren Ursache gefunden werden.
des Erholungswertes seines Schlafs. Differenziert und objektiviert werden können
Weitere Kriterien sind der Zeitpunkt des Ein- diese Beobachtungen und Angaben durch verschie-
schlafens, das Vorhandensein von Wachphasen, das dene Messungen in einem Schlaflabor. Hier werden
Auftreten von Myoklonien (periodisch auftretende während der Nacht ein EEG (Elektroenzephalo-
Bewegungen), Parasomnien (z. B. Schlafwandeln, gramm), EMG (Elektomyogramm) und EOG (Elek-
nächtliches Zähneknirschen) oder Atemstörungen trookulogramm) abgeleitet. Das EEG registriert die
(z. B. Schlafapnoe), der Zeitpunkt des Erwachens und elektrischen Hirnströme, das EMG die Muskelspan-
die Gesamtschlafzeit. nung und das EOG die Augenbewegungen während
Durch die Beobachtung des Schlafenden, die Be- des Schlafs (Abb. 12.2). Hinzu kommt die kontinuier-
fragung am nächsten Morgen oder Schlaftagebücher liche Überwachung der Vitalzeichen und Beobach-
können wichtige Aussagen zum Schlaf gemacht tung der Körperbewegungen.
werden. Die Beobachtung des Schlafenden bezieht

!
sich auf die o. g. Kriterien zur Beurteilung des Schlafs. Merke: Die individuelle Einschätzung der
Bei der Befragung am nächsten Morgen wird u. a. Schlafqualität durch die Person selbst ist das
zusätzlich nach dem Erholungswert des Schlafs ge- wichtigste Kriterium bei der Bewertung des
fragt. Schlafs. Daneben werden folgende Punkte beobachtet:

206 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
12.1 Allgemeine Beobachtungskriterien und Beschreibung des Normalzustands

1. der „Non-rapid-eye-movement-Schlaf“ (NREM-


EEG = Hirnstromkurve Schlaf), der die Schlafstadien 1 – 4 beinhaltet
2. und der „Rapid-eye-movement-Schlaf“ (REM-
EOG = Augenbewegungen
Schlaf), der durch rasche Augenbewegungen ge-
kennzeichnet ist und auch als Stadium 5 bezeich-
net wird.
EMG = Muskelspannung
Der NREM-Schlaf wird außerdem als orthodoxer
Schlaf, der REM-Schlaf als paradoxer Schlaf bezeich-
14 sec
net, da hier die Hirnstromkurve der eines wachen
Abb. 12.2 Verschiedene Messungen im Schlaflabor. Elektro- Menschen sehr ähnelt.
enzephalogramm (EEG), Elektrookulogramm (EOG) und Elektro-

!
myogramm (EMG) Merke: Bei den Schlafmustern werden der
REM-Schlaf, der durch rasche Augenbewe-
gungen gekennzeichnet ist, und der NREM-
Zeitpunkt des Einschlafens, Schlaf unterschieden.
das Vorhandensein von Wachphasen,
das Auftreten von Myoklonien, Parasomnien und/ Stadium 1: Die sog. Einschlafphase ist gekennzeich-
oder Atemstörungen, net durch einen Dämmerzustand. Der Mensch be-
der Zeitpunkt des Erwachens, ginnt sich zu entspannen, hat noch flüchtige Gedan-
die Gesamtschlafzeit. ken und „döst“ vor sich hin. In diesem Zustand kann
er durch geringe Reize wieder geweckt werden.
Zusammenfassung: Schläft er jedoch ungestört weiter, so gelangt er nach
Schlaf ca. 15 Minuten in das nächste Stadium.
Schlaf ist ein aktiver Erholungsvorgang für die
Stoffwechselvorgänge im Gehirn und kehrt im Aus- Stadium 2: Dieses Stadium wird oftmals auch als der
gleich zum Wachzustand im Zirkadianrhythmus Beginn der Schlafphase bezeichnet. Es kommt zu ei-
wieder. ner zunehmenden Entspannung, die Gedanken sind
Für die Steuerung des Schlaf-Wach-Rhythmus wird verschwommen, traumähnlich. Der Schlafende kann
12
neben der Formatio reticularis der Transmitter Se- in diesem Stadium noch leicht geweckt werden.
rotonin verantwortlich gemacht.
Der Zirkadianrhythmus entwickelt sich erst aus Stadium 3: Dieses Stadium des beginnenden Tief-
dem gastrischen oder polyphasischen Schlafrhyth- schlafs wird nach ca. 30 Minuten erreicht. Es kommt
mus bei Neugeborenen. hier zu völliger Entspannung; die Pulsfrequenz und
Viele Faktoren beeinflussen den Schlaf und viele die meisten anderen Körperfunktionen sind verlang-
Kriterien spielen eine Rolle bei seiner Beurteilung. samt. Mäßige, zufällig auftretende Reize, wie z. B. ei-
Durch ein Schlaftagebuch und Messungen in einem ne Toilettenspülung, wecken den Schlafenden in der
Schlaflabor können Beobachtungen differenziert Regel nicht. Wird er nicht durch einen starken Reiz
und objektiviert werden. gestört, so gelangt er in das nachfolgende Stadium,
den Tiefschlaf.
12.1.1 Schlafzyklus und Schlafstadien
Entsprechend seiner Tiefe wird der Schlaf in 5 Sta- Stadium 4: Der Schlafende ist so entspannt, dass er
dien/Stufen oder auch Phasen eingeteilt. Der schla- sich kaum bewegt und nur schwer zu wecken ist; er
fende Mensch erreicht jedoch nicht etwa eine dieser ist im Tiefschlaf. In dieser Phase kann es beispiels-
Stufen, um dann in diesem Zustand bis zu seinem weise zu Bettnässen und Schlafwandeln kommen.
Aufwachen zu verweilen, vielmehr pendelt er zwi- Die Stadien 3 und 4 werden auch als Slow-wave-
schen den einzelnen Stadien hin und her. Schlaf bezeichnet, da während dieser Tiefschlafpha-
Zusätzlich werden 2 verschiedene Schlafmuster sen die Hirnstromaktivitäten sehr niedrig sind und
unterschieden: durch typische Aufzeichnungen, die sog. δ-Wellen,
im EEG gekennzeichnet sind.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 207


KaelDesu
12 Schlaf

Bevor der Schlafende das Stadium 5, den REM- der letzten REM-Phase sind jene, die uns als das in
Schlaf, erreicht, durchläuft er noch einmal die vorhe- dieser Nacht Geträumte in Erinnerung bleiben.
rigen Stadien. Warum Menschen überhaupt träumen, unabhän-
gig davon, ob sie sich an das Geträumte erinnern oder
Stadium 5: REM-Schlaf. In dieser Phase kommt es nicht, ob sie ihren Träumen viel oder wenig Bedeu-
zum Auftreten von schnellen und raschen Augenbe- tung beimessen, sind weitere interessante Fragen bei
wegungen, die dieser Phase auch den Namen Rapid- der Auseinandersetzung mit dem Schlaf. Angeblich
eye-movement-Schlaf gegeben haben. Der Schlafen- überwiegen unangenehme Träume: empirische Stu-
de träumt in dieser Phase und ist nur schwer zu we- dien wollen herausgefunden haben, dass 46% aller
cken. Würde man ihn wecken, würde er wahrschein- Träumenden in ihrer nächtlichen Welt mit Unglücks-
lich von lebhaften Träumen voller Handlungen be- fällen oder bedrohlichen Situationen beschäftigt
richten (Abb. 12.3). sind. Weitere Traumgefühle setzen sich zu 17% mit
Es wird angenommen, dass die Träume zur psy- Erfolg, 14% mit Angst und 10% mit Wut auseinander.
chischen Gesundheit beitragen; es werden Erinne- Mit nur 7% rangiert Freude vor Traurigkeit (5%) und
rungen geweckt und emotional bedeutsame Erleb- Scham (1%).
nisse mit vergangenen Ereignissen verbunden. Die Hauptthemen der Träume sind bei Kindern
Am meisten faszinieren die Menschen, die sich und Erwachsenen sehr unterschiedlich. Tiere sind
mit dem Thema Schlaf befassen, die Ereignisse wäh- das große Thema bei kleinen Menschen; zwischen-
rend des REM-Schlafes. Tatsächlich zeigt der Verlauf menschliche Kontakte, Gefühle und familiäre Inhalte
der Hirnstromkurve eines Menschen in dieser überwiegen bei träumenden Frauen, während Män-
Schlafphase ein dem Wachsein sehr ähnliches Bild. ner meistens von Aggressionen, Unglück und Ehr-
Die Körpermuskeln sind dabei allerdings völlig ent- geiz träumen. Gefühlsbetonte Menschen erinnern
spannt, der Körper selbst ist, bis auf die Augen und sich in der Regel eher an ihre Träume und sprechen
die Atmung, praktisch gelähmt. auch darüber, während sehr rational eingestellte
Erklärlich wird dieser Zustand der sog. Schlafpa- Personen sich oft nicht an ihre Träume erinnern kön-
ralyse, wenn man ihn als einen biologischen Schutz- nen und standhaft bestreiten, überhaupt geträumt
mechanismus versteht, der davor schützt, das Ge- zu haben. Sicher ist jedoch, dass jeder Mensch
träumte aktiv auszuleben. Diese REM-Phasen stei- träumt und dass diese Traumschlafphasen wichtig
gern sich im Verlaufe einer Nacht gegen Morgen und für physische und psychische Bedürfnisse sind.
12
können bis zu 30 Minuten lang werden. Die Träume

a EEG b Schlafverlauf
U
– Wach
Schlafstadien

0 0
+
– REM
0 1
+

0 2
+

0 3
+

0 4
+

1s Zeit [s] 0 1 2 3 4 5 6 7 8h

Abb. 12.3 EEG-Kurven in verschiedenen Schlafstadien. Elektro- 1 – 4. b: Schlafverlauf. Die Schlafstadien 1 – 4 werden mehrfach
enzephalogramm (EEG) in verschiedenen Schlafstadien. a: EEG- durchlaufen. REM = paradoxe Schlafphasen mit „rapid eye move-
Registrierungen im Wachzustand und während der Schlafstadien ments“

208 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
12.1 Allgemeine Beobachtungskriterien und Beschreibung des Normalzustands

Während einer Nacht „durchschläft“ der Mensch Tab. 12.2 Durchschnittlicher Schlafbedarf, bezogen auf
4 – 6 Schlafzyklen. Der erste dieser Schlafzyklen ist das Alter

nach ca. 90 Minuten mit Abschluss der REM-Phase Alter durchschnittlicher


beendet. Die REM-Phasen werden in den späteren Schlafbedarf
Zyklen des Schlafs verhältnismäßig länger, während
Neugeborene 15 – 16 Std.
in den früheren Zyklen die Dauer der Stadien 3 und 4
länger ist. Der Schlaf des Säuglings hat mehr REM- als Kleinkinder (3 – 24 Monaten) 12 – 15 Std.
NREM-Phasen; mit zunehmendem Alter nimmt der
Kinder (2 – 13 Jahre) 9,5 – 12 Std.
REM-Schlaf ab.
Jugendliche (14 – 18 Jahre) 8 – 9,5 Std.
12.1.2 Schlafbedarf Erwachsene (19 – 65 Jahre) 6 – 8 Std.
Der Schlafbedarf ist individuell und je nach Alter ei-
nes Menschen verschieden. Das Verhältnis von Tag alte Menschen (über 65 Jahre) 5,5 – 6 Std.

und Nacht ist beim kleinen Kind 1 : 2, beim Erwach-


senen genau umgekehrt. Gemessen werden kann der
individuelle Schlafbedarf entweder an der Schlaf- 12.1.3 Schlaftypen
dauer ohne Wecker oder an der am Tage vorhande- Durch Untersuchungen wurde festgestellt, dass es 2
nen Wachheit, dem Ausgeruhtsein und der Leis- verschiedene Arten von Schlaftypen gibt, die sog.
tungsfähigkeit. Anhaltswerte des Schlafbedarfs be- „Morgenmenschen“ oder „Lerchen“ und die „Abend-
zogen auf das Alter zeigt Tab. 12.2. menschen“, die auch als „Eulen“ bezeichnet werden.
Neben dem Alter spielen aber auch die aktuellen Diese beiden Typen unterscheiden sich durch ihre
geistigen und körperlichen Anstrengungen sowie die unterschiedlichen Schlaf- und Leistungsphasen
Lichtverhältnisse eine Rolle. (Abb. 12.4). Typische Kennzeichen der „Morgenmen-
Nicht nur nachts, sondern auch tagsüber kommt schen“ sind:
es regelmäßig zu einem mehr oder weniger stark Frühaufsteher,
ausgeprägten Schlafbedürfnis. Am häufigsten tritt größte Leistungsfähigkeit am Vormittag,
dies morgens zwischen 9.00 und 10.00 Uhr, mittags weitere Leistungsphase am frühen Nachmittag,
zwischen 13.00 und 15.00 Uhr sowie am frühen wobei die Leistungskurve zum Abend hin schnell
Abend zwischen 17.00 und 19.00 Uhr auf. Begründet abfällt, 12
sind diese Phasen des Schlafbedarfs u. a. durch die schlafen schnell und früh ein,
verschiedenen endogenen Rhythmen, die aufeinan- gelangen schnell in den Tiefschlaf.
der abgestimmt sind (vgl. 12.1.1).
Im Gegensatz hierzu weisen die „Abendmenschen“
folgende Charakteristika auf:

Abb. 12.4 Morgen- und Abendmenschen.


Antriebsentfaltung und Schlaftiefe; ideale
Antriebsentfaltung

Tag- und Nacht-Kurve für den Typ 1 – Mor-


genmensch – und den Typ 2 – Abend-
Maximale Antriebsentfaltung
Typ I mensch – (aus: Köther, I. Altenpflege.
(ausgenommen veränderte
Einflüsse) Thieme; 2016)
Typ II

6 Uhr 12 18 22 24 6 Uhr

Maximale Antriebsentfaltung =
maximale Schlaftiefe (ausgenommen REM)

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 209


KaelDesu
12 Schlaf

„Morgenmuffel“, die schwer aufstehen können,


langsames Ansteigen der Leistungskurve ab 10.00
Wachstums-
Uhr vormittags, die bis kurz vor Mitternacht an- hormone
hält und langsam abfällt,
Tiefschlaf wird oftmals erst gegen Ende der Wach-
Schlafphase erreicht. zustand

Schlaf
Einer amerikanischen Studie zufolge ist eine be-
stimmte Variante des „Chromosom-4-Gens“ dafür
Abb. 12.5 Schlafzyklen und Freisetzung von Wachstumshormo-
verantwortlich, wann ein Mensch aufwacht. In dieser
nen
Studie stellten die Forscher bei 9 von 10 Menschen
einen genetisch bedingten frühen Weckzeitpunkt
fest, der allerdings z. B. durch kräftigen Alkoholge-
nuss nach hinten verschoben werden kann. verminderte Darm- und Blasentätigkeit,
eingeschränkte Reizaufnahme,
12.1.4 Physiologische Veränderungen während Gliederektionen bei Männern während des REM-
des Schlafs Schlafes,
Im Rahmen des Erkennens von Problemen und Res- Klitoriserektionen und vaginale Kontraktionen
sourcen eines Menschen kann die genaue Beobach- bei Frauen während des REM-Schlafes.
tung des Schlafs zum einen wichtige Hinweise auf or-
ganische und/oder seelisch-geistige Störungen ge- Das endokrine System arbeitet ebenfalls im Schlaf
ben. Zum anderen lässt sich körperliches und see- weiter; gerade während der Tiefschlafphase werden
lisch-geistiges Unwohlsein u. U. durch beobachtete im Körper Wachstums- und Schilddrüsenhormone
Schlafstörungen erklären. ausgeschüttet sowie Prolaktin und Melanin freige-
Um Abweichungen und Veränderungen ein- setzt (Abb. 12.5). Darüber hinaus werden Steroidhor-
schließlich ihrer Ursachen erkennen zu können, be- mone während des REM-Schlafes freigesetzt.
darf es zunächst des Wissens um die physiologischen Das Bewusstsein eines Menschen ist, in Abhängig-
Veränderungen, die der Schlaf mit sich bringt. keit von der Schlaftiefe, eingeschränkt bis ausgeschal-
Durch das Vorherrschen des Parasympathicus tet. Die Augen bleiben geschlossen, das Hörvermögen
12
kommt es zur allgemeinen Erholung des Organis- hingegen ist uneingeschränkt funktionsfähig. Dies
mus, was die willkürlichen und vom Sympathicus ist als Schutzfunktion zu erklären, um ungewohnte,
gesteuerten Lebensfunktionen betrifft (z. B. Musku- bedrohliche Geräusche als Alarmsignale zu unter-
latur, Herzschlag etc.). Der Organismus hat im Schlaf scheiden und entsprechend handeln zu können.
seinen Schwerpunkt auf Lebensfunktionen, die dem
Willen nicht zugänglich sind, also autonom ablaufen Zusammenfassung:
und auf den Organismus erhaltend wirken. Schlafzyklus und Schlaftypen
Da im Schlaf der Einfluss des parasympathischen Man unterscheidet 5 Schlafstadien: Einschlafphase,
Nervensystems überwiegt, lassen sich folgende Be- beginnende Schlafphase, Beginn des Tiefschlafs,
obachtungen festhalten: Tiefschlaf und REM-Schlaf.
verlangsamte Atmung, Der REM-Schlaf (Rapid-eye-movement-Schlaf),
verlangsamte Herzfrequenz, durch rasche Augenbewegungen gekennzeichnet,
herabgesetzter Blutdruck, ist die Phase, in der der Mensch träumt.
erniedrigte Körpertemperatur, Der Schlafbedarf ist individuell sehr verschieden,
herabgesetzter Muskeltonus, v. a. der glatten die Phasen des Schlafbedürfnisses tagsüber hängen
Muskulatur im Magen-Darm-Kanal und der von endogenen Rhythmen ab.
Harnblase, Nach Schlaftypen unterscheidet man Morgen- und
erschlaffte Skelettmuskulatur, Abendmenschen.
reduzierte Drüsentätigkeit, mit Ausnahme der Im Schlaf überwiegt das parasympathische Nerven-
Schweißdrüsen, system, was eine Vielzahl körperlicher Veränderun-
reduzierter Stoffwechsel, gen zur Folge hat.

210 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
12.2 Abweichungen und Veränderungen beim Schlaf und deren Ursachen

Bei seelischer Erschöpfung, z. B. durch andauernde


12.2 Abweichungen und familiäre und/oder berufliche Konflikte, kann es zu
Veränderungen beim Schlaf einem auffällig hohen Schlafbedürfnis kommen. Die-
und deren Ursachen se Form des vermehrten Schlafbedarfs wird auch als
sog. „Flucht in den Schlaf“ bezeichnet, da hierdurch
Die Erscheinungsformen von Schlafstörungen kön- u. U. eine Auseinandersetzung mit der Problemsitua-
nen in 4 große Gruppen eingeteilt werden. Ebenso tion vermieden wird.
vielfältig wie die Formen der Schlafstörungen sind Ein weitere Ursache für eine Hypersomnie liegt in
auch die Ursachen, die diesen zugrunde liegen einer verminderten Schlafqualität, wie sie beispiels-
(Tab. 12.3). weise im Zusammenhang mit Parasomnien, nächtli-
Eine genaue Diagnostik der Schlafstörung sollte chen Myoklonien, Narkolepsie und der Schlafapnoe
immer erfolgen, da auch falsche Schlafgewohnheiten auftritt (s. a. S. 213 – 215) sowie bei ungünstigen Um-
den Eindruck von Schlafstörungen erwecken können. gebungsbedingungen (z. B. Helligkeit, Lärm, Hitze).
Aber auch ein zu spätes „Zubettgehen“ oder ein zu
12.2.1 Hypersomnie frühes Aufstehen können den Eindruck einer Hyper-
Definition: Als Hypersomnie werden Schlaf- somnie hinterlassen.
störungen bezeichnet, die mit einem erhöhten
Schlafbedarf einhergehen. Schlafkrankheit
Bei der Schlafkrankheit wird zwischen der sog. euro-
Häufig kommt es zu einer vermehrten Tagesschläf- päischen Schlafgrippe, die auch Encephalitis lethar-
rigkeit, wodurch der Körper versucht, das entstande- gica, Encephalitis epidemica oder Economo-Krank-
ne Schlafdefizit auszugleichen. Die unter einer Hy- heit genannt wird, und der afrikanischen Schlaf-
persomnie leidenden Menschen klagen oftmals über krankheit unterschieden.
ein andauerndes Gefühl der Müdigkeit und Mattig- Die Encephalitis lethargica ist eine epidemische
keit sowie über Gedächtnis- und Konzentrationsstö- Gehirnentzündung, die neben meningialen Sympto-
rungen. Bei einer länger andauernden Hypersomnie men (Fieber, Nackensteifheit, Kopfschmerzen) mit
kann auch die körperliche Verfassung des betroffe- den Symptomen einer Lethargie (Teilnahmslosig-
nen Menschen beeinträchtigt werden. keit) und einer andauernden Schläfrigkeit einher-
Eine physiologische Veränderung in Richtung ei- geht. Es wird vermutet, dass es sich bei dem Erreger
12
nes erhöhten Ruhe- und Schlafbedarfs findet sich um einen Virus handelt, doch ist die Ursache noch
nach verschiedenen Belastungssituationen wie z. B.: nicht eindeutig geklärt.
nach dem Essen, sog. postprandiale Müdigkeit, Die afrikanische Schlafkrankheit wird durch Try-
bei seelisch-geistiger Anspannung, panosomen (Protozoen) hervorgerufen, die durch
nach anstrengenden körperlichen Aktivitäten, die Tsetsefliege übertragen werden. Erst mit dem
in Krankheitszeiten und in der Rekonvaleszenz, Eindringen der Erreger in das Zentrale Nervensystem
nach Untersuchungen, Behandlungen, Operatio- kommt es zu der eigentlichen „Schlafkrankheit“. Ne-
nen, ben der Schlafsucht sind hierbei neurologische Aus-
bei vielen Frauen während der Schwangerschaft. fälle und psychische Veränderungen festzustellen.

Tab. 12.3 Ursachen von Schlafstörungen

Lärm, Schichtarbeit etc. Sucht, Medikamente, Alkohol psychiatrische Störungen


(Depressionen, Angstneurosen)
organische Krankheiten psychische Belastung,
(Diabetes, Atemstörungen Fehlverhalten

9% 24% 7% 24% 36%

33 % 67 %

organische/äussere Ursachen seelische Ursachen

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 211


KaelDesu
12 Schlaf

12.2.2 Hyposomnie Zu den Verhaltensstörungen als Ursache für eine In-


Definition: Als Hyposomnie wird der vermin- somnie zählt die schlechte Schlafhygiene, die zu un-
derte Schlafbedarf bezeichnet. regelmäßigen und falschen Schlafmustern führt.
Viele betroffene Menschen betreiben solch eine
Physiologisch kommt die Hyposomnie bei länger an- schlechte Schlafhygiene, indem sie beispielsweise
haltender Entspannung mit verminderter körperli- mehrere Nickerchen über den Tag verteilen, einen
cher und/oder geistiger Tätigkeit sowie bei älteren ausgedehnten Mittagsschlaf halten, in zu hohem Ma-
Menschen vor. ße Alkohol und koffeinhaltige Nahrungsmittel oder
Bei der Manie, einer psychischen Störung, die u. a. abends ein schwer verdauliches Essen zu sich neh-
durch eine Antriebssteigerung und eine gehobene men sowie die eigene Schlafumgebung ungünstig
Stimmungslage gekennzeichnet ist, kommt es eben- gestalten (laut, hell, sehr warm).
falls häufig zu einem herabgesetzten Schlafbedarf. Grundsätzlich kann jedes organische Leiden, das
Charakteristisch ist hierbei das Fehlen typischer Er- mit Unwohlsein und/oder Schmerzen einhergeht, ei-
müdungserscheinungen. ne Insomnie verursachen. Häufig tritt die Insomnie
hierbei als Begleiterscheinung auf. Erkrankungen,
12.2.3 Insomnie die eine Insomnie verursachen, gehen zumeist mit
Definition: Insomnie bedeutet eigentlich typischen Symptomen wie z. B. Schmerzen, Bewe-
Schlaflosigkeit, doch werden hierunter die Ein- gungseinschränkungen, Atemnot, Husten, Nykturie
und Durchschlafstörungen verstanden, die häu- und Juckreiz einher.
fig zu einer verminderten Gesamtschlafzeit führen. Da nahezu alle psychisch kranken Menschen über
eine Insomnie klagen, wird sehr deutlich, dass die
Dauert die Zeit vom „Zubettgehen“ bis zum Einschla- Psyche einen großen Einfluss auf den Schlaf besitzt.
fen länger als ca. 30 Minuten, so wird dies häufig als Erkrankungen des depressiven Formenkreises gehen
Einschlafstörung empfunden. Durchschlafstörungen z. B. mit einem frühen Erwachen sowie mit Ein- und
sind durch vorzeitiges Wiederaufwachen gekenn- Durchschlafstörungen einher; bestehende Ängste,
zeichnet. Der unter dieser Schlafstörung leidende sog. Phobien, rufen gleichfalls Einschlafstörungen
Mensch bleibt entweder nach dem Erwachen wach hervor.
oder aber er schläft erneut ein, um immer wieder Neben den organischen und psychischen Leiden
wach zu werden. können auch Medikamente eine Insomnie verursa-
12
Auch bei gesunden Menschen kann eine Insomnie chen. Stimulanzien, die zu einem späten Tageszeit-
in der sog. transitorischen oder vorübergehenden punkt eingenommen werden, führen zur Insomnie
Form auftreten, bei der sie sich auf wenige Nächte im Sinne von Einschlafstörungen. Sedierende Medi-
beschränkt. Die Ursache ist zumeist in einer Stresssi- kamente, die tagsüber verabreicht werden, können
tuation zu suchen, wie z. B. bevorstehende Feiern, zu einer vermehrten Tagesschläfrigkeit führen, die
Reisen, Prüfungen oder anderen wichtigen Termi- dann Durchschlafstörungen in der Nacht nach sich
nen. zieht. Selbst Schlaftabletten, über einen längeren
Von einer chronischen Insomnie spricht man, Zeitraum eingenommen, können Insomnie zur Folge
wenn die Störung länger als 3 Wochen anhält. Ihr lie- haben. Ein plötzliches Absetzen der Medikation
gen meist komplexe Probleme zugrunde. führt zur sog. „Rebound-Insomnie“ (engl. re-
Der „National Sleep Foundation“ zufolge werden bound = Rückschlag); es kommt zur Verstärkung der
die nachstehenden Ursachen für eine Insomnie ver- Insomnie. Nachfolgend sind Drogen bzw. Pharmaka
antwortlich gemacht: aufgeführt, die eine Insomnie verursachen bzw. ver-
Verhaltensstörungen, stärken können (nach Ancoli-Israel):
physische Beeinträchtigungen, Alkohol,
psychische Beeinträchtigungen, β-Blocker,
Medikamente, Bronchodilatatoren,
gestörter zirkadianer Rhythmus, Kortikosteroide,
Schlafstörungen. ZNS-Stimulanzien (z. B. Koffein, rezeptfreie ab-
schwellende Mittel, Theophyllin, Kokain),
abschwellende Mittel,

212 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
12.2 Abweichungen und Veränderungen beim Schlaf und deren Ursachen

Antiepileptika, Schlafwandeln
Nikotin, Das Schlafwandeln wird auch als Somnambulismus
stimulierende Antidepressiva, oder Noktambulismus bezeichnet. Es kommt hierbei,
Schilddrüsenhormone. zumeist in den Stadien des Tiefschlafs, zu komplexen
Handlungsabläufen wie z. B. durch-die-Wohnung-ge-
Für eine Insomnie werden auch Störungen im Schlaf- hen. Dieses Schlafwandeln dauert nur einige Minu-
Wach-Rhythmus verantwortlich gemacht (s. a. ten und tritt normalerweise nur einmal pro Nacht
S. 213) sowie verschiedene Schlafstörungen, die im auf. Gehäuft wird dieses Phänomen bei Vollmond be-
nachfolgenden Abschnitt über Parasomnien (S. 213) obachtet. Es betrifft größtenteils Kinder und Jugend-
näher beschrieben werden. liche und verliert sich meistens im Laufe der Jahre.
Das Schlafwandeln geht einher mit einer retro-
12.2.4 Chronobiologische Störungen graden Amnesie, d. h., die betroffenen Menschen
Definition: Unter den chronobiologischen können sich am nächsten Morgen nicht mehr an den
Störungen des Schlafs werden Störungen des Vorgang erinnern. Weckt man den Schlafwandeln-
Schlaf-Wach-Rhythmus verstanden. den während des Ereignisses, so ist dieser in der Re-
gel völlig desorientiert.
Der Schlaf-Wach-Rhythmus kann durch äußere Ein- Als Ursache des Schlafwandelns bei Erwachsenen
flüsse, wie beispielsweise Zeitverschiebungen im Ta- werden Stress, Medikamente aber auch demenzielle
gesrhythmus durch Schichtdienst oder durch Inter- Erkrankungen angegeben.
kontinentalflüge, verändert werden. Letzteres wird
auch als Syndrom des Zeitzonenwechsels (Jet-Lag) Nachtangst
bezeichnet und führt durch einen schnellen Wechsel Als Nachtangst oder Pavor nocturnus wird ein plötz-
der Zeitzonen dazu, dass der menschliche Körper lich auftretender Angstanfall bezeichnet. Dieser An-
nach dem alten äußeren Zeitgeber arbeitet und auch fall geht zumeist mit panikartigem Schreien und
seine Grundbedürfnisse wie Schlaf, Wachsein und vegetativen Symptomen wie z. B. Tachykardie,
Hunger danach ausrichtet. Schweißausbruch, Ansteigen des Blutdrucks und ei-
Wenn Menschen viele Jahre ihres Lebens in Dau- ner Erweiterung der Pupillen einher. Der Zustand
ernachtschichten arbeiten müssen, hat dies bei fast kann mehrere Minuten anhalten und tritt in der Re-
allen lebenslange Auswirkungen im Sinne dauerhaf- gel im ersten Drittel der Nacht auf. Wacht der Betrof-
12
ter Schlafstörungen zur Folge. Aber auch organische fene während dieser Zeit auf, ist er meistens ver-
Veränderungen des Gehirns nach Traumata, Hirnge- wirrt, am nächsten Morgen besteht häufig eine retro-
fäßveränderungen oder Schlaganfällen können zu grade Amnesie bezüglich des Angstanfalls und even-
einer Veränderung des Schlaf-Wach-Rhythmus bei- tueller Trauminhalte. Die Amnesie in Hinsicht auf ei-
tragen. Diese Veränderungen des Schlaf-Wach- nen Trauminhalt stellt einen deutlichen Unterschied
Rhythmus zeigen sich in der Regel in Form von Ein- zu Albträumen dar, die mit ähnlicher Symptomatik
und Durchschlafstörungen oder in Form einer Tag- einhergehen können, deren Inhalte aber zumeist er-
Nacht-Umkehr. innert werden.
Von der Nachtangst sind häufig Kinder betroffen
12.2.5 Parasomnien (1 – 6%) und nur selten Erwachsene (⬍ 1%). Als Ursa-
Definition: Parasomnien sind vorübergehen- che wird die Verarbeitung von entwicklungsbeding-
de, körperliche Abläufe während des Schlafs. ten Ängsten bei Kindern angenommen. Normaler-
weise verschwindet die Nachtangst im Laufe der Ent-
Häufigere Parasomnien sind das Schlafwandeln, die wicklung wieder. Bei Erwachsenen werden als Ursa-
Nachtangst, das nächtliche Zähneknirschen, das che für die Nachtangst Spätfolgen traumatisierender
Sprechen während des Schlafs und Einschlafmyoklo- Ereignisse diskutiert.
nien. Zumeist sind Kinder von Parasomnien betrof-
fen, doch sie können auch bei Erwachsenen auftre- Nächtliches Zähneknirschen
ten. Unbewusstes nächtliches Zähneknirschen oder das
nächtliche Pressen und Mahlen mit den Zähnen wird
Bruxismus genannt. Diese Erscheinung tritt im

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 213


KaelDesu
12 Schlaf

2. Schlafstadium auf, wobei eine solche Periode 12.2.6 Nächtliche Myoklonien


durchschnittlich etwa 5 Sekunden andauert. Als Fol- Definition: Die nächtlichen Myoklonien wer-
ge kann es zu Schädigungen der Zähne und Kieferge- den auch als Syndrom der periodischen Bewe-
lenke sowie zu morgendlichen Kieferschmerzen gungen im Schlaf bezeichnet, bei denen es zu Zu-
kommen. ckungen oder einem ruckartigen In-die-Höhe-Schnel-
Neben Stress, Skeletterkrankungen, die zu Schief- len der Extremitäten, vor allem der Beine, kommt.
haltungen führen und neurologischen Erkrankun-
gen, wie z. B. Multiple Sklerose wird u. a. eine erbli- Dies geschieht ca. alle 20 – 40 Sek., wobei die Dauer
che Komponente als Ursache angenommen. der einzelnen Bewegungen ca. 0,5 – 5 Sek. in An-
Die Behandlung des nächtlichen Zähneknirschens spruch nimmt. Gemessen werden können diese
richtet sich nach der Ursache und beinhaltet zumeist ruckartigen Bewegungen durch Sensoren, die am M.
eine sog. Aufbissschiene, um den Grad der Abnutzun- tibialis über Nacht angebracht werden. Die Anzahl
gen der Zähne möglichst gering zu halten und Schädi- der gemessenen Muskelzuckungen wird als Myoklo-
gungen an den Kiefergelenken vorzubeugen. nusindex bezeichnet. Liegt der festgestellte Index bei
ⱖ 5, so wird von nächtlichen Myoklonien gespro-
Sprechen im Schlaf chen.
Die Somniloquie oder das Sprechen im Schlaf ist eine Neben den Beinen betreffen die nächtlichen Myo-
weit verbreitete und harmlose Parasomnie, die vor klonien v. a. die Großzehen und die Knöchel, seltener
allem im 2. Schlafstadium auftritt. Sie gilt als Zeichen treten sie auch im Hüftgelenk und in den Armen auf.
dafür, dass Ereignisse des vorangegangenen Tages Meistens führen sie zu einem kurzen Erwachen des
vom Gehirn verarbeitet werden. Oftmals können die Betroffenen, als ob ihn jemand kurz wachrütteln
Schlafenden sogar Fragen beantworten, die ihnen ge- würde.
stellt werden. Eine familiäre Häufung wurde beo- Als Symptome werden von den betroffenen Men-
bachtet. schen oft Einschlafstörungen angegeben, die durch
den Beginn der Beinzuckungen gerade in der Phase
Einschlafmyoklonie des Einschlafens erklärlich werden. Des Weiteren
Kurze ruckartige Zuckungen, sog. Myoklonien, kom- werden sehr kalte oder sehr warme Füße oder nächt-
men physiologisch, überwiegend in der Einschlaf- liche Unruhezustände beklagt. Beobachtet wurde,
phase und bei fast allen Menschen vor. Zumeist treten dass Präparate zur Behandlung von Depressionen
12
diese Erscheinungen im Zusammenhang mit einem symptomintensivierend wirken.
Gefühl des Fallens auf, bei dem es zu reflexartigen Be- Die eigentlichen Ursachen der nächtlichen Myo-
wegungen kommt, die ein Fallen verhindern sollen. klonien sind nicht bekannt. Diskutiert werden u. a.
Fehlschaltungen im Gehirn, Störungen im Rücken-
Zusammenfassung: mark oder Durchblutungsstörungen. Beobachtet
Abweichungen und Veränderungen (Schlaf) wird ein vermehrtes Auftreten von nächtlichen Myo-
Die Hypersomnie ist eine Schlafstörung, bei der ein klonien in Verbindung mit dem Syndrom der Schlaf-
erhöhter Schlafbedarf besteht. apnoe (s. a. S. 215) oder der Narkolepsie (s. a. S. 215),
Bei der Schlafkrankheit werden die europäische – aber auch mit Diabetes mellitus, Erkrankungen der
eine epidemische Gehirnentzündung – und die afri- Nieren, Anämie, Urämie, chronischen Lungenerkran-
kanische – durch Trypanosomen hervorgerufen – kungen, Leukämie und Arthritis.
unterschieden. Ein den nächtlichen Myoklonien sehr ähnliches
Verminderter Schlafbedarf wird als Hyposomnie Syndrom ist das „Restless-Legs-Syndrom“ (Syndrom
bezeichnet, Ein- und Durchschlafstörungen als In- der unruhigen Beine), das tagsüber, aber auch ver-
somnie. mehrt nachts und im Liegen auftritt. Es ist charakte-
Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus fallen unter risiert durch unangenehme und kribbelnde Empfin-
die Gruppe der chronobiologischen Störungen. dungen in Unter- oder Oberschenkeln und Füßen
Zu den Parasomnien gehören Schlafwandeln, und geht mit einem nur schwer zu unterdrückenden
Nachtangst, nächtliches Zähneknirschen, Sprechen Drang einher, die Beine ständig zu bewegen. Diese
im Schlaf und die Einschlafmyoklonie. Empfindungen werden auch als Parästhesien oder
Dysästhesien bezeichnet und treten meist auf, wenn

214 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
12.2 Abweichungen und Veränderungen beim Schlaf und deren Ursachen

sich die Betroffenen in einer entspannten Lage befin- lahm, arbeitsscheu, phlegmatisch und willenlos be-
den und immer wieder einnicken. Große Koffein- zeichnet werden.
mengen können symptomintensivierend wirken. Der eigentliche Schlaf narkoleptischer Menschen
Menschen mit einem RLS (= Restless-Legs-Syndrom) ist durch einen leichteren Nachtschlaf und häufiges
klagen in vielen Fällen über eine Schlafstörung im Erwachen während der Nacht gekennzeichnet. Sie
Sinne einer Insomnie oder einer vermehrten Tages- können zumeist die einzelnen Schlafstadien nicht
schläfrigkeit. vollständig durchleben, sondern treten vorzeitig in
Gekoppelt ist das RLS häufig mit einer Schwan- die REM-Phase ein. Daneben werden auch vermehrt
gerschaft, Urämie, Nierenfunktionsstörung oder nächtliche Myoklonien bei den Betroffenen beob-
rheumatoider Arthritis, doch ist die eigentliche Ätio- achtet (s. a. S. 214). Betroffen sind ca. 6 von 1000
logie nicht geklärt. Das RLS verschlimmert sich mit Menschen.
zunehmendem Alter. Häufig liegt eine familiäre Dis- Diagnostiziert wird eine Narkolepsie durch ein im
position vor. Schlaflabor erstelltes Schlafprofil, durch einen multi-
Sowohl nächtliche Myoklonien als auch das RLS plen Schlaflatenztest und/oder einen multiplen
treten bei den Betroffenen im mittleren Lebensalter Wachbleibetest. Bei dem multiplen Schlaflatenztest
auf. Ca. 50% aller Erwachsenen im Alter von 30 – 50 (Multiple Sleep Latency Test = MSLT) wird der Betrof-
Jahren sowie ca. 29% aller Menschen über 50 Jahre fene gebeten, ca. 5 Schlafpausen während eines Ta-
leiden darunter. ges einzulegen. Bei jeder dieser Schlafpausen wird
dann die Einschlafzeit gemessen. Menschen, die un-
12.2.7 Narkolepsie ter einer Narkolepsie leiden, gelangen nach ca. 5 Mi-
Definition: Unter einer Narkolepsie werden nuten in den Schlaf.
zwanghafte minutenlange Schlafanfälle am Tag Der Grad der Tagesschläfrigkeit kann ebenfalls
verstanden. mit dem multiplen Wachbleibetest (Maintenance of
Wakefulness Test = MWT) gemessen werden. Hierzu
In vielen Fällen sind sie verbunden mit einer Katalep- müssen sich die Betroffenen in einem abgedunkelten
sie, d. h. einer plötzlich auftretenden Muskelschwä- Raum aufhalten und versuchen, solange wie möglich
che, einem plötzlichen Verlust der Muskelspannung wachzubleiben. Narkoleptiker sind auch unter größ-
sowie einer Schlafparalyse, bei der es zumeist beim ter Anstrengung nicht in der Lage, einen Tag durch-
Einschlafen zu einer Unfähigkeit zu willkürlichen zuhalten.
12
Körperbewegungen kommt. Daneben treten bei ei- Bis heute sind die genauen Ursachen der Narko-
ner Narkolepsie auch hypnagoge Halluzinationen lepsie nicht erforscht. Vermutungen gehen von gene-
auf, d. h. es werden optische und/oder akustische tischen Faktoren, Störungen des zentralen Nerven-
traumähnliche Phänomene wahrgenommen. systems, einem gestörten REM-Schlaf oder einem ge-
Als narkoleptische Tetralogie werden die folgen- störten Immunsystem aus. Die Erkrankung zeigt sich
den 4 Erscheinungen: abnorme Einschlafneigung, oft schon in der Pubertät oder im frühen Erwachse-
Katalepsie, Schlafparalyse und hypnagoge Halluzina- nenalter zum ersten Mal.
tionen zusammengefasst.
Menschen, die unter einer Narkolepsie leiden, 12.2.8 Schlafapnoe
schlafen am Tag immer wieder für Minuten ein, z. B. Etwa 2% der Bevölkerung sind mehr oder weniger
während eines Gesprächs, während des Essens oder stark von einer Schlafapnoe, einer schlafbezogenen
in anderen Situationen. Sie haben oftmals kaum Er- Atmungsstörung, betroffen. Hierbei kommt es zu an-
innerungen daran, was sie in den zurückliegenden fallsweisem Auftreten von mehr als 10 Sek. dauern-
Stunden getan oder mit wem sie gesprochen haben. den Atemstillständen. Bei einer Anzahl von mehr als
Sie sind den ganzen Tag über unsagbar müde. Ver- 5 solcher Atemstillstände wird von einer Schlafapnoe
ständlicherweise hat diese Schlafanomalie massive gesprochen.
Auswirkungen auf das berufliche und soziale Leben Daneben kann es zu Hypopnoephasen kommen,
der Betroffenen, denn meistens ist es ihnen nicht d. h., es besteht eine zeitweise Verminderung des
möglich, einer geregelten Arbeit nachzugehen oder Atemflusses, ohne dass es zu einem vollständigen
regelmäßige Kontakte aufrechtzuerhalten. Hinzu Atemstillstand kommt. Treten diese Hypopnoe-Pha-
kommt, dass sie von Unwissenden oftmals als faul, sen öfter als 10 – 15-mal pro Stunde auf, so spricht

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 215


KaelDesu
12 Schlaf

man von einer schlafbezogenen Hypopnoe. Bei der


Schlafapnoe bzw. den schlafbezogenen Atemstörun-
gen, können verschiedene Formen unterschieden
werden:
die obstruktive Schlafapnoe,
die zentrale Schlafapnoe,
die gemischte Schlafapnoe.

Bei der obstruktiven Form der Schlafapnoe (OSAS)


kommt es infolge des negativen Drucks, der inner-
halb der Brusthöhle während der Inspiration ent-
steht, zum Kollabieren der Rachenweichteile und so-
mit zur partiellen oder kompletten Blockierung der
Frischluftzufuhr. Anatomische Fehlbildungen im Na-
sen-Rachen-Raum und Veränderungen des pharyn-
gealen Muskeltonus werden hierfür u. a. verantwort-
lich gemacht.
Im Gegensatz zur obstruktiven Schlafapnoe liegt
bei der zentralen Schlafapnoe eine Störung im Be-
reich des Atemzentrums vor, die zu einem Ausblei-
ben der Aktivierung der Atemmuskulatur führt, un-
abhängig davon, ob die Atemwege frei oder blockiert
Abb. 12.6 Obelixtypen
sind. Diese Form tritt äußerst selten auf. Als Ursache
werden überwiegend neurologische und kardiologi-
sche Erkrankungen genannt. nächtliche pulmonale Hypertonie bei Schlafapnoei-
Die gemischte Schlafapnoe beinhaltet sowohl An- kern beobachtet werden. Daneben erhöhen Alkohol,
teile der obstruktiven als auch der zentralen Form Rauchen und die Einnahme von Medikamenten wie
der Schlafapnoe. Zumeist tritt zuerst eine kurze beispielsweise Sedativa und Hypnotika das Apnoe-
Atempause aufgrund einer Störung im Atemzentrum risiko. Ebenso das Schlafen auf der Seite.
12
auf. Danach beginnt sich die Atemmuskulatur im un- Als Leitsymptom einer Schlafapnoe gilt das
teren Brustkorb und im Zwerchfellbereich zu bewe- Schnarchen, welches bei fast allen Schlafapnoeikern
gen, kann aber aufgrund kollabierter Rachenweich- beobachtet wird. Fremdanamnestisch wird ein lau-
teile keine Frischluft einatmen. tes Schnarchen mit plötzlicher Unterbrechung des
Als Folge der Apnoe oder Hypopnoe kommt es zu Geräuschs und nachfolgender absoluter Stille be-
einer Abnahme der Sauerstoffkonzentration im Blut schrieben.
und einem Anstieg des Kohlendioxidgehalts. Hier- Die Betroffenen klagen vor allem über große
durch wird im Körper eine Alarmreaktion ausgelöst, Schläfrigkeit während des Tages. Diese Schläfrigkeit
die zu einer Stimulation der Atmung führt. Der be- kann zum Einschlafen etwa bei Besprechungen, beim
troffene Schläfer wird dadurch zwar nicht immer Fernsehen, aber auch beim Autofahren führen. Viele
wach, doch gelangt er in kürzester Zeit aus tieferen Unfälle werden heute auf ein unerkanntes und unbe-
Schlafstadien in höhere Schlafstadien, wodurch es zu handeltes Schlafapnoesyndrom zurückgeführt. Mor-
einem qualitativ unzureichenden, zerstückelten gendliche Kopfschmerzen, Leistungsabfall, Konzen-
Schlaf kommt. trations- und Gedächtnisstörungen sind weitere
Besonders gefährdet sind häufig stark überge- Symptome. Daneben können Erscheinungen wie
wichtige Männer zwischen dem 40. und 60. Lebens- Einnässen, Schlafwandeln und halluzinatorische
jahr, sog. Obelixtypen (Abb. 12.6). Grundsätzlich Eindrücke vor dem Einschlafen auftreten.
scheint das Schlafapnoerisiko mit zunehmendem Al- Die schlechte Schlafqualität, vor allem aber auch
ter anzusteigen. Neben einem arteriellen Hyperto- die verminderte Sauerstoffversorgung, können zu
nus können Herzrhythmusstörungen (häufig im Sin- anhaltenden organischen Störungen führen, wie z. B.
ne einer Bradykardie), Herzinsuffizienz sowie eine der Entwicklung einer pulmonalen Hypertension, ei-
nes Cor pulmonale oder Herzrhythmusstörungen.

216 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
12.4 Besonderheiten bei Kindern

Mittels einer Feststellung des Schlafprofils in ei- und Temperatur dar. Sie sollten deshalb ebenfalls be-
nem Schlaflabor kann die Diagnose gesichert und ei- achtet werden.
ne auf die Ursachen ausgerichtete Therapie eingelei- Einen großen Einfluss auf die Schlafqualität haben
tet werden. verschiedene Erkrankungen, die mit Symptomen wie
Juckreiz, Schmerzen, Bewegungsstörungen u. a. ein-
Zusammenfassung: hergehen. Auch darauf muss sich bei der Beobachtung
Abweichungen und Veränderungen (Bewe- eines Menschen das Augenmerk richten.
gung und Atmung)
Nächtliche Myoklonien sind periodische Bewegun-
gen vor allem in den Beinen, während des Schlafs. 12.4 Besonderheiten bei Kindern
Das Restless-Legs-Syndrom kennzeichnet den nur Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm
schwer zu unterdrückenden Drang, ständig die
Beine zu bewegen. Die Entwicklung des Schlaf- und Wachrhythmus ei-
Als narkoleptische Tetralogie werden abnorme Ein- nes Kindes ist von vielen unterschiedlichen Faktoren
schlafneigung, Katalepsie, Schlafparalyse und hyp- abhängig, u. a. vom Alter. In seiner Entwicklung vom
nogoge Halluzinationen zusammengefasst. Neugeborenen zum Erwachsenen variiert das Schlaf-
Die Schlafapnoe, die schlafbezogene Atemstörung, bedürfnis stark. Neugeborene/Säuglinge werden, be-
tritt als obstruktive, zentrale oder gemischte Form dingt durch den angeborenen Instinkt wie Hunger
auf. und Durst, ca. zweimal in der Nacht wach und verlan-
gen nach Befriedigung ihres Grundbedürfnisses. So
ist mindestens in den ersten 12 Lebenswochen der
12.3 Ergänzende Schlaf in erster Linie vom Gefühl der Sättigung be-
Beobachtungskriterien stimmt. Entscheidend für die Entwicklung eines
Schlafmusters sind die ersten 6 Monate im Leben ei-
Bei der Beobachtung des Schlafs von gesunden und nes Kindes. Bereits beim Feten konnte ab der 36. SSW
kranken Menschen gilt es auch den Blick auf jene eine Schlaf- und Wachphase nachgewiesen werden.
Faktoren zu richten, die den Schlaf bei jedem Men- In der weiteren Entwicklung vom Früh- oder Neu-
schen beeinflussen. Je nach Art und Weise der Beein- geborenen zum Kleinkind ist das Schlafbedürfnis ab-
flussung, kann sich diese positiv oder negativ auf die hängig vom Gesundheitszustand des Kindes, von sei-
12
Schlafqualität auswirken. nen Aktivitäten und von den Auswirkungen von Rei-
Ein wichtiger Einflussfaktor ist die Nahrungsauf- zen und Erlebnissen, die ein Kind im Laufe eines Ta-
nahme, deren Zusammensetzung und der Zeitpunkt ges erfährt.
der letzten Nahrungsaufnahme vor dem Schlafen. So Der Schlafrhythmus ist individuell und wird
belasten schwere, üppige Mahlzeiten, Kaffee oder Al- durch den Tagesablauf der Familie und durch starke
kohol am späten Abend bei vielen Menschen den emotionale Prägung mitgestaltet. Ab dem 4. – 5. Le-
Schlaf in negativer Hinsicht, aber auch Hunger oder bensjahr verringert sich die Gesamtschlafzeit des
Durst können zu Ein- und Durchschlafstörungen füh- Kinds. Es benötigt keinen Mittagsschlaf mehr. Jedoch
ren. ist diese Entscheidung für oder gegen Mittagsschlaf
Bewegung und körperliche Aktivität sowie die Ge- oftmals abhängig von äußeren Gegebenheiten, z. B.
staltung des Tages nehmen ebenfalls erheblichen ob ein Kind ganztätig zu Hause bei der Mutter/dem
Einfluss und stehen in konstanter, direkter Wechsel- Vater sein kann oder von einer Tagesmutter oder im
wirkung zum Schlafen. Das Verhältnis von Arbeit und Kindergarten betreut wird. Befindet sich ein Kind
Freizeit, die Anzahl, die Art und Dauer von Erholungs- ganztägig außerhalb seiner vertrauten Umgebung,
und Aktivitätsphasen, eine Schichtdienstätigkeit und braucht es abends, wenn es nach Hause kommt, noch
Langeweile haben Auswirkungen auf den Schlaf. Zeit für Kommunikation und Aktivitäten mit seinen
Ein weiterer Beobachtungspunkt ist die Stim- Eltern in seiner vertrauten Umwelt. Der Zeitpunkt
mungslage des Menschen. Sowohl Ärger, Probleme des „Zubettgehens“ ist somit abhängig vom Zeit-
als auch Freude und der Zustand des Verliebtseins punkt des Zusammentreffens der Familie und von
können zu Schlafstörungen führen. den je nach Jahreszeit bedingten Tätigkeiten.
Weitere schlafbeeinflussende Faktoren stellen die Ein weiterer Faktor ist, wie früh das Kind morgens
sog. Umgebungsfaktoren wie Helligkeit, Geräusche aufstehen muss. Die meisten Kinder zwischen 4 und

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 217


KaelDesu
12 Schlaf

6 Jahren benötigen 11 – 12 Stunden Schlaf. Kinder, die ge Zufuhr von Nahrung sein. Auch psychische oder
nachts nicht genügend Schlaf bekommen, sind un- körperliche Ursachen können den Schlafstörungen
konzentriert und leicht reizbar. zugrunde liegen.
Bis zur Pubertät nimmt das Schlafbedürfnis bis auf Psychische Störungen können Angst, Furcht vor
10 Stunden ab. Der zirkadiane Rhythmus ändert sich. Dunkelheit (Tiere, „Monster“, Geister im Zimmer),
Von Bedeutung sind auch der dem Kind zugewie- ungeregelte Lebensweise, nicht altersentsprechende
sene Schlafplatz, die unterschiedlichen Einschlafri- Beschäftigungen (Fernsehen), ungelöste Konflikte,
tuale und der Zeitpunkt des zu-Bett-Gehens. Die Ein- Aufregung, sexueller Missbrauch, Misshandlung
stellung zum Schlaf verändert sich im Laufe des Le- sein. Körperliche Störungen wie z. B. Hunger, Durst,
bens und ist u. a. von der Erziehung des Kindes und Völlegefühl, Fieber, Kälte, Schmerzen, behinderte
vom Kulturkreis, in dem es aufwächst, abhängig. Nasenatmung aufgrund von Infekten, Juckreiz und
Die sich daraus entwickelnden individuellen fortwährende Kratzattacken wie z. B. bei der Neuro-
Schlafgewohnheiten können einen hohen Stellen- dermitis verhindern einen erholsamen Schlaf.
wert erreichen. In einigen Kulturen ist es üblich, dass Eine vorangegangene Erkrankung des Kindes mit
sich alle Familienmitglieder einen Schlafplatz/-raum Beteiligung des zentralen Nervensystems kann
teilen. Das Neugeborene/Kleinkind schläft im elterli- ebenfalls zu Schlaf-Wach-Rhythmusstörungen füh-
chen oder großelterlichen Bett. Oftmals ist nur ein ren. Hierzu zählen Hirntumore, entzündliche Er-
Schlafplatz, bestehend aus Decken oder Unterlagen, krankungen des Gehirns, Anfallsleiden, Schädel-
für die Kinder vorhanden. In unserer Kultur ist es Hirn-Traumen, psychiatrische und psychosomati-
normal, dass Kinder über eigene Kinderzimmer oder sche Erkrankungen. Schwere Schlafstörungen, die
eigene Schlafplätze verfügen. Große Bedeutung ha- mit einem Schlafentzug einhergehen, sind nach er-
ben für Kinder Einschlafrituale, die sich allabendlich folglosen ambulanten Behandlungen immer ein
wiederholen, die gewohnte Gutenachtgeschichte, Grund für eine Behandlung auf einer eigens dafür
das gemeinsame Abendlied, das Berichten der neu eingerichteten kinderpsychiatrischen/psychosoma-
gemachten Erfahrungen, oder auch das Gutenacht- tischen Station.
getränk. Diese Rituale geben dem Kind Sicherheit! Ein beobachtbares Verhalten während der Nacht
Die Gestaltung des Schlafplatzes durch Schlaf- ist das Hin- und Herrollen des Kopfs, das als Jactatio
utensilien wie z. B. Stofftiere, Lieblingsspielzeug, Ku- capitis nocturna bezeichnet wird, und das Hin- und
scheldecke spielt eine ebenso wichtige Rolle wie z. B. Herwerfen des Körpers, das sog. Jactatio corporis.
12
dem Wunsch, bei Licht oder in völliger Dunkelheit zu Diese als Jactationen bezeichneten rhythmischen Be-
schlafen, nachzugeben. Einschlafgewohnheiten wer- wegungen treten häufig in der Einschlafphase auf
den häufig, wenn auch in modifizierter Form, im Er- und dienen den Kindern als Erregungsabbau. Die Be-
wachsenenalter beibehalten. wegungen des Kopfs und des Rumpfs wirken beruhi-
Der plötzliche Kindstod stellt eine der häufigsten gend und tröstend.
Todesursachen im Säuglingsalter (Altersgipfel 2. – 4. Ein solches Verhaltensmuster ist bis zum Alter
Lebensmonat) dar. Bei der Gestaltung der Schlafum- von 2 – 3 Jahren als physiologisch anzusehen. Danach
gebung sollten die Empfehlungen zur Prävention des sollte die Tendenz zu Jactationen abnehmen. Ein
plötzlichen Kindstodes beachtet werden. Dazu zählt erstmaliges Auftreten nach dem 2. Lebensjahr ist als
das Schlafen in Rückenlage und die Verwendung ei- pathologisch anzusehen und deutet in der Regel auf
nes Schlafsacks. psychische oder neurologische Probleme des Kinds
Der ungestörte Schlaf eines Kindes zeichnet sich hin, die gegebenenfalls einer Therapie bedürfen.
u. a. durch eine entspannte Lagerung mit geschlosse- Innerhalb der ersten Stunden nach dem Einschla-
nen Augen, durch eine ruhige gleichmäßige Atmung fen kann es zu unbeabsichtigtem, nächtlichem Ein-
und eine leicht erniedrigte Pulsfrequenz aus. nässen kommen, der Enuresis nocturna. Dieses Ver-
halten tritt bei Kleinkindern auf, sollte jedoch nach
12.4.1 Abweichungen und Veränderungen beim dem 6. Lebensjahr verschwinden. Jungen sind häufi-
Schlaf ger betroffen. Unterschieden wird zwischen der pri-
Abweichungen vom kindlichen Schlafverhalten kön- mären und der sekundären Enuresis nocturna.
nen Erziehungsfehler, d. h. falsches Verhalten der Er- Bei der primären Form ist das Kind nachts noch
wachsenen im Zusammenhang mit dem „Zubett- nie trocken gewesen, im Gegensatz zu der sekundä-
gehen“, bei nächtlichem Aufwachen oder übermäßi- ren Enuresis, bei der es zu einem erneuten nächtli-

218 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
12.5 Besonderheiten bei älteren Menschen

chen Einnässen kommt, nachdem das Kind bereits sondere Bedeutung zu, da ein Großteil der älteren
trocken gewesen ist. Die Enuresis ist ein Symptom, Menschen immer weniger Zeit im natürlichen Tages-
dem verschiedene Ursachen zugrunde liegen kön- licht verbringt. Besonders betroffen von diesem Um-
nen. Hierzu zählen z. B. für das Kind belastende oder stand sind viele alte Menschen, die in Pflegeheimen
bedeutsame Ereignisse wie die Geburt eines Ge- ihren Lebensabend verbringen und viel zu wenig
schwisterkindes, der Verlust eines Elternteils oder oder gar nicht dem hellen Tageslicht begegnen. Alar-
die Einschulung. Als weitere Möglichkeit kommen mierende Studien belegen, dass einige Betroffene le-
urologische Probleme wie eine zu kleine Blase, Harn- diglich 2 Minuten Tageslicht in 24 Stunden erha-
leiterentzündungen, Obstipation etc. in Frage. schen können!
Nach neuerlichen Erkenntnissen kommt auch ei-

!
ne erbliche Komponente in Betracht. Ärzte fanden Merke: Zu beachten ist, dass eine zu kurze
heraus, dass Eltern von bettnässenden Kindern in ih- Lichtexposition tatsächlich zu einer beacht-
rer Kindheit häufig auch an Enuresis nocturna litten. lichen Minderung der Schlafqualität führt.
Vor Beginn einer Verhaltenstherapie muss die Even-
tualität einer Grunderkrankung ausgeschlossen sein. Zudem ist zu beobachten, dass betagte Menschen
Die Möglichkeiten einer Verhaltenstherapie erstre- tagsüber mehr Ruhepausen und sog. „Nickerchen“
cken sich von Miktionsübungen (Unterbrechen des machen. Diese werden als versteckte Schlafpolster
Urinstrahles) über Enuresis-Alarmanlagen (Behand- bezeichnet. Wenn sie zu ausgedehnt in Anspruch ge-
lung mit elektrischen Weckautomaten) bis hin zu nommen werden, führt dies zu einer geringeren
operantem Konditionieren (Belohnung von positi- Schlafdauer während der Nacht bis hin zu einer
vem Verhalten). Schlaf-Wach-Rhythmusumkehr.
Die alten Menschen selbst berichten immer mehr
von Durchschlafstörungen mit längeren Wachzeiten,
12.5 Besonderheiten bei älteren einer reduzierten Gesamtschlafzeit sowie vermehr-
Menschen ter Einschlafneigung am Tage. Besonders Frauen ha-
ben einen gesteigerten Schlafmittelverbrauch, da der
Marion Weichler-Oelschlägel
Schlaf im Alter zumeist nicht mehr als ausreichend
Der menschliche Körper unterliegt im Laufe seines erholsam erlebt wird.
Da im Alter häufig verschiedene Erkrankungen
Lebens zahlreichen Veränderungen. So können auch 12
Veränderungen, die sich auf das Schlafprofil (Schlaf- auftreten, sind einige Schlafstörungen organisch be-
zyklen) und die Schlafqualität auswirken, beobach- dingt. Hinzu kommen die medikamentösen Thera-
tet werden. pien, die ebenfalls den Schlaf beeinflussen können.
Die Schlafeffizienz, also die Zeit, in der ein
Mensch tatsächlich im Bett schläft, reduziert sich im Zusammenfassung:
Alter um 20%. Die älteren Menschen verbringen Besonderheiten bei Kindern und älteren
mehr Zeit im 1. und 2. Schlafstadium und vermin- Menschen
dern dafür die Tiefschlafanteile im 3. und 4. Schlaf- Den Schlaf beeinflussende Faktoren sind u. a. Nah-
stadium, die Dauer des REM-Schlafs nimmt ab. rungsaufnahme, Bewegung, Gestaltung des Tages,
Auch der zirkadiane Rhythmus erfährt mit zuneh- Stimmungslage, Umgebungsfaktoren und Erkran-
mendem Alter eine Veränderung und zwar im Sinne kungen.
einer Phasenvorverlagerung. Dies bedeutet, dass der Die Entwicklung eines Schlafrhythmus beim Kind
Zeitpunkt des „Zubettgehens“ nach vorn verschoben ist u. a. von Gesundheitszustand, Aktivitäten und
wird und damit auch der Zeitpunkt des Erwachens. Auswirkungen von Reizen und Erlebnissen wäh-
Beeinflusst wird diese Änderung des zirkadianen rend des Tages abhängig.
Rhythmus vor allem durch veränderte Lebens- Für die Schlafgewohnheiten von Kindern sind
umstände und einen veränderten Tagesablauf. Dazu Schlafplatz und Einschlafrituale wichtig.
zählen beispielsweise die bei vielen Betagten einset- Als Jactationen werden rhythmische Bewegungen
zende Schwerhörigkeit und die Beeinträchtigung des von Kindern in der Einschlafphase bezeichnet.
Sehvermögens. Bei der Enuresis nocturna, dem nächtlichen Einnäs-
Dem Licht als stärkstem Reizauslöser des zirka- sen, werden eine primäre und eine sekundäre Form
dianen Rhythmus kommt an dieser Stelle eine be- unterschieden.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 219


KaelDesu
12 Schlaf

Bei älteren Menschen sind eine Schlafreduzierung,


eine Phasenvorverlagerung, Durchschlafstörungen Schlaf-Wach-Rhythmus-Umkehr (P)
und Einschlafneigungen am Tage charakteristisch. (Gordon 2013, S. 320 – 321, NANDA-I 2016)
Sleep Pattern Reversal
Diagnosetyp (Dokumentationsform): aktuelle Pflege-
12.6 Fallstudien und mögliche diagnose (PES)
Pflegediagnosen Funktionelles Gesundheitsverhaltensmuster:
Schlaf und Ruhe
Beispiel: Frau Hellmer, 79 Jahre alt, lebt seit
Definition
einem halben Jahr in einem Pflegeheim. Sie
Veränderung im Schlaf-Wach-Zyklus vom überwiegend
hat den Umzug aus ihrer geliebten Wohnung
nächtlichen zu überwiegend am Tage stattfindenden
nicht überwunden. Da ihre Angehörigen im Ausland le- Schlaf
ben und ihre ehemaligen Nachbarinnen überwiegend
selbst immobil sind, hat sie kaum soziale Kontakte, die Einflussfaktoren (E)
über das Tagesgestaltungsprogramm des Pflegeheims geringe körperliche Aktivität oder niedriger
hinausgehen. Hierunter und unter der damit verbun- Belastungsgrad am Tage
denen Langeweile leidet die frühere Gymnastiklehrerin Mangel an Freizeitaktivitäten, (Beschäftigungs-
defizit)*
sehr, sodass sie einen großen Teil des Tages mit kleinen
Furcht oder Vigilanz
„Nickerchen“ verbringt, was zu Ein- und Durchschlaf-
(schwach ausgebildete soziale Zeitgeber [Sozialkon-
störungen führt und ihre Stimmungslage sehr schwan-
takte, soziale Aktivitäten, gemeinsame, feste Haupt-
ken lässt.
mahlzeiten])*
In Tab. 12.4 wird ein Auszug aus dem Pflegeplan von
(schwach ausgebildete physikalische Zeitgeber
Frau Hellmer vorgestellt.
[Licht, Temperatur, Geräuschpegel, Wechsel von Ru-
Die auf diesen Fall zutreffende Pflegediagnose zeigt he und Bewegung])*
die folgende Übersicht: (posttraumatische Stressreaktion)*
(irreguläres nächtliches Essverhalten)*
(Aktivierung der Hirnrinde [Arousal] bei gleichzeitig
herabgesetzter Aktivität des inneren Zeitgebers im
12 suprachiasmatischen Nukleus [SCN])*

Tab. 12.4 Auszug aus dem Pflegeplan von Fr. Hellmer

Pflegeprobleme Ressourcen Pflegeziele Pflegemaßnahmen

쐌 Fr. Hellmer leidet unter 쐌 Fr. Hellmer nimmt an den 쐌 Fr. Hellmer hat normalen 쐌 NZ: über den Zusammenhang zwischen
einer Umkehr ihres Tagesgestaltungsangebo- Schlaf-Wach-Rhythmus, Schlafpausen am Tag und vermindertem
Schlaf-Wach-Rhythmus ten teil bleibt tagsüber wach Nachtschlaf informieren
aufgrund von Langeweile 쐌 Fr. Hellmer kennt den Zu- 쐌 bei Schlafpausen am Tag wecken
und häufigen sammenhang zwischen 쐌 über biografisches Arbeiten Interessen
„Nickerchen“ am Tag Schlafpausen am Tag und ermitteln und gemeinsam nach Umset-
vermindertem Nacht- zungsmöglichkeiten suchen
schlaf 쐌 zu Veranstaltungen für andere Heimbe-
쐌 Fr. Hellmer findet ange- wohner anregen (z. B. Gymnastik)
messene Beschäftigung 쐌 Beschäftigung durch leichte Tätigkeiten
am Tag (z. B. Hilfe beim Abräumen)
쐌 Frau Hellmer leidet unter 쐌 NZ: Fr. Hellmer pflegt be- 쐌 mit Fr. Hellmer Möglichkeiten für Besu-
der Verminderung ihrer stehende und findet neue che bei ihren ehemaligen Nachbarinnen
sozialen Kontakte Kontakte überlegen und durchführen
쐌 Kontakte zwischen Fr. Hellmer und ande-
ren Heimbewohnerinnen herstellen

220 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
12.6 Fallstudien und mögliche Pflegediagnosen

Die für Frau Hellmer gestellte Pflegediagnose könnte


(ungewohnte Umgebung, Relokation)*
folgendermaßen lauten: „Schlaf-Wach-Rhythmus-
(Medikamente, die die zirkadiane Rhythmik durch
Umkehr
Hemmung der Melatoninsekretion beeinflussen
b/d (beeinflusst durch) geringe körperliche Aktivität
[Benzodiazepine] mit langer Halbwertszeit, Alpha-
Antagonisten [Clonidin, Methyldopa], Neuroleptika und Bewegung während des Tages und ein Beschäfti-
[Haloperidol])* gungsdefizit“
Kennzeichen oder Symptome (S) angezeigt durch (a/d) häufige Schlafphasen, Tages-
Hauptkennzeichen schlaf und Nickerchen am Tage in Verbindung mit
häufige Schlafphasen, Tagesschlaf und Nickerchen dem Unvermögen, nachts zu schlafen sowie Stim-
am Tage („napping“) in Verbindung mit dem Unver- mungsschwankungen.
mögen, nachts zu schlafen
(nächtliches wach [und mitunter auch aktiv] sein) Beispiel: Der kleine Oskar ist 11/2 Jahre alt
Unruhe mit nächtlichem ruhelosen Umhergehen und zögert allabendlich das Zubettgehen
(Wandering) hinaus. Er ist müde, findet aber über einen
Nebenkennzeichen längeren Zeitraum keine Ruhe. Die Einschlafrituale
Stimmungsschwankungen/-veränderungen werden Abend für Abend verlängert und häufig legt
nächtliche Erregung und/oder Reizbarkeit sich die Mutter zu ihrem Kind und streichelt es in den
Abflachen des zirkadianen Rhythmus Schlaf. Oskar lernt nicht alleine einzuschlafen, was für
Schlaffraktionierung, häufige Aufwachreaktionen die Eltern zu einer Erziehungsunsicherheit und zu emo-
(Arousal) tionalen Spannungen führt und bei Oskar zu Gereizt-
Tagesschläfrigkeit heit und Unkonzentriertheit.
Sundowning (Zunahme von Syptomen der Unruhe Ein Auszug aus einem möglichen Pflegeplan für Oskar
und Erregtheit in der Dämmerung und der frühen zeigt Tab. 12.5.
Nacht)
örtliche und zeitliche Desorientierung Die entsprechende Pflegediagnose zeigt die folgende
ängstliches Überwachen der Umgebung Übersicht:
Pflegeergebnis (Outcome)
Schlaf (Sleep)
äußert, sich nach dem Schlaf (regelmäßige natürli- Einschlafstörung (P)
12
che Aufhebung des Bewusstseins zur Regeneration (Gordon 2013, S. 313, NANDA-I 2016)
des Körpers) gut ausgeruht zu fühlen Delayed Sleep Onset
(Stabilisierung und Resynchronisation des natürli- Diagnosetyp (Dokumentationsform): aktuelle Pflege-
chen Schlaf-Wach-Rhythmus) diagnose (PES)
Riskogruppen Funktionelles Gesundheitsverhaltensmuster:
Personen . . . Schlaf und Ruhe
in höherem Alter Definition
mit Schichtwechseln Unfähigkeit zu schlafen bei gleichzeitiger Erwartung,
(Menschen, die leiden an) dass der Schlaf eintritt
einer Alzheimer-, Lewy-Body-Demenz (LBD)
Einflussfaktoren (E)
einer oneirischen Demenz (mit Hypersomnie, REM-
Angst
Schlafverhaltensstörung, oneirisches Verhalten,
Furcht (zu spezifizieren)
totalem Tiefschlafverlust)
unzureichendes Schmerzmanagement
einem Morbus Parkinson
Drogen
einer progressiven supranukleären Blickparese
Aktivität oder Arbeit vor dem Schlafengehen
einer retinalen Blindheit; (Anm. d. Hrsg. nach:
Stress am Arbeitsplatz
*Georg, J.: Aus dem Takt. NOVA 40 (2009) 1:
häufige Schichtwechsel
18 – 21)

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 221


KaelDesu
12 Schlaf

Tab. 12.5 Auszug aus dem Pflegeplan von Oskar

Pflegeprobleme Ressourcen Pflegeziele Pflegemaßnahmen

Oskar lernt nicht, alleine Oskar bekommt Zuwen- Oskar schläft nach kurzem 쐌 Ausschluss medizinischer
einzuschlafen dung von den Eltern Einschlafritual ruhig ein Ursachen für die Einschlafstörung (Arzt)
(Wie stellen die Eltern sich 쐌 individuelle Situationseinschätzung
die Einschlafsituation vor? durch genaues Befragen über die beste-
Formulierung der entspre- hende Situation
chenden Ziele zusammen – Wie sieht der Schlafplatz des Kindes
mit den Eltern) aus?
– Wechselt Oskar während der Nacht
den Schlafplatz?
– Welche Einschlafrituale favorisiert Os-
kar?
– Sind die Lichtverhältnisse den Bedürf-
nissen von Oskar angepasst?
– Welche Einschlafposition nimmt Oskar
ein?
– Welche Aktivitäten macht Oskar vor
dem Zubettgehen? (Fernsehen? Spie-
len? Essen?)
쐌 Erarbeitung eines genauen Verhaltens-
musters mit den Eltern und Begleitung
bei der Durchführung
Oskar ist aufgrund der Ein- Die Eltern halten an ihrem Oskar kann seinen Schlaf- 쐌 Zusammen mit den Eltern die möglichen
schlafstörung am nächsten entwickelten Verhaltens- Wach-Rhythmus stabilisie- Probleme im häuslichen Bereich definie-
Tag gereizt und unkonzen- muster fest ren ren und auf die Einhaltung des entwickel-
triert Oskar ist ausgeglichen ten Verhaltensmusters achten

Für Oskar könnte die Pflegediagnose lauten:


Kennzeichen oder Symptome (S)
Einschlafstörung angezeigt durch
Hauptkennzeichen
12 wiederholte Äußerungen über das Unvermögen,
beeinflusst durch (b/d) Furcht vor dem Einschlafen
(a/d) das Unvermögen nach angemessener Wartezeit
nach 30 – 45 Minuten des Wartens auf den Schlaf
einzuschlafen und zunehmende Unkonzentriertheit.
auch einzuschlafen
Nebenkennzeichen
Fazit: Bei Schlafstörungen handelt es sich
Äußerungen, sich nicht richtig ausgeruht zu fühlen
um sehr unterschiedliche Störungen, die in
Reizbarkeit
ihren Auswirkungen auf den Menschen sehr
Erschöpfung
individuell sind. Bei der Beurteilung des Schlafs kommt
Fortschreiten zur Unfähigkeit, sich zu konzentrieren,
deshalb der individuellen Einschätzung des betroffe-
zu Desorientiertheit und Verschlechterung der geis-
tigen und körperlichen Leistungsfähigkeit nen Menschen eine besonders große Bedeutung zu.
Ebenso unterschiedlich wie die Störungen und ihre
Pflegeergebnis (Outcome) Auswirkungen sind auch die Ursachen der jeweiligen
Schlaf (Sleep) Schlafstörung. Sie beeinträchtigen die Erlebnisfähig-
berichtet, sich nach dem Schlaf (natürliche Phase keit und das Wohlbefinden eines Menschen stark. Zum
der Bewusstseinsaufhebung zur Regeneration des Teil können Schlafstörungen auch zu lebensbedrohli-
Organismus) ausgeruht zu fühlen
chen Zuständen führen.

222 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
Literatur

NANDA International: Pflegediagnosen. Definitionen und


Literatur: Klassifikation 2015 – 2017. Herdman, T. H., S. Kamitsuru
(Hrsg.): RECOM, Kassel 2016
Fischer, K., H. Sobottka, D. Faas (Hrsg.): Klinikleitfaden Kinder- Poets, C. F., F. Kirchhoff, E. Feldmann et al.: Leitlinie B20 „Plötz-
krankenpflege. 4. Aufl. Urban & Fischer, München 2009 licher Säuglingstod“. Somnologie – Schlafforschung und
Gordon, M.: Handbuch Pflegediagnosen. 5. Aufl. Hans Huber, Schlafmedizin 2012; 16; 202 – 203
Hogrefe AG, Bern 2013 Pschyrembel Klinisches Wörterbuch. 264. Aufl. de Gruyter,
Gortner, L., S. Meyer, F. C. Sitzmann: Duale Reihe Pädiatrie. Berlin 2014
4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012 Schewior-Popp, S., F. Sitzmann, l. Ullrich (Hrsg.): Thiemes Pfle-
Hoehl, M., P. Kullick (Hrsg.): Gesundheits- und Kinderkranken- ge. 13. Aufl. Thieme, Stuttgart 2017
pflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012 Schwegler, J., R. Lucius: Der Mensch. Anatomie und Physiolo-
Köther, I.: Altenpflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2016 gie. 6. Aufl. Thieme, Stuttgart 2016
Menche, N., J. Brandt (Hrsg.): Pflege konkret. 5. Aufl. Urban & Silbernagl, S., A. Despopoulos: Taschenatlas Physiologie.
Fischer, München 2009 8. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012

12

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 223


KaelDesu

13 Bewusstsein
Marion Weichler-Oelschlägel

Übersicht
Einleitung · 224
13.1 Allgemeine Beobachtungskriterien und
Beschreibung des Normalzustands · 225
13.2 Abweichungen und Veränderungen
im Bewusstsein und deren mögliche
Ursachen · 225
13.2.1 Störungen des Bewusstseins · 225
13.2.2 Störungen der Wahrnehmung · 228
13.2.3 Störungen der Bewegung und des
Handelns (Apraxien) · 231
13.2.4 Störungen der Orientierung · 232
13.2.5 Störungen des Erkennens (Agnosie) · 235
13.2.6 Störungen des Denkens · 236 sein“ oder Wendungen wie „sich etwas bewusst ma-
13.2.7 Störungen des Gedächtnisses · 239 chen“ kommt dies zum Ausdruck. Das Bewusstsein
13.2.8 Störungen der Aufmerksamkeit · 240 ermöglicht die Orientierung eines Menschen in der
13.2.9 Störungen der Affektivität · 241 Welt und adäquate Reaktionen auf seine Umgebung,
13.2.10 Störungen des Ich-Erlebens · 243 die von komplexen Prozessen gesteuert werden.
13.2.11 Störungen des Antriebs · 243 Entsprechend der Komplexität sind auch die Stö-
13.3 Ergänzende Beobachtungskriterien · 244 rungen im Bewusstseinsbereich sehr vielschichtig
13.4 Besonderheiten bei Kindern · 245 und zeigen sich in unterschiedlichsten Formen. Im
13.5 Besonderheiten bei älteren Menschen · 246 folgenden Kapitel werden verschiedene Anteile des
13.6 Fallstudien und mögliche menschlichen Bewusstseinssystems beschrieben so-
Pflegediagnosen · 247 wie Formen von Bewusstseinsstörungen dargestellt
Fazit · 249 und deren mögliche Ursachen erläutert.
Literatur · 250
13 Definition: Als Bewusstsein kann die Gesamt-
Schlüsselbegriffe:
heit aller gegenwärtig empfundenen psy-
왘 Affektivität chischen Vorgänge wie beispielsweise Gedanken
왘 Agnosie und Wahrnehmungen bezeichnet werden, die mit der
왘 Antrieb Kenntnis über das subjektive Erleben („Ich bin es, der
왘 Apraxie wahrnimmt“) verbunden sind.
왘 Bewusstsein

왘 Denkfähigkeit Das Bewusstsein ermöglicht uns mithilfe der Sinnes-


왘 Merkfähigkeit organe, Reize aus der Umwelt wahrzunehmen, diese
왘 Reaktionsfähigkeit zu verarbeiten und entsprechend zu reagieren. Es er-
왘 Orientierungsfähigkeit laubt uns das Erleben von Stimmungen, Gefühlen
왘 Verwirrtheit und unseres Selbst. Als Voraussetzung für das Be-
왘 Wahrnehmungsfähigkeit wusstsein gilt die Aktivität komplexer neuronaler
Strukturen im zentralen Nervensystem, die für ihr
Einleitung optimales Funktionieren Reize benötigen, die sich
ständig verändern.
Durch das Bewusstsein wird der Mensch in die Lage Zu den Funktionen des Bewusstseins zählen
versetzt, sich selbst, andere Menschen und seine die Merk- und Reaktionsfähigkeit,
Umwelt wahrzunehmen. Im Begriff „Selbstbewusst- die Denkfähigkeit und die Vorstellungskraft,

224 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
13.2 Abweichungen und Veränderungen im Bewusstsein und deren mögliche Ursachen

die Reproduktions- und Handlungsfähigkeit, Denkens, des Gedächtnisses und der Aufmerksam-
das Orientierungs- und Durchhaltevermögen. keit beschrieben, die alle dem Bewusstseinssystem
zugeordnet werden können. Außerdem sind weitere
psychopathologische Symptome und neuropsycho-
13.1 Allgemeine
logische Störungen aufgeführt, die vor allem im Be-
Beobachtungskriterien und reich der psychiatrischen und neurologischen Pflege
Beschreibung des von Bedeutung sind.
Normalzustands
13.2.1 Störungen des Bewusstseins
Das Bewusstsein des gesunden Menschen ist ge- Veränderungen des Bewusstseins werden als Be-
kennzeichnet durch seine Fähigkeit, sein Gegenüber wusstseinsstörungen zum einen hinsichtlich ihrer
anzusprechen, sowie durch die persönliche, zeitli- Quantität, zum anderen hinsichtlich ihrer Qualität
che, situative und örtliche Orientierung. Mithilfe des eingeteilt. Einen Überblick zeigt die Tab. 13.1.
klaren Bewusstseins kann der Mensch die Umwelt
wahrnehmen, Eindrücke verarbeiten und adäquat Quantitative Bewusstseinsstörungen
reagieren. Hinzu kommt das Wissen um die eigenen Quantitative Bewusstseinsstörungen werden auch
Gedanken und die Fähigkeit, sich selbst zu kontrol- als sog. „Minderung der Wachheit“ bezeichnet. Be-
lieren. sonders in der Neurologie ist die exakte Einstufung
Das Bewusstsein ist kein fester Zustand, sondern quantitativer Bewusstseinsstörungen wichtig.
auch beim Gesunden sehr variabel. Es bewegt sich
zwischen Zuständen höchster Aufmerksamkeit und Bewusstseinsstadien
Zuständen des Bewusstseinsverlusts, wie beispiels- Die verschiedenen Bewusstseinsstadien werden mit
weise dem Schlaf. Benommenheit, Somnolenz, Sopor und Koma be-
zeichnet. Die Beobachtung der Bewusstseinsstadien,

!
Merke: Kriterien für die Beurteilung des Be- auch Bewusstseinslagen genannt, erfolgt insbeson-
wusstseins sind: dere dadurch, dass die Reaktion auf verschiedene
Fragen und Reize betrachtet wird, wobei die Sprache,
Merkfähigkeit, die Sensibilität und die Motorik Schwerpunkte dar-
Reaktionsfähigkeit, stellen.
Denkfähigkeit, Die Kennzeichen der einzelnen Bewusstseinsla-
Vorstellungskraft, gen sind in Tab. 13.2 dargestellt, doch gehen sie oft-
Reproduktionsfähigkeit, mals fließend ineinander über. Eine genauere Beur- 13
Handlungsfähigkeit, teilung erfolgt deshalb mithilfe der „Glasgow-Koma-
Orientierungsvermögen, Skala“, bei der sprachliche und motorische Reaktio-
Durchhaltevermögen. nen sowie das Öffnen der Augen des Erkrankten mit-
tels eines Punktesystems benotet werden. Aus der
Gesamtsumme der verteilten Punkte ergibt sich
13.2 Abweichungen und
schließlich der Schweregrad der Bewusstseinsstö-
Veränderungen im rung (Tab. 13.3).
Bewusstsein und deren
mögliche Ursachen Tab. 13.1 Überblick über Bewusstseinsstörungen

quantitative Störungen qualitative Störungen


Oftmals beinhalten Veränderungen des Bewusst-
seins Störungen mehrerer Beobachtungskriterien 쐌 Bewusstseinsstadien 쐌 Bewusstseinseinengungen
– Benommenheit (Reduktion der bewussten
und/oder Veränderungen im Gefühls- und Antriebs-
– Somnolenz Wahrnehmung)
system, die sich auf die oben genannten Funktionen – Sopor – Dämmerzustand
auswirken. Im Folgenden werden deshalb neben den – Koma – Delir
쐌 parasomnische Bewusst- 쐌 Bewusstseinserweiterungen
reinen Bewusstseinsstörungen die Wahrnehmungs-,
seinslage (allgemeine Intensitätsstei-
Bewegungs- und Handlungsstörungen, Orientie-
gerung der Wahrnehmung)
rungs- und Erkennensstörungen, Störungen des

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 225


KaelDesu
13 Bewusstsein

Tab. 13.2 Bewusstseinsstadien und Befunde

Stadium Reaktionen des Patienten Sensibilität Motorik


Sprache

ansprechbar/wach adäquate Antwort, prompt, spon- spürt schon leichte Berührung bewegt spontan und seitengleich
tan, normal, Mimik differenziert, mit den Fingerspitzen
Befehle werden sofort ausgeführt

benommen zeitlich und örtlich desorientiert, spürt Kneifen, Stechen bewegt seitenungleich (Spontaneität,
sehr gut weckbar, oft schweigend, Kraft, Widerstand), nicht gezielt auf
Befehle werden verzögert ausge- Befehl
führt, Mimik differenziert, unzu-
sammenhängende Sprache, Ver-
ständnisschwierigkeiten, Echolalie

somnolent desorientiert, apathisch, antriebslos, spürt Kneifen, Stechen Abwehrbewegungen, bei Schmerz
schläft ein, keine spontanen Worte, gezielt
Lallen, Artikulation schlecht, Mimik
undifferenziert

soporös völlig desorientiert, kein Schmerz- spürt Stechen Abwehrbewegungen bei Schmerz
laut, nur mit Schmerz weckbar, ungezielt
Mimik nur bei Schmerz

Koma keine Reaktionen ablesbar spürt nichts bzw. kann uns nicht keine Reaktion außer einigen Reflexen
mehr sagen, dass er spürt erkennbar

Tab. 13.3 Glasgow-Koma-Skala

Reaktion der Augen Motorische Reaktion Verbale Reaktion


Punkte Punkte Punkte

hohe 6 wenn die Aufforderung: „Hebe die


Punktzahl Hände!“ befolgt wird

5 wenn er sich bewegt, um einen 5 bei guter Orientierung über
13 Schmerzreiz abzuwehren, z. B. oberhalb Person, Ort und Zeit
der Augenbrauen

4 die Augen öffnen sich spontan, 4 wenn der Finger zurückgezogen wird, 4 bei wirren Äußerungen
wenn die Pflegende sich dem nachdem den Fingerspitzen ein
Bett nähert Schmerzreiz zugefügt wird

3 die Augen öffnen sich, wenn er 3 wenn auf einen Schmerzreiz der Finger- 3 bei falscher Wortwahl
angesprochen wird spitzen die Ellenbogen gebeugt werden

2 die Augen öffnen sich, wenn 2 wenn auf einen Schmerzreiz der Finger- 2 bei Wiedergabe von unverständ-
den Fingerspitzen Schmerz spitzen bei gebeugten Armen die Ellen- lichen Lauten
zugefügt wird bogen gestreckt werden

niedrige 1 die Augen öffnen sich nicht, 1 keine nachweisliche Reaktion auf 1 bei keiner verbalen Reaktion
Punktzahl wenn den Fingerspitzen wiederholte Schmerzzufügung ver-
Schmerz zugefügt wird schiedenster Art

Personen in normaler Verfassung erreichen eine Punktzahl von 15; die niedrigste Punktzahl ist 3, die einem Hirntod gleichgesetzt werden kann, aber keinen
bedeuten muss. Die Punktzahl 7 wird als Definition für Koma benutzt (nach Roper et al.)

226 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
13.2 Abweichungen und Veränderungen im Bewusstsein und deren mögliche Ursachen

Ursachen sind Erkrankungen wie akute exogene bleiben, sich aber auch in einzelnen Bereichen zu-
Psychosen, Schädel-Hirn-Verletzungen als unmittel- rückbilden bis hin zur vollständigen Remission.
bare Gehirnschäden wie beispielsweise das Schädel-
Hirn-Trauma, aber auch Durchblutungsstörungen, Qualitative Bewusstseinsstörungen
Epilepsien, Tumore, Blutungen, Enzephalitiden, Me- Qualitative Bewusstseinsstörungen sind gekenn-
ningitiden, Schlaganfälle oder Stoffwechselentglei- zeichnet durch Veränderungen der Bewusstseinsin-
sungen. Die Stoffwechselstörungen können durch halte eines Menschen. Hierbei können Bewusst-
eine Entgleisung im Rahmen des Diabetes mellitus, seinseinengungen und -erweiterungen unterschie-
einer Urämie oder bei Schädigungen der Leber wie den werden.
z. B. Leberzirrhose oder einer Hypothyreose auftre-
ten. Bewusstseinseinengungen
Darüber hinaus können als auslösende Faktoren Bewusstseinseinengungen sind Zustände, die durch
Vergiftungen durch Alkohol, Schlafmittel, Kohlen- eine Reduktion der bewussten Wahrnehmung cha-
monoxid und Toxine benannt werden. Klassische rakterisiert sind. Der Betroffene ist in bestimmten
Geisteskrankheiten wie die Schizophrenie oder Er- Gedankengängen oder Denkschablonen so sehr ver-
krankungen des depressiven Formenkreises können haftet, dass er auf Außenreize nur noch vermindert
gleichfalls zu quantitativen Bewusstseinsstörungen reagiert. Im Bewusstsein ist lediglich ein kleiner Aus-
führen. schnitt aus dem Gesamterleben. Bewusstseinseinen-
Weitere Indikationen für die Kontrolle der Be- gungen treten vorwiegend bei akuten Psychosen auf.
wusstseinslage sind z. B. postoperative/postnarkoti- Dämmerzustand: Ein Zustand, der mit einem ein-
sche Zustände zur frühzeitigen Erkennung von mög- geengten Bewusstsein einhergeht. Kennzeichen ei-
lichen Komplikationen, hohes Fieber mit Gefahr von nes Dämmerzustandes sind:
Fieberkrämpfen und Herz-Kreislauf-Störungen, die Einengung des Bewusstseins auf bestimmte Ge-
mit schweren Zirkulationsstörungen einhergehen. fühle, Vorstellungen und Denkinhalte. Das Be-
wusstsein kann getrübt sein (s. a. S. 231).
Parasomnische Bewusstseinslage Obwohl das Bewusstsein verändert ist, besteht
Definition: Als parasomnische Bewusstseinla- Handlungsfähigkeit. Die Handlungen können
ge, apallisches Syndrom oder Coma vigile wird aber unbesonnen sein und keinerlei Beziehung zu
ein Symptomenkomplex bezeichnet, der durch dem sonstigen Denken aufweisen.
eine funktionelle Trennung der Hirnrinde (Pallium) Der Zustand dauert von wenigen Minuten bis zu
und den übrigen Hirnzentren im Hirnstamm charakte- Monaten an, ist aber immer zeitlich begrenzt.
risiert ist. Es besteht anschließend eine Amnesie für diesen 13
Zeitraum, wobei einzelne Erinnerungsinseln vor-
Die Betroffenen liegen wach, mit offenen Augen da, handen sein können.
der Blick ist starr geradeaus gerichtet oder gleitet oh- Der Zustand wirkt als Zerstreutheit und Unauf-
ne Fixationspunkt hin und her. Ansprechen, berüh- merksamkeit und ist somit oftmals nur für den
ren oder beispielsweise das Vorhalten von Gegen- geschulten Blick erkennbar.
ständen führt zu keinerlei sinnvollen Reaktionen. Re-
flektorische Flucht- und Abwehrbewegungen fehlen Für die Umgebung scheinen die Betroffenen klar und
oftmals. besonnen, wirken traumverloren oder berauscht. Sie
Beim apallischen Syndrom kann es zum Wieder- finden sich einigermaßen zurecht, obwohl sie die Si-
auftreten von bekannten frühen Tiefenreflexen (z. B. tuation nicht vollständig überblicken und zumeist
Greif-, Saugreflex) kommen. Vegetative Elementar- eine teilweise Störung der Orientierung (s. a. S. 231)
funktionen wie beispielsweise das Schlucken kön- aufweisen. Dies alles erschwert die Erkennung eines
nen zum Teil erhalten sein. Dämmerzustands, doch kann er auch noch nachträg-
Ursache für diese schwersten Schädigungen und lich anhand der teilweisen oder vollständigen Erin-
Funktionsausfälle in verschiedenen Gehirnbezirken nerungslosigkeit diagnostiziert werden.
sind u. a. Gehirntrauma, Gehirnblutungen, zerebrale Nach ihrer Ursache können organische und psy-
Venenthrombosen und schwere Enzephalitiden. Das chogene Dämmerzustände unterschieden werden.
apallische Syndrom kann als Dauerzustand bestehen Organische Ursachen sind z. B., Epilepsie, Hirntrau-

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 227


KaelDesu
13 Bewusstsein

ma, Arteriosklerose, Intoxikationen, zu den psycho- Zusammenfassung:


genen Ursachen zählen u. a. Schreck, Angst und Pa- Allgemeine Beobachtungskriterien
nik. Bewusstsein ist die Gesamtheit aller empfundenen
Delirium: Das Delirium kann als eine unspezifi- psychischen Vorgänge, verbunden mit der Kenntnis
sche Reaktion des Gehirns auf Noxen verschiedens- über das subjektive Erleben. Störungen dieser
ter Art bezeichnet werden. Es kommt hierbei zu ei- Wahrnehmung sind quantitativ und qualitativ
ner Störung des Bewusstseins in Form einer Be- möglich.
wusstseinstrübung mit einem traumhaften Erleben Bei den quantitativen Bewusstseinsstörungen wer-
und leichter Benommenheit, die auch als abgesunke- den die Stadien Benommenheit, Somnolenz, Sopor
nes Bewusstsein beschrieben wird. Typische Symp- und Koma sowie die parasomnische Bewusstseins-
tome eines Deliriums sind: lage unterschieden.
partielle oder totale Desorientierung, Zu den qualitativen Bewusstseinsstörungen gehö-
Halluzinationen (zumeist optische Wahrneh- ren Bewusstseinseinengungen wie beispielsweise
mungen), der Dämmerzustand und das Delirium sowie Be-
unzusammenhängendes Denken, wusstseinserweiterungen.
Aufmerksamkeits- und Auffassungsstörungen,
ängstliche, aggressiv gefärbte Unruhe, 13.2.2 Störungen der Wahrnehmung
Bewegungsunruhe (Greif- und Zupfbewegungen, Definition: Unter Wahrnehmung wird ein be-
„Flockenlesen“), wusster psychischer Vorgang verstanden, der
vegetative Begleitsymptome: Tremor, Tachykar- der Erfassung der Umwelt dient (s. a. S. 4).
die, starkes Schwitzen, Hautrötungen, Tempera-
turerhöhung. Wahrnehmungsstörungen werden in quantitative
und qualitative Störungen eingeteilt (Tab. 13.4).
Die Noxen, die zu einem Delirium führen können,
können sowohl exogener als endogener Art sein. Ne- Quantitative Wahrnehmungsstörungen
ben dem Alkohol, der bekanntesten Noxe, gehören Unter einer quantitativen Wahrnehmungsstörung
zu den exogenen Stoffen auch Kokain, Atropin, Anti- wird eine Veränderung der Intensität oder der Men-
parkinsonmittel, Antidepressiva und das Gift des ge der Sinneseindrücke verstanden sowie eine Ver-
Fliegenpilzes. Zu Intoxikationen mit körpereigenen änderung in der Geschwindigkeit der Wahrneh-
Stoffen und daraus resultierenden Delirien kann es mungsvorgänge.
bei hohem Fieber und Stoffwechselentgleisungen
13 kommen.
Tab. 13.4 Überblick über Wahrnehmungsstörungen
Bewusstseinserweiterungen quantitative Störungen qualitative Störungen
Bewusstseinserweiterungen zeichnen sich durch
eine allgemeine Intensitätssteigerung aus, die sich in 쐌 Überempfindlichkeit gegen- 쐌 Halluzinationen
über Sinnesreizen 씮Wahrnehmung ohne
einer gesteigerten Aufmerksamkeit, einer schnellen
– lokale oder generelle entsprechende Reizquelle
Auffassung und Erkenntnis, einer Verschärfung der Hyperästhesie 쐌 Illusionen
Wahrnehmung und einer Erweiterung des Wahr- 쐌 Unterempfindlichkeit 씮Verkennung real vorhan-
nehmungsfelds zeigt. Diese Veränderungen können gegenüber Sinnesreizen dener Sinneseindrücke
– Anästhesie 쐌 veränderte Sinnesempfin-
beispielsweise bei der Einnahme von Drogen, im – Hypästhesie dungen
Rahmen der Manie und der Schizophrenie beobach- – Hypalgesie – Dysästhesie
tet werden. 쐌 Verlangsamung der Wahr- – Parästhesie
nehmungsvorgänge 쐌 Raumsinnstörungen
씮Unfähigkeit zur räumli-

!
Merke: Mit quantitativen Bewusstseinsstö- chen Lokalisation
rungen werden Veränderungen der Wach- – Störung der visuell-räum-
heit, des Aktivitätszustands des zentralen lichen Wahrnehmung
– Störung der Körperwahr-
Nervensystems beschrieben, mit qualitativen Bewusst- nehmung
seinsstörungen Veränderungen der Bewusstseins-
inhalte.

228 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
13.2 Abweichungen und Veränderungen im Bewusstsein und deren mögliche Ursachen

Überempfindlichkeit gegenüber Sinnesreizen Qualitative Wahrnehmungsstörungen


Eine Überempfindlichkeit gegenüber Sinnesreizen Bei qualitativen Wahrnehmungsstörungen handelt
beinhaltet eine gesteigerte Wahrnehmungsintensi- es sich um Störungen der Art der Wahrnehmung.
tät. Sie kann sich beispielsweise als verstärkte Ge- Hierzu gehören die sog. Sinnestäuschungen, wie die
räuschempfindlichkeit oder als generelle Hyperäs- Halluzination und die Illusion, die veränderten Sin-
thesie äußern, bei der eine Verstärkung aller Sinnes- nesempfindungen und die Raumsinnstörungen.
wahrnehmungen vorhanden ist. Diese Überemp-
findlichkeit kann bei nervösen Erschöpfungszustän- Halluzination
den, bei Infektionskrankheiten, schweren Schmerz- Definition: Eine Halluzination kann als eine
zuständen sowie bei Manien und Rauschzuständen Wahrnehmung ohne entsprechende reale Reiz-
oder auch bei Erkrankungen der entsprechenden quelle definiert werden. Sie kann alle Sinnesor-
Sinnesorgane auftreten. gane betreffen und wird von dem Menschen als wirk-
lich empfunden.
Unterempfindlichkeit gegenüber Sinnesreizen
Eine Unterempfindlichkeit gegenüber Sinnesreizen Der betroffene Mensch reagiert auf die von „innen“
kann in Form einer Herabsetzung bis hin zum völli- kommenden Wahrnehmungen so, als wären es reale
gen Fehlen der Wahrnehmung von Sinnesreizen z. B. Wahrnehmungen. Die häufigsten Halluzinationen
aufgrund einer Schädigung des betroffenen Sinnes- sind:
organs vorkommen. Als Anästhesie wird die völlige Akustische Halluzinationen: hierzu zählen das
Unempfindlichkeit gegenüber Schmerz-, Tempera- Hören von Geräuschen, Musik oder auch das
tur- und Berührungsreizen bezeichnet. Sie tritt bei Stimmenhören, wobei die Stimmen beispielswei-
einer Störung des peripheren oder zentralen Nerven- se zum oder über den Betroffenen sprechen oder
systems oder als ein erwünschtes Ergebnis einer ihm Befehle geben. Sie kommen bei Schizophre-
Narkose oder Lokalanästhesie auf. nie, organischen Psychosen und Alkoholentzugs-
delir vor.
Definition: Mit Hypästhesie wird die herabge- Optische Halluzinationen: Lichtblitze, Gegen-
setzte Empfindung von Sinnesreizen, im eigent- stände, Feuer, Menschen und Tiere können im
lichen Sinne von Berührungsreizen, bezeichnet. Rahmen der optischen Halluzinationen auftreten.
Die Hypalgesie beschreibt eine verminderte Schmerz- Bei epileptischen Dämmerzuständen, deliranten
empfindlichkeit. Psychosen und verschiedenen Intoxikationen tre-
ten u. a. optische Halluzinationen auf.
Neben organischen Störungen können starke Erre- Olfaktorische Halluzinationen: Gerüche nach 13
gungszustände, hysterische Reaktionen, Schizophre- Benzin, Teer, Schwefel, Rauch, Gas oder auch nach
nien oder schwere Depressionen eine Unteremp- Fäulnis, Aas und Verwesung sind typische olfak-
findlichkeit gegenüber Sinnesreizen hervorrufen. torische Halluzinationen. Die Gerüche, die zu-
meist ätzend, stinkend sind, kommen aus Ritzen,
Verlangsamung der Wahrnehmungsvorgänge Löchern, aber auch von den verschiedensten Ge-
Bei Erkrankungen, die mit Bewusstseinseintrübun- genständen und treten bei Epilepsie und Schizo-
gen einhergehen, sowie bei der Demenz kann eine phrenie auf.
Verlangsamung der Wahrnehmungsvorgänge beo- Gustatorische Halluzinationen: sie treten meist in
bachtet werden. Der Mensch benötigt zur Wahrneh- Zusammenhang mit olfaktorischen Halluzinatio-
mung eines Gegenstands mehr Zeit als ein Gesunder. nen auf und beinhalten größtenteils einen unan-
Zur Messung der Wahrnehmungszeit und damit genehmen Geschmack: bitter, salzig, sauer, gallig,
zur Feststellung einer Störung können beispielswei- schwefelig, seifenartig, fäkalisch.
se alltägliche Gegenstände an eine Wand projiziert Taktile Halluzinationen: die Tast- und Berüh-
werden und anschließend die Zeit festgehalten wer- rungshalluzinationen werden auch als körperli-
den, die benötigt wird, bis der Gegenstand von dem che Wahrnehmungsstörung bezeichnet. Meistens
Menschen richtig wahrgenommen wurde. handelt es sich hierbei um Halluzinationen in
Form von Berühren, Angreifen, Festhalten, Krab-
beln, Würgen, Brennen oder Stechen. Die Betrof-

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 229


KaelDesu
13 Bewusstsein

fenen können sich aber auch durch elektrische menten dieser Objekte können nicht erkannt und be-
oder magnetische Strahlung oder andere physika- griffen werden. Zu diesen Raumsinnstörungen zäh-
lische Vorgänge beeinflusst und verändert fühlen. len u. a. die Störungen der visuell-räumlichen Wahr-
Hauptsächliches Vorkommen: Delirien, Schizo- nehmung und der Wahrnehmung des eigenen Kör-
phrenie. pers. Sie treten zumeist bei einer Schädigung der do-
Vestibuläre Halluzinationen: Hierbei handelt es minanten Hirnhemisphäre auf.
sich um Trugwahrnehmungen des Gleichgewich- Störung der visuell-räumlichen Wahrnehmung:
tes, kinästhetische Halluzinationen. Empfindun- Die Störung ist charakterisiert durch eine Fehlein-
gen des Fallens, Fliegens, Bewegtwerdens und schätzung z. B. von Entfernungen und Größenver-
Schwankens sind typische Halluzinationen dieser hältnissen. Sowohl die Entfernung bzw. Beziehung
Art. Sie kommen vor allem bei LSD-, Haschisch/ verschiedener Gegenstände zueinander wie auch die
Marihuana-Missbrauch und gelegentlich auch bei Beziehung einzelner Elemente eines Gegenstandes
Schizophrenie vor. können hierbei nicht richtig erfasst werden. Dies
zeigt sich beispielsweise im zu frühen Setzen auf ei-
Illusion nen Stuhl oder Nichterkennen der Zeit bei einer Uhr
Definition: Bei der Illusion handelt es sich um mit Zeigern (der Winkel zwischen den Zeigern wird
eine Verkennung real vorhandener Sinnesein- nicht korrekt erkannt und analysiert).
drücke. Eine Beeinträchtigungen der visuell-räumlichen
Orientierung in Form einer konstruktiven Apraxie
Sie werden falsch gedeutet und zugeordnet. So kann oder Ankleideapraxie tritt vielfach bei Störungen im
beispielsweise ein Fleck an der Wand für ein Insekt, Bereich des Scheitellappens und des Scheitelhinter-
eine Lampe oder für den Mond gehalten werden. Ei- hauptlappens auf (s. a. S. 231 und Tab. 13.5).
ne Illusion entsteht durch das Eingreifen von Affek-
ten, Erwartungen und Einstellungen in den Wahr- Störung der Körperwahrnehmung:
nehmungsvorgang. Definition: Mit Tiefensensibilität wird die Fä-
higkeit zur Wahrnehmung der Stellung und Be-
Veränderte Sinnesempfindungen wegung des Körpers im Raum bezeichnet.
Definition: Werden Reize andersartig bzw. als
unangenehm empfunden (z. B. eine leichte Be- Durch spezifische Rezeptoren (Propriorezeptoren)
rührung als Schmerz), so wird dies als Dysästhe- werden die Muskelspannung, die Muskellänge, die
sie bezeichnet. Als Parästhesie wird eine subjektive Gelenkstellung und -bewegung registriert und wei-
13 Missempfindung wie z. B. Kribbeln, Ameisenlaufen tergeleitet. Dies erklärt, warum die Tiefensensibilität
oder Brennen bezeichnet, wobei kein von außen nach- auch Bewegungs-, Kraft-, Stellungs- und Lagesinn
vollziehbarer Reiz vorhanden ist. genannt wird. Bei einer Störung der Tiefensensibi-
lität können diese Informationen nicht mehr von
Raumsinnstörungen dem Betroffenen wahrgenommen werden, sodass
Definition: Als Raumsinn wird die Fähigkeit zu dieser oftmals nicht weiß, wo und in welcher Stel-
einer räumlichen Lokalisation von Sinnesemp- lung sich seine verschiedenen Körperteile befinden.
findungen bzw. zu einer bewussten Wahrneh- Erkennbar wird dies z. B. bei Hemiplegikern an einer
mung der Lage des Körpers im Raum oder einzelner Verschiebung der Längsachse zur betroffenen Seite.
Elemente zueinander bezeichnet.

!
Merke: Quantitative Wahrnehmungsstö-
Er beschreibt den Effekt des Zusammenwirkens rungen sind gekennzeichnet durch eine Ver-
mehrerer Sinne. änderung der Wahrnehmungsintensität und
Bei den Raumsinnstörungen handelt es sich um Wahrnehmungsgeschwindigkeit, qualitative Wahr-
eine räumliche Orientierungsstörung. Eine Erfassung nehmungsstörungen durch Veränderungen in der Art
der dreidimensionalen Welt ist hierbei nicht mög- der Wahrnehmung.
lich, d. h., die räumliche Ausdehnung, die enthalte-
nen Gegenstände und die räumlichen Beziehungen
zwischen diesen Gegenständen oder einzelnen Ele-

230 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
13.2 Abweichungen und Veränderungen im Bewusstsein und deren mögliche Ursachen

Zusammenfassung: Weitere Bewegungsstörungen sind in Kap. 24


Abweichungen und Veränderungen im ausführlich beschrieben.
Bewusstsein
Zu den quantitativen Wahrnehmungsstörungen Ideomotorische Apraxie
zählen Über- und Unterempfindlichkeit gegenüber Bei der ideomotorischen Apraxie können Bewegun-
Sinnesreizen und Verlangsamung der Wahrneh- gen, die teilweise spontan ausgeführt werden, nicht
mungsvorgänge. willentlich abgerufen und auf Aufforderung und
Halluzinationen können sich akustisch, optisch, ol- Demonstration nachgeahmt werden. So sind betrof-
faktorisch, gustatorisch, taktil oder vestibular äu- fene Personen in der Lage, sich evtl. spontan die
ßern. Haare aus dem Gesicht zu streichen, doch gelingt es
Illusion ist die falsche Deutung und Zuordnung vor- ihnen nicht, dies auf Aufforderung oder nach De-
handener Sinnesreize. monstration zu tun. Typischerweise kommt es zu pa-
Veränderte Sinnesempfindungen werden in Dysäs- rapraktischen Bewegungen wie unnötigen Bewe-
thesien und Parästhesien unterteilt. gungen, Bewegungswiederholungen und Auslassun-
Bei den Raumsinnstörungen gibt es Störungen der gen.
visuell-räumlichen Wahrnehmung und der Wahr-
nehmung des eigenen Körpers. Ideatorische Apraxie
Kennzeichen der ideatorischen Apraxie ist, dass
13.2.3 Störungen der Bewegung und des komplexe und differenzierte Handlungen aufgrund
Handelns (Apraxien) einer Störung des Bewegungsentwurfs (Ideation)
Definition: Eine Störung der Fähigkeit zu koor- nicht richtig aneinandergereiht werden können.
dinierten Handlungen oder Bewegungen und die Trotz richtiger Einzelhandlungen kommt es zu un-
Unfähigkeit, Gegenstände bei erhaltener Bewe- vollständigen Handlungsabläufen.
gungsfähigkeit und Wahrnehmung sinnvoll zu ver- Neben einer Störung in der logischen Reihenfolge
wenden, wird als Apraxie bezeichnet. der Bewegungen treten Fehlhandlungen und der
Fehlgebrauch von Gegenständen auf. Beispielsweise
Dies bedeutet, dass sowohl die Auswahl als auch die versucht der Betroffene zuerst ein Brötchen mit Mar-
sinnvolle Aneinanderreihung von Einzelbewegun- melade zu bestreichen, um es anschließend mit ei-
gen gestört ist. Ursache ist eine Erkrankung oder nem Kaffeelöffel durchzuschneiden oder reibt eine
Schädigung des Gehirns. Zigarette an einer Streichholzschachtel.
Unterschieden werden die ideomotorische und
die ideatorische Apraxie sowie die konstruktive Konstruktive Apraxie 13
Apraxie und die Ankleideapraxie, die vor allem bei Bei der konstruktiven Apraxie misslingen räumliche
Störungen der visuell-räumlichen Wahrnehmung Strukturierungen wie sie beispielsweise beim Zeich-
auftreten (s. a. S. 230). Einen Überblick über die ver- nen (Abb. 13.1), Schreiben oder handwerklichen Ar-
schiedenen Formen der Apraxien zeigt die Tab. 13.5. beiten notwendig sind, ohne dass eine Beeinträchti-
gung elementarer Bewegungsabläufe vorliegt. Zwei-
Tab. 13.5 Formen der Apraxie oder dreidimensionale Gegenstände können nicht
zerlegt und/oder wieder zusammengesetzt werden.
Form der Apraxie Störung
Im Alltag kann sich diese Apraxieform bei Tätigkei-
쐌 ideomotorische Apraxie 쐌 Unfähigkeit, Bewegungen willent- ten wie dem Decken eines Tischs oder dem Schnüren
lich abzurufen eines Pakets zeigen.
쐌 ideatorische Apraxie 쐌 Unfähigkeit, einzelne Handlungen
logisch aneinanderzureihen Ankleideapraxie
쐌 konstruktive Apraxie 쐌 Unfähigkeit zu räumlichen Struk-
Eine Störung der Fähigkeit, räumliche Beziehungen
turierungen zwischen einem Gegenstand und dem Körper herzu-
stellen, liegt bei der sog. Ankleideapraxie vor. So ver-
쐌 Ankleideapraxie 쐌 Unfähigkeit, räumliche Beziehun-
wechseln die Betroffenen z. B. verschiedene Klei-
gen zwischen Objekt und Körper
herzustellen dungsstücke, die Vorder- und die Rückseite und
Hals- und Armöffnungen der Kleidungsstücke.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 231


KaelDesu
13 Bewusstsein

Person und somit in der Realität zurechtzufinden. Die


Fähigkeit zur Orientierung wird insbesondere durch
Aufmerksamkeit, Wahrnehmung und Gedächtnis be-
einflusst.

Beeinträchtigungen innerhalb dieser 3 verschiede-


nen Hirnleistungen führen entsprechend auch zu ei-
ner Beeinträchtigung der Orientierungsfähigkeit.
Unterschieden werden eine zeitliche, örtliche, situa-
tive und persönliche Desorientiertheit. Zumeist be-
ginnt die Störung der Orientierung in Bezug auf die
Zeit, dann bezüglich der Situation und den Ort, zum
Schluss bezüglich der eigenen Person.
Zur Erkennung einer möglichen Orientierungs-
störung können Fragen nach dem Namen, dem Alter
und der Adresse des betroffenen Menschen, nach der
Uhrzeit, dem Datum, der Dauer des Aufenthalts in
dem momentanen Raum und dem Zweck des Auf-
enthalts gestellt werden (Tab. 13.6).
Die zeitliche Desorientierung ist gekennzeichnet
durch falsche Angaben bezüglich der aktuellen Ta-
geszeit, des Datums, des Wochentags und/oder der
Jahreszahl.
Bei der situativen Desorientiertheit ist der betrof-
fene Mensch nicht in der Lage, die Situation zu erfas-
sen, in der er sich gerade befindet. So kann es gesche-
hen, dass jemand nicht weiß, dass er sich aufgrund
Abb. 13.1 Zeichnung eines Fahrrads von einem Patienten mit
konstruktiver Apraxie einer Oberschenkelhalsfraktur in einem Kranken-
haus befindet.
Liegt eine örtliche Desorientierung vor, kann der
Dies zeigt sich u. a. darin, dass die Kleidungsstücke Betroffene keine korrekten Angaben zu seinem mo-
13 in einer falschen Reihenfolge (zuerst das Oberhemd, mentanen Aufenthaltsort machen, er glaubt, sich an
dann das Unterhemd) angezogen werden. Daneben einem anderen Ort, z. B. bei sich zu Hause, aufzuhal-
werden die Kleidungsstücke auch dem falschen Kör- ten.
perteil zugeordnet. Der Betroffene versucht dann z. B.
einen Slip über den Kopf oder einen Pullover über die
Beine zu ziehen. Bei Menschen, die eine Schädigung Tab. 13.6 Überblick über die Orientierungsstörungen
der rechten Hirnhemisphäre erlitten haben, ist oft- Art der Störung Fragen zur Erkennung (z. B.)
mals zu beobachten, dass sie die linke Körperhälfte
쐌 zeitliche 쐌 Welcher Tag, welches Datum ist heute?
nicht anziehen oder aber beispielsweise versuchen,
Desorientierung 쐌 Wie spät es ist jetzt?
beide Beine in ein Hosenbein zu stecken.
쐌 situative 쐌 Warum sind Sie hier? Was ist der Grund

!
Desorientierung für Ihren Aufenthalt hier?
Merke: Charakteristisch für Apraxien sind
Störungen in der Auswahl und Aneinander- 쐌 örtliche 쐌 Wo befinden Sie sich zur Zeit?
reihung von Bewegungen. Desorientierung 쐌 Wo sind Sie hier? Was ist dies für ein
Ort? (Adresse)

13.2.4 Störungen der Orientierung 쐌 persönliche 쐌 Wie heißen Sie?


Desorientierung 쐌 Wo sind Sie geboren?
Definition: Mit Orientierung wird die Fähig-
쐌 Haben Sie Kinder?
keit eines Menschen bezeichnet, sich bezüglich 쐌 Welchen Beruf üben Sie aus?
der Zeit, des Orts, der Situation und der eigenen

232 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
13.2 Abweichungen und Veränderungen im Bewusstsein und deren mögliche Ursachen

Bei der persönlichen Desorientierung, dem Aufmerksamkeitsstörungen,


schwersten Grad der Orientierungsstörungen, kann Störung des Urteilsvermögens,
der Mensch zum Teil keinerlei Angaben mehr zu sei- Auftreten von Halluzinationen (insbesondere vi-
ner Person machen. Teilweise kann nur noch der Vor- suellen und/oder akustischen) und Wahnvorstel-
name angegeben werden, Gegebenheiten aus der lungen,
Biografie sind vergessen. Orientierungsstörungen Angst und Misstrauen,
treten beispielsweise bei Arteriosklerose, Demenz, Nichterkennen vertrauter Personen,
Bewusstseinsstörungen, Gedächtnisstörungen und Störungen in der Durchführung bekannter Hand-
Psychosen sowie im Rahmen von Verwirrtheitszu- lungsabläufe,
ständen auf. Störungen im Schlaf-Wach-Rhythmus.

Verwirrtheitszustände Die Ursachen akuter Verwirrtheitszustände sind


Bei den Verwirrtheitszuständen liegt neben einer vielfältig und reichen von einer nachlassenden Seh-
Störung der Orientierung eine Störung der Besonnen- und Hörfähigkeit bis hin zu Hirnfunktionsstörungen
heit vor. Dies bedeutet eine Einschränkung der Wahr- aufgrund einer Minderdurchblutung. Tab. 13.7 zeigt
nehmungsfähigkeit und der Fähigkeit, Gedanken und Beispiele unterschiedlicher Faktoren, die einen aku-
Gefühle eindeutig zu erkennen, zu erleben und sie ten Verwirrtheitszustand bedingen können.
richtig mit der Realität zu verbinden sowie eine ent-
sprechende Handlung daraus abzuleiten. Periodische Verwirrtheit
Treten Verwirrtheitszustände immer wieder zu be-

!
Merke: Bei Verwirrtheit handelt es sich um stimmten Tages- oder Nachtzeiten oder aber bei be-
eine Pflegediagnose und nicht um eine medi- stimmten Anforderungen und Ereignissen auf, so
zinische Diagnose, da Verwirrtheit keine ei- wird diese Verwirrtheit als periodische Verwirrtheit
genständige Erkrankung, sondern ein Symptom einer bezeichnet. Ursachen können eine Hypoglykämie,
Erkrankung darstellt. Hypotonie, eine Über- oder Unterforderung sowie
Langeweile sein.
Sie ist eine Reaktion auf physische, psychische, soziale
und/oder umweltbedingte Faktoren. Kennzeichen ei- Chronische Verwirrtheit
nes Verwirrtheitszustandes sind neben Orientie- Als chronische Verwirrtheit wird ein langsamer, sich
rungsstörungen auch Aufmerksamkeits- und Denk- über Monate und Jahre hinweg entwickelnder Ver-
störungen (s. a. S. 236 – 240). Sie sind häufig begleitet wirrtheitszustand bezeichnet. Zu den chronischen
von einer körperlichen Unruhe. Die Unruhe zeigt sich Verwirrtheitszuständen, die irreversibel sind, zählt 13
beispielsweise im Versuch aufzustehen und wegzu- vor allem die Demenz.
laufen, im Nesteln an der Bettdecke, in Form eines ste-
Definition: Um von einer Demenz zu sprechen,
reotypen Klopfens, dem Ziehen an Zu- und Ablei-
müssen der Verlust intellektueller Fähigkeiten
tungssystemenu.v.m.SieistoftmalsAusdruckvonUn-
zur Bewältigung des Alltags und eine Ge-
sicherheit und Angst. Unterschieden werden akute,
dächtnisstörung sowie mindestens eine der folgenden
periodische und chronische Verwirrtheitszustände.
Beeinträchtigungen vorliegen:

Akute Verwirrtheit
Denkstörungen (Störung des abstrakten Denkens),
Bei einem plötzlichen Auftreten einer Verwirrtheit
Störungen des Urteilsvermögens,
wird von einem akuten Verwirrtheitszustand,
Persönlichkeitsveränderungen,
Durchgangssyndrom oder Delir gesprochen. Die aku-
kortikale Herdsymptome (Aphasie, Apraxie, Agno-
te Verwirrtheit ist reversibel und dauert von Stun-
sie).
den, über Tage bis zu einigen Wochen. Die folgenden
Symptome treten u. a. bei akuten Verwirrtheitszu- Weitere typische Symptome einer Demenz sind Ori-
ständen in unterschiedlicher Ausprägung auf: entierungs- und Aufmerksamkeitsstörungen. Bei
Orientierungsstörungen, Verdacht einer demenziellen Erkrankung können
Gedächtnisstörungen (insbesondere des Kurz- mithilfe psychometrischer Tests wie etwa des Mini-
zeitgedächtnisses), Mental-Status, kognitive Störungen erfasst und diffe-
renziert werden. Siehe Übersicht S. 234.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 233


KaelDesu
13 Bewusstsein

Tab. 13.7 Ursachen von Verwirrtheitszuständen

physische Faktoren psychische Faktoren soziale Faktoren umweltbedingte Faktoren

쐌 Hirnfunktionsstörung 쐌 Über- und Unterforderungen 쐌 Kommunikationsstörung 쐌 Störung/Änderung des Tag-


쐌 Hirnfunktionsschädigung 쐌 Selbstwertkrisen 쐌 Bezugspersonenverlust Nacht-Rhythmus
쐌 Sauerstoffmangel 쐌 Identitätsverlust 쐌 Isolation 쐌 Ortswechsel, Verlegung
(z. B. bei Pneumonie, 쐌 unbewältigte seelische 쐌 Reizarmut
Herzinfarkt, hohem Blut- Probleme 쐌 fehlende Orientierungshilfen
verlust) 쐌 Partnerverlust
쐌 Exsikkose
쐌 Hypoglykämie
쐌 Leber-, Nieren- und
Schilddrüsenfunktions-
störungen
쐌 Hypotonie
쐌 hohes Fieber
쐌 Schlafstörungen
쐌 Arzneimittelnebenwirkung
(insbesondere von Beruhi-
gungs-, Schlaf- und Schmerz-
mitteln)
쐌 Medikamenten- und Drogen-
missbrauch
쐌 Störungen der Seh- und Hör-
fähigkeit

Mini-Mental-State (aus Borker, S.: Essenreichen in der Pflege: eine empirische Studie, Ullstein Mosby, Berlin
1996)

max. Punkte Parameter max. Punkte Parameter

1. Orientierung 5. Sprache
5 Welches Jahr, Jahreszeit, Monat, Benennen:
Wochentag, Datum von heute? 1 Was ist das? (Bleistift)
13 5 Wo sind wir? 1 Was ist das? (Uhr)
(Land, Bundesland, Ort, Praxis/Klinik, 1 Nachsprechen: „Wie Du mir, so ich Dir“.
Arztname) 6. Ausführen eines dreiteiligen Befehls
2. Aufnahmefähigkeit 3 „Nehmen Sie das Blatt in die rechte
3 Nachsprechen (Drei Worte: Zitrone/ Hand, falten Sie es in der Mitte und
Schlüssel/Ball) legen Sie es auf den Boden.“
Ein Wort pro Sekunde (Jeder Teil ein Punkt).
3. Aufmerksamkeit und Rechnen 7. Lesen und Ausführen
5 von 100 jeweils 7 subtrahieren (auf separatem Blatt vorbereiten)
(93/86/79/72/65) 1 „Schließen Sie die Augen.“ (nur für
Jede richtige Antwort: Ein Punkt; nach beides)
fünf Antworten aufhören
4. Gedächtnis
3 Frage nach den oben angesprochenen
Worten
( / / / )
pro Wort ein Punkt

Fortsetzung 왘

234 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
13.2 Abweichungen und Veränderungen im Bewusstsein und deren mögliche Ursachen

Mini-Mental-State (Fortsetzung)

max. Punkte Parameter max. Punkte Parameter

8. Schreiben 9. Kopieren
1 Einen x-beliebigen Satz schreiben lassen. (konstruktive Praxis)
(nicht diktieren/muss spontan geschrie- 1 Sich überschneidende fünfeckige Figur
ben werden) nachzeichnen lassen
(Extrablatt vorlegen)

Auswertung: 25 – 30 Punkte: keine Demenz


22 – 24 Punkte: mäßige Demenz
0 – 21 Punkte: erhebliche Demenz

Die Demenz tritt bei Hirnschädigungen auf, wobei 13.2.5 Störungen des Erkennens (Agnosie)
primäre und sekundäre Demenzen unterschieden Definition: Als Agnosie wird eine Störung des
werden können. Erkennens trotz intakter Wahrnehmung be-
Ursachen der primären Demenz sind beispiels- zeichnet, d. h., sie beruht nicht auf einer Ein-
weise degenerative zerebrale Erkrankungen (z. B. se- schränkung z. B. des Sehens oder einer geistigen Ein-
nile Demenz vom Typ Alzheimer, sog. SDAT) und vas- schränkung.
kuläre Erkrankungen (sog. DVT).
Sekundäre Demenzen treten als Folge verschie- Es werden verschiedene Formen der Agnosie unter-
dener Erkrankungen wie z. B. entzündlichen und schieden, je nachdem, welcher Sinnesbereich betrof-
traumatischen Hirnerkrankungen auf. Tab. 13.8 zeigt fen ist (Tab. 13.9).
psychopathologische Veränderungen im Rahmen ei-
Auditive Agnosie
ner senilen Demenz.
Die auditive Agnosie wird auch als sog. Seelentaub-
heit, Worttaubheit oder Hörstummheit bezeichnet.
Hiermit wird die Unfähigkeit beschrieben, Gehör-
Tab. 13.8 Psychopathologische Veränderungen im Rah-
men einer senilen Demenz wahrnehmungen mit dem akustischen Erinnerungs-
gut zu identifizieren. Dies bedeutet, dass Geräusche
Parameter Veränderungen
oder Töne gehört werden, jedoch in ihrem Zusam-
13
Motorische Unfähigkeit, einfache Sätze zu schreiben und menhang (z. B. als Melodie, Tierstimme) nicht er-
Fähigkeiten einfache geometrische Formen zu kopieren. Evtl.
kannt werden. Die akustische Agnosie tritt vor allem
Tremor.
bei Schädigungen im Bereich der hinteren Schläfen-
Körperpflege Vernachlässigtes Äußeres, mangelnde Hygiene. lappen auf.
Kleider werden falsch angezogen.

Sprache Sprechen und Verstehen der Sprache sind oft Tab. 13.9 Formen der Agnosie
beeinträchtigt. Wortfindungsstörungen. Wort-
wiederholungen und Echolalie. Form der Agnosie Störung

Bewusstsein Evtl. wechselhaft. Eingeschränkte Wahrnehmung 쐌 auditive Agnosie 씮 Unfähigkeit, akustische Wahrnehmun-
der Umgebung. gen mit akustischen Erinnerungen zu
verbinden
Orientierung Orientierung in Zeit, Ort, Person (eigene und
andere) beeinträchtigt oder ganz aufgehoben. 쐌 optische Agnosie 씮 Unfähigkeit, optische Wahrnehmungen
mit optischen Erinnerungen zu ver-
Aufmerk- Schon früh gestört. Äußere Reize werden nur
binden
samkeit noch beschränkt registriert.
쐌 taktile Agnosie 씮 Unfähigkeit der taktilen Formerkennung
Gedächtnis Das Frischgedächtnis ist am meisten beeinträch-
tigt, das Altgedächtnis oft noch lange erhalten. 쐌 Autotopagnosie 씮 Unfähigkeit, Hautreize am Körper zu
lokalisieren
Denken Die Fähigkeit, abstrakt zu denken, ist erschwert
(z. B. Unfähigkeit, den Sinn eines Sprichwortes zu 쐌 Anosognosie 씮 Unfähigkeit, eigene Erkrankungen,
erklären) Funktionsausfälle zu erkennen

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 235


KaelDesu
13 Bewusstsein

Optische Agnosie Hierbei schätzt der Betroffene seine eigene Situation


Definition: Die Unfähigkeit, Sichtwahrneh- und seine Fähigkeiten trotz wiederholter Misserfolge
mungen mit dem optischen Erinnerungsgut zu falsch ein. Für diese Misserfolge findet er immer wie-
identifizieren, wird als optische oder visuelle der Erklärungen. Die Schweregrade der Anosognosie
Agnosie oder als Seelenblindheit bezeichnet. sind in der folgenden Übersicht aufgeführt.

Trotz normaler Sehleistung werden, bei Schädigun-


gen im Bereich des Okzipitallappens, Zusammen- Schweregrade der Anosognosie
hänge einzelner Details nicht erkannt. (nach Berlit 1991)
Eine Unterform der optischen Agnosie ist die Ob- Grad 1: Bemerkt Ausfall nicht, fühlt sich gesund.
jektagnosie, eine Störung des visuellen Erkennens Grad 2: Bemerkt den Ausfall nicht, aber die resultieren-
den Folgen (z. B. Anstoßen).
von Gegenständen. Hierbei werden die Objekte mit
Grad 3: Bemerkt veränderte Umgebung.
ihren Merkmalen normal gesehen, doch können die-
Grad 4: Bemerkt Funktionsstörung, ohne sie zuordnen
se Merkmale nicht zu einem bekannten Objekt zu-
zu können.
sammengeführt bzw. mit einem Objekt aus dem Er-
Grad 5: Bemerkt Funktionsstörung, ordnet sie falsch zu
innerungsgut verbunden werden. Die Funktion des
(„Erklärungen“).
Objekts ist dem Betroffenen nicht bekannt. Zudem
Grad 6: Volle Einsicht in die Funktionsstörung.
werden einander ähnliche Objekte miteinander ver-
wechselt und falsch benannt (z. B. Zahnbürste und
Kamm). Vor allem im Rahmen einer organischen Hirnschädi-
Ebenfalls zu den Objektagnosien zählt die Proso- gung, z. B. als Nichtwahrnehmen einer Halbseiten-
pagnosie, die Störung der Gesichtswahrnehmung. lähmung nach Apoplexia cerebri, kommt diese
Hierbei können vertraute Gesichter nicht mehr er- Agnosieform vor.
kannt und unterschieden werden. Über andere
Merkmale, z. B. Stimme, Gestik, Kleidung können Zusammenfassung:
Personen jedoch identifiziert werden. Bewusstseinsstörungen
Unter den Apraxien, den Störungen der Bewegung
Taktile Agnosie und des Handelns, gibt es ideomotorische, ideatori-
Definition: Die Unfähigkeit zu einem tastenden sche, konstruktive und die Ankleideapraxie.
Formerkennen bei intakter Sensibilität wird als Störungen der Orientierung werden nach Zeit, Ort,
taktile Agnosie oder Astereognosie bezeichnet. Situation und persönlichen Desorientierungen ein-
13 geteilt.
Sie gilt als Herdsymptom der Zentral- bzw. unteren Es werden akute, periodische und chronische Ver-
Scheitelhirnregion und kann u. a. dazu führen, dass wirrtheitszustände unterschieden.
extreme Hitze oder Kälte nicht richtig wahrgenom- Zu den Störungen des Erkennens rechnet man die
men werden können; es kann so zu Verbrennungen/ auditive, optische und taktile Agnosie, Autotop-
Verbrühungen oder Erfrierungen kommen. agnosie und Anosognosie.

Autotopagnosie
Eine richtige Lokalisation von Hautreizen am Körper 13.2.6 Störungen des Denkens
ist, trotz erhaltener Oberflächensensibilität, bei der Definition: Mit Denken wird eine geistige Tä-
Autotopagnosie nicht möglich. Diese Form der Agno- tigkeit benannt, die darauf ausgerichtet ist, Be-
sie kann vor allem bei Läsionen des Parietallappens deutungen zu erkennen und Beziehungen herzu-
beobachtet werden. stellen. Hierfür sind Fähigkeiten wie Wahrnehmen, Er-
innern, Entscheiden, Urteilen sowie das Ordnen und
Anosognosie Verbinden von Informationen erforderlich.
Definition: Die Unfähigkeit, eine eigene Er-
krankung bzw. Funktionsausfälle zu erkennen, Unterschieden werden formale und inhaltliche
wird als Anosognosie bezeichnet. Denkstörungen. Beide Formen treten häufig bei Schi-

236 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
13.2 Abweichungen und Veränderungen im Bewusstsein und deren mögliche Ursachen

Tab. 13.10 Störungen des Denkens eine Denkhemmung beispielsweise bei allgemeiner
formale Denkstörungen inhaltliche Denkstörungen
Antriebsarmut und Depressionen.

쐌 Denkhemmung 쐌 Wahn Denkverlangsamung


씮 Einschränkung des 씮 inhaltlich falsche Über-
Im Gegensatz zur Denkhemmung, bei der der gesam-
gesamten Denkablaufs zeugungen (subjektive Ge-
쐌 Denkverlangsamung wissheit) ohne Realitätsbe- te Denkablauf eingeschränkt ist, bezieht sich die
씮 herabgesetzte Ge- zug und unkorrigierbar Denkverlangsamung nur auf die Geschwindigkeit
schwindigkeit des 쐌 Zwangsideen
des Denkablaufes. Das Denken ist hierbei schleppend
Denkablaufs 씮 Aufdrängen von Gedanken,
쐌 Perseveration Ideen und Handlungen, die
und insgesamt sehr langsam. Die Sprache, aber auch
씮 eingeengtes Denken, willentlich nicht beeinfluss- die Reaktionen der Betroffenen werden als zähflüs-
Wiederholungen bar sind sig, haftend und stumpf beschrieben. Sie tritt unter
쐌 Gedankenabreißen 쐌 überwertige Ideen
Alkoholeinfluss, im hohen Lebensalter, bei Bewusst-
씮 plötzliche Unter- 씮 stark gefühlsbetonte Über-
brechung des Denk- zeugung, die das gesamte seinseintrübung, Depressionen und Schizophrenie
ablaufs Denken beherrscht auf.
쐌 Zerfahrenheit
씮 Unfähigkeit, Gedanken
Perseveration
zu ordnen
쐌 Ideenflucht Definition: Perseveration bedeutet beharrlich
씮 stark beschleunigter bei etwas bleiben. Die Perseveration beschreibt
Denkablauf ohne ein eingeengtes Denken, das sog. Haftenbleiben
erkennbares Ziel
bzw. beharrliche Wiederholen von Gedanken oder
Wörtern auch in unpassendem Zusammenhang.

zophrenie, aber auch im Rahmen anderer Erkran- Die Gedanken kreisen immer nur um ein und dassel-
kungen wie beispielsweise organischen Psychosen, be Thema, ohne Bearbeitungs- und Erledigungsmög-
Bewusstseinsstörungen, Intoxikationen und Depres- lichkeit. Zur Perseveration kann es im Einschlafstadi-
sionen auf. Einen Überblick über verschiedene Denk- um, bei Zuständen der Schlaflosigkeit, bei großen
störungen zeigt Tab. 13.10. Sorgen, aber auch bei Depressionen und bei organi-
schen Psychosyndromen kommen.
Formale Denkstörungen
Mit formalen Denkstörungen werden Veränderun- Gedankenabreißen
gen im Gedankenablauf (Geschwindigkeit, Steuer- Der Denkablauf kann plötzlich abreißen oder unter-
barkeit, Abstraktionsfähigkeit, Logik, Umfang) be- brochen werden, ohne dass dies vom Betroffenen er- 13
schrieben. Durch das Lösen einfacher mathemati- klärt werden kann. Nach dem Abreißen des Gedan-
scher Aufgaben, das Erklärenlassen von Redensarten kengangs wird häufig das Thema gewechselt. Diese
und das Erläuternlassen von Unterschieden (z. B. Ku- Form der formalen Denkstörung wird entsprechend
gelschreiber – Füllfederhalter) können Denkstörun- als Gedankenabreißen bezeichnet. Hierbei kann es
gen erfasst werden. sich um eine Konzentrationsstörung (s. a. S. 240),
aber auch um eine Schizophrenie handeln, wobei die
Denkhemmung Menschen den Eindruck haben, dass ihnen die Ge-
Bei der Denkhemmung wird der Denkablauf (Tempo, danken von außen entrissen werden. Hinsichtlich
Inhalt, Zielsetzung) subjektiv als eingeschränkt emp- der Sprache fällt bei dieser Bewusstseinsstörung ein
funden. Die Betroffenen klagen z. B. über fehlende plötzliches Stocken im Sprechen auf, das häufig mit
Einfälle oder „ein Brett vor dem Kopf“, das Denken ist einem anschließenden Themenwechsel verbunden
mühsam und schleppend. Das Denkziel kann nur ist.
schwer oder überhaupt nicht erreicht werden. Ent-
sprechend dem Denken ist auch die Sprache verän- Zerfahrenheit
dert und kann einen wertvollen Hinweis auf eine Bei der Zerfahrenheit (inkohärentes Denken) han-
Denkhemmung liefern. Sie ist in diesem Zusammen- delt es sich um eine Störung der Logik (Ordnung) der
hang zumeist langsam, stockend und weist unmoti- Gedanken. Das Denken ist sprunghaft, wobei die ein-
vierte Sprechpausen auf. Beobachtet werden kann zelnen Gedanken keinerlei Verbindungen zueinan-

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 237


KaelDesu
13 Bewusstsein

der haben. Es treten scheinbar zufällig zusammenge- Menschen vorkommen können. Der Wahninhalt, das
würfelte Gedankenbruchstücke auf, zwischen denen sog. Wahnthema, auch Wahnidee oder Wahnvorstel-
kein logischer Zusammenhang hergestellt werden lung genannt, wird durch kulturelle und soziale Fak-
kann. Die Denkgeschwindigkeit kann ebenfalls ver- toren mitbeeinflusst. Häufige Wahninhalte sind:
ändert sein, wobei es sich dabei sowohl um eine Ver- Beziehungswahn: Der Betroffene ist der Überzeu-
langsamung als auch um eine Beschleunigung han- gung, dass alles, was sich in seiner Umgebung er-
deln kann. Die Zerfahrenheit äußert sich in einem re- eignet, nur seinetwegen geschieht und ihm hier-
gelrechten Wortsalat oder in Wortneubildungen mit etwas bedeutet werden soll. Aber auch das
(Neologismen). Beobachtet werden kann diese Stö- Nicht-Geschehene und das Nicht-Gesagte wird
rung u. a. bei Schizophrenen. auf sich bezogen.
Beeinträchtigungswahn: Bei dem Beeinträchti-
Ideenflucht gungswahn werden von dem Betroffenen nicht
Bei der Ideenflucht ist der Gedankenablauf sehr stark nur alle Geschehnisse auf sich bezogen, sondern
beschleunigt und enthemmt. Ein Gedanke jagt den gleichzeitig als gegen sich gerichtet gedeutet, mit
nächsten, wobei das Ziel des Denkens nicht mehr er- dem Ziel, ihn zu schädigen oder gar zu vernichten.
kennbar ist. Je nach Ausprägungsgrad sind die Be- Verfolgungswahn: Harmlose Ereignisse werden
troffenen weitschweifig oder aber sie kommen vom als Zeichen der Bedrohung angesehen, als Zeichen
„Hundertsten ins Tausendste“. Nach außen zeigt sich eines gegen den Erkrankten geschmiedeten Kom-
die Ideenflucht in Form eines gesteigerten Rede- plotts oder als Zeichen für eine geplante Vernich-
drangs und -flusses sowie in ständigem Aufgreifen tungsaktion. Alle Menschen werden hierbei zu
von Anregungen wie z. B. Fragen, Aussagen und Si- Verfolgern des Betroffenen.
tuationen, die zu einem weiteren Gedanken- und Re- Größenwahn: Beim Größenwahn werden die ei-
defluss führen. gene Person, die Fähigkeiten und Fertigkeiten
Im Gegensatz zu der Zerfahrenheit, dem inkohä- überschätzt, wobei sich einige für Gott, den Erret-
renten Denken, kann bei der Ideenflucht dem Gedan- ter, den Auserwählten halten.
ken des Betroffenen noch gefolgt werden und der Kleinheitswahn: Er ist das Gegenstück zum Grö-
Inhalt ist noch erkennbar. Sie kann beispielsweise ßenwahn und wird auch als Nichtigkeitswahn be-
beim manischen Syndrom sowie dem Missbrauch zeichnet, da der Betroffene so weit von seiner Idee
von Haschisch und LSD, vorkommen. überzeugt sein kann, dass er sich für nicht wirk-
lich existent hält.
Inhaltliche Denkstörungen
13 Inhaltliche Denkstörungen befassen sich mit den Ge- Durch die Wahnarbeit, d. h. die Ausgestaltung der
dankeninhalten. einzelnen Wahnerlebnisse, kann es zum Ausbau ei-
Es handelt sich um Störungen des Denkens im nes logischen Wahnsystems kommen. Zu einem sol-
Sinne eines gestörten Urteils hinsichtlich der Reali- chen Wahnsystem gehören Wahnwahrnehmungen
tät. Zu den inhaltlichen Denkstörungen zählen z. B. (wirklichen Wahrnehmungen werden abnorme Be-
Wahn, Zwangsideen und überwertige Ideen. deutungen zugeordnet), Wahnerinnerungen (die Er-
innerung an ein Erlebnis wird nachträglich wahnhaft
Wahn umgedeutet) und wahnhafte Personenverkennung.
Definition: Unter einem Wahn werden inhalt- Ein Wahn tritt vor allem bei psychischen Erkrankun-
lich falsche Überzeugungen verstanden, die kei- gen wie beispielsweise Schizophrenien, psychoti-
nerlei Bezug zur Realität besitzen und die nicht schen Depressionen oder organischen Psychosen auf.
aus anderen Erlebnissen abgeleitet werden können.
Zwangsideen
Es besteht eine subjektive Gewissheit und eine Un- Beim Zwang drängen sich dem betroffenen Men-
korrigierbarkeit des Inhalts trotz vorhandener Intel- schen Gedanken, Ideen und Handlungen immer wie-
ligenz und objektiv nachprüfbarer Realität. Die bei- der auf. Im Gegensatz zum Wahn wird beim Zwang
den Kriterien subjektive Gewissheit und Unkorri- die Unsinnigkeit erkannt, doch kann sich der zwang-
gierbarkeit unterscheiden den krankhaften Wahn hafte Mensch nicht dagegen wehren, eine willentli-
von sog. Wahnphänomenen, die auch bei gesunden che Beeinflussung ist nicht möglich. Bei den Zwangs-

238 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
13.2 Abweichungen und Veränderungen im Bewusstsein und deren mögliche Ursachen

gedanken oder Zwangsideen, die die inhaltliche Tab. 13.11 Störungen des Gedächtnisses
Denkstörung darstellen, sieht sich der Mensch ge- quantitative Denkstörungen qualitative Denkstörungen
zwungen, immer wieder an etwas zu denken, was er
bewusst ablehnt. 쐌 Hypermnesie 쐌 Erinnerungsverfälschung
씮 z. T. vergessen geglaubte 씮 Umgestaltung von
Erinnerungen erscheinen Gedächtnisinhalten
Überwertige Idee besonders lebhaft 쐌 Pseudologica phantastica
Die überwertige Idee ist geprägt durch eine starke 쐌 Amnesie 씮 krankhaftes Schwindeln
씮 zeitlich begrenzte 쐌 Konfabulation
gefühlsbetonte Überzeugung, an der hartnäckig fest-
Erinnerungslücke 씮 Füllen von Erinnerungs-
gehalten wird. Die Idee beherrscht das gesamte Den- lücken durch Erzählungen
– retrograd
ken und betrifft zumeist politische, religiöse oder – anterograd
wissenschaftliche Einstellungen. – psychogen
쐌 Hypomnesie
씮 Schwächung des

!
Merke: Bei formalen Denkstörungen treten Erinnerungsvermögens
Veränderungen im Gedankenablauf, bei in-
haltlichen Denkstörungen treten Verände-
rungen der Gedankeninhalte auf.
Hypermnesie
13.2.7 Störungen des Gedächtnisses Definition: Unter der Hypermnesie wird eine
Das Gedächtnis besteht aus einer Einheit von Störung des Gedächtnisses verstanden, bei der
Merkfähigkeit und Erinnerung. Die Merkfähigkeit bestimmte, z. T. bereits als vergessen geglaubte
beinhaltet die Fähigkeit, z. B. Erlebnisse und Eindrü- Erinnerungen besonders lebhaft erscheinen.
cke zu speichern und mit früheren Gedächtnisin-
halten zu verknüpfen. Die Erinnerung ermöglicht Die Hypermnesie tritt z. B. im Traum, in Trance, in
das Zurückrufen der Wahrnehmungen und Empfin- Hypnosezuständen, bei Fieber oder im Rahmen einer
dungen. Unterschieden werden beim Gedächtnis organischen Psychose beispielsweise nach Schädel-
das Neu- oder Kurzzeitgedächtnis, welches unmit- Hirn-Trauma auf.
telbare Erfahrungen und Wahrnehmungen spei-
chert, und das Alt- oder Langzeitgedächtnis, das lan- Amnesie
ge zurückliegende Erfahrungen und Wahrnehmun- Definition: Die Amnesie stellt die häufigste
gen beinhaltet. quantitative Gedächtnisstörung dar und be-
Sowohl die Merkfähigkeit als auch das Kurzzeit- zeichnet eine zeitlich oder inhaltlich begrenzte
oder Langzeitgedächtnis können Störungen aufwei- Gedächtnislücke. 13
sen. Je nachdem, wie lange ein Erlebnis behalten
werden kann, handelt es sich um eine Störung der Unterschieden werden die retrograde, anterograde
Merkfähigkeit oder des Gedächtnisses. Bei Merkfä- und psychogene Amnesie.
higkeitsstörungen können neue Eindrücke nicht län- Bei der retrograden Amnesie besteht eine Erinne-
ger als 10 Minuten behalten werden. Um eine Ge- rungslücke für die Ereignisse, die einer Bewusstlo-
dächtnisstörung handelt es sich, wenn Erlebnisse, sigkeit unmittelbar vorhergegangen sind.
Ereignisse, die länger als 10 Minuten zurückliegen, Im Gegensatz hierzu besteht die Erinnerungslü-
nicht mehr erinnert werden können. Die Störungen cke bei der anterograden Amnesie für eine bestimm-
des Gedächtnisses werden in quantitative und quali- te Zeit nach dem Aufwachen aus einem Zustand der
tative Störungen unterteilt (Tab. 13.11). Bewusstlosigkeit. Während dieser Zeit ist der Betrof-
fene ansprechbar und reagiert angemessen, kann
Quantitative Gedächtsnisstörungen sich jedoch später nicht daran erinnern. Häufig sind
Zu den quantitativen Gedächtnisstörungen gehören die retrograde und anterograde Amnesie im Zusam-
die Hypermnesie, die Amnesie und Hypomnesie. menhang mit Unfällen, die mit einem Schädel-Hirn-
Trauma einhergehen, zu beobachten, aber auch im
Zusammenhang mit epileptischen Anfällen, Intoxi-
kationen und der Demenz.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 239


KaelDesu
13 Bewusstsein

Die psychogene Amnesie stellt einen „Verdrän- Definition: Diese Erinnerungsverfälschung


gungsmechanismus“ dar, mithilfe dessen unange- bezeichnet eine wahnhafte Umdeutung früherer
nehme Erinnerungen vermieden werden. Zumeist Erlebnisse oder eine scheinbare Erinnerung, d. h.
tritt diese Form der Amnesie im Kontext abnormer eine Erinnerung, die keinem realen Erlebnis entspricht.
Erlebnisreaktionen auf. Während die retro- und an-
terograde Amnesie eine zeitliche Erinnerungslücke Pseudologica phantastica
darstellen, handelt es sich bei der psychogenen Form Definition: Mit Pseudologica phantastica
um eine inhaltliche Amnesie. wird krankhaftes Schwindeln bezeichnet.

Hypomnesie Ausgedachte Erlebnisse werden als wahre Begeben-


Bei organischen Psychosen und Schädel-Hirn-Trau- heiten erzählt, wobei der unwahre Gehalt der Erzäh-
men kann es zu einer Hypomnesie kommen. Hiermit lung von dem Berichtenden in der Regel nicht mehr
wird eine Schwächung des Erinnerungsvermögens realisiert wird. Beobachtet werden kann dieses Ver-
beschrieben, wobei zumeist das Neugedächtnis stär- halten bei Menschen mit Persönlichkeitsstörungen.
ker betroffen ist als das Altgedächtnis. Im Gegensatz Ziel des Schwindelns ist bei diesen Menschen, sich
zu der Amnesie ist Hypomnesie nicht auf einen be- Vorteile und/oder vermehrte Anerkennung zu ver-
stimmten Zeitraum beschränkt. schaffen.

Qualitative Gedächtnisstörungen Konfabulation


Bei den qualitativen Gedächtnisstörungen werden Erinnerungslücken, die im Rahmen von Merkfähig-
die Inhalte umgestaltet. Zu dieser Gruppe der Stö- keits- und Gedächtnisstörungen auftreten, werden
rungen zählen beispielsweise die Erinnerungsverfäl- oftmals durch Konfabulation gefüllt. Dies bedeutet,
schung, Pseudologia phantastica und Konfabulation. dass der Betroffene etwas erzählt, ohne einen Bezug
zur jeweiligen Situation herzustellen. Meist handelt
Erinnerungsverfälschungen es sich um zufällige Einfälle, Pseudoerinnerungen,
Bei den Erinnerungsverfälschungen (Paramnesien) die von dem Erzähler z. T. für eine echte Erinnerung
handelt es sich um eine Umgestaltung von Gedächt- gehalten werden. Die Konfabulation kann häufig
nisinhalten z. B. durch Weglassen, Hinzufügen oder beim Korsakow-Syndrom und bei Demenz im An-
Entstellen des Erlebten. Zu den Formen der Erinne- fangsstadium beobachtet werden.
rungsverfälschung gehören u. a. das Déjà-vu-Erleb-

!
nis, die Pseudomnesie und die Wahnerinnerung. Merke: Quantitative Gedächtnisstörungen
13 beziehen sich auf das Ausmaß, den Zeitraum
Definition: Mit Déjà-vu-Erlebnis wird eine Er- fehlender Erinnerungen, qualitative Ge-
innerungsverfälschung bezeichnet, bei der der dächtnisstörungen auf Veränderungen der Gedächt-
Mensch glaubt, etwas soeben Erlebtes schon frü- nisinhalte.
her einmal in gleicher Weise gesehen oder erlebt zu ha-
ben. 13.2.8 Störungen der Aufmerksamkeit
Mit Aufmerksamkeit ist die Fähigkeit gemeint, das
Bei Müdigkeit, im Rahmen von Psychosen und Epi- Bewusstsein gezielt auf einen Gegenstand auszurich-
lepsien kann es zu einem Déjà-vu-Erlebnis kommen. ten. Bei der willkürlichen Aufmerksamkeit ist die ge-
naue Wahrnehmung eines Gegenstandes beabsich-
Definition: Die Pseudomnesie stellt eine sog. tigt, bei der unwillkürlichen Aufmerksamkeit dage-
positive Erinnerungsverfälschung dar, bei der gen gelingt es z. B. Gegenständen oder Gedanken sich
sich der Mensch an vermeintlich stattgefundene aufzudrängen. Die Aufmerksamkeit hängt von der
Erlebnisse erinnert. Konzentration und der Auffassung ab und kann dem-
entsprechend durch Störungen in einem dieser bei-
Bei der Schizophrenie und organischen Psychosen den Bereiche verändert oder gestört werden.
kann es zum Auftreten einer Wahnerinnerung kom-
men.

240 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
13.2 Abweichungen und Veränderungen im Bewusstsein und deren mögliche Ursachen

Tab. 13.12 Störungen der Affektivität

quantitative Affektivitätsstörungen qualitative Affektionsstörungen Regulationsstörungen

쐌 Überempfindlichkeit 쐌 Parathymie 쐌 Affektlabilität


씮 gefühlsmäßig überschießende Reak- 씮 Affekte entsprechen nicht dem 씮 erleichterte Auslösbarkeit und rascher
tionen Erlebten Wechsel von Affekten
쐌 Affektstarre 쐌 manisch-euphorisches Syndrom 쐌 Affektinkontinenz
씮 Fehlen der affektiven Betonung und 씮 krankhaft gehobene Stimmung 씮 Unvermögen, Affekte zu unterdrü-
herabgesetzte affektive Ansprech- 쐌 depressives Syndrom cken
barkeit 씮 niedergeschlagene, traurige Grund-
stimmung

Konzentrationsstörung Störungen der Aufmerksamkeit können sich als


Eine Störung der Fähigkeit zur Konzentration verhin- Konzentrationsstörung oder Auffassungsstörung
dert ein Verweilen bei einem Teil der Gesamtwahr- zeigen.
nehmung. Der Betroffene kann sich nur eine kurze
Zeit mit einer bestimmten Sache beschäftigen. Die 13.2.9 Störungen der Affektivität
Konzentrationsstörung geht oftmals mit einer er- Definition: Mit Affektivität (Emotionalität)
höhten Ablenkbarkeit einher. Sie ist bei Ermüdung wird die Gesamtheit des Gefühls-, Gemüts- und
und bei einer posttraumatischen Hirnleistungs- Stimmungserlebens bezeichnet.
schwäche zu beobachten. Geprüft werden kann die
Konzentrationsfähigkeit, indem dem Menschen eine Als Grundstimmung bestimmt die Affektivität auch
mathematische Aufgabe gestellt wird (z. B.: Ziehe das Ausmaß und die Qualität der Affekte, worunter
hintereinander, beginnend mit der Zahl 100, jeweils kurzdauernde Gefühle verstanden werden.
die Zahl 7 ab: 100 – 7 = 93, 93 – 7 = 86, 86 – 7. . .). Neben quantitativen und qualitativen Affektivi-
tätsstörungen werden Regulationsstörungen unter-
Auffassungsstörung schieden (Tab. 13.12).
Die Auffassungsstörung ist dadurch charakterisiert,
dass Wahrgenommenes nicht richtig begriffen wer- Quantitative Affektivitätsstörungen
den kann. Zudem fehlt die Fähigkeit, das Wahrge- Die quantitativen Störungen beschreiben Störungen
nommene mit Erinnerungen und Erfahrungen zu ver- der Affektivität, die mit einem Zuviel (Überempfind-
knüpfen. Um beide Anteile zu überprüfen, kann man lichkeit) oder einem Zuwenig an Gefühl (affektive
diesem Menschen die Aufgabe stellen, eine erzählte Verarmung, Affektstarre) einhergehen. 13
Fabel nachzuerzählen (intakte Auffassung) und zu
interpretieren (Verknüpfung mit Erfahrungen). Überempfindlichkeit
Bei der Überempfindlichkeit erreichen die Gefühle
Zusammenfassung: hinsichtlich ihrer Ausprägung Extremwerte bzw. die
Denkstörungen und Störungen des Gedächt- betroffenen Menschen reagieren gefühlsmäßig
nisses überschießend. Über einen längeren Zeitraum beste-
Die formalen Denkstörungen beinhalten Denkhem- hen diese Störungen bei Manie und Schizophrenie,
mung, -verlangsamung, Perseveration, Gedanken- dagegen handelt es sich bei Infektionskrankheiten,
abreißen, Zerfahrenheit, Ideenflucht. in der Pubertät und im Klimakterium zumeist um ei-
Zu den inhaltlichen Denkstörungen zählen Wahn, ne vorübergehende Störung.
Zwangsideen und überwertige Ideen.
Subjektive Gewissheit und Unkorrigierbarkeit un- Affektstarre
terscheiden den krankhaften Wahn von Wahnphä- Die Affektstarre ist gekennzeichnet durch ein Fehlen
nomenen, die auch bei Gesunden vorkommen. der affektiven Betonung und eine herabgesetzte af-
Bei den Störungen des Gedächtnisses sind Hyperm- fektive Ansprechbarkeit, d. h., es besteht ein Verlust
nesie, Amnesie und Hypomnesie quantitative Stö- der affektiven Modulationsfähigkeit. Reize oder Si-
rungen, Erinnerungsverfälschungen, Pseudologica tuationsveränderungen beeinflussen den betroffe-
phantastica und Konfabulation qualitative Störun- nen Menschen gefühlsmäßig nicht, Affektäußerun-
gen.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 241


KaelDesu
13 Bewusstsein

gen werden unabhängig von der Situation beibehal- Depressives Syndrom


ten, z. B. immer gleiche misstrauische Ablehnung, Kennzeichen des depressiven Syndroms ist eine nie-
immer gleiche gereizte Gehässigkeit. Bei der Affekt- dergeschlagene, traurige Grundstimmung. Die be-
starre kann es sich um eine andauernde oder vorü- troffenen Menschen sind traurig, lustlos, freudlos,
bergehende Störung handeln, die bei organischen schwermütig, leiden unter Schlaflosigkeit, Appetit-
Psychosen, Schizophrenie, depressivem Syndrom mangel und Obstipation. Dazu kommen häufig
und Demenz vorkommen kann. Kopf-, Nacken- und Gliederschmerzen, ein Druckge-
fühl in der Brust und/oder ein Globusgefühl im Hals.
Qualitative Affektivitätsstörungen Das Aussehen dieser Menschen ist vorgealtert, die
Bei den qualitativen Affektivitätsstörungen handelt Haut ist bleich und faltig, das Haar struppig, glanzlos,
es sich um Störungen der Art der Gefühle. Hierzu ge- die Haltung ist vornübergebeugt, der Gang schlep-
hören beispielsweise die Parathymie, das manisch- pend. Zumeist geht diese Stimmungslage mit Angst,
euphorische Syndrom und das depressive Syndrom. einer Denkhemmung und einem vermindertem An-
trieb einher. Bei endogenen und reaktiven Depres-
Parathymie sionen sowie bei organischen Hirnerkrankungen
Definition: Mit Parathymie wird eine Affekt- tritt diese Affektivitätsstörung auf.
störung bezeichnet, bei der Affekte auftreten, die
nicht dem Erlebnis entsprechen oder entgegen- Regulationsstörungen
gesetzt sind. Definition: Mit dem Begriff Regulationsstö-
rungen werden Störungen in der Abstimmung
Ein Beispiel hierfür ist das Lachen bei einem Bericht der einzelnen Affektlagen bezeichnet.
über Folterungen oder das Weinen bei der Erzählung
einer lustigen Geschichte. Die Parathymie wird auch Die Affektlabilität und die Affektinkontinenz werden
als affektive Inadäquatheit bezeichnet. Sie kommt zu dieser Gruppe von Störungen gezählt.
z. B. bei Schizophrenie vor.
Affektlabilität
Manisch-euphorisches Syndrom Definition: Die Affektlabilität kennzeichnet ei-
Definition: Das manisch-euphorische Syn- ne Störung, bei der es zu einer erleichterten Aus-
drom beschreibt im affektiven Bereich einen Zu- lösbarkeit von Affekten und zu einem raschem
stand, der durch eine krankhaft gehobene Stim- Wechsel der emotionalen Stimmung kommt.
mung geprägt ist.
13 So können die Betroffenen ganz plötzlich ohne
Die betroffenen Menschen weisen oftmals Schwung, Grund vom Lachen zum Weinen gelangen. Diese Stö-
Selbstvertrauen, Unternehmungsgeist, Zuversicht, rung tritt z. B. bei Kindern, Oligophrenen, manisch-
aber auch eine unrealistische oder fehlende Krank- depressiven Mischzuständen und organischen Psy-
heitseinsicht auf. Daneben zeigen sie eine motori- chosen auf.
sche Antriebssteigerung mit vermehrter Umtriebig-
keit, ihr Denken ist voller Pläne bis hin zur Ideen- Affektinkontinenz
flucht, bisweilen besteht eine gesteigerte Wahrneh- Definition: Unter Affektinkontinenz wird das
mungsintensität. Unvermögen verstanden, heftige Gefühle im
Das manisch-euphorische Syndrom kann bei bei- Zaum zu halten, Affekte zu unterdrücken; es be-
spielsweise bei Manie, Schizophrenie, Demenz, En- steht eine mangelnde Affektsteuerung.
zephalitis/Meningitis, Multipler Sklerose, Hyperthy-
reoidismus, nach Rauschdrogen (z. B. Marihuana, Ha- Bei geringen Anlässen kann es zu starken Gefühls-
schisch, LSD, Kokain) und nach der Einnahme von ausbrüchen kommen, zudem erscheinen die Affekte
Arzneimitteln (z. B. Appetitzüglern, Schilddrüsen- stärker als normal. Diese Form der Affektivitätsstö-
hormonen, MAO-Hemmern) beobachtet werden. rung kann bei körperlicher oder seelischer Erschöp-
fung und bei Menschen, die unter einem hirnorgani-
schen Psychosyndrom leiden, auftreten.

242 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
13.2 Abweichungen und Veränderungen im Bewusstsein und deren mögliche Ursachen

!
Merke: Quantitative Affektivitätsstörungen von Energie und Initiative zu zielgerichteten Aktivi-
sind durch eine veränderte Ansprechbarkeit täten. Im Volksmund wird der Antrieb auch als Vitali-
von Gefühlen, qualitative Affektivitätsstö- tät bezeichnet. Bei den Störungen des Antriebs wer-
rungen durch Veränderungen in der Art der Gefühle ge- den die Antriebsminderung und -steigerung als
kennzeichnet. Mit Regulationsstörungen werden Stö- quantitative Störungen und der Zwangsantrieb so-
rungen in der Abstimmung der Emotionen beschrie- wie Drang- und Impulshandlungen als qualitative
ben. Störungen unterschieden (Tab. 13.13).

13.2.10 Störungen des Ich-Erlebens Quantitative Störungen des Antriebs


Die Fähigkeit eines Menschen, sich selbst als Indivi- Mit den quantitativen Störungen wird das Ausmaß
duum zu erleben und sich gegenüber anderen Men- der Abweichung des Antriebs beschrieben.
schen abzugrenzen, kennzeichnet das Ich-Erleben.
Bei der Ich-Erlebensstörung kommt es zu einem ge- Antriebsminderung
störten Erleben der eigenen Persönlichkeit mit Stö- Eine Antriebsminderung oder -armut ist bei depres-
rung der Abgrenzung zwischen Ich und Umwelt. Zu siven Menschen, bei Schizophrenen und beispiels-
den Störungen des Ich-Erlebens gehören die Derea- weise bei Menschen nach einer organischen Hirn-
lisation, bei der die Umwelt als fremd, verändert schädigung zu beobachten. Weitere Ursachen sind
und/oder unwirklich erlebt wird und die Depersona- schwere, „kräftezehrende“ Erkrankungen (z. B. Infek-
lisation, bei der das eigene Ich als fremd, verändert tionen, maligne Tumore), Stoffwechselstörungen
oder auch abgetrennt von der eigenen Person erlebt (z. B. Leberzirrhose, Hypothyreose) und verschiede-
wird. ne Pharmaka (z. B. Sedative, Hypnotika, Antidepres-
Weitere Störungen sind die Gedankenausbrei- siva, Tranquilizer).
tung, der Gedankenentzug und die Gedankeneinge- Es fehlt bei der Antriebsarmut an Energie und Ini-
bung. Bei der Gedankenausbreitung haben die Men- tiative. Die Menschen wirken gleichgültig, ent-
schen den Eindruck, ihre Gedanken würden anderen schlusslos, teilnahmslos, der Gesichtsausdruck ist
Personen ebenfalls gehören und somit auch von an- maskenartig. Die Redeweise ist schwunglos, die
deren gelesen werden können. Bei dem Gedanken- Stimme ist wenig moduliert, monoton. Die Antriebs-
entzug werden die eigenen Gedanken von anderen armut ist zumeist von einer verlangsamten Motorik
Menschen weggenommen, bei der Gedankeneinge- begleitet, die bis zu einer völligen Bewegungslosig-
bung von anderen Menschen beeinflusst. Als Vor- keit reichen kann.
kommen werden Übermüdung und Schizophrenie
benannt, aber auch seelische Belastungen. Antriebssteigerung 13
Kennzeichen einer Antriebssteigerung ist eine er-
13.2.11 Störungen des Antriebs höhte zielgerichtete Aktivität, wobei die Menschen
Der Antrieb ist eine willensunabhängige Kraft, die al- vor „Energie strotzen“. Sie scheinen niemals müde zu
len psychischen und auch motorischen Vorgängen werden und befinden sich in einem Zustand ständi-
zugrunde liegt. Er ist das sog. „treibende“ Element al- ger Unruhe. Diese Menschen zeigen einen gesteiger-
ler Handlungen und des Denkens und führt im Sinne ten Redefluss mit einer raschen Sprache. Die Bewe-
gungen sind ebenfalls gesteigert und können dabei
fahrig, unruhig und gespannt sein.
Tab. 13.13 Störungen des Antriebs Ursache des vermehrten Antriebs ist zumeist
quantitative Antriebsstörungen qualitative Antriebsstörungen
eine Manie, aber auch Medikamente wie beispiels-
weise aktivierende Antidepressiva, Neuroleptika,
쐌 Antriebsminderung 쐌 Zwangsantrieb Appetitzügler, Rauschmittel und anregende Ge-
씮 Fehlen von Energie und 씮 nicht abstellbare,
nussmittel können dieses Verhalten hervorrufen.
Initiative zwangsweise auftretende
쐌 Antriebssteigerung Antriebe
씮 erhöhte Aktivität 쐌 Drang- und Impulshand- Qualitative Antriebsstörungen
lungen Nicht das Ausmaß, sondern die Abweichung in der
씮 nicht abwehrbare, unbe-
Art und der Richtung des Antriebs werden mit den
gründbare Handlungen
qualitativen Antriebsstörungen beschrieben.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 243


KaelDesu
13 Bewusstsein

Zwangsantriebe Zusammenfassung:
Bei den Zwangsantrieben handelt es sich um nicht Weitere Bewusstseinsstörungen
abstellbare, zwangsweise auftretende Antriebe. Sie Störungen der Affektivität kommen quantitativ als
drängen sich dem betroffenem Menschen immer Überempfindlichkeit oder Affektstarre zum Aus-
wieder auf, ohne dass dieser es will. Zumeist enden druck, qualitativ zeigen sie sich in der Parathymie,
diese Zwangsantriebe nicht in aktiven Handlungen, im manisch-euphorischen Syndrom und im depres-
da sie noch unterdrückt werden können. siven Syndrom.
Ein Beispiel für einen solchen Zwangsantrieb ist Zur Gruppe der Regulationsstörungen gehören Af-
der immer wiederkehrende Impuls, sich die Hände fektlabilität und Affektinkontinenz.
zu waschen oder zu lachen. Zwangsantriebe kom- Die Störungen des Ich-Erlebens treten als Derealisa-
men bei einer neurotischen Entwicklung, bei Schizo- tion, Depersonalisation, Gedankenausbreitung,
phrenie oder auch nach einer Enzephalitis vor. -entzug oder -eingebung auf.
Antriebsminderung bzw. Antriebssteigerung sind
Drang- und Impulshandlungen quantitative Störungen des Antriebs, Zwangsan-
Kann sich ein Mensch gegen einen Antrieb nicht triebe und Drang- und Impulshandlungen qualita-
wehren und führt Handlungen aus, die er nicht be- tive Störungen.
gründen kann und für die er keinerlei Erklärung hat,
so handelt es sich hierbei um Drang- und Impuls-
handlungen. Hierzu zählen beispielsweise die Klep- 13.3 Ergänzende
tomanie (dranghaftes Stehlen) oder die Pyromanie Beobachtungskriterien
(triebhaftes Brandstiften).
Diese Handlungen treten in Dämmerzuständen, Werden bei einem zu betreuenden Menschen Verän-
nach organischen Hirnschädigungen und bei Schizo- derungen der normalen Bewusstseinslage festge-
phrenie auf. stellt, so gilt auch hier, dass das Ganze mehr als die

Tab. 13.14 Beobachtungspunkte bei Bewusstlosigkeit

Beobachtungen Verdacht auf Ursachen Maßnahmen

blasses Gesicht Ohnmacht zerebrale Ischämie Kranken hinlegen


langsamer Puls (Blutleere) Beine hochlagern
flache Atmung evtl. Kreislaufmittel
13
gerötetes Gesicht diabetisches Koma Insulinmangel Blutzuckerkontrolle
trockene Zunge (Coma diabeticum) grobe Diätfehler Arzt verständigen
trockene, faltige Haut Insulinzufuhr
pausenlos tiefe Atmung (Kuss-
maul) mit Acetongeruch

blasses Gesicht, Zittern, hypoglykämischen Schock Blutzucker zu niedrig Blutzuckerkontrolle


feuchte, schwitzende Haut zuviel Insulin Traubenzucker oder Zucker zuführen
Atmung normal nach Anstrengung evtl. Glukoseinjektion

gerötetes Gesicht, schnarchende Schlaganfall (Apoplexie) zerebrale Oberkörper hochlagern, Atemwege


Atmung, hängender Mundwinkel, – Embolie freimachen, Krankenhauseinweisung,
Halbseitenlähmung – Blutung Intensivtherapie
– Blutleere

Blässe, schmutzig-gelbgraue urämisches Koma erhöhter Harnstoff im Blut Oberkörperhochlagerung, Intensiv-


Gesichtsfarbe, vertiefte Atmung, Nierenversagen (Anurie) therapie (Dialysebehandlung)
urinöser Geruch

gelbe Haut und Skleren (Ikterus) Leberkoma Leberzerfall Ruhigstellung


Ammoniakgeruch der vertieften (Coma hepaticum) Versagen der Entgiftungs- Krankenhauseinweisung
Atmung funktion Intensivtherapie

244 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
13.4 Besonderheiten bei Kindern

Summe seiner Teile ist. Dies bedeutet, dass die iso- des Bewusstseins und des neurologischen Reife-
lierte Beobachtung der Bewusstseinslage nicht aus- stands eines Kindes.
reicht, sondern dass vielmehr alle Bereiche beachtet Zu den wichtigsten Reflexprüfungen gehört der
werden müssen, die potenziell oder tatsächlich von Saug-, Schluck-, Husten- und Pupillenreflex. Bei der
der Beeinträchtigung des Bewusstseins mit betroffen Überprüfung des Pupillenreflexes wird gleichzeitig
sind oder einen ursächlichen Faktor darstellen kön- die Pupillenweite, -form und -position kontrolliert.
nen. Tab. 13.14 zeigt hierfür mehrere Beispiele. Weiterhin von Bedeutung ist die Reaktion auf
Störungen im Bewusstseinssystem können sich in Schmerzreize. Sie kann sich je nach Alter des Kindes
Auswirkungen auf die Kommunikationsfähigkeit unterschiedlich äußern. Bei Früh- und Neugebore-
und das Schlafverhalten zeigen. Auch die Beschäfti- nen sind ungezielte Reaktionen, z. B. Augen öffnen,
gungsmöglichkeiten eines Menschen können durch weinen, schreien sowie ungezielte Arm- und Bein-
eine veränderte Bewusstseinslage massiv einge- beugung, als Antwort auf Schmerzreize zu erwarten.
schränkt sein. Körperliche Symptome, die v. a. die Bei älteren Kindern sollte eine gezielte Abwehr gegen
motorischen Fähigkeiten betreffen, müssen beo- Schmerzreize stattfinden. Um den Grad der Auf-
bachtet und eingeschätzt werden. Auswirkungen merksamkeit des Neugeborenen/Säuglings zu ermit-
sind in vielen Fällen ebenso in Bezug auf eine verän- teln, wird auch der Schlaf-/Wachzustand, die Bewe-
derte Mimik und Gestik sowie auf die Körperhaltung, gung der Augen und soweit möglich das Fixieren von
die Bewegung und den Gang zu beobachten. Gegenständen berücksichtigt.
Letztlich werden den Pflegenden über die Spra- Das Einschätzen der Bewusstseinslage bei älteren
che eines bewusstseinsveränderten Menschen und Kindern erfolgt ähnlich der Methode bei den Er-
deren Inhalte Abweichungen von der Norm vermit- wachsenen. Selbstverständlich müssen Fragen zur
telt. Aber auch Kreislaufveränderungen im Sinne ei- örtlichen und zeitlichen Orientierung sowie eine
nes Hypertonus, eines Pulsfrequenzanstiegs und ei- mögliche Aufforderung zur Bewegung, um ein Bewe-
ner beschleunigten Atmung können sich im Zusam- gungsmuster zu ermitteln, dem Alter und Entwick-
menhang mit Beeinträchtigungen des Bewusstseins- lungstand des Kindes entsprechen. Die Einstufung
systems zeigen, z. B. bei Halluzinationen und Wahn- erfolgt auch hier mithilfe der allerdings modifizier-
vorstellungen. Darüber hinaus können sie auch einen ten Glasgow-Koma-Skala, wie sie die folgende Über-
ursächlichen Faktor für eine Veränderung im Sinne sicht zeigt:
einer Störung der Bewusstseinslage darstellen.

Modifizierte Glasgow-Koma-Skala (GCS)


13.4 Besonderheiten bei Kindern für das Kindesalter 13
Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm (nach G. Neuhäuser 1996 in Hoehl, M., P. Kullick
(Hrsg.): Gesundheits- und Kinderkrankenpflege.
Die Voraussetzung für Bewusstsein ist ein Wachzu- 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012)
stand. Damit das Bewusstsein optimal funktionieren
I Verbale Antwort (über 2 Jahre)
kann, benötigt es sich ständig wiederholende Reiz-
5 verständliche Sprache, volle Orientierung
einflüsse. Durch fehlende Reize kommt es beim Kind
4 unverständliche Sprache, Verwirrtheit
zur Isolation.
3 inadäquate Antworten, Wortsalat
Um die Bewusstseinslage eines Kindes zu ermit-
2 unverständliche Laute
teln, müssen das Alter und der Entwicklungsstand 1 keine verbale Äußerung
des Kindes berücksichtigt werden.
Lange Zeit wurde das Neugeborene nur auf kör- I Verbale Antwort (unter 2 Jahre)
perliche Unversehrtheit und hinsichtlich seines phy- 5 fixiert, erkennt, verfolgt, lacht
siologischen Reifestandes untersucht und beurteilt. 4 fixiert kurz, inkonstant, erkennt nicht sicher
Mitte der 60er Jahre wurden auch neurologische Un- 3 zeitweise erweckbar, trinkt/isst nicht mehr, Bedroh-
reflex negativ
tersuchungsmethoden zur Beurteilung des Neuge-
2 motorische Unruhe, nicht erweckbar
borenen entwickelt und hinzugezogen. Seither gilt
1 keine Antwort auf visuelle, akustische, sensorische
die Prüfung der Reflexe als eine nicht mehr wegzu-
Reize
denkende Möglichkeit im Rahmen der Ermittlung

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 245


KaelDesu
13 Bewusstsein

gentlich nach oben gestellt. Eine Beteiligung des Hal-


II Motorische Antwort teapparats (Tonusverlust) ist nur selten zu erkennen.
6 gezieltes Greifen nach Aufforderung In schweren Fällen können die Absencen aber auch
5 gezielte Abwehr auf Schmerzreize mehrere Stunden, ggf. Tage anhalten. Die Kinder be-
4 ungezielte Beugebewegung auf Schmerzreize finden sich dann in einem Dämmerzustand. Absen-
3 ungezielte Armbeugung/Beinstreckung auf cen lassen sich bei betroffenen Kindern beispiels-
Schmerzreize weise auch durch Hyperventilation auslösen.
2 Streckung aller Extremitäten auf Schmerzreize Die weiteren im Abschnitt 13.2 beschriebenen
1 keine motorische Antwort auf Schmerzreize Veränderungen im Bewusstseinssystem können
III Augenöffnen prinzipiell auch bei Kindern vorkommen.
4 spontanes Augenöffnen

!
3 Augenöffnen auf Zuruf Merke: Bei der Beobachtung und Beurtei-
2 Augenöffnen auf Schmerzreize lung des Bewusstseinszustands eines Kindes
1 kein Augenöffnen auf jegliche Reize muss besonders der jeweilige Entwicklungs-
und Reifezustand beachtet werden, um mögliche Stö-
IV Okulomotorik
rungen des Entwicklungs- und Reifeprozesses von Stö-
(Kaltspülung äußerer Gehörgang, Puppenaugenphäno-
rungen im Bewusstseinssystem abgrenzen zu können.
men)
4 konjugierte Augenbewegungen, Pupillenreaktion
auf Licht beidseits erhalten 13.5 Besonderheiten bei älteren
3 konjugierte tonische Augenbewegung bei oben
genannten Reflexen
Menschen
2 Divergenzstellung beider Bulbi bei oben genannten Marion Weichler-Oelschlägel
Reflexen
1 keinerlei Reaktion bei oben genannten Reflexen, Ein Großteil älterer und alter Menschen leidet mit
Pupillenreaktion auf Licht erloschen zunehmendem Alter unter Störungen des Gedächt-
nisses und der Konzentration. Die damit verbunde-
Modifizierte Glasgow-Koma-Skala für Kinder
nen Informationsdefizite können auch ursächlich in
unter 24 Monaten
Störungen des Kurzzeitgedächtnisses liegen.
Punkte:
Besonders häufig treten im Alter akute und chro-
Augenöffnung: s. GCS max. 4
nische Verwirrtheitszustände auf, deren Ursachen
Verbale Antwort:
sehr vielfältig sind. Bei den zahlreichen Demenzer-
– fixiert, verfolgt, erkennt, lacht 5
13 krankungen im Alter, auch als sog. senile Demenz be-
– fixiert und verfolgt inkonstant, erkennt
nicht sicher, lacht nicht situationsbedingt 4 schrieben, muss vor der Diagnosestellung „Demenz“
– nur zeitweise erweckbar, isst und trinkt ausgeschlossen werden, dass eine behandelbare
nicht 3 Hirnerkrankung oder eine Depression vorliegt.
– ist motorisch unruhig, jedoch nicht Daneben treten gehäuft Veränderungen des Be-
erweckbar 2 wusstseins auf, die als chronisch organisches Syn-
– tief komatös, kein Kontakt zur Umwelt 1 drom (auch Psychoorganisches Syndrom, POS) zu-
Motorische Antwort: s. GCS max. 6 sammengefasst werden und der Diagnose „senile
Demenz“ entsprechen. Dieses Syndrom setzt sich aus
irreversiblen Beeinträchtigungen der intellektuellen
Als Absencen werden sekundenlange Bewusstseins- Fähigkeiten, des Frisch- und Altgedächtnisses und
eintrübungen oder Einengungen bei dem Krank- der Persönlichkeit zusammen. Beginnend mit einer
heitsbild der Epilepsie bezeichnet. erschwerten Auffassungsfähigkeit, einer vorzeitigen
Eine meistens bei Schulkindern vorkommende geistigen Ermüdbarkeit und einer verminderten
Absencen-Epilepsie wird als Pyknolepsie bezeichnet. Konzentrationsfähigkeit kommt es im weiteren Ver-
Sie zeigt sich in einer diskreten Unterbrechung des lauf auch zu Wortfindungsstörungen. Alltägliche
Bewusstseins von ca. 5 – 20 Sek. Dauer. Das Kind ver- Routineaufgaben, wie z. B. das Ankleiden und die
harrt in seiner Tätigkeit. Dabei fällt sein Kopf leicht Nahrungsaufnahme, können nicht mehr fehlerlos er-
nach hinten, die Augen sind starr, halb geöffnet, gele- ledigt werden. Orientierungsstörungen können er-
schwerend hinzukommen.

246 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
13.6 Fallstudien und mögliche Pflegediagnosen

In späteren Stadien der Erkrankung stellen sich sich schlecht auf bislang geliebte Tätigkeiten, wie etwa
schwere Sprach- und Wortfindungsstörungen ein. die Versorgung seiner Kakteen, konzentrieren. Auch
Die Betroffenen wiederholen einzelne Silben oder seine Enkel, die sich in ihrer Freizeit um ihn kümmern,
Wörter (Logoklonie) oder sie wiederholen die Aussa- stellen eine rapide Verschlechterung seines Zustands
gen ihrer Gesprächspartner (Echolalie). Weiter wird fest, wobei ihr Großvater mehr und mehr verlangsamt
häufig eine emotionale Labilität zu beobachten sein, auf Fragen antwortet. In einer Nacht irrte er stunden-
d. h. Lachen und Weinen wechseln sich ab, aggressive lang im Pyjama ziellos umher und verließ dabei sogar
Ausbrüche können auftreten. Im letzten Stadium Haus und Garten.
kommt es zur völligen Kommunikationsunfähigkeit, Im Folgenden wird ein Auszug aus dem Pflegeplan von
Gangunfähigkeit, zu Muskelkontrakturen, zur Ab- Herrn Dräger vorgestellt (Tab. 13.15).
magerung und Inkontinenz.
Die eigentlichen Ursachen dieser Erkrankung Die mögliche Pflegediagnose zeigt die folgende
können in der Alzheimer-Krankheit (60%), in der De- Übersicht:
menz vom vaskulären Typ (20 – 30%) oder in weite-
ren Ursachen, wie z. B. Tumoren, Alkoholismus,
Schwermetallvergíftungen, Subduralhämatomen, Orientierungsstörung (P)
Enzephalitiden oder seltenen Erkrankungen der (Gordon 2013, S. 338 – 339, NANDA-I 2016)
Hirnzellen selbst liegen. Impaired environmental interpretation syndrome
(000127) (1994)
Zusammenfassung: Taxonomie II: Domäne 5: Wahrnehmung/Kognition,
Besonderheiten bei Kindern und älteren Klasse 2: Orientierung
Menschen Diagnosetyp (Dokumentationsform): aktuelle Pflege-
Bei Kindern gilt die Prüfung der Reflexe als wich- diagnose (PES)
tigste Möglichkeit zur Ermittlung des Bewusstseins Funktionelles Gesundheitsverhaltensmuster:
und der neurologischen Reife. Kognition und Perzeption
Sekundenlange Absencen, Bewusstseinseintrübun-
Definition
gen, treten bei Epilepsie auf.
Anhaltende fehlende Orientierung bezüglich Person,
Eine häufige, im Alter auftretende Bewusstseinsver-
Ort, Zeit oder allgemeinen Umständen über mehr als 3
änderung ist das psychoorganische Syndrom, des-
bis 6 Monate, die eine beschützende Umgebung erfor-
sen Symptome der „senilen Demenz“ entsprechen. derlich macht

Einflussfaktoren (E) 13
13.6 Fallstudien und mögliche Depression
Pflegediagnosen (Alkoholismus)
Demenz (Alzheimer-Krankheit, Multiinfarktdemenz,
Pick-Krankheit, AIDS-Demenz)
Beispiel: Herr Dräger ist 84 Jahre alt, seit 5
Chorea Huntington
Monaten verwitwet und lebt in seinem eige-
nen Haus. Seine beiden erwachsenen Enkel- Kennzeichen oder Symptome (S)
kinder leben in der unteren Etage desselben Hauses beständige Desorientierung (in bekannten und
und sind beide voll berufstätig. Den schmerzlichen Ver- unbekannten Umgebungen über mehr als 6 Monate
lust seiner Ehefrau hat der bis dahin noch rüstige Rent- hinweg)
ner nicht verkraftet. Er hat massiv körperlich und geis- chronische Verwirrtheitszustände
tig abgebaut, sodass er auf eine ambulante pflegerische Verlust der Berufstätigkeit (infolge des Gedächtnis-
Unterstützung bei seiner Körperpflege angewiesen ist. abbaus)
Die Versorgung mit Nahrung erfolgt über die Einrich- Verlust sozialer Funktionen (infolge des Gedächtnisab-
tung „Essen auf Rädern“. baus)
Unfähigkeit, einfachen Anweisungen zu folgen
Seit ca. 3 Monaten leidet Herr Dräger unter zunehmen-
Unfähigkeit zu argumentieren
den Orientierungsstörungen. Er ist zeitweise nur noch
Unfähigkeit, sich zu konzentrieren
mangelhaft zeitlich und örtlich orientiert und kann
verzögertes Beantworten von Fragen

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 247


KaelDesu
13 Bewusstsein

Tab. 13.15 Auszug aus dem Pflegeplan von Herrn Dräger

Pflegeproblem Ressourcen Pflegeziele Pflegemaßnahmen

Herr Dräger leidet unter zu- 쐌 Enkel kümmern sich um FZ: 쐌 Nach Absprache mit Herr Dräger Ge-
nehmenden Orientierungs- Herrn Dräger 쐌 Herr Dräger ist orientiert spräch mit Arzt, Pflegedienst und Enkeln
störungen, insbesondere 쐌 Herr Dräger hat einen in allen Bereichen organisieren
bezüglich der Zeit und des ambulanten Pflegedienst NZ: – Sicherheit gewährleisten
Ortes 쐌 Herr Dräger wird von „Es- 쐌 Herr Dräger erfährt eine – Unterstützungsmöglichkeiten bei der
sen auf Rädern“ versorgt geschützte Umgebung Betreuung
쐌 Herr Dräger erhält seine 쐌 vertraute Umgebung gewährleisten
Selbstständigkeit 쐌 kleines Nachtlicht
쐌 Herr Dräger kann seinen 쐌 regelmäßigen Tagesablauf gewährleisten
Tagesablauf sinnvoll ge- – Plan mit Herrn Dräger aufstellen
stalten 쐌 Anregung und Unterstützung bei der
쐌 Herr Dräger erfährt geis- Freizeitgestaltung durch Enkel
tige Anregungen – Absprachen zur gemeinsamen Kak-
teenpflege
– Spieleabende einrichten (2 ⫻ wö-
chentlich)
– Kino- und Theaterbesuch o.Ä. organi-
sieren (1 ⫻ wöchentlich) nach Interes-
sen von Herrn Dräger

Für Herrn Dräger kommt folgende Diagnose in Be-


Pflegeergebnis (Outcome) tracht:
Kognitive Orientierung (Cognitive Orientation) Orientierungsstörung b/d (beeinflusst durch) De-
Ist in der Lage, sich selbst zu erkennen sowie Ort und pressionen a/d (angezeigt durch):
Zeit genau anzugeben anhaltende Desorientierung in bekannten und
Risikogruppen unbekannten Umgebungen über mehr als 6 Mo-
Personen mit . . . nate hinweg,
Demenz (Alzheimer-Demenz, Multiinfarktdemenz, Verlust von Berufstätigkeit und sozialen Funktio-
frontotemporale Demenz, AIDS-Demenz, LBD) nen durch schwindende Gedächtnisleistungen,
13 Parkinson-Krankheit Unfähigkeit, sich zu konzentrieren.
Chorea Huntington
(Die Pflegediagnosen „chronische Verwirrtheit“ und Beispiel: Thomas, 5 Jahre, leidet seit einigen
„Orientierungsstörung“ sind nicht trennscharf. Im Tagen unter einer Infektion der Atemwege,
Fall von eindeutigen und ausschließlichen Störungen die mit hohen Temperaturen einhergeht. Am
der Orientierung auf räumlicher, zeitlicher, situativer gestrigen Tag wurde er bei Temperaturen von 41 ⬚C rek-
und personeller Ebene, ist es ratsam die Pflegediag- tal zunehmend unruhig, er weinte und schrie ängstlich.
nose „Orientierungsstörung“ zu verwenden. Bei um- Hinzu kamen Halluzinationen (Thomas sah Elefanten
fassenderen kognitiven Beeinträchtigungen mit anhal- auf sich zukommen).
tendem und irreversiblen Charakter, ist es ratsam die Die Mutter von Thomas, die mit ihm ins Krankenhaus
umfassendere Pflegediagnose „chronische Verwirrt- aufgenommen wurde, hat ein Bett in seinem Zimmer.
heit“ zu nutzen. Anm. d. Hrsg.).
Ihre Anwesenheit und seine Kuscheltiere wirken sehr
beruhigend auf den Jungen. Die Mutter unterstützt die
Pflegekräfte soweit möglich und hält Thomas regelmä-
ßig zum Trinken an.
Einen Ausschnitt aus dem Pflegeplan von Thomas, der
sich auf die Gefahr eines Fieberdelirs bezieht, zeigt
Tab. 13.16.

248 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
Fazit

Tab. 13.16 Auszug aus dem Pflegeplan von Thomas

Pflegeproblem Ressourcen Pflegeziele Pflegemaßnahmen

Thomas leidet unter anhal- 쐌 Mutter hat ein Bett im Fernziel (FZ): 쐌 stündliche Kontrolle von:
tend hohen Temperaturen Zimmer von Thomas 쐌 physiologische Körper- – Temperatur (rektal)
mit Gefahr eines Fieber- 쐌 Anwesenheit der Mutter temperatur – Puls
deliriums und seiner Kuscheltiere Nahziel (NZ): – RR
wirken beruhigend 쐌 Thomas erleidet kein Fie- – Atmung
쐌 Mutter hält Thomas re- berdelirium und dadurch – Bewusstseinslage
gelmäßig zum Trinken an bedingte Komplikationen 쐌 Information der Mutter:
(Sturz, Verletzungen) – sofort melden bei Anzeichen (motori-
쐌 Thomas hat Temperatu- sche Unruhe, Angst, Halluzinationen)
ren ⬍ 40 ⬚C – beim Verlassen des Zimmers die Bett-
gitter hochziehen
쐌 Zimmer abdunkeln
쐌 Raumtemperatur: 18 ⬚C
쐌 Gegenstände, die bei Thomas Unruhe,
Angst u. Halluzinationen auslösen kön-
nen, aus seinem Blickfeld entfernen
쐌 Trinkmenge nach Flüssigkeitsbilanz 씮
Wunschgetränke
쐌 bei Bedarf kühle Abwaschungen (Wasser-
temperatur: 1 ⬚C unter Körpertempera-
tur)
쐌 bei Temperaturen ⬎ 40 ⬚C feucht-warme
Wadenwickel (Wassertemperatur: 5 ⬚C
unter Körpertemperatur, 10 Minuten be-
lassen)

Fazit: Das Bewusstseinssystem des Men- Entsprechend der Vielschichtigkeit des Bewusst-
schen ist sehr vielfältig und lässt ein breites seinssystems und der Beobachtungskriterien können
Spektrum unterschiedlichster Formen von zahlreiche Ursachen, v. a. auch im Bereich der neurolo-
Beeinträchtigungen und Störungen zu. Es kann hin- gischen und psychiatrischen Erkrankungen, zu einer
sichtlich der Merk- und Reaktionsfähigkeit, der Denk- Veränderung in diesem System führen und verschie-
fähigkeit und der Vorstellungskraft, der Reprodukti- denste Auswirkungen auf den Menschen und seine
13
ons- und Handlungsfähigkeit sowie der Orientierungs- Umgebung haben. Sie erfordern eine einfühlsame, sich
fähigkeit und des Durchhaltevermögens beobachtet an dem Menschen und seiner individuellen Situation
werden. orientierende Pflege.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 249


KaelDesu
13 Bewusstsein

Hoehl, M., P. Kullick (Hrsg.): Gesundheits- und Kinderkranken-


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praxisbezogen. 10. Aufl. Thieme, Stuttgart 2006 Prüfungswissen für Pflegeberufe. 3. Aufl. Urban & Fischer,
Dillinger, H., C. Reimer: Psychiatrie und Psychotherapie. Sprin- München 2005
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Hogrefe AG, Bern 2013 Handbuch für Pflege- und Gesundheitsberufe. Hogrefe,
Haupt, W. F., E. Gouzoulis-Mayfrank: Neurologie und Psychia- Bern 2016
trie für Pflegeberufe. 11. Aufl. Thieme, Stuttgart 2016 Vetter, B.: Psychiatrie. 17. Aufl. Schattauer Stuttgart 2007

13

250 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu

14 Körpergröße
Eva Eißing

Übersicht
Einleitung · 251
14.1 Ermittlung der Körpergröße · 251
14.1.1 Indikationen zur Messung der
Körpergröße · 251
14.1.2 Ermittlung der Körpergröße beim
Erwachsenen · 252
14.2 Allgemeine Beobachtungskriterien und
Beschreibung des Normalzustands · 252
14.2.1 Entwicklung der Körperlänge · 253
14.3 Abweichungen und Veränderungen der
Körpergröße und deren mögliche
Ursachen · 254
14.3.1 Abweichungen der Körpergröße nach Einleitung
„oben“ · 255
14.3.2 Abweichungen der Körpergröße nach Die Körpergröße bestimmt zu einem erheblichen
„unten“ · 255 Maß die Gestalt und das Aussehen eines Menschen.
14.4 Ergänzende Beobachtungskriterien · 256 Damit hat sie entscheidenden Einfluss auf den ersten
14.5 Besonderheiten bei Kindern · 256 Eindruck, der von einem Menschen gewonnen wird.
14.5.1 Somatogramm · 257 Sie gehört zu den objektiv messbaren Daten und er-
14.5.2 Perzentilenkurve · 257 möglicht es, zusammen mit dem Beobachtungskrite-
14.5.3 Ermittlung der Körpergröße · 257 rium „Körpergewicht“, Aussagen über den Ernäh-
14.5.4 Abweichungen und Veränderungen der rungszustand eines Menschen zu treffen. Besondere
Körpergröße · 259 Bedeutung erlangt die Ermittlung der Körpergröße
14.5.5 Ergänzende Beobachtungskriterien · 260 beispielsweise im Zusammenhang mi der Beurtei-
14.6 Besonderheiten bei älteren lung des Entwicklungszustands von Kindern. Weicht
Menschen · 260 die Körpergröße eines Menschen stark vom Normal-
14.6.1 Osteoporose · 260 zustand ab, können für ihn vielfältige Probleme so-
14.7 Fallstudien und mögliche wohl bei der Bewältigung alltäglicher Verrichtungen 14
Pflegediagnosen · 261 als auch im psychosozialen Bereich entstehen.
Fazit · 265
Literatur · 265 Definition: Unter der Körpergröße wird die ge-
samte Länge des Körpers, von dem Scheitel bis zur
Schlüsselbegriffe: Sohle, verstanden. Sie wird in Zentimetern ange-
geben.
왘 Somatogramm
왘 Perzentilenkurve
왘 Mikrosomie 14.1 Ermittlung der Körpergröße
왘 Makrosomie

왘 Chondrodystrophie 14.1.1 Indikationen zur Messung der


왘 Osteoporose Körpergröße
왘 Akromegalie Die Körpergröße wird zur Beurteilung des Körperge-
wichts, der Bestimmung der Körperoberfläche und
zur Beurteilung von Wachstumsstörungen ermittelt.
Will man die Körpergröße bewerten, müssen zu-
sätzliche Kriterien wie Alter, Geschlecht, Rasse und

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 251


KaelDesu
14 Körpergröße

Erkrankungen, die Einfluss auf die Körpergröße ha- Bedingungen für die Größenmessung
ben, berücksichtigt werden. Gültige Werte können nur bei vergleichbaren Mess-
bedingungen ermittelt werden, deswegen sollte die
14.1.2 Ermittlung der Körpergröße beim Messung möglichst immer zur selben Zeit erfolgen.
Erwachsenen

!
Die Messung erfolgt an einer geeichten Messlatte, Merke: Eine morgendliche Messung ist zu
die entweder an der Wand oder an einer Waage be- bevorzugen, da der Körper abends häufig
festigt ist. Befindet sich die Messlatte an einer Waa- „kürzer“ ist.
ge, so muss sie auf Tritthöhe geeicht sein (Abb. 14.1).
Gemessen wird immer die „Scheitel-Sohlen-Länge“. Die Ursache hierfür liegt in den knorpeligen Band-
Für die Messung muss die Person aufrecht, mit dem scheiben, die durch die Körperlast im Laufe des Tages
Rücken zur Messlatte, mit geschlossenen Fersen und zusammengedrückt werden. Bei insgesamt 24 Band-
gestreckten Knien stehen. Der Hinterkopf lehnt hier- scheiben kann dies 1 – 2 Zentimeter ausmachen. Es
bei leicht gegen die Messlatte. Die Schieberplatte sollte außerdem immer ohne Schuhe gemessen wer-
wird nun auf den Scheitel der Person aufgelegt – al- den.
ternativ kann auch ein Lineal verwendet werden –
und die genaue Höhe abgelesen. Ermittlung der Körpergröße mithilfe der
Kniehöhe
Abb. 14.1 Funk- Bei Menschen mit starken Haltungsschäden (z. B.
fähige Säulenwaage durch Wirbelsäulenveränderungen) oder Bewe-
mit integriertem gungseinschränkungen bietet sich folgende Formel
Messstab
(seca gmbh & co. kg)
für die Ermittlung der (annäherungsweisen) Körper-
größe mithilfe der Kniehöhe an (nach DBFK 2007):
Männer: Größe (cm) = 64,19 – (0,04 ⫻ Alter in Jah-
ren) ⫹ (2,02 ⫻ Kniehöhe in Zentimeter)
Frauen: Größe (cm) = 84,88 – (0,24 ⫻ Alter in Jah-
ren) ⫹ (1,83 ⫻ Kniehöhe in Zentimeter)

Dokumentation
Die Dokumentation der ermittelten Werte erfolgt
zumeist in einer festgelegten Spalte des Dokumen-
tationssystems. Da es sich größtenteils um eine ein-
malige Ermittlung handelt, Ausnahmen bilden be-
14 sondere Situationen in der Orthopädie und Pädiatrie
(s. a. S. 260), wird die Körpergröße häufig in einer
Rubrik zusammen mit dem Körpergewicht doku-
mentiert (Abb. 14.2).
Haltungsschäden wie z. B. die Skoliose, bei der es
zu einer seitlichen Verbiegung der Wirbelsäule mit
Verdrehung der Wirbelkörper kommt, bewirken,
dass die Größenbestimmung nicht korrekt ist. Hier
muss ein entsprechender Vermerk in der Dokumen-
tation erfolgen.

14.2 Allgemeine Beobachtungs-


kriterien und Beschreibung
des Normalzustands
Definition: Unter körperlicher Entwicklung
wird die Summe aller Wachstumsvorgänge im
Organismus verstanden.

252 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
14.2 Allgemeine Beobachtungskriterien und Beschreibung des Normalzustands

Abb. 14.2 Dokumentation der Körpergröße

Zu den messbaren Größen der körperlichen Entwick- liegt beim Kind an der Grenze zwischen Schaft und
lung zählt die Körperlänge. Diese ist abhängig von Gelenkkörper.
der Skelettreifung und diese wiederum vom entspre- Die Wachstumsfuge besteht aus Knorpelzellen.
chenden Entwicklungsalter. Die durchschnittliche Durch Umbauvorgänge, in denen hauptsächlich die
Körpergröße einer erwachsenen Frau wird mit Knorpelzellen abgebaut und durch Knochenzellen
167 cm ⫾ 11 cm angegeben, bei einem erwachsenen ersetzt werden, entsteht Knochengewebe. Dieser
Mann mit 177 cm ⫾ 13 cm. Vorgang erfolgt bis zum Ende der Wachstumszeit, 14
Im Somatogramm sind die normalen Körperlän- d. h. der Knorpel ist am Ende der Wachstumszeit
gen in Relation zum Alter gesetzt und tabellarisch vollständig durch Knochen ersetzt.
zusammengefasst (s. a. S. 256). Außer dem Somato- Wird dieser Prozess gestört, z. B. durch Frakturen,
gramm gibt es weitere sog. „Normaltabellen“, bei de- hormonelle Fehlregulation etc., kann der Röhren-
ren Verwendung immer bedacht werden muss, dass knochen sich nicht vollständig ausbilden, was einen
die normale Körpergröße innerhalb der Bevölkerung mehr oder weniger erheblichen Einfluss auf die end-
mehr oder weniger stark schwankt. gültige Körperlänge hat.

14.2.1 Entwicklung der Körperlänge Hormone


Die Entwicklung der Körperlänge ist von nachfol- Auf das Wachstum fördernd wirken das Hypophy-
gend beschriebenen Faktoren abhängig. senhormon HGH (Human Growth Hormon), das frü-
her als STH (Somatotropes Hormon) bezeichnet wur-
Skelettentwicklung de, sowie die Schilddrüsenhormone Thyroxin und
Das Längenwachstum ist an die Knochenentwick- Trijodthyronin. Einen hemmenden Einfluss auf das
lung gebunden. Die Knochenbildung geschieht durch Wachstum haben im Wesentlichen die Geschlechts-
Umwandlung von Knorpelgewebe in Knochengewe- hormone.
be an der Epiphysenfuge der Röhrenknochen. Diese

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 253


KaelDesu
14 Körpergröße

Das Ende des Wachstums ist demnach eng mit der durch Dunstschichten und Fensterglas – UV-Licht
Pubertät, zwischen 15 und 20 Jahren, verbunden. Bei wird resorbiert –, hat einen Vitamin-D-Mangel zur
Mädchen/Frauen endet das Wachstum in der Regel 2 Folge. Dies führt zu Regulationsstörungen im Kalzi-
Jahre früher als bei den Jungen/Männern. Sie sind aus umhaushalt, was eine Kalkmobilisation aus dem
diesem Grund durchschnittlich 10 – 12 cm kleiner. Knochen bewirkt. Es kommt bei Säuglingen und Kin-
dern zu einer verzögerten Skelettreifung mit typi-
Gene schen Verformungen und Verkrümmungen einzel-
Die Körpergröße bzw. -länge wird ganz entscheidend ner Knochen und der Wirbelsäule. Bei Kindern ist
von den Genen bestimmt. So sind Männer durch- dieses Krankheitsbild unter dem Namen Rachitis be-
schnittlich größer als Frauen (s. o.), Japaner meistens kannt. Regulationsstörungen des Kalziumhaushaltes
kleiner als Angehörige einer europäische Menschen- im Erwachsenenalter können zur Osteoporose füh-
rasse. Bei eineiigen Zwillingen kann man nach Ab- ren. (s. a. S. 260).
schluss des Wachstums eine gleiche Größe feststel-
len. Außerdem können verschiedene Knochener- Zusammenfassung:
krankungen, die sich auf die Körpergröße auswirken, Körpergröße
vererbt werden. Die Körpergröße muss mit einer Messlatte, immer
morgens und ohne Schuhe, gemessen werden.
Ernährung Haltungsschäden müssen in der Dokumentation
Der steigende Lebensstandard hat sich auch auf die vermerkt werden.
Ernährung des Menschen ausgewirkt. In der Zeit bis Die durchschnittliche Körpergröße ist bei der Frau
nach dem II. Weltkrieg bestanden die Mahlzeiten 167 cm ⫾ 11 cm, beim Mann 177 ⫾ 13 cm.
hauptsächlich aus Kohlenhydraten (Brot und Kartof- Skelettentwicklung, Hormone, Gene, Ernährung.
feln) und Fetten (Schmalz und pflanzliche Öle), da Ei- UV-Licht haben Einfluss auf das Längenwachstum
weiß in Form von Fleisch für viele Familien zu teuer eines Körpers.
war.
In den letzten 30 Jahren wird mehr Eiweiß in
14.3 Abweichungen und
Form von Fleisch und Fisch verzehrt. Diese Verände-
rung der Ernährung zeigt sich u. a. in der Änderung
Veränderungen der
der Körpergröße. So sind beispielsweise die Angehö- Körpergröße und deren
rigen der gut ernährten Bevölkerungsschichten im mögliche Ursachen
Durchschnitt größer als die der weniger gut ernähr-
ten Gruppen. Verschiedene Ursachen, in erster Linie aber die ver-
mehrte bzw. verminderte Ausschüttung von Wachs-
14 Sonstige Faktoren tumshormonen, führen zu Veränderungen des Kör-
Seit der Jahrhundertwende gibt es ein das Längen- perwachstums. Für die Abweichungen nach oben
wachstum betreffendes Phänomen: die Menschen bzw. nach unten werden verschiedene Begriffe ver-
werden größer. Betroffen sind neben dem Längen- wendet, die sich an dem Ausmaß der Abweichung in
wachstum auch Gehirn, Zähne, innere Organe sowie Zentimetern orientieren (Tab. 14.1).
die Geschlechtsorgane. Dieses Phänomen ist in allen
Altersstufen sichtbar. Beispielsweise sind heute
Tab. 14.1 Abweichungen der Körpergröße
Schulanfänger durchschnittlich 8 cm größer als ihre
Altersgenossen zu Beginn des 20. Jhdts. Gründe hier- Frauen Männer
für sind der Wegfall wachstumshemmender Fakto-
Normalwerte 167 cm (⫾ 11 cm) 177 cm (⫾ 13 cm)
ren, wie eiweißarme Ernährung (s. o.), Kinderarbeit
und Infektionskrankheiten. Man nennt dieses Phä- Makrosomie ca. 180 cm ca. 190 cm
nomen säkulare Akzeleration. Gigantismus ⬎ 200 cm ⬎ 210 cm
Auch ein Mangel an UV-Licht kann sich auf die
Skelettentwicklung auswirken. UV-Licht bewirkt die Mikrosomie ⬍ 140 cm ⬍ 150 cm

Umwandlung von Provitamin D, welches mit der Nanosomie ⬍ 130 cm ⬍ 130 cm


Nahrung aufgenommen und in der Haut angerei-
chert wird, in Vitamin D. Ein Mangel an UV-Licht, z. B.

254 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
14.3 Abweichungen und Veränderungen der Körpergröße und deren mögliche Ursachen

14.3.1 Abweichungen der Körpergröße nach Dies bedeutet, dass bei Frauen die Körpergröße
„oben“ 200 cm und bei Männer 210 cm überschreitet. Die
Übersteigt die Körperlänge den Durchschnittswert, Ursachen liegen wie bei der Makrosomie in der ver-
wird dies als Makrosomie oder Gigantismus bezeich- mehrten Bildung von Wachstumshormonen.
net.
Akromegalie
Makrosomie (Hochwuchs) Definition: Unter einer Akromegalie versteht
Als Hochwuchs wird die pathologische Steigerung man die Vergrößerung der Akren, der distalen
des Längenwachstums bezeichnet. Hierfür ist auch Teile des Körpers wie Finger, Hände, Füße, Nase,
der Begriff „Überlänge“ gebräuchlich. Kinn, Augenbrauen, Jochbein und Kehlkopf.

Definition: Eine Makrosomie liegt dann vor, Entsprechend ist auch die Symptomatik. Die betrof-
wenn die Körperlänge bis ca. 30% überschritten fenen Menschen stellen u. a. fest, dass sich die Schuh-
wird, d. h. bei einer Körperlänge von 180 cm bei und Handschuhgröße um 1 – 2 Nummern vergrö-
der Frau und 190 cm beim Mann. ßert, der Hut zu klein geworden ist und Ringe nicht
mehr passen. Hinzu kommt ein klobiges, grobes Aus-
Die Ursache des Hochwuchses liegt in der vermehr- sehen des Gesichts und eine tiefe Stimme
ten Bildung von Wachstumshormonen vor dem (Abb. 14.3).
Wachstumsabschluss, beispielsweise bei Hypophy- Die Ursache liegt auch hier in einer übermäßigen
senerkrankungen, einer Hyperthyreose oder auch ei- Produktion von Wachstumshormonen, doch im Ge-
nem Hydrozephalus. gensatz zur Makrosomie und dem Gigantismus ist
die Skelettreifung bereits abgeschlossen, was bedeu-
Gigantismus (Riesenwuchs) tet, dass die Akromegalie erst im Erwachsenenalter
Definition: Ist die durchschnittliche Körperlän- auftritt und lediglich die distalen Teile des Körpers
ge um 30% bis 40% überschritten, so liegt ein pro- weiterwachsen. Für die vermehrte Produktion der
portionaler Riesenwuchs bzw. Gigantismus vor. Wachstumshormone ist häufig ein Adenom in der
Hypophyse verantwortlich.

14.3.2 Abweichungen der Körpergröße nach


„unten“
Wie bei den Abweichungen der Körpergröße nach
„oben“ werden auch bei dem verminderten Längen-
wachstum verschiedene Erkrankungen unterschie-
den, die das Ausmaß der Störung beschreiben. 14
Mikrosomie (Kleinwuchs)
Definition: Beträgt die Körpergröße nach Ab-
schluss des Längenwachstums weniger als
140 cm bei Frauen und weniger als 150 cm bei
Männern, so liegt eine Mikrosomie vor.

Liegt die Ursache des Kleinwuchses in dem Mangel


bzw. dem Fehlen von Wachstumshormonen, so
spricht man auch von einem hypophysären oder en-
dokrinen Kleinwuchs. In der Regel wird der Wachs-
tumsrückstand bei dieser Form erst ab dem 3. Le-
bensjahr auffällig. Zerebrale Geburtstraumen oder
Hirntumore können beispielsweise den Ausfall bzw.
Abb. 14.3 a – c Akromegalie. a Spatenförmig vergrößerte Hand Mangel an Wachstumshormonen ebenso verursa-
mit breiten und groben Hautleisten b Vergröberte Gesichtszüge,
chen wie schwere Allgemeinerkrankungen und Un-
prominente Nasolabialfalte und Unterlippe c Die Zunge ist deut-
lich vergrößert (Makroglossie) ternährung.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 255


KaelDesu
14 Körpergröße

Eine Hemmung der Bildung von Wachstumshor- Durchschnittswert wird als Gigantismus bezeich-
monen und damit ein Stillstand des Längenwachs- net.
tums bei Kindern kann durch eine Überproduktion Durch übermäßige Produktion der Wachstumshor-
von Cortisol hervorgerufen werden. Cortisol ist ein mone im Erwachsenenalter, nach der Skelett-
Hormon, welches in der Nebennierenrinde gebildet reifung, entsteht Akromegalie.
wird, entzündungshemmend wirkt und in den Er- Mikrosomie liegt bei einer Größe von unter 140 cm
nährungsstoffwechsel ein greift. Neben dem verän- bei Frauen und 150 cm bei Männern vor.
derten Längenwachstum ist deshalb auch eine verän- Fehlen von Wachstumshormonen, zerebrale Ge-
derte Fettverteilung in Form einer Stammfettsucht, burtstraumen, Tumore, schwere Allgemeinerkran-
eines Vollmondgesichtes und Stiernackens auffällig. kungen, Unterernährung, Überproduktion von Cor-
Eine weitere Ursache für eine Mikrosomie ist auch tisol oder vorzeitiger Verschluss der Epiphysenfu-
der vorzeitige Verschluss der Epiphysenfugen, z. B. gen können Ursachen für Kleinwuchs sein.
nach Frakturen oder bei Knochenmarkserkrankun- Chondrodystrophie oder Achondroplasie ist eine
gen. Der betroffene Knochen kann nicht mehr wei- Störung der Knorpelbildung und führt zu dispro-
terwachsen, die Folge ist ein Längenunterschied ein- portioniertem Zwergwuchs.
zelner Gliedmaßen. Ist beispielsweise ein Bein be-
troffen, entwickelt sich oftmals ein Beckenschief-
stand und die Wirbelsäule krümmt sich entspre- 14.4 Ergänzende
chend. Sind beide Beine betroffen, so verringert sich Beobachtungskriterien
die gesamte Körpergröße bei normaler Länge des
Körperstammes. Die isolierte Betrachtung der Körpergröße spielt im
klinischen Alltag kaum eine Rolle. Um die Größe zu
Nanosomie (Zwergwuchs) beurteilen und Abweichungen von der Norm festzu-
Definition: Die Nanosomie ist eine Wachs- stellen, müssen weitere Faktoren beachtet werden
tumsstörung, bei der nach Abschluss des Län- (s. a. S. 251). Daneben sollten auch immer z. B. die
genwachstums die Körpergröße bei Frauen und Körperhaltung und die Bewegungen beobachtet
Männern 130 cm nicht überschreitet. werden, um mögliche körperliche Auswirkungen der
Wachstumsstörung festzustellen.
Die Ursachen entsprechen denen der Mikrosomie. Da Wachstumsstörungen und damit verbundene
Veränderungen des Aussehens häufig Auswirkungen
Chondrodystrophie (Achondroplasie) auf die psychische Verfassung haben, ist die Beo-
Definition: Bei der Chondrodysthrophie, die bachtung der Stimmungslage der betroffenen Men-
neuerdings auch als Achondroplasie bezeichnet schen von Bedeutung. Bei Kindern kann ein verzö-
14 wird, handelt es sich um eine Störung der Knor- gertes oder fehlendes körperliches Wachstum in
pelbildung infolge Fehlens der Knorpel-Wachstumsfu- Verbindung mit einer geistigen Entwicklungsver-
ge mit stark verzögerter Knochenbildung. zögerung auftreten. Hier muss deshalb auch immer
der geistige Entwicklungszustand beachtet wer-
Alle Röhrenknochen bleiben kurz, das Breitenwachs- den.
tum findet ungehindert statt. Dies führt zu einem
disproportionierten Zwergwuchs mit kurzen Armen
und Beinen, einem kurzen Hals sowie einem großen, 14.5 Besonderheiten bei Kindern
meist deformierten Schädel. Außerdem ist das Be- Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm
cken verengt und die Wirbelsäule in Form einer Lor-
dose gekrümmt. Die Chondrodystrophie wird zu- Die Körpergröße bei der Geburt und die Größenzu-
meist vererbt. nahme ist im Verlauf der Kindheit ein zusätzlich
wichtiger Anhaltspunkt für die Beurteilung der kör-
Zusammenfassung: perlichen Entwicklung eines Kindes. Weitere wichti-
Abweichungen und Veränderungen der Kör- ge Anhaltspunkte sind Alter, Kopfumfang und Ge-
pergröße wicht. Das Wachstum eines Kinds erfolgt nicht
Wenn die Körperlänge um 30% überschritten wird, gleichmäßig, sondern schubweise. Es kann jedoch
spricht man von Makrosomie, 30 – 40% über dem durch verschiedene innere und äußere Faktoren be-
einflusst werden (s. a. S. 252).

256 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
14.5 Besonderheiten bei Kindern

14.5.1 Somatogramm bis zum sechsten Lebensjahr vorgesehen. Für Ju-


Um den körperlichen Entwicklungsstand eines Kin- gendliche werden die Untersuchungen J1 (13. –
des festzustellen, wird häufig ein Somatogramm ver- 14. Lebensjahr) und J2 (16. – 17. Lebenjahr) angebo-
wendet. Es handelt sich hierbei um eine Tabelle, in ten. Werden diese Termine wahrgenommen und die
der Alter, Größe und Gewicht eines Kindes in Bezie- Ergebnisse in der Kurve dokumentiert, kann anhand
hung gesetzt werden (Tab. 14.2). Hierzu werden die dieser Kurve der Entwicklungsverlauf eines Kindes
verschiedenen Daten eines Kindes in den entspre- beurteilt werden.
chenden Spalten markiert und durch eine Linie mit- Um eine Abweichung von der Norm schnell fest-
einander verbunden. stellen zu können, sind meistens bereits die 97., 50.
Da in den seltensten Fällen die Linie gerade ver- und 3. Perzentile eingezeichnet. Diese Perzentilen
laufen und damit einen optimalen Entwicklungs- bedeuten:
stand angeben wird, befinden sich jeweils neben den 97. Längenperzentile: von 100 Kindern eines be-
Spalten mit den Normalwerten Spalten, die eine stimmten Alters sind 97 so groß oder kleiner und
mögliche Abweichung angeben. Diese Spalten sind 3 größer als der abgelesene Wert,
mit ⫾ 2 σ gekennzeichnet (doppelte Standardabwei- 50. Längenperzentile: diese Perzentile wird auch
chung) und geben die noch in die Norm fallende Ab- als die Medianperzentile bezeichnet, da sie den
weichung an. Sie entsprechen dem Abstand zwi- mittleren Durchnittswert angibt,
schen der 3. und 97. Perzentile (s. a. S. 257). 3. Längenperzentile: von 100 Kindern eines be-
So würde beispielsweise ein 6,5 Jahre altes Mäd- stimmten Alters sind 3 so groß oder kleiner und
chen mit einer Größe von 126 cm und einem Gewicht 97 größer.
von 23,2 kg immer noch in der Norm liegen. Bei der
Betrachtung der ermittelten Werte wird dann die Alle ermittelten Werte, die zwischen der 3. und
Körpergröße mit dem Alter in Beziehung gesetzt und 97. Längenperzentile liegen, gelten als Normwerte.
geprüft, ob ein vermindertes oder beschleunigtes Abweichungen nach oben oder nach unten kenn-
Längenwachstum vorliegt. Dasselbe erfolgt mit Alter zeichnen eine vermehrtes oder vermindertes Län-
und Gewicht sowie Körpergröße und Gewicht. genwachstum.
Die Ermittlung der Körpergröße eines Neugebo-
14.5.2 Perzentilenkurve renen erfolgt direkt nach der Geburt. Als Normwerte
In Ergänzung und Differenzierung zum Somato- werden hier 45 – 55 cm angesehen.
gramm, welches den Entwicklungsstand eines Kin- Etwa 5% der Neugeborenen werden vor der
des beschreibt, kann mithilfe der Perzentilenkurve 37. SSW geboren. Sie sind laut Definition „Frügebore-
(Tab. 14.2) der Entwicklungsverlauf anschaulich be- ne“, wenn auch ihr Gewicht unter 2500 g liegt. Bei
schrieben werden. Frühgeborenen misst man definitionsgemäß eine
Körperlänge unter 47 cm. Sie ist abhängig von der 14
Definition: Bei den Perzentilenkurven handelt Schwangerschaftsdauer.
es sich um Normalverteilungskurven, die von
Carl-Friedrich Gauss (1777 – 1855, Mathemati- 14.5.3 Ermittlung der Körpergröße
ker und Astronom) ermittelt und in Hunderstelwerte, Zur Ermittlung der Körpergröße kommen bei Kin-
den Perzentilen, umgerechnet wurden. dern verschiedene Verfahren zur Anwendung. So
kann die Messung mit einer Messmulde/Messbrett,
Die Perzentilenkurven werden als Diagramm darge- einem Maßband oder einer Messlatte erfolgen. Die
stellt. Auf dem vertikalen Schenkel ist die Körpergrö- Wahl des Hilfsmittels ist abhängig vom Alter des Kin-
ße in Zentimetern, auf dem horizontalen Schenkel des und von dessen Fähigkeit, gerade zu stehen.
das Alter in Monaten angegeben. Bei den verschiede- Die Messmulde, eine abwaschbare Plastikhalb-
nen Vorsorgeuntersuchungen wird nun jeweils die schale mit seitlicher Skala zum Ablesen des ermittel-
Größe entsprechend dem Alter eingetragen, sodass ten cm-Wertes, wird häufig bei Früh- und Neugebo-
eine Kurve entsteht. renen, Säuglingen und Kleinkindern angewendet.
In den Kinderuntersuchungsheften, die jedes Um eine korrekte Messung durchführen zu können
Kind zur Früherkennung von Krankheiten direkt und die Sicherheit des Kindes zu gewährleisten, wer-
nach der Geburt erhält, sind insgesamt 12 Untersu- den zumeist 2 Personen benötigt. Um dem Kind die
chungstermine für den Zeitraum vom 1. Lebenstag Maßnahme etwas angenehmer zu gestalten, wird die

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 257


KaelDesu
14 Körpergröße

Tab. 14.2 Somatogramm und Perzentilenkurve (aus: Hoehl, M., Kullick, P. [Hrsg.]: Thiemes Gesundheits- und Kinder-
krankenpflege. 3. Aufl. Thieme, Stuttgart 2008)

Somatogramm Perzentilenkurve

Mit dem Somatogramm kann der Entwicklungszustand Mit der Perzentilenkurve lässt sich der Entwicklungsverlauf
anschaulich beurteilt werden (hier am Beispiel eines 13-jährigen beurteilen (in dieser Kurve von Jungen ab der 28. Schwanger-
Mädchens). schaftswoche bis 8 Wochen nach Termin).

Mädchen Name: .................................. Geb.-Dat: .........................

Jahre cm ± 2σ kg ± 2σ 28 30 32 34 36 38 40 2 4 6 8
cm cm
%
177 67,5 60 60
Länge 90
176 66,8
58 Knaben 28 SSW–8 Wochen n. Termin 58
175 66,1
50
174 65,4 56 56
intrauterin
173 64,7
extrauterin 10
172 64,0 54 54
171 63,0
52 52
170 62,0
169 61,0 50 50
168 60,0
48
167 59,0 kg
%
19 166 11 58,0 46
90
5,6
165 56,0 44
+19,0 5,2
164 54,5 %
13,5 42 50
163 53,5 90
4,8
14 162 13 52,5 40
50 4,4
10
38
161 50,8
10 4,0
160 49,2 +19,0 36
13
14 159 47,6 13,5 3,6
13 158 46,0 34
3,2

157 45,1 kg
Gewicht 2,8
156 44,2
+19,0
14 2,4 2,4
155 43,3
13,0
154 42,4
2,0 2,0
%
12 153 41,5
90
1,6 1,6
152 40,9 50
1,2 1,2
151 40,3 10
150 39,4 +16,5 0,8 0,8
14
149 38,5 11,0
148 37,5 28 30 32 34 36 38 40 2 4 6 8
11 147 36,6
Gestationsalter (Wochen) Alter nach Termin

258 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
14.5 Besonderheiten bei Kindern

streckt. Das Maßband wird zunächst nur bis zum


Hüftgelenk angelegt, dann erfolgt ein Umgreifen und
das Weitermessen. Die Körperlänge kann nun in Hö-
he der Fußsohlen oder der Scheitelhöhe abgelesen
werden. Diese Methode der Größenmessung kann
auch bei Frühgeborenen im Inkubator angewendet
werden.
Ist das Kind bereits älter, kann oder darf aber nicht
aufrecht stehen, erfolgt die Messung folgenderma-
ßen:
das Kind auf eine mit einem glatten Tuch be-
spannte Unterlage legen und evtl. durch eine Per-
son gestreckt halten,
in Scheitel- und Fußsohlenhöhe eine Markierung
Abb. 14.4 Infantometer zur stationären Längenmessung von
auf dem Tuch anbringen,
Säuglingen und Kleinkindern (seca gmbh & co. kg) das Kind von der Unterlage nehmen,
die Entfernung der beiden Punkte mittels Maß-
band ermitteln (Abb. 14.5).
Messmulde mit einer Stoffwindel ausgelegt. Dann
wird das Kind vorsichtig hineingelegt, wobei der Die Anwendung der Messlatte entspricht dem Ver-
Scheitel dem oberen, feststehenden Teil der Mess- fahren zur Messung der Körpergröße bei Erwachse-
mulde anliegen muss. Eine Person hält nun das Kind nen (s. a. S. 251).
seitlich an den Schläfen fest. Die zweite Person
streckt dann vorsichtig die Beinchen des Kindes und 14.5.4 Abweichungen und Veränderungen der
führt den beweglichen Schieber der Messmulde zu Körpergröße
den Füßchen. Diese sollten sich in einer 90⬚-Stellung Störungen des Längenwachstums nach oben, wie die
befinden. Das Anlegen des Kopfes, das Strecken der Makrosomie und der Gigantismus (s. a. S. 255), zeigen
Beinchen sowie die Einstellung der Füßchen in den sich oftmals bereits in den ersten Perzentilenwerten.
90⬚-Winkel muss besonders bei Früh- und Neugebo- Um eine genaue Diagnose stellen zu können und um
renen sehr vorsichtig erfolgen, um Verletzungen be- eine entsprechende Therapie einzuleiten, müssen
sonders der Fontanelle zu vermeiden. Danach kann frühzeitig bei festgestellten Abweichungen verschie-
an der Messskala die Körperlänge abgelesen werden dene Untersuchungen durchgeführt werden.
(Abb. 14.4). Hierzu gehört auch die Feststellung der Körper-
Eine andere Möglichkeit der Messung der Körper- größe der Eltern (s. a. S. 252). 14
länge bei einem liegenden Kind besteht in der Ver- Anzeichen für eine Mikrosomie oder eine Nano-
wendung eines Maßbandes. Hierzu wird das Kind somie (s. a. S. 255) finden sich ca. ab dem 3. Lebens-
auf den Rücken oder auf die Seite gelegt und das jahr, im Gegensatz zur Chondrodystrophie, die be-
Maßband (0 cm) in Scheitelhöhe oder an der Ferse reits bei der Geburt u. a. an kurzen plumpen Glied-
angelegt. Die Knie des Kindes werden ganz sanft maßen und Schädeldeformierungen erkennbar ist.
durchgedrückt und die Beinchen vorsichtig ausge-

Abb. 14.5 Längenmessung bei ei-


nem liegenden Kind

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 259


KaelDesu
14 Körpergröße

14.5.5 Ergänzende Beobachtungskriterien Insgesamt verringert der alte Mensch seine Körper-
Da die Körpergröße allein keinen Aussagewert hat, größe um ca. 3 – 4 cm.
müssen weitere Kriterien parallel beobachtet wer-
den (s. a. S. 251 und S. 256). Bei Kindern müssen zu- 14.6.1 Osteoporose
sätzlich die Sprachentwicklung, Reflexe und Reaktio- Definition: Osteoporose ist eine Verminde-
nen sowie die Wahrnehmungs- und Beobachtungs- rung von Knochengewebe durch gesteigerten
fähigkeit beachtet werden, da diese u. a. Rückschlüs- Knochenabbau und/oder verminderten Kno-
se auf die geistige Entwicklung eines Kindes zulas- chenaufbau.
sen, dessen Verzögerung oder Verminderung auch
im Zusammenhang mit einem verzögerten oder feh- Mit einem Anteil von ca. 10 % der Gesamtbevölke-
lenden Körperwachstum auftreten kann. rung stellt sie die häufigste Skeletterkrankung dar. Es
sind verschiedene Ursachen dafür verantwortlich,
z. B. Kalziummangel, genetische Disposition oder
Alter. Am häufigsten sind Frauen betroffen. Nahezu
14.6 Besonderheiten bei älteren jede 3. Frau entwickelt nach der Menopause eine
Menschen Osteoporose.
Eva Eißing Infolge der Knochenveränderung kann es sowohl
zu Schmerzen als auch zu Brüchen im betroffenen
Im Alter nimmt der Wassergehalt der Bandscheiben Bereich kommen. Sehr häufig ist die Verformung der
ab, sie werden schmaler und der Abstand zwischen Wirbelsäule mit Bildung des typischen Rundrückens
den einzelnen Wirbelkörpern verringert sich. Die (Abb. 14.6). Diese Verformung vollzieht sich meist
Folge ist, dass der Mensch insgesamt kleiner wird, er über viele Jahre und entsteht dadurch, dass die Spon-
schrumpft sozusagen. Hinzu kommt die zunehmen- giosa im Bereich der Lenden- und Brustwirbelsäule
de Abnahme der Knochensubstanz, wodurch der zusammensackt und die Wirbelkörper die Last des
Knochen mehr und mehr zusammengepresst wird. Körpergewichts nicht mehr tragen können. Infolge-
dessen verringert sich auch die Körpergröße.

Abb. 14.6 Veränderungen des Skeletts


bei Osteoporose

14

260 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
14.7 Fallstudien und mögliche Pflegediagnosen

Zusammenfassung: die Bewältigung der alltäglichen Verrichtungen,


Besonderheiten bei Kindern und älteren Haltungsschäden und Skelettveränderungen zu-
Menschen meist durch Überlastung einzelner Knochen-
Der Entwicklungsstand eines Kinds wird mithilfe und/oder Muskelgruppen, infolgedessen Schmer-
eines Somatogramms verfolgt, in dem Alter, Größe zen,
und Gewicht eines Kinds in Beziehung zueinander psychische Probleme aufgrund des veränderten
gesetzt werden. Aussehens.
Der Verlauf der Entwicklung lässt sich auf einer Per-
zentilenkurve mit Normwerten und Abweichungen Beispiel: Fr. Oswald, 54 Jahre, leidet seit 10
der Körpergröße im Verhältnis zum Alter ablesen. Jahren an einer ausgeprägten Osteoporose.
Bei Kleinkindern kann die Körpergröße durch eine Durch die Bewegungseinschränkung und
Messmulde oder mit einem Maßband ermittelt starke Schmerzen fallen ihr die alltäglichen Verrich-
werden. tungen, insbesondere die morgendliche Körperpflege
Mikrosomie oder Nanosomie sind ab dem 3. Le- und das Ankleiden, zunehmend schwerer.
bensjahr, die Chondrodystrophie bereits nach der Fr. Oswald leidet an der bereits sichtbaren Deformie-
Geburt erkennbar. rung der Brustwirbelsäule in Richtung eines Rund-
Durch abnehmenden Wassergehalt der Bandschei- rückens. Ihre Angst vor verletzenden Bemerkungen
ben oder infolge von Osteoporose nimmt bei alten bzgl. ihres Aussehens und die körperlichen Beschwer-
Menschen die Körpergröße ab. den haben dazu geführt, dass ihre sozialen Kontakte
immer weniger geworden sind (Tab. 14.3).
Zu der oben aufgeführten Fallstudie von Fr. Oswald
14.7 Fallstudien und mögliche kann auch eine Pflegediagnose erstellt werden, wie sie
Pflegediagnosen in der folgenden Übersicht dargestellt ist:

Veränderungen der Körpergröße können Auswir-


kungen auf verschiedene Bereiche haben. Eine be-
sondere Rolle spielen hierbei:

Körperbildstörung (P)* kulturell


(Gordon 2013, S. 380 – 381, NANDA-I 2016) entwicklungsbedingte Veränderungen
Disturbed body image (00118) (1973, 1998) Krankheit
Taxonomie II: Domäne 6: Selbstwahrnehmung, Behandlung
Klasse 3: Körperbild Verletzung
wahrnehmungsbedingt
Diagnosetyp (Dokumentationsform): aktuelle Pflege- 14
psychosozial
diagnose (PES)
spirituelle
Funktionelles Gesundheitsverhaltensmuster:
chirurgischer Eingriff
Selbstwahrnehmung und Selbstbild
Trauma
Definition
Kennzeichen oder Symptome (S)
Verwirrung bezüglich des mentalen Bildes über das eigene
Hauptkennzeichen
physische Selbst
(Äußerungen über eine tatsächliche oder wahrge-
Einflussfaktoren (E) nommene Veränderung der Struktur und/oder Funk-
(Nicht-Integration von Veränderungen [z. B. von Kör- tion des Körpers oder eines Körperteils)
permerkmalen, Körperfunktionen oder Grenzen]) (Äußerungen über Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit
(wahrgenommene Entwicklungsmängel/-schwächen) und/oder Machtlosigkeit in Bezug auf den Körper und
(Adipositas) die Furcht vor Zurückweisung durch andere)
biophysisch (und einer oder mehrere der folgenden Punkte:)
kognitiv (Äußerungen über negative Gefühle gegenüber dem
eigenen Körper [z. B. schmutzig, dick, klein,
* Dieser Zustand ist oft Gegenstand von Interventionen unansehnlich])
(d. h. ein Einflussfaktor)

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 261


KaelDesu
14 Körpergröße

(wiederholte Äußerungen negativer Gefühle in Bezug Äußerungen über Wahrnehmungen, die eine verän-
auf den Verlust von Körperflüssigkeiten, deren Hinzu- derte Sichtweise auf die äußere Erscheinung wider-
fügen oder über Maschinen/Geräte) spiegeln
(wiederholte Äußerungen einer) Fokussierung auf ver- Verhalten, das auf eine Rückmeldung oder Bestäti-
gangene Stärken gung zum eigenen Körper gerichtet ist
(wiederholte Äußerungen einer) Fokussierung auf die Nonverbale Reaktion auf eine reale Veränderung des
frühere Funktion Körpers (z. B. Aussehen, Struktur, Funktion)
(wiederholte Äußerungen einer) Fokussierung auf das Nonverbale Reaktion auf eine wahrgenommene Ver-
frühere Aussehen änderung des Körpers (z. B. Aussehen, Struktur, Funk-
tion)
Nebenkennzeichen
Vermeidendes Verhalten bezüglich des eigenen Kör-
Äußerung über Veränderung der Lebensweise
pers
negative Gefühle (oder Wahrnehmungen) über den
Beobachtendes Verhalten bezüglich des eigenen Kör-
Körper (z. B. Gefühl der Hilflosigkeit, Hoffnungslosig-
pers
keit, Machtlosigkeit)
starke Auseinandersetzung mit der Veränderung objektiv
starke Auseinandersetzung mit dem Verlust reale Veränderung der Funktion
Ablehnung, die reale Veränderung zu überprüfen und reale Veränderung der Struktur
zu bestätigen Verhalten, das eine Rückmeldung oder Bestätigung
veränderte Fähigkeit, die räumliche Beziehung zwi- zum eigenen Körper sucht
schen dem Körper und dem Umfeld einzuschätzen beobachtendes Verhalten bezüglich des eigenen Kör-
Personalisierung des Körperteils durch Namensge- pers
bung fehlender Körperteil
Personalisierung des Verlustes durch Namensgebung unabsichtliches Verbergen des Köperteils
Depersonalisierung des Körperteils durch unpersönli- unabsichtliches zur Schau stellen des Körperteils
che Fürwörter subjektiv
Depersonalisierung des Verlustes durch den Gebrauch Furcht vor den Reaktionen anderer
unpersönlicher Fürworte
Erweiterung der Körpergrenzen, um Objekte aus der Pflegeergebnis (Outcome)
Umgebung einzuschließen (z. B. Maschinen, Beat- Körperbild (Body Image)
mungsgerät), Positive Wahrnehmung der eigenen Erscheinung und
Betonung der verbliebenen Stärken (oder) Körperfunktionen
überzogene Darstellung von erbrachten Leistungen Risikogruppen
Trauma in Bezug auf den nicht funktioniernden Kör-
Personen . . .
perteil (absichtlich oder unabsichtlich)
14 mit Hemiplegie
Veränderung in der sozialen Einbindung (oder in sozia-
nach dem Verlust eine Körperteils (z. B. Amputation
len Beziehungen)
eines Beins, einer Brust)
absichtliches Verbergen von Körperteilen
nach dem Verlust oder der Veränderung einer Körper-
absichtliches zur Schau stellen eines Körperteils
funktion (z. B. Fortpflanzungsfunktion, Ausscheidung)
berührt den Körper nicht
nach einem Gesichtstrauma
schaut den Körperteil nicht an
nach der Implantation eines Schrittmachers
Äußerungen über Gefühle, die eine veränderte Sicht-
mit angeborenen Anomalien (sichtbar)
weise auf den eigenen Körper widerspiegeln (z. B. Aus-
sehen, Struktur oder Funktion)

In diesem Fall würde die Pflegediagnose folgender- (subjektiv) Furcht vor Reaktionen anderer,
maßen lauten: Veränderungen in sozialen Beziehungen,
Körperbildstörung b/d (beeinflusst durch) Nicht-In- Äußerungen über eine tatsächliche oder wahrge-
tegration der Veränderung a/d (angezeigt durch): nommene Veränderung der Struktur und/oder
Funktion des Körpers oder eines Körperteils.

262 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
14.7 Fallstudien und mögliche Pflegediagnosen

Tab. 14.3 Auszug aus dem Pflegeplan von Fr. Oswald

Pflegeprobleme Ressource Pflegeziele Pflegemaßnahmen

Verminderung der sozialen 쐌 hält bestehende Kontakte 쐌 motivieren, auch während des Klinikauf-
Kontakte aufgrund körperli- aufrecht enthaltes Kontakte aufzunehmen und auf-
cher Beschwerden und rechtzuhalten (z. B. Telefon, Briefe)
Ängste bzgl. des Aussehens 쐌 freie Besuchszeiten
쐌 akzeptiert die Verände- 쐌 Hilfestellung geben bei der Akzeptanz des
rung ihres Aussehens veränderten Aussehens durch Gespräche,
Beratungsangebote und Hinweis auf die
Selbsthilfegruppe (Stereotypen vermeiden)
쐌 Familienangehörige zu Beratungsgesprä-
chen hinzuziehen (mit Einverständnis von
Fr. O.)
쐌 kennt Möglichkeiten, 쐌 Hinweis, dass durch ausgewählte und spe-
durch die Kleidung das ziell angepasste Kleidung die körperlichen
Aussehen positiv zu be- Veränderungen weniger sichtbar sind und
einflussen dadurch das Aussehen verbessert wird
쐌 Kontakt zur Schneiderin herstellen
schmerzhafte, einge- 쐌 Hilfsmittel: Haltegriffe, 쐌 erlernt Technik zur be- 쐌 Ermittlung von beschwerdefreien Be-
schränkte Bewegung bei der Duschsitz vorhanden schwerdearmen Durch- wegungsmöglichkeiten und daraus
Körperpflege und beim An- (auch zu Hause) führung der Körperpflege resultierend gemeinsam eine Technik zur
kleiden und des Ankleidens beschwerdearmen Durchführung der Kör-
perpflege und des Ankleidens entwickeln
쐌 erlernt physiotherapeuti- 쐌 Information über die Notwendigkeit von
sche Übungen zur Erhal- regelmäßigen (mind. 1 ⫻ tgl.) physiothe-
tung der Beweglichkeit rapeutischen Übungen (Beweglichkeit er-
und führt diese mind. halten, Muskulatur stärken, Schmerzen
1 ⫻tgl. selbstständig vermindern)
durch 쐌 Terminabsprache mit der Physiotherapeu-
쐌 weiß, dass die Übungen tin
auch im Alltag kontinuier- 쐌 Gespräch mit Arzt vermitteln bzgl. der
lich durchgeführt werden Schmerzmedikation
müssen
쐌 kennt ihre Schmerzmedi-
kation und geht verant-
wortungsvoll damit um

14
Beispiel: Stefan, 6 Jahre alt, leidet an einem vor allem, weil er deswegen nicht bei Freunden über-
hypophysären Kleinwuchs. Seine Körperlän- nachten darf, und über die häufig notwendigen Arztbe-
ge beträgt 96 cm, dies entspricht der Normal- suche, zu denen ihn seine Eltern begleiten. Hierdurch
länge eines ca. 3-jährigen Kindes. Als Ursache für die fühlt er sich in seinen Freizeitaktivitäten gestört. Hinzu
Erkrankung von Stefan gilt eine verminderte Produkti- kommt, dass sich Stefan aufgrund seines Wachstums-
on von HGH (Human-Growth-Hormon = menschliches rückstands von seinen Spiel- und Schulkameraden
Wachstumshormon). Seit kurzem wird Stefan mit bio- nicht akzeptiert fühlt (Tab. 14.4).
synthetisch hergestelltem HGH behandelt, welches ihm In diesem Fall ist die in der folgenden Übersicht darge-
von seinen Eltern jeden Abend s. c. verabreicht wird. stellte Pflegediagnose zutreffend:
Stefan beklagt sich sehr über diese täglichen Spritzen,

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 263


KaelDesu
14 Körpergröße

Tab. 14.4 Auszug aus dem Pflegeplan von Stefan

Pflegeprobleme Ressourcen Pflegeziele Pflegemaßnahmen

Störung der Freizeitaktivitä- 쐌 Eltern unterstützen und 쐌 Stefan kann seine Frei- 쐌 Stefan fragen, wann seiner Meinung
ten durch häufige Arzt- begleiten Stefan zeitaktivitäten ungestört nach die besten Tage und Zeiten für die
besuche ausüben notwendigen Kontrollen sind
쐌 zusammen mit Stefan, seinen Eltern und
dem Arzt feste Termine absprechen
Stefan fühlt sich aufgrund 쐌 Stefans Eltern können 쐌 Stefan fühlt sich freier 쐌 Gesprächstermin mit Arzt, Stefan und
der täglichen Injektionen ihm die Injektion verab- und von seinen Eltern un- seinen Eltern vereinbaren 씮 Notwen-
von seinen Eltern abhängig reichen abhängiger digkeit der täglichen Spritzen; Folgen
쐌 Stefan kennt die Notwen- von nicht erfolgten Injektionen; Möglich-
digkeit der täglichen In- keit, die Injektionen selbst durchzufüh-
jektionen ren
쐌 Stefan kennt den Plan zur 쐌 zusammen mit Stefan und seinen Eltern
Erlernung der s. c.-Injekti- einen Plan zur Erlernung der s. c.-Injek-
on und hält diesen ein tion von HGH aufstellen, z. B.:
쐌 Stefan führt die s. c.-In- Ort: Zimmer von Stefan
jektion von HGH täglich Zeit: 17.45 h
selbstständig durch (ab 1. – 3. Tag: Aufziehen des Medikamentes
10. 8. 98) 4. u. 5. Tag: mögliche Injektionsorte
(Wechsel: rechter Oberschenkel, Bauch-
decke, linker Oberschenkel), Durchfüh-
rung der s. c.-Injektion zeigen und erläu-
tern
6. – 8. Tag: s. c.-Injektion durch Stefan un-
ter Anleitung
9. – 11. Tag: s. c.-Injektion durch Stefan
unter Aufsicht
ab 12. Tag: selbstständige s. c.-Injektion
von HGH
쐌 den Plan in Stefans Zimmer hängen

Stefan fühlt sich von seinen 쐌 Stefan fühlt sich ange- 쐌 Stefan hinsichtlich seiner Fähigkeiten be-
Spiel- und Schulkameraden nommen obachten und ihn auf diese aufmerksam
aufgrund seines Wachs- 쐌 Stefan besitzt ein ange- machen
tumsrückstandes nicht messenes Selbstbewusst- 쐌 die Eltern auf die Möglichkeit der Unter-
akzeptiert sein stützung (Beratung, Tipps, Hilfestellung)
durch Selbsthilfegruppe aufmerksam
machen
쐌 zusammen mit Stefan und den Eltern
eine angemessene Sportart (Verein) aus-
14 wählen

Ungelöster Unabhängigkeits-/Abhängigkeits- Definition


Konflikt (P) Bedürfnis und Wunsch, abhängig zu sein, bei therapeu-
(Gordon 2013, S. 454 – 455, NANDA-I 2016) tischer, reifungsbezogener oder sozialer Erwartung,
Unresolved Independence-Dependence Conflict unabhängig zu sein; Bedürfnis und Wunsch unabhän-
gig zu sein, bei therapeutischer, reifungsbezogener
Diagnosetyp (Dokumentationsform): aktuelle Pflege-
oder sozialer Erwartung, abhängig zu sein
diagnose (PES)
Funktionelles Gesundheitsverhaltensmuster: Einflussfaktoren [E]
Rollen und Beziehungen (Zu erarbeiten)

264 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
Literatur

bezeichnet. Sowohl im Kindes- als auch im Erwachse-


Kennzeichen oder Symptome (S) nenalter können extreme Abweichungen von der Größe
Hauptkennzeichen neben körperlichen Folgen auch zur Diskriminierung
wiederholtes Äußern des Wunsches nach Unabhän- und infolgedessen zu erheblichen psychischen und so-
gigkeit (in Situationen, die eine gewisse Abhängig- zialen Problemen führen.
keit erfordern: therapeutisch, reifungsbezogen, Die Überprüfung des Längenwachstums ab dem
sozial) Zeitpunkt der Geburt ist sinnvoll, um Störungen früh-
oder zeitig zu erkennen und ggf. zu behandeln. In vielen Fäl-
wiederholtes Äußern des Wunsches nach Abhängig- len kann bis zum Wachstumsabschluss eine Normal-
keit (in Situationen, die eine gewisse Unabhängig-
größe erreicht werden. Die kostenlos angebotenen Kin-
keit erfordern: therapeutisch, reifungsbezogen,
deruntersuchungen sollten Eltern verantwortungsvoll
sozial)
wahrnehmen.
und einer oder beide der folgenden Punkte:
Beim alten Menschen stehen die Bewegungsein-
äußern von Wut
schränkungen, Schmerzen und die sich daraus häufig
Angst
entwickelnde Isolation im Vordergrund. Vorbeugende
Pflegeergebnis (Outcome) Maßnahmen dienen dazu, Skelettdeformierungen ent-
Konfliktlösung (Conflict Resolution) gegenzuwirken und einzugrenzen.
Akzeptanz der Notwendigkeit von sowohl Unab-
hängigkeit als auch Abhängigkeit

Risikogruppen Literatur:
Personen
mit Rückenmarkverletzung Gemeinsamer Bundesausschuss: Kinder-Richtlinie: Formale
und inhaltliche Überarbeitung (Neustrukturierung) –
Jugendliche
Neufassung. September 2016
mit erzwungener Bettruhe
Gerlach, U., H. Wagner, W. Wirth: Innere Medizin für Pflegebe-
mit chronisch-degenerativen Erkrankung rufe. 8. Aufl. Thieme, Stuttgart 2015
mit Einschränkungen körperlicher Aktivitäten Gordon, M.: Handbuch Pflegediagnosen. 5. Aufl. Hans Huber,
Hogrefe AG, Bern 2013
Gortner, L., S. Meyer, F. C. Sitzmann: Duale Reihe Pädiatrie.
Für Stefan kann die Pflegediagnose lauten:
4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012
Ungelöster Abhängigkeits-/Unabhängigkeitskonflikt Hoehl, M., P. Kullick (Hrsg.): Thiemes Gesundheits- und Kin-
b/d (beeinflusst durch) physische Aktivitätsbe- derkrankenpflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012
schränkung a/d (angezeigt durch) wiederholte ver- Huch, R., K. D. Jürgens (Hrsg.): Mensch Körper Krankheit, Ana-
bale Äußerungen des Wunschs nach Unabhängigkeit tomie, Physiologie, Krankheitsbilder. Lehrbuch und Atlas
in Situationen therapeutischer Natur, die eine gewis- für Berufe im Gesundheitswesen, 7. Aufl. Urban & Fischer,

se Abhängigkeit erfordern.
Elsevier GmbH, München 2015
14
Köther, I.: Altenpflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2016
Lippert, H.: Lehrbuch Anatomie. 8. Aufl. Urban & Fischer Ver-
Fazit: Die Körpergröße eines Menschen kann lag/Elsevier GmbH. München 2017
nur in Verbindung mit Alter, Rasse, Ernäh- NANDA International: Pflegediagnosen. Definitionen und
rungszustand/Gewicht und unter Hinzuzie- Klassifikation 2015 – 2017. Herdman, T. H., S. Kamitsuru
hung der Krankheitsanamnese beurteilt werden. Als (Hrsg.): RECOM, Kassel 2016
Wachstumsstörungen werden Abweichungen von der Pflege Heute. 6. Aufl. Urban & Fischer, München 2014
Schwegler, J., R. Lucius: Der Mensch. Anatomie und Physiolo-
normalen Größenentwicklung (Hoch-und Kleinwuchs)
gie, 6. Aufl. Thieme, Stuttgart 2016

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 265


KaelDesu

15 Körpergewicht
Eva Eißing

Übersicht
Einleitung · 266
15.1 Ermittlung des Körpergewichts · 267
15.1.1 Indikation · 267
15.1.2 Verschiedene Messwaagen · 267
15.1.3 Bedingungen für die
Gewichtsmessung · 268
15.1.4 Dokumentation · 268
15.1.5 Ermittlung der Körperoberfläche · 268
15.2 Allgemeine Beobachtungskriterien und
Beschreibung des Normalzustandes · 268
15.2.1 Body-Mass-Index · 268
15.2.2 Taille-Hüft-Verhältnis (THV) · 268
15.2.3 Subjektives Normgewicht · 269 Einleitung
15.2.4 Beeinflussende Faktoren · 269
15.2.5 Energiebilanz · 270 Das Körpergewicht ist eng mit dem ersten Eindruck,
15.3 Abweichungen und Veränderungen des der von einem Menschen gewonnen wird, verknüpft.
Körpergewichts sowie deren Veränderungen des Körpergewichts nach oben oder
Ursachen · 270 unten werden häufig mit Vorurteilen verbunden, et-
15.3.1 Übergewicht · 272 wa „Dicke Menschen sind gemütlich“ oder „Dünne
15.3.2 Untergewicht · 275 Menschen sind drahtig und agil“. Das Körpergewicht
15.4 Ergänzende Beobachtungskriterien · 277 beeinflusst in vielen Fällen das subjektive Wohlbe-
15.5 Besonderheiten bei Kindern · 277 finden.
15.5.1 Indikation zur Ermittlung des Eine wesentliche Rolle bei der Beurteilung des
Körpergewichts · 277 Körpergewichts spielt das jeweilige Schönheitsideal:
15.5.2 Ermittlung des Körpergewichts · 277 Je nachdem, ob gerade „runde“ oder „kantige“ For-
15.5.3 Normalzustand · 278 men „in“ sind, wird vermehrt gegessen oder gefastet.
15.5.4 Abweichungen und Veränderungen des Das Körpergewicht ist jedoch nicht nur Ausdruck der
Körpergewichts · 279 psychischen Befindlichkeit, vielmehr lässt es auch
15.6 Besonderheiten bei älteren Rückschlüsse auf aktuelle Erkrankungen zu.
Menschen · 279
15 Definition: Das Gewicht stellt eine physikali-
15.7 Fallstudien und mögliche
Pflegediagnosen · 280 sche Einheit dar und bezeichnet die Kraft, die auf
Fazit · 282 eine Masse, z. B. den menschlichen Körper, infol-
Literatur · 282 ge der Erdanziehung zum Erdmittelpunkt wirkt.

Wie groß diese Kraft ist, kann objektiv mithilfe von


Schlüsselbegriffe:
Waagen bestimmt werden.
왘 Adipositas
왘 Kachexie
왘 Anorexia nervosa

왘 Body-Mass-Index

왘 Taille-Hüft-Umfang

왘 Jo-Jo-Effekt

왘 Insulinresistenz

266 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
15.1 Ermittlung des Körpergewichts

Abb. 15.1 Mechani-


15.1 Ermittlung des sche Säulenwaage
mit Laufgewichten
Körpergewichts (seca gmbh & co. kg)

15.1.1 Indikation
Das Körpergewicht wird in der Regel bei der Aufnah-
me ins Krankenhaus oder im Altenheim gemessen,
um einen Ausgangswert zu haben. Die Dosis vieler
Medikamente, u. a. von Schmerz- und Betäubungs-
mitteln sowie von Antibiotika, wird anhand des Kör-
pergewichts berechnet. Die Berechnung der Körper-
oberfläche, des Grundumsatzes sowie des indivi-
duellen Kalorienbedarfs richtet sich ebenfalls da-
nach.
Zur Beurteilung des Körpergewichts müssen zu-
sätzliche Kriterien wie Körpergröße, Alter und Ge-
schlecht berücksichtigt werden.
Die Häufigkeit der Gewichtskontrolle richtet sich
nach der zugrunde liegenden Indikation. Es gibt spe-
zielle Indikationen, z. B. die Kontrolle bei der Ödem-
ausschwemmung z. B. bei Herz- und Nierenerkran-
kungen oder die genaue Bilanzierung, für die eine
tägliche Gewichtskontrolle notwendig ist. Die Mess-
frequenz zur Kontrolle der Gewichtszu- oder -ab-
nahme liegt bei ein- bis zweimal pro Woche.
Die Messung des Körpergewichts erfolgt mittels
einer Waage. Die Waage sollte geeicht und mit einer
gut ablesbaren Gewichtsskala, einer Feineinteilung
von 100 g und einem Wiegebereich bis mindestens
150 kg ausgestattet sein. Die für den Haushaltsbe-
reich gebräuchlichen Waagen können häufig nicht
geeicht werden und sind demnach für die exakte
Messung ungeeignet. In der Klinik stehen mehrere
Waagenarten zur Verfügung:

15.1.2 Verschiedene Messwaagen


Stehwaage: Die Stehwaage (Abb. 15.1) wird zu- 15
nächst tariert, d. h. auf 0 eingestellt. Die zu wie-
gende Person stellt sich möglichst wenig beklei-
det und ohne Schuhe auf die Trittfläche. Durch
Ausbalancieren an der Armatur kann das Gewicht
bis auf 100 g genau ermittelt werden.
Sitzwaage: Die Sitzwaage (Abb. 15.2) ist ein fahr-
barer, arretierbarer Stuhl mit integrierter Waage.
Die zu wiegende Person sollte mit dem Gesäß so-
weit wie möglich hinten sitzen und die Füße auf
Abb. 15.2 Sitzwaage
das Trittbrett stellen. Die Sitzfläche sollte mit ei-
ner Unterlage und die Waage vor dem Wegrollen
geschützt werden. Der Wiegevorgang geschieht waagen durch Ablesen. Es sind stets die Herstel-
entweder wie bei der Stehwaage oder bei Digital- lerangaben zu beachten.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 267


KaelDesu
15 Körpergewicht

Bettenwaage: Die Bettenwaage ist ein fahrbares Skalensystem und zwar derart, dass, wenn nur eine der
Bettuntergestell mit integrierter Waage. Hiermit Größen unbekannt ist, diese aus dem Nomogramm
werden sowohl das Bett als auch der Mensch ge- entnommen werden kann.
wogen. Das Gewicht des Betts wird nach der Mes-
sung subtrahiert, um das Körpergewicht des Beispiel: Die Körperoberfläche kann bei be-
Menschen zu ermitteln. Die Bettenwaage findet kannter Körpergröße und bekanntem Kör-
Anwendung bei bettlägerigen, immobilen Men- pergewicht durch entsprechendes Verschie-
schen, deren Gewichtsermittlung von großer Be- ben einer Rechenscheibe auf einer Skala abgelesen
deutung ist, z. B. im intensivpflegerischen Bereich werden.
und in der Dialyse.

15.1.3 Bedingungen für die Gewichtsmessung


15.2 Allgemeine Beobachtungs-
Gültige Messwerte können nur bei vergleichbaren kriterien und Beschreibung
Messbedingungen ermittelt werden, deswegen soll- des Normalzustandes
te die Messung möglichst immer zur selben Zeit er-
folgen, z. B. morgens nüchtern und nach dem Toilet- Zur Beurteilung des Körpergewichtes werden im
tengang und immer mit etwa gleicher Kleidung, z. B. Wesentlichen der Body-Mass-Index (BMI) und das
mit oder ohne Bademantel. Die Waage muss vor der Taillen-Hüft-Verhältnis (THV) herangezogen. Die
Messung unbedingt tariert werden. Zu- bzw. Ablei- früher gebräuchliche Berechnung nach der Broca-
tungen sind während des Messvorgangs anzuheben. Formel, d. h. Körpergröße in Zentimetern minus 100
(Normalgewicht) bzw. minus weitere 10 % bis 15 %
15.1.4 Dokumentation (Idealgewicht), lässt viele Faktoren unberücksichtigt
Die Dokumentation des Körpergewichtes erfolgt (z. B. Lebensalter, Konstitution und Körpergröße)
meist in einer festgelegten Spalte des Dokumentati- und ist daher zu ungenau.
onssystems, häufig in Verbindung mit der Dokumen-
tation der Körpergröße (s. Abb. 14.2). 15.2.1 Body-Mass-Index (BMI)
Der Body-Mass-Index errechnet sich nach einer ein-
15.1.5 Ermittlung der Körperoberfläche fachen Formel: Man dividiert das Körpergewicht in
Die Körperoberfläche ist die von der Haut bedeckte Kilogramm (kg) durch die Körperlänge in Metern (m)
äußere Oberfläche des gesamten Körpers. Sie wird zum Quadrat.
aus dem Körpergewicht und der -größe berechnet Beispiel: 74 kg (Körpergewicht): (1,78 ⫻ 1,78 m
und liefert eine exaktere Bezugsgröße für die Dosie- Körperlänge) = 23,4 (BMI).
rung von Medikamenten als das Körpergewicht al- Der Body-Mass-Index ist je nach Alter und Ge-
lein. schlecht in Normbereiche aufgeteilt. Laut WHO gilt
Die Bestimmung ist z. B. notwendig zur Dosierung ein Erwachsener mit einem BMI zwischen 18,5 und
von Medikamenten oder in der Infusionstherapie, 24,9 als normalgewichtig, ein BMI von 25 bis 25,9 als
15 zur Berechnung des Energieumsatzes oder zur Er- Präadipositas und über 30 als Adipositas. Werte un-
mittlung des Ausmaßes bei Hautschäden, beispiels- ter einem BMI von 18,5 gelten als Untergewicht. Zur
weise bei Verbrennungen. leichteren Ermittlung gibt es Nomogramme, aus de-
Es gibt Formeln, nach denen die Körperoberfläche nen ohne Rechnung der BMI-Wert ermittelt werden
berechnet werden kann, kann (Abb. 15.3).

Beispiel: Du-Bois-Formel: (O = Körperober- 15.2.2 Taille-Hüft-Verhältnis (THV)


fläche; P = Körpergewicht) O = P ⫻ Länge Beim Taille-Hüft-Verhältnis (engl.: Waist-Hip-Ratio,
⫻ 167,2. WHR) wird das Verhältnis zwischen Taillen- und
Hüftumfang angegeben. Der ermittelte Wert gibt
Leichter ist es jedoch, ein Nomogramm zu benutzen. Aufschluss über die Fettverteilung im Körper und die
wiederum lässt Rückschlüsse auf Gesundheitsrisi-
Definition: Ein Nomogramm ist die Darstel- ken, insbesondere für kardiovaskuläre Erkrankungen
lung eines funktionalen Zusammenhangs meh- und Diabetes mellitus, zu.
rerer voneinander abhängiger Größen in einem

268 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
15.2 Allgemeine Beobachtungskriterien und Beschreibung des Normalzustandes

Größe (m)
1,54 1,58 1,62 1,66 1,70 1,74 1,78 1,82 1,86 1,90

Gewicht (kg)
128
88 96 104 112 120
64 72 80
48 56

15 20 25 30 35 40
Body-Mass-Index (kg/m2)

Abb. 15.3 Nomogramm zum Body-Mass-Index. Der Schnittpunkt der Verbindung zwischen der Körpergröße und dem Körpergewicht
ergibt die Punktzahl des BMI

Gemessen wird folgendermaßen: Mit einem 15.2.3 Subjektives Normgewicht


Maßband werden zunächst der Taillenumfang (ge- Neben den Normgewichtsberechnungen sollte nicht
messen seitlich in der Mitte zwischen Rippenunter- vergessen werden, dass jeder Mensch sein „Wohl-
rand und Beckenoberrand) und der Hüftumfang (ge- fühlgewicht“ hat, welches nicht immer mit dem
messen an der stärksten Stelle über dem Trochanter Normgewicht übereinstimmen muss. Das „Wohl-
major) in Zentimetern ermittelt. Anschließend wird fühlgewicht“ kann sowohl über als auch unter dem
der Taillenumfang durch den Hüftumfang dividiert. Normalgewicht liegen. Problematisch kann es wer-
Das THV sollte bei der Frau ⬍ 0,85 und beim Mann den, wenn durch ein zu hohes oder niedriges „Wohl-
⬍ 1 betragen. fühlgewicht“ Krankheiten entstehen.
Der Einfluss der Mode und des jeweiligen Schön-

!
Merke: Zur Berechnung des Normalge- heitsideals führt nicht selten dazu, dass das eigene
wichts eines Menschen können der Body- „Wohlfühlgewicht“ oder das Normgewicht nicht
Mass-Index und das Taillen-Hüft-Verhältnis mehr ausreicht, um sich schön zu finden. Als Folge
herangezogen werden. hiervon wird gehungert oder gegessen, je nachdem
welches Schönheitsideal gerade favorisiert wird. 15
Zusammenfassung:
Ermittlung des Körpergewichts 15.2.4 Beeinflussende Faktoren
Die Ermittlung des Körpergewichts ist notwendig Das Körpergewicht eines Menschen verändert sich
zur Berechnung der Dosis von Medikamenten, zur mit der Nahrungsaufnahme, der Urin- und Stuhlaus-
Kontrolle und Bilanzierung bei vielen Erkrankun- scheidung sowie der Schweißbildung. Der Gewichts-
gen, zur Berechnung des Grundumsatzes und des unterschied kann im Laufe eines Tages 1 – 2 kg betra-
Kalorienbedarfs. gen.
Für die Gewichtsermittlung eignen sich Stehwaa- Als weiterer Einflussfaktor muss der unterschied-
gen, Sitzwaagen oder Bettenwaagen. liche Knochenbau berücksichtigt werden. Er kann
Die Körperoberfläche lässt sich nach Formeln, z. B. das Körpergewicht um bis zu 4 kg nach oben oder un-
nach der Du-Bois-Formel berechnen. ten verändern. Krankheiten, z. B. Nieren- oder Herz-
Der Body-Mass-Index oder das Taille-Hüft-Verhält- erkrankungen, die mit einer Ödembildung einherge-
nis dienen der Errechnung des Normalgewichts. hen, können bei den betroffenen Menschen eine Ge-

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 269


KaelDesu
15 Körpergewicht

wichtszunahme von mehreren Kilogramm innerhalb 15.3 Abweichungen und


weniger Tage bewirken. Die Gewichtszunahme be-
ruht in diesem Fall auf Wassereinlagerung im Gewe-
Veränderungen des
be. Werden die Ödeme medikamentös ausge- Körpergewichts sowie deren
schwemmt, führt dies zu entsprechend hoher und Ursachen
schneller Gewichtsabnahme.
Während der Schwangerschaft kommt es zur Definition: Das Körpergewicht des Menschen
physiologischen Gewichtszunahme von ca. 1,5 kg/ setzt sich zusammen aus den verschiedenen Ge-
pro Schwangerschaftsmonat. Das ergibt bis zum En- webearten, Organen und Körperflüssigkeiten.
de der Schwangerschaft eine Gesamtzunahme von
ca. 8 – 12,5 kg. Für Gewichtsveränderungen ist im Wesentlichen das
Fettgewebe verantwortlich. Der Körperfettanteil
15.2.5 Energiebilanz (Verhältnis von Fett zu Muskelmasse) ist nach Alter
Stehen Energiebedarf und Energiezufuhr in einem und Geschlecht unterschiedlich. Er wird wie folgt be-
ausgeglichenen Verhältnis, hält ein gesunder, er- rechnet:
wachsener Mensch sein Gewicht konstant. Der Ener- Frauen: 1,48 ⫻ BMI ⫺ 7
giegehalt in der Nahrung wird in der Einheit „Kiloka- Männer: 1,218 ⫻ BMI ⫺ 10,13
lorien“ (Kcal) bzw. seit 1992 in „Kilojoule“ (Kj) ausge- Der Körperfettanteil sollte bei Frauen zwischen 20
drückt. Eine Kilokalorie entspricht der Wärmemenge und 30%, bei Männern zwischen 10 und 20% liegen.
(Energie), die notwendig ist, um 1 l Wasser von Fettgewebe besteht jedoch nicht ausschließlich
14,5 ⬚C auf 15,5 ⬚C zu erhitzen. 1 Kilokalorie ent- aus Fett, sondern zum geringen Teil auch aus Eiwei-
spricht 4,185 Kilojoule. 1 g Fett liefert mit 9,3 Kcal ßen und Kohlenhydraten sowie Mineralien und Was-
(38,9 Kj) die meisten Kalorien; 1 g Eiweiß und Koh- ser.
lenhydrate stellen jeweils 4,1 Kcal (17,2 Kj) bereit. Bei Bilanzberechnungen ist der Brennwert von
Der Energiebedarf eines Menschen ist individuell Fettgewebe mit etwa 7000 Kcal/kg anzusetzen. Das
ganz verschieden und hängt von Alter, Geschlecht, heißt, mit einer 0-Diät ist eine Gewichtsabnahme
Gewicht und der körperlichen Bewegung ab. Mit zu- von ca. 2 kg pro Woche zu erreichen.
nehmendem Alter nimmt der Energiebedarf ab, weil
sich der Stoffwechsel allgemein verringert. Männer Fettarten
benötigen mehr Energie als Frauen, weil sie in der Fett ist zunächst einmal lebenswichtig; es wird un-
Regel mehr Muskelmasse haben, deren Stoffwechsel terschieden zwischen Bau- und Speicherfett.
ebenfalls mehr Energie verbraucht.
Vereinfacht errechnet sich der Energieumsatz aus Speicherfett
Grundumsatz und Arbeitsumsatz. Der Grundumsatz Der Körper speichert seine Energievorräte in den
ist die Energiemenge, die benötigt wird, um den Fettzellen des Speicherfetts. Wird dem Körper mehr
Kreislauf und die Funktion der Organe aufrechtzu- Energie zugeführt als er zu diesem Zeitpunkt benö-
15 halten. Er ist abhängig von Alter, Geschlecht, Körper- tigt, schwellen die Fetttröpfchen in den Fettzellen zu
oberfläche, Hormonfunktion und der Ernährungsart großen Kugeln an und drängen Zytoplasma und Zell-
des jeweiligen Menschen. Der Arbeitsumsatz ist die kern an den Rand. Viele Fettzellen bilden über Fasern
Energiemenge, die für Bewegung und Muskelarbeit Fettläppchen und viele Fettläppchen das Fettgewe-
benötigt wird. Es gibt Tabellen, aus denen der Kalo- be. Bei Energiemangel greift der Körper auf diese Re-
rienverbrauch unter Berücksichtigung der genann- serven zurück und baut Fett wieder ab. Bevorzugte
ten Faktoren abgelesen werden kann. Lokalisationen von Speicherfett sind Unterhaut und
Bauchraum. Das Unterhautfettgewebe dient neben
der Fettspeicherung auch der Wärmeisolation.
Die Fettverteilung ist abhängig von Geschlecht
und Alter. Frauen haben mehr Fett als Männer. Dieses
ist bei ihnen für die weiblichen Rundungen verant-
wortlich.

270 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
15.3 Abweichungen und Veränderungen des Körpergewichts sowie deren Ursachen

Abb. 15.4 Männlicher Fettverteilungstyp: „Apfelform“ Abb. 15.5 Weiblicher Fettverteilungstyp: „Birnenform“

Baufett an einen Apfel erinnert, wird sie auch entsprechend


Das Baufett dient als Füllmasse. Bei Druck verformt es als „Apfelform“ bezeichnet (Abb. 15.4).
sich und geht, sobald der Druck nachlässt, wieder in Beim weiblichen, dem sog. gynäkoiden Fettver-
seine Ausgangslage zurück. Diese Druckpolster benö- teilungstyp, sammelt sich das Fett hauptsächlich an
tigt der menschliche Körper z. B. an den Fußsohlen, den Hüften und an den Oberschenkeln. Die dadurch
am Gesäß und an den Handballen. Außerdem dient entstehende Form erinnert an eine Birne und wird
Baufett zur Füllung von Hohlräumen und sichert so daher als „Birnenform“ beschrieben (Abb. 15.5).
die Lage von Organen, z. B. die der Augen in den Au- Eine erhöhte Fettverteilung im Bauchraum und an
genhöhlen und der Nieren in den Nierenlagern. den inneren Organen, auch Viszeralfett genannt, er-
Beim Säugling versteift das Baufett die Wangen, höht das Risiko für die Entstehung von Herz-Kreis-
damit diese sich beim Saugen nicht eindellen, wo- lauf-Erkrankungen und Diabetes mellitus. Die Ursa- 15
durch auch das „pausbäckige“ Aussehen zu erklären che liegt an der erhöhten Stoffwechselaktivität des
ist. Das Baufett wird bei negativer Energiebilanz, z. B. inneren Bauchfettes, was sich negativ auf den Fett-
beim Hungern, erst zuletzt angegriffen. und Kohlenhydratstoffwechsel auswirkt.

Fettverteilungstyp Muskulatur
Männer und Frauen haben eine unterschiedliche Einen weiteren großen Anteil des Körpergewichts
Fettverteilung im Körper. Zur Unterscheidung wird stellt die Muskulatur dar. Bei Frauen beträgt der
das Taille-Hüft-Verhältnis herangezogen (s. a. Muskelanteil ca. 24 kg des Körpergewichts, bei Män-
S. 268). nern dagegen ca. 30 kg. Das Hormon Testosteron ist
Beim männlichen, dem sog. androiden Fettvertei- dafür verantwortlich, dass Männer mehr Muskulatur
lungstyp, befindet sich die Hauptfettansammlung besitzen. Die Muskulatur kann sich durch Training
am Körperstamm, d. h. am Bauch und am Nacken. Die entsprechend vermehren, wie es beispielsweise
Extremitäten bleiben relativ schlank. Da diese Form beim Bodybuilding der Fall ist.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 271


KaelDesu
15 Körpergewicht

Die Unterscheidung von Muskel- und Fettgewebe


erfolgt durch die Bestimmung der Hautfaltendicke.

15.3.1 Übergewicht
Nach der Definition der WHO entspricht Überge-
wicht einem Körpergewicht, das einen Body-Maß-
Index von 25 überschreitet.

Adipositas
Definition: Adipositas bedeutet übersetzt
„Fettsucht“. Sie beschreibt Übergewichtigkeit in-
folge Vermehrung des Körperfetts mit Ein-
schränkung des Gesundheitszustands (Abb. 15.7). Adi-
Abb. 15.6 Hautfaltenmesszange zur Messung der Hautfalten- positas lässt ich unterteilen in Präadipositas: BMI
dicke über dem Trizeps
25 – 29,9, Adipositas Grad I: BMI 30 – 34,9, Adipositas
Grad II: BMI 35 – 39,9, Adipositas Grad III: BMI über 40.
Zur Unterscheidung zwischen Muskel- und Fett-
gewebe ist die Bestimmung der Hautfaltendicke not- Man unterscheidet bei der Adipositas zwei Formen.
wendig. Dazu wird mit dem Daumen und Zeigefinger Am häufigsten ist die primäre Adipositas. Für ihr Ent-
eine Hautfalte gebildet und die Hautfaltendicke mit stehen sind meist mehrere Faktoren verantwortlich,
den beiden Schenkeln des Hautfaltenmessgeräts wie biologische, umweltbedingte oder psychische
(= Caliper) gemessen. Zur Messung werden die Kör- Faktoren.
perstellen unterhalb des Schulterblatts, oberhalb des Bei der sekundären Adipositas verursachen ande-
Darmbeinstachels, die Außenseite des Oberarms und re Erkrankungen, z. B. eine Hypothyreose, die Ge-
des Oberschenkels gemessen (Abb. 15.6). wichtszunahme.
Es gibt auch spezielle Personenwaagen, mit de- Laut der Gesundheitsberichterstattung des Bun-
nen der Fettanteil des Körpergewichts bestimmt des (http://www.gbe-bund.de) sind in der Bundesre-
werden kann. Die Körperzusammensetzung wird bei publik etwa 2/3 der Männer und die Hälfte der Frau-
diesen Waagetypen durch einen für den Menschen en über 18 Jahre übergewichtig; adipös sind 19% der
nicht wahrnehmbaren Strom gemessen, der durch Männer und 22,5% der Frauen.
den Körper fließt. Bei Durchfluss durch Fettgewebe
entsteht ein höherer Widerstand, der genau gemes-
sen werden kann und hierdurch Aussagen zum Kör-
perfettanteil zulässt.

Zusammenfassung:
15 Abweichungen und Veränderungen des Kör-
pergewichts
Das „Wohlfühlgewicht“ muss nicht mit dem Norm-
gewicht übereinstimmen.
Nahrungsaufnahme, Schweißbildung, Knochenge-
wicht, Ödeme oder Schwangerschaft sind das Kör-
pergewicht beeinflussende Faktoren.
Bei ausgeglichener Energiebilanz bleibt auch das
Körpergewicht konstant.
Für Gewichtsveränderungen ist hauptsächlich das
Fettgewebe verantwortlich: Energievorräte werden
im Speicherfett abgelagert, Baufett dient zur Fül-
lung von Hohlräumen und als Druckpolster.
Bei den Fettverteilungstypen unterscheidet man
„Apfel“- und „Birnenform“. Abb. 15.7 Patient mit Adipositas

272 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
15.3 Abweichungen und Veränderungen des Körpergewichts sowie deren Ursachen

Folgen des Übergewichts halten werden, bis sie schließlich versiegt und sich
Der Bluthochdruck ist die häufigste Folge einer Adi- ein Diabetes mellitus manifestiert. Diese Entwick-
positas. Die Blutversorgung des Fettgewebes erfolgt lung ist bei entsprechender Diät bzw. Gewichtsab-
durch sog. Kapillaren. Je mehr Fettgewebe vorhan- nahme teilweise oder vollständig reversibel.
den ist, desto mehr Kapillaren bilden sich. Durch die Körperliche Bewegung führt bei Übergewichtigen
Bildung vermehrten Blutvolumens entsteht ein er- zu erhöhter „Arbeitsleistung“ und infolgedessen zu
höhter Blutdruck. Daraus folgt eine Mehrbelastung vermehrter Schweißbildung und schnellerer Ermüd-
des Herz- und Kreislaufsystems. Die Folge ist eine barkeit. Ist die Adipositas sehr ausgeprägt, sind sog.
Funktionsminderung des Herzens, die sich als Links- „Fettschürzen“ und aneinander liegende Beugefalten
herzinsuffizienz mit nachfolgender Lungenstauung bevorzugte Stellen für Hauterkrankungen, z. B. Inter-
und/oder als Rechtsherzinsuffizienz äußert. Beob- trigo und Mykosen. Spezielle Probleme bei adipösen
achtbar sind Luftnot bei geringfügige Belastungen Menschen treten besonders bei Operationen und
und schnelle Ermüdbarkeit. Unfällen auf. Bei den Operationen kommt es gehäuft
Eine weitere Folge, besonders in Verbindung mit zu Komplikationen bei der Atmung. Die Gewebsfülle
einer Fettstoffwechselstörung, ist die Entwicklung bedingt eine erschwerte operative Technik. Nicht
einer koronaren Herzkrankheit (KHK). selten ist die Wundheilung gestört und in schweren
Das Übergewicht muss bei jeder Bewegung zu- Fällen kann es zur Nahtinsuffizienz bis hin zum
sätzlich „getragen“ und „gehalten“ werden. Dies be- Platzbauch kommen. Bei der Anästhesie ist die Ver-
deutet Mehrarbeit für den Gelenk- und Halteapparat wendung fettlöslicher Anästhetika nicht unproble-
der Wirbelsäule und der Beine. Die Folge sind Gelenk- matisch, weil sich die Medikamente im Fettgewebe
schmerzen, besonders nach körperlichen Belastun- „ablagern“ und später wieder unkontrolliert abgege-
gen und bei langjähriger Genese Gelenkarthrosen. ben werden. Die Folge ist dann eine unerwünschte
Oft kommt es bei Adipositas zu einer meist be- narkoseähnliche Nachwirkung, die auch als „Hang-
schwerdefreien Gallensteinbildung und in fast allen Over“-Effekt bezeichnet wird.
Fällen zu einer Fettleber. Das erhöhte Körpergewicht, Ein weiteres Problem von Übergewichtigen sind
die Fettmasse und die Fettzellgröße bedingen einen die ästhetischen bzw. kosmetischen Auswirkungen.
veränderten Stoffwechsel in den Langerhans-Inseln Es kann ein gestörtes Verhältnis zum eigenen Körper
der Bauchspeicheldrüse. Es wird vermehrt Insulin entstehen, das bis zur Isolation führen kann. Extre-
gebildet, aber verzögert aus den Zellen der Bauch- mes Übergewicht kann sich bis zum Pickwick-Syn-
speicheldrüse abgegeben. Nach der Nahrungsauf- drom entwickeln. Hierbei kommt es, bedingt durch
nahme werden die „überschüssigen“ Kohlenhydrate massive Fettablagerungen in der Lungenumgebung,
und Fette aufgrund „fehlenden“ Insulins nicht sofort zu einer Einschränkung der Atmung, der sog. alveo-
in die Körperzellen eingebracht. Eine Hyperglyk- lären Hypoventilation. Die Folgen hiervon sind Sau-
ämie, d. h. ein Anstieg des Zuckers im Blut ist die Fol- erstoffmangel und Kohlendioxyderhöhung mit er-
ge. höhter Schläfrigkeit bis zur sog. Kohlendioxydnarko-
Hyperglykämien führen zur Entstehung einer In- se.
sulinresistenz: Muskel-, Leber- und Fettzellen besit- 15
zen auf ihrer Zellmembran Insulinrezeptoren, die als Ursachen der Adipositas
„Schlüsselfunktion“ mithilfe von Insulin Nährstoffe Bei der Entstehung einer Adipositas spielen mehrere
in die Zellen passieren lassen. Ist die Zelle mit Nähr- ursächliche Faktoren eine Rolle. Sie liegen im geneti-
stoffen gefüllt, stellen die Rezeptoren ihre Funktion schen, stoffwechselbedingten und psychischen Be-
ein, bis die Nährstoffe verbraucht sind (Insulinresis- reich sowie bei den Lebens- und Ernährungsge-
tenz). Nicht verwertete Nährstoffe, z. B. Zucker, ver- wohnheiten. Untersuchungen haben ergeben, dass
bleiben im Blut und es kommt zu einem Verwer- Kinder von adipösen Eltern zu 80% ebenfalls überge-
tungsstau (Hyperglykämie), worauf der Körper mit wichtig werden. Ob hierfür die Gene oder die Ernäh-
vermehrter Insulinausschüttung (Hyperinsulin- rungsgewohnheiten innerhalb der Familie verant-
ämie) reagiert. Ein großer Teil des Zuckers wird da- wortlich sind, ist noch nicht hinreichend geklärt.
raufhin mit den Nahrungsfetten ins Fettgewebe ge- Die Stoffwechsellage, wichtig für die Energiever-
speichert. wertung, kann durch Krankheiten sowie durch äuße-
Damit schließt sich ein Circulus vitiosus. Die er- re Faktoren beeinflusst werden. Krankheiten, wie
höhte Insulinproduktion kann jahrelang aufrechter- z. B. die Hypothyreose, Morbus Cushing oder ein Hy-

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 273


KaelDesu
15 Körpergewicht

pothalamus-Tumor mit daraus folgender Esssucht, nahme der normalen Essensgewohnheiten und ent-
sind in 3 – 5% der Fälle für die Entwicklung einer Adi- sprechender Gewichtszunahme. Das liegt in erster
positas verantwortlich. Linie daran, dass sich der Grundumsatz des Körpers
Medikamente, wie z. B. einige Psychopharmaka, im Hungerzustand auf einen verminderten Grund-
die Anti-Baby-Pille oder Cortison, greifen in den umsatz einstellt, so als müsse sich der Körper auf ei-
Energiehaushalt ein und reduzieren die Stoffwech- ne „Hungersnot“ vorbereiten. Entsprechend wird der
sellage, führen zur Flüssigkeitseinlagerung im Kör- Energiebedarf vorsorglich heruntergeschaltet. Wird
pergewebe oder können den Appetit steigern, sodass nun, nachdem das erwünschte verminderte Gewicht
es ebenfalls zu einem Anstieg des Körpergewichts erreicht ist, wieder die normale Energiemenge wie
kommen kann, ebenso wie bei Raucherentwöhnung. vor der Diät zugeführt, speichert der Körper diese
Mit dem Rauch wird Nikotin inhaliert, das den Stoff- Energie sofort wieder, sozusagen für die nächste
wechsel steigert. Fehlt dieser Stoff, normalisiert sich „Hungersnot“. Die Folge ist eine rasche Gewichtszu-
die Stoffwechselsituation. Außerdem wird der Appe- nahme, was für den Betroffenen häufig sehr frustrie-
tit größer, wenn das appetitdämpfende Nikotin weg- rend ist und die Motivation für die nächste Diät nicht
fällt. gerade steigert. Dieser Effekt des Zunehmens, Ab-
Auch psychische Faktoren spielen bei der Entste- nehmens und erneuten Zunehmens wird als Jo-Jo-Ef-
hung der Adipositas eine große Rolle. Psychologi- fekt bzw. Weight Cycling bezeichnet.
schen Untersuchungen zufolge wird das vermehrte Effektiver für eine langanhaltende Gewichtsre-
Essen bei Adipösen weniger durch Hunger und Sätti- duktion ist deshalb eine Umstellung der Essgewohn-
gung als vielmehr durch Sehen und Riechen gesteu- heiten in Kombinaton mit Bewegung und ggf. einer
ert. Auch dem vermehrten Essen als Reaktion nach Verhaltenstherapie. Die Essgewohnheit eines Men-
emotionaler Belastung liegen gesicherte wissen- schen hat sich meist über Jahrzehnte entwickelt. Das
schaftliche Erkenntnisse zugrunde. betrifft die Art und Weise zu essen, die Essenszeit,
Die hauptsächliche Ursache von Adipositas i. d. In- die Menge, die Nahrungsmittel und deren Verfügbar-
dustrieländern liegt jedoch in der Lebens- und Er- keit, die Gründe zu essen, die Genussmittel und so
nährungsgewohnheit: es wird dem Körper mehr weiter. All das hat dazu beigetragen, dass der Körper
Energie in Form von Kalorien zugeführt, als er benö- mehr Energie erhalten hat, als er braucht. Zur Be-
tigt, bei gleichzeitigem Bewegungsmangel. wusstmachung seines Ernährungsverhaltens bietet
Alle diese Ursachen bieten zwar Erklärungen für sich das Führen eines „Ernährungstagebuches“ an
die Entstehung von Adipositas, sind aber letztlich (Tab. 15.1). Täglich trägt man genau ein was gegessen
unbefriedigend, denn hiermit ist noch nichts darü- und getrunken wurde inklusive der Kalorien/Joule-
ber ausgesagt, warum ein Mensch nach Aufnahme Zuordnung. Sinnvoll ist auch das Hinzufügen in wel-
einer bestimmten Anzahl Kalorien zunimmt, ein an- cher Stimmung oder Umgebung die Nahrung aufge-
derer jedoch nicht. Der Grund hierfür liegt in der spe- nommen wurde. Innerhalb weniger Tage lässt sich
ziellen Stoffwechsellage adipöser Menschen. Norm- anhand der Aufzeichnung ein Essmuster erkennen.
gewichtige haben die Fähigkeit, überschüssige Ener- Vielfach wird zu fett gekocht oder zu viele Zwischen-
15 gie durch vermehrte Wärmeabgabe abzubauen. Die- mahlzeiten in Form von Süßigkeiten zu sich genom-
se Fähigkeit, die bei Adipösen begrenzt ist, wird auch men.
Thermogenese genannt. Das geschieht einerseits Im nächsten Schritt sollte überlegt werden, wo
über die durch Noradrenalin gesteuerte Steigerung Nahrungs- oder Genussmittel eingespart werden
des Grundumsatzes, andererseits über spezielle En- können und welches Zielgewicht in welchem Zeit-
zyme, die sog. ATP-Asen, die wesentlich am gestei- raum erstrebenswert ist. Dabei sollte regelmäßige
gerten Energiestoffwechsel beteiligt sind. körperliche Bewegung mit eingeplant werden. Von
Bedeutung ist, dass der Körper langsam abnimmt, oh-
Diäten ne in den sog. „Hungerstoffwechsel“ zu geraten. Da-
Um Risikofaktoren für Folgekrankheiten zu mindern, durch wird nicht nur ein langfristiger Erfolg unter-
sollten Übergewichtige ihr Gewicht reduzieren. Inef- stützt, sondern auch Komplikationen, die durch eine
fektiv sind kurzfristige Gewichtsreduktionen bzw. zu rasche und ausgeprägte Gewichtsabnahme entste-
Radikalkuren, wie sie häufig in Modezeitschriften hen können, z. B. Gallensteine, vermieden werden.
beschrieben werden. In vielen Fällen kommt es nach Zur Therapie einer Adipositas werden auch zahl-
diesen schnellen Abmagerungskuren zur Wiederauf- reiche Gewichtsreduktionsprogramme angeboten.

274 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
15.3 Abweichungen und Veränderungen des Körpergewichts sowie deren Ursachen

Tab. 15.1 Ernährungstagebuch

Eine Eintragung im Ernährungstagebuch könnte folgendermaßen aussehen:


Uhrzeit Speisen/Menge Getränke/Menge Anmerkungen/Situation Aktivitäten
Wann? Was/Wieviel? Was? Wieviel? Wann? Wieviel habe ich mich bewegt?
Was?/Wie viel?
Was?/Wie viel?
Wie habe ich mich gefühlt?

7.00 Uhr 2 Scheiben Vollkornbrot, 1 Tasse Kaffee (125 ml) etwas in Eile mit dem Fahrrad zur Arbeit
2 TL Butter, 4 TL Milch
1 TL Konfitüre, 1 Scheibe
Gouda 45% F. i. Tr.

Bekannt ist z. B. das „Weight-Watchers-Programm“. Neben psychischen Faktoren sind vor allem eine
Die Herausgeber der Interdisziplinären Leitlinie der spezielle Stoffwechsellage, eine reduzierte Thermo-
Qualität S3 zur „Prävention und Therapie der Adipo- genese sowie Lebens- und Ernährungsgewohnhei-
sitas“ empfehlen Programme, die Bewegungs-, Er- ten als Ursache für Adipositas zu sehen.
nährungs- und Verhaltenstherapie enthalten. Langanhaltende Gewichtsreduktion durch Umstel-
lung von Essgewohnheiten und Führung eines Er-
Ödeme nährungstagebuchs ist die wirksamste Therapie.
Definition: Ödeme sind Wasseransammlun- Auch Ödeme, besonders der Aszites, können Ursa-
gen im Gewebe (s. a. Abb. 6.6). che erheblicher Gewichtszunahme sein.

Flüssigkeit wird in diesem Fall vom Körper nicht 15.3.2 Untergewicht


ausgeschieden, sondern lagert sich vorwiegend in den Als Untergewicht wird ein Körpergewicht unter ei-
unteren Extremitäten, aber auch im Bauchraum oder nem BMI von 18,5 bezeichnet.
in der Lunge an. Ursachen sind häufig Nieren- oder Mögliche Ursachen für das Untergewicht:
Herzerkrankungen. Es können mehrere Liter Flüssig- Magen-Darm-Erkrankungen,
keit im Gewebe eingelagert sein, die das Körperge- schwere, fiebrige Infektionen,
wicht ganz erheblich beeinflussen. Eine besondere Erkrankungen endokriner Drüsen (z. B. juveniler
Ödemform ist der Aszites, der bei Lebererkrankungen, Diabetes mellitus, Hypophysenerkrankungen,
Karzinomen oder Entzündungen in der Bauchhöhle Hyperthyreose),
sowie bei Herzinsuffizienz auftreten kann. organische Hirnschäden mit Inappetenz,
Die Menge kann bis zu 20 l betragen, was eine Hungersnot,
entsprechende Gewichtszunahme zur Folge hat. Die psychische Essstörungen (z. B. Anorexia nervosa)
Therapie erfolgt über Diuretika, NaCl-arme Kost, Be- und
schränkung der Flüssigkeitszufuhr und Punktion der maligne Erkrankungen.
Bauchhöhle zur Ableitung des Ödems. Dabei sollte 15
eine tägliche Gewichtsreduktion von 300 – 500 g Kachexie
nicht überschritten werden. Sind zusätzlich periphe- Definition: Liegt das Körpergewicht eines Men-
re Ödeme vorhanden, kann die tägliche Gewichtsab- schen ca. 20% unter dem Normalgewicht, wird
nahme auf 1 kg ausgedehnt werden. Die tägliche Ge- dieser Zustand als Kachexie bezeichnet.
wichtskontrolle wird durch eine exakte Flüssigkeits-
bilanz ergänzt. Diese Menschen sind hochgradig abgemagert, die
Fettpolster fehlen, der Hautturgor ist meist schlaff
Zusammenfassung: und faltig, die Wangenhaut ist eingefallen. Das führt
Adipositas insgesamt zu einem greisenhaften Aussehen. Kno-
Bei Adipositas liegt das Übergewicht über BMI 30. chenvorsprünge, besonders an den Rippen, am Be-
Folgen der Adipositas können Bluthochdruck, Herz- ckenkamm, an den Armen und Beinen, sind deutlich
Kreislauf-, Gelenk und Hauterkrankungen, Fettle- zu sehen.
ber, Hyperglykämie, Diabetes mellitus und Kompli- Die Folgen der Kachexie sind Kreislaufbeschwer-
kationen bei Operationen sein. den mit Hypotonie, Nährstoff- und Vitaminmangel-

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 275


KaelDesu
15 Körpergewicht

erscheinungen, Kräfteverfall sowie eine erhöhte In- Im Laufe der Gewichtsabnahme verändert sich
fektanfälligkeit. Durch die allgemeine Schwäche ist auch die Wahrnehmung der betroffenen Menschen.
die Leistungsfähigkeit stark herabgesetzt und es Das Kälteempfinden wird ausgeprägter, Geräusche
kommt zu schneller Ermüdbarkeit und Abgeschla- werden intensiver wahrgenommen, was zu einer
genheit. Die Haut ist besonders dekubitusgefährdet, erhöhten Schreckhaftigkeit führt, und die Augen
da das schützende Polster zur Druckminderung fehlt. reagieren empfindlicher auf Licht. Häufig tragen
Durch Infektanfälligkeit und Schwäche ergibt sich die Betroffenen Sonnenbrillen, auch wenn keine
eine erhöhte Pneumoniegefahr. Bei starker Schwä- Sonne scheint. Die Psychodynamik kann stark ein-
che, die zu Bewegungsmangel führt, ist auch das geschränkt sein, d. h. die Fähigkeit, sich mit sich
Thromboserisiko erhöht. Bei Eiweißmangel kann es selbst und anderen auseinander zu setzen, ist redu-
zur Ödembildung kommen (s. a. S. 293). Ab einer Un- ziert.
terschreitung des Normalgewichtes von über 50% Sämtliches Tun und Handeln ist auf das eigene
besteht Lebensgefahr (Abb. 15.8, s. a. Abb. 16.1). Körpergewicht fixiert, genauer auf die Gewichtsab-
nahme. Der anorektische Mensch fühlt sich schöner
Anorexia nervosa und wohler, je dünner er ist. Körperfett und Ge-
Definition: Anorexia nervosa ist die „nervöse wichtszunahme lösen Ängste aus, die bis zur Depres-
Appetitlosigkeit“. Sie betrifft vorwiegend Mäd- sion führen können. Das bedeutet jedoch nicht, dass
chen und jüngere Frauen im Alter von 15 – 25 die betroffenen Menschen keinen Hunger verspüren.
Jahren. Das Ignorieren dieses Bedürfnisses wird jedoch als
Sieg und Macht über den Körper empfunden.
Das Körpergewicht liegt zwischen 15 und 50% unter Die Ursachen für Anorexia nervosa sind seelisch
dem Normalgewicht. Gleichzeitig besteht eine teil- bedingt und sehr komplex. Mädchen und Frauen sind
weise panische Angst vor Gewichtszunahme. Unter- häufiger betroffen als Jungen und Männer. Es kom-
stützt wird die gewollte Gewichtsabnahme häufig men verschiedene Theorien in Betracht, die einzeln
durch vermehrte Bewegung, Einnahme von Abführ- oder kombiniert für die Erkrankung verantwortlich
mitteln und provoziertes Erbrechen. zu sein scheinen. Die in USA lebende deutsche Psy-
Die Folgen sind, neben dem Nährstoffmangel und chologin H. Bruch hat sich wissenschaftlich mit der
der Schwäche, Anämie, Elektrolytverschiebungen bis Anorexia nervosa auseinandergesetzt. Sie stellte fest,
hin zu lebensbedrohlichen Herz-Kreislauf-Situatio- dass sehr viele Betroffene aus der gehobenen Mittel-
nen. Als Folgeerscheinungen des Nährstoffmangels schicht stammten, wo die Mutter zugunsten der Fa-
schaltet der Gesamtorganismus auf einen erniedrig- milie ihre Karriere aufgegeben hatte. Vielfach wurde
ten Grundumsatz mit erniedrigter Körpertempera- auf strenge Tischsitten und gute Manieren großen
tur, erniedrigtem Blutdruck sowie herabgesetzter Wert gelegt. Möglicherweise basiert die Essstörung
Puls- und Atemfrequenz um. Eine weitere Folge ist auf einem Mutter-Tochter-Konflikt.
die Obstipation. Bei Frauen bleibt die Menstruation Eine andere Theorie besagt, dass die Zeit der Kör-
schon sehr früh aus. perreifung mit Brustbildung und Menstruation nicht
15 in das gewünschte Körperbild passt bzw. das Er-
wachsenwerden verhindert werden soll. Aber auch
der die Mode begleitende „Schlankheitswahn“
kommt sicherlich in einigen Fällen als Ursache in Be-
tracht.

!
Merke: Abweichungen des Körpergewichts
nach oben oder unten können sowohl durch
physische als auch durch psychische Ur-
sachen bedingt sein. Gleichzeitig verursachen diese
Abweichungen häufig physische und psychische Prob-
leme.
Abb. 15.8 Allgemeine Kachexie mit Dekubitus am Rücken

276 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
15.5 Besonderheiten bei Kindern

15.4 Ergänzende 15.5 Besonderheiten bei Kindern


Beobachtungskriterien Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm

Das Körpergewicht ist immer in Abhängigkeit zur Das Geburtsgewicht und die Gewichtszunahme sind
Körpergröße zu sehen. im Verlauf der Kindheit ein wichtiger Anhaltspunkt
Sowohl bei der Adipositas als auch bei der Kache- für die Beurteilung der körperlichen Entwicklung ei-
xie und der Ödembildung sind spezielle Hautverän- nes Kindes. Weitere Anhaltspunkte sind Alter, Kopf-
derungen zu beobachten (s. a. S. 67). Gewichtsverän- umfang und Größe (s. a. S. 256).
derungen beeinflussen die Herz-Kreislauf-Situation, Der körperliche Entwicklungszustand eines Kinds
die durch Beobachtung der Vitalzeichen deutlich lässt sich anhand eines Somatogramms anschaulich
wird. Die Bewertung des Körpergewichts wird häufig darstellen und beurteilen.
mit der Bewertung des Ernährungszustands gleich-
gesetzt. 15.5.1 Indikation zur Ermittlung des
Körpergewichts

!
Merke: Das Körpergewicht beschreibt ledig- Das Körpergewicht eines Kinds wird erstmals nach
lich den quantitativen Teil des Ernährungs- der Geburt ermittelt und als Geburtsgewicht in den
zustands. Zur Beurteilung des qualitativen Mütterpass sowie in das Kinderuntersuchungsheft,
Anteils, d. h. ob der Körper alle notwendigen Nährstoffe das jedes Kind zur Früherkennung von Krankheiten
erhält und aufnimmt, sind i. d. R. laborchemische Un- direkt nach der Geburt erhält, eingetragen.
tersuchungen erforderlich (s. a. S. 287). Weiterhin wird sein Körpergewicht bei der regel-
mäßigen Untersuchung U1 – U9 zur Verlaufskontrol-
Die Beobachtung des Körpergewichts kann durch die le im Somatogramm eingetragen (s. a. S. 256). So lässt
Kontrolle der Ein- und Ausfuhr, die sog. Bilanzierung, sich der körperliche Entwicklungsstand eines Kinds
unterstützt werden. Hierzu wird von der zugeführ- unter Berücksichtigung der Größe und unter Hinzu-
ten Flüssigkeit und Nahrung die Menge der Aus- ziehung des Alters beurteilen.
scheidungen Urin, Stuhl, Schweiß und Erbrechen ab- Um die Gewichtsentwicklung der Früh- und Neu-
gezogen. geborenen im Krankenhaus verfolgen zu können,
Extreme Gewichtsveränderungen nach oben oder werden sie je nach hausüblichem Standard oder nach
unten können mit Trägheit, Schwäche oder Schmer- ärztlicher Anordnung einmal täglich, z. B. im Rahmen
zen einhergehen und sich auch auf die Körperhal- der Körperpflege, gewogen. Klein- und Schulkinder
tung auswirken. In ganz extremen Fällen ist Bewe- werden dies entsprechend 1 – 2-mal wöchentlich,
gung nicht mehr möglich und es kommt zur Immobi- möglichst bei gleicher Bekleidung, z. B. im Schlafan-
lität. zug und zur gleichen Tageszeit.
Ferner wird das Körpergewicht eines Kinds bei je-
Zusammenfassung: der Aufnahme in ein Krankenhaus, vor jeder notwen-
Gewichtsveränderungen digen Narkose und bei jeder Erkrankung, die einen 15
Bei einer Kachexie liegt das Körpergewicht 20% un- Flüssigkeitsverlust zur Folge hat, ermittelt. Je nach
ter dem Normalgewicht. Alter und Erkrankung des Kindes kann zur genauen
Die in der Pubertät auftretende Anorexia nervosa, Kontrolle eines Flüssigkeitsverlusts und/oder -be-
bei der das Körpergewicht 15 – 50% unter dem Nor- darfs die Kontrolle des Gewichtes mehrmals täglich,
malgewicht liegt, kann verschiedene seelisch be- z. B. alle 8 Std., notwendig sein.
dingte sowie biologische Ursachen haben.
Die Beobachtung von Gewichtsveränderungen 15.5.2 Ermittlung des Körpergewichts
kann durch Bilanzierung unterstützt werden. Zur Ermittlung des Körpergewichtes kommen je
nach Alter und Zustand des Kindes verschiedene
Waagetypen zur Anwendung. Die Stand- oder Sitz-
waage (Abb. 15.1 und 15.2) wird bei Klein- und
Schulkindern verwendet. Für die Bestimmung des
Körpergewichtes bei einem Früh-, Neugeborenen

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 277


KaelDesu
15 Körpergewicht

und Säugling stehen die Neigungswaage, die Digital- unbekleidet auf die Waagschale gelegt. Um objektive
waage (Abb. 15.9) sowie die integrierte Waage im Messdaten zu erhalten, sollte sich das Kind möglichst
Inkubator (Abb. 15.10) zur Verfügung. wenig/gar nicht bewegen und nicht schreien. Mögli-
Die Neigungswaage und Digitalwaage bestehen cherweise kann dem Kind ein Schnuller bzw. der ei-
im Wesentlichen aus Waagschaale und Anzeigen- gene Daumen oder die Hand zum Saugen in den
feld. Bei der Digitalwaage erfolgt die Anzeige des Ge- Mund gegeben werden. Nach dem Ablesen des Ge-
wichtes elektronisch, während bei der Neigungs- wichtes wird das Gewicht des verwendeten Tuches
waage das Gewicht auf der Grammskala abgelesen abgezogen und das eigentliche Gewicht des Kindes
wird. dokumentiert.
Auffällige Veränderungen des Körpergewichtes

!
Merke: Es ist darauf zu achten, dass die je- können Rückschlüsse auf die Erkrankung zulassen
weilige Waage auf einem ebenen, festen Un- und müssen sofort mitgeteilt werden. Sie können
tergrund steht und vor jeder Ermittlung des ausschlaggebend für die Diagnose und die einzulei-
Körpergewichtes tariert wird. Hierzu muss bei den me- tende Therapie sein.
chanischen Waagen der Zeiger auf Null stehen und bei

!
der Digitalwaage die Libelle in der Anzeige im Lot sein. Merke: Während des Wiegens darf ein
Säugling oder Kleinkind nie unbeaufsichtigt
Zur Gewichtsermittlung wird die Waage mit einem bleiben, d. h. die Pflegeperson darf sich nicht
Tuch, z. B. einer Stoffwindel oder einem Fell, ausge- entfernen. Sie muss direkt vor der Waagschale stehen
legt, das Gewicht des Tuchs notiert und der Säugling und immer eine ausgestreckte Hand über das zu wie-
gende Kind halten, um einem möglichen Sturz des Kin-
des vorzubeugen.

Zur Ermittlung des Körpergewichtes im Inkubator


wird das Frühgeborene von einer Pflegeperson von
der Unterlage gehoben, während eine zweite Pflege-
person die Waage tariert. Danach wird das Kind auf
die Unterlage zurückgelegt und das Gewicht an der
Anzeige abgelesen.

15.5.3 Normalzustand
Will man das Körpergewicht eines Neugeborenen/
Säuglings bewerten, muss zusätzlich die Körpergrö-
ße und die Schwangerschaftswoche, in der das Kind
Abb. 15.9 Funkfähige Säuglingswaage mit optimiertem Dämp-
fungssystem (seca gmbh & co. kg) geboren ist, berücksichtigt werden.
Reife Neugeborene haben ein Gewicht in Abhän-
15 gigkeit von der Körpergröße von 3000 – 4000 g,
Neugeborene mit niedrigem Geburtsgewicht ha-
ben ein Gewicht von ⬍ 2500 g,
extrem untergewichtige Neugeborene wiegen
⬍ 1500 g.

Ein Neugeborenes verliert in den ersten 3 – 7 Tagen


etwa 10% seines Geburtsgewichtes. Diese physiolo-
gische Gewichtsabnahme ist auf die geringe Aufnah-
me an Nahrung, die Umstellung des Körpers auf die
Lungenatmung und die Urin- und Stuhlausscheidung
zurückzuführen. Nach ca. 10 – 14 Tagen sollte ein
Abb. 15.10 Giraffe Carestation mit integrierter Waage Neugeborenes das Geburtsgewicht wieder erreicht
(GE Healthcare) haben.

278 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
15.6 Besonderheiten bei älteren Menschen

Säuglinge, die in den ersten 6 Monaten aus- lung, über viele akute und chronische Erkrankungen,
schließlich mit Muttermilch ernährt werden, neh- z. B. gastrointestinale Störungen und Stoffwechsel-
men schneller zu. Sie werden jedoch zwischen dem störungen, bis hin zu Fehlbildungen der Speisewege.
6. und 12. Lebensmonat von den mit Fertignahrung Die Behandlung und Heilung hängt von den ein-
ernährten Kindern überholt. Entscheidend ist die zelnen Ursachen ab. Die Behandlungsmöglichkeiten
Überwachung der stetigen Gewichtszunahme, die haben je nach Ursache unterschiedliche Schwer-
unter Zuhilfenahme des Somatogramms im Rahmen punkte. So müssen einige Kinder über eine Ernäh-
der kinderärztlichen Untersuchung kontrolliert rungssonde ernährt werden und/oder durch Gabe
wird. Die weitere Gewichtsentwicklung des Kindes von Infusionen parenteral versorgt werden. Der Nah-
ist abhängig von den Ernährungsgewohnheiten und rungsaufbau erfolgt vorsichtig nach einem genauen
dem körperlichen Gesundheitszustand des Kindes. individuellen Plan und dauert mitunter mehrere
Sie wird auch beeinflusst von soziokulturellen Fakto- Wochen. Neben der Dystrophie/Atrophie müssen die
ren, wie z. B. der Fürsorge der Eltern. Ihre Einstellung verursachenden Faktoren behandelt werden.
zur Ernährung und ihr Körperbewusstsein wirkt sich
prägend auf die Kinder aus.
15.6 Besonderheiten bei älteren
15.5.4 Abweichungen und Veränderungen des Menschen
Körpergewichts Eva Eißing
Eine Abweichung vom normalen Körpergewicht ist
die Adipositas, (s. a. S. 272), die bei Kindern vielfach Im Alter verlangsamt sich die gesamte Stoffwechsel-
psychosomatisch/alimentär ausgelöst wird, z. B. lage. Hinzu kommt, dass Aktivitäten und körperliche
durch fehlendes oder schlecht strukturiertes Fami- Bewegung allgemein abnehmen. Das hat zur Folge,
lienleben, in dem die Kinder keine gemeinsamen dass der Körper einen geringeren Energiebedarf hat
Mahlzeiten kennenlernen oder durch zu geringe kör- und weniger Kalorien verbraucht. Insgesamt braucht
perliche Betätigung bei einseitiger, fettiger Ernäh- der alte Mensch ca. 30% weniger Kalorien als jüngere
rung durch „Fast Food“. Seltener sind Hormonstö- Erwachsene.
rungen für die Adipositas verantwortlich. Adipöse Ein weiterer gewichtsbeeinflussender Faktor ist
Kinder und Jugendliche wachsen sehr häufig zu die schwindende Muskelmasse. Sie verringert sich
übergewichtigen Erwachsenen heran. beim erwachsenen Menschen jährlich um 0,5% und
Ein Körpergewicht unter der 3. Perzentile wird als wird in der Regel durch Fett ersetzt.
Dystrophie, extreme Abmagerung als Atrophie oder Viele Organe bilden sich im Alter zurück und atro-
Kachexie bezeichnet (s. a. S. 275). Die Dystrophie, ei- phieren. An Stelle des verlorengegangenen, organ-
ne Gedeihstörung, die aufgrund von chronischer Un- spezifischen Gewebes, des sog. Parenchyms, treten
terernährung entsteht, äußert sich durch: flüssigkeitsgefüllte Hohlräume, Binde- und Fettge-
fehlende Gewichtszunahme, später Gewichtsab- webe. Besonders betroffen sind hiervon Muskulatur,
nahme, Gehirn, Leber und Haut. Das gesamte, im Körper be-
verlangsamtes Körperwachstum, findliche Wasser verringert sich um 18%. 15
blasse, trockene und faltige Haut, Neben diesen physiologischen Gewichtsverände-
eingesunkene Wangen, rungen im Alter gibt es auch die pathologischen Ver-
hervortretende Augen, änderungen durch Alterskrankheiten. Zur Gewichts-
Vorwölbung des Bauchs durch atrophierende zunahme kann es im Alter z. B. durch Ödembildung
Muskulatur, bei der Herzinsuffizienz oder bei einer Hypothyreose
Antriebsarmut, kommen. Die Folge des verlangsamten Stoffwechsels
negative Verstimmung, ist allgemeine Schwäche mit leichter Ermüdbarkeit.
Obstipation und Absetzen von Hungerstühlen Weitere Beschwerden sind:
sind möglich. ständiges Frieren,
Kälteintoleranz,
Die Ursachen für die Dystrophie/Atrophie sind vielfäl- Apathie,
tig und reichen von psychosozialen Störungen, z. B. Ödembildung und
Vernachlässigung des Kindes und Kindesmisshand- Gewichtszunahme.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 279


KaelDesu
15 Körpergewicht

Häufiger kommt es im Alter jedoch zur Gewichtsab-


nahme. Die Ursachen hierfür sind vielfältig und rei- 15.7 Fallstudien und mögliche
chen von Tumorleiden (Tumorkachexie) über einsei- Pflegediagnosen
tige Ernährung bis hin zur Unfähigkeit zur selbst-
ständigen Nahrungsaufnahme. Auch eine schlechte Beispiel: Herr Seidel ist 56 Jahre alt und
finanzielle Situation kann für Einsparungen im Be- wiegt 108 kg bei einer Körpergröße von
reich der Ernährung verantwortlich sein. Viele alte 185 cm. Sein Gewicht hat sich seit 10 Jahren
Menschen sind in ihrer Mobilität eingeschränkt und kontinuierlich nach oben hin verändert, seit er in seiner
ziehen sich sozial zurück. Dies führt zu Einsamkeit Firma die Leitung der technischen Abteilung übernom-
und Depression bis hin zu Appetitlosigkeit. Bedingt men hat. Seitdem übt er seine Arbeit überwiegend sit-
durch eine reduzierte Geruchs- und Geschmacks- zend am Schreibtisch aus. Oftmals macht er Überstun-
wahrnehmung wird weniger gegessen und damit den und kommt erst spät abends nach Hause. Auch ge-
dem Körper weniger Energie zugeführt. schäftliche Essen sind mindestens 1 – 2-mal pro Woche
Viele alte Menschen essen zu wenig wegen man- nötig. Zwischendurch stillt Herr Seidel seinen Hunger
gelnder Kaufähigkeit, z. B. durch fehlenden oder durch Snacks, die er sich am Automaten ziehen kann.
schlecht sitzenden Zahnersatz bzw. Schluckstörun- Die Hauptmahlzeit nimmt er in der Regel abends zu
gen. Bei dementen Menschen ist die Nahrungsaufnah- sich, wenn sein Arbeitstag vorüber ist.
me deswegen schwierig, weil sie entweder zu viel es- Er gibt an, sich unbeweglich zu fühlen, und dass seine
sen, d. h. kein Sättigungsgefühl wahrnehmen, oder gar Knie- und Fußgelenke schmerzen, sobald er längere
nichts, weil sie keinen Hunger spüren bzw. mit der an- Zeit laufe. Tab. 15.2 zeigt einen Auszug aus dem Pflege-
gebotenen Nahrung nichts anzufangen wissen. plan von Herrn Seidel.
Eine besondere Problemgruppe stellen alkohol- Zu der oben aufgeführten Fallstudie könnte die in der
abhängige bzw. medikamentenabhängige alte Men- folgenden Übersicht dargestellte Pflegediagnose pas-
schen dar. Die Suchtkrankheit ist häufig dafür ver- sen:
antwortlich, dass nicht genügend Nahrung aufge-
nommen und das Gewicht reduziert wird.
Nicht zuletzt sollten die alten Menschen erwähnt Überernährung oder exogene Adipositas (P)
werden, die ihre Nahrung nicht mehr selbstständig (Gordon 2013, S. 196 – 197, NANDA-I 2016)
zu sich nehmen können und auf Hilfe anderer ange- Imbalanced nutrition: More than body requirements
wiesen sind. Ob genügend Energie zugeführt wird, (00001) (1975, 2000)
ist dann in erster Linie häufig von Angehörigen oder Taxonomie II: Domäne 2: Ernährung,
Pflegepersonen abhängig (s. a. S. 299). Klasse 1: Nahrungsaufnahme
Diagnosetyp (Dokumentationsform): aktuelle Pflege-

!
Merke: Obwohl ältere Menschen 30% weni- diagnose (PES)
ger Kalorien als jüngere Erwachsene benöti- Funktionelles Gesundheitsverhaltensmuster:
gen, bedingen physische, psychische und so- Ernährung und Stoffwechsel
15 zia-le Faktoren im Alter häufig ein Untergewicht.
Definition
Nährstoffzufuhr, die den Stoffwechselbedarf übersteigt
Zusammenfassung:
Besonderheiten bei Kindern und älteren Einflussfaktoren (E)
Menschen übermäßige Nahrungszufuhr im Verhältnis zum
In der Entwicklung eines Kindes ist die Gewichts- Stoffwechselbedarf
kontrolle ein wichtiger Anhaltspunkt. (Ungleichgewicht zwischen Nahrungszufuhr und
Für Kinder stehen Neigungs- u. Digitalwaagen und Energieverbrauch)
im Inkubator integrierte Waagen zur Ermittlung (dysfunktionales Essverhalten [dokumentiert oder
beobachtet])
des Körpergewichts zur Verfügung.
(Nahrungsaufnahme zusammen mit anderen
Chronische Unterernährung, Dystrophie, kann viel-
Aktivitäten)
fältige psychische und physische Ursachen haben.
(Konzentrieren der Nahrungszufuhr am Ende des
Im Alter ist aus verschiedenen physiologischen, psy-
Tages)
chischen und sozialen Gründen eine Gewichtsab-
nahme häufiger als eine Gewichtszunahme.

280 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
15.7 Fallstudien und mögliche Pflegediagnosen

(Essen als Reaktion auf externe Auslöser [Tageszeit, Plegeergebnisse (Outcomes)


soziale Situation]) Ernährungszustand: Nährstoffzufuhr (Nutritional
(Essen als Reaktion auf interne Auslöser außer Status: Nutrient Intake)
Hunger [Angst, Depression]) Dem Stoffwechselbedarf angemessenes Muster der
(Grad der bewegungsarmen Lebensweise [im Nahrungszufuhr
Verhältnis zur Kalorienzufuhr]) Gewicht: Körpermasse (Weight: Body Mass)
(chronischer Stress) Körpergewicht, Muskelmasse und Fett decken sich
(Zusammensetzung der Darmflora, hoch resorbtiv) mit den Empfehlungen für Körpergröße, Körperbau,
(Wissensdefizit [Ernährungsbedarf]) Geschlecht und Alter
Kennzeichen oder Symptome (S) Risikogruppen
Hauptkennzeichen Personen mit . . .
Trizepshautfalte ⬎ 25 mm bei Frauen, ⬎ 15 mm bei anamnestisch bekannter Adipositas bzw. Überge-
Männern wicht in der Kindheit
(Body-Mass-Index 30 oder höher [Adipositas], 25 Gemütskrankheiten, anhaltendem Stress im Leben
oder höher [Übergewicht]) erzwungener bewegungsarmer Lebensweise (z. B. an
(Körpergewicht liegt 20% über dem Idealgewicht in den Rollstuhl gebunden)
Bezug auf Körpergröße und Körperbau [Adipositas])
(Körpergewicht liegt 10 – 20% über dem Idealge-
wicht in Bezug auf Körpergröße und Körperbau
Für Herrn Seidel könnte die Pflegediagnose folgen-
[Übergewicht])
dermaßen formuliert werden:
(dokumentierte Nahrungszufuhr höher als die emp-
Überernährung b/d (beeinflusst durch)
fohlene tägliche Menge)
Ungleichgewicht zwischen Nahrungsaufnahme
(prozentualer Körperfettanteil ⬎ 22% bei feingliedri-
und Energieverbrauch,
gen Frauen/⬎ 15% bei feingliedrigen Männern)
Nahrungszufuhr überwiegend am Tagesende
Nebenkennzeichen sitzende Tätigkeit
(blasse Konjuktiven und Schleimhäute)
a/d (angezeigt durch)
beeinträchtigtes Essverhalten (z. B. Essen während
Körpergewicht mehr als 20% über dem Idealge-
der Ausübung anderer Aktivitäten)
wicht (Adipositas).
Essen als Reaktion auf äußere Reize (z. B. Tageszeit,
soziale Situation)
Beispiel: Karen, 2,5 Jahre alt, war mit ihren
Nahrungszufuhr überwiegend gegen Tagesende
Eltern im Urlaub in Spanien. In den letzten
Essen als Reaktion auf innere Reize außer Hunger
(z. B. Angst)
Urlaubstagen beobachtet ihre Mutter eine
sitzende Tätigkeit Veränderung des Ernährungsverhalten. Karen verwei-
gert immer häufiger die Nahrung, ist quengelig, mag
nicht mehr spielen und schläft auffallend viel. Wieder
zu Hause, ist Karen auffallend antriebslahm und findet 15
Tab. 15.2 Auszug aus dem Pflegeplan von Herrn Seidel

Pflegeprobleme Ressource Pflegeziele Pflegemaßnahmen

Übergewicht (31,55 BMI) Herr Seidel ist offen für In- 쐌 Gewichtsreduktion 쐌 Ernährungstagebuch anlegen
aufgrund gewichtssteigen- formationen 0,5 kg/Woche in Kombi- 쐌 Gewichtskontrolle 2 ⫻/Woche
der Ernährungsgewohnhei- nation mit einer ausge- (Montag und Freitag 8.00 Uhr)
ten wogenen, gewichtsredu- 쐌 Diätberatung anmelden
zierenden Ernährung 쐌 Gesprächstermin mit Arzt und
쐌 führt Ernährungstage- Physiotherapeut zur Erstellung eines
buch selbstständig Programms für körperliche Aktivitäten
쐌 kennt Zusammenhang
zwischen Gewichtsreduk-
tion und körperlicher
Aktivität

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 281


KaelDesu
15 Körpergewicht

Tab. 15.3 Auszug aus dem Pflegeplan von Karen

Pflegeproblem Ressource Pflegeziele Pflegemaßnahmen

Karen leidet aufgrund einer Mutter ist tagsüber bei FZ: 쐌 1 ⫻ tgl. (8.00 h) Gewichtskontrolle
Gastroenteritis unter Ge- Karen in der Klinik 쐌 besitzt altersentspre- 쐌 Mutter nach Lieblingsgetränken und
wichtsverlust und unzurei- chendes Körpergewicht -speisen von Karen fragen
chender Nährstoffaufnahme NZ: 쐌 Getränke nach Wunsch bereitstellen
쐌 hält ihr Gewicht (2 l/Tag)
쐌 hat ausreichende Nähr- 쐌 6 kleine Mahlzeiten (8/11/13/16/19/21 h)
stoffaufnahme anbieten und Nachtmahlzeit bereitstel-
쐌 trinkt 2 l/Tag len (Lieblingsspeisen berücksichtigen)

auch hier nicht ihren gewohnten Appetit wieder. Hinzu


kommen Durchfälle und gelegentlich auch Erbrechen. Literatur:
Das Mädchen sieht blass aus und hat an Gewicht abge-
nommen. Der Kinderarzt stellt eine Gastroenteritis fest, Fischer, K., H. Sobottka, D. Faas (Hrsg.): Klinikleitfaden Kinder-
krankenpflege. 4 Aufl. Urban & Fischer, München 2009
wahrscheinlich ausgelöst durch Krankheitserreger, die
Gordon, M.: Handbuch Pflegediagnosen. 5. Aufl. Hans Huber,
Karen in Spanien mit der Nahrung aufgenommen hat.
Hogrefe AG, Bern 2013
Vorsichtshalber weist er Karen in die Kinderklinik ein. Gortner, L., S. Meyer, F. C. Sitzmann: Duale Reihe Pädiatrie.
Einen Auszug aus dem Pflegeplan von Karen, der sich 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012
auf die Gewichtsabnahme bezieht, zeigt Tab. 15.3. Hoehl, M., P. Kullick (Hrsg.): Gesundheits- und Kinderkranken-
pflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012
Fazit: Das Körpergewicht hat entscheiden- I care Krankheitslehre. Thieme, Stuttgart 2015
Illing, S., M. Claßen (Hrsg.): Klinikleitfaden Pädiatrie. 9. Aufl.
den Einfluss auf den ersten Eindruck, den
Urban & Schwarzenberg, München 2014
man von einem Menschen gewinnt. Die Be-
Köther, I.: Altenpflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2016
rechnung des Normalgewichts eines Menschen erfolgt Lippert, H.: Lehrbuch Anatomie. 8. Aufl. Urban & Fischer Ver-
nach dem BMI. Während in den Entwicklungsländern lag/Elsevier GmbH. München 2017
Menschen häufig unter Untergewicht leiden, erkran- Mötzing, G., G. Wurlitzer (Hrsg.): Leitfaden Altenpflege. Be-
ken in den Industrieländern immer mehr Menschen an gleitung, Betreuung, Beratung, Pflege, Rehabilitation.
den Folgen der Adipositas. 5. Aufl. Urban & Fischer Verlag/Elsevier, München 2014
NANDA International: Pflegediagnosen. Definitionen und
Neben körperlichen Problemen kann es im Zusam-
Klassifikation 2015 – 2017. Herdman, T. H., S. Kamitsuru
menhang mit Gewichtsveränderungen auch zu psy- (Hrsg.): RECOM, Kassel 2016
chischen Problemen kommen. Andererseits können Pschyrembel Klinisches Wörterbuch. 264. Aufl. de Gruyter,
psychische und physische Erkrankungen Gewichtsver- Berlin 2014
änderungen bewirken. Der Energiebedarf eines Men- Schewior-Popp, S., F. Sitzmann, l. Ullrich (Hrsg.): Thiemes Pfle-
schen unterliegt im Lauf des Lebens physiologischen ge. 13. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012
Schwegler, J., R. Lucius: Der Mensch. Anatomie und Physiolo-
Schwankungen; ältere Menschen haben einen geringe-
15 gie, 6. Aufl. Thieme, Stuttgart 2016
ren Energiebedarf als junge Erwachsene.
Wolf, D.: Übergewicht und seine seelischen Ursachen. Nikol
Verlagsgesellschaft mbH & Co KG, Hamburg 2015

Im Internet:
http://www.gbe-bund.de; Stand: 03. 08. 2017
https://www.dge-medienservice.de/mein-ernaehrungstage-
buch.html; Stand: 03. 08. 2017

282 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu

16 Ernährungszustand
Eva Eißing

Übersicht
Einleitung · 283
16.1 Allgemeine Beobachtungskriterien und
Beschreibung des Normalzustands · 284
16.1.1 Nahrungs- u. Flüssigkeitsaufnahme · 284
16.1.2 Gewicht in Abhängigkeit von der
Körpergröße · 287
16.1.3 Haut und Hautanhangsgebilde · 287
16.1.4 Zähne · 287
16.1.5 Nährstoffaufnahme und
-verwertung · 287
16.2 Abweichungen und Veränderungen des
Ernährungszustands sowie deren
Ursachen · 288 Einleitung
16.2.1 Störungen der Nahrungs- und
Flüssigkeitsaufnahme · 288 Die Aufnahme und Verwertung von Nahrung und
16.2.2 Störungen der Nährstoffaufnahme und Flüssigkeit sind für den Menschen einerseits lebens-
-verwertung · 293 notwendig – andererseits für viele Menschen auch
16.2.3 Mangelerscheinungen · 293 eine ausgesprochen genussvolle Tätigkeit.
16.2.4 Über-/Falschernährung · 297 Dabei kommt sowohl der Zusammensetzung der
16.2.5 Vergiftungen · 298 aufgenommenen Nahrung als auch dem ausgewoge-
16.3 Ermittlung des nen Verhältnis der in ihr enthaltenen Nährstoffe für
Ernährungszustandes · 299 einen guten Ernährungszustand große Bedeutung
16.4 Ergänzende Beobachtungskriterien · 299 zu. Wesentlich hierfür ist außerdem die Fähigkeit des
16.5 Besonderheiten bei Kindern · 299 Organismus, die zugeführten Nährstoffe entspre-
16.5.1 Störung der Nahrungsaufnahme · 300 chend zu verwerten.
16.5.2 Störung der Flüssigkeitsaufnahme · 300 Das folgende Kapitel beschreibt die Beobach-
16.5.3 Malabsorption und Maldigestion · 301 tungskriterien und geht auf mögliche Ursachen und
16.6 Besonderheiten bei älteren Erscheinungsbilder eines veränderten Ernährungs-
Menschen · 302 zustands ein.
16.7 Fallstudien und mögliche
Pflegediagnosen · 304 Definition: Als Ernährungszustand (EZ) wird
Fazit · 307 der ernährungsbedingte Körperzustand be-
Literatur · 308 zeichnet. Er wird beurteilt nach Größe und Ge- 16
wicht, Stärke des Hautfettpolsters und Hautturgor.
Schlüsselbegriffe
Der Ernährungszustand gibt Auskunft über die Ver-
왘 Hunger sorgung des Körpers mit Nährstoffen, sowohl Eiwei-
왘 Durst ßen, Kohlenhydraten und Fetten als auch Vitaminen,
왘 Appetit Mineralstoffen und Flüssigkeit.
왘 Exsikkose

왘 Dehydratation

왘 Über-, Unterernährung

왘 Mangelerscheinung

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 283


KaelDesu
16 Ernährungszustand

Funktionieren der inneren Organe zu gewährleisten


16.1 Allgemeine
sowie die Aufrechterhaltung des Kreislaufsystems,
Beobachtungskriterien und der Körpertemperatur und nicht zuletzt die körperli-
Beschreibung des che Arbeitsleistung zu garantieren.
Normalzustands Grundsätzlich ist der Organismus zum Aufbau
von Gewebe und Zellen auf sog. Baustoffe (Eiweiße
Der Ernährungszustand wird dann als gut bezeich- und Mineralien) angewiesen, während bei körperli-
net, wenn folgende Kriterien erfüllt sind: cher Arbeit vermehrt Energiestoffe (Kohlenhydrate
Die Menge des subkutanen Fettgewebes ent- und Fette) verbraucht werden.
spricht der Norm für Alter, Größe und Gewicht Die Beobachtung des Ernährungszustands um-
des Menschen, fasst einen quantitativen und einen qualitativen
die Haut ist elastisch, d. h., wenn man mit 2 Fin- Aspekt.
gern eine Hautfalte bildet und sie loslässt, glättet Quantitative Abweichungen des Ernährungszu-
sie sich sofort wieder, stands sind frühzeitig zu erkennen und durch Mes-
die zugeführte Nahrung enthält alle Nährstoffe, sung des Körpergewichts, der Stärke des Hautfett-
Vitamine und Mineralstoffe, die der Organismus polsters und Beurteilung des Hautturgors relativ
braucht, und wird auch vom Körper aufgenom- leicht zu objektivieren.
men, Eine falsche Nahrungszusammensetzung (Fehler-
die Nahrungsaufnahme erfolgt mit normalem Ap- nährung) oder das Fehlen eines einzelnen notwendi-
petit. Normalerweise isst und trinkt ein Mensch, gen Inhaltsstoffs (Mangelernährung) führen zu qua-
wenn er Hunger bzw. Durst hat, und zwar so viel, litativen Abweichungen des Ernährungszustands.
bis er satt ist und keinen Durst mehr hat. Diese sog. Mangelerscheinungen werden erst spät
sicht- und/oder spürbar bzw. können erst durch spe-
Über das Hunger- und Durstgefühl hinaus ist die zielle Laboruntersuchungen erkannt werden.
Nährstoffzufuhr und -aufnahme von vielen verschie- Die Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme, das
denen Faktoren wie beispielsweise Alter, Gewicht, Gewicht in Abhängigkeit von der Größe, die Haut
Energieverbrauch oder Krankheiten abhängig. Um und Hautanhangsorgane, die Zähne und die Nähr-
einen guten Ernährungszustand zu haben und zu stoffaufnahme und -verwertung gelten als Kriterien
halten, sollte sich die tägliche Nährstoffmenge an ei- für die Beobachtung und Beurteilung des Ernäh-
ner Mindestmenge orientieren, die ausreicht, um rungszustands; Laborparameter sind dabei außer
Mangelerscheinungen zu verhindern. Acht gelassen, weil sie äußerlich nicht sichtbar sind.
Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE)

!
hat diesen Mindestbedarf ermittelt. Von über 50 be- Merke: 5 Kriterien unterstützen die Beob-
kannten Stoffen, die vom menschlichen Körper be- achtung des Ernährungszustands:
nötigt werden, sind Eiweiße, Kohlenhydrate, Fette,
Vitamine, Mineralstoffe und Wasser die wichtigsten. Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme,
Die genauen Mengen sind in entsprechenden Lehr- Gewicht in Abhängigkeit von der Größe,
büchern für Ernährungslehre ersichtlich. Haut und Hautanhangsgebilde,
16 Grundsätzlich hat die Ernährung in den verschie- Zähne,
denen Lebensaltern und -situationen unterschiedli- Nährstoffaufnahme und -verwertung.
che Aufgaben. Ein im Wachstum befindlicher
Mensch braucht Nährstoffe besonders zum Aufbau 16.1.1 Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme
seines Körpers, d. h. zur Bildung von Muskel-, Kno- Bei der Beobachtung der Nahrungs- und Flüssig-
chen-, Nerven- und Stützgewebe. In jeder Lebens- keitsaufnahme wird neben Appetit, Hunger und
phase können jedoch Verletzungen, z. B. durch Unfäl- Durst auch das Ess- und Trinkverhalten eines Men-
le oder Operationen, entstehen. Hier steht die Wie- schen beurteilt.
derherstellung und Erneuerung von Gewebe und
Zellen im Vordergrund. Energie- und Nährstoffe wer-
den aber auch benötigt, um einen reibungslosen Ab-
lauf von Stoffwechselprozessen im Körper und das

284 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
16.1 Allgemeine Beobachtungskriterien und Beschreibung des Normalzustands

Appetit Tab. 16.1 Hunger-Sättigungs-Regulation, Steuerung durch


Definition: Appetit ist das psychische Verlan- Einflüsse auf den Hypothalamus, z. B. durch:

gen nach Nahrung, sozusagen die „Lust aufs Stimulanz (Hunger erzeugend) Hemmung (Sättigung erzeugend)
Essen“.
쐌 Dehnungszustand des 쐌 Dehnungszustand des
Magens: leer Magens: voll
Er wird besonders beeinflusst durch Gerüche wie 쐌 Absinken des Glukosegehal- 쐌 Glukose- und Insulinanstieg
beispielsweise Kochdünste und durch optische Reize tes und Insulinspiegels im im Blut
nach dem Motto „das Auge isst mit“. Verantwortlich Blut 쐌 Erhöhte Körpertemperatur
쐌 Rückgang der Wärmeproduk- 쐌 Leptinanstieg (Hormon,
dafür sind die zahlreichen Nervenverbindungen vom
tion Bildungsort Fettzelle)
Seh- und Riechzentrum zum Esszentrum, die bewir- 쐌 Hormone aus dem Magen- 쐌 Serotoninanstieg
ken, dass beim Riechen bestimmter Speisen das Darm-Trakt: z. B. Ghrelin 쐌 Optische Eindrücke: leerge-
쐌 Optische Eindrücke: voller gessener Teller
„Wasser im Mund zusammenläuft“. Die Erinnerung
Teller, Buffet 쐌 Widerwillen gegenüber be-
an den Genuss weckt Vorfreude auf die Wiederho- 쐌 Schmackhafte Speisen stimmten Speisen, Ekel
lung. Diese Emotion stimuliert die Verdauungsorga-
ne. Dies wiederum geschieht über Nervenbahnen,
die vom Esszentrum zum Magen-Darm-Trakt ziehen,
dem sog. Vagusnerv. Die Verdauungsorgane setzen
sich in Bereitschaft und beginnen mit der Produktion Die Nahrungsaufnahme wird durch Stimulation und
der Verdauungssäfte. Hemmung zentral im Hypothalamus (Sättigungs-/
Auch die Essatmosphäre spielt eine nicht unwe- Hungerzentrum) gesteuert. Hierfür gibt es mittler-
sentliche Rolle bei der Esslust oder -unlust. Es ist ein weile verschiedene Erklärunsmodelle. Jedoch ist die
Unterschied, ob, diktiert durch eine knapp vorgege- Forschung auf diesem Gebiet noch nicht abgeschlos-
bene Pausenzeit, das Mittagessen in einer Kantine sen. Einige den Hunger stimulierende und hemmen-
eher heruntergeschlungen wird, oder abends in ei- de Aspekte sind in der Tab. 16.1 dargestellt.
nem Restaurant bei Kerzenschein mit netten ver-
trauten Menschen ausgiebig gespeist wird. Oftmals Durst
kommt der Appetit erst durch eine entsprechende Definition: Als Durst bezeichnet man das Be-
Atmosphäre. dürfnis nach Wasseraufnahme.
Appetitmindernd bzw. -steigernd wirkt sich oft
auch die persönliche Stimmung aus. Akute Krisensi- Ein erwachsener Mensch besteht zu 50% (Frauen) –
tuationen, wie z. B. Trauer oder Trennung, hemmen 60% (Männer) seines Körpergewichtes aus Wasser.
häufig den Appetit, während Freude eher stimulie- Bis auf ganz geringfügige Schwankungen bleibt die-
rend auf die Esslust wirkt. Dagegen „sättigt“ ein ho- ser Wasserhaushalt konstant. Bei einem Flüssigkeits-
hes Glücksgefühl, wie z. B. Verliebtsein. Langfristige verlust von mehr als 0,5% des Körpergewichts oder
seelische Konflikte lassen häufig den Appetit stei- auch nach vermehrter Salzaufnahme stellt sich ein
gern; die so angegessenen Pfunde werden auch als Durstgefühl ein, das mit verminderter Speichelpro-
„Kummerspeck“ bezeichnet. Grundsätzlich sind die duktion und charakteristischem Trockenheitsgefühl
Auswirkungen von Emotionen in Bezug auf den Ap- im Mund- und Rachenraum einhergeht.
petit individuell ganz unterschiedlich. Die durstauslösende Steuerung erfolgt im We- 16
Weitere Faktoren, die sich besonders in Kliniken sentlichen über Osmolaritätsrezeptoren im Hypo-
und Altenheimen auf den Appetit auswirken, sind thalamus. Parallel dazu wird das antidiuretische
die Essenszeiten und die Schmackhaftigkeit der Hormon (ADH) ausgeschüttet, welches eine Redukti-
Speisen. Sie finden in großen Einrichtungen häufig on der Urinbildung und -ausscheidung bewirkt.
keine individuelle Berücksichtigung. Beeinflusst wird der Wasserhaushalt auch durch
die Flüssigkeitsabgabe über die Haut. Bei hoher Au-
Hunger ßentemperatur, wie z. B. an heißen Sommertagen,
Definition: Mit Hunger wird das körperliche beginnt der Körper zu schwitzen. Aber auch bei kör-
Verlangen nach Nahrung bezeichnet. Es ist ein perlicher Anstrengung, z. B. Sport oder schwerer kör-
subjektives Allgemeinempfinden, welches sich in perlicher Arbeit, wird vermehrt Wasser in Form von
der Magengegend lokalisiert und nach Nahrungsauf- Schweiß über die Haut ausgeschieden. Der entstan-
nahme verschwindet.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 285


KaelDesu
16 Ernährungszustand

dene Schweiß verdunstet und wird an die Luft abge- Zeitpunkt und Häufigkeit
geben. Besonders gut funktioniert dieser Mechanis- In unserer westlichen Welt sind 3 große Mahlzeiten/
mus bei trockener Luft, z. B. in der Sauna. Luft mit ei- Tag üblich, nämlich morgens, mittags und abends.
ner hohen Feuchtigkeitsrate, wie z. B. in tropischen Demgegenüber steht die Verteilung auf 5 – 6 kleine
Gebieten, kann weniger gut bzw. gar keine Feuchtig- Mahlzeiten, z. B. zur Körpergewichtsregulation. Zur-
keit aufnehmen. zeit gibt es diesbezüglich keine gesicherten Aussa-
Durch die Aufnahme von salzigen Speisen erhöht gen. Demzufolge gibt die DGE (Deutsche Gesellschaft
sich die Blutosmolarität und infolgedessen das für Ernährung) dazu keine Empfehlung.
Durstgefühl. Erwiesen ist jedoch, dass klare Essenszeiten für
viele Menschen Struktur und Orientierung im Alltag
Zusammenfassung: bieten.
Allgemeine Beobachtungskriterien
Der Ernährungszustand wird nach Größe, Gewicht, Nahrungszusammensetzung
Hautfettpolster und Hautturgor beurteilt. Fast alle Menschen haben bestimmte Vorlieben, sog.
Der Mensch muss eine Mindestmenge an Nährstof- Lieblingsspeisen und Getränke, aber auch Abneigun-
fen zu sich nehmen, um nicht Mangelerscheinungen gen. Diese Entwicklung ist stark von der Sozialisation
zu erleiden. geprägt. Entscheidenden Einfluss auf den Speiseplan
Je nach Alter und Lebenssituation hat die Ernäh- haben auch spezielle Ernährungsvorschriften. Diese
rung unterschiedliche Aufgaben. können religiös bedingt (z. B. kein Schweinefleisch
Es werden quantitative und qualitative Abweichun- bei Angehörigen des islamischen Glaubens), diäte-
gen vom gesunden Ernährungszustand unterschie- tisch (wie z. B. beim Diabetes mellitus) oder selbst
den. auferlegt (wie z. B. vegetarische Kost) sein.
Der Appetit wird durch Gerüche, optische Reize, äu-
ßere Atmosphäre und persönliche Stimmung beein- Essverhalten
flusst. Zu beobachten ist, wie jemand isst und trinkt. Ge-
Hunger und Durst werden durch Hemmung bzw. schieht dies mit Appetit, Heißhunger oder eher lust-
Stimulation im Hypothalamus gesteuert. los? Während bei Heißhunger oder vermehrtem Ap-
petit das Essen fast verschlungen wird, stochert der
Beurteilung des Ess- und Trinkverhaltens Appetitlose nur darin herum oder schiebt es sogar
Die Beurteilung des Ess- und Trinkverhaltens kann beiseite.
durch folgende Kriterien unterstützt werden: Auch kann die Essenszeit beobachtet werden, wie
z. B. langsames und bedächtiges, von Pausen unter-
Menge brochenes Essen.
Die Kalorienzufuhr sollte sich nach dem Energiever-
brauch richten, damit das Körpergewicht konstant Begleiterscheinungen
gehalten werden kann. Grundsätzlich brauchen jun- Häufig ist die (falsche) Ernährung die Ursache dafür,
ge Menschen und solche, die viel in Bewegung sind, dass man unter Völlegefühl oder Sodbrennen nach
mehr Kalorien als alte Menschen und jene, die sich dem Essen leidet. Auch Übelkeit und Erbrechen kön-
16 wenig bewegen. Viele Krankheiten beeinflussen den nen damit zusammenhängen. Bei verminderter Auf-
Energiehaushalt und somit den Kalorienbedarf, wie nahme von Ballaststoffen ist eine Obstipation die
z. B. die Hyperthyreose oder Karzinome, bei denen Folge.
der Energiebedarf des Körpers durch einen erhöhten Während ein Flüssigkeitsmangel schon nach kur-
Stoffwechsel ansteigt. zer Zeit an Haut- und Schleimhäuten beobachtbar
Die Trinkmenge sollte unter normalen Bedingun- ist, werden Mangelerscheinungen erst spät sichtbar.
gen ca. 1,5 – 2 l/Tag betragen. In besonderen Situatio- Rückschlüsse sind zu ziehen bei Über- und Unter-
nen, z. B. bei vermehrtem Schwitzen an heißen Som- gewicht, bei Veränderungen an Haut, Schleimhäu-
mertagen, muss die Trinkmenge dem erhöhten Ver- ten, Haaren, Nägeln, Ausscheidungen, Reaktionen
brauch angepasst werden. sowie dem allgemeinen Kräftezustand, sichtbar vor
allem am Nachlassen der Mobilität.

286 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
16.1 Allgemeine Beobachtungskriterien und Beschreibung des Normalzustands

16.1.2 Gewicht in Abhängigkeit von der dem Eindrücken der Haut die charakteristische Delle
Körpergröße über längere Zeit bestehen.
Das Körpergewicht in Abhängigkeit von der Körper- Weitere Ausführungen zum Thema Haut und
größe ist das auffälligste Beobachtungsmerkmal hin- Hautanhangsgebilde finden sich in Kap. 6 und 7.
sichtlich der Beurteilung des Ernährungszustands.
Ein Mensch gilt als gut genährt, wenn die Knochen- 16.1.4 Zähne
vorsprünge ausreichend mit Fettpolstern versehen Von schmerzhaften Gebissleiden ist die Menschheit
sind. Umgekehrt handelt es sich um einen schlechten schon seit Jahrhunderten betroffen. Auch dass Zu-
Ernährungszustand, wenn der Körper keine Fettpols- cker dafür verantwortlich ist, ist seit langem be-
ter hat und die Konturen besonders der Oberarm- kannt. Genaue Kenntnis über den eigentlichen zahn-
knochen, der Rippen und der Beckenknochen zu se- zerstörenden Mechanismus haben Wissenschaftler
hen sind. jedoch erst seit ca. 40 Jahren.
Zur Unterscheidung zwischen Muskel- oder Fett- Verantwortlich für die Entstehung von Karies sind
gewebe ist die Bestimmung der Hautfaltendicke not- Bakterien, hauptsächlich Streptococcus mutans, die
wendig. Diese Bestimmung ist in Kapitel 15.3 be- sich von Zuckerresten auf dem Gebiss ernähren und
schrieben (s. a. Abb. 15.6). Menschen mit einem gu- beim Zuckerabbau Säure produzieren. Normalerwei-
ten Ernährungszustand besitzen meistens auch eine se wird die entstehende Säure durch den Speichel
gut ausgebildete Muskulatur. neutralisiert; erst bei wachsendem Zahnbelag, z. B.
Häufige Folge der Unterernährung ist die sog. durch fehlendes Zähneputzen, funktioniert diese
Muskelatrophie (Muskelschwund), bei der sich die Neutralisation nicht mehr, weil der Speichel die Säu-
Muskulatur durch die ungünstigen Ernährungsbe- re „unter dem Belag“ nicht mehr erreicht. Unter die-
dingungen zurückbildet. Der Muskelaufbau wird sen Bedingungen kann die Säure Mineralien aus dem
durch eine eiweißreiche Ernährung unterstützt. Des- Zahnschmelz lösen und somit den Zahn regelrecht
halb bevorzugen Kraft- und Leistungssportler häufig „aushöhlen“. Je länger Zucker an den Zähnen haftet,
eiweißreiche Mahlzeiten. Kohlenhydrate, die in der desto verheerender ist die Wirkung. Aber nicht nur
Muskulatur als Glykogen gespeichert werden, die- Zucker, sondern auch alle anderen Kohlenhydrate
nen in erster Linie als Energiespender und werden (Brot, Haferflocken, Nudeln) werden von den Bakte-
vor allem beim Ausdauersport benötigt. Eine fettrei- rien zersetzt und entfalten die gleiche Wirkung.
che Ernährung verringert die Muskelarbeit, da Fett Fluor hingegen hemmt die Säureproduktion der
bei der Verbrennung mehr Sauerstoff verbraucht als Bakterien, fördert den Wiedereinbau von Mineralien
beispielsweise Kohlenhydrate. in den Zahnschmelz und härtet auf diese Weise den
Allerdings kann auch bei einem normalem Kör- Zahnschmelz.
pergewicht eine Mangel- oder Unterernährung vor- Ein kariöses Gebiss lässt dementsprechend Rück-
liegen, beispielsweise bei der Einlagerung von Was- schlüsse auf eine kohlenhydratreiche und fluorarme
ser im Gewebe infolge von Eiweißmangel. Ernährung zu. Eine wichtige Rolle spielen hierbei je-
Weitere Ausführungen zum Thema Gewicht fin- doch auch die genetische Disposition und die Zahn-
den sich in Kap. 15. pflege-Gewohnheiten. Beachtung verdient außer-
dem die mögliche Wechselwirkung zwischen Zahn-
16.1.3 Haut und Hautanhangsgebilde status und Ernährungsgewohnheiten: Während ei- 16
Die Haut sagt viel über den Nahrungskonsum eines nerseits eine einseitig kohlenhydratreiche und fluor-
Menschen aus. Vielfach wird ein Nährstoffmangel arme Ernährung zu Gebissdefekten bis hin zum
oder die Einnahme toxischer Substanzen an Haut, Zahnverlust führen kann, ist andererseits ein schad-
Haaren und Fingernägeln erkennbar. haftes und in seiner Funktion beeinträchtigtes Ge-
Auch der Flüssigkeitsgehalt ist meist deutlich an biss häufig die Ursache für eine Beeinträchtigung der
der Haut sichtbar. Haut und Schleimhäute reagieren Nahrungsaufnahme.
besonders empfindlich auf einen Flüssigkeitsman-
gel. Die Haut wird trocken; bei Anheben einer Haut- 16.1.5 Nährstoffaufnahme und -verwertung
falte bleibt diese lange bestehen. Die Schleimhäute Um einen guten Ernährungszustand zu erreichen, ist
trocknen aus und werden anfällig für Infektionen. La- nicht nur die Menge und ausgewogene Zusammen-
gert sich Flüssigkeit unter der Haut an, bleibt nach setzung der Nahrung entscheidend, sondern auch

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 287


KaelDesu
16 Ernährungszustand

die effektive Assimilation und Resorption der in ihr nahme, die Zusammensetzung der Nahrung, das
enthaltenen Nährstoffe. Hierzu wird ein gut funktio- Essverhalten und verschiedene Begleitumstände ei-
nierendes Verdauungssystem benötigt. ne Rolle.
Die Nahrungsbestandteile werden zunächst im Das Gewicht muss in Abhängigkeit von der Körper-
Mund zerkleinert und durch Kauen zu einem Speise- größe und von der Muskulatur gesehen werden.
brei vermischt und geformt, sodass dieser durch den Haut, Haare, Fingernägel und Zähne lassen Rück-
Schluckakt über die Speiseröhre in den Magen gelan- schlüsse auf die Ernährung zu.
gen kann. Bereits im Mund werden die Kohlenhydrate Ein gut funktionierendes Verdauungssystem ist Vo-
durch die im Speichel enthaltenen Fermente gespal- raussetzung für einen guten Ernährungszustand.
ten. Im Magen wird die Eiweißverdauung eingeleitet. Die Nährstoffverwertung unterliegt einem komple-
Im Zwölffingerdarm mischt sich die Nahrung mit xen Regelkreislauf.
dem Gallensaft und den eiweiß-, kohlenhdyrat- und
fettspaltenden Fermenten der Bauchspeicheldrüse.
16.2 Abweichungen und
Die vorbereitete Nahrung wird nun in einzelne Be-
standteile zerlegt und vom restlichen Dünndarm und
Veränderungen des
teilweise vom Dickdarm in den Blutkreislauf aufge- Ernährungszustands sowie
nommen. Von hier aus passieren die aufgespaltenen deren Ursachen
Stoffe zunächst die Leber, um danach ihr Zielorgan zu
erreichen. Dieser Vorgang unterliegt einem sehr Wie bereits beschrieben, spielt für den Erhalt eines
komplexen Regelkreislauf, der in enger Zusammen- guten Ernährungszustands die Menge und Zusam-
arbeit mit dem Gehirn, dem Hormonsystem und den mensetzung der Nahrung eine große Rolle.
an der Verdauung beteiligten Organen steht.

!
Normalerweise läuft die Nährstoffaufnahme und Merke: Grundsätzlich können Abweichun-
-verwertung im Körper unbemerkt und ohne Auffäl- gen und Veränderungen des Ernährungszu-
ligkeiten ab. Ist jedoch eine Station in diesem Regel- stands eines Menschen mit quantitativen
kreislauf in ihrer Funktion gestört, wird je nach Loka- (Menge der zugeführten Nahrung) und/oder qualitati-
lisation, Dauer und Intensität der Störung Unwohl- ven (Nahrungszusammensetzung und -verwertung)
sein oder ein Mangel entstehen. Ein entzündeter Störungen zusammenhängen.
Darm kann beispielsweise die Nährstoffe nicht oder
nur teilweise aufnehmen. Unterschieden werden:
Wenn die Bauchspeicheldrüse die spaltenden Störungen der Nahrungs- und Flüssigkeitsauf-
Fermente nicht produziert, werden die Nährstoffe nahme,
nicht aufgespalten und können vom Darm ebenfalls Störungen der Nährstoffaufnahme und -verwer-
nicht resorbiert werden. Diese komplexen Vorgänge tung,
sind zunächst äußerlich nicht beobachtbar; Verän- Mangelerscheinungen,
derungen sind oft nur durch laborchemische Unter- Über-/Falschernährung,
suchungen nachzuweisen. Häufig kommt es bei sol- Vergiftungen.
chen Störungen allerdings sowohl zu allgemeinen
16 Begleiterscheinungen, wie beispielsweise Völlege- 16.2.1 Störungen der Nahrungs- und
fühl oder Übelkeit und Verdauungsbeschwerden, die Flüssigkeitsaufnahme
bei oder nach der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnah- Unter Störungen der Nahrungs- und Flüssigkeitsauf-
me zu beobachten sind, als auch zu charakteristi- nahme sollen im Folgenden sowohl Abweichungen,
schen Veränderungen der Urin- und Stuhlausschei- die mit einer vermehrten Nahrungs- und Flüssig-
dung (vgl. Kap. 17 und 18). keitsaufnahme einhergehen, als auch solche, die zu
einer verminderten Nahrungs- und Flüssigkeitsauf-
Zusammenfassung: nahme führen, betrachtet werden.
Beschreibung des Normalzustands Störungen der Nahrungs- und Flüssigkeitsauf-
Bei der Beurteilung des Ess- und Trinkverhaltens nahme können u. a. am Ess- und Trinkverhalten be-
spielen die Menge der Kalorien- bzw. Flüssigkeits- obachtet werden. Als Beobachtungskriterien fungie-
zufuhr, Zeitpunkt und Häufigkeit der Nahrungsauf- ren vermehrter bzw. verminderter Appetit und

288 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
16.2 Abweichungen und Veränderungen des Ernährungszustands sowie deren Ursachen

Tab. 16.2 Veränderter Appetit und Durst, beobachtbare Symptome, Ursachen und Folgen

Bezeichnung beobachtbare Symptome z. B.: Ursachen z. B.: Folgen z. B.:

vermehrter Appetit 쐌 gesteigertes Essbedürfnis physiologisch: kurzzeitig:


= Hyperorexie, Bulimie 쐌 gesteigerte Nahrungsaufnahme 쐌 Rekonvaleszenz 쐌 Gewichtszunahme
쐌 evtl. fehlendes Hunger- und 쐌 Wachstum langfristig:
Sättigungsgefühl 쐌 Schwangerschaft 쐌 Übergewicht mit verminder-
쐌 evtl. unzureichende Kautätigkeit 쐌 körperliche Anstrengung ter Bewegungsfähigkeit
pathologisch: 쐌 evtl. Fettstoffwechselstörun-
쐌 Diabetes mellitus gen, Gicht
쐌 Hyperthyreose 쐌 Obstipation
쐌 psychogene Essstörungen,
z. B. Bulimia nervosa

verminderter Appetit 쐌 lustloses Herumstochern im 쐌 seelische Spannungen kurzzeitig:


= Anorexie, Inappetenz Essen 쐌 Widerwillen, Ekel gegenüber 쐌 Gewichtsverlust
쐌 evtl. Würgen bestimmter Speisen aufgrund von langfristig:
쐌 widerwilliger Gesichtsausdruck negativen Erlebnissen 쐌 Kachexie
beim Anblick von Speisen 쐌 Abneigung gegenüber Fett bei 쐌 Müdigkeit
Lebererkrankungen 쐌 verminderte Leistungsfähig-
쐌 Abneigung gegen Fleisch, z. B. keit
Magen-CA 쐌 Veränderungen der Mund-
쐌 schlechtes Allgemeinbefinden schleimhaut
(Fieber, Schmerzen) 쐌 u. U. Mangelerscheinungen
쐌 Erkrankungen im Mundbereich
쐌 Medikamente (z. B. Chemotherapie)
쐌 Bestrahlungstherapie
쐌 Hirnerkrankungen
쐌 mangelnde Schmackhaftigkeit der
Speisen, z. B. bei speziellen Diäten
쐌 psychogene Essstörungen,
z. B. Anorexia nervosa

vermehrter Durst 쐌 übermäßige Flüssigkeitsauf- psychogen:


= Polydipsie nahme 쐌 Psychose
쐌 u. U. Polyurie reaktiv: infolge erhöhter Plasma-
osmolarität, z. B. bei
쐌 Dehydratation
쐌 Diabetes mellitus
쐌 Diabetes insipidus
쐌 vermehrter Salzzufuhr
쐌 Hyperkalzämie
쐌 Hyperosmolares Koma

verminderter Durst 쐌 verminderte Flüssigkeitsauf- 쐌 im Alter: die Sensibilität der 쐌 Exsikkose mit entsprechen-
= Adipsie nahme Osmorezeptoren lässt nach den Symptomen
쐌 u. U. Oligurie 쐌 Schädigung der Hypophyse,
z. B. Hirntumore, Apoplexie
쐌 psychische Erkrankungen,
z. B. Depressionen, Psychosen 16

Durst, deren beobachtbare Symptome, Ursachen und zenz, im Wachstum, während einer Schwangerschaft
Folgen (Tab. 16.2). oder nach großer körperlicher Anstrengung. Hier er-
füllt der gesteigerte Appetit mit der Folge einer ver-
Dysorexie/Hyperorexie mehrten Nahrungsaufnahme das Ziel, den erhöhten
Vermehrter Appetit, Hyperorexie/Dysorexie oder Energiebedarf zu decken.
Bulimie genannt, kann physiologische oder patholo-
gische Ursachen haben. Zu einer physiologischen Ap-
petitsteigerung kommt es häufig in der Rekonvales-

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 289


KaelDesu
16 Ernährungszustand

Die pathologische Appetitsteigerung ist zumeist führen zu den sog. Fressattacken, bei denen alles ge-
im Zusammenhang mit Diabetes mellitus, der Hy- gessen wird, was vorher – selbstauferlegt – als verbo-
perthyreose (Schilddrüsenüberfunktion) oder psy- ten galt.
chogenen Essstörungen wie beispielsweise der Buli- Charakteristisch für die Bulimia nervosa ist, dass
mia nervosa zu beobachten. anschließend Maßnahmen ergriffen werden, um das
Die Hyperorexie kann mit fehlendem Hunger- Körpergewicht in einem normalen Rahmen zu hal-
und Sättigungsgefühl sowie unzureichender Kautä- ten; in den meisten Fällen besteht eine panische
tigkeit einhergehen. Die Folgen einer anhaltenden Angst vor einer Gewichtszunahme. Dieses Maßnah-
Hyperorexie mit positiver Energiebilanz sind Über- menspektrum reicht von selbst herbeigeführtem Er-
gewicht, verminderte Bewegungsfähigkeit und – je brechen bis zum Missbrauch von Laxanzien und Di-
nach Zusammensetzung der Nahrung – häufig auch uretika. Wegen des häufigen Erbrechens kommt es
Fettstoffwechselstörungen, Gicht oder Obstipation. bei bulimiekranken Menschen häufig zur Entzün-
dung der Speiseröhre, der sog. Ösophagitis. Der Miss-
Adipositas brauch von Laxanzien und Diuretika führt oft zu
Adipositas, oder auch Übergewicht, entsteht, wenn Durchfällen mit Exsikkose und Elektrolytstörungen.
dauerhaft mehr Energie zugeführt wird, als der Kör-
per benötigt. Der Körper speichert die überschüssige BINGE-Eating Störung (BES)
Energie in Form von Fett unter der Haut. Einerseits Bei der BINGE kommt es zu regelrechten Essanfällen
fungieren diese Fettdepots als Energiereserve für mit Aufnahme großer Nahrungsmengen und Kon-
Notzeiten, andererseits stellt die damit einhergehen- trollverlust über Essverhalten. Im Gegensatz zu
de Gewichtszunahme eine erhöhte Belastung für den Bulimie werden keine gegenregulatorischen Maß-
Körper dar, die sich u. a. auf das gesamte Skelett- nahmen ergriffen, z. B. induziertes Erbrechen oder
system einschließlich seines Halteapparats aus- Laxanzien-Einnahme, um eine Gewichtszunahme zu
wirkt (s. a. S. 272). verhindern. Demzufolge sind Patienten mit BES häu-
Häufige Folge ist die Zunahme von Knochen- und fig adipös.
Gelenkverschleißerkrankungen, besonders an den
Kniegelenken und der Wirbelsäule. Adipöse Men- Inappetenz/Anorexie
schen klagen dementsprechend oft über Schmerzen Definition: Unter Inappetenz oder Anorexie
im Rücken und in den Knien. Die Bewegungsabläufe wird die Herabsetzung des Triebs zur Nahrungs-
werden beschwerlicher und infolgedessen langsa- aufnahme verstanden.
mer und insgesamt weniger, was sich wiederum un-
günstig auf die Gelenke auswirkt und nicht selten Als Ursachen kommen neben seelischen Spannun-
den Einstieg in einen Teufelskreis bedeutet. gen auch der Ekel gegenüber bestimmten Speisen
Übergewicht von mindestens 20% über dem Nor- aufgrund negativer Erlebnisse in Betracht.
malgewicht stellt außerdem einen Risikofaktor für Eine Reihe spezifischer Erkrankungen kann eine
Gefäßsklerose mit nachfolgend erhöhter Gefahr von Abneigung gegenüber bestimmten Nahrungsmitteln
Kreislauferkrankungen, besonders Herz- und Hirn- verursachen: So kommt es beispielsweise bei Leber-
infarkten, dar. erkrankungen häufig zur Abneigung gegenüber Fett.
16 Übergewicht ist aber nicht nur aus medizinischer Ebenfalls appetitmindernd wirkt sich ein gestörter
Sicht betrachtet ein Problem, sondern auch aus so- Geruchs- und Geschmackssinn aus.
ziologischer und psychischer Sicht, da viele adipöse Besonders ausgeprägt ist ein gestörtes Ge-
Menschen ein negatives körperliches Selbstbild ent- schmacksempfinden bei Tumorerkrankungen. Es
wickeln (s. a. S. 273). wird vermutet, dass der Tumor toxische Stoffwech-
selmetaboliten abgibt, die den Geschmackssinn und
Bulimia nervosa den Appetit beeinflussen und Auswirkungen auf die
Die Bulimia nervosa, die häufig auch als „Fress-Kotz- Hunger-Sättigungs-Regulation haben. Es kommt zu
sucht“ oder als „Ess-Brechsucht“ bezeichnet wird, ist einer erhöhten Geschmacksschwelle für Süßes und
eine psychogene Essstörung, bei der dem Körper ex- einer erniedrigten Geschmacksschwelle für Bitter-
zessive, meist hochkalorische Nahrungsmengen in stoffe. Folge hiervon ist häufig eine Abneigung gegen
kürzester Zeit zugeführt werden. Heißhungeranfälle eiweißhaltige Lebensmittel, vor allem gegen Fleisch,

290 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
16.2 Abweichungen und Veränderungen des Ernährungszustands sowie deren Ursachen

da diese viele Bitterstoffe enthalten. Auch eine man-


gelnde Schmackhaftigkeit der Speisen bei speziellen
Diäten, wie beispielsweise bei salzarmer Diät oder
einer „Gallen-Diät“, kann sich negativ auf den Appe-
tit auswirken.
Appetithemmend können außerdem sowohl
sämtliche Erkrankungen im Mundbereich, wie Ent-
zündungen oder Druckstellen durch z. B. schlecht sit-
zende Prothesen, als auch Beeinträchtigungen der
Befindlichkeit, beispielsweise bei Fieber, Schmerzen,
Chemo- oder Strahlentherapie, wirken.
Andere Erkrankungen, insbesondere solche des
Muskel-, Nerven- und Skelettsystems wie Lähmun-
gen, Gelenkveränderungen bei Rheuma oder Tremor
bei Morbus Parkinson erschweren die Zubereitung
und die selbstständige Einnahme der Mahlzeiten.
Die Folge einer anhaltend reduzierten Nahrungs-
aufnahme infolge Inappetenz ist ein Gewichtsverlust
mit reduziertem oder schlechtem Ernährungszu-
stand bis hin zur Auszehrung, der sog. Kachexie. Die
allgemeinen Folgen eines schlechten Ernährungszu-
stands sind Müdigkeit und eine verminderte Leis-
tungsfähigkeit; oft kommt eine reduzierte Abwehr-
lage hinzu, die das Auftreten von Infektionen be-
günstigt.
Auch Defekte der Mundschleimhaut deuten äu-
ßerlich auf einen schlechten Ernährungszustand hin.

Kachexie
Definition: Als Kachexie wird ein Absinken des
Körpergewichts unter 20% des Normalgewichts
Abb. 16.1 Kachexie. Starkes Hervortreten der Knochenstruk-
bezeichnet.
turen

Diese Erkrankung geht mit einer tiefgreifenden Stö-


rung aller Organfunktionen einher. Bei den hiervon und Wasser (H2O), sondern zu Laktat ab. Laktat kann
betroffenen Menschen kann eine starke Abmagerung jedoch nur vom Herzmuskel als Energie genutzt wer-
mit infolge fehlendem subkutanen Fettgewebe deut- den; Überschüsse werden in der Leber neu umge-
lich sichtbaren Knochenvorsprüngen über Becken, wandelt. Dieser Vorgang wird auch Glukoneogenese
Rippen und Jochbein beobachtet werden (Abb. 16.1). genannt und verbraucht bereits ca. 1/3 mehr an Ener-
16
Die Haut ist schlaff und wenig elastisch. Es kommt zu gie. Außerdem beansprucht der Tumor selbst für sein
einem allgemeinen Kräfteverfall und einer apathi- Wachstum Proteine, die er letztendlich dem Körper
schen Gemütsverfassung (s. a. S. 276). entzieht.
Die Ursachen der Kachexie liegen zumeist in ei- In Kombination mit verändertem Geschmack und
nem erhöhten Energie- und Nährstoffbedarf des Kör- verringertem Appetit sowie den spezifischen Neben-
pers, wie er beispielsweise bei den sog. Konsumpti- wirkungen der Tumortherapie wie Übelkeit und Er-
onskrankheiten auftritt. Darunter werden Erkran- brechen, kommt es bei krebskranken Menschen des-
kungen wie beispielsweise Karzinome verstanden, halb häufig zur sog. Tumorkachexie mit starker Un-
die den Körper regelrecht „auszehren“. terernährung.
Bösartige Tumorzellen haben einen anaeroben Als weitere Ursachen der Kachexie kommen chroni-
Stoffwechsel, d. h., sie bauen die mit der Nahrung sche Infektionskrankheiten, z. B. die Tuberkulose
aufgenommene Glukose nicht zu Kohlendioxid (CO2) oder Stoffwechselstörungen, besonders bei Leber-

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 291


KaelDesu
16 Ernährungszustand

und Nierenerkrankungen, oder eine Schilddrüsen- Adipsie


überfunktion in Betracht. Auch Verbrennungen und Definition: Als Adipsie wird das fehlende Be-
Vergiftungen mit Blei oder Quecksilber können zu ei- dürfnis nach Flüssigkeitsaufnahme bezeichnet.
ner Kachexie führen. Darüber hinaus kann es bei äl-
teren Menschen zur sog. senilen Kachexie kommen Die verminderte Sensibilität der Osmorezeptoren im
(s. a. S. 302). Alter kann eine Ursache für eine Adipsie darstellen.
Daneben kommen verschiedene neurologische Er-
Anorexia nervosa krankungen wie z. B. Hypophysentumore und psy-
Definition: Anorexia nervosa heißt wörtlich chiatrische Erkrankungen wie Depressionen und
übersetzt „Nervöse Appetitlosigkeit“. Sie wird Psychosen in Frage.
häufig auch als Magersucht bezeichnet. Wie die Im Zusammenhang mit einer Adipsie sind eine
Bulimia nervosa ist die Anorexia nervosa eine psycho- verminderte Flüssigkeitsaufnahme und u. U. eine
gene Essstörung, die meist in der Pubertät auftritt und Oligurie zu beobachten. Die Folge ist eine Exsikkose
mit einer verzerrten Einstellung gegenüber der Nah- mit den entsprechenden beobachtbaren Sympto-
rungsaufnahme, Lebensmitteln, dem eigenen Körper- men.
gewicht und dem eigenen Körper einhergeht.
Exsikkose/Dehydratation
Die Krankheit beginnt häufig mit einer Abmage- Der Organismus braucht eine ausgeglichene Wasser-
rungsdiät der meist normgewichtigen oder leicht bilanz, um seine körperlichen Leistungen aufrecht-
übergewichtigen jungen Menschen. Frauen sind von zuhalten. Die Gesamteinfuhr pro Tag sollte ca. 2 l
der Anorexia nervosa häufiger betroffen als Männer. sein, wobei ca. 3/4 über die Flüssigkeitszufuhr und ca.
Charakteristisch ist, dass anorexiekranke Men- 1
/4 über feste Nahrung zugeführt werden. Ca. 3/4 der
schen auch bei Erreichen des gewünschten Gewichts aufgenommenen Flüssigkeit werden wieder über die
weiter fasten. Dies kann zahlreiche Mangelerschei- Nieren, rund 1/4 wird über Haut und Atmung ausge-
nungen verursachen und in vielen Fällen bis zur Ka- schieden. Wenn der Körper mehr Flüssigkeit aus-
chexie und lebensbedrohlichen Zuständen führen scheidet, als er aufnimmt, kommt es zur Austrock-
(s. a. S. 275). Als psychische Störung verlangt die Ano- nung, der sog. Exsikkose oder Dehydratation.
rexia nervosa eine psychotherapeutische Behand- Hauptursache für die Exsikkose ist ein übermäßiger
lung. Im Akutstadium kann die Gewichtszunahme Flüssigkeitsverlust, wie er beispielsweise bei Diar-
über eine parenterale Ernährung angezeigt sein. rhöen, Erbrechen und Fiebererkrankungen vor-
kommt. Da im Alter die Sensibilität der Osmorezep-
Polydipsie toren im Hypothalamus nachlässt, kommt es bei äl-
Als Polydipsie wird das gesteigerte Durstgefühl mit teren Menschen häufig zu einem verminderten
übermäßiger Flüssigkeitsaufnahme bezeichnet. Die Durstgefühl und infolgedessen zu einer verminder-
betroffenen Menschen weisen einen dauerhaften ten Trinkmenge, die bis zur Exsikkose führen kann.
Drang zum Trinken auf, der sogar einen zwanghaften Bei der Exsikkose reagiert der Körper mit Durst
Charakter annehmen und die gesamte Lebensweise und Zeichen des Volumenmangels bis zur Schock-
beeinflussen kann. Zumeist werden mehrere Liter, in symptomatik. Beobachtbar sind ferner trockene, in
16 Extremfällen bis zu 20 l Flüssigkeit am Tag getrun- Falten abhebbare Haut und trockene Schleimhäute,
ken. Die Polydipsie kann psychogen, beispielsweise eine verminderte Urinausscheidung mit hoher Kon-
durch einen akuten Psychoseschub, bedingt sein. zentration und Verwirrtheitszuständen.
Häufiger tritt sie jedoch als Reaktion auf eine erhöhte
Plasmaosmolarität im Blut auf. Zusammenfassung:
Ursachen können in diesem Fall eine erhöhte Abweichungen und Veränderungen der
Salzzufuhr oder Flüssigkeitsverluste infolge von Fie- Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme
ber, Durchfall oder Erbrechen sein. Aber auch spezifi- Pathologische Hyperorexie ist häufig im Zusam-
sche Erkrankungen wie Diabetes mellitus, Diabetes menhang mit Diabetes mellitus, Hyperthyreose
insipidus oder das sog. Hyperkalzämiesyndrom oder psychogenen Essstörungen zu beobachten.
kommen als Ursachen für die Polydipsie in Betracht. Die wichtigsten Störungen, verbunden mit exzessi-
ver Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme, sind Adi-
positas, Bulimie nervosa und BINGE.

292 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
16.2 Abweichungen und Veränderungen des Ernährungszustands sowie deren Ursachen

Anorexie/Inappetenz, Kachexie, Anorexia nervosa, schiedenen Stuhl (vgl. Kap. 18). Es können allgemei-
Polydipsie, Adipsie, Exsikkose/Dehydratation sind ne Verdauungsbeschwerden wie Appetitmangel
Störungen mit mangelnder Nahrungs- oder Flüssig- und/oder Übelkeit, sowie ein durch vermehrten bak-
keitsaufnahme. teriellen Abbau bedingter Meteorismus und Durch-
Anorexia nervosa, Bulimie nervosa und BINGE ge- fälle beobachtet werden.
hören zu den psychogenen Essstörungen und be- In Verbindung mit Durchfällen kommt es häufig
dürfen psychotherapeutischer Behandlung. zu Elektrolyt- und Wasserverlusten mit Müdigkeit
und Kreislaufstörungen sowie Exsikkose-Zeichen
16.2.2 Störungen der Nährstoffaufnahme und (s. a. S. 292). Ein langanhaltendes Malassimilations-
-verwertung syndrom führt zum Gewichtsverlust bis hin zur
Eine Störung der Nährstoffaufnahme und -verwer- Kachexie mit den entsprechenden Mangelerschei-
tung liegt dann vor, wenn die zugeführte Nahrung nungen.
und deren Bestandteile nicht vom Körper assimiliert,
sondern ganz oder teilweise unverdaut wieder aus- 16.2.3 Mangelerscheinungen
geschieden werden. Man nennt diese Störung auch Definition: Unter einer Mangelerscheinung
Malassimilation. wird das Fehlen eines bestimmten Nährstoffes
Für die Malassimilation kommen 2 Hauptursa- über einen längeren Zeitraum mit gesundheit-
chen in Betracht: die Malabsorption und die Maldi- lich ungünstigen Folgen verstanden.
gestion.
Je nach Funktion des fehlenden Nährstoffes ergeben
Malabsorption sich entsprechende Symptome. Zu einer Mangeler-
Eine Malabsorption liegt dann vor, wenn der Darm scheinung kann es einerseits durch die zu geringe
die in der Nahrung enthaltenen Nährstoffe nicht ab- Aufnahme eines bestimmten Nährstoffes, anderer-
sorbieren, d. h. aufnehmen kann. Ursachen hierfür seits durch einen erhöhten Nährstoffbedarf kom-
sind meist Darminfektionen, wie sie beispielsweise men, beispielsweise in der Rekonvaleszenz oder bei
bei der Salmonellose, bei chronischen Dünndarmer- den sog. Konsumptionskrankheiten. Es gibt auch
krankungen oder nach Strahlentherapien vorkom- spezielle Erkrankungen, bei denen mehrere Mangel-
men. erscheinungen gleichzeitig auftreten.
Auch nach Darmteilresektionen kann ein Malab-
sorptionssyndrom auftreten. Der Darm ist hier nicht Vitaminmangelsyndrome
mehr lang genug, um Nährstoffe effektiv absorbieren Das Auftreten von Vitaminmangelerscheinungen ist
zu können. in den Industrieländern sehr selten, da sämtliche Vit-
amine ganzjährig verfügbar und bei ausgewogener
Maldigestion Ernährung in der Nahrung vorhanden sind, sofern sie
Bei der Maldigestion sind die Nährstoffe aufgrund nicht durch zu lange Lagerung oder eine entspre-
mangelnder Enzymzufuhr nicht oder nur teilweise chend vitamintötende Zubereitungsart zerstört wor-
gespalten, sodass der Darm sie aus diesem Grund den sind.
nicht aufnehmen kann. Für die Maldigestion sind Es gibt dennoch Umstände, die zu einem Vitamin-
häufig Krankheiten der Bauchspeicheldrüse oder der mangel führen können. Diese hängen zumeist mit 16
Gallenblase verantwortlich, die dazu führen, dass die Lebenssituationen zusammen, in denen ein erhöhter
zur Aufspaltung der Nährstoffe erforderlichen Enzy- Vitaminbedarf besteht, wie beispielsweise in der
me nicht in ausreichendem Maß vorhanden sind. Schwangerschaft und Stillzeit. Wie bereits beschrie-
Nach Magenteilentfernung kann ebenfalls eine Mal- ben, kommt es auch bei bestehender Malassimilati-
digestion auftreten, da eine Vorverdauung durch den on zu einem Vitaminmangel.
Magensaft nicht genügend erfolgt. Damit Vitamine überhaupt von der Darm-
Sowohl bei der Malabsorption als auch bei der schleimhaut resorbiert werden können, müssen be-
Maldigestion gelangen die Nährstoffe nicht in das stimmte Voraussetzungen erfüllt sein. Fettlösliche
Blut oder die Lymphbahn, sondern werden unver- Vitamine brauchen z. B. Fett, damit sie gebunden und
daut wieder ausgeschieden. Laborchemisch nach- von der Darmschleimhaut aufgenommen werden
weisbar und makroskopisch beobachtbar sind dem- können.
entsprechend unverdaute Nahrungsstoffe im ausge-

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 293


KaelDesu
16 Ernährungszustand

Tab. 16.3 Übersicht über wasserlösliche Vitamine (nach Biesalski et al. 2010 )

Vitamin Mangelkrankheit Herkunft Gute Vitaminquellen

Thiamin (Vitamin B1) Beri-Beri Pflanzen, einige Hefen, Samen, Nüsse, Weizenkeime,
Schimmel, Bakterien Leguminosen, mageres Schweine-
fleisch

Riboflavin (Vitamin B2) Pellagra, hypochrome Anämie Pflanzen, Bakterien, Pilze Milch, Innereien, Eier, Nüsse,
Samen, Fisch, Pilze

Pyridoxin (Vitamin B6) Störungen der Proteinsynthese viele Bakterien**, Hefen, Pilze, Hefe, Leber, Weizenkeime, Hafer,
Pflanzen Nüsse, Bohnen, Avocado, Bananen

Cobalamin (Vitamin B12) perniziöse Anämie Pilze, einige Bakterien** Leber, Nieren, Eier, Käse
(keine Pflanzen)

Vitamin C (Ascorbinsäure) Skorbut Pflanzen, die meisten Tiere speziell Zitrusgewächse, Hagebut-
(außer bei Jungtieren), einige ten, Kiwi, Preiselbeeren, Tomaten,
Bakterien Kohl, Paprika, Früchte und Gemü-
se im Allgemeinen

Niacin (Nicotinsäure) Pellagra Pflanzen, einige Bakterien, Fleisch, Nüsse, Leguminosen, Fisch
Pilze, Hefe*

Pantothensäure Burning Feet Syndrome Pflanzen, einige Bakterien** Hefe, Getreide (weit verbreitet),
Hering, Pilze, Eigelb, Leber

Folsäure Anämie Pflanzen, einige Bakterien** Hefe, Leber, Spinat

Biotin Eiweißschädigung Bakterien, Hefen, Pilze Hefe, Leber, Eigelb, Tomaten, Soja-
bohnen, Reis, Weizenkleie

* gewisse Produktion in menschlichen Geweben


** menschliche Darmbakterien

Tab. 16.4 Übersicht über fettlösliche Vitamine (nach Biesalski et al. 2010)

Vitamin Mangelkrankheit Herkunft Gute Vitaminquellen

Vitamin A (Retinoide) Nachtblindheit Pflanzen (Carotinoide) Vorläufer in gelb-orangen


Gemüsepflanzen und Karotten,
Vitamin A in Leber, Lebertran

Vitamin D (Calciferole) Rachitis Plankton, durch UV-Licht* in Margarine, Kalbfleisch, Fettfische


Mensch und Tier

Vitamin E (Tocopherole) keine spezifische Symptomatik Pflanzen Gemüse, Samenöle, grünes Blatt-
gemüse

16 Vitamin K (Phyllo- und fehlende Blutgerinnung Bakterien**, Pflanzen grünblättriges Gemüse, Eigelb, Kä-
Menachinone) se, Leber

* gewisse Produktion in menschlichen Geweben


** menschliche Darmbakterien

Leichte Vitaminmangelerscheinungen nennt man wasserlöslichen und fettlöslichen Vitamine, deren


Hypovitaminosen, die meist durch Gabe des fehlen- Nomenklatur, Mangelkrankheiten, Herkunft und
den Vitamins reversibel sind. Als Avitaminosen wer- Quellen.
den schwere Vitaminmangelerscheinungen bezeich-
net, die irreversible Schäden hinterlassen können.
Die Tab. 16.3 und 16.4 geben eine Übersicht über die

294 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
16.2 Abweichungen und Veränderungen des Ernährungszustands sowie deren Ursachen

Tab. 16.5 Mineralstoffe und Spurenelemente – Übersicht (aus Biesalski et al. 2010)

Element Empfohlene Besondere Normale Blut- oder Funktionen Toxizität


tägliche Zufuhr Hinweise Serumspiegel

Chrom-III 30 – 100 µg ⬍ 0,4 µg/l Potenzierung der Cr-VI-Verbingungen


(0,1 – 0,7 µg/l Insulinwirkung als
Glukosetoleranz-
faktor?

Eisen 15 mg (Frauen) Schwangere und 350 – 1500 µg/l Hämoproteine


10 – 12 mg (Männer) Stillende
20 – 30 mg/d,
Säuglinge und
Kinder angepasst
an das Alter

Fluor 3 – 4 mg Säuglinge und 20 – 40 µg/l Mineralisierung von ⬎ 10 mg/d chronisch


Kinder angepasst Knochen und Zahn- ⬎ 0,1 mg/kg KG
an das Alter schmelz bei Kindern unter
8 Jahren

Jod 180 – 200 µg Schwangere und 50 µg/l Schilddrüsenhor- ⬎ 500 µg/d chronisch
Stillende 250 µg/d, monsynthese
Säuglinge und Kin-
der angepasst an
das Alter

Kobalt 0,2 µ 0,04 – 0,4 µg/l Vitamin B12

Kuper 1 – 1,5 mg 0,6 – 1,6 µg/l Cu-haltige Enzyme


Atmungskette,
Stoffwechsel

Lithium ? – 0,1 – 10 µg/l Therapeutikum ⬎1,5 mM


(manisch-depressi-
ve Patienten)

Mangan 2 – 5 mg 0,3 – 3 µg/l Mn-haltige Enzyme

Molybdän 45 – 100 µg 0,4 ⫾ 1,6 µg/l Xanthinoxidase, Sul-


fitoxidase, Aldehyd-
oxidasen

Nickel 25 – 30 µg 0,2 µg/l Serum Nickelenzyme bei ⬎ 10 mg/d chronisch


Mikroorganismen

Rubidium 1 – 1,5 mg unbekannt

Selen 1 µg/kg KG 1 µM Selenproteine ⬎ 800 µg/d chronisch

Vanadium 20 – 30 µg 0,07 – 1,7 µg/l Inhibitor von 16


Proteintyrosin-
phosphatasen

Zink 7 mg (Frauen) 600 – 1200 µg/l Zn-haltige Enzyme ⬎ 30 mg/d chronisch


10 mg (Männer) und Proteine 2 g akut

Bei der Analytik von Mineralstoffen und Spurenelementen müssen bei der Probennahme und Präanalytik sorgfältig Kontaminationen durch Probengefäße,
metallische Hilfsmittel und bei der Analytik verwendete Reagenzien vermieden werden.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 295


KaelDesu
16 Ernährungszustand

Spurenelementmangelsyndrom Eiweißmangel einhergehen und besonders häufig in


In unseren europäischen Breiten sind am häufigsten den tropischen Entwicklungsländern auftreten. Un-
Eisen-, Jod- und Fluormangel. Beobachtbar sind bei terschieden werden Marasmus und Kwashiorkor, die
Eisenmangel die Symptome der Anämie mit Müdig- jedoch häufig kombiniert und in Verbindung mit Vit-
keit, Schlappheit, Blässe; in schweren Fällen kann es aminmangel vorkommen. Die Protein-Energie-Man-
zur Luftnot kommen. gelsyndrome haben eine große soziale Bedeutung,
Der Jodmangel kann eine Schilddrüsenunter- da sie über die Schwächung der Widerstandskraft
funktion mit Strumabildung, d. h. Kropfbildung, be- gegenüber Infektionskrankheiten indirekt zu einer
wirken. Zum Aufbau des Schilddrüsenhormons wird stark erhöhten Kinder- und Säuglingssterblichkeit
Jod benötigt. Die Schilddrüse reagiert auf die zu ge- beitragen.
ringe Jodzufuhr mit einer Drüsenvergrößerung, der
sog. Adenombildung, um vermehrt Jod aufnehmen Marasmus
zu können. Beim Mangel an Fluor kommt es zu ver- Marasmus ist eine Form der kalorischen Unterernäh-
stärkter Kariesbildung. rung, die hauptsächlich Personen mit einem beson-
Die Tab. 16.5 gibt Auskunft über den täglichen Be- ders hohen Eiweißbedarf betrifft. Darunter fallen
darf, Funktionen, besondere Hinweise und Toxität Kinder, Schwangere und alte Menschen. Da diese
der Mineralstoffe und Spurenelemente. Form der Unterernährung häufig langfristig besteht,
kann die volle Ausprägung der Erkrankung an Unter-
Eiweißmangel gewicht mit fehlenden Fettpolstern und atrophierter
Eiweißmangel liegt vor, wenn die Eiweißzufuhr den Muskulatur beobachtet werden. Die Haut ist faltig
Eiweißbedarf nicht deckt. Der normale tägliche Ei- abhebbar. Infolge des gedrosselten Stoffwechsels ist
weißbedarf beträgt 0,8 g/kg KG. Proteine werden im die Pulsfrequenz verlangsamt und die Blutdruckwer-
Körper nicht gespeichert, d. h. sie müssen laufend zu- te sowie die Körpertemperatur sind erniedrigt, was
geführt werden. Ein Eiweißmangel kann einerseits zu Kreislaufproblemen führen kann.
auftreten durch eine unzureichende Eiweißzufuhr, Bei länger bestehender Unterernährung kommt
beispielsweise bei Hungerzuständen, wie sie in den es auch zu Symptomen spezifischer Mangelerschei-
Ländern der Dritten Welt vorkommen, andererseits nungen. Hierzu gehören Entzündungen der Zungen-
können ein erhöhter Eiweißumsatz, Resorptionsstö- und Mundschleimhaut (Glossitiden und Stomatiti-
rungen oder Eiweißverluste zu einem Eiweißmangel den) sowie Mundwinkelrhagaden und die Entste-
führen. hung der sog. Hungerödeme infolge des Eiweißman-
Ein erhöhter Eiweißumsatz besteht bei Krankhei- gels. Vitamin-D-Mangel verursacht darüber hinaus
ten wie z. B. Verbrennungen, postoperativen Stresssi- Knochenschmerzen und Osteoporose.
tuationen, chronisch rezidivierenden Infekten mit
fieberhaftem Verlauf, Leber- und Tumorerkrankun- Kwashiorkor
gen oder der Hyperthyreose. Als Kwashiorkor wird der schwere Eiweiß- und Vit-
Eiweißresorptionsstörungen stehen häufig im aminmangelzustand bei älteren Säuglingen und
Zusammenhang mit Entzündungen des Darms, sog. Kleinkindern der tropischen Entwicklungsländer be-
Enteritiden, oder spezifischen Erkrankungen, wie zeichnet. Das normale Verhältnis von Eiweiß und
16 beispielsweise der Zöliakie oder der Sprue, bei denen Kohlenhydraten in der Ernährung sollte bei 1 : 4 lie-
es u. a. zur Atrophie der Dünndarmzotten und Mal- gen. Der Kwashiorkor tritt auf bei Kindern, deren Er-
absorption von Nährstoffen kommt. nährung ausschließlich aus Kohlenhydraten besteht,
Eiweißverluste sind häufig durch eiternde Wun- weshalb diese Erkrankung auch Mehlnährschaden
den, Blutungen oder eine vermehrte Ausscheidung genannt wird. Zum Kwashiorkor kann es auch bei
von Eiweiß mit dem Urin, der sog. Proteinurie, be- ausreichender Kalorienzufuhr kommen. In der Regel
dingt. liegt ein Zusammentreffen mehrer Mangelerschei-
Die beobachtbaren Symptome entsprechen de- nungen vor.
nen des Marasmus und Kwashiorkor. Infolge Fehlens von essenziellen Aminosäuren
und Vitaminen kommt es zu:
Protein-Energie-Mangelsyndrome Wachstumsstörungen,
Als Protein-Energie-Mangelsyndrome (PEM) werden Muskelschwäche und -atrophie,
Ernährungskrankheiten bezeichnet, die mit einem Apathie,

296 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
16.2 Abweichungen und Veränderungen des Ernährungszustands sowie deren Ursachen

Fettleber, Hypervitaminosen entstehen bei vermehrter Auf-


Eisenmangelanämie, nahme von fettlöslichen Vitaminen (ADEK), bei-
Ödemen, spielsweise bei der überdosierten Einnahme von Vit-
Hypoglyk-, Hypoprotein- und Hypoelektrolyt- aminpräparaten. Während überschüssige wasserlös-
ämie, liche Vitamine über die Nieren ausgeschieden wer-
Osteoporose, den, speichert der Organismus überschüssige fett-
schuppenden Dermatosen lösliche Vitamine im Körper. Am häufigsten sind Vi-
und Depigmentierung von Haut und Haaren. tamin-A- und Vitamin-D-Hypervitaminosen.
Beobachtbare Symptome der akuten Vitamin-A-
Zusammenfassung: Hypervitaminose sind Kopfschmerzen, Erbrechen
Mangelerscheinungen und Schwindelzustände; bei der chronischen Vit-
Bei der Malassimilation ist die Nährstoffaufnahme amin-A-Hypervitaminose kommt es u. a. zu:
und -verwertung gestört. Appetitverlust und Gewichtsabnahme infolge
Für die Malabsorption sind meist Darminfektionen Reizbarkeit,
verantwortlich, bei der Maldigestion fehlen auf- Mundwinkelrhagaden,
grund von Erkrankungen der Bauchspeicheldrüse Haarausfall,
oder der Leber für die Aufspaltung der Nahrung er- trockene Haut,
forderlichen Enzyme. Vergrößerung der Leber (Hepatomegalie),
Unter den Mangelerscheinungen sind Vitaminman- Schmerzen: Kopf, Knochen
gel (Hypo- und Avitaminosen), Spurenelement- Hirndrucksymptomatik.
mangel (Eisen-, Jod- und Fluormangel), Eiweiß-
mangel häufig. Bei der Vitamin-D-Hypervitaminose kommt es auf-
Die Protein-Energie-Mangelsyndrome Marasmus grund der Kalzium-Mobilisierung zum Anstieg des
und Kwashiorkor sind Ursache erhöhter Kinder- Kalziumwertes im Blut und einer vermehrten Kalzi-
und Säuglingssterblichkeit in den Entwicklungslän- um-Ausscheidung mit dem Urin (Hyperkaliurie), die
dern. zu einer Verkalkung der Nieren (Nephrokalzinose)
mit einer eingeschränkten Nierenfunktion führen
16.2.4 Über-/Falschernährung kann. Weitere, beobachtbare Symptome sind:
Es gibt weltweit ganz unterschiedliche Ernährungs- Übelkeit, Erbrechen, Appetitlosigkeit,
probleme: Während in den Entwicklungsländern die Muskelschwäche,
hohe Kinder- und Säuglingssterblichkeit und Anfäl- Schwindel,
ligkeit für Infektionskrankheiten einen großen Pro- Knochenschmerzen aufgrund Verkalkung der
blembereich darstellen, kämpfen die Industrienatio- Epiphysen
nen in erster Linie gegen Folgeerkrankungen der
Überernährung an. Hierzu gehört neben der bereits Hyperlipidämie
unter 16.1.2 beschriebenen Adipositas eine kleine Definition: Unter Hyperlipidämie – auch Hy-
Anzahl chronischer Krankheiten, die in Beziehung zu perlipoproteinämie – die auch als Fettstoffwech-
ungünstigen Ernährungsgewohnheiten stehen. selstörung bezeichnet wird, wird die Erhöhung
In wissenschaftlichen Studien ist weltweit immer der Blutfette – Cholesterin und Triglyzeride – 16
wieder belegt worden, dass z. B. Herz-Kreislauf- verstanden.
Erkrankungen, Diabetes mellitus, einige Tumorar-
ten, Lebererkrankungen und Erkrankungen der Ver- Besonders bei der Erhöhung des Cholesterins im Blut
dauungsorgane mit Falsch- oder Fehlernährung in kommt es zu Blutgefäßveränderungen im Sinne ei-
Verbindung gebracht werden müssen. Die Ernährung ner Sklerosierung, die wie die Adipositas einen Risi-
ist dabei als ein Risikofaktor von mehreren zu sehen. kofaktor für Herzinfarkt, Schlaganfall und die arte-
rielle Verschlusskrankheit darstellen. Bei sehr hohen
Hypervitaminosen Blutfettwerten kann es durch Fetteinlagerungen zu
Definition: Der Begriff Hypervitaminose be- gelb-rötlichen Hauttumoren, den sog. Xanthomen,
schreibt einen krankhaften Zustand, der durch Leberverfettung und Entzündungen der Bauchspei-
ein Überangebot an Vitaminen in der Nahrung cheldrüse kommen.
entsteht.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 297


KaelDesu
16 Ernährungszustand

Unterschieden werden können die primäre und Lebensmittelvergiftung


die sekundäre Hyperlipidämie. Während die primäre Definition: Unter einer Lebensmittelvergif-
Hyperlipidämie genetisch bedingt ist, tritt die sekun- tung versteht man allgemein Intoxikationser-
däre meist als Folge einer falschen, sehr fett- und scheinungen infolge Aufnahme verunreinigter,
alkoholreichen Ernährung auf. Bestimmte Erkran- giftiger, zersetzter oder bakteriell infizierter Nahrungs-
kungen, wie die Hyperthyreose und Diabetes mel- mittel.
litus, können ebenso mit einer Erhöhung der Blut-
fette einhergehen wie die Einnahme bestimmter Dabei wird grob unterschieden zwischen den chemi-
Medikamente, z. B. Östrogene oder Diuretika. schen und natürlichen Giften sowie Bakterien und
anderen Mikroorganismen.
Hyperurikämie und Gicht Zu den chemischen Giften gehören Metalle wie
Definition: Als Hyperurikämie wird der ver- z. B. Blei, Kupfer, Zink und Kadmium. Diese werden
mehrte Harnsäuregehalt des Bluts bezeichnet. u. a. aus Rohren oder Töpfen gelöst und mit der zube-
Es kommt hierbei zu einer vermehrten Ansamm- reiteten Nahrung oder als Rückstände aus der tieri-
lung von Purinstoffen im Blut. schen und pflanzlichen Nahrungskette aufgenom-
men. Sie können sowohl Erbrechen, Durchfälle und
Purinstoffe sind Bestandteile des Zellkerns, genauer Bauchkrämpfe hervorrufen als auch, wie beispiels-
der Nukleinsäuren, die beim Menschen als Harnsäu- weise bei der Bleivergiftung, eine Beeinträchtigung
ren bezeichnet werden. Harnsäuren fallen durch den der Blutbildung verursachen. Rheumatische Be-
Abbau von Fettzellen an, beispielsweise im Hunger- schwerden und Osteoporose können bei der chroni-
zustand. Es gibt aber auch Lebensmittel, die ver- schen Vergiftung durch Kadmium auftreten.
mehrt Purinstoffe enthalten, wie z. B. Fleisch und In- Zu den natürlichen Giften gehören z. B. die Pilzgif-
nereien. te und die Alkaloide des Mutterkorns. Die Pilzvergif-
Werden über die Nahrung zu viele purinhaltige tung, der sog. Myzetismus, der z. B. durch Verzehr
Lebensmittel zugeführt, kann es zu einem Anstieg von Knollenblätterpilzen oder Fliegenpilzen hervor-
der Harnsäure im Blut und zu Ablagerungen in Ge- gerufen wird, zeigt sich durch extreme Brechdurch-
lenken und Auslösung lokaler Entzündungen kom- fälle mit Kollaps, Delirium, Leber- und Blutbildschä-
men. Diese Ablagerungen werden auch als Gichtkno- digungen bis hin zum Koma und Tod.
ten oder Gichttophi bezeichnet. Bevorzugte Stellen Zur Vergiftung mit den Alkaloiden des Mutter-
sind gering durchblutete Gewebe wie Knorpel, Seh- korns, dem sog. Ergotismus, kann es z. B. durch Ver-
nen, Schleimbeutel und gelenknahe Knochenbezir- unreinigung des Mehls kommen. Zu beobachten sind
ke. hierbei Verdauungsstörungen und Missempfindun-
Die akuten Gichtanfälle, die meist nach örtlicher gen (Parästhesien) sowie zentralnervöse Störungen,
Abkühlung, Anstrengung oder übermäßigem Alko- wie beispielsweise zerebrale Krampfanfälle, Läh-
holgenuss bevorzugt nachts auftreten, sind mit star- mungen, Aphasien und psychotische Symptome. Ge-
ken Schmerzen verbunden. Anfangs ist häufig das fäßkrämpfe können über Gangränbildung bis zur
Großzehengelenk betroffen, welches im akuten An- tödlichen Sepsis führen.
fall stark anschwillt, gerötet und extrem schmerz- Am häufigsten ist jedoch die bakterielle Lebens-
16 empfindlich ist. In vielen Fällen entwickelt sich ein mittelvergiftung. Sie entsteht durch den Genuss ver-
chronisches Stadium mit Gelenkdeformierungen, seuchter Nahrungsmittel und/oder Getränke mit
Gichtknoten und Schädigungen innerer Organe Bakterien. Hier sind vor allem die Salmonellen und
durch Uratablagerungen, z. B. Nierensteinen. Staphylokokken zu nennen. Beobachtbare Sympto-
me bei Menschen sind Entzündungen im Magen-
Darm-Trakt mit Übelkeit und Brechdurchfällen.
16.2.5 Vergiftungen Nicht unbedeutsam sind auch Schimmelpilze, die
Mit der Nahrung gelangen nicht nur die Nährstoffe in zum Verderb von Lebensmitteln führen können. Die
den Körper, sondern auch Stoffe, die ihn belasten Sporen dieser Mikroorganismen können eingeatmet
oder gar vergiften können. werden und zu allergischen und toxischen Reaktio-
nen führen. Außerdem bilden sie toxische Stoffwech-
selprodukte, die kanzerogen wirken können (z. B.
Aflatoxin).

298 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
16.5 Besonderheiten bei Kindern

kann bereits frühzeitig ein lebensbedrohlicher Volu-


16.3 Ermittlung des menmangelschock eintreten.
Ernährungszustandes
Zusammenfassung:
Pflegende müssen lt. des Expertenstandards „Ernäh- Über-/Falschernährung
rungsmanagement zur Sicherstellung und Förde- Folgeerkrankungen von Überernährung tauchen
rung der oralen Ernährung in der Pflege“ über Kennt- vor allem in den hochindustrialisierten Ländern
nisse zur Risikoerfassung einer Mangelernährung auf.
sowie im Umgang mit entsprechenden Screening-In- Hypervitaminosen entstehen bei einer Überdosis
strumenten verfügen (DNQP 2009). fettlöslicher Vitamine (am häufigsten Vitamin A
Es gibt inzwischen eine große Anzahl an Scree- und D).
ning- und Assessment-Instrumenten, anhand derer Die Erhöhung der Blutfette Cholesterin und Trigly-
der Ernährungszustand bzw. die Risiken zur Mangel- zeride, die Hyperlipidämie, kann genetisch bedingt
ernährung eingeschätzt werden können. Die Exper- sein, aber auch sekundär, als Folge falscher Ernäh-
tenstandard-Arbeitsgruppe schlägt u. a. folgende rung auftreten.
Screening-Instrumente vor: Hyperurikämie und Gicht sind auf erhöhte An-
Nutritional Risk Screening (NRS) für den Kran- sammlung von Purinstoffen/Harnsäure im Blut und
kenhausbereich, Ablagerung in Gelenken zurückzuführen.
Malnutrition Universal Screening Tool (MUST) für Bei den Lebensmittelvergiftungen sind chemische
den ambulanten Bereich, und natürliche Gifte, Bakterien und Schimmelpilze
Mini Nutritional Assessment (MNA) für den geria- die Verursacher.
trischen Bereich.

16.5 Besonderheiten bei Kindern


16.4 Ergänzende Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm
Beobachtungskriterien
Appetit und Durst unterliegen bei Kindern großen
Das augenscheinlichste Merkmal eines guten oder Schwankungen, die beispielsweise durch körperli-
schlechten Ernährungszustandes ist das Gewicht in che Störungen, aber auch durch belastende Situatio-
Abhängigkeit von der Körpergröße. nen (z. B. vor Klausuren in der Schule), Veränderun-
Die Ernährung wirkt sich sowohl auf den gesam- gen in der Umgebung und Ablenkung durch Spiel
ten Organismus als auch auf die einzelnen Körper- ausgelöst werden können. Bei Säuglingen und Klein-
funktionen aus. Störungen im Verdauungssystem, kindern, die ihre Bedürfnisse noch nicht verbal äu-
wie z. B. die Malassimilation, sind häufig frühzeitig ßern können, sind Appetit und Durst durch be-
an der Stuhl- und Urinausscheidung und an Begleit- stimmte Verhaltensweisen (z. B. Schreien, Saugen an
erscheinungen wie Übelkeit und Erbrechen beob- den Fingern) gekennzeichnet.
achtbar. Insbesondere bei Frühgeborenen besteht die Ge-
Mangelerscheinungen werden häufig sichtbar an fahr einer Trink-/Saugschwäche aufgrund einer man-
Haut- und Schleimhäuten sowie an Haaren und Nä- gelhaften Ausbildung des Saugreflexes. Sie müssen 16
geln. Bei Lebensmittelvergiftungen können zentral- deshalb hinsichtlich des Trink-/Saugvorganges beo-
nervöse Störungen im Vordergrund stehen. Beobach- bachtet werden. Ein intraoraler Unterdruck, der für
tungsschwerpunkte richten sich dann besonders auf das Trinken an der Brust oder aus der Flasche erfor-
Bewusstseinszustand, Motorik, Sprache, Sensorik, derlich ist, kann nur hergestellt werden, wenn u. a.
und Krampfneigung. die Lippen des Kinds die Brust/den Sauger luftdicht
Quantitative Störungen der Nahrungs- und Flüs- umschließen und der Mund- und Nasenraum voll-
sigkeitsaufnahme wirken sich auch auf das Herz- ständig gegeneinander abgedichtet werden. Ein
Kreislauf-System und den Bewegungsapparat aus. funktionierender Saugvorgang ist an Einziehungen
Beobachtbar sind veränderte Blutdruck- und Puls- der Wangen erkennbar.
werte sowie Bewegungseinschränkungen. Flüssig- Gesunde Neugeborene bringen einen Flüssig-
keitsdefizite haben Einfluss auf die Temperaturregu- keitsüberschuss mit auf die Welt, der innerhalb der
lierung und den Bewusstseinszustand. Außerdem ersten 2 – 3 Tage abgebaut wird. Der Flüssigkeitsbe-

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 299


KaelDesu
16 Ernährungszustand

Tab. 16.6 Richtwerte für die Wasserzufuhr (nach den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE 2017)

Alter Wasserzufuhr durch Oxidationswasser Gesamtwasser- Wasserzufuhr durch


aufnahme Getränke und feste
Getränke feste Nahrung Nahrung
ml/Tag ml/Tag ml/Tag ml/Tag ml/kg u. Tag

Säuglinge
0 bis 4 Monate 620 – 60 680 130
4 bis unter 12 Monate 400 500 100 1000 110
Kinder
1 bis unter 4 Jahre 820 350 130 1300 95
4 bis unter 7 Jahre 940 480 180 1600 75
7 bis unter 10 Jahre 970 600 230 1800 60
10 bis unter 13 Jahre 1170 710 270 2150 50
13 bis unter 15 Jahre 1330 810 310 2450 40
Jugendliche und Erwachsene
15 bis unter 19 Jahre 1530 920 350 2800 40

darf eines Kindes in den ersten 10 Lebenstagen lässt Definition: Die Kachexie, als schwerste Form
sich mit verschiedenen Formeln wie folgt berech- eines reduzierten Ernährungszustands mit Ge-
nen: wichtsabnahme, ist dadurch gekennzeichnet,
(Lebenstage – 1) ⫻ 70 – 80 = ml Trinkmenge/24 dass das Körpergewicht 20% des Normalgewichts un-
Stunden terschreitet, das Kind ein skelettartiges Aussehen be-
oder sitzt und es zu einem allgemeinen Kräfteverfall kommt
20 ml ⫻ kg KG ⫻ Lebenstage = ml Trinkmenge/24 (s. a. Kap. 15).
Stunden.
Bei allen 3 genannten Formen kommt es außerdem
In Tab. 16.6 sind Richtwerte für die Wasserzufuhr zu einer Stimmungslabilität und einer erhöhten In-
aufgeführt. fektanfälligkeit. Je nach Ausprägungsgrad der Stö-
Für Neugeborene, Säuglinge stellt das Stillen die rung kann der reduzierte Ernährungszustand bei
beste Ernährung dar. Durch Stillhindernisse von Sei- Kindern zu Entwicklungsstörungen bis zu lebensbe-
ten der Mutter (z. B. Flach-, Hohlwarzen, Rhagaden, drohlichen Zuständen führen.
Krankheiten mit Infektionsgefahr des Kindes, milch- Die Ursachen eines reduzierten Ernährungszu-
gängige Medikamente) oder des Kindes (z. B. Trink-/ standes sind sehr vielfältig. Sie können in einer ver-
Saugschwäche, Missbildungen, schwere Krankhei- minderten Nahrungszufuhr (z. B. bei Nahrungsman-
ten) kann das Stillen behindert oder auch unmöglich gel, Fehlernährung), einer gestörten Nahrungsre-
gemacht werden. In diesen Fällen müssen dann evtl. sorption (z. B. bei anatomischen Störungen, Stoff-
Hilfsmitteln angewendet werden oder es muss zu ei- wechselstörungen des Darms) oder einem erhöhten
16 ner industriell hergestellten Nahrung zurückgegrif- Kalorienverbrauch (z. B. bei chronischen Systemer-
fen werden. krankungen, Hypermotorik) liegen.

16.5.1 Störung der Nahrungsaufnahme 16.5.2 Störung der Flüssigkeitsaufnahme


Störungen der Nahrungsaufnahme, die zu einem re- Eine Störung der Flüssigkeitsaufnahme im Sinne ei-
duzierten Ernährungszustand führen, werden bei ner verminderten Flüssigkeitszufuhr kann, ebenso
Kindern, je nach Schweregrad als Dystrophie, Atro- wie eine vermehrte Flüssigkeitsabgabe beispielswei-
phie und Kachexie bezeichnet. Tab. 16.7 zeigt eine se durch Diarrhöen, Erbrechen und vermehrtes
Gegenüberstellung der beobachtbaren körperlichen Schwitzen, zu einer Dehydratation führen. Die Dehy-
Veränderungen einer Dystrophie und Atrophie. dratation, auch als Exsikkose bezeichnet, wird in ver-
schiedene Schweregrade eingeteilt. Tab. 16.8 zeigt
die verschiedenen beobachtbaren Merkmale einer

300 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
16.5 Besonderheiten bei Kindern

Tab. 16.7 Merkmale von Dystrophie und Atrophie

Merkmal Dystrophie Atrophie

Gewicht Beginn mit fehlender Gewichtszunahme, danach Gewichtsabnahme (⬍ 3. Perzentile)


Gewichtsabnahme (⬍ 3. Perzentile)

Unterhautfettgewebe Verminderung der Fettpolster an der Bauchhaut, vollständiger Fettschwund, einschließlich des
den Extremitäten, am Gesäß („Tabakbeutel- Bichat-Fettpfropfes der Wangen
gesäß“)

Körperlängenwachstum verlangsamt Stillstand

Gesicht eingesunkene Wangen, groß wirkende Augen eingesunkene Wangen, tiefliegende Augen,
dunkle Augenschatten, faltige Haut („Greisen-
gesicht“, haloniertes Aussehen)

Haut blass, trocken grau-blass, faltig, Extremitäten: zyanotisch, kühl

Mundschleimhaut trocken trocken, stark gerötet

Muskulatur hypoton (vorgewölbter Bauch) hypoton mit Volumenverlust

Atmung normal flach (herabgesetzter O2-Bedarf)

Puls normal Bradykardie

Körpertemperatur normal Hypothermie

Blutzucker normal Hypoglykämie

Tab. 16.8 Klinische Zeichen einer Dehydratation in Abhängigkeit vom Schweregrad (aus: Gortner, L., S. Meyer, F. C. Sitz-
mann. Duale Reihe Pädiatrie. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012)

leicht mittel schwer

Gewichtsverlust
Säugling ⱕ 5% 5 – 10% 10 – 15%
Kleinkind ⱕ 3% 3 – 6% 6 – 9%
Haut
Turgor 앗 앗앗 앗앗앗
Farbe blass grau-blass marmoriert
Schleimhaut trocken spröde brüchig
Blutdruck normal fast normal 앗
Puls (앗) 앖 tachykard
Urin niedriges Volumen Oligurie Oligo-Anurie, Azotämie
16
Tränen Tränen keine Tränen keine Tränen

leichten, mittelschweren und schweren Dehydratati- 16.5.3 Malabsorption und Maldigestion


on. Eine schwere Dehydratation kann bei Kindern Tab. 16.9 führt einige Ursachen der Malabsorption
aufgrund des Volumenmangels zu einem hypovol- im Kindesalter auf. Leitsymptom ist hierbei zumeist
ämischen Schock führen, einem für das Kind lebens- Durchfall und ein verändertes Aussehen des Stuhls
bedrohlichen Zustand. (s. a. S. 326). Weitere Symptome, die bei einer Malab-
sorption auftreten, sind Gewichtsstillstand bzw. Ge-

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 301


KaelDesu
16 Ernährungszustand

wichtsabnahme, Zeichen einer Dystrophie bzw.


Atrophie, Inappetenz, Erbrechen und ein geblähtes 16.6 Besonderheiten bei älteren
Abdomen. Menschen
Die Maldigestion mit chronischen Durchfällen
Eva Eißing
und Gedeihstörung stellt ein Leitsymptom der Mu-
koviszidose dar und ist außerdem bei Cholestasesyn- Im Alter braucht der Mensch ca. 30% weniger Kalo-
dromen und Lebererkrankungen zu beobachten. rien als Jüngere, allerdings bei gleichem Bedarf an Ei-
Mangelerscheinungen, Über-/Fehlernährung und weiß, Vitaminen und Spurenelementen. Das bedeu-
Vergiftungen treten bei Kindern wie bei Erwachse- tet, der alte Mensch sollte seinen Fett- und Kohlen-
nen in unterschiedlichen Schweregraden auf und hydratanteil in der Nahrung um ca. 40% senken, um
können anhand derselben Kriterien beobachtet wer- nicht übergewichtig zu werden (Abb. 16.2).
den (s. a. S. 293 – S. 298).

Tab. 16.9 Ursachen der Malabsorption im Kindesalter (aus: Schulte, F.J., J. Spranger: Lehrbuch der Kinderheilkunde:
Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter, 27. Aufl., Gustav Fischer, Stuttgart 1992)

Krankheit path. Anatomie und Biochemie Stuhlbefund Diagnose

a) generalisierte Malabsorption massige, gärende Dünndarmbiopsie


(M) Stühle (Histologie)

Zöliakie+++ (Z) flache Mukosa Steatorrhö

+++
M. nach Gastroenteritis geschädigte ⎫ Durchfall z. B. Nachweis von
Mukosa ⎪ Rotaviren im Stuhl

M. bei Kuhmilchprotein-+++ Mukosa geschädigt ⎪ Durchfall oft blutig Klinik und Dünndarm-
⎪ sekundärer Mangel
und Sojaproteinintoleranz (weniger ausge- biopsie
⎬ an Dünndarmen-
prägt als bei Z) ⎪ zymen
Lamblia intestinalis+++ Mukosa geschädigt ⎪ Durchfall Lamblien im Duodenal-

(weniger ausge- ⎪ sekret (Lupenmikroskop)
prägt als bei Z) ⎭

Akrodermatitis enteropathica⬚ unspezifische histologische Veränderungen Durchfall Hautveränderungen,


u. Dermatitis herpetiformis Zinkmalabsorption

b) Malabsorption einzelner
Nahrungsstoffe

Monosaccharidmal- Transportstörung wässrige Durchfälle kein Blut-Glukoseanstieg


absorption+++ seit Geburt nach oraler Glukose-
Galactose-Gabe

Saccharase-Isomaltase- Saccharase- und Isomaltase-Aktivität앗 Durchfall Dünndarmbiospie


Mangel*** Stuhl-pH ⬍ 5,5 Enzymbestimmung
16 Lactasemangel+++ Lactaseaktivität앗 Disaccharide und H2-Atemtest
Milchsäure im Stuhl

Enteropeptidase-Mangel⬚ Enteropeptidase-Aktivität앗 Durchfall Trypsinogen-Aktivierungs-


(Enterokinase) konsekutive Erniedrigung proteolytischer Kreatorrhö test
Pankreasenzyme

VitB12-Malabsorption⬚ Transportdefekt Durchfall megaloblastäre Anämie


(Imerslund-Gräsbeck) Schilling-Test

+++
häufig +
selten ⬚ äußerst selten

302 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
16.6 Besonderheiten bei älteren Menschen

Während es bei vielen selbstständig lebenden, häufiger Grund, warum alte Menschen nur noch flüs-
geistig rüstigen alten Menschen eher keine besonde- sige Kost in Form von Brei zu sich nehmen.
ren Ernährungsprobleme gibt, zeigt sich bei hochbe- Viele hochbetagte Menschen leiden an mehreren
tagten, geriatrischen Menschen häufig eine deutli- Erkrankungen gleichzeitig, die die Nahrungsaufnah-
che Mangelernährung. Einer von der DGE durchge- me entscheidend beeinflussen können. Diese sog.
führten Studie zufolge sind nicht einmal 10% der Multimorbidität betrifft meist typische Alterskrank-
hochbetagten Menschen übergewichtig, dagegen heiten wie beispielsweise Verschleißerscheinungen
aber bis zu 60% untergewichtig. Die Hauptursache der Gelenke, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes
hierfür ist eine zu geringe Nahrungsaufnahme. Ver- mellitus oder Lähmungen mit Schluckstörungen
antwortlich dafür ist sehr häufig Appetitlosigkeit, die nach einem Schlaganfall.
durch nachlassenden Geruchs- und Geschmackssinn Eine besondere Problemgruppe stellen stark des-
im Alter verstärkt wird. orientierte Menschen dar, wie beispielsweise von
Alte Menschen, die alleine leben und aufgrund Morbus Alzheimer Betroffene. Der Reiz zur Nah-
von eingeschränkter Mobilität nur noch selten ihre rungsaufnahme ist in diesen Fällen häufig gestört:
Wohnung verlassen können, vereinsamen häufig. Sie essen entweder übermäßig, ohne dass ein Sätti-
Die Folge ist eine Isolation, die die Motivation zum gungsgefühl eintritt, oder sie verweigern die Nah-
Essen und den Appetit zusätzlich stark einschränkt. rung und spucken sie wieder aus, weil sie gar keinen
Viele ältere Menschen leiden unter Zahnverlust, Hunger haben. Manchmal öffnen sie den Mund nicht,
welcher zwar durch Teil- oder Vollprothesen ausge- weil sie vergessen haben, was essen heißt, oder wis-
glichen werden kann, die allerdings durch die Rück- sen nicht, wozu ein Löffel zu gebrauchen ist. Es kann
bildung der Alveolarfortsätze, die wie Nischen die auch sein, dass die Maßnahmen zur Essensaufnahme
Zähne fixieren, häufig schlecht sitzen. Die Prothesen als Bedrohung empfunden werden. In diesem Fall
müssen entsprechend vom Zahnarzt nachgearbeitet kommt es zu entsprechend ängstlichen und/oder ag-
werden, damit sie sich beim Kauen nicht verschieben gressiven Reaktionen.
oder Druckstellen und Entzündungen im Mund her- Ein vermindertes Durstgefühl durch nachlassen-
vorrufen. Schlechtsitzende Zahnprothesen sind ein de Sensibilität der Osmorezeptoren verhindert, dass

Abb. 16.2 Ungefährer Nährstoffbedarf


beim Erwachsenen im Vergleich zu einem
Tagesbedarf 2 500 kcal
alten Menschen

Tagesbedarf 1 750 kcal


1 700 kcal
Kohlen-
hydrate

– 35 %
1 100 kcal 16
Kohlen-
hydrate

400 kcal
Fett – 40 % 250 kcal
Fett

400 kcal 400 kcal


gleich
Eiweiß Eiweiß

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 303


KaelDesu
16 Ernährungszustand

alte Menschen genügend trinken. Besonders an hei- Durch Multimorbidität ist oft bei alten Menschen
ßen Tagen kann es dann zu einer Exsikkose mit Kreis- der Reiz zur Nahrungsaufnahme gestört.
laufschwankungen und Verwirrtheitszuständen Nachlassende Sensibilität der Osmorezeptoren ver-
kommen. Auch inkontinente alte Menschen trinken mindert das Durstgefühl und führt häufig zu Exsik-
oft zu wenig, weil sie Angst davor haben, die Toilette kose.
nicht schnell genug zu erreichen. Mangelernährung hat bei alten Menschen fatale
Ein weiterer Grund für eine Mangelernährung Folgeerscheinungen wie Schwäche, beeinträchtigte
kann darin liegen, dass sich alte Menschen aufgrund Muskelfunktion, Infektanfälligkeit etc.
ihrer eingeschränkten Beweglichkeit hauptsächlich
von Konserven und Fertiggerichten ernähren. Häufig
steht hier der Wunsch im Vordergrund, so lange wie 16.7 Fallstudien und mögliche
möglich selbstständig zu bleiben. Pflegediagnosen
In den Institutionen des Gesundheitswesens kom-
men besondere Faktoren dazu, die den Appetit und Der infolge einer Mangelernährung entstehende
Durst geriatrischer Menschen negativ beeinflussen. Schwächezustand kann sich auf sämtliche Bereiche
Hierzu gehören die veränderte, fremde Atmosphäre der Alltagsbewältigung auswirken. Zusätzliche kör-
des Krankenhauses oder der Pflegestation im Alten- perliche Erkrankungen führen unter diesen Umstän-
heim, ungewohnte Essenszeiten und -angebote, den oft zum Versagen vieler Regulationsmechanis-
fremdes und häufig wechselndes Pflegepersonal. Das men, die lebensbedrohliche Herz-Kreislauf-Störun-
Essen muss unter Umständen im Bett eingenommen gen, Temperaturerhöhung und Bewusstseinsverän-
werden; die Krankheitssituation mit z. B. Schmerzen, derungen bewirken können.
Unwohlsein und körperlichen Einschränkungen wird
mehr oder weniger belastend erlebt. Beispiel: Frau Borgers, 82 Jahre alt, wird ins
Des Weiteren können Trauer, Depressionen, Zu- Krankenhaus eingeliefert mit der Diagnose
kunftsängste und Gefühle der Abhängigkeit er- Kachexie und Exsikkose. Sie war in ihrer
schwerend hinzukommen. All diese Faktoren wirken Wohnung gestürzt und konnte aus eigener Kraft keine
sich negativ auf den Appetit aus. Hilfe herbeiholen. Die Nachbarin reagierte auf ihr Ru-
Die Folgen des reduzierten Ernährungszustands fen und verständigte den Krankenwagen. In der Klinik
sind gerade für den geriatrischen Menschen fatal, gab Frau Borgers an, bereits mehrere Tage unter Durch-
weil durch die Beeinträchtigung der Muskelfunktion fall zu leiden. Außerdem fühle sie sich, seit ihr Mann vor
und die damit einhergehende Schwäche ein erhöhtes einigen Jahren gestorben ist, sehr einsam und habe
Risiko für Stürze, Frakturen und dazugehörige Lang- kaum noch Appetit. In der letzten Zeit sei sie sehr
zeitfolgen besteht. Außerdem erhöht sich die Infekt- schlapp und müde gewesen.
anfälligkeit, das Dekubitusrisiko und das Risiko auf- Frau Borgers ist stark abgemagert, die Haut ist faltig
tretender Komplikationen im Krankheitsverlauf mit und schuppig, die Mundschleimhaut trocken und bor-
entsprechend längerem Krankenhausaufenthalt. kig.
Das Gewicht beträgt 45 kg bei einer Körpergröße von
Zusammenfassung: 165 cm. Die Blutdruckwerte liegen bei 85/50 mmHg,
16 Besonderheiten bei Kindern und älteren die Pulsfrequenz bei 112 Schlägen/Min. Die Temperatur
Menschen ist mit 38,5 ⬚C – rektal gemessen – erhöht. Am Rücken
Bei Neugeborenen kann die Gefahr einer Trink-/ und am Ellenbogen hat Frau Borgers aufgrund des
Saugschwäche bestehen. Sturzes Hämatome und Hautabschürfungen, die bei
Ein reduzierter Ernährungszustand kann bei Kin- Bewegungen schmerzen. Die Röntgenaufnahmen zei-
dern lebensbedrohlich sein. gen Prellungen, keine Frakturen.
Bei der Dehydratation aufgrund z. B. von Diarrhöen, Frau Borgers ist ganz unglücklich, weil sie nicht weiß,
Erbrechen oder Schwitzen werden verschiedene wie dieser Sturz passieren konnte, obwohl sie doch im-
Schweregrade unterschieden. mer so aufgepasst hat. Einen Auszug aus dem mögli-
Häufig leiden hochbetagte Menschen unter einer chen Pflegeplan von Frau Borgers zeigt Tab. 16.10.
deutlichen Mangelernährung. Zu der oben aufgeführten Fallstudie kann auch eine
Pflegediagnose erstellt werden, die die folgende Über-
sicht zeigt:

304 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
16.7 Fallstudien und mögliche Pflegediagnosen

(Isotonisches) Flüssigkeitsdefizit (P)* reduzierter Blutdruck


(Gordon 2013, S. 160 – 161, NANDA-I 2016) erhöhte Pulsfrequenz
Deficient fluid volume (00027) (1978, 1996) reduzierte Urinausscheidung (Oligurie)
Taxonomie II: Domäne 2: Ernährung, erhöhte Urinkonzentration (erhöhtes spezifisches
Klasse 5: Flüssigkeitszufuhr Gewicht)
erhöhte Körpertemperatur
(Beachte: Diese Diagnose wurde strukturiert, um das iso-
reduziertes Pulsvolumen (oder)
tonische Flüssigkeitsdefizit unter Ausschluss von Zustän-
reduzierter Pulsdruck
den mit Veränderung des Natriumspiegels anzusprechen.
(Veränderung des psychischen Zustands)
Für Bedürfnisse eines Klienten in Zusammenhang mit ei-
trockene Haut
nem Flüssigkeitsdefizit in Zusammenhang mit einem ver-
trockene Schleimhäute
änderten Natriumspiegel siehe PDx: [Hyper-/hypotoni-
reduzierte Hautspannung
sches Flüssigkeitsdefizit]
Schwächegefühl
Diagnosetyp (Dokumentationsform): aktuelle Pflege- reduzierte Venenfüllung
diagnose (PES) erhöhtes Hämatokrit
Funktionelles Gesundheitsverhaltensmuster: reduzierte Gewebespannung der Zunge
Ernährung und Stoffwechsel
Pflegeergebnis (Outcome)
Definition Flüssigkeitshaushalt (Fluid Balance)
Verminderung des intravaskulären, interstitiellen und/ Gleichgewicht zwischen Intra- und Extrazellularraum
oder intrazellulären Flüssigkeitsvolumens. Dieser Zustand des Körpers
bezieht sich auf Dehydratation, Wasserverlust ohne Ver-
änderung des Natriumgehalts Risikogruppen
Personen mit . . .
Einflussfaktoren (E) Erkankungen, die den Zugang zu Flüssigkeiten
aktiver Verlust (normale Wege, Drainagen; Diarrhö) beeinträchtigen
Versagen regulatorischer Mechanismen Erkrankungen, welche die Aufnahme von Flüssig-
Kennzeichen oder Symptome (S) keiten beeinträchtigen
Durst hypermetabolische Zuständen (Hyperthermie etc.)
plötzlicher Gewichtsverlust (außer im dritten Raum) Extreme bezüglich Alter und Gewicht

* Bei Diagnose zur medizinischen Evaluation überwei-


sen

Im Fall von Frau Borgers würde die Pflegediagnose Beispiel: Julia wurde mit einer Lippen-Kie-
folgendermaßen lauten: fer-Gaumenspalte geboren und leidet des-
Flüssigkeitsdefizit halb an einer Saugschwäche. Gestern hat sie 16
b/d (beeinflusst durch) aktiver Verlust von Körper- eine Trinkplatte angepasst bekommen. Die Mutter von
flüssigkeiten (Diarrhö) Julia hat ihre Tochter seit der Geburt regelmäßig ange-
a/d (angezeigt durch): legt, doch aufgrund der Lippen-Kiefer-Gaumenspalte
reduzierter Blutdruck, konnte Julia die Muttermilch aus der Brust nicht auf-
erhöhte Pulsfrequenz, nehmen. Nachdem Julia die Trinkplatte erhalten hat,
reduzierte Hautspannung, hofft ihre Mutter, dass es nun mit dem Stillen klappt. In
trockene Haut und Schleimhäute, Tab. 16.11 ist ein Auszug aus dem Pflegeplan von Julia
erhöhte Körpertemperatur, aufgeführt.
Schwächegefühl.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 305


KaelDesu
16 Ernährungszustand

Tab. 16.10 Auszug aus dem Pflegeplan von Fr. Borgers

Pflegeprobleme Ressourcen Pflegeziele Pflegemaßnahmen

Fr. B. ist vital gefährdet auf- Fr. B. ist geistig in der Lage, Fr. B. 쐌 Infusionstherapie auf Anordnung:
grund der Exsikkose und der ihre Situation zu begreifen, 쐌 hat einen physiologischen 1500 ml NaCl 0,9%
Kachexie sich motivieren zu lassen Wasserhaushalt, 쐌 Information von Fr. B. über die Notwen-
쐌 kennt die Notwendigkeit digkeit einer ausreichenden Trinkmenge
einer Trinkmenge von (mind. 1,5 l/Tag)
1,5 l/Tag und trinkt ent- 쐌 1,5 l/Tag Wunschgetränke bereitstellen
sprechend 쐌 Bilanzierung der Ein- und Ausfuhr
쐌 nimmt innerhalb einer (8.00 h)
Woche 1 kg an Gewicht 쐌 Urinbeobachtung: Menge, Aussehen,
zu Konzentration
쐌 hochkalorische Kost (2500 cal/Tag),
6 kleinere Mahlzeiten, Wunschkost
쐌 Mo. u. Fr. (8.00 h) Gewichtskontrolle
쐌 Kreislaufverhältnisse sind 쐌 Vitalzeichenkontrolle: RR, Puls, Temp.
im physiologischen Be- alle 4 Stunden
reich und Komplikationen
(Kreislaufkollaps mit Oli-
gurie) werden frühzeitig
erkannt
쐌 hat geschmeidigen Haut- 쐌 Hautpflege mit Pflegelotion W/Ö (bei
zustand, feuchte Mund- Körperpflege)
schleimhaut 쐌 Hautbeobachtung: Turgor
쐌 Mundpflegeutensilien nach jeder Mahl-
zeit anreichen
쐌 Inspektion der Mundschleimhaut (bei
Körperpflege)
Appetitlosigkeit aufgrund Fr. P. ist offen für Gespräche Fr. B. 쐌 Fr. B. ermöglichen, sich im Aufenthalts-
von Einsamkeit und für Kontakte 쐌 ist über Aktivitäten in raum aufzuhalten, evtl. zu essen
Seniorengruppen infor- 쐌 Kontakt herstellen zu Aktivitäten von
miert Seniorengruppen über den Sozialmedizi-
nischen Dienst
쐌 hat angemessenen 쐌 Beobachtung des Appetits
Appetit

Tab. 16.11 Auszug aus dem Pflegeplan von Julia

Pflegeprobleme Ressourcen Pflegeziele Pflegemaßnahmen

Julia kann aufgrund der Lip- 쐌 Julia hat eine angepasste 쐌 Julia kann gut an der Anleitung der Mutter zum Stillen (durch
pen-Kiefer-Gaumenspalte Trinkplatte Brust trinken Stillberaterin):
nur ungenügend an der 쐌 Julias Mutter ist sehr 쐌 Julia erfährt beim Stillen 쐌 häufiges (8 ⫻), regelmäßiges Anlegen
Brust saugen 씮 Gefahr der geduldig und legt Julia Unterstützung von der 쐌 Stillposition ausprobieren, Julia: halbauf-
mangelnden Zufuhr von immer wieder an Mutter (Abdichten der rechte Position
Flüssigkeit und Nährstoffen Lippen, Auslösen des 쐌 Abdichten der Lippenspalte mit den Fin-
16 Milchflussreflexes) gern unterstützen
쐌 Julia besitzt einen ausge- 쐌 manuelles Auslösen des Milchflussrefle-
glichenen Flüssigkeits- xes z. B. durch:
und Nährstoffhaushalt – leichte Massage der Brust (vom Brust-
ansatz zur Brustwarze)
– Wärmeapplikation (z. B. warme Tücher
oder Abwaschen der Brust mit war-
mem Wasser)
– Beobachtung des Saugens (Einziehun-
gen der Wangen)
Hinweis auf Stillgruppen, Selbsthilfegrup-
pen, ruhige, entspannte Atmosphäre wäh-
rend des Stillens (Musik nach Wunsch,
Schild „Stillzeit“ an die Tür, Hinweis auf
Stillzimmer) Beobachtung des Ernährungs-
zustands

306 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
Fazit

Die Pflegediagnose für Julia könnte folgendermaßen


Saug-/Schluckstörung des Säuglings (P)* lauten:
(Gordon 2013, S. 185 – 186, NANDA-I 2016) Saugstörung des Säuglings
Ineffective infant feeding pattern (00107) (1992, b/d (beeinflusst durch) eine Lippen-Kiefer-Gaumen-
2006, LOE 2.1) spalte,
Taxonomie II: Domäne 2: Ernährung, a/d (angezeigt durch) eine Saugschwäche des Kindes.
Klasse 1: Nahrungsaufnahme
Diagnosetyp (Dokumentationsform): aktuelle Pflege- Fazit: Die Beurteilung des Ernährungszu-
diagnose (PES) stands eines Menschen ist nur durch Hinzu-
Funktionelles Gesundheitsverhaltensmuster: ziehung anderer Beobachtungskriterien
Ernährung und Stoffwechsel möglich. Besonders das Körpergewicht in Verbindung
mit der Körpergröße ist ein wichtiger Beobachtungs-
Definition
schwerpunkt.
Beeinträchtigte Fähigkeit eines Säuglings, zu saugen
Neugeborene und Säuglinge, die gestillt werden, er-
oder den Saug-/Schluckvorgang zu koordinieren, die zu
halten alle Nährstoffe, die sie für das Wachstum in den
einer unzureichenden oralen Ernährung zur Deckung
des Stoffwechselbedarfs führt ersten Lebensmonaten brauchen, in optimaler Art und
Weise. Der Aufbau des Immunsystems wird konkur-
Einflussfaktoren (E) renzlos gefördert und beeinflusst nachhaltig, d. h. auch
anatomische Auffälligkeiten nach dem Stillen, die Abwehrlage. Desgleichen ist die
neurologische Verzögerung Allergiebereitschaft bei gestillten Kindern gemindert.
neurologische Beeinträchtigung
Mit der Muttermilchernährung werden demzufolge
Überempfindlichkeit im Mund
nicht nur Mangelernährung verhindert, sondern auch
anhaltende Nahrungskarenz
andere Krankheitsrisiken gemindert.
Frühgeburt
Mangelernährung kommt in den Industrieländern
Kennzeichen oder Symptome (S) fast ausschließlich in Verbindung mit speziellen Er-
Hauptkennzeichen krankungen vor. Sie können angeboren sein, z. B. Stoff-
Unfähigkeit, einen wirksamen Sog herzustellen wechselerkrankungen oder Fehlbildungen im Magen-
Unfähigkeit, einen wirksamen Sog aufrechtzuerhal- Darm-Trakt, oder durch schwere Erkrankungen ausge-
ten löst werden, z. B. Tumorleiden. Auch psychische Proble-
Unfähigkeit, Saugen, Schlucken und Atmen zu koor- me können für Mangelernährung verantwortlich sein.
dinieren In den Ländern der Dritten Welt ist Mangelernäh-
Pflegeergebnis (Outcome) rung gezwungenermaßen durch einseitige Ernährung
Aufnahme des Stillens: Kindliche (Breastfeeding oder Hungersnöte bedingt.
Establishment: Infant) Menschen, die in den Industrieländern leben, haben
Erfassen der mütterlichen Brustwarze und Saugen dafür mit den Folgen der Über- oder falscher Ernäh-
zur Nahrungsaufnahme während der ersten 3 Wo- rung zu kämpfen. Und trotz aller Möglichkeiten
chen des Stillens schließt hier das Recht auf Gesundheit auch die Pflicht
ein, vorbeugend zu handeln. Wer eine gesundheits-
Risikogruppen
schädliche Ernährungs- und Lebensweise favorisiert, 16
Frühgeborene sowie Säuglinge . . .
sollte sich im Klaren sein, dass die Konsequenzen häu-
mit neurologischen Schädigungen/Entwicklungsver-
fig von allen, z. B. Versicherten, zu tragen ist. Erziehen-
zögerungen (zu spezifizieren)
nach längerer Nahrungskarenz de müssen wissen, dass Kinder durch imitierendes Ver-
mit anatomischen Anomalien (z. B. Lippen-Kiefer- halten Ernährungsgewohnheiten und Umgang mit Ge-
Gaumen-Spalte), nussmittel unreflektiert übernehmen und dadurch
mit überempfindlicher Mundregion. häufig in ihrem Ernährungsbewusstsein auch im Er-
wachsenenalter geprägt sind.
* Dieser Zustand ist oft Fokus von Interventionen, das
heißt, es handelt sich um einen Einflussfaktor.
(Die von der NANDA-I angeführten Einflussfaktoren,
werden von Gordon als Risikogruppen eingeordnet.
Anm. d. Hrsg.)

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 307


KaelDesu
16 Ernährungszustand

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16

308 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu

17 Urin
Panajotis Apostolidis*, Petra Schmalstieg

Übersicht
Einleitung · 309
17.1 Allgemeine Beobachtungskriterien und
Beschreibung des Normalzustands · 310
17.1.1 Miktion · 310
17.1.2 Urinmenge · 310
17.1.3 Urinfarbe, Aussehen · 310
17.1.4 Urinzusammensetzung · 311
17.1.5 Uringeruch · 311
17.1.6 Spezifisches Gewicht des Urins · 311
17.1.7 Urinreaktion · 311
17.2 Abweichungen, Veränderungen des
Urins und deren mögliche Ursachen · 312
17.2.1 Miktionsstörungen · 312 Einleitung
17.2.2 Veränderungen der Urinmenge · 316
17.2.3 Veränderungen der Urinfarbe · 318 Die kontrollierte Ausscheidung von Urin wird im
17.2.4 Veränderungen der Kindesalter erlernt und gehört zu den grundlegen-
Urinzusammensetzung, den und selbstverständlichen Aktivitäten von Men-
Beimengungen · 318 schen. Wie häufig der Gang zur Toilette vollzogen
17.2.5 Veränderungen des Uringeruchs · 319 wird, wird Menschen oft erst dann bewusst, wenn
17.2.6 Veränderungen des spezifischen die Miktion von unangenehmen Prozessen wie z. B.
Gewichts des Urins · 319 Schmerzen begleitet ist oder gar ein unwillkürlicher
17.2.7 Veränderungen der Urinreaktion · 319 Urinabgang wie bei den verschiedenen Formen der
17.3 Ergänzende Beobachtungskriterien · 320 Harninkontinenz geschieht. Hier wird der selbstver-
17.4 Besonderheiten bei Kindern · 320 ständliche Vorgang der Miktion zu einer störenden
17.5 Besonderheiten bei älteren und unangenehmen Notwendigkeit.
Menschen · 321 Gerade die Inkontinenz wirkt sich nicht nur auf
17.5.1 Funktionelle Inkontinenz · 321 das physische, sondern vor allem auch auf das psy-
17.6 Fallstudien und mögliche chische und soziale Wohlbefinden der betroffenen
Pflegediagnosen · 322 Menschen aus und führt nicht selten aufgrund von
Fazit · 325 Schamgefühlen zum sozialen Rückzug.
Literatur · 325 Die Miktion ist wie die Defäkation eine sehr pri-
vate Angelegenheit, die eng mit der Intimsphäre ei-
nes Menschen verbunden ist und normalerweise
Schlüsselbegriffe:
nicht im Beisein anderer Menschen vollzogen wird.
왘 Miktionsstörung Pflegepersonen sind jedoch im Alltag häufig gefor-
왘 Dysurie dert, pflegebedürftigen Menschen Hilfestellung bei 17
왘 Harninkontinenz der Ausscheidung zu leisten, was ein hohes Maß an
Einfühlungsvermögen und Sensibilität erfordert.
Das folgende Kapitel beschreibt die Beobach-
tungskriterien des Urins und geht auf mögliche Ursa-
chen für Abweichungen und Veränderungen in die-
sem Beobachtungsbereich ein.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 309


KaelDesu
17 Urin

Definition: Als Urin oder Harn wird die bei


Menschen von den Nieren durch die Harnwege
Miktions- Großhirn
abgesonderte Flüssigkeit bezeichnet. kontroll-
zentrum
Über den Urin werden harnpflichtige Stoffe ausge-
schieden. Die Urinausscheidung ist zudem ein wich-
tiger Faktor bei der Regulation des Wasser- und sensible Bahn
Elektrolythaushalts sowie des Säure-Basen-Gleich-
motorische Bahn
gewichts.
(hemmt die
Blasenentleerung)
17.1 Allgemeine
Beobachtungskriterien und
Beschreibung des Dehnungsrezeptor
Normalzustands Harnblase

Beobachtet wird der Urin hinsichtlich der Entlee-


rung, der Menge, der Farbe, des Geruchs, der Zusam-
Miktions-
mensetzung, des spezifischen Gewichts und bezüg- reflexzentrum
lich der chemischen Reaktion. Für einige Kriterien
und für differenzierte Aussagen werden Hilfsmittel Reflexbogen der Miktion
benötigt, die teilweise auch im ambulanten und sta-
tionären Bereich Verwendung finden. Abb. 17.1 Miktion

17.1.1 Miktion
Definition: Mit Miktion wird der Vorgang der die Harnblasenmuskulatur und die Blasenschließ-
Blasenentleerung, die Urinausscheidung, be- muskelanlage. Es kommt zu einer unwillkürlichen
zeichnet. Kontraktion der Blasenmuskulatur und einer gleich-
zeitigen Öffnung des inneren Blasenschließmuskels.
Sie erfolgt im Normalfall willkürlich, schmerzlos Um den Urin abfließen zu lassen, wird anschließend
und im Strahl, wobei durchschnittlich eine Menge der äußere Blasenschließmuskel willentlich geöff-
von 200 – 400 ml Urin ausgeschieden wird. Die net. Unterstützt wird die Entleerung der Blase durch
Miktion stellt einen reflektorischen Vorgang dar, die Anspannung der Bauchmuskulatur (Bauchpres-
der willkürlich ausgelöst wird und über ein speziel- se).
les Nervenzentrum im Bereich des Sakralmarks,
das sakrale Miktionszentrum, gesteuert wird (Abb. 17.1.2 Urinmenge
17.1). Die Urinmenge, die von einem erwachsenen Men-
Durch Dehnungsrezeptoren in der Blasenwand schen durchschnittlich innerhalb von 24 Std. ausge-
wird der Füllungsgrad der Harnblase registriert und schieden wird, beträgt zwischen 1500 ml und
an das sakrale Miktionsreflexzentrum und zum zen- 2000 ml. Sie ist abhängig von der Menge der aufge-
tralen Miktionszentrum (Miktionskontrollzentrum) nommenen Flüssigkeit, der extrarenalen Flüssig-
17 im Stammhirn weitergeleitet. Je größer die Dehnung keitsabgabe über die Haut, die Atmung und den
der Blase ist, umso mehr Impulse erreichen das ZNS, Darm sowie von der Funktion der Nieren. Die Funkti-
und es wird das Gefühl des Harndrangs ausgelöst. on der Niere ist wiederum u. a. abhängig vom Blut-
Die Harnmenge, die einen solchen Harndrang aus- druck und der Wirkung bestimmter Hormone (z. B.
löst, beträgt ca. 350 ml. Adiuretin, Aldosteron).
Bei intakten Nervenbahnen kann nun der Mikti-
onsreflex willkürlich unterdrückt oder zugelassen 17.1.3 Urinfarbe, Aussehen
werden. Wird der Entleerungsreflex zugelassen, Der normale Urin besitzt eine klare hell- bis dunkel-
dann leiten efferente Nervenfasern Impulse zum sa- gelbe (bernsteinfarbige) Farbe, die durch verschiede-
kralen Miktionszentrum. Diese Impulse wirken auf

310 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
17.1 Allgemeine Beobachtungskriterien und Beschreibung des Normalzustands

ne Farbstoffe (z. B. Urochrom, Urosein, Urobilin) her- 17.1.6 Spezifisches Gewicht des Urins
vorgerufen wird. Sie wird von der Konzentration des Das spezifische Gewicht (Dichte, Artgewicht) gibt die
Harns und der Art der aufgenommenen Nahrung be- Konzentration des Urins an, d. h. es beschreibt, wie-
einflusst. Je konzentrierter der Harn, desto dunkler viel Gramm gelöste Stoffe in einem Liter Urin enthal-
seine Farbe und umgekehrt. ten sind. Es schwankt zwischen 1,001 und 1,035 mit
einem Durchschnitt von 1,020. Gemessen wird das
17.1.4 Urinzusammmensetzung spezifische Gewicht mithilfe einer Senkwaage, dem
Hauptbestandteil des Urins ist mit 95 – 98% Wasser. sog. Urometer, das in einen mit Urin gefüllten Mess-
Außerdem sind im Urin stickstoffhaltige Schlacken- zylinder gegeben wird (Abb. 17.2). Das Urometer
stoffe, Salze und Säuren, Farbstoffe, Hormone und „schwimmt“ auf dem Urin und das spezifische Ge-
wasserlösliche Vitamine enthalten (Tab. 17.1). Ver- wicht kann in Höhe des Flüssigkeitsspiegels an der
einzelt können auch Erythrozyten und Leukozyten Urometerskala abgelesen werden. Das Urometer ist
im Urin enthalten sein. Die festen Bestandteile des auf 15 oC geeicht. Liegt die Temperatur des Urins hö-
Urins betragen pro Tag ca. 60 g. her oder niedriger, so müssen pro 3o Temperaturab-
weichung jeweils 1 Teilstrich hinzugezählt (höhere
17.1.5 Uringeruch Temperatur) oder abgezogen (niedrigere Tempera-
Der Geruch eines frischen Urins ist leicht aromatisch tur) werden.
und wird durch Harnsäure und Ammoniak hervorge-
rufen. Wird der Urin längere Zeit stehen gelassen, so 17.1.7 Urinreaktion
entwickelt sich aufgrund der Zersetzung von Harn- Mit der chemischen Reaktion, dem pH-Wert, wird
stoff ein säuerlicher bis stechender Ammoniakge- der Gehalt an gelösten Säuren im Urin angegeben.
ruch. Zudem wird der Uringeruch durch Nahrungs- Bei einer gemischten Kost reagiert frischer Urin
mittel (z. B. Knoblauch, Spargel) beeinflusst. schwach sauer (pH-Wert von 5 – 7). Die Ermittlung

Tab. 17.1 Bestandteile des Urins (nach: Pschyrembel Klini-


sches Wörterbuch (online). de Gruyter, Berlin 2013; Stand:
03. 08. 2017)

Harn Menge
(Wichtige Bestandteile des 24-Std.-
Urins gesunder Erwachsener)

Harnstoff 20 g

Kreatinin 1,2 – 1,8 g

Gesamtprotein ⬍ 150 mg

Albumin ⬍ 30 mg

Aminosäuren 800 mg

Harnsäure 500 mg

D-Glukose 70 mg

Ionen: 17
Natrium 60 – 200 mmol
Kalium 30 – 100 mmol
Calcium 2,5 – 6 mmol
Magnesium 1 – 10 mmol
Ammonium 30 – 40 mmol
Chlorid 120 – 240 mmol
Phosphat 15 – 30 mmol
Sulfat 18 – 22 mmol
Abb. 17.2 Bestimmung des spezifischen Gewichts

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 311


KaelDesu
17 Urin

Tab. 17.2 Übersicht über die Miktionsstörungen

Störung Definition

Pollakisurie häufige Entleerungen kleiner Urinmengen

Nykturie vermehrtes nächtliches Wasserlassen

Algurie schmerzhafte Harnentleerung

Dysurie schmerzhafte, erschwerte Harnentleerung

Strangurie schmerzhafter Harnzwang, starke


Schmerzen bei der Miktion mit nicht zu
unterdrückendem Harndrang

Abb. 17.3 Urin-Schnelltest Harninkontinenz Unfähigkeit zur willkürlichen Steuerung der


Blasenentleerung

Harnstrahl-
des pH-Werts erfolgt mit Indikatorpapier oder mit- veränderungen

tels Schnelltest-Streifen (s. a. S. 319), auf denen eine


Reaktionszone der pH-Wertbestimmung dient
(Abb. 17.3). Pollakisurie
Definition: Mit Pollakisurie wird eine Mik-

!
Merke: Die Beobachtungskriterien des Urins tionsstörung beschrieben, bei der es zu häufigen
sind: Miktion, Menge, Farbe, Geruch, Zusam- Entleerungen kleiner Urinmengen kommt.
mensetzung, spezifisches Gewicht, chemi-
sche Reaktion. Die Gesamtharnmenge, die innerhalb von 24 Std.
ausgeschieden wird, ist hierbei nicht verändert. Be-
obachtet werden kann eine Pollakisurie u. a. bei einer
17.2 Abweichungen,
Blasenreizung durch Entzündung, bei Blasenabfluss-
Veränderungen des Urins behinderungen, Verengungen der Harnröhre, Aufre-
und deren mögliche gung und Nervosität. Daneben kann eine Pollakisurie
Ursachen auch durch Druck auf die Harnblase von außen, wie
er beispielsweise durch eine Schwangerschaft her-
Mit dem Urin, dem Endprodukt eines komplizierten vorgerufen wird, verursacht werden.
Filtrationsvorgangs des Blutes bzw. des Blutplasmas,
wird eine Reihe von Stoffwechselprodukten aus- Nykturie
geschieden. Da der Urin auch der Regulation des Definition: Mit Nykturie wird ein vermehrtes
Wasser- und Elektrolythaushalts und dem Säure-Ba- nächtliches Wasserlassen beschrieben.
sen-Gleichgewicht dient, können Veränderungen
des Urins Hinweise auf zahlreiche Erkrankungen ge- Während im Normalfall, abhängig von der abendlich
ben und teilweise auch auf den Schweregrad der Er- aufgenommenen Trinkmenge, keine oder nur eine
krankung. Blasenentleerung in der Nacht erfolgt, müssen die an
einer Nykturie leidenden Menschen nachts häufiger
17 17.2.1 Miktionsstörungen Wasser lassen. Nicht selten ist eine Nykturie bei der
Die Miktionsstörungen beziehen sich auf die Art und Pollakisurie zu beobachten.
die Häufigkeit der Harnentleerungen, begleitende Daneben kann eine Nykturie Zeichen einer Herz-
Schmerzen und Veränderungen des Harnstrahls oder Niereninsuffizienz sein, bei der die tagsüber im
(Tab. 17.2). Gewebe angesammelten Wassermengen (Ödeme)
nachts in die Blutbahn rückresorbiert und über die
Niere ausgeschieden werden. Aber auch raumfor-
dernde Prozesse der Harnwege, die sich durch eine
Veränderung der Position (Liegen) verlagern und den

312 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
17.2 Abweichungen, Veränderungen des Urins und deren mögliche Ursachen

Harnabfluss dadurch wieder freimachen, können die behinderungen wie beispielsweise Blasensteine und
Ursache einer Nykturie darstellen. Prostatavergrößerungen oder Tumore, die eine Kom-
pression von außen bewirken. Ein neurogen beding-
Algurie ter Harnverhalt kann u. a. bei Bandscheibenvorfällen
Definition: Unter Algurie wird eine schmerz- und Multipler Sklerose beobachtet werden.
hafte Harnentleerung verstanden. Besteht ein Unvermögen, in Gegenwart anderer
Menschen Wasser zu lassen, so kann dies auch als
Sie kommt vor allem bei Blasenentzündungen und psychisch bedingter Harnverhalt bezeichnet werden
Blasensteinen vor. Die Miktionsfrequenz ist bei der (s. o.).
Algurie nicht erhöht.
Harninkontinenz
Dysurie Definition: Unter Harninkontinenz wird die
Definition: Ist die Harnentleerung nicht nur Unfähigkeit zur willkürlichen Steuerung der
schmerzhaft, sondern auch erschwert, so han- Blasenentleerung verstanden.
delt es sich um eine Dysurie.
Bei der Harninkontinenz werden verschiedene For-
Ursachen sind Harnabflussbehinderungen und men unterschieden:
Harnwegsinfektionen. Die Dysurie tritt oftmals in die Stressinkontinenz,
Kombination mit einer Pollakisurie auf. die Dranginkontinenz,
Eine besondere Form der Dysurie ist die Dysuria die neurogene Inkontinenz,
psychica. Sie beschreibt das Unvermögen bzw. das die Überlaufinkontinenz,
erschwerte Wasserlassen in Gegenwart anderer Per- die extraurethrale Inkontinenz,
sonen. Dies ist im Krankenhaus häufig der Fall, wenn funktionelle Inkontinenz.
z. B pflegebedürftige Menschen Bettruhe einhalten
und sich im Beisein von Zimmernachbarn entleeren Die funktionelle Inkontinenz ist von besonderer Be-
müssen. deutung für ältere Menschen, deshalb wird diese
Form unter 17.5 näher beschrieben.
Strangurie
Definition: Die Strangurie ist gekennzeichnet Stressinkontinenz
durch starke Schmerzen bei der Miktion und ei- Definition: Unter der Stress- oder Belastungs-
nen nicht zu unterdrückenden Harndrang. Sie inkontinenz wird ein unwillkürlicher Urinab-
wird auch als schmerzhafter Harnzwang be- gang bei intraabdomineller Druckerhöhung ver-
zeichnet. standen.

Die Strangurie, die meist mit einer Entleerung von Aufgrund eines Versagens des Verschlussmechanis-
nur wenig Harn einhergeht, wird hervorgerufen mus der Urethra verlieren die Betroffenen Urin bei
durch akute Entzündungen der Harnblase und Harn- Druckanstieg im Beckenraum; die Blasenmotorik ist
röhre. jedoch nicht gestört. Ursachen und begünstigende
Faktoren einer Stressinkontinenz zeigt Tab. 17.3.
Harnretention Charakteristisch für eine Stressinkontinenz ist
Definition: Das Unvermögen, die gefüllte der fehlende Harndrang bei plötzlichen oder andau-
Harnblase spontan zu entleeren, wird als Harn- ernden intraabdominellen Druckerhöhungen, wie 17
retention, Harnverhalt oder Harnsperre be- sie beispielsweise beim Husten, Lachen, Stehen oder
zeichnet. bei körperlicher Anstrengung auftreten. Der Harnab-
gang erfolgt tropfen- oder spritzförmig. Verschiede-
Sie führt zu einem quälenden Anstieg des Blasenin- ne Schweregrade, die bei der Stressinkontinenz un-
nendrucks mit Blasenüberdehnung und evtl. Harn- terschieden werden, sind in Tab. 17.4 aufgeführt.
rückstau. Die Ursachen können sowohl mechani-
scher als auch neurogener oder psychischer Art sein.
Zu den mechanischen Ursachen zählen Harnabfluss-

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 313


KaelDesu
17 Urin

Tab. 17.3 Begünstigende Faktoren und Ursachen einer vegetative Belastungen wie Aufregung oder Angst ei-
Stressinkontinenz (nach Füsgen) ne Dranginkontinenz verursachen. Durch eine ver-
begünstigende Faktoren Ursachen mehrte Adrenalinausschüttung wird hierbei der To-
nus des Detrusors erhöht.
– Übergewicht, – Insuffizienz des Verschluss-
Bei der sensorischen Dranginkontinenz stellt eine
– Bindegewebsschwäche, mechanismus an Blasenhals und
– chronische Bronchitis, Harnröhre durch Operationen, periphere Überstimulation den auslösenden Faktor
– Zustand nach mehreren Geburten, Unfälle oder Nerven- dar. Durch Veränderungen der Harnblase oder Harn-
Geburten, schädigungen, röhre werden vermehrt Impulse an das ZNS gesen-
– schwere körperliche – Verlagerung von Blase und Harn-
det, was zu einer reflektorischen Öffnung des
Belastung, röhre (Blasensenkung, Becken-
– Postmenopause. bodenschwäche, Verziehung, Schließmuskels der Harnblase (M. sphincter vesicae)
Verdrängung), und nachfolgend des Harnröhrenverschlusses (M.
– Schleimhautschwund sphincter urethrae) führt. Ursachen für die sensori-
(z. B. Östrogenmangel)
sche Dranginkontinenz sind vor allem Harnwegs-
infekte oder mechanische Reizungen durch Blasen-
Tab. 17.4 Schweregrade der Stressinkontinenz steine, Tumore oder auch Blasenreizungen durch Er-
krankungen der Nachbarorgane, z. B. des Darms oder
Schweregrade Definition
der Vagina.
Grad I unfreiwilliger Urinabgang bei schweren kör-
perlichen Belastungen, z. B. beim Hüpfen, Neurogene Inkontinenz
Springen, Husten oder Niesen
Bei der neurogenen Inkontinenz erfolgt eine unwill-
Grad II unwillkürlicher Harnverlust bei leichten kör- kürliche Urinentleerung aufgrund einer Störung der
perlichen Belastungen, z. B. beim Treppen-
nervalen Miktionskontrolle. Ursachen sind v. a. Quer-
steigen, Gehen, Aufstehen oder Hinsetzen
schnittläsionen des Rückenmarks durch Traumen,
Grad III Urinverlust in Ruhe ohne Belastung
Tumore und Bandscheibenvorfälle. Je nachdem, an
welcher Stelle es zu einer Störung bzw. Unterbre-
chung zwischen dem sakralen Miktionszentrum und
Dranginkontinenz dem Gehirn gekommen ist, können verschiedene
Definition: Die Drang- oder Urge-Inkontinenz Formen unterschieden werden. Tab. 17.5 zeigt die
beschreibt einen unwiderstehlichen Harndrang verschiedenen Formen und ihre Charakteristika.
mit unwillkürlichem Urinverlust. Die sog. kortikale ungehemmte Blase (unge-
hemmte, neuropathische Blase) kommt vor allem bei
Sie ist häufig kombiniert mit einer Pollakisurie und zerebralen Störungen vor. Sie ist gekennzeichnet
Nykturie. Es handelt sich dabei um eine Störung in durch einen Verlust der Miktionskontrolle aufgrund
der Koordination der Blasenfunktion. Im Gegensatz einer fehlenden Hemmung des Detrusors (s. o.).
zur Stressinkontinenz ist der Verschlussmechanis- Bei der Reflexblase oder Reflexinkontinenz liegt
mus intakt. Bei der Dranginkontinenz werden die die Störung oberhalb des sakralen Miktionszentrums
motorische und sensorische Dranginkontinenz un- (im Sakralsegment S 2 – 4). Eine willkürliche Kontrol-
terschieden. le der Blase ist somit nicht mehr möglich. Die Funkti-
Bei der motorischen Dranginkontinenz bewirken on des Blasenmuskels und die Schließmuskelfunkti-
bereits wenige Impulse, die in das ZNS gelangen, die on können nicht mehr koordiniert werden, sodass es
Auslösung des Miktionsreflexes. Hierbei kommt es oftmals zu einer gleichzeitigen Kontraktion des De-
17 zu Kontraktionen des M. detrusor vesicae, d. h. der trusors und des Schließmuskels kommt, mit der Fol-
Muskulatur, die für die Entleerung des Harns zustän- ge einer geringen Harnentleerung bei hohem Blasen-
dig ist. Die ungenügende Hemmung durch das zen- druck.
trale Nervensystem kann u. a. die Folge eines Schlag- Eine Läsion der afferenten und/oder efferenten
anfalls oder anderer neurologischer Erkrankungen Bahnen zwischen der Blase und dem sakralen Mikti-
sein sowie auf einer sog. ungehemmten neuropathi- onszentrum oder eine Läsion des sakralen Miktions-
schen Blase beruhen. Hierbei ist die Kontrollfunktion zentrums führt zur autonomen Blase. Bei schlaffer
des Gehirns über die Miktion verloren gegangen, z. B. Blasenmuskulatur und spastischem Sphinkter
aufgrund einer Demenz, zerebrovaskulärer Erkran- kommt es zu einer Überlaufblase (s. u.) mit großen
kungen oder Hirntumoren. Daneben können psycho- Restharnmengen.

314 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
17.2 Abweichungen, Veränderungen des Urins und deren mögliche Ursachen

Tab. 17.5 Typen neurogener Miktionsstörungen (aus: Bassetti C., M. Mumenthaler. Neurologische Differenzialdiagnostik.
6. Aufl. Thieme, Stuttgart)

Name anatomischer Blasentonus Harndrang Miktions- Miktions- Blasen- Restharn Kompli- Ursache:
Läsionsort bei beginn beendi- kapazität kationen Beispiele
gung

kortikal zweite Stirn- normal mäßige unkontrol- nicht normal keiner unkont- hirnatrophi-
ungehemmte hirnwindung Füllung liert will- rollierte sche Prozes-
Blase kürlich Miktion se, Tumor,
Trauma, Apo-
plexie, zereb-
rale Arterio-
sklerose
spinale Rückenmark spastisch bei gerin- unkontrol- nicht klein wenig (Infekt) Rückenmark-
Reflexblase oberhalb S1 ger Füllung liert, durch will- oder unkon- trauma,
(„neuro- (evtl. feh- Manipula- kürlich keiner trollierte -tumor, mul-
gene“, lend bei tionen Miktion tiple Sklerose
„automati- vollständi- (Klopfen,
sche“ Blase) gem Quer- Kneifen)
schnittsyn-
drom)
denervierte, sakrales Bla- schlaff keiner nicht will- ständiges sehr riesige Infekte Konusläsion,
autonome senzentrum kürlich Abtrop- groß Mengen Kaudaläsion,
Blase (S2 – S4) bzw. fen von Läsionen im
dessen affe- Urin: kleinen
rente und/ „Über- Becken
oder efferen- laufbla-
te Verbindun- se“
gen zur Blase
Detrusor- zentrale Affe- wechselnd keiner Intermittie- wech- wech- klein Inkonti- traumatische
Sphinkter nenzen zur rend selnd selnd nenz RM-Läsion,
Dyssynergie Blase Tumor, MS

Die Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie stellt eine zur sog. Restharnbildung und einem Reflux des
Harnblasendysfunktion dar, die mit erhöhten Refle- Harns aus der Blase in die Harnleiter kommen, was
xen der Muskulatur der Harnblasenwand und Blasen- und Harnwegsinfektionen begünstigt.
krampfartig erhöhter Muskelspannung des äußeren
Harnblasenschließmuskels und der Beckenboden- Extraurethrale Inkontinenz
muskulatur einhergeht. Definition: Bei der extraurethralen Inkonti-
nenz erfolgt der unwillkürliche Urinverlust aus
Überlaufinkontinenz anderen Öffnungen als der Urethra, z. B. durch
Definition: Bei der Überlaufinkontinenz eine Blasen- oder Urogenitalfistel.
kommt es zu einer Entleerung von geringen
Mengen Urin bei einer prall gefüllten Harnblase Bei den Blasenfisteln handelt es sich um eine Verbin-
und überdehnter Blasenwand. dung der Harnblase zur Körperoberfläche oder zu
anderen Hohlorganen, bei den Urogenitalfisteln um 17
Ursachen können eine mechanische Obstruktion der eine Verbindung zwischen dem Harn- und Genital-
Harnröhre durch z. B. Prostatavergrößerung und trakt der Frau. Ursachen sind zumeist traumatische,
Harnröhrenstrikturen sein, sowie eine funktionelle entzündliche oder tumoröse Prozesse sowie thera-
Austreibungsschwäche durch Überdehnung des Bla- peutische Maßnahmen (z. B. suprapubische Harnab-
senmuskels oder Nervenschädigungen (s. o.). Zu der leitung).
Entleerung der Blase, die tröpfchenweise erfolgt,

!
kommt es, wenn der Blasendruck den Harnröhren- Merke: Bei den Formen der Inkontinenz
verschlussdruck ohne Detrusorkontraktionen über- werden die Stressinkontinenz, Dranginkonti-
steigt. Als Folge des Harnstaus in der Blase kann es nenz, neurogene Inkontinenz, Überlaufin-

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 315


KaelDesu
17 Urin

kontinenz, die extraurethrale, funktionelle und iatro- zündungen, verursachen einen gedrehten oder ge-
gene Inkontinenz unterschieden. spaltenen Harnstrahl.
Ist der Harnstrahl unterbrochen („stakkatoartige
Zusammenfassung: Miktion“) so wird dies auch als Harnstottern be-
Allgemeine Beobachtungskriterien zeichnet. Er tritt u. a. bei Verlegung der Blase und/
Kriterien zur Beobachtung des Urins sind die Bla- oder der Harnröhre durch Steine und Tumore auf so-
senentleerung, Menge, Farbe, Zusammensetzung, wie bei der Dysuria psychica (s. o.).
der Geruch und das spezifische Gewicht sowie die Mit Harnträufeln wird ein tropfenweiser Abgang
chemische Reaktion. von Urin bezeichnet, der sowohl als andauerndes
Zu den Störungen bei der Harnentleerung zählen Träufeln sowie als Nachträufeln auftreten kann. Ein
Pollakisurie, Nykturie, Algurie, Dysurie, Strangurie, dauerndes Harnträufeln ist charakteristisch für eine
Harnretention und Inkontinenz. Überlaufblase, ein Nachträufeln kann Hinweis auf ei-
ne Harnröhrenerweiterung beispielsweise bei Diver-
Harnstrahlveränderungen tikeln sein.

!
Merke: Zu den Harnstrahlveränderungen
Restharnbildung
zählen der abgeschwächte und der gedrehte
Unter Restharn wird die Urinmenge verstanden, die
Harnstrahl sowie das Harnstottern und das
nach spontaner Miktion noch in der Blase verbleibt.
Harnträufeln (Abb. 17.4).
Normalerweise beträgt er zwischen 0 und 20 ml. Der
Ein abgeschwächter oder schlaffer Harnstrahl geht Restharn stellt keine Blasenentleerungsstörung im
einher mit einem verzögerten Miktionsbeginn und eigentlichen Sinne dar, sondern ist zumeist die Folge
einer verlängerten Miktionszeit. Er ist bei Verlegun- einer Miktionsstörung (z. B. bei neurogener Blase,
gen unterhalb der Blase, z. B. durch ein Prostataade- Überlaufblase, Harnverhalt). Er kann bis zu mehre-
nom zu beobachten. ren 100 ml betragen. Die Bestimmung erfolgt entwe-
Strikturen, d. h. Verengungen der Harnröhre zum der über Ultraschall oder mittels Katheterismus.
Beispiel durch Narbenbildung nach Harnröhrenent-

!
Merke: Zu den Miktionsstörungen werden
die Pollakis-, Nykt-, Alg-, Dys- und Strang-
urie sowie die Harnretention, die verschiede-
normaler nen Formen der Harninkontinenz, Harnstrahlverände-
Harnstrahl
rungen und die Restharnbildung gerechnet.

17.2.2 Veränderungen der Urinmenge


abgeschwächter Veränderungen der Urinmenge, die sich in einer ver-
Harnstrahl mehrten oder verminderten Urinausscheidung zei-
gen, können sowohl physiologisch als auch patholo-
gisch bedingt sein.
gedrehter,
gespaltener
Vermehrte Urinausscheidung
Harnstrahl
Definition: Eine vermehrte Urinausscheidung
mit einer Menge von über 2000 ml in 24 Std.
17 wird als Polyurie bezeichnet.
unterbrochener
Harnstrahl
("Harnstottern") Die ausgeschiedene Urinmenge kann hierbei bis zu
10 l und mehr innerhalb von 24 Std. betragen. Sie
kann physiologisch bei einer stark erhöhten Flüssig-
keitszufuhr beobachtet werden. Ebenfalls physiolo-
Harnträufeln gisch ist eine Polyurie nach Alkoholgenuss, da durch
den Alkohol die Adiuretinausschüttung und damit
die Wasserrückresorption in den Nieren vermindert
Abb. 17.4 Harnstrahlveränderungen

316 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
17.2 Abweichungen, Veränderungen des Urins und deren mögliche Ursachen

wird, zumeist mit der Folge eines vermehrten Durs- die mit einer vermehrten Flüssigkeitseinlagerung in
tes („Brand“). das Körpergewebe einhergehen, eine Oligurie auftre-
Pathologisch kommt eine Polyurie vor allem bei ten. Häufig liegt die Ursache nicht in der Niere, son-
einem Diabetes mellitus vor. Liegt der Blutzucker dern außerhalb (extrarenal). Hierzu gehört die Dehy-
über 180mg%, wird Zucker über den Urin ausge- dratation (s. a. S. 292) durch z. B. Diarrhö, Erbrechen,
schieden, was über Osmose zu einem Anstieg der aber auch Blutverluste und Herzerkrankungen.
Harnmenge führt. Bei dem sog. Diabetes insipidus ist Harnabflussstörungen, wie sie beispielsweise durch
die Wasserrückresorption in der Niere gestört, was Blasensteine, Harnröhrenstrikturen oder Prostata-
ebenfalls zu einer vermehrten Urinausscheidung vergrößerungen hervorgerufen werden können, stel-
führt. Auch bei einer Niereninsuffizienz, bei der die len ebenfalls extrarenale Ursachen dar, wobei hier
Fähigkeit der Niere zur Konzentration des Harns ge- die Störung hinter der Niere (postrenal), in den ablei-
stört ist, können vermehrte Ausscheidungsmengen tenden Harnwegen, liegt. Renale Ursachen einer
beobachtet werden. Durch eine Gabe von Diuretika Oligurie sind vor allem Infektionen oder toxisch-
kann eine Polyurie, z. B. zur Ausschwemmung von allergische Schäden der Niere (Tab. 17.6).
Ödemen, gewollt herbeigeführt werden.

Verminderte Urinausscheidung
Tab. 17.6 Pathologische Ursachen einer Oligurie
Definition: Bei der verminderten Urinausschei-
dung wird die Oligurie mit einer Ausscheidungs- Form mögliche Ursachen

menge von weniger als 500 ml Urin/24 Std. von 쐌 Flüssigkeitsverluste über Haut, Magen-
extrarenale Oligurie
der Anurie mit einer Ausscheidungsmenge von weniger Darm-Trakt
als 100 ml Urin/24 Std. unterschieden. 쐌 Blutverluste
쐌 Herzerkrankungen
쐌 Harnabflussbehinderungen
Physiologisch kommt es zu einer Oligurie bei einer
renale Oligurie 쐌 Infektionen der Niere
stark verminderten Flüssigkeitszufuhr oder starkem 쐌 toxisch-allergische Schäden der Niere
Schwitzen. Bei Frauen kann in der prämenstruellen 쐌 Niereninsuffizienz
Phase, aufgrund von hormonellen Veränderungen,

Abb. 17.5 Einteilung der Anurie nach


Ursachen: ihren möglichen Ursachen

prärenal Hypotonie,
Volumenmangel,
kardiale Insuffizienz,
Schock

renal Nephritis,
Vergiftungen,
Niereninsuffizienz,
Niereninfarkt 17

postrenal Tumor,
Prostataadenom,
Harnröhrenstriktur

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 317


KaelDesu
17 Urin

Die Oligurie geht oftmals einer Anurie voraus. Sie sensteinen, die kleine Schleimhautverletzungen ver-
wird eingeteilt in eine prärenale, renale und postre- ursachen, oder blutenden Tumoren ein rötliches bis
nale Anurie, entsprechend der Lage ihrer Ursache. fleischwasserfarbenes, trübes Aussehen.
Die verschiedenen Formen der Anurie mit ihren Eine rötliche Färbung ohne Trübung ist Kennzei-
möglichen Ursachen zeigt die Abb. 17.5. chen einer Hämoglobinurie. Sie entsteht durch die
Beimengung von gelöstem Blutfarbstoff aufgrund ei-

!
Merke: Formen der verminderten Urinaus- ner Hämolyse, beispielsweise bei hämolytischen
scheidung sind die Oligurie und die Anurie, Anämien, Transfusionszwischenfällen, Arznei- oder
bei denen jeweils extrarenale und renale Ur- Nahrungsmittelallergien.
sachen unterschieden werden. Als Bilirubinurie wird die vermehrte Ausschei-
dung von Bilirubin im Harn bezeichnet. Sie bewirkt
17.2.3 Veränderungen der Urinfarbe eine gelbbraune („bierbraun“) bis dunkelbraune Ver-
Der Urin kann eine Vielfalt von farblichen Verände- färbung des Urins. Beim Schütteln erhält der Urin ei-
rungen aufweisen, die sowohl physiologischer als nen gelblichen Schaum. Ursachen sind verschiedene
auch pathologischer Natur sein können. Einen gro- Erkrankungen der Leber und der Gallenwege, bei de-
ßen Einfluss auf die Farbe des Urins besitzen auch nen es zu einem Übertritt des aus dem Blut stam-
Nahrungsmittel und Medikamente. Beispiele hierfür menden Gallenfarbstoffs Bilirubin in den Urin
sind in Tab. 17.7 aufgeführt. Physiologisch ist eine kommt. Begleitend ist zumeist ein Ikterus zu beo-
hellgelbe Farbe des Urins bei großen Ausscheidungs- bachten (s. a. S. 75).
mengen (Polyurie). Je konzentrierter der Urin ist, Ein milchig-trübes Aussehen besitzt der Urin bei
umso dunkler ist seine Farbe (s. a. S. 319). Auch nach einer Phosphaturie, weshalb dies auch als „Milchpis-
längerem Stehenlassen wird das Gelb des Urins ser“ bezeichnet wird. Die Farbe erhält der Urin durch
dunkler und der Urin gleichzeitig trübe. den Ausfall von Kalzium- oder Magnesiumphospha-
Pathologische Veränderungen werden vor allem ten als Folge von Hungerzuständen, erschöpfender
durch verschiedene Beimengungen und Verände- Muskelarbeit oder alkalischer Kost. Aber auch bei Er-
rungen in der Zusammensetzung hervorgerufen. Ei- krankungen wie beispielsweise Plasmozytom, Ra-
ne rötliche und gelbbraune Farbe sowie ein milchig- chitis, Osteomalazie, Hyperparathyreoidismus oder
trübes Aussehen stellen wichtige Veränderungen des osteolytischen Metastasen, bei denen durch Abbau-
Urins dar. Nach ihrer Ursache werden die Hämaturie, prozesse am Knochen vermehrt Kalzium in das Blut
Hämoglobinurie, Bilirubinurie und Phosphaturie un- gelangt, kann eine Phosphaturie auftreten.
terschieden.
Bei der Hämaturie erhält der Urin durch eine Bei- Zusammenfassung:
mengung von Erythrozyten, z. B. aufgrund von Bla- Abweichungen, Veränderungen des Urins
Polyurie, vermehrte Urinausscheidung, besteht bei
über 2000 ml in 24 Std.
Tab. 17.7 Beispiele für Farbveränderungen des Urins, her- Oligurie, verminderte Urinausscheidung, mit weni-
vorgerufen durch Speisen und Medikamente
ger als 500 ml in 24 Std. wird von Anurie, weniger
Farbveränderung hervorgerufen durch z. B.: als 100 ml in 24 Std., unterschieden.
Lebensmittel und Medikamente können die Urin-
Nahrungsmittel:
farbe beeinflussen.
– zitronen- bis goldgelb Senna
– gelbbraun Rhabarber Veränderungen der Urinfarbe können durch Hä-
17 – rot Rote Beete maturie, Hämoglobinurie, Bilirubinurie und Phos-
– dunkelgrün bis schwarzbraun Bärentraubenblättertee phaturie hervorgerufen werden.
Medikamente:
– zitronengelb verschiedene Abführmittel
17.2.4 Veränderungen der
– orangegelb Vitamin-B-Präparate, Agarol
– grünlich-blau Methylenblau Urinzusammensetzung, Beimengungen
– blau Saroten Viele pathologische Zusammensetzungen des Urins
– grün Dytide H und pathologische Beimengungen können nur mit
– rot Pyramidon
– dunkelgrün bis schwarz Kohletabletten
Hilfe von labortechnischen Untersuchungen oder
– braungrün Teerpräparate Teststreifen festgestellt werden. Bei den Teststreifen

318 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
17.2 Abweichungen, Veränderungen des Urins und deren mögliche Ursachen

handelt es sich in der Regel um Schnellteste, die dem Übelriechend ist der Urin bei Zersetzungsprozessen,
Nachweis von beispielsweise Leukozyten, Nitrit, Ei- die durch Bakterien hervorgerufen werden, bei-
weiß, Glukose, Keton, Urobilinogen, Bilirubin und spielsweise im Rahmen von Harnwegsinfektionen.
Hämoglobin dienen. Die Teststreifen werden in fri- Bei malignen Prozessen in den Harnwegen kann ein
schen Urin eingetaucht, sodass alle Reaktionszonen fauligriechender Uringeruch wahrgenommen wer-
befeuchtet werden. Nach der angegebenen Warte- den. Er entsteht beim Zellzerfall der bösartigen Tu-
zeit wird der Teststreifen zum Vergleich an die Ab- moren.
leseskala gehalten, das Ergebnis ermittelt und doku-
mentiert (Abb. 17.3). 17.2.6 Veränderungen des spezifischen
Veränderungen der Zusammensetzung und Bei- Gewichts des Urins
mengungen können aber auch durch genaue Be- Veränderungen des spezifischen Gewichts und da-
trachtung des Urins festgestellt werden. Hierzu zäh- mit der Konzentration des Urins werden als Hyper-,
len v. a. die Makrohämaturie, Bakteriurie und Pyurie. Hypo- oder Isosthenurie bezeichnet.
Mit Makrohämaturie wird eine bereits mit blo- Liegt das spezifische Gewicht über 1,025, wird
ßen Auge erkennbare Blutbeimengung im Urin be- dies als Hypersthenurie bezeichnet. Sie ist bei einer
schrieben. Oligurie zu beobachten sowie bei der übermäßigen
Im Gegensatz hierzu ist eine Mikrohämaturie nur Ausscheidung von Bestandteilen (z. B. Glukose, Ei-
mithilfe von Teststreifen oder einer mikroskopischen weiß), Medikamenten und anderen Beimengungen
Untersuchung festzustellen. Die Hämaturie kann mit dem Urin.
durch entzündliche Erkrankungen der Niere und ab- Mit Hyposthenurie wird ein Urin mit einem spezi-
leitenden Harnwege, durch Tumore und Steine her- fischen Gewicht unter 1,006 beschrieben. Ursachen
vorgerufen werden. Bei Frauen ist immer auch an ei- hierfür stellen große Ausscheidungsmengen und ein
ne Verunreinigung des Urins durch vaginale Blutun- mangelndes Konzentrationsvermögen der Niere dar.
gen zu denken. Beträgt das spezifische Gewicht zwischen 1,010 und
Durch einen hohen Gehalt an Bakterien (Bakte- 1,012 und verändert sich dieses auch bei vermehrter
riurie) erhält der Urin ein trübes Aussehen, häufig zu oder verringerter Flüssigkeitszufuhr nicht, so wird
beobachten bei Harnwegsinfektionen. dies als Isosthenurie oder Harnstarre bezeichnet.
Ein schlierig-flockiges Aussehen erhält der Urin Die Isosthenurie tritt bei Niereninsuffizienz mit
durch Eiterbeimengungen (Pyurie). Ursachen hierfür mangelnder Konzentrationsfähigkeit der Niere auf.
sind v. a. entzündliche Erkrankungen der Harnwege
und eine Urogenitaltuberkulose. Zusammenfassung:
Weitere Veränderungen der Zusammensetzun- Beimengungen, Veränderungen des Ge-
gen und pathologische Beimengungen, die sich vor ruchs und des spezifischen Gewichts
allem in Farbveränderungen zeigen, sind unter 17.2.3 Blutbeimengungen, die mit bloßem Auge erkennbar
beschrieben. sind, werden als Makrohämaturie bezeichnet, Mi-
krohämaturie ist nur durch Teststreifen oder mikro-
17.2.5 Veränderungen des Uringeruchs skopische Untersuchung feststellbar.
Der normale, unauffällige Geruch des Urins kann sich Fauligriechender Uringeruch kann bei malignen
durch längeres Stehen in einen stechenden Ammoni- Prozessen auftreten.
akgeruch verwandeln, der durch Zersetzungsvor- Veränderungen des spezifischen Gewichts bzw. der
gänge entsteht. Weitere physiologische Geruchsver- Konzentration des Urins werden in Hyper-, Hypo-
änderungen können durch Speisen wie beispielswei- und Isosthenurie unterschieden. 17
se Spargel hervorgerufen werden. Aber auch Alkohol
kann nach einem übermäßigen Genuss einen ent- 17.2.7 Veränderungen der Urinreaktion
sprechenden typischen Geruch hervorrufen. Die Urinreaktion wird vor allem von der Nahrung be-
Pathologische Uringerüche werden als obstartig, einflusst. So kann bei einer rein pflanzlichen Ernäh-
übelriechend oder fauligriechend beschrieben. Der rung eine alkalische Reaktion mit einem pH-Wert bis
obstartige Geruch (nach sauren Äpfeln, Obstkeller- 7,2, bei einer eiweißreichen Ernährung ein saurer Urin
geruch) entsteht durch die Freisetzung von Keton- mit einem pH-Wert unter 4,5 festgestellt werden.
körpern bei langandauernden Hungerzuständen, an- Aber auch pathologische Einflüsse können die
haltendem Erbrechen oder bei Diabetes mellitus. chemische Reaktion des Urins verändern. So ist bei-

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 319


KaelDesu
17 Urin

spielsweise eine alkalische Reaktion des Urins bei Tab. 17.8 Durchschnittliche Anzahl der täglichen Miktio-
bakteriellen Infektionen der Niere und der ableiten- nen und Ausscheidungsmenge bei Kindern

den Harnwege, starkem Erbrechen und einer respira- Miktionen Ausscheidungsmenge


torischen oder metabolischen Alkalose zu beobach-
Neugeborene anfangs: 1 – 2 20 – 40 ml
ten. Bei Fieber, Diarrhö, verschiedenen Azidosen und
1. Lebenswoche: 6 – 8
Eiweißzerfall (z. B. bei Tumorzerfall nach zytostati-
scher oder Strahlentherapie) ist eine stark saure Re- Säuglinge 12 – 18 bis 500 ml
aktion des Urins messbar.
Kleinkinder 8 – 12 bis 1000 ml

Schulkinder 6–8 bis 1200 ml


17.3 Ergänzende
Beobachtungskriterien
Baby-Blase:
Bei der Beobachtung des Urins von gesunden und einfacher sakraler Reflexbogen
kranken Menschen müssen insbesondere auch im-
Blasenfüllungsimpuls
mer die Faktoren mit berücksichtigt werden, die die
das Gehirn hemmt
Urinausscheidung beeinflussen. Hierzu gehören vor
den sakralen
allem der Blutdruck, aber auch die Atmung, die Kör- Blasenmuskel Reflexbogen
kontrahiert sich nicht
pertemperatur, die Schweißabsonderung, die Aus-
scheidung über den Magen-Darm-Trakt und die Auf-
motorischer
nahme von Flüssigkeiten. Da sich verschiedene Er- Reflexbogen
Impuls un-
krankungen wie beispielsweise Leber- und Gallen- gehemmt geschlossen
wegserkrankungen auch in Farbveränderungen der Sphincter
Haut und des Stuhls zeigen, sind auch diese als zu- erschlafft Sakralmark
sätzliches Kriterium bei einer entsprechend verän-
derten Urinfarbe hinzuzuziehen. Abb. 17.6 Reflexbogen der Miktion bei Neugeborenen und
Säuglingen

17.4 Besonderheiten bei Kindern


Aufgrund der Unreife der Nieren kommt es bei
Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm Frühgeborenen zu einer geringeren Harnproduktion,
weshalb der Beobachtung der Ein- und Ausfuhr eine
Die Urinausscheidung des Kindes beginnt bereits
besondere Bedeutung zukommt. Der Urin von Neu-
während der intrauterinen Entwicklung. Der Fetus
geborenen und Säuglingen ist noch schwach konzen-
trinkt am Ende der Schwangerschaft schon große
triert (spezifisches Gewicht unter 1015), da die Niere
Mengen Fruchtwasser, die über die Nieren wieder
ihre volle Funktions- und damit auch Konzentrati-
ausgeschieden werden. Bei Neugeborenen und Säug-
onsfähigkeit noch nicht sofort erreicht.
lingen besteht zunächst nur ein einfacher sakraler
In den ersten Lebenstagen kann sich in der Win-
Reflexbogen ohne die Hemmung durch das zerebrale
del ein orange-rosa-roter Fleck zeigen. Hierbei han-
Miktionszentrum (Abb. 17.6).
delt es sich um sog. Ziegelmehlsediment. Es entsteht
Erst ca. ab dem 2,5. – 3. Lebensjahr ist es dem Kind
durch den oxidativen Abbau von Hämoglobin in der
möglich, einen Harndrang wahrzunehmen und mit-
17 hilfe der Sauberkeitserziehung die Miktion willkür-
Niere und stellt ein harmloses Phänomen dar.
Die häufigsten Miktionsstörungen bei Kindern
lich zu steuern. Die Anzahl der täglichen Miktionen
stellen die Pollakisurie und Dysurie dar. Ursache ist
ist u. a. vom Alter, dem Entwicklungsstand des Kin-
zumeist ein Harnwegsinfekt. Wiederholte Harn-
des und der Blasenkapazität abhängig. Entsprechend
wegsinfektionen können einen Hinweis auf eine
der Trinkmenge variiert bei Kindern die Ausschei-
Miss- oder Fehlbildung der Niere und der ableiten-
dungsmenge je nach Alter. Die durchschnittliche An-
den Harnwege sein, weshalb eine genaue Abklärung
zahl der täglichen Miktionen und die durchschnittli-
erfolgen muss.
che Ausscheidungsmenge innerhalb von 24 Std. bei
Eine neurogene Blasenentleerungsstörung bei
Kindern zeigt die Tab. 17.8.
Kindern ist die Folge eines angeborenen oder erwor-

320 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
17.5 Besonderheiten bei älteren Menschen

benen Defekts der Innervation der Blasen- und Schleimhautfalten in der Urethra. Während der Mik-
Sphinktermuskulatur. Dies verhindert die koordi- tion werden diese segelartig aufgeblasen, wodurch
nierte Blasenentleerung. Häufigste Ursache für eine es zu einer Störung des Urinabflusses kommt.
neurogene Blasenentleerungsstörung bei Kindern ist Da kleine Kinder Beschwerden bei der Miktion
die Meningomyelozele (Hemmungsmissbildung der nicht verbal äußern können, muss beim Auftreten
Wirbelsäule mit Austritt von liquorgefüllten Menin- von Allgemeinsymptomen wie erhöhter Temperatur
gen und Teilen des Rückenmarks). und Erbrechen auch immer an eine Erkrankung der
Niere und der ableitenden Harnwege gedacht wer-
Definition: Ein Einnässen, welches nach den. Die Ausscheidungen, insbesondere der Urin,
dem abgeschlossenen 4. Lebensjahr mindestens müssen somit auf Veränderungen hin beobachtet
1-mal pro Woche erfolgt, wird als Enuresis be- werden.
zeichnet.

Folgende Formen werden nach dem Zeitpunkt des 17.5 Besonderheiten bei älteren
Einnässens unterschieden: Menschen
Enuresis nocturna: Einnässen nur in der Nacht,
Enuresis diurna: Einnässen nur am Tag, zumeist Viele altersphysiologische Prozesse beeinflussen die
geringe Mengen, Urinausscheidung älterer Menschen. So wird im Alter
Enuresis diurna et nocturna: Einnässen sowohl beispielsweise das Fassungsvermögen der Blase ge-
tagsüber als auch nachts. ringer, was zu einer erhöhten Miktionsfrequenz
führt. Insgesamt geht auch die Sensibilität der Blase
Je nachdem, ob das Kind bereits eine willkürliche und Harnröhre zurück, weshalb häufig der Harn-
Harnentleerung vornehmen konnte oder nicht, wer- drang spät wahrgenommen wird und ein unkontrol-
den die primäre und sekundäre Enuresis unterschie- lierter Urinabgang die Folge ist. Auch kommt es bei
den. älteren Menschen zur Insuffizienz der Beckenboden-
Primäre Enuresis: Das Einnässen besteht seit der muskulatur, was das Zurückhalten des Urins er-
Säuglingszeit, ohne dass das Kind zwischendurch schwert.
trocken war. Allgemein ist zudem die Kontraktionsfähigkeit
Sekundäre Enuresis: Das Einnässen tritt erneut der Blasenmuskulatur rückläufig, was nicht selten
auf, nach einer Zeit der Kontrolle über die Harn- zur Restharnbildung führt. Hinzu kommen Stoff-
entleerung, des Trockenseins. wechsel- (z. B. Diabetes mellitus-Polyurie) und Herz-
Kreislauf-Erkrankungen (z. B. Rechtsherzinsuffi-
Die Ursachen der Enuresis sind vielfältig und oftmals zienz-Nykturie), die direkte Auswirkungen auf die
kommt es zu einem Zusammenwirken unterschied- Urinausscheidung besitzen. Degenerative Erkran-
licher Faktoren. Der primären Enuresis liegt fast im- kungen des Skelettsystems gehen mit einer Beein-
mer eine verzögerte Entwicklung der Blasenkontrol- trächtigung der Mobilität einher und führen oft zum
le aufgrund einer isolierten Reifungsverzögerung des nicht rechtzeitigen Erreichen der Toilette.
ZNS, einer allgemeinen Entwicklungsverzögerung,
Anomalien der Harnwege oder aber eine emotionale Definition: Unter einer funktionellen Inkonti-
Störung (z. B. Mangel an Zuwendung) zugrunde. nenz wird eine Harninkontinenz verstanden, die
Die sekundäre Enuresis tritt häufig bei aktuellen nicht auf organische Ursachen beruht.
Konfliktsituationen, bei Enttäuschungen, nach der 17
Trennung von den Eltern, anderen psychisch belas-
tenden Situationen oder als Zeichen einer Regression 17.5.1 Funktionelle Inkontinenz
auf. Bei Harnwegsinfektionen, Diabetes mellitus und Bei der funktionellen Inkontinenz sind neben alters-
Diabetes insipidus sowie bei hirnorganischen Anfäl- physiologischen Veränderungen der Harnblasen-
len kann es zum sporadischen oder episodischen funktion keine pathologischen Veränderungen fest-
Einnässen, vor allem in der Nacht, kommen. stellbar. Der Tonus der Harnblase nimmt im Alter zu,
Eine stotternde Miktion mit einem dünnen Harn- wobei gleichzeitig das Fassungsvermögen der Harn-
strahl kann bei Kindern ein Hinweis auf Urethral- blase abnimmt. Dazu kommt, dass ältere Menschen
klappen darstellen, persistierende embryonale oftmals den Harndrang erst relativ spät wahrneh-

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 321


KaelDesu
17 Urin

men und ihn schwer unterdrücken können. Eine ver- ren. Beispiele für Medikamente, die einen Einfluss
änderte Miktionsfrequenz mit leichter Pollakisurie auf den Miktionsablauf besitzen, sind in Tab. 17.10
und ein- bis zweimaliger nächtlicher Urinentleerung aufgeführt.
ist die Folge. Zusammen mit einer Bewegungsein- Viele ältere Menschen schränken ihre Flüssig-
schränkung, verlangsamten Bewegungsabläufen, ei- keitsmenge bewusst oder unbewusst (verringertes
ner Immobilisierung, einer veränderten Umgebung Durstgefühl) ein, um der häufig vorhandenen Polla-
oder beispielsweise einem weiten Weg zur Toilette kisurie und Nykturie entgegenzuwirken. Dies zeigt
kann dies zu einer funktionellen Inkontinenz führen. sich in einer entsprechend geringen Ausscheidungs-
Weitere Ursachen der funktionellen Inkontinenz und menge mit einem hohen spezifischen Gewicht. Der
deren Symptomatik sind in der Tab. 17.9 aufgeführt. gleichzeitig damit verminderte „Spüleffekt“ der ab-
Aus der häufigen Multimorbidität älterer Men- leitenden Harnwege in Verbindung mit der häufig
schen und der damit verbundenen Medikamenten- herabgesetzten Immunabwehrlage des älteren Men-
einnahme kann ebenfalls eine Inkontinenz resultie- schen kann dann zu weiteren Erkrankungen wie bei-
spielsweise Harnwegsinfektionen führen.
Tab. 17.9 Ursachen einer funktionellen Inkontinenz und
ihre Symptomatik (nach Füsgen) Zusammenfassung:
Ursachen Inkontinenzsymptomatik Veränderungen sowie Besonderheiten bei
Kindern und älteren Menschen
– psychogene Reizblase (z. B. – gehäufter, meist gebieteri- Kinder können erst ab dem 3. Lebensjahr die Mik-
anfallsweise bei emotionaler scher Harndrang,
tion willkürlich steuern.
Erregung), – kaum Erleichterung nach der
– neurohormonelle Faktoren Miktion, Die Urinausscheidung wird im Alter beeinflusst
(vegetative Dysregulation, – Beschwerden überwiegend durch ein geringeres Fassungsvermögen der Blase,
hormonelle Störung), am Tage, eine herabgesetzte Sensibilität der Blase und Harn-
– vorwiegend hormonelle – Schmerzausstrahlung zur
Faktoren (sinkende Östro- Harnröhre möglich,
röhre und eine Insuffizienz der Beckenbodenmus-
genproduktion, Urethritis, – Harndrang im Abstand von kulatur.
atrophicans), weniger als 2 Stunden. Bei Kindern sind die häufigsten, durch Harnwegsin-
– psychosoziale Faktoren
fekt hervorgerufenen Veränderungen die Pollakis-
gemeinsam mit altersphysio-
logischen Veränderungen. urie und die Dysurie.
Beim Einnässen wird zwischen primärer und se-
kundärer Enuresis sowie Enuresis nocturna oder
diurna unterschieden.
Tab. 17.10 Medikamenteneinflüsse auf den Miktionsablauf
(aus Füsgen) Die häufig vorkommenden Stoffwechsel- und Herz-
Kreislauf-Erkrankungen besitzen einen direkten
Medikamententypus Einflüsse auf den Miktionsablauf
Einfluss auf die Urinausscheidung.
Diuretika Polyurie, Pollakisurie Die funktionelle Inkontinenz ist die häufigste Stö-
Anticholinergika Urinretention, Überlaufinkontinenz rung der Urinausscheidung im Alter.
Antidepressiva anticholinerge Nebenwirkungen mit
Blasenkapazitätserhöhung, ggf. Über-
laufproblematik 17.6 Fallstudien und mögliche
Antipsychotika anticholinerge Nebenwirkungen mit Pflegediagnosen
Blasenkapazitätserhöhung ggf. Über-
17 laufproblematik, Sedation, Rigidität,
Viele Störungen der Urinausscheidung beeinträchti-
Immobilität
gen das Wohlbefinden der Betroffenen erheblich.
Sedativa/Hypnotika Sedation, Immoblität, Muskelrelaxation
Hier sind an erster Stelle die verschiedenen Mikti-
α-Antagonisten Urethralrelaxation
onsstörungen zu nennen. Insbesondere die Harnin-
α-Agonisten Urinretention
kontinenz kann nicht nur ein körperliches Unwohl-
β-Agonisten Urinretention
sein hervorrufen, sondern auch zu psychischen Stö-
Kalziumantagonisten Urinretention
rungen und zur sozialen Isolation führen. Aus Angst
Alkohol Polyurie, Pollakisurie, Sedierung,
und Scham vor unwillkürlichen Urinabgängen wird
Immobilisierung
die Flüssigkeitszufuhr reduziert, soziale Kontakte
und Unternehmungen werden eingeschränkt.

322 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
17.6 Fallstudien und mögliche Pflegediagnosen

Ein ebenso großes Problem stellt für viele Men- rechtzeitig dort anzukommen, und fast jedes Mal geht
schen das Wasserlassen in Gegenwart anderer dar, der Urin unwillkürlich vorzeitig ab.
wie es häufig in Krankenhäusern, Alten- und Pflege- Um Frau Gunter in dieser Situation zu helfen, wurde der
heimen erwartet wird. Insbesondere der offene und in Tab. 17.11 aufgeführte Pflegeplan zusammen mit ihr
feinfühlige Umgang bei der Pflege von Menschen mit erstellt; die Pflegediagnose könnte so aussehen:
Miktionsstörungen und die Rücksichtnahme auf die
individuellen Entleerungsgewohnheiten stellen ei- Funktionelle Urininkontinenz
nen wichtigen Faktor in der Betreuung von pflegebe- beeinflusst durch (b/d) neuromuskuläre Einschrän-
dürftigen Menschen dar. Daneben erfordern die ver- kungen nach Einsatz einer Hüftgelenksprothese
schiedenen Formen der Inkontinenz ein hohes Maß angezeigt durch (a/d) Urinabgang vor Erreichen der
an Aufmerksamkeit, individueller Beratung und Aus- Toilette.
wahl der geeigneten pflegerischen Interventionen.

Beispiel: Frau Gunter, 70 Jahre, bekam vor Funktionelle Urinkontinenz (P)*


einer Woche eine Hüftgelenksprothese links (Gordon 2013, S. 231, NANDA-I 2016)
eingesetzt. Noch am Abend des Operationsta- Functional urinary incontinence (00020) (1986, 1998)
ges wurde der intraoperativ eingelegte Blasenverweil- Taxonomie II: Domäne 3: Ausscheidung und Austausch,
katheter entfernt. Inzwischen wurde Frau Gunter auch Klasse 1: Harntraktfunktion
mit Unterarmgehstützen mobilisiert, sodass sie kurze Diagnosetyp (Dokumentationsform): aktuelle Pflege-
Strecken im Zimmer bereits alleine gehen kann. diagnose (PES)
Seit längerer Zeit leidet Frau Gunter bereits an einer Pol- Funktionelles Gesundheitsverhaltensmuster:
lakisurie und Nykturie, doch hat sie bis zu ihrem Kran- Ausscheidung
kenhausaufenthalt immer noch rechtzeitig die Toilette
Definition
erreichen können. In den ersten postoperativen Tagen
Unfähigkeit einer normalerweise kontinenten Person,
hat Frau Gunter bei Harndrang immer um das Steckbe-
rechtzeitig zur Toilette zu gelangen, um unbeabsichtig-
cken gebeten, doch einige Male war es trotzdem zu ei-
ten Urinabgang zu vermeiden
nem unwillkürlichen Urinabgang in das Bett gekom-
men. Jetzt, nachdem Frau Gunter mobilisiert wurde,
Einflussfaktoren (E)
veränderte Umgebungsfaktoren
versucht sie, die Toilette zu benutzen. Aufgrund der ein-
beeinträchtigte Kognition
geschränkten Mobilität gelingt es ihr jedoch nicht,

Tab. 17.11 Auszug aus dem Pflegeplan von Frau Gunter

Pflegeproblem Ressource Pflegeziele Pflegemaßnahmen

Frau Gunter leidet an einer hat bis zum Krankenhaus- FZ: 쐌 Anleitung von Fr. Gunter zum Führen
funktionellen Inkontinenz aufenthalt immer noch Fr. Gunter ist kontinent eines Miktionstagebuchs
aufgrund einer Mobilitäts- rechtzeitg die Toilette NZ: 쐌 Zusammen mit Fr. Gunter einen Toilet-
einschränkung bei Pollakis- erreicht Fr. Gunter tentrainingsplan aufstellen, dabei die In-
urie und Nykturie 쐌 führt ein Miktionstage- tervalle der Blasenentleerung tagsüber
buch von 1 auf ca. 3 Std. langsam ausdehnen
쐌 hält den Toilettentrai- (Plan im Zimmer)
ningsplan ein 쐌 Anleitung zur Beckenbodengymnastik 17
쐌 führt Beckenbodengym- (Krankengymnastin)
nastik selbstständig 쐌 Nach der letzten Blasenentleerung
durch (22.00 h) einen Nachtstuhl neben das
쐌 akzeptiert es, vorüberge- Bett stellen
hend einen Nachtstuhl zu 쐌 Informationsgespräch über günstige Klei-
benutzen dung (z. B. kurze bis halblange Nacht-
쐌 trägt leicht zu handha- hemden, keine engen Slips und Mieder,
bende Kleidung weite Jogginghosen oder Röcke ohne
쐌 kennt Inkontinenzhilfs- Reißverschluss und Knöpfe) und Hygie-
mittel und verwendet sie neartikel (Einmalslips, Vor-, Einlagen)

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 323


KaelDesu
17 Urin

beeinträchtigtes Sehvermögen Beeinträchtigte Urinausscheidung (P)


neuromuskuläre Einschränkungen (Gordon 2013, S. 229, NANDA-I 2016)
psychologische Faktoren Impaired urinary elimination (00016) (1973, 2006,
schwache Beckenbodenmuskulatur LOE 2.1)
Kennzeichen oder Symptome (S) Taxonomie II: Domäne 3: Ausscheidung und Aus-
tausch,
ist fähig, die Blase vollständig zu entleeren
Klasse 1: Harntraktfunktion
Zeitaufwand für das Erreichen der Toilette übersteigt
den Zeitraum zwischen dem Bemerken des Harn- Diagnosetyp (Dokumentationsform): aktuelle Pflege-
drangs und dem unkontrollierten Entleeren diagnose (PES)
Urinabgang vor Erreichen der Toilette Funktionelles Gesundheitsverhaltensmuster:
ist möglicherweise nur am frühen Morgen inkonti- Ausscheidung
nent
Definition
nimmt Harndrang wahr
Störung der Urinausscheidung
Pflegeergebnis (Outcome) Kennzeichen oder Symptome (S)
Urinkontinenz (Urinary Continence) Harnwegsinfektion
Kontrolle der Ausscheidung von Urin aus der Blase anatomische Obstruktion
mehrere Ursachen
sensomotorische Beeinträchtigung
Beispiel: Bastian, 7 Jahre alt, leidet zur Zeit
an einer fiebrigen Harnwegsinfektion. Er Kennzeichen oder Symptome (S)
klagt über Schmerzen und Brennen beim Inkontinenz
Wasserlassen, und immer wieder geht auch etwas Urin Drang
Nykturie
in seinen Slip, worüber Bastian sehr unglücklich ist.
Verzögern
Seine Mutter versucht ihn zu trösten und zeigt viel Ver-
Pollakisurie
ständnis. Der übelriechende Urin sieht trübe aus. Bas-
Dysurie
tian besitzt keinen Appetit, und auch trinken möchte er
Harnverhalt
zur Zeit nicht viel, damit er nicht so häufig zur Toilette
gehen muss. Pflegeergebnis (Outcome)
Zusammen mit der Mutter wurde ein Pflegeplan er- Urinausscheidung (Urinary Elimination)
stellt, einen Auszug, der sich auf die Urinausscheidung Vorhersagbares Wasserlassen
bezieht, zeigt Tab. 17.12. Eine Pflegediagnose für diesen
Fall zeigt die folgende Übersicht:

Tab. 17.12 Auszug aus dem Pflegeplan von Bastian

Pflegeproblem Ressource Pflegeziele Pflegemaßnahmen

Bastian leidet unter einer Bastians Mutter zeigt Ver- Bastian 쐌 Bastian und seiner Mutter die Ursachen
Dysurie, Pollakisurie mit ständnis für das Einnässen 쐌 kennt die Ursache der der Miktionsstörung (Dysurie, Pollakis-
sporadischer Enuresis bei und tröstet ihn Dysurie und Pollakisurie urie, Enuresis) und die Notwendigkeit
Harnwegsinfektion 쐌 weiß, dass er trotzdem einer vermehrten Flüssigkeitsaufnahme
17 viel trinken muss und und sofortigen Blasenentleerung erklä-
nimmt entsprechend ren
Flüssigkeit (2 l) zu sich 쐌 Wunschgetränke erfragen und entspre-
쐌 akzeptiert, dass er zur chend bereitstellen
Zeit immer mal wieder 쐌 Bastian darauf hinweisen, dass das Ein-
etwas einnässt nässen nur vorübergehend ist und er kei-
쐌 weiß, dass er bei Harn- ne Vorwürfe oder ähnliches bekommt,
drang die Blase sofort Verständnis für seine Situation zeigen.
entleeren muss 쐌 Beobachtung der Miktion (Häufigkeit,
Beschwerden) und des Urins (Menge,
Aussehen, Geruch)

324 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
Literatur

Die Pflegediagnose bezüglich der Miktionsstörung


kann lauten: Literatur:
Beeinträchtigte Urinausscheidung beeinflusst durch
(b/d) Harnwegsinfektion angezeigt durch (a/d) Dys- Bassetti c., M. Mummenthaler: Neurologische Differenzial-
diagnostik, 6. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012
urie und Pollakisurie.
Dahmer, J.: Anamnese und Befund: Die symptomorientierte
Patientenuntersuchung fächerübergreifend – interaktiv –
Fazit: Die von den Nieren über die Harnwege praxisbezogen. 10. Aufl. Thieme, Stuttgart 2006
abgesonderte Flüssigkeit, die bei der Miktion Fischer, K., H. Sobottka, D. Faas (Hrsg.): Klinikleitfaden Kinder-
ausgeschieden wird, wird als Urin bezeich- krankenpflege. 4. Aufl. Urban & Fischer, München, 2009
net. Die spezielle Beobachtung des Urins erfolgt an- Gerlach, U., H. Wagner, W. Wirth: Innere Medizin für Pflegebe-
rufe. 8. Aufl. Thieme, Stuttgart 2015
hand der Kriterien Miktion, Menge, Farbe, Geruch, Zu-
Goerke, K., Chr. Junginger (Hrsg.): Pflege konkret Gynäkologie
sammensetzung, spezifisches Gewicht und chemische
Geburtshilfe. 5. Aufl. Elsevier GmbH, München 2014
Reaktion. Gordon, M.: Handbuch Pflegediagnosen. 5. Aufl. Hans Huber,
Für das Erleben und Wohlbefinden des betroffenen Hogrefe AG, Bern, 2013
Menschen sind die Miktionsstörungen von besonderer Gortner, L., S. Meyer, F. C. Sitzmann: Duale Reihe Pädiatrie.
Bedeutung, da hierzu neben den verschiedenen Formen 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012
der Inkontinenz auch die mit Schmerzen einhergehen- Hautmann, R., J. E. Gschwend (Hrsg.): Urologie. 5. Aufl. Sprin-
ger, Berlin 2014
den Arten der Miktion gerechnet werden. Die Anzahl
Hoehl, M., P. Kullick (Hrsg.): Gesundheits- und Kinderkranken-
der Miktionen und die Miktionsmenge sind bei Kindern
pflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012
in engem Zusammenhang mit dem Alter zu sehen. Die Illing, S., M. Claßen (Hrsg.): Klinikleitfaden Pädiatrie. 9. Aufl.
Fähigkeit zur kontrollierten Urinausscheidung wird im Urban & Schwarzenberg, München 2014
Kindesalter erworben. Das Einnässen wird als Enuresis Koletzko, B. (Hrsg.): Kinder- und Jugendmedizin. 14. Aufl.
bezeichnet. Bei älteren Menschen sind die funktionelle Springer, Berlin 2013
und iatrogene Inkontinenz besonders häufig vertreten. Köther, I.: Altenpflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2016
Menche, N., I. Brandt (Hrsg.): Pflege konkret Innere Medizin.
Für alle Formen der Inkontinenz gilt, dass sie nicht
6. Aufl. Elsevier GmbH, München 2013
nur eine körperliche, sondern auch eine große psy- Mumenthaler, M., H. Mattle: Neurologie. 12. Aufl. Thieme,
chische Belastung darstellen, die aufgrund von Scham- Stuttgart 2008
gefühlen bis hin zur sozialen Isolation führen kann. NANDA International: Pflegediagnosen. Definitionen und
Klassifikation 2015 – 2017. Herdman, T. H., S. Kamitsuru
(Hrsg.): RECOM, Kassel 2016
Pschyrembel Klinisches Wörterbuch (online). 261. Aufl. de
Gruyter, Berlin 2015
Schewior-Popp, S., F. Sitzmann, l. Ullrich (Hrsg.): Thiemes Pfle-
ge. 13. Aufl. Thieme, Stuttgart 2017
Schwegler, J., R. Lucius: Der Mensch. Anatomie und Physiolo-
gie. 6. Aufl. Thieme, Stuttgart 2016
Wied, S., A. Warmbrunn (Hrsg.): Pschyrembel Pflege 3. Aufl. de
Gruyter, Berlin 2012

17

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 325


KaelDesu

18 Stuhl
Panajotis Apostilidis*, Petra Schmalstieg

Übersicht
Einleitung · 326
18.1 Allgemeine Beobachtungskriterien und
Beschreibung des Normalzustands · 326
18.1.1 Stuhlentleerung · 327
18.1.2 Stuhlmenge · 327
18.1.3 Stuhlfarbe · 327
18.1.4 Stuhlkonsistenz · 327
18.1.5 Stuhlgeruch · 327
18.1.6 Stuhlzusammensetzung · 327
18.1.7 Chemische Stuhlreaktion · 327
18.2 Abweichungen, Veränderungen des
Stuhls und deren mögliche Ursachen · 327
18.2.1 Störungen der Stuhlentleerung · 328
18.2.2 Veränderungen der Stuhlmenge · 332 flusst von der Art der Ernährung und dem Ausmaß
18.2.3 Veränderungen der Stuhlfarbe · 333 der körperlichen Betätigung.
18.2.4 Veränderungen der Stuhlkonsistenz · 333 Die Beobachtung des Stuhls kann häufig Hinweise
18.2.5 Veränderungen des Stuhlgeruchs · 333 auf mögliche physische, aber auch auf psychische
18.2.6 Veränderungen der Störungen geben.
Stuhlzusammensetzung · 334 Das folgende Kapitel beschreibt die Beobach-
18.2.7 Veränderungen der chemischen tungskriterien des Stuhls und geht auf mögliche Ur-
Stuhlreaktion · 334 sachen für Abweichungen und Veränderungen ein.
18.3 Ergänzende Beobachtungskriterien · 334
18.4 Besonderheiten bei Kindern · 335 Definition: Als Stuhl, Kot, Fäzes oder Exkre-
18.5 Besonderheiten bei älteren Menschen · 337 ment wird das Ausscheidungsprodukt des
18.6 Fallstudien und mögliche Darms bezeichnet.
Pflegediagnosen · 337
Fazit · 340 Der Stuhl sammelt sich in der Ampulle des Rektums
Literatur · 340 an und wird anschließend, nach einem nervalen
Reiz, willkürlich entleert. Er besteht zum einen aus
Schlüsselbegriffe: körpereigenen Substanzen wie beispielsweise abge-
stoßenen Epithelien und zum anderen aus Resten
왘 Diarrhö nicht resorbierter Nahrungsstoffe, Gärungs- und
왘 Obstipation Fäulnisprodukten.
왘 Subjektive Obstipation

18.1 Allgemeine
Einleitung Beobachtungskriterien und
18 Beschreibung des
Die regelmäßige, beschwerdefreie Defäkation hat für Normalzustands
das Wohlbefinden von Menschen große Bedeutung.
Dennoch wird die Auseinandersetzung mit diesem Die Kriterien, anhand derer der Stuhl beobachtet
Thema oft vermieden, bzw. als peinlich empfunden. wird, sind die Stuhlentleerung, die Menge, die Farbe,
Die Fähigkeit zur kontrollierten Defäkation wird wie der Geruch, die Konsistenz, die Zusammensetzung
die Miktion im Kindesalter erlernt. Die individuellen und die chemische Reaktion des Stuhls. Zumeist er-
Stuhlentleerungsgewohnheiten werden u. a. beein- folgt die Beobachtung über die Sinnesorgane, für ein-

326 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
18.2 Abweichungen, Veränderungen des Stuhls und deren mögliche Ursachen

zelne Beobachtungskriterien können Hilfsmittel in Stuhl eine Kotsäule, wobei der normale Stuhl dick-
Form von Teststreifen verwendet werden. breiig bis fest ist und eine homogen geformte Masse
bildet. Beeinflusst wird die Konsistenz von der Nah-
18.1.1 Stuhlentleerung rungszusammensetzung und der Dauer der Dünn-
Der Vorgang der Stuhlentleerung wird auch als Defä- und Dickdarmpassage, wobei der Stuhl umso wei-
kation bezeichnet. Die Defäkation ist willkürlich be- cher ist, je höher der Zellulose- und Kohlenhydratan-
einflussbar, erfolgt jedoch reflexmäßig. Hierzu wer- teil in der Nahrung und je kürzer die Verweildauer
den Dehnungsrezeptoren im Rektum durch zuneh- im Darm ist.
mende Füllung mit Darminhalt gereizt und Nerven-
impulse ausgelöst. Diese Nervenimpulse werden 18.1.5 Stuhlgeruch
über afferente Fasern zu übergeordneten Zentren im Der Geruch des Stuhls bei einem gesunden Menschen
Rückenmark und Gehirn geleitet und lösen dort eine wird als nicht sehr angenehm riechend beschrieben
Erregung parasympathischer Nervenfasern aus. und ist abhängig von der Art der Nahrungszusam-
In der Folge kommt es zu einer Erschlaffung des mensetzung und der Verweildauer im Darm. Er wird
inneren Schließmuskels und einer Kontraktion des hervorgerufen durch die Gärungs- und Fäulnispro-
äußeren Schließmuskels, was als Stuhldrang wahr- zesse im Darm und den hierbei entstehenden Pro-
genommen wird. Zur Stuhlentleerung wird dann der dukten wie z. B. Skatol und Indol sowie Darmgasen.
äußere Sphinkter willkürlich entspannt und der
Druck im Bauchraum durch Einsatz der Bauchpresse 18.1.6 Stuhlzusammensetzung
(Kontraktion der Bauchmuskulatur, Senkung des Der Stuhl besteht zu ca. 75% aus Wasser, das restliche
Zwerchfells) erhöht. Viertel ist Trockensubstanz. Diese Trockensubstanz
Die Häufigkeit der Defäkation ist sehr unter- besteht aus Absonderungen der Schleimhäute und
schiedlich und reicht von 1 – 2-mal täglich bis zu 2- abgeschilferten Darmepithelien, aus Bakterien, die
mal wöchentlich. Sie ist vor allem abhängig von den physiologische Dickdarmbewohner sind, und aus
individuellen Gewohnheiten und der Nahrungszu- unverdaulichen bzw. unverdauten Nahrungsresten
sammensetzung. Die normale Defäkation erfolgt be- wie beispielsweise Zellulose und Obstkernen. Dane-
schwerdefrei, d. h. schmerzlos und ohne besondere ben befinden sich im Stuhl Mineralien, Salze, Pro-
Anstrengung. dukte der Verdauungsorgane und Gallenfarbstoffe.

18.1.2 Stuhlmenge 18.1.7 Chemische Stuhlreaktion


Die durchschnittliche tägliche Stuhlmenge bei einer Die chemische Reaktion des Stuhles ist mit einem
gemischten Kost wird mit 60 – 250 g pro Tag angege- pH-Wert von 7 – 8 zumeist schwach alkalisch. Sie
ben und ist abhängig von der aufgenommenen Men- kann mit einem Indikatorstreifen leicht gemessen
ge unverdaulicher sog. Ballaststoffe wie beispiels- werden.
weise Zellulose. Je höher der Anteil an kohlenhydrat-

!
und zellulosereicher Nahrung ist, umso größer ist die Merke: Beobachtungskriterien des Stuhls
ausgeschiedene Menge. Dementsprechend verrin- sind: Defäkation, Menge, Farbe, Konsistenz,
gert sich die Ausscheidungsmenge des Stuhls bei ei- Geruch, Zusammensetzung und chemische
ner überwiegend eiweißreichen Ernährung. Reaktion.

18.1.3 Stuhlfarbe 18.2 Abweichungen,


Der normale Stuhl besitzt eine gelblich-bräunliche
Farbe, die durch den Gallenfarbstoff Sterkobilin (Ab-
Veränderungen des Stuhls
bauprodukt des Bilirubins) hervorgerufen wird. und deren mögliche 18
Durch Oxidation kann sich die bräunliche Farbe an Ursachen
der Luft vertiefen.
Abweichungen, Veränderungen des Stuhls können
18.1.4 Stuhlkonsistenz einerseits physiologisch bedingt sein und anderer-
Mit der Stuhlkonsistenz wird die Beschaffenheit des seits pathologische Ursachen besitzen. Veränderun-
Stuhls beschrieben. Im unteren Dickdarm bildet der gen der Stuhlentleerung, der Menge, der Farbe, des

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 327


KaelDesu
18 Stuhl

Geruchs, der Konsistenz, der Zusammensetzung und daher nicht vollständig resorbiert werden oder bei
der chemischen Reaktion können auch wichtige Hin- Dünndarmerkrankungen. Auch die Zufuhr von
weise auf vorliegende Erkrankungen liefern. Zuckeraustauschstoffen kann eine osmotische Reak-
tion hervorrugen.
18.2.1 Störungen der Stuhlentleerung Wird die Nahrungszufuhr gestoppt, wird gleich-
Die Stuhlentleerungsstörungen, auch Defäkations- zeitig die „Wasseranziehung“ gestoppt und der
störungen genannt, beziehen sich auf die Häufigkeit Durchfall hört auf.
der Stuhlentleerungen und deren Begleiterscheinun- Bei der sekretorischen Diarrhö wird Wasser von
gen. den Darmzellen aktiv abgegeben. Auslösende Stoffe
hierfür sind z. B. Bakterien, Viren, Toxine, Laxanzien
Diarrhö oder auch chronisch entzündliche Darmerkrankun-
Definition: Eine häufige, über die Norm gestei- gen. Eine Nahrungskarenz würde in diesen Fällen
gerte Stuhlentleerung mit mehr als 3 Stühlen/ nicht zu einem Stopp der Durchfälle führen, da die
Tag, die zudem eine wässrige bis breiige Konsis- Nahrung keinen auslösenden Faktor darstellt.
tenz besitzen und ein Gewicht über 200 g/Tag bzw. über Häufig finden sich Mischformen der Diarrhö.
10 ml/kg KG/Tag haben, wird als Durchfall oder Diarrhö Unterschieden werden außerdem akute und
bezeichnet. chronische Diarrhöen, wobei eine akute Diarrhö zeit-
lich auf einige Tage begrenzt ist, im Gegensatz zur
Die Anzahl der Stuhlentleerungen kann bei schwe- chronischen Form, die mehrere Wochen bis Monate
ren Formen der Diarrhö bis zu 30 und mehr Stühle anhalten kann. Akute Diarrhöen können beispiels-
pro Tag betragen. Zur Beurteilung des Schweregrades weise durch Infektionen, Schwermetalle, Genuss-
einer akuten Diarrhö eignet sich die WHO-Klassifi- mittel, Entzündungen und Strahleneinwirkungen
kation (Tab. 18.1). Begleitend kommt es häufig zu hervorgerufen werden sowie durch psychische Be-
Appetitlosigkeit, Übelkeit, Blähungen, Durst, Kol- lastungen (Tab. 18.2). Darüber hinaus sind sie häufig
lapsneigung, Exsikkosezeichen und evtl. heftigen die Folge einer Medikamentennebenwirkung. Nach-
Krämpfen der Darmmuskulatur. folgend einige Medikamente, die eine Diarrhö her-
Hervorgerufen werden die dünnflüssigen Stühle vorrufen können (nach Füsgen):
durch eine verminderte Absorption von Nährstoffen Antibiotika,
(osmotischer Durchfall), eine vermehrte Sekretion Antazida (mit Mg++),
von Darmsekreten (sekretorischer Durchfall) und/ Chinidin,
oder eine Motilitätsstörung, d. h. eine Störung der Gallensäuren,
Darmbewegung bzw. der sog. Darmperistaltik. Zytostatika,
Bei der osmotischen Diarrhö bewirken mit der Colchicin,
Nahrung aufgenommene Stoffe oder unzureichend kardiotone Glykoside (Meproscillarin),
resorbierte Nahrungsbestandteile, dass im Darm- Lithium,
lumen Wasser aus Zellen „gezogen“ wird. Dies kann NSAR (Indometacin, Diclofenac),
z. B. bei einer Pankreasinsuffizienz auftreten, bei der Goldsalze,
die Nahrungsbestandteile mangelhaft zersetzt und Guanethidin,
Laxanzien,
Tab. 18.1 WHO-Klassifikation akuter Diarrhöen (aus:
Digitalisüberdosierung.
Greten, H., T. Greten, F. Rinninger (Hrsg.): Innere Medizin.
13. Aufl. Thieme, 2010) Die Ursachen einer chronischen Diarrhö sind eben-
Grad Anzahl wässriger Symptomatik
falls sehr vielfältig. Zu den häufigsten Ursachen zäh-
18 Stühle/Tag len:
Reizdarmsyndrom (funktionelle Störungen)
0 normal keine Symptome
chronische Darminfektion
1 2–3 keine Symptome
chronisch-entzündliche Darmerkrankungen (z. B.
2 4–6 nächtliche Stühle, mäßige Krämpfe
Morbus Crohn, Colitis ulcerosa)
3 7–9 Inkontinenz, schwere Krämpfe
Malassimilationssyndrome (Maldigestion, Mal-
4 ⬎9 großvolumige blutige Stühle, paren-
terale Ernährung erforderlich
absorption)
Nahrungsmittelüberempfindlichkeiten

328 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
18.2 Abweichungen, Veränderungen des Stuhls und deren mögliche Ursachen

Tab. 18.2 Häufige Ursachen, Klinik und Stuhlbefund akuter und subakuter Diarrhöen (aus: Füsgen)

Ursache Befall Klinik Stuhlbefund

infektiöse Diarrhö
Samonellen Gastroenterokolitis Brech-/Durchfall, sub- bis hochfebril, Darm- wässrig, schleimig, ge-
krämpfe, Gruppenerkrankung legentlich blutig, stinkend
Shigellen Enterokolitis dauernder Stuhldrang, Tenesmen, subfebril bis anfangs dünnfäkulent,
leicht febril später schleimig-blutig
Escherichia coli Gastroenteritis Reisediarrhö, abdominelle Krämpfe profus-wässrige Durchfälle,
Erbrechen
Yersinien Ileitis Fieber, Durchfälle, „Appendizitis“ wässrige Durchfälle
Choleravibrionen Enteritis Epidemien, kein Fieber, starke Exsikkose farblose Reiswasserstühle
Rota-, ECHO-, Coxsackie-, Gastroenteritis afebril bis subfebril, häufig begleitende Atem- wässrige Stühle ohne
Grippe-, Adenoviren wegsinfekte Beimengungen

toxische Diarrhö
Staphylokokken, Gastroenteritis Lebensmittelvergiftung, oft mehrere Personen profus-wässrige Durchfälle
Streptokokken, Clostridium bei Gemeinschaftsküche, Brechdurchfall, Fieber,
perfringens aber auch afebril. Zyanose, Tachykardie, Exsikkose
medikamentöse Diarrhö s. S. 326

vasal bedingte Diarrhö


Embolien ischämische Arteriosklerose, Thrombosen, Ileus, Herz- blutig
(Entero-)Kolitis erkrankung, Schock, Azidose

allergisch bedingte Diarrhö


Nahrungsmittel Gastroenteritis Eier, Fisch, Erdbeeren, Zitrusfrüchte wässrig
Infekte, Medikamente Gastroenteritis Hautblutungen, Arthritis, Fieber, Koliken blutig

funktionelle Diarrhö (akut, situationsbedingt als Fluchtreflex, äquivalent bei Aufregungen)

obstruierende Tumore Sie ist gekennzeichnet durch eine verzögerte Kotent-


endokrine Ursachen (z. B. Hyperthyreose) leerung mit weniger als 3 Stühlen/Woche und/oder
Kurzdarmsyndrom (z. B. nach Dünndarmresek- einem zu kleinvolumigen Stuhl. Der Stuhl ist trocken,
tion) hart und knotig aufgrund einer zu langen Verweil-
Medikamente (z. B. Laxanzienabusus, Antibiotika, dauer im Darm. Begleitet wird die Obstipation häufig
Zytostatika) von einem Gefühl der inkompletten Entleerung nach
der Defäkation. Zudem kann der Stuhl oftmals nur
Auch der großzügige Gebrauch von sog. Zuckeraus- mit Mühe und unter Anstrengung, evtl. begleitet von
tauschstoffen kann eine Diarrhö verursachen, da für Schmerzen, abgesetzt werden.
die Verdauung dieser Substanzen im Dünndarm kei- Weitere Begleitsymptome, die bei einer Obstipa-
ne entsprechenden Enzyme vorhanden sind. Zu tion auftreten können, sind: Völlegefühl, Meteoris-
Durchfällen kann auch die sog. Astronautenkost füh- mus, Appetitlosigkeit, Kopfschmerzen, Mundgeruch,
ren, da diese hoch konzentriert ist und somit stark Schlaflosigkeit und eine depressive Stimmungslage.
osmotisch wirkt. Zu einer verzögerten Darmentleerung können me-
chanische Hindernisse, Störungen der Darmmotorik,

! 18
Merke: Die Diarrhö ist keine Erkrankung, Störungen der neuronalen Regulation, Störungen des
sondern stellt immer ein Symptom für eine Defäkationsrhythmus und eine schlackenarme Er-
Erkrankung dar. nährung führen. Unterschieden werden eine akute
(passagere), chronische, habituelle und subjektive,
Obstipation situative Form der Obstipation.
Definition: Mit Obstipation oder Konstipation Die akute Obstipation tritt plötzlich auf, und be-
wird eine akute oder chronische Stuhlverstop- sitzt organische Ursachen. Die Ursachen für eine si-
pfung des Darms bezeichnet. tuative (passagere) Obstipation liegen zumeist in

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 329


KaelDesu
18 Stuhl

den Lebensumständen des Betroffenen (z. B. Immo- Medikamente


bilität). Bei einer chronischen Obstipation finden Bei einer Reihe von Medikamenten kann eine Obsti-
sich häufig organische Ursachen, im Gegensatz zur pation auftreten und stellt eine bekannte Nebenwir-
habituellen Obstipation, bei der keinerlei organische kung dar. In der Leitlinie „Chronische Obstipation bei
Störungen vorhanden sind. Erwachsenen“ werden folgende Medikamente auf-
Unter einer subjektiven Obstipation wird die geführt:
Selbstdiagnose Obstipation verstanden, die zu einer Opiate
Sicherstellung der täglichen Defäkation, z. B. mithilfe Anticholinergika
von Laxanzien, führt. Kennzeichen einer subjektiven Trizyklische Antidepressiva
Obstipation ist die Erwartung, täglich Stuhlgang zu Neuroleptika
haben. Eventuell besteht zusätzlich die Erwartung, Monoaminooxidase-Hemmer
dass der Stuhlgang jeden Tag zur selben Zeit erfolgen Antiepileptika
muss. Antihistaminika
Es gibt verschiedene Ursachen für eine akute und Kalziumhaltige Antazida
chronische Obstipation: Antihypertensiva
Spasmolytika
Elektrolytverschiebungen Sympathomimetika
Bei einer Hypokaliämie oder Hyperkalzämie kann es Diuretika
zu einer Atonie des Darmes und damit zu einer Obs- Colestyramin
tipation kommen. Ursache für eine Hypokaliämie ist
häufig auch ein Laxanzienabusus. Aber auch Laxanzien können zu einer Obstipation
führen, da es bei einer täglichen Einnahme zu Kali-
Endokrine Störungen umverlusten und damit zu einer Atonie des Darmes
Im Rahmen einer Hypothyreose und diabetischen kommen kann. Die Atonie führt zu einem Wirkungs-
Neuropathie kann es zu einer Störung der Darm- verlust der Laxanzien und damit zu einem steigen-
motilität und damit zu einer Verlangsamung des den Laxanzienbedarf, woraus ein Circulos vitiosus
Stuhltransports kommen, mit der Folge einer Obsti- entsteht (Abb. 18.1).
pation. In der Schwangerschaft führt die Progeste-
ronwirkung zu einer verringerten Darmperistaltik Unterdrückung des Entleerungsreflexes
und damit zu einer verzögerten Darmentleerung. Zu einer Unterdrückung des Entleerungsreflexes und
damit einer Verlängerung der Verweildauer des
Einengungen des Darmlumens Stuhls im Darm kommt es beispielsweise bei Zeitnot,
Darmstenosen, d. h. Einengungen des Darmlumens, Hektik, Störungen der Intimsphäre und Schmerzen
führen zu einer Passagebehinderung und damit zu bei der Defäkation (z. B. Analfissuren, Hämorrho-
einer verlängerten Verweildauer des Stuhls im Darm. iden). Auch ein abgeschwächter Defäkationsreflex
Ursachen für die Lumeneinengung können Tumore, bei verminderter Rektumsensibilität kann zur Obsti-
Entzündungen (z. B. Divertikulitis, Morbus Crohn), pation führen.
operationsbedingte Adhäsionen oder auch Kompres-
sion von außen sein. Reduzierte Kraft der Bauchpresse
Z. B. bei Adipositas, Gravidität, Aszites kann aufgrund
Neurologische und psychiatrische Erkrankungen des großen Bauchumfanges die Bauchpresse nicht
Hirn- und Rückenmarksverletzungen, sog. Läsionen, genügend betätigt werden.
die sowohl vaskulärer, entzündlicher, traumatischer
18 oder neoplastischer Genese sein können, aber auch Immobilisierung
Depressionen können Ursache einer Darmmotilitäts- Die Dickdarmmotiliät wird durch körperliche Aktivi-
störung und einer verlängerten Verweildauer des tät beeinflusst, d. h. durch vermehrte Bewegung
Stuhls im Darm sein. kommt es zu einer Steigerung der Peristaltik. Dem-
entsprechend kann Bewegungsmangel, vor allem
auch langes Liegen und häufiges Sitzen, zu einer Obs-
tipation führen.

330 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
18.2 Abweichungen, Veränderungen des Stuhls und deren mögliche Ursachen

Falsche Essgewohnheiten
Vor allem eine faser- und ballaststoffarme Kost führt Laxanzienmissbrauch
zu einer Verlängerung der Passagezeit und kann so
eine Obstipation verursachen und Motilitätsstörun-
Defäkationsreflex
gen verstärken. Des Weiteren können ein Flüssig- Gewöhnung
nimmt ab
keitsmangel, unregelmäßige Ess- und Lebensge-
wohnheiten die Ursache für eine Obstipation dar-
stellen. Abführmittel
Verstopfung

Formen der Obstipation


Natrium- und

!
Merke: Bei der Obstipation werden die aku- Kaliumverlust Wasserverlust
te, situative (passagere), chronische, habitu-
elle und subjektive Form voneinander unter- Aldosteron
schieden. vermehrt

Eine chronische Obstipation beeinträchtigt die Le-


bensqualität erheblich und kann schwerwiegende Abb. 18.1 Circulus vitiosus bei dauerndem Laxanzienmissbrauch

Folgen nach sich ziehen, z. B. die Impaktbildung des


Stuhls, bei der durch den fortschreitenden Wasser-
entzug steinharte Kotballen, sog. Skybala, entstehen.
Sie reizen die Darmschleimhaut und führen zur Ab- Horror
sonderung einer schleimigen Flüssigkeit, daneben autotoxicus
können sie eine „paradoxe Diarrhö“ verursachen.
Hierbei bildet sich aufgrund der Irritation des unte-
ren Dickdarmabschnitts durch die Kotballen eine Post-
diarrhöische Laxanzien
starke Darmsaftsekretion. Bakterien hinter den Kot-
Obstipation
ballen setzen einen Fäulnisprozess in Gang. Es
kommt zur Entleerung wässriger Stühle, die an den
harten Kotballen vorbeifließen und zum Teil einige
kleine harte Kotballen enthalten können. Die Betrof- Diarrhö
fenen klagen vornehmlich über Diarrhö und häufige
kleine Darmentleerungen.
Weitere mögliche Folgen einer chronischen Ob- Abb. 18.2 Circulus vitiosus bei subjektiver Obstipation
stipation und der Bildung von Skybala können eine
Stuhlinkontinenz und ein mechanischer Ileus sein.
Der Druck der prall gefüllten Rektumampulle auf den Zusammenfassung:
Blasenhals bzw. auf die Blase kann zu Urinretention Abweichungen, Veränderungen des Stuhls
bzw. -inkontinenz führen. Auch rektale Blutungen Kriterien zur Beurteilung des Stuhls sind Menge,
sind eine häufige Folge von Skybala, da sie Schleim- Farbe, Konsistenz, Geruch, Zusammensetzung und
hautverletzungen im Enddarm verursachen können. chemische Reaktion.
Die subjektive Obstipation, auch Pseudoobstipa- Eine häufige Stuhlentleerungsstörung ist die Diar-
tion genannt, kann ebenfalls sehr schwerwiegende rhö; es wird zwischen osmotischer und sekretori-
Folgen haben. Die Angst, sich bei nicht täglichem scher, akuter und chronischer Diarrhö unterschie-
Stuhlgang zu vergiften (Horror autotoxicus), zu har- den. 18
ten, zu wenig und/oder zu unregelmäßigen Stuhl- Diarrhö kann Symptom einer Vielzahl von Erkran-
gang zu haben, führt häufig zur Einnahme von La- kungen sein, aber auch durch psychische Belastun-
xanzien und damit zu einem Circulus vitiosus gen, Medikamente, Entzündungen, Schwermetalle
(Abb. 18.1 u. 18.2). oder Strahleneinwirkung hervorgerufen werden.
Die Stuhlverstopfung, Obstipation, tritt u. a. auf bei
Elektrolytverschiebungen, endokrinen Störungen,

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 331


KaelDesu
18 Stuhl

Darmstenosen, neurologischen und psychiatri- Tenesmus


schen Erkrankungen, bei Unterdrückung des Ent- Definition: Ein beständiger, schmerzhafter
leerungsreflexes, infolge Medikamenteneinnahme, Stuhldrang wird als Tenesmus bezeichnet.
Bewegungsmangel und falschen Essgewohnheiten.
Neben dem schmerzhaften Stuhldrang klagen die
Stuhlinkontinenz betroffenen Menschen zumeist über geringe oder
Definition: Unter Stuhlinkontinenz, Fäkal- fehlende Entleerungen. Häufige Ursache ist ein
oder Analinkontinenz wird das Unvermögen, Krampf des Schließmuskels bei einer entzündlich
den Stuhl willkürlich zurückzuhalten, verstan- bedingten Reizung, wie sie beispielsweise bei einer
den. Entzündung des Enddarms, der sog. Proktitis, vor-
kommen kann. Des Weiteren kann ein Tenesmus z. B.
Die Stuhlinkontinenz wird in 3 Schweregrade einge- bei Divertikulitis, Colitis ulcerosa und Durchfaller-
teilt, die in Tab. 18.3 aufgeführt sind. Die Ursachen krankungen beobachtet werden.
der Stuhlinkontinenz sind sehr vielfältig (nach
Grond): 18.2.2 Veränderungen der Stuhlmenge
obstipationsbedingte: Schmierstuhl, dünner Bei der Beobachtung der Stuhlmenge können sowohl
Stuhl und Darmschleim fließt um Kotsteine: kleine als auch große Stuhlmengen festgestellt wer-
Überlaufinkontinenz, den. Die Ursachen hierfür können physiologisch,
funktionelle: Diarrhö, Darminfektion, Reizkolon, aber auch pathologisch bedingt sein.
Malabsorption, Nahrungsmittelvergiftung,
entzündliche: Hämorrhoiden, Fistel, Colitis, Geringe Stuhlmengen
Crohn, Divertikel, Strahlenproktitis, Rektumpro- Wie bereits beschrieben, ist die Menge des ausge-
laps, schiedenen Stuhls abhängig von der zu sich genom-
traumatische: Dammriss, Operation, Verletzung, menen Nahrung. Physiologisch kann eine Verringe-
tumoröse: Anal-, Rektumkarzinom, Lymphome, rung der Stuhlmenge (unter 100 g/Tag) bei einer sehr
ischämische: Durchblutungsstörungen, faser- und ballaststoffarmen Ernährung beobachtet
medikamentöse: Laxanzien, Antibiotika, Methyl- werden. Außerdem sind kleine Stuhlmengen typisch
dopa, Schilddrüsenhormone, für eine Obstipation (s. S. 327) und beim Fasten. Der
hormonale: Diabetes, Schilddrüsenüberfunktion, Stuhl bei Hungerzuständen (Hungerkot) besteht zu-
neurogene meist aus Schleim und Darmzellen. Er besitzt eine
– bei Multiinfarktdemenz, senile Demenz vom schwarzbraungrünliche Farbe und ein Gewicht von
Alzheimer Typ, im Koma und Sterben: Defäka- ca. 3 – 4 g.
tionsreflex nicht mehr hemmbar: geformter
Stuhl in Wäsche nach dem Essen Große Stuhlmengen
– bei Multipler Sklerose, Querschnittlähmung, Große Stuhlmengen mit einem Gewicht bis zu 1000 g
diabetischer Neuropathie, Sklerodermie, sind physiologisch bei einer zellulose- und kohlen-
angeborene: Missbildung, Meningozele. hydratreichen Ernährung. Bei einer ungenügenden
Aufnahme der Nahrungsbestandteile wie beispiels-
weise bei der Maldigestion und Malabsorption (s. a.
Tab. 18.3 Stadien und Schweregrade der
S. 288) kommt es ebenfalls zu einer Ausscheidung
Stuhlinkontinenz
großer Mengen von Stuhl. Ein sehr großer, blasser,
Stadium/Schweregrad Definition stark stinkender Stuhl, der beim Erkalten erstarrt,
wird als Fettstuhl (Steatorrhö, Salbenstuhl, Butter-
1. Teilinkontinenz 1. Grades unkontrollierter Abgang von Luft,
18 leichte Form Stuhlschmieren bei Belastung und stuhl, Pankreasstuhl) bezeichnet und tritt typischer-
Diarrhö weise bei einer Pankreasinsuffizienz auf.
Ebenfalls bei der Pankreasinsuffizienz kann eine
2. Teilinkontinenz 2. Grades wie Grad 1 und Inkontinenz für
mittlere Form Winde und bei Diarrhö, gelegent- Kreatorrhö beobachtet werden. Hierunter wird eine
licher Stuhlabgang vermehrte Stuhlmenge verstanden, die infolge einer
hochgradig beschleunigten Darmpassage unverdau-
3. Totalkontinenz völliger Kontrollverlust
schwere Form ter Fleischfasern (unverdautes Eiweiß) aufweist. Ein
Massenstuhl kann auch eine Medikamentenneben-

332 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
18.2 Abweichungen, Veränderungen des Stuhls und deren mögliche Ursachen

wirkung darstellen. Medikamente, bei denen diese 18.2.4 Veränderungen der Stuhlkonsistenz
großen Stühle auftreten können, sind u. a.: Die Konsistenz, d. h. die Beschaffenheit des Stuhls
Chlortetracyclin, reicht von dünn-wässrig bis zu knotig-hart und ist
Indometacin, abhängig von der Nahrungszusammensetzung und
Kanamycin, der Verweildauer des Stuhls im Darm. Vor allem im
Methrotrexat, Zusammenhang mit der Beobachtung der Stuhlfarbe
Neomycin, kann die Konsistenz jedoch auch wichtige Hinweise
flüssiges Paraffin, für vorliegende Erkrankungen liefern (Tab. 18.5).
Phenindion-p-Amonosalicylsäure.
18.2.5 Veränderungen des Stuhlgeruchs
18.2.3 Veränderungen der Stuhlfarbe Der Geruch des Stuhls entsteht durch die Fäulnis-
Der Stuhl kann eine Reihe von Farbveränderungen und Gärungsprozesse im Darm. Bei einer überwie-
aufweisen, die durch Nahrungsmittel, Medikamente, gend kohlenhydratreichen Ernährung besitzt der
aber auch durch Krankheiten verursacht werden. Ne- Stuhl einen leicht säuerlichen, bei einer überwie-
ben der Beurteilung des Stuhls ist deshalb die genaue gend eiweißreichen Ernährung einen leicht fauligen,
Befragung des betroffenen Menschen bzgl. seiner Er- schwefelwasserstoffartigen Geruch. Liegt eine Pan-
nährung, Medikamenteneinnahme und evtl. weite- kreasinsuffizienz vor, ist der Geruch stark stinkend,
rer Symptome, die auf eine Erkrankung hinweisen bei einer Fäulnisdyspepsie faulig stinkend und bei ei-
können, wichtig. Eine Übersicht verschiedener Farb- ner Gärungsdyspepsie sauer riechend. Als aashaft
veränderungen des Stuhls und ihrer möglichen Ursa- stinkend wird der Stuhlgeruch bei einem Rektum-
chen zeigt Tab. 18.4. karzinom beschrieben.

Tab. 18.4 Veränderungen der Stuhlfarbe und mögliche Ursachen

Farbe Nahrungsmittel Medikamente Erkrankungen

weiß Röntgenkontrastmittel
(Barium)

hellgrau Diarrhö (Cholera)

grau, lehmfarben (acholisch) Hepatitis, Pankreas-, Gallen-


erkrankungen (durch fehlendes
Sterkobilin bei fehlender Gallen-
sekretion in den Darm)

gelbbraun kohlenhydratreiche Kost Diarrhö

grünlich grünes Gemüse und Salat Diarrhö


(chlorophyllhaltig)

rotbraun Rote Beete

rotbraun marmoriert Blutungen im unteren Dickdarm

rotbraun bis dunkelrot Blutungen im oberen Dickdarm

dunkelbraun vorwiegende Fleischnahrung 18


braunschwarz Heidelbeeren, Rotwein

schwarz (Melaena, Teerstuhl) Kohle, Eisenpräparate, Wismut Blutungen im oberen Verdau-


ungstrakt (durch Zersetzung des
Blutes durch Enzyme und Salz-
säure im Magen)

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 333


KaelDesu
18 Stuhl

Tab. 18.5 Veränderungen der Stuhlkonsistenz und mögli- Tab. 18.6 Stuhlauflagerungen und -beimengungen
che Ursachen
Auflagerung, Beimengung Vorkommen, Ursache
Konsistenz mögliche Ursachen
unverdaute Speisereste ungenügendes Zerkauen der
dünn-wässrig Gastroenteritis Nahrung, Diarrhö
erbsensuppenähnlich Typhus abdominalis, Enteritis
Schleimauflagerungen Reizungen, Entzündungen des
reiswasserähnlich Cholera Dickdarms, Dyspepsie
himbeergeleeartig Ruhr
schaumig (Gasblasen) Gärungsdyspepsie Schleim-Blutauflagerungen, entzündliche Darmerkrankun-
-beimengungen gen, Darmtumore
schleimig Colitis ulcerosa
schmierig (Melanea) Blutungen im oberen Verdauungs- Schleim-Blut-Eiterauflagerun- schwere entzündliche Darm-
trakt gen, -beimengungen erkrankungen (Colitis ulcero-
salbenartig (Steatorrhoe) Pankreasinsuffizienz, Mukoviszidose sa), Dysenterie
hart, bröckelig Obstipation
Blutauflagerungen und Darmtumore, Darmblutungen
schafskotartig Dickdarmspasmen, spastische -beimengungen
Obstipation
bleistiftförmig Stenosen im unteren Colon- u. Blutspritzer Hämorrhoiden, Analfissuren
Rektumbereich
Fett Pankreaserkrankungen, Einnah-
me von Breitbandantibiotika

Wurmglieder
18.2.6 Veränderungen der 쐌 einzeln, weiß, flach, finger- 쐌 Tänien (Bandwürmer)
Stuhlzusammensetzung nagelgroß
Die Zusammensetzung des Stuhls gibt Hinweise auf 쐌 in größerer Anzahl (Knäuel), 쐌 Enterobius vermicularis
fadendünn, einige Millimeter (Oxyuren, Madenwürmer)
die Verwertung der Nahrung und damit auch über
lang
die Funktion der Verdauungsorgane. Mit dem bloßen 쐌 einzeln oder in geringer 쐌 Askariden (Spulwürmer)
Auge sind Veränderungen der Stuhlzusammenset- Anzahl, grauweiß, regen-
zung nicht immer zu erkennen, weshalb bei spezifi- wurmähnlich, 10 – 25 cm
lang
schen Fragestellungen, z. B. Untersuchung auf patho-
gene Keime, Wurmeier, Ausnutzungsgrad der Nah-
rung, verschiedene Laboruntersuchungen durchge-
führt werden müssen.
Eine häufige, auch im pflegerischen Alltag vor- 18.3 Ergänzende
kommende Untersuchung stellt der Hämoccult-Test Beobachtungskriterien
dar. Er dient der Untersuchung des Stuhls auf okkul-
tes (verstecktes) Blut. Doch im Zusammenhang mit Veränderungen der Beobachtungskriterien des Stuh-
der Zusammensetzung des Stuhls sind auch die mak- les ziehen in der Regel auch Veränderungen in ande-
roskopischen Beimengungen und Auflagerungen zu ren Beobachtungsbereichen nach sich. Um ein voll-
beobachten, für die Beispiele in Tab. 18.6 aufgeführt ständiges Bild der Situation eines Menschen zu er-
sind. halten, müssen diese ebenfalls Beachtung finden.
Hierzu gehören beispielsweise die Körpertempera-
18.2.7 Veränderungen der chemischen tur und die anderen Vitalzeichen sowie die Haut bei
Stuhlreaktion Diarrhö, um eine infektiöse Darmerkrankung und ei-
Die Veränderungen der chemischen Stuhlreaktion ne mögliche Exsikkose festzustellen. Daneben wei-
werden durch Störungen der Verdauungsvorgänge sen bei Leber- und Galleerkrankungen auch die Haut
18 hervorgerufen. Bei einer Fäulnisdyspepsie, einer Stö- und der Urin typische Farbveränderungen auf (s. a.
rung der Eiweißspaltung und Resorption reagiert der S. 67 u. 309), weshalb diese z. B. beim Auftreten eines
Stuhl alkalisch. Der pH-Wert beträgt hierbei 8 und acholischen Stuhles immer mit beobachtet werden
mehr. Eine saure Reaktion mit einem pH-Wert unter müssen.
7 kann bei einer Gärungsdyspepsie, einer Störung Erst die Gesamtheit der beobachteten Störungen
der Kohlenhydratspaltung und -resorption festge- lässt einen genaueren Rückschluss auf die zugrunde
stellt werden. liegende Ursache und das Ausmaß der Störung zu. Da

334 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
18.4 Besonderheiten bei Kindern

Stuhlveränderungen häufig mit Verdauungs- und Er- Neugeborenen und Frühgeborenen. Er ist grün bis
nährungsstörungen einhergehen, kommt der Beob- schwarz, zähklebrig und geruchlos. Mekonium be-
achtung des Ernährungszustands und des Ernäh- steht aus Fruchtwasser, eingedickter Galle, Lanugo-
rungsverhaltens in diesem Zusammenhang eine be- behaarung, abgestoßenen Epithelzellen und Darm-
sondere Bedeutung zu. epithelien. Gelegentlich wird bereits während des
Geburtsvorganges ein Urin- und Stuhlabgang be-
Zusammenfassung: obachtet. Ansonsten erfolgt die physiologische Defä-
Ergänzende Beobachtungskriterien kation innerhalb der ersten 24 – 36 bis längstens 48
Stuhlinkontinenz und Tenesmus sind neben Diar- Std. nach der Geburt.
rhö und Obstipation weitere Stuhlentleerungsstö- Eine grüne Verfärbung des Fruchtwassers ist
rungen. durch das vorzeitige Absetzen von Mekonium, auf-
Bei sehr faser- und ballaststoffarmer Ernährung grund intrauterinen Sauerstoffmangels, bedingt.
verringert sich die ausgeschiedene Stuhlmenge, bei
zellulose- und kohlenhydratreicher Nahrung steigt Definition: Übergangsstuhl ist die Bezeich-
die Stuhlmenge. nung für den Stuhl, den die Neugeborenen frü-
Der Hämoccult-Test sowie die Untersuchung hestens ab dem 2. – 4. Lebenstag entleeren.
makroskopischer Beimengungen und Auflagerun-
gen geben Aufschluss über die Stuhlzusammenset- Er ist schwarz bis gelb bis grün, eher weich und
zung. schleimig, weniger klebrig und ebenfalls nahezu ge-
Die alkalische oder saure Reaktion des Stuhls lässt ruchlos. Er besteht aus Mekoniumresten, Stuhl, Nah-
Rückschlüsse auf Fäulnis- bzw. Gärungsdyspepsie rungsresten und Bakterien, je nach Ernährung. Die
bzw. Störungen der Eiweiß- oder Kohlenhydrat- Defäkation findet ein- bis mehrmals täglich statt.
spaltung zu. Der mit Muttermilch ernährte Säugling scheidet
einen sog. Muttermilchstuhl aus, dessen charakteris-
tische Farbe goldgelb bis grüngelb ist, wobei der
18.4 Besonderheiten bei Kindern grünliche Farbton durch Oxidation entsteht. Der
Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm Muttermilchstuhl ist eher dünn, salben- oder pas-
tenartig, riecht fade bis aromatisch und säuerlich. Er
Die physiologische Stuhlausscheidung beginnt nach besteht aus Nahrungsresten, Wasser, Gallensäure
der Geburt des Kindes. Das Kind wird bereits in den und Bifidus-Bakterien. Da die Muttermilch eine be-
ersten Stunden zum Stillen angelegt, wodurch sonders gute Nahrungsauswertung besitzt, werden
gleichzeitig die Darmperistaltik angeregt und das in nur wenige Restbestandteile ausgeschieden. Daher
der Fetalperiode im Darm gebildete Mekonium aus- kann die Stuhlhäufigkeit zwischen null bis mehrmals
geschieden wird. Die Stuhlausscheidung des Neuge- täglich liegen.
borenen und Säuglings erfolgt unwillkürlich und, ab- Gelegentlich kommt es unter Muttermilchernäh-
hängig von der Nahrungsaufnahme, ein- bis mehr- rung zu einer physiologischen- oder Pseudoobstipa-
mals am Tag. Säuglinge scheiden bis zu 120 g, Klein- tion, d. h. es werden nur kleine Stuhlportionen alle
kinder zwischen 50 – 100 g und ältere Kinder paar Tage abgesetzt.
100 – 300 g täglich aus. Bei den zunächst mit Anfangsnahrung und später
Die Menge, Beschaffenheit und Häufigkeit der mit Kuhmilch ernährten Säuglingen zeigt sich der
Stuhlausscheidung ist Schwankungen unterworfen. sog. Nahrungsstuhl, der eine hellgelbe bis hellbraune
Sie ist abhängig vom Resorptionsvermögen des Dar- Farbe besitzt. Er ist geformt und eher dickbreiig,
mes, von der Menge und Zusammensetzung der riecht käsig und schon leicht faulig aufgrund des
Nahrung sowie von der Bewegungsintensität. Cha- durch Colibakterien verdauten Milcheiweißes. Die 18
rakteristische Stühle bei Neugeborenen, Säuglingen Stuhlentleerung kann ein- bis dreimal täglich erfol-
und Kindern sind das Mekonium, der Übergangs-, gen.
der Muttermilch-, der Nahrungs- und der Mischkost- Mischkoststühle von Kindern und Jugendlichen
stuhl. erhalten ihr Aussehen von der überwiegend aufge-
Mekonium, im Volksmund auch Kindspech ge- nommenen Nahrung. Ebenfalls nahrungsabhängig
nannt, ist die Bezeichnung für den ersten Stuhl des zeigen sich typische Gerüche und Bestandteile

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 335


KaelDesu
18 Stuhl

Tab. 18.7 Physiologische Stuhlausscheidung bei Kindern (aus: Hoehl, M., P. Kullick (Hrsg.): Gesundheits- und Kinder-
krankenpflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012)

Farbe Konsistenz Geruch Bestandteile Defäkation

Neugeborenes 쐌 Mekonium = zähklebrig geruchlos 쐌 eingedickte Galle innerhalb der ersten


Kindspech, 쐌 Lanugohaare 24 – 36 Std. nach der
grün-schwarz 쐌 Darmepithelien Geburt
쐌 Fruchtwasser
쐌 Übergangsstuhl, weniger klebrig nahezu geruchlos 쐌 Mischung aus Gefahr: bei Nichtab-
schwarz-grün-gelb Mekonium und setzen: Mekonium-
Stuhl nach Nah- ileus
rungsaufnahme
쐌 Nahrungsreste ein- bis mehrmals
쐌 Bakterien entspre- täglich
chend der Ernährung
mit Muttermilch 쐌 goldgelb häufig, dünn, aromatisch, säuer- 쐌 Nahrungsreste 1- bis 5-mal täglich
ernährter Säugling 쐌 grün durch Oxida- salbig oder pastig lich 쐌 Wasser
tion mit Sauerstoff 쐌 Gallensäfte
쐌 Bifidus-Bakterien
mit Kuhmilch hellbraun geformt, dickbreiig 쐌 Käsegeruch 쐌 s. mit Muttermilch 1- bis 3-mal täglich
ernährter Säugling 쐌 fäkulent-übel- ernährter Säugling
riechend 쐌 Kolibakterien

mit Mischkost mittel-, dunkelbraun geformt, dickbreiig, fäkulent-übel- 쐌 s. mit Kuhmilch er- 1- bis 2-mal täglich,
ernährtes Kind oder 쐌 Karotte: rötlich abhängig vom riechend nährter Säugling abhängig von der Art
Jugendlicher 쐌 Spinat: grün Wassergehalt 쐌 Eiweiß = faulig Nahrungsreste sind der Ernährung und
쐌 Fleisch: dunkel 쐌 Kohlenhydrate = abhängig von der auf- Bewegung
쐌 Milch: hell säuerlich genommenen Nah-
쐌 Eisen, Blaubeeren, rung
Rotwein: braun-
schwarz

(s. a. S. 327). Tab. 18.7 zeigt einen Überblick über die halb der ersten drei Lebensmonate (2. – 16. Lebens-
physiologische Stuhlausscheidung bei Kindern. woche). Hierbei krümmen sich die Kinder unter
Diarrhöen können bei Kindern, insbesondere bei Schreien und Wimmern ca. 10 – 20 Min. nach der
Säuglingen, schon nach kurzer Zeit zu vitalen Bedro- Nahrungsaufnahme. Der Bauch ist gebläht, der Kopf
hungen durch den hohen Flüssigkeits- und Elektro- hochrot. Die Beinchen werden von den Kindern re-
lytverlust führen. Eine entsprechende Beobachtung flektorisch angezogen. Aus dem Anus kann sich Luft
auf Exsikkosezeichen hin muss deshalb immer oder auch Stuhl entleeren. Eine Beruhigung der Kin-
durchgeführt werden. der gelingt meist nicht. Die Koliken dauern von eini-
Frühgeborene, die mit einer speziellen Frühgebo- gen Minuten bis zu 1 Std. an. Organische Störungen
renennahrung ernährt werden, können aufgrund ih- sind nicht zu erkennen, doch werden vielfältige Ur-
rer schwach entwickelten Bauchmuskulatur keine sachen diskutiert, wie beispielsweise: die Aeropha-
Bauchpresse zum Stuhltransport einsetzen. Die gie (Luftschlucken bei der Nahrungsaufnahme mit
gleichfalls noch vorhandene Unreife der Organe Blähungen), eine Kuhmilchprotein-Allergie, eine ge-
führt zu festem Stuhlgang, der oft nur unter Anwen- störte Mutter-Kind-Beziehung und ein unvollständig
dung von abführunterstützenden Maßnahmen aus- abgeschlossener Melatoninkalender.
18 geschieden werden kann.
Häufige Begleiterscheinungen bei Verdauungs- Definition: Unter Meteorismus wird ein Bläh-
und Defäkationsstörungen von Kindern, insbesonde- oder Trommelbauch verstanden, der durch eine
re Säuglingen, sind die sog. Dreimonatskoliken und übermäßige Gasansammlung in den Hohlorga-
Meteorismus. nen des Bauchraums oder in der freien Bauchhöhle ent-
Die Dreimonatskoliken haben ihren Namen nach steht.
dem häufigen Auftreten dieser Erscheinung inner-

336 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
18.6 Fallstudien und mögliche Pflegediagnosen

In der Folge kommt es zu einer Auftreibung der mangelnde körperliche Bewegung, eine ballaststoff-
Bauchdecke und einem Zwerchfellhochstand, mit und faserarme Ernährung, eine mangelhafte Wahr-
Oberbauchschmerzen und Völlegefühl. Die Gasbil- nehmung des Stuhldrangs und die Einnahme von
dung im Darm entsteht bei der enzymatischen Auf- Medikamenten. Die mangelnde körperliche Bewe-
spaltung der Nahrung im Dünndarm und durch den gung rührt zumeist von degenerativen Erkrankun-
bakteriellen Abbau (Gärung, Fäulnis) in Dickdarm. gen und allgemeiner Schwäche her. Die Gründe für
Als Ursachen werden Hektik und Stress bei der eine ballaststoff- und faserarme Ernährung liegen
Nahrungsverabreichung, das Schlucken von Luft und häufig in einer schlecht sitzenden Zahnprothese und
eine falsche Ernährung mit blähenden Speisen ange- einer damit verbundenen Einschränkung der Kau-
geben. funktion. Hinzu kommt das herabgesetzte Durstge-
Mit ca. 5 Jahren sollten Kinder die Stuhlausschei- fühl älterer Menschen. Beispielsweise bei einer de-
dung willkürlich steuern können, wobei die Rein- menziellen Erkrankung, nach Apoplexien und bei der
lichkeitserziehung immer unter Berücksichtigung diabetischen Neuropathie kann es zu einer mangel-
der physischen und psychischen Fähigkeiten des haften Wahrnehmung des Stuhldrangs kommen,
Kindes erfolgen sollte. Ist das Kind nach dem 5. Le- hinzu kommen eine Abschwächung des Defäkati-
bensjahr nicht in der Lage, den Stuhl willkürlich ab- onsreizes durch schmerzhafte Analprozesse wie Hä-
zugeben bzw. zurückzuhalten, können hierfür neu- morrhoiden und Analfissuren.
rogene Störungen wie z. B. Myelomeningozelen oder Ca. 50% der über 65-Jährigen nimmt regelmäßig
angeborene Missbildungen und Tumore im Bereich Laxanzien ein, in Pflegeheimen beträgt der Anteil der
des Enddarmes verantwortlich sein sowie psy- Bewohner, die täglich Laxanzien einnehmen, sogar
chische Störungen. bis zu 73%. Dazu kommen weitere, z. T. obstipations-
Ein fortlaufendes, unkontrolliertes Einkoten fördernde Medikamente im Rahmen der Behandlung
(Stuhlinkontinenz) nach der bereits abgeschlosse- vorliegender Erkrankungen. Die Obstipation älterer
nen Reinlichkeitserziehung wird bei Kindern und Ju- Menschen stellt auch häufig die Ursache der Über-
gendlichen auch als Enkopresis bezeichnet. Die mög- lauf-Stuhlinkontinenz dar, bei der dünner Stuhl und
lichen Ursachen der Stuhlinkontinenz sind auf S. 330 Schleim an harten Kotballen vorbeifließen. Weitere
angegeben. Ursachen für eine Stuhlinkontinenz im Alter sind der
Tritt bei Neugeborenen ein grau-weißer (acholi- Hirnabbau bei seniler Demenz vom Alzheimer-Typ
scher) Stuhl auf, so muss an nicht angelegte Gallen- und die Multi-Infarkt-Demenz.
gänge gedacht werden, bei einer frischen Blutaufla-
gerung und -beimengung an eine Invagination. Da- Zusammenfassung:
neben finden sich bei Kindern häufig Fremdkörper Besonderheiten bei Kindern und älteren
(z. B. Kleinteile von Spielzeugen, Geldstücke) als Bei- Menschen
mengungen, die beim Spielen verschluckt wurden. Bei der Entwicklung des Kindes ist das Mekonium,
der Übergangsstuhl, der Muttermilchstuhl und
dann der Nahrungsstuhl zu unterscheiden.
18.5 Besonderheiten bei älteren Diarrhöen können bei Kindern und alten Menschen
Menschen schon nach kurzer Zeit lebensbedrohliche Auswir-
kungen haben.
Viele Erkrankungen des Verdauungstrakts und die Dreimonatskoliken und Meteorismus sind häufige
damit einhergehenden Veränderungen der Stuhlaus- Verdauungsstörungen bei Kleinkindern.
scheidung sind keine altersspezifischen Erkrankun-
gen. Sie können aber in ihren Auswirkungen eine
ernstzunehmende Bedrohung für den Gesundheits- 18.6 Fallstudien und mögliche 18
zustand des älteren Menschen darstellen. Ein Bei- Pflegediagnosen
spiel hierfür ist die Diarrhö, die gerade bei Multimor-
bidität und häufig bestehender allgemeiner Schwä- Veränderungen, Störungen im Bereich der Stuhlent-
che lebensbedrohlich sein kann. leerung stellen für die betroffenen Menschen oftmals
Ein weit verbreitetes Problem älterer Menschen nicht nur ein körperliches Problem dar, sondern auch
stellt die Obstipation dar. Ursachen hierfür sind u. a. eine große psychische Belastung. Dies gilt vor allem

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 337


KaelDesu
18 Stuhl

für die Diarrhö und ganz besonders für die Stuhlin- Die Pflegediagnose zur oben beschriebenen Fallstu-
kontinenz. Aus Angst vor Stuhlabgängen können sie die zeigt die folgende Übersicht:
sogar zu einer sozialen Isolation führen. Aber auch
die Obstipation, eine häufige Beobachtung im Zu-
sammenhang mit der Stuhlausscheidung, kann zu ei- Subjektiv empfundene Obstipation (P)
ner Belastung werden und so den Tagesablauf und die (Gordon 2013, S. 218 – 219, NANDA-I 2016)
Lebensqualität eines Menschen negativ beeinflussen. Perceived constipation (00012) (1988)
Taxonomie II: Domäne 3: Ausscheidung und Aus-
Beispiel: Frau Hartung, 45 Jahre alt, wird tausch,
zur Neueinstellung ihres Diabetes mellitus in Klasse 2: Magen-Darm-Funktion
die Klinik aufgenommen. Bei dem Aufnah- Diagnosetyp (Dokumentationsform): aktuelle Pflege-
megespräch weist sie als erstes auf ihre Obstipation hin diagnose (PES)
und berichtet, dass sie jeden Abend 2 Abführtabletten Funktionelles Gesundheitsverhaltensmuster:
und zumeist am Morgen noch 1 Abführzäpfchen neh- Ausscheidung
men muss. Ansonsten hätte sie nicht jeden Morgen
Definition
Stuhlgang und würde sich dann den ganzen Tag über
Selbst-diagnostizierte Obstipation und Missbrauch von
sehr schlecht fühlen und nur an den ausgebliebenen
Laxanzien, Einläufen und Suppositorien, um eine tägli-
Stuhlgang denken können. Den Stuhl beschreibt Frau
che Darmentleerung zu gewährleisten
Hartung als hart und mengenmäßig sehr wenig. Im
Einflussfaktoren (E)
weiteren Verlauf des Gespräches stellt sich heraus, dass
kulturspezifisches Gesundheitsverständnis
sie diese Abführmaßnahmen bereits seit vielen Jahren
familiäres Gesundheitsverständnis
durchführt, wobei sie anfangs mit einer „leichten“ Ab-
falsche Einschätzung, (lange bestehende Erwar-
führtablette ausgekommen sei, aber im Laufe der Jahre
tungen/Gewohnheiten)
zu immer stärkeren Mitteln gegriffen habe und nun seit
beeinträchtigte Denkprozesse
einiger Zeit zusätzlich die Zäpfchen benutze.
Einen Auszug aus dem Pflegeplan von Frau Hartung,
der sich auf die Obstipation bezieht, zeigt Tab. 18.8.

Tab. 18.8 Auszug aus dem Pflegeplan von Frau Hartung

Pflegeproblem Ressource Pflegeziele Pflegemaßnahmen

Fr. Hartung leidet unter ei- FZ: 쐌 Beobachtung des Stuhls von Fr. Hartung
ner falschen Erwartungshal- Fr. Hartung hat regelmäßigen 쐌 Ermittlung der individuellen Stuhlent-
tung bzgl. der Defäkations- (individuell) weichen Stuhl- leerungsgewohnheiten
häufigkeit und daraus resul- gang ohne Einnahme von Ab- 쐌 Information über die Funktion des
tierendem Laxanzienmiss- führmitteln Darmes, den Vorgang der Darment-
brauch NZ: leerung und die Faktoren, von denen die
Frau Hartung Darmentleerung abhängig ist
쐌 kennt die normale Funkti- 쐌 Aufklärung über den Circulus vitiosus bei
on des Darmes und Häufig- regelmäßiger Laxanzieneinnahme
keit der Stuhlentleerungen 쐌 Ernährungsberatung (Trinkmenge, faser-
쐌 kennt die Gefahr (Verstär- und ballaststoffreiche Ernährung, zweck-
kung der Obstipation) der mäßiges Essverhalten, „Hausmittel“)
Laxanzien durch Diätassistentin
쐌 weiß, welche Ernährung 쐌 Ermittlung der körperlichen Aktivitäten
sich positiv auf die Darm- und gemeinsam mit Fr. Hartung weitere
18 entleerung auswirkt Bewegungsmöglichkeiten ermitteln
쐌 kennt verschiedene Mög- 쐌 Anleitung zur Kolonmassage
lichkeiten (Kolonmassage,
„Hausmittel“) zur Unter-
stützung der Darmentlee-
rung
쐌 reduziert die Einnahme
von Laxanzien

338 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
18.6 Fallstudien und mögliche Pflegediagnosen

Durchfällen leidet. Die Mutter berichtet, dass Nils jedes


Kennzeichen oder Symptome (S)
Mal, wenn er versucht hatte, etwas zu essen, kurze Zeit
Hauptkennzeichen
später Bauchschmerzen und dünnflüssige, grünlich
Erwartung einer täglichen Stuhlausscheidung
aussehende Durchfälle hatte. Am heutigen Tag habe er
(mit folgenden Konsequenzen:)
zwar nur Tee (am liebsten trinkt Nils Kamillentee) zu
– übermäßiger Gebrauch von Laxanzien
– übermäßiger Gebrauch von Einläufen sich genommen und noch nichts gegessen, trotzdem sei
– übermäßiger Gebrauch von Suppositorien die Windel immer wieder voll.
Erwartung, dass täglich zur gleichen Zeit Stuhl Ärztlicherseits wurden eine Infusionstherapie, die Un-
ausgeschieden wird tersuchung des Stuhls auf pathogene Keime und eine
Teepause angeordnet.
Pflegeergebnis (Outcome)
Einen auf die Diarrhö bezogenen Auszug aus dem Pfle-
Gesundheitsüberzeugung: Gesunder Stuhlgang
geplan von Nils zeigt Tab. 18.9.
(Health Beliefs: Bowel Health)
Persönliche Überzeugungen decken sich mit gesun-
Die entsprechende Pflegediagnose zeigt die folgende
dem Stuhlgang
Übersicht:

Für Frau Hartung kann die Pflegediagnose folgender-


Diarrhö (P)
maßen lauten:
(Gordon 2013, S. 208 – 209, NANDA-I 2016)
Subjektiv empfundene Obstipation
Diarrhea (00013) (1975, 1998)
beeinflusst durch (b/d) eine Fehleinschätzung bzgl.
Taxonomie II: Domäne 3: Ausscheidung und Aus-
der Defäkation angezeigt durch (a/d)
tausch,
die Erwartungshaltung, täglich Stuhlgang haben
Klasse 2: Magen-Darm-Funktion
zu müssen,
mit daraus folgendem übermäßigen Gebrauch Diagnosetyp (Dokumentationsform): aktuelle Pflege-
diagnose (PES)
von Laxanzien und Suppositorien.
Funktionelles Gesundheitsverhaltensmuster:
Ausscheidung
Beispiel: Nils, 4 Jahre, wurde von seiner
Mutter in die Ambulanz des Krankenhauses Definition
gebracht, da er seit 2 Tagen unter starken Passage von dünnem, unförmigem Stuhl

Tab. 18.9 Auszug aus dem Pflegeplan von Nils

Pflegeproblem Ressource Pflegeziele Pflegemaßnahmen

Nils leidet unter Diarrhö Nils trinkt gerne FZ: 쐌 Beobachtung des Stuhls bei jedem Win-
mit Bauchschmerzen nach Kamillentee Nils hat regelmäßig (indivi- delwechsel (Menge, Konsistenz, Farbe,
Nahrungsaufnahme duell) beschwerdefreien Geruch)
Stuhlgang 쐌 2-stündl. Wickeln bzw. nach Bedarf
NZ: 쐌 Bei jedem Windelwechsel Beobachtung
Nils erfährt keine weiteren der Haut auf Wundsein, Hautreinigung
Komplikationen (Durst- und -pflege mit Wundschutzcreme
fieber, Exsikkose) durch 쐌 3 ⫻ tgl. (8.00/14.00/20.00 h) Tempera-
frühzeitiges Erkennen von turkontolle (Ohr)
Veränderungen 쐌 Nils und Mutter über Teepause (nur Tee,
keine weitere Nahrung) informieren und
Kamillentee bereitstellen
쐌 Auf Notwendigkeit des Trinkens, soviel
18
wie möglich, hinweisen
쐌 Beobachtung auf mögliche Exsikkose-
zeichen (Haut, Schleimhäute, Urin,
Bewusstseinslage)
쐌 1 ⫻ tgl. (8.00 h) Gewichtskontrolle
쐌 Warme Leibwickel bei Bauchschmerzen

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 339


KaelDesu
18 Stuhl

Fazit: Die Ausscheidung von Stuhl wird als


Einflussfaktoren (E)
Defäkation bezeichnet. Kriterien für die Be-
psychologische
obachtung des Stuhls sind Menge, Farbe,
(starke) Angst
Konsistenz, Geruch, Zusammensetzung und chemische
hoher Stresslevel
Reaktion. Zusätzlich kann der Defäkationsvorgang be-
situationsbedingte
obachtet werden.
Nebenwirkungen der Medikamente
Da die Stuhlausscheidung ein mit Scham, aber auch
Alkoholmissbrauch
oftmals mit Ekel besetzter Vorgang ist, erfordert das
Kontaminationen
Befragen der Patienten bzgl. der Darmentleerungsge-
Missbrauch von Laxanzien
wohnheiten und des Aussehens des Stuhls besonderes
Strahlung
Einfühlungsvermögen.
Giftstoffe
Reisen (Bakterien etc. in Nahrung und Wasser)
Die häufigsten Störungen der Defäkation sind die
Sondennahrung Diarrhö und die Obstipation, die das Allgemeinbefin-
den erheblich beeinträchtigen und unter Umständen
physiologische
zu lebensbedrohlichen Situationen führen können.
infektiöse Prozesse
Die Ursachen für Abweichungen vom Normalzustand
Entzündung
sind vielfältig und können sowohl physiologischen als
Reizung
auch pathologischen Ursprungs sein.
Malabsorption
Parasiten

Kennzeichen oder Symptome (S)


Hauptkennzeichen
Literatur:
mindestens 3-mal am Tag dünnflüssiger Stuhl
Nebenkennzeichen Arastéhn, K., H.-W. Baenkler, Chr. Bieber, R. Brandt, T. Chatter-
hyperaktive Darmgeräusche jee. Duale Reihe Innere Medizin. 3. Aufl. Thieme, Stuttgart
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tät (DGNM), Deutsche Gesellschaft für Verdauungs- und
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Stoffwechselkrankheiten (DGVS), S2k-Leitlinie Chronische
Pflegeergebnis (Outcome) Obstipation: Definition, Pathophysiologie, Diagnostik und
Stuhlausscheidung (Bowel Elimination) Therapie (2013). Im Internet: http://www.awmf.org/up-
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Regelmäßige Bildung und Entleerung von Stuhl
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Risikogruppen Füsgen, I. (Hrsg.): Der ältere Patient. Problemorientierte Diag-
Personen nostik und Therapie. 2. Aufl. Urban & Schwarzenberg,
mit infektiösen Prozessen (Parasiten, Toxine) München 1996
Gerlach, U., H. Wagner, W. Wirth: Innere Medizin für Pflegebe-
unter Medikamenten
rufe. 8. Aufl. Thieme, Stuttgart 2015
mit einer Entzündung, Reizung
Greten, H., T. Greten, F. Rinninger (Hrsg.): Innere Medizin.
unter kontaminanierten Personen 13 Aufl. Thieme, Stuttgart 2010
bei einer Strahlentherapie Gordon, M.: Handbuch Pflegediagnosen. 5. Aufl. Hans Huber,
mit Malabsorption Hogrefe AG, Bern 2013
Hoehl, M., P. Kullick (Hrsg.): Gesundheits- und Kinderkranken-
pflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012
Die Pflegediagnose zu der o. a. Fallstudie könnte fol- Koletzko, B. (Hrsg.): Kinder- und Jugendmedizin. 14. Aufl.
gendermaßen formuliert werden: Springer, Berlin 2013
Köther, I. (Hrsg.): Altenpflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2016
18 Diarrhö
Lecturio GmbH Leitsymptom Diarrhoe – Differentialdiagno-
b/d (beeinflusst durch) infektiöse Prozesse sen im Überblick. Im Internet: http://www.lecturio.de/
a/d (angezeigt durch): magazin/leitsymptome-diarrhoe/; Stand: 03. 08. 2017
mehrmals täglich dünnflüssige Stühle, Menche, N. (Hrsg.): Pflege heute. 6. Aufl. Elsevier GmbH, Mün-
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340 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
Literatur

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Klassifikation 2015 – 2017. Herdman, T. H., S. Kamitsuru http://www.kontinenz-gesellschaft.de/; Stand: 03. 08. 2017
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Pschyrembel Klinisches Wörterbuch. 264. Aufl. de Gruyter, Stand: 03. 08. 2017
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Schewior-Popp, S., F. Sitzmann, l. Ullrich (Hrsg.): Thiemes Pfle-
ge. 13. Aufl. Thieme, Stuttgart 2017
Schwegler, J., R. Lucius: Der Mensch. Anatomie und Physiolo-
gie. 6. Aufl. Thieme, Stuttgart 2016
Silbernagl, S., A. Despopoulos: Taschenatlas Physiologie.
8. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012

18

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 341


KaelDesu

19 Schweiß
Panajotis Apostolidis*, Petra Schmalstieg

Übersicht
Einleitung · 342
19.1 Allgemeine Beobachtungskriterien und
Beschreibung des Normalzustands · 343
19.1.1 Schweißmenge · 343
19.1.2 Aussehen · 343
19.1.3 Geruch · 343
19.1.4 Lokalisation · 344
19.2 Abweichungen, Veränderungen des
Schweißes und deren mögliche
Ursachen · 344
19.2.1 Veränderungen der Menge · 344
19.2.2 Veränderungen des Aussehens · 345
19.2.3 Veränderungen des Geruchs · 345 Schweiß- bzw. Körpergeruch entsteht erst durch
19.2.4 Lokalisation · 345 die Beimengungen der körpereigenen Duftdrüsen
19.3 Ergänzende Beobachtungskriterien · 346 und/oder die bakterielle Zersetzung von Zellen auf
19.4 Besonderheiten bei Kindern · 346 der menschlichen Haut. Solche Gerüche erfüllen je-
19.5 Besonderheiten bei älteren doch wichtige Funktionen im menschlichen Mitei-
Menschen · 347 nander, was u. a. an Redewendungen wie „Ich kann
19.6 Fallstudien und mögliche Dich nicht riechen“ deutlich wird. Die Schweißsekre-
Pflegediagnosen · 347 tion gehört zum Menschsein dazu; Menschen, die
Fazit · 349 nicht schwitzen können, geraten u. U. in lebensbe-
Literatur · 349 drohliche Situationen. Die spezielle Beobachtung des
Schweißes kann darüber hinaus wichtige Hinweise
auf mögliche Störungen des Organismus geben.
Schlüsselbegriffe:
왘 Hyperhidrosis Definition: Als Schweiß (lat. Sudor, griech. Hi-
왘 Hypohidrosis dros) wird die flüssige Sekretabsonderung der
왘 Anhidrosis Schweißdrüsen der Haut bezeichnet.

Auf 1 cm2 Körperoberfläche befinden sich bei der


weißen Bevölkerung ca. 100 bis 350, bei Schwarzafri-
kanern ungefähr doppelt so viele dieser Schweißdrü-
Einleitung sen. Die Drüsen sind nicht gleichmäßig über den ge-
samten Körper verteilt, sondern es gibt bestimmte
Der Schweiß erfüllt eine wichtige Funktion bei der Anhäufungen von Schweißdrüsen (Abb. 19.1). Der
Temperaturregelung des menschlichen Körpers. Schweiß besteht zu 99% aus Wasser und enthält
Trotz Kenntnis dieser Tatsache wird das Schwitzen in Elektrolyte, Harnstoff, Immunglobuline, Fettsäuren,
unserer westlichen Kultur häufig als unfein oder gar Cholesterin und bei schwerer Arbeit auch Milchsäu-
abstoßend angesehen. Die Werbung unterstützt die- re. Der Schweiß ist normalerweise hypoton und be-
se Tendenz, indem sie Schweiß als überflüssig sugge- sitzt einen ph-Wert zwischen 4 und 5. Gemeinsam
19 riert und eine Reihe von Kosmetikprodukten anbie- mit dem Hauttalg bildet der Schweiß den Säure-
tet, mit denen die Schweiß- und Geruchsentstehung schutzmantel der Haut.
reduziert werden kann. Tatsächlich ist der normale Der charakteristische, individuelle Körpergeruch
Schweiß jedoch geruchlos. eines Menschen wird durch die Duftdrüsen be-

342 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
19.1 Allgemeine Beobachtungskriterien und Beschreibung des Normalzustands

stimmt. Sie stellen eine besondere Form der schätzt. Will man genaue Daten erheben, muss zuvor
Schweißdrüsen dar und befinden sich vorwiegend in die trockene Kleidung und Wäsche gewogen werden.
der Genitalregion und in den Achselhöhlen. Bei großen Flüssigkeitsverlusten durch Schwitzen
Als Schweißsekretion, auch Perspiratio sensibilis kann dies bei der Erstellung einer exakten Flüssig-
genannt, wird die vom vegetativen Nervensystem keitsbilanz notwendig sein.
gesteuerte Absonderung von Schweiß bezeichnet.
Die Schweißzentren befinden sich im Zwischenhirn, 19.1.2 Aussehen
im verlängerten Mark und im Grau des Seitenhornes Unter Aussehen wird die optische Darstellung des
im Rückenmark. Sie stehen unter dem Einfluss der Schweißes bezeichnet. Vielfach wird in diesem Zu-
Großhirnrinde, was den Angstschweiß in bedrohli- sammenhang auch die Temperatur des Schweißes
chen Situationen erklärt. Die Schweißsekretion be- beurteilt. Der normale Schweiß ist klar und durch-
sitzt eine große Bedeutung für die Regulierung der sichtig wie Wasser, er ist großperlig und warm.
Körpertemperatur. Hierbei bildet sich durch die Se-
kretion ein dünner Flüssigkeitsfilm auf der Haut. Bei 19.1.3 Geruch
der Verdunstung dieser Flüssigkeit wird dem Körper Unter dem Geruch wird die Wahrnehmung über den
Wärme entzogen (1 l Schweiß Ⳏ ca. 580 kcal), es ent- Geruchssinn, die sog. olfaktorische Wahrnehmung,
steht die sog. Verdunstungskälte. verstanden. Dabei werden die Geruchsproteine des
Eine weitere Aufgabe der Schweißsekretion ist Schweißes aufgenommen. Frischer Schweiß ist nor-
die Absonderung von Stoffwechselprodukten wie malerweise geruchlos. Er kann jedoch durch Bei-
beispielsweise Harnstoff. Beim Schwitzen, der Tran- mengungen oder durch bakterielle Zersetzung einen
spiration, wird das thermische Schwitzen vom emo- Geruch erhalten. Wie oben beschrieben, erzeugen
tionalen Schwitzen unterschieden. die apokrinen Schweißdrüsen, die Duftdrüsen, ge-
Das thermische Schwitzen ist zur Wärmeregula- schlechtsspezifische Duftstoffe.
tion des Körpers notwendig. Bei einer Überschrei-
tung der Körpertemperatur (s. a. Kap. 10) durch ver-
mehrte Wärmeproduktion wird Körperwärme durch
den Schweiß abgegeben (s. o.).
Das emotionale Schwitzen dagegen tritt infolge
psychischer Anspannung bei Angst, Stress oder auch
Schmerzen auf.

19.1 Allgemeine
Beobachtungskriterien und
Beschreibung des
Normalzustands
Die allgemeinen Beobachtungskriterien des Schwei-
ßes sind die Menge, das Aussehen, der Geruch und
die Lokalisation.

19.1.1 Schweißmenge
Als Schweißmenge wird das Volumen des Schweißes
in Liter, das während des Schwitzens ausgeschieden
wird, bezeichnet. Die Schweißproduktion beträgt,
abhängig von der körperlichen Aktivität und der Um-
gebungstemperatur, im Normalfall ca. 400 – 19
1000 ml/Tag. Die Menge kann bei schwerster körper-
licher Arbeit bis zu 1,5 l/Std. ansteigen. Die Angaben
bezüglich der Schweißmenge sind zumeist ge- Abb. 19.1 Anhäufungen von Schweißdrüsen

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 343


KaelDesu
19 Schweiß

19.1.4 Lokalisation führungsgänge der Schweißdrüsen, z. B. im Zusam-


Die Schweißdrüsen sind fast über den ganzen Körper menhang mit dermatologischen Erkrankungen.
verteilt, wobei einige Körperstellen besonders be- Auch schwere Allgemeinerkrankungen können zu
tont sind. So finden sich besonders viele Schweiß- einer Hypohidrosis führen. Diese entsteht dann zu-
drüsen auf der Stirn, am Nasenrücken, in den Achsel- meist im Zusammenhang mit einer Exsikkose. Häufi-
höhlen, an den Handinnenflächen und an den Fuß- ger wird dieses Geschehen beobachtet bei Diabetes
sohlen (Abb. 19.1). An einigen wenigen Stellen des insipidus, einer Niereninsuffizienz oder einer Hypo-
Körpers, wie z. B. Lippenrand, Nagelbett, Klitoris und thyreose. Eine medikamentös bedingte Hypohidrosis
Eichel, befinden sich keine Schweißdrüsen. Im Ge- ist nach der Applikation von Atropin festzustellen.
gensatz zu Frauen schwitzen Männer besonders viel Menschen, die unter einer Anhidrosis oder Hypo-
im Stirnbereich. hidrosis leiden, sind besonders gefährdet für einen
Hitzestau oder Hitzeschlag.

!
Merke: Menge, Aussehen, Geruch und Loka-
lisation stellen die allgemeinen Beobach- Hyperhidrosis
tungskriterien des Schweißes dar. Mit Hyperhidrosis wird eine generalisierte oder loka-
le Steigerung der Schweißsekretion beschrieben.
Physiologisch ist diese Veränderung der Schweißse-
19.2 Abweichungen,
kretion bei großer Hitze zur Wärmeregulation und
Veränderungen des während des Klimakteriums. Des weiteren ist eine
Schweißes und deren Hyperhidrosis bei Erregungszuständen durch Angst
mögliche Ursachen oder Aufregung und bei Adipositas beobachtbar. Als
Begleitsymptom von Grunderkrankungen entsteht
Veränderungen des Schweißes und der Schweißse- eine Hyperhidrosis bei endokrinologischen Erkran-
kretion können wichtige Hinweise auf Erkrankungen kungen wie beispielsweise der Hyperthyreose oder
und akute Geschehen liefern. infolge eines hormonproduzierenden Tumors wie
dem Phäochromozytom. Ebenfalls als Begleitsymp-
19.2.1 Veränderungen der Menge tom tritt die Hyperhidrosis bei Fieber auf (s. a. S. 159).
Anhidrosis Eine medikamentös bedingte Hyperhidrosis kann
nach der Einnahme von Parasympathomimetika,
Definition: Unter Anhidrosis wird eine fehlen-
Kortikoiden und Salicylsäure-Präparaten entstehen.
de Schweißsekretion verstanden.

Nachtschweiß
Sie kann durch ein angeborenes Fehlen der Schweiß-
Eine besondere Form der Hyperhidrosis ist der
drüsen (Christ-Siemens-Touraine-Syndrom) oder
Nachtschweiß. Hiermit wird eine nachts auftreten-
deren Zerstörung, beispielsweise durch Verbrennun-
de, vermehrte Schweißsekretion beschrieben. Der
gen, bedingt sein.
Nachtschweiß entsteht infolge einer vegetativen Stö-
rung und ist oftmals zu beobachten bei Tuberkulose,
Hypohidrosis
akuter Leukämie und AIDS.
Definition: Die Hypohidrosis, auch Oligohi-
drosis genannt, beschreibt die verminderte ge-
Zusammenfassung:
neralisierte oder lokale Schweißsekretion.
Allgemeine Beobachtungskriterien
Die Schweißsekretion reguliert die Körpertempera-
Sie kann wie die Anhidrosis erblich bedingt sein, wo-
tur und sondert Stoffwechselprodukte aus.
bei hier zu wenige und/oder zu kleine Schweißdrü-
Das thermische Schwitzen ist vom emotionalen
sen angelegt sind. Daneben tritt eine Hypohidrosis
Schwitzen zu unterscheiden.
nerval bedingt bei neurologischen Erkrankungen
Der Schweiß wird nach Menge, Aussehen, Geruch
19 auf. So kann beispielsweise infolge einer Erkrankung
und Lokalisation beurteilt.
der peripheren Nerven, wie z. B. bei der Polyneuropa-
Anhidrosis, fehlende Schweißsekretion, und Hypo-
thie oder bei Verletzung peripherer Nerven, eine Hy-
hidrosis, verminderte Schweißsekretion, können
pohidrosis diagnostiziert werden. Eine weitere Ursa-
angeboren oder durch Verbrennung oder Erkran-
che für eine Hypohidrosis ist die Verlegung der Aus-
kung entstehen.

344 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
19.2 Abweichungen, Veränderungen des Schweißes und deren mögliche Ursachen

Der Nachtschweiß ist eine besondere Form der Hy- Aufgrund des Geruchs wird dieser Schweiß auch als
perhidrosis, der übermäßigen Schweißsekretion. Stinkschweiß bezeichnet. Er entsteht durch eine
bakterielle Zersetzung der organischen Bestandteile
19.2.2 Veränderungen des Aussehens des Schweißes, vielfach infolge mangelnder Hygiene,
Kalter, kleinperliger Schweiß besonders in schlecht belüfteten Körperregionen
Kalter, kleinperliger, zumeist auch klebriger Schweiß oder auch in Kleidungsstücken.
ist immer ein Alarmzeichen und deutet auf eine kriti-
sche körperliche Situation hin. Er tritt auf bei begin- Urhidrosis
nendem Erbrechen, einem Kreislaufzusammenbruch Definition: Bei der Urhidrosis werden über den
oder einer Hypoglykämie. Schweiß harnpflichtige Substanzen in großer
Menge ausgeschieden.

!
Merke: Kalter, kleinperliger Schweiß kann
auf einen drohenden Kreislaufzusammen- Dieser intensive Geruch nach Urin, der häufig von
bruch hinweisen. Juckreiz begleitet wird, tritt bei Nierenversagen mit
Urämie auf.
Chromhidrosis
Definition: Als Chromhidrosis wird die Abson- Acetongeruch
derung von farbigem (blaugrünen bis schwar- Definition: Als Acetongeruch wird ein obst-
zen) Schweiß aus den Schweißdrüsen bezeich- ähnlicher Geruch bezeichnet, der durch eine
net. Ausscheidung von Ketonkörpern über den Harn,
aber auch über den Schweiß erzeugt wird.
Die Ursache ist bis heute ungeklärt. Diskutiert wird
eine berufsbedingte Aufnahme von Metallverbin- Typisch ist dieser Geruch für ein Diabetisches Koma
dungen, z. B. in Form von farbigem Staub bei Metall- und Hungerzustände.
arbeitern, sowie Arzneimittel als auslösender Faktor.
Fischgeruch
Seborrhö Ein fischartiger Geruch, bedingt durch eine vermehr-
Definition: Mit Seborrhö oder Schmerfluss te Ausscheidung von Trimethylamin über Harn und
wird fettiger, glänzender Schweiß bezeichnet. Schweiß, ist bei der Trimethylaminurie, dem sog.
Fischgeruch-Syndrom festzustellen. Bei Trimethyl-
Er entsteht durch eine vermehrte Produktion der amin handelt es sich um ein farbloses Gas, welches
Talgdrüsen, besonders am behaarten Kopf und im im Scheidensekret, in Pflanzen und in der Heringsla-
Gesicht. Seborrhö tritt im Rahmen eines Parkinson- ke vorkommt. Bei einem erblich bedingten Mangel
Syndroms, bei Akne vulgaris und bei Ekzemen auf. des Enzyms Trimethylaminoxidase kann aufgenom-
menes Trimethylamin nicht abgebaut werden, son-
19.2.3 Veränderungen des Geruchs dern muss über Urin und Schweiß ausgeschieden
Vielfach treten Veränderungen des Schweißgeruchs werden, was zu dem charakteristischen fischartigen
zusammen mit Veränderungen des Mund- und Geruch führt.
Atemgeruchs auf. Sie zeigen damit aber auch gleich-
zeitig die Bedeutung des Schweißes als extrarenales 19.2.4 Lokalisation
Ausscheidungsorgan. Wichtige Hinweise auf Erkrankungen kann auch das
Auftreten von Schweiß an bestimmten Körperstel-
Bromhidrosis len/-zonen liefern. Vielfach handelt es sich um eine
Definition: Mit Bromhidrosis wird die Abson- lokale Hyperhidrosis (s. a. S. 344).
derung von unangenehm riechendem Schweiß
beschrieben. Hemihyperhidrosis
Als Hemihyperhidrosis wird eine einseitig übermä- 19
ßig gesteigerte Schweißsekretion bezeichnet. Meist
ist eine Gesichtshälfte betroffen; doch es kann auch
eine gesamte Körperhälfte eine Hemihyperhidrosis

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 345


KaelDesu
19 Schweiß

aufweisen. Bei gesunden Menschen kann dies nach Die auch als Dammschweiß bezeichnete Hyperhi-
dem Genuss von Senf und scharfen Speisen auftre- drosis perinealis tritt häufig auf nach langen Mär-
ten, als pathologische Ursachen werden z. B. Reizun- schen und bei adipösen Menschen und ist vielfach
gen des Halssympathikus, Hirntumore, Enzephalitis mit einer Intertrigo kombiniert.
oder eine Hemiplegie angesehen.
Bei der Hemihyperhidrosis cruciata, bei der es zur Anhidrosis tropica
vermehrten Schweißsekretion einer Gesichtshälfte Definition: Bei der Anhidrosis tropica kommt
und der gegenseitigen Rumpfhälfte kommt, ist die es zu einem schweißüberströmten Gesicht bei
Ursache die Syringomyelie. Hierbei handelt es sich vollständig trockenem Körper.
um eine Rückenmarkserkrankung, in deren Verlauf
sich eine Höhlen- und Spaltenbildung innerhalb der Beobachtet wird diese Form der Anhidrosis bei Men-
grauen Rückenmarkssubstanz zeigt. Eine weitere schen, die in einem Hitzemilieu arbeiten.
Sonderform der einseitig vermehrten Schweißsekre-
tion ist die paradoxe Hemihyperhidrosis. Bei dieser
Form kommt es nach einer ungewöhnlichen Einwir- 19.3 Ergänzende
kung wie beispielsweise einem Kältereiz zu einer Beobachtungskriterien
einseitig vermehrten Schweißabsonderung.
Wie oben beschrieben, können Veränderungen des
Hyperhidrosis axillaris Schweißes und der Schweißsekretion häufig ein Zei-
Der Achselschweiß oder Hyperhidrosis axillaris ist chen für eine vorliegende Erkrankung sein. Diese Er-
zumeist konstitutionell bedingt, d. h. er tritt vor al- krankungen können neben dem Schweiß auch ande-
lem bei Menschen auf, die genetisch veranlagt, eine re Beobachtungskriterien beeinflussen. Insbesonde-
große Menge Schweißdrüsen in der Achselregion re zählen hierzu Veränderungen der Körpertempera-
aufweisen. Auch emotionale Stresssituationen, wie tur, des Pulses und des Blutdrucks.
z. B. große Angst oder Aufregung, können zu einer Weiterhin sollten bei dem Auftreten von Schweiß-
vermehrten Achselschweißsekretion führen. Er kann veränderungen die Bewegungen und der Muskelto-
auch in Form einer Bromhidrosis auftreten. nus beobachtet werden, um Hinweise auf eine mögli-
che neurologische Erkrankung zu bekommen. Der Zu-
Hyperhidrosis manuum sammenhang zwischen Veränderungen des Schwei-
Definition: Mit Hyperhidrosis manuum wird ßes und Veränderungen anderer Beobachtungskrite-
die vermehrte Schweißabsonderung an den rien ergibt sich prinzipiell aus den der jeweiligen
Handinnenflächen bezeichnet. Schweißveränderung zugrunde liegenden Ursachen.

Er tritt zumeist bei Erregungszuständen wie Aufre-


gung, Freude und Angst auf. Häufiger beobachtet 19.4 Besonderheiten bei Kindern
wird diese Veränderung auch bei Friseuren während Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm
der Arbeit mit Kaltwellenentwicklerlösung.
Die bereits in der Fetalzeit angelegten Hautdrüsen
Hyperhidrosis peduum (s. a. Kap. 7.2.3) unterteilen sich in Schweiß- und
Definition: Der Fußschweiß, Hyperhidrosis pe- Duftdrüsen. Da ein Säugling oder Kleinkind eine klei-
duum, ist in den meisten Fällen konstitutionell nere Hautoberfläche besitzt als ein Erwachsener (s. a.
oder durch ungeeignete Fußbekleidung bedingt. S. 102), liegen die Schweißdrüsen, auch ekkrine Drü-
sen genannt, näher beisammen. Die Dichte dieser
Durch Zersetzung in den Strümpfen kommt es hier- Drüsen nimmt mit dem natürlichen Wachstum des
bei oftmals zur Bromhidrosis. Kindes ab. Die Schweißdrüsen werden durch das
sympathische Nervensystem aktiviert. Ihre unregel-
19 Hyperhidrosis perinealis mäßige Funktion kann auf das zunächst noch unor-
Definition: Unter Hyperhidrosis perinealis ganisierte Nervengeflecht des Kindes zurückgeführt
wird die vermehrte Schweißsekretion aus der werden. Sie erlangen erst ab dem 2. – 3. Lebensjahr
Perinealregion verstanden. ihre vollständige Sekretionsaktivität.

346 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
19.6 Fallstudien und mögliche Pflegediagnosen

Bei Früh- und Neugeborenen stehen die zur Wär-


meabgabe durch Schwitzen benötigten Schweißdrü- 19.5 Besonderheiten bei älteren
sen nicht zur Verfügung. Somit kann es bei zu hohen Menschen
Umgebungstemperaturen oder Fieber schnell zu ei-
nem Wärmestau kommen. Durch häufig im Alter auftretende Erkrankungen,
Die Duftdrüsen, auch apokrine Drüsen genannt, wie z. B. Diabetes mellitus, Morbus Parkinson oder
nehmen ihre Sekretproduktion erst ab Beginn der Apoplexie, sind bei älteren Menschen vermehrt Ver-
Pubertät auf. Sie senden die geschlechtsspezifischen änderungen des Schweißes und der Schweißsekreti-
Duftstoffe aus, sind bei Mädchen etwas stärker ent- on zu beobachten. Sie bedingen eine entsprechende
wickelt, und es bestehen funktionelle Beziehungen Unterstützung bei der Pflege der Haut, vor allem,
zum Genitalzyklus. wenn zusätzlich Einschränkungen der Beweglichkeit
Wie auch bei den Erwachsenen sind die beein- vorhanden sind.
flussenden Faktoren ein wichtiges Beobachtungskri-
terium.
Kalter, kleinperliger Schweiß ist bei Kindern mit 19.6 Fallstudien und mögliche
angeborenen Herzfehlern und einer sich daraus er- Pflegediagnosen
gebenden Herzinsuffizienz und bei Asthma bron-
chiale, verbunden mit Atemnot, zu beobachten. In Vor allem eine vermehrte Schweißsekretion, evtl.
diesem Fall müssen die Vitalzeichen engmaschig mit zusätzlicher Veränderung des Geruches, ist für
überwacht und sofortige ärztliche Maßnahmen ein- die betroffenen Menschen äußerst unangenehm. Zu-
geleitet werden. meist sind diese Veränderungen für die „Öffentlich-
Warmer, großperliger Schweiß tritt bei vermehr- keit“ sichtbar und eventuell auch riechbar. Dies kann
ter Muskelarbeit, starker emotionaler Stimmung, ho- zu einer sozialen Isolation der Betroffenen führen.
hen Außentemperaturen, Fieber und Störungen des
zentralen Nervensystems auf. Beispiel: Frau Schmidt ist 45 Jahre alt und
befindet sich zur Zeit aufgrund einer Beinve-
Zusammenfassung: nenthrombose links in stationärer Behand-
Abweichungen und Veränderungen des lung. Seit 10 Jahren leidet sie unter einer Hyperthyreo-
Schweißes se, die mit einer Hyperhidrosis einhergeht. Besonders
Nach dem Aussehen unterscheidet man kleinperli- unangenehm ist dies für Frau Schmidt im Sommer, da
gen (kalten) Schweiß, der auf einen Kreislaufzu- sie dann zum Teil bereits nach einigen Stunden so
sammenbruch hinweist, farbigen, dessen Ursache durchgeschwitzt ist, dass sie ihre Kleidung wechseln
ungeklärt ist, und fett glänzenden, der bei Parkin- muss. Tab. 19.1 zeigt einen Auszug aus dem Pflegeplan
son oder Akne auftritt. von Frau Schmidt.
Hinsichtlich des Geruchs können Bromhidrosis, Ur- Eine Pflegediagnose, die sich speziell mit der Verände-
hidrosis, Aceton- oder Fischgeruch abgegrenzt wer- rung der Schweißsekretion in Form einer Hyper- oder
den. Hypohidrosis befasst, wurde bisher nicht von der
Beim Auftreten von Schweiß ist das Vorkommen NANDA definiert. Würde bei dem o. a. Fallbeispiel „Frau
von Hemihyperhidrosis, Hyperhidrosis axillaris, Schmidt“ allerdings die Ressource „trinkt entsprechend
-manuum, -peduum, -perinealis sowie Anhidrosis der Schweißsekretion“ wegfallen, so könnte sich aus
tropica zu beobachten. der vermehrten Schweißsekretion die Gefahr einer Ex-
Bei Kindern kann es schnell zu einem Wärmestau sikkose ergeben und die in der folgenden Übersicht
kommen, da die Schweißdrüsen noch nicht voll- dargestellte Pflegediagnose zutreffend sein:
ständig ausgebildet sind.

19

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 347


KaelDesu
19 Schweiß

Tab. 19.1 Auszug aus dem Pflegeplan von Frau Schmidt

Pflegeproblem Ressourcen Pflegeziele Pflegemaßnahmen

Fr. Schmidt leidet unter ei- 쐌 kennt die Ursache 쐌 die Schweißsekretion ist 쐌 Beobachtung des Schweißes bzgl. Menge
ner Hyperhidrosis aufgrund 쐌 trinkt entsprechend der vermindert und Geruch
einer Hyperthyreose Schweißsekretion 쐌 fühlt sich wohl 쐌 bei Bedarf frische Kleidung und Wäsche
zurechtlegen
쐌 Körperpflege:
– 1 l Salbeitee auf 4 l Wasser
– Wassertemperatur ⬍ Körpertempera-
tur
– Waschung in Haarwuchsrichtung
– für Intimbereich klares Wasser verwen-
den
쐌 Beobachtung der Haut bzgl. Defekten
und Exsikkosezeichen

Gefahr eines Flüssigkeitsdefizits (P) (erhöhte Flüssigkeitsausfuhr)


(Gordon 2013, S. 159 – 160, NANDA-I 2016) (Pollakisurie)
Risk for deficient fluid volume (00028) (1978) Gewichtsextreme
Taxonomie II: Domäne 2: Ernährung,
Pflegeergebnisse (Outcomes)
Klasse 5: Flüssigkeitszufuhr
Flüssigkeitshaushalt (Fluid Balance)
Diagnosetyp (Dokumentationsform): Risiko Pflege- Gleichgewicht zwischen Intra- und Extrazellularraum
diagnose (PR) des Körpers
Funktionelles Gesundheitsverhaltensmuster:
Flüssigkeitszufuhr (Hydration)
Ernährung und Stoffwechsel
Ausreichend Wasser im Intra- und Extrazellularraum
Definition des Körpers
Risiko einer vaskulären, zellulären oder intrazellulären
Dehydratation
In diesem Fall könnte die Pflegediagnose „Gefahr ei-
Risikofaktoren (R)
nes Flüssigkeitsdefizits beeinflusst durch (b/d) über-
(beeinträchtigte Fähigkeit, Flüssigkeiten aufzuneh-
mäßigen Flüssigkeitsverlust auf natürlichem Wege
men
(Hyperhidrosis)“ gestellt werden.
übermäßiger Verlust über die physiologischen Wege
([zu beschreiben:] z. B. Diarrhö)
Beispiel: Eva wurde aufgrund einer Pla-
Flüssigkeitsverlust über unphysiologische Wege ([zu
beschreiben:] z. B. liegende Sonden)
zentainsuffizienz der Mutter schon in der
übermäßiger Flüssigkeitsverlust über Atmung und 33. Schwangerschaftswoche geboren. Sie
Haut wiegt nur 1650 g und ist temperaturinstabil. Zum jetzi-
Abweichungen beim Zugang zu Flüssigkeiten: gen Zeitpunkt hat sie eine Körpertemperatur von
– Abweichungen bei der Flüssigkeitszufuhr 38,1 ⬚C. Die Haut fühlt sich warm an, das kleine Gesicht
– Abweichungen bei der Flüssigkeitsabsorption (z. B. ist leicht gerötet. Eva wird im Inkubator betreut.
Immobilität, Bewusstlosigkeit) Ein Beispiel für ein mögliches Pflegeproblem von Eva
Medikation (z. B. Diuretika) zeigt Tab. 19.2.
Faktoren, die den Flüssigkeitsbedarf beeinflussen
(z. B. hypermetabolische Zustand; eine trockene, Für Eva könnte die Pflegediagnose folgendermaßen
heiße Umgebung) formuliert werden:
19
Altersextreme
(Hyperthermie)
Wissensdefizit (Flüssigkeitsbedarf)

348 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
Literatur

Tab. 19.2 Auszug aus dem Pflegeplan von Eva

Pflegeproblem Ressourcen Pflegeziele Pflegemaßnahmen

Gefahr eines Wärmestaus Wärme kann bedingt durch 쐌 Körpertemperatur ist aus- 쐌 Temperatur im Inkubator: 31⬚ – 33 ⬚C
bei Frühgeburt (benötigte Abstrahlung abgegeben geglichen 쐌 kontinuierliche Überwachung der Körper-
Schweißdrüsen stehen nicht werden 쐌 Eva erfährt keine zusätzli- temperatur (Monitoring)
zur Verfügung) che Schädigung, da Tem- 쐌 Messsonde auf Bauchhaut
peraturschwankungen 쐌 bei Temperatur ⬎ 38 ⬚C fiebersenkende
frühzeitig erkannt werden Maßnahmen nach Anordnung

Unwirksame Wärmeregulation (s. a. S. 159)


b/d (beeinflusst durch) schwankende Umge- Literatur:
bungstemperatur bei Unreife (Frühgeburt),
Fischer, K., H. Sobottka, D. Faas (Hrsg.): Klinikleitfaden Kinder-
a/d (angezeigt durch) Schwankungen der Körper-
krankenpflege. 4. Aufl. Urban & Fischer, München 2009
temperatur oberhalb der Normaltemperatur.
Gerlach, U., H. Wagner, W. Wirth: Innere Medizin für Pflegebe-
rufe. 8. Aufl. Thieme, Stuttgart 2015
Fazit: Der Schweiß bzw. die Schweißsekreti- Gordon, M.: Handbuch Pflegediagnosen. 5. Aufl. Hans Huber,
on sind Beobachtungskriterien, die bei der Hogrefe AG, Bern 2013
Erfassung von bestimmten Grunderkrankun- Hoehl, M., P. Kullick (Hrsg.): Gesundheits- und Kinderkranken-
gen hilfreich sein können. Der enge Zusammenhang pflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012
Illing, S., M. Claßen (Hrsg.): Klinikleitfaden Pädiatrie. 9. Aufl.
zwischen der Schweißsekretion und dem Kreislauf-
Urban & Schwarzenberg, München 2014
und Nervensystem zeigt sich in dem teilweise schnellen
Köther, I.: Altenpflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2016
Auftreten von Veränderungen des Schweißes. NANDA International: Pflegediagnosen. Definitionen und
Im Rahmen der Pflege spielt deshalb die Beobach- Klassifikation 2015 – 2017. Herdman, T. H., S. Kamitsuru
tung des Schweißes auch eine wichtige Rolle. Einerseits (Hrsg.): RECOM, Kassel 2016
können so Komplikationen, wie z. B. ein drohender Pschyrembel Klinisches Wörterbuch. 264. Aufl. de Gruyter,
Kreislaufkollaps, frühzeitig erkannt und entsprechen- Berlin 2014
Schewior-Popp, S., F. Sitzmann, l. Ullrich (Hrsg.): Thiemes Pfle-
de Maßnahmen eingeleitet werden, andererseits bietet
ge. 13. Aufl. Thieme, Stuttgart 2017
die Überwachung der Schweißsekretion die Möglich-
Schwegler, J., R. Lucius: Der Mensch. Anatomie und Physiolo-
keit, den Zeitpunkt und den Umfang der pflegerischen gie. 6. Aufl. Thieme, Stuttgart 2016
Interventionen auf die aktuelle und individuelle Situa-
tion eines Menschen abzustimmen. Im Internet:
https://www.pschyrembel.de/; Stand: 03. 08. 2017

19

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 349


KaelDesu

20 Menstruation und Fluor


Panajotis Apostolidis*, Petra Schmalstieg

Übersicht
Einleitung · 350
20.1 Beschreibung des Normalzustands · 351
20.1.1 Menstruation · 351
20.1.2 Fluor genitalis · 351
20.2 Abweichungen, Veränderungen bei
Menstruation und Fluor und deren
mögliche Ursachen · 351
20.2.1 Menstruationsstörungen · 351
20.3 Ergänzende Beobachtungskriterien · 356
20.4 Besonderheiten bei Kindern · 356
20.4.1 Abweichungen, Veränderungen und
deren mögliche Ursachen · 356
20.5 Besonderheiten bei älteren Das folgende Kapitel beschreibt die Menstruation
Menschen · 357 und den Fluor und geht auf mögliche Störungen und
20.6 Fallstudien · 357 deren Ursachen ein.
Fazit · 357 Die Menstruationsblutungen und der Fluor geni-
Literatur · 359 talis zählen zu den vaginalen Ausscheidungen. Die
vaginalen Sekrete werden hormonell gesteuert. Sie
sind abhängig vom Entwicklungszustand und dem
Schlüsselbegriffe:
Alter der Frau.
왘 Menstruationsstörungen
왘 Fluor genitalis Definition: Als Menstruation wird die monat-
왘 Menarche liche Regelblutung der Frau bezeichnet, die mit
왘 Klimakterium einer Abstoßung der Gebärmutterschleimhaut,
des sog. Endometriums, einhergeht. Gebräuchliche Sy-
nonyme sind Menses, Regel und Periode.

Einleitung Die Blutung tritt während der Fortpflanzungsfähig-


keit der Frau in regelmäßigen Abständen auf. Der
Trotz zunehmender Aufklärung gelten Menstruation 1. Tag der Blutung gilt als Beginn des sog. Menstruati-
und Fluor auch heute noch vielfach als Tabuthemen. onszyklus, worunter ein wiederkehrender Ablauf
Da beide eng mit der Intimsphäre einer Frau zusam- weiblicher Körperfunktionen verstanden wird und
menhängen, erfordert die Beobachtung von Mens- der mit dem Tag vor der nächsten Monatsblutung en-
truation und Fluor ein hohes Maß an Einfühlungs- det. Ein Menstruationszyklus dauert durchschnitt-
vermögen und einen sensiblen Umgang. lich 28 Tage und unterliegt einer hormonellen Steue-
Störungen im Bereich der Menstruation und des rung.
Fluor sind für die betroffenen Frauen nicht nur unan- Während des Menstruationszyklus kommt es u. a.
genehm, sondern oftmals auch von belastenden All- zu Veränderungen an der Gebärmutterschleimhaut
gemeinsymptomen begleitet. Für viele Mädchen ist mit dem Ziel, optimale Bedingungen für die Einnis-
das Einsetzen der Menstruation ein Zeichen des Er- tung einer befruchteten Eizelle zu schaffen. Eine ech-
wachsenwerdens. Demgegenüber wird das Klimak- te Menstruation liegt nur dann vor, wenn im voran-
terium häufig als Zeichen des biologischen Alterns gegangenen Zyklus ein Eisprung (Ovulation) statt-
20 gedeutet. fand.

350 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
20.2 Abweichungen, Veränderungen bei Menstruation und Fluor und deren mögliche Ursachen

Definition: Mit Fluor, Fluor genitalis, Fluor va- 20.2 Abweichungen,


ginalis oder Ausfluss wird eine meist unblutige
vaginale Sekretion beschrieben.
Veränderungen bei
Menstruation und Fluor und
Er unterliegt wie die Menstruation hormonellen deren mögliche Ursachen
Schwankungen. Die Sekretion erfolgt über Drüsen im
Bereich des Gebärmutterhalses, im Scheidenvorhof, 20.2.1 Menstruationsstörungen
im unteren Drittel der großen Labien (Bartholin- Die Menstruation wird beobachtet hinsichtlich des
Drüsen) sowie durch Transsudation. Der Fluor geni- Rhythmus, der Menstruationsstärke und -dauer.
talis hält die Scheide feucht, verhindert das Wachs- Weitere Beobachtungspunkte im Zusammenhang
tum von Krankheitserregern und deren Eindringen mit der Menstruation sind das Auftreten von Zusatz-
in die Gebärmutter. blutungen, Dauerblutungen, das Ausbleiben der Re-
gelblutung und das Auftreten von Begleitsympto-
men.
20.1 Beschreibung des Zur Erkennung und Differenzierung einer mögli-
Normalzustands chen Menstruationsstörung empfiehlt sich die Füh-
rung eines Menstruationskalenders, in dem die Tage
20.1.1 Menstruation der Periode gekennzeichnet werden und evtl. Anga-
Die normale Menstruation, die ohne wesentliche Be- ben über die Stärke und Begleitsymptome vermerkt
schwerden erfolgt, wird als Eumenorrhö bezeichnet. werden können (Abb. 20.1). Zur Beurteilung der Stär-
Sie erfolgt in einem regelmäßigen Intervall von 28 ⫾ ke können Angaben bezüglich der Anzahl der ver-
4 Tage und mit einer Dauer von 3 – 4 Tagen. Hierbei brauchten Vorlagen oder Tampons herangezogen
werden 50 – 150 ml Blut ausgeschieden. werden.

!
20.1.2 Fluor genitalis Merke: Beobachtungskriterien der Mens-
Der physiologische Fluor genitalis ist farb- und ge- truation sind Rhythmus, Stärke, Dauer, Zu-
ruchlos und besitzt ein glasig-schleimiges Aussehen. satz- und Dauerblutungen, das Ausbleiben
Bedingt durch die hormonellen Schwankungen wäh- der Menstruation und das Auftreten von Begleitsymp-
rend des Menstruationszyklus ist in der Mitte des tomen.
Zyklus eine vermehrte Sekretion (periovulatorischer
Fluor) zu beobachten. Störungen des Menstruationsrhythmus
Die Störungen des Menstruationsrhythmus stellen
sog. Regeltempoanomalien dar. Sie werden durch

Monat 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 Besonderheiten
Januar
Februar
März
April
Mai
Juni
Juli
August
September
Oktober
November
Dezember
20
Abb. 20.1 Menstruationskalender

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 351


KaelDesu
20 Menstruation und Fluor

unterschiedliche Dauer der einzelnen Zyklusphasen Blutkrankheiten (z. B. Hypertonie, Gerinnungsstö-


hervorgerufen. Unterschieden werden hierbei zu sel- rungen) können zu einer Hypermenorrhö führen.
tene oder zu häufige Menstruationsblutungen.
Störungen der Menstruationsdauer
Definition: Eine zu seltene Menstruation mit Zu den Störungen der Menstruationsdauer zählen
Abständen von über 35 Tagen wird als Oligome- die Brachymenorrhö und die Menorrhagie.
norrhö bezeichnet.
Definition: Die Brachymenorrhö beschreibt
Die Follikel reifen bei einer Oligomenorrhö langsa- eine verkürzte Regelblutung mit einer Dauer von
mer heran, was zu einer Verlängerung der ersten Stunden bis 21/2 Tage und einer zumeist schwa-
Zyklusphase (Follikelreifungsphase) führt. In der Pu- chen Blutung.
bertät und im Klimakterium sind seltene Blutungen
zu beobachten. Die Stärke der Blutung und die Dauer Ursachen können die Einnahme von Ovulationshem-
sind bei einer Oligomenorrhö zumeist normal. mern, aber auch psychische Belastungen und Verän-
derungen im Tag-Nacht-Rhythmus sein.
Definition: Mit Polymenorrhö wird eine
Menstruation, die in Abständen von weniger als Definition: Eine Menstruationsblutung, die
21 Tagen auftritt, beschrieben. länger als 6 Tage andauert, wird als Menorrha-
gie bezeichnet.
Bei dieser Menstruationsstörung ist die Follikelrei-
fungsphase oder die Gelbkörperphase (Corpus-Lu- Zumeist geht diese verlängerte Regelblutung mit ei-
teum-Phase) verkürzt. Hinsichtlich der Stärke und ner vermehrten Blutung einher. Als Ursachen kom-
der Dauer sind bei der Polymenorrhö keine Abwei- men entzündliche und infektiöse Erkrankungen des
chungen beobachtbar. Uterus und der Ovarien, Tumore der Gebärmutter
(z. B. Polypen, Myome, Karzinome), ein Hypertonus,
Störungen der Menstruationsstärke Stoffwechselerkrankungen und Blutgerinnungsstö-
Hinsichtlich der Menstruationsstärke werden zu rungen in Frage.
schwache oder zu starke Blutungen unterschieden.
Diese Form der Störungen wird auch als Regel- Zusatzblutungen
stärkeanomalien bezeichnet. Die prämenstruelle und postmenstruelle Blutung so-
wie die Zwischenblutung werden als Zusatzblutun-
Definition: Eine schwache Regelblutung, bei gen innerhalb des Zyklus bezeichnet.
der der Blutverlust ⬍ 50 ml beträgt und die zu-
meist nur 1 – 2 Tage andauert, wird als Hypome- Definition: Als praemenstruelle Blutung oder
norrhö bezeichnet. Vorblutung wird eine Blutung bezeichnet, die
vor der eigentlichen monatlichen Regelblutung
Ursachen der Hypomenorrhö sind u. a. eine Endome- auftritt.
tritis und eine Ovarialinsuffizienz. Daneben können
die Einnahme von Ovulationshemmern, Störungen Es handelt sich um eine leichte Blutung (Schmierblu-
des Körpergewichts wie Adipositas oder Anorexia tung), die bis zu 10 Tage vor der eigentlichen Mens-
nervosa zu einer Hypomenorrhoe führen. Außerdem truation einsetzt. Häufigste Ursache ist ein vorzeiti-
kann eine schwache Menstruationsblutung vor dem ger Abfall des Östrogens.
Beginn des Klimakteriums beobachtet werden.
Definition: Erfolgt im Anschluss an eine Mens-
Definition: Bei der Hypermenorrhö ist die Blu- truation eine Blutung, so wird diese als post-
tung mit ⬎ 150 ml verstärkt, die Dauer der Blu- menstruelle Blutung oder Nachblutung be-
tung normal. zeichnet.

20 Myome und Polypen stellen häufige Ursachen dar, Neben einer verzögerten Regeneration des Endome-
aber auch extragenitale Ursachen wie Gefäß- und triums stellen Myome, Polypen, Karzinome und ent-

352 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
20.2 Abweichungen, Veränderungen bei Menstruation und Fluor und deren mögliche Ursachen

zündliche Veränderungen des Endometriums weite- Tab. 20.1 Menstruationsstörungen


re Ursachen dar. Blutungsschema Beschreibung

Definition: Die Ovulationsblutung oder Mit- Eumenorrhö Eumenorrhö: normale


Menstruation
telblutung stellt eine weitere Form der Zusatz-
blutung dar. Sie stellt sich als eine geringe Blu-
tung zum Zeitpunkt der Ovulation dar. Oligomenorrhö Oligomenorrhö: seltene
Blutungen (Verlängerung
des Zyklus ⬎ 35 Tage),
Die Ovulationsblutung geht häufig mit Schmerzen normale Stärke und
einher, die auch als Mittelschmerzen bezeichnet Dauer
werden, da die Ovulation in der Mitte des Zyklus
Polymenorrhö Polymenorrhö: häufige
liegt. Die Blutung entsteht infolge eines verstärkten Blutungen (Verkürzung
Östrogenabfalls. des Zyklus ⬍ 21 Tage),
normale Stärke und
Dauer
Dauerblutungen
Alle Blutungen, die länger als die normale Menstrua- Hypomenorrhö Hypomenorrhö: schwa-
tion (Menorrhagie – s. o.) anhalten oder nicht aufhö- che Blutung, Dauer von
1 – 2 Tagen ⬍ 50 ml
ren (Metrorrhagie), werden zu den Dauerblutungen
gezählt. Hypermenorrhö Hypermenorrhö: ver-
stärkte Blutung, normale
Dauer ⬎ 150 ml
Definition: Die Metrorrhagie ist eine Blutung
außerhalb der Menstruation, die länger als 7 Ta- Brachymenorrhö Brachymenorrhö: ver-
ge andauert. kürzte Blutung, Dauer
von Stunden bis 21/2 Tage,
zumeist schwache Blu-
Da kein Zusammenhang mit der Menstruation be- tung
steht, wird diese Art der Blutung auch als azyklische
Blutung bezeichnet. Häufigste Ursache ist eine Folli- Menorrhagie Menorrhagie: verlänger-
te Blutung, länger als 6
kelpersistenz, d. h. ein Follikel reift heran, aber die Tage, zumeist verstärkte
Ovulation bleibt aus. Es wird dabei weiterhin Folli- Blutung
kelhormon gebildet, was dann zu der Blutung führt.
Zwischenblutung prämenstruelle Blutung:
Weitere Ursachen sind entzündliche Veränderungen vor der eigentlichen Re-
der Gebärmutterschleimhaut sowie verschiedene gelblutung, Dauer bis zu
prämenstruelle 10 Tagen, zumeist schwa-
benigne (Myome, Polypen) oder maligne Tumore
Blutung che Blutung
(Karzinom) der Gebärmutter.
Die Tab. 20.1 zeigt einen Überblick über die ver- Zwischenblutung postmenstruelle Blu-
schiedenen Menstruationsstörungen. tung: nach der eigentli-
chen Regelblutung, Dauer
postmenstruelle bis zu 10 Tagen, zumeist
Ausbleiben der Regelblutung Blutung schwache Blutung
Das Ausbleiben der Menstruation wird als Amenor-
rhö bezeichnet. Eine physiologische Amenorrhö ist Zwischenblutung Ovulationsblutung: Mit-
telblutung (Ovulation),
vor der Menarche, also der ersten Regelblutung, schwache Blutung, meist
während der Schwangerschaft, der Laktation, d. h. Ovulations- mit Mittelschmerz einher-
blutung gehend
während der Produktion und Sekretion von Mutter-
milch, und nach der Menopause (letzte Menstruati- Metrorrhagie Metrorrhagie: Blutung
on) zu beobachten. Bei der pathologischen Amenor- außerhalb der Menstrua-
rhö werden 2 Formen, die primäre und sekundäre tion, Dauer ⬎ 7 Tage
Amenorrhö, unterschieden. Bleibt die erste Mens-
truation bis zum 18. Lebensjahr aus, so handelt es
sich hierbei um eine primäre Amenorrhö. Die häu- 20
figsten Ursachen sind chromosomale Fehlentwick-
lungen und Gynatresien.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 353


KaelDesu
20 Menstruation und Fluor

Definition: Unter Gynatresien werden ver- tigen starken Gewichtszunahme. Umfang und Inten-
schiedene Formen des angeborenen Verschlus- sität der Symptome sind individuell ausgeprägt. Mit
ses der weiblichen Genitalöffnung verstanden. dem Einsetzen der Blutung normalisiert sich die Si-
tuation wieder.
Als sekundäre Amenorrhö wird das Ausbleiben der Die eigentlichen Ursachen des prämenstruellen
Menstruation nach vorherigem regelmäßigem Auf- Syndroms sind noch weitgehend ungeklärt, doch
treten bezeichnet. Sowohl hormonelle als auch uteri- werden endokrine und psychovegetative Faktoren
ne Ursachen können eine sekundäre Amenorrhö her- diskutiert.
vorrufen. Daneben können physische und psy-
chische Belastungen oder eine Anorexia nervosa zu Zusammenfassung:
einer sekundären Amenorrhö führen. Abweichungen und Veränderungen bei
Menstruation und Fluor
Begleitsymptome Bei den Störungen des Menstruationsrhythmus
Die Beobachtung von Begleitsymptomen ist vorwie- wird zwischen Polymenorrhö und Oligomenorrhö,
gend auf Schmerzen gerichtet, die im Zusammen- hinsichtlich der Menstruationsstärke zwischen Hy-
hang mit der Regelblutung auftreten (Dysmenorrhö, pomenorrhö und Hypermenorrhö unterschieden.
Mittelschmerz) und auf das prämenstruelle Syn- Brachymenorrhö beschreibt die verkürzte Regelblu-
drom. tung, Menorrhagie die verlängerte (über 6 Tage).
Treten Schmerzen im Zusammenhang mit der Re- Als Zusatzblutungen kommen praemenstruelle,
gelblutung auf, so wird diese Blutung als Dysmenor- postmenstruelle und Ovulationsblutungen vor.
rhö oder schmerzhafte Regel bezeichnet. Zumeist Beim Ausbleiben der Regelblutung wird zwischen
handelt es sich um krampfartige Schmerzen, die vor, primärer und sekundärer Amenorrhö unterschie-
während oder nach der Menstruation auftreten. Ne- den.
ben Unterleibsschmerzen können die Schmerzen Unter prämenstruellem Syndrom wird eine Störung
auch um den Nabel, in den Leisten und in der Kreuz- des Allgemeinbefindens und der Leistungsfähigkeit
beingegend lokalisiert sein. Die Intensität und die vor Beginn der Menstruation verstanden.
Dauer der Schmerzen variieren sehr stark. Nach dem
zeitlichen Auftreten werden die primäre und die se- Fluorveränderungen
kundäre Dysmenorrhö unterschieden. Nach seiner Herkunft wird der Fluor in vestibulären,
Besteht die Dysmenorrhö seit der Menarche, so vaginalen, zervikalen, korporalen und tubaren Fluor
handelt es sich um die primäre Form. Organische Ur- eingeteilt. Abb. 20.2 zeigt eine Übersicht des Fluors
sachen sind beispielsweise eine Hypoplasie des Ute- mit seinem Herkunftsbereich und Ursachen. Bei der
rus oder ein zu enger Zervikalkanal. Daneben können Beobachtung des Fluors ist die genaue Herkunft zu-
psychische und konstitutionelle Einflüsse eine Dys- meist nicht feststellbar, doch kann eine genaue Be-
menorrhö bedingen. schreibung bereits wichtige Hinweise auf die Ursa-
Die sekundäre Form der Dysmenorrhö tritt erst che und damit auf weitere diagnostische Maßnah-
im Verlauf der geschlechtsreifen Phasen der Frau auf. men geben.
Ursachen sind u. a. chronische Unterleibsentzündun- Ein vermehrter Ausfluss, farblos bis glasig-schlei-
gen, Myome, Polypen oder Zervixstenosen. mig und geruchlos, ist in der Mitte des Zyklus, bei se-
Der Mittelschmerz oder Ovulationsschmerz ent- xueller Erregung, in der Schwangerschaft und bei
steht durch eine leichte Bauchfellreizung, die durch psychischen Belastungen als normal anzusehen.
das Platzen des Follikels hervorgerufen wird. Durch das Tragen enger Kleidung (Hosen, Slips), Klei-
Unter dem Sammelbegriff prämenstruelles Syn- dung aus Synthetik und die Verwendung von luftun-
drom (PMS) werden Störungen des Allgemeinbefin- durchlässigen Slipeinlagen kann ebenfalls ein ver-
dens und der Leistungsfähigkeit, die vor dem Beginn mehrter Fluor hervorgerufen werden. Verändert sich
der Menstruation auftreten, bezeichnet. Die betrof- aber die Farbe, die Konsistenz und der Geruch des
fenen Frauen leiden unter Nervosität, depressiver Fluors, so ist dies ein Hinweis auf pathologische Vor-
Stimmung, starken Spannungsgefühlen in den Brüs- gänge.
20 ten, Übelkeit, Völlegefühl, Unterleibsschmerzen, die
bis in die Beine ausstrahlen, und unter einer kurzfris-

354 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
20.2 Abweichungen, Veränderungen bei Menstruation und Fluor und deren mögliche Ursachen

Abb. 20.2 Genitaler Fluor, Herkunfts-


Hydrops tubae
bereich und Ursachen
Tubenkarzinom profluens
tubarer
Fluor
Pyometra
korpuraler (z. B. nach
Fluor Ra-Therapie)
Zerfall. subm. Myom
Reizfluor bei Korpuskarzinom
zervikaler Douglas-Abszess
und Adnexent- Hypersekretion:
Fluor funktionell, psycho-
zündung
veg., infektiös
Zervixkarzinom Ektopie
Polyp
akute/chronische
vaginaler Kolpitis:
Fluor Vaginalkarzinom Trichonomaden,
Pilze u. a. m.

funkt.-troph. Störung:
Bartholinitis Östrogenmangel,
Atrophie, Hypoplasie,
Diabetes
vesti- Vulvitis
bulärer Kondylome
Fluor

!
Merke: Beobachtungskriterien des Fluors Gonorrhö und eine wässrige Beschaffenheit auf ei-
sind Farbe, Konsistenz und Geruch. nen möglichen bösartigen Tumor hin.

Geruch des Fluors


Farbveränderungen des Fluors
Beispiele für typische Gerüche bei Fluor sind der
Die Farbe des Fluors kann von weißlich bis bräunlich
fischartige Geruch bei einer bakteriellen Vaginose,
reichen. Ein weißlicher Fluor, der zum Teil flächig
der fötide Geruch bei Trichomoniasis und der faulige
ausgebreitet ist („Soorrasen“), wird bei Infektionen
Geruch bei malignen Tumoren.
mit Candida albicans beobachtet. Bei einer bakteriel-
Da die isolierte Betrachtung einzelner Kriterien
len Vaginose , d. h. einer atypischen Besiedlung der
nur eine geringe Aussagekraft besitzt, zeigt Tab. 20.2
Scheide mit Anaerobiern (z. B. Gardnerella vaginalis),
eine Übersicht über einzelne typische Fluorausschei-
besitzt der Fluor eine grau-weißliche Farbe. Eine
dungen.
gelbliche Farbe erhält er bei einer Trichomonaden-
infektion. Das Auftreten eines gelblich-grünen Aus-
flusses deutet auf eine Gonorrhö (Tripper) hin. Eine Tab. 20.2 Fluor bei verschiedenen Erkrankungen

rötlich-bräunliche (blutige) Sekretion von Fluor ist Erkrankung Fluor


immer ein Alarmzeichen, da er auf eine maligne Er-
Soorinfektion weißlich, krümelig, flächige Ausbrei-
krankung hinweisen kann.
tung („Soorrasen“)

Konsistenz des Fluors bakterielle Vaginose grau-weißlich, fischig, süßlicher


Geruch
Zusammen mit der Farbe des Fluors ist die Konsis-
tenz ein weiteres wichtiges Kriterium bei der Fluor- Trichomonadeninfektion gelblich, schaumig, fötider Geruch
beurteilung. So weisen eine krümelige Konsistenz
Gonorrhö gelblich-grün, dickflüssig
auf eine möglich Pilzinfektion, eine schaumige auf
eine Trichomonadeninfektion, eine dünnflüssige auf maligne Erkrankung rötlich-bräunlich, blutig, wässrig,
eine Mykoplasmainfektion, eine dickflüssige auf eine (Karzinom) fauliger Geruch 20

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 355


KaelDesu
20 Menstruation und Fluor

Der Fluor genitalis kommt normalerweise vor


20.3 Ergänzende Eintritt der Pubertät bei Mädchen nicht vor.
Beobachtungskriterien
20.4.1 Abweichungen, Veränderungen und
Zumeist sind Menstruationsstörungen das auffälligs- deren mögliche Ursachen
te Symptom verschiedener Erkrankungen des Geni- Als Pubertas praecox wird die vorzeitige Ge-
talbereichs der geschlechtsreifen Frau, doch können schlechtsentwicklung (bei Mädchen vor dem 8. Le-
beispielsweise bei großen Myomen durch Verdrän- bensjahr) mit Zeichen der sexuellen Reife verstan-
gung der Nachbarorgane auch Miktions- und Defäka- den. Bedingt durch eine Fehlsteuerung der Hypophy-
tionsstörungen beobachtet werden. Unregelmäßige se, durch die eine verführte Hormonproduktion ein-
Blutungen, die immer seltener werden, sind ein geleitet wird, kommt es zu einem Einsetzen der Re-
Kennzeichen des Klimakteriums. Ca. die Hälfte aller gelblutung vor dem 7. – 8. Lebensjahr.
Frauen leidet während dieser sog. Wechseljahre un- Diese verfrühte Menstruation wird auch als
ter verschiedensten Beschwerden wie z. B. Hitzewal- Menstruatio praecox oder prämature Menarche be-
lungen, Schwindel und Schweißausbrüchen. Dane- zeichnet. Die Ursache können eine organische Hirn-
ben können auch psychonervöse Störungen in Form störung wie Hydrozephalus oder Erkrankungen des
von Reizbarkeit, Lustlosigkeit, Leistungsabfall und ZNS sein, aber auch durch hormonproduzierende Tu-
Schlafstörungen vorkommen. Infektionen der Schei- more hervorgerufen werden. In vielen Fällen kann
de mit dem jeweils typischen Ausfluss werden zu- für das Einsetzen der frühen Menstruation jedoch
dem häufig von einem starken Juckreiz, Brennen, ei- keine Ursache gefunden werden.
ner entzündlichen Rötung im Bereich der Vulva und Als Pubertas tarda wird die verspätete Pubertäts-
Miktionsstörungen begleitet. entwicklung bezeichnet. Ebenfalls bedingt durch ei-
ne Fehlsteuerung der Hypophyse, durch die eine ver-
spätete Hormonproduktion eingeleitet wird, kommt
20.4 Besonderheiten bei Kindern es zum Ausbleiben der Menarche bis zum 16. Lebens-
Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm jahr.
Die verspätet einsetzende Menstruationsblutung
Die erste Menstruationsblutung tritt bei den meisten wird auch als Menstruatio tarda bezeichnet. Ursa-
Mädchen in den westlichen Industrieländern zwi- chen stellen hypothalamische, hypophysäre, ovariel-
schen dem 11. und 14. Lebensjahr auf. Sie wird als le Erkrankungen oder chromosomale Störungen dar.
Menarche bezeichnet. Abhängig von der rassischen, Auch psychische Erkrankungen wie die Anorexia
regionalen, konstitutionellen und sozialen Indivi- nervosa oder intensives körperliches Training wie
dualität der Frauen und Mädchen sind Unterschiede bei Hochleistungssportlerinnen kann ein Grund für
bzgl. der Menarche zu beobachten. So tritt beispiels- das Ausbleiben der Menarche sein.
weise die erste Menstruationsblutung in Südeuropa

!
zwischen dem 10. und 12. Lebensjahr, bei Eskimos Merke: Eine verfrüht einsetzende Mens-
erst etwa im 23. Lebensjahr auf. truationsblutung wird als Menstruatio prae-
In den ersten 1 – 2 Jahren nach der Menarche cox, eine verspätet einsetzende als Mens-
setzen zunächst unregelmäßige Zyklen ein. Diese truatio tarda bezeichnet.
Zyklen sind nur selten von einer Ovulation begleitet
und werden deshalb auch als anovulatorische Zyklen Gelegentlich kann es bei neugeborenen Mädchen,
bezeichnet. Erst nach einigen Jahren setzen regelmä- aufgrund restlicher mütterlicher Hormone in ihrem
ßige ovulatorische Zyklen ein. Blut, zu einem vaginalen Ausfluss ohne Krankheits-
Die Zeit nach der Menarche bis zum regelmäßi- wert kommen. Bei einigen Neugeborenen und Säug-
gen ovulatorischen Zyklus wird als Postmenarche lingen schüttet die Hypophyse in den ersten 12 Mo-
bezeichnet. In dieser Zeit ist die Hormonproduktion naten nach der Geburt LH und FSH aus. Der dadurch
noch sehr schwankend, was sich in unregelmäßigen bedingte erhöhte Östriolspiegel kann zu leichtem va-
Blutungsabständen und unterschiedlichen Blu- ginalem Ausfluss ebenfalls ohne Krankheitswert
20 tungsstärken bis hin zum völligen Ausbleiben der Re- führen. Daneben kann es vor Beginn der Pubertät zu
gelblutung zeigen kann. einem vaginalen Ausfluss durch intravaginale

356 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
Fazit

Fremdkörper kommen, wenn Mädchen beim Spielen 20.6 Fallstudien


diese in ihre Scheide stecken.
Außerdem begünstigen andere mechanische und Störungen der Menstruation, ein vermehrter Fluor
chemische Reize einen Fluor genitalis, der zumeist sind für die betroffene Frau sehr unangenehm und
dünnflüssig, schleimig, eitrig ist oder bei Verletzung mit einer Beeinträchtigung des Allgemeinbefindens
der Scheide durch z. B. sexuellen Missbrauch auch verbunden. Häufig besteht bei einem vermehrten
blutig sein kann. Ein übelriechender Fluor genitalis Fluor auch die Angst, dass der Geruch des Ausflusses
kann aber auch durch eine Infektion mit Colibakte- von Mitmenschen wahrgenommen werden kann. In
rien hervorgerufen werden. der pflegerischen Betreuung steht zumeist die Bera-
tung der Betroffenen hinsichtlich hygienischer Ver-
haltensweisen im Vordergrund.
20.5 Besonderheiten bei älteren
Menschen Beispiel: Frau Fuchs, 33 Jahre, leidet unter
einer rezidivierenden Soorkolpitis. Die Infek-
Das Auftreten einer vaginalen Blutung nach der Me- tion geht mit einem weißlichen und krümeli-
nopause stellt ein Hauptsymptom für ein Korpuskar- gen Fluor einher, der von Frau Fuchs als sehr störend
zinom dar und bedarf deshalb einer sofortigen Ab- empfunden wird. Sie berichtet, dass sie täglich ihre Un-
klärung. terwäsche wechselt, doch bereits ab Mittag den Ein-
Ein dünnflüssiger, eitriger Fluor ist oftmals ein druck habe, man würde ihren Ausfluss riechen. Aus die-
Zeichen für eine Kolpitis senilis. Diese Scheidenent- sem Grund benutzt Frau Fuchs jeden Morgen ein Geni-
zündung ist die Folge einer Atrophie der Vagina mit talspray und führt mindestens 3 x täglich eine gründli-
Verlust des Säureschutzmantels, die durch den Ös- che Intimpflege durch.
trogenmangel nach der Menopause bedingt ist. Oft- Tab. 20.3 zeigt, wie auf das Pflegeproblem von Frau
mals ist die Scheide gerötet und sehr verletzlich, Fuchs eingegangen wird.
leicht blutend. Daneben kommt es aufgrund einer er-
höhten Infektanfälligkeit älterer Menschen, bei Dia- Beispiel: Felicitas ist 71/2 Jahre alt und hat
betes mellitus oder der Einnahme von verschiede- gerade ihre erste Menstruationsblutung. Sie
nen Medikamenten (z. B. Antibiotika) zu einem ver- ist darüber sehr verstört und weiß nicht, wie
mehrten Auftreten von Pilzinfektionen. sie sich verhalten soll. Felicitas Eltern sind ebenfalls er-
schrocken über diese frühe Regelblutung. Sie bemühen
Zusammenfassung: sich, ihrer Tochter zu helfen, und zeigen viel Verständ-
Ergänzende Beobachtungskriterien sowie nis für ihre Situation. Gleichzeitig äußern sie aber, dass
Besonderheiten bei Kindern und älteren Menschen sie Schwierigkeiten haben, mit dieser Situation umzu-
Die Herkunft des Fluor kann vestibulär, vaginal, gehen, und sich überfordert fühlen.
zervikal, korporal oder tubar sein. Einen Auszug aus dem Pflegeplan von Felicitas zeigt
Abweichungen in Farbe, Konsistenz und Geruch des Tab. 20.4.
Fluor können Anzeichen für Störungen sein.
Die erste Menstruationsblutung, zwischen dem 11. Fazit: Die Beobachtung der Menstruation
und 14. Lebensjahr, wird als Menarche bezeichnet. und des Fluors ist ein sehr sensibler Bereich,
Störungen bei Kindern können ein verfrühtes Auf- der die Intimsphäre der Frau berührt. Sie er-
treten, Menstruatio praecox, oder eine verspätet fordert deshalb eine vertrauensvolle Atmosphäre und
einsetzende Menstruation, Menstruatio tarda, sein. ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen. Die Mens-
Vaginale Blutungen nach der Menopause bedürfen truation wird hinsichtlich Rhythmus, Stärke und Dauer
sofortiger Abklärung. beobachtet. Auch Zusatz- und Dauerblutungen, das
Bei älteren Menschen tritt häufig eine Scheidenent- Ausbleiben der Menstruation und das Auftreten von
zündung mit dünnflüssigem, eitrigem Fluor durch Begleitsymptomen stellen Beobachtungskriterien dar.
den Verlust des Säureschutzmantels der Vagina auf.

20

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 357


KaelDesu
20 Menstruation und Fluor

Ursachen für Menstruationsstörungen können so- oder entzündlich bedingt sein, aber auch durch beni-
wohl funktionell als auch organisch bedingt sein. Der gne und maligne Tumore hervorgerufen werden.
Fluor genitalis wird hinsichtlich seiner Farbe, Konsis-
tenz und seines Geruchs beurteilt. Er kann funktionell

Tab. 20.3 Auszug aus dem Pflegeplan von Frau Fuchs

Pflegeproblem Ressource Pflegeziele Pflegemaßnahmen

Frau Fuchs leidet unter Führt 3 ⫻ täglich eine Frau Fuchs: Informations- und Beratungsgespräch be-
einem weißlichen, krümeli- Intimpflege durch 쐌 kennt Verhaltensmaßnah- züglich Körperhygiene und Kleidung:
gen Fluor bei rezidivieren- men, bezogen auf die 쐌 zur Aufrechterhaltung des normalen
der Soorkolpitis Körperpflege und Klei- Scheidenmilieus keine Scheidenspülung
씮 hat Angst, dass der dung, und führt diese durchführen, kein Genitalspray und keine
Fluorgeruch von Mitmen- durch Seife verwenden
schen wahrgenommen 쐌 erfährt keine Reinfektion 쐌 zur Vermeidung eines Wärmestaus und
wird mechanischer Irritationen keine Slipeinla-
gen und keine enge Kleidung tragen
쐌 zur Vermeidung einer Reinfektion täglich
Waschlappen und Handtuch wechseln
(evtl. Einmalwaschlappen), kochbare Un-
terwäsche tragen und täglich wechseln
Gespräch mit Arzt vermitteln bzgl. weiterer
Vorbeugungsmaßnahmen und Mitbehand-
lung des Partners

Tab. 20.4 Auszug aus dem Pflegeplan von Felicitas

Pflegeproblem Ressource Pflegeziele Pflegemaßnahmen

Felicitas ist verstört durch Die Eltern bemühen sich, Felicitas 쐌 Gespräch mit Felicitas, ihren Eltern und
die Menstruatio praecox ihrer Tochter zu helfen, zei- 쐌 weiß, wodurch es zu der dem Arzt vermitteln (Inhalte: Ursachen,
und weiß nicht, wie sie sich gen Verständnis für die Blutung kommt und kann Maßnahmen, Bedeutung)
verhalten soll schwierige Situation ihrer diese einordnen 쐌 Mit Felicitas einfühlsam und offen über
Tochter 쐌 akzeptiert die Regelblu- die Menstruation und mögliche, damit
tung verbundene Beschwerden sprechen
쐌 weiß, dass die Menstrua- 쐌 Mit Felicitas über Möglichkeiten der Mo-
tion mit Schmerzen, natshygiene und allg. Körperhygiene
Übelkeit und anderen sprechen, evtl. demonstrieren (Möglich-
Symptomen einhergehen keiten: Vorlagen, Binden, Slipeinlagen;
kann Entsorgung, Intimpflege)
쐌 kennt Möglichkeiten der 쐌 Felicitas auffordern, bei Unsicherheit zu
Monatshygiene fragen
Felicitas Eltern 쐌 Verständnis deutlich zeigen
쐌 können die Menstruati- 쐌 Beratungsgespräch mit Felicitas Eltern
onsblutung ihrer Tochter (Unterstützung von Felicitas bei der Mo-
einordnen, akzeptieren natshygiene, Umgang mit der Situation),
und ihrer Tochter beim und für Fragen zur Verfügung stehen, Li-
Umgang mit der Situati- teraturhinweise geben, Kontaktadressen
on Unterstützung geben zur Beratung bzgl. körperlicher Entwick-
lung, Sexualität, Verhütung für Kindern,
Jugendliche und Eltern nennen.

20

358 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
Literatur

Köther, I.: Altenpflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2016


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Gätje, R., C. Eberle: Kurzlehrbuch Gynäkologie und Geburtshil- ge. 13. Aufl. Thieme, Stuttgart 2017
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Gerlach, U., H. Wagner, W. Wirth: Innere Medizin für Pflegebe- gie. 6. Aufl. Thieme, Stuttgart 2016
rufe. 8. Aufl. Thieme, Stuttgart 2015 Skibbe, X., A. Löseke: Gynäkologie und Geburtshilfe für Pflege-
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Koletzko, B. (Hrsg.): Kinder- und Jugendmedizin. 14. Aufl.
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20

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 359


KaelDesu

21 Erbrechen
21
Panajotis Apostolidis*, Petra Schmalstieg

Übersicht
Einleitung · 360
21.1 Vorgang des Erbrechens · 360
21.2 Ursachen des Erbrechens · 362
21.3 Formen des Erbrechens · 362
21.3.1 Einteilung nach dem Zeitpunkt des
Erbrechens · 362
21.3.2 Einteilung nach der Reizung des
Brechzentrums · 363
21.4 Beobachtung des Erbrechens · 364
21.4.1 Art und Weise des Erbrechens · 364
21.4.2 Farbe des Erbrochenen · 364
21.4.3 Menge des Erbrochenen · 364
21.4.4 Geruch des Erbrochenen · 365 Trotz seiner Schutzfunktion ist das Erbrechen ein
21.4.5 Zusammensetzung, Beimengungen des für die betroffenen Menschen sehr unangenehmes,
Erbrochenen · 365 mit einer psychischen und auch physischen Belas-
21.4.6 Zeitpunkt und Häufigkeit des tung einhergehendes Ereignis. Häufig kommen noch
Erbrechens · 365 ausgeprägte Ekelgefühle angesichts des Erbrochenen
21.4.7 Begleiterscheinungen des hinzu.
Erbrechens · 366 Das folgende Kapitel beschreibt die verschiede-
21.5 Ergänzende Beobachtungskriterien · 367 nen Formen des Erbrechens, deren Ursachen und
21.6 Besonderheiten bei Kindern · 368 geht auf die Beobachtungskriterien des Erbrechens
21.7 Besonderheiten bei älteren ein.
Menschen · 370
21.8 Fallstudien · 370 Definition: Unter Erbrechen wird ein vom
Fazit · 371 Brechzentrum gesteuerter komplexer Vorgang
Literatur · 372 verstanden, bei dem es zu einem raschen He-
rausbefördern von Magen- bzw. Dünndarminhalt
durch Ösophagus und Mund nach außen kommt. Syno-
Schlüsselbegriffe:
nyme für Erbrechen sind Vomitus und Emesis.
왘 Hämatemesis
왘 Miserere

!
왘 Nausea Merke: Erbrechen ist ein Schutzmechanis-
왘 Würgen mus des Körpers, der Menschen vor Schädi-
gungen durch z. B. Giftstoffe, die mit der Nah-
Einleitung rung aufgenommen wurden, schützen soll.

In der Geschichtsliteratur finden sich eine Reihe von


Beschreibungen über künstlich herbeigeführtes Er- 21.1 Vorgang des Erbrechens
brechen bei Naturvölkern im alten Ägypten, Meso-
potamien und Griechenland. Hierdurch sollten Dä- Das Herausbefördern von Mageninhalt durch den
monen vertrieben und der Körper von krankma- Mund ist ein in exakt aufeinander abgestimmten
chenden Stoffen befreit werden. Die „reinigende“ Schritten ablaufender, komplexer Vorgang
und den Körper schützende Funktion des Erbrechens (Abb. 21.1). Beim Erbrechen kommt es zu einer plötz-
ist also schon seit langer Zeit bekannt. lichen und vehementen Kontraktion der Atemmus-

360 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
21.1 Vorgang des Erbrechens

kulatur und einer gleichzeitigen Relaxation des obe-


ren ösophagealen Spinkters. Kontraktionen der Ab- 21
dominal- und der Zwerchfellmuskulatur bewirken
Mund geöffnet einen intraabdominellen Druckanstieg. Eine gleich-
ausgestoßener zeitige Kontraktion des Pylorus und Erschlaffung des
Vomitus Magenfundus ermöglicht das Ausstoßen von Magen-
inhalt durch den Ösophagus und den geöffneten
Mund.
Ausgelöst wird der Brechreflex durch eine Rei-
zung des funktionalen Brechzentrums, welches sich
Kontraktion
der Interkostal-
im Hirnstamm befindet. Das Brechzentrum erhält In-
muskeln formationen im Wesentlichen aus 4 Quellen: der
Kardia offen Chemorezeptoren-Triggerzone, die sich auf dem Bo-
Kontraktion des
Diaphragmas den des IV. Hirnventrikels befindet, dem Vestibular-
apparat, dem Gastrointestinaltrakt und über die
Pylorussphinkter
Großhirnrinde. Überall dort befinden sich Rezep-
Kontraktion
des M. rectus toren, die Abweichungen vom „Normalzustand“
Magen wird abdominis messen und über afferente Bahnen an das Brechzen-
zusammengedrückt
trum weiterleiten. Die Chemorezeptoren-Triggerzo-
Kontraktion der Abdominalmuskulatur
ne (CTZ) misst über Chemorezeptoren z. B. den An-
stieg von lebensbedrohlichen Toxinen. Rezeptoren
Abb. 21.1 Erbrechen
im Gastrointestinaltrakt, Thorax und Retroperito-
neum melden funktionelle organische Störungen.

An das Brechzentrum weitergeleitete Informationen (Afferenzen)

Chemorezeptoren-Triggerzone gastrointestinale, thorakale und


→ Medikamente retroperitoneale Afferenzen
→ Toxine → funktionelle/organische Störungen
→ metabolische Störungen → Strahlentherapie
→ Medikamente

zentrale Afferenzen
→ Hirndrucksteigerung Vestibularapparat
→ Geruchs-, Geschmackssinn → M. Meniere
→ psychisches Befinden → Kinetosen

Brechzentrum
sonstige vegetative Efferenzen
kardiale Efferenzen → Speichelfluss
→ Tachykardie → Retroperistaltik

abdominelle Efferenzen motorische Efferenzen


→ Übelkeit → Mund öffnen
→ Inhibition der Magenmotorik → Würgen
→ Kontraktion der abdominalen → aufrichten, nach vorne neigen
Muskeln

Vom Brechzentrum ausgehende Informationen (Efferenzen)

Abb. 21.2 Afferenzen und Efferenzen des Brechzentrums

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 361


KaelDesu
21 Erbrechen

Wichtige Informationen erhält das Brechzentrum Überblick über mögliche Ursachen des Erbrechens
21 auch über den Geruchs-/Geschmackssinn und den zeigt die Abb. 21.3.
Vestibularapparat im Innenohr. Das Brechzentrum
reagiert auf diese Informationen mit der Auslösung
des Brechreflexes über efferente Nervenbahnen. Ne- 21.3 Formen des Erbrechens
ben der Hemmung der Magenmotorik und der Kon-
traktion der abdominellen Muskulatur kommt es Die Formen des Erbrechens können nach dem Zeit-
zum Mundöffnen und der Einnahme einer „brechför- punkt und der Dauer des Auftretens sowie nach der
derlichen“ Körperhaltung, wobei sich die Betroffe- unterschiedlichen Reizung des Brechzentrums ein-
nen aufrichten und nach vorne neigen. geteilt werden.
Darüber hinaus sorgt das Brechzentrum für einen
Anstieg der Herzfrequenz und vegetative Begleiter- 21.3.1 Einteilung nach dem Zeitpunkt des
scheinungen, wie z. B. Speichelfluss und Retroperis- Erbrechens
taltik. Einen Überblick über Afferenzen und Efferen- Bezogen auf den Zeitpunkt des Auftretens des Erbre-
zen des Brechzentrums zeigt die Abb. 21.2. chens nach dem Einwirken des auslösenden Faktors
und der Dauer des Erbrechens werden das akute, das
verzögerte, das persistierende, das antizipatorische
21.2 Ursachen des Erbrechens und das psychogene Erbrechen unterschieden.

Das Erbrechen ist keine eigenständige Erkrankung, Akutes Erbrechen


sondern immer ein Symptom bzw. eine Begleiter- Erbrechen, das innerhalb von Minuten oder Stunden
scheinung einer Erkrankung. Dementsprechend sind nach der Einwirkung des Stoffes/der Situation, der/
die Ursachen für Erbrechen sehr vielfältig. Einen die das Erbrechen auslöst, auftritt, wird als akutes Er-

endokrine Störungen
Morbus Addison
Hypo-/Hyperthyreose
„akutes Abdomen“ Hypo-/Hyperparathyreoidismus intestinale
Cholezystitis Obstruktionen
Appendizitis Adhäsionen
Pankreatitis Karzinome
Peritonitis etc. Hernien
Volvulus etc.
metabolische
Störungen
Motilitätsstörungen des
Urämie
Gastrointestinaltrakts
Leberkoma
Diabetes mellitus
Coma diabeticum
Erbrechen Pseudoobstruktion
Schwangerschaft
Vagotomie etc.
kardiopulmonale
Erkrankungen psychogenes Erbrechen
Myokardinfarkt
Lungenembolie
Asthma etc. Erkrankungen des
Gastrointestinaltrakts
ZNS-Erkrankungen toxische Faktoren Infektionen des Ulkus
Epilepsie Alkohol Gastrointestinal- Ösophagitis
Insult Medikamente trakts Hepatitis
Tumoren Drogen viral Cholezystolithiasis
Kinetosen etc. Toxine bakteriell Magenresektion
Fieber parasitär Hämatemesis etc.

Abb. 21.3 Mögliche Ursachen des Erbrechens

362 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
21.3 Formen des Erbrechens

brechen bezeichnet. Es hält bis zu 24 Stunden an. Bei- Reflektorisches Erbrechen


spiel hierfür ist das Erbrechen aufgrund von Nah- Bei dem reflektorischen Erbrechen erfolgt die Rei- 21
rungsmittelunverträglichkeiten oder starken Ekelge- zung des Brechzentrums indirekt über das vegetative
fühlen. Nervensystem. Die Ursache des Erbrechens liegt
hierbei beispielsweise im Gastrointestinaltrakt (Gas-
Verzögertes Erbrechen tritis, Überdehnung des Magens) oder im Bereich des
Tritt ein Erbrechen 1 – 4 Tage nach der Exposition Gleichgewichtsorgans (Reisekrankheit, Morbus Me-
(z. B. Chemotherapie) auf, wird dies als verzögertes niere). Daneben können indirekte Reizungen des
oder protrahiertes Erbrechen bezeichnet. Die Dauer Brechzentrums u. a. auch durch Gerüche, Ekelgefühle
dieser Form des Erbrechens beträgt bis zu 7 Tage. oder Angst hervorgerufen werden. Auch eine Rei-
zung der Rachenschleimhaut, wie sie beim Einlegen
Persistierendes Erbrechen einer Sonde oder durch das „Finger-in-den-Hals-ste-
Ein länger als 24 Stunden anhaltendes, rezidivieren- cken“ erfolgt, kann ein reflektorisches Erbrechen
des Erbrechen wird als persistierendes Erbrechen auslösen.
bezeichnet. Es kommt beispielsweise als Schwanger- Dem reflektorischem Erbrechen, das auch als pe-
schaftserbrechen, als sog. emesis gravidarum, vor. ripheres Erbrechen bezeichnet wird, geht typischer-
weise ein starkes Übelkeitsgefühl voraus, sofern es
Antizipatorisches Erbrechen nicht durch eine Reizung der Rachenschleimhaut
Das antizipatorische oder vorweggenommene Erbre- hervorgerufen wird.
chen stellt eine besondere Form dar. Hierbei kommt Tab. 21.1 gibt einen Überblick über die verschie-
es zum Erbrechen aufgrund früherer negativer Erfah- denen Formen des Erbrechens.
rungen mit einer Situation, die zum damaligen Zeit-
punkt Erbrechen ausgelöst hat. Das antizipatorische Zusammenfassung:
Erbrechen setzt jedoch bereits vor dem erneuten Kon- Vorgang des Erbrechens
takt mit dem auslösenden Stoff ein. Es genügt z. B. Erbrechen ist eine Schutzfunktion des Körpers.
allein der Anblick des auslösenden Stoffs. Ein Beispiel Erbrechen ist keine eigenständige Erkrankung, son-
hierfür ist das Erbrechen, das bei vielen, mit Zytostati- dern immer Symptom oder Begleiterscheinung.
ka behandelten Menschen bereits durch den Anblick Der Brechreflex wird durch Reizung des im Hirn-
der entsprechenden Infusion ausgelöst wird. stamm befindlichen Brechzentrums ausgelöst, an
das im Körper verteilte Rezeptoren organische Stö-
21.3.2 Einteilung nach der Reizung des rungen gemeldet haben.
Brechzentrums
Tab. 21.1 Formen des Erbrechens

!
Merke: Bezogen auf die Art der Reizung des
Brechzentrums können das zerebrale und Formen des Erbrechens Charakteristika

das reflektorische Erbrechen unterschieden Nach dem Zeitpunkt des Auftretens und der Dauer
werden. 쐌 akut 쐌 innerhalb von Minuten/Stunden nach
der Einwirkung des Stoffes, Dauer bis
Zerebrales Erbrechen zu 24 Std.
쐌 verzögert 쐌 1 – 4 Tage nach Einwirken des Stoffes,
Bei dem zerebralen Erbrechen erfolgt die Reizung
Dauer bis zu 7 Tage
des Brechzentrums direkt, d. h. die Ursache liegt im 쐌 persistierend 쐌 länger als 24 Std. anhaltend
Zentralnervensystem. Beispiele für solche Ursachen 쐌 antizipatorisch 쐌 Vor Einwirken des Stoffes, aufgrund
sind Schädelhirntraumen, Meningitiden, Medika- früherer negativer Erfahrungen

mente (Narkotika, Zytostatika), Genussmittel (Alko- Nach der Art der Reizung des Brechzentrums
hol) und körpereigene Stoffe (Azeton, Harnstoff). 쐌 zerebral 쐌 direkte Reizung des Brechzentrums
Charakteristisch für das zerebrale Erbrechen ist das über das Zentralnervensystem, keine
Fehlen von Übelkeit. Außerdem kann kein zeitlicher Übelkeit, kein zeitlicher Zusammen-
hang zur Nahungsaufnahme
Zusammenhang zu einer Nahrungsaufnahme herge- 쐌 reflektorisch 쐌 indirekte Reizung des Brechzentrums
stellt werden. Eine Ausnahme bilden hierbei Toxine, über das vegetative Nervensystem,
die bei Lebensmittelvergiftungen eine direkte Rei- Übelkeitsgefühl
zung verursachen können.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 363


KaelDesu
21 Erbrechen

Nach den Ursachen, dem Zeitpunkt, der Dauer des 21.4.2 Farbe des Erbrochenen
21 Auftretens und nach der Art der Reizung des Brech- Die Farbe des Erbrochenen ist u. a. abhängig von der
zentrums können verschiedene Formen des Erbre- Zusammensetzung des Mageninhalts, dem Füllungs-
chens unterschieden werden. zustand des Magens und der zugrunde liegenden Er-
krankung. Beispiele hierfür sind:
Lichtgelb bei Erbrechen von Magensaft,
21.4 Beobachtung des Erbrechens gelbgrün bei Erbrechen von Galle,
hellrot bei Erbrechen von frisch blutigem Magen-

!
Merke: Das Erbrechen kann hinsichtlich der saft,
Art und Weise des Erbrechens, der Farbe, der dunkel- bis schwarzrot (kaffeesatzartig) bei Er-
Menge, des Geruchs, der Zusammensetzung brechen von durch Magensaft zersetztem Blut,
und Beimengungen, bezüglich des Zeitpunkts und der bräunlich bei Erbrechen von Kot.
Häufigkeit beobachtet werden.
Definition: Das Erbrechen von Blut wird als
Ein weiteres Beobachtungskriterium im Zusammen- Hämatemesis bezeichnet.
hang mit dem Erbrechen stellen Begleiterscheinun-
gen dar, die vor, während und nach dem Erbrechen Weist das Erbrochene eine hellrote Farbe auf, muss
auftreten können. eine vorliegende frische Blutung im Gastrointesti-
naltrakt vermutet werden. Nach einer längeren Ver-
21.4.1 Art und Weise des Erbrechens weildauer im Magen wird Blut durch den Magensaft
Erbrechen kann auf unterschiedliche Art und Weise zersetzt und erhält so eine dunklere Farbe, die auch
erfolgen. Als explosionsartig, spastisch, oder als „kaffeesatzartig“ beschrieben wird. Eine häufige
schwallartig wird es bei zerebralen Schädigungen Ursache hierfür ist ein blutendes Magengeschwür.
(Schädel-Hirn-Trauma, Meningitis) oder bei der Ver-
engung des Magenausgangs, der sog. Pylorusstenose, Definition: Als Miserere oder fäkulentes Erbre-
beschrieben. Im Gegensatz hierzu erfolgt das sog. chen wird das Koterbrechen bezeichnet, welches
Überlauferbrechen bei fehlendem Brechreflex und bei einem Ileus zu beobachten ist.
atonischer Muskulatur schlaff und fließend. Diese
Form tritt beispielsweise bei einer Magen-Darm- 21.4.3 Menge des Erbrochenen
Atonie auf. Die Menge des Erbrochenen ist sehr stark abhängig
Typisch für das Erbrechen bei Schwangerschaft von der Nahrungsaufnahme und dem Füllungszu-
und bei der Reisekrankheit ist das würgende Erbre- stand des Verdauungstrakts und gibt meist nur ge-
chen, bei dem der Brechvorgang mit starkem Würge- ringe Hinweise auf die Grunderkrankung. Eine gerin-
reiz einhergeht. ge Menge kann ein Hinweis auf einen Sanduhrmagen
sein, bei dem sich etwa in der Mitte des Magens eine
Definition: Unter Regurgitation wird das Zu- Einengung findet, z. B. verursacht durch ein Ulcus
rückströmen von Speisebrei in den Mund ver- ventriculi. Bei einer Magenatonie dagegen tritt typi-
standen, wobei es häufig zu einem anschließen- scherweise durch eine Ansammlung von Speisen
den Ausspucken des Speisebreis kommt. und Flüssigkeit ein Erbrechen von großen Mengen
auf.
Die Regurgitation tritt u. a. bei Verengungen oder Um Flüssigkeitsverluste und einen Verlauf festzu-
Ausbuchtungen des Ösophagus, sog. Ösophagusste- stellen, ist es notwendig, die Menge des Erbrochenen
nosen oder Ösophagusdivertikeln auf und kann bei zu dokumentieren. Hierzu wird das Erbrochene ent-
einer Kardiainsuffizienz, der teilweisen oder völligen weder gemessen und in Millilitern bzw. Litern ange-
Schließunfähigkeit des Speiseröhren-Magen-Über- geben, gewogen (Grammangabe) oder mit Hilfe von
gangs, beobachtet werden. Vergleichsgrößen wie „mundvoll“, oder „nierenscha-
levoll“ dokumentiert.

364 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
21.4 Beobachtung des Erbrechens

21.4.4 Geruch des Erbrochenen Beispiele für zeitliche Zusammenhänge, vor allem in
Ein leicht säuerlicher Geruch kann beim Erbrechen Bezug zur Nahrungsaufnahme, und mögliche Ursa- 21
unverdauter Speisen beobachtet werden. Das Erbre- chen zeigt Tab. 21.2. Ist keinerlei Zusammenhang
chen unverdauter Speisen tritt beispielsweise im Zu- zwischen dem Zeitpunkt der Nahrungsaufnahme
sammenhang mit Ösophagusdivertikeln, Magenein- und anderen Situationen, Ereignissen und dem Zeit-
gangsstenosen oder auch nach zu hastigem Essen punkt des Erbrechens erkennbar, so kann dies ein
auf. Die Verweildauer der Speisen im Magen ist hier- Hinweis auf ein zerebrales Erbrechen sein.
bei zu kurz, um von der Magensäure stark durchsetzt Ein periodisches Erbrechen, d. h. ein in mehr oder
zu werden. weniger regelmäßigen Schüben auftretendes Erbre-
Demgegenüber kann ein stark säuerlicher Geruch chen, ist beispielsweise bei Migräne und Morbus Me-
und ein zumeist leicht schaumiges Aussehen beim niere zu beobachten.
Erbrechen angedauter Speisen durch die Zersetzung Ein Erbrechen, welches regelmäßig wiederkehrt,
mit Magensäure beobachtet werden. Es kommt vor wird als zyklisches Erbrechen bezeichnet und tritt
allem bei Passagebehinderungen des Magens und beispielsweise bei einer Pylorusstenose und nach
des Darms vor. Je länger die Speisen im Verdauungs- Magenresektion auf.
trakt verbleiben und je mehr sie zersetzt werden, Die Reihenfolge von Schmerzeintritt und Erbre-
desto stärker verändert sich der säuerliche bis hin zu chen spielt bei der Beobachtung ebenfalls eine wich-
einem als faulig stinkend zu bezeichnenden Geruch. tige Rolle. So folgt beispielsweise das Erbrechen bei
Bei Miserere, dem Koterbrechen, ist ein fäkulenter, entzündlichen Darmerkrankungen nach Bauch-
d. h. „stuhlartiger“ Geruch wahrnehmbar. schmerzen.
Im Gegensatz hierzu können bei einer Gastroen-
21.4.5 Zusammensetzung, Beimengungen des teritis zuerst Übelkeit und Erbrechen und danach
Erbrochenen Bauchschmerzen und Durchfall beobachtet werden.
Auch die Zusammensetzung bzw. die Beimengungen Treten unmittelbar nach dem Erbrechen Oberbauch-
des Erbrochenen können Hinweise auf die Ursache schmerzen auf, so lässt dies an eine Gastritis denken.
des Erbrechens geben. So kann beispielsweise das Weitere Hinweise auf einen Zusammenhang zwi-
Erbrechen unverdauter Nahrung auf eine hochsit- schen Erbrechen und dem Auftreten von Schmerzen
zende Ösophagusstenose oder Ösophagusdivertikel sind der Tab. 21.3 zu entnehmen.
hinweisen, das Erbrechen von Schleim auf eine Gas-
tritis. Blutbeimengungen (Hämatemesis) können
durch Erkrankungen des Magen-Darm-Traktes (z. B. Tab. 21.2 Zeitpunkt des Erbrechens im Zusammenhang
Ulcus ventriculi, Ulcus duodeni), Ösophagusvarizen mit der Nahrungsaufnahme und mögliche Ursachen

oder auch durch Intoxikationen mit beispielsweise Zeitpunkt des Erbrechens mögliche Ursachen, z. B.:
Formaldehyd hervorgerufen werden. Fäkalteile sind 쐌 hochsitzende Ösophagus-
direkt nach dem Schluckakt
bei Miserere Bestandteil des Erbrochenen. stenose

unmittelbar nach der Nah- 쐌 akuter Reizmagen


21.4.6 Zeitpunkt und Häufigkeit des Erbrechens rungsaufnahme 쐌 psychisch bedingt (z. B. bei
Auch die Beobachtung des Zeitpunkts und der Häu- Ekel)
figkeit des Erbrechens stellt ein wichtiges Beobach- 5 – 30 Min. nach dem Essen 쐌 Nahrungsmittelallergie
tungskriterium dar. Beobachtet werden müssen vor 쐌 Pylorusstenose
allem mögliche Zusammenhänge mit: 쐌 Tumor, Ulkus

der Nahrungsaufnahme, bis etwa 1 Std. postprandial 쐌 nach Magenresektion (Typ


der Tageszeit, Billroth II)
der Einnahme von Medikamenten, bis etwa 12 Std. postprandial 쐌 Postvagotomiestase
speziellen Situationen (z. B. Zytostatikabehand- 쐌 stenosierendes Magen-
lungen), Karzinom

Schmerzen, morgendliches Erbrechen 쐌 Schwangerschaft


Bewegungen, Lageveränderungen, (Nüchternerbrechen) 쐌 Alkoholismus
쐌 Stoffwechselstörungen
der emotionalen Befindlichkeit (z. B. Aufregung,
Angst, Ekel). nachts 쐌 Ulkus
쐌 Gallenwegserkrankungen

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 365


KaelDesu
21 Erbrechen

Tab. 21.3 Erbrechen und Begleitsymptome


21 Qualität Hämat- Erbrechen: Erleichte- Krankheitsbild Erbrechen: Beginn pathognomonische
emesis Nahrungsauf- rung Bauchschmerzen Begleitsymptome
Teerstuhl nahme
okk. Blut

saurer Schleim (+) unmittelbar + Gastritis vor epigastrischem saures Aufstoßen


Speisereste danach Bauchschmerz

Nahrungsreste danach + infektiöse Gastro- vor epigastrischem großvolumiger Durch-


enteritis Bauchschmerz fall, Fieber

uneinheitlich unabhängig Perforation o. ä. gleichzeitig bis Minu- Vernichtungsschmerz,


perakute Peritonitis ten danach bedingt Peritonitiszeichen

gallig bis fäkulent unabhängig + Ileusursachen nach Bauchschmerz Ileuszeichen


gastrokolische Fistel koliksynchron. UQ

Nahrungsreste nach schwerem Pankreaserkrankun- sofort oder bald nach Gürtelschmerz


Mahl gen Bauchschmerz, OQ Auftreibung

uneinheitlich nach schwerem Gallen-(System-) nach krampfartigen Murphy-Zeichen


Mahl Erkrankungen Schmerzen ROQ

uneinheitlich unabhängig Harnwegssteine nach UQ- oder Len- Hämaturie, Dysurie


denschmerz

uneinheitlich unabhängig Adnexitis nach Bauchschmerz Druck- und Verschie-


UQ beschmerz, Entzün-
dungs-Zeichen

wenig Flüssigkeit, + bald danach + Ulcus ventriculi nach epigastrischem Ulkusanamnese,


wenig Speisereste Bauchschmerz Anatazida wirken

viel Flüssigkeit, + danach + Ulcus duodeni nach epigastrischem Nüchternschmerz


viel Speisereste Bauchschmerz

mäßig übel- + lange danach + Pylorusstenose danach ROQ Erbrechen im Schwall


riechend

Speisereste oder + uneinheitlich + Magenkarzinom epigastrischer Dauer- Gewichtsabnahme,


Schleim schmerz Anämie

kleinste Mengen Sanduhrmagen abnormes Sättigungs-


gefühl

Speisereste danach Lebensmittel- (u. a.) vor epigastrischem Bewusstseinsstörun-


Intoxikation, Urämie Bauchschmerz gen, urämischer Ge-
ruch des Erbrochenen

wässrig morgens Azidose, Alkoholis-


mus

uneinheitlich unabhängig Hirndruck kein Bauchschmerz Liquorveränderungen


ohne Übelkeit, Läh-
mungen

uneinheitlich unabhängig Labyrintherkrankun- kein Bauchschmerz Schwindel, bewe-


gen gungsabhängig

21.4.7 Begleiterscheinungen des Erbrechens Übelkeit kann als ein unangenehmes, nicht
Begleiterscheinungen, die beim Erbrechen auftreten schmerzhaftes Gefühl im hinteren Bereich der Kehle
können, sind vor allem Übelkeit, die auch als Nausea und im Magen-Darm-Bereich bezeichnet werden.
bezeichnet wird, Würgen und vegetative Begleit- Häufig besteht begleitend das Gefühl, bald erbrechen
symptome wie beispielsweise Tränen- und Speichel- zu müssen, doch folgt nicht jeder Übelkeit auch ein
fluss. Erbrechen.

366 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
21.5 Ergänzende Beobachtungskriterien

Die Pathophysiologie der Übelkeit ist noch nicht nachfolgendes Erbrechen kommen, was für den be-
genau bekannt, doch sind Zusammenhänge zwischen troffenen Menschen zumeist noch unangenehmer ist 21
der Magen-Darm-Motilität und dem Auftreten von als das Erbrechen selbst.
Übelkeit feststellbar. So wird beispielsweise bei einer
Magenentleerungsstörung ein Druckanstieg im Ma-
gen, der einen Dehnungsreiz des Gastrointestinal- 21.5 Ergänzende
trakts auslöst, als Ursache für Nausea angenommen. Beobachtungskriterien
Die Funktion der Übelkeit ist ebenfalls noch nicht
genau geklärt, doch kann angenommen werden, dass So verschieden die zugrunde liegenden Ursachen des
es sich hierbei ebenfalls, wie beim Erbrechen, um ein Erbrechens sein können, so verschieden können
Warnsignal des Körpers vor oder bei der Zufuhr be- auch die weiteren feststellbaren Veränderungen
stimmter Stoffe handelt. sein, die vor, während oder nach dem Erbrechen zu
Ein weiteres, häufig beobachtbares Begleitsymp- beobachten sind. Neben Blässe, starkem Schwitzen,
tom ist das Würgen. Hierbei handelt es sich eigent- Veränderungen der Pulsfrequenz und des Blutdrucks
lich um ein Atmen gegen die geschlossene Stimmrit- kann beispielsweise auch eine Veränderung der Kör-
ze (Abb. 21.4), wobei die thorakale Atmung und die pertemperatur bei entzündlichen Magen-Darmer-
Bauchpresse einander entgegen wirken. Im Gegen- krankungen beobachtet werden.
satz zum Erbrechen ist der Mund zumeist geschlos- Bei blutigem Erbrechen sind oftmals auch Blut-
sen und es besteht ein negativer Thoraxdruck. Das beimengungen im Stuhl feststellbar, bei Erbrechen
Würgen ist charakterisiert durch rhythmische Kon- aufgrund von Labyrintherkrankungen Schwindelge-
traktionen der Atem- und Abdominalmuskulatur, die fühle. Folge eines anhaltenden Erbrechens kann au-
plötzlich, kurz vor dem Erbrechen auftreten. ßer einer Gewichtsabnahme auch eine Dehydratati-
Angenommen wird, dass das Würgen dazu dient, on sein, weshalb bei Erbrechen auch immer die Haut
den Inhalt des Magens und des Duodenums in eine und Schleimhäute auf entsprechende Veränderun-
zum Ausstoß geeignete Position zu bringen. Ist der gen hin inspiziert werden müssen.
Magen leer, so kann es auch zu einem Würgen ohne
Zusammenfassung:
Beobachtung des Erbrechens
Die unterschiedliche Art und Weise des Erbrechens
kann auf verschiedene Erkrankungen hinweisen.
Regurgitation ist das Zurückströmen von Speisebrei
Mund geschlossen in den Mund, das bei Ösophagusstenosen, Kardia-
Glottis geschlossen insuffizienz und Schließunfähigkeit des Speiseröh-
ren-Magen-Übergangs auftritt.
Die Farbe des Erbrochenen ist abhängig von der Zu-
sammensetzung des Mageninhalts, dem Füllungs-
zustand des Magens und der zugrunde liegenden
Thorax-
Kontraktion
Erkrankung.
druck der Interkostal- Aus der Menge von Erbrochenem lassen sich nur
negativ muskeln schwer Rückschlüsse auf Erkrankungen ziehen.
Bei unverdauter Nahrung ist an Ösophagusstenose,
Pylorussphinkter bei Schleim an Gastritis, bei Blutbeimengungen an
Kontraktion Erkrankungen des Magen-Darm-Traktes zu denken.
entspannter des Diaphragmas Der Zeitpunkt ist ein wichtiger Faktor, z. B. periodi-
Magen sches oder zyklisches Erbrechen, die Reihenfolge
Kontraktion
des M. rectus von Schmerzeintritt und Erbrechen.
Abdominaldruck erhöht abdominis Begleiterscheinungen von Erbrechen sind Nausea,
Würgen und vegetative Begleitsymptome.
Abb. 21.4 Würgen

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 367


KaelDesu
21 Erbrechen

dient, Luft aus dem Magen zu entfernen. Trinkt ein


21 21.6 Besonderheiten bei Kindern Baby sehr hastig oder sind die Ess- und Trinkhilfen
Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm nicht entsprechend ausgewählt (z. B. zu großes Saug-
loch), kann es in Verbindung mit dem Aufstoßen zu
Im Säuglings- und Kleinkindalter ist das Brechzent- einer geringen Abgabe von Nahrungsresten aus dem
rum leicht irritierbar, so dass es gerade in diesem Al- Magen über den Mund kommen. Es handelt sich da-
ter häufig zum Erbrechen kommen kann. Oftmals ist bei um einen natürlichen Vorgang, der nicht als ech-
dieses Erbrechen harmlos, es kann aber auch ein tes organisches Erbrechen definiert werden kann.
Symptom einer ernsten Erkrankung darstellen. Ins- Aus dem zunächst unbedenklichen Spucken bzw.
besondere für Kinder ist das Erbrechen ein wichtiger Speien kann sich ein habituelles Erbrechen entwi-
Schutzreflex. Bei einer Gewichtszu- oder -abnahme ckeln, insbesondere dann, wenn neben der Gewöh-
muss daher immer eine Untersuchung zum Aus- nung noch eine unruhige und/oder emotional unbe-
schluss pathologischer Ursachen durchgeführt wer- friedigende Umgebung besteht.
den. Unkontrolliertes oder übermäßiges Essen zu ei- Des Weiteren muss zwischen einem Erbrechen
nem falschen Zeitpunkt, z. B. vor längerer Autofahrt und der Rumination unterschieden werden. Bei der
oder Flug, sowie Stresssituationen wie Trennung von Rumination handelt es sich um eine willkürlich aus-
den Eltern führen insbesondere bei kleineren Kin- gelöste Regurgitation, wobei durch Würgen, oftmals
dern meist zu einem Erbrechen. Fühlt sich das Kind in Verbindung mit Manipulationen wie beispielswei-
anschließend wieder wohl, so ist es als unbedeutend se Fingerlutschen oder Zungenbewegungen, der Ma-
anzusehen. Mehrmaliges Erbrechen sollte jedoch geninhalt zurück in den Mund befördert wird. An-
hinsichtlich möglicher physischer oder auch psy- schließend wird der Mageninhalt erneut gekaut und
chischer Ursachen untersucht werden. hinuntergeschluckt. Es kann hierbei aber auch zum
Unterschieden werden muss außerdem zwischen Ausspucken oder Auslaufen aus dem Mund von ei-
einem Erbrechen und dem sog. Speien, das dazu nem Teil des in den Mund zurückbeförderten Ma-

Fontanellenwölbung
Fieber
peristierendes Erbrechen im Strahl Blutbeimengungen zum Erbrochenen

Resistenz zum Abdomen


sichtbare peristaltische Wellen, die von rechts nach links laufen, bei Pylorusstenose
von links oben nach rechts in den Mittel- und Oberbauch

Dehydratation
Auftreibung des Abdomens
kein Mekoniumabgang innerhalb von 48 Stunden nach der Geburt

Abb. 21.5 Symptome im Zusammenhang mit Erbrechen bei Säuglingen, die auf eine ernsthafte Erkrankung hinweisen (aus Hoehl, M.,
P. Kullick (Hrsg.): Gesundheits- und Kinderkrankenpflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012)

368 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
21.6 Besonderheiten bei Kindern

Tab. 21.4 Typisches Erbrechen und mögliche Ursachen bei Kindern (modifiziert nach: CONSILIUM CEDIP PRACTICUM,
24. Aufl. PMSI Cedip Verlagsgesellschaft mbH, Ismaning bei München 1996)
21
Brechcharakter zeitlicher Ablauf Inhalt Nebensymptome mögliche Ursachen

Neugeborene
schlaff unmittelbar nach dem Milch – Ösophagusatresie
Trinken
schlaff unmittelbar nach dem Milch Husten, Zyanose Ösophagusstenose,
Trinken Ösophagusstriktur
im Schwall verzögert nach dem Milch, Magensaft Magensteifungen Duodenalstenose,
Trinken Duodenalatresie
im Schwall unregelmäßig Blut blutige Stühle verschlucktes Blut

Neugeborene, Säuglinge
im Schwall unmittelbar nach dem Milch, Magensaft Magensteifungen, Koli- Pylorusstenose
Trinken ken, tastbare Olive
im Schwall oder schlaff unmittelbar nach dem Milch, Magensaft, Galle akutes Abdomen, Schock Ileus bei Volvulus
Trinken
im Schwall intermittierend mit Milch, Magensaft, Galle akutes Abdomen im Invagination
symptomfreien Phasen Wechsel mit symptom-
freiem Intervall
schlaff oder im Schwall nach den Mahlzeiten Mageninhalt Erbrechen oft mit Auf- Aerophagie
stoßen
schlaff oder im Schwall nach den Mahlzeiten Mageninhalt – gastro-ösophagealer
Reflux (GER)
schlaff unregelmäßig Mageninhalt Gedeihstörung, Laktatazidosen, organ.
Gewichtsstillstand Azidämien/-urien
oder Verlust
schlaff nach den Mahlzeiten Mageninhalt Gedeihstörung Rumination
im Schwall oder schlaff unmittelbar oder verzö- Milch, Magensaft Durchfälle, Hyponatri- adrenogenitales Syn-
gert nach dem Trinken ämie, Hyperkaliämie, drom mit Salzverlust
Schock

Klein- und Schulkinder


schlaff oder im Schwall unregelmäßig Mageninhalt – azetonämisches Erbre-
chen
schlaff oder im Schwall unregelmäßig Mageninhalt – psychogenes Erbrechen

Lebensaltersunabhängig
im Schwall nach den Mahlzeiten Mageninhalt ⫾ Galle Bauchschmerzen Gastroenteritis
Durchfall앖앖
im Schwall plötzlich aus voller Ge- Mageninhalt ⫾ Galle Durchfall, neurologische Intoxikation
sundheit Symptome: Apathie,
Krämpfe, Koma
im Schwall plötzlich auftretend Blut Hepatomegalie, Spleno- Ösophagusvarizen
megalie
schlaff oder im Schwall nach den Mahlzeiten Mageninhalt Regurgitation Ösophagusstenose,
-striktur
schlaff oder im Schwall nach den Mahlzeiten Mageninhalt Engegefühl, Husten- Achalasie
anfälle, Asthmaanfälle
schlaff oder im Schwall unregelmäßig Mageninhalt Kopfschmerzen, Bauch- Migräne
schmerzen

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 369


KaelDesu
21 Erbrechen

geninhalts kommen. Die Rumination ist besonders chens wie z. B. eine Dehydratation, Elektrolytentglei-
21 im Säuglingsalter als Zeichen einer Verhaltensstö- sungen, eine metabolische Alkalose, aber auch Ver-
rung vor allem bei vernachlässigten Säuglingen in wirrtheitszustände vermehrt beobachtet werden.
den ersten 4 – 5 Monaten zu beobachten.
Häufige Ursachen für Erbrechen in unterschiedli- Zusammenfassung:
chen Lebensaltern sind in Tab. 21.4 aufgeführt. Wie Besonderheiten bei Kindern und älteren
bei Erwachsenen, so sind auch bei Kindern die Form Menschen
des Erbrechens und der zeitliche Abstand zur Nah- Bei Kindern ist das Brechzentrum leicht reizbar, je-
rungsaufnahme wichtige Beobachtungspunkte. Im doch muss bei mehrmaligem Erbrechen doch auf
Zusammenhang mit der Zusammensetzung des Er- psychische oder physische Ursachen hin untersucht
brochenen und auftretenden Begleitsymptomen werden.
können sie Hinweise auf die mögliche Ursache geben. Unterschieden werden muss zwischen Erbrechen
Beim Auftreten der in Abb. 21.5 dargestellten und dem sog. Speien und Rumination.
Symptome in Verbindung mit einem akuten Erbre- Besonders muss im Zusammenhang mit Erbrechen
chen sollte eine sofortige ärztliche Abklärung erfol- auf Gewichtsveränderungen und Zeichen einer De-
gen, da sie auf ernsthafte Erkrankungen hinweisen. hydratation geachtet werden.
Daneben muss bei Neugeborenen, Säuglingen und Bei alten Menschen ist aufgrund der Multimorbidi-
Kleinkindern ein besonderes Augenmerk auf Verän- tät häufiger ein medikamentös bedingtes Erbrechen
derungen des Gewichts gelegt werden und auf Mi- zu beobachten.
mik, Gestik und andere nonverbale Äußerungen, die
auf eine starke Beeinträchtigung des Wohlbefindens
und auf Schmerzen schließen lassen. 21.8 Fallstudien
Einen Schwerpunkt bei der Pflege von Menschen, die
21.7 Besonderheiten bei älteren unter Erbrechen leiden, stellt neben der Beobach-
Menschen tung des Erbrechens die Beobachtung des Betroffe-
nen bezüglich möglicher Folgen und Komplikationen
Da ältere Menschen oftmals unter mehreren Erkran- dar. Das Erkennen dieser Risiken und die entspre-
kungen leiden, die eine medikamentöse Behandlung chende Überwachung sind die Basis für die Planung
erforderlich machen, ist bei ihnen häufiger ein medi- pflegerischer Interventionen. Für die Betroffenen
kamentös bedingtes Erbrechen zu beobachten. Me- stehen zumeist die Übelkeit und das Erbrechen
dikamente, die Erbrechen als Nebenwirkung hervor- selbst im Vordergrund, da sie als äußerst unange-
rufen, sind neben Zytostatika Digitalispräparate, Te- nehm empfunden werden. Anhaltendes Erbrechen
trazykline, Antirheumatika und Sulfonamide. Auch kann daneben zu einer Einschränkung in der Ausfüh-
Wechselwirkungen verschiedener Pharmaka kön- rung alltäglicher Verrichtungen führen und die Le-
nen Erbrechen auslösen. bensqualität erheblich beeinträchtigen.
Da es gerade auch im Alter vermehrt zu Hirnblu-
tungen kommen kann, ist das zerebrale Erbrechen Beispiel: Frau Groß ist 29 Jahre alt und er-
(akut, schwallartig, ohne vorausgehende Übelkeit) wartet ihr erstes Kind. Sie befindet sich in der
immer ein Alarmsignal, welches unbedingt abge- 8. Schwangerschaftswoche und leidet seit Ta-
klärt werden muss. gen unter einem unstillbaren Erbrechen. Es tritt unab-
Häufige metabolische Ursachen des Erbrechens hängig von der Nahrungsaufnahme auf und wird be-
im Alter stellen das diabetische Koma und die Nie- gleitet von einem starken Übelkeitsgefühl. Da Frau
reninsuffizienz mit Urämie dar. Aber auch kardiale Groß inzwischen 2 kg an Gewicht abgenommen hat
Erkrankungen wie z. B. eine Herzinsuffizienz oder und zudem Zeichen einer beginnenden Exsikkose auf-
ein Herzinfarkt können Erbrechen auslösen. Darüber weist, wurde sie mit der Diagnose „Hyperemesis gravi-
hinaus kann bei älteren Menschen Erbrechen das al- darum“ in die Klinik eingewiesen. Hier wurden u. a.
leinige Zeichen einer abdominellen Erkrankung sein. Bettruhe, Nahrungskarenz und eine Infusionstherapie
Aufgrund der häufigen Multimorbidität älterer angeordnet.
Menschen können verschiedene Folgen des Erbre-

370 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
Fazit

Frau Groß gab bei dem Aufnahmegespräch an, zu- und vehement (schwallartig), wobei die Intensität im-
nächst nicht in die Klinik kommen zu wollen, doch da mer mehr zugenommen hat. Die Mutter berichtet zu- 21
sie und ihr Mann sich sehr auf das Kind freuen, habe sie dem von „sichtbaren Darmbewegungen“ (peristalti-
der Einweisung nach einem langen Gespräch mit ihrem schen Wellen). Katie ist sehr unruhig und zeigt einen
Gynäkologen doch zugestimmt. Jetzt sei sie froh darü- greisenhaften, sorgenvollen Gesichtsausdruck. Da das
ber, da sie sich sehr schlapp und müde fühle und kei- Kind Zeichen einer Dehydratation aufweist und eine
nerlei Risiko eingehen möchte, um ihrem ungeborenen Elektrolytverschiebung festgestellt wurde, ist eine Infu-
Kind nicht zu schaden. Die pflegerischen Maßnahmen, sionstherapie angeordnet worden. Ein genauer Opera-
die bei Frau Groß bezüglich ihres Erbrechens durchge- tionstermin wurde noch nicht festgelegt.Tab. 21.6 zeigt
führt werden, sind in dem Auszug aus ihrem Pflegeplan einen Auszug aus dem Pflegeplan von Katie.
(Tab. 21.5) aufgeführt.
Fazit: Der vom Brechzentrum gesteuerte
Beispiel: Katie, 6 Wochen alt, wurde vom Brechreflex ist ein Schutzmechanismus des
Kinderarzt mit der Diagnose „hypertrophe Körpers vor schädigenden Stoffen. Erbrechen
Pylorusstenose“ eingewiesen. Seit 2 Tagen er- ist somit immer ein Symptom für pathologische Ereig-
bricht Katie unmittelbar nach jeder Mahlzeit plötzlich nisse. Entsprechend vielfältig sind seine möglichen Ur-

Tab. 21.5 Auszug aus dem Pflegeplan von Frau Groß

Pflegeproblem Ressourcen Pflegeziele Pflegemaßnahmen

Frau Groß leidet unter 쐌 Frau Groß und ihr Mann Frau Groß 쐌 geeignetes Auffangbehältnis (Nieren-
unstillbarem Schwanger- freuen sich auf ihr Kind 쐌 erbricht weniger schale) und Tücher in Reichweite bereit-
schaftserbrechen, begleitet 쐌 Frau Groß möchte Risiken 쐌 hat weniger Übelkeits- stellen
von starker Übelkeit für ihr ungeborenes Kind gefühle 쐌 bei Bedarf Wandschirm aufstellen
vermeiden 쐌 besitzt ein verbessertes 쐌 Beobachtung des Erbrechens (Häufigkeit,
Wohlbefinden Zeitpunkt, Aussehen, Menge, Begleit-
symptome, auslösende Faktoren)
쐌 Informationsgespräch über Nahrungska-
renz (ggf. Gespräch mit Arzt vermitteln)
쐌 Mundspüllösung nach Wunsch bereitstel-
len
쐌 nach jedem Erbrechen Möglichkeit ge-
ben, zumindest Gesicht und Hände zu
waschen, Weiteres nach Wunsch
쐌 Wäschewechsel bei Bedarf

Tab. 21.6 Auszug aus dem Pflegeplan von Katie

Pflegeproblem Ressource Pflegeziele Pflegemaßnahmen

Katie erbricht schwallartig Mutter von Katie wird mit- Katie 쐌 Beobachtung des Erbrechens (Art, Men-
nach jeder Nahrungszufuhr aufgenommen 쐌 erbricht weniger, kann ge, Aussehen, Zeitpunkt)
aufgrund einer hypertro- Nahrung bei sich behal- 쐌 nach Erbrechen Mundpflege durchführen
phen Pylorusstenose ten 쐌 12 kleine Mahlzeiten verabreichen (siehe
쐌 besitzt ein verbessertes Plan):
Wohlbefinden – Oberkörperhochlagerung
– langsam verabreichen
– kleines Saugloch verwenden
– „Aufstoß-Pausen“ einlegen
– ruhige Atmosphäre
쐌 nach der Mahlzeit
– rechte Seitenlage
– 30⬚-Schräglage
쐌 Information der Mutter über Mahlzeiten
und Verabreichung

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 371


KaelDesu
21 Erbrechen

sachen. Die Formen des Erbrechens können unterschie-


21 den werden nach dem Zeitpunkt des Auftretens in Ab- Literatur:
hängigkeit vom auslösenden Faktor und nach der Art
der Reizung des Brechzentrums. Dahmer, J.: Anamnese und Befund: Die symptomorientierte
Patientenuntersuchung fachübergreifend – interaktiv –
Das Erbrechen wird hinsichtlich der Kriterien Art
praxisbezogen. 10. Aufl. Thieme, Stuttgart 2006
und Weise des Erbrechens, Farbe, Menge, Geruch, Zeit- Fischer, K., H. Sobottka, D. Faas (Hrsg.): Klinikleitfaden Kinder-
punkt und Häufigkeit sowie Beimengungen und Be- krankenpflege. 4. Aufl. Urban & Fischer, München 2009
gleiterscheinungen beobachtet. Erbrechen bedeutet für Gerlach, U., H. Wagner, W. Wirth: Innere Medizin für Pflegebe-
die betroffenen Menschen eine große psychische und rufe. 8. Aufl. Thieme, Stuttgart 2015
physische Belastung, die eine intensive pflegerische Be- Gortner, L., S. Meyer, F. C. Sitzmann: Duale Reihe Pädiatrie.
4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012
gleitung erforderlich macht.
Hoehl, M., P. Kullick (Hrsg.): Gesundheits- und Kinderkranken-
pflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012
Illing, S., M. Claßen (Hrsg.): Klinikleitfaden Pädiatrie. 9 Aufl.
Urban & Schwarzenberg, München 2014
Köther, I.: Altenpflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2016
Pschyrembel Klinisches Wörterbuch. 263. Aufl. de Gruyter,
Berlin 2011
Schewior-Popp, S., F. Sitzmann, l. Ullrich (Hrsg.): Thiemes Pfle-
ge. 13. Aufl. Thieme, Stuttgart 2017
Silbernagl, S., A. Despopoulos: Taschenatlas Physiologie.
8. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012
von Schweinitz, D., B. Ure: Kinderchirurgie. Viszerale und all-
gemeine Chirurgie des Kindesalters. 2. Aufl. Springer, Hei-
delberg 2013

Im Internet:
https://www.pschyrembel.de/; Stand: 04. 08. 2017

372 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu

22 Sputum
Panajotis Apostolidis*, Petra Schmalstieg

22
Übersicht
Einleitung · 373
22.1 Beobachtung des Sputums · 373
22.1.1 Sputummenge · 374
22.1.2 Sputumfarbe · 374
22.1.3 Sputumgeruch · 375
22.1.4 Sputumkonsistenz · 375
22.1.5 Sputumzusammensetzung und
Beimengungen · 375
22.1.6 Zeitpunkt des Auswurfes · 375
22.2 Ergänzende Beobachtungskriterien · 375
22.3 Besonderheiten bei Kindern · 376
22.4 Besonderheiten bei älteren
Menschen · 376 Die sezernierenden Zellen der unteren Atemwege
22.5 Fallstudien und mögliche produzieren ein schleimiges Sekret. Es breitet sich als
Pflegediagnosen · 376 dünne, undurchsichtige Schicht aus und schützt so
Fazit · 378 die Bronchialschleimhaut vor Austrocknung und vor
Literatur · 379 schnellen Temperaturschwankungen.
Daneben dient es der Reinigung der Bronchial-
schleimhaut von inhalierten Partikeln. Flimmerhär-
Schlüsselbegriffe:
chen verhindern, dass das Bronchialsekret in die tie-
왘 Auswurf fer gelegenen Bronchioli gelangt.
왘 Expektoration Die normale Bronchialsekretion ist so gering, dass
sie nicht auffällt. Diese sehr kleinen Mengen, die ein
helles, glasiges Aussehen besitzen, werden unbe-
merkt durch Räuspern oder vereinzeltes leichtes
Husten aus den unteren Atemwegen nach oben in
Einleitung den Mundbereich befördert und oftmals mit Spei-
chel vermischt geschluckt.
Bei schweren Erkältungskrankheiten hat fast jeder Ein vermehrtes Bronchialsekret, welches dann
schon einmal unter Auswurf, dem sogenannten Spu- mit Hilfe eines produktiven Hustens (s. a. S. 195) aus-
tum gelitten. Ähnlich wie Erbrochenes, ist auch das geworfen wird, deutet somit immer auf ein patholo-
Sputum bei vielen Menschen mit starken Ekelgefüh- gisches Geschehen hin.
len behaftet. Aus diesem Grund erfordert die Pflege

!
von Menschen mit vermehrtem Auswurf ein hohes Merke: Bei einem gesunden Menschen tritt
Einfühlungsvermögen der Pflegepersonen. Das aus- kein Sputum auf.
gehustete Bronchialsekret kann als Krankheitssymp-
tom darüber hinaus wichtige Hinweise auf die Art
der zugrunde liegenden Erkrankung liefern.
22.1 Beobachtung des Sputums
Das folgende Kapitel beschreibt die Beobach-
Bei der Beobachtung des Sputums muss sicherge-
tungskriterien des Sputums und geht auf mögliche
stellt sein, dass es sich um Sputum und nicht um
Ursachen für eine vermehrte Bronchialsekretion ein.
Speichel handelt. Die Kriterien der Beobachtung sind
Menge, Farbe, Geruch, Konsistenz, Zusammenset-
Definition: Als Sputum, Auswurf oder Expek-
zung bzw. Beimengungen des Sputums und der Zeit-
toration wird das ausgehustete Bronchialsekret
bezeichnet.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 373


KaelDesu
22 Sputum

punkt des Auswurfes. Durch die Möglichkeit, das schen Bronchitis bei Allergie registriert werden
Sputum bakteriologisch, mikroskopisch und zytolo- kann.
gisch zu untersuchen, ist die makroskopische Beo- Eine reichliche Sekretion kann zudem bei Intu-
bachtung des Sputums zwar mehr und mehr in den bierten und nach einem häufigen Absaugen des
22 Hintergrund getreten, gehört aber noch immer zu Mund-Nasen-Rachenraumes beobachtet werden.
den ersten Routineuntersuchungen bei Menschen Dies ist zurückzuführen auf die Reizung der Schleim-
mit Atemwegserkrankungen. häute, die mit einer Mehrproduktion von Sekret re-
Verschiedene medikamentöse Therapien (z. B. agieren.
Antibiotika, Sekretolytika) können ebenfalls Verän- Um die Menge genau beurteilen zu können, ist die
derungen des Sputums, z. B. hinsichtlich des Ausse- Sputummenge anhand einer Skala, die sich am Spu-
hens und der Menge, hervorrufen. Dadurch ist das ei- tumbecher befindet, abzumessen und zu dokumen-
gentliche, charakteristische Aussehen des Sputums tieren.
nur noch selten zu beobachten.
Als induziertes Sputum wird das Sekret bezeich- 22.1.2 Sputumfarbe
net, das nach Inhalation mit hypertoner Kochsalz- Ein glasiges Sputum tritt bei Asthma bronchiale und
lösung gewonnen wird. Pertussis auf. Eine weißliche Farbe besitzt das Spu-
Da es sich beim Sputum um potenziell infektiöses tum beim sog. Raucherhusten und gilt als Zeichen ei-
Material handelt, sind beim Umgang damit grund- ner chronischen Bronchitis. Bakterielle Infektionen
sätzlich Handschuhe zu tragen. Zur genauen Be- der Atemwege, wie beispielsweise eine eitrige Bron-
trachtung des Sputums wird dieses in einem Spu- chitis, rufen eine gelbliche bis gelbgrüne Verfärbung
tumbecher (Einmalbecher mit Deckel aus durchsich- des Auswurfes hervor.
tigem Material) gesammelt. Bei einer Pneumonie kann der Auswurf ein schlei-
Wird in den Becher eine Desinfektionslösung ge- mig-eitriges Aussehen oder ein rostfarbenes, sog. ru-
geben, so ist dies bei der Beurteilung des Sputums zu binöses Aussehen besitzen.
berücksichtigen. Das bedeutet auch, dass der damit Ein Abhusten oder Ausspucken von blutigem Spu-
versetzte Auswurf für bakteriologische Untersu- tum oder von geringen Blutmengen (weniger als
chungen nicht verwendet werden kann. 50 ml) wird als Hämoptyse bezeichnet. Ursachen für
Sind die unter einer vermehrten Sekretion leiden- eine Hämoptyse stellen Tumore im Bereich der
den Menschen nicht oder nur ungenügend in der La- Atemwege, Herz-Gefäßerkrankungen wie Lungen-
ge, das Sekret abzuhusten, muss ggf. eine Absaugung embolie und Lungeninfarkt, Infektionen wie bei-
vorgenommen werden, um eine Verlegung der spielsweise Bronchitiden, Pneumonien oder Lungen-
Atemwege zu verhindern. tuberkulose dar.
Beträgt die ausgehustete Blutmenge mehr als

!
Merke: Die Beobachtungskriterien des Spu- 50 ml, so handelt es sich um eine Hämoptoe. Sie ist
tums sind Menge, Farbe, Geruch, Konsistenz, u. a. bei Gefäßrupturen oder Lungenkavernen zu
Zusammensetzung und Zeitpunkt des Aus- beobachten.
wurfes. Hämoptyse und Hämoptoe sind Symptome, die
eine diagnostische Abklärung erfordern.
22.1.1 Sputummenge Ist das gesamte Sputum rosa bis rötlich verfärbt,
Die Sputummenge wird mit Ausdrücken wie maul- so kann dies auf einen Blutaustritt aus den Alveolen
voll, reichlich und spärlich beschrieben. Eine sog. oder Bronchiolen zurückgeführt werden. Durch eine
maulvolle Expektoration, die zumeist morgendlich Vermischung von Blut und Eiter, wie sie beispiels-
erfolgt, ist charakteristisch für sackförmige Ausbuch- weise beim Bronchialkarzinom zu beobachten ist,
tungen der Bronchien, sog. Bronchiektasen. Wäh- bekommt das Sputum ein himbeergeleefarbiges
rend eines Tages kann dabei die Gesamtsputummen- Aussehen.
ge bis zu 2 Litern betragen. Hellrotes, schaumiges Sputum kann durch ein
Aber auch bei Lungentuberkulose sind maul- Lungenödem hervorgerufen werden. Hierbei ge-
volle Expektorationen zu beobachten. Reichliches langt, bedingt durch eine Stauung des Blutes in den
Sputum tritt vor allem bei Bronchitiden und Pneu- Lungen, Blutflüssigkeit aus den Kapillaren in die Al-
monien auf, während eine spärliche Sputummen- veolen und somit in die Atemwege.
ge bei einem Bronchialkarzinom oder einer spasti-

374 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
22.2 Ergänzende Beobachtungskriterien

22.1.3 Sputumgeruch Ein sog. dreischichtiges Sputum kann bei Bron-


Ein fader, süßlicher Geruch des Sputums tritt bei chiektasen beobachtet werden. Im Spitzglas setzt
bakteriell-entzündlichen Erkrankungen auf. Als stin- sich unten der Eiter, in der Mitte ein gelblich-grünli-
kend wird der Geruch des Sputums bei einer chroni- cher Schleim und oben eine schaumige Masse ab.
schen Bronchitis beschrieben. Durch Eiteransamm- Dagegen setzt sich das Sputum bei einem Lungen-
22
lungen und Zersetzungsprozesse, beispielsweise bei abszess in zwei Schichten (Eiter, Schleim) ab.
einem Lungenabszess, aber auch bei einem Bronchi- Nach der genauen Betrachtung des Sputums hin-
alkarzinom, kann ein übelriechender, fötider Spu- sichtlich seines Aussehens folgt zumeist eine bakte-
tumgeruch wahrgenommen werden. riologische, mikroskopische und/oder zytologische
Untersuchung. Bakteriologische Sputumuntersu-
22.1.4 Sputumkonsistenz chungen dienen vor allem der Identifizierung von Er-
Die Konsistenz des Sputums reicht von zäh bis wäss- regern und einer Resistenzprüfung zur Auswahl ei-
rig und ist abhängig von der Zusammensetzung und nes geeigneten Antibiotikums.
den jeweiligen Beimengungen. Sie kann durch eine Mit Hilfe der mikroskopischen Untersuchung kön-
Veränderung der Flüssigkeitszufuhr beeinflusst wer- nen Merkmale bestimmter Krankheitsbilder festge-
den. stellt werden. Beispiele hierfür sind eosinophile Gra-
Der zähe Auswurf ist typisch z. B. für Asthma nulozyten bei allergisch bedingtem Asthma bron-
bronchiale, Pneumonien, Pertussis. Bei akuten katar- chiale und elastische Fasern bei Lungenabszessen.
rhalischen Erkältungsinfekten und Bronchitiden ist Für den Nachweis von Krebszellen, zum Beispiel
das Sputum oftmals schleimig. Die Konsistenz des bei Verdacht auf ein Bronchialkarzinom, stellt die zy-
Sputums bei einem Lungenödem kann als dünnflüs- tologische Untersuchung des Sputums eine wichtige
sig, schaumig beschrieben werden. Ein wässriges diagnostische Maßnahme dar.
Sputum wird bei der Legionärskrankheit beobachtet.
22.1.6 Zeitpunkt des Auswurfes
22.1.5 Sputumzusammensetzung und Bei Bronchiektasen, aber auch beim sog. Raucher-
Beimengungen husten (chronische Bronchitis), findet sich typischer-
Das Bronchialsekret besteht normalerweise aus weise eine vermehrte Auswurfmenge am Morgen.
Wasser, Leukozyten, Epithelzellen, Staubteilchen Dieser vermehrte morgendliche Auswurf ist auf eine
und Rauchpartikeln. Zu blutigen Beimengungen nächtliche Ansammlung von Sekret zurückzuführen,
kommt es beispielsweise infolge von Herz-Gefäß- welches sich insbesondere bei Bronchiektasen in den
Krankheiten, bei Fremdkörpern in den Atemwegen Ausbuchtungen sammelt.
und bei einem Bronchialkarzinom. Zudem können Daneben können zeitliche Zusammenhänge mit
blutige Beimengungen auch bei einigen Infektionen der Inhalation von beispielsweise Staubpartikeln,
wie Pneumonien und Tuberkulose auftreten. nach einer Aspiration o. ä. diagnostische Hinweise
Eitrige Beimengungen können vor allem bei Bron- liefern.
chiektasen, Lungenabszess, Tuberkulose und eitriger
Bronchitis beobachtet werden.
Die Art und Weise, wie die Beimengungen im 22.2 Ergänzende
Sputum auftreten, kann daneben wichtige diagnosti- Beobachtungskriterien
sche Hinweise geben. So finden sich bei einem Lun-
geninfarkt oder einer lobären Pneumonie zumeist Wichtige weitere Beobachtungspunkte, die im Zu-
nur fadenförmige Blutbeimengungen, während bei sammenhang mit dem Auftreten von Sputum beo-
einer Lungenembolie klumpige Beimengungen auf- bachtet werden müssen, sind vor allem Atmung und
treten. Husten, da Erkrankungen im Atemwegssystem die
Eitrige Gebilde von Stecknadelkopf- bis Linsen- häufigsten Ursachen von Sputum darstellen.
größe oder eine „münzförmige“ Expektoration tre- Daneben gehören die Vitalzeichen wie Puls, Blut-
ten bei Tuberkulose auf. Gelblich-graue Pfröpfe wei- druck und Körpertemperatur zu den begleitenden
sen auf ein Lungengangrän hin, grünlich-bräunliche Beobachtungspunkten. Aus ihnen ergeben sich Hin-
Pfröpfe auf eine chronische Bronchitis. weise auf mögliche Infektionen, aber auch beispiels-
weise auf Herzerkrankungen.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 375


KaelDesu
22 Sputum

Ein typisches Beispiel hierfür stellt die Linksherz- Aus degenerativen Veränderungen zum Beispiel
insuffizienz dar, in deren Folge sich ein Lungenödem an den Gelenken zwischen Wirbelsäule und Rippen
mit einem blutig, dünnflüssig schaumigen Auswurf sowie einem Elastizitätsverlust der Ringknorpel kann
entwickeln kann. eine Einschränkung in der Atemfläche resultieren.
22 Bei Menschen, die zu geschwächt sind, das Spu- Daneben kann oftmals eine Erweiterung der Al-
tum auszuhusten, muss immer auch eine Kontrolle veolen festgestellt werden. Das Lungengewebe atro-
der Mundhöhle erfolgen. So können Veränderungen phiert, und zusätzlich lassen die Selbstreinigungs-
und Infektionen der Mundschleimhaut, die durch mechanismen der Atemwege nach. Dies führt u. a. zu
verbliebenes Sekret und durch Maßnahmen, wie bei- einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber Atemwegser-
spielsweise dem Absaugen hervorgerufen werden, krankungen, die oftmals mit einem vermehrten Aus-
vorgebeugt und frühzeitig erkannt werden. wurf einhergehen.
Bei dem Auftreten von Sputum, insbesondere im
Zusammenhang mit andauerndem Husten, muss
22.3 Besonderheiten bei Kindern auch an ein Bronchialkarzinom gedacht werden, das
Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm zumeist zwischen dem 55. und 70. Lebensjahr auf-
tritt. Aber auch eine Herzinsuffizienz, die gerade bei
Bei Kindern gestaltet sich die Beobachtung des Spu- älteren Menschen häufig zu beobachten ist, stellt
tums oftmals schwierig, da insbesondere Neugebo- eine Ursache für Sputum dar.
rene und Säuglinge noch nicht in der Lage sind, das
Sputum gezielt auszuhusten und Kleinkinder dazu
neigen, Schleim und Sekret hinunterzuschlucken. 22.5 Fallstudien und mögliche
Eine entsprechende Anleitung und Unterstützung Pflegediagnosen
zur Sekretentleerung muss erfolgen, damit eine ge-
naue Betrachtung des Auswurfes möglich ist. Even- Das Auftreten von Sputum ist für die betroffenen
tuell muss zur Sekretgewinnung eine Absaugung Menschen zumeist sehr unangenehm und kann bis
vorgenommen werden. hin zu Ekelgefühlen führen. Es können sich aus dem
Neben dem bereits beschriebenen Sputum kann Auftreten von Sputum eine Reihe unterschiedlicher
bei Neugeborenen ein blutiges, schaumiges Sekret Probleme für den betroffenen Menschen ergeben.
beobachtet werden. Es ist zumeist auf einen angebo- So können Atembehinderungen, aber auch Angst
renen Zwerchfelldefekt, eine sog. kongenitale oder Ekelgefühle für den Betroffenen problematisch
Zwerchfellhernie, zurückzuführen. sein.
Eine weitere angeborene Erkrankung, die mit ei-
nem sehr zähen Auswurf einhergeht, ist die zystische Beispiel: Herr Zeh, 44 Jahre, leidet seit seiner
Fibrose, die auch als Mukoviszidose bezeichnet wird. Jugend unter einem allergisch bedingten
Bei dieser autosomal-rezessiv vererbten Erkrankung Asthma. Vor zwei Tagen erlitt er wieder einen
werden – bedingt durch eine Störung des Wasser- schweren Asthma-Anfall. Herr Zeh leidet unter einer
und Salzhaushaltes – die Körpersekrete zähflüssig, Ruhedyspnoe und ist sehr erschöpft.
was eine erschwerte Entleerung zur Folge hat. Er klagt häufig über einen zähen Schleim, den er nicht
Im Verlauf der Erkrankung kommt es häufig zu aushusten kann. Zur Sekretolyse wurden neben einer
Bronchiektasen, so dass bei diesen Kindern eine oralen Medikation Inhalationen mit physiologischer
reichliche Menge des zähflüssigen Sputums am Mor- NaCl-Lösung verordnet.
gen beobachtet werden kann. Einen Auszug aus dem Pflegeplan von Herrn Zeh,
der sich auf das ungenügende Abhusten des Schleims
bezieht, zeigt die Tab. 22.1.
22.4 Besonderheiten bei älteren
Menschen Die entsprechende Pflegediagnose könnte folgen-
dermaßen formuliert werden:
Mit zunehmendem Alter kommt es zumeist auch zu
einer allgemeinen Minderung der Leistungsfähig-
keit. Hiervon ist häufig auch das Atmungssystem be-
troffen.

376 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
22.5 Fallstudien und mögliche Pflegediagnosen

Tab. 22.1 Auszug aus dem Pflegeplan von Herrn Zeh

Pflegeproblem Ressource Pflegeziele Pflegemaßnahmen

Herr Zeh leidet unter zähem 쐌 Kennt Asthma-Anfälle Herr Zeh Information über Maßnahmen der Sekret-
Schleim, den er nicht aus- 쐌 hat verflüssigtes Sekret verflüssigung, -auslösung und Unterstüt- 22
husten kann, bei Asthma 쐌 trinkt mind. 2,5 l/Tag zung des Abhustens:
bronchiale 쐌 kann das Sekret abhusten 쐌 Trinkmenge von mindest. 2,5 l/Tag, bei
쐌 inhaliert selbstständig Bedarf gemeinsam einen Trinkfahrplan
erstellen
쐌 1 ⫻ täglich (8 : 00 h) Einfuhrkontrolle
쐌 Anleitung zur Inhalation, Zeiten abspre-
chen (9 : 00/14 : 00/19 : 00 h)
쐌 im Anschluss an die Inhalation Thorax-
vibration
쐌 Anleitung zum schonenden, produktiven
Abhusten
쐌 Papiertaschentücher und Abwurfmög-
lichkeit bereitstellen

Unwirksame Atemwegsclearance
beeinflusst durch (b/d): Unwirksame Atemwegsclearance (P)
unproduktiven Husten, (Selbstreinigung der Atemwege)
vermehrte zähflüssige Sekretion, (Gordon 2013, S. 243 – 245, NANDA-I 2016)
Erschöpfung, Ineffective airway clearance (00031) (1980, 1996,
1998)
angezeigt durch (a/d):
Taxonomie II: Domäne 11: Sicherheit/Schutz,
Ruhedyspnoe.
Klasse 2: Physische Verletzung

Beispiel: Hilke leidet unter einer zystischen Diagnosetyp (Dokumentationsform): aktuelle Pflege-
Fibrose. Aufgrund dieser Erkrankung ist es diagnose (PES)
bei der 6-jährigen Hilke in letzter Zeit zu ei- Funktionelles Gesundheitsverhaltensmuster:
ner Reihe von Atemwegsinfektionen gekommen, von Aktivität und Bewegung

denen sie sich immer langsamer erholt. Definition


Trotz täglicher Inhalationen, Atemübungen, sportli- Unfähigkeit, Sekrete oder Verlegungen/Obstruktionen
cher Betätigung, regelmäßiger Thoraxvibration und der Atemwege zu beseitigen, um die Atemwege frei zu
Lagerungsdrainage (zu Hause: Durchführung, Über- halten
wachung durch die Eltern) sowie einer oralen Therapie
Einflussfaktoren (E)
mit Sekretolytika gelingt es Hilke immer weniger, das
(unwirksamer Husten)
zähflüssige Sekret abzuhusten. Hilke klagt immer öfter
(übermäßig zähes Sekret)
über eine Belastungs- und zeitweise auch über eine
(verminderte Energie oder Fatigue)
Ruhedyspnoe.
(Schmerz [spezifiziere Bereich])
Einen Auszug aus dem Pflegeplan von Hilke, bezogen Vorliegen eines künstlichen Atemweges
auf die ungenügende Entleerung, zeigt die Tab. 22.2.
umgebungsbezogene
Rauchen
Als Pflegediagnose könnte für Hilke Folgendes for-
passives Rauchen
muliert werden:
Einatmen von Rauch
Unwirksame Atemwegsclearance
verlegte Atemwege (Obstruktion)
beeinflusst durch (b/d) verlegte Atemwege durch
Sekretstau
übermäßigen Schleim
Sekrete in den Bronchien
angezeigt durch (a/d) Unvermögen zur Atemwegs-
Exsudat in den Alveolen
clearance und Belastungs-/ zeitweise Ruhedyspnoe
übermäßiger Schleim
Spasmus in den Atemwegen
Fremdkörper in den Atemwegen

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 377


KaelDesu
22 Sputum

Tab. 22.2 Auszug aus dem Pflegeplan von Hilke

Pflegeproblem Ressource Pflegeziele Pflegemaßnahmen

Hilke kann das vermehrte 쐌 Hilke kennt verschiedene Hilke 쐌 Mit Hilke und ihren Eltern einen Zeitplan
22 zähflüssige Sekret bei zysti- Therapiemaßnahmen 쐌 hat flüssigeres Sekret zur weiteren Durchführung der bisherigen
scher Fibrose nur ungenü- und führt diese zum Teil und kann dieses abhus- Maßnahmen erstellen, Plan in das Zim-
gend aushusten selbstständig durch (In- ten mer von Hilke hängen
halationen, Atemübun- 쐌 erlernt die Technik der 쐌 Information über die autogene Drainage
gen, Vibration, Lage- autogenen Drainage ge- und zusammen mit Hilke, ihren Eltern
rungsdrainage) meinsam mit ihren Eltern und der Physiotherapeutin gemeinsame
쐌 Die Eltern unterstützen Termine zur Erlernung der Technik verein-
Hilke bei ihrer Therapie baren
쐌 Beobachtung des Sputums (Menge,
Konsistenz, Aussehen) und der Entlee-
rung

physiologische Pflegeergebnis (Outcome)


chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD) Respiratorischer Status: Freie Atemwege
Asthma (Respiratory Status: Airway Patency)
allergisch veränderte Atemwege Offene, freie Atemwege für den Luftaustausch
Hyperplasie der Bronchialwände
Risikogruppen
neuromuskuläre Störung
Personen mit . . .
Infektion
Atemwegsobstruktion
Kennzeichen oder Symptome (S) Infektion der Atemwege
Hauptkennzeichen Trauma
abnorme Atemnebengeräusche (Rasseln, Karcheln, Beeinträchtigung der Wahrnehmung oder des
Pfeifen, Giemen) Denkens
(Unvermögen zur Atemwegsclearance) (Die Pflegediagnose beschreibt die Beeinträchtigung
unproduktiver Husten der ziliären und tussiven Clearance, d. h. der Selbst-
fehlender Husten, (fortschreitend [zu]:) reinigung der Atemwege durch Aktivität der Flim-
(Äußerungen über Kurzatmigkeit oder merhärchen (Zilien) und das Abhusten (tussiv). Anm.
Atembeschwerden) d. Hrsg.)
(Notwendigkeit häufigen Absaugens)
(Anstieg der Atemfrequenz [Tachypnoe] oder -tiefe)
verminderte Atemgeräusche Fazit: Ein vermehrtes Bronchialsekret, das
(Hypoxämie) als Sputum oder Auswurf bezeichnet wird,
Nebenkennzeichen stellt immer einen Hinweis auf eine Erkran-
(Ruhe- oder Belastungs-) Dyspnö kung dar. Beobachtet wird das Sputum hinsichtlich
Hyperkapnie Menge, Farbe, Geruch, Konsistenz, Zusammensetzung
veränderter Atemrhythmus und des Zeitpunkts des Auswurfes. Die häufigsten Ur-
Schwierigkeiten zu sprechen sachen stellen Erkrankungen des Atemwegsystems dar,
geweitete Augen doch auch Herz- und Gefäßkrankheiten können eine
Zyanose vermehrte Bronchialsekretion bedingen.
übermäßiges Sputum Die Entleerung von Sputum stellt einen wichtigen
veränderte Atemfrequenz Faktor zur Vorbeugung weiterer, sich aufpfropfender
Orthopnö Infektionen dar. Außerdem kann durch die Ansamm-
Ruhelosigkeit lung von reichlichem Sekret eine Atemwegsverlegung
erfolgen, die zu einer Minderversorgung des Organis-
mus mit Sauerstoff führen kann. Entsprechende Maß-

378 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
Literatur

nahmen zur Unterstützung der Sekretentleerung und Hoehl, M., P. Kullick (Hrsg.): Gesundheits- und Kinderkranken-
insbesondere zum Auffangen und Abwurf müssen be- pflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012
Koletzko, B. (Hrsg.): Kinder- und Jugendmedizin. 14. Aufl.
rücksichtigt werden.
Springer, Berlin 2013
Der Anblick von Sputum ruft bei vielen Menschen
Ekelgefühle hervor, so dass ein sachlicher, aber zugleich
Köther, I.: Altenpflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2016 22
Menche, N., I. Brandt (Hrsg.): Pflege konkret Innere Medizin.
auch einfühlender Umgang mit den Betroffenen erfor- 6. Aufl. Elsevier GmbH, München 2013
derlich ist. NANDA International: Pflegediagnosen. Definitionen und
Klassifikation 2015 – 2017. Herdman, T. H., S. Kamitsuru
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Lernen – Anwenden. 12. Aufl. Thieme, Stuttgart 2005
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Schewior-Popp, S., F. Sitzmann, l. Ullrich (Hrsg.): Thiemes Pfle-
Patientenuntersuchung fächerübergreifend – interaktiv –
ge. 13. Aufl. Thieme, Stuttgart 2017
praxisbezogen. 10. Aufl. Thieme, Stuttgart 2006
Schwegler, J., R. Lucius: Der Mensch. Anatomie und Physiolo-
Epstein, O., G. D. Perkin, D. P. de Bono, J. Cookson: Anamnese
gie. 6. Aufl. Thieme, Stuttgart 2016
und Untersuchung: auf einen Blick. Elsevier, München
Weyerstahl, T., M. Stauber: Duale Reihe: Gynäkologie und Ge-
2006
burtshilfe. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2013
Gerlach, U., H. Wagner, W. Wirth: Innere Medizin für Pflegebe-
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Hogrefe AG, Bern 2013 https://www.pschyrembel.de/; Stand: 04. 08. 2017
Gortner, L., S. Meyer, F. C. Sitzmann: Duale Reihe Pädiatrie.
4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 379


KaelDesu

23 Schmerz
Eva Eißing

Übersicht
23 Einleitung · 380
23.1 Schmerzentstehung, -leitung und
-wahrnehmung · 381
23.1.1 Schmerzhemmsysteme · 381
23.1.2 Gestörte Schmerzempfindung · 383
23.1.3 Beeinflussende Faktoren · 383
23.1.4 Bedeutung von Schmerz · 384
23.2 Schmerzarten · 384
23.2.1 Nozizeptorschmerz · 384
23.2.2 Neurogener Schmerz · 386
23.2.3 Zentraler Schmerz · 386
23.2.4 Phantomschmerz · 386
23.2.5 Psychogener Schmerz · 387
23.3 Akuter und chronischer Schmerz · 387 Einleitung
23.3.1 Akuter Schmerz · 387
23.3.2 Chronischer Schmerz · 387 Schmerz ist eine Erfahrung, die nahezu jeder Mensch
23.4 Beobachtungskriterien · 388 kennt und die meist als unangenehmes Ereignis im
23.4.1 Schmerzäußerungen · 388 Gedächtnis gespeichert ist. Die biologische Bedeu-
23.4.2 Schmerzlokalisation · 390 tung des Schmerzes liegt darin, den Organismus vor
23.4.3 Schmerzzeitpunkt, -dauer und -verlauf · 390 schädigenden Einflüssen zu warnen bzw. zu schüt-
23.4.4 Schmerzintensität · 390 zen. Nicht ausreichend behandelte Schmerzen be-
23.4.5 Schmerzqualität · 391 deuten für den Betroffenen eine große Belastung, die
23.4.6 Schmerzbegleitende Symptome · 391 sich auf fast alle Bereiche des täglichen Lebens aus-
23.4.7 Auswirkungen auf das Alltagsleben · 391 wirkt.
23.5 Dokumentation · 391 Da das Schmerzerlebnis und die Bedeutung, die
23.6 Ergänzende Beobachtungskriterien · 392 dem Schmerz beigemessen wird, subjektiv und von
23.7 Besonderheiten bei Kindern · 392 Mensch zu Mensch verschieden ist, kommt der Beo-
23.8 Besonderheiten bei älteren Menschen · 395 bachtung des Schmerzes eine wichtige Rolle in der
23.9 Fallstudien und mögliche pflegerischen Berufsausübung zu.
Pflegediagnosen · 395 Schmerzerlebnisse sind komplexe Geschehen
Fazit · 398 und umfassen Phänomene aus allen menschlichen
Literatur · 399 Bereichen. Schmerzbeschreibungen sind immer sub-
jektiv und unvollständig. Folglich lässt sich auch nur
schwer eine eindeutige Definition von Schmerz for-
Schlüsselbegriffe:
mulieren.
왘 Nozizeptorschmerz Die Internationale Gesellschaft für das Studium
왘 Phantomschmerz des Schmerzes (International Association for the Stu-
왘 Chronischer Schmerz dy of Pain/IASP) wurde 1974 mit dem Ziel gegründet,
왘 Neurogener Schmerz Forschung und multidisziplinäre Ausbildung auf
왘 Psychogener Schmerz dem Gebiet der Schmerztherapie zu fördern. Sie hat
왘 Schmerzkrankheit folgende Definition vorgeschlagen:
왘 Zentraler Schmerz

왘 Akuter Schmerz

왘 Gate-Control

왘 Total-pain-Konzept

380 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
23.1 Schmerzentstehung, -leitung und -wahrnehmung

Definition: „Schmerz ist ein unangenehmes Ankommende Schmerzreize werden zum limbi-
Gefühlserlebnis, das mit einer Gewebeschädi- schen System, zum Hypothalamus und zur sensori-
gung verknüpft ist, aber auch ohne sie auftreten schen Großhirnrinde geleitet. Das limbische System
kann oder mit Begriffen einer solchen Schädigung be- ist für den emotionalen Anteil der Schmerzverarbei-
schrieben wird. Schmerz ist immer subjektiv“ (Thomm tung verantwortlich, z. B. für die Entstehung von
1998, S. 17). Angst oder depressiven Gefühlen. Der Hypothalamus
beeinflusst die Hormonausschüttung der Hypophyse 23
und das vegetative Nervensystem. Dadurch sind
23.1 Schmerzentstehung, -leitung Schweißausbrüche, Erbrechen, Zittern, Puls- und
und -wahrnehmung Blutdruckveränderungen sowie Atemveränderun-
gen als Begleitsymptome des Schmerzes beobacht-
Schmerz entsteht durch Erregung der Schmerz- bar. In der Großhirnrinde wird der Schmerz entspre-
rezeptoren, auch Nozizeptoren genannt. Sie befinden chend der in Abb. 1.6 dargestellten Projektion der
sich überall in der Haut und in den Körperorganen. einzelnen Körperteile bewusst wahrgenommen.
Ihre Erregung zeigt, dass entweder von außen oder
von innen stammende Reize dem Körper schaden. 23.1.1 Schmerzhemmsysteme
Die Schmerzrezeptoren bestehen aus freien Ner- Der Organismus verfügt über Mechanismen, die die
venendigungen und sind polymodal, d. h. sie werden Schmerzempfindung herabsetzen oder blockieren.
durch verschiedene Noxen erregt: Die beiden wichtigsten sind:
mechanisch z. B. durch Nadelstiche, Endorphine,
thermisch durch Hitze und Kälte, „Gate-Control“.
eletrisch durch Strom,
chemische Reize durch toxische Einflüsse Endorphine
Bei einer Gewebeschädigung werden aus den ge- Endorphine stellen die wichtigsten schmerzhem-
schädigten Zellen Schmerzsubstanzen abgesondert. menden Stoffe dar. Sie werden vom Körper selbst
Hierzu gehören u. a. das Serotonin, Histamin oder produziert und kommen im Gehirn, in der Hypophy-
Bradykinin. Die Nozizeptoren werden durch die Ge- se, im Rückenmark und in den Organen vor. Sie wir-
webehormone gereizt und setzen schmerzauslösen- ken ähnlich wie Morphium analgetisch und euphori-
de Neuropeptide frei, z. B. Prostaglandine und die sierend.
sog. Substanz P. Die Schmerzreize gelangen über 2 Es wird vermutet, dass Endorphine auch in Belas-
verschiedene Nervenfasern zum Rückenmark. Die A- tungssituationen, z. B. während körperlicher An-
delta-Fasern haben eine Myelinschicht und sind strengungen beim Sport oder beim Tanzen, sowie in
schnellleitend. Sie bewirken einen gut lokalisierba- Stresssituationen, z. B. bei Unfällen, vermehrt ausge-
ren Sofortschmerz und lösen Fluchtreflexe aus, z. B. schüttet werden. Sie ermöglichen lebensrettende
das Wegziehen der Hand von der Herdplatte bei star- Maßnahmen, z. B. die Flucht aus einer Gefahrenzone
ker Hitze. Die C-Fasern sind nicht myelisiert und lei- in entsprechend bedrohlichen Situationen, ohne
ten den Schmerzreiz langsam weiter. dass Schmerzen aufgrund vorhandener Verletzun-
Beide Schmerzfaserarten treten über die Hinter- gen daran hindern. Auch verletzte Sportler nehmen
wurzeln der Rückenmarksnerven in das Hinterhorn häufig ihre schmerzenden Körperteile gar nicht oder
des Rückenmarks ein. Dort erfolgt die erste Umschal- abgeschwächt wahr, bis der Wettkampf vorbei ist.
tung und Kreuzung auf die andere Seite, um dann
entlang der Vorderseitenstrangbahnen des Rücken- „Gate-Control“
marks zur Formatio reticularis, zum Thalamus und „Gate-Control“ ist englisch und heißt übersetzt „Tor-
zur sensorischen Großhirnrinde zu ziehen kontrolle“. Die Gate-Control-Theorie ist 1965 von
(Abb. 23.1). Die Formatio reticularis steuert die Auf- den Wissenschaftlern Melzak und Wall entwickelt
merksamkeit und den Wachzustand und erklärt worden. Sie geht davon aus, dass der menschliche
auch die Tatsache, dass ein wacher Mensch Schmerz- Körper unmöglich den gesamten sensorischen Input
reize intensiver wahrnimmt bzw. Schlaf dadurch bewältigen, d. h. alle auf ihn einströmende Reize ver-
verhindert wird. Der Thalamus ist eine wichtige arbeiten kann. Er hat einen Mechanismus in Form
Schaltstelle für sämtliche Wahrnehmungen (s. a. einer Schranke entwickelt, in der die Intensität der
S. 5).

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 381


KaelDesu
23 Schmerz

Abb. 23.1 Schmerzentstehung und


Schmerzleitung

sensorische Rinde:
23 Schmerzwahr-
nehmung
Schmerzreiz
Thalamus
mechanisch elektrisch

chemisch thermisch

Nozizeptoren

A-delta-
Fasern Hinterhorn des
myelisiert Rückenmarks

C-Fasern
(nicht myelisiert)
Vorderhorn des Rücken-
Rückenmarks mark

Schmerzsignale aus der Peripherie abgeschwächt, Die Hemmung von Schmerzreizen, d. h. das
aber auch verstärkt werden können. Treten zu viele Schließen des „Schmerztores“, kann auch durch ab-
Schmerzimpulse auf, unterbrechen bestimmte Zel- steigende Mechanismen des somatosensorischen
len im Rückenmark die Signalübertragung, ähnlich Systems erfolgen, z. B. durch Entspannungstechni-
wie das Schließen eines Schleusentors. ken, Ablenkung oder Suggestion.
Auch hierdurch lässt sich, ähnlich wie bei der En- Das „Öffnen“ des Schmerztores geschieht haupt-
dorphinausschüttung, erklären, warum Sportler sächlich durch den Schmerzreiz selbst. Psychische
nach sehr schmerzhaften Verletzungen den Wett- Phänomene wie Angst, Unsicherheit, Anspannungen
kampf trotzdem beenden. etc. scheinen diesen Mechanismus ebenfalls zu un-
Das „Schließen“ des Schmerztors kann jedoch terstützen.
auch durch andere Sinnesreize ausgelöst werden, Die Schmerzrezeptoren haben eine hohe Schwel-
z. B. durch Wärme- und Kälteanwendungen, Reiben le, d. h. sie werden nur durch starke oder gewebe-
der verletzten Körperstelle, Massagen oder elektro- schädigende Reize (Noxen) erregt. Normaler Druck
physikalische Maßnahmen. Die analgetische Wir- auf körperliches Gewebe löst beispielsweise keine
kung von Akupunktur stützt sich zum Teil auf die Schmerzwahrnehmung aus, sondern erst eine starke
Gate-Control-Theorie. Die Reizung der Nozizepto- Druckerhöhung mit Quetschung von Gewebeantei-
ren, also die Schmerzreize, hören nicht auf, sie wer- len.
den lediglich an ihrer Weiterleitung zur zentralner- Da die Schmerzempfindung individuell unter-
vösen Schaltstation im Rückenmark oder Gehirn ge- schiedlich erlebt wird, gestaltet sich auch deren Mes-
hemmt. sung schwierig. Bei der Algesimetrie wird versucht,

382 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
23.1 Schmerzentstehung, -leitung und -wahrnehmung

setzte Schwelle bei Temperatur- und Berührungs-


Schmerzintensität reizen, z. B. bei einem Sonnenbrand.
Die Hypästhesie ist eine herabgesetzte Empfind-
lichkeit gegenüber Schmerzreizen, insbesondere
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 bei Berührung.
Mit Hyperalgesie wird eine verstärkte Schmerz-
1. Schmerzempfindung nicht mehr auszu-
= Schmerzschwelle haltender Schmerz empfindlichkeit auf einen schmerzhaften Reiz 23
= Schmerztoleranz bezeichnet.
Eine Hypalgesie ist eine herabgesetzte Schmerz-
Abb. 23.2 Schmerzschwelle, Schmerzintensität und Schmerz-
toleranz
empfindung, z. B. bei Sensibilitätsstörungen.

Zusammenfassung:
die Schmerzschwelle und die Schmerztoleranz zu Schmerzentstehung, -leitung und -wahr-
messen. Dabei werden dem Menschen Schmerzrei- nehmung
ze, z. B. in Form von Hitzereizung der Haut, gesetzt. Schmerz entsteht durch Reizung der Nozizeptoren
Die erste Reaktion auf diesen Schmerzreiz, d. h. der durch Gewebehormone, wobei schmerzauslösende
Zeitpunkt der ersten Schmerzwahrnehmung, ist die Neuropeptide freigesetzt werden.
Schmerzschwelle. Die Schmerzempfindung kann durch Endorphine
Die Schmerztoleranz beschreibt, wieviel Schmerz oder die „Gate-Control“ (Unterbrechung der Signal-
der betroffene Mensch ertragen bzw. erleiden kann, übertragung bestimmter Zellen im Rückenmark)
und bestimmt den maximal auszuhaltenden herabgesetzt werden.
Schmerz. Die Schmerzempfindung zwischen dem Schmerzempfindungen sind sehr individuell.
Beginn der Schmerzwahrnehmung und der höchsten In der Terminologie des Schmerzempfindens wird
Toleranzgrenze ist die Schmerzintensität (Abb. zwischen Allodynie, Analgesie, Hyperästhesie, Hyp-
23.2). ästhesie, Hyperalgesie, Hypalgesie unterschieden.
Im klinischen Alltag wird in der Regel auf eine Al-
gesimetrie verzichtet zugunsten einer vom Betroffe- 23.1.3 Beeinflussende Faktoren
nen durchgeführten subjektiven Selbsteinschätzung Die Schmerzempfindung ist subjektiv und wird
anhand einer Schmerzskala (Abb. 23.4, Frage 5). So- durch zahlreiche Faktoren beeinflusst, wie z. B. durch
wohl die Algesimetrie als auch die subjektive Selbst- die individuell unterschiedliche Bewertung von
einschätzung ermitteln einen individuellen Aus- Schmerzschwelle und -toleranz (s. a. S. 390), persön-
gangswert und dienen der Erfolgskontrolle schmerz- liche Charaktereigenschaften, kulturelle Einflüsse
mindernder Maßnahmen. und Erziehung. Auch die Einstellung zur Krankheit,
die aktuelle Stimmungs- und Gefühlslage sowie ver-
23.1.2 Gestörte Schmerzempfindung schiedene Ablenkungsmöglichkeiten, z. B. Hobbys,
Das Schmerzempfinden kann im Sinne von Steige- können die Schmerzwahrnehmung verstärken oder
rung oder Verminderung gestört bzw. nicht vorhan- vermindern. Je nachdem, an welcher Körperstelle
den sein. In der Terminologie des Schmerzbereichs Schmerzen entstehen, werden sie entsprechend un-
werden verschiedene Begriffe unterschieden: terschiedlich wahrgenommen. So werden beispiels-
Allodynie ist die Schmerzauslösung durch einen weise Zahnschmerzen meist quälender empfunden
Reiz, z. B. eine leichte Berührung, der normaler- als eine Schürfwunde am Knie.
weise keinen Schmerz verursacht. Ein weiterer Faktor ist die Bedeutung, die dem
Bei einer Analgesie handelt es sich um die Aufhe- Schmerz oder dem schmerzenden Körperteil zuge-
bung der Schmerzempfindung, z. B. durch Schädi- sprochen wird. Für einen Pianospieler sind z. B. Ver-
gung peripherer schmerzleitender Nervenfasern letzungen an den Fingern und Händen mitunter fol-
bei Querschnittlähmung oder durch Blockade der genschwer mit einer möglicherweise verstärkten
Schmerzleitungsbahnen. Schmerzwahrnehmung.
Die Hyperästhesie bezeichnet eine verstärkte
Empfindung für schmerzhafte und nicht
schmerzhafte Nervenreize durch eine herabge-

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 383


KaelDesu
23 Schmerz

23.1.4 Bedeutung von Schmerz 23.2 Schmerzarten


Pflegepersonen werden häufig mit der Frage kon-
frontiert: „Warum habe ich die Schmerzen? Welchen In der Klassifikation von Schmerzarten gibt es weder
Sinn haben die Schmerzen?“ im medizinischen noch im pflegerischen Fachbe-
Viele Wissenschaften haben sich mit der Sinnhaf- reich eine einheitliche Zuordnung. Das liegt zum gro-
tigkeit von Schmerzen beschäftigt und ganz ver- ßen Teil daran, dass das Symptom „Schmerz“ einzel-
23 schiedene Theorien entwickelt. Physiologisch und nen Krankheitsbildern zugeordnet wird.
anatomisch gesehen dienen Schmerzen dem Erken- Es gibt 4 Schmerzarten, die entsprechend weiter
nen, Abwehren bzw. Vermeiden von Schädigungen differenziert und in Untergruppen eingeteilt wer-
des Organismus und signalisieren eine Gefahr. Sie er- den: Nozizeptorschmerz, neurogener Schmerz, zen-
höhen die Aufmerksamkeit, um in bedrohlichen Si- traler Schmerz und psychogener Schmerz. In
tuationen entsprechend reagieren zu können, z. B. Abb. 23.3 sind die Schmerzarten und deren Untertei-
sich ihnen zu entziehen. lungen veranschaulicht.
Schmerzen führen zur Schonhaltung und Ruhig-
stellung der betroffenen Körperpartie und fördern so 23.2.1 Nozizeptorschmerz
den Heilungsvorgang. Die Wichtigkeit des Schmerz- Definition: Beim Nozizeptorschmerz nehmen
sinns wird besonders deutlich bei der angeborenen die Schmerzrezeptoren (Nozizeptoren) Schmerz-
Analgesie. Das bedeutet, bei Menschen, die keinen reize auf und leiten sie über das Rückenmark
Schmerz wahrnehmen, entstehen bereits in der zum Gehirn.
Kindheit zahlreiche Schäden, Verstümmelungen und
innere Erkrankungen, die nicht frühzeitig erkannt Entsprechend ihrer Lokalisation und Reizleitung, z. B.
werden und zum Tode führen. in der Haut oder in den Organen, hat die Schmerz-
Chronische Schmerzzustände haben größtenteils wahrnehmung eine unterschiedliche Qualität und
ihre Signalfunktion verloren. Sie werden von den Be- wird deshalb weiter differenziert in somatischen
troffenen ganz unterschiedlich gedeutet und reichen und viszeralen Schmerz.
von Schmerzen als Strafe und Sühne für Verfehlun-
gen bis hin zur Sinnlosigkeit. Somatischer Schmerz
Chronische Schmerzen versetzen Menschen in Der somatische Schmerz betrifft die Haut, Muskeln,
Krisensituationen und fordern dazu auf, in sich hi- Sehnen, Gelenke und das Bindegewebe und teilt sich
neinzuhören und auf körperliche und seelische Re- nochmals in Oberflächen- und Tiefenschmerz auf.
aktionen zu achten. Sie verlangen, das Leben zu
überdenken, sich zu verändern sowie nach Möglich- Oberflächenschmerz
keiten zu suchen, ihre Lebensqualität befriedigend Da die Haut die Oberfläche bildet, wird der dort ent-
zu gestalten. Einige Menschen erfahren aufgrund ih- stehende Schmerz als Oberflächenschmerz bezeich-
rer Schmerzen Zuwendung und Entlastung. Diese Art net. Die Nozizeptoren der Haut sprechen besonders
der Zuwendung oder Entlastung wird auch als se- auf mechanische und Hitzereize an. Die Schmerzrei-
kundärer Krankheitsgewinn bezeichnet. ze werden vorwiegend in den relativ rasch leitenden
Werden Schmerzen allerdings „benutzt“ und auf- A-delta-Fasern übermittelt; er ist gut lokalisierbar
rechterhalten, um Zuwendung und Entlastung zu er- und wird als hell und scharf beschrieben. Der Ober-
halten, anstatt sich mit dem Schmerzerleben ausei- flächenschmerz löst Flucht- oder Abwehrreaktionen
nanderzusetzen, wird dies als primärer Krankheits- aus, z. B. bei einer Hautverletzung durch Verbren-
gewinn bezeichnet. Diese charakteristische Sympto- nung.
matik sollte innerhalb der therapeutischen Möglich-
keiten Berücksichtigung finden, z. B. durch psycholo- Tiefenschmerz
gische Begleitung. Mancher Mensch gebraucht Definition: Mit dem Tiefenschmerz ist die Er-
Schmerzen auch als eine Art „Legitimation zum regung der Nozizeptoren des Bewegungsappa-
Rückzug“. rates gemeint.

!
Merke: Schmerz ist immer ein subjektives Dazu gehören die Muskeln, Sehnen, Gelenke und das
Erlebnis mit einer jeweils individuellen Be- Periost. Der Schmerz wird langsamer über A-delta-
deutung für den betroffenen Menschen. Fasern und C-Fasern übermittelt, ist schlechter loka-

384 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
23.2 Schmerzarten

Schmerzarten

Nozizeptor- neurogener Schmerz zentraler Schmerz psychogener Schmerz


schmerz (z. B. Ischialgie, (z. B. Schlaganfall) (z. B. MigrŠne,
Trigeminusneuralgie) Kreuzschmerzen) 23

somatischer Schmerz viszeraler Schmerz Phantomschmerz


(z. B. durch amputierte
Gliedma§e oder Brust)

OberflŠchen- Tiefen- Organ- Ÿbertragener


schmerz schmerz schmerz Schmerz
(z. B. Haut) (z. B. Gelenke, (z. B. Magen, (z. B. i. d. Schul-
Muskeln) Galle) ter ausstrahlend
i. d. li. Arm
ausstrahlend)

Abb. 23.3 Schmerzarten

lisierbar und hat einen eher dumpfen und bohren- bei Magenschmerzen oder als periodisch wiederkeh-
den Charakter. Er strahlt in die Umgebung aus. Bei- render Schmerz, wie z. B. bei Koliken.
spiele für den Tiefenschmerz sind Gelenkerkrankun-
gen und Kopfschmerzen. Übertragener Schmerz
Definition: Der übertragene Schmerz ist ein
Viszeraler Schmerz von inneren Organen auf die Haut oder benach-
Definition: Der viszerale Schmerz beschreibt barte Körperareale übertragener Schmerz.
den typischen Organschmerz und wird auch als
Eingeweideschmerz bezeichnet. Er entsteht durch eine Verknüpfung zwischen sen-
siblen Eingeweide- und Hautnerven auf der gleichen
Da Schmerzen an inneren Organen dazu neigen, in Segmentebene im Rückenmark. Das Gehirn kann
benachbarte Haut- oder Körperareale auszustrahlen, nicht unterscheiden, ob die Schmerzimpulse aus der
wird der Organschmerz vom übertragenen Schmerz Tiefe von den Organen oder aus der Haut bzw. dem
abgegrenzt. benachbarten Körperteil kommen.
Typisch ist beispielsweise die Ausstrahlung
Organschmerz (= Übertragung) von Herzschmerzen, ausgelöst
Der viszerale Schmerz entsteht bei schneller und durch eine Ischämie der Herzkranzgefäße, in den lin-
starker Dehnung der Hohlorgane, z. B. der Gallenbla- ken Arm.
se. Auch Spasmen oder starke Kontraktionen, beson- Umgekehrt können Reizungen der Haut Erregun-
ders in Verbindung mit verminderter Durchblutung gen der viszeralen (organischen) Nerven bewirken.
werden als schmerzhaft erlebt. Dies ist z. B. bei Diese Erkenntnis wird genutzt z. B. durch Anwen-
Darmkrämpfen der Fall. Die Erregungsleitung erfolgt dung warmer Bauch- oder Brustwickel bei Leber-
über langsam leitende Fasern und wird wie der Tie- oder Lungenerkrankungen. Sie bewirken über die
fenschmerz als bohrend und dumpf empfunden. Or- Haut eine vermehrte Durchblutung der Organe so-
ganschmerzen treten oft rhythmisch auf mit vegeta- wie Entspannung.
tiver Begleitsymptomatik wie z. B. Schweißausbruch,
Übelkeit, Blutdruck- und Pulsveränderungen. Der
viszerale Schmerz äußert sich als Dauerschmerz, z. B.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 385


KaelDesu
23 Schmerz

23.2.2 Neurogener Schmerz 23.2.4 Phantomschmerz

Definition: Neurogener Schmerz entsteht Definition: Der Phantomschmerz ist ein


durch Schädigung des Nervengewebes. schmerzhaftes Gefühl in den bei Menschen mit
amputierten Gliedmaßen nicht mehr vorhande-
Durch die Schädigung kommt es zu einer abnormen nen Gliedern, z. B. Armen, Brust oder Rektum.
Erregbarkeit des Nervensystems. Dabei können die
23 Impulsmuster verschieden ausgeprägt sein und Er wird häufig auch als Scheinschmerz bezeichnet.
Schmerzen, aber auch Missempfindungen auslösen. Für den Phantomschmerz sind meist mehrere
Neurogene Schmerzen bleiben häufig nicht auf ihren Entstehungsmechanismen verantwortlich. An den
Entstehungsort beschränkt, sondern neigen dazu, durchtrennten Nervenenden entwickelt sich ein pa-
sich innerhalb des Versorgungsgebietes des Nervens thologischer (nervaler) Stoffwechsel, verbunden mit
auszubreiten. einer erhöhten Reizbarkeit und entsprechender Aus-
Neuralgische Schmerzen sind meist äußerst in- schüttung schmerzauslösender Substanzen. Die Ner-
tensiv und werden als bohrend, reißend oder schnei- venendigungen aktivieren ihren Reparationsmecha-
dend beschrieben. Sie treten häufig anfallsartig, un- nismus und bilden nicht selten Kurzschlüsse mit an-
terbrochen von schmerzfreien Intervallen, als sekun- deren Neuronen, sozusagen als pathologische Sy-
denlange, kurzdauernde oder blitzartig einschießen- napsen (Schaltstellen an den Nervenenden).
de Schmerzattacken auf. Auslösende Reize können Schmerzimpulse werden infolgedessen fehlgeleitet.
Kälte, Sprechen, Niesen oder das Berühren betroffe- Pathologische Fehlschaltungen setzen sich auf
ner Körperareale sein. spinaler Ebene im Rückenmark fort und wirken sich
Ursachen von neurogenen Schmerzen können In- auf den physiologischen Schmerzkreislauf von Wei-
fektionen, Durchblutungsstörungen und mechani- terleitung und Hemmmechanismen aus. Das bedeu-
sche Hindernisse, z. B. Tumore oder Quetschungen, tet, dass Schmerzen unter Umständen nicht mehr ge-
sein. Nicht selten sind auch krankhafte Stoffwechsel- hemmt werden, weil der Regelkreislauf nicht mehr
produkte, wie sie beispielsweise bei Leber- oder Nie- funktioniert.
renversagen auftreten, für Nervenschädigungen mit Phantomschmerzen können auch zentralnervös
entsprechender Schmerzsymptomatik verantwort- bedingt sein (s. a. S. 386). Veränderungen im Hypo-
lich. thalamus und sensorischen Hirnareal lassen den am-
Typische Beispiele für Neuralgien sind die Trige- putierten Körperteil als noch vorhanden wahrneh-
minusneuralgie (sensibler Gesichtsnerv) und der men. Die nun „arbeitslosen“ Nervenzellen mit ihren
Herpes zoster (Gürtelrose). Beim sog. „Hexenschuss“ Synapsen erhalten keine Signale mehr und „erfin-
ist der Ischiasnerv durch einen Bandscheibenvorfall den“ stattdessen welche oder „erinnern“ sich an frü-
oder eine Entzündung gereizt. Der Schmerz kann here Schmerzerlebnisse vor der Amputation. Diese
sich in diesem Fall vom Rücken bis zum Fuß ausbrei- Phänomene weisen auf das Vorhandensein eines
ten, begleitet von einer erheblichen Mobilitätsein- Schmerzgedächtnisses hin.
schränkung. Auch Schmerzimpulse aus anderen Körperteilen
können in den nach der Amputation „ungenutzten“
23.2.3 Zentraler Schmerz Hirnarealen verarbeitet werden.
Menschen mit Amputationen beschreiben Phan-
Definition: Der zentrale Schmerz gehört zu der
tomschmerzen als brennend, stechend, krampfartig
Gruppe der neuropathischen Schmerzen. Er tritt
oder einschießend. Weitere Phantomsensationen
nach zentralen Läsionen bzw. Verletzungen im
sind Missempfindungen wie Kribbeln, Prickeln oder
Rückenmark und Gehirn auf.
Empfindungen zu Lage, Größe und Form.
Auslöser von Schmerzen sind häufig Berührungs-
Ist die Ursache ein Apoplex, werden die Schmerzen
reize am Stumpf, können aber auch ganz spontan,
auf der gegenüberliegenden (kontralateralen) Kör-
ohne nachvollziehbare Manipulationen oder Ereig-
perseite entweder halbseitig, häufiger aber im Be-
nisse auftreten.
reich einer Extremität empfunden.

386 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
23.3 Akuter und chronischer Schmerz

23.2.5 Psychogener Schmerz Schmerzen ohne ursächlichen Zusammenhang mit


Definition: Der psychogene Schmerz entsteht körperlichen Abläufen werden als psychogene
zentral ohne Zusammenhang mit körperlichen Schmerzen bezeichnet.
Abläufen und basiert auf psychische Konflikte.
Er wird jedoch vom Betroffenen als körperlicher
Schmerz empfunden. 23.3 Akuter und chronischer
Schmerz 23
Prinzipiell kann jeder Mensch psychogene Schmer-
zen entwickeln. Voraussetzungen hierfür sind eine Die Dauer des Schmerzes spielt bei der Bewertung
biografische Disposition und eine entsprechende und Einstellung eine große Rolle für den Betroffenen.
Auslösesituation. Schmerzen werden je nach zeitlichem Auftreten,
Bei der biografischen Disposition ist entschei- Dauer und Verlauf in akute und chronische unter-
dend, wie der Betroffene in seiner Entwicklung, be- schieden.
sonders während der Kindheit, gelernt hat, mit Be-
lastungssituationen umzugehen und Bewältigungs- 23.3.1 Akuter Schmerz
strategien zu entwickeln. Krisenhafte Erlebnisse Der akute Schmerz hat eine lebenswichtige Funkti-
(= Auslösesituationen) wie z. B. Verlust eines gelieb- on: er warnt vor Verletzungen und Erkrankungen
ten Menschen, Niederlagen oder Schuldgefühle lö- und signalisiert dem Menschen, dass er sich schonen
sen einen psychischen Druck aus, der immer auch muss. Abwehrmechanismen wie Angst, Schonhal-
(psychisch) schmerzhaft ist. Bei ungenügender Ver- tung und Muskelverspannung sind demzufolge Be-
arbeitung dieser Krisen können sich in künftigen, gleiterscheinungen und zwingen den Schmerzlei-
ähnlich belastenden Lebenssituationen, z. B. berufli- denden zum Rückzug aus seinen Alltagsaktivitäten.
che Überforderung oder Ehescheidung, aufgrund des Der akute Schmerz ist auf den Entstehungsort be-
psychischen Drucks organische Schmerzen entwi- grenzt und meist gut lokalisierbar. Er tritt auf nach
ckeln, besonders dann, wenn die normalen Bewälti- Verletzungen, Operationen oder bei Entzündungen.
gungsmöglichkeiten versagen. Häufig auftretende Ist die Schädigung beseitigt bzw. abgeheilt, klingt der
psychogene Schmerzen sind beispielsweise Migräne, Schmerz rasch ab.
Kreuzschmerzen oder Magenschmerzen.
Die Schmerzen „verstecken“ den eigentlichen 23.3.2 Chronischer Schmerz
seelischen Konflikt und verhindern zunächst seine Ca. 12 Mio. Menschen leiden bundesweit an chroni-
Lösung. Da keine organische Ursache vorliegt, su- schen Schmerzen. Nicht selten sind häufige Kran-
chen Betroffene Hilfe bei verschiedenen Ärzten. Das kenhausaufenthalte, unnötige Operationen sowie
Schmerzerleben ist wie bei den organischen Schmer- Langzeiteinnahme von Medikamenten die Folge. Da-
zen quälend und ernst zu nehmen. Eine erfolgreiche raus ergeben sich neben den körperlichen und sozia-
Therapie bei psychogenen Schmerzen kann nur, nach len auch enorme finanzielle Probleme.
vorherigem Ausschluss somatischer Ursachen, durch Schmerzzustände sind als chronisch zu bezeich-
psychotherapeutische Verfahren erreicht werden. nen, wenn sie 3 – 6 Monate lang dauern oder immer
wiederkehren wie z. B. die Migräne. Weitere Merk-
Zusammenfassung: male sind die erfolglose Durchführung mehrerer Be-
Schmerzarten handlungsversuche, Beeinträchtigung der Befind-
Beim Nozizeptorschmerz wird zwischen somati- lichkeit und Stimmungslage sowie des Denkvermö-
schem (Oberflächen- und Tiefenschmerz) und vis- gens des betroffenen Menschen. Ein wichtiges Krite-
zeralem (Organ- und übertragenem Schmerz) rium stellt auch die herabgesetzte bis aufgehobene
Schmerz unterschieden. Mobilität dar, weil sie nicht selten zur Einschränkung
Typische Beispiele für neurogenen Schmerz sind Tri- sozialer Aktivitäten führt. In extremen Fällen können
geminusneuralgie, Herpes zoster oder Ischialgie. chronische Schmerzzustände bis hin zur Arbeitsun-
Zentrale Schmerzen werden durch zentrale Läsio- fähigkeit führen.
nen bzw. Verletzungen des Rückenmarks und Ge- Der chronische Schmerz ist ein sehr komplexes
hirns verursacht. Geschehen, dessen Entstehung nicht endgültig ge-
klärt ist. Wahrscheinlich ist davon auszugehen, dass

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 387


KaelDesu
23 Schmerz

durch permanente Reizung von Nozizeptoren die 23.4 Beobachtungskriterien


Nervenzellen überempfindlich reagieren. Es kommt
zu pathologischen Fehlentwicklungen innerhalb des

!
Merke: Beobachtungskriterien des Schmer-
neurogenen Stoffwechsels, die die Entstehung von
zes sind:
Schmerzsignalen im Nervensystem begünstigen. Das
bedeutet, dass Schmerzimpulse auch dann an das
Schmerzäußerung,
23 Gehirn weitergeleitet werden, wenn der auslösende
Schmerzlokalisation,
Schmerzreiz nur noch ganz schwach oder gar nicht
Schmerzzeitpunkt,
mehr vorhanden ist. Das bedeutet, die Schmerzchro-
Schmerzdauer und -verlauf,
nifizierung benötigt zwar einen initialen Input zu ih-
Schmerzintensität,
rer Entstehung, nicht aber zur Aufrechterhaltung.
Schmerzqualität,
Ferner können durch chronische Schmerzreize die
schmerzbegleitende Symptome,
endogenen Hemmmechanismen, z. B. die Endor-
Auswirkungen auf das Alltagsleben.
phinausschüttung, herabgesetzt werden. Ähnliche
Umbauvorgänge mit entsprechenden Reaktionen
Zur Erleichterung und Unterstützung der Schmerz-
können auch im Gehirn entstehen. Der Schmerz hat
einschätzung sowie -beurteilung kann ein Schmerz-
sich gleichermaßen in das Gedächtnis der Zellen ein-
erhebungsbogen bzw. ein Schmerzanamnesebogen
gegraben. Der Phantomschmerz nach der Amputati-
verwendet werden. Verschiedene Institutionen ha-
on einer Gliedmaße ist ein extremes Beispiel für eine
ben entsprechend ihrer Bedürfnisse und Pflegestan-
derartige Gedächtnisbildung (s. a. S. 386). Nicht un-
dards Schmerzerhebungsbögen entwickelt. Die
erheblich ist der psychische Einfluss an der chroni-
Abb. 23.4 zeigt einen möglichen Schmerzerhebungs-
schen Schmerzbildung. Ca. 80% aller Schmerzen
bogen. Wichtig für die Schmerzeinschätzung ist das
werden durch psychische Faktoren, wie z. B. Stress,
persönliche Gespräch mit einem hohen Maß an Ein-
Ängste und Depressionen, mitbestimmt. Häufige Ur-
fühlungsvermögen.
sachen für chronische Schmerzen sind Schmerzen
des Bewegungsapparates, Neuralgien, Kopf-, Phan-
23.4.1 Schmerzäußerungen
tom- und Tumorschmerzen.
Der Umgang mit Schmerz ist individuell verschieden
Das Total-Pain-Konzept bezieht sich auf die pallia-
und abhängig von persönlichen Erfahrungen, sozio-
tivmedizinische Betreuung onkologisch erkrankter
kulturellen Einflüssen, Erziehung, Alter und Ge-
Menschen. Es umfasst neben den somatischen
schlecht. Wie und ob überhaupt Schmerzen geäu-
Schmerzen insbesondere die mit chronischen
ßert werden, hängt u. a. auch von der aktuellen Situa-
Schmerzen verbundenen psychischen Schmerzen
tion ab, z. B. Zusammentreffen im Familienkreis,
(z. B. Ängste), sozialen Schmerzen (z. B. Gefühle der
beim Arzt oder unter Arbeitskollegen.
Isolation) und spirituelle Schmerzen (z. B. die Frage
Schmerzäußerungen können verbal oder nonver-
„Warum trifft es gerade mich?“).
bal ausgedrückt werden. Verbale Schmerzäußerun-
Bei der Schmerzkrankheit stellt das Symptom
gen erfolgen unter Benutzen der Sprache, d. h. der
„Schmerz“ eine eigene Erkrankung dar. Es handelt
Betroffene spricht über seinen Schmerz. Durch die
sich um andauernde Schmerzzustände, die eine spe-
den Schmerz häufig begleitende veränderte Stim-
zielle Schmerztherapie erforderlich machen. Chroni-
mungslage klingt die Stimmlage meist monoton und
sche Schmerzen müssen jedoch nicht unbedingt eine
leise. Weitere verbale Ausdrucksweisen sind Schrei-
Schmerzkrankheit sein. Sie werden es aber, wenn sie
en, Stöhnen, Klagen, Wimmern und Jammern. Wäh-
ihre biologisch sinnvolle Warn- und Alarmfunktion
rend einige Menschen ständig über ihre Schmerzen
verlieren und somit vom Symptom zu einer eigen-
reden oder auch um Schmerzmittel bitten, überspie-
ständigen Krankheit werden, z. B. bei Phantom-
len andere ihre Schmerzen durch Heiterkeit oder
schmerzen.
verleugnen sie gänzlich. Auch hieran wird der indivi-
duelle Umgang mit Schmerzen deutlich.

!
Merke: Je nach zeitlichem Auftreten, Dauer
Bei der Schmerzbeobachtung nehmen die non-
und Verlauf werden akute von chronischen
verbalen Schmerzäußerungen einen besonderen
Schmerzen unterschieden.
Stellenwert ein. Menschen mit Schmerzen greifen

388 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
23.4 Beobachtungskriterien

6. Hat sich die SchmerzintensitŠt im Laufe der Zeit


verŠndert ?
Nein
Wenn ja:
Schmerzen sind stŠrker geworden
Schmerzen sind schwŠcher geworden
Schmerzen sind hŠufiger aufgetreten
Schmerzen sind seltener geworden 23
7. Wie wŸrden Sie Ihre Schmerzen beschreiben ?
pulsierend stechend ziehend
pochend kribbelnd zerrei§end
hŠmmernd bei§end schneidend
bohrend brennend dumpf
zwickend hei§ krampfartig
einschie§end anfallsartig beklemmend
ausstrahlend

8. Welche Beschwerden treten zusŠtzlich mit den


Schmerzen auf ?
†belkeit Erbrechen
Kernfragen: Appetitlosigkeit Durchfall
Verstopfung Magenschmerzen
1. Wo tut es weh ? Schwindel Angst
Zeichnen Sie bitte in die obrige Zeichnung ein, wo Sie Beklemmung Schwei§ausbruch
Ihre Schmerzen spŸren. Strahlen die Schmerzen in Zittern Herzjagen
Nachbargebiete aus, z. B. vom RŸcken in die Beine, mar- Lichtempfindlichkeit LŠrmempfindlichkeit
kieren Sie die Ausstrahlung ebenfalls in die obrige Schlafstšrungen
Zeichnung durch Pfeile.
Sind die Schmerzen: an der KšrperflŠche ? 9. In welcher Situation treten Schmerzen auf bzw.
im Kšrperinnern ? verstŠrken sich ?
(z. B. nach kšrperlicher Anstrengung, nach Aufregung
2. Wann treten die Schmerzen auf ? usw.)
Bitte kreuzen Sie alle Mšglichkeiten an, die fŸr Sie in
Frage kommen.
morgens mittags
nachmittags abends nachts 10. Was tun Sie selbst gegen Ihre Schmerzen ?
3. Wie lange dauern die Schmerzen ? Nehmen Sie Schmerzmittel ein ? Nein
Bitte kreuzen Sie alle Mšglichkeiten an, die fŸr Sie in Wenn ja, welche ?
Frage kommen.
Sekunden Minuten Stunden In welcher Situation ?
Tage Wochen dauernd
mit Unterbrechung

4. Seit wann leiden Sie unter Schmerzen ? Wie kšnnen Sie Ihre Schmerzen ohne Schlafmittel
Tage Wochen lindern ? (z. B. warmes Bad, Ablenkung)
Monate Jahre

5. Wie stark sind die Schmerzen ?


Markieren Sie bitte auf der Skala die StŠrke Ihrer
Schmerzen in den letzten Tagen. Kreuzen Sie bitte dazu
einen Wert zwischen 0 (gar keine Schmerzen) und 10
(unertrŠgliche Schmerzen) ein. 11. Welche Auswirkungen haben Ihre Schmerzen
auf Ihre AlltagsaktivitŠten?
(z. B. Schlaf, Beruf, Hobby usw.)
0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
ertrŠgliche starke sehr starke
Schmerzen Schmerzen Schmerzen

Abb. 23.4 Beispiel für eine Schmerzanamnese

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 389


KaelDesu
23 Schmerz

nach der schmerzenden Stelle, um sie schützend ab- Schmerzdauer und -verlauf stehen in einem Zu-
zudecken oder schmerzverringernd daran zu reiben sammenhang mit der Schmerzintensität und sind für
(s. a. S. 381, „Gate-Control“). Häufig ist auch eine mo- den Betroffenen bezüglich des Aushaltevermögens
torische Unruhe zu beobachten, z. B. durch Hin- und sowie möglicher Therapieansätze wichtige Informa-
Herlaufen oder häufigen Lagewechsel, z. B. bei Bett- tionen. Diese (Schmerz-)Beobachtungskriterien soll-
lägerigen. Genauso gibt es Menschen mit Schmerzen, ten deshalb immer gemeinsam beobachtet und be-
23 die dazu neigen, sich still und ruhig zurückzuziehen. wertet werden. Beispielsweise kann ein an einer
Der Muskeltonus wird schlaff und die Bewegungen schmerzhaften chronischen rheumatoiden Arthritis
werden langsam und schleppend. Die Gesichtsmus- leidender Mensch den morgendlichen Schmerz bei
kulatur ist – schmerzverzerrt – angespannt, der Kie- Bewegungen ohne die Gabe von Schmerzmitteln
fer in Bissstellung und der Gesichtsausdruck wirkt kaum aushalten, während die herabgesetzte
ängstlich. Zu beobachten ist in vielen Fällen auch Schmerzintensität am Nachmittag ohne Analgetika
eine schmerzlindernde oder -vermeidende Schon- toleriert werden kann.
haltung bzw. -lage (s. a. S. 435).
23.4.4 Schmerzintensität
23.4.2 Schmerzlokalisation Die Hauptfrage hierbei ist, wie stark sind die Schmer-
Die Schmerzlokalisation gibt Auskunft darüber, wo zen? Nur derjenige, der die Schmerzen erlebt, kann
oder in welchem Körperteil der Schmerz auftritt. die Intensität des Schmerzes einschätzen, da
Hilfreich ist hierbei Markieren des Schmerzortes auf Schmerzen, wie bereits erwähnt, ein sehr subjekti-
einer Vorder-, Seiten- und Rückenansicht eines Kör- ves Geschehen sind, das von Mensch zu Mensch ver-
pers in einem Schmerzanamnesebogen (Abb. 23.4, schieden erlebt wird. Für die Bewertung der Intensi-
Frage 1). tät spielt der Vergleich der aktuellen Schmerzemp-
Oberflächenschmerzen, z. B. von der Haut ausge- findung mit der in der Vergangenheit einschließlich
hend, können besser lokalisiert werden als Tiefen- der Folgen eine große Rolle. Er wird hauptsächlich an
schmerzen aus Muskeln, Sehnen und Gelenken. Or- der im Gedächtnis gespeicherten Schmerzerfahrung
ganschmerzen sind dumpf, manchmal diffus aus- gemessen.
strahlend, so dass die Abgrenzung von anderen Als Hilfsmittel zur Einschätzung eignen sich die
schmerzenden Körperstrukturen nicht immer ein- numerische Rating Skala (NRS), die verbale Rating
deutig ist, wie z. B. bei Erkrankungen der Genitalor- Skala (VRS, Begriffsskala), die visuelle Analogskala
gane. Ausstrahlende Schmerzen in die „Head“-Zonen (VAS) und die Gesichter-Rating-Skala. Bei der nume-
werden in typische Körperregionen übertragen, z. B. rischen Skala ordnet der Betroffene seinen Schmerz
Gallenkoliken in die rechte Schulter, Herzschmerzen von 0 – 10 oder von 0 – 100 in einer Skala ein. Die Zahl
in den linken Arm, Oberbauchschmerzen bei der 0 bedeutet keine Schmerzen, die Zahl 10 bzw. 100 die
Bauchspeicheldrüsenentzündung gürtel- bzw. ring- größte Schmerzintensität (Abb. 23.4, Frage 5).
förmig um den Bauch. Für manche Patienten ist diese Einordnung
schwierig. Hier kann die Einschätzung durch Begriff-
23.4.3 Schmerzzeitpunkt, -dauer und -verlauf lichkeiten, z. B. keine Schmerzen (0 auf der NRS), er-
Beim Schmerzzeitpunkt steht die Frage im Vorder- trägliche Schmerzen (1 – 3 auf der NRS), starke
grund, wann der Schmerz auftritt: morgens, mittags, Schmerzen (4 – 6 auf der NRS) sowie unerträgliche
abends oder nachts. Für die Beurteilung und Ein- Schmerzen (9 – 10 auf der NRS) erfolgen. Bei der visu-
schätzung ist ferner wichtig, ob der Schmerz zum ellen Analogskala wird auf einer 10 – 15 cm langen Li-
ersten oder wiederholten Mal aufgetreten ist. Bei nie, deren Enden mit den Begriffen „kein Schmerz“
Schmerzdauer u. -verlauf gibt der Betroffene die zeit- und „stärkster vorstellbarer Schmerz“ beschriftet
liche Dauer des Schmerzes, ausgehend vom Beginn sind, mithilfe einer Markierung oder eines Schiebers
der Wahrnehmung und dessen Verlauf an. Zu unter- die Schmerzintensität angezeigt (Schmerzskala für
scheiden sind akute Schmerzsituationen von chroni- Kinder s. 23.7). Welche dieser Skalen verwendet
schen Schmerzen. Die Bewertung von Schmerzdauer wird, sollte vom Betroffenen selbst ausgewählt wer-
und -verlauf ist besonders bei chronischen Schmerz- den.
zuständen von Bedeutung. Mit zunehmender Schmerzdauer, besonders
wenn die Schmerzen eine chronische Form anneh-

390 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
23.5 Dokumentation

Tab. 23.1 Schmerzqualitäten schmerzen werden häufig zusätzlich von Licht- und
Schmerzqualität/Art typische Beispiele
Lärmempfindlichkeit begleitet. Länger anhaltende
Schmerzen führen zu depressiven Zuständen mit
pochend, klopfend Abszesse entsprechender Auswirkung auf das soziale Umfeld
einschießend vom Rücken in das Bein beim Band-
und Vereinsamung.
scheibenvorfall
ausstrahlend in den linken Arm beim Herzinfarkt, in die
rechte Schulter bei Gallenkoliken 23.4.7 Auswirkungen auf das Alltagsleben 23
stechend neurogene Schmerzen – z. B. Zahnschmer- Schmerzen schränken nahezu alle Aktivitäten ein
zen
und wirken sich auf Schlaf, Beruf, Haushalt, Hobby,
kribbelnd neurogene Schmerzen – z. B. Nerven-
schädigungen Selbstpflege usw. aus. In extremen Fällen führen
beißend Hautverletzungen – z. B. Schürfwunden Schmerzen zu Immobilität und Abhängigkeit (s. a.
brennend Entzündungen, Sonnenbrand
Bd. 3, Kap. 17, Tab. 17.1)
heiß Entzündungen, Sonnenbrand
dumpf Organschmerzen
anfallsartig Koliken – z. B. Gallenkolik Zusammenfassung:
zerreißend Hautverletzungen Akuter und chronischer Schmerz, Beobach-
schneidend Hautverletzungen
tungskriterien
krampfartig Magen- oder Darmspastiken
beklemmend Herzschmerzen Hinsichtlich der Dauer wird zwischen akutem und
ziehend Schmerzen im gynäkologischen Bereich chronischem (3 – 6 Monate oder immer wiederkeh-
rendem) Schmerz unterschieden.
Bei der Schmerzkrankheit stellt das Symptom
men, wächst auch die Schmerzintensität. Gleichzei- „Schmerz“ eine eigene Erkrankung dar.
tig verringert sich die Bereitschaft, Schmerzen zu er- Zur Beurteilung von Schmerz dienen Schmerz-
tragen. äußerungen, -lokalisation, -zeitpunkt, -dauer, -ver-
lauf, -intensität, -qualität, schmerzbegleitende
23.4.5 Schmerzqualität Symptome sowie Auswirkungen auf das Alltags-
Die Schmerzqualität gibt Antwort auf die Frage nach leben.
der Schmerzart. Die Schmerzart lässt Rückschlüsse
auf die Schmerzlokalisation zu. Typische Beispiele
sind in Tab. 23.1 dargestellt. 23.5 Dokumentation
23.4.6 Schmerzbegleitende Symptome Um Schmerzen präzise diagnostizieren, deren Ver-
Durch Überwiegen der sympathischen Tonuslage lauf beurteilen und eine effektive Schmerzprophyla-
kommt es zur Erhöhung des Blutdrucks und der xe und -therapie durchführen und überprüfen zu
Herzfrequenz bis hin zur Schocksymptomatik, zu können, müssen sie entsprechend sorgfältig ermit-
Atemveränderungen, zur Steigerung der Bewusst- telt und dokumentiert werden. Die Schmerzanam-
seinshelligkeit (Wachheit) und Erhöhung der Ab- nese stellt in diesem Zusammenhang eine wichtige
wehr und Fluchtbereitschaft. Übelkeit, Erbrechen überprüfbare Ausgangssituation dar.
und Appetitlosigkeit sind ebenfalls nicht selten auf- Für die Dokumentation sind neben den
tretende Begleiterscheinungen bei besonders star- (Schmerz-)Beobachtungskriterien auch Stimmungs-
ken Schmerzzuständen, so wie auch Durchfall und lage, die Einnahme von Schmerzmitteln und die
Meteorismus. Nächtliche Schmerzen stören den Beobachtung von Begleitsymptomen wichtige Merk-
Schlaf. Erhöhter Ruhebedarf am Tag sowie Schlafstö- male zur Einschätzung des Schmerzgeschehens. Da
rungen können die Folge sein. Durch die Verknüp- Schmerzen häufig in Zusammenhang mit bestimm-
fung der Schmerzleitung mit Hirnnervenkernen, z. B. ten Ereignissen oder Aktivitäten auftreten, ist es
im limbischen System, bekommt der Schmerz seine sinnvoll, sie ebenfalls entsprechend zu vermerken.
individuelle begleitende Gefühlsqualität wie Angst, Die Schmerzbeobachtung und -einschätzung ist
Ekel und u. U. auch Freude. Bei entzündlichen Erkran- fast ausschließlich von den Äußerungen des
kungen im Bauchraum, z. B. einer Blinddarmentzün- schmerzleidenden Menschen abhängig und bedarf
dung, kommt es durch einen reflektorischen Spas- deshalb der intensiven Kommunikation zwischen
mus der Bauchdeckenmuskulatur zur Abwehrspan- Pflegepersonal, ärztlichem Personal und dem Betrof-
nung bei Druck auf den Bauch. Migräneartige Kopf- fenen. Bei Menschen mit chronischen Schmerzzu-

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 391


KaelDesu
23 Schmerz

stände gar nicht erst entstehen und die Lebensquali-


tät steigt (s. a. Bd. 3, Kap. 17).
Schmerztagebuch

Name: Datum:
23.6 Ergänzende
Uhrzeit Schmerz- Schmerz- Bemerkung/
intensität therapie Aktivität/ Beobachtungskriterien
23 Beobachtungen
6.00 Uhr Schmerzzustände sind komplexe Geschehen und
7.00 Uhr umfassen ganzheitlich das körperliche, geistige und
8.00 Uhr seelische Empfinden des Betroffenen. Das Beobach-
9.00 Uhr tungsspektrum kann sich je nach Schmerzausprä-
10.00 Uhr gung auf entsprechend weitere Beobachtungspunkte
11.00 Uhr ausdehnen.
12.00 Uhr
Durch die Verknüpfung der schmerzleitenden
13.00 Uhr
Bahnen mit dem vegetativen Nervensystem und an-
14.00 Uhr
deren Hirnanteilen beeinflussen Schmerzzustände
15.00 Uhr
16.00 Uhr das Kreislaufsystem mit Puls-, Blutdruck-, Atemver-
17.00 Uhr änderungen und die Schweißproduktion. Starke
18.00 Uhr Schmerzen werden häufig von Übelkeit, Brechreiz,
19.00 Uhr Erbrechen und Appetitlosigkeit begleitet. Das kann
20.00 Uhr sich, besonders bei Menschen mit chronischen
21.00 Uhr Schmerzen, auf das Körpergewicht und den Ernäh-
22.00 Uhr rungszustand negativ auswirken.
23.00 Uhr Schmerzen werden meist durch emotionale An-
24.00 Uhr
teile wie Angst und Depression begleitet.
1.00 Uhr
Die Beobachtung von Mimik, Gestik, Körperhal-
2.00 Uhr
tung, Gang, Bewegung, Stimme, Sprache und Be-
3.00 Uhr
4.00 Uhr wusstsein sollte deshalb immer mit einbezogen wer-
5.00 Uhr den. Auch die Motorik ist im Zusammenhang mit
schmerzauslösenden bzw. -hemmenden Aktivitäten
zu betrachten.
Abb. 23.5 Beispiel für ein Schmerztagebuch
Durch Schmerzen werden die Aufmerksamkeit,
der Wachheitszustand und der Schlaf jeweils wech-
ständen empfiehlt sich das Führen eines Schmerzta- selseitig beeinflusst. Die Einbeziehung dieser Beo-
gebuchs oder Schmerzprotokollbogens (Abb. 23.5). bachtungspunkte ist besonders bei der Beurteilung
Sie erleichtern die Selbstbeobachtung und die Ver- von Schmerzdauer-, -verlauf, -intensität und Zeit-
laufskontrolle der erlebten Schmerzzustände. Die so punkt des Auftretens von Bedeutung.
entstehende Dokumentation zeigt mögliche Zusam-
menhänge zwischen Schmerz und Alltagserleben auf
und gibt Auskunft über den zeitlichen und qualitati- 23.7 Besonderheiten bei Kindern
ven Verlauf der Schmerzereignisse. Der betroffene Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm
Schmerzpatient lernt, sich selbst besser zu verste-
hen, schmerzauslösende Faktoren bewusst wahrzu- Das Schmerzempfinden von Kindern ist nicht gerin-
nehmen und schließlich Konsequenzen für sich und ger als das von Erwachsenen. Im Gegenteil, es gibt ei-
sein Leben abzuleiten. ne Reihe von Indizien, dass kleine Kinder schmerz-
Eine erweiterte Schmerzdokumentation bildet empfindlicher sind als größere Kinder. Vieles, was
die Basis für eine Schmerzprophylaxe sowie Quali- bei Erwachsenen keine Schmerzen auslöst, kann bei
tätssicherung. Das bedeutet, Betroffene bekommen Kindern Schmerzgefühle hervorrufen. Schmerzen
Schmerzmittel regelmäßig und nicht nur „bei Be- schränken jegliche Lebensaktivität der Kinder ein.
darf“ mit dem Ergebnis, dass quälende Schmerzzu- Sie haben einen entscheidenden Einfluss auf die wei-

392 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
23.7 Besonderheiten bei Kindern

tere körperliche Entfaltung. Aber auch die psy- Kohlendioxidanstieg bei der Blutgasanalyse beob-
chische Entwicklung der Kinder kann durch Schmer- achtet werden.
zen beeinträchtigt werden. Es kann zu Ängsten, Ge- Zur Erkennung von Schmerzen bei Frühgebore-
fühlen des Alleinseins und des Nicht-Angenommen- nen kann die Verwendung des in Tab. 23.2 darge-
Werdens sowie zu depressiven Verstimmungen stellten Schmerzscore eine gute Hilfestellung geben.
kommen. Je höher die ermittelte Punktzahl ist, umso höher ist
Die zunächst bei der Geburt nicht vollständig vor- auch die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind unter 23
handene Umhüllung der Nerven mit einer Myelin- Schmerzen leidet. Mit zunehmender Entwicklung ist
schicht wird nach der Geburt schnell vorangetrieben, die Aussage des Kindes zum Schmerzempfinden und
so dass die Schmerzleitung der A-delta-Fasern (s. a. zur Schmerzentstehung von großer Bedeutung. Je
S. 381) sehr rasch erfolgt. Wissenschaftliche Erkennt- nach Artikulationsmöglichkeiten des Kindes kann
nisse haben jedoch u. a. auch gezeigt, dass die Mye- die Schmerzäußerung durch Worte wie „aua“, „weh“
linschicht bei Feten und Neugeborenen hinsichtlich o. ä. erfolgen.
der Schmerzübertragung von geringerer Bedeutung Schwierig wird es, wenn das Kleinkind die
ist. Schmerzempfinden ist somit nicht altersabhän- Schmerzen lokalisieren, die Dauer und/oder den
gig, sondern dient dem ungeborenen Kind bereits im Zeitpunkt der Schmerzen oder gar die Schmerzin-
Mutterleib als Schutzfunktion. So reagieren bereits tensität und -qualität bestimmen soll. Mithilfe von
die Feten bei einer Amniozentese mit Abwehr und einfachen, offenen Fragen kann versucht werden, die
Fluchtbewegungen innerhalb ihres begrenzten Rau- Schmerzen einzuschätzen. Hierbei können auch, je
mes im Mutterleib. nach Alter des Kindes, verschiedene Darstellungshil-
Neugeborene und Säuglinge reagieren durch Un- fen angewendet werden. Beispiele hierfür zeigen die
ruhe, wie das Anziehen und Beugen der Extremitä- Abb. 23.6 und 23.7.
ten, durch Veränderung der Gesichtsmimik bis hin Um einen Verlauf erkennen zu können, ist es wich-
zum Schreien und nicht zuletzt durch Veränderung tig, bei jeder neuen Schmerzeinschätzung dieselbe
der Herz- und Atemfrequenz auf Schmerzreize. Bei Skala zu verwenden. Aber auch durch Gespräche mit
Frühgeborenen kann auch ein Sauerstoffabfall und den Eltern und anderen Bezugspersonen können

Tab. 23.2 Premature Infant Pain Profile (Dietrich 2014)

0 1 2 3 Score

Gestationsalter ⱖ 36 Wochen 32 – 35 Wochen + 6 Tage 28 – 31 Wochen + 6 Tage ⬍ 28 Wochen

Verhalten Aktiv/wach, offene Au- Ruhig/wach, offene Au- Aktiv-schläfrig, Augen ge- Ruhig/schlafend,
gen, Mimik vorhanden gen, keine Mimik vorhan- schlossen, Mimik vorhan- Augen geschlos-
den den sen, keine Mimik
vorhanden

HR Anstieg: 0 – 4 bpm Anstieg: 5 – 14 bpm Anstieg: 15 – 24 bpm Anstieg: ⱖ 25 bpm


Maximum

SaO2 Minimum Abfall: 0 – 2,4% Abfall: 2,5 – 4,9% Abfall: 5 – 7,4% Abfall: ⱖ 7,5%

Stirnrunzeln Kaum, ⬍ 9% der Selten, 10 – 39% der Häufig, 40 – 69% der Maximal, ⱖ 70%
Beobachtungszeit Beobachtungszeit Beobachtungszeit der Beobachtungs-
zeit

Augenlider zu- Kaum, ⬍ 9% der Selten, 10 – 39% der Häufig, 40 – 69% der Maximal, ⱖ 70%
kneifen Beobachtungszeit Beobachtungszeit Beobachtungszeit der Beobachtungs-
zeit

Nasenfalten Kaum, ⬍ 9% der Selten, 10 – 39% der Häufig, 40 – 69% der Maximal, ⱖ 70%
sichtbar Beobachtungszeit Beobachtungszeit Beobachtungszeit der Beobachtungs-
zeit

keine oder minimale Schmerzen: ⬍ 6 Punkte, moderate bis starke Schmerzen: ⱖ 12 Punkte Gesamtpunkte:

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 393


KaelDesu
23 Schmerz

wichtige unterschiedliche Informationen über mög- Spielen dar. Die Kinder können hierbei ihre Gefühle
liche Schmerzen eines Kindes erfasst werden. In die- leichter ausdrücken und sie bekommen von den Er-
sen Gesprächen sollte z. B. auch der Umgang der El- wachsenen leichter Informationen über Körperteile,
tern/Bezugsperson mit Schmerzen, ihre Einstellung Krankheiten und mögliche Ursachen von Schmerzen
zu Schmerzen, der Umgang mit Analgetika erfasst vermittelt.
werden und welche Aufmerksamkeit dem Schmerz Komponenten eines multidimensionalen Ansat-
23 gegeben wird. Ein wichtiges Hilfsmittel in der Kom- zes zur Schmerzeinschätzung bei Kindern zeigt die
munikation zwischen Kindern und Erwachsenen folgende Übersicht:
stellt auch die altersentsprechende Anwendung von

Komponenten eines multidimensionalen


Ansatzes zur Schmerzeinschätzung bei
Kindern (nach McCaffery, Beebe, Latham)
Regen Sie ein Gespräch über Schmerzen an. Beziehen
Sie Kinder (wenn möglich), Eltern und weitere Pflegen-
Abb. 23.6 Schmerzbeurteilung nach Smiley-Analog-Skala de in das Gespräch ein.
(aus: Dietrich, J.: Schmerz- und Stressverhalten von Frühgebore- Versuchen Sie, durch gemeinsames Spielen oder Reden
nen. Intensiv 2014; 24 – 30)
das Kind dazu zu bewegen, selbst Aussagen über seine
Schmerzen zu machen. Ziehen Sie den Gebrauch einer
oder mehrerer Schmerzskalen in Erwägung.
Eland Farbskala: Figuren Klären Sie das Bestehen von Erkrankungen oder mögli-
Markieren Sie jedes Kästchen mit der vom Kind cher Behandlungen, von denen man weiß, dass sie
ausgewählten Farbe: auch bei anderen Schmerzen verursacht haben.
Beobachten Sie:
keine leichte mäßige stärkste
Schmerzen Schmerzen tut Schmerzen Schmerzen Vokalisierungen/Verbalisierungen,
tut nicht weh ein bischen weh tut ziemlich weh tut sehr weh Gesichtsausdruck,
Körperbewegungen,
autonome Reaktionen,
Veränderungen in Bezug auf tägliche Aktivitäten
und normale Verhaltensweisen.
Erwägen Sie nach Absprache die Gabe einer Versuchs-
dosis eines Analgetikums und halten Sie die Reaktio-
nen des Kindes schriftlich fest.

!
Merke: Hilfsmittel zur Schmerzerfassung
und -einschätzung sind entsprechend dem
Alter und der Reife eines Kindes auszuwäh-
len. Um eine konsequente Einschätzung des Schmerzes
vornehmen zu können, muss immer das gleiche Hilfs-
mittel verwendet werden.

Kinder, besonders im Kindergarten- und Grund-


schulalter, drücken ihre Probleme gelegentlich da-
durch aus, dass sie behaupten, sie hätten Bauch-
schmerzen. In jedem Fall ist es jedoch wichtig, das
Kind ernst zu nehmen und zu differenzieren, ob es
Abb. 23.7 Erfassung der Schmerzlokalisation und -intensität bei
Kindern
sich um Schmerzen handelt, denen eine organische
Ursache zugrunde liegt und die ggf. eine ärztliche In-
tervention erfordern, oder ob es sich um Schmerzen

394 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
23.9 Fallstudien und mögliche Pflegediagnosen

handelt, die aufgrund psychischer Belastungssitua- selwirkung sollte auf mehreren Ebenen unterbro-
tionen entstanden sind. chen werden: durch eine befriedigende Schmerz-
Wichtig bei der Pflege und Betreuung von Kin- therapie, einen strukturierten Tagesablauf mit
dern sind auch Kenntnisse darüber, welche diagnos- genügend Ablenkung, Kontaktmöglichkeiten sowie
tischen und therapeutischen Maßnahmen mit pflegerische Interventionen nach dem Selbsthilfe-
Schmerzen verbunden sein können sowie über pa- konzept.
thologische Prozesse, die unweigerlich mit Schmer- Besonders problematisch ist die Schmerzein- 23
zen verbunden sind. schätzung bei Menschen, die in ihrer Kognition stark
beeinträchtigt sind, z. B. Demenz. Durch eine einfühl-
same Kommunikation, sorgfältige Beobachtung non-
23.8 Besonderheiten bei älteren verbaler Schmerzäußerungen sowie Erfassung phy-
Menschen siologischer Reaktionen, z. B. RR, Puls und Muskelto-
Eva Eißing nus, können Schmerzen auch „fremd“ eingeschätzt
werden. Spezielle Einschätzungsinstrumente helfen,
Zwar wurden im Bereich des wissenschaftlichen Ver- die Schmerzen annähernd differenziert zu erfassen,
ständnisses und der klinischen Behandlung von z. B. BESD (Beurteilung von Schmerzen bei Demenz).
Schmerzen große Fortschritte erzielt, aber immer
noch finden spezifische Bedürfnisse älterer Men- Zusammenfassung:
schen kaum Berücksichtigung. Schmerzanamnese, -dokumentation sowie
Nicht wenige alte Menschen glauben, Schmerzen Besonderheiten bei Kindern und älteren Menschen
im Alter seien unvermeidlich, gehörten dazu und er- Die Schmerzanamnese, -beobachtung und -ein-
tragen sie klaglos. Sie sprechen nicht über ihre schätzung und eine erweiterte Schmerzdokumen-
Schmerzen oder vertuschen sie, weil sie unangeneh- tation bilden die Basis für eine Prophylaxe und Stei-
me Konsequenzen befürchten, z. B. noch schmerz- gerung der Lebensqualität.
haftere Untersuchungen, Einweisung ins Kranken- Die psychische und physische Entwicklung von Kin-
haus oder sogar Operationen. Ein weiterer Grund, dern kann durch Schmerzen beeinträchtigt werden.
weswegen ältere Menschen ihre Schmerzen nicht Bei Neu- und Frühgeborenen kann ein spezieller
äußern, ist der Wunsch nach Selbständigkeit und sie Schmerzscore zur Schmerzeinschätzung helfen.
möchten keinem zur Last fallen. Schmerzäußerungen bei Kindern sind in jedem Fall
Das Altern an sich begründet keine Schmerz- ernst zu nehmen und abzuklären.
genese. Allerdings verursachen chronische Leiden Im Alter entsteht häufig eine Beziehung zwischen
und Multimorbidität, d. h. mehrere Erkrankungen Einsamkeit, Depression, Isolation und Schmerz mit
gleichzeitig, eine Kombination verschiedenartiger negativem Einfluss auf die Mobilität und Selbstän-
Schmerzempfindungen. Besonders betroffen sind digkeit.
Menschen mit Gelenk-, Knochen-, Muskel- und Ner-
venerkrankungen. Meist werden auch jahrelang
schmerz- und entzündungshemmende Medikamen- 23.9 Fallstudien und mögliche
te eingenommen mit entsprechenden (schmerzhaf- Pflegediagnosen
ten) Nebenwirkungen, wie z. B. Magenbeschwerden
oder Magengeschwür. Schmerzen bedingen eine Verschlechterung der Le-
Im Alter entsteht häufig eine Beziehung zwischen bensqualität und haben Auswirkungen auf fast alle
Einsamkeit, Depression, Isolation und Schmerz mit Bereiche des täglichen Lebens. Sie stellen einen häu-
entsprechend negativem Einfluss auf die Mobilität figen Grund für pflegerische Interventionen dar.
und Selbständigkeit. Diese Phänomene verstärken
sich wechselseitig. Viele betroffene alte Menschen Beispiel: Bei Frau Peters, 55 Jahre, ist vor 7
geraten auf diese Art in eine Abhängigkeit, in der sie Monaten ein Mammakarzinom in der rech-
sich nicht mehr alleine versorgen können oder sogar ten Brust diagnostiziert worden. Es wurde
vollständig hilfsbedürftig werden. Durch eine herab- sofort eine Ablatio mammae rechts vorgenommen und
gesetzte Mobilität werden insbesondere alte Men- anschließend eine Chemotherapie eingeleitet. Trotz-
schen anfällig gegenüber Folgekrankheiten, wie z. B. dem wurden inzwischen bei Frau Peters multiple Kno-
Druckgeschwüre oder eine Thrombose. Diese Wech- chenmetastasen festgestellt. Bedingt durch diese Me-

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 395


KaelDesu
23 Schmerz

tastasen leidet Frau Peters seit geraumer Zeit unter


und einer oder mehrere der folgenden Punkte:)
starken Schmerzen, insbesondere im Bereich der Wir-
Abwehrhaltung
belsäule. Sie klagt immer häufiger über Schmerzen und
beobachtete Schonhaltung
zeigt vor allem bei Bewegungen ein schmerzverzerrtes
veränderte Fähigkeit, frühere Aktivitäten fortzuführen
Gesicht. Aus Angst vor dem Auftreten von Schmerzen Angst, sich wieder zu verletzen
bzw. deren Verstärkung bewegt sich Frau Peters kaum maskenhaftes Gesicht (z. B. Augen sind glanzlos,
23 noch. Immer häufiger bittet sie auch aus diesem Grund abgekämpfter Ausdruck, starre oder zerstreute
ihre Besucher, zu gehen. Einen Auszug aus dem Pflege- Bewegung, Grimasse)
plan für Frau Peters zeigt Tab. 23.3. reduzierte Interaktion mit anderen (physisch oder
Zu der oben aufgeführten Fallstudie von Fr. Peters kann sozial)
auch eine Pflegediagnose gestellt werden, wie folgende Anorexie
Übersicht zeigt: (Veränderungen des Körpergewichts)
(Einschlafstörung)
(Schlafmangel)
Chronischer Schmerz (P) Atrophie der beteiligten Muskelgruppen
(Gordon 2013, S. 831 – 832, NANDA-I 2016) veränderte Schlafmuster
Chronic pain (00133) (1986, 1996) Schmerzerfassung
Taxonomie II: Domäne 12: Wohlbefinden, Depression
Klasse 1: Physisches Wohlbefinden Fatigue
Reizbarkeit
Diagnosetyp (Dokumentationsform): aktuelle Pflege-
Ruhelosigkeit
diagnose (PES)
Selbstfokussierung
Funktionelles Gesundheitsverhaltensmuster:
Sympathikus-Reaktionen (z. B. Temperatur, Kälte,
Kognition und Perzeption
Veränderung der Körperposition, Überempfindlich-
Definition keit)
Unangenehme sensorische und emotionale Erfahrung,
die von aktuellen oder potenziellen Gewebeschädigun- Pflegeergebnis (Outcome)
gen herrührt oder als solche Schädigung beschrieben Ausmaß von Schmerz (Pain Level)
werden kann (International Association for the Study of Schweregrad: keine Angaben über Schmerzen
Pain); plötzlicher oder allmählicher Beginn mit einer In-
Risikogruppen
tensität von leicht bis schwer, konstant oder wiederho-
Personen mit . . .
lend auftretend, ohne ein erwartetes oder vorhersag-
chronischer körperlicher, psychosozialer Behin-
bares Ende und von mehr als sechs Monaten Dauer
derung (z. B. einem Tumorleiden)
Einflussfaktoren (E)
(Wissensdefizit [Mangement chronischer Schmerz])
chronische physische Behinderung In diesem Fall würde die Pflegediagnose folgender-
chronische psychosoziale Behinderung maßen lauten:
Chronischer Schmerz im Bereich der Wirbelsäule b/d
Kennzeichen oder Symptome (S)
(beeinflusst durch):
Hauptkennzeichen
Wissensdefizit (über Management chronischer
verbale Äußerung über (oder beobachtete Belege für
starken) Schmerz Schmerzen) a/d (angezeigt durch):
(starke Beschwerden [Schmerzen] seit mehr als die verbale Mitteilung über Schmerzen,
6 Monaten starke Beschwerden über mehr als 6 Monate,
beobachtbare Schonhaltung,
reduzierte Interaktion mit anderen,
schmerzverzerrtes Gesicht.

396 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
23.9 Fallstudien und mögliche Pflegediagnosen

Tab. 23.3 Auszug aus dem Pflegeplan von Frau Peters

Pflegeproblem Ressourcen Pflegeziele Pflegemaßnahmen

Frau Peters hat starke 쐌 Kennt ihre Diagnose und Frau Peters: 쐌 Frau Peters schätzt ihre Schmerzintensi-
Schmerzen insbesondere im weiß, woher die Schmer- 쐌 Schmerzintensität liegt tät nach der Numerischen Rating-Skala
Wirbelsäulenbereich bei zen stammen unter 4 der NSR und ist ein und meldet sich, sobald der Schmerz
metastasierendem Mamma- 쐌 Kann über ihre Schmer- erträglich stärker als 3 ansteigt
karzinom zen und ihre Angst vor 쐌 Hat keine Angst vor dem 쐌 Schmerztagebuch: 23
Schmerzen sprechen Auftreten von Schmerzen – Anleitung und Beratung zum Führen
쐌 Führt selbstständig ein eines Schmerztagebuchs
Schmerztagebuch 쐌 Verabreichung der Schmerzmedikation
쐌 Weiß, wann sie ihre zur festgesetzten Zeit und Beobachtung
Schmerzmedikation ein- hinsichtlich:
nehmen muss – Wirkungseintritt
쐌 Kennt schmerzarme, – Wirkungsdauer
-freie Lagerungs- und Be- – Wirkungsqualität
wegungsmöglichkeiten – Nebenwirkungen
쐌 Weiß, dass es weitere 쐌 Gemeinsam mit Fr. Peters schmerzarme,
verschiedene Möglichkei- -freie Bewegungen und Lagerungen he-
ten zur Unterstützung rausfinden, ggf. mit Kissen und anderen
der Analgetikatherapie Hilfsmitteln unterstützen
gibt, und befasst sich da- 쐌 Beobachtung von Fr. Peters hinsichtlich
mit Schmerzzeichen bei allen pflegerischen
Tätigkeiten
쐌 Informationsgespräch (Arzt) über Mög-
lichkeiten zur Unterstützung der
Schmerztherapie (z. B.: autogenes Trai-
ning, Meditation, Akupunktur)
쐌 Nach Bedarf Informationsmaterialien zu
verschiedenen Alternativen zur Verfü-
gung stellen und entsprechende Kontak-
te herstellen

Beispiel: Bei Malte, 5 Jahre, wurde gestern Er weint viel und liegt, mit seinem Kuschelelefanten im
eine Appendektomie durchgeführt. Der Ein- Arm, angespannt im Bett. Eine Bedarfsmedikation
griff verlief komplikationslos und auch die wurde vom Arzt angeordnet. Tab. 23.4 zeigt einen Aus-
Wunde weist keinerlei Abweichungen vom Normalen zug aus Maltes Pflegeplan.
auf. Doch Malte klagt über Schmerzen im Wundgebiet. Für Malte kann die in der folgenden Übersicht darge-
stellte Pflegediagnose gelten:

Tab. 23.4 Auszug aus dem Pflegeplan von Malte

Pflegeproblem Ressourcen Pflegeziele Pflegemaßnahmen

Malte hat Schmerzen im 쐌 Hat sein Kuscheltier dabei Malte: 쐌 Altersgemäße Information von Malte
Wundgebiet nach Append- 쐌 Kann seine Schmerzen 쐌 Schmerzen sind gelin- über:
ektomie äußern dert, fühlt sich wohl – Ursachen der Schmerzen
쐌 Fühlt sich ernst genom- – dass er sich bei Schmerzen melden
men mit seinen Schmer- soll
zen – Bedarfsmedikation
쐌 Findet Ablenkung 쐌 Knierolle zur Bauchdeckenentlastung an-
bieten
쐌 Eltern nach Lieblingsspielen und -ge-
schichten fragen und bitten, diese mitzu-
bringen
쐌 Ablenkung durch z. B. Spiele, Vorlesen

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 397


KaelDesu
23 Schmerz

Akuter Schmerz (P) eingeschränkter Fokus (z. B. veränderte Zeitwahr-


(Gordon 2013, S. 340 – 341, NANDA-I 2016) nehmung, beeinträchtigte Denkprozesse, reduzierte
Acute pain (00132) (1996) Interaktion mit Personen und Umfeld, [beeinträch-
Taxonomie II: Domäne 12: Wohlbefinden, tigte Denkprozesse])
Klasse 1: Physisches Wohlbefinden (lustlos bis starr, Körperhaltung zur Vermeidung
von Schmerzen)
23 Diagnosetyp (Dokumentationsform): aktuelle Pflege-
veränderter Appetit
diagnose (PES)
Schmerzerfassung
Funktionelles Gesundheitsverhaltensmuster:
beobachtete Schmerzzeichen
Kognition und Perzeption
sich schützende Gesten
Definition Schlafstörung
Unangenehme sensorische und emotionale Erfahrung,
Pflegeergebnis (Outcome)
die von aktuellen oder potenziellen Gewebeschädigun-
Ausmaß von Schmerz (Pain Level)
gen herrührt oder als solche Schädigung beschrieben
Schweregrad: keine Angaben über Schmerzen
werden kann (International Association for the Study of
Pain); plötzlicher oder allmählicher Beginn mit einer In-
Risikogruppen
tensität von leicht bis schwer und einem erwarteten
Personen
oder vorhersagbaren Ende einer Dauer von weniger als
nach einer Operation (z. B. Wundschmerz)
6 Monaten
mit Arthritis (z. B. Gelenkschmerz)
Einflussfaktoren (E) mit einer Herzkrankheit (z. B. Thoraxschmerz)
(Wissensdefizit [Schmerzmanagement]) unter schädigenden Einflüssen (biologisch, che-
Verletzungsursachen (biologisch, chemisch, physika- misch, physikalisch, psychisch und stressbedingt);
lisch, psychisch) nach einem Trauma, einer Verletzung

Kennzeichen oder Symptome (S)


Hauptkennzeichen
Im Fall von Malte kann die Pflegediagnose lauten:
verbale Äußerung über (starken) Schmerz
Wundschmerz nach Appendektomie beeinflusst
(und einer oder mehrere der folgenden Punkte:)
Schonhaltung
durch (b/d):
Abwehrhaltung Mangelnde Kenntnisse im Hinblick auf Techniken
(erhöhte Anspannung der Muskulatur) zur Schmerzkontrolle angezeigt durch (a/d):
maskenhaftes Gesicht (Augen sind glanzlos, abge- Klagen über Schmerzen,
kämpfter Ausdruck, starre oder zerstreute Bewegung, Weinen,
Grimasse) Erhöhung des Muskeltonus (angespannte Lage im
(unruhig, reizbar) Bett).
(vegetative Reaktionen, die sich bei chronischen,
stabilen Schmerzen nicht finden:) Fazit: Der Schmerz ist ein komplexes, unan-
– Diaphorese (Schwitzen) genehmes Gefühlserlebnis und umfasst Phä-
– veränderter Blutdruck nome aus allen menschlichen Bereichen: den
– veränderte Herzfrequenz körperlichen, seelischen und geistigen Bereichen. Seine
– Pupillenerweiterung biologische Bedeutung liegt hauptsächlich darin, den
– veränderte (verringerte) Atemfrequenz Organismus vor schädigenden Einflüssen zu warnen
ablenkende Verhaltensweise (z. B. Auf- und Abgehen, oder zu schützen. Die Schmerzempfindung ist immer
andere Personen aufsuchen und/oder nach anderen subjektiv und wird durch zahlreiche Faktoren beein-
Aktivitäten suchen, wiederholende Aktivitäten)
flusst.
auffälliges Verhalten (z. B. Ruhelosigkeit, Stöhnen,
Es werden verschiedene Arten von Schmerz unter-
Schreien, Wachsamkeit, Reizbarkeit, Seufzen)
schieden. Chronische Schmerzen stellen für den Betrof-
Ichbezogenheit
fenen eine große Belastung dar, besonders dann, wenn
sie nicht ausreichend behandelt werden.
Bei der Schmerzkrankheit handelt es sich um chro-
nische Schmerzzustände, die ihre biologische Warn-

398 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
Literatur

und Alarmfunktion verloren haben. Hier wird das


Symptom „Schmerz“ zu einer eigenständigen Erkran- Literatur:
kung.
Wichtig für die Ermittlung des individuellen Altenpflege in Lernfeldern. Thieme, Stuttgart 2017
Basler, H.-D.: Akutschmerztherapie in Pädiatrie und Geriatrie
Schmerzerlebens ist die größtmögliche Objektivierung
– Schmerzmessung: Welche Schmerzskala bei welchen
des Schmerzereignisses. Patienten? Anästhesiologie Intensivmedizin Notfallmedi-
Schmerzen können bei keiner Altersgruppe eindeu- zin Schmerztherapie 2011; 334 – 342, DOI: 10.1055/s- 23
tig nachgewiesen, aber auch nie ausgeschlossen wer- 0031-1277977
den. Insbesondere bei Kindern kommt jedoch der Beob- Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege
achtung hinsichtlich möglicher verbaler oder nonver- (DNQP): Expertenstandard in der Pflege bei akuten
Schmerzen. 1. Aktualisierung 2011, Osnabrück 2011
baler Schmerzäußerungen ein besonderer Wert zu. Es
Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege
ist sinnvoll, je nach Alter eines Kindes ein entsprechen-
(DNQP): Expertenstandard in der Pflege bei chronischen
des Hilfsmittel zur Erfassung und Einschätzung von Schmerzen. Osnabrück 2014
Schmerzen anzuwenden. Daneben stellt die Kommuni- Dietrich, J.: Schmerz- und Stressverhalten von Frühgeborenen.
kation mit Eltern und anderen Bezugspersonen ein Intensiv 2014; 24 – 30, DOI: 10.1055/s-0033-1363487
wichtiges Instrument bei der Schmerzerkennung und Gordon, M.: Handbuch Pflegediagnosen. 5. Aufl. Hans Huber,
-beobachtung dar. Hogrefe AG, Bern 2013
Gortner, L., S. Meyer, F. C. Sitzmann: Duale Reihe Pädiatrie.
Schmerzen entstehen bei älteren Menschen am
4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012
häufigsten aufgrund von degenerativen Erkrankungen
Hoehl, M., P. Kullick (Hrsg.): Gesundheits- und Kinderkranken-
des Bewegungsapparats. Bei hochbetagten Menschen, pflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012
die unter mehreren Erkrankungen gleichzeitig (Multi- Kerbl, R., R. Kurz, B. Lange et al.: Checkliste Pädiatrie. 5. Aufl.
morbidität), an veränderten Wahrnehmungsfähigkei- Thieme, Stuttgart 2015
ten und Orientierungsstörungen leiden, gestaltet sich Koletzko, B. (Hrsg.): Kinder- und Jugendmedizin. 14. Aufl.
die Schmerzbeobachtung und -therapie häufig schwie- Springer, Berlin 2013
Margulies, A., K. Fellinger, T. Kroner, A. Gaisser (Hrsg.): Onkolo-
rig und verlangt eine sorgfältige Beobachtung.
gische Krankenpflege, 6. Aufl. Springer, Berlin 2017
Das Pflegepersonal nimmt eine Mittlerposition ein Menche, N. et al. (Hrsg.): Pflege Heute, 6. vollständig überar-
zwischen dem an Schmerzen leidenden Menschen und beitete Auflage. Urban & Fischer, München 2014
dem schmerzmittelanordnenden Arzt. Fundierte NANDA International: Pflegediagnosen. Definitionen und
Kenntnisse über das Phänomen „Schmerz“ machen ei- Klassifikation 2015 – 2017. Herdman, T. H., S. Kamitsuru
ne fachkundige, gezielte Beobachtung erst möglich und (Hrsg.): RECOM, Kassel 2016
Schewior-Popp, S., F. Sitzmann, l. Ullrich (Hrsg.): Thiemes Pfle-
bilden die Basis für therapeutische und pflegerische In-
ge. 13. Aufl. Thieme, Stuttgart 2017
terventionen.
Thomm, M.: Schmerzmanagement in der Pflege. 2. Aufl. Sprin-
ger, Berlin 2015

Im Internet:
http://www.dgss.org; Deutsche Schmerzgesellschaft (siehe
BESD); Stand: 04. 08. 2017
http://www.schmerzliga.de/; Stand: 04. 08. 2017

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 399


KaelDesu

24 Bewegungen
Marion Weichler-Oelschlägel

Übersicht
Einleitung · 400
24.1 Allgemeine Beobachtungskriterien und
24 Beschreibung des Normalzustands · 401
24.2 Abweichungen und Veränderungen von
Bewegungen und deren mögliche
Ursachen · 402
24.2.1 Störungen der Beweglichkeit · 402
24.2.2 Störungen der Koordination und
Zielgerichtetheit · 404
24.2.3 Störungen des Körperschemas · 405
24.3 Ergänzende Beobachtungskriterien · 405
24.4 Besonderheiten bei Kindern · 406
und wirkt sich dementsprechend entscheidend auf
24.4.1 Abweichungen und Veränderungen
das Wohlbefinden und die Lebensqualität eines
der Bewegung und deren mögliche
Menschen aus.
Ursache · 407
24.5 Besonderheiten bei älteren Die grundlegende Bedeutung der Bewegung wird
Menschen · 409 uns häufig erst dann bewusst, wenn einzelne Bewe-
24.6 Fallstudien und mögliche gungsabläufe aus den verschiedensten Gründen
Pflegediagnosen · 410 nicht mehr durchführbar sind. Die genaue Beobach-
tung von Störungen der Bewegungsabläufe und de-
Fazit · 412
ren Auswirkungen für den betroffenen Menschen er-
Literatur · 413
möglicht die Auswahl spezieller Hilfsmittel und Pfle-
gemaßnahmen zur Aktivierung und Unterstützung.
Schlüsselbegriffe:
Den Körper uneingeschränkt bewegen zu können,
왘 Körperschema ist eine der grundlegendsten Fähigkeiten des Men-
왘 Beweglichkeit schen. Der gesamte Bereich der verbalen und visuel-
왘 Koordination len Kommunikation, die Mimik, eine ausdrucksvolle
Gestik und die Zeichensprache, die der Mensch für
Einleitung sein Überleben im sozialen Umgang benötigt, wären
ohne Bewegung nicht möglich. Bewegungen stellen
Bewegung kann als Symbol für Entwicklung, Wachs- ein Grundprinzip des Lebens dar.
tum und Leben gesehen werden. Geistig und körper- Es geht bei Bewegung um mehr als nur um Tech-
lich beweglich und flexibel zu sein, sind Eigenschaf- nik und Mechanik; um mehr als nur darum, dass be-
ten, die in unserer Gesellschaft einen hohen Stellen- stimmte Muskeln bestimmte Knochen in einer be-
wert genießen. Aktivität über körperliche Bewegun- stimmten Weise bewegen. Die Koordination dieses
gen ist auch für die geistige Entwicklung von Kindern Geschehens ist eine ungeheure Leistung des Gehirns,
sehr wichtig. die normalerweise unbewusst abläuft. Sich diese
Streng genommen ist keine andere menschliche Leistung bewusst zu machen, kann dann wichtig
Tätigkeit ohne das Prinzip der Bewegung möglich. sein, wenn, beispielsweise nach einem apoplekti-
Selbst im Schlaf, in welchem Menschen gewöhnlich schen Insult, einzelne Bewegungen ausgefallen und
entspannt und ruhig sind, ist die Bewegung der neu zu erlernen sind.
Atem- und Herzmuskulatur lebensnotwendig. Zum Wesen des Sichbewegens lässt sich feststel-
Die Fähigkeit zur Ausführung von Bewegungen ist len, dass die Bewegung zusammen mit der Körper-
darüber hinaus auch eine Voraussetzung für die haltung (s. a. S. 428) als wesentliche Grundvorausset-
Gestaltung des Lebens nach eigenen Vorstellungen zung für das Wohlbefinden eines Menschen gilt.

400 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
24.1 Allgemeine Beobachtungskriterien und Beschreibung des Normalzustands

!
Merke: Körperlich aktiv zu sein, ist ein dem Begriff „sich bewegen“ zusammengefasst sind.
grundlegendes menschliches Bedürfnis und Ein intakter Bewegungsapparat ermöglicht folgende
hat in allen Altersstufen eine große Bedeu- 6 Hauptbewegungen:
tung. Beugung (Flexion),
Streckung (Extension),
Abspreizung (Abduktion),
24.1 Allgemeine
Anziehen (Adduktion),
Beobachtungskriterien und Außendrehung (Außenrotation),
Beschreibung des Innendrehung (Innenrotation) (Abb. 24.1).
Normalzustands 24
Koordination und Zielgerichtetheit
Zur Beobachtung der Bewegungen eines Menschen Der gesunde Mensch bewegt seine Skelettmuskeln
lassen sich folgende Kriterien heranziehen: willkürlich und leicht, seine Bewegungsabläufe sind
koordiniert, harmonisch, zielbewusst und haben ei-
Beweglichkeit nen Sinn.
Die Muskeln als aktiver Bewegungsapparat auf der

!
einen Seite und Knorpel, Knochen und Gewebe als Merke: Die gesunde, normale Beweglich-
passiver Bewegungsapparat auf der anderen Seite, keit ist durch einen leichten, reibungslosen
ermöglichen, wenn sie miteinander in harmonischer Ablauf von Bewegungen ohne Beschwerden
Wechselwirkung sind, jene Aktivitäten, die unter gekennzeichnet.

Flexion

Anteversion Retroversion
Extension

Extension

Flexion
Innen- Außen-
rotation rotation
der Beine der Beine

Dorsalflexion Abduktion

Adduktion
Plantarflexion

Abduktion

Adduktion Pronation Supination

Abb. 24.1 Die Grundbewegungen der oberen und unteren Extremitäten

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 401


KaelDesu
24 Bewegungen

Bei der Beobachtung der Körperbewegungen werden res Halte- und Stützapparats wird durch Muskeln,
willkürliche Bewegungen, d. h. bewusste Bewegun- Knochen, Sehnen, Bänder und Gelenke gebildet. In
gen von einzelnen Muskeln oder Muskelgruppen zur den genannten Bereichen können Entzündungen,
sinnvollen, koordinierten Bewegung, von den un- Verletzungen oder Verschleißerscheinungen zu
willkürlichen Bewegungen unterschieden. Bei Letz- Fehlbelastungen, Schmerzen und einer einge-
teren handelt es sich um unbewusste reflexhafte Be- schränkten Beweglichkeit führen. Im Folgenden
wegungen zur Vermeidung von störenden oder schä- werden die häufigsten Störungen der Beweglichkeit
digenden Umweltreizen. beschrieben.

24 Körperschema Verminderte Beweglichkeit


Definition: Die Fähigkeit des gesunden Men- Sie kann verschiedene Ursachen haben, so z. B. Mü-
schen, seinen Körper empfindungsmäßig, d. h. digkeit, altersbedingte Schwäche oder Schwäche als
sowohl bezogen auf die „Grenzen seines Kör- Ausdruck einer bestimmten Erkrankung, Bewusst-
pers“ als auch lokalisatorisch, d. h. seine „Lage im seinstrübung bis Bewusstlosigkeit, Verletzungen im
Raum“, richtig erfahren zu können, wird als Körper- Bewegungsapparat selbst, Kontrakturen (Fehlstel-
schema bezeichnet. lungen der Gelenke), Krankheiten des Nervensys-
tems, Myopathien (Krankheiten der quergestreiften
Menschen, die über einen langen Zeitraum ohne Muskulatur), Depressionen usw. Der betroffene
spürbare Grenzempfindungen weichgelagert wur- Mensch weist insgesamt verlangsamte, gehemmte
den, etwa zur Vermeidung eines Dekubitus, laufen oder vom Normverhalten abweichende, u. U. auffälli-
Gefahr, ihr Körperschema zu verlieren. Sie wissen ge Bewegungsabläufe auf.
nicht mehr, „wo sie aufhören“. Das Körperschema
wird in eine reale und in eine psychische Komponen- Lähmungen
te eingeteilt. Erstere meint die Vorstellung über die Lähmungen gelten als Ausdruck einer zentral gestör-
Beschaffenheit des eigenen Körpers, die zweite be- ten Motorik, die zur Minderung oder zum Verlust der
schreibt die Idealvorstellung eines Menschen wie Fähigkeit führen, einen oder mehrere Muskeln zu be-
sein Körper sein sollte, die sog. „gute Figur“. wegen. Sie können unvollständig sein und werden
dann als Parese bezeichnet. Vollständige Lähmungen
heißen Plegie oder Paralyse. Lähmungen bedeuten
24.2 Abweichungen und
für die Betroffenen stets mehr als den Verlust motori-
Veränderungen von scher Fähigkeiten. Vielmehr stellen sie einen Ein-
Bewegungen und deren bruch in die sog. Ganzheitsstruktur dar und wirken
mögliche Ursachen sich, je nach Schwere der Lähmung, massiv auf das
gesamte Leben aus.
Grundsätzlich können in allen genannten Beobach- Nach Haas und Martin werden, je nach Ausmaß
tungskriterien Störungen auftreten, die unterschied- der noch verbliebenen Bewegungsfähigkeiten, fol-
liche Auswirkungen auf die Gesamtbefindlichkeit gende Lähmungsgrade unterschieden:
des Menschen haben. 6 = normale Kraft,
5 = Bewegung gegen starken Widerstand möglich,
24.2.1 Störungen der Beweglichkeit 4 = Bewegung nur gegen mäßigen Widerstand mög-
Störungen der Beweglichkeit treten immer dann auf, lich,
wenn der natürliche Bewegungsfluss gehemmt ist, 3 = Bewegung gegen schwache Schwerkraft mög-
d. h., wenn sich Spannung und Lösung nicht mehr in lich,
einem Gleichgewicht befinden. Der natürliche Bewe- 2 = Bewegung nur noch unter Ausschaltung der
gungsfluss wird dann durch Blockaden in verschie- Schwerkraft möglich,
denen muskulären Bereichen gehindert, was letzt- 1 = kein Bewegungseffekt, jedoch noch mit dem Au-
lich dazu führen kann, dass die gesamte Beweglich- ge wahrnehmbare Muskelkontraktionen,
keit des Organismus eingeschränkt wird. 0 = keinerlei Muskelaktivität.
Die individuellen Ursachen dieses Ungleichge-
wichts sind vielfältig und zahlreich. Die Basis unse-

402 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
24.2 Abweichungen und Veränderungen von Bewegungen und deren mögliche Ursachen

Demzufolge wären die Lähmungsgrade 0 und 1 als Eine weitere Unterscheidung der Lähmungstypen
Plegie oder Paralyse einzuteilen , die Grade 2 bis 5 als erfolgt nach der Lokalisation des Lähmungsherds:
Parese. Die Unterscheidung der Lähmungen in Ab-
hängigkeit von den betroffenen Körperteilen zeigt Periphere Lähmung – schlaffe Lähmung
Tab. 24.1. Bei der peripheren Lähmung liegt der Lähmungsherd
im peripheren motorischen Neuron, welches im Vor-
Tab. 24.1 Bezeichnung von Lähmungen in Abhängigkeit derhorn des Rückenmarks verläuft. Eine Unterbre-
von den betroffenen Körperteilen chung dieses Neurons zwischen Vorderhornzelle
Bezeichnung Beschreibung Abbildung und Endaufzweigungen der Neuriten führt immer zu
einer schlaffen Lähmung.
24
Monoparese eine Extremität, d. h. In der Konsequenz zeigen sich bei den Betroffe-
bzw. -plegie 1 Arm oder 1 Bein ist
betroffen
nen folgende Symptome:
herabgesetzter Muskeltonus,
atrophische Muskelfasern,
Verminderung der groben Kraft (Parese) oder
Aufhebung derselben (Paralyse),
abgeschwächte bis erloschene Reflexe.

Hemiparese eine Körperhälfte ist Zentrale Lähmung – spastische Lähmung


bzw. -plegie betroffen
Hier liegt die Schädigung im Bereich der Pyramiden-
bahn und kann beispielsweise durch Degenerations-
erscheinungen, Tumore, Gehirnblutungen oder
Traumen ausgelöst sein. Als Hauptsymptom ist die
spastische Bewegungsstörung zu beobachten. Bei
den betroffenen Menschen sind die Eigenreflexe ge-
steigert und die Fremdreflexe abgeschwächt.
Tetraparese alle 4 Extremitäten sind Es zeigen sich Beeinträchtigungen im feinmotori-
bzw. -plegie betroffen (hohe Quer-
schnittlähmung)
schen Bereich, eine geminderte Kraft, ein spastisch
erhöhter Muskeltonus und eine herabgesetzte grobe
Kraft. Da sich die Pyramidenbahnen im verlängerten
Mark, der Medulla oblongata, kreuzen, führen Läsio-
nen in der rechten Gehirnhälfte zu linksseitigen Läh-
mungen und umgekehrt.

Paraparese 2 Extremitäten sind be- Hypokinesen


bzw. -plegie troffen (in der Regel
Unter einer Hypokinese wird eine Bewegungsarmut
beide Beine, Quer-
schnittlähmung) verstanden. Hierbei sind die Willkür-, Mit- und Aus-
drucksbewegungen eingeschränkt oder erstarrt. Ur-
sachen dieser Bewegungsstörung sind vor allem
Stirnhirnerkrankungen und Erkrankungen des extra-
pyramidalen Systems, z. B. die Parkinsonsche Erkran-
kung. Die betroffenen Personen wirken verlangsamt,
ihre Bewegungen lassen hölzerne und steife Abläufe
beobachten.

Akinesen
Der Begriff Akinese beschreibt eine starke Bewe-
gungsarmut. Zu beobachten sind hierbei neben der
Bewegungshemmung des Rumpfes und der Glieder
(z. B. fehlende Mitbewegungen der Arme beim Ge-

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 403


KaelDesu
24 Bewegungen

hen) auch die mangelnden Bewegungen der Ge- Zusammenfassung:


sichtsmuskulatur bis hin zur mimischen Starre. In Abweichungen und Veränderungen der Be-
ausgeprägten Fällen kann die Akinese zum völligen wegungen
Bewegungsverlust führen. Kriterien für die Bewegungen eines Menschen sind
Wie bei der Hypokinese liegen die Ursachen für Beweglichkeit, Koordination, Zielgerichtetheit und
die Akinese häufig in Erkrankungen des extrapyra- Körperschema.
midalen Systems und des Stirnhirns. Ein kompletter Störungen in der Beweglichkeit können sich als ver-
Verlust der Bewegungsfähigkeit kann sich auch im minderte Beweglichkeit oder Lähmungen äußern.
Rahmen schwerer Depressionen zeigen, bei denen Lähmungstypen werden nach dem Grad der ver-
24 ein Durchbrechen der starren Trauer und eine Bele- bliebenen Bewegungsfähigkeit (Plegie/Paralyse
bung der betroffenen Person scheinbar nicht mög- bzw. Parese) und nach der Lokalisation des Läh-
lich ist. Diese Menschen bewegen sich so gut wie gar mungsherdes (periphere – schlaffe/zentrale – spas-
nicht mehr. tische Lähmung) unterschieden.
Mit Hyperkinesen und Akinesen werden unter-
Hyperkinesen schiedliche Ausprägungen einer Bewegungsarmut
Hierunter wird eine gesteigerte Beweglichkeit ver- beschrieben.
standen. Diese überschießende Beweglichkeit Eine gesteigerte Beweglichkeit wird als Hyperkinese
drückt sich durch Bewegungen einzelner Gliedmaße bezeichnet.
oder des gesamten Körpers aus, die unwillkürlich Kennzeichen eines Krampfes sind unwillkürliche
und automatisch ablaufen. Hierzu gehören u. a. Muskelkontraktionen.
Krämpfe im Rahmen epileptischer Anfälle. Liegt die
Ursache für die Hyperkinese in einer Störung des 24.2.2 Störungen der Koordination und
extrapyramidalen Systems, kann sie sich z. B. als Zielgerichtetheit
Tremor (fein- oder grobschlägiges Zittern) zeigen. Hypermetrie
Bestimmte Erkrankungen des Nervensystems, Definition: Bei der Hypermetrie handelt es
wie z. B. der Morbus Parkinson oder die Multiple sich um überschießende, d. h. über das Ziel hi-
Sklerose, äußern sich in sog. extrapyramidalen nausschießende Bewegungen.
Symptomen. Auch Entzugserscheinungen nach Alko-
hol- oder Drogenmissbrauch, Nervosität, Alter usw. Die Betroffenen können die Abmessung von Bewe-
können Ursachen für einen Tremor sein. gungen z. B. beim Greifen eines Glases o. ä. nicht rich-
Im weiteren Sinne können auch die sog. Tics, un- tig einschätzen, was häufig dazu führt, dass Gegen-
regelmäßige, wiederkehrende Muskelzuckungen ei- stände umgestoßen werden. Ursächlich kommen Er-
nes einzelnen Muskels oder einer ganzen Muskel- krankungen des Kleinhirns in Betracht.
gruppe, als gesteigerte Beweglichkeit beschrieben
werden. Sie können sowohl organisch als auch psy- Hypometrie
chogen bedingt sein. Die dabei auftretenden Zuckun- Definition: Bei der Hypometrie werden die er-
gen erfolgen zwar unwillkürlich, sind dem Betroffe- forderlichen Bewegungen zu kurz bemessen,
nen jedoch bewusst. Faszikulationen als regellos und wobei die ausgeführten Bewegungen häufig vor-
blitzartig auftretende Muskelzuckungen einzelner zeitig gebremst werden.
Muskelbündel oder Muskelfasern zählen ebenfalls
zu der gesteigerten Beweglichkeit. Sie deuten häufig Auch hierfür sind vor allem Erkrankungen des Klein-
auf eine neuromuskuläre Erkrankung hin. und Stirnhirns verantwortlich.

Krämpfe Ataxie
Beim Auftreten von Krämpfen handelt es sich um Definition: Die Ataxie ist eine Störung der Be-
motorische Reizerscheinungen, die sich als unwill- wegungskoordination.
kürliche Muskelkontraktion äußern. Ursachen kön-
nen epileptische Erkrankungen, Eklampsien, Ur-
ämien oder auch psychogene Erkrankungen sein.

404 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
24.3 Ergänzende Beobachtungskriterien

henden oder dauerhaften Verlusten eines intakten


Körperschemas führen. Hemiplegische Personen
„vergessen“ ihre gelähmte Körperhälfte, da sie sie
nicht mehr spüren können und als nicht mehr zu ih-
nen gehörig empfinden.
Würden sie aufgefordert, ein Strichmännchen zu
zeichnen, so würden sie sehr wahrscheinlich das Bild
nur unvollständig beenden können, d. h., der betrof-
fene Arm und das betroffene Bein würden vergessen
und demzufolge auch nicht gezeichnet werden
24
(Abb. 24.2).
Beinamputierte Personen können unter sog.
Phantomschmerzen leiden und tatsächlich Schmer-
zen am nicht mehr vorhandenen Bein empfinden,
wenn ihr Körperschema die Amputation noch nicht
nachvollzogen hat. Für die Pflegefachkräfte ist die
Beobachtung solcher Verluste wichtig, damit sich die
Abb. 24.2 Zeichnung eines Hemiplegiepatienten mit Verlust
Betroffenen mit ihrer Unterstützung die „vergesse-
des intakten Körperschemas
nen“ Körperteile immer wieder bewusst machen
können.
Gezielte, durchdachte Bewegungen sind nicht mehr
möglich oder nicht zweckangepasst. Dies ist typi-
scherweise bei Menschen mit der Erkrankung Multi- 24.3 Ergänzende
ple Sklerose zu beobachten: die Muskelgruppen sind Beobachtungskriterien
nicht mehr in der Lage geordnet zusammenzuspie-
len, was u. a. zu einer sog. Gangataxie führt, bei der Es ist wichtig, die Bewegungen von gesunden und
sich die Betroffenen nur noch in torkelnder Art und kranken Menschen immer im Zusammenhang mit
Weise fortbewegen können. Wird der Stand unsi- der Mimik und Gestik, mit der Körperhaltung, dem
cher, spricht man von der sog. Standataxie. Wenn Gang und letztlich auch mit der Stimme und Sprache
auch die Hände, die Finger und Füße nicht mehr ziel- zu beobachten. Alles zusammen betrachtet lässt viel-
gerichtet bewegt werden können, handelt es sich um fältige Aussagen auch über die Stimmung eines Men-
eine lokomotorische Ataxie. schen zu.

!
Stereotypie Merke: Es ist wichtig, sich bewusst zu wer-
Damit ist eine Bewegungsstereotypie gemeint, die den, dass ohne die Bewegungsfähigkeit keine
durch stets wiederholende, gleichförmige Bewegun- andere Aktivität des täglichen Lebens mög-
gen gekennzeichnet ist. Diese Bewegungen werden lich ist.
nur scheinbar ohne Sinn und Ziel wiederholt, sind für
die Betroffenen jedoch oft die einzige und letzte Die Ausführung der körperlichen Aktivitäten, wie
Möglichkeit, sich selbst zu erspüren bzw. sich in eine z. B. das Essen und Trinken, das Atmen, die Pflege des
vergangene Welt zurückzuziehen, in der ihr Leben Körpers usw., sind abhängig von einer intakten Be-
sinnerfüllt war. Beispielsweise kann das endlose wegung.
Streicheln der eigenen Hand ein Ausdruck für das Einerseits ziehen Störungen in der Aktivität „Be-
Halten und Liebkosen eines Babys sein. wegung“ demzufolge vielfältige Einschränkungen in
anderen Lebensbereichen nach sich, die bei der Be-
24.2.3 Störungen des Körperschemas obachtung mit zu berücksichtigen sind. Andererseits
Viele Erkrankungen, wie z. B. die Hemiplegie, die wirken sich Störungen in anderen Beobachtungsbe-
Anorexia nervosa aber auch einschneidende Erleb- reichen, wie z. B. Schmerzen oder Bewusstseins-
nisse, wie die Erfahrung sexueller Gewalt oder die trübungen, immer auch auf die Bewegungen eines
Amputation von Gliedmaßen, können zu vorüberge- Menschen aus.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 405


KaelDesu
24 Bewegungen

In der weiteren Bewegungsentwicklung lernt das


24.4 Besonderheiten bei Kindern Kind, sich durch Drehen-Strecken und Drehen-Beu-
Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm gen von Körperteilen aus der Rückenlage in die
Bauchlage zu bringen, und unter Zuhilfenahme der
Die statomotorische Entwicklung vom Neugebore- Ellenbogen stützt es sich stabil ab. Der Kopf wird um
nen bis zum erwachsenen Menschen ist abhängig 90⬚ angehoben und die Hände werden frei beweg-
von der Reifung des Zentralen Nervensystems in Ab- lich.
hängigkeit vom genetisch festgelegten Entwick- Bis zum 5. Monat erkennt das Kind, dass es 2 Sei-
lungsmuster. Sie wird beeinflusst von der seelisch- ten hat (Körperschema). Es lernt oben und unten
24 geistigen und sozialen Entwicklung des Kindes und kennen, die Füße werden angefasst und in den Mund
ist somit umwelt- und situationsabhängig. Bereits in gesteckt. Das Kind hilft beim Hochziehen mit, und es
der 7. Schwangerschaftswoche sind erste fetale Be- hat eine gute Kopfkontrolle, d. h. Kopf und Rumpf
wegungen sonografisch nachweisbar, die sich im sind in Mittelstellung ausgeglichen. Es geht aus einer
Verlauf der Schwangerschaft zu einem komplexen asymmetrischen Haltung in eine symmetrische Hal-
Bewegungsmuster steigern. tung über. Das Kind ist stabiler geworden, es ver-
Der Fetus kann saugen, schlucken, greifen und sucht, sich entgegen der Schwerkraft zu bewegen.
sich strecken. Er kann Bewegungen isoliert, aber Im 6. Monat dreht sich das Kind über beide Seiten
auch komplex unter Beteiligung des gesamten Kör- vom Rücken auf den Bauch oder von der Bauch- in die
pers, ausführen und stellt sich auf die Bewegungen Rückenlage und es sitzt für kurze Zeit frei mit Unter-
der Mutter ein, indem er versucht, Lageveränderun- stützung der Arme nach vorne. Der Säugling favori-
gen auszugleichen. siert jetzt die Bauchlage, die es ihm für wenige Se-
Die Mütter nehmen die ersten Kindsbewegungen kunden ermöglicht, mit einer Hand nach einem Ge-
zwischen der 16. – 29. Schwangerschaftswoche wahr. genstand zu greifen und sich dabei mit der anderen
Ein Fetus ist motorisch über 3,5 Stunden pro Tag ak- Hand abzustützen.
tiv, besonders am späten Abend und frühen Morgen. Des Weiteren kann er die Beine zur Aufrichtung
Die Bewegungen im Uterus werden jedoch auch von unter den Bauch ziehen und im Fersensitz sitzen, fällt
den Bewegungen der Mutter beeinflusst. dabei jedoch häufig in die Bauchlage zurück. Das Kind
Die Aktivität des Fetus nimmt bis zum Ende der lernt, in bestimmter Weise in der Umgebung zu inter-
Schwangerschaft eher noch zu. Sie gibt u. a. Hin- agieren, sich zu orientieren und Kopf, Brustkorb und
weise über die normale motorische Entwicklung des Arme gegen die Schwerkraft in Beziehung zu halten.
Kindes. Neurologische Fehlbildungen oder im Über das Rollen von der Rücken- in die Bauchlage be-
Wachstum gestörte Kinder zeigen u. a. monotone ginnt das Kind zu robben, im weiteren Verlauf zu
Bewegungsmuster. Motorisch inaktive Feten (inner- krabbeln, d. h. es läuft auf Händen und Füßen.
halb der Beobachtungszeit von 2 Std. nur 3 Bewe- Ab dem 8. Lebensmonat kommt das Kind zum
gungen) oder motorisch überaktive Feten (inner- Vierfüßlerstand, und über die Seitenverlagerung
halb der Beobachtungszeit 1 Std. ⬎ 40 Bewegungen zum selbstständigen Sitzen (s. a. S. 449).
über 14 Tage) lassen mögliche Störungen der neuro- Ab dem 9. Monat sitzt das Kind stabil, es dreht
muskulären Entwicklung bereits intrauterin erken- sich auf dem Gesäß um die eigene Achse.
nen. Abb. 24.3 a – f zeigt die beschriebenen Bewegungen
Das ungeborene Kind nimmt im Mutterleib seine in der Übersicht. Bieten sich Gegenstände wie z. B.
natürlichen Begrenzungen wahr. Nach der Geburt Möbelstücke an, zieht es sich aus der Hocke zum
kommt es mit einer hohen Bewegungsfähigkeit in ei- Stand hoch. Der Säugling ist jetzt in ständiger Bewe-
ne Umgebung ohne Begrenzungen und lernt nun, gung. Er bewegt sich robbend oder krabbelnd vor-
sich mit der Einwirkung der Schwerkraft auseinan- wärts und rückwärts.
derzusetzen. Zwischen dem 10. und 12. Monat schaukelt das
Ein gesundes Neugeborenes liegt zunächst in Kind auf allen Vieren, ohne dabei umzufallen, geht an
Beugehaltung in Rücken- sowie in Bauchlage. Bei der Möbeln entlang und/oder geht mit Unterstützung an
Aufstellung mit Halten unter der Achsel belastet das einer Hand. So lernt es, sich zum Stand emporzuzie-
Neugeborene kurzfristig die Beine ohne Gewichts- hen, die Treppen hinaufzukrabbeln und alleine zu
übernahme, um dann mit gebeugten Knien in sich stehen. Die Bewegungsstufen werden besser und die
zusammenzufallen. aufrechte Position immer stabiler.

406 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
24.4 Besonderheiten bei Kindern

!
Merke: Die körperliche Entwicklung eines
Kindes ist immer in Abhängigkeit von der
geistigen Entwicklung zu sehen. Bewegungs-
freude und Lernbereitschaft sollten durch unterschied-
a b liche Elementarübungen und Lerngelegenheiten geför-
dert werden. Dabei sollte der Spaß an der Bewegung im
Vordergrund stehen.

24.4.1 Abweichungen und Veränderungen der


24
Bewegung und deren mögliche Ursache
c d Störungen des Nervensystems
Gestörte Bewegungskoordination
Frühgeborenen, die vor der 34. Schwangerschafts-
woche geboren werden, fehlt die Entwicklung der
starken intrauterinen Beugung von Kopf, Armen und
Rumpf. So ist die Streckung der Extremitäten, be-
günstigt durch Einwirkung der Schwerkraft, sehr
e stark ausgeprägt. Die Kinder zeigen die typische
„Froschhaltung“. Die Bewegungen sind meist ruckar-

Abb. 24.3 a – f Entwicklungsgemäße Bewegungen beim Säug-


ling a Beugehaltung in Bauchlage b Bauchlage mit stabiler Kopf-
haltung c Hochziehen d freies Sitzen mit Unterstützung der Arme
nach vorne e Vierfüßlerstand f stabiler Sitz und Gesäßdrehung

Bis zum 12. Monat ist die kindliche Skelettmusku-


latur den Verhältnissen bei Erwachsenen vergleich-
bar. Das Kind geht jetzt an einer Hand, macht unsi-
chere Schritte allein und lernt nach und nach das
freie Laufen. Die einzelnen Entwicklungsschritte bei
der Entwicklung der Fortbewegung werden in
Abb. 27.3 aufgezeigt.
Das 1. Lebensjahr ist durch eine rasche Entwick-
lung geprägt. In der weiteren Entwicklung werden
koordinierte, den Bedürfnissen angepasste Bewe-
gungsmuster entwickelt. Nur durch ein hohes Maß
an Aktivität, d. h. je mehr ein Kind die Möglichkeit
zur Bewegung hat, ist es in der Lage, seine Umwelt zu
erschIießen und bildet sich somit eine Grundlage,
um komplizierte und komplexe Bewegungsabläufe
wie Klettern, Turnen, Balancieren, Werfen, Fangen Abb. 24.4 Froschhaltung durch herabgesetzte Muskelspannung
etc. zu erlernen.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 407


KaelDesu
24 Bewegungen

tig, ausfahrend und mehrere Extremitäten werden nale Erregungszustände, plötzliche laute Geräusche
gleichzeitig bewegt. Dieses Bewegungsmuster muss und Hektik.
von Zittern oder Krämpfen abgegrenzt werden. Letz-
teres entsteht u. a. aufgrund einer Hirnblutung (ge- Verminderte Beweglichkeit
fürchtete Komplikation bei Frühgeborenen), und es Die progressive spinale Muskelatrophie, autosomal-
ist deshalb wichtig, dieses Bewegungsmuster sehr rezessiv vererbt, wird nach ihrem Entdecker auch
differenziert zu betrachten und zu bewerten. Werdnig-Hoffmann-Muskelatrophie genannt. Durch
Eine Störung des koordinierten Zusammenwir- die herabgesetzte Muskelspannung liegt das Kind
kens von Muskelgruppen (Ataxie) äußert sich in der meistens in Froschhaltung im Bett und ist inaktiv. Zu
24 Unfähigkeit des Kindes, zielgerichtete Bewegungen beobachten sind Saug-, Schluck- und Atemstörungen
auszuführen. Der Ablauf ist nicht flüssig, hinzu (Abb. 24.4). Gelegentlich zeigt sich ein Tremor der
kommt ein Muskelzittern. Dieses kann vorkommen Finger und Hände.
bei Kleinhirntumoren, Hirnschädigungen durch Eine Erkrankung, die nur bei Jungen auftritt, ist
Hypoxie, Traumen, Blutungen oder bei Stoffwechsel- die X-chromosomal rezessiv vererbte Muskeldystro-
störungen respektive Vergiftungen. phie, die nach ihrem Entdecker Duchenne benannt
Eine Fehlkoordination von Bewegung und Hal- wird. Sie tritt meistens zwischen dem 2. – 5. Lebens-
tung bei erhöhtem Muskeltonus, wird als Spastik be- jahr auf, und zeigt sich in einem verzögerten Laufen-
zeichnet. Sie tritt in Beuge- und Streckmustern auf. lernen, in einem unsicheren Watschelgang, Schwie-
Normale Gleichgewichtsreaktionen sind nicht mög- rigkeiten beim Aufstehen und Treppensteigen und in
lich. Verstärkend wirken u. a. Faktoren wie emotio- einer Hyperlordosierung der LWS.

a b

Dornfortsatz Medullarpla
harte Rückenmarks- weiche Rückenmarks-
haut (Dura mater) haut (Pia mater) Haut
Wirbelbogen
Dura
Haut
Nerven-
wurz

Zwischen- Seitenansicht
wirbelloch

Rückenmark Liquor
Wirbelkörper cerebo-
Meningomyelozele spinalis

Haut
dorsale Rückenmarks-
Wirbelspalte häute Dura
Liquor
cerebo-
spinalis

Seitenansicht

Rücken-
Meningozele mark

Abb. 24.5 a u. b Spina bifida

408 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
24.5 Besonderheiten bei älteren Menschen

Lähmungen
Angeborene Ouerschnittslähmungen gibt es z. B. bei
24.5 Besonderheiten bei älteren
Spina bifida, einer Hemmungsmissbildung der Wir- Menschen
belsäule. Hierbei können ein oder mehrere Wirbel- Marion Weichler-Oelschlägel
körper, meistens im Lumbo- oder Sakralbereich, ge-
spalten sein. Diese Fehlbildung kann offen oder ge- Im fortgeschrittenen Lebensalter nehmen bei den
deckt sein. Je nach Beteiligung der Meningen und meisten Menschen die Fähigkeiten der ungehinder-
Ausmaß der Fehlbildung kommt es zu einer kom- ten Bewegung und auch die Bewegungsfreudigkeit
pletten oder inkompletten Querschnittslähmung ab. Dies liegt an einer generellen Abnahme der kör-
(Abb. 24.5). Zeichen sind die Blasen- und Darmläh- perlichen Belastbarkeit und einem schnelleren Errei-
24
mung, Sensibilitätsstörungen und eine schlaffe Pare- chen eines Erschöpfungszustands. Es kommt zu ei-
se. ner Abnahme der Muskelmasse bei 60-Jährigen bis
Das Muskelungleichgewicht führt während des zu 20%, bei 70-Jährigen bis zu 30%, was zur Abnahme
Wachstums zu Deformationen und Kontrakturen. Ei- der Muskelkraft und Ausdauer führt.
ne Infektion der motorischen Vorderhornzellen Bei einer großen Anzahl älterer und alter Men-
durch Enteroviren führt zum Untergang dieser Zellen schen zeigen sich akute und chronische Entzündun-
und somit zur Kinderlähmung (Poliomyelitis). Die gen oder auch Abnutzungserscheinungen in den Ge-
Ansteckung erfolgt über Tröpfcheninfektion von lenken. Dies führt zu Schmerzen, die ihrerseits die
Mensch zu Mensch. Nach grippeähnlichen Be- Bewegungsmöglichkeiten einschränken. In schwe-
schwerden kommt es zu einer schlaffen Lähmung ren Fällen kann es zu der Ausbildung von Kontraktu-
der am häufigsten betroffenen unteren Extremitä- ren (Gelenkfehlstellungen) kommen, die dauerhaft
ten. Bei schwerem Verlauf besteht aufgrund der Be- zu einer massiven Einschränkung oder zum Verlust
einträchtigung der Atemhilfsmuskulatur und Befall der Beweglichkeit führen. Knie- und Hüftgelenkver-
des Zwerchfells die Gefahr der Atemlähmung. steifungen sind häufig eine Folge von Arthrosen. Zur
Verformung von Händen und Füßen mit Muskula-
Störungen des Bewegungssystems turschwund kommt es durch Arthritis.
Periphere Störungen der Muskeln, Sehnen und Alte Menschen, die unter seniler Demenz leiden,
Gelenke zeigen oft stereotype Bewegungen: sie machen mit
Zu den angeborenen Störungen des Bewegungssys- dem Kopf und dem Oberkörper immer wiederkeh-
tems gehören Fußfehlstellungen, Hüftgelenksdys- rende, stereotype Bewegungen, nesteln an ihrer Klei-
plasien (s. a. S. 449) und Erkrankungen der Wirbel- dung oder schneiden Grimassen. Oft besteht das Be-
säule (s. a. S. 400). Die Einschränkung der Beweglich- wegungspotenzial älterer Menschen im Endstadium
keit ist immer abhängig von der Schwere der Erkran- der Demenz nur noch aus diesen stereotypen Bewe-
kung. Erworbene Einschränkungen der Beweglich- gungen, was häufig zu Komplikationen wie z. B. Kon-
keit können durch Verletzungen der Muskeln, Seh- trakturen führt. Bewegungsstörungen können auch
nen, Gelenke und Knochen hervorgerufen werden. durch die Gabe von Medikamenten, v. a. von Neuro-
Sie betreffen meistens nur einzelne Elemente des leptika, auftreten.
Körpers und die Einschränkung der Beweglichkeit ist Neurologische Erkrankungen, wie z. B. ein apo-
bei gutem Verlauf nur vorübergehend. plektischer Insult, Morbus Parkinson oder die Multi-
Bei Autoimmunerkrankungen wie der Monoar- ple Sklerose, sind ebenfalls häufige Ursachen für Be-
thritis oder Polyarthritis können ebenfalls Gelenke, wegungsstörungen älterer Menschen. Alle Bewe-
Knochen, Sehnen und Bänder betroffen sein. Sie füh- gungsstörungen führen zu Gang- und Standunsi-
ren zu Schmerzen eines oder mehrerer Gelenke, die cherheiten und erhöhen das Sturzrisiko.
den Bewegungsdrang der Betroffenen stark ein-
schränken und aufgrund der Schmerzen häufig zu Zusammenfassung:
Schonhaltungen der betroffenen Gelenke führen. Ergänzende Beobachtungskriterien sowie
Besonderheiten bei Kindern und älteren Menschen
Störungen der Koordination und Zielgerichtetheit
äußern sich als Hypermetrie, Hypometrie, Ataxie
oder Stereotypie.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 409


KaelDesu
24 Bewegungen

Störungen des Körperschemas können bspw. durch In diesem Fall könnte die folgende Pflegediagnose
Erfahrungen sexueller Gewalt oder Amputation von zutreffen:
Gliedmaßen entstehen.
Auch bei Kindern gibt es, gemessen an ihrem Ent-
wicklungsstand, Störungen der Bewegungskoordi- Selbstversorgungsdefizit Körperpflege (P)
nation, verminderte Beweglichkeit (z. B. Werdnig- (Gordon 2013, S. 286 – 287, NANDA-I 2016)
Hoffmann-Muskelatrophie) und Lähmungen (z. B. Bathing Self-Care Deficit (00108) (1980, 1998)
Spina bifida, Kinderlähmung) bzw. periphere Stö- Taxonomie II: Domäne 4: Aktivität/Ruhe,
rungen der Muskeln, Sehnen und Gelenke. Klasse 5: Aktivität/Bewegung
24 Bewegungsstörungen im Alter treten vor allem Diagnosetyp (Dokumentationsform): aktuelle Pflege-
durch Abnahme der Bewegungsfreudigkeit, Abnut- diagnose (PES)
zungserscheinungen, Arthritis und neurologische Funktionelles Gesundheitsverhaltensmuster:
Erkrankungen auf. Aktivität und Bewegung

Definition
24.6 Fallstudien und mögliche Beeinträchtigte Fähigkeit, Aktiviäten des Waschens/der
Körperhygiene selbständig auszuführen oder abzu-
Pflegediagnosen schließen

Störungen der Beweglichkeit können, insbesondere Einflussfaktoren (E)


wenn sie aufgrund von Erkrankungen des Skelettsys- (verminderte Aktivitätstoleranz, Kraft und/oder Aus-
tems entstehen, mit starken Schmerzen einherge- dauer)
hen. Unabhängig von der jeweils zugrunde liegenden Schmerz(en oder Beschwerden)
Erkrankung führen sie je nach Ausprägung und (nicht kompensierte) Beeinträchtigung der Wahr-
nehmung (zu spezifizieren)
Schweregrad in nahezu allen Fällen zu einer Ein-
(nicht kompensierte) kognitive Beeinträchtigung (zu
schränkung der Selbstständigkeit der Betroffenen.
spezifizieren)
(nicht kompensierte) neuromuskuläre Beeinträchti-
Beispiel: Frau Behrens ist 52 Jahre alt und
gung (zu spezifizieren)
leidet unter der Erkrankung Multiple Sklero-
(nicht kompensierte) muskuloskelettale Beeinträch-
se im fortgeschrittenen Stadium. Sie lebt mit
tigung (zu spezifizieren)
ihrer Tochter zusammen, die sich rührend um ihre
ausgeprägte Angst
Mutter kümmert. Gang- und Standataxien sind bei (Depression)
Frau Behrens sehr ausgeprägt, sodass sie schon seit Hindernisse in der Umgebung
mehreren Monaten auf Unterstützung beim Gehen und reduzierte Motivation
Stehen angewiesen ist. Auch fällt es ihr immer schwe- Unfähigkeit, einzelne Körperteile wahrzunehmen
rer, ihre Hände und Finger zielgerichtet zu bewegen. Unfähigkeit, räumliche Verhältnisse wahrzunehmen
Frau Behrens kann ihre Körperpflege nicht mehr selbst- Schwäche
ständig durchführen. Vor wenigen Tagen hat sie sich ei-
Kennzeichen oder Symptome (S)
ne Lungenentzündung zugezogen, ihr Hausarzt weist
Unfähigkeit, den Körper (oder Teile des Körpers) zu wa-
sie deshalb in das Krankenhaus ein. Durch die Lungen-
schen (und eines oder mehrere der folgenden:)
entzündung fühlt sich Frau Behrens schlapp und ermü-
Unfähigkeit, an die Wasserquelle zu gelangen
det. Tab. 24.2 zeigt einen Auszug aus dem Pflegeplan
(Wasser zu bekommen)
von Frau Behrens.
Unfähigkeit, das Bad (die Wasserquelle [Wanne,
Dusche, Waschbecken]) zu erreichen
Unfähigkeit, das Waschwasser (Wassertemperatur
oder -fluss) zu regulieren
Unfähigkeit, den Körper abzutrocknen
Unfähigkeit, an Waschutensilien zu gelangen

410 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
24.6 Fallstudien und mögliche Pflegediagnosen

Tab. 24.2 Auszug aus dem Pflegeplan von Frau Behrens

Pflegeproblem Ressource Pflegeziele Pflegemaßnahmen

Frau Behrens ist aufgrund Frau Behrens kann ihre Be- NZ: 쐌 1 ⫻ tägl. 8.00 Uhr Hilfestellung bei der
der Multiplen Sklerose und dürfnisse hinsichtlich der 쐌 Frau Behrens fühlt sich Körperpflege im Bett oder im Sitzen am
der Pneumonie in ihrer Be- Körperpflege verbalisieren wohl und erfrischt Waschbecken (je nach Befinden von Frau
wegungsfähigkeit einge- und möchte so gut mithel- 쐌 Frau Behrens behält eine Behrens)
schränkt, sie kann ihre Kör- fen, wie es ihr aktueller Zu- intakte, geschmeidige 쐌 eigene Körperpflegeutensilien bereitstel-
perpflege nicht selbststän- stand erlaubt Haut len bzw. verwenden
dig durchführen 쐌 Frau Behrens bei der Körperpflege so viel
wie möglich selbst durchführen lassen 24

Empfohlene Klassifikation des Funktionsniveaus a/ d (angezeigt durch)


Grad I: benötigt Vorrichtung oder Hilfsmittel Unfähigkeit, sich ganz oder teilweise zu waschen,
Grad II: benötigt zur Unterstützung, Überwachung Unfähigkeit, das Bad zu erreichen,
und Anleitung Hilfe durch eine oder mehrere Unfähigkeit, das Waschwasser zu regulieren.
andere Personen
Grad III: benötigt Hilfe durch andere Personen und Beispiel: Robert, 3 Jahre alt, ist ein sehr be-
Vorrichtungen oder Hilfsmittel wegungsfreudiges Kind. Am liebsten spielt er
Grad IV: abhängig; beteiligt sich nicht an der Selbst- draußen auf dem Spielplatz. Bei schlechtem
versorgung Wetter jedoch ersetzt er das Klettergerüst durch sein
Pflegeergebnisse (Outcomes) Hochbett. Trotz Ermahnungen seiner Eltern springt er
Selbstversorgung: Waschen (Self-Care: Bathing) in einem unbeaufsichtigten Moment von seinem Hoch-
Wäscht den eigenen Körper unabhängig mit oder bett und verletzt sich am Oberschenkel. Mit Verdacht
ohne Hilfsmittel (spezifiziere zu erreichenden Grad) einer Oberschenkelfraktur rechts wird Robert in die
Selbstversorgung: Hygiene (Self-Care: Hygiene) kinderchirurgische Ambulanz eingeliefert. Seine Mut-
Wahrt die persönliche Reinlichkeit und äußere Er- ter begleitet ihn. Die Diagnose „Fraktur“ wird durch
scheinung unabhängig mit oder ohne Hilfsmittel mehrere Röntgenaufnahmen gesichert. Nach einem
(spezifiziere zu erreichenden Grad) ausführlichen Informationsgespräch zwischen dem
Arzt und den Eltern wird eine Extensionsbehandlung
durch Anlegen einer Overheadextension durchgeführt.
Für Frau Behrens könnte die Pflegediagnose formu- Für Robert bedeutet dies eine starke Einschränkung
liert werden: seiner Bewegungsfreiheit und Beschäftigungsmöglich-
Selbstversorgungsdefizit: Körperpflege Grad III keit. Er hat Angst und Schmerzen und möchte nicht im
b/d (beeinflusst durch) nicht kompensierte neuro- Krankenhaus bleiben.
muskuläre Beeinträchtigung infolge Multipler Skle-
rose

Tab. 24.3 Auszug aus dem Pflegeplan von Robert

Pflegeprobleme Ressourcen Pflegeziel Pflegemaßnahmen

Robert leidet unter der Ein- 쐌 Die Mutter kann bei Ro- 쐌 Robert fühlt sich nicht al- 쐌 Roberts Mutter und anderen Besuchern
schränkung seiner Bewe- bert im Krankenhaus blei- leine, hat keine Lange- großzügige Besuchszeiten ermöglichen
gungs- und Beschäftigungs- ben weile und kann sich sinn- 쐌 spezielles Spielbrett am Bett anbringen,
möglichkeit aufgrund der 쐌 Robert verfügt über freie voll beschäftigen damit Basteln und Spielen möglich sind
Overheadextension Bewegungsmöglichkeit 쐌 in Absprache mit Roberts Mutter Be-
seines Oberkörpers schäftigung durch den Ergotherapeuten
anbieten
쐌 Robert in einem Zimmer unterbringen, in
dem Kinder sind, mit denen er spielen
kann

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 411


KaelDesu
24 Bewegungen

Für diesen Fall trifft die Pflegediagnose zu, die in der


Empfohlene Klassifikation des Funktionsniveaus:
folgenden Übersicht dargestellt ist:
Grad I: benötigt Vorrichtungen oder Hilfsmittel
Grad II: benötigt zur Unterstützung, Überwachung
und Anleitung Hilfe durch eine oder mehrere
Beeinträchtigte Mobilität im Bett (P) andere Personen
(Gordon 2013, S. 271 – 272, NANDA-I 2016) Grad III: benötigt Hilfe durch andere Personen und
Impaired bed mobility (00091) (1998, 2006, LOE 2.1) Vorrichtungen oder Hilfsmittel
Taxonomie II: Domäne 4: Aktivität/Ruhe, Grad IV: abhängig; beteiligt sich nicht an der Bewe-
Klasse 2: Aktivität/Bewegung gung
24
Diagnosetyp (Dokumentationsform): aktuelle Pflege-
Pflegeergebnis (Outcome)
diagnose (PES)
Körperposition: Selbstinitiiert
Funktionelles Gesundheitsverhaltensmuster:
(Body Positioning: Self-Initiated)
Aktivität und Bewegung
Die Fähigkeit, die Lage des eigenen Körpers unab-
Definition hängig mit oder ohne Hilfsmittel zu verändern (spe-
Einschränkung der unabhängigen Positionsverände- zifiziere zu erreichenden Grad)
rung im Bett
Risikogruppen
Einflussfaktoren (E) Personen . . .
kognitive Beeinträchtigung mit einer Lähmung
Konditionsabbau bei Schwäche
fehlendes Wissen im Koma
umgebungsbedingte Einschränkungen (d. h. Bett- mit ausgeprägter Schwäche
größe, Bettenart, Behandlungsgeräte, freiheitsbe- mit ausgeprägter Adipositas
schränkende Maßnahmen)
ungenügende Muskelkraft
muskuloskelettale Beeinträchtigung Für Robert könnte die Pflegediagnose lauten:
neuromuskuläre Beeinträchtigung Beeinträchtigte Mobilität im Bett Grad II
Adipositas b/d (beeinflusst durch) umgebungsbedingte Ein-
Schmerzen schränkungen (Overheadextension)
Sedativa a/d (angezeigt durch)
Kennzeichen oder Symptome (S) Beeinträchtigte Fähigkeit, sich von einer zur an-
Hauptkennzeichen deren Seite zu drehen,
(Eines oder mehrere der folgenden:) Beeinträchtigte Fähigkeit, seine Position im Bett
beeinträchtigte Fähigkeit, sich von einer zur anderen zu verändern.
Seite zu drehen
beeinträchtigte Fähigkeit, sich aus der Rückenlage in Fazit: Die Fähigkeit, sich ohne Beeinträchti-
die Sitzposition zu bringen gungen harmonisch und in physiologischer
beeinträchtigte Fähigkeit, sich aus der Sitzposition in Weise schmerzfrei bewegen zu können, hat
die Rückenlage zu bringen elementare und existenzielle Bedeutung für das Wohl-
beeinträchtigte Fähigkeit, seine Position im Bett zu befinden und den Erhalt der Selbstständigkeit eines
verändern Menschen.
beeinträchtigte Fähigkeit, sich aus der Rückenlage in Störungen der Beweglichkeit beeinflussen nahezu
die Bauchlage zu bringen alle weiteren Bereiche des täglichen Lebens. In Abhän-
beeinträchtigte Fähigkeit, sich aus der Bauchlage in gigkeit von der jeweiligen Ursache können sie mit
die Rückenlage zu bringen Schmerzen einhergehen.
beeinträchtigte Fähigkeit, sich aus der Rückenlage in Neben Störungen der Beweglichkeit lassen sich Stö-
die Sitzposition mit gestreckten Beinen zu bringen
rungen der Koordination und Zielgerichtetheit der Be-
beeinträchtigte Fähigkeit, sich aus der Sitzposition
wegungen sowie Störungen des Körperschemas beob-
mit gestreckten Beinen in die Rückenlage zu bringen
achten. Bei älteren Menschen führen Störungen der Be-
wegungen zu einem erhöhten Sturzrisiko.

412 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
Literatur

Illing, S., M. Claßen (Hrsg.): Klinikleitfaden Pädiatrie. 9. Aufl.


Urban & Schwarzenberg, München 2014
Köther, I.: Altenpflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2016
Literatur:
NANDA International: Pflegediagnosen. Definitionen und
Klassifikation 2015 – 2017. Herdman, T. H., S. Kamitsuru
Baumann, T.: Atlas der Entwicklungsdiagnostik: Vorsorgeun-
(Hrsg.): RECOM, Kassel 2016
tersuchungen von U1 bis U10/J1. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart
Paetz, B.: Chirurgie für Pflegeberufe. 22. Aufl. Thieme, Stuttgart
2015
2013
Fischer, K., H. Sobottka, D. Faas (Hrsg.): Klinikleitfaden Kinder-
Pschyrembel Klinisches Wörterbuch. 264. Aufl. de Gruyter,
krankenpflege. 4. Aufl. Urban & Fischer, München 2009
Berlin 2014
Füsgen, I. (Hrsg.): Der ältere Patient. Problemorientierte Diag-
nostik und Therapie. 3. Aufl. Urban & Fischer, München
Roper, N., W. W. Logan, A. J. Tierney: Das Roper-Logan-Tierney- 24
Modell. 3. Aufl. Hogrefe, Bern 2016
2000
Schewior-Popp, S., F. Sitzmann, l. Ullrich (Hrsg.): Thiemes Pfle-
Gordon, M.: Handbuch Pflegediagnosen. 5. Aufl. Hans Huber,
ge. 13. Aufl. Thieme, Stuttgart 2017
Hogrefe AG, Bern 2013
von Schweinitz, D., B. Ure: Kinderchirurgie. Viszerale und all-
Hoehl, M., P. Kullick (Hrsg.): Gesundheits- und Kinderkranken-
gemeine Chirurgie des Kindheitsalters. 2. Aufl. Springer,
pflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012
Heidelberg 2013

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 413


KaelDesu

25 Mimik und Gestik


Marion Weichler-Oelschlägel

Übersicht
Einleitung · 414
25.1 Allgemeine Beobachtungskriterien und
Beschreibung des Normalzustands · 414
25.2 Abweichungen und Veränderungen der
Mimik und Gestik und deren mögliche
25 Ursachen · 418
25.2.1 Abweichungen und Veränderungen
der Mimik · 418
25.2.2 Abweichungen und Veränderungen
der Gestik · 421
25.3 Ergänzende Beobachtungskriterien · 421
25.4 Besonderheiten bei Kindern · 421
Auch eine Reihe von Erkrankungen können spezi-
25.4.1 Mimikveränderungen bei Kindern · 422
fische Veränderungen von Mimik und Gestik mit sich
25.4.2 Gestikveränderungen bei Kindern · 423
bringen. Beides kann zu Fehleinschätzungen und
25.5 Besonderheiten bei älteren
Störungen im Rahmen der (nonverbalen) Kommuni-
Menschen · 423
kation führen. Die Beobachtung und die Interpretati-
25.6 Fallstudien und mögliche
on von Gesichtsausdruck und Gestik erfordern viel
Pflegediagnosen · 424
Übung und Erfahrung sowie eine aufmerksame Hal-
Fazit · 427
tung gegenüber dem anderen Menschen.
Literatur · 427

Schlüsselbegriff: 25.1 Allgemeine


왘 Ausdrucksbewegung Beobachtungskriterien
und Beschreibung des
Normalzustands
Einleitung
Mimik und Gestik, als nonverbale Ausdrucksmög-
Mimik und Gestik sind wichtige Elemente der Kör- lichkeiten vermögen oft mehr zu beschreiben, als
persprache und haben wesentlichen Anteil an der das, was verbal ausgesagt wird.
nonverbalen Kommunikation. So kann beispiels-
weise an dem Mienenspiel eines Menschen seine Definition: Unter der Mimik wird der Gesichts-
momentane emotionale Befindlichkeit abgelesen ausdruck eines Menschen verstanden. Sie wird
werden. Oftmals stellt der Gesichtsausdruck ein auch als „Spiegel der menschlichen Seele“ be-
Spiegelbild unseres Inneren dar. zeichnet.
Ebenso aussagekräftig ist die Gestik, die als Aus-
drucksbewegung unsere Worte begleitet und unter- Das Gesicht gilt als einer der wichtigsten Bezugs-
stützt. Mimik und Gestik tragen entscheidend dazu punkte im Rahmen der zwischenmenschlichen
bei, die Bedürfnisse und die Stimmungslage unseres Kommunikation. Über unser Gesicht senden wir un-
Gegenübers zu erkennen und unterstützen das ge- zählige Signale aus und die Mimik ist, mit Ausnahme
zielte Eingehen auf den anderen Menschen. Bei der der Menschenaffen, einzig dem Menschen vorbehal-
Interpretation der Ausdrucksbewegungen muss je- ten. Wie vielfältig die mimischen Ausdrucksmög-
doch berücksichtigt werden, dass sie kulturspezi- lichkeiten sind, wird durch folgende Auflistung deut-
fisch geprägt sind. lich.

414 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
25.1 Allgemeine Beobachtungskriterien und Beschreibung des Normalzustands

Beispiele für Beschreibungen des Gesichtsausdrucks

A enttäuscht herablassend N unfreundlich


ablehnend erfreut herausfordernd nachdenklich ungläubig
abschätzend erholt herzlich nervös unnatürlich
abwägend ernst hilflos nett unruhig
abwartend erschöpft hinterlistig neugierig unsicher
abwehrend erschreckt hochmütig niedergeschlagen unzufrieden
abweisend erschrocken hochnäsig
abwesend erstaunt hoffend O V
ängstlich erwartungsvoll offen väterlich
25
ärgerlich I verbissen
aggressiv F in sich gekehrt P verbittert
angespannt faltig interessiert pessimistisch verhalten
angewidert fiebrig ironisch pfiffig verheult
apathisch fordernd prüfend verklärt
aufdringlich fragend K verkniffen
aufgeregt frech kachektisch R verkrampft
aufmerksam freudig kalt ratlos verlebt
ausgeglichen freundlich klar verlegen
frisch konzentriert S verletzt
B fröhlich kritisch satt verliebt
bedrückt froh schmerzverzerrt verschlafen
begeistert L schmunzelnd verschlossen
besorgt G lachend schnippisch verschnupft
bewegt gebrochen lächelnd schockiert verschreckt
bittend gedankenversunken lebendig schüchtern verschwollen
beschämt gehässig lebhaft selbstbewusst verspannt
geistesabwesend leer skeptisch versteinert
C gelangweilt leidend sonnig verstört
charmant gelöst lethargisch sorgenvoll verträumt
cool gequält leuchtend starr vertraut
gereizt liebevoll staunend verwirrt
D gespannt lustig strafend verzweifelt
dankbar gestresst lustlos strahlend
demütig gleichgültig streng W
deprimiert glücklich M stur wächsern
desinteressiert grantig maskenhaft wahnhaft
drohend grimmig melancholisch T weinerlich
grinsend mild teilnahmslos wütend
E grübelnd missmutig traurig
eingefallen mitleidig Z
empört H müde U zerfallen
entschlossen hämisch mürrisch übernächtigt zornig
entsetzt hart mütterlich überrascht zufrieden
entspannt heiter überspannt zuversichtlich
entstellt hektisch unbeweglich zweifelnd

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 415


KaelDesu
25 Mimik und Gestik

Definition: Unter der Gestik werden die Bewe- In Fällen, in denen die verbale Verständigung
gungen des menschlichen Körpers, insbesondere nicht möglich aber zwingend notwendig ist, haben
der Arme, verstanden. sich sog. Zeichensprachen entwickelt. Beispiele hier-
für sind die Gebärdensprache gehörloser Menschen
Die Gestik ist stets verbunden mit der Mimik und den oder auch die speziellen Signalsprachen bestimmter
Gebärden eines Menschen, d. h., beim Gesunden las- Berufsgruppen, wie etwa die Fluglotsen.
sen sich diese 3 Ausdrucksmöglichkeiten kaum von- Gestik und Mimik unterstreichen oder ersetzen
einander trennen. Die Gestik und die Gebärden wer- das gesprochene Wort, sie können ihm ein besonde-
den hierbei als die Mimik unterstützende Ausdrucks- res Gewicht geben, seinen Sinn verändern oder es
bewegungen betrachtet. Bei der Gestik werden abwerten.
Wortsinn und Intensität durch Bewegungen der Ext- Interessanterweise besitzen alle Menschen, un-
25 remitäten sowie durch bestimmte Körperhaltungen abhängig von ihrer Rasse, dieselben mimischen Aus-
bekräftigt. drucksbewegungen, um Emotionen wie Angst, Zorn,
Im Rahmen der Gestik können 3 Arten von Bewe- Trauer, Ärger, Schmerzen und Abkehr aber auch
gungen unterschieden werden: Überraschtsein, Freude, Zustimmung und Zuwen-
Embleme sind direkt in Worte übersetzbar, weil dung zu signalisieren. Daher wird vermutet, dass sie
sie für sich allein eine Bedeutung besitzen. Hierzu angeboren sind.
gehören Bewegungen wie das „Zunge-Heraus- Gleichwohl weist die Ausdifferenzierung der Ge-
strecken“ oder das Kopfschütteln. sichtsmuskulatur große Unterschiede zwischen den
Illustratoren bekräftigen bzw. verdeutlichen (il- einzelnen Rassen auf: so sind die Muskeln bei Chine-
lustrieren) das gesprochene Wort wie das Nase sen und Australiern gröber gebündelt als bei Europä-
rümpfen während ern (Abb. 25.1). Die Muskulatur der Gesichtsregion
Adaptoren unbewusste Handlungen bezeichnen, dient, neben anderen Aufgaben wie z. B. Kauen und
wie z. B. das Wippen mit den Zehen oder Spielen Sprechen, vor allem der Mimik, also der Kundgabe
mit dem Bleistift. und Darstellung der Stimmung und Affektlage ge-
genüber der Umwelt. Dies erfolgt durch eine be-
Die jeweilige Bedeutung von Emblemen und Illustra- stimmte und charakteristische Spannungsverteilung
toren ist kulturspezifisch. Das Herausstrecken der in den Gesichtsmuskeln. Erst die Gesichtsmuskula-
Zunge gilt in unserem Kulturkreis als grobe Beleidi- tur, die durch zahlreiche differenzierte Muskelzüge
gung. Während in Südchina auf diese Weise um Ent- gekennzeichnet ist, ermöglicht es uns, willkürlich
schuldigung gebeten wird, gilt das Zeigen der Zunge und unwillkürlich bestimmte Teile des Gesichts zu
in Tibet als Ausdruck der Ehrerbietung. bewegen und so über die dadurch entstehende Mi-

a b c

Abb. 25.1 Unterschiedliche Ausgestaltung der Gesichtsmuskulatur bei verschiedenen Populationen a Nordchinese b Australier
c Nordeuropäer (nach Eibl-Eibesfeldt)

416 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
25.1 Allgemeine Beobachtungskriterien und Beschreibung des Normalzustands

mik unterschiedliche Gemütsverfassungen oder Glaubwürdigkeit. Wer Schwierigkeiten hat, seinen


Hervorhebungen auszudrücken, die von dem Gegen- Gesprächspartnern direkt in die Augen zu sehen,
über beobachtbar sind (Abb. 25.2). wird eher als unsicherer und labiler Mensch einge-
Bis zu bestimmten Grenzen ist es Menschen mög- schätz. Der Blickkontakt zu anderen Menschen ist
lich, ihre Mimik einer willkürlichen Kontrolle zu un- umso intensiver, je sympathischer sich die Personen
terziehen, sie somit willentlich zu beherrschen und untereinander sind.
wahre Intentionen unsichtbar zu lassen. Dieser Vor- Man spricht von einer sog. Augensprache, die
gang wird als sog. Maskierung bezeichnet. durch den Kontakt zwischen dem Augenweiß und
Die Mimik eines Gesunden zeigt sich v. a. durch der Farbe der Iris ihre Betonung findet. Durch das Au-
folgende zu beobachtende Punkte: genweiß wird es möglich, jede Augenbewegung des
wache, lebendige und aufgeschlossene Gesichts- Gegenübers wahrzunehmen. Auch die Größe der Pu-
züge, pillen bzw. ihre Erweiterung oder Verengung ist bei 25
ein ruhiges bis lebhaftes und der Situation ange- bestimmten Gefühlslagen beobachtbar. Sind die
passtes Mienenspiel. emotionalen Einflüsse positiver Natur, wird eher ei-
ne Pupillenerweiterung zu beobachten sein, negati-
Eine ausgeprägte Wahrnehmungsfähigkeit gilt als ve Stimmungsauslöser führen dagegen zu einer Pu-
Grundvoraussetzung für die Beobachtung von Mi- pillenverengung.
mik und Gestik. Des Weiteren ist die Fähigkeit, das

!
Beobachtete exakt und ohne Interpretationen zu be- Merke: Der Gesichtsausdruck eines Men-
schreiben, unabdingbar wenn es zu keinen Fehlein- schen wird ganz wesentlich von den Augen
schätzungen kommen soll. beeinflusst.
Mimik und Gestik eines Menschen gehören zu den
subjektiven Beobachtungskriterien, deshalb muss Darüber hinaus kann auch das unmittelbare Umfeld
der gewonnene Eindruck auf seine Gültigkeit hin ge- unserer Augen im Rahmen der Augensprache wichti-
prüft werden, z. B. durch eine entsprechende Nach- ge Informationen über die Befindlichkeit der betref-
frage bei der betroffenen Person. fenden Person liefern; so kann sich die Lidspalte
Der zwischenmenschliche Blickkontakt und das ebenfalls erweitern oder verengen und die Augen-
Aushalten dieses Kontaktes zu dem Gegenüber wäh- brauen können durch Anhebung vielfältige Aussagen
rend eines Gesprächs vermitteln Authentizität und vermitteln.

Abb. 25.2 Schematische Darstellung der Auswirkungen der Kontraktionen der verschiedenen Gesichtsmuskeln (nach Eibl-Eibesfeld)

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 417


KaelDesu
25 Mimik und Gestik

Zu beobachten sind im Rahmen der Mimik der finden sich bei einer positiven Grundstimmung, bei
obere und der untere Gesichtsteil. Ersterer wird von Freude und Wohlgefallen, herabgezogene hingegen
der Mimik der Augenlider, der Augenbrauen und der bei einer negativen Grundstimmung und Zuständen
Stirnfalten geprägt. Hier lassen sich verschiedene Be- der Trauer.
obachtungen machen.
Zusammenfassung:
Augenlider Allgemeine Beobachtungskriterien
Sind die Augenlider bis auf einen schmalen Spalt ver- Mimik, Gestik und Gebärden sind nonverbale Aus-
schlossen, kann dies ein Anzeichen für Nachdenken drucksmöglichkeiten des Menschen, sie gehören zu
oder Anstrengung sein, zeigen sie sich halbgeöffnet, den subjektiven Beobachtungskriterien.
so ist der betreffende Mensch sehr wahrscheinlich Bei den Gesten können Embleme, Illustratoren und
25 entspannt, eine normal große Öffnung der Augenli- Adaptoren unterschieden werden.
der kennzeichnet die gewöhnliche Lidstellung beim Wird die Mimik willentlich kontrolliert, spricht
Sprechen mit einer anderen Person, weit aufgerisse- man von Maskierung.
ne Lider sind hingegen charakteristisch bei Angst, Er- Die Augensprache und das Umfeld der Augen sowie
schrecken oder Wut. einzelne Gesichtspartien liefern wichtige Informa-
tionen über die Befindlichkeit eines Menschen.
Augenbrauen
Heruntergezogene Augenbrauen können Gefühle 25.2 Abweichungen und
wie Ärger, Anstrengung oder Nachdenken signalisie-
ren, hochgezogene hingegen Freude, Erstaunen,
Veränderungen der Mimik
Neugier. und Gestik und deren
mögliche Ursachen
Stirnfalten
Sind die Stirnfalten heruntergezogen und bilden sich Abweichungen und Veränderungen werden sowohl
waagerechte Falten zusammen mit senkrechten in im mimischen wie auch im gestischen Bereich beo-
der Mitte der Stirn, kann dies eine Ausdrucksbewe- bachtet.
gung für Kummer, angestrengtes Nachdenken oder
auch Grübeln sein. Hingegen sind hochgezogene, 25.2.1 Abweichungen und Veränderungen der
waagerechte Falten ohne senkrechte Falte in der Mit- Mimik
te eher als Überraschtsein und Freude zu deuten. Die Stimmung und Gefühlslage eines Menschen
Stirnfalten können die augenblickliche Äußerung kann an seinem Gesichtsausdruck abgelesen wer-
oder Stimmung unterstreichen, sie können im Alter den.
zusätzlich zu einem bestimmten Gesichtsausdruck
beitragen. Ausdrucksformen
Der untere Gesichtsteil wird von der Nase und Folgende Ausdrucksformen können unterschieden
dem Mund geprägt. Folgende Beobachtungen sind werden:
hier beschreibbar:
Schmerzerfüllter Ausdruck
Nase Er kann bei Menschen beobachtet werden, die lange
Ein Rümpfen der Nase kann als Unentschlossenheit, und schwerwiegende Erkrankungen durchleiden
Abneigung oder auch Ekel gedeutet werden. Gebläh- oder durchlitten haben. Hierbei werden die Augen-
te Nasenflügel treten bei freudiger Erregung, aber brauen zusammengezogen und schräg gestellt. Es
auch bei Emotionen wie Wut und Erstaunen auf. bilden sich steile Falten über der Nasenwurzel. Häu-
fig sind auch tränengefüllte Augen oder Weinen
Mund zu beobachten. Abb. 25.3 zeigt 8 verschiedene und
Ein fest zusammengepresster Mund steht für Trotz, schmerzerfüllte Gesichtsausdrücke.
Verbittertsein oder Entschlossenheit. Ein halbgeöff-
neter Mund ist Ausdrucksbewegung für Entspannt-
heit oder Erstaunen. Heraufgezogene Mundwinkel

418 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
25.2 Abweichungen und Veränderungen der Mimik und Gestik und deren mögliche Ursachen

Abb. 25.3 Versuch einer Schmerzquanti-


fizierung anhand von 8 unterschiedlichen
Gesichtsausdrücken

25

Verbitterter Ausdruck
Menschen, die nach schweren Schicksalsschlägen re-
signiert haben und/oder mit unbewältigten seeli-
schen oder körperlichen Leiden kämpfen, erscheinen
dem Beobachtenden als verbittert. Ihr Blick wirkt oft
verkniffen und richtet sich ins Leere oder starr auf
den Boden schauend.

Verkrampfter, verschlossener, abweisender


Ausdruck
Eine derartige Mimik ist bei seelischen Erkrankun-
gen, wie beispielsweise Depressionen oder Neuro-
sen, beobachtbar. Der Gesichtsausdruck wirkt ab-
weisend auf die Mitmenschen, das Gesicht ist regel-
recht „zu“ und zeigt keinerlei entgegenkommende
oder aufgeschlossene Mimik.

Anzeichen von Erkrankungen


Es gibt ganz bestimmte Erkrankungen, die mit einem
Abb. 25.4 Schwere fibrinös-eitrige Peritonitis nach perforierter
sehr spezifischen Gesichtsausdruck einhergehen Appendizitis
und im Rahmen der Beobachtung durch die Pflege-
fachkräfte mithilfe eines geübten Blickes erkannt
werden können. Im Einzelnen sind dies: beispielsweise im Rahmen einer Bauchfellentzün-
dung (Peritonitis) (Abb. 25.4).
Facies abdominalis
Facies (Gesicht), das sich spitz darstellt, mit eingefal- Facies gastrica
lenen Wangen und dunkel umrandeten, sog. halo- Hier ist ein schmales Gesicht mit eingefallenen, ma-
nierten Augen, trockenen Lippen und eher ängstli- geren Wangen, einer tiefen Nasolabialfalte und ei-
chem und verstörtem Blick. Die Nase ist spitz und nem bekümmerten Blick zu beobachten. Menschen,
kalt, das Gesicht livide verfärbt. Die Extremitäten die mit einem chronischen Magenleiden leben müs-
sind blass und kalt. Dieses Bild findet sich bei schwe- sen, weisen diese Art der Mimik auf.
ren Erkrankungen des Bauchraumes (Abdomens),

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 419


KaelDesu
25 Mimik und Gestik

Facies lunata Facies hippocratica


Die Erkrankung Morbus Cushing (Erkrankung der Bei der Erkrankung „akute Peritonitis“ oder kurz vor
Nebennierenrinde, bei der es zur Überproduktion dem Tode eines Menschen kann sein Gesichtsaus-
von Glukokortikoiden kommt) geht mit dem Auftre- druck verfallen wirken, es bildet sich eine spitze Na-
ten eines sog. Vollmondgesichts einher, das sich se, die Augen sind eingesunken und kalter Schweiß
rundlich und aufgetrieben darstellt (Abb. 25.5). Ur- tritt aus.
sache für eine solche Gesichtsform ist in vielen Fällen
auch eine länger andauernde Behandlung mit dem Facies myopathica
Präparat Kortison. Dieser Gesichtsausdruck tritt bei den sog. progressi-
ven Muskelkrankheiten auf und ist gekennzeichnet
Facies tetanica durch schlaffe Gesichtszüge als Folge der gelähmten
25 Hier kann im Rahmen eines Wundstarrkrampfs (Te- und später rückgebildeten (atrophen) Gesichtsmus-
tanus) eine starre Gesichtsmuskulatur beobachtet keln (Abb. 25.6). Sind einzelne Gesichtsmuskeln
werden. Diese geht einher mit einer Kieferklemme, stärker betroffen als andere, so fällt die rüsselartige
die ihrerseits durch einen Krampf der Kaumuskula- Vorstülpung der Lippen, sog. „Tapirschnauze“, auf.
tur bedingt ist. Der Mund des betroffenen Menschen Diese Veränderung wird auch als sog. „Sphinx-
wirkt verzerrt, als lache dieser, was als sog. sardoni- gesicht“ bezeichnet.
sches Grinsen bezeichnet wird.
Facies paralytica
Facies ovarica Es zeigt sich ein schlaffer Gesichtsausdruck infolge
Diese Mimik kann bei Tumoren der Eierstöcke (Ova- von Gesichtslähmungen, beispielsweise bei einer
rien) auftreten. Die Wangenknochen treten bei den Lähmung des N. facialis im Rahmen einer Apoplexia
betroffenen Frauen stark hervor, die Nasenflügel sind cerebri. Hierbei kann auf der betroffenen Seite ein
herabgezogen, die Stirn ist gerunzelt. herabhängender Mundwinkel und das Abweichen
der Augen und des Kopfes in Richtung der betroffe-
nen Kopfseite (sog. „Herdblick“) beobachtet werden.
Weiter zeigen sich eine Differenz der Lidspalten und
ein insgesamt depressives Aussehen.

Abb. 25.6 Facies myopathica bei Myasthenia gravis (aus: Duale


Reihe Physiologie. 3. Aufl. Thieme; 2016)

Abb. 25.5 Facies lunata

420 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
25.4 Besonderheiten bei Kindern

Maskengesicht
Als Maskengesicht wird die starre bzw. fehlende Mi- 25.3 Ergänzende
mik, die sog. Amimie, bezeichnet. Betroffen sind Beobachtungskriterien
hiervon Menschen, die unter Morbus Parkinson lei-
den. Bei dieser Erkrankung kommt es zu einer ver- Mimik und Gestik sind in der Regel Ausdruck der
mehrten Talgabsonderung, die zu einer salbenartig Stimmung eines Menschen. Im Zusammenhang mit
glänzenden Gesichtshaut führt, weshalb auch von ei- der Beobachtung der Stimmung eines Menschen
nem „Salbengesicht“ gesprochen wird. sind gleichzeitig Veränderungen der Hauttempera-
Menschen mit einem facies myopathica, facies tur und der Pulsfrequenz zu beobachten. Beide Para-
paralytica oder einem Maskengesicht können einen meter steigen bei freudiger Erregung an und sinken
wesentlichen Bereich der nonverbalen Kommunika- bei dem Empfinden von Widerwillen. Auch ist es
tion nicht bzw. nur eingeschränkt nutzen. Häufig nicht möglich, Mimik und Gestik getrennt von Kör- 25
führt diese eingeschränkte Ausdrucksfähigkeit in perbau und Körperhaltung, Tonfall, Sprachrhythmus
zwischenmenschlichen Beziehungen zu Missver- und Blickkontakt zu dem Betreffenden wahrzuneh-
ständnissen, was den Leidensdruck für die Betroffe- men (s. a. S. 428). Ein schlüssiges Gesamtbild lässt
nen zusätzlich erhöht. Durch Beobachtung der Mi- sich häufig nur durch die Kombination dieser Be-
mik dieser Menschen gewonnene Eindrücke müssen obachtungen erlangen.
aus diesem Grund durch geduldige und einfühlsame
Rückfragen auf ihre Gültigkeit hin überprüft werden. Zusammenfassung:
Abweichungen und Veränderungen der
25.2.2 Abweichungen und Veränderungen der Mimik und Gestik
Gestik Eine Vielzahl von Gesichtsausdrücken zeigt Stim-
Gesten können das gesprochene Wort bekräftigen, mungen und Gefühle, aber auch bestimmte Krank-
ersetzen oder seinen Sinn verzerren. Auch in Gesten heiten an.
kommt die Stimmung eines Menschen zum Aus- Facies abdominalis, -gastrica, -lunata, -tetanica,
druck. Die Quantität und die Qualität des Gestikulie- -ovarica, -hippocratica, -myophatica, -paralytica
rens sind dabei individuell verschieden und darüber und das Maskengesicht können voneinander abge-
hinaus von kulturellen Einflüssen geprägt. Südeuro- grenzt werden.
päer untermalen ihre Worte eher stärker mit Gesten Bei der Beobachtung der Gestik spielen kulturelle
als Nordeuropäer. Diese Besonderheiten müssen bei Einflüsse und individuelle Besonderheiten eine Rol-
der Beobachtung eines Menschen berücksichtigt le.
werden. Einschränkungen in Mimik und Gestik beeinflussen
Es gibt im Weiteren eine ganze Reihe psychischer die Kommunikations- und Beziehungsfähigkeit ei-
oder neurologischer Erkrankungen, die zu spezifi- nes Menschen.
schen Veränderungen der Quantität und Qualität des
gestischen Ausdrucks führen können. Hierzu gehö-
ren beispielsweise Morbus Parkinson, alle Arten zen- 25.4 Besonderheiten bei Kindern
traler und peripherer Lähmungen sowie psychiatri- Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm
sche Erkrankungen. Die speziellen Auswirkungen auf
Grob- und Feinmotorik sind in Kap. 24 nachzulesen. Während der Schwangerschaft nimmt das ungebo-
Wie auch bei der Mimik, können Einschränkungen rene Kind bereits die Stimme seiner Mutter wahr. Ein
im Bereich der Gestik Störungen der Kommunikation gesundes Neugeborenes wird nach der Geburt auf
und eine Beeinträchtigung von Beziehungen im zwi- Brust und Bauch der Mutter gelegt. Hier nimmt es
schenmenschlichen Bereich zur Folge haben. durch den Hautgeruch, den vertrauten, durch Vibra-
tion über die Haut weitergeleiteten Herzschlag und
über die bereits intrauterin wahrgenommene Stim-
me Kontakt zu seiner Mutter auf. Diese schon im
Mutterleib begonnene Mutter-Kind-Beziehung wird
jetzt durch den Blickkontakt erweitert.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 421


KaelDesu
25 Mimik und Gestik

Die Wahrnehmung der Gesichtsmimik, die im Vor allem für die Pflegenden in den Kinderklini-
Wesentlichen von den Augen beeinflusst wird, spielt ken ist das Erkennen und Lokalisieren von Schmer-
in der Mutter-Kind-Beziehung eine große Rolle. Be- zen durch die Interpretation der Mimik und Gestik
reits im 1. Monat registriert der Säugling für kurze eines Kindes ganz entscheidend. Früh- sowie reife
Zeit das Gesicht der Mutter, wenn ein Abstand von Neugeborene, Kleinkinder, somnolente und be-
40 – 50 cm eingehalten wird. Dieser Abstand verrin- wusstlose Kinder sind nicht in der Lage, Schmerzen
gert sich ständig. verbal zu äußern, und sind somit auf die Beurteilun-
Bis Ende des 2. Monats erwidert das Baby flüchtig, gen ihrer Mimik und Gestik durch Eltern, Pflegeper-
bis zum Ende des 3. Monats meistens spontan das Lä- sonen und Ärzte angewiesen (s. a. S. 388).
cheln der Menschen und greift nach ihren Gesich-
tern. Es erkennt die Mimik der Mutter und entwi- 25.4.1 Mimikveränderungen bei Kindern
25 ckelt ein Interesse für alles, was einem Gesicht ähn- Eine Veränderung der Mimik kann bei Kindern wie
lich ist. Babys schauen auffallend oft nach dem Ge- bei Erwachsenen durch emotionale oder traumati-
sicht ihrer Bezugsperson, um Hilfen für ihre Inter- sche Erlebnisse sowie durch verschiedene Erkran-
pretation zu erhalten. kungen hervorgerufen werden. Einige Beispiele hier-
So können sie bis zum Ende des 8. Monats be- für werden im Folgenden beschrieben.
kannte und fremde Gesichter, respektive ihre Mimik
unterscheiden und beginnen zu „fremdeln“. Aus der Angst
Mimik und Gestik erkennt das Kind die Emotionen Eine von Angst geprägte Mimik bei Kindern kann
der Mutter und bekommt ein zustimmendes oder seelische oder körperliche Ursachen besitzen und
ablehnendes Signal zur jeweiligen Situation gelie- maskiert oder unmaskiert auftreten. Der unmaskier-
fert. Das Kind liest am Mimenspiel der Menschen te Ausdruck zeigt sich in weit aufgerissenen, wenig
auch ab, ob sie traurig, ärgerlich, ängstlich oder fröh- bewegten Augen, einem halb geöffneten Mund, ver-
lich, zuwendend oder überrascht sind. Wie bereits in bunden oft mit Geschrei, einer quergefurchten Stirn
25.1 beschrieben, ist es bis zu einer bestimmten und in abwehrenden Gesten. Die maskierte Angst
Grenze möglich, den spontanen Ausdruck hinter ei- zeigt sich zumeist in einem verkrampften, verschlos-
ner Maske zu verbergen. senen und abweisenden Gesichtsausdruck und klei-
In einigen Kulturen sind sog. Darstellungsregeln nen, schwachen Gesten. Sie kann erst durch die be-
stark vertreten. Eine sozial verankerte Darstellungs- hutsame Ermittlung der Ursache gelöst werden.
regel, die in unserer Kultur Verwendung findet, lau-
tet: „Jungen weinen nicht“, oder „ein Indianer kennt Behinderungen
keinen Schmerz“. Kinder erlernen so die Fähigkeit, Geistige und sprachliche Behinderungen gehen oft-
den Ausdruck ihrer Emotionen zu verändern, und so- mals einher mit Veränderungen der Mimik. Bei einer
mit ihre Mimik und Gestik willentlich zu beherr- sprachlichen Behinderung geschieht das Formen der
schen. Inkongruentes Verhalten der Erwachsenen im Laute übertrieben und hat somit Auswirkungen auf
Rahmen der zwischenmenschlichen Kommunikati- die Mimik des Kindes. Die geistige Behinderung oder
on vermittelt Unsicherheit. In diesem Fall steht das Störungen der Beziehungsaufnahme wie u. a. beim
Gesagte nicht in Einklang mit der Mimik und Gestik. Autismus, lassen vielfältige Mimikveränderungen
Der Gesichtsausdruck des Kindes wiederum lie- erkennen: Grimassieren, starrer Gesichtsausdruck,
fert die Rückmeldung dessen, was das Kind empfin- verwirrter oder unbeständiger Blick, keine Reaktion
det. Es kann freundliche Zuwendung bis zu lebhafter des Lächelns. Sie können von gestischen Verände-
Freude, Aufmerksamkeit, Neugierde, Angst und rungen wie motorischen Stereotypen mit z. B. Fä-
Schmerzen deutlich zum Ausdruck bringen. cherbewegungen der Hände vor den Augen begleitet
Das Kind erliegt der Suggestion des Gesichtsaus- werden.
drucks. Es ahmt ein böses Gesicht nach, indem es die
Stirn runzelt, und ein freundliches Gesicht, indem es
lächelt. Gesten wie das Ausstrecken der Arme oder
Gesten der Flucht sowie der Ablehnung treten eher
spontan auf. Gesten wie beispielsweise Bitten oder
Grüßen werden hingegen erlernt.

422 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
25.5 Besonderheiten bei älteren Menschen

Fehlbildungen
Auch angeborene Fehlbildungen können die Mimik 25.5 Besonderheiten bei älteren
eines Kindes beeinflussen. Am häufigsten sind dies Menschen
ein- oder beidseitige Lippen-Kiefer- oder Lippen-
Marion Weichler-Oelschlägel
Kiefer-Gaumenspalten. Aber auch Fehlbildungen der
Ohrmuscheln z. B. fehlende oder mangelhaft entwi- Wie bei Kindern und Erwachsenen, ist auch bei be-
ckelte Ohrmuschelanlagen oder das sog. abstehende tagten Menschen das seelische und körperliche Be-
Ohr haben Einfluss auf den Gesamtausdruck eines finden häufig deutlich an der Mimik abzulesen. Na-
Gesichts. türlich kann sich auch der ältere und alte Mensch
Aufgrund einer erhöhten Hautspannung bei Öde- verstellen, jedoch sind bei den meisten Menschen
men im Gesicht kann die Mimik erschwert oder ein- Falten Zeichen von Alter, Sorgen oder auch von Freu-
geschränkt sein. Daneben können z. B. Narben oder de und Lachen (Abb. 25.7). 25
neurologische Ausfälle beispielsweise nach Ge- Die Gesichter vieler älterer Menschen sind durch
sichts- und/oder Schädelverletzungen eine Störung ihre Lebenserfahrung geprägt, Erbanlagen und mo-
der mimischen Ausdrucksmöglichkeiten zur Folge mentane Befindlichkeit. Da einige spezielle Erkran-
haben. Eine mögliche Fazialisparese mit entspre- kungen wie Morbus Parkinson oder eine Apoplexia
chender Abweichung der Mimik kann bei Neugebo- cerebri häufig im höheren Alter auftreten, sind dem-
renen mithilfe des Glabellareflexes erkannt werden. entsprechend die fehlende, starre Mimik und Facies
Bei Druck auf die Mitte der Stirn werden die Augen paralytica bei älteren Menschen eher zu beobachten
normalerweise fest zusammengekniffen. Bei verän- als bei jüngeren.
derter Mimik – z. B. das Neugeborene verzieht auf ei- Wie bereits erläutert, wird die Mimik eines Men-
ner Seite den Mund nicht und schließt das Auge nicht schen entscheidend durch die Augen und den Blick
– muss an eine mögliche Fazialisparese gedacht wer- geprägt. Interesse, Wachheitsgrad und Gemütsver-
den (s. a. S. 418). fassung sind an der Zielrichtung des Blickes, an den
Bewegungen des Augapfels und auch am Glanz der
Spezielle Gesichtsausdrücke Augen zu erkennen.
Auch bei Kindern können verschiedene spezielle Ge- Im Alter kann der insgesamt herabgesetzte Stoff-
sichtsausdrücke beobachtet werden, wie z. B. das Fa- wechsel degenerative Veränderungen am Auge her-
cies pertussis und das Greisengesicht. vorrufen: der Augapfel wirkt klein, weit zurückge-
Beim Facies pertussis (Keuchhustengesicht) se- sunken und von vermindertem Glanz, die Lider kön-
hen die Kinder müde aus, haben geschwollene Au- nen schlaff und faltig sein. Dies liegt am Schwund des
genlider und feuchte, glänzende Augen. Kommt es Fettkörpers in der Augenhöhle und an der Erschlaf-
zur Dyspnoe, sind die Augen weit aufgerissen und die fung der sie umhüllenden Kapsel. Oft findet sich ein
Nasenflügel abgespreizt. In diesem Fall ähnelt der Ge- nach außen gestülptes Unterlid, welches seinerseits
sichtsausdruck dem Ausdruck bei Angstzuständen. ein störendes Tränen verursacht.
Ein sog. Greisengesicht ist vor allem bei Kindern
mit vermehrten Durchfällen zu beobachten. Der
Flüssigkeitsverlust aufgrund der Durchfälle und/
oder Erbrechen zeigt sich durch einen verringerten
Hautturgor, der insbesondere Säuglingen und Klein-
kindern ein greisenartiges Aussehen verleiht.

25.4.2 Gestikveränderungen bei Kindern


Die Veränderungen der Gestik stehen in einem engen
Zusammenhang mit der Bewegung, s. deshalb hier-
für Kap. 24.

Abb. 25.7 Natürliche Alterung

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 423


KaelDesu
25 Mimik und Gestik

Bei älteren Menschen sind eher eine starre Mimik


Greisen- und Facies paralytica zu beobachten.
bogen
Greisenbogen und grauer Star verändern das Auge
bei älteren Menschen.

25.6 Fallstudien und mögliche


Pflegediagnosen
Beispiel: Frau Schaller ist 77 Jahre alt. Sie ist
verwitwet, kinderlos und lebt seit 3 Jahren in
25 Abb. 25.8 Der Greisenbogen einem Pflegeheim. Die früher sehr unterneh-
mungslustige Frau leidet seit gut 5 Jahren unter der Er-
krankung Morbus Parkinson. Ihr Gesicht erscheint
Im Weiteren wird durch die Einlagerung von fett- maskenhaft, die Haut glänzt salbenartig. Bei Frau
ähnlichen Substanzen ein gelblicher Schimmer der Schaller besteht eine zunehmende Amimie, die es ihr
Augenbindehaut und der Lederhaut beobachtet. immer schwerer macht, sich ihren Mitmenschen mi-
Auch erscheint die Bindehaut durch Neubildung von misch mitzuteilen, sie ist dadurch massiv in ihrer non-
Blutgefäßen bei vielen älteren Menschen röter als verbalen Kommunikation beeinträchtigt und wird oft
normalerweise. Dies ist altersphysiologisch und kein missverstanden. Zudem zeigt sich ein ausgeprägter Pil-
Anzeichen für eine Entzündung. lendrehertremor an beiden Händen. Insgesamt wirken
Als sog. Greisenbogen wird eine grauweiße, ring- Frau Schallers Bewegungen steif und hölzern, sodass
förmige und schmale Trübung der Hornhaut be- zusätzlich eine gehemmte Gestik beobachtbar ist. Frau
zeichnet (Abb. 25.8). Die Augen können bei Depres- Schaller wird von ihren Angehörigen oft besucht und
sionen, großer Schwäche und Altersstar matt wirken, dabei sehr liebevoll und aufmerksam betreut.
ihr Glanz wie erloschen. Beim sog. grauen Star zeigt Tab. 25.1 stellt einen Auszug aus dem Pflegeplan von
sich ein matter, stumpfer Ausdruck, der Linsenkern Frau Schaller dar.
kann sich getrübt und blaurot gefärbt darstellen.
Zu den Besonderheiten der Gestik im höheren Le- Eine mögliche Pflegediagnose zeigt die folgende
bensalter gehört, dass sich ältere und alte Menschen Übersicht:
in der Regel eher langsamer und weniger stark gesti-
kulierend bewegen, als dies in früheren Lebensab-
schnitten zu beobachten ist. Auch hier gibt es indivi- Beeinträchtigte soziale Interaktion (P)
duell sehr starke Unterschiede, je nach Erhalt der Be- (Gordon 2013, S. 426 – 427, NANDA-I 2016)
weglichkeit und des Gesundheitszustands des betag- Impaired social interaction (00052) (1986)
ten Menschen insgesamt. Taxonomie II: Domäne 7: Rollenbeziehungen,
Klasse 3: Rollenverhalten
Zusammenfassung: Diagnosetyp (Dokumentationsform): aktuelle Pflege-
Besonderheiten bei Kindern und älteren diagnose (PES)
Menschen Funktionelles Gesundheitsverhaltensmuster:
Kinder lernen in der Mutter-Kind-Beziehung, die Rollen und Beziehungen
Mimik zu interpretieren und durch Nachahmung
Definition
Emotionen auszudrücken.
Ungenügende oder übermäßige Quantität oder unzu-
Angst kann maskiert und unmaskiert zum Aus-
reichende Qualität des sozialen Austauschs
druck kommen.
Geistige und sprachliche Behinderungen können Einflussfaktoren (E)
sich in der Mimik zeigen. (Wissens- oder Fertigkeitendefizit [Wege zur Stär-
Durch Verletzungen oder angeborene Fehlbildun- kung der Gegenseitigkeit])
gen wird die Mimik verändert. Kommunikationshindernisse
Facies pertussis und Greisengesicht treten bei Kin-
dern bei bestimmten Erkrankungen auf.

424 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
25.6 Fallstudien und mögliche Pflegediagnosen

gestörtes Selbstkonzept Unfähigkeit, ein zufrieden stellendes Gefühl sozialer


fehlende Bezugspersonen (oder Gleichgestellte Bindung zu empfinden (z. B. Zugehörigkeit, Anteil-
[defizitäres Unterstützungssystem]) nahme, Interesse, eine gemeinsame Vergangenheit)
eingeschränkte Bewegungsfähigkeit Anwenden erfolgloser Verhaltensweisen bei sozialen
therapeutische Isolation Interaktionen
soziokulturelle Unstimmigkeiten
Pflegeergebnis (Outcome)
Hindernisse in der Umgebung
Soziale Eingebundenheit (Social Involvement)
gestörte Denkprozesse
Produktive soziale Interaktionen mit Personen,
(sonsorisches Defizit [Sehen, Hören])
Gruppen oder einer Organisation
fehlende Möglichkeiten, die Gemeinsamkeiten zu
verstärken (z. B. Wissen, Fertigkeiten)
25
Die Pflegediagnose für Frau Schaller könnte lauten:
Kennzeichen oder Symptome (S)
beeinträchtige soziale Interaktion
Hauptkennzeichen
b/d (beeinflusst durch) Kommunikationshindernisse
(geäußertes oder beobachtetes Unbehagen in sozia-
len Situationen [z. B. das Unvermögen, ein befriedi- und begrenzte physische Beweglichkeit
gendes Gefühl der Zugehörigkeit, Fürsorglichkeit, a/d (angezeigt durch) geäußertes oder beobachtetes
des Interesses oder einer gemeinsamen Geschichte Unbehagen in sozialen Situationen.
zu empfangen oder zu vermitteln])
(beobachtetes erfolgloses soziales Interaktionverhal- Beispiel: Kevin, 6 Jahre alt, wird von den El-
ten) tern als ein sehr lebendiges und aktives Kind
Nebenkennzeichen beschrieben, das seine Stimmungen spontan
(dysfunktionale Interaktionen mit Gleichgestellten, und offen zeigt. Sein Gesicht war bis zu dem Unfall ein
der Familie und anderen Personen) Spiegelbild seiner jeweiligen Emotionen.
(Angaben der Familie über eine Veränderung des In- Vor 3 Wochen zog sich Kevin im Garten der Großeltern
teraktionsstils oder -verhaltens) beim Anzünden von Gartenlaub durch den Großvater
Unbehagen in gesellschaftlichen Situationen Verbrennungen 2. Grades im Kopf-, Gesicht- und Hals-
beeinträchtigte Interaktion mit anderen bereich zu. Die Verbrennungen heilen unter Narbenbil-
Berichte der Familie über veränderte Interaktionen dung und Narbenkontrakturen im Gesicht langsam ab,
(z. B. Stil, Muster) dabei bekommt Kevin einen stark veränderten und
Unfähigkeit, ein zufrieden stellendes Gefühl sozialer teilweise starren Gesichtsausdruck. Er reagiert mit Ab-
Bindungen zu vermitteln (z. B. Zugehörigkeit, Anteil- lehnung, Trauer und Verzweiflung, was sich vor allem
nahme, Interesse, eine gemeinsame Vergangenheit) darin zeigt, dass er sich zurückzieht. Zudem spricht
Kevin nur noch sehr wenig. Die Eltern und Großeltern,

Tab. 25.1 Auszug aus dem Pflegeplan von Frau Schaller

Pflegeproblem Ressourcen Pflegeziele Pflegemaßnahmen

Fr. Schaller Fr. Schaller erhält NZ: 쐌 Fr. Schaller immer wieder auffordern,
쐌 leidet unter zunehmen- 쐌 Häufige Besuche und lie- Fr. Schaller ihre Bedürfnisse, Stimmungslage verbal
der Amimie bei Morbus bevolle, aufmerksame Be- 쐌 fühlt sich verstanden zu äußern
Parkinson mit Einschrän- treuung durch die Ange- 쐌 kann ihre Bedürfnisse, 쐌 Stetiges einfühlsames Nachfragen
kung in der nonverbalen hörigen Stimmungslage deutlich 쐌 Genaue Beobachtung des Augenaus-
Kommunikation und da- zeigen drucks
raus resultierenden Miss- 쐌 Nach Rücksprache mit Fr. Schaller und
verständnissen Arzt Training zum Sprechen mit Mimik-
NZ:
einsatz organisieren
Fr. Schaller
쐌 besitzt eine steife, 쐌 kennt Bewegungsübun- 쐌 Anleitung zu Bewegungsübungen (nach
gehemmte Gestik bei gen und führt diese re- Rücksprache KG)
allgemein veränderter gelmäßig selbstständig 쐌 Hinweis, Worte durch Gestik zu unter-
Bewegung aufgrund einer durch streichen
Parkinson-Erkrankung 쐌 setzt bei der Kommunika- 쐌 Viel Zeit bei der Kommunikation lassen,
tion Ausdrucksbewegun- Ausdrucksbewegungen abwarten
gen ein

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 425


KaelDesu
25 Mimik und Gestik

die abwechselnd bei Kevin im Krankenhaus sind, ver-


Kennzeichen oder Symptome (S)
suchen durch liebevolle Betreuung und Zuwendung,
Hauptkennzeichen
ihn zu trösten und bei der Auseinandersetzung mit sei-
Äußerungen von Traurigkeit, Verzweiflung oder
nem veränderten Aussehen zu unterstützen. Einen ent-
Hoffnungslosigkeit hinsichtlich einer Situation (spe-
sprechenden Auszug aus dem Pflegeplan von Kevin
zifiziere letztere)
zeigt Tab. 25.2. kontinuierliches Hinterfragen des Selbstwertes (der
Selbstachtung) oder Versagensgefühl (real oder ima-
Die in der folgenden Übersicht dargestellte Pflege- ginär)
diagnose könnte auf Kevin zutreffen: pessimistischer Ausblick
und einer oder mehrere der folgenden Punkte zur Be-
stimmung des Schweregrades:
25 Reaktive Depression (spezifiziere Fokus) (P) Rückzug von anderen Menschen, um Zurückweisung
(Gordon 2013, S. 369 – 371, NANDA-I 2016) (real oder imaginär) zu vermeiden
Reactive Depression misstrauisches Betrachten oder Empfindlichkeit ge-
Diagnosetyp (Dokumentationsform): aktuelle Pflege- genüber Worten und Taten Dritter, beeinflusst durch
diagnose (PES) einen generellen Mangel an Vertrauen in andere
Funktionelles Gesundheitsverhaltensmuster: Menschen
Selbstwahrnehmung und Selbstbild Suiziddrohungen oder -versuche (Überweisen zur
sofortigen Evaluation, falls beobachtet)
Definition extreme Abhängigkeit von Dritten, mit den damit
Akute Abnahme der Selbstachtung, des Selbstwertge- verbundenen Gefühlen von Hilflosigkeit und Wut
fühls oder des Gefühls von Kompetenz in Verbindung fehlgeleitete (auf die eigene Person gerichtete) Wut
mit einer situationsbedingten Bedrohung (spezifiziere allgemeine Reizbarkeit
letztere, z. B. der Endpunkt einer gesundheitlichen Ent- Schuldgefühle
wicklung, Behinderung, Verschlechterung des körperli- Unvermögen, sich auf Lesen, Schreiben, ein Ge-
chen Zustands) spräch zu konzentrieren
Veränderung (gewöhnlich Abnahme) von körperli-
Einflussfaktoren (E)
chen Aktivitäten, Essen, Schlafen, sexueller Aktivität
wahrgenommene Machtlosigkeit
frühmorgendliches Erwachen
Angst

Tab. 25.2 Auszug aus dem Pflegeplan von Kevin

Pflegeproblem Ressourcen Pflegeziel Pflegemaßnahmen

Kevin leidet unter einem Eltern und Großeltern FZ: 쐌 Information der Eltern und Kevin über
starren Gesichtsausdruck 쐌 sind abwechselnd im Kevin Maßnahmen zur positiven Beeinflussung
durch Verbrennungen Krankenhaus 쐌 akzeptiert sein veränder- der Narbenbildung (Arzt), Einbeziehung
씮 er ist traurig und ver- 쐌 betreuen Kevin liebevoll tes Aussehen und kann von Kevin in die Planung
zweifelt 쐌 unterstützen Kevin damit umgehen 쐌 3 ⫻ tgl. gymnastische/logopädische
씮 er zieht sich zurück, 쐌 Kevin kann seine Befind- 쐌 kann seine Emotionen Übungen zur Verbesserung der Funkti-
spricht wenig lichkeit verbal äußern mimisch ausdrücken onseinschränkung der Gesichtsmimik
씮 eine Einordnung der NZ: durch Logopädin
Schmerzstärke und Stim- 쐌 fühlt sich mit seinem ver- 쐌 Einbeziehung der Eltern in die Übungen
mungslage ist durch die ändertes Aussehen ange- 쐌 genaue Beobachtung der Gestik und des
fehlende/veränderte Mi- nommen und geliebt Verhaltens bei allen Maßnahmen mit
mik nicht möglich 쐌 ist offen und äußert seine Rückfragen bei Veränderungen/Auffällig-
Befindlichkeit keiten
쐌 hat außerhalb der Familie 쐌 Kevin immer wieder auffordern, Bedürf-
weitere soziale Kontakte nisse zu äußern
쐌 Kevin zu den Mahlzeiten in den Aufent-
haltsraum bringen
쐌 Familie auffordern, Freunde von Kevin zu
Besuchen anzuregen

426 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
Literatur

Da Mimik und Gestik zu den subjektiven Beobach-


Pflegeergebnis (Outcome)
tungskriterien zählen und zudem starke individuelle
Ausmaß von Depression (Depression Level)
und kulturspezifische Variationen aufweisen, muss ih-
Fehlen einer melancholischen Stimmungslage
re Bedeutung durch Nachfragen bei dem betreffenden
positive Äußerungen über den Wert der eigenen
Menschen auf Gültigkeit überprüft werden. Dennoch
Person/Interesse an Lebensereignissen
ist die Bedeutung dieser Beobachtungen nicht zu un-
Risikogruppen terschätzen, denn auf ihrer Grundlage lassen sich An-
Personen . . . haltspunkte und Anknüpfungsmöglichkeiten für ein
nach einer zu Behinderung führenden Operation Gespräch und den Aufbau einer Beziehung zu dem zu
oder einem entsprechenden Trauma, neue Körper- Pflegenden finden.
behinderung
nach einem bedeutsamen persönlichen Verlust
25
Literatur:
Für Kevin könnte die Pflegediagnose lauten:
Dahmer, J.: Anamnese und Befund. Die symptomorientierte
Reaktive Depression bei Verbrennungen des Gesich-
Patientenuntersuchung fächerübergreifend – interaktiv –
tes
praxisbezogen. 10. Aufl. Thieme, Stuttgart 2006
b/d (beeinflusst durch) Empfindung der Machtlosig- Gerrig, R.: Psychologie. Begr. von P. Zimbardo. 20. Aufl. Pearson
keit Studium, Hallbergmoss 2016
a/d (angezeigt durch): Gordon, M.: Handbuch Pflegediagnosen. 5. Aufl. Hans Huber,
Ausdruck von Traurigkeit, Verzweiflung und Hoff- Hogrefe AG, Bern 2013
nungslosigkeit durch Verbrennungen im Gesicht, Hoehl, M., P. Kullick (Hrsg.): Gesundheits- und Kinderkranken-
pflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012
sozialen Rückzug und
Huch, R., K. D. Jürgens (Hrsg.): Mensch, Körper, Krankheit.
Reduzierung der körperlichen Aktivitäten.
7. Aufl. Elsevier, München 2015
Köther, I.: Altenpflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2016
Fazit: Mimik und Gestik gehören zu den NANDA International: Pflegediagnosen. Definitionen und
nonverbalen Ausdrucksmöglichkeiten eines Klassifikation 2015 – 2017. Herdman, T. H., S. Kamitsuru
Menschen. Sie können wichtige Hinweise auf (Hrsg.): RECOM, Kassel 2016
die Stimmungslage, aber auch auf zugrunde liegende Paetz B.: Chirurgie für Pflegeberufe. 23. Aufl. Thieme, Stuttgart
2017
Erkrankungen geben. Die Beobachtung von Mimik und
Pschyrembel Klinisches Wörterbuch. 264. Aufl. de Gruyter,
Gestik steht im engen Zusammenhang mit der Beob- Berlin 2014
achtung der Körperhaltung, der Bewegungen, der Schewior-Popp, S., F. Sitzmann, l. Ullrich (Hrsg.): Thiemes Pfle-
Stimme und der Sprache. Nur zusammen betrachtet er- ge. 13. Aufl. Thieme, Stuttgart 2017
gibt sich ein Gesamtbild. von Schweinitz, D., B. Ure: Kinderchirurgie. Viszerale und all-
gemeine Chirurgie des Kindesalters. 2. Aufl. Springer, Hei

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 427


KaelDesu

26 Körperhaltung
Marion Weichler-Oelschlägel

Übersicht
Einleitung · 428
26.1 Allgemeine Beobachtungskriterien und
Beschreibung des Normalzustands · 428
26.1.1 Körperhaltung im Sitzen · 432
26.1.2 Körperhaltung im Stehen · 432
26.1.3 Körperhaltung im Liegen · 432
26.2 Abweichungen und Veränderungen der
26 Körperhaltung und deren mögliche
Ursachen · 432
26.2.1 Haltungsstörungen · 432
26.2.2 Haltungsschäden · 433
26.2.3 Zwangs- und Schonhaltung · 435
26.2.4 Kontrakturen · 435 Darüber hinaus kann die Körperhaltung eines
26.3 Ergänzende Beobachtungskriterien · 436 Menschen aber auch durch spezifische Erkrankungen
26.4 Besonderheiten bei Kindern · 436 des Halte- bzw. Stützapparates beeinflusst werden.
26.4.1 Angeborene Haltungsstörungen · 438
26.4.2 Angeborene oder erworbene 26.1 Allgemeine
Haltungsschäden · 438 Beobachtungskriterien und
26.5 Besonderheiten bei älteren
Beschreibung des
Menschen · 438
26.6 Fallstudien und mögliche Normalzustands
Pflegediagnosen · 440
Fazit · 442 Definition: Als Körperhaltung wird die Lage
Literatur · 442 des menschlichen Körpers in Abhängigkeit von
der Schwerkraft bezeichnet.
Schlüsselbegriffe:
Die Körperhaltung eines Menschen bestimmt ge-
왘 Haltungsstörung meinsam mit der Mimik und Gestik ganz wesentlich
왘 Haltungsschaden den Eindruck, den eine Person bei anderen Men-
왘 Zwangs- und Schonhaltung schen hinterlässt. Sie wird bei der ersten Begegnung
왘 Kontraktur mit einer bislang unbekannten Person registriert.
왘 Seniler Haltungsschaden Dabei stehen die Körperhaltung, das Körpergefühl
und das Denken in einer Wechselwirkung und beein-
flussen sich gegenseitig
Einleitung Die Alltagssprache mit Ausdrücken wie: „die Hal-
Auch die Körperhaltung eines Menschen gehört zu tung bewahren“, „den Halt verlieren“ oder „Kopf
den nonverbalen Ausdrucksmöglichkeiten und wird hoch!“ zeigt die große Bedeutung der Körperhal-
entsprechend als ein Element der Körpersprache be- tung. Die Körperhaltung variiert je nach Situation
zeichnet. Dabei spiegelt die „äußere Haltung“ ganz und Stimmung; die „äußere“ Haltung wird so zum
wesentlich die „innere Haltung“ eines Menschen Spiegel der „inneren“ Haltung eines Menschen. Folg-
wieder. Ausdrücke wie „den Halt verlieren“ beziehen lich gibt es die „richtige“ bzw. „normale“ Haltung ei-
sich weniger auf körperliche Erfahrungen, als viel- ner Person nicht. Die Körperhaltung muss immer in
mehr auf emotionale Empfindungen. Abhängigkeit von der aktuellen Situation eines Men-
schen gesehen werden (Abb. 26.1).

428 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
26.1 Allgemeine Beobachtungskriterien und Beschreibung des Normalzustands

erst rrascht,
dominant, misstrauisch, 26
unentschlossen,
zur ckhaltend

Abb. 26.1 Deutung sprechender Haltungen. Die Haltung muss immer im Zusammenhang mit der Mimik gesehen werden

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 429


KaelDesu
26 Körperhaltung

!
Merke: Die Körperhaltung ist wie die ande- Der gesunde Mensch hält sich im Normalfall aufrecht
ren Elemente der Körpersprache Mimik, Ges- und seine Muskelbewegungen lassen sich als ausge-
tik, Gang, Stimme und Sprache häufig Aus- wogen beschreiben. Seine Wirbelsäule weist die
druck der emotionalen Stimmung eines Menschen. physiologischen Krümmungen auf (Abb. 26.2). Die
Stabilität der Körperhaltung ist abhängig von der
Aufgrund ihrer Körperhaltung werden Menschen Größe der Grundfläche, auf der sich ein Mensch be-
oftmals bestimmte Charaktereigenschaften zuge- wegt.
wiesen, wie z. B. energisch, stolz, selbstbewusst oder In Abhängigkeit vom Lebensalter verändert sich
herrisch bei einer aufrechten, straffen Körperhal- die Grundfläche, die ein Mensch benötigt, um seine
tung. Eine schlaffe, krumme Körperhaltung lässt ei- Körperhaltung in eine sichere Position zu bringen
nen eher traurigen, depressiven, weichen und wenig (Abb. 26.3). Das Kleinkind krabbelt auf allen Vieren,
durchsetzungsfähigen Charakter vermuten. da es eine sehr breite Standfläche benötigt. Der be-
Die Körperhaltung eines Menschen sendet zu- tagte Mensch vergrößert die Grundfläche u. U. mit
sammen mit der Bewegung, der Mimik und Gestik einer Gehhilfe, um eine zusätzliche Stabilität zu er-
26 ununterbrochen Signale an die Mitmenschen; bei- reichen (s. a. S. 438 und 449).
spielsweise drückt eine steife, starre Haltung eher Je nach der Größe und Eigenschaft der Fläche, auf
Angespanntheit oder mangelnde Sympathie aus, der eine Person sich bewegt, ändert sich auch ihre
während eine lockere, ungezwungene Haltung für Körperhaltung. So ist es ein Unterschied, ob wir auf
Offenheit und Wohlbefinden spricht. Mit Hilfe einer einer geraden, ebenen Fläche gehen, eine Treppe
Sammlung von Eigenschaftswörtern kann das Beob- hinaufsteigen, einen Berg erklimmen oder uns auf ei-
achtete beschrieben werden, wie die folgende Über- nem Trampolin bewegen. Hier wird die große Anpas-
sicht zeigt: sungsfähigkeit des menschlichen Organismus deut-
lich.
Die Körperhaltung kann im Sitzen, im Stehen und
im Liegen beobachtet werden.

Beispiele für Beschreibungen der Körperhaltung

A G L S verschlossen
abgespannt geduckt leidend schief verspannt
abwartend gehemmt losgelöst schlaff
aggressiv gekrümmt schmerzgekrümmt W
angespannt gelöst M steif weich
aufgebracht gerade müde
gespannt U Z
D gestreckt N überstreckt zufrieden
drohend nachdenklich unruhig zurückgezogen
H unsicher zurückhaltend
E herausfordernd R zusammengefallen
eingeknickt reserviert V
entspannt K verängstigt
krumm verkrampft

430 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
26.1 Allgemeine Beobachtungskriterien und Beschreibung des Normalzustands

Abb. 26.2 Physiologische Krümmungen


der Wirbelsäule

Atlas
Axis
Halslordose

Halswirbelsäule
Wirbelbogengelenk
Dornfortsatz
Gelenkflächen für die
Rippen
26
Brustkyphose
Brust-
wirbel- Querfortsatz
säule
Wirbelkörper

Bandscheibe

Zwischenwirbelloch

Lenden- Lendenlordose
wirbel-
säule Promontorium
Gelenkfläche des
Iliosakralgelenks
Sakralkyphose
Kreuzbein

Steißbein

Grundfläche

Stehen mit ge- Stehen mit ge- Stehen mit Hilfe Kleinkind auf
schlossenen Füßen spreizten Beinen eines Stocks allen Vieren

Abb. 26.3 Grundfläche in Abhängigkeit vom Lebensalter

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 431


KaelDesu
26 Körperhaltung

26.1.1 Körperhaltung im Sitzen 26.2 Abweichungen und


Die normale Körperhaltung im Sitzen erfolgt mit auf-
rechtem Oberkörper, leicht nach vorn zeigenden
Veränderungen der
Schultern und erhobenem Kopf. Die Arme sind im El- Körperhaltung und deren
lenbogengelenk gebeugt, die Hände befinden sich in mögliche Ursachen
Ruhestellung. Die Oberschenkel und die Knie sind im
rechten Winkel zum Körper gebeugt. Mit lockerem Die Körperhaltung ist nicht nur Ausdruck der emo-
Unterschenkel werden die Füße in der Regel auf dem tionalen Stimmung eines Menschen. Vielmehr las-
Boden abgestützt (Abb. 26.4). sen spezifische Beobachtungen an der Körperhal-
tung Rückschlüsse auf zugrunde liegende Erkran-
26.1.2 Körperhaltung im Stehen kungen zu. Hierzu gehören neben den Haltungs-
Bei der normalen Körperhaltung im Stehen wird der störungen und krankhaften Veränderungen an der
Körper aufrecht gehalten. Der Kopf ist erhoben, die Wirbelsäule (sog. Haltungsschäden) auch die
Schultern sind leicht abduziert, der Bauch ist ent- Zwangs- oder Schonhaltungen und pathologische
26 spannt. Die Arme sind dabei im Ellenbogengelenk Veränderungen an den Gelenken (sog. Kontraktu-
leicht gebeugt. Bei gestreckten Handgelenken sind ren). Alle diese Veränderungen haben Auswirkungen
die Finger leicht angewinkelt. Die Beine des stehen- auf die Körperhaltung der betroffenen Menschen im
den Menschen sind im Kniegelenk leicht und locker Sitzen, Stehen und Liegen. Sie lassen die willkürliche,
gebeugt, die Fußspitzen zeigen nach vorn willentliche Veränderung der Körperhaltung nicht
(Abb. 26.4). mehr bzw. nur noch teilweise zu.

26.1.3 Körperhaltung im Liegen 26.2.1 Haltungsstörungen


Die normale Körperhaltung im Liegen dient der Re- Definition: Unter dem Begriff Haltungsstörun-
generation des Körpers. Sie ermöglicht die Entspan- gen werden Abweichungen von der Neutral-
nung der Muskulatur und der Wirbelsäule und äh- Null-Stellung des Körpers zusammengefasst.
nelt äußerlich der Körperhaltung im Stehen.
Unabhängig davon, ob ein Mensch sitzt, steht Sie können angeboren, erworben oder strukturell
oder liegt, ist er normalerweise in der Lage, seine bedingt sein.
Körperhaltung ohne fremde Hilfe in die gewünschte
Position zu bringen.

Abb. 26.4 a u. b Physiologische Körper-


haltung a stehend b sitzend

a b

432 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
26.2 Abweichungen und Veränderungen der Körperhaltung und deren mögliche Ursachen

Angeborene Haltungsstörungen
Zu den angeborenen Haltungsstörungen werden z. B.
die veränderte Körperhaltung beim Morquio-Brails-
ford-Syndrom, bei der Pfaundler-Hurler-Krankheit • Mimik ist starr
und bei der Achondroplasie gerechnet (s. a. S. 436).
• Oberkörper
Erworbene Haltungsstörungen • Ellenbogen vornüber gebeugt
Definition: Unter erworbenen Haltungsstö- leicht
rungen werden alle Veränderungen der norma- gebeugt
len Körperhaltung verstanden, die sich aus funk-
tionellen Einschränkungen ergeben, d. h., spezifische
Erkrankungen, bei denen eine Schonhaltung (s. a. • Hände zittern
S. 435) eingenommen wird, um beispielsweise Schmer-
zen zu lindern.
• Knie leicht gebeugt 26
Hierzu gehören die Schonhaltung bei Ischiasbe-
schwerden und der Schiefhals. Letzterer entsteht
häufig aufgrund einseitiger funktioneller Belastung
von Kopf, Hals und Schultergürtel, z. B. durch beruf- • Gang ist langsam
und kleinschrittig
lich bedingte Dauerhaltungen des Kopfes oder beim
sog. Zervikobrachialsyndrom, dem eine Schädigung
Abb. 26.5 Körperhaltung bei der Parkinson-Krankheit
des Plexus cervicalis, Plexus brachialis oder der A.
vertebralis vorausgeht. Der Kopf wird dabei zur be-
troffenen Seite leicht geneigt gehalten, um Schmer- Zusammenfassung:
zen bei der Bewegung zu vermeiden. Körperhaltung und Haltungsstörungen
Funktionelle Haltungsstörungen können zu einer Die Körperhaltung spiegelt die innere Verfassung
Insuffizienz der nicht beanspruchten Muskulatur eines Menschen wider.
führen und in strukturelle Haltungsstörungen über- Durch seine Körperhaltung offenbart der Mensch
gehen bzw. sich als Haltungsschäden (s. a. S. 433) be- Signale, die Rückschlüsse auf seinen Charakter und
merkbar machen. seine momentane Stimmung zulassen.
Bei den Haltungsstörungen wird zwischen angebo-
Strukturelle Haltungsstörungen renen und erworbenen unterschieden.
Definition: Als strukturelle Haltungsstörun- Aufgrund von Schonhaltungen infolge von Erkran-
gen werden alle Abweichungen von der norma- kungen können funktionelle in strukturelle Hal-
len Körperhaltung bezeichnet, die nicht mehr tungsstörungen übergehen.
ausgleichbar sind. Zu den strukturellen Haltungsstörungen gehören
Haltungsschäden, Kontrakturen und neurologisch
Hierzu gehören sowohl Haltungsschäden und Kon- bedingte Veränderungen.
trakturen (s. a. S. 435) als auch neurologisch bedingte
Veränderungen, wie beispielsweise schlaffe und 26.2.2 Haltungsschäden
spastische Lähmungen (s. a. S. 400). Ein struktureller Definition: Veränderungen und Abweichungen
Haltungsschaden ergibt sich auch nach einem apo- von der physiologischen Körperhaltung können
plektischen Insult, bei dem die von der Plegie betrof- auch durch krankhafte Veränderungen an der
fene Körperseite infolge der Lähmung herabhängt. Wirbelsäule selbst hervorgerufen werden und sich als
Bei der Erkrankung Morbus Parkinson ist eine sog. Haltungsschäden bemerkbar machen.
nach vorn gebückte Körperhaltung zu beobachten
(Abb. 26.5). Ein großer Teil der Haltungsschäden, die bereits in
der Wachstumsphase eines Menschen entstehen, ist
auf das Missverhältnis zwischen bestehender Mus-
kelkraft des Rumpfes und der Belastung der Wirbel-

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 433


KaelDesu
26 Körperhaltung

säule zurückzuführen. Andere werden durch dege- Lordose


nerative Veränderungen der knöchernen Wirbelsäu- Definition: Bei einer Lordose liegt eine ver-
le verursacht. stärkte Krümmung der Wirbelsäule nach vorn
Haltungsschäden können Rückenbeschwerden konvex und zwar meist im Lendenabschnitt vor.
und schnelle Ermüdbarkeit auslösen, in ausgepräg-
ten Fällen kann bei den Betroffenen die Atmung be- Sie wird auch als Hohlkreuz bezeichnet. Dieser Hal-
einträchtigt sein. Im Folgenden sind die häufigsten tungsschaden wird durch eine Senkung des Kreuz-
Haltungsschäden aufgeführt. beins verursacht (Abb. 26.6). Das gleichzeitige Auf-
treten einer Brustwirbel-Kyphose und einer Lenden-
Kyphose wirbel-Lordose wird als Hohlrundrücken bezeich-
Definition: Unter einer Kyphose wird eine ver- net.
stärkte, dorsal konvexe (rückenwärts gewölbte)
Krümmung der Brustwirbelsäule verstanden. Skoliose
Definition: Bei der Skoliose liegt eine seitliche
26 Eine Kyphose kann angeboren sein und beispielswei- Verbiegung der Wirbelsäule mit einer Drehung
se bei Fehlbildungen eines Wirbelkörpers oder bei der einzelnen Wirbelkörper vor. Gleichzeitig
Systemerkrankungen auftreten, besonders bei Stö- kommt es zur Versteifung der Wirbelsäule in diesem
rungen der Knochen- oder Knorpelbildung. Erwor- Bereich (Abb. 26.6).
bene Kyphosen werden u. a. durch die Erkrankung
Rachitis, Unregelmäßigkeiten der Wirbelkörper (wie Die Skoliose kann angeboren sein, aber auch durch
bei der Scheuermann-Erkrankung) oder degenera- Rachitis und unterschiedlich lange Beine mit Becken-
tive Wirbelsäulenerkrankungen durch Abnutzung schiefstand verursacht werden. Auch Veränderungen
der Wirbelkörper oder Osteoporose verursacht der Haut, z. B. starke Narbenbildung im Rückenbe-
(Abb. 26.6). Zur Kyphose kommt es auch bei der Er- reich nach großflächigen Verbrennungen oder Ner-
krankung Morbus Bechterew, einem chronisch ent- venschäden können dazu führen. Liegt neben der
zündlichen Leiden des Knochengelenksystems mit seitlichen Verkrümmung der Wirbelsäule gleichzei-
Befall der Wirbelsäule. Eine ausgeprägte Kyphose tig eine Buckelbildung durch eine Kyphose vor, wird
wird als Rundrücken bezeichnet. dies als Kyphoskoliose bezeichnet.

Gibbus Skoliose Kyphose Lordose

Abb. 26.6 Wirbelsäulenverformungen

434 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
26.2 Abweichungen und Veränderungen der Körperhaltung und deren mögliche Ursachen

Tab. 26.1 Häufige Zwangs- und Schonhaltungen

Zwangs- und Schonhaltung Ursachen Zweck der veränderten Körperhaltung

Sitzen mit aufrechtem Oberkörper und Herz- und Ateminsuffizienz Vergrößerung des Brustkorbes
abgestützten Armen Atemerleichterung

krampfhaft steile Sitzhaltung Lumbalgien (Rückenschmerzen) Schmerzlinderung

Seitenlage mit angezogenen Beinen abdominale Beschwerden Schmerzlinderung durch Entspannung der
Rückenlage mit angezogenen Beinen Schmerz nach abdominaler Operation Bauchdecke

Seitenlage auf erkrankter Seite Pleuritis (Entzündung des Rippenfells) Schmerzlinderung durch Verhinderung der
Ausdehnung der Lunge bei der Atmung
(verhinderte Atemextension)

Rückenlage mit leichter Beuge- und Ischialgie (Schmerzen im Bereich des Schmerzlinderung durch Vermeiden der
Außenrotationsstellung des betroffenen N. ischiadicus) Reizung des N. ischiadicus
Beines 26
überstreckter Nacken Entzündungen der Hirnhäute (Meningitis) Schmerzlinderung durch Unterbinden der
Starre der Nackenmuskeln Reizung der Meningen

Rückwärtsbeugung des Rumpfes Tetanus (Wundstarrkrampf) Abwehrspannung des Körpers zur Vermei-
(dorsalkonkav) durch tonischen Krampf Meningitis dung einer Dehnung bzw. Reizung der
der Rückenmuskulatur (= Opisthotonus) Epilepsie Meningen

Gibbus beobachtbaren Zwangs- und Schonhaltungen mit ih-


Definition: Bei dem sog. Gibbus handelt es sich ren Ursachen sind in Tab. 26.1 aufgeführt.
um eine anguläre (winklige) Kyphose, d. h., um
einen spitzwinkligen Buckel als Folge einer Kni- 26.2.4 Kontrakturen
ckung der Wirbelsäule (Abb. 26.6). Grundsätzlich können Kontrakturen an allen Gelen-
ken des Körpers auftreten, die über längere Zeit nicht
Ursächlich können sowohl der Zusammenbruch von bewegt werden.
1 oder 2 Wirbelkörpern aufgrund einer tuberkulösen
Spondylitis (Entzündung der Wirbel) als auch eine Definition: Durch die mangelnde Bewegung
unfallbedingte Wirbelfraktur sein. Auch die Osteo- der Gelenke kommt es zu einer Verkürzung der
malazie, bei der es zu Störungen im Knochenwachs- Muskeln und Sehnen und zum Schrumpfen der
tum kommt, kann zu einem Gibbus führen. Gelenkkapsel. Die nachfolgende Funktions- und Bewe-
gungseinschränkung bzw. Versteifung des Gelenks
Flachrücken wird als Kontraktur bezeichnet.
Beim sog. Flachrücken ist die mangelnde Ausprägung
bzw. das Fehlen der physiologischen Wirbelsäulen- Äußerlich sichtbar ist eine Schwellung des betroffe-
krümmungen zu beobachten. nen Gelenks, das vor allem bei ausladenden Bewe-
gungen schmerzt. Je nach Lokalisation der Kontrak-
26.2.3 Zwangs- und Schonhaltung tur ergeben sich unterschiedlich starke Auswirkun-
Definition: Unter einer Zwangs- oder Schon- gen auf die Körperhaltung eines Menschen. Kontrak-
haltung wird die vorübergehende Einnahme ei- turen an den Gelenken der unteren Extremitäten
ner bestimmten, typischen Haltung oder Lage wirken sich neben der Körperhaltung auch auf das
verstanden, um z. B. Schmerzen zu verringern. Gangbild aus (s. a. S. 443).
Kontrakturen können sowohl nach der Gelenk-
Es handelt sich bei diesen Körperhaltungen nicht um stellung als auch nach der zugrunde liegenden Ursa-
bleibende Haltungsschäden, sondern um Körperhal- che bzw. der Art des geschädigten Gewebes unter-
tungen, die die Betroffenen einnehmen, um einen teilt werden.
bestimmten Zustand zu erleichtern. Die häufigsten

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 435


KaelDesu
26 Körperhaltung

Einteilung der Kontrakturen


Bei der Einteilung der Kontrakturen nach der Gelenk- 26.3 Ergänzende
stellung werden Beobachtungskriterien
die Beugekontraktur (Gelenksteife in Beugestel-
lung), Wie unter 26.1 beschrieben, lässt die Körperhaltung
die Streckkontraktur (Gelenksteife in Streckstel- Rückschlüsse auf die Stimmung eines Menschen zu.
lung) und Ein vollständiges Bild ergibt sich jedoch nur aus der
die Abduktionskontraktur (Gelenksteife in Ab- gleichzeitigen Beobachtung der anderen Elemente
duktionsstellung) voneinander unterschieden. der Körpersprache: Mimik, Gestik, Gang, Stimme
und Sprache einer Person. Grundsätzlich wirken sich
Nach der Art des geschädigten Gewebes werden der- alle Erkrankungen, die mit einer Einschränkung der
matogene, tendomyogene, arthrogene und neuroge- Beweglichkeit einhergehen, auf die Körperhaltung
ne Kontrakturen unterschieden. aus. Lähmungen einzelner Gliedmaßen, z. B. nach ei-
Dermatogene (hautbedingte) Kontrakturen, die nem apoplektischen Insult oder spezielle Erkrankun-
26 auch als Narbenkontrakturen bezeichnet werden, gen wie der Morbus Parkinson, bewirken charakte-
sind häufig Folge einer schweren Hautverletzung, ristische Veränderungen der Körperhaltung. Deshalb
z. B. durch eine Verbrennung, die narbig abheilt sind im Zusammenhang mit der Körperhaltung im-
und so zu einer eingeschränkten Beweglichkeit mer auch die Bewegungen zu beobachten. Zwangs-
über den betroffenen Gelenken führt. und Schonhaltungen sind Ausdruck eines starken
Tendomyogene (sehnen- und muskelbedingte) Kon- Unwohlseins des betroffenen Menschen. Je nach zu-
trakturen werden durch Entwicklungsstörungen grunde liegender Ursache müssen hier auch die At-
mit Knochenbeteiligung oder Verwachsungen mung und evtl. vorliegende Schmerzen beobachtet
von Muskulatur und Faszie verursacht. Sie treten werden.
häufig als Begleit- oder Folgeerscheinung von
Verletzungen oder Entzündungen der Knochen Zusammenfassung:
auf. Die ischämische Muskelkontraktur, auch Haltungsschäden, Zwangs- und Schonhal-
Volkmann-Kontraktur genannt, ist eine Sonder- tungen, Kontrakturen
form der tendomyogenen Kontrakturen. Hier Die häufigsten Haltungsschäden sind Kyphose, Lor-
kommt es zu einer Beugekontraktur aufgrund ei- dose, Skoliose, Gibbus und Flachrücken.
ner Nervenschädigung und der Mangeldurchblu- Zwangs- oder Schonhaltungen sind vorübergehen-
tung des Gewebes, beispielsweise durch zu straffe de Haltungsschäden.
Verbände oder Gipsverbände. Bei den Kontrakturen werden nach der Gelenkstel-
Arthrogene (gelenkbedingte) Kontrakturen ent- lung Beuge-, Streck- und Abduktionskontrakturen
stehen durch Blutergüsse, Gelenkentzündungen unterschieden.
oder Gelenkverletzungen. Nach der Art des geschädigten Gewebes erfolgt die
Neurogene (nervenbedingte) Kontrakturen treten Einteilung in dermatogene, tendomyogene, arthro-
als spastische Gelenkfehlstellungen bei zentralen gene und neurogene Kontrakturen.
Nervenschädigungen bzw. als paralytische Ge-
lenkfehlstellungen bei peripheren Nervenschädi-
gungen auf. 26.4 Besonderheiten bei Kindern
Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm

!
Merke: Abweichungen von der normalen
Körperhaltung eines Menschen können Bei der Aufrichtung des Menschen vom Vierfüßler
durch Haltungsstörungen, -schäden, zum Zweifüßler kommt im Rahmen der Evolution
Zwangs- und Schonhaltungen oder Kontrakturen be- speziell der weiteren Entwicklung der Wirbelsäule
dingt sein. eine ganz besondere Bedeutung zu. Die biomechani-
schen Verhältnisse der Wirbelsäule verändern sich
dabei grundlegend. Die Entwicklung des Skeletts lie-
fert den wichtigsten Beitrag zur Körperhaltung. Be-
reits im 1. Monat nach der Befruchtung wird das Ske-

436 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
26.4 Besonderheiten bei Kindern

lett angelegt. Die Wirbelsäulensegmente entstehen Hochziehen zum Sitzen hält das Kind den Kopf in
aus den Sklerotomen. Die 32 aufeinanderfolgenden Rumpfebene.
Wirbelbogen umschließen das Rückenmark. Bei der Als Folge der Schwerkraft entsteht durch das Ste-
Geburt enthält das Skelett verhältnismäßig viel hen, beeinflusst von der Rückenmuskulatur, die Len-
Knorpel und Bindegewebe. Dadurch ist es bewegli- denlordose (Abb. 26.7 a – c). Die Beckenkippung hat
cher als das Erwachsenenskelett, jedoch ist die me- einen wichtigen Einfluss auf die Tiefe der Wirbelsäu-
chanische Belastbarkeit geringer. lenkrümmung. Im Kleinkindalter stehen die Kinder
Die Knochen des Skeletts wachsen unterschied- häufig mit einer verstärkten Lendenlordose und ei-
lich schnell. So vollzieht sich ein langsamer Wandel nem vorgestreckten Bauch. Dieser sollte während
in der körperlichen Erscheinung des Kindes. Neuge- der weiteren Entwicklung durch Korrektur der Hal-
borene, Säuglinge und Kleinkinder haben einen noch tung verschwinden.
relativ großen Kopf und einen großen Rumpf im Ver- Ein weiteres zu beobachtendes Merkmal ist die
hältnis zu ihren Extremitäten. Fasst man die Hände Entwicklung des Beinstandes der Kinder. Bei Neuge-
eines Neugeborenen an und zieht es hoch, hängt der borenen und Säuglingen ist ein starker O-Beinstand
Kopf nach hinten und wackelt hin und her, die Kopf- zu beobachten. Mit ca. 1,5 Jahren sind die Beine des
26
kontrolle fehlt. Das Neugeborene hat noch keine Kindes zunächst gerade. Im weiteren Verlauf der Ent-
sichtbaren Vor- und Rückwärtskrümmungen der wicklung entstehen X-Beine, die bei normalem Ent-
Wirbelsäule, wie sie bei ausgewachsenen Menschen wicklungsverlauf bis zum Alter von 6 Jahren wieder
physiologisch sind. Durch Heben des Kopfes bildet gerade werden (Abb. 26.8 a – e).
sich die Halslordose. Nach der Geburt wird der Bewegungsapparat vor
Bereits im 3. Monat hebt das Kind in Bauchlage allem auf Frakturen und Missbildungen geprüft. Be-
den Kopf um 45⬚ . Damit beginnt auch die Streckung sondere Beachtung wird dem Hüftgelenk wegen der
der Nackenmuskulatur. Im weiteren Verlauf der Ent- frühzeitigen Erkennung der Hüftgelenksluxation
wicklung wird der Kopf in Bauchlage bis 60⬚ ange- (s. a. S. 400) geschenkt.
hoben und die Halslordose verstärkt. Durch das Sit- Durch verminderte Kalzium- und Phosphatzu-
zen entsteht die Brustkyphose. Sie ist die Krüm- fuhr fällt bei sehr unreifen Frühgeborenen eine De-
mung der Rückenkontur und vergrößert das Volu- mineralisation des Skeletts auf. Dabei handelt es sich
men im Thoraxraum. Die Brustkyphose sorgt dafür, um eine Verarmung des Organismus an organischen
dass um die Körperlängsachse ein Gleichgewicht be- Bestandteilen, die der Fetus normalerweise im letz-
steht. Der Kopf wird bis fast 90⬚ angehoben, beim ten Schwangerschaftsdrittel dem mütterlichen Or-

Abb. 26.7 a – c Die Entwicklung der


Nackenmuskeln Wirbelsäulenkrümmung
a Neugeborenes
b 1 Monat alt
c 3 Monate alt

a b

Nackenmuskeln
Rückenmuskeln
Gesäßmuskeln
M. iliopsoas

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 437


KaelDesu
26 Körperhaltung

a b c d e

26 Abb. 26.8 a – e Die normale Entwicklung des Beinstandes a Neugeborenes b Kind mit 6 Monaten c Kind mit 1,5 Jahren d Kind mit 2,5 Jah-
ren e Kind mit 5 Jahren

ganismus entzieht. Aufgrund der Demineralisierung 26.4.2 Angeborene oder erworbene


treten Knochenbrüche, besonders der Rippen und Haltungsschäden
Extremitäten, sowie Skelettdeformitäten auf. Skoliotische Fehlhaltungen können als Folge einer
schlechten, labilen Haltung, aber auch durch eine Er-
26.4.1 Angeborene Haltungsstörungen krankung hervorgerufen werden. Die starke Wachs-
Zu den angeborenen Haltungsstörungen gehört die tumsphase bei Kindern sollte bei vorhandenen De-
Skeletthypoplasie. Hierbei handelt es sich um eine formatitäten ausgenutzt werden, um Deformationen
anlagebedingte Unterentwicklung des Körpers. Die des Bewegungsapparats zu korrigieren. Der Ab-
Kinder werden nach normaler Schwangerschaft mit schluss des Wachstums wird bei Mädchen zwischen
auffallend zierlichen, jedoch völlig normal geform- dem 17. und 18. Lebensjahr, bei Jungen zwischen
ten Knochen geboren. Der Körperwuchs ist propor- dem 20. und 21. Lebensjahr erwartet.
tioniert und erreicht, wenn er nicht ausgeglichen
wird, auch nach Wachstumsabschluss nur eine Länge
von ca. 140 – 150 cm. Die Skeletthypoplasie kann iso-
26.5 Besonderheiten bei älteren
liert als primordialer Minderwuchs auftreten oder Menschen
als ein Symptom bei verschiedenen Syndromen. Hier Marion Weichler-Oelschlägel
sei das Silver-Russel-Syndrom genannt, eine Form
des intrauterinen Minderwuchses, dessen Ursache Im Alter verändert sich bei einer Vielzahl der Men-
nicht bekannt ist. schen die Körperhaltung. Neben der Verringerung
Eine weitere angeborene Störung ist die Skelett- der Körpergröße durch den Flüssigkeitsverlust in den
dysplasie, die auf unterschiedliche Defekte im Knor- Bandscheiben (s. a. S. 256) kann bei betagten Men-
pel- und Knochenaufbau zurückzuführen ist. Der schen auch eine sog. Flexionshaltung, d. h., eine nach
Körperwuchs ist disproportioniert und hat einen vorn gebückte Körperhaltung mit Verlagerung des
Minderwuchs zur Folge. Eine bekannte Form ist die Körperschwerpunktes nach vorn und zwar sowohl
Chondrodystrophie, eine genetisch bedingte Störung beim Sitzen als auch beim Stehen beobachtet wer-
des Längenwachstums innerhalb des Knorpels bei den. Hierdurch wird die zur Stabilität des Körpers be-
ungestörtem Dickenwachstum der Knochen (s. a. nötigte Grundfläche größer, was häufig die Verwen-
S. 251). dung von Gehhilfen und das Benutzen von Haltegrif-
fen erforderlich macht (s. a. S. 428).
Die Ursachen für die Flexionshaltung liegen bei
älteren Menschen überwiegend im neurologischen
und orthopädischen Bereich. Hierzu gehören dege-
nerative Gelenkveränderungen durch Osteoporose

438 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
26.5 Besonderheiten bei älteren Menschen

oder Osteomalazie und Muskelschwäche. Aber auch Um eine größtmögliche, physiologische Beweglich-
psychische Belastungen, vor allem depressive Zu- keit erhalten zu können, kommt im Rahmen der pfle-
stände, die im Alter häufiger auftreten, können zu gerischen Betreuung älterer Menschen der Prophyla-
Veränderungen der Körperhaltung führen. xe von Haltungsschäden und Kontrakturen eine he-
Der sog. senile Haltungsschaden ist zumeist auf rausragende Stellung zu. Am Lebensbogen kommt die
eine Kombination der verschiedenen Ursachen zu- veränderte Körperhaltung Betagter auf eine besonde-
rückzuführen. Er führt zu einer Unsicherheit beim re Art und Weise zum Ausdruck (Abb. 26.9).
Stehen und Gehen, was oft mit einer Einschränkung
der Balancefähigkeit einhergeht und die Sturzgefahr Zusammenfassung:
bei älteren Menschen erhöht. Da Erkrankungen wie Besonderheiten bei Kindern und älteren
Morbus Parkinson oder auch Apoplexia cerebri über- Menschen
wiegend im höheren Lebensalter auftreten, sind die Zu den angeborenen Haltungsstörungen gehören
typischen Veränderungen der Körperhaltung ent- die Skeletthypoplasie und die Chondrodystrophie.
sprechend häufig bei betagten Menschen zu beob- Bei alten Menschen ist eine Flexionshaltung typisch.
achten. Dem senilen Haltungsschaden liegt eine Kombina-
26
Allgemein ist zu beachten, dass eine zunächst nur tion von verschiedenen Ursachen zugrunde.
geringfügige Haltungsstörung bei älteren Menschen Die Prophylaxe von Haltungsschäden und Kontrak-
oft nach nur wenigen Tagen der Bettruhe auch bei mi- turen ist gerade bei älteren Menschen wichtig.
nimalen Erkrankungen erheblich zunehmen kann.

Frühling des Lebens Sommer des Lebens Herbst des Lebens

Morgen des Lebens Mittag des Lebens Lebensabend

Keimen des Lebens Frucht des Lebens Ernte des Lebens

Reife

Wachstum Welken

Entstehen Vergehen

Erwachsener

Jugend frühes
Alter
(Senior)

hohes
Kindheit Alter
(Greis)

Biographie - Lebensgeschichte
Empfängnis Sterben/
Geburt Tod

Abb. 26.9 Lebensbogen

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 439


KaelDesu
26 Körperhaltung

26.6 Fallstudien und mögliche Kontrakturgefahr (P)


Pflegediagnosen (Gordon 2013, S. 270 – 271, NANDA-I 2016)
Risk for Joint Contractures
Veränderungen der Körperhaltung gehen zumeist Diagnosetyp (Dokumentationsform): Risikopflege-
mit Einschränkungen der Beweglichkeit und diagnose (PR)
Schmerzen bei der Ausführung von Bewegungen Funktionelles Gesundheitsverhaltensmuster:
einher. Dies kann bei jüngeren Menschen bis zur Be- Aktivität und Bewegung
rufsunfähigkeit führen. Aus Haltungsschäden kön-
Definition
nen, je nach Ausprägung und Schweregrad, darüber
Vorliegen von Risikofaktoren einer Verkürzung von
hinaus auch kosmetische Probleme und Störungen
Sehnen in beweglichen Gelenken (Rücken, Kopf, obere
der Einstellung zum eigenen Körper entstehen. Be-
und untere Extremitäten)
sondere Bedeutung in der Pflege hat die Prophylaxe
möglicher Kontrakturen. Risikofaktoren (R)
26 Verlust der willkürlichen muskulären Haltungs-
Beispiel: Herr Sperlich (70 Jahre) wurde mit kontrolle
der prolongierte Beugung im Sitzen oder Liegen
Diagnose „Entgleister Diabetes mellitus“ in Spastizität
die Klinik eingewiesen. Auffällig ist eine Spastizität der Angaben über Schmerzen oder Beschwerden bei
rechten Körperhälfte. Die Ehefrau berichtet, dass ihr Bewegung
erzwungene Einschränkungen der Gelenkbewegung
Mann vor einigen Wochen einen Schlaganfall
(z. B. durch einen Gipsverband, Traktion)
erlitten und sich seitdem die Spastizität ausgebildet
einnehmen abnormer Haltungen infolge psycho-
hat. Frau Sperlich pflegt und unterstützt ihren Mann,
sozialer Faktoren oder eines kognitiven Defizits.
der fast den ganzen Tag über im Bett liegt, zu Hause al-
lein. Interessiert schaut Frau Sperlich bei allen Pflegeergebnis (Outcome)
pflegerischen Maßnahmen zu und fragt nach Möglich- Gelenkbewegung (Joint Motion)
keiten zur Verminderung und Vermeidung einer weite- Funktionelle Gelenkbeweglichkeit
ren Ausprägung der Spastizität. Tab. 26.2 zeigt einen
Auszug aus dem Pflegeplan von Herrn Sper-
lich. Für Herrn Sperlich könnte die Pflegediagnose „Kon-
Die Pflegediagnose sähe für diesen Fall wie in der fol- trakturgefahr b/d Spastizität“ gestellt werden.
genden Übersicht dargestellt aus:
Beispiel: Sara ist ein sehr lebhaftes Kind. Sie
besucht mit Begeisterung die Ballettschule
und geht regelmäßig zum Bodenturnen. Mit
5 Jahren entdeckte die Mutter bei Sara ein deutliches

Tab. 26.2 Auszug aus dem Pflegeplan von Herrn Sperlich

Pflegeproblem Ressource Pflegeziele Pflegemaßnahmen

Kontrakturgefahr aufgrund Ehefrau ist sehr interessiert NZ: 쐌 Information von Herrn Sperlich über:
einer schmerzhaften Spasti- an allen pflegerischen Maß- 쐌 Herr Sperlich kennt die – Bobath-Konzept
zität bei Hemiplegie rechts nahmen, unterstützt ihren Prinzipien des Bobath- – Lagerung als Teil des Konzeptes (Spas-
nach Apoplexia cerebri Ehemann Konzeptes tizitätshemmung)
쐌 Herr Sperlich weiß um die – Hinweis, sich bei lagebedingten
Notwendigkeit der Lage- Schmerzen zu melden
rung und – Entfernen des Patientenaufrichters
akzeptiert diese 쐌 Bobath-Lagerung nach Plan (im Zimmer)
쐌 Herr Sperlich meldet sich 쐌 zu den Mahlzeiten an den Tisch setzen
bei Schmerzen 쐌 Absprache mit Physio- und Ergothera-
peuten bzgl. der Mobilisation
쐌 Einbezug der Ehefrau bei allen pflegeri-
schen Maßnahmen und Erläuterung des
Bobath-Konzeptes

440 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
26.6 Fallstudien und mögliche Pflegediagnosen

Sara kann aufgrund des Korsetts schlecht einschlafen,


da sie ihre normale Schlafposition nicht einnehmen
kann. Zudem ist sie sehr traurig, da sie ihren bisherigen
Hobbys (Ballett, Turnen) nicht nachgehen kann.
Die Eltern von Sara achten sehr auf das Tragen des Kor-
setts und versuchen, ihre Tochter soweit als möglich zu
unterstützen.
Aus der Therapie der Fehlhaltung, dem Tragen des Kor-
setts, kann sich eine Reihe von Problemen ergeben, wo-
bei ein Beispiel hierfür in Tab. 26.3 dargestellt ist.

Eine mögliche Pflegediagnose für einen solchen Fall


zeigt die folgende Übersicht:

26
Verzögerte(s) Wachstum und Entwicklung
(P)*
(Gordon 2013, S. 305 – 306, NANDA-I 2016)
Delayed growth and development (00111) (1986)
Taxonomie II: Domäne 13: Wachstum/Entwicklung,
Klasse 1: Wachstum, Klasse 2: Entwicklung
Abb. 26.10 Skoliose-Korsett nach Dr. Chéneau. In der Rumpf-
orthese wird die Wirbelsäule aufgerichtet Diagnosetyp (Dokumentationsform): aktuelle Pflege-
diagnose (PES)
Funktionelles Gesundheitsverhaltensmuster:
Aktivität und Bewegung
Hervortreten des rechten Schulterblatts. Der Besuch
beim Orthopäden ergab eine Wirbelsäulenverbiegung Definition
mit Thorakalauskrümmung auf 17⬚. Die Diagnose lau- Abweichungen von altersentsprechenden Normen
tete idiopathische Skoliose linkskonvex. Es folgte eine
Einflussfaktoren (E)
2-jährige krankengymnastische Therapie, die jedoch
unzureichende Fürsorge
ohne Erfolg blieb. Nun hat Sara eine Wirbelsäulenver-
Gleichgültigkeit
biegung thorakal von 31⬚ und Lendenwirbelbereich
von 16⬚, weshalb jetzt eine Therapie mit einem Che-
* Siehe „Verzögerte(s) Wachstum und Entwicklung“:
neau-Korsett (Abb. 26.10) eingeleitet wurde. Das Kor-
soziale, sprachliche und kommunikative Fertigkeiten
sett soll zunächst 23 Std./Tag getragen werden.

Tab. 26.3 Auszug aus dem Pflegeplan von Sara

Pflegeproblem Ressource Pflegeziele Pflegemaßnahmen

Sara ist traurig, da sie auf- Die Eltern unterstützen Sara Sara 쐌 Erklärung der Notwendigkeit des Tragens
grund des Korsetts ihren 쐌 hat eine ausgeglichene des Korsetts
Hobbys nicht nachgehen Stimmungslage 쐌 gemeinsam mit den Eltern Vorlieben von
kann 쐌 akzeptiert das Korsett Sara herausfinden und nach entspre-
und sieht die Notwendig- chenden Freizeitangeboten suchen
keit ein 쐌 Einbeziehung von Freundinnen in die
Freizeitgestaltung
Sara kann nicht einschlafen, 쐌 findet neue Möglichkei- 쐌 Sara verschiedene Kissen zur Unterstüt-
da das Korsett ihre gewohn- ten der Freizeitgestal- zung der Schlafposition anbieten
te Schlafhaltung verhindert tung 쐌 verschiedene Positionen ausprobieren
쐌 Sara findet eine Schlafpo- lassen und die jeweilige Lage dabei nach
sition, bei der das Korsett Wunsch durch Kissen unterstützen
sie möglichst wenig be-
hindert

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 441


KaelDesu
26 Körperhaltung

Fazit: Die Körperhaltung ist ein wesentliches


inkonstante Reaktionen Element der Körpersprache eines Menschen.
mehrere Pflegende/Betreuer
Neben ihrer Ausdrucksfunktion für die emo-
Trennung von engen Bezugspersonen
tionale Verfassung lässt sie auch Rückschlüsse auf ver-
Umgebungsbezogene Mängel (und Mangel an
schiedene Erkrankungen zu. Haltungsstörungen, Hal-
Stimulation)
tungsschäden, Zwangs- und Schonhaltungen sowie
Reizmangel
Kontrakturen führen zu Abweichungen von der nor-
Auswirkungen einer körperlichen Beeinträchtigung
malen Körperhaltung. Die hierdurch entstehenden Ein-
angeordnete Ruhe (Abhängigkeit)
schränkungen beziehen sich in erster Linie auf die be-
Kennzeichen oder Symptome (S) einträchtige und häufig schmerzhaft veränderte Be-
Verzögerung oder Schwierigkeiten, motorische, so- weglichkeit des betroffenen Menschen.
ziale oder expressive Fertigkeiten, die typisch für die
Altersgruppe sind, auszuführen
verändertes physisches Wachstum
26 Unfähigkeit, altersgerechte Selbstfürsorgeaktivitä- Literatur:
ten durchzuführen
Unfähigkeit, altersgerechte Handlungen der Selbst- Baumann, T.: Atlas der Entwicklungsdiagnostik: Vorsorgeun-
kontrolle durchzuführen tersuchungen von U1 bis U10/J1. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart
2015
Verzögerung im Ausführen von Fertigkeiten, die ty-
Füsgen, J. (Hrsg.): Der ältere Patient. Problemorientierte Diag-
pisch sind für die Altersgruppe
nostik und Therapie. 3. Aufl. Urban & Fischer, München
Schwierigkeiten im Ausführen von Fertigkeiten, die
2000
typisch sind für die Altersgruppe Gordon, M.: Handbuch Pflegediagnosen. 5. Aufl. Hans Huber,
flache Affekte Hogrefe AG, Bern 2013
Antriebslosigkeit Gortner, L., S. Meyer, F. C. Sitzmann: Duale Reihe Pädiatrie.
4. Aufl Thieme, Stuttgart 2012
Pflegeergebnis (Outcome) Hoehl, M., P. Kullick (Hrsg.): Gesundheits- und Kinderkranken-
Wachstum (Growth) pflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012
Erreicht Meilensteine körperlichen, kognitiven und Hornung, R., J. Lächler: Psychologisches und soziologisches
Grundwissen für Gesundheits- und Krankenpflege.
psychosozialen Wachstums
10. Aufl. Bletz, Weinheim 2011
Köther, I.: Altenpflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2016
NANDA International: Pflegediagnosen. Definitionen und
Folgende Pflegediagnose könnte für Sara formuliert Klassifikation 2015 – 2017. Herdman, T. H., S. Kamitsuru
werden: (Hrsg.): RECOM, Kassel 2016
„Verzögertes Wachstum und verzögerte Entwicklung Niethard, F. U.: Kinderorthopädie. 2. Aufl. Thieme, Stuttgart
b/d (beeinflusst durch) Auswirkungen von körperli- 2009
Pschyrembel Klinisches Wörterbuch. 264. Aufl. de Gruyter,
chen Behinderungen
Berlin 2014
a/d (angezeigt durch) Schwierigkeiten bei der Durch-
Schewior-Popp, S., F. Sitzmann, l. Ullrich (Hrsg.): Thiemes Pfle-
führung von altersentsprechenden Fähigkeiten und ge. 13. Aufl. Thieme, Stuttgart 2017
Fertigkeiten (motorisch, sozial oder auf das Aus- Schwegler, J., R. Lucius: Der Mensch. Anatomie und Physiolo-
drucksvermögen bezogen)“. gie. 6. Aufl. Thieme, Stuttgart 2016
Wirsing, K.: Psychologisches Grundwissen für Altenpflegebe-
rufe. 5. Aufl. Beltz Psychologie Verlags Union, Weinheim
2000

442 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu

27 Gang
Marion Weichler-Oelschlägel

Übersicht
Einleitung · 443
27.1 Allgemeine Beobachtungskriterien und
Beschreibung des Normalzustands · 443
27.2 Abweichungen und Veränderungen des
Gangs und deren mögliche
Ursachen · 445
27.2.1 Spastischer Gang · 445
27.2.2 Hinken · 446
27.2.3 Steppergang · 446
27.2.4 Watschelgang · 446
27.2.5 Ataktischer Gang · 446
27
27.2.6 Brachybasie · 448
27.2.7 Paretischer Gang · 448
27.2.8 Zerebraler Gang · 448 Fortschritts. Ausdrücke wie „etwas in Gang bringen“,
27.2.9 Apraktischer Gang · 448 „es geht vorwärts“ und „alles wird seinen Weg ge-
27.2.10 Abasie · 448 hen“ zeigen diese Bedeutung auf.
27.3 Ergänzende Beobachtungskriterien · 448 Im nachfolgenden Kapitel sind verschiedene Stö-
27.4 Besonderheiten bei Kindern · 449 rungen des Gangs beschrieben, die nicht nur Hinwei-
27.4.1 Physiologie des Gehens · 449 se auf die Stimmungslage eines Menschen, sondern
27.4.2 Gehstörungen · 449 auch auf mögliche Erkrankungen geben können.
27.5 Besonderheiten bei älteren
Menschen · 451 27.1 Allgemeine
27.6 Fallstudien und mögliche Beobachtungskriterien und
Pflegediagnosen · 452
Beschreibung des
Fazit · 455
Literatur · 455 Normalzustands

Schlüsselbegriffe: Der Gang beim Gesunden ist mehr oder weniger aus-
geprägt und individuell, er erweckt nur in seltenen
왘 Gangstörungen (Dysbasien) Fällen Aufmerksamkeit. Der Körper ist dabei auf-
recht, der Kopf sitzt gerade auf dem Rumpf auf und
Einleitung beide Arme hängen locker an den Körperseiten he-
rab. Bei der normalen, physiologischen Gangart be-
Mit der Beobachtung von Körperhaltung und Bewe- wegt sich je ein Arm im Rhythmus mit dem gegen-
gung ist auch der Gang eng verbunden. Ebenso wie überliegenden Bein vorwärts. Die dabei entstehen-
diese beiden Bereiche kann er als ein nonverbales den Schritte des Menschen sind mäßig lang und im-
Ausdrucksmittel für die physische und psychische mer gleich weit. Die Füße sind normalerweise leicht
Verfassung eines Menschen angesehen werden. Oft- nach außen rotiert.
mals können Personen, die einem gut bekannt sind, Das Gehirn koordiniert bei jedem Schritt die Be-
bereits von Ferne an ihrem typischen Gang erkannt wegungen in der Hüfte, in den Knien und in den Fü-
werden. Dies zeigt, dass der Gang auch die Individua- ßen. Erst durch die Anhebung der Hüfte, die visuell
lität eines Menschen unterstreicht. Selbst- und Kör- kaum erkennbar ist, werden die Füße vom Boden ab-
perbewusstsein spiegeln sich im Gang wider. gerollt. Werden sie wieder aufgesetzt, so berühren
Daneben hat er eine weitere Funktion, er bietet zuerst die Fersen den Boden.
nämlich die Möglichkeit der Entwicklung und des

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 443


KaelDesu
27 Gang

Voraussetzung für das normale Gehen ist ein Das Gehen gilt als sog. Urbild eines jeden Prozesses
Gleichgewicht und ein Antrieb nach vorn. Beim ge- und fordert gleichzeitig unseren ganzen Organismus
nauen Beobachten ist festzustellen, dass ein gesun- heraus. Einmal im Kleinkindalter erlernt, geschieht
der Gang harmonisch, leicht, rhythmisch und be- es unwillkürlich und jeder gesunde Mensch geht
schwerdefrei ist. Er erlaubt dem Gehenden eine gro- ganz selbstverständlich und natürlich, ohne dass ihm
ße Variationsbreite und prägt durch den jeweiligen das Gehen und der dabei von ihm persönlich entwi-
Rhythmus, den Schritt und die Intensität beim Auf- ckelte Bewegungsablauf direkt bewusst sind. In der
setzen der Füße die Individualität eines Menschen. chinesischen Kultur wird der Mensch als ein „Gehen-
Der Gang lässt sich mit vielen Eigenschaftswör- der“ bezeichnet (Abb. 27.1).
tern beschreiben, wie die folgende Übersicht zeigt:

Beispiele für Beschreibungen des Gangs

27 A H R T Z
ängstlich hastig rennend tastend ziehend
aufrecht hetzend rhythmisch taumelnd zielstrebig
hinkend torkelnd zitternd
B humpelnd S trippelnd zögernd
balancierend schaukelnd zusammengesackt
bedächtig K schlaff U
beschwingt kraftlos schleichend unregelmäßig
kraftvoll schlendernd unrhythmisch
D krumm schleppend unsicher
dynamisch schlurfend
L schnell V
E langsam schwankend verkrampft
eckig leichtfüßig schwerfällig verschoben
eingeknickt locker schwungvoll vorsichtig
selbstbewusst
F M sicher W
federnd marschierend spastisch wandelnd
fliegend müde springend wankend
staksend wiegend
G N stampfend wippend
gebrechlich nachziehend steif
gebeugt stelzend
gebückt P stockend
gedämpft polternd stolpernd
gehetzt stolz
getrieben

444 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
27.2 Abweichungen und Veränderungen des Gangs und deren mögliche Ursachen

Alle diese Beobachtungen sind richtungsweisen-


de Faktoren. Der Gang ist ein mögliches Kriterium
zur Beurteilung der Gestimmtheit eines Menschen.
Zur genauen Beurteilung seiner psychischen Verfas-
sung müssen jedoch weitere Kriterien, wie z. B. Mi-
mik, Gestik und/oder Sprache, beachtet werden. Nur
so lässt sich ein annähernd vollständiges Bild ent-
werfen.

!
Merke: Bei der Beobachtung und Einschät-
zung der Körperbewegung und der psy-
chischen Verfassung eines Menschen ist der
Gang ein wichtiges zusätzliches Beobachtungskriteri-
um.

27.2 Abweichungen und


27
Abb. 27.1 Chinesisches Zeichen für Mensch: ein Gehender
Veränderungen des Gangs
und deren mögliche
Ganz wesentlich wird der Gang durch die Augen Ursachen
kontrolliert. Darüber hinaus sind das Gleichge-
wichtsorgan im Innenohr sowie Rezeptoren in den Abweichungen vom physiologischen Gang, sog. Dys-
Gelenkkapseln, Sehnen und Bändern für die Gang- basien, können Rückschlüsse auf bestimmte Erkran-
steuerung zuständig. kungen, Behinderungen oder, unter Vorbehalt, über
Die individuelle Gangart des einzelnen Menschen die Stimmung eines Menschen geben.
ist abhängig von unterschiedlichen Faktoren. In der Veränderungen des Gangbilds können auf folgen-
Regel wird der Gang eines jungen Menschen als eher de Zustände bzw. Erkrankungen hinweisen:
leichtfüßig zu beobachten sein, der eines Betagten Nachlässigkeit,
hingegen als verhältnismäßig schwer. In einer leich- schlechte Angewohnheit,
ten bzw. schwerfälligen Gangart kommt nicht nur Müdigkeit,
zum Ausdruck wie der Gehende mit den Bodenver- psychische Erkrankungen wie z. B. Depressionen,
hältnissen zurechtkommt, sondern gleichzeitig sei- Schizophrenie,
ne Stimmung und seine körperliche Konstitution. physische Erkrankungen wie z. B. angeborene
Ein fröhlicher Mensch mit einer vornehmlich po- oder erworbene Skelettsystemerkrankungen,
sitiven Lebenseinstellung geht schwingend, der da- Muskelerkrankungen, Erkrankungen von Nerven
bei zu beobachtende Bewegungsablauf hat etwas oder des Zentralnervensystems, Durchblutungs-
Leichtes und Befreites an sich. Ein müder Mensch hat störungen.
einen eher schleppenden Gang, sein Körper kann
leicht nach vorn geneigt sein, seine Füße werden nur Störungen des Gangs werden „Dysbasie“ genannt
wenig vom Boden gehoben. Bei der Beobachtung sei- und wie folgt bezeichnet und beschrieben:
nes Gangs ist nichts Schwungvolles oder Anmutiges
erkennbar. 27.2.1 Spastischer Gang
Im Weiteren kommen auch das Selbstbewusst- Definition: Der spastische Gang ist eine varia-
sein und das Selbstwertgefühl eines Menschen durch ble Gangstörung mit mehr oder minder ausge-
die Art seines Gehens zum Ausdruck. Eine sehr prägter Verkrampfung (Spastizität) der betroffe-
selbstbewusste Person tritt fest auf den Boden, eine nen Beinmuskulatur wie sie bei Hirnschäden, z. B. bei
Person deren Selbstbewusstsein wenig ausgeprägt einem Apoplex mit Halbseitenlähmung, auftreten
ist, wird eher alles dafür tun, nicht aufzufallen und kann (s. a. S. 402).
sich entsprechend geräuscharm durch das Leben zu
bewegen. Beim spastischen Gang ist das betroffene Bein nach
außen rotiert und wird unter Beschreibung eines

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 445


KaelDesu
27 Gang

Halbkreises vom Körper zunächst weg- und danach Zusammenfassung:


herangeführt (Zirkumdiktion). Der betroffene Fuß Allgemeine Beobachtungskriterien sowie
schleift über den Boden hinweg und es ist ein schlur- Abweichungen und Veränderungen des Gangs
fendes Geräusch zu hören. Der betroffene Arm ist Der Gang wird durch das Gleichgewichtsorgan im
schwach und bis zu einem gewissen Grad steif, ge- Innenohr und Rezeptoren in den Gelenkkapseln,
beugt und schwingt in einer eher unnatürlichen Sehnen und Bändern gesteuert.
Weise beim spastischen Gehen mit. Der spastische Es besteht ein Zusammenhang zwischen Gang und
Gang kann als langsam, steif und schlurfend charak- Stimmung bzw. körperlicher Verfassung des Men-
terisiert werden (Abb. 27.2). schen.
Sind beide Beine von der Spastik betroffen, wird Störungen des Gangs werden Dysbasien genannt
dies auch als paraparetischer Gang bezeichnet. Hier- und lassen Rückschlüsse auf Stimmung, Behinde-
bei ist die gesamte Beugung steif, der Rumpf wird rung oder Erkrankung eines Menschen zu.
ruckartig bewegt, wodurch die Fortbewegung unter- Der spastische Gang kann einseitig oder beidseitig
stützt wird. Eine beidseitige Spastik kommt häufig (paraparetischer Gang) auftreten.
bei Verletzungen des Rückenmarks, der Multiplen Beim Hinken unterscheidet man Verkürzungs-, Ver-
Sklerose oder spinalen Tumoren vor. steifungs-, Lähmungs- und Schmerzhinken.
27
27.2.2 Hinken 27.2.3 Steppergang
Diese Gangstörung tritt bei der Ausbildung eines
Definition: Als Hinken wird die ein- oder beid-
Spitzfußes auf. Der nach vorn geführte Fuß schleift
seitige Gangstörung mit unregelmäßigem
mit der Zehenspitze auf dem Boden. Häufig werden
Schrittmaß und/oder abnormem Schrittrhythmus be-
die Beine von den betroffenen Menschen durch eine
zeichnet.
starke Beugung des Hüft- und Kniegelenks extrem
angehoben, um dieses Schleifen zu vermeiden. Die
Das Hinken kann vorübergehend, zeitweise oder
Kniegelenke scheren aneinander vorbei.
auch als Dauerzustand auftreten. In Abhängigkeit
Bei einseitigem Auftreten ist oftmals eine Läh-
von der jeweiligen Ursache wird zwischen einem
mung des N. peronaeus, welcher für die Versorgung
Verkürzungs-, Versteifungs-, Lähmungs- oder
der Muskeln am Schienbein zuständig ist, verant-
Schmerzhinken unterschieden.
wortlich. Bei beidseitigem Auftreten liegt meist eine
Das zeitweise Hinken ist eindrücklich bei der Er-
Neuropathie zugrunde. Da der herabhängende Fuß
krankung Claudicatio intermittens (Schaufenster-
mit der Spitze zuerst und nach abnorm starkem He-
krankheit) im Rahmen der arteriellen Verschluss-
ben des Beins mit einem klappenden Geräusch auf-
krankheit (AVK) zu beobachten. Die betroffenen
gesetzt wird, wird er als Steppergang bezeichnet
Menschen können nur kurze Strecken gehen, bis
(Abb. 27.2).
durch die arterielle Durchblutungsstörung Schmer-
zen entstehen und mit dem Hinken des betroffenen
27.2.4 Watschelgang
Beins reagiert wird. Die durch Arteriosklerose be-
Beim Watschelgang neigt sich das Becken jeweils zur
dingte Gangstörung wird auch als Dysbasia arterio-
Seite des sog. Spielbeins, d. h., zu dem gerade nicht
sclerotica bezeichnet.
belasteten Bein. Eine Schwäche der Glutealmuskeln
Eine Schwäche der Hüftabspreizmuskulatur ist
oder Hüftgelenksverrenkungen gelten als Ursache
verantwortlich für das sog. Insuffizienzhinken. Darü-
für diese Gangstörung. Hierbei kann das Becken nicht
ber hinaus sind auch psychogene Ursachen für das
zusammen mit dem Bein gehoben werden. Es kommt
Auftreten eines hinkenden Gangs denkbar. Die Be-
zum „Watscheln“ von einer Seite zur anderen.
troffenen versuchen während des Gehens mit dem
Oberkörper ein gegenregulierendes Pendeln. Sind
27.2.5 Ataktischer Gang
beide Seiten von der Muskelinsuffizienz betroffen,
Der ataktische Gang wird auch als lokomotorische
meist durch Myopathien, ist der typische „Enten-
Ataxie bezeichnet. Diese Gangstörung ist durch ei-
oder Watschelgang“ beobachtbar.
nen unsicheren und breitbeinigen Gang zum Aus-

446 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
27.2 Abweichungen und Veränderungen des Gangs und deren mögliche Ursachen

gleich der Instabilität und durch ausfahrende Bein- rupt vor- und auswärts. Der Körper ist leicht gebeugt,
bewegungen gekennzeichnet. Darüber hinaus zeigen die Schrittfolge von unterschiedlicher Länge und das
sich ein übertriebenes Anheben und ein hackendes Gewicht wird von den Betroffenen teilweise auf ei-
Aufsetzen der Füße. nen Gehstock verlagert (Abb. 27.2).
Weitere beobachtbare Symptome sind abrupte Störungen der Sensibilität in den Füßen, chroni-
Bewegungen und ein aufmerksames Beobachten des scher Alkoholkonsum und das Endstadium der Lues
Bodens und der Füße durch die Betroffenen. Kommt sind potenzielle Ursachen für die Ataxie. Sie gehen
die Person zum Gehen, so schnellen ihre Beine ab- mit einem Ausfall peripherer Nerven einher, sodass

Abb. 27.2 a – e Gangstörungen: a spasti-


scher Gang bei Hemiplegie b Steppergang
c sensible Ataxie d zerebelläre Ataxie
e Brachybasie bei Morbus Parkinson

27

a b c

d e

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 447


KaelDesu
27 Gang

die normale Bewegungslage und das Vibrationsemp- Selbst wenn bestimmte motorische Funktionen der
finden gestört sind. Erkrankungen des Kleinhirns Beine bestehen bleiben, sind die betroffenen Men-
(Zerebellum) führen zur sog. zerebellären Ataxie, bei schen nicht in der Lage, eine Bewegung zu beginnen.
der das Gangbild ähnlich ist, die Gangunsicherheit Diese Beobachtung kann beispielsweise bei Perso-
aber nicht durch den Blickkontakt auf den Boden ge- nen mit einem normotonen Hydrozephalus gemacht
mindert wird (Abb. 27.2). werden.

27.2.6 Brachybasie 27.2.10 Abasie


Definition: Als Brachybasie wird ein klein- Definition: Als Abasie wird die psychisch oder
schrittiger, steifer und schlurfender Gang be- organisch bedingte Gangunfähigkeit bezeichnet.
zeichnet, der auch festinierender Gang genannt
wird. Sie tritt häufig in Kombination mit der sog. Astasie,
der Unfähigkeit oder mangelnden Festigkeit des Ste-
Er tritt bei der Erkrankung Morbus Parkinson oder hens, auf. Die Kombination wird dann als Astasie-
auch im sehr hohen Lebensalter auf. Charakteristisch Abasie-Syndrom bezeichnet. Sie kann sowohl psy-
für diese Gangstörung ist eine unfreiwillige Be- chisch bedingt sein, als auch auf eine Erkrankung des
27 schleunigung der Ganggeschwindigkeit. Der Ober- Kleinhirns hinweisen.
körper der Betroffenen ist nach vorn gebeugt, die Ar-
me schwingen nicht mit und die Füße können kaum Zusammenfassung:
vom Boden gelöst werden. Zum Umdrehen ist eine Gangstörungen
vermehrte Anzahl von Schritten erforderlich. Beim Watschelgang liegt eine Störung der Gluteal-
Insgesamt kommen diese Menschen schwer aus muskeln oder eine Hüftgelenksverrenkung vor.
dem Stand in die Vorwärtsbewegung. Sind sie jedoch Beim ataktischen Gang sind die normale Bewe-
erst einmal am Gehen, werden die Schritte unfreiwil- gungslage und das Vibrationsempfinden gestört,
lig immer schneller. Es besteht oft das Problem, dass die zerebelläre Ataxie ist eine durch eine Erkran-
der Gang nicht mehr willentlich beendet werden kung des Kleinhirns ausgelöste spezielle Form.
kann, sodass der Betroffene Gefahr läuft, gegen eine Brachybasie ist durch unfreiwillige Beschleunigung
Wand oder Tür zu laufen oder zu fallen (Abb. 27.2). der Ganggeschwindigkeit charakterisiert.
Der paretische Gang tritt als schleppender Gang bei
27.2.7 Paretischer Gang einer Parese auf.
Definition: Als paretischer Gang wird eine va- Kennzeichen eines zerebralen Gangs sind Taumeln
riable Gangstörung mit schwach ausgeprägter und Unsicherheit beim Gehen.
schlaffer Lähmung der zugehörigen Beinmusku- Die Gangkoordination ist beim apraktischen Gang
latur, die einen meist schleppenden Gang bewirkt, be- gestört.
zeichnet. Eine Gangunfähigkeit wird als Abasie bezeichnet.

Diese Gangstörung kann bei einer Parese, d. h. einer


Lähmung vorkommen (s. a. S. 402). 27.3 Ergänzende
Beobachtungskriterien
27.2.8 Zerebraler Gang
Definition: Unter einem zerebralen Gang wird Gangstörungen sind häufig Folgen neurologischer
ein taumelnder, unsicherer Gang verstanden, Erkrankungen, wie z. B. Morbus Parkinson oder zere-
dessen Ursachen in einem übermäßigen Alko- braler Ischämie. Hier kommt es neben Gangstörun-
holkonsum, einer Kreislaufregulationsstörung oder ei- gen auch zu charakteristischen Veränderungen von
ner gestörten Kleinhirnfunktion liegen können. Mimik und Gestik (s. a. S. 414) sowie der Körperhal-
tung (s. a. S. 428) und der Bewegungen (s. a. S. 400).
27.2.9 Apraktischer Gang Bei orthopädischen Erkrankungen, wie z. B. Arthro-
Definition: Als apraktischer Gang wird die Be- sen, dienen Gangstörungen häufig zur Kompensation
einträchtigung bei der Gangkoordination be- von Schmerzen, sodass auch dieses Beobachtungs-
zeichnet. kriterium berücksichtigt werden muss.

448 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
27.4 Besonderheiten bei Kindern

Die Beobachtung des Gangs kann nie getrennt von geht mit Unterstützung an einer Hand. So lernt es,
der Beobachtung der weiteren Körperbewegungen sich zum Stand empor zu ziehen, die Treppen hinauf
werden, wie der Körperhaltung, der Mimik und der zu krabbeln, alleine zu stehen. Bis zum 12. Monat ist
Gestik. Da Veränderungen des normalen Gangs die kindliche Skelettmuskulatur den Verhältnissen
wichtige diagnostische Hinweise liefern können, bei Erwachsenen vergleichbar.
sollte seine Beobachtung nicht isoliert erfolgen. Der Mit dem Aufrichten des Menschen vom Vierfüß-
beobachtende Blick sollte sich vielmehr auf das Er- ler zum Zweifüßler erlangt das Hüftgelenk eine zent-
kennen eines Syndroms richten. rale Bedeutung für das Gehen und Stehen sowie für
das freie Laufen, was bis zum 15. Monat alleine und
in allen Richtungen möglich ist. Ab dem 18. Monat ist
27.4 Besonderheiten bei Kindern das Kind in der Lage, kleine Gegenstände beim Gehen
Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm aufzunehmen, mitzunehmen und abzulegen. Das
Kind lernt rückwärts zu laufen und Treppen zu stei-
27.4.1 Physiologie des Gehens gen (Abb. 27.3). Die benannten Zeitabläufe und Da-
Das Neugeborene ist mit physiologischen Reflexen ten stellen Mittelwerte dar. Es können erhebliche
ausgestattet, die bereits kurz nach der Geburt nach- Schwankungen vorkommen.
zuweisen sind, dazu gehört u. a. das Schreitphäno- 27
men. Es wird ausgelöst, indem das Kind von hinten 27.4.2 Gehstörungen
aufrecht mit beiden Händen unterhalb der Achsel- Bestimmte Erfahrungen und/oder Erkrankungen be-
höhlen gehalten wird. Die Fußsohlen berühren da- einflussen die körperlichen Funktionen und damit
bei eine Unterlage. In aufrechter Haltung macht das die biologische Entwicklung des Gehens. Die Ursa-
Kind Schreitbewegungen mit Streckung des berüh- chen für Gehstörungen sind vielfältig und für die ge-
renden Beines und Beugung und Streckung des an- samte Haltung des Kindes entscheidend. Zu den Ur-
deren Beines. Dieser Reflex ist bei einer normalen sachen zählen u. a. orthopädische Erkrankungen. Bei
Entwicklung nach 4 Monaten nicht mehr nachweis- Kindern mit einer Hüftdysplasie, einer angeborenen
bar. Fehlform des Hüftgelenkes, wird besonders bei ver-
Die körperliche Entwicklung eines Kindes ist im- späteter Diagnostik und somit verspätetem Thera-
mer in Abhängigkeit von der geistigen Entwicklung piebeginn das Gangbild beeinflusst. Die Kinder ler-
zu sehen (s. a. S. 406). Sind die körperlichen Struktu- nen verspätet laufen und zeigen einen watschelnden
ren weit genug entwickelt, benötigen diese Verhal- Gang. Bei frühzeitiger Diagnose erfolgt die Behand-
tensweisen eine angemessene Umgebung und einen lung konservativ durch Hüftspreizung unter Anwen-
Spielraum für Übungen, damit sie sich entwickeln dung von Spreizhosen und/oder Spreizbandagen. Ist
können. Die Reihenfolge der körperlichen und geisti- bereits eine Luxation des Hüftgelenkes erfolgt, wird
gen Entwicklung ist durch die Reifung (Prozess der diese operativ reponiert.
Veränderung in der Organisation der Körperfunktio- Weitere angeborene Haltungsanormalien sind
nen) festgelegt. Die einzelnen Entwicklungsschritte Fehlstellungen der Füße (Abb. 27.4). Dazu zählen der
bei der Entwicklung der Fortbewegung werden in Klumpfuß, der Sichelfuß und der Hackenfuß. Trotz
Abb. 27.3 aufgezeigt. einer insgesamt günstigen Prognose kann es bei kei-
Das in Bauchlage mögliche Heben von Kinn und ner oder einer erst spät einsetzenden Therapie zu ei-
Brust ist bis zum 3. Monat erreicht. Bis zum 4. Monat ner Fußdeformität kommen, die eine Beeinträchti-
kann sich das Kind in der Bauchlage auf die Unterar- gung der Lauflernentwicklung und des Gangbildes
me stützen und mit Unterstützung sitzen. Im 6. Mo- zur Folge hat. Auch hier ist der sehr frühe Einstieg in
nat dreht es sich vom Rücken auf den Bauch und nach die Therapie wichtig. Vielfach ist eine Langzeitbe-
einer Übergangsperiode beginnt es zu krabbeln, d. h. handlung in Form von regelmäßiger Fußgymnastik
es läuft auf Händen und Füßen. und die Anwendung von orthopädischem Schuh-
Ab dem 8. Lebensmonat kommt das Kind zum werk respektive Schienen nötig.
Vierfüßlerstand und über die Seitenverlagerung zum Eine Durchblutungsstörung des Hüftkopfes und
selbstständigen Sitzen. Bieten sich Gegenstände wie der Wachstumsfuge des Oberschenkels im Alter zwi-
z. B. Möbelstücke an, zieht es sich zum Zweifüßler- schen 3 und 9 Jahren hat einen Morbus Perthes (asep-
stand hoch. Zwischen dem 10. und 12. Monat steht tische Knochennekrose) zur Folge. Hier kommt es zu-
das Kind allein, geht an Möbeln entlang und/oder nächst zum Absterben des Knochens, doch durch das

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 449


KaelDesu
27 Gang

Abb. 27.3 Phasenabfolge bei der Entwick-


fetale Kinn Brust greifen, sitzen mit
lung des Gehens
Haltung anheben anheben aber Unter-
verfehlen stützung

Geburt 1 Monat 2 Monate 3 Monate 4 Monate


sitzen im Schoß, sitzen im Kinderstuhl, allein stehen mit
Objekt ergreifen sich bewegendes sitzen Unterstützung
Objekt
ergreifen

27 5 Monate 6 Monate 7 Monate 8 Monate


stehen mit krabbeln gehen mit sich zum Stand
festhalten Unterstützung emporziehen

9 Monate 10 Monate 11 Monate 12 Monate


Treppen allein allein
hinaufklettern stehen gehen

13 Monate 14 Monate 15 Monate

Wiedereinsprießen von Blutgefäßen findet ein stän- entzündlichen und/oder rheumatischen Gelenk-
diger Neuaufbau statt. Da dem Abbau ein ständiger erkrankungen,
Neuaufbau folgt, kommt es längerfristig zur Verfor- Osteomyelitis,
mung des Hüftkopfes (Arthrose). Die Beweglichkeit Zustand nach Frakturen,
ist eingeschränkt, und aufgrund von Schmerzen im Luxationen,
Hüftgelenk kommt es im Gangbild der Kinder zu ei- Dystorsionen,
nem leichten Verkürzungshinken. Weichteilerkrankungen,
Weitere Ursachen für ein hinkendes Gangbild Hämatombildung und
können ebenso wie bei den Erwachsenen auch im Knochentumoren.
Kindesalter vorkommende Schmerzen des Bewe-
gungsapparates sein. Schmerzen sind zu beobachten Weitere Ursachen für Gangauffälligkeiten bei Kin-
bei: dern sind neurologischen Ursprungs. Erkrankungen
des Nervensystems führen wie bei der Polyomyelitis,

450 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
27.5 Besonderheiten bei älteren Menschen

Abb. 27.4 Fußfehlstellungen und Fußfehl-


Normalfuß Hackenfuß Kletterfuß Klumpfuß Sichelfuß haltungen

27

einer Infektionskrankheit des Nervensystems, zur dische Ursachen, wie z. B. Gelenkinstabilitäten, ha-
Dysfunktion des Systems und als Folge zum Läh- ben können. Häufig hängen sie auch mit der Minde-
mungshinken. Eine als Ataxie bezeichnete Störung rung des Vibrationsempfindens an Füßen und Knö-
des geordneten Zusammenwirkens von Muskelgrup- cheln zusammen. Ebenfalls lässt sich mit zunehmen-
pen hat einen unsicheren Stand (Standataxie) und ei- dem Alter eine gewisse Steh- und Gehunsicherheit
nen torkelnden, taumeligen Gang (Gangataxie) zur beobachten, die vor allem bei fehlender Augenkon-
Folge. Die Ursachen liegen in Erkrankungen und trolle, z. B. im Dunkeln oder bei beeinträchtigter Seh-
Funktionsstörungen des Kleinhirns, z. B. Hirntumo- fähigkeit, auftritt. Dies führt zu Einschränkungen in
ren, und/oder des Rückenmarks, z. B. Multiple Skle- der Sicherheit der Betagten und nicht selten zu Stür-
rose. zen. Viele alte Menschen benutzen daher sinnvoller-
weise Gehhilfen, die ihnen eine größere Standfläche
und eine damit verbundene erhöhte Sicherheit er-
27.5 Besonderheiten bei älteren möglichen.
Menschen
Marion Weichler-Oelschlägel Zusammenfassung:
Besonderheiten bei Kindern und älteren
Im Zusammenhang mit beeinträchtigten Bewe- Menschen
gungsmöglichkeiten im Alter sind auch Veränderun- Die wichtigsten Gangstörungen bei Kindern sind
gen des Gangs zu beobachten. Insgesamt entwickelt hervorgerufen durch Hüftdysplasie, Fehlstellungen
sich mit zunehmendem Alter bei vielen Menschen, der Füße, Durchblutungsstörung (Morbus Perthes),
entsprechend der herabgesetzten Bewegungsfreu- Schmerzen des Bewegungsapparates oder neurolo-
digkeit, die Ganggeschwindigkeit zurück. gische Erkrankungen.
Die herabgesetzte Gelenkbeweglichkeit ist häufig Bei alten Menschen stehen Balanceschwierigkeiten
auf degenerative Gelenkveränderungen zurückzu- und Unsicherheit durch fehlende Augenkontrolle
führen, wodurch sich Knie- und Hüftgelenke nicht und herabgesetzte Gelenkbeweglichkeit als Ursa-
mehr ganz strecken lassen. Der Gang erscheint dem- chen für Gangstörungen im Vordergrund.
entsprechend vielfach schwerfällig. Auch die Schritt-
länge nimmt im Alter ab.
Generell kann es zu Balanceschwierigkeiten kom-
men, die neben zerebralen (s. a. S. 445) auch orthopä-

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 451


KaelDesu
27 Gang

27.6 Fallstudien und mögliche muskuloskelettale Beeinträchtigung (z. B. Kontrak-


Pflegdiagnosen turen)
neuromuskuläre Beeinträchtigung
Beispiel: Herr Fichtner ist 70 Jahre alt und Adipositas
hat sich vor 3 Wochen beim Fallen von einer Schmerzen
Hausleiter einen Oberschenkelhalsbruch zu- Kennzeichen oder Symptome (S)
gezogen. Herr Fichtner wurde operiert und mit einer Hauptkennzeichen
Oberschenkelgipshülse versorgt. Dadurch hat er (Eines oder mehrere der folgenden:)
Schwierigkeiten beim Gehen. Es ist ihm mit den Unter- beeinträchtigte Fähigkeit, Treppen zu steigen
armgehhilfen nicht möglich, Treppen zu steigen und beeinträchtigte Fähigkeit, erforderliche Strecken zu
den Stationsflur ohne Unterbrechung einmal auf- und gehen
abzugehen (30 m). Herr Fichtner klagt schnell über Er- beeinträchtigte Fähigkeit, aufwärts zu gehen
schöpfung, möchte jedoch aktiv an seiner Gesundung beeinträchtigte Fähigkeit, abwärts zu gehen
mitwirken. Er erhält regelmäßigen Besuch von seiner beeinträchtigte Fähigkeit, auf unebenen Flächen zu
Ehefrau, seinen beiden Kindern und den Enkelkindern. gehen
27 Tab. 27.1 zeigt einen Auszug aus dem Pflegeplan von beeinträchtigte Fähigkeit, über Bordsteine zu stei-
Herrn Fichtner, eine mögliche Pflegediagnose ist in der gen
folgenden Übersicht dargestellt: Empfohlene Klassifikation des Funktionsniveaus:
Grad I: benötigt Vorrichtungen oder Hilfsmittel
Grad II: benötigt zur Unterstützung, Überwachung
Beeinträchtigte Gehfähigkeit (spezifiziere und Anleitung Hilfe durch eine oder mehrere
Grad) (P) andere Personen
(Gordon 2013, S. 263 – 264, NANDA-I 2016) Grad III: benötigt Hilfe durch andere Personen und
Impaired walking (00088) (1998, 2006, LOE 2.1) Vorrichtungen oder Hilfsmittel
Taxonomie II: Domäne 4: Aktivität/Ruhe, Grad IV: abhängig; beteiligt sich nicht an der Bewe-
Klasse 2: Aktivität/Bewegung gung

Diagnosetyp (Dokumentationsform): aktuelle Pflege- Pflegeergebnis (Outcome)


diagnose (PES) Mobilität (Mobility)
Funktionelles Gesundheitsverhaltensmuster: Die Fähigkeit, sich im eigenen Umfeld mit oder ohne
Aktivität und Bewegung Hilfsmittel unabhängig zielgerichtet zu bewegen
(spezifiziere zu erreichenden Grad)
Definition
Einschränkung, sich unabhängig zu Fuß in der Umge- Risikogruppen
bung zu bewegen Personen mit . . .
sensomotorischen Ausfällen
Einflussfaktoren (E)
schwerer Arthritis
kognitive Beeinträchtigung
starker Schwäche
Konditionsabbau
Gliedmaßenamputation
depressive Stimmungslage
umgebungsbedingte Einschränkungen (z. B. Bett-
höhe, unzureichender Platz, Art des Rollstuhls,
Für Herrn Fichtner könnte folgende Pflegediagnose
Behandlungsgeräte, freiheitsbeschränkende Maß-
gestellt werden:
nahmen)
„Beeinträchtigte Gehfähigkeit“ Grad I
Angst (Furcht) zu stürzen
beeinflusst durch (b/d)
Beeinträchtigung des Gleichgewichts
beeinträchtigtes Sehvermögen
neuromuskuläre Beeinträchtigung nach Oberschen-
ungenügende Muskelkraft kelhalsbruch
Wissensdefizit angezeigt durch (a/d)
begrenzte Ausdauer die beeinträchtigte Fähigkeit, Treppen zu steigen
und
die beeinträchtigte Fähigkeit, über eine erforder-
liche Strecke zu laufen.

452 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
27.6 Fallstudien und mögliche Pflegdiagnosen

Tab. 27.1 Auszug aus dem Pflegeplan von Herrn Fichtner

Pflegeproblem Ressourcen Pflegeziele Pflegemaßnahmen

Herr Fichtner ist aufgrund 쐌 Herr Fichtner erhält regel- NZ: 쐌 Information über und Anleitung zum
der Oberschenkelgipshülse mäßigen Besuch von sei- 쐌 Herr Fichtner kennt den Umgang mit Unterarmgehhilfen und
und schneller Ermüdung ner Familie Umgang mit Unterarm- Treppensteigen
nicht in der Lage, Treppen 쐌 Herr Fichtner möchte ak- gehhilfen 쐌 individuelles Übungsprogramm: 3 ⫻ tgl.
zu steigen und eine Weg- tiv an der Gesundung 쐌 Herr Fichtner kann Trep- je 15 m Wegstrecke, ab 3. Tag tägl. 5 m
strecke von 30 m ohne Un- mitwirken pen ohne fremde Hilfe steigern, 1 ⫻ tgl. Treppenübung durch
terbrechung zurückzulegen steigen Physiotherapeut, Angehörige bei Übun-
쐌 Blutdruck und Puls von gen mit einbeziehen
Herrn Fichtner sind vor/ 쐌 Blutdruck und Puls vor/während/nach
während/nach den Übun- der Übung kontrollieren und dokumen-
gen im Normbereich tieren
쐌 Herr Fichtner kann eine 쐌 Beobachtung von Mimik/Gestik und
Wegstrecke von 30 m bis Schweiß auf Erschöpfungszeichen
zum Anfang nächster Wo-
che 1 ⫻ tgl. ohne Unter-
brechung zurücklegen

27
Beispiel: Thomas ist 11 Jahre alt. Nach ei-
nem schweren Fahrradunfall wurde er mit Beeinträchtigte körperliche Mobilität (P)
einem SHT (Schädel-Hirn-Trauma) 3. Grades (Gordon 2013, S. 272 – 275, NANDA-I 2016)
auf die Intensivstation aufgenommen. Da er keinen Impaired physical mobility (00085) (1973, 1998)
Fahrradhelm trug, kam es bei dem Unfall u. a. zu einer Taxonomie II: Domäne 4: Aktivität/Ruhe,
intrazerebralen Blutung mit einer über 7 Tage dauern- Klasse 2: Aktivität/Bewegung
den Bewusstlosigkeit und sensorischen Ausfällen, Diagnosetyp (Dokumentationsform): aktuelle Pflege-
bedingt durch eine Funktionsstörung des Kleinhirns. diagnose (PES)
Thomas befindet sich seit 4 Wochen in der Rehabilitati- Funktionelles Gesundheitsverhaltensmuster:
onsphase. Seine Sprach- und Artikulationsstörungen Aktivität und Bewegung
nehmen ab, er ist zeitlich und räumlich orientiert. Seine
Definition
Bewegungsabläufe sind noch unkoordiniert, sein Gang
Einschränkung der unabhängigen, zielgerichteten Be-
ist torkelnd (Gangataxie) und der Stand unsicher. Tho-
wegung des Körpers oder von einer oder mehreren Ex-
mas akzeptiert die therapeutischen Maßnahmen, er
tremität(en)
zeigt keine Abwehrreaktionen. Tab. 27.2 zeigt einen
Auszug aus seinem Pflegeplan, eine mögliche Pflegedi-
agnose zeigt die folgende Übersicht:

Tab. 27.2 Auszug aus dem Pflegeplan von Thomas

Pflegeprobleme Ressourcen Pflegeziele Pflegemaßnahmen

쐌 Thomas kann sich noch 쐌 Thomas ist zeitlich und 쐌 FZ 쐌 Lauftraining durch: Physiotherapie und
nicht selbständig fortbe- räumlich orientiert 쐌 Thomas bewegt sich sicher KG 3 ⫻ tgl. nach Absprache mit Thomas
wegen, sein Gang ist un- 쐌 NZ 쐌 Gehhilfe mit dreirädrigem Gehwagen,
sicher, die Schrittfolge 쐌 Kann mit Gehwagen um- Thomas wird damit vertraut gemacht
unkoordiniert gehen
쐌 Der Bewegungsspielraum 쐌 쐌 Thomas hat Kontakt zu 쐌 Besuch durch den Kliniklehrer und die
Thomas verständigt sich
ist eingeschränkt, Tho- über einzelne artikulierte seinem erweiterten Um- Klassenkameraden organisieren
mas ist vorwiegend in sei- Worte feld 쐌 Mitbewohner im Zimmer
nem Zimmer 쐌 Er erhält oft Besuch von 쐌 Er beteiligt sich an Stati- 쐌 Gemeinsame Essensphasen im Aufent-
seinen Geschwistern, die onsaktivitäten haltsraum
Mutter hat sich im Wohn- 쐌 Anleitung zum selbständigen Aufstehen
heim eingemietet

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 453


KaelDesu
27 Gang

Einflussfaktoren (E) (reduzierte Muskelkraft oder)


Aktivitätsintoleranz (z. B. bewegungsinduzierte Kurz- (reduzierte Muskelmasse)
atmigkeit) Nebenkennzeichen
begrenzte kardiovaskuläre Ausdauer Veränderungen des Gangbilds (z. B. verminderte
Gelenksteife (oder) Gehgeschwindigkeit, Schwierigkeiten in Gang zu
Kontrakturen (eingeschränkter Bewegungsumfang) kommen, kleine Schritte, schlurfender Gang, über-
Schmerzen zogene Seitwärtsneigung beim Gehen)
Unwohlsein/Beschwerden Widerstreben, Bewegung einzuleiten (z. B. aus
muskuloskelettale Beeinträchtigung Furcht oder unzureichender Selbstwirksamkeit)
Integritätsverlust knöcherner Strukturen findet Ersatz für eigene Bewegung (z. B. vermehrte
neuromuskuläre Beeinträchtigung (z. B. begrenzte Aufmerksamkeit gegenüber Aktivitäten anderer,
Fähigkeit zur Umsetzung fein-/grobmotorischer Fer- Kontrollverhalten, Konzentration auf Aktivitäten, die
tigkeiten, unkoordinierte oder ruckartige Bewegun- vor der Krankheit/Behinderung ausgeführt werden
gen, bewegungsinduzierter Tremor) konnten)
(kognitiv-sensorische Beeinträchtigung [z. B. verlän- verminderte (langsamere) Reaktionsfähigkeit
gerte Reaktionszeit]) Schwierigkeit, sich zu drehen
27 beeinträchtigte Wahrnehmung Belastungsdyspnö
depressive Stimmung (oder) unkontrollierte, ruckartige Bewegungen
Angst begrenzte Fähigkeit, grobmotorische Fertigkeiten
bewegungsarmer Lebensstil auszuüben
Inaktivität begrenzte Fähigkeit, feinmotorische Fertigkeiten
Konditionsabbau auszuüben
Body-Mass-Index liegt über dem altersentsprechen- begrenzte Bewegungsfähigkeit
den 75-%-Perzentil bewegungsinduzierter Tremor
verordnete Bewegungseinschränkungen (z. B. kör- verlangsamte Bewegungen
perliche oder chemische Fixierungen, verordnete unkoordinierte Bewegungen
Bettruhe, mechanische Vorrichtungen, welche die
Empfohlene Klassifikation des Funktionsniveaus:
Bewegung einschränken, therapeutische Immobili-
Grad I: benötigt Vorrichtungen oder Hilfsmittel
sierung)
Grad II: benötigt zur Unterstützung, Überwachung
veränderter Zellstoffwechsel
und Anleitung Hilfe durch eine oder mehrere
kognitive Beeinträchtigung
andere Personen
kulturbedingte Einstellung zu altersgerechten Aktivi-
Grad III: benötigt Hilfe durch andere Personen und
täten
Vorrichtungen oder Hilfsmittel
reduzierte Ausdauer
Grad IV: abhängig; beteiligt sich nicht an der Aktivität
reduzierte Muskelkontrolle
reduzierte Muskelmasse Pflegeergebnis (Outcome)
reduzierte Muskelkraft Mobilität (Mobility)
fehlendes Wissen über den Wert der körperlichen Die Fähigkeit, sich im eigenen Umfeld mit oder ohne
Aktivität Hilfsmittel unabhängig zielgerichtet zu bewegen
Entwicklungsverzögerung (spezifiziere zu erreichenden Grad)
fehlende Unterstützung durch Umgebung (z. B. phy-
sische oder soziale)
Mangelernährung Für Thomas könnte die Pflegediagnose lauten: be-
Medikation einträchtigte körperliche Mobilität
Widerstreben, Bewegung einzuleiten b/d (beeinflusst durch) neuromuskuläre Beeinträch-
Kennzeichen oder Symptome (S) tigung infolge SHT
Hauptkennzeichen a/d (angezeigt durch)
(Unvermögen, sich im physischen Umfeld zu bewe- die Unfähigkeit, sich unabhängig in der Umge-
gen) bung zu bewegen und
posturale Instabilität (bei Routineaktivitäten) unkoordinierte Bewegungen.
(reduzierte Muskelkontrolle)

454 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
Literatur

Fazit: Der Gang eines Menschen ist sehr in-


dividuell und normalerweise von einer leich- Literatur:
ten, harmonischen und rhythmischen Bewe-
gung geprägt. Veränderungen des unbeschwerten Dahmer, J.: Anamnese und Befund. Die symptomorientierte
Patientenuntersuchung fächerübergreifend – interaktiv –
Gangs werden Dysbasien genannt und können durch
praxisbezogen. 10. Aufl. Thieme, Stuttgart 2006
verschiedene physische und psychische Erkrankungen Epstein, O., G. D. Perkin, D. P. de Bono, J. Cookson (Hrsg.):
ausgelöst werden. Anamnese und Untersuchung: auf einen Blick. Elsevier,
Zusammen mit der Körperhaltung, Mimik und Ges- München 2006
tik, liefert der Mensch über seine Gangart viele nonver- Fischer, K., H. Sobottka, D. Faas (Hrsg.): Klinikleitfaden Kinder-
bale Informationen an seine Umwelt. Somit lässt eine krankenpflege. 4. Aufl. Urban & Fischer, München 2009
Füsgen, J. (Hrsg.): Der ältere Patient. Problemorientierte Diag-
genaue Beobachtung des Gangs auch Aussagen über
nostik und Therapie. 3. Aufl. Urban & Fischer, München
die Gestimmtheit einer Person zu und ist bei der Aus-
2000
wahl geeigneter Gehhilfen von entscheidender Wich- Gerrig, R.: Psychologie. Begr. von P. Zimbardo. 20. Aufl. Pearson
tigkeit, damit eine effektive Sturzprophylaxe erfolgen Studium, Hallbergmoss 2016
kann. Gordon, M.: Handbuch Pflegediagnosen. 5. Aufl. Hans Huber,
Hogrefe AG, Bern 2013
Hoehl, M., P. Kullick (Hrsg.): Gesundheits- und Kinderkranken- 27
pflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012
Köther, I.: Altenpflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2016
Koletzko, B. (Hrsg.): Kinder- und Jugendmedizin. 14. Aufl.
Springer, Berlin 2013
NANDA International: Pflegediagnosen. Definitionen und
Klassifikation 2015 – 2017. Herdman, T. H., S. Kamitsuru
(Hrsg.): RECOM, Kassel 2016
Niethard, F. U.: Kinderorthopädie. 2. Aufl. Thieme, Stuttgart
2009
Pschyrembel Klinisches Wörterbuch. 264. Aufl. de Gruyter,
Berlin 2014
Schewior-Popp, S., F. Sitzmann, l. Ullrich (Hrsg.): Thiemes Pfle-
ge. 13. Aufl. Thieme, Stuttgart 2017

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 455


KaelDesu

28 Stimme und Sprache


Marion Weichler-Oelschlägel

Übersicht
Einleitung · 456
28.1 Allgemeine Beobachtungskriterien und
Beschreibung des Normalzustands · 456
28.1.1 Stimme · 456
28.1.2 Sprache · 457
28.2 Abweichungen und Veränderungen
von Stimme und Sprache und deren
mögliche Ursachen · 458
28.2.1 Veränderungen der Stimme · 458
28.2.2 Veränderungen der Sprache · 459
28.3 Ergänzende Beobachtungskriterien · 463
28.4 Besonderheiten bei Kindern · 463
fühle und Empfindungen zu übermitteln. Diese
28 28.4.1 Entwicklungsmäßige
Voraussetzungen · 463 Kommunikation ermöglicht nicht zuletzt auch die
28.4.2 Normale Sprachentwicklung des Aufnahme und Pflege von zwischenmenschlichen
Kindes · 464 Beziehungen. Beeinträchtigungen von Stimme und
28.4.3 Kindliche Sprachstörungen · 465 Sprache ziehen deshalb entsprechend einschneiden-
28.5 Besonderheiten bei älteren de Folgen für die Betroffenen nach sich.
Menschen · 467 Das folgende Kapitel beschreibt die allgemeinen
28.6 Fallstudien und mögliche Beobachtungskriterien von Stimme und Sprache und
Pflegediagnosen · 468 geht auf mögliche Ursachen für Störungen in diesem
Fazit · 470 Beobachtungsbereich ein.
Literatur · 471 Jeder Mensch besitzt eine individuelle Stimme
und Sprache. Mit ihnen kommen gleichzeitig das
Fühlen, Wollen und die momentane Stimmungslage
Schlüsselbegriffe:
des Sprechenden zum Ausdruck (Tab. 28.1). Im
왘 Aphasie Sprachalltag weisen Aussagen wie „Es verschlägt mir
왘 Lautbildung die Sprache“, „Der Mensch ist verstimmt“ oder „Das
왘 Wortschatz macht mich sprachlos“ auf den Zusammenhang zwi-
schen aktueller psychischer Verfassung und Stimme
Einleitung sowie Sprachinhalt hin.

Die Stimme eines Menschen ist wesentlicher Be-


standteil seiner Persönlichkeit. Uns nahestehende
28.1 Allgemeine
Menschen erkennen wir u. a. an der ihnen eigenen Beobachtungskriterien und
Stimme. Ebenso wie die Stimme liefert die Sprache, Beschreibung des
die ein Mensch benutzt, wichtige Informationen Normalzustands
über ihn. Wortschatz, Wortwahl und Artikulation va-
riieren in Abhängigkeit von Bildung und sozialem 28.1.1 Stimme
Umfeld. Definition: Unter dem Begriff „Stimme“ wird
Gemeinsam ermöglichen Stimme und Sprache die Lautäußerung mittels des Stimmapparates
die Verständigung zwischen Menschen. Sie sind als verstanden.
Träger der verbalen Kommunikation die Instrumen-
te, die diese zu einem großen Teil in die Lage verset- Neben den Stimmbändern als Lauterzeugungsins-
zen, anderen Menschen Nachrichten, aber auch Ge- trument gehören hierzu auch die oberen Luftwege

456 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
28.1 Allgemeine Beobachtungskriterien und Beschreibung des Normalzustands

Tab. 28.1 Deutung der Sprechweise (nach Grond 1985) Bei vertraulichen Gesprächen unter vier Augen wird
Freude Trauer Erregung Ausge-
eine entsprechend leise Lautstärke gewählt, wäh-
glichenheit rend ein Ruf um Hilfe durch eine hohe Geschwindig-
keit der Luftströmung sehr laut sein kann.
Tonhöhe hoch niedrig unter- mittel
schiedlich
Stimmklang
Melodie- stark gering stark mittel Der Stimmklang wird entscheidend von der Anato-
variationen
mie der Hohlräume des Rachens und der Mund- und
Tonhöhen- erst auf, abwärts stark auf gemäßigt Nasenhöhle beeinflusst. Sie fungieren als Resonanz-
verlauf dann ab und ab boden und modulieren den Kehlkopfton, der dann
den individuellen Klang bekommt. Er kann z. B. hart,
Klangfarbe viele weniger kaum eher mehr
Obertöne weich oder voll sein.

!
Tempo schnell langsam mittel mittel
Merke: Die Beobachtung der Stimme eines
Lautstärke laut leise stark mittel Menschen orientiert sich an den Kriterien
schwan- Stimmlage, Lautstärke und Stimmklang.
kend

Rhythmus ungleich- gleich- unregel- gleich- 28.1.2 Sprache


mäßig mäßig mäßig mäßig Unter dem Begriff „Sprache“ wird die Zuordnung von
28
Bedeutungen zu akustischen Zeichen, den sog. Lau-
ten, verstanden. Menschen bedienen sich ihrer Spra-
che, um miteinander zu kommunizieren. Die Spra-
che gilt als eines der ältesten Verständigungsmittel
als Resonanzräume und die Mundpartie als Modula- der Menschheit. Über das gesprochene Wort geben
tionsinstrument (Abwandlung/Veränderung). Die wir einander Informationen weiter, pflegen den geis-
individuellen anatomischen Gegebenheiten bestim- tigen Austausch und vermitteln Zu- oder Abneigung.
men die Charakteristik der persönlichen Stimme ei- Ein gesunder Mensch kann Worte zu Sätzen formen
ner Person. und diese mühelos, deutlich und in verstehbarer
Lautstärke aussprechen. Das Ganze geschieht in der
Stimmlage Regel zweckgebunden, d. h., der Sprechende möchte
Die Stimmlage eines Menschen wird durch die Länge eine Aussage machen oder eine Frage stellen.
und Spannung der Stimmbänder und die Hormon- Da das gesprochene Wort Sinn machen soll, setzt
produktion beeinflusst. Bei Männern sind die die Sprache Denkfähigkeit voraus. Entscheidend ist
Stimmbänder ca. 30% länger als bei Frauen, daher bei der Sprache nicht nur das, was gesagt wird, son-
sind männliche Stimmen tiefer als weibliche. In der dern auch wie dies geschieht. Das Gesagte erhält
Pubertät kommt es durch den Einfluss der männli- durch die Sprechgeschwindigkeit, die gewählte Ton-
chen und weiblichen Sexualhormone (Androgene höhe oder durch einen bestimmten Tonfall eine be-
und Gestagene) zum Wachstum des Kehlkopfs und stimmte Bedeutung. Es ist natürlich nicht nur das ge-
zur Vergrößerung der Stimmlippen. Als Folge wird sprochene Wort, das wir beim Kommunizieren akus-
die Stimmlage bei Jungen etwa um eine Oktave, bei tisch wahrnehmen, vielmehr dient der ganze Körper
Mädchen um einige Töne tiefer. Dieser Vorgang, der eines Menschen der Sprache und dem Ausdruck, was
zuerst nur bei Jungen deutlich auffällt, wird als als sog. Körpersprache bezeichnet wird (s. a. S. 428).
Stimmwechsel oder Stimmbruch bzw. als sog. Muta- Über unsere Sinnesorgane können wir Informa-
tion bezeichnet. tionen empfangen, unser Stimmapparat, der sich aus
den eigentlichen Sprechorganen zusammensetzt,
Lautstärke dient der Formgebung, während die Sprachzentren
Die Lautstärke einer Stimme wird durch die Ge- die Sprache selbst steuern. Der Geist des Menschen
schwindigkeit der Luftströmung an der Stimmritze wird als Quelle der Sprache verstanden. Aus diesem
bestimmt. Normalerweise kann die Lautstärke der Grunde stehen Sprache und Sprechen in enger
Stimme an die jeweilige Situation angepasst werden. Wechselwirkung mit unserem Bewusstsein und den

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 457


KaelDesu
28 Stimme und Sprache

Sinnesorganen. Über beide Anteile nehmen wir die Sprachverständnis


Umwelt und alles, was diese ausmacht, wahr. Einem Das normale Sprachverständnis ist wesentlicher Teil
bewusstlosen Menschen steht die Sprache als Kom- des Sprachbesitzes, der es dem Gesunden ermög-
munikationsmittel nicht zur Verfügung (s. a. S. 225). licht, die Sprache seiner Mitmenschen zu verstehen
Der Erwerb der Sprache erfolgt im Kindesalter und sich seinerseits diesen verständlich und sinnzu-
(s. a. S. 463). Der erwachsene Mensch besitzt in sei- sammenhängend mitzuteilen. Voraussetzung hier-
ner Muttersprache einen aktiven Wortschatz von für ist die intakte Funktion des zentralen Nervensys-
3000 – 5000 Wörtern. Unter dem aktiven Wort- tems mit seinen sog. Sprachregionen, die auch als
schatz sind die von der sprechenden Person verwen- Sprachzentrum bezeichnet werden und in der linken
deten Wörter zu verstehen. Der passive Wortschatz Großhirnhälfte lokalisiert sind. Hier koordinieren
hingegen umfasst die von den Sprechenden zwar und kontrollieren sie gemeinsam mit anderen Zent-
verstandenen, aber nicht benutzten Wörter. Der Ein- ren des Bewusstseins die Lautbildung und sind somit
satz von Worten wird im Rahmen der körperlichen für die Sprachsteuerung verantwortlich.
Faktoren als höchste psychisch-geistige Tätigkeit ge-

!
sehen. Mithilfe welcher Worte ein Mensch sich aus- Merke: Die Beobachtung der Sprache eines
drückt und wie umfangreich sein Wortschatz ist, Menschen orientiert sich an den Kriterien Ar-
wird stark durch das Milieu, in dem er aufwächst und tikulation, Sprachfluss und Sprachverständ-
lebt sowie durch sein Ausbildungsniveau beeinflusst, nis. Stimme und Sprache sind wesentlicher
was auch als sog. Standessprache bezeichnet wird. Bestandteil der Persönlichkeit eines Menschen. Darü-
28
Die Beobachtungskriterien der Sprache lassen ber hinaus sind sie elementar wichtig für die verbale
sich in die Bereiche Kommunikation.
Artikulation,
Sprachfluss und
28.2 Abweichungen und
Sprachverständnis
einteilen.
Veränderungen von Stimme
und Sprache und deren
Artikulation mögliche Ursachen
Definition: Unter der Artikulation ist die Bil-
dung verschiedener Laute (Vokale und Konso- 28.2.1 Veränderungen der Stimme
nanten) zu verstehen. Bei Veränderungen der Stimme können entweder
pathologische Ursachen an den stimmbildenden Or-
Sie erfolgt durch Formveränderungen des Sprechap- ganen vorliegen oder sie können psychisch bedingt
parates, der seinerseits aus Zunge, Lippen, Mund- sein. Darüber hinaus können Bewegungsstörungen,
und Rachenraum sowie dem Kehlkopf einschließlich Entzündungen, Geschwulstbildungen oder eine
der Stimmbänder besteht. Die normale Artikulation Über- und Fehlbeanspruchung der Stimmlippen Stö-
ist durch eine deutliche und allgemein verstehbare rungen nach sich ziehen.
Sprache, die in einer der Situation angemessenen
Lautstärke eingesetzt wird, gekennzeichnet. Die Bil- Veränderungen der Stimmlage
dung von Begriffen erfolgt mühelos und die Stimme Bei Gesunden erfolgt der Stimmwechsel, auch als
klingt unauffällig. Stimmbruch bezeichnet, etwa um das 13. – 14. Le-
bensjahr. Tritt dieser Wechsel der Stimme nicht ein,
Sprachfluss wird von einer veränderten Stimmlage gesprochen.
Der normale Sprachfluss erzeugt einen melodischen, Bei Frauen kommt es auch im Zusammenhang mit
fließenden Klang und erfolgt in einer der Situation der hormonellen Umstellung in der Menopause zu
entsprechenden Sprechgeschwindigkeit. einer veränderten Stimmlage. Eine Androgenthera-
pie kann bei Frauen ebenfalls eine Veränderung der
Stimmlage hervorrufen.

458 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
28.2 Abweichungen und Veränderungen von Stimme und Sprache und deren mögliche Ursachen

Veränderungen der Lautstärke Aphonie


Die Stimme eines Menschen wird v. a. bei Zuständen, Eine Aphonie ist eine Stimmlosigkeit, die oftmals mit
die mit Kraftlosigkeit und Schwäche einhergehen so- einer Heiserkeit beginnt. Ihr können Erkältungs-
wie durch Atemwegserkrankungen im Sinne einer krankheiten oder schwere karzinombedingte Kehl-
Herabsetzung der Lautstärke verändert. kopferkrankungen zugrunde liegen. Letztere erfor-
dern eine operative Kehlkopfentfernung (Laryngek-
Veränderungen des Stimmklanges tomie). Im Weiteren kann es auch auf Grund einer
Sie treten im Rahmen von grippalen Infekten, wie seelischen Verletzung zu der sog. psychogenen Apho-
starkem Schnupfen oder bei angeschwollenen Man- nie kommen. Die Betroffenen sind trotz vollkommen
deln auf. Ein nasaler Stimmklang ist bei großen Na- intakter Kehlkopfmuskulatur und Nervenleistung
senschleimhautpolypen hörbar. Kommt es nach ei- nicht in der Lage, die Stimmritze zu schließen.
ner Tonsillektomie (operativer Entfernung der Man-
deln) zu Schwellungen, kann dies ebenfalls zu Verän- Verlust der natürlichen Stimme
derungen des Stimmklanges führen. Zu einem solchen Verlust kann es im Rahmen bösar-
tiger Tumoren des Hypopharynx und Larynx kom-
Heiserkeit/Belegtheit (Raucedo; Raucidas) men, wenn diese Anlass für eine teilweise oder voll-
Die Stimme kann sich in vielen Fällen heiser, klang- ständige Entfernung des Kehlkopfs geben und bei
los, belegt oder rau anhören, wenn es zu einer Kehl- dem Betroffenen ein Tracheostoma angelegt werden
kopfentzündung (Laryngitis) gekommen ist. Die Ur- muss. Die Stimme klingt durch den Einsatz eines
28
sache liegt in einer veränderten Schleimhaut, die ih- Summgenerators zur Verstärkung der Stimme abge-
rerseits die Schwingfähigkeit der Stimmlippen be- hackt und automatisiert. Muss bei einem Menschen
einflusst. In den meisten Fällen handelt es sich um ei- eine Tracheotomie (Luftröhrenschnitt) vorgenom-
ne Begleiterscheinung eines Virusinfektes der obe- men werden, spricht er mithilfe einer Tracheal-
ren und unteren Luftwege, die oft von Schnupfen Sprechkanüle. Er kann damit nicht mehr stimmhaft
oder Bronchitis begleitet ist. Denkbar ist auch eine sprechen und erlernt eine sog. Ersatzsprache, mithil-
Überbeanspruchung der Stimmbänder durch über- fe derer er sich wieder verständigen kann, jedoch oh-
mäßiges und lautes Sprechen, Singen, Schreien oder ne die normale individuelle Tonbildung. Die dabei
eine Schleimhautreizung durch Rauch und Gase. hörbare Stimme klingt heiser und metallisch.
Schädigungen der Nerven, die für die Öffnungs-
und Schließbewegungen der Stimmlippen verant- Zusammenfassung:
wortlich sind können häufig ebenfalls zu den be- Abweichungen und Veränderungen der
schriebenen Symptomen führen. Die Nerven ihrer- Stimme
seits können durch eine Entzündung, Tumore oder Zur Charakterisierung einer Stimme gehören
Verletzungen Schaden erlitten haben. Als weitere Ur- Stimmlage, Lautstärke und Klang.
sache für die Heiserkeit sind Lähmungen des N. re- Sprache wird beurteilt nach Artikulation, Sprach-
currens, welcher die Kehlkopfmuskeln innerviert, zu fluss und Sprachverständnis.
nennen. Diese Heiserkeit kann in extremen Fällen in Veränderungen der Stimme können sowohl organi-
eine regelrechte Tonlosigkeit (Aphonie) übergehen. sche als auch psychische Ursachen besitzen.
Veränderungen des Stimmklangs können Heiser-
Verzerrung keit, Verzerrung, Mattigkeit und Klanglosigkeit so-
Angeborene Lippen-, Kiefer- oder Gaumenspalten wie Aphonie sein.
führen zu einem verzerrten Stimmklang.
28.2.2 Veränderungen der Sprache
Klanglosigkeit und Mattigkeit Sprachstörungen, die auch als Lalopathien bezeich-
Die Stimme kann sich bei Erschöpfungszuständen net werden, können ursächlich in einer angeborenen
sowie im Rahmen depressiver Verstimmungen oder Hörstörung und der damit verbundenen fehlerhaf-
bei Depressionen selbst klanglos und matt anhören. ten Nachahmung liegen. Weiterhin vermögen auch
Hirnschäden und Intelligenzdefekte die Sprachbil-
dung negativ zu beeinflussen. Schäden an Zunge,
Lippe oder Gaumen, motorische Ungeschicklichkei-

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 459


KaelDesu
28 Stimme und Sprache

ten und schlechte sprachliche Vorbilder sind eben- tionsorganen bezeichnet. Audiogene Dyslalien erge-
falls Gründe für Sprachstörungen. ben sich aus der Einschränkung bzw. dem Fehlen der
auditiven Aufnahmefähigkeit und der Eigenkontrolle
Artikulationsstörungen beim Spracherwerb bei gehörlosen oder schwerhöri-
Artikulationsstörungen können sich auf verschiede- gen Menschen. Auch zentral-nervöse Störungen kön-
ne Weise darstellen. Unterschieden werden können nen zu einer Dyslalie führen.
Dyslalien, Echolalien, Aphrasien, Dysglossien und die Die Dyslalie aufgrund psychischer Traumatisie-
kloßige sowie undeutliche Sprache. rung oder negativer sprachlicher Vorbilder wird als
funktionelle Dyslalie bezeichnet.
Dyslalie
Definition: Als Dyslalie wird die Fehlartikulati- Echolalie
on eines Lautes, mehrerer Laute, Lautverbin- Die Betroffenen ahmen Gehörtes echoartig nach.
dungen oder ganzer Lautgruppen verstanden. Hierbei handelt es sich um eine funktionelle Störung
des Sprechens, die ihre Ursache in einer Schizophre-
Die entsprechenden Laute werden entweder falsch nie haben kann.
gesprochen, ausgelassen oder durch einen anderen
Laut ersetzt. Die Dyslalie wird auch als Stammeln be- Aphrasie
zeichnet. Häufigste Formen der Dyslalie sind:
Definition: Das Unvermögen richtige Sätze zu
Kappazismus: Stammeln mit Fehlbildung des
28 bilden wird als Aphrasie bezeichnet.
Lautes ⬎⬎K⬍⬍, welcher ausgelassen oder durch
⬎⬎T⬍⬍ ersetzt wird.
Dysglossie
Gammazismus: Stammeln mit Fehlbildung des
Definition: Unter der Dysglossie wird eine
Lautes ⬎⬎G⬍⬍, der entweder fortgelassen oder
Sprachstörung infolge von Anomalien der peri-
durch ⬎⬎D⬍⬍ ersetzt wird.
pheren Sprechwerkzeuge, z. B. der Zunge, des
Sigmatismus: Der Sigmatismus ist die häufigste
Gaumens, der Zähne usw., verstanden.
Form der Dyslalie. Bei dieser auch als Lispeln be-
zeichneten Sprachstörung wird die Zunge bei der
Kloßige Sprache
Bildung der S- und Zischlaute fehlerhaft betätigt.
Die Sprache hört sich kloßig bei neurologischen Er-
Die Ursache kann in einer Hörstörung liegen oder
krankungen an, die mit einer Sprachmuskellähmung
in anatomischen Veränderungen und Defekten an
einhergehen.
den Lippen oder Zähnen usw.
Lambdazismus: Stammeln mit Artikulationsstö-
Undeutliche Sprache
rung des L-Lautes.
Menschen, die größere Zahnlücken aufweisen, zahn-
Rhotazismus: Hierbei handelt es sich um teilwei-
los sind oder schlecht sitzende Zahnprothesen tra-
ses Stammeln mit einer Aussprachestörung des
gen, können undeutlich und somit in vielen Fällen
stimmhaften ⬎⬎V⬍⬍.
nur unverständlich sprechen.

Normalerweise tritt das Stammeln in einem Über-


Störungen des Sprachflusses bzw. der
gangsstadium der Sprachentwicklung auf und ent-
Koordination
steht in den meisten Fällen durch falsche Gewohn-
Störungen des Sprachflusses bzw. der Sprachkoordi-
heit. Bis zum Eintritt in die Schule sollten alle
nation lassen sich in Dysarthrie, Stottern, Poltern und
Stammelfehler, die durch mangelnde Geschicklich-
Logoklonien unterteilen.
keit auftreten, vollständig beseitigt sein. Neben die-
sen physiologischen Stammelformen können aber
Dysarthrie
auch pathologische Ursachen zu einer Dyslalie füh-
Das Besondere an dieser Sprachflussstörung ist, dass
ren.
es sich hierbei um eine Störung der gesamten Artiku-
Unterschieden werden hierbei 4 Gruppen von Ur-
lation handelt. Die Koordination des Sprachvollzugs
sachen: Als mechanische Dyslalie wird das Stam-
ist bei dieser zentralnervös bedingten Störung nicht
meln aufgrund von anatomischen Fehlbildungen
gegeben, d. h., es ist keine Gliederungsfähigkeit der
und Störungen bzw. Veränderungen an den Artikula-
Sprache möglich.

460 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
28.2 Abweichungen und Veränderungen von Stimme und Sprache und deren mögliche Ursachen

Weiterhin wird eine charakteristische Störung bei Paraphasien


einer sog. Hirnstammsymptomatik mit diesem Be- Paraphasien sind Sprachstörungen, die durch eine
griff bezeichnet, die eine skandierende Sprache ver- Verwechslung von Worten (verbale Paraphasie), Sil-
ursacht. Hierunter wird das Aussprechen zerhackter ben oder Buchstaben (literale Paraphasie) gekenn-
Worte verstanden, dessen Ursache in Erkrankungen zeichnet ist. Ist die Paraphasie stärker ausgeprägt,
des Kleinhirns liegt und z. B. bei Multiple-Sklerose- kann es zu einem unverständlichen Kauderwelsch
Erkrankten zu beobachten ist. Dabei können Wörter der Sprache kommen (Jargon-Aphasie).
und Sätze nur langsam und schlecht artikuliert aus-
gesprochen werden, was sich holprig anhört. Ledig- Neologismen
lich das Aussprechen kurzer Bruchstücke von Sätzen Hier treten Wortneubildungen für bestehende oder
ist möglich. für die Betroffenen neue Begriffe und Vorstellungen
auf. In seltenen Fällen entsteht dadurch eine völlig
Stottern (Balbuties) „neue“ unverständliche Sprache.
Im Gegensatz zur Dyslalie liegt bei dieser Sprachstö-
rung, die auch als Stottern bezeichnet wird, eine Stö- Zusammenfassung:
rung des gesamten Redeablaufs und der Koordinati- Abweichungen und Veränderungen der
on des komplizierten Zusammenspiels aller beteilig- Sprache
ten Muskeln zugrunde. Es handelt sich um eine Un- Zu den Ursachen von Artikulationsstörungen gehö-
terbrechung der fließenden Sprache. Hervorgerufen ren mechanische, audiogene, zentral-nervöse und
28
wird diese Sprachstörung durch spastische Bewe- funktionelle Störungen.
gungen der Artikulations-, Phonations- und Respira- Dyslalie, Echolalie, Aphrasie, Dysglossie, kloßige
tionsmuskulatur. Darüber hinaus wird beim Stottern und undeutliche Sprache sind Formen von Artikula-
die klonische (Wiederholung von Lauten, Silben, tionsstörungen.
Worten) von der tonischen (Verlängerung des Anlau- Dysarthrie, Stottern (Balbuties), Poltern und Logo-
tes) Form unterschieden. Ursächlich kommen früh- klonie sind Störungen des Sprachflusses.
kindliche Hirnschäden und vererbte oder erworbene Unter den Störungen des Sprachverständnisses un-
psychogene Fehlhaltungen in Betracht. terscheidet man Dysphasie, Paraphasie, Neologis-
men und Aphasie.
Poltern
Diese Redeflussstörung tritt ein, wenn der Redner Aphasie
sprichwörtlich schneller spricht, als er denken kann. Bei der Aphasie handelt es sich um eine zentrale
Daraus resultiert ein unverständlicher Wortsalat. Zur Sprachstörung, innerhalb derer die verschiedenen
Ursache s. Balbuties. Komponenten des Sprachsystems (Lautstruktur,
Wortwahl, Wort- und Satzbildung) mehr oder weni-
Logoklonie ger stark beeinträchtigt sind.
Es kommt zu einer Silbenanhäufung sowie einem Betroffen sind hiervon Erwachsene, die vorher die
taktmäßigen Wiederholen der Endsilben. Sprache gut beherrschten und deren Denkvermögen
weder formal noch inhaltlich beeinträchtigt ist. Die-
Störungen des Sprachverständnisses se aphasischen Störungen beziehen sich auf alle mo-
Zu den Störungen des Sprachverständnisses werden torischen und sensorischen Modalitäten, d. h., auf
die Dysphasie, Paraphasien, Neologismen und die das Sprechen und das Verstehen, das Lesen und das
verschiedenen Formen der Aphasie gerechnet. Schreiben.
Die Ursache der Aphasie kann in erworbenen,
Dysphasie zentralen Lähmungen liegen, die ihrerseits Lähmun-
Hierbei handelt es sich um den kompletten Verlust gen an den sog. Sprechwerkzeugen, wie beispiels-
der Sprache oder auch um eine nach Therapie oder weise der Zunge oder den Mimikmuskeln, nach sich
spontaner Rückbildung gebesserte Aphasie. Die Ur- ziehen, z. B. bei einer Hemiplegie nach apoplekti-
sache dieser angeborenen oder erworbenen Sprach- schem Insult. Die Aphasien werden in sensorische
schwäche liegt in einer zentralen Störung. und motorische Aphasien unterteilt, wobei es häufig
zum Auftreten von Kombinationen der beiden
Sprachstörungen kommt (Abb. 28.1).

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 461


KaelDesu
28 Stimme und Sprache

men gekennzeichnet. Ursache der sensorischen


links rechts Aphasie ist eine Störung im sensorischen Sprach-
3 3
2 1 1 2 zentrum des Gehirns.
Die motorische Aphasie wird auch unter dem Be-
griff „expressive Aphasie“ geführt. Hierbei verstehen
sensorisches sensorisches die Betroffenen zwar, was zu ihnen gesagt wird und
Sprachgebiet motorisches Sprachgebiet wissen auch, was sie antworten möchten, finden je-
Sprachgebiet
doch nicht die passenden Worte. In vielen Fällen
kann hierbei ein Sprechen im Telegrammstil be-
1 Sprachschwierigkeiten keine Störung im
Ausdrucksstörung Sprechen obachtet werden oder die Worte werden aufge-
schrieben. Motorische Aphasien haben demzufolge
2 Verlust der Hörfähigkeit keine Störung der nichts mit einer fehlenden Intelligenz zu tun!
Ausdrucksstörung Lautwahrnehmung
Eine weitere Differenzierung der Aphasie findet
3 rechtsseitige Lähmung linksseitige Lähmung in 4 Hauptsyndrome statt.
bis zu 50 % Verlust bis zu 50 % Verlust Die Broca-Aphasie ist durch ein gutes Sprachver-
der Hörverbindung der nichtsprachlichen
Mitteilung ständnis und einen erheblich verlangsamten Sprach-
fluss gekennzeichnet. Verbunden ist diese Sprach-
störung mit einer deutlichen Sprachanstrengung bei
Abb. 28.1 Störungen des Sprachorganismus bei Erkrankungen
meist schlechter Artikulation und stark beeinträch-
28 des Gehirns
tigter Sprachmelodie (Prosodie).
Bei der Wernicke-Aphasie ist ein schlechtes
Definition: Bei der sensorischen Aphasie, die Sprachverständnis bei gut erhaltenem Sprachfluss
auch als „rezeptive Aphasie“ bezeichnet wird, beobachtbar. Dieser ist häufig von einer überschie-
verlieren die Betroffenen das Sprachverständnis. ßenden Sprachproduktion mit zahlreichen phone-
matischen (lautlichen) und/oder semantischen (in-
Sie verstehen nicht, was sie hören und sprechen da- haltlichen) Paraphasien begleitet.
her zwar viel und gut artikuliert, jedoch in sinnlosen Menschen, die von einer globalen/totalen Apha-
Zusammenhängen, was häufig zu einem regelrech- sie betroffen sind, verstehen nur wenig von der ge-
ten „Wortsalat“ führt. Der Satzbau ist dabei durch ei- sprochenen Sprache; sie können weder lesen noch
ne fehlerhafte Kombination und Stellung von Wör- schreiben. Häufig werden sog. Perseverationen pro-
tern sowie Satzabbrüchen und falschen Endungsfor- duziert, beispielsweise „nananananana“, d. h., weni-

Tab. 28.2 Die vier Aphasie-Typen nach Leitsymptomen unterteilt (aus Meier-Baumgartner, H.P., R.-M. Schütz: Der Schlag-
anfall-Patient, Hans Huber, Bern 1994)

Leitsymptom amnestische Aphasie Wernicke-Aphasie Broca-Aphasie globale Aphasie

Sprachverständnis leicht gestört stark gestört leicht gestört stark gestört

Sprachproduktion meist flüssig flüssig, überschießend gering, verlangsamt spärlich bis fehlend, Auto-
(Logorrhö) matismen

Paraphasien und wenig Paraphasien, Satz- reichlich semantische u. oft phonematische Para- viele phonematische Para-
Satzbau bau kaum gestört, um- phonematische Parapha- phasien, Agrammatismus phasien und Neologismen,
schreibende Sätze bei sien bis hin zu Neologis- (Fehlen von Funktions- Satz hat oft nur Einzelwör-
Wortfindungsstörung men (in der stärksten wörtern, d. h. einfache ter oder Sprachautomatis-
typisch Form semantischer Jar- Satzstrukturen) men
gon); Paragrammatismus

Sprachmelodie erhalten, aber zögernde erhalten stark gestört (oft nivellie- stark gestört, oft Artikula-
und -rhythmus Sprechweise durch Wort- rend), zusätzlich ggf. korti- tion dysarthrisch
(Prosodie) findungsstörung kale Dysarthrie

462 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
28.4 Besonderheiten bei Kindern

ge, sich oft wiederholende Laute. Die globale Aphasie wirkungen auf die Stimmlage, die Tonhöhe und das
wird auch als die schwerste Form der Aphasie be- Sprechtempo. Die Sprache gilt als das wichtigste
zeichnet, da hierbei sowohl die Sprachproduktion als menschliche Kommunikationsmittel. Umso mehr
auch das Sprachverständnis stark reduziert sind. trifft es Menschen, wenn sie sich sprachlich nur noch
Bei der amnestischen Aphasie sind in erster Linie eingeschränkt bzw. gar nicht mehr verständigen
Wortfindungsstörungen zu beobachten. Selten kön- können. Liegen Störungen der Sprache zentral-ner-
nen auch Störungen des Sprachverständnisses oder vöse Ursachen zugrunde, wie beispielsweise ein apo-
der Artikulation von Worten auftreten. Lesen und plektischer Insult, sind auch Störungen der Bewe-
Schreiben sind nur gering betroffen. Ebenso ist der gungen des betroffenen Menschen zu beobachten.
Sprachfluss gut erhalten und es überwiegt ein intak-
ter Satzbau. Allen beschriebenen Formen der Apha-
sie liegt eine Schädigung des Sprachzentrums im Ge- 28.4 Besonderheiten bei Kindern
hirn zugrunde, die in den meisten Fällen auf einen Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm
apoplektischen Insult zurückzuführen ist. Tab. 28.2
zeigt die Leitsymptome der verschiedenen Aphasien 28.4.1 Entwicklungsmäßige Voraussetzungen
im Überblick. Die Voraussetzungen zur sprachlichen Entwicklung
eines Kindes sind bereits im Mutterleib vorhanden.

!
Merke: Die schwerste Form einer Sprachstö- Der Embryo trainiert hier schon seine orofasziale
rung, die als Folge einer Hirnschädigung ent- Muskulatur (Mundmuskulatur) durch Saugen, Trin-
28
standen ist, wird als Aphasie bezeichnet. ken und Daumenlutschen. Eine weitere Vorausset-
zung ist die ungestörte Entwicklung des Hörvermö-
Zusammenfassung: gens (Abb. 28.2). Die Entwicklung des Hörorgans be-
Aphasie ginnt in der 3. Schwangerschaftswoche und ist be-
Bei der sensorischen/rezeptiven Aphasie verlieren reits in der 1. Hälfte der Schwangerschaft abge-
die Betroffenen das Sprachverständnis. schlossen. Alfred A. Tomatis, ein HNO-Arzt, stellte
Die motorische/expressive Aphasie äußert sich in fest, dass ein Fetus bereits im Mutterleib auf die
der Unfähigkeit, die passenden Worte zu finden. Stimme der Mutter reagiert. Das Gelingen dieses in-
Nach den 4 Hauptsyndromen unterscheidet man trauterinen Dialogs ist ein wesentliche Vorausset-
Broca-, Wernicke-, globale und amnestische Apha- zung für eine ungestörte Kommunikationsentwick-
sie. lung.
Während das Hören und die Sprachanlage ange-
boren sind, muss die Sprache mit Beginn des Lebens
28.3 Ergänzende erworben werden. Dazu gehören:
Beobachtungskriterien Die Wahrnehmung über die Sinne, z. B.: das Hö-
ren: Sprachmelodie; das Sehen: Form, Farbe; das
Die meisten Menschen setzen zur Unterstützung ih- Tasten: begreift und fühlt mit den Fingern; das
rer Stimme und Sprache ihre Hände und ihren Körper Riechen: riecht das für den Gegenstand typische
ein. Daher sind Stimme und Sprache nicht isoliert Aroma oder riecht nicht; das Schmecken:
von der Mimik und Gestik eines Menschen beob- schmeckt süss, sauer, bitter, salzig usw.
achtbar (s. a. S. 414). Sie qualifizieren das gesproche- Die sozioemotionale Entwicklung: Kind schreit, ~
ne Wort zusätzlich. Die Wortwahl ist abhängig von Mutter reagiert und erkennt am Klang die Ursa-
dem Kontext, in dem die jeweilige Kommunikation che des Schreiens.
stattfindet und der Art der Beziehung zwischen den Die geistige Entwicklung/Hirnreife: Kind nimmt
Kommunikationspartnern: dienstliche Gespräche gezielt ein Spielzeug wahr, erkennt es wieder und
haben im Allgemeinen einen eher förmlichen Cha- möchte nur dieses Spielzeug haben.
rakter, während Gespräche zwischen zwei sich nahe- Die Entwicklung der Bewegungsfähigkeit (Grob-
stehenden Menschen sehr privater Natur sein kön- und Feinmotorik): Um sich die Welt zu erschlie-
nen. Die Stimme variiert vor allem in Abhängigkeit ßen und um die für die Aussprache richtige Stel-
von der jeweiligen psychischen Verfassung einer lung und Spannungszustände der Mundmuskula-
Person. Emotionale Erregung hat häufig auch Aus- tur zu üben.

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 463


KaelDesu
28 Stimme und Sprache

Töne, Geräusche
Rhythmus

OHR
(hört)
sendet sendet
Impulse Impulse
über GEHIRN über SPRECHORGANE
Hörbahnen (versteht, motorische (sprechen
zum speichert, Nervenbahnen mit Mund, Lippen, Zunge,
verarbeitet an Kehlkopf, Nasen-Rachen)
Melodien,
Worte, Inhalte)

vermitteln Sprache,
Informationen:
Gedanken, Gefühle und
Empfindungen

28 Abb. 28.2 Hören und Sprechen

Die Stimme entfaltet sich über das Schreien des Im darin anschließenden Zweiwortstadium be-
Säuglings, und die Funktion der Stimmbänder wird ginnt das Kind mit ca. 18 Monaten, 2 sinnvolle
somit regelmäßig trainiert. Wörter aneinander zu kombinieren, (Ball da/Tee
haben). Das Sprachverständnis, der passive Wort-
schatz, ist dem aktiven Wortschatz weit voraus;
28.4.2 Normale Sprachentwicklung des Kindes
d. h. das Kind versteht mehr, als es sprechen kann.

!
Merke: Der Spracherwerb des Kindes erfolgt Sprache wird durch Gestik und Mimik unter-
auf der Basis angeborener und sich entwi- stützt.
ckelnder Sprachfähigkeiten in Interaktion Nach dem Zweiwortstadium nimmt der Wort-
zwischen Lebensumwelt, Kultur und Gesellschaft. Die schatz des Kindes enorm zu. Es spricht in kurzen,
Umwelt hat eine auslösende, orientierende und for- einfachen Sätzen, Funktionswörter (z. B. der, die,
mende Funktion. das, von, bei, auf, neben) fehlen noch häufig. Über
die Stimme und Intonation (Stimmklanghöhe)
Das Lallstadium beginnt mit dem 4. – 5. Monat. wird deutlich, ob es sich um einen Befehl, eine
Das Baby bringt während des Lallens undifferen- Frage oder eine Aussage handelt, z. B. „Ball ha-
zierte Laute hervor. In der weiteren Entwicklung ben“ = Frage?, Befehl?, Bitte?. Dieses Stadium
werden diese Laute auf solche reduziert, die das wird auch das Stadium des Telegrammstils ge-
Kind in seiner Umgebung wahrnimmt. Durch das nannt. Die Artikulation des Kindes wird immer
Hervorbringen der Laute und in Verbindung mit besser und erreicht mit 3 Jahren die Verwendung
dem Trinken und Saugen wird die orofasziale von Personalpronomen (ich, du, er). Gleichzeitig
Muskulatur gekräftigt. werden Hilfsverben zur Bildung der Vergangen-
Das Einwortstadium beginnt am Ende des ersten heit benutzt (z. B. ich habe gegessen). Die Kinder
Lebensjahres und ist gekennzeichnet durch den besitzen zunehmend Fähigkeiten, abstrakte Ge-
größtmöglichen Kontrast in der Vokalkonso- dankengänge zu verstehen, und beginnen Gegen-
nantverbindung, wie z. B. den Lippenschluss sätze (z. B. heiß – kalt; kalt – kälter) anzugeben.
(mtp), und die größtmögliche Mundöffnung (a). Im Verlauf der weiteren Entwicklung werden die
Es werden Silben verdoppelt und Silbenverbin- Laute und Lautverbindungen der Muttersprache
dungen gebildet sowie kleine Aufforderungen immer konkreter ausgesprochen. Es gibt Erinne-
verstanden. rungen an die Vergangenheit und Wünsche an die

464 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
28.4 Besonderheiten bei Kindern

Zukunft (Mama war beim Friseur und ich möchte Laute nur mit gezielter Unterstützung. In seiner
mit Oma ein Eis essen gehen). Spontansprache verwendet es diese Laute jedoch
Das Fragealter drückt sich durch die Frage: „WA- nicht. Es lässt einen oder mehrere Laute aus, oder er-
RUM?“ aus, das Kind hinterfragt viele Dinge, die setzt Laute oder Lautverbindungen durch andere
man gar nicht sehen oder anfassen kann. Im Alter (z. B. statt „Banane“ sagt das Kind „Nane“; statt
von 4 – 6 Jahren spricht das Kind fließend, Gedan- „Staubsauger“ sagt es „Taubsauger“; statt „Keks“
kengänge und Geschichten werden nacherzählt. „Teks“), was bedeutet, dass der Lauterwerb im Rah-
Das Kind erkennt und benennt Farben, zählt bis men der Sprachentwicklung bei diesen Kindern noch
10, kann telefonieren und unterscheidet Vor- und nicht abgeschlossen ist (s. a. S. 460).
Nachnamen (Abb. 28.3).
Sigmatismus (Lispeln)
28.4.3 Kindliche Sprachstörungen Hier handelt es sich um eine spezielle Form der
Kindliche Sprachstörungen werden unterschieden Dyslalie, die bei Kindern zunächst häufig auftritt. Da-
in Sprachentwicklungsverzögerungen (SEV) und bei werden „S“-Laute und Zischlaute falsch gebildet,
Sprachentwicklungsstörungen (SES). z. B. rutscht die Zunge zwischen die Zähne statt hin-
ter sie.
Sprachentwicklungsverzögerung
Definition: Von einer Sprachentwicklungsver- Dysgrammatismus
zögerung spricht man, wenn in den Bereichen Unter Dysgrammatismus werden Störungen beim Er-
28
Sprachverständnis, Artikulation, Wortschatz werb und Gebrauch der Grammatik verstanden. Sie
und Grammatik eine zeitliche Verzögerung auftritt. zeigen sich im Auslassen von Wörtern und Satzteilen
(z. B. „Papa Auto“, „Tom müde“), in der mangelnden
Die Verzögerung kann in absehbarer Zeit aufgeholt Übereinstimmung zwischen Artikel und Substantiv
werden. (z. B. „das Junge“, „der Milch“) oder Subjekt und Verb
(z. B. „ich spielen“, „du macht“), aber auch in einer fal-
Sprachentwicklungsstörung schen Stellung der Wörter innerhalb eines Satzes
Ist der Rückstand in der Entwicklung deutlich größer (z. B. „gestern bei Oma bin gewesen ich“).
als ein 1/2 Jahr, spricht man von einer Sprachentwick-
lungsstörung. Diese ist gekennzeichnet durch: Stottern
Sprachverständnisstörung, Bei einer großen Anzahl von Kindern kommt es zwi-
Dyslalie, schen dem 3. – 5. Lebensjahr zu einer Art „Stottern“.
eingeschränkten Wortschatz und Es sind Sprechunflüssigkeiten, die entstehen, wenn
Dysgrammatismus. das Kind seine Gedanken nicht so schnell, wie es
möchte, in eine geordnete Sprache umsetzen kann.
Der Störungsgrad der einzelnen Symptome kann un- Sie gehören zum physiologischen kindlichen Sprech-
terschiedlich ausgeprägt sein. verhalten und sind nicht als eine Störung anzusehen.
Es ist sehr schwierig, diese physiologische Sprechun-
Dyslalie flüssigkeit von beginnendem Stottern zu unterschei-
Definition: Unter einer Dyslalie wird die Fehl- den. Bei der altersgemäßen Unflüssigkeit des Spre-
artikulation eines Lautes, mehrerer Laute, Laut- chens beziehen sich die Wiederholungen insbeson-
verbindungen oder ganzer Lautgruppen ver- dere auf Satzteile („was ist, was ist da, was ist da“)
standen. Beim Stottern ist die Wiederholung besonders auf
einzelne Laute bezogen. („d-d-das“). Der Unter-
Sie zeigt sich in 2 Formen. Bei der ersten Form, der schied liegt auch in der Dehnung der einzelnen Lau-
Artikulationsstörung, ist die Sprache richtig erwor- te. Diese sind bei der Sprechunflüssigkeit eher kurz
ben. Die Störung liegt in der korrekten Bildung ein- („dddein“); und beim beginnenden Stottern sehr
zelner Laute und Lautverbindungen; d. h. das Spre- lang („ddddddein“) Wichtig ist die Beobachtung der
chen ist gestört. altersgemäßen Sprechunflüssigkeiten. Sie sollten
Die andere Form ist die Lauterwerbsstörung. Das nicht länger als ein 1/2 Jahr dauern.
Kind bildet die fehlenden oder fehlerhaft gebildeten

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 465


28
KaelDesu

466
Beispiele Sprach- Wortschatz Artikulation Grammatik Sprach- Alter
verständnis verständnis
ca. 6 Jahre
„Als ich noch kleiner Wortschatz ermöglicht Alle Laute werden Grammatik wird weitgehend be-
war, bin ich noch nicht differenzierten Ausdruck. korrrekt gebildet herrscht, Gedankengänge können
alleine in den Kinder- Auch abstrakte Begriffe variiert ausgedrückt werden (verschie-
garten gegangen.“ werden auf kindlichem dene Zeit- und Pluralformen).
Niveau sicher gehandhabt. Geschichten können nacherzählt
28 Stimme und Sprache

werden.
ca. 4 Jahre
„Gestern war ich mit Mama Wortschatz wächst Bis auf evtl. Zischlaute und schwie- Bildung komplexerer Sätze,
beim Doktor.“ weiter an. rige Konsonantenverbindungen schwierige Satzkonstruktionen
„Die Sp(r)itze, die er mir Farben und Fürwörter (z. B. kl, dr) beherrscht das Kind die können noch fehlerhaft sein.
gegebt hat, tat nicht weh.“ werden verwendet. Laute der Muttersprache. Evtl. Nebensätze können gebildet
„Physiologisches Stottern“ (locke- werden.
re Laut- und Wortwiederholungen).
ca. 3 Jahre

und Kinderkrankenpflege. Thieme, Stuttgart 2012


Wortschatz nimmt Kind beginnt schwierige 2. Fragealter mit Frage-
weiter erheblich zu. Lautverbindungen zu ler- wörtern (z. B. warum, wie,
„Da is ne F(r)au, die guckt nen. (z. B. kn, bl, gr) was). Einfache Sätze kön-
,
aus n Fenster. Warum ?“ nen gebildet werden; Be-
ginn von Nebensatz-
bildungen.
ca. 21/2 Jahre
Wortschatz nimmt k, g, ch, r Zunahme der Mehrwort-

Beobachtung des gesunden und kranken Menschen


„Da kommen B(r)iefmann.“ (Briefträger) erheblich zu; sätze, Endungen an
„Anna nicht tönnen (sch)lafen.“ Wortschöpfungen. Haupt- und Tätigkeits-
wörtern beliebig; erster
Gebrauch von „ich“.
ca. 2 Jahre

BAND 2
Bis zu 50 Wörtern, Es kommen 1. Fragealter mit
, Hauptwörter, weitere Laute Satzmelodie.
„Is n das ?“ „Papa weg.“ „B(r)ot aufessen.“
einfache Verben hinzu, z. B. Zwei- und Drei-
und Adjektive W, F, T, D. wortsätze.
ca. 11/2 Jahre
Einzelne m, b, p, n Einwort-
Wörter Beginn von sätze
gezielter (Frage durch
„Ball“ „mein“ „habn“ Lautbildung Betonung)
bei der
Wortpro-
duktion.
ca. 1Jahr
„Mama“ „Mimi“ „Wau-wau“ Erste Wörter
breite Palette von Lauten
Silbenverdoppelung
„ba-ba-ba“ „ga-ga“
Lallen
ca. 1/2 Jahr
Lallen
„gr-gr“ „ech-ech“ Gurren
Schreien (Die Altersangaben sind Durchschnittswerte, sie
dürfen nicht als starre Normen verstanden werden.)

Abb. 28.3 Sprachpyramide. Sprachentwicklung von Kindern zwischen 6 Monaten und 6 Jahren (aus Hoehl, M., P. Kullick. Gesundheits-
KaelDesu
28.5 Besonderheiten bei älteren Menschen

Tab. 28.3 Abgrenzung altersgemäße Sprechunflüssigkeiten – beginnendes Stottern – chronisches Stottern (aus Wend-
landt, W.: Sprachstörungen im Kindesalter, 8. Aufl. Thieme, Stuttgart 2016)

Altersgemäße Sprechunflüssigkeit Beginnendes Stottern1 Chronisches Stottern3

Wiederholungen Wiederholungen Wiederholungen


쐌 von Satzteilen 쐌 von Silben 쐌 Silben
(„Und dann bin ich, und dann bin ich („Ei-Ei-Ei-Eisenbahn“, ggf. Schwa-Laut2: (mit Schwa-Laut: „Be-Be-Be-Be-Banane“)
weggerannt!“) „Be-Be-Banane“) 쐌 Laute
쐌 von ganzen Wörtern 쐌 von Lauten („k-kein“, „T-T-Tür“, („k-k-k-kein“, g-g-g-g-gut“),
(„Ich, ich, ich weiß nicht“) „o-o-ohne“) Frequenz der Wiederholung
쐌 selten von Silben öfter als zweimal
(„Ei-Eisenbahn“, „Ba-Banane“) 쐌 Sprechtempoerhöhungen bei Wieder-
holungen

Dehnungen (Langziehen) Dehnungen Dehnungen


쐌 eines Lautes, kürzer als 쐌 eines Lautes, länger als 쐌 länger als 1 Sekunde
1 Sekunde 1 Sekunde („mmmmmmein“, 쐌 Anspannung im Mundbereich, Gesicht,
(„mmmein“, „aaaber“) aaaaaaaber“) Hals
쐌 mit Anstieg der Tonhöhe
쐌 mit Anstieg der Lautstärke

stille Pausen, Abbrüche, Neubeginn (stille) Pausen Pausen als Blockade/Pressen


쐌 Vor dem Satz wird gezögert und/oder 쐌 vor oder im Satz („Hängenbleiben“ an einem Laut) vor und
die Äußerung wird abgebrochen und ei- 쐌 ggf. innerhalb eines Wortes im Wort 28
ne Pause (. . .) eingelegt, in der geeigne- 쐌 „Hängenbleiben“ an einem Laut: Das 쐌 mit und ohne Ton/Stimme
te Wörter bzw. das richtige Sprachmus- Weitersprechen bzw. das Bilden des 쐌 verbunden mit Kraft und Anstrengung
ter gesucht werden (sprachliche Pla- nächsten Lautes gelingt nicht der am Sprechen beteiligten Muskulatur,
nung): 쐌 ggf. Anzeichen von Verspannungen in z. B. Zittern/Zucken der Lippen
„Und dann, dann ist das, das ... Kanin- der am Sprechen beteiligten Muskulatur
chen gekommen und hat ... also, es ist (z. B. Pressen der Lippen, Zucken des
mit den Füßen am, also am Gitter so Mundwinkels)
hoch ... hat sich so so hochgestellt.“

1
Störungsbewusstsein muss beim Kind nicht vorliegen.
2
Schwa-Laut klingt wie das „e“ am Ende von „eine“ und „beinahe“, gilt als Warnzeichen für den Beginn des chronischen Stotterns.
3
Die hier aufgeführten Merkmale chronischen Stotterns treten nicht immer gemeinsam bei einem Kind auf.

Eine detaillierte Aufstellung anhand von Sprech- 28.5 Besonderheiten bei älteren
beispielen über altersgemässe Sprechunflüssigkeit
Menschen
und beginnendes Stottern sowie chronische Stottern
wird in Tab. 28.3 aufgezeigt. Marion Weichler-Oelschlägel

Bei Männern ist ein altersbedingter Stimmwechsel in


Kindliche Dysphonie (Stimmstörung)
vielen Fällen erst im hohen Alter zu erwarten. Wäh-
Der Klang der Stimme, und/oder die Lautstärke und/
rend bei Frauen die mittlere Sprechstimmlage im
oder die Tonhöhe zeigen deutliche Abweichungen.
Sinne einer Stimmvertiefung mit Beginn der Meno-
Häufig weist der auffällige Klang der Stimme auf ei-
pause absinkt und unsicher werden kann, erhöht sie
nen falschen Gebrauch hin, nur ganz selten sind Fehl-
sich bei dem betagten Mann und sowohl der Stimm-
bildungen oder Verletzungen der Stimmbänder zu
umfang wie auch die Stimmkraft nehmen ab. Jedoch
erwarten. Die an der Stimmbildung beteiligte Mus-
ist es durch ein gezieltes Stimmtraining möglich, ei-
kulatur, die Atmung und Klangräume werden falsch
ne schöne und kommunikationsfähige Stimme bis
eingesetzt und überbeansprucht und lassen die
zum Lebensende zu erhalten.
Stimme nach längerem Gebrauch, z. B. am Abend,
Bei der Demenzerkrankung vom Alzheimer-Typ
heiser klingen. Es können an den Stimmlippen kleine
kann es bereits in Stadium II der Erkrankung zu fort-
Knötchen entstehen, die eine fachärztliche Behand-
schreitenden Sprachstörungen kommen, innerhalb
lung erfordern.
derer die verbale Kommunikation immer mehr auf

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 467


KaelDesu
28 Stimme und Sprache

wenige Worte wie „Ja, nein“ reduziert oder von Aus- war. Offenbar hatte sie vergessen, ein Bügeleisen aus-
flüchten geprägt ist. zuschalten, welches Feuer fing und war auf dem Sofa
Die unter 28.3 beschriebenen Formen der Aphasie eingeschlafen.
treten bei geriatrischen Personen nicht immer in ih- Frau Kromm lebt allein mit ihren Haustieren in einer
rer jeweiligen Reinform auf. Häufig kommen alters- kleinen Mietwohnung. Zu der Nachbarin hält sie einen
bedingte Erkrankungen wie Seh- und Hörstörungen regelmäßigen Kontakt. Der Rauch hat bei ihr eine ex-
sowie schlecht sitzende Zahnprothesen kommuni- treme Schleimhautreizung, die mit einer Aphonie ein-
kationserschwerend hinzu. Darüber hinaus führen hergeht, ausgelöst. Frau Kromm ist momentan in ihrer
multiple kleine Läsionen oder massivere Reinfarkte verbalen Kommunikationsfähigkeit massiv einge-
beim apoplektischen Insult ebenso zu vielfältigen schränkt, worunter die kontaktfreudige Frau sehr lei-
sprachlichen Schwierigkeiten. Besonders häufig sind det. Außerdem sorgt sie sich um die Verpflegung ihrer
in der Geriatrie Menschen mit globalen Aphasien, Haustiere und den Zustand der Wohnung während
aber auch Broca- und Wernicke-Patienten anzutref- ihres Krankenhausaufenthalts.
fen. Tab. 28.4 zeigt einen Auszug aus dem Pflegeplan von
Frau Kromm, eine mögliche Pflegediagnose zeigt die
Zusammenfassung: folgende Übersicht:
Besonderheiten bei Kindern und älteren
Menschen
Die Sprachentwicklung beim Kind durchläuft das Beeinträchtigte verbale Kommunikation (P)
28
Lall-, das Einwort-, das Zweiwortstadium, das Sta- (Gordon 2013, S. 429 – 431, NANDA-I 2016)
dium des Telegrammstils und das Fragealter. Impaired verbal communication (00051) (1983, 1996,
Störungen werden in Sprachentwicklungsverzöge- 1998)
rungen und Sprachentwicklungsstörungen unter- Taxonomie II: Domäne 5: Wahrnehmung/Kognition,
teilt. Klasse 5: Kommunikation
Die Dyslalie bei Kindern äußert sich als Artikulati- Diagnosetyp (Dokumentationsform): aktuelle Pflege-
ons- oder als Lauterwerbsstörung. diagnose (PES)
Sigmatismus, Stottern und kindliche Dysphonie Funktionelles Gesundheitsverhaltensmuster:
sind häufige Erkrankungen bei Kindern. Rollen und Beziehungen
Bei älteren Menschen zeigen sich Sprachschwierig-
Definition
keiten aufgrund altersbedingter Erkrankungen.
Veminderte, verzögerte oder fehlende Fähigkeit, ein
System von Zeichen zu empfangen, zu verarbeiten,
weiterzugeben und/oder zu nutzen
28.6 Fallstudien und mögliche
Pflegediagnosen Einflussfaktoren (E)
physiologische Einschränkungen (z. B. Psychose, feh-
Störungen der Stimme und Sprache ziehen je nach lende Reize)
Ausprägung in den meisten Fällen eine Beeinträchti- Abweichungen im Bezug zum Entwicklungsalter
(entwicklungs- oder altersbedingte Faktoren)
gung der Kommunikationsfähigkeit nach sich.
verminderte Hirndurchblutung
Gehirntumor
Beispiel: Frau Kromm ist 67 Jahre alt und
anatomischer Defekt (z. B. Gaumenspalte, Verände-
gestern als Notfallpatientin mit einer Rauch-
rungen des neuromuskulär-visuellen Systems, des
vergiftung in das Krankenhaus aufgenom-
auditorischen Systems, des Sprechapparats
men worden. Sie selbst konnte auf Grund einer extre-
körperliches Hindernis (z. B. Tracheostoma, Intuba-
men Heiserkeit, die sich inzwischen bis zur Aphonie ge-
tion)
steigert hat, kaum Angaben über das Geschehene ma- physiologische Zustände
chen. Ihre Nachbarin, die sie begleitet hat, berichtete, Verändertes zentrales Nervensystem
dass sie plötzlich beißenden Rauch im Treppenhaus Schwächung des muskuloskelettalen Systems
wahrgenommen hatte und umgehend die Feuerwehr emotionale Zustände
alarmierte. Frau Kromm wurde in einem Zustand an- Stress
getroffen, in dem sie nur noch bedingt ansprechbar Hindernisse in der Umgebung

468 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
28.6 Fallstudien und mögliche Pflegediagnosen

Tab. 28.4 Auszug aus dem Pflegeplan von Frau Kromm

Pflegeproblem Ressourcen Pflegeziele Pflegemaßnahmen

Frau Kromm leidet auf- Frau Kromm kann ihre NZ: 쐌 Frau Kromm überwiegend Fragen stel-
grund einer Rauchvergif- Wünsche und Bedürfnisse Frau Kromm len, die sie mit Kopfnicken bzw. Kopf-
tung an einer akuten schriftlich äußern 쐌 fühlt sich sicher und verstanden schütteln (ja/nein) nonverbal beant-
Aphonie und kann sich 쐌 kann Bedürfnisse und Wünsche worten kann
verbal nicht verständlich mitteilen 쐌 in der Kommunikation Sprechtafel mit
machen 쐌 akzeptiert die Aphonie als vorü- Symbolen einsetzen
bergehende Einschränkung 쐌 Möglichkeit bieten, darüber hinaus-
gehende Bedürfnisse aufzuschreiben
쐌 Information über zeitliche Begren-
zung der Aphonie
Frau Kromm sorgt sich Frau Kromm hat guten Frau Kromm 쐌 Regelmäßige Kontakte zwischen Frau
um die Verpflegung ihrer Kontakt zu ihrer Nachba- 쐌 weiß, dass ihre Tiere und ihre Kromm und ihrer Nachbarin auch au-
Haustiere und den Zu- rin, die sich während ihres Wohnung gut versorgt sind ßerhalb der Besuchszeiten ermögli-
stand ihrer Wohnung Krankenhausaufenthalts 쐌 kann sich auf ihren Genesungs- chen
um Wohnung und Tiere prozess konzentrieren 쐌 in Absprache mit Frau Kromm die
kümmern will Casemanagerin einschalten

kulturelle Unterschiede spricht nicht 28


fehlende Informationen bewusste Weigerung zu sprechen
Nebenwirkungen der Medikation unangemessene Ausdrucksweise
verändertes Selbstwertgefühl Schwierigkeit, das übliche Kommunikationsmuster
verändertes Selbstkonzept zu verstehen
veränderte Wahrnehmungen Schwierigkeit, das übliche Kommunikationsmuster
fehlende Bezugspersonen aufrechtzuerhalten
fehlender Blickkontakt
Kennzeichen oder Symptome (S)
Schwierigkeit der selektiven Aufmerksamkeit
Hauptkennzeichen
partielle Sehstörung
Schwierigkeit, Gedanken sprachlich auszudrücken
totale Sehstörung
(z. B. Aphasie, Dysphasie, Apraxie, Dyslexie)
Schwierigkeit, Mimik einzusetzen
Stottern
Unfähigkeit, Mimik einzusetzen
undeutliche Aussprache
Schwierigkeit, Körpersprache einzusetzen
Schwierigkeit, Wörter zu artikulieren (z. B. Stimm-
Unfähigkeit, Körpersprache einzusetzen
losigkeit, Stammeln, Dysarthrie)
Desorientierung in Bezug auf Personen
Schwierigkeit, Sätze zu formulieren (oder)
räumliche Desorientierung
nicht sprechen können
zeitliche Desorientierung
(und/oder)
(äußert die Schwierigkeit, sprachliche Mitteilungen Pflegeergebnis (Outcome)
zu verstehen) Kommunikation (Communication)
Empfang, Interpretation und Äußern gesprochener,
Nebenkennzeichen
schriftlicher und nonverbaler Botschaften
(ungeeignetes/unangemessenes Verbalisieren)
Dyspnö Risikogruppen
Unfähigkeit, die Sprache des Pflegenden zu spre- Personen mit . . .
chen* einer physischen Barriere (Hirntumor, Tracheostoma,
spricht mit Schwierigkeiten Intubation)
einer anderen Kultur*
* Spricht u. U. nicht für eine Pflegediagnose, sondern anatomischen Defekten (Gaumenspalte)
für ein Pflegeproblem oder Versorgungsproblem, verminderter Hirndurchblutung
das einen Dolmetscher oder ein Mittel zur nonverba-
len Kommunikation erfordert. (Fußnote bezieht sich
auf S. 469.)

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 469


KaelDesu
28 Stimme und Sprachee

Tab. 28.5 Auszug aus dem Pflegeplan von Linus

Pflegeprobleme Ressourcen Pflegeziele Pflegemaßnahmen

Linus ist in seiner verbalen Die Eltern regen die Sprach- Linus Sprechangst reduzieren durch:
Kommunikation durch das entwicklung an und lassen 쐌 akzeptiert die Förder- 쐌 Geduld und Verständnis zeigen
Stottern eingeschränkt. Er sich dabei von Fachpersonal maßnahmen zur Verbes- 쐌 verzögerte Sätze nicht ergänzen
artikuliert sich unter großer unterstützen serung seiner Kommuni- Selbstbewusstsein stärken durch:
Anstrengung und traut sich kationsmöglichkeiten 쐌 positive Eigenschaften hervorheben
kaum noch, zu sprechen 쐌 nutzt die verbale Kom- 쐌 Fähigkeiten aufzeigen
munikation trotz seines 쐌 nicht ständig auf die Störung hinweisen
Stotterns Zusammenarbeit mit Logopäden
Eltern über die Möglichkeit psychothera-
peutischer Unterstützung informieren
Kontakt zu gleichaltrigen Betroffenen
ermöglichen

Für Frau Kromm könnte die Pflegediagnose lauten: Fazit: Eine intakte Stimme und die Möglich-
beeinträchtigte verbale Kommunikation keit, über eine gemeinsame Sprache mit an-
beeinflusst durch (b/d) deren Menschen in Kontakt zu treten, sind
28 Aphonie aufgrund einer Rauchvergiftung entscheidend für das Wohlbefinden und die verbale
angezeigt durch (a/d) die Unfähigkeit zu sprechen. Kommunikationsfähigkeit. Die normale Stimmbildung
ist abhängig von funktionsfähigen anatomisch-phy-
Beispiel: Linus ist 41/2 Jahre alt. Vormittags siologischen Gegebenheiten.
besucht er seit einigen Monaten den Kinder- Für die gesamte Entwicklung des Kindes ist es von
garten seines Heimatorts. Von dort wird Li- großer Bedeutung, dass das Kind der Welt des Redens
nus von Fr. Meier, einer älteren Dame, abgeholt. Nach- und der Sprache mit Neugier und Interesse gegenüber-
mittags wird er von ihr in ihrer Wohnung betreut, bis stehen kann. Sprache wird nicht vererbt, daher ist das
ihn seine Eltern, die ganztägig arbeiten, abholen. Seit Sprachbild der Familie und der Erziehungspersonen
einiger Zeit fällt der Mutter ein beginnendes Stottern von zentraler Bedeutung. Sprachauffälligkeiten kön-
auf. Es macht sich durch das Langziehen einzelner An- nen durch gezieltes Üben und durch gezielte Anregun-
fangsbuchstaben bemerkbar. Linus macht große gen verändert werden.
Sprechpausen und vermittelt einen Ausdruck von kör- Die Anwendung der Sprache als wichtigstes Kom-
perlicher Anspannung. Er traut sich kaum noch zu munikationsmittel der Menschheit setzt hingegen ge-
sprechen. Die Eltern stellen Linus beim Kinderarzt vor, wisse intellektuelle Fähigkeiten voraus. Das gesproche-
der sie zunächst zu einem HNO-Arzt und zu einer ne Wort soll einen Sinn haben, daher ist die Verständi-
Sprachheilpädagogin überweist. Tab. 28.5 zeigt einen gung über das Sprechen von der Denkfähigkeit der
Auszug aus dem Pflegeplan von Linus, eine mögliche Beteiligten abhängig. Welche Wörter dazu gewählt
Pflegediagnose geht aus der oben angeführten Über- werden und wie reich der angewandte Wortschatz ist,
sicht hervor. wird maßgeblich durch das Bildungsniveau und das
soziale Umfeld des Menschen beeinflusst.
Für Linus könnte folgende Pflegediagnose gestellt Störungen oder gar der Verlust von Stimme und
werden: Sprache können sowohl in einer gestörten Hirnfunkti-
Beeinträchtigte verbale Kommunikation on als auch in anatomischen Fehlanlagen am Sprech-
beeinflusst durch (b/d) apparat ihre Ursache haben. Darüber hinaus können
Sprechunflüssigkeit Abweichungen und Veränderungen vom Normalzu-
angezeigt durch (a/d) stand auch psychogen bedingt sein.
Stottern,
undeutliche Aussprache von Worten und Sätzen.

470 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen BAND 2


KaelDesu
Literatur

Klassifikation 2015 – 2017. Herdman, T. H., S. Kamitsuru


Literatur: (Hrsg.): RECOM, Kassel 2016
Pschyrembel Klinisches Wörterbuch. 264. Aufl. de Gruyter,
Gold, K., Y. Schlegel, K.-P. Stein: Pflege konkret. Neurologie, Berlin 2014
Psychiatrie. 5. Aufl. Urban & Fischer, München 2014 Schewior-Popp, S., F. Sitzmann, l. Ullrich (Hrsg.): Thiemes Pfle-
Gordon, M.: Handbuch Pflegediagnosen. 5. Aufl. Hans Huber, ge. 13. Aufl. Thieme, Stuttgart 2017
Hogrefe AG, Bern 2013 Schwegler, J., R. Lucius: Der Mensch. Anatomie und Physiolo-
Hoehl, M., P. Kullick (Hrsg.): Gesundheits- und Kinderkranken- gie. 6. Aufl. Thieme, Stuttgart 2016
pflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012 Tesak, J., T. Brauner: Sprachstörungen nach Schlaganfall oder
Köther, I. (Hrsg.): Altenpflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2016 Schädel-Hirn-Trauma. Ratgeber für Angehörige und medi-
Mattle, H., M. Mumenthaler: Kurzlehrbuch Neurologie. 4. Aufl. zinische Fachberufe. 4. Aufl. Schulz-Kirchner, Idstein 2013
Thieme, Stuttgart 2015 Wendlandt, W.: Sprachstörungen im Kindesalter. 8. Aufl.
NANDA International: Pflegediagnosen. Definitionen und Thieme, Stuttgart 2016

28

BAND 2 Beobachtung des gesunden und kranken Menschen 471


KaelDesu

Glossar

Abasie (griech. a – ohne, Mangel an; basis – Gang). Adnexe (lat. adnexum – Anhang, Beigabe). Anhangs-
Psychisch oder organisch bedingte Gangunfähig- gebilde (bei Frauen: Tuben, Ovarien; bei Män-
keit nern: Prostata, Samenblase)
Abduktion (lat, ab – von etwas weg; ducere – führen). Aerophagie (griech. aer – Luft; phagein – essen). Ver-
Bewegung, bei der z. B. eine Extremität vom Kör- schlucken von Luft
per abgespreizt wird, vom Körper weg geführt Affektivität (lat. affectus – Gemütsverfassung). Die
wird Gesamtheit des Gefühls-, Gemüts- und Stim-
Abduktionskontraktur (lat. ab – von etwas weg; du- mungserlebens
cere – führen, contrahere – steifmachen, zusam- Affektstarre (lat. affectus – Gemütsverfassung). Zu-
menziehen). Versteifung eines Gelenkes in vom stand, der gekennzeichnet ist durch ein Fehlen
Körper abgespreizter Stellung der affektiven Betonung und eine herabgesetzte
Absence (lat. absentia – Geistesabwesenheit). Kurze affektive Ansprechbarkeit
Bewusstseinstrübung Ageusie (griech. a- – ohne, Mangel an; geusis – Ge-
Absolute Arrhythmie (griech. a – ohne, Mangel an; schmack). Fehlende Geschmacksempfindung
rhythmos – Gleichmaß, Takt). Vollständig unre- Agnosie (griech. a- – ohne, Mangel an; gnosis – das
gelmäßig erfolgende und beschleunigte elektri- Erkennen). Störung des Erkennens bei ungestör-
sche Herztätigkeit ter Funktion des entsprechenden Sinnesorgans
Abszess (lat. abscedere – absondern). Eiteransamm- Agnosie, auditiv (griech. a- – ohne, Mangel an; gnosis
lung in einer nicht vorgebildeten Höhle – das Erkennen, lat. audire – hören). Unfähigkeit,
Acholie (griech. a – ohne, Mangel an; chole – Galle). Gehörwahrnehmungen mit dem akustischen Er-
Fehlende Absonderung von Gallenflüssigkeit in innerungsgut zu identifizieren
den Darm Agnosie, Autotop-(griech. a- – ohne, Mangel an; gno-
Achondroplasie (griech. a – ohne, Mangel an; chon- sis – das Erkennen, autos – selbst, unmittelbar; to-
dros – Knorpel; plasis – Bildung, Form). Störung pos – Stelle). Unfähigkeit, trotz erhaltener Ober-
der Knorpelbildung, Synonym für Chondrodys- flächensensibilität die richtige Lokalisation von
trophie Hautreizen am Körper vorzunehmen
Adaption (lat. adaptare – anpassen). Anpassungsver- Agnosie, optisch (griech. a- – ohne, Mangel an; gno-
mögen von Organen sis – das Erkennen; optikos – das Sehen). Unfähig-
Adduktion (lat. ad – nach. . . hin, zu, heran; ducere – keit, Sichtwahrnehmungen mit dem optischen
führen). Bewegung, bei der z. B. eine Extremität Erinnerungsgut zu identifizieren, Synonym: See-
an den Körper herangezogen wird, an den Körper lenblindheit; Unterformen stellen die Objekt-
herangeführt wird agnosie (Unfähigkeit, Gegenstände visuell zu er-
Adenom (griech. aden – Drüse; -om – Geschwulstbil- kennen) und Prosopagnosie (Störung der Ge-
dung). Eine vom Drüsengewebe ausgehende, gut- sichtswahrnehmung)
artige Geschwulst Agnosie, taktile (griech. a- – ohne, Mangel an; gnosis
Adhäsion (lat. adhaesio – Aneinanderhaften, Verkle- – das Erkennen; lat. tangere, tactum – berühren).
bung, Verhaften). Verklebung, Verwachsung Unfähigkeit, zu einem tastenden Formerkennen
zweier Organe infolge Operationen oder Entzün- bei intakter Sensibilität, Synonym: Astereognosie
dungen Akinesen (griech. a- – ohne, Mangel an; kinesis – Be-
Adipositas (lat. adiposus – fettreich, verfettet). Fett- wegung). Bewegungslosigkeit bzw. Bewegungs-
sucht, Übergewicht von mindestens 20% über armut; Hemmung der Bewegungen vor allem des
Broca-Normalgewicht oder 30 BMI Rumpfes und der Gesichtsmuskulatur z. B. bei M.
Adipsie (griech. a- – ohne, Mangel an; dipsa – Durst). Parkinson
Fehlendes Bedürfnis nach Flüssigkeitsaufnahme Akne vulgaris (griech. Akne – Spitze, Gipfel; vulgaris
– allgemein, gewöhnlich). Erkrankung der
Talgdrüsen, die mit einer Knötchen- und Pustel-

472
KaelDesu
Glossar

bildung einhergeht, insbesondere während der Amyloidose. Bindegewebige und perivaskuläre Abla-
Pubertät, sog. gewöhnliche Akne gerungen von fibrillären Proteinen und nachfol-
Akromegalie (griech. akron – äußerst; megas, mega- gende Störung des Stoffaustausches an einer oder
los – groß). Erkrankung, bei der die diastalen Kör- mehreren Körperstellen. Die betroffenen Organe,
peranteile vergrößert sind z. B. Leber, Herz, Niere, Knochenmark, Atemtrakt
Aktivitätsintoleranz. Von der NANDA anerkannte und Haut, sind vergrößert, konsistenzvermehrt
Pflegediagnose; Definition: Ein Zustand, der ei- und hart sowie in ihrer Funktion beeinträchtigt,
nem Menschen nur ungenügende, physische oder bzw. verlieren ihre Funktion
psychische Kraft lässt, um die erforderlichen oder Analfissur (lat. anus – Ring; fissum – Spalt). Schmerz-
erwünschten Aktivitäten des täglichen Lebens zu hafter ovaler Längseinriss der Schleimhaut des
verkraften oder auszuführen unteren Analkanals
Albinismus (lat. albus – weiß). Hypopigmentierung Analfistel (lat. anus – Ring; fistular – Röhre). Röhren-
der Haut und Schleimhäute aufgrund fehlender förmiger Gang zwischen dem After und dem
Pigmentkörperchen Darmlumen oder der Körperoberfläche
Algesimetrie (griech. algos – Schmerz, Leid; metron – Analgesie (griech. an – ohne, Mangel an; algos –
Maß). Verfahren zur Messung der Schmerzemp- Schmerz). Aufhebung der Schmerzempfindung
findung Anämie (griech. an – ohne, Mangel an; haima – Blut).
Algurie (griech. algos – Schmerz, Leid; ouron – Harn). Blutarmut, Verminderung der Erythrozyten und/
schmerzhafte Harnentleerung oder des Hämoglobingehaltes, des Hämtokrits
Alkalose. Anstieg des aktuellen pH-Wertes der extra- Anästhesie (griech. an – ohne, Mangel an; aisthesis –
zellulären Flüssigkeit auf mehr als 7,41 Empfindung). Völlige Unempfindlichkeit gegen-
Allgemeinzustand. Eindruck, den ein Mensch bei ei- über Schmerz-, Temperatur- und Berührungsrei-
ner ersten Betrachtung hinterlässt, Abkürzung: zen
AZ Anhidrose (griech. an – ohne, Mangel an; hidros –
Alopecia areata (griech. alopekia – Haarausfall; lat. Schweiß). Fehlende Schweißsekretion
area – Fläche, umschriebenes Feld). Kreisrunder Anorexia nervosa (griech. an – ohne, Mangel an; ore-
Haarausfall xis – Verlangen, Begierde; lat. nervosus – sehnig,
Alopezie (griech. alopekia – Haarausfall). Haarausfall nervig). Psychisch bedingte Essstörung, die mit
Alveole (lat. alveolus – kleine Mulde). Lungenbläs- einer verzerrten Einstellung gegenüber dem eige-
chen nen Körper, der Nahrungsaufnahme und dem Ge-
Amenorrhoe (griech. a- – ohne, Mangel an; men – wicht einhergeht
monat; -rhoe – fließen, Fluss). Ausbleiben der Anosmie (griech. an – ohne, Mangel an; osme – Ge-
Menstruation ruch). Fehlendes Geruchsvermögen
Amnesie, anterograd (griech. a- – ohne, Mangel an; Anosognosie (griech. a- – ohne, Mangel an; nosos –
-mnesis – Erinnerung; lat. anterior – vorderer; Krankheit; gnosis – Erkennen). Unfähigkeit, eine
gradi – laufen, schreiten). Gedächtnislücke für ei- eigene Erkrankung bzw. Funktionsausfälle zu er-
nen Zeitraum nach der Bewusstlosigkeit kennen
Amnesie, psychogen (griech. a- – ohne, Mangel an; Antidepressiva (griech. anti – gegen, entgegen; lat.
-mnesis – Erinnerung; psycho – Seele, Gemüt; deprimere – niederdrücken). Psychopharmaka
-gen – erzeugend, verursachend). Gedächtnislü- mit antriebssteigernder, angstdämpfender und/
cke, die durch abnorme Erlebnisreaktionen her- oder stimmungsaufhellender Wirkung
vorgerufen wird Antizipation (lat. anticipare – vorwegnehmen). Vor-
Amnesie, retrograde (griech. a- – ohne, Mangel an; griff, Vorwegnahme
-mnesis – Erinnerung; lat. retro- – zurück, hinter; Anurie (griech. an – ohne, Mangel an; houron –
gradi – laufen, schreiten). Gedächtnislücke für Harn). Geringe Urinausscheidung mit einer Men-
den Zeitraum vor Eintreten der Bewusstlosigkeit ge von weniger als 100 ml in 24 Stunden
Amplitude (lat. amplitudo – Umfang, Größe, Weite). Aortenbogensyndrom (griech. syn – zusammen;
Schwingungsweite von Schwingungen oder Wel- dromos – Lauf). Erkrankung infolge fortschreiten-
len der Stenosierung (Verengung) bzw. Verschluss ei-

473
KaelDesu
Glossar

nes oder mehrerer der vom Aortenbogen abge- Apraxie, Ankleide- (griech. a- – ohne, Mangel an; pra-
henden großen Gefäße xis – Tun). Räumliche Orientierungsstörung, bei
Aortenisthmusstenose (griech. isthm – schmaler Zu- der keine räumlichen Beziehungen zwischen ei-
gang; stenos – eng). Einengung der thorakalen nem Gegenstand und dem Körper hergestellt
Aorta zwischen dem Abgang der linken A. subcla- werden können
via und der Einmündung des Ductus Botalli Apraxie, ideatorisch (griech. a- – ohne, Mangel an;
Aortenklappeninsuffizienz (lat. insufficere – nicht praxis – Tun; idee – Inhalt eines Gedankens). Un-
genügen). Herzklappenfehler mit Schlussunfä- möglichkeit, komplexe und differenzierte Hand-
higkeit der Aortenklappen lungen aufgrund einer Störung des Bewegungs-
Apallisches Syndrom (lat. pallium – die Hirnrinde; entwurfes (Ideation) durchzuführen
griech. syn – zusammen, mit; dromos – der Lauf). Apraxie, ideomotorische (griech. a- – ohne, Mangel
Erkrankung, bei der es zu einer Trennung der an; praxis – Tun, idee – Inhalt eines Gedankens;
Hirnrinde und der übrigen Hirnzentren vom lat. motor – Beweger). Unfähigkeit, Bewegungen
Hirnstamm kommt willentlich abzurufen oder auf Aufforderung oder
Aphasie (griech. a- – ohne, Mangel an; phasis – Spre- Demonstration zu vollziehen
chen). Unfähigkeit zu Sprechen, bei erhaltener Apraxie, konstruktive (griech. a- – ohne, Mangel an;
Funktion der Sprechmuskulatur praxis – Tun; lat. construere – zusammenschich-
Aphasie, Broca (griech. a- – ohne, Mangel an; phasis ten, erbauen, errichten). Unfähigkeit, räumlich zu
– Sprechen). Nach dem französischen Chirurgen strukturieren ohne dass eine Beeinträchtigung
Pierre Broca (1824 – 1880) benannte zentrale elementarer Bewegungsabläufe vorliegt
Sprachstörung, die durch ein gutes Sprachver- Arrhythmie (griech. ar – -un, -los; rhythmos – Gleich-
ständnis und einen erheblich verlangsamten maß, Takt). Zeitlich unregelmäßig erfolgende,
Sprachfluss gekennzeichnet ist elektrische Herztätigkeit
Aphasie, motorische (griech. a- – ohne, Mangel an; Arterie (griech. arteria). Schlagader
phasis – Sprechen; lat. motor – Beweger). Zentra- Arterielle Verschlusskrankheit (AVK). Chron. Arte-
le Sprachstörung, bei der die Betroffenen zwar rienverschlüsse, Bezeichnung für alle organi-
verstehen was gesagt wird, wissen, was sie ant- schen Veränderungen des Gefäßlumens der Arte-
worten möchten, aber unfähig sind, die passen- rien, die zur Stenose (Einengung) oder Obliterati-
den Worte zu finden, Synonym: expressive Apha- on (Verschluss) des Durchmessers führen
sie Arteriosklerose (griech. Arteria – Schlagader; skleros
Aphasie, sensorische (griech. a- – ohne, Mangel an; – hart, spröde). Umgangssprachlich „Arterienver-
phasis – Sprechen; lat. Sensorius – der Empfin- kalkung“; wichtigste und häufigste krankhafte
dung dienend). Zentrale Sprachstörung, bei der Veränderung der Arterien mit Verhärtung, Ver-
das Sprachverständnis verloren geht, Synonym: dickung, Elastizitätsverlust und Lichtungsein-
rezeptive Aphasie engung
Aphonie (griech. a- – ohne, Mangel an; phone – Stim- Arthritis (griech. arthron – Gelenk, -itis – Entzün-
me). Stimmlosigkeit dung). Gelenkentzündung
Apnoe (griech. a- – ohne, Mangel an; pneuma – Luft, Artikulation (lat. articulatio – Gelenk). Im Zusam-
Atem). Atemstillstand menhang mit der Sprache Lautbildung bzw. die
Apokrin (griech. apokrinein – ausscheiden, abson- deutliche Lautbildung bei Vokalen und Konso-
dern). Ausscheidend, absondernd (Drüse) nanten
Apoplexia cerebri (griech. Apolexia – Schlagfluss; lat. Assimilation (lat. assimilare – angleichen). Aufnah-
cerebrum – Großhirn). Gehirnschlag, Synonyme: me der Nahrungsstoffe und Umwandlung in kör-
Schlaganfall, apoplektischer Insult pereigene Stoffe
Applikation (lat. applicare – anlegen, verwenden). Asystolie (griech. a – ohne, Mangel an; systole – Zu-
Verabreichung von Medikamenten sammenziehung). Fehlende Kontraktion des Her-
Apraxie (griech. a- – ohne, Mangel an; praxis – Tun). zens, d. h. Herzstillstand
Unfähigkeit, bei erhaltener Beweglichkeit sinn- Aszites (griech. askites – Bauchwassersucht). An-
voll und zweckmäßig zu handeln sammlung von freier Flüssigkeit in der Bauchhöh-

474
KaelDesu
Glossar

le infolge von Stauungen und entzündlichen Er- autosomal – rezessiv (griech. autos – selbst; soma –
krankungen im Bereich des Bauchfells Körper; lat. recedere – zurückgehen). Erbgang, bei
Ataxie (griech. a- – ohne, Mangel an; taxis – Ord- dem eine Krankheit genetisch auf einem Hetero-
nung). Störung der Bewegungskoordination, un- som (kein Geschlechtschromosom) verankert ist
terschieden werden Gangataxien und Standata- und dann in Erscheinung tritt, wenn beide Eltern
xien das betreffende Gen in der Erbmasse besitzen
Atelektasen (griech. ateles – unvollständig; ektasis – Autosuggestion (griech. autos – selbst; lat. suggestio
Ausdehnung). Ein nicht mit Luft gefüllter Lungen- – Eingebung). Fähigkeit, sich selbst zu beeinflus-
abschnitt, bei dem die Alveolarwände aneinan- sen
derliegen Auxiliaratmung (lat. auxiliaris – helfend). Atmung
Atemfrequenz (lat. frequentia – Häufigkeit). Anzahl unter Einsatz der Atemhilfsmuskulatur
der Atemzüge pro Minute
Atmung, asymmetrisch (griech. asymmetria – Un- Bakteriurie (griech. houron – Harn). Ausscheidung
gleichmäßigkeit). Atmung, bei der sich eine von Bakterien im Urin
Thorxhälfte nicht oder nur in einem verringerten Balbuties (lat. balbutio – Stottern). Stottern
Ausmaß bewegt Barba (lat. barba – Bart). Barthaare
Atmung, inverse (lat. inversio – Umkehrung, Umstel- Basale Stimulation. Nach Fröhlich und Bienstein ein
lung). Atmung, bei der es durch maximale Konzept, das die frühentwickelten (basalen)
Zwerchfellbewegungen zu einer Vorwölbung des Wahrnehmungssysteme stimuliert bei gleichzei-
Abdomens und einer Senkung des Thorax bei der tiger Förderung der Reaktionsfähigkeit
Einatmung kommt, bei der Ausatmung kommt es Basaltemperatur (lat. basalis – an der Basis liegend,
zu einer Einziehung des Abdomens und Hebung Ausgangswert). Morgendliche Körpertemperatur
des Thorax der Frau, die vor dem Aufstehen zur Feststellung
Atmung, paradoxe (griech. para – gegen, doxa – Mei- einer Ovulation gemessen wird
nung). Atmung, bei der während der Inspiration Beobachtung. Systematische, planmäßige, zielge-
eine Einwärtsbewegung und bei der Exspiration richtete Form der Wahrnehmung
eine Auswärtsbewegung des beweglichen Tho- Beobachtungsprozess. Vorgang, der Selektion von
raxwandanteils (z. B. bei Rippenserienfrakturen) Wahrnehmungsreizen, Suchen nach vergleichba-
auftritt ren Merkmalen, Fragestellungen und Interpreta-
Atonie (griech. atonie – Abspannung, Schlaffheit). tionsmöglichkeiten, ihre Überprüfung und Be-
Herabgesetzter Spannungszustand der Muskeln wertung sowie Überprüfung der Wirkung pflege-
Atopie (griech. atopia – Ungewöhnlichkeit, Seltsam- rischen Handelns beinhaltet
keit). Bereitschaft, gegen Stoffe aus der natürli- Bewusstsein. Gesamtheit aller gegenwärtig empfun-
chen Umwelt eine Überempfindlichkeit zu entwi- denen psychischen Vorgänge, die verbunden sind
ckeln; z. B. als atopische Dermatitis mit der Kenntnis über das subjektive Erleben
Atrophie (griech. a- – ohne, Mangel an; throphe – Er- Bigeminie (lat. bi – doppelt, zweifach; geminus –
nährung, Nahrung). Rückbildung von Organen, doppelt). Doppelschlägigkeit, bei der jeder Systo-
Geweben und Zellen aufgrund eines Ungleichge- le über längere Zeit eine Extrasystole folgt, so dass
wichtes zwischen Nahrungsangebot und -bedarf sich an je zwei dicht aufeinanderfolgende Herz-
Attributierung. Ursachenzuschreibung des eigenen schläge eine Pause anschließt
und fremden Verhaltens von Menschen Bilirubinurie (lat. bilis – Galle; ruber – rot: griech.
Auskultation (lat. auscultare – horchen). Abhorchen houron – Harn). Ausscheidung von Bilirubin mit
der im Körper entstehenden Geräusche und Töne, dem Urin
beispielsweise Atmungs-, Darm-, Gefäß- und Biot-Atmung. Nach dem französischen Physiker Ca-
Herzgeräusche und Herztöne meist mit einem mille Biot (1774 – 1862) benannte Form der peri-
Stethoskop odischen Atmung, die durch kräftige Atemzüge
Autismus (griech. autos – selbst). Psychische Störung, von gleicher Tiefe gekennzeichnet ist, welche von
bei der es zu einem Rückzug der Betroffenen in plötzlich auftretenden Atempausen unterbro-
die eigene Phantasiewelt und Unfähigkeit zur chen werden
Kontaktaufnahme kommt

475
KaelDesu
Glossar

Blutdruck, diastolisch (griech. diastole – Ausdeh- Bulbus olfaktorius (lat. bulbus – Zwiebel; lat. olfakta-
nung). In den Blutgefäßen und Herzkammern re – an etwas riechen). Riechkolben, Teil des Sieb-
herrschender Druck bei Kammererschlaffung beins, welcher die Riechnerven aufnimmt
Blutdruck, systolisch (griech. systole – zusammen- Bulimia nervosa (griech. boulimia – Heißhunger; lat.
ziehen). In den Blutgefäßen und Herzkammern nervosus – sehnig, nervig). Psychogene Essstö-
herrschender Druck bei Kammerkontraktion rung, bei der dem Körper hochkalorische Nah-
Blutdruckamplitude (lat. amplitudo – Umfang, Grö- rungsmengen in kürzester Zeit zugeführt werden,
ße, Weite). Differenz zwischen systolischem und die im Anschluss wieder erbrochen werden, Sy-
diastolischem Blutdruckwert einer Herzaktion nonym: Ess-Brechsucht, Fress-Kotzsucht
Body-Mass-Index (BMI). Nach dem belgischen Ma-
thematiker und Statistiker L. A. J. Quetelet be- Caliculi gustatorii (lat. caliculus – kleiner Kelch,
nannter Index zur Bestimmung des Normalge- Knospe; lat. gustus – Geschmack). Geschmacks-
wichtes (Körpergewicht (Kg): Körperlänge (m2), knospen der Zunge
Normbereich: zwischen 19 – 30 BMI, Synonym: Canities (lat. canus – grau). Ergrauen der Haare
Quetelet-Index Capilli (lat. Capillitum – behaarte Kopfhaut). Kopf-
Brachybasie (griech. brachys – kurz; basis – Gang). haar
Kleinschrittiger, trippelnder Gang, z. B. bei M. Par- Cheyne-Stokes-Atmung. Nach den irischen Ärzten
kinson John Cheyne (1777 – 1836) und William Stokes
Brachymenorrhoe (griech. brachy – kurz; mens – (1804 – 1878) benannte Form der periodischen
Monat; -rhoe – fließen, Fluss). Verkürzte Mens- Atmung mit rhythmisch wechselnder zu- und ab-
truation nehmender Atemfrequenz und -amplitude sowie
Bradykardie (griech. brady – verlangsamt; kardia – Atempausen
Herz). Abfall der Herzfrequenz unter 60 Schläge Chloasma gravidarum (griech. chloazein – sprossen,
pro Minute grünen; lat. gravida – schwanger). Hyperpigmen-
Bradypneu (griech. brady – verlangsamt; pneuma – tierung im Gesicht und/oder zwischen Bauchna-
Luft, Atem). Herabgesetzte Atemfrequenz bel und Symphyse während der Schwangerschaft
Broca-Formel. Nach dem französischen Chirurgen Cholera. Akute, durch Vibrio cholerae hervorgerufe-
Pierre Broca (1824 – 1880) benannte Formel zur ne meldepflichtige Infektionskrankheit, die durch
Errechnung des Normalgewichtes (Körpergröße plötzliches Auftreten, Durchfälle und Erbrechen,
in cm minus 100 = Normalgewicht) rasche Exsikkose mit Elektrolytverlust und eine
Bromhidrose (griech. bromos – Gestank; hidros – hohe Letalität gekennzeichnet ist. Auch sind
Schweiß). Unangenehm riechende Schweißab- asymptomatische Infektionen häufig
sonderung Chondrodystrophie (griech. chondros – Knorpel; dys
Bronchialsekret (lat. bronchia – Luftröhrenast; secre- – Störung; trophe – Ernährung). Störung der
tum – Absonderung, Ausscheidung). Schleimige Knorpelbildung, Synonym für Achondroplasie
Absonderung der Zellen der unteren Atemwege Chromhidrose (griech. chroma – Farbe; hidros –
Bronchiektasen (lat. bronchia – Luftröhrenast; Schweiß). Sekretion von farbigem Schweiß
griech. ektasis – Erweiterung). Krankhafte Erwei- Chronobiologische Störungen (griech. chronos –
terungen der Bronchien Zeit; bios – Leben). Störungen des zirkadianen
Bronchitis (lat. bronchia – Luftröhrenast; griech. -itis Rhythmen des menschlichen Organismus, z. B.
– Entzündung). Entzündliche Erkrankung der Störung des Schlaf-Wachrhythmus
Bronchialschleimhaut Circulus vitiosus (lat. circulus – Kreis; vitium – Fehler,
Brucellose. Sammelbezeichnung für meldepflichti- Schaden). Teufelskreis
ge, subakut – rezidivierende Infektionskrankhei- Claudicatio intermittens (lat. claudicatio – Hinken;
ten bei Mensch und Tier, die durch Brucellen aus- intermittere – unterbrechen). Unterbrochenes
gelöst werden Hinken, vor allem bei arterieller Verschlusskrank-
Bruxismus (griech. bruxismus – Zähneknirschen). heit; die Betroffenen können nur kurze Wegstre-
Zähneknirschen, vor allem nachts cken ohne Unterbrechung zurücklegen, Syno-
nym: Schaufensterkrankheit

476
KaelDesu
Glossar

Colitis ulcerosa (griech. kolon – -darm; -itis – Ent- ge Harnausscheidung bei Störung der Wasser-
zündung; lat. ulcus – Geschwür). Eine entzündli- rückresorption
che Erkrankung des Dickdarms, die zu einer ge- Diabetes mellitus (griech. diabainein – hindurchge-
schwürigen Darmwandzerstörung führt hen; lat. mellitus – mit Honig versüßt). Stoff-
Condelatio (lat. condelare – erfrieren). Lokale Erfrie- wechselerkrankung, die mit einem relativen oder
rung absoluten Insulinmangel einhergeht, sog. Zucker-
Cor pulmonale (lat. cor – Herz; pulmo – Lunge). Ver- krankheit
größerung des rechten Herzens aufgrund eines Diaphragma (griech. diaphragma – Scheidewand).
erhöhten Drucks im Lungenkreislauf Zwerchfell
Corium (griech. chorion – Leder). Lederhaut Diarrhöe (lat. diarrhoea – Durchfluss). Durchfall,
Crepitatio (lat. crepitare – knarren). Feuchtes Atem- mehr als 3 Stühle pro Tag, die eine wässrige, brei-
geräusch bei Sekretansammlungen in der Lunge, ige Konsistenz besitzen
Synonym: Knisterrasseln Disposition (lat. disposito – planmäßige Anordnung).
Cushing-Syndrom. Durch erhöhte Konzentration von Die Ansprechbarkeit eines Körpers für Krankhei-
Cortisol im Blutplasma gekennzeichnetes Krank- ten
heitsbild, u. a. mit Vollmondgesicht, Stammfett- disproportioniert (lat. dis – den Gegenstand bezeich-
sucht, Hirsutismus, Hypertonie, Striae, Osteopo- nend; Proportion – das entsprechende Verhält-
rose, Muskelschwäche, herabgesetzter Glukose- nis). Ohne richtige Proportion
toleranz, Wachstumshemmung bei Kindern, Diuretika (griech. di – hindurch; ouron – Harn).
Amenorrhoe, Potenzstörungen Medikamente, die die Harnausscheidung fördern
Divertikel (lat. diverticulum – Abweichung, Seiten-
Defäkation (lat. defaecatio – Reinigung). Stuhlaus- weg). Ausstülpung eines Hohlorgans
scheidung Dokumentation (lat. documentum – beweisende Ur-
degenerativ (lat. degenerare – verfallen, verküm- kunde). Niederschreiben, Dokumentieren von In-
mern, sich zurückbilden). Auf einer Rückbildung formationen, Ereignissen etc., Zusammenstel-
beruhend, auf dem Zerfall von Zellen beruhend lung, Ordnung und Nutzbarmachung von Doku-
Dehydratation (lat. de- – ent-; griech. hydro – Was- menten
ser). Abnahme oder Verlust eines Organismus an Drehschwindel. Vom Gleichgewichtsorgan ausge-
Wasser hender Schwindel, bei dem sich die Umwelt um
Delirium (lat. delirium – Irresein). Unspezifische Re- die betroffene Person dreht oder umgekehrt,
aktion des Gehirns auf Noxen, die zu einer Stö- Synonym: vestibulärer Schwindel, labyrinthärer
rung des Bewusstseins führen Schwindel
Demenz (lat. dementia – Wahnsinn). Verfall der in- Du-Bois-Formel. Nach dem deutschen Physiologen
tellektuellen Fähigkeiten, meist kontinuierlich Emil Du-Bois benannte Formel zu Errechnung der
verlaufend Körperoberfläche (O = Körperoberfläche, P = Kör-
Depersonalisation (lat. de- – ab, ent-; persona – Mas- pergewicht, O = P ⫻ Länge ⫻ 167,2)
ke). Störung des Ich-Erlebens, bei der das eigene Ductus arteriosus Botalli (lat. ductus – Gang, Kanal).
Ich als fremd, verändert oder auch abgetrennt von Der kurze Verbindungsgang zwischen der Tei-
der eigenen Person erlebt wird lungsstelle des Truncus pulmonalis und dem Aor-
Derealisation (lat. de- – ab, ent-; realis – sachlich, tenbogen. Wird im Normalfall beim Einsetzen der
wesentlich). Störung des Ich-Erlebens, bei der die Atmung des Neugeborenen innerhalb von 10 – 15
Umwelt als fremd, verändert und/oder unwirklich Stunden stillgelegt und bildet sich innerhalb von
erlebt wird 2 – 3 Wochen zum Ligamentum arteriosum zu-
Detrusor vesivae (lat. detrudere – fortdrängen, hi- rück
nabdrängen; vesica – Blase). Sammelbezeich- Dysarthrie (griech. dys- – Störung, arthron – Gelenk).
nung für die die Harnblase entleerende Muskula- Sprachflussstörung, bei der die gesamte Artikula-
tur tion betroffen ist
Diabetes insipidus (griech. diabainein – hindurchge- Dysbasie (griech. dys- – Störung; basis – Gehen).
hen; lat. insipidus – unschmackhaft). Übermäßi- Gangstörung

477
KaelDesu
Glossar

Dysgeusie (griech. dys- – Störung; geusis – Ge- Dysurie (griech. dys- – Störung; ouron – Harn). Er-
schmack). Störung der Geschmackswahrneh- schwerte Harnentleerung, Störung der Harnent-
mung leerung
Dysglossie (griech. dys- – Störung; glossa – Sprache).
Sprachstörung infolge von Anomalien der peri- Echolalie (griech. echo – Ton, Schall; lalein – reden).
pheren Sprechwerkzeuge Artikulationsstörung, bei der die Betroffenen Ge-
Dysgrammatismus (griech. dys- – Störung; gramma- hörtes echoartig nachahmen
ta – Grammatik). Sprachstörung, die durch die efferent (lat. effere – herausbringen). Von einem Or-
Unfähigkeit, grammatikalisch korrekte Sätze zu gan kommend
bilden, gekennzeichnet ist Effloreszenzen (lat. efflorescere – aufblühen). Haut-
Dyslalie (griech. dys- – Störung; lalein – reden). veränderungen, sog. Hautblüten, die in primäre
Sprachstörung, die gekennzeichnet ist durch die und sekundäre Formen eingeteilt werden
Fehlbildung eines oder mehrerer Laute, Lautver- ekkrin (griech. ek- – aus, heraus; -krinein – schei-
bindungen oder ganzer Lautgruppen dend, sondernd). Nach außen absondernd
Dyslalie, audiogene (griech. dys- – Störung; lalein – Eklampsie (griech. eklampein – aufleuchten). Auftre-
reden; – gen – erzeugend, verursachend; lat. au- ten von tonisch-klonischen Krämpfen mit und
dire – hören). Sprachstörung, die aufgrund eines ohne Bewusstlosigkeit im Verlauf einer Schwan-
eingeschränkten oder fehlenden Hörvermögens gerschaft
entsteht Ekzem (griech. ekzema – durch Hitze herausgetrie-
Dyslalie, mechanische (griech. dys- – Störung; lalein bener Ausschlag, Aufschwellen, Aufkochen).
– reden). Sprachstörung, die aufgrund mechani- Nicht ansteckende, juckende Entzündungsreakti-
scher Anomalien der Artikulationsorgane ent- on der Haut, sog. Juckflechte
steht Elektroenzephalogram, -graphie (griech. enkephalos
Dysmenorrhoe (griech. dys- – Störung; men – ; -rhoe – Gehirn; graphein – schreiben). Aufzeichnung
– fließen, Fluss). Schmerzhafte Menstruation der Gehirnströme, Abkürzung: EEG
Dysorexie (griech. dys- – Störung; orexis – Verlan- Elektromyogram, -graphie (griech. myo- – Muskel;
gen, Begierde). Gestörter Appetit graphein – schreiben). Aufzeichnung der Muskel-
Dyspepsie (griech. dys- – Störung; pepsis – Verdau- spannung, Abkürzung: EMG
ung). Störung der Verdauung aufgrund einer Stö- Elektrookulogram, -graphie (lat. oculus – Auge;
rung der Darmmotilität oder Enzymproduktion griech. graphein – schreiben). Untersuchung zur
Dyspepsie, Fäulnis- (griech. dys- – Störung; pepsis – Messung der Augenbewegungen, Abkürzung:
Verdauung). Störung der Verdauung, gekenn- EOG
zeichnet durch vermehrte Fäulnisprozesse im Embolie. Verschleppung von körpereigenen oder
Darm bei mangelhafter Einweißverdauung und -fremden Substanzen mit dem Blutstrom, die sich
-resorption in einem Blutgefäß festsetzen und zu einer Unter-
Dyspepsie, Gärungs- (griech. dys- – Störung; pepsis – brechung der Blutversorgung führen, z. B. Throm-
Verdauung). Störung der Kohlenhydratverdauung ben, Luft, Fett
bei Enzymmangel oder vermehrtem Kohlenhy- Emesis (griech. emesis – Erbrechen). Erbrechen, Sy-
dratangebot nonym: Vomitus
Dysphasie (griech. dys- – Störung; -phasis – Reden). Emotion (lat. emovere – herausbewegen, erschüt-
Kompletter Verlust der Sprache tern). Seelische Erregung, Gefühl, Gemütsbewe-
Dysphonie (griech. dys- – Störung; phone- Stimme). gung, Gefühlsregung
Stimmstörung, bei der die Stimme heiser, belegt, Enanthem. Entzündliche Veränderungen der
rauh oder unrein klingen kann Schleimhaut
Dyspnoe (griech. dys- – Störung; pneuma – Luft, endogen (griech. endo – innen; -gen – etwas hervor-
Atem). Erschwerte Atmung mit subjektiver Atem- bringend, verursachend). Im Körper entstehend,
not nicht durch äußere Einflüsse entstanden, von in-
Dystrophie (griech. dys- – Störung; trophe – Ernäh- nen kommend
rung, Nahrung). Chronische Form der Ernäh- endokrin (griech. endo – innen, inwendig; krinein –
rungsstörung bei Säuglingen trennen, sondern). Innere Sekretion (von Drüsen)

478
KaelDesu
Glossar

Endometritis (griech. endo – innen; metra – Gebär- Größe und Gewicht, der Stärke des Hautfettpols-
mutter; -itis – Entzündung). Entzündung der Ge- ters und dem Hautturgor, Abkürzung: EZ
bärmutterschleimhaut Erysipel. Infektion der Haut und des Unterhautgewe-
Endorphin (griech. endo – innen). Körpereigene Ei- bes, sog. Wundrose
weiße, die eine schmerzstillende Wirkung besit- Erythrozyten (griech. erythros – rot; zyt- – Zelle). Ro-
zen tes Blutkörperchen
Enteroviren (griech. enteron – Dünndarm; lat. virus – Eumenorrhoe (griech. eu- – gut, wohl, normal; men –
Gift, Schleim, Saft). Kleinste Partikel, die nur auf monat; -rhoe – fließen, Fluss). Normale Mens-
lebendem Gewebe gedeihen und Darmerkran- truation
kungen hervorrufen Evaluation (lat. valere – gelten, wert sein, stark sein).
Entzündungszeichen. Bei einer Entzündung auftre- Analyse und Bewertung eines Sachverhaltes mit
tende Symptome: Rötung (Rubor), Schwellung dem Ziel der Erfolgskontrolle; letzter Schritt des
(Tumor), Überwärmung (Calor), Schmerzen (Do- Pflegeprozesses
lor), eingeschränkte Funktion (Functio laesa) Evaporation (lat. ex- – aus, von außen; vapor –
Enuresis diurna (griech. en- – innen, hinein, in; ou- Dampf). Wärmeverlust durch Verdampfung von
rein – harnen; lat. diurnus – am Tage). Einnässen Feuchtigkeit über die Haut
am Tag Exanthem (lat. exanthema – das Aufgeblühte). Ent-
Enuresis nocturna (griech. en- – innen, hinein, in; ou- zündliche Hautveränderung
rein – harnen; lat. nocturna – nächtlich). Nächtli- Exkrement (lat. excrementum – Auswurf, Ausschei-
ches Einnässen, Bettnässen dung). Ausscheidung von Kot
Enzephalitis (griech. encephalon – Gehirn; -itis – exogen (lat. ex – aus, von außen; -gen – hervorbrin-
Entzündung). Entzündung des Gehirns gend, verursachend). Von außen eindringend
Enzephalitis lethargica (griech. encephalon – Gehirn; Expektoration (lat. ex – aus, heraus; pectus, pectoris
-itis – Entzündung; lethargia – Schlafsucht). Ent- – Brust). Ausgehustetes Bronchialsekret, Synony-
zündung des Gehirns, die mit Teilnahmslosigkeit me: Sputum, Auswurf
und einer andauernden Schläfrigkeit einhergeht, Exsikkose (lat. exsiccare – austrocknen). Austrock-
Synonyme: Europäische Schlafgrippe, Enzephali- nung, Abnahme, Verlust eines Organismus an
tis epidemica, ECONOMO-Krankheit Wasser
EPH-Gestose (E = edema – Ödem, P = Proteinurie – Ei- Exspiration (lat. ex – aus, heraus, ent-, ver-; respirare
weißausscheidung im Urin, H = Hypertonie – – atmen). Ausatmung
Bluthochdruck; lat. gestare – tragen). Schwanger- Extension (lat. ex- – aus, heraus; tendere – dehnen,
schaftsspezifische Erkrankung strecken, ziehen). Bewegung, bei der z. B. eine Ex-
Epidermis (griech. epi – auf; derma – Haut). Oberhaut tremität gestreckt wird
Epilepsie (griech. epilepsia – Fallsucht). Funktions- external. Nach außen verlagert
störung, bei der es zu wiederholtem Auftreten ze- exterozeptive Rezeptoren. Übermitteln Fern- oder
rebraler Krampfanfälle kommt, Anfallsleiden, Umweltreize, z. B. Schmecken, Riechen, Hören,
Fallsucht Sehen, Tasten
Epiphyse (griech. epiphyomai – auf oder an etwas Extrasystole (lat. extra – außerhalb, außen, äußer-
wachsen). Endstücke der langen Röhrenknochen; lich; griech. systole – Zusammenziehung). Außer-
Gelenkende halb des regulären Grundrhythmus auftretende
Epiphysenfuge (griech. epiphyomai – auf oder an et- Herzschläge; vorzeitig oder verspätet, einzeln
was wachsen). Knorpelige Gewebeschicht am En- oder gehäuft auftretend
de eines Röhrenknochens, auch Wachstumsfuge
genannt Facies abdominalis (lat. facies – Gesicht; abdomen –
Ergotismus. Vergiftung mit Ergotalkaloiden (Mutter- Bauch, Unterleib). Charakteristischer Gesichts-
kornalkaloiden) durch Medikamente oder mit Se- ausdruck bei akuter Bauchfellentzündung, Syno-
cale cornutum befallenes Getreide nym: Facies hippocratica
Ernährungszustand. Ernährungsbedingter Körper- Facies myopathica (lat. facies – Gesicht; griech. myo –
zustand; wird beurteilt nach dem Verhältnis von Muskel; pathos – Leiden). Charakteristischer Ge-

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KaelDesu
Glossar

sichtsausdruck bei verschiedenen Muskelerkran- Fieber, undulierend (lat. unda – Welle). Fieber, das
kungen, Synonym: Sphinxgesicht durch einen wellenförmigen Verlauf gekenn-
Facies ovarica (lat. facies – Gesicht; ovarium – Eier- zeichnet ist
stock). Charakteristischer Gesichtsausdruck bei Flexion (lat. flexio – Biegung). Beugungsbewegung
Erkrankungen (Tumoren) des Eierstocks Flimmerepithel. Epithelgewebe, das an seiner freien
Facies paralytica (lat. facies – Gesicht; griech. paraly- Oberfläche mit Kinozilien (Flimmerhaaren) aus-
ein – auflösen). Charakteristischer Gesichtsaus- gestattet ist. Vorkommen z. B. in Uterus, Tube,
druck bei Lähmung der Gesichtsmuskulatur; Atemwegen
schlaffe, fehlende Mimik Fluor (lat. fluor – das Fließen). Sekretion aus der
Facies pertussis (lat. facies – Gesicht; tussis – Hus- Scheide, Synonym: Ausfluss
ten). Charakteristischer Gesichtsausdruck bei Foetor (lat. foetor – Gestank). Übler Geruch
Keuchhusten Foetor ex ore (lat. feotor – Gestank; ex – aus, heraus;
Facies tetanica (lat. facies – Gesicht; griech. tetanos – ores – Mund). Übler Mundgeruch
Spannung). Charakteristischer Gesichtsausdruck Foetor hepaticus (lat. feotor – Gestank; griech. hepar
bei Wundstarrkrampf – Leber). Übler Geruch nach frischer Leber oder
Fastigium (lat. fastigium – Gipfel, Höhepunkt). Stadi- Lehmerde
um der Fieberhöhe Foetor urämicus (lat. foetor – Gestank; ouron – Harn;
Fäzes (lat. faex – Bodensatz). Kot, Stuhlgang haima – Blut). Urinartiger Geruch
Feedback (engl. Feedback – Rückfütterung). Rück- Fokussierung (lat. fokus – Herd). Etwas auf einen
meldung; im Rahmen der Kommunikation vom zentralen Punkt richten
Empfänger gesendete Nachricht darüber, wie er Follikelsprung (lat. folliculus – kleiner Ledersack,
die Nachricht des Senders verstanden hat -schlauch, Bläschen). Platzen der Zellhülle des ge-
Fetalperiode (lat. fetus – das Zeugen, Gebären; reiften Eies im Ovar
griech. periodos – das Herumgehen). Abschnitt Formatio reticularis (lat. formatio – Bildung, Gebilde;
der pränatalen Entwicklung, die vom Ende der reticularis – netzartig). Netzartige Anordnung
Embryonalzeit (Anfang der 9. Schwangerschafts- von Zellen im Zentralnervensystem, die für die
woche) bis zur Geburt dauert Steuerung des Schlaf-Wach-Rhythmus verant-
Fibrose, cystische (lat. fibrosus – faserreich; griech. wortlich sind
kystis – Blase). Autosomal-rezessiv vererbte Stoff- fötid (lat. foetor – Gestank). Stinkend, übelriechend
wechselerkrankung, bei der es zu einer vermehr- Fraktur (lat. fractum – brechen). Knochenbruch
ten Produktion von zähflüssigem Sekret bei- Furunkel. Eitrige Entzündung eines Haarbalgs und
spielsweise in der Lunge kommt, Synonym: Mu- seiner Talgdrüse
koviszidose
Fieber, biphasisch (lat. bi – zweifach, doppelt). Fieber, Gammazismus (griech. Buchstabe „Gamma“). Stam-
dessen Verlauf durch eine zweigipflige Fieberkur- meln mit Fehlbildung des Lautes „G“, Artikulati-
ve gekennzeichnet ist onsstörung
Fieber, intermittierend (lat. intermittere – aussetzen, Gang, apraktischer (griech. a- – ohne, Mangel an;
unterbrechen). Fieber, das durch eine Tagesdiffe- praxis – Tun). Beeinträchtigung der Gangkoordi-
renz von 1,5 ⬚C und mehr gekennzeichnet ist nation
Fieber, kontinuierlich (lat. continuare – ohne Unter- Gang, ataktischer (griech. a- – ohne Mangel an; taxis
brechung fortsetzen). Fieber, dessen Verlauf – Ordnung). Gangstörung, die durch einen unsi-
durch eine gleichmäßig hohe Temperatur von ca. cheren und breitbeinigen Gang gekennzeichnet
39,0 ⬚C gekennzeichnet ist ist
Fieber, rekurrierend (lat. recurrere – zurücklaufen). Gang, paretischer (griech. paresis – Erschlaffung).
Fieber, dessen Verlauf durch mehrtägige Fieber- Gangstörung mit schwach ausgeprägter, schlaffer
schübe im Wechsel mit fieberfreien Intervallen Lähmung der zugehörigen Beinmuskulatur, Syno-
gekennzeichnet ist nym: lokomotorische Ataxie
Fieber, remittierend (lat. remittere – nachlassen). Gangrän (lat. gangraena – fressendes Geschwür). Ge-
Fieber, das durch eine Tagesdifferenz von bis zu websuntergang aufgrund einer Minderdurchblu-
1,5 ⬚C gekennzeichnet ist

480
KaelDesu
Glossar

tung, mechanischer oder thermischer Schädi- Gyrus postzentralis (griech. gyrus – Kreis; lat. post –
gung nach, hinter; lat. Zentrum – Mitte). Hintere Zent-
Ganzheitlichkeit. Grundannahme über den Men- ralwindung des Hirns
schen, nach der der Mensch eine Einheit aus Kör- Gyrus präzentralis (griech. gyrus – Kreis; lat. prä –
per, Geist und Seele ist vor; Zentrum – Mitte). Vordere Zentralwindung
gastrointestinal (griech. gaster – Magen; lat. intesti- des Hirns
num – Darm). Den Magen und Darm betreffend
Geburtstrauma (griech. trauma – Verletzung, Wun- Habituation (lat. habitus – äußere Beschaffenheit).
de, Gewalteinwirkung). Durch eine Geburt her- Gewöhnung an einen stets wiederkehrenden Reiz
vorgerufene Verletzung Halluzination (lat. alucinatio – gedankenloses Re-
Gestik (lat. gestus – Haltung, Bewegung, Gebärden- den). Sinnestäuschung, kann optisch, akustisch,
spiel). Gesamtheit von Bewegungen als Ausdruck olfaktorisch etc. sein
einer bestimmten (inneren) Haltung Halo-Effekt (griech. halo – Hof um eine Lichtquelle).
Gibbus (lat.). Buckel Positive oder negative Beeinflussung der Perso-
Gicht. Eine in akuten Schüben oder primär chronisch nenbeurteilung durch Wahrnehmung einiger we-
verlaufende Purinstoffwechselstörung, die durch niger markanter Eigenschaften, die herausragen
Abscheidung von Salzen der Harnsäure an ver- und andere überdecken
schiedenen Körperstellen, besonders im Bereich Hämangion (griech. haima – Blut; angeion – Gefäß).
der Gelenke, charakterisiert ist Gutartige Blutgefäßgeschwulst, Synonym: Blut-
Gigantismus (griech. gigas, gigantos – Riese). Riesen- schwamm
wuchs, Körperlänge ist größer als 200 cm bei Hämatemesis (griech. haima – Blut; emesis – Erbre-
Frauen und 210 cm bei Männern chen). Bluterbrechen
Gingiva. Zahnfleisch Hämaturie (griech. haima – Blut; houron – Harn).
Glandulae sebaceae (lat. glandula – Drüse; lat. sebum Ausscheidung von Erythrozyten mit dem Urin
– Talg). Talgdrüsen Hämoccult 姞-Test (griech. haima – Blut; lat. occultus –
Glandulae sudoriferae eccrinae (lat. glandula – Drü- geheim, verborgen). Test, mit dem verstecktes,
se; lat. sudor – Schweiß; griech. krinein – abson- mit dem bloßen Auge nicht sichtbares Blut im
dern). Schweißdrüsen Stuhl nachgewiesen werden kann
Glossitis. Zungenentzündung, häufig in Verbindung Hämoglobin (griech. haima – Blut; lat. globulus – Kü-
mit Stomatitis (Mundschleimhautentzündung) gelchen). Blutfarbstoff
Golgi-Apparat. Nach dem italienischen Anatom Ca- Hämolyse (griech. haima – Blut; lysis – Auflösung).
millo Golgi (1844 – 1926) benanntes Zellorganell, Auflösung der Erythrozyten aufgrund einer Zer-
das Stoffe speichert und aus dem innerplasmati- störung der Zellmembran
schen zum außerplasmatischen Raum befördert Hämoptoe (griech. haima – Blut; ptyalon (-ptoe) –
Gonorrhoe (griech. gone – Samen, Erzeugung, Ge- Speichel). Aushusten oder Ausspucken von bluti-
schlecht; -rhoe – fließen, Fluss). Geschlechts- gem Sputum, bei dem die Blutmenge weniger als
krankheit, die sich durch eine Schleimhautinfek- 50 ml beträgt
tion der Harn- und Geschlechtsorgane äußert und Hämoptyse (griech. haima – Blut; ptyalon (-pty) –
durch Neisseria gonorrhoeae (Gonococcus) her- Speichel). Aushusten oder Ausspucken von bluti-
vorgerufen wird, Synonym: Tripper gem Sputum, bei dem die Blutmenge weniger als
Gravidität (lat. graviditas – Schwangerschaft). 50 ml beträgt
Schwangerschaft Hämorrhoiden (griech. haima – Blut; -rhoe – fließen,
Gustatorisch (lat. gustus – Geschmack). Den Ge- Fluss). Knotenförmig erweiterte Venen im Ano-
schmackssinn betreffend rektalbereich
Gynatresie (griech. gynaikos – Frau; a- – ohne, Man- haptisch-taktil (griech. haptein – haften; lat. tangere,
gel an; tresis – Loch). Angeborener Verschluss der tactum – berühren). Den Tastsinn betreffend
weiblichen Genitalorgane Harnretention (lat. retentio – das Zurückhalten).
Harnverhalt, Harnsperre, das Unvermögen, die
gefüllte Harnblase spontan zu entleeren

481
KaelDesu
Glossar

Hautturgor (lat. turgere – anschwellen, geschwollen Hydrops (griech. hydro – Wasser). Vermehrte Füssig-
sein). Spannungszustand der Haut keitsansammlung in Geweben, Gelenken oder
Hemianopsie (griech. hemi – halb; an – un-, -los; op- Körperhöhlen, sog. Wassersucht
sis – sehen). Halbseitenblindheit Hydrozephalus (griech. hydro – Wasser, kephale –
Hemiparese (griech. hemi – halb; paresis – Erschlaf- Kopf). Unnatürlich vergrößerter Schädel, sog.
fung). Halbseitenschwäche, leichte Halbseiten- „Wasserkopf“
lähmung Hypalgesie (griech. hyp- – unter; algos – Schmerz).
Hemiplegie (griech. hemi – halb; plege – Schlag, Läh- Herabgesetzte Schmerzempfindung
mung). Halbseitenlähmung Hypästhesie (griech. hyp- – unter; aisthesis – Emp-
Hepatitis (griech. hepar – Leber; -itis – Entzündung). findung). Herabgesetzte Empfindung von Sinnes-
Beim Menschen auftretende, ansteckende Virus- reizen
infektion, deren Hauptsymptom die Leberparen- Hyperalgesie (griech. hyper – über; algos – Schmerz).
chymschädigung ist Schmerzüberempfindlichkeit
Herzinsuffizienz (lat. insufficere – nicht genügen). Hyperämie. Blutüberfüllung eines Organs, Blutreich-
Herzmuskelschwäche tum
HGH (engl. Human-Growth-Hormon). Menschliches Hyperästhesie (griech. hyper – über; aisthesis – Emp-
Wachstumshormon findung). Verstärkte Empfindung von Sinnesrei-
Hirci (lat. hircus – Ziegenbock). Achselhaare zen
Histamin (griech. histio – Gewebe; amin – Kenn- Hyperbilirubinämie (griech. hyper – über; lat. bilis –
zeichnung für bestimmte Ammoniakverbindun- Galle; ruber – rot; griech. haima – Blut). Erhöhter
gen). Gewebshormon, das aus der körpereigenen Bilirubingehalt (rotbrauner Gallenfarbstoff, Ab-
Aminosäure Histidin gebildet wird bauprodukt des Harns) im Blut
Homöostase (griech. homoios – ähnlich; stasis – Hyperglykämie (griech. hyper- – über; glykys – süß;
Stand). Gleichgewicht der physiologischen Kör- haima – Blut). Erhöhter Zuckergehalt des Blutes
perfunktionen Hyperhidrose (griech. hyper- – über, zuviel; hidros –
Horror autotoxicus (lat. horror – Schrecken; Angst, Schweiß). Vermehrte Schweißsekretion
griech. autos – selbst; tox – Gift). Angst, sich durch Hyperkalzurie (griech. hyper – über, zuviel; ouros –
körpereigene Stoffe zu vergiften; ein von dem Harn). Vermehrte Calciumausscheidung mit dem
deutschen Arzt und Biologen Paul Ehrlich Urin
(1854 – 1915) geprägter Ausdruck, der bedeutet, Hyperkapnie (griech. hyper – über; kapnos – Gas).
dass körpereigene Stoffe normalerweise nicht zu Anstieg des CO2-Gehaltes im arteriellen Blut
einer Immunisierung führen Hyperkinesen (griech. hyper – über; kinesis – Bewe-
Hörsturz. Meist einseitige, plötzlich auftretende Hör- gung). Gesteigerte, übermäßige Bewegungstätig-
minderung keit einzelner Gliedmaßen oder des gesamten
Hüftgelenksdysplasie (griech. dys- – Störung; plas- Körpers
sein – bilden). Fehlbildung des Hüftgelenks Hyperlipidämie (griech. hyper – über, zuviel; lipos –
Husten, aphonisch (griech. a- – ohne, Mangel an; Fett; haima – Blut). Fettstoffwechselstörung mit
phone – Stimme). Klangloser, heiserer Husten Erhöhung der Blutfette (Cholesterin, Triglyceride)
Husten, bitonal (lat. bi- – zweifach, doppelt). Husten, Hypermenorrhoe (griech. hyper – über, zuviel; men –
der von einem metallisch pfeifenden oder kräch- Monat; -rhoe – fließen, Fluss). Verstärkte Mens-
zendem Ton begleitet wird truation
Husten, kupiert (franz. couper – abschneiden). Hus- Hypermetrie (griech. hyper – über, zuviel; metron –
ten, der zur Vermeidung zusätzlicher Schmerzen Maß). Über das Ziel hinaus schießende Bewegun-
abgebrochen wird, vor allem bei schmerzhaften gen, Störung der Koordination und Zielgerichtet-
Prozessen im Thorax- und Abdominalbereich heit von Bewegungen
Husten, stakkatoartig (ital. staccato – abgerissen, ab- Hypermnesie (griech. hyper – über; mnesis – Erinne-
gestoßen). Husten, mit rasch aufeinander folgen- rung). Störung des Gedächtnisses, bei der be-
den Hustenstößen, typisch für Keuchhusten stimmte Erinnerungen besonders lebhaft er-
scheinen

482
KaelDesu
Glossar

Hyperorexie (griech. hyper- – über; orexis – Verlan- Hypomenorrhoe (griech. hypo – unter, zu wenig;
gen, Begierde). Gesteigerter Appetit, Synonym: men – Monat; -rhoe – fließen, Fluss). Zu seltene
Bulimie Menstruationen
Hyperparathyreoidismus (griech. hyper- – über; pa- Hypometrie (griech. hypo – unter, zu wenig; metron
ra- – abseitig, neben, abweichend; thyreos – – Maß). Bewegungsstörung, bei der die erforderli-
Schild, Schilddrüse). Überfunktion der Neben- chen Bewegungen zu kurz bemessen werden
schilddrüsen, die mit vermehrter Bildung von Pa- Hypomnesie (griech. hypo – unter, zu wenig; mnesis
rathormonen einhergeht – Erinnerung). Schwächung des Erinnerungsver-
Hyperpigmentierung (griech. hyper – über; lat. pig- mögens
mentum – Farbe). Übermäßige Hautbräune Hypopnoe (griech. hypo – unter, zu wenig; pneuma –
Hyperpyrexie (griech. hyper – über; pyretos – Fie- Luft, Atem). Verminderung des Atemflusses, ohne
ber). Anstieg der Körpertemperatur mit Sollwert- dass es zu einem Atemstillstand kommt
erhöhung Hyposmie (griech. hypo – unter, zu wenig; osme –
Hypersthenurie (griech. hyper – über; stheneia – Geruch). Herabgesetztes Geruchsvermögen
Kraft, Stärke; houron – Harn). Ausscheidung eines Hyposomnie (griech. hypo – unter, zu wenig; lat.
stark konzentrierten Urins mit einem spezifi- somnus der Schlaf). Verminderter Schlaf
schen Gewicht von über 1,025 Hyposthenurie (griech. hypo – unter, zu wenig; sthe-
Hyperthermie (griech. hyper – über; therm- – Wär- neia – Kraft, Stärke; houron – Harn). Ausschei-
me). Anstieg der Körpertemperatur ohne Soll- dung eines Urins mit einem spezifischen Gewicht
werterhöhung von unter 1,006
Hyperthyreose (griech. hyper – über, oberhalb; thy- Hypothalamus (griech. hypo – unter, zu wenig; thala-
reos – Schild, Schilddrüse). Überfunktion der mus – Lager, Kammer). Teil des Zwischenhirns,
Schilddrüse der unterhalb des Thalamus, der größten grauen
Hypertonie (griech. hyper – über, über – hinaus; to- Kernmasse des Zwischenhirns, liegt
nos – Spannung). Bluthochdruck Hypothermie (griech. hypo – unter, zu wenig; therm-
Hyperurikämie (griech. hyper – über, zuviel; ourus – – Wärme). Verminderte Körpertemperatur unter
Harn; haima – Blut). Erhöhung der Harnsäure im 35 ⬚C
Blut, Synonym: Gicht Hypothermie, akzidentell (griech. hypo – unter, zu
Hyperventilation (griech. hyper – über, über – hi- wenig; therm- – Wärme; lat. accidere – zufällig
naus; lat. ventilare – lüften). Im Verhältnis zum vorkommend). Verminderte Körpertemperatur
erforderlichen Gasaustausch des Körpers über- unter 35 ⬚C, die durch unbeabsichtigte Unfälle wie
mäßig gesteigerte Atmung z. B. Berg- und Ertrinkungsunfälle auftritt
Hyphophyse (griech. hypo – unter, zu wenig; physalis Hypothyreose (griech. hypo – unter, zu wenig; thy-
– Blase). Hirnanhangsdrüse reos – Schild). Unterfunktion der Schilddrüse
Hypnotika (griech. hypnos – Schlaf). Schlafmittel Hypotonie (griech. hypo – unter, zu wenig; tonos –
Hypoalgesie (griech. hypo – unter, zu wenig; algos – Spannung). Niedriger Blutdruck
Schmerz). Verringerte Schmerzempfindlichkeit Hypoventilation (griech. hypo – unter, zu wenig; lat.
Hypogeusie (griech. hypo- – unter, zu wenig; geusis – ventilare – lüften). Im Verhältnis zum erforderli-
Geschmack). Herabgesetzte Geschmacksempfin- chen Gasaustausch des Körpers verminderte At-
dung mung bezogen auf Frequenz und Tiefe
Hypoglykämie (griech. hypo- – unter, zu wenig; gly- Hypovolämie (griech. hypo – unter, zu wenig; lat. vo-
kys – süß; haima – Blut). Erniedrigter Zuckerge- lumen – Inhalt, griech. haima – Blut). Verminder-
halt des Blutes te Menge an zirkulierendem Blut (kann bis zum
Hypohidrosis (griech. hypo – unter, zu wenig; hidros Schock führen)
– Schweiß). Verminderte Schweißsekretion Hypoxie (griech. hyp- – unter, zu wenig; oxy – Sauer-
Hypokinesen (griech. hypo – unter, zu wenig; kinesis stoff). Mangel an Sauerstoff im Blut bzw. in den
– Bewegung). Bewegungsarmut, bei der Willkür-, Körpergeweben
Mit- und Ausdrucksbewegungen eingeschränkt
oder erstarrt sind Ikterus (griech. ikteros – Gelbsucht). Gelbliche Haut-
farbe aufgrund eines Übertritts von Gallenbe-

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KaelDesu
Glossar

standteilen ins Blut und in die Haut, sog. Gelb- ten, Unterdrücken; griech. iatros – Arzt; -gen – er-
sucht zeugend, verursachen). Unvermögen den Urin
Ileus (griech. eileos – Verengung, Verschluss). Darm- willkürlich zurückzuhalten aufgrund ärztlicher
verschluss, Verengung oder Verschluss eines Maßnahmen, ärztlicher Einwirkungen
Darmabschnittes Inkontinenz, neurogen (lat. in- – nicht (Verneinung),
Ileus, mechanischer (griech. eileos – Verengung, Ver- ohne; continentia – bei sich behalten, Zurückhal-
schluss). Darmverschluss durch Verlegung des ten, Unterdrücken; neuron – Nerv; -gen – erzeu-
Darmlumens aufgrund von z. B. Tumoren, Ent- gend, verursachend). Unvermögen, den Urin will-
zündungen, Adhäsionen kürlich zurückzuhalten aufgrund einer nervalen
Ileus, paralytischer (griech. eileos – Verengung, Ver- Störung
schluss; paralyein – auflösen). Lähmung der Inkontinenz, Stress- (lat. in- – nicht (Verneinung),
Darmmotilität aufgrund z. B. Peritonitis, Hypo- ohne; continentia – bei sich behalten, Zurückhal-
kaliämie, Sepsis ten, Unterdrücken). Unvermögen, Urin bei einer
Immunreaktion (lat. immunis – rein, frei). Antikör- intraabdominellen Druckerhöhung bei sich zu
perreaktion des Organismus auf eindringende halten
Antigene Inkontinenz, Überlauf (lat. in- – nicht (Verneinung),
Impetigo (lat.). Entzündliche Hautkrankheit, die mit ohne; continentia – bei sich behalten, Zurückhal-
eitrigen Pusteln und Borkenbildung einhergeht, ten, Unterdrücken). Unwillkürlicher Urinabgang
Eiterflechte bei prall gefüllter Harnblase und überdehnter
Inappetenz (lat. in- – hinein, nicht; appetere – ver- Blasenwand
langen). Verminderter Appetit, Synonym: Anore- Inkubator (lat. incubare – bewachen, bebrüten). Ge-
xie schlossener, klimatisierter Brutkasten für Früh-
Indikation (lat. indicare – anzeigen). Veranlassung und Risikogeborene
für die Anwendung eines bestimmten Verfahrens Insomnie (lat. in- – nicht, Verneinung; somnus – der
oder einer bestimmten Methode Schlaf). Bezeichnung für Ein- und Durchschlafstö-
Inkontinenz (lat. in- – nicht (Verneinung), ohne; con- rungen, die häufig zu einer Verminderung der Ge-
tinentia – bei sich behalten, Zurückhalten, Unter- samtschlafzeit führen
drücken). Unvermögen, etwas (Stuhl, Urin) bei Inspiration (lat. in – in, hinein; respirare – atmen).
sich zu behalten Einatmung
Inkontinenz, Drang- (lat. in- – nicht (Verneinung), Inspirationskapazität (lat. in – in, hinein; respirare –
ohne; continentia – bei sich behalten, Zurückhal- atmen; capazitas – Fassungsvermögen). Summe
ten, Unterdrücken). Unwiderstehlicher Harn- aus Atemzugvolumen und inspiratorischem Re-
drang, bei dem es zu einem unwillkürlichen Urin- servevolumen, ca. 2500 ml, Abkürzung: IK
abgang kommt, meist begleitet von einer Polla- internalisieren Verinnerlichen, z. B. Werte und Nor-
kisurie und Nykturie, Synonym: Urgeinkontinenz men
Inkontinenz, extraurethrale (lat. in- – nicht (Vernei- intertrigo (lat. intertrigo – wunde, wundgeriebene
nung), ohne; continentia – bei sich behalten, Zu- Stelle). Wundreiben, Wundsein besonders in
rückhalten, Unterdrücken; extra – außen, außer- Hautfalten durch Reibung, Entstehung von feuch-
halb; griech. ourethral – Harnröhre). Unwillkürli- ten Kammern und Aufweichen des Gewebes so-
cher Harnabgang außerhalb der Urethra, z. B. wie Sekundärinfektionen
durch Blasen- oder Urogenitalfisteln intrakraniell (lat. intra – innerhalb; in. . . hinein; cra-
Inkontinenz, funktionelle (lat. in- – nicht (Vernei- nium – Schädel). Innerhalb des Schädels bzw. in
nung), ohne; continentia – bei sich behalten, Zu- die Schädelhöhle hinein, z. B. Geschwülste, Blu-
rückhalten, Unterdrücken; functio – Verrichtung, tungen
Geltung, Funktion). Unvermögen, den Harn will- intrauterin (lat. intra – innerhalb; in. . . hinein; uterus
kürlich zurückzuhalten bei altersphysiologischer – Gebärmutter). Innerhalb der Gebärmutter
Harnblasenfunktion und dem Fehlen weiterer pa- Introspektion Selbstbeobachtung, d. h., die Beobach-
thologischer Veränderungen tung ist auf den eigenen Bewusstseinsablauf ge-
Inkontinenz, iatrogene (lat. in- – nicht (Verneinung), richtet
ohne; continentia – bei sich behalten, Zurückhal-

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KaelDesu
Glossar

Invagination (lat. in- – in, hinein; vagina – Scheide). eller Erregung aufrichtet und einen Orgasmus
Einstülpung eines Darmabschnittes in einen an- auslöst
deren Darmabschnitt Kolik (griech. kolike – Darmleiden). Anfall krampfar-
Involution (lat. involvere, involutum – einhüllen). tiger Leibschmerzen aufgrund spastischer Kon-
Rückbildung traktionen eines Hohlorganes z. B. der Galle, der
Isosthenurie (griech. isos – gleich, ähnlich; stheneia – Niere, des Darms
Kraft, Stärke; houron – Harn). Ausscheidung eines kolloidosmotischer Druck. Kolloid ist die feine Ver-
Urins mit einem spezifischen Gewicht zwischen teilung eines spezifischen Stoffes in Flüssigkeiten,
1,010 und 1,012, dass bei Veränderung der Flüssig- der bei Osmose nicht oder nur schwer durch Zell-
keitszufuhr gleich bleibt, sog. Harnstarre membranen diffundiert. Der kolloidosmotische
Druck wird im Wesentlichen durch die Albumin-
Jactatio capites nocturna (lat. iactare – werfen; caput konzentration bestimmt
– Kopf; nocturna – nächtlich). Nächtliches Hin- Kommunikation (lat. communicatio – Mitteilung,
und Herrollen des Kopfes Unterredung). Verständigung durch die Verwen-
Jactatio corpores (lat. iactare – werfen; corpus – Kör- dung von Zeichen und Sprache; dient der Über-
per). Hin- und Herwerfen des Körpers tragung und dem Austausch von Informationen
Kommunikation, verbal (lat. communicatio – Mittei-
Kachexie (griech. kakos – schlecht; hexis – befinden). lung, Unterredung; verbum – Wort, Ausspruch).
Starke Abmagerung mit Absinken des Körperge- Verständigung durch die Verwendung von Wor-
wichtes unter 20% des Normalgewichtes und all- ten, dient der Übertragung und dem Austausch
gemeinem Kräfteverfall von Informationen
Kappazismus (griech. Buchstabe „Kappa“). Stammeln Konduktion (lat. conducere – zusammenführen).
mit Fehlbildung des Lautes „K“, Artikulationsstö- Wärmeabgabe durch Wärmeleitung
rung Konfabulation (lat. konfabulari – vertraulich plau-
Karbunkel (lat. carbunkulus – fressendes Geschwür). dern). Auffüllen von Erinnerungslücken mit Be-
Gruppe von Furunkeln gebenheiten ohne jeglichen Bezug zur jeweiligen
kardial (griech. kardia – Herz). Das Herz betreffend, Situation
vom Herzen ausgehend Kongenital (lat. congenitus – angeboren). Zum Zeit-
kardiovaskulär (griech. kardia – Herz; vasculum – punkt der Geburt vorhandene Erkrankungen oder
kleines Gefäß). Gefäße des Herzens betreffend Schädigungen, die auf eine Schädigung der Erban-
Kerntemperatur. Die im Körperinneren (Rumpf, lagen zurückzuführen sind
Kopf) herrschende konstante Temperatur von Konsistenz (lat. consistere – stillstehen, dicht wer-
37,0 bis 37,5 ⬚C den). Beschaffenheit bzw. Grad der Festigkeit ei-
Kinästhesie (griech. kinesis – Bewegung; aisthesis – nes Stoffes
Empfindung). Bewegungs- und Lagesinn Konsumptionskrankheit (lat. consumptio – Verzeh-
Kinästhetik (griech. kinesis – Bewegung; aisthesis – rung). Auszehrende Krankheiten, z. B. Tuberku-
Empfindung). Lehre vom Bewegungsempfinden lose
Kinetosen (griech. kinesis – Bewegung; -ose – nicht Kontraktion (lat. contrahere – zusammenziehen,
entzündliche Krankheit). Bewegungs- oder Reise- steifmachen). Zusammenziehung, z. B. eines Mus-
krankheit kels
Kleptomanie (griech. kleptein – stehlen; mania – Ra- Kontraktur (lat. contrahere – zusammenziehen,
serei, Wahnsinn). Stehlsucht, dranghaftes Stehlen steifmachen). Funktions- und Bewegungsein-
Klimakterium (lat. climacter – Stufenleiter, kritischer schränkung bzw. Versteifung eines Gelenkes auf-
Punkt im menschlichen Leben). Übergangsphase, grund mangelnder Bewegung und anschließen-
die mit dem Beginn unregelmäßiger Menstruati- der Verkürzung der Sehnen und Muskeln sowie
onsblutungen anfängt und bis zur Postmenopau- Schrumpfen der Gelenkkapsel
se reicht, Synonyme: Wechseljahre, Klimax Kontraktur, arthrogene (lat. contrahere – zusam-
Klitoris (griech. kleitonis – kleiner Hügel). Kitzler, menziehen, steifmachen; griech. arthros – Ge-
weibliches Geschlechtsorgan, das am vorderen lenk; -gen – erzeugend, verursachend). Kontrak-
Ende der kleinen Schamlippen liegt, sich bei sexu- tur, die aufgrund von Gelenkverletzungen oder
-entzündungen entsteht

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KaelDesu
Glossar

Kontraktur, dermatogene (lat. contrahere – zusam- Säuglingen und Kleinkindern der tropischen Ent-
menziehen, steifmachen; griech. dermis – Haut; wicklungsländer
-gen – erzeugend, verursachend). Kontraktur, die Kyphose (griech. kyphos – gekrümmt; -ose – nicht
infolge einer Hautverletzung mit Narbenbildung entzündliche Krankheit). Buckelbildung, bei dem
entsteht eine verstärkte rückenwärts konvexe Krümmung
Kontraktur, neurogene (lat. contrahere – zusam- der Wirbelsäule zu beobachten ist; eine leichte
menziehen, steifmachen, griech. neuron – Nerv; Kyphose ist physiologisch im Bereich der Brust-
-gen – erzeugend, verursachend). Kontraktur, die wirbelsäule
als spastische Gelenkfehlstellung bei Schädigung Kyphoskoliose (kyphos – gekrümmt; skolios –
des Zentralen Nervensystems bzw. als paralyti- krumm, verdreht; -ose – nicht entzündliche
sche Gelenkfehlstellung bei Schädigung periphe- Krankheit). Buckelbildung, bei der sowohl eine
rer Nerven entsteht verstärkte rückenwärts konvexe Krümmung als
Kontraktur, tendomyogene (lat. contrahere – zusam- auch eine seitliche Verschiebung der Wirbelsäule
menziehen, steifmachen; tendo – Sehne; griech. zu beobachten ist
myo – Muskel; -gen – erzeugend, verursachend).
Kontraktur, die infolge von Entwicklungsstörun- Labien (lat. labium – Lippe). Lippen
gen mit Knochenbeteiligung oder aufgrund von Lambdazismus (griech. Buchstabe „Lambda“). Stam-
Verwachsungen von Muskulatur und Faszie ent- meln mit Fehlbildung des Lautes „L“, Artikulati-
steht onsstörung
Kontrastierung. Das Auge verstärkt Farbunterschie- Lanugobehaarung (lat. lanugo – Wollhärchen). Haar-
de vor einem hellen oder dunklen Hintergrund (= kleid, Flaum des Fetus
Kontrast). Kontrastierung ist das Gegenteil von Laryngitis (griech. larynx – Kehlkopf; -itis – Entzün-
Assimilation dung). Entzündung des Kehlkopfes
Konvektion (lat. convehere – zusammenbringen). Läsion (lat. laesum – Verletzung, Schädigung). Schä-
Wärmeabgabe durch Wärmetransport in die um- digung, Verletzung, Störung
gebende Luft Laxantien (lat. laxare – lockern). Abführmittel
Koordination (lat. ordinare – ordnen). Harmonischer Laryngektomie (griech. larynx – Kehlkopf; -ektomie
Bewegungsablauf unter geordnetem Zusammen- – operative Entfernung). Operative Entfernung
spiel aller beteiligten Muskeln des Kehlkopfes
Korsakow-Syndrom (griech. syn – zusammen, mit; Legionärskrankheit. Infektionskrankheit, die durch
dromos – der Lauf). Nach dem russischen Psychia- das Bakterium Legionella pneumophila hervorge-
ter Sergei Korsakow (1854 – 1900) benanntes Syn- rufen wird und eine Pneumonie verursacht
drom als psychischer Folgezustand nach Hirn- Leukämie (griech. leukos – weiß; haima – Blut). Ver-
schädigungen, z. B. bei Alkoholabusus mehrung der weißen Blutzellen
Kortex (lat. cortex – Rinde, Schale). Großhirnrinde Leukozyten (griech. leukos – weiß; zyt- – Zelle). Wei-
kortikal (lat. cortex – Rinde, Schale). Von der Groß- ße Blutkörperchen
hirnrinde ausgehend, die Großhirnrinde betref- Limbisches System (lat. limbus – Saum). Teil des
fend zentralen Nervensystems, das zuständig ist für
Kreatorrhoe (griech. kreas – Fleisch; rhoe – fließen, die emotionalen Reaktionen
Fluss). Ausscheidung von unverdauten Fleischfa- Logoklonie (griech. logos – Wort, Lehre; klonos – hef-
sern im Stuhl tige Bewegung). Störung des Sprachflusses, bei
Krisis (griech. Krisis – Entscheidung). Schneller Fie- der es zu einer Silbenanhäufung sowie einem
berabfall innerhalb weniger Stunden taktmäßigen Wiederholen der Endsilben kommt
Kussmaul-Atmung. Nach dem deutschen Internisten Lordose (griech. lordos – vorwärts gekrümmt; -ose –
Adolf Kussmaul (1822 – 1902) benannte rhythmi- nicht entzündliche Krankheit). Bauchwärts kon-
sche abnorm tiefe Atmung mit normaler oder er- vexe Verbiegung der Wirbelsäule, eine leichte
niedrigter Frequenz Lordose ist physiologisch im Bereich der Hals-
Kwashiorkor. Sog. Mehlnährschaden, schwerer Ei- und Lendenwirbelsäule
weiß- und Vitaminmangelszustand bei älteren Lysis (griech. Lys- – Auflösen). Ein über mehrere Tage
andauernder Fieberabfall

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Glossar

Makrophagen (griech. makros – groß; phagein – es- Menopause (griech. men – Monat; pausis – Ende).
sen). Zu den Fresszellen gehörende Zellen Ende der Menstruation, Zeitpunkt, der letzten
Makroskopisch (griech. makros – groß; skopein – se- Regelblutung
hen). Mit dem bloßen Auge sichtbar Menstruatio praecox (lat. menstruus – monatlich;
Makrosomie (griech. makros – groß; soma – Körper). praecox – vorzeitig, zu früh). Verfrühtes Einsetzen
Hochwuchs, Körperlänge ist größer als 180 cm bei der Menstruation, Synonym: prämature Menar-
Frauen bzw. 190 cm bei Männern che
Malabsorption (lat. mal- – schlecht; absorbere – auf- Menstruatio tarda (lat. menstruus – monatlich; tar-
saugen). Unfähigkeit des Darmes, die in der Nah- dus – langsam, spät). Verspätetes Einsetzen der
rung enthaltenen Nährstoffe aufzunehmen Menstruation
Malassimilationssyndrom (lat. mal- – schlecht; assi- Menstruation (lat. menstruus – monatlich; griech.
milare – angleichen; griech. syn – zusammen, men – Monat). Periodisch, ca. alle vier Wochen
mit; dromos – der Lauf). Oberbegriff, unter dem auftretende Blutung aus der Gebärmutter bei ei-
alle durch eine verminderte Nährstoffausnutzung ner Nichtbefruchtung der Eizelle, Synonyme:
bedingten Symptome zusammengefasst werden Menses, Regel, Periode
Maldigestion (lat. mal- – schlecht; digestio – Verdau- metabolisch (griech. metabolia – Veränderung).
ung). Unfähigkeit des Darmes die Nährstoffe auf- Stoffwechselbedingt, im Stoffwechsel entstanden
zunehmen, da diese aufgrund mangelnder En- Metastase (griech. metastasis – Umstellung, Wande-
zymzufuhr nur ungenügend aufgespalten sind rung, Versetzen). Tochtergeschwulst, die durch
Malignom (lat. malus – schlecht; griech. -om – Ge- Verschleppung von Geschwulstkeimen an einer
schwulstbildung). Bösartiger Turmor anderer Stelle als dem Ursprungsort entsteht
Mangelerscheinung. Fehlen eines bestimmten Stof- Meteorismus (griech. meteorismos – Erhebung,
fes mit gesundheitlich ungünstigen Folgen Schwellung). Vermehrte Luft- bzw. Gasansamm-
Marasmus (griech. marasmos – Ausdörren, Verzeh- lung im Magen-Darm-Trakt, Synonym: Blähsucht
ren, Schwachwerden). Form der kalorischen Un- mikroskopisch (griech. mikro – klein; skopein – se-
terernährung, die vor allem Personen mit einem hen). Nur mit einem Mikroskop sichtbar, winzig,
besonders hohen Eiweißbedarf betrifft klein
Mechanorezeptor (lat. recipere – aufnehmen). Auf Mikrosomie (griech. mikro – klein; soma – Körper).
mechanische Einwirkungen reagierende Emp- Kleinwuchs, die Körperlänge liegt unter 140 cm
fangsorgane in der Haut oder in den inneren Or- bei Frauen und unter 150 cm bei Männern
ganen Miktion (lat. mictio – Wasserlassen). Blasenentlee-
Medulla oblongata (lat. medulla – Mark; oblongus – rung, Harnlassen
länglich). Verlängertes Mark Mimik (lat. mimicus – Gebärdenspiel, Mienenspiel).
Meissner Körperchen. Nach dem Anatom und Phy- Gesamtheit der Gebärden und vor allem des Ge-
siologen Georg Meissner (1828 – 1905) benannte sichtsausdruckes als Ausdruck einer bestimmten
Druckrezeptoren in der Haut, Synonym: Tastkör- (inneren) Haltung
perchen Mini-Mental-Status (engl.). Test zur Beurteilung des
Mekonium (griech. mekonion – Mohnsaft). Intraute- kognitiven Leistungsvermögens eines Menschens
rin gebildeter Stuhl des Kindes, der postnatal aus- Miserere (lat. miserere – erbarme dich). Stuhlerbre-
geschieden wird und eine schwarz-grünliche Far- chen, Koterbrechen
be besitzt, Synonym: Kindspech Mobilisation (lat. mobilis – beweglich). Durchführen
Melanom (griech. melas – schwarz; -om – Ge- von gestuften Bewegungsübungen durch den Pa-
schwulstbildung). Bösartige Wucherung entarte- tienten (passiv, assistiv oder aktiv), z. B. zur Kon-
ter Zellen, die Melanin, dunkle Farbpigmente bil- trakturenprophylaxe
den können Monoarthritis (griech. mono – allein, einzeln; ar-
Menarche (griech. men – Monat; arche – Anfang). thron – Gelenk; -itis – Entzündung). Entzündung
Zeitpunkt der ersten Regelblutung eines Gelenkes
Meningitis (griech. menigx – Hirnhaut; -itis – Ent- Monoparese (griech. mono – allein, einzeln; plegie –
zündung). Hirnhautentzündung Schlag, Lähmung). Lähmung einer Extremität

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KaelDesu
Glossar

Morbus Addison (lat. morbus – Krankheit). Nach dem fallsweise aufretende Ischämiezustände an den
englischen Arzt Thomas Addison (1793 – 1860) Arterien der Finger zu beobachten sind
benannte Erkrankung, bei der es aufgrund einer Morquio-Brailsford-Syndrom (griech. syn – zusam-
Insuffizienz der Nebennierenrinde zu einer bron- men, mit; dromos – der Lauf). Nach dem uru-
zenen Verfärbung der Haut kommt und die unter guayanischen Pädiater Louis Morquio-Brailsford
anderem zu Müdigkeit, Gewichtsverlust, Anore- (1867 – 1935) benannte Erkrankung, bei der es
xie, Hypoglykämie etc. führen kann u. a. zu Wachstumsstörungen der Epi- und Meta-
Morbus Alzheimer (lat. morbus – Krankheit). Nach physen der Röhrenknochen sowie Minderwuchs
dem polnischen Neurologen Alois Alzheimer und Kyphose kommt
(1864 – 1915) benannte Form der Demenz, bei der Motilität (lat. motor – Beweger). Gesamtheit der
es zur Atrophie der Großhirnrinde kommt nicht bewusst gesteuerten Bewegungen der Orga-
Morbus Bechterew (lat. morbus – Krankheit). Nach ne (z. B. Peristaltik), Bewegungsvermögen
dem russischen Neurologen Wladimir von Bech- Motorik (lat. motor – Beweger). Gesamtheit aller ak-
terew (1857 – 1927) benannte Erkrankung, bei der tiven und willkürlichen Muskelbewegungen
es zu Entzündungen des Knochengelenksystems Multimorbidität (lat. multiplex – vielfach; morbus –
mit Befall der Wirbelsäule kommt Krankheit). Das gleichzeitige Vorkommen mehre-
Morbus Crohn (lat. morbus – Krankheit). Nach dem rer Erkrankungen
amerikanischen Arzt Burill B. Crohn (geb. 1884) Multiple Sklerose (lat. multiplex – vielfach; skleros –
chronisch-entzündliche Krankheit, die den ge- spröde, hart, trocken; -ose – nicht entzündliche
samten Gastrointestinaltrakt befallen kann und Krankheit). Erkrankung des Gehirns und Rücken-
mit granulomatösen Veränderungen einhergeht, marks, bei der es zum Untergang der Markschei-
Synonym: Enteritis regionalis, Ileitis terminalis, den der Neurone kommt, Abkürzung: MS, Syno-
Ileitis regionalis nym: Encephalomyelitis disseminata
Morbus Cushing (lat. morbus – Krankheit). Nach dem Mykose (griech. mykes – Pilz; -ose – nicht entzündli-
amerikanischen Chirurgen Harvey Cushing che Krankheit). Durch Pilze verursachte Krank-
(1869 – 1939) benannte Erkrankung, die mit einer heit
Erhöhung von Cortisol im Blut einhergeht und Myokardinfarkt (griech. myo – Muskel; kardia –
durch Vollmondgesicht, Büffelnacken, Hirsutis- Herz; infarcire – hineinstopfen). Schwere Schädi-
mus, Hypertonie etc. gekennzeichnet ist gung eines Herzmuskelbezirks mit Untergang
Morbus Meniere (lat. morbus – Krankheit). Nach dem von Herzmuskelgewebe, Synonym: Herzinfarkt
französischen Arzt, Prosper Meniere Myokarditis (griech. myo – Muskel; kardia – Herz;
(1799 – 1862) benannte Erkrankung, die mit An- -itis – Entzündung). Entzündliche Erkrankung des
fällen von Drehschwindel, Ohrensausen, Schall- Herzmuskels
empfindungsschwerhörigkeit einhergeht und Myoklonie (griech. myo – Muskel; klonos – heftige
durch einen Hydrops des Labyrinths bedingt ist Bewegung). Ruckartige heftige Zuckungen einzel-
Morbus Parkinson (lat. morbus – Krankheit). Nach ner Muskeln
dem englischen Arzt James Parkinson Myom (griech. myo – Muskel; -om – Geschwulstbil-
(1755 – 1824) benannte Erkrankung des extrapy- dung). Gutartiger Tumor aus Muskelgewebe
ramidalen Systems, das durch die Leitsymptome Myopathie (griech. myo – Muskel; pathos – Leiden).
Akinesie, Rigor und Tremor gekennzeichnet ist Erkrankung der Muskulatur
Morbus Perthes (lat. morbus – Krankheit). Nach den Myxödem. Bezeichnung für pathologische Ablage-
deutschen Chirurgen Georg Perthes (1868 – 1927) rung von Glykosaminoglykanen (Aminozucker ⫹
benannte Erkrankung des Hüftgelenks, bei der es Glukuron-Iduronsäure) in Haut-, Unterhaut- und
im Wachstumsalter zu einer Gelenkknorpelne- Muskelgewebe. Es kommt zu ödematös-teigigem
krose und Verformung der Gelenkpfanne und des Aussehen. Im Gegensatz zu anderen ödematösen
Gelenkkopfes kommt. Synonyme: Perthes-Calve- Veränderungen der Haut bleiben nach Druck kei-
Legg-Krankheit, Perthes's disease ne Dellen zurück
Morbus Raynaud (lat. morbus – Krankheit). Nach Myzetismus. Sammelbezeichnung für Vergiftungser-
dem französischen Neurologen Maurice Raynaud scheinungen nach Verzehr roher oder verdorbe-
(1834 – 1881) benannte Erkrankung, bei der an- ner Speisepilze und nach Verzehr von Giftpilzen

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KaelDesu
Glossar

Naevus flammeus (lat. naevus – Mal, Muttermal; fla- chochlear – die Schnecke). „Gleichgewichts- und
grare – brennen, lodern, glühen). Rötlich blaues Hörnerv“ VIII. Hirnnerv
Gefäßmal, sog. Feuermal Neuropathie (griech. neuron – Nerv; pathos – Lei-
Naevuszellnaevus (lat. naevus – Mal, Muttermal). den). Erkrankung peripherer Nerven
Ansammlung von Naevuszellen an der Hautober- Neuropeptid (griech. neuron – Nerv; peptos – ge-
fläche, brauner Fleck, Leberfleck kocht, verdaut). Produkte des Eiweißabbaus, die
NANDA: Nordamerikanische Pflegediagnosenverei- für die Weiterleitung von Erregungen im Nerven-
nigung. Gruppe von Pflegepersonen aus den USA system zuständig sind
und Kanada, die Pflegediagnosen entwickelt, Neuropsychologie (griech. neuron – Nerv; psycho-
überprüft und klassifiziert Seele, Gemüt; logos – Lehre). Lehre von den höhe-
Nanosomie (griech. nanos – Zwerg; soma – Körper). ren Hirnleistungen (moderner Ausdruck), unter-
Zwergwuchs, die Körperlänge überschreitet sucht die Zusammenhänge zwischen Nervensys-
130 cm nicht tem und psychischen Vorgängen
Narkolepsie (griech. narkotikos – betäubend; lepsis – Non Rapid Eye Movement-Schlaf (engl.). Schlaf, bei
Anfall). Zwanghafter Schlafanfall dem keine schnellen Augenbewegungen beob-
Nasolabialfalte (lat. nasus – Nase; labium – Lefze, achtet werden können, umfasst die Schlafstadien
Lippe). Falte, die von der Nase zur Lippe zieht 1 – 4, Synonym: orthodoxer Schlaf, Abkürzung:
Nausea (griech. nausia – Seekrankheit). Übelkeit, NREM-Schlaf
Brechreiz Norton-Skala. Nach Doreen Norton benannte Skala
Neisseria. Nach dem Dermatologen Albert L. Neisser zur Einschätzung und Beurteilung der Dekubitus-
(1855 – 1916) benannte Gattung von gramnegati- gefährdung eines Menschen
ven, paarig angeordneten Bakterien Nozizeptoren (lat. nocere – schaden; recipere – auf-
Nekrose (griech. nekros – tot). Gewebsuntergang, nehmen). Schmerzrezeptoren, auf Schmerzen
Absterben von Gewebe reagierende Empfangsorgane in der Haut oder in
Neologismus (griech. neo – neu, jung; logos – Wort, den inneren Organen
Lehre). Störung des Sprachverständnisses bei der Nucleus suprachiasmaticus (lat. nucleus – der Kern;
es zu Wortneubildungen kommt supra- – oberhalb, über; griech. chiasma – x-för-
Nephrokalzinose (lat. nephro – Niere; -ose – nicht mige Kreuzung). Kerngebiet im Zwischenhirn,
entzündliche Krankheit). Anhäufung von Calcium oberhalb der Sehnervenkreuzung, zuständig für
in den Nieren, die zu einer Nierenverkalkung die endogene Steuerung des zirkadianen Rhyth-
führt mus
Nervus facialis (lat. nervus – Nerv, Sehne, Flechse; fa- Nykturie (griech. nykt- – Nacht; ouron – Harn). Ver-
cies – Aussehen, Gesicht). „Gesichtsnerv“, VII. mehrtes nächtliches Wasserlassen
Hirnnerv
Nervus glossopharyngeus (lat. nervus – Nerv, Sehne, Objektive Daten. Alle durch Messung zu erhebenden
Flechse; griech. glossar – Zunge; pharynx – Ra- Daten
chen, Schlund). IX. Hirnnerv Obstipation (lat. stipare – stopfen). Stuhlverstopfung
Nervus olfaktorius (lat. nervus – Nerv, Sehne, Flech- Obstruktion (lat. obstruere – versperren). Verstop-
se; olfaktare – an etwas riechen). „Riechnerv“, I. fung, Verlegung eines Gefäßes, Gangs oder Hohl-
Hirnnerv organes
Nervus pudendus (lat. nervus – Nerv, Sehne, Flechte; occult (lat. occultus – geheim, verborgen). Verborgen
pudendus – zur Schamgegend gehörend). Scham- Ödeme (griech. oidema – Geschwulst). Wasseran-
beinnerv sammlung im Gewebe
Nervus vagus (lat. nervus – Nerv, Sehne, Flechse; va- Oligohidrose (griech. oligo – wenig; hidros –
gus – der Umherschweifende). X. Hirnnerv, Schweiß). Geringe Schweißsekretion
Hauptvertreter des parasympathischen Systems, Oligomenorrhoe (griech. oligo – wenig; men – mo-
eines Teils des vegetativen Nervensystems nat; -rhoe – fließen, Fluss). Zu seltene Menstrua-
Nervus vestibulocochlearis (lat. nervus – Nerv, Seh- tion
ne, Flechse; vestibularis – zum Vorhof gehörend;

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KaelDesu
Glossar

Oligurie (griech. oligo – wenig; houron – Harn). Ver- Paraplegie (griech. para – abseitig, neben, abwei-
minderte Urinausscheidung mit einer Menge von chend; plege – Schlag, Lähmung). Lähmung zwei-
weniger als 500 ml in 24 Stunden er Extremitäten, i. d. R. beide Beine (sog. Quer-
Onycholyse (griech onycho – Nagel; lysis – Auflö- schnittslähmung)
sung). Ablösung des Nagels Parasomnie (griech. para- – abseitig, neben, abwei-
Onychorrhexis (griech. onycho – Nagel; rexis – rei- chend; lat. somnus der Schlaf). Vorübergehende
ßen). Erhöhte Brüchigkeit der Nägel körperliche Abläufe während des Schlafes
Orthopnoe (griech. ortho – gerade; pneuma – Luft, Parästhesie (griech. par- – abseitig, neben, abwei-
Atem). Zustand höchster Atemnot, bei dem zur chend; aisthesis – Empfindung). Missempfindung
Unterstützung der Atemhilfsmuskulatur eine auf- Parasympathikus (griech. para- – abseitig, neben, ab-
rechte, gerade Körperhaltung eingenommen wird weichend; sympath- – Wortteil mit der Bedeu-
Ösophagus (griech. oisein – tragen; phagema – Spei- tung mitempfinden, in Wechselwirkung stehen).
se). Speiseröhre Teil des vegetativen Nervensystems, der dem
Osteomalazie (griech. osteo – Knochen; malakia – Sympathikus entgegen wirkt
Weichheit). Erhöhte Weichheit der Knochen bei Parasympathomimetika (griech. para- – abseitig, ne-
ungenügender Mineralisation der Knochenma- ben, abweichend; sympath- – Wortteil mit der
trix Bedeutung mitempfinden, in Wechselwirkung
Osteomyelitis (griech. osteo – Knochen; myelos – stehen; mimetisch – bewegend, erregend). Medi-
Mark; -itis – Entzündung). Entzündung des Kno- kamente, die Erscheinungen hervorrufen können,
chenmarks wie sie durch eine Erregung des Parasympathikus
Osteoporose (griech. osteo – Knochen; poros – Loch). hervorgerufen werden
Erkrankung, die mit einer Verminderung des Kno- Parese (griech. paresis – Erschlaffung). Unvollständi-
chengewebes einhergeht ge Lähmung
Ovar (lat. ovarium – Eierstock). Eierstock Paronychie (griech par(a)- – abseitig, neben, abwei-
Ovulationshemmer (lat. ovulum – kleines Ei). Medi- chend; onych- – Nagel). Nagelwallentzündung
kamente, die auf hormonellem Weg eine Schwan- Parosmie (griech. par(a) – abseitig, neben, abwei-
gerschaft vermeiden chend; osme – Geruch). Geruchliche Fehlwahr-
nehmungen
Palpation (lat. palpare – tasten). Untersuchung durch Pathologie (griech. pathos – Leiden; logos – Lehre).
Betasten Lehre von den Krankheiten und zwar ihren Ursa-
Panaritium (lat. panaricium – Krankheit der Nägel). chen (Ätiologie), ihren körperlichen Veränderun-
Entzündung des Nagelbettes, Synonym: Nagelge- gen (pathologische Anatomie), ihrer Entstehung
schwür, Umlauf und ihrem Wesen (Pathogenese) und ihren klini-
paradox (griech. para – abseitig, neben, abweichend; schen Erscheinungen (Symptomatologie, Nosolo-
doxa – Meinung). Wiedersinnig, widersprüchlich gie)
Paralyse (griech. paralyein – auflösen). Vollständige pathologisch (griech. pathos – Leiden). Krankhaft
Lähmung Pathophysiologie (griech. pathos – Leiden; logos –
Paramnesie (griech. para- – abseitig, neben, abwei- Lehre; physio – Natur). Lehre von den krankhaf-
chend; mnesis – Erinnerung). Erinnerungsverfäl- ten Lebensvorgängen und gestörten Funktionen
schungen, bei denen Gedächtnisinhalte umge- des menschlichen Organismus
staltet werden, hierzu gehören das Deja-vu-Er- Pavor nocturnus (lat. pavor – Angst; nocturnus –
lebnis, die Pseudomnesie und die Wahnerinne- nächtlich). Nachtangst
rung percutan (lat. per – durch, hindurch; cutis – Haut).
Paraparese (griech. para – abseitig, neben, abwei- Aufnahme von Stoffen durch die Haut oder
chend; paresis – Erschlaffung). Schwache Läh- Schleimhaut
mung zweier Extremitäten (i. d. R. beide Beine) peripher (griech. peripherein – herumtragen). Au-
Paraphasie (griech. para – abseitig, neben, abwei- ßen, am Rande, weg oder fern vom Zentrum
chend; phasis – Sprechen). Sprachstörung, die Periphere Lähmung (griech. peripherein – herumtra-
durch eine Verwechslung von Worten oder Buch- gen). Lähmung, bei der der Lähmungsherd im pe-
staben gekennzeichnet ist

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KaelDesu
Glossar

ripheren motorischen Neuron liegt, schlaffe Läh- Pflegeproblem. Beeinträchtigung eines Menschen in
mung einem Lebensbereich, die seine Unabhängigkeit
Peristaltik (griech. peristaltiokos – umfassend und einschränkt, belastend auf ihn wirkt und Pflege
zusammendrückend). Wellenförmig fortschrei- erforderlich macht
tende Wandbewegung von Hohlorganen, bei der Pflegeprozess. Systematische, zielgerichtete, konti-
sich die einzelnen Abschnitte des Organs nachei- nuierliche und dynamische Methode der Pflege
nander zusammenziehen und so den Inhalt trans- zur Problemlösung; umfasst in Abhängigkeit vom
portieren jeweils zugrunde gelegten Modell vier bis sechs
Peritonitis (griech. peritonaion – das Herumge- Schritte
spannte; -itis – Entzündung). Entzündung des Pflegeziele. Beschreiben das zu erreichende Ergebnis
Bauchfells der Pflege und müssen erreichbar, realistisch und
persistierend (lat. persistere – anhaltend, andau- überprüfbar sein
ernd). Anhaltend, andauernd Phäochromozytom (griech. phaios – grau schwärz-
Perspiratio (lat. per- – (hin)durch; spirare – atmen). lich; chroma – Farbe; zyt- Zelle; -om – Ge-
Hautatmung schwulstbildung). Tumor des Nebennierenmarks
Perspiratio insensibilis (lat. per- – (hin)durch; spirare Phlebothrombose (griech. phlebo – Vene; thrombos
– atmen; in- – nicht; sensibilis – der Empfindung – Blutpfropf). Verschluss der tiefer gelegenen
fähig, empfindbar). Unbemerkte Wasserabgabe Beinvenen durch einen Blutpfropf
über die Haut und Schleimhaut mittels Diffusion Phlegmone (griech. phlegmone – Entzündung). Flä-
und Verdunstung chenhafte Zellgewebsentzündung
Perspiratio sensibilis (lat. per- – (hin)durch; spirare – Physiologie (griech. physio – Natur; logos – Leiden).
atmen; sensibilis – der Empfindung fähig, emp- Wissenschaft und Lehre von den normalen Le-
findbar). Hautausdünstung, Absonderung von bensvorgängen
Schweiß, Schwitzen, Synonym: Transpiration Pick-Wick-Syndrom (griech. syn – zusammen, mit;
Pertussis (lat. tussis – Husten). Keuchhusten dromos – der Lauf). Erkrankung, die mit hochgra-
Perzentilenkurve ( lat. per – durch; centrum – hun- diger Fettsucht, arterieller Hypoxämie, Poly-
dert). Beschreibung zur Verteilung in Hunderstel zythämie und Somnolenz einhergeht
Petechien (lat. petigo – Ausschlag). Kleine punktför- Plasmozytom (griech. plasma – Gebilde; zyt- – Zelle;
mige Haut- oder Schleimhautblutungen -om – Geschwulstbildung). Vermehrung der Plas-
Pfaundler-Hurler-Krankheit. Nach dem deutschen mazellen im Knochenmark, Synonyme: multiples
Pädiater Meinhard von Pfaundler-Hurler Myelom, Kahler-Krankheit
(1872 – 1947) benannte Erkrankung, bei der es Plazenta (lat. placenta – Kuchen). Schwammiges Or-
u. a. zu einer Störung des Knochenwachstums und gan, welches während der Schwangerschaft ge-
Störung des Mukopolysaccharidstoffwechsels, bildet wird, dem Stoffaustausch zwischen Mutter
Minderwuchs und Kyphose kommt und Fetus dient und nach der Geburt ausgestoßen
Pflegeanamnese. Einschätzen des Pflegebedarfs, Er- wird, sog. Mutterkuchen, Nachgeburt
hebung aller für die Pflege relevanten Daten zur Plegie (griech. plege – Schlag, Lähmung). Motorische
Erfassung der Pflegeprobleme und Ressourcen, Lähmung
erster Schritt des Pflegeprozesses Plexus brachialis (lat. plexus – Geflecht; brachium –
Pflegediagnose. Formal definiertes Pflegeproblem, Arm, Oberarm). Nervengeflecht zwischen Ober-
klinische Beurteilung der Reaktion von Einzelnen arm und Schlüsselbein, sog. Armgeflecht
oder Gruppen auf aktuelle oder potentielle Ge- Plexus cervicalis (lat. plexus – Geflecht; cervix – Na-
sundheitsprobleme, Ausgangspunkt für Planung, cken, Hals). Nervengeflecht am Hals, sog. Halsge-
Durchführung und Evaluation der Pflege flecht
Pflegefachsprache. Innerhalb der pflegerischen Be- Pollakisurie (griech. pollakis- – oft; houron – Harn).
rufsgruppe zur effektiven Kommunikation ver- Häufige Harnentleerung, zumeist kleiner Mengen
wandte pflegespezifische Begriffe Polyarthritis (griech. poly – viel, zahlreich; arthron –
Pflegeplan. Verbindliche Pflegeverordnung, umfasst Gelenk; -itis – Entzündung). Entzündung mehre-
Pflegeprobleme, Ressourcen, Pflegeziele und rer Gelenke
-maßnahmen des pflegebedürftigen Menschen

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KaelDesu
Glossar

Polydipsie (griech. poly – viel; dipsa – Durst). Gestei- Prostataadenom (griech. prostates – Vorsteher; aden
gertes Durstgefühl mit übermäßiger Flüssigkeits- – Drüse; -om – Geschwulstbildung). Vergröße-
aufnahme rung der Prostata durch Wucherung des Drüsen-
Polyglobuli (griech. poly – viel, zahlreich; lat. globuli epithels, Synonym: benigne Prostatahyperplasie
– Kügelchen). Vermehrung der roten Blutkörper- Protein-Energie-Mangelsyndrom (griech. syn- – zu-
chen (Erythrozythen) sammen, mit; dromos – der Lauf). Bezeichnung
Polymenorrhoe (griech. poly – viel, zahlreich; men – für Ernährungskrankheiten, die mit einem Ei-
Monat; – rhoe – fließen, Fluss). Zu häufige, zu vie- weißmangel einhergehen und besonders häufig
le Menstruationen in den tropischen Entwicklungsländern auftreten,
Polyp (griech. polypous – vielfüßig). Gutartige Ge- z. B. Kwashiorkor, Marasmus, Abkürzung: PEM
schwülste der Schleimhäute Protozoen (griech. zoon – Tier). Einzeller
Polyurie (griech. poly – viel, zahlreich; houron – Provitamin (lat. pro- – vor, für; vita – Leben). Vorstufe
Harn). Vermehrte Urinausscheidung mit mehr als eines Vitamins, einer organischen Verbindung,
2000 ml in 24 Stunden die als Wirkstoff für die Aufrechterhaltung der Le-
Pons (lat. pons – Brücke). Brücke zwischen den Hirn- bensvorgänge im Organismus unentbehrlich sind
hälften Pruritus (lat. pruritum – jucken). Hautjucken
postnatal (lat. post- – zeitlich nach, hinter; natalis – Pseudologica phantastica (griech. pseudos – falsch;
zur Geburt gehörend). Nach der Geburt logos – Wort; phantasticos – zum Vorstellen befä-
Postprandiale Müdigkeit (lat. post- – zeitlich nach, higt). Krankhaftes Schwindeln, bei dem ausge-
hinter; prandium – Mahlzeit). Nach den Mahlzei- dachte Erlebnisse als wahre Begebenheiten er-
ten einsetzende Müdigkeit zählt werden
postrenal (lat. post- – nach, hinter; ren – die Niere). Psoriasis (griech. psora – Krätze, Räude; -iasis krank-
Hinter der Niere gelegen hafter Zustand). Schuppenflechte
Präfix (lat. praefigere – vorn anheften). Untrennbare Psychopathologie (griech. psycho – Seele, Gemüt;
Vorsilbe, die vor ein Wort oder einen Wortstamm pathos – Leiden; logos – Lehre). Lehre von den
gesetzt wird und wodurch ein neues Wort ent- seelischen Funktionsstörungen
steht Psychose (griech. psycho – Seele, Gemüt; -ose – nicht
pränatal (lat. prae- – vor; natalis – zur Geburt gehö- entzündliche Krankheit). Psychische Erkrankung,
rend). Vor der Geburt die zu einer Störung des gesamten Erlebens führt
prärenal (lat. prae- – vor; ren – die Niere). Vor der Psychovegetativ (griech. psycho – Seele, Gemüt; lat.
Niere gelegen vegere – kräftig, lebhaft sein). Die Psyche und das
Präsuizidales Syndrom (lat. prae- – vor; sui – sich vegetative Nervensystem betreffend
selbst; cidere – töten; griech. syn – zusammen, Pubes (lat.). Schamhaare
mit; dromos – der Lauf). Symptomenkomplex, der pulmonal (lat. pulmo – die Lunge). Zur Lunge gehö-
einem Selbstmord vorausgeht, z. B. Depression, rend
Psychose, Autoaggression, Angst etc. Puls (lat: pulsus – Stoß). Die durch den systolischen
Proktitis (griech. proktos – Mastdarm; -itis – Entzün- Blutauswurf des Herzens im Kreislauf entstehen-
dung). Mastdarmentzündung de Druck- und Volumenschwankung (Welle) im
Prolaps (lat. pro- – vor; lapsus – Ausgleiten, Fallen). arteriellen Gefäßsystem
Vorfall, Heraustreten von inneren Organen Pulsdefizit (lat. pulsus – Stoß; deficit – es fehlt). Peri-
Propriozeptor (lat. proprius – eigen; recipere – auf- phere, an einer Körperarterie palpierte Pulsfre-
nehmen). Empfangsorgane in der Haut und in in- quenz ist niedriger als die zentrale, über dem Her-
neren Organen, die die Wahrnehmung der Stel- zen auskultierte
lung und Bewegung des Körpers im Raum ermög- Pulsfrequenz (lat. pulsus – Stoß; frequentia – Häufig-
lichen keit). Häufigkeit der Pulswellen pro Minute
Prostaglandin (griech. prostates – Vorsteher; lat. Pulsoxymetrie (griech. oxy- – Sauerstoff; -metria – -
glandula – die Drüse). Hormonähnliche Stoffe mit prüfung, -messung). Verfahren zur nicht invasi-
gefäßerweiternder und wehenauslösender Wir- ven und kontinuierlichen Messung der Sauer-
kung stoffsättigung durch Gewebe (z. B. Finger; Fuß)
bei gleichzeitiger Messung der Pulsfrequenz

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KaelDesu
Glossar

Pulsqualität (lat. pulsus – Stoß; qualitas – Beschaf- Reizdeprivation (lat. deprivare – berauben). Mangel
fenheit). Feststellbare Eigenschaften des Pulses an äußeren Sinneseindrücken und -wahrneh-
(Füllung der Blutgefäße und Härte der Pulswelle) mungen
Pulsrhythmus (lat. pulsus – Stoß; griech. rhythmos – Reizüberflutung. Zu viele Reize gelangen zum Gehirn
Gleichmaß, Takt). In regelmäßigen Abständen er- und können nicht bzw. nicht ausreichend gefiltert
folgende Schlagfolge des Herzens werden
Pylorusstenose (griech. pylon – Tor; griech. stenos – Rekonvaleszenz (lat. reconvalescere – genesen). Pha-
eng). Verengung des Magenausganges se der Genesung, der Wiedergesundung
Pyrogene (griech. pyr- – Feuer, Fieber; gen- – hervor- Relaxation (lat. relaxatio – das Nachlassen, Abspan-
bringen, erzeugen). Fiebererzeugende Stoffe, die nen). Erschlaffung, Entspannung
in endogene und exogene Pyrogene unterschie- Reliabilität. Maß für die Zuverlässigkeit eines Mess-
den werden instrumentes. Bei Wiederholung des Tests sollen
Pyromanie (griech. pyr- – Feuer, Fieber; mania – Ra- dieselben Messergebnisse erzielt werden
serei, Wahnsinn). Triebhaftes Brandstiften Remission (lat. remissio – Nachlassen). Bezeichnung
Pyurie (griech. pyon – Eiter; houron – Harn). Eiter- für das Zurückgehen von Krankheitserscheinun-
ausscheidung im Urin gen
renal (lat. ren – die Niere). Zur Niere gehörend
Rachitis (griech. rachi – Rückgrat, Rücken). Vitamin- Reposition (lat. re- – wieder, zurück; positio – Lage,
D-Mangelerkrankung Stellung). In die Ausgangslage zurückbringen,
Radiation (lat. radiatio – das Strahlen). Wärmeab- Wiedereinrichtung
strahlung Reservevolumen, exspiratorisch (lat. ex – aus, heraus,
Rapid Eye Movement-Schlaf (engl.). Schlaf, der durch ent-, ver-; respirare – atmen). Bezeichnet das Vo-
rasche Augenbewegungen gekennzeichnet ist, lumen, welches nach normaler Exspiration noch
umfasst das Stadium 5, Synonym: paradoxer ausgeatmet werden kann, ca. 1000 bis 2000 ml,
Schlaf, Abkürzung: REM-Schlaf Abkürzung: ERV
Raucedo (lat. raucus – heiser). Heiserkeit Reservevolumen, inspiratorisch (lat. in – in, hinein;
Reanimation (lat. re- – wieder, zurück; animatio – respirare – atmen). Bezeichnet das Volumen, wel-
Belebung). Sog. wiederbelebende Maßnahmen, ches nach normaler Inspiration noch eingeatmet
die geeignet sind, die Sauerstoffversorgung des werden kann, ca. 2000 bis 3000 ml, Abkürzung:
Zentralnervensystems (ZNS) aufrechtzuerhalten IAV
bei Atemstillstand und Herzstillstand, z. B. Beat- Residualkapazität, funktionelle (lat. residuum – das
mung, Herzmassage, Defibrillation Zurückgebliebene; capazitas – Fassungsvermö-
Reflex, Eigen- (lat. reflectere – rückwärts biegen). gen). Summe aus exspiratorischem Reservevolu-
Physiologische, unwillkürlich ablaufende Vorgän- men und Residualvolumen, ca. 3000 ml
ge als Antwort auf einen Reiz, bei dem Reizort und Residualvolumen. Luftmenge, die nach der maxima-
Erfolgsorgan identisch sind, z. B. Patellarsehnen- len Exspiration noch in der Lunge verbleibt, ca.
reflex 1000 bis 2000 ml
Reflex, Fremd- (lat. reflectere – rückwärts biegen). Resorption (lat. resorbere – wieder einschlürfen).
Physiologische, unwillkürlich ablaufende Vorgän- Aufnahme von Stoffen durch die Haut oder
ge als Antwort auf einen Reiz, bei dem der Reizort Schleimhaut in die Blut- oder Lymphbahn
und das Erfolgsorgan nicht identisch sind, z. B. Resorptionsfieber (lat. resorbere – wieder einschlür-
Würgreflex fen). Fieber, das durch endogene Pyrogene her-
Regio olfaktoria (lat. regio – Gegend; olfaktare – an vorgerufen wird und nach Gewebsschädigungen
etwas riechen). Das Riechfeld, welches sich im auftritt, Synonym: aseptisches Fieber
oberen Teil der Nasenhöhle und im Wandbereich Respirationsluft (lat. respirare – atmen). Luftmenge,
des oberen Nasenganges befindet die in Ruhe bei normaler Ein- und Ausatmung in
Regurgitation (lat. re- – wieder, zurück; gurges – einem Atemzug geatmet wird, ca. 500 ml, Syno-
Schlund). Zurückströmen von Speisebrei in den nym: Atemzugvolumen, Abkürzung: AZV
Mund Respiratorische Arrhythmie (lat. respirare – atmen;
griech. a- – ohne, Mangel an; rhythmos – Gleich-

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KaelDesu
Glossar

maß, Takt). Atemabhängige Veränderung des Schnappatmung. Atmung mit kurzen schnappenden
Herzrhythmus, bei der die Frequenz bei der Einat- und unregelmäßig einsetzenden Einatmungszü-
mung im Gegensatz zur Ausatmung beschleunigt gen, denen größere Pausen folgen
ist Seborrhoe (lat. sebum – Talg; griech – rhoe – Fluss).
Ressource. Körperliche, ökonomische, persönliche, Übermäßige Talgdrüsenproduktion
räumliche, soziale und spirituelle Eigenschaften Sedativa (lat. sedare – beruhigen). Medikamente, die
und Fähigkeiten eines Menschen, die seinen Ge- eine beruhigende Wirkung besitzen
sundungsprozess positiv beeinflussen können Sekretion (lat. secretum – Absonderung, Ausschei-
Retina (lat. rete – Netz). Die Netzhaut des Auges dung). Absonderung
Rezeptoren. Spezialisierte reizaufnehmende Struk- Sekretolytika (lat. secretum – Absonderung, Aus-
turen des Organismus, z. B. Sinneszellen scheidung; griech. lysis – Auflösung). Medika-
Rhagade (griech. rhagas – Riss). Schmerzhafte Risse mente zur Lösung von Sekreten, Schleim, den
an den Übergängen zwischen Haut und Schleim- Auswurf fördernd
haut Selektion (lat. selection – Auslese). Auswahl
Rhinitis (griech. rhin- – Nase; -itis – Wortteil mit der Senile Demenz (lat. senilitas – Greisenalter; demen-
Bedeutung Entzündung). Nasenkatarrh, Schnup- tia – Wahnsinn). Aufgrund degenerativer Verän-
fen derungen entstehendes hirnorganisches Psycho-
Rhinophym (griech rhin- – Nase, phyma – Gewächs). syndrom im höheren Lebensalter mit Verfall der
Knollennase intellektuellen Fähigkeiten, meist kontinuierlich
Rhotazismus (griech. Buchstabe „Rhota“). Stammeln verlaufend
mit Fehlbildung des Lautes „R“, Artikulationsstö- sensorisch (lat. sensus – Sinn, Wahrnehmung). Die
rung Sinnesorgane und die Aufnahme von Sinnesrei-
Rotation (lat. rotare – drehen). Drehbewegung zen betreffend
Ruffinikolben. Nach dem italienischen Anatom An- Serotonin (lat. serum – Molke, Blutwasser (Wortteil);
gelo Ruffini (1864 – 1929) benannte Nervenend- griech. tonos – Spannung). Hormonähnlicher
körperchen, die der Druckempfindung dienen Stoff, der verschiedene Organfunktionen regu-
(Mechanozeptoren) liert, auch Neurotransmitter, die die Sichtweise
Rumination (lat. ruminatio – Wiederkäuen). Will- einer Person beeinflusst, z. B. Stimmungen,
kürlich ausgelöste Regurgitation, wobei Speise- Sigmatismus (griech. Buchstabe „Sigma“). Stammeln
brei durch Würgen und/oder Manipulationen zu- mit Fehlbildung des Lautes „S“ und der Zischlaute,
rück in den Mund strömt Artikulationsstörung, Synonym: Lispeln
Simplex (lat. simplex – einfach). Nicht zusammenge-
Säkulare Akzeleration (lat. sakulum – das Jahrhun- setztes und nicht abgeleitetes Wort
dert; Akzeleration – Beschleunigung). Beschleu- Singultus (lat. singultus – Schluckauf). Schluckauf
nigte Entwicklung seit der Jahrhundertwende Sinnesorgane. Organ, das der Aufnahme und Weiter-
Salmonellosen. Durch Salmonellen (Bakterien) aus- leitung von Sinneseindrücken dient
gelöste Infektionskrankheiten Skoliose (griech. skolios – krumm). Seitliche Verbie-
Schalentemperatur. Die Körpertemperatur in der gung der Wirbelsäule mit Drehung der einzelnen
Haut und den Extremitäten, 28,0 bis 33,0 ⬚C Wirbelkörper und Versteifung
Schizophrenie (griech. schizein – spalten; phren – Skybala (griech. skybalon – Unrat, Auswurf). Harte
Geist, Seele). Sog. Spaltungsirrsein, psychische Er- Kotballen
krankung, die meist in Schüben verläuft und ge- Somatogramm (griech. soma – Körper; gramma –
kennzeichnet ist durch Symptome wie Wahnent- Buchstaben, Zeichen, bildliche Darstellung). Ta-
wicklung, Halluzinationen, Spracharmut, Willen- belle, die die Beziehung zwischen Alter, Größe
losigkeit etc. und Masse darstellt
Schmerzrezeptoren (lat. recipere – aufnehmen). Auf Somnambulismus (lat. somnus – Schlaf; ambulare –
Schmerzen reagierende Empfangsorgane in der wandeln). Schlafwandeln, Synonym: Noktambu-
Haut oder in den inneren Organen (Nozizeptoren) lismus
Somniloquie (lat. somnus – Schlaf; loqui – Sprechen).
Sprechen im Schlaf

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KaelDesu
Glossar

soziale Wahrnehmung. Wahrnehmung von Perso- Striae (lat. stria – Streifen). Blaurötliche, später gelb-
nen in Abhängigkeit von Selbstwahrnehmung, lich-weiße, strichförmige Hautveränderungen in-
sozialen Vergleichsprozessen und Faktoren aus folge starker Dehnung der Haut
der Umgebung Stridor (lat. stridor – Zischen). Pfeifendes Atemge-
Spastik (griech. spasmus – Krampf). Muskeltonus, räusch, wird unterschieden in eine inspiratori-
der krampfartig erhöht ist sche und exspiratorische Form
Sphincter ani (griech. sphincter – Schnur; lat. anus – Striktur (lat. strictura – Zusammenpressung, Zusam-
Ring). Ringförmiger Schließmuskel des Rektums menziehung). Ausgeprägte Verengung eines
Spina bifida (lat. spina – Stachel; bifidus – zweige- Hohlorgans
teilt). Angeborene Spaltbildung der Wirbelsäule Subcutis (lat. sub- – unter, unterhalb; cutis – Haut).
Spongiosa (lat. spongiosis – schwammig). Unterhaut
Schwammartige Knochensubstanz, Knochen- Subjektive Daten. Nicht messbare Daten, die von der
bälkchen subjektiven Sichtweise einer Person beeinflusst
Sprue. Einheimische Sprue: das der Zöliakie entspre- werden, z. B. Stimmungen, Gefühle etc.
chende Krankheitsbild bei Erwachsenen; tropi- sublingual (lat. sub- – unter, unterhalb; lingua – Zun-
sche Sprue: Malabsorptionssyndrom in vielen ge). Unter der Zunge
tropischen Ländern mit unklarer Ätiologie submucosa (lat. sub- – unter, unterhalb; mucosa –
Stadium decrementi (lat. descrescere – abnehmen). Schleim, Schleimhaut). Unter der Schleimhaut ge-
Stadium der Abnahme einer Krankheit, Fieberab- legen
fall Substanz P. Neuropeptid, das u. a. bei der Schmerzlei-
Stadium incrementi (lat. incrementum – Anwach- tung eine Rolle spielt
sen). Stadium des Anstiegs einer Krankheit, Fie- Suffix (lat. suffigere – unten anheften). Nachsilbe; an
beranstieg ein Wort oder einen Wortstamm angehängte Ab-
Steatorrhoe (griech. stear – Fett; rhoe – fließen, leitungssilbe
Fluss). Ausscheidung eines Fettstuhls, der ge- Suggestion (lat. suggestio – Eingebung). Beeinflus-
kennzeichnet ist durch ein Erstarren beim Erkal- sung eines Menschen bezüglich seines Fühlens
ten, eine große Masse, ein salbenartiges Aussehen oder Wollens, mit dem Ziel, den Betreffenden zu
und einen stinkenden Geruch, Synonyme: Sal- einem bestimmten Verhalten zu veranlassen
benstuhl, Butterstuhl, Pankreasstuhl Suppositorium (lat. suppositorium – das Untersetz-
Stenose (griech. stenos – eng). Verengung, Einen- te). Zäpfchen
gung supraventrikulär (lat. supra – oberhalb; ventriculus –
Stereotype (griech. stereos – starr, fest, massiv; typos Kammer). Oberhalb der Kammer, z. B. supraven-
– Form). Vorgefasste Meinungen und Einstellun- trikuläre Extrasystolen, die von Reizbildungs-
gen über Merkmale von Mitgliedern einer Gruppe zentren im Vorhof (oberhalb der Kammer) ausge-
Stereotypie (griech. stereos – starr, fest, massiv; ty- hen
pos – Form). Pathologisches Wiederholen von Surfactant-Faktor (engl. Surface aktive agent – Ober-
sprachlichen Äußerungen oder motorischen Ab- flächenaktive Substanz). Kleidet die Wände der
läufen Lungenbläschen aus, verhindert das Zusammen-
STH (Somatotropes Hormon) (griech. somato – Kör- klappen der Alveolen bei der Exspiration
per, körperlich; trop – auf etwas einwirken). Sympathikus (griech. sympathein – in Wechselwir-
Wachstumshormon kung stehen). Teil des vegetativen Nervensystems
Strangurie (griech. straggos – ausgepresster Tropfen; Sympathomimetika (griech. sympath- – Wortteil mit
ouron – Harn). Harnzwang, nicht zu unterdrü- der Bedeutung mitempfinden, in Wechselwir-
ckender Drang zum Wasserlassen, mit starken kung stehen; mimetisch – bewegend, erregend).
Schmerzen einhergehend Medikamente, die Erscheinungen hervorrufen
Streptokokken (griech. streptas – Kette; Kokkos – können, wie sie durch eine Erregung des Sympa-
Beere). Kugelförmige Bakterien, die in Kettenform thikus hervorgerufen werden
vorkommen Symptom (griech. symptoma – vorübergehende Ei-
gentümlichkeit, Begleiterscheinung). Begleiter-
scheinung einer Erkrankung, Krankheitszeichen

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KaelDesu
Glossar

Symptombündel (griech. symptoma – vorüberge- Totalkapazität (capazitas – Fassungsvermögen).


hende Eigentümlichkeit, Begleiterscheinung). Luftmenge, die nach maximaler Inspiration in der
Mehrere Begleiterscheinungen einer Erkrankung Lunge enthalten ist, ca. 6000 ml, Abkürzung: TLK
Synästhesie (griech. syn – zusammen, mit; aisthesis toxisch (griech. tox – Gift). Giftig
– Empfindung). Abnorme Mitempfindung Tracheitis (griech. trachea – Luftröhre; – itis – Ent-
Syndrom-Pflegediagnose. Umfasst eine Gruppe von zündung). Entzündung der Luftröhre
aktuellen und Risiko-Pflegediagnosen, die auf- Tracheotomie (griech. trachea – Luftröhre; -tomie –
grund eines Ereignisses oder einer bestimmten Schnitt, Eröffnung). Luftröhrenschnitt
Situation voraussichtlich auftreten Tranquilizer (lat. tranquillus – ruhig). Medikamente,
Synkope (griech. synkoptein – zusammenschlagen). die eine beruhigende und/oder angst- und span-
Relativ kurzandauernder Bewusstseinsverlust nungslösende Wirkung besitzen
(Sekunden bis Minuten) Transpiration (lat. trans- – hindurch, hinüber; spirare
– atmen). Hautausdünstung, Absonderung von
Tachyarrhythmie (griech. tachys – schnell; a- – ohne, Schweiß, Schwitzen, Synynom: Perspiratio sensi-
Mangel an; rhythmos – Gleichmaß, Takt). Zeitlich bilis
unregelmäßige und erhöhte Schlagfrequenz des Trauma (griech. trauma – Verletzung). Verletzung,
Herzens (⬎ 100 Schläge pro Minute) Gewalteinwirkung, die sowohl physischer als
Tachykardie (griech. tachys – schnell; kardia – Herz). auch psychischer Natur sein kann
Anstieg der Herzfrequenz auf mehr als 100 Schlä- Tremor (lat.). Zittern
ge pro Minute Tuberkulose (griech. -ose – Krankheit; lat. tubercu-
Tachypnoe (griech. tachy – schnell; pneuma – Luft, lum – kleiner Höcker, kleine Schwellung). Eine
Atem). Erhöhte Atemfrequenz durch Tuberkelbakterien hervorgerufene Infekti-
Tenesmus (griech. tenesmus – gespannter Leib, Hart- onskrankheit, Abkürzung: TB, TBC
leibigkeit). Anhaltender, schmerzhafter Stuhl- Tunica mucosa (lat. tunica – Hülle, Haut; muco- –
oder Harndrang Schleim, Schleimhaut). Schleimhaut
Tetanie (griech. Tetanus – Spannung). Anfallsartige Turgor. Ein vom Flüssigkeitsgehalt abhängiger Span-
neuromuskuläre Übererregbarkeit, die sich in nungszustand des Gewebes
Störungen der Motorik und Sensorik zeigt, Typhus abdominalis (griech. typhos – Dunst, Schwin-
Krampfbereitschaft del; lat. abdomen – Bauch, Leib). Melde- und iso-
Tetraparese (griech. tetra – vier; paresis – Erschlaf- lierungspflichtige Infektionskrankheit, verur-
fung). Schwache Lähmung aller vier Extremitäten sacht durch Salmonella typhi-Bakterien
Tetraplegie (griech. tetra – vier; plege – Schlag, Läh-
mung). Lähmung aller vier Extremitäten, sog. ho- Ulcus cruris (lat. ulcus – Geschwür; crus – Unter-
he Querschnittslähmung schenkel). Unterschenkelgeschwür
Thermographie (griech. therm- – Wärme, Hitze; gra- Unguis (lat. unguea – Nagel). Nagel
phie- – Darstellungs-, Aufzeichnungsverfahren). Urämie (griech. ouron – Harn; haima – Blut). Harn-
Abbildung einer Wärmestrahlung eines Objektes, vergiftung, Anstieg der harnpflichtigen Substan-
Wärmebild zen im Blut
Thermolabilität (griech. therm- – Wärme, Hitze; la- Urhidrose (griech. ouron – Harn; hidros – Schweiß).
bilis – schwankend, unsicher). Schwankende Absonderung von Schweiß, der harnpflichtige
Temperaturen, häufig bei Frühgeborenen Substanzen enthält
Thermorezeptoren (griech. therm- – Wärme; lat. re-
cipere – aufnehmen). Empfangsorgane in der Validität (lat. valere – Wert sein, gültig sein). Gültig-
Haut oder in den inneren Organen, die die Tempe- keit, Gütekriterium für Testverfahren
ratur bzw. Temperaturveränderungen registrie- Varizen (lat. varix – Krampfader). Krampfadern, er-
ren weiterte oberflächliche Venen, vor allem an den
Tinnitus aureum (lat. tinnitus – Geklingel; auris – Beinen, die durch eine Schwäche der Venenwand
Ohr). Ohrgeräusche verursacht werden
Tonsillektomie (lat. tonsilla – Mandel; -ektomie –
operative Entfernung). Operative Entfernung der
Zungen-, Gaumen- und/oder Rachenmandeln

496
KaelDesu
Glossar

Vater Pacini Körperchen. Nach dem italienischen zentral (lat. centralis – in der Mitte befindlich). Den
Anatom Filippo Pacini (1812 – 1883) benannte la- Mittelpunkt bildend
mellösen Nervenfaserendkörperchen, die die Zentrale Lähmung (lat. centralis – in der Mitte be-
Wahrnehmung von Vibrationen ermöglichen findlich). Lähmung infolge einer Schädigung im
ventrikulär (lat. ventriculus – Kammer). Von der Bereich der Pyramidenbahn, spastische Lähmung
Kammer ausgehend; z. B. ventikuläre Extrasysto- zerebral (lat. cerebrum – Gehirn). Das Gehirn betref-
len, bei denen die Reizbildung von allen Teilen der fend
Herzkammermuskulatur ausgehen kann zerebro-vaskulär (lat. cerebrum – Gehirn; vasculum
Vibrissae (lat.). Haare am Naseneingang – kleines Gefäß). Gefäße des Gehirns betreffend
visuell (lat. visus – das Sehen). Das Sehen betreffend Zervikobrachialsyndrom (lat. cervix – Nacken, Hals;
viszeral (lat. viszera – Eingeweide). Die Eingeweide brachium – Arm, Oberarm; griech. syn – zusam-
betreffend men, mit; dormos – Lauf). Sammelbegriff für tro-
Vitalkapazität (lat. vitalis – leben; capazitas – Fas- phische, sensible und motorische Störungen im
sungsvermögen). Luftvolumendifferenz zwi- Bereich des Halses, Schultergürtel und der oberen
schen maximaler Einatmung und Ausatmung Extremität durch Irritationen des Plexus cervica-
Vitiligo (lat. vitiligo – Hautflechte). Weißflecken- lis und brachialis sowie der A. vertebralis
krankheit, bei der über den Körper verteilt, auf- Zilien (lat. cilium – Augenlid). Wimpern
grund eines Melaninmangels weiße Flecken auf- zirkadian (lat. circa – um, ungefähr; dies – Tag). Ta-
treten gesrhythmus, 24-Stunden-Rhythmus, über den
Vomitus (lat. vomere – sich erbrechen). Erbrechen, Tag verteilt
Synonym: Emesis Zirkumduktion (lat. circum – um, herum; ducere –
Vorhofflattern. Störung der Tätigkeit der Vorhöfe des führen). Bewegung in einem Gelenk, die kreisför-
Herzens mit Frequenzen von 250 – 300 pro Minu- mig verläuft, Führung eines spastisch gelähmten
te Beines beim Gehen in Form eines Halbbogens
Vorhofflimmern. Eine der häufigsten Herzrhythmus- Zöliakie. Glutensensitive Erkrankung der Dünn-
störungen mit Flimmerbewegungen der Herzvor- darmschleimhaut im Säuglings- und Kindesalter.
höfe (Frequenzen zwischen 300 – 400 pro Minu- Gluten kommt in vielen Getreidearten, z. B. Wei-
te), die zu absoluter Arrhythmie der Herzkam- zen, Roggen, Gerste und Hafer, vor. Bei den betrof-
mern führen fenen Kindern kommt es bei Kontakt mit Gluten
Vulva (lat. vulva – Hülle). Die äußeren weiblichen Ge- zu einer immunologischen Reaktion (Antikörper-
schlechtsorgane bildung) mit schweren Veränderungen der Dünn-
darmschleimhaut bis zur vollständigen Zotten-
Wahrnehmung. Aufnahme von inneren und äußeren atrophie. Dies führt zum Verlust der digestiven
Reizen über die Sinnesorgane bzw. absorptiven Funktion des Dünndarmes für
Wahrnehmungsprozess. Verarbeitung des über die die meisten Nährstoffe einschließlich der Minera-
Sinnesorgane gewonnenen Informationsmate- lien und Vitamine und spezifische Mangelerkran-
rials kungen in Folge. Das entsprechende Krankheits-
Wahrnehmungsschwelle. Bezeichnung für die Leis- bild des Erwachsenen heißt Sprue
tungsgrenzen der Sinnesorgane Zyanose (griech. kyanos – blaue Farbe; -ose – nicht
Wahrnehmungsverzerrung. Veränderte Wahrneh- entzündliche Krankheit). Blaurote Verfärbung der
mung aufgrund störender Einflussfaktoren Haut infolge mangelnder O2-Sättigung des Blutes
Windkesselfunktion. Aufgrund der elastischen Ei- zytologisch (griech. zyt- – Zelle; logos – Wort, Lehre).
genschaften der arteriellen Gefäßwand, beson- Lehre vom Bau und den Funktionen der Zellen
ders der Aorta, bewirkte Glättung der hohen pul- Zytostatika (griech. zyt- – Zelle: griech. statikos –
satorischen Ventrikeldruckschwankungen. Die zum Stehen bringen). Substanzen, die die Zelltei-
Windkesselfunktion der Arterien ermöglicht den lung durch Beeinflussung des Stoffwechsels ver-
kontinuierlichen Blutfluss hindern oder erheblich verzögern

Xanthom (griech. xanthos – gelb; -om – Geschwulst-


bildung). Gelbrötliche Hauttumore durch Fettein-
lagerungen

497
KaelDesu

Abbildungsverzeichnis

Aufmacher K. Oborny, Thieme 6.38 Thieme Verlagsgruppe


Herausgeberfoto Annette Lauber: 6.39 Thieme Verlagsgruppe
Robert Bosch Krankenhaus 6.40 Abb. aus: Ockenfels H, Wolff M. Allgemein-
Part 1 A. Fischer, Thieme und Viszeralchirurgie up2date 2013;
1 Einstieg: W. Krüper, Thieme 7(03): 203-219, DOI: 10.1055/s-0032-
2 Einstieg: K. Oborny, Thieme 1325036
3 Einstieg: A. Fischer, Thieme 6.41 Abb. aus: Füeßl H, Middeke M. Duale Reihe
4 Einstieg: K. Oborny, Thieme Anamnese und Klinische Untersuchung.
Part 2 K. Oborny, Thieme Thieme; 2014
5 Einstieg: W. Krüper, Thieme 6.42 Abb. aus: Moll I, Hrsg. Duale Reihe Derma-
6 Einstieg: ia_64, Fotolia.com tologie. Thieme; 2010
6.4 Abb. aus: Sterry W, Hrsg. Kurzlehrbuch 6.43 Thieme Verlagsgruppe
Dermatologie. Thieme; 2011 6.44 Thieme Verlagsgruppe
6.5 Thieme Verlagsgruppe 6.45 Plettenberg A, Meigel W, Schöfer H, Hrsg.
6.6 a, b Thieme Verlagsgruppe Infektionskrankheiten der Haut. Thieme;
6.8 Abb. aus: Moll I, Hrsg. Duale Reihe 2010
Dermatologie. Thieme; 2010 6.46 Thieme Verlagsgruppe
6.10 Thieme Verlagsgruppe 6.47 Thieme Verlagsgruppe
6.12 Thieme Verlagsgruppe 6.48 Thieme Verlagsgruppe
6.14 Abb. aus: Rowe E, Kolde G, Meffert H. 6.49 Thieme Verlagsgruppe
Aktuelle Dermatologie 2016; 42(07): 6.50 Thieme Verlagsgruppe
283-285, DOI: 10.1055/s-0042-100565 6.51 Thieme Verlagsgruppe
6.16 Abb. aus: Henne-Bruns D, Hrsg. 6.52 Thieme Verlagsgruppe
Duale Reihe Chirurgie. Thieme; 2012 6.53 Abb. aus: Aumann G, Anthuber M, Golling
6.18 Thieme Verlagsgruppe C, Bittinger M. Anorektale Erkrankungen.
6.20 Abb. aus: Laumanns A, Schulze I, Nenoff P. In: Messmann H. Lehratlas der Koloskopie.
Aktuelle Dermatologie 2006; 32(11): Thieme; 2015
481-483, DOI: 10.1055/s-2006-944836 6.54 Abb. aus: Rohde H, Christ H. DMW - Deut-
6.22 Abb. aus: Schwenzer N, Ehrenfeld M, Hrsg. sche Medizinische Wochenschrift 2004;
Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie. Thieme; 129(38): 1965-1969, DOI: 10.1055/s-2004-
2011 831833
6.24 Thieme Verlagsgruppe 6.55 Abb. aus: Pleimes M. Aktuelle Dermatolo-
6.26 Thieme Verlagsgruppe gie 2016; 42(10): 406-413, DOI: 10.1055/s-
6.28 Abb. aus: Eming, R. Aktuelle Dermatologie 0042-101732
2013; 39(10): 400; DOI: 1055/s 0033- 6.56 Thieme Verlagsgruppe
1344778 6.57 Abb. aus: Baumann T, Hrsg. Atlas der Ent-
6.30 Thieme Verlagsgruppe wicklungsdiagnostik. Thieme; 2015
6.32 Abb. aus: Moll, I. Duale Reihe Dermato- 6.58 Thieme Verlagsgruppe
logie. Thieme; 2010 6.59 Thieme Verlagsgruppe
6.33 Thieme Verlagsgruppe 6.60 Thieme Verlagsgruppe
6.34 Thieme Verlagsgruppe 6.61 Abb. aus: Andreae S, von Hayek D,
6.35 Thieme Verlagsgruppe Weniger J. Gesundheits- und Krankheits-
6.36 Thieme Verlagsgruppe lehre für Altenpflege. 4. Aufl. Thieme; 2015
6.37 Abb. aus: Moll, I, Hrsg. Duale Reihe Derma- 7 Einstieg: R. Stöppler, Thieme
tologie. Thieme; 2010 7.3 Thieme Verlagsgruppe
7.4 Thieme Verlagsgruppe

498
KaelDesu

Sachverzeichnis

Agrammatismus 462 Amputation 405 – Demenz 233


A Akanthose 81 – Phantomschmerz 386 – expressive 462
Abasie 448 Akinese 403 f Anagenphase 114 – globale 462 f, 468
ABCDE-Regel 93 Akne Analabszess 100 – motorische 462
Abdomen, akutes 362 – im Alter 124 Analfistel 100 – sensorische 462
Abdominalatmung 184, 187 f – vulgaris 121 Analfissur 100 Aphonie 459
Abduktion 401 Akrodermatitis enteropathica Analgesie 24, 383 Aphrasie 460
Abduktionskontraktur 436 302 Analprolaps 101 Aphthe 95
Abendmensch 209 f Akromegalie 255 Analschleimhaut 71 f, 75 Apnoe 191, 216
Abhängigkeits-/Unabhängig- – Makroglossie 99 Anämie 77 Apoplex
keitskonflikt 265 Aktivität 39 f, 405 – Dyspnoe 190 – Aphasie 461, 463
Ablenkbarkeit 241 Aktivitätsintoleranz 140 – Eisenmangel 296 – Gangstörung 445
Abneigung Akupunktur 382 – Hautblässe 76 – Haltungsstörung 433
– gegen Fett 290 Akzeleration, säkulare 254 – Vitaminmangel 294 – Schmerz, zentraler 386
– gegen Fleisch 290 Albinismus 76 Anästhetika, Hang-over-Effekt 271 Appetit 274, 285
Abschürfung 88 Algesimetrie 382 f Angehörige 38 – Einflussfaktor 304
Absence 246 Algurie 313 Angespanntheit 430 – beim Kind 299
Abspreizung 401 Alkalose 191 Angst 73 – vermehrter 289
Abszess 84 Alkoholentzugsdelir 229 – maskierte 422 – verminderter 289
Abwehrreaktion 384, 387 Alkoholgenuss – Mimik 422 Appetitlosigkeit 280, 297
Abwehrschwäche 95 f, 291 – Delirium 228 – bei Schmerzen 392 Apraxie
Abwehrspannung 391 – Gichtanfall 298 – Verwirrtheitszustand 233 – Definition 231
Acetongeruch 197, 345 – Hypothermie 174 Angstanfall 213 – Demenz 233
Achalasie 369 – Insomnie 212 Angstneurose 211 – ideatorische 231 f
Achondroplasie 256 – Polyurie 316, 322 Anhidrosis 344 – ideomotorische 231 f
Adaption 20 Alkoholismus – tropica 346 – konstruktive 231 f
Adaptor 416 – Demenz 247 Ankleideapraxie 230 ff Arbeiten 39
Addison-Krankheit – Gangstörung 447 f Anocutane Grenze 72 – kräfteschonendes 16
– Hyperpigmentierung 76 Allergen 92 Anorektum 71 – rückenschonendes 16
– Nagelverfärbung 119 Allergie Anorexia nervosa 276 f, 292 Arbeitsumsatz 270
Adduktion 401 – Hautveränderung 80 – – Amenorrhö 354 Armarterie, Pulslosigkeit 135
A-Delta-Faser 381 f – Ödembildung 78 – – Körperschemastörung 405 Arrhythmie 132
Adenosarkom 59 Allgemeinzustand 64 ff Anorexie 290 – absolute 136
ADH (antidiuretisches Allodynie 383 – Vitamin-A-Hypervitaminose – Definition 136
Hormon) 285 Alopezia areata 117 297 – respiratorische 136
Adipositas Alopezie 116 f Anosmie 23 Arsenvergiftung 77
– Definition 272 Alter 65 Anosognosie 235 f – Haarausfall 117
– Folgeerkrankung 290 f – Blutdruckregulation156 Anstrengung, körperliche 135 Arteria
– beim Kind 279 – Ernährungszustand 303 ff α-Antagonisten 322 – brachialis 130
– Ursache 273 f – Harninkontinenz 321 f Anti-Baby-Pille s. Ovulations- – – Blutdruckmessung 147 ff
Adipsie 292 – Körperhaltung 438 f hemmer – carotis 130
Adnexentzündung 355, 366 – Schlafbedarf 209, 219 Antibiotika 328 – dorsalis pedis 130
Adrenogenitales Syndrom 369 – Schmerz 395 Anticholinergika 322 – femoralis 130
Aerophagie 336, 369 – Stoffwechsellage 279 Antidepressiva 152, 322 – poplitea 130
Affektinkontinenz 241 – Stuhlausscheidung 337 – Insomnie 213 – radialis 130 f
Affektivität 241 Altersakne 124 Antidiuretisches Hormon 285 – subclavia 130
Affektivitätsstörung Altersflecken 106 Antipathie 42 – temporalis 130
– qualitative 242 Altershaut 106 f Antipsychotika 322 – tibialis posterior 130
– quantitative 241 Alterssichtigkeit 22 Antrieb 243 – ulnaris 130
Affektlabilität 242 Alzheimer-Krankheit Antriebsminderung 237, 243 f – vertebralis 433
Affektstarre 241 (s. auch Demenz) 247 Antriebssteigerung 242 f Arterienverschluss, akuter 102
Aflatoxin 298 – Essverhalten 303 Antriebsstörung 243 f Arteriosklerose 152
After 72 Amaurosis 22 Anurie 317 Arthritis 409 f
Afterhaut 75 Amenorrhö 353 f Aorta 130 – rheumatoide, chronische 390
Ageusie 24 Amimie 421 Aortenbogensyndrom 135 Arthrose 409
Aggressivität 27 Ammoniak 311 Aortenisthmusstenose 152 – Gangstörung 448
Agnosie 235 f Ammoniakgeruch 197 Aortenklappeninsuffizienz 152, – Übergewicht 272
– Demenz 233 Amnesie 239 135 Artikulation 458
– visuelle 22, 235 f – anterograde 239 Apallisches Syndrom 227 – beim Kind 466
α-Agonisten 322 – psychogene 239 Aphasie 461 ff Artikulationsstörung 460, 465
β-Agonisten 322 – retrograde 213, 239 – amnestische 462 f Ascorbinsäure 294

500
KaelDesu
Sachverzeichnis

Aspirationspneumonie 199 Atemzug, flacher 192 Autotopagnosie 235 f – Zeitpunkt 37


Aspirationssyndrom 199 Atemzugvolumen 185 f Avitaminose 294 ff – Ziel 43
Assimilation 21 Atemzyklus 184 Azidose 191 f Beobachtungsprozess 34 ff
Astasie 448 Atherom 83 Azidoseatmung 193 Berührung 12, 70
Astereognosie 236 Atmen 39 Berührungshalluzination 229
Asthma bronchiale Atmung 182 ff Berührungsreiz 17
– – Dyspnoe 189 – abdominale 184, 187 f B Berührungssinn 8
– – Giemen 195 – agonale 194 Badewassertemperatur 14 Beta-Blocker 212
– – Sputum 374 – beim älteren Menschen 200 Behaarungsmuster 118 Bettenwaage 267
– – Tachykardie 135 – asymmetrische 194 f Bakteriurie 319 Bettnässen 207
Asystolie 137 – intermittierende 193 Balance 451 Beugekontraktur 436
Aszites 275 – inverse 194 Balbuties 461 Beugung 401
Ataxie 404 f – kostale 187 f Ballaststoff 327 Bewältigungsverhalten 40
– Gangstörung 448 – meningitische 193 Bandscheibe 260 Beweglichkeit 401
– lokomotorische 405, 446 – paradoxe 194 Bandscheibenvorfall 386 – gesteigerte 404
– sensible 447 – periodische 199 Bartholin-Drüse 351 – beim Kind 408
– Ursache 408 – tiefe 192 Bartholinitis 355 – Störung 402 ff
– zerebelläre 447 f – unzureichende 200 Bartwuchs 115 Bewegung 15, 39, 400 ff
Atelektase 192 – Veränderung, pathologische Basaliom 92 – Beurteilung 65
Atemantrieb 182, 192 189 ff Basalmembran 70 – stereotype 405, 409
Atemarbeit 189 f – verlangsamte 210 Basaltemperatur 165 f – überschießende 404
Atembeobachtung 9 ATPase 274 Bauchatmung 187 f – unwillkürliche 402
Atembewegung 17, 183 Atrichie 117 Bauchdecke, Entspannung 435 – willkürliche 402
– übermäßige 194 Atrophie 279, 300 Bauchpresse 310, 330 Bewegungsablauf 15
– ungenügende 194 Atropin 344 Bauchschmerz 17, 365 f – gestörter 25
Atemfrequenz 184 Aufbissschiene 214 Bauchspeicheldrüse 288 – unkoordinierter 25
– erhöhte 174 f, 190 Auffassungsstörung 241 – Maldigestion 293 Bewegungsapparat 401
– niedrige 190 f Aufmerksamkeit – Schmerzausstrahlung 390 – Störung, angeborene 408
– Normalwert 187 – Einflussfaktor 26 Bauchspeicheldrüsengang 17 Bewegungsarmut 403
Atemgeräusch 188, 195 – gesteigerte 228 Bauchwickel 385 Bewegungseinschränkung 23
– feuchtes 195 – unwillkürliche 239 Baufett 271 Bewegungsentwicklung beim
– trockenes 195 – willkürliche 240 Bau-Reil-Querfurche 120 Kind 406 f
Atemgeruch 188, 197 Aufmerksamkeitsstörung 228, Bechterew-Krankheit 434 Bewegungskrankheit 23
Atemhilfsmuskel 189 239 f Beckenbodenschwäche 101 Bewegungssinn 8, 15 f
– Aktivierung 194 – Verwirrtheitszustand 233 Beckenkippung 437 Bewegungsstörung 231 f
– exspiratorischer 187 Aufrichten 449 Beckenschiefstand 256, 434 – beim älteren Menschen 409
– inspiratorischer 187 Auge 8 f Bedürfnislage, aktuelle 26 – beim Kind 407 f
Atemlähmung 191 – Anpassungsvorgang 20 Beeinträchtigungswahn 238 – medikamentös bedingte 409
Atemmechanik 187 – haloniertes 419 Befindlichkeit 42, 417 – spastische 403
Atemminutenvolumen 192 – Veränderung, altersbedingte Behinderung 422 Bewegungswahrnehmung 8, 10
Atemmuskel 187 423 Bein, Längenunterschied 255 Bewertung 28
Atemnot 189, 272 – Wahrnehmungsschwelle 20 Beinstand 437 f Bewusstlosigkeit 244
Atemnotsyndrom 199 Augenbewegung, schnelle 208 Bekleidung 65 – Hitzesynkope 167
– transitorisches 199 Augenbindehaut, Gelbfärbung Belastungsdyspnoe 189 Bewusstsein 65, 224 ff
Atempause 192 f 77, 420 Belastungsinkontinenz 313 Bewusstseinseinengung 204,
Atemrhythmus 187, 192 ff Augenbraue 111, 418 Benommenheit 225 f 227 f
Atemstillstand 191, 216 Augenlid 418 Beobachtung 33 ff Bewusstseinserweiterung 228
– funktioneller 194 Augenmuskel 9 – Anforderung an das Pflege- Bewusstseinslage 225 f
Atemstörung, schlafbezogene – Lähmung 22 personal 45 f – beim Kind 245 f
215 f Augensprache 417 – Datenerhebung 47 f – parasomnische 227
Atemtiefe 184, 187 Ausdruck – Dokumentation 38 f, 44 f Bewusstseinsstörung 244 f
– geringe 190 – schmerzerfüllter 418 – Einflussfaktor 41 f – beim älteren Menschen 245 f
– große 191 – verbitterter 419 – Fokussierung 42 – qualitative 225, 227 f
Atemtyp, pathologischer 192 ff Ausdrucksbewegung 416 – Fragebogen 40 f – quantitative 225 ff
Atemvolumen 185 ff Ausdrucksmittel, nonverbales – Hilfsmittel 37 ff, 48 – Schweregrad 225
– maximales 186 443 – beim Kind 41 – Ursache 227
Atemweg Auskultation 195 – objektive 36 Bewusstseinstrübung 228
– oberer 182 Auskultatorische Lücke 149 – und pflegerisches Handeln Beziehung 40
– Selbstreinigungsfunktion 377 Ausscheidung 39 f, 309 ff 42 f – pflegerische 36
– unterer 182 Außendrehung 401 – Qualität 44 Beziehungswahn 238
Atemwegserkrankung 376 Auswurf 373 – Reliabilität 42, 50 Bigeminie 136 f
Atemzentrum 17, 183 – morgendlicher 375 – Selektion 42 Bilanzierung 277
– Beeinträchtigung 190 f – zäher 376 – subjektive 36 Bilirubin 77
– – Biot-Atmung 192 Autismus 27, 422 – Systematik 39 ff Bilirubinurie 318
– – Cheyne-Stokes-Atmung 192 Autogenes Training 182 – Validität 42, 50 Bindegewebsschwäche 100
– – Schlafapnoe 216 Autoimmunerkrankung 409 Bindegewebstumor 92

501
KaelDesu
Sachverzeichnis

Bindehaut, Gelbfärbung 77, 424 Bogengang 11 Crohn-Krankheit 98, 100 – Stuhlinkontinenz 332
Biografie 26 Borreliose 94, 170 Cushing-Krankheit – Ursache 235
Biot-Atmung 193 Brachybasie 448 – Adipositas 273 Denken 65
Biotin 294 Brachymenorrhö 352 f – Facies lunata 420 – Definition 236
Bläschen 82 Bradykardie 133 ff – Striae 76 – inkohärentes 237
Blasenbildung 174 – Bewusstseinslage 138 – unzusammenhängendes 228
Blässe 102, 174 f, 244 – relative 134 Denkfähigkeit 224, 457
– pathologische 76 – Schlafapnoerisiko 216 D Denkhemmung 237
– physiologische 73 Bradypnoe 190 f Damenbart 115, 124 Denkstörung 236 ff
Blattpapille 72 Brandblase 82 Dämmerzustand 207, 227 – formale 236 f
Blaufärbung 74, 76 f Brechreflex 361 – Halluzination 229 – inhaltliche 236, 238 f
Bleivergiftung 292, 298 Brechzentrum 360 ff Dammschweiß 346 – Verwirrtheitszustand 233
Blickkontakt 417 Broca-Aphasie 462 Darm Denkverlangsamung 237
Blinddarmentzündung 391 Broca-Formel 268 – Atonie 328, 364 Depersonalisation 243
Blindheit 20, 22 Bromhidrosis 345 f – Überblähung 25 Depression 237, 242
Blutdruck 144 ff Bronchialkarzinom 374 Darmentleerung, verzögerte 329 – Antriebsminderung 243
– beim älteren Menschen 156 – Altersgipfel 376 Darmerkrankung, entzündliche – Bewegungsstörung 404
– diastolischer 145, 148 – Sputumuntersuchung 375 – – Eiweißresorptionsstörung – Gesichtsausdruck 419
– – Dokumentation 150 f Bronchialsekretion 373 f 296 – reaktive 426
– – Erhöhung 151 Bronchiektase 374 f – – Erbrechen 365 – Schlafstörung 211 f
– erniedrigter 16, 79 Bronchitis 374 Darmmotilitätsstörung 330 – bei Schmerzen 392
– – schlafbedingter 210 – chronische 374 f Darmstenose 330 – Wahn 238
– mittlerer 150 f – eitrige 374 Darmteilresektion 293 Depressives Syndrom 242
– Normalwert 151 – spastische 195, 374 Darstellungsregel 422 Deprivation 27
– – beim Kind 155 Bronchodilatator 212 Daten Derealisation 243
– bei Schmerz 391 Brucellose 134 – objektive 49 Dermatitis, atopische 104 f
– Schwankung 151 Brustatmung 187 f – primäre 48 Dermatose, infektiöse 105
– systolischer 145, 148 Brustkyphose 431, 437 – Reliabilität 49 Desorientierung 226, 228
– – Dokumentation 150 f Brustwandflattern 194 – sekundäre 48 – örtliche 232
– – Erhöhung 151 Brustwickel 385 – subjektive 49 – persönliche 232 f
Blutdruckamplitude 145, 151 Brustwirbelsäule 434 Datenerhebung 47 ff – postoperative 38, 54
– große 140 Bruxismus 213 Datenquelle 48 f – situative 232
Blutdruckdifferenz 149 Bulimia nervosa 290 Deadaption 20 – zeitliche 232
Blutdruckmanschette, Größe Bulla 82 Defäkation 75, 327 Diabetes
149, 154 f – schmerzhafte 100 – insipidus 292, 317
Blutdruckmessgerät 38, 145 f Defäkationsreflex 330 – mellitus
– nach Recklinghausen 147 C Dehnungsreiz 13, 15 – – Appetitsteigerung 289
Blutdruckmessung 50, 144 Café-au-Lait-Farbe 77 Dehydratation 292 – – Fußpflege 124
– direkte 145, 155 Café-au-Lait-Fleck 104 – Fieber 178 – – Karbunkel 122
– Dokumentation 149 f Caliper 272 – Schweregrade 301 – – Polydipsie 292
– Indikation 147 Canities 117 Dehydratationsgefahr 348 – – Polyurie 316
– indirekte 145 ff C-Faser 381 f Déjà-vu-Erlebnis 240 – – Temperaturempfindung
– – Fehlerquelle 148 f Charaktereigenschaft 26 Dekubitus 92 178
– beim Kind 154 f Chemorezeptor 17 – ⫺1. Grades 75 Diarrhö s. Durchfall
– kontinuierliche 145 Chemorezeptoren-Triggerzone – Pflegedokumentation 53 f Diät 274 f
– palpatorische 147 f 361 Dekubitusprophylaxe 55 Dickdarmerkrankung 328
Blütenpollen 196 Cheneau-Korsett 441 Dekubitusrisiko 38 Dickdarmschleimhaut 71
Blutgasanalyse 184 Cheyne-Stokes-Atmung 192 f Delir 228, 233 Digitalis
Blutgefäß-Nävus 103 f Chinidin 136 Delta Sleep-inducing Peptide – Arrhythmie 136
Blutgerinnung 294 Chloasma gravidarum 73 205 – Bradykardie 134
Blutgerinnungsstörung 75 Cholera 334 Delta-Welle 207 – Überdosierung 137, 328
Bluthochdruck s. Hypertonie Cholestase 302 Demenz Digitalthermometer 162
Blutosmolarität 286 Cholesterin 297 – Affektstarre 241 Digitalwaage 278
Bluttransfusion, kalte 136 Chondrodystrophie 256, 438 – Bewegung, stereotype 409 Diuretika
Blutung Christ-Siemens-Touraine-Syn- – Definition 233 – Missbrauch 290
– pulsierende 19 drom 344 – Harninkontinenz 314 – Polyurie 317
– punktförmige 75, 92 Chrom-III 295 – Mini-Mental-State 234 f Divertikulitis 332
– vaginale Chromhidrosis 345 – Nahrungsaufnahme 280 Dokumentation 44 f
– – azyklische 353 Claudicatio intermittens 446 – Orientierungsstörung 233 – Aspekt, juristischer 55 f
– – menopausale 357 Cobalamin 294 – primäre 235 – Informationsweitergabe 51
– – postmenstruelle 352 f Colitis ulcerosa 332 – psychopathologische Verän- – als Leistungsnachweis 54
– – prämenstruelle 352 f Coma vigile 227 derung 235 Dopamin 136
Blutzirkulation, herabgesetzte Corpus-luteum-Phase 352 – Schlafwandeln 213 Doppelbilder 22
76 Cortisol 256 – sekundäre 235 Dorsalflexion 401
Bobath-Konzept 25 Cortison 274 – senile 246 f Douglas-Abszess 355
Body-Mass-Index 268 f Crepitatio 195 – Sprachstörung 467 Drahtpuls 137

502
KaelDesu
Sachverzeichnis

Dranghandlung 244 – funktionelle 460 Emblem 416 – würgendes 364


Dranginkontinenz 313 – mechanische 460 Emotion 67 – Zeitpunkt 365
– motorische 314 Dysmenorrhö 354 Enanthem 79 – zerebrales 363, 365, 369
– sensorische 314 Dysorexie 289 Encephalitis lethargica 211 – zyklisches 365
Drehschwindel 23 Dysphasie 461 Endometritis 352 Erbrochenes
Dreimonatskolik 336 Dysphonie 465 Endorphin 14, 381 – Farbe 364
Drogenmissbrauch Dyspnoe 189 f Energiebedarf 270 – Geruch 365
– Halluzination 230 – Atembewegung, übermäßige Energiebilanz 270 – Menge 364
– Ideenflucht 238 194 Energieumsatz 270 Erfrierung 174
– Wahrnehmungsveränderung – exspiratorische 189, 198 Enkopresis 337 Ergosterin 294
19, 21 – inspiratorische 189, 198 Enteritis 329 Ergotismus 298
Druck – kardiale 189 Enterokolitis 329 Erinnerung 239
– arterieller, mittlerer 155 f – beim Kind 198 Enteropeptidase-Mangel 302 Erinnerungsauslöser 11
– hydrostatischer 78 – metabolische 190 Entfieberung 172 Erinnerungsverfälschung 240
– kolloidosmotischer 78 – psychische 190 Entspannung 432 Erkennen 235
Druckerhöhung, intraabdomi- – pulmonale 189 Entwicklung Erkrankung, parasitäre 94
nale 313 – zirkulatorische 190 – geistige 260, 407 Erleben 224
Druckpuls 137 Dystrophie 279, 300 – körperliche 252 ff, 256, 407 Ernährung 40, 299
Druckreiz 13 Dysuria psychica 313 – sozioemotionale 463 – ballaststoffarme 331
Druckwahrnehmung 106 Dysurie 313 – statomotorische 406 – eiweißreiche 287
Drüse – beim Kind 320 – veränderte 441 – falsche 297 ff
– apokrine 113 Entwicklungsverzögerung 256 – fettreiche 287, 297
– ekkrine 113 Entzündung – kohlenhydratreiche 287
Du-Bois-Formel 268 E – flächenhafte 91 – Körperwachstum 254
Duchenne-Muskeldystrophie 408 Echolalie 235, 247, 460 – lokale 91 – schlackenarme 329
Ductus arteriosus Botalli Effloreszenz Entzündungszeichen 91 Ernährungstagebuch 274 f
apertus 139 – primäre 79 ff Enuresis 219 Ernährungszustand 277, 283 ff
Duftdrüse 342 f – sekundäre 79 – diurna 321 – beim älteren Menschen 303 ff
– Abszess 122 Eigenwahrnehmung 8 – nocturna 218, 321 – beim Kind 299 ff
– Anatomie 68 f, 113, 116 Eindruck, erster 28 f – primäre 321 – reduzierter 300
– beim Kind 347 Eingeweideschmerz 385 – sekundäre 321 – schlechter 290
Dünndarmerkrankung 293 Einnässen 44, 218 f – Ursache 321 Erosion 88
Dünndarmzottenatrophie 296 – Ursache 219, 321 Enzephalitis 227 Erregung 421
Duodenalatresie 369 Einschlafmyoklonie 214 EPH-Gestose 60 Erröten 73
Duodenalstenose 369 Einschlafneigung, abnorme 215 Epidermis 68 Ersatzsprache 459
Durchblutungsstörung 93 f Einschlafphase 207 Epilepsie 404 Erscheinungsbild 65
– arterielle 93 f, 446 Einschlafritual 218 – Absence 246 Erschöpfung 211, 229
– Gewebedefekt 92 Einschlafstörung 212, 214 – Dämmerzustand 227 Erythrozyten 75
– Missempfindung 24 – Pflegediagnose 221 – Déjà-vu-Erlebnis 240 Escherichia coli 329
– Pflegediagnose 157 f Einstellung 26, 30 – Halluzination 229 Ess-Brech-Sucht 290
Durchfall 328 f Einwortstadium 464 Epiphyse, Verkalkung 297 Essen 39
– Exsikkose 334 Eisen 295 Epiphysenfuge 253 Esslust 285
– Greisengesicht 423 – Schleimhautveränderung 95 – Verschluss, vorzeitiger 256 Essstörung 275, 290 f
– Hitzeerschöpfung 167 – Zungenbrennen 98 Epithelzellen 70 Essverhalten 274
– beim Kind 336 Eisenmangelanämie 119 Erbrechen 360 ff – Beurteilung 286
– Lebensmittelvergiftung 298 Eisprung 350 – beim älteren Menschen 370 Esszentrum 285
– paradoxer 331 Eiweiß 254 – anhaltendes 367 Eumenorrhö 351, 353
– Pflegediagnose 339 – Energiegehalt 270 – antizipatorisches 363 Evaporation 176
– Wasserverlust 293 – Muskelaufbau 287 – Begleitsymptom 366 f Exanthem 75, 79
Durchgangssyndrom 233 Eiweißmangel 78, 296 f, 296 – Beobachtung 41, 364 ff Exkoriation 88
Durchhaltevermögen 225 – Ödembildung 276 – blutiges 367 Expektoration 373
Durchschlafstörung 212, 219 Eiweißresorptionsstörung 294 – Bulimie 290 – maulvolle 374
Durst 285 f Eiweißumsatz 296 – explosionsartiges 363 – münzförmige 375
Durstfieber 169 Eiweißverdauung 288 – fäkulentes 363 Exsikkose 292, 304
Durstgefühl 284 Eiweißverlust 296 – Hitzeerschöpfung 167 – Diarrhö 328
– gesteigertes 292 Eklampsie 137, 404 – kaffeesatzartiges 364 Exspiration 184, 187 f
– vermindertes 292, 303 Ekzem 75 – beim Kind 368 ff Extension 401
Dysarthrie 457 f – endogenes 104 – medikamentös bedingtes 370 Extrasystole 136 f
Dysästhesie 214 Elektroenzephalogramm 206 ff – morgendliches 362 – supraventrikuläre 137
– Definition 230 Elektrolytverschiebung – periodisches 365 – ventrikuläre 137
Dysbasia arteriosclerotica 446 – Anorexia nervosa 276 – persistierendes 363
Dysbasie 445 – Bulimia nervosa 290 – psychogenes 367
Dysgeusie 24 – Obstipation 330 – reflektorisches 363
Dysglossie 460 Elektromyogramm 206 f – im Schwall 369
Dyslalie 460, 465 Elektrookulogramm 206 f – Ursache 362, 369
– audiogene 460 Ellenarterie 130 – verzögertes 363

503
KaelDesu
Sachverzeichnis

– toxisches 169 Fremdeln 422 – Erbrechen 365 f, 369


F – undulierendes 170 f Fremdkörperaspiration 189 Gastroenterokolitis 329
Fachsprache 56 ff – Ursache 168 f Fremdreflex 403 Gastrointestinaltrakt 17
– falsch eigesetzte 57 – zentrales 169 Froschhaltung 407 f – Dehnungsreiz 367
– Umgang 57 Fieberabfall 172 Fruchtwasser 199, 335 – Erkrankung 362
Facies Fieberanstieg 171 f Frühgeborene Gate-Control 381 ff
– abdominalis 419 Fieberdelirium 175, 228 – Atemnotsyndrom 199 Gaumen, harter 74
– gastrica 419 Fieberhöhe 172 – Atmung, periodische 199 Gebärdensprache 416
– hippocratica 420 Fieberkrampf 178 – Bewegungsstörung 407 Gebärmutter
– lunata 419 Fiebersenkung 178 – Blutdrucknormalwert 155 f – Hypoplasie 354
– myopathica 420 Fieberstadium 171 f – Gewicht 257, 278 – Karzinom 352 f
– ovarica 419 Fieberverlaufsform 169 ff – Hautbeobachtung 199 Geburtsgewicht 277
– paralytica 420, 423 Fingerendarterie, Verengung 94 – Hirnblutung 408 – niedriges 278
– pertussis 422 Fingernagel – Lanugobehaarung 122 Gedächtnis 7, 238
– tetanica 419 f – gewölbter 118 f – Pulsmessung 139 Gedächtnisstörung 239 f
Fadenpapille 72 – kurzer 118 – Schmerzempfinden 392 – im Alter 246
Fähigkeit, kognitive 65 Fischgeruch 345 – Skelett-Demineralisation 437 f – Demenz 235
Fallneigung 23 Fissur 90 – Stuhlausscheidung 336 – Verwirrtheitszustand 233
Falschernährung 296 ff Flachrücken 435 – Temperaturmessung 177 Gedankenabreißen 237
Farbenblindheit 22 Flankenatmung 194 – Trinkschwäche 299 Gedankenausbreitung 243
Farbensehen 22 Fleck 80 – Wärmeregulation 176 Gedankeneingebung 243
Fastigium 172 Fleckfieber 94 – Wärmeverlust 176 Gedankenentzug 243
Faszikulation 404 Flexion 401 Funktionseinschränkung 91 Gedeihstörung 279, 302
Fäulnisgeruch 197 Flexionshaltung 438 Funktionspflege 30 Gefäßkrampf 298
Fazialisnerv 12 Flimmerepithel 71 Furunkel 122 Gefäßsklerose 94
Fazialisparese 423 Fluchtreflex 381, 384 Fußfehlstellung 409, 451, 453 Gefäßwiderstand 151
Federmanometer nach Fluktuation 84 Fußpflege 124 Gefühlsausbruch 242
Recklinghausen 145 Fluor genitalis 350 ff Fußrückenarterie 130 Gehen 65, 449
Fehlbildung, angeborene 423 – – Farbveränderung 355 Fußschweiß 346 Gehhilfe 437, 451
Fehlentwicklung, embryonale – – Geruch 355 Gehirnentzündung 211
103 – – beim Kind 356 f Gehirnerkrankung 192
Fehler, logischer 29 – – Konsistenz 355 G Gehörknöchelchen 10
Fehlernährung 284 – – korpuraler 355 Gallenerkrankung 366 Gehstörung beim Kind 449 ff
Ferment, fettspaltendes 288 – – Menopause 357 Gallengangmuskulatur 17 Gelbfärbung 74, 77
Fett, Energiegehalt 270 – – periovulatorischer 351 Gallenkolik 390 – neonatale 104
Fettart 270 – – tubarer 355 Gallensaft 288 Gelenk, Versteifung 432
Fettgewebe 69, 270 – – übelriechender 357 Gallensteinbildung 273 Gelenkerkrankung 450
– Blutversorgung 273 – – vaginaler 355 Gammazismus 460 Gelenkfehlstellung 409
Fettgewebetumor 92 – – vermehrter 354 Gang 65, 443 ff – spastische 436
Fettleber 273 – – vestibulärer 355 – im Alter 451 Gelenkinstabilität 451
Fettpolster 287 – – zervikaler 355 – apraktischer 448 Gelenkrezeptor 11
Fettstoffwechselstörung 297 Fluormangel 293 – ataktischer 446 ff Gelenksinn 8
Fettstuhl 332 Flüssigkeitsaufnahme 284 ff – breitbeiniger 446 – Störung 24
Fettverteilung 270 f – Störung 288, 301 – festinierender 448 Gelenkstellung 15, 230
Fettverteilungstyp 271 – übermäßige 292 – hinkender 446, 448 Geräuschempfindlichkeit 229
Fettzellen 270 – verminderte 293 – kleinschrittiger 450 Geräuschwahrnehmung 20
Fetus 406 Flüssigkeitsbedarf 299 f – paraparetischer 446 Geruch 6
Feuermal 73, 103 Flüssigkeitseinlagerung 274 – paretischer 448 Geruchsempfindlichkeit 23
Fibrom 92 f Flüssigkeitshaushalt 101 – schleppender 445, 448 Geruchsqualität 11
Fieber 9, 35 Flüssigkeitsmangel 286 – schlürfender 446 Geruchssinn 7 f, 11 f
– aseptisches 169 – Fieber 169 – spastischer 445 f Geschlechtsentwicklung 356
– Begleitsymptom 174 ff – Pflegediagnose 305 – taumeliger 451 Geschlechtshormon
– biphasisches 170 f Flüssigkeitsverlust 167, 178, 292 – watschelnder 448 – männliches 116, 118
– Definition 167 Foetor – zerebraler 448 – weibliches 118
– vom Dromedartyp 170 f – ex ore 96, 197 Gangataxie 404, 451 Geschmacksknospe 12, 71 f
– Hautrötung 75 – hepaticus 197 Gangkoordination 448 Geschmacksqualität 12, 72
– infektiöses 168 – uraemicus 197 Gangrän 92 ff Geschmackssinn 8, 12
– intermittierendes 169 f Fokussierung 34, 42 – diabetische 94 – Störung 24, 290
– beim Kind 177 f Follikelpersistenz 353 Gangstörung 445 ff Geschwür 89
– kontinuierliches 169 Follikelreifungsphase 352 Gangunfähigkeit 247, 448 Gesicht
– nachlassendes 169 Follikelsprung 166 Gänsehaut 21, 112 – blasses 244
– Pulsqualität 137 Folsäure 294 Ganzkörperplethysmograph 185 – gerötetes 34, 154, 244
– Pulsfrequenz 134, 136 Fontanellenwölbung 368 Gärungsdyspepsie 333 f Gesichtsausdruck 414, 417
– rekurrierendes 170 Formaldehydintoxikation 365 Gasaustausch 183 – Angst 423
– remittierendes 169 f Formatio reticularis 205, 381 Gastritis 364 f – Beschreibung 415 f
– Schweregrad 168 Fremdbeobachtung 36 Gastroenteritis 302 – Formen 418 ff

504
KaelDesu
Sachverzeichnis

– beim Kind 421 Handlungsfähigkeit 225 Hautanhangsgebilde 111 ff, 122


Gesichtsfeld 22 H Hang-over-Effekt 273 – beim älteren Menschen 124 f
Gesichtslähmung 420 Haar 111 ff Harnabflussbehinderung 313 Hautausschlag 75
Gesichtsmuskulatur 416 – Befund beim Kind 122 f Harnblase Hautbeobachtung 41, 72 ff
– starre 419 – brüchiges 123 – autonome 314 f – beim Kind 102 ff
Gesichtszug – Ergrauen 114, 117, 124 – Dehnungsrezeptor 310 Hautblässe 102, 174 f, 244
– schlaffer 420 – Körperverteilung 115, 118 – Fassungsvermögen 321 – pathologische 76
– Vergröberung 255 – trockenes 123 – Füllungsgrad 17, 310 – physiologische 73
Gespräch 48 – Wachstumsgeschwindigkeit 114 – neuropathische, ungehemmte Hautblüte 79
Gestik 414 ff Haarausfall 116 f, 123 314 f Hautblutung 92
– des älteren Menschen 424 Haarbalg 68 – überfüllte 25 Hautdrüse 116
– Veränderung 421 – Entzündung 122 Harnblasenentleerung 310 – beim Kind 123 f
Gewebeatmung 183 Haarbeschaffenheit 114 f, 117 f Harnblasenentleerungsstörung Hautdrüsenerkrankung 121 f
Gewebedefekt 92 Haarfarbe 114, 117 320 Hautdurchblutung 75
Gewebeschädigung 108, 381 Haarmuskel 112 Harnblasenentzündung 17, 313 Hautentzündung 79
– Fieber 169 Haarpapille 112, 114 Harnblasenfistel 315 Hauterkrankung
Gewichtsabnahme Haarwachstum, Störung 116 Harnblasenschließmuskel 310 – angeborene 103 f
– im Alter 280 Haarwachstumszone 112, 114 Harnblasenüberdehnung 313 – erworbene 104 f
– Anorexia nervosa 276 Haarwuchsrichtung 115 Harndrang 17, 310 Hautfalte 287
– Suchtkrankheit 280 Haarzellen 10 f – schmerzhafter 313 Hautfaltendicke 272 f
– Vitaminmangel 294 Haarzunge, schwarze 99 Harninkontinenz 313 ff Hautfarbe 65, 73
Gewichtskontrolle 267 Habituation 27 f – extraurethrale 315 – braune 68, 73, 76
Gewichtsreduktion 274 Hackenfuß 449, 451 – funktionelle 321 f – gelbe 74, 77
Gewichtszunahme 269, 275 Halbseitenlähmung – – Pflegediagnose 323 – – neonatale 104
– prämenstruelles Syndrom 354 – Agnosie 236 – iatrogene 322 – graue 76
Gibbus 434 f Halbseitenlähmung, – Intertrigo 105 – kirschrote 75
Gicht 298 Bewegungsstörung 25 – neurogene 314 – rote 73, 75, 175
Gichtanfall 298 f – Gangstörung 447 – Rückzug, sozialer 309 – Veränderung 75 ff
Gichttophus 298 – Gleichgewichtsstörung 23 Harnretention 313 Hautfleck, roter 73
Giemen 195 – Körperschemastörung 405 Harnröhre, Striktur 316 Hautfunktion 69 f
Gift, chemisches 298 – Orientierungsstörung 24 Harnröhrenerweiterung 316 Hautgefäß
Gigantismus 255 Halluzination 27, 229 f Harnröhrenverschlussdruck 315 – Dilatation 73
Gingiva 71 – Delirium 228 Harnsäure 295, 309 – Kontraktion 74
Gingivitis 97 – hypnagoge 215 Harnstoff 311 Hautkontakt 102
Glabellareflex 423 Halo-Effekt 29 Harnstottern 316 Hautnervengeflecht 103
Glasgow-Koma-Skala 226 f Halslordose 437 – beim Kind 321 Hautoberfläche 74
– Kindesalter 245 f Halsschlagader 130 Harnstrahl – Veränderung 79
Glatze 117, 124 Haltung 15 f – abgeschwächter 316 Hautpigmentierung 73
Gleichgewichtsnerv 10 f – äußere 428 – gedrehter 316 Hautschädigung 109 f
Gleichgewichtsorgan 11, 23 – innere 428 Harntraktschleimhaut 71 Hautschicht 68 f
Gleichgewichtssinn 8, 11 – steife 430 Harnträufeln 316 Hautsinn 12 ff, 102
– Störung 23 Haltungsschaden 432 ff Harnverhalt 313 – Störung 24
Gliederschmerz 175 – beim Kind 438 Harnwegsinfekt 319 Hautstoffwechsel 101
Glomerulopathie 152 – seniler 439 – beim älteren Menschen 322 Hauttemperatur 74
Glossitis 296 Haltungsstörung 433 – Dranginkontinenz 314 – Erhöhung 74, 78 f, 102
Glossodynie 98 – angeborene 438 – Enuresis 321 – Erniedrigung 74, 79
Glukoneogenese 291 – funktionelle 433 – beim Kind 320 Hauttemperatursonde 177
Glukose 311 – strukturelle 433 Harnwegsstein 366 Hauttumor 92 f
Glutealmuskel 446 Hämangiom 103 f Hauptschlagader 130 Hautturgor 74, 77 f
Glykogen 287 Hämatemesis 364 f Haut 8, 67 ff Hauttyp 69
Golgi-Sehnenorgan 15 Hämatom 92 – beim alten Menschen 106 f Head-Zone 390
Gonorrhö 355 Hämaturie 318 f – Atrophie 106 Heiserkeit 459
Greifreflex 227 Hämoccult-Test 334 – Barrierefunktion 103 Heißhunger 286, 290
Greisenbogen 424 Hämoglobin 139 – Blaufärbung 74, 76 f Hemianopsie 22
Greisengesicht 423 – vermindertes 76 – elastische 284 Hemihyperhidrosis 345 f
Grinsen, sardonisches 420 Hämoglobinurie 318 – Entzündung 91 – cruciata 346
Größenwahn 238 Hämolyse 318 – fette 69 Hemiparese 403
Großzehengelenk, Hämoptoe 374 – greisenhafte 77 Hemiplegie s. Halbseiten-
schmerzhaftes 298 Hämoptyse 374 – marmorierte 74, 77 lähmung
Grundstimmung 241 Hämorrhoidalzone 72 – pH-Wert 69 Hepatitis 134
– traurige 241 Hämorrhoiden 100 f – Reaktion, allergische 91 f Herpes
Grundumsatz 270 – Schweregrad 101 – Säureschutzmantel 342 – labialis 96
– erniedrigter 276 – thrombosierte 101 – Schutzwirkung 69 – solaris 96
Gynatresie 353 Handeln, pflegerisches 42 f – Spannungszustand 74, 77 f – zoster 386
Handinnenfläche, Schweiß- – trockene 69, 106, 124, 287 Herzerkrankung 136
sekretion 346 – weiße 76 Herzfehler 199, 347

505
KaelDesu
Sachverzeichnis

Herzfrequenz 129 Hören 65 Hypertonie 45, 151 ff Illusion 230


– Anstieg 140 – aufmerksames 37 – Adipositas 272 f Illustrator 416
– verlangsamte 210 Hörgerät 22 – Hautrötung 75 Immobilität 277
Herzinsuffizienz Hormon, somatotropes 253 – pulmonale 216 – Obstipation 330
– Dyspnoe 189 Hörnerv 10 – Pulsqualität 137 – Wahrnehmungsstörung 27
– Himbeerzunge 98 Hornzellen 68 – Schlafapnoerisiko 216 Immobilitätssyndrom 61
– Hypotonie 153 Hörorgan 10 Hypertrichose 117 Impetigo contagiosa 105
– Körperhaltung 435 Hörsinn 8, 10 Hyperurikämie 298 f Impulshandlung 244
– Nykturie 312 Hörsinneszellen 22 Hyperventilation 191 Inappetenz 290
– Ödembildung 78 Hörstörung 22 f, 459 f Hypervitaminose 297 Indifferenztemperatur 14, 16
– Puls, weicher 137 Hörstummheit 235 Hypogeusie 24 Infektanfälligkeit 106, 276, 296
– Schlafapnoerisiko 216 Hörsturz 22 f Hypoglykämie 345 Infektionskrankheit 296
Herzklopfen 16 f Hörvermögen 463 Hypohidrosis 344 – Bradykardie 134
Herz-Kreislauf-System 16 f Hörwahrnehmung 6 Hypokaliämie – Kachexie 291
Herzleistung 156 Hörzentrum 22 – Arrhythmie 136 Information, pflegerelevante 47
Herzminutenvolumen Hüftabspreizmuskulatur 446 – Obstipation 330 Informationsaustausch 38
– erhöhtes 151 Hüftgelenksdysplasie 405, 447 Hypokapnie 191 Informationssammlung 51
– Verminderung 153 Hüftgelenksluxation 437 Hypokinese 403 Informationsweitergabe 51 ff, 61
Herzmuskelerschlaffung 145 Hüftkopf, Durchblutungsstörung Hypomenorrhö 352 f – Aspekt
Herzmuskelkontraktion 145 449 Hypometrie 404 – – juristischer 55
Herzrhythmusstörung 133, Hüftspreizung 449 Hypomnesie 240 – – qualitativer 54
135 ff Human Growth Hormon 253 Hypophysenadenom 255 – – quantitativer 54
– Schlafapnoerisiko 216 Hungergefühl 17, 284 f Hypopigmentierung 76 Infrarot-Ohrthermometer 163 f,
Herzschmerz, Ausstrahlung 385, Hungerkot 332 Hypopnoe 215 f 177
390 Hungerödem 296 Hyposmie 23 Inkontinenz s. Harninkontinenz,
Herzspitzenstoß 17 Hungerzustand 274 Hyposomnie 212 s. Stuhlinkontinenz
Herzstillstand 137 Husten 195 ff Hyposthenurie 319 Inkubator 278
Herztätigkeit 16 f Hustenreflex 17 Hypothalamus 6, 381 Innenohr 10, 23
Hexenschuss 386 Hyalin-Membrankrankheit 199 – thermoregulatorisches Innenohrdurchblutung 22
Himbeerzunge 98 Hydrolipidmantel 69 Zentrum 160 Innenrotation 401
Hinken 446, 450 Hydrops tubae profluens 355 Hypothalamus-Tumor 273 Insomnie 212 f
Hinterhorn 381 f Hydrozephalus Hypothermie 173 f Inspiration 184, 187 f
Hirnblutung 226 – Gang 448 – akzidentelle 174 Inspirationskapazität 186
– Erbrechen 370 – Makrosomie 255 – kontrollierte 174 Insuffizienzhinken 446
– Frühgeborene 407 Hygiene 65 – zentrale 174 Insulin 70
Hirndruck, erhöhter 137 Hypalgesie 24, 228, 383 Hypothyreose 173 Insulinproduktion, erhöhte 273
– – Hypertonie 152 Hypästhesie 229, 383 – Adipositas 273 Insult, apoplektischer s. Apoplex
– – Vagusreizung 134 Hyperalgesie 24, 383 – Bradykardie 134 Interaktion, soziale 424
Hirnhemisphäre 232 Hyperämie 73 f – Haar, trockenes 123 Interesse 26
Hirnrinde, sensorische 12 f Hyperästhesie 228, 383 – Jodmangel 296 Intertrigo 91, 104 ff, 273
Hirnschädigung 231 Hyperbilirubinämie, neonatale – Obstipation 330 Intoxikation 298
– Anosognosie 236 104 Hypotonie 153 f – Erbrechen 369
– Aphasie 463 Hyperglykämie 273 – Kachexie 276 – Halluzination 229
– Demenz 234 Hyperhidrosis 341, 346 – orthostatische 153 f Introspektion 36
– frühkindliche 461 Hyperkalzämiesyndrom 292 – Pulsqualität 137 Invagination 337, 369
– hypoxische 407 Hyperkapnie 192 Hypotrichose 117 Ischialgie 435
Hirnstammsymptomatik 461 Hyperkinese 404 Hypoventilation 192 Isolation 303
Hirntumor 314 Hyperlipidämie 297 – alveoläre 273 Isosthenurie 319
Hirsutismus 118 Hypermenorrhö 352 f Hypovitaminose 294 ff
Hitzeerschöpfung 167 Hypermetrie 404 Hypoxämie 192
Hitzekollaps 167 Hypermnesie 239 Hypoxie J
Hitzemuskelkrämpfe 167 Hyperopie 22 – Arrhythmie 136 Jactatio capitis nocturna 218
Hitzeschlag 167 f, 344 Hyperorexie 289 – intrauterine 199 Jargon-Aphasie 461
Hitzestau 341 Hyperpigmentierung 73, 76 – Schnappatmung 193 f Jet-Lag 213
Hitzesynkope 167 Hyperpyrexie 168 Jod
Hitzewallung 356 Hypersomnie 211 – Mangel 293
Hochwuchs 255 Hypersthenurie 319 I – Tagesbedarf 295
Hodenerkrankung 118 Hyperthermie 167, 179 Ich-Erlebensstörung 243 f Jo-Jo-Effekt 274
Hofeffekt 29 Hyperthyreose Idealgewicht 268 Juckreiz 106, 123
Höhenaufenthalt 135 – Appetitsteigerung 289 Idee, überwertige 239 – Erfrierung 174
Hohlkreuz 434 – Arrhythmie 136 Ideenflucht 238 – Erkrankung, parasitäre 94
Hohlnagel 118 – Hauttemperatur 78 Ikterus 77
Hohlrundrücken 434 – Hypertrichose 117 Ileitis 329
Homöostase 16 – Hyperventilation 191 Ileus
Homunkulus, sensorischer 12 f – Makrosomie 255 – Erbrechen 364, 366, 369
– Tachykardie 135 – mechanischer 331

506
KaelDesu
Sachverzeichnis

– Pulsmessung 136 ff Kontaktekzem 75 Körperwuchs,


K – Schlafbedarf 209 Kontraktur 409 f, 432, 435 f dysproportionierter 438
Kachexie 275 f, 291 – Schlafrhythmus 217 f Kontrakturgefahr 440 Körperzusammensetzung 272
– Hypothermie 173 – Schmerzempfinden 392 ff Kontrastfehler 29 f Korpuskarzinom 357
– senile 291 – Skelettentwicklung 437 f Konvektion 176 Korsakow-Syndrom 240
– Ursache 280 – Sprachentwicklung 463 ff Konzentrationsstörung 241 f Kortikosteroide
Kadmiumvergiftung 298 – Stuhlausscheidung 335 ff Koordination 400 ff – Insomnie 212
Kaffeegenuss 135 Kinderlähmung 409 – Störung 404 f, 407 f – Striae 76
Kälteeinwirkung 74 Kindersterblichkeit 296 Kopfhaar 114, 116 f – Vollmondgesicht 420
Kälteintoleranz 279 Kinderuntersuchungsheft 259, – beim Kind 122 Koterbrechen 364
Kälterezeptor 14 277 Kopfhaut, Juckreiz 123 Kraft 403
Kälteschaden 174 Kinetose 23 Kopfschmerz 75, 385 Kraftsinn 16
Kältesinn 14 Kippfigur 21 – morgendlicher 216 Krallennagel 119, 124
Kältezittern 172 f Kleiden 39 Korium 68 f Krampf 404
Kalzium 191 Kleidung 28 Korotkoff-Ton 146 Krampfader 94
Kalziumantagonisten 322 Kleinheitswahn 238 Körperbau 28 Krankenpflegegesetz 55
Kalzium-Ausscheidung 297 Kleinhirntumor 408 Körperbehaarung Krankheitsgewinn
Kalziumhaushalt 254 Kleinwuchs 255 – verminderte 117 – primärer 384
Kalziumphosphat 318 Kleptomanie 244 – verstärkte 117 – sekundärer 384
Kandidose 96 Kletterfuß 451 Körperbildstörung 126, 261, 405 Krätzmilbe 94 f
Kapillarwandschaden 78 Klimakterium 350 – bei Immobilität 27 Kreatinin 311
Kappazismus 460 – Blutung 352 Körpereigenwahrnehmung 8, 15 Kreatorrhö 332
Karbunkel 122 – Hypomenorrhö 352 Körpergeruch 11, 113, 342 Kreislaufschock 102, 345
Kardiainsuffizienz 364 Klumpfuß 449, 451 Körpergewicht 266 ff Kreislaufstörung 25, 77
Karies 286, 296 Kniearterie 130 – Beobachtungskriterium 277 Kreislaufzentralisation 139
Karotin 74, 294 Knisterrasseln 195 – Einflussfaktor 269 Kreislaufzentrum 16
Karottengenuss 74 Knochenabbau 260 – Ermittlung 267 f Kreuzschmerz 387
Karzinom 24, 291 Knochenaufbau 260 – – beim Kind 277 ff Krisis 172
Käseschmiere 102 f Knochenbildung 253 – normales 268 ff Krupp 196
Katagenphase 114 Knochennekrose, aseptische 449 – Veränderung 270 ff, 279 f Kruste 85
Katalepsie 215 Knochenschmerz 296 Körpergewicht/Körpergröße- Kuhmilchprotein-Allergie 336
Kaumuskulatur, Krampf 420 Knollennase 121 Abhängigkeit 287 Kupfer 295
Kehlkopfentzündung 459 Knoten 81 Körpergröße 251 ff Kurvendokumentation 131
Kehlkopfkarzinom 459 Kobalt 295 – Abweichung 254 ff, 259 f Kurzsichtigkeit 22
Keloid 86, 92 Kochsalzzufuhr, hohe 152, 292 – Ermittlung 252 Kurzzeitgedächtnis 239
Keratin 68 Kognition 40 – – beim Kind 258 f Kußmaul-Atmung 192 f
Kerntemperatur 159 Kohlendioxid 182 – bei Geburt 258 Kutis 69
– Messung 164 – Abatmen 191 Körperhaltung 428 ff Kwashiorkor 296
– Normalwert 166 Kohlendioxidgehalt 183, 216 – im Alter 438 f Kyphose 434, 437
Ketonkörper 345 Kohlendioxidnarkose 273 – des Kindes 436 ff Kyphoskoliose 434
Keuchen 195 Kohlenhydrate 270, 287 – im Liegen 432
Keuchhusten 197 Kohlenmonoxyd-Vergiftung 75 – schlaffe 430
Keuchhustengesicht 423 Kokain 228 – im Sitzen 432 L
Kieferklemme 420 Kolitis, ischämische 329 – Stabilität 430 Labilität, emotionale 247
Kieferschmerz, morgendlicher 214 Kollaps 137 – im Stehen 432 Labyrinthausfall 23
Kilojoule 270 – orthostatischer 154 – straffe 430 Lackzunge 98
Kilokalorie 270 Kolon, irritables 328 Körperoberfläche 103, 268 Lactasemangel 302
Kinästhetik 15 f Kolpitis 355 Körperorgan, Untersuchung 39 Lageempfindung 11
Kind – senilis 357 Körperschema 402, 406 Lähmung 402 ff
– adipöses 279 Koma 225 f Körperschemastörung 27, 126, – Gangstörung 448
– Atemfrequenz 187 – diabetisches 197 260, 405 – Gleichgewichtsstörung 23
– Atmung 198 f – – Bewusstlosigkeit 244 Körpersprache 414, 428 ff – beim Kind 409
– Bewegungsentwicklung 406 f – – Kußmaul-Atmung 193 Körperstabilität 435 – periphere 403
– Bewegungsstörung 407 f – urämisches 244 Körpertemperatur 159 ff – schlaffe 403, 409
– Entwicklungsverlauf 257 Kommunikation 39, 400 – beim älteren Menschen 178 f – spastische 403 f
– Erbrechen 368 ff – Beurteilung 65 – erhöhte 167 ff – zentrale 403 f
– Ernährungszustand 299 ff – effiziente 57 – beim Kind 176 ff Lähmungsgrad 402
– Flüssigkeitsbedarf 299 f – nonverbale 38, 414 – Regulation 39, 160, 343 Lähmungshinken 451
– Gehen 449 f – verbale 453, 466 – Schwankung, tagesrhythmi- Lakritze 152
– Glasgow-Koma-Skala 245 f Kommunikationsunfähigkeit 247 sche 166 Laktat 291
– Hauterkrankung 103 ff Kondition 65 – subfebrile 168 Laktatazidose 369
– Herz-Kreislauf-Situation Konduktion 176 – Umrechnungsformel 160 Lallstadium 464
154 ff Konfabulation 240 – verminderte 173 f Lalopathie 459
– Körpergewicht 277 ff Konflikt, seelischer 285 – Zirkadianrhythmus 205 Lambdazismus 460
– Körpertemperatur 176 f Konsumptionskrankheit 291, Körperwahrnehmung 6 Lamblia intestinalis 302
– Malabsorption 301 293 – Störung 230 f

507
KaelDesu
Sachverzeichnis

Lamina – Zyanose 76 Mekonium 199, 335 Mimik 414 ff, 463


– muscularis mucosae 70 Lungengangrän 375 Melaena 333 – Abweichung 418 ff
– propria 70 Lungeninfarkt 375 Melanin 68, 210 – beim älteren Menschen 423 f
Landkartenzunge 100 Lungenödem 78 Melaninmangel 76 – fehlende 421
Längenwachstum 254 – Dyspnoe 189 Melaninproduktion beim Säug- – beim Kind 421 f
– Stillstand 256 – Husten 196 ling 103 – starre 423
Langzeitgedächtnis 239 – Sputum, schaumiges 374 Melanom 93 Minderwuchs 438
Lanugobehaarung 122 – Trachealrasseln 195 Melanozyten 68 Mini-mental-State 234 f
Lärmbelästigung 22 Lungentuberkulose 374 Menarche 353 Minutenvolumenhochdruck 151
Laryngektomie 459 – Fieber 169 – Ausbleiben 356 Mischhaut 69
Laryngitis 459 Lungenvolumen 185 ff – prämature 356 Miserere 364
Laryngospasmus 194 Lunula 112 f Meniere-Krankheit 365 Missempfindung 24
Laufenlernen 408 Luxation 450 Meningitis Mitesser 121
Läusebefall 123 Lymphabfluss 78 – Biot-Atmung 193 Mittelblutung 353
Lautbildung 458 Lymphogranulomatose 170 f – Erbrechen 363 Mitteldruck 150
Lauterwerbsstörung 465 Lysis 172 – Zwangshaltung 435 – erniedrigter 152
Lautstärke 457, 458 Meningomyelozele 320, 408 Mittelohr 10
Laxanzienmissbrauch 290, 330 f Meningozele 408 Mittelohrentzündung 22
Lebensaktivität 39 f M Menopause 353 Mittelschmerz 353 f
Lebensbogen 439 Macula 79 f – Blutung, vaginale 357 Mobilität 65
Lebenserfahrung 26 Magen-Darm-Atonie 365 – Stimmlage 458 – beeinträchtigte 412, 452
Lebensmittelvergiftung 298, 363 Magen-Darm-Trakt s. Gastro- Menorrhagie 352 f Modulationsinstrument 457
Leberfleck 92 f intestinaltrakt Menstruatio tarda 356 Molybdän 295
Lebergeruch 197 Mageneingangsstenose 367 Menstruation 350 ff Mongolenfleck 104
Leberkoma 244 Magenentleerungsstörung 364 – Ausbleiben 276, 353 f Monitor 38
Leberzirrhose 119 Magengeschwür 364 – Begleitsymptom 354 Monoparese 403
Lederhaut 68 f Magenresektion 293, 365 – schmerzhafte 353 Monosaccharidmalabsorption
Legionärskrankheit 375 Magenschmerz 384 – verfrühte 356 302
Leistenarterie 130 Magersucht s. Anorexia nervosa Menstruationsblutung, erste Monotonie 27
Leistungsminderung 291 Magnesiumphosphat 318 356 Morbus (s. auch Eigenname) 60
– im Alter 200 Mahlzeit 286 Menstruationskalender 351 Morgenmensch 209
– Hypotonie 154 Makroglossie 99 Menstruationsstörung 351 ff, Motivation 26
Lendenlordose 431, 437 Makrohämaturie 319 356 Motorik 16, 463
Lesebrille 22 Makrosomie 254 f, 259 Merkel-Zellen 13 – verlangsamte 243
Lethargie 211 Malabsorption 293 f, 332 Merkfähigkeit 224, 239 Müdigkeit 154
Leukämie 344 – beim Kind 301 Messinstrument, Validität 50 – postprandiale 211
Leukonychia totalis 119 Malaria 170 Messlatte 252 Mukoviszidose 302, 376
Lichtexposition 219 Malassimilation 293 f Messmulde 257 f Müller-Lyer-Täuschung 9
Lidödem 74 Maldigestion 293, 301 Messung Multimorbidität 303
Liegen 432 Mangan 295 – Reliabilität 49 f Multiple Sklerose
Limbisches System 381 Mangelernährung 284, 304 – Validität 50 – – Ataxie 404
Lingua Mangelerscheinung 293 ff, 299 f – wiederholte 50 – – Bewegungsstörung 25
– geographica 100 Manie 212, 228 Meteorismus 293 – – Gang, spastischer 446
– pilosa nigra 99 – Ideenflucht 238 – beim Kind 336 Multiple Sklerose
Linksherzinsuffizienz 78 Manisch-euphorisches Syndrom – Obstipation 329 – – Harnverhalt 313
– Adipositas 272 242 Metrorrhagie 353 – – Sprache 461
– Auswurf 376 Marasmus 296 Migräne 387, 391 – – Tremor 404
– Pulsdefizit 135 Maschinengeräusch 140 – Erbrechen 365, 369 Mumifikation 174
Links-rechts-Shunt 140 Masern 170 Mikrohämaturie 319 Mund, Ausdrucksbewegung 418
Lipom 81, 92 Maskengesicht 421 Mikrosomie 255 f, 259 Mundgeruch 96, 197
Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte Maskierung 417 Miktion 309 f Mundmuskulatur 463
459 Maßband 259 – Medikamenteneinfluss 322 Mundschleimhaut 71, 74
Lispeln 460 Maximalthermometer 162 – schmerzhafte 313 – Altersveränderung 106 f
Löffelnagel 118 – Desinfektion 164 – stakkatoartige 316 – Defekt 291
Logoklonie 247, 461 Mechanorezeptor 8, 13 ff, 17 Miktionsreflex 310, 314 – trockene 97
Lordose 256, 434 Medikamentennebenwirkung Miktionsstörung 312 ff – Veränderung 95 ff
Luftnot 17 – Durchfall 328 – beim Kind 320 f Mundschleimhautentzündung
Lumbalgie 435 – Erbrechen 370 – neurologische 314 96
Lunge 17, 200 – Insomnie 212 Miktionsübung 219 Mundsoor 96
Lungenabszess 197, 375 – Massenstuhl 332 Miktionszentrum Mundwinkel, herabhängender
Lungenblutung 199 – Obstipation 330 – sakrales 310, 314 420
Lungenembolie 94, 190 – Wahrnehmungsveränderung – zentrales 310 Mundwinkelrhagade 296
Lungenerkrankung 19 Milbengang 95 Musculus
– obstruktive 189 – Xerostomie 97 Milchschorf 104 f – arrector pili 112
– restriktive 189 Meinung 30 Miliara 121 – detrusor vesicae 314
– Uhrglasnagel 118 Meissner-Körperchen 13 Milie 103 – sphincter

508
KaelDesu
Sachverzeichnis

– – ani 71, 75 – Wachstumsgeschwindigkeit – Atemnotsyndrom 199


– – urethrae 314 115 – Atemtätigkeit 198 O
– – vesicae 314 – Weißfärbung 119 – Ausfluss, vaginaler 356 O-Bein 437
Muskelatrophie 287 Nagelablösung 120 – Blutdrucknormalwert 155 Obelixtyp 216
– Mangelernährung 296 Nagelbett 113 – Entwicklung, statomotorische Oberarmarterie 130
– spinale, progressive 408 Nagelbetterkrankung 120 406 Oberbauchschmerz 365
Muskelaufbau 287 Nagelgeschwür 120 – Erbrechen 369 Oberflächenschmerz 384, 390
Muskeldehnung 15 Nägelkauen 123 – Gewichtsabnahme 279 Oberflächensensibilität 12
Muskeldystrophie, vererbte 408 Nagelmatrix 113 – Gewichtsentwicklung 277 Oberhaut 68
Muskelkontraktion, unwillkürli- Nagelmykose 119 – Glabellareflex 423 Objektagnosie 236
che 404 Nagelwachstum 118 – Haarbefund 122 Obstipation 286, 329 ff
Muskelkontraktur 436 Nagelwallentzündung 120 – Hautbeobachtung 102 f – beim älteren Menschen 337
Muskelkrankheit 420 Nagelwurzel 112 f – Hautkontakt 102 – Hämorrhoidenbildung 100
Muskelmasse, Abnahme 279, 409 Nährstoffaufnahme 287 f – Infektionsrisiko 103 – spastische 334
Muskelrezeptor 11 – Störung 293 – Körpergewicht 278 – subjektive 327, 331, 338
Muskelschwäche Nährstoffverwertung 287 f, 293 f – Körpergröße 257 f – Vitamin-D-Hypervitaminose
– Flexionshaltung 438 Nahrung 283 f – Nasenflügelatmung 199 297
– Watschelgang 446 – Energiegehalt 270 – Reflexprüfung 245 Obstruktion, intestinale 362
Muskelsinn 8 Nahrungsaufnahme 284 ff – Reifezeichen 122 Ödem 74, 78
– Störung 24 – des älteren Mensch 302 – Schlafbedürfnis 217 – Eiweißmangel 276
Muskelspindel 15 – geringe 303 – Schmerzempfinden 393 – Gewichtszunahme 267, 275
Muskeltonus 15, 230 – Störung 288 ff – Schreitphänomen 449 – Mimikveränderung 422
– herabgesetzter 210, 403, 408 – – beim Kind 301 – Sputum 376 Ödemausschwemmung 267
– bei Schmerzen 392 – – quantitative 299 – Stuhl, acholischer 337 Offenheit 430
– spastisch erhöhter 403 Nahrungsmittelallergie 328 – Stuhlausscheidung 335 Ohnmacht 244
Muskelverspannung 387 Nahrungszusammensetzung – Temperaturmessung 177 Ohr 8 f
Muskelzittern 69, 172, 408 286 – Urinausscheidung 320 – Wahrnehmungsschwelle 20
Muskelzuckung 214, 404 Nahsinn 8 – Wärmestau 347 Ohrensausen 153
Muskulatur 271 f Nahtinsuffizienz 273 Neugeborenenbronchitis 199 Ohrspeichedrüse 71
Mutation 457 Nanosomie 256, 259 Neuralgie 386 Ohrthermometer 163 f
Mutter-Kind-Beziehung 421 Narbe 86, 92 Neurodermitis 104 Okulomotorik 246
Mutterkornalkaloide 298 Narbenkontraktur 436 Neuron, motorisches 403 Okzipitallappen 236
Muttermal 73 Narkolepsie 215 Neuropathie 337, 446 Oligomenorrhö 352 f
Muttermilch 279, 335 Narkose, Hang-over-Effekt 273 Neuropeptide 14, 381 Oligurie 317
Myelin 381, 393 Nase 8, 418 Niacin 294 Ölnagel 123
Mykose 273 Nasenflügelatmung 194, 199 Nichtigkeitswahn 238 Onycholyse 120
Myokardinfarkt 134, 136 Nasenschleimhautpolyp 459 Niere 17, 310 Onychorrhexis 119
Myokarditis 136 Nasolabialfalte 419 Nierenarterienstenose 152 Opisthotonus 435
Myoklonie 206 Nausea s. Übelkeit Niereninsuffizienz 77 Organschmerz 385
– nächtliche 214 f Nävuszellen 73 – Isosthenurie 319 Organsinn 8
Myoklonusindex 214 Nebennierenrindenerkrankung 76 – Nykturie 312 – Störung 25
Myom 352 f, 356 Neigungswaage 278 – Ödembildung 78 Orientierung 224 f, 232
Myopie 22 Nekrose 87, 93 – Uringeruch 197 Orientierungsstörung 24, 232 ff
Myxödem 99 – trockene 174 Nierensteinbildung 17 – Pflegediagnose 247
Myzetismus 298 Neologismus 461 Nikotin 196, 274 – räumliche 230
Nephrokalzinose 297 – Extrasystole 137 Orthopnoe 189
Nervenfaser 381 – Insomnie 213 – beim Kind 198
N Nervensystem, parasympathi- – Kälteschaden 174 Orthostasesyndrom 153
Nachtangst 213 sches 210 Nitrofarbstoff 77 Osmorezeptor 285
Nachtschweiß 344 Nervosität 27 Nitroglyzerin 134 – Sensibilität, verminderte 290
Nacken, überstreckter 435 Nervus Nomogramm 268 f Ösophagitis 290
Naevus 103 f – facialis 12 Non-rapid-Eye-Movement- Ösophagusatresie 369
– flammeus 103 – glossopharyngeus 12 Schlaf 207 Ösophagusdivertikel 364 f
Nävuszellnävus 92 f, 104 – olfactorius 11 Normgewicht, subjektives 269 Ösophagusstenose 365, 369
Nagel 111 ff – peronaeus 446 Norton-Skala 38 Ösophagusvarize 365, 369
– Beschaffenheit 115 f – phrenicus 194 Nozizeptor 8, 14, 381 Ösophagusvarizenblutung 197
– Braunfärbung 119 – pudendus 72 – Reizung, permanente 388 Osteomalazie 435
– brüchiger 119, 123 – recurrens 459 – Sensibilität, gesteigerte 24 Osteomyelitis 450
– eingewachsener 120 – sympathicus 16 Nozizeptorschmerz 384 Osteoporose 260, 438
– Farbe 115 – vagus 12 NREM-Schlaf 207 Östrogenmangel
– gelber 119 – – Reizung 134 Nüchternerbrechen 365 – Haarausfall 117, 124
– Längsrille 120 – vestibulo-cochlearis 10 f Nucleus suprachiasmaticus 205 – Kolpitis 355
– Querrille 120 Nesselsucht 80 Null-Diät 270 – Osteoporose 260
– Tüpfelung 119 f Netzhaut 9 f Nykturie 312 f Östrogenspiegel
– Veränderung, altersbedingte Neugeborene Nystagmus 23 – Abfall 352
124 – Atemfrequenz 187 – hoher 74

509
KaelDesu
Sachverzeichnis

Oszillometrie 156 – Atemvorgang, ungenügender Pilzpapille 72 Puls 129 ff


Ovarialinsuffizienz 352 200 Pilzvergiftung 298 – fadenförmiger 137
Ovulation 166 – Atemweg, Selbstreinigungs- Plantarflexion 401 – harter 137
Ovulationsblutung 352 f funktion, ungenügende 376 Plattenepithel – Palpationsstelle 130
Ovulationshemmer – Dehydratationsgefahr 348 – unverhorntes 71 – peripherer 130
– Gewichtszunahme 274 – Depression, reaktive 426 – – mehrschichtiges 71 – springender 139 f
– Hypertonie 152 – Diarrhö 339 – verhorntes 71 – weicher 137
– Hypomenorrhö 352 – Durchblutungsstörung 157 f – – mehrschichtiges 68 – zentraler 130
– Pigmentflecken 73 – Einschlafstörung 221 Plegie 402 f Pulsdefizit 134 f
Ovulationsschmerz 354 – Flüssigkeitsmangel 305 Pleuraerguss 189 Pulsfrequenz 129, 132 ff
– Harninkontinenz, funktionelle Pleuritis 435 – beim älteren Menschen 140
323 Plexus cervicalis 433 – erhöhte 175
P – Hautschädigung 109 f Pneumonie 194, 374 f – Normalwert beim Kind 139
Panaritium 120 – Herzleistung, verminderte pO2-Gehalt 192 Pulskurve 131
Pankreasinsuffizienz 332 f 156 Poliomyelitis 409 Pulslosigkeit 135
Pantothensäure 294 – Hyperthermie 179 Poliosis 117 Pulsmessung 130 ff
Papilla filiformis, Hypertrophie – Immobilitätssyndrom 61 Pollakisurie 312, 320 – Dokumentation 131 f
99 – Interaktion, soziale, beein- Pollenallergie 123 – beim Kind 138 f
Papillare 68 trächtigte 424 Poltern 461 Pulsoxymeter 139
Papula 81 – Klassifikationssystem 40 Polyarthritis 409 Pulsqualität 129, 133
Paragrammatismus 462 – Kommunikation, verbale, Polydipsie 292 f – Veränderung 137
Paralyse 402 f beeinträchtigte 468 Polyglobulie 75 Pulsrhythmus 129, 133
Paramnesie 240 – Kontrakturgefahr 440 Polymenorrhö 352 f – Veränderung 136 f
Paraparese 403 – Körperbildstörung 126, 261 Polyurie 316 Pulsuhr 130 f
Paraphasie 461 – Mobilität, beeinträchtigte 412, Postmenarche 356 Pulswelle 17, 129
– phonematische 461 452 Prämenstruelles Syndrom 354 – arrhythmische 136
– semantische 462 – Obstipation, subjektive 338 Präfix 58 f Pupille, lichtstarre 137
Parasiten 94 – Orientierungsstörung 248 Präsuizidales Syndrom 60 Pupillenerweiterung 417
Parasomnie 206, 211, 213 f – Saug-/Schluckstörung des Presbyopie 22 Pupillenverengung 417
Parästhesie 230 Säuglings 307 Primärquelle 48 Purinstoffe 298
– Ergotismus 298 – Schlaf-wach-Rhythmus- Proktitis 332 Pustel 83
– Tetanie 191 Umkehr 220 Prolaktin 210 Pyelonephritis 169
Parasympathikus 210 – Schmerz 396 Pronation 401 Pyknolepsie 246
Parathymie 242 – Schmerzmanagement, man- Propriozeptor 8, 14, 229 Pylorusstenose 364 f, 366
Parese 402 f gelndes 396 – veränderter 25 Pyometra 355
Pariteallappen 236 – Selbstversorgungsdefizit 410 Prosopagnosie 236 Pyramidenbahn 403
Parkinson-Krankheit 60, 403 – Spontanatmung, ungenü- Prostaglandin 14 Pyridoxin 294
– Gangstörung 449 gende 202 Prostaglandin E 168 Pyrogen 168 f
– Körperhaltung 433 – Überernährung 280 Prostatavergrößerung 313, 315 Pyromanie 244
– Salbengesicht 420 – Urinausscheidung, beein- Protein-Energie-Mangel- Pyurie 319
– Tremor 404 trächtigte 322 syndrom 296
Paronychie 120 – Vorteil 56 Proteinurie 296
Parosmie 23 – Wachstum, verändertes 441 Provitamin A 74 Q
Patientenüberwachung 9, 11 – Wärmeregulation, unwirk- Provitamin D 70, 254 Quaddel 80
Pavor nocturnus 213 same 180, 349 Pseudokrupp 196 Qualitätssicherung 55
pCO2-Gehalt 191 f Pflegefachsprache 56 f, 61 – Dyspnoe 198 Quecksilbersäule nach Riva-
Peritonitis Pflegeforschung 57 – Stridor 195 Rocci 145
– Facies hippocratica 420 Pflegekraft, Selbstbeobachtung Pseudologica phantastica 239 Quecksilberthermometer 162
– Erbrechen 366 36 f Pseudomnesie 240 Querschnittslähmung
Perseveration 237, 462 Pflegequalität 54, 56 Pseudoobstipation 331 – Analgesie 383
Personenbeurteilung 29 Pflegetheorie 39 f Psoriasis vulgaris 86, 91 – angeborene 409
Personenwahrnehmung 32 Pflegeversicherungsgesetz 55 – – Nagelveränderung 119 – hohe 403
Persönlichkeitsstörung 240 Pflegewissenschaft 57 Psychoorganisches Syndrom Quetelet-Index s. Body-Mass-
Persönlichkeitsveränderung 233 Pfötchenstellung 191 246 Index
Perspiratio sensibilis 343 Phantomschmerz 386 f Psychopharmaka 274
Perthes-Syndrom 449 Phäochromozytom 152 Psychose
Pertussis 374 Phlebothrombose 94
Phosphaturie 318
– Bewusstseinsstörung 227
– Gedächtnisstörung 239 f
R
Perzentilenkurve 257 Rachitis 254, 294
Perzeption 40 – pH-Wert 183 – Halluzination 229
– Kyphose 434
Petechien 75, 92 – Urin 309 f – Polydipsie 292
Radiation 176
Pflasterallergie 53 Phyllochinon 294 Psychosyndrom, organisches
Rapid-Eye-Movement-Schlaf s.
Pflegebedürftigkeit 43 Pickwick-Syndrom 273 237, 242
REM-Schlaf
Pflegediagnose Pigmentflecken 73 Pubertas
Rasselgeräusch 195
– Abhängigkeits-/Unabhängig- Pigmentmangel 76 – praecox 356
Raucedo 459
keitskonflikt 264 Pigment-Nävus 104 – tarda 356
Raucherentwöhnung 274
– Aktivitätsintoleranz 141 Pigmentveränderung 80 Pubertät 121
Raucherhusten 374

510
KaelDesu
Sachverzeichnis

Raumorientierung 8, 10 Rückenmark 381 f Schilddrüsenhormon 210 Schmerz 91, 380 ff


Raumsinn 230 Rückenmarksverletzung 330 – Insomnie 213 – akuter 387
Raumsinnstörung 230 f Rückfallfieber 170 – Körperwachstum 254 – beim älteren Menschen 395
Raumwahrnehmung 10 Ruffin-Kolben 13 Schilddrüsenüberfunktion s. – ausstrahlender 390
Raynaud-Krankheit 94 Ruhedyspnoe 189 Hyperthyreose – Bedeutung 384
Reaktion Ruhr 334 Schilddrüsenunterfunktion s. – Begleitsymptom 381, 385, 391
– allergische 91 f Rumination 368 f Hypothyreose – bohrender 386 f
– motorische 225 Rundrücken 260, 434 Schimmelpilz 298 – brennender 391
Reaktionsfähigkeit 224 Schizophrenie – chronischer 384, 387 f
Rebound-Insomnie 212 – Affektivitätsstörung 241 f – Dokumentation 391 f
Rechtsherzinsuffizienz 78 S – Antriebsminderung 243 – dumpfer 385
Rechts-links-Shunt 199 Saccharase-Isomaltase-Mangel – Bewusstseinsstörung 225 f – einschießender 386, 391
Reflex 302 – Denkstörung 236 f – kolikartiger 17
– abgeschwächter 403 Sakralkyphose 431 – Echolalie 460 – nächtlicher 391
– gesteigerter 403 Salbengesicht 421 – Halluzination 229 f – neurogener 386
Reflexblase 314 f Salmonellose 293 – Ich-Erlebensstörung 243 – Pflegediagnose 398
Reflux 315 – Bradykardie 134 – Impulshandlung 244 – psychogener 387
– gastro-ösophagealer 369 Sanduhrmagen 364 – Wahn 237 – schneidender 386
Regurgitation 364 Sättigungsgefühl 17 Schlaf 40, 204 ff – somatischer 14, 384 f
Reife, sexuelle 356 Sauerstoffbedarf 190 – Einflussfaktor 217 – übertragener 385 f
Reisekrankheit 363 Sauerstoffgehalt 183 – normaler 206 – viszeraler 14, 385 f
Reiz s. Sinnesreiz Sauerstoffkonzentration im Blut – orthodoxer 207 – zentraler 386
Reizentzug 27 216 – paradoxer 207 Schmerzart 384 ff
Reizhusten 196 Sauerstoffmangel 76, 118 f – physiologische Veränderung Schmerzäußerung 388
Reizüberflutung 6, 27 Sauerstoffverbrauch 174 210 Schmerzbeurteilung 388
Reizverarbeitung 19 Sauerstoffversorgung 182 Schlafanfall, zwanghafter 215 Schmerzdauer 390
Rektum, Stenose 334 – unzureichende 77, 216 Schlafapnoe 215 ff Schmerzeinschätzung beim
Rektumkarzinom 333 Säugling – Myoklonie 214 Kind 394
Rektumprolaps 101 – Bewegung 406 f Schlafbedarf 209 Schmerzeinschätzungsskala 393
Reliabilität 49 f – Dreimonatskolik 336 – erhöhter 211 Schmerzempfindlichkeit 229
REM-Schlaf 207 f, 210 – Erbrechen 368 f – verminderter 212 Schmerzempfindung 381 ff
– im Alter 219 – Hautpflege 103 Schlafen 40 – gestörte 383
Renin-Angiotensin-Aldosteron- – Pulsmessung 138 Schlafeffizienz 219 – beim Kind 392 f
Mechanismus 152 – Rumination 368 Schläfenarterie 130 Schmerzentstehung 381 f
Reproduktionsfähigkeit 225 – Schluckstörung 307 Schläfenlappen 234 Schmerzerhebungsbogen 388 f
Reservevolumen Säuglingsdermatitis, seborrhoi- Schlaffaktor, endogener 205 Schmerzgedächtnis 386
– exspiratorisches 185 f sche 104 f Schlafhygiene 212 Schmerzhemmsystem 381 ff
– inspiratorisches 185 f Säuglingshaut 102 f Schlafkrankheit 211 Schmerzintensität 49, 383, 390
Residualkapazität, funktionelle Säuglingsglatze 122 Schlaflabor 206, 217 Schmerzkrankheit 388
187 Säuglingssterblichkeit 296 Schlaflatenztest, multipler 215 Schmerzleitung 381 f
Residualvolumen 185 f Saugreflex 227 Schlaflosigkeit 212 Schmerzlinderung 435
Resonanzraum 456 Säureschutzmantel 69, 116 Schlafmittel 134, 212 Schmerzlokalisation 390
Resorption 69 f Schädeldeformierung 259 Schlafparalyse 208, 215 Schmerzmanagement 396
Resorptionsfieber 169 Schädel-Hirn-Trauma 227 Schlafrhythmus, gastrischer 205 Schmerzprophylaxe 392
Respiration 183 – Gedächtnisstörung 239 f Schlafstadium 211 Schmerzqualität 390 f
Ressourcen 43 – Singultus 194 Schlafstörung 211 ff Schmerzquantifizierung 419
Restharnbildung 315 f, 321 Schalentemperatur 74, 159 f – chronobiologische 213 Schmerzrezeptor s. Nozizeptor
Restless-Legs-Syndrom 214 f – Einflussfaktor 166 – beim Kind 218 f Schmerzschwelle 383 f
Rezeptor 5, 8 – Messung 164 Schlaftagebuch 206 Schmerzscore 393
– exterozeptiver 9 Schallleitungsstörung 22 Schlaftypus 209 f Schmerzskala 49, 383, 390, 393
Rhagade 90, 95 Schallverarbeitungsstörung 22 Schlaf-wach-Rhythmus 217 f Schmerztagebuch 392
Rheumatisches Fieber 169 Schallwelle 10 Schlaf-wach-Rhythmus-Umkehr Schmerztoleranz 383
Rhinophym 121 f Schambehaarung 220 f Schmerzüberempfindlichkeit 24
Rhotazismus 460 – dreieckige 115 Schlaf-wach-Rhythmusstörung Schmerzunempfindlichkeit 24
Rhythmus, zirkadianer 205, 212, – rautenförmige 115 213, 218, 233 Schmerzverlauf 390
219 Schambeinnerv 72 Schlaf-wach-Zentrum 205 Schmerzwahrnehmung 8, 14,
Riboflavin 294 Scharlach 98, 169 Schlafwandeln 207, 213 381 ff
Richtungsorientierung 8 Schaufensterkrankheit 446 Schlafzyklus 209 – Einflussfaktor 383
Riechepithel 11 Scheitelhinterhauptlappen 230 Schlaganfall Schmerzzeitpunkt 390
Riechnerv 11 Scheitellappen 230 – Bewusstlosigkeit 244 Schnappatmung 193 f
Riechzellen 5 Scheitel-Sohlen-Länge 252 – Schlafstörung 213 Schnarchen 195, 216
Riechzentrum 6 Scherkraft 13 Schleimhaut 70 ff Schnecke 10 f
Riesenwuchs 255 Scheuermann-Erkrankung 434 Schluckauf 194 Schock 76
Rippenserienfraktur 194 Schichtdienst 213 Schluckstörung 307 – hypoglykämischer 244
Rosazea 121 Schiefhals 433 Schlüsselbeinarterie 130 – hypovolämischer 301
Rötung 91 Schienbeinarterie 130 Schlüsselkontur 9 – Pulsqualität 137

511
KaelDesu
Sachverzeichnis

Schonatmung 192 Selbstkonzept 40 Speichel 71, 287 f Steppergang 446


Schonhaltung 24, 387, 432 f Selbstversorgungsdefizit 410 Speicheldrüse 71 Sterben 40
– Definition 435 Selbstversorgungsgrad 40 Speichelproduktion 106 Stereotype 30
– Ursache 432 Selektion 18 Speichenarterie 130 Stereotypie 405
Schönheitsideal 266, 269 Selen 295 Speicherfett 270 Sterkobilin 327
Schorf 87 Sensibilität, viszerale 16 f Speien 368 Steroidhormon 210
Schreitphänomen 449 Sensor Sphinxgesicht 420 Stiernacken 255
Schuppe 86 – kardialer 16 f Spina bifida 408 f Stillen 300
Schuppenflechte 86, 91 – pulmonaler 17 Spirometer 185 f Stimmband 456
Schüttelfrost 169, 172 f – renaler 17 Spitzfuß 446 – Überbeanspruchung 459
Schwangerschaft Sepsis 169 f Spondylitis 435 Stimmbandentzündung 196
– Gewichtszunahme 270 f Serotonin 14, 205 Spontanatmung, ungenügende Stimmbruch 457 f
– Kindsbewegung 406 Sexualität 40 202 Stimme 456 ff
– Obstipation 330 Shigellen 329 Sportler 191 – klanglose 459
– Ödembildung 74 Sichelfuß 449, 451 Sprache 51, 456 ff – monotone 243
– Pigmentflecken 73 Sigmatismus 460, 465 – Beurteilung 65 – tiefe 255
– Restless-Legs-Syndrom 215 Silver-Russel-Syndrom 438 – Informationsweitergabe 56 ff – Veränderung 458 f, 468
– Striae 73 Simplex 58 – kloßige 460 Stimmenhören 229
– Vitaminbedarf 293 Singultus 194 f – skandierende 461 Stimmklang 457, 459
Schwangerschaftserbrechen Sinn 8 – undeutliche 460 Stimmlage 457 f
363 ff – Entfaltung 20 Sprachentwicklung 463 ff Stimmlosigkeit 459
Schwangerschaftshypertonie – sechster, verborgener 15 Sprachentwicklungsstörung 465 Stimmritzenkrampf 191
152 Sinnesempfindung, veränderte Sprachentwicklungsverzöge- Stimmstörung 465
Schweiß 69 f, 342 ff 230 rung 465 Stimmung 418, 421
– farbiger 345 Sinnesorgan 8 Sprachfluss 458 – Affektivität 241 f
– fettiger 345 – Adaption 20 – Störung 460 f – Beobachtungsbereich 26
– großperliger, warmer 347 – Physiologie 9 ff – verlangsamter 462 – Gangbild 445
– kleinperliger, kalter 345, 347 – Wahrnehmungsschwelle 20 Sprachmelodie 462 – Stimme 456
Schweißausbruch 356 Sinnesreiz 5 f Sprachproduktion, über- – Wahrnehmung 65
Schweißdrüse 69, 113, 116, 342 – akustischer 10, 22 schießende 462 Stimmwechsel 457 f
– Fehlen 344 – auditiv-vibratorischer 6 Sprachpyramide 466 – altersbedingter 467
– beim Kind 346 – äußerer 6 Sprachstörung 245, 459 ff Stimulation, basale 7, 28
– Lokalisation 343 f – innerer 6 – kindliche 465 Stirnfalte 418
Schweißdrüsenabszess 121 f, – Selektion 18, 34 – zentrale 461 Stirnhirnerkrankung 403
124 – Überempfindlichkeit 229 Sprachverständnis 458 Stoffwechsel
Schweißgeruch 342 f, 345 – Unterempfindlichkeit 229 – beim Kind 466 – erhöhter 135
Schweißmenge 113, 343 f – Verschmelzung 20 f – Störung 461 f – verlangsamter 279 f
Schweißsekretion 343 Sinnestäuschung 229 Sprachzentrum 457 f Stoffwechsellage 273 f
– einseitig gesteigerte 345 Sinneswahrnehmung 69 – sensorisches 462 Stoffwechselstörung 227
– fehlende 344 Sinneszellen 5 Sprechapparat 458 Stöhnen, exspiratorisches 199
– beim Kind 346 f Sitzen 432, 437 Sprechen im Schlaf 214 Stomatitis 96, 296
– Steigerung 344 Sitzhaltung 435 Sprechgeschwindigkeit 457 Storchenbiss 73, 103
Schweißzentrum 343 Sitzwaage 267, 277 Sprechunflüssigkeit 465, 467 Stottern 461, 465
Schwellung 91 Skatol 327 Spreizhose 449 – beginnendes 465, 467
Schwerhörigkeit 22 Skelettdysplasie 438 Spurenelement, essenzielles 295 – chronisches 465, 467
Schwermetallvergiftung 247 Skelettentwicklung 253 Spurenelementmangelsyndrom Strahlentherapie 117
Schwindel 22 f, 153 Skeletthypoplasie 438 293 Strangurie 313
Schwindeln, krankhaftes 240 Skelettreifung 254 Sputum 373 ff Streckkontraktur 436
Schwitzen 74, 285 f Sklerenikterus 77 – blutiges 374 f Streckung 401
– Delirium 228 Skoliose 252, 434, 438 – dreischichtiges 375 Streptococcus mutans 287
– emotionales 343 Skorbut 294 – beim Kind 376 Streptokokkeninfektion 169
– starkes 167 Skybala 331 – schaumiges 374 Stressinkontinenz 313 f
– thermisches 343 Slow-Wave-Schlaf 207 – wässriges 375 Striae 73, 76
Seborrhö 121, 345 Sodbrennen 286 – zähes 375 Stridor
Sedativa 322 Somatogramm 253 f, 257 ff Stammeln 460 – exspiratorischer 195
Seekrankheit 23 Somnambulismus 213 Stammfettsucht 256 – inspiratorischer 195
Seelenblindheit 22, 236 Somniloquie 214 Standataxie 405, 451 Struma 189
Seelentaubheit 23, 235 Somnolenz 225 f Standessprache 458 – Husten 196
Sehnervenkreuzung 9 Sonnenbrand 75 Standfläche 451 – Jodmangel 296
Sehsinn 8 ff Sonnenstich 168 Staphylokokken 298 Stuhl 326 ff
– Beeinträchtigung 22 Soorinfektion 96, 355 Star, grauer 424 – acholischer 337
Sehvermögen 65 Sopor 225 f Starre, mimische 404 – Impaktbildung 331
Sehzentrum 9, 22 Soziale Situation 27 Stauungsekzem 94 – pH-Wert 327, 334
Sekundärquelle 48 Sozialisation 28 Steatorrhö 302, 332, 334 – schafskotartiger 332
Selbstbeobachtung 36 f Spaltendokumentation 132 Stehen 432, 437 Stuhlauflagerung 334
Selbstbewusstsein 445 Spastik 408, 446 Stehwaage 267 – blutige 101, 334

512
KaelDesu
Sachverzeichnis

Stuhlausscheidung Temperaturmessung 162 ff Trommelfellschaden 22 – beim Kind 320 f


– beim älteren Menschen 337 – im äußeren Gehörgang 164 f Trösten 7 – vermehrte 316 f
– beim Kind 335 ff – axillare 164 f Trypanosomen 211 – verminderte 317
Stuhldrang 17, 327 – Dokumentation 166 Tsetsefliege 211 Urinausscheidung, beeinträch-
– schmerzhafter 332 – beim Frühgeborenen 177 Tubenkarzinom 355 tigte 322
Stuhlentleerung 327 – beim Kind 177 f Tuberkulose 169, 344, 374 Urinfarbe 310 f
– Störung 328 ff – orale 164 f Tumorerkrankung 24, 288 – braune 318
Stuhlentleerungsreflex, Unter- – rektale 165, 177 f Tumorkachexie 280, 291 – rötliche 3168
drückung 330 – sublinguale 164 f, 177 Tumorschmerz 388 – Veränderung 318, 320
Stuhlfarbe 327, 333 – vaginale 165 f Tunica mucosa 70 ff Uringeruch 197, 311
Stuhlgeruch 327, 333 Temperaturregulation 73, 160 f, Tüpfelnagel 123 – pathologischer 319
Stuhlinkontinenz 101, 332 342 Typhus abdominalis 334 Urinmenge 310, 316 f
– im Alter 337 Temperaturregulationszentrum – – Bradykardie 134 Urinreaktion 311 f
– beim Kind 337 69, 167, 169, 176 – – Fieber 169 – alkalische 320
Stuhlkonsistenz 327, 333 f Temperatursollwert 168, 172 – saure 319
Stuhlmenge 327, 332 f Temperaturwahrnehmung 8, 14 Urinretention 322
Stuhlzusammensetzung 327, Temperaturzone 161 U Urinzusammensetzung 311, 318 f
334 Tenesmus 332 Übelkeit 41, 366 Urogenitalfistel 315
Sturz 451 Terminologie, medizinische 57 ff – Maldigestion 293 Urometer 311
Subkutis 68 f Testosteron 271 – Schmerz 385 Urteil, soziales 30
Submukosa 70 Teststreifen 38, 318 Überempfindlichkeit 229, 241 Urteilsvermögen 233
Substanz P 14, 381 Tetanie 191 Überernährung 280, 295 ff Urtika 80
Suchtkrankheit 280 Tetanus 435 Übergangsepithel 71 Urtikaria 80
Suffix 58, 60 Tetralogie, narkoleptische 215 Übergangsstuhl 335 Uterus
Supination 401 Tetraparese 403 Übergewicht 268, 272 ff – Hypoplasie 354
Surfactant-Faktor-Mangel 199 Thalliumintoxikation 117 – Folgeerkrankung 289 f – Karzinom 352 f
Sympathie 42 Thermogenese 274 Überlauferbrechen 364 UV-Licht 73, 254
Sympathikus 135 Thermographie 163 Überlaufinkontinenz 315, 322
Symptombündel 59 f Thermometer, elektronisches Überlauf-Stuhlinkontinenz 332,
Synästhesie 21 162 f 337 V
Syndrom 59 Thermometerart 162 f Überwärmung 91 Vagina, Atrophie 357
Syndrom-Pflegediagnose 60 Thermoregulation 69, 73, 160 f, Überzeugung 40 Vaginalkarzinom 355
Synkope 136 342 Uhrglasnagel 118 Vaginose, bakterielle 355
Syringomyelie 346 – unwirksame 180, 349 Ulcus Vagotonie 153
Thermorezeptor 8, 160 – cruris 89, 92, 94 Vagusnerv 12, 134, 285
Thiamin 294 – duodeni 366 Validität 50
T Thorax, Einziehung, inspiratori- – recti 101 Varize 94
Tachyarrhythmie 137 sche 199 – ventriculi 366 Vater-Pacini-Körperchen 13, 15
Tachykardie 133, 135 f Thoraxatmung 184 Unruhe 228, 233, 390 Vellushaare 122
– Beobachtungskriterium, Thyroxin 253 Unterernährung 279, 296 Venenentzündung 94
ergänzendes 138 Tic 404 – Muskelatrophie 287 Venenleiden, chronisches 89
– Delirium 228 Tiefenreflex, früher 227 – Tumorerkrankung 291 Venenthrombose 94
– Ursache 138 Tiefenschmerz 384, 390 Untergewicht 268, 275 ff Venöse Insuffizienz 119
Tachypnoe 190 Tiefensensibilität 12 Unterhaut 68 f Verdauung 288
Tagesschläfrigkeit 212, 215 f – Störung 230 Unterhautfettgewebe 70, 270 Verdauungsbeschwerden 288
Tag-Nacht-Rhythmus 204 f Tiefschlaf 207, 210 Unterkieferspeicheldrüse 71 – Ergotismus 298
Talg 116 Tinnitus 23 Unterkühlung 162 – Maldigestion 293
Talgabsonderung 70 Tokopherol 294 Unterleibsschmerz 354 Verdauungssaft 285
– Nachlassen 124 Tonsur 124 Unterschenkelgeschwür s. Ulcus Verdunstungskälte 343
– vermehrte 115, 121, 421 Tonusregulation 8 cruris Verfolgungswahn 238
Talgdrüse 68, 112 f, 116 Totalkapazität 187 Unterschenkelödem 78 Vergiftung s. Intoxikation
– beim Kind 123 f Toxin 169, 172, 298 Untersuchung, körperliche 40 f Verhalten, inkongruentes 422
Talgdrüsenerkrankung 121 Trachealrasseln 195 Unterzungenspeicheldrüse 71 Verhaltensstörung 212
Tapirschnauze 420 Tracheitis 196 Urämie 215, 345 Verkürzungshinken 450
Tasten 37 f Tracheostoma 459 Uratablagerung 298 Verlegenheitshüsteln 196
Tastkörperchen 69, 102 Tracheotomie 459 Urethralklappe 321 Vernix caseosa 102
Tastsinn 13 Trauer 26 Urgeinkontinenz 314 Verschlusskrankheit, arterielle
Taubheit 23 Träumen 208 Urhidrosis 345 93, 135
Taubstummheit 23 Tremor 228, 404 Urin 309 ff Verständigung 56
Täuschung, optische 9 f Trichogramm 116 – Aussehen, flockiges 319 Verstimmung, depressive 393
Teerstuhl 333 Trichomonadeninfektion 355 – Gewicht, spezifisches 311, 319 Verwirrtheit 28, 233 ff
Telegrammstil 462, 464 Trichotillomanie 117, 123 – konzentrierter 318 Vesicula 82
Telethermographie 163 Trigeminusneuralgie 386 – pH-Wert 311 f Vestibuläres System 8
Telogenphase 114 Trijodthyronin 253 – trüber 318 f Vibration 13
Temperaturanstieg 166 Trimethylaminurie 345 Urinausscheidung Vibrationsempfinden 451
Temperaturkurve 131, 166 Trinkverhalten 286 – beim älteren Menschen 321 Vierfüßlerstand 406 f

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KaelDesu
Sachverzeichnis

Virchow-Trias 60 – auditive 10 Wasserzufuhr beim Kind 300 Zahnschmerz 205


Virilismus 118 – Definition 5 Watschelgang 408, 446 Zeckenstich 94
Viszerozeptor 8 f, 16 f – Einflussfaktor 19 ff Wecken 20 Zeichensprache 416
Vitalität 243 – – psychischer 25 ff Weißfleckenkrankheit 76 Zeitzonenwechsel 213
Vitalkapazität 185 f – Entwicklung 6 f Weitsichtigkeit 22 Zentralwindung
Vitalzeichen 129, 132, 182 – Gewöhnungseffekt 20 Werdnig-Hoffmann-Muskel- – hintere 12
Vitamin A 294 – gustatorische 12 atrophie 408 – vordere 15
Vitamin B1 294 – haptisch-taktile 13 f Wernicke-Aphasie 462 Zentrum, vasomotorisches 16
Vitamin B2 294 – herabgesetzte 19 Werte 40 Zerfahrenheit 237 f
Vitamin B6 294 – über innere Organe 16 f Wertvorstellung 26 f Zerstreutheit 227
Vitamin B12 294 – kinästhetische 10, 15 f Widerstandshochdruck 151 Zervikobrachialsyndrom 433
Vitamin C 294 – Kontrastierung 21 Widerwillen 421 Zervixkarzinom 355
Vitamin D 253, 294 – olfaktorische 11 f Windeldermatitis 104 f Zielgerichtetheit 401 f
Vitamin E 294 – physiologische Grundlagen Wirbelbogen 437 – Störung 404 f
Vitamin K 294 7 ff Wirbelfraktur 435 Zikatrix 86
Vitamine 294 f – psychologische Grundlagen Wirbelsäule Zink 295
– fettlösliche 293, 294 18 f – Entwicklung 436 f Zirkadianrhythmus 205
Vitamin-A-Hypervitaminose – soziale 3 f, 28 ff – Hemmungsmissbildung 409 – gestörter 212, 219
297 – Sprachentwicklung 463 – Krümmung, physiologische Zirkulationsstörung 93 f
Vitamin-B12-Malabsorption 302 – Verschärfung 228 430 f Zirkumdiktion 446
Vitamin-B12-Mangel 98 – verzerrte 4 – Verbiegung, seitliche 434 ZNS-Stimulanzien 212
Vitamin-B-Mangel 99 – vestibuläre 11 – Verformung 260 Zöliakie 302
Vitamin-D-Hypervitaminose – viszerale 9 Wirbelsäulenerkrankung, Zone der Indifferenztemperatur
297 – und Wirklichkeit 31 degenerative 434 14, 16
Vitamin-D-Mangel 254, 296 Wahrnehmungsintensität 229, Wirklichkeitsfindung 31 Zucker 287
Vitaminmangel 95 f 242 Wohlbefinden 400, 430 Zuckeraustauschstoff 328
Vitaminmangelsyndrom 293 f Wahrnehmungsprozess 5 f, 15, Wohlfühlgewicht 269 Zunge 8, 71
Vitiligo 76 18 f Wortfindungsstörung 235, 246, – Verhornungsstörung 100
Volkmann-Kontraktur 436 Wahrnehmungsschwelle 20 463 Zungenbelag 97
Völlegefühl 17, 286, 288 Wahrnehmungsstörung Wortneubildung 238, 461 Zungenbrennen 98
– Obstipation 329 – qualitative 228 ff Wortschatz 464, 466 Zungenoberfläche 74
Vollmondgesicht 256, 420 – quantitative 228 f – aktiver 458 Zungenpapille, atrophische 98
Volumenmangel 292 – visuell-räumliche 229 – passiver 458 Zungen-Schlundnerv 12
Vorderhornzellen 409 Wahrnehmungssystem 8 Worttaubheit 235 Zwangsantrieb 243 f
Vorderseitenstrangbahn 381 Wahrnehmungstäuschung 9 f, Wortwahl 463 Zwangshaltung 432, 435
Vorhofflimmern 135 21 Wulstnarbe 92 Zwangsidee 238
Vorurteil 30 Wahrnehmungsveränderung 21 Wunde 92 Zwei-Punkt-Diskriminations-
Vulvitis 355 – viszerale 25 Wundheilung 273 schwelle 12
Wahrnehmungsverzerrung 29 Wundstarrkrampf 420 Zweiwortstadium 464
Wahrnehmungsvorgang, Ver- Würgen 366 f Zwerchfell 187 f
W langsamung 229 Würgereiz 364 Zwerchfellhernie 376
Waage 267 f, 278 Wahrnehmungszeit 229 Zwerchfellhochstand 25
Wachbleibetest, multipler 215 Wallpapille 72 Zwerchfellkontraktion 194
Wachheit 225 Wange, eingefallene 419 X Zwergwuchs 256
Wachstum Wärmeabgabe 73, 167, 176 Xanthom 297 Zwischenblutung 353
– Abschluss 438 – vermehrte 274 X-Bein 437 Zwischenrippenmuskel 187 f
– verändertes 441 Wärmeisolation 270 Xerostomie 97 Zwischenrippenraum, Einsinken
Wachstumsfuge 253 Wärmeregulation 69, 73, 160 f, 199
Wachstumshormon 210, 255 342 Zwölffingerdarm 288
Wachstumsstörung 256 – unwirksame 180, 349
Wärmeregulationszentrum 69
Y Zyanose 76, 197
Zyklus, anovulatorischer 356
– Beurteilung 251 Yersinien 329
Wachstumsstörung Wärmerezeptor 14, 69 Zylinderepithel 71
– Mangelernährung 296 Wärmesinn 14 Zyste 83
– Vitaminmangel 293
Wadenschmerz 94
Wärmeverlust 176
Wärmezufuhr 167
Z Zytostatika
– Erbrechen 363
Zahn 287
Wadenwickel 178 Warze 92 – Haarausfall 117
Zähneknirschen 213 f
Wahn 238 Wasserbilanz 292 – Nagelveränderung 120
Zahnfleisch 71
Wahnerinnerung 240 Wasserhaushalt 285
Zahnfleischentzündung 97
Wahnphänomen 238 Wasserstoffionenkonzentration
Zahnprothese 303
Wahrnehmung 3 ff, 224 183
Zahnschmelz 287
– Assimilation 21 Wasserverlust 77

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