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KaelDesu E=deutschlernmaterialien@gmail.com
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Date: 2023.03.03 22:04:39+01'00'
Foxit PhantomPDF Version: 10.1.3
KaelDesu
I
KaelDesu
II
KaelDesu
Wahrnehmen
und Beobachten
Herausgegeben von
Annette Lauber und Petra Schmalstieg
285 Abbildungen
III
KaelDesu
䉷 2018 Georg Thieme Verlag KG Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht be-
Rüdigerstraße 14 sonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen
D-70469 Stuttgart Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich
Deutschland um einen freien Warennamen handele.
www.thieme.de
Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrecht-
Printed in Germany lich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Gren-
zen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des
1. Auflage 2004 Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für
2. Auflage 2007 Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und
3. Auflage 2012 die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Sys-
temen.
Zeichnungen: Barbara Gay, Bremen; Christine Lackner,
Ittlingen; BITmap, Mannheim
Umschlaggestaltung: Thieme Gruppe
Umschlagfotos: 䉷 Africa Studio – Fotolia,
䉷 vchalup – Adobe Stock
Satz: Druckhaus Götz GmbH, D-71636 Ludwigsburg
Druck: Grafisches Centrum Cuno GmbH & Co.KG, Calbe
DOI 10.1055/b-005-143657
ISBN 978-3-13-240652-0 1 2 3 4 5 6
IV
KaelDesu
Vorwort
Liebe Leserin, lieber Leser, Interventionen (Band 3) sowie Prävention und Reha-
wir freuen uns, Ihnen hiermit die 4. Auflage der bilitation (Band 4). Inhalte und Themen der einzel-
Lehrbuchreihe verstehen & pflegen vorlegen zu kön- nen Bände der Reihe sind aufeinander bezogen;
nen. Herausgeberinnen und Autorinnen ist es ein An- selbstverständlich ist aber auch eine Einzelnutzung
liegen, mit der vorliegenden Lehrbuchreihe einen möglich. Alle Kapitel wurden für die 4. Auflage in-
Beitrag zu einer fundierten und qualitativ hochwer- haltlich überprüft und aktualisiert; neue Erkenntnis-
tigen Pflegeausbildung zu leisten und Lehrende wie se und Entwicklungen aufgenommen; Layout und
Lernende in ihrem beruflichen Handeln zu unter- grafische Darstellung modernisiert.
stützen. Ihren konstruktiven und ermutigenden Wenngleich für die Aktualisierung eines Werkes
Rückmeldungen, liebe Leserinnen und Leser, entneh- auf viel Bewährtes zurückgegriffen werden kann,
men wir, dass wir dieses Ziel in aller Regel auch errei- stellt der Bearbeitungsprozess Autorinnen und He-
chen. rausgeber dennoch immer wieder vor Herausforde-
Als die Lehrbuchreihe in den Jahren 2001 bis 2004 rungen, von denen die termingerechte Abgabe der
erstmals aufgelegt wurde, befanden sich die Diskus- bearbeiteten Manuskripte nicht zwangsläufig die
sionen um eine Zusammenführung der 3 Pflegeberu- größte ist. In solchen Phasen gewinnt dann eine ver-
fe Altenpflege, Gesundheits- und Krankenpflege so- bindliche und wertschätzende Unterstützung durch
wie Gesundheits- und Kinderkrankenpflege noch in den Verlag an Bedeutung. Unser Dank gilt deshalb
den Anfängen. Heute, 15 Jahre später, geht es stärker den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Georg
darum, den besten Weg der Zusammenführung aus- Thieme Verlags für ihre ausgesprochen motivierende
zuwählen und zu beschreiten. Daher verfolgt auch und engagierte Unterstützung. Danken möchten wir
die 4. Auflage von verstehen & pflegen einen integrati- auch allen Autorinnen und Autoren, die wir für die
ven Ansatz, der gleichermaßen Gemeinsamkeiten Mitarbeit an dieser Auflage gewinnen konnten, und
und Spezifika der Pflegeberufe thematisiert. die – teilweise nun schon über viele Jahre – ihre Ex-
Beibehalten wurde auch der bisherige Aufbau pertise für verstehen & pflegen zur Verfügung stellen.
und die didaktische Konzeption, bei der jeder Band Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, wünschen wir
einen Schwerpunktausführlich thematisiert und da- viel Freude bei der Arbeit mit den Bänden der Lehr-
bei eine konsequent pflegeberufliche Perspektive buchreihe!
einnimmt: Grundlagen beruflicher Pflege (Band 1),
Wahrnehmen und Beobachten (Band 2), Pflegerische Hildesheim und Stuttgart im Oktober 2017
V
KaelDesu
Herausgeberinnen
Dr. rer. cur. Annette Lauber Petra Schmalstieg
Dipl.-Pflegepädagogin (FH) Krankenschwester
Pflegewissenschaftlerin (M.Sc.) Dipl.-Pflegepädagogin (FH), M.A.
Irmgard-Bosch-Bildungszentrum Supervisorin
Auerbachstr. 110 Krankenpflegeschule am St. Bernward Krankenhaus
70376 Stuttgart Treibestr. 9
31134 Hildesheim
Autorinnen
Panajotis Apostolidis* Tina Wilhelm
Gesundheits- und Pflegepädagogin M.A.
Eva Eißing Praxisanleiterin, Kinderkrankenschwester
Lehrerin für Pflegeberufe Gesundheits- und Kinderkrankenpflegeschule der
Sozial-Wissenschaftlerin, B.A. Universitätsmedizin Mainz
Im Steeler Rott 22 Am Pulverturm 13
45276 Essen 55131 Mainz
Sigrid Flüeck*
Marion Weichler-Oelschlägel
Lehrerin für Pflegeberufe
Bachelor of Arts – Nursing – (FH), B.A.
Nordstraße 27
38226 Salzgitter
Die im Buch mit * gekennzeichneten Autoren haben an früheren Auflagen mitgewirkt, und ihre Beiträge sind in der aktuellen
Auflage noch teilweise enthalten.
VI
KaelDesu
Inhalt
2 Beobachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
Eva Eißing
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 II Beobachtung des gesunden
2.1 Beobachtung als Prozess . . . . . . . . . . . . . 34 und kranken Menschen
2.1.1 Beobachtungsarten . . . . . . . . . . 36
2.2 Beobachtung in der Pflege . . . . . . . . . . . . 37 5 Allgemeinzustand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
2.2.1 Zeitpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Panajotis Apostolidis*, Petra Schmalstieg
2.2.2 Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
2.2.3 Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 5.1 Beobachtungsbereiche . . . . . . . . . . . . . . . 64
2.3 Beeinflussende Faktoren bei der 5.2 Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
Beobachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
2.4 Bedeutung der Beobachtung in der 6 Haut und Schleimhäute . . . . . . . . . . . . . . 67
Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Eva Eißing
2.4.1 Beobachtung als Grundlage für Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
pflegerisches Handeln . . . . . . . . 43 6.1 Aufbau und Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . 68
2.4.2 Ziele der Beobachtung in der 6.2 Allgemeine Beobachtungskriterien und
Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Beschreibung des Normalzustandes . . . 72
2.4.3 Qualität der Beobachtung . . . . . 44 6.2.1 Hautfarbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
2.4.4 Dokumentation . . . . . . . . . . . . . 45 6.2.2 Hautspannung . . . . . . . . . . . . . . 74
2.4.5 Anforderungen an das Pflege- 6.2.3 Hauttemperatur . . . . . . . . . . . . . 74
personal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 6.2.4 Hautoberfläche . . . . . . . . . . . . . . 74
6.2.5 Mundschleimhaut und Anal-
schleimhaut . . . . . . . . . . . . . . . . 74
VII
KaelDesu
Inhalt
VIII
KaelDesu
Inhalt
IX
KaelDesu
Inhalt
X
KaelDesu
Inhalt
XI
KaelDesu
Inhalt
18.2.6 Veränderungen der Stuhl- 20.5 Besonderheiten bei älteren Menschen . 357
zusammensetzung . . . . . . . . . . . 334 20.6 Fallstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357
18.2.7 Veränderungen der chemi-
schen Stuhlreaktion . . . . . . . . . . 334 21 Erbrechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360
18.3 Ergänzende Beobachtungskriterien . . . . 334 Panajotis Apostolidis*, Petra Schmalstieg
18.4 Besonderheiten bei Kindern . . . . . . . . . . 335 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360
Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm 21.1 Vorgang des Erbrechens . . . . . . . . . . . . . . 360
18.5 Besonderheiten bei älteren Menschen . 337 21.2 Ursachen des Erbrechens . . . . . . . . . . . . . 362
18.6 Fallstudien und mögliche Pflegediag- 21.3 Formen des Erbrechens . . . . . . . . . . . . . . 362
nosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 21.3.1 Einteilung nach dem Zeitpunkt
des Erbrechens . . . . . . . . . . . . . 362
19 Schweiß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 21.3.2 Einteilung nach der Reizung
Panajotis Apostolidis*, Petra Schmalstieg des Brechzentrums . . . . . . . . . . 363
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 21.4 Beobachtung des Erbrechens . . . . . . . . . 364
19.1 Allgemeine Beobachtungskriterien und 21.4.1 Art und Weise des Erbrechens . 364
Beschreibung des Normalzustands . . . . 343 21.4.2 Farbe des Erbrochenen . . . . . . . 364
19.1.1 Schweißmenge . . . . . . . . . . . . . . 343 21.4.3 Menge des Erbrochenen . . . . . . 364
19.1.2 Aussehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 21.4.4 Geruch des Erbrochenen . . . . . . 365
19.1.3 Geruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 21.4.5 Zusammensetzung, Bei-
19.1.4 Lokalisation . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 mengungen des Erbrochenen . 365
19.2 Abweichungen, Veränderungen des 21.4.6 Zeitpunkt und Häufigkeit des
Schweißes und deren mögliche Erbrechens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365
Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 21.4.7 Begleiterscheinungen des
19.2.1 Veränderungen der Menge . . . . 344 Erbrechens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366
19.2.2 Veränderungen des Aus- 21.5 Ergänzende Beobachtungskriterien . . . . 367
sehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 21.6 Besonderheiten bei Kindern . . . . . . . . . . 368
19.2.3 Veränderungen des Geruchs . . 345 Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm
19.2.4 Lokalisation . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 21.7 Besonderheiten bei älteren Menschen . 370
19.3 Ergänzende Beobachtungskriterien . . . . 346 21.8 Fallstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370
19.4 Besonderheiten bei Kindern . . . . . . . . . . 346
Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm 22 Sputum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373
19.5 Besonderheiten bei älteren Menschen . 347 Panajotis Apostolidis*, Petra Schmalstieg
19.6 Fallstudien und mögliche Pflegediag- Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373
nosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 22.1 Beobachtung des Sputums . . . . . . . . . . . 373
22.1.1 Sputummenge . . . . . . . . . . . . . . 374
20 Menstruation und Fluor . . . . . . . . . . . . . . 350 22.1.2 Sputumfarbe . . . . . . . . . . . . . . . . 374
Panajotis Apostolidis*, Petra Schmalstieg 22.1.3 Sputumgeruch . . . . . . . . . . . . . . 375
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 22.1.4 Sputumkonsistenz . . . . . . . . . . . 375
20.1 Beschreibung des Normalzustands . . . . 351 22.1.5 Sputumzusammensetzung und
20.1.1 Menstruation . . . . . . . . . . . . . . . 351 Beimengungen . . . . . . . . . . . . . . 375
20.1.2 Fluor genitalis . . . . . . . . . . . . . . . 351 22.1.6 Zeitpunkt des Auswurfes . . . . . 375
20.2 Abweichungen, Veränderungen bei 22.2 Ergänzende Beobachtungskriterien . . . . 375
Menstruation und Fluor und deren 22.3 Besonderheiten bei Kindern . . . . . . . . . . 376
mögliche Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm
20.2.1 Menstruationsstörungen . . . . . 351 22.4 Besonderheiten bei älteren Menschen . 376
20.3 Ergänzende Beobachtungskriterien . . . . 356 22.5 Fallstudien und mögliche Pflegediag-
20.4 Besonderheiten bei Kindern . . . . . . . . . . 356 nosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376
Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm
20.4.1 Abweichungen, Veränderungen
und deren mögliche Ursachen . 356
XII
KaelDesu
Inhalt
XIII
KaelDesu
Inhalt
26.3 Ergänzende Beobachtungskriterien . . . . 436 27.5 Besonderheiten bei älteren Menschen . 451
26.4 Besonderheiten bei Kindern . . . . . . . . . . 436 Marion Weichler-Oelschlägel
Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm 27.6 Fallstudien und mögliche Pflegdiagno-
26.4.1 Angeborene Haltungsstörun- sen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452
gen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438
26.4.2 Angeborene oder erworbene 28 Stimme und Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . 456
Haltungsschäden . . . . . . . . . . . . 438 Marion Weichler-Oelschlägel
26.5 Besonderheiten bei älteren Menschen . 438 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456
Marion Weichler-Oelschlägel 28.1 Allgemeine Beobachtungskriterien und
26.6 Fallstudien und mögliche Pflegediag- Beschreibung des Normalzustands . . . . 456
nosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 28.1.1 Stimme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456
28.1.2 Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457
27 Gang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 28.2 Abweichungen und Veränderungen in
Marion Weichler-Oelschlägel Stimme und Sprache und deren mögli-
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 che Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458
27.1 Allgemeine Beobachtungskriterien und 28.2.1 Veränderungen der Stimme . . . 458
Beschreibung des Normalzustands . . . . 443 28.2.2 Veränderungen der Sprache . . 459
27.2 Abweichungen und Veränderungen des 28.3 Ergänzende Beobachtungskriterien . . . . 463
Gangs und deren mögliche Ursachen . . 445 28.4 Besonderheiten bei Kindern . . . . . . . . . . 463
27.2.1 Spastischer Gang . . . . . . . . . . . . 445 Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm
27.2.2 Hinken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 28.4.1 Entwicklungsmäßige Voraus-
27.2.3 Steppergang . . . . . . . . . . . . . . . . 446 setzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463
27.2.4 Watschelgang . . . . . . . . . . . . . . . 446 28.4.2 Normale Sprachentwicklung
27.2.5 Ataktischer Gang . . . . . . . . . . . . 446 des Kindes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464
27.2.6 Brachybasie . . . . . . . . . . . . . . . . . 448 28.4.3 Kindliche Sprachstörungen . . . 465
27.2.7 Paretischer Gang . . . . . . . . . . . . 448 28.5 Besonderheiten bei älteren Menschen . 467
27.2.8 Zerebraler Gang . . . . . . . . . . . . . 448 Marion Weichler-Oelschlägel
27.2.9 Apraktischer Gang . . . . . . . . . . . 448 28.6 Fallstudien und mögliche Pflegediag-
27.2.10 Abasie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448 nosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468
27.3 Ergänzende Beobachtungskriterien . . . . 448
27.4 Besonderheiten bei Kindern . . . . . . . . . . 449 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472
Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm
27.4.1 Physiologie des Gehens . . . . . . . 449 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . 498
27.4.2 Gehstörungen . . . . . . . . . . . . . . 449
Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 500
XIV
KaelDesu
I Grundlagen der
Wahrnehmung und
Beobachtung in der
Pflege
Übersicht
1 Wahrnehmung · 4
2 Beobachtung · 33
3 Datenerhebung im pflegerischen
Alltag · 47
4 Informationsweitergabe · 51
1 Wahrnehmung
1
Eva Eißing
Übersicht
Einleitung · 4
1.1 Wahrnehmungsprozess · 5
1.2 Grundlagen der Wahrnehmung · 6
1.2.1 Entwicklung der Wahrnehmung · 6
1.2.2 Physiologische Grundlagen der
Wahrnehmung · 7
1.2.3 Psychologische Grundlagen
der Wahrnehmung · 18
1.3 Beeinflussende Faktoren bei
der Wahrnehmung · 19
1.3.1 Physische Einflussfaktoren · 19
1.3.2 Psychische Einflussfaktoren · 25
mungen zu vorschnellen und falschen Urteilen über
1.3.3 Soziale Wahrnehmung · 28
andere Menschen führen können. Ein Beruf wie die
1.4 Wahrnehmung und Wirklichkeit · 31
Pflege, in dem soziale Beziehungen nicht nur im the-
Fazit · 31
rapeutischen Team, sondern auch und vor allem zwi-
Literatur · 32
schen Pflegepersonen und den ihnen anvertrauten
Menschen eine zentrale Bedeutung haben, verlangt
Schlüsselbegriffe:
eine professionelle Einstellung zum menschlichen
왘 Wahrnehmung Miteinander. Zur Ausübung der Pflege ist der be-
왘 Wahrnehmungsprozess wusste Umgang mit der eigenen Wahrnehmung und
왘 Soziale Wahrnehmung der Wahrnehmung anderer Menschen unerlässlich.
Hierzu sind Kenntnisse über die verschiedenen
Wahrnehmungsvorgänge sowie die unterschiedli-
chen Einflussfaktoren notwendig.
Einleitung Die Wahrnehmung dessen, was um uns herum
passiert, geschieht selbstverständlich und automa-
Die Wahrnehmung von Reizen über die Sinne ist ein tisch. Sehen, riechen, schmecken, fühlen, hören – mit
komplexer und prozesshaft ablaufender Vorgang, all diesen Wahrnehmungen erschließt sich der
der sowohl bewusst als auch unbewusst geschieht. Mensch seine Welt. Die vielfältigen Informationen,
Hierbei werden sowohl angenehme als auch unange- die die Sinnesorgane aufnehmen, müssen weiterge-
nehme Reize wahrgenommen und verarbeitet. Sie leitet, aussortiert, verglichen, verknüpft und verar-
erzeugen vielfältige Reaktionen im emotionalen Be- beitet werden, um schließlich mit einer Antwort, z. B.
reich und auf der Handlungsebene und sind eng ver- über Muskeln oder Drüsen, zu reagieren. Dem Kör-
bunden mit dem eigenen Empfinden und Erleben. per und besonders dem Gehirn stehen für diese Leis-
Ohne die Wahrnehmung von Reizen ist weder tungen mehr als 100 Milliarden hochspezialisierte
Wachstum und Entwicklung noch Leben möglich. Nervenzellen zur Verfügung, die zusammen mit den
Somit spielt die Wahrnehmung im menschlichen Le- Sinnesorganen die Verbindung mit der Außenwelt
ben eine zentrale Rolle. Sie unterliegt jedoch einer ermöglichen, ohne die weder Kommunikation noch
Reihe von beeinflussenden Faktoren, die zu Wahr- Orientierung möglich wäre.
nehmungsverzerrungen führen können.
Eine besondere Problematik ergibt sich hieraus
für die Wahrnehmung anderer Personen, die sog. so-
ziale Wahrnehmung, bei der verzerrte Wahrneh-
!
1.1 Wahrnehmungsprozess Merke: Wahrnehmung ist ein ganzheitli-
ches Geschehen und Erleben. 1
Definition: Die klassische Definition von
Wahrnehmung ist die Aufnahme von Reizen aus
der Umwelt mithilfe der Sinnesorgane. Die vielfältigen Informationen, die unser Gehirn er-
hält, werden verarbeitet und z. T. miteinander ver-
Der Mensch braucht Wahrnehmungen, damit er sich knüpft. Wahrnehmung findet nicht isoliert statt, es
in seiner Umwelt orientieren kann. Die Wahrneh- folgt immer eine Reaktion mit nachfolgender Anpas-
mungsreize sind zunächst unspezifisch, d. h. sie wer- sung. Die Verarbeitung des über die Sinnesorgane
den unsortiert über unsere Sinneszellen zum Gehirn gewonnenen Informationsmaterials wird als Wahr-
weitergeleitet und lösen eine Reaktion aus. nehmungsprozess bezeichnet. Er beinhaltet folgen-
de Schritte (Abb. 1.1):
Definition: Prof. Dr. A. D. Fröhlich (1994), Son- 1. Die Aufnahme eines Reizes erfolgt über Sinnes-
derpädagoge und heilpädagogischer Psycholo- zellen. Die Sinneszellen werden auch Rezeptoren
ge, definiert Wahrnehmung als die sinngebende genannt und befinden sich in den entsprechen-
Verarbeitung von inneren und äußeren Reizen unter den Organen, z. B. Auge, Ohr, Haut oder Darm. Sie
Zuhilfenahme von Erfahrung und Lernen. verfügen jeweils über spezifische Strukturen. Die
Riechzellen in der Nase sind z. B. so geartet, dass
Wahrnehmung ist demzufolge ein zentraler Prozess, sie ganz spezielle (Duft-)Moleküle aus der Ein-
der das Informationsmaterial der Sinnesorgane ver- atemluft aufnehmen können.
arbeitet. Dadurch entsteht für den Menschen Bedeu- 2. Nachdem das Aufnahmeorgan erregt ist, erfolgt
tung. Diese Bedeutung kann unterschiedlich ausfal- die Weiterleitung über Nervenbahnen zu den
len und schließt z. B. soziale, emotionale und andere spezifischen Verarbeitungszentren im Gehirn.
Faktoren ein.
Nase
Zunge
Ohr
Gleichgewichtssinn
Auge
Aufnahme
eines Reizes Weiterleitung
über Nerven
Bewegung
Verbindungen
und
andere Weiterleitungen
Hirn-
zentren
taktil-haptisch
gustatorisch olfaktorisch
(Geschmack) (Geruch)
oral (senso-motorisch)
audio-vibratorisch audio-rhythmisch
Herzschlag der Mutter oder ihre Darm- und Atemge- Prof. Dr. paed. Andreas Fröhlich hat in den 70er-Jah-
räusche. ren das Konzept der basalen Stimulation entwickelt.
Melodien nimmt das ungeborene Kind als audio- Im Rahmen der Basalen Stimulation姞 werden beson-
rhythmische Schwingungen wahr, für die es ein Ge- ders die früh entwickelten (basalen) Wahrneh-
dächtnis entwickelt. Sobald das Kind geboren ist, er- mungssysteme stimuliert mit gleichzeitiger Förde-
reichen Geräusche über Luftschwingungen das Ohr. rung der Reaktionsfähigkeit. Mithilfe dieses Konzep-
Innerhalb weniger Minuten nach der Geburt stellt tes hat er die Persönlichkeit schwerstbehinderter
sich das Neugeborene auf die veränderte Situation Kinder fördern können. In Zusammenarbeit mit Ch.
ein. Eine Art Gedächtnis wird ebenfalls bereits in der Bienstein wurde die basale Stimulation in pflegeri-
Embryonalzeit für alle anderen Wahrnehmungen sche Bereiche integriert. Sie wird besonders bei
der sensorischen Basis gebildet. Menschen mit Wahrnehmungsstörungen erfolgreich
Der Geruchssinn ist an die Einatmung durch die angewendet (s. a. Bd. 4, Kap. 4).
Nase gebunden. Ein neugeborenes Kind kann bereits
nach ein paar Tagen die Mutter am Geruch erkennen Zusammenfassung:
und die Muttermilch schmecken. Das visuelle Sys- Grundlagen der Wahrnehmung
tem bildet sich innerhalb der ersten Monate aus. Wahrnehmung ist ein prozesshaftes Geschehen.
Nach der Geburt entwickelt sich das Wahrneh- In mehreren Schritten findet die Aufnahme über Re-
mungssystem weiter und überlagert schrittweise die zeptoren, die Weiterleitung über Nervenbahnen und
Basiswahrnehmungen des noch ungeborenen Kin- die Verarbeitung in Hirnzentren von Reizen aus der
des. Da sie aber im sensorischen Gedächtnis gespei- Umwelt mithilfe der Sinnesorgane statt.
chert sind, verlieren sie nie ihre emotionale Bedeu- Im Thalamus wird die Aufnahme von Reizen gefil-
tung. Der Vorgang des Tröstens liefert hierfür ein gu- tert und begrenzt.
tes Beispiel: Die Entwicklung des Wahrnehmungssystems ver-
läuft in Stufen und beginnt bereits im Mutterleib.
Beispiel: Nicht nur Kinder, sondern auch er- Das Konzept der basalen Stimulation (Fröhlich)
wachsene Menschen umarmen sich, so dass wird bei Menschen mit Wahrnehmungsstörungen
sich die Körper berühren (= Hautsinn). Un- erfolgreich angewandt.
terstützend streichen die Hände über den Kopf oder
den Rücken. Beruhigend wirkt außerdem ein Hin- und 1.2.2 Physiologische Grundlagen der
Herwiegen des Körpers (= vestibulärer Sinn). Tröstende Wahrnehmung
Worte werden durch die körperliche Nähe auditiv und Die Wahrnehmung ist an intakte Sinnesorgane und
vibratorisch wahrgenommen. Nerven gebunden.
In der traditionellen Vorstellung wird mit 5 Sin- Die einzelnen Sinne werden unterschieden in
1 nesorganen wahrgenommen: Auge, Ohr, Nase, Zun- Nahsinne und Fernsinne.
ge, Haut. Heute ist bekannt, dass Rezeptoren in Mus- Die Nahsinne vermitteln dem Körper Informatio-
keln und Gelenken sowie in inneren Organen eben- nen aus dem eigenen Körper, der Eigenwahrneh-
falls Reize aufnehmen und weiterleiten (Tab. 1.1). mung. Sie werden auch als propriozeptive Rezep-
Die einzelnen Sinneserregungen werden in den toren bezeichnet. Hierzu gehören die Rezeptoren der
spezifischen Hirnarealen verarbeitet und mit ande- Muskeln, Sehnen, Gelenke, des Gleichgewichtsorga-
ren Hirnzentren derart verknüpft, dass die vielen nes und einige Hautrezeptoren.
Einzelwahrnehmungen wie zu einem Mosaik zu-
sammengesetzt werden und eine Gesamtempfin-
dung erlebbar wird. Man spricht daher auch von ei-
nem Wahrnehmungssystem.
2. Hörsinn: auditives System Ohr: akustische Sensoren in Form von 쐌 Raum- und Richtungsorientierung
Haarzellen 쐌 Gefahrerkennung
쐌 positive und negative Hörerlebnisse
4. Geruchssinn: olfaktorisches System Riechschleimhaut der Nase: olfaktori- 쐌 Kontrolle der Einatemluft
sche Sensoren in Form von Zilien 쐌 Schutz und Orientierung
(fadenförmige Ausläufer) 쐌 positive und negative Geruchs-
empfindungen
7. Muskel- und Gelenksinn: kinästheti- Muskeln, Sehnen und Gelenke: a. Körpereigenwahrnehmung, Beteiligung am
sches System a. Propriozeptoren Gleichgewichtssinn und Bewegungssinn,
b. Nozizeptoren Tonusregulation
b. Schmerzwahrnehmung: Schutz, Flucht
9. innerer Organsinn: viszerales System Organe des Brust- und Bauchraumes: 쐌 vegetative Regulation der Organfunktionen
Viszerozeptoren, Nozizeptoren
Die Wahrnehmung der inneren Organe wird als führen zu Einschränkungen der Blickwinkeleinstel-
viszerale Wahrnehmung bezeichnet, die entspre- lungen und demzufolge zu einem veränderten Seh- 1
chenden Rezeptoren als Viszerozeptoren. eindruck.
Exterozeptive Rezeptoren übermitteln sogenann- Das Auge selbst ist aufgebaut wie eine Kamera.
te Fern- oder Umweltreize wie schmecken, riechen, Durch die Pupille treten Lichtstrahlen in das Auge
hören, sehen, tasten und spüren durch Berührung. und werden von der Linse gebündelt und auf die
Durch sie ist der Mensch unmittelbar mit der Um- Netzhaut (Retina) am hinteren Augapfel gelenkt, die
welt verbunden. die lichtempfindlichen Fotorezeptoren in der Gestalt
90% aller Informationen erreichen über Auge und von Stäbchen und Zapfen enthält. Von der Netzhaut
Ohren das Gehirn, und die restlichen über die ande- gelangen die Impulse über den Sehnerv ins Gehirn,
ren Wahrnehmungskanäle. genauer zum Sehzentrum. Vorher wechseln jeweils
Augen und Ohren sind demnach die wichtigsten die Hälfte der Sehnervenfasern eines jeden Auges auf
Schnittstellen zwischen Außen- und Innenwelt. die gegenüberliegende Seite. Im Sehzentrum werden
Für Pflegende hat diese Erkenntnis eine zentrale die Einzelimpulse verarbeitet und zu einem (Ab-)-
Bedeutung in der Wahrnehmung und Beobachtung Bild zusammengesetzt.
des Menschen. Auf Intensivstationen werden diese Durch das Sehen mit beiden Augen wird der zu
Wahrnehmungen durch Elektroden ersetzt und die sehende Gegenstand aus 2 leicht unterschiedlichen
Ergebnisse auf Monitoren sichtbar gemacht. Diese Blickwinkeln wahrgenommen; in Kombination mit
Form der Patientenüberwachung, auch Monitoring der Sehnervenkreuzung ist das Gehirn in der Lage,
genannt, hat seine Stellung in der modernen Medizin ein dreidimensionales Bild zu konstruieren. Ist das
etablieren können, ist aber für die Gesamteinschät- Sehfeld verändert, leidet das räumliche Einschät-
zung der Patientensituation nicht ausreichend. Statt- zungsvermögen. Betroffene greifen z. B. an Gegen-
dessen ist die Nutzung mehrerer Wahrnehmungska- ständen vorbei.
näle notwendig, z. B. zusätzlich der Hör-, Geruchs- Für die Wahrnehmung einer Gestalt genügen
und Tastsinn. Es genügt nicht, die Fieberhöhe ledig- dem Gehirn allerdings einige wenige Konturen, auch
lich anhand des Fieberthermometers zu ermitteln. Schlüsselkonturen genannt. Das Gehirn fügt den
Vielmehr muss auch die rote Hautfarbe gesehen, die größten Teil aus der Erfahrung und Fantasie hinzu.
heiße, evtl. schweißige Haut gefühlt, eine beschleu- Werden Schlüsselkonturen isoliert angeboten, er-
nigte Atmung gehört und eine gesteigerte Pulsfre- gänzt das Gehirn die fehlende Struktur. Auf diese Art
quenz getastet werden. entstehen optische Täuschungen. Abb. 1.3 zeigt die
Ähnlich verhält es sich bei der Atembeobachtung. „Müller-Lyer-Täuschung“, die darauf beruht, dass ge-
Hier reicht es nicht aus, die Atemfrequenz exakt mit-
tels Elektroden aufzunehmen und am Monitor anzu-
zeigen. Erst in Kombination mit der Wahrnehmung
von Atemgeräuschen und Atemgerüchen wird die
Atembeobachtung sinnvoll.
!
Merke: Für die Pflegekraft ist die Kenntnis
von Anatomie und Physiologie der Sinnesor-
gane wichtig, um Wahrnehmungsverluste
bei Menschen gezielt einschätzen zu können.
a b c
Sehsinn (visueller Sinn)
Das Auge liegt in der Augenhöhle und ist zusammen Abb. 1.3 Wahrnehmungstäuschung: Müller-Lyer-Täuschung.
mit dem Augenlid vor schädlichen Einwirkungen Gerade Linien mit konvexen Kanten (a) erscheinen trotz gleicher
Länge kürzer als solche mit konkaven Kanten (b). Die Ursache liegt
und Austrocknung geschützt. Insgesamt 6 Augen-
darin, dass ein rechter Winkel in geringer Entfernung eine konkave
muskeln ermöglichen dem Augapfel Bewegungen in Perspektive annimmt, in größerer Entfernung manchmal aber
allen 3 Raumachsen. Lähmungen der Augenmuskeln konvex erscheint (c)
Für die visuelle Wahrnehmung genügen Schlüssel- nehme und/oder angenehme Gefühle aus. Menschen
konturen, der Rest wird vom Gehirn aus Erfahrung mit einem „unangenehmen“ Körpergeruch werden 1
und Fantasie hinzugefügt. deshalb häufig bereits von Anfang an als unsympa-
Akustische Reize werden wie alle anderen Reize fil- thisch eingestuft, während Menschen, die gut rie-
triert. Im Gegensatz zum räumlichen Sehen ist die chen, als sympathisch empfunden werden. Die ge-
akustische Raumwahrnehmung jedoch zu jedem samte Industrie, die mit Pflegemitteln und Duftstof-
Zeitpunkt aus allen Richtungen möglich. fen zu tun hat, hat sich auf dieses Phänomen einge-
stellt. Interessanterweise wird beim Kauf einer Haut-
Gleichgewichtssinn (vestibuläre Wahrnehmung) creme oftmals zuerst der Geruch und danach die
Das Gleichgewichtsorgan befindet sich in unmittel- Wirkung beurteilt.
barer Nachbarschaft zur Schnecke im Innenohr und Neuesten Untersuchungen zufolge ist der Mensch
besteht aus 3 senkrecht zueinander, also in 3 Dimen- in der Lage, mehr als 1 Billion Duftreize zu unter-
sionen, stehenden Bogengängen. Innerhalb der Bo- scheiden. Da es für die unterschiedlichen Geruchs-
gengänge befinden sich, wie in den Gängen der qualitäten kein eigenes, differenziertes Begriffssys-
Schnecke, eine lymphartige Flüssigkeit und Haarzel- tem gibt, ist deren Unterscheidung schwierig. John
len. Durch Bewegungen des Kopfes wird die Flüssig- Earnest Amoore hat die Duftstoffe in ein Schema mit
keit in den 3 Bogengängen ebenfalls bewegt und mit sieben typischen Grundgerüchen eingeordnet, von
ihr die Haarzellen. Diese leiten die Impulse über den denen sich die vielen anderen ableiten lassen: blu-
Gleichgewichtsnerv (N. vestibulo-cochlearis) zum mig, faulig, ätherisch, moschusartig, schweißig,
Gehirn. kampferartig und stechig. Die meisten Gerüche ent-
Aus der Stellung der Härchen in den Bogengängen stehen aus Duftgemischen (Bushdid et al. 2014).
errechnet das Gehirn die Richtung, die Stärke der Der Geruchssinn zeigt, im Gegensatz zu den ande-
Drehbewegung und die Stellung des Kopfes. Gleich- ren Sinnen, eine sehr hohe Anpassung (Adaption).
zeitig erhält das Gehirn Informationen aus den Mus- Der Mensch gewöhnt sich an einen bestimmten Ge-
kel- und Gelenkrezeptoren und schließt sie in die Be- ruch und nimmt ihn bereits nach kurzer Zeit der Ein-
rechnung ein. Auf diese Art entsteht eine ziemlich wirkung nicht mehr oder stark abgeschwächt wahr.
genaue Lageempfindung. Dies erklärt beispielsweise, warum beim Betreten ei-
nes ungelüfteten Zimmers zuerst ein unangenehmer
!
Merke: Das Zusammenspiel aus vestibulä- Geruch wahrgenommen wird, der nach einiger Zeit
rem, visuellem und auditivem Sinn ermög- verschwindet, obwohl noch nicht gelüftet worden ist.
licht eine relativ genaue Orientierung inner- Gerüche besitzen einen sehr hohen Wiedererken-
halb eines Raumes. nungswert, da sie mit Erlebnissen und Erfahrungen
in Verbindung gebracht werden. Zum Beispiel stellen
Geruchssinn (olfaktorische Wahrnehmung) sich Menschen beim Riechen von Sagrotan oder For-
Im oberen Teil der Nasenhöhle ist die Nasenschleim- malin Bilder vor wie sterile Räume, Krankenhaus,
haut mit einem speziellen Riechepithel ausgestattet Krankheit und Leiden. Lebkuchengewürz dagegen
(Regio olfactoria). Die Nervenzellen besitzen faden- erinnert an die Weihnachtszeit und Oregano an Pizza
förmige Ausläufer (Zilien), die in die Schleimhaut ra- und Urlaub. Dieser Effekt sollte in der Pflege berück-
gen. Sämtliche Geruchsstoffe werden durch den sichtigt werden.
Schleim gelöst und erregen die Sinneszellen. Die Bei wahrnehmungsgestörten Menschen können
Weiterleitung der Reize geschieht über Nervenbah- z. B. bekannte, vertraute Gerüche als Erinnerungs-
nen direkt zum Riechkolben (Bulbus olfactorius). auslöser benutzt werden, um auf diese Art die Orien-
Dort erfolgt eine Umschaltung auf den eigentlichen tierung zu fördern. Aber auch bei allen anderen Men-
Riechnerv (N. olfactorius). schen sind bei der Pflege Geruchsvorlieben zu beach-
Der Riechnerv zieht in weitere Teile der Großhirn- ten, z. B. durch Benutzen eigener Pflegemittel und
rinde und zu weiteren Hirnnervenkernen. Dazu ge- Duftartikel.
hören u. a. der Hypothalamus und die Nervenkerne Der Geruchssinn wird teilweise vom Geschmack
des limbischen Systems. Diese Verbindungen und überlagert, da Gerüche durch Diffusion über die
Verknüpfungen erklären die emotionale Bedeutung Mundschleimhaut des Rachens zum Riechepithel ge-
des Geruchs. Gerüche lösen unwillkürlich unange- langen können.
Geschmackssinn (gustatorische Wahrnehmung) Die Haut ist besonders empfindlich für mechani-
1 Beim Menschen begrenzen sich die Geschmack- sche Reize. Bereits das Bewegen eines Haares kann
sempfindungen auf 6 verschiedene Geschmacksqua- eine deutliche Empfindung auslösen. Verantwortlich
litäten: süß, sauer, bitter, salzig, umami (fleischig) für Empfindungen sind Rezeptoren unterschiedli-
und fett. Jede diese Geschmacksqualitäten wird cher Typen, die sich überall in der Haut befinden und
durch bestimmte chemische Moleküle ausgelöst. auf Druck, Berührung, Vibration, Wärme, Kälte und
Viele Geschmacksreize der Nahrung bewirken eine Schmerz reagieren.
Mischempfindung. Eine Pampelmuse schmeckt z. B.: Diese Impulse werden über Nervenbahnen zum
süß-sauer-bitter. Rückenmark und von dort zur sensorischen Rinde im
Die Wahrnehmungsrezeptoren für den Ge- Großhirn geleitet. Die sensorische Rinde, auch hinte-
schmack sind die Geschmacksknospen (Caliculi gu- re Zentralwindung (Gyrus postcentralis) genannt,
statori) der Zunge (s. a. Abb. 6.3). Ihre Reize erreichen empfängt alle Signale aus der Peripherie und einigen
das Gehirn über 3 Nerven: Organen. Der „sensorische Homunkulus“ skizziert
1. den Fazialisnerv (N. facialis), landkartenartig die Zuordnung der einzelnen Kör-
2. den Zungen-Schlundnerv (N. glossopharyngeus) perteile bzw. -gebiete entlang der sensorischen Rin-
und de (Abb. 1.6). Die einzelnen Körperregionen sind
3. den Vagusnerv (N. vagus). nicht gleichmäßig verteilt und demnach gibt es auch
unterschiedliche Sensibiltitätsverteilungen.
Der Geschmackssinn ist dem Geruchssinn sehr ähn- Je größer das Areal eines Körperteils in der hinte-
lich. Beide Sinne haben u. a. die Aufgabe, chemische ren Hirnwindung präsentiert ist, desto stärker wird
Stoffezuüberprüfen,bevorsieindenKörpergelangen. er von sensiblen Fasern versorgt. Überprüft wird die
Bei der Geschmackswahrnehmung gibt es unter- sensible Versorgung eines Körperteils mit einer
schiedliche Wahrnehmungsschwellen. Bitter schme- Zwei-Punkt-Diskriminationsschwelle. Hierbei wird
ckende Stoffe werden bereits bei sehr niedriger Kon- die Wahrnehmungsfähigkeit zweier unterschiedli-
zentration wahrgenommen. Die Schwellen für Zu- cher Berührungspunkte eines Körperteils gemessen:
cker, Salz und Säure liegen deutlich höher. Die hohe Ein Zirkel sticht leicht gleichzeitig mit beiden Spitzen
Empfindlichkeit gegenüber Bitterstoffen bildet eine in die Haut. Je besser ein Hautareal sensibel versorgt
Schutzwirkung, da diese oft giftig sind und in höhe- ist, desto mehr Rezeptoren besitzt es und desto enger
rer Konzentration leicht Brech- und Würgereflexe kann der Zirkel gestellt sein, damit die beiden Piek-
auslösen. punkte als 2 Reize wahrgenommen werden.
Ähnlich wie beim Geruchssinn kommt es bei Die größte Sensibilität weisen Finger und Lippen
langandauernden Reizen zur Abnahme der Empfin- auf. Hier werden bereits Abstände von weniger als
dungsstärke. Das bedeutet, dass sich auch der Ge- 5 mm als 2 verschiedene Punkte unterschieden,
schmackssinn anpasst wie z. B. bei der Gewöhnung während im Bereich der Waden ein Abstand bis zu
an bestimmte Gewürze. 45 mm noch als eine Berührung empfunden wird.
Der Hautsinn betrifft die Oberfläche und wird
Hautsinn demnach auch als Oberflächensensibilität bezeich-
Die Haut grenzt den menschlichen Körper von seiner net im Gegensatz zu den Muskeln, Gelenken und Or-
Umwelt ab. Berührungen der Haut sind für die meis- ganen, die der Tiefensensibilität zugeordnet werden.
ten Menschen ein intensives Erlebnis. Als sinnliche Entsprechend der unterschiedlichen Rezeptoren-
Erfahrungen können sie beruhigend, entspannend, typen gibt es unterschiedliche Wahrnehmungsquali-
erotisch anregend, aber auch unangenehm und ab- täten, die zusammen ein System von Hautsinnen bil-
stoßend sein. den. Daraus ergeben sich die folgenden Wahrneh-
Berührung ist eine Möglichkeit der Kontaktauf- mungen:
nahme. Bei der Pflege von schwer kranken Menschen Haptisch-taktile Wahrnehmung,
kommt es immer wieder, z. B. während der Ganz- Temperaturwahrnehmung: Kälte- und Wärme-
körperwaschung, bei Einreibungen und häufig auch sinn,
anstelle von verbaler Kommunikation zu Hautberüh- Schmerzwahrnehmung.
rungen (s. a. Bd. 3, Kap. 3; Bd. 4, Kap. 4).
Kopf
Hals
Arm
Fuß ein
e
Hüft
Ha d
B
Han ger
nd
Fin
gel
f
Rump
enk
le
Da
ta
u
Au me
ni
Ge
Na ge n
s
Ge e
sich
t
Lipp
en
Zunge
Pharynx e
eid
gew
Ein
gensatz zur Haut Impulse aus tieferen Körperschich- erforderlich. Während ein neugeborenes Kind sich
ten übermitteln. noch sehr unkoordiniert bewegt, entwickeln sich in 1
den ersten Lebensjahren koordinierte, den Bedürfnis-
!
Merke: Zu den Mechanorezeptoren gehören sen angepasste Bewegungsmuster wie z. B. das auf-
die Muskelspindeln, die Golgi-Sehnenorgane, rechte Gehen und Laufen und zielgerichtetes Greifen.
die Vater-Pacini-Körperchen und die Ruffini- Im Laufe der Entwicklung werden je nach Bedarf
Kolben. und Übung komplexe Bewegungen erlernt wie z. B.
Schreiben, Tanzen, Klavierspielen etc. Die Entwick-
Die zwischen den Muskelfasern liegenden Muskel- lung eines Bewegungsmusters, d. h. wie viel und wel-
spindeln werden bei jeder Dehnung gereizt und in- che Muskeln wie lange und mit welcher Kraft und
formieren das Gehirn über Ausmaß und Geschwin- Ausdehnung an einem Bewegungsablauf beteiligt
digkeit der Muskeldehnung. Die Golgi-Sehnenorga- sind, ist individuell verschieden und von unter-
ne befinden sich zwischen Muskeln und Sehnen, rea- schiedlichen Faktoren abhängig.
gieren ebenfalls auf Dehnungsreize, verhindern al- Bewegungsabläufe laufen wie ein Programm ab
lerdings durch einen speziellen Rückkopplungsme- und werden nicht als Einzelbewegungen, sondern als
chanismus (Feed-back) die Überdehnung von betref- ganzheitlicher Ablauf wahrgenommen, z. B. das Lau-
fenden Muskeln und Sehnen. fen, Atmen, Schreiben usw. Ein Großteil der Motorik
Vater-Pacini-Körperchen nehmen mechanische dient aber nicht der Bewegung, sondern der Haltung
Verformungen in den Gelenken wahr. Dadurch kann und Stellung des Körpers im Raum, was für den unge-
das Gehirn die jeweilige Gelenkstellung errechnen. hinderten Bewegungsablauf unentbehrlich ist. Die
Zusammen mit dem Gleichgewichtsorgan ist die Ori- aufrechte Haltung mit der relativ kleinen Standfläche
entierung im Raum möglich und der Körper weiß, in der Füße ist nur möglich durch ständige Muskelver-
welcher Stellung sich die jeweilige Extremität befin- änderungen (s. a. Bd. 4, Kap. 5).
det. Neben physiologischen Bedingungen sind psy-
Die Wahrnehmung über Muskeln, Sehnen und chische Einflüsse nicht unerheblich an Bewegungs-
Gelenke wird auch als „verborgener sechster Sinn“ abläufen beteiligt. Unterschiede werden besonders
bezeichnet, da mit ihm Bewegungen, Muskeltonus an der Handschrift deutlich, die eine starke individu-
und Haltung der beweglichen Teile unseres Körpers elle Ausprägung aufweist, sowie am Gang, der sich
ständig überwacht und den jeweiligen Umständen durch psychische oder körperliche Erkrankungen
angepasst werden. verändert (s. a. S. 456).
Nur durch diese Eigenwahrnehmung unseres Ohne Bewegung ist keine Bewegungswahrneh-
Körpers ist es möglich, ihn als zu uns gehörig zu erle- mung möglich.
ben. Die Lehre von der Bewegungsempfindung/-wahr-
nehmung wird auch als Kinästhetik bezeichnet und
Bewegungssinn (kinästhetische Wahrnehmung) leitet sich aus dem Wort Kinästhesie ab.
Kinästhetik ist aus verschiedenen Blickwinkeln
!
Merke: Die Bewegung stellt eine grundle-
untersucht und beschrieben worden, und es fließen
gende Voraussetzung für sämtliche mensch-
wichtige Erkenntnisse aus der Verhaltenskybernetik,
liche Funktionen und Interaktionen dar. Jede
der humanistischen Psychologie und aus modernen
Augenbewegung, jede Reaktion des Körpers, jegliches
Tanzformen ein.
Verhalten ist mit Bewegung verbunden.
Die Bewegungsempfindung unterliegt wie alle
anderen Wahrnehmungen auch dem Wahrneh-
Der Bewegungssinn ist die Fähigkeit zur Wahrneh-
mungsprozess. Das Gehirn erhält Signale über Me-
mung von Richtung und Geschwindigkeit von Bewe-
chanorezeptoren der Tiefensensibilität aus Muskeln,
gung.
Sehnen und Gelenken. Die Informationen aus den
Eine Bewegung kommt zustande durch Bewe-
Propriozeptoren, denen des Gleichgewichtsorgans
gungsimpulse von der vorderen Zentralwindung (Gy-
und der visuellen Wahrnehmung werden zusammen
rus präzentralis) zu den einzelnen Muskeln in der Pe-
zu einer einzigen Empfindung gekoppelt und ande-
ripherie. Für die meisten Bewegungen ist ein Zusam-
ren Hirnzentren zur weiteren Verarbeitung zugelei-
menspiel mehrerer Muskeln, sog. Muskelgruppen,
tet, z. B. dem Bewusstsein.
Mit dem Bewegungssinn eng verbunden ist die Die „Kinästhetik in der Pflege“ ermöglicht kräfte-
1 Empfindung von Kraft. Der Kraftsinn lässt uns die er- schonendes und rückenschonendes Arbeiten.
forderliche Muskelspannung abschätzen, die not-
wendig ist, einen Widerstand zu überwinden, z. B. Wahrnehmung über innere Organe
das Tragen eines Gewichtes. (viszerale Sensibilität)
Ähnlich wie die Haut, Skelettmuskeln, Sehnen und
!
Merke: Damit Pflegende bewegungsgestörte Gelenke enthalten auch die inneren Organe im Brust-
Menschen mobilisieren können, ist die und Bauchraum Rezeptoren, die Viszerozeptoren.
Wahrnehmung der eigenen Bewegungsab- Die viszerale Sensibilität dient in erster Linie der
läufe wichtig. Homöostase, d. h. dem Gleichgewicht der physiologi-
schen Körperfunktionen.
Werden die eigenen Bewegungen und Bewegungs- Die über die Viszerozeptoren kommenden Infor-
muster erkannt, können sie sinnvoll und ökonomisch mationen werden hauptsächlich über das vegetative
eingesetzt werden, ohne negative Folgen für den ei- Nervensystem geleitet und dazu genutzt, Abwei-
genen Bewegungsapparat, z. B. Rückenschmerzen. chungen von Sollwerten des Körpers zu erkennen
Zudem wird die Wahrnehmungsfähigkeit für gestör- und Gegenmaßnahmen einzuleiten.
te Bewegungsabläufe behinderter Menschen sensi-
bilisiert und somit positiv in den pflegerischen Be- Beispiel: Ein niedriger Blutdruck wird durch
ziehungsprozess eingegriffen. Dehnungsrezeptoren in der Arterienwand
F. Hatch und L. Maietta entwickelten ein kreatives „erkannt“ und die Informationen werden
Handlungskonzept für Pflegende, auf deren Grundla- zum Kreislaufzentrum (vasomotorisches Zentrum) des
ge Interaktionen mit Pflegebedürftigen durch indivi- Gehirns geleitet. Das vasomotorische Zentrum akti-
duelle, der Situation angepasste Bewegung möglich viert den N. sympathicus, der mit einer blutdruckregu-
werden. Dieses Handlungskonzept ist bekannt als lierenden Gegensteuerung reagiert und das physiologi-
„Kinästhetik in der Pflege“ (s. a. Bd. 4, Kap. 3). sche Gleichgewicht wieder herstellt.
!
Merke: Die Anwendung kinästhetischer Die Vorgänge der viszeralen Sensibilität werden
Prinzipien ermöglicht Pflegenden kräftescho- meist gar nicht oder nur zu einem geringen Teil be-
nendes und rückenschonendes Arbeiten. wusst wahrgenommen.
Folgende viszerale Organsysteme werden unter-
Zusammenfassung: schieden:
Temperaturwahrnehmung, Schmerzwahr- Sensoren des Herz-Kreislauf-Systems (kardiovas-
nehmung und Bewegungssinn kuläres System),
Die Zone der Indifferenztemperatur liegt zwischen Sensoren des Lungensystems (pulmonales Sys-
33 und 35⬚. tem),
Temperaturempfindungen können sehr wechsel- Sensoren des Magen-Darm-Systems (gastrointes-
haft sein und schnell adaptieren. tinales System),
Schmerzrezeptoren sind lebensnotwendig, um den Sensoren des Nierensystems (renales System).
Körper vor schädigenden Einflüssen zu schützen.
Die Mechanorezeptoren der Tiefensensibilität, Sensoren des Herz-Kreislauf-Systems
Schmerz- und Thermorezeptoren in Muskeln, Seh- Die Herztätigkeit wird uns nur in extremen Situatio-
nen und Gelenken ermöglichen die Eigenwahrneh- nen bewusst, z. B. bei körperlicher Anstrengung oder
mung des Körpers. bei starker psychischer Anspannung, und zwar in
Ein Großteil der Motorik dient der Haltung, nicht Form von Herzklopfen. Das liegt zum einen an der
der Bewegung des Körpers. Form-, Volumen- und Lageveränderung des Herzens
Die Wahrnehmung eigener Bewegungsabläufe ist im Laufe eines Herzzyklus, zum anderen an der Reiz-
bei der Mobilisation bewegungsgestörter Menschen auslösung anderer Rezeptoren.
wichtig.
Mit der Herztätigkeit wird beispielsweise der rungsreize nur am Anfang, nämlich im Mundbereich,
Brustkorb mechanisch erschüttert und infolgedes- und am Ende, dem Analkanal, wahrgenommen. Bei 1
sen werden zahlreiche Mechanorezeptoren der Mus- stärkerer Reizung, z. B. durch Aufblasen eines Ballons
keln, Sehnen, Gelenke und Haut aus dem Brustkorb oder Füllen mit Luft, können jedoch Empfindungen
miterregt. Der Herzspitzenstoß kann an der linken im gesamten Magen-Darm-Kanal ausgelöst werden.
Brustwand in Höhe des 5. Zwischenrippenraumes Der Dehnungszustand der Magenwände löst
gefühlt und häufig auch gesehen werden, besonders Hunger-, Sättigungs- oder Völlegefühl aus; eine Deh-
bei Zunahme der Herztätigkeit. nung des Mastdarms verursacht Stuhldrang. Über-
Auch die Pulswelle löst Miterregungen zahlrei- dehnungen und Spasmen werden im gesamten Ma-
cher Mechanorezeptoren in der Peripherie aus, be- gen-Darm-Bereich als typische (Bauch-)Schmerzen
sonders der Vater-Pacini-Körperchen (s. a. S. 15), so- empfunden. Warm- und Kaltempfinden ist lediglich
dass Pulswellen in extremen Situationen ebenfalls in der Speiseröhre und im Analkanal möglich. Im
wahrgenommen werden können. Im Alltag werden Magen kann ein schmerzhaftes Brennen durch
uns die Erregungen nicht bewusst. Erst eine erhöhte bestimmte Reize ausgelöst werden, z. B. durch Alko-
Herztätigkeit und damit ein verbundener erhöhter hol.
Reizzustrom wird als Herzklopfen wahrgenommen. Die an der Verdauung beteiligten Organe Leber,
Gallenblase und Bauchspeicheldrüse werden nur bei
Sensoren des Lungensystems krankhaften Veränderungen wahrgenommen. Die
Die Atembewegungen werden vom Atemzentrum im Leber selbst ist schmerzunempfindlich, kann aber
verlängerten Mark des Gehirns gesteuert. Viszero- ein Druckgefühl hervorrufen infolge starker Vergrö-
zeptoren des Brust- und Bauchraumes sowie Mecha- ßerung und Verdrängung von in der Nähe befindli-
norezeptoren der Atemmuskulatur und des Zwerch- chem Gewebe. Die Bauchspeicheldrüsengang- und
fells melden den Dehnungszustand der Atemmusku- Gallengangmuskulatur enthält Mechano- und Nozi-
latur, Chemorezeptoren den Kohlendioxid- und Sau- zeptoren, die bei Überdehnung, z. B. durch Steine
erstoffgehalt des Blutes. Das Atemzentrum reguliert oder Entzündungen, schmerzhaft reagieren.
entsprechend der Informationen die Impulse für die
Ein- und Ausatmung. Die Atemtätigkeit ist uns, wie Sensoren des Nierensystems
die Herztätigkeit, bei normaler Rhythmik nicht be- Die Urinproduktion in den Nieren und der Transport
wusst, es sei denn, die Aufmerksamkeit wird gezielt durch das harnableitende System in die Harnblase
auf sie gelenkt. Eine willkürliche Beeinflussung des lösen keinerlei Empfinden aus. Dehnungsrezeptoren
Atemablaufs ist begrenzt möglich. in der Blasenwand informieren über den Füllungszu-
Sinkender Sauerstoff- und steigender Kohlendi- stand. Ab einem Füllungszustand von 300 – 400 ml
oxidgehalt des Blutes wird von den Chemorezepto- wird Harndrang ausgelöst. Allerdings kann die
ren registriert und als Luftnot bzw. Lufthunger und Wahrnehmungsschwelle teilweise willkürlich be-
Erstickungsgefühl wahrgenommen. einflusst werden und ist vom Aufmerksamkeitsgrad
Nozizeptoren und Mechanorezeptoren in den abhängig. In extremen Fällen können sogar kleine
Schleimhäuten der Atemwege reagieren auf schädi- Mengen bereits Harndrang auslösen oder erst sehr
gende mechanische und chemische Reize, z. B. große Mengen.
Fremdkörper in der Luftröhre oder giftige Gase, und Stauungen von Urin und Entzündungen lösen ko-
lösen Hustenreflexe aus. likartige Schmerzen aus, wie sie besonders häufig bei
Nierensteinbildung entstehen. Blasenentzündungen
Sensoren des Magen-Darm-Traktes können zu einem dauernden Harndrang führen.
Der Magen-Darm-Kanal gehört zur Körperoberflä-
!
che und ist mit Schleimhaut ausgekleidet. Mechani- Merke: Die Viszerozeptoren der inneren Or-
sche, thermische und chemische Reize werden des- gane dienen dem Gleichgewicht der physio-
halb auch intensiver wahrgenommen als in anderen logischen Körperfunktionen/Homöostase).
inneren Organen. Sie werden uns nur in Extremsituationen bewusst.
Im gesamten Magen-Darm-Kanal befinden sich
Mechanorezeptoren. Allerdings werden Berüh-
!
Merke: Selektion, Ergänzung, Organisation Reize nicht weiter verarbeitet, gehen sie verloren.
und Strukturierung sowie Interpretation Daneben ist das Gehirn in der Lage, viele Reize zu
sind psychologische Vorgänge des Wahrneh- gruppieren und zu einer Ganzheit zusammenzuset-
mungsprozesses. zen. Das erfordert Übung für das verarbeitende Sin-
nesorgan. Zunächst werden Wörter aus einzelnen
Zusammenfassung: Buchstaben zusammengesetzt. Nach mehrmaligem
Psycholog. Grundlagen der Wahrnehmung Wiederholen können die (gleichen) Wörter gelesen
Neben physiologischen greifen auch psychologische werden, ohne dass man darüber nachzudenken
Einflüsse in den Wahrnehmungsprozess ein, da der braucht, aus welchen Buchstaben sie bestehen, ob-
Organismus nicht in der Lage ist, alle angebotenen wohl die Anzahl der Reize gleich groß geblieben ist
Reize verarbeiten zu können. wie beim ersten Lesen.
Psychologische Einflüsse auf den Wahrnehmungs- Während die oben beschriebenen Grenzen der
prozess: Selektion, Ergänzung, Organisation und Wahrnehmung angeboren sind, verändern sie sich
Strukturierung, Interpretation. im Alter durch den Alterungsprozess, wovon sämtli-
che Körperorgane betroffen sind.
Durch Müdigkeit ist die gesamte Sinneswahrneh-
1.3 Beeinflussende Faktoren bei mung herabgesetzt wie auch durch den Einfluss von
der Wahrnehmung Medikamenten, vor allem Schlaf-, Beruhigungsmit-
teln und Neuroleptika. Besonders spürbar ist die Be-
Die Wahrnehmung kann sowohl physisch als auch einflussung der Reizverarbeitung durch Drogen- und
psychologisch mehr oder weniger stark beeinflusst Alkoholkonsum.
werden. Auf der einen Seite setzt der menschliche Zu den allgemeinen physiologischen Einflussfak-
Körper den Sinnesorganen Grenzen, innerhalb derer toren auf die Wahrnehmung gehören:
Reize aufgenommen und weitergeleitet werden kön- Gewöhnungseffekt,
nen. Auf der anderen Seite gelingt es dem Gehirn bei Entfaltung der Sinne,
der Reizverarbeitung nicht, ein ganz genaues Abbild Wahrnehmungsschwelle,
entsprechend den aufgenommenen Reizen zu repro- Verschmelzung,
duzieren. Es entstehen lediglich ähnliche Abbilder, Assimilation,
die zudem mehr oder weniger stark von der wahr- Kontrastierung.
Beispiel: Ist eines der beiden Innenohren er- Blindheit entsteht durch Funktionsausfall des Auges
1 krankt, kommt es häufig zu einer Mitbeteili- oder des Sehzentrums. Bei den Augenerkrankungen
gung des Gleichgewichtsorgans. Das bedeu- sind meist Hornhaut-, Netzhauterkrankungen oder
tet, dass nicht nur der Höreindruck vermindert ist, son- das Glaukom für Blindheit, auch Amaurosis genannt,
dern möglicherweise auch Schwindel und eine verän- verantwortlich. Ist die Ursache der Blindheit eine
derte Raumwahrnehmung entsteht. krankhafte Veränderung des Sehzentrums, können
optische Eindrücke nicht verarbeitet und erkannt
werden. Diese Form der Blindheit wird als Seelen-
nicht zu einem Hörerlebnis, z. B. zu einer Melodie, Muskeln und Gelenke, die eine aufrechte Körperhal-
zusammengefügt werden. tung registrieren und weiterleiten. Der Körper rea- 1
Diese Art der Taubheit wird als Seelentaubheit giert mit Schwindel und oben genannter vegetativer
oder auditive Agnosie bezeichnet. Symptomatik, was je nach Vorkommen als Seekrank-
heit, Flugkrankheit oder Autokrankheit bezeichnet
Definition: Tinnitus sind Geräusche in Form wird.
von Klingeln, Sausen, Brummen, Pfeifen oder im- Der Gleichgewichtssinn ist eng verbunden mit
mer wiederkehrenden Melodien. Sie können der Körper- und Bewegungswahrnehmung; sie be-
dauerhaft auftreten oder nur in bestimmten Situatio- einflussen sich gegenseitig. Das bedeutet, dass Bewe-
nen, z. B. bei Stress. Die Ursache ist nicht geklärt, aller- gungseinschränkungen Gleichgewichtsstörungen
dings werden Störungen des Hörnervs, Stress und Lärm auslösen können, z. B. bei einer Querschnittlähmung.
als Risikofaktoren für die Entstehung in Betracht gezo- Umgekehrt führen Störungen des Gleichgewichtsor-
gen. Für den Betroffenen sind ständige Hörgeräusche gans je nach Ausprägung zu Bewegungseinschrän-
sehr quälend. kungen bis hin zur Unfähigkeit, koordinierte Bewe-
gungen auszuführen.
Definition: Die Taubheit ist die Unfähigkeit, Das Gleichgewichtsempfinden kann auch bei
akustische Signale wahrzunehmen. Sie kann an- Menschen, die längere Zeit gelegen haben, verändert
geboren oder erworben sein. Die Unterschei- sein. Sie sollten deshalb, und wegen einer möglichen
dung ist für die Sprachentwicklung von Bedeutung. Bei Kreislauflabilität, schrittweise mobilisiert werden,
einer angeborenen oder frühkindlichen Taubheit ist damit sie ihr Gleichgewicht wiederherstellen kön-
auch die Sprachentwicklung gestört. Hieraus kann eine nen.
Taubstummheit resultieren. Auch gelähmte Menschen, die ganze Muskelgrup-
pen nicht mehr für ihren Lageausgleich benutzen
Gleichgewichtssinn können, müssen ihr Gleichgewicht ganz neu organi-
Das Gleichgewichtsorgan reagiert empfindlich auf sieren und erlernen. Erschwerend ist hierbei, dass
bestimmte Reize. Z. B. lösen thermische Reize in möglicherweise wichtige Informationen aus der Tie-
Form von warmem oder kaltem Wasser im Gehör- fensensibilität der Muskeln und Gelenke durch die
gang rotatorische Augenbewegungen aus, die auch Lähmung nicht mehr zur Verfügung stehen und der
als Nystagmus bezeichnet werden. Beim Tauchvor- motorische Feed-Back-Mechanismus zusammen-
gang kann durch Druck auf das Innenohr und Gleich- bricht. Das führt zu einem völlig veränderten Körper-
gewichtsorgan ein Verlust der Raum- und Richtungs- gefühl bis hin zur Verleugnung der gelähmten Kör-
orientierung entstehen. perteile und Störungen des Gleichgewichtes, wie z. B.
Innenohr und Gleichgewichtsorgan sind räumlich bei der Hemiplegie (s. a. Bd. 4, Kap. 5).
und nerval eng miteinander verbunden, wodurch es
nicht selten bei Störungen des einen Organs zu Mit- Geruchssinn
beteiligung des anderen Organs kommt. Ein Laby- Der Geruchssinn kann durch meist harmlose Erkäl-
rinthausfall im Innenohr, z. B. nach einem Hörsturz, tungskrankheiten mit Schnupfen beeinträchtigt
führt nicht nur zu einer Hörbeeinträchtigung, son- sein. Sehr häufig ist die Riechfähigkeit durch chro-
dern auch zu einem Drehschwindel mit Fallneigung. nisch allergische Rhinitiden herabgesetzt. Auch
Da das Gleichgewichtsorgan stark vom vegetati- Hirnverletzungen und -erkrankungen oder Kompli-
ven Nervensystem beeinflusst wird, sind Störungen kationen nach HNO-Operationen können den Ge-
häufig von Übelkeit, Erbrechen und Schweißausbrü- ruchssinn verändern.
chen begleitet.
Bewegungskrankheiten, auch Kinetosen genannt, Definition: Eine herabgesetzte Geruchsemp-
entstehen durch ungewohnt starke Erregung des findlichkeit wird als Hyposmie bezeichnet, ein
Gleichgewichtsorgans, z. B. durch ein schwankendes Fehlen des Geruchssinns als Anosmie. Parosmien
Schiff. Verstärkt wird dieses Missempfinden durch sind geruchliche Fehlwahrnehmungen, d. h. Gerüche
einen widersprüchlichen visuellen Eindruck: Das werden wahrgenommen, ohne dass Geruchsstoffe vor-
Auge vermittelt dem Gehirn einen schrägen Sehein- handen sind.
druck, im Gegensatz zu den Propriozeptoren der
Bewegungssinn Organsinn
Sowohl periphere Störungen der Muskeln, Sehnen Die inneren Organe funktionieren nach dem homö-
und Gelenke als auch deren verarbeitende Reize im ostatischen Prinzip und werden erst wahrgenom-
Gehirn haben einen unmittelbaren Einfluss auf die men, wenn die Aufmerksamkeit auf sie gelenkt wird,
Bewegung und den Bewegungssinn. oder z. B. bei entsprechender Dehnung.
Da das Bewegungsprogramm teilweise unbe-
!
wusst abläuft, besonders sog. Mitbewegungen wie Merke: Schmerzen in den Organen entste-
beispielsweise das Pendeln der Arme beim Gehen hen durch Reizung von Nozizeptoren oder
oder die Gestik und Mimik beim Sprechen, werden in Überdehnungen sowie Spastiken. Sie stellen
erster Linie Bewegungsausfälle oder gestörte Bewe- einen Schutzmechanismus dar und motivieren zur Be-
gungsabläufe wahrgenommen, wie z. B. beim Mor- seitigung der Ursache.
bus Parkinson. Treten bei Bewegungen Schmerzen
auf, werden sie unterlassen bzw. notwendige Bewe- Veränderungen viszeraler Wahrnehmungen, z. B.
gungen schmerzvermindert ausgeführt. Psychische durch Lähmungen, können demnach gefährliche Fol-
Erlebnisse wirken sich sowohl steigernd als auch gen für den Gesamtorganismus nach sich ziehen.
mindernd auf die Motorik und ihre Wahrnehmung Wird eine Blinddarmentzündung wegen Schmerz-
aus. Depressive Menschen erleben Bewegungen häu- unempfindlichkeit nicht erkannt, kann dies tödlich
fig als schwer und bleiern. Das Gefühl kann sich bis enden. Eine Überblähung des Darmes kann zu einem
zur Lähmungsempfindung steigern. Zwerchfellhochstand mit eingeschränkter Atmung
Krankhafte Störungen im Gehirn und Rücken- führen und eine überfüllte Blase reflektorisch zu ve-
mark beeinflussen die Sensorik, d. h. die Information getativen Kreislaufstörungen, besonders bei Men-
von Bewegung wird auf dem Weg zum Gehirn verän- schen mit Querschnittlähmungen.
dert und als verfremdet wahrgenommen, z. B. „wie Die meisten krankhaften Veränderungen der in-
auf Watte zu laufen“ oder „Blei an den Füßen“ zu tra- neren Organe werden nicht durch ihre bewusste
gen. Solche Empfindungen treten typischerweise bei Wahrnehmung, sondern durch Begleitsymptome
der Multiplen Sklerose auf, einer Entzündung der oder andere diagnostische Methoden erkannt.
zentralen Nervenbahnen. Aber auch durch Drogen-
einnahme können ähnliche Phänomene entstehen. 1.3.2 Psychische Einflussfaktoren
Lähmungen führen zum Ausfall der motorischen Wahrnehmung ist ein bewusster Prozess und von
und sensorischen Fähigkeiten im betroffenen Gebiet. Empfindungen begleitet. Sie ist individuell und ab-
Bei der Halbseitenlähmung kommt es infolge von hängig von Erfahrungen und Erlebnissen in der Ver-
Nervenzellschädigungen in der motorischen und gangenheit. Eine Pflegekraft kann z. B. ausgeruht und
sensorischen Großhirnrinde zu spastischen Läh- ausgeglichen oder müde und überreizt sein, und ent-
mungen oder Bewegungsmustern sowie deren ge- sprechend unterschiedlich wird sie Menschen oder
störter Wahrnehmung. Situationen wahrnehmen.
Die Auswirkungen auf die Körper- und Raumori- Auch im psychischen Bereich finden unterschied-
entierung wurden bereits oben beschrieben. Ent- liche Filtervorgänge bzw. Wahrnehmungsverstärker
sprechend dem Bobath-Konzept wird versucht, statt.
durch gezieltes Bewegungstraining neue Bewe- Psychische Einflussfaktoren:
gungsmuster zu entwickeln, dadurch die Sensibilität aktuelle Bedürfnisse,
und das Gleichgewicht zu fördern mit dem Ziel, aktueller emotionaler Zustand,
durch veränderte Bewegungsabläufe Selbstständig- Motivation,
keit zu erreichen. Interesse,
Beispiel: Ein zorniger Mensch nimmt eher Beispiel: Hat eine Pflegekraft vermehrt Er-
negative Reaktionen seiner Mitmenschen fahrung mit alkoholabhängigen Menschen
wahr als ein entspannter und zufriedener gesammelt, reagiert sie besonders sensibel
Mensch. Ein verliebter Mensch sieht die Welt sprich- auf Alkoholgeruch. Hat eine weibliche Pflegekraft vor-
wörtlich durch eine „rosarote“ Brille. D. h., dass das wiegend männliche Pflegekräfte als besonders rau er-
Verliebtsein die negativen Eigenschaften des Partners lebt, wird sie diese Eigenschaften verstärkt bei allen
wegfiltert. männlichen Pflegekräften wahrnehmen.
Trauernde Menschen sind häufig in ihrem psychischen
Antrieb blockiert; sie ziehen sich sozusagen in sich zu- Persönliche Charaktereigenschaften
rück und sind für Reize aus der Umwelt weniger emp- Je nachdem, welche Eigenschaft sich ein Mensch
fänglich. Eine Pflegekraft, die sich um ihren kranken wünscht oder welche er besitzt, wird er diese ver-
Partner sorgt, wird weniger empfänglich sein für Prob- stärkt bei anderen wahrnehmen. Ein extrovertierter
leme im Pflegeteam und sich möglicherweise durch Mensch, der sich lieber ruhiger erleben möchte, wird
Routinearbeiten ablenken. bevorzugt ruhige Menschen wahrnehmen. Demge-
genüber achtet ein introvertierter Mensch, der gerne
Motivation mehr aus sich herausgehen möchte, eher auf Men-
Definition: Motivation ist die Summe der Be- schen, die offen und temperamentvoller sind.
weggründe, die das menschliche Handeln hin-
sichtlich Inhalt, Intensität und Richtung zum Er- Einstellungen und Wertvorstellungen
folg beeinflusst und kontrolliert. Werte und Normen sind für unsere Sozialisation
wichtig, um uns in der Gesellschaft, in der wir leben,
Die Aufmerksamkeit wird auf bestimmte Reize, die zurecht zu finden und orientieren zu können. Sie
zum Erfolg führen, gelenkt und stärker wahrgenom- sind je nach Kultur unterschiedlich. Während in asia-
men. Motivationsgeleitete Aufmerksamkeit kann zu tischen Ländern das Essen eines Hundes eine Delika-
tesse darstellt, wird Hundefleisch als Nahrungsmit- pulse, wie z. B. Bildung von schwarzen, sich bewe-
tel bei einem Europäer eher Ekel hervorrufen. Die genden Pünktchen. Patienten können diese auch mit 1
Farbe Schwarz assoziiert in westlichen Ländern Fliegen oder Insekten verwechseln. Dies ist zu beach-
Trauer, während die Farbe Weiß das Gleiche in asia- ten, bevor Menschen mit solchen oder ähnlichen
tischen Ländern darstellt. Phänomenen als verwirrt oder psychotisch behan-
delt werden, u. a. durch Gabe von Psychopharmaka,
Soziale Situation die ihrerseits wiederum erheblich in die Wahrneh-
Da wir als soziale Wesen leben, werden persönliche mungsvorgänge eingreifen.
und familiäre Ereignisse unseren Erlebnisspielraum
beeinflussen. Reizüberflutung
Das Gegenteil vom Reizentzug ist die Reizüberflu-
Beispiel: Eine Mutter, die sich um ihr kran- tung, bei der offensichtlich die Filtermechanismen
kes Kind sorgt, wird eine andere sich sorgen- ankommender Reize nicht oder nicht ausreichend
de Mutter ganz anders wahrnehmen als eine funktionieren.
Frau, die keine Kinder hat. Oder eine Pflegekraft, die Es gibt Hinweise, dass beim Autismus dieses Se-
selbst einen Angehörigen zu Hause pflegt, wird Ange- lektionssystem versagt und das Gehirn von unsor-
hörige von Pflegebedürftigen auf einer Pflegestation tierten Reizen überflutet wird. Außerdem fällt es, Be-
anders wahrnehmen als ihre alleinlebende Kollegin. obachtungen zufolge, Autisten schwer, Reize unter-
schiedlicher Wahrnehmungskanäle zu verknüpfen
Reizentzug (Reizdeprivation) wie z. B. Geschmack und Geruch oder Auge und Be-
Definition: Reizentzug bedeutet, dass der wegung, und sie zu einem sinnvollen ganzheitlichen
Mensch nur sehr wenig bis gar keine Reize von Erlebnis zu integrieren. Die Folge einer Reizüberflu-
außen empfängt. tung reicht von Nervosität, Aggressivität über gestör-
te Orientierung bis hin zum sozialen und psy-
Es gibt Untersuchungen, die aufzeigen, dass eine chischen Rückzug.
reizarme Umgebung im Laufe der Zeit Trugwahrneh-
!
mungen und Halluzinationen entstehen lässt. Die Merke: Autosuggestive Verfahren beruhen
Menschen sehen Bilder oder Situationen, die nicht auf dem Prinzip, äußere Reize weitgehend
real vorhanden sind. Auch Umdeutungen von vor- auszuschalten und zur Ruhe zu gelangen.
handenen Gegenständen sind eine mögliche Folge Diese Ruhe ist die Voraussetzung dafür, körpereigene
von Reizentzug. Diese Reaktionen stellen eine Art Reize wahrzunehmen bzw. intensiver zu erleben.
Selbstreizung des Gehirns dar, die auch als sensori-
sche Reizdeprivation bezeichnet wird. Habituation
Zur Reizdeprivation wurden einige Experimente Definition: Mit Habituation wird eine fort-
und Untersuchungen durchgeführt. schreitende Abnahme motorischer und sensori-
scher Reaktionen sowie das veränderte Körper-
Beispiel: Studenten nahmen an einem Isola- gefühl auf einen gleich bleibenden Reizzustand bezeich-
tionsexperiment in einer völlig reizarmen net.
Umgebung teil. Nach spätestens 72 Stunden
traten die ersten intensiven Wachträume und Halluzi- Informationen über die körperliche Beschaffenheit
nationen ein. Die Studenten sahen Lichtpunkte, einfa- erhält das Gehirn durch Bewegung. Verminderte Be-
che geometrische Figuren aber auch gelbe Männchen wegung oder Bewegungslosigkeit, z. B. durch Immo-
usw. Auch Stimmen, Geräusche und immer wiederkeh- bilität verursacht, reduziert den Informationsfluss
rende Melodien wurden gehört. mit Auswirkung auf die körperliche Wahrnehmung.
Gleichermaßen nimmt die Aufmerksamkeit für an-
Zu ähnlichen Reaktionen kann es auch in Situationen dere, z. B. visuelle oder akustische Reize, ab. Bei be-
extremer Monotonie kommen. Pflegebedürftige, wegungseingeschränkten, bettlägerigen Menschen
bettlägerige Menschen, die sich kaum bewegen kön- führen lange Liegezeiten demzufolge zu Störungen
nen, sind gezwungen, überwiegend an die weiße De- des Körperbildes und veränderter Koordinations-
cke oder an die Wand zu starren. Das Auge erlebt zu fähigkeit. Auch räumliche und zeitliche Desorien-
wenig Stimulation. Das Gehirn produziert eigene Im- tiertheit, beeinträchtigte intellektuelle Fähigkeiten
und Kommunikationsstörungen können u. a. Folgen Die soziale Wahrnehmung ist das Resultat der So-
1 der Habituation sein. Betroffene Menschen greifen zialisation und beschäftigt sich mit folgenden Fra-
am Wasserglas vorbei oder können es nicht zum gen:
Mund führen. Häufig zu beobachten ist auch das Wie entstehen Eindrücke von anderen Personen?
Festkrallen an Pflegepersonen. Wie verlässlich sind diese Eindrücke?
In einigen Fällen werden Geräusche und Stimmen Welche Faktoren beeinflussen unsere Eindrücke?
fehlinterpretiert und auch die eigene Identität ver- Welche Konsequenz haben diese Einflüsse?
wechselt. Diese Zustände der Verwirrtheit, unter
dem Aspekt der Habituation betrachtet, können Das Problem des ersten Eindrucks
durch Anwendung der Basalen Stimulation, Lage- In der Regel reichen wenige Informationen aus, um
rung und Bewegung gemindert, beseitigt oder ver- sich ein Bild über einen fremden Menschen zu ma-
mieden werden (s. a. Bd. 4, Kap. 4). chen. Das Erinnerungsvermögen für die ersten Infor-
mationen ist besonders gut. Es sind meist einzelne
Zusammenfassung: Eigenschaften, die häufig unbewusst wahrgenom-
Beeinflussende Faktoren – Wahrnehmung men werden, wie z. B. die äußere Erscheinung mit
Aufgrund des begrenzten Fassungsvermögens der der Kleidung, dem Körperbau, die Haltung, die Mi-
Sinnesorgane können nicht alle Reize übermittelt mik, die Stimme usw. Jeder kennt den Ausdruck
werden. „Kleider machen Leute“. Für die Wahrnehmung hat
Die angeborenen Grenzen der Wahrnehmung ver- die Darstellung des Äußeren, z. B. die Kleidung, einen
ändern sich im Alter. informativen Charakter.
Physiologische Einflussfaktoren sind Gewöhnung, An der Kleidung werden Gruppen erkannt, z. B.
Entfaltung, Wahrnehmungsschwelle, Verschmel- Soldaten durch die Uniformen oder Pflegepersonal
zung, Assimilation und Kontrastierung. und Ärzte durch Tragen weißer Dienstkleidung. Wei-
Alle Sinnesorgane können pathologischen Einflüs- ße Kittel werden unterschiedlich wahrgenommen
sen unterliegen. und interpretiert. Kranke Kinder, die bereits
Psychische Einflussfaktoren der Wahrnehmung schmerzhafte, negative Erfahrungen mit Ärzten oder
sind: Aktuelle Bedürfnisse, aktueller emotionaler Pflegepersonal gemacht haben, reagieren häufig ab-
Zustand, Motivation, Interesse, Lebenserfahrung, lehnend, aggressiv oder zurückgezogen auf alle Men-
persönliche Charaktereigenschaften, Einstellungen schen, die einen weißen Kittel tragen. Andererseits
und Wertvorstellungen, soziale Situation, Reizent- flössen Menschen in weißen Kitteln Respekt ein. Ärz-
zug, Reizüberflutung, Habituation. te werden z. T. auch heute noch als „Götter in Weiß“
bezeichnet.
1.3.3 Soziale Wahrnehmung Die Mode gibt den Ton an, bestimmt, was „in“ ist.
Entsprechend wird jemand, der sich modisch kleidet,
Definition: Soziale Wahrnehmung bedeutet als fortschrittlich und modern beurteilt.
die Wahrnehmung von Personen aus der Umge- Aber nicht nur die Kleidung, sondern auch der
bung in Abhängigkeit von der Selbstwahrneh- Körperbau beeinflusst den ersten Eindruck. Je nach-
mung, von sozialen Vergleichsprozessen und Faktoren dem, ob ein Mensch groß oder klein ist, dick oder
aus der Umgebung. Sie wird wesentlich geprägt durch dünn, eine große Nase hat oder einen breiten Mund,
die Persönlichkeitsentwicklung, individuelle Eigen- immer wieder nehmen wir diese Eindrücke auf und
schaften und kulturelle Besonderheiten. vergleichen sie mit Personen, die wir schon kennen,
oder mit uns selbst. Die Erfahrungen, die wir mit den
Auch die oben genannten psychologischen Faktoren bereits bekannten Personen gemacht haben, fließen
beeinflussen die Wahrnehmung unseres sozialen in den ersten Eindruck ein.
Umfeldes. Wir machen uns ein Bild von einem Men- Ensprechend dem eigenen Wertemaßstab wer-
schen, welches die weitere Umgangsweise und Be- den Menschen bereits im Rahmen des ersten Ein-
ziehung beeinflusst. drucks als ungepflegt, intelligent usw. bewertet. Bei
In den Wahrnehmungsprozess fließen Bewertun- einer Pflegekraft, die einen kranken Menschen zum
gen ein; entsprechend sind uns Personen sympa- ersten Mal sieht, kommen noch die Verhaltenswei-
thisch oder unsympathisch. Auf der anderen Seite sen in speziellen belastenden Situationen dazu wie
können wir uns Bewertungen anderer nicht entzie-
hen.
beispielsweise Angst vor Untersuchungen und Ope- Auf die Wahrnehmung bezogen bedeutet der Halo-
rationen oder bei Schmerzen. Effekt eine positive oder negative Beeinflussung der 1
Der erste Eindruck bestimmt, obwohl er zufällig Personenbeurteilung durch Wahrnehmung einiger
und mit vielen Verfälschungen zustande gekommen weniger markanter Eigenschaften, die andere über-
ist, die weitere Verhaltensweise und Wahrnehmung decken. Die Wahrnehmung wird in erster Linie auf
und lenkt den Beziehungsaufbau in eine Richtung. die markanten Eigenschaften gerichtet.
Das Problem des ersten Eindrucks ist die zunächst
fehlende Bereitschaft zur Korrektur. Menschen nei- Beispiel: Eine ordnungsliebende Pflegekraft
gen dazu, an einmal gebildeten Beurteilungen und wird von ebenfalls ordentlichen Kollegen und
Bewertungen festzuhalten. Kolleginnen einen positiven Eindruck haben
Neben dem Anfangseffekt des ersten Eindrucks und geneigt sein, ihnen auch andere positive Eigen-
spielt auch der Endeffekt eine besonders prägende schaften zuzuschreiben und negative zu übersehen.
Rolle. Genauso wie die ersten Informationen beson- Umgekehrt wird sie unordentliche Kollegen und Kolle-
ders gut im Gedächtnis haften, ist auch das Erinne- ginnen eher negativ beurteilen und auch andere nega-
rungsvermögen für die letzten Informationen beson- tive Eigenschaften bemerken.
ders gut ausgebildet.
Logische Fehler
!
Merke: Jede Pflegekraft sollte bei der Über- Der logische Fehler ist dem Halo-Effekt ähnlich. Er
mittlung von Informationen darauf achten, unterscheidet sich dadurch, dass der Beurteilende
dass negative Informationen weder am An- annimmt, dass bestimmte Eigenschaften immer zu-
fang noch am Ende übermittelt werden, und somit der sammen auftreten. Diese Vorstellung ist an Erfah-
Wahrnehmungsspielraum der Pflegebedürftigen und rungen gebunden und individuell unterschiedlich.
Kollegen weniger Einfluss erfährt.
Beispiel: Gebildete Menschen scheuen kör-
Wahrnehmungsverzerrungen perliche Arbeit; unordentliche Menschen
Während des Wahrnehmungsvorganges gehen uns sind faul und muslimische Frauen, die ein
bereits viele Informationen durch physiologische Kopftuch tragen, sind demütig.
und psychische Mechanismen verloren bzw. werden
ergänzt. Die restlichen Informationen, die dann noch Kontrastfehler
psychologischen Einflussfaktoren unterliegen, kön- Hierbei werden Eigenschaften mehrerer wahrge-
nen die Wahrnehmung erheblich verändern. Auch nommener Personen miteinander verglichen und
bei noch so intensiver Anstrengung ist es nicht mög- beurteilt. Die Ergebnisse beeinflussen sich gegensei-
lich, ein wahres Abbild der Wirklichkeit eines ande- tig.
ren Menschens zu erhalten. Es entstehen Wahrneh-
mungsfehler, deren Auswirkungen die gesamte In- Beispiel: Eine Pflegekraft nimmt nachei-
teraktion dynamisch beeinflussen, im Sinne von nander mehrere Personen auf, die am nächs-
Wirkung und Wechselwirkung. ten Tag operiert werden sollen. Die Personen
Zu den häufig auftretenden Wahrnehmungsfeh- reagieren unterschiedlich. Die aufnehmende Pflege-
lern und -verzerrungen gehören: kraft nimmt die erste Person wahr und vergleicht die
Halo-Effekt, nächste Person mit den wahrgenommen Eigenschaften
logische Fehler, der ersten. Ist die erste Person aufgeregt und ängstlich,
Kontrastfehler, wird die Pflegeperson die weiteren Personen im Ver-
Attributierungsfehler, gleich als noch aufgeregter oder als gefasster beurtei-
soziale Urteile. len.
Beispiel: Ist die Pflegekraft selbst sehr be- Verhinderung einer Integration anders denkender
1 herrscht in ihren emotionalen Äußerungen, oder fremder Menschen. Häufige soziale Urteile sind
wird sie diese Eigenschaft im Vergleich zu Einstellungen, Stereotype und Vorurteile.
sich selbst beurteilen und ängstliches Verhalten bei an-
deren Menschen überinterpretieren. Einstellungen: Einstellungen entstehen durch positi-
ve oder negative Bewertungen von Personen oder
Attributierungsfehler Objekten mit Gefühlsbeteiligung und die Bereit-
schaft, sich in bestimmten Situationen entsprechend
Definition: Attribution bedeutet Ursachenzu-
der Einstellung zu verhalten. Die Einstellung ist eng
schreibung des eigenen und fremden Verhaltens,
mit dem Begriff der Meinung verwandt. Während
d. h. das Fragen nach Gründen, die zu einer be-
die Einstellung von längerer Dauer und tiefer in die
stimmten Situation oder einem Verhalten geführt ha-
Person eingeschlossen ist, orientiert sich die Mei-
ben, z. B. „Warum habe ich die Krankheit bekommen?“.
nung eher an konkreten Fragestellungen.
!
Merke: Soziale Wahrnehmung ist die Wahr- Realität ist. Die Tatsache, dass wir jemanden aus ei-
nehmung von Personen. Sie wird von ver- nem Glas trinken sehen, bedeutet aber nicht, dass der 1
schiedenen Faktoren beeinflusst, die den Ein- Trinkende Durst hat. Es kann auch die Einnahme eines
druck von anderen Menschen entscheidend prägen. in Wasser aufgelösten Medikamentes sein oder der
Genuss eines gut schmeckenden Getränkes. Die
Zusammenfassung: Wirklichkeit stellt sich erst durch Nachfragen heraus.
Soziale Wahrnehmung Besteht jeder Mensch starr auf seiner erlebten Wirk-
Soziale Wahrnehmung wird durch äußere Ein- lichkeit, ohne die Wirklichkeit der anderen mit einzu-
drücke (Kleidung, Körperbau etc.) beeinflusst. beziehen, entstehen Missverständnisse und mit ihr
Anfangs- und Endeffekt des ersten Eindrucks blei- Probleme in der Kommunikation sowie im Gesamt-
ben besonders haften und sollten deshalb möglichst verständnis der Menschen füreinander.
frei von negativen Informationen sein. Die Wirklichkeit ist wie die Wahrnehmung ein
Wahrnehmungsverzerrungen können durch Halo- Prozess, der sich im Austausch zwischen Menschen
Effekt, logische Fehler, Kontrastfehler, Attributie- entwickelt. Die Wahrnehmung bildet immer den
rungsfehler und soziale Urteile entstehen. ersten, das Überprüfen den zweiten Schritt. Ein wei-
nender Mensch muss nicht zwangsläufig traurig
sein, es können auch Freudentränen fließen. Erst das
1.4 Wahrnehmung und Hinterfragen klärt die Situation. Ist das Bemühen um
Wirklichkeit Wirklichkeitsfindung groß, nähert sich die eigene
Wirklichkeit der des Gegenübers.
Der chinesische Weise
!
Ein chinesischer Weiser führte einmal vor den Augen Merke: Für Pflegepersonen nimmt die Schu-
seiner Schüler vier Blinde zu einem Elefanten. Den lung der Wahrnehmungsfähigkeit eine zent-
ersten führte er zum Rüssel, den zweiten zu den Bei- rale Bedeutung ein, da sie in ihrem berufli-
nen, den dritten zum Bauch und den vierten zum chen Alltag häufig Menschen in außergewöhnlichen
Schwanz des Tieres. Sie sollten das Tier betasten und Lebens- und Krisensituationen mit uneindeutigen Re-
daraufhin beschreiben. aktionen begegnen.
„Ein Elefant“, sagte der erste, nachdem er den
Rüssel sorgsam betastet hatte, „ein Elefant ist ein Leidende Menschen reagieren ganz unterschiedlich
langes, weiches, bewegliches Rohr so dick wie mein auf Sorgen, Ängste oder Trauer, z. B. mit Aggressio-
Oberarm“. nen, Depressionen oder auch mit Verdrängungsme-
„Unsinn“, sagte der zweite, „ein Elefant ist viel di- chanismen. In je größerem Maße die Pflegeperson
cker; etwa wie ein Baum, den ich mit beiden Armen bereit und in der Lage ist, die Wirklichkeit des ande-
gerade noch umfassen kann“. ren wahrzunehmen und zu überprüfen, desto kon-
„Ein Baum?“ sagte der dritte, der am Bauch des kreter können Probleme erkannt und Ziele entwi-
Elefanten stand, „eine Tonne, so groß, dass ich mit ckelt werden. Dieses Bemühen stellt eine der wich-
ausgestreckten Armen noch nicht einmal ihren hal- tigsten Voraussetzungen für die effektive Planung
ben Umfang ermessen kann“. sinnvoller Pflegemaßnahmen dar. Je weniger Miss-
„Ihr irrt alle“, sagte der vierte, „ein Elefant ist viel- verständnisse bei der Problemformulierung, desto
mehr wie ein kurzer, biegsamer Stock, an dessen En- weniger wird an den Bedürfnissen der betroffenen
de ein Büschel Reisstroh befestigt ist.“ Der Weise lä- Menschen „vorbeigepflegt“. Somit nimmt eine gute
chelte – die Schüler schwiegen (Konfuzius zitiert Wahrnehmungsfähigkeit auch Einfluss auf die Pfle-
nach Sitzmann, 1995). gequalität.
Mithilfe der Wahrnehmung bildet sich unsere
Wirklichkeit. An der Geschichte von der Beschreibung Fazit: Die Wahrnehmung ist ein Prozess, bei
eines Elefanten wird deutlich, dass wir nur einen klei- dem innere und äußere Reize verarbeitet
nen Ausschnitt aus der Gesamtwirklichkeit wahrneh- werden. Um wahrnehmen zu können, sind
men, den wir zu unserer Wirklichkeit erklären. Wahr- physiologische Voraussetzungen notwendig: Aufnah-
nehmungen sind immer nur (ähnliche) Abbilder von meorgane mit spezifischen Sensoren, Weiterleitungen
bestimmten Situationen oder Zuständen. Wir glau- über Nerven sowie verarbeitende Zentren im Gehirn.
ben, dass das, was wir sehen, fühlen, riechen usw., die
2 Beobachtung
Eva Eißing
2
Übersicht
Einleitung · 33
2.1 Beobachtung als Prozess · 34
2.1.1 Beobachtungsarten · 36
2.2 Beobachtung in der Pflege · 37
2.2.1 Zeitpunkt · 37
2.2.2 Hilfsmittel · 37
2.2.3 Systematik · 39
2.3 Beeinflussende Faktoren bei der
Beobachtung · 41
2.4 Bedeutung der Beobachtung in der
Pflege · 43
2.4.1 Beobachtung als Grundlage für
pflegerisches Handeln · 43 Gelegenheiten zur Beobachtung ergeben sich in
2.4.2 Ziele der Beobachtung in der Pflege · 43 der Pflege bei jedem Kontakt zwischen pflegebedürf-
2.4.3 Qualität der Beobachtung · 44 tigen Menschen und Pflegeperson.
2.4.4 Dokumentation · 45 Beobachtung ist eine Kunst, die neben theoreti-
2.4.5 Anforderungen an das Pflegepersonal · 45 schem Wissen und praktischen Fähigkeiten auch
Fazit · 46 Einfühlungsvermögen, Kombinationsfähigkeit und
Literatur · 46 Erfahrung erfordert.
In Abgrenzung zu dem Begriff Beobachtung ist die
Schlüsselbegriffe: Wahrnehmung ein Prozess, bei dem innere und äu-
ßere Reize auf das sensorische System einströmen,
왘 Beobachtung verarbeitet werden und Empfindungen auslösen. Ein
왘 Beobachtungsprozess Filtersystem bewirkt, dass nicht alle Reize, die auf un-
sere Sinneszellen bzw. -organe treffen, die verarbei-
tenden Zentren im Gehirn erreichen (s. a. S. 5). Die
Einleitung Wahrnehmung wird durch physische und psychische
Faktoren beeinflusst und entsprechend unterschied-
Beobachtung ist im Gegensatz zur bloßen Wahrneh- lich erlebt. Demzufolge bilden sich bei den Menschen
mung von Situationen und Gegebenheiten ein be- individuelle Wirklichkeiten (s. a. S. 19).
wusster, systematischer und zielgerichteter Vorgang, Geht die zunächst unspezifische Wahrnehmung
bei dem die Aufmerksamkeit auf einzelne Phänome- in untersuchendes und auf Veränderung hin gerich-
ne gerichtet wird. Durch ihn werden Informationen tetes Betrachten über, entsteht Beobachten.
gewonnen, die eine Anpassung des Handelns an ak- Das bedeutet, die Sinne werden bewusst auf ein
tuelle Situationen ermöglichen. Objekt oder beobachtbares Kriterium hingelenkt, um
Die Beobachtung Pflegebedürftiger gehört zu den es intensiver wahrzunehmen.
wichtigsten pflegerischen Aufgaben, da die hierbei
gewonnenen Informationen die Basis für alle weite- Definition: Beobachten ist eine systematische
ren Schritte im Pflegeprozess darstellen. Sie ist so- und planmäßige Form der Wahrnehmung mit
wohl auf gesunde als auch auf beeinträchtigte Antei- dem Ziel, neue Erkenntnisse zu gewinnen und
le eines Menschen gerichtet und berücksichtigt Entscheidungen zu treffen.
darüber hinaus dessen physische und psychische
Verfassung.
Bei der speziellen Beobachtung in der Pflege richtet Abb. 2.1 verdeutlicht die Struktur des Beobach-
sich die Aufmerksamkeit insbesondere auf die ge- tungsprozesses:
sunden und beeinträchtigten Anteile eines Men- 1. Zunächst wird aus der Fülle der Wahrnehmungs-
schen. Dabei werden Krankheitssymptome, Verhal- reize die Aufmerksamkeit auf einzelne, beobacht-
2 tensweisen sowie das Befinden mit einbezogen. Au- bare Kriterien oder Symptome gelenkt. Dieser
ßer der Wahrnehmung mit unseren Sinnesorganen Auswahlvorgang wird auch als Selektion von
ist der Einsatz spezifischer Methoden wie z. B. das Wahrnehmungsreizen bezeichnet, das Lenken
Benutzen von Messinstrumenten, Befragungen der auf bestimmte Symptome als Fokussierung.
Betroffenen und Angehörigen oder weiterer Pflege-
kräfte notwendig. Die Begriffe Wahrnehmung und Beispiel: Einer Pflegekraft fällt das stark ge-
Beobachtung werden häufig synonym verwendet. rötete Gesicht eines spielenden Kindes auf;
Folgendes Beispiel soll den Unterschied verdeutli- sie lenkt ihre Aufmerksamkeit auch auf die
chen: Haut weiterer Körperteile. Dabei rücken andere Wahr-
nehmungen, wie beispielsweise das Schreien und To-
Beispiel: Das Sehen eines gehbehinderten ben anderer Kinder oder das Verhalten beim Spiel, in
Menschen, der sich mehr humpelnd und mit- den Hintergrund.
hilfe einer Gehstütze fortbewegt, wird als
Wahrnehmung bezeichnet. Wird unsere Aufmerksam- 2. Im nächsten Schritt folgt die Suche nach ver-
keit durch das Humpeln auf weitere Merkmale gelenkt, gleichbaren, bereits bekannten Merkmalen auf-
wie beispielsweise auf die Körperhaltung, das Gleich- grund von vorhandenen Erfahrungen oder Fach-
gewichtsverhalten oder die Mimik des Gehenden, han- wissen. Je größer das Fachwissen ist, desto um-
delt es sich bereits um einen Beobachtungsvorgang. fangreicher sind Vergleichsmöglichkeiten.
Bei der speziellen Beobachtung in der Pflege beginnt Beispiel: Die rote Gesichtshaut kann Aufre-
die Suche nach vergleichbaren Merkmalen, Interpre- gung, Freude, Hitze durch Fieber oder An-
tationsmöglichkeiten und Bewertungen wie z. B.: strengung, aber auch einen hohen Blutdruck,
Handelt es sich um eine Verschleißerscheinung des einen allergischen Hautausschlag oder einen Sonnen-
Hüftgelenks? Trägt der humpelnde Mensch eine brand bedeuten.
schlecht sitzende Beinprothese? Ist die Gehbehinde-
rung Folge einer Lähmung? Hat der Gehbehinderte 3. Daraus entsteht der Wunsch nach Erklärung. Wei-
Schmerzen?, usw. tere Fragestellungen grenzen Interpretations-
möglichkeiten und Überlegungen zur Überprü-
fung ein.
2.1 Beobachtung als Prozess
Beispiel: Fühlt sich die gerötete Haut heiß
Beobachtung ist kein starrer Vorgang, sondern voll- und/oder feucht an? Ist die Hautoberfläche
zieht sich, ähnlich wie die Wahrnehmung, dyna- verändert? Wie ist der Bewusstseinszu-
misch und prozesshaft. Das bedeutet, dass die Ergeb- stand? Wie lange hat das Kind gespielt oder war es in-
nisse der Beobachtung neue Fragen aufwerfen, nach tensiver Sonnenstrahlung ausgesetzt? Wie ist die At-
denen weiter gezielt beobachtet wird. mung, der Puls etc.?
Innerhalb des Beobachtungsprozesses verändern
sich die Daten und das Befinden der Pflegebedürfti- 4. Entsprechend der Fragestellung folgt die Über-
gen, wie z. B. in Notfallsituationen oder während der prüfung. Bei der speziellen Beobachtung in der
Genesung. Diese Veränderungen erfordern eine fle- Pflege setzt dieser Schritt theoretisches Fachwis-
xible Gestaltung der Arbeitsabläufe bzw. eine Anpas- sen voraus.
sung an die Bedürfnisse des Menschens innerhalb
des Pflegeprozesses.
(Waden- 2
wickel)
Fieber?
Beispiel: Die Pflegekraft wird entsprechen- 6. Die anschließenden pflegerischen und therapeu-
de Maßnahmen ergreifen wie Hauttempera- tischen Maßnahmen werden sorgfältig und mit
tur fühlen, Messen der Körpertemperatur mit spezieller Aufmerksamkeit geplant und durchge-
einem Fieberthermometer, Hautoberfläche genauer führt. Eine permanente Beobachtung und Über-
betrachten, Atemfrequenz und -tiefe messen, Bewusst- prüfung der durchgeführten Maßnahmen sowie
sein und Reaktion beobachten etc. . . deren Wirkung schließt hier den Kreis des Be-
obachtungsprozesses.
5. Nach der Überprüfung folgt die Bewertung der
beobachteten Ergebnisse. Sie stellt die entschei- Beispiel: Der Arzt ordnet die Gabe eines fie-
dende Voraussetzung für professionelles, pflege- bersenkenden Medikamentes und Wadenwi-
risches und therapeutisches Handeln dar. ckel an. Die Pflegekraft wird die Wirkung der
fiebersenkenden Maßnahmen überprüfen, indem sie in
Beispiel: Die Überprüfung hat ergeben, dass angemessenen Abständen die Körpertemperatur nach-
die Körpertemperatur 39,5 ⬚C rektal beträgt, misst. Sie wird weiterhin auf zusätzliche fiebersenken-
das Kind schläfrig wirkt, die Atmung und der de (Neben-)Wirkungen achten, z. B. Kreislaufverände-
Puls beschleunigt sind, die Haut feucht, aber glatt ist. rungen. Schwitzt das Kind sehr stark, wird die Pflege-
Die daraus resultierende Bewertung stellt Fieber fest, kraft für einen Flüssigkeitsausgleich sorgen und genü-
begleitet von einer Tachykardie und Tachypnoe. gend zu trinken anbieten oder auf die Anordnung einer
Infusionstherapie achten.
und Wahrnehmungsverzerrungen zu erkennen so- wie z. B. den Bewusstseinszustand, die Sprache, die
wie deren Beeinflussungen zu mindern (s. a. S. 4). Da- Haut, die Körperhaltung usw.
raus folgend kann sich eine solide Grundlage entwi- Beobachtung kann aber auch planmäßig auf ein-
ckeln, in der eine empathische und offene Begeg- zelne Kriterien gerichtet sein, wie z. B. die postopera-
nung zwischen Pflegepartnern, d. h. Pflegekraft und tive halbstündliche Blutdruck-, Puls- und Bewusst-
2
Pflegeperson, möglich wird. seinskontrolle oder auch die Stundenurinmessung.
Spezielle, meist standardisierte Überwachungsbö-
!
Merke: Abhängig vom Blickwinkel der Be- gen helfen, einen angeordneten Zeitrhythmus kor-
obachtung wird zwischen subjektiver und rekt einzuhalten. Sie dienen ferner dazu, den Verlauf
objektiver sowie Fremd- und Eigenbeobach- der Beobachtungen zu dokumentieren und entspre-
tung unterschieden. chend den gesetzlichen Forderungen nachvollzieh-
bar zu machen.
Zusammenfassung:
Beobachtung als Prozess
2.2.2 Hilfsmittel
Beobachten ist im Gegensatz zum Wahrnehmen ein
An der Beobachtung in der Pflege sind in erster Linie
systematischer, zielgerichteter und selektiver Pro-
unsere Sinnesorgane beteiligt, die jedoch häufig
zess.
durch Hinweise von Betroffenen oder durch Benut-
Beobachtung ist ein prozesshafter Vorgang, der Se-
zen von Hilfsmitteln komplettiert werden müssen.
lektion von Wahrnehmungsreizen, Suchen nach
Eine umfassende Beobachtung kann erreicht werden
vergleichbaren Merkmalen, Fragestellungen und
durch:
Interpretationsmöglichkeiten, ihre Überprüfung
Einsatz der Sinnesorgane,
und Bewertung sowie Überprüfung der Wirkung
Informationen von Pflegebedürftigen und ihren
pflegerischen Handelns beinhaltet.
Angehörigen,
Beobachtung kann auf verschiedene Weise stattfin-
Anwendung spezifischer Instrumente,
den: Subjektive Beobachtung, objektive Beobach-
Anwendung spezifischer Teststreifen,
tung, Selbstbeobachtung, Fremdbeobachtung.
Anwendung von Skalen,
Informationen aus dem Pflegeteam.
2.2 Beobachtung in der Pflege
Einsatz der Sinnesorgane
Die Beobachtung in der Pflege stellt eine der wich- Es sind primär die Fernsinne, die bei der Beobach-
tigsten pflegerischen Aufgaben dar. Der Pflegealltag tung in der Pflege von Bedeutung sind, besonders die
bietet vielfältige Möglichkeiten. Die systematische Augen, Ohren, Nase und Haut (s. a. S. 4). Die Augen
Beobachtung in der Pflege richtet sich nach be- nehmen eine dominante Stellung ein, da sie für fast
stimmten Kriterien und Fragestellungen: alle Beobachtungsbereiche benötigt werden (s. a.
Zeitpunkt (Wann erfolgt Beobachtung?), S. 64 ff). Sie sind unersetzlich sowohl beim Betrach-
Hilfsmittel (Womit erfolgt Beobachtung?), ten einzelner körperlicher Merkmale als auch beim
Systematik (Wie erfolgt Beobachtung?). Ablesen von Daten, die mithilfe von Messinstrumen-
ten ermittelt werden.
2.2.1 Zeitpunkt Aufmerksames Hören wird erforderlich bei der
Beobachtung in der Pflege erfolgt im Rahmen des Beurteilung von Sprache und Stimme. Auch die Un-
Pflegeprozesses. Sie beginnt mit dem Erstkontakt terscheidung verschiedener Geräusche, beispiels-
und wird intensiviert während der Informations- weise bei der Atmung oder beim Gehen, stellt oft-
sammlung bzw. der Pflegeanamnese. mals hohe Anforderungen an den Beobachter.
Spezielle Beobachtung von pflegebedürftigen Die Nase hilft uns, Veränderungen bei Ausschei-
Menschen ist nomalerweise eine kontinuierliche, in dungen und Atmung näher zu differenzieren.
den Pflegealltag integrierte Maßnahme, z. B. wäh- Die Haut ist in ihrer Funktion als Tastorgan fähig,
rend der Körperpflege oder der Hilfestellung bei der den Spannungszustand eines Muskels zu fühlen und
Nahrungsaufnahme. Im Laufe dieser komplexen Bewegungen zu spüren. Die Fingerkuppen tasten den
Pflegehandlungen lenkt die Pflegeperson ihre Auf- Pulsschlag an den Arterien, die Hände fühlen die
merksamkeit gleichzeitig auf mehrere Merkmale Hauttemperatur. Tasten, Berühren und Bewegen er-
möglichen zudem einen Wechsel von der verbalen lich. Diese dienen der annähernd objektiven Siche-
auf die nonverbale Kommunikationsebene. Die non- rung von Beobachtungsergebnissen. Instrumente,
verbalen Äußerungen können besonders bei be- die häufig eingesetzt werden, sind das Blutdruck-
wusstseinseingeschränkten Menschen als wertvolle messgerät, eine Uhr mit Sekundenzeiger, das Fieber-
2 Informationsquelle genutzt werden. thermometer oder die Waage. In speziellen Pflegebe-
Der Geschmackssinn spielt bei der Beobachtung reichen, z. B. auf einer Intensivstation, gibt es viele
in der Pflege heute nahezu keine Rolle mehr. Er wur- spezifische Instrumente. Diese messen, entspre-
de in Zeiten eingesetzt, in denen es noch keine Labor- chend den krankheitsbedingten Erfordernissen, aus-
instrumente gab; z. B. war es üblich, den Urin zu gewählte Beobachtungsmerkmale und stellen sie auf
schmecken, um Zucker im Urin nachzuweisen. Monitoren dar, wie z. B. eine Hirndruckmessung oder
Atemkurve. Dadurch werden engmaschige Kontrol-
Informationen von Pflegebedürftigen und ihren len unabhängig vom Befinden, der Konzentration
Angehörigen und der Aufmerksamkeit der beobachtenden Pflege-
Gewöhnlich wird der pflegebedürftige Mensch im kraft möglich.
Rahmen des Pflegeprozesses kontinuierlich nach sei-
!
nen Bedürfnissen sowie seiner Befindlichkeit be- Merke: Zwar können Apparate einzelne Be-
fragt. Durch den häufigen Kontakt der Pflegekräfte obachtungsmerkmale exakter messen und
zum Pflegebedürftigen entwickelt sich nicht selten die Pflegekräfte entlasten, die Erfassung des
eine intensive Kommunikation mit entsprechendem Menschen in seiner Ganzheitlichkeit kann allerdings
Informationsaustausch. Dabei fließen wesentliche allein durch Apparate niemals erreicht werden.
Anhaltspunkte in die bereits ermittelten Beobach-
tungsergebnisse ein und vervollständigen das Ge- Anwendung spezifischer Teststreifen
samtergebnis. Mittels Teststreifen können hauptsächlich Blut und
Bei Menschen, die sich nicht oder kaum mitteilen Ausscheidungen untersucht werden. Sie geben Aus-
können, stellen Informationen von begleitenden An- kunft über die Mengen an physiologischen und pa-
gehörigen bzw. Einweisungsberichte/Übergabebe- thologischen Inhaltsstoffen, wie z. B. Blut, Zucker, Ei-
richte von betreuenden Einrichtungen oder einwei- weiß, Harnstoff etc. im Urin. Die Handhabung richtet
senden Ärzten eine wertvolle Hilfe dar. sich jeweils nach den Empfehlungen des Herstellers.
Von den Normwerten abweichende Ergebnisse müs-
Beispiel: Eine postoperativ auftretende Un- sen zusätzlich im Labor überprüft werden. In einigen
ruhe und Desorientiertheit eines Menschen Fällen werden Teststreifen in Verbindung mit elek-
kann verschiedene Ursachen haben. Die Be- tronischen Geräten ausgewertet, so z. B. bei der Blut-
fragung der Angehörigen nach üblichen Lebensge- zuckermessung.
wohnheiten, z. B. auch Alkoholkonsum der erkrankten
Person in der Vergangenheit, kann frühzeitig Auf- Anwendung von Skalen
schluss geben und ermöglicht zielgerichtetes pflegeri- Skalen erleichtern die objektive Einschätzung indivi-
sches Handeln. Die Pflegekraft wird daraufhin ihre Auf- duell und subjektiv ermittelter Beobachtungsdaten.
merksamkeit auf spezifische Beobachtungsbereiche Sie kommen häufig bei der Einschätzung eines Risi-
und deren Kriterien richten. Dazu gehören u. a. die kos für bestimmte Veränderungen zum Einsatz, z. B.
Kontrolle von Blutdruck und Puls, die Beurteilung der die Braden-Skala zum Einschätzen des Dekubitus-
Schweißsekretion und die Hautbeobachtung. risikos.
Diese Vorgehensweise bietet die Möglichkeit, nach- Informationen aus dem Team und der
folgende Pflegemaßnahmen konstruktiv und effektiv Dokumentation
zu gestalten. Die Ergebnisse der Beobachtung müssen dokumen-
tiert und im Team ausgetauscht und besprochen
Anwendung spezifischer Instrumente werden. Zum Team gehören alle an der Pflege und
Bestimmte Messkriterien, die durch die Sinne nicht Therapie beteiligten Personen. Erst die Auswertung
oder nur ungenau erfasst werden, machen den Ein- aller Beobachtungsdaten führt zu einem annähernd
satz von Hilfsmitteln oder Instrumenten erforder- objektiven Gesamtbeobachtungsergebnis. Die Doku-
!
gischen Ursprung haben können (s. a. S. 19). Bei vie- Merke: Eine zuverlässige (reliable) Beob-
len Pflegepersonen wird die Beobachtung beein- achtung muss allerdings nicht zwangsläufig
flusst durch die eingeschränkte eigene körperliche auch Gültigkeit (Validität) besitzen.
Verfassung, oftmals bedingt durch Müdigkeit, Kräf-
2 temangel, zu wenig Schlaf oder zu lange Dienstzeiten Beispiel: Ein äußerlich ruhig und ausgegli-
mit wenig Freizeitausgleich. Auch Schmerzen, z. B. chen wirkender Mensch, muss nicht zwangs-
Rücken- oder Kopfschmerzen, lenken die Beobach- läufig zufrieden oder ausgeglichen sein. Das
tung eher auf die eigene Befindlichkeit. Der Beobach- ruhig und ausgeglichen wirkende Verhalten kann eine
tungsradius kann durch die geistige Verfassung z. B. Fassade sein, hinter der sich Angst verbirgt.
aufgrund fehlender Motivation, emotionaler Stim-
mungslage und Stress ebenfalls erheblich einge- Die tatsächliche Befindlichkeit kann durch ein Ge-
schränkt sein. In vielen Fällen entstehen aus diesen spräch zwischen den Pflegepartnern herausgefun-
Gründen nicht nur Wahrnehmungsverzerrungen, den werden. Das setzt jedoch voraus, dass der be-
sondern auch Beobachtungsfehler. obachtete Mensch über seine Gefühle reden kann
und dies auch tun möchte.
Beispiel: Eine Pflegekraft leidet durch die
nächtliche Versorgung ihres kranken Kindes Selektion und Fokussierung
unter Schlafmangel und Konzentrations- Wie in Abb. 2.1 dargestellt, wird bei der Beobachtung
schwäche. Im Laufe ihrer anschließenden Frühschicht aus der Fülle der Wahrnehmungsreize die Aufmerk-
übersieht sie bei der postoperativen Versorgung eines samkeit auf einzelne beobachtbare Merkmale gerich-
hirnoperierten Menschen eine Pupillendifferenz mit tet. Das bedeutet, dass einige Wahrnehmungsreize
beginnender Bewusstseinstrübung. In diesem Fall ist aussortiert (selektiert) und die Aufmerksamkeit auf
der frischoperierte Mensch vital erheblich bedroht. besondere Beobachtungsschwerpunkte gelenkt (fo-
kussiert) wird. Bei der Selektion und Fokussierung
Um Beobachtungsdaten exakt auswerten und beur- gehen Informationen verloren, die das Gesamtbe-
teilen zu können, sollten sie möglichst objektiv sein. obachtungsbild der Pflegeperson verzerren können.
Dieser Vorgang erfordert oftmals ein hohes Maß Die Fokussierung der Beobachtung auf ganz be-
an Eigenreflexionsfähigkeit (s. a. S. 36). Besonders stimmte Beobachtungsmerkmale ist in vielen pflege-
schwierig sind Beobachtungen zu objektivieren und rischen Situationen notwendig und zeichnet die Pro-
zu bewerten, die das Verhalten von Menschen oder fessionalität einer Pflegekraft aus. Beispielsweise
ihre Stimmungslage sowie die Selbstbeobachtung stehen bei einem Menschen in einer Schocksituation
betreffen (s. a. S. 36). Nicht selten bestimmen Sympa- die Kontrolle der Vitalzeichen, der Haut und des Be-
thie oder Antipathie zwischen den Pflegepartnern wusstseins im Vordergrund und nicht die Sorge um
die Blickrichtung. Eine von Sympathie gesteuerte die familiäre Situation oder z. B. rheumatisch beding-
pflegerische Beziehung wirkt sich meist entspan- te Bewegungseinschränkungen. Damit aber auch
nend und offen auf den Wahrnehmungs- und Be- diese wichtigen Informationen nicht verloren gehen,
obachtungsprozess aus, eine antipathische Begeg- sollten sie zu einem späteren Zeitpunkt erfragt wer-
nung häufig spannungerzeugend und zurückhal- den. Hilfreich ist deshalb die Durchführung der Be-
tend. obachtung anhand einer Systematik (s. a. S. 39).
Ein Austausch innerhalb des Pflegeteams zur Ver-
!
minderung von Beobachtungsverzerrungen ist bei Merke: Der Beobachtungsprozess wird
der Auswertung subjektiver Daten unbedingt not- hauptsächlich beeinflusst durch Selektion
wendig. und Fokussierung von Wahrnehmungsantei-
Es empfiehlt sich, die subjektiven Daten auf Gül- len.
tigkeit (Validität) und Zuverlässigkeit (Reliabilität)
zu überprüfen (s. a. S. 47).
!
Merke: Das Aufspüren von Ressourcen, die
sche Handeln. Eine sorgfältige Beobachtung verfolgt
Förderung und der Erhalt geistiger sowie
vielfältige pflegerische und medizinische Ziele für
körperlicher Fähigkeiten kann besonders bei
den betroffenen Menschen. Eine hohe Beobach-
alten Menschen im Vordergrund stehen.
tungsqualität trägt entscheidend zur Validität und
Reliabilität der Beobachtungsergebnisse bei. Damit
Wo Pflegemaßnahmen wirkungsvoll angewendet
eine möglichst umfangreiche Informationsquelle für
werden, können unnötige Belastungen durch über-
alle an der Pflege und Therapie beteiligten Personen
flüssige und ineffektive Maßnahmen für den zu pfle-
zur Verfügung steht, ist eine möglichst präzise Doku-
genden Menschen vermieden, die Gesundheit geför-
mentation notwendig. Eine qualitativ gute Beobach-
dert und Folgekrankheiten verhindert werden. Die
tung in der Pflege setzt pflegerische Kompetenz vo-
spezielle Beobachtung von bewusstseinbeeinträch-
raus und stellt hohe Anforderungen an die beobach-
tigten und desorientierten Menschen zielt darauf ab,
tende Person.
gefährdende Situationen frühzeitig zu erkennen und
abzuwenden und durch besondere Maßnahmen zu
2.4.1 Beobachtung als Grundlage für fördern, z. B. durch Basale Stimulation姞. Richtet sich
pflegerisches Handeln die Beobachtung insbesondere auf die Kommunika-
Beobachtung bildet die Grundlage für pflegerisches tion und Interaktion, kann durch eine aufmerksame
Handeln innerhalb des Pflegeprozesses. Sie bedeutet und anteilnehmende Umgangsweise eine vertrau-
auch die Fähigkeit und Bereitschaft, auf den Pflege- ensvolle zwischenmenschliche Beziehung aufgebaut
bedürftigen zuzugehen, sich in ihn einzufühlen und werden.
Neugierde bzw. Interesse zu entwickeln. Aufmerk- Um die Einschätzung der Gesamtsituation zu ge-
samkeit, Konzentrationsvermögen, sowie Kontrollen währleisten, sollten das Verhalten des Menschen, das
mindern Beobachtungsfehler. individuelle Erleben von Krankheit und Behinderung
Um den Pflegebedürftigen in seiner Gesamtsitua- sowie die Bewusstseinslage einschließlich der Orien-
tion einschätzen zu können, sind alle am Pflegepro- tierung in die Beobachtung einbezogen werden. In
zess beteiligten Personen, einschließlich ärztliches vielen Fällen ist es jedoch notwendig, sich konkret
und therapeutisches Personal sowie der pflegebe- auf einzelne, spezifische Beobachtungsschwerpunk-
dürftige Mensch, aufgefordert, ihre Beobachtungser- te zu konzentrieren, z. B. in Akut- oder Notfallsitua-
gebnisse zusammenzutragen und zur Verfügung zu tionen.
stellen. Auf diese Art können eine annähernd sichere
!
Einschätzung der gesunden und kranken Anteile des Merke: Mittels der speziellen Beobachtung
Menschen erreicht, eine spezifische Pflegediagnose in der Pflege werden die Pflegebedürftigkeit
ermittelt und weitere Schritte des Pflegeprozesses eines Menschen eingeschätzt, Pflegeproble-
umgesetzt werden. me und Ressourcen ermittelt, die Wirkung durchge-
führter Pflegemaßnahmen beurteilt und die Therapie
2.4.2 Ziele der Beobachtung in der Pflege einschließlich ihrer Wirkung und Nebenwirkung sowie
Die Beobachtungsergebnisse stellen eine der wich- der Krankheitsverlauf überprüft bzw. überwacht.
tigsten Grundlagen für die Pflegediagnosestellung
sowie für das pflegerische Handeln dar. Die Ermitt- Nicht zuletzt trägt eine sorgfältige Beobachtung da-
lung sollte unvoreingenommen und so sachlich wie zu bei, Komplikationen frühzeitig zu erkennen und
möglich durchgeführt werden. Sie ist Bestandteil der zu verhüten. Sie unterstützt die medizinische Diag-
Informationssammlung und der Pflegeanamnese in- nosefindung und damit auch die Auswahl therapeu-
tischer und rehabilitativer Möglichkeiten, weshalb Von entscheidender Bedeutung für die Qualität
Ärzte und alle an der Therapie und Pflege beteiligten der Beobachtung ist das theoretische Hintergrund-
Personen wie z. B. Physiotherapeuten daran teilha- wissen einer Pflegekraft in den Bereichen
ben. Durch die Beobachtung und Beurteilung von Anatomie und Physiologie,
2 Wirkungen und Nebenwirkungen therapeutisch Krankheitslehre,
durchgeführter Maßnahmen sind Pflegepersonen Psychologie und
am krankheitsorientierten, medizinischen Problem- insbesondere der Pflege.
lösungsprozess beteiligt.
Sämtliche Maßnahmen der Gesundheitspflege Erst dadurch können beobachtete Sachverhalte in-
müssen wirtschaftlichen Ansprüchen gerecht wer- terpretiert und professionell beurteilt werden. Das
den. Da eine sorgfältige Beobachtung effiziente pfle- bedeutet, dass die Voraussetzung für eine qualitativ
gerische, therapeutische und rehabilitative Maßnah- hochwertige Beobachtung eine entsprechende Aus-
men ermöglichen, können unnötige Kosten und Fol- bildung ist.
gekosten vermieden und die Aufenthaltsdauer in In- Ein Maßstab für eine gute Beobachtungsqualität
stitutionen des Gesundheitswesens verkürzt wer- stellt die Überprüfung auf Gültigkeit (Validität) und
den. Zuverlässigkeit (Reliabilität) der Beobachtungsdaten
dar (s. a. S. 49).
Zusammenfassung: Anzumerken ist, dass eine stark auf Krankheiten
Die Beobachtung beeinflussende Faktoren bezogene Beobachtung den Blick für den Menschen
Die Beobachtung wird beeinflusst durch in seinem ganzheitlichen Erleben einengt. Das be-
– die eigene körperliche und geistige Befindlich- deutet, eine zielgerichtete Beobachtung schränkt die
keit, Wahrnehmung anderer Phänome ein oder schließt
– Sym- oder Antipathie zwischen Pflegepartnern, sie aus. Es ist möglich, dass dadurch Veränderungen
– durch die Fokussierung auf bestimmte Beobach- in anderen Bereichen oder Zusammenhänge überse-
tungsmerkmale. hen werden.
Ziel der Beobachtung ist es:
– Bedürfnisse der Patienten zu ermitteln, Beispiel: Eine leicht desorientierte, 79-jäh-
– Ressourcen und Probleme zu erkennen, rige Frau liegt nach einer chirurgisch ver-
– gefährdende Situationen und Komplikationen sorgten Oberarmfraktur seit 2 Tagen auf der
rechtzeitig zu erfassen, chirurgischen Station. Im Vordergrund steht die Beob-
– eine vertrauensvolle zwischenmenschliche Be- achtung der Wunde, des Kreislaufs, der Vitalfunktio-
ziehung aufzubauen, nen, der Schmerzen, der Bewusstseinslage sowie die
– unnötige Kosten zu vermeiden. korrekte Lagerung des operierten Armes. Da die Frau
mehrmals eingenässt hat, bekommt sie auf Anordnung
2.4.3 Qualität der Beobachtung des Stationsarztes einen Blasenverweilkatheter gelegt.
Die Aussagekraft (Qualität) eines Beobachtungser- Eine gezielte Beobachtung der Urinausscheidung und
gebnisses ist von verschiedenen Faktoren abhängig. des Miktionsverhalten ist zugunsten der oben aufge-
Die menschliche Beobachtung ist stark an das Funk- führten postoperativen Beobachtungsschwerpunkte in
tionieren der Sinnesorgane gebunden, besonders an den Hintergrund getreten, hätte aber möglicherweise
Augen, Ohren, Nase und Haut. Verschiedene physi- das Legen eines Blasenkatheters verhindern können.
sche und psychische Einflüsse verändern die Wahr-
!
nehmung und infolgedessen auch die Beobachtung Merke: Das bedeutet, dass eine qualitativ
(s. a. S. 6/19). gute Beobachtung, die sich nur auf die kran-
Beim Einsatz spezifischer Instrumente oder Test- ken Anteile des Menschen richtet, nicht im-
streifen ist das Beobachtungsergebnis von der kor- mer einer qualitativ hochwertigen Beobachtung der
rekten Handhabung und Bedienung abhängig. In vie- Gesamtsituation eines Menschen gerecht wird. Um
len Fällen ist vor der ersten Anwendung eine speziel- dies zu erreichen, ist wiederum der Appell an das Pfle-
le Einweisung bzw. Anleitung notwendig oder sogar geteam zu richten, sich sowohl mit den beeinträchtig-
vorgeschrieben, wie z. B. bei Überwachungsmonito- ten als auch den gesunden Anteilen des betroffenen
ren auf der Intensivstation. Menschen auseinanderzusetzen und ihn in die Be-
obachtung einzubeziehen.
vermindert die Gefahr der falschen Situationsein- Die Beobachtung unterliegt wie auch die Wahrneh-
schätzung und Interpretation sowie das Vergessen mung physischen und psychischen Einflussfaktoren des
wichtiger Informationen und voreilige Schlussfolge- Beobachters.
rungen. Die Fähigkeit zur Beobachtung kann durch Schu-
2 lung der Wahrnehmungs- und Aufnahmefähigkeit er-
Zusammenfassung: lernt werden. Ein fundiertes theoretisches Hinter-
Anforderungen an das Pflegepersonal grundwissen ist für eine qualitativ hochwertige
Die Qualität der Beobachtung ist vom Funktionie- Beobachtung notwendig.
ren der Sinnesorgane, vom Fachwissen, von der Die Beobachtung sollte immer auch die gesunden
Überprüfung der Beobachtungsdaten auf Gültigkeit Anteile eines Menschen im Blick haben. Auf diese Weise
und Zuverlässigkeit hin abhängig. können individuelle rehabilitative und gesundheitser-
Sowohl gesunde als auch beeinträchtigte Anteile ei- haltende Maßnahmen eingeleitet und dem betroffenen
nes Menschen sind in die Beobachtung zu integ- Menschen die Möglichkeit gegeben werden, seinen
rieren. Pflegeprozess aktiv mitzugestalten.
Die vollständige und präzise Dokumentation der
objektiven und subjektiven Beobachtungen ist eine
wichtige Informationsquelle und garantiert eine
Literatur:
Verlaufskontrolle.
Arets, J., F. Obex, J. Vaessen, F. Wagner: Professionelle Pflege.
Fazit: Die spezielle Beobachtung in der Pfle- Theoretische und Praktische Grundlagen. Bd. 1, Hans Hu-
ge ist eine systematische und zielgerichtete ber, Göttingen 1999
Form der Wahrnehmung und richtet sich ins- Gerrig, R.: Psychologie. Begr. von P. Zimbardo. 20. Aufl. Pearson
Studium, Hallbergmoss 2016
besondere auf die gesunden und beeinträchtigten An-
Gordon, M.: Handbuch Pflegediagnosen. 5. Aufl. Verlag Hans
teile eines Menschen. Sie erfolgt durch den Einsatz der Huber, Hogrefe AG, Bern 2013
Sinnesorgane und/oder spezieller Hilfsmittel wie z. B. König, J.: Pflegedokumentation im Krankenhaus – gewusst
Messinstrumente. wie. Schnell, sicher und effizient dokumentieren. Schlü-
Beobachtung ist ein dynamischer Vorgang und voll- tersche Verlagsgesellschaft, Hannover 2015
zieht sich prozesshaft. Sie ist in den Pflegeprozess inte- Köther, I.: Altenpflege. 4. Aufl. Stuttgart, Thieme 2016
Rösen, E.: Pflegedokumentation in der Altenpflege. Sachge-
griert und stellt eine der wichtigsten Grundlagen des
recht, sicher und professionell. Elsevier, München 2015
pflegerischen Handelns dar. Damit Ergebnisse der Be-
Zimbardo, P. G.: Psychologie. 7. Aufl. Springer, Berlin 2003
obachtung in der Pflege sinnvoll verarbeitet werden
können ist eine Systematisierung notwendig. Hierbei
gibt es verschiedene Möglichkeiten, z. B. die Orientie-
rung an Pflegetheorien oder Beobachtungsbereichen.
Übersicht
Einleitung · 47 3
3.1 Methoden der Datenerhebung · 47
3.1.1 Beobachtung · 47
3.1.2 Gespräche · 48
3.2 Datenquellen · 48
3.3 Datenarten · 49
3.4 Reliabilität und Validität von Daten · 49
Fazit · 50
Literatur · 50
Schlüsselbegriffe:
왘 Objektive Daten Informationssammlung ermittelten Daten sind die
왘 Subjektive Daten Basis für alle weiteren Schritte im Pflegeprozess (s. a.
왘 Primäre Daten Band 1; Kap. 6). Die Qualität der Datenerhebung ist
왘 Sekundäre Daten ausschlaggebend für die Erfassung der Probleme und
왘 Validität Ressourcen eines hilfsbedürftigen Menschen. Nur
왘 Reliabilität wenn vollständige und zutreffende Informationen
erfasst wurden, können Probleme und Ressourcen
des Betroffenen adäquat abgeleitet werden.
Einleitung Die Ergebnisse der Erhebungen bestimmen letzt-
lich die notwendigen pflegerischen Interventionen.
Der Ermittlung pflegerelevanter Informationen Der Datenerhebung kommt im Rahmen des Pflege-
kommt im Rahmen des Pflegeprozesses eine ent- prozesses folglich eine fundamentale Bedeutung zu.
scheidende Bedeutung zu: Sie ist der Ausgangspunkt Daher ist die Kontinuität in der Erhebung und eine
für die Bestimmung von Pflegeproblemen und Res- stete Aktualisierung der Daten unerlässlich. Nur so
sourcen eines pflegebedürftigen Menschen und be- können z. B. die Wirkungen der Pflegemaßnahmen
einflusst darüber hinaus auch die Festlegung der auf die Menschen registriert und Probleme und Res-
Pflegeziele und -maßnahmen. Pflegerisches Handeln sourcen gegebenenfalls aktualisiert werden. Die ge-
kann nur dann individuell und zielgerichtet erfolgen, wonnenen Informationen können unterschiedlich
wenn die hierfür nötigen Daten vorliegen. Wahrneh- klassifiziert werden: Es werden primäre und sekun-
men und Beobachten sind die zentralen Methoden däre sowie subjektive und objektive Daten unter-
der Informationsgewinnung im pflegerischen Alltag. schieden.
Daneben kommt der Kommunikation in diesem Zu- Informationen bzw. Daten können mithilfe ver-
sammenhang eine große Bedeutung zu. Das folgende schiedener Methoden gewonnen werden. Im pflege-
Kapitel gibt einen Einblick in Methoden der Datener- rischen Alltag werden sie vor allem über die Be-
hebung sowie verschiedene Datenquellen und -ar- obachtung eines Menschen und Gespräche bzw. Be-
ten. fragungen gesammelt.
3.1.1 Beobachtung
3.1 Methoden der Datenerhebung
!
Merke: Wahrnehmen und Beobachten sind
die elementare Basis pflegerischen Handelns.
Die Datenerhebung stellt eine der wichtigsten
Grundlagen pflegerischen Handelns dar. Die in der
!
on eine wichtige Rolle. Diese Liste ließe sich beliebig Merke: Datenerhebung im Pflegealltag er-
fortsetzen. Einige Daten lassen sich jedoch nicht un- folgt im Wesentlichen über Beobachtung und
mittelbar mithilfe der Sinne erfassen, sondern erfor- Kommunikation.
dern den Einsatz verschiedener Messgeräte.
!
Merke: Primäre und sekundäre Daten er-
gänzen sich und sind für die Pflegepersonen
wichtige Informationsquellen.
!
3.3 Datenarten Merke: Bei der Dokumentation subjektiver
Daten ist es wichtig, darauf zu achten, dass
Neben der Einteilung von Daten nach der Quelle, aus sie als solche gekennzeichnet werden.
der sie gewonnen werden, können subjektive und
objektive Daten unterschieden werden. Die Wahrnehmung des Problems durch den Betroffe-
nen selbst wird als wichtigste Datenquelle innerhalb
Definition: Als objektive Daten werden jene der Situationseinschätzung eingestuft. Da sie jedoch 3
Daten bezeichnet, die von den Pflegenden beob- stets subjektiv ist, muss sie von den Pflegenden
achtet, gemessen und nachgeprüft werden kön- grundsätzlich vorsichtig interpretiert werden.
nen. Um subjektive Daten annähernd vergleichbar und
handhabbar zu machen, können Hilfsmittel zur Ob-
Objektive Beobachtungen gründen sich ausschließ- jektivierung eingesetzt werden. Hierzu gehört bei-
lich auf Fakten, auf messbare Informationen, die in spielsweise die Verwendung einer Skala, die das Er-
systematischer Weise erfassbar sind. Sie bedürfen fassen objektiver Ausgangspunkte für eine Verlaufs-
keinerlei Interpretation; Gefühle oder Vorurteile sei- kontrolle und Evaluation pflegerischer Maßnahmen
tens der erhebenden Person spielen keine Rolle. ermöglicht. Ein Beispiel ist die Schmerzskala, durch
Objektive Daten lassen sich v. a. mithilfe techni- die die subjektive Wahrnehmung „Schmerzintensi-
scher Geräte ermitteln; diese ermöglichen präzise tät“ über Zahlen dargestellt werden kann. Das so er-
Ergebnisse, die sich einer subjektiven Beeinflussung mittelte Schmerzerleben kann beim erneuten Auf-
entziehen. Wichtig ist, bei der Dokumentation ob- treten von Schmerzen als Vergleichswert herangezo-
jektiver Daten die allgemeingültigen Maßeinheiten gen werden. Diese Möglichkeit kann z. B. bei der Kon-
zu verwenden, wie z. B. cm, kg, mmHg, Celsius usw. trolle der Wirksamkeit schmerzlindernder Maßnah-
men eingesetzt werden (Abb. 3.1).
Definition: Als subjektive Daten werden sol-
!
che Informationen bezeichnet, die eng mit der Merke: Die erhobenen Daten können in ob-
jeweiligen Person verknüpft sind. jektive und subjektive sowie primäre und se-
kundäre Daten eingeteilt werden.
Ihre Erhebung ist sehr viel schwieriger, da sie sich in
erster Linie auf die psychosoziale Situation eines
Menschen und sein momentanes Erleben, seine 3.4 Reliabilität und Validität von
Empfindungen, Gefühle, Stimmungen und persönli- Daten
chen Erfahrungen beziehen.
Subjektive Daten sind stets eng mit dem Erleben Im Rahmen der Datenerhebung durch Beobachtun-
und der ihrerseits subjektiven Wahrnehmung der Er- gen und Messungen gilt es zwei wichtige Kriterien zu
hebenden selbst verknüpft. In der Konsequenz sind beachten: Die Messinstrumente, mit deren Hilfe Da-
sie daher nur schwer mit subjektiven Daten anderer ten erhoben werden, müssen reliabel (zuverlässig)
vergleichbar. Dennoch ist ihre Erfassung von immen- und valide (gültig) sein.
ser Bedeutung für die Datenerhebung, da eine allei-
nige Berücksichtigung der objektiven Daten in jedem Definition: Mit Reliabilität wird die Zuverläs-
Fall eine Reduktion von Komplexität und somit ein sigkeit eines Messinstrumentes bei der Verwen-
unvollständiges Bild der Gesamtsituation eines Men- dung durch verschiedene Personen bezeichnet.
schen zur Folge hätte. Ein großer Teil der pflegeri-
schen Beobachtungen hat einen subjektiven Charak-
ter.
Abb. 3.1 Skala zur individuellen Einschätzung der Schmerzintensität 0 ⫽ keine Schmerzen, 10 ⫽ stärkste Schmerzen
!
Merke: Eine pflegerische Beobachtung gilt
dann als zuverlässig, wenn nach wiederhol-
ten Beobachtungen nahezu das Gleiche
wahrgenommen wird, bzw. wenn verschiedene Beob- Literatur:
achtende im Ergebnis annähernd den gleichen Sach-
verhalt beobachten. Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege
(DNQP): Schmerzmanagement in der Pflege bei akuten
Definition: Unter Validität wird die Gültigkeit oder tumorbedingten Schmerzen. Osnabrück 2017
Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege
eines Messinstrumentes verstanden, d. h., in
(DNQP): Expertenstandard Dekubitusprophylaxe in der
welchem Ausmaß das Messinstrument tatsäch- Pflege. 2. Akualisierung. Osnabrück 2017
lich das misst, was es messen soll. Georg, J., M. Frowein (Hrsg.): Pflegelexikon. ullstein Medical,
Wiesbaden 1999
Beispielsweise kann der Blutdruck eines Menschen Schulte, D. In: I care Pflege. Thieme, Stuttgart 2015
nicht mit einem Thermometer gemessen werden. In Mayer, H.: Pflegeforschung kennenlernen. 6 Aufl., Facultas,
Wien 2014
diesem Fall ist das Messinstrument Thermometer
Reuschenbach, b., C. Mahler: Pflegebezogenes Assessmentin-
kein gültiges Instrument für die Ermittlung des Blut-
strumente. Internationales Handbuch für Pflegeforschung
drucks. Eine übliche Personenwaage wäre bei extrem und -praxis. Huber, Bern 2011
übergewichtigen Personen dann nicht valide, wenn Schnell, R., P.B. Hill, E. Esser: Methoden der empirischen
die Anzeige des maximal messbaren Gewichts das Sozial-Forschung. Oldenburg, München 2014
tatsächliche Körpergewicht der zu wiegenden Per-
son unterschreitet.
4 Informationsweitergabe
Marion Weichler-Oelschlägel
Übersicht
Einleitung · 51
4.1 Bedeutung und Funktionen der
Informationsweitergabe · 51 4
4.2 Sprache als Instrument der mündlichen
und schriftlichen
Informationsweitergabe · 56
4.2.1 Umgang mit der Fachsprache · 57
4.2.2 Medizinische Terminologie · 58
Fazit · 61
Literatur · 61
Schlüsselbegriffe:
die Formulierung von Ressourcen und Problemen
왘 Informationsweitergabe des pflegebedürftigen Menschen. Im Rahmen der
왘 Pflegefachsprache prozesshaften Pflege werden kontinuierlich neue,
aktuelle Daten erhoben und die Informationssamm-
lung vervollständigt. Gleichzeitig werden damit auch
die Bedingungen für eine individuelle Pflegeplanung
Einleitung geschaffen, d. h. für die Anpassung der Pflege an die
jeweilige individuelle Situation der betroffenen
Neben der Ermittlung von Daten ist bei der Sicher- Menschen. Voraussetzung hierfür ist die korrekte
stellung der Qualität pflegerischer Dienstleistung die schriftliche und mündliche Weitergabe der Informa-
Kontinuität des Informationsflusses von entschei- tionen.
dender Bedeutung. Die Weitergabe von Informatio- Grundsätzlich ist eine mündliche wie auch
nen in der Pflege erfolgt sowohl in schriftlicher als schriftliche Informationsweitergabe nötig, da
auch in mündlicher Form. Wesentliches Kommuni- immer mehrere Personen an der Pflege eines
kationsmittel ist hierbei das geschriebene und ge- Menschen beteiligt sind,
sprochene Wort. Für die Kommunikation innerhalb die erhobenen Daten für alle Mitglieder des the-
von Berufsgruppen wird häufig die sog. Fachsprache rapeutischen Teams von Bedeutung sind,
verwandt, die die Informationsweitergabe effektiver sie eine Verlaufskontrolle der durchgeführten
gestalten soll. Pflege und eine Evaluation ermöglicht,
Das folgende Kapitel beleuchtet die Bedeutung sie ein Merkmal der Pflegequalität darstellt,
und Funktion der Informationsweitergabe in der die Dokumentation als Nachweis der pflegeri-
Pflege und geht auf die Sprache als deren wichtigstes schen Tätigkeit gilt,
Instrument näher ein. juristische Aspekte berücksichtigt werden müs-
sen.
zeit einen einfachen Zugriff auf alle wichtigen Daten. derzeit verfügbar sind, können sich auch Pflegekräfte
Missverständnisse durch evtl. Hörfehler können ver- nach längerer Abwesenheit, z. B. durch Urlaub,
mieden werden (Abb. 4.1). schnell den notwendigen Überblick verschaffen. Die
Dadurch, dass die schriftlichen Informationen je- Berichtszeiten können verkürzt werden, was bei der
Ab morgen kann Frau Müller mit Frau Müller wird ab jetzt mit der
der Motorschiene mobilisiert werden Motorschiene mobilisiert, 2x täglich,
4 3x täglich,15 Minuten. Außerdem 10 Minuten. Außerdem soll sie mit
soll sie vor der Atemgymnastik mit Sultanol® vor der Atemgymnastik
Sultanol® inhalieren. inhalieren. Bitte sprechen Sie mit der
zuständigen Pflegekraft die Zeiten ab.
Frau Müller soll zur Atemgymnastik Bitte, was soll Frau Müller?
auf den Motorschieber und 2x täglich
vor der Mobilisation mit Sultanol®
inhalieren. Ich möchte gerne die
Zeiten absprechen.
Abb. 4.1 Zeichnung: Fr. Hartmann. Text: Fr. Lauber, Fr. Schachting
Einführung neuer Dienstzeitmodelle mit versetztem Beispiel: Eine alte Frau mit einer ausgepräg-
Arbeitsbeginn vorteilhaft ist. Den Pflegefachkräften ten Pflasterallergie wird von 3 verschiedenen
erleichtert es außerdem, die im Rahmen der Pflege- Personen nach eventuell vorhandenen Aller-
planung erhobenen Daten (Probleme, Ressourcen, gien gefragt (Abb. 4.2).
Ziele und Maßnahmen) nachzuvollziehen und um-
zusetzen. Anhand der Dokumentation lässt sich der Verlauf der
Die erhobenen Daten sind häufig nicht nur für die Pflege nachvollziehen. Dies ermöglicht gleichzeitig
Pflegefachkräfte wichtig, sondern für alle Mitglieder die Evaluation, d. h., die Überprüfung der geplanten
des therapeutischen Teams z. B. Ärzte, Physiothera- und durchgeführten Maßnahmen im Hinblick auf ih-
peuten, Seelsorger. Das wiederholte Nachfragen bei ren Wert und ihre Effektivität. Aufgrund dieser Eva-
4
einem hilfsbedürftigen Menschen zu ein und dem- luation ist es dann möglich, Auswahl oder Intensität
selben Sachverhalt durch verschiedene Personen, der Maßnahmen des Pflegeplans zu ändern und den
beispielsweise bei Vorliegen einer Allergie, kann bei Erfordernissen anzupassen.
dem Betroffenen u. a. Gefühle der Unsicherheit hin-
sichtlich der professionellen Kompetenz der an Pfle- Beispiel: Eine Pflegefachkraft ermittelt eine
ge und Therapie beteiligten Personen auslösen. Die Dekubitusgefährdung bei einem alten Mann,
umfassende und allen zugängliche Dokumentation der neu in ein Pflegeheim einzieht und bett-
kann solche Probleme verhindern. lägrig ist. Sie plant eine 2-stündliche 30⬚-Lagerung zur
Verhinderung eines Dekubitus im Sakralbereich und
Patientin Pflegekraft
hält diese Maßnahme in der Pflegedokumentation fest. Beispiel: Ein 85-jähriger Mann leidet post-
Die geplante Maßnahme wird regelmäßig von allen an operativ unter einem leichten Durchgangs-
der Pflege Beteiligten durchgeführt und dokumentiert. syndrom. Eine qualitativ hochwertige Infor-
Jedoch entwickelt der alte Mann bereits nach 2 Tagen mationsweitergabe verlangt die Differenzierung der
seines Aufenthaltes eine auffällige Rötung am rechten vorliegenden Desorientierung, die folgendermaßen be-
Trochanter major. Die Pflegefachkraft evaluiert die schrieben werden kann: örtlich und zeitlich desorien-
30⬚-Lagerung allein als nicht ausreichend, um Folge- tiert (jedoch nicht zur Person).
schäden der Bettlägrigkeit zu vermeiden. Sie plant zu-
!
sätzlich eine Weichlagerung mit einer Spezialmatratze, Merke: Nur wenn sowohl der qualitative als
4 ändert den Pflegeplan und führt die Maßnahme durch. auch der quantitative Aspekt in der Informa-
Die Rötung entwickelt sich über Nacht zurück. tionsweitergabe entsprechend berücksich-
tigt werden, ist eine effektive individuelle Pflegepla-
Die Informationsweitergabe ist auch ein Merkmal nung und Durchführung der Pflege möglich.
der Pflegequalität. Sie beinhaltet in diesem Zusam-
menhang vor allem 2 Aspekte: einen quantitativen Somit sind die Qualität und Quantität der Informa-
und einen qualitativen Aspekt. tionsweitergabe auch maßgeblich an der Sicherung
bzw. Förderung der Pflegequalität beteiligt (Abb.
!
Merke: Unter dem quantitativen Aspekt der 4.3).
Informationsweitergabe wird die Weiterga- Im Rahmen der Finanzierung von Pflege wird es
be aller relevanten Informationen verstan- zunehmend wichtig, die erbrachten pflegerischen
den. Leistungen nach außen sichtbar zu machen. Eine
Möglichkeit des Leistungsnachweises ist die Doku-
Je nach individueller Situation eines Menschen kön- mentation der ausgeführten Pflege. Erst wenn dies
nen Informationen aus dem physischen, psy- geschieht, ist der Umfang der Pflege nachvollziehbar
chischen, sozialen etc. Bereich für die Pflege relevant und auch abrechenbar.
sein.
!
Merke: Der qualitative Aspekt der Informa-
individuelle
tionsweitergabe bezieht sich auf die Exakt- Pflegeplanung
heit, Differenziertheit und Korrektheit der
angegebenen Informationen.
Ein Merkmal der
Pflegequalität
auszuführen: a) Erhebung und Feststellung des Pfle- Definition: Eine Fachsprache kann beschrie-
gebedarfs, Organisation, Durchführung und Doku- ben werden als: „Sprache (mit einem speziellen
mentation der Pflege, . . . “. Wortschatz und speziellen Verwendungswei-
sen), die für ein bestimmtes Fachgebiet gilt und (auf
!
Merke: Die mündliche und schriftliche voll- Grund terminologischer Festlegungen) eine genaue
ständige und exakte Informationsweitergabe Verständigung u. exakte Bezeichnungen innerhalb die-
ist entscheidend für die Qualität der Pflege. ses Fachgebietes ermöglicht.“ (Duden)
Wie bereits beschrieben, ist die kontinuierliche, um- Beispiel: Eine eindeutige Definition von
fassende und exakte Informationsweitergabe ein be- Fachbegriffen in der Pflege sind Pflegediagno-
deutsamer Faktor für die Pflegequalität. Sie sollte in sen. Sie können auch als formal definierte
einer Weise erfolgen, die für die Pflegenden prakti- Pflegeprobleme bezeichnet werden, d. h. jeder Pflegedi-
kabel und überschaubar bleibt. Bei der schriftlichen agnosetitel ist mit einer Definition versehen, und nur,
Informationsweitergabe soll es sich nicht um aus- wenn diese Definition auf ein Problem des pflegebe-
ufernde Berichte handeln; vielmehr sollte sie sich an dürftigen Menschen zutrifft, darf die entsprechende Di-
den Adjektiven „kurz“, „knapp“, „präzise“, „exakt“, agnose verwendet werden (s. a. Bd. 1, Kap. 7). Der Vor-
„umfassend“ und „verständlich“ orientieren. teil dieser Vorgehensweise besteht v. a. darin, dass alle
Pflegenden, die mit dieser vereinheitlichten Terminolo-
Beispiel: Dekubitus 3⬚, ⭋ 8 cm mit Tasche gie arbeiten, genau wissen, was sich hinter den einzel-
(5 cm tief, bei 9 Uhr) am Kreuzbein. nen Pflegediagnosetiteln verbirgt. Gleichzeitig wird
durch die Verwendung von Pflegediagnosen die münd-
liche und schriftliche Informationsweitergabe erleich-
Die Sprache hat einen hohen Stellenwert in der Pfle-
tert und effizienter gemacht.
ge. Dieser wird deutlich beim Aufbau einer Bezie-
hung zu einem pflegebedürftigen Menschen, bei der
Über die Verwendung von Pflegediagnosen wird
Kommunikation im therapeutischen Team, bei der
noch diskutiert. Auch existiert in Deutschland der-
Datenerhebung und Informationsweitergabe, die al-
zeit noch keine anerkannte Pflegefachsprache. Ein
lesamt über das Medium „Sprache“ geschehen. Ins-
großer Teil der aktuell in der Pflege verwendeten
besondere für die schriftliche und mündliche Infor-
Begriffe ist aus anderen Wissenschaftsbereichen
mationsweitergabe haben sich in vielen Berufsgrup-
entnommen, wie z. B. den Sozial- oder Erziehungs-
pen sog. Fachsprachen herausgebildet.
!
wissenschaften. Beispiele hierfür sind Begriffe wie Merke: Eine Fachsprache ermöglicht die
Empathie, Bewältigungsstrategien, soziale Kompe- effiziente Kommunikation von Mitgliedern
tenz, Validation, Empowerment u. a. einer Berufsgruppe untereinander.
Häufig finden sich auch Begriffe, die eng mit der
medizinischen Fachsprache verwoben sind, wie bei- 4.2.1 Umgang mit der Fachsprache
spielsweise Pneumonieprophylaxe und postoperati- Die sprachliche Kommunikation spielt in der Betreu-
ve Mobilisation. Sog. „pflegeeigene“ Begriffe entste- ung von Menschen eine große Rolle. Um so wichtiger
hen im Allgemeinen aus der Pflegepraxis und der ist es, darauf zu achten, dass ihnen gegenüber eine
Pflegewissenschaft. Beispiele hierfür sind: angemessene Sprach- und Ausdrucksweise gewählt
Pflegeprozess, wird, um ein gegenseitiges Verständnis zu ermögli-
4
Bezugspflege, chen.
Pflegeforschung, Die meisten Menschen und ihre Angehörigen, so-
Pflegetheorien, fern sie nicht selbst beruflich aus der Pflege oder Me-
Pflegebeziehung. dizin kommen, sprechen die Pflegefachsprache mit
ihren pflegerischen und medizinischen Fachausdrü-
Für viele Begriffe fehlt allerdings noch eine eindeuti- cken nicht.
ge, präzise Definition. Zumeist ergibt sich die eigent-
!
liche Bedeutung der Begriffe aus ihrem Anwen- Merke: Der Fachjargon der Pflegefachkräfte
dungszusammenhang. Eine Fachsprache ist nicht kann also eine ausgrenzende Wirkung ha-
nur von praktischem Nutzen, sondern auch ein ben, wenn nicht differenziert wird, mit wem
Merkmal von Professionalität und zeigt das berufli- in dieser Sprache gesprochen wird.
che Selbstverständnis auf. N. Lang, eine amerikani-
sche Pflegewissenschaftlerin, sagte einmal: „If we Schlimmstenfalls kann der hilfsbedürftige Mensch,
cannot name it, we cannot control it, finance it, teach der im Zentrum des Pflegeprozesses steht, zur Passi-
it, research it or put it into public policy.“ („Wenn wir vität verurteilt werden, da er die Sprache nicht ver-
es nicht benennen können, können wir es nicht be- steht und somit nicht am Pflegeprozess teilnehmen
herrschen, nicht finanzieren, nicht lehren, nicht er- kann. Ein unsensibler Umgang mit fachlicher Spra-
forschen und auch nicht zu einem Bestandteil politi- che wird von Außenstehenden oft als arrogant emp-
scher Entscheidungen machen.“) funden, falsch eingesetzte Fachsprache kann zum
Gleichzeitig ist die Verwendung einer Fachspra- Machtfaktor werden, der die Beziehung zwischen
che auch ein Unterscheidungsmerkmal zwischen pflegebedürftigen Menschen und Pflegefachkräften
Fachkräften und Laien. Der Umgang mit der Fach- nachhaltig stört, indem er unnötigerweise Angst aus-
sprache gilt somit als Professionsmerkmal. löst und verunsichernd wirkt.
Auch in Deutschland wird seit einigen Jahren ver-
stärkt über eine mögliche Pflegefachsprache disku- Beispiel: Eine Pflegefachkraft sagt zu einer
tiert. Einen wichtigen Beitrag zur Etablierung einer älteren Frau, die in ihren Bewegungsmög-
Pflegefachsprache leisten hierbei die Pflegestudien- lichkeiten durch eine Operation stark einge-
gänge. Für die Pflegewissenschaft und -forschung schränkt ist:
hat die Sprache eine elementare Bedeutung, da „Guten Morgen Frau Burg. Nach dem Frühstück führe
durch sie die verschiedenen Bereiche differenziert ich bei Ihnen die Kontrakturenprophylaxe durch.“ Da-
und definiert werden. So ist beispielsweise eine Pfle- bei kann sie nicht davon ausgehen, dass die ältere Frau
geforschung nicht durchzuführen, wenn der zu un- weiß, was unter dem Begriff „Kontrakturenprophyla-
tersuchende Gegenstand nicht eindeutig definiert ist xe“ zu verstehen ist (Abb. 4.4).
und somit kein einheitliches Verständnis hierüber
vorliegt. Diese Schwierigkeit zeigt sich z. B. bei Be- Zusammenfassung:
griffen wie „Ganzheitlichkeit“, „Pflegequalität“ u. a., Umgang mit der Fachsprache
für die noch keine allgemein anerkannte Definition Die Dokumentation der Patientendaten soll kurz,
vorliegt. Darüber hinaus ist eine Pflegefachsprache knapp und das Wesentliche abdeckend sein.
erforderlich, um einen internationalen Austausch zu Die Sprache hat einen hohen Stellenwert in der
ermöglichen. Pflege.
Wichtig ist die eindeutige Definition von Fachbe- den. Aus der Kombination eines Simplexes mit einem
griffen, z. B. mithilfe von Pflegediagnosen. Präfix und/oder einem Suffix ergibt sich ein neuer
Da es noch keine anerkannte Pflegefachsprache Bedeutungszusammenhang. Ein Beispiel hierfür
gibt, ergibt sich die Bedeutung der „pflegeeigenen“ zeigt die Tab. 4.1.
Begriffe aus ihrem Anwendungszusammenhang. Sollen Worte abgeleitet werden, muss berück-
Im Umgang mit pflegebedürftigen Menschen ist ei- sichtigt werden, dass in den Wortverbindungen
ne angemessene Ausdrucksweise wichtig, um sie nicht jeweils der vollständige bekannte Baustein
nicht aus dem Pflegeprozess auszugrenzen. existiert, sondern, dass sich der Ausdruck oft aus Tei-
len von Elementen oder sogar leicht veränderten
4.2.2 Medizinische Terminologie Bausteinen zusammensetzt. Wichtig ist es demzu-
Bei der Verständigung der verschiedenen Berufs- folge zu erkennen, von welchem Wort der einzelne
gruppen im Gesundheitswesen hat die medizinische Baustein stammt, d. h., welchem Wortstamm er zu-
Terminologie eine große Bedeutung. zuordnen ist. Um mehrere Wortstämme zu verknüp-
Das bloße Auswendiglernen der Fülle von Fachbe- fen, wird oft ein Bindevokal, meistens ein Binde-O
griffen, die zumeist aus der lateinischen oder grie- benutzt.
chischen Sprache stammen, ist nur schwer leistbar.
Tab. 4.1 Beispiel für die unterschiedliche Bedeutung eines
Werden jedoch die einzelnen Begriffe in ihre Ele-
Wortes in Verbindung mit einem Präfix und einem Suffix
mente zerlegt, lassen sich die Bedeutungen der Wor-
te ableiten. Hieraus ergibt sich eine effiziente Lern- Präfix Simplex Suffix Bedeutung
geschaltet werden, sog. Präfixe, oder Bausteine ange- Endo- card -itis Entzündung der Herzinnenhaut
hängt werden, die auch als Suffixe bezeichnet wer-
Eine Übersicht über häufig benutzte Präfixe, gängige re-(lat.) = wieder, zurück
per-(lat.) = (hin)durch
Zusammenfassung:
Medizinische Terminologie Literatur:
Die medizinische Fachterminologie setzt sich aus
bestimmten Bausteinen der lateinischen und grie- Abt-Zegelin, A., M. W. Schnell: Sprache und Pflege. Hans Hu-
chischen Sprache zusammen. ber, Bern 2005
Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege
In einem Symptombündel, Syndrom, werden ge-
(DNQP): Expertenstandard Dekubitusprophylaxe in der
meinsam auftretende Erkrankungen bzw. Sympto- Pflege. 2. Aktualisierung. Osnabrück 2017
me zusammengefasst. Duden: Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in 12.
„Syndrom-Pflegediagnosen“ beinhalten die Vielzahl Bänden. 27. Aufl. Duden, Mannheim 2017
von Pflegeproblemen bei einem Menschen. Gordon, M.: Handbuch Pflegediagnosen. 5. Aufl. Hans Huber,
4
Hogrefe AG, Bern 2013
Lippert-Burmester, W., Lippert, H.: Medizinische Fachsprache
Fazit: Die Berücksichtigung qualitativer und
leicht gemacht. 6. Aufl. Schattauer, Stuttgart 2014
quantitativer Aspekte bei der mündlichen
Mantz, S.: Kommunizieren in der Pflege. Kompetenz und Sen-
und schriftlichen Informationsweitergabe ist sibilität im Gespräch. Kohlhammer, Stuttgart 2016
für die Qualität der Pflege von großer Bedeutung. Sie si- Pschyrembel Klinisches Wörterbuch, 267. Aufl. de Gruyter,
chert allen an Pflege und Therapie Beteiligten einen Berlin 2017
vergleichbaren Informationsstand. Im Rahmen der In- Spranger, G. In: I care Pflege. Thieme, Stuttgart 2015
formationsweitergabe spielt die Sprache eine heraus- Storsberg, A., C. Neumann, R. Neiheiser: Krankenpflegegesetz.
7. Aufl. Kohlhammer, Stuttgart 2017
ragende Rolle. Fachsprachen dienen der Verständigung
Zegelin, A.: Sprache und Pflege. Ullstein Mosby, Berlin 1997
von Mitgliedern einer Berufsgruppe untereinander.
Die Diskussion über eine Pflegefachsprache wird
Im Internet:
auch in Deutschland verstärkt geführt. Bei dem Um-
https://www.marburger-bund.de/sites/default/files/artikel/
gang mit medizinischen Termini kann durch die Ablei- downloads/landesverbaende/bayern/ 2012/20.000-eu-
tung der einzelnen Wortelemente die Bedeutung des schmerzensgeld-krankenhausaerzte-haften-fuer-dekubi-
Fachausdruckes leichter erfasst und effektiver gelernt tus/urteil-dekubitus-231211.pdf; Stand: 07. 08. 2017
werden.
Übersicht
5 Allgemeinzustand · 64 17 Urin · 309
6 Haut und Schleim- 18 Stuhl · 326
häute · 67 19 Schweiß · 342
7 Hautanhangsgebilde · 111 20 Menstruation und
8 Puls · 129 Fluor · 350
9 Blutdruck · 144 21 Erbrechen · 360
10 Körpertemperatur · 159 22 Sputum · 373
11 Atmung · 182 23 Schmerz · 380
12 Schlaf · 204 24 Bewegungen · 400
13 Bewusstsein · 224 25 Mimik/Gestik · 414
14 Körpergröße · 251 26 Körperhaltung · 428
15 Körpergewicht · 266 27 Gang · 443
16 Ernährungszustand · 283 28 Stimme/Sprache · 456
5 Allgemeinzustand
Panajotis Apostolidis*, Petra Schmalstieg
Übersicht
Einleitung · 64
5.1 Beobachtungsbereiche · 64
5.2 Bewertung · 64
Fazit · 66
Literatur · 66
5
Schlüsselbegriffe:
왘 Beobachtungsbereiche
5.2 Bewertung
Einleitung
Zur Bewertung des Allgemeinzustandes wird folgen-
Definition: Der Allgemeinzustand beschreibt de Einteilung verwendet:
die körperliche Verfassung eines Menschen bei guter Allgemeinzustand,
einer ersten Betrachtung, unabhängig von evtl. reduzierter Allgemeinzustand,
Krankheitssymptomen. schlechter Allgemeinzustand.
Bereits diese allgemeinen Beobachtungen, die bei Bei der Beurteilung der verschiedenen Bereiche ist
der ersten Begegnung gemacht werden, können immer auch die spezielle Situation, in der sich der
wichtige Hinweise bezüglich des allgemeinen Wohl- betroffene Mensch befindet, zu berücksichtigen. So
befindens, der körperlichen Verfassung und des sind z. B. die Reaktionen von einem Menschen bei ei-
emotionalen Befindens geben. Die Erfassung des All- ner Notfallaufnahme in ein Krankenhaus anders zu
gemeinzustandes ist sowohl Bestandteil der pflege- bewerten, als bei einem bereits seit längerer Zeit ge-
rischen als auch der ärtzlichen Anamnese. planten Krankenhauseintritt.
Da es sich bei diesen im Rahmen der ersten Be- Ereignisse, die plötzlich eintreten, können für den
trachtung beobachteten Veränderungen oder Auffäl- betroffenen Menschen nicht nur lebensbedrohliche
ligkeiten vielfach um subjektive Eindrücke handelt, physische Konsequenzen haben. Sie führen in vielen
sollten sie im weiteren Verlauf durch die spätere Be- Fällen auch zu enormen psychischen Belastungen.
obachtung ergänzt und durch entsprechende Maß- Diese können einen Menschen in seinem gesamten
nahmen validiert werden. Verhalten stark beeinflussen und verändern, bei-
spielsweise kann ein sonst höflicher Mensch in einer
solchen Stresssituation ein ausgesprochen barsches
5.1 Beobachtungsbereiche und gegebenenfalls verletzendes Verhalten in der
Kommunikation zeigen.
Die Beobachtung sollte sich auf das Erscheinungs- Ähnliches gilt bezogen auf das Lebensalter, da
bild, die kognitiven Fähigkeiten, die Kommunikation sich mit zunehmendem Alter physiologische Verän-
und die Mobilität beziehen. Tab. 5.1 beschreibt ver- derungen z. B. im Bereich der Beweglichkeit oder
schiedene Aspekte dieser Beobachtungsbereiche, die auch des Hörvermögens ergeben. So ist eine Schwer-
bei der Beobachtung des Gesamteindrucks eine Ori- hörigkeit bei einem Kind oder Jugendlichen anders
entierungshilfe geben. zu bewerten als bei einem 80-jährigen Menschen.
Tab. 5.1 Beobachtungsbereiche zur Einschätzung des Allgemeinzustandes (aus: Brobst, R. et al.: Der Pflegeprozess in der
Praxis. Hans Huber, Bern 1997)
Neben der Situation und dem Alter muss bei der rien gegenseitig beeinflussen. So kann z. B. eine Ein-
Bewertung auch der Umgang mit Veränderungen schränkung in der Beweglichkeit auch Auswirkun-
und Behinderungen berücksichtigt werden. Bei be- gen auf die Ausführung der persönlichen Hygiene,
reits länger bestehenden Defiziten sind oftmals von auf die Kleidung und auf die Stimmung haben. Dies
den Betroffenen entsprechende Bewältigungsstrate- bedeutet, dass nicht allein die Quantität, also die An-
gien entwickelt worden, so dass diese Einschränkun- zahl der beeinträchtigten Kriterien, sondern insbe-
gen keine oder nur eine geringe Beeinträchtigung sondere die Qualität bzw. der Ausprägungsgrad der
des Allgemeinzustandes bewirken. Dagegen können Beeinträchtigung die Beurteilung bestimmen.
neu auftretende Einschränkungen, wie z. B. eine Die Einstufung des Allgemeinzustandes in „gut“,
Aphasie im Rahmen einer Apoplexia cerebri, bis zur „reduziert“ bzw. „schlecht“ ist letztlich stark vom
Entwicklung entsprechender Strategien den Allge- subjektiven Empfinden der beurteilenden Person ab-
meinzustand stark beeinträchtigen. hängig. Deshalb muss in der zu erstellenden Doku-
Bei der Einstufung des Allgemeinzustandes muss mentation unbedingt die Begründung, warum man
weiterhin bedacht werden, dass sich die o. a. Krite- zu dieser Beurteilung gekommen ist, anhand der
Übersicht
Einleitung · 67
6.1 Aufbau und Funktion · 68
6.2 Allgemeine Beobachtungskriterien und
Beschreibung des Normalzustandes · 72
6.2.1 Hautfarbe · 73
6.2.2 Hautspannung · 74
6.2.3 Hauttemperatur · 74
6.2.4 Hautoberfläche · 74 6
6.2.5 Mundschleimhaut und
Analschleimhaut · 74
6.3 Abweichungen und Veränderungen und
deren Ursachen · 75
6.3.1 Veränderungen der Hautfarbe · 75
6.3.2 Veränderungen der Hautspannung · 77
6.3.3 Veränderungen der Hauttemperatur · 78 der jeweiligen emotionalen Befindlichkeit. Viele
6.3.4 Veränderungen der Hautoberfläche · 79 Stimmungen sind leicht von außen zu beobachten,
6.3.5 Veränderungen der Mundschleimhaut und wie z. B. das Erröten aus Scham oder die plötzliche
Analschleimhaut · 95 Blässe in Schrecksituationen. Dies verdeutlicht die
6.4 Ergänzende Beobachtungskriterien · 101 wichtige kommunikative Funktion der Haut.
6.5 Besonderheiten bei Kindern · 102 Die Verbindung zwischen Haut und Emotionen ist
6.6 Besonderheiten bei älteren auch an vielen alltäglichen Redewendungen zu er-
Menschen · 105 kennen: Ausdrücke wie „sich in seiner Haut wohl-
6.7 Fallstudien und mögliche fühlen“ oder „aus der Haut fahren wollen“ unter-
Pflegediagnosen · 107 streichen ihre Rolle als Spiegel der menschlichen
Fazit · 109 Seele. Große Bedeutung hat sie auch für den Emp-
Literatur · 110 fang von „Nachrichten“. Über Berührungen können
Empfindungen vermittelt und ausgelöst werden.
Schlüsselbegriffe: Die Haut bestimmt darüber hinaus zu einem gro-
ßen Teil das Aussehen und den ersten Eindruck, den
왘 Hautfarbe man von einem Menschen gewinnt. Eine glatte, ma-
왘 Hautspannung kellose Haut wird häufig mit „Gepflegtheit“, „Sorg-
왘 Hautturgor falt für sich selbst“ und auch Gesundheit assoziiert.
왘 Hauttemperatur Dabei unterliegt auch die Haut dem sich wandelnden
왘 Hautoberfläche Schönheitsideal: Zu Anfang des 20. Jahrhunderts galt
왘 Zunge es als Zeichen der Vornehmheit, eine blasse Hautfar-
왘 Mundschleimhaut be zu besitzen, heute ist eher eine gebräunte Haut
왘 Analschleimhaut der erstrebte Teint.
Eine Reihe von Erkrankungen lässt sich an der
Haut beobachten. Da die Haut der Inspektion so gut
Einleitung zugänglich ist, kommt der Hautbeobachtung auch in
der Pflege große Bedeutung zu. Das folgende Kapitel
Die Haut ist das größte Organ des menschlichen Kör- beschreibt die vielfältigen Funktionen der Haut und
pers. Sie erfüllt wichtige Funktionen im sozialen Mit- mögliche physiologische und pathologische Verän-
einander und steht in engem Zusammenhang mit derungen.
6.1 Aufbau und Funktion Die Hornzellen enthalten Keratin und sind dach-
ziegelartig angeordnet. Dazwischen liegt ein Fett-
film, der wie Mörtel für die Festigkeit dieser Haut-
Horn-
schicht schicht sorgt und Wasserverdunstung verhindert.
Basalzell- Die Oberhaut ist gefäßfrei; die Ernährung erfolgt
schicht durch die Lederhaut, mit der sie dicht verzahnt ist.
(Epidermis)
Oberhaut
Papillare In der Basalzellschicht befinden sich die Melano-
Talgdrüse zyten, die unter Einwirkung von UV-Licht das Pig-
Blutgefäße– ment Melanin bilden. Es hat die Aufgabe, tiefere
(Corium, Dermis)
Kutis
Kapillare
Lederhaut
Hautschichten vor der schädigenden UV-Wirkung zu
Schweiß-
drüse schützen. Die Melaninmenge ist für die Braunfär-
Geflechts- bung der Haut verantwortlich. Besonders pigment-
schicht reich sind die Warzenhöfe der Brüste, die Ge-
Haarbalg schlechtsorgane und der Anus.
6 Die Oberhaut ist verschieden dick. An Stellen star-
Fett-
Unterhaut
(Subkutis)
gewebe ker Beanspruchung ist sie ausgeprägter, z. B. an den
Fuß- oder Handballen; an anderen Stellen wiederum
weniger, z. B. an den Augenlidern. Außerdem ist die
Gefäße Oberhaut in der Lage, je nach Bedarf Verdickungen in
Form von Schwielen zu bilden. Die Dicke der Ober-
Mus- haut variiert zwischen 0,03 und 4 mm.
kulatur
!
viele Blutgefäße, die über kegelförmige Einstülpun-
Merke:
gen, auch Papillare genannt, in die Epidermis hinein-
Die Haut ist das größte Organ des Körpers.
ragen und sie ernähren. Diese Papillare bilden die
Sie erfüllt eine Vielzahl von Funktionen.
Hautleisten an den Händen und Füßen und sind für
den individuellen Fingerabdruck verantwortlich.
Hautschichten
Die Lederhaut enthält außerdem Muskel- und
Die Haut besteht aus 3 Schichten: Oberhaut (Epider-
Nervenfasern, Lymphgefäße, Talg- u. Schweißdrüsen
mis), Lederhaut (Korium, Dermis) und Unterhaut
und Rezeptoren für Kälte-, Wärme-, Druck- und
(Subkutis). Abb. 6.1 zeigt einen schematischen Quer-
Oberflächensensibilität. Pro Tag werden ca. 1 – 2 g
schnitt.
Talg produziert.
Die meisten Talgdrüsen befinden sich im Gesicht
Oberhaut (Epidermis)
mit ca. 800 Talgdrüsen/cm2. Die Anzahl nimmt von
Die Oberhaut, auch Epidermis genannt, wird aus von
oben nach unten ab. Talg besteht aus Fettsubstanzen,
unten nach oben verhornendem, mehrschichtigem
Wasser, Salzen, Harnstoff und Eiweißkörperchen.
Plattenepithel gebildet.
Die Talgdrüsen münden nahe der Hautoberfläche je-
Sie ist in 2 Schichten unterteilt: die oben liegende
weils in einen Haarbalg. Von dort aus gelangt der Talg
Hornschicht und die basal liegende Keimschicht (Ba-
entlang des Haarschaftes an die Hautoberfläche.
salschicht), die ständig neue Hornzellen produziert
Duftdrüsen sind den Schweißdrüsen sehr ähn-
und die älteren Epithelien nach oben drängt. Sind die
lich. Sie produzieren ein duftendes Sekret, welches
Zellen oben angelangt, schuppen sie ab. Dieser Pro-
für den typischen Eigengeruch eines Menschen ver-
zess des Zellwechsels dauert ca. 2 Wochen.
!
Merke: Die Bestimmung des Hauttyps hat Aufnahme von Stoffen von außen (Resorption)
große Bedeutung für die Hautpflege. Die Haut ist in der Lage, Stoffe aufzunehmen und an
die Blutbahn abzugeben, wie z. B. Medikamente.
oder im Rachenbereich, aber auch im Analbereich feucht, sondern reinigt Mundhöhle und Zähne, er-
oder der Vagina, gibt es geschichtetes, unverhorntes leichtert das Sprechen und Essen und hält die Mund-
Plattenepithel. Geschichtetes verhorntes Platten- flora im Gleichgewicht. Er besteht zu 99% aus Wasser
epithel finden wir auf der Zunge. Schleimhaut mit und zu 1% aus Mineralien, Fluoriden und Enzymen,
Flimmerepithel wird im Atemtrakt benötigt, um die das Wachstum von Mikroorganismen hemmen.
Staub und Schleim in Richtung Rachen zu beför- Außerdem enthält der Speichel Enzyme, die Kohlen-
dern. Um den wechselnden Bedingungen im Harn- hydrate spalten.
trakt, beispielsweise dem unterschiedlichen Deh- In der Mundhöhle befinden sich Bakterien und
nungszustand der Harnblase, gerecht zu werden, Pilze, die zwar für sie selbst nicht pathogen sind, aber
gibt es in diesem Bereich Übergangsepithelien. das Wachstum von außen aufgenommener Bakte-
Schleimhäute besitzen Drüsen und produzieren rien hemmen. Auch sie bilden einen wichtigen Be-
Sekret, weswegen sie immer feucht sind. Außerdem standteil der gesunden Mundflora. Die Mund-
sind sie gut durchblutet. schleimhaut ist dünner als die Haut; entsprechend
ist die Durchblutung leichter zu beurteilen. Eine gut
6
!
Merke: Intakte Schleimhäute schützen den durchblutete Mundschleimhaut sieht rosig aus.
Körper vor dem Eindringen von Krankheits- Im Bereich der Zahnfortsätze von Ober- und Un-
erregern. terkiefer ist die Mundschleimhaut mit der Knochen-
haut verwachsen. Dieser Bereich wird als Zahnfleisch
Mundschleimhaut oder Gingiva bezeichnet. Das Zahnfleisch ist wie eine
Die Mundschleimhaut kleidet die Mundhöhle aus Manschette um die Zahnkrone gelagert.
(Abb. 6.2). Sie beginnt an den Lippen und besteht aus
deren Innenseiten, dem harten und weichen Gau- Zunge
men, den Innenseiten der Wangen, dem Mundboden Die Zunge ist ein muskulöses Organ, welches von ei-
sowie der Zungenunterseite. Die Haut an den Lippen ner dicken Schleimhaut bedeckt wird. Sie ist durch
geht von der verhornten Epithelschicht an der Innen- das Zungenband mit dem Mundboden verbunden.
seite in die unverhornte Mundschleimhaut über. Durch die Muskeln ist die Zunge sehr beweglich und
Die Mundschleimhaut wird von den speichelpro- wichtig für die Sprache, den Kau- und Schluckvor-
duzierenden Drüsen stets feucht gehalten. Die Spei- gang. Mithilfe der Zunge wird die Nahrung mit Spei-
cheldrüsen produzieren täglich ca. 1 – 1,5 l Speichel. chel vermengt und heruntergeschluckt und die
Die Menge ist von der Nahrungsaufnahme abhängig. Mundhöhle einschließlich der Zähne gereinigt. Die
Die Speicheldrüsen sind paarig angelegt. Unterschie- Zungenoberfläche ist durch zahlreiche Papillen rau
den werden Ohr-, Unterzungen- und Unterkiefer- und gerieft und enthält die Geschmacksknospen für
speicheldrüsen. Speichel hält nicht nur den Mund süss, sauer, salzig, bitter, umani und fett (Abb. 6.3).
Die Epithelzellen der Zunge erneuern sich ca. alle
5 – 7 Tage.
Analschleimhaut
harter und Der Gastrointestinaltrakt endet am Analkanal und
weicher Gaumen
schließt ihn mit dem After ab. Der Analkanal und der
angrenzende Teil des Rektums bilden eine funktio-
Mundhöhle nale Einheit, auch Anorektum genannt. Das Anorek-
tum enthält Schließmuskeln (Sphincter ani internus
Rachen
und externus) und ist dadurch in der Lage, den Gas-
trointestinaltrakt sicher abzuschließen und z. B. bei
Zäpfchen der Defäkation zu öffnen.
Im oberen Abschnitt des Analkanals befindet sich
Lippen
Dickdarmschleimhaut (mehrschichtiges Zylinder-
epithel), die in die äußere Haut des Afters (mehr-
schichtiges, unverhorntes Plattenepithel) überwech-
Abb. 6.2 Mundhöhle selt.
Abb. 6.3 Die Zunge a Zungenoberfläche b zerklüftete Oberfläche der Fadenpapillen c Verteilung der Rezeptoren für die einzelnen
Geschmacksqualitäten. Umani- und fettsensible Zellen sind über die ganze Zunge verteilt.
In der Übergangszone zwischen Darmschleim- Enzymen, reinigen die Mundhöhle und erleichtern
haut und Afterhaut, auch anokutane Grenze genannt, Essen und Sprechen.
befindet sich die Hämorrhoidalzone. Sie besteht aus Im oberen Analkanal befindet sich Dickdarm-
einem polsterartigen Venengeflecht, dichtet den Af- schleimhaut.
ter ab und verhindert, dass flüssiger Darminhalt un-
gewollt austritt. Die Haut um den After ist stärker
6.2 Allgemeine
pigmentiert und sieht braun aus. Sie enthält außer-
dem Haare, Talg-, Schweiß- und Duftdrüsen. Die In-
Beobachtungskriterien und
nervierung erfolgt mit den Ästen des Schambein- Beschreibung des
nervs (N. pudendus). Normalzustandes
Zusammenfassung: Neben speziellen Hauterkrankungen äußern sich ei-
Schleimhaut nige innere und psychische Erkrankungen durch ty-
Die Schleimhaut bedeckt die innere Oberfläche der pische Hautveränderungen, weshalb die Haut auch
Verdauungsorgane, Harn- und Atemwege, Ge- als „Gesundheitsspiegel des Organismus“ bezeichnet
schlechtsorgane, Mittelohr und Bindegewebe. wird. Für Pflegepersonen ist die Beobachtung der
Wie die Oberhaut grenzt die Schleimhaut den Orga- Haut von besonderer Bedeutung. Gelegenheit zur
nismus von der äußeren Umwelt ab. Hautbeobachtung ergibt sich insbesondere bei der
Speicheldrüsen sorgen für Feuchtigkeit im Mund, Körperpflege. Die Haut bietet darüber hinaus Mög-
eine intakte Mundflora durch die Produktion von lichkeiten der Kommunikation, besonders bei Men-
!
Merke: Die spezielle Hautbeobachtung ori- und lässt die Haut blass erscheinen. Menschen, die
entiert sich an den Kriterien Hautfarbe, sich größtenteils innerhalb von Räumen aufhalten
Hautspannung, Hauttemperatur und Be- oder bettlägerig sind, haben zumeist eine blasse
schaffenheit der Hautoberfläche. Hautfarbe, da durch die fehlende Sonneneinstrah-
lung keine Vermehrung der melaninhaltigen Pig-
6.2.1 Hautfarbe mente stattfindet.
Die gesunde Haut ist gut durchblutet und hat bei Blässe kann auch anlagebedingt sein, z. B. durch
hellhäutigen Menschen eine blass-rosa Farbe. Sie ist eine stärker ausgeprägte Oberhaut oder eine vermin-
abhängig von der Durchblutung, dem Gehalt an Hä- derte Hautpigmentierung.
moglobin, der Stärke der Epidermis und der Pigmen-
tierung, d. h. vom Melaningehalt. Weil die Epidermis Striae
nicht an allen Stellen des Körpers gleich dick ist, ist Während der Schwangerschaft kann es zu narben-
6
auch die Hautfarbe nicht am gesamten Körper die ähnlichen, zunächst blau-rötlichen, später gelblich-
gleiche. weißen, strichförmigen Hautveränderungen kom-
men. Sie treten infolge der starken Dehnung der Haut
Physiologische Hautrötung vor allem am Bauch, am Gesäß und an den Brüsten
Eine Hautrötung ist immer ein Zeichen einer ver- auf.
mehrten Durchblutung. Die Gefäße weiten sich,
meist reflektorisch, um Wärme abzugeben. Dieser Physiologische Hautbräune
Vorgang dient der Temperaturregulation und wird Durch Sonneneinwirkung kann die Haut eine bräun-
vom vegetativen Nervensystem gesteuert. liche bis tiefbraune Farbe annehmen. Je nach Haut-
Ebenfalls vom vegetativen Nervensystem gesteu- typ vermehren sich die melaninhaltigen Pigmente
ert ist die Weit- oder Engstellung der Gefäße durch unter UV-Lichteinwirkung. Menschen, die sich über-
emotionale Ereignisse wie Freude, Zorn, Scham oder wiegend draußen an der Luft aufhalten, sind deshalb
Aufregung, erkennbar durch Erröten im Gesicht und leicht bis stark gebräunt.
im Halsbereich. Da Frauen eine dünnere Haut besit- Während der Schwangerschaft können Pigment-
zen als Männer, fällt bei ihnen eine Gesichtsrötung flecken im Gesicht oder Pigmentstreifen zwischen
eher auf. Bauchnabel und Symphyse entstehen. Diese lokale
Gesunde Gefäße weiten sich reflektorisch nach Hyperpigmentierung resultiert aus der hormonellen
einem Kältereiz und lassen die Haut rot aussehen, Veränderung mit Steigerung des melanozytenprodu-
wie z. B. die „rote Nase“ im Winter. Dieser Vorgang zierenden Hormons im Hypothalamus und wird als
wird als reaktive Hyperämie bezeichnet. Eine rote Chloasma gravidarum bezeichnet. Nach der Schwan-
Hautfarbe entsteht auch bei hohen Außentempera- gerschaft verschwinden diese Pigmentflecken wie-
turen. Der Körper erwärmt sich und versucht, durch der.
vermehrte Wärmeabgabe über die Haut ein Anstei- Die gleiche Ursache haben Pigmentflecken, die
gen der Gesamtkörpertemperatur zu verhindern. durch die Einnahme der Antibabypille auftreten.
Der gleiche Mechanismus entsteht bei körperlicher Braune Pigmentflecken können auch angeboren sein
Anstrengung, z. B. durch Sport oder Arbeit. Vom Kör- und am ganzen Körper verteilt vorkommen. Sie sind
per wird vermehrt Wärme produziert und über die ebenso harmlos wie die als Sommersprossen bekann-
Haut nach außen abgegeben. ten, kleinen Pigmentfleckchen, die besonders unter
Eine Besonderheit stellen rote Hautflecken, die Sonneneinwirkung eine braune Farbe annehmen.
sog. Feuermale, dar. Sie entstehen durch lokal be- Unregelmäßig auf der Haut lokalisierte und ver-
grenzte erweiterte Blutgefäße. Feuermale sind ange- schieden große braune Flecken sind auch als Mutter-
boren und verschwinden meist in der Kindheit wie- male bekannt. Hierbei handelt es sich um eine Ver-
der. Sie können aber auch lebenslang bleiben. Feuer- mehrung von Nävuszellen, die den Melanozyten na-
male im Gesicht können zu kosmetischen Problemen he verwandt sind. Diese Muttermale sind gutartig
führen. und anlagebedingt oder erworben.
!
Merke: Man testet den Hautturgor auf 2
Arten: Physiologische Hauttemperaturerniedrigung
Kalt wird die Haut durch eine niedrige Umgebungs-
1. indem man die Haut mit zwei Fingern abhebt und temperatur, bei Aufregung und nach Schwitzen. Die
2. indem man mit einem Finger auf die Haut drückt. Gefäße stellen sich in diesem Fall eng, damit mög-
Der Turgor ist dann normal, wenn sich die Falten lichst wenig Wärme abgegeben wird. Beim Schwit-
beim Loslassen wieder glätten und sich die durch zen wird die Haut über Verdunstungskälte abge-
das Drücken entstandenen Dellen sofort wieder kühlt.
ausgleichen.
6.2.4 Hautoberfläche
Der Turgor ist abhängig vom Grad der Wasserbin- Die normale Hautoberfläche ist glatt, weich und frei
dungsfähigkeit der Haut, von dem Gehalt an elasti- von Defekten. Sie wird aber auch als fett-glänzend,
schen Bindegewebsfasern und dem Anteil an Fettge- trocken, zart, grobporig, glatt, rau, faltig, schuppig,
webe. pickelig, behaart, unbehaart etc. beurteilt.
Eine intakte Analschleimhaut ist äußerlich nicht chung der Gewebedurchblutung, weil hierbei Blut-
zu sehen, beobachtbar ist lediglich die Afterhaut. Sie gefäße abgedrückt werden.
ist durch die stärkere Pigmentierung braun gefärbt Bei Druckentlastung reagieren die Gefäße wie bei
und faltig, wodurch eine Dehnung, beispielsweise der Kälteeinwirkung zunächst mit der hyperämi-
bei der Defäkation, möglich wird. Die Analhaut ent- schen Reaktion, die als Hautrötung zu beobachten
hält reichlich sensible Nervenfasern. Beim Berühren ist. Diese Hautrötung ist das erste Zeichen einer Ge-
der Analhaut ziehen sich die Schließmuskeln webeschädigung durch Druck: dem sog. Dekubitus
(Sphincter ani internus und externus) reflektorisch 1. Grades (s. a. Bd. 4, Kap. 12).
zusammen und üben beim Versuch des Eindringens, Bei einem Hypertonus werden die Gefäße durch
z. B. eines Fieberthermometers, einen Widerstand den erhöhten Druck übermäßig beansprucht und
aus, der willkürlich gelöst werden kann. geweitet, was häufig durch eine Hautrötung, beson-
ders im Gesichtsbereich, auch äußerlich erkennbar
Zusammenfassung: ist.
Allgemeine Beobachtungskriterien und Be- Viele Hautausschläge, z. B. Ekzeme, Exantheme
schreibung des Normalzustandes oder Petechien, sind als Hautrötung erkennbar. Ekze-
6
Bei der Beurteilung der Hautfarbe können physiolo- me sind flächenförmige Rötungen und werden durch
gische Hautrötung, physiologische Hautblässe, Überempfindlichkeiten, beispielsweise durch Kon-
strichförmige Veränderungen, Hautbräune sowie takt mit verschiedenen Stoffen, verursacht. Wichtige
Blau- und Gelbfärbung unterschieden werden. Auslöser von diesen sog. Kontaktekzemen sind z. B.
Die Spannung der Haut (Turgor) ist von der Wasser- nickelhaltige Materialien, Latex, Kosmetika, Seifen
bindungsfähigkeit, vom Anteil Fettgewebe und vom und Bekleidungsstoffe.
Gehalt an elastischem Bindegewebe abhängig. Exantheme haben eine typische fleckenförmige
Die Hauttemperatur ist von äußeren Einflüssen ab- Struktur und treten häufig in Verbindung mit Infekti-
hängig, aber ungeeignet zur Einschätzung von Fie- onskrankheiten auf, wie z. B. Masern, Windpocken
ber. oder Scharlach.
Die normale Hautoberfläche ist glatt, weich und frei Petechien sind punktförmige Blutungen in der
von Defekten. Haut. Sie werden verursacht durch Blutgerinnungs-
Mundschleimhaut und Zunge sind normalerweise störungen.
feucht, rosig und intakt. Eine kirschrote Farbe erhält die Haut durch die
Kohlenmonoxyd-Vergiftung mit Sauerstoffverar-
mung. Kohlenmonoxyd (CO) verbindet sich mit dem
6.3 Abweichungen und Hämoglobin und blockiert es sowohl für die Sauer-
Veränderungen und deren stoffbindung als auch für die Kohlendioxydbindung.
Ursachen Der Organismus „erstickt innerlich“. Die rote Haut-
farbe entsteht durch das gebundene Kohlenmon-
Abweichungen und Veränderungen vom Normalzu- oxyd am Hämoglobin, welches durch die Haut durch-
stand der Haut und der Schleimhäute können vielfäl- scheint. Ursache einer Kohlenmonoxydvergiftung ist
tige Ursachen haben. Aufgrund der zahlreichen häufig das gewollte Einatmen von Autoabgasen in
Funktionen der Haut können aus möglichen Abwei- suizidaler Absicht. Aber auch defekte Kohleöfen in
chungen komplexe Folgeprobleme entstehen. der Wohnung können Kohlenmonoxyd abgeben.
Durch die kirschrote Hautfarbe entsteht fälschlicher-
6.3.1 Veränderungen der Hautfarbe weise der Eindruck, es gehe den vergifteten Men-
Pathologische Hautrötung schen gut, obwohl Lebensgefahr besteht. Weitere be-
Bei der pathologischen Hautrötung versucht der Or- obachtbare Symptome bei der CO-Vergiftung sind
ganismus, durch eine verstärkte Hautdurchblutung Kopfschmerzen, Schwindel, Ohnmacht, Herzversa-
vermehrt Wärme abzugeben, z. B. bei Fieber oder gen und Atemlähmung.
Verbrennungen 1. Grades; dazu gehört auch der Son- Bei Menschen mit einer Polyglobulie, d. h. Ver-
nenbrand. Auch bei längerfristiger Druckeinwirkung mehrung der roten Blutkörperchen (Erythrozyten),
auf ein Gewebe kann es zur Hautrötung kommen. Die ist die Haut leicht bis stark gerötet und kann auch
erhöhte Druckeinwirkung bewirkt eine Unterbre- rotblau aussehen. Die rote Hautfarbe ist auf die Men-
Pathologische Hautblässe
Die pathologische Blässe ist zumeist Folge einer Blut-
zirkulationsstörung oder von Blutarmut. Eine herab-
gesetzte Blutzirkulation tritt reflektorisch im
Schockzustand ein. Der Organismus stellt die Gefäße
6 in der Peripherie, das heißt in Armen, Beinen und
Haut eng und drosselt die Durchblutung in diesen
Bereichen. Das „gewonnene“ Blutvolumen steht so Abb. 6.4 Vitiligo im Hals- und Brustbereich
den lebenswichtigen inneren Organen zur Verfü-
gung, besonders Nieren, Herz und Gehirn, um deren
Funktionen zu sichern.
Eine Blutzirkulationsstörung kann auch lokal be- Fahle, graue Haut
grenzt auftreten, z. B. bei peripheren arteriellen Ge- Bei starkem Kräfteverfall und Auszehrung, wie z. B.
fäßverschlüssen einer Extremität. Das betroffene bei Tumorerkrankungen, kann häufig eine graue
Bein oder der Arm nimmt in diesem Fall im Vergleich Hautfarbe beobachtet werden.
zur anderen Extremität eine blasse bis weiße Haut-
farbe an, da er/es aufgrund des Verschlusses nicht Pathologische Hautbräunung
mehr durchblutet wird. (Hyperpigmentierung)
Blass erscheint die Haut auch bei der Blutarmut, Dieses Symptom kommt bei Morbus Addison, einer
der sog. Anämie, die durch vermindertes Hämoglo- Erkrankung der Nebennierenrinde, vor. Durch feh-
bin im Blut entsteht. lende Produktion von Nebennierenrindenhormonen
fällt die Hemmung der Melanozytenstimulation
Pathologische weiße Haut (Hypopigmentierung) weg. Es folgt eine Hyperpigmentierung der Licht und
Bei der weißen Haut fehlen die Pigmentkörperchen. Druck ausgesetzten Hautstellen. Weitere Symptome
Dieser Pigmentmangel ist angeboren und wird als sind Müdigkeit, gastrointestinale Beschwerden und
Albinismus bezeichnet. Die Haut ist hellrosafarben, Gewichtsverlust.
die Kopf- und Körperbehaarung weißblond, die Au-
gen sind lichtempfindlich mit hellblauer oder rötli- Pathologische Blaufärbung
cher Iris. Da das schützende Melanin fehlt, erkranken Die pathologische Blaufärbung wird auch Zyanose
diese Menschen häufiger an Hauttumoren. genannt und entsteht durch eine mangelnde Sauer-
Eine Besonderheit des Albinimus ist die Weißfle- stoffsättigung im Blut. Beobachtbar ist sie am häu-
ckenkrankheit, auch Vitiligo genannt. Der Melanin- figsten bei Luftnot oder bei chronischen Lungener-
mangel ist bei dieser Erkrankung fleckenförmig ver- krankungen. Für die Blaufärbung ist die Menge an
teilt oder auf einzelne Körperteile beschränkt mit Kohlendioxyd (CO2) angereichertem Hämoglo-
(Abb. 6.4). bin verantwortlich.
Pathologische Striae treten häufig bei Kortikoid- Bei einer ausgeprägten Anämie kann keine Blau-
behandlung oder bei Morbus Cushing auf. Durch die färbung entstehen, da die gesamte Hämoglobinmen-
Erhöhung des Glukokortikoidspiegels kommt es ge geringer ist, dementsprechend auch die mit Koh-
hierbei zur Schädigung der elastischen Bindege- lendioxyd angereicherte.
websfasern in der Lederhaut.
Eine lokal begrenzte Temperaturerhöhung der Zu den sekundären Effloreszenzen werden u. a. ge-
Haut ist bei verstärkt durchbluteten Hautentzün- rechnet:
dungen, wie z. B. Abszessen, zu beobachten. Abszess,
Kruste (Crusta),
Pathologische Erniedrigung der Hauttemperatur Narbe (Zikatrix),
Kalt wird die Haut, wenn sie nicht ausreichend Schuppe (Squama),
durchblutet ist, z. B. bei erniedrigtem Blutdruck, bei Schorf,
Durchblutungs- und Zirkulationsstörungen (s. a. Erosion,
S. 75). Schrunde (Exkoriation),
Geschwür (Ulkus) und
6.3.4 Veränderungen der Hautoberfläche Rhagaden bzw. Fissuren.
Veränderungen der Hautoberfläche sind häufig „auf
den ersten Blick“ zu erkennen. Mittels der sog. Auf den S. 80 – 90 sind verschiedene Formen von Ef-
„Blickdiagnostik“ können typische Veränderungen floreszenzen dargestellt.
als Hinweise auf zugrunde liegende Erkrankungen
6
!
wahrgenommen werden. Merke: Treten plötzlich über größere Kör-
Veränderungen der Hautoberfläche können ent- perabschnitte Einzeleffloreszenzen auf, wird
stehen durch: dies als Exanthem bezeichnet, auf die
Effloreszenzen (Hautblüten), Schleimhaut bezogen wird von einem Enanthem ge-
Entzündungen, sprochen.
allergische Reaktionen der Haut,
Wunden und Verletzungen, Die Beschreibung der beobachteten Effloreszenzen
Gewebedefekte, muss so genau wie möglich erfolgen. Die Dokumen-
Hautblutungen und Hämatome, tation sollte Auskunft geben über:
Tumore, Effloreszenztyp: z. B. Bläschen, Fleck oder Knoten,
Zirkulationsstörungen, Form (Umriss, Abgrenzung, Umgebung): z. B.
Parasiten. rund, eiförmig oder unregelmäßig,
Oberfläche oder bei Hautdefekten die Basis: z. B.
Effloreszenen blutig, verschorft, nekrotisch,
Definition: Effloreszenzen, auch Hautblüten Größe und Ausdehnung: z. B. 0,5 – 1 cm im Durch-
genannt, stellen einen Oberbegriff für verschie- messer, eurostückgroß, 2 mm tief,
dene Hautveränderungen dar. Die Einteilung der Menge und Gesamtverteilung: z. B. einzeln, über-
Effloreszenzen in eine Typologie wird Effloreszenzen- sät, zusammenfließend (= konfluierend),
lehre genannt. Lokalisation und Sitz: z. B. über den ganzen Kör-
per verteilt, im Gesicht, beide Hände,
Sie ermöglicht dem Betrachter eindeutige Beschrei- Farbe: z. B. gerötet, schwarz, blass,
bungen von Hautveränderungen und erleichtert die Art der Beobachtung: Inspektion, tastbar (pal-
Diagnosestellung. Unterschieden werden primäre pierbar), Befund,
und sekundäre Effloreszenzen. Zeitpunkt der Beobachtung: seit wann, Tageszeit,
Sekundäre Effloreszenzen treten im Anschluss an Verlauf, Entwicklung: Beobachtung über einen
primäre Effloreszenzen auf und sind weniger charak- längeren Zeitraum mit Veränderungen, z. B. zu-
teristisch für die zugrunde liegende Erkrankung. erst Blasen- dann Krustenbildung.
Zu den primären Effloreszenzen gehören:
Fleck (Makel, Makula), Je genauer die Beschreibung in der Dokumentation,
Quaddel (Urtika), desto gezielter ist die Diagnostik möglich, eine er-
Papel (Papula) bzw. Knötchen (Noduli), folgreiche Behandlung, die Verlaufsbeobachtung der
Knoten (Nodus), Effloreszenzen und eine Evaluation der Therapie.
Bläschen (Vesicula), Ggf. ist eine Fotodokumentation angezeigt.
Blase (Vesica, Bulla),
Pustel und Zyste.
80
KaelDesu
Ein Fleck, auch Makel bzw. Makula genannt, ist eine Farb- Fleck:
veränderung der Haut. Es kann sich um eine Pigmentverän- Pigment Epidermis
derung und/oder eine lokale Überwärmung mit Gefäßer-
weiterung handeln, z. B. bei einer allergischen Reaktion.
Viele Hautveränderungen beginnen mit fleckenhaften Ver-
änderungen. Sommersprossen und Leberflecke sind Farb-
veränderungen durch Pigmente. Tätowierungen sind künst-
6 Haut und Schleimhäute
er w
ei Dermis, Kutis
Gef terte
äße
BAND 2
z. B. als allergische Reaktion nach einem Insektenstich vor.
Viele Quaddeln über den Körper verteilt werden als Nessel-
sucht, auch Urtikaria genannt, bezeichnet.
Ödem
Abb. 6.9 Schematische Abbildung einer Quaddel
BAND 2
Abb. 6.12 Papel
Forsetzung 왔
81
6
6
82
KaelDesu
Flüssigkeits-
ansammlung
a Vesikula
BAND 2
b intraepidermale Blase
c subepidermale Blase
Abb. 6.13 a – c Schematische Abbildung einer Blase a Vesi-
kula b intraepidermale Blase c subepidermale Blase
KaelDesu
Die Pustel ist eine Blase, die mit Eiter gefüllt ist (s. Abb. 6.13
u. 6.14)
Eine Zyste ist ein von Epithel ausgekleideter Hohlraum, der Zyste:
Sekret enthält. Eine Zyste sieht ähnlich aus wie ein Knoten,
ist beim Betasten jedoch von weicher Konsistenz. Beispiele
sind Follikel- oder Talgzysten der Haut oder der Grützbeutel
(Atherom).
BAND 2
Abb. 6.15 Schematische Abbildung einer Zyste
Fortsetzung 왔
83
6
6
84
KaelDesu
BAND 2
mit fest haftender gelblich-bräunlicher Kruste
Fortsetzung 왔
85
6
6
86
KaelDesu
Eine Narbe (Zikatrix) ist ein Hautersatz. Sie besteht aus bin- Narbe:
degewebig umgewandeltem, geschrumpften Granulations- Epidermis = geschrumpft
gewebe einer geheilten Wunde. Die Haut ist an dieser Stel-
le dünner. Durch Beeinträchtigung der Melanozyten kann
es zu Pigmentverschiebungen kommen im Sinne von zu
viel oder zu wenig Farbstoff. Narbengewebe kann auch
überschießend wachsen, die Narbe erhält dann ein wulsti-
6 Haut und Schleimhäute
Corium
Abb. 6.21 Schematische Abbildung einer Narbe
BAND 2
obersten Epidermis; sie ist mechanisch abhebbar. Ein Bei-
spiel hierfür ist die Schuppenflechte (Psoriasis vulgaris)
BAND 2
Abb. 6.26 Schorf
Fortsetzung 왔
87
6
6
88
KaelDesu
Ein Ulkus, auch Geschwür genannt, ist ein Hautdefekt, der Ulkus:
bis in die tieferen Schichten der Lederhaut und Subkutis
reicht. Charakteristischerweise entsteht ein Ulkus häufig
auf vorgeschädigter Haut. Ein Ulkus weist eine schlechte
Heilungstendenz auf und heilt unter Narbenbildung ab. Ein
häufig vorkommendes Beispiel ist das Ulkus cruris bei chro-
nischem Venenleiden oder das Dekubitalulkus.
BAND 2
Abb. 6.30 Ulcus cruris
Fortsetzung 왔
89
6
6
90
KaelDesu
!
Merke: Die differenzierte Dokumentation
von Hautveränderungen ist Voraussetzung
für die Verlaufskontrolle und Evaluation der
therapeutischen Maßnahmen.
Entzündungen
Entzündungen der Haut können sowohl von innen
als auch von außen stammen. Über die Kapillar-
durchblutung gelangen Keime, Toxine oder andere
hautschädigende Substanzen in die Haut, die hierauf
mit einer Entzündung reagiert.
Eine intakte, trockene Haut ist vor Keimen von au-
ßen durch ihre normale Hautflora geschützt. Bei be-
stimmten Erkrankungen, z. B. beim Diabetes mellitus
oder bei Menschen mit einem geschwächten Im-
6
munsystem, ändert sich die Hautflora und sie wird
angreifbar für Keime von außen.
Entzündungszeichen sind:
Rötung (Rubor),
Schwellung (Tumor),
Überwärmung (Calor),
Schmerz (Dolor) und
Funktionseinschränkung (Functio laesa).
Abb. 6.33 Flächenhafte Entzündung z. B. bei Intertrigo
Abb. 6.35 Hämatom – nach einer intramuskulären Injektion un- Abb. 6.37 Melanozytärer Nävus
ter der Behandlung mit gerinnungshemmenden Arzneimitteln
Fortsetzung 왘
6 Eine Stomatitis ist eine Mund- 쐌 Infektionen durch Her- s. a. Abb. 6.44
schleimhautentzündung mit geröte- pes-Viren oder Soor
ter und geschwollener Schleimhaut, 쐌 Aphthen
Schmerzen, Trockenheitsgefühl und 쐌 Vitaminmangelzustän-
unangenehmem Geschmack im de
Mund sowie Mundgeruch (Foetor ex 쐌 fehlende Mundpflege
ore). Menschen mit einer Stomatitis 쐌 s. a. unter Aphthen
verweigern wegen der Symptome und Soorstomatitis
häufig die Nahrungsaufnahme, da 쐌 häufig in Verbindung
diese sehr starke Schmerzen verursa- mit Soor
chen kann.
Fortsetzung 왘
Fortsetzung 왘
Himbeerzunge 쐌 Scharlach
6 쐌 Die Zunge sieht aus wie rot 쐌 chronische Erkrankun-
lackiert gen der Verdauungs-
쐌 Hypertrophe Papillen verleihen ihr organe
ein himbeerartiges Aussehen
Fortsetzung 왘
Makroglossie 쐌 Down-Syndrom
쐌 Vergrößerung der Zunge 쐌 Akromegalie
쐌 Amyloidose
쐌 Myxödem
Fortsetzung 왘
!
Lebererkrankungen entstehen. Berufe mit vorwie- Merke: Die Beobachtung der Analschleim-
gend sitzender Tätigkeiten begünstigen die Hämor- haut stellt einen Eingriff in die Intimsphäre
rhoidenbildung. eines Menschen dar. Sie bedarf deshalb eines
Die Einteilung der Hämorrhoiden erfolgt in 4 Sta- besonders einfühlsamen und vorsichtigen Vorgehens.
dien. Stadium 1 und 2 sind in erster Linie endosko-
pisch beurteilbar. Gelegentlich sind blutige Stuhlauf-
lagerungen, Juckreiz und Brennen zu beobachten. 6.4 Ergänzende
Ab Stadium 2 und 3 können Hämorrhoiden vor- Beobachtungskriterien
fallen (prolabieren) und sind dann äußerlich sicht-
bar. Meist können sie in den Analkanal zurück- Neben den spezifischen Hautkrankheiten gibt es ei-
gedrückt (reponiert) werden. ne Reihe von Erkrankungen, die nicht nur Verände-
In schweren Fällen, Stadium 4, ist die Reposition rungen an der Haut verursachen, sondern auch Aus-
nicht möglich. Schmerzen, Jucken, nässende wirkungen auf andere Beobachtungskriterien haben.
Schleimhautabsonderungen und Ekzeme sind die Deshalb müssen in diesen Fällen auch andere Beo-
Folge. Eingeklemmte Hämorrhoiden schwellen öde- bachtungspunkte beachtet werden. Die folgenden
matös an und verursachen heftige Schmerzen. Verknüpfungen sind ausgewählte Beispiele:
Die Erhöhung der Hauttemperatur kann auf eine loka- Der Hautsinn ist der früheste embryonal entwi-
le Entzündung der Haut zurückzuführen sein, mögli- ckelte Sinn, er wird auch als somatoviszeraler Sinn
cherweise aber auch durch eine Erhöhung der Kern- bezeichnet. Zum Hautsinn gehören die Rezeptoren
temperatur (Fieber) verursacht werden. der Oberflächen- und Tiefensensibilität. Die Rezep-
Eine auffallende Blässe der Haut einer Extremität kann toren sind unterschiedlich verteilt. Kinder verfügen
u. U. durch einen akuten Arterienverschluss bedingt über ca. 6000 Tastkörperchen auf den Fingerkuppen,
sein. Hier ist besonders auf die Schmerz- und periphere Erwachsene hingegen nur über 3000 – 4000.
Pulsbeobachtung hinzuweisen. Eine allgemeine Haut- Der Hautkontakt zwischen Mutter und Kind sollte
blässe, in Kombination mit kaltem, klebrigem Schweiß nach Möglichkeit in den ersten 2 Stunden nach der
auf der Haut, weist auf einen Kreislaufschock hin. Es Geburt weitestgehend bestehen bleiben, um die Ge-
wird in diesem Fall neben der Puls- besonders die Blut- fühlsbeziehung zu fördern. Denn die Berührungs-
druckbeobachtung notwendig. reize sind von großer Bedeutung für die kognitive
Veränderungen der Haut ziehen häufig auch typische und emotionale Entwicklung.
Veränderungen der Hautanhangsgebilde Haare und
6 Nägel mit sich. Sie sollten deshalb immer gleichzeitig Physiologische Besonderheiten der Haut bei
beobachtet werden. Neugeborenen und Säuglingen
Trotz zu erkennenden Gemeinsamkeiten mit der Er-
Zusammenfassung: wachsenenhaut gibt es bei der Neugeborenen- und
Veränderungen der Mund- und Analschleim- Säuglingshaut anatomisch und physiologisch einige
haut Unterschiede. Die gesunde Haut des Neugeborenen
VeränderungenderMundschleimhautundderZunge ist zart, prall, warm, rosig und ohne Schädigungen.
tretenhäufigimZugevonFieber-,Magen-undDarm- Der Hautturgor ist glatt und elastisch. Die Epidermis
erkrankungen sowie Abwehrschwäche auf. ist sehr dünn. Im Vergleich mit einem erwachsenen
Bei Veränderungen der Analschleimhaut sind für den Menschen besitzt ein Neugeborenes oder ein Säug-
Betroffenen besonders belastende und häufig die Le- ling im Verhältnis zu seinem Gewicht eine viel grö-
bensqualität einschränkende Symptome zu beob- ßere Körperoberfläche. Die gesunde Schleimhaut in
achten. Mund, Zunge und Genitalbereich ist rosig, feucht,
Zu den wichtigsten Veränderungen der Analschleim- leicht glänzend und ohne Beläge.
haut zählen Analfissur, Analfistel, Analabszess, Hä-
morrhoiden und Analprolaps. Käseschmiere
Neben der Beobachtung der Haut müssen auch ande- Die Neugeborenenepidermis wird von einer Käse-
re Bereiche berücksichtigt werden, da Hautverände- schmiere (Vernix caseosa) bedeckt. Sie besteht aus
rungen häufig mit anderen Erkrankungen einherge- abgeschilferten Zellen, Haaren und Talgmassen. Die
hen. Käseschmiere stellt einen natürlichen Hautschutz
gegen die aufweichende Wirkung des Fruchtwassers
dar. Sie trägt dazu bei, den Wasserentzug aus der
6.5 Besonderheiten bei Kindern Oberhaut zu verringern. Die bei der Geburt voll akti-
Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm ven Talgdrüsen bewahren die Haut vor dem Aus-
trocknen und halten sie geschmeidig. Sie unterstüt-
Bedeutung der Haut für das Kind zen durch den höheren Feuchtigkeitsgehalt der Haut
Die Haut ist ein wichtiges Kommunikationsmittel das Neugeborene dabei, sich an seine Umgebung au-
zwischen Mutter und Kind. Das Neugeborene wird ßerhalb des Mutterleibes zu gewöhnen.
nach der Geburt auf Brust und Bauch der Mutter ge- Aufgrund ihrer pflegenden Wirkung sollte die
legt. Das Kind kann durch den Hautgeruch und die Käseschmiere nach der Geburt nicht entfernt, son-
bereits im Mutterleib wahrgenommene Stimme dern sanft in die Haut einmassiert werden. Verein-
Kontakt zu seiner Mutter aufnehmen. Gleichzeitig zelt kommt es in den ersten Lebenstagen zu einer
nimmt es den vertrauten Herzschlag wahr. Der Herz- vermehrten physiologischen Schuppung der Neuge-
schlag wird im Mutterleib vom Foetus bereits als Ur- borenenhaut. An Nase, Stirn und Wangen des Kindes
erfahrung erlebt und durch Vibration über die Haut zeigen sich gelegentlich kleine weiße „Hautperlen“.
als vertrautes Merkmal wiedererkannt. Es handelt sind um verdickte und mit gelblichem In-
halt gefüllte Talgdrüsengänge (Milien), die meist in- sehr dünne und empfindliche Haut reagiert auf be-
nerhalb von 3 Wochen nach der Geburt von alleine stimmte Konzentrationen von Substanzen wie Stuhl,
verschwinden. (s. a. S. 122). Urin, Speichel und/oder bestimmte chemikalische
Pflegemittel mit Hautreizungen.
Körperoberfläche Aufgrund dieser Kenntnisse ist es sehr wichtig,
Im Vergleich zu einem erwachsenen Menschen hat die hygienische Hautpflege des Neugeborenen und
ein Neugeborenes/Säugling im Verhältnis zu seinem Säuglings mit pH-neutralen Pflegeprodukten durch-
Gewicht eine um vieles größere Hautoberfläche, was zuführen. Darüber hinaus führen Reizungen zwi-
zu einer vermehrten Wasserabgabe führt. Die Gefahr schen 2 Hautfalten oder durch Windeln zur Mazera-
der Austrocknung wird außerdem durch die noch tion, dem Aufweichen der Haut und damit zu einem
sehr dünne Epidermis begünstigt. Zusammenbruch der epidermalen Barriere. Die Reiz-
stoffe gelangen so in die Haut des Kindes und bewir-
!
Merke: Bezogen auf das Körpergewicht ist ken Reaktionen und ggf. Ausschläge.
die Körperoberfläche des Säuglings doppelt
so groß wie bei einem Erwachsenen. Somit ist Abweichungen und Veränderungen des
6
die Säuglings- und Kinderhaut besonders vor Aus- Hautzustandes bei Kindern
trocknung zu schützen. Hauterkrankungen bei Kindern können angeboren
oder erworben sein.
Unausgereiftes Geflecht von Hautnerven
Weitere Unterschiede sind die noch nicht voll ausge- Angeborene Hauterscheinungen/-erkrankungen
bildeten Meissner-Tastkörperchen. Die meisten Ner- Naevi („Flecken“) sind aufgrund embryonaler Ent-
ven in der Säuglingshaut haben einen geringen wicklungsstörungen entstandene Fehlbildungen der
Durchmesser und enthalten noch kein Myelin. Die Haut. Sie werden nach den Gewebeanteilen, von de-
Entwicklung des Hautnervengeflechts kann noch bis nen sie ausgehen, unterschieden.
zur Pubertät andauern. Blutgefäß-Naevi
Storchenbiss, erscheint als flacher, tiefrot bis rosa-
Geringere Melaninproduktion farbener Fleck z. B. auf Stirn, Nacken und Rücken
Die Haut des Neugeborenen/Säuglings ist aufgrund und ist auf eine Erweiterung der Kapillargefäße
geringerer Melaninproduktion weniger pigmentiert zurückzuführen.
als die Haut älterer Kinder und Erwachsener. Mela- Naevus flammeus (Feuermal), erscheint als hell-
nin ist für die Haut- und Haarfarbe verantwortlich roter/blauroter scharf umschriebener Fleck, im
und schützt die Haut vor den potenziell schädlichen Gesicht oder an den Extremitäten vorkommend,
Wirkungen der Ultraviolettstrahlung. Die Haut von und ist auf Kapillarerweiterungen in einem be-
Neugeborenen/Säuglingen verbrennt unter direkter stimmten Hautbezirk zurückzuführen. Der Nae-
Sonneneinstrahlung schneller, sie muss deshalb be- vus flammeus im Gesicht, Rumpf oder auf den Ex-
sonders geschützt werden. tremitäten (Portweinmal) kann sich auch einsei-
tig darstellen.
Höhere Anfälligkeit für Reizstoffe und Infekte Hämangiome (Blutschwämme) bilden sich in den
Die aus Keratin bestehende Hornschicht wirkt als ersten Lebensmonaten richtig heraus, erscheinen
physiologische Barriere gegen das Eindringen schäd- als rote, schwammartige, oberflächliche Läsionen
licher Mikroorganismen und schädlicher Chemika- oder als bläulich schimmernd, wenn sie tiefer lie-
lien. Mikroben sind unter normalen Umständen gen. Hämangiome sind gutartige geschwulstarti-
harmlos, doch jede Durchlässigkeit der Haut bedeu- ge Wucherungen von Blutgefäßen aufgrund em-
tet ein Infektionsrisiko. Neugeborene/Säuglinge sind bryonaler Fehlentwicklungen. Sie wachsen in den
durch die Unterbrechung der Haut an der Nabel- ersten Lebensmonaten schnell, um später wieder
schnur besonders infektanfällig. zu schrumpfen. Häufig verschwinden sie bis zum
Die zum Schutz gegenüber bestimmten Bakterien Jugendalter ganz (Abb. 6.55).
notwendige Mikroflora (der pH-Wert liegt bei 6,7)
und das zur Abwehr benötigte Immunsystem sind
bei der Geburt noch nicht voll entwickelt. Die noch
6
Abb. 6.55 Infantiles Hämangiom (oberflächlich)
Pigment-Naevi
Mongolenfleck, erscheint als schiefergraue bis
grauschwarze Färbung, meist am lumbosakralen
Rumpf, wird ausgelöst durch tieferliegende Mela-
Abb. 6.56 Nävuszellnävus
nozyten, bildet sich jedoch langsam zurück.
Cafe-au-lait-Fleck, erscheint als hellbrauner,
milchkaffeeartiger meist ovaler Fleck unter- ner Mazeration durch zu seltenen Windelwechsel
schiedlicher Größe, der an jeder Stelle des Kör- (Abb. 6.57).
pers auftreten kann. Er entsteht aufgrund ver- Atopische Dermatitis (Neurodermitis, endogenes
mehrten Pigmentgranulats in der Basalschicht Ekzem, atopisches Ekzem) erscheint als kleine ju-
der Haut und bleibt ein Leben lang bestehen. ckende Hautstellen, Knötchenbildung und Verdi-
Naevuszell Naevus, erscheint als scharf abge- ckung der Hautoberfläche, auch flächenhaft gerö-
grenzter dunkelbrauner Fleck unterschiedlicher tet. Die Prädilektionsstellen sind im Neugebore-
Größe, dessen Oberfläche glatt, höckerig, warzen- nen- und Säuglingsalter das Gesicht, bei Klein-
förmig und behaart sein kann. Er kann punktför- und Schulkindern die Ellenbeugen, Kniekehlen,
mig über den ganzen Körper verteilt sein oder Hand- und Fußgelenke. Durch häufiges Kratzen
auch große Hautbezirke bedecken. Er entsteht in- entstehen nässende Wunden, die eine Infektan-
folge endogener oder exogener Störungen der Ge- fälligkeit begünstigen und Infektionen und Su-
websentwicklung. Histologisch findet man mela- perinfektionen der Haut zur Folge haben können.
ninhaltige Zellen mit auffallend großem Kern. Es Die Entstehung ist weitgehend unbekannt, Ursa-
besteht das Risiko einer Umwandlung in ein Me- chen werden im genetischen Bereich vermutet
lanom, deshalb muss eine regelmäßige Kontrolle (Abb. 6.58).
erfolgen (Abb. 6.56). Seborrhoische Säuglingsdermatitis (Milchschorf)
zeigt sich als gelblich dicke, fettige, schuppende
Erworbene Hauterscheinungen/-erkrankungen Hautrötung vorwiegend am Kopf, Hals, in der
Intertrigo (Windeldermatitis/-ekzem) ist eine Achselhöhle und im Windelbereich. Auch hier ist
entzündliche Reizung der Haut im Windelbe- die Ursache unbekannt. Die Hauterscheinung ist
reich, die bei fast allen Säuglingen ein- oder in den ersten 6 Lebensmonaten zu beobachten
mehrmals vorkommt. Erscheinungsformen sind und tritt danach nicht wieder auf (Abb. 6.59).
flächenhafte Rötung, später Papeln und/oder Neonatale indirekte Hyperbilirubinämie ist eine
Bläschenbildung, ausgelöst durch z. B. bakterielle physiologische oder pathologische Gelbfärbung
Besiedlung oder Candida albicans. Sie entsteht der Haut (Ikterus, s. a. S. 75). Sie kann patholo-
durch Kontakt mit Urin und Stuhl und infolge ei- gisch oder physiologisch auftreten, bedingt durch
!
Durch die langsamere Zellteilung wird die Haut Merke: Zur Reinigung von Altershaut sollten
dünner (Atrophie von Dermis, Epidermis und Subku- milde Reinigungsmittel verwendet werden,
tis). Meist kommt es zur Abnahme von Fettgewebe, z. B. Ölbäder, und zur Hautrückfettung Was-
sodass die Haut nochmals an Dicke verliert. Diese ser-in-Öl-Emulsionen (W/O) (s. a. Bd. 3, Kap. 9.2.9).
Umstände führen zu einer erhöhten Gefahr für Ver-
letzungen und Druckgeschwüre. Durch das fehlende Viele ältere Menschen leiden unter Inkontinenz. Bei
Fettgewebe verringert sich auch die Fähigkeit der Frauen sind die Ursachen häufig Gebärmuttersen-
Haut zur Wärmeisolation; aus diesem Grund frieren kungen nach Geburten, bei Männern eine vergrößer-
alte Menschen leichter. te Prostata. Zusammen mit der dünner werdenden
Die Anzahl der Melanozyten verringert sich und Altershaut, dem veränderten Säureschutzmantel
somit die Schutzwirkung vor UV-Licht. Außerdem und einer zunehmenden Hauttrocknung erhöht sich
sind in der Altershaut die Melanozyten nicht mehr die Intertrigogefahr um ein Vielfaches. Eine trockene
regelmäßig angeordnet. Die Haut erhält eine fleckige Haut neigt zu Juckreiz und weist häufig Verletzungen
braune Pigmentierung von unterschiedlicher Größe, durch Kratzspuren auf, die wiederum Eintrittspfor-
6 besonders an den Händen, den Unterarmen und im ten für Bakterien, Pilze und Viren sind.
Gesicht. Diese Pigmentierungen sind auch als „Al- Nachlassende Leistung der Sinnesrezeptoren im
tersflecken“ bekannt (s. a. Abb. 6.61). Alter bedingt Veränderungen der äußeren Wahrneh-
Die Anzahl der Talg- und Schweißdrüsen verrin- mungsfähigkeit. Eine verminderte Druckwahrneh-
gert sich. Infolgedessen nimmt auch die Talg- und mung z. B. kann zur Folge haben, dass erst zu spät
Schweißproduktion ab mit entsprechend negativer oder gar keine Druckentlastungsbewegung durchge-
Auswirkung auf den Säureschutzmantel der Haut. In führt wird und infolgedessen das Risiko für die Ent-
Verbindung mit einer Exsikkose (s. a. S. 288 u. 299) stehung eines Druckgeschwürs (Dekubitus) steigt.
wird die Haut trocken, spröde oder rissig. Neben ei- Insgesamt ist die Altershaut empfindlicher und
ner erhöhten Verletzungsgefahr besteht eine redu- die Wundheilung durch verlangsamte Zellteilung
zierte Fähigkeit zur Keimabwehr und eine erhöhte verzögert. Viele Erkrankungen, z. B. Durchblutungs-
Infektanfälligkeit, besonders bei Bagatellverletzun- störungen oder der Diabetes mellitus, sind Ursache
gen. Dieser Aspekt sollte bei der Auswahl der Pflege- einer eingeschränkten, durch krankhafte Gefäße be-
mittel beachtet werden, weil die Altershaut unter dingten, veränderten Stoffwechsellage. Geschwür-
diesen Umständen besonders angreifbar wird für bildung, z. B. diabetische Gangrän oder Ulcus cruris
Seifen und Laugen. und Hautdefekte bis zum Absterben ganzer Hautbe-
zirke, können die Folge sein.
!
Merke: Die Altershaut weist eine geringere
Wahrnehmungs- und eine eingeschränkte
Regenerationsfähigkeit auf, was zu erhöhter
Verletzungsgefahr und beeinträchtigter Wundheilung
führen kann.
!
Merke: Es ist darauf zu achten, dass die Pro- 3. Veränderungen an Haut und Schleimhaut können
thesen gut passen und auch eingesetzt wer- kosmetische Probleme darstellen und die betrof-
den. Der Kiefer verformt sich sehr schnell bei fenen Menschen in den sozialen Rückzug trei-
längerfristig herausgenommenen Prothesen. Diese sit- ben.
zen dann nicht mehr optimal, was Druckstellen in der
Mundschleimhaut zur Folge haben kann. Die folgende Fallstudie illustriert ein Beispiel aus
dem ersten Bereich.
Zusammenfassung:
Besonderheiten bei Kindern und älteren Beispiel: Fr. Üppig ist 82 Jahre alt und lebt
Menschen nach einem Schlaganfall seit 3 Jahren im Al-
Die Käseschmiere schützt die Haut von Neugebore- tenheim. Anfangs hatte sie Probleme, ihre
nen gegenüber dem Fruchtwasser und die Talgdrü- Selbstständigkeit aufzugeben. Inzwischen hat sie aber
sen vor dem Austrocknen nach der Geburt. einen guten Kontakt zu Mitbewohnern und Pflegekräf-
Die Körperoberfläche eines Säuglings ist im Ver- ten hergestellt. Fr. Üppig ist seit 10 Jahren Witwe und
gleich zum Erwachsenen fast doppelt so groß, die hat 2 Kinder. Durch den Schlaganfall hat sie eine
6
dünne Epidermis begünstigt zusätzlich die Gefahr rechtsseitige Hemiplegie und eine Urininkontinenz. Sie
der Austrocknung. trägt Windeleinlagen und Inkontinenzwäsche.
Ein noch nicht voll ausgereiftes Geflecht von Haut- Fr. Üppig ist adipös und durch ihre Körperfülle in der
nerven, geringere Melaninproduktion und das noch Mobilität eingeschränkt, kann aber mit Hilfe aufste-
nicht entwickelte Immunsystem machen die Haut hen. Die Pflegepersonen helfen ihr bei der Morgentoi-
von Neugeborenen anfälliger für Infekte und Reiz- lette und setzen sie in ihren Rollstuhl. Die Mahlzeiten
stoffe. nimmt Fr. Üppig gemeinsam mit den anderen Heimbe-
Angeborene Hautveränderungen sind Blutgefäß- wohnern im Aufenthaltsraum ein.
und Pigment-Naevi („Flecken“), zu den erworbenen Seit 2 Tagen hat Fr. Üppig Fieber mit Temperaturen von
Hauterkrankungen zählen u. a. Intertrigo (Windel- über 39 ⬚C rektal. Sie fühlt sich schlapp, hat keinen Ap-
dermatitis), atopische Dermatitis, seborrhoische petit und möchte im Bett bleiben. Durch das Schwitzen
Säuglingsdermatitis, neonatale indirekte Hyperbili- und ihre Urininkontinenz hat sich die Haut, besonders
rubinämie und infektiöse Dermatosen. unter der Brust und in den Leisten sowie in der Kreuz-
Auch die Altershaut ist anfällig für Infektionen, Ver- beingegend stark gerötet. Fr. Üppig klagt über starkes
letzungen und Druckgeschwüre, hat eine verringer- Brennen und Juckreiz sowie Schmerzen beim Wasser-
te Wärmeisolationsfähigkeit und Schutzwirkung lassen. Der Arzt diagnostiziert eine Harnwegsinfektion
vor UV-Licht. und Intertrigo der Haut, unter der Brust und in den
Die im Alter veränderte Mundschleimhaut kann zu Leisten mit Pilzbefall. Er ordnet Antibiotika oral und ei-
Mundgeruch, Soor, Stomatitis und Parotitis führen, ne antimykotische Salbe an. Tab. 6.3 zeigt einen Aus-
durch schlecht sitzende Prothesen entstehen leicht zug aus dem Pflegeplan von Fr. Üppig.
Druckstellen im Kieferbereich. Zu der Fallstudie kann eine Pflegediagnose gestellt
werden, wie sie die Übersicht auf S. 108 zeigt.
6.7 Fallstudien und mögliche Für Fr. Üppig könnte die Pflegediagnose folgender-
maßen lauten:
Pflegediagnosen Gewebeschädigung (Art zu spezifizieren)
b/d (beeinflusst durch) chemische Reizstoffe durch
Pflegeprobleme im Zusammenhang mit Haut- und
Urin und Schweiß
Schleimhautveränderungen lassen sich im Wesentli-
a/d (angezeigt durch) beschädigtes Gewebe: geröte-
chen 3 Bereichen zuordnen:
te Haut, juckende Haut, brennende Haut, beschädig-
1. Veränderungen an Haut und Schleimhaut verur-
te Haut.
sachen häufig Juckreiz und/oder Schmerzen,
2. Hautveränderungen, insbesondere Verletzungen,
sind ideale Eintrittspforten für Krankheitserre-
ger,
쐌 Fr. Üppig hat brennende 쐌 Fr. Üppig ist kooperativ 쐌 Jucken und Brennen ist 쐌 Haut vorsichtig pflegen, keine mechani-
und juckende Hautstel- und kratzt nicht, sie ver- erträglich sche Reibung
len unter der Brust, in steht die Zusammenhän- 쐌 trockene, intakte Haut 쐌 Haut an den betroffenen Stellen trocken-
den Leisten und in der ge zwischen der Haut- unter der Brust, in den halten:
Kreuzbeingegend auf- feuchtigkeit und dem Leisten und in der Kreuz- – Reibung vermindern durch Einlage von
grund von Intertrigo-My- Wundsein beingegend Mull- oder Gazestreifen
kose – alle 2 Stunden Kontrolle auf Urinab-
gang
– keine Gummihosen, um Wärmestau zu
vermeiden
– nach jedem Wasserlassen Reinigung
ohne mechanische Reibung mit lauwar-
mem Wasser ohne Zusatz und Auftra-
gen der antimykotischen Salbe nach
6 Arztanordnung
쐌 Verwendung von Einmalhandschuhen
zum Schutz vor Superinfektion und
Selbstschutz
쐌 Fr. Üppig fühlt sich 쐌 Fr. Üppig kennt diese Be- 쐌 Fr. Üppig hat eine physio- 쐌 für ausreichend Ruhe sorgen
schwach und müde gleiterscheinungen von logische Körpertempera- 쐌 Temperaturkontrolle rektal alle 4 Stunden
wegen ihres Fiebers und früheren fiebrigen Infek- tur 쐌 spezielle Pflegemaßnahmen bei Fieber:
ihrer Harnwegsinfektion ten 쐌 Fr. Üppig hat ausreichen- u. a. Flüssigkeitsersatz, differenzierte, leich-
de Ruhephasen te, kohlenhydratreiche Ernährung, ggf. fie-
bersenkende physikalische Maßnahmen
bei Temperaturen über 39 ⬚C etc.
Stefans Haut weist auf- Die Eltern unterstützen FZ: geschmeidige, intakte Haut 쐌 Fingernägel kurz schneiden
grund des Juckreiz beding- und pflegen Stefan 쐌 Juckreiz ist gelindert und für 쐌 zur Nacht Tragen eines Neurodermitis
ten Kratzens teils blutende Stefan erträglich Overalls, Tragen von „Fäustlingen“
Wunden und nässende Be- 쐌 zusätzliche Hautdefekte 쐌 tagsüber „Kratzkissen“ bereitstellen
reiche auf durch Kratzen werden recht- 쐌 Linola Fett姞 Salbe 3 ⫻ tägl. (7/15/22
zeitig erkannt Uhr) auf ganzen Körper verteilen
쐌 akzeptiert die Fäustlinge für 쐌 orale Antihistaminika nach Arztanord-
die Nacht nung
Stoffwechselstörungen
Hautschädigung (P)* beeinträchtigte sensorische Empfindung
(Gordon 2013, S. 167 – 168, NANDA-I 2016) hervortretende Knochen
Impaired skin integrity (00046) (1975, 1998)
6
Kennzeichen oder Symptome (S)
Taxonomie II: Domäne 11: Sicherheit/Schutz,
Hauptkennzeichen
Klasse 2: Physische Verletzung
Schädigung der Hautoberfläche (Epidermis)
Diagnosetyp (Dokumentationsform): Zerstörte Hautschichten (Dermis)
aktuelle Pflegediagnose (PES) Eindringen in Körperstrukturen (tiefe Ulzerierung).
Funktionelles Gesundheitsverhaltensmuster:
Ernährung und Stoffwechsel Pflegeergebnis (Outcome)
Gewebeintegrität: Haut und Schleimhäute
Definition (Tissue Integrity: Skin and Mucous Membrane)
Veränderte Epidermis (Oberhaut) und/oder Dermis Strukturelle Unversehrtheit und normale physiologi-
(Lederhaut) sche Funktion von Haut und Schleimhäuten
Einflussfaktoren (E) Risikogruppen
äußere Personen . . .
chemische Substanz mit körperlicher Immobilität
Altersextreme mit sensomotorischen Ausfällen (zerebrovaskuläres
Luftfeuchtigkeit Ereignis, Rückenmarkverletzung)
Hyperthermie (oder) in Bewusstlosigkeit
Hypothermie mit Adipositas
mechanische Faktoren (z. B. Scherkräfte, Druck, mit Kachexie
freiheitseinschränkende Maßnahmen) mit Immunschwäche
Medikamente unter einer Strahlentherapie
Feuchtigkeit
körperliche Immobilisierung
Strahlung Für Stefan kann auch eine Pflegediagnose formuliert
werden: Hautschädigung bedingt durch (b/d) me-
innere
chanische Faktoren (Kratzen bei Juckreiz) angezeigt
Veränderungen des Flüssigkeitshaushalts
durch (a/d) Schädigung von Epidermis und Dermis.
veränderte Pigmentierung
(Veränderung des Ernährungszustands
[Adipositas, Kachexie]) Fazit: Die Haut ist wie kein anderes Organ
entwicklungsbezogene Faktoren der äußerlichen Inspektion und Beobachtung
psychogene Faktoren zugänglich und wird hinsichtlich Farbe, Tem-
veränderter Ernährungszustand (z. B. Fettleibigkeit, peratur, Spannung und Oberflächenbeschaffenheit be-
Kachexie) obachtet und beurteilt. Viele Veränderungen der Haut
Veränderung des Turgors (der Elastizität) sind typisch und können bereits durch die sog. „Blickdi-
immunologische Defizite agnose“ einer Erkrankung zugeordnet werden. Durch
Durchblutungsstörungen (z. B. AvK) die Funktionsvielfalt der Haut werden bei Hautverän-
derungen häufig komplexe körperliche Folgeprobleme
* Siehe auch Dekubitus, Stadium II bis IV.
ausgelöst.
Bedeutsam für den Menschen ist auch die kosmeti- Gortner, L., S. Meyer, F. C. Sitzmann: Duale Reihe Pädiatrie.
sche Wirkung der Haut hinsichtlich Aussehen und Kon- 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012
Gordon, M.: Handbuch Pflegediagnosen. 5. Aufl. Hans Huber,
takt; sichtbare Veränderungen können zu erheblichen
Hogrefe AG, Bern 2013
Belastungen in psychischen und sozialen Bereichen
Hoehl, M., P. Kullick (Hrsg.): Gesundheits- und Kinderkranken-
führen. pflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012
Die Beobachtung der Haut schließt die Beobachtung I care Anatomie Physiologie. Thieme, Stuttgart 2015
der Schleimhäute, insbesondere der Mundschleimhaut I care Krankheitslehre. Thieme, Stuttgart 2015
und Analregion, ein. Die Schleimhaut des Gastrointesti- Illing S., M. Claßen (Hrsg.): Klinikleitfaden Pädiatrie. 9. Aufl.
naltraktes ist ohne Hilfsmittel nicht beobachtbar. Spezi- Urban & Schwarzenberg, München 2014
Marent, J.: Garaus der Laus: Kampf den Parasiten. Heilberufe
fische Symptome lassen jedoch Rückschlüsse auf Verän-
2016; 15 – 17, DOI: 10.1007/s00058-016-2030-x
derungen in diesem Bereich zu.
Margulies, A. et al. (Hrsg.): Onkologische Krankenpflege.
Die Altershaut ist dünner und weniger elastisch, die 6. Aufl. Springer, Berlin 2017
Hautfunktionen sind reduziert. In Kombination mit der Moll, I. (Hrsg.): Duale Reihe Dermatologie. Thieme, Stuttgart
verminderten Hautdrüsentätigkeit verändert sich der 2016
6 Säureschutzmantel der Haut, wodurch sie insgesamt NANDA International: Pflegediagnosen. Definitionen und
anfälliger gegenüber Einflüssen von innen und außen Klassifikation 2015 – 2017. Herdmann, T. H., S. Kamitsuru
(Hrsg.): RECOM, Kassel 2016
wird.
Paetz, B. Chirurgie für Pflegeberufe. 23. Aufl. Thieme, Stuttgart
Die Hautbeobachtung nimmt bei den Pflegenden ei- 2017
ne besondere Stellung ein. Im Pflegealltag ergeben sich Pschyrembel Klinisches Wörterbuch. 267. Aufl. de Gruyter,
vielfältige Gelegenheiten, Veränderungen frühzeitig zu Berlin 2017
erkennen und adäquat zu reagieren. Als Kontaktorgan Röcken, M. et al.: Taschenatlas Dermatologie. Grundlagen, Di-
bietet die Haut, besonders bei wahrnehmungsgestör- agnostik, Klinik. Thieme, Stuttgart 2010
Schewior-Popp, S., F. Sitzmann, I. Ullrich (Hrsg.): Thiemes Pfle-
ten Menschen, Möglichkeiten der Kommunikation.
ge. 13. Aufl. Thieme, Stuttgart 2017
Schwegler, J., R. Lucius: Der Mensch. Anatomie und Physiolo-
gie. 6. Aufl. Thieme, Stuttgart 2016
Steidl, S., B. Nigg: Gerontologie, Geriatrie und Gerontopsychia-
Literatur: trie. Ein Lehrbuch für Pflege- und Gesundheitsberufe.
4. Aufl. Facultas, Wien 2014
Abeck, D.: Neue Empfehlungen zur Säuglingspflege. Die Heb-
Weibel, L., M. Theiler, L. Feldmeyer: Hauterkrankungen des
amme 2016; 303 – 306, DOI: 10.1055/s-0042-115553
Säuglings. Pädiatrie up2date 2012; 163 – 185, DOI:
Fischer, K., H. Sobottka, D. Faas (Hrsg.): Klinikleitfaden Kinder-
10.1055/s-0032-1309831
krankenpflege. 4. Aufl. Urban & Fischer, München 2009
Zelder, O.: Lehrbuch der Chirurgie für Krankenpflegeberufe.
Gerlach, U., H. Wagner, W. Wirth: Innere Medizin für Pflegebe-
Ferdinand Enke, Stuttgart 1993
rufe. 8. Aufl. Thieme, Stuttgart 2015
7 Hautanhangsgebilde
Eva Eißing
Übersicht
Einleitung · 111
7.1 Aufbau und Funktion · 111
7.2 Allgemeine Beobachtungskriterien und
Beschreibung des Normalzustandes · 113
7.2.1 Haare · 113
7.2.2 Nägel · 115
7.2.3 Hautdrüsen · 116
7.3 Abweichungen und Veränderungen und
deren Ursachen · 116
7.3.1 Haare · 116
7.3.2 Nägel · 118
7
7.3.3 Hautdrüsen · 121 Nicht vergessen werden darf bei all dem, dass
7.4 Ergänzende Beobachtungskriterien · 122 aber auch die Hautanhangsgebilde durch Verände-
7.5 Besonderheiten bei Kindern · 122 rungen auf Krankheiten oder Störungen hinweisen
7.5.1 Haare · 122 können. Einen Überblick hierzu liefert das folgende
7.5.2 Nägel · 123 Kapitel.
7.5.3 Hautdrüsen · 124
7.6 Besonderheiten bei älteren
Menschen · 124 7.1 Aufbau und Funktion
7.7 Fallstudien und mögliche
Pflegediagnosen · 125 Definition: Zu den Hautanhangsgebilden ge-
Fazit · 128 hören die Haare, die Hautdrüsen und die Nägel.
Literatur · 128 Sie entspringen entwicklungsgeschichtlich gese-
hen aus der Haut, bahnen sich ihren Weg durch die
Schlüsselbegriffe:
Hautschichten und münden auf der Hautoberfläche.
왘 Haare
왘 Nägel Haare
왘 Duftdrüsen Haare sind pigmentierte Hornfäden und bedecken
왘 Talgdrüsen den ganzen Körper, mit Ausnahme von Lippen,
왘 Schweißdrüsen Handinnenflächen und Fußsohlen. Während im Tier-
reich das Haarkleid einen wichtigen Schutz vor Aus-
Einleitung kühlung bietet, dient es dem heutigen Menschen
eher als „Schmuck“ bzw. Unterstreichung der Per-
Haare, Nägel und Hautdrüsen werden zu den sog. sönlichkeit, vor allem die Kopf- und Barthaare. Die
Hautanhangsgebilden gerechnet. Im Gegensatz zu Kopfhaare schützen zudem vor starken Sonnen-
früheren Zeiten, in denen die Haare z. B. als Schutz strahlen. Die Augenbrauen verhindern, dass Schweiß
vor Auskühlung dienten, besitzen die Hautanhangs- in die Augen rinnt. Wimpern und Nasenhaare schüt-
gebilde heute eine eher kosmetische Funktion. Durch zen vor Fremdkörpern und Schmutzpartikeln. Über
die Frisur wird die eigene Persönlichkeit unterstri- die Nerven der Haut sind die Haare indirekt am Tast-
chen. Auch die Finger- und Fußnägel sind als Aus- sinn beteiligt.
drucksmöglichkeit der Individualität erkannt wor- Verschiedene Bereiche des menschlichen Körpers
den. Haare und Nägel runden das Gesamtbild ab, sind mit Haaren bedeckt, dabei wird unterschieden
wobei gepflegte Haare und Nägel als Ausdruck eines zwischen
gesunden Körperbewusstseins gelten. Kopfhaar (Capilli),
Barthaaren (Barba),
Wimpern (Cilia), ist. Melanozyten sondern Pigmente ab, die den Haa-
Augenbrauen (Supercilia), ren ihre Farbe verleihen.
Achselhaaren (Hirci), Ungefähr in der Mitte der Haarwurzel setzt der
Schamhaaren (Pubes), Haarmuskel (M. arrector pili) an. Er besteht aus glat-
Haaren am Naseneingang (Vibrissae), ter Muskulatur und kann das Haar bei Kälte und
Haaren des äußeren Gehörgangs (Tragi). emotionaler Anspannung aufrichten, z. B. durch Bil-
dung der Gänsehaut. Gesteuert wird diese Funktion
!
Merke: über das vegetative Nervensystem.
Das einzelne Haar besteht aus Haarschaft, Am Haarschaft mündet der Ausführungsgang ei-
Haarwurzel und Haarzwiebel (Abb. 7.1). ner Talgdrüse.Das Haar selbst besteht aus weichem
Haarmark (Medulla pili) und der festen Haarrinde
Der Haarschaft (scapus pili) ist der Teil des Haares, (Cortex pili). Die Haarrinde wird aus Hornsubstanz
der aus der Haut herausragt. Die Haarwurzel (Radix gebildet. Die äußerste Schicht (Cuticula) umhüllt das
pili) befindet sich in der Wurzelscheide (vagina pili) Haar wie einen Tannenzapfen. Ihre Plättchen fixieren
der Haut. Der unterste Teil des Haares endet als ver- es ähnlich wie Widerhaken in der Wurzelscheide,
dickte Haarzwiebel (bulbus pili) in der Lederhaut wodurch ein Herausreißen erschwert wird.
7 oder an der Grenze zur Unterhaut. An der Unterseite Die Haare wachsen abhängig von ihrer Lokalisati-
der Haarzwiebel dringt die Haarpapille (Papilla pili) on in unterschiedlicher Dicke, Dichte, Pigmentierung
ein. Hier befindet sich die Wachstumszone mit Blut- und Schnelligkeit.
gefäßen, die für die Haarneubildung verantwortlich
Nägel (Ungues)
Die Nägel bedecken als gewölbte Hornplatten die
Kuppen der Finger und Zehen (Abb. 7.2). Sie dienen
Mark
Rindenschicht
Schuppenschicht a Lunula
b Haarschaft Nagelkörper
Talgdrüse
Haarmuskel
Haarmark Nagelbett Nageltasche
Haarrinde
c Nagel- Fingerknochen Nagel-
falz wall
Wurzelscheide
Haarzwiebel
Haarpapille
Abb. 7.1 Schnitt durch die Haarwurzel (a) und ein Haar (b) Abb. 7.2 Nagel a Aufsicht b Längsschnitt c Querschnitt
als Gegendruckunterlage und ermöglichen auf diese sen überhaupt. Sie befinden sich in der Lederhaut
Art das Tasten. Außerdem können mithilfe der Fin- und münden in den Haarbalg. Aber auch nicht be-
gernägel Objekte von geringerer Größe zangenähn- haarte Hautanteile enthalten Talgdrüsen, wie z. B. die
lich gegriffen werden. Nägel sind unempfindlich und Augenlider, die Lippen, die Glans penis, die kleinen
schützen das darunter liegende, schmerzempfindli- Schamlippen und außerdem der Nasen- und Gehör-
che Gewebe. eingang. Die Talgdrüsen produzieren Talg, eine halb-
Der Nagel besteht aus einem körperfernen Teil, flüssige Mischung aus Fett und Zellresten, die der
dem Nagelkörper (corpus unguis), und einem kör- Fettung von Haut und Haaren dient.
pernahen Teil, der Nagelwurzel (radix unguis). Der
Nagelkörper wird aus Keratin gebildet und liegt auf Duftdrüsen
dem Nagelbett (Hyponychium). Die Nagelwurzel be- Die Duftdrüsen (Glandulae sudoriferae apocrinae)
findet sich geschützt in der Nageltasche (Matrix un- ähneln in ihrem Aufbau den Schweißdrüsen. Sie ent-
guis) mit dem Nagelfalz. Der halbmondförmige, wei- wickeln sich erst während der Pubertät. Die Drüsen-
ße Teil des Nagels wird Lunula genannt. An dieser form entspricht einer apokrinen Drüse, d. h. die Zelle
Stelle befindet sich unter dem Nagel die Nagelmatrix. schnürt Teile ihres Zytoplasmas ab und scheidet sie
Sie wandelt Epithelzellen durch Verhornung in tote mitsamt dem produzierten Sekret aus. Dieses Sekret
Nagelzellen um. ist für den individuellen Körpergeruch eines Men- 7
Der Nagel ist U-förmig eingerahmt durch den Na- schen verantwortlich.
gelwall. Nagelhäutchen (Cuticula) überlappen vom
Nagelwall aus die Nagelplatten. Zusammenfassung:
Hautanhangsgebilde
Schweißdrüsen Die aus der Haut entstandenen Hautanhangsgebil-
Definition: Die Schweißdrüsen (Glandulae su- de sind Haare, Hautdrüsen und Nägel.
doriferae eccrinae) sind knäuelförmig gewunde- Haare sind nicht nur Schmuck, sie haben auch
ne, tubuläre, d. h. schlauchförmige Drüsen und Schutzfunktionen.
sind, bis auf wenige Ausnahmen, über der ganzen Nägel schützen schmerzempfindliches Gewebe und
Körperoberfläche verteilt. Sie gehören zu den ekkrinen ermöglichen das Tasten.
Drüsen. Die Sekrete der ekkrinen Drüsen enthalten kei- Die Schweißdrüsen dienen der Temperaturregulie-
ne Membranfragmente. Die Schweißdrüsen befinden rung und der Bildung des Säureschutzmantels der
sich in der Lederhaut und im subkutanen Fettgewebe Haut.
und enden an der Hautoberfläche. Die Talgdrüsen produzieren Fett für Haut und
Haare.
Bei der weißen Bevölkerung beträgt die Anzahl der Die Duftdrüsen sind für den Körpergeruch eines
Schweißdrüsen ca. 100 – 350 pro cm2, bei der Menschen verantwortlich.
schwarzen Bevölkerung ist der Anteil dagegen dop-
pelt so hoch. Die Verteilung der Schweißdrüsen auf
7.2 Allgemeine
der Körperoberfläche ist unterschiedlich. An den
Handinnenflächen und auf der Stirn ist die Anzahl
Beobachtungskriterien und
größer als z. B. an den Oberschenkeln. Die Schweiß- Beschreibung des
drüsen produzieren Schweiß. Er ist wesentlich an der Normalzustandes
Temperaturregulierung sowie an der Bildung des
Säureschutzmantels der Haut beteiligt. Die Steue- 7.2.1 Haare
rung erfolgt über das vegetative Nervensystem. Die Haare sind wesentlich am Aussehen des Menschen
Schweißmenge ist von unterschiedlichen Faktoren beteiligt.
abhängig und kann täglich 0,5 – 10 l betragen (s. a. Sie können anhand folgender Kriterien beobach-
S. 342). tet werden:
Wachstum und Wachstumsgeschwindigkeit,
Talgdrüsen Länge,
Die Talgdrüsen (Glandulae sebaceae, Abb. 7.1) gehö- Menge,
ren entwicklungsgeschichtlich zu den ältesten Drü- Dicke,
Menge Beschaffenheit
Am ganzen Körper besitzt der Mensch ca. 5 Mio. Haa- Normalerweise ist der Haarschaft glatt und bricht
re. Davon befinden sich ca. 100 000 auf dem Kopf. nicht. Bei langen Haaren kann mechanische Bean-
Rothaarige besitzen weniger Kopfhaare, ca. spruchung (s. „Haarlänge“) dazu führen, dass das
60 000. Im Vergleich dazu haben Schwarzhaarige mit Haar am Schaftende der Länge nach bricht und splis-
ca. 150 000 Kopfhaaren mehr als die doppelte Menge. sig wird. Es sieht dann wie ausgefranst aus. Durch
Die Haarpapillen werden im Embryonalstadium an- chemische Einwirkungen, besonders Dauerwellen-
gelegt. Sind sie einmal zerstört, können sie nicht oder Färbemittel, kann die Haarstruktur derart ver-
mehr erneuert werden. Dies erklärt, warum Narben- ändert werden, dass die einzelnen, schützenden
gewebe meist haarlos bleibt. Pro Tag verliert der Schuppen nicht mehr glatt am Haarschaft anliegen
und sich abspreizen. Der ganze Schopf wirkt dann 7.2.2 Nägel
strohig und spröde, der Glanz geht verloren und das Gesunde Nägel bedecken leicht gewölbt die Finger-
Haar lässt sich nur noch mit Mühe durchkämmen. In oder Zehenkuppen. Sie sind glatt, scheinen rosig und
solch einem Fall sollten die Haare gekürzt und auf besitzen eine gewisse Festigkeit. Im Einzelnen kön-
chemische Zusätze verzichtet werden. Das nach- nen folgende Kriterien beobachtet werden:
wachsende Haar ist dann wieder gesund. Wachstum und Wachstumsgeschwindigkeit,
Die Haarbeschaffenheit wird auch durch den äu- Länge,
ßeren Fettanteil bestimmt. Bei verminderter Talg- Form,
produktion ist der Schutz vor mechanischer Reibung Farbe,
sowie vor dem Eindringen chemischer Stoffe und Beschaffenheit.
Wasser nicht mehr voll gewährleistet. Die Folge kann
eine brüchige Haarstruktur sein. Bei vermehrter Wachstum und Wachstumsgeschwindigkeit
Talgproduktion hängt das Haar bereits einige Stun- Die Nägel wachsen unterschiedlich schnell. Wäh-
den nach der Haarwäsche wieder fettig herunter; die rend der Daumen- und der Großzehennagel ca.
Spannkraft lässt nach. Physiologisch tritt eine ver- 0,1 mm/Tag wachsen, beträgt die Wachstumslänge
mehrte Talgproduktion während der Pubertät auf. für den kleinen Zeh nur ca. 0,05 mm/Tag. Entfernte
Aber auch stark entfettende Haarpflegemittel wirken Nägel, z. B. nach hartnäckiger Pilzerkrankung, wach- 7
sich häufig steigernd auf die Talgproduktion aus. sen in ca. 6 – 9 Monaten nach.
Körperverteilung Länge
Männer und Frauen haben eine unterschiedliche Je nach individuellem Geschmack werden die Nägel
Körperbehaarung. Beim Mann kommt es durch den kurz oder lang getragen. Reicht die Nagellänge über
Einfluss der männlichen Geschlechtshormone zum die Finger- bzw. Zehenkuppen hinaus, kann sie stö-
Bartwuchs, zur Brustbehaarung und einer rautenför- rend sein oder je nach Länge sogar verletzen; dies gilt
migen Schambehaarung, deren obere Spitze bis zum insbesondere auch für den Pflegeberuf, handwerkli-
Bauchnabel reicht. Darüber hinaus ist eine stärkere ches Arbeiten oder bei engem Schuhwerk. Je nach
Behaarung der Arme und Beine, des Rückens sowie Modeerscheinung lassen sich vor allem Frauen ihre
der Augenbrauen zu beobachten. Fingernägel bis mehrere Millimeter über die Finger-
Bei der Frau ist die Körperbehaarung spärlicher. kuppe wachsen.
Sie hat keine Brustbehaarung, und die Form der
Schambehaarung ist dreieckig. Die Entwicklung ei- Form
nes Damenbartes, oft erst nach der Menopause auf- Die normale Nagelform ist U-förmig rund und leicht
tretend, wird eher als störend empfunden. In gerin- quergewölbt.
ger Ausprägung tritt er allerdings häufig auf. Er ist
von Rasse zu Rasse unterschiedlich stark ausgeprägt. Farbe
Während der Damenbart bei Frauen aus dem Mittel- Das Nagelbettepithel und die Nagelmatrix sind frei
meerraum, aus Indien und bei negroiden Völkern von Melanin, somit ist der Nagel farblos und transpa-
häufig vorkommt, ist er bei Japanerinnen und Chine- rent. Der Nagel sieht dennoch rosig aus, weil das gut
sinnen eher selten. durchblutete Nagelbett durchscheint. Beim Frieren
ziehen sich die Gefäße zusammen und das Nagelbett
Haarwuchsrichtung wird bläulich, was durch den Nagel zu beobachten
Haare sind am gesamten Körper in einer bestimmten ist. Bei starken Rauchern färben sich die Fingernägel,
Wuchsrichtung angeordnet. Haarbewegungen wer- die mit dem Nikotin der Zigarette in Berührung kom-
den von Nerven registriert. Streichen der Haare mit men, gelblich-braun.
der Wuchsrichtung wirkt beruhigend auf den Ge-
samtorganismus, streichen gegen die Wuchsrich- Beschaffenheit
tung hat demgegenüber eine eher anregende Wir- Nägel sind normalerweise glatt und elastisch. Erst ab
kung. Dies ist z. B. für die Körperpflege von Bedeu- einer gewissen Länge oder bei extremer mechani-
tung (s. a. Bd. 3, Kap. 9, Bd. 4, Kap. 4). scher Einwirkung bricht der die Fingerkuppe überra-
gende freie Teil der Nagelplatte. Durch chemische
!
Die Talgdrüsen produzieren täglich ca. 1 – 2 g Talg, Merke: Pathologische Veränderungen der
der Haut und Haare, ähnlich wie eine Creme, ge- Haare werden insbesondere anhand folgen-
schmeidig hält und für Wasserdichtigkeit sorgt. Talg der Beobachtungskriterien beurteilt:
7 und Schweiß zusammen bilden den Säureschutz- Wachstum,
mantel. Die Produktion der Talgmenge wird beein- Menge,
flusst durch die Geschlechtshormone. Testosteron Farbe,
regt die Bildung an, während Östrogene gegenläufig Beschaffenheit,
wirken. Körperverteilung.
Duftdrüsen Wachstum
Die von den Duftdrüsen abgesonderten Duft- bzw. Liegen Störungen im Haarwachstum vor, können die-
Geruchsstoffe sind in ihrer Zusammensetzung indi- se mittels eines Haarwurzelstatus, auch Tricho-
viduell und für den körperlichen Eigengeruch ver- gramm genannt, nachgewiesen werden. Dazu wird
antwortlich. Die Duftstoffe werden von der Nase, ein Büschel von ca. 50 Haaren mit einer gummierten
dem Sensor, aufgenommen und als Impulse zum Klemme mit einem Ruck herausgerissen. Aus der mi-
Riechzentrum weitergeleitet. Hier entsteht die Ge- kroskopischen Untersuchung der Haarwurzeln las-
ruchswahrnehmung. In Verbindung mit dem limbi- sen sich Rückschlüsse auf das Haarwachstum beein-
schen System bekommt der Geruchssinn einen emo- flussende Faktoren und Erkrankungen ziehen. Haar-
tionalen Charakter. Er kann wohlriechend und anre- wachstumsstörungen beeinflussen die Beschaffen-
gend oder übel riechend und abstoßend auf andere heit der Haare, die Menge, Dicke, Form und letztlich
Menschen wirken (s. a. S. 6 und 342). auch die Haarlänge.
Zusammenfassung: Menge
Allgemeine Beobachtungskriterien Die Menge der Kopf- und Körperbehaarung kann so-
Wachstum und Wachtsumsgeschwindigkeit, Länge, wohl krankhaft vermehrt als auch krankhaft vermin-
Menge, Dicke, Form, Farbe, Beschaffenheit, Körper- dert sein. Am auffälligsten sind dabei Veränderungen
verteilung und Haarwuchsrichtung sind Beobach- der Kopfbehaarung.
tungskriterien für Haare. Haarausfall tritt diffus oder lokal begrenzt auf.
Nägel können nach Wachstum und Wachstumsge- Physiologischer Haarausfall (Alopezie) ist sowohl
schwindigkeit, Länge, Form, Farbe und Beschaffen- beim Mann als auch bei der Frau möglich. Verant-
heit beurteilt werden. wortlich dafür ist hauptsächlich der Einfluss der
Die Produktion der Talgdrüsen hängt von den Ge- männlichen Geschlechtshormone. Beim Mann kann
schlechtshormonen ab. er bereits zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr be-
Die von den Duftdrüsen abgesonderten Stoffe sind ginnen. Zunächst kommt es zur Ausdünnung der
individuell und für den Eigengeruch des Körpers seitlichen Stirnregion und Ausbildung der sog. „Ge-
verantwortlich. heimratsecken“. Später fallen die Haare im Scheitel-
bereich aus – der Scheitel wird immer „breiter“ – bis
zuletzt ein Haarkranz stehen bleibt, die Haartonsur. kreisförmiger Haarausfall bekannt. Zu beobachten
Es kann sich aber auch eine Vollglatze bilden. Die An- sind mehrere kahle, kreisrunde Stellen am Kopf. Sie
lage zur Glatzenbildung ist wahrscheinlich genetisch treten bevorzugt im jungen Erwachsenenalter auf,
festgelegt. Bis heute hat man noch kein Mittel dage- wobei die Ursache unbekannt ist. Lokal begrenzte,
gen gefunden, obwohl die Werbung anderes ver- kahle Hautstellen sind auch Folge von Röntgenstrah-
spricht. len, Verbrennungen und Hautkrankheiten. Eine be-
Bei der Frau kann ein physiologischer Haarausfall sondere Form ist die Trichotillomanie. Es handelt
nach der Menopause durch Östrogenmangel entste- sich um ein psychisch bedingtes, zwanghaftes Aus-
hen (s. a. S. 124). In diesem Fall kommt es zu einer reißen der Haare, am häufigsten bei Kindern.
starken Ausdünnung der Kopfhaare besonders im Eine verminderte Körperbehaarung wird als Hy-
Scheitelbereich. Eine Glatzenbildung ist nicht zu be- potrichose bezeichnet und ist meist anlagebedingt,
obachten. Ein stärkerer Haarausfall bei der Frau kann ebenso wie das völlige Fehlen der Körperbehaarung,
auch nach Geburten oder nach Absetzen der „Pille“ auch Atrichie genannt.
beobachtet werden.
!
Ein diffuser Haarausfall ist häufig eine uner- Merke: Alle unphysiologischen Formen von
wünschte Nebenwirkung einiger Medikamente. Am Haarausfall sind grundsätzlich reversibel, so-
bekanntesten sind die Zytostatika, bei deren Einnah- fern sie früh genug behandelt werden und die 7
me es nicht selten zur Glatzenbildung und Verlust Haaranlage einschließlich der Wachstumszone nicht
der Körperbehaarung kommt. Auch eine hochdosier- gestört ist.
te Strahlentherapie schädigt das Haarwachstum und
führt zu Alopezie. Schwere Allgemeinerkrankungen, Eine verstärkte Körperbehaarung bei ansonsten ge-
bösartige Tumore, Malassimilationssyndrom (s. a. schlechtstypischer Behaarung wird als Hypertricho-
S. 293), fieberhafte Infektionskrankheiten wie z. B. se bezeichnet. Sie kann sowohl lokal begrenzt vor-
Tuberkulose, aber auch langandauernder Stress kön- kommen und ist häufig auf Leberflecken zu beobach-
nen einen diffusen Haarausfall zur Folge haben. Bei ten, als auch generalisiert über den ganzen Körper
bestimmten Vergiftungen, z. B. durch Thallium oder verteilt, wie z. B. nach Langzeiteinnahme von Korti-
Arsen, fallen ebenfalls sämtliche Haare aus sonpräparaten.
(Abb. 7.3).
Ein lokal begrenzter Ausfall der Kopfbehaarung Farbe
wird als Alopezia areata bezeichnet und ist auch als Das Ergrauen der Haare im Alter wird als Canities be-
zeichnet und ist in der Regel nicht pathologisch. Ein
vorzeitiges Ergrauen kann im Rahmen einiger Er-
krankungen entstehen, wie z. B. bei der perniziösen
Anämie, bei der Basedow-Krankheit, beim Cushing-
Syndrom und bei neurovegetativen Störungen. Bei
der Vitiligo (s. a. S. 75) und bei der Alopezia areata
(s. o.) kommt es zu lokal begrenzten grauen Stellen.
Diese herdförmige Form der Ergrauung wird auch als
Poliosis bezeichnet.
Beschaffenheit
Veränderungen in der Haarbeschaffenheit, auch
Haarstruktur genannt, können exogene und endoge-
ne Ursachen haben. Exogene Ursachen sind Einflüsse
von außen und enstehen am häufigsten durch me-
chanische und chemische Beanspruchung (s. a.
S. 113).
Bei den endogenen Ursachen liegt eine Störung
der Haarbildung vor. Die Gründe dafür können z. B.
Abb. 7.3 Diffuser Haarausfall aufgrund einer Thalliumintoxika- eine Unterfunktion der Schilddrüse, Eisenmangel
tion oder schwere Allgemeinerkrankungen sein. Das
Haar sieht trocken und strohig aus, ist häufig auch Umgekehrt kommt beim Mann eine typisch
brüchig und lässt sich nur schwer kämmen. weibliche Körperhaarverteilung z. B. bei Hodener-
krankungen oder Einnahme von weiblichen Ge-
Körperverteilung schlechtshormonen (Östrogene) vor.
Eine Veränderung des Behaarungstyps ist meist pa-
thologisch und geschlechtsspezifisch, d. h., bei Män- 7.3.2 Nägel
nern entwickelt sich ein weibliches und umgekehrt Hände und Fingernägel sind wie die Kopfhaare sicht-
bei Frauen ein männliches Behaarungsmuster. Die bar und stellen ein Kriterium für ein gepflegtes Äu-
Hauptursache ist eine hormonelle Fehlregulationen. ßeres dar. Krankhaft veränderte Fingernägel sind
Bei der Frau können hormonelle Störungen, d. h. ver- deshalb auch kosmetisch störend.
minderte Östrogenproduktion zugunsten einer An- Wie bei den Haaren, können Nagelveränderungen,
drogenproduktion, dazu führen, dass sie eine typisch neben ganz speziellen Nagelerkrankungen, Sympto-
männliche Körperhaarverteilung bekommt. Solch me für Erkrankungen innerer Organe darstellen.
extreme Hormonstörungen enstehen bei Erkrankun-
!
gen der Adnexen oder durch Einnahme von männli- Merke: Die Beobachtung der Nägel im Hin-
chen Geschlechtshormonen. Der typisch männliche blick auf pathologische Veränderungen ori-
7 Behaarungstyp bei Frauen wird als Hirsutismus be- entiert sich vor allem an folgenden Kriterien:
zeichnet (Abb. 7.4). Kommen zu dem männlichen Be- Wachstum,
haarungstyp noch andere Zeichen der Vermännli- Länge,
chung dazu, wie z. B. Entwicklung einer tieferen Form,
Stimme, Brustverkleinerung und Ausbleiben der Re- Farbe,
gelblutung, so spricht man von Virilismus. Beschaffenheit,
Nagelbett und Umgebung.
Wachstum
Das Nagelwachstum ist abhängig von der Nagelbil-
dung der Nagelmatrix. Wachstumsstörungen wer-
den durch Veränderungen der Nagellänge, -form,
-farbe und -beschaffenheit (s. u.) sichtbar. In extre-
men Fällen wächst der Nagel stark verlangsamt oder
gar nicht mehr.
Länge
Zu kurze Fingernägel können Folge davon sein, dass
die Nägel aufgrund veränderter Nagelbeschaffenheit
abbrechen (s. u.).
Aus Nervosität werden häufig Fingernägel extrem
kurz abgekaut. In schweren Fällen kann sich eine
psychische Erkrankung dahinter verbergen.
Form
Ein übermäßig gewölbter und vergrößerter Finger-
nagel wird als Uhrglasnagel bezeichnet und ist Folge
von chronischem Sauerstoffmangel bei Lungen- und
oder Herzerkrankungen. Gleichzeitig verdickt sich
das Gewebe der Fingerendglieder. Die Finger werden
der veränderten Form wegen als Trommelschlegel-
finger bezeichnet (Abb. 7.5).
Ist die Nagelplatte löffelartig nach innen einge-
Abb. 7.4 Hirsutismus dellt, spricht man von Löffelnagel oder Hohlnagel.
7.3.3 Hautdrüsen
Schweißdrüsen
Viele Erkrankungen beeinflussen die Schweißsekre- Abb. 7.10 Akne vulgaris mit schwarzen und weißen Mitessern
tion (s. a. S. 342). und entzündlichen Knoten
Talgdrüsen
Eine übermäßige Talgdrüsenproduktion wird als Se-
borrhö bezeichnet. Haut und Haare glänzen fettig.
Sie entsteht durch Stimulation männlicher Ge-
schlechtshormone während der Pubertät oder z. B.
beim Morbus Parkinson. Außerdem kann sie anlage-
bedingt auftreten.
Abb. 7.11 Entzündliche Knoten und Pusteln bei Rosazea fulmi-
Während der Pubertät ist die Seborrhö häufig mit
nans
einer gleichzeitigen, verstärkten Verhornung der
Epidermis im Haarfollikel verbunden. Durch diese
Verhornung verstopfen die Talgdrüsen. Es bilden sich benbildung und beeinträchtigt häufig die psychoso-
Talgpfropfen, die wie kleine schwarze Pünktchen ziale Lebensqualität des Betroffenen, besonders bei
aussehen und als Mitesser (Komedone) bekannt Befall des Gesichtes.
sind. Die schwarze Farbe entsteht durch Melanin und Eine der Akne verwandte Erkrankung der
oxydierte Fettanteile. Talgdrüsen ist die Rosazea (Abb. 7.11). Sie tritt erst im
Die Talgdrüsen können sich entzünden, wobei ro- 30. – 50. Lebensjahr auf und ist lokal auf Nase und
te, druckschmerzhafte Knötchen oder eitrige Papeln Wangen begrenzt. Es kommt durch Gefäßerweite-
entstehen. Diese hormonabhängige und unter- rung zu einer blauroten Verfärbung und später zu Pa-
schiedlich ausgeprägte entzündliche Erkrankung des pel- und Pustelbildung in den Haarfollikeln. Das ge-
Talgdrüsen-Haarfollikelkomplexes wird als Akne samte betroffene Gebiet vergrößert sich. Die Nase
vulgaris bezeichnet (Abb. 7.10). Sie gehört zu den verdickt sich knollenförmig zur Knollennase, auch
häufigsten dermatologischen Erkrankungen und be- Rhinophym genannt (Abb. 7.12).
trifft nahezu alle Jugendlichen. Die Erkrankung heilt
in der Regel bis zum 25. Lebensjahr ab, kann bei Frau-
en aber auch bis zum Alter von 40 Jahren fortbeste-
hen. In schweren Fällen kann die Akne zu Pustelbil-
dung und sogar zur Abszessbildung führen. Eine tie-
ferreichende, ausgedehnte Akne heilt nur unter Nar-
7.5.1 Haare
Die Haut des Neugeborenen trägt noch die Spuren
Eine Entzündung des Haarbalgs mitsamt seiner
des intrauterinen Lebens, u. a. die Lanugobehaarung.
Talgdrüse und Eiterbildung wird als Furunkel be-
Das sind feine Haare, die ca. zu Beginn des 4. Schwan-
zeichnet (Abb. 7.13).
gerschaftsmonats auf der Haut des Feten auftreten.
Mehrere Furunkel nebeneinander mit Verschmel-
4 – 6 Wochen vor der Geburt verliert die Haut im Ge-
zung untereinander kennzeichnen ein Karbunkel.
sicht und am Unterleib die Behaarung. Als ein Reife-
Häufiges Auftreten von Furunkeln bzw. Karbunkeln
zeichen des Neugeborenen gilt, dass die Lanugobe-
kann bei Menschen mit Diabetes mellitus beobach-
haarung nur noch am Rücken zwischen den Schul-
tet werden.
terblättern zu erkennen ist. Ein Frühgeborenes ver-
fügt noch über lange, dicht stehende Lanugobehaa-
Duftdrüsen
rung oder Flaumhaare, vor allem am Rücken. Bis zum
Duftdrüsen sind besonders infektionsgefährdet. Ihr
6. Lebensmonat werden die Flaumhaare durch grö-
Sekret ist alkalisch und stört den Säureschutzmantel
beres, jedoch wenig gefärbtes Wollhaar (Vellushaar)
der Haut. Durch Einwanderung besonders von Sta-
ersetzt. Zum Zeitpunkt der Pubertät entwickelt sich
phylokokken kann es zur Abszessbildung kommen.
das Terminal- oder Endhaar.
Ein bekanntes Beispiel ist der Schweißdrüsenabszess
in der Achselhöhle.
Das Kopfhaar ist kräftig, seidig und jedes einzelne Juckreiz aus. Das blutsaugende Insekt befestigt
Haar ist erkennbar. Bei der Geburt befinden sich die seine Nissen mithilfe einer Kittsubstanz an den
Haare in einer Ruhephase. Aufgrund der mütterli- Haaren. Aus ihnen schlüpfen nach ca. 8 Tagen
chen Hormoneinwirkung während der Schwanger- neue Läuse aus. Ein Läusebefall kann an steckna-
schaft fällt die Behaarung der Ruhephase nach 2 – 3 delkopfgroßen schwarzen Punkten erkannt wer-
Monaten aus. Diese sog. Säuglingsglatze ist reversi- den, die sich vorwiegend auf der Kopfhaut befin-
bel. Es kann jedoch bis zu 2 Jahren dauern, bis die den. Kopfläuse sind ein ernst zu nehmendes Prob-
Haare nachwachsen. Kinderhaare fetten kaum, sie lem, da sie sehr leicht von Mensch zu Mensch
müssen dennoch von Schmutz und Staub befreit durch Körperkontakt/Kopfhaarkontakt und/oder
werden. durch die gemeinsame Benutzung von Pflege-
utensilien übertragen werden können. Das Abtö-
!
Merke: Kindern, die unter einer Pollenaller- ten der Parasiten und das Entfernen der Nissen
gie leiden, sollten täglich die Haare gewa- muss im Vordergrund stehen.
schen werden, um die Pollen aus dem Haar Farblose, gelblich-weiße Haare kommen beim Al-
heraus zu spülen. binismus (s. a. S. 75) vor.
Abweichungen und Veränderungen der Haare Abweichungen und Veränderungen, der Haare 7
und Kopfhaut Auch bei Kindern kann es zu vorübergehendem
Herdförmiger vorübergehend auftretender Haar- Haarausfall durch Reibung, aufgrund von Derma-
ausfall am Hinterkopf kann durch eine Reibung tosen, Mykosen, Ekzeme, Infektionen oder hor-
des Hinterkopfes auf der Unterlage zustande monelle Veränderungen, kommen.
kommen. Juckreiz der Kopfhaut ist z. B. auf Neurodermitis
Trockenes, brüchiges Haar kann auf eine Fehler- oder Befall durch Kopfläuse zurückzuführen.
nährung und/oder Hypothyreose hinweisen. Aber
auch eine falsche Pflege der Kinderhaare kann die 7.5.2 Nägel
Ursache hierfür darstellen. Die Finger- und Fußnägel des Neugeborenen überra-
Haarausfall (Alopezie) und kreisrunder Haaraus- gen bei der Geburt die Kuppen. Das Nagelbett ist gut
fall (Alopecia areata) (s. a. Abb. 7.4) kann aufgrund durchblutet und die Nägel haben ein rosafarbenes
von Dermatosen (s. a. S. 101) wie z. B. Psoriasis Aussehen. Bei einem Frühgeborenen haben die Nägel
(s. a. Kap. 6, Abb. 6.25), Mykosen, Ekzeme oder die Fingerkuppen noch nicht erreicht.
aufgrund von Infektionen, wie z. B. Fieber und Va-
rizellen entstehen. Weitere Ursachen sind u. a. Abweichungen und Veränderungen der Nägel
chronische Erkrankungen wie z. B. Eisenmangel- und des Nagelbettes
anämie oder hormonelle Veränderungen. Des Strukturveränderungen hinsichtlich Wachstum,
Weiteren können auch Intoxikationen (z. B. Be- Länge, Form, Farbe, Beschaffenheit können bei Kin-
handlung mit Zytostatika) ursächlich für einen dern ebenso auftreten wie bei Erwachsenen.
Haarausfall verantwortlich sein. Aufgrund neuro- Brüchige Nägel kommen bei Vitamin-, Eisen-
tischer Verhaltensstörungen kann es zu einem und/oder Kalkmangel vor.
zwanghaften Haarausreißen (Trichotillomanie) Tüpfel- und Ölnägel haben punktförmige Defekte
kommen, einem Symptom ähnlich dem des Nä- aufgrund Dermatosen (s. a. S. 102) wie z. B. Psoria-
gelkauens, was als Aggression gegen sich selbst zu sis (s. a. Abb. 6.24). Der Nagelrand ist verdickt und
verstehen ist. aufgesplittert. Im Nagel erscheinen quer verlau-
Starker Juckreiz der Kopfhaut kann durch ein en- fende Wachstumsstopplinien.
dogenes Ekzem ausgelöst werden, z. B. bei der Veränderte Nagelform kommt vor bei angebore-
Neurodermitis (s. a. S. 101). Liegt jedoch kein en- nen oder erworbenen Nageldystrophien oder
dogenes Ekzem vor, so ist der Juckreiz oftmals auf auch aufgrund von Nägelkauen.
einen Befall von Kopfläusen zurückzuführen. Die
überall auf der Kopfhaut sitzenden Läuse nehmen
etwa alle 3 Stunden durch ihren Biss Blut auf. Der
dabei abgesonderte Speichel löst den starken
7.5.3 Hautdrüsen wird. Bei Frauen dünnen die Haare oftmals so aus,
Die zunächst bei der Geburt gut ausgebildeten dass die Kopfhaut durchscheint (s. a. S. 113). Bei sehr
Talgdrüsen verkleinern sich nach der Geburt und dünnem Haar oder Glatzenbildung ist der UV-Schutz
bleiben bis zu Beginn der Pubertät eher klein. Erst für die Kopfhaut herabgesetzt und die Empfindlich-
dann werden sie wieder aktiv und führen zu unter- keit gegenüber Hitze erhöht.
schiedlicher Zusammensetzung des Säureschutz- Bei der Frau verringert sich während und nach
mantels (Lipidfilm) (s. a. S. 116). Durch die unregel- dem Klimakterium die Östrogenproduktion. Es
mäßige Funktionsweise der Talgdrüsen und den da- „überwiegen“ dann die Androgene, die in der Neben-
durch entstehenden veränderten Säureschutzman- niere gebildet werden. Diese Veränderungen werden
tel ist die Widerstandsfähigkeit gegenüber Krank- unter anderem sichtbar durch die Bildung eines Da-
heitserregern (z. B. Bakterien und Pilzen) herabge- menbartes an der Oberlippe und am Kinn sowie eine
setzt. Gleichzeitig kommt es zu einer erhöhten Re- Lichtung der Kopfbehaarung.
sorptionsfähigkeit von auf der Haut aufgebrachten
Medikamenten (Salben, Cremes), Desinfektionsmit- Nägel
teln und chemischen Mitteln in Hautpflegemitteln. Im höheren Alter verändern sich die Nägel. Die Fin-
Auf der anderen Seite kann auch schneller Wasser gernägel werden flacher und dünner, während die
7 verdunsten. Die Austrocknungsgefahr wird ver- Fußnägel stärker verhornen und sich häufig gelblich
stärkt durch die noch sehr dünne Epidermis (s. a. verfärben. Nicht selten krümmen sich die Fußnägel
S. 102). und formen sich zu Krallennägeln (vgl. Abb. 7.6). Die
Folgen sind eine erhöhte Verletzungs- und Entzün-
Abweichungen und Veränderungen der dungsgefahr. Entsprechend ist auf eine sorgfältige
Hautdrüsen Fußpflege zu achten.
Schweißdrüsenabszesse kommen bei abwehrge-
!
schwächten Säuglingen vor. Die tiefsitzenden, Merke: Bei alten Menschen mit Diabetes
walnussgroßen, rötlichen Knoten, die durch Sta- mellitus und/oder peripheren Durchblu-
phylokokken hervorgerufen werden, bilden sich tungsstörungen muss die Fußpflege beson-
bevorzugt am Hinterkopf, Rücken und Gesäß des ders vorsichtig durchgeführt werden, um auch kleinste
Kindes. Sie entleeren gelblich-rahmigen Eiter und Verletzungen zu vermeiden, da zumeist begleitend eine
heilen unter Narbenbildung ab. Störung der Wundheilung vorliegt. Gegebenenfalls ist
Akne entstehen wie bereits im Abschnitt 7.2.3 be- eine Fachkraft hinzuzuziehen.
schrieben während der Pubertät, ausgelöst durch
eine androgenabhängige Talgproduktion.
Talgproduktion
Durch ein Nachlassen der Talgproduktion im Alter
7.6 Besonderheiten bei älteren kommt es zur Veränderung des Säureschutzmantels
Menschen und der Hautfeuchtigkeit, die Haut wird trockener.
Besonders gut beobachtbar ist die trockene Haut an
Eva Eißing
den Schienbeinen. Die Veränderung des Säure-
Haare schutzmantels führt zu erhöhter Infektionsgefahr für
Durch abnehmende Pigmentierung im Alter ergraut die Haut.
das Haar. Anlagebedingt kann dies auch schon im Eine besondere Form der Akne kann sogar im Al-
frühen Alter zwischen 20 und 30 Jahren beginnen. ter auftreten. Sie wird auch Altersakne genannt und
Nahezu alle Hochbetagten besitzen graues Haar. betrifft die sonnenbestrahlten Bereiche der Augen-
Mit zunehmendem Alter wird das Haar dünner. umgebung, die Stirn sowie die Wangen. Diese Akne-
Bei Männern kann die Glatzenbildung bereits früh form entsteht wahrscheinlich durch Degeneration
beginnen, bei Frauen kommt es durch Östrogenman- des Kollagens und die dadurch fehlende Elastizität
gel erst nach der Menopause zu Haarausfall. Im ho- der Haut und der Ausführungsgänge. Im Gegensatz
hen Alter haben Männer nicht selten eine komplette zur Akne vulgaris ist die Altersakne eine nicht ent-
Glatze oder es bleibt ein U-förmiger Haarkranz um zündliche Erkrankung.
den Kopf stehen, der auch als Tonsur bezeichnet
Fr. Bertrams Stimmungslage 쐌 Der Ehemann ist liebe- 쐌 Fr. Bertram setzt sich mit 쐌 Informationsgespräch mit Arzt vermit-
ist depressiv, da sie sich auf- voll; ihrer Erkrankung ausei- teln, nach Absprache Ehemann hinzuzie-
grund ihrer ausgefallenen 쐌 die Kinder geben ihr Kraft nander hen:
Haare und der fehlenden bei der Krankheitsbewäl- 쐌 weiß, dass die Haare wie- – Nachwachsen der Haare
Brust unattraktiv fühlt tigung der nachwachsen – Möglichkeiten des Brustaufbaues
쐌 Fr. Bertram ist über Un- 쐌 Information über:
terstützungs- und Hilfs- – Selbsthilfegruppe für brustamputierte
angebote informiert und Frauen, evtl. Kontakt herstellen
kann sie annehmen – psychologische Hilfen
쐌 Fr. Bertram redet über – alternative Kopfbedeckungen inkl.
Ängste mit Ehemann/Psy- Haarersatz, nach Absprache Friseurter-
chologen/Frauen aus der min 씮 Perücke
Selbsthilfegruppe/Freunden – spezielle Büstenhalter
쐌 Fr. Bertram kennt Formen 쐌 Gesprächsbereitschaft signalisieren, Kör-
der alternativen Kopfbe- perkontakt bieten
deckung und kann diese
für die Dauer der Thera-
pie akzeptieren
쐌 hat eine positive Grund-
stimmung und ein ver-
bessertes Selbstwertgefühl
Marek leidet aufgrund eines Marek's Mutter verfügt über Marek 쐌 Chemisches oder physikalisches Läuse-
Kopfläusebefalls unter star- Kenntnisse der Übertra- 쐌 Juckreiz ist gelindert mittel nach Anordnung auftragen und
kem Juckreiz gung, Vermehrung und Be- 쐌 besitzt eine intakte Kopf- einwirken lassen (Goldgeist䊛)
kämpfung haut 쐌 Nissen mit „Nissenkamm“ entfernen
쐌 ist frei von Läusen und 쐌 1 ⫻ tgl. Kontrolle der Kopfhaut
Nissen 쐌 Behandlung ggf. wiederholen
쐌 Wäschewechsel nach jeder Behandlung
쐌 Bürsten und Kämme von
Marek reinigen
Fazit: Die Beobachtung der Hautanhangsge- Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: Kopfläuse
. . . Was tun? Auflage 12.400.11.15 Köln 2014
bilde bei einem Patienten umfasst die Beur-
Christophers, E., M. Ständer: Haut- und Geschlechtskrankhei-
teilung der Haare, Nägel und Hautdrüsen. ten. 7. Aufl. Urban & Fischer Verlag/Elsevier GmbH. Mün-
Aufgrund ihrer gemeinsamen Entwicklungsgeschichte chen 2003
sind sie eng miteinander verbunden. Deutsch, J., F. G. Schnekenburger (Hrsg.): Pädiatrie und Kinder-
Veränderungen der Hautanhangsgebilde ziehen chirurgie. Thieme, Stuttgart 2017
häufig Veränderungen der Haut nach sich und umge- Fischer, K., H. Sobottka, D. Faas (Hrsg.): Klinikleitfaden Kinder-
krankenpflege. 4. Aufl. Urban & Fischer, München 2009
kehrt. Aus diesem Grund sollten beide Beobachtungs-
Gordon, M.: Handbuch Pflegediagnosen. 5. Aufl. Hans Huber,
bereiche immer zusammen beurteilt werden.
Hogrefe AG, Bern 2013
Haarveränderungen beeinflussen das Aussehen und Gortner, L., S. Meyer, F. C. Sitzmann: Duale Reihe Pädiatrie.
können einen hohen Leidensdruck auslösen. Besonders 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012
betroffen sind Menschen mit (Kopf-)Haarausfall, des- Hoehl, M., P. Kullick (Hrsg.): Gesundheits- und Kinderkranken-
sen Ursachen sowohl physiologisch als auch patholo- pflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012
7 gisch bedingt sein können. Huch, R., K. D. Jürgens (Hrsg.): Mensch Körper Krankheit, Ana-
tomie, Physiologie, Krankheitsbilder. Lehrbuch und Atlas
Viele Erkrankungen der Haut, des Stoffwechsels und
für Berufe im Gesundheitswesen. 7. Aufl. Urban & Fischer,
innerer Organe beeinflussen das Nagelwachstum. Na-
Elsevier GmbH, München 2015
gelveränderungen geben deshalb nicht nur Hinweise Illing, S., M. Claßen (Hrsg.): Klinikleitfaden Pädiatrie. 9. Aufla-
auf dermatologische, sondern häufig auch auf internis- ge Urban & Schwarzenberg, München 2014
tische Erkrankungen. Koletzko, B. (Hrsg.): Kinder- und Jugendmedizin. 14. Aufl.
Krankhafte Veränderungen der Hautdrüsen entste- Springer, Berlin 2013
hen häufig durch Verstopfungen ihrer Ausführungs- Lippert, H.: Lehrbuch Anatomie. 8. Aufl. Urban & Fischer Ver-
lag/Elsevier GmbH. München 2017
gänge und nachfolgenden Entzündungen der Drüsen,
Marent, J.: Garaus der Laus: Kampf den Parasiten. Heilberufe
wie z. B. der Schweißdrüsenabszess, der Furunkel und 2016; 15 – 17, DOI: 10.1007/s00058-016-2030-x
die Akne vulgaris. NANDA International: Pflegediagnosen. Definitionen und
Beim alten Menschen kommt es im Zuge allgemei- Klassifikationen 2015 – 2017. Herdman, T. H., S. Kamitsuru
ner Alterungserscheinungen auch zu Veränderungen (Hrsg.): RECOM, Kassel 2016
der Hautanhangsgebilde mit zum Teil nachlassenden Paetz, B.: Chirurgie für Pflegeberufe. 23. Aufl. Thieme, Stutt-
gart 2017
Funktionen. In Kombination mit altersbedingten Haut-
Pflege Heute. 6. Aufl. Urban & Fischer, München 2014
veränderungen lässt die Widerstandskraft gegenüber
Pschyrembel Klinisches Wörterbuch. 266. Aufl. de Gruyter,
Infektionen dadurch deutlich nach. Berlin 2014
Röcken, M., M. Schaller, E. Sattler, W. Burgdorf: Taschenatlas
Dermatologie. Grundlagen Diagnostik Klinik. Thieme,
Stuttgart 2010
Schwegler, J., R. Lucius: Der Mensch. Anatomie und Physiolo-
gie. 6. Aufl. Thieme, Stuttgart 2016
Tischendorff, F. W.: Blickdiagnostik – CompactAtlas. 5. Aufl.
Schattauer, Stuttgart 2016
8 Puls
Panajotis Apostolidis*, Petra Schmalstieg
Übersicht
Einleitung · 129
8.1 Technik der Pulsmessung · 130
8.2 Allgemeine Beobachtungskriterien und
Beschreibung des Normalzustandes · 132
8.2.1 Pulsfrequenz · 132
8.2.2 Pulsrhythmus · 133
8.2.3 Pulsqualität · 133
8.3 Abweichungen und Veränderungen und
deren mögliche Ursachen · 133
8.3.1 Veränderungen der Pulsfrequenz · 133
8.3.2 Veränderungen des Pulsrhythmus · 136
8.3.3 Veränderungen der Pulsqualität · 137
8.4 Ergänzende Beobachtungskriterien · 138 8
8.5 Besonderheiten bei Kindern · 138 Definition: Als Puls wird die durch den systoli-
8.6 Besonderheiten bei älteren schen Blutauswurf des Herzens im Kreislauf ent-
Menschen · 140 stehende Druck- und Volumenschwankung
8.7 Fallstudien und mögliche (Welle) im arteriellen Gefäßsystem bezeichnet.
Pflegediagnosen · 140
Fazit · 141 Die Pulswellengeschwindigkeit ist abhängig von der
Literatur · 143 Dehnbarkeit des durchströmten Blutgefäßes (Aorta
4 – 6 m/s; A. radialis 8 – 12 m/s) und nimmt mit dem
Schlüsselbegriffe: Alter infolge des Elastizitätsverlustes der Blutgefäße
zu.
왘 Pulsfrequenz Die Pulskontrolle ist eine vielfach durchgeführte
왘 Pulsrhythmus Maßnahme bei gesunden und kranken Menschen in-
왘 Pulsqualität
nerhalb und außerhalb des Krankenhauses. Häufig
왘 Pulsdefizit
steht bei der Pulskontrolle die Ermittlung der Herz-
frequenz im Zentrum des Interesses. Neben der Puls-
frequenz sind zusätzlich Pulsrhythmus und Pulsqua-
lität von Bedeutung. Die Kombination dieser 3 Beob-
Einleitung achtungskriterien kann entscheidende Aussagen
über die Vitalfunktionen und Hinweise auf mögliche
Der Puls gehört neben Atmung, Blutdruck und Kör- Erkrankungen des Menschen geben. Da praktisch je-
pertemperatur zu den Vitalzeichen. Da Änderungen de physische und psychische Veränderung des Men-
im Befinden von Menschen im Allgemeinen auch schen eine Pulsveränderung mit sich zieht, spiegelt
Pulsveränderungen mit sich bringen, ist der Puls ein der Puls auch die aktuelle Verfassung oder Befind-
sehr aussagekräftiges Beobachtungskriterium. Die lichkeit von Menschen in besonderen Situationen
Ermittlung der Pulswerte ist eine der ältesten und wider. Beispielsweise ist die Pulsfrequenz bei kör-
häufigsten diagnostischen Maßnahmen. Sie ist ohne perlicher Anstrengung oder freudiger Erregung er-
großen technischen Aufwand durchzuführen, erfor- höht, in Ruhe bzw. im Schlaf ist sie deutlich ernied-
dert jedoch neben einer guten Messtechnik vor allem rigt.
bei der Beurteilung der Pulsqualität Übung und Er-
fahrung. Das Pulsfühlen bietet außerdem Gelegen-
heit zur Begegnung mit dem anderen Menschen.
A. temporalis
!
(Schläfenarterie) Merke: Der Daumen darf nicht benutzt wer-
den, da er einen eigenen intensiven Puls be-
A. carotis
(Halsschlagader) sitzt und die Gefahr zu groß ist, dass der Beob-
achtende seinen eigenen Puls bei der Messung erfasst.
A. subclavia
(Schlüssel-
beinarterie) Die Arterie wird leicht gedrückt, darf aber nicht ganz
A. brachialis zugedrückt werden, da sonst der Blutfluss unterbro-
(Oberarmarterie) chen wird. Der Puls muss eindeutig zu fühlen sein,
Aorta bevor mit dem Zählen begonnen wird. Zum Pulszäh-
(Haupt- len wird eine Uhr mit Sekundenzähler oder eine spe-
schlagader)
zielle Pulsuhr benötigt (Abb. 8.3). Die Messung be-
A. radialis
(Speichen-
A. femoralis arterie)
(Leisten-
arterie)
A. ulnaris
(Ellenarterie)
A. poplitea
(Kniearterie)
A. tibialis posterior
(hintere Schienbein-
arterie)
A. dorsalis pedis
(Fußrückenarterie)
Abb. 8.1 a u. b Pulspalpationsstellen a zentrale Palpationsstellen Abb. 8.2 Technik des Pulsfühlens
b periphere Palpationsstellen
Allergien:
16.00 145/90
Temperattur (axillar) 8.00 36,2 8.00 36,4 8.00 36,8 8.00 36,8
(rec. = rectal)
16.00 36,5 16.00 36,4 16.00 37,4 16.00 36,6
!
sprechende Legende sollte im jeweiligen Dokumen- Merke:
tationssystem enthalten sein. Die allgemeinen Beobachtungskriterien des
Pulses sind:
Zusammenfassung: Pulsfrequenz,
Technik der Pulsmessung Pulsrhythmus,
Bei der Pulskontrolle sind Frequenz, Rhythmus und Pulsqualität.
Qualität ausschlaggebend.
Beim Tasten des Pulses werden zentrale und peri- 8.2.1 Pulsfrequenz
phere Palpationsstellen unterschieden. Definition: Die Pulsfrequenz wird definiert als
Indikationen zur Pulsmessung sind Neuaufnahme, die Zahl der Pulswellen/Min.
Überwachung, Kontrolle, Diagnostik und Reanima-
tion.
!
Tab. 8.2 Alters- und geschlechtsabhängige Anzahl der Merke: Frequenz und Rhythmus sind objek-
Pulsschläge bei Erwachsenen (aus Pschyrembel: Klinisches tiv messbare Kriterien und können sowohl
Wörterbuch. 263. Aufl. de Gruyter, Berlin 2011)
durch Palpation des Pulses als auch durch
Erwachsene Zahl der Pulsschläge technische Hilfsmittel ermittelt werden. Die Qualität
ist ein subjektives Beobachtungskriterium des Pulses,
Männer 62 – 70/min
dessen Beurteilung Erfahrung und Übung erfordert
Frauen 75/min und nur durch qualifiziertes Pflegepersonal erfolgen
kann.
Senium 80 – 85/min
b Bradykardie
c Tachykardie
Die pathologisch bedingte Bradykardie steht häu- Tab. 8.3 Ursachen der Bradykardie
fig im Zusammenhang mit einer Reizung des N. Va- physiologische Ursachen pathologische Ursachen
gus, die als Folge eines erhöhten Hirndrucks z. B. bei
Hirntumoren, Hirnhautentzündung oder einem physiologisch reduzierter pathologisch reduzierter Stoff-
Stoffwechsel (z. B. im Schlaf, wechsel (z. B. bei Hypothyreose)
Hirnödem auftreten kann. Eine pathologische Brady-
bei Hunger)
kardie kann auch kardial bedingt sein, beispielswei-
se durch Störungen im Reizleitungssystem des Her- erhöhtes Schlagvolumen des Vagusreiz (z. B. bei erhöhtem
Herzens (z. B. bei Sportlern) Hirndruck)
zens oder einen Myokardinfarkt. Auch eine Schild-
drüsenunterfunktion, die sog. Hypothyreose, die ei- Störungen im Reizleitungssys-
ne Verlangsamung aller Körperfunktionen zur Folge tem des Herzens
hat, kann zur Verlangsamung der Pulsfrequenz füh-
Medikamenteneinnahme (z. B.
ren. Es gibt außerdem eine Reihe von Medikamen- Narkose-, Schlaf-, Beruhigungs-
ten, die eine Bradykardie verursachen können. Hier- mittel, Digitalis, β-Blocker, Nitro-
zu gehören vor allem: glyzerin, Opiate)
den meisten Fällen eine unzureichende Pumpleis- Tab. 8.4 Ursachen der Tachykardie
tung des Herzens. Sie reicht nicht aus, um die Puls- physiologische Ursachen pathologische Ursachen
welle bis in die Peripherie des Körpers zu treiben. Zu
beobachten ist dies z. B. bei einer Linksherzinsuffi- körperliche Anstrengung pathologisch erhöhter Stoff-
wechsel (z. B. bei Fieber, Hyper-
zienz oder bei Vorhofflimmern.
thyreose
Andere, nicht mit der Pumpleistung des Herzens
in Zusammenhang stehende Ursachen für ein Puls- seelische Erregung (z. B. Angst, Störungen im Reizleitungssys-
Stress) tem des Herzens
defizit können auftretende Verschlüsse arterieller
Blutgefäße, beispielsweise bei der Arteriellen Ver- Konsum von Genussgiften Medikamenteneinnahme (z. B.
schlusskrankheit (AVK), sein. Hierbei ist der Puls in (z. B. Kaffee, Nikotin) wehenhemmende Mittel)
den betroffenen Arterien jeweils hinter der Ver-
Aufenthalt in großen Höhen vermindertes Sauerstoffange-
schlussstelle nicht mehr zu tasten. (geringere Sauerstoffkonzent- bot (z. B. bei Herzinsuffizienz,
Bei dem angeborenen oder durch Arteriosklerose ration in der Atemluft) hohen Blutverlusten, Störungen
bedingten sog. Aortenbogensyndrom kommt es zu der Lungenbelüftung)
b Arrthythmie
c Extrasystolie
d Bigeminie
!
Diese sog. Extrasystolen können verspätet und ein- Merke: Bei einem Herzstillstand muss sofort
zeln, vorzeitig oder als Salven vorkommen (Abb. 8.7). die Reanimation mit Herzmassage und Beat-
Unterschieden werden je nach Ursprung der Erre- mung eingeleitet werden.
gungsreize supraventrikuläre Extrasystolen, bei de-
nen die Erregung von den Vorhöfen des Herzens aus- 8.3.3 Veränderungen der Pulsqualität
geht, und ventrikuläre Extasystolen, deren Aus- Die Spannung oder Härte des Pulses ist abhängig von
gangspunkt die Herzkammer darstellt. Extrasystolen dem Druck bzw. von der Intensität der Kontraktio-
können physiologisch bei Nikotinabusus oder starker nen der Herzkammern. Das Schlagvolumen sowie
psychischer Erregung auftreten; pathologisch stehen die zirkulierende Blutmenge beeinflussen das Volu-
sie häufig im Zusammenhang mit einer Schädigung men bzw. den Füllungszustand der Arterien und so-
des Herzmuskels oder Verengung der Herzkranzge- mit auch die palpierbare Pulswelle.
fäße.
Harter Puls
Bigeminie Beim harten Puls ist die Gefäßspannung hart und das
Definition: Als Bigeminie wird eine Herzrhyth- Blutgefäß ist normal gefüllt. Der Puls lässt sich nur
musstörung bezeichnet, bei der jeder Systole schwer unterdrücken. Der harte Puls tritt häufig im
über längere Zeit regelmäßig eine Extrasystole Zusammenhang mit einem Bluthochdruck, der sog.
folgt. Hypertonie, auf.
8
Diese liegt zeitlich vor der zu erwartenden nächsten Druckpuls
regulären Systole, sodass auf je 2 dicht aufeinander Beim Druckpuls ist die Gefäßspannung hart, das Ge-
folgende Herzaktionen eine Pause folgt. Weil bei der fäß ist stark gefüllt und es kommt zur Verlangsa-
Pulsmessung regelmäßige Doppelschläge palpiert mung der Pulsfrequenz auf bis zu 20 Schläge/Min.
werden können, wird diese Veränderung des Puls- Der Druckpuls tritt meist im Zusammenhang mit ei-
rhythmus auch als Zwillingspuls bzw. Bigeminuspuls nem erhöhten Hirndruck, z. B. durch einen Tumor
bezeichnet (Abb. 8.7). Er tritt vor allem bei einer oder ein Trauma, auf.
Überdosierung von Digitalis auf.
Weicher Puls
Tachyarrhythmie Beim weichen Puls ist die Gefäßspannung weich und
Definition: Als Tachyarrhythmie wird eine ab- das Gefäß ist normal gefüllt. Der Puls ist leicht zu un-
solute Arrhythmie mit hoher Frequenz von terdrücken. Ein weicher Puls kann z. B. während ei-
100 – 150 Schlägen/Min. bezeichnet. nes Fieberschubes auftreten. Andere Ursachen kön-
nen ein niedriger Blutdruck, die sog. Hypotonie, oder
Zurückzuführen ist sie häufig auf Störungen der Erre- eine Herzmuskelschwäche, die sog. Herzinsuffi-
gungsbildung im Reizleitungssystem des Herzens, zienz, sein.
die in den meisten Fällen durch schwere organische
Herzerkrankungen, wie z. B. Herzinfarkte oder Herz- Fadenförmiger Puls
kranzgefäßverengungen, entstehen. Der fadenförmige Puls, der auch als Pulsus filiformis
bezeichnet wird, ist ein kaum tastbarer Puls mit klei-
Asystolie ner Pulsamplitude und meist hoher Pulsfrequenz. Er
Definition: Als Asystolie wird die fehlende ist typisch für Kollaps- oder Schockzustände, wie sie
Kontraktion des Herzens, d. h. der Herzstillstand, z. B. bei hohen Blutverlusten auftreten können.
bezeichnet.
Drahtpuls
In diesem Fall kann der Puls weder an einer periphe- Der Drahtpuls ist ein sehr harter Puls, der gekenn-
ren noch an einer zentralen Arterie palpiert werden, zeichnet ist durch gleichzeitigen Anstieg des systoli-
der betroffene Mensch ist bewusstlos, die Atmung schen und diastolischen Blutdrucks. Der Drahtpuls
setzt aus und es können weite, lichtstarre Pupillen kann z. B. bei einer Eklampsie auftreten. Hierbei han-
beobachtet werden. delt es sich um eine in der Schwangerschaft auftre-
tende Erkrankung, die gekennzeichnet ist durch ei-
!
nen raschen Anstieg des Blutdrucks und tonisch-klo- Merke: Grundsätzlich gilt: Jede empfundene
nischen Krämpfen mit oder ohne Bewusstlosigkeit. Veränderung des Pulses bezüglich Frequenz,
Rhythmus und Qualität kann bei dem be-
!
Merke: Grundsätzlich gilt: Jede auffällige troffenen Menschen Angst auslösen.
Veränderung des Pulses bezüglich Frequenz,
Rhythmus und Qualität ist sofort dem Arzt Zusammenfassung:
mitzuteilen. Abweichungen und Veränderungen
Bei der Tachykardie steigt die Herzfrequenz auf über
100 Schläge/Min. an. Bei der Bradykardie sinkt sie
8.4 Ergänzende auf unter 60 Schläge/Min.
Beobachtungskriterien Tachykardie und Bradykardie können sowohl phy-
siologisch als auch pathologisch bedingt sein.
Wie in 8.2 beschrieben, sind Veränderungen und Ab- Bei der paroxysmalen Tachykardie steigt die Puls-
weichungen vom Normalzustand des Pulses häufig frequenz anfallsweise auf 130 – 200 Schläge/Min.
ein Zeichen für vorliegende Erkrankungen. Diese Er- an.
krankungen können neben dem Puls auch andere Be- Zu den wichtigsten Veränderungen des Pulsrhyth-
obachtungskriterien beeinflussen. Weil sich aus der mus gehören respiratorische und absolute Arrhyth-
Kombination der verschiedenen Beobachtungen mie, Extrasystolie, Bigeminie, Tachyarrhythmie und
Rückschlüsse auf zugrunde liegende Erkrankungen Asystolie.
8
ergeben, können die einzelnen Beobachtungskrite- Bei den Veränderungen der Pulsqualität unterschei-
rien nicht isoliert voneinander betrachtet werden, det man harten Puls, Druckpuls, weichen Puls, fa-
wenn sich ein vollständiges Bild der Situation eines denförmigen Puls und Drahtpuls.
Menschen ergeben soll. Bei der Beobachtung des Pulses sind weitere Beob-
Bei festgestellten Pulsveränderungen sind des- achtungskriterien wie z. B. Blutdruck, Atmung und
halb auch besonders die anderen Vitalzeichen Blut- Körpertemperatur miteinzubeziehen.
druck, Atmung und Körpertemperatur zu beachten.
Der Zusammenhang zwischen Pulsveränderungen
und Veränderungen anderer Beobachtungskriterien 8.5 Besonderheiten bei Kindern
ergibt sich prinzipiell aus den der jeweiligen Pulsver- Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm
änderung zugrunde liegenden Ursachen. Im Folgen-
den soll anhand einiger Beispiele für Pulsverände- Technik der Pulsmessung
rungen der Zusammenhang mit anderen Beobach- Die Technik der Pulsmessung bei Kindern entspricht
tungskriterien verdeutlicht werden. der bei Erwachsenen. Grundsätzlich ist bei Kindern
wie auch bei Erwachsenen die Pulswelle überall dort
Beispiel: Wird bei der Pulsmessung eine Ta- zu tasten, wo die Arterien oberflächlich verlaufen
chykardie festgestellt, sollte gleichzeitig eine und gegen einen Widerstand, wie beispielsweise
Kontrolle der Körpertemperatur erfolgen, da Knochen oder Muskulatur, gedrückt werden können.
die Tachykardie häufig durch den Anstieg der Körper- Um valide Werte zu ermitteln, muss sich das Kind
temperatur bedingt ist. Als weitere ergänzende Beob- während der Pulskontrolle ganz ruhig verhalten, ins-
achtungskriterien kommen hier beispielsweise besondere bei Früh- und Neugeborenen sollte eine
Schmerzen oder Nachblutungen aus Wunddrainagen Messung im Schlaf bevorzugt werden.
vor allem in den ersten Tagen nach einer Operation in In der Regel wird der Puls an der Speichenschlag-
Betracht. Auch die Beobachtung der Haut bezüglich ver- ader gefühlt. Je nach Alter und Erkrankung des Kin-
mehrter Schweißsekretion oder Zyanose muss im Zu- des bietet sich die Messung des Pulses an bestimm-
sammenhang mit einer Tachykardie erfolgen. ten Palpationsstellen an. Bei Säuglingen ist beispiels-
Die Bradykardie steht häufig im Zusammenhang mit weise der Radialispuls aufgrund eines Fettpolsters
Störungen des Bewusstseins. Deshalb ist bei dieser Art (Speckfalte) schlecht tastbar. Deshalb empfiehlt sich
der Pulsfrequenzveränderung immer auch die Be- hier eine Pulskontrolle an der Fontanelle, der A. bra-
wusstseinslage des betroffenen Menschens und seine chialis oder A. femoralis. Bei Klein- und Schulkindern
Fähigkeit zur Kommunikation zu beachten. kommen besonders die A. carotis, die A. femoralis
oder die A. radialis in Betracht.
Wie beim Erwachsenen muss auch bei Kindern Tab. 8.5 Pulsfrequenz pro Minute in Abhängigkeit vom
bei jeglicher Verschlechterung des Allgemeinzustan- Lebensalter (aus: Hoehl, M., P. Kullick. Gesundheits- und Kin-
derkrankenpflege. 4 Aufl. Thieme, Stuttgart 2012)
des der Puls an einer zentralen Palpationsstelle kon-
trolliert werden, da bei einer Kreislaufzentralisation Alter Schwankungsbreite je nach Aktivität
mit Engstellung der Gefäße in der Peripherie die kor- (Schlaf – Unruhe)
Normalwerte
Die Normalwerte der Pulsfrequenz bei Kindern, die
auch als klinische Referenzwerte bezeichnet werden,
sind altersabhängig und in Tab. 8.5 dargestellt. PDA
Grundsätzlich können alle unter 8.3 beschriebe-
nen Veränderungen der Beobachtungskriterien des
Pulses auch bei Kindern auftreten. Bei Kindern mit
einem offenen Ductus Botalli, dem sog. Ductus arte- Ao
PA As
Ad
Vs
Vd
Der Rückfluss des Blutes aus der Aorta über die Einschätzung der Leistungsfähigkeit älterer Men-
Pulmonalarterie in den Lungenkreislauf, der sog. schen kommt deshalb der Pulskontrolle vor, wäh-
Links-Rechts-Shunt, lässt wegen des plötzlichen Ab- rend und nach körperlichen Anstrengungen eine
strömens des aus der linken Herzkammer ausgewor- große Bedeutung zu.
fenen Blutes durch den Ductus arteriosus Botalli aus-
kultatorisch ein lautes, kontinuierliches Maschinen- Zusammenfassung:
geräusch hören und erzeugt eine große Blutdruck- Besonderheiten bei Kindern und älteren
amplitude. Diese große Blutdruckamplitude ist bei Menschen
der Pulspalpation als schnelles Ansteigen der Puls- Bei Frühgeborenen wird der Puls mithilfe eines EKG-
welle zu fühlen und wird als springender Puls be- Monitors oder eines Pulsoxymeters überwacht.
zeichnet. Alle Veränderungen der Beobachtungskriterien des
Pulses bei Erwachsenen können auch bei Kindern
Ergänzende Beobachtungskriterien auftreten, jedoch muss bei der Beurteilung der Wer-
Um ein vollständiges Bild der Situation eines Kindes te die emotionale Befindlichkeit stärker berücksich-
zu erhalten, sind wie auch beim Erwachsenen ergän- tigt werden.
zende Beobachtungskriterien zu beachten. Hierzu Bei älteren Menschen ist aufgrund der häufig auf-
gehören vor allem die anderen Vitalzeichen Blut- tretenden Herzmuskelschwäche die Pulsfrequenz
druck, Atmung und Körpertemperatur. Da kleine leicht beschleunigt.
Kinder im Allgemeinen sensibler als Erwachsene auf Die Pulskontrolle vor und nach körperlichen An-
8
Veränderungen der Umgebung, insbesondere auf ei- strengungen ist bei älteren Menschen wichtig.
nen Wechsel von Bezugspersonen, reagieren, muss
bei der Beurteilung der ermittelten Werte besonders
die emotionale Befindlichkeit berücksichtigt wer- 8.7 Fallstudien und mögliche
den. Pflegediagnosen
Beispiel: Herr Paulus, 68 Jahre, wurde nach
8.6 Besonderheiten bei älteren einem Sturz ins Krankenhaus eingeliefert.
Menschen Dort wurde eine Oberschenkelfraktur diag-
nostiziert und anschließend operativ versorgt.
Panajotis Apostolidis*, Petra Schmalstieg
Bei der postoperativen Mobilisation sank der Blut-
Wie aus Tab. 8.2 zu ersehen, ist die Pulsfrequenz bei druck von Herrn Paulus auf 100/70 mmHg ab (norma-
älteren Menschen im Vergleich zu Erwachsenen lerweise ca. 150/80 mmHg), sein Puls erreichte eine
leicht beschleunigt. Dies hängt vor allem mit der im Frequenz von 148 Schlägen/Min. und war stark ar-
Alter häufig autretenden Herzmuskelschwäche zu- rhythmisch mit vermindertem Füllungszustand. Die
sammen, die zur Einschränkung des Herzschlagvolu- Mobilisation musste daraufhin sofort abgebrochen
mens führt. Bei jedem Herzschlag kann nur eine klei- werden.
nere Menge an Blut und Sauerstoff in den Kreislauf Nach dieser Erfahrung sieht Herr Paulus der nächsten
ausgeworfen werden. Um trotzdem eine ausreichen- Mobilisation angstvoll entgegen; gleichzeitig ist er aber
de Sauerstoffversorgung des Organismus zu gewähr- an allen Pflegemaßnahmen sehr interressiert.
leisten, wird die Anzahl der Herzschläge erhöht, was Ein Auszug aus dem Pflegeplan von Herrn Paulus fasst
zum Anstieg der Pulsfrequenz führt. seinen Fall zusammen (Tab. 8.6).
Unter Belastung ist der Anstieg der Herzfrequenz
bei älteren Menschen deutlich geringer als bei jünge- Für Herrn Paulus könnte die Pflegediagnose „Aktivi-
ren, was auf die „Abnutzung“, die sog. Involution des tätsintoleranz Grad III b/d (beeinflusst durch) Bettru-
Reizbildungs- und Leitungssystems des Herzens, zu- he und Ruhigstellung nach OP a/d (angezeigt durch)
rückgeführt werden kann. Für ältere Menschen be- abnorme Herzfrequenz und Blutdruckveränderung
deutet dies, dass ihnen die Anpassung an körperliche als Reaktion auf Aktivität/Belastung“ gestellt wer-
und seelische Belastungen schwerer fällt. Bei der den, wie sie aus der Übersicht auf S. 142 resultiert:
Angst vor der Mobilisation – ist interessiert an allen – hat physiologische Kreis- – Information über Sicherheitsmaßnahmen
aufgrund orthostatischer Pflegemaßnahmen laufverhältnisse während im Rahmen der Mobilisation (2 Personen,
Dysregulation der Mobilisation vorher und nachher Kreislaufkontrolle,
– sieht der Mobilisation Beobachtung während der Maßnahme,
angstfrei entgegen Stufenplan)
– kennt den Mobilisations- – Stufenplan gemeinsam mit Herrn P. auf-
plan stellen, z. B.:
1. Tag: Sitzen am Bettrand
2. Tag: Stehen vor dem Bett mit Unter-
stützung
3. Tag: Gehen zum Tisch mit Unterstüt-
zung von 2 Pflegepersonen
4. Tag: Gehen mit Unterarmgehstützen
und Unterstützung durch 1 Pflegeper-
son
5. Tag: Gehen mit Unterarmgehstützen
allein, unter Aufsicht
– kann seine Belastbarkeit – vor und nach jeder Mobilisationsmaß-
einschätzen nahme RR- und Pulskontrolle durchfüh-
ren, während der Mobilisationsmaßnah-
me Pulskontrolle und Beobachtung hin- 8
sichtlich Veränderungen (z. B. Schweiß,
Blässe)
– äußert Veränderungen im – Herrn P. darauf hinweisen, Befindlich-
Befinden (z. B. Schwindel) keitsstörungen sofort zu äußern
Beispiel: Nora wurde vor 2 Tagen als Kind Fazit: Der Puls ist ein Beobachtungskriteri-
einer drogenabhängigen Mutter in der um mit hoher Aussagekraft über die Herz-
38. Schwangerschaftswoche mit einem Ge- Kreislauf-Situation eines Menschen. Nahezu
burtsgewicht von 2700 g geboren. Durch den plötzli- jede psychische und physische Veränderung wirkt sich
chen neonatalen Heroinentzug ist das kleine Mädchen auf den Puls aus. Bei der Messung wird der Puls hin-
extrem unruhig und reizbar und weist eine Tachykar- sichtlich Frequenz, Rhythmus und Qualität beobachtet.
die von 176 Schlägen/min auf. Der Vater kümmert sich Zahlreiche Erkrankungen verursachen eine Verände-
sehr um seine Tochter und verbringt fast den ganzen rung des Pulses, die bei den betroffenen Menschen Un-
Tag bei ihr. sicherheit und Angst auslösen kann.
Ein Auszug aus dem Pflegeplan von Nora ist in Tab. 8.7
dargestellt.
Tachykardie bei Unruhe und Vater kümmert sich sehr, Fernziel: – permanente Kontrolle der Pulsfrequenz
Reizbarkeit aufgrund des verbringt viel Zeit bei Nora – Nora hat eine physiologi- mittels Monitor
Drogenentzuges sche Herzfrequenz und – Vater anbieten, bei seiner Tochter zu
einen angemessenen bleiben (gemeinsames Zimmer)
Aktivitätsgrad – für eine ruhige Umgebung/Atmosphäre
(in 4 Wo.) sorgen (z. B. Tür geschlossen halten, lau-
Nahziel: te Geräusche vermeiden, schnelle, ruck-
– fühlt sich sicher und artige Bewegungen vermeiden, feste Be-
geborgen zugsperson)
– Körperkontakt 씮 Vater zum Känguruh
anleiten, hinweisen, Nora bei Unruhe/
Schreien auf den Arm zu nehmen, zu tra-
gen und/oder zu schaukeln
9 Blutdruck
Panajotis Apostolidis*, Petra Schmalstieg
Übersicht
Einleitung · 144
9.1 Technik der Blutdruckmessung · 145
9.1.1 Direkte Blutdruckmessung · 145
9.1.2 Indirekte Blutdruckmessung · 145
9.2 Allgemeine Beobachtungskriterien und
Beschreibung des Normalzustands · 150
9.2.1 Systolischer Blutdruck · 150
9.2.2 Diastolischer Blutdruck · 150
9.2.3 Mitteldruck · 150
9.2.4 Blutdruckamplitude · 151
9.3 Abweichungen und Veränderungen des
Blutdrucks und deren mögliche
Ursachen · 151
9.3.1 Hypertonie · 151 nem Glasröhrchen ermittelte. Erst die Entdeckungen
9.3.2 Hypotonie · 153 des italienischen Kinderarztes Scipione Riva-Rocci
9 9.4 Ergänzende Beobachtungskriterien · 154 (1896) und des russischen Militärarztes Nicholai Ko-
9.5 Besonderheiten bei Kindern · 154 rotkoff (1905) ermöglichten die non-invasive Mes-
9.6 Besonderheiten bei älteren sung des Blutdrucks, ohne dass die betroffenen Men-
Menschen · 156 schen narkotisiert werden mussten.
9.7 Fallstudien und mögliche Heute gehört die Blutdruckmessung zu den am
Pflegediagnosen · 156 häufigsten durchgeführten diagnostischen Pflege-
Fazit · 158 maßnahmen, die in der Beobachtung gesunder und
Literatur · 158 kranker Menschen große Bedeutung erlangt hat. Das
folgende Kapitel beschreibt die verschiedenen Arten
Schlüsselbegriffe: der Blutdruckmessung und zeigt mögliche Ursachen
für Veränderungen auf.
왘 Systolischer Blutdruck
왘 Diastolischer Blutdruck Definition: Als Blutdruck (RR) wird der in den
왘 Mitteldruck
Blutgefäßen und in den Herzkammern vorherr-
왘 Blutdruckamplitude
schende Druck bezeichnet (Abb. 9.1).
왘 Hypotonie
왘 Hypertonie
Er kann an einer peripheren Arterie, in Millimeter
Quecksilbersäule (mmHg) bzw. Kilopascal (kPa), ge-
messen werden.
Einleitung
!
Merke: Der Umrechnungsfaktor von mmHg
Der Blutdruck wird wie der Puls, die Atmung und die zu kPa beträgt 0,133.
Körpertemperatur zu den sog. Vitalzeichen gerech- (Beispiel: 120/80 mmHg = 15,96/10,64 kPa).
net. Die Blutdruckmessung geht auf den englischen
Theologen und Wissenschaftler Stephen Hales zu- Der Blutdruck bewirkt die Zirkulation des Blutes in
rück, der 1730 einem narkotisierten Pferd die Hals- den Blutgefäßen und ist abhängig von der Herzleis-
schlagader öffnete und die Höhe des Blutpegels in ei- tung, dem Gefäßwiderstand, d. h. von der Elastizität
140 2
1 Messung unter vergleichbaren Bedingungen erfol-
120
gen, d. h. es sollte:
100
immer am gleichen Ort (beispielsweise am glei-
80
4 chen Arm),
60 immer entweder im Liegen, im Sitzen oder im
40 8 9 Stehen,
20 5 6 10 immer in Ruhe oder unter Belastung
7
0
Zeit
gemessen werden. Grundsätzlich kann die Blut-
Abb. 9.1 Blutdruckwerte in den einzelnen Kreislaufabschnitten. druckmessung direkt oder indirekt erfolgen.
1 = Linker Ventrikel, 2 = Aorta, 3 = periphere Arterie, 4 = Arteriole,
5 = Kapillare, 6 = große Hohlvene, 7 = zentralvenöser Druck (rech- 9.1.1 Direkte Blutdruckmessung
ter Vorhof), 8 = rechter Ventrikel, 9 = Lungenarterie, 10 = linker
Bei der direkten Blutdruckmessung, die auch blutige
Vorhof (nach Pschyrembel)
Blutdruckmessung genannt wird, handelt es sich um
Messungen des Blutdrucks über einen arteriell lie-
genden Katheter. Bevorzugt werden für die direkte
und vom Tonus der Gefäßwände und dem Blutvolu- Messung die A. radialis und die A. femoralis. Dabei
men. Er schwankt bei jedem Herzschlag zwischen ei- wird mithilfe eines Katheters, der an einen Druckauf-
nem Maximalwert und einem Minimalwert. nehmer angeschlossen ist, der Druck in der Arterie
Der Maximalwert wird auch systolischer Blut- registriert. Der aufgenommene Druck wird mithilfe 9
druck genannt und wird während der Herzmuskel- eines Druckwandlers in sichtbare elektrische Signale
kontraktion erreicht. umgewandelt.
Der Minimalwert oder diastolischer Blutdruck Diese Methode wird bevorzugt während großer
entsteht bei der Herzmuskelerschlaffung. Als mittle- Operationen oder bei Intensivpatienten angewandt,
rer Blutdruck wird der Mittelwert zwischen diastoli- weil sie eine hohe Genauigkeit aufweist und eine
schem und systolischem Wert bezeichnet, die Blut- kontinuierliche Registrierung der Werte ermöglicht.
druckamplitude (vgl. Abb. 9.9) ist die Differenz zwi-
schen dem diastolischen und systolischen Wert. 9.1.2 Indirekte Blutdruckmessung
Neben dem Puls und der Atmung ist der Blutdruck Die indirekte bzw. unblutige Blutdruckmessung geht
eine der wichtigsten Messgrößen zur Beurteilung auf Scipione Riva-Rocci (1863 – 1937) zurück, der die
der Vitalsituation eines Menschen. Da dieser auch palpatorische Methode der Blutdruckmessung ent-
kontinuierlich kontrolliert werden kann, sind Ver- deckte, womit die Möglichkeit der Ermittlung des
laufsbeobachtungen möglich, und es können Rück- systolischen Blutdruckwertes gefunden wurde. Hie-
schlüsse auf Krankheiten abgeleitet werden. Kompli- raus erklärt sich die Abkürzung RR für den Blut-
kationen können durch die Blutdruckmessung früh- druckwert.
zeitig erfasst und vermieden werden. Einige Jahre später wurden von dem russischen
Chirurgen Nicolai Korotkoff (geb. 1874) Geräusch-
phänomene beschrieben (Abb. 9.2), anhand derer es
9.1 Technik der dann möglich wurde, auskultatorisch neben dem
Blutdruckmessung systolischen auch den diastolischen Blutdruck zu er-
mitteln.
Bei einigen Erkrankungen ist es notwendig, verschie- Zur indirekten Blutdruckmessung können folgen-
dene Blutdruckwerte miteinander zu vergleichen, de Geräte verwendet werden:
um die entsprechenden Rückschlüsse auf Erkran- Elektronisches Messgerät bei Monitor-überwach-
kungen daraus zu ziehen. Der Blutdruck ist jedoch ten Patienten (Abb. 9.3) oder Blutdruckgerät mit
keine statische Messgröße, sondern ist Schwankun- Federmanometer nach Recklinghausen (Abb. 9.4)
gen unterworfen. So kann er beispielsweise bei kör- mit Stethoskop.
Korotkoff-Tne
Manschettendruck zwischen
systolischem und diasto-
lngere systolische ffnung lischem Blutdruck hrbare Tne
der Arterie
Manschettendruck entspricht
diastolisch Arterie fast whrend der dem diastolischen Blutdruck
gesamten Systole geffnet Tne hrbar
Manschettendruck unterhalb
vollstndig geffnete des diastolischen Blutdrucks Tne verschwinden
Arterie
Abb. 9.2 Schematische Darstellung von Manschettendruck, Korotkoff-Tönen und Druck in der Arterie
9
Manschette
Auskultation
Palpation
Tab. 9.1 Vorgehen bei der indirekten Blutdruckmessung (aus Juchli, L.: Pflege. Praxis und Theorie der Gesundheits- und
Krankenpflege, 8. Aufl. Thieme, Stuttgart 1997)
Information und gewünschte Lage einnehmen lassen 씮 vor der Messung 1/2 Stunde ruhen lassen, immer den gleichen Arm
wählen (bei Aortenvitien an beiden Armen); nie messen an einem
Arm mit A-Shunt, Verletzung, venösem oder arteriellem Zugang
– im Stehen 씮 frei stehen, nicht anlehnen lassen ⎫
⎪ Unterarm in
– im Sitzen 씮 für Armauflagefläche sorgen ⎬
⎪ Herzhöhe
– im Liegen 씮 entspannte Lage ⎭
Arm leicht beugen und in Herzhöhe abstützen lassen 씮 keine beengenden Kleidungsstücke, Lärmquellen (Radio) abstellen
luftleere Manschette am Oberarm anlegen, Mittelpunkt des Manschette straff anlegen, Schläuche nicht verwickeln, am besten
Gummiballons genau über der A. brachialis nach oben abgehen lassen
Ohransätze des Stethoskops in die Gehörgänge stecken 씮 richtige Lage: nach vorn gegen die Nase
Schallempfänger des Stethoskops am Ort der A. brachialis 씮 Schallempfänger auf Intaktheit prüfen; er muss über der Arterie
(Ellenbeuge) auflegen, Palpation der A. radialis liegen, die Schläuche frei lassen
Ventil am Gebläse schließen. 씮 Manschette nur wenige Sekunden aufgeblasen lassen, längere
Manschette aufblasen, bis der Radialispuls nicht mehr tastbar Stauungen verändern die Werte
ist, und noch 30 mmHg aufpumpen
Stethoskop unter leichtem Druck in der Ellenbeuge aufsetzen 씮 richtige Lage: direkt über der A. brachialis
9 langsames Öffnen des Ventils und Druckentlastung 씮 bei zu raschem Vorgehen kann der erste Ton verpasst werden:
vornehmen maximal 2 – 3 mm/s (normale Pulswelle ca. 0,8 s)
Werte auf Kurve oder Überwachungsblatt schreiben oder 씮 übliche Abkürzungen anwenden
einzeichnen (z. B. st = stehend, l = liegend) bzw. Farben (z. B. rot = im Stehen,
blau = im Liegen)
unerwartete Werte: 씮 nicht bei teilweise entleerter Manschette wieder aufblasen (Luft vor
– Messung wiederholen; Manschette vollständig entleeren dem Wiederaufpumpen ganz ablassen)
und 1 Minute warten 씮 nicht kommentarlos protokollieren
– Werte sofort dem Arzt melden; Messung evtl. nach
15 Minuten wiederholen
!
Indiziert ist diese Form der Blutdruckmessung Merke: Bei der Auswahl des Messortes, in
z. B. bei Notfällen, zur Überwachung bei Transporten den meisten Fällen den Armen, muss bedacht
und Kontrolle bei belastenden Maßnahmen. werden, dass verschiedene Erkrankungen/Si-
Häufige, immer wieder auftretende Fehlerquellen tuationen eine Messung hier verbieten, da es hierdurch
sind in der Tab. 9.2 aufgeführt, sowie Maßnahmen u. U. zu Schmerzen, Schädigungen des Gewebes, der Ge-
zur Vorbeugung und Vermeidung von Fehlern. fäße oder deren Zugängen kommen kann.
fehlerhafte Geräte 씮 vor Gebrauch das Gerät überprüfen, ob keine Luft austritt, der Gummi-
ballon richtig sitzt, der Nullpunkt bei leerer Manschette erreicht wird,
das Eichdatum nicht überschritten ist, die Stethoskopmembran unbe-
schädigt ist
falsche Manschettengröße 씮 korrekte Auswahl der Manschettengröße; die Manschette soll 20%
breiter sein als der Durchmesser der Extremität, an der der RR gemes-
sen werden soll
unkorrektes Anlegen der Manschette 씮 überprüfen, ob keine Kleidungsstücke unter der Manschette sind,
Manschette straff, aber nicht zu eng anlegen
Manschettendruck wird zu schnell oder zu langsam 씮 Manschettendruck mit 2 – 3 mm/sek absinken lassen
abgelassen
auskultatorische Lücke, d. h. es tritt eine Schalllücke 씮 während des Aufpumpens der Manschette den Radialispuls tasten
zwischen den letzten Korotkoff-Tönen auf
schwach hörbare Geräusche 씮 vor dem Aufpumpen der Manschette den Arm kurz hochhalten lassen,
damit der Venendruck verringert und die Geräusche verstärkt werden
9
Hierzu gehören z. B. Für die indirekte Blutdruckmessung stehen ver-
ein arterieller oder venöser Gefäßzugang, schiedene Geräte zur Verfügung.
Erkrankungen des Knochen-, Muskel- und Bindege- Es gibt zahlreiche Indikationen für die Blutdruck-
webes, messung, die palpatorische Blutdruckmessung wird
bestimmte Hauterkrankungen, bei Notfällen, zur Überwachung und Kontrolle bei
Lymphödeme, Belastung angewandt.
künstliche Verbindungen zwischen einer Arterie
und einer Vene, sog. Shunts. Dokumentation
Die Messergebnisse werden sofort dokumentiert.
!
Merke: Wenn möglich, sollte bei den ersten Die ermittelten Werte werden in den dafür vorgese-
Messungen (z. B. Neuaufnahmen) der Blut- henen Spalten (s. a. Tab. 8.1) oder Kurven (Abb. 9.8)
druck immer an beiden Armen gemessen dokumentiert. Die Angaben des gemessenen Blut-
werden, um Unterschiede, die z. B. durch Gefäßanoma- drucks werden in der Reihenfolge systolischer Blut-
lien hervorgerufen werden, festzustellen. druck/diastolischer Blutdruck (z. B.: 130/80 mmHg)
gemacht. Dokumentiert wird:
Zusammenfassung: Uhrzeit,
Blutdruck Messergebnisse,
Neben Puls und Atmung ist der Blutdruck eine der Besonderheiten und Veränderungen.
wichtigsten Messgrößen zur Beurteilung der Vital-
situation eines Menschen. Besteht eine Blutdruckdifferenz zwischen dem rech-
Der Maximalwert, der systolische Blutdruck, wird ten und dem linken Arm, so muss bei der Dokumen-
während der Herzmuskelkontraktion erreicht, der tation zusätzlich angegeben werden, an welchem
Minimalwert, der diastolische, bei der Herzer- Arm die Messung erfolgt ist. Auffälligkeiten sind so-
schlaffung. fort dem Arzt zu melden.
Der Blutdruck ist Schwankungen unterworfen und
sollte deshalb immer unter vergleichbaren Bedin-
gungen gemessen werden.
!
Merke: Er liegt normalerweise bei ca. 80 mmHg.
Zu den allgemeinen Beobachtungskriterien
des Blutdrucks werden gezählt: 9.2.3 Mitteldruck
systolischer Blutdruck, Definition: Der Mitteldruck, auch mittlerer
diastolischer Blutdruck, Blutdruck genannt, ist ein zu berechnender
Mitteldruck (mittlerer Blutdruck), Wert, der die Größe des Blutdrucks als treibende
Blutdruckamplitude. Kraft im Körperkreislauf angibt.
9.2.1 Systolischer Blutdruck In den herznahen Arterien ist er fast identisch mit
Definition: Als systolischer Blutdruck wird der dem arithmetischen Mittel von systolischem und
Blutdruck während der Herzsystole, also der diastolischem Blutdruck. In herzfernen Arterien ist
Kontraktion des Herzmuskels, bezeichnet. er etwas niedriger als das arithmetische Mittel
(Abb. 9.9 c). Der Normalwert beträgt ca. 100 mmHg.
Er stellt den höchsten Punkt der Druckkurve
(Abb. 9.9 a) dar und beträgt normalerweise etwa
130 mmHg.
9.3.1 Hypertonie
!
a
mmHg
Tab. 9.5 Schweregrade der Hypertonie (aus: Pschyrembel: Tab. 9.6 WHO-Graduierung der Hypertonie (aus: Gerlach,
Klinisches Wörterbuch. 263. Aufl. de Gruyter, Berlin 2011) U., H. Wagner, W. Wirth: Innere Medizin für Pflegeberufe.
8. Aufl. Thieme, Stuttgart 2015)
Blutdruck (mmHg) diastolisch
systolisch Grad Endorganschäden
Stadium (Schweregrad) 2 160 – 179 100 – 109 WHO-Grad III Hypertonie mit kardiovaskulären Folge- und
mittelschwere Hypertonie Begleiterkrankungen (Symptome durch End-
organschäden)
Stadium (Schweregrad) 3 180 – 209 110 – 119
schwere Hypertonie
Stadium (Schweregrad) 4 ⱖ 210 ⱖ 120 Form der Hypotonie sind keine Grunderkrankungen
sehr schwere Hypertonie zu erfassen.
Krise ⬎ 230 ⬍ 90
(kritische Blutdrucksteige- Sekundäre Hypotonie
rung) Die sekundäre Hypotonie, die auch als symptomati-
sche Hypotonie bezeichnet wird, entsteht bei oder
als Folge von Erkrankungen. Eine Ursache hierfür
können Herzerkrankungen wie Herzinsuffizienz
WHO-Einteilung oder Herzinfarkt sein. Weitere Gründe bestehen in
Die WHO hat eine weitere Einteilung der Hypertonie Organveränderungen der Hormondrüsen, wie z. B. 9
entwickelt. Sie unterscheidet nach dem Ausmaß der einer Insuffizienz des Hypophysenvorderlappens
hypertoniebedingten Schäden an den Endorganen, oder der Nebennierenrinde. Des Weiteren kann eine
z. B. Herz, Niere, Gehirn und Augen (Tab. 9.6). symptomatische Hypotonie bei einer paroxysmalen
Tachykardie, Fieber, Hypovolämie und in der
!
Merke: Die Einteilung der Hypertonie kann Schwangerschaft auftreten.
nach den ihr zugrunde liegenden Ursachen Bei allen Ursachen kommt es zur Verminderung
oder ihrem Schweregrad erfolgen. des Herzminutenvolumens und/oder des peripheren
Widerstands des Gefäßsystems.
9.3.2 Hypotonie Bei trainierten Sportlern kann es in Folge der Va-
Da der Blutdruck eine sich ständig verändernde Grö- gotonie ebenfalls zu einer symptomatischen Hypoto-
ße ist, kann er dementsprechend auch unter den nie kommen.
Normalwert abfallen. Eine physiologische Hypotonie
tritt z. B. bei reduziertem Stoffwechsel auf wie er im Orthostatische Hypotonie
Schlaf oder beim Hungern vorkommt. Bei der orthostatischen Hypotonie, die auch als Or-
Von einer pathologischen Hypotonie wird gespro- thostasesyndrom bezeichnet wird, liegt eine Störung
chen, wenn bei der Blutdruckmessung unter Ruhe- der orthostatischen Regulation vor. Dabei kommt es
bedingungen der systolische Druck beim Mann unter zu einem Blutdruckabfall infolge einer Blutverschie-
110 mmHg (14,63 kPa), bei der Frau unter 100 mmHg bung in die Beine beim Übergang vom Liegen oder
(13,3 kPa) und der diastolische Druck unter Hocken zum Stehen. Es entsteht eine zerebrale Man-
60 mmHg (8 kPa) liegt. geldurchblutung mit Schwarzwerden vor den Augen,
Folgende Formen der Hypotonie werden unter- Ohrensausen und Schwindel, die bis zu einer Synko-
schieden: pe, also zu einer Bewusstlosigkeit, führen kann.
Diese Form der Hypotonie kommt häufig bei jünge-
Primäre Hypotonie ren Frauen und Personen vor, die sehr dünn sind.
Unter einer primären Hypotonie, die auch als essen- Auch Menschen, die über längere Zeit immobil wa-
zielle, idiopathische oder konstitutionelle Hypotonie ren, z. B. nach Operationen oder infolge verordneter
bezeichnet wird, wird das dauerhafte Absinken des Bettruhe, können bei der Mobilisation einen ortho-
Blutdrucks ohne Beschwerden verstanden. Bei dieser statischen Kollaps erleiden.
!
Tab. 9.7 Oberarmumfang und Manschettengröße für das Merke: Ist die passende Größe nicht verfüg-
Blutdruckmessen bei Kindern (aus Hoehl, M., P. Kullick bar, sollte immer die nächstgrößere Man-
(Hrsg.): Gesundheits- und Kinderkrankenpflege, 4. Aufl.
Thieme, Stuttgart 2012)
schette gewählt werden, da zu schmale Man-
schetten zu höheren Blutdruckwerten führen.
Alter Oberarmumfang Manschettengröße
Jugendlicher 20 – 30 cm 12 cm
Normalwerte
Die Blutdrucknormwerte bei Kindern sind altersab-
hängig in Tab. 9.8 dargestellt. In der Früh- und Neu-
geborenenpflege wird häufig der mittlere arterielle
!
Merke: Zur Vermeidung von Hautläsionen, Druck (MAD) beobachtet.
z. B. bei sehr unreifen Frühgeborenen, emp-
!
fiehlt es sich, zwischen Manschette und Ober- Merke: Besonders in der Frühgeborenen-
arm eine Stück Mullbinde zu legen. intensivpflege hilft die Faustregel: vollende-
te Schwangerschaftswoche plus Lebensta- 9
Die Ultraschall-Dopplermessmethode ist eine Mes- ge-MAD-Wert.
sung mittels Manschette und Ultraschalldopplerge-
rät. Sie wird angewendet, wenn z. B. bei Säuglingen Grundsätzlich können alle unter Kap. 9.3 beschriebe-
die Blutdruckmessung nach Riva-Rocci und palpato- nen Veränderungen der Beobachtungskriterien des
risch unzuverlässig ist. Dies kann bei sehr schwer er- Blutdrucks, mit Ausnahme der Schwangerschaft-
krankten Kindern, z. B. Kinder im Schock mit Kreis- hypertonie, auch bei Kindern auftreten.
laufzentralisation, angezeigt sein. Anstelle eines Ste-
thoskops wird ein mit Gel bestrichener Ultraschall-
kopf über der Arterie platziert. Nachdem die Man-
Tab. 9.8 Blutdrucknormwerte in Abhängigkeit vom
schette aufgepumpt wurde, entsteht durch Öffnen Lebensalter (aus: Hoehl, M., P. Kullick. Gesundheits- und
des Luftauslassventils und somit wieder nachlassen- Kinderkrankenpflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012
dem Druck das Dopplergeräusch. Allerdings kann
Alter syst. Blutdruck diast.
auch bei dieser Messmethode nur der systolische in mmHg Blutdruck
Blutdruck ermittelt werden. in mmHg
Frühgeborenes 55 – 70 25 – 35
Blutdruckmanschetten
Die Größe der zu wählenden Blutdruckmanschette Neugeborenes 60 – 80 35 – 50
richtet sich unabhängig von der Wahl der Messme-
Säugling bis 1 Jahr 90 60
thode nach dem Oberarm- bzw. Oberschenkelum-
fang und ist entweder den Herstellerangaben zu ent- Kleinkind 95 60
nehmen oder anhand einer Formel (Oberarmumfang
Schulkind 100 60
⫻ 0,6) – 1,25 cm = Breite der Manschette) auszurech-
nen. Die Auswahl reicht von 1 – 12 cm Breite. Die Jugendlicher 110 70
Wahl der richtigen Manschettengröße ist Vorausset- Erwachsener 120 80
zung für eine korrekte Blutdruckmessung.
Senior 150 90
mals Störungen der Blutdruckregulation auf. Erhebli- Diagnosetyp (Dokumentationsform): aktuelle Pflege-
che tageszeitliche Schwankungen können zu ortho- diagnose (PES)
statischen Problemen führen und Stürze verursa- Funktionelles Gesundheitsverhaltensmuster:
chen sowie die Anpassung des älteren Menschen an Aktivität und Bewegung
körperliche und seelische Belastungen erschweren Definition
und Verwirrtheitszustände hervorrufen. Zur Ein- Das vom Herzen ausgeworfene Blut genügt den meta-
schätzung der Leistungsfähigkeit ist deshalb die bolischen Anforderungen des Körpers nicht
Blutdruckmessung vor und nach körperlichen An-
strengungen wichtig.
Einflussfaktoren** (E)
veränderte Herzfrequenz
Im Zusammenhang mit der verringerten Sensibi-
veränderter Rhythmus
lität der Osmorezeptoren im Alter und dem damit
verändertes Schlagvolumen
verbundenen herabgesetzten Durstgefühl kommt es
veränderte Vorlast
vielfach zur Dehydratation mit entsprechender hy-
veränderte Kontraktilität
potoner Kreislaufsituation.
veränderte Nachlast
Hypotonie mit Kollaps- und Hr. Platt ist Hr. Platt 쐌 Information von Hr. Platt durch den Arzt
Sturzgefahr 쐌 ansprechbar 쐌 kennt die Gefahren der über:
쐌 kooperativ Hypotonie und mögliche – Kollapsgefahr
쐌 interessiert Anzeichen einer drohen- – Anzeichen einer drohenden Ohn-
den Ohnmacht macht
쐌 meldet sich beim Auftre- – Sturzgefahr
ten von Symptomen – Überwachungsmaßnahmen
쐌 akzeptiert die engmaschi- – Bettruhe
gen Kontrollen 쐌 RR- und Pulskontrolle
– Plan liegt im Zimmer
– tagsüber stdl., nachts 2-stdl.
– Beobachtung des Pulses bzgl. Fre-
quenz, Rhythmus, Qualität
쐌 Beobachtung der Bewusstseinlage (bei
allen pflegerischen Maßnahmen)
쐌 Beobachtung der Haut bzgl. Schweiß,
Hautfarbe (bei allen pflegerischen Maß-
쐌 meldet sich zum Aufstehen nahmen)
쐌 erleidet keine Verletzun- 쐌 Hinweis, sich zu melden, wenn er aufste-
gen durch Stürze hen möchte (씮 Begleitung)
Gefahr der Minderdurchblu- Die Eltern von Thorsten: 쐌 Thorsten erfährt keine 쐌 Kontrolle des Blutdruckes an Armen und
tung der unteren Extremitä- 쐌 sorgen sich um ihn zusätzlichen Komplikatio- Beinen nach Plan (im Zimmer),
ten bei Aortenisthmusste- 쐌 sind an der Pflege interes- nen durch frühzeitiges Manschettengröße: 4 cm
nose mit Blutdruckdifferen- siert Erkennen von Verände- 쐌 Information der Eltern über die Bedeu-
zen zwischen den oberen 쐌 möchten mehr über die rungen tung der Blutdruckmessung bei Thorsten
und unteren Extremitäten Blutdruckmessung erfah- 쐌 Thorstens Eltern sind 쐌 Integration der Eltern in Pflegemaßnah-
ren über die Bedeutung des men, beispielsweise durch Assistenz bei
Blutdrucks als Indikator der Blutdruckmessung
für eine Zunahme der
Aortenisthmusstenose in-
formiert
Im Internet:
www.hochdruckliga.de/bluthochdruck.html;
Stand 07. 09. 2017
10 Körpertemperatur
Panajotis Apostolidis*, Petra Schmalstieg
Übersicht
Einleitung · 159
10.1 Technik der Temperaturmessung · 162
10.1.1 Thermometerarten · 162
10.1.2 Indikationen zur Messung der
Körpertemperatur · 163
10.1.3 Durchführung der
Körpertemperaturmessung · 164
10.1.4 Dokumentation der
Messergebnisse · 166
10.2 Allgemeine Beobachtungskriterien und
Beschreibung des Normalzustands · 166
10.3 Abweichungen, Veränderungen der
Körpertemperatur und deren mögliche chanismen der Wärmeproduktion und -abgabe
Ursachen · 167 konstant halten. Die gleich bleibende Körpertempe-
10.3.1 Erhöhte Körpertemperatur · 167 ratur von ca. 37 ⬚C ist für den Menschen deshalb so
10.3.2 Verminderte Körpertemperatur · 173 wichtig, weil hiervon nahezu alle Stoffwechselvor-
10.4 Ergänzende Beobachtungskriterien · 174 gänge des Körpers abhängen. Veränderungen der
Körpertemperatur nach oben bzw. nach unten sind
10.5 Besonderheiten bei Kindern · 176 10
10.5.1 Technik der Temperaturmessung bei in den meisten Fällen Ausdruck einer vorliegenden
einem Frühgeborenen · 177 Erkrankung. Häufig weisen sie auf Störungen hin, be-
10.5.2 Technik der Temperaturmessung bei vor spezifische Symptome vorliegen.
Neugeborenen, Säuglingen und Die Ermittlung der Körpertemperatur gehört zu
Kleinkindern · 177 den am häufigsten durchgeführten pflegerischen Tä-
10.5.3 Abweichungen vom Normalzustand · 177 tigkeiten. Sie bildet die Grundlage für die Auswahl
10.6 Besonderheiten bei älteren von Pflegemaßnahmen zur Unterstützung der Tem-
Menschen · 178 peraturregulierung eines Menschen.
10.7 Fallstudien und Pflegediagnosen · 179
Fazit · 181 Definition: Die Körpertemperatur ist die zur
Literatur · 181 Aufrechterhaltung aller Lebensvorgänge not-
wendige Wärme im Körper. Sie wird in Grad Cel-
sius (⬚C) oder in Grad Fahrenheit (⬚F) angegeben.
Schlüsselbegriffe:
왘 Hyperthermie Abb. 10.1 zeigt eine Vergleichsskala der verschiede-
왘 Hypothermie nen Temperaturwerte sowie die Umrechnungsfor-
왘 Fieber mel. Die Körpertemperatur weist aufgrund der Wär-
meproduktion im Inneren des Körpers Differenzen
auf. Unterschieden werden deshalb die Kerntempe-
ratur und die Schalentemperatur (Abb. 10.2).
Die Kerntemperatur beinhaltet das Innere des
Einleitung Rumpfes und des Kopfes und beträgt im Mittel ca.
37 ⬚C. Die Erhaltung dieser weitgehend konstanten
Der Mensch gehört zu den sog. „homothermen“ Le- Körperkerntemperatur ist lebensnotwendig, da die
bewesen, die ihre Körpertemperatur unabhängig von inneren Organe und das Gehirn darauf angewiesen
der Umgebungstemperatur über verschiedene Me- sind, um korrekt zu funktionieren.
160
70
340 150
60 140
330
130
50 120
320
110
40
100
310
90
10 30
300 80
20 70
290 60
Die Schalentemperatur umfasst die Haut und die
10 50 Extremitäten. Abhängig von der Außentemperatur
280 und der Durchblutung weist die Körperoberfläche
40
+ 32
Temperaturen zwischen 28 ⬚C und 33 ⬚C auf. Die Um-
0 gebungstemperatur beeinflusst das Gefälle zwischen
– 30
270 Kern- und Schalentemperatur. So sind beispielswei-
20
se bei hohen Außentemperaturen nur geringe Unter-
10
10 schiede zwischen der Kern- und Schalentemperatur
260
feststellbar.
+ 0
20 – Die Regulation der Körpertemperatur erfolgt
10 durch das thermoregulatorische Zentrum im Hypo-
250
thalamus. Mittels Thermorezeptoren der Haut und
20
30 des Körperinneren werden die aktuellen Tempera-
turwerte an das Regulationszentrum im Hirn gemel-
det. Hier erfolgt ein Vergleich des Istwertes mit dem
Sollwert. Entsprechend der Abweichung werden
dann unterschiedliche Prozesse der Wärmebildung
oder -abgabe aktiviert. Diese verschiedenen Mecha-
nismen zur Regulation der Körpertemperatur sind in
Abb. 10.3 dargestellt.
Kerntemperatur
37°C
36°C
34°C
32°C
31°C
28°C
zentrum/ 10
Hypothalamus
Sollwert Istwert
Thermo- Thermo-
rezeptoren im rezeptoren in der
Körperkern Körperschale
Wärme-
aufnahme
Wärme- Körper-
bildung temperatur
Wärme-
abgabe
Elektronische Thermometer
Bei den elektronischen Thermometern handelt es
sich um dünne Sonden mit Temperaturfühler und
Monitoranschluss. Sie erlauben eine kontinuierliche
Überwachung der Körpertemperatur und finden zu-
meist Anwendung im Bereich der Intensivmedizin
Abb. 10.4 Maximalthermometer und während Operationen. Häufig werden die Son-
Thermographie
Eine weitere Möglichkeit der Temperaturmessung
ist die Thermographie. Hierbei wird die Wärme-
strahlung des Körpers sichtbar gemacht. Bei der Tele-
thermographie wird die Infrarotstrahlung mittels ei-
ner speziellen Infrarot-Kamera aufgenommen.
Bei der Plattenthermographie, auch Kontakt-
thermographie genannt, kommen Flüssigkeitskris-
talle zur Anwendung, die je nach Temperatur ihre
Farbe verändern. Mit solchen Kristallen gefüllte Plat-
ten werden zur Messung auf die entsprechende Kör-
perregion aufgelegt. Die Ergebnisse sind abhängig
von der Gefäßdurchblutung in dem gemessenen Ge-
biet.
Zusammenfassung:
Körpertemperatur
Bei der Körpertemperatur des Menschen wird die
Kerntemperatur (durchschnittlich 37 ⬚C) und die
Schalentemperatur (zwischen 28 ⬚C und 33 ⬚C) un-
terschieden.
Temperaturmessung ist eine der häufigsten Maß-
nahmen bei Unwohlsein oder anderen Symptomen.
Statt der analogen Maximalthermometer, die auf
10
der Ausdehnung von Flüssigmetall bei Erwärmung
Abb. 10.6 Infrarot-Ohrthermometer (Kaz Europe SA) basieren, werden immer mehr Digitalthermometer
verwendet. Sie sind batteriebetrieben, bruchsicher,
wasserdicht.
den in das Rektum eingeführt, doch können sie auch Elektronische Thermometer, Sonden mit Tempera-
in andere Systeme integriert werden und die Anwen- turfühler und Monitoranschluss werden in der In-
dung so vereinfachen. tensivmedizin und bei Operationen verwendet.
Ohrthermometer, die auf Infrarot-Technik basieren,
Infrarot-Ohrthermometer werden vor allem bei Kindern angewandt.
Eine sehr präzise Messung der Körpertemperatur ist Auch mit Telethermographie und Plattenther-
im Ohr möglich, da das Trommelfell und das Ther- mographie kann die Temperatur gemessen werden.
moregulationszentrum im Gehirn die gleiche Blut-
versorgung besitzen. Veränderungen der Körper- 10.1.2 Indikationen zur Messung der
temperatur sind deshalb auch sofort, ohne Zeitver- Körpertemperatur
zögerung, zu erfassen. Verwendet wird bei diesen Die Ermittlung der Körpertemperatur erfolgt aus un-
Ohrthermometern (Abb. 10.6) die Infrarot-Technik, terschiedlichen Gründen, z. B. zur:
das heißt, es wird die vom Trommelfell abgegebene Beurteilung des aktuellen Zustands eines Men-
Infrarot-Strahlung mit Hilfe eines Sensors gemessen schen und Feststellung eines Ausgangswerts (z. B.
und das Messergebnis auf einem Display angezeigt. bei Neuaufnahmen),
Aufgrund der relativ hohen Anschaffungskosten Einschätzung der Wirksamkeit therapeutischer
finden diese Geräte zur Zeit fast nur in Kinderklini- Maßnahmen, wie z. B. Medikamentengabe und
ken Anwendung. Wie bei allen anderen medizini- physikalische Maßnahmen,
schen Geräten muss auch hier vor Gebrauch die Be- Erkennung typischer Fieberverlaufskurven (s. a.
dienungsanleitung genau gelesen werden, um feh- S. 169 – 171),
lerhafte Messungen zu vermeiden.
frühzeitigen Erkennung von Komplikationen, z. B. begradigt werden. Hierzu wird das Ohr bei Kindern
im Rahmen der postoperativen Überwachung, bei gerade nach hinten, bei Erwachsenen schräg nach
Zytostatikatherapie u. a., oben gezogen und dieser Zug während des gesamten
Erfassung von Durchblutungsstörungen, Messvorganges, der ca. 1 Sek. dauert, beibehalten.
Feststellung des Ovulationszeitpunkts. Die Messspitze wird behutsam in den Gehörgang
eingeführt und die Temperatur durch Drücken des
10.1.3 Durchführung der Aktivierungsknopfs über 1 – 2 Sek. gemessen. Nach
Körpertemperaturmessung der Beendigung kann das Ergebnis auf dem Sicht-
Zur Erfassung der Körpertemperatur stehen ver- fenster abgelesen und dokumentiert werden. Die
schiedene Körperstellen zur Verfügung. Sie sind da- Schutzkappe wird entfernt und verworfen, da ver-
durch gekennzeichnet, dass hier größere Blutgefäße schmutzte und beschädigte Kappen die Ergebnisse
verlaufen und der Messbereich weitestgehend von verfälschen.
der Umgebungstemperatur unbeeinflusst ist.
Sublinguale Temperaturmessung
!
Merke: Die Auswahl des Messorts und da- Die sublinguale Temperaturmessung wird auch als
mit der Messart richtet sich nach dem Alter orale Messung bezeichnet. Das Thermometer wird
des Patienten, der Häufigkeit der Kontrolle, hierzu unter die Zunge rechts oder links neben dem
dem Ziel der Maßnahme, den vorhandenen Geräten Zungenbändchen gelegt und dann für die Dauer des
und vor allem auch nach dem Wunsch des Patienten. gesamten Messvorganges mit den Lippen fest um-
schlossen. Ca. 15 Min. vor der Messung sollte der
Die Messung der Schalentemperatur erfolgt direkt Mensch keine kalten oder heißen Getränke zu sich
an der Hautoberfläche, wobei der Messort zumeist nehmen, um die Ergebnisse nicht zu verfälschen. Bei
von der Indikation bestimmt wird. der Verwendung eines Maximalthermometers wer-
den ca. 4 Min. für die Messung benötigt.
10
!
Merke: Für alle Messarten gilt, dass mög- Auf Grund von Husten, Schnupfen oder anderen
lichst alle Wärme- oder Kältespender aus der Erkrankungen der Atemwege sowie bei Verletzungen
Umgebung zu entfernen sind. im Bereich des Mundes ist diese Messart oftmals
nicht durchführbar, weil der Mund zumeist nicht
Bei Thermometern, die von verschiedenen Men- dauerhaft geschlossen gehalten werden kann. Da die
schen verwendet werden, sollten Einmalschutzhül- Gefahr besteht, dass die Thermometer zerbissen
len benutzt werden. Maximalthermometer können werden, sollten Maximalthermometer nur aus-
zur Desinfektion in eine entsprechend konzentrierte nahmsweise verwendet werden.
Lösung eingelegt und mit kaltem Wasser abgespült
werden. Bei anderen Thermometertypen sind die Axillare Temperaturmessung
Hinweise der jeweiligen Hersteller zu beachten. Bei der axillaren Temperaturmessung wird versucht,
Im Folgenden werden die häufigsten Messmetho- durch das feste Andrücken des Oberarms an die seit-
den vorgestellt, die im pflegerischen Alltag Anwen- liche Brustwand das Temperaturfeld so zu verän-
dung finden. Tab. 10.1 zeigt eine Übersicht der ver- dern, dass sich der Körperkern bis in die Achselhöhle
schiedenen Messpunkte mit ihren Vor- und Nachtei- ausdehnt bzw. verschiebt. Diese Messung ist jedoch
len. Auf die Darstellung der Messung z. B. im Ösopha- sehr ungenau.
gus, in der Pulmonalarterie o. Ä., sowie die Anwen- Für die Temperaturmessung muss die Achselhöh-
dung der Thermographie wurde im Folgenden ver- le trocken sein, Reste von Seifen oder Deos sollten zu-
zichtet. vor entfernt werden. Die Thermometerspitze wird so
eingelegt, dass sie vollständig umschlossen ist. Hier-
Messung im äußeren Gehörgang zu muss während der gesamten Messdauer von ca. 4
Zur Feststellung der Kerntemperatur empfiehlt sich Min. der Arm fest an den Körper gedrückt werden.
die Anwendung eines Infrarot-Ohrthermometers. Ermittelt wird hierbei die Körperschalentemperatur.
Nach dem Einschalten des Gerätes wird die Schutz-
kappe aufgesetzt. Damit die Messspitze einen freien
Zugang zum Trommelfell hat, muss der Gehörgang
Gehörgang 쐌 Messspitze mit Schutzkappe 1 Sek. (spezielles 쐌 Kerntemperatur 쐌 ungenauer Messwert bei unkorrekter
in den äußeren Gehörgang Ohrthermometer) 쐌 kurze Messzeit Platzierung des Sensors
einführen 쐌 kann in allen Körper- 쐌 hoher Anschaffungspreis
lagen gemessen wer-
den, leicht zugängli-
cher Messort
쐌 geringer Einfluss
äußerer Faktoren
쐌 hohe Akzeptanz
sublingual 쐌 Thermometerspitze unter ca. 4 Min.* 쐌 einfache, angenehme 쐌 ungenaue Werte, da leicht beeinfluss-
die Zunge, rechts oder links Methode bar durch Umgebungsverhältnisse
neben dem Zungenbänd- 쐌 gute Akzeptanz 쐌 Gefahr des Zerbeißens des Thermo-
chen platzieren meters, deshalb nur für wache und
쐌 Mund muss während der kooperative Menschen geeignet
gesamten Messdauer ge- 쐌 ungeeignet für Menschen mit Erkran-
schlossen gehalten werden kungen im Nasen-Rachen-Raum und
der übrigen Atemwege
axillar 쐌 tief in der Axilla, Thermome- ca. 4 Min.* 쐌 einfache, angenehme 쐌 nur Körperschalentemperatur
terspitze muss vollständig Methode 쐌 leichte Dislokation durch Lageverän-
umschlossen sein 쐌 hohe Akzeptanz derung des Armes
쐌 festes Andrücken des Armes 쐌 beeinflussbar durch äußere Faktoren
an den Oberkörper über die
gesamte Messdauer
rektal 쐌 2 – 3 cm tief in das Rektum ca. 4 Min.* 쐌 Temperatur ent- 쐌 Beeinträchtigung der Intimsphäre
einführen spricht weitgehend 쐌 geringe Akzeptanz 10
der Kerntemperatur 쐌 Verletzung der Analschleimhaut mög-
쐌 kurze Messdauer lich
쐌 Perforationsgefahr des Darmes bei
Säuglingen und insbesondere bei
Frühgeborenen
쐌 Verfälschung der Werte durch Stuhl
im Rektum
* die Angaben beziehen sich auf die Verwendung eines Maximalthermometers und verkürzen sich bei der Verwendung eines Digitalthermometers
!
Merke: Verwendete Abkürzungen wie „SF“ In Abb. 10.7 sind die tageszeitlichen Schwankun-
oder „⬇“ für Schüttelfrost müssen in der Le- gen vor und nach der Ovulation dargestellt.
gende des Dokumentationssystems vermerkt Durch körperliche Belastungen kann sich die
werden. Kerntemperatur ebenfalls erhöhen. Bei schwerer Ar-
beit kann es zu einem Temperaturanstieg um bis zu
2 – 3 ⬚C kommen.
10.2 Allgemeine Beobachtungs- Außerdem kann ein Anstieg der Temperatur bei
kriterien und Beschreibung starker emotionaler Belastung beobachtet werden.
des Normalzustands Verantwortlich für diesen Temperaturanstieg ist so-
wohl bei der körperlichen als auch bei der emotiona-
Die normale Körperkerntemperatur beträgt bei der len Belastung ein daraus resultierender erhöhter
rektalen Messung im Tagesmittel 37,0 ⬚C. Sie unter- Stoffwechsel.
liegt tageszeitlichen Schwankungen, die einen endo- Die Schalentemperatur ist sehr stark abhängig
genen zirkadianen Rhythmus darstellen (s. a. S. 204). von den Umgebungsfaktoren. So kann z. B. eine un-
Am frühen Morgen ist die Körpertemperatur am sachgemäße Auswahl der Bekleidung einen Anstieg
niedrigsten, das Temperaturmaximum ist am späten oder einen Abfall der Schalentemperatur bewirken.
Abend messbar. Diese tagesrhythmischen Schwan-
kungen betragen bis zu 1 ⬚C.
Eine hormonell bedingte Temperaturschwan-
kung zeigt sich im Menstruationszyklus der Frau. In
dem Zeitraum zwischen Menstruation und Ovulati-
on ist die Temperatur niedrig, mit der Ovulation
Zusammenfassung: Hitzeerschöpfung,
Allgemeine Beobachtungskriterien Hitzschlag,
Die Schalentemperatur wird an der Hautoberfläche Sonnenstich,
gemessen. Durstfieber.
Bei der Messung mit dem Infrarot-Ohrthermometer
muss der Gehörgang begradigt werden. Hitzesynkope
Die sublinguale Messung ist häufig aufgrund von Die Hitzesynkope wird auch als Hitzekollaps be-
Erkrankungen nicht durchführbar, die axillare Mes- zeichnet. Hierbei kommt es aufgrund einer Dehydra-
sung sehr ungenau, bei der rektalen Messung be- tation mit Volumenmangel und einer Vasodilatation
steht Verletzungsgefahr und sie bedeutet einen Ein- zu einer kurzfristigen Bewusstlosigkeit. Begleitet
griff in die Intimsphäre. wird diese Bewusstlosigkeit zumeist von einer Hy-
Die Temperaturkurve wird häufig Blau dokumen- potonie, Bradykardie und leichter Hyperthermie. Als
tiert. Ursache werden starkes Schwitzen mit mangelnder
Tagesrhythmische Schwankungen der Temperatur Flüssigkeitsaufnahme bei schweren körperlichen
betragen bis zu 1 ⬚C. Die Temperaturschwankung Anstrengungen und/oder zu warmer Kleidung ange-
kann hormonell bedingt, durch körperliche oder sehen.
emotionale Belastung hervorgerufen sein.
Hitzemuskelkrämpfe
Bei den Hitzekrämpfen oder der Hitzetetanie handelt
10.3 Abweichungen,
es sich um Muskelkrämpfe, die als Folge eines Hitze-
Veränderungen der schadens auftreten. Sie werden durch Salz- und Flüs-
Körpertemperatur und deren sigkeitsverluste bei starkem Schwitzen und fehlender
mögliche Ursachen Kompensation durch Flüssigkeitszufuhr verursacht.
Häufig treten vor den Krämpfen Mattigkeit, Kopf-
10
Bei den Abweichungen der Körpertemperatur vom schmerzen, Brechneigung sowie eine psychische
Normalwert können sowohl Veränderungen nach Reizbarkeit auf. Beobachtet werden diese Hitze-
oben als auch nach unten festgestellt werden. krämpfe vor allem bei schwerer körperlicher Arbeit
unter Hitzeeinwirkung (z. B. Hochofenarbeiter).
10.3.1 Erhöhte Körpertemperatur
Bei der erhöhten Körpertemperatur wird zwischen Hitzeerschöpfung
Veränderungen, die mit einer Sollwerterhöhung im Bei der Hitzeerschöpfung kommt es ebenfalls zu ei-
Hypothalamus einhergehen, und solchen ohne Ver- nem Elektrolyt- und Flüssigkeitsverlust infolge star-
änderung des Sollwerts unterschieden (s. a. S. 161). ken Schwitzens, z. B. im Zusammenhang mit großen
körperlichen Anstrengungen wie sportlicher Betäti-
!
Merke: Die Veränderungen der Körpertem- gung. Neben gastrointestinalen Symptomen wie
peratur ohne Sollwerterhöhung werden als Übelkeit, Erbrechen und Durchfall kommt es bei der
Hyperthermie, die mit Sollwerterhöhung als Hitzeerschöpfung auch zu Herz-Kreislauf-Störun-
Hyperpyrexie oder Fieber bezeichnet. gen, die bis hin zu einem Volumenmangelschock rei-
chen können. Daneben besteht eine Hyperthermie,
Hyperthermie wobei die Körpertemperatur bis auf über 39 ⬚C an-
Definition: Bei der Hyperthermie handelt es steigen kann.
sich um eine Dysfunktion der thermoregulatori-
schen Möglichkeiten des Körpers. Hitzschlag
Die ausgeprägteste Form der Überhitzung ist der
Zu einer Hyperthermie kommt es demzufolge bei ei- Hitzschlag. Er stellt eine akute lebensbedrohliche Si-
ner vermehrten Wärmezufuhr oder Wärmebildung tuation dar, da die Temperaturregulation im Hypo-
bzw. einer verminderten Wärmeabgabe. Bei der Hy- thalamus aussetzt und eine extreme Hyperthermie
perthermie werden folgende Formen unterschieden: auftritt. Gleichzeitig kommt es zum Versagen der
Hitzesynkope, Schweißproduktion. Die Ursache liegt in einer gro-
Hitzemuskelkrämpfe, ßen Hitzezufuhr bei gleichzeitiger Verhinderung der
Wärmeabgabe, wie sie beispielsweise bei körperli- den. Die verschiedenen Fiebertypen können nach ih-
cher Anstrengung in großer Hitze und gleichzeitiger rer Ursache und nach ihrem Verlauf eingeteilt werden.
hoher Luftfeuchtigkeit auftritt.
Als Symptome sind bei den betroffenen Men- Schweregrade des Fiebers
schen neben einer Temperaturerhöhung auf bis zu Je nach Höhe der Körpertemperatur werden ver-
40 ⬚C und mehr eine heiße, rote, trockene Haut, Kopf- schiedene Schweregrade unterschieden (Tab. 10.2).
schmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Hypotonie und eine Als Ausgangswert gilt zumeist die rektale Tempera-
Tachykardie zu beobachten. Bei den Betroffenen tur. Bei Körpertemperaturen über 42 ⬚C kommt es
kommt es zu einer extremen Weitstellung der Blut- durch die große Hitze zu einer Eiweißgerinnung im
gefäße, die u. a. zu einer Minderversorgung des Ge- menschlichen Körper, die letztendlich zum Tod
hirns und dadurch bedingt zu einer Bewusstlosigkeit führt.
führen.
Fieberursachen
Sonnenstich Je nachdem, welche Ursache dem Fieber zugrunde
Ein Sonnenstich entsteht durch die unmittelbare liegt, werden verschiedene Fiebertypen unterschie-
Einwirkung von Sonnenstrahlen auf den unge- den:
schützten Körper eines Menschen, insbesondere auf Exogene Pyrogene: Bei den exogenen Pyrogenen
den unbedeckten Kopf und Nacken. Als Folge treten handelt es sich um fieberauslösende Substanzen. Sie
ein roter, heißer Kopf, Kopfschmerzen, Ohrensausen können von verschiedenen Krankheitserregern
und Schwindel auf. Dabei kann es auch zu einer ge- (Bakterien, Viren, Pilzen) abgegeben werden, aber
neralisierten Hyperthermie, verbunden mit Kreis- auch von allergieauslösenden Medikamenten oder
laufkollaps und Bewusstlosigkeit, kommen. Fremdeiweißen stammen. Die exogenen Pyrogene
regen Makrophagen und andere Zellen zur Produkti-
Durstfieber on von endogenen Pyrogenen an. Diese wiederum
10
Durch Flüssigkeitsmangel und einer hieraus resultie- setzen eine Reihe von Reaktionen in Gang, an deren
renden Störung der Wärmeabgabe kann ebenfalls ei- Ende die Bildung von Prostaglandin E steht, welches
ne Temperaturerhöhung ausgelöst werden. Es wird eine Erhöhung des Temperatursollwerts im Hypo-
als Durstfieber bezeichnet und kommt besonders
häufig bei Neugeborenen und Säuglingen vor. Die Be-
zeichnung „Durstfieber“ ist hierbei irreführend, da es
nicht zu einer Sollwert-Verschiebung kommt. malignes Leiden Fremdeiweiße immunolo-
gisches Leiden
Körpertemperatur Schweregrad
Prostaglandin E
37,5 ⬚C – 38,0 ⬚C subfebrile Temperatur
Verstellung der Solltemperatur
38,1 ⬚C – 38,5 ⬚C leichtes Fieber im Hypothalamus
thalamus bewirkt. Abb. 10.8 zeigt die Pathophysiolo- Bevor ein genauer Erregernachweis möglich war,
gie des Fiebers. gaben die verschiedenen Fieberverlaufskurven
Stammen die exogenen Pyrogene von Bakterien wichtige diagnostische Hinweise. Heutzutage ist es
ab, wird das Fieber auch als bakterielles Fieber be- fast nicht mehr möglich, einen klassischen Fiebertyp
zeichnet, bei anderen Krankheiterregern wird die mit seiner Verlaufsform zu beobachten, da der Tem-
Bezeichnung infektiöses Fieber verwendet, bei Reak- peraturanstieg durch Medikamente oder physikali-
tionen auf Medikamente oder körperfremde Eiweiße sche Maßnahmen unterdrückt bzw. verändert wird.
kommt auch der Begriff toxisches Fieber zur Anwen- Kontinuierliches Fieber: Die Verlaufskurve beim
dung. kontinuierlichen Fieber (Febris continua) zeigt eine
Endogene Pyrogene: Bei der Zerstörung von Kör- gleichmäßig hohe Temperatur von ca. 39,0 ⬚C. Die Ta-
pergeweben wie beispielsweise bei Operationen, gesschwankungen betragen weniger als 1 ⬚C (Abb.
Traumen und Nekrosen können in dem geschädigten 10.9). Das kontinuierliche Fieber kommt bei Schar-
Gebiet auch endogene Pyrogene freigesetzt werden, lach, Typhus abdominalis und Viruspneumonien vor.
in deren Folge es dann zum Fieber kommt (s. a. Remittierendes Fieber: Bei dem remittierendem
Abb. 10.8). Dieses Fieber tritt ca. 24 Stunden nach der Fieber, das auch als Febris remittens oder nachlas-
Schädigung auf, ist leicht und dauert nicht länger als sendes Fieber bezeichnet wird, zeigt die Tagestem-
5 Tage. Fieber, das durch endogene Pyrogene hervor- peraturkurve eine Differenz von bis zu 1,5 ⬚C auf. Die
gerufen wird und nach Gewebsschädigungen auf- Temperatur erreicht am Abend ihren Höhepunkt und
tritt, wird auch als Resorptionsfieber oder asepti- sinkt dann bis zum Morgen ab. Sie bleibt allerdings
sches Fieber bezeichnet. auch auf dem Tiefstand immer über der Normaltem-
Schädigung des Temperaturregulationszent- peratur. Diese Fieberverlaufskurve (Abb. 10.10) ist
rums: Bei einer Schädigung des zentralen Nerven- typisch für Lokal- oder Hohlrauminfektionen (z. B.
systems, z. B. bei Schädelhirntraumen oder Hirntu- Sinusitis, Harnwegsinfektionen) und für eine Lun-
moren, kann es zu einer Irritation bzw. Schädigung gentuberkulose.
10
des Temperaturregulationszentrums kommen. Das Intermittierendes Fieber: Das intermittierende
hieraus resultierende Fieber ist sehr hoch und wird Fieber (Febris intermittens) zeigt im Tagesverlauf fie-
auch als zentrales Fieber bezeichnet. berfreie Intervalle im Wechsel mit hohen Tempera-
Rheumatisches Fieber: Bei dem rheumatischen
Fieber handelt es sich um eine Zweiterkrankung
nach einem Infekt mit Streptokokken. Nach dem Ab-
klingen der Primärerkrankung (z. B. Angina, Zahn- Tag/Monat
wurzelvereiterung) kommt es zu einem beschwer- Kliniktag 1 2 3 4 5 6 7
defreien Intervall, das 1 – 3 Wochen andauert. Bei 2 Puls Temp.
bis 3% der Betroffenen tritt anschließend ein rheu- blau rot
matisches Fieber auf, als Folge einer Immunreaktion 140 40
auf die Streptokokkentoxine.
Fieberverlaufsformen 120 39
Die Fiebertypen können auch nach ihrem Verlauf
eingeteilt werden. Infektionen mit bestimmten Mi-
kroorganismen haben eine charakteristische Fieber- 100 38
kurve, wobei häufig die Tagesschwankungen der
Temperatur das Bild bestimmen. Hierzu gehören das
kontinuierliche, remittierende und intermittierende 80 37
Fieber. Aber auch Verlaufskurven, die über einen
längeren Zeitraum aufgezeichnet werden, können
charakteristische Kurven aufzeigen, wie z. B. das 60 36
rekurrierende, undulierende oder biphasische Fie- 52
ber.
Abb. 10.9 Kontinuierliches Fieber
Tag/Monat Tag/Monat
Kliniktag 1 2 3 4 5 6 7 Kliniktag 1 2 3 4 5 6 7
Puls Temp. Puls Temp.
blau rot blau rot
Schüttelfrost
140 40 140 40 Schüttelfrost
120 39 120 39
100 38 100 38
80 37 80 37
60 36 60 36
52 52
Tag/
Monat
Kliniktag 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21
41° F. undulans
40°
Temperatur
39°
38°
37°
36°
40°
Temperatur
39°
10
38°
37°
36°
Die 1. Fieberphase geht zumeist mit unspezifi- Beim Fieber kommt es zu einer Sollwertverstellung
schen Infektsymptomen einher. Nach einem kurzen im Hypothalamus.
Intervall tritt die 2. Fieberphase auf, die von spezifi- Nach den Ursachen werden das bakterielle, in-
schen Organmanifestationen wie z. B. einem Exan- fektiöse, toxische, aseptische, zentrale und rheuma-
them begleitet wird. tische Fieber unterschieden.
Die Fieberverlaufsformen können kontinuierlich,
!
Merke: Die Einteilung der Fiebertypen kann remittierend, intermittierend, rekurrierend,
nach ihrem Verlauf oder den zugrunde lie- undulierend und biphasisch sein.
genden Ursachen erfolgen.
Fieberstadien
Zusammenfassung: Beim Fieber können 3 verschiedene Stadien unter-
Hyperthermie und Fieber schieden werden, das Stadium
Bei der Hyperthermie liegt eine thermoregulatori- des Fieberanstiegs,
sche Störung vor. der Fieberhöhe und
Formen der Hyperthermie sind Hitzesynkope des Fieberabfalls.
(Hitzekollaps), Hitzemuskelkrämpfe (Hitzetetanie),
Hitzeerschöpfung, Hitzschlag, Sonnenstich und Das Stadium des Fieberanstiegs wird auch als Stadi-
Durstfieber. um incrementi bezeichnet. Der Fieberanstieg kann
langsam oder schnell erfolgen. Bei einem schnellem
Anstieg und hohem Fieber kann oftmals begleitend Stunden als Krisis bezeichnet. Bei der Lysis ist der
ein Schüttelfrost (s. u.) beobachtet werden. Der Hy- Schweiß großperlig und warm. Im Gegensatz zur Ly-
pothalamus verstellt in diesem Stadium seinen Tem- sis besteht bei der Krisis immer auch eine Kollapsge-
peratursollwert nach oben und der Körper versucht, fahr, die durch ein erneutes Ansteigen der Pulsfre-
seine Wärmeabgabe zu vermindern, z. B. durch Eng- quenz angezeigt wird und bei dem kalter kleinperli-
stellung der Gefäße. Gleichzeitig versucht der Körper ger Schweiß auftreten kann.
auch, durch Muskelzittern die Wärmeproduktion zu
!
erhöhen (Abb. 10.15). Merke:
Das folgende Stadium der Fieberhöhe oder Hitze- Beim Fieberabfall werden Lysis und Krisis un-
stadium wird Fastigium genannt. terschieden.
Als drittes Stadium folgt das Stadium des Fieber-
abfalls, welches auch als Stadium decrementi be- Schüttelfrost
zeichnet wird. Hierbei normalisiert sich der Tempe- Definition: Unter einem Schüttelfrost werden
ratursollwert wieder und die Wärmeabgabe wird unwillkürliche, rasche Zitterbewegungen der
durch starkes Schwitzen und eine Weitstellung der Skelettmuskulatur verstanden.
Gefäße gesteigert (Abb. 10.16).
Ein langsamer, über mehrere Tage andauernder Sie gehen zumeist mit einem Kältegefühl einher.
Abfall wird als Lysis, ein schneller Abfall der Tempe- Physiologisch kann ein Schüttelfrost bei plötzlicher,
ratur auf Werte unter 38,0 ⬚C innerhalb weniger großer Kälteeinwirkung oder langanhaltender Kälte-
einwirkung auftreten (Kältezittern).
Pathologisch kommt es zu einem Schüttelfrost
durch im Blut kreisende Krankheitserreger oder de-
Sollwert ren Toxine, die eine Reizung des Temperaturregulati-
Temperatur steigt
onszentrums verursachen. Diese Irritation hat eine
10
Erhöhung des Temperatursollwerts im Hypothala-
mus zur Folge. Um diesen Sollwert zu erreichen, ver-
sucht der Körper, durch Muskelkontraktionen Wär-
me zu produzieren.
Der Schüttelfrost kann in vier verschiedene Sta-
Wärmeabgabe Wärmeproduktion dien eingeteilt werden (Abb. 10.17).
(Blässe, Frieren) (Zittern, Muskeltonus )
1. Stadium: Temperaturanstieg
Es kommt zum typischen Muskelzittern mit Zähne-
klappern, das bis zum Schütteln des gesamten Kör-
Abb. 10.15 Fieberanstieg
pers führen kann. Daneben besteht ein subjektives
Kältegefühl (Frösteln), die Haut ist blass bis zyano-
tisch.
Sollwert
Temperatur sinkt 2. Stadium: Fieberhöhe
Während dieses Stadiums ist der Betroffene unruhig
und ängstlich. Er klagt zumeist über Durst. Hitzezei-
chen wie beispielsweise eine trockene, heiße Haut
sind zu beobachten.
Fieberhöhe
Unruhe
trockene, heiße Haut
Durstgefühl
Temperaturanstieg Entfieberung
Muskelkontraktionen (lytisch oder kritisch)
Zähneklappern starke Schweißausbrüche
Frösteln feuchte, heiße Haut
Reizung des
Wärme- Erschöpfungs-
regulations- schlaf
zentrums
son nach dem Fieberabfall in einen tiefen Erschöp- Körper- Schweregrad klinische Symptome
fungsschlaf. temperatur
Bei zentralen Regulationsstörungen, die bei- Tab. 10.4 Schweregrade der Erfrierung und Zuordnung
spielsweise bei Hirntumoren, Hirnverletzungen oder der klinischen Zeichen
Objektive Begleit-
erscheinungen
des Fiebers
erhöhte Atemfrequenz
Muskelzittern, Zähne-
- durch erhöhten Stoffwechsel mit
klappern, Schüttelfrost
erhöhtem O2-Bedarf
Subjektive Begleit- - reflektorisch veran-
- Wärmeabgabe über Ausatmungs-
erscheinungen laßte Wärmeproduktion
luft
des Fiebers
Durst
- erhöhter Flüssig-
keitsbedarf bei
Obstipation abwechselndes erhöhtem Flüssig-
keitsverlust
verminderte 10
- verminderte Hitze- und Urinmenge
Darmmotorik Kältegefühl (konzentriert)
bei Flüssigkeits- - Über- oder Un- - Flüssigkeits-
und Bewe- terschreiten des verluste über
gungsmangel Sollwertes die Haut
erhöhte Pulsfrequenz
(8 – 12 Schl./Min pro 1°C Temperaturerhöhung
- durch erhöhten Stoffwechsel mit erhöhtem O2-Bedarf
- Erhöhung des Herzminutenvolumens führt zum Ab-
transport fiebererzeugender Stoffe und raschem Trans-
port körpereigener Abwehrstoffe
!
befinden oder Unwohlsein eines Kindes. Abweichun- Merke: Die Thermolabilität findet ihre Ursa-
gen der normalen Körpertemperatur sind im Kindes- che in der Unreife des temperaturregulieren-
alter häufig und müssen als ein ernst zu nehmendes den Zentrums, in der herabgesetzten Muskel-
Symptom bewertet werden. tätigkeit, im geringen Fettpolster und in der ungenü-
Die Regulierung der Körpertemperatur ist von genden Schweißbildung (s. a. S. 122 u. 346).
verschiedenen Faktoren abhängig, z. B. vom Alter des
Kindes, der Umgebungstemperatur, pathophysiolo-
Evaporation
gischen Veränderungen im Organismus.
Ein Frühgeborenes kann die Körpertemperatur Radiation
nicht selbstständig regulieren. Das im Hypothalamus
liegende Wärmeregulationszentrum ist noch nicht
voll ausgereift. Ein weiterer Faktor ist der hohe Wär- Konvektion
meverlust gegenüber einer zu geringen Wärmepro-
duktion. Die große wärmeabgebende Körperoberflä-
che des Frühgeborenen steht nicht im Verhältnis
zum wärmebildenden Körpervolumen. Eine redu-
zierte Wärmeisolierung der Haut durch Mangel an
subkutanem Fettgewebe ist ein weiteres Indiz für die
schnelle Wärmeabgabe. Zum Verlust der Körperwär-
me des Frühgeborenen an die Umgebung führen
weitere Mechanismen wie die: Konduktion
Konvektion: Sie entsteht durch kalte Luft/Zugluft
aufgrund offen stehender Türen bzw. Inkubator- Abb. 10.19 Mechanismen des Wärmeverlustes beim Frühgebo-
klappen. renen
10.5.1 Technik der Temperaturmessung bei Die Messung mit einem Infrarot-Ohrthermome-
einem Frühgeborenen ter ist bei korrekter Anwendung und einer kurzen
Je nach Klinikstandard werden unterschiedliche Me- Messdauer für Kinder eine sehr geeignete Methode.
thoden angewendet. Die rektale Temperaturmessung ergibt zwar ei-
Bei Frühgeborenen unter 1500 g erfolgt zunächst nen genauen unverfälschten Wert der Körperkern-
die axillare Messung, um einer Perforation des temperatur, hat aber zum Nachteil, dass sie die In-
Darms vorzubeugen. Die rektale Messung wird bei timsphäre von Kindern beeinträchtigt und deshalb
Frühgeborenen über 1500 g oder bei angeordneter eher abgelehnt wird. Sie ist daher genau abzuwägen
kontinuierlicher Messung angewendet. Da es bei und nur sinnvoll, wenn eine exakte Messung not-
Frühgeborenen keine großen Temperaturunter- wendig ist. Neugeborene, Säuglinge und Kleinkinder
schiede zwischen axillarer und rektaler Messung legt man zur rektalen Messung auf den Rücken oder
gibt, wird in einigen Kliniken axillar gemessen. Le- auf die Seite, das Gesäß auf z. B. einer Windel, da ge-
diglich bei auffälligen Temperaturen von ⬍ 36,5 und legentlich die Einführung der Thermometerspitze
⬎ 37,3 ⬚C wird rektal nachgemessen. Stuhldrang und somit Stuhlabgang auslöst. In diesem
Die Technik der rektalen Messung ist bereits in Fall muss der Messvorgang wiederholt werden.
10.1.3 beschrieben. Allerdings wird bei den Frühge- Während der Messung werden mit einer Hand die
borenen auf die Anwendung einer Plastikschutzhülle Beine des Kinds in Beugehaltung fixiert und mit der
verzichtet. Die harte Schweißnaht kann zu einer anderen Hand das Thermometer festgehalten
Schleimhautläsion im Darm führen. (Abb. 10.20). Bei Säuglingen unter drei Monaten darf
Ein weitere Möglichkeit zur Messung der periphe- das Thermometer nicht mehr als 1,5 cm eingeführt
ren Temperatur ist eine Hauttemperatursonde mit ei- werden um eine Verletzung des Darms zu vermei-
ner scheibenförmigen Elektrode, die peripher an den. Bei älteren Kindern entspricht der Messvorgang
Fußsohle/Fußrücken oder auch am Brustkorb/Bauch den Angaben unter 10.1.3.
des Kindes angebracht werden kann. Diese Elektrode Die orale sublinguale Temperaturmessung sollte
10
leitet die Temperatur an einen Monitor weiter. Es gibt nur bei älteren kooperativen Kindern, die das Ther-
Inkubatoren, die aufgrund des Temperaturergebnis- mometer nicht zerstören/zerbeißen, angewendet
ses ihre Temperatur selbstständig regeln können. werden.
Hier gilt es, die Anweisung des Herstellers zu berück- Die Messung mit einem Infrarot-Haut- oder Stirn-
sichtigen, an welchem Messort die Hauttemperatur- thermometer ist zur Zeit noch nicht evidence-based.
sonde angebracht werden soll. Diese Methode ist be- Hier wird der Infrarotstrahlungsscanner über die
sonders sinnvoll bei unreifen Frühgeborenen. Je ge- Stirn und die Temporalarterie des Kindes geführt.
ringer das Unterhautfettgewebe ist, desto massiver
!
unterliegen die Frühgeborenen Temperaturschwan- Merke: Bei der Anwendung der rektalen
kungen, die auch zu Untertemperatur führen kön- Temperaturmessung müssen die Beine des
nen. Dazu werden digitale Spezialthermometer mit Säuglings und das Thermometer gehalten
erweiterter Messskala von 25 – 42 ⬚C verwendet. werden. Bei Verletzungen, Entzündungen oder Opera-
tionen im Anal- und Darmbereich darf keine rektale
!
Merke: Bei einem Frühgeboren gibt es keine Messung durchgeführt werden.
großen Temperaturunterschiede zwischen
axillarer und rektaler Messung. Letztere darf 10.5.3 Abweichungen vom Normalzustand
aufgrund der Verletzungsgefahr durch Schweißnähte Allgemeine Symptome der Temperaturerhöhung:
nur ohne Schutzhülle durchgeführt werden. Das Kind ist antriebsarm, möchte mehr schlafen
und äußert Unwohlsein.
10.5.2 Technik der Temperaturmessung bei Das Kind hat ein rotes Gesicht, fühlt sich heiß an,
Neugeborenen, Säuglingen und gibt jedoch an zu frieren, und hat glasige Augen.
Kleinkindern Das Kind ist appetitlos, trinkt viel und klagt über
Diese Technik unterscheidet sich im Wesentlichen Übelkeit und Kopfschmerzen.
nicht von der Technik der Temperaturmessung beim Das Kind hat eine Tachypnoe und Tachykardie.
Erwachsenen, die bereits in 10.1 beschrieben wurde.
Nach Ermittlung einer stark erhöhten Körpertempe- ist primär von einem zerebralen Krampf nicht zu un-
ratur sollten je nach Anordnung des Arztes fieber- terscheiden. Er tritt häufig bei einem raschen Fieber-
10
senkende Maßnahmen eingeleitet werden. anstieg im Säuglings- und Kleinkindalter auf und be-
Je nach Art und Auslösung des Fiebers und nach darf sofortiger ärztlicher Betreuung. Die Maßnah-
Ermittlung der Fiebertypen stehen folgende Mög- men erstrecken sich auf die Unterbrechung des
lichkeiten zur Verfügung: Krampfanfalles und Senkung der Körpertemperatur.
physikalische Maßnahmen, z. B. Wadenwickel, Daran schließt sich eine engmaschige Überwachung
medikamentöse Maßnahmen, z. B. Gabe von Anti- des Kindes einschließlich einer kontinuierlichen
pyretika, Überwachung der Körpertemperatur an. In diesem
Therapie des Grundleidens, z. B. Gabe von Anti- Fall müssen bereits bei gering erhöhter Temperatur
biotika. fiebersenkende Maßnahmen stattfinden.
derungen an Nervenendigungen, die Sensibilitätsstö- Die Pflegediagnose Hyperthermie zeigt die folgende
rungen zur Folge haben und die Temperaturempfin- Übersicht:
dung der älteren Menschen zusätzlich beeinflussen.
Immobilität und Bewegungseinschränkungen kön- Hyperthermie (P)
nen zu Schwierigkeiten bei der Anpassung an die Um- (Gordon 2013, S. 170 – 171, NANDA-I 2016)
gebungstemperatur durch eine verminderte körperli- Hyperthermia (00007) (1986)
che Aktivität und Problemen beim Ankleiden führen. Taxonomie II: Domäne 11: Sicherheit/Schutz,
Klasse 6: Thermoregulation
Zusammenfassung: Diagnosetyp (Dokumentationsform): aktuelle Pflege-
Besonderheiten bei Kindern und älteren diagnose (PES)
Menschen: Funktionelles Gesundheitsverhaltensmuster:
Ein Frühgeborenes kann die Körpertemperatur Ernährung und Stoffwechsel
nicht selbstständig regulieren.
Definition
Mangelndes subkutanes Fettgewebe, ein noch nicht
Erhöhte Körpertemperatur oberhalb des Normbereichs
ausgereiftes Wärmeregulationszentrum sowie Kon-
vektion, Konduktion, Evaporation und Radiation Einflussfaktoren (E)
führen zu Wärmeverlust beim Frühgeborenen. einer heißen Umgebung ausgesetzt sein
Bei Frühgeborenen wird die Temperatur axillar übermäßige Aktivität
oder mit einer Hauttemperatursonde gemessen, die Medikamente
orale, sublinguale Messung ist erst bei älteren Kin- Narkose
dern angebracht. unangemessene Kleidung
Ältere Menschen haben ein geringeres Temperatur- erhöhter Stoffwechsel
Krankheit
empfinden und leiden unter Minderversorgung der
Verletzung
Extremitäten („kalten Füßen“).
Dehydration 10
(Unvermögen oder) reduzierte (Fähigkeit zur)
10.7 Fallstudien und mögliche Schweißbildung
hohes Fieber unbekannter 쐌 kennt Fieberschübe FZ: 쐌 Information des Patienten über die ge-
Genese mit starkem Schwit- 쐌 weiß, welche Maßnah- 쐌 hat Normaltemperatur planten Maßnahmen und Frage nach
zen men ihm Erleichterung NZ: Wünschen
und Wohlbefinden ver- 쐌 erfährt keine Komplika- 쐌 rektale Temperatur-, Puls-, Blutdruck-
schaffen, und äußert die- tionen wie z. B. Kreislauf- und Atmungskontrolle nach Plan (im
se kollaps Zimmer)
쐌 hat verbessertes Wohlbe- 쐌 kühle Abwaschungen und frische Wäsche
finden nach Bedarf
쐌 schwitzt weniger 쐌 kühle Wunschgetränke anbieten (Trink-
쐌 trinkt ausreichend (mind. menge: mind. 3 l/Tag)
3 l/Tag)
10
Die entsprechende Pflegediagnose für Herrn Fallner Die folgende Übersicht zeigt die Pflegediagnose „Ge-
könnte folgendermaßen lauten: fahr einer unausgeglichenen Körpertemperatur“:
Hyperthermie
angezeigt durch (a/d) Anstieg der Körpertempe- Gefahr einer unausgeglichenen Körper-
ratur über das normale Maß hinaus, erhöhte temperatur (P)*
Atemfrequenz und Tachykardie. (Gordon 2013, S. 176, NANDA-I 2016)
Risk for imbalanced body temperature (00005)
Beispiel: Lara ist 6 Tage alt und in der 28 + 2 (1986, 2000)
SSW durch Sektio entbunden. Sie wiegt jetzt Taxonomie II: Domäne 11: Sicherheit/Schutz,
1540 g und ist 40 cm groß. Zur Zeit liegt Lara Klasse 6: Thermoregulation
im Inkubator. Da sie schlecht trinkt, wird ihr die fehlen- Diagnosetyp (Dokumentationsform): Pflegediagnose
de Nahrungsmenge über eine Magensonde zugeführt. (PES)
Die Atmung ist unauffällig, das Hautkolorit rosig bis Funktionelles Gesundheitsverhaltensmuster:
blass, die Extremitäten sind kühl. Die Körpertempera- Ernährung und Stoffwechsel
tur ist noch instabil, es zeigt sich eine leichte Hypother-
Definition
mie um 36,2 ⬚C. Lara bekommt Wärme zugeführt, der
Risiko, dass die Körpertemperatur nicht im Normbe-
Inkubator ist auf 33 ⬚C eingestellt. Die Mutter besucht reich aufrechterhalten werden kann
ihre Tochter regelmäßig und baut über Berührungen
Kontakt zu Lara auf. Einen Ausschnitt aus dem Pflege- Risikofaktoren (R)
plan von Lara zeigt Tab. 10.6. Krankheiten, die die Temperaturregulation beein-
flussen
Verletzungen, die die Temperaturregulation beein-
flussen
veränderte Stoffwechselrate
Pflegeergebnisse (Outcomes)
Literatur:
Wärmeregulation (Thermoregulation)
Gleichgewicht zwischen Wärmeproduktion, -zufuhr
Fischer, K., H. Sobottka, D. Faas (Hrsg.): Klinikleitfaden Kinder-
und -verlust, das zu einer normalen Körpertempera- krankenpflege. 4. Aufl. Urban & Fischer, München 2009
tur führt Geratherm Medical AG. Geratherm䊚 classic. Quecksilberfrei-
Wärmeregulation: Neugeborenes (Thermoregula- es, analoges Fieberthermometer mit Galinstan. Im In-
ternet: http://www.medizinkritik.de/wi_an_schwanger/
tion: Newborn)
PDF/Bedienungsanleitung-Geratherm-classic.pdf; Stand:
Gleichgewicht zwischen Wärmeproduktion, -zufuhr
02. 08. 2017
und -verlust während der ersten 28 Lebenstage
Gordon, M.: Handbuch Pflegediagnosen. 5. Aufl. Hans Huber,
Hogrefe AG, Bern 2013
Hoehl, M., P. Kullick (Hrsg.): Gesundheits- und Kinderkranken-
Die entsprechenden Pflegediagnose von Lara könnte pflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012
10
folgendermaßen lauten: I care Pflege. Thieme, Stuttgart 2015
Unwirksame Thermoregulation Köther, I. (Hrsg.): Altenpflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2016
NANDA International: Pflegediagnosen. Definitionen und
b/d (beeinflusst durch) Unreife bei Frühgeburt,
Klassifikation 2015 – 2017. Herdman, T. H., S. Kamitsuru
a/d (angezeigt durch) Altersextreme (Schwan-
(Hrsg.): RECOM, Kassel 2016
kungen) der Körpertemperatur unterhalb der Pschyrembel Klinisches Wörterbuch. 264. Aufl. de Gruyter,
Normaltemperatur. Berlin 2014
Schettler, G., H. Greten: Innere Medizin: verstehen – lernen –
anwenden. 12. Aufl. Thieme, Stuttgart 2005
Schwegler, J., R. Lucius: Der Mensch. Anatomie und Physiolo-
gie. 6. Aufl. Thieme, Stuttgart 2016
Silbernagl, S., A. Despopoulos: Taschenatlas Physiologie.
8. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012
Teising, D., H. Jipp: Neonatologische und pädiatrische Inten-
siv- und Anästhesiepflege. Praxisleitfaden. 6. Aufl. Sprin-
ger, Berlin 2016
11 Atmung
Panajotis Apostolidis*, Petra Schmalstieg
Übersicht
Einleitung · 182
11.1 Technik der Atemerfassung · 184
11.1.1 Dokumentation · 184
11.1.2 Indikationen zur Atemerfassung · 184
11.2 Allgemeine Beobachtungskriterien und
Beschreibung des Normalzustands · 185
11.2.1 Atemvolumina · 185
11.2.2 Atemfrequenz · 187
11.2.3 Atemtiefe (Atemintensität) · 187
11.2.4 Atemrhythmus · 187
11.2.5 Atemmechanik (Atembewegungen) · 187
11.2.6 Atemgeräusche · 188
11.2.7 Atemgeruch · 188 Einleitung
11.3 Abweichungen und Veränderungen beim
Atmen und deren mögliche Atmen ist eine grundlegende und lebensnotwendige
Ursachen · 189 Tätigkeit des Menschen und wird deshalb auch zu
11.3.1 Dyspnoe · 189 den sog. Vitalzeichen gerechnet. Darüber hinaus ist
11.3.2 Atemfrequenz · 190 Atmen eng verknüpft mit der körperlichen, aber
11.3.3 Atemtiefe (Atemintensität) · 191 auch seelischen Verfassung eines Menschen. Körper-
11.3.4 Atemrhythmus (pathologische liche Anstrengung, eine Reihe von Erkrankungen so-
11 Atemtypen) · 192 wie Störungen im emotionalen Befinden wirken sich
11.3.5 Atemmechanik (Atembewegungen) · 194 direkt auf die Atmung aus und können einem Men-
11.3.6 Atemgeräusche · 195 schen buchstäblich „die Luft abschnüren“.
11.3.7 Atemgerüche · 197 Die Tatsache, dass die Atmung nicht nur unwill-
11.4 Ergänzende Beobachtungskriterien · 197 kürlich gesteuert, sondern auch bewusst beeinflusst
11.5 Besonderheiten bei Kindern · 198 werden kann, wird u. a. in Programmen wie z. B. dem
11.5.1 Abweichungen und Veränderungen der Autogenen Training genutzt, um über eine gezielte
Atmung · 198 Steuerung der Atemtechnik einen verbesserten
11.5.2 Die besondere Situation des Früh- und Zugang zum eigenen Körperempfinden zu errei-
Neugeborenen · 199 chen.
11.6 Besonderheiten bei älteren Auch in der Beobachtung des gesunden und kran-
Menschen · 200 ken Menschen kommt dem Beobachtungsbereich
11.7 Fallstudien und mögliche „Atmung“ eine bedeutsame Stellung zu.
Pflegediagnosen · 200
Fazit · 203 Definition: Als Atmung wird der lebenswichti-
Literatur · 203 ge Vorgang bezeichnet, bei dem der Organismus
mit Sauerstoff (O2) versorgt und Kohlendioxid
(CO2) abtransportiert wird.
Schlüsselbegriffe:
왘 Dyspnoe Die Atemwege werden in 2 Abschnitte eingeteilt: die
왘 Tachypnoe oberen und unteren Atemwege. Zu den oberen Atem-
왘 Exspiration wegen gehören die Nase und der Rachenraum, die
왘 Inspiration unteren Atemwege werden von dem Kehlkopf, der
Luftröhre und den Bronchien gebildet.
Des Weiteren werden die innere und die äußere Bei einem Absinken des Sauerstoffgehalts oder ei-
Atmung unterschieden. Die innere Atmung wird nem Anstieg des Kohlendioxidgehalts werden vom
auch als Gewebeatmung bezeichnet. Sie beinhaltet Atemzentrum Nervenimpulse ausgesendet, die die
den Gasaustausch zwischen dem Blut und den Zel- Muskeln der Throraxwand und des Zwerchfells ver-
len. Die äußere Atmung, auch Lungenatmung oder anlassen, eine Einatmungsbewegung auszulösen.
Respiration genannt, umfasst die Tätigkeit der Lun- Neben dieser chemischen Steuerung der Atmung
gen. Hierbei nimmt das Hämoglobin des Bluts durch existiert noch eine nervale Steuerung. Hierbei wird
die Alveolarwand Sauerstoff auf und gibt die Endpro- über feine Äste des N. vagus in den Alveolen deren
dukte des Stoffwechsels, vor allem Kohlendioxid, ab. Dehnungszustand ermittelt und an das Atmungs-
Der Transport der Luft zwischen der Umgebung zentrum weitergeleitet. Weitere Regulationsmecha-
und den Alveolen wird durch die Atembewegungen nismen (Abb. 11.1), die auf die Atmung einwirken,
ermöglicht. Die Atembewegungen können willkür- sind:
lich durchgeführt werden, doch fast alle Atembewe- Dehnungsrezeptoren der Muskeln und Sehnen,
gungen erfolgen unwillkürlich und werden durch Pressorezeptoren der Aorta und der A. carotis,
das Atemzentrum im verlängerten Mark (Medulla Thermorezeptoren der Haut,
oblongata) gesteuert. Hierzu werden über periphere Schmerzrezeptoren,
und zentrale Rezeptoren der Sauerstoff- und Kohlen- Körpertemperatur,
dioxidgehalt sowie die Wasserstoffionenkonzentra- Hormone (z. B. Adrenalin),
tion (pH-Wert) des Blutes gemessen, die Werte über Einflüsse höherer Zentren des ZNS (Kortex, limbi-
Nervenleitungen dem Atemzentrum übermittelt sches System, Hypothalamus, Pons), z. B. psy-
und dort mit den eingestellten Werten verglichen. chische Erregung.
höhere Zentren 11
Hormone
pH Körpertemperatur
zentrale + extrazellulär Thermorezeptoren (Haut)
H
Antriebe Liquor
PCO Atmungs- Schmerzrezeptoren
2
zentrum
Chemo-
Presso-
rezeptoren
rezeptoren
PO PCO pH
2 2
Dehnungs-
rezeptoren Mechanorezeptoren
Chemorezeptoren ?
Abb. 11.1 Übersicht über die zentralen Atmungsantriebe und die peripheren Rezeptoren, von denen aus die Atmung beeinflusst werden
kann
!
messung anzudeuten bzw. die Atmungskontrolle di- Merke: Da die Atmung willkürlich beein-
rekt im Anschluss an eine Pulskontrolle durchzufüh- flusst werden kann, sollte die Beobachtung
ren. Bei der Beobachtung der Atmung werden die In- für den betroffenen Menschen unauffällig er-
und Exspiration als ein Atemzyklus erfasst. Unter Zu- folgen.
hilfenahme einer speziellen Stoppuhr (s. a. Kap. 8,
Abb. 8.3) oder einer Uhr mit Sekundenzeiger werden 11.1.1 Dokumentation
über 1 Minute die Atembewegungen (Atemzyklen) Die ermittelten Werte sind mit dokumentenechten
gezählt. Stiften direkt in das Dokumentationssystem einzu-
Da bei Menschen, deren Atmung sehr flach ist, tragen, die sowohl in Form einer Kurve (s. a. Kap. 8,
Atembewegungen nicht zu erkennen sind, muss eine Abb. 8.4) als auch in Form von Zahlen (s. a. Kap. 8,
andere Technik angewendet werden, bei der die opti- Abb. 8.5) erfolgen kann. Bei den Kurvensystemen
sche Erfassung der Atembewegungen durch eine tak- wird zur Dokumentation der Atmung üblicherweise
tile Erfassung unterstützt wird. Hierzu werden die die Farbe Schwarz gewählt. Da die Temperaturkurve
Handflächen bauchwärts auf den Übergang vom meist in blau und die Pulskurve in rot geführt wird,
Thorax zum Abdomen gelegt (Abb. 11.2). Auf diese ist so eine deutliche Unterscheidung der verschiede-
Weise ist es möglich, sowohl eine Thorax- als auch nen Vitalzeichen möglich.
eine Abdominalatmung zu erfassen. Neben der Anzahl der Atemzüge pro Minute und
Neben der Anzahl der Atembewegungen (Atem- der Uhrzeit müssen weitere Besonderheiten angege-
frequenz) müssen gleichzeitig die Art der Atembe- ben werden. Dies kann direkt in der Kurve bzw. Spal-
wegungen, der Atemrhythmus und das Auftreten te mit Hilfe spezieller Kürzel oder Zeichen gesche-
von Atemgeräuschen und -gerüchen registriert wer- hen, deren Bedeutung in der Legende des Dokumen-
11 den. Zusätzlich erfolgt die Einschätzung der Atemtie- tationssystems verbindlich festgelegt ist.
fe. Um vergleichbare und gültige Ergebnisse zu erhal- Des Weiteren können Besonderheiten oder Auf-
ten, muss darauf geachtet werden, dass die Beobach- fälligkeiten im Pflegebericht niedergeschrieben wer-
tung der Atmung immer unter gleichen Bedingun- den. In diesem Fall muss ein entsprechender Hinweis
gen stattfindet. Bei einer routinemäßigen Atmungs- in der Kurve/Spalte vermerkt und der entsprechende
kontrolle sollte der Betroffene zuvor 15 – 30 Minuten Abschnitt im Pflegebericht besonders hervorgeho-
geruht haben. ben werden.
Eine Erfassung der Atemgase und/oder der Volu-
mina ist nur mithilfe spezieller Geräte möglich. Zur 11.1.2 Indikationen zur Atmungserfassung
Da die Atmung vielfältigen Einflüssen unterliegt, er-
geben sich eine Reihe von unterschiedlichen Indika-
tionen, wie z. B.:
Atemwegserkrankungen (z. B. zur Diagnostik, zur
Verlaufskontrolle),
Erfassung der Vitalsituation des Menschen (z. B.
bei Neuaufnahmen, vor, während und nach Un-
tersuchungen),
Erkrankungen wie z. B. Herz-Kreislauf-Erkran-
kungen, Stoffwechselstörungen,
Kontrolle der Belastbarkeit (z. B. Mobilisation),
postoperative Überwachung (zum rechtzeitigen
Erkennen von Komplikationen, z. B. im Zusam-
menhang mit der Narkose),
Abb. 11.2 Technik der Atemerfassung
!
Überwachung des Menschen bei der Verabrei- Merke: Die Beobachtung der Atmung orien-
chung bestimmter Medikamente (z. B. Spasmoly- tiert sich an den Kriterien:
tika, Sedativa, Analgetika).
Atemvolumina,
Zusammenfassung: Atemfrequenz,
Atmung Atemtiefe (Atemintensität),
Es wird zwischen Gewebe- und Lungenatmung und Atemrhythmus,
der Abdominal- und Thoraxatmung unterschieden. Atemmechanik (Atembewegungen),
Regulationsmechanismen für die Atmung sind Deh- Atemgeräusch,
nungsrezeptoren der Muskeln und Sehnen, Presso- Atemgeruch.
rezeptoren der Aorta, Thermorezeptoren der Haut,
Schmerzrezeptoren, Körpertemperatur, Hormone 11.2.1 Atemvolumina
und Einflüsse höherer Zentren des ZNS. Unter den Atem- oder Lungenvolumina werden ver-
In den Kurvensystemen wird die Atmung mit schiedene Atemgrößen verstanden. Hierzu erfolgt
Schwarz dokumentiert. eine Unterteilung des maximal möglichen Gasvolu-
Eine Atmungserfassung ist indiziert bei Erkrankun- mens der Lungen in statische Volumengrößen, die im
gen, zur Erfassung der Vitalsituation, zur Kontrolle Weiteren kurz definiert werden und in Abb. 11.3 dar-
der Belastbarkeit, postoperativ, bei der Verabrei- gestellt sind. Die Atemvolumina, insbesondere die
chung bestimmter Medikamente. Vitalkapazität, werden beeinflusst durch das Alter,
das Geschlecht, die Körpergröße, den Aktivitätsgrad
und den Trainingszustand eines Menschen
11.2 Allgemeine
(Abb. 11.4). Mithilfe eines Spirometers (Abb. 11.5)
Beobachtungskriterien und können die einzelnen Lungenvolumina bestimmt
Beschreibung des werden.
Normalzustands Eine andere Möglichkeit besteht in der Verwen-
dung eines Ganzkörperplethysmographen. Hierbei
Die normale Atmung (Eupnoe) erfolgt in einer ange- werden die Druckschwankungen, die in einer luft- 11
messenen Atemfrequenz und Atemtiefe. Der Atem- dichten Kammer bei einem Unter- oder Überdruck
rhythmus ist gleichmäßig, die Atembewegungen der Lunge um einen Menschen herum auftreten, ge-
sind nur bei einem genauen Hinsehen erkennbar. Die messen. Veränderungen der Atemvolumina, beson-
Atmung erfolgt unbewusst, entspannt und be- ders der Vitalkapazität, können Hinweise auf ver-
schwerdefrei. Auffällige Atemgeräusche und -gerü- schiedene Erkrankungen und die Leistungsfähigkeit
che sind nicht vorhanden. Aus dieser Beschreibung der Lungen geben.
der normalen Atmung ergeben sich die Beobach- Hierzu gehören das Atemzugvolumen, das inspi-
tungskriterien. ratorische und exspiratorische Reservevolumen, das
Residualvolumen, die Vitalkapazität, die Inspirati-
Atemzugvolumen 0,5 l
exspiratorisches
Reservevolumen 1 – 2 l
Residualvolumen 1 – 2 l
a b c
Atem- Atemtiefe
frequenz (AZV)
Abb. 11.4 Lungenvolumina bei Ruhe (a), Bewegung (b) und An- auch, dass sich die Atmung immer mehr in die Richtung der Einat-
strengung (c). In Ruhe bewegt sich die Atmung nur innerhalb eines mung verschiebt, weil immer mehr des inspiratorischen Reserve-
engen Bandes. Mit zunehmender körperlicher Anstrengung at- volumens ausgeschöpft wird
men wir sowohl schneller als auch tiefer aus und ein. Beachten Sie
Funktionelle Residualkapazität (FRC) mung dar, der von einer kurzen Pause unterbrochen
Definition: Die Summe aus dem exspiratori- wird. Das zeitliche Verhältnis zwischen Einatmung
schen Reservevolumen und dem Residualvolu- und Ausatmung beträgt 1 : 2, d. h. die Exspiration
men ergibt die funktionelle Residualkapazität dauert ca. doppelt so lange wie die Inspiration.
und bezeichnet das Volumen, das nach normaler Exspi-
ration noch in der Lunge enthalten ist. Durchschnittli- 11.2.5 Atemmechanik (Atembewegungen)
ches Volumen: 3000 ml. Definition: Als Atemmechanik wird die Tätig-
keit der Atemmuskulatur (Tab. 11.2) bei der In-
Totalkapazität (TLK) und Exspiration bezeichnet.
Definition: Als Totalkapazität wird das Volu-
men bezeichnet, das nach maximaler Inspira- Die Inspiration erfolgt aktiv durch das Zusammenzie-
tion in der Lunge enthalten ist. Es setzt sich aus hen des Zwerchfells (Diaphragma) und der äußeren
dem Residualvolumen und der Vitalkapazität zusam- Zwischenrippenmuskeln. Hierdurch senkt sich die
men und beträgt ca. 6000 ml. Zwerchfellkuppe und die Rippen werden angehoben,
mit dem Effekt einer Brustkorberweiterung.
11.2.2 Atemfrequenz Im Gegensatz zur Inspiration erfolgt die Exspirati-
Definition: Mit der Atemfrequenz werden die on größtenteils passiv. Hierbei entspannen sich das
Anzahl der Atemzüge/Min. bezeichnet. Die al- Zwerchfell und die äußere Zwischenrippenmuskula-
tersabhängigen Normalwerte sind in Tab. 11.1 tur, wodurch es zum Anheben der Zwerchfellkuppe
aufgeführt. und Absenken der Rippen kommt. Das Thoraxvolu-
men nimmt hierdurch ab. Unterstützt wird die Aus-
Die Relation zwischen Puls- und Atemfrequenz be- atmung durch die Kontraktion der inneren Zwi-
trägt vom 3. Lebensjahr an ca. 4 : 1. schenrippenmuskeln (Abb. 11.6). Die Kontraktion
des Zwerchfells, der Zwischenrippen- und der
11.2.3 Atemtiefe (Atemintensität) Bauchmuskulatur bestimmt den Atemtyp. Unter-
Die Atemtiefe oder -intensität ist in Ruhe gleich schieden werden
bleibend. Sowohl bei einem Anstieg des Kohlendi- die Bauch- oder Zwerchfellatmung (abdominale 11
oxidwerts als auch bei einem Abfall des Sauerstoffge- Atmung)
halts erfolgt eine automatische Regulierung. Bei ei- und die Brust- oder Rippenatmung (kostale At-
nem erhöhtem Sauerstoffbedarf beispielsweise wird mung).
die Stoffwechsellage entsprechend angepasst, indem
die Atemzüge tiefer werden und, wenn dies allein
nicht ausreicht, die Atemfrequenz zusätzlich an-
steigt. Tab. 11.2 Atemmuskulatur
6 Monate alter Säugling ca. 40 Atemzüge/Min. Mm. intercostales interni M. rectus abdominis
M. transversus thoracis M. transversus abdominis
1-jähriges Kind ca. 35 Atemzüge/Min. Mm. subcostales M. obliquus externus abd.
M. obliquus internus abd.
6-jähriges Kind ca. 25 Atemzüge/Min. M. erector spinae
M. quadratus lumborum
Erwachsene 16 – 20 Atemzüge/Min. M. serratus posterior inf.
Wenn sich das Zwerchfell Wenn sich das Zwerchfell Die äußeren Interkostal- Die inneren Interkostal-
kontrahiert, senkt sich die entspannt, hebt sich die muskeln ziehen sich zu- muskeln ziehen sich zu-
Zwerchfellkuppel. Zwerchfellkuppel wieder. sammen, der Brustkorb sammen, der Brustkorb
hebt sich und damit ver- senkt sich und damit
größert sich das Thorax- nimmt das Thoraxvo-
volumen. lumen wieder ab.
Abb. 11.6 Mechanik der In- und Exspiration. Durch Kontraktion den entstehenden Sog gelangt frische sauerstoffreiche Luft in die
des Zwerchfells und gleichzeitiges Anheben des Brustkorbes ver- Lunge
größert sich das Thoraxvolumen. Die Lunge wird gedehnt. Durch
11.2.6 Atemgeräusche
Die normale Atmung erfolgt geräuschlos, doch kön-
nen bei großer körperlicher Anstrengung auch phy-
siologische Atemgeräusche wie das Keuchen auftre-
ten.
11.2.7 Atemgeruch
Die normale Atmung weist keinen wahrnehmbaren
Geruch auf.
Zusammenfassung:
Bauchatmung Brustatmung
Allgemeine Beobachtungskriterien
(abdominal) (kostal)
Atemvolumina sind abhängig von Alter, Geschlecht,
Abb. 11.7 Atemtypen Körpergröße, Aktivitätsgrad und Trainingszustand
eines Menschen.
Atemzugvolumen, inspiratorisches Volumen, exspi-
Die abdominale Atmung ist charakterisiert durch ratorisches Reservevolumen, Residualvolumen, Vi-
überwiegende Bewegungen des Zwerchfells und der talkapazität, Inspirationskapazität, funktionelle
Bauchmuskulatur. Residualkapazität und Totalkapazität sind Parame-
Kennzeichen der kostalen Atmung ist die über- ter bei der Veränderung des Atemvolumens.
wiegende Betätigung der Zwischenrippenmuskula-
tur. Sie bewirkt ein deutlich sichtbares Heben und
Atemfrequenz, Atemtiefe, Atemrhythmus, Atemme- bezeichnet, die auch im Ruhezustand vorhanden ist.
chanik, Atemgeräusche und Atemgeruch sind wei- Als Zustand höchster Atemnot gilt die Orthopnoe, bei
tere Beobachtungskriterien. der eine Kompensation durch Zuhilfenahme der
Atemhilfsmuskulatur in aufrechter Haltung versucht
wird.
11.3 Abweichungen und
Veränderungen beim Atmen Dyspnoe in Bezug zur In- und Exspiration
und deren mögliche Bezogen auf die Ventilation können eine inspiratori-
Ursachen sche und eine exspiratorische Dyspnoe unterschie-
den werden. Bei der inspiratorischen Dyspnoe ist die
Pathologische Veränderungen der Atmung können Einatmung erschwert und verlängert, der Betroffene
grundsätzlich alle oben beschriebenen Kriterien be- zieht die Luft ein, wobei in einzelnen Fällen ein inspi-
treffen. Zumeist weichen mehrere Beobachtungs- ratorischer Stridor (s. a. S. 195) auftreten kann.
merkmale gleichzeitig von der Norm ab. Im folgen- Ursache für eine inspiratorische Dyspnoe ist die
den Abschnitt sind die Lungenvolumina nicht aufge- Verlegung der oberen Luftwege, beispielsweise be-
führt, da diese nur über verschiedene medizinische dingt durch eine Struma, Kehlkopfschwellungen
Geräte erfasst werden können. oder Fremdkörperaspiration. Eine erschwerte und
verlängerte Ausatmung kennzeichnet die exspirato-
11.3.1 Dyspnoe rische Dyspnoe. Auch hierbei kann ein Stridor auftre-
Definition: Unter einer Dyspnoe wird eine Er- ten. Eine exspiratorische Dyspnoe wird durch Erkran-
schwerung der Atemtätigkeit, die mit einer sub- kungen hervorgerufen, die zu einer Verengung der
jektiven Atemnot einhergeht, beschrieben. Bronchiolen führen, wie beispielsweise das Asthma
bronchiale.
Die Atemnot ist gekennzeichnet durch Lufthunger,
Kurzatmigkeit, Beklemmungsgefühle und Angst. Die Dyspnoe in Bezug zur Ursache
Dyspnoe geht in der Regel mit sichtbar verstärkter Nach der Ursache wird eine tracheale/laryngeale,
Atemarbeit als Ausdruck einer Atmungsinsuffizienz pulmonale, kardiale, metabolische, zerebrale, zirku- 11
einher. latorische und psychische Dyspnoe unterschieden.
Charakteristisch für die Dyspnoe ist eine Steige- Bei der trachealen/laryngealen Form entsteht die
rung der Atemfrequenz, wobei die Atemzüge unge- Dyspnoe durch Einengung der oberen Atemwege z. B.
nügend tief sind und somit eine weitere Beeinträch- durch Fremdkörper oder Obstruktion der Atemwege
tigung des Gasaustausches bedeuten. Neben ver- im Bereich des Kehlkopfs wie beim Krupp, einer ent-
stärkten Atembewegungen, einer Erhöhung der zündlich bedingten Kehlkopfenge.
Atemfrequenz, Unruhe und Angst können Kalt- Die pulmonale Dyspnoe tritt infolge Störungen
schweißigkeit, Tachykardie und die Inanspruchnah- des Gasaustauschs und/oder der Ventilation auf. Die
me der Atemhilfsmuskulatur beobachtet werden. Ursache liegt in Erkrankungen der Atemwege bzw.
Die Dyspnoe kann unterschiedlich eingeteilt wer- der Lunge. Als Folge einer verminderten Gasaus-
den: tauschfläche tritt die Dyspnoe bei restriktiven Er-
in Bezug zur Aktivität, krankungen/Störungen wie z. B. Pneumothorax,
in Bezug zur In- und Exspiration, Pleuraerguss auf. Bei obstruktiven Erkrankungen wie
in Bezug zur Ursache. dem Lungenemphysem und dem Asthma bronchiale
kommt es zu der Atemnot aufgrund der Ventilations-
Dyspnoe in Bezug zur Aktivität störung durch Verengung des Lumens.
Bezogen auf die Aktivität können eine Arbeits- oder Die kardiale Dyspnoe tritt vielfach infolge einer
Belastungsdyspnoe, eine Ruhedyspnoe und Ortho- Herzinsuffizienz auf, wobei das Herz nicht mehr in
pnoe unterschieden werden. der Lage ist, die erforderliche Leistung (Herzminu-
Bei der Arbeits- oder Belastungsdyspnoe tritt die tenvolumen) zu erbringen. Die Folgen können z. B.
Atemnot bei körperlicher Anstrengung auf. In Ruhe ein Lungenödem oder eine Pleuraerguss sein, wo-
normalisiert sich die Atmung wieder, die Atemnot durch die Atemfläche eingeschränkt und die Atem-
verschwindet. Mit Ruhedyspnoe wird die Atemnot not hervorgerufen wird und/oder ein O2-Mangel und
CO2-Anstieg im Blut, was eine vermehrte Atemtätig- Tab. 11.3 Pathologische Ursachen einer Tachypnoe
keit zur Folge hat. Ursache Beispiele
Bei der metabolischen oder azidotischen Dyspnoe
wird durch einen erniedrigten pH-Wert des Bluts vermehrter O2-Bedarf Fieber, maligne Tumore
(⬍ 7,34) das Atemzentrum zu vermehrter Atemar- verminderte Atemfläche Pneumonie, Lungenfibrose,
beit angeregt. Durch diese intensive Atmung soll CO2 Lungenemphysem, Pneumo-,
abgeatmet und somit die Übersäuerung des Bluts Hämatothorax
ausgeglichen werden (s. a. S. 192).
Mangel an Transportkräften Anämie, Blutungen
Durch eine Beeinträchtigung des Atemzentrums,
wie sie beispielsweise infolge eines Schädel-Hirn- Störung der Lungendurch- Lungenembolie, Herzerkran-
blutung kungen
Traumas oder Schlaganfalls auftreten kann, kommt
es zur zerebralen Form der Dyspnoe.
Die zirkulatorische Dyspnoe ist die Folge einer
Störung des O2-Transports. Ursache hierfür ist z. B. werden. Bei einem Aufenthalt in großer Höhe wird
die Anämie, bei der zu wenig Erythrozythen für den die Atemfrequenz ebenfalls gesteigert, da hier ein ge-
Sauerstofftransport zur Verfügung stehen. Durch ei- ringerer Sauerstoffgehalt der Luft vorliegt. Durch die
ne vermehrte Atmung versucht der Körper, diesen erhöhte Anzahl der Atemzüge wird der verminderte
Mangel auszugleichen. O2-Gehalt der Luft ausgeglichen und dem Körper die
Bei einer großen psychischen Erregung kann eine benötigte Sauerstoffmenge zugeführt.
sog. psychische Dyspnoe auftreten. Es kommt hierbei Die pathologischen Ursachen einer Tachypnoe lie-
zur Hyperventilation (s. a. S. 191), die zumeist von gen ebenfalls in einem vermehrten O2-Bedarf der
Angst begleitet wird. Zellen, aber auch in einer verminderten Atemfläche,
einem Mangel an Erythrozyten und in einer Störung
!
Merke: Die erschwerte Atemtätigkeit mit der Lungendurchblutung (Tab. 11.3).
subjektiver Atemnot wird als Dyspnoe be- Ein vermehrter O2-Bedarf der Zellen aufgrund ei-
zeichnet. Die Einteilung der Dyspnoe erfolgt nes erhöhten Stoffwechsels tritt z. B. bei Fieber, aber
11 in Bezug zur Aktivität, zur In- und Exspiration oder in auch bei malignen Tumoren auf. Durch verschiedene
Bezug zur zugrunde liegenden Ursache. Erkrankungen wie beispielsweise die Pneumonie
oder die Linksherzinsuffizienz mit Lungenödem
11.3.2 Atemfrequenz kann die Atemfläche eingeschränkt sein. Die Folge ist
Die Atemfrequenz ist das Beobachtungskriterium ein verminderter Gasaustausch und eine Unterver-
der Atmung, welches vorrangig erfasst wird. Es kön- sorgung des Körpers mit Sauerstoff. Bei großem Blut-
nen hierbei sowohl Abweichungen nach oben (Ta- verlust oder Anämie stehen dem Körper zu wenig
chypnoe) als auch nach unten (Bradypnoe, Apnoe) Transportzellen (Erythrozyten) für die Sauerstoff-
beobachtet werden. Als Eupnoe wird die normale, versorgung des Organismus zur Verfügung. Durch ei-
nicht behinderte Atmung verstanden. ne Lungenembolie, aber auch durch verschiedene
Herzerkrankungen kann es zu einer Störung der Lun-
Tachypnoe gendurchblutung und damit zu einer Unterversor-
Definition: Unter einer Tachypnoe wird eine gung des Körpers mit Sauerstoff kommen. Ein Aus-
beschleunigte Atemfrequenz mit mehr als 20 gleich der Störung wird in allen oben beschriebenen
Atemzügen/Min. verstanden. Fällen durch die Steigerung der Atemfrequenz ange-
strebt.
Sie wird häufig von einer geringen Atemtiefe beglei-
!
tet. Entsteht beispielsweise im Körper ein erhöhter Merke:
Sauerstoffbedarf, so versucht der Organismus, die- Eine Tachypnoe stellt immer einen Versuch
sen erhöhten Bedarf u. a. durch eine Steigerung der dar, ein Sauerstoffdefizit zu kompensieren.
Atemfrequenz auszugleichen.
Physiologisch kann dieser Regulationsmechanis- Bradypnoe
mus bei vermehrter körperlicher Anstrengung und Definition: Unter einer Bradypnoe wird eine
großen Emotionen (z. B. Freude, Angst) beobachtet verlangsamte Atmung mit 4 – 8 Atemzüge/Min.
verstanden.
Kussmaul-Atmung
Die Kussmaul-Atmung ist nach dem deutschen Inter-
nisten Adolf Kussmaul (1822 – 1902) benannt. Sie ist
gekennzeichnet durch eine rhythmische, abnorm
Kussmaul- kann erhöht oder pausenlose vertiefte große Atmung, Azidose mit Erniedri-
Atmung erniedrigt sein: regelmäßige Atmung tief und ange- gung des pH-Wertes
zu Beginn einer Atmung strengt im Blut durch ver-
Azidose ernied- stärkte Reizung des
rigt, bei zuneh- Atemzentrums, z. B.
mender Azidose starke respiratorische Bewegungen im diabetischen und
erhöht in auffälligem Gegensatz zur schlaf- urämischen Koma
fen Bewegungslosigkeit des (meist)
bewusstlosen Patienten
Biot-Atmung = abhängig von pathologische plötzlich einset- kräftige Atemzü- erhöhter Hirndruck,
Meningische der Länge der Regelmäßigkeit zende tiefe (gro- ge zwischen den z. B. als Folge einer 11
Atmung Atempausen mit Atempausen ße) Atemzüge, Atempausen Hirnhautentzündung
(Apnoe) dann wieder (Meningitis), eines
Atempausen Hirntumors oder
einer Schädelverlet-
zung
Beobachtet werden kann dieser Atemtyp bei Stö- Es werden hierbei entweder das Abdomen oder der
rungen des Atemzentrums durch direkte Hirnverlet- Thorax kaum an der Atmung beteiligt, sodass die
zung oder erhöhten intrakraniellen Druck (z. B. infol- Atembewegungen nicht oder nur sehr schwer zu er-
ge intrakranieller Blutungen, Meningoenzephalitis, kennen sind.
Hirnödem).
Spezielle Atembewegungen
Schnappatmung Zu den speziellen Atembewegungen zählen neben
Charakteristisch für die Schnappatmung sind kurze, dem Singultus die inverse, die paradoxe und die
schnappende und unregelmäßig einsetzende Einat- asymmetrische Atmung.
mungszüge, denen größere Pausen folgen. Die Einat-
mungszüge werden hierbei durch Zwerchfellkon- Singultus
traktionen und nicht durch Impulse des Atemzen- Der Singultus (Schluckauf) ist eine zumeist harmlose
trums hervorgerufen. Diese unterbrochene Atmung Störung der Atembewegungen. Durch eine Reizung
tritt auf bei schwerster Schädigung des Atemzen- des N. phrenicus kommt es zu einer raschen, unwill-
trums infolge einer zerebralen Hypoxie. Da dieser kürlichen Zwerchfellkontraktion, die zu einem ruck-
Atemtyp vor allem präfinal zu beobachten ist, wird er artigen Einströmen von Luft führt und von einem
auch als sog. agonale Atmung bezeichnet. lauten Atemgeräusch begleitet wird.
Ursache eines Singultus können das Einatmen
11.3.5 Atemmechanik (Atembewegungen) kalter Luft oder das Verzehren von sehr kalten Ge-
Wie bereits beschrieben, erfolgt die In- und Exspira- tränken und Nahrungsmitteln sein. Darüber hinaus
tion durch eine Vergrößerung bzw. eine Verkleine- kann es bei Erkrankungen/Operationen im Bereich
rung des Thorax, wobei die Lungen diesen Bewegun- des Mediastinums und des Abdomens sowie bei En-
gen passiv folgen. Bei verschiedenen Störungen der zephalitiden und Schädelhirntraumen zu einem Sin-
Atmung können übermäßige (zusätzliche) oder un- gultus kommen.
genügende Atembewegungen sowie spezielle Atem-
bewegungen beobachtet werden. Inverse Atmung
11 Bei der inversen oder umgekehrten Atmung kommt
Übermäßige Atembewegungen es durch maximale Zwerchfellbewegungen zu einer
Übermäßige Atembewegungen werden zumeist im Vorwölbung des Abdomens und einer Senkung des
Zusammenhang mit einer Dyspnoe bzw. Orthopnoe Thorax während der versuchten Einatmung. Bei der
beobachtet. Hierbei wird zusätzlich die Atemhilfs- versuchten Ausatmung treten dementsprechend
muskulatur in Anspruch genommen (Tab. 11.2), um eine Einziehung des Abdomens und eine Hebung des
eine Vergrößerung der Atemfläche zu erreichen. Die- Thorax auf. Diese passiven Thoraxbewegungen füh-
se forcierte Atmung mit Aktivierung der Atemhilfs- ren zu einem funktionellen Atemstillstand mit zu-
muskulatur wird auch als Auxiliaratmung bezeich- nehmender Zyanose und fehlenden Atemgeräu-
net. schen.
Die Nasenflügelatmung, bei der die Nasenflügel Ursache für die inverse Atmung ist ein Verschluss
bei jeder Inspiration weitgestellt werden, um mög- der Atemwege im Kehlkopfbereich oder der Trachea
lichst viel Luft aufnehmen zu können, tritt neben durch z. B. Fremdkörper, Schwellung oder einen La-
Atemnotzuständen insbesondere bei bakteriellen ryngospasmus. Da die inverse Atmung eine Lebens-
Pneumonien auf. bedrohung darstellt, müssen Sofortmaßnahmen ein-
Ist während der Inspiration eine Einziehung der geleitet werden.
unteren und/oder seitlichen Interkostalräume zu be-
obachten, so wird von einer Flankenatmung gespro- Paradoxe Atmung
chen. Zu diesen Atembewegungen kommt es bei Ste- Bei der paradoxen Atmung kommt es aufgrund eines
nosen der oberen Luftwege. Stabilitätsverlustes der Brustwand, beispielsweise
bei Rippenserienfrakturen, zum sog. Brustwandflat-
Ungenügende Atembewegungen tern. Hierbei erfolgt bei der Inspiration eine Einwärts-
Ungenügende oder verminderte Atembewegungen bewegung und bei der Exspiration eine Auswärts-
ergeben sich oftmals aus einer Schonatmung (S. 191). bewegung des beweglichen Thoraxwandanteils.
!
Merke: Der Husten wird beobachtet hin- Erkrankungen der Atemwege (z. B. grippalen Infek-
sichtlich: ten) festzustellen.
Ein sog. Verlegenheitshüsteln zeigt sich zumeist
der Art des Hustens, bei psychischer Erregung wie Aufregung und Angst.
des Auftretens des Hustens, Reizstoffe wie Nikotin, Staub und Blütenpollen kön-
des Zeitpunkts des Hustens, nen einen Hustenreiz auslösen und auf eine eventu-
der Beziehung zur Körperlage und elle besondere Empfindlichkeit gegenüber diesen
spezifischer Hustengeräusche. Stoffen hinweisen.
11
Art des Hustens Husten in Beziehung zur Körperlage
Es wird zwischen zwei verschiedenen Arten, dem Der Schwerkraft folgend kann z. B. eine Struma im
trockenen und dem produktiven Husten, unterschie- Liegen einen vermehrten Druck auf die Trachea aus-
den. Bei dem trockenen Husten erfolgt, im Gegensatz üben, wodurch ein Hustenreiz ausgelöst werden
zum produktiven Husten, keine Sekretentleerung. Er kann. Dagegen deutet ein Husten, der fast aus-
tritt vor allem bei einer Laryngitis, Tracheitis, begin- schließlich bei aufrechter Körperhaltung auftritt und
nenden Bronchitis, dem Einatmen von Reizgasen im Liegen verschwindet, auf eine Erkrankung des
und psychischer Erregung auf. Zwerchfells hin.
Bei Atemwegserkrankungen mit Sekretbildung
(z. B. chronischer Bronchitis, Pneumonie, Bronchiek- Hustengeräusche
tasen, Lungenabszess) und Erkrankungen mit Stau- Spezifische Geräusche sind beim Husten zu unter-
ungen im kleinen Kreislauf (Linksherzinsuffizienz, scheiden: der aphonische, bellende, bitonale, ku-
Lungenödem) kommt es überwiegend zu einem pro- pierte Husten und stakkatoartige Hustenstöße.
duktiven Husten. Unter einem aphonischen Husten wird ein klang-
loser, heiserer Husten verstanden, der vorwiegend
Auftreten des Hustens bei Stimmbandentzündungen und Lähmungen des
Der Husten kann plötzlich oder langsam aufbauend N. recurrens auftritt.
auftreten. Plötzlicher Husten, der direkt im Moment Für einen bellenden Husten sind kratzige, raue
der Reizung, ohne jegliche Vorwarnung, auftritt, ist Geräusche charakteristisch. Er tritt zumeist bei
z. B. bei einer Fremdkörperaspiration, bei Tracheitis Krupp und Pseudokrupp auf.
und Pertussis zu beobachten. Husten, der von einem metallisch pfeifenden oder
Ein langsam aufbauender Husten kündigt sich in krächzenden Ton begleitet wird, wird als bitonaler
der Regel durch Kratzen, Kitzeln oder andere Miss- Husten bezeichnet. Er wird verursacht durch eine
empfindungen in den oberen Atemwegen an. Zu-
Je nach Art der Störung bzw. der Ursache der nimmt die Vitalkapazität zu. Die Atemfrequenz sinkt
Atemveränderung kommen als zusätzliche Beobach- beim Kleinkind weiter auf 20 – 25 AZ/Min., beim
tungskriterien die Bewusstseinslage und vor allem Schulkind auf 18 – 20 AZ und erreicht beim Jugendli-
auch Schmerzen in Frage. chen annähernd die Werte des Erwachsenen von
12 – 18 AZ/Min.
Zusammenfassung: Neugeborene und Säuglinge sind obligate Nasen-
Husten atmer, die durch eine Behinderung der Nasenatmung
Es wird zwischen trockenem und produktivem, stark beeinträchtigt werden können. Bei Säuglingen
plötzlich und langsam aufbauendem Husten diffe- ist auch die Bauchatmung zu erkennen, die in
renziert. Abb. 11.7 dargestellt ist.
Je nach Zeitpunkt geschieht die Einteilung in mor- Die Atemerfassung ist, je nach Alter des Kindes,
gendlichen, nächtlichen, kontinuierlichen Husten durch das Auflegen eines Stethoskopes auf den Tho-
oder Verlegenheitshusten. rax, durch Auflegen der Handflächen unterhalb des
Die Körperlage ist ein Hinweis auf eine Erkrankung Brustbeins und bei älteren Kindern unter Andeutung
sowie die Hustengeräusche, die in aphonischen, bel- einer Pulsmessung möglich (s. a. S. 184).
lenden, bitonalen, kupierten oder stakkatoartigen Beim Ermitteln der Atemfrequenz bei Kindern
Husten eingeteilt werden. wird auch auf Atemrhythmus, -geräusche und -ge-
Bei den Atemgerüchen kommen Aceton-, Ammo- ruch geachtet. Die Haut wird auf Farbveränderungen
niak-, Fäulnis-, Leber-, Uringeruch und der Foetor wie z. B. Zyanose oder blass-graues Hautkolorit hin
ex ore vor. beurteilt.
Fr. Leander leidet unter Belas- kennt Asthmaanfälle FZ: hat auch bei Belastung 쐌 Ermittlung des Grades der aktuellen Be-
tungsdyspnoe bei Asthma eine Atemfrequenz im lastbarkeit durch Beobachtung der At-
bronchiale Normbereich mung (Frequenz, Tiefe, Mechanik, Geräu-
쐌 kennt ihre körperliche Be- sche) und Haut (Zyanose) bei allen kör-
lastbarkeit perlichen Aktivitäten
쐌 kennt atemerleichternde 쐌 Oberkörperhoch- und Dehnlagerung
Lagerungen und Atem- (nach Bed.)
übungen zur vertieften
Atmung und führt diese
selbstständig durch
쐌 beherrscht die dosierte 쐌 Anleitung zur vertieften Atmung (Kon-
Lippenbremse, kennt das taktatmung) und der dosierten Lippen-
Ziel der Maßnahme und bremse
wendet sie entsprechend 쐌 Information über Ziel der Übungen (Ver-
an größerung der Atemfläche, Reduktion
der Bronchialobstruktion)
쐌 wendet bei Bedarf atem- 쐌 atemerleichternde Körperhaltungen zei-
erleichternde Körperhal- gen (Kutschersitz, Sitzen vor dem Tisch)
tungen an
Sonja leidet unter einer Sonja atmet spontan FZ: Sonja hat eine physiolo- 쐌 Zufuhr von O2 über N-CPAP (kontinuier-
Ateminsuffizienz aufgrund gische und gleichmäßige lich)
von einem Surfactant-Fak- Belüftung der Lungen 쐌 Überwachung der O2-Sättigung über
tor-Mangel-Syndrom bei 쐌 Besitzt ausreichende Lun- Monitoring
Frühgeburt genbelüftung und Sauer- 쐌 Kontrolle der Tubusdurchgängigkeit und
stoffsättigung Absaugen nach Bedarf
쐌 Atmungskontrolle (Frequenz, Tiefe, Ein-
ziehung) 2-stündlich nach Plan
쐌 Hautbeobachtung (Zyanose) bei jeder
pflegerischen Tätigkeit
쐌 Minimal Handling
Belastung-/Ruhedyspnoe,
Tachykardie,
Einsatz der Atemhilfsmuskulatur, Definition
Äußerungen über Angst. Reduzierte Energiereserven führen zur Unfähigkeit ei-
nes Individuums, eine ausreichende Atmung aufrecht-
Beispiel: Sonja kommt aufgrund einer Pla- zuerhalten
zentainsuffizienz in der 28. Schwanger-
Einflussfaktoren (E)
schaftswoche auf die Welt. Sie wiegt nur
stoffwechselbedingte Faktoren (zu spezifizieren)
1200 g. Zu beobachten sind ein blasses Hautkolorit,
Erschöpfung/Schwäche der Atemmuskulatur
leichtes Stöhnen, Dyspnoe mit Nasenflügelatmung und
eine Atemfrequenz von ⬎ 60 AZ/Min. Sonja leidet unter Kennzeichen oder Symptome (S)
einem Atemnotsyndrom infolge eines primären Sur- Dyspnö
factant-Faktor-Mangels. Als atemunterstützende erhöhte Stoffwechselrate
gesteigerte Ruhelosigkeit
11 Maßnahme erhält sie einen Nasen-CPAP (ein kontinu-
ierlicher positiver Atemwegsdruck wird über einen Tu- Ängstlichkeit
zunehmende Betätigung der Atemhilfsmuskulatur
bus in der Nasenöffnung erzeugt). Das Kind atmet da-
vermindertes Atemzugvolumen
bei spontan. Die weitere Behandlung findet auf einer
erhöhte Herzfrequenz
für Frühgeborene ausgestatteten Intensivstation statt.
erniedrigter pO2
Tab. 11.6 zeigt einen Auszug aus dem Pflegeplan von
erhöhter von pCO2
Sonja.
erniedrigte SaO2
verminderte Kooperation
Die in Frage kommende Pflegediagnose ist in der fol-
genden Übersicht dargestellt: Pflegeergebnis (Outcome)
Respiratorischer Status: Gasaustausch (Respiratory
Status: Gas Exchange)
Beeinträchtigte Spontanatmung (P)* Der alveoläre Gasaustausch von CO2 und O2 erhält
(Gordon 2013, S. 294 – 295, NANDA-I 2016) die arteriellen Blutgaskonzentrationen aufrecht
Impaired spontaneous ventilation (00033) (1992)
Taxonomie II: Domäne 4: Aktivität/Ruhe,
Klasse 4: Kardiovaskuläre/Pulmonale Reaktionen Für Sonja könnte die Pflegediagnose lauten:
Beeinträchtigte Spontanatmung
Diagnosetyp (Dokumentationsform): aktuelle Pflege-
b/d (beeinflusst durch) Unreife der Lungen
diagnose (PES)
a/d (angezeigt durch)
Funktionelles Gesundheitsverhaltensmuster:
Dyspnoe,
Aktivität und Bewegung
Nasenflügelatmung,
* Falls diese Diagnose gestellt wird: sofortige Überwei- Beschleunigung der Herzfrequenz,
sung zur ärztlichen Evaluation. Verminderung der arteriellen Sauerstoffsätti-
gung.
Fazit: Die Erfassung und Beurteilung der At- Gordon, M.: Handbuch Pflegediagnosen. 5. Aufl. Hans Huber,
mung im Rahmen der Pflege von Menschen Hogrefe AG, Bern 2013
Hoehl, M., P. Kullick (Hrsg.): Gesundheits- und Kinderkranken-
bietet die Möglichkeit, schnell einen Über-
pflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012
blick über die aktuelle Vitalsituation eines Menschen
Huch, R., K. D. Jürgens (Hrsg.): Mensch, Körper, Krankheit. Ana-
zu erhalten. Bei der Beurteilung der Atmung sind insbe- tomie, Physiologie, Krankheitsbilder. Lehrbuch und Atlas
sondere die Atemfrequenz, die Atemtiefe und der Atem- für die Berufe im Gesundheitswesen. 7. Aufl. Elsevier
rhythmus von Bedeutung. Sie geben zusammen mit GmbH, München 2015
weiteren Beobachtungskriterien wichtige Hinweise auf Illing, S., M. Claßen (Hrsg.): Klinikleitfaden Pädiatrie. 9. Aufl.
bestehende Erkrankungen bzw. zu erwartende Kompli- Urban & Schwarzenberg, München 2014
Köther, I.: Altenpflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2016
kationen und ermöglichen somit eine frühzeitige Pro-
Menche, N. (Hrsg.): Pflege heute. 6. Aufl. Elsevier GmbH, Mün-
phylaxe.
chen 2014
NANDA International: Pflegediagnosen. Definitionen und
Klassifikation 2015 – 2017. Herdman, T. H., S. Kamitsuru
(Hrsg.): RECOM, Kassel 2016
Literatur: Pschyrembel Klinisches Wörterbuch. 266. Aufl. de Gruyter,
Berlin 2015
Dahmer, J.: Anamnese und Befund: Die symptomorientierte Schettler, G., H. Greten (Hrsg.): Innere Medizin: verstehen –
Patientenuntersuchung: fächerübergreifend – interaktiv – lernen – anwenden. 12. Aufl. Thieme, Stuttgart 2005
praxisbezogen. 10. Aufl. Thieme, Stuttgart 2006 Schewior-Popp, S., F. Sitzmann, l. Ullrich (Hrsg.): Thiemes Pfle-
Epstein, O., G.D. Perkin, D.P. de Bono, J. Cookson (Hrsg.): Anam- ge. 13. Aufl. Thieme, Stuttgart 2017
nese und Untersuchung: auf einen Blick. Elsevier, Mün- Schwegler, J., R. Lucius: Der Mensch. Anatomie und Physiolo-
chen 2006 gie. 6. Aufl. Thieme, Stuttgart 2016
Fischer, K., H. Sobottka, D. Faas (Hrsg.): Klinikleitfaden Kinder- Silbernagel, S., A. Despopoulos: Taschenatlas Physiologie.
krankenpflege. 4. Aufl. Urban & Fischer, München 2009 8. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012
Gerlach U., H. Wagner, W. Wirth: Innere Medizin für Pflegebe- Teising, D., H. Jipp: Neonatologische und pädiatrische Inten-
rufe. 8. Aufl. Thieme, Stuttgart 2015 siv- und Anästhesiepflege. Praxisleitfaden. 6. Aufl. Sprin-
ger, Berlin 2016
11
12 Schlaf
Marion Weichler-Oelschlägel
Übersicht
Einleitung · 204
12.1 Allgemeine Beobachtungskriterien und
Beschreibung des Normalzustands · 206
12.1.1 Schlafzyklus und Schlafstadien · 207
12.1.2 Schlafbedarf · 209
12.1.3 Schlaftypen · 209
12.1.4 Physiologische Veränderungen während
des Schlafs · 210
12.2 Abweichungen und Veränderungen
beim Schlaf und deren Ursachen · 211
12.2.1 Hypersomnie · 211
12.2.2 Hyposomnie · 212
12.2.3 Insomnie · 212 fähr ein Drittel unseres Lebens verbringen. Der
12.2.4 Chronobiologische Störungen · 213 Schlaf wird u. a. als „kleiner Bruder des Todes“, „sü-
12.2.5 Parasomnien · 213 ßes Labsal“ oder auch als eine „Gabe der Götter“ be-
12.2.6 Nächtliche Myoklonien · 214 zeichnet. Von Ärzten und Wissenschaftlern werden
12.2.7 Narkolepsie · 215 unterschiedliche Schlaftheorien vertreten, doch eine
12.2.8 Schlafapnoe · 215 schlüssige, abschließende Aussage konnte noch
12.3 Ergänzende Beobachtungskriterien · 217 nicht gemacht werden.
12.4 Besonderheiten bei Kindern · 217 Obwohl der Schlaf noch nicht endgültig erforscht
12.4.1 Abweichungen und Veränderungen beim ist, ist sicher, dass er kein passiver Zustand, sondern
Schlaf · 218 eine aktive, vom Stammhirn gesteuerte Leistung des
Organismus ist. Zudem ist bekannt, dass Gesundheit
12 12.5 Besonderheiten bei älteren
Menschen · 219 und Wohlergehen jedes Menschen entscheidend von
12.6 Fallstudien und mögliche einem ausreichenden, gesunden Schlaf abhängig
Pflegediagnosen · 220 sind. Ein Mensch kann zwar mehrere Wochen ohne
Fazit · 222 Nahrung, aber nur wenige Tage ohne Schlaf leben.
Literatur · 223 Im folgenden Kapitel werden verschiedene For-
men von Schlafstörungen und ihre Auswirkungen
auf den Menschen beschrieben.
Schlüsselbegriffe:
왘 REM-Schlaf Definition: Als Schlaf wird der lebensnotwen-
왘 NREM-Schlaf dige, im Zirkadianrhythmus auftretende Erho-
왘 Insomnie lungszustand bezeichnet, der mit einer verän-
왘 Parasomnien derten Hirnaktivität und Bewusstseinslage einhergeht.
왘 Schlafapnoe
Umwelt erhalten bleibt und der Mensch jederzeit schmerzschwelle sinkt (Abb. 12.1). Hierdurch wird
durch einen entsprechend geeigneten Reiz erweck- klar, warum Zahnschmerzen nachts als besonders
bar ist. heftig empfunden werden.
Der Schlaf stellt den physiologischen Ausgleich Als Schlaf-Wach-Zentrum, welches für die Steue-
zum Wachsein dar und kehrt im Zirkadianrhythmus rung des Schlaf-Wach-Rhythmus verantwortlich ist,
wieder, d. h., der Rhythmus entspricht ungefähr (lat. wird vielfach die Formatio reticularis bezeichnet.
circa = um, ungefähr) der Dauer eines Tages (lat. Aufgrund verschiedener Untersuchungen wird heute
dies = Tag). Auch andere Körperfunktionen unterlie- angenommen, dass auch der Transmitter Serotonin
gen diesem Rhythmus, wie z. B. die Körpertempera- maßgeblich an der Steuerung des Schlaf-Wach-
tur und die Stoffwechselfunktionen. Verantwortlich Rhythmus beteiligt ist, indem er u. a. die Freisetzung
für die endogene Steuerung dieses Aktivitätsrhyth- sog. endogener Schlaffaktoren veranlasst. Diskutiert
mus ist im Wesentlichen der paarig angelegte Nuc- werden hier zum einen Substanzen (Faktor S), die
leus suprachiasmaticus (SCN) im Zwischenhirn. sich während des Wachzustands anhäufen und bei
Die Synchronisation, d. h. die zeitliche Abstim- einer bestimmten Konzentration Müdigkeit auslö-
mung des Rhythmus auf die Tag-Nacht-Folge, erfolgt sen. Zum anderen wird das Vorhandensein schlafför-
u. a. durch äußere Zeitgeber, wie das Licht und sozia- dernder Stoffe (DSIP: delta sleep inducing peptide)
le Faktoren, wie beispielsweise Arbeits-, Freizeit- vermutet, die bei Schlafbeginn bzw. während der
und Schlafphasen. Das ist der Grund, weshalb wir bei Schlafphase ausgeschüttet werden.
Helligkeit wach sind und bei Dunkelheit schlafen. Im Gegensatz zu dem Zirkadianrhythmus des Ju-
Hinzu kommt, dass die verschiedenen endogenen gendlichen und Erwachsenen unterliegt der Schlaf
Rhythmen aufeinander abgestimmt sind. So kann des Neugeborenen dem sog. gastrischen oder poly-
beispielsweise festgestellt werden, dass immer phasischen Schlafrhythmus. Hierbei führen angebo-
dann, wenn die Körpertemperatur absinkt, sich Mü- rene primitive Instinkte wie beispielsweise Hunger
digkeit einstellt und fast gleichzeitig auch die Zahn- und Durst zum Erwachen (s. a. S. 217). Erst im weite-
12
relative Ent-
ladungsrate
7
bioelektrische
5
Aktivität
SCN 3
1
[°C]
37°
Körper-
temperatur
36°
mA
3,5
Zahnschmerz-
schwelle 3,0
2,5
12 18 0 6 12 18 0 6 Uhr
Abb. 12.1 Verschiedene endogene Rhythmen. Schlafzeiten cus (SCN) im Zwischenhirn, der Körpertemperatur sowie der
(Bettsymbole) und tägliche Schwankungen der bioelektrischen Zahnschmerzschwelle
Entladungsrate (relative Einheiten) des Nucleus suprachiasmati-
ren Verlauf des Lebens entwickelt sich der Zirkadian- Tab. 12.1 Beispiel eines Schlaftagebuchs
rhythmus. Datum/Wochentag
aufgestanden um .................h
12.1 Allgemeine
Beobachtungskriterien und Speisen (nach 16.00 h)
!
sich auf die o. g. Kriterien zur Beurteilung des Schlafs. Merke: Die individuelle Einschätzung der
Bei der Befragung am nächsten Morgen wird u. a. Schlafqualität durch die Person selbst ist das
zusätzlich nach dem Erholungswert des Schlafs ge- wichtigste Kriterium bei der Bewertung des
fragt. Schlafs. Daneben werden folgende Punkte beobachtet:
!
myogramm (EMG) Merke: Bei den Schlafmustern werden der
REM-Schlaf, der durch rasche Augenbewe-
gungen gekennzeichnet ist, und der NREM-
Zeitpunkt des Einschlafens, Schlaf unterschieden.
das Vorhandensein von Wachphasen,
das Auftreten von Myoklonien, Parasomnien und/ Stadium 1: Die sog. Einschlafphase ist gekennzeich-
oder Atemstörungen, net durch einen Dämmerzustand. Der Mensch be-
der Zeitpunkt des Erwachens, ginnt sich zu entspannen, hat noch flüchtige Gedan-
die Gesamtschlafzeit. ken und „döst“ vor sich hin. In diesem Zustand kann
er durch geringe Reize wieder geweckt werden.
Zusammenfassung: Schläft er jedoch ungestört weiter, so gelangt er nach
Schlaf ca. 15 Minuten in das nächste Stadium.
Schlaf ist ein aktiver Erholungsvorgang für die
Stoffwechselvorgänge im Gehirn und kehrt im Aus- Stadium 2: Dieses Stadium wird oftmals auch als der
gleich zum Wachzustand im Zirkadianrhythmus Beginn der Schlafphase bezeichnet. Es kommt zu ei-
wieder. ner zunehmenden Entspannung, die Gedanken sind
Für die Steuerung des Schlaf-Wach-Rhythmus wird verschwommen, traumähnlich. Der Schlafende kann
12
neben der Formatio reticularis der Transmitter Se- in diesem Stadium noch leicht geweckt werden.
rotonin verantwortlich gemacht.
Der Zirkadianrhythmus entwickelt sich erst aus Stadium 3: Dieses Stadium des beginnenden Tief-
dem gastrischen oder polyphasischen Schlafrhyth- schlafs wird nach ca. 30 Minuten erreicht. Es kommt
mus bei Neugeborenen. hier zu völliger Entspannung; die Pulsfrequenz und
Viele Faktoren beeinflussen den Schlaf und viele die meisten anderen Körperfunktionen sind verlang-
Kriterien spielen eine Rolle bei seiner Beurteilung. samt. Mäßige, zufällig auftretende Reize, wie z. B. ei-
Durch ein Schlaftagebuch und Messungen in einem ne Toilettenspülung, wecken den Schlafenden in der
Schlaflabor können Beobachtungen differenziert Regel nicht. Wird er nicht durch einen starken Reiz
und objektiviert werden. gestört, so gelangt er in das nachfolgende Stadium,
den Tiefschlaf.
12.1.1 Schlafzyklus und Schlafstadien
Entsprechend seiner Tiefe wird der Schlaf in 5 Sta- Stadium 4: Der Schlafende ist so entspannt, dass er
dien/Stufen oder auch Phasen eingeteilt. Der schla- sich kaum bewegt und nur schwer zu wecken ist; er
fende Mensch erreicht jedoch nicht etwa eine dieser ist im Tiefschlaf. In dieser Phase kann es beispiels-
Stufen, um dann in diesem Zustand bis zu seinem weise zu Bettnässen und Schlafwandeln kommen.
Aufwachen zu verweilen, vielmehr pendelt er zwi- Die Stadien 3 und 4 werden auch als Slow-wave-
schen den einzelnen Stadien hin und her. Schlaf bezeichnet, da während dieser Tiefschlafpha-
Zusätzlich werden 2 verschiedene Schlafmuster sen die Hirnstromaktivitäten sehr niedrig sind und
unterschieden: durch typische Aufzeichnungen, die sog. δ-Wellen,
im EEG gekennzeichnet sind.
Bevor der Schlafende das Stadium 5, den REM- der letzten REM-Phase sind jene, die uns als das in
Schlaf, erreicht, durchläuft er noch einmal die vorhe- dieser Nacht Geträumte in Erinnerung bleiben.
rigen Stadien. Warum Menschen überhaupt träumen, unabhän-
gig davon, ob sie sich an das Geträumte erinnern oder
Stadium 5: REM-Schlaf. In dieser Phase kommt es nicht, ob sie ihren Träumen viel oder wenig Bedeu-
zum Auftreten von schnellen und raschen Augenbe- tung beimessen, sind weitere interessante Fragen bei
wegungen, die dieser Phase auch den Namen Rapid- der Auseinandersetzung mit dem Schlaf. Angeblich
eye-movement-Schlaf gegeben haben. Der Schlafen- überwiegen unangenehme Träume: empirische Stu-
de träumt in dieser Phase und ist nur schwer zu we- dien wollen herausgefunden haben, dass 46% aller
cken. Würde man ihn wecken, würde er wahrschein- Träumenden in ihrer nächtlichen Welt mit Unglücks-
lich von lebhaften Träumen voller Handlungen be- fällen oder bedrohlichen Situationen beschäftigt
richten (Abb. 12.3). sind. Weitere Traumgefühle setzen sich zu 17% mit
Es wird angenommen, dass die Träume zur psy- Erfolg, 14% mit Angst und 10% mit Wut auseinander.
chischen Gesundheit beitragen; es werden Erinne- Mit nur 7% rangiert Freude vor Traurigkeit (5%) und
rungen geweckt und emotional bedeutsame Erleb- Scham (1%).
nisse mit vergangenen Ereignissen verbunden. Die Hauptthemen der Träume sind bei Kindern
Am meisten faszinieren die Menschen, die sich und Erwachsenen sehr unterschiedlich. Tiere sind
mit dem Thema Schlaf befassen, die Ereignisse wäh- das große Thema bei kleinen Menschen; zwischen-
rend des REM-Schlafes. Tatsächlich zeigt der Verlauf menschliche Kontakte, Gefühle und familiäre Inhalte
der Hirnstromkurve eines Menschen in dieser überwiegen bei träumenden Frauen, während Män-
Schlafphase ein dem Wachsein sehr ähnliches Bild. ner meistens von Aggressionen, Unglück und Ehr-
Die Körpermuskeln sind dabei allerdings völlig ent- geiz träumen. Gefühlsbetonte Menschen erinnern
spannt, der Körper selbst ist, bis auf die Augen und sich in der Regel eher an ihre Träume und sprechen
die Atmung, praktisch gelähmt. auch darüber, während sehr rational eingestellte
Erklärlich wird dieser Zustand der sog. Schlafpa- Personen sich oft nicht an ihre Träume erinnern kön-
ralyse, wenn man ihn als einen biologischen Schutz- nen und standhaft bestreiten, überhaupt geträumt
mechanismus versteht, der davor schützt, das Ge- zu haben. Sicher ist jedoch, dass jeder Mensch
träumte aktiv auszuleben. Diese REM-Phasen stei- träumt und dass diese Traumschlafphasen wichtig
gern sich im Verlaufe einer Nacht gegen Morgen und für physische und psychische Bedürfnisse sind.
12
können bis zu 30 Minuten lang werden. Die Träume
a EEG b Schlafverlauf
U
– Wach
Schlafstadien
0 0
+
– REM
0 1
+
–
0 2
+
–
0 3
+
–
0 4
+
1s Zeit [s] 0 1 2 3 4 5 6 7 8h
Abb. 12.3 EEG-Kurven in verschiedenen Schlafstadien. Elektro- 1 – 4. b: Schlafverlauf. Die Schlafstadien 1 – 4 werden mehrfach
enzephalogramm (EEG) in verschiedenen Schlafstadien. a: EEG- durchlaufen. REM = paradoxe Schlafphasen mit „rapid eye move-
Registrierungen im Wachzustand und während der Schlafstadien ments“
Während einer Nacht „durchschläft“ der Mensch Tab. 12.2 Durchschnittlicher Schlafbedarf, bezogen auf
4 – 6 Schlafzyklen. Der erste dieser Schlafzyklen ist das Alter
6 Uhr 12 18 22 24 6 Uhr
Maximale Antriebsentfaltung =
maximale Schlaftiefe (ausgenommen REM)
Schlaf
Einer amerikanischen Studie zufolge ist eine be-
stimmte Variante des „Chromosom-4-Gens“ dafür
Abb. 12.5 Schlafzyklen und Freisetzung von Wachstumshormo-
verantwortlich, wann ein Mensch aufwacht. In dieser
nen
Studie stellten die Forscher bei 9 von 10 Menschen
einen genetisch bedingten frühen Weckzeitpunkt
fest, der allerdings z. B. durch kräftigen Alkoholge-
nuss nach hinten verschoben werden kann. verminderte Darm- und Blasentätigkeit,
eingeschränkte Reizaufnahme,
12.1.4 Physiologische Veränderungen während Gliederektionen bei Männern während des REM-
des Schlafs Schlafes,
Im Rahmen des Erkennens von Problemen und Res- Klitoriserektionen und vaginale Kontraktionen
sourcen eines Menschen kann die genaue Beobach- bei Frauen während des REM-Schlafes.
tung des Schlafs zum einen wichtige Hinweise auf or-
ganische und/oder seelisch-geistige Störungen ge- Das endokrine System arbeitet ebenfalls im Schlaf
ben. Zum anderen lässt sich körperliches und see- weiter; gerade während der Tiefschlafphase werden
lisch-geistiges Unwohlsein u. U. durch beobachtete im Körper Wachstums- und Schilddrüsenhormone
Schlafstörungen erklären. ausgeschüttet sowie Prolaktin und Melanin freige-
Um Abweichungen und Veränderungen ein- setzt (Abb. 12.5). Darüber hinaus werden Steroidhor-
schließlich ihrer Ursachen erkennen zu können, be- mone während des REM-Schlafes freigesetzt.
darf es zunächst des Wissens um die physiologischen Das Bewusstsein eines Menschen ist, in Abhängig-
Veränderungen, die der Schlaf mit sich bringt. keit von der Schlaftiefe, eingeschränkt bis ausgeschal-
Durch das Vorherrschen des Parasympathicus tet. Die Augen bleiben geschlossen, das Hörvermögen
12
kommt es zur allgemeinen Erholung des Organis- hingegen ist uneingeschränkt funktionsfähig. Dies
mus, was die willkürlichen und vom Sympathicus ist als Schutzfunktion zu erklären, um ungewohnte,
gesteuerten Lebensfunktionen betrifft (z. B. Musku- bedrohliche Geräusche als Alarmsignale zu unter-
latur, Herzschlag etc.). Der Organismus hat im Schlaf scheiden und entsprechend handeln zu können.
seinen Schwerpunkt auf Lebensfunktionen, die dem
Willen nicht zugänglich sind, also autonom ablaufen Zusammenfassung:
und auf den Organismus erhaltend wirken. Schlafzyklus und Schlaftypen
Da im Schlaf der Einfluss des parasympathischen Man unterscheidet 5 Schlafstadien: Einschlafphase,
Nervensystems überwiegt, lassen sich folgende Be- beginnende Schlafphase, Beginn des Tiefschlafs,
obachtungen festhalten: Tiefschlaf und REM-Schlaf.
verlangsamte Atmung, Der REM-Schlaf (Rapid-eye-movement-Schlaf),
verlangsamte Herzfrequenz, durch rasche Augenbewegungen gekennzeichnet,
herabgesetzter Blutdruck, ist die Phase, in der der Mensch träumt.
erniedrigte Körpertemperatur, Der Schlafbedarf ist individuell sehr verschieden,
herabgesetzter Muskeltonus, v. a. der glatten die Phasen des Schlafbedürfnisses tagsüber hängen
Muskulatur im Magen-Darm-Kanal und der von endogenen Rhythmen ab.
Harnblase, Nach Schlaftypen unterscheidet man Morgen- und
erschlaffte Skelettmuskulatur, Abendmenschen.
reduzierte Drüsentätigkeit, mit Ausnahme der Im Schlaf überwiegt das parasympathische Nerven-
Schweißdrüsen, system, was eine Vielzahl körperlicher Veränderun-
reduzierter Stoffwechsel, gen zur Folge hat.
33 % 67 %
Antiepileptika, Schlafwandeln
Nikotin, Das Schlafwandeln wird auch als Somnambulismus
stimulierende Antidepressiva, oder Noktambulismus bezeichnet. Es kommt hierbei,
Schilddrüsenhormone. zumeist in den Stadien des Tiefschlafs, zu komplexen
Handlungsabläufen wie z. B. durch-die-Wohnung-ge-
Für eine Insomnie werden auch Störungen im Schlaf- hen. Dieses Schlafwandeln dauert nur einige Minu-
Wach-Rhythmus verantwortlich gemacht (s. a. ten und tritt normalerweise nur einmal pro Nacht
S. 213) sowie verschiedene Schlafstörungen, die im auf. Gehäuft wird dieses Phänomen bei Vollmond be-
nachfolgenden Abschnitt über Parasomnien (S. 213) obachtet. Es betrifft größtenteils Kinder und Jugend-
näher beschrieben werden. liche und verliert sich meistens im Laufe der Jahre.
Das Schlafwandeln geht einher mit einer retro-
12.2.4 Chronobiologische Störungen graden Amnesie, d. h., die betroffenen Menschen
Definition: Unter den chronobiologischen können sich am nächsten Morgen nicht mehr an den
Störungen des Schlafs werden Störungen des Vorgang erinnern. Weckt man den Schlafwandeln-
Schlaf-Wach-Rhythmus verstanden. den während des Ereignisses, so ist dieser in der Re-
gel völlig desorientiert.
Der Schlaf-Wach-Rhythmus kann durch äußere Ein- Als Ursache des Schlafwandelns bei Erwachsenen
flüsse, wie beispielsweise Zeitverschiebungen im Ta- werden Stress, Medikamente aber auch demenzielle
gesrhythmus durch Schichtdienst oder durch Inter- Erkrankungen angegeben.
kontinentalflüge, verändert werden. Letzteres wird
auch als Syndrom des Zeitzonenwechsels (Jet-Lag) Nachtangst
bezeichnet und führt durch einen schnellen Wechsel Als Nachtangst oder Pavor nocturnus wird ein plötz-
der Zeitzonen dazu, dass der menschliche Körper lich auftretender Angstanfall bezeichnet. Dieser An-
nach dem alten äußeren Zeitgeber arbeitet und auch fall geht zumeist mit panikartigem Schreien und
seine Grundbedürfnisse wie Schlaf, Wachsein und vegetativen Symptomen wie z. B. Tachykardie,
Hunger danach ausrichtet. Schweißausbruch, Ansteigen des Blutdrucks und ei-
Wenn Menschen viele Jahre ihres Lebens in Dau- ner Erweiterung der Pupillen einher. Der Zustand
ernachtschichten arbeiten müssen, hat dies bei fast kann mehrere Minuten anhalten und tritt in der Re-
allen lebenslange Auswirkungen im Sinne dauerhaf- gel im ersten Drittel der Nacht auf. Wacht der Betrof-
12
ter Schlafstörungen zur Folge. Aber auch organische fene während dieser Zeit auf, ist er meistens ver-
Veränderungen des Gehirns nach Traumata, Hirnge- wirrt, am nächsten Morgen besteht häufig eine retro-
fäßveränderungen oder Schlaganfällen können zu grade Amnesie bezüglich des Angstanfalls und even-
einer Veränderung des Schlaf-Wach-Rhythmus bei- tueller Trauminhalte. Die Amnesie in Hinsicht auf ei-
tragen. Diese Veränderungen des Schlaf-Wach- nen Trauminhalt stellt einen deutlichen Unterschied
Rhythmus zeigen sich in der Regel in Form von Ein- zu Albträumen dar, die mit ähnlicher Symptomatik
und Durchschlafstörungen oder in Form einer Tag- einhergehen können, deren Inhalte aber zumeist er-
Nacht-Umkehr. innert werden.
Von der Nachtangst sind häufig Kinder betroffen
12.2.5 Parasomnien (1 – 6%) und nur selten Erwachsene (⬍ 1%). Als Ursa-
Definition: Parasomnien sind vorübergehen- che wird die Verarbeitung von entwicklungsbeding-
de, körperliche Abläufe während des Schlafs. ten Ängsten bei Kindern angenommen. Normaler-
weise verschwindet die Nachtangst im Laufe der Ent-
Häufigere Parasomnien sind das Schlafwandeln, die wicklung wieder. Bei Erwachsenen werden als Ursa-
Nachtangst, das nächtliche Zähneknirschen, das che für die Nachtangst Spätfolgen traumatisierender
Sprechen während des Schlafs und Einschlafmyoklo- Ereignisse diskutiert.
nien. Zumeist sind Kinder von Parasomnien betrof-
fen, doch sie können auch bei Erwachsenen auftre- Nächtliches Zähneknirschen
ten. Unbewusstes nächtliches Zähneknirschen oder das
nächtliche Pressen und Mahlen mit den Zähnen wird
Bruxismus genannt. Diese Erscheinung tritt im
sich die Betroffenen in einer entspannten Lage befin- lahm, arbeitsscheu, phlegmatisch und willenlos be-
den und immer wieder einnicken. Große Koffein- zeichnet werden.
mengen können symptomintensivierend wirken. Der eigentliche Schlaf narkoleptischer Menschen
Menschen mit einem RLS (= Restless-Legs-Syndrom) ist durch einen leichteren Nachtschlaf und häufiges
klagen in vielen Fällen über eine Schlafstörung im Erwachen während der Nacht gekennzeichnet. Sie
Sinne einer Insomnie oder einer vermehrten Tages- können zumeist die einzelnen Schlafstadien nicht
schläfrigkeit. vollständig durchleben, sondern treten vorzeitig in
Gekoppelt ist das RLS häufig mit einer Schwan- die REM-Phase ein. Daneben werden auch vermehrt
gerschaft, Urämie, Nierenfunktionsstörung oder nächtliche Myoklonien bei den Betroffenen beob-
rheumatoider Arthritis, doch ist die eigentliche Ätio- achtet (s. a. S. 214). Betroffen sind ca. 6 von 1000
logie nicht geklärt. Das RLS verschlimmert sich mit Menschen.
zunehmendem Alter. Häufig liegt eine familiäre Dis- Diagnostiziert wird eine Narkolepsie durch ein im
position vor. Schlaflabor erstelltes Schlafprofil, durch einen multi-
Sowohl nächtliche Myoklonien als auch das RLS plen Schlaflatenztest und/oder einen multiplen
treten bei den Betroffenen im mittleren Lebensalter Wachbleibetest. Bei dem multiplen Schlaflatenztest
auf. Ca. 50% aller Erwachsenen im Alter von 30 – 50 (Multiple Sleep Latency Test = MSLT) wird der Betrof-
Jahren sowie ca. 29% aller Menschen über 50 Jahre fene gebeten, ca. 5 Schlafpausen während eines Ta-
leiden darunter. ges einzulegen. Bei jeder dieser Schlafpausen wird
dann die Einschlafzeit gemessen. Menschen, die un-
12.2.7 Narkolepsie ter einer Narkolepsie leiden, gelangen nach ca. 5 Mi-
Definition: Unter einer Narkolepsie werden nuten in den Schlaf.
zwanghafte minutenlange Schlafanfälle am Tag Der Grad der Tagesschläfrigkeit kann ebenfalls
verstanden. mit dem multiplen Wachbleibetest (Maintenance of
Wakefulness Test = MWT) gemessen werden. Hierzu
In vielen Fällen sind sie verbunden mit einer Katalep- müssen sich die Betroffenen in einem abgedunkelten
sie, d. h. einer plötzlich auftretenden Muskelschwä- Raum aufhalten und versuchen, solange wie möglich
che, einem plötzlichen Verlust der Muskelspannung wachzubleiben. Narkoleptiker sind auch unter größ-
sowie einer Schlafparalyse, bei der es zumeist beim ter Anstrengung nicht in der Lage, einen Tag durch-
Einschlafen zu einer Unfähigkeit zu willkürlichen zuhalten.
12
Körperbewegungen kommt. Daneben treten bei ei- Bis heute sind die genauen Ursachen der Narko-
ner Narkolepsie auch hypnagoge Halluzinationen lepsie nicht erforscht. Vermutungen gehen von gene-
auf, d. h. es werden optische und/oder akustische tischen Faktoren, Störungen des zentralen Nerven-
traumähnliche Phänomene wahrgenommen. systems, einem gestörten REM-Schlaf oder einem ge-
Als narkoleptische Tetralogie werden die folgen- störten Immunsystem aus. Die Erkrankung zeigt sich
den 4 Erscheinungen: abnorme Einschlafneigung, oft schon in der Pubertät oder im frühen Erwachse-
Katalepsie, Schlafparalyse und hypnagoge Halluzina- nenalter zum ersten Mal.
tionen zusammengefasst.
Menschen, die unter einer Narkolepsie leiden, 12.2.8 Schlafapnoe
schlafen am Tag immer wieder für Minuten ein, z. B. Etwa 2% der Bevölkerung sind mehr oder weniger
während eines Gesprächs, während des Essens oder stark von einer Schlafapnoe, einer schlafbezogenen
in anderen Situationen. Sie haben oftmals kaum Er- Atmungsstörung, betroffen. Hierbei kommt es zu an-
innerungen daran, was sie in den zurückliegenden fallsweisem Auftreten von mehr als 10 Sek. dauern-
Stunden getan oder mit wem sie gesprochen haben. den Atemstillständen. Bei einer Anzahl von mehr als
Sie sind den ganzen Tag über unsagbar müde. Ver- 5 solcher Atemstillstände wird von einer Schlafapnoe
ständlicherweise hat diese Schlafanomalie massive gesprochen.
Auswirkungen auf das berufliche und soziale Leben Daneben kann es zu Hypopnoephasen kommen,
der Betroffenen, denn meistens ist es ihnen nicht d. h., es besteht eine zeitweise Verminderung des
möglich, einer geregelten Arbeit nachzugehen oder Atemflusses, ohne dass es zu einem vollständigen
regelmäßige Kontakte aufrechtzuerhalten. Hinzu Atemstillstand kommt. Treten diese Hypopnoe-Pha-
kommt, dass sie von Unwissenden oftmals als faul, sen öfter als 10 – 15-mal pro Stunde auf, so spricht
Mittels einer Feststellung des Schlafprofils in ei- und Temperatur dar. Sie sollten deshalb ebenfalls be-
nem Schlaflabor kann die Diagnose gesichert und ei- achtet werden.
ne auf die Ursachen ausgerichtete Therapie eingelei- Einen großen Einfluss auf die Schlafqualität haben
tet werden. verschiedene Erkrankungen, die mit Symptomen wie
Juckreiz, Schmerzen, Bewegungsstörungen u. a. ein-
Zusammenfassung: hergehen. Auch darauf muss sich bei der Beobachtung
Abweichungen und Veränderungen (Bewe- eines Menschen das Augenmerk richten.
gung und Atmung)
Nächtliche Myoklonien sind periodische Bewegun-
gen vor allem in den Beinen, während des Schlafs. 12.4 Besonderheiten bei Kindern
Das Restless-Legs-Syndrom kennzeichnet den nur Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm
schwer zu unterdrückenden Drang, ständig die
Beine zu bewegen. Die Entwicklung des Schlaf- und Wachrhythmus ei-
Als narkoleptische Tetralogie werden abnorme Ein- nes Kindes ist von vielen unterschiedlichen Faktoren
schlafneigung, Katalepsie, Schlafparalyse und hyp- abhängig, u. a. vom Alter. In seiner Entwicklung vom
nogoge Halluzinationen zusammengefasst. Neugeborenen zum Erwachsenen variiert das Schlaf-
Die Schlafapnoe, die schlafbezogene Atemstörung, bedürfnis stark. Neugeborene/Säuglinge werden, be-
tritt als obstruktive, zentrale oder gemischte Form dingt durch den angeborenen Instinkt wie Hunger
auf. und Durst, ca. zweimal in der Nacht wach und verlan-
gen nach Befriedigung ihres Grundbedürfnisses. So
ist mindestens in den ersten 12 Lebenswochen der
12.3 Ergänzende Schlaf in erster Linie vom Gefühl der Sättigung be-
Beobachtungskriterien stimmt. Entscheidend für die Entwicklung eines
Schlafmusters sind die ersten 6 Monate im Leben ei-
Bei der Beobachtung des Schlafs von gesunden und nes Kindes. Bereits beim Feten konnte ab der 36. SSW
kranken Menschen gilt es auch den Blick auf jene eine Schlaf- und Wachphase nachgewiesen werden.
Faktoren zu richten, die den Schlaf bei jedem Men- In der weiteren Entwicklung vom Früh- oder Neu-
schen beeinflussen. Je nach Art und Weise der Beein- geborenen zum Kleinkind ist das Schlafbedürfnis ab-
flussung, kann sich diese positiv oder negativ auf die hängig vom Gesundheitszustand des Kindes, von sei-
12
Schlafqualität auswirken. nen Aktivitäten und von den Auswirkungen von Rei-
Ein wichtiger Einflussfaktor ist die Nahrungsauf- zen und Erlebnissen, die ein Kind im Laufe eines Ta-
nahme, deren Zusammensetzung und der Zeitpunkt ges erfährt.
der letzten Nahrungsaufnahme vor dem Schlafen. So Der Schlafrhythmus ist individuell und wird
belasten schwere, üppige Mahlzeiten, Kaffee oder Al- durch den Tagesablauf der Familie und durch starke
kohol am späten Abend bei vielen Menschen den emotionale Prägung mitgestaltet. Ab dem 4. – 5. Le-
Schlaf in negativer Hinsicht, aber auch Hunger oder bensjahr verringert sich die Gesamtschlafzeit des
Durst können zu Ein- und Durchschlafstörungen füh- Kinds. Es benötigt keinen Mittagsschlaf mehr. Jedoch
ren. ist diese Entscheidung für oder gegen Mittagsschlaf
Bewegung und körperliche Aktivität sowie die Ge- oftmals abhängig von äußeren Gegebenheiten, z. B.
staltung des Tages nehmen ebenfalls erheblichen ob ein Kind ganztätig zu Hause bei der Mutter/dem
Einfluss und stehen in konstanter, direkter Wechsel- Vater sein kann oder von einer Tagesmutter oder im
wirkung zum Schlafen. Das Verhältnis von Arbeit und Kindergarten betreut wird. Befindet sich ein Kind
Freizeit, die Anzahl, die Art und Dauer von Erholungs- ganztägig außerhalb seiner vertrauten Umgebung,
und Aktivitätsphasen, eine Schichtdienstätigkeit und braucht es abends, wenn es nach Hause kommt, noch
Langeweile haben Auswirkungen auf den Schlaf. Zeit für Kommunikation und Aktivitäten mit seinen
Ein weiterer Beobachtungspunkt ist die Stim- Eltern in seiner vertrauten Umwelt. Der Zeitpunkt
mungslage des Menschen. Sowohl Ärger, Probleme des „Zubettgehens“ ist somit abhängig vom Zeit-
als auch Freude und der Zustand des Verliebtseins punkt des Zusammentreffens der Familie und von
können zu Schlafstörungen führen. den je nach Jahreszeit bedingten Tätigkeiten.
Weitere schlafbeeinflussende Faktoren stellen die Ein weiterer Faktor ist, wie früh das Kind morgens
sog. Umgebungsfaktoren wie Helligkeit, Geräusche aufstehen muss. Die meisten Kinder zwischen 4 und
6 Jahren benötigen 11 – 12 Stunden Schlaf. Kinder, die ge Zufuhr von Nahrung sein. Auch psychische oder
nachts nicht genügend Schlaf bekommen, sind un- körperliche Ursachen können den Schlafstörungen
konzentriert und leicht reizbar. zugrunde liegen.
Bis zur Pubertät nimmt das Schlafbedürfnis bis auf Psychische Störungen können Angst, Furcht vor
10 Stunden ab. Der zirkadiane Rhythmus ändert sich. Dunkelheit (Tiere, „Monster“, Geister im Zimmer),
Von Bedeutung sind auch der dem Kind zugewie- ungeregelte Lebensweise, nicht altersentsprechende
sene Schlafplatz, die unterschiedlichen Einschlafri- Beschäftigungen (Fernsehen), ungelöste Konflikte,
tuale und der Zeitpunkt des zu-Bett-Gehens. Die Ein- Aufregung, sexueller Missbrauch, Misshandlung
stellung zum Schlaf verändert sich im Laufe des Le- sein. Körperliche Störungen wie z. B. Hunger, Durst,
bens und ist u. a. von der Erziehung des Kindes und Völlegefühl, Fieber, Kälte, Schmerzen, behinderte
vom Kulturkreis, in dem es aufwächst, abhängig. Nasenatmung aufgrund von Infekten, Juckreiz und
Die sich daraus entwickelnden individuellen fortwährende Kratzattacken wie z. B. bei der Neuro-
Schlafgewohnheiten können einen hohen Stellen- dermitis verhindern einen erholsamen Schlaf.
wert erreichen. In einigen Kulturen ist es üblich, dass Eine vorangegangene Erkrankung des Kindes mit
sich alle Familienmitglieder einen Schlafplatz/-raum Beteiligung des zentralen Nervensystems kann
teilen. Das Neugeborene/Kleinkind schläft im elterli- ebenfalls zu Schlaf-Wach-Rhythmusstörungen füh-
chen oder großelterlichen Bett. Oftmals ist nur ein ren. Hierzu zählen Hirntumore, entzündliche Er-
Schlafplatz, bestehend aus Decken oder Unterlagen, krankungen des Gehirns, Anfallsleiden, Schädel-
für die Kinder vorhanden. In unserer Kultur ist es Hirn-Traumen, psychiatrische und psychosomati-
normal, dass Kinder über eigene Kinderzimmer oder sche Erkrankungen. Schwere Schlafstörungen, die
eigene Schlafplätze verfügen. Große Bedeutung ha- mit einem Schlafentzug einhergehen, sind nach er-
ben für Kinder Einschlafrituale, die sich allabendlich folglosen ambulanten Behandlungen immer ein
wiederholen, die gewohnte Gutenachtgeschichte, Grund für eine Behandlung auf einer eigens dafür
das gemeinsame Abendlied, das Berichten der neu eingerichteten kinderpsychiatrischen/psychosoma-
gemachten Erfahrungen, oder auch das Gutenacht- tischen Station.
getränk. Diese Rituale geben dem Kind Sicherheit! Ein beobachtbares Verhalten während der Nacht
Die Gestaltung des Schlafplatzes durch Schlaf- ist das Hin- und Herrollen des Kopfs, das als Jactatio
utensilien wie z. B. Stofftiere, Lieblingsspielzeug, Ku- capitis nocturna bezeichnet wird, und das Hin- und
scheldecke spielt eine ebenso wichtige Rolle wie z. B. Herwerfen des Körpers, das sog. Jactatio corporis.
12
dem Wunsch, bei Licht oder in völliger Dunkelheit zu Diese als Jactationen bezeichneten rhythmischen Be-
schlafen, nachzugeben. Einschlafgewohnheiten wer- wegungen treten häufig in der Einschlafphase auf
den häufig, wenn auch in modifizierter Form, im Er- und dienen den Kindern als Erregungsabbau. Die Be-
wachsenenalter beibehalten. wegungen des Kopfs und des Rumpfs wirken beruhi-
Der plötzliche Kindstod stellt eine der häufigsten gend und tröstend.
Todesursachen im Säuglingsalter (Altersgipfel 2. – 4. Ein solches Verhaltensmuster ist bis zum Alter
Lebensmonat) dar. Bei der Gestaltung der Schlafum- von 2 – 3 Jahren als physiologisch anzusehen. Danach
gebung sollten die Empfehlungen zur Prävention des sollte die Tendenz zu Jactationen abnehmen. Ein
plötzlichen Kindstodes beachtet werden. Dazu zählt erstmaliges Auftreten nach dem 2. Lebensjahr ist als
das Schlafen in Rückenlage und die Verwendung ei- pathologisch anzusehen und deutet in der Regel auf
nes Schlafsacks. psychische oder neurologische Probleme des Kinds
Der ungestörte Schlaf eines Kindes zeichnet sich hin, die gegebenenfalls einer Therapie bedürfen.
u. a. durch eine entspannte Lagerung mit geschlosse- Innerhalb der ersten Stunden nach dem Einschla-
nen Augen, durch eine ruhige gleichmäßige Atmung fen kann es zu unbeabsichtigtem, nächtlichem Ein-
und eine leicht erniedrigte Pulsfrequenz aus. nässen kommen, der Enuresis nocturna. Dieses Ver-
halten tritt bei Kleinkindern auf, sollte jedoch nach
12.4.1 Abweichungen und Veränderungen beim dem 6. Lebensjahr verschwinden. Jungen sind häufi-
Schlaf ger betroffen. Unterschieden wird zwischen der pri-
Abweichungen vom kindlichen Schlafverhalten kön- mären und der sekundären Enuresis nocturna.
nen Erziehungsfehler, d. h. falsches Verhalten der Er- Bei der primären Form ist das Kind nachts noch
wachsenen im Zusammenhang mit dem „Zubett- nie trocken gewesen, im Gegensatz zu der sekundä-
gehen“, bei nächtlichem Aufwachen oder übermäßi- ren Enuresis, bei der es zu einem erneuten nächtli-
chen Einnässen kommt, nachdem das Kind bereits sondere Bedeutung zu, da ein Großteil der älteren
trocken gewesen ist. Die Enuresis ist ein Symptom, Menschen immer weniger Zeit im natürlichen Tages-
dem verschiedene Ursachen zugrunde liegen kön- licht verbringt. Besonders betroffen von diesem Um-
nen. Hierzu zählen z. B. für das Kind belastende oder stand sind viele alte Menschen, die in Pflegeheimen
bedeutsame Ereignisse wie die Geburt eines Ge- ihren Lebensabend verbringen und viel zu wenig
schwisterkindes, der Verlust eines Elternteils oder oder gar nicht dem hellen Tageslicht begegnen. Alar-
die Einschulung. Als weitere Möglichkeit kommen mierende Studien belegen, dass einige Betroffene le-
urologische Probleme wie eine zu kleine Blase, Harn- diglich 2 Minuten Tageslicht in 24 Stunden erha-
leiterentzündungen, Obstipation etc. in Frage. schen können!
Nach neuerlichen Erkenntnissen kommt auch ei-
!
ne erbliche Komponente in Betracht. Ärzte fanden Merke: Zu beachten ist, dass eine zu kurze
heraus, dass Eltern von bettnässenden Kindern in ih- Lichtexposition tatsächlich zu einer beacht-
rer Kindheit häufig auch an Enuresis nocturna litten. lichen Minderung der Schlafqualität führt.
Vor Beginn einer Verhaltenstherapie muss die Even-
tualität einer Grunderkrankung ausgeschlossen sein. Zudem ist zu beobachten, dass betagte Menschen
Die Möglichkeiten einer Verhaltenstherapie erstre- tagsüber mehr Ruhepausen und sog. „Nickerchen“
cken sich von Miktionsübungen (Unterbrechen des machen. Diese werden als versteckte Schlafpolster
Urinstrahles) über Enuresis-Alarmanlagen (Behand- bezeichnet. Wenn sie zu ausgedehnt in Anspruch ge-
lung mit elektrischen Weckautomaten) bis hin zu nommen werden, führt dies zu einer geringeren
operantem Konditionieren (Belohnung von positi- Schlafdauer während der Nacht bis hin zu einer
vem Verhalten). Schlaf-Wach-Rhythmusumkehr.
Die alten Menschen selbst berichten immer mehr
von Durchschlafstörungen mit längeren Wachzeiten,
12.5 Besonderheiten bei älteren einer reduzierten Gesamtschlafzeit sowie vermehr-
Menschen ter Einschlafneigung am Tage. Besonders Frauen ha-
ben einen gesteigerten Schlafmittelverbrauch, da der
Marion Weichler-Oelschlägel
Schlaf im Alter zumeist nicht mehr als ausreichend
Der menschliche Körper unterliegt im Laufe seines erholsam erlebt wird.
Da im Alter häufig verschiedene Erkrankungen
Lebens zahlreichen Veränderungen. So können auch 12
Veränderungen, die sich auf das Schlafprofil (Schlaf- auftreten, sind einige Schlafstörungen organisch be-
zyklen) und die Schlafqualität auswirken, beobach- dingt. Hinzu kommen die medikamentösen Thera-
tet werden. pien, die ebenfalls den Schlaf beeinflussen können.
Die Schlafeffizienz, also die Zeit, in der ein
Mensch tatsächlich im Bett schläft, reduziert sich im Zusammenfassung:
Alter um 20%. Die älteren Menschen verbringen Besonderheiten bei Kindern und älteren
mehr Zeit im 1. und 2. Schlafstadium und vermin- Menschen
dern dafür die Tiefschlafanteile im 3. und 4. Schlaf- Den Schlaf beeinflussende Faktoren sind u. a. Nah-
stadium, die Dauer des REM-Schlafs nimmt ab. rungsaufnahme, Bewegung, Gestaltung des Tages,
Auch der zirkadiane Rhythmus erfährt mit zuneh- Stimmungslage, Umgebungsfaktoren und Erkran-
mendem Alter eine Veränderung und zwar im Sinne kungen.
einer Phasenvorverlagerung. Dies bedeutet, dass der Die Entwicklung eines Schlafrhythmus beim Kind
Zeitpunkt des „Zubettgehens“ nach vorn verschoben ist u. a. von Gesundheitszustand, Aktivitäten und
wird und damit auch der Zeitpunkt des Erwachens. Auswirkungen von Reizen und Erlebnissen wäh-
Beeinflusst wird diese Änderung des zirkadianen rend des Tages abhängig.
Rhythmus vor allem durch veränderte Lebens- Für die Schlafgewohnheiten von Kindern sind
umstände und einen veränderten Tagesablauf. Dazu Schlafplatz und Einschlafrituale wichtig.
zählen beispielsweise die bei vielen Betagten einset- Als Jactationen werden rhythmische Bewegungen
zende Schwerhörigkeit und die Beeinträchtigung des von Kindern in der Einschlafphase bezeichnet.
Sehvermögens. Bei der Enuresis nocturna, dem nächtlichen Einnäs-
Dem Licht als stärkstem Reizauslöser des zirka- sen, werden eine primäre und eine sekundäre Form
dianen Rhythmus kommt an dieser Stelle eine be- unterschieden.
쐌 Fr. Hellmer leidet unter 쐌 Fr. Hellmer nimmt an den 쐌 Fr. Hellmer hat normalen 쐌 NZ: über den Zusammenhang zwischen
einer Umkehr ihres Tagesgestaltungsangebo- Schlaf-Wach-Rhythmus, Schlafpausen am Tag und vermindertem
Schlaf-Wach-Rhythmus ten teil bleibt tagsüber wach Nachtschlaf informieren
aufgrund von Langeweile 쐌 Fr. Hellmer kennt den Zu- 쐌 bei Schlafpausen am Tag wecken
und häufigen sammenhang zwischen 쐌 über biografisches Arbeiten Interessen
„Nickerchen“ am Tag Schlafpausen am Tag und ermitteln und gemeinsam nach Umset-
vermindertem Nacht- zungsmöglichkeiten suchen
schlaf 쐌 zu Veranstaltungen für andere Heimbe-
쐌 Fr. Hellmer findet ange- wohner anregen (z. B. Gymnastik)
messene Beschäftigung 쐌 Beschäftigung durch leichte Tätigkeiten
am Tag (z. B. Hilfe beim Abräumen)
쐌 Frau Hellmer leidet unter 쐌 NZ: Fr. Hellmer pflegt be- 쐌 mit Fr. Hellmer Möglichkeiten für Besu-
der Verminderung ihrer stehende und findet neue che bei ihren ehemaligen Nachbarinnen
sozialen Kontakte Kontakte überlegen und durchführen
쐌 Kontakte zwischen Fr. Hellmer und ande-
ren Heimbewohnerinnen herstellen
Oskar lernt nicht, alleine Oskar bekommt Zuwen- Oskar schläft nach kurzem 쐌 Ausschluss medizinischer
einzuschlafen dung von den Eltern Einschlafritual ruhig ein Ursachen für die Einschlafstörung (Arzt)
(Wie stellen die Eltern sich 쐌 individuelle Situationseinschätzung
die Einschlafsituation vor? durch genaues Befragen über die beste-
Formulierung der entspre- hende Situation
chenden Ziele zusammen – Wie sieht der Schlafplatz des Kindes
mit den Eltern) aus?
– Wechselt Oskar während der Nacht
den Schlafplatz?
– Welche Einschlafrituale favorisiert Os-
kar?
– Sind die Lichtverhältnisse den Bedürf-
nissen von Oskar angepasst?
– Welche Einschlafposition nimmt Oskar
ein?
– Welche Aktivitäten macht Oskar vor
dem Zubettgehen? (Fernsehen? Spie-
len? Essen?)
쐌 Erarbeitung eines genauen Verhaltens-
musters mit den Eltern und Begleitung
bei der Durchführung
Oskar ist aufgrund der Ein- Die Eltern halten an ihrem Oskar kann seinen Schlaf- 쐌 Zusammen mit den Eltern die möglichen
schlafstörung am nächsten entwickelten Verhaltens- Wach-Rhythmus stabilisie- Probleme im häuslichen Bereich definie-
Tag gereizt und unkonzen- muster fest ren ren und auf die Einhaltung des entwickel-
triert Oskar ist ausgeglichen ten Verhaltensmusters achten
12
13 Bewusstsein
Marion Weichler-Oelschlägel
Übersicht
Einleitung · 224
13.1 Allgemeine Beobachtungskriterien und
Beschreibung des Normalzustands · 225
13.2 Abweichungen und Veränderungen
im Bewusstsein und deren mögliche
Ursachen · 225
13.2.1 Störungen des Bewusstseins · 225
13.2.2 Störungen der Wahrnehmung · 228
13.2.3 Störungen der Bewegung und des
Handelns (Apraxien) · 231
13.2.4 Störungen der Orientierung · 232
13.2.5 Störungen des Erkennens (Agnosie) · 235
13.2.6 Störungen des Denkens · 236 sein“ oder Wendungen wie „sich etwas bewusst ma-
13.2.7 Störungen des Gedächtnisses · 239 chen“ kommt dies zum Ausdruck. Das Bewusstsein
13.2.8 Störungen der Aufmerksamkeit · 240 ermöglicht die Orientierung eines Menschen in der
13.2.9 Störungen der Affektivität · 241 Welt und adäquate Reaktionen auf seine Umgebung,
13.2.10 Störungen des Ich-Erlebens · 243 die von komplexen Prozessen gesteuert werden.
13.2.11 Störungen des Antriebs · 243 Entsprechend der Komplexität sind auch die Stö-
13.3 Ergänzende Beobachtungskriterien · 244 rungen im Bewusstseinsbereich sehr vielschichtig
13.4 Besonderheiten bei Kindern · 245 und zeigen sich in unterschiedlichsten Formen. Im
13.5 Besonderheiten bei älteren Menschen · 246 folgenden Kapitel werden verschiedene Anteile des
13.6 Fallstudien und mögliche menschlichen Bewusstseinssystems beschrieben so-
Pflegediagnosen · 247 wie Formen von Bewusstseinsstörungen dargestellt
Fazit · 249 und deren mögliche Ursachen erläutert.
Literatur · 250
13 Definition: Als Bewusstsein kann die Gesamt-
Schlüsselbegriffe:
heit aller gegenwärtig empfundenen psy-
왘 Affektivität chischen Vorgänge wie beispielsweise Gedanken
왘 Agnosie und Wahrnehmungen bezeichnet werden, die mit der
왘 Antrieb Kenntnis über das subjektive Erleben („Ich bin es, der
왘 Apraxie wahrnimmt“) verbunden sind.
왘 Bewusstsein
die Reproduktions- und Handlungsfähigkeit, Denkens, des Gedächtnisses und der Aufmerksam-
das Orientierungs- und Durchhaltevermögen. keit beschrieben, die alle dem Bewusstseinssystem
zugeordnet werden können. Außerdem sind weitere
psychopathologische Symptome und neuropsycho-
13.1 Allgemeine
logische Störungen aufgeführt, die vor allem im Be-
Beobachtungskriterien und reich der psychiatrischen und neurologischen Pflege
Beschreibung des von Bedeutung sind.
Normalzustands
13.2.1 Störungen des Bewusstseins
Das Bewusstsein des gesunden Menschen ist ge- Veränderungen des Bewusstseins werden als Be-
kennzeichnet durch seine Fähigkeit, sein Gegenüber wusstseinsstörungen zum einen hinsichtlich ihrer
anzusprechen, sowie durch die persönliche, zeitli- Quantität, zum anderen hinsichtlich ihrer Qualität
che, situative und örtliche Orientierung. Mithilfe des eingeteilt. Einen Überblick zeigt die Tab. 13.1.
klaren Bewusstseins kann der Mensch die Umwelt
wahrnehmen, Eindrücke verarbeiten und adäquat Quantitative Bewusstseinsstörungen
reagieren. Hinzu kommt das Wissen um die eigenen Quantitative Bewusstseinsstörungen werden auch
Gedanken und die Fähigkeit, sich selbst zu kontrol- als sog. „Minderung der Wachheit“ bezeichnet. Be-
lieren. sonders in der Neurologie ist die exakte Einstufung
Das Bewusstsein ist kein fester Zustand, sondern quantitativer Bewusstseinsstörungen wichtig.
auch beim Gesunden sehr variabel. Es bewegt sich
zwischen Zuständen höchster Aufmerksamkeit und Bewusstseinsstadien
Zuständen des Bewusstseinsverlusts, wie beispiels- Die verschiedenen Bewusstseinsstadien werden mit
weise dem Schlaf. Benommenheit, Somnolenz, Sopor und Koma be-
zeichnet. Die Beobachtung der Bewusstseinsstadien,
!
Merke: Kriterien für die Beurteilung des Be- auch Bewusstseinslagen genannt, erfolgt insbeson-
wusstseins sind: dere dadurch, dass die Reaktion auf verschiedene
Fragen und Reize betrachtet wird, wobei die Sprache,
Merkfähigkeit, die Sensibilität und die Motorik Schwerpunkte dar-
Reaktionsfähigkeit, stellen.
Denkfähigkeit, Die Kennzeichen der einzelnen Bewusstseinsla-
Vorstellungskraft, gen sind in Tab. 13.2 dargestellt, doch gehen sie oft-
Reproduktionsfähigkeit, mals fließend ineinander über. Eine genauere Beur- 13
Handlungsfähigkeit, teilung erfolgt deshalb mithilfe der „Glasgow-Koma-
Orientierungsvermögen, Skala“, bei der sprachliche und motorische Reaktio-
Durchhaltevermögen. nen sowie das Öffnen der Augen des Erkrankten mit-
tels eines Punktesystems benotet werden. Aus der
Gesamtsumme der verteilten Punkte ergibt sich
13.2 Abweichungen und
schließlich der Schweregrad der Bewusstseinsstö-
Veränderungen im rung (Tab. 13.3).
Bewusstsein und deren
mögliche Ursachen Tab. 13.1 Überblick über Bewusstseinsstörungen
ansprechbar/wach adäquate Antwort, prompt, spon- spürt schon leichte Berührung bewegt spontan und seitengleich
tan, normal, Mimik differenziert, mit den Fingerspitzen
Befehle werden sofort ausgeführt
benommen zeitlich und örtlich desorientiert, spürt Kneifen, Stechen bewegt seitenungleich (Spontaneität,
sehr gut weckbar, oft schweigend, Kraft, Widerstand), nicht gezielt auf
Befehle werden verzögert ausge- Befehl
führt, Mimik differenziert, unzu-
sammenhängende Sprache, Ver-
ständnisschwierigkeiten, Echolalie
somnolent desorientiert, apathisch, antriebslos, spürt Kneifen, Stechen Abwehrbewegungen, bei Schmerz
schläft ein, keine spontanen Worte, gezielt
Lallen, Artikulation schlecht, Mimik
undifferenziert
soporös völlig desorientiert, kein Schmerz- spürt Stechen Abwehrbewegungen bei Schmerz
laut, nur mit Schmerz weckbar, ungezielt
Mimik nur bei Schmerz
Koma keine Reaktionen ablesbar spürt nichts bzw. kann uns nicht keine Reaktion außer einigen Reflexen
mehr sagen, dass er spürt erkennbar
4 die Augen öffnen sich spontan, 4 wenn der Finger zurückgezogen wird, 4 bei wirren Äußerungen
wenn die Pflegende sich dem nachdem den Fingerspitzen ein
Bett nähert Schmerzreiz zugefügt wird
3 die Augen öffnen sich, wenn er 3 wenn auf einen Schmerzreiz der Finger- 3 bei falscher Wortwahl
angesprochen wird spitzen die Ellenbogen gebeugt werden
2 die Augen öffnen sich, wenn 2 wenn auf einen Schmerzreiz der Finger- 2 bei Wiedergabe von unverständ-
den Fingerspitzen Schmerz spitzen bei gebeugten Armen die Ellen- lichen Lauten
zugefügt wird bogen gestreckt werden
왔
niedrige 1 die Augen öffnen sich nicht, 1 keine nachweisliche Reaktion auf 1 bei keiner verbalen Reaktion
Punktzahl wenn den Fingerspitzen wiederholte Schmerzzufügung ver-
Schmerz zugefügt wird schiedenster Art
Personen in normaler Verfassung erreichen eine Punktzahl von 15; die niedrigste Punktzahl ist 3, die einem Hirntod gleichgesetzt werden kann, aber keinen
bedeuten muss. Die Punktzahl 7 wird als Definition für Koma benutzt (nach Roper et al.)
Ursachen sind Erkrankungen wie akute exogene bleiben, sich aber auch in einzelnen Bereichen zu-
Psychosen, Schädel-Hirn-Verletzungen als unmittel- rückbilden bis hin zur vollständigen Remission.
bare Gehirnschäden wie beispielsweise das Schädel-
Hirn-Trauma, aber auch Durchblutungsstörungen, Qualitative Bewusstseinsstörungen
Epilepsien, Tumore, Blutungen, Enzephalitiden, Me- Qualitative Bewusstseinsstörungen sind gekenn-
ningitiden, Schlaganfälle oder Stoffwechselentglei- zeichnet durch Veränderungen der Bewusstseinsin-
sungen. Die Stoffwechselstörungen können durch halte eines Menschen. Hierbei können Bewusst-
eine Entgleisung im Rahmen des Diabetes mellitus, seinseinengungen und -erweiterungen unterschie-
einer Urämie oder bei Schädigungen der Leber wie den werden.
z. B. Leberzirrhose oder einer Hypothyreose auftre-
ten. Bewusstseinseinengungen
Darüber hinaus können als auslösende Faktoren Bewusstseinseinengungen sind Zustände, die durch
Vergiftungen durch Alkohol, Schlafmittel, Kohlen- eine Reduktion der bewussten Wahrnehmung cha-
monoxid und Toxine benannt werden. Klassische rakterisiert sind. Der Betroffene ist in bestimmten
Geisteskrankheiten wie die Schizophrenie oder Er- Gedankengängen oder Denkschablonen so sehr ver-
krankungen des depressiven Formenkreises können haftet, dass er auf Außenreize nur noch vermindert
gleichfalls zu quantitativen Bewusstseinsstörungen reagiert. Im Bewusstsein ist lediglich ein kleiner Aus-
führen. schnitt aus dem Gesamterleben. Bewusstseinseinen-
Weitere Indikationen für die Kontrolle der Be- gungen treten vorwiegend bei akuten Psychosen auf.
wusstseinslage sind z. B. postoperative/postnarkoti- Dämmerzustand: Ein Zustand, der mit einem ein-
sche Zustände zur frühzeitigen Erkennung von mög- geengten Bewusstsein einhergeht. Kennzeichen ei-
lichen Komplikationen, hohes Fieber mit Gefahr von nes Dämmerzustandes sind:
Fieberkrämpfen und Herz-Kreislauf-Störungen, die Einengung des Bewusstseins auf bestimmte Ge-
mit schweren Zirkulationsstörungen einhergehen. fühle, Vorstellungen und Denkinhalte. Das Be-
wusstsein kann getrübt sein (s. a. S. 231).
Parasomnische Bewusstseinslage Obwohl das Bewusstsein verändert ist, besteht
Definition: Als parasomnische Bewusstseinla- Handlungsfähigkeit. Die Handlungen können
ge, apallisches Syndrom oder Coma vigile wird aber unbesonnen sein und keinerlei Beziehung zu
ein Symptomenkomplex bezeichnet, der durch dem sonstigen Denken aufweisen.
eine funktionelle Trennung der Hirnrinde (Pallium) Der Zustand dauert von wenigen Minuten bis zu
und den übrigen Hirnzentren im Hirnstamm charakte- Monaten an, ist aber immer zeitlich begrenzt.
risiert ist. Es besteht anschließend eine Amnesie für diesen 13
Zeitraum, wobei einzelne Erinnerungsinseln vor-
Die Betroffenen liegen wach, mit offenen Augen da, handen sein können.
der Blick ist starr geradeaus gerichtet oder gleitet oh- Der Zustand wirkt als Zerstreutheit und Unauf-
ne Fixationspunkt hin und her. Ansprechen, berüh- merksamkeit und ist somit oftmals nur für den
ren oder beispielsweise das Vorhalten von Gegen- geschulten Blick erkennbar.
ständen führt zu keinerlei sinnvollen Reaktionen. Re-
flektorische Flucht- und Abwehrbewegungen fehlen Für die Umgebung scheinen die Betroffenen klar und
oftmals. besonnen, wirken traumverloren oder berauscht. Sie
Beim apallischen Syndrom kann es zum Wieder- finden sich einigermaßen zurecht, obwohl sie die Si-
auftreten von bekannten frühen Tiefenreflexen (z. B. tuation nicht vollständig überblicken und zumeist
Greif-, Saugreflex) kommen. Vegetative Elementar- eine teilweise Störung der Orientierung (s. a. S. 231)
funktionen wie beispielsweise das Schlucken kön- aufweisen. Dies alles erschwert die Erkennung eines
nen zum Teil erhalten sein. Dämmerzustands, doch kann er auch noch nachträg-
Ursache für diese schwersten Schädigungen und lich anhand der teilweisen oder vollständigen Erin-
Funktionsausfälle in verschiedenen Gehirnbezirken nerungslosigkeit diagnostiziert werden.
sind u. a. Gehirntrauma, Gehirnblutungen, zerebrale Nach ihrer Ursache können organische und psy-
Venenthrombosen und schwere Enzephalitiden. Das chogene Dämmerzustände unterschieden werden.
apallische Syndrom kann als Dauerzustand bestehen Organische Ursachen sind z. B., Epilepsie, Hirntrau-
!
Merke: Mit quantitativen Bewusstseinsstö- chen Lokalisation
rungen werden Veränderungen der Wach- – Störung der visuell-räum-
heit, des Aktivitätszustands des zentralen lichen Wahrnehmung
– Störung der Körperwahr-
Nervensystems beschrieben, mit qualitativen Bewusst- nehmung
seinsstörungen Veränderungen der Bewusstseins-
inhalte.
fenen können sich aber auch durch elektrische menten dieser Objekte können nicht erkannt und be-
oder magnetische Strahlung oder andere physika- griffen werden. Zu diesen Raumsinnstörungen zäh-
lische Vorgänge beeinflusst und verändert fühlen. len u. a. die Störungen der visuell-räumlichen Wahr-
Hauptsächliches Vorkommen: Delirien, Schizo- nehmung und der Wahrnehmung des eigenen Kör-
phrenie. pers. Sie treten zumeist bei einer Schädigung der do-
Vestibuläre Halluzinationen: Hierbei handelt es minanten Hirnhemisphäre auf.
sich um Trugwahrnehmungen des Gleichgewich- Störung der visuell-räumlichen Wahrnehmung:
tes, kinästhetische Halluzinationen. Empfindun- Die Störung ist charakterisiert durch eine Fehlein-
gen des Fallens, Fliegens, Bewegtwerdens und schätzung z. B. von Entfernungen und Größenver-
Schwankens sind typische Halluzinationen dieser hältnissen. Sowohl die Entfernung bzw. Beziehung
Art. Sie kommen vor allem bei LSD-, Haschisch/ verschiedener Gegenstände zueinander wie auch die
Marihuana-Missbrauch und gelegentlich auch bei Beziehung einzelner Elemente eines Gegenstandes
Schizophrenie vor. können hierbei nicht richtig erfasst werden. Dies
zeigt sich beispielsweise im zu frühen Setzen auf ei-
Illusion nen Stuhl oder Nichterkennen der Zeit bei einer Uhr
Definition: Bei der Illusion handelt es sich um mit Zeigern (der Winkel zwischen den Zeigern wird
eine Verkennung real vorhandener Sinnesein- nicht korrekt erkannt und analysiert).
drücke. Eine Beeinträchtigungen der visuell-räumlichen
Orientierung in Form einer konstruktiven Apraxie
Sie werden falsch gedeutet und zugeordnet. So kann oder Ankleideapraxie tritt vielfach bei Störungen im
beispielsweise ein Fleck an der Wand für ein Insekt, Bereich des Scheitellappens und des Scheitelhinter-
eine Lampe oder für den Mond gehalten werden. Ei- hauptlappens auf (s. a. S. 231 und Tab. 13.5).
ne Illusion entsteht durch das Eingreifen von Affek-
ten, Erwartungen und Einstellungen in den Wahr- Störung der Körperwahrnehmung:
nehmungsvorgang. Definition: Mit Tiefensensibilität wird die Fä-
higkeit zur Wahrnehmung der Stellung und Be-
Veränderte Sinnesempfindungen wegung des Körpers im Raum bezeichnet.
Definition: Werden Reize andersartig bzw. als
unangenehm empfunden (z. B. eine leichte Be- Durch spezifische Rezeptoren (Propriorezeptoren)
rührung als Schmerz), so wird dies als Dysästhe- werden die Muskelspannung, die Muskellänge, die
sie bezeichnet. Als Parästhesie wird eine subjektive Gelenkstellung und -bewegung registriert und wei-
13 Missempfindung wie z. B. Kribbeln, Ameisenlaufen tergeleitet. Dies erklärt, warum die Tiefensensibilität
oder Brennen bezeichnet, wobei kein von außen nach- auch Bewegungs-, Kraft-, Stellungs- und Lagesinn
vollziehbarer Reiz vorhanden ist. genannt wird. Bei einer Störung der Tiefensensibi-
lität können diese Informationen nicht mehr von
Raumsinnstörungen dem Betroffenen wahrgenommen werden, sodass
Definition: Als Raumsinn wird die Fähigkeit zu dieser oftmals nicht weiß, wo und in welcher Stel-
einer räumlichen Lokalisation von Sinnesemp- lung sich seine verschiedenen Körperteile befinden.
findungen bzw. zu einer bewussten Wahrneh- Erkennbar wird dies z. B. bei Hemiplegikern an einer
mung der Lage des Körpers im Raum oder einzelner Verschiebung der Längsachse zur betroffenen Seite.
Elemente zueinander bezeichnet.
!
Merke: Quantitative Wahrnehmungsstö-
Er beschreibt den Effekt des Zusammenwirkens rungen sind gekennzeichnet durch eine Ver-
mehrerer Sinne. änderung der Wahrnehmungsintensität und
Bei den Raumsinnstörungen handelt es sich um Wahrnehmungsgeschwindigkeit, qualitative Wahr-
eine räumliche Orientierungsstörung. Eine Erfassung nehmungsstörungen durch Veränderungen in der Art
der dreidimensionalen Welt ist hierbei nicht mög- der Wahrnehmung.
lich, d. h., die räumliche Ausdehnung, die enthalte-
nen Gegenstände und die räumlichen Beziehungen
zwischen diesen Gegenständen oder einzelnen Ele-
!
Desorientierung für Ihren Aufenthalt hier?
Merke: Charakteristisch für Apraxien sind
Störungen in der Auswahl und Aneinander- 쐌 örtliche 쐌 Wo befinden Sie sich zur Zeit?
reihung von Bewegungen. Desorientierung 쐌 Wo sind Sie hier? Was ist dies für ein
Ort? (Adresse)
!
Merke: Bei Verwirrtheit handelt es sich um stimmten Tages- oder Nachtzeiten oder aber bei be-
eine Pflegediagnose und nicht um eine medi- stimmten Anforderungen und Ereignissen auf, so
zinische Diagnose, da Verwirrtheit keine ei- wird diese Verwirrtheit als periodische Verwirrtheit
genständige Erkrankung, sondern ein Symptom einer bezeichnet. Ursachen können eine Hypoglykämie,
Erkrankung darstellt. Hypotonie, eine Über- oder Unterforderung sowie
Langeweile sein.
Sie ist eine Reaktion auf physische, psychische, soziale
und/oder umweltbedingte Faktoren. Kennzeichen ei- Chronische Verwirrtheit
nes Verwirrtheitszustandes sind neben Orientie- Als chronische Verwirrtheit wird ein langsamer, sich
rungsstörungen auch Aufmerksamkeits- und Denk- über Monate und Jahre hinweg entwickelnder Ver-
störungen (s. a. S. 236 – 240). Sie sind häufig begleitet wirrtheitszustand bezeichnet. Zu den chronischen
von einer körperlichen Unruhe. Die Unruhe zeigt sich Verwirrtheitszuständen, die irreversibel sind, zählt 13
beispielsweise im Versuch aufzustehen und wegzu- vor allem die Demenz.
laufen, im Nesteln an der Bettdecke, in Form eines ste-
Definition: Um von einer Demenz zu sprechen,
reotypen Klopfens, dem Ziehen an Zu- und Ablei-
müssen der Verlust intellektueller Fähigkeiten
tungssystemenu.v.m.SieistoftmalsAusdruckvonUn-
zur Bewältigung des Alltags und eine Ge-
sicherheit und Angst. Unterschieden werden akute,
dächtnisstörung sowie mindestens eine der folgenden
periodische und chronische Verwirrtheitszustände.
Beeinträchtigungen vorliegen:
Akute Verwirrtheit
Denkstörungen (Störung des abstrakten Denkens),
Bei einem plötzlichen Auftreten einer Verwirrtheit
Störungen des Urteilsvermögens,
wird von einem akuten Verwirrtheitszustand,
Persönlichkeitsveränderungen,
Durchgangssyndrom oder Delir gesprochen. Die aku-
kortikale Herdsymptome (Aphasie, Apraxie, Agno-
te Verwirrtheit ist reversibel und dauert von Stun-
sie).
den, über Tage bis zu einigen Wochen. Die folgenden
Symptome treten u. a. bei akuten Verwirrtheitszu- Weitere typische Symptome einer Demenz sind Ori-
ständen in unterschiedlicher Ausprägung auf: entierungs- und Aufmerksamkeitsstörungen. Bei
Orientierungsstörungen, Verdacht einer demenziellen Erkrankung können
Gedächtnisstörungen (insbesondere des Kurz- mithilfe psychometrischer Tests wie etwa des Mini-
zeitgedächtnisses), Mental-Status, kognitive Störungen erfasst und diffe-
renziert werden. Siehe Übersicht S. 234.
Mini-Mental-State (aus Borker, S.: Essenreichen in der Pflege: eine empirische Studie, Ullstein Mosby, Berlin
1996)
1. Orientierung 5. Sprache
5 Welches Jahr, Jahreszeit, Monat, Benennen:
Wochentag, Datum von heute? 1 Was ist das? (Bleistift)
13 5 Wo sind wir? 1 Was ist das? (Uhr)
(Land, Bundesland, Ort, Praxis/Klinik, 1 Nachsprechen: „Wie Du mir, so ich Dir“.
Arztname) 6. Ausführen eines dreiteiligen Befehls
2. Aufnahmefähigkeit 3 „Nehmen Sie das Blatt in die rechte
3 Nachsprechen (Drei Worte: Zitrone/ Hand, falten Sie es in der Mitte und
Schlüssel/Ball) legen Sie es auf den Boden.“
Ein Wort pro Sekunde (Jeder Teil ein Punkt).
3. Aufmerksamkeit und Rechnen 7. Lesen und Ausführen
5 von 100 jeweils 7 subtrahieren (auf separatem Blatt vorbereiten)
(93/86/79/72/65) 1 „Schließen Sie die Augen.“ (nur für
Jede richtige Antwort: Ein Punkt; nach beides)
fünf Antworten aufhören
4. Gedächtnis
3 Frage nach den oben angesprochenen
Worten
( / / / )
pro Wort ein Punkt
Fortsetzung 왘
Mini-Mental-State (Fortsetzung)
8. Schreiben 9. Kopieren
1 Einen x-beliebigen Satz schreiben lassen. (konstruktive Praxis)
(nicht diktieren/muss spontan geschrie- 1 Sich überschneidende fünfeckige Figur
ben werden) nachzeichnen lassen
(Extrablatt vorlegen)
Die Demenz tritt bei Hirnschädigungen auf, wobei 13.2.5 Störungen des Erkennens (Agnosie)
primäre und sekundäre Demenzen unterschieden Definition: Als Agnosie wird eine Störung des
werden können. Erkennens trotz intakter Wahrnehmung be-
Ursachen der primären Demenz sind beispiels- zeichnet, d. h., sie beruht nicht auf einer Ein-
weise degenerative zerebrale Erkrankungen (z. B. se- schränkung z. B. des Sehens oder einer geistigen Ein-
nile Demenz vom Typ Alzheimer, sog. SDAT) und vas- schränkung.
kuläre Erkrankungen (sog. DVT).
Sekundäre Demenzen treten als Folge verschie- Es werden verschiedene Formen der Agnosie unter-
dener Erkrankungen wie z. B. entzündlichen und schieden, je nachdem, welcher Sinnesbereich betrof-
traumatischen Hirnerkrankungen auf. Tab. 13.8 zeigt fen ist (Tab. 13.9).
psychopathologische Veränderungen im Rahmen ei-
Auditive Agnosie
ner senilen Demenz.
Die auditive Agnosie wird auch als sog. Seelentaub-
heit, Worttaubheit oder Hörstummheit bezeichnet.
Hiermit wird die Unfähigkeit beschrieben, Gehör-
Tab. 13.8 Psychopathologische Veränderungen im Rah-
men einer senilen Demenz wahrnehmungen mit dem akustischen Erinnerungs-
gut zu identifizieren. Dies bedeutet, dass Geräusche
Parameter Veränderungen
oder Töne gehört werden, jedoch in ihrem Zusam-
13
Motorische Unfähigkeit, einfache Sätze zu schreiben und menhang (z. B. als Melodie, Tierstimme) nicht er-
Fähigkeiten einfache geometrische Formen zu kopieren. Evtl.
kannt werden. Die akustische Agnosie tritt vor allem
Tremor.
bei Schädigungen im Bereich der hinteren Schläfen-
Körperpflege Vernachlässigtes Äußeres, mangelnde Hygiene. lappen auf.
Kleider werden falsch angezogen.
Sprache Sprechen und Verstehen der Sprache sind oft Tab. 13.9 Formen der Agnosie
beeinträchtigt. Wortfindungsstörungen. Wort-
wiederholungen und Echolalie. Form der Agnosie Störung
Bewusstsein Evtl. wechselhaft. Eingeschränkte Wahrnehmung 쐌 auditive Agnosie 씮 Unfähigkeit, akustische Wahrnehmun-
der Umgebung. gen mit akustischen Erinnerungen zu
verbinden
Orientierung Orientierung in Zeit, Ort, Person (eigene und
andere) beeinträchtigt oder ganz aufgehoben. 쐌 optische Agnosie 씮 Unfähigkeit, optische Wahrnehmungen
mit optischen Erinnerungen zu ver-
Aufmerk- Schon früh gestört. Äußere Reize werden nur
binden
samkeit noch beschränkt registriert.
쐌 taktile Agnosie 씮 Unfähigkeit der taktilen Formerkennung
Gedächtnis Das Frischgedächtnis ist am meisten beeinträch-
tigt, das Altgedächtnis oft noch lange erhalten. 쐌 Autotopagnosie 씮 Unfähigkeit, Hautreize am Körper zu
lokalisieren
Denken Die Fähigkeit, abstrakt zu denken, ist erschwert
(z. B. Unfähigkeit, den Sinn eines Sprichwortes zu 쐌 Anosognosie 씮 Unfähigkeit, eigene Erkrankungen,
erklären) Funktionsausfälle zu erkennen
Autotopagnosie
Eine richtige Lokalisation von Hautreizen am Körper 13.2.6 Störungen des Denkens
ist, trotz erhaltener Oberflächensensibilität, bei der Definition: Mit Denken wird eine geistige Tä-
Autotopagnosie nicht möglich. Diese Form der Agno- tigkeit benannt, die darauf ausgerichtet ist, Be-
sie kann vor allem bei Läsionen des Parietallappens deutungen zu erkennen und Beziehungen herzu-
beobachtet werden. stellen. Hierfür sind Fähigkeiten wie Wahrnehmen, Er-
innern, Entscheiden, Urteilen sowie das Ordnen und
Anosognosie Verbinden von Informationen erforderlich.
Definition: Die Unfähigkeit, eine eigene Er-
krankung bzw. Funktionsausfälle zu erkennen, Unterschieden werden formale und inhaltliche
wird als Anosognosie bezeichnet. Denkstörungen. Beide Formen treten häufig bei Schi-
Tab. 13.10 Störungen des Denkens eine Denkhemmung beispielsweise bei allgemeiner
formale Denkstörungen inhaltliche Denkstörungen
Antriebsarmut und Depressionen.
zophrenie, aber auch im Rahmen anderer Erkran- Die Gedanken kreisen immer nur um ein und dassel-
kungen wie beispielsweise organischen Psychosen, be Thema, ohne Bearbeitungs- und Erledigungsmög-
Bewusstseinsstörungen, Intoxikationen und Depres- lichkeit. Zur Perseveration kann es im Einschlafstadi-
sionen auf. Einen Überblick über verschiedene Denk- um, bei Zuständen der Schlaflosigkeit, bei großen
störungen zeigt Tab. 13.10. Sorgen, aber auch bei Depressionen und bei organi-
schen Psychosyndromen kommen.
Formale Denkstörungen
Mit formalen Denkstörungen werden Veränderun- Gedankenabreißen
gen im Gedankenablauf (Geschwindigkeit, Steuer- Der Denkablauf kann plötzlich abreißen oder unter-
barkeit, Abstraktionsfähigkeit, Logik, Umfang) be- brochen werden, ohne dass dies vom Betroffenen er- 13
schrieben. Durch das Lösen einfacher mathemati- klärt werden kann. Nach dem Abreißen des Gedan-
scher Aufgaben, das Erklärenlassen von Redensarten kengangs wird häufig das Thema gewechselt. Diese
und das Erläuternlassen von Unterschieden (z. B. Ku- Form der formalen Denkstörung wird entsprechend
gelschreiber – Füllfederhalter) können Denkstörun- als Gedankenabreißen bezeichnet. Hierbei kann es
gen erfasst werden. sich um eine Konzentrationsstörung (s. a. S. 240),
aber auch um eine Schizophrenie handeln, wobei die
Denkhemmung Menschen den Eindruck haben, dass ihnen die Ge-
Bei der Denkhemmung wird der Denkablauf (Tempo, danken von außen entrissen werden. Hinsichtlich
Inhalt, Zielsetzung) subjektiv als eingeschränkt emp- der Sprache fällt bei dieser Bewusstseinsstörung ein
funden. Die Betroffenen klagen z. B. über fehlende plötzliches Stocken im Sprechen auf, das häufig mit
Einfälle oder „ein Brett vor dem Kopf“, das Denken ist einem anschließenden Themenwechsel verbunden
mühsam und schleppend. Das Denkziel kann nur ist.
schwer oder überhaupt nicht erreicht werden. Ent-
sprechend dem Denken ist auch die Sprache verän- Zerfahrenheit
dert und kann einen wertvollen Hinweis auf eine Bei der Zerfahrenheit (inkohärentes Denken) han-
Denkhemmung liefern. Sie ist in diesem Zusammen- delt es sich um eine Störung der Logik (Ordnung) der
hang zumeist langsam, stockend und weist unmoti- Gedanken. Das Denken ist sprunghaft, wobei die ein-
vierte Sprechpausen auf. Beobachtet werden kann zelnen Gedanken keinerlei Verbindungen zueinan-
der haben. Es treten scheinbar zufällig zusammenge- Menschen vorkommen können. Der Wahninhalt, das
würfelte Gedankenbruchstücke auf, zwischen denen sog. Wahnthema, auch Wahnidee oder Wahnvorstel-
kein logischer Zusammenhang hergestellt werden lung genannt, wird durch kulturelle und soziale Fak-
kann. Die Denkgeschwindigkeit kann ebenfalls ver- toren mitbeeinflusst. Häufige Wahninhalte sind:
ändert sein, wobei es sich dabei sowohl um eine Ver- Beziehungswahn: Der Betroffene ist der Überzeu-
langsamung als auch um eine Beschleunigung han- gung, dass alles, was sich in seiner Umgebung er-
deln kann. Die Zerfahrenheit äußert sich in einem re- eignet, nur seinetwegen geschieht und ihm hier-
gelrechten Wortsalat oder in Wortneubildungen mit etwas bedeutet werden soll. Aber auch das
(Neologismen). Beobachtet werden kann diese Stö- Nicht-Geschehene und das Nicht-Gesagte wird
rung u. a. bei Schizophrenen. auf sich bezogen.
Beeinträchtigungswahn: Bei dem Beeinträchti-
Ideenflucht gungswahn werden von dem Betroffenen nicht
Bei der Ideenflucht ist der Gedankenablauf sehr stark nur alle Geschehnisse auf sich bezogen, sondern
beschleunigt und enthemmt. Ein Gedanke jagt den gleichzeitig als gegen sich gerichtet gedeutet, mit
nächsten, wobei das Ziel des Denkens nicht mehr er- dem Ziel, ihn zu schädigen oder gar zu vernichten.
kennbar ist. Je nach Ausprägungsgrad sind die Be- Verfolgungswahn: Harmlose Ereignisse werden
troffenen weitschweifig oder aber sie kommen vom als Zeichen der Bedrohung angesehen, als Zeichen
„Hundertsten ins Tausendste“. Nach außen zeigt sich eines gegen den Erkrankten geschmiedeten Kom-
die Ideenflucht in Form eines gesteigerten Rede- plotts oder als Zeichen für eine geplante Vernich-
drangs und -flusses sowie in ständigem Aufgreifen tungsaktion. Alle Menschen werden hierbei zu
von Anregungen wie z. B. Fragen, Aussagen und Si- Verfolgern des Betroffenen.
tuationen, die zu einem weiteren Gedanken- und Re- Größenwahn: Beim Größenwahn werden die ei-
defluss führen. gene Person, die Fähigkeiten und Fertigkeiten
Im Gegensatz zu der Zerfahrenheit, dem inkohä- überschätzt, wobei sich einige für Gott, den Erret-
renten Denken, kann bei der Ideenflucht dem Gedan- ter, den Auserwählten halten.
ken des Betroffenen noch gefolgt werden und der Kleinheitswahn: Er ist das Gegenstück zum Grö-
Inhalt ist noch erkennbar. Sie kann beispielsweise ßenwahn und wird auch als Nichtigkeitswahn be-
beim manischen Syndrom sowie dem Missbrauch zeichnet, da der Betroffene so weit von seiner Idee
von Haschisch und LSD, vorkommen. überzeugt sein kann, dass er sich für nicht wirk-
lich existent hält.
Inhaltliche Denkstörungen
13 Inhaltliche Denkstörungen befassen sich mit den Ge- Durch die Wahnarbeit, d. h. die Ausgestaltung der
dankeninhalten. einzelnen Wahnerlebnisse, kann es zum Ausbau ei-
Es handelt sich um Störungen des Denkens im nes logischen Wahnsystems kommen. Zu einem sol-
Sinne eines gestörten Urteils hinsichtlich der Reali- chen Wahnsystem gehören Wahnwahrnehmungen
tät. Zu den inhaltlichen Denkstörungen zählen z. B. (wirklichen Wahrnehmungen werden abnorme Be-
Wahn, Zwangsideen und überwertige Ideen. deutungen zugeordnet), Wahnerinnerungen (die Er-
innerung an ein Erlebnis wird nachträglich wahnhaft
Wahn umgedeutet) und wahnhafte Personenverkennung.
Definition: Unter einem Wahn werden inhalt- Ein Wahn tritt vor allem bei psychischen Erkrankun-
lich falsche Überzeugungen verstanden, die kei- gen wie beispielsweise Schizophrenien, psychoti-
nerlei Bezug zur Realität besitzen und die nicht schen Depressionen oder organischen Psychosen auf.
aus anderen Erlebnissen abgeleitet werden können.
Zwangsideen
Es besteht eine subjektive Gewissheit und eine Un- Beim Zwang drängen sich dem betroffenen Men-
korrigierbarkeit des Inhalts trotz vorhandener Intel- schen Gedanken, Ideen und Handlungen immer wie-
ligenz und objektiv nachprüfbarer Realität. Die bei- der auf. Im Gegensatz zum Wahn wird beim Zwang
den Kriterien subjektive Gewissheit und Unkorri- die Unsinnigkeit erkannt, doch kann sich der zwang-
gierbarkeit unterscheiden den krankhaften Wahn hafte Mensch nicht dagegen wehren, eine willentli-
von sog. Wahnphänomenen, die auch bei gesunden che Beeinflussung ist nicht möglich. Bei den Zwangs-
gedanken oder Zwangsideen, die die inhaltliche Tab. 13.11 Störungen des Gedächtnisses
Denkstörung darstellen, sieht sich der Mensch ge- quantitative Denkstörungen qualitative Denkstörungen
zwungen, immer wieder an etwas zu denken, was er
bewusst ablehnt. 쐌 Hypermnesie 쐌 Erinnerungsverfälschung
씮 z. T. vergessen geglaubte 씮 Umgestaltung von
Erinnerungen erscheinen Gedächtnisinhalten
Überwertige Idee besonders lebhaft 쐌 Pseudologica phantastica
Die überwertige Idee ist geprägt durch eine starke 쐌 Amnesie 씮 krankhaftes Schwindeln
씮 zeitlich begrenzte 쐌 Konfabulation
gefühlsbetonte Überzeugung, an der hartnäckig fest-
Erinnerungslücke 씮 Füllen von Erinnerungs-
gehalten wird. Die Idee beherrscht das gesamte Den- lücken durch Erzählungen
– retrograd
ken und betrifft zumeist politische, religiöse oder – anterograd
wissenschaftliche Einstellungen. – psychogen
쐌 Hypomnesie
씮 Schwächung des
!
Merke: Bei formalen Denkstörungen treten Erinnerungsvermögens
Veränderungen im Gedankenablauf, bei in-
haltlichen Denkstörungen treten Verände-
rungen der Gedankeninhalte auf.
Hypermnesie
13.2.7 Störungen des Gedächtnisses Definition: Unter der Hypermnesie wird eine
Das Gedächtnis besteht aus einer Einheit von Störung des Gedächtnisses verstanden, bei der
Merkfähigkeit und Erinnerung. Die Merkfähigkeit bestimmte, z. T. bereits als vergessen geglaubte
beinhaltet die Fähigkeit, z. B. Erlebnisse und Eindrü- Erinnerungen besonders lebhaft erscheinen.
cke zu speichern und mit früheren Gedächtnisin-
halten zu verknüpfen. Die Erinnerung ermöglicht Die Hypermnesie tritt z. B. im Traum, in Trance, in
das Zurückrufen der Wahrnehmungen und Empfin- Hypnosezuständen, bei Fieber oder im Rahmen einer
dungen. Unterschieden werden beim Gedächtnis organischen Psychose beispielsweise nach Schädel-
das Neu- oder Kurzzeitgedächtnis, welches unmit- Hirn-Trauma auf.
telbare Erfahrungen und Wahrnehmungen spei-
chert, und das Alt- oder Langzeitgedächtnis, das lan- Amnesie
ge zurückliegende Erfahrungen und Wahrnehmun- Definition: Die Amnesie stellt die häufigste
gen beinhaltet. quantitative Gedächtnisstörung dar und be-
Sowohl die Merkfähigkeit als auch das Kurzzeit- zeichnet eine zeitlich oder inhaltlich begrenzte
oder Langzeitgedächtnis können Störungen aufwei- Gedächtnislücke. 13
sen. Je nachdem, wie lange ein Erlebnis behalten
werden kann, handelt es sich um eine Störung der Unterschieden werden die retrograde, anterograde
Merkfähigkeit oder des Gedächtnisses. Bei Merkfä- und psychogene Amnesie.
higkeitsstörungen können neue Eindrücke nicht län- Bei der retrograden Amnesie besteht eine Erinne-
ger als 10 Minuten behalten werden. Um eine Ge- rungslücke für die Ereignisse, die einer Bewusstlo-
dächtnisstörung handelt es sich, wenn Erlebnisse, sigkeit unmittelbar vorhergegangen sind.
Ereignisse, die länger als 10 Minuten zurückliegen, Im Gegensatz hierzu besteht die Erinnerungslü-
nicht mehr erinnert werden können. Die Störungen cke bei der anterograden Amnesie für eine bestimm-
des Gedächtnisses werden in quantitative und quali- te Zeit nach dem Aufwachen aus einem Zustand der
tative Störungen unterteilt (Tab. 13.11). Bewusstlosigkeit. Während dieser Zeit ist der Betrof-
fene ansprechbar und reagiert angemessen, kann
Quantitative Gedächtsnisstörungen sich jedoch später nicht daran erinnern. Häufig sind
Zu den quantitativen Gedächtnisstörungen gehören die retrograde und anterograde Amnesie im Zusam-
die Hypermnesie, die Amnesie und Hypomnesie. menhang mit Unfällen, die mit einem Schädel-Hirn-
Trauma einhergehen, zu beobachten, aber auch im
Zusammenhang mit epileptischen Anfällen, Intoxi-
kationen und der Demenz.
!
nis, die Pseudomnesie und die Wahnerinnerung. Merke: Quantitative Gedächtnisstörungen
13 beziehen sich auf das Ausmaß, den Zeitraum
Definition: Mit Déjà-vu-Erlebnis wird eine Er- fehlender Erinnerungen, qualitative Ge-
innerungsverfälschung bezeichnet, bei der der dächtnisstörungen auf Veränderungen der Gedächt-
Mensch glaubt, etwas soeben Erlebtes schon frü- nisinhalte.
her einmal in gleicher Weise gesehen oder erlebt zu ha-
ben. 13.2.8 Störungen der Aufmerksamkeit
Mit Aufmerksamkeit ist die Fähigkeit gemeint, das
Bei Müdigkeit, im Rahmen von Psychosen und Epi- Bewusstsein gezielt auf einen Gegenstand auszurich-
lepsien kann es zu einem Déjà-vu-Erlebnis kommen. ten. Bei der willkürlichen Aufmerksamkeit ist die ge-
naue Wahrnehmung eines Gegenstandes beabsich-
Definition: Die Pseudomnesie stellt eine sog. tigt, bei der unwillkürlichen Aufmerksamkeit dage-
positive Erinnerungsverfälschung dar, bei der gen gelingt es z. B. Gegenständen oder Gedanken sich
sich der Mensch an vermeintlich stattgefundene aufzudrängen. Die Aufmerksamkeit hängt von der
Erlebnisse erinnert. Konzentration und der Auffassung ab und kann dem-
entsprechend durch Störungen in einem dieser bei-
Bei der Schizophrenie und organischen Psychosen den Bereiche verändert oder gestört werden.
kann es zum Auftreten einer Wahnerinnerung kom-
men.
!
Merke: Quantitative Affektivitätsstörungen von Energie und Initiative zu zielgerichteten Aktivi-
sind durch eine veränderte Ansprechbarkeit täten. Im Volksmund wird der Antrieb auch als Vitali-
von Gefühlen, qualitative Affektivitätsstö- tät bezeichnet. Bei den Störungen des Antriebs wer-
rungen durch Veränderungen in der Art der Gefühle ge- den die Antriebsminderung und -steigerung als
kennzeichnet. Mit Regulationsstörungen werden Stö- quantitative Störungen und der Zwangsantrieb so-
rungen in der Abstimmung der Emotionen beschrie- wie Drang- und Impulshandlungen als qualitative
ben. Störungen unterschieden (Tab. 13.13).
Zwangsantriebe Zusammenfassung:
Bei den Zwangsantrieben handelt es sich um nicht Weitere Bewusstseinsstörungen
abstellbare, zwangsweise auftretende Antriebe. Sie Störungen der Affektivität kommen quantitativ als
drängen sich dem betroffenem Menschen immer Überempfindlichkeit oder Affektstarre zum Aus-
wieder auf, ohne dass dieser es will. Zumeist enden druck, qualitativ zeigen sie sich in der Parathymie,
diese Zwangsantriebe nicht in aktiven Handlungen, im manisch-euphorischen Syndrom und im depres-
da sie noch unterdrückt werden können. siven Syndrom.
Ein Beispiel für einen solchen Zwangsantrieb ist Zur Gruppe der Regulationsstörungen gehören Af-
der immer wiederkehrende Impuls, sich die Hände fektlabilität und Affektinkontinenz.
zu waschen oder zu lachen. Zwangsantriebe kom- Die Störungen des Ich-Erlebens treten als Derealisa-
men bei einer neurotischen Entwicklung, bei Schizo- tion, Depersonalisation, Gedankenausbreitung,
phrenie oder auch nach einer Enzephalitis vor. -entzug oder -eingebung auf.
Antriebsminderung bzw. Antriebssteigerung sind
Drang- und Impulshandlungen quantitative Störungen des Antriebs, Zwangsan-
Kann sich ein Mensch gegen einen Antrieb nicht triebe und Drang- und Impulshandlungen qualita-
wehren und führt Handlungen aus, die er nicht be- tive Störungen.
gründen kann und für die er keinerlei Erklärung hat,
so handelt es sich hierbei um Drang- und Impuls-
handlungen. Hierzu zählen beispielsweise die Klep- 13.3 Ergänzende
tomanie (dranghaftes Stehlen) oder die Pyromanie Beobachtungskriterien
(triebhaftes Brandstiften).
Diese Handlungen treten in Dämmerzuständen, Werden bei einem zu betreuenden Menschen Verän-
nach organischen Hirnschädigungen und bei Schizo- derungen der normalen Bewusstseinslage festge-
phrenie auf. stellt, so gilt auch hier, dass das Ganze mehr als die
Summe seiner Teile ist. Dies bedeutet, dass die iso- des Bewusstseins und des neurologischen Reife-
lierte Beobachtung der Bewusstseinslage nicht aus- stands eines Kindes.
reicht, sondern dass vielmehr alle Bereiche beachtet Zu den wichtigsten Reflexprüfungen gehört der
werden müssen, die potenziell oder tatsächlich von Saug-, Schluck-, Husten- und Pupillenreflex. Bei der
der Beeinträchtigung des Bewusstseins mit betroffen Überprüfung des Pupillenreflexes wird gleichzeitig
sind oder einen ursächlichen Faktor darstellen kön- die Pupillenweite, -form und -position kontrolliert.
nen. Tab. 13.14 zeigt hierfür mehrere Beispiele. Weiterhin von Bedeutung ist die Reaktion auf
Störungen im Bewusstseinssystem können sich in Schmerzreize. Sie kann sich je nach Alter des Kindes
Auswirkungen auf die Kommunikationsfähigkeit unterschiedlich äußern. Bei Früh- und Neugebore-
und das Schlafverhalten zeigen. Auch die Beschäfti- nen sind ungezielte Reaktionen, z. B. Augen öffnen,
gungsmöglichkeiten eines Menschen können durch weinen, schreien sowie ungezielte Arm- und Bein-
eine veränderte Bewusstseinslage massiv einge- beugung, als Antwort auf Schmerzreize zu erwarten.
schränkt sein. Körperliche Symptome, die v. a. die Bei älteren Kindern sollte eine gezielte Abwehr gegen
motorischen Fähigkeiten betreffen, müssen beo- Schmerzreize stattfinden. Um den Grad der Auf-
bachtet und eingeschätzt werden. Auswirkungen merksamkeit des Neugeborenen/Säuglings zu ermit-
sind in vielen Fällen ebenso in Bezug auf eine verän- teln, wird auch der Schlaf-/Wachzustand, die Bewe-
derte Mimik und Gestik sowie auf die Körperhaltung, gung der Augen und soweit möglich das Fixieren von
die Bewegung und den Gang zu beobachten. Gegenständen berücksichtigt.
Letztlich werden den Pflegenden über die Spra- Das Einschätzen der Bewusstseinslage bei älteren
che eines bewusstseinsveränderten Menschen und Kindern erfolgt ähnlich der Methode bei den Er-
deren Inhalte Abweichungen von der Norm vermit- wachsenen. Selbstverständlich müssen Fragen zur
telt. Aber auch Kreislaufveränderungen im Sinne ei- örtlichen und zeitlichen Orientierung sowie eine
nes Hypertonus, eines Pulsfrequenzanstiegs und ei- mögliche Aufforderung zur Bewegung, um ein Bewe-
ner beschleunigten Atmung können sich im Zusam- gungsmuster zu ermitteln, dem Alter und Entwick-
menhang mit Beeinträchtigungen des Bewusstseins- lungstand des Kindes entsprechen. Die Einstufung
systems zeigen, z. B. bei Halluzinationen und Wahn- erfolgt auch hier mithilfe der allerdings modifizier-
vorstellungen. Darüber hinaus können sie auch einen ten Glasgow-Koma-Skala, wie sie die folgende Über-
ursächlichen Faktor für eine Veränderung im Sinne sicht zeigt:
einer Störung der Bewusstseinslage darstellen.
!
3 Augenöffnen auf Zuruf Merke: Bei der Beobachtung und Beurtei-
2 Augenöffnen auf Schmerzreize lung des Bewusstseinszustands eines Kindes
1 kein Augenöffnen auf jegliche Reize muss besonders der jeweilige Entwicklungs-
und Reifezustand beachtet werden, um mögliche Stö-
IV Okulomotorik
rungen des Entwicklungs- und Reifeprozesses von Stö-
(Kaltspülung äußerer Gehörgang, Puppenaugenphäno-
rungen im Bewusstseinssystem abgrenzen zu können.
men)
4 konjugierte Augenbewegungen, Pupillenreaktion
auf Licht beidseits erhalten 13.5 Besonderheiten bei älteren
3 konjugierte tonische Augenbewegung bei oben
genannten Reflexen
Menschen
2 Divergenzstellung beider Bulbi bei oben genannten Marion Weichler-Oelschlägel
Reflexen
1 keinerlei Reaktion bei oben genannten Reflexen, Ein Großteil älterer und alter Menschen leidet mit
Pupillenreaktion auf Licht erloschen zunehmendem Alter unter Störungen des Gedächt-
nisses und der Konzentration. Die damit verbunde-
Modifizierte Glasgow-Koma-Skala für Kinder
nen Informationsdefizite können auch ursächlich in
unter 24 Monaten
Störungen des Kurzzeitgedächtnisses liegen.
Punkte:
Besonders häufig treten im Alter akute und chro-
Augenöffnung: s. GCS max. 4
nische Verwirrtheitszustände auf, deren Ursachen
Verbale Antwort:
sehr vielfältig sind. Bei den zahlreichen Demenzer-
– fixiert, verfolgt, erkennt, lacht 5
13 krankungen im Alter, auch als sog. senile Demenz be-
– fixiert und verfolgt inkonstant, erkennt
nicht sicher, lacht nicht situationsbedingt 4 schrieben, muss vor der Diagnosestellung „Demenz“
– nur zeitweise erweckbar, isst und trinkt ausgeschlossen werden, dass eine behandelbare
nicht 3 Hirnerkrankung oder eine Depression vorliegt.
– ist motorisch unruhig, jedoch nicht Daneben treten gehäuft Veränderungen des Be-
erweckbar 2 wusstseins auf, die als chronisch organisches Syn-
– tief komatös, kein Kontakt zur Umwelt 1 drom (auch Psychoorganisches Syndrom, POS) zu-
Motorische Antwort: s. GCS max. 6 sammengefasst werden und der Diagnose „senile
Demenz“ entsprechen. Dieses Syndrom setzt sich aus
irreversiblen Beeinträchtigungen der intellektuellen
Als Absencen werden sekundenlange Bewusstseins- Fähigkeiten, des Frisch- und Altgedächtnisses und
eintrübungen oder Einengungen bei dem Krank- der Persönlichkeit zusammen. Beginnend mit einer
heitsbild der Epilepsie bezeichnet. erschwerten Auffassungsfähigkeit, einer vorzeitigen
Eine meistens bei Schulkindern vorkommende geistigen Ermüdbarkeit und einer verminderten
Absencen-Epilepsie wird als Pyknolepsie bezeichnet. Konzentrationsfähigkeit kommt es im weiteren Ver-
Sie zeigt sich in einer diskreten Unterbrechung des lauf auch zu Wortfindungsstörungen. Alltägliche
Bewusstseins von ca. 5 – 20 Sek. Dauer. Das Kind ver- Routineaufgaben, wie z. B. das Ankleiden und die
harrt in seiner Tätigkeit. Dabei fällt sein Kopf leicht Nahrungsaufnahme, können nicht mehr fehlerlos er-
nach hinten, die Augen sind starr, halb geöffnet, gele- ledigt werden. Orientierungsstörungen können er-
schwerend hinzukommen.
In späteren Stadien der Erkrankung stellen sich sich schlecht auf bislang geliebte Tätigkeiten, wie etwa
schwere Sprach- und Wortfindungsstörungen ein. die Versorgung seiner Kakteen, konzentrieren. Auch
Die Betroffenen wiederholen einzelne Silben oder seine Enkel, die sich in ihrer Freizeit um ihn kümmern,
Wörter (Logoklonie) oder sie wiederholen die Aussa- stellen eine rapide Verschlechterung seines Zustands
gen ihrer Gesprächspartner (Echolalie). Weiter wird fest, wobei ihr Großvater mehr und mehr verlangsamt
häufig eine emotionale Labilität zu beobachten sein, auf Fragen antwortet. In einer Nacht irrte er stunden-
d. h. Lachen und Weinen wechseln sich ab, aggressive lang im Pyjama ziellos umher und verließ dabei sogar
Ausbrüche können auftreten. Im letzten Stadium Haus und Garten.
kommt es zur völligen Kommunikationsunfähigkeit, Im Folgenden wird ein Auszug aus dem Pflegeplan von
Gangunfähigkeit, zu Muskelkontrakturen, zur Ab- Herrn Dräger vorgestellt (Tab. 13.15).
magerung und Inkontinenz.
Die eigentlichen Ursachen dieser Erkrankung Die mögliche Pflegediagnose zeigt die folgende
können in der Alzheimer-Krankheit (60%), in der De- Übersicht:
menz vom vaskulären Typ (20 – 30%) oder in weite-
ren Ursachen, wie z. B. Tumoren, Alkoholismus,
Schwermetallvergíftungen, Subduralhämatomen, Orientierungsstörung (P)
Enzephalitiden oder seltenen Erkrankungen der (Gordon 2013, S. 338 – 339, NANDA-I 2016)
Hirnzellen selbst liegen. Impaired environmental interpretation syndrome
(000127) (1994)
Zusammenfassung: Taxonomie II: Domäne 5: Wahrnehmung/Kognition,
Besonderheiten bei Kindern und älteren Klasse 2: Orientierung
Menschen Diagnosetyp (Dokumentationsform): aktuelle Pflege-
Bei Kindern gilt die Prüfung der Reflexe als wich- diagnose (PES)
tigste Möglichkeit zur Ermittlung des Bewusstseins Funktionelles Gesundheitsverhaltensmuster:
und der neurologischen Reife. Kognition und Perzeption
Sekundenlange Absencen, Bewusstseinseintrübun-
Definition
gen, treten bei Epilepsie auf.
Anhaltende fehlende Orientierung bezüglich Person,
Eine häufige, im Alter auftretende Bewusstseinsver-
Ort, Zeit oder allgemeinen Umständen über mehr als 3
änderung ist das psychoorganische Syndrom, des-
bis 6 Monate, die eine beschützende Umgebung erfor-
sen Symptome der „senilen Demenz“ entsprechen. derlich macht
Einflussfaktoren (E) 13
13.6 Fallstudien und mögliche Depression
Pflegediagnosen (Alkoholismus)
Demenz (Alzheimer-Krankheit, Multiinfarktdemenz,
Pick-Krankheit, AIDS-Demenz)
Beispiel: Herr Dräger ist 84 Jahre alt, seit 5
Chorea Huntington
Monaten verwitwet und lebt in seinem eige-
nen Haus. Seine beiden erwachsenen Enkel- Kennzeichen oder Symptome (S)
kinder leben in der unteren Etage desselben Hauses beständige Desorientierung (in bekannten und
und sind beide voll berufstätig. Den schmerzlichen Ver- unbekannten Umgebungen über mehr als 6 Monate
lust seiner Ehefrau hat der bis dahin noch rüstige Rent- hinweg)
ner nicht verkraftet. Er hat massiv körperlich und geis- chronische Verwirrtheitszustände
tig abgebaut, sodass er auf eine ambulante pflegerische Verlust der Berufstätigkeit (infolge des Gedächtnis-
Unterstützung bei seiner Körperpflege angewiesen ist. abbaus)
Die Versorgung mit Nahrung erfolgt über die Einrich- Verlust sozialer Funktionen (infolge des Gedächtnisab-
tung „Essen auf Rädern“. baus)
Unfähigkeit, einfachen Anweisungen zu folgen
Seit ca. 3 Monaten leidet Herr Dräger unter zunehmen-
Unfähigkeit zu argumentieren
den Orientierungsstörungen. Er ist zeitweise nur noch
Unfähigkeit, sich zu konzentrieren
mangelhaft zeitlich und örtlich orientiert und kann
verzögertes Beantworten von Fragen
Herr Dräger leidet unter zu- 쐌 Enkel kümmern sich um FZ: 쐌 Nach Absprache mit Herr Dräger Ge-
nehmenden Orientierungs- Herrn Dräger 쐌 Herr Dräger ist orientiert spräch mit Arzt, Pflegedienst und Enkeln
störungen, insbesondere 쐌 Herr Dräger hat einen in allen Bereichen organisieren
bezüglich der Zeit und des ambulanten Pflegedienst NZ: – Sicherheit gewährleisten
Ortes 쐌 Herr Dräger wird von „Es- 쐌 Herr Dräger erfährt eine – Unterstützungsmöglichkeiten bei der
sen auf Rädern“ versorgt geschützte Umgebung Betreuung
쐌 Herr Dräger erhält seine 쐌 vertraute Umgebung gewährleisten
Selbstständigkeit 쐌 kleines Nachtlicht
쐌 Herr Dräger kann seinen 쐌 regelmäßigen Tagesablauf gewährleisten
Tagesablauf sinnvoll ge- – Plan mit Herrn Dräger aufstellen
stalten 쐌 Anregung und Unterstützung bei der
쐌 Herr Dräger erfährt geis- Freizeitgestaltung durch Enkel
tige Anregungen – Absprachen zur gemeinsamen Kak-
teenpflege
– Spieleabende einrichten (2 ⫻ wö-
chentlich)
– Kino- und Theaterbesuch o.Ä. organi-
sieren (1 ⫻ wöchentlich) nach Interes-
sen von Herrn Dräger
Thomas leidet unter anhal- 쐌 Mutter hat ein Bett im Fernziel (FZ): 쐌 stündliche Kontrolle von:
tend hohen Temperaturen Zimmer von Thomas 쐌 physiologische Körper- – Temperatur (rektal)
mit Gefahr eines Fieber- 쐌 Anwesenheit der Mutter temperatur – Puls
deliriums und seiner Kuscheltiere Nahziel (NZ): – RR
wirken beruhigend 쐌 Thomas erleidet kein Fie- – Atmung
쐌 Mutter hält Thomas re- berdelirium und dadurch – Bewusstseinslage
gelmäßig zum Trinken an bedingte Komplikationen 쐌 Information der Mutter:
(Sturz, Verletzungen) – sofort melden bei Anzeichen (motori-
쐌 Thomas hat Temperatu- sche Unruhe, Angst, Halluzinationen)
ren ⬍ 40 ⬚C – beim Verlassen des Zimmers die Bett-
gitter hochziehen
쐌 Zimmer abdunkeln
쐌 Raumtemperatur: 18 ⬚C
쐌 Gegenstände, die bei Thomas Unruhe,
Angst u. Halluzinationen auslösen kön-
nen, aus seinem Blickfeld entfernen
쐌 Trinkmenge nach Flüssigkeitsbilanz 씮
Wunschgetränke
쐌 bei Bedarf kühle Abwaschungen (Wasser-
temperatur: 1 ⬚C unter Körpertempera-
tur)
쐌 bei Temperaturen ⬎ 40 ⬚C feucht-warme
Wadenwickel (Wassertemperatur: 5 ⬚C
unter Körpertemperatur, 10 Minuten be-
lassen)
Fazit: Das Bewusstseinssystem des Men- Entsprechend der Vielschichtigkeit des Bewusst-
schen ist sehr vielfältig und lässt ein breites seinssystems und der Beobachtungskriterien können
Spektrum unterschiedlichster Formen von zahlreiche Ursachen, v. a. auch im Bereich der neurolo-
Beeinträchtigungen und Störungen zu. Es kann hin- gischen und psychiatrischen Erkrankungen, zu einer
sichtlich der Merk- und Reaktionsfähigkeit, der Denk- Veränderung in diesem System führen und verschie-
fähigkeit und der Vorstellungskraft, der Reprodukti- denste Auswirkungen auf den Menschen und seine
13
ons- und Handlungsfähigkeit sowie der Orientierungs- Umgebung haben. Sie erfordern eine einfühlsame, sich
fähigkeit und des Durchhaltevermögens beobachtet an dem Menschen und seiner individuellen Situation
werden. orientierende Pflege.
13
14 Körpergröße
Eva Eißing
Übersicht
Einleitung · 251
14.1 Ermittlung der Körpergröße · 251
14.1.1 Indikationen zur Messung der
Körpergröße · 251
14.1.2 Ermittlung der Körpergröße beim
Erwachsenen · 252
14.2 Allgemeine Beobachtungskriterien und
Beschreibung des Normalzustands · 252
14.2.1 Entwicklung der Körperlänge · 253
14.3 Abweichungen und Veränderungen der
Körpergröße und deren mögliche
Ursachen · 254
14.3.1 Abweichungen der Körpergröße nach Einleitung
„oben“ · 255
14.3.2 Abweichungen der Körpergröße nach Die Körpergröße bestimmt zu einem erheblichen
„unten“ · 255 Maß die Gestalt und das Aussehen eines Menschen.
14.4 Ergänzende Beobachtungskriterien · 256 Damit hat sie entscheidenden Einfluss auf den ersten
14.5 Besonderheiten bei Kindern · 256 Eindruck, der von einem Menschen gewonnen wird.
14.5.1 Somatogramm · 257 Sie gehört zu den objektiv messbaren Daten und er-
14.5.2 Perzentilenkurve · 257 möglicht es, zusammen mit dem Beobachtungskrite-
14.5.3 Ermittlung der Körpergröße · 257 rium „Körpergewicht“, Aussagen über den Ernäh-
14.5.4 Abweichungen und Veränderungen der rungszustand eines Menschen zu treffen. Besondere
Körpergröße · 259 Bedeutung erlangt die Ermittlung der Körpergröße
14.5.5 Ergänzende Beobachtungskriterien · 260 beispielsweise im Zusammenhang mi der Beurtei-
14.6 Besonderheiten bei älteren lung des Entwicklungszustands von Kindern. Weicht
Menschen · 260 die Körpergröße eines Menschen stark vom Normal-
14.6.1 Osteoporose · 260 zustand ab, können für ihn vielfältige Probleme so-
14.7 Fallstudien und mögliche wohl bei der Bewältigung alltäglicher Verrichtungen 14
Pflegediagnosen · 261 als auch im psychosozialen Bereich entstehen.
Fazit · 265
Literatur · 265 Definition: Unter der Körpergröße wird die ge-
samte Länge des Körpers, von dem Scheitel bis zur
Schlüsselbegriffe: Sohle, verstanden. Sie wird in Zentimetern ange-
geben.
왘 Somatogramm
왘 Perzentilenkurve
왘 Mikrosomie 14.1 Ermittlung der Körpergröße
왘 Makrosomie
Erkrankungen, die Einfluss auf die Körpergröße ha- Bedingungen für die Größenmessung
ben, berücksichtigt werden. Gültige Werte können nur bei vergleichbaren Mess-
bedingungen ermittelt werden, deswegen sollte die
14.1.2 Ermittlung der Körpergröße beim Messung möglichst immer zur selben Zeit erfolgen.
Erwachsenen
!
Die Messung erfolgt an einer geeichten Messlatte, Merke: Eine morgendliche Messung ist zu
die entweder an der Wand oder an einer Waage be- bevorzugen, da der Körper abends häufig
festigt ist. Befindet sich die Messlatte an einer Waa- „kürzer“ ist.
ge, so muss sie auf Tritthöhe geeicht sein (Abb. 14.1).
Gemessen wird immer die „Scheitel-Sohlen-Länge“. Die Ursache hierfür liegt in den knorpeligen Band-
Für die Messung muss die Person aufrecht, mit dem scheiben, die durch die Körperlast im Laufe des Tages
Rücken zur Messlatte, mit geschlossenen Fersen und zusammengedrückt werden. Bei insgesamt 24 Band-
gestreckten Knien stehen. Der Hinterkopf lehnt hier- scheiben kann dies 1 – 2 Zentimeter ausmachen. Es
bei leicht gegen die Messlatte. Die Schieberplatte sollte außerdem immer ohne Schuhe gemessen wer-
wird nun auf den Scheitel der Person aufgelegt – al- den.
ternativ kann auch ein Lineal verwendet werden –
und die genaue Höhe abgelesen. Ermittlung der Körpergröße mithilfe der
Kniehöhe
Abb. 14.1 Funk- Bei Menschen mit starken Haltungsschäden (z. B.
fähige Säulenwaage durch Wirbelsäulenveränderungen) oder Bewe-
mit integriertem gungseinschränkungen bietet sich folgende Formel
Messstab
(seca gmbh & co. kg)
für die Ermittlung der (annäherungsweisen) Körper-
größe mithilfe der Kniehöhe an (nach DBFK 2007):
Männer: Größe (cm) = 64,19 – (0,04 ⫻ Alter in Jah-
ren) ⫹ (2,02 ⫻ Kniehöhe in Zentimeter)
Frauen: Größe (cm) = 84,88 – (0,24 ⫻ Alter in Jah-
ren) ⫹ (1,83 ⫻ Kniehöhe in Zentimeter)
Dokumentation
Die Dokumentation der ermittelten Werte erfolgt
zumeist in einer festgelegten Spalte des Dokumen-
tationssystems. Da es sich größtenteils um eine ein-
malige Ermittlung handelt, Ausnahmen bilden be-
14 sondere Situationen in der Orthopädie und Pädiatrie
(s. a. S. 260), wird die Körpergröße häufig in einer
Rubrik zusammen mit dem Körpergewicht doku-
mentiert (Abb. 14.2).
Haltungsschäden wie z. B. die Skoliose, bei der es
zu einer seitlichen Verbiegung der Wirbelsäule mit
Verdrehung der Wirbelkörper kommt, bewirken,
dass die Größenbestimmung nicht korrekt ist. Hier
muss ein entsprechender Vermerk in der Dokumen-
tation erfolgen.
Zu den messbaren Größen der körperlichen Entwick- liegt beim Kind an der Grenze zwischen Schaft und
lung zählt die Körperlänge. Diese ist abhängig von Gelenkkörper.
der Skelettreifung und diese wiederum vom entspre- Die Wachstumsfuge besteht aus Knorpelzellen.
chenden Entwicklungsalter. Die durchschnittliche Durch Umbauvorgänge, in denen hauptsächlich die
Körpergröße einer erwachsenen Frau wird mit Knorpelzellen abgebaut und durch Knochenzellen
167 cm ⫾ 11 cm angegeben, bei einem erwachsenen ersetzt werden, entsteht Knochengewebe. Dieser
Mann mit 177 cm ⫾ 13 cm. Vorgang erfolgt bis zum Ende der Wachstumszeit, 14
Im Somatogramm sind die normalen Körperlän- d. h. der Knorpel ist am Ende der Wachstumszeit
gen in Relation zum Alter gesetzt und tabellarisch vollständig durch Knochen ersetzt.
zusammengefasst (s. a. S. 256). Außer dem Somato- Wird dieser Prozess gestört, z. B. durch Frakturen,
gramm gibt es weitere sog. „Normaltabellen“, bei de- hormonelle Fehlregulation etc., kann der Röhren-
ren Verwendung immer bedacht werden muss, dass knochen sich nicht vollständig ausbilden, was einen
die normale Körpergröße innerhalb der Bevölkerung mehr oder weniger erheblichen Einfluss auf die end-
mehr oder weniger stark schwankt. gültige Körperlänge hat.
Das Ende des Wachstums ist demnach eng mit der durch Dunstschichten und Fensterglas – UV-Licht
Pubertät, zwischen 15 und 20 Jahren, verbunden. Bei wird resorbiert –, hat einen Vitamin-D-Mangel zur
Mädchen/Frauen endet das Wachstum in der Regel 2 Folge. Dies führt zu Regulationsstörungen im Kalzi-
Jahre früher als bei den Jungen/Männern. Sie sind aus umhaushalt, was eine Kalkmobilisation aus dem
diesem Grund durchschnittlich 10 – 12 cm kleiner. Knochen bewirkt. Es kommt bei Säuglingen und Kin-
dern zu einer verzögerten Skelettreifung mit typi-
Gene schen Verformungen und Verkrümmungen einzel-
Die Körpergröße bzw. -länge wird ganz entscheidend ner Knochen und der Wirbelsäule. Bei Kindern ist
von den Genen bestimmt. So sind Männer durch- dieses Krankheitsbild unter dem Namen Rachitis be-
schnittlich größer als Frauen (s. o.), Japaner meistens kannt. Regulationsstörungen des Kalziumhaushaltes
kleiner als Angehörige einer europäische Menschen- im Erwachsenenalter können zur Osteoporose füh-
rasse. Bei eineiigen Zwillingen kann man nach Ab- ren. (s. a. S. 260).
schluss des Wachstums eine gleiche Größe feststel-
len. Außerdem können verschiedene Knochener- Zusammenfassung:
krankungen, die sich auf die Körpergröße auswirken, Körpergröße
vererbt werden. Die Körpergröße muss mit einer Messlatte, immer
morgens und ohne Schuhe, gemessen werden.
Ernährung Haltungsschäden müssen in der Dokumentation
Der steigende Lebensstandard hat sich auch auf die vermerkt werden.
Ernährung des Menschen ausgewirkt. In der Zeit bis Die durchschnittliche Körpergröße ist bei der Frau
nach dem II. Weltkrieg bestanden die Mahlzeiten 167 cm ⫾ 11 cm, beim Mann 177 ⫾ 13 cm.
hauptsächlich aus Kohlenhydraten (Brot und Kartof- Skelettentwicklung, Hormone, Gene, Ernährung.
feln) und Fetten (Schmalz und pflanzliche Öle), da Ei- UV-Licht haben Einfluss auf das Längenwachstum
weiß in Form von Fleisch für viele Familien zu teuer eines Körpers.
war.
In den letzten 30 Jahren wird mehr Eiweiß in
14.3 Abweichungen und
Form von Fleisch und Fisch verzehrt. Diese Verände-
rung der Ernährung zeigt sich u. a. in der Änderung
Veränderungen der
der Körpergröße. So sind beispielsweise die Angehö- Körpergröße und deren
rigen der gut ernährten Bevölkerungsschichten im mögliche Ursachen
Durchschnitt größer als die der weniger gut ernähr-
ten Gruppen. Verschiedene Ursachen, in erster Linie aber die ver-
mehrte bzw. verminderte Ausschüttung von Wachs-
14 Sonstige Faktoren tumshormonen, führen zu Veränderungen des Kör-
Seit der Jahrhundertwende gibt es ein das Längen- perwachstums. Für die Abweichungen nach oben
wachstum betreffendes Phänomen: die Menschen bzw. nach unten werden verschiedene Begriffe ver-
werden größer. Betroffen sind neben dem Längen- wendet, die sich an dem Ausmaß der Abweichung in
wachstum auch Gehirn, Zähne, innere Organe sowie Zentimetern orientieren (Tab. 14.1).
die Geschlechtsorgane. Dieses Phänomen ist in allen
Altersstufen sichtbar. Beispielsweise sind heute
Tab. 14.1 Abweichungen der Körpergröße
Schulanfänger durchschnittlich 8 cm größer als ihre
Altersgenossen zu Beginn des 20. Jhdts. Gründe hier- Frauen Männer
für sind der Wegfall wachstumshemmender Fakto-
Normalwerte 167 cm (⫾ 11 cm) 177 cm (⫾ 13 cm)
ren, wie eiweißarme Ernährung (s. o.), Kinderarbeit
und Infektionskrankheiten. Man nennt dieses Phä- Makrosomie ca. 180 cm ca. 190 cm
nomen säkulare Akzeleration. Gigantismus ⬎ 200 cm ⬎ 210 cm
Auch ein Mangel an UV-Licht kann sich auf die
Skelettentwicklung auswirken. UV-Licht bewirkt die Mikrosomie ⬍ 140 cm ⬍ 150 cm
14.3.1 Abweichungen der Körpergröße nach Dies bedeutet, dass bei Frauen die Körpergröße
„oben“ 200 cm und bei Männer 210 cm überschreitet. Die
Übersteigt die Körperlänge den Durchschnittswert, Ursachen liegen wie bei der Makrosomie in der ver-
wird dies als Makrosomie oder Gigantismus bezeich- mehrten Bildung von Wachstumshormonen.
net.
Akromegalie
Makrosomie (Hochwuchs) Definition: Unter einer Akromegalie versteht
Als Hochwuchs wird die pathologische Steigerung man die Vergrößerung der Akren, der distalen
des Längenwachstums bezeichnet. Hierfür ist auch Teile des Körpers wie Finger, Hände, Füße, Nase,
der Begriff „Überlänge“ gebräuchlich. Kinn, Augenbrauen, Jochbein und Kehlkopf.
Definition: Eine Makrosomie liegt dann vor, Entsprechend ist auch die Symptomatik. Die betrof-
wenn die Körperlänge bis ca. 30% überschritten fenen Menschen stellen u. a. fest, dass sich die Schuh-
wird, d. h. bei einer Körperlänge von 180 cm bei und Handschuhgröße um 1 – 2 Nummern vergrö-
der Frau und 190 cm beim Mann. ßert, der Hut zu klein geworden ist und Ringe nicht
mehr passen. Hinzu kommt ein klobiges, grobes Aus-
Die Ursache des Hochwuchses liegt in der vermehr- sehen des Gesichts und eine tiefe Stimme
ten Bildung von Wachstumshormonen vor dem (Abb. 14.3).
Wachstumsabschluss, beispielsweise bei Hypophy- Die Ursache liegt auch hier in einer übermäßigen
senerkrankungen, einer Hyperthyreose oder auch ei- Produktion von Wachstumshormonen, doch im Ge-
nem Hydrozephalus. gensatz zur Makrosomie und dem Gigantismus ist
die Skelettreifung bereits abgeschlossen, was bedeu-
Gigantismus (Riesenwuchs) tet, dass die Akromegalie erst im Erwachsenenalter
Definition: Ist die durchschnittliche Körperlän- auftritt und lediglich die distalen Teile des Körpers
ge um 30% bis 40% überschritten, so liegt ein pro- weiterwachsen. Für die vermehrte Produktion der
portionaler Riesenwuchs bzw. Gigantismus vor. Wachstumshormone ist häufig ein Adenom in der
Hypophyse verantwortlich.
Eine Hemmung der Bildung von Wachstumshor- Durchschnittswert wird als Gigantismus bezeich-
monen und damit ein Stillstand des Längenwachs- net.
tums bei Kindern kann durch eine Überproduktion Durch übermäßige Produktion der Wachstumshor-
von Cortisol hervorgerufen werden. Cortisol ist ein mone im Erwachsenenalter, nach der Skelett-
Hormon, welches in der Nebennierenrinde gebildet reifung, entsteht Akromegalie.
wird, entzündungshemmend wirkt und in den Er- Mikrosomie liegt bei einer Größe von unter 140 cm
nährungsstoffwechsel ein greift. Neben dem verän- bei Frauen und 150 cm bei Männern vor.
derten Längenwachstum ist deshalb auch eine verän- Fehlen von Wachstumshormonen, zerebrale Ge-
derte Fettverteilung in Form einer Stammfettsucht, burtstraumen, Tumore, schwere Allgemeinerkran-
eines Vollmondgesichtes und Stiernackens auffällig. kungen, Unterernährung, Überproduktion von Cor-
Eine weitere Ursache für eine Mikrosomie ist auch tisol oder vorzeitiger Verschluss der Epiphysenfu-
der vorzeitige Verschluss der Epiphysenfugen, z. B. gen können Ursachen für Kleinwuchs sein.
nach Frakturen oder bei Knochenmarkserkrankun- Chondrodystrophie oder Achondroplasie ist eine
gen. Der betroffene Knochen kann nicht mehr wei- Störung der Knorpelbildung und führt zu dispro-
terwachsen, die Folge ist ein Längenunterschied ein- portioniertem Zwergwuchs.
zelner Gliedmaßen. Ist beispielsweise ein Bein be-
troffen, entwickelt sich oftmals ein Beckenschief-
stand und die Wirbelsäule krümmt sich entspre- 14.4 Ergänzende
chend. Sind beide Beine betroffen, so verringert sich Beobachtungskriterien
die gesamte Körpergröße bei normaler Länge des
Körperstammes. Die isolierte Betrachtung der Körpergröße spielt im
klinischen Alltag kaum eine Rolle. Um die Größe zu
Nanosomie (Zwergwuchs) beurteilen und Abweichungen von der Norm festzu-
Definition: Die Nanosomie ist eine Wachs- stellen, müssen weitere Faktoren beachtet werden
tumsstörung, bei der nach Abschluss des Län- (s. a. S. 251). Daneben sollten auch immer z. B. die
genwachstums die Körpergröße bei Frauen und Körperhaltung und die Bewegungen beobachtet
Männern 130 cm nicht überschreitet. werden, um mögliche körperliche Auswirkungen der
Wachstumsstörung festzustellen.
Die Ursachen entsprechen denen der Mikrosomie. Da Wachstumsstörungen und damit verbundene
Veränderungen des Aussehens häufig Auswirkungen
Chondrodystrophie (Achondroplasie) auf die psychische Verfassung haben, ist die Beo-
Definition: Bei der Chondrodysthrophie, die bachtung der Stimmungslage der betroffenen Men-
neuerdings auch als Achondroplasie bezeichnet schen von Bedeutung. Bei Kindern kann ein verzö-
14 wird, handelt es sich um eine Störung der Knor- gertes oder fehlendes körperliches Wachstum in
pelbildung infolge Fehlens der Knorpel-Wachstumsfu- Verbindung mit einer geistigen Entwicklungsver-
ge mit stark verzögerter Knochenbildung. zögerung auftreten. Hier muss deshalb auch immer
der geistige Entwicklungszustand beachtet wer-
Alle Röhrenknochen bleiben kurz, das Breitenwachs- den.
tum findet ungehindert statt. Dies führt zu einem
disproportionierten Zwergwuchs mit kurzen Armen
und Beinen, einem kurzen Hals sowie einem großen, 14.5 Besonderheiten bei Kindern
meist deformierten Schädel. Außerdem ist das Be- Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm
cken verengt und die Wirbelsäule in Form einer Lor-
dose gekrümmt. Die Chondrodystrophie wird zu- Die Körpergröße bei der Geburt und die Größenzu-
meist vererbt. nahme ist im Verlauf der Kindheit ein zusätzlich
wichtiger Anhaltspunkt für die Beurteilung der kör-
Zusammenfassung: perlichen Entwicklung eines Kindes. Weitere wichti-
Abweichungen und Veränderungen der Kör- ge Anhaltspunkte sind Alter, Kopfumfang und Ge-
pergröße wicht. Das Wachstum eines Kinds erfolgt nicht
Wenn die Körperlänge um 30% überschritten wird, gleichmäßig, sondern schubweise. Es kann jedoch
spricht man von Makrosomie, 30 – 40% über dem durch verschiedene innere und äußere Faktoren be-
einflusst werden (s. a. S. 252).
Tab. 14.2 Somatogramm und Perzentilenkurve (aus: Hoehl, M., Kullick, P. [Hrsg.]: Thiemes Gesundheits- und Kinder-
krankenpflege. 3. Aufl. Thieme, Stuttgart 2008)
Somatogramm Perzentilenkurve
Mit dem Somatogramm kann der Entwicklungszustand Mit der Perzentilenkurve lässt sich der Entwicklungsverlauf
anschaulich beurteilt werden (hier am Beispiel eines 13-jährigen beurteilen (in dieser Kurve von Jungen ab der 28. Schwanger-
Mädchens). schaftswoche bis 8 Wochen nach Termin).
Jahre cm ± 2σ kg ± 2σ 28 30 32 34 36 38 40 2 4 6 8
cm cm
%
177 67,5 60 60
Länge 90
176 66,8
58 Knaben 28 SSW–8 Wochen n. Termin 58
175 66,1
50
174 65,4 56 56
intrauterin
173 64,7
extrauterin 10
172 64,0 54 54
171 63,0
52 52
170 62,0
169 61,0 50 50
168 60,0
48
167 59,0 kg
%
19 166 11 58,0 46
90
5,6
165 56,0 44
+19,0 5,2
164 54,5 %
13,5 42 50
163 53,5 90
4,8
14 162 13 52,5 40
50 4,4
10
38
161 50,8
10 4,0
160 49,2 +19,0 36
13
14 159 47,6 13,5 3,6
13 158 46,0 34
3,2
157 45,1 kg
Gewicht 2,8
156 44,2
+19,0
14 2,4 2,4
155 43,3
13,0
154 42,4
2,0 2,0
%
12 153 41,5
90
1,6 1,6
152 40,9 50
1,2 1,2
151 40,3 10
150 39,4 +16,5 0,8 0,8
14
149 38,5 11,0
148 37,5 28 30 32 34 36 38 40 2 4 6 8
11 147 36,6
Gestationsalter (Wochen) Alter nach Termin
14.5.5 Ergänzende Beobachtungskriterien Insgesamt verringert der alte Mensch seine Körper-
Da die Körpergröße allein keinen Aussagewert hat, größe um ca. 3 – 4 cm.
müssen weitere Kriterien parallel beobachtet wer-
den (s. a. S. 251 und S. 256). Bei Kindern müssen zu- 14.6.1 Osteoporose
sätzlich die Sprachentwicklung, Reflexe und Reaktio- Definition: Osteoporose ist eine Verminde-
nen sowie die Wahrnehmungs- und Beobachtungs- rung von Knochengewebe durch gesteigerten
fähigkeit beachtet werden, da diese u. a. Rückschlüs- Knochenabbau und/oder verminderten Kno-
se auf die geistige Entwicklung eines Kindes zulas- chenaufbau.
sen, dessen Verzögerung oder Verminderung auch
im Zusammenhang mit einem verzögerten oder feh- Mit einem Anteil von ca. 10 % der Gesamtbevölke-
lenden Körperwachstum auftreten kann. rung stellt sie die häufigste Skeletterkrankung dar. Es
sind verschiedene Ursachen dafür verantwortlich,
z. B. Kalziummangel, genetische Disposition oder
Alter. Am häufigsten sind Frauen betroffen. Nahezu
14.6 Besonderheiten bei älteren jede 3. Frau entwickelt nach der Menopause eine
Menschen Osteoporose.
Eva Eißing Infolge der Knochenveränderung kann es sowohl
zu Schmerzen als auch zu Brüchen im betroffenen
Im Alter nimmt der Wassergehalt der Bandscheiben Bereich kommen. Sehr häufig ist die Verformung der
ab, sie werden schmaler und der Abstand zwischen Wirbelsäule mit Bildung des typischen Rundrückens
den einzelnen Wirbelkörpern verringert sich. Die (Abb. 14.6). Diese Verformung vollzieht sich meist
Folge ist, dass der Mensch insgesamt kleiner wird, er über viele Jahre und entsteht dadurch, dass die Spon-
schrumpft sozusagen. Hinzu kommt die zunehmen- giosa im Bereich der Lenden- und Brustwirbelsäule
de Abnahme der Knochensubstanz, wodurch der zusammensackt und die Wirbelkörper die Last des
Knochen mehr und mehr zusammengepresst wird. Körpergewichts nicht mehr tragen können. Infolge-
dessen verringert sich auch die Körpergröße.
14
(wiederholte Äußerungen negativer Gefühle in Bezug Äußerungen über Wahrnehmungen, die eine verän-
auf den Verlust von Körperflüssigkeiten, deren Hinzu- derte Sichtweise auf die äußere Erscheinung wider-
fügen oder über Maschinen/Geräte) spiegeln
(wiederholte Äußerungen einer) Fokussierung auf ver- Verhalten, das auf eine Rückmeldung oder Bestäti-
gangene Stärken gung zum eigenen Körper gerichtet ist
(wiederholte Äußerungen einer) Fokussierung auf die Nonverbale Reaktion auf eine reale Veränderung des
frühere Funktion Körpers (z. B. Aussehen, Struktur, Funktion)
(wiederholte Äußerungen einer) Fokussierung auf das Nonverbale Reaktion auf eine wahrgenommene Ver-
frühere Aussehen änderung des Körpers (z. B. Aussehen, Struktur, Funk-
tion)
Nebenkennzeichen
Vermeidendes Verhalten bezüglich des eigenen Kör-
Äußerung über Veränderung der Lebensweise
pers
negative Gefühle (oder Wahrnehmungen) über den
Beobachtendes Verhalten bezüglich des eigenen Kör-
Körper (z. B. Gefühl der Hilflosigkeit, Hoffnungslosig-
pers
keit, Machtlosigkeit)
starke Auseinandersetzung mit der Veränderung objektiv
starke Auseinandersetzung mit dem Verlust reale Veränderung der Funktion
Ablehnung, die reale Veränderung zu überprüfen und reale Veränderung der Struktur
zu bestätigen Verhalten, das eine Rückmeldung oder Bestätigung
veränderte Fähigkeit, die räumliche Beziehung zwi- zum eigenen Körper sucht
schen dem Körper und dem Umfeld einzuschätzen beobachtendes Verhalten bezüglich des eigenen Kör-
Personalisierung des Körperteils durch Namensge- pers
bung fehlender Körperteil
Personalisierung des Verlustes durch Namensgebung unabsichtliches Verbergen des Köperteils
Depersonalisierung des Körperteils durch unpersönli- unabsichtliches zur Schau stellen des Körperteils
che Fürwörter subjektiv
Depersonalisierung des Verlustes durch den Gebrauch Furcht vor den Reaktionen anderer
unpersönlicher Fürworte
Erweiterung der Körpergrenzen, um Objekte aus der Pflegeergebnis (Outcome)
Umgebung einzuschließen (z. B. Maschinen, Beat- Körperbild (Body Image)
mungsgerät), Positive Wahrnehmung der eigenen Erscheinung und
Betonung der verbliebenen Stärken (oder) Körperfunktionen
überzogene Darstellung von erbrachten Leistungen Risikogruppen
Trauma in Bezug auf den nicht funktioniernden Kör-
Personen . . .
perteil (absichtlich oder unabsichtlich)
14 mit Hemiplegie
Veränderung in der sozialen Einbindung (oder in sozia-
nach dem Verlust eine Körperteils (z. B. Amputation
len Beziehungen)
eines Beins, einer Brust)
absichtliches Verbergen von Körperteilen
nach dem Verlust oder der Veränderung einer Körper-
absichtliches zur Schau stellen eines Körperteils
funktion (z. B. Fortpflanzungsfunktion, Ausscheidung)
berührt den Körper nicht
nach einem Gesichtstrauma
schaut den Körperteil nicht an
nach der Implantation eines Schrittmachers
Äußerungen über Gefühle, die eine veränderte Sicht-
mit angeborenen Anomalien (sichtbar)
weise auf den eigenen Körper widerspiegeln (z. B. Aus-
sehen, Struktur oder Funktion)
In diesem Fall würde die Pflegediagnose folgender- (subjektiv) Furcht vor Reaktionen anderer,
maßen lauten: Veränderungen in sozialen Beziehungen,
Körperbildstörung b/d (beeinflusst durch) Nicht-In- Äußerungen über eine tatsächliche oder wahrge-
tegration der Veränderung a/d (angezeigt durch): nommene Veränderung der Struktur und/oder
Funktion des Körpers oder eines Körperteils.
Verminderung der sozialen 쐌 hält bestehende Kontakte 쐌 motivieren, auch während des Klinikauf-
Kontakte aufgrund körperli- aufrecht enthaltes Kontakte aufzunehmen und auf-
cher Beschwerden und rechtzuhalten (z. B. Telefon, Briefe)
Ängste bzgl. des Aussehens 쐌 freie Besuchszeiten
쐌 akzeptiert die Verände- 쐌 Hilfestellung geben bei der Akzeptanz des
rung ihres Aussehens veränderten Aussehens durch Gespräche,
Beratungsangebote und Hinweis auf die
Selbsthilfegruppe (Stereotypen vermeiden)
쐌 Familienangehörige zu Beratungsgesprä-
chen hinzuziehen (mit Einverständnis von
Fr. O.)
쐌 kennt Möglichkeiten, 쐌 Hinweis, dass durch ausgewählte und spe-
durch die Kleidung das ziell angepasste Kleidung die körperlichen
Aussehen positiv zu be- Veränderungen weniger sichtbar sind und
einflussen dadurch das Aussehen verbessert wird
쐌 Kontakt zur Schneiderin herstellen
schmerzhafte, einge- 쐌 Hilfsmittel: Haltegriffe, 쐌 erlernt Technik zur be- 쐌 Ermittlung von beschwerdefreien Be-
schränkte Bewegung bei der Duschsitz vorhanden schwerdearmen Durch- wegungsmöglichkeiten und daraus
Körperpflege und beim An- (auch zu Hause) führung der Körperpflege resultierend gemeinsam eine Technik zur
kleiden und des Ankleidens beschwerdearmen Durchführung der Kör-
perpflege und des Ankleidens entwickeln
쐌 erlernt physiotherapeuti- 쐌 Information über die Notwendigkeit von
sche Übungen zur Erhal- regelmäßigen (mind. 1 ⫻ tgl.) physiothe-
tung der Beweglichkeit rapeutischen Übungen (Beweglichkeit er-
und führt diese mind. halten, Muskulatur stärken, Schmerzen
1 ⫻tgl. selbstständig vermindern)
durch 쐌 Terminabsprache mit der Physiotherapeu-
쐌 weiß, dass die Übungen tin
auch im Alltag kontinuier- 쐌 Gespräch mit Arzt vermitteln bzgl. der
lich durchgeführt werden Schmerzmedikation
müssen
쐌 kennt ihre Schmerzmedi-
kation und geht verant-
wortungsvoll damit um
14
Beispiel: Stefan, 6 Jahre alt, leidet an einem vor allem, weil er deswegen nicht bei Freunden über-
hypophysären Kleinwuchs. Seine Körperlän- nachten darf, und über die häufig notwendigen Arztbe-
ge beträgt 96 cm, dies entspricht der Normal- suche, zu denen ihn seine Eltern begleiten. Hierdurch
länge eines ca. 3-jährigen Kindes. Als Ursache für die fühlt er sich in seinen Freizeitaktivitäten gestört. Hinzu
Erkrankung von Stefan gilt eine verminderte Produkti- kommt, dass sich Stefan aufgrund seines Wachstums-
on von HGH (Human-Growth-Hormon = menschliches rückstands von seinen Spiel- und Schulkameraden
Wachstumshormon). Seit kurzem wird Stefan mit bio- nicht akzeptiert fühlt (Tab. 14.4).
synthetisch hergestelltem HGH behandelt, welches ihm In diesem Fall ist die in der folgenden Übersicht darge-
von seinen Eltern jeden Abend s. c. verabreicht wird. stellte Pflegediagnose zutreffend:
Stefan beklagt sich sehr über diese täglichen Spritzen,
Störung der Freizeitaktivitä- 쐌 Eltern unterstützen und 쐌 Stefan kann seine Frei- 쐌 Stefan fragen, wann seiner Meinung
ten durch häufige Arzt- begleiten Stefan zeitaktivitäten ungestört nach die besten Tage und Zeiten für die
besuche ausüben notwendigen Kontrollen sind
쐌 zusammen mit Stefan, seinen Eltern und
dem Arzt feste Termine absprechen
Stefan fühlt sich aufgrund 쐌 Stefans Eltern können 쐌 Stefan fühlt sich freier 쐌 Gesprächstermin mit Arzt, Stefan und
der täglichen Injektionen ihm die Injektion verab- und von seinen Eltern un- seinen Eltern vereinbaren 씮 Notwen-
von seinen Eltern abhängig reichen abhängiger digkeit der täglichen Spritzen; Folgen
쐌 Stefan kennt die Notwen- von nicht erfolgten Injektionen; Möglich-
digkeit der täglichen In- keit, die Injektionen selbst durchzufüh-
jektionen ren
쐌 Stefan kennt den Plan zur 쐌 zusammen mit Stefan und seinen Eltern
Erlernung der s. c.-Injekti- einen Plan zur Erlernung der s. c.-Injek-
on und hält diesen ein tion von HGH aufstellen, z. B.:
쐌 Stefan führt die s. c.-In- Ort: Zimmer von Stefan
jektion von HGH täglich Zeit: 17.45 h
selbstständig durch (ab 1. – 3. Tag: Aufziehen des Medikamentes
10. 8. 98) 4. u. 5. Tag: mögliche Injektionsorte
(Wechsel: rechter Oberschenkel, Bauch-
decke, linker Oberschenkel), Durchfüh-
rung der s. c.-Injektion zeigen und erläu-
tern
6. – 8. Tag: s. c.-Injektion durch Stefan un-
ter Anleitung
9. – 11. Tag: s. c.-Injektion durch Stefan
unter Aufsicht
ab 12. Tag: selbstständige s. c.-Injektion
von HGH
쐌 den Plan in Stefans Zimmer hängen
Stefan fühlt sich von seinen 쐌 Stefan fühlt sich ange- 쐌 Stefan hinsichtlich seiner Fähigkeiten be-
Spiel- und Schulkameraden nommen obachten und ihn auf diese aufmerksam
aufgrund seines Wachs- 쐌 Stefan besitzt ein ange- machen
tumsrückstandes nicht messenes Selbstbewusst- 쐌 die Eltern auf die Möglichkeit der Unter-
akzeptiert sein stützung (Beratung, Tipps, Hilfestellung)
durch Selbsthilfegruppe aufmerksam
machen
쐌 zusammen mit Stefan und den Eltern
eine angemessene Sportart (Verein) aus-
14 wählen
Risikogruppen Literatur:
Personen
mit Rückenmarkverletzung Gemeinsamer Bundesausschuss: Kinder-Richtlinie: Formale
und inhaltliche Überarbeitung (Neustrukturierung) –
Jugendliche
Neufassung. September 2016
mit erzwungener Bettruhe
Gerlach, U., H. Wagner, W. Wirth: Innere Medizin für Pflegebe-
mit chronisch-degenerativen Erkrankung rufe. 8. Aufl. Thieme, Stuttgart 2015
mit Einschränkungen körperlicher Aktivitäten Gordon, M.: Handbuch Pflegediagnosen. 5. Aufl. Hans Huber,
Hogrefe AG, Bern 2013
Gortner, L., S. Meyer, F. C. Sitzmann: Duale Reihe Pädiatrie.
Für Stefan kann die Pflegediagnose lauten:
4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012
Ungelöster Abhängigkeits-/Unabhängigkeitskonflikt Hoehl, M., P. Kullick (Hrsg.): Thiemes Gesundheits- und Kin-
b/d (beeinflusst durch) physische Aktivitätsbe- derkrankenpflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012
schränkung a/d (angezeigt durch) wiederholte ver- Huch, R., K. D. Jürgens (Hrsg.): Mensch Körper Krankheit, Ana-
bale Äußerungen des Wunschs nach Unabhängigkeit tomie, Physiologie, Krankheitsbilder. Lehrbuch und Atlas
in Situationen therapeutischer Natur, die eine gewis- für Berufe im Gesundheitswesen, 7. Aufl. Urban & Fischer,
se Abhängigkeit erfordern.
Elsevier GmbH, München 2015
14
Köther, I.: Altenpflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2016
Lippert, H.: Lehrbuch Anatomie. 8. Aufl. Urban & Fischer Ver-
Fazit: Die Körpergröße eines Menschen kann lag/Elsevier GmbH. München 2017
nur in Verbindung mit Alter, Rasse, Ernäh- NANDA International: Pflegediagnosen. Definitionen und
rungszustand/Gewicht und unter Hinzuzie- Klassifikation 2015 – 2017. Herdman, T. H., S. Kamitsuru
hung der Krankheitsanamnese beurteilt werden. Als (Hrsg.): RECOM, Kassel 2016
Wachstumsstörungen werden Abweichungen von der Pflege Heute. 6. Aufl. Urban & Fischer, München 2014
Schwegler, J., R. Lucius: Der Mensch. Anatomie und Physiolo-
normalen Größenentwicklung (Hoch-und Kleinwuchs)
gie, 6. Aufl. Thieme, Stuttgart 2016
15 Körpergewicht
Eva Eißing
Übersicht
Einleitung · 266
15.1 Ermittlung des Körpergewichts · 267
15.1.1 Indikation · 267
15.1.2 Verschiedene Messwaagen · 267
15.1.3 Bedingungen für die
Gewichtsmessung · 268
15.1.4 Dokumentation · 268
15.1.5 Ermittlung der Körperoberfläche · 268
15.2 Allgemeine Beobachtungskriterien und
Beschreibung des Normalzustandes · 268
15.2.1 Body-Mass-Index · 268
15.2.2 Taille-Hüft-Verhältnis (THV) · 268
15.2.3 Subjektives Normgewicht · 269 Einleitung
15.2.4 Beeinflussende Faktoren · 269
15.2.5 Energiebilanz · 270 Das Körpergewicht ist eng mit dem ersten Eindruck,
15.3 Abweichungen und Veränderungen des der von einem Menschen gewonnen wird, verknüpft.
Körpergewichts sowie deren Veränderungen des Körpergewichts nach oben oder
Ursachen · 270 unten werden häufig mit Vorurteilen verbunden, et-
15.3.1 Übergewicht · 272 wa „Dicke Menschen sind gemütlich“ oder „Dünne
15.3.2 Untergewicht · 275 Menschen sind drahtig und agil“. Das Körpergewicht
15.4 Ergänzende Beobachtungskriterien · 277 beeinflusst in vielen Fällen das subjektive Wohlbe-
15.5 Besonderheiten bei Kindern · 277 finden.
15.5.1 Indikation zur Ermittlung des Eine wesentliche Rolle bei der Beurteilung des
Körpergewichts · 277 Körpergewichts spielt das jeweilige Schönheitsideal:
15.5.2 Ermittlung des Körpergewichts · 277 Je nachdem, ob gerade „runde“ oder „kantige“ For-
15.5.3 Normalzustand · 278 men „in“ sind, wird vermehrt gegessen oder gefastet.
15.5.4 Abweichungen und Veränderungen des Das Körpergewicht ist jedoch nicht nur Ausdruck der
Körpergewichts · 279 psychischen Befindlichkeit, vielmehr lässt es auch
15.6 Besonderheiten bei älteren Rückschlüsse auf aktuelle Erkrankungen zu.
Menschen · 279
15 Definition: Das Gewicht stellt eine physikali-
15.7 Fallstudien und mögliche
Pflegediagnosen · 280 sche Einheit dar und bezeichnet die Kraft, die auf
Fazit · 282 eine Masse, z. B. den menschlichen Körper, infol-
Literatur · 282 ge der Erdanziehung zum Erdmittelpunkt wirkt.
왘 Body-Mass-Index
왘 Taille-Hüft-Umfang
왘 Jo-Jo-Effekt
왘 Insulinresistenz
15.1.1 Indikation
Das Körpergewicht wird in der Regel bei der Aufnah-
me ins Krankenhaus oder im Altenheim gemessen,
um einen Ausgangswert zu haben. Die Dosis vieler
Medikamente, u. a. von Schmerz- und Betäubungs-
mitteln sowie von Antibiotika, wird anhand des Kör-
pergewichts berechnet. Die Berechnung der Körper-
oberfläche, des Grundumsatzes sowie des indivi-
duellen Kalorienbedarfs richtet sich ebenfalls da-
nach.
Zur Beurteilung des Körpergewichts müssen zu-
sätzliche Kriterien wie Körpergröße, Alter und Ge-
schlecht berücksichtigt werden.
Die Häufigkeit der Gewichtskontrolle richtet sich
nach der zugrunde liegenden Indikation. Es gibt spe-
zielle Indikationen, z. B. die Kontrolle bei der Ödem-
ausschwemmung z. B. bei Herz- und Nierenerkran-
kungen oder die genaue Bilanzierung, für die eine
tägliche Gewichtskontrolle notwendig ist. Die Mess-
frequenz zur Kontrolle der Gewichtszu- oder -ab-
nahme liegt bei ein- bis zweimal pro Woche.
Die Messung des Körpergewichts erfolgt mittels
einer Waage. Die Waage sollte geeicht und mit einer
gut ablesbaren Gewichtsskala, einer Feineinteilung
von 100 g und einem Wiegebereich bis mindestens
150 kg ausgestattet sein. Die für den Haushaltsbe-
reich gebräuchlichen Waagen können häufig nicht
geeicht werden und sind demnach für die exakte
Messung ungeeignet. In der Klinik stehen mehrere
Waagenarten zur Verfügung:
Bettenwaage: Die Bettenwaage ist ein fahrbares Skalensystem und zwar derart, dass, wenn nur eine der
Bettuntergestell mit integrierter Waage. Hiermit Größen unbekannt ist, diese aus dem Nomogramm
werden sowohl das Bett als auch der Mensch ge- entnommen werden kann.
wogen. Das Gewicht des Betts wird nach der Mes-
sung subtrahiert, um das Körpergewicht des Beispiel: Die Körperoberfläche kann bei be-
Menschen zu ermitteln. Die Bettenwaage findet kannter Körpergröße und bekanntem Kör-
Anwendung bei bettlägerigen, immobilen Men- pergewicht durch entsprechendes Verschie-
schen, deren Gewichtsermittlung von großer Be- ben einer Rechenscheibe auf einer Skala abgelesen
deutung ist, z. B. im intensivpflegerischen Bereich werden.
und in der Dialyse.
Größe (m)
1,54 1,58 1,62 1,66 1,70 1,74 1,78 1,82 1,86 1,90
Gewicht (kg)
128
88 96 104 112 120
64 72 80
48 56
15 20 25 30 35 40
Body-Mass-Index (kg/m2)
Abb. 15.3 Nomogramm zum Body-Mass-Index. Der Schnittpunkt der Verbindung zwischen der Körpergröße und dem Körpergewicht
ergibt die Punktzahl des BMI
!
Merke: Zur Berechnung des Normalge- heitsideals führt nicht selten dazu, dass das eigene
wichts eines Menschen können der Body- „Wohlfühlgewicht“ oder das Normgewicht nicht
Mass-Index und das Taillen-Hüft-Verhältnis mehr ausreicht, um sich schön zu finden. Als Folge
herangezogen werden. hiervon wird gehungert oder gegessen, je nachdem
welches Schönheitsideal gerade favorisiert wird. 15
Zusammenfassung:
Ermittlung des Körpergewichts 15.2.4 Beeinflussende Faktoren
Die Ermittlung des Körpergewichts ist notwendig Das Körpergewicht eines Menschen verändert sich
zur Berechnung der Dosis von Medikamenten, zur mit der Nahrungsaufnahme, der Urin- und Stuhlaus-
Kontrolle und Bilanzierung bei vielen Erkrankun- scheidung sowie der Schweißbildung. Der Gewichts-
gen, zur Berechnung des Grundumsatzes und des unterschied kann im Laufe eines Tages 1 – 2 kg betra-
Kalorienbedarfs. gen.
Für die Gewichtsermittlung eignen sich Stehwaa- Als weiterer Einflussfaktor muss der unterschied-
gen, Sitzwaagen oder Bettenwaagen. liche Knochenbau berücksichtigt werden. Er kann
Die Körperoberfläche lässt sich nach Formeln, z. B. das Körpergewicht um bis zu 4 kg nach oben oder un-
nach der Du-Bois-Formel berechnen. ten verändern. Krankheiten, z. B. Nieren- oder Herz-
Der Body-Mass-Index oder das Taille-Hüft-Verhält- erkrankungen, die mit einer Ödembildung einherge-
nis dienen der Errechnung des Normalgewichts. hen, können bei den betroffenen Menschen eine Ge-
Abb. 15.4 Männlicher Fettverteilungstyp: „Apfelform“ Abb. 15.5 Weiblicher Fettverteilungstyp: „Birnenform“
Fettverteilungstyp Muskulatur
Männer und Frauen haben eine unterschiedliche Einen weiteren großen Anteil des Körpergewichts
Fettverteilung im Körper. Zur Unterscheidung wird stellt die Muskulatur dar. Bei Frauen beträgt der
das Taille-Hüft-Verhältnis herangezogen (s. a. Muskelanteil ca. 24 kg des Körpergewichts, bei Män-
S. 268). nern dagegen ca. 30 kg. Das Hormon Testosteron ist
Beim männlichen, dem sog. androiden Fettvertei- dafür verantwortlich, dass Männer mehr Muskulatur
lungstyp, befindet sich die Hauptfettansammlung besitzen. Die Muskulatur kann sich durch Training
am Körperstamm, d. h. am Bauch und am Nacken. Die entsprechend vermehren, wie es beispielsweise
Extremitäten bleiben relativ schlank. Da diese Form beim Bodybuilding der Fall ist.
15.3.1 Übergewicht
Nach der Definition der WHO entspricht Überge-
wicht einem Körpergewicht, das einen Body-Maß-
Index von 25 überschreitet.
Adipositas
Definition: Adipositas bedeutet übersetzt
„Fettsucht“. Sie beschreibt Übergewichtigkeit in-
folge Vermehrung des Körperfetts mit Ein-
schränkung des Gesundheitszustands (Abb. 15.7). Adi-
Abb. 15.6 Hautfaltenmesszange zur Messung der Hautfalten- positas lässt ich unterteilen in Präadipositas: BMI
dicke über dem Trizeps
25 – 29,9, Adipositas Grad I: BMI 30 – 34,9, Adipositas
Grad II: BMI 35 – 39,9, Adipositas Grad III: BMI über 40.
Zur Unterscheidung zwischen Muskel- und Fett-
gewebe ist die Bestimmung der Hautfaltendicke not- Man unterscheidet bei der Adipositas zwei Formen.
wendig. Dazu wird mit dem Daumen und Zeigefinger Am häufigsten ist die primäre Adipositas. Für ihr Ent-
eine Hautfalte gebildet und die Hautfaltendicke mit stehen sind meist mehrere Faktoren verantwortlich,
den beiden Schenkeln des Hautfaltenmessgeräts wie biologische, umweltbedingte oder psychische
(= Caliper) gemessen. Zur Messung werden die Kör- Faktoren.
perstellen unterhalb des Schulterblatts, oberhalb des Bei der sekundären Adipositas verursachen ande-
Darmbeinstachels, die Außenseite des Oberarms und re Erkrankungen, z. B. eine Hypothyreose, die Ge-
des Oberschenkels gemessen (Abb. 15.6). wichtszunahme.
Es gibt auch spezielle Personenwaagen, mit de- Laut der Gesundheitsberichterstattung des Bun-
nen der Fettanteil des Körpergewichts bestimmt des (http://www.gbe-bund.de) sind in der Bundesre-
werden kann. Die Körperzusammensetzung wird bei publik etwa 2/3 der Männer und die Hälfte der Frau-
diesen Waagetypen durch einen für den Menschen en über 18 Jahre übergewichtig; adipös sind 19% der
nicht wahrnehmbaren Strom gemessen, der durch Männer und 22,5% der Frauen.
den Körper fließt. Bei Durchfluss durch Fettgewebe
entsteht ein höherer Widerstand, der genau gemes-
sen werden kann und hierdurch Aussagen zum Kör-
perfettanteil zulässt.
Zusammenfassung:
15 Abweichungen und Veränderungen des Kör-
pergewichts
Das „Wohlfühlgewicht“ muss nicht mit dem Norm-
gewicht übereinstimmen.
Nahrungsaufnahme, Schweißbildung, Knochenge-
wicht, Ödeme oder Schwangerschaft sind das Kör-
pergewicht beeinflussende Faktoren.
Bei ausgeglichener Energiebilanz bleibt auch das
Körpergewicht konstant.
Für Gewichtsveränderungen ist hauptsächlich das
Fettgewebe verantwortlich: Energievorräte werden
im Speicherfett abgelagert, Baufett dient zur Fül-
lung von Hohlräumen und als Druckpolster.
Bei den Fettverteilungstypen unterscheidet man
„Apfel“- und „Birnenform“. Abb. 15.7 Patient mit Adipositas
Folgen des Übergewichts halten werden, bis sie schließlich versiegt und sich
Der Bluthochdruck ist die häufigste Folge einer Adi- ein Diabetes mellitus manifestiert. Diese Entwick-
positas. Die Blutversorgung des Fettgewebes erfolgt lung ist bei entsprechender Diät bzw. Gewichtsab-
durch sog. Kapillaren. Je mehr Fettgewebe vorhan- nahme teilweise oder vollständig reversibel.
den ist, desto mehr Kapillaren bilden sich. Durch die Körperliche Bewegung führt bei Übergewichtigen
Bildung vermehrten Blutvolumens entsteht ein er- zu erhöhter „Arbeitsleistung“ und infolgedessen zu
höhter Blutdruck. Daraus folgt eine Mehrbelastung vermehrter Schweißbildung und schnellerer Ermüd-
des Herz- und Kreislaufsystems. Die Folge ist eine barkeit. Ist die Adipositas sehr ausgeprägt, sind sog.
Funktionsminderung des Herzens, die sich als Links- „Fettschürzen“ und aneinander liegende Beugefalten
herzinsuffizienz mit nachfolgender Lungenstauung bevorzugte Stellen für Hauterkrankungen, z. B. Inter-
und/oder als Rechtsherzinsuffizienz äußert. Beob- trigo und Mykosen. Spezielle Probleme bei adipösen
achtbar sind Luftnot bei geringfügige Belastungen Menschen treten besonders bei Operationen und
und schnelle Ermüdbarkeit. Unfällen auf. Bei den Operationen kommt es gehäuft
Eine weitere Folge, besonders in Verbindung mit zu Komplikationen bei der Atmung. Die Gewebsfülle
einer Fettstoffwechselstörung, ist die Entwicklung bedingt eine erschwerte operative Technik. Nicht
einer koronaren Herzkrankheit (KHK). selten ist die Wundheilung gestört und in schweren
Das Übergewicht muss bei jeder Bewegung zu- Fällen kann es zur Nahtinsuffizienz bis hin zum
sätzlich „getragen“ und „gehalten“ werden. Dies be- Platzbauch kommen. Bei der Anästhesie ist die Ver-
deutet Mehrarbeit für den Gelenk- und Halteapparat wendung fettlöslicher Anästhetika nicht unproble-
der Wirbelsäule und der Beine. Die Folge sind Gelenk- matisch, weil sich die Medikamente im Fettgewebe
schmerzen, besonders nach körperlichen Belastun- „ablagern“ und später wieder unkontrolliert abgege-
gen und bei langjähriger Genese Gelenkarthrosen. ben werden. Die Folge ist dann eine unerwünschte
Oft kommt es bei Adipositas zu einer meist be- narkoseähnliche Nachwirkung, die auch als „Hang-
schwerdefreien Gallensteinbildung und in fast allen Over“-Effekt bezeichnet wird.
Fällen zu einer Fettleber. Das erhöhte Körpergewicht, Ein weiteres Problem von Übergewichtigen sind
die Fettmasse und die Fettzellgröße bedingen einen die ästhetischen bzw. kosmetischen Auswirkungen.
veränderten Stoffwechsel in den Langerhans-Inseln Es kann ein gestörtes Verhältnis zum eigenen Körper
der Bauchspeicheldrüse. Es wird vermehrt Insulin entstehen, das bis zur Isolation führen kann. Extre-
gebildet, aber verzögert aus den Zellen der Bauch- mes Übergewicht kann sich bis zum Pickwick-Syn-
speicheldrüse abgegeben. Nach der Nahrungsauf- drom entwickeln. Hierbei kommt es, bedingt durch
nahme werden die „überschüssigen“ Kohlenhydrate massive Fettablagerungen in der Lungenumgebung,
und Fette aufgrund „fehlenden“ Insulins nicht sofort zu einer Einschränkung der Atmung, der sog. alveo-
in die Körperzellen eingebracht. Eine Hyperglyk- lären Hypoventilation. Die Folgen hiervon sind Sau-
ämie, d. h. ein Anstieg des Zuckers im Blut ist die Fol- erstoffmangel und Kohlendioxyderhöhung mit er-
ge. höhter Schläfrigkeit bis zur sog. Kohlendioxydnarko-
Hyperglykämien führen zur Entstehung einer In- se.
sulinresistenz: Muskel-, Leber- und Fettzellen besit- 15
zen auf ihrer Zellmembran Insulinrezeptoren, die als Ursachen der Adipositas
„Schlüsselfunktion“ mithilfe von Insulin Nährstoffe Bei der Entstehung einer Adipositas spielen mehrere
in die Zellen passieren lassen. Ist die Zelle mit Nähr- ursächliche Faktoren eine Rolle. Sie liegen im geneti-
stoffen gefüllt, stellen die Rezeptoren ihre Funktion schen, stoffwechselbedingten und psychischen Be-
ein, bis die Nährstoffe verbraucht sind (Insulinresis- reich sowie bei den Lebens- und Ernährungsge-
tenz). Nicht verwertete Nährstoffe, z. B. Zucker, ver- wohnheiten. Untersuchungen haben ergeben, dass
bleiben im Blut und es kommt zu einem Verwer- Kinder von adipösen Eltern zu 80% ebenfalls überge-
tungsstau (Hyperglykämie), worauf der Körper mit wichtig werden. Ob hierfür die Gene oder die Ernäh-
vermehrter Insulinausschüttung (Hyperinsulin- rungsgewohnheiten innerhalb der Familie verant-
ämie) reagiert. Ein großer Teil des Zuckers wird da- wortlich sind, ist noch nicht hinreichend geklärt.
raufhin mit den Nahrungsfetten ins Fettgewebe ge- Die Stoffwechsellage, wichtig für die Energiever-
speichert. wertung, kann durch Krankheiten sowie durch äuße-
Damit schließt sich ein Circulus vitiosus. Die er- re Faktoren beeinflusst werden. Krankheiten, wie
höhte Insulinproduktion kann jahrelang aufrechter- z. B. die Hypothyreose, Morbus Cushing oder ein Hy-
pothalamus-Tumor mit daraus folgender Esssucht, nahme der normalen Essensgewohnheiten und ent-
sind in 3 – 5% der Fälle für die Entwicklung einer Adi- sprechender Gewichtszunahme. Das liegt in erster
positas verantwortlich. Linie daran, dass sich der Grundumsatz des Körpers
Medikamente, wie z. B. einige Psychopharmaka, im Hungerzustand auf einen verminderten Grund-
die Anti-Baby-Pille oder Cortison, greifen in den umsatz einstellt, so als müsse sich der Körper auf ei-
Energiehaushalt ein und reduzieren die Stoffwech- ne „Hungersnot“ vorbereiten. Entsprechend wird der
sellage, führen zur Flüssigkeitseinlagerung im Kör- Energiebedarf vorsorglich heruntergeschaltet. Wird
pergewebe oder können den Appetit steigern, sodass nun, nachdem das erwünschte verminderte Gewicht
es ebenfalls zu einem Anstieg des Körpergewichts erreicht ist, wieder die normale Energiemenge wie
kommen kann, ebenso wie bei Raucherentwöhnung. vor der Diät zugeführt, speichert der Körper diese
Mit dem Rauch wird Nikotin inhaliert, das den Stoff- Energie sofort wieder, sozusagen für die nächste
wechsel steigert. Fehlt dieser Stoff, normalisiert sich „Hungersnot“. Die Folge ist eine rasche Gewichtszu-
die Stoffwechselsituation. Außerdem wird der Appe- nahme, was für den Betroffenen häufig sehr frustrie-
tit größer, wenn das appetitdämpfende Nikotin weg- rend ist und die Motivation für die nächste Diät nicht
fällt. gerade steigert. Dieser Effekt des Zunehmens, Ab-
Auch psychische Faktoren spielen bei der Entste- nehmens und erneuten Zunehmens wird als Jo-Jo-Ef-
hung der Adipositas eine große Rolle. Psychologi- fekt bzw. Weight Cycling bezeichnet.
schen Untersuchungen zufolge wird das vermehrte Effektiver für eine langanhaltende Gewichtsre-
Essen bei Adipösen weniger durch Hunger und Sätti- duktion ist deshalb eine Umstellung der Essgewohn-
gung als vielmehr durch Sehen und Riechen gesteu- heiten in Kombinaton mit Bewegung und ggf. einer
ert. Auch dem vermehrten Essen als Reaktion nach Verhaltenstherapie. Die Essgewohnheit eines Men-
emotionaler Belastung liegen gesicherte wissen- schen hat sich meist über Jahrzehnte entwickelt. Das
schaftliche Erkenntnisse zugrunde. betrifft die Art und Weise zu essen, die Essenszeit,
Die hauptsächliche Ursache von Adipositas i. d. In- die Menge, die Nahrungsmittel und deren Verfügbar-
dustrieländern liegt jedoch in der Lebens- und Er- keit, die Gründe zu essen, die Genussmittel und so
nährungsgewohnheit: es wird dem Körper mehr weiter. All das hat dazu beigetragen, dass der Körper
Energie in Form von Kalorien zugeführt, als er benö- mehr Energie erhalten hat, als er braucht. Zur Be-
tigt, bei gleichzeitigem Bewegungsmangel. wusstmachung seines Ernährungsverhaltens bietet
Alle diese Ursachen bieten zwar Erklärungen für sich das Führen eines „Ernährungstagebuches“ an
die Entstehung von Adipositas, sind aber letztlich (Tab. 15.1). Täglich trägt man genau ein was gegessen
unbefriedigend, denn hiermit ist noch nichts darü- und getrunken wurde inklusive der Kalorien/Joule-
ber ausgesagt, warum ein Mensch nach Aufnahme Zuordnung. Sinnvoll ist auch das Hinzufügen in wel-
einer bestimmten Anzahl Kalorien zunimmt, ein an- cher Stimmung oder Umgebung die Nahrung aufge-
derer jedoch nicht. Der Grund hierfür liegt in der spe- nommen wurde. Innerhalb weniger Tage lässt sich
ziellen Stoffwechsellage adipöser Menschen. Norm- anhand der Aufzeichnung ein Essmuster erkennen.
gewichtige haben die Fähigkeit, überschüssige Ener- Vielfach wird zu fett gekocht oder zu viele Zwischen-
15 gie durch vermehrte Wärmeabgabe abzubauen. Die- mahlzeiten in Form von Süßigkeiten zu sich genom-
se Fähigkeit, die bei Adipösen begrenzt ist, wird auch men.
Thermogenese genannt. Das geschieht einerseits Im nächsten Schritt sollte überlegt werden, wo
über die durch Noradrenalin gesteuerte Steigerung Nahrungs- oder Genussmittel eingespart werden
des Grundumsatzes, andererseits über spezielle En- können und welches Zielgewicht in welchem Zeit-
zyme, die sog. ATP-Asen, die wesentlich am gestei- raum erstrebenswert ist. Dabei sollte regelmäßige
gerten Energiestoffwechsel beteiligt sind. körperliche Bewegung mit eingeplant werden. Von
Bedeutung ist, dass der Körper langsam abnimmt, oh-
Diäten ne in den sog. „Hungerstoffwechsel“ zu geraten. Da-
Um Risikofaktoren für Folgekrankheiten zu mindern, durch wird nicht nur ein langfristiger Erfolg unter-
sollten Übergewichtige ihr Gewicht reduzieren. Inef- stützt, sondern auch Komplikationen, die durch eine
fektiv sind kurzfristige Gewichtsreduktionen bzw. zu rasche und ausgeprägte Gewichtsabnahme entste-
Radikalkuren, wie sie häufig in Modezeitschriften hen können, z. B. Gallensteine, vermieden werden.
beschrieben werden. In vielen Fällen kommt es nach Zur Therapie einer Adipositas werden auch zahl-
diesen schnellen Abmagerungskuren zur Wiederauf- reiche Gewichtsreduktionsprogramme angeboten.
7.00 Uhr 2 Scheiben Vollkornbrot, 1 Tasse Kaffee (125 ml) etwas in Eile mit dem Fahrrad zur Arbeit
2 TL Butter, 4 TL Milch
1 TL Konfitüre, 1 Scheibe
Gouda 45% F. i. Tr.
Bekannt ist z. B. das „Weight-Watchers-Programm“. Neben psychischen Faktoren sind vor allem eine
Die Herausgeber der Interdisziplinären Leitlinie der spezielle Stoffwechsellage, eine reduzierte Thermo-
Qualität S3 zur „Prävention und Therapie der Adipo- genese sowie Lebens- und Ernährungsgewohnhei-
sitas“ empfehlen Programme, die Bewegungs-, Er- ten als Ursache für Adipositas zu sehen.
nährungs- und Verhaltenstherapie enthalten. Langanhaltende Gewichtsreduktion durch Umstel-
lung von Essgewohnheiten und Führung eines Er-
Ödeme nährungstagebuchs ist die wirksamste Therapie.
Definition: Ödeme sind Wasseransammlun- Auch Ödeme, besonders der Aszites, können Ursa-
gen im Gewebe (s. a. Abb. 6.6). che erheblicher Gewichtszunahme sein.
erscheinungen, Kräfteverfall sowie eine erhöhte In- Im Laufe der Gewichtsabnahme verändert sich
fektanfälligkeit. Durch die allgemeine Schwäche ist auch die Wahrnehmung der betroffenen Menschen.
die Leistungsfähigkeit stark herabgesetzt und es Das Kälteempfinden wird ausgeprägter, Geräusche
kommt zu schneller Ermüdbarkeit und Abgeschla- werden intensiver wahrgenommen, was zu einer
genheit. Die Haut ist besonders dekubitusgefährdet, erhöhten Schreckhaftigkeit führt, und die Augen
da das schützende Polster zur Druckminderung fehlt. reagieren empfindlicher auf Licht. Häufig tragen
Durch Infektanfälligkeit und Schwäche ergibt sich die Betroffenen Sonnenbrillen, auch wenn keine
eine erhöhte Pneumoniegefahr. Bei starker Schwä- Sonne scheint. Die Psychodynamik kann stark ein-
che, die zu Bewegungsmangel führt, ist auch das geschränkt sein, d. h. die Fähigkeit, sich mit sich
Thromboserisiko erhöht. Bei Eiweißmangel kann es selbst und anderen auseinander zu setzen, ist redu-
zur Ödembildung kommen (s. a. S. 293). Ab einer Un- ziert.
terschreitung des Normalgewichtes von über 50% Sämtliches Tun und Handeln ist auf das eigene
besteht Lebensgefahr (Abb. 15.8, s. a. Abb. 16.1). Körpergewicht fixiert, genauer auf die Gewichtsab-
nahme. Der anorektische Mensch fühlt sich schöner
Anorexia nervosa und wohler, je dünner er ist. Körperfett und Ge-
Definition: Anorexia nervosa ist die „nervöse wichtszunahme lösen Ängste aus, die bis zur Depres-
Appetitlosigkeit“. Sie betrifft vorwiegend Mäd- sion führen können. Das bedeutet jedoch nicht, dass
chen und jüngere Frauen im Alter von 15 – 25 die betroffenen Menschen keinen Hunger verspüren.
Jahren. Das Ignorieren dieses Bedürfnisses wird jedoch als
Sieg und Macht über den Körper empfunden.
Das Körpergewicht liegt zwischen 15 und 50% unter Die Ursachen für Anorexia nervosa sind seelisch
dem Normalgewicht. Gleichzeitig besteht eine teil- bedingt und sehr komplex. Mädchen und Frauen sind
weise panische Angst vor Gewichtszunahme. Unter- häufiger betroffen als Jungen und Männer. Es kom-
stützt wird die gewollte Gewichtsabnahme häufig men verschiedene Theorien in Betracht, die einzeln
durch vermehrte Bewegung, Einnahme von Abführ- oder kombiniert für die Erkrankung verantwortlich
mitteln und provoziertes Erbrechen. zu sein scheinen. Die in USA lebende deutsche Psy-
Die Folgen sind, neben dem Nährstoffmangel und chologin H. Bruch hat sich wissenschaftlich mit der
der Schwäche, Anämie, Elektrolytverschiebungen bis Anorexia nervosa auseinandergesetzt. Sie stellte fest,
hin zu lebensbedrohlichen Herz-Kreislauf-Situatio- dass sehr viele Betroffene aus der gehobenen Mittel-
nen. Als Folgeerscheinungen des Nährstoffmangels schicht stammten, wo die Mutter zugunsten der Fa-
schaltet der Gesamtorganismus auf einen erniedrig- milie ihre Karriere aufgegeben hatte. Vielfach wurde
ten Grundumsatz mit erniedrigter Körpertempera- auf strenge Tischsitten und gute Manieren großen
tur, erniedrigtem Blutdruck sowie herabgesetzter Wert gelegt. Möglicherweise basiert die Essstörung
Puls- und Atemfrequenz um. Eine weitere Folge ist auf einem Mutter-Tochter-Konflikt.
die Obstipation. Bei Frauen bleibt die Menstruation Eine andere Theorie besagt, dass die Zeit der Kör-
schon sehr früh aus. perreifung mit Brustbildung und Menstruation nicht
15 in das gewünschte Körperbild passt bzw. das Er-
wachsenwerden verhindert werden soll. Aber auch
der die Mode begleitende „Schlankheitswahn“
kommt sicherlich in einigen Fällen als Ursache in Be-
tracht.
!
Merke: Abweichungen des Körpergewichts
nach oben oder unten können sowohl durch
physische als auch durch psychische Ur-
sachen bedingt sein. Gleichzeitig verursachen diese
Abweichungen häufig physische und psychische Prob-
leme.
Abb. 15.8 Allgemeine Kachexie mit Dekubitus am Rücken
Das Körpergewicht ist immer in Abhängigkeit zur Das Geburtsgewicht und die Gewichtszunahme sind
Körpergröße zu sehen. im Verlauf der Kindheit ein wichtiger Anhaltspunkt
Sowohl bei der Adipositas als auch bei der Kache- für die Beurteilung der körperlichen Entwicklung ei-
xie und der Ödembildung sind spezielle Hautverän- nes Kindes. Weitere Anhaltspunkte sind Alter, Kopf-
derungen zu beobachten (s. a. S. 67). Gewichtsverän- umfang und Größe (s. a. S. 256).
derungen beeinflussen die Herz-Kreislauf-Situation, Der körperliche Entwicklungszustand eines Kinds
die durch Beobachtung der Vitalzeichen deutlich lässt sich anhand eines Somatogramms anschaulich
wird. Die Bewertung des Körpergewichts wird häufig darstellen und beurteilen.
mit der Bewertung des Ernährungszustands gleich-
gesetzt. 15.5.1 Indikation zur Ermittlung des
Körpergewichts
!
Merke: Das Körpergewicht beschreibt ledig- Das Körpergewicht eines Kinds wird erstmals nach
lich den quantitativen Teil des Ernährungs- der Geburt ermittelt und als Geburtsgewicht in den
zustands. Zur Beurteilung des qualitativen Mütterpass sowie in das Kinderuntersuchungsheft,
Anteils, d. h. ob der Körper alle notwendigen Nährstoffe das jedes Kind zur Früherkennung von Krankheiten
erhält und aufnimmt, sind i. d. R. laborchemische Un- direkt nach der Geburt erhält, eingetragen.
tersuchungen erforderlich (s. a. S. 287). Weiterhin wird sein Körpergewicht bei der regel-
mäßigen Untersuchung U1 – U9 zur Verlaufskontrol-
Die Beobachtung des Körpergewichts kann durch die le im Somatogramm eingetragen (s. a. S. 256). So lässt
Kontrolle der Ein- und Ausfuhr, die sog. Bilanzierung, sich der körperliche Entwicklungsstand eines Kinds
unterstützt werden. Hierzu wird von der zugeführ- unter Berücksichtigung der Größe und unter Hinzu-
ten Flüssigkeit und Nahrung die Menge der Aus- ziehung des Alters beurteilen.
scheidungen Urin, Stuhl, Schweiß und Erbrechen ab- Um die Gewichtsentwicklung der Früh- und Neu-
gezogen. geborenen im Krankenhaus verfolgen zu können,
Extreme Gewichtsveränderungen nach oben oder werden sie je nach hausüblichem Standard oder nach
unten können mit Trägheit, Schwäche oder Schmer- ärztlicher Anordnung einmal täglich, z. B. im Rahmen
zen einhergehen und sich auch auf die Körperhal- der Körperpflege, gewogen. Klein- und Schulkinder
tung auswirken. In ganz extremen Fällen ist Bewe- werden dies entsprechend 1 – 2-mal wöchentlich,
gung nicht mehr möglich und es kommt zur Immobi- möglichst bei gleicher Bekleidung, z. B. im Schlafan-
lität. zug und zur gleichen Tageszeit.
Ferner wird das Körpergewicht eines Kinds bei je-
Zusammenfassung: der Aufnahme in ein Krankenhaus, vor jeder notwen-
Gewichtsveränderungen digen Narkose und bei jeder Erkrankung, die einen 15
Bei einer Kachexie liegt das Körpergewicht 20% un- Flüssigkeitsverlust zur Folge hat, ermittelt. Je nach
ter dem Normalgewicht. Alter und Erkrankung des Kindes kann zur genauen
Die in der Pubertät auftretende Anorexia nervosa, Kontrolle eines Flüssigkeitsverlusts und/oder -be-
bei der das Körpergewicht 15 – 50% unter dem Nor- darfs die Kontrolle des Gewichtes mehrmals täglich,
malgewicht liegt, kann verschiedene seelisch be- z. B. alle 8 Std., notwendig sein.
dingte sowie biologische Ursachen haben.
Die Beobachtung von Gewichtsveränderungen 15.5.2 Ermittlung des Körpergewichts
kann durch Bilanzierung unterstützt werden. Zur Ermittlung des Körpergewichtes kommen je
nach Alter und Zustand des Kindes verschiedene
Waagetypen zur Anwendung. Die Stand- oder Sitz-
waage (Abb. 15.1 und 15.2) wird bei Klein- und
Schulkindern verwendet. Für die Bestimmung des
Körpergewichtes bei einem Früh-, Neugeborenen
und Säugling stehen die Neigungswaage, die Digital- unbekleidet auf die Waagschale gelegt. Um objektive
waage (Abb. 15.9) sowie die integrierte Waage im Messdaten zu erhalten, sollte sich das Kind möglichst
Inkubator (Abb. 15.10) zur Verfügung. wenig/gar nicht bewegen und nicht schreien. Mögli-
Die Neigungswaage und Digitalwaage bestehen cherweise kann dem Kind ein Schnuller bzw. der ei-
im Wesentlichen aus Waagschaale und Anzeigen- gene Daumen oder die Hand zum Saugen in den
feld. Bei der Digitalwaage erfolgt die Anzeige des Ge- Mund gegeben werden. Nach dem Ablesen des Ge-
wichtes elektronisch, während bei der Neigungs- wichtes wird das Gewicht des verwendeten Tuches
waage das Gewicht auf der Grammskala abgelesen abgezogen und das eigentliche Gewicht des Kindes
wird. dokumentiert.
Auffällige Veränderungen des Körpergewichtes
!
Merke: Es ist darauf zu achten, dass die je- können Rückschlüsse auf die Erkrankung zulassen
weilige Waage auf einem ebenen, festen Un- und müssen sofort mitgeteilt werden. Sie können
tergrund steht und vor jeder Ermittlung des ausschlaggebend für die Diagnose und die einzulei-
Körpergewichtes tariert wird. Hierzu muss bei den me- tende Therapie sein.
chanischen Waagen der Zeiger auf Null stehen und bei
!
der Digitalwaage die Libelle in der Anzeige im Lot sein. Merke: Während des Wiegens darf ein
Säugling oder Kleinkind nie unbeaufsichtigt
Zur Gewichtsermittlung wird die Waage mit einem bleiben, d. h. die Pflegeperson darf sich nicht
Tuch, z. B. einer Stoffwindel oder einem Fell, ausge- entfernen. Sie muss direkt vor der Waagschale stehen
legt, das Gewicht des Tuchs notiert und der Säugling und immer eine ausgestreckte Hand über das zu wie-
gende Kind halten, um einem möglichen Sturz des Kin-
des vorzubeugen.
15.5.3 Normalzustand
Will man das Körpergewicht eines Neugeborenen/
Säuglings bewerten, muss zusätzlich die Körpergrö-
ße und die Schwangerschaftswoche, in der das Kind
Abb. 15.9 Funkfähige Säuglingswaage mit optimiertem Dämp-
fungssystem (seca gmbh & co. kg) geboren ist, berücksichtigt werden.
Reife Neugeborene haben ein Gewicht in Abhän-
15 gigkeit von der Körpergröße von 3000 – 4000 g,
Neugeborene mit niedrigem Geburtsgewicht ha-
ben ein Gewicht von ⬍ 2500 g,
extrem untergewichtige Neugeborene wiegen
⬍ 1500 g.
Säuglinge, die in den ersten 6 Monaten aus- lung, über viele akute und chronische Erkrankungen,
schließlich mit Muttermilch ernährt werden, neh- z. B. gastrointestinale Störungen und Stoffwechsel-
men schneller zu. Sie werden jedoch zwischen dem störungen, bis hin zu Fehlbildungen der Speisewege.
6. und 12. Lebensmonat von den mit Fertignahrung Die Behandlung und Heilung hängt von den ein-
ernährten Kindern überholt. Entscheidend ist die zelnen Ursachen ab. Die Behandlungsmöglichkeiten
Überwachung der stetigen Gewichtszunahme, die haben je nach Ursache unterschiedliche Schwer-
unter Zuhilfenahme des Somatogramms im Rahmen punkte. So müssen einige Kinder über eine Ernäh-
der kinderärztlichen Untersuchung kontrolliert rungssonde ernährt werden und/oder durch Gabe
wird. Die weitere Gewichtsentwicklung des Kindes von Infusionen parenteral versorgt werden. Der Nah-
ist abhängig von den Ernährungsgewohnheiten und rungsaufbau erfolgt vorsichtig nach einem genauen
dem körperlichen Gesundheitszustand des Kindes. individuellen Plan und dauert mitunter mehrere
Sie wird auch beeinflusst von soziokulturellen Fakto- Wochen. Neben der Dystrophie/Atrophie müssen die
ren, wie z. B. der Fürsorge der Eltern. Ihre Einstellung verursachenden Faktoren behandelt werden.
zur Ernährung und ihr Körperbewusstsein wirkt sich
prägend auf die Kinder aus.
15.6 Besonderheiten bei älteren
15.5.4 Abweichungen und Veränderungen des Menschen
Körpergewichts Eva Eißing
Eine Abweichung vom normalen Körpergewicht ist
die Adipositas, (s. a. S. 272), die bei Kindern vielfach Im Alter verlangsamt sich die gesamte Stoffwechsel-
psychosomatisch/alimentär ausgelöst wird, z. B. lage. Hinzu kommt, dass Aktivitäten und körperliche
durch fehlendes oder schlecht strukturiertes Fami- Bewegung allgemein abnehmen. Das hat zur Folge,
lienleben, in dem die Kinder keine gemeinsamen dass der Körper einen geringeren Energiebedarf hat
Mahlzeiten kennenlernen oder durch zu geringe kör- und weniger Kalorien verbraucht. Insgesamt braucht
perliche Betätigung bei einseitiger, fettiger Ernäh- der alte Mensch ca. 30% weniger Kalorien als jüngere
rung durch „Fast Food“. Seltener sind Hormonstö- Erwachsene.
rungen für die Adipositas verantwortlich. Adipöse Ein weiterer gewichtsbeeinflussender Faktor ist
Kinder und Jugendliche wachsen sehr häufig zu die schwindende Muskelmasse. Sie verringert sich
übergewichtigen Erwachsenen heran. beim erwachsenen Menschen jährlich um 0,5% und
Ein Körpergewicht unter der 3. Perzentile wird als wird in der Regel durch Fett ersetzt.
Dystrophie, extreme Abmagerung als Atrophie oder Viele Organe bilden sich im Alter zurück und atro-
Kachexie bezeichnet (s. a. S. 275). Die Dystrophie, ei- phieren. An Stelle des verlorengegangenen, organ-
ne Gedeihstörung, die aufgrund von chronischer Un- spezifischen Gewebes, des sog. Parenchyms, treten
terernährung entsteht, äußert sich durch: flüssigkeitsgefüllte Hohlräume, Binde- und Fettge-
fehlende Gewichtszunahme, später Gewichtsab- webe. Besonders betroffen sind hiervon Muskulatur,
nahme, Gehirn, Leber und Haut. Das gesamte, im Körper be-
verlangsamtes Körperwachstum, findliche Wasser verringert sich um 18%. 15
blasse, trockene und faltige Haut, Neben diesen physiologischen Gewichtsverände-
eingesunkene Wangen, rungen im Alter gibt es auch die pathologischen Ver-
hervortretende Augen, änderungen durch Alterskrankheiten. Zur Gewichts-
Vorwölbung des Bauchs durch atrophierende zunahme kann es im Alter z. B. durch Ödembildung
Muskulatur, bei der Herzinsuffizienz oder bei einer Hypothyreose
Antriebsarmut, kommen. Die Folge des verlangsamten Stoffwechsels
negative Verstimmung, ist allgemeine Schwäche mit leichter Ermüdbarkeit.
Obstipation und Absetzen von Hungerstühlen Weitere Beschwerden sind:
sind möglich. ständiges Frieren,
Kälteintoleranz,
Die Ursachen für die Dystrophie/Atrophie sind vielfäl- Apathie,
tig und reichen von psychosozialen Störungen, z. B. Ödembildung und
Vernachlässigung des Kindes und Kindesmisshand- Gewichtszunahme.
!
Merke: Obwohl ältere Menschen 30% weni- diagnose (PES)
ger Kalorien als jüngere Erwachsene benöti- Funktionelles Gesundheitsverhaltensmuster:
gen, bedingen physische, psychische und so- Ernährung und Stoffwechsel
15 zia-le Faktoren im Alter häufig ein Untergewicht.
Definition
Nährstoffzufuhr, die den Stoffwechselbedarf übersteigt
Zusammenfassung:
Besonderheiten bei Kindern und älteren Einflussfaktoren (E)
Menschen übermäßige Nahrungszufuhr im Verhältnis zum
In der Entwicklung eines Kindes ist die Gewichts- Stoffwechselbedarf
kontrolle ein wichtiger Anhaltspunkt. (Ungleichgewicht zwischen Nahrungszufuhr und
Für Kinder stehen Neigungs- u. Digitalwaagen und Energieverbrauch)
im Inkubator integrierte Waagen zur Ermittlung (dysfunktionales Essverhalten [dokumentiert oder
beobachtet])
des Körpergewichts zur Verfügung.
(Nahrungsaufnahme zusammen mit anderen
Chronische Unterernährung, Dystrophie, kann viel-
Aktivitäten)
fältige psychische und physische Ursachen haben.
(Konzentrieren der Nahrungszufuhr am Ende des
Im Alter ist aus verschiedenen physiologischen, psy-
Tages)
chischen und sozialen Gründen eine Gewichtsab-
nahme häufiger als eine Gewichtszunahme.
Übergewicht (31,55 BMI) Herr Seidel ist offen für In- 쐌 Gewichtsreduktion 쐌 Ernährungstagebuch anlegen
aufgrund gewichtssteigen- formationen 0,5 kg/Woche in Kombi- 쐌 Gewichtskontrolle 2 ⫻/Woche
der Ernährungsgewohnhei- nation mit einer ausge- (Montag und Freitag 8.00 Uhr)
ten wogenen, gewichtsredu- 쐌 Diätberatung anmelden
zierenden Ernährung 쐌 Gesprächstermin mit Arzt und
쐌 führt Ernährungstage- Physiotherapeut zur Erstellung eines
buch selbstständig Programms für körperliche Aktivitäten
쐌 kennt Zusammenhang
zwischen Gewichtsreduk-
tion und körperlicher
Aktivität
Karen leidet aufgrund einer Mutter ist tagsüber bei FZ: 쐌 1 ⫻ tgl. (8.00 h) Gewichtskontrolle
Gastroenteritis unter Ge- Karen in der Klinik 쐌 besitzt altersentspre- 쐌 Mutter nach Lieblingsgetränken und
wichtsverlust und unzurei- chendes Körpergewicht -speisen von Karen fragen
chender Nährstoffaufnahme NZ: 쐌 Getränke nach Wunsch bereitstellen
쐌 hält ihr Gewicht (2 l/Tag)
쐌 hat ausreichende Nähr- 쐌 6 kleine Mahlzeiten (8/11/13/16/19/21 h)
stoffaufnahme anbieten und Nachtmahlzeit bereitstel-
쐌 trinkt 2 l/Tag len (Lieblingsspeisen berücksichtigen)
Im Internet:
http://www.gbe-bund.de; Stand: 03. 08. 2017
https://www.dge-medienservice.de/mein-ernaehrungstage-
buch.html; Stand: 03. 08. 2017
16 Ernährungszustand
Eva Eißing
Übersicht
Einleitung · 283
16.1 Allgemeine Beobachtungskriterien und
Beschreibung des Normalzustands · 284
16.1.1 Nahrungs- u. Flüssigkeitsaufnahme · 284
16.1.2 Gewicht in Abhängigkeit von der
Körpergröße · 287
16.1.3 Haut und Hautanhangsgebilde · 287
16.1.4 Zähne · 287
16.1.5 Nährstoffaufnahme und
-verwertung · 287
16.2 Abweichungen und Veränderungen des
Ernährungszustands sowie deren
Ursachen · 288 Einleitung
16.2.1 Störungen der Nahrungs- und
Flüssigkeitsaufnahme · 288 Die Aufnahme und Verwertung von Nahrung und
16.2.2 Störungen der Nährstoffaufnahme und Flüssigkeit sind für den Menschen einerseits lebens-
-verwertung · 293 notwendig – andererseits für viele Menschen auch
16.2.3 Mangelerscheinungen · 293 eine ausgesprochen genussvolle Tätigkeit.
16.2.4 Über-/Falschernährung · 297 Dabei kommt sowohl der Zusammensetzung der
16.2.5 Vergiftungen · 298 aufgenommenen Nahrung als auch dem ausgewoge-
16.3 Ermittlung des nen Verhältnis der in ihr enthaltenen Nährstoffe für
Ernährungszustandes · 299 einen guten Ernährungszustand große Bedeutung
16.4 Ergänzende Beobachtungskriterien · 299 zu. Wesentlich hierfür ist außerdem die Fähigkeit des
16.5 Besonderheiten bei Kindern · 299 Organismus, die zugeführten Nährstoffe entspre-
16.5.1 Störung der Nahrungsaufnahme · 300 chend zu verwerten.
16.5.2 Störung der Flüssigkeitsaufnahme · 300 Das folgende Kapitel beschreibt die Beobach-
16.5.3 Malabsorption und Maldigestion · 301 tungskriterien und geht auf mögliche Ursachen und
16.6 Besonderheiten bei älteren Erscheinungsbilder eines veränderten Ernährungs-
Menschen · 302 zustands ein.
16.7 Fallstudien und mögliche
Pflegediagnosen · 304 Definition: Als Ernährungszustand (EZ) wird
Fazit · 307 der ernährungsbedingte Körperzustand be-
Literatur · 308 zeichnet. Er wird beurteilt nach Größe und Ge- 16
wicht, Stärke des Hautfettpolsters und Hautturgor.
Schlüsselbegriffe
Der Ernährungszustand gibt Auskunft über die Ver-
왘 Hunger sorgung des Körpers mit Nährstoffen, sowohl Eiwei-
왘 Durst ßen, Kohlenhydraten und Fetten als auch Vitaminen,
왘 Appetit Mineralstoffen und Flüssigkeit.
왘 Exsikkose
왘 Dehydratation
왘 Über-, Unterernährung
왘 Mangelerscheinung
!
hat diesen Mindestbedarf ermittelt. Von über 50 be- Merke: 5 Kriterien unterstützen die Beob-
kannten Stoffen, die vom menschlichen Körper be- achtung des Ernährungszustands:
nötigt werden, sind Eiweiße, Kohlenhydrate, Fette,
Vitamine, Mineralstoffe und Wasser die wichtigsten. Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme,
Die genauen Mengen sind in entsprechenden Lehr- Gewicht in Abhängigkeit von der Größe,
büchern für Ernährungslehre ersichtlich. Haut und Hautanhangsgebilde,
16 Grundsätzlich hat die Ernährung in den verschie- Zähne,
denen Lebensaltern und -situationen unterschiedli- Nährstoffaufnahme und -verwertung.
che Aufgaben. Ein im Wachstum befindlicher
Mensch braucht Nährstoffe besonders zum Aufbau 16.1.1 Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme
seines Körpers, d. h. zur Bildung von Muskel-, Kno- Bei der Beobachtung der Nahrungs- und Flüssig-
chen-, Nerven- und Stützgewebe. In jeder Lebens- keitsaufnahme wird neben Appetit, Hunger und
phase können jedoch Verletzungen, z. B. durch Unfäl- Durst auch das Ess- und Trinkverhalten eines Men-
le oder Operationen, entstehen. Hier steht die Wie- schen beurteilt.
derherstellung und Erneuerung von Gewebe und
Zellen im Vordergrund. Energie- und Nährstoffe wer-
den aber auch benötigt, um einen reibungslosen Ab-
lauf von Stoffwechselprozessen im Körper und das
gen nach Nahrung, sozusagen die „Lust aufs Stimulanz (Hunger erzeugend) Hemmung (Sättigung erzeugend)
Essen“.
쐌 Dehnungszustand des 쐌 Dehnungszustand des
Magens: leer Magens: voll
Er wird besonders beeinflusst durch Gerüche wie 쐌 Absinken des Glukosegehal- 쐌 Glukose- und Insulinanstieg
beispielsweise Kochdünste und durch optische Reize tes und Insulinspiegels im im Blut
nach dem Motto „das Auge isst mit“. Verantwortlich Blut 쐌 Erhöhte Körpertemperatur
쐌 Rückgang der Wärmeproduk- 쐌 Leptinanstieg (Hormon,
dafür sind die zahlreichen Nervenverbindungen vom
tion Bildungsort Fettzelle)
Seh- und Riechzentrum zum Esszentrum, die bewir- 쐌 Hormone aus dem Magen- 쐌 Serotoninanstieg
ken, dass beim Riechen bestimmter Speisen das Darm-Trakt: z. B. Ghrelin 쐌 Optische Eindrücke: leerge-
쐌 Optische Eindrücke: voller gessener Teller
„Wasser im Mund zusammenläuft“. Die Erinnerung
Teller, Buffet 쐌 Widerwillen gegenüber be-
an den Genuss weckt Vorfreude auf die Wiederho- 쐌 Schmackhafte Speisen stimmten Speisen, Ekel
lung. Diese Emotion stimuliert die Verdauungsorga-
ne. Dies wiederum geschieht über Nervenbahnen,
die vom Esszentrum zum Magen-Darm-Trakt ziehen,
dem sog. Vagusnerv. Die Verdauungsorgane setzen
sich in Bereitschaft und beginnen mit der Produktion Die Nahrungsaufnahme wird durch Stimulation und
der Verdauungssäfte. Hemmung zentral im Hypothalamus (Sättigungs-/
Auch die Essatmosphäre spielt eine nicht unwe- Hungerzentrum) gesteuert. Hierfür gibt es mittler-
sentliche Rolle bei der Esslust oder -unlust. Es ist ein weile verschiedene Erklärunsmodelle. Jedoch ist die
Unterschied, ob, diktiert durch eine knapp vorgege- Forschung auf diesem Gebiet noch nicht abgeschlos-
bene Pausenzeit, das Mittagessen in einer Kantine sen. Einige den Hunger stimulierende und hemmen-
eher heruntergeschlungen wird, oder abends in ei- de Aspekte sind in der Tab. 16.1 dargestellt.
nem Restaurant bei Kerzenschein mit netten ver-
trauten Menschen ausgiebig gespeist wird. Oftmals Durst
kommt der Appetit erst durch eine entsprechende Definition: Als Durst bezeichnet man das Be-
Atmosphäre. dürfnis nach Wasseraufnahme.
Appetitmindernd bzw. -steigernd wirkt sich oft
auch die persönliche Stimmung aus. Akute Krisensi- Ein erwachsener Mensch besteht zu 50% (Frauen) –
tuationen, wie z. B. Trauer oder Trennung, hemmen 60% (Männer) seines Körpergewichtes aus Wasser.
häufig den Appetit, während Freude eher stimulie- Bis auf ganz geringfügige Schwankungen bleibt die-
rend auf die Esslust wirkt. Dagegen „sättigt“ ein ho- ser Wasserhaushalt konstant. Bei einem Flüssigkeits-
hes Glücksgefühl, wie z. B. Verliebtsein. Langfristige verlust von mehr als 0,5% des Körpergewichts oder
seelische Konflikte lassen häufig den Appetit stei- auch nach vermehrter Salzaufnahme stellt sich ein
gern; die so angegessenen Pfunde werden auch als Durstgefühl ein, das mit verminderter Speichelpro-
„Kummerspeck“ bezeichnet. Grundsätzlich sind die duktion und charakteristischem Trockenheitsgefühl
Auswirkungen von Emotionen in Bezug auf den Ap- im Mund- und Rachenraum einhergeht.
petit individuell ganz unterschiedlich. Die durstauslösende Steuerung erfolgt im We- 16
Weitere Faktoren, die sich besonders in Kliniken sentlichen über Osmolaritätsrezeptoren im Hypo-
und Altenheimen auf den Appetit auswirken, sind thalamus. Parallel dazu wird das antidiuretische
die Essenszeiten und die Schmackhaftigkeit der Hormon (ADH) ausgeschüttet, welches eine Redukti-
Speisen. Sie finden in großen Einrichtungen häufig on der Urinbildung und -ausscheidung bewirkt.
keine individuelle Berücksichtigung. Beeinflusst wird der Wasserhaushalt auch durch
die Flüssigkeitsabgabe über die Haut. Bei hoher Au-
Hunger ßentemperatur, wie z. B. an heißen Sommertagen,
Definition: Mit Hunger wird das körperliche beginnt der Körper zu schwitzen. Aber auch bei kör-
Verlangen nach Nahrung bezeichnet. Es ist ein perlicher Anstrengung, z. B. Sport oder schwerer kör-
subjektives Allgemeinempfinden, welches sich in perlicher Arbeit, wird vermehrt Wasser in Form von
der Magengegend lokalisiert und nach Nahrungsauf- Schweiß über die Haut ausgeschieden. Der entstan-
nahme verschwindet.
dene Schweiß verdunstet und wird an die Luft abge- Zeitpunkt und Häufigkeit
geben. Besonders gut funktioniert dieser Mechanis- In unserer westlichen Welt sind 3 große Mahlzeiten/
mus bei trockener Luft, z. B. in der Sauna. Luft mit ei- Tag üblich, nämlich morgens, mittags und abends.
ner hohen Feuchtigkeitsrate, wie z. B. in tropischen Demgegenüber steht die Verteilung auf 5 – 6 kleine
Gebieten, kann weniger gut bzw. gar keine Feuchtig- Mahlzeiten, z. B. zur Körpergewichtsregulation. Zur-
keit aufnehmen. zeit gibt es diesbezüglich keine gesicherten Aussa-
Durch die Aufnahme von salzigen Speisen erhöht gen. Demzufolge gibt die DGE (Deutsche Gesellschaft
sich die Blutosmolarität und infolgedessen das für Ernährung) dazu keine Empfehlung.
Durstgefühl. Erwiesen ist jedoch, dass klare Essenszeiten für
viele Menschen Struktur und Orientierung im Alltag
Zusammenfassung: bieten.
Allgemeine Beobachtungskriterien
Der Ernährungszustand wird nach Größe, Gewicht, Nahrungszusammensetzung
Hautfettpolster und Hautturgor beurteilt. Fast alle Menschen haben bestimmte Vorlieben, sog.
Der Mensch muss eine Mindestmenge an Nährstof- Lieblingsspeisen und Getränke, aber auch Abneigun-
fen zu sich nehmen, um nicht Mangelerscheinungen gen. Diese Entwicklung ist stark von der Sozialisation
zu erleiden. geprägt. Entscheidenden Einfluss auf den Speiseplan
Je nach Alter und Lebenssituation hat die Ernäh- haben auch spezielle Ernährungsvorschriften. Diese
rung unterschiedliche Aufgaben. können religiös bedingt (z. B. kein Schweinefleisch
Es werden quantitative und qualitative Abweichun- bei Angehörigen des islamischen Glaubens), diäte-
gen vom gesunden Ernährungszustand unterschie- tisch (wie z. B. beim Diabetes mellitus) oder selbst
den. auferlegt (wie z. B. vegetarische Kost) sein.
Der Appetit wird durch Gerüche, optische Reize, äu-
ßere Atmosphäre und persönliche Stimmung beein- Essverhalten
flusst. Zu beobachten ist, wie jemand isst und trinkt. Ge-
Hunger und Durst werden durch Hemmung bzw. schieht dies mit Appetit, Heißhunger oder eher lust-
Stimulation im Hypothalamus gesteuert. los? Während bei Heißhunger oder vermehrtem Ap-
petit das Essen fast verschlungen wird, stochert der
Beurteilung des Ess- und Trinkverhaltens Appetitlose nur darin herum oder schiebt es sogar
Die Beurteilung des Ess- und Trinkverhaltens kann beiseite.
durch folgende Kriterien unterstützt werden: Auch kann die Essenszeit beobachtet werden, wie
z. B. langsames und bedächtiges, von Pausen unter-
Menge brochenes Essen.
Die Kalorienzufuhr sollte sich nach dem Energiever-
brauch richten, damit das Körpergewicht konstant Begleiterscheinungen
gehalten werden kann. Grundsätzlich brauchen jun- Häufig ist die (falsche) Ernährung die Ursache dafür,
ge Menschen und solche, die viel in Bewegung sind, dass man unter Völlegefühl oder Sodbrennen nach
mehr Kalorien als alte Menschen und jene, die sich dem Essen leidet. Auch Übelkeit und Erbrechen kön-
16 wenig bewegen. Viele Krankheiten beeinflussen den nen damit zusammenhängen. Bei verminderter Auf-
Energiehaushalt und somit den Kalorienbedarf, wie nahme von Ballaststoffen ist eine Obstipation die
z. B. die Hyperthyreose oder Karzinome, bei denen Folge.
der Energiebedarf des Körpers durch einen erhöhten Während ein Flüssigkeitsmangel schon nach kur-
Stoffwechsel ansteigt. zer Zeit an Haut- und Schleimhäuten beobachtbar
Die Trinkmenge sollte unter normalen Bedingun- ist, werden Mangelerscheinungen erst spät sichtbar.
gen ca. 1,5 – 2 l/Tag betragen. In besonderen Situatio- Rückschlüsse sind zu ziehen bei Über- und Unter-
nen, z. B. bei vermehrtem Schwitzen an heißen Som- gewicht, bei Veränderungen an Haut, Schleimhäu-
mertagen, muss die Trinkmenge dem erhöhten Ver- ten, Haaren, Nägeln, Ausscheidungen, Reaktionen
brauch angepasst werden. sowie dem allgemeinen Kräftezustand, sichtbar vor
allem am Nachlassen der Mobilität.
16.1.2 Gewicht in Abhängigkeit von der dem Eindrücken der Haut die charakteristische Delle
Körpergröße über längere Zeit bestehen.
Das Körpergewicht in Abhängigkeit von der Körper- Weitere Ausführungen zum Thema Haut und
größe ist das auffälligste Beobachtungsmerkmal hin- Hautanhangsgebilde finden sich in Kap. 6 und 7.
sichtlich der Beurteilung des Ernährungszustands.
Ein Mensch gilt als gut genährt, wenn die Knochen- 16.1.4 Zähne
vorsprünge ausreichend mit Fettpolstern versehen Von schmerzhaften Gebissleiden ist die Menschheit
sind. Umgekehrt handelt es sich um einen schlechten schon seit Jahrhunderten betroffen. Auch dass Zu-
Ernährungszustand, wenn der Körper keine Fettpols- cker dafür verantwortlich ist, ist seit langem be-
ter hat und die Konturen besonders der Oberarm- kannt. Genaue Kenntnis über den eigentlichen zahn-
knochen, der Rippen und der Beckenknochen zu se- zerstörenden Mechanismus haben Wissenschaftler
hen sind. jedoch erst seit ca. 40 Jahren.
Zur Unterscheidung zwischen Muskel- oder Fett- Verantwortlich für die Entstehung von Karies sind
gewebe ist die Bestimmung der Hautfaltendicke not- Bakterien, hauptsächlich Streptococcus mutans, die
wendig. Diese Bestimmung ist in Kapitel 15.3 be- sich von Zuckerresten auf dem Gebiss ernähren und
schrieben (s. a. Abb. 15.6). Menschen mit einem gu- beim Zuckerabbau Säure produzieren. Normalerwei-
ten Ernährungszustand besitzen meistens auch eine se wird die entstehende Säure durch den Speichel
gut ausgebildete Muskulatur. neutralisiert; erst bei wachsendem Zahnbelag, z. B.
Häufige Folge der Unterernährung ist die sog. durch fehlendes Zähneputzen, funktioniert diese
Muskelatrophie (Muskelschwund), bei der sich die Neutralisation nicht mehr, weil der Speichel die Säu-
Muskulatur durch die ungünstigen Ernährungsbe- re „unter dem Belag“ nicht mehr erreicht. Unter die-
dingungen zurückbildet. Der Muskelaufbau wird sen Bedingungen kann die Säure Mineralien aus dem
durch eine eiweißreiche Ernährung unterstützt. Des- Zahnschmelz lösen und somit den Zahn regelrecht
halb bevorzugen Kraft- und Leistungssportler häufig „aushöhlen“. Je länger Zucker an den Zähnen haftet,
eiweißreiche Mahlzeiten. Kohlenhydrate, die in der desto verheerender ist die Wirkung. Aber nicht nur
Muskulatur als Glykogen gespeichert werden, die- Zucker, sondern auch alle anderen Kohlenhydrate
nen in erster Linie als Energiespender und werden (Brot, Haferflocken, Nudeln) werden von den Bakte-
vor allem beim Ausdauersport benötigt. Eine fettrei- rien zersetzt und entfalten die gleiche Wirkung.
che Ernährung verringert die Muskelarbeit, da Fett Fluor hingegen hemmt die Säureproduktion der
bei der Verbrennung mehr Sauerstoff verbraucht als Bakterien, fördert den Wiedereinbau von Mineralien
beispielsweise Kohlenhydrate. in den Zahnschmelz und härtet auf diese Weise den
Allerdings kann auch bei einem normalem Kör- Zahnschmelz.
pergewicht eine Mangel- oder Unterernährung vor- Ein kariöses Gebiss lässt dementsprechend Rück-
liegen, beispielsweise bei der Einlagerung von Was- schlüsse auf eine kohlenhydratreiche und fluorarme
ser im Gewebe infolge von Eiweißmangel. Ernährung zu. Eine wichtige Rolle spielen hierbei je-
Weitere Ausführungen zum Thema Gewicht fin- doch auch die genetische Disposition und die Zahn-
den sich in Kap. 15. pflege-Gewohnheiten. Beachtung verdient außer-
dem die mögliche Wechselwirkung zwischen Zahn-
16.1.3 Haut und Hautanhangsgebilde status und Ernährungsgewohnheiten: Während ei- 16
Die Haut sagt viel über den Nahrungskonsum eines nerseits eine einseitig kohlenhydratreiche und fluor-
Menschen aus. Vielfach wird ein Nährstoffmangel arme Ernährung zu Gebissdefekten bis hin zum
oder die Einnahme toxischer Substanzen an Haut, Zahnverlust führen kann, ist andererseits ein schad-
Haaren und Fingernägeln erkennbar. haftes und in seiner Funktion beeinträchtigtes Ge-
Auch der Flüssigkeitsgehalt ist meist deutlich an biss häufig die Ursache für eine Beeinträchtigung der
der Haut sichtbar. Haut und Schleimhäute reagieren Nahrungsaufnahme.
besonders empfindlich auf einen Flüssigkeitsman-
gel. Die Haut wird trocken; bei Anheben einer Haut- 16.1.5 Nährstoffaufnahme und -verwertung
falte bleibt diese lange bestehen. Die Schleimhäute Um einen guten Ernährungszustand zu erreichen, ist
trocknen aus und werden anfällig für Infektionen. La- nicht nur die Menge und ausgewogene Zusammen-
gert sich Flüssigkeit unter der Haut an, bleibt nach setzung der Nahrung entscheidend, sondern auch
die effektive Assimilation und Resorption der in ihr nahme, die Zusammensetzung der Nahrung, das
enthaltenen Nährstoffe. Hierzu wird ein gut funktio- Essverhalten und verschiedene Begleitumstände ei-
nierendes Verdauungssystem benötigt. ne Rolle.
Die Nahrungsbestandteile werden zunächst im Das Gewicht muss in Abhängigkeit von der Körper-
Mund zerkleinert und durch Kauen zu einem Speise- größe und von der Muskulatur gesehen werden.
brei vermischt und geformt, sodass dieser durch den Haut, Haare, Fingernägel und Zähne lassen Rück-
Schluckakt über die Speiseröhre in den Magen gelan- schlüsse auf die Ernährung zu.
gen kann. Bereits im Mund werden die Kohlenhydrate Ein gut funktionierendes Verdauungssystem ist Vo-
durch die im Speichel enthaltenen Fermente gespal- raussetzung für einen guten Ernährungszustand.
ten. Im Magen wird die Eiweißverdauung eingeleitet. Die Nährstoffverwertung unterliegt einem komple-
Im Zwölffingerdarm mischt sich die Nahrung mit xen Regelkreislauf.
dem Gallensaft und den eiweiß-, kohlenhdyrat- und
fettspaltenden Fermenten der Bauchspeicheldrüse.
16.2 Abweichungen und
Die vorbereitete Nahrung wird nun in einzelne Be-
standteile zerlegt und vom restlichen Dünndarm und
Veränderungen des
teilweise vom Dickdarm in den Blutkreislauf aufge- Ernährungszustands sowie
nommen. Von hier aus passieren die aufgespaltenen deren Ursachen
Stoffe zunächst die Leber, um danach ihr Zielorgan zu
erreichen. Dieser Vorgang unterliegt einem sehr Wie bereits beschrieben, spielt für den Erhalt eines
komplexen Regelkreislauf, der in enger Zusammen- guten Ernährungszustands die Menge und Zusam-
arbeit mit dem Gehirn, dem Hormonsystem und den mensetzung der Nahrung eine große Rolle.
an der Verdauung beteiligten Organen steht.
!
Normalerweise läuft die Nährstoffaufnahme und Merke: Grundsätzlich können Abweichun-
-verwertung im Körper unbemerkt und ohne Auffäl- gen und Veränderungen des Ernährungszu-
ligkeiten ab. Ist jedoch eine Station in diesem Regel- stands eines Menschen mit quantitativen
kreislauf in ihrer Funktion gestört, wird je nach Loka- (Menge der zugeführten Nahrung) und/oder qualitati-
lisation, Dauer und Intensität der Störung Unwohl- ven (Nahrungszusammensetzung und -verwertung)
sein oder ein Mangel entstehen. Ein entzündeter Störungen zusammenhängen.
Darm kann beispielsweise die Nährstoffe nicht oder
nur teilweise aufnehmen. Unterschieden werden:
Wenn die Bauchspeicheldrüse die spaltenden Störungen der Nahrungs- und Flüssigkeitsauf-
Fermente nicht produziert, werden die Nährstoffe nahme,
nicht aufgespalten und können vom Darm ebenfalls Störungen der Nährstoffaufnahme und -verwer-
nicht resorbiert werden. Diese komplexen Vorgänge tung,
sind zunächst äußerlich nicht beobachtbar; Verän- Mangelerscheinungen,
derungen sind oft nur durch laborchemische Unter- Über-/Falschernährung,
suchungen nachzuweisen. Häufig kommt es bei sol- Vergiftungen.
chen Störungen allerdings sowohl zu allgemeinen
16 Begleiterscheinungen, wie beispielsweise Völlege- 16.2.1 Störungen der Nahrungs- und
fühl oder Übelkeit und Verdauungsbeschwerden, die Flüssigkeitsaufnahme
bei oder nach der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnah- Unter Störungen der Nahrungs- und Flüssigkeitsauf-
me zu beobachten sind, als auch zu charakteristi- nahme sollen im Folgenden sowohl Abweichungen,
schen Veränderungen der Urin- und Stuhlausschei- die mit einer vermehrten Nahrungs- und Flüssig-
dung (vgl. Kap. 17 und 18). keitsaufnahme einhergehen, als auch solche, die zu
einer verminderten Nahrungs- und Flüssigkeitsauf-
Zusammenfassung: nahme führen, betrachtet werden.
Beschreibung des Normalzustands Störungen der Nahrungs- und Flüssigkeitsauf-
Bei der Beurteilung des Ess- und Trinkverhaltens nahme können u. a. am Ess- und Trinkverhalten be-
spielen die Menge der Kalorien- bzw. Flüssigkeits- obachtet werden. Als Beobachtungskriterien fungie-
zufuhr, Zeitpunkt und Häufigkeit der Nahrungsauf- ren vermehrter bzw. verminderter Appetit und
Tab. 16.2 Veränderter Appetit und Durst, beobachtbare Symptome, Ursachen und Folgen
verminderter Durst 쐌 verminderte Flüssigkeitsauf- 쐌 im Alter: die Sensibilität der 쐌 Exsikkose mit entsprechen-
= Adipsie nahme Osmorezeptoren lässt nach den Symptomen
쐌 u. U. Oligurie 쐌 Schädigung der Hypophyse,
z. B. Hirntumore, Apoplexie
쐌 psychische Erkrankungen,
z. B. Depressionen, Psychosen 16
Durst, deren beobachtbare Symptome, Ursachen und zenz, im Wachstum, während einer Schwangerschaft
Folgen (Tab. 16.2). oder nach großer körperlicher Anstrengung. Hier er-
füllt der gesteigerte Appetit mit der Folge einer ver-
Dysorexie/Hyperorexie mehrten Nahrungsaufnahme das Ziel, den erhöhten
Vermehrter Appetit, Hyperorexie/Dysorexie oder Energiebedarf zu decken.
Bulimie genannt, kann physiologische oder patholo-
gische Ursachen haben. Zu einer physiologischen Ap-
petitsteigerung kommt es häufig in der Rekonvales-
Die pathologische Appetitsteigerung ist zumeist führen zu den sog. Fressattacken, bei denen alles ge-
im Zusammenhang mit Diabetes mellitus, der Hy- gessen wird, was vorher – selbstauferlegt – als verbo-
perthyreose (Schilddrüsenüberfunktion) oder psy- ten galt.
chogenen Essstörungen wie beispielsweise der Buli- Charakteristisch für die Bulimia nervosa ist, dass
mia nervosa zu beobachten. anschließend Maßnahmen ergriffen werden, um das
Die Hyperorexie kann mit fehlendem Hunger- Körpergewicht in einem normalen Rahmen zu hal-
und Sättigungsgefühl sowie unzureichender Kautä- ten; in den meisten Fällen besteht eine panische
tigkeit einhergehen. Die Folgen einer anhaltenden Angst vor einer Gewichtszunahme. Dieses Maßnah-
Hyperorexie mit positiver Energiebilanz sind Über- menspektrum reicht von selbst herbeigeführtem Er-
gewicht, verminderte Bewegungsfähigkeit und – je brechen bis zum Missbrauch von Laxanzien und Di-
nach Zusammensetzung der Nahrung – häufig auch uretika. Wegen des häufigen Erbrechens kommt es
Fettstoffwechselstörungen, Gicht oder Obstipation. bei bulimiekranken Menschen häufig zur Entzün-
dung der Speiseröhre, der sog. Ösophagitis. Der Miss-
Adipositas brauch von Laxanzien und Diuretika führt oft zu
Adipositas, oder auch Übergewicht, entsteht, wenn Durchfällen mit Exsikkose und Elektrolytstörungen.
dauerhaft mehr Energie zugeführt wird, als der Kör-
per benötigt. Der Körper speichert die überschüssige BINGE-Eating Störung (BES)
Energie in Form von Fett unter der Haut. Einerseits Bei der BINGE kommt es zu regelrechten Essanfällen
fungieren diese Fettdepots als Energiereserve für mit Aufnahme großer Nahrungsmengen und Kon-
Notzeiten, andererseits stellt die damit einhergehen- trollverlust über Essverhalten. Im Gegensatz zu
de Gewichtszunahme eine erhöhte Belastung für den Bulimie werden keine gegenregulatorischen Maß-
Körper dar, die sich u. a. auf das gesamte Skelett- nahmen ergriffen, z. B. induziertes Erbrechen oder
system einschließlich seines Halteapparats aus- Laxanzien-Einnahme, um eine Gewichtszunahme zu
wirkt (s. a. S. 272). verhindern. Demzufolge sind Patienten mit BES häu-
Häufige Folge ist die Zunahme von Knochen- und fig adipös.
Gelenkverschleißerkrankungen, besonders an den
Kniegelenken und der Wirbelsäule. Adipöse Men- Inappetenz/Anorexie
schen klagen dementsprechend oft über Schmerzen Definition: Unter Inappetenz oder Anorexie
im Rücken und in den Knien. Die Bewegungsabläufe wird die Herabsetzung des Triebs zur Nahrungs-
werden beschwerlicher und infolgedessen langsa- aufnahme verstanden.
mer und insgesamt weniger, was sich wiederum un-
günstig auf die Gelenke auswirkt und nicht selten Als Ursachen kommen neben seelischen Spannun-
den Einstieg in einen Teufelskreis bedeutet. gen auch der Ekel gegenüber bestimmten Speisen
Übergewicht von mindestens 20% über dem Nor- aufgrund negativer Erlebnisse in Betracht.
malgewicht stellt außerdem einen Risikofaktor für Eine Reihe spezifischer Erkrankungen kann eine
Gefäßsklerose mit nachfolgend erhöhter Gefahr von Abneigung gegenüber bestimmten Nahrungsmitteln
Kreislauferkrankungen, besonders Herz- und Hirn- verursachen: So kommt es beispielsweise bei Leber-
infarkten, dar. erkrankungen häufig zur Abneigung gegenüber Fett.
16 Übergewicht ist aber nicht nur aus medizinischer Ebenfalls appetitmindernd wirkt sich ein gestörter
Sicht betrachtet ein Problem, sondern auch aus so- Geruchs- und Geschmackssinn aus.
ziologischer und psychischer Sicht, da viele adipöse Besonders ausgeprägt ist ein gestörtes Ge-
Menschen ein negatives körperliches Selbstbild ent- schmacksempfinden bei Tumorerkrankungen. Es
wickeln (s. a. S. 273). wird vermutet, dass der Tumor toxische Stoffwech-
selmetaboliten abgibt, die den Geschmackssinn und
Bulimia nervosa den Appetit beeinflussen und Auswirkungen auf die
Die Bulimia nervosa, die häufig auch als „Fress-Kotz- Hunger-Sättigungs-Regulation haben. Es kommt zu
sucht“ oder als „Ess-Brechsucht“ bezeichnet wird, ist einer erhöhten Geschmacksschwelle für Süßes und
eine psychogene Essstörung, bei der dem Körper ex- einer erniedrigten Geschmacksschwelle für Bitter-
zessive, meist hochkalorische Nahrungsmengen in stoffe. Folge hiervon ist häufig eine Abneigung gegen
kürzester Zeit zugeführt werden. Heißhungeranfälle eiweißhaltige Lebensmittel, vor allem gegen Fleisch,
Kachexie
Definition: Als Kachexie wird ein Absinken des
Körpergewichts unter 20% des Normalgewichts
Abb. 16.1 Kachexie. Starkes Hervortreten der Knochenstruk-
bezeichnet.
turen
Anorexie/Inappetenz, Kachexie, Anorexia nervosa, schiedenen Stuhl (vgl. Kap. 18). Es können allgemei-
Polydipsie, Adipsie, Exsikkose/Dehydratation sind ne Verdauungsbeschwerden wie Appetitmangel
Störungen mit mangelnder Nahrungs- oder Flüssig- und/oder Übelkeit, sowie ein durch vermehrten bak-
keitsaufnahme. teriellen Abbau bedingter Meteorismus und Durch-
Anorexia nervosa, Bulimie nervosa und BINGE ge- fälle beobachtet werden.
hören zu den psychogenen Essstörungen und be- In Verbindung mit Durchfällen kommt es häufig
dürfen psychotherapeutischer Behandlung. zu Elektrolyt- und Wasserverlusten mit Müdigkeit
und Kreislaufstörungen sowie Exsikkose-Zeichen
16.2.2 Störungen der Nährstoffaufnahme und (s. a. S. 292). Ein langanhaltendes Malassimilations-
-verwertung syndrom führt zum Gewichtsverlust bis hin zur
Eine Störung der Nährstoffaufnahme und -verwer- Kachexie mit den entsprechenden Mangelerschei-
tung liegt dann vor, wenn die zugeführte Nahrung nungen.
und deren Bestandteile nicht vom Körper assimiliert,
sondern ganz oder teilweise unverdaut wieder aus- 16.2.3 Mangelerscheinungen
geschieden werden. Man nennt diese Störung auch Definition: Unter einer Mangelerscheinung
Malassimilation. wird das Fehlen eines bestimmten Nährstoffes
Für die Malassimilation kommen 2 Hauptursa- über einen längeren Zeitraum mit gesundheit-
chen in Betracht: die Malabsorption und die Maldi- lich ungünstigen Folgen verstanden.
gestion.
Je nach Funktion des fehlenden Nährstoffes ergeben
Malabsorption sich entsprechende Symptome. Zu einer Mangeler-
Eine Malabsorption liegt dann vor, wenn der Darm scheinung kann es einerseits durch die zu geringe
die in der Nahrung enthaltenen Nährstoffe nicht ab- Aufnahme eines bestimmten Nährstoffes, anderer-
sorbieren, d. h. aufnehmen kann. Ursachen hierfür seits durch einen erhöhten Nährstoffbedarf kom-
sind meist Darminfektionen, wie sie beispielsweise men, beispielsweise in der Rekonvaleszenz oder bei
bei der Salmonellose, bei chronischen Dünndarmer- den sog. Konsumptionskrankheiten. Es gibt auch
krankungen oder nach Strahlentherapien vorkom- spezielle Erkrankungen, bei denen mehrere Mangel-
men. erscheinungen gleichzeitig auftreten.
Auch nach Darmteilresektionen kann ein Malab-
sorptionssyndrom auftreten. Der Darm ist hier nicht Vitaminmangelsyndrome
mehr lang genug, um Nährstoffe effektiv absorbieren Das Auftreten von Vitaminmangelerscheinungen ist
zu können. in den Industrieländern sehr selten, da sämtliche Vit-
amine ganzjährig verfügbar und bei ausgewogener
Maldigestion Ernährung in der Nahrung vorhanden sind, sofern sie
Bei der Maldigestion sind die Nährstoffe aufgrund nicht durch zu lange Lagerung oder eine entspre-
mangelnder Enzymzufuhr nicht oder nur teilweise chend vitamintötende Zubereitungsart zerstört wor-
gespalten, sodass der Darm sie aus diesem Grund den sind.
nicht aufnehmen kann. Für die Maldigestion sind Es gibt dennoch Umstände, die zu einem Vitamin-
häufig Krankheiten der Bauchspeicheldrüse oder der mangel führen können. Diese hängen zumeist mit 16
Gallenblase verantwortlich, die dazu führen, dass die Lebenssituationen zusammen, in denen ein erhöhter
zur Aufspaltung der Nährstoffe erforderlichen Enzy- Vitaminbedarf besteht, wie beispielsweise in der
me nicht in ausreichendem Maß vorhanden sind. Schwangerschaft und Stillzeit. Wie bereits beschrie-
Nach Magenteilentfernung kann ebenfalls eine Mal- ben, kommt es auch bei bestehender Malassimilati-
digestion auftreten, da eine Vorverdauung durch den on zu einem Vitaminmangel.
Magensaft nicht genügend erfolgt. Damit Vitamine überhaupt von der Darm-
Sowohl bei der Malabsorption als auch bei der schleimhaut resorbiert werden können, müssen be-
Maldigestion gelangen die Nährstoffe nicht in das stimmte Voraussetzungen erfüllt sein. Fettlösliche
Blut oder die Lymphbahn, sondern werden unver- Vitamine brauchen z. B. Fett, damit sie gebunden und
daut wieder ausgeschieden. Laborchemisch nach- von der Darmschleimhaut aufgenommen werden
weisbar und makroskopisch beobachtbar sind dem- können.
entsprechend unverdaute Nahrungsstoffe im ausge-
Tab. 16.3 Übersicht über wasserlösliche Vitamine (nach Biesalski et al. 2010 )
Thiamin (Vitamin B1) Beri-Beri Pflanzen, einige Hefen, Samen, Nüsse, Weizenkeime,
Schimmel, Bakterien Leguminosen, mageres Schweine-
fleisch
Riboflavin (Vitamin B2) Pellagra, hypochrome Anämie Pflanzen, Bakterien, Pilze Milch, Innereien, Eier, Nüsse,
Samen, Fisch, Pilze
Pyridoxin (Vitamin B6) Störungen der Proteinsynthese viele Bakterien**, Hefen, Pilze, Hefe, Leber, Weizenkeime, Hafer,
Pflanzen Nüsse, Bohnen, Avocado, Bananen
Cobalamin (Vitamin B12) perniziöse Anämie Pilze, einige Bakterien** Leber, Nieren, Eier, Käse
(keine Pflanzen)
Vitamin C (Ascorbinsäure) Skorbut Pflanzen, die meisten Tiere speziell Zitrusgewächse, Hagebut-
(außer bei Jungtieren), einige ten, Kiwi, Preiselbeeren, Tomaten,
Bakterien Kohl, Paprika, Früchte und Gemü-
se im Allgemeinen
Niacin (Nicotinsäure) Pellagra Pflanzen, einige Bakterien, Fleisch, Nüsse, Leguminosen, Fisch
Pilze, Hefe*
Pantothensäure Burning Feet Syndrome Pflanzen, einige Bakterien** Hefe, Getreide (weit verbreitet),
Hering, Pilze, Eigelb, Leber
Biotin Eiweißschädigung Bakterien, Hefen, Pilze Hefe, Leber, Eigelb, Tomaten, Soja-
bohnen, Reis, Weizenkleie
Tab. 16.4 Übersicht über fettlösliche Vitamine (nach Biesalski et al. 2010)
Vitamin E (Tocopherole) keine spezifische Symptomatik Pflanzen Gemüse, Samenöle, grünes Blatt-
gemüse
16 Vitamin K (Phyllo- und fehlende Blutgerinnung Bakterien**, Pflanzen grünblättriges Gemüse, Eigelb, Kä-
Menachinone) se, Leber
Tab. 16.5 Mineralstoffe und Spurenelemente – Übersicht (aus Biesalski et al. 2010)
Jod 180 – 200 µg Schwangere und 50 µg/l Schilddrüsenhor- ⬎ 500 µg/d chronisch
Stillende 250 µg/d, monsynthese
Säuglinge und Kin-
der angepasst an
das Alter
Bei der Analytik von Mineralstoffen und Spurenelementen müssen bei der Probennahme und Präanalytik sorgfältig Kontaminationen durch Probengefäße,
metallische Hilfsmittel und bei der Analytik verwendete Reagenzien vermieden werden.
Tab. 16.6 Richtwerte für die Wasserzufuhr (nach den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE 2017)
Säuglinge
0 bis 4 Monate 620 – 60 680 130
4 bis unter 12 Monate 400 500 100 1000 110
Kinder
1 bis unter 4 Jahre 820 350 130 1300 95
4 bis unter 7 Jahre 940 480 180 1600 75
7 bis unter 10 Jahre 970 600 230 1800 60
10 bis unter 13 Jahre 1170 710 270 2150 50
13 bis unter 15 Jahre 1330 810 310 2450 40
Jugendliche und Erwachsene
15 bis unter 19 Jahre 1530 920 350 2800 40
darf eines Kindes in den ersten 10 Lebenstagen lässt Definition: Die Kachexie, als schwerste Form
sich mit verschiedenen Formeln wie folgt berech- eines reduzierten Ernährungszustands mit Ge-
nen: wichtsabnahme, ist dadurch gekennzeichnet,
(Lebenstage – 1) ⫻ 70 – 80 = ml Trinkmenge/24 dass das Körpergewicht 20% des Normalgewichts un-
Stunden terschreitet, das Kind ein skelettartiges Aussehen be-
oder sitzt und es zu einem allgemeinen Kräfteverfall kommt
20 ml ⫻ kg KG ⫻ Lebenstage = ml Trinkmenge/24 (s. a. Kap. 15).
Stunden.
Bei allen 3 genannten Formen kommt es außerdem
In Tab. 16.6 sind Richtwerte für die Wasserzufuhr zu einer Stimmungslabilität und einer erhöhten In-
aufgeführt. fektanfälligkeit. Je nach Ausprägungsgrad der Stö-
Für Neugeborene, Säuglinge stellt das Stillen die rung kann der reduzierte Ernährungszustand bei
beste Ernährung dar. Durch Stillhindernisse von Sei- Kindern zu Entwicklungsstörungen bis zu lebensbe-
ten der Mutter (z. B. Flach-, Hohlwarzen, Rhagaden, drohlichen Zuständen führen.
Krankheiten mit Infektionsgefahr des Kindes, milch- Die Ursachen eines reduzierten Ernährungszu-
gängige Medikamente) oder des Kindes (z. B. Trink-/ standes sind sehr vielfältig. Sie können in einer ver-
Saugschwäche, Missbildungen, schwere Krankhei- minderten Nahrungszufuhr (z. B. bei Nahrungsman-
ten) kann das Stillen behindert oder auch unmöglich gel, Fehlernährung), einer gestörten Nahrungsre-
gemacht werden. In diesen Fällen müssen dann evtl. sorption (z. B. bei anatomischen Störungen, Stoff-
Hilfsmitteln angewendet werden oder es muss zu ei- wechselstörungen des Darms) oder einem erhöhten
16 ner industriell hergestellten Nahrung zurückgegrif- Kalorienverbrauch (z. B. bei chronischen Systemer-
fen werden. krankungen, Hypermotorik) liegen.
Unterhautfettgewebe Verminderung der Fettpolster an der Bauchhaut, vollständiger Fettschwund, einschließlich des
den Extremitäten, am Gesäß („Tabakbeutel- Bichat-Fettpfropfes der Wangen
gesäß“)
Gesicht eingesunkene Wangen, groß wirkende Augen eingesunkene Wangen, tiefliegende Augen,
dunkle Augenschatten, faltige Haut („Greisen-
gesicht“, haloniertes Aussehen)
Tab. 16.8 Klinische Zeichen einer Dehydratation in Abhängigkeit vom Schweregrad (aus: Gortner, L., S. Meyer, F. C. Sitz-
mann. Duale Reihe Pädiatrie. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012)
Gewichtsverlust
Säugling ⱕ 5% 5 – 10% 10 – 15%
Kleinkind ⱕ 3% 3 – 6% 6 – 9%
Haut
Turgor 앗 앗앗 앗앗앗
Farbe blass grau-blass marmoriert
Schleimhaut trocken spröde brüchig
Blutdruck normal fast normal 앗
Puls (앗) 앖 tachykard
Urin niedriges Volumen Oligurie Oligo-Anurie, Azotämie
16
Tränen Tränen keine Tränen keine Tränen
Tab. 16.9 Ursachen der Malabsorption im Kindesalter (aus: Schulte, F.J., J. Spranger: Lehrbuch der Kinderheilkunde:
Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter, 27. Aufl., Gustav Fischer, Stuttgart 1992)
+++
M. nach Gastroenteritis geschädigte ⎫ Durchfall z. B. Nachweis von
Mukosa ⎪ Rotaviren im Stuhl
⎪
M. bei Kuhmilchprotein-+++ Mukosa geschädigt ⎪ Durchfall oft blutig Klinik und Dünndarm-
⎪ sekundärer Mangel
und Sojaproteinintoleranz (weniger ausge- biopsie
⎬ an Dünndarmen-
prägt als bei Z) ⎪ zymen
Lamblia intestinalis+++ Mukosa geschädigt ⎪ Durchfall Lamblien im Duodenal-
⎪
(weniger ausge- ⎪ sekret (Lupenmikroskop)
prägt als bei Z) ⎭
b) Malabsorption einzelner
Nahrungsstoffe
+++
häufig +
selten ⬚ äußerst selten
Während es bei vielen selbstständig lebenden, häufiger Grund, warum alte Menschen nur noch flüs-
geistig rüstigen alten Menschen eher keine besonde- sige Kost in Form von Brei zu sich nehmen.
ren Ernährungsprobleme gibt, zeigt sich bei hochbe- Viele hochbetagte Menschen leiden an mehreren
tagten, geriatrischen Menschen häufig eine deutli- Erkrankungen gleichzeitig, die die Nahrungsaufnah-
che Mangelernährung. Einer von der DGE durchge- me entscheidend beeinflussen können. Diese sog.
führten Studie zufolge sind nicht einmal 10% der Multimorbidität betrifft meist typische Alterskrank-
hochbetagten Menschen übergewichtig, dagegen heiten wie beispielsweise Verschleißerscheinungen
aber bis zu 60% untergewichtig. Die Hauptursache der Gelenke, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes
hierfür ist eine zu geringe Nahrungsaufnahme. Ver- mellitus oder Lähmungen mit Schluckstörungen
antwortlich dafür ist sehr häufig Appetitlosigkeit, die nach einem Schlaganfall.
durch nachlassenden Geruchs- und Geschmackssinn Eine besondere Problemgruppe stellen stark des-
im Alter verstärkt wird. orientierte Menschen dar, wie beispielsweise von
Alte Menschen, die alleine leben und aufgrund Morbus Alzheimer Betroffene. Der Reiz zur Nah-
von eingeschränkter Mobilität nur noch selten ihre rungsaufnahme ist in diesen Fällen häufig gestört:
Wohnung verlassen können, vereinsamen häufig. Sie essen entweder übermäßig, ohne dass ein Sätti-
Die Folge ist eine Isolation, die die Motivation zum gungsgefühl eintritt, oder sie verweigern die Nah-
Essen und den Appetit zusätzlich stark einschränkt. rung und spucken sie wieder aus, weil sie gar keinen
Viele ältere Menschen leiden unter Zahnverlust, Hunger haben. Manchmal öffnen sie den Mund nicht,
welcher zwar durch Teil- oder Vollprothesen ausge- weil sie vergessen haben, was essen heißt, oder wis-
glichen werden kann, die allerdings durch die Rück- sen nicht, wozu ein Löffel zu gebrauchen ist. Es kann
bildung der Alveolarfortsätze, die wie Nischen die auch sein, dass die Maßnahmen zur Essensaufnahme
Zähne fixieren, häufig schlecht sitzen. Die Prothesen als Bedrohung empfunden werden. In diesem Fall
müssen entsprechend vom Zahnarzt nachgearbeitet kommt es zu entsprechend ängstlichen und/oder ag-
werden, damit sie sich beim Kauen nicht verschieben gressiven Reaktionen.
oder Druckstellen und Entzündungen im Mund her- Ein vermindertes Durstgefühl durch nachlassen-
vorrufen. Schlechtsitzende Zahnprothesen sind ein de Sensibilität der Osmorezeptoren verhindert, dass
– 35 %
1 100 kcal 16
Kohlen-
hydrate
400 kcal
Fett – 40 % 250 kcal
Fett
alte Menschen genügend trinken. Besonders an hei- Durch Multimorbidität ist oft bei alten Menschen
ßen Tagen kann es dann zu einer Exsikkose mit Kreis- der Reiz zur Nahrungsaufnahme gestört.
laufschwankungen und Verwirrtheitszuständen Nachlassende Sensibilität der Osmorezeptoren ver-
kommen. Auch inkontinente alte Menschen trinken mindert das Durstgefühl und führt häufig zu Exsik-
oft zu wenig, weil sie Angst davor haben, die Toilette kose.
nicht schnell genug zu erreichen. Mangelernährung hat bei alten Menschen fatale
Ein weiterer Grund für eine Mangelernährung Folgeerscheinungen wie Schwäche, beeinträchtigte
kann darin liegen, dass sich alte Menschen aufgrund Muskelfunktion, Infektanfälligkeit etc.
ihrer eingeschränkten Beweglichkeit hauptsächlich
von Konserven und Fertiggerichten ernähren. Häufig
steht hier der Wunsch im Vordergrund, so lange wie 16.7 Fallstudien und mögliche
möglich selbstständig zu bleiben. Pflegediagnosen
In den Institutionen des Gesundheitswesens kom-
men besondere Faktoren dazu, die den Appetit und Der infolge einer Mangelernährung entstehende
Durst geriatrischer Menschen negativ beeinflussen. Schwächezustand kann sich auf sämtliche Bereiche
Hierzu gehören die veränderte, fremde Atmosphäre der Alltagsbewältigung auswirken. Zusätzliche kör-
des Krankenhauses oder der Pflegestation im Alten- perliche Erkrankungen führen unter diesen Umstän-
heim, ungewohnte Essenszeiten und -angebote, den oft zum Versagen vieler Regulationsmechanis-
fremdes und häufig wechselndes Pflegepersonal. Das men, die lebensbedrohliche Herz-Kreislauf-Störun-
Essen muss unter Umständen im Bett eingenommen gen, Temperaturerhöhung und Bewusstseinsverän-
werden; die Krankheitssituation mit z. B. Schmerzen, derungen bewirken können.
Unwohlsein und körperlichen Einschränkungen wird
mehr oder weniger belastend erlebt. Beispiel: Frau Borgers, 82 Jahre alt, wird ins
Des Weiteren können Trauer, Depressionen, Zu- Krankenhaus eingeliefert mit der Diagnose
kunftsängste und Gefühle der Abhängigkeit er- Kachexie und Exsikkose. Sie war in ihrer
schwerend hinzukommen. All diese Faktoren wirken Wohnung gestürzt und konnte aus eigener Kraft keine
sich negativ auf den Appetit aus. Hilfe herbeiholen. Die Nachbarin reagierte auf ihr Ru-
Die Folgen des reduzierten Ernährungszustands fen und verständigte den Krankenwagen. In der Klinik
sind gerade für den geriatrischen Menschen fatal, gab Frau Borgers an, bereits mehrere Tage unter Durch-
weil durch die Beeinträchtigung der Muskelfunktion fall zu leiden. Außerdem fühle sie sich, seit ihr Mann vor
und die damit einhergehende Schwäche ein erhöhtes einigen Jahren gestorben ist, sehr einsam und habe
Risiko für Stürze, Frakturen und dazugehörige Lang- kaum noch Appetit. In der letzten Zeit sei sie sehr
zeitfolgen besteht. Außerdem erhöht sich die Infekt- schlapp und müde gewesen.
anfälligkeit, das Dekubitusrisiko und das Risiko auf- Frau Borgers ist stark abgemagert, die Haut ist faltig
tretender Komplikationen im Krankheitsverlauf mit und schuppig, die Mundschleimhaut trocken und bor-
entsprechend längerem Krankenhausaufenthalt. kig.
Das Gewicht beträgt 45 kg bei einer Körpergröße von
Zusammenfassung: 165 cm. Die Blutdruckwerte liegen bei 85/50 mmHg,
16 Besonderheiten bei Kindern und älteren die Pulsfrequenz bei 112 Schlägen/Min. Die Temperatur
Menschen ist mit 38,5 ⬚C – rektal gemessen – erhöht. Am Rücken
Bei Neugeborenen kann die Gefahr einer Trink-/ und am Ellenbogen hat Frau Borgers aufgrund des
Saugschwäche bestehen. Sturzes Hämatome und Hautabschürfungen, die bei
Ein reduzierter Ernährungszustand kann bei Kin- Bewegungen schmerzen. Die Röntgenaufnahmen zei-
dern lebensbedrohlich sein. gen Prellungen, keine Frakturen.
Bei der Dehydratation aufgrund z. B. von Diarrhöen, Frau Borgers ist ganz unglücklich, weil sie nicht weiß,
Erbrechen oder Schwitzen werden verschiedene wie dieser Sturz passieren konnte, obwohl sie doch im-
Schweregrade unterschieden. mer so aufgepasst hat. Einen Auszug aus dem mögli-
Häufig leiden hochbetagte Menschen unter einer chen Pflegeplan von Frau Borgers zeigt Tab. 16.10.
deutlichen Mangelernährung. Zu der oben aufgeführten Fallstudie kann auch eine
Pflegediagnose erstellt werden, die die folgende Über-
sicht zeigt:
Im Fall von Frau Borgers würde die Pflegediagnose Beispiel: Julia wurde mit einer Lippen-Kie-
folgendermaßen lauten: fer-Gaumenspalte geboren und leidet des-
Flüssigkeitsdefizit halb an einer Saugschwäche. Gestern hat sie 16
b/d (beeinflusst durch) aktiver Verlust von Körper- eine Trinkplatte angepasst bekommen. Die Mutter von
flüssigkeiten (Diarrhö) Julia hat ihre Tochter seit der Geburt regelmäßig ange-
a/d (angezeigt durch): legt, doch aufgrund der Lippen-Kiefer-Gaumenspalte
reduzierter Blutdruck, konnte Julia die Muttermilch aus der Brust nicht auf-
erhöhte Pulsfrequenz, nehmen. Nachdem Julia die Trinkplatte erhalten hat,
reduzierte Hautspannung, hofft ihre Mutter, dass es nun mit dem Stillen klappt. In
trockene Haut und Schleimhäute, Tab. 16.11 ist ein Auszug aus dem Pflegeplan von Julia
erhöhte Körpertemperatur, aufgeführt.
Schwächegefühl.
Fr. B. ist vital gefährdet auf- Fr. B. ist geistig in der Lage, Fr. B. 쐌 Infusionstherapie auf Anordnung:
grund der Exsikkose und der ihre Situation zu begreifen, 쐌 hat einen physiologischen 1500 ml NaCl 0,9%
Kachexie sich motivieren zu lassen Wasserhaushalt, 쐌 Information von Fr. B. über die Notwen-
쐌 kennt die Notwendigkeit digkeit einer ausreichenden Trinkmenge
einer Trinkmenge von (mind. 1,5 l/Tag)
1,5 l/Tag und trinkt ent- 쐌 1,5 l/Tag Wunschgetränke bereitstellen
sprechend 쐌 Bilanzierung der Ein- und Ausfuhr
쐌 nimmt innerhalb einer (8.00 h)
Woche 1 kg an Gewicht 쐌 Urinbeobachtung: Menge, Aussehen,
zu Konzentration
쐌 hochkalorische Kost (2500 cal/Tag),
6 kleinere Mahlzeiten, Wunschkost
쐌 Mo. u. Fr. (8.00 h) Gewichtskontrolle
쐌 Kreislaufverhältnisse sind 쐌 Vitalzeichenkontrolle: RR, Puls, Temp.
im physiologischen Be- alle 4 Stunden
reich und Komplikationen
(Kreislaufkollaps mit Oli-
gurie) werden frühzeitig
erkannt
쐌 hat geschmeidigen Haut- 쐌 Hautpflege mit Pflegelotion W/Ö (bei
zustand, feuchte Mund- Körperpflege)
schleimhaut 쐌 Hautbeobachtung: Turgor
쐌 Mundpflegeutensilien nach jeder Mahl-
zeit anreichen
쐌 Inspektion der Mundschleimhaut (bei
Körperpflege)
Appetitlosigkeit aufgrund Fr. P. ist offen für Gespräche Fr. B. 쐌 Fr. B. ermöglichen, sich im Aufenthalts-
von Einsamkeit und für Kontakte 쐌 ist über Aktivitäten in raum aufzuhalten, evtl. zu essen
Seniorengruppen infor- 쐌 Kontakt herstellen zu Aktivitäten von
miert Seniorengruppen über den Sozialmedizi-
nischen Dienst
쐌 hat angemessenen 쐌 Beobachtung des Appetits
Appetit
Julia kann aufgrund der Lip- 쐌 Julia hat eine angepasste 쐌 Julia kann gut an der Anleitung der Mutter zum Stillen (durch
pen-Kiefer-Gaumenspalte Trinkplatte Brust trinken Stillberaterin):
nur ungenügend an der 쐌 Julias Mutter ist sehr 쐌 Julia erfährt beim Stillen 쐌 häufiges (8 ⫻), regelmäßiges Anlegen
Brust saugen 씮 Gefahr der geduldig und legt Julia Unterstützung von der 쐌 Stillposition ausprobieren, Julia: halbauf-
mangelnden Zufuhr von immer wieder an Mutter (Abdichten der rechte Position
Flüssigkeit und Nährstoffen Lippen, Auslösen des 쐌 Abdichten der Lippenspalte mit den Fin-
16 Milchflussreflexes) gern unterstützen
쐌 Julia besitzt einen ausge- 쐌 manuelles Auslösen des Milchflussrefle-
glichenen Flüssigkeits- xes z. B. durch:
und Nährstoffhaushalt – leichte Massage der Brust (vom Brust-
ansatz zur Brustwarze)
– Wärmeapplikation (z. B. warme Tücher
oder Abwaschen der Brust mit war-
mem Wasser)
– Beobachtung des Saugens (Einziehun-
gen der Wangen)
Hinweis auf Stillgruppen, Selbsthilfegrup-
pen, ruhige, entspannte Atmosphäre wäh-
rend des Stillens (Musik nach Wunsch,
Schild „Stillzeit“ an die Tür, Hinweis auf
Stillzimmer) Beobachtung des Ernährungs-
zustands
16
17 Urin
Panajotis Apostolidis*, Petra Schmalstieg
Übersicht
Einleitung · 309
17.1 Allgemeine Beobachtungskriterien und
Beschreibung des Normalzustands · 310
17.1.1 Miktion · 310
17.1.2 Urinmenge · 310
17.1.3 Urinfarbe, Aussehen · 310
17.1.4 Urinzusammensetzung · 311
17.1.5 Uringeruch · 311
17.1.6 Spezifisches Gewicht des Urins · 311
17.1.7 Urinreaktion · 311
17.2 Abweichungen, Veränderungen des
Urins und deren mögliche Ursachen · 312
17.2.1 Miktionsstörungen · 312 Einleitung
17.2.2 Veränderungen der Urinmenge · 316
17.2.3 Veränderungen der Urinfarbe · 318 Die kontrollierte Ausscheidung von Urin wird im
17.2.4 Veränderungen der Kindesalter erlernt und gehört zu den grundlegen-
Urinzusammensetzung, den und selbstverständlichen Aktivitäten von Men-
Beimengungen · 318 schen. Wie häufig der Gang zur Toilette vollzogen
17.2.5 Veränderungen des Uringeruchs · 319 wird, wird Menschen oft erst dann bewusst, wenn
17.2.6 Veränderungen des spezifischen die Miktion von unangenehmen Prozessen wie z. B.
Gewichts des Urins · 319 Schmerzen begleitet ist oder gar ein unwillkürlicher
17.2.7 Veränderungen der Urinreaktion · 319 Urinabgang wie bei den verschiedenen Formen der
17.3 Ergänzende Beobachtungskriterien · 320 Harninkontinenz geschieht. Hier wird der selbstver-
17.4 Besonderheiten bei Kindern · 320 ständliche Vorgang der Miktion zu einer störenden
17.5 Besonderheiten bei älteren und unangenehmen Notwendigkeit.
Menschen · 321 Gerade die Inkontinenz wirkt sich nicht nur auf
17.5.1 Funktionelle Inkontinenz · 321 das physische, sondern vor allem auch auf das psy-
17.6 Fallstudien und mögliche chische und soziale Wohlbefinden der betroffenen
Pflegediagnosen · 322 Menschen aus und führt nicht selten aufgrund von
Fazit · 325 Schamgefühlen zum sozialen Rückzug.
Literatur · 325 Die Miktion ist wie die Defäkation eine sehr pri-
vate Angelegenheit, die eng mit der Intimsphäre ei-
nes Menschen verbunden ist und normalerweise
Schlüsselbegriffe:
nicht im Beisein anderer Menschen vollzogen wird.
왘 Miktionsstörung Pflegepersonen sind jedoch im Alltag häufig gefor-
왘 Dysurie dert, pflegebedürftigen Menschen Hilfestellung bei 17
왘 Harninkontinenz der Ausscheidung zu leisten, was ein hohes Maß an
Einfühlungsvermögen und Sensibilität erfordert.
Das folgende Kapitel beschreibt die Beobach-
tungskriterien des Urins und geht auf mögliche Ursa-
chen für Abweichungen und Veränderungen in die-
sem Beobachtungsbereich ein.
17.1.1 Miktion
Definition: Mit Miktion wird der Vorgang der die Harnblasenmuskulatur und die Blasenschließ-
Blasenentleerung, die Urinausscheidung, be- muskelanlage. Es kommt zu einer unwillkürlichen
zeichnet. Kontraktion der Blasenmuskulatur und einer gleich-
zeitigen Öffnung des inneren Blasenschließmuskels.
Sie erfolgt im Normalfall willkürlich, schmerzlos Um den Urin abfließen zu lassen, wird anschließend
und im Strahl, wobei durchschnittlich eine Menge der äußere Blasenschließmuskel willentlich geöff-
von 200 – 400 ml Urin ausgeschieden wird. Die net. Unterstützt wird die Entleerung der Blase durch
Miktion stellt einen reflektorischen Vorgang dar, die Anspannung der Bauchmuskulatur (Bauchpres-
der willkürlich ausgelöst wird und über ein speziel- se).
les Nervenzentrum im Bereich des Sakralmarks,
das sakrale Miktionszentrum, gesteuert wird (Abb. 17.1.2 Urinmenge
17.1). Die Urinmenge, die von einem erwachsenen Men-
Durch Dehnungsrezeptoren in der Blasenwand schen durchschnittlich innerhalb von 24 Std. ausge-
wird der Füllungsgrad der Harnblase registriert und schieden wird, beträgt zwischen 1500 ml und
an das sakrale Miktionsreflexzentrum und zum zen- 2000 ml. Sie ist abhängig von der Menge der aufge-
tralen Miktionszentrum (Miktionskontrollzentrum) nommenen Flüssigkeit, der extrarenalen Flüssig-
17 im Stammhirn weitergeleitet. Je größer die Dehnung keitsabgabe über die Haut, die Atmung und den
der Blase ist, umso mehr Impulse erreichen das ZNS, Darm sowie von der Funktion der Nieren. Die Funkti-
und es wird das Gefühl des Harndrangs ausgelöst. on der Niere ist wiederum u. a. abhängig vom Blut-
Die Harnmenge, die einen solchen Harndrang aus- druck und der Wirkung bestimmter Hormone (z. B.
löst, beträgt ca. 350 ml. Adiuretin, Aldosteron).
Bei intakten Nervenbahnen kann nun der Mikti-
onsreflex willkürlich unterdrückt oder zugelassen 17.1.3 Urinfarbe, Aussehen
werden. Wird der Entleerungsreflex zugelassen, Der normale Urin besitzt eine klare hell- bis dunkel-
dann leiten efferente Nervenfasern Impulse zum sa- gelbe (bernsteinfarbige) Farbe, die durch verschiede-
kralen Miktionszentrum. Diese Impulse wirken auf
ne Farbstoffe (z. B. Urochrom, Urosein, Urobilin) her- 17.1.6 Spezifisches Gewicht des Urins
vorgerufen wird. Sie wird von der Konzentration des Das spezifische Gewicht (Dichte, Artgewicht) gibt die
Harns und der Art der aufgenommenen Nahrung be- Konzentration des Urins an, d. h. es beschreibt, wie-
einflusst. Je konzentrierter der Harn, desto dunkler viel Gramm gelöste Stoffe in einem Liter Urin enthal-
seine Farbe und umgekehrt. ten sind. Es schwankt zwischen 1,001 und 1,035 mit
einem Durchschnitt von 1,020. Gemessen wird das
17.1.4 Urinzusammmensetzung spezifische Gewicht mithilfe einer Senkwaage, dem
Hauptbestandteil des Urins ist mit 95 – 98% Wasser. sog. Urometer, das in einen mit Urin gefüllten Mess-
Außerdem sind im Urin stickstoffhaltige Schlacken- zylinder gegeben wird (Abb. 17.2). Das Urometer
stoffe, Salze und Säuren, Farbstoffe, Hormone und „schwimmt“ auf dem Urin und das spezifische Ge-
wasserlösliche Vitamine enthalten (Tab. 17.1). Ver- wicht kann in Höhe des Flüssigkeitsspiegels an der
einzelt können auch Erythrozyten und Leukozyten Urometerskala abgelesen werden. Das Urometer ist
im Urin enthalten sein. Die festen Bestandteile des auf 15 oC geeicht. Liegt die Temperatur des Urins hö-
Urins betragen pro Tag ca. 60 g. her oder niedriger, so müssen pro 3o Temperaturab-
weichung jeweils 1 Teilstrich hinzugezählt (höhere
17.1.5 Uringeruch Temperatur) oder abgezogen (niedrigere Tempera-
Der Geruch eines frischen Urins ist leicht aromatisch tur) werden.
und wird durch Harnsäure und Ammoniak hervorge-
rufen. Wird der Urin längere Zeit stehen gelassen, so 17.1.7 Urinreaktion
entwickelt sich aufgrund der Zersetzung von Harn- Mit der chemischen Reaktion, dem pH-Wert, wird
stoff ein säuerlicher bis stechender Ammoniakge- der Gehalt an gelösten Säuren im Urin angegeben.
ruch. Zudem wird der Uringeruch durch Nahrungs- Bei einer gemischten Kost reagiert frischer Urin
mittel (z. B. Knoblauch, Spargel) beeinflusst. schwach sauer (pH-Wert von 5 – 7). Die Ermittlung
Harn Menge
(Wichtige Bestandteile des 24-Std.-
Urins gesunder Erwachsener)
Harnstoff 20 g
Gesamtprotein ⬍ 150 mg
Albumin ⬍ 30 mg
Aminosäuren 800 mg
Harnsäure 500 mg
D-Glukose 70 mg
Ionen: 17
Natrium 60 – 200 mmol
Kalium 30 – 100 mmol
Calcium 2,5 – 6 mmol
Magnesium 1 – 10 mmol
Ammonium 30 – 40 mmol
Chlorid 120 – 240 mmol
Phosphat 15 – 30 mmol
Sulfat 18 – 22 mmol
Abb. 17.2 Bestimmung des spezifischen Gewichts
Störung Definition
Harnstrahl-
des pH-Werts erfolgt mit Indikatorpapier oder mit- veränderungen
!
Merke: Die Beobachtungskriterien des Urins tionsstörung beschrieben, bei der es zu häufigen
sind: Miktion, Menge, Farbe, Geruch, Zusam- Entleerungen kleiner Urinmengen kommt.
mensetzung, spezifisches Gewicht, chemi-
sche Reaktion. Die Gesamtharnmenge, die innerhalb von 24 Std.
ausgeschieden wird, ist hierbei nicht verändert. Be-
obachtet werden kann eine Pollakisurie u. a. bei einer
17.2 Abweichungen,
Blasenreizung durch Entzündung, bei Blasenabfluss-
Veränderungen des Urins behinderungen, Verengungen der Harnröhre, Aufre-
und deren mögliche gung und Nervosität. Daneben kann eine Pollakisurie
Ursachen auch durch Druck auf die Harnblase von außen, wie
er beispielsweise durch eine Schwangerschaft her-
Mit dem Urin, dem Endprodukt eines komplizierten vorgerufen wird, verursacht werden.
Filtrationsvorgangs des Blutes bzw. des Blutplasmas,
wird eine Reihe von Stoffwechselprodukten aus- Nykturie
geschieden. Da der Urin auch der Regulation des Definition: Mit Nykturie wird ein vermehrtes
Wasser- und Elektrolythaushalts und dem Säure-Ba- nächtliches Wasserlassen beschrieben.
sen-Gleichgewicht dient, können Veränderungen
des Urins Hinweise auf zahlreiche Erkrankungen ge- Während im Normalfall, abhängig von der abendlich
ben und teilweise auch auf den Schweregrad der Er- aufgenommenen Trinkmenge, keine oder nur eine
krankung. Blasenentleerung in der Nacht erfolgt, müssen die an
einer Nykturie leidenden Menschen nachts häufiger
17 17.2.1 Miktionsstörungen Wasser lassen. Nicht selten ist eine Nykturie bei der
Die Miktionsstörungen beziehen sich auf die Art und Pollakisurie zu beobachten.
die Häufigkeit der Harnentleerungen, begleitende Daneben kann eine Nykturie Zeichen einer Herz-
Schmerzen und Veränderungen des Harnstrahls oder Niereninsuffizienz sein, bei der die tagsüber im
(Tab. 17.2). Gewebe angesammelten Wassermengen (Ödeme)
nachts in die Blutbahn rückresorbiert und über die
Niere ausgeschieden werden. Aber auch raumfor-
dernde Prozesse der Harnwege, die sich durch eine
Veränderung der Position (Liegen) verlagern und den
Harnabfluss dadurch wieder freimachen, können die behinderungen wie beispielsweise Blasensteine und
Ursache einer Nykturie darstellen. Prostatavergrößerungen oder Tumore, die eine Kom-
pression von außen bewirken. Ein neurogen beding-
Algurie ter Harnverhalt kann u. a. bei Bandscheibenvorfällen
Definition: Unter Algurie wird eine schmerz- und Multipler Sklerose beobachtet werden.
hafte Harnentleerung verstanden. Besteht ein Unvermögen, in Gegenwart anderer
Menschen Wasser zu lassen, so kann dies auch als
Sie kommt vor allem bei Blasenentzündungen und psychisch bedingter Harnverhalt bezeichnet werden
Blasensteinen vor. Die Miktionsfrequenz ist bei der (s. o.).
Algurie nicht erhöht.
Harninkontinenz
Dysurie Definition: Unter Harninkontinenz wird die
Definition: Ist die Harnentleerung nicht nur Unfähigkeit zur willkürlichen Steuerung der
schmerzhaft, sondern auch erschwert, so han- Blasenentleerung verstanden.
delt es sich um eine Dysurie.
Bei der Harninkontinenz werden verschiedene For-
Ursachen sind Harnabflussbehinderungen und men unterschieden:
Harnwegsinfektionen. Die Dysurie tritt oftmals in die Stressinkontinenz,
Kombination mit einer Pollakisurie auf. die Dranginkontinenz,
Eine besondere Form der Dysurie ist die Dysuria die neurogene Inkontinenz,
psychica. Sie beschreibt das Unvermögen bzw. das die Überlaufinkontinenz,
erschwerte Wasserlassen in Gegenwart anderer Per- die extraurethrale Inkontinenz,
sonen. Dies ist im Krankenhaus häufig der Fall, wenn funktionelle Inkontinenz.
z. B pflegebedürftige Menschen Bettruhe einhalten
und sich im Beisein von Zimmernachbarn entleeren Die funktionelle Inkontinenz ist von besonderer Be-
müssen. deutung für ältere Menschen, deshalb wird diese
Form unter 17.5 näher beschrieben.
Strangurie
Definition: Die Strangurie ist gekennzeichnet Stressinkontinenz
durch starke Schmerzen bei der Miktion und ei- Definition: Unter der Stress- oder Belastungs-
nen nicht zu unterdrückenden Harndrang. Sie inkontinenz wird ein unwillkürlicher Urinab-
wird auch als schmerzhafter Harnzwang be- gang bei intraabdomineller Druckerhöhung ver-
zeichnet. standen.
Die Strangurie, die meist mit einer Entleerung von Aufgrund eines Versagens des Verschlussmechanis-
nur wenig Harn einhergeht, wird hervorgerufen mus der Urethra verlieren die Betroffenen Urin bei
durch akute Entzündungen der Harnblase und Harn- Druckanstieg im Beckenraum; die Blasenmotorik ist
röhre. jedoch nicht gestört. Ursachen und begünstigende
Faktoren einer Stressinkontinenz zeigt Tab. 17.3.
Harnretention Charakteristisch für eine Stressinkontinenz ist
Definition: Das Unvermögen, die gefüllte der fehlende Harndrang bei plötzlichen oder andau-
Harnblase spontan zu entleeren, wird als Harn- ernden intraabdominellen Druckerhöhungen, wie 17
retention, Harnverhalt oder Harnsperre be- sie beispielsweise beim Husten, Lachen, Stehen oder
zeichnet. bei körperlicher Anstrengung auftreten. Der Harnab-
gang erfolgt tropfen- oder spritzförmig. Verschiede-
Sie führt zu einem quälenden Anstieg des Blasenin- ne Schweregrade, die bei der Stressinkontinenz un-
nendrucks mit Blasenüberdehnung und evtl. Harn- terschieden werden, sind in Tab. 17.4 aufgeführt.
rückstau. Die Ursachen können sowohl mechani-
scher als auch neurogener oder psychischer Art sein.
Zu den mechanischen Ursachen zählen Harnabfluss-
Tab. 17.3 Begünstigende Faktoren und Ursachen einer vegetative Belastungen wie Aufregung oder Angst ei-
Stressinkontinenz (nach Füsgen) ne Dranginkontinenz verursachen. Durch eine ver-
begünstigende Faktoren Ursachen mehrte Adrenalinausschüttung wird hierbei der To-
nus des Detrusors erhöht.
– Übergewicht, – Insuffizienz des Verschluss-
Bei der sensorischen Dranginkontinenz stellt eine
– Bindegewebsschwäche, mechanismus an Blasenhals und
– chronische Bronchitis, Harnröhre durch Operationen, periphere Überstimulation den auslösenden Faktor
– Zustand nach mehreren Geburten, Unfälle oder Nerven- dar. Durch Veränderungen der Harnblase oder Harn-
Geburten, schädigungen, röhre werden vermehrt Impulse an das ZNS gesen-
– schwere körperliche – Verlagerung von Blase und Harn-
det, was zu einer reflektorischen Öffnung des
Belastung, röhre (Blasensenkung, Becken-
– Postmenopause. bodenschwäche, Verziehung, Schließmuskels der Harnblase (M. sphincter vesicae)
Verdrängung), und nachfolgend des Harnröhrenverschlusses (M.
– Schleimhautschwund sphincter urethrae) führt. Ursachen für die sensori-
(z. B. Östrogenmangel)
sche Dranginkontinenz sind vor allem Harnwegs-
infekte oder mechanische Reizungen durch Blasen-
Tab. 17.4 Schweregrade der Stressinkontinenz steine, Tumore oder auch Blasenreizungen durch Er-
krankungen der Nachbarorgane, z. B. des Darms oder
Schweregrade Definition
der Vagina.
Grad I unfreiwilliger Urinabgang bei schweren kör-
perlichen Belastungen, z. B. beim Hüpfen, Neurogene Inkontinenz
Springen, Husten oder Niesen
Bei der neurogenen Inkontinenz erfolgt eine unwill-
Grad II unwillkürlicher Harnverlust bei leichten kör- kürliche Urinentleerung aufgrund einer Störung der
perlichen Belastungen, z. B. beim Treppen-
nervalen Miktionskontrolle. Ursachen sind v. a. Quer-
steigen, Gehen, Aufstehen oder Hinsetzen
schnittläsionen des Rückenmarks durch Traumen,
Grad III Urinverlust in Ruhe ohne Belastung
Tumore und Bandscheibenvorfälle. Je nachdem, an
welcher Stelle es zu einer Störung bzw. Unterbre-
chung zwischen dem sakralen Miktionszentrum und
Dranginkontinenz dem Gehirn gekommen ist, können verschiedene
Definition: Die Drang- oder Urge-Inkontinenz Formen unterschieden werden. Tab. 17.5 zeigt die
beschreibt einen unwiderstehlichen Harndrang verschiedenen Formen und ihre Charakteristika.
mit unwillkürlichem Urinverlust. Die sog. kortikale ungehemmte Blase (unge-
hemmte, neuropathische Blase) kommt vor allem bei
Sie ist häufig kombiniert mit einer Pollakisurie und zerebralen Störungen vor. Sie ist gekennzeichnet
Nykturie. Es handelt sich dabei um eine Störung in durch einen Verlust der Miktionskontrolle aufgrund
der Koordination der Blasenfunktion. Im Gegensatz einer fehlenden Hemmung des Detrusors (s. o.).
zur Stressinkontinenz ist der Verschlussmechanis- Bei der Reflexblase oder Reflexinkontinenz liegt
mus intakt. Bei der Dranginkontinenz werden die die Störung oberhalb des sakralen Miktionszentrums
motorische und sensorische Dranginkontinenz un- (im Sakralsegment S 2 – 4). Eine willkürliche Kontrol-
terschieden. le der Blase ist somit nicht mehr möglich. Die Funkti-
Bei der motorischen Dranginkontinenz bewirken on des Blasenmuskels und die Schließmuskelfunkti-
bereits wenige Impulse, die in das ZNS gelangen, die on können nicht mehr koordiniert werden, sodass es
Auslösung des Miktionsreflexes. Hierbei kommt es oftmals zu einer gleichzeitigen Kontraktion des De-
17 zu Kontraktionen des M. detrusor vesicae, d. h. der trusors und des Schließmuskels kommt, mit der Fol-
Muskulatur, die für die Entleerung des Harns zustän- ge einer geringen Harnentleerung bei hohem Blasen-
dig ist. Die ungenügende Hemmung durch das zen- druck.
trale Nervensystem kann u. a. die Folge eines Schlag- Eine Läsion der afferenten und/oder efferenten
anfalls oder anderer neurologischer Erkrankungen Bahnen zwischen der Blase und dem sakralen Mikti-
sein sowie auf einer sog. ungehemmten neuropathi- onszentrum oder eine Läsion des sakralen Miktions-
schen Blase beruhen. Hierbei ist die Kontrollfunktion zentrums führt zur autonomen Blase. Bei schlaffer
des Gehirns über die Miktion verloren gegangen, z. B. Blasenmuskulatur und spastischem Sphinkter
aufgrund einer Demenz, zerebrovaskulärer Erkran- kommt es zu einer Überlaufblase (s. u.) mit großen
kungen oder Hirntumoren. Daneben können psycho- Restharnmengen.
Tab. 17.5 Typen neurogener Miktionsstörungen (aus: Bassetti C., M. Mumenthaler. Neurologische Differenzialdiagnostik.
6. Aufl. Thieme, Stuttgart)
Name anatomischer Blasentonus Harndrang Miktions- Miktions- Blasen- Restharn Kompli- Ursache:
Läsionsort bei beginn beendi- kapazität kationen Beispiele
gung
kortikal zweite Stirn- normal mäßige unkontrol- nicht normal keiner unkont- hirnatrophi-
ungehemmte hirnwindung Füllung liert will- rollierte sche Prozes-
Blase kürlich Miktion se, Tumor,
Trauma, Apo-
plexie, zereb-
rale Arterio-
sklerose
spinale Rückenmark spastisch bei gerin- unkontrol- nicht klein wenig (Infekt) Rückenmark-
Reflexblase oberhalb S1 ger Füllung liert, durch will- oder unkon- trauma,
(„neuro- (evtl. feh- Manipula- kürlich keiner trollierte -tumor, mul-
gene“, lend bei tionen Miktion tiple Sklerose
„automati- vollständi- (Klopfen,
sche“ Blase) gem Quer- Kneifen)
schnittsyn-
drom)
denervierte, sakrales Bla- schlaff keiner nicht will- ständiges sehr riesige Infekte Konusläsion,
autonome senzentrum kürlich Abtrop- groß Mengen Kaudaläsion,
Blase (S2 – S4) bzw. fen von Läsionen im
dessen affe- Urin: kleinen
rente und/ „Über- Becken
oder efferen- laufbla-
te Verbindun- se“
gen zur Blase
Detrusor- zentrale Affe- wechselnd keiner Intermittie- wech- wech- klein Inkonti- traumatische
Sphinkter nenzen zur rend selnd selnd nenz RM-Läsion,
Dyssynergie Blase Tumor, MS
Die Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie stellt eine zur sog. Restharnbildung und einem Reflux des
Harnblasendysfunktion dar, die mit erhöhten Refle- Harns aus der Blase in die Harnleiter kommen, was
xen der Muskulatur der Harnblasenwand und Blasen- und Harnwegsinfektionen begünstigt.
krampfartig erhöhter Muskelspannung des äußeren
Harnblasenschließmuskels und der Beckenboden- Extraurethrale Inkontinenz
muskulatur einhergeht. Definition: Bei der extraurethralen Inkonti-
nenz erfolgt der unwillkürliche Urinverlust aus
Überlaufinkontinenz anderen Öffnungen als der Urethra, z. B. durch
Definition: Bei der Überlaufinkontinenz eine Blasen- oder Urogenitalfistel.
kommt es zu einer Entleerung von geringen
Mengen Urin bei einer prall gefüllten Harnblase Bei den Blasenfisteln handelt es sich um eine Verbin-
und überdehnter Blasenwand. dung der Harnblase zur Körperoberfläche oder zu
anderen Hohlorganen, bei den Urogenitalfisteln um 17
Ursachen können eine mechanische Obstruktion der eine Verbindung zwischen dem Harn- und Genital-
Harnröhre durch z. B. Prostatavergrößerung und trakt der Frau. Ursachen sind zumeist traumatische,
Harnröhrenstrikturen sein, sowie eine funktionelle entzündliche oder tumoröse Prozesse sowie thera-
Austreibungsschwäche durch Überdehnung des Bla- peutische Maßnahmen (z. B. suprapubische Harnab-
senmuskels oder Nervenschädigungen (s. o.). Zu der leitung).
Entleerung der Blase, die tröpfchenweise erfolgt,
!
kommt es, wenn der Blasendruck den Harnröhren- Merke: Bei den Formen der Inkontinenz
verschlussdruck ohne Detrusorkontraktionen über- werden die Stressinkontinenz, Dranginkonti-
steigt. Als Folge des Harnstaus in der Blase kann es nenz, neurogene Inkontinenz, Überlaufin-
kontinenz, die extraurethrale, funktionelle und iatro- zündungen, verursachen einen gedrehten oder ge-
gene Inkontinenz unterschieden. spaltenen Harnstrahl.
Ist der Harnstrahl unterbrochen („stakkatoartige
Zusammenfassung: Miktion“) so wird dies auch als Harnstottern be-
Allgemeine Beobachtungskriterien zeichnet. Er tritt u. a. bei Verlegung der Blase und/
Kriterien zur Beobachtung des Urins sind die Bla- oder der Harnröhre durch Steine und Tumore auf so-
senentleerung, Menge, Farbe, Zusammensetzung, wie bei der Dysuria psychica (s. o.).
der Geruch und das spezifische Gewicht sowie die Mit Harnträufeln wird ein tropfenweiser Abgang
chemische Reaktion. von Urin bezeichnet, der sowohl als andauerndes
Zu den Störungen bei der Harnentleerung zählen Träufeln sowie als Nachträufeln auftreten kann. Ein
Pollakisurie, Nykturie, Algurie, Dysurie, Strangurie, dauerndes Harnträufeln ist charakteristisch für eine
Harnretention und Inkontinenz. Überlaufblase, ein Nachträufeln kann Hinweis auf ei-
ne Harnröhrenerweiterung beispielsweise bei Diver-
Harnstrahlveränderungen tikeln sein.
!
Merke: Zu den Harnstrahlveränderungen
Restharnbildung
zählen der abgeschwächte und der gedrehte
Unter Restharn wird die Urinmenge verstanden, die
Harnstrahl sowie das Harnstottern und das
nach spontaner Miktion noch in der Blase verbleibt.
Harnträufeln (Abb. 17.4).
Normalerweise beträgt er zwischen 0 und 20 ml. Der
Ein abgeschwächter oder schlaffer Harnstrahl geht Restharn stellt keine Blasenentleerungsstörung im
einher mit einem verzögerten Miktionsbeginn und eigentlichen Sinne dar, sondern ist zumeist die Folge
einer verlängerten Miktionszeit. Er ist bei Verlegun- einer Miktionsstörung (z. B. bei neurogener Blase,
gen unterhalb der Blase, z. B. durch ein Prostataade- Überlaufblase, Harnverhalt). Er kann bis zu mehre-
nom zu beobachten. ren 100 ml betragen. Die Bestimmung erfolgt entwe-
Strikturen, d. h. Verengungen der Harnröhre zum der über Ultraschall oder mittels Katheterismus.
Beispiel durch Narbenbildung nach Harnröhrenent-
!
Merke: Zu den Miktionsstörungen werden
die Pollakis-, Nykt-, Alg-, Dys- und Strang-
urie sowie die Harnretention, die verschiede-
normaler nen Formen der Harninkontinenz, Harnstrahlverände-
Harnstrahl
rungen und die Restharnbildung gerechnet.
wird, zumeist mit der Folge eines vermehrten Durs- die mit einer vermehrten Flüssigkeitseinlagerung in
tes („Brand“). das Körpergewebe einhergehen, eine Oligurie auftre-
Pathologisch kommt eine Polyurie vor allem bei ten. Häufig liegt die Ursache nicht in der Niere, son-
einem Diabetes mellitus vor. Liegt der Blutzucker dern außerhalb (extrarenal). Hierzu gehört die Dehy-
über 180mg%, wird Zucker über den Urin ausge- dratation (s. a. S. 292) durch z. B. Diarrhö, Erbrechen,
schieden, was über Osmose zu einem Anstieg der aber auch Blutverluste und Herzerkrankungen.
Harnmenge führt. Bei dem sog. Diabetes insipidus ist Harnabflussstörungen, wie sie beispielsweise durch
die Wasserrückresorption in der Niere gestört, was Blasensteine, Harnröhrenstrikturen oder Prostata-
ebenfalls zu einer vermehrten Urinausscheidung vergrößerungen hervorgerufen werden können, stel-
führt. Auch bei einer Niereninsuffizienz, bei der die len ebenfalls extrarenale Ursachen dar, wobei hier
Fähigkeit der Niere zur Konzentration des Harns ge- die Störung hinter der Niere (postrenal), in den ablei-
stört ist, können vermehrte Ausscheidungsmengen tenden Harnwegen, liegt. Renale Ursachen einer
beobachtet werden. Durch eine Gabe von Diuretika Oligurie sind vor allem Infektionen oder toxisch-
kann eine Polyurie, z. B. zur Ausschwemmung von allergische Schäden der Niere (Tab. 17.6).
Ödemen, gewollt herbeigeführt werden.
Verminderte Urinausscheidung
Tab. 17.6 Pathologische Ursachen einer Oligurie
Definition: Bei der verminderten Urinausschei-
dung wird die Oligurie mit einer Ausscheidungs- Form mögliche Ursachen
menge von weniger als 500 ml Urin/24 Std. von 쐌 Flüssigkeitsverluste über Haut, Magen-
extrarenale Oligurie
der Anurie mit einer Ausscheidungsmenge von weniger Darm-Trakt
als 100 ml Urin/24 Std. unterschieden. 쐌 Blutverluste
쐌 Herzerkrankungen
쐌 Harnabflussbehinderungen
Physiologisch kommt es zu einer Oligurie bei einer
renale Oligurie 쐌 Infektionen der Niere
stark verminderten Flüssigkeitszufuhr oder starkem 쐌 toxisch-allergische Schäden der Niere
Schwitzen. Bei Frauen kann in der prämenstruellen 쐌 Niereninsuffizienz
Phase, aufgrund von hormonellen Veränderungen,
prärenal Hypotonie,
Volumenmangel,
kardiale Insuffizienz,
Schock
renal Nephritis,
Vergiftungen,
Niereninsuffizienz,
Niereninfarkt 17
postrenal Tumor,
Prostataadenom,
Harnröhrenstriktur
Die Oligurie geht oftmals einer Anurie voraus. Sie sensteinen, die kleine Schleimhautverletzungen ver-
wird eingeteilt in eine prärenale, renale und postre- ursachen, oder blutenden Tumoren ein rötliches bis
nale Anurie, entsprechend der Lage ihrer Ursache. fleischwasserfarbenes, trübes Aussehen.
Die verschiedenen Formen der Anurie mit ihren Eine rötliche Färbung ohne Trübung ist Kennzei-
möglichen Ursachen zeigt die Abb. 17.5. chen einer Hämoglobinurie. Sie entsteht durch die
Beimengung von gelöstem Blutfarbstoff aufgrund ei-
!
Merke: Formen der verminderten Urinaus- ner Hämolyse, beispielsweise bei hämolytischen
scheidung sind die Oligurie und die Anurie, Anämien, Transfusionszwischenfällen, Arznei- oder
bei denen jeweils extrarenale und renale Ur- Nahrungsmittelallergien.
sachen unterschieden werden. Als Bilirubinurie wird die vermehrte Ausschei-
dung von Bilirubin im Harn bezeichnet. Sie bewirkt
17.2.3 Veränderungen der Urinfarbe eine gelbbraune („bierbraun“) bis dunkelbraune Ver-
Der Urin kann eine Vielfalt von farblichen Verände- färbung des Urins. Beim Schütteln erhält der Urin ei-
rungen aufweisen, die sowohl physiologischer als nen gelblichen Schaum. Ursachen sind verschiedene
auch pathologischer Natur sein können. Einen gro- Erkrankungen der Leber und der Gallenwege, bei de-
ßen Einfluss auf die Farbe des Urins besitzen auch nen es zu einem Übertritt des aus dem Blut stam-
Nahrungsmittel und Medikamente. Beispiele hierfür menden Gallenfarbstoffs Bilirubin in den Urin
sind in Tab. 17.7 aufgeführt. Physiologisch ist eine kommt. Begleitend ist zumeist ein Ikterus zu beo-
hellgelbe Farbe des Urins bei großen Ausscheidungs- bachten (s. a. S. 75).
mengen (Polyurie). Je konzentrierter der Urin ist, Ein milchig-trübes Aussehen besitzt der Urin bei
umso dunkler ist seine Farbe (s. a. S. 319). Auch nach einer Phosphaturie, weshalb dies auch als „Milchpis-
längerem Stehenlassen wird das Gelb des Urins ser“ bezeichnet wird. Die Farbe erhält der Urin durch
dunkler und der Urin gleichzeitig trübe. den Ausfall von Kalzium- oder Magnesiumphospha-
Pathologische Veränderungen werden vor allem ten als Folge von Hungerzuständen, erschöpfender
durch verschiedene Beimengungen und Verände- Muskelarbeit oder alkalischer Kost. Aber auch bei Er-
rungen in der Zusammensetzung hervorgerufen. Ei- krankungen wie beispielsweise Plasmozytom, Ra-
ne rötliche und gelbbraune Farbe sowie ein milchig- chitis, Osteomalazie, Hyperparathyreoidismus oder
trübes Aussehen stellen wichtige Veränderungen des osteolytischen Metastasen, bei denen durch Abbau-
Urins dar. Nach ihrer Ursache werden die Hämaturie, prozesse am Knochen vermehrt Kalzium in das Blut
Hämoglobinurie, Bilirubinurie und Phosphaturie un- gelangt, kann eine Phosphaturie auftreten.
terschieden.
Bei der Hämaturie erhält der Urin durch eine Bei- Zusammenfassung:
mengung von Erythrozyten, z. B. aufgrund von Bla- Abweichungen, Veränderungen des Urins
Polyurie, vermehrte Urinausscheidung, besteht bei
über 2000 ml in 24 Std.
Tab. 17.7 Beispiele für Farbveränderungen des Urins, her- Oligurie, verminderte Urinausscheidung, mit weni-
vorgerufen durch Speisen und Medikamente
ger als 500 ml in 24 Std. wird von Anurie, weniger
Farbveränderung hervorgerufen durch z. B.: als 100 ml in 24 Std., unterschieden.
Lebensmittel und Medikamente können die Urin-
Nahrungsmittel:
farbe beeinflussen.
– zitronen- bis goldgelb Senna
– gelbbraun Rhabarber Veränderungen der Urinfarbe können durch Hä-
17 – rot Rote Beete maturie, Hämoglobinurie, Bilirubinurie und Phos-
– dunkelgrün bis schwarzbraun Bärentraubenblättertee phaturie hervorgerufen werden.
Medikamente:
– zitronengelb verschiedene Abführmittel
17.2.4 Veränderungen der
– orangegelb Vitamin-B-Präparate, Agarol
– grünlich-blau Methylenblau Urinzusammensetzung, Beimengungen
– blau Saroten Viele pathologische Zusammensetzungen des Urins
– grün Dytide H und pathologische Beimengungen können nur mit
– rot Pyramidon
– dunkelgrün bis schwarz Kohletabletten
Hilfe von labortechnischen Untersuchungen oder
– braungrün Teerpräparate Teststreifen festgestellt werden. Bei den Teststreifen
handelt es sich in der Regel um Schnellteste, die dem Übelriechend ist der Urin bei Zersetzungsprozessen,
Nachweis von beispielsweise Leukozyten, Nitrit, Ei- die durch Bakterien hervorgerufen werden, bei-
weiß, Glukose, Keton, Urobilinogen, Bilirubin und spielsweise im Rahmen von Harnwegsinfektionen.
Hämoglobin dienen. Die Teststreifen werden in fri- Bei malignen Prozessen in den Harnwegen kann ein
schen Urin eingetaucht, sodass alle Reaktionszonen fauligriechender Uringeruch wahrgenommen wer-
befeuchtet werden. Nach der angegebenen Warte- den. Er entsteht beim Zellzerfall der bösartigen Tu-
zeit wird der Teststreifen zum Vergleich an die Ab- moren.
leseskala gehalten, das Ergebnis ermittelt und doku-
mentiert (Abb. 17.3). 17.2.6 Veränderungen des spezifischen
Veränderungen der Zusammensetzung und Bei- Gewichts des Urins
mengungen können aber auch durch genaue Be- Veränderungen des spezifischen Gewichts und da-
trachtung des Urins festgestellt werden. Hierzu zäh- mit der Konzentration des Urins werden als Hyper-,
len v. a. die Makrohämaturie, Bakteriurie und Pyurie. Hypo- oder Isosthenurie bezeichnet.
Mit Makrohämaturie wird eine bereits mit blo- Liegt das spezifische Gewicht über 1,025, wird
ßen Auge erkennbare Blutbeimengung im Urin be- dies als Hypersthenurie bezeichnet. Sie ist bei einer
schrieben. Oligurie zu beobachten sowie bei der übermäßigen
Im Gegensatz hierzu ist eine Mikrohämaturie nur Ausscheidung von Bestandteilen (z. B. Glukose, Ei-
mithilfe von Teststreifen oder einer mikroskopischen weiß), Medikamenten und anderen Beimengungen
Untersuchung festzustellen. Die Hämaturie kann mit dem Urin.
durch entzündliche Erkrankungen der Niere und ab- Mit Hyposthenurie wird ein Urin mit einem spezi-
leitenden Harnwege, durch Tumore und Steine her- fischen Gewicht unter 1,006 beschrieben. Ursachen
vorgerufen werden. Bei Frauen ist immer auch an ei- hierfür stellen große Ausscheidungsmengen und ein
ne Verunreinigung des Urins durch vaginale Blutun- mangelndes Konzentrationsvermögen der Niere dar.
gen zu denken. Beträgt das spezifische Gewicht zwischen 1,010 und
Durch einen hohen Gehalt an Bakterien (Bakte- 1,012 und verändert sich dieses auch bei vermehrter
riurie) erhält der Urin ein trübes Aussehen, häufig zu oder verringerter Flüssigkeitszufuhr nicht, so wird
beobachten bei Harnwegsinfektionen. dies als Isosthenurie oder Harnstarre bezeichnet.
Ein schlierig-flockiges Aussehen erhält der Urin Die Isosthenurie tritt bei Niereninsuffizienz mit
durch Eiterbeimengungen (Pyurie). Ursachen hierfür mangelnder Konzentrationsfähigkeit der Niere auf.
sind v. a. entzündliche Erkrankungen der Harnwege
und eine Urogenitaltuberkulose. Zusammenfassung:
Weitere Veränderungen der Zusammensetzun- Beimengungen, Veränderungen des Ge-
gen und pathologische Beimengungen, die sich vor ruchs und des spezifischen Gewichts
allem in Farbveränderungen zeigen, sind unter 17.2.3 Blutbeimengungen, die mit bloßem Auge erkennbar
beschrieben. sind, werden als Makrohämaturie bezeichnet, Mi-
krohämaturie ist nur durch Teststreifen oder mikro-
17.2.5 Veränderungen des Uringeruchs skopische Untersuchung feststellbar.
Der normale, unauffällige Geruch des Urins kann sich Fauligriechender Uringeruch kann bei malignen
durch längeres Stehen in einen stechenden Ammoni- Prozessen auftreten.
akgeruch verwandeln, der durch Zersetzungsvor- Veränderungen des spezifischen Gewichts bzw. der
gänge entsteht. Weitere physiologische Geruchsver- Konzentration des Urins werden in Hyper-, Hypo-
änderungen können durch Speisen wie beispielswei- und Isosthenurie unterschieden. 17
se Spargel hervorgerufen werden. Aber auch Alkohol
kann nach einem übermäßigen Genuss einen ent- 17.2.7 Veränderungen der Urinreaktion
sprechenden typischen Geruch hervorrufen. Die Urinreaktion wird vor allem von der Nahrung be-
Pathologische Uringerüche werden als obstartig, einflusst. So kann bei einer rein pflanzlichen Ernäh-
übelriechend oder fauligriechend beschrieben. Der rung eine alkalische Reaktion mit einem pH-Wert bis
obstartige Geruch (nach sauren Äpfeln, Obstkeller- 7,2, bei einer eiweißreichen Ernährung ein saurer Urin
geruch) entsteht durch die Freisetzung von Keton- mit einem pH-Wert unter 4,5 festgestellt werden.
körpern bei langandauernden Hungerzuständen, an- Aber auch pathologische Einflüsse können die
haltendem Erbrechen oder bei Diabetes mellitus. chemische Reaktion des Urins verändern. So ist bei-
spielsweise eine alkalische Reaktion des Urins bei Tab. 17.8 Durchschnittliche Anzahl der täglichen Miktio-
bakteriellen Infektionen der Niere und der ableiten- nen und Ausscheidungsmenge bei Kindern
benen Defekts der Innervation der Blasen- und Schleimhautfalten in der Urethra. Während der Mik-
Sphinktermuskulatur. Dies verhindert die koordi- tion werden diese segelartig aufgeblasen, wodurch
nierte Blasenentleerung. Häufigste Ursache für eine es zu einer Störung des Urinabflusses kommt.
neurogene Blasenentleerungsstörung bei Kindern ist Da kleine Kinder Beschwerden bei der Miktion
die Meningomyelozele (Hemmungsmissbildung der nicht verbal äußern können, muss beim Auftreten
Wirbelsäule mit Austritt von liquorgefüllten Menin- von Allgemeinsymptomen wie erhöhter Temperatur
gen und Teilen des Rückenmarks). und Erbrechen auch immer an eine Erkrankung der
Niere und der ableitenden Harnwege gedacht wer-
Definition: Ein Einnässen, welches nach den. Die Ausscheidungen, insbesondere der Urin,
dem abgeschlossenen 4. Lebensjahr mindestens müssen somit auf Veränderungen hin beobachtet
1-mal pro Woche erfolgt, wird als Enuresis be- werden.
zeichnet.
Folgende Formen werden nach dem Zeitpunkt des 17.5 Besonderheiten bei älteren
Einnässens unterschieden: Menschen
Enuresis nocturna: Einnässen nur in der Nacht,
Enuresis diurna: Einnässen nur am Tag, zumeist Viele altersphysiologische Prozesse beeinflussen die
geringe Mengen, Urinausscheidung älterer Menschen. So wird im Alter
Enuresis diurna et nocturna: Einnässen sowohl beispielsweise das Fassungsvermögen der Blase ge-
tagsüber als auch nachts. ringer, was zu einer erhöhten Miktionsfrequenz
führt. Insgesamt geht auch die Sensibilität der Blase
Je nachdem, ob das Kind bereits eine willkürliche und Harnröhre zurück, weshalb häufig der Harn-
Harnentleerung vornehmen konnte oder nicht, wer- drang spät wahrgenommen wird und ein unkontrol-
den die primäre und sekundäre Enuresis unterschie- lierter Urinabgang die Folge ist. Auch kommt es bei
den. älteren Menschen zur Insuffizienz der Beckenboden-
Primäre Enuresis: Das Einnässen besteht seit der muskulatur, was das Zurückhalten des Urins er-
Säuglingszeit, ohne dass das Kind zwischendurch schwert.
trocken war. Allgemein ist zudem die Kontraktionsfähigkeit
Sekundäre Enuresis: Das Einnässen tritt erneut der Blasenmuskulatur rückläufig, was nicht selten
auf, nach einer Zeit der Kontrolle über die Harn- zur Restharnbildung führt. Hinzu kommen Stoff-
entleerung, des Trockenseins. wechsel- (z. B. Diabetes mellitus-Polyurie) und Herz-
Kreislauf-Erkrankungen (z. B. Rechtsherzinsuffi-
Die Ursachen der Enuresis sind vielfältig und oftmals zienz-Nykturie), die direkte Auswirkungen auf die
kommt es zu einem Zusammenwirken unterschied- Urinausscheidung besitzen. Degenerative Erkran-
licher Faktoren. Der primären Enuresis liegt fast im- kungen des Skelettsystems gehen mit einer Beein-
mer eine verzögerte Entwicklung der Blasenkontrol- trächtigung der Mobilität einher und führen oft zum
le aufgrund einer isolierten Reifungsverzögerung des nicht rechtzeitigen Erreichen der Toilette.
ZNS, einer allgemeinen Entwicklungsverzögerung,
Anomalien der Harnwege oder aber eine emotionale Definition: Unter einer funktionellen Inkonti-
Störung (z. B. Mangel an Zuwendung) zugrunde. nenz wird eine Harninkontinenz verstanden, die
Die sekundäre Enuresis tritt häufig bei aktuellen nicht auf organische Ursachen beruht.
Konfliktsituationen, bei Enttäuschungen, nach der 17
Trennung von den Eltern, anderen psychisch belas-
tenden Situationen oder als Zeichen einer Regression 17.5.1 Funktionelle Inkontinenz
auf. Bei Harnwegsinfektionen, Diabetes mellitus und Bei der funktionellen Inkontinenz sind neben alters-
Diabetes insipidus sowie bei hirnorganischen Anfäl- physiologischen Veränderungen der Harnblasen-
len kann es zum sporadischen oder episodischen funktion keine pathologischen Veränderungen fest-
Einnässen, vor allem in der Nacht, kommen. stellbar. Der Tonus der Harnblase nimmt im Alter zu,
Eine stotternde Miktion mit einem dünnen Harn- wobei gleichzeitig das Fassungsvermögen der Harn-
strahl kann bei Kindern ein Hinweis auf Urethral- blase abnimmt. Dazu kommt, dass ältere Menschen
klappen darstellen, persistierende embryonale oftmals den Harndrang erst relativ spät wahrneh-
men und ihn schwer unterdrücken können. Eine ver- ren. Beispiele für Medikamente, die einen Einfluss
änderte Miktionsfrequenz mit leichter Pollakisurie auf den Miktionsablauf besitzen, sind in Tab. 17.10
und ein- bis zweimaliger nächtlicher Urinentleerung aufgeführt.
ist die Folge. Zusammen mit einer Bewegungsein- Viele ältere Menschen schränken ihre Flüssig-
schränkung, verlangsamten Bewegungsabläufen, ei- keitsmenge bewusst oder unbewusst (verringertes
ner Immobilisierung, einer veränderten Umgebung Durstgefühl) ein, um der häufig vorhandenen Polla-
oder beispielsweise einem weiten Weg zur Toilette kisurie und Nykturie entgegenzuwirken. Dies zeigt
kann dies zu einer funktionellen Inkontinenz führen. sich in einer entsprechend geringen Ausscheidungs-
Weitere Ursachen der funktionellen Inkontinenz und menge mit einem hohen spezifischen Gewicht. Der
deren Symptomatik sind in der Tab. 17.9 aufgeführt. gleichzeitig damit verminderte „Spüleffekt“ der ab-
Aus der häufigen Multimorbidität älterer Men- leitenden Harnwege in Verbindung mit der häufig
schen und der damit verbundenen Medikamenten- herabgesetzten Immunabwehrlage des älteren Men-
einnahme kann ebenfalls eine Inkontinenz resultie- schen kann dann zu weiteren Erkrankungen wie bei-
spielsweise Harnwegsinfektionen führen.
Tab. 17.9 Ursachen einer funktionellen Inkontinenz und
ihre Symptomatik (nach Füsgen) Zusammenfassung:
Ursachen Inkontinenzsymptomatik Veränderungen sowie Besonderheiten bei
Kindern und älteren Menschen
– psychogene Reizblase (z. B. – gehäufter, meist gebieteri- Kinder können erst ab dem 3. Lebensjahr die Mik-
anfallsweise bei emotionaler scher Harndrang,
tion willkürlich steuern.
Erregung), – kaum Erleichterung nach der
– neurohormonelle Faktoren Miktion, Die Urinausscheidung wird im Alter beeinflusst
(vegetative Dysregulation, – Beschwerden überwiegend durch ein geringeres Fassungsvermögen der Blase,
hormonelle Störung), am Tage, eine herabgesetzte Sensibilität der Blase und Harn-
– vorwiegend hormonelle – Schmerzausstrahlung zur
Faktoren (sinkende Östro- Harnröhre möglich,
röhre und eine Insuffizienz der Beckenbodenmus-
genproduktion, Urethritis, – Harndrang im Abstand von kulatur.
atrophicans), weniger als 2 Stunden. Bei Kindern sind die häufigsten, durch Harnwegsin-
– psychosoziale Faktoren
fekt hervorgerufenen Veränderungen die Pollakis-
gemeinsam mit altersphysio-
logischen Veränderungen. urie und die Dysurie.
Beim Einnässen wird zwischen primärer und se-
kundärer Enuresis sowie Enuresis nocturna oder
diurna unterschieden.
Tab. 17.10 Medikamenteneinflüsse auf den Miktionsablauf
(aus Füsgen) Die häufig vorkommenden Stoffwechsel- und Herz-
Kreislauf-Erkrankungen besitzen einen direkten
Medikamententypus Einflüsse auf den Miktionsablauf
Einfluss auf die Urinausscheidung.
Diuretika Polyurie, Pollakisurie Die funktionelle Inkontinenz ist die häufigste Stö-
Anticholinergika Urinretention, Überlaufinkontinenz rung der Urinausscheidung im Alter.
Antidepressiva anticholinerge Nebenwirkungen mit
Blasenkapazitätserhöhung, ggf. Über-
laufproblematik 17.6 Fallstudien und mögliche
Antipsychotika anticholinerge Nebenwirkungen mit Pflegediagnosen
Blasenkapazitätserhöhung ggf. Über-
17 laufproblematik, Sedation, Rigidität,
Viele Störungen der Urinausscheidung beeinträchti-
Immobilität
gen das Wohlbefinden der Betroffenen erheblich.
Sedativa/Hypnotika Sedation, Immoblität, Muskelrelaxation
Hier sind an erster Stelle die verschiedenen Mikti-
α-Antagonisten Urethralrelaxation
onsstörungen zu nennen. Insbesondere die Harnin-
α-Agonisten Urinretention
kontinenz kann nicht nur ein körperliches Unwohl-
β-Agonisten Urinretention
sein hervorrufen, sondern auch zu psychischen Stö-
Kalziumantagonisten Urinretention
rungen und zur sozialen Isolation führen. Aus Angst
Alkohol Polyurie, Pollakisurie, Sedierung,
und Scham vor unwillkürlichen Urinabgängen wird
Immobilisierung
die Flüssigkeitszufuhr reduziert, soziale Kontakte
und Unternehmungen werden eingeschränkt.
Ein ebenso großes Problem stellt für viele Men- rechtzeitig dort anzukommen, und fast jedes Mal geht
schen das Wasserlassen in Gegenwart anderer dar, der Urin unwillkürlich vorzeitig ab.
wie es häufig in Krankenhäusern, Alten- und Pflege- Um Frau Gunter in dieser Situation zu helfen, wurde der
heimen erwartet wird. Insbesondere der offene und in Tab. 17.11 aufgeführte Pflegeplan zusammen mit ihr
feinfühlige Umgang bei der Pflege von Menschen mit erstellt; die Pflegediagnose könnte so aussehen:
Miktionsstörungen und die Rücksichtnahme auf die
individuellen Entleerungsgewohnheiten stellen ei- Funktionelle Urininkontinenz
nen wichtigen Faktor in der Betreuung von pflegebe- beeinflusst durch (b/d) neuromuskuläre Einschrän-
dürftigen Menschen dar. Daneben erfordern die ver- kungen nach Einsatz einer Hüftgelenksprothese
schiedenen Formen der Inkontinenz ein hohes Maß angezeigt durch (a/d) Urinabgang vor Erreichen der
an Aufmerksamkeit, individueller Beratung und Aus- Toilette.
wahl der geeigneten pflegerischen Interventionen.
Frau Gunter leidet an einer hat bis zum Krankenhaus- FZ: 쐌 Anleitung von Fr. Gunter zum Führen
funktionellen Inkontinenz aufenthalt immer noch Fr. Gunter ist kontinent eines Miktionstagebuchs
aufgrund einer Mobilitäts- rechtzeitg die Toilette NZ: 쐌 Zusammen mit Fr. Gunter einen Toilet-
einschränkung bei Pollakis- erreicht Fr. Gunter tentrainingsplan aufstellen, dabei die In-
urie und Nykturie 쐌 führt ein Miktionstage- tervalle der Blasenentleerung tagsüber
buch von 1 auf ca. 3 Std. langsam ausdehnen
쐌 hält den Toilettentrai- (Plan im Zimmer)
ningsplan ein 쐌 Anleitung zur Beckenbodengymnastik 17
쐌 führt Beckenbodengym- (Krankengymnastin)
nastik selbstständig 쐌 Nach der letzten Blasenentleerung
durch (22.00 h) einen Nachtstuhl neben das
쐌 akzeptiert es, vorüberge- Bett stellen
hend einen Nachtstuhl zu 쐌 Informationsgespräch über günstige Klei-
benutzen dung (z. B. kurze bis halblange Nacht-
쐌 trägt leicht zu handha- hemden, keine engen Slips und Mieder,
bende Kleidung weite Jogginghosen oder Röcke ohne
쐌 kennt Inkontinenzhilfs- Reißverschluss und Knöpfe) und Hygie-
mittel und verwendet sie neartikel (Einmalslips, Vor-, Einlagen)
Bastian leidet unter einer Bastians Mutter zeigt Ver- Bastian 쐌 Bastian und seiner Mutter die Ursachen
Dysurie, Pollakisurie mit ständnis für das Einnässen 쐌 kennt die Ursache der der Miktionsstörung (Dysurie, Pollakis-
sporadischer Enuresis bei und tröstet ihn Dysurie und Pollakisurie urie, Enuresis) und die Notwendigkeit
Harnwegsinfektion 쐌 weiß, dass er trotzdem einer vermehrten Flüssigkeitsaufnahme
17 viel trinken muss und und sofortigen Blasenentleerung erklä-
nimmt entsprechend ren
Flüssigkeit (2 l) zu sich 쐌 Wunschgetränke erfragen und entspre-
쐌 akzeptiert, dass er zur chend bereitstellen
Zeit immer mal wieder 쐌 Bastian darauf hinweisen, dass das Ein-
etwas einnässt nässen nur vorübergehend ist und er kei-
쐌 weiß, dass er bei Harn- ne Vorwürfe oder ähnliches bekommt,
drang die Blase sofort Verständnis für seine Situation zeigen.
entleeren muss 쐌 Beobachtung der Miktion (Häufigkeit,
Beschwerden) und des Urins (Menge,
Aussehen, Geruch)
17
18 Stuhl
Panajotis Apostilidis*, Petra Schmalstieg
Übersicht
Einleitung · 326
18.1 Allgemeine Beobachtungskriterien und
Beschreibung des Normalzustands · 326
18.1.1 Stuhlentleerung · 327
18.1.2 Stuhlmenge · 327
18.1.3 Stuhlfarbe · 327
18.1.4 Stuhlkonsistenz · 327
18.1.5 Stuhlgeruch · 327
18.1.6 Stuhlzusammensetzung · 327
18.1.7 Chemische Stuhlreaktion · 327
18.2 Abweichungen, Veränderungen des
Stuhls und deren mögliche Ursachen · 327
18.2.1 Störungen der Stuhlentleerung · 328
18.2.2 Veränderungen der Stuhlmenge · 332 flusst von der Art der Ernährung und dem Ausmaß
18.2.3 Veränderungen der Stuhlfarbe · 333 der körperlichen Betätigung.
18.2.4 Veränderungen der Stuhlkonsistenz · 333 Die Beobachtung des Stuhls kann häufig Hinweise
18.2.5 Veränderungen des Stuhlgeruchs · 333 auf mögliche physische, aber auch auf psychische
18.2.6 Veränderungen der Störungen geben.
Stuhlzusammensetzung · 334 Das folgende Kapitel beschreibt die Beobach-
18.2.7 Veränderungen der chemischen tungskriterien des Stuhls und geht auf mögliche Ur-
Stuhlreaktion · 334 sachen für Abweichungen und Veränderungen ein.
18.3 Ergänzende Beobachtungskriterien · 334
18.4 Besonderheiten bei Kindern · 335 Definition: Als Stuhl, Kot, Fäzes oder Exkre-
18.5 Besonderheiten bei älteren Menschen · 337 ment wird das Ausscheidungsprodukt des
18.6 Fallstudien und mögliche Darms bezeichnet.
Pflegediagnosen · 337
Fazit · 340 Der Stuhl sammelt sich in der Ampulle des Rektums
Literatur · 340 an und wird anschließend, nach einem nervalen
Reiz, willkürlich entleert. Er besteht zum einen aus
Schlüsselbegriffe: körpereigenen Substanzen wie beispielsweise abge-
stoßenen Epithelien und zum anderen aus Resten
왘 Diarrhö nicht resorbierter Nahrungsstoffe, Gärungs- und
왘 Obstipation Fäulnisprodukten.
왘 Subjektive Obstipation
18.1 Allgemeine
Einleitung Beobachtungskriterien und
18 Beschreibung des
Die regelmäßige, beschwerdefreie Defäkation hat für Normalzustands
das Wohlbefinden von Menschen große Bedeutung.
Dennoch wird die Auseinandersetzung mit diesem Die Kriterien, anhand derer der Stuhl beobachtet
Thema oft vermieden, bzw. als peinlich empfunden. wird, sind die Stuhlentleerung, die Menge, die Farbe,
Die Fähigkeit zur kontrollierten Defäkation wird wie der Geruch, die Konsistenz, die Zusammensetzung
die Miktion im Kindesalter erlernt. Die individuellen und die chemische Reaktion des Stuhls. Zumeist er-
Stuhlentleerungsgewohnheiten werden u. a. beein- folgt die Beobachtung über die Sinnesorgane, für ein-
zelne Beobachtungskriterien können Hilfsmittel in Stuhl eine Kotsäule, wobei der normale Stuhl dick-
Form von Teststreifen verwendet werden. breiig bis fest ist und eine homogen geformte Masse
bildet. Beeinflusst wird die Konsistenz von der Nah-
18.1.1 Stuhlentleerung rungszusammensetzung und der Dauer der Dünn-
Der Vorgang der Stuhlentleerung wird auch als Defä- und Dickdarmpassage, wobei der Stuhl umso wei-
kation bezeichnet. Die Defäkation ist willkürlich be- cher ist, je höher der Zellulose- und Kohlenhydratan-
einflussbar, erfolgt jedoch reflexmäßig. Hierzu wer- teil in der Nahrung und je kürzer die Verweildauer
den Dehnungsrezeptoren im Rektum durch zuneh- im Darm ist.
mende Füllung mit Darminhalt gereizt und Nerven-
impulse ausgelöst. Diese Nervenimpulse werden 18.1.5 Stuhlgeruch
über afferente Fasern zu übergeordneten Zentren im Der Geruch des Stuhls bei einem gesunden Menschen
Rückenmark und Gehirn geleitet und lösen dort eine wird als nicht sehr angenehm riechend beschrieben
Erregung parasympathischer Nervenfasern aus. und ist abhängig von der Art der Nahrungszusam-
In der Folge kommt es zu einer Erschlaffung des mensetzung und der Verweildauer im Darm. Er wird
inneren Schließmuskels und einer Kontraktion des hervorgerufen durch die Gärungs- und Fäulnispro-
äußeren Schließmuskels, was als Stuhldrang wahr- zesse im Darm und den hierbei entstehenden Pro-
genommen wird. Zur Stuhlentleerung wird dann der dukten wie z. B. Skatol und Indol sowie Darmgasen.
äußere Sphinkter willkürlich entspannt und der
Druck im Bauchraum durch Einsatz der Bauchpresse 18.1.6 Stuhlzusammensetzung
(Kontraktion der Bauchmuskulatur, Senkung des Der Stuhl besteht zu ca. 75% aus Wasser, das restliche
Zwerchfells) erhöht. Viertel ist Trockensubstanz. Diese Trockensubstanz
Die Häufigkeit der Defäkation ist sehr unter- besteht aus Absonderungen der Schleimhäute und
schiedlich und reicht von 1 – 2-mal täglich bis zu 2- abgeschilferten Darmepithelien, aus Bakterien, die
mal wöchentlich. Sie ist vor allem abhängig von den physiologische Dickdarmbewohner sind, und aus
individuellen Gewohnheiten und der Nahrungszu- unverdaulichen bzw. unverdauten Nahrungsresten
sammensetzung. Die normale Defäkation erfolgt be- wie beispielsweise Zellulose und Obstkernen. Dane-
schwerdefrei, d. h. schmerzlos und ohne besondere ben befinden sich im Stuhl Mineralien, Salze, Pro-
Anstrengung. dukte der Verdauungsorgane und Gallenfarbstoffe.
!
und zellulosereicher Nahrung ist, umso größer ist die Merke: Beobachtungskriterien des Stuhls
ausgeschiedene Menge. Dementsprechend verrin- sind: Defäkation, Menge, Farbe, Konsistenz,
gert sich die Ausscheidungsmenge des Stuhls bei ei- Geruch, Zusammensetzung und chemische
ner überwiegend eiweißreichen Ernährung. Reaktion.
Geruchs, der Konsistenz, der Zusammensetzung und daher nicht vollständig resorbiert werden oder bei
der chemischen Reaktion können auch wichtige Hin- Dünndarmerkrankungen. Auch die Zufuhr von
weise auf vorliegende Erkrankungen liefern. Zuckeraustauschstoffen kann eine osmotische Reak-
tion hervorrugen.
18.2.1 Störungen der Stuhlentleerung Wird die Nahrungszufuhr gestoppt, wird gleich-
Die Stuhlentleerungsstörungen, auch Defäkations- zeitig die „Wasseranziehung“ gestoppt und der
störungen genannt, beziehen sich auf die Häufigkeit Durchfall hört auf.
der Stuhlentleerungen und deren Begleiterscheinun- Bei der sekretorischen Diarrhö wird Wasser von
gen. den Darmzellen aktiv abgegeben. Auslösende Stoffe
hierfür sind z. B. Bakterien, Viren, Toxine, Laxanzien
Diarrhö oder auch chronisch entzündliche Darmerkrankun-
Definition: Eine häufige, über die Norm gestei- gen. Eine Nahrungskarenz würde in diesen Fällen
gerte Stuhlentleerung mit mehr als 3 Stühlen/ nicht zu einem Stopp der Durchfälle führen, da die
Tag, die zudem eine wässrige bis breiige Konsis- Nahrung keinen auslösenden Faktor darstellt.
tenz besitzen und ein Gewicht über 200 g/Tag bzw. über Häufig finden sich Mischformen der Diarrhö.
10 ml/kg KG/Tag haben, wird als Durchfall oder Diarrhö Unterschieden werden außerdem akute und
bezeichnet. chronische Diarrhöen, wobei eine akute Diarrhö zeit-
lich auf einige Tage begrenzt ist, im Gegensatz zur
Die Anzahl der Stuhlentleerungen kann bei schwe- chronischen Form, die mehrere Wochen bis Monate
ren Formen der Diarrhö bis zu 30 und mehr Stühle anhalten kann. Akute Diarrhöen können beispiels-
pro Tag betragen. Zur Beurteilung des Schweregrades weise durch Infektionen, Schwermetalle, Genuss-
einer akuten Diarrhö eignet sich die WHO-Klassifi- mittel, Entzündungen und Strahleneinwirkungen
kation (Tab. 18.1). Begleitend kommt es häufig zu hervorgerufen werden sowie durch psychische Be-
Appetitlosigkeit, Übelkeit, Blähungen, Durst, Kol- lastungen (Tab. 18.2). Darüber hinaus sind sie häufig
lapsneigung, Exsikkosezeichen und evtl. heftigen die Folge einer Medikamentennebenwirkung. Nach-
Krämpfen der Darmmuskulatur. folgend einige Medikamente, die eine Diarrhö her-
Hervorgerufen werden die dünnflüssigen Stühle vorrufen können (nach Füsgen):
durch eine verminderte Absorption von Nährstoffen Antibiotika,
(osmotischer Durchfall), eine vermehrte Sekretion Antazida (mit Mg++),
von Darmsekreten (sekretorischer Durchfall) und/ Chinidin,
oder eine Motilitätsstörung, d. h. eine Störung der Gallensäuren,
Darmbewegung bzw. der sog. Darmperistaltik. Zytostatika,
Bei der osmotischen Diarrhö bewirken mit der Colchicin,
Nahrung aufgenommene Stoffe oder unzureichend kardiotone Glykoside (Meproscillarin),
resorbierte Nahrungsbestandteile, dass im Darm- Lithium,
lumen Wasser aus Zellen „gezogen“ wird. Dies kann NSAR (Indometacin, Diclofenac),
z. B. bei einer Pankreasinsuffizienz auftreten, bei der Goldsalze,
die Nahrungsbestandteile mangelhaft zersetzt und Guanethidin,
Laxanzien,
Tab. 18.1 WHO-Klassifikation akuter Diarrhöen (aus:
Digitalisüberdosierung.
Greten, H., T. Greten, F. Rinninger (Hrsg.): Innere Medizin.
13. Aufl. Thieme, 2010) Die Ursachen einer chronischen Diarrhö sind eben-
Grad Anzahl wässriger Symptomatik
falls sehr vielfältig. Zu den häufigsten Ursachen zäh-
18 Stühle/Tag len:
Reizdarmsyndrom (funktionelle Störungen)
0 normal keine Symptome
chronische Darminfektion
1 2–3 keine Symptome
chronisch-entzündliche Darmerkrankungen (z. B.
2 4–6 nächtliche Stühle, mäßige Krämpfe
Morbus Crohn, Colitis ulcerosa)
3 7–9 Inkontinenz, schwere Krämpfe
Malassimilationssyndrome (Maldigestion, Mal-
4 ⬎9 großvolumige blutige Stühle, paren-
terale Ernährung erforderlich
absorption)
Nahrungsmittelüberempfindlichkeiten
Tab. 18.2 Häufige Ursachen, Klinik und Stuhlbefund akuter und subakuter Diarrhöen (aus: Füsgen)
infektiöse Diarrhö
Samonellen Gastroenterokolitis Brech-/Durchfall, sub- bis hochfebril, Darm- wässrig, schleimig, ge-
krämpfe, Gruppenerkrankung legentlich blutig, stinkend
Shigellen Enterokolitis dauernder Stuhldrang, Tenesmen, subfebril bis anfangs dünnfäkulent,
leicht febril später schleimig-blutig
Escherichia coli Gastroenteritis Reisediarrhö, abdominelle Krämpfe profus-wässrige Durchfälle,
Erbrechen
Yersinien Ileitis Fieber, Durchfälle, „Appendizitis“ wässrige Durchfälle
Choleravibrionen Enteritis Epidemien, kein Fieber, starke Exsikkose farblose Reiswasserstühle
Rota-, ECHO-, Coxsackie-, Gastroenteritis afebril bis subfebril, häufig begleitende Atem- wässrige Stühle ohne
Grippe-, Adenoviren wegsinfekte Beimengungen
toxische Diarrhö
Staphylokokken, Gastroenteritis Lebensmittelvergiftung, oft mehrere Personen profus-wässrige Durchfälle
Streptokokken, Clostridium bei Gemeinschaftsküche, Brechdurchfall, Fieber,
perfringens aber auch afebril. Zyanose, Tachykardie, Exsikkose
medikamentöse Diarrhö s. S. 326
! 18
Merke: Die Diarrhö ist keine Erkrankung, Störungen der neuronalen Regulation, Störungen des
sondern stellt immer ein Symptom für eine Defäkationsrhythmus und eine schlackenarme Er-
Erkrankung dar. nährung führen. Unterschieden werden eine akute
(passagere), chronische, habituelle und subjektive,
Obstipation situative Form der Obstipation.
Definition: Mit Obstipation oder Konstipation Die akute Obstipation tritt plötzlich auf, und be-
wird eine akute oder chronische Stuhlverstop- sitzt organische Ursachen. Die Ursachen für eine si-
pfung des Darms bezeichnet. tuative (passagere) Obstipation liegen zumeist in
Falsche Essgewohnheiten
Vor allem eine faser- und ballaststoffarme Kost führt Laxanzienmissbrauch
zu einer Verlängerung der Passagezeit und kann so
eine Obstipation verursachen und Motilitätsstörun-
Defäkationsreflex
gen verstärken. Des Weiteren können ein Flüssig- Gewöhnung
nimmt ab
keitsmangel, unregelmäßige Ess- und Lebensge-
wohnheiten die Ursache für eine Obstipation dar-
stellen. Abführmittel
Verstopfung
!
Merke: Bei der Obstipation werden die aku- Kaliumverlust Wasserverlust
te, situative (passagere), chronische, habitu-
elle und subjektive Form voneinander unter- Aldosteron
schieden. vermehrt
wirkung darstellen. Medikamente, bei denen diese 18.2.4 Veränderungen der Stuhlkonsistenz
großen Stühle auftreten können, sind u. a.: Die Konsistenz, d. h. die Beschaffenheit des Stuhls
Chlortetracyclin, reicht von dünn-wässrig bis zu knotig-hart und ist
Indometacin, abhängig von der Nahrungszusammensetzung und
Kanamycin, der Verweildauer des Stuhls im Darm. Vor allem im
Methrotrexat, Zusammenhang mit der Beobachtung der Stuhlfarbe
Neomycin, kann die Konsistenz jedoch auch wichtige Hinweise
flüssiges Paraffin, für vorliegende Erkrankungen liefern (Tab. 18.5).
Phenindion-p-Amonosalicylsäure.
18.2.5 Veränderungen des Stuhlgeruchs
18.2.3 Veränderungen der Stuhlfarbe Der Geruch des Stuhls entsteht durch die Fäulnis-
Der Stuhl kann eine Reihe von Farbveränderungen und Gärungsprozesse im Darm. Bei einer überwie-
aufweisen, die durch Nahrungsmittel, Medikamente, gend kohlenhydratreichen Ernährung besitzt der
aber auch durch Krankheiten verursacht werden. Ne- Stuhl einen leicht säuerlichen, bei einer überwie-
ben der Beurteilung des Stuhls ist deshalb die genaue gend eiweißreichen Ernährung einen leicht fauligen,
Befragung des betroffenen Menschen bzgl. seiner Er- schwefelwasserstoffartigen Geruch. Liegt eine Pan-
nährung, Medikamenteneinnahme und evtl. weite- kreasinsuffizienz vor, ist der Geruch stark stinkend,
rer Symptome, die auf eine Erkrankung hinweisen bei einer Fäulnisdyspepsie faulig stinkend und bei ei-
können, wichtig. Eine Übersicht verschiedener Farb- ner Gärungsdyspepsie sauer riechend. Als aashaft
veränderungen des Stuhls und ihrer möglichen Ursa- stinkend wird der Stuhlgeruch bei einem Rektum-
chen zeigt Tab. 18.4. karzinom beschrieben.
weiß Röntgenkontrastmittel
(Barium)
Tab. 18.5 Veränderungen der Stuhlkonsistenz und mögli- Tab. 18.6 Stuhlauflagerungen und -beimengungen
che Ursachen
Auflagerung, Beimengung Vorkommen, Ursache
Konsistenz mögliche Ursachen
unverdaute Speisereste ungenügendes Zerkauen der
dünn-wässrig Gastroenteritis Nahrung, Diarrhö
erbsensuppenähnlich Typhus abdominalis, Enteritis
Schleimauflagerungen Reizungen, Entzündungen des
reiswasserähnlich Cholera Dickdarms, Dyspepsie
himbeergeleeartig Ruhr
schaumig (Gasblasen) Gärungsdyspepsie Schleim-Blutauflagerungen, entzündliche Darmerkrankun-
-beimengungen gen, Darmtumore
schleimig Colitis ulcerosa
schmierig (Melanea) Blutungen im oberen Verdauungs- Schleim-Blut-Eiterauflagerun- schwere entzündliche Darm-
trakt gen, -beimengungen erkrankungen (Colitis ulcero-
salbenartig (Steatorrhoe) Pankreasinsuffizienz, Mukoviszidose sa), Dysenterie
hart, bröckelig Obstipation
Blutauflagerungen und Darmtumore, Darmblutungen
schafskotartig Dickdarmspasmen, spastische -beimengungen
Obstipation
bleistiftförmig Stenosen im unteren Colon- u. Blutspritzer Hämorrhoiden, Analfissuren
Rektumbereich
Fett Pankreaserkrankungen, Einnah-
me von Breitbandantibiotika
Wurmglieder
18.2.6 Veränderungen der 쐌 einzeln, weiß, flach, finger- 쐌 Tänien (Bandwürmer)
Stuhlzusammensetzung nagelgroß
Die Zusammensetzung des Stuhls gibt Hinweise auf 쐌 in größerer Anzahl (Knäuel), 쐌 Enterobius vermicularis
fadendünn, einige Millimeter (Oxyuren, Madenwürmer)
die Verwertung der Nahrung und damit auch über
lang
die Funktion der Verdauungsorgane. Mit dem bloßen 쐌 einzeln oder in geringer 쐌 Askariden (Spulwürmer)
Auge sind Veränderungen der Stuhlzusammenset- Anzahl, grauweiß, regen-
zung nicht immer zu erkennen, weshalb bei spezifi- wurmähnlich, 10 – 25 cm
lang
schen Fragestellungen, z. B. Untersuchung auf patho-
gene Keime, Wurmeier, Ausnutzungsgrad der Nah-
rung, verschiedene Laboruntersuchungen durchge-
führt werden müssen.
Eine häufige, auch im pflegerischen Alltag vor- 18.3 Ergänzende
kommende Untersuchung stellt der Hämoccult-Test Beobachtungskriterien
dar. Er dient der Untersuchung des Stuhls auf okkul-
tes (verstecktes) Blut. Doch im Zusammenhang mit Veränderungen der Beobachtungskriterien des Stuh-
der Zusammensetzung des Stuhls sind auch die mak- les ziehen in der Regel auch Veränderungen in ande-
roskopischen Beimengungen und Auflagerungen zu ren Beobachtungsbereichen nach sich. Um ein voll-
beobachten, für die Beispiele in Tab. 18.6 aufgeführt ständiges Bild der Situation eines Menschen zu er-
sind. halten, müssen diese ebenfalls Beachtung finden.
Hierzu gehören beispielsweise die Körpertempera-
18.2.7 Veränderungen der chemischen tur und die anderen Vitalzeichen sowie die Haut bei
Stuhlreaktion Diarrhö, um eine infektiöse Darmerkrankung und ei-
Die Veränderungen der chemischen Stuhlreaktion ne mögliche Exsikkose festzustellen. Daneben wei-
werden durch Störungen der Verdauungsvorgänge sen bei Leber- und Galleerkrankungen auch die Haut
18 hervorgerufen. Bei einer Fäulnisdyspepsie, einer Stö- und der Urin typische Farbveränderungen auf (s. a.
rung der Eiweißspaltung und Resorption reagiert der S. 67 u. 309), weshalb diese z. B. beim Auftreten eines
Stuhl alkalisch. Der pH-Wert beträgt hierbei 8 und acholischen Stuhles immer mit beobachtet werden
mehr. Eine saure Reaktion mit einem pH-Wert unter müssen.
7 kann bei einer Gärungsdyspepsie, einer Störung Erst die Gesamtheit der beobachteten Störungen
der Kohlenhydratspaltung und -resorption festge- lässt einen genaueren Rückschluss auf die zugrunde
stellt werden. liegende Ursache und das Ausmaß der Störung zu. Da
Stuhlveränderungen häufig mit Verdauungs- und Er- Neugeborenen und Frühgeborenen. Er ist grün bis
nährungsstörungen einhergehen, kommt der Beob- schwarz, zähklebrig und geruchlos. Mekonium be-
achtung des Ernährungszustands und des Ernäh- steht aus Fruchtwasser, eingedickter Galle, Lanugo-
rungsverhaltens in diesem Zusammenhang eine be- behaarung, abgestoßenen Epithelzellen und Darm-
sondere Bedeutung zu. epithelien. Gelegentlich wird bereits während des
Geburtsvorganges ein Urin- und Stuhlabgang be-
Zusammenfassung: obachtet. Ansonsten erfolgt die physiologische Defä-
Ergänzende Beobachtungskriterien kation innerhalb der ersten 24 – 36 bis längstens 48
Stuhlinkontinenz und Tenesmus sind neben Diar- Std. nach der Geburt.
rhö und Obstipation weitere Stuhlentleerungsstö- Eine grüne Verfärbung des Fruchtwassers ist
rungen. durch das vorzeitige Absetzen von Mekonium, auf-
Bei sehr faser- und ballaststoffarmer Ernährung grund intrauterinen Sauerstoffmangels, bedingt.
verringert sich die ausgeschiedene Stuhlmenge, bei
zellulose- und kohlenhydratreicher Nahrung steigt Definition: Übergangsstuhl ist die Bezeich-
die Stuhlmenge. nung für den Stuhl, den die Neugeborenen frü-
Der Hämoccult-Test sowie die Untersuchung hestens ab dem 2. – 4. Lebenstag entleeren.
makroskopischer Beimengungen und Auflagerun-
gen geben Aufschluss über die Stuhlzusammenset- Er ist schwarz bis gelb bis grün, eher weich und
zung. schleimig, weniger klebrig und ebenfalls nahezu ge-
Die alkalische oder saure Reaktion des Stuhls lässt ruchlos. Er besteht aus Mekoniumresten, Stuhl, Nah-
Rückschlüsse auf Fäulnis- bzw. Gärungsdyspepsie rungsresten und Bakterien, je nach Ernährung. Die
bzw. Störungen der Eiweiß- oder Kohlenhydrat- Defäkation findet ein- bis mehrmals täglich statt.
spaltung zu. Der mit Muttermilch ernährte Säugling scheidet
einen sog. Muttermilchstuhl aus, dessen charakteris-
tische Farbe goldgelb bis grüngelb ist, wobei der
18.4 Besonderheiten bei Kindern grünliche Farbton durch Oxidation entsteht. Der
Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm Muttermilchstuhl ist eher dünn, salben- oder pas-
tenartig, riecht fade bis aromatisch und säuerlich. Er
Die physiologische Stuhlausscheidung beginnt nach besteht aus Nahrungsresten, Wasser, Gallensäure
der Geburt des Kindes. Das Kind wird bereits in den und Bifidus-Bakterien. Da die Muttermilch eine be-
ersten Stunden zum Stillen angelegt, wodurch sonders gute Nahrungsauswertung besitzt, werden
gleichzeitig die Darmperistaltik angeregt und das in nur wenige Restbestandteile ausgeschieden. Daher
der Fetalperiode im Darm gebildete Mekonium aus- kann die Stuhlhäufigkeit zwischen null bis mehrmals
geschieden wird. Die Stuhlausscheidung des Neuge- täglich liegen.
borenen und Säuglings erfolgt unwillkürlich und, ab- Gelegentlich kommt es unter Muttermilchernäh-
hängig von der Nahrungsaufnahme, ein- bis mehr- rung zu einer physiologischen- oder Pseudoobstipa-
mals am Tag. Säuglinge scheiden bis zu 120 g, Klein- tion, d. h. es werden nur kleine Stuhlportionen alle
kinder zwischen 50 – 100 g und ältere Kinder paar Tage abgesetzt.
100 – 300 g täglich aus. Bei den zunächst mit Anfangsnahrung und später
Die Menge, Beschaffenheit und Häufigkeit der mit Kuhmilch ernährten Säuglingen zeigt sich der
Stuhlausscheidung ist Schwankungen unterworfen. sog. Nahrungsstuhl, der eine hellgelbe bis hellbraune
Sie ist abhängig vom Resorptionsvermögen des Dar- Farbe besitzt. Er ist geformt und eher dickbreiig,
mes, von der Menge und Zusammensetzung der riecht käsig und schon leicht faulig aufgrund des
Nahrung sowie von der Bewegungsintensität. Cha- durch Colibakterien verdauten Milcheiweißes. Die 18
rakteristische Stühle bei Neugeborenen, Säuglingen Stuhlentleerung kann ein- bis dreimal täglich erfol-
und Kindern sind das Mekonium, der Übergangs-, gen.
der Muttermilch-, der Nahrungs- und der Mischkost- Mischkoststühle von Kindern und Jugendlichen
stuhl. erhalten ihr Aussehen von der überwiegend aufge-
Mekonium, im Volksmund auch Kindspech ge- nommenen Nahrung. Ebenfalls nahrungsabhängig
nannt, ist die Bezeichnung für den ersten Stuhl des zeigen sich typische Gerüche und Bestandteile
Tab. 18.7 Physiologische Stuhlausscheidung bei Kindern (aus: Hoehl, M., P. Kullick (Hrsg.): Gesundheits- und Kinder-
krankenpflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012)
mit Mischkost mittel-, dunkelbraun geformt, dickbreiig, fäkulent-übel- 쐌 s. mit Kuhmilch er- 1- bis 2-mal täglich,
ernährtes Kind oder 쐌 Karotte: rötlich abhängig vom riechend nährter Säugling abhängig von der Art
Jugendlicher 쐌 Spinat: grün Wassergehalt 쐌 Eiweiß = faulig Nahrungsreste sind der Ernährung und
쐌 Fleisch: dunkel 쐌 Kohlenhydrate = abhängig von der auf- Bewegung
쐌 Milch: hell säuerlich genommenen Nah-
쐌 Eisen, Blaubeeren, rung
Rotwein: braun-
schwarz
(s. a. S. 327). Tab. 18.7 zeigt einen Überblick über die halb der ersten drei Lebensmonate (2. – 16. Lebens-
physiologische Stuhlausscheidung bei Kindern. woche). Hierbei krümmen sich die Kinder unter
Diarrhöen können bei Kindern, insbesondere bei Schreien und Wimmern ca. 10 – 20 Min. nach der
Säuglingen, schon nach kurzer Zeit zu vitalen Bedro- Nahrungsaufnahme. Der Bauch ist gebläht, der Kopf
hungen durch den hohen Flüssigkeits- und Elektro- hochrot. Die Beinchen werden von den Kindern re-
lytverlust führen. Eine entsprechende Beobachtung flektorisch angezogen. Aus dem Anus kann sich Luft
auf Exsikkosezeichen hin muss deshalb immer oder auch Stuhl entleeren. Eine Beruhigung der Kin-
durchgeführt werden. der gelingt meist nicht. Die Koliken dauern von eini-
Frühgeborene, die mit einer speziellen Frühgebo- gen Minuten bis zu 1 Std. an. Organische Störungen
renennahrung ernährt werden, können aufgrund ih- sind nicht zu erkennen, doch werden vielfältige Ur-
rer schwach entwickelten Bauchmuskulatur keine sachen diskutiert, wie beispielsweise: die Aeropha-
Bauchpresse zum Stuhltransport einsetzen. Die gie (Luftschlucken bei der Nahrungsaufnahme mit
gleichfalls noch vorhandene Unreife der Organe Blähungen), eine Kuhmilchprotein-Allergie, eine ge-
führt zu festem Stuhlgang, der oft nur unter Anwen- störte Mutter-Kind-Beziehung und ein unvollständig
dung von abführunterstützenden Maßnahmen aus- abgeschlossener Melatoninkalender.
18 geschieden werden kann.
Häufige Begleiterscheinungen bei Verdauungs- Definition: Unter Meteorismus wird ein Bläh-
und Defäkationsstörungen von Kindern, insbesonde- oder Trommelbauch verstanden, der durch eine
re Säuglingen, sind die sog. Dreimonatskoliken und übermäßige Gasansammlung in den Hohlorga-
Meteorismus. nen des Bauchraums oder in der freien Bauchhöhle ent-
Die Dreimonatskoliken haben ihren Namen nach steht.
dem häufigen Auftreten dieser Erscheinung inner-
In der Folge kommt es zu einer Auftreibung der mangelnde körperliche Bewegung, eine ballaststoff-
Bauchdecke und einem Zwerchfellhochstand, mit und faserarme Ernährung, eine mangelhafte Wahr-
Oberbauchschmerzen und Völlegefühl. Die Gasbil- nehmung des Stuhldrangs und die Einnahme von
dung im Darm entsteht bei der enzymatischen Auf- Medikamenten. Die mangelnde körperliche Bewe-
spaltung der Nahrung im Dünndarm und durch den gung rührt zumeist von degenerativen Erkrankun-
bakteriellen Abbau (Gärung, Fäulnis) in Dickdarm. gen und allgemeiner Schwäche her. Die Gründe für
Als Ursachen werden Hektik und Stress bei der eine ballaststoff- und faserarme Ernährung liegen
Nahrungsverabreichung, das Schlucken von Luft und häufig in einer schlecht sitzenden Zahnprothese und
eine falsche Ernährung mit blähenden Speisen ange- einer damit verbundenen Einschränkung der Kau-
geben. funktion. Hinzu kommt das herabgesetzte Durstge-
Mit ca. 5 Jahren sollten Kinder die Stuhlausschei- fühl älterer Menschen. Beispielsweise bei einer de-
dung willkürlich steuern können, wobei die Rein- menziellen Erkrankung, nach Apoplexien und bei der
lichkeitserziehung immer unter Berücksichtigung diabetischen Neuropathie kann es zu einer mangel-
der physischen und psychischen Fähigkeiten des haften Wahrnehmung des Stuhldrangs kommen,
Kindes erfolgen sollte. Ist das Kind nach dem 5. Le- hinzu kommen eine Abschwächung des Defäkati-
bensjahr nicht in der Lage, den Stuhl willkürlich ab- onsreizes durch schmerzhafte Analprozesse wie Hä-
zugeben bzw. zurückzuhalten, können hierfür neu- morrhoiden und Analfissuren.
rogene Störungen wie z. B. Myelomeningozelen oder Ca. 50% der über 65-Jährigen nimmt regelmäßig
angeborene Missbildungen und Tumore im Bereich Laxanzien ein, in Pflegeheimen beträgt der Anteil der
des Enddarmes verantwortlich sein sowie psy- Bewohner, die täglich Laxanzien einnehmen, sogar
chische Störungen. bis zu 73%. Dazu kommen weitere, z. T. obstipations-
Ein fortlaufendes, unkontrolliertes Einkoten fördernde Medikamente im Rahmen der Behandlung
(Stuhlinkontinenz) nach der bereits abgeschlosse- vorliegender Erkrankungen. Die Obstipation älterer
nen Reinlichkeitserziehung wird bei Kindern und Ju- Menschen stellt auch häufig die Ursache der Über-
gendlichen auch als Enkopresis bezeichnet. Die mög- lauf-Stuhlinkontinenz dar, bei der dünner Stuhl und
lichen Ursachen der Stuhlinkontinenz sind auf S. 330 Schleim an harten Kotballen vorbeifließen. Weitere
angegeben. Ursachen für eine Stuhlinkontinenz im Alter sind der
Tritt bei Neugeborenen ein grau-weißer (acholi- Hirnabbau bei seniler Demenz vom Alzheimer-Typ
scher) Stuhl auf, so muss an nicht angelegte Gallen- und die Multi-Infarkt-Demenz.
gänge gedacht werden, bei einer frischen Blutaufla-
gerung und -beimengung an eine Invagination. Da- Zusammenfassung:
neben finden sich bei Kindern häufig Fremdkörper Besonderheiten bei Kindern und älteren
(z. B. Kleinteile von Spielzeugen, Geldstücke) als Bei- Menschen
mengungen, die beim Spielen verschluckt wurden. Bei der Entwicklung des Kindes ist das Mekonium,
der Übergangsstuhl, der Muttermilchstuhl und
dann der Nahrungsstuhl zu unterscheiden.
18.5 Besonderheiten bei älteren Diarrhöen können bei Kindern und alten Menschen
Menschen schon nach kurzer Zeit lebensbedrohliche Auswir-
kungen haben.
Viele Erkrankungen des Verdauungstrakts und die Dreimonatskoliken und Meteorismus sind häufige
damit einhergehenden Veränderungen der Stuhlaus- Verdauungsstörungen bei Kleinkindern.
scheidung sind keine altersspezifischen Erkrankun-
gen. Sie können aber in ihren Auswirkungen eine
ernstzunehmende Bedrohung für den Gesundheits- 18.6 Fallstudien und mögliche 18
zustand des älteren Menschen darstellen. Ein Bei- Pflegediagnosen
spiel hierfür ist die Diarrhö, die gerade bei Multimor-
bidität und häufig bestehender allgemeiner Schwä- Veränderungen, Störungen im Bereich der Stuhlent-
che lebensbedrohlich sein kann. leerung stellen für die betroffenen Menschen oftmals
Ein weit verbreitetes Problem älterer Menschen nicht nur ein körperliches Problem dar, sondern auch
stellt die Obstipation dar. Ursachen hierfür sind u. a. eine große psychische Belastung. Dies gilt vor allem
für die Diarrhö und ganz besonders für die Stuhlin- Die Pflegediagnose zur oben beschriebenen Fallstu-
kontinenz. Aus Angst vor Stuhlabgängen können sie die zeigt die folgende Übersicht:
sogar zu einer sozialen Isolation führen. Aber auch
die Obstipation, eine häufige Beobachtung im Zu-
sammenhang mit der Stuhlausscheidung, kann zu ei- Subjektiv empfundene Obstipation (P)
ner Belastung werden und so den Tagesablauf und die (Gordon 2013, S. 218 – 219, NANDA-I 2016)
Lebensqualität eines Menschen negativ beeinflussen. Perceived constipation (00012) (1988)
Taxonomie II: Domäne 3: Ausscheidung und Aus-
Beispiel: Frau Hartung, 45 Jahre alt, wird tausch,
zur Neueinstellung ihres Diabetes mellitus in Klasse 2: Magen-Darm-Funktion
die Klinik aufgenommen. Bei dem Aufnah- Diagnosetyp (Dokumentationsform): aktuelle Pflege-
megespräch weist sie als erstes auf ihre Obstipation hin diagnose (PES)
und berichtet, dass sie jeden Abend 2 Abführtabletten Funktionelles Gesundheitsverhaltensmuster:
und zumeist am Morgen noch 1 Abführzäpfchen neh- Ausscheidung
men muss. Ansonsten hätte sie nicht jeden Morgen
Definition
Stuhlgang und würde sich dann den ganzen Tag über
Selbst-diagnostizierte Obstipation und Missbrauch von
sehr schlecht fühlen und nur an den ausgebliebenen
Laxanzien, Einläufen und Suppositorien, um eine tägli-
Stuhlgang denken können. Den Stuhl beschreibt Frau
che Darmentleerung zu gewährleisten
Hartung als hart und mengenmäßig sehr wenig. Im
Einflussfaktoren (E)
weiteren Verlauf des Gespräches stellt sich heraus, dass
kulturspezifisches Gesundheitsverständnis
sie diese Abführmaßnahmen bereits seit vielen Jahren
familiäres Gesundheitsverständnis
durchführt, wobei sie anfangs mit einer „leichten“ Ab-
falsche Einschätzung, (lange bestehende Erwar-
führtablette ausgekommen sei, aber im Laufe der Jahre
tungen/Gewohnheiten)
zu immer stärkeren Mitteln gegriffen habe und nun seit
beeinträchtigte Denkprozesse
einiger Zeit zusätzlich die Zäpfchen benutze.
Einen Auszug aus dem Pflegeplan von Frau Hartung,
der sich auf die Obstipation bezieht, zeigt Tab. 18.8.
Fr. Hartung leidet unter ei- FZ: 쐌 Beobachtung des Stuhls von Fr. Hartung
ner falschen Erwartungshal- Fr. Hartung hat regelmäßigen 쐌 Ermittlung der individuellen Stuhlent-
tung bzgl. der Defäkations- (individuell) weichen Stuhl- leerungsgewohnheiten
häufigkeit und daraus resul- gang ohne Einnahme von Ab- 쐌 Information über die Funktion des
tierendem Laxanzienmiss- führmitteln Darmes, den Vorgang der Darment-
brauch NZ: leerung und die Faktoren, von denen die
Frau Hartung Darmentleerung abhängig ist
쐌 kennt die normale Funkti- 쐌 Aufklärung über den Circulus vitiosus bei
on des Darmes und Häufig- regelmäßiger Laxanzieneinnahme
keit der Stuhlentleerungen 쐌 Ernährungsberatung (Trinkmenge, faser-
쐌 kennt die Gefahr (Verstär- und ballaststoffreiche Ernährung, zweck-
kung der Obstipation) der mäßiges Essverhalten, „Hausmittel“)
Laxanzien durch Diätassistentin
쐌 weiß, welche Ernährung 쐌 Ermittlung der körperlichen Aktivitäten
sich positiv auf die Darm- und gemeinsam mit Fr. Hartung weitere
18 entleerung auswirkt Bewegungsmöglichkeiten ermitteln
쐌 kennt verschiedene Mög- 쐌 Anleitung zur Kolonmassage
lichkeiten (Kolonmassage,
„Hausmittel“) zur Unter-
stützung der Darmentlee-
rung
쐌 reduziert die Einnahme
von Laxanzien
Nils leidet unter Diarrhö Nils trinkt gerne FZ: 쐌 Beobachtung des Stuhls bei jedem Win-
mit Bauchschmerzen nach Kamillentee Nils hat regelmäßig (indivi- delwechsel (Menge, Konsistenz, Farbe,
Nahrungsaufnahme duell) beschwerdefreien Geruch)
Stuhlgang 쐌 2-stündl. Wickeln bzw. nach Bedarf
NZ: 쐌 Bei jedem Windelwechsel Beobachtung
Nils erfährt keine weiteren der Haut auf Wundsein, Hautreinigung
Komplikationen (Durst- und -pflege mit Wundschutzcreme
fieber, Exsikkose) durch 쐌 3 ⫻ tgl. (8.00/14.00/20.00 h) Tempera-
frühzeitiges Erkennen von turkontolle (Ohr)
Veränderungen 쐌 Nils und Mutter über Teepause (nur Tee,
keine weitere Nahrung) informieren und
Kamillentee bereitstellen
쐌 Auf Notwendigkeit des Trinkens, soviel
18
wie möglich, hinweisen
쐌 Beobachtung auf mögliche Exsikkose-
zeichen (Haut, Schleimhäute, Urin,
Bewusstseinslage)
쐌 1 ⫻ tgl. (8.00 h) Gewichtskontrolle
쐌 Warme Leibwickel bei Bauchschmerzen
18
19 Schweiß
Panajotis Apostolidis*, Petra Schmalstieg
Übersicht
Einleitung · 342
19.1 Allgemeine Beobachtungskriterien und
Beschreibung des Normalzustands · 343
19.1.1 Schweißmenge · 343
19.1.2 Aussehen · 343
19.1.3 Geruch · 343
19.1.4 Lokalisation · 344
19.2 Abweichungen, Veränderungen des
Schweißes und deren mögliche
Ursachen · 344
19.2.1 Veränderungen der Menge · 344
19.2.2 Veränderungen des Aussehens · 345
19.2.3 Veränderungen des Geruchs · 345 Schweiß- bzw. Körpergeruch entsteht erst durch
19.2.4 Lokalisation · 345 die Beimengungen der körpereigenen Duftdrüsen
19.3 Ergänzende Beobachtungskriterien · 346 und/oder die bakterielle Zersetzung von Zellen auf
19.4 Besonderheiten bei Kindern · 346 der menschlichen Haut. Solche Gerüche erfüllen je-
19.5 Besonderheiten bei älteren doch wichtige Funktionen im menschlichen Mitei-
Menschen · 347 nander, was u. a. an Redewendungen wie „Ich kann
19.6 Fallstudien und mögliche Dich nicht riechen“ deutlich wird. Die Schweißsekre-
Pflegediagnosen · 347 tion gehört zum Menschsein dazu; Menschen, die
Fazit · 349 nicht schwitzen können, geraten u. U. in lebensbe-
Literatur · 349 drohliche Situationen. Die spezielle Beobachtung des
Schweißes kann darüber hinaus wichtige Hinweise
auf mögliche Störungen des Organismus geben.
Schlüsselbegriffe:
왘 Hyperhidrosis Definition: Als Schweiß (lat. Sudor, griech. Hi-
왘 Hypohidrosis dros) wird die flüssige Sekretabsonderung der
왘 Anhidrosis Schweißdrüsen der Haut bezeichnet.
stimmt. Sie stellen eine besondere Form der schätzt. Will man genaue Daten erheben, muss zuvor
Schweißdrüsen dar und befinden sich vorwiegend in die trockene Kleidung und Wäsche gewogen werden.
der Genitalregion und in den Achselhöhlen. Bei großen Flüssigkeitsverlusten durch Schwitzen
Als Schweißsekretion, auch Perspiratio sensibilis kann dies bei der Erstellung einer exakten Flüssig-
genannt, wird die vom vegetativen Nervensystem keitsbilanz notwendig sein.
gesteuerte Absonderung von Schweiß bezeichnet.
Die Schweißzentren befinden sich im Zwischenhirn, 19.1.2 Aussehen
im verlängerten Mark und im Grau des Seitenhornes Unter Aussehen wird die optische Darstellung des
im Rückenmark. Sie stehen unter dem Einfluss der Schweißes bezeichnet. Vielfach wird in diesem Zu-
Großhirnrinde, was den Angstschweiß in bedrohli- sammenhang auch die Temperatur des Schweißes
chen Situationen erklärt. Die Schweißsekretion be- beurteilt. Der normale Schweiß ist klar und durch-
sitzt eine große Bedeutung für die Regulierung der sichtig wie Wasser, er ist großperlig und warm.
Körpertemperatur. Hierbei bildet sich durch die Se-
kretion ein dünner Flüssigkeitsfilm auf der Haut. Bei 19.1.3 Geruch
der Verdunstung dieser Flüssigkeit wird dem Körper Unter dem Geruch wird die Wahrnehmung über den
Wärme entzogen (1 l Schweiß Ⳏ ca. 580 kcal), es ent- Geruchssinn, die sog. olfaktorische Wahrnehmung,
steht die sog. Verdunstungskälte. verstanden. Dabei werden die Geruchsproteine des
Eine weitere Aufgabe der Schweißsekretion ist Schweißes aufgenommen. Frischer Schweiß ist nor-
die Absonderung von Stoffwechselprodukten wie malerweise geruchlos. Er kann jedoch durch Bei-
beispielsweise Harnstoff. Beim Schwitzen, der Tran- mengungen oder durch bakterielle Zersetzung einen
spiration, wird das thermische Schwitzen vom emo- Geruch erhalten. Wie oben beschrieben, erzeugen
tionalen Schwitzen unterschieden. die apokrinen Schweißdrüsen, die Duftdrüsen, ge-
Das thermische Schwitzen ist zur Wärmeregula- schlechtsspezifische Duftstoffe.
tion des Körpers notwendig. Bei einer Überschrei-
tung der Körpertemperatur (s. a. Kap. 10) durch ver-
mehrte Wärmeproduktion wird Körperwärme durch
den Schweiß abgegeben (s. o.).
Das emotionale Schwitzen dagegen tritt infolge
psychischer Anspannung bei Angst, Stress oder auch
Schmerzen auf.
19.1 Allgemeine
Beobachtungskriterien und
Beschreibung des
Normalzustands
Die allgemeinen Beobachtungskriterien des Schwei-
ßes sind die Menge, das Aussehen, der Geruch und
die Lokalisation.
19.1.1 Schweißmenge
Als Schweißmenge wird das Volumen des Schweißes
in Liter, das während des Schwitzens ausgeschieden
wird, bezeichnet. Die Schweißproduktion beträgt,
abhängig von der körperlichen Aktivität und der Um-
gebungstemperatur, im Normalfall ca. 400 – 19
1000 ml/Tag. Die Menge kann bei schwerster körper-
licher Arbeit bis zu 1,5 l/Std. ansteigen. Die Angaben
bezüglich der Schweißmenge sind zumeist ge- Abb. 19.1 Anhäufungen von Schweißdrüsen
!
Merke: Menge, Aussehen, Geruch und Loka-
lisation stellen die allgemeinen Beobach- Hyperhidrosis
tungskriterien des Schweißes dar. Mit Hyperhidrosis wird eine generalisierte oder loka-
le Steigerung der Schweißsekretion beschrieben.
Physiologisch ist diese Veränderung der Schweißse-
19.2 Abweichungen,
kretion bei großer Hitze zur Wärmeregulation und
Veränderungen des während des Klimakteriums. Des weiteren ist eine
Schweißes und deren Hyperhidrosis bei Erregungszuständen durch Angst
mögliche Ursachen oder Aufregung und bei Adipositas beobachtbar. Als
Begleitsymptom von Grunderkrankungen entsteht
Veränderungen des Schweißes und der Schweißse- eine Hyperhidrosis bei endokrinologischen Erkran-
kretion können wichtige Hinweise auf Erkrankungen kungen wie beispielsweise der Hyperthyreose oder
und akute Geschehen liefern. infolge eines hormonproduzierenden Tumors wie
dem Phäochromozytom. Ebenfalls als Begleitsymp-
19.2.1 Veränderungen der Menge tom tritt die Hyperhidrosis bei Fieber auf (s. a. S. 159).
Anhidrosis Eine medikamentös bedingte Hyperhidrosis kann
nach der Einnahme von Parasympathomimetika,
Definition: Unter Anhidrosis wird eine fehlen-
Kortikoiden und Salicylsäure-Präparaten entstehen.
de Schweißsekretion verstanden.
Nachtschweiß
Sie kann durch ein angeborenes Fehlen der Schweiß-
Eine besondere Form der Hyperhidrosis ist der
drüsen (Christ-Siemens-Touraine-Syndrom) oder
Nachtschweiß. Hiermit wird eine nachts auftreten-
deren Zerstörung, beispielsweise durch Verbrennun-
de, vermehrte Schweißsekretion beschrieben. Der
gen, bedingt sein.
Nachtschweiß entsteht infolge einer vegetativen Stö-
rung und ist oftmals zu beobachten bei Tuberkulose,
Hypohidrosis
akuter Leukämie und AIDS.
Definition: Die Hypohidrosis, auch Oligohi-
drosis genannt, beschreibt die verminderte ge-
Zusammenfassung:
neralisierte oder lokale Schweißsekretion.
Allgemeine Beobachtungskriterien
Die Schweißsekretion reguliert die Körpertempera-
Sie kann wie die Anhidrosis erblich bedingt sein, wo-
tur und sondert Stoffwechselprodukte aus.
bei hier zu wenige und/oder zu kleine Schweißdrü-
Das thermische Schwitzen ist vom emotionalen
sen angelegt sind. Daneben tritt eine Hypohidrosis
Schwitzen zu unterscheiden.
nerval bedingt bei neurologischen Erkrankungen
Der Schweiß wird nach Menge, Aussehen, Geruch
19 auf. So kann beispielsweise infolge einer Erkrankung
und Lokalisation beurteilt.
der peripheren Nerven, wie z. B. bei der Polyneuropa-
Anhidrosis, fehlende Schweißsekretion, und Hypo-
thie oder bei Verletzung peripherer Nerven, eine Hy-
hidrosis, verminderte Schweißsekretion, können
pohidrosis diagnostiziert werden. Eine weitere Ursa-
angeboren oder durch Verbrennung oder Erkran-
che für eine Hypohidrosis ist die Verlegung der Aus-
kung entstehen.
Der Nachtschweiß ist eine besondere Form der Hy- Aufgrund des Geruchs wird dieser Schweiß auch als
perhidrosis, der übermäßigen Schweißsekretion. Stinkschweiß bezeichnet. Er entsteht durch eine
bakterielle Zersetzung der organischen Bestandteile
19.2.2 Veränderungen des Aussehens des Schweißes, vielfach infolge mangelnder Hygiene,
Kalter, kleinperliger Schweiß besonders in schlecht belüfteten Körperregionen
Kalter, kleinperliger, zumeist auch klebriger Schweiß oder auch in Kleidungsstücken.
ist immer ein Alarmzeichen und deutet auf eine kriti-
sche körperliche Situation hin. Er tritt auf bei begin- Urhidrosis
nendem Erbrechen, einem Kreislaufzusammenbruch Definition: Bei der Urhidrosis werden über den
oder einer Hypoglykämie. Schweiß harnpflichtige Substanzen in großer
Menge ausgeschieden.
!
Merke: Kalter, kleinperliger Schweiß kann
auf einen drohenden Kreislaufzusammen- Dieser intensive Geruch nach Urin, der häufig von
bruch hinweisen. Juckreiz begleitet wird, tritt bei Nierenversagen mit
Urämie auf.
Chromhidrosis
Definition: Als Chromhidrosis wird die Abson- Acetongeruch
derung von farbigem (blaugrünen bis schwar- Definition: Als Acetongeruch wird ein obst-
zen) Schweiß aus den Schweißdrüsen bezeich- ähnlicher Geruch bezeichnet, der durch eine
net. Ausscheidung von Ketonkörpern über den Harn,
aber auch über den Schweiß erzeugt wird.
Die Ursache ist bis heute ungeklärt. Diskutiert wird
eine berufsbedingte Aufnahme von Metallverbin- Typisch ist dieser Geruch für ein Diabetisches Koma
dungen, z. B. in Form von farbigem Staub bei Metall- und Hungerzustände.
arbeitern, sowie Arzneimittel als auslösender Faktor.
Fischgeruch
Seborrhö Ein fischartiger Geruch, bedingt durch eine vermehr-
Definition: Mit Seborrhö oder Schmerfluss te Ausscheidung von Trimethylamin über Harn und
wird fettiger, glänzender Schweiß bezeichnet. Schweiß, ist bei der Trimethylaminurie, dem sog.
Fischgeruch-Syndrom festzustellen. Bei Trimethyl-
Er entsteht durch eine vermehrte Produktion der amin handelt es sich um ein farbloses Gas, welches
Talgdrüsen, besonders am behaarten Kopf und im im Scheidensekret, in Pflanzen und in der Heringsla-
Gesicht. Seborrhö tritt im Rahmen eines Parkinson- ke vorkommt. Bei einem erblich bedingten Mangel
Syndroms, bei Akne vulgaris und bei Ekzemen auf. des Enzyms Trimethylaminoxidase kann aufgenom-
menes Trimethylamin nicht abgebaut werden, son-
19.2.3 Veränderungen des Geruchs dern muss über Urin und Schweiß ausgeschieden
Vielfach treten Veränderungen des Schweißgeruchs werden, was zu dem charakteristischen fischartigen
zusammen mit Veränderungen des Mund- und Geruch führt.
Atemgeruchs auf. Sie zeigen damit aber auch gleich-
zeitig die Bedeutung des Schweißes als extrarenales 19.2.4 Lokalisation
Ausscheidungsorgan. Wichtige Hinweise auf Erkrankungen kann auch das
Auftreten von Schweiß an bestimmten Körperstel-
Bromhidrosis len/-zonen liefern. Vielfach handelt es sich um eine
Definition: Mit Bromhidrosis wird die Abson- lokale Hyperhidrosis (s. a. S. 344).
derung von unangenehm riechendem Schweiß
beschrieben. Hemihyperhidrosis
Als Hemihyperhidrosis wird eine einseitig übermä- 19
ßig gesteigerte Schweißsekretion bezeichnet. Meist
ist eine Gesichtshälfte betroffen; doch es kann auch
eine gesamte Körperhälfte eine Hemihyperhidrosis
aufweisen. Bei gesunden Menschen kann dies nach Die auch als Dammschweiß bezeichnete Hyperhi-
dem Genuss von Senf und scharfen Speisen auftre- drosis perinealis tritt häufig auf nach langen Mär-
ten, als pathologische Ursachen werden z. B. Reizun- schen und bei adipösen Menschen und ist vielfach
gen des Halssympathikus, Hirntumore, Enzephalitis mit einer Intertrigo kombiniert.
oder eine Hemiplegie angesehen.
Bei der Hemihyperhidrosis cruciata, bei der es zur Anhidrosis tropica
vermehrten Schweißsekretion einer Gesichtshälfte Definition: Bei der Anhidrosis tropica kommt
und der gegenseitigen Rumpfhälfte kommt, ist die es zu einem schweißüberströmten Gesicht bei
Ursache die Syringomyelie. Hierbei handelt es sich vollständig trockenem Körper.
um eine Rückenmarkserkrankung, in deren Verlauf
sich eine Höhlen- und Spaltenbildung innerhalb der Beobachtet wird diese Form der Anhidrosis bei Men-
grauen Rückenmarkssubstanz zeigt. Eine weitere schen, die in einem Hitzemilieu arbeiten.
Sonderform der einseitig vermehrten Schweißsekre-
tion ist die paradoxe Hemihyperhidrosis. Bei dieser
Form kommt es nach einer ungewöhnlichen Einwir- 19.3 Ergänzende
kung wie beispielsweise einem Kältereiz zu einer Beobachtungskriterien
einseitig vermehrten Schweißabsonderung.
Wie oben beschrieben, können Veränderungen des
Hyperhidrosis axillaris Schweißes und der Schweißsekretion häufig ein Zei-
Der Achselschweiß oder Hyperhidrosis axillaris ist chen für eine vorliegende Erkrankung sein. Diese Er-
zumeist konstitutionell bedingt, d. h. er tritt vor al- krankungen können neben dem Schweiß auch ande-
lem bei Menschen auf, die genetisch veranlagt, eine re Beobachtungskriterien beeinflussen. Insbesonde-
große Menge Schweißdrüsen in der Achselregion re zählen hierzu Veränderungen der Körpertempera-
aufweisen. Auch emotionale Stresssituationen, wie tur, des Pulses und des Blutdrucks.
z. B. große Angst oder Aufregung, können zu einer Weiterhin sollten bei dem Auftreten von Schweiß-
vermehrten Achselschweißsekretion führen. Er kann veränderungen die Bewegungen und der Muskelto-
auch in Form einer Bromhidrosis auftreten. nus beobachtet werden, um Hinweise auf eine mögli-
che neurologische Erkrankung zu bekommen. Der Zu-
Hyperhidrosis manuum sammenhang zwischen Veränderungen des Schwei-
Definition: Mit Hyperhidrosis manuum wird ßes und Veränderungen anderer Beobachtungskrite-
die vermehrte Schweißabsonderung an den rien ergibt sich prinzipiell aus den der jeweiligen
Handinnenflächen bezeichnet. Schweißveränderung zugrunde liegenden Ursachen.
19
Fr. Schmidt leidet unter ei- 쐌 kennt die Ursache 쐌 die Schweißsekretion ist 쐌 Beobachtung des Schweißes bzgl. Menge
ner Hyperhidrosis aufgrund 쐌 trinkt entsprechend der vermindert und Geruch
einer Hyperthyreose Schweißsekretion 쐌 fühlt sich wohl 쐌 bei Bedarf frische Kleidung und Wäsche
zurechtlegen
쐌 Körperpflege:
– 1 l Salbeitee auf 4 l Wasser
– Wassertemperatur ⬍ Körpertempera-
tur
– Waschung in Haarwuchsrichtung
– für Intimbereich klares Wasser verwen-
den
쐌 Beobachtung der Haut bzgl. Defekten
und Exsikkosezeichen
Gefahr eines Wärmestaus Wärme kann bedingt durch 쐌 Körpertemperatur ist aus- 쐌 Temperatur im Inkubator: 31⬚ – 33 ⬚C
bei Frühgeburt (benötigte Abstrahlung abgegeben geglichen 쐌 kontinuierliche Überwachung der Körper-
Schweißdrüsen stehen nicht werden 쐌 Eva erfährt keine zusätzli- temperatur (Monitoring)
zur Verfügung) che Schädigung, da Tem- 쐌 Messsonde auf Bauchhaut
peraturschwankungen 쐌 bei Temperatur ⬎ 38 ⬚C fiebersenkende
frühzeitig erkannt werden Maßnahmen nach Anordnung
19
Übersicht
Einleitung · 350
20.1 Beschreibung des Normalzustands · 351
20.1.1 Menstruation · 351
20.1.2 Fluor genitalis · 351
20.2 Abweichungen, Veränderungen bei
Menstruation und Fluor und deren
mögliche Ursachen · 351
20.2.1 Menstruationsstörungen · 351
20.3 Ergänzende Beobachtungskriterien · 356
20.4 Besonderheiten bei Kindern · 356
20.4.1 Abweichungen, Veränderungen und
deren mögliche Ursachen · 356
20.5 Besonderheiten bei älteren Das folgende Kapitel beschreibt die Menstruation
Menschen · 357 und den Fluor und geht auf mögliche Störungen und
20.6 Fallstudien · 357 deren Ursachen ein.
Fazit · 357 Die Menstruationsblutungen und der Fluor geni-
Literatur · 359 talis zählen zu den vaginalen Ausscheidungen. Die
vaginalen Sekrete werden hormonell gesteuert. Sie
sind abhängig vom Entwicklungszustand und dem
Schlüsselbegriffe:
Alter der Frau.
왘 Menstruationsstörungen
왘 Fluor genitalis Definition: Als Menstruation wird die monat-
왘 Menarche liche Regelblutung der Frau bezeichnet, die mit
왘 Klimakterium einer Abstoßung der Gebärmutterschleimhaut,
des sog. Endometriums, einhergeht. Gebräuchliche Sy-
nonyme sind Menses, Regel und Periode.
!
20.1.2 Fluor genitalis Merke: Beobachtungskriterien der Mens-
Der physiologische Fluor genitalis ist farb- und ge- truation sind Rhythmus, Stärke, Dauer, Zu-
ruchlos und besitzt ein glasig-schleimiges Aussehen. satz- und Dauerblutungen, das Ausbleiben
Bedingt durch die hormonellen Schwankungen wäh- der Menstruation und das Auftreten von Begleitsymp-
rend des Menstruationszyklus ist in der Mitte des tomen.
Zyklus eine vermehrte Sekretion (periovulatorischer
Fluor) zu beobachten. Störungen des Menstruationsrhythmus
Die Störungen des Menstruationsrhythmus stellen
sog. Regeltempoanomalien dar. Sie werden durch
Monat 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 Besonderheiten
Januar
Februar
März
April
Mai
Juni
Juli
August
September
Oktober
November
Dezember
20
Abb. 20.1 Menstruationskalender
20 Myome und Polypen stellen häufige Ursachen dar, Neben einer verzögerten Regeneration des Endome-
aber auch extragenitale Ursachen wie Gefäß- und triums stellen Myome, Polypen, Karzinome und ent-
Definition: Unter Gynatresien werden ver- tigen starken Gewichtszunahme. Umfang und Inten-
schiedene Formen des angeborenen Verschlus- sität der Symptome sind individuell ausgeprägt. Mit
ses der weiblichen Genitalöffnung verstanden. dem Einsetzen der Blutung normalisiert sich die Si-
tuation wieder.
Als sekundäre Amenorrhö wird das Ausbleiben der Die eigentlichen Ursachen des prämenstruellen
Menstruation nach vorherigem regelmäßigem Auf- Syndroms sind noch weitgehend ungeklärt, doch
treten bezeichnet. Sowohl hormonelle als auch uteri- werden endokrine und psychovegetative Faktoren
ne Ursachen können eine sekundäre Amenorrhö her- diskutiert.
vorrufen. Daneben können physische und psy-
chische Belastungen oder eine Anorexia nervosa zu Zusammenfassung:
einer sekundären Amenorrhö führen. Abweichungen und Veränderungen bei
Menstruation und Fluor
Begleitsymptome Bei den Störungen des Menstruationsrhythmus
Die Beobachtung von Begleitsymptomen ist vorwie- wird zwischen Polymenorrhö und Oligomenorrhö,
gend auf Schmerzen gerichtet, die im Zusammen- hinsichtlich der Menstruationsstärke zwischen Hy-
hang mit der Regelblutung auftreten (Dysmenorrhö, pomenorrhö und Hypermenorrhö unterschieden.
Mittelschmerz) und auf das prämenstruelle Syn- Brachymenorrhö beschreibt die verkürzte Regelblu-
drom. tung, Menorrhagie die verlängerte (über 6 Tage).
Treten Schmerzen im Zusammenhang mit der Re- Als Zusatzblutungen kommen praemenstruelle,
gelblutung auf, so wird diese Blutung als Dysmenor- postmenstruelle und Ovulationsblutungen vor.
rhö oder schmerzhafte Regel bezeichnet. Zumeist Beim Ausbleiben der Regelblutung wird zwischen
handelt es sich um krampfartige Schmerzen, die vor, primärer und sekundärer Amenorrhö unterschie-
während oder nach der Menstruation auftreten. Ne- den.
ben Unterleibsschmerzen können die Schmerzen Unter prämenstruellem Syndrom wird eine Störung
auch um den Nabel, in den Leisten und in der Kreuz- des Allgemeinbefindens und der Leistungsfähigkeit
beingegend lokalisiert sein. Die Intensität und die vor Beginn der Menstruation verstanden.
Dauer der Schmerzen variieren sehr stark. Nach dem
zeitlichen Auftreten werden die primäre und die se- Fluorveränderungen
kundäre Dysmenorrhö unterschieden. Nach seiner Herkunft wird der Fluor in vestibulären,
Besteht die Dysmenorrhö seit der Menarche, so vaginalen, zervikalen, korporalen und tubaren Fluor
handelt es sich um die primäre Form. Organische Ur- eingeteilt. Abb. 20.2 zeigt eine Übersicht des Fluors
sachen sind beispielsweise eine Hypoplasie des Ute- mit seinem Herkunftsbereich und Ursachen. Bei der
rus oder ein zu enger Zervikalkanal. Daneben können Beobachtung des Fluors ist die genaue Herkunft zu-
psychische und konstitutionelle Einflüsse eine Dys- meist nicht feststellbar, doch kann eine genaue Be-
menorrhö bedingen. schreibung bereits wichtige Hinweise auf die Ursa-
Die sekundäre Form der Dysmenorrhö tritt erst che und damit auf weitere diagnostische Maßnah-
im Verlauf der geschlechtsreifen Phasen der Frau auf. men geben.
Ursachen sind u. a. chronische Unterleibsentzündun- Ein vermehrter Ausfluss, farblos bis glasig-schlei-
gen, Myome, Polypen oder Zervixstenosen. mig und geruchlos, ist in der Mitte des Zyklus, bei se-
Der Mittelschmerz oder Ovulationsschmerz ent- xueller Erregung, in der Schwangerschaft und bei
steht durch eine leichte Bauchfellreizung, die durch psychischen Belastungen als normal anzusehen.
das Platzen des Follikels hervorgerufen wird. Durch das Tragen enger Kleidung (Hosen, Slips), Klei-
Unter dem Sammelbegriff prämenstruelles Syn- dung aus Synthetik und die Verwendung von luftun-
drom (PMS) werden Störungen des Allgemeinbefin- durchlässigen Slipeinlagen kann ebenfalls ein ver-
dens und der Leistungsfähigkeit, die vor dem Beginn mehrter Fluor hervorgerufen werden. Verändert sich
der Menstruation auftreten, bezeichnet. Die betrof- aber die Farbe, die Konsistenz und der Geruch des
fenen Frauen leiden unter Nervosität, depressiver Fluors, so ist dies ein Hinweis auf pathologische Vor-
Stimmung, starken Spannungsgefühlen in den Brüs- gänge.
20 ten, Übelkeit, Völlegefühl, Unterleibsschmerzen, die
bis in die Beine ausstrahlen, und unter einer kurzfris-
funkt.-troph. Störung:
Bartholinitis Östrogenmangel,
Atrophie, Hypoplasie,
Diabetes
vesti- Vulvitis
bulärer Kondylome
Fluor
!
Merke: Beobachtungskriterien des Fluors Gonorrhö und eine wässrige Beschaffenheit auf ei-
sind Farbe, Konsistenz und Geruch. nen möglichen bösartigen Tumor hin.
!
zwischen dem 10. und 12. Lebensjahr, bei Eskimos Merke: Eine verfrüht einsetzende Mens-
erst etwa im 23. Lebensjahr auf. truationsblutung wird als Menstruatio prae-
In den ersten 1 – 2 Jahren nach der Menarche cox, eine verspätet einsetzende als Mens-
setzen zunächst unregelmäßige Zyklen ein. Diese truatio tarda bezeichnet.
Zyklen sind nur selten von einer Ovulation begleitet
und werden deshalb auch als anovulatorische Zyklen Gelegentlich kann es bei neugeborenen Mädchen,
bezeichnet. Erst nach einigen Jahren setzen regelmä- aufgrund restlicher mütterlicher Hormone in ihrem
ßige ovulatorische Zyklen ein. Blut, zu einem vaginalen Ausfluss ohne Krankheits-
Die Zeit nach der Menarche bis zum regelmäßi- wert kommen. Bei einigen Neugeborenen und Säug-
gen ovulatorischen Zyklus wird als Postmenarche lingen schüttet die Hypophyse in den ersten 12 Mo-
bezeichnet. In dieser Zeit ist die Hormonproduktion naten nach der Geburt LH und FSH aus. Der dadurch
noch sehr schwankend, was sich in unregelmäßigen bedingte erhöhte Östriolspiegel kann zu leichtem va-
Blutungsabständen und unterschiedlichen Blu- ginalem Ausfluss ebenfalls ohne Krankheitswert
20 tungsstärken bis hin zum völligen Ausbleiben der Re- führen. Daneben kann es vor Beginn der Pubertät zu
gelblutung zeigen kann. einem vaginalen Ausfluss durch intravaginale
20
Ursachen für Menstruationsstörungen können so- oder entzündlich bedingt sein, aber auch durch beni-
wohl funktionell als auch organisch bedingt sein. Der gne und maligne Tumore hervorgerufen werden.
Fluor genitalis wird hinsichtlich seiner Farbe, Konsis-
tenz und seines Geruchs beurteilt. Er kann funktionell
Frau Fuchs leidet unter Führt 3 ⫻ täglich eine Frau Fuchs: Informations- und Beratungsgespräch be-
einem weißlichen, krümeli- Intimpflege durch 쐌 kennt Verhaltensmaßnah- züglich Körperhygiene und Kleidung:
gen Fluor bei rezidivieren- men, bezogen auf die 쐌 zur Aufrechterhaltung des normalen
der Soorkolpitis Körperpflege und Klei- Scheidenmilieus keine Scheidenspülung
씮 hat Angst, dass der dung, und führt diese durchführen, kein Genitalspray und keine
Fluorgeruch von Mitmen- durch Seife verwenden
schen wahrgenommen 쐌 erfährt keine Reinfektion 쐌 zur Vermeidung eines Wärmestaus und
wird mechanischer Irritationen keine Slipeinla-
gen und keine enge Kleidung tragen
쐌 zur Vermeidung einer Reinfektion täglich
Waschlappen und Handtuch wechseln
(evtl. Einmalwaschlappen), kochbare Un-
terwäsche tragen und täglich wechseln
Gespräch mit Arzt vermitteln bzgl. weiterer
Vorbeugungsmaßnahmen und Mitbehand-
lung des Partners
Felicitas ist verstört durch Die Eltern bemühen sich, Felicitas 쐌 Gespräch mit Felicitas, ihren Eltern und
die Menstruatio praecox ihrer Tochter zu helfen, zei- 쐌 weiß, wodurch es zu der dem Arzt vermitteln (Inhalte: Ursachen,
und weiß nicht, wie sie sich gen Verständnis für die Blutung kommt und kann Maßnahmen, Bedeutung)
verhalten soll schwierige Situation ihrer diese einordnen 쐌 Mit Felicitas einfühlsam und offen über
Tochter 쐌 akzeptiert die Regelblu- die Menstruation und mögliche, damit
tung verbundene Beschwerden sprechen
쐌 weiß, dass die Menstrua- 쐌 Mit Felicitas über Möglichkeiten der Mo-
tion mit Schmerzen, natshygiene und allg. Körperhygiene
Übelkeit und anderen sprechen, evtl. demonstrieren (Möglich-
Symptomen einhergehen keiten: Vorlagen, Binden, Slipeinlagen;
kann Entsorgung, Intimpflege)
쐌 kennt Möglichkeiten der 쐌 Felicitas auffordern, bei Unsicherheit zu
Monatshygiene fragen
Felicitas Eltern 쐌 Verständnis deutlich zeigen
쐌 können die Menstruati- 쐌 Beratungsgespräch mit Felicitas Eltern
onsblutung ihrer Tochter (Unterstützung von Felicitas bei der Mo-
einordnen, akzeptieren natshygiene, Umgang mit der Situation),
und ihrer Tochter beim und für Fragen zur Verfügung stehen, Li-
Umgang mit der Situati- teraturhinweise geben, Kontaktadressen
on Unterstützung geben zur Beratung bzgl. körperlicher Entwick-
lung, Sexualität, Verhütung für Kindern,
Jugendliche und Eltern nennen.
20
20
21 Erbrechen
21
Panajotis Apostolidis*, Petra Schmalstieg
Übersicht
Einleitung · 360
21.1 Vorgang des Erbrechens · 360
21.2 Ursachen des Erbrechens · 362
21.3 Formen des Erbrechens · 362
21.3.1 Einteilung nach dem Zeitpunkt des
Erbrechens · 362
21.3.2 Einteilung nach der Reizung des
Brechzentrums · 363
21.4 Beobachtung des Erbrechens · 364
21.4.1 Art und Weise des Erbrechens · 364
21.4.2 Farbe des Erbrochenen · 364
21.4.3 Menge des Erbrochenen · 364
21.4.4 Geruch des Erbrochenen · 365 Trotz seiner Schutzfunktion ist das Erbrechen ein
21.4.5 Zusammensetzung, Beimengungen des für die betroffenen Menschen sehr unangenehmes,
Erbrochenen · 365 mit einer psychischen und auch physischen Belas-
21.4.6 Zeitpunkt und Häufigkeit des tung einhergehendes Ereignis. Häufig kommen noch
Erbrechens · 365 ausgeprägte Ekelgefühle angesichts des Erbrochenen
21.4.7 Begleiterscheinungen des hinzu.
Erbrechens · 366 Das folgende Kapitel beschreibt die verschiede-
21.5 Ergänzende Beobachtungskriterien · 367 nen Formen des Erbrechens, deren Ursachen und
21.6 Besonderheiten bei Kindern · 368 geht auf die Beobachtungskriterien des Erbrechens
21.7 Besonderheiten bei älteren ein.
Menschen · 370
21.8 Fallstudien · 370 Definition: Unter Erbrechen wird ein vom
Fazit · 371 Brechzentrum gesteuerter komplexer Vorgang
Literatur · 372 verstanden, bei dem es zu einem raschen He-
rausbefördern von Magen- bzw. Dünndarminhalt
durch Ösophagus und Mund nach außen kommt. Syno-
Schlüsselbegriffe:
nyme für Erbrechen sind Vomitus und Emesis.
왘 Hämatemesis
왘 Miserere
!
왘 Nausea Merke: Erbrechen ist ein Schutzmechanis-
왘 Würgen mus des Körpers, der Menschen vor Schädi-
gungen durch z. B. Giftstoffe, die mit der Nah-
Einleitung rung aufgenommen wurden, schützen soll.
zentrale Afferenzen
→ Hirndrucksteigerung Vestibularapparat
→ Geruchs-, Geschmackssinn → M. Meniere
→ psychisches Befinden → Kinetosen
Brechzentrum
sonstige vegetative Efferenzen
kardiale Efferenzen → Speichelfluss
→ Tachykardie → Retroperistaltik
Wichtige Informationen erhält das Brechzentrum Überblick über mögliche Ursachen des Erbrechens
21 auch über den Geruchs-/Geschmackssinn und den zeigt die Abb. 21.3.
Vestibularapparat im Innenohr. Das Brechzentrum
reagiert auf diese Informationen mit der Auslösung
des Brechreflexes über efferente Nervenbahnen. Ne- 21.3 Formen des Erbrechens
ben der Hemmung der Magenmotorik und der Kon-
traktion der abdominellen Muskulatur kommt es Die Formen des Erbrechens können nach dem Zeit-
zum Mundöffnen und der Einnahme einer „brechför- punkt und der Dauer des Auftretens sowie nach der
derlichen“ Körperhaltung, wobei sich die Betroffe- unterschiedlichen Reizung des Brechzentrums ein-
nen aufrichten und nach vorne neigen. geteilt werden.
Darüber hinaus sorgt das Brechzentrum für einen
Anstieg der Herzfrequenz und vegetative Begleiter- 21.3.1 Einteilung nach dem Zeitpunkt des
scheinungen, wie z. B. Speichelfluss und Retroperis- Erbrechens
taltik. Einen Überblick über Afferenzen und Efferen- Bezogen auf den Zeitpunkt des Auftretens des Erbre-
zen des Brechzentrums zeigt die Abb. 21.2. chens nach dem Einwirken des auslösenden Faktors
und der Dauer des Erbrechens werden das akute, das
verzögerte, das persistierende, das antizipatorische
21.2 Ursachen des Erbrechens und das psychogene Erbrechen unterschieden.
endokrine Störungen
Morbus Addison
Hypo-/Hyperthyreose
„akutes Abdomen“ Hypo-/Hyperparathyreoidismus intestinale
Cholezystitis Obstruktionen
Appendizitis Adhäsionen
Pankreatitis Karzinome
Peritonitis etc. Hernien
Volvulus etc.
metabolische
Störungen
Motilitätsstörungen des
Urämie
Gastrointestinaltrakts
Leberkoma
Diabetes mellitus
Coma diabeticum
Erbrechen Pseudoobstruktion
Schwangerschaft
Vagotomie etc.
kardiopulmonale
Erkrankungen psychogenes Erbrechen
Myokardinfarkt
Lungenembolie
Asthma etc. Erkrankungen des
Gastrointestinaltrakts
ZNS-Erkrankungen toxische Faktoren Infektionen des Ulkus
Epilepsie Alkohol Gastrointestinal- Ösophagitis
Insult Medikamente trakts Hepatitis
Tumoren Drogen viral Cholezystolithiasis
Kinetosen etc. Toxine bakteriell Magenresektion
Fieber parasitär Hämatemesis etc.
!
Merke: Bezogen auf die Art der Reizung des
Brechzentrums können das zerebrale und Formen des Erbrechens Charakteristika
das reflektorische Erbrechen unterschieden Nach dem Zeitpunkt des Auftretens und der Dauer
werden. 쐌 akut 쐌 innerhalb von Minuten/Stunden nach
der Einwirkung des Stoffes, Dauer bis
Zerebrales Erbrechen zu 24 Std.
쐌 verzögert 쐌 1 – 4 Tage nach Einwirken des Stoffes,
Bei dem zerebralen Erbrechen erfolgt die Reizung
Dauer bis zu 7 Tage
des Brechzentrums direkt, d. h. die Ursache liegt im 쐌 persistierend 쐌 länger als 24 Std. anhaltend
Zentralnervensystem. Beispiele für solche Ursachen 쐌 antizipatorisch 쐌 Vor Einwirken des Stoffes, aufgrund
sind Schädelhirntraumen, Meningitiden, Medika- früherer negativer Erfahrungen
mente (Narkotika, Zytostatika), Genussmittel (Alko- Nach der Art der Reizung des Brechzentrums
hol) und körpereigene Stoffe (Azeton, Harnstoff). 쐌 zerebral 쐌 direkte Reizung des Brechzentrums
Charakteristisch für das zerebrale Erbrechen ist das über das Zentralnervensystem, keine
Fehlen von Übelkeit. Außerdem kann kein zeitlicher Übelkeit, kein zeitlicher Zusammen-
hang zur Nahungsaufnahme
Zusammenhang zu einer Nahrungsaufnahme herge- 쐌 reflektorisch 쐌 indirekte Reizung des Brechzentrums
stellt werden. Eine Ausnahme bilden hierbei Toxine, über das vegetative Nervensystem,
die bei Lebensmittelvergiftungen eine direkte Rei- Übelkeitsgefühl
zung verursachen können.
Nach den Ursachen, dem Zeitpunkt, der Dauer des 21.4.2 Farbe des Erbrochenen
21 Auftretens und nach der Art der Reizung des Brech- Die Farbe des Erbrochenen ist u. a. abhängig von der
zentrums können verschiedene Formen des Erbre- Zusammensetzung des Mageninhalts, dem Füllungs-
chens unterschieden werden. zustand des Magens und der zugrunde liegenden Er-
krankung. Beispiele hierfür sind:
Lichtgelb bei Erbrechen von Magensaft,
21.4 Beobachtung des Erbrechens gelbgrün bei Erbrechen von Galle,
hellrot bei Erbrechen von frisch blutigem Magen-
!
Merke: Das Erbrechen kann hinsichtlich der saft,
Art und Weise des Erbrechens, der Farbe, der dunkel- bis schwarzrot (kaffeesatzartig) bei Er-
Menge, des Geruchs, der Zusammensetzung brechen von durch Magensaft zersetztem Blut,
und Beimengungen, bezüglich des Zeitpunkts und der bräunlich bei Erbrechen von Kot.
Häufigkeit beobachtet werden.
Definition: Das Erbrechen von Blut wird als
Ein weiteres Beobachtungskriterium im Zusammen- Hämatemesis bezeichnet.
hang mit dem Erbrechen stellen Begleiterscheinun-
gen dar, die vor, während und nach dem Erbrechen Weist das Erbrochene eine hellrote Farbe auf, muss
auftreten können. eine vorliegende frische Blutung im Gastrointesti-
naltrakt vermutet werden. Nach einer längeren Ver-
21.4.1 Art und Weise des Erbrechens weildauer im Magen wird Blut durch den Magensaft
Erbrechen kann auf unterschiedliche Art und Weise zersetzt und erhält so eine dunklere Farbe, die auch
erfolgen. Als explosionsartig, spastisch, oder als „kaffeesatzartig“ beschrieben wird. Eine häufige
schwallartig wird es bei zerebralen Schädigungen Ursache hierfür ist ein blutendes Magengeschwür.
(Schädel-Hirn-Trauma, Meningitis) oder bei der Ver-
engung des Magenausgangs, der sog. Pylorusstenose, Definition: Als Miserere oder fäkulentes Erbre-
beschrieben. Im Gegensatz hierzu erfolgt das sog. chen wird das Koterbrechen bezeichnet, welches
Überlauferbrechen bei fehlendem Brechreflex und bei einem Ileus zu beobachten ist.
atonischer Muskulatur schlaff und fließend. Diese
Form tritt beispielsweise bei einer Magen-Darm- 21.4.3 Menge des Erbrochenen
Atonie auf. Die Menge des Erbrochenen ist sehr stark abhängig
Typisch für das Erbrechen bei Schwangerschaft von der Nahrungsaufnahme und dem Füllungszu-
und bei der Reisekrankheit ist das würgende Erbre- stand des Verdauungstrakts und gibt meist nur ge-
chen, bei dem der Brechvorgang mit starkem Würge- ringe Hinweise auf die Grunderkrankung. Eine gerin-
reiz einhergeht. ge Menge kann ein Hinweis auf einen Sanduhrmagen
sein, bei dem sich etwa in der Mitte des Magens eine
Definition: Unter Regurgitation wird das Zu- Einengung findet, z. B. verursacht durch ein Ulcus
rückströmen von Speisebrei in den Mund ver- ventriculi. Bei einer Magenatonie dagegen tritt typi-
standen, wobei es häufig zu einem anschließen- scherweise durch eine Ansammlung von Speisen
den Ausspucken des Speisebreis kommt. und Flüssigkeit ein Erbrechen von großen Mengen
auf.
Die Regurgitation tritt u. a. bei Verengungen oder Um Flüssigkeitsverluste und einen Verlauf festzu-
Ausbuchtungen des Ösophagus, sog. Ösophagusste- stellen, ist es notwendig, die Menge des Erbrochenen
nosen oder Ösophagusdivertikeln auf und kann bei zu dokumentieren. Hierzu wird das Erbrochene ent-
einer Kardiainsuffizienz, der teilweisen oder völligen weder gemessen und in Millilitern bzw. Litern ange-
Schließunfähigkeit des Speiseröhren-Magen-Über- geben, gewogen (Grammangabe) oder mit Hilfe von
gangs, beobachtet werden. Vergleichsgrößen wie „mundvoll“, oder „nierenscha-
levoll“ dokumentiert.
21.4.4 Geruch des Erbrochenen Beispiele für zeitliche Zusammenhänge, vor allem in
Ein leicht säuerlicher Geruch kann beim Erbrechen Bezug zur Nahrungsaufnahme, und mögliche Ursa- 21
unverdauter Speisen beobachtet werden. Das Erbre- chen zeigt Tab. 21.2. Ist keinerlei Zusammenhang
chen unverdauter Speisen tritt beispielsweise im Zu- zwischen dem Zeitpunkt der Nahrungsaufnahme
sammenhang mit Ösophagusdivertikeln, Magenein- und anderen Situationen, Ereignissen und dem Zeit-
gangsstenosen oder auch nach zu hastigem Essen punkt des Erbrechens erkennbar, so kann dies ein
auf. Die Verweildauer der Speisen im Magen ist hier- Hinweis auf ein zerebrales Erbrechen sein.
bei zu kurz, um von der Magensäure stark durchsetzt Ein periodisches Erbrechen, d. h. ein in mehr oder
zu werden. weniger regelmäßigen Schüben auftretendes Erbre-
Demgegenüber kann ein stark säuerlicher Geruch chen, ist beispielsweise bei Migräne und Morbus Me-
und ein zumeist leicht schaumiges Aussehen beim niere zu beobachten.
Erbrechen angedauter Speisen durch die Zersetzung Ein Erbrechen, welches regelmäßig wiederkehrt,
mit Magensäure beobachtet werden. Es kommt vor wird als zyklisches Erbrechen bezeichnet und tritt
allem bei Passagebehinderungen des Magens und beispielsweise bei einer Pylorusstenose und nach
des Darms vor. Je länger die Speisen im Verdauungs- Magenresektion auf.
trakt verbleiben und je mehr sie zersetzt werden, Die Reihenfolge von Schmerzeintritt und Erbre-
desto stärker verändert sich der säuerliche bis hin zu chen spielt bei der Beobachtung ebenfalls eine wich-
einem als faulig stinkend zu bezeichnenden Geruch. tige Rolle. So folgt beispielsweise das Erbrechen bei
Bei Miserere, dem Koterbrechen, ist ein fäkulenter, entzündlichen Darmerkrankungen nach Bauch-
d. h. „stuhlartiger“ Geruch wahrnehmbar. schmerzen.
Im Gegensatz hierzu können bei einer Gastroen-
21.4.5 Zusammensetzung, Beimengungen des teritis zuerst Übelkeit und Erbrechen und danach
Erbrochenen Bauchschmerzen und Durchfall beobachtet werden.
Auch die Zusammensetzung bzw. die Beimengungen Treten unmittelbar nach dem Erbrechen Oberbauch-
des Erbrochenen können Hinweise auf die Ursache schmerzen auf, so lässt dies an eine Gastritis denken.
des Erbrechens geben. So kann beispielsweise das Weitere Hinweise auf einen Zusammenhang zwi-
Erbrechen unverdauter Nahrung auf eine hochsit- schen Erbrechen und dem Auftreten von Schmerzen
zende Ösophagusstenose oder Ösophagusdivertikel sind der Tab. 21.3 zu entnehmen.
hinweisen, das Erbrechen von Schleim auf eine Gas-
tritis. Blutbeimengungen (Hämatemesis) können
durch Erkrankungen des Magen-Darm-Traktes (z. B. Tab. 21.2 Zeitpunkt des Erbrechens im Zusammenhang
Ulcus ventriculi, Ulcus duodeni), Ösophagusvarizen mit der Nahrungsaufnahme und mögliche Ursachen
oder auch durch Intoxikationen mit beispielsweise Zeitpunkt des Erbrechens mögliche Ursachen, z. B.:
Formaldehyd hervorgerufen werden. Fäkalteile sind 쐌 hochsitzende Ösophagus-
direkt nach dem Schluckakt
bei Miserere Bestandteil des Erbrochenen. stenose
21.4.7 Begleiterscheinungen des Erbrechens Übelkeit kann als ein unangenehmes, nicht
Begleiterscheinungen, die beim Erbrechen auftreten schmerzhaftes Gefühl im hinteren Bereich der Kehle
können, sind vor allem Übelkeit, die auch als Nausea und im Magen-Darm-Bereich bezeichnet werden.
bezeichnet wird, Würgen und vegetative Begleit- Häufig besteht begleitend das Gefühl, bald erbrechen
symptome wie beispielsweise Tränen- und Speichel- zu müssen, doch folgt nicht jeder Übelkeit auch ein
fluss. Erbrechen.
Die Pathophysiologie der Übelkeit ist noch nicht nachfolgendes Erbrechen kommen, was für den be-
genau bekannt, doch sind Zusammenhänge zwischen troffenen Menschen zumeist noch unangenehmer ist 21
der Magen-Darm-Motilität und dem Auftreten von als das Erbrechen selbst.
Übelkeit feststellbar. So wird beispielsweise bei einer
Magenentleerungsstörung ein Druckanstieg im Ma-
gen, der einen Dehnungsreiz des Gastrointestinal- 21.5 Ergänzende
trakts auslöst, als Ursache für Nausea angenommen. Beobachtungskriterien
Die Funktion der Übelkeit ist ebenfalls noch nicht
genau geklärt, doch kann angenommen werden, dass So verschieden die zugrunde liegenden Ursachen des
es sich hierbei ebenfalls, wie beim Erbrechen, um ein Erbrechens sein können, so verschieden können
Warnsignal des Körpers vor oder bei der Zufuhr be- auch die weiteren feststellbaren Veränderungen
stimmter Stoffe handelt. sein, die vor, während oder nach dem Erbrechen zu
Ein weiteres, häufig beobachtbares Begleitsymp- beobachten sind. Neben Blässe, starkem Schwitzen,
tom ist das Würgen. Hierbei handelt es sich eigent- Veränderungen der Pulsfrequenz und des Blutdrucks
lich um ein Atmen gegen die geschlossene Stimmrit- kann beispielsweise auch eine Veränderung der Kör-
ze (Abb. 21.4), wobei die thorakale Atmung und die pertemperatur bei entzündlichen Magen-Darmer-
Bauchpresse einander entgegen wirken. Im Gegen- krankungen beobachtet werden.
satz zum Erbrechen ist der Mund zumeist geschlos- Bei blutigem Erbrechen sind oftmals auch Blut-
sen und es besteht ein negativer Thoraxdruck. Das beimengungen im Stuhl feststellbar, bei Erbrechen
Würgen ist charakterisiert durch rhythmische Kon- aufgrund von Labyrintherkrankungen Schwindelge-
traktionen der Atem- und Abdominalmuskulatur, die fühle. Folge eines anhaltenden Erbrechens kann au-
plötzlich, kurz vor dem Erbrechen auftreten. ßer einer Gewichtsabnahme auch eine Dehydratati-
Angenommen wird, dass das Würgen dazu dient, on sein, weshalb bei Erbrechen auch immer die Haut
den Inhalt des Magens und des Duodenums in eine und Schleimhäute auf entsprechende Veränderun-
zum Ausstoß geeignete Position zu bringen. Ist der gen hin inspiziert werden müssen.
Magen leer, so kann es auch zu einem Würgen ohne
Zusammenfassung:
Beobachtung des Erbrechens
Die unterschiedliche Art und Weise des Erbrechens
kann auf verschiedene Erkrankungen hinweisen.
Regurgitation ist das Zurückströmen von Speisebrei
Mund geschlossen in den Mund, das bei Ösophagusstenosen, Kardia-
Glottis geschlossen insuffizienz und Schließunfähigkeit des Speiseröh-
ren-Magen-Übergangs auftritt.
Die Farbe des Erbrochenen ist abhängig von der Zu-
sammensetzung des Mageninhalts, dem Füllungs-
zustand des Magens und der zugrunde liegenden
Thorax-
Kontraktion
Erkrankung.
druck der Interkostal- Aus der Menge von Erbrochenem lassen sich nur
negativ muskeln schwer Rückschlüsse auf Erkrankungen ziehen.
Bei unverdauter Nahrung ist an Ösophagusstenose,
Pylorussphinkter bei Schleim an Gastritis, bei Blutbeimengungen an
Kontraktion Erkrankungen des Magen-Darm-Traktes zu denken.
entspannter des Diaphragmas Der Zeitpunkt ist ein wichtiger Faktor, z. B. periodi-
Magen sches oder zyklisches Erbrechen, die Reihenfolge
Kontraktion
des M. rectus von Schmerzeintritt und Erbrechen.
Abdominaldruck erhöht abdominis Begleiterscheinungen von Erbrechen sind Nausea,
Würgen und vegetative Begleitsymptome.
Abb. 21.4 Würgen
Fontanellenwölbung
Fieber
peristierendes Erbrechen im Strahl Blutbeimengungen zum Erbrochenen
Dehydratation
Auftreibung des Abdomens
kein Mekoniumabgang innerhalb von 48 Stunden nach der Geburt
Abb. 21.5 Symptome im Zusammenhang mit Erbrechen bei Säuglingen, die auf eine ernsthafte Erkrankung hinweisen (aus Hoehl, M.,
P. Kullick (Hrsg.): Gesundheits- und Kinderkrankenpflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012)
Tab. 21.4 Typisches Erbrechen und mögliche Ursachen bei Kindern (modifiziert nach: CONSILIUM CEDIP PRACTICUM,
24. Aufl. PMSI Cedip Verlagsgesellschaft mbH, Ismaning bei München 1996)
21
Brechcharakter zeitlicher Ablauf Inhalt Nebensymptome mögliche Ursachen
Neugeborene
schlaff unmittelbar nach dem Milch – Ösophagusatresie
Trinken
schlaff unmittelbar nach dem Milch Husten, Zyanose Ösophagusstenose,
Trinken Ösophagusstriktur
im Schwall verzögert nach dem Milch, Magensaft Magensteifungen Duodenalstenose,
Trinken Duodenalatresie
im Schwall unregelmäßig Blut blutige Stühle verschlucktes Blut
Neugeborene, Säuglinge
im Schwall unmittelbar nach dem Milch, Magensaft Magensteifungen, Koli- Pylorusstenose
Trinken ken, tastbare Olive
im Schwall oder schlaff unmittelbar nach dem Milch, Magensaft, Galle akutes Abdomen, Schock Ileus bei Volvulus
Trinken
im Schwall intermittierend mit Milch, Magensaft, Galle akutes Abdomen im Invagination
symptomfreien Phasen Wechsel mit symptom-
freiem Intervall
schlaff oder im Schwall nach den Mahlzeiten Mageninhalt Erbrechen oft mit Auf- Aerophagie
stoßen
schlaff oder im Schwall nach den Mahlzeiten Mageninhalt – gastro-ösophagealer
Reflux (GER)
schlaff unregelmäßig Mageninhalt Gedeihstörung, Laktatazidosen, organ.
Gewichtsstillstand Azidämien/-urien
oder Verlust
schlaff nach den Mahlzeiten Mageninhalt Gedeihstörung Rumination
im Schwall oder schlaff unmittelbar oder verzö- Milch, Magensaft Durchfälle, Hyponatri- adrenogenitales Syn-
gert nach dem Trinken ämie, Hyperkaliämie, drom mit Salzverlust
Schock
Lebensaltersunabhängig
im Schwall nach den Mahlzeiten Mageninhalt ⫾ Galle Bauchschmerzen Gastroenteritis
Durchfall앖앖
im Schwall plötzlich aus voller Ge- Mageninhalt ⫾ Galle Durchfall, neurologische Intoxikation
sundheit Symptome: Apathie,
Krämpfe, Koma
im Schwall plötzlich auftretend Blut Hepatomegalie, Spleno- Ösophagusvarizen
megalie
schlaff oder im Schwall nach den Mahlzeiten Mageninhalt Regurgitation Ösophagusstenose,
-striktur
schlaff oder im Schwall nach den Mahlzeiten Mageninhalt Engegefühl, Husten- Achalasie
anfälle, Asthmaanfälle
schlaff oder im Schwall unregelmäßig Mageninhalt Kopfschmerzen, Bauch- Migräne
schmerzen
geninhalts kommen. Die Rumination ist besonders chens wie z. B. eine Dehydratation, Elektrolytentglei-
21 im Säuglingsalter als Zeichen einer Verhaltensstö- sungen, eine metabolische Alkalose, aber auch Ver-
rung vor allem bei vernachlässigten Säuglingen in wirrtheitszustände vermehrt beobachtet werden.
den ersten 4 – 5 Monaten zu beobachten.
Häufige Ursachen für Erbrechen in unterschiedli- Zusammenfassung:
chen Lebensaltern sind in Tab. 21.4 aufgeführt. Wie Besonderheiten bei Kindern und älteren
bei Erwachsenen, so sind auch bei Kindern die Form Menschen
des Erbrechens und der zeitliche Abstand zur Nah- Bei Kindern ist das Brechzentrum leicht reizbar, je-
rungsaufnahme wichtige Beobachtungspunkte. Im doch muss bei mehrmaligem Erbrechen doch auf
Zusammenhang mit der Zusammensetzung des Er- psychische oder physische Ursachen hin untersucht
brochenen und auftretenden Begleitsymptomen werden.
können sie Hinweise auf die mögliche Ursache geben. Unterschieden werden muss zwischen Erbrechen
Beim Auftreten der in Abb. 21.5 dargestellten und dem sog. Speien und Rumination.
Symptome in Verbindung mit einem akuten Erbre- Besonders muss im Zusammenhang mit Erbrechen
chen sollte eine sofortige ärztliche Abklärung erfol- auf Gewichtsveränderungen und Zeichen einer De-
gen, da sie auf ernsthafte Erkrankungen hinweisen. hydratation geachtet werden.
Daneben muss bei Neugeborenen, Säuglingen und Bei alten Menschen ist aufgrund der Multimorbidi-
Kleinkindern ein besonderes Augenmerk auf Verän- tät häufiger ein medikamentös bedingtes Erbrechen
derungen des Gewichts gelegt werden und auf Mi- zu beobachten.
mik, Gestik und andere nonverbale Äußerungen, die
auf eine starke Beeinträchtigung des Wohlbefindens
und auf Schmerzen schließen lassen. 21.8 Fallstudien
Einen Schwerpunkt bei der Pflege von Menschen, die
21.7 Besonderheiten bei älteren unter Erbrechen leiden, stellt neben der Beobach-
Menschen tung des Erbrechens die Beobachtung des Betroffe-
nen bezüglich möglicher Folgen und Komplikationen
Da ältere Menschen oftmals unter mehreren Erkran- dar. Das Erkennen dieser Risiken und die entspre-
kungen leiden, die eine medikamentöse Behandlung chende Überwachung sind die Basis für die Planung
erforderlich machen, ist bei ihnen häufiger ein medi- pflegerischer Interventionen. Für die Betroffenen
kamentös bedingtes Erbrechen zu beobachten. Me- stehen zumeist die Übelkeit und das Erbrechen
dikamente, die Erbrechen als Nebenwirkung hervor- selbst im Vordergrund, da sie als äußerst unange-
rufen, sind neben Zytostatika Digitalispräparate, Te- nehm empfunden werden. Anhaltendes Erbrechen
trazykline, Antirheumatika und Sulfonamide. Auch kann daneben zu einer Einschränkung in der Ausfüh-
Wechselwirkungen verschiedener Pharmaka kön- rung alltäglicher Verrichtungen führen und die Le-
nen Erbrechen auslösen. bensqualität erheblich beeinträchtigen.
Da es gerade auch im Alter vermehrt zu Hirnblu-
tungen kommen kann, ist das zerebrale Erbrechen Beispiel: Frau Groß ist 29 Jahre alt und er-
(akut, schwallartig, ohne vorausgehende Übelkeit) wartet ihr erstes Kind. Sie befindet sich in der
immer ein Alarmsignal, welches unbedingt abge- 8. Schwangerschaftswoche und leidet seit Ta-
klärt werden muss. gen unter einem unstillbaren Erbrechen. Es tritt unab-
Häufige metabolische Ursachen des Erbrechens hängig von der Nahrungsaufnahme auf und wird be-
im Alter stellen das diabetische Koma und die Nie- gleitet von einem starken Übelkeitsgefühl. Da Frau
reninsuffizienz mit Urämie dar. Aber auch kardiale Groß inzwischen 2 kg an Gewicht abgenommen hat
Erkrankungen wie z. B. eine Herzinsuffizienz oder und zudem Zeichen einer beginnenden Exsikkose auf-
ein Herzinfarkt können Erbrechen auslösen. Darüber weist, wurde sie mit der Diagnose „Hyperemesis gravi-
hinaus kann bei älteren Menschen Erbrechen das al- darum“ in die Klinik eingewiesen. Hier wurden u. a.
leinige Zeichen einer abdominellen Erkrankung sein. Bettruhe, Nahrungskarenz und eine Infusionstherapie
Aufgrund der häufigen Multimorbidität älterer angeordnet.
Menschen können verschiedene Folgen des Erbre-
Frau Groß gab bei dem Aufnahmegespräch an, zu- und vehement (schwallartig), wobei die Intensität im-
nächst nicht in die Klinik kommen zu wollen, doch da mer mehr zugenommen hat. Die Mutter berichtet zu- 21
sie und ihr Mann sich sehr auf das Kind freuen, habe sie dem von „sichtbaren Darmbewegungen“ (peristalti-
der Einweisung nach einem langen Gespräch mit ihrem schen Wellen). Katie ist sehr unruhig und zeigt einen
Gynäkologen doch zugestimmt. Jetzt sei sie froh darü- greisenhaften, sorgenvollen Gesichtsausdruck. Da das
ber, da sie sich sehr schlapp und müde fühle und kei- Kind Zeichen einer Dehydratation aufweist und eine
nerlei Risiko eingehen möchte, um ihrem ungeborenen Elektrolytverschiebung festgestellt wurde, ist eine Infu-
Kind nicht zu schaden. Die pflegerischen Maßnahmen, sionstherapie angeordnet worden. Ein genauer Opera-
die bei Frau Groß bezüglich ihres Erbrechens durchge- tionstermin wurde noch nicht festgelegt.Tab. 21.6 zeigt
führt werden, sind in dem Auszug aus ihrem Pflegeplan einen Auszug aus dem Pflegeplan von Katie.
(Tab. 21.5) aufgeführt.
Fazit: Der vom Brechzentrum gesteuerte
Beispiel: Katie, 6 Wochen alt, wurde vom Brechreflex ist ein Schutzmechanismus des
Kinderarzt mit der Diagnose „hypertrophe Körpers vor schädigenden Stoffen. Erbrechen
Pylorusstenose“ eingewiesen. Seit 2 Tagen er- ist somit immer ein Symptom für pathologische Ereig-
bricht Katie unmittelbar nach jeder Mahlzeit plötzlich nisse. Entsprechend vielfältig sind seine möglichen Ur-
Frau Groß leidet unter 쐌 Frau Groß und ihr Mann Frau Groß 쐌 geeignetes Auffangbehältnis (Nieren-
unstillbarem Schwanger- freuen sich auf ihr Kind 쐌 erbricht weniger schale) und Tücher in Reichweite bereit-
schaftserbrechen, begleitet 쐌 Frau Groß möchte Risiken 쐌 hat weniger Übelkeits- stellen
von starker Übelkeit für ihr ungeborenes Kind gefühle 쐌 bei Bedarf Wandschirm aufstellen
vermeiden 쐌 besitzt ein verbessertes 쐌 Beobachtung des Erbrechens (Häufigkeit,
Wohlbefinden Zeitpunkt, Aussehen, Menge, Begleit-
symptome, auslösende Faktoren)
쐌 Informationsgespräch über Nahrungska-
renz (ggf. Gespräch mit Arzt vermitteln)
쐌 Mundspüllösung nach Wunsch bereitstel-
len
쐌 nach jedem Erbrechen Möglichkeit ge-
ben, zumindest Gesicht und Hände zu
waschen, Weiteres nach Wunsch
쐌 Wäschewechsel bei Bedarf
Katie erbricht schwallartig Mutter von Katie wird mit- Katie 쐌 Beobachtung des Erbrechens (Art, Men-
nach jeder Nahrungszufuhr aufgenommen 쐌 erbricht weniger, kann ge, Aussehen, Zeitpunkt)
aufgrund einer hypertro- Nahrung bei sich behal- 쐌 nach Erbrechen Mundpflege durchführen
phen Pylorusstenose ten 쐌 12 kleine Mahlzeiten verabreichen (siehe
쐌 besitzt ein verbessertes Plan):
Wohlbefinden – Oberkörperhochlagerung
– langsam verabreichen
– kleines Saugloch verwenden
– „Aufstoß-Pausen“ einlegen
– ruhige Atmosphäre
쐌 nach der Mahlzeit
– rechte Seitenlage
– 30⬚-Schräglage
쐌 Information der Mutter über Mahlzeiten
und Verabreichung
Im Internet:
https://www.pschyrembel.de/; Stand: 04. 08. 2017
22 Sputum
Panajotis Apostolidis*, Petra Schmalstieg
22
Übersicht
Einleitung · 373
22.1 Beobachtung des Sputums · 373
22.1.1 Sputummenge · 374
22.1.2 Sputumfarbe · 374
22.1.3 Sputumgeruch · 375
22.1.4 Sputumkonsistenz · 375
22.1.5 Sputumzusammensetzung und
Beimengungen · 375
22.1.6 Zeitpunkt des Auswurfes · 375
22.2 Ergänzende Beobachtungskriterien · 375
22.3 Besonderheiten bei Kindern · 376
22.4 Besonderheiten bei älteren
Menschen · 376 Die sezernierenden Zellen der unteren Atemwege
22.5 Fallstudien und mögliche produzieren ein schleimiges Sekret. Es breitet sich als
Pflegediagnosen · 376 dünne, undurchsichtige Schicht aus und schützt so
Fazit · 378 die Bronchialschleimhaut vor Austrocknung und vor
Literatur · 379 schnellen Temperaturschwankungen.
Daneben dient es der Reinigung der Bronchial-
schleimhaut von inhalierten Partikeln. Flimmerhär-
Schlüsselbegriffe:
chen verhindern, dass das Bronchialsekret in die tie-
왘 Auswurf fer gelegenen Bronchioli gelangt.
왘 Expektoration Die normale Bronchialsekretion ist so gering, dass
sie nicht auffällt. Diese sehr kleinen Mengen, die ein
helles, glasiges Aussehen besitzen, werden unbe-
merkt durch Räuspern oder vereinzeltes leichtes
Husten aus den unteren Atemwegen nach oben in
Einleitung den Mundbereich befördert und oftmals mit Spei-
chel vermischt geschluckt.
Bei schweren Erkältungskrankheiten hat fast jeder Ein vermehrtes Bronchialsekret, welches dann
schon einmal unter Auswurf, dem sogenannten Spu- mit Hilfe eines produktiven Hustens (s. a. S. 195) aus-
tum gelitten. Ähnlich wie Erbrochenes, ist auch das geworfen wird, deutet somit immer auf ein patholo-
Sputum bei vielen Menschen mit starken Ekelgefüh- gisches Geschehen hin.
len behaftet. Aus diesem Grund erfordert die Pflege
!
von Menschen mit vermehrtem Auswurf ein hohes Merke: Bei einem gesunden Menschen tritt
Einfühlungsvermögen der Pflegepersonen. Das aus- kein Sputum auf.
gehustete Bronchialsekret kann als Krankheitssymp-
tom darüber hinaus wichtige Hinweise auf die Art
der zugrunde liegenden Erkrankung liefern.
22.1 Beobachtung des Sputums
Das folgende Kapitel beschreibt die Beobach-
Bei der Beobachtung des Sputums muss sicherge-
tungskriterien des Sputums und geht auf mögliche
stellt sein, dass es sich um Sputum und nicht um
Ursachen für eine vermehrte Bronchialsekretion ein.
Speichel handelt. Die Kriterien der Beobachtung sind
Menge, Farbe, Geruch, Konsistenz, Zusammenset-
Definition: Als Sputum, Auswurf oder Expek-
zung bzw. Beimengungen des Sputums und der Zeit-
toration wird das ausgehustete Bronchialsekret
bezeichnet.
punkt des Auswurfes. Durch die Möglichkeit, das schen Bronchitis bei Allergie registriert werden
Sputum bakteriologisch, mikroskopisch und zytolo- kann.
gisch zu untersuchen, ist die makroskopische Beo- Eine reichliche Sekretion kann zudem bei Intu-
bachtung des Sputums zwar mehr und mehr in den bierten und nach einem häufigen Absaugen des
22 Hintergrund getreten, gehört aber noch immer zu Mund-Nasen-Rachenraumes beobachtet werden.
den ersten Routineuntersuchungen bei Menschen Dies ist zurückzuführen auf die Reizung der Schleim-
mit Atemwegserkrankungen. häute, die mit einer Mehrproduktion von Sekret re-
Verschiedene medikamentöse Therapien (z. B. agieren.
Antibiotika, Sekretolytika) können ebenfalls Verän- Um die Menge genau beurteilen zu können, ist die
derungen des Sputums, z. B. hinsichtlich des Ausse- Sputummenge anhand einer Skala, die sich am Spu-
hens und der Menge, hervorrufen. Dadurch ist das ei- tumbecher befindet, abzumessen und zu dokumen-
gentliche, charakteristische Aussehen des Sputums tieren.
nur noch selten zu beobachten.
Als induziertes Sputum wird das Sekret bezeich- 22.1.2 Sputumfarbe
net, das nach Inhalation mit hypertoner Kochsalz- Ein glasiges Sputum tritt bei Asthma bronchiale und
lösung gewonnen wird. Pertussis auf. Eine weißliche Farbe besitzt das Spu-
Da es sich beim Sputum um potenziell infektiöses tum beim sog. Raucherhusten und gilt als Zeichen ei-
Material handelt, sind beim Umgang damit grund- ner chronischen Bronchitis. Bakterielle Infektionen
sätzlich Handschuhe zu tragen. Zur genauen Be- der Atemwege, wie beispielsweise eine eitrige Bron-
trachtung des Sputums wird dieses in einem Spu- chitis, rufen eine gelbliche bis gelbgrüne Verfärbung
tumbecher (Einmalbecher mit Deckel aus durchsich- des Auswurfes hervor.
tigem Material) gesammelt. Bei einer Pneumonie kann der Auswurf ein schlei-
Wird in den Becher eine Desinfektionslösung ge- mig-eitriges Aussehen oder ein rostfarbenes, sog. ru-
geben, so ist dies bei der Beurteilung des Sputums zu binöses Aussehen besitzen.
berücksichtigen. Das bedeutet auch, dass der damit Ein Abhusten oder Ausspucken von blutigem Spu-
versetzte Auswurf für bakteriologische Untersu- tum oder von geringen Blutmengen (weniger als
chungen nicht verwendet werden kann. 50 ml) wird als Hämoptyse bezeichnet. Ursachen für
Sind die unter einer vermehrten Sekretion leiden- eine Hämoptyse stellen Tumore im Bereich der
den Menschen nicht oder nur ungenügend in der La- Atemwege, Herz-Gefäßerkrankungen wie Lungen-
ge, das Sekret abzuhusten, muss ggf. eine Absaugung embolie und Lungeninfarkt, Infektionen wie bei-
vorgenommen werden, um eine Verlegung der spielsweise Bronchitiden, Pneumonien oder Lungen-
Atemwege zu verhindern. tuberkulose dar.
Beträgt die ausgehustete Blutmenge mehr als
!
Merke: Die Beobachtungskriterien des Spu- 50 ml, so handelt es sich um eine Hämoptoe. Sie ist
tums sind Menge, Farbe, Geruch, Konsistenz, u. a. bei Gefäßrupturen oder Lungenkavernen zu
Zusammensetzung und Zeitpunkt des Aus- beobachten.
wurfes. Hämoptyse und Hämoptoe sind Symptome, die
eine diagnostische Abklärung erfordern.
22.1.1 Sputummenge Ist das gesamte Sputum rosa bis rötlich verfärbt,
Die Sputummenge wird mit Ausdrücken wie maul- so kann dies auf einen Blutaustritt aus den Alveolen
voll, reichlich und spärlich beschrieben. Eine sog. oder Bronchiolen zurückgeführt werden. Durch eine
maulvolle Expektoration, die zumeist morgendlich Vermischung von Blut und Eiter, wie sie beispiels-
erfolgt, ist charakteristisch für sackförmige Ausbuch- weise beim Bronchialkarzinom zu beobachten ist,
tungen der Bronchien, sog. Bronchiektasen. Wäh- bekommt das Sputum ein himbeergeleefarbiges
rend eines Tages kann dabei die Gesamtsputummen- Aussehen.
ge bis zu 2 Litern betragen. Hellrotes, schaumiges Sputum kann durch ein
Aber auch bei Lungentuberkulose sind maul- Lungenödem hervorgerufen werden. Hierbei ge-
volle Expektorationen zu beobachten. Reichliches langt, bedingt durch eine Stauung des Blutes in den
Sputum tritt vor allem bei Bronchitiden und Pneu- Lungen, Blutflüssigkeit aus den Kapillaren in die Al-
monien auf, während eine spärliche Sputummen- veolen und somit in die Atemwege.
ge bei einem Bronchialkarzinom oder einer spasti-
Ein typisches Beispiel hierfür stellt die Linksherz- Aus degenerativen Veränderungen zum Beispiel
insuffizienz dar, in deren Folge sich ein Lungenödem an den Gelenken zwischen Wirbelsäule und Rippen
mit einem blutig, dünnflüssig schaumigen Auswurf sowie einem Elastizitätsverlust der Ringknorpel kann
entwickeln kann. eine Einschränkung in der Atemfläche resultieren.
22 Bei Menschen, die zu geschwächt sind, das Spu- Daneben kann oftmals eine Erweiterung der Al-
tum auszuhusten, muss immer auch eine Kontrolle veolen festgestellt werden. Das Lungengewebe atro-
der Mundhöhle erfolgen. So können Veränderungen phiert, und zusätzlich lassen die Selbstreinigungs-
und Infektionen der Mundschleimhaut, die durch mechanismen der Atemwege nach. Dies führt u. a. zu
verbliebenes Sekret und durch Maßnahmen, wie bei- einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber Atemwegser-
spielsweise dem Absaugen hervorgerufen werden, krankungen, die oftmals mit einem vermehrten Aus-
vorgebeugt und frühzeitig erkannt werden. wurf einhergehen.
Bei dem Auftreten von Sputum, insbesondere im
Zusammenhang mit andauerndem Husten, muss
22.3 Besonderheiten bei Kindern auch an ein Bronchialkarzinom gedacht werden, das
Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm zumeist zwischen dem 55. und 70. Lebensjahr auf-
tritt. Aber auch eine Herzinsuffizienz, die gerade bei
Bei Kindern gestaltet sich die Beobachtung des Spu- älteren Menschen häufig zu beobachten ist, stellt
tums oftmals schwierig, da insbesondere Neugebo- eine Ursache für Sputum dar.
rene und Säuglinge noch nicht in der Lage sind, das
Sputum gezielt auszuhusten und Kleinkinder dazu
neigen, Schleim und Sekret hinunterzuschlucken. 22.5 Fallstudien und mögliche
Eine entsprechende Anleitung und Unterstützung Pflegediagnosen
zur Sekretentleerung muss erfolgen, damit eine ge-
naue Betrachtung des Auswurfes möglich ist. Even- Das Auftreten von Sputum ist für die betroffenen
tuell muss zur Sekretgewinnung eine Absaugung Menschen zumeist sehr unangenehm und kann bis
vorgenommen werden. hin zu Ekelgefühlen führen. Es können sich aus dem
Neben dem bereits beschriebenen Sputum kann Auftreten von Sputum eine Reihe unterschiedlicher
bei Neugeborenen ein blutiges, schaumiges Sekret Probleme für den betroffenen Menschen ergeben.
beobachtet werden. Es ist zumeist auf einen angebo- So können Atembehinderungen, aber auch Angst
renen Zwerchfelldefekt, eine sog. kongenitale oder Ekelgefühle für den Betroffenen problematisch
Zwerchfellhernie, zurückzuführen. sein.
Eine weitere angeborene Erkrankung, die mit ei-
nem sehr zähen Auswurf einhergeht, ist die zystische Beispiel: Herr Zeh, 44 Jahre, leidet seit seiner
Fibrose, die auch als Mukoviszidose bezeichnet wird. Jugend unter einem allergisch bedingten
Bei dieser autosomal-rezessiv vererbten Erkrankung Asthma. Vor zwei Tagen erlitt er wieder einen
werden – bedingt durch eine Störung des Wasser- schweren Asthma-Anfall. Herr Zeh leidet unter einer
und Salzhaushaltes – die Körpersekrete zähflüssig, Ruhedyspnoe und ist sehr erschöpft.
was eine erschwerte Entleerung zur Folge hat. Er klagt häufig über einen zähen Schleim, den er nicht
Im Verlauf der Erkrankung kommt es häufig zu aushusten kann. Zur Sekretolyse wurden neben einer
Bronchiektasen, so dass bei diesen Kindern eine oralen Medikation Inhalationen mit physiologischer
reichliche Menge des zähflüssigen Sputums am Mor- NaCl-Lösung verordnet.
gen beobachtet werden kann. Einen Auszug aus dem Pflegeplan von Herrn Zeh,
der sich auf das ungenügende Abhusten des Schleims
bezieht, zeigt die Tab. 22.1.
22.4 Besonderheiten bei älteren
Menschen Die entsprechende Pflegediagnose könnte folgen-
dermaßen formuliert werden:
Mit zunehmendem Alter kommt es zumeist auch zu
einer allgemeinen Minderung der Leistungsfähig-
keit. Hiervon ist häufig auch das Atmungssystem be-
troffen.
Herr Zeh leidet unter zähem 쐌 Kennt Asthma-Anfälle Herr Zeh Information über Maßnahmen der Sekret-
Schleim, den er nicht aus- 쐌 hat verflüssigtes Sekret verflüssigung, -auslösung und Unterstüt- 22
husten kann, bei Asthma 쐌 trinkt mind. 2,5 l/Tag zung des Abhustens:
bronchiale 쐌 kann das Sekret abhusten 쐌 Trinkmenge von mindest. 2,5 l/Tag, bei
쐌 inhaliert selbstständig Bedarf gemeinsam einen Trinkfahrplan
erstellen
쐌 1 ⫻ täglich (8 : 00 h) Einfuhrkontrolle
쐌 Anleitung zur Inhalation, Zeiten abspre-
chen (9 : 00/14 : 00/19 : 00 h)
쐌 im Anschluss an die Inhalation Thorax-
vibration
쐌 Anleitung zum schonenden, produktiven
Abhusten
쐌 Papiertaschentücher und Abwurfmög-
lichkeit bereitstellen
Unwirksame Atemwegsclearance
beeinflusst durch (b/d): Unwirksame Atemwegsclearance (P)
unproduktiven Husten, (Selbstreinigung der Atemwege)
vermehrte zähflüssige Sekretion, (Gordon 2013, S. 243 – 245, NANDA-I 2016)
Erschöpfung, Ineffective airway clearance (00031) (1980, 1996,
1998)
angezeigt durch (a/d):
Taxonomie II: Domäne 11: Sicherheit/Schutz,
Ruhedyspnoe.
Klasse 2: Physische Verletzung
Beispiel: Hilke leidet unter einer zystischen Diagnosetyp (Dokumentationsform): aktuelle Pflege-
Fibrose. Aufgrund dieser Erkrankung ist es diagnose (PES)
bei der 6-jährigen Hilke in letzter Zeit zu ei- Funktionelles Gesundheitsverhaltensmuster:
ner Reihe von Atemwegsinfektionen gekommen, von Aktivität und Bewegung
Hilke kann das vermehrte 쐌 Hilke kennt verschiedene Hilke 쐌 Mit Hilke und ihren Eltern einen Zeitplan
22 zähflüssige Sekret bei zysti- Therapiemaßnahmen 쐌 hat flüssigeres Sekret zur weiteren Durchführung der bisherigen
scher Fibrose nur ungenü- und führt diese zum Teil und kann dieses abhus- Maßnahmen erstellen, Plan in das Zim-
gend aushusten selbstständig durch (In- ten mer von Hilke hängen
halationen, Atemübun- 쐌 erlernt die Technik der 쐌 Information über die autogene Drainage
gen, Vibration, Lage- autogenen Drainage ge- und zusammen mit Hilke, ihren Eltern
rungsdrainage) meinsam mit ihren Eltern und der Physiotherapeutin gemeinsame
쐌 Die Eltern unterstützen Termine zur Erlernung der Technik verein-
Hilke bei ihrer Therapie baren
쐌 Beobachtung des Sputums (Menge,
Konsistenz, Aussehen) und der Entlee-
rung
nahmen zur Unterstützung der Sekretentleerung und Hoehl, M., P. Kullick (Hrsg.): Gesundheits- und Kinderkranken-
insbesondere zum Auffangen und Abwurf müssen be- pflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012
Koletzko, B. (Hrsg.): Kinder- und Jugendmedizin. 14. Aufl.
rücksichtigt werden.
Springer, Berlin 2013
Der Anblick von Sputum ruft bei vielen Menschen
Ekelgefühle hervor, so dass ein sachlicher, aber zugleich
Köther, I.: Altenpflege. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2016 22
Menche, N., I. Brandt (Hrsg.): Pflege konkret Innere Medizin.
auch einfühlender Umgang mit den Betroffenen erfor- 6. Aufl. Elsevier GmbH, München 2013
derlich ist. NANDA International: Pflegediagnosen. Definitionen und
Klassifikation 2015 – 2017. Herdman, T. H., S. Kamitsuru
(Hrsg.): RECOM, Kassel 2016
Pschyrembel Klinisches Wörterbuch. 264. Aufl. de Gruyter,
Berlin 2014
Literatur:
Schettler, G., H. Greten (Hrsg.): Innere Medizin: Verstehen –
Lernen – Anwenden. 12. Aufl. Thieme, Stuttgart 2005
Dahmer, J.: Anamnese und Befund. Die symptomorientierte
Schewior-Popp, S., F. Sitzmann, l. Ullrich (Hrsg.): Thiemes Pfle-
Patientenuntersuchung fächerübergreifend – interaktiv –
ge. 13. Aufl. Thieme, Stuttgart 2017
praxisbezogen. 10. Aufl. Thieme, Stuttgart 2006
Schwegler, J., R. Lucius: Der Mensch. Anatomie und Physiolo-
Epstein, O., G. D. Perkin, D. P. de Bono, J. Cookson: Anamnese
gie. 6. Aufl. Thieme, Stuttgart 2016
und Untersuchung: auf einen Blick. Elsevier, München
Weyerstahl, T., M. Stauber: Duale Reihe: Gynäkologie und Ge-
2006
burtshilfe. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2013
Gerlach, U., H. Wagner, W. Wirth: Innere Medizin für Pflegebe-
rufe. 8. Aufl. Thieme, Stuttgart 2015
Gordon, M.: Handbuch Pflegediagnosen. 5. Aufl. Hans Huber, Im Internet:
Hogrefe AG, Bern 2013 https://www.pschyrembel.de/; Stand: 04. 08. 2017
Gortner, L., S. Meyer, F. C. Sitzmann: Duale Reihe Pädiatrie.
4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2012
23 Schmerz
Eva Eißing
Übersicht
23 Einleitung · 380
23.1 Schmerzentstehung, -leitung und
-wahrnehmung · 381
23.1.1 Schmerzhemmsysteme · 381
23.1.2 Gestörte Schmerzempfindung · 383
23.1.3 Beeinflussende Faktoren · 383
23.1.4 Bedeutung von Schmerz · 384
23.2 Schmerzarten · 384
23.2.1 Nozizeptorschmerz · 384
23.2.2 Neurogener Schmerz · 386
23.2.3 Zentraler Schmerz · 386
23.2.4 Phantomschmerz · 386
23.2.5 Psychogener Schmerz · 387
23.3 Akuter und chronischer Schmerz · 387 Einleitung
23.3.1 Akuter Schmerz · 387
23.3.2 Chronischer Schmerz · 387 Schmerz ist eine Erfahrung, die nahezu jeder Mensch
23.4 Beobachtungskriterien · 388 kennt und die meist als unangenehmes Ereignis im
23.4.1 Schmerzäußerungen · 388 Gedächtnis gespeichert ist. Die biologische Bedeu-
23.4.2 Schmerzlokalisation · 390 tung des Schmerzes liegt darin, den Organismus vor
23.4.3 Schmerzzeitpunkt, -dauer und -verlauf · 390 schädigenden Einflüssen zu warnen bzw. zu schüt-
23.4.4 Schmerzintensität · 390 zen. Nicht ausreichend behandelte Schmerzen be-
23.4.5 Schmerzqualität · 391 deuten für den Betroffenen eine große Belastung, die
23.4.6 Schmerzbegleitende Symptome · 391 sich auf fast alle Bereiche des täglichen Lebens aus-
23.4.7 Auswirkungen auf das Alltagsleben · 391 wirkt.
23.5 Dokumentation · 391 Da das Schmerzerlebnis und die Bedeutung, die
23.6 Ergänzende Beobachtungskriterien · 392 dem Schmerz beigemessen wird, subjektiv und von
23.7 Besonderheiten bei Kindern · 392 Mensch zu Mensch verschieden ist, kommt der Beo-
23.8 Besonderheiten bei älteren Menschen · 395 bachtung des Schmerzes eine wichtige Rolle in der
23.9 Fallstudien und mögliche pflegerischen Berufsausübung zu.
Pflegediagnosen · 395 Schmerzerlebnisse sind komplexe Geschehen
Fazit · 398 und umfassen Phänomene aus allen menschlichen
Literatur · 399 Bereichen. Schmerzbeschreibungen sind immer sub-
jektiv und unvollständig. Folglich lässt sich auch nur
schwer eine eindeutige Definition von Schmerz for-
Schlüsselbegriffe:
mulieren.
왘 Nozizeptorschmerz Die Internationale Gesellschaft für das Studium
왘 Phantomschmerz des Schmerzes (International Association for the Stu-
왘 Chronischer Schmerz dy of Pain/IASP) wurde 1974 mit dem Ziel gegründet,
왘 Neurogener Schmerz Forschung und multidisziplinäre Ausbildung auf
왘 Psychogener Schmerz dem Gebiet der Schmerztherapie zu fördern. Sie hat
왘 Schmerzkrankheit folgende Definition vorgeschlagen:
왘 Zentraler Schmerz
왘 Akuter Schmerz
왘 Gate-Control
왘 Total-pain-Konzept
Definition: „Schmerz ist ein unangenehmes Ankommende Schmerzreize werden zum limbi-
Gefühlserlebnis, das mit einer Gewebeschädi- schen System, zum Hypothalamus und zur sensori-
gung verknüpft ist, aber auch ohne sie auftreten schen Großhirnrinde geleitet. Das limbische System
kann oder mit Begriffen einer solchen Schädigung be- ist für den emotionalen Anteil der Schmerzverarbei-
schrieben wird. Schmerz ist immer subjektiv“ (Thomm tung verantwortlich, z. B. für die Entstehung von
1998, S. 17). Angst oder depressiven Gefühlen. Der Hypothalamus
beeinflusst die Hormonausschüttung der Hypophyse 23
und das vegetative Nervensystem. Dadurch sind
23.1 Schmerzentstehung, -leitung Schweißausbrüche, Erbrechen, Zittern, Puls- und
und -wahrnehmung Blutdruckveränderungen sowie Atemveränderun-
gen als Begleitsymptome des Schmerzes beobacht-
Schmerz entsteht durch Erregung der Schmerz- bar. In der Großhirnrinde wird der Schmerz entspre-
rezeptoren, auch Nozizeptoren genannt. Sie befinden chend der in Abb. 1.6 dargestellten Projektion der
sich überall in der Haut und in den Körperorganen. einzelnen Körperteile bewusst wahrgenommen.
Ihre Erregung zeigt, dass entweder von außen oder
von innen stammende Reize dem Körper schaden. 23.1.1 Schmerzhemmsysteme
Die Schmerzrezeptoren bestehen aus freien Ner- Der Organismus verfügt über Mechanismen, die die
venendigungen und sind polymodal, d. h. sie werden Schmerzempfindung herabsetzen oder blockieren.
durch verschiedene Noxen erregt: Die beiden wichtigsten sind:
mechanisch z. B. durch Nadelstiche, Endorphine,
thermisch durch Hitze und Kälte, „Gate-Control“.
eletrisch durch Strom,
chemische Reize durch toxische Einflüsse Endorphine
Bei einer Gewebeschädigung werden aus den ge- Endorphine stellen die wichtigsten schmerzhem-
schädigten Zellen Schmerzsubstanzen abgesondert. menden Stoffe dar. Sie werden vom Körper selbst
Hierzu gehören u. a. das Serotonin, Histamin oder produziert und kommen im Gehirn, in der Hypophy-
Bradykinin. Die Nozizeptoren werden durch die Ge- se, im Rückenmark und in den Organen vor. Sie wir-
webehormone gereizt und setzen schmerzauslösen- ken ähnlich wie Morphium analgetisch und euphori-
de Neuropeptide frei, z. B. Prostaglandine und die sierend.
sog. Substanz P. Die Schmerzreize gelangen über 2 Es wird vermutet, dass Endorphine auch in Belas-
verschiedene Nervenfasern zum Rückenmark. Die A- tungssituationen, z. B. während körperlicher An-
delta-Fasern haben eine Myelinschicht und sind strengungen beim Sport oder beim Tanzen, sowie in
schnellleitend. Sie bewirken einen gut lokalisierba- Stresssituationen, z. B. bei Unfällen, vermehrt ausge-
ren Sofortschmerz und lösen Fluchtreflexe aus, z. B. schüttet werden. Sie ermöglichen lebensrettende
das Wegziehen der Hand von der Herdplatte bei star- Maßnahmen, z. B. die Flucht aus einer Gefahrenzone
ker Hitze. Die C-Fasern sind nicht myelisiert und lei- in entsprechend bedrohlichen Situationen, ohne
ten den Schmerzreiz langsam weiter. dass Schmerzen aufgrund vorhandener Verletzun-
Beide Schmerzfaserarten treten über die Hinter- gen daran hindern. Auch verletzte Sportler nehmen
wurzeln der Rückenmarksnerven in das Hinterhorn häufig ihre schmerzenden Körperteile gar nicht oder
des Rückenmarks ein. Dort erfolgt die erste Umschal- abgeschwächt wahr, bis der Wettkampf vorbei ist.
tung und Kreuzung auf die andere Seite, um dann
entlang der Vorderseitenstrangbahnen des Rücken- „Gate-Control“
marks zur Formatio reticularis, zum Thalamus und „Gate-Control“ ist englisch und heißt übersetzt „Tor-
zur sensorischen Großhirnrinde zu ziehen kontrolle“. Die Gate-Control-Theorie ist 1965 von
(Abb. 23.1). Die Formatio reticularis steuert die Auf- den Wissenschaftlern Melzak und Wall entwickelt
merksamkeit und den Wachzustand und erklärt worden. Sie geht davon aus, dass der menschliche
auch die Tatsache, dass ein wacher Mensch Schmerz- Körper unmöglich den gesamten sensorischen Input
reize intensiver wahrnimmt bzw. Schlaf dadurch bewältigen, d. h. alle auf ihn einströmende Reize ver-
verhindert wird. Der Thalamus ist eine wichtige arbeiten kann. Er hat einen Mechanismus in Form
Schaltstelle für sämtliche Wahrnehmungen (s. a. einer Schranke entwickelt, in der die Intensität der
S. 5).
sensorische Rinde:
23 Schmerzwahr-
nehmung
Schmerzreiz
Thalamus
mechanisch elektrisch
chemisch thermisch
Nozizeptoren
A-delta-
Fasern Hinterhorn des
myelisiert Rückenmarks
C-Fasern
(nicht myelisiert)
Vorderhorn des Rücken-
Rückenmarks mark
Schmerzsignale aus der Peripherie abgeschwächt, Die Hemmung von Schmerzreizen, d. h. das
aber auch verstärkt werden können. Treten zu viele Schließen des „Schmerztores“, kann auch durch ab-
Schmerzimpulse auf, unterbrechen bestimmte Zel- steigende Mechanismen des somatosensorischen
len im Rückenmark die Signalübertragung, ähnlich Systems erfolgen, z. B. durch Entspannungstechni-
wie das Schließen eines Schleusentors. ken, Ablenkung oder Suggestion.
Auch hierdurch lässt sich, ähnlich wie bei der En- Das „Öffnen“ des Schmerztores geschieht haupt-
dorphinausschüttung, erklären, warum Sportler sächlich durch den Schmerzreiz selbst. Psychische
nach sehr schmerzhaften Verletzungen den Wett- Phänomene wie Angst, Unsicherheit, Anspannungen
kampf trotzdem beenden. etc. scheinen diesen Mechanismus ebenfalls zu un-
Das „Schließen“ des Schmerztors kann jedoch terstützen.
auch durch andere Sinnesreize ausgelöst werden, Die Schmerzrezeptoren haben eine hohe Schwel-
z. B. durch Wärme- und Kälteanwendungen, Reiben le, d. h. sie werden nur durch starke oder gewebe-
der verletzten Körperstelle, Massagen oder elektro- schädigende Reize (Noxen) erregt. Normaler Druck
physikalische Maßnahmen. Die analgetische Wir- auf körperliches Gewebe löst beispielsweise keine
kung von Akupunktur stützt sich zum Teil auf die Schmerzwahrnehmung aus, sondern erst eine starke
Gate-Control-Theorie. Die Reizung der Nozizepto- Druckerhöhung mit Quetschung von Gewebeantei-
ren, also die Schmerzreize, hören nicht auf, sie wer- len.
den lediglich an ihrer Weiterleitung zur zentralner- Da die Schmerzempfindung individuell unter-
vösen Schaltstation im Rückenmark oder Gehirn ge- schiedlich erlebt wird, gestaltet sich auch deren Mes-
hemmt. sung schwierig. Bei der Algesimetrie wird versucht,
Zusammenfassung:
die Schmerzschwelle und die Schmerztoleranz zu Schmerzentstehung, -leitung und -wahr-
messen. Dabei werden dem Menschen Schmerzrei- nehmung
ze, z. B. in Form von Hitzereizung der Haut, gesetzt. Schmerz entsteht durch Reizung der Nozizeptoren
Die erste Reaktion auf diesen Schmerzreiz, d. h. der durch Gewebehormone, wobei schmerzauslösende
Zeitpunkt der ersten Schmerzwahrnehmung, ist die Neuropeptide freigesetzt werden.
Schmerzschwelle. Die Schmerzempfindung kann durch Endorphine
Die Schmerztoleranz beschreibt, wieviel Schmerz oder die „Gate-Control“ (Unterbrechung der Signal-
der betroffene Mensch ertragen bzw. erleiden kann, übertragung bestimmter Zellen im Rückenmark)
und bestimmt den maximal auszuhaltenden herabgesetzt werden.
Schmerz. Die Schmerzempfindung zwischen dem Schmerzempfindungen sind sehr individuell.
Beginn der Schmerzwahrnehmung und der höchsten In der Terminologie des Schmerzempfindens wird
Toleranzgrenze ist die Schmerzintensität (Abb. zwischen Allodynie, Analgesie, Hyperästhesie, Hyp-
23.2). ästhesie, Hyperalgesie, Hypalgesie unterschieden.
Im klinischen Alltag wird in der Regel auf eine Al-
gesimetrie verzichtet zugunsten einer vom Betroffe- 23.1.3 Beeinflussende Faktoren
nen durchgeführten subjektiven Selbsteinschätzung Die Schmerzempfindung ist subjektiv und wird
anhand einer Schmerzskala (Abb. 23.4, Frage 5). So- durch zahlreiche Faktoren beeinflusst, wie z. B. durch
wohl die Algesimetrie als auch die subjektive Selbst- die individuell unterschiedliche Bewertung von
einschätzung ermitteln einen individuellen Aus- Schmerzschwelle und -toleranz (s. a. S. 390), persön-
gangswert und dienen der Erfolgskontrolle schmerz- liche Charaktereigenschaften, kulturelle Einflüsse
mindernder Maßnahmen. und Erziehung. Auch die Einstellung zur Krankheit,
die aktuelle Stimmungs- und Gefühlslage sowie ver-
23.1.2 Gestörte Schmerzempfindung schiedene Ablenkungsmöglichkeiten, z. B. Hobbys,
Das Schmerzempfinden kann im Sinne von Steige- können die Schmerzwahrnehmung verstärken oder
rung oder Verminderung gestört bzw. nicht vorhan- vermindern. Je nachdem, an welcher Körperstelle
den sein. In der Terminologie des Schmerzbereichs Schmerzen entstehen, werden sie entsprechend un-
werden verschiedene Begriffe unterschieden: terschiedlich wahrgenommen. So werden beispiels-
Allodynie ist die Schmerzauslösung durch einen weise Zahnschmerzen meist quälender empfunden
Reiz, z. B. eine leichte Berührung, der normaler- als eine Schürfwunde am Knie.
weise keinen Schmerz verursacht. Ein weiterer Faktor ist die Bedeutung, die dem
Bei einer Analgesie handelt es sich um die Aufhe- Schmerz oder dem schmerzenden Körperteil zuge-
bung der Schmerzempfindung, z. B. durch Schädi- sprochen wird. Für einen Pianospieler sind z. B. Ver-
gung peripherer schmerzleitender Nervenfasern letzungen an den Fingern und Händen mitunter fol-
bei Querschnittlähmung oder durch Blockade der genschwer mit einer möglicherweise verstärkten
Schmerzleitungsbahnen. Schmerzwahrnehmung.
Die Hyperästhesie bezeichnet eine verstärkte
Empfindung für schmerzhafte und nicht
schmerzhafte Nervenreize durch eine herabge-
!
Merke: Schmerz ist immer ein subjektives Dazu gehören die Muskeln, Sehnen, Gelenke und das
Erlebnis mit einer jeweils individuellen Be- Periost. Der Schmerz wird langsamer über A-delta-
deutung für den betroffenen Menschen. Fasern und C-Fasern übermittelt, ist schlechter loka-
Schmerzarten
lisierbar und hat einen eher dumpfen und bohren- bei Magenschmerzen oder als periodisch wiederkeh-
den Charakter. Er strahlt in die Umgebung aus. Bei- render Schmerz, wie z. B. bei Koliken.
spiele für den Tiefenschmerz sind Gelenkerkrankun-
gen und Kopfschmerzen. Übertragener Schmerz
Definition: Der übertragene Schmerz ist ein
Viszeraler Schmerz von inneren Organen auf die Haut oder benach-
Definition: Der viszerale Schmerz beschreibt barte Körperareale übertragener Schmerz.
den typischen Organschmerz und wird auch als
Eingeweideschmerz bezeichnet. Er entsteht durch eine Verknüpfung zwischen sen-
siblen Eingeweide- und Hautnerven auf der gleichen
Da Schmerzen an inneren Organen dazu neigen, in Segmentebene im Rückenmark. Das Gehirn kann
benachbarte Haut- oder Körperareale auszustrahlen, nicht unterscheiden, ob die Schmerzimpulse aus der
wird der Organschmerz vom übertragenen Schmerz Tiefe von den Organen oder aus der Haut bzw. dem
abgegrenzt. benachbarten Körperteil kommen.
Typisch ist beispielsweise die Ausstrahlung
Organschmerz (= Übertragung) von Herzschmerzen, ausgelöst
Der viszerale Schmerz entsteht bei schneller und durch eine Ischämie der Herzkranzgefäße, in den lin-
starker Dehnung der Hohlorgane, z. B. der Gallenbla- ken Arm.
se. Auch Spasmen oder starke Kontraktionen, beson- Umgekehrt können Reizungen der Haut Erregun-
ders in Verbindung mit verminderter Durchblutung gen der viszeralen (organischen) Nerven bewirken.
werden als schmerzhaft erlebt. Dies ist z. B. bei Diese Erkenntnis wird genutzt z. B. durch Anwen-
Darmkrämpfen der Fall. Die Erregungsleitung erfolgt dung warmer Bauch- oder Brustwickel bei Leber-
über langsam leitende Fasern und wird wie der Tie- oder Lungenerkrankungen. Sie bewirken über die
fenschmerz als bohrend und dumpf empfunden. Or- Haut eine vermehrte Durchblutung der Organe so-
ganschmerzen treten oft rhythmisch auf mit vegeta- wie Entspannung.
tiver Begleitsymptomatik wie z. B. Schweißausbruch,
Übelkeit, Blutdruck- und Pulsveränderungen. Der
viszerale Schmerz äußert sich als Dauerschmerz, z. B.
!
Merke: Beobachtungskriterien des Schmer-
neurogenen Stoffwechsels, die die Entstehung von
zes sind:
Schmerzsignalen im Nervensystem begünstigen. Das
bedeutet, dass Schmerzimpulse auch dann an das
Schmerzäußerung,
23 Gehirn weitergeleitet werden, wenn der auslösende
Schmerzlokalisation,
Schmerzreiz nur noch ganz schwach oder gar nicht
Schmerzzeitpunkt,
mehr vorhanden ist. Das bedeutet, die Schmerzchro-
Schmerzdauer und -verlauf,
nifizierung benötigt zwar einen initialen Input zu ih-
Schmerzintensität,
rer Entstehung, nicht aber zur Aufrechterhaltung.
Schmerzqualität,
Ferner können durch chronische Schmerzreize die
schmerzbegleitende Symptome,
endogenen Hemmmechanismen, z. B. die Endor-
Auswirkungen auf das Alltagsleben.
phinausschüttung, herabgesetzt werden. Ähnliche
Umbauvorgänge mit entsprechenden Reaktionen
Zur Erleichterung und Unterstützung der Schmerz-
können auch im Gehirn entstehen. Der Schmerz hat
einschätzung sowie -beurteilung kann ein Schmerz-
sich gleichermaßen in das Gedächtnis der Zellen ein-
erhebungsbogen bzw. ein Schmerzanamnesebogen
gegraben. Der Phantomschmerz nach der Amputati-
verwendet werden. Verschiedene Institutionen ha-
on einer Gliedmaße ist ein extremes Beispiel für eine
ben entsprechend ihrer Bedürfnisse und Pflegestan-
derartige Gedächtnisbildung (s. a. S. 386). Nicht un-
dards Schmerzerhebungsbögen entwickelt. Die
erheblich ist der psychische Einfluss an der chroni-
Abb. 23.4 zeigt einen möglichen Schmerzerhebungs-
schen Schmerzbildung. Ca. 80% aller Schmerzen
bogen. Wichtig für die Schmerzeinschätzung ist das
werden durch psychische Faktoren, wie z. B. Stress,
persönliche Gespräch mit einem hohen Maß an Ein-
Ängste und Depressionen, mitbestimmt. Häufige Ur-
fühlungsvermögen.
sachen für chronische Schmerzen sind Schmerzen
des Bewegungsapparates, Neuralgien, Kopf-, Phan-
23.4.1 Schmerzäußerungen
tom- und Tumorschmerzen.
Der Umgang mit Schmerz ist individuell verschieden
Das Total-Pain-Konzept bezieht sich auf die pallia-
und abhängig von persönlichen Erfahrungen, sozio-
tivmedizinische Betreuung onkologisch erkrankter
kulturellen Einflüssen, Erziehung, Alter und Ge-
Menschen. Es umfasst neben den somatischen
schlecht. Wie und ob überhaupt Schmerzen geäu-
Schmerzen insbesondere die mit chronischen
ßert werden, hängt u. a. auch von der aktuellen Situa-
Schmerzen verbundenen psychischen Schmerzen
tion ab, z. B. Zusammentreffen im Familienkreis,
(z. B. Ängste), sozialen Schmerzen (z. B. Gefühle der
beim Arzt oder unter Arbeitskollegen.
Isolation) und spirituelle Schmerzen (z. B. die Frage
Schmerzäußerungen können verbal oder nonver-
„Warum trifft es gerade mich?“).
bal ausgedrückt werden. Verbale Schmerzäußerun-
Bei der Schmerzkrankheit stellt das Symptom
gen erfolgen unter Benutzen der Sprache, d. h. der
„Schmerz“ eine eigene Erkrankung dar. Es handelt
Betroffene spricht über seinen Schmerz. Durch die
sich um andauernde Schmerzzustände, die eine spe-
den Schmerz häufig begleitende veränderte Stim-
zielle Schmerztherapie erforderlich machen. Chroni-
mungslage klingt die Stimmlage meist monoton und
sche Schmerzen müssen jedoch nicht unbedingt eine
leise. Weitere verbale Ausdrucksweisen sind Schrei-
Schmerzkrankheit sein. Sie werden es aber, wenn sie
en, Stöhnen, Klagen, Wimmern und Jammern. Wäh-
ihre biologisch sinnvolle Warn- und Alarmfunktion
rend einige Menschen ständig über ihre Schmerzen
verlieren und somit vom Symptom zu einer eigen-
reden oder auch um Schmerzmittel bitten, überspie-
ständigen Krankheit werden, z. B. bei Phantom-
len andere ihre Schmerzen durch Heiterkeit oder
schmerzen.
verleugnen sie gänzlich. Auch hieran wird der indivi-
duelle Umgang mit Schmerzen deutlich.
!
Merke: Je nach zeitlichem Auftreten, Dauer
Bei der Schmerzbeobachtung nehmen die non-
und Verlauf werden akute von chronischen
verbalen Schmerzäußerungen einen besonderen
Schmerzen unterschieden.
Stellenwert ein. Menschen mit Schmerzen greifen
4. Seit wann leiden Sie unter Schmerzen ? Wie knnen Sie Ihre Schmerzen ohne Schlafmittel
Tage Wochen lindern ? (z. B. warmes Bad, Ablenkung)
Monate Jahre
nach der schmerzenden Stelle, um sie schützend ab- Schmerzdauer und -verlauf stehen in einem Zu-
zudecken oder schmerzverringernd daran zu reiben sammenhang mit der Schmerzintensität und sind für
(s. a. S. 381, „Gate-Control“). Häufig ist auch eine mo- den Betroffenen bezüglich des Aushaltevermögens
torische Unruhe zu beobachten, z. B. durch Hin- und sowie möglicher Therapieansätze wichtige Informa-
Herlaufen oder häufigen Lagewechsel, z. B. bei Bett- tionen. Diese (Schmerz-)Beobachtungskriterien soll-
lägerigen. Genauso gibt es Menschen mit Schmerzen, ten deshalb immer gemeinsam beobachtet und be-
23 die dazu neigen, sich still und ruhig zurückzuziehen. wertet werden. Beispielsweise kann ein an einer
Der Muskeltonus wird schlaff und die Bewegungen schmerzhaften chronischen rheumatoiden Arthritis
werden langsam und schleppend. Die Gesichtsmus- leidender Mensch den morgendlichen Schmerz bei
kulatur ist – schmerzverzerrt – angespannt, der Kie- Bewegungen ohne die Gabe von Schmerzmitteln
fer in Bissstellung und der Gesichtsausdruck wirkt kaum aushalten, während die herabgesetzte
ängstlich. Zu beobachten ist in vielen Fällen auch Schmerzintensität am Nachmittag ohne Analgetika
eine schmerzlindernde oder -vermeidende Schon- toleriert werden kann.
haltung bzw. -lage (s. a. S. 435).
23.4.4 Schmerzintensität
23.4.2 Schmerzlokalisation Die Hauptfrage hierbei ist, wie stark sind die Schmer-
Die Schmerzlokalisation gibt Auskunft darüber, wo zen? Nur derjenige, der die Schmerzen erlebt, kann
oder in welchem Körperteil der Schmerz auftritt. die Intensität des Schmerzes einschätzen, da
Hilfreich ist hierbei Markieren des Schmerzortes auf Schmerzen, wie bereits erwähnt, ein sehr subjekti-
einer Vorder-, Seiten- und Rückenansicht eines Kör- ves Geschehen sind, das von Mensch zu Mensch ver-
pers in einem Schmerzanamnesebogen (Abb. 23.4, schieden erlebt wird. Für die Bewertung der Intensi-
Frage 1). tät spielt der Vergleich der aktuellen Schmerzemp-
Oberflächenschmerzen, z. B. von der Haut ausge- findung mit der in der Vergangenheit einschließlich
hend, können besser lokalisiert werden als Tiefen- der Folgen eine große Rolle. Er wird hauptsächlich an
schmerzen aus Muskeln, Sehnen und Gelenken. Or- der im Gedächtnis gespeicherten Schmerzerfahrung
ganschmerzen sind dumpf, manchmal diffus aus- gemessen.
strahlend, so dass die Abgrenzung von anderen Als Hilfsmittel zur Einschätzung eignen sich die
schmerzenden Körperstrukturen nicht immer ein- numerische Rating Skala (NRS), die verbale Rating
deutig ist, wie z. B. bei Erkrankungen der Genitalor- Skala (VRS, Begriffsskala), die visuelle Analogskala
gane. Ausstrahlende Schmerzen in die „Head“-Zonen (VAS) und die Gesichter-Rating-Skala. Bei der nume-
werden in typische Körperregionen übertragen, z. B. rischen Skala ordnet der Betroffene seinen Schmerz
Gallenkoliken in die rechte Schulter, Herzschmerzen von 0 – 10 oder von 0 – 100 in einer Skala ein. Die Zahl
in den linken Arm, Oberbauchschmerzen bei der 0 bedeutet keine Schmerzen, die Zahl 10 bzw. 100 die
Bauchspeicheldrüsenentzündung gürtel- bzw. ring- größte Schmerzintensität (Abb. 23.4, Frage 5).
förmig um den Bauch. Für manche Patienten ist diese Einordnung
schwierig. Hier kann die Einschätzung durch Begriff-
23.4.3 Schmerzzeitpunkt, -dauer und -verlauf lichkeiten, z. B. keine Schmerzen (0 auf der NRS), er-
Beim Schmerzzeitpunkt steht die Frage im Vorder- trägliche Schmerzen (1 – 3 auf der NRS), starke
grund, wann der Schmerz auftritt: morgens, mittags, Schmerzen (4 – 6 auf der NRS) sowie unerträgliche
abends oder nachts. Für die Beurteilung und Ein- Schmerzen (9 – 10 auf der NRS) erfolgen. Bei der visu-
schätzung ist ferner wichtig, ob der Schmerz zum ellen Analogskala wird auf einer 10 – 15 cm langen Li-
ersten oder wiederholten Mal aufgetreten ist. Bei nie, deren Enden mit den Begriffen „kein Schmerz“
Schmerzdauer u. -verlauf gibt der Betroffene die zeit- und „stärkster vorstellbarer Schmerz“ beschriftet
liche Dauer des Schmerzes, ausgehend vom Beginn sind, mithilfe einer Markierung oder eines Schiebers
der Wahrnehmung und dessen Verlauf an. Zu unter- die Schmerzintensität angezeigt (Schmerzskala für
scheiden sind akute Schmerzsituationen von chroni- Kinder s. 23.7). Welche dieser Skalen verwendet
schen Schmerzen. Die Bewertung von Schmerzdauer wird, sollte vom Betroffenen selbst ausgewählt wer-
und -verlauf ist besonders bei chronischen Schmerz- den.
zuständen von Bedeutung. Mit zunehmender Schmerzdauer, besonders
wenn die Schmerzen eine chronische Form anneh-
Tab. 23.1 Schmerzqualitäten schmerzen werden häufig zusätzlich von Licht- und
Schmerzqualität/Art typische Beispiele
Lärmempfindlichkeit begleitet. Länger anhaltende
Schmerzen führen zu depressiven Zuständen mit
pochend, klopfend Abszesse entsprechender Auswirkung auf das soziale Umfeld
einschießend vom Rücken in das Bein beim Band-
und Vereinsamung.
scheibenvorfall
ausstrahlend in den linken Arm beim Herzinfarkt, in die
rechte Schulter bei Gallenkoliken 23.4.7 Auswirkungen auf das Alltagsleben 23
stechend neurogene Schmerzen – z. B. Zahnschmer- Schmerzen schränken nahezu alle Aktivitäten ein
zen
und wirken sich auf Schlaf, Beruf, Haushalt, Hobby,
kribbelnd neurogene Schmerzen – z. B. Nerven-
schädigungen Selbstpflege usw. aus. In extremen Fällen führen
beißend Hautverletzungen – z. B. Schürfwunden Schmerzen zu Immobilität und Abhängigkeit (s. a.
brennend Entzündungen, Sonnenbrand
Bd. 3, Kap. 17, Tab. 17.1)
heiß Entzündungen, Sonnenbrand
dumpf Organschmerzen
anfallsartig Koliken – z. B. Gallenkolik Zusammenfassung:
zerreißend Hautverletzungen Akuter und chronischer Schmerz, Beobach-
schneidend Hautverletzungen
tungskriterien
krampfartig Magen- oder Darmspastiken
beklemmend Herzschmerzen Hinsichtlich der Dauer wird zwischen akutem und
ziehend Schmerzen im gynäkologischen Bereich chronischem (3 – 6 Monate oder immer wiederkeh-
rendem) Schmerz unterschieden.
Bei der Schmerzkrankheit stellt das Symptom
men, wächst auch die Schmerzintensität. Gleichzei- „Schmerz“ eine eigene Erkrankung dar.
tig verringert sich die Bereitschaft, Schmerzen zu er- Zur Beurteilung von Schmerz dienen Schmerz-
tragen. äußerungen, -lokalisation, -zeitpunkt, -dauer, -ver-
lauf, -intensität, -qualität, schmerzbegleitende
23.4.5 Schmerzqualität Symptome sowie Auswirkungen auf das Alltags-
Die Schmerzqualität gibt Antwort auf die Frage nach leben.
der Schmerzart. Die Schmerzart lässt Rückschlüsse
auf die Schmerzlokalisation zu. Typische Beispiele
sind in Tab. 23.1 dargestellt. 23.5 Dokumentation
23.4.6 Schmerzbegleitende Symptome Um Schmerzen präzise diagnostizieren, deren Ver-
Durch Überwiegen der sympathischen Tonuslage lauf beurteilen und eine effektive Schmerzprophyla-
kommt es zur Erhöhung des Blutdrucks und der xe und -therapie durchführen und überprüfen zu
Herzfrequenz bis hin zur Schocksymptomatik, zu können, müssen sie entsprechend sorgfältig ermit-
Atemveränderungen, zur Steigerung der Bewusst- telt und dokumentiert werden. Die Schmerzanam-
seinshelligkeit (Wachheit) und Erhöhung der Ab- nese stellt in diesem Zusammenhang eine wichtige
wehr und Fluchtbereitschaft. Übelkeit, Erbrechen überprüfbare Ausgangssituation dar.
und Appetitlosigkeit sind ebenfalls nicht selten auf- Für die Dokumentation sind neben den
tretende Begleiterscheinungen bei besonders star- (Schmerz-)Beobachtungskriterien auch Stimmungs-
ken Schmerzzuständen, so wie auch Durchfall und lage, die Einnahme von Schmerzmitteln und die
Meteorismus. Nächtliche Schmerzen stören den Beobachtung von Begleitsymptomen wichtige Merk-
Schlaf. Erhöhter Ruhebedarf am Tag sowie Schlafstö- male zur Einschätzung des Schmerzgeschehens. Da
rungen können die Folge sein. Durch die Verknüp- Schmerzen häufig in Zusammenhang mit bestimm-
fung der Schmerzleitung mit Hirnnervenkernen, z. B. ten Ereignissen oder Aktivitäten auftreten, ist es
im limbischen System, bekommt der Schmerz seine sinnvoll, sie ebenfalls entsprechend zu vermerken.
individuelle begleitende Gefühlsqualität wie Angst, Die Schmerzbeobachtung und -einschätzung ist
Ekel und u. U. auch Freude. Bei entzündlichen Erkran- fast ausschließlich von den Äußerungen des
kungen im Bauchraum, z. B. einer Blinddarmentzün- schmerzleidenden Menschen abhängig und bedarf
dung, kommt es durch einen reflektorischen Spas- deshalb der intensiven Kommunikation zwischen
mus der Bauchdeckenmuskulatur zur Abwehrspan- Pflegepersonal, ärztlichem Personal und dem Betrof-
nung bei Druck auf den Bauch. Migräneartige Kopf- fenen. Bei Menschen mit chronischen Schmerzzu-
Name: Datum:
23.6 Ergänzende
Uhrzeit Schmerz- Schmerz- Bemerkung/
intensität therapie Aktivität/ Beobachtungskriterien
23 Beobachtungen
6.00 Uhr Schmerzzustände sind komplexe Geschehen und
7.00 Uhr umfassen ganzheitlich das körperliche, geistige und
8.00 Uhr seelische Empfinden des Betroffenen. Das Beobach-
9.00 Uhr tungsspektrum kann sich je nach Schmerzausprä-
10.00 Uhr gung auf entsprechend weitere Beobachtungspunkte
11.00 Uhr ausdehnen.
12.00 Uhr
Durch die Verknüpfung der schmerzleitenden
13.00 Uhr
Bahnen mit dem vegetativen Nervensystem und an-
14.00 Uhr
deren Hirnanteilen beeinflussen Schmerzzustände
15.00 Uhr
16.00 Uhr das Kreislaufsystem mit Puls-, Blutdruck-, Atemver-
17.00 Uhr änderungen und die Schweißproduktion. Starke
18.00 Uhr Schmerzen werden häufig von Übelkeit, Brechreiz,
19.00 Uhr Erbrechen und Appetitlosigkeit begleitet. Das kann
20.00 Uhr sich, besonders bei Menschen mit chronischen
21.00 Uhr Schmerzen, auf das Körpergewicht und den Ernäh-
22.00 Uhr rungszustand negativ auswirken.
23.00 Uhr Schmerzen werden meist durch emotionale An-
24.00 Uhr
teile wie Angst und Depression begleitet.
1.00 Uhr
Die Beobachtung von Mimik, Gestik, Körperhal-
2.00 Uhr
tung, Gang, Bewegung, Stimme, Sprache und Be-
3.00 Uhr
4.00 Uhr wusstsein sollte deshalb immer mit einbezogen wer-
5.00 Uhr den. Auch die Motorik ist im Zusammenhang mit
schmerzauslösenden bzw. -hemmenden Aktivitäten
zu betrachten.
Abb. 23.5 Beispiel für ein Schmerztagebuch
Durch Schmerzen werden die Aufmerksamkeit,
der Wachheitszustand und der Schlaf jeweils wech-
ständen empfiehlt sich das Führen eines Schmerzta- selseitig beeinflusst. Die Einbeziehung dieser Beo-
gebuchs oder Schmerzprotokollbogens (Abb. 23.5). bachtungspunkte ist besonders bei der Beurteilung
Sie erleichtern die Selbstbeobachtung und die Ver- von Schmerzdauer-, -verlauf, -intensität und Zeit-
laufskontrolle der erlebten Schmerzzustände. Die so punkt des Auftretens von Bedeutung.
entstehende Dokumentation zeigt mögliche Zusam-
menhänge zwischen Schmerz und Alltagserleben auf
und gibt Auskunft über den zeitlichen und qualitati- 23.7 Besonderheiten bei Kindern
ven Verlauf der Schmerzereignisse. Der betroffene Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm
Schmerzpatient lernt, sich selbst besser zu verste-
hen, schmerzauslösende Faktoren bewusst wahrzu- Das Schmerzempfinden von Kindern ist nicht gerin-
nehmen und schließlich Konsequenzen für sich und ger als das von Erwachsenen. Im Gegenteil, es gibt ei-
sein Leben abzuleiten. ne Reihe von Indizien, dass kleine Kinder schmerz-
Eine erweiterte Schmerzdokumentation bildet empfindlicher sind als größere Kinder. Vieles, was
die Basis für eine Schmerzprophylaxe sowie Quali- bei Erwachsenen keine Schmerzen auslöst, kann bei
tätssicherung. Das bedeutet, Betroffene bekommen Kindern Schmerzgefühle hervorrufen. Schmerzen
Schmerzmittel regelmäßig und nicht nur „bei Be- schränken jegliche Lebensaktivität der Kinder ein.
darf“ mit dem Ergebnis, dass quälende Schmerzzu- Sie haben einen entscheidenden Einfluss auf die wei-
tere körperliche Entfaltung. Aber auch die psy- Kohlendioxidanstieg bei der Blutgasanalyse beob-
chische Entwicklung der Kinder kann durch Schmer- achtet werden.
zen beeinträchtigt werden. Es kann zu Ängsten, Ge- Zur Erkennung von Schmerzen bei Frühgebore-
fühlen des Alleinseins und des Nicht-Angenommen- nen kann die Verwendung des in Tab. 23.2 darge-
Werdens sowie zu depressiven Verstimmungen stellten Schmerzscore eine gute Hilfestellung geben.
kommen. Je höher die ermittelte Punktzahl ist, umso höher ist
Die zunächst bei der Geburt nicht vollständig vor- auch die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind unter 23
handene Umhüllung der Nerven mit einer Myelin- Schmerzen leidet. Mit zunehmender Entwicklung ist
schicht wird nach der Geburt schnell vorangetrieben, die Aussage des Kindes zum Schmerzempfinden und
so dass die Schmerzleitung der A-delta-Fasern (s. a. zur Schmerzentstehung von großer Bedeutung. Je
S. 381) sehr rasch erfolgt. Wissenschaftliche Erkennt- nach Artikulationsmöglichkeiten des Kindes kann
nisse haben jedoch u. a. auch gezeigt, dass die Mye- die Schmerzäußerung durch Worte wie „aua“, „weh“
linschicht bei Feten und Neugeborenen hinsichtlich o. ä. erfolgen.
der Schmerzübertragung von geringerer Bedeutung Schwierig wird es, wenn das Kleinkind die
ist. Schmerzempfinden ist somit nicht altersabhän- Schmerzen lokalisieren, die Dauer und/oder den
gig, sondern dient dem ungeborenen Kind bereits im Zeitpunkt der Schmerzen oder gar die Schmerzin-
Mutterleib als Schutzfunktion. So reagieren bereits tensität und -qualität bestimmen soll. Mithilfe von
die Feten bei einer Amniozentese mit Abwehr und einfachen, offenen Fragen kann versucht werden, die
Fluchtbewegungen innerhalb ihres begrenzten Rau- Schmerzen einzuschätzen. Hierbei können auch, je
mes im Mutterleib. nach Alter des Kindes, verschiedene Darstellungshil-
Neugeborene und Säuglinge reagieren durch Un- fen angewendet werden. Beispiele hierfür zeigen die
ruhe, wie das Anziehen und Beugen der Extremitä- Abb. 23.6 und 23.7.
ten, durch Veränderung der Gesichtsmimik bis hin Um einen Verlauf erkennen zu können, ist es wich-
zum Schreien und nicht zuletzt durch Veränderung tig, bei jeder neuen Schmerzeinschätzung dieselbe
der Herz- und Atemfrequenz auf Schmerzreize. Bei Skala zu verwenden. Aber auch durch Gespräche mit
Frühgeborenen kann auch ein Sauerstoffabfall und den Eltern und anderen Bezugspersonen können
0 1 2 3 Score
Verhalten Aktiv/wach, offene Au- Ruhig/wach, offene Au- Aktiv-schläfrig, Augen ge- Ruhig/schlafend,
gen, Mimik vorhanden gen, keine Mimik vorhan- schlossen, Mimik vorhan- Augen geschlos-
den den sen, keine Mimik
vorhanden
SaO2 Minimum Abfall: 0 – 2,4% Abfall: 2,5 – 4,9% Abfall: 5 – 7,4% Abfall: ⱖ 7,5%
Stirnrunzeln Kaum, ⬍ 9% der Selten, 10 – 39% der Häufig, 40 – 69% der Maximal, ⱖ 70%
Beobachtungszeit Beobachtungszeit Beobachtungszeit der Beobachtungs-
zeit
Augenlider zu- Kaum, ⬍ 9% der Selten, 10 – 39% der Häufig, 40 – 69% der Maximal, ⱖ 70%
kneifen Beobachtungszeit Beobachtungszeit Beobachtungszeit der Beobachtungs-
zeit
Nasenfalten Kaum, ⬍ 9% der Selten, 10 – 39% der Häufig, 40 – 69% der Maximal, ⱖ 70%
sichtbar Beobachtungszeit Beobachtungszeit Beobachtungszeit der Beobachtungs-
zeit
keine oder minimale Schmerzen: ⬍ 6 Punkte, moderate bis starke Schmerzen: ⱖ 12 Punkte Gesamtpunkte:
wichtige unterschiedliche Informationen über mög- Spielen dar. Die Kinder können hierbei ihre Gefühle
liche Schmerzen eines Kindes erfasst werden. In die- leichter ausdrücken und sie bekommen von den Er-
sen Gesprächen sollte z. B. auch der Umgang der El- wachsenen leichter Informationen über Körperteile,
tern/Bezugsperson mit Schmerzen, ihre Einstellung Krankheiten und mögliche Ursachen von Schmerzen
zu Schmerzen, der Umgang mit Analgetika erfasst vermittelt.
werden und welche Aufmerksamkeit dem Schmerz Komponenten eines multidimensionalen Ansat-
23 gegeben wird. Ein wichtiges Hilfsmittel in der Kom- zes zur Schmerzeinschätzung bei Kindern zeigt die
munikation zwischen Kindern und Erwachsenen folgende Übersicht:
stellt auch die altersentsprechende Anwendung von
!
Merke: Hilfsmittel zur Schmerzerfassung
und -einschätzung sind entsprechend dem
Alter und der Reife eines Kindes auszuwäh-
len. Um eine konsequente Einschätzung des Schmerzes
vornehmen zu können, muss immer das gleiche Hilfs-
mittel verwendet werden.
handelt, die aufgrund psychischer Belastungssitua- selwirkung sollte auf mehreren Ebenen unterbro-
tionen entstanden sind. chen werden: durch eine befriedigende Schmerz-
Wichtig bei der Pflege und Betreuung von Kin- therapie, einen strukturierten Tagesablauf mit
dern sind auch Kenntnisse darüber, welche diagnos- genügend Ablenkung, Kontaktmöglichkeiten sowie
tischen und therapeutischen Maßnahmen mit pflegerische Interventionen nach dem Selbsthilfe-
Schmerzen verbunden sein können sowie über pa- konzept.
thologische Prozesse, die unweigerlich mit Schmer- Besonders problematisch ist die Schmerzein- 23
zen verbunden sind. schätzung bei Menschen, die in ihrer Kognition stark
beeinträchtigt sind, z. B. Demenz. Durch eine einfühl-
same Kommunikation, sorgfältige Beobachtung non-
23.8 Besonderheiten bei älteren verbaler Schmerzäußerungen sowie Erfassung phy-
Menschen siologischer Reaktionen, z. B. RR, Puls und Muskelto-
Eva Eißing nus, können Schmerzen auch „fremd“ eingeschätzt
werden. Spezielle Einschätzungsinstrumente helfen,
Zwar wurden im Bereich des wissenschaftlichen Ver- die Schmerzen annähernd differenziert zu erfassen,
ständnisses und der klinischen Behandlung von z. B. BESD (Beurteilung von Schmerzen bei Demenz).
Schmerzen große Fortschritte erzielt, aber immer
noch finden spezifische Bedürfnisse älterer Men- Zusammenfassung:
schen kaum Berücksichtigung. Schmerzanamnese, -dokumentation sowie
Nicht wenige alte Menschen glauben, Schmerzen Besonderheiten bei Kindern und älteren Menschen
im Alter seien unvermeidlich, gehörten dazu und er- Die Schmerzanamnese, -beobachtung und -ein-
tragen sie klaglos. Sie sprechen nicht über ihre schätzung und eine erweiterte Schmerzdokumen-
Schmerzen oder vertuschen sie, weil sie unangeneh- tation bilden die Basis für eine Prophylaxe und Stei-
me Konsequenzen befürchten, z. B. noch schmerz- gerung der Lebensqualität.
haftere Untersuchungen, Einweisung ins Kranken- Die psychische und physische Entwicklung von Kin-
haus oder sogar Operationen. Ein weiterer Grund, dern kann durch Schmerzen beeinträchtigt werden.
weswegen ältere Menschen ihre Schmerzen nicht Bei Neu- und Frühgeborenen kann ein spezieller
äußern, ist der Wunsch nach Selbständigkeit und sie Schmerzscore zur Schmerzeinschätzung helfen.
möchten keinem zur Last fallen. Schmerzäußerungen bei Kindern sind in jedem Fall
Das Altern an sich begründet keine Schmerz- ernst zu nehmen und abzuklären.
genese. Allerdings verursachen chronische Leiden Im Alter entsteht häufig eine Beziehung zwischen
und Multimorbidität, d. h. mehrere Erkrankungen Einsamkeit, Depression, Isolation und Schmerz mit
gleichzeitig, eine Kombination verschiedenartiger negativem Einfluss auf die Mobilität und Selbstän-
Schmerzempfindungen. Besonders betroffen sind digkeit.
Menschen mit Gelenk-, Knochen-, Muskel- und Ner-
venerkrankungen. Meist werden auch jahrelang
schmerz- und entzündungshemmende Medikamen- 23.9 Fallstudien und mögliche
te eingenommen mit entsprechenden (schmerzhaf- Pflegediagnosen
ten) Nebenwirkungen, wie z. B. Magenbeschwerden
oder Magengeschwür. Schmerzen bedingen eine Verschlechterung der Le-
Im Alter entsteht häufig eine Beziehung zwischen bensqualität und haben Auswirkungen auf fast alle
Einsamkeit, Depression, Isolation und Schmerz mit Bereiche des täglichen Lebens. Sie stellen einen häu-
entsprechend negativem Einfluss auf die Mobilität figen Grund für pflegerische Interventionen dar.
und Selbständigkeit. Diese Phänomene verstärken
sich wechselseitig. Viele betroffene alte Menschen Beispiel: Bei Frau Peters, 55 Jahre, ist vor 7
geraten auf diese Art in eine Abhängigkeit, in der sie Monaten ein Mammakarzinom in der rech-
sich nicht mehr alleine versorgen können oder sogar ten Brust diagnostiziert worden. Es wurde
vollständig hilfsbedürftig werden. Durch eine herab- sofort eine Ablatio mammae rechts vorgenommen und
gesetzte Mobilität werden insbesondere alte Men- anschließend eine Chemotherapie eingeleitet. Trotz-
schen anfällig gegenüber Folgekrankheiten, wie z. B. dem wurden inzwischen bei Frau Peters multiple Kno-
Druckgeschwüre oder eine Thrombose. Diese Wech- chenmetastasen festgestellt. Bedingt durch diese Me-
Frau Peters hat starke 쐌 Kennt ihre Diagnose und Frau Peters: 쐌 Frau Peters schätzt ihre Schmerzintensi-
Schmerzen insbesondere im weiß, woher die Schmer- 쐌 Schmerzintensität liegt tät nach der Numerischen Rating-Skala
Wirbelsäulenbereich bei zen stammen unter 4 der NSR und ist ein und meldet sich, sobald der Schmerz
metastasierendem Mamma- 쐌 Kann über ihre Schmer- erträglich stärker als 3 ansteigt
karzinom zen und ihre Angst vor 쐌 Hat keine Angst vor dem 쐌 Schmerztagebuch: 23
Schmerzen sprechen Auftreten von Schmerzen – Anleitung und Beratung zum Führen
쐌 Führt selbstständig ein eines Schmerztagebuchs
Schmerztagebuch 쐌 Verabreichung der Schmerzmedikation
쐌 Weiß, wann sie ihre zur festgesetzten Zeit und Beobachtung
Schmerzmedikation ein- hinsichtlich:
nehmen muss – Wirkungseintritt
쐌 Kennt schmerzarme, – Wirkungsdauer
-freie Lagerungs- und Be- – Wirkungsqualität
wegungsmöglichkeiten – Nebenwirkungen
쐌 Weiß, dass es weitere 쐌 Gemeinsam mit Fr. Peters schmerzarme,
verschiedene Möglichkei- -freie Bewegungen und Lagerungen he-
ten zur Unterstützung rausfinden, ggf. mit Kissen und anderen
der Analgetikatherapie Hilfsmitteln unterstützen
gibt, und befasst sich da- 쐌 Beobachtung von Fr. Peters hinsichtlich
mit Schmerzzeichen bei allen pflegerischen
Tätigkeiten
쐌 Informationsgespräch (Arzt) über Mög-
lichkeiten zur Unterstützung der
Schmerztherapie (z. B.: autogenes Trai-
ning, Meditation, Akupunktur)
쐌 Nach Bedarf Informationsmaterialien zu
verschiedenen Alternativen zur Verfü-
gung stellen und entsprechende Kontak-
te herstellen
Beispiel: Bei Malte, 5 Jahre, wurde gestern Er weint viel und liegt, mit seinem Kuschelelefanten im
eine Appendektomie durchgeführt. Der Ein- Arm, angespannt im Bett. Eine Bedarfsmedikation
griff verlief komplikationslos und auch die wurde vom Arzt angeordnet. Tab. 23.4 zeigt einen Aus-
Wunde weist keinerlei Abweichungen vom Normalen zug aus Maltes Pflegeplan.
auf. Doch Malte klagt über Schmerzen im Wundgebiet. Für Malte kann die in der folgenden Übersicht darge-
stellte Pflegediagnose gelten:
Malte hat Schmerzen im 쐌 Hat sein Kuscheltier dabei Malte: 쐌 Altersgemäße Information von Malte
Wundgebiet nach Append- 쐌 Kann seine Schmerzen 쐌 Schmerzen sind gelin- über:
ektomie äußern dert, fühlt sich wohl – Ursachen der Schmerzen
쐌 Fühlt sich ernst genom- – dass er sich bei Schmerzen melden
men mit seinen Schmer- soll
zen – Bedarfsmedikation
쐌 Findet Ablenkung 쐌 Knierolle zur Bauchdeckenentlastung an-
bieten
쐌 Eltern nach Lieblingsspielen und -ge-
schichten fragen und bitten, diese mitzu-
bringen
쐌 Ablenkung durch z. B. Spiele, Vorlesen
Im Internet:
http://www.dgss.org; Deutsche Schmerzgesellschaft (siehe
BESD); Stand: 04. 08. 2017
http://www.schmerzliga.de/; Stand: 04. 08. 2017
24 Bewegungen
Marion Weichler-Oelschlägel
Übersicht
Einleitung · 400
24.1 Allgemeine Beobachtungskriterien und
24 Beschreibung des Normalzustands · 401
24.2 Abweichungen und Veränderungen von
Bewegungen und deren mögliche
Ursachen · 402
24.2.1 Störungen der Beweglichkeit · 402
24.2.2 Störungen der Koordination und
Zielgerichtetheit · 404
24.2.3 Störungen des Körperschemas · 405
24.3 Ergänzende Beobachtungskriterien · 405
24.4 Besonderheiten bei Kindern · 406
und wirkt sich dementsprechend entscheidend auf
24.4.1 Abweichungen und Veränderungen
das Wohlbefinden und die Lebensqualität eines
der Bewegung und deren mögliche
Menschen aus.
Ursache · 407
24.5 Besonderheiten bei älteren Die grundlegende Bedeutung der Bewegung wird
Menschen · 409 uns häufig erst dann bewusst, wenn einzelne Bewe-
24.6 Fallstudien und mögliche gungsabläufe aus den verschiedensten Gründen
Pflegediagnosen · 410 nicht mehr durchführbar sind. Die genaue Beobach-
tung von Störungen der Bewegungsabläufe und de-
Fazit · 412
ren Auswirkungen für den betroffenen Menschen er-
Literatur · 413
möglicht die Auswahl spezieller Hilfsmittel und Pfle-
gemaßnahmen zur Aktivierung und Unterstützung.
Schlüsselbegriffe:
Den Körper uneingeschränkt bewegen zu können,
왘 Körperschema ist eine der grundlegendsten Fähigkeiten des Men-
왘 Beweglichkeit schen. Der gesamte Bereich der verbalen und visuel-
왘 Koordination len Kommunikation, die Mimik, eine ausdrucksvolle
Gestik und die Zeichensprache, die der Mensch für
Einleitung sein Überleben im sozialen Umgang benötigt, wären
ohne Bewegung nicht möglich. Bewegungen stellen
Bewegung kann als Symbol für Entwicklung, Wachs- ein Grundprinzip des Lebens dar.
tum und Leben gesehen werden. Geistig und körper- Es geht bei Bewegung um mehr als nur um Tech-
lich beweglich und flexibel zu sein, sind Eigenschaf- nik und Mechanik; um mehr als nur darum, dass be-
ten, die in unserer Gesellschaft einen hohen Stellen- stimmte Muskeln bestimmte Knochen in einer be-
wert genießen. Aktivität über körperliche Bewegun- stimmten Weise bewegen. Die Koordination dieses
gen ist auch für die geistige Entwicklung von Kindern Geschehens ist eine ungeheure Leistung des Gehirns,
sehr wichtig. die normalerweise unbewusst abläuft. Sich diese
Streng genommen ist keine andere menschliche Leistung bewusst zu machen, kann dann wichtig
Tätigkeit ohne das Prinzip der Bewegung möglich. sein, wenn, beispielsweise nach einem apoplekti-
Selbst im Schlaf, in welchem Menschen gewöhnlich schen Insult, einzelne Bewegungen ausgefallen und
entspannt und ruhig sind, ist die Bewegung der neu zu erlernen sind.
Atem- und Herzmuskulatur lebensnotwendig. Zum Wesen des Sichbewegens lässt sich feststel-
Die Fähigkeit zur Ausführung von Bewegungen ist len, dass die Bewegung zusammen mit der Körper-
darüber hinaus auch eine Voraussetzung für die haltung (s. a. S. 428) als wesentliche Grundvorausset-
Gestaltung des Lebens nach eigenen Vorstellungen zung für das Wohlbefinden eines Menschen gilt.
!
Merke: Körperlich aktiv zu sein, ist ein dem Begriff „sich bewegen“ zusammengefasst sind.
grundlegendes menschliches Bedürfnis und Ein intakter Bewegungsapparat ermöglicht folgende
hat in allen Altersstufen eine große Bedeu- 6 Hauptbewegungen:
tung. Beugung (Flexion),
Streckung (Extension),
Abspreizung (Abduktion),
24.1 Allgemeine
Anziehen (Adduktion),
Beobachtungskriterien und Außendrehung (Außenrotation),
Beschreibung des Innendrehung (Innenrotation) (Abb. 24.1).
Normalzustands 24
Koordination und Zielgerichtetheit
Zur Beobachtung der Bewegungen eines Menschen Der gesunde Mensch bewegt seine Skelettmuskeln
lassen sich folgende Kriterien heranziehen: willkürlich und leicht, seine Bewegungsabläufe sind
koordiniert, harmonisch, zielbewusst und haben ei-
Beweglichkeit nen Sinn.
Die Muskeln als aktiver Bewegungsapparat auf der
!
einen Seite und Knorpel, Knochen und Gewebe als Merke: Die gesunde, normale Beweglich-
passiver Bewegungsapparat auf der anderen Seite, keit ist durch einen leichten, reibungslosen
ermöglichen, wenn sie miteinander in harmonischer Ablauf von Bewegungen ohne Beschwerden
Wechselwirkung sind, jene Aktivitäten, die unter gekennzeichnet.
Flexion
Anteversion Retroversion
Extension
Extension
Flexion
Innen- Außen-
rotation rotation
der Beine der Beine
Dorsalflexion Abduktion
Adduktion
Plantarflexion
Abduktion
Bei der Beobachtung der Körperbewegungen werden res Halte- und Stützapparats wird durch Muskeln,
willkürliche Bewegungen, d. h. bewusste Bewegun- Knochen, Sehnen, Bänder und Gelenke gebildet. In
gen von einzelnen Muskeln oder Muskelgruppen zur den genannten Bereichen können Entzündungen,
sinnvollen, koordinierten Bewegung, von den un- Verletzungen oder Verschleißerscheinungen zu
willkürlichen Bewegungen unterschieden. Bei Letz- Fehlbelastungen, Schmerzen und einer einge-
teren handelt es sich um unbewusste reflexhafte Be- schränkten Beweglichkeit führen. Im Folgenden
wegungen zur Vermeidung von störenden oder schä- werden die häufigsten Störungen der Beweglichkeit
digenden Umweltreizen. beschrieben.
Demzufolge wären die Lähmungsgrade 0 und 1 als Eine weitere Unterscheidung der Lähmungstypen
Plegie oder Paralyse einzuteilen , die Grade 2 bis 5 als erfolgt nach der Lokalisation des Lähmungsherds:
Parese. Die Unterscheidung der Lähmungen in Ab-
hängigkeit von den betroffenen Körperteilen zeigt Periphere Lähmung – schlaffe Lähmung
Tab. 24.1. Bei der peripheren Lähmung liegt der Lähmungsherd
im peripheren motorischen Neuron, welches im Vor-
Tab. 24.1 Bezeichnung von Lähmungen in Abhängigkeit derhorn des Rückenmarks verläuft. Eine Unterbre-
von den betroffenen Körperteilen chung dieses Neurons zwischen Vorderhornzelle
Bezeichnung Beschreibung Abbildung und Endaufzweigungen der Neuriten führt immer zu
einer schlaffen Lähmung.
24
Monoparese eine Extremität, d. h. In der Konsequenz zeigen sich bei den Betroffe-
bzw. -plegie 1 Arm oder 1 Bein ist
betroffen
nen folgende Symptome:
herabgesetzter Muskeltonus,
atrophische Muskelfasern,
Verminderung der groben Kraft (Parese) oder
Aufhebung derselben (Paralyse),
abgeschwächte bis erloschene Reflexe.
Akinesen
Der Begriff Akinese beschreibt eine starke Bewe-
gungsarmut. Zu beobachten sind hierbei neben der
Bewegungshemmung des Rumpfes und der Glieder
(z. B. fehlende Mitbewegungen der Arme beim Ge-
Krämpfe Ataxie
Beim Auftreten von Krämpfen handelt es sich um Definition: Die Ataxie ist eine Störung der Be-
motorische Reizerscheinungen, die sich als unwill- wegungskoordination.
kürliche Muskelkontraktion äußern. Ursachen kön-
nen epileptische Erkrankungen, Eklampsien, Ur-
ämien oder auch psychogene Erkrankungen sein.
!
Stereotypie Merke: Es ist wichtig, sich bewusst zu wer-
Damit ist eine Bewegungsstereotypie gemeint, die den, dass ohne die Bewegungsfähigkeit keine
durch stets wiederholende, gleichförmige Bewegun- andere Aktivität des täglichen Lebens mög-
gen gekennzeichnet ist. Diese Bewegungen werden lich ist.
nur scheinbar ohne Sinn und Ziel wiederholt, sind für
die Betroffenen jedoch oft die einzige und letzte Die Ausführung der körperlichen Aktivitäten, wie
Möglichkeit, sich selbst zu erspüren bzw. sich in eine z. B. das Essen und Trinken, das Atmen, die Pflege des
vergangene Welt zurückzuziehen, in der ihr Leben Körpers usw., sind abhängig von einer intakten Be-
sinnerfüllt war. Beispielsweise kann das endlose wegung.
Streicheln der eigenen Hand ein Ausdruck für das Einerseits ziehen Störungen in der Aktivität „Be-
Halten und Liebkosen eines Babys sein. wegung“ demzufolge vielfältige Einschränkungen in
anderen Lebensbereichen nach sich, die bei der Be-
24.2.3 Störungen des Körperschemas obachtung mit zu berücksichtigen sind. Andererseits
Viele Erkrankungen, wie z. B. die Hemiplegie, die wirken sich Störungen in anderen Beobachtungsbe-
Anorexia nervosa aber auch einschneidende Erleb- reichen, wie z. B. Schmerzen oder Bewusstseins-
nisse, wie die Erfahrung sexueller Gewalt oder die trübungen, immer auch auf die Bewegungen eines
Amputation von Gliedmaßen, können zu vorüberge- Menschen aus.
!
Merke: Die körperliche Entwicklung eines
Kindes ist immer in Abhängigkeit von der
geistigen Entwicklung zu sehen. Bewegungs-
freude und Lernbereitschaft sollten durch unterschied-
a b liche Elementarübungen und Lerngelegenheiten geför-
dert werden. Dabei sollte der Spaß an der Bewegung im
Vordergrund stehen.
tig, ausfahrend und mehrere Extremitäten werden nale Erregungszustände, plötzliche laute Geräusche
gleichzeitig bewegt. Dieses Bewegungsmuster muss und Hektik.
von Zittern oder Krämpfen abgegrenzt werden. Letz-
teres entsteht u. a. aufgrund einer Hirnblutung (ge- Verminderte Beweglichkeit
fürchtete Komplikation bei Frühgeborenen), und es Die progressive spinale Muskelatrophie, autosomal-
ist deshalb wichtig, dieses Bewegungsmuster sehr rezessiv vererbt, wird nach ihrem Entdecker auch
differenziert zu betrachten und zu bewerten. Werdnig-Hoffmann-Muskelatrophie genannt. Durch
Eine Störung des koordinierten Zusammenwir- die herabgesetzte Muskelspannung liegt das Kind
kens von Muskelgruppen (Ataxie) äußert sich in der meistens in Froschhaltung im Bett und ist inaktiv. Zu
24 Unfähigkeit des Kindes, zielgerichtete Bewegungen beobachten sind Saug-, Schluck- und Atemstörungen
auszuführen. Der Ablauf ist nicht flüssig, hinzu (Abb. 24.4). Gelegentlich zeigt sich ein Tremor der
kommt ein Muskelzittern. Dieses kann vorkommen Finger und Hände.
bei Kleinhirntumoren, Hirnschädigungen durch Eine Erkrankung, die nur bei Jungen auftritt, ist
Hypoxie, Traumen, Blutungen oder bei Stoffwechsel- die X-chromosomal rezessiv vererbte Muskeldystro-
störungen respektive Vergiftungen. phie, die nach ihrem Entdecker Duchenne benannt
Eine Fehlkoordination von Bewegung und Hal- wird. Sie tritt meistens zwischen dem 2. – 5. Lebens-
tung bei erhöhtem Muskeltonus, wird als Spastik be- jahr auf, und zeigt sich in einem verzögerten Laufen-
zeichnet. Sie tritt in Beuge- und Streckmustern auf. lernen, in einem unsicheren Watschelgang, Schwie-
Normale Gleichgewichtsreaktionen sind nicht mög- rigkeiten beim Aufstehen und Treppensteigen und in
lich. Verstärkend wirken u. a. Faktoren wie emotio- einer Hyperlordosierung der LWS.
a b
Dornfortsatz Medullarpla
harte Rückenmarks- weiche Rückenmarks-
haut (Dura mater) haut (Pia mater) Haut
Wirbelbogen
Dura
Haut
Nerven-
wurz
Zwischen- Seitenansicht
wirbelloch
Rückenmark Liquor
Wirbelkörper cerebo-
Meningomyelozele spinalis
Haut
dorsale Rückenmarks-
Wirbelspalte häute Dura
Liquor
cerebo-
spinalis
Seitenansicht
Rücken-
Meningozele mark
Lähmungen
Angeborene Ouerschnittslähmungen gibt es z. B. bei
24.5 Besonderheiten bei älteren
Spina bifida, einer Hemmungsmissbildung der Wir- Menschen
belsäule. Hierbei können ein oder mehrere Wirbel- Marion Weichler-Oelschlägel
körper, meistens im Lumbo- oder Sakralbereich, ge-
spalten sein. Diese Fehlbildung kann offen oder ge- Im fortgeschrittenen Lebensalter nehmen bei den
deckt sein. Je nach Beteiligung der Meningen und meisten Menschen die Fähigkeiten der ungehinder-
Ausmaß der Fehlbildung kommt es zu einer kom- ten Bewegung und auch die Bewegungsfreudigkeit
pletten oder inkompletten Querschnittslähmung ab. Dies liegt an einer generellen Abnahme der kör-
(Abb. 24.5). Zeichen sind die Blasen- und Darmläh- perlichen Belastbarkeit und einem schnelleren Errei-
24
mung, Sensibilitätsstörungen und eine schlaffe Pare- chen eines Erschöpfungszustands. Es kommt zu ei-
se. ner Abnahme der Muskelmasse bei 60-Jährigen bis
Das Muskelungleichgewicht führt während des zu 20%, bei 70-Jährigen bis zu 30%, was zur Abnahme
Wachstums zu Deformationen und Kontrakturen. Ei- der Muskelkraft und Ausdauer führt.
ne Infektion der motorischen Vorderhornzellen Bei einer großen Anzahl älterer und alter Men-
durch Enteroviren führt zum Untergang dieser Zellen schen zeigen sich akute und chronische Entzündun-
und somit zur Kinderlähmung (Poliomyelitis). Die gen oder auch Abnutzungserscheinungen in den Ge-
Ansteckung erfolgt über Tröpfcheninfektion von lenken. Dies führt zu Schmerzen, die ihrerseits die
Mensch zu Mensch. Nach grippeähnlichen Be- Bewegungsmöglichkeiten einschränken. In schwe-
schwerden kommt es zu einer schlaffen Lähmung ren Fällen kann es zu der Ausbildung von Kontraktu-
der am häufigsten betroffenen unteren Extremitä- ren (Gelenkfehlstellungen) kommen, die dauerhaft
ten. Bei schwerem Verlauf besteht aufgrund der Be- zu einer massiven Einschränkung oder zum Verlust
einträchtigung der Atemhilfsmuskulatur und Befall der Beweglichkeit führen. Knie- und Hüftgelenkver-
des Zwerchfells die Gefahr der Atemlähmung. steifungen sind häufig eine Folge von Arthrosen. Zur
Verformung von Händen und Füßen mit Muskula-
Störungen des Bewegungssystems turschwund kommt es durch Arthritis.
Periphere Störungen der Muskeln, Sehnen und Alte Menschen, die unter seniler Demenz leiden,
Gelenke zeigen oft stereotype Bewegungen: sie machen mit
Zu den angeborenen Störungen des Bewegungssys- dem Kopf und dem Oberkörper immer wiederkeh-
tems gehören Fußfehlstellungen, Hüftgelenksdys- rende, stereotype Bewegungen, nesteln an ihrer Klei-
plasien (s. a. S. 449) und Erkrankungen der Wirbel- dung oder schneiden Grimassen. Oft besteht das Be-
säule (s. a. S. 400). Die Einschränkung der Beweglich- wegungspotenzial älterer Menschen im Endstadium
keit ist immer abhängig von der Schwere der Erkran- der Demenz nur noch aus diesen stereotypen Bewe-
kung. Erworbene Einschränkungen der Beweglich- gungen, was häufig zu Komplikationen wie z. B. Kon-
keit können durch Verletzungen der Muskeln, Seh- trakturen führt. Bewegungsstörungen können auch
nen, Gelenke und Knochen hervorgerufen werden. durch die Gabe von Medikamenten, v. a. von Neuro-
Sie betreffen meistens nur einzelne Elemente des leptika, auftreten.
Körpers und die Einschränkung der Beweglichkeit ist Neurologische Erkrankungen, wie z. B. ein apo-
bei gutem Verlauf nur vorübergehend. plektischer Insult, Morbus Parkinson oder die Multi-
Bei Autoimmunerkrankungen wie der Monoar- ple Sklerose, sind ebenfalls häufige Ursachen für Be-
thritis oder Polyarthritis können ebenfalls Gelenke, wegungsstörungen älterer Menschen. Alle Bewe-
Knochen, Sehnen und Bänder betroffen sein. Sie füh- gungsstörungen führen zu Gang- und Standunsi-
ren zu Schmerzen eines oder mehrerer Gelenke, die cherheiten und erhöhen das Sturzrisiko.
den Bewegungsdrang der Betroffenen stark ein-
schränken und aufgrund der Schmerzen häufig zu Zusammenfassung:
Schonhaltungen der betroffenen Gelenke führen. Ergänzende Beobachtungskriterien sowie
Besonderheiten bei Kindern und älteren Menschen
Störungen der Koordination und Zielgerichtetheit
äußern sich als Hypermetrie, Hypometrie, Ataxie
oder Stereotypie.
Störungen des Körperschemas können bspw. durch In diesem Fall könnte die folgende Pflegediagnose
Erfahrungen sexueller Gewalt oder Amputation von zutreffen:
Gliedmaßen entstehen.
Auch bei Kindern gibt es, gemessen an ihrem Ent-
wicklungsstand, Störungen der Bewegungskoordi- Selbstversorgungsdefizit Körperpflege (P)
nation, verminderte Beweglichkeit (z. B. Werdnig- (Gordon 2013, S. 286 – 287, NANDA-I 2016)
Hoffmann-Muskelatrophie) und Lähmungen (z. B. Bathing Self-Care Deficit (00108) (1980, 1998)
Spina bifida, Kinderlähmung) bzw. periphere Stö- Taxonomie II: Domäne 4: Aktivität/Ruhe,
rungen der Muskeln, Sehnen und Gelenke. Klasse 5: Aktivität/Bewegung
24 Bewegungsstörungen im Alter treten vor allem Diagnosetyp (Dokumentationsform): aktuelle Pflege-
durch Abnahme der Bewegungsfreudigkeit, Abnut- diagnose (PES)
zungserscheinungen, Arthritis und neurologische Funktionelles Gesundheitsverhaltensmuster:
Erkrankungen auf. Aktivität und Bewegung
Definition
24.6 Fallstudien und mögliche Beeinträchtigte Fähigkeit, Aktiviäten des Waschens/der
Körperhygiene selbständig auszuführen oder abzu-
Pflegediagnosen schließen
Frau Behrens ist aufgrund Frau Behrens kann ihre Be- NZ: 쐌 1 ⫻ tägl. 8.00 Uhr Hilfestellung bei der
der Multiplen Sklerose und dürfnisse hinsichtlich der 쐌 Frau Behrens fühlt sich Körperpflege im Bett oder im Sitzen am
der Pneumonie in ihrer Be- Körperpflege verbalisieren wohl und erfrischt Waschbecken (je nach Befinden von Frau
wegungsfähigkeit einge- und möchte so gut mithel- 쐌 Frau Behrens behält eine Behrens)
schränkt, sie kann ihre Kör- fen, wie es ihr aktueller Zu- intakte, geschmeidige 쐌 eigene Körperpflegeutensilien bereitstel-
perpflege nicht selbststän- stand erlaubt Haut len bzw. verwenden
dig durchführen 쐌 Frau Behrens bei der Körperpflege so viel
wie möglich selbst durchführen lassen 24
Robert leidet unter der Ein- 쐌 Die Mutter kann bei Ro- 쐌 Robert fühlt sich nicht al- 쐌 Roberts Mutter und anderen Besuchern
schränkung seiner Bewe- bert im Krankenhaus blei- leine, hat keine Lange- großzügige Besuchszeiten ermöglichen
gungs- und Beschäftigungs- ben weile und kann sich sinn- 쐌 spezielles Spielbrett am Bett anbringen,
möglichkeit aufgrund der 쐌 Robert verfügt über freie voll beschäftigen damit Basteln und Spielen möglich sind
Overheadextension Bewegungsmöglichkeit 쐌 in Absprache mit Roberts Mutter Be-
seines Oberkörpers schäftigung durch den Ergotherapeuten
anbieten
쐌 Robert in einem Zimmer unterbringen, in
dem Kinder sind, mit denen er spielen
kann
Übersicht
Einleitung · 414
25.1 Allgemeine Beobachtungskriterien und
Beschreibung des Normalzustands · 414
25.2 Abweichungen und Veränderungen der
Mimik und Gestik und deren mögliche
25 Ursachen · 418
25.2.1 Abweichungen und Veränderungen
der Mimik · 418
25.2.2 Abweichungen und Veränderungen
der Gestik · 421
25.3 Ergänzende Beobachtungskriterien · 421
25.4 Besonderheiten bei Kindern · 421
Auch eine Reihe von Erkrankungen können spezi-
25.4.1 Mimikveränderungen bei Kindern · 422
fische Veränderungen von Mimik und Gestik mit sich
25.4.2 Gestikveränderungen bei Kindern · 423
bringen. Beides kann zu Fehleinschätzungen und
25.5 Besonderheiten bei älteren
Störungen im Rahmen der (nonverbalen) Kommuni-
Menschen · 423
kation führen. Die Beobachtung und die Interpretati-
25.6 Fallstudien und mögliche
on von Gesichtsausdruck und Gestik erfordern viel
Pflegediagnosen · 424
Übung und Erfahrung sowie eine aufmerksame Hal-
Fazit · 427
tung gegenüber dem anderen Menschen.
Literatur · 427
Definition: Unter der Gestik werden die Bewe- In Fällen, in denen die verbale Verständigung
gungen des menschlichen Körpers, insbesondere nicht möglich aber zwingend notwendig ist, haben
der Arme, verstanden. sich sog. Zeichensprachen entwickelt. Beispiele hier-
für sind die Gebärdensprache gehörloser Menschen
Die Gestik ist stets verbunden mit der Mimik und den oder auch die speziellen Signalsprachen bestimmter
Gebärden eines Menschen, d. h., beim Gesunden las- Berufsgruppen, wie etwa die Fluglotsen.
sen sich diese 3 Ausdrucksmöglichkeiten kaum von- Gestik und Mimik unterstreichen oder ersetzen
einander trennen. Die Gestik und die Gebärden wer- das gesprochene Wort, sie können ihm ein besonde-
den hierbei als die Mimik unterstützende Ausdrucks- res Gewicht geben, seinen Sinn verändern oder es
bewegungen betrachtet. Bei der Gestik werden abwerten.
Wortsinn und Intensität durch Bewegungen der Ext- Interessanterweise besitzen alle Menschen, un-
25 remitäten sowie durch bestimmte Körperhaltungen abhängig von ihrer Rasse, dieselben mimischen Aus-
bekräftigt. drucksbewegungen, um Emotionen wie Angst, Zorn,
Im Rahmen der Gestik können 3 Arten von Bewe- Trauer, Ärger, Schmerzen und Abkehr aber auch
gungen unterschieden werden: Überraschtsein, Freude, Zustimmung und Zuwen-
Embleme sind direkt in Worte übersetzbar, weil dung zu signalisieren. Daher wird vermutet, dass sie
sie für sich allein eine Bedeutung besitzen. Hierzu angeboren sind.
gehören Bewegungen wie das „Zunge-Heraus- Gleichwohl weist die Ausdifferenzierung der Ge-
strecken“ oder das Kopfschütteln. sichtsmuskulatur große Unterschiede zwischen den
Illustratoren bekräftigen bzw. verdeutlichen (il- einzelnen Rassen auf: so sind die Muskeln bei Chine-
lustrieren) das gesprochene Wort wie das Nase sen und Australiern gröber gebündelt als bei Europä-
rümpfen während ern (Abb. 25.1). Die Muskulatur der Gesichtsregion
Adaptoren unbewusste Handlungen bezeichnen, dient, neben anderen Aufgaben wie z. B. Kauen und
wie z. B. das Wippen mit den Zehen oder Spielen Sprechen, vor allem der Mimik, also der Kundgabe
mit dem Bleistift. und Darstellung der Stimmung und Affektlage ge-
genüber der Umwelt. Dies erfolgt durch eine be-
Die jeweilige Bedeutung von Emblemen und Illustra- stimmte und charakteristische Spannungsverteilung
toren ist kulturspezifisch. Das Herausstrecken der in den Gesichtsmuskeln. Erst die Gesichtsmuskula-
Zunge gilt in unserem Kulturkreis als grobe Beleidi- tur, die durch zahlreiche differenzierte Muskelzüge
gung. Während in Südchina auf diese Weise um Ent- gekennzeichnet ist, ermöglicht es uns, willkürlich
schuldigung gebeten wird, gilt das Zeigen der Zunge und unwillkürlich bestimmte Teile des Gesichts zu
in Tibet als Ausdruck der Ehrerbietung. bewegen und so über die dadurch entstehende Mi-
a b c
Abb. 25.1 Unterschiedliche Ausgestaltung der Gesichtsmuskulatur bei verschiedenen Populationen a Nordchinese b Australier
c Nordeuropäer (nach Eibl-Eibesfeldt)
!
Beobachtete exakt und ohne Interpretationen zu be- Merke: Der Gesichtsausdruck eines Men-
schreiben, unabdingbar wenn es zu keinen Fehlein- schen wird ganz wesentlich von den Augen
schätzungen kommen soll. beeinflusst.
Mimik und Gestik eines Menschen gehören zu den
subjektiven Beobachtungskriterien, deshalb muss Darüber hinaus kann auch das unmittelbare Umfeld
der gewonnene Eindruck auf seine Gültigkeit hin ge- unserer Augen im Rahmen der Augensprache wichti-
prüft werden, z. B. durch eine entsprechende Nach- ge Informationen über die Befindlichkeit der betref-
frage bei der betroffenen Person. fenden Person liefern; so kann sich die Lidspalte
Der zwischenmenschliche Blickkontakt und das ebenfalls erweitern oder verengen und die Augen-
Aushalten dieses Kontaktes zu dem Gegenüber wäh- brauen können durch Anhebung vielfältige Aussagen
rend eines Gesprächs vermitteln Authentizität und vermitteln.
Abb. 25.2 Schematische Darstellung der Auswirkungen der Kontraktionen der verschiedenen Gesichtsmuskeln (nach Eibl-Eibesfeld)
Zu beobachten sind im Rahmen der Mimik der finden sich bei einer positiven Grundstimmung, bei
obere und der untere Gesichtsteil. Ersterer wird von Freude und Wohlgefallen, herabgezogene hingegen
der Mimik der Augenlider, der Augenbrauen und der bei einer negativen Grundstimmung und Zuständen
Stirnfalten geprägt. Hier lassen sich verschiedene Be- der Trauer.
obachtungen machen.
Zusammenfassung:
Augenlider Allgemeine Beobachtungskriterien
Sind die Augenlider bis auf einen schmalen Spalt ver- Mimik, Gestik und Gebärden sind nonverbale Aus-
schlossen, kann dies ein Anzeichen für Nachdenken drucksmöglichkeiten des Menschen, sie gehören zu
oder Anstrengung sein, zeigen sie sich halbgeöffnet, den subjektiven Beobachtungskriterien.
so ist der betreffende Mensch sehr wahrscheinlich Bei den Gesten können Embleme, Illustratoren und
25 entspannt, eine normal große Öffnung der Augenli- Adaptoren unterschieden werden.
der kennzeichnet die gewöhnliche Lidstellung beim Wird die Mimik willentlich kontrolliert, spricht
Sprechen mit einer anderen Person, weit aufgerisse- man von Maskierung.
ne Lider sind hingegen charakteristisch bei Angst, Er- Die Augensprache und das Umfeld der Augen sowie
schrecken oder Wut. einzelne Gesichtspartien liefern wichtige Informa-
tionen über die Befindlichkeit eines Menschen.
Augenbrauen
Heruntergezogene Augenbrauen können Gefühle 25.2 Abweichungen und
wie Ärger, Anstrengung oder Nachdenken signalisie-
ren, hochgezogene hingegen Freude, Erstaunen,
Veränderungen der Mimik
Neugier. und Gestik und deren
mögliche Ursachen
Stirnfalten
Sind die Stirnfalten heruntergezogen und bilden sich Abweichungen und Veränderungen werden sowohl
waagerechte Falten zusammen mit senkrechten in im mimischen wie auch im gestischen Bereich beo-
der Mitte der Stirn, kann dies eine Ausdrucksbewe- bachtet.
gung für Kummer, angestrengtes Nachdenken oder
auch Grübeln sein. Hingegen sind hochgezogene, 25.2.1 Abweichungen und Veränderungen der
waagerechte Falten ohne senkrechte Falte in der Mit- Mimik
te eher als Überraschtsein und Freude zu deuten. Die Stimmung und Gefühlslage eines Menschen
Stirnfalten können die augenblickliche Äußerung kann an seinem Gesichtsausdruck abgelesen wer-
oder Stimmung unterstreichen, sie können im Alter den.
zusätzlich zu einem bestimmten Gesichtsausdruck
beitragen. Ausdrucksformen
Der untere Gesichtsteil wird von der Nase und Folgende Ausdrucksformen können unterschieden
dem Mund geprägt. Folgende Beobachtungen sind werden:
hier beschreibbar:
Schmerzerfüllter Ausdruck
Nase Er kann bei Menschen beobachtet werden, die lange
Ein Rümpfen der Nase kann als Unentschlossenheit, und schwerwiegende Erkrankungen durchleiden
Abneigung oder auch Ekel gedeutet werden. Gebläh- oder durchlitten haben. Hierbei werden die Augen-
te Nasenflügel treten bei freudiger Erregung, aber brauen zusammengezogen und schräg gestellt. Es
auch bei Emotionen wie Wut und Erstaunen auf. bilden sich steile Falten über der Nasenwurzel. Häu-
fig sind auch tränengefüllte Augen oder Weinen
Mund zu beobachten. Abb. 25.3 zeigt 8 verschiedene und
Ein fest zusammengepresster Mund steht für Trotz, schmerzerfüllte Gesichtsausdrücke.
Verbittertsein oder Entschlossenheit. Ein halbgeöff-
neter Mund ist Ausdrucksbewegung für Entspannt-
heit oder Erstaunen. Heraufgezogene Mundwinkel
25
Verbitterter Ausdruck
Menschen, die nach schweren Schicksalsschlägen re-
signiert haben und/oder mit unbewältigten seeli-
schen oder körperlichen Leiden kämpfen, erscheinen
dem Beobachtenden als verbittert. Ihr Blick wirkt oft
verkniffen und richtet sich ins Leere oder starr auf
den Boden schauend.
Maskengesicht
Als Maskengesicht wird die starre bzw. fehlende Mi- 25.3 Ergänzende
mik, die sog. Amimie, bezeichnet. Betroffen sind Beobachtungskriterien
hiervon Menschen, die unter Morbus Parkinson lei-
den. Bei dieser Erkrankung kommt es zu einer ver- Mimik und Gestik sind in der Regel Ausdruck der
mehrten Talgabsonderung, die zu einer salbenartig Stimmung eines Menschen. Im Zusammenhang mit
glänzenden Gesichtshaut führt, weshalb auch von ei- der Beobachtung der Stimmung eines Menschen
nem „Salbengesicht“ gesprochen wird. sind gleichzeitig Veränderungen der Hauttempera-
Menschen mit einem facies myopathica, facies tur und der Pulsfrequenz zu beobachten. Beide Para-
paralytica oder einem Maskengesicht können einen meter steigen bei freudiger Erregung an und sinken
wesentlichen Bereich der nonverbalen Kommunika- bei dem Empfinden von Widerwillen. Auch ist es
tion nicht bzw. nur eingeschränkt nutzen. Häufig nicht möglich, Mimik und Gestik getrennt von Kör- 25
führt diese eingeschränkte Ausdrucksfähigkeit in perbau und Körperhaltung, Tonfall, Sprachrhythmus
zwischenmenschlichen Beziehungen zu Missver- und Blickkontakt zu dem Betreffenden wahrzuneh-
ständnissen, was den Leidensdruck für die Betroffe- men (s. a. S. 428). Ein schlüssiges Gesamtbild lässt
nen zusätzlich erhöht. Durch Beobachtung der Mi- sich häufig nur durch die Kombination dieser Be-
mik dieser Menschen gewonnene Eindrücke müssen obachtungen erlangen.
aus diesem Grund durch geduldige und einfühlsame
Rückfragen auf ihre Gültigkeit hin überprüft werden. Zusammenfassung:
Abweichungen und Veränderungen der
25.2.2 Abweichungen und Veränderungen der Mimik und Gestik
Gestik Eine Vielzahl von Gesichtsausdrücken zeigt Stim-
Gesten können das gesprochene Wort bekräftigen, mungen und Gefühle, aber auch bestimmte Krank-
ersetzen oder seinen Sinn verzerren. Auch in Gesten heiten an.
kommt die Stimmung eines Menschen zum Aus- Facies abdominalis, -gastrica, -lunata, -tetanica,
druck. Die Quantität und die Qualität des Gestikulie- -ovarica, -hippocratica, -myophatica, -paralytica
rens sind dabei individuell verschieden und darüber und das Maskengesicht können voneinander abge-
hinaus von kulturellen Einflüssen geprägt. Südeuro- grenzt werden.
päer untermalen ihre Worte eher stärker mit Gesten Bei der Beobachtung der Gestik spielen kulturelle
als Nordeuropäer. Diese Besonderheiten müssen bei Einflüsse und individuelle Besonderheiten eine Rol-
der Beobachtung eines Menschen berücksichtigt le.
werden. Einschränkungen in Mimik und Gestik beeinflussen
Es gibt im Weiteren eine ganze Reihe psychischer die Kommunikations- und Beziehungsfähigkeit ei-
oder neurologischer Erkrankungen, die zu spezifi- nes Menschen.
schen Veränderungen der Quantität und Qualität des
gestischen Ausdrucks führen können. Hierzu gehö-
ren beispielsweise Morbus Parkinson, alle Arten zen- 25.4 Besonderheiten bei Kindern
traler und peripherer Lähmungen sowie psychiatri- Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm
sche Erkrankungen. Die speziellen Auswirkungen auf
Grob- und Feinmotorik sind in Kap. 24 nachzulesen. Während der Schwangerschaft nimmt das ungebo-
Wie auch bei der Mimik, können Einschränkungen rene Kind bereits die Stimme seiner Mutter wahr. Ein
im Bereich der Gestik Störungen der Kommunikation gesundes Neugeborenes wird nach der Geburt auf
und eine Beeinträchtigung von Beziehungen im zwi- Brust und Bauch der Mutter gelegt. Hier nimmt es
schenmenschlichen Bereich zur Folge haben. durch den Hautgeruch, den vertrauten, durch Vibra-
tion über die Haut weitergeleiteten Herzschlag und
über die bereits intrauterin wahrgenommene Stim-
me Kontakt zu seiner Mutter auf. Diese schon im
Mutterleib begonnene Mutter-Kind-Beziehung wird
jetzt durch den Blickkontakt erweitert.
Die Wahrnehmung der Gesichtsmimik, die im Vor allem für die Pflegenden in den Kinderklini-
Wesentlichen von den Augen beeinflusst wird, spielt ken ist das Erkennen und Lokalisieren von Schmer-
in der Mutter-Kind-Beziehung eine große Rolle. Be- zen durch die Interpretation der Mimik und Gestik
reits im 1. Monat registriert der Säugling für kurze eines Kindes ganz entscheidend. Früh- sowie reife
Zeit das Gesicht der Mutter, wenn ein Abstand von Neugeborene, Kleinkinder, somnolente und be-
40 – 50 cm eingehalten wird. Dieser Abstand verrin- wusstlose Kinder sind nicht in der Lage, Schmerzen
gert sich ständig. verbal zu äußern, und sind somit auf die Beurteilun-
Bis Ende des 2. Monats erwidert das Baby flüchtig, gen ihrer Mimik und Gestik durch Eltern, Pflegeper-
bis zum Ende des 3. Monats meistens spontan das Lä- sonen und Ärzte angewiesen (s. a. S. 388).
cheln der Menschen und greift nach ihren Gesich-
tern. Es erkennt die Mimik der Mutter und entwi- 25.4.1 Mimikveränderungen bei Kindern
25 ckelt ein Interesse für alles, was einem Gesicht ähn- Eine Veränderung der Mimik kann bei Kindern wie
lich ist. Babys schauen auffallend oft nach dem Ge- bei Erwachsenen durch emotionale oder traumati-
sicht ihrer Bezugsperson, um Hilfen für ihre Inter- sche Erlebnisse sowie durch verschiedene Erkran-
pretation zu erhalten. kungen hervorgerufen werden. Einige Beispiele hier-
So können sie bis zum Ende des 8. Monats be- für werden im Folgenden beschrieben.
kannte und fremde Gesichter, respektive ihre Mimik
unterscheiden und beginnen zu „fremdeln“. Aus der Angst
Mimik und Gestik erkennt das Kind die Emotionen Eine von Angst geprägte Mimik bei Kindern kann
der Mutter und bekommt ein zustimmendes oder seelische oder körperliche Ursachen besitzen und
ablehnendes Signal zur jeweiligen Situation gelie- maskiert oder unmaskiert auftreten. Der unmaskier-
fert. Das Kind liest am Mimenspiel der Menschen te Ausdruck zeigt sich in weit aufgerissenen, wenig
auch ab, ob sie traurig, ärgerlich, ängstlich oder fröh- bewegten Augen, einem halb geöffneten Mund, ver-
lich, zuwendend oder überrascht sind. Wie bereits in bunden oft mit Geschrei, einer quergefurchten Stirn
25.1 beschrieben, ist es bis zu einer bestimmten und in abwehrenden Gesten. Die maskierte Angst
Grenze möglich, den spontanen Ausdruck hinter ei- zeigt sich zumeist in einem verkrampften, verschlos-
ner Maske zu verbergen. senen und abweisenden Gesichtsausdruck und klei-
In einigen Kulturen sind sog. Darstellungsregeln nen, schwachen Gesten. Sie kann erst durch die be-
stark vertreten. Eine sozial verankerte Darstellungs- hutsame Ermittlung der Ursache gelöst werden.
regel, die in unserer Kultur Verwendung findet, lau-
tet: „Jungen weinen nicht“, oder „ein Indianer kennt Behinderungen
keinen Schmerz“. Kinder erlernen so die Fähigkeit, Geistige und sprachliche Behinderungen gehen oft-
den Ausdruck ihrer Emotionen zu verändern, und so- mals einher mit Veränderungen der Mimik. Bei einer
mit ihre Mimik und Gestik willentlich zu beherr- sprachlichen Behinderung geschieht das Formen der
schen. Inkongruentes Verhalten der Erwachsenen im Laute übertrieben und hat somit Auswirkungen auf
Rahmen der zwischenmenschlichen Kommunikati- die Mimik des Kindes. Die geistige Behinderung oder
on vermittelt Unsicherheit. In diesem Fall steht das Störungen der Beziehungsaufnahme wie u. a. beim
Gesagte nicht in Einklang mit der Mimik und Gestik. Autismus, lassen vielfältige Mimikveränderungen
Der Gesichtsausdruck des Kindes wiederum lie- erkennen: Grimassieren, starrer Gesichtsausdruck,
fert die Rückmeldung dessen, was das Kind empfin- verwirrter oder unbeständiger Blick, keine Reaktion
det. Es kann freundliche Zuwendung bis zu lebhafter des Lächelns. Sie können von gestischen Verände-
Freude, Aufmerksamkeit, Neugierde, Angst und rungen wie motorischen Stereotypen mit z. B. Fä-
Schmerzen deutlich zum Ausdruck bringen. cherbewegungen der Hände vor den Augen begleitet
Das Kind erliegt der Suggestion des Gesichtsaus- werden.
drucks. Es ahmt ein böses Gesicht nach, indem es die
Stirn runzelt, und ein freundliches Gesicht, indem es
lächelt. Gesten wie das Ausstrecken der Arme oder
Gesten der Flucht sowie der Ablehnung treten eher
spontan auf. Gesten wie beispielsweise Bitten oder
Grüßen werden hingegen erlernt.
Fehlbildungen
Auch angeborene Fehlbildungen können die Mimik 25.5 Besonderheiten bei älteren
eines Kindes beeinflussen. Am häufigsten sind dies Menschen
ein- oder beidseitige Lippen-Kiefer- oder Lippen-
Marion Weichler-Oelschlägel
Kiefer-Gaumenspalten. Aber auch Fehlbildungen der
Ohrmuscheln z. B. fehlende oder mangelhaft entwi- Wie bei Kindern und Erwachsenen, ist auch bei be-
ckelte Ohrmuschelanlagen oder das sog. abstehende tagten Menschen das seelische und körperliche Be-
Ohr haben Einfluss auf den Gesamtausdruck eines finden häufig deutlich an der Mimik abzulesen. Na-
Gesichts. türlich kann sich auch der ältere und alte Mensch
Aufgrund einer erhöhten Hautspannung bei Öde- verstellen, jedoch sind bei den meisten Menschen
men im Gesicht kann die Mimik erschwert oder ein- Falten Zeichen von Alter, Sorgen oder auch von Freu-
geschränkt sein. Daneben können z. B. Narben oder de und Lachen (Abb. 25.7). 25
neurologische Ausfälle beispielsweise nach Ge- Die Gesichter vieler älterer Menschen sind durch
sichts- und/oder Schädelverletzungen eine Störung ihre Lebenserfahrung geprägt, Erbanlagen und mo-
der mimischen Ausdrucksmöglichkeiten zur Folge mentane Befindlichkeit. Da einige spezielle Erkran-
haben. Eine mögliche Fazialisparese mit entspre- kungen wie Morbus Parkinson oder eine Apoplexia
chender Abweichung der Mimik kann bei Neugebo- cerebri häufig im höheren Alter auftreten, sind dem-
renen mithilfe des Glabellareflexes erkannt werden. entsprechend die fehlende, starre Mimik und Facies
Bei Druck auf die Mitte der Stirn werden die Augen paralytica bei älteren Menschen eher zu beobachten
normalerweise fest zusammengekniffen. Bei verän- als bei jüngeren.
derter Mimik – z. B. das Neugeborene verzieht auf ei- Wie bereits erläutert, wird die Mimik eines Men-
ner Seite den Mund nicht und schließt das Auge nicht schen entscheidend durch die Augen und den Blick
– muss an eine mögliche Fazialisparese gedacht wer- geprägt. Interesse, Wachheitsgrad und Gemütsver-
den (s. a. S. 418). fassung sind an der Zielrichtung des Blickes, an den
Bewegungen des Augapfels und auch am Glanz der
Spezielle Gesichtsausdrücke Augen zu erkennen.
Auch bei Kindern können verschiedene spezielle Ge- Im Alter kann der insgesamt herabgesetzte Stoff-
sichtsausdrücke beobachtet werden, wie z. B. das Fa- wechsel degenerative Veränderungen am Auge her-
cies pertussis und das Greisengesicht. vorrufen: der Augapfel wirkt klein, weit zurückge-
Beim Facies pertussis (Keuchhustengesicht) se- sunken und von vermindertem Glanz, die Lider kön-
hen die Kinder müde aus, haben geschwollene Au- nen schlaff und faltig sein. Dies liegt am Schwund des
genlider und feuchte, glänzende Augen. Kommt es Fettkörpers in der Augenhöhle und an der Erschlaf-
zur Dyspnoe, sind die Augen weit aufgerissen und die fung der sie umhüllenden Kapsel. Oft findet sich ein
Nasenflügel abgespreizt. In diesem Fall ähnelt der Ge- nach außen gestülptes Unterlid, welches seinerseits
sichtsausdruck dem Ausdruck bei Angstzuständen. ein störendes Tränen verursacht.
Ein sog. Greisengesicht ist vor allem bei Kindern
mit vermehrten Durchfällen zu beobachten. Der
Flüssigkeitsverlust aufgrund der Durchfälle und/
oder Erbrechen zeigt sich durch einen verringerten
Hautturgor, der insbesondere Säuglingen und Klein-
kindern ein greisenartiges Aussehen verleiht.
Fr. Schaller Fr. Schaller erhält NZ: 쐌 Fr. Schaller immer wieder auffordern,
쐌 leidet unter zunehmen- 쐌 Häufige Besuche und lie- Fr. Schaller ihre Bedürfnisse, Stimmungslage verbal
der Amimie bei Morbus bevolle, aufmerksame Be- 쐌 fühlt sich verstanden zu äußern
Parkinson mit Einschrän- treuung durch die Ange- 쐌 kann ihre Bedürfnisse, 쐌 Stetiges einfühlsames Nachfragen
kung in der nonverbalen hörigen Stimmungslage deutlich 쐌 Genaue Beobachtung des Augenaus-
Kommunikation und da- zeigen drucks
raus resultierenden Miss- 쐌 Nach Rücksprache mit Fr. Schaller und
verständnissen Arzt Training zum Sprechen mit Mimik-
NZ:
einsatz organisieren
Fr. Schaller
쐌 besitzt eine steife, 쐌 kennt Bewegungsübun- 쐌 Anleitung zu Bewegungsübungen (nach
gehemmte Gestik bei gen und führt diese re- Rücksprache KG)
allgemein veränderter gelmäßig selbstständig 쐌 Hinweis, Worte durch Gestik zu unter-
Bewegung aufgrund einer durch streichen
Parkinson-Erkrankung 쐌 setzt bei der Kommunika- 쐌 Viel Zeit bei der Kommunikation lassen,
tion Ausdrucksbewegun- Ausdrucksbewegungen abwarten
gen ein
Kevin leidet unter einem Eltern und Großeltern FZ: 쐌 Information der Eltern und Kevin über
starren Gesichtsausdruck 쐌 sind abwechselnd im Kevin Maßnahmen zur positiven Beeinflussung
durch Verbrennungen Krankenhaus 쐌 akzeptiert sein veränder- der Narbenbildung (Arzt), Einbeziehung
씮 er ist traurig und ver- 쐌 betreuen Kevin liebevoll tes Aussehen und kann von Kevin in die Planung
zweifelt 쐌 unterstützen Kevin damit umgehen 쐌 3 ⫻ tgl. gymnastische/logopädische
씮 er zieht sich zurück, 쐌 Kevin kann seine Befind- 쐌 kann seine Emotionen Übungen zur Verbesserung der Funkti-
spricht wenig lichkeit verbal äußern mimisch ausdrücken onseinschränkung der Gesichtsmimik
씮 eine Einordnung der NZ: durch Logopädin
Schmerzstärke und Stim- 쐌 fühlt sich mit seinem ver- 쐌 Einbeziehung der Eltern in die Übungen
mungslage ist durch die ändertes Aussehen ange- 쐌 genaue Beobachtung der Gestik und des
fehlende/veränderte Mi- nommen und geliebt Verhaltens bei allen Maßnahmen mit
mik nicht möglich 쐌 ist offen und äußert seine Rückfragen bei Veränderungen/Auffällig-
Befindlichkeit keiten
쐌 hat außerhalb der Familie 쐌 Kevin immer wieder auffordern, Bedürf-
weitere soziale Kontakte nisse zu äußern
쐌 Kevin zu den Mahlzeiten in den Aufent-
haltsraum bringen
쐌 Familie auffordern, Freunde von Kevin zu
Besuchen anzuregen
26 Körperhaltung
Marion Weichler-Oelschlägel
Übersicht
Einleitung · 428
26.1 Allgemeine Beobachtungskriterien und
Beschreibung des Normalzustands · 428
26.1.1 Körperhaltung im Sitzen · 432
26.1.2 Körperhaltung im Stehen · 432
26.1.3 Körperhaltung im Liegen · 432
26.2 Abweichungen und Veränderungen der
26 Körperhaltung und deren mögliche
Ursachen · 432
26.2.1 Haltungsstörungen · 432
26.2.2 Haltungsschäden · 433
26.2.3 Zwangs- und Schonhaltung · 435
26.2.4 Kontrakturen · 435 Darüber hinaus kann die Körperhaltung eines
26.3 Ergänzende Beobachtungskriterien · 436 Menschen aber auch durch spezifische Erkrankungen
26.4 Besonderheiten bei Kindern · 436 des Halte- bzw. Stützapparates beeinflusst werden.
26.4.1 Angeborene Haltungsstörungen · 438
26.4.2 Angeborene oder erworbene 26.1 Allgemeine
Haltungsschäden · 438 Beobachtungskriterien und
26.5 Besonderheiten bei älteren
Beschreibung des
Menschen · 438
26.6 Fallstudien und mögliche Normalzustands
Pflegediagnosen · 440
Fazit · 442 Definition: Als Körperhaltung wird die Lage
Literatur · 442 des menschlichen Körpers in Abhängigkeit von
der Schwerkraft bezeichnet.
Schlüsselbegriffe:
Die Körperhaltung eines Menschen bestimmt ge-
왘 Haltungsstörung meinsam mit der Mimik und Gestik ganz wesentlich
왘 Haltungsschaden den Eindruck, den eine Person bei anderen Men-
왘 Zwangs- und Schonhaltung schen hinterlässt. Sie wird bei der ersten Begegnung
왘 Kontraktur mit einer bislang unbekannten Person registriert.
왘 Seniler Haltungsschaden Dabei stehen die Körperhaltung, das Körpergefühl
und das Denken in einer Wechselwirkung und beein-
flussen sich gegenseitig
Einleitung Die Alltagssprache mit Ausdrücken wie: „die Hal-
Auch die Körperhaltung eines Menschen gehört zu tung bewahren“, „den Halt verlieren“ oder „Kopf
den nonverbalen Ausdrucksmöglichkeiten und wird hoch!“ zeigt die große Bedeutung der Körperhal-
entsprechend als ein Element der Körpersprache be- tung. Die Körperhaltung variiert je nach Situation
zeichnet. Dabei spiegelt die „äußere Haltung“ ganz und Stimmung; die „äußere“ Haltung wird so zum
wesentlich die „innere Haltung“ eines Menschen Spiegel der „inneren“ Haltung eines Menschen. Folg-
wieder. Ausdrücke wie „den Halt verlieren“ beziehen lich gibt es die „richtige“ bzw. „normale“ Haltung ei-
sich weniger auf körperliche Erfahrungen, als viel- ner Person nicht. Die Körperhaltung muss immer in
mehr auf emotionale Empfindungen. Abhängigkeit von der aktuellen Situation eines Men-
schen gesehen werden (Abb. 26.1).
erst rrascht,
dominant, misstrauisch, 26
unentschlossen,
zur ckhaltend
Abb. 26.1 Deutung sprechender Haltungen. Die Haltung muss immer im Zusammenhang mit der Mimik gesehen werden
!
Merke: Die Körperhaltung ist wie die ande- Der gesunde Mensch hält sich im Normalfall aufrecht
ren Elemente der Körpersprache Mimik, Ges- und seine Muskelbewegungen lassen sich als ausge-
tik, Gang, Stimme und Sprache häufig Aus- wogen beschreiben. Seine Wirbelsäule weist die
druck der emotionalen Stimmung eines Menschen. physiologischen Krümmungen auf (Abb. 26.2). Die
Stabilität der Körperhaltung ist abhängig von der
Aufgrund ihrer Körperhaltung werden Menschen Größe der Grundfläche, auf der sich ein Mensch be-
oftmals bestimmte Charaktereigenschaften zuge- wegt.
wiesen, wie z. B. energisch, stolz, selbstbewusst oder In Abhängigkeit vom Lebensalter verändert sich
herrisch bei einer aufrechten, straffen Körperhal- die Grundfläche, die ein Mensch benötigt, um seine
tung. Eine schlaffe, krumme Körperhaltung lässt ei- Körperhaltung in eine sichere Position zu bringen
nen eher traurigen, depressiven, weichen und wenig (Abb. 26.3). Das Kleinkind krabbelt auf allen Vieren,
durchsetzungsfähigen Charakter vermuten. da es eine sehr breite Standfläche benötigt. Der be-
Die Körperhaltung eines Menschen sendet zu- tagte Mensch vergrößert die Grundfläche u. U. mit
sammen mit der Bewegung, der Mimik und Gestik einer Gehhilfe, um eine zusätzliche Stabilität zu er-
26 ununterbrochen Signale an die Mitmenschen; bei- reichen (s. a. S. 438 und 449).
spielsweise drückt eine steife, starre Haltung eher Je nach der Größe und Eigenschaft der Fläche, auf
Angespanntheit oder mangelnde Sympathie aus, der eine Person sich bewegt, ändert sich auch ihre
während eine lockere, ungezwungene Haltung für Körperhaltung. So ist es ein Unterschied, ob wir auf
Offenheit und Wohlbefinden spricht. Mit Hilfe einer einer geraden, ebenen Fläche gehen, eine Treppe
Sammlung von Eigenschaftswörtern kann das Beob- hinaufsteigen, einen Berg erklimmen oder uns auf ei-
achtete beschrieben werden, wie die folgende Über- nem Trampolin bewegen. Hier wird die große Anpas-
sicht zeigt: sungsfähigkeit des menschlichen Organismus deut-
lich.
Die Körperhaltung kann im Sitzen, im Stehen und
im Liegen beobachtet werden.
A G L S verschlossen
abgespannt geduckt leidend schief verspannt
abwartend gehemmt losgelöst schlaff
aggressiv gekrümmt schmerzgekrümmt W
angespannt gelöst M steif weich
aufgebracht gerade müde
gespannt U Z
D gestreckt N überstreckt zufrieden
drohend nachdenklich unruhig zurückgezogen
H unsicher zurückhaltend
E herausfordernd R zusammengefallen
eingeknickt reserviert V
entspannt K verängstigt
krumm verkrampft
Atlas
Axis
Halslordose
Halswirbelsäule
Wirbelbogengelenk
Dornfortsatz
Gelenkflächen für die
Rippen
26
Brustkyphose
Brust-
wirbel- Querfortsatz
säule
Wirbelkörper
Bandscheibe
Zwischenwirbelloch
Lenden- Lendenlordose
wirbel-
säule Promontorium
Gelenkfläche des
Iliosakralgelenks
Sakralkyphose
Kreuzbein
Steißbein
Grundfläche
Stehen mit ge- Stehen mit ge- Stehen mit Hilfe Kleinkind auf
schlossenen Füßen spreizten Beinen eines Stocks allen Vieren
a b
Angeborene Haltungsstörungen
Zu den angeborenen Haltungsstörungen werden z. B.
die veränderte Körperhaltung beim Morquio-Brails-
ford-Syndrom, bei der Pfaundler-Hurler-Krankheit • Mimik ist starr
und bei der Achondroplasie gerechnet (s. a. S. 436).
• Oberkörper
Erworbene Haltungsstörungen • Ellenbogen vornüber gebeugt
Definition: Unter erworbenen Haltungsstö- leicht
rungen werden alle Veränderungen der norma- gebeugt
len Körperhaltung verstanden, die sich aus funk-
tionellen Einschränkungen ergeben, d. h., spezifische
Erkrankungen, bei denen eine Schonhaltung (s. a. • Hände zittern
S. 435) eingenommen wird, um beispielsweise Schmer-
zen zu lindern.
• Knie leicht gebeugt 26
Hierzu gehören die Schonhaltung bei Ischiasbe-
schwerden und der Schiefhals. Letzterer entsteht
häufig aufgrund einseitiger funktioneller Belastung
von Kopf, Hals und Schultergürtel, z. B. durch beruf- • Gang ist langsam
und kleinschrittig
lich bedingte Dauerhaltungen des Kopfes oder beim
sog. Zervikobrachialsyndrom, dem eine Schädigung
Abb. 26.5 Körperhaltung bei der Parkinson-Krankheit
des Plexus cervicalis, Plexus brachialis oder der A.
vertebralis vorausgeht. Der Kopf wird dabei zur be-
troffenen Seite leicht geneigt gehalten, um Schmer- Zusammenfassung:
zen bei der Bewegung zu vermeiden. Körperhaltung und Haltungsstörungen
Funktionelle Haltungsstörungen können zu einer Die Körperhaltung spiegelt die innere Verfassung
Insuffizienz der nicht beanspruchten Muskulatur eines Menschen wider.
führen und in strukturelle Haltungsstörungen über- Durch seine Körperhaltung offenbart der Mensch
gehen bzw. sich als Haltungsschäden (s. a. S. 433) be- Signale, die Rückschlüsse auf seinen Charakter und
merkbar machen. seine momentane Stimmung zulassen.
Bei den Haltungsstörungen wird zwischen angebo-
Strukturelle Haltungsstörungen renen und erworbenen unterschieden.
Definition: Als strukturelle Haltungsstörun- Aufgrund von Schonhaltungen infolge von Erkran-
gen werden alle Abweichungen von der norma- kungen können funktionelle in strukturelle Hal-
len Körperhaltung bezeichnet, die nicht mehr tungsstörungen übergehen.
ausgleichbar sind. Zu den strukturellen Haltungsstörungen gehören
Haltungsschäden, Kontrakturen und neurologisch
Hierzu gehören sowohl Haltungsschäden und Kon- bedingte Veränderungen.
trakturen (s. a. S. 435) als auch neurologisch bedingte
Veränderungen, wie beispielsweise schlaffe und 26.2.2 Haltungsschäden
spastische Lähmungen (s. a. S. 400). Ein struktureller Definition: Veränderungen und Abweichungen
Haltungsschaden ergibt sich auch nach einem apo- von der physiologischen Körperhaltung können
plektischen Insult, bei dem die von der Plegie betrof- auch durch krankhafte Veränderungen an der
fene Körperseite infolge der Lähmung herabhängt. Wirbelsäule selbst hervorgerufen werden und sich als
Bei der Erkrankung Morbus Parkinson ist eine sog. Haltungsschäden bemerkbar machen.
nach vorn gebückte Körperhaltung zu beobachten
(Abb. 26.5). Ein großer Teil der Haltungsschäden, die bereits in
der Wachstumsphase eines Menschen entstehen, ist
auf das Missverhältnis zwischen bestehender Mus-
kelkraft des Rumpfes und der Belastung der Wirbel-
Sitzen mit aufrechtem Oberkörper und Herz- und Ateminsuffizienz Vergrößerung des Brustkorbes
abgestützten Armen Atemerleichterung
Seitenlage mit angezogenen Beinen abdominale Beschwerden Schmerzlinderung durch Entspannung der
Rückenlage mit angezogenen Beinen Schmerz nach abdominaler Operation Bauchdecke
Seitenlage auf erkrankter Seite Pleuritis (Entzündung des Rippenfells) Schmerzlinderung durch Verhinderung der
Ausdehnung der Lunge bei der Atmung
(verhinderte Atemextension)
Rückenlage mit leichter Beuge- und Ischialgie (Schmerzen im Bereich des Schmerzlinderung durch Vermeiden der
Außenrotationsstellung des betroffenen N. ischiadicus) Reizung des N. ischiadicus
Beines 26
überstreckter Nacken Entzündungen der Hirnhäute (Meningitis) Schmerzlinderung durch Unterbinden der
Starre der Nackenmuskeln Reizung der Meningen
Rückwärtsbeugung des Rumpfes Tetanus (Wundstarrkrampf) Abwehrspannung des Körpers zur Vermei-
(dorsalkonkav) durch tonischen Krampf Meningitis dung einer Dehnung bzw. Reizung der
der Rückenmuskulatur (= Opisthotonus) Epilepsie Meningen
!
Merke: Abweichungen von der normalen
Körperhaltung eines Menschen können Bei der Aufrichtung des Menschen vom Vierfüßler
durch Haltungsstörungen, -schäden, zum Zweifüßler kommt im Rahmen der Evolution
Zwangs- und Schonhaltungen oder Kontrakturen be- speziell der weiteren Entwicklung der Wirbelsäule
dingt sein. eine ganz besondere Bedeutung zu. Die biomechani-
schen Verhältnisse der Wirbelsäule verändern sich
dabei grundlegend. Die Entwicklung des Skeletts lie-
fert den wichtigsten Beitrag zur Körperhaltung. Be-
reits im 1. Monat nach der Befruchtung wird das Ske-
lett angelegt. Die Wirbelsäulensegmente entstehen Hochziehen zum Sitzen hält das Kind den Kopf in
aus den Sklerotomen. Die 32 aufeinanderfolgenden Rumpfebene.
Wirbelbogen umschließen das Rückenmark. Bei der Als Folge der Schwerkraft entsteht durch das Ste-
Geburt enthält das Skelett verhältnismäßig viel hen, beeinflusst von der Rückenmuskulatur, die Len-
Knorpel und Bindegewebe. Dadurch ist es bewegli- denlordose (Abb. 26.7 a – c). Die Beckenkippung hat
cher als das Erwachsenenskelett, jedoch ist die me- einen wichtigen Einfluss auf die Tiefe der Wirbelsäu-
chanische Belastbarkeit geringer. lenkrümmung. Im Kleinkindalter stehen die Kinder
Die Knochen des Skeletts wachsen unterschied- häufig mit einer verstärkten Lendenlordose und ei-
lich schnell. So vollzieht sich ein langsamer Wandel nem vorgestreckten Bauch. Dieser sollte während
in der körperlichen Erscheinung des Kindes. Neuge- der weiteren Entwicklung durch Korrektur der Hal-
borene, Säuglinge und Kleinkinder haben einen noch tung verschwinden.
relativ großen Kopf und einen großen Rumpf im Ver- Ein weiteres zu beobachtendes Merkmal ist die
hältnis zu ihren Extremitäten. Fasst man die Hände Entwicklung des Beinstandes der Kinder. Bei Neuge-
eines Neugeborenen an und zieht es hoch, hängt der borenen und Säuglingen ist ein starker O-Beinstand
Kopf nach hinten und wackelt hin und her, die Kopf- zu beobachten. Mit ca. 1,5 Jahren sind die Beine des
26
kontrolle fehlt. Das Neugeborene hat noch keine Kindes zunächst gerade. Im weiteren Verlauf der Ent-
sichtbaren Vor- und Rückwärtskrümmungen der wicklung entstehen X-Beine, die bei normalem Ent-
Wirbelsäule, wie sie bei ausgewachsenen Menschen wicklungsverlauf bis zum Alter von 6 Jahren wieder
physiologisch sind. Durch Heben des Kopfes bildet gerade werden (Abb. 26.8 a – e).
sich die Halslordose. Nach der Geburt wird der Bewegungsapparat vor
Bereits im 3. Monat hebt das Kind in Bauchlage allem auf Frakturen und Missbildungen geprüft. Be-
den Kopf um 45⬚ . Damit beginnt auch die Streckung sondere Beachtung wird dem Hüftgelenk wegen der
der Nackenmuskulatur. Im weiteren Verlauf der Ent- frühzeitigen Erkennung der Hüftgelenksluxation
wicklung wird der Kopf in Bauchlage bis 60⬚ ange- (s. a. S. 400) geschenkt.
hoben und die Halslordose verstärkt. Durch das Sit- Durch verminderte Kalzium- und Phosphatzu-
zen entsteht die Brustkyphose. Sie ist die Krüm- fuhr fällt bei sehr unreifen Frühgeborenen eine De-
mung der Rückenkontur und vergrößert das Volu- mineralisation des Skeletts auf. Dabei handelt es sich
men im Thoraxraum. Die Brustkyphose sorgt dafür, um eine Verarmung des Organismus an organischen
dass um die Körperlängsachse ein Gleichgewicht be- Bestandteilen, die der Fetus normalerweise im letz-
steht. Der Kopf wird bis fast 90⬚ angehoben, beim ten Schwangerschaftsdrittel dem mütterlichen Or-
a b
Nackenmuskeln
Rückenmuskeln
Gesäßmuskeln
M. iliopsoas
a b c d e
26 Abb. 26.8 a – e Die normale Entwicklung des Beinstandes a Neugeborenes b Kind mit 6 Monaten c Kind mit 1,5 Jahren d Kind mit 2,5 Jah-
ren e Kind mit 5 Jahren
oder Osteomalazie und Muskelschwäche. Aber auch Um eine größtmögliche, physiologische Beweglich-
psychische Belastungen, vor allem depressive Zu- keit erhalten zu können, kommt im Rahmen der pfle-
stände, die im Alter häufiger auftreten, können zu gerischen Betreuung älterer Menschen der Prophyla-
Veränderungen der Körperhaltung führen. xe von Haltungsschäden und Kontrakturen eine he-
Der sog. senile Haltungsschaden ist zumeist auf rausragende Stellung zu. Am Lebensbogen kommt die
eine Kombination der verschiedenen Ursachen zu- veränderte Körperhaltung Betagter auf eine besonde-
rückzuführen. Er führt zu einer Unsicherheit beim re Art und Weise zum Ausdruck (Abb. 26.9).
Stehen und Gehen, was oft mit einer Einschränkung
der Balancefähigkeit einhergeht und die Sturzgefahr Zusammenfassung:
bei älteren Menschen erhöht. Da Erkrankungen wie Besonderheiten bei Kindern und älteren
Morbus Parkinson oder auch Apoplexia cerebri über- Menschen
wiegend im höheren Lebensalter auftreten, sind die Zu den angeborenen Haltungsstörungen gehören
typischen Veränderungen der Körperhaltung ent- die Skeletthypoplasie und die Chondrodystrophie.
sprechend häufig bei betagten Menschen zu beob- Bei alten Menschen ist eine Flexionshaltung typisch.
achten. Dem senilen Haltungsschaden liegt eine Kombina-
26
Allgemein ist zu beachten, dass eine zunächst nur tion von verschiedenen Ursachen zugrunde.
geringfügige Haltungsstörung bei älteren Menschen Die Prophylaxe von Haltungsschäden und Kontrak-
oft nach nur wenigen Tagen der Bettruhe auch bei mi- turen ist gerade bei älteren Menschen wichtig.
nimalen Erkrankungen erheblich zunehmen kann.
Reife
Wachstum Welken
Entstehen Vergehen
Erwachsener
Jugend frühes
Alter
(Senior)
hohes
Kindheit Alter
(Greis)
Biographie - Lebensgeschichte
Empfängnis Sterben/
Geburt Tod
Kontrakturgefahr aufgrund Ehefrau ist sehr interessiert NZ: 쐌 Information von Herrn Sperlich über:
einer schmerzhaften Spasti- an allen pflegerischen Maß- 쐌 Herr Sperlich kennt die – Bobath-Konzept
zität bei Hemiplegie rechts nahmen, unterstützt ihren Prinzipien des Bobath- – Lagerung als Teil des Konzeptes (Spas-
nach Apoplexia cerebri Ehemann Konzeptes tizitätshemmung)
쐌 Herr Sperlich weiß um die – Hinweis, sich bei lagebedingten
Notwendigkeit der Lage- Schmerzen zu melden
rung und – Entfernen des Patientenaufrichters
akzeptiert diese 쐌 Bobath-Lagerung nach Plan (im Zimmer)
쐌 Herr Sperlich meldet sich 쐌 zu den Mahlzeiten an den Tisch setzen
bei Schmerzen 쐌 Absprache mit Physio- und Ergothera-
peuten bzgl. der Mobilisation
쐌 Einbezug der Ehefrau bei allen pflegeri-
schen Maßnahmen und Erläuterung des
Bobath-Konzeptes
26
Verzögerte(s) Wachstum und Entwicklung
(P)*
(Gordon 2013, S. 305 – 306, NANDA-I 2016)
Delayed growth and development (00111) (1986)
Taxonomie II: Domäne 13: Wachstum/Entwicklung,
Klasse 1: Wachstum, Klasse 2: Entwicklung
Abb. 26.10 Skoliose-Korsett nach Dr. Chéneau. In der Rumpf-
orthese wird die Wirbelsäule aufgerichtet Diagnosetyp (Dokumentationsform): aktuelle Pflege-
diagnose (PES)
Funktionelles Gesundheitsverhaltensmuster:
Aktivität und Bewegung
Hervortreten des rechten Schulterblatts. Der Besuch
beim Orthopäden ergab eine Wirbelsäulenverbiegung Definition
mit Thorakalauskrümmung auf 17⬚. Die Diagnose lau- Abweichungen von altersentsprechenden Normen
tete idiopathische Skoliose linkskonvex. Es folgte eine
Einflussfaktoren (E)
2-jährige krankengymnastische Therapie, die jedoch
unzureichende Fürsorge
ohne Erfolg blieb. Nun hat Sara eine Wirbelsäulenver-
Gleichgültigkeit
biegung thorakal von 31⬚ und Lendenwirbelbereich
von 16⬚, weshalb jetzt eine Therapie mit einem Che-
* Siehe „Verzögerte(s) Wachstum und Entwicklung“:
neau-Korsett (Abb. 26.10) eingeleitet wurde. Das Kor-
soziale, sprachliche und kommunikative Fertigkeiten
sett soll zunächst 23 Std./Tag getragen werden.
Sara ist traurig, da sie auf- Die Eltern unterstützen Sara Sara 쐌 Erklärung der Notwendigkeit des Tragens
grund des Korsetts ihren 쐌 hat eine ausgeglichene des Korsetts
Hobbys nicht nachgehen Stimmungslage 쐌 gemeinsam mit den Eltern Vorlieben von
kann 쐌 akzeptiert das Korsett Sara herausfinden und nach entspre-
und sieht die Notwendig- chenden Freizeitangeboten suchen
keit ein 쐌 Einbeziehung von Freundinnen in die
Freizeitgestaltung
Sara kann nicht einschlafen, 쐌 findet neue Möglichkei- 쐌 Sara verschiedene Kissen zur Unterstüt-
da das Korsett ihre gewohn- ten der Freizeitgestal- zung der Schlafposition anbieten
te Schlafhaltung verhindert tung 쐌 verschiedene Positionen ausprobieren
쐌 Sara findet eine Schlafpo- lassen und die jeweilige Lage dabei nach
sition, bei der das Korsett Wunsch durch Kissen unterstützen
sie möglichst wenig be-
hindert
27 Gang
Marion Weichler-Oelschlägel
Übersicht
Einleitung · 443
27.1 Allgemeine Beobachtungskriterien und
Beschreibung des Normalzustands · 443
27.2 Abweichungen und Veränderungen des
Gangs und deren mögliche
Ursachen · 445
27.2.1 Spastischer Gang · 445
27.2.2 Hinken · 446
27.2.3 Steppergang · 446
27.2.4 Watschelgang · 446
27.2.5 Ataktischer Gang · 446
27
27.2.6 Brachybasie · 448
27.2.7 Paretischer Gang · 448
27.2.8 Zerebraler Gang · 448 Fortschritts. Ausdrücke wie „etwas in Gang bringen“,
27.2.9 Apraktischer Gang · 448 „es geht vorwärts“ und „alles wird seinen Weg ge-
27.2.10 Abasie · 448 hen“ zeigen diese Bedeutung auf.
27.3 Ergänzende Beobachtungskriterien · 448 Im nachfolgenden Kapitel sind verschiedene Stö-
27.4 Besonderheiten bei Kindern · 449 rungen des Gangs beschrieben, die nicht nur Hinwei-
27.4.1 Physiologie des Gehens · 449 se auf die Stimmungslage eines Menschen, sondern
27.4.2 Gehstörungen · 449 auch auf mögliche Erkrankungen geben können.
27.5 Besonderheiten bei älteren
Menschen · 451 27.1 Allgemeine
27.6 Fallstudien und mögliche Beobachtungskriterien und
Pflegediagnosen · 452
Beschreibung des
Fazit · 455
Literatur · 455 Normalzustands
Schlüsselbegriffe: Der Gang beim Gesunden ist mehr oder weniger aus-
geprägt und individuell, er erweckt nur in seltenen
왘 Gangstörungen (Dysbasien) Fällen Aufmerksamkeit. Der Körper ist dabei auf-
recht, der Kopf sitzt gerade auf dem Rumpf auf und
Einleitung beide Arme hängen locker an den Körperseiten he-
rab. Bei der normalen, physiologischen Gangart be-
Mit der Beobachtung von Körperhaltung und Bewe- wegt sich je ein Arm im Rhythmus mit dem gegen-
gung ist auch der Gang eng verbunden. Ebenso wie überliegenden Bein vorwärts. Die dabei entstehen-
diese beiden Bereiche kann er als ein nonverbales den Schritte des Menschen sind mäßig lang und im-
Ausdrucksmittel für die physische und psychische mer gleich weit. Die Füße sind normalerweise leicht
Verfassung eines Menschen angesehen werden. Oft- nach außen rotiert.
mals können Personen, die einem gut bekannt sind, Das Gehirn koordiniert bei jedem Schritt die Be-
bereits von Ferne an ihrem typischen Gang erkannt wegungen in der Hüfte, in den Knien und in den Fü-
werden. Dies zeigt, dass der Gang auch die Individua- ßen. Erst durch die Anhebung der Hüfte, die visuell
lität eines Menschen unterstreicht. Selbst- und Kör- kaum erkennbar ist, werden die Füße vom Boden ab-
perbewusstsein spiegeln sich im Gang wider. gerollt. Werden sie wieder aufgesetzt, so berühren
Daneben hat er eine weitere Funktion, er bietet zuerst die Fersen den Boden.
nämlich die Möglichkeit der Entwicklung und des
Voraussetzung für das normale Gehen ist ein Das Gehen gilt als sog. Urbild eines jeden Prozesses
Gleichgewicht und ein Antrieb nach vorn. Beim ge- und fordert gleichzeitig unseren ganzen Organismus
nauen Beobachten ist festzustellen, dass ein gesun- heraus. Einmal im Kleinkindalter erlernt, geschieht
der Gang harmonisch, leicht, rhythmisch und be- es unwillkürlich und jeder gesunde Mensch geht
schwerdefrei ist. Er erlaubt dem Gehenden eine gro- ganz selbstverständlich und natürlich, ohne dass ihm
ße Variationsbreite und prägt durch den jeweiligen das Gehen und der dabei von ihm persönlich entwi-
Rhythmus, den Schritt und die Intensität beim Auf- ckelte Bewegungsablauf direkt bewusst sind. In der
setzen der Füße die Individualität eines Menschen. chinesischen Kultur wird der Mensch als ein „Gehen-
Der Gang lässt sich mit vielen Eigenschaftswör- der“ bezeichnet (Abb. 27.1).
tern beschreiben, wie die folgende Übersicht zeigt:
27 A H R T Z
ängstlich hastig rennend tastend ziehend
aufrecht hetzend rhythmisch taumelnd zielstrebig
hinkend torkelnd zitternd
B humpelnd S trippelnd zögernd
balancierend schaukelnd zusammengesackt
bedächtig K schlaff U
beschwingt kraftlos schleichend unregelmäßig
kraftvoll schlendernd unrhythmisch
D krumm schleppend unsicher
dynamisch schlurfend
L schnell V
E langsam schwankend verkrampft
eckig leichtfüßig schwerfällig verschoben
eingeknickt locker schwungvoll vorsichtig
selbstbewusst
F M sicher W
federnd marschierend spastisch wandelnd
fliegend müde springend wankend
staksend wiegend
G N stampfend wippend
gebrechlich nachziehend steif
gebeugt stelzend
gebückt P stockend
gedämpft polternd stolpernd
gehetzt stolz
getrieben
!
Merke: Bei der Beobachtung und Einschät-
zung der Körperbewegung und der psy-
chischen Verfassung eines Menschen ist der
Gang ein wichtiges zusätzliches Beobachtungskriteri-
um.
gleich der Instabilität und durch ausfahrende Bein- rupt vor- und auswärts. Der Körper ist leicht gebeugt,
bewegungen gekennzeichnet. Darüber hinaus zeigen die Schrittfolge von unterschiedlicher Länge und das
sich ein übertriebenes Anheben und ein hackendes Gewicht wird von den Betroffenen teilweise auf ei-
Aufsetzen der Füße. nen Gehstock verlagert (Abb. 27.2).
Weitere beobachtbare Symptome sind abrupte Störungen der Sensibilität in den Füßen, chroni-
Bewegungen und ein aufmerksames Beobachten des scher Alkoholkonsum und das Endstadium der Lues
Bodens und der Füße durch die Betroffenen. Kommt sind potenzielle Ursachen für die Ataxie. Sie gehen
die Person zum Gehen, so schnellen ihre Beine ab- mit einem Ausfall peripherer Nerven einher, sodass
27
a b c
d e
die normale Bewegungslage und das Vibrationsemp- Selbst wenn bestimmte motorische Funktionen der
finden gestört sind. Erkrankungen des Kleinhirns Beine bestehen bleiben, sind die betroffenen Men-
(Zerebellum) führen zur sog. zerebellären Ataxie, bei schen nicht in der Lage, eine Bewegung zu beginnen.
der das Gangbild ähnlich ist, die Gangunsicherheit Diese Beobachtung kann beispielsweise bei Perso-
aber nicht durch den Blickkontakt auf den Boden ge- nen mit einem normotonen Hydrozephalus gemacht
mindert wird (Abb. 27.2). werden.
Die Beobachtung des Gangs kann nie getrennt von geht mit Unterstützung an einer Hand. So lernt es,
der Beobachtung der weiteren Körperbewegungen sich zum Stand empor zu ziehen, die Treppen hinauf
werden, wie der Körperhaltung, der Mimik und der zu krabbeln, alleine zu stehen. Bis zum 12. Monat ist
Gestik. Da Veränderungen des normalen Gangs die kindliche Skelettmuskulatur den Verhältnissen
wichtige diagnostische Hinweise liefern können, bei Erwachsenen vergleichbar.
sollte seine Beobachtung nicht isoliert erfolgen. Der Mit dem Aufrichten des Menschen vom Vierfüß-
beobachtende Blick sollte sich vielmehr auf das Er- ler zum Zweifüßler erlangt das Hüftgelenk eine zent-
kennen eines Syndroms richten. rale Bedeutung für das Gehen und Stehen sowie für
das freie Laufen, was bis zum 15. Monat alleine und
in allen Richtungen möglich ist. Ab dem 18. Monat ist
27.4 Besonderheiten bei Kindern das Kind in der Lage, kleine Gegenstände beim Gehen
Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm aufzunehmen, mitzunehmen und abzulegen. Das
Kind lernt rückwärts zu laufen und Treppen zu stei-
27.4.1 Physiologie des Gehens gen (Abb. 27.3). Die benannten Zeitabläufe und Da-
Das Neugeborene ist mit physiologischen Reflexen ten stellen Mittelwerte dar. Es können erhebliche
ausgestattet, die bereits kurz nach der Geburt nach- Schwankungen vorkommen.
zuweisen sind, dazu gehört u. a. das Schreitphäno- 27
men. Es wird ausgelöst, indem das Kind von hinten 27.4.2 Gehstörungen
aufrecht mit beiden Händen unterhalb der Achsel- Bestimmte Erfahrungen und/oder Erkrankungen be-
höhlen gehalten wird. Die Fußsohlen berühren da- einflussen die körperlichen Funktionen und damit
bei eine Unterlage. In aufrechter Haltung macht das die biologische Entwicklung des Gehens. Die Ursa-
Kind Schreitbewegungen mit Streckung des berüh- chen für Gehstörungen sind vielfältig und für die ge-
renden Beines und Beugung und Streckung des an- samte Haltung des Kindes entscheidend. Zu den Ur-
deren Beines. Dieser Reflex ist bei einer normalen sachen zählen u. a. orthopädische Erkrankungen. Bei
Entwicklung nach 4 Monaten nicht mehr nachweis- Kindern mit einer Hüftdysplasie, einer angeborenen
bar. Fehlform des Hüftgelenkes, wird besonders bei ver-
Die körperliche Entwicklung eines Kindes ist im- späteter Diagnostik und somit verspätetem Thera-
mer in Abhängigkeit von der geistigen Entwicklung piebeginn das Gangbild beeinflusst. Die Kinder ler-
zu sehen (s. a. S. 406). Sind die körperlichen Struktu- nen verspätet laufen und zeigen einen watschelnden
ren weit genug entwickelt, benötigen diese Verhal- Gang. Bei frühzeitiger Diagnose erfolgt die Behand-
tensweisen eine angemessene Umgebung und einen lung konservativ durch Hüftspreizung unter Anwen-
Spielraum für Übungen, damit sie sich entwickeln dung von Spreizhosen und/oder Spreizbandagen. Ist
können. Die Reihenfolge der körperlichen und geisti- bereits eine Luxation des Hüftgelenkes erfolgt, wird
gen Entwicklung ist durch die Reifung (Prozess der diese operativ reponiert.
Veränderung in der Organisation der Körperfunktio- Weitere angeborene Haltungsanormalien sind
nen) festgelegt. Die einzelnen Entwicklungsschritte Fehlstellungen der Füße (Abb. 27.4). Dazu zählen der
bei der Entwicklung der Fortbewegung werden in Klumpfuß, der Sichelfuß und der Hackenfuß. Trotz
Abb. 27.3 aufgezeigt. einer insgesamt günstigen Prognose kann es bei kei-
Das in Bauchlage mögliche Heben von Kinn und ner oder einer erst spät einsetzenden Therapie zu ei-
Brust ist bis zum 3. Monat erreicht. Bis zum 4. Monat ner Fußdeformität kommen, die eine Beeinträchti-
kann sich das Kind in der Bauchlage auf die Unterar- gung der Lauflernentwicklung und des Gangbildes
me stützen und mit Unterstützung sitzen. Im 6. Mo- zur Folge hat. Auch hier ist der sehr frühe Einstieg in
nat dreht es sich vom Rücken auf den Bauch und nach die Therapie wichtig. Vielfach ist eine Langzeitbe-
einer Übergangsperiode beginnt es zu krabbeln, d. h. handlung in Form von regelmäßiger Fußgymnastik
es läuft auf Händen und Füßen. und die Anwendung von orthopädischem Schuh-
Ab dem 8. Lebensmonat kommt das Kind zum werk respektive Schienen nötig.
Vierfüßlerstand und über die Seitenverlagerung zum Eine Durchblutungsstörung des Hüftkopfes und
selbstständigen Sitzen. Bieten sich Gegenstände wie der Wachstumsfuge des Oberschenkels im Alter zwi-
z. B. Möbelstücke an, zieht es sich zum Zweifüßler- schen 3 und 9 Jahren hat einen Morbus Perthes (asep-
stand hoch. Zwischen dem 10. und 12. Monat steht tische Knochennekrose) zur Folge. Hier kommt es zu-
das Kind allein, geht an Möbeln entlang und/oder nächst zum Absterben des Knochens, doch durch das
Wiedereinsprießen von Blutgefäßen findet ein stän- entzündlichen und/oder rheumatischen Gelenk-
diger Neuaufbau statt. Da dem Abbau ein ständiger erkrankungen,
Neuaufbau folgt, kommt es längerfristig zur Verfor- Osteomyelitis,
mung des Hüftkopfes (Arthrose). Die Beweglichkeit Zustand nach Frakturen,
ist eingeschränkt, und aufgrund von Schmerzen im Luxationen,
Hüftgelenk kommt es im Gangbild der Kinder zu ei- Dystorsionen,
nem leichten Verkürzungshinken. Weichteilerkrankungen,
Weitere Ursachen für ein hinkendes Gangbild Hämatombildung und
können ebenso wie bei den Erwachsenen auch im Knochentumoren.
Kindesalter vorkommende Schmerzen des Bewe-
gungsapparates sein. Schmerzen sind zu beobachten Weitere Ursachen für Gangauffälligkeiten bei Kin-
bei: dern sind neurologischen Ursprungs. Erkrankungen
des Nervensystems führen wie bei der Polyomyelitis,
27
einer Infektionskrankheit des Nervensystems, zur dische Ursachen, wie z. B. Gelenkinstabilitäten, ha-
Dysfunktion des Systems und als Folge zum Läh- ben können. Häufig hängen sie auch mit der Minde-
mungshinken. Eine als Ataxie bezeichnete Störung rung des Vibrationsempfindens an Füßen und Knö-
des geordneten Zusammenwirkens von Muskelgrup- cheln zusammen. Ebenfalls lässt sich mit zunehmen-
pen hat einen unsicheren Stand (Standataxie) und ei- dem Alter eine gewisse Steh- und Gehunsicherheit
nen torkelnden, taumeligen Gang (Gangataxie) zur beobachten, die vor allem bei fehlender Augenkon-
Folge. Die Ursachen liegen in Erkrankungen und trolle, z. B. im Dunkeln oder bei beeinträchtigter Seh-
Funktionsstörungen des Kleinhirns, z. B. Hirntumo- fähigkeit, auftritt. Dies führt zu Einschränkungen in
ren, und/oder des Rückenmarks, z. B. Multiple Skle- der Sicherheit der Betagten und nicht selten zu Stür-
rose. zen. Viele alte Menschen benutzen daher sinnvoller-
weise Gehhilfen, die ihnen eine größere Standfläche
und eine damit verbundene erhöhte Sicherheit er-
27.5 Besonderheiten bei älteren möglichen.
Menschen
Marion Weichler-Oelschlägel Zusammenfassung:
Besonderheiten bei Kindern und älteren
Im Zusammenhang mit beeinträchtigten Bewe- Menschen
gungsmöglichkeiten im Alter sind auch Veränderun- Die wichtigsten Gangstörungen bei Kindern sind
gen des Gangs zu beobachten. Insgesamt entwickelt hervorgerufen durch Hüftdysplasie, Fehlstellungen
sich mit zunehmendem Alter bei vielen Menschen, der Füße, Durchblutungsstörung (Morbus Perthes),
entsprechend der herabgesetzten Bewegungsfreu- Schmerzen des Bewegungsapparates oder neurolo-
digkeit, die Ganggeschwindigkeit zurück. gische Erkrankungen.
Die herabgesetzte Gelenkbeweglichkeit ist häufig Bei alten Menschen stehen Balanceschwierigkeiten
auf degenerative Gelenkveränderungen zurückzu- und Unsicherheit durch fehlende Augenkontrolle
führen, wodurch sich Knie- und Hüftgelenke nicht und herabgesetzte Gelenkbeweglichkeit als Ursa-
mehr ganz strecken lassen. Der Gang erscheint dem- chen für Gangstörungen im Vordergrund.
entsprechend vielfach schwerfällig. Auch die Schritt-
länge nimmt im Alter ab.
Generell kann es zu Balanceschwierigkeiten kom-
men, die neben zerebralen (s. a. S. 445) auch orthopä-
Herr Fichtner ist aufgrund 쐌 Herr Fichtner erhält regel- NZ: 쐌 Information über und Anleitung zum
der Oberschenkelgipshülse mäßigen Besuch von sei- 쐌 Herr Fichtner kennt den Umgang mit Unterarmgehhilfen und
und schneller Ermüdung ner Familie Umgang mit Unterarm- Treppensteigen
nicht in der Lage, Treppen 쐌 Herr Fichtner möchte ak- gehhilfen 쐌 individuelles Übungsprogramm: 3 ⫻ tgl.
zu steigen und eine Weg- tiv an der Gesundung 쐌 Herr Fichtner kann Trep- je 15 m Wegstrecke, ab 3. Tag tägl. 5 m
strecke von 30 m ohne Un- mitwirken pen ohne fremde Hilfe steigern, 1 ⫻ tgl. Treppenübung durch
terbrechung zurückzulegen steigen Physiotherapeut, Angehörige bei Übun-
쐌 Blutdruck und Puls von gen mit einbeziehen
Herrn Fichtner sind vor/ 쐌 Blutdruck und Puls vor/während/nach
während/nach den Übun- der Übung kontrollieren und dokumen-
gen im Normbereich tieren
쐌 Herr Fichtner kann eine 쐌 Beobachtung von Mimik/Gestik und
Wegstrecke von 30 m bis Schweiß auf Erschöpfungszeichen
zum Anfang nächster Wo-
che 1 ⫻ tgl. ohne Unter-
brechung zurücklegen
27
Beispiel: Thomas ist 11 Jahre alt. Nach ei-
nem schweren Fahrradunfall wurde er mit Beeinträchtigte körperliche Mobilität (P)
einem SHT (Schädel-Hirn-Trauma) 3. Grades (Gordon 2013, S. 272 – 275, NANDA-I 2016)
auf die Intensivstation aufgenommen. Da er keinen Impaired physical mobility (00085) (1973, 1998)
Fahrradhelm trug, kam es bei dem Unfall u. a. zu einer Taxonomie II: Domäne 4: Aktivität/Ruhe,
intrazerebralen Blutung mit einer über 7 Tage dauern- Klasse 2: Aktivität/Bewegung
den Bewusstlosigkeit und sensorischen Ausfällen, Diagnosetyp (Dokumentationsform): aktuelle Pflege-
bedingt durch eine Funktionsstörung des Kleinhirns. diagnose (PES)
Thomas befindet sich seit 4 Wochen in der Rehabilitati- Funktionelles Gesundheitsverhaltensmuster:
onsphase. Seine Sprach- und Artikulationsstörungen Aktivität und Bewegung
nehmen ab, er ist zeitlich und räumlich orientiert. Seine
Definition
Bewegungsabläufe sind noch unkoordiniert, sein Gang
Einschränkung der unabhängigen, zielgerichteten Be-
ist torkelnd (Gangataxie) und der Stand unsicher. Tho-
wegung des Körpers oder von einer oder mehreren Ex-
mas akzeptiert die therapeutischen Maßnahmen, er
tremität(en)
zeigt keine Abwehrreaktionen. Tab. 27.2 zeigt einen
Auszug aus seinem Pflegeplan, eine mögliche Pflegedi-
agnose zeigt die folgende Übersicht:
쐌 Thomas kann sich noch 쐌 Thomas ist zeitlich und 쐌 FZ 쐌 Lauftraining durch: Physiotherapie und
nicht selbständig fortbe- räumlich orientiert 쐌 Thomas bewegt sich sicher KG 3 ⫻ tgl. nach Absprache mit Thomas
wegen, sein Gang ist un- 쐌 NZ 쐌 Gehhilfe mit dreirädrigem Gehwagen,
sicher, die Schrittfolge 쐌 Kann mit Gehwagen um- Thomas wird damit vertraut gemacht
unkoordiniert gehen
쐌 Der Bewegungsspielraum 쐌 쐌 Thomas hat Kontakt zu 쐌 Besuch durch den Kliniklehrer und die
Thomas verständigt sich
ist eingeschränkt, Tho- über einzelne artikulierte seinem erweiterten Um- Klassenkameraden organisieren
mas ist vorwiegend in sei- Worte feld 쐌 Mitbewohner im Zimmer
nem Zimmer 쐌 Er erhält oft Besuch von 쐌 Er beteiligt sich an Stati- 쐌 Gemeinsame Essensphasen im Aufent-
seinen Geschwistern, die onsaktivitäten haltsraum
Mutter hat sich im Wohn- 쐌 Anleitung zum selbständigen Aufstehen
heim eingemietet
Übersicht
Einleitung · 456
28.1 Allgemeine Beobachtungskriterien und
Beschreibung des Normalzustands · 456
28.1.1 Stimme · 456
28.1.2 Sprache · 457
28.2 Abweichungen und Veränderungen
von Stimme und Sprache und deren
mögliche Ursachen · 458
28.2.1 Veränderungen der Stimme · 458
28.2.2 Veränderungen der Sprache · 459
28.3 Ergänzende Beobachtungskriterien · 463
28.4 Besonderheiten bei Kindern · 463
fühle und Empfindungen zu übermitteln. Diese
28 28.4.1 Entwicklungsmäßige
Voraussetzungen · 463 Kommunikation ermöglicht nicht zuletzt auch die
28.4.2 Normale Sprachentwicklung des Aufnahme und Pflege von zwischenmenschlichen
Kindes · 464 Beziehungen. Beeinträchtigungen von Stimme und
28.4.3 Kindliche Sprachstörungen · 465 Sprache ziehen deshalb entsprechend einschneiden-
28.5 Besonderheiten bei älteren de Folgen für die Betroffenen nach sich.
Menschen · 467 Das folgende Kapitel beschreibt die allgemeinen
28.6 Fallstudien und mögliche Beobachtungskriterien von Stimme und Sprache und
Pflegediagnosen · 468 geht auf mögliche Ursachen für Störungen in diesem
Fazit · 470 Beobachtungsbereich ein.
Literatur · 471 Jeder Mensch besitzt eine individuelle Stimme
und Sprache. Mit ihnen kommen gleichzeitig das
Fühlen, Wollen und die momentane Stimmungslage
Schlüsselbegriffe:
des Sprechenden zum Ausdruck (Tab. 28.1). Im
왘 Aphasie Sprachalltag weisen Aussagen wie „Es verschlägt mir
왘 Lautbildung die Sprache“, „Der Mensch ist verstimmt“ oder „Das
왘 Wortschatz macht mich sprachlos“ auf den Zusammenhang zwi-
schen aktueller psychischer Verfassung und Stimme
Einleitung sowie Sprachinhalt hin.
Tab. 28.1 Deutung der Sprechweise (nach Grond 1985) Bei vertraulichen Gesprächen unter vier Augen wird
Freude Trauer Erregung Ausge-
eine entsprechend leise Lautstärke gewählt, wäh-
glichenheit rend ein Ruf um Hilfe durch eine hohe Geschwindig-
keit der Luftströmung sehr laut sein kann.
Tonhöhe hoch niedrig unter- mittel
schiedlich
Stimmklang
Melodie- stark gering stark mittel Der Stimmklang wird entscheidend von der Anato-
variationen
mie der Hohlräume des Rachens und der Mund- und
Tonhöhen- erst auf, abwärts stark auf gemäßigt Nasenhöhle beeinflusst. Sie fungieren als Resonanz-
verlauf dann ab und ab boden und modulieren den Kehlkopfton, der dann
den individuellen Klang bekommt. Er kann z. B. hart,
Klangfarbe viele weniger kaum eher mehr
Obertöne weich oder voll sein.
!
Tempo schnell langsam mittel mittel
Merke: Die Beobachtung der Stimme eines
Lautstärke laut leise stark mittel Menschen orientiert sich an den Kriterien
schwan- Stimmlage, Lautstärke und Stimmklang.
kend
!
sehen. Mithilfe welcher Worte ein Mensch sich aus- Merke: Die Beobachtung der Sprache eines
drückt und wie umfangreich sein Wortschatz ist, Menschen orientiert sich an den Kriterien Ar-
wird stark durch das Milieu, in dem er aufwächst und tikulation, Sprachfluss und Sprachverständ-
lebt sowie durch sein Ausbildungsniveau beeinflusst, nis. Stimme und Sprache sind wesentlicher
was auch als sog. Standessprache bezeichnet wird. Bestandteil der Persönlichkeit eines Menschen. Darü-
28
Die Beobachtungskriterien der Sprache lassen ber hinaus sind sie elementar wichtig für die verbale
sich in die Bereiche Kommunikation.
Artikulation,
Sprachfluss und
28.2 Abweichungen und
Sprachverständnis
einteilen.
Veränderungen von Stimme
und Sprache und deren
Artikulation mögliche Ursachen
Definition: Unter der Artikulation ist die Bil-
dung verschiedener Laute (Vokale und Konso- 28.2.1 Veränderungen der Stimme
nanten) zu verstehen. Bei Veränderungen der Stimme können entweder
pathologische Ursachen an den stimmbildenden Or-
Sie erfolgt durch Formveränderungen des Sprechap- ganen vorliegen oder sie können psychisch bedingt
parates, der seinerseits aus Zunge, Lippen, Mund- sein. Darüber hinaus können Bewegungsstörungen,
und Rachenraum sowie dem Kehlkopf einschließlich Entzündungen, Geschwulstbildungen oder eine
der Stimmbänder besteht. Die normale Artikulation Über- und Fehlbeanspruchung der Stimmlippen Stö-
ist durch eine deutliche und allgemein verstehbare rungen nach sich ziehen.
Sprache, die in einer der Situation angemessenen
Lautstärke eingesetzt wird, gekennzeichnet. Die Bil- Veränderungen der Stimmlage
dung von Begriffen erfolgt mühelos und die Stimme Bei Gesunden erfolgt der Stimmwechsel, auch als
klingt unauffällig. Stimmbruch bezeichnet, etwa um das 13. – 14. Le-
bensjahr. Tritt dieser Wechsel der Stimme nicht ein,
Sprachfluss wird von einer veränderten Stimmlage gesprochen.
Der normale Sprachfluss erzeugt einen melodischen, Bei Frauen kommt es auch im Zusammenhang mit
fließenden Klang und erfolgt in einer der Situation der hormonellen Umstellung in der Menopause zu
entsprechenden Sprechgeschwindigkeit. einer veränderten Stimmlage. Eine Androgenthera-
pie kann bei Frauen ebenfalls eine Veränderung der
Stimmlage hervorrufen.
ten und schlechte sprachliche Vorbilder sind eben- tionsorganen bezeichnet. Audiogene Dyslalien erge-
falls Gründe für Sprachstörungen. ben sich aus der Einschränkung bzw. dem Fehlen der
auditiven Aufnahmefähigkeit und der Eigenkontrolle
Artikulationsstörungen beim Spracherwerb bei gehörlosen oder schwerhöri-
Artikulationsstörungen können sich auf verschiede- gen Menschen. Auch zentral-nervöse Störungen kön-
ne Weise darstellen. Unterschieden werden können nen zu einer Dyslalie führen.
Dyslalien, Echolalien, Aphrasien, Dysglossien und die Die Dyslalie aufgrund psychischer Traumatisie-
kloßige sowie undeutliche Sprache. rung oder negativer sprachlicher Vorbilder wird als
funktionelle Dyslalie bezeichnet.
Dyslalie
Definition: Als Dyslalie wird die Fehlartikulati- Echolalie
on eines Lautes, mehrerer Laute, Lautverbin- Die Betroffenen ahmen Gehörtes echoartig nach.
dungen oder ganzer Lautgruppen verstanden. Hierbei handelt es sich um eine funktionelle Störung
des Sprechens, die ihre Ursache in einer Schizophre-
Die entsprechenden Laute werden entweder falsch nie haben kann.
gesprochen, ausgelassen oder durch einen anderen
Laut ersetzt. Die Dyslalie wird auch als Stammeln be- Aphrasie
zeichnet. Häufigste Formen der Dyslalie sind:
Definition: Das Unvermögen richtige Sätze zu
Kappazismus: Stammeln mit Fehlbildung des
28 bilden wird als Aphrasie bezeichnet.
Lautes ⬎⬎K⬍⬍, welcher ausgelassen oder durch
⬎⬎T⬍⬍ ersetzt wird.
Dysglossie
Gammazismus: Stammeln mit Fehlbildung des
Definition: Unter der Dysglossie wird eine
Lautes ⬎⬎G⬍⬍, der entweder fortgelassen oder
Sprachstörung infolge von Anomalien der peri-
durch ⬎⬎D⬍⬍ ersetzt wird.
pheren Sprechwerkzeuge, z. B. der Zunge, des
Sigmatismus: Der Sigmatismus ist die häufigste
Gaumens, der Zähne usw., verstanden.
Form der Dyslalie. Bei dieser auch als Lispeln be-
zeichneten Sprachstörung wird die Zunge bei der
Kloßige Sprache
Bildung der S- und Zischlaute fehlerhaft betätigt.
Die Sprache hört sich kloßig bei neurologischen Er-
Die Ursache kann in einer Hörstörung liegen oder
krankungen an, die mit einer Sprachmuskellähmung
in anatomischen Veränderungen und Defekten an
einhergehen.
den Lippen oder Zähnen usw.
Lambdazismus: Stammeln mit Artikulationsstö-
Undeutliche Sprache
rung des L-Lautes.
Menschen, die größere Zahnlücken aufweisen, zahn-
Rhotazismus: Hierbei handelt es sich um teilwei-
los sind oder schlecht sitzende Zahnprothesen tra-
ses Stammeln mit einer Aussprachestörung des
gen, können undeutlich und somit in vielen Fällen
stimmhaften ⬎⬎V⬍⬍.
nur unverständlich sprechen.
Tab. 28.2 Die vier Aphasie-Typen nach Leitsymptomen unterteilt (aus Meier-Baumgartner, H.P., R.-M. Schütz: Der Schlag-
anfall-Patient, Hans Huber, Bern 1994)
Sprachproduktion meist flüssig flüssig, überschießend gering, verlangsamt spärlich bis fehlend, Auto-
(Logorrhö) matismen
Paraphasien und wenig Paraphasien, Satz- reichlich semantische u. oft phonematische Para- viele phonematische Para-
Satzbau bau kaum gestört, um- phonematische Parapha- phasien, Agrammatismus phasien und Neologismen,
schreibende Sätze bei sien bis hin zu Neologis- (Fehlen von Funktions- Satz hat oft nur Einzelwör-
Wortfindungsstörung men (in der stärksten wörtern, d. h. einfache ter oder Sprachautomatis-
typisch Form semantischer Jar- Satzstrukturen) men
gon); Paragrammatismus
Sprachmelodie erhalten, aber zögernde erhalten stark gestört (oft nivellie- stark gestört, oft Artikula-
und -rhythmus Sprechweise durch Wort- rend), zusätzlich ggf. korti- tion dysarthrisch
(Prosodie) findungsstörung kale Dysarthrie
ge, sich oft wiederholende Laute. Die globale Aphasie wirkungen auf die Stimmlage, die Tonhöhe und das
wird auch als die schwerste Form der Aphasie be- Sprechtempo. Die Sprache gilt als das wichtigste
zeichnet, da hierbei sowohl die Sprachproduktion als menschliche Kommunikationsmittel. Umso mehr
auch das Sprachverständnis stark reduziert sind. trifft es Menschen, wenn sie sich sprachlich nur noch
Bei der amnestischen Aphasie sind in erster Linie eingeschränkt bzw. gar nicht mehr verständigen
Wortfindungsstörungen zu beobachten. Selten kön- können. Liegen Störungen der Sprache zentral-ner-
nen auch Störungen des Sprachverständnisses oder vöse Ursachen zugrunde, wie beispielsweise ein apo-
der Artikulation von Worten auftreten. Lesen und plektischer Insult, sind auch Störungen der Bewe-
Schreiben sind nur gering betroffen. Ebenso ist der gungen des betroffenen Menschen zu beobachten.
Sprachfluss gut erhalten und es überwiegt ein intak-
ter Satzbau. Allen beschriebenen Formen der Apha-
sie liegt eine Schädigung des Sprachzentrums im Ge- 28.4 Besonderheiten bei Kindern
hirn zugrunde, die in den meisten Fällen auf einen Sigrid Flüeck*, Tina Wilhelm
apoplektischen Insult zurückzuführen ist. Tab. 28.2
zeigt die Leitsymptome der verschiedenen Aphasien 28.4.1 Entwicklungsmäßige Voraussetzungen
im Überblick. Die Voraussetzungen zur sprachlichen Entwicklung
eines Kindes sind bereits im Mutterleib vorhanden.
!
Merke: Die schwerste Form einer Sprachstö- Der Embryo trainiert hier schon seine orofasziale
rung, die als Folge einer Hirnschädigung ent- Muskulatur (Mundmuskulatur) durch Saugen, Trin-
28
standen ist, wird als Aphasie bezeichnet. ken und Daumenlutschen. Eine weitere Vorausset-
zung ist die ungestörte Entwicklung des Hörvermö-
Zusammenfassung: gens (Abb. 28.2). Die Entwicklung des Hörorgans be-
Aphasie ginnt in der 3. Schwangerschaftswoche und ist be-
Bei der sensorischen/rezeptiven Aphasie verlieren reits in der 1. Hälfte der Schwangerschaft abge-
die Betroffenen das Sprachverständnis. schlossen. Alfred A. Tomatis, ein HNO-Arzt, stellte
Die motorische/expressive Aphasie äußert sich in fest, dass ein Fetus bereits im Mutterleib auf die
der Unfähigkeit, die passenden Worte zu finden. Stimme der Mutter reagiert. Das Gelingen dieses in-
Nach den 4 Hauptsyndromen unterscheidet man trauterinen Dialogs ist ein wesentliche Vorausset-
Broca-, Wernicke-, globale und amnestische Apha- zung für eine ungestörte Kommunikationsentwick-
sie. lung.
Während das Hören und die Sprachanlage ange-
boren sind, muss die Sprache mit Beginn des Lebens
28.3 Ergänzende erworben werden. Dazu gehören:
Beobachtungskriterien Die Wahrnehmung über die Sinne, z. B.: das Hö-
ren: Sprachmelodie; das Sehen: Form, Farbe; das
Die meisten Menschen setzen zur Unterstützung ih- Tasten: begreift und fühlt mit den Fingern; das
rer Stimme und Sprache ihre Hände und ihren Körper Riechen: riecht das für den Gegenstand typische
ein. Daher sind Stimme und Sprache nicht isoliert Aroma oder riecht nicht; das Schmecken:
von der Mimik und Gestik eines Menschen beob- schmeckt süss, sauer, bitter, salzig usw.
achtbar (s. a. S. 414). Sie qualifizieren das gesproche- Die sozioemotionale Entwicklung: Kind schreit, ~
ne Wort zusätzlich. Die Wortwahl ist abhängig von Mutter reagiert und erkennt am Klang die Ursa-
dem Kontext, in dem die jeweilige Kommunikation che des Schreiens.
stattfindet und der Art der Beziehung zwischen den Die geistige Entwicklung/Hirnreife: Kind nimmt
Kommunikationspartnern: dienstliche Gespräche gezielt ein Spielzeug wahr, erkennt es wieder und
haben im Allgemeinen einen eher förmlichen Cha- möchte nur dieses Spielzeug haben.
rakter, während Gespräche zwischen zwei sich nahe- Die Entwicklung der Bewegungsfähigkeit (Grob-
stehenden Menschen sehr privater Natur sein kön- und Feinmotorik): Um sich die Welt zu erschlie-
nen. Die Stimme variiert vor allem in Abhängigkeit ßen und um die für die Aussprache richtige Stel-
von der jeweiligen psychischen Verfassung einer lung und Spannungszustände der Mundmuskula-
Person. Emotionale Erregung hat häufig auch Aus- tur zu üben.
Töne, Geräusche
Rhythmus
OHR
(hört)
sendet sendet
Impulse Impulse
über GEHIRN über SPRECHORGANE
Hörbahnen (versteht, motorische (sprechen
zum speichert, Nervenbahnen mit Mund, Lippen, Zunge,
verarbeitet an Kehlkopf, Nasen-Rachen)
Melodien,
Worte, Inhalte)
vermitteln Sprache,
Informationen:
Gedanken, Gefühle und
Empfindungen
Die Stimme entfaltet sich über das Schreien des Im darin anschließenden Zweiwortstadium be-
Säuglings, und die Funktion der Stimmbänder wird ginnt das Kind mit ca. 18 Monaten, 2 sinnvolle
somit regelmäßig trainiert. Wörter aneinander zu kombinieren, (Ball da/Tee
haben). Das Sprachverständnis, der passive Wort-
schatz, ist dem aktiven Wortschatz weit voraus;
28.4.2 Normale Sprachentwicklung des Kindes
d. h. das Kind versteht mehr, als es sprechen kann.
!
Merke: Der Spracherwerb des Kindes erfolgt Sprache wird durch Gestik und Mimik unter-
auf der Basis angeborener und sich entwi- stützt.
ckelnder Sprachfähigkeiten in Interaktion Nach dem Zweiwortstadium nimmt der Wort-
zwischen Lebensumwelt, Kultur und Gesellschaft. Die schatz des Kindes enorm zu. Es spricht in kurzen,
Umwelt hat eine auslösende, orientierende und for- einfachen Sätzen, Funktionswörter (z. B. der, die,
mende Funktion. das, von, bei, auf, neben) fehlen noch häufig. Über
die Stimme und Intonation (Stimmklanghöhe)
Das Lallstadium beginnt mit dem 4. – 5. Monat. wird deutlich, ob es sich um einen Befehl, eine
Das Baby bringt während des Lallens undifferen- Frage oder eine Aussage handelt, z. B. „Ball ha-
zierte Laute hervor. In der weiteren Entwicklung ben“ = Frage?, Befehl?, Bitte?. Dieses Stadium
werden diese Laute auf solche reduziert, die das wird auch das Stadium des Telegrammstils ge-
Kind in seiner Umgebung wahrnimmt. Durch das nannt. Die Artikulation des Kindes wird immer
Hervorbringen der Laute und in Verbindung mit besser und erreicht mit 3 Jahren die Verwendung
dem Trinken und Saugen wird die orofasziale von Personalpronomen (ich, du, er). Gleichzeitig
Muskulatur gekräftigt. werden Hilfsverben zur Bildung der Vergangen-
Das Einwortstadium beginnt am Ende des ersten heit benutzt (z. B. ich habe gegessen). Die Kinder
Lebensjahres und ist gekennzeichnet durch den besitzen zunehmend Fähigkeiten, abstrakte Ge-
größtmöglichen Kontrast in der Vokalkonso- dankengänge zu verstehen, und beginnen Gegen-
nantverbindung, wie z. B. den Lippenschluss sätze (z. B. heiß – kalt; kalt – kälter) anzugeben.
(mtp), und die größtmögliche Mundöffnung (a). Im Verlauf der weiteren Entwicklung werden die
Es werden Silben verdoppelt und Silbenverbin- Laute und Lautverbindungen der Muttersprache
dungen gebildet sowie kleine Aufforderungen immer konkreter ausgesprochen. Es gibt Erinne-
verstanden. rungen an die Vergangenheit und Wünsche an die
Zukunft (Mama war beim Friseur und ich möchte Laute nur mit gezielter Unterstützung. In seiner
mit Oma ein Eis essen gehen). Spontansprache verwendet es diese Laute jedoch
Das Fragealter drückt sich durch die Frage: „WA- nicht. Es lässt einen oder mehrere Laute aus, oder er-
RUM?“ aus, das Kind hinterfragt viele Dinge, die setzt Laute oder Lautverbindungen durch andere
man gar nicht sehen oder anfassen kann. Im Alter (z. B. statt „Banane“ sagt das Kind „Nane“; statt
von 4 – 6 Jahren spricht das Kind fließend, Gedan- „Staubsauger“ sagt es „Taubsauger“; statt „Keks“
kengänge und Geschichten werden nacherzählt. „Teks“), was bedeutet, dass der Lauterwerb im Rah-
Das Kind erkennt und benennt Farben, zählt bis men der Sprachentwicklung bei diesen Kindern noch
10, kann telefonieren und unterscheidet Vor- und nicht abgeschlossen ist (s. a. S. 460).
Nachnamen (Abb. 28.3).
Sigmatismus (Lispeln)
28.4.3 Kindliche Sprachstörungen Hier handelt es sich um eine spezielle Form der
Kindliche Sprachstörungen werden unterschieden Dyslalie, die bei Kindern zunächst häufig auftritt. Da-
in Sprachentwicklungsverzögerungen (SEV) und bei werden „S“-Laute und Zischlaute falsch gebildet,
Sprachentwicklungsstörungen (SES). z. B. rutscht die Zunge zwischen die Zähne statt hin-
ter sie.
Sprachentwicklungsverzögerung
Definition: Von einer Sprachentwicklungsver- Dysgrammatismus
zögerung spricht man, wenn in den Bereichen Unter Dysgrammatismus werden Störungen beim Er-
28
Sprachverständnis, Artikulation, Wortschatz werb und Gebrauch der Grammatik verstanden. Sie
und Grammatik eine zeitliche Verzögerung auftritt. zeigen sich im Auslassen von Wörtern und Satzteilen
(z. B. „Papa Auto“, „Tom müde“), in der mangelnden
Die Verzögerung kann in absehbarer Zeit aufgeholt Übereinstimmung zwischen Artikel und Substantiv
werden. (z. B. „das Junge“, „der Milch“) oder Subjekt und Verb
(z. B. „ich spielen“, „du macht“), aber auch in einer fal-
Sprachentwicklungsstörung schen Stellung der Wörter innerhalb eines Satzes
Ist der Rückstand in der Entwicklung deutlich größer (z. B. „gestern bei Oma bin gewesen ich“).
als ein 1/2 Jahr, spricht man von einer Sprachentwick-
lungsstörung. Diese ist gekennzeichnet durch: Stottern
Sprachverständnisstörung, Bei einer großen Anzahl von Kindern kommt es zwi-
Dyslalie, schen dem 3. – 5. Lebensjahr zu einer Art „Stottern“.
eingeschränkten Wortschatz und Es sind Sprechunflüssigkeiten, die entstehen, wenn
Dysgrammatismus. das Kind seine Gedanken nicht so schnell, wie es
möchte, in eine geordnete Sprache umsetzen kann.
Der Störungsgrad der einzelnen Symptome kann un- Sie gehören zum physiologischen kindlichen Sprech-
terschiedlich ausgeprägt sein. verhalten und sind nicht als eine Störung anzusehen.
Es ist sehr schwierig, diese physiologische Sprechun-
Dyslalie flüssigkeit von beginnendem Stottern zu unterschei-
Definition: Unter einer Dyslalie wird die Fehl- den. Bei der altersgemäßen Unflüssigkeit des Spre-
artikulation eines Lautes, mehrerer Laute, Laut- chens beziehen sich die Wiederholungen insbeson-
verbindungen oder ganzer Lautgruppen ver- dere auf Satzteile („was ist, was ist da, was ist da“)
standen. Beim Stottern ist die Wiederholung besonders auf
einzelne Laute bezogen. („d-d-das“). Der Unter-
Sie zeigt sich in 2 Formen. Bei der ersten Form, der schied liegt auch in der Dehnung der einzelnen Lau-
Artikulationsstörung, ist die Sprache richtig erwor- te. Diese sind bei der Sprechunflüssigkeit eher kurz
ben. Die Störung liegt in der korrekten Bildung ein- („dddein“); und beim beginnenden Stottern sehr
zelner Laute und Lautverbindungen; d. h. das Spre- lang („ddddddein“) Wichtig ist die Beobachtung der
chen ist gestört. altersgemäßen Sprechunflüssigkeiten. Sie sollten
Die andere Form ist die Lauterwerbsstörung. Das nicht länger als ein 1/2 Jahr dauern.
Kind bildet die fehlenden oder fehlerhaft gebildeten
466
Beispiele Sprach- Wortschatz Artikulation Grammatik Sprach- Alter
verständnis verständnis
ca. 6 Jahre
„Als ich noch kleiner Wortschatz ermöglicht Alle Laute werden Grammatik wird weitgehend be-
war, bin ich noch nicht differenzierten Ausdruck. korrrekt gebildet herrscht, Gedankengänge können
alleine in den Kinder- Auch abstrakte Begriffe variiert ausgedrückt werden (verschie-
garten gegangen.“ werden auf kindlichem dene Zeit- und Pluralformen).
Niveau sicher gehandhabt. Geschichten können nacherzählt
28 Stimme und Sprache
werden.
ca. 4 Jahre
„Gestern war ich mit Mama Wortschatz wächst Bis auf evtl. Zischlaute und schwie- Bildung komplexerer Sätze,
beim Doktor.“ weiter an. rige Konsonantenverbindungen schwierige Satzkonstruktionen
„Die Sp(r)itze, die er mir Farben und Fürwörter (z. B. kl, dr) beherrscht das Kind die können noch fehlerhaft sein.
gegebt hat, tat nicht weh.“ werden verwendet. Laute der Muttersprache. Evtl. Nebensätze können gebildet
„Physiologisches Stottern“ (locke- werden.
re Laut- und Wortwiederholungen).
ca. 3 Jahre
BAND 2
Bis zu 50 Wörtern, Es kommen 1. Fragealter mit
, Hauptwörter, weitere Laute Satzmelodie.
„Is n das ?“ „Papa weg.“ „B(r)ot aufessen.“
einfache Verben hinzu, z. B. Zwei- und Drei-
und Adjektive W, F, T, D. wortsätze.
ca. 11/2 Jahre
Einzelne m, b, p, n Einwort-
Wörter Beginn von sätze
gezielter (Frage durch
„Ball“ „mein“ „habn“ Lautbildung Betonung)
bei der
Wortpro-
duktion.
ca. 1Jahr
„Mama“ „Mimi“ „Wau-wau“ Erste Wörter
breite Palette von Lauten
Silbenverdoppelung
„ba-ba-ba“ „ga-ga“
Lallen
ca. 1/2 Jahr
Lallen
„gr-gr“ „ech-ech“ Gurren
Schreien (Die Altersangaben sind Durchschnittswerte, sie
dürfen nicht als starre Normen verstanden werden.)
Abb. 28.3 Sprachpyramide. Sprachentwicklung von Kindern zwischen 6 Monaten und 6 Jahren (aus Hoehl, M., P. Kullick. Gesundheits-
KaelDesu
28.5 Besonderheiten bei älteren Menschen
Tab. 28.3 Abgrenzung altersgemäße Sprechunflüssigkeiten – beginnendes Stottern – chronisches Stottern (aus Wend-
landt, W.: Sprachstörungen im Kindesalter, 8. Aufl. Thieme, Stuttgart 2016)
1
Störungsbewusstsein muss beim Kind nicht vorliegen.
2
Schwa-Laut klingt wie das „e“ am Ende von „eine“ und „beinahe“, gilt als Warnzeichen für den Beginn des chronischen Stotterns.
3
Die hier aufgeführten Merkmale chronischen Stotterns treten nicht immer gemeinsam bei einem Kind auf.
Eine detaillierte Aufstellung anhand von Sprech- 28.5 Besonderheiten bei älteren
beispielen über altersgemässe Sprechunflüssigkeit
Menschen
und beginnendes Stottern sowie chronische Stottern
wird in Tab. 28.3 aufgezeigt. Marion Weichler-Oelschlägel
wenige Worte wie „Ja, nein“ reduziert oder von Aus- war. Offenbar hatte sie vergessen, ein Bügeleisen aus-
flüchten geprägt ist. zuschalten, welches Feuer fing und war auf dem Sofa
Die unter 28.3 beschriebenen Formen der Aphasie eingeschlafen.
treten bei geriatrischen Personen nicht immer in ih- Frau Kromm lebt allein mit ihren Haustieren in einer
rer jeweiligen Reinform auf. Häufig kommen alters- kleinen Mietwohnung. Zu der Nachbarin hält sie einen
bedingte Erkrankungen wie Seh- und Hörstörungen regelmäßigen Kontakt. Der Rauch hat bei ihr eine ex-
sowie schlecht sitzende Zahnprothesen kommuni- treme Schleimhautreizung, die mit einer Aphonie ein-
kationserschwerend hinzu. Darüber hinaus führen hergeht, ausgelöst. Frau Kromm ist momentan in ihrer
multiple kleine Läsionen oder massivere Reinfarkte verbalen Kommunikationsfähigkeit massiv einge-
beim apoplektischen Insult ebenso zu vielfältigen schränkt, worunter die kontaktfreudige Frau sehr lei-
sprachlichen Schwierigkeiten. Besonders häufig sind det. Außerdem sorgt sie sich um die Verpflegung ihrer
in der Geriatrie Menschen mit globalen Aphasien, Haustiere und den Zustand der Wohnung während
aber auch Broca- und Wernicke-Patienten anzutref- ihres Krankenhausaufenthalts.
fen. Tab. 28.4 zeigt einen Auszug aus dem Pflegeplan von
Frau Kromm, eine mögliche Pflegediagnose zeigt die
Zusammenfassung: folgende Übersicht:
Besonderheiten bei Kindern und älteren
Menschen
Die Sprachentwicklung beim Kind durchläuft das Beeinträchtigte verbale Kommunikation (P)
28
Lall-, das Einwort-, das Zweiwortstadium, das Sta- (Gordon 2013, S. 429 – 431, NANDA-I 2016)
dium des Telegrammstils und das Fragealter. Impaired verbal communication (00051) (1983, 1996,
Störungen werden in Sprachentwicklungsverzöge- 1998)
rungen und Sprachentwicklungsstörungen unter- Taxonomie II: Domäne 5: Wahrnehmung/Kognition,
teilt. Klasse 5: Kommunikation
Die Dyslalie bei Kindern äußert sich als Artikulati- Diagnosetyp (Dokumentationsform): aktuelle Pflege-
ons- oder als Lauterwerbsstörung. diagnose (PES)
Sigmatismus, Stottern und kindliche Dysphonie Funktionelles Gesundheitsverhaltensmuster:
sind häufige Erkrankungen bei Kindern. Rollen und Beziehungen
Bei älteren Menschen zeigen sich Sprachschwierig-
Definition
keiten aufgrund altersbedingter Erkrankungen.
Veminderte, verzögerte oder fehlende Fähigkeit, ein
System von Zeichen zu empfangen, zu verarbeiten,
weiterzugeben und/oder zu nutzen
28.6 Fallstudien und mögliche
Pflegediagnosen Einflussfaktoren (E)
physiologische Einschränkungen (z. B. Psychose, feh-
Störungen der Stimme und Sprache ziehen je nach lende Reize)
Ausprägung in den meisten Fällen eine Beeinträchti- Abweichungen im Bezug zum Entwicklungsalter
(entwicklungs- oder altersbedingte Faktoren)
gung der Kommunikationsfähigkeit nach sich.
verminderte Hirndurchblutung
Gehirntumor
Beispiel: Frau Kromm ist 67 Jahre alt und
anatomischer Defekt (z. B. Gaumenspalte, Verände-
gestern als Notfallpatientin mit einer Rauch-
rungen des neuromuskulär-visuellen Systems, des
vergiftung in das Krankenhaus aufgenom-
auditorischen Systems, des Sprechapparats
men worden. Sie selbst konnte auf Grund einer extre-
körperliches Hindernis (z. B. Tracheostoma, Intuba-
men Heiserkeit, die sich inzwischen bis zur Aphonie ge-
tion)
steigert hat, kaum Angaben über das Geschehene ma- physiologische Zustände
chen. Ihre Nachbarin, die sie begleitet hat, berichtete, Verändertes zentrales Nervensystem
dass sie plötzlich beißenden Rauch im Treppenhaus Schwächung des muskuloskelettalen Systems
wahrgenommen hatte und umgehend die Feuerwehr emotionale Zustände
alarmierte. Frau Kromm wurde in einem Zustand an- Stress
getroffen, in dem sie nur noch bedingt ansprechbar Hindernisse in der Umgebung
Frau Kromm leidet auf- Frau Kromm kann ihre NZ: 쐌 Frau Kromm überwiegend Fragen stel-
grund einer Rauchvergif- Wünsche und Bedürfnisse Frau Kromm len, die sie mit Kopfnicken bzw. Kopf-
tung an einer akuten schriftlich äußern 쐌 fühlt sich sicher und verstanden schütteln (ja/nein) nonverbal beant-
Aphonie und kann sich 쐌 kann Bedürfnisse und Wünsche worten kann
verbal nicht verständlich mitteilen 쐌 in der Kommunikation Sprechtafel mit
machen 쐌 akzeptiert die Aphonie als vorü- Symbolen einsetzen
bergehende Einschränkung 쐌 Möglichkeit bieten, darüber hinaus-
gehende Bedürfnisse aufzuschreiben
쐌 Information über zeitliche Begren-
zung der Aphonie
Frau Kromm sorgt sich Frau Kromm hat guten Frau Kromm 쐌 Regelmäßige Kontakte zwischen Frau
um die Verpflegung ihrer Kontakt zu ihrer Nachba- 쐌 weiß, dass ihre Tiere und ihre Kromm und ihrer Nachbarin auch au-
Haustiere und den Zu- rin, die sich während ihres Wohnung gut versorgt sind ßerhalb der Besuchszeiten ermögli-
stand ihrer Wohnung Krankenhausaufenthalts 쐌 kann sich auf ihren Genesungs- chen
um Wohnung und Tiere prozess konzentrieren 쐌 in Absprache mit Frau Kromm die
kümmern will Casemanagerin einschalten
Linus ist in seiner verbalen Die Eltern regen die Sprach- Linus Sprechangst reduzieren durch:
Kommunikation durch das entwicklung an und lassen 쐌 akzeptiert die Förder- 쐌 Geduld und Verständnis zeigen
Stottern eingeschränkt. Er sich dabei von Fachpersonal maßnahmen zur Verbes- 쐌 verzögerte Sätze nicht ergänzen
artikuliert sich unter großer unterstützen serung seiner Kommuni- Selbstbewusstsein stärken durch:
Anstrengung und traut sich kationsmöglichkeiten 쐌 positive Eigenschaften hervorheben
kaum noch, zu sprechen 쐌 nutzt die verbale Kom- 쐌 Fähigkeiten aufzeigen
munikation trotz seines 쐌 nicht ständig auf die Störung hinweisen
Stotterns Zusammenarbeit mit Logopäden
Eltern über die Möglichkeit psychothera-
peutischer Unterstützung informieren
Kontakt zu gleichaltrigen Betroffenen
ermöglichen
Für Frau Kromm könnte die Pflegediagnose lauten: Fazit: Eine intakte Stimme und die Möglich-
beeinträchtigte verbale Kommunikation keit, über eine gemeinsame Sprache mit an-
beeinflusst durch (b/d) deren Menschen in Kontakt zu treten, sind
28 Aphonie aufgrund einer Rauchvergiftung entscheidend für das Wohlbefinden und die verbale
angezeigt durch (a/d) die Unfähigkeit zu sprechen. Kommunikationsfähigkeit. Die normale Stimmbildung
ist abhängig von funktionsfähigen anatomisch-phy-
Beispiel: Linus ist 41/2 Jahre alt. Vormittags siologischen Gegebenheiten.
besucht er seit einigen Monaten den Kinder- Für die gesamte Entwicklung des Kindes ist es von
garten seines Heimatorts. Von dort wird Li- großer Bedeutung, dass das Kind der Welt des Redens
nus von Fr. Meier, einer älteren Dame, abgeholt. Nach- und der Sprache mit Neugier und Interesse gegenüber-
mittags wird er von ihr in ihrer Wohnung betreut, bis stehen kann. Sprache wird nicht vererbt, daher ist das
ihn seine Eltern, die ganztägig arbeiten, abholen. Seit Sprachbild der Familie und der Erziehungspersonen
einiger Zeit fällt der Mutter ein beginnendes Stottern von zentraler Bedeutung. Sprachauffälligkeiten kön-
auf. Es macht sich durch das Langziehen einzelner An- nen durch gezieltes Üben und durch gezielte Anregun-
fangsbuchstaben bemerkbar. Linus macht große gen verändert werden.
Sprechpausen und vermittelt einen Ausdruck von kör- Die Anwendung der Sprache als wichtigstes Kom-
perlicher Anspannung. Er traut sich kaum noch zu munikationsmittel der Menschheit setzt hingegen ge-
sprechen. Die Eltern stellen Linus beim Kinderarzt vor, wisse intellektuelle Fähigkeiten voraus. Das gesproche-
der sie zunächst zu einem HNO-Arzt und zu einer ne Wort soll einen Sinn haben, daher ist die Verständi-
Sprachheilpädagogin überweist. Tab. 28.5 zeigt einen gung über das Sprechen von der Denkfähigkeit der
Auszug aus dem Pflegeplan von Linus, eine mögliche Beteiligten abhängig. Welche Wörter dazu gewählt
Pflegediagnose geht aus der oben angeführten Über- werden und wie reich der angewandte Wortschatz ist,
sicht hervor. wird maßgeblich durch das Bildungsniveau und das
soziale Umfeld des Menschen beeinflusst.
Für Linus könnte folgende Pflegediagnose gestellt Störungen oder gar der Verlust von Stimme und
werden: Sprache können sowohl in einer gestörten Hirnfunkti-
Beeinträchtigte verbale Kommunikation on als auch in anatomischen Fehlanlagen am Sprech-
beeinflusst durch (b/d) apparat ihre Ursache haben. Darüber hinaus können
Sprechunflüssigkeit Abweichungen und Veränderungen vom Normalzu-
angezeigt durch (a/d) stand auch psychogen bedingt sein.
Stottern,
undeutliche Aussprache von Worten und Sätzen.
28
Glossar
Abasie (griech. a – ohne, Mangel an; basis – Gang). Adnexe (lat. adnexum – Anhang, Beigabe). Anhangs-
Psychisch oder organisch bedingte Gangunfähig- gebilde (bei Frauen: Tuben, Ovarien; bei Män-
keit nern: Prostata, Samenblase)
Abduktion (lat, ab – von etwas weg; ducere – führen). Aerophagie (griech. aer – Luft; phagein – essen). Ver-
Bewegung, bei der z. B. eine Extremität vom Kör- schlucken von Luft
per abgespreizt wird, vom Körper weg geführt Affektivität (lat. affectus – Gemütsverfassung). Die
wird Gesamtheit des Gefühls-, Gemüts- und Stim-
Abduktionskontraktur (lat. ab – von etwas weg; du- mungserlebens
cere – führen, contrahere – steifmachen, zusam- Affektstarre (lat. affectus – Gemütsverfassung). Zu-
menziehen). Versteifung eines Gelenkes in vom stand, der gekennzeichnet ist durch ein Fehlen
Körper abgespreizter Stellung der affektiven Betonung und eine herabgesetzte
Absence (lat. absentia – Geistesabwesenheit). Kurze affektive Ansprechbarkeit
Bewusstseinstrübung Ageusie (griech. a- – ohne, Mangel an; geusis – Ge-
Absolute Arrhythmie (griech. a – ohne, Mangel an; schmack). Fehlende Geschmacksempfindung
rhythmos – Gleichmaß, Takt). Vollständig unre- Agnosie (griech. a- – ohne, Mangel an; gnosis – das
gelmäßig erfolgende und beschleunigte elektri- Erkennen). Störung des Erkennens bei ungestör-
sche Herztätigkeit ter Funktion des entsprechenden Sinnesorgans
Abszess (lat. abscedere – absondern). Eiteransamm- Agnosie, auditiv (griech. a- – ohne, Mangel an; gnosis
lung in einer nicht vorgebildeten Höhle – das Erkennen, lat. audire – hören). Unfähigkeit,
Acholie (griech. a – ohne, Mangel an; chole – Galle). Gehörwahrnehmungen mit dem akustischen Er-
Fehlende Absonderung von Gallenflüssigkeit in innerungsgut zu identifizieren
den Darm Agnosie, Autotop-(griech. a- – ohne, Mangel an; gno-
Achondroplasie (griech. a – ohne, Mangel an; chon- sis – das Erkennen, autos – selbst, unmittelbar; to-
dros – Knorpel; plasis – Bildung, Form). Störung pos – Stelle). Unfähigkeit, trotz erhaltener Ober-
der Knorpelbildung, Synonym für Chondrodys- flächensensibilität die richtige Lokalisation von
trophie Hautreizen am Körper vorzunehmen
Adaption (lat. adaptare – anpassen). Anpassungsver- Agnosie, optisch (griech. a- – ohne, Mangel an; gno-
mögen von Organen sis – das Erkennen; optikos – das Sehen). Unfähig-
Adduktion (lat. ad – nach. . . hin, zu, heran; ducere – keit, Sichtwahrnehmungen mit dem optischen
führen). Bewegung, bei der z. B. eine Extremität Erinnerungsgut zu identifizieren, Synonym: See-
an den Körper herangezogen wird, an den Körper lenblindheit; Unterformen stellen die Objekt-
herangeführt wird agnosie (Unfähigkeit, Gegenstände visuell zu er-
Adenom (griech. aden – Drüse; -om – Geschwulstbil- kennen) und Prosopagnosie (Störung der Ge-
dung). Eine vom Drüsengewebe ausgehende, gut- sichtswahrnehmung)
artige Geschwulst Agnosie, taktile (griech. a- – ohne, Mangel an; gnosis
Adhäsion (lat. adhaesio – Aneinanderhaften, Verkle- – das Erkennen; lat. tangere, tactum – berühren).
bung, Verhaften). Verklebung, Verwachsung Unfähigkeit, zu einem tastenden Formerkennen
zweier Organe infolge Operationen oder Entzün- bei intakter Sensibilität, Synonym: Astereognosie
dungen Akinesen (griech. a- – ohne, Mangel an; kinesis – Be-
Adipositas (lat. adiposus – fettreich, verfettet). Fett- wegung). Bewegungslosigkeit bzw. Bewegungs-
sucht, Übergewicht von mindestens 20% über armut; Hemmung der Bewegungen vor allem des
Broca-Normalgewicht oder 30 BMI Rumpfes und der Gesichtsmuskulatur z. B. bei M.
Adipsie (griech. a- – ohne, Mangel an; dipsa – Durst). Parkinson
Fehlendes Bedürfnis nach Flüssigkeitsaufnahme Akne vulgaris (griech. Akne – Spitze, Gipfel; vulgaris
– allgemein, gewöhnlich). Erkrankung der
Talgdrüsen, die mit einer Knötchen- und Pustel-
472
KaelDesu
Glossar
bildung einhergeht, insbesondere während der Amyloidose. Bindegewebige und perivaskuläre Abla-
Pubertät, sog. gewöhnliche Akne gerungen von fibrillären Proteinen und nachfol-
Akromegalie (griech. akron – äußerst; megas, mega- gende Störung des Stoffaustausches an einer oder
los – groß). Erkrankung, bei der die diastalen Kör- mehreren Körperstellen. Die betroffenen Organe,
peranteile vergrößert sind z. B. Leber, Herz, Niere, Knochenmark, Atemtrakt
Aktivitätsintoleranz. Von der NANDA anerkannte und Haut, sind vergrößert, konsistenzvermehrt
Pflegediagnose; Definition: Ein Zustand, der ei- und hart sowie in ihrer Funktion beeinträchtigt,
nem Menschen nur ungenügende, physische oder bzw. verlieren ihre Funktion
psychische Kraft lässt, um die erforderlichen oder Analfissur (lat. anus – Ring; fissum – Spalt). Schmerz-
erwünschten Aktivitäten des täglichen Lebens zu hafter ovaler Längseinriss der Schleimhaut des
verkraften oder auszuführen unteren Analkanals
Albinismus (lat. albus – weiß). Hypopigmentierung Analfistel (lat. anus – Ring; fistular – Röhre). Röhren-
der Haut und Schleimhäute aufgrund fehlender förmiger Gang zwischen dem After und dem
Pigmentkörperchen Darmlumen oder der Körperoberfläche
Algesimetrie (griech. algos – Schmerz, Leid; metron – Analgesie (griech. an – ohne, Mangel an; algos –
Maß). Verfahren zur Messung der Schmerzemp- Schmerz). Aufhebung der Schmerzempfindung
findung Anämie (griech. an – ohne, Mangel an; haima – Blut).
Algurie (griech. algos – Schmerz, Leid; ouron – Harn). Blutarmut, Verminderung der Erythrozyten und/
schmerzhafte Harnentleerung oder des Hämoglobingehaltes, des Hämtokrits
Alkalose. Anstieg des aktuellen pH-Wertes der extra- Anästhesie (griech. an – ohne, Mangel an; aisthesis –
zellulären Flüssigkeit auf mehr als 7,41 Empfindung). Völlige Unempfindlichkeit gegen-
Allgemeinzustand. Eindruck, den ein Mensch bei ei- über Schmerz-, Temperatur- und Berührungsrei-
ner ersten Betrachtung hinterlässt, Abkürzung: zen
AZ Anhidrose (griech. an – ohne, Mangel an; hidros –
Alopecia areata (griech. alopekia – Haarausfall; lat. Schweiß). Fehlende Schweißsekretion
area – Fläche, umschriebenes Feld). Kreisrunder Anorexia nervosa (griech. an – ohne, Mangel an; ore-
Haarausfall xis – Verlangen, Begierde; lat. nervosus – sehnig,
Alopezie (griech. alopekia – Haarausfall). Haarausfall nervig). Psychisch bedingte Essstörung, die mit
Alveole (lat. alveolus – kleine Mulde). Lungenbläs- einer verzerrten Einstellung gegenüber dem eige-
chen nen Körper, der Nahrungsaufnahme und dem Ge-
Amenorrhoe (griech. a- – ohne, Mangel an; men – wicht einhergeht
monat; -rhoe – fließen, Fluss). Ausbleiben der Anosmie (griech. an – ohne, Mangel an; osme – Ge-
Menstruation ruch). Fehlendes Geruchsvermögen
Amnesie, anterograd (griech. a- – ohne, Mangel an; Anosognosie (griech. a- – ohne, Mangel an; nosos –
-mnesis – Erinnerung; lat. anterior – vorderer; Krankheit; gnosis – Erkennen). Unfähigkeit, eine
gradi – laufen, schreiten). Gedächtnislücke für ei- eigene Erkrankung bzw. Funktionsausfälle zu er-
nen Zeitraum nach der Bewusstlosigkeit kennen
Amnesie, psychogen (griech. a- – ohne, Mangel an; Antidepressiva (griech. anti – gegen, entgegen; lat.
-mnesis – Erinnerung; psycho – Seele, Gemüt; deprimere – niederdrücken). Psychopharmaka
-gen – erzeugend, verursachend). Gedächtnislü- mit antriebssteigernder, angstdämpfender und/
cke, die durch abnorme Erlebnisreaktionen her- oder stimmungsaufhellender Wirkung
vorgerufen wird Antizipation (lat. anticipare – vorwegnehmen). Vor-
Amnesie, retrograde (griech. a- – ohne, Mangel an; griff, Vorwegnahme
-mnesis – Erinnerung; lat. retro- – zurück, hinter; Anurie (griech. an – ohne, Mangel an; houron –
gradi – laufen, schreiten). Gedächtnislücke für Harn). Geringe Urinausscheidung mit einer Men-
den Zeitraum vor Eintreten der Bewusstlosigkeit ge von weniger als 100 ml in 24 Stunden
Amplitude (lat. amplitudo – Umfang, Größe, Weite). Aortenbogensyndrom (griech. syn – zusammen;
Schwingungsweite von Schwingungen oder Wel- dromos – Lauf). Erkrankung infolge fortschreiten-
len der Stenosierung (Verengung) bzw. Verschluss ei-
473
KaelDesu
Glossar
nes oder mehrerer der vom Aortenbogen abge- Apraxie, Ankleide- (griech. a- – ohne, Mangel an; pra-
henden großen Gefäße xis – Tun). Räumliche Orientierungsstörung, bei
Aortenisthmusstenose (griech. isthm – schmaler Zu- der keine räumlichen Beziehungen zwischen ei-
gang; stenos – eng). Einengung der thorakalen nem Gegenstand und dem Körper hergestellt
Aorta zwischen dem Abgang der linken A. subcla- werden können
via und der Einmündung des Ductus Botalli Apraxie, ideatorisch (griech. a- – ohne, Mangel an;
Aortenklappeninsuffizienz (lat. insufficere – nicht praxis – Tun; idee – Inhalt eines Gedankens). Un-
genügen). Herzklappenfehler mit Schlussunfä- möglichkeit, komplexe und differenzierte Hand-
higkeit der Aortenklappen lungen aufgrund einer Störung des Bewegungs-
Apallisches Syndrom (lat. pallium – die Hirnrinde; entwurfes (Ideation) durchzuführen
griech. syn – zusammen, mit; dromos – der Lauf). Apraxie, ideomotorische (griech. a- – ohne, Mangel
Erkrankung, bei der es zu einer Trennung der an; praxis – Tun, idee – Inhalt eines Gedankens;
Hirnrinde und der übrigen Hirnzentren vom lat. motor – Beweger). Unfähigkeit, Bewegungen
Hirnstamm kommt willentlich abzurufen oder auf Aufforderung oder
Aphasie (griech. a- – ohne, Mangel an; phasis – Spre- Demonstration zu vollziehen
chen). Unfähigkeit zu Sprechen, bei erhaltener Apraxie, konstruktive (griech. a- – ohne, Mangel an;
Funktion der Sprechmuskulatur praxis – Tun; lat. construere – zusammenschich-
Aphasie, Broca (griech. a- – ohne, Mangel an; phasis ten, erbauen, errichten). Unfähigkeit, räumlich zu
– Sprechen). Nach dem französischen Chirurgen strukturieren ohne dass eine Beeinträchtigung
Pierre Broca (1824 – 1880) benannte zentrale elementarer Bewegungsabläufe vorliegt
Sprachstörung, die durch ein gutes Sprachver- Arrhythmie (griech. ar – -un, -los; rhythmos – Gleich-
ständnis und einen erheblich verlangsamten maß, Takt). Zeitlich unregelmäßig erfolgende,
Sprachfluss gekennzeichnet ist elektrische Herztätigkeit
Aphasie, motorische (griech. a- – ohne, Mangel an; Arterie (griech. arteria). Schlagader
phasis – Sprechen; lat. motor – Beweger). Zentra- Arterielle Verschlusskrankheit (AVK). Chron. Arte-
le Sprachstörung, bei der die Betroffenen zwar rienverschlüsse, Bezeichnung für alle organi-
verstehen was gesagt wird, wissen, was sie ant- schen Veränderungen des Gefäßlumens der Arte-
worten möchten, aber unfähig sind, die passen- rien, die zur Stenose (Einengung) oder Obliterati-
den Worte zu finden, Synonym: expressive Apha- on (Verschluss) des Durchmessers führen
sie Arteriosklerose (griech. Arteria – Schlagader; skleros
Aphasie, sensorische (griech. a- – ohne, Mangel an; – hart, spröde). Umgangssprachlich „Arterienver-
phasis – Sprechen; lat. Sensorius – der Empfin- kalkung“; wichtigste und häufigste krankhafte
dung dienend). Zentrale Sprachstörung, bei der Veränderung der Arterien mit Verhärtung, Ver-
das Sprachverständnis verloren geht, Synonym: dickung, Elastizitätsverlust und Lichtungsein-
rezeptive Aphasie engung
Aphonie (griech. a- – ohne, Mangel an; phone – Stim- Arthritis (griech. arthron – Gelenk, -itis – Entzün-
me). Stimmlosigkeit dung). Gelenkentzündung
Apnoe (griech. a- – ohne, Mangel an; pneuma – Luft, Artikulation (lat. articulatio – Gelenk). Im Zusam-
Atem). Atemstillstand menhang mit der Sprache Lautbildung bzw. die
Apokrin (griech. apokrinein – ausscheiden, abson- deutliche Lautbildung bei Vokalen und Konso-
dern). Ausscheidend, absondernd (Drüse) nanten
Apoplexia cerebri (griech. Apolexia – Schlagfluss; lat. Assimilation (lat. assimilare – angleichen). Aufnah-
cerebrum – Großhirn). Gehirnschlag, Synonyme: me der Nahrungsstoffe und Umwandlung in kör-
Schlaganfall, apoplektischer Insult pereigene Stoffe
Applikation (lat. applicare – anlegen, verwenden). Asystolie (griech. a – ohne, Mangel an; systole – Zu-
Verabreichung von Medikamenten sammenziehung). Fehlende Kontraktion des Her-
Apraxie (griech. a- – ohne, Mangel an; praxis – Tun). zens, d. h. Herzstillstand
Unfähigkeit, bei erhaltener Beweglichkeit sinn- Aszites (griech. askites – Bauchwassersucht). An-
voll und zweckmäßig zu handeln sammlung von freier Flüssigkeit in der Bauchhöh-
474
KaelDesu
Glossar
le infolge von Stauungen und entzündlichen Er- autosomal – rezessiv (griech. autos – selbst; soma –
krankungen im Bereich des Bauchfells Körper; lat. recedere – zurückgehen). Erbgang, bei
Ataxie (griech. a- – ohne, Mangel an; taxis – Ord- dem eine Krankheit genetisch auf einem Hetero-
nung). Störung der Bewegungskoordination, un- som (kein Geschlechtschromosom) verankert ist
terschieden werden Gangataxien und Standata- und dann in Erscheinung tritt, wenn beide Eltern
xien das betreffende Gen in der Erbmasse besitzen
Atelektasen (griech. ateles – unvollständig; ektasis – Autosuggestion (griech. autos – selbst; lat. suggestio
Ausdehnung). Ein nicht mit Luft gefüllter Lungen- – Eingebung). Fähigkeit, sich selbst zu beeinflus-
abschnitt, bei dem die Alveolarwände aneinan- sen
derliegen Auxiliaratmung (lat. auxiliaris – helfend). Atmung
Atemfrequenz (lat. frequentia – Häufigkeit). Anzahl unter Einsatz der Atemhilfsmuskulatur
der Atemzüge pro Minute
Atmung, asymmetrisch (griech. asymmetria – Un- Bakteriurie (griech. houron – Harn). Ausscheidung
gleichmäßigkeit). Atmung, bei der sich eine von Bakterien im Urin
Thorxhälfte nicht oder nur in einem verringerten Balbuties (lat. balbutio – Stottern). Stottern
Ausmaß bewegt Barba (lat. barba – Bart). Barthaare
Atmung, inverse (lat. inversio – Umkehrung, Umstel- Basale Stimulation. Nach Fröhlich und Bienstein ein
lung). Atmung, bei der es durch maximale Konzept, das die frühentwickelten (basalen)
Zwerchfellbewegungen zu einer Vorwölbung des Wahrnehmungssysteme stimuliert bei gleichzei-
Abdomens und einer Senkung des Thorax bei der tiger Förderung der Reaktionsfähigkeit
Einatmung kommt, bei der Ausatmung kommt es Basaltemperatur (lat. basalis – an der Basis liegend,
zu einer Einziehung des Abdomens und Hebung Ausgangswert). Morgendliche Körpertemperatur
des Thorax der Frau, die vor dem Aufstehen zur Feststellung
Atmung, paradoxe (griech. para – gegen, doxa – Mei- einer Ovulation gemessen wird
nung). Atmung, bei der während der Inspiration Beobachtung. Systematische, planmäßige, zielge-
eine Einwärtsbewegung und bei der Exspiration richtete Form der Wahrnehmung
eine Auswärtsbewegung des beweglichen Tho- Beobachtungsprozess. Vorgang, der Selektion von
raxwandanteils (z. B. bei Rippenserienfrakturen) Wahrnehmungsreizen, Suchen nach vergleichba-
auftritt ren Merkmalen, Fragestellungen und Interpreta-
Atonie (griech. atonie – Abspannung, Schlaffheit). tionsmöglichkeiten, ihre Überprüfung und Be-
Herabgesetzter Spannungszustand der Muskeln wertung sowie Überprüfung der Wirkung pflege-
Atopie (griech. atopia – Ungewöhnlichkeit, Seltsam- rischen Handelns beinhaltet
keit). Bereitschaft, gegen Stoffe aus der natürli- Bewusstsein. Gesamtheit aller gegenwärtig empfun-
chen Umwelt eine Überempfindlichkeit zu entwi- denen psychischen Vorgänge, die verbunden sind
ckeln; z. B. als atopische Dermatitis mit der Kenntnis über das subjektive Erleben
Atrophie (griech. a- – ohne, Mangel an; throphe – Er- Bigeminie (lat. bi – doppelt, zweifach; geminus –
nährung, Nahrung). Rückbildung von Organen, doppelt). Doppelschlägigkeit, bei der jeder Systo-
Geweben und Zellen aufgrund eines Ungleichge- le über längere Zeit eine Extrasystole folgt, so dass
wichtes zwischen Nahrungsangebot und -bedarf sich an je zwei dicht aufeinanderfolgende Herz-
Attributierung. Ursachenzuschreibung des eigenen schläge eine Pause anschließt
und fremden Verhaltens von Menschen Bilirubinurie (lat. bilis – Galle; ruber – rot: griech.
Auskultation (lat. auscultare – horchen). Abhorchen houron – Harn). Ausscheidung von Bilirubin mit
der im Körper entstehenden Geräusche und Töne, dem Urin
beispielsweise Atmungs-, Darm-, Gefäß- und Biot-Atmung. Nach dem französischen Physiker Ca-
Herzgeräusche und Herztöne meist mit einem mille Biot (1774 – 1862) benannte Form der peri-
Stethoskop odischen Atmung, die durch kräftige Atemzüge
Autismus (griech. autos – selbst). Psychische Störung, von gleicher Tiefe gekennzeichnet ist, welche von
bei der es zu einem Rückzug der Betroffenen in plötzlich auftretenden Atempausen unterbro-
die eigene Phantasiewelt und Unfähigkeit zur chen werden
Kontaktaufnahme kommt
475
KaelDesu
Glossar
Blutdruck, diastolisch (griech. diastole – Ausdeh- Bulbus olfaktorius (lat. bulbus – Zwiebel; lat. olfakta-
nung). In den Blutgefäßen und Herzkammern re – an etwas riechen). Riechkolben, Teil des Sieb-
herrschender Druck bei Kammererschlaffung beins, welcher die Riechnerven aufnimmt
Blutdruck, systolisch (griech. systole – zusammen- Bulimia nervosa (griech. boulimia – Heißhunger; lat.
ziehen). In den Blutgefäßen und Herzkammern nervosus – sehnig, nervig). Psychogene Essstö-
herrschender Druck bei Kammerkontraktion rung, bei der dem Körper hochkalorische Nah-
Blutdruckamplitude (lat. amplitudo – Umfang, Grö- rungsmengen in kürzester Zeit zugeführt werden,
ße, Weite). Differenz zwischen systolischem und die im Anschluss wieder erbrochen werden, Sy-
diastolischem Blutdruckwert einer Herzaktion nonym: Ess-Brechsucht, Fress-Kotzsucht
Body-Mass-Index (BMI). Nach dem belgischen Ma-
thematiker und Statistiker L. A. J. Quetelet be- Caliculi gustatorii (lat. caliculus – kleiner Kelch,
nannter Index zur Bestimmung des Normalge- Knospe; lat. gustus – Geschmack). Geschmacks-
wichtes (Körpergewicht (Kg): Körperlänge (m2), knospen der Zunge
Normbereich: zwischen 19 – 30 BMI, Synonym: Canities (lat. canus – grau). Ergrauen der Haare
Quetelet-Index Capilli (lat. Capillitum – behaarte Kopfhaut). Kopf-
Brachybasie (griech. brachys – kurz; basis – Gang). haar
Kleinschrittiger, trippelnder Gang, z. B. bei M. Par- Cheyne-Stokes-Atmung. Nach den irischen Ärzten
kinson John Cheyne (1777 – 1836) und William Stokes
Brachymenorrhoe (griech. brachy – kurz; mens – (1804 – 1878) benannte Form der periodischen
Monat; -rhoe – fließen, Fluss). Verkürzte Mens- Atmung mit rhythmisch wechselnder zu- und ab-
truation nehmender Atemfrequenz und -amplitude sowie
Bradykardie (griech. brady – verlangsamt; kardia – Atempausen
Herz). Abfall der Herzfrequenz unter 60 Schläge Chloasma gravidarum (griech. chloazein – sprossen,
pro Minute grünen; lat. gravida – schwanger). Hyperpigmen-
Bradypneu (griech. brady – verlangsamt; pneuma – tierung im Gesicht und/oder zwischen Bauchna-
Luft, Atem). Herabgesetzte Atemfrequenz bel und Symphyse während der Schwangerschaft
Broca-Formel. Nach dem französischen Chirurgen Cholera. Akute, durch Vibrio cholerae hervorgerufe-
Pierre Broca (1824 – 1880) benannte Formel zur ne meldepflichtige Infektionskrankheit, die durch
Errechnung des Normalgewichtes (Körpergröße plötzliches Auftreten, Durchfälle und Erbrechen,
in cm minus 100 = Normalgewicht) rasche Exsikkose mit Elektrolytverlust und eine
Bromhidrose (griech. bromos – Gestank; hidros – hohe Letalität gekennzeichnet ist. Auch sind
Schweiß). Unangenehm riechende Schweißab- asymptomatische Infektionen häufig
sonderung Chondrodystrophie (griech. chondros – Knorpel; dys
Bronchialsekret (lat. bronchia – Luftröhrenast; secre- – Störung; trophe – Ernährung). Störung der
tum – Absonderung, Ausscheidung). Schleimige Knorpelbildung, Synonym für Achondroplasie
Absonderung der Zellen der unteren Atemwege Chromhidrose (griech. chroma – Farbe; hidros –
Bronchiektasen (lat. bronchia – Luftröhrenast; Schweiß). Sekretion von farbigem Schweiß
griech. ektasis – Erweiterung). Krankhafte Erwei- Chronobiologische Störungen (griech. chronos –
terungen der Bronchien Zeit; bios – Leben). Störungen des zirkadianen
Bronchitis (lat. bronchia – Luftröhrenast; griech. -itis Rhythmen des menschlichen Organismus, z. B.
– Entzündung). Entzündliche Erkrankung der Störung des Schlaf-Wachrhythmus
Bronchialschleimhaut Circulus vitiosus (lat. circulus – Kreis; vitium – Fehler,
Brucellose. Sammelbezeichnung für meldepflichti- Schaden). Teufelskreis
ge, subakut – rezidivierende Infektionskrankhei- Claudicatio intermittens (lat. claudicatio – Hinken;
ten bei Mensch und Tier, die durch Brucellen aus- intermittere – unterbrechen). Unterbrochenes
gelöst werden Hinken, vor allem bei arterieller Verschlusskrank-
Bruxismus (griech. bruxismus – Zähneknirschen). heit; die Betroffenen können nur kurze Wegstre-
Zähneknirschen, vor allem nachts cken ohne Unterbrechung zurücklegen, Syno-
nym: Schaufensterkrankheit
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KaelDesu
Glossar
Colitis ulcerosa (griech. kolon – -darm; -itis – Ent- ge Harnausscheidung bei Störung der Wasser-
zündung; lat. ulcus – Geschwür). Eine entzündli- rückresorption
che Erkrankung des Dickdarms, die zu einer ge- Diabetes mellitus (griech. diabainein – hindurchge-
schwürigen Darmwandzerstörung führt hen; lat. mellitus – mit Honig versüßt). Stoff-
Condelatio (lat. condelare – erfrieren). Lokale Erfrie- wechselerkrankung, die mit einem relativen oder
rung absoluten Insulinmangel einhergeht, sog. Zucker-
Cor pulmonale (lat. cor – Herz; pulmo – Lunge). Ver- krankheit
größerung des rechten Herzens aufgrund eines Diaphragma (griech. diaphragma – Scheidewand).
erhöhten Drucks im Lungenkreislauf Zwerchfell
Corium (griech. chorion – Leder). Lederhaut Diarrhöe (lat. diarrhoea – Durchfluss). Durchfall,
Crepitatio (lat. crepitare – knarren). Feuchtes Atem- mehr als 3 Stühle pro Tag, die eine wässrige, brei-
geräusch bei Sekretansammlungen in der Lunge, ige Konsistenz besitzen
Synonym: Knisterrasseln Disposition (lat. disposito – planmäßige Anordnung).
Cushing-Syndrom. Durch erhöhte Konzentration von Die Ansprechbarkeit eines Körpers für Krankhei-
Cortisol im Blutplasma gekennzeichnetes Krank- ten
heitsbild, u. a. mit Vollmondgesicht, Stammfett- disproportioniert (lat. dis – den Gegenstand bezeich-
sucht, Hirsutismus, Hypertonie, Striae, Osteopo- nend; Proportion – das entsprechende Verhält-
rose, Muskelschwäche, herabgesetzter Glukose- nis). Ohne richtige Proportion
toleranz, Wachstumshemmung bei Kindern, Diuretika (griech. di – hindurch; ouron – Harn).
Amenorrhoe, Potenzstörungen Medikamente, die die Harnausscheidung fördern
Divertikel (lat. diverticulum – Abweichung, Seiten-
Defäkation (lat. defaecatio – Reinigung). Stuhlaus- weg). Ausstülpung eines Hohlorgans
scheidung Dokumentation (lat. documentum – beweisende Ur-
degenerativ (lat. degenerare – verfallen, verküm- kunde). Niederschreiben, Dokumentieren von In-
mern, sich zurückbilden). Auf einer Rückbildung formationen, Ereignissen etc., Zusammenstel-
beruhend, auf dem Zerfall von Zellen beruhend lung, Ordnung und Nutzbarmachung von Doku-
Dehydratation (lat. de- – ent-; griech. hydro – Was- menten
ser). Abnahme oder Verlust eines Organismus an Drehschwindel. Vom Gleichgewichtsorgan ausge-
Wasser hender Schwindel, bei dem sich die Umwelt um
Delirium (lat. delirium – Irresein). Unspezifische Re- die betroffene Person dreht oder umgekehrt,
aktion des Gehirns auf Noxen, die zu einer Stö- Synonym: vestibulärer Schwindel, labyrinthärer
rung des Bewusstseins führen Schwindel
Demenz (lat. dementia – Wahnsinn). Verfall der in- Du-Bois-Formel. Nach dem deutschen Physiologen
tellektuellen Fähigkeiten, meist kontinuierlich Emil Du-Bois benannte Formel zu Errechnung der
verlaufend Körperoberfläche (O = Körperoberfläche, P = Kör-
Depersonalisation (lat. de- – ab, ent-; persona – Mas- pergewicht, O = P ⫻ Länge ⫻ 167,2)
ke). Störung des Ich-Erlebens, bei der das eigene Ductus arteriosus Botalli (lat. ductus – Gang, Kanal).
Ich als fremd, verändert oder auch abgetrennt von Der kurze Verbindungsgang zwischen der Tei-
der eigenen Person erlebt wird lungsstelle des Truncus pulmonalis und dem Aor-
Derealisation (lat. de- – ab, ent-; realis – sachlich, tenbogen. Wird im Normalfall beim Einsetzen der
wesentlich). Störung des Ich-Erlebens, bei der die Atmung des Neugeborenen innerhalb von 10 – 15
Umwelt als fremd, verändert und/oder unwirklich Stunden stillgelegt und bildet sich innerhalb von
erlebt wird 2 – 3 Wochen zum Ligamentum arteriosum zu-
Detrusor vesivae (lat. detrudere – fortdrängen, hi- rück
nabdrängen; vesica – Blase). Sammelbezeich- Dysarthrie (griech. dys- – Störung, arthron – Gelenk).
nung für die die Harnblase entleerende Muskula- Sprachflussstörung, bei der die gesamte Artikula-
tur tion betroffen ist
Diabetes insipidus (griech. diabainein – hindurchge- Dysbasie (griech. dys- – Störung; basis – Gehen).
hen; lat. insipidus – unschmackhaft). Übermäßi- Gangstörung
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KaelDesu
Glossar
Dysgeusie (griech. dys- – Störung; geusis – Ge- Dysurie (griech. dys- – Störung; ouron – Harn). Er-
schmack). Störung der Geschmackswahrneh- schwerte Harnentleerung, Störung der Harnent-
mung leerung
Dysglossie (griech. dys- – Störung; glossa – Sprache).
Sprachstörung infolge von Anomalien der peri- Echolalie (griech. echo – Ton, Schall; lalein – reden).
pheren Sprechwerkzeuge Artikulationsstörung, bei der die Betroffenen Ge-
Dysgrammatismus (griech. dys- – Störung; gramma- hörtes echoartig nachahmen
ta – Grammatik). Sprachstörung, die durch die efferent (lat. effere – herausbringen). Von einem Or-
Unfähigkeit, grammatikalisch korrekte Sätze zu gan kommend
bilden, gekennzeichnet ist Effloreszenzen (lat. efflorescere – aufblühen). Haut-
Dyslalie (griech. dys- – Störung; lalein – reden). veränderungen, sog. Hautblüten, die in primäre
Sprachstörung, die gekennzeichnet ist durch die und sekundäre Formen eingeteilt werden
Fehlbildung eines oder mehrerer Laute, Lautver- ekkrin (griech. ek- – aus, heraus; -krinein – schei-
bindungen oder ganzer Lautgruppen dend, sondernd). Nach außen absondernd
Dyslalie, audiogene (griech. dys- – Störung; lalein – Eklampsie (griech. eklampein – aufleuchten). Auftre-
reden; – gen – erzeugend, verursachend; lat. au- ten von tonisch-klonischen Krämpfen mit und
dire – hören). Sprachstörung, die aufgrund eines ohne Bewusstlosigkeit im Verlauf einer Schwan-
eingeschränkten oder fehlenden Hörvermögens gerschaft
entsteht Ekzem (griech. ekzema – durch Hitze herausgetrie-
Dyslalie, mechanische (griech. dys- – Störung; lalein bener Ausschlag, Aufschwellen, Aufkochen).
– reden). Sprachstörung, die aufgrund mechani- Nicht ansteckende, juckende Entzündungsreakti-
scher Anomalien der Artikulationsorgane ent- on der Haut, sog. Juckflechte
steht Elektroenzephalogram, -graphie (griech. enkephalos
Dysmenorrhoe (griech. dys- – Störung; men – ; -rhoe – Gehirn; graphein – schreiben). Aufzeichnung
– fließen, Fluss). Schmerzhafte Menstruation der Gehirnströme, Abkürzung: EEG
Dysorexie (griech. dys- – Störung; orexis – Verlan- Elektromyogram, -graphie (griech. myo- – Muskel;
gen, Begierde). Gestörter Appetit graphein – schreiben). Aufzeichnung der Muskel-
Dyspepsie (griech. dys- – Störung; pepsis – Verdau- spannung, Abkürzung: EMG
ung). Störung der Verdauung aufgrund einer Stö- Elektrookulogram, -graphie (lat. oculus – Auge;
rung der Darmmotilität oder Enzymproduktion griech. graphein – schreiben). Untersuchung zur
Dyspepsie, Fäulnis- (griech. dys- – Störung; pepsis – Messung der Augenbewegungen, Abkürzung:
Verdauung). Störung der Verdauung, gekenn- EOG
zeichnet durch vermehrte Fäulnisprozesse im Embolie. Verschleppung von körpereigenen oder
Darm bei mangelhafter Einweißverdauung und -fremden Substanzen mit dem Blutstrom, die sich
-resorption in einem Blutgefäß festsetzen und zu einer Unter-
Dyspepsie, Gärungs- (griech. dys- – Störung; pepsis – brechung der Blutversorgung führen, z. B. Throm-
Verdauung). Störung der Kohlenhydratverdauung ben, Luft, Fett
bei Enzymmangel oder vermehrtem Kohlenhy- Emesis (griech. emesis – Erbrechen). Erbrechen, Sy-
dratangebot nonym: Vomitus
Dysphasie (griech. dys- – Störung; -phasis – Reden). Emotion (lat. emovere – herausbewegen, erschüt-
Kompletter Verlust der Sprache tern). Seelische Erregung, Gefühl, Gemütsbewe-
Dysphonie (griech. dys- – Störung; phone- Stimme). gung, Gefühlsregung
Stimmstörung, bei der die Stimme heiser, belegt, Enanthem. Entzündliche Veränderungen der
rauh oder unrein klingen kann Schleimhaut
Dyspnoe (griech. dys- – Störung; pneuma – Luft, endogen (griech. endo – innen; -gen – etwas hervor-
Atem). Erschwerte Atmung mit subjektiver Atem- bringend, verursachend). Im Körper entstehend,
not nicht durch äußere Einflüsse entstanden, von in-
Dystrophie (griech. dys- – Störung; trophe – Ernäh- nen kommend
rung, Nahrung). Chronische Form der Ernäh- endokrin (griech. endo – innen, inwendig; krinein –
rungsstörung bei Säuglingen trennen, sondern). Innere Sekretion (von Drüsen)
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KaelDesu
Glossar
Endometritis (griech. endo – innen; metra – Gebär- Größe und Gewicht, der Stärke des Hautfettpols-
mutter; -itis – Entzündung). Entzündung der Ge- ters und dem Hautturgor, Abkürzung: EZ
bärmutterschleimhaut Erysipel. Infektion der Haut und des Unterhautgewe-
Endorphin (griech. endo – innen). Körpereigene Ei- bes, sog. Wundrose
weiße, die eine schmerzstillende Wirkung besit- Erythrozyten (griech. erythros – rot; zyt- – Zelle). Ro-
zen tes Blutkörperchen
Enteroviren (griech. enteron – Dünndarm; lat. virus – Eumenorrhoe (griech. eu- – gut, wohl, normal; men –
Gift, Schleim, Saft). Kleinste Partikel, die nur auf monat; -rhoe – fließen, Fluss). Normale Mens-
lebendem Gewebe gedeihen und Darmerkran- truation
kungen hervorrufen Evaluation (lat. valere – gelten, wert sein, stark sein).
Entzündungszeichen. Bei einer Entzündung auftre- Analyse und Bewertung eines Sachverhaltes mit
tende Symptome: Rötung (Rubor), Schwellung dem Ziel der Erfolgskontrolle; letzter Schritt des
(Tumor), Überwärmung (Calor), Schmerzen (Do- Pflegeprozesses
lor), eingeschränkte Funktion (Functio laesa) Evaporation (lat. ex- – aus, von außen; vapor –
Enuresis diurna (griech. en- – innen, hinein, in; ou- Dampf). Wärmeverlust durch Verdampfung von
rein – harnen; lat. diurnus – am Tage). Einnässen Feuchtigkeit über die Haut
am Tag Exanthem (lat. exanthema – das Aufgeblühte). Ent-
Enuresis nocturna (griech. en- – innen, hinein, in; ou- zündliche Hautveränderung
rein – harnen; lat. nocturna – nächtlich). Nächtli- Exkrement (lat. excrementum – Auswurf, Ausschei-
ches Einnässen, Bettnässen dung). Ausscheidung von Kot
Enzephalitis (griech. encephalon – Gehirn; -itis – exogen (lat. ex – aus, von außen; -gen – hervorbrin-
Entzündung). Entzündung des Gehirns gend, verursachend). Von außen eindringend
Enzephalitis lethargica (griech. encephalon – Gehirn; Expektoration (lat. ex – aus, heraus; pectus, pectoris
-itis – Entzündung; lethargia – Schlafsucht). Ent- – Brust). Ausgehustetes Bronchialsekret, Synony-
zündung des Gehirns, die mit Teilnahmslosigkeit me: Sputum, Auswurf
und einer andauernden Schläfrigkeit einhergeht, Exsikkose (lat. exsiccare – austrocknen). Austrock-
Synonyme: Europäische Schlafgrippe, Enzephali- nung, Abnahme, Verlust eines Organismus an
tis epidemica, ECONOMO-Krankheit Wasser
EPH-Gestose (E = edema – Ödem, P = Proteinurie – Ei- Exspiration (lat. ex – aus, heraus, ent-, ver-; respirare
weißausscheidung im Urin, H = Hypertonie – – atmen). Ausatmung
Bluthochdruck; lat. gestare – tragen). Schwanger- Extension (lat. ex- – aus, heraus; tendere – dehnen,
schaftsspezifische Erkrankung strecken, ziehen). Bewegung, bei der z. B. eine Ex-
Epidermis (griech. epi – auf; derma – Haut). Oberhaut tremität gestreckt wird
Epilepsie (griech. epilepsia – Fallsucht). Funktions- external. Nach außen verlagert
störung, bei der es zu wiederholtem Auftreten ze- exterozeptive Rezeptoren. Übermitteln Fern- oder
rebraler Krampfanfälle kommt, Anfallsleiden, Umweltreize, z. B. Schmecken, Riechen, Hören,
Fallsucht Sehen, Tasten
Epiphyse (griech. epiphyomai – auf oder an etwas Extrasystole (lat. extra – außerhalb, außen, äußer-
wachsen). Endstücke der langen Röhrenknochen; lich; griech. systole – Zusammenziehung). Außer-
Gelenkende halb des regulären Grundrhythmus auftretende
Epiphysenfuge (griech. epiphyomai – auf oder an et- Herzschläge; vorzeitig oder verspätet, einzeln
was wachsen). Knorpelige Gewebeschicht am En- oder gehäuft auftretend
de eines Röhrenknochens, auch Wachstumsfuge
genannt Facies abdominalis (lat. facies – Gesicht; abdomen –
Ergotismus. Vergiftung mit Ergotalkaloiden (Mutter- Bauch, Unterleib). Charakteristischer Gesichts-
kornalkaloiden) durch Medikamente oder mit Se- ausdruck bei akuter Bauchfellentzündung, Syno-
cale cornutum befallenes Getreide nym: Facies hippocratica
Ernährungszustand. Ernährungsbedingter Körper- Facies myopathica (lat. facies – Gesicht; griech. myo –
zustand; wird beurteilt nach dem Verhältnis von Muskel; pathos – Leiden). Charakteristischer Ge-
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KaelDesu
Glossar
sichtsausdruck bei verschiedenen Muskelerkran- Fieber, undulierend (lat. unda – Welle). Fieber, das
kungen, Synonym: Sphinxgesicht durch einen wellenförmigen Verlauf gekenn-
Facies ovarica (lat. facies – Gesicht; ovarium – Eier- zeichnet ist
stock). Charakteristischer Gesichtsausdruck bei Flexion (lat. flexio – Biegung). Beugungsbewegung
Erkrankungen (Tumoren) des Eierstocks Flimmerepithel. Epithelgewebe, das an seiner freien
Facies paralytica (lat. facies – Gesicht; griech. paraly- Oberfläche mit Kinozilien (Flimmerhaaren) aus-
ein – auflösen). Charakteristischer Gesichtsaus- gestattet ist. Vorkommen z. B. in Uterus, Tube,
druck bei Lähmung der Gesichtsmuskulatur; Atemwegen
schlaffe, fehlende Mimik Fluor (lat. fluor – das Fließen). Sekretion aus der
Facies pertussis (lat. facies – Gesicht; tussis – Hus- Scheide, Synonym: Ausfluss
ten). Charakteristischer Gesichtsausdruck bei Foetor (lat. foetor – Gestank). Übler Geruch
Keuchhusten Foetor ex ore (lat. feotor – Gestank; ex – aus, heraus;
Facies tetanica (lat. facies – Gesicht; griech. tetanos – ores – Mund). Übler Mundgeruch
Spannung). Charakteristischer Gesichtsausdruck Foetor hepaticus (lat. feotor – Gestank; griech. hepar
bei Wundstarrkrampf – Leber). Übler Geruch nach frischer Leber oder
Fastigium (lat. fastigium – Gipfel, Höhepunkt). Stadi- Lehmerde
um der Fieberhöhe Foetor urämicus (lat. foetor – Gestank; ouron – Harn;
Fäzes (lat. faex – Bodensatz). Kot, Stuhlgang haima – Blut). Urinartiger Geruch
Feedback (engl. Feedback – Rückfütterung). Rück- Fokussierung (lat. fokus – Herd). Etwas auf einen
meldung; im Rahmen der Kommunikation vom zentralen Punkt richten
Empfänger gesendete Nachricht darüber, wie er Follikelsprung (lat. folliculus – kleiner Ledersack,
die Nachricht des Senders verstanden hat -schlauch, Bläschen). Platzen der Zellhülle des ge-
Fetalperiode (lat. fetus – das Zeugen, Gebären; reiften Eies im Ovar
griech. periodos – das Herumgehen). Abschnitt Formatio reticularis (lat. formatio – Bildung, Gebilde;
der pränatalen Entwicklung, die vom Ende der reticularis – netzartig). Netzartige Anordnung
Embryonalzeit (Anfang der 9. Schwangerschafts- von Zellen im Zentralnervensystem, die für die
woche) bis zur Geburt dauert Steuerung des Schlaf-Wach-Rhythmus verant-
Fibrose, cystische (lat. fibrosus – faserreich; griech. wortlich sind
kystis – Blase). Autosomal-rezessiv vererbte Stoff- fötid (lat. foetor – Gestank). Stinkend, übelriechend
wechselerkrankung, bei der es zu einer vermehr- Fraktur (lat. fractum – brechen). Knochenbruch
ten Produktion von zähflüssigem Sekret bei- Furunkel. Eitrige Entzündung eines Haarbalgs und
spielsweise in der Lunge kommt, Synonym: Mu- seiner Talgdrüse
koviszidose
Fieber, biphasisch (lat. bi – zweifach, doppelt). Fieber, Gammazismus (griech. Buchstabe „Gamma“). Stam-
dessen Verlauf durch eine zweigipflige Fieberkur- meln mit Fehlbildung des Lautes „G“, Artikulati-
ve gekennzeichnet ist onsstörung
Fieber, intermittierend (lat. intermittere – aussetzen, Gang, apraktischer (griech. a- – ohne, Mangel an;
unterbrechen). Fieber, das durch eine Tagesdiffe- praxis – Tun). Beeinträchtigung der Gangkoordi-
renz von 1,5 ⬚C und mehr gekennzeichnet ist nation
Fieber, kontinuierlich (lat. continuare – ohne Unter- Gang, ataktischer (griech. a- – ohne Mangel an; taxis
brechung fortsetzen). Fieber, dessen Verlauf – Ordnung). Gangstörung, die durch einen unsi-
durch eine gleichmäßig hohe Temperatur von ca. cheren und breitbeinigen Gang gekennzeichnet
39,0 ⬚C gekennzeichnet ist ist
Fieber, rekurrierend (lat. recurrere – zurücklaufen). Gang, paretischer (griech. paresis – Erschlaffung).
Fieber, dessen Verlauf durch mehrtägige Fieber- Gangstörung mit schwach ausgeprägter, schlaffer
schübe im Wechsel mit fieberfreien Intervallen Lähmung der zugehörigen Beinmuskulatur, Syno-
gekennzeichnet ist nym: lokomotorische Ataxie
Fieber, remittierend (lat. remittere – nachlassen). Gangrän (lat. gangraena – fressendes Geschwür). Ge-
Fieber, das durch eine Tagesdifferenz von bis zu websuntergang aufgrund einer Minderdurchblu-
1,5 ⬚C gekennzeichnet ist
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KaelDesu
Glossar
tung, mechanischer oder thermischer Schädi- Gyrus postzentralis (griech. gyrus – Kreis; lat. post –
gung nach, hinter; lat. Zentrum – Mitte). Hintere Zent-
Ganzheitlichkeit. Grundannahme über den Men- ralwindung des Hirns
schen, nach der der Mensch eine Einheit aus Kör- Gyrus präzentralis (griech. gyrus – Kreis; lat. prä –
per, Geist und Seele ist vor; Zentrum – Mitte). Vordere Zentralwindung
gastrointestinal (griech. gaster – Magen; lat. intesti- des Hirns
num – Darm). Den Magen und Darm betreffend
Geburtstrauma (griech. trauma – Verletzung, Wun- Habituation (lat. habitus – äußere Beschaffenheit).
de, Gewalteinwirkung). Durch eine Geburt her- Gewöhnung an einen stets wiederkehrenden Reiz
vorgerufene Verletzung Halluzination (lat. alucinatio – gedankenloses Re-
Gestik (lat. gestus – Haltung, Bewegung, Gebärden- den). Sinnestäuschung, kann optisch, akustisch,
spiel). Gesamtheit von Bewegungen als Ausdruck olfaktorisch etc. sein
einer bestimmten (inneren) Haltung Halo-Effekt (griech. halo – Hof um eine Lichtquelle).
Gibbus (lat.). Buckel Positive oder negative Beeinflussung der Perso-
Gicht. Eine in akuten Schüben oder primär chronisch nenbeurteilung durch Wahrnehmung einiger we-
verlaufende Purinstoffwechselstörung, die durch niger markanter Eigenschaften, die herausragen
Abscheidung von Salzen der Harnsäure an ver- und andere überdecken
schiedenen Körperstellen, besonders im Bereich Hämangion (griech. haima – Blut; angeion – Gefäß).
der Gelenke, charakterisiert ist Gutartige Blutgefäßgeschwulst, Synonym: Blut-
Gigantismus (griech. gigas, gigantos – Riese). Riesen- schwamm
wuchs, Körperlänge ist größer als 200 cm bei Hämatemesis (griech. haima – Blut; emesis – Erbre-
Frauen und 210 cm bei Männern chen). Bluterbrechen
Gingiva. Zahnfleisch Hämaturie (griech. haima – Blut; houron – Harn).
Glandulae sebaceae (lat. glandula – Drüse; lat. sebum Ausscheidung von Erythrozyten mit dem Urin
– Talg). Talgdrüsen Hämoccult 姞-Test (griech. haima – Blut; lat. occultus –
Glandulae sudoriferae eccrinae (lat. glandula – Drü- geheim, verborgen). Test, mit dem verstecktes,
se; lat. sudor – Schweiß; griech. krinein – abson- mit dem bloßen Auge nicht sichtbares Blut im
dern). Schweißdrüsen Stuhl nachgewiesen werden kann
Glossitis. Zungenentzündung, häufig in Verbindung Hämoglobin (griech. haima – Blut; lat. globulus – Kü-
mit Stomatitis (Mundschleimhautentzündung) gelchen). Blutfarbstoff
Golgi-Apparat. Nach dem italienischen Anatom Ca- Hämolyse (griech. haima – Blut; lysis – Auflösung).
millo Golgi (1844 – 1926) benanntes Zellorganell, Auflösung der Erythrozyten aufgrund einer Zer-
das Stoffe speichert und aus dem innerplasmati- störung der Zellmembran
schen zum außerplasmatischen Raum befördert Hämoptoe (griech. haima – Blut; ptyalon (-ptoe) –
Gonorrhoe (griech. gone – Samen, Erzeugung, Ge- Speichel). Aushusten oder Ausspucken von bluti-
schlecht; -rhoe – fließen, Fluss). Geschlechts- gem Sputum, bei dem die Blutmenge weniger als
krankheit, die sich durch eine Schleimhautinfek- 50 ml beträgt
tion der Harn- und Geschlechtsorgane äußert und Hämoptyse (griech. haima – Blut; ptyalon (-pty) –
durch Neisseria gonorrhoeae (Gonococcus) her- Speichel). Aushusten oder Ausspucken von bluti-
vorgerufen wird, Synonym: Tripper gem Sputum, bei dem die Blutmenge weniger als
Gravidität (lat. graviditas – Schwangerschaft). 50 ml beträgt
Schwangerschaft Hämorrhoiden (griech. haima – Blut; -rhoe – fließen,
Gustatorisch (lat. gustus – Geschmack). Den Ge- Fluss). Knotenförmig erweiterte Venen im Ano-
schmackssinn betreffend rektalbereich
Gynatresie (griech. gynaikos – Frau; a- – ohne, Man- haptisch-taktil (griech. haptein – haften; lat. tangere,
gel an; tresis – Loch). Angeborener Verschluss der tactum – berühren). Den Tastsinn betreffend
weiblichen Genitalorgane Harnretention (lat. retentio – das Zurückhalten).
Harnverhalt, Harnsperre, das Unvermögen, die
gefüllte Harnblase spontan zu entleeren
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KaelDesu
Glossar
Hautturgor (lat. turgere – anschwellen, geschwollen Hydrops (griech. hydro – Wasser). Vermehrte Füssig-
sein). Spannungszustand der Haut keitsansammlung in Geweben, Gelenken oder
Hemianopsie (griech. hemi – halb; an – un-, -los; op- Körperhöhlen, sog. Wassersucht
sis – sehen). Halbseitenblindheit Hydrozephalus (griech. hydro – Wasser, kephale –
Hemiparese (griech. hemi – halb; paresis – Erschlaf- Kopf). Unnatürlich vergrößerter Schädel, sog.
fung). Halbseitenschwäche, leichte Halbseiten- „Wasserkopf“
lähmung Hypalgesie (griech. hyp- – unter; algos – Schmerz).
Hemiplegie (griech. hemi – halb; plege – Schlag, Läh- Herabgesetzte Schmerzempfindung
mung). Halbseitenlähmung Hypästhesie (griech. hyp- – unter; aisthesis – Emp-
Hepatitis (griech. hepar – Leber; -itis – Entzündung). findung). Herabgesetzte Empfindung von Sinnes-
Beim Menschen auftretende, ansteckende Virus- reizen
infektion, deren Hauptsymptom die Leberparen- Hyperalgesie (griech. hyper – über; algos – Schmerz).
chymschädigung ist Schmerzüberempfindlichkeit
Herzinsuffizienz (lat. insufficere – nicht genügen). Hyperämie. Blutüberfüllung eines Organs, Blutreich-
Herzmuskelschwäche tum
HGH (engl. Human-Growth-Hormon). Menschliches Hyperästhesie (griech. hyper – über; aisthesis – Emp-
Wachstumshormon findung). Verstärkte Empfindung von Sinnesrei-
Hirci (lat. hircus – Ziegenbock). Achselhaare zen
Histamin (griech. histio – Gewebe; amin – Kenn- Hyperbilirubinämie (griech. hyper – über; lat. bilis –
zeichnung für bestimmte Ammoniakverbindun- Galle; ruber – rot; griech. haima – Blut). Erhöhter
gen). Gewebshormon, das aus der körpereigenen Bilirubingehalt (rotbrauner Gallenfarbstoff, Ab-
Aminosäure Histidin gebildet wird bauprodukt des Harns) im Blut
Homöostase (griech. homoios – ähnlich; stasis – Hyperglykämie (griech. hyper- – über; glykys – süß;
Stand). Gleichgewicht der physiologischen Kör- haima – Blut). Erhöhter Zuckergehalt des Blutes
perfunktionen Hyperhidrose (griech. hyper- – über, zuviel; hidros –
Horror autotoxicus (lat. horror – Schrecken; Angst, Schweiß). Vermehrte Schweißsekretion
griech. autos – selbst; tox – Gift). Angst, sich durch Hyperkalzurie (griech. hyper – über, zuviel; ouros –
körpereigene Stoffe zu vergiften; ein von dem Harn). Vermehrte Calciumausscheidung mit dem
deutschen Arzt und Biologen Paul Ehrlich Urin
(1854 – 1915) geprägter Ausdruck, der bedeutet, Hyperkapnie (griech. hyper – über; kapnos – Gas).
dass körpereigene Stoffe normalerweise nicht zu Anstieg des CO2-Gehaltes im arteriellen Blut
einer Immunisierung führen Hyperkinesen (griech. hyper – über; kinesis – Bewe-
Hörsturz. Meist einseitige, plötzlich auftretende Hör- gung). Gesteigerte, übermäßige Bewegungstätig-
minderung keit einzelner Gliedmaßen oder des gesamten
Hüftgelenksdysplasie (griech. dys- – Störung; plas- Körpers
sein – bilden). Fehlbildung des Hüftgelenks Hyperlipidämie (griech. hyper – über, zuviel; lipos –
Husten, aphonisch (griech. a- – ohne, Mangel an; Fett; haima – Blut). Fettstoffwechselstörung mit
phone – Stimme). Klangloser, heiserer Husten Erhöhung der Blutfette (Cholesterin, Triglyceride)
Husten, bitonal (lat. bi- – zweifach, doppelt). Husten, Hypermenorrhoe (griech. hyper – über, zuviel; men –
der von einem metallisch pfeifenden oder kräch- Monat; -rhoe – fließen, Fluss). Verstärkte Mens-
zendem Ton begleitet wird truation
Husten, kupiert (franz. couper – abschneiden). Hus- Hypermetrie (griech. hyper – über, zuviel; metron –
ten, der zur Vermeidung zusätzlicher Schmerzen Maß). Über das Ziel hinaus schießende Bewegun-
abgebrochen wird, vor allem bei schmerzhaften gen, Störung der Koordination und Zielgerichtet-
Prozessen im Thorax- und Abdominalbereich heit von Bewegungen
Husten, stakkatoartig (ital. staccato – abgerissen, ab- Hypermnesie (griech. hyper – über; mnesis – Erinne-
gestoßen). Husten, mit rasch aufeinander folgen- rung). Störung des Gedächtnisses, bei der be-
den Hustenstößen, typisch für Keuchhusten stimmte Erinnerungen besonders lebhaft er-
scheinen
482
KaelDesu
Glossar
Hyperorexie (griech. hyper- – über; orexis – Verlan- Hypomenorrhoe (griech. hypo – unter, zu wenig;
gen, Begierde). Gesteigerter Appetit, Synonym: men – Monat; -rhoe – fließen, Fluss). Zu seltene
Bulimie Menstruationen
Hyperparathyreoidismus (griech. hyper- – über; pa- Hypometrie (griech. hypo – unter, zu wenig; metron
ra- – abseitig, neben, abweichend; thyreos – – Maß). Bewegungsstörung, bei der die erforderli-
Schild, Schilddrüse). Überfunktion der Neben- chen Bewegungen zu kurz bemessen werden
schilddrüsen, die mit vermehrter Bildung von Pa- Hypomnesie (griech. hypo – unter, zu wenig; mnesis
rathormonen einhergeht – Erinnerung). Schwächung des Erinnerungsver-
Hyperpigmentierung (griech. hyper – über; lat. pig- mögens
mentum – Farbe). Übermäßige Hautbräune Hypopnoe (griech. hypo – unter, zu wenig; pneuma –
Hyperpyrexie (griech. hyper – über; pyretos – Fie- Luft, Atem). Verminderung des Atemflusses, ohne
ber). Anstieg der Körpertemperatur mit Sollwert- dass es zu einem Atemstillstand kommt
erhöhung Hyposmie (griech. hypo – unter, zu wenig; osme –
Hypersthenurie (griech. hyper – über; stheneia – Geruch). Herabgesetztes Geruchsvermögen
Kraft, Stärke; houron – Harn). Ausscheidung eines Hyposomnie (griech. hypo – unter, zu wenig; lat.
stark konzentrierten Urins mit einem spezifi- somnus der Schlaf). Verminderter Schlaf
schen Gewicht von über 1,025 Hyposthenurie (griech. hypo – unter, zu wenig; sthe-
Hyperthermie (griech. hyper – über; therm- – Wär- neia – Kraft, Stärke; houron – Harn). Ausschei-
me). Anstieg der Körpertemperatur ohne Soll- dung eines Urins mit einem spezifischen Gewicht
werterhöhung von unter 1,006
Hyperthyreose (griech. hyper – über, oberhalb; thy- Hypothalamus (griech. hypo – unter, zu wenig; thala-
reos – Schild, Schilddrüse). Überfunktion der mus – Lager, Kammer). Teil des Zwischenhirns,
Schilddrüse der unterhalb des Thalamus, der größten grauen
Hypertonie (griech. hyper – über, über – hinaus; to- Kernmasse des Zwischenhirns, liegt
nos – Spannung). Bluthochdruck Hypothermie (griech. hypo – unter, zu wenig; therm-
Hyperurikämie (griech. hyper – über, zuviel; ourus – – Wärme). Verminderte Körpertemperatur unter
Harn; haima – Blut). Erhöhung der Harnsäure im 35 ⬚C
Blut, Synonym: Gicht Hypothermie, akzidentell (griech. hypo – unter, zu
Hyperventilation (griech. hyper – über, über – hi- wenig; therm- – Wärme; lat. accidere – zufällig
naus; lat. ventilare – lüften). Im Verhältnis zum vorkommend). Verminderte Körpertemperatur
erforderlichen Gasaustausch des Körpers über- unter 35 ⬚C, die durch unbeabsichtigte Unfälle wie
mäßig gesteigerte Atmung z. B. Berg- und Ertrinkungsunfälle auftritt
Hyphophyse (griech. hypo – unter, zu wenig; physalis Hypothyreose (griech. hypo – unter, zu wenig; thy-
– Blase). Hirnanhangsdrüse reos – Schild). Unterfunktion der Schilddrüse
Hypnotika (griech. hypnos – Schlaf). Schlafmittel Hypotonie (griech. hypo – unter, zu wenig; tonos –
Hypoalgesie (griech. hypo – unter, zu wenig; algos – Spannung). Niedriger Blutdruck
Schmerz). Verringerte Schmerzempfindlichkeit Hypoventilation (griech. hypo – unter, zu wenig; lat.
Hypogeusie (griech. hypo- – unter, zu wenig; geusis – ventilare – lüften). Im Verhältnis zum erforderli-
Geschmack). Herabgesetzte Geschmacksempfin- chen Gasaustausch des Körpers verminderte At-
dung mung bezogen auf Frequenz und Tiefe
Hypoglykämie (griech. hypo- – unter, zu wenig; gly- Hypovolämie (griech. hypo – unter, zu wenig; lat. vo-
kys – süß; haima – Blut). Erniedrigter Zuckerge- lumen – Inhalt, griech. haima – Blut). Verminder-
halt des Blutes te Menge an zirkulierendem Blut (kann bis zum
Hypohidrosis (griech. hypo – unter, zu wenig; hidros Schock führen)
– Schweiß). Verminderte Schweißsekretion Hypoxie (griech. hyp- – unter, zu wenig; oxy – Sauer-
Hypokinesen (griech. hypo – unter, zu wenig; kinesis stoff). Mangel an Sauerstoff im Blut bzw. in den
– Bewegung). Bewegungsarmut, bei der Willkür-, Körpergeweben
Mit- und Ausdrucksbewegungen eingeschränkt
oder erstarrt sind Ikterus (griech. ikteros – Gelbsucht). Gelbliche Haut-
farbe aufgrund eines Übertritts von Gallenbe-
483
KaelDesu
Glossar
standteilen ins Blut und in die Haut, sog. Gelb- ten, Unterdrücken; griech. iatros – Arzt; -gen – er-
sucht zeugend, verursachen). Unvermögen den Urin
Ileus (griech. eileos – Verengung, Verschluss). Darm- willkürlich zurückzuhalten aufgrund ärztlicher
verschluss, Verengung oder Verschluss eines Maßnahmen, ärztlicher Einwirkungen
Darmabschnittes Inkontinenz, neurogen (lat. in- – nicht (Verneinung),
Ileus, mechanischer (griech. eileos – Verengung, Ver- ohne; continentia – bei sich behalten, Zurückhal-
schluss). Darmverschluss durch Verlegung des ten, Unterdrücken; neuron – Nerv; -gen – erzeu-
Darmlumens aufgrund von z. B. Tumoren, Ent- gend, verursachend). Unvermögen, den Urin will-
zündungen, Adhäsionen kürlich zurückzuhalten aufgrund einer nervalen
Ileus, paralytischer (griech. eileos – Verengung, Ver- Störung
schluss; paralyein – auflösen). Lähmung der Inkontinenz, Stress- (lat. in- – nicht (Verneinung),
Darmmotilität aufgrund z. B. Peritonitis, Hypo- ohne; continentia – bei sich behalten, Zurückhal-
kaliämie, Sepsis ten, Unterdrücken). Unvermögen, Urin bei einer
Immunreaktion (lat. immunis – rein, frei). Antikör- intraabdominellen Druckerhöhung bei sich zu
perreaktion des Organismus auf eindringende halten
Antigene Inkontinenz, Überlauf (lat. in- – nicht (Verneinung),
Impetigo (lat.). Entzündliche Hautkrankheit, die mit ohne; continentia – bei sich behalten, Zurückhal-
eitrigen Pusteln und Borkenbildung einhergeht, ten, Unterdrücken). Unwillkürlicher Urinabgang
Eiterflechte bei prall gefüllter Harnblase und überdehnter
Inappetenz (lat. in- – hinein, nicht; appetere – ver- Blasenwand
langen). Verminderter Appetit, Synonym: Anore- Inkubator (lat. incubare – bewachen, bebrüten). Ge-
xie schlossener, klimatisierter Brutkasten für Früh-
Indikation (lat. indicare – anzeigen). Veranlassung und Risikogeborene
für die Anwendung eines bestimmten Verfahrens Insomnie (lat. in- – nicht, Verneinung; somnus – der
oder einer bestimmten Methode Schlaf). Bezeichnung für Ein- und Durchschlafstö-
Inkontinenz (lat. in- – nicht (Verneinung), ohne; con- rungen, die häufig zu einer Verminderung der Ge-
tinentia – bei sich behalten, Zurückhalten, Unter- samtschlafzeit führen
drücken). Unvermögen, etwas (Stuhl, Urin) bei Inspiration (lat. in – in, hinein; respirare – atmen).
sich zu behalten Einatmung
Inkontinenz, Drang- (lat. in- – nicht (Verneinung), Inspirationskapazität (lat. in – in, hinein; respirare –
ohne; continentia – bei sich behalten, Zurückhal- atmen; capazitas – Fassungsvermögen). Summe
ten, Unterdrücken). Unwiderstehlicher Harn- aus Atemzugvolumen und inspiratorischem Re-
drang, bei dem es zu einem unwillkürlichen Urin- servevolumen, ca. 2500 ml, Abkürzung: IK
abgang kommt, meist begleitet von einer Polla- internalisieren Verinnerlichen, z. B. Werte und Nor-
kisurie und Nykturie, Synonym: Urgeinkontinenz men
Inkontinenz, extraurethrale (lat. in- – nicht (Vernei- intertrigo (lat. intertrigo – wunde, wundgeriebene
nung), ohne; continentia – bei sich behalten, Zu- Stelle). Wundreiben, Wundsein besonders in
rückhalten, Unterdrücken; extra – außen, außer- Hautfalten durch Reibung, Entstehung von feuch-
halb; griech. ourethral – Harnröhre). Unwillkürli- ten Kammern und Aufweichen des Gewebes so-
cher Harnabgang außerhalb der Urethra, z. B. wie Sekundärinfektionen
durch Blasen- oder Urogenitalfisteln intrakraniell (lat. intra – innerhalb; in. . . hinein; cra-
Inkontinenz, funktionelle (lat. in- – nicht (Vernei- nium – Schädel). Innerhalb des Schädels bzw. in
nung), ohne; continentia – bei sich behalten, Zu- die Schädelhöhle hinein, z. B. Geschwülste, Blu-
rückhalten, Unterdrücken; functio – Verrichtung, tungen
Geltung, Funktion). Unvermögen, den Harn will- intrauterin (lat. intra – innerhalb; in. . . hinein; uterus
kürlich zurückzuhalten bei altersphysiologischer – Gebärmutter). Innerhalb der Gebärmutter
Harnblasenfunktion und dem Fehlen weiterer pa- Introspektion Selbstbeobachtung, d. h., die Beobach-
thologischer Veränderungen tung ist auf den eigenen Bewusstseinsablauf ge-
Inkontinenz, iatrogene (lat. in- – nicht (Verneinung), richtet
ohne; continentia – bei sich behalten, Zurückhal-
484
KaelDesu
Glossar
Invagination (lat. in- – in, hinein; vagina – Scheide). eller Erregung aufrichtet und einen Orgasmus
Einstülpung eines Darmabschnittes in einen an- auslöst
deren Darmabschnitt Kolik (griech. kolike – Darmleiden). Anfall krampfar-
Involution (lat. involvere, involutum – einhüllen). tiger Leibschmerzen aufgrund spastischer Kon-
Rückbildung traktionen eines Hohlorganes z. B. der Galle, der
Isosthenurie (griech. isos – gleich, ähnlich; stheneia – Niere, des Darms
Kraft, Stärke; houron – Harn). Ausscheidung eines kolloidosmotischer Druck. Kolloid ist die feine Ver-
Urins mit einem spezifischen Gewicht zwischen teilung eines spezifischen Stoffes in Flüssigkeiten,
1,010 und 1,012, dass bei Veränderung der Flüssig- der bei Osmose nicht oder nur schwer durch Zell-
keitszufuhr gleich bleibt, sog. Harnstarre membranen diffundiert. Der kolloidosmotische
Druck wird im Wesentlichen durch die Albumin-
Jactatio capites nocturna (lat. iactare – werfen; caput konzentration bestimmt
– Kopf; nocturna – nächtlich). Nächtliches Hin- Kommunikation (lat. communicatio – Mitteilung,
und Herrollen des Kopfes Unterredung). Verständigung durch die Verwen-
Jactatio corpores (lat. iactare – werfen; corpus – Kör- dung von Zeichen und Sprache; dient der Über-
per). Hin- und Herwerfen des Körpers tragung und dem Austausch von Informationen
Kommunikation, verbal (lat. communicatio – Mittei-
Kachexie (griech. kakos – schlecht; hexis – befinden). lung, Unterredung; verbum – Wort, Ausspruch).
Starke Abmagerung mit Absinken des Körperge- Verständigung durch die Verwendung von Wor-
wichtes unter 20% des Normalgewichtes und all- ten, dient der Übertragung und dem Austausch
gemeinem Kräfteverfall von Informationen
Kappazismus (griech. Buchstabe „Kappa“). Stammeln Konduktion (lat. conducere – zusammenführen).
mit Fehlbildung des Lautes „K“, Artikulationsstö- Wärmeabgabe durch Wärmeleitung
rung Konfabulation (lat. konfabulari – vertraulich plau-
Karbunkel (lat. carbunkulus – fressendes Geschwür). dern). Auffüllen von Erinnerungslücken mit Be-
Gruppe von Furunkeln gebenheiten ohne jeglichen Bezug zur jeweiligen
kardial (griech. kardia – Herz). Das Herz betreffend, Situation
vom Herzen ausgehend Kongenital (lat. congenitus – angeboren). Zum Zeit-
kardiovaskulär (griech. kardia – Herz; vasculum – punkt der Geburt vorhandene Erkrankungen oder
kleines Gefäß). Gefäße des Herzens betreffend Schädigungen, die auf eine Schädigung der Erban-
Kerntemperatur. Die im Körperinneren (Rumpf, lagen zurückzuführen sind
Kopf) herrschende konstante Temperatur von Konsistenz (lat. consistere – stillstehen, dicht wer-
37,0 bis 37,5 ⬚C den). Beschaffenheit bzw. Grad der Festigkeit ei-
Kinästhesie (griech. kinesis – Bewegung; aisthesis – nes Stoffes
Empfindung). Bewegungs- und Lagesinn Konsumptionskrankheit (lat. consumptio – Verzeh-
Kinästhetik (griech. kinesis – Bewegung; aisthesis – rung). Auszehrende Krankheiten, z. B. Tuberku-
Empfindung). Lehre vom Bewegungsempfinden lose
Kinetosen (griech. kinesis – Bewegung; -ose – nicht Kontraktion (lat. contrahere – zusammenziehen,
entzündliche Krankheit). Bewegungs- oder Reise- steifmachen). Zusammenziehung, z. B. eines Mus-
krankheit kels
Kleptomanie (griech. kleptein – stehlen; mania – Ra- Kontraktur (lat. contrahere – zusammenziehen,
serei, Wahnsinn). Stehlsucht, dranghaftes Stehlen steifmachen). Funktions- und Bewegungsein-
Klimakterium (lat. climacter – Stufenleiter, kritischer schränkung bzw. Versteifung eines Gelenkes auf-
Punkt im menschlichen Leben). Übergangsphase, grund mangelnder Bewegung und anschließen-
die mit dem Beginn unregelmäßiger Menstruati- der Verkürzung der Sehnen und Muskeln sowie
onsblutungen anfängt und bis zur Postmenopau- Schrumpfen der Gelenkkapsel
se reicht, Synonyme: Wechseljahre, Klimax Kontraktur, arthrogene (lat. contrahere – zusam-
Klitoris (griech. kleitonis – kleiner Hügel). Kitzler, menziehen, steifmachen; griech. arthros – Ge-
weibliches Geschlechtsorgan, das am vorderen lenk; -gen – erzeugend, verursachend). Kontrak-
Ende der kleinen Schamlippen liegt, sich bei sexu- tur, die aufgrund von Gelenkverletzungen oder
-entzündungen entsteht
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KaelDesu
Glossar
Kontraktur, dermatogene (lat. contrahere – zusam- Säuglingen und Kleinkindern der tropischen Ent-
menziehen, steifmachen; griech. dermis – Haut; wicklungsländer
-gen – erzeugend, verursachend). Kontraktur, die Kyphose (griech. kyphos – gekrümmt; -ose – nicht
infolge einer Hautverletzung mit Narbenbildung entzündliche Krankheit). Buckelbildung, bei dem
entsteht eine verstärkte rückenwärts konvexe Krümmung
Kontraktur, neurogene (lat. contrahere – zusam- der Wirbelsäule zu beobachten ist; eine leichte
menziehen, steifmachen, griech. neuron – Nerv; Kyphose ist physiologisch im Bereich der Brust-
-gen – erzeugend, verursachend). Kontraktur, die wirbelsäule
als spastische Gelenkfehlstellung bei Schädigung Kyphoskoliose (kyphos – gekrümmt; skolios –
des Zentralen Nervensystems bzw. als paralyti- krumm, verdreht; -ose – nicht entzündliche
sche Gelenkfehlstellung bei Schädigung periphe- Krankheit). Buckelbildung, bei der sowohl eine
rer Nerven entsteht verstärkte rückenwärts konvexe Krümmung als
Kontraktur, tendomyogene (lat. contrahere – zusam- auch eine seitliche Verschiebung der Wirbelsäule
menziehen, steifmachen; tendo – Sehne; griech. zu beobachten ist
myo – Muskel; -gen – erzeugend, verursachend).
Kontraktur, die infolge von Entwicklungsstörun- Labien (lat. labium – Lippe). Lippen
gen mit Knochenbeteiligung oder aufgrund von Lambdazismus (griech. Buchstabe „Lambda“). Stam-
Verwachsungen von Muskulatur und Faszie ent- meln mit Fehlbildung des Lautes „L“, Artikulati-
steht onsstörung
Kontrastierung. Das Auge verstärkt Farbunterschie- Lanugobehaarung (lat. lanugo – Wollhärchen). Haar-
de vor einem hellen oder dunklen Hintergrund (= kleid, Flaum des Fetus
Kontrast). Kontrastierung ist das Gegenteil von Laryngitis (griech. larynx – Kehlkopf; -itis – Entzün-
Assimilation dung). Entzündung des Kehlkopfes
Konvektion (lat. convehere – zusammenbringen). Läsion (lat. laesum – Verletzung, Schädigung). Schä-
Wärmeabgabe durch Wärmetransport in die um- digung, Verletzung, Störung
gebende Luft Laxantien (lat. laxare – lockern). Abführmittel
Koordination (lat. ordinare – ordnen). Harmonischer Laryngektomie (griech. larynx – Kehlkopf; -ektomie
Bewegungsablauf unter geordnetem Zusammen- – operative Entfernung). Operative Entfernung
spiel aller beteiligten Muskeln des Kehlkopfes
Korsakow-Syndrom (griech. syn – zusammen, mit; Legionärskrankheit. Infektionskrankheit, die durch
dromos – der Lauf). Nach dem russischen Psychia- das Bakterium Legionella pneumophila hervorge-
ter Sergei Korsakow (1854 – 1900) benanntes Syn- rufen wird und eine Pneumonie verursacht
drom als psychischer Folgezustand nach Hirn- Leukämie (griech. leukos – weiß; haima – Blut). Ver-
schädigungen, z. B. bei Alkoholabusus mehrung der weißen Blutzellen
Kortex (lat. cortex – Rinde, Schale). Großhirnrinde Leukozyten (griech. leukos – weiß; zyt- – Zelle). Wei-
kortikal (lat. cortex – Rinde, Schale). Von der Groß- ße Blutkörperchen
hirnrinde ausgehend, die Großhirnrinde betref- Limbisches System (lat. limbus – Saum). Teil des
fend zentralen Nervensystems, das zuständig ist für
Kreatorrhoe (griech. kreas – Fleisch; rhoe – fließen, die emotionalen Reaktionen
Fluss). Ausscheidung von unverdauten Fleischfa- Logoklonie (griech. logos – Wort, Lehre; klonos – hef-
sern im Stuhl tige Bewegung). Störung des Sprachflusses, bei
Krisis (griech. Krisis – Entscheidung). Schneller Fie- der es zu einer Silbenanhäufung sowie einem
berabfall innerhalb weniger Stunden taktmäßigen Wiederholen der Endsilben kommt
Kussmaul-Atmung. Nach dem deutschen Internisten Lordose (griech. lordos – vorwärts gekrümmt; -ose –
Adolf Kussmaul (1822 – 1902) benannte rhythmi- nicht entzündliche Krankheit). Bauchwärts kon-
sche abnorm tiefe Atmung mit normaler oder er- vexe Verbiegung der Wirbelsäule, eine leichte
niedrigter Frequenz Lordose ist physiologisch im Bereich der Hals-
Kwashiorkor. Sog. Mehlnährschaden, schwerer Ei- und Lendenwirbelsäule
weiß- und Vitaminmangelszustand bei älteren Lysis (griech. Lys- – Auflösen). Ein über mehrere Tage
andauernder Fieberabfall
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KaelDesu
Glossar
Makrophagen (griech. makros – groß; phagein – es- Menopause (griech. men – Monat; pausis – Ende).
sen). Zu den Fresszellen gehörende Zellen Ende der Menstruation, Zeitpunkt, der letzten
Makroskopisch (griech. makros – groß; skopein – se- Regelblutung
hen). Mit dem bloßen Auge sichtbar Menstruatio praecox (lat. menstruus – monatlich;
Makrosomie (griech. makros – groß; soma – Körper). praecox – vorzeitig, zu früh). Verfrühtes Einsetzen
Hochwuchs, Körperlänge ist größer als 180 cm bei der Menstruation, Synonym: prämature Menar-
Frauen bzw. 190 cm bei Männern che
Malabsorption (lat. mal- – schlecht; absorbere – auf- Menstruatio tarda (lat. menstruus – monatlich; tar-
saugen). Unfähigkeit des Darmes, die in der Nah- dus – langsam, spät). Verspätetes Einsetzen der
rung enthaltenen Nährstoffe aufzunehmen Menstruation
Malassimilationssyndrom (lat. mal- – schlecht; assi- Menstruation (lat. menstruus – monatlich; griech.
milare – angleichen; griech. syn – zusammen, men – Monat). Periodisch, ca. alle vier Wochen
mit; dromos – der Lauf). Oberbegriff, unter dem auftretende Blutung aus der Gebärmutter bei ei-
alle durch eine verminderte Nährstoffausnutzung ner Nichtbefruchtung der Eizelle, Synonyme:
bedingten Symptome zusammengefasst werden Menses, Regel, Periode
Maldigestion (lat. mal- – schlecht; digestio – Verdau- metabolisch (griech. metabolia – Veränderung).
ung). Unfähigkeit des Darmes die Nährstoffe auf- Stoffwechselbedingt, im Stoffwechsel entstanden
zunehmen, da diese aufgrund mangelnder En- Metastase (griech. metastasis – Umstellung, Wande-
zymzufuhr nur ungenügend aufgespalten sind rung, Versetzen). Tochtergeschwulst, die durch
Malignom (lat. malus – schlecht; griech. -om – Ge- Verschleppung von Geschwulstkeimen an einer
schwulstbildung). Bösartiger Turmor anderer Stelle als dem Ursprungsort entsteht
Mangelerscheinung. Fehlen eines bestimmten Stof- Meteorismus (griech. meteorismos – Erhebung,
fes mit gesundheitlich ungünstigen Folgen Schwellung). Vermehrte Luft- bzw. Gasansamm-
Marasmus (griech. marasmos – Ausdörren, Verzeh- lung im Magen-Darm-Trakt, Synonym: Blähsucht
ren, Schwachwerden). Form der kalorischen Un- mikroskopisch (griech. mikro – klein; skopein – se-
terernährung, die vor allem Personen mit einem hen). Nur mit einem Mikroskop sichtbar, winzig,
besonders hohen Eiweißbedarf betrifft klein
Mechanorezeptor (lat. recipere – aufnehmen). Auf Mikrosomie (griech. mikro – klein; soma – Körper).
mechanische Einwirkungen reagierende Emp- Kleinwuchs, die Körperlänge liegt unter 140 cm
fangsorgane in der Haut oder in den inneren Or- bei Frauen und unter 150 cm bei Männern
ganen Miktion (lat. mictio – Wasserlassen). Blasenentlee-
Medulla oblongata (lat. medulla – Mark; oblongus – rung, Harnlassen
länglich). Verlängertes Mark Mimik (lat. mimicus – Gebärdenspiel, Mienenspiel).
Meissner Körperchen. Nach dem Anatom und Phy- Gesamtheit der Gebärden und vor allem des Ge-
siologen Georg Meissner (1828 – 1905) benannte sichtsausdruckes als Ausdruck einer bestimmten
Druckrezeptoren in der Haut, Synonym: Tastkör- (inneren) Haltung
perchen Mini-Mental-Status (engl.). Test zur Beurteilung des
Mekonium (griech. mekonion – Mohnsaft). Intraute- kognitiven Leistungsvermögens eines Menschens
rin gebildeter Stuhl des Kindes, der postnatal aus- Miserere (lat. miserere – erbarme dich). Stuhlerbre-
geschieden wird und eine schwarz-grünliche Far- chen, Koterbrechen
be besitzt, Synonym: Kindspech Mobilisation (lat. mobilis – beweglich). Durchführen
Melanom (griech. melas – schwarz; -om – Ge- von gestuften Bewegungsübungen durch den Pa-
schwulstbildung). Bösartige Wucherung entarte- tienten (passiv, assistiv oder aktiv), z. B. zur Kon-
ter Zellen, die Melanin, dunkle Farbpigmente bil- trakturenprophylaxe
den können Monoarthritis (griech. mono – allein, einzeln; ar-
Menarche (griech. men – Monat; arche – Anfang). thron – Gelenk; -itis – Entzündung). Entzündung
Zeitpunkt der ersten Regelblutung eines Gelenkes
Meningitis (griech. menigx – Hirnhaut; -itis – Ent- Monoparese (griech. mono – allein, einzeln; plegie –
zündung). Hirnhautentzündung Schlag, Lähmung). Lähmung einer Extremität
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KaelDesu
Glossar
Morbus Addison (lat. morbus – Krankheit). Nach dem fallsweise aufretende Ischämiezustände an den
englischen Arzt Thomas Addison (1793 – 1860) Arterien der Finger zu beobachten sind
benannte Erkrankung, bei der es aufgrund einer Morquio-Brailsford-Syndrom (griech. syn – zusam-
Insuffizienz der Nebennierenrinde zu einer bron- men, mit; dromos – der Lauf). Nach dem uru-
zenen Verfärbung der Haut kommt und die unter guayanischen Pädiater Louis Morquio-Brailsford
anderem zu Müdigkeit, Gewichtsverlust, Anore- (1867 – 1935) benannte Erkrankung, bei der es
xie, Hypoglykämie etc. führen kann u. a. zu Wachstumsstörungen der Epi- und Meta-
Morbus Alzheimer (lat. morbus – Krankheit). Nach physen der Röhrenknochen sowie Minderwuchs
dem polnischen Neurologen Alois Alzheimer und Kyphose kommt
(1864 – 1915) benannte Form der Demenz, bei der Motilität (lat. motor – Beweger). Gesamtheit der
es zur Atrophie der Großhirnrinde kommt nicht bewusst gesteuerten Bewegungen der Orga-
Morbus Bechterew (lat. morbus – Krankheit). Nach ne (z. B. Peristaltik), Bewegungsvermögen
dem russischen Neurologen Wladimir von Bech- Motorik (lat. motor – Beweger). Gesamtheit aller ak-
terew (1857 – 1927) benannte Erkrankung, bei der tiven und willkürlichen Muskelbewegungen
es zu Entzündungen des Knochengelenksystems Multimorbidität (lat. multiplex – vielfach; morbus –
mit Befall der Wirbelsäule kommt Krankheit). Das gleichzeitige Vorkommen mehre-
Morbus Crohn (lat. morbus – Krankheit). Nach dem rer Erkrankungen
amerikanischen Arzt Burill B. Crohn (geb. 1884) Multiple Sklerose (lat. multiplex – vielfach; skleros –
chronisch-entzündliche Krankheit, die den ge- spröde, hart, trocken; -ose – nicht entzündliche
samten Gastrointestinaltrakt befallen kann und Krankheit). Erkrankung des Gehirns und Rücken-
mit granulomatösen Veränderungen einhergeht, marks, bei der es zum Untergang der Markschei-
Synonym: Enteritis regionalis, Ileitis terminalis, den der Neurone kommt, Abkürzung: MS, Syno-
Ileitis regionalis nym: Encephalomyelitis disseminata
Morbus Cushing (lat. morbus – Krankheit). Nach dem Mykose (griech. mykes – Pilz; -ose – nicht entzündli-
amerikanischen Chirurgen Harvey Cushing che Krankheit). Durch Pilze verursachte Krank-
(1869 – 1939) benannte Erkrankung, die mit einer heit
Erhöhung von Cortisol im Blut einhergeht und Myokardinfarkt (griech. myo – Muskel; kardia –
durch Vollmondgesicht, Büffelnacken, Hirsutis- Herz; infarcire – hineinstopfen). Schwere Schädi-
mus, Hypertonie etc. gekennzeichnet ist gung eines Herzmuskelbezirks mit Untergang
Morbus Meniere (lat. morbus – Krankheit). Nach dem von Herzmuskelgewebe, Synonym: Herzinfarkt
französischen Arzt, Prosper Meniere Myokarditis (griech. myo – Muskel; kardia – Herz;
(1799 – 1862) benannte Erkrankung, die mit An- -itis – Entzündung). Entzündliche Erkrankung des
fällen von Drehschwindel, Ohrensausen, Schall- Herzmuskels
empfindungsschwerhörigkeit einhergeht und Myoklonie (griech. myo – Muskel; klonos – heftige
durch einen Hydrops des Labyrinths bedingt ist Bewegung). Ruckartige heftige Zuckungen einzel-
Morbus Parkinson (lat. morbus – Krankheit). Nach ner Muskeln
dem englischen Arzt James Parkinson Myom (griech. myo – Muskel; -om – Geschwulstbil-
(1755 – 1824) benannte Erkrankung des extrapy- dung). Gutartiger Tumor aus Muskelgewebe
ramidalen Systems, das durch die Leitsymptome Myopathie (griech. myo – Muskel; pathos – Leiden).
Akinesie, Rigor und Tremor gekennzeichnet ist Erkrankung der Muskulatur
Morbus Perthes (lat. morbus – Krankheit). Nach den Myxödem. Bezeichnung für pathologische Ablage-
deutschen Chirurgen Georg Perthes (1868 – 1927) rung von Glykosaminoglykanen (Aminozucker ⫹
benannte Erkrankung des Hüftgelenks, bei der es Glukuron-Iduronsäure) in Haut-, Unterhaut- und
im Wachstumsalter zu einer Gelenkknorpelne- Muskelgewebe. Es kommt zu ödematös-teigigem
krose und Verformung der Gelenkpfanne und des Aussehen. Im Gegensatz zu anderen ödematösen
Gelenkkopfes kommt. Synonyme: Perthes-Calve- Veränderungen der Haut bleiben nach Druck kei-
Legg-Krankheit, Perthes's disease ne Dellen zurück
Morbus Raynaud (lat. morbus – Krankheit). Nach Myzetismus. Sammelbezeichnung für Vergiftungser-
dem französischen Neurologen Maurice Raynaud scheinungen nach Verzehr roher oder verdorbe-
(1834 – 1881) benannte Erkrankung, bei der an- ner Speisepilze und nach Verzehr von Giftpilzen
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KaelDesu
Glossar
Naevus flammeus (lat. naevus – Mal, Muttermal; fla- chochlear – die Schnecke). „Gleichgewichts- und
grare – brennen, lodern, glühen). Rötlich blaues Hörnerv“ VIII. Hirnnerv
Gefäßmal, sog. Feuermal Neuropathie (griech. neuron – Nerv; pathos – Lei-
Naevuszellnaevus (lat. naevus – Mal, Muttermal). den). Erkrankung peripherer Nerven
Ansammlung von Naevuszellen an der Hautober- Neuropeptid (griech. neuron – Nerv; peptos – ge-
fläche, brauner Fleck, Leberfleck kocht, verdaut). Produkte des Eiweißabbaus, die
NANDA: Nordamerikanische Pflegediagnosenverei- für die Weiterleitung von Erregungen im Nerven-
nigung. Gruppe von Pflegepersonen aus den USA system zuständig sind
und Kanada, die Pflegediagnosen entwickelt, Neuropsychologie (griech. neuron – Nerv; psycho-
überprüft und klassifiziert Seele, Gemüt; logos – Lehre). Lehre von den höhe-
Nanosomie (griech. nanos – Zwerg; soma – Körper). ren Hirnleistungen (moderner Ausdruck), unter-
Zwergwuchs, die Körperlänge überschreitet sucht die Zusammenhänge zwischen Nervensys-
130 cm nicht tem und psychischen Vorgängen
Narkolepsie (griech. narkotikos – betäubend; lepsis – Non Rapid Eye Movement-Schlaf (engl.). Schlaf, bei
Anfall). Zwanghafter Schlafanfall dem keine schnellen Augenbewegungen beob-
Nasolabialfalte (lat. nasus – Nase; labium – Lefze, achtet werden können, umfasst die Schlafstadien
Lippe). Falte, die von der Nase zur Lippe zieht 1 – 4, Synonym: orthodoxer Schlaf, Abkürzung:
Nausea (griech. nausia – Seekrankheit). Übelkeit, NREM-Schlaf
Brechreiz Norton-Skala. Nach Doreen Norton benannte Skala
Neisseria. Nach dem Dermatologen Albert L. Neisser zur Einschätzung und Beurteilung der Dekubitus-
(1855 – 1916) benannte Gattung von gramnegati- gefährdung eines Menschen
ven, paarig angeordneten Bakterien Nozizeptoren (lat. nocere – schaden; recipere – auf-
Nekrose (griech. nekros – tot). Gewebsuntergang, nehmen). Schmerzrezeptoren, auf Schmerzen
Absterben von Gewebe reagierende Empfangsorgane in der Haut oder in
Neologismus (griech. neo – neu, jung; logos – Wort, den inneren Organen
Lehre). Störung des Sprachverständnisses bei der Nucleus suprachiasmaticus (lat. nucleus – der Kern;
es zu Wortneubildungen kommt supra- – oberhalb, über; griech. chiasma – x-för-
Nephrokalzinose (lat. nephro – Niere; -ose – nicht mige Kreuzung). Kerngebiet im Zwischenhirn,
entzündliche Krankheit). Anhäufung von Calcium oberhalb der Sehnervenkreuzung, zuständig für
in den Nieren, die zu einer Nierenverkalkung die endogene Steuerung des zirkadianen Rhyth-
führt mus
Nervus facialis (lat. nervus – Nerv, Sehne, Flechse; fa- Nykturie (griech. nykt- – Nacht; ouron – Harn). Ver-
cies – Aussehen, Gesicht). „Gesichtsnerv“, VII. mehrtes nächtliches Wasserlassen
Hirnnerv
Nervus glossopharyngeus (lat. nervus – Nerv, Sehne, Objektive Daten. Alle durch Messung zu erhebenden
Flechse; griech. glossar – Zunge; pharynx – Ra- Daten
chen, Schlund). IX. Hirnnerv Obstipation (lat. stipare – stopfen). Stuhlverstopfung
Nervus olfaktorius (lat. nervus – Nerv, Sehne, Flech- Obstruktion (lat. obstruere – versperren). Verstop-
se; olfaktare – an etwas riechen). „Riechnerv“, I. fung, Verlegung eines Gefäßes, Gangs oder Hohl-
Hirnnerv organes
Nervus pudendus (lat. nervus – Nerv, Sehne, Flechte; occult (lat. occultus – geheim, verborgen). Verborgen
pudendus – zur Schamgegend gehörend). Scham- Ödeme (griech. oidema – Geschwulst). Wasseran-
beinnerv sammlung im Gewebe
Nervus vagus (lat. nervus – Nerv, Sehne, Flechse; va- Oligohidrose (griech. oligo – wenig; hidros –
gus – der Umherschweifende). X. Hirnnerv, Schweiß). Geringe Schweißsekretion
Hauptvertreter des parasympathischen Systems, Oligomenorrhoe (griech. oligo – wenig; men – mo-
eines Teils des vegetativen Nervensystems nat; -rhoe – fließen, Fluss). Zu seltene Menstrua-
Nervus vestibulocochlearis (lat. nervus – Nerv, Seh- tion
ne, Flechse; vestibularis – zum Vorhof gehörend;
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Glossar
Oligurie (griech. oligo – wenig; houron – Harn). Ver- Paraplegie (griech. para – abseitig, neben, abwei-
minderte Urinausscheidung mit einer Menge von chend; plege – Schlag, Lähmung). Lähmung zwei-
weniger als 500 ml in 24 Stunden er Extremitäten, i. d. R. beide Beine (sog. Quer-
Onycholyse (griech onycho – Nagel; lysis – Auflö- schnittslähmung)
sung). Ablösung des Nagels Parasomnie (griech. para- – abseitig, neben, abwei-
Onychorrhexis (griech. onycho – Nagel; rexis – rei- chend; lat. somnus der Schlaf). Vorübergehende
ßen). Erhöhte Brüchigkeit der Nägel körperliche Abläufe während des Schlafes
Orthopnoe (griech. ortho – gerade; pneuma – Luft, Parästhesie (griech. par- – abseitig, neben, abwei-
Atem). Zustand höchster Atemnot, bei dem zur chend; aisthesis – Empfindung). Missempfindung
Unterstützung der Atemhilfsmuskulatur eine auf- Parasympathikus (griech. para- – abseitig, neben, ab-
rechte, gerade Körperhaltung eingenommen wird weichend; sympath- – Wortteil mit der Bedeu-
Ösophagus (griech. oisein – tragen; phagema – Spei- tung mitempfinden, in Wechselwirkung stehen).
se). Speiseröhre Teil des vegetativen Nervensystems, der dem
Osteomalazie (griech. osteo – Knochen; malakia – Sympathikus entgegen wirkt
Weichheit). Erhöhte Weichheit der Knochen bei Parasympathomimetika (griech. para- – abseitig, ne-
ungenügender Mineralisation der Knochenma- ben, abweichend; sympath- – Wortteil mit der
trix Bedeutung mitempfinden, in Wechselwirkung
Osteomyelitis (griech. osteo – Knochen; myelos – stehen; mimetisch – bewegend, erregend). Medi-
Mark; -itis – Entzündung). Entzündung des Kno- kamente, die Erscheinungen hervorrufen können,
chenmarks wie sie durch eine Erregung des Parasympathikus
Osteoporose (griech. osteo – Knochen; poros – Loch). hervorgerufen werden
Erkrankung, die mit einer Verminderung des Kno- Parese (griech. paresis – Erschlaffung). Unvollständi-
chengewebes einhergeht ge Lähmung
Ovar (lat. ovarium – Eierstock). Eierstock Paronychie (griech par(a)- – abseitig, neben, abwei-
Ovulationshemmer (lat. ovulum – kleines Ei). Medi- chend; onych- – Nagel). Nagelwallentzündung
kamente, die auf hormonellem Weg eine Schwan- Parosmie (griech. par(a) – abseitig, neben, abwei-
gerschaft vermeiden chend; osme – Geruch). Geruchliche Fehlwahr-
nehmungen
Palpation (lat. palpare – tasten). Untersuchung durch Pathologie (griech. pathos – Leiden; logos – Lehre).
Betasten Lehre von den Krankheiten und zwar ihren Ursa-
Panaritium (lat. panaricium – Krankheit der Nägel). chen (Ätiologie), ihren körperlichen Veränderun-
Entzündung des Nagelbettes, Synonym: Nagelge- gen (pathologische Anatomie), ihrer Entstehung
schwür, Umlauf und ihrem Wesen (Pathogenese) und ihren klini-
paradox (griech. para – abseitig, neben, abweichend; schen Erscheinungen (Symptomatologie, Nosolo-
doxa – Meinung). Wiedersinnig, widersprüchlich gie)
Paralyse (griech. paralyein – auflösen). Vollständige pathologisch (griech. pathos – Leiden). Krankhaft
Lähmung Pathophysiologie (griech. pathos – Leiden; logos –
Paramnesie (griech. para- – abseitig, neben, abwei- Lehre; physio – Natur). Lehre von den krankhaf-
chend; mnesis – Erinnerung). Erinnerungsverfäl- ten Lebensvorgängen und gestörten Funktionen
schungen, bei denen Gedächtnisinhalte umge- des menschlichen Organismus
staltet werden, hierzu gehören das Deja-vu-Er- Pavor nocturnus (lat. pavor – Angst; nocturnus –
lebnis, die Pseudomnesie und die Wahnerinne- nächtlich). Nachtangst
rung percutan (lat. per – durch, hindurch; cutis – Haut).
Paraparese (griech. para – abseitig, neben, abwei- Aufnahme von Stoffen durch die Haut oder
chend; paresis – Erschlaffung). Schwache Läh- Schleimhaut
mung zweier Extremitäten (i. d. R. beide Beine) peripher (griech. peripherein – herumtragen). Au-
Paraphasie (griech. para – abseitig, neben, abwei- ßen, am Rande, weg oder fern vom Zentrum
chend; phasis – Sprechen). Sprachstörung, die Periphere Lähmung (griech. peripherein – herumtra-
durch eine Verwechslung von Worten oder Buch- gen). Lähmung, bei der der Lähmungsherd im pe-
staben gekennzeichnet ist
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KaelDesu
Glossar
ripheren motorischen Neuron liegt, schlaffe Läh- Pflegeproblem. Beeinträchtigung eines Menschen in
mung einem Lebensbereich, die seine Unabhängigkeit
Peristaltik (griech. peristaltiokos – umfassend und einschränkt, belastend auf ihn wirkt und Pflege
zusammendrückend). Wellenförmig fortschrei- erforderlich macht
tende Wandbewegung von Hohlorganen, bei der Pflegeprozess. Systematische, zielgerichtete, konti-
sich die einzelnen Abschnitte des Organs nachei- nuierliche und dynamische Methode der Pflege
nander zusammenziehen und so den Inhalt trans- zur Problemlösung; umfasst in Abhängigkeit vom
portieren jeweils zugrunde gelegten Modell vier bis sechs
Peritonitis (griech. peritonaion – das Herumge- Schritte
spannte; -itis – Entzündung). Entzündung des Pflegeziele. Beschreiben das zu erreichende Ergebnis
Bauchfells der Pflege und müssen erreichbar, realistisch und
persistierend (lat. persistere – anhaltend, andau- überprüfbar sein
ernd). Anhaltend, andauernd Phäochromozytom (griech. phaios – grau schwärz-
Perspiratio (lat. per- – (hin)durch; spirare – atmen). lich; chroma – Farbe; zyt- Zelle; -om – Ge-
Hautatmung schwulstbildung). Tumor des Nebennierenmarks
Perspiratio insensibilis (lat. per- – (hin)durch; spirare Phlebothrombose (griech. phlebo – Vene; thrombos
– atmen; in- – nicht; sensibilis – der Empfindung – Blutpfropf). Verschluss der tiefer gelegenen
fähig, empfindbar). Unbemerkte Wasserabgabe Beinvenen durch einen Blutpfropf
über die Haut und Schleimhaut mittels Diffusion Phlegmone (griech. phlegmone – Entzündung). Flä-
und Verdunstung chenhafte Zellgewebsentzündung
Perspiratio sensibilis (lat. per- – (hin)durch; spirare – Physiologie (griech. physio – Natur; logos – Leiden).
atmen; sensibilis – der Empfindung fähig, emp- Wissenschaft und Lehre von den normalen Le-
findbar). Hautausdünstung, Absonderung von bensvorgängen
Schweiß, Schwitzen, Synonym: Transpiration Pick-Wick-Syndrom (griech. syn – zusammen, mit;
Pertussis (lat. tussis – Husten). Keuchhusten dromos – der Lauf). Erkrankung, die mit hochgra-
Perzentilenkurve ( lat. per – durch; centrum – hun- diger Fettsucht, arterieller Hypoxämie, Poly-
dert). Beschreibung zur Verteilung in Hunderstel zythämie und Somnolenz einhergeht
Petechien (lat. petigo – Ausschlag). Kleine punktför- Plasmozytom (griech. plasma – Gebilde; zyt- – Zelle;
mige Haut- oder Schleimhautblutungen -om – Geschwulstbildung). Vermehrung der Plas-
Pfaundler-Hurler-Krankheit. Nach dem deutschen mazellen im Knochenmark, Synonyme: multiples
Pädiater Meinhard von Pfaundler-Hurler Myelom, Kahler-Krankheit
(1872 – 1947) benannte Erkrankung, bei der es Plazenta (lat. placenta – Kuchen). Schwammiges Or-
u. a. zu einer Störung des Knochenwachstums und gan, welches während der Schwangerschaft ge-
Störung des Mukopolysaccharidstoffwechsels, bildet wird, dem Stoffaustausch zwischen Mutter
Minderwuchs und Kyphose kommt und Fetus dient und nach der Geburt ausgestoßen
Pflegeanamnese. Einschätzen des Pflegebedarfs, Er- wird, sog. Mutterkuchen, Nachgeburt
hebung aller für die Pflege relevanten Daten zur Plegie (griech. plege – Schlag, Lähmung). Motorische
Erfassung der Pflegeprobleme und Ressourcen, Lähmung
erster Schritt des Pflegeprozesses Plexus brachialis (lat. plexus – Geflecht; brachium –
Pflegediagnose. Formal definiertes Pflegeproblem, Arm, Oberarm). Nervengeflecht zwischen Ober-
klinische Beurteilung der Reaktion von Einzelnen arm und Schlüsselbein, sog. Armgeflecht
oder Gruppen auf aktuelle oder potentielle Ge- Plexus cervicalis (lat. plexus – Geflecht; cervix – Na-
sundheitsprobleme, Ausgangspunkt für Planung, cken, Hals). Nervengeflecht am Hals, sog. Halsge-
Durchführung und Evaluation der Pflege flecht
Pflegefachsprache. Innerhalb der pflegerischen Be- Pollakisurie (griech. pollakis- – oft; houron – Harn).
rufsgruppe zur effektiven Kommunikation ver- Häufige Harnentleerung, zumeist kleiner Mengen
wandte pflegespezifische Begriffe Polyarthritis (griech. poly – viel, zahlreich; arthron –
Pflegeplan. Verbindliche Pflegeverordnung, umfasst Gelenk; -itis – Entzündung). Entzündung mehre-
Pflegeprobleme, Ressourcen, Pflegeziele und rer Gelenke
-maßnahmen des pflegebedürftigen Menschen
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Glossar
Polydipsie (griech. poly – viel; dipsa – Durst). Gestei- Prostataadenom (griech. prostates – Vorsteher; aden
gertes Durstgefühl mit übermäßiger Flüssigkeits- – Drüse; -om – Geschwulstbildung). Vergröße-
aufnahme rung der Prostata durch Wucherung des Drüsen-
Polyglobuli (griech. poly – viel, zahlreich; lat. globuli epithels, Synonym: benigne Prostatahyperplasie
– Kügelchen). Vermehrung der roten Blutkörper- Protein-Energie-Mangelsyndrom (griech. syn- – zu-
chen (Erythrozythen) sammen, mit; dromos – der Lauf). Bezeichnung
Polymenorrhoe (griech. poly – viel, zahlreich; men – für Ernährungskrankheiten, die mit einem Ei-
Monat; – rhoe – fließen, Fluss). Zu häufige, zu vie- weißmangel einhergehen und besonders häufig
le Menstruationen in den tropischen Entwicklungsländern auftreten,
Polyp (griech. polypous – vielfüßig). Gutartige Ge- z. B. Kwashiorkor, Marasmus, Abkürzung: PEM
schwülste der Schleimhäute Protozoen (griech. zoon – Tier). Einzeller
Polyurie (griech. poly – viel, zahlreich; houron – Provitamin (lat. pro- – vor, für; vita – Leben). Vorstufe
Harn). Vermehrte Urinausscheidung mit mehr als eines Vitamins, einer organischen Verbindung,
2000 ml in 24 Stunden die als Wirkstoff für die Aufrechterhaltung der Le-
Pons (lat. pons – Brücke). Brücke zwischen den Hirn- bensvorgänge im Organismus unentbehrlich sind
hälften Pruritus (lat. pruritum – jucken). Hautjucken
postnatal (lat. post- – zeitlich nach, hinter; natalis – Pseudologica phantastica (griech. pseudos – falsch;
zur Geburt gehörend). Nach der Geburt logos – Wort; phantasticos – zum Vorstellen befä-
Postprandiale Müdigkeit (lat. post- – zeitlich nach, higt). Krankhaftes Schwindeln, bei dem ausge-
hinter; prandium – Mahlzeit). Nach den Mahlzei- dachte Erlebnisse als wahre Begebenheiten er-
ten einsetzende Müdigkeit zählt werden
postrenal (lat. post- – nach, hinter; ren – die Niere). Psoriasis (griech. psora – Krätze, Räude; -iasis krank-
Hinter der Niere gelegen hafter Zustand). Schuppenflechte
Präfix (lat. praefigere – vorn anheften). Untrennbare Psychopathologie (griech. psycho – Seele, Gemüt;
Vorsilbe, die vor ein Wort oder einen Wortstamm pathos – Leiden; logos – Lehre). Lehre von den
gesetzt wird und wodurch ein neues Wort ent- seelischen Funktionsstörungen
steht Psychose (griech. psycho – Seele, Gemüt; -ose – nicht
pränatal (lat. prae- – vor; natalis – zur Geburt gehö- entzündliche Krankheit). Psychische Erkrankung,
rend). Vor der Geburt die zu einer Störung des gesamten Erlebens führt
prärenal (lat. prae- – vor; ren – die Niere). Vor der Psychovegetativ (griech. psycho – Seele, Gemüt; lat.
Niere gelegen vegere – kräftig, lebhaft sein). Die Psyche und das
Präsuizidales Syndrom (lat. prae- – vor; sui – sich vegetative Nervensystem betreffend
selbst; cidere – töten; griech. syn – zusammen, Pubes (lat.). Schamhaare
mit; dromos – der Lauf). Symptomenkomplex, der pulmonal (lat. pulmo – die Lunge). Zur Lunge gehö-
einem Selbstmord vorausgeht, z. B. Depression, rend
Psychose, Autoaggression, Angst etc. Puls (lat: pulsus – Stoß). Die durch den systolischen
Proktitis (griech. proktos – Mastdarm; -itis – Entzün- Blutauswurf des Herzens im Kreislauf entstehen-
dung). Mastdarmentzündung de Druck- und Volumenschwankung (Welle) im
Prolaps (lat. pro- – vor; lapsus – Ausgleiten, Fallen). arteriellen Gefäßsystem
Vorfall, Heraustreten von inneren Organen Pulsdefizit (lat. pulsus – Stoß; deficit – es fehlt). Peri-
Propriozeptor (lat. proprius – eigen; recipere – auf- phere, an einer Körperarterie palpierte Pulsfre-
nehmen). Empfangsorgane in der Haut und in in- quenz ist niedriger als die zentrale, über dem Her-
neren Organen, die die Wahrnehmung der Stel- zen auskultierte
lung und Bewegung des Körpers im Raum ermög- Pulsfrequenz (lat. pulsus – Stoß; frequentia – Häufig-
lichen keit). Häufigkeit der Pulswellen pro Minute
Prostaglandin (griech. prostates – Vorsteher; lat. Pulsoxymetrie (griech. oxy- – Sauerstoff; -metria – -
glandula – die Drüse). Hormonähnliche Stoffe mit prüfung, -messung). Verfahren zur nicht invasi-
gefäßerweiternder und wehenauslösender Wir- ven und kontinuierlichen Messung der Sauer-
kung stoffsättigung durch Gewebe (z. B. Finger; Fuß)
bei gleichzeitiger Messung der Pulsfrequenz
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KaelDesu
Glossar
Pulsqualität (lat. pulsus – Stoß; qualitas – Beschaf- Reizdeprivation (lat. deprivare – berauben). Mangel
fenheit). Feststellbare Eigenschaften des Pulses an äußeren Sinneseindrücken und -wahrneh-
(Füllung der Blutgefäße und Härte der Pulswelle) mungen
Pulsrhythmus (lat. pulsus – Stoß; griech. rhythmos – Reizüberflutung. Zu viele Reize gelangen zum Gehirn
Gleichmaß, Takt). In regelmäßigen Abständen er- und können nicht bzw. nicht ausreichend gefiltert
folgende Schlagfolge des Herzens werden
Pylorusstenose (griech. pylon – Tor; griech. stenos – Rekonvaleszenz (lat. reconvalescere – genesen). Pha-
eng). Verengung des Magenausganges se der Genesung, der Wiedergesundung
Pyrogene (griech. pyr- – Feuer, Fieber; gen- – hervor- Relaxation (lat. relaxatio – das Nachlassen, Abspan-
bringen, erzeugen). Fiebererzeugende Stoffe, die nen). Erschlaffung, Entspannung
in endogene und exogene Pyrogene unterschie- Reliabilität. Maß für die Zuverlässigkeit eines Mess-
den werden instrumentes. Bei Wiederholung des Tests sollen
Pyromanie (griech. pyr- – Feuer, Fieber; mania – Ra- dieselben Messergebnisse erzielt werden
serei, Wahnsinn). Triebhaftes Brandstiften Remission (lat. remissio – Nachlassen). Bezeichnung
Pyurie (griech. pyon – Eiter; houron – Harn). Eiter- für das Zurückgehen von Krankheitserscheinun-
ausscheidung im Urin gen
renal (lat. ren – die Niere). Zur Niere gehörend
Rachitis (griech. rachi – Rückgrat, Rücken). Vitamin- Reposition (lat. re- – wieder, zurück; positio – Lage,
D-Mangelerkrankung Stellung). In die Ausgangslage zurückbringen,
Radiation (lat. radiatio – das Strahlen). Wärmeab- Wiedereinrichtung
strahlung Reservevolumen, exspiratorisch (lat. ex – aus, heraus,
Rapid Eye Movement-Schlaf (engl.). Schlaf, der durch ent-, ver-; respirare – atmen). Bezeichnet das Vo-
rasche Augenbewegungen gekennzeichnet ist, lumen, welches nach normaler Exspiration noch
umfasst das Stadium 5, Synonym: paradoxer ausgeatmet werden kann, ca. 1000 bis 2000 ml,
Schlaf, Abkürzung: REM-Schlaf Abkürzung: ERV
Raucedo (lat. raucus – heiser). Heiserkeit Reservevolumen, inspiratorisch (lat. in – in, hinein;
Reanimation (lat. re- – wieder, zurück; animatio – respirare – atmen). Bezeichnet das Volumen, wel-
Belebung). Sog. wiederbelebende Maßnahmen, ches nach normaler Inspiration noch eingeatmet
die geeignet sind, die Sauerstoffversorgung des werden kann, ca. 2000 bis 3000 ml, Abkürzung:
Zentralnervensystems (ZNS) aufrechtzuerhalten IAV
bei Atemstillstand und Herzstillstand, z. B. Beat- Residualkapazität, funktionelle (lat. residuum – das
mung, Herzmassage, Defibrillation Zurückgebliebene; capazitas – Fassungsvermö-
Reflex, Eigen- (lat. reflectere – rückwärts biegen). gen). Summe aus exspiratorischem Reservevolu-
Physiologische, unwillkürlich ablaufende Vorgän- men und Residualvolumen, ca. 3000 ml
ge als Antwort auf einen Reiz, bei dem Reizort und Residualvolumen. Luftmenge, die nach der maxima-
Erfolgsorgan identisch sind, z. B. Patellarsehnen- len Exspiration noch in der Lunge verbleibt, ca.
reflex 1000 bis 2000 ml
Reflex, Fremd- (lat. reflectere – rückwärts biegen). Resorption (lat. resorbere – wieder einschlürfen).
Physiologische, unwillkürlich ablaufende Vorgän- Aufnahme von Stoffen durch die Haut oder
ge als Antwort auf einen Reiz, bei dem der Reizort Schleimhaut in die Blut- oder Lymphbahn
und das Erfolgsorgan nicht identisch sind, z. B. Resorptionsfieber (lat. resorbere – wieder einschlür-
Würgreflex fen). Fieber, das durch endogene Pyrogene her-
Regio olfaktoria (lat. regio – Gegend; olfaktare – an vorgerufen wird und nach Gewebsschädigungen
etwas riechen). Das Riechfeld, welches sich im auftritt, Synonym: aseptisches Fieber
oberen Teil der Nasenhöhle und im Wandbereich Respirationsluft (lat. respirare – atmen). Luftmenge,
des oberen Nasenganges befindet die in Ruhe bei normaler Ein- und Ausatmung in
Regurgitation (lat. re- – wieder, zurück; gurges – einem Atemzug geatmet wird, ca. 500 ml, Syno-
Schlund). Zurückströmen von Speisebrei in den nym: Atemzugvolumen, Abkürzung: AZV
Mund Respiratorische Arrhythmie (lat. respirare – atmen;
griech. a- – ohne, Mangel an; rhythmos – Gleich-
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KaelDesu
Glossar
maß, Takt). Atemabhängige Veränderung des Schnappatmung. Atmung mit kurzen schnappenden
Herzrhythmus, bei der die Frequenz bei der Einat- und unregelmäßig einsetzenden Einatmungszü-
mung im Gegensatz zur Ausatmung beschleunigt gen, denen größere Pausen folgen
ist Seborrhoe (lat. sebum – Talg; griech – rhoe – Fluss).
Ressource. Körperliche, ökonomische, persönliche, Übermäßige Talgdrüsenproduktion
räumliche, soziale und spirituelle Eigenschaften Sedativa (lat. sedare – beruhigen). Medikamente, die
und Fähigkeiten eines Menschen, die seinen Ge- eine beruhigende Wirkung besitzen
sundungsprozess positiv beeinflussen können Sekretion (lat. secretum – Absonderung, Ausschei-
Retina (lat. rete – Netz). Die Netzhaut des Auges dung). Absonderung
Rezeptoren. Spezialisierte reizaufnehmende Struk- Sekretolytika (lat. secretum – Absonderung, Aus-
turen des Organismus, z. B. Sinneszellen scheidung; griech. lysis – Auflösung). Medika-
Rhagade (griech. rhagas – Riss). Schmerzhafte Risse mente zur Lösung von Sekreten, Schleim, den
an den Übergängen zwischen Haut und Schleim- Auswurf fördernd
haut Selektion (lat. selection – Auslese). Auswahl
Rhinitis (griech. rhin- – Nase; -itis – Wortteil mit der Senile Demenz (lat. senilitas – Greisenalter; demen-
Bedeutung Entzündung). Nasenkatarrh, Schnup- tia – Wahnsinn). Aufgrund degenerativer Verän-
fen derungen entstehendes hirnorganisches Psycho-
Rhinophym (griech rhin- – Nase, phyma – Gewächs). syndrom im höheren Lebensalter mit Verfall der
Knollennase intellektuellen Fähigkeiten, meist kontinuierlich
Rhotazismus (griech. Buchstabe „Rhota“). Stammeln verlaufend
mit Fehlbildung des Lautes „R“, Artikulationsstö- sensorisch (lat. sensus – Sinn, Wahrnehmung). Die
rung Sinnesorgane und die Aufnahme von Sinnesrei-
Rotation (lat. rotare – drehen). Drehbewegung zen betreffend
Ruffinikolben. Nach dem italienischen Anatom An- Serotonin (lat. serum – Molke, Blutwasser (Wortteil);
gelo Ruffini (1864 – 1929) benannte Nervenend- griech. tonos – Spannung). Hormonähnlicher
körperchen, die der Druckempfindung dienen Stoff, der verschiedene Organfunktionen regu-
(Mechanozeptoren) liert, auch Neurotransmitter, die die Sichtweise
Rumination (lat. ruminatio – Wiederkäuen). Will- einer Person beeinflusst, z. B. Stimmungen,
kürlich ausgelöste Regurgitation, wobei Speise- Sigmatismus (griech. Buchstabe „Sigma“). Stammeln
brei durch Würgen und/oder Manipulationen zu- mit Fehlbildung des Lautes „S“ und der Zischlaute,
rück in den Mund strömt Artikulationsstörung, Synonym: Lispeln
Simplex (lat. simplex – einfach). Nicht zusammenge-
Säkulare Akzeleration (lat. sakulum – das Jahrhun- setztes und nicht abgeleitetes Wort
dert; Akzeleration – Beschleunigung). Beschleu- Singultus (lat. singultus – Schluckauf). Schluckauf
nigte Entwicklung seit der Jahrhundertwende Sinnesorgane. Organ, das der Aufnahme und Weiter-
Salmonellosen. Durch Salmonellen (Bakterien) aus- leitung von Sinneseindrücken dient
gelöste Infektionskrankheiten Skoliose (griech. skolios – krumm). Seitliche Verbie-
Schalentemperatur. Die Körpertemperatur in der gung der Wirbelsäule mit Drehung der einzelnen
Haut und den Extremitäten, 28,0 bis 33,0 ⬚C Wirbelkörper und Versteifung
Schizophrenie (griech. schizein – spalten; phren – Skybala (griech. skybalon – Unrat, Auswurf). Harte
Geist, Seele). Sog. Spaltungsirrsein, psychische Er- Kotballen
krankung, die meist in Schüben verläuft und ge- Somatogramm (griech. soma – Körper; gramma –
kennzeichnet ist durch Symptome wie Wahnent- Buchstaben, Zeichen, bildliche Darstellung). Ta-
wicklung, Halluzinationen, Spracharmut, Willen- belle, die die Beziehung zwischen Alter, Größe
losigkeit etc. und Masse darstellt
Schmerzrezeptoren (lat. recipere – aufnehmen). Auf Somnambulismus (lat. somnus – Schlaf; ambulare –
Schmerzen reagierende Empfangsorgane in der wandeln). Schlafwandeln, Synonym: Noktambu-
Haut oder in den inneren Organen (Nozizeptoren) lismus
Somniloquie (lat. somnus – Schlaf; loqui – Sprechen).
Sprechen im Schlaf
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KaelDesu
Glossar
soziale Wahrnehmung. Wahrnehmung von Perso- Striae (lat. stria – Streifen). Blaurötliche, später gelb-
nen in Abhängigkeit von Selbstwahrnehmung, lich-weiße, strichförmige Hautveränderungen in-
sozialen Vergleichsprozessen und Faktoren aus folge starker Dehnung der Haut
der Umgebung Stridor (lat. stridor – Zischen). Pfeifendes Atemge-
Spastik (griech. spasmus – Krampf). Muskeltonus, räusch, wird unterschieden in eine inspiratori-
der krampfartig erhöht ist sche und exspiratorische Form
Sphincter ani (griech. sphincter – Schnur; lat. anus – Striktur (lat. strictura – Zusammenpressung, Zusam-
Ring). Ringförmiger Schließmuskel des Rektums menziehung). Ausgeprägte Verengung eines
Spina bifida (lat. spina – Stachel; bifidus – zweige- Hohlorgans
teilt). Angeborene Spaltbildung der Wirbelsäule Subcutis (lat. sub- – unter, unterhalb; cutis – Haut).
Spongiosa (lat. spongiosis – schwammig). Unterhaut
Schwammartige Knochensubstanz, Knochen- Subjektive Daten. Nicht messbare Daten, die von der
bälkchen subjektiven Sichtweise einer Person beeinflusst
Sprue. Einheimische Sprue: das der Zöliakie entspre- werden, z. B. Stimmungen, Gefühle etc.
chende Krankheitsbild bei Erwachsenen; tropi- sublingual (lat. sub- – unter, unterhalb; lingua – Zun-
sche Sprue: Malabsorptionssyndrom in vielen ge). Unter der Zunge
tropischen Ländern mit unklarer Ätiologie submucosa (lat. sub- – unter, unterhalb; mucosa –
Stadium decrementi (lat. descrescere – abnehmen). Schleim, Schleimhaut). Unter der Schleimhaut ge-
Stadium der Abnahme einer Krankheit, Fieberab- legen
fall Substanz P. Neuropeptid, das u. a. bei der Schmerzlei-
Stadium incrementi (lat. incrementum – Anwach- tung eine Rolle spielt
sen). Stadium des Anstiegs einer Krankheit, Fie- Suffix (lat. suffigere – unten anheften). Nachsilbe; an
beranstieg ein Wort oder einen Wortstamm angehängte Ab-
Steatorrhoe (griech. stear – Fett; rhoe – fließen, leitungssilbe
Fluss). Ausscheidung eines Fettstuhls, der ge- Suggestion (lat. suggestio – Eingebung). Beeinflus-
kennzeichnet ist durch ein Erstarren beim Erkal- sung eines Menschen bezüglich seines Fühlens
ten, eine große Masse, ein salbenartiges Aussehen oder Wollens, mit dem Ziel, den Betreffenden zu
und einen stinkenden Geruch, Synonyme: Sal- einem bestimmten Verhalten zu veranlassen
benstuhl, Butterstuhl, Pankreasstuhl Suppositorium (lat. suppositorium – das Untersetz-
Stenose (griech. stenos – eng). Verengung, Einen- te). Zäpfchen
gung supraventrikulär (lat. supra – oberhalb; ventriculus –
Stereotype (griech. stereos – starr, fest, massiv; typos Kammer). Oberhalb der Kammer, z. B. supraven-
– Form). Vorgefasste Meinungen und Einstellun- trikuläre Extrasystolen, die von Reizbildungs-
gen über Merkmale von Mitgliedern einer Gruppe zentren im Vorhof (oberhalb der Kammer) ausge-
Stereotypie (griech. stereos – starr, fest, massiv; ty- hen
pos – Form). Pathologisches Wiederholen von Surfactant-Faktor (engl. Surface aktive agent – Ober-
sprachlichen Äußerungen oder motorischen Ab- flächenaktive Substanz). Kleidet die Wände der
läufen Lungenbläschen aus, verhindert das Zusammen-
STH (Somatotropes Hormon) (griech. somato – Kör- klappen der Alveolen bei der Exspiration
per, körperlich; trop – auf etwas einwirken). Sympathikus (griech. sympathein – in Wechselwir-
Wachstumshormon kung stehen). Teil des vegetativen Nervensystems
Strangurie (griech. straggos – ausgepresster Tropfen; Sympathomimetika (griech. sympath- – Wortteil mit
ouron – Harn). Harnzwang, nicht zu unterdrü- der Bedeutung mitempfinden, in Wechselwir-
ckender Drang zum Wasserlassen, mit starken kung stehen; mimetisch – bewegend, erregend).
Schmerzen einhergehend Medikamente, die Erscheinungen hervorrufen
Streptokokken (griech. streptas – Kette; Kokkos – können, wie sie durch eine Erregung des Sympa-
Beere). Kugelförmige Bakterien, die in Kettenform thikus hervorgerufen werden
vorkommen Symptom (griech. symptoma – vorübergehende Ei-
gentümlichkeit, Begleiterscheinung). Begleiter-
scheinung einer Erkrankung, Krankheitszeichen
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Vater Pacini Körperchen. Nach dem italienischen zentral (lat. centralis – in der Mitte befindlich). Den
Anatom Filippo Pacini (1812 – 1883) benannte la- Mittelpunkt bildend
mellösen Nervenfaserendkörperchen, die die Zentrale Lähmung (lat. centralis – in der Mitte be-
Wahrnehmung von Vibrationen ermöglichen findlich). Lähmung infolge einer Schädigung im
ventrikulär (lat. ventriculus – Kammer). Von der Bereich der Pyramidenbahn, spastische Lähmung
Kammer ausgehend; z. B. ventikuläre Extrasysto- zerebral (lat. cerebrum – Gehirn). Das Gehirn betref-
len, bei denen die Reizbildung von allen Teilen der fend
Herzkammermuskulatur ausgehen kann zerebro-vaskulär (lat. cerebrum – Gehirn; vasculum
Vibrissae (lat.). Haare am Naseneingang – kleines Gefäß). Gefäße des Gehirns betreffend
visuell (lat. visus – das Sehen). Das Sehen betreffend Zervikobrachialsyndrom (lat. cervix – Nacken, Hals;
viszeral (lat. viszera – Eingeweide). Die Eingeweide brachium – Arm, Oberarm; griech. syn – zusam-
betreffend men, mit; dormos – Lauf). Sammelbegriff für tro-
Vitalkapazität (lat. vitalis – leben; capazitas – Fas- phische, sensible und motorische Störungen im
sungsvermögen). Luftvolumendifferenz zwi- Bereich des Halses, Schultergürtel und der oberen
schen maximaler Einatmung und Ausatmung Extremität durch Irritationen des Plexus cervica-
Vitiligo (lat. vitiligo – Hautflechte). Weißflecken- lis und brachialis sowie der A. vertebralis
krankheit, bei der über den Körper verteilt, auf- Zilien (lat. cilium – Augenlid). Wimpern
grund eines Melaninmangels weiße Flecken auf- zirkadian (lat. circa – um, ungefähr; dies – Tag). Ta-
treten gesrhythmus, 24-Stunden-Rhythmus, über den
Vomitus (lat. vomere – sich erbrechen). Erbrechen, Tag verteilt
Synonym: Emesis Zirkumduktion (lat. circum – um, herum; ducere –
Vorhofflattern. Störung der Tätigkeit der Vorhöfe des führen). Bewegung in einem Gelenk, die kreisför-
Herzens mit Frequenzen von 250 – 300 pro Minu- mig verläuft, Führung eines spastisch gelähmten
te Beines beim Gehen in Form eines Halbbogens
Vorhofflimmern. Eine der häufigsten Herzrhythmus- Zöliakie. Glutensensitive Erkrankung der Dünn-
störungen mit Flimmerbewegungen der Herzvor- darmschleimhaut im Säuglings- und Kindesalter.
höfe (Frequenzen zwischen 300 – 400 pro Minu- Gluten kommt in vielen Getreidearten, z. B. Wei-
te), die zu absoluter Arrhythmie der Herzkam- zen, Roggen, Gerste und Hafer, vor. Bei den betrof-
mern führen fenen Kindern kommt es bei Kontakt mit Gluten
Vulva (lat. vulva – Hülle). Die äußeren weiblichen Ge- zu einer immunologischen Reaktion (Antikörper-
schlechtsorgane bildung) mit schweren Veränderungen der Dünn-
darmschleimhaut bis zur vollständigen Zotten-
Wahrnehmung. Aufnahme von inneren und äußeren atrophie. Dies führt zum Verlust der digestiven
Reizen über die Sinnesorgane bzw. absorptiven Funktion des Dünndarmes für
Wahrnehmungsprozess. Verarbeitung des über die die meisten Nährstoffe einschließlich der Minera-
Sinnesorgane gewonnenen Informationsmate- lien und Vitamine und spezifische Mangelerkran-
rials kungen in Folge. Das entsprechende Krankheits-
Wahrnehmungsschwelle. Bezeichnung für die Leis- bild des Erwachsenen heißt Sprue
tungsgrenzen der Sinnesorgane Zyanose (griech. kyanos – blaue Farbe; -ose – nicht
Wahrnehmungsverzerrung. Veränderte Wahrneh- entzündliche Krankheit). Blaurote Verfärbung der
mung aufgrund störender Einflussfaktoren Haut infolge mangelnder O2-Sättigung des Blutes
Windkesselfunktion. Aufgrund der elastischen Ei- zytologisch (griech. zyt- – Zelle; logos – Wort, Lehre).
genschaften der arteriellen Gefäßwand, beson- Lehre vom Bau und den Funktionen der Zellen
ders der Aorta, bewirkte Glättung der hohen pul- Zytostatika (griech. zyt- – Zelle: griech. statikos –
satorischen Ventrikeldruckschwankungen. Die zum Stehen bringen). Substanzen, die die Zelltei-
Windkesselfunktion der Arterien ermöglicht den lung durch Beeinflussung des Stoffwechsels ver-
kontinuierlichen Blutfluss hindern oder erheblich verzögern
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Bindehaut, Gelbfärbung 77, 424 Bogengang 11 Crohn-Krankheit 98, 100 – Stuhlinkontinenz 332
Biografie 26 Borreliose 94, 170 Cushing-Krankheit – Ursache 235
Biot-Atmung 193 Brachybasie 448 – Adipositas 273 Denken 65
Biotin 294 Brachymenorrhö 352 f – Facies lunata 420 – Definition 236
Bläschen 82 Bradykardie 133 ff – Striae 76 – inkohärentes 237
Blasenbildung 174 – Bewusstseinslage 138 – unzusammenhängendes 228
Blässe 102, 174 f, 244 – relative 134 Denkfähigkeit 224, 457
– pathologische 76 – Schlafapnoerisiko 216 D Denkhemmung 237
– physiologische 73 Bradypnoe 190 f Damenbart 115, 124 Denkstörung 236 ff
Blattpapille 72 Brandblase 82 Dämmerzustand 207, 227 – formale 236 f
Blaufärbung 74, 76 f Brechreflex 361 – Halluzination 229 – inhaltliche 236, 238 f
Bleivergiftung 292, 298 Brechzentrum 360 ff Dammschweiß 346 – Verwirrtheitszustand 233
Blickkontakt 417 Broca-Aphasie 462 Darm Denkverlangsamung 237
Blinddarmentzündung 391 Broca-Formel 268 – Atonie 328, 364 Depersonalisation 243
Blindheit 20, 22 Bromhidrosis 345 f – Überblähung 25 Depression 237, 242
Blutdruck 144 ff Bronchialkarzinom 374 Darmentleerung, verzögerte 329 – Antriebsminderung 243
– beim älteren Menschen 156 – Altersgipfel 376 Darmerkrankung, entzündliche – Bewegungsstörung 404
– diastolischer 145, 148 – Sputumuntersuchung 375 – – Eiweißresorptionsstörung – Gesichtsausdruck 419
– – Dokumentation 150 f Bronchialsekretion 373 f 296 – reaktive 426
– – Erhöhung 151 Bronchiektase 374 f – – Erbrechen 365 – Schlafstörung 211 f
– erniedrigter 16, 79 Bronchitis 374 Darmmotilitätsstörung 330 – bei Schmerzen 392
– – schlafbedingter 210 – chronische 374 f Darmstenose 330 – Wahn 238
– mittlerer 150 f – eitrige 374 Darmteilresektion 293 Depressives Syndrom 242
– Normalwert 151 – spastische 195, 374 Darstellungsregel 422 Deprivation 27
– – beim Kind 155 Bronchodilatator 212 Daten Derealisation 243
– bei Schmerz 391 Brucellose 134 – objektive 49 Dermatitis, atopische 104 f
– Schwankung 151 Brustatmung 187 f – primäre 48 Dermatose, infektiöse 105
– systolischer 145, 148 Brustkyphose 431, 437 – Reliabilität 49 Desorientierung 226, 228
– – Dokumentation 150 f Brustwandflattern 194 – sekundäre 48 – örtliche 232
– – Erhöhung 151 Brustwickel 385 – subjektive 49 – persönliche 232 f
Blutdruckamplitude 145, 151 Brustwirbelsäule 434 Datenerhebung 47 ff – postoperative 38, 54
– große 140 Bruxismus 213 Datenquelle 48 f – situative 232
Blutdruckdifferenz 149 Bulimia nervosa 290 Deadaption 20 – zeitliche 232
Blutdruckmanschette, Größe Bulla 82 Defäkation 75, 327 Diabetes
149, 154 f – schmerzhafte 100 – insipidus 292, 317
Blutdruckmessgerät 38, 145 f Defäkationsreflex 330 – mellitus
– nach Recklinghausen 147 C Dehnungsreiz 13, 15 – – Appetitsteigerung 289
Blutdruckmessung 50, 144 Café-au-Lait-Farbe 77 Dehydratation 292 – – Fußpflege 124
– direkte 145, 155 Café-au-Lait-Fleck 104 – Fieber 178 – – Karbunkel 122
– Dokumentation 149 f Caliper 272 – Schweregrade 301 – – Polydipsie 292
– Indikation 147 Canities 117 Dehydratationsgefahr 348 – – Polyurie 316
– indirekte 145 ff C-Faser 381 f Déjà-vu-Erlebnis 240 – – Temperaturempfindung
– – Fehlerquelle 148 f Charaktereigenschaft 26 Dekubitus 92 178
– beim Kind 154 f Chemorezeptor 17 – ⫺1. Grades 75 Diarrhö s. Durchfall
– kontinuierliche 145 Chemorezeptoren-Triggerzone – Pflegedokumentation 53 f Diät 274 f
– palpatorische 147 f 361 Dekubitusprophylaxe 55 Dickdarmerkrankung 328
Blütenpollen 196 Cheneau-Korsett 441 Dekubitusrisiko 38 Dickdarmschleimhaut 71
Blutgasanalyse 184 Cheyne-Stokes-Atmung 192 f Delir 228, 233 Digitalis
Blutgefäß-Nävus 103 f Chinidin 136 Delta Sleep-inducing Peptide – Arrhythmie 136
Blutgerinnung 294 Chloasma gravidarum 73 205 – Bradykardie 134
Blutgerinnungsstörung 75 Cholera 334 Delta-Welle 207 – Überdosierung 137, 328
Bluthochdruck s. Hypertonie Cholestase 302 Demenz Digitalthermometer 162
Blutosmolarität 286 Cholesterin 297 – Affektstarre 241 Digitalwaage 278
Bluttransfusion, kalte 136 Chondrodystrophie 256, 438 – Bewegung, stereotype 409 Diuretika
Blutung Christ-Siemens-Touraine-Syn- – Definition 233 – Missbrauch 290
– pulsierende 19 drom 344 – Harninkontinenz 314 – Polyurie 317
– punktförmige 75, 92 Chrom-III 295 – Mini-Mental-State 234 f Divertikulitis 332
– vaginale Chromhidrosis 345 – Nahrungsaufnahme 280 Dokumentation 44 f
– – azyklische 353 Claudicatio intermittens 446 – Orientierungsstörung 233 – Aspekt, juristischer 55 f
– – menopausale 357 Cobalamin 294 – primäre 235 – Informationsweitergabe 51
– – postmenstruelle 352 f Colitis ulcerosa 332 – psychopathologische Verän- – als Leistungsnachweis 54
– – prämenstruelle 352 f Coma vigile 227 derung 235 Dopamin 136
Blutzirkulation, herabgesetzte Corpus-luteum-Phase 352 – Schlafwandeln 213 Doppelbilder 22
76 Cortisol 256 – sekundäre 235 Dorsalflexion 401
Bobath-Konzept 25 Cortison 274 – senile 246 f Douglas-Abszess 355
Body-Mass-Index 268 f Crepitatio 195 – Sprachstörung 467 Drahtpuls 137
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