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Kultur erben

Eine soziologische Analyse des Konzepts von immateriellem Kulturerbe aus


der Perspektive der Praxistheorie

Masterarbeit
zur Erlangung des akademischen Grades Master of Arts (MA)

Eingereicht von:

Name: Clemens Maaß, BA


Matr.-Nr. 00916975
Adresse: Neuhauserstraße 8
6020 Innsbruck

Betreuer: Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr. Markus Schermer

Innsbruck, 27.9.2019
Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung 4
1.1. Kann man Kultur erben? 4
1.2. Argumentative Struktur der Arbeit 5
1.3. Essen als immaterielles Kulturerbe 7
1.4. Forschungsstand 8
2. AlpFoodways: Forschungsprojekt, Fallstudien und empirische Basis 10
2.1. Enzner 10
2.2. Lesachtaler Brot- und Mühlenkultur 13
2.3. Wildschönauer Krautinger 16
2.4. Fisser Gerste 18
2.5. Methodisches Vorgehen 20
3. Kulturelles Erbe und immaterielles Kulturerbe 23
3.1. Übereinkommen zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes der UNESCO 23
3.2. Kritische Einschätzung der Konvention 26
3.3. Zwischen den Zeiten 29
3.4. Inventing Traditions 31
3.5. Heritage als ein metakulturelles Produkt 33
3.6. Eine Frage der Ökonomie 36
3.7. Warum kulturelles Erbe? 37
4. Allgemeine Überlegungen zum Begriff der Kultur 40
4.1. Der normative Kulturbegriff 40
4.2. Der totalitätsorientierte Kulturbegriff 41
4.3. Der differenztheoretische Kulturbegriff 43
4.4. Der bedeutungs- und wissensorientierte Kulturbegriff 44
5. Eine hermeneutische Begegnung mit dem Kulturbegriff 47
5.1. Karl Marx und der Ausgangspunkt materialistischer Kulturtheorien 47
Das Basis-Überbau-Theorem 49
5.2. Die Rolle der Kultur in der Kritischen Theorie 51
5.3. Ein materialistischer Kulturbegriff 57
5.4. Georg Simmel: Kultur als Sehnsucht nach der Überwindung des Dualismus
zwischen Subjekt und Objekt 59
5.5. Charles Taylor: Kultur als Frage der Authentizität 63
5.6. Ein subjektorientierter Kulturbegriff 69
6. Kultur(erbe) aus Sicht der Praxistheorie 72
6.1. Grundlagen und Ausgangspunkte 73

2
6.2. Andreas Reckwitz: Praktiken als kleinste Einheit des Sozialen 76
6.3. Elizabeth Shove: Die Elemente einer Praktik 79
6.4. ICH als Praktik 81
Authentizität 85
Ökonomie 86
(Ökologische) Hochwertigkeit/Regionalität 87
Gemeinschaft/soziale Nachhaltigkeit 88
7. Fazit oder: Das Cola-Fröschli 90
Ausblick 93
Literaturverzeichnis 94

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1. Einleitung
1.1. Kann man Kultur erben?
Lange beschränkte sich die Wahrnehmung von kulturellem Erbe auf ethnographische Fragmente,
Objekte, stumme Zeitzeugen einer längst vergangenen Hochkultur. Als Schlagwort mag
Kulturerbe zunächst Bilder bedeutender baulicher Zeugnisse der Antike oder der Renaissance
evozieren. Das Kolosseum in Rom oder der schiefe Turm von Pisa etwa. Vielleicht auch das Tal
der Könige, jene Nekropole, in der erst 1922 das Grab des sagenumwobenen Pharaos
Tutanchamun, der Ägypten vor etwa 3300 Jahren regierte, wiederentdeckt wurde und der als
Zeitzeugin das Wissen um eine lang vergangene Epoche innewohnt, das ihr in der Gegenwart erst
mühsam abgerungen werden muss. Sogar Wahrzeichen der industrialisierten Moderne, wie etwa
der 1889 fertiggestellte Eiffelturm in Paris, passen sich in das Schema ein. Erst nach und nach
wurde das Konzept im allgemeinen Bewusstsein um immaterielle Erscheinungsformen erweitert:
Tänze, Rituale, traditionelles Wissen und Fertigkeiten können seit der Ratifizierung der International
Convention for the Safeguarding of the Intangible Cultural Heritage 2003 auf der Liste des immateriellen
Kulturerbes der UNESCO eingetragen werden. Mit dieser Transformation des Konzeptes von
kulturellem Erbe scheint jedoch auch eine wahre Flut an gelisteten Kulturformen eingesetzt zu
haben. Jenseits der Allgemeinen Liste der UNESCO finden sich auf nationalen Listen hunderte
Einträge und es scheint als würden die Bestände beinahe im Wochentakt anwachsen – und vor
allem als Material für Zeitungsartikel und Tourismuskampagnen dienen.
Die grundlegende Frage einer Auseinandersetzung mit der Thematik lautet klarerweise: Was ist
immaterielles Kulturerbe (intangible cultural heritage, kurz ICH) eigentlich? Die Antwort darauf ist so
scharf abgegrenzt wie unbefriedigend: ICH ist, was von der UNESCO als ICH anerkannt wird.
Diese wiederum legt ihre Definition, die in Kapitel 3 näher beleuchtet wird, tautologisch an: das
kulturelle Erbe einer Gemeinschaft ist, was von dieser Gemeinschaft als ihr kulturelles Erbe
anerkannt wird. Im Zuge der Diskussion in Kapitel 3 wird dabei die These entwickelt, dass die
Definition der Konvention zum Schutz des immateriellen Kulturerbes willentlich breit angelegt
ist, um eine eurozentristische Vereinnahmung zu verhindern. Diese konzeptionelle Offenheit führt
jedoch dazu, dass eine Vielzahl an Kulturformen die formalen Ansprüche erfüllen, so dass der
konkrete Prozess der Kodifizierung zu einem Politikum wird.
Vor diesem Hintergrund erstaunt es, dass eine umfassende wissenschaftliche Auseinandersetzung
mit dem Komplex bislang ausgeblieben ist. Zwar finden sich einige Diskussionsbeiträge von
Ethnolog_innen und Anthropolog_innen, hauptsächlich rund um den Zeitpunkt der Ratifizierung

4
der UNESCO Konvention von 2003, eine soziologische Betrachtung, die versucht, die dem
Konzept zugrundeliegenden Vorstellungen von Kultur und deren soziale Einbettung sichtbar und
somit handhabbar zu machen, ist jedoch nicht erfolgt. Bei näherer Betrachtung zeigt sich schnell,
dass das Konzept des kulturellen Erbes nicht so einheitlich, geradlinig und intuitiv ist, wie es im
ersten Moment scheint. Der Begriff des Kulturerbes beinhaltete eine Vielzahl impliziter
Vorstellungen über das Wesen der Kultur und über das Verhältnis zwischen den Menschen und
ihrer Kultur. So suggeriert der Begriff des Erbes zunächst, dass Kultur, bzw. spezifische
Kulturformen, dem Menschen äußerlich sind und sich in einem Prozess des Erbens angeeignet
werden müssen.
Wie könnte sich eine soziologische Annäherung an das Phänomen immaterielles Kulturerbe nun
gestalten? Es scheint wenig sinnvoll, eine alternative Definition ausarbeiten zu wollen, die
zwangsweise in partiellem Widerspruch zur allgemeinen Definition der UNESCO stehen würde.
Ein solcher Ansatz würde bestenfalls eine besserwisserische Randnotiz im Diskurs um ICH
abgeben. Dennoch verbleiben in der aktuellen Debatte unbeantwortete Fragen, die eine
tiefgreifende Auseinandersetzung rechtfertigen. So drängen sich zuerst allgemeine Fragen auf:
Welche Vorstellungen von Kultur sind mit dem Konzept von kulturellem Erbe verbunden und
wo lässt sich dieser Kulturbegriff im soziologischen Diskurs verorten? Welchen Einfluss hat die
Kodifizierung von immateriellem Kulturerbe auf die thematisierte Kulturform selbst? Und wie
lässt sich das Phänomen immaterielles Kulturerbe aus soziologischer Perspektive handhabbar
machen?
Diese Fragen müssen vor einem umfassenden theoretischen Hintergrund verhandelt werden und
zielen darauf ab, Kulturerbe mittels eines ganzheitlichen Kulturbegriff zu kontextualisieren und so
ICH greifbar zu machen, sowohl für die involvierten Gemeinschaften wie für die
wissenschaftlichen Beobachter_innen.
Die allgemein formulierte Forschungsfrage der vorliegenden Masterarbeit lautet demnach:

Auf welcher theoretischen Grundlage kann eine soziologische Auseinandersetzung mit dem Phänomen Kulturerbe
erfolgen?

1.2. Argumentative Struktur der Arbeit


Um sich dieser Frage zu nähern, gilt es zuerst eine grundlegende Auseinandersetzung mit der von
der UNESCO vorgelegten Definition und der sie begleitenden Diskussion einzugehen. Dies
erfolgt in Kapitel 3. Dabei werden anhand der Schriften von Barbara Kirshenblatt-Gimblett, Ingo
Schneider und Eric Hobsbawm implizite Vorstellungen in Verbindung mit ICH diskutiert. Wie

5
bereits angeführt besteht eine zentrale Einsicht, dass die konzeptionelle Offenheit der Definition
zwar zum einen eine möglichst inklusive Nutzung ermöglicht, zum anderen aber auch anfällig für
politische Vereinnahmung ist. Ein Ausweg erscheint dabei in der Auseinandersetzung mit dem
Begriff der Kultur selbst zu liegen. Was ist Kultur, warum werden gewisse Kulturformen erst zu
einem Erbgegenstand und wo ordnen sich diese Kulturbegriffe in den soziologischen Diskurs ein?
Eine solche Betrachtung der Kulturkonzepte und die Präzision der begrifflichen Grundlagen
ermöglichen eine Schärfung der Definition ohne diese selbst aufschnüren.
Vor diesem Hintergrund wird in Kapitel 4 eine Typologie des Kulturbegriffs nach Andreas
Reckwitz vorgestellt. Von Interesse sind dabei insbesondere der normative Kulturbegriff, der die
Sphäre des Kulturellen als Sollens-Ebene begreift, also als gesellschaftliche verbürgte
erstrebenswerte Sozialformen und der totalitätsorientierte Kulturbegriff, der die konkrete
Ausgestaltung einer Gemeinschaft als ihre Kultur begreift und dementsprechend auf der Seins-
Ebene verortet werden kann. Dabei wird deutlich, dass keiner dieser Ansätze dem Konzept des
immateriellen Kulturerbes gerecht wird. Denn hier wird die historische Beschaffenheit einer
Gruppe zur Orientierungsgrundlage – das vormalige Sein wird zum zukünftigen Sollen.
Um diesem Doppelanspruch genüge zu leisten, wird in Kapitel 5 eine grundlegende Diskussion
eines materiellen und eines subjektorientierten Kulturbegriffs angeboten. Anders ausgedrückt:
Kultur als Inbegriff der konkreten materiellen Reproduktionsverhältnisse und Kultur als
subjektives Bedürfnis gedacht. Hierbei stehen Karl Marx, Antonio Gramsci und die Kritische
Theorie für den einen, Georg Simmel und Charles Taylor für den anderen Zugang Pate.
Als Synthese und damit auch als Angebot an die Ausgangsfrage wird in Kapitel 6 die Praxistheorie
angeboten, da sie im Stande ist, die Dichotomie zwischen einem materiellen und einem
subjektorientieren Zugang zu überwinden. Schon vorab wird deutlich, dass an dem Begriff der
Praktik in einer Analyse von ICH kein Weg vorbeiführt, da er sich selbst in der Definition der
UNESCO findet. Die theoretischen Überlegungen hinter dem Terminus aufzuarbeiten, erlaubt
schließlich vier im Rahmen des AlpFoodway Projektes erhobene Fallbeispiele anhand eines
praxistheoretischen Forschungsprogramms1 aufzuschlüsseln.
Diese vier Fallstudien werden in Kapitel 2 umrissen, so dass sie als empirische Grundlage dienen
können, auf die theoretische Überlegungen in der Arbeit kontinuierlich verweisen können.

1
Lutz Zündorf (2010, S. 25) schlüsselt auf, was im Denken von Imre Lakatos ein Forschungsprogramm auszeichnet.
Es besteht demnach: „(a) aus metatheoretischen Annahmen, die nicht Gegenstand empirischer Prüfung sind, (b) aus
einem theoretischen Bezugsrahmen, der auf die Erklärung bestimmter Wirklichkeiten ausgerichtet ist und (c) aus
methodologischen Regeln, die Forschungswege beschreiben, die man vermeiden sollte („negative Heuristik“) und
solche, denen man folgen sollte („positive Heuristik“)“. Im Kern geht es darum, dass ein Forschungsprogramm eine
fundamentale Perspektive auf den Untersuchungsgegenstand darstellt und in Konkurrenz zu anderen
Forschungsprogrammen steht.

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1.3. Essen als immaterielles Kulturerbe
Als empirisches Material zur Veranschaulichung der hier entwickelten Argumentationsschritte und
später zur Aufschlüsselung eines praxistheoretischen Models von ICH, wird im Rahmen der
vorliegenden Arbeit auf die Forschungsarbeit des Projektes AlpFoodway, das in Kapitel 2
vorgestellt wird, zurückgegriffen. Ziel dieses Projektes ist die Aufarbeitung des Alpinen
Essenskulturerbes. Dazu wurden mehrere Fallstudien angestellt, von denen vier ausgewählt
wurden, um diese Masterarbeit zu unterstützen.
Essen als Forschungsgegenstand für immaterielles Kulturerbe, weist grundsätzliche Merkmale auf,
die eine solche Auseinandersetzung begünstigen. Wie Ronda Brulotte und Michael Di Giovine
etwas salopp festhalten: “(...), along with sex and death (and perhaps taxes, as the old adage goes),
the production, elaboration, and consumption of food may very well be one of those sets of
processes that are common to all human beings.” (Di Giovine/ Brulotte 2014, S. 1) Dieser
Gedanke findet sich auch bei Christoph Kirchengast, der Essen mit Bezug auf Marcel Mauss als
soziales Totalphänomen begreift: “Essen berührt sämtliche Dimensionen des menschlichen
(Zusammen-)Lebens: die kulturelle, verwandtschaftliche, religiöse, ökonomische, ökologische,
juridische und die politische.” (Kirchengast 2010, S. 258) Essen kann demnach als gewissermaßen
primäres Kulturgut verstanden werden.
Folglich verwundert es nicht, dass Essen in der Selbst- wie Außenwahrnehmung einer
Gemeinschaft oft eine zentrale Rolle einnimmt: “In Bezug auf das Fremd- und Selbstbild können
ganze Länder und Regionen über einzelne kulinarische Spezialitäten repräsentiert und identifiziert
werden.” (Kirchengast 2009, S. 62) Aufgrund dieser fundamentalen Bedeutung von Essen eignet
es sich besonders für die Veranschaulichung eines Prozesses, den Kirchengast Heredifizierung nennt,
denn “(b)evor Dinge, Orte oder Praktiken überhaupt als Kulturerbe gelten können, müssen sie
dazu gemacht werden.” (ebd., S 253) Diese Einsicht, dass kulturelles Erbe nichts in der Welt
Vorgefundenes, sondern etwas konstruiertes und “gemachtes” (vgl. Pearce 2000) ist, wird
umfassend in Kapitel 3 thematisiert.
Zusätzlich kann angeführt werden, dass Essen zwar der Sphäre des immateriellen Kulturerbes
zuzurechnen ist, da im Vordergrund Erzeugnis, Verarbeitung und (rituelle) Konsumation stehen,
es aber trotzdem eine offensichtliche materielle Dimension aufweist. Im Verlauf der Arbeit wird
das Argument vorgebracht, dass (a) die Trennlinien zwischen materiellem und immateriellem
Kulturerbe keineswegs so scharf verlaufen, wie dies der erste Eindruck nahelegt und (b) jede Form
von ICH zwangsläufig eine materielle Dimension beinhaltet. Essen eignet sich demnach
besonders, um diese Verzahnung zu verdeutlichen.

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1.4. Forschungsstand
Zentraler Ausgangspunkt einer solchen Analyse ist naheliegenderweise die International Convention
for the Safeguarding of the Intangible Cultural Heritage der UNESCO von 2003. Eine Aufarbeitung des
Entstehungsprozesses, inklusive Einschätzungen und Anmerkungen zur Konvention selbst,
finden sich bei Kurin (2004), Aikawa (2004) und Strasser (2005).
Schneider (2005) und Kirshenblatt-Gimblett (2004, 2005) liefern eine kritische Reflexion auf die
Konvention und die Konzeption von Kulturerbe im allgemeinen, die in Kapitel 3 umfassend
wiedergegeben wird. Dabei geht es vor allem um die Frage, in welcher Form Kultur vererbt werden
kann und welche reziproke Einwirkung dieser Prozess der Heredifizierung auf die Kulturformen
selbst hat. Stefano et al. (2012) diskutieren die Möglichkeiten der Bewahrung von ICH und Wege
der Eingliederung von Kulturerbe in die gängigen Museumsstrukturen.
Für den Einstieg in das soziologische Theoriegerüst bieten Moebius (2008), Junge (2009) und
Reckwitz (2006, 2010) einen Überblick über den aktuellen Stand der Kultursoziologie. Eine explizit
soziologische Auseinandersetzung mit dem Thema Kulturerbe findet sich bei Schäfer (2014).
Explizit mit dem Thema Essen im Kontext des Kulturerbediskurses hat sich Kirchengast (2009,
2010) auseinandergesetzt und dabei einerseits aufgezeigt, worin die besondere Stellung von Essen
als Ausdruck einer Kulturgemeinschaft liegt und andererseits, welche Bedrohungspotenzial von
einer Kulturerbeindustrie ausgeht, die die Heredifizierung in den vergangenen 15 Jahren als
“Wertschöpfungsvehikel” (2009, S. 63) entdeckt hat.
Scepi und Petrillo (2015) setzen sich in ihrem Beitrag mit dem Einfluss der UNESCO
Kodifizierung der mediterranen Küche als ICH auf soziale Identitäten auseinander. Porciani
(2019) analysiert das Zusammenspiel von Food Heritage und Nationalismus und argumentiert,
dass Essen eine zentrale Rolle bei der Ausbildung kollektiver Identitäten insbesondere in
Krisensituationen innehat. Turgeon (2014) versucht den Einfluss von Food Heritage auf die
Konstruktion von territory deutlich zu machen und vertritt die Position, das hierfür intangibles
Kulturerbe den selben Stellenwert wie tangibles Kulturerbe aufweist.
Nothdurfter (2017) hat in seiner an der Universität Innsbruck vorgelegten Masterarbeit die
Möglichkeiten der Inwertsetzung der Tiroler Essenskultur am Beispiel von Graukäse und
Grauhvieh angesehen. Ploner (2006) befasst sich mit dem Umgang mit kulturellem Erbe in der
Nationalparkregion Hohe Tauern inklusive dessen kulinarischen Erscheinungsformen und
Vermarktung und warnt dabei vor “Erschliessungswahn” (Inklusion von neuen Räumen in die
Sphäre des Tourismus) und “Fun-Atismus” (Eventcharakter in der Aufbereitung von kulturellem
Erbe) im Allgemeinen in der Alpenregion. Bessiere und Tibere (2013) zeigen in ihrer Studie auf,
welche Bedeutung traditionelle Kulinarik für den französischen Tourismus hat.

8
Brulotte und Di Giovine (2014) tragen in ihrem Sammelband “Edible Identities: Food as Cultural
Heritage” eine Vielzahl an Fallstudien zum Thema Food Heritage zusammen, unter denen
besonders der Beitrag von Grasseni (2014) hervorzuheben ist, der am Beispiel des Bitto-Käses die
Herausforderungen um die Deutungshoheit historisch aufgeladener Lebensmittelerzeugnisse
verdeutlicht.
Eine ähnliche Fallstudie findet sich bei Welz (2013), die anhand der Regularien betreffend der
Herstellungsbestimmungen für Halloumi auf Zypern die Exklusion der ansässigen türkischen
Community und der kleinbäuerlichen Strukturen allgemein nachzeichnet. Sowohl der Fall des
Bitto-Käses wie auch des Halloumi zeigen auf, welche Risiken mit Schutzmechanismen verbunden
sein können und wie diese gezielt von industriellen Akteuren ausgenutzt werden.
Die vorliegende Arbeit beschreitet also keine unbekannten Pfade, sondern kann auf sowohl
theoretischen wie empirischen Vorarbeiten aufbauen. Im folgenden Kapitel so nun ein Überblick
über das empirische Fundament der Masterarbeit vermittelt werden.

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2. AlpFoodways: Forschungsprojekt, Fallstudien und
empirische Basis
Die hier vorliegende Masterarbeit ist im Anschluss an das INTERREG-Projekt AlpFoodways
entstanden. AlpFoodways versteht sich als interdisziplinäres Forschungsprojekt, das sich mit
immateriellem Kulturerbe im Bereich Alpiner Essenskultur auseinandersetzt.
Die Laufzeit des Projekts beträgt drei Jahre, es startete mit November 2016 und wird planmäßig
Ende Oktober 2019 abgeschlossen werden. Insgesamt arbeiten im Rahmen des Projektes 14
Partnerinstitutionen aus sechs Alpenländern (Deutschland, Frankreich, Italien, Schweiz, Slowenien
und Österreich) zusammen. Zusätzlich wird das Projekt von 40 Observern begleitet. Die
Universität Innsbruck war in diesem Zusammenhang in Work-Package I: Identification and Inventors
of Alpine Food Intangible Cultural Heritage (ICH), durchgeführt am Institut für Soziologie, und Work-
Package II: Identification of Best Practices in the Collective Commercial Valorisation of Alpine Food ICH,
bearbeitet am Institut für Strategisches Management, Marketing und Tourismus, involviert. In
WP1 wurde dabei zunächst ein Klassifikationssystem entwickelt, anhand dessen zehn Fallbeispiele
im österreichischen Alpenraum ausgewählt wurden, welche zusammengenommen die
größtmögliche Vielfalt der berglandwirtschaftlichen Kulturpraktiken abbilden sollen. Die
anschließenden Erhebungen zu den Fallstudien wurden in einheitlicher Form in die Datenbank
http://www.intangiblesearch.eu eingespeist. Für WP2 wurden fünf Casestudies ausgewählt, bei
denen insbesondere die wirtschaftliche Ausgestaltung von traditionellen Agrarprodukten
untersucht wurde.
Für die Forschungsfrage dieser Masterarbeit wurden dabei vier Fallstudien als empirische Basis
ausgewählt, die im Folgenden vorgestellt werden. Zwei davon – die Verarbeitung der
Enzianwurzel zu Schnaps in Galtür und die Wassermühlenkultur im Lesachtal – sind Teil der
österreichischen UNESCO-Liste des immateriellen Kulturerbes. Der Krautinger, ein nur in der
Wildschönau hergestellter Rübenschnaps, zeichnet sich durch eine besonders intensive Form der
Regionalität aus und die Fisser Gerste wird für die Arbeit insbesondere dadurch interessant, da es
sich um eine “wiederbelebte” Getreidesorte handelt, deren soziale Einbettung folglich einen
historischen Bruch aufweist.

2.1. Enzner
Enzner ist die in der Tiroler Mundart gebräuchliche Bezeichnung für Enzianschnaps. Dabei hat
der “echte” Enzner nichts mit dem handelsüblichen Enzianschnaps, der vom Emblem eines

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blauen Enzians geziert wird und in einer Vielzahl an Souvenirläden in Tirol zu erstehen ist, gemein.
Dieser besteht zumeist aus einem mit Geschmacksaromen versetzen Kornbrand und wird nicht
aus der Wurzel der unter Naturschutz stehenden Enzianpflanze gewonnen. Einzig in der
Gemeinde Galtür im Paznauntal gibt es eine Ausnahmeregelung, die es den Einwohner_innen
erlaubt, bestimmte Mengen der Wurzel des Enzianstocks zu graben und anschließend zu
destillieren.
Das Verarbeiten der Enzianwurzel hat eine jahrhundertealte Tradition, nicht nur in Tirol. So findet
sich beim deutschen Arzt Hieronymus Brunschwig (1450 – 1512) in seinem kleinen Destillierbuch
der Eintrag über den Enzian: „Die beste Zeit seiner Destillierung ist, die Wurzel mit Kraut gehackt
am Ende der Hundstag, Enzianwasser getrunken des morgens nüchtern drei Lot, verlängert dem
Menschen sein Leben.“ (zit. in Thoma 1994, S. 3) Der Botaniker Hieronymus Bock (1498 – 1554)
wies in seinen Schriften auf die wohltuende Wirkung der Enzianwurzel für den Magen hin (vgl.
ebd.).
In den Ratsprotokollen der Stadt Innsbruck wird im Jahr 1547 erstmals ein „Wurzelgraber“
erwähnt, aller Wahrscheinlichkeit dürfte es sich dabei um Enzianwurzeln gehandelt haben. Die
Enzianwurzel findet explizite Erwähnung auf einer Zolltafel aus dem Jahr 1600, was darauf
hindeutet, dass sie auch in unverarbeiteter Form zu dieser Zeit im größeren Stil gehandelt wurde.
In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts tauchen allerdings vermehrt Berichte über Beschwerden
und Konflikte im Zusammenhang mit dem Graben nach der Enzianwurzel auf. Dies mag zum
einen daran liegen, dass Wurzelgraber_innen oftmals auch als Wilderer agierten. Zum anderen
beklagten sich Besitzer_innen von Almen über die Verletzungen der Grasnarbe, die mit dem
Graben nach den tiefliegenden Wurzeln einhergingen.
Spätestens ab dem 17. Jahrhundert finden sich eine Vielzahl an Regulierungen, die das Brennen
von Schnaps im Allgemeinen betreffen. So wurden fortan Brennrechte vergeben, die (in vielen,
aber nicht allen Fällen) auch die Verarbeitung von Enzianwurzeln inkludierten. Zusätzlich wurde
ein “Umgeld” eingeführt, das auf für den erzeugten Brand abzuführen war und gewissermaßen als
Vorläufer der auch heute noch gültigen Alkoholsteuer fungierte. Ein Zentrum des Destillierens
von Enzian scheint diesen Aufzeichnungen zufolge im Zillertal gelegen zu haben.
Anfang des 20. Jahrhunderts war das Brennen von Enzianschnaps in Tirol schließlich relativ weit
verbreitet. Eine Überbeanspruchung der Allmende führte jedoch zu einem massiven Rückgang
der Enzianbeständen, so dass dieser vom Aussterben bedroht war. Das freie Graben im Berggebiet
wurde im Anschluss untersagt. Lediglich in der Gemeinde Galtür, deren Almgebiete nicht den
Bundesforsten unterstehen, sondern 1705 von der Gemeinde erworben wurden, wurde das
Graben und Destillieren der Enzianwurzel weiterhin praktiziert. Dieser Erwerb der Almgebiete

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(ursprünglich auf dem Gebiet der Schweiz gelegen) spielt in der Argumentation der Gemeinde
eine zentrale Rolle, die Dokumente wurden auch im Rahmen der Interviews vorgelegt. In den
1980er Jahren wurde der Enzian schließlich unter Artenschutz gestellt, was seine Ernte auch auf
den gemeindeeigenen Flächen untersagte. Nach langem Ringen zwischen Gemeinde,
Landesregierung und Alpenverein konnte allerdings eine Ausnahmeregelung gefunden werden, die
auch heute noch Gültigkeit besitzt.
Bereits vor dem Inkrafttreten des Artenschutzes und der anschließenden Ausnahmegenehmigung,
im Bereich der Galtürer Almen jährlich 1300 Kilogramm Enzianwurzeln zu fördern, so lange der
Bestand dadurch nicht gefährdet wird, hatte sich in Galtür das Verfahren etabliert, dass unter den
Einwohner_innen der Gemeinde das Recht zum Graben jährlich verlost wird. Die Verlosung
findet stets an Mariä Geburt, dem Galtürer Kirchtag, am 8. September statt. Die Lose werden
nicht an Einzelpersonen, sondern an Haushalte vergeben. Rund 80 Haushalte, das entspricht rund
einem Drittel der Einwohner_innen der Gemeinde, bewerben sich jedes Jahr bei der Lotterie. Mit
einem gültigen Los dürfen im folgenden Herbst 100 Kilogramm Enzianwurzeln “gestochen”
werden. Aus dieser Menge lassen sich etwa sieben bis acht Liter Schnaps erzeugen. Wer eine
Erlaubnis zum Graben bekommen hat, darf im Anschluss drei Jahre lang nicht mehr an der
Lotterie teilnehmen. Umgekehrt bekommt, wer zehn Jahre lang eine Niete gezogen hat, eine
garantierte Grabberechtigung.
Der punktierte Enzian (gentiana punctata) wächst im Almgebiet ab einer Seehöhe von 1500 Metern.
Gegraben werden darf erst ab dem 1. Oktober, so dass die Blüte des Enzians abgeklungen ist und
der Samen der Pflanze abgeworfen wurde. In manchem Jahr verfallen die Lose, wenn das
Zeitfenster zwischen Anfang Oktober und dem ersten Schnee zu kurz ist. Die Wurzeln des
Enzians werden mit zum Teil eigens dafür manipulierten Spitzhaken aus der Erde geholt. Dabei
sind besonders größere Wurzeln, die ein Alter von 15 bis 20 Jahre aufweisen, für die spätere
Verarbeitung interessant. Es darf nicht der komplette Wurzelstock ausgegraben werden, etwaige
noch vorhandene Samenreste müssen an geeigneter Stelle wieder ausgesät werden und die beim
Graben entstandenen Mulden sind im Anschluss verpflichtend wieder zu schließen, so dass es zu
keinen Bodenverletzungen kommt. Um die Menge von 100 Kilogramm zu fördern, sind meist
mehrere Personen über Tage beschäftigt. Im Anschluss werden die Wurzeln ins Tal transportiert,
wo sie gereinigt und kleingehackt werden. Zusammen mit Wasser und Hefe kommt es dann, in
Fässern gelagert, zu einem Gärungsprozess, so dass die Maische für den Brennvorgang entsteht.
Die einzige Destillieranlage des Ortes wird vom ansässigen Tischler betrieben. Früher war es
üblich, diese Dienstleistung mit einem Teil des produzierten Schnapses abzugelten, heute wird sie

12
bezahlt. Dadurch, dass die Grabenden nicht selbst brennen, kommt es auch zu einer gewissen
Kontrolle über die geförderte Quantität. Gebrannt wird stets im Jänner.
Die limitierten Fördermengen machen den Schnaps zu einem knappen Gut, dass nur zu
besonderen Anlässen konsumiert wird. Der Enzianschnaps wird nicht einfach nach dem
Mittagessen kredenzt, sondern bleibt bedeutenden Ereignissen wie Hochzeiten, Familienfeiern
oder Vertragsabschlüssen vorbehalten. Damit kommt ihm in Galtür eine soziale Funktion zu. In
Interviews wurde darauf hingewiesen, dass es gerade in einer Gemeinde, die so stark vom
Tourismus geprägt ist wie Galtür, wichtig für den Zusammenhalt ist, ein Gut oder Ritual zu haben,
das den Ansässigen zugänglich ist, den Gästen hingegen nicht. Interessanterweise wird von Seiten
der Gemeinde das mögliche Ende der Praktik in Auseinandersetzung um den Arterhalt und der
erarbeiteten Sonderregelung als ein Faktor angeführt, der zu der heutigen Präsenz der Tradition
beigetragen hat:2 „Durch die im Rahmen der Unterschutzstellung, mit dem Naturschutz
ausgearbeitete Sonderlösung, ist in unserer Gemeinde die Tradition des Enzian Grabens und
Verarbeitens lebendiger den (sic!) je und Teil unserer Identität.“
Im Alpinarium der Gemeinde Galtür ist seit 2005 eine Dauerausstellung dem Thema gewidmet.
Seit 2013 steht das “Wissen um die Standorte, das Ernten und das Verarbeiten des punktierten
Enzians” in Galtür auf der österreichischen Liste des immateriellen Kulturerbes der UNESCO.

2.2. Lesachtaler Brot- und Mühlenkultur


Das Lesachtal ist ein Hochtal am Oberlauf der Gail in Kärnten an der Grenze zu Osttirol. Obwohl
politisch dem Bundesland Kärnten zugehörig, wurde in Interviews darauf verwiesen, dass viele
Elemente der regionalen Kultur, Trachten und Brauchtum, stark tirolerisch geprägt sind. Dies mag
sich daraus erklären, dass vor dem Bau der Straße nach Kötschach-Mauthen in den 50er Jahren
des 20. Jahrhunderts die Osttiroler Landeshauptstadt Lienz, die über einen Pass der Gailtaler Alpen
erreichbar ist, der zentrale Bezugspunkt des Tales war.
Diese Abgeschiedenheit dürfte einer der zentralen Gründe sein, warum sich in dem Tal eine
ungewöhnlich hohe Dichte an Wassermühlen herausgebildet hat. Während in anderen Regionen
das Getreide kollektiv gemahlen wurde, war es im Lesachtal üblich, dass jeder Hof seine eigene
Wassermühle betrieb. So befanden sich laut Aufzeichnungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts 196
Wassermühlen im Tal in Betrieb. Hinzu kommt, dass die Topologie dem Betrieb von
Wassermühlen sehr entgegen kommt, viele der Zuläufe der Gail verzeichnen eine hohe
Fließgeschwindigkeit. Umgekehrt führt die Höhenlange von über 1000 Metern Seehöhe dazu, dass

2
siehe https://www.unesco.at/kultur/immaterielles-kulturerbe/oesterreichisches-verzeichnis/ detail/article/wissen-
um-die-standorte-das-ernten-und-das-verarbeiten-des-punktierten-enzians/ (aufgerufen am 26.02.2019)

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das Getreide erst spät im Jahr reift und jeder Tag, an dem das Korn länger reifen konnte, genutzt
wurde. In der Folge verringerte sich das Zeitfenster vor dem Wintereinbruch, so dass alle Höfe in
etwa zur selben Zeit mahlen mussten. Die Nutzung der Wasserkraft im Lesachtal beschränkte sich
allerdings nicht nur auf das Mahlen von Getreide, mit sogenannten Wasserbetrieben wurden auch
andere alltägliche Arbeiten auf den Höfen verrichtet. Wasserräder in den Mühlbächen betrieben
etwa kleine Seilbahnen, mit denen der Dung von den Ställen direkt auf die Äcker transportiert
wurden, sie transportierten Wasser von den Bächen zu den Höfen oder wurden genutzt, um das
Pflügen der steilen Hangflächen für den Getreideanbau zu erleichtern.
Die Mühlen sind mechanisch komplexe Apparaturen, die eine hohe Fertigungskompetenz
erfordern. Bis auf den Mühlstein werden alle Komponenten aus Holz gefertigt, um der Korrosion
durch den permanenten Kontakt mit Wasser entgegen zu wirken. Selbst die Schrauben im Mühlrad
werden von Hand aus Holz gedrechselt. Zum Einsatz kommt meist Lärchenholz, das aufgrund
seines hohen Harzanteils und seiner Faserung eine ausgesprochene Widerstandsfähigkeit
gegenüber dem Wasser aufweist, so dass ein gut gearbeitetes Mühlrad mehrere Jahrzehnte im
Einsatz sein und der Witterung trotzen kann. Das Mühlrad betreibt mittels des sogenannten
Wellbaums ein mit 36 Zähnen bestücktes Zahnrad, das Kamprad genannt wird. Dieses wiederum
greift in eine Spindel – die sogenannte Rikkl – welche den oberen Mühlstein (Läufer) bewegt.
Zwischen Läufer und Lieger wird nun das Getreide gemahlen. Die besten Mühlsteine werden aus
dem nahegelegenen Südtirol in Italien importiert und kommen aus der Gemeinde Sexten. Sie
gelten als besonders geeignet, da sie aus einem Konglomerat aus Quarz und Schiefer bestehen,
dass selbst bei langem Betrieb durch die Reibung nicht überhitzt. Zusätzlich sind sie gut zu
bearbeiten. Die Steine sind viele Jahrzehnte im Einsatz, im Lieger der Vorbeter-Mühle (alle Mühlen
im Tal tragen einen Namen) ist etwa die Jahreszahl 1852 eingraviert. Das Getreide gelangt von der
über den Mühlsteinen befestigten Gosse, die als Trichter fungiert, in das Loch in der Mitte des
Läufers und wird anschließend zwischen den Steinen gemahlen. Von dort fällt es anschließend in
den Mehlbeutel, wo unter konstantem Rütteln der Mehlkörper von der Kleie getrennt wird.
Zusammen mit den Mühlen spielt das Brotbacken eine zentrale Rolle in der Kultur des Lesachtals.
Viele dieser Kulturformen weisen eine ausgeprägte religiöse Komponente auf, so werden in den
Brotlaib traditionell vor dem Anschnitt drei Kreuze geritzt und bei der Aussaat des Getreides
werden kleine Holzkreuze in den Acker gesteckt, um die Ernte zu segnen. Am Palmsonntag tragen
die Bewohner_innen des Tals Palmzweige in die Kirche, aus denen sie nach der Segnung kleine
Kreuze fertigen, die am Karfreitag vor Sonnenaufgang an den Hof, den Stall und die Mühle
genagelt werden. Am 1. November wird entsprechend dem katholischen Brauch Allerheiligen
begangen. Hier ist es üblich sogenannte Niggilan zu backen. Es handelt sich dabei aus Germteig

14
bestehenden Krapfen, die in Öl frittiert werden und etwa einen Durchmesser von 3 Zentimeter
aufweisen. Ein Krapfen wird traditionell direkt nach dem Backen ins Feuer geworfen, als Opfer
zugunsten der „armen Seelen“. Dem Brauch kam in früheren Tagen allerdings auch noch eine
andere Funktion zu: Ist das Mehl besonders fein gemahlen, so bilden sich beim Backen weiße
Ränder heraus. Bei Festlichkeiten ließ sich ein wahres Wetteifern um die Krapfen mit dem
deutlichsten Rändern beobachten. Die Niggilan wurden so auch zum Objekt des sozialen
Wettstreits zwischen den Höfen.
Dem Brot kann allgemein eine hohe Symbolkraft in der christlichen Tradition nachgewiesen
werden und auch viele der Bräuche an der Schnittmenge zwischen der Brotbackkultur und des
christlichen Rituals, wie das Einritzen der Laibe und das Segnen der Äcker, finden sich in dieser
Form auch in anderen Regionen des Alpenkamms. Das Besondere am Lesachtal ist jedoch die
bauliche Manifestation dieser Verschränkung in Form der Wassermühlen.
Von den ursprünglich 196 Mühlen im Tal sind heute nur noch sechs in funktionsfähiger Form
erhalten. Viele Höfe installierten elektrische Mühlen, nachdem das Gebiet in den 1950er Jahre ans
Stromnetz angeschlossen wurde. Hinzu kommt, dass im Lesachtal wie in den meisten Regionen
der österreichischen Alpen der Getreideanbau nach dem zweiten Weltkrieg massiv rückläufig war
und einer Grünlandwirtschaft wich. Zwar gibt es nach wie vor etwa 200 Landwirtschaftsbetriebe
im Tal, die meisten jedoch widmen sich ausschließlich der Viehwirtschaft. Viele der alten
Wassermühlen wurden bei Murgängen in den Jahren 1965 und 1966 verschüttet und nicht
wiederaufgebaut. Um dieser Entwicklung entgegen zu treten, formierte sich 1972 der Verein zur
Erhaltung alter Wassermühlen in Maria Luggau. Dieser kümmert sich heute um die Pflege der am
Mühlbach stehenden Mattla-Mühle, Richter-Freuberger-Mühle, Groaßn-Mühle, Vorbeter-Mühle
und Hanseler-Mühle, sowie die am Wachterbach gelegene Wachterbachmühle mit zwei
Mühlrädern aus dem Jahr 1750. In den Sommermonaten organisiert der gemeinhin als
Mühlenverein bekannte Zusammenschluss Führungen entlang des Mühlenwegs, bei denen die
Mühlen in Betrieb genommen werden und in ihrer Funktionsweise einem interessierten Publikum
nähergebracht werden. Zusätzlich wurde ein Wasserbetrieb installiert und ein kleines Museum mit
historischen Dokumenten eingerichtet. Einmal jährlich wird das Mühlenfest veranstaltet, der Erlös
aus diesen Tätigkeiten kommt der Instandhaltung der Wassermühlen zugute. Unter den zwölf
Mitgliedern des Vereins befindet sich auch der letzte Mühlenbauer des Tales, der demnächst seinen
80. Geburtstag begehen wird. Seine Methoden und Arbeitsweise wurden von ihm umfangreich
dokumentiert, dennoch wird die Weitergabe dieser Fertigkeiten an die nächste Generation eine
zentrale Herausforderung des Mühlenvereins für die kommenden Jahre darstellen.

15
Die “Lesachtaler Brotherstellung” steht seit 2010 auf der österreichischen Liste des immateriellen
Kulturerbes der UNESCO.3 Viele der Mühlen stehen zusätzlich unter Denkmalschutz. Die
internationale Slow Food Vereinigung hat zusätzlich in der Region Gailtal und Lesachtal die
weltweit erste Slow Food Travel Route installiert, die einen nachhaltigen Tourismus etablieren und
regionale Kulinarik in den Fokus rücken soll. Unter den 24 Stationen befindet sich auch Maria
Luggau. Im Lesachtal gibt es Sommer- und Wintertourismus, hinzukommt, dass das Kloster viele
Pilgernde zur Wallfahrt anlockt, so dass man sich im Ort darauf verständigt hat, dass die Anzahl
der Gästebetten die Einwohnerzahl nicht übersteigen darf. Damit wurde ein wichtiger
Mechanismus etabliert, der das Risiko einer „Übernutzung“ des Kulturgutes, das bei der allgemein
touristischen Ausrichtung der Gemeinde zweifelsohne gegeben ist, reduziert.

2.3. Wildschönauer Krautinger


Der Krautinger ist ein Destillat, das in dieser Form nur im Hochtal Wildschönau im Bezirk
Kufstein, Tirol, hergestellt wird. Das Tal liegt auf etwa 1000 Metern Seehöhe und ist 24 Kilometer
lang. Der Name wie auch der eigenwillige Geruch des Krautingers legen oftmals den fälschlichen
Schluss nahe, es handle sich dabei um einen aus Kraut gebrannten Schnaps. Entgegen dieser
Einschätzung wird der Krautinger allerdings aus der weißen Stoppelrübe (Brassica rapa var. Rapa)
gewonnen.4
Seine überregionale Bekanntheit verdankt der Krautinger insbesondere seinem speziellen
Geschmack. So findet sich im Tiroler Schnapsbuch folgender wortgewaltige Vermerk: “Rein
äußerlich schaut er aus wie jeder andere Schnaps auch. Der Geruch wie reifer Graukäse oder
Krautblätter vor dem Verfaulen irritiert. Und nach dem ersten Schluck schrauben sich
unglaubliche Geschmackskomponenten durch den ganzen Körper und setzen sich in den
Hirnwindungen lebenslang fest.“ (Juen et al. 2002, S. 104) In den Erhebungen zeigt sich immer
wieder, dass die Praktiken rund um den Krautinger mit genau diesem Image kokettieren. “Man
liebt ihn oder man hasst ihn”, ist ein Ausspruch, der in Interviews immer wieder getätigt wird. Das
Charakteristikum des Krautingers besteht in der Verschränkung eines spezifischen und
unverwechselbaren Geschmackes mit seiner stark begrenzen Regionalität. Die Hersteller_innen
berufen sich auf ein historisches Brennrecht aus der Zeit Maria Theresias (1717-1780), unter deren
k.u.k-Administration der ärmlichen Bevölkerung des Tiroler Hochtals das Destillieren der
Stoppelrübe als Möglichkeit des Zuverdienstes zugebilligt wurde. 51 Höfe verfügen über dieses

3
https://www.unesco.at/kultur/immaterielles-kulturerbe/oesterreichisches-verzeichnis/detail/ article/lesachtaler-
brotherstellung/ (aufgerufen am 26.02.2019)
4
Darüber hinaus finden sich die Bezeichnungen Halmrübe und – wegen der harntreibenden Wirkung – Wasserrübe.

16
Brennrecht, heute wird es noch von 15 aktiv wahrgenommen. Dabei handelt es sich sowohl um
Vollerwerbshöfe, die den Krautinger in ihrem Sortiment führen, ehemalige Landwirt_innen, die
im Nebenerwerb Krautinger brennen und die dafür benötigten Rüben zukaufen und in jüngeren
Jahren auch Betriebe, die sich hauptsächlich auf die Herstellung des Krautingers spezialisiert haben
und ihn beispielsweise in der hofeigenen Gaststätte anbieten.
Die Herstellung von Krautinger erfolgt in mehreren Schritten. Zunächst werden die Rüben –
idealerweise am Tag nach der Ernte – gewaschen und von den Blättern befreit. Anschließend
kommen sie in eine sogenannte Ratzmühle, wo die Rüben in kleine Stücke gehäckselt werden.
Diese Stücke werden danach in Tücher gepackt und mithilfe einer Packpresse ausgequetscht, so
dass Rübensaft übrigbleibt. Dieser weist allerdings einen zu geringen Zuckergehalt für den
Brennvorgang auf, so dass er über die Dauer von etwa 24 Stunden auf ein Drittel seines
ursprünglichen Volumens eingekocht wird. Als Faustregel lassen sich aus 100 Kilo Rüben 60 Liter
Rübensaft pressen, von dem nach Eindicken 20 Liter bleiben. Dieses Konzentrat wird nun in
Fässer unter Beigabe von Hefe eingelagert, so dass ein Gärungsprozess vonstatten geht. Die derart
gewonnene Maische wird zum Abschluss in einem zweistufigen Verfahren destilliert. Durch den
ersten Brennvorgang entsteht der so genannte Rauchbrand, durch das Destillieren des
Rauchbrands wird der Feinbrand gewonnen. Diesem wird destilliertes Wasser hinzugegeben, je
nach Produzent_in weist der Krautinger 42 bis 46 Volumenprozent auf.
Der Krautinger, nicht als Getränk, sondern als Kulturform betrachtet, hat in den vergangenen
Jahren einen starken Wandel erfahren. Diese Dynamik lässt sich dabei in einen regionalen und
einen überregionalen Aspekt aufteilen. Überregional lässt sich beobachten, dass etwa ab den
1980er Jahren das Narrativ rund um das Schnapsbrennen zumindest in Tirol neu ausgedeutet
wurde. Wurde Schnaps vormals vor allem als Verwertungsprodukt angesehen, eine Form bereits
fauliges Obst nutzbar zu machen, entwickelte sich Schnaps nach und nach zu einem
Premiumprodukt. So produzieren lokale Bauernhöfe vermehrt für das Hochpreissegment,
nehmen an Prämierungen teil und greifen dementsprechend in der Herstellung auf hochwertiges
Ausgangsmaterial zurück. Eine derartige Entwicklung zeigte sich auch bei den ebenfalls im
Rahmen des AlpFoodway-Projektes analysierten Fallstudien um die Stanzer Zwetschke und die
Fisser Gerste. Auch die Produzent_innen der Wildschönau berichten von dieser
Qualitätsoffensive, viele von ihnen haben in den vergangenen Jahren in neue Brennanlagen
investiert und haben das Herstellungsverfahren – insbesondere das Einkochen des Rübensaftes –
weiterentwickelt. Zu dieser allgemeinen Neuverortung von Spirituosen kommt im Falle des
Krautingers noch eine regionale Dimension hinzu: Das Produkt wurde früher beinahe
ausschließlich in der Wildschönau konsumiert und außerhalb des Gebietes zumeist nur mit einem

17
Naserümpfen bedacht. In den vergangenen Jahren konnte der Krautinger jedoch vermehrt als eine
regional verortete Besonderheit auf sich aufmerksam machen und wurde etwa zu einem beliebten
Konsumgut für Touristen_innen. Hier unterscheidet sich der Krautinger klar vom Enzner: Beide
Praktiken wurden in der jüngeren Vergangenheit genötigt, sich in einer neuen Form zu ihrer
Umwelt zu positionieren. Während im Fall des Enzians allerdings eine scharfe Abgrenzung zum
Außen installiert wurde, eine Barriere, die für ortsfremde Personen kaum zu durchstoßen ist,
fokussiert sich die Praktik rund um den Krautinger zusehends auf Außenstehende. So werden in
der Wildschönau seit 2005 die jährliche Krautingerwoche veranstaltet, bei der eine Vielzahl von
Programmpunkten wie Verkostungen, Prämierungen und Vorträge über den Krautinger
zusammengetragen werden und die mit dem Kirchtag endet. Die Krautingerwoche wird von der
ansässigen Bevölkerung in Anspruch genommen, dient allerdings auch als beliebtes Ausflugsziel
für lokale (hauptsächlich aus Kufstein und Umgebung) und internationale Tourist_innen.
Diese gesteigerte Nachfrage wirkt nicht nur auf das Verhältnis der Wildschönauer_innen zum
Krautinger selbst ein, es verändert auch den Krautinger selbst: Während einige Landwirtschaften
nach wie vor Rüben anbauen und dazu oft Hofsaat einsetzen, kaufen andere inzwischen (meist
aus der Region Thaur) große Mengen an Rüben aus industriellem Saatgut zu, die dann lediglich in
der Wildschönau verarbeitet werden. Die Produzent_innen, die sich in der ARGE Krautinger
organisieren, haben sich darauf verständigt, dass Krautinger aus regional kultivierten Rüben als
Wildschönauer Krautinger vertrieben wird, solcher aus zugekauften Stoppelrüben schlicht als
Krautinger.
Seit 2006 führt das Bundesministerium für Nachhaltigkeit und Tourismus die Wildschönau als
Genussregion Krautingerrübe. Zusätzlich wird der Wilschönauer Krautinger auf der Liste der
traditionellen österreichischen Lebensmittel geführt. Der „Wildschönauer Krautinger“ ist
geschützt durch das sogenannte Österreichische Lebensmittelbuch, den Codex Alimentarius
Austriacus. Damit ist die Herstellung explizit an die Region Wildschönau geknüpft.

2.4. Fisser Gerste


Als vierte Fallstudie aus dem AlpFoodway Projekt soll die Fisser Gerste als Anschauungsobjekt
der nachfolgenden Überlegungen dienen. Die Fisser Gerste, auch Fisser Imperialgerste oder
Tiroler Imperial genannt, ist eine in Tirol endemische Gerstensorte, die von Karl Röck Anfang des
20. Jahrhunderts in Fiss gezüchtet wurde.
Aus einer botanischen Perspektive weist die Fisser Gerste einige interessante Merkmale auf: Sie
gedeiht ideal in einer Höhenlage zwischen 800 und 1500 Metern Seehöhe, sie ist resistent
gegenüber regionalen Schädlingen und ist anspruchslos gegenüber Böden. Im Gegenteil, zu

18
nährreiche Böden können dazu führen, dass die Gerste zu schnell wächst und die Halme knicken,
bevor geerntet werden kann. Als Düngemittel genügt es meist, Wintergetreide, in der Regel
Roggen, in den Acker als Gründüngung einzupflügen. Dieses Getreide schützt den Boden im
Winter vor Erosion und dient im Anschluss der Gerste als Nährstoffgrundlage. Darüber hinaus
verzeichnet die Gerstensorte einen ungewöhnlich hohen Eiweißgehalt. Soziologisch betrachtet ist
der Fall von Interesse, weil es sich um ein anschauliches Beispiel für retro-inventions handelt: Die
Gerstensorte wurde zunächst in der Region Oberes Gericht in Tirol angebaut und aufgrund ihrer
an das Gebiet angepassten Eigenschaften konnten in der ansonsten auf Subsistenz ausgelegten
Berglandwirtschaft der Region Überschüsse produziert werden. In den Zwischenkriegsjahren
wurde die Fisser Gerste gar nach Nord- und Südamerika exportiert. Allerdings setzte etwa ab den
1950er Jahren in Tirol ein – auch von staatlichen Institutionen gestützter – Trend hin zur
Grünlandwirtschaft ein. Getreidebau im Allgemeinen verlor in Tirol beinahe vollständig an
Bedeutung. Während 1950 noch 9000 Hektar für den Getreideanbau bewirtschaftet wurden, waren
es 2010 nur noch 400. Neben der Hinwendung zur Grünlandwirtschaft setzte auch eine intensive
touristische Nutzung der Region Serfaus, Fiss und Ladis ein, was den Druck auf die Flächen
zusätzlich erhöhte. Bereits in den 1960er Jahren wurden nur noch geringe Mengen der Fisser
Gerste angebaut, bis sie letztlich vollkommen verschwand.
Eine Initiative von Landwirt_innen war ab Anfang der 2010er Jahre bestrebt, die Gerstensorte
wieder zu kultivieren. Erste Versuche, Restbestände aus den 1970er Jahren wieder auszusäen,
scheiterten an der im Laufe der Jahre verloren gegangenen Keimfähigkeit des Saatgutes. Erst unter
Einbeziehung der Genbank der Tiroler Landesregierung, die es sich zur Aufgabe gemacht hat,
geringe Mengen nicht mehr kultivierter Hofsaaten zu erhalten, gelang es erneut, Fisser Gerste im
Tiroler Oberland anzubauen. Aus den Beständen der Genbank konnten 60 Kilogramm Gerste
gewonnen werden, heute werden tirolweit bereits über 100 Tonnen jährlich von knapp 60
Landwirt_innen geerntet.
Ein zentraler Akteur in dem heutigen Netzwerk ist Zillertal Bier. Auf der Suche nach einem
innovativen und trotzdem traditionsbesetzen Produkt gelang es – nach mehreren gescheiterten
Versuchen auf Grund des hohen Eiweißgehaltes – aus der Fisser Gerste ein Bier zu entwickeln.
Ebenfalls liefert Zillertal Bier die Maische für den in Prutz hergestellten Whiskey aus Fisser Gerste.
Allerdings muss die Rolle von Zillertal Bier im Netzwerk zwiespältig beurteilt werde. Einerseits ist
die Brauerei fraglos innovationstreibend, zahlt den Landwirt_innen hohe Abnahmepreise, stellt
einsteigenden Betrieben einen Anbaukoordinator zur Seite und liefert das Saatgut. Andererseits
erwirbt Zillertal Bier jedes Jahr den kompletten Saatgutbestand, so dass ein Anbau der Fisser
Gerste außerhalb des Netzwerkes praktisch nicht umzusetzen ist. Die Ernteerträge müssen bis auf

19
einen für den Eigenbedarf bestimmten Teil, etwa für Brot oder Suppe, an Zillertal Bier abgegeben
werden. So ist im Fall der Fisser Gerste die ökonomische Inwertsetzung fraglos geglückt, allerdings
haben nicht alle Involvierte weiterhin einen starken Bezug zur Praktik. Gerade in der Region
Oberes Gericht zeigte sich, dass viele Involvierte die Regionalität der Gerste als sehr wichtig
erachten. Es wurde eine alte Mühle wieder instandgesetzt und mit historischen Anbautechniken
experimentiert. Hier ist fraglos eine starke Bindung an die kulturelle Praktik gegeben, die sich auch
in den Interviews widerspiegelte. Diese Bedeutung scheint jedoch nicht für alle Teile der
Gemeinschaft zu gelten.

2.5. Methodisches Vorgehen


Beim Erhebungsprozess wurde ein Methodenmix angewandt, der sowohl Interviews,
Besichtigungen, teilnehmende Beobachtung und Foto- und Videodokumentation enthielt.
Insgesamt wurden für die im Rahmen dieser Masterarbeit diskutierten Fallstudien 15 Interviews
mit Expert_innen geführt. Für den Enzner wurden der Bürgermeister von Galtür sowie der Leiter
des Alpinariums befragt. In Maria Luggau im Lesachtal wurden Interviews mit der Initiatorin des
Mühlenvereins, dem derzeitigen Obmann des Vereins und dem letzten Mühlenbauer geführt. In
der Wildschönau wurden der Geschäfsführer des Tourismusverbands, welcher die
Schirmherrschaft über die Genussregion Wildschönauer Krautingerrübe hält, sowie drei
Produzent_innen interviewt. Für die Fallstudie Fisser Gerste schließlich wurden Interviews mit
einem in die Reaktivierung involvierten Landwirt, dem Leiter der Genbank der Tiroler
Landesregierung, dem Geschäftsführer und dem Leiter der Abteilung Marketing von Zillertal Bier,
dem von Zillertal Bier beauftragen Anbaukoordinator und dem Brenner, der aus der Gerste
Whiskey herstellt, geführt.
Die Interviews mussten dabei gewissermaßen eine Doppelfunktion erfüllen. Einerseits sollten sie
technische Fragen betreffend den konkreten Ablauf der jeweiligen Praktik klären, welche vorab
nur durch eine Literatursichtung analysiert wurden. Dabei geht es um die Formen der Ausführung,
historische Entwicklung und Daten, Konflikte innerhalb der involvierten Gemeinschaft und
rituelle Elemente, die noch heute gepflegt werden. Andererseits war der Anspruch, mit Hinblick
auf das praxistheoretische Modell von Elizabeth Shove (siehe Kapitel 6.3) die subjektiven
Sinnstrukturen der Beteiligten aufzudecken. Folglich wurden für die Interviews Techniken aus
dem Expert_inneninterview mit dem narrativen Interview verbunden.
Im Unterschied zu anderen Verfahren zeichnet sich das Expert_inneninterview nicht primär durch
seine Methodik, sondern durch die Auswahl des/der Gesprächspartner_in aus. Expert_in ist dabei
ein “situativ-relationaler Status”, der sich aus den “besondere(n) Wissensbestände” einer Person

20
ergibt. Methodische Ansätze können dabei vom narrativen Interview bis hin zum
vollstandartisierten Interview reichen. Üblicherweise kommt jedoch ein “leitfadengestütztes”
Verfahren zum Einsatz (vgl. Liebold/Trinczek 2009, S. 32). Hierbei werden mittels offener Fragen
und bei Bedarf Nachfragen gezielte Informationen herausgearbeitet. Dabei ist nicht nur daran
gelegen, Fakten zusammen zu tragen, sondern die für die involvierten Personen bedeutsamen
“Wirklichkeitskonstruktionen” aufzudecken. “Für die Interviewpraxis bedeutet dies, Fragen mit
narrativer Generierungskraft (...) zu stellen und die Erzählsequenzen der Interviewpartner nicht zu
beeinflussen.” (ebd., S. 36)
Ein solcher Zugang ermöglicht es, den Aspekt des narrativen Interviews verhältnismäßig einfach
mit dem Expert_inneninterview zu verbinden. Ziel ist es hier, “einen privilegierten Zugang zur
Erfahrung der Subjekte” zu erhalten, “die hier nicht einfach abgefragt, sondern konstruiert und
rekonstruiert werden muss.” (Holtgrewe 2009, S. 58) Theoretisch fußt dieser Ansatz in weiten
Teilen auf den Arbeiten von Alfred Schütz und Anselm Strauss. Zentrale Idee ist dabei, dass sich
Subjekte eine Wirklichkeit konstruieren, die als Rahmen für die Einordnung ihrer Erfahrungen
dient. Für die hier vorliegende Fragestellung geht es nun darum, diesen Rahmen, d.h. die
Sinnstruktur einer Praktik, aufzuschlüsseln. Das narrative Interview beginnt stets mit einem
“Erzählstimulus”, der möglichst neutral und ohne vorgestellte Strukturierung einen Erzählfluss in
Gang setzt, der den subjektiven Zugang offenlegt. In den Interviewleitfäden wurde dieser Stimulus
an den Anfang gesetzt, erst in einem zweiten Schritt wurden konkrete Informationen über die
jeweiligen Praktiken eingeholt, um die Themenfelder nicht vorab zu stark zu formen
(Interviewleitfäden im Anhang). So wurden die Interviews bezüglich des Krautingers mit der Frage
“Was zeichnet den Krautinger im Kern aus?” eröffnet. Üblicherweise wurde hier als erstes der
eigenwillige Geschmack aufgegriffen, der in der kollektiven Erzählung eine besondere Stellung
innehat. Für die übrigens Fälle wurden ähnliche Stimuli angewandt. Je nach Erzählverlauf und
Gesprächsfluss wurde nachgefragt oder die Eingangsfrage neuformuliert. Anschließend wurden
Informationen zur Geschichte der Praktik, den Ritualen, der Gemeinschaft, den Fertigkeiten, der
materiellen Komponenten, dem Außenauftritt und die Zukunftsaussichten eingeholt.
Von den 15 Interviews wurden in sieben Fällen Volltranskripte angefertigt, wobei der Fokus auf
aktive Produzent_innen gelegt wurde. Für die restlichen Interviews wurden Exzerpte angefertigt
und Schlüsselstellen transkribiert. Bei der Auswertung wurden die Interviewaufzeichnungen
entsprechend der oben besprochenen Dualität der Anforderungen zweigeteilt. Zuerst wurden die
”Expertenaussagen” zusammengetragen. Diese wurden in Anlehnung an die qualitative
Inhaltsanalyse nach Mayring (2002, S. 114ff) in Kategorien unterteilt. Mayring entwickelt dabei in
einem ersten Schritt Kategorien anhand des Materials, bevor er sich mit diesen Kategorien erneut

21
dem Material widmet. Da die Fallstudien wie bereits erwähnt allerdings dergestalt aufbereitet
wurden, dass sie die intangible-search Plattform eingepflegt werden können und hierfür eine
Vergleichbarkeit zu gewährleisten ist, wurden die Kategorien nicht anhand der jeweiligen
Interviews, sondern übergeordnet in Absprache mit den Partnereinrichtungen eruiert. Diese
lauten:

• historic-critical notes
• linked material resources
• linked immaterial resources
• communities, groups and individuals concerned
• learning and transmission
• safeguarding awareness-raising
• safeguarding measures

Die Berichte für die Plattform wurden anschließend auf Deutsch und Englisch publiziert, das
Team der Regio Lombardia hat im Anschluss daran noch eine italienische Übersetzung angefertigt
und ebenfalls veröffentlicht.
Bei der Auseinandersetzung mit den verschiedenen Sinnstrukturen, dem narrativen Interview Teil,
wurden zuerst die entsprechenden Passagen zusammengetragen. Diese wurden dann quergelesen,
so dass erste thematische Unterschiede deutlich wurden. Diese Prototypologie wurde dann erneut
an das Material herangetragen und so die in Kapitel 6 diskutierte Typologie entwickelt.
Hinzu kamen Besichtigungen (inklusive Fotodokumentation) des Mühlenwegs und einer
Werkstatt, einer Destillieranlage in der Wildschönau, der Zillertal Brauerei, der Genbank Tirol, der
Lager- und Verarbeitungsstätte des Whiskeys aus Fisser Gerste, mehrere Hofbesichtigungen und
Enzianstechen. Diese Eindrücke flossen bei der Anfertigung der Berichte und den hier vorgelegten
Kapiteln zu den Fallbeispielen ebenfalls ein.

22
3. Kulturelles Erbe und immaterielles Kulturerbe
Kulturelles Erbe ist ein ausgesprochen amorphes Konzept, eine Projektionsfläche für eine Vielzahl
an Zuschreibungen, (Wert-)Vorstellungen und nicht zuletzt handfester, oftmals ökonomischer
Interessen. Dass der Term in der vergangenen Dekade eine derart rasant steigende Rezeption
erfahren hat – Zimmermann (2014, S. 47) spricht etwa von einem “inflationären Gebrauch” – mag
wiederum gerade dieser Unschärfe geschuldet sein, die Assoziationen einer Vielzahl von
Akteur_innen mit deren jeweiligen Agenda zulässt. In diesem Kapitel soll nun zuerst das zentrale
Element in der Debatte um kulturelles Erbe, nämlich die Konvention der UNESCO, inklusive
ihres Entstehungskontextes thematisiert werden. Im Anschluss wird sowohl der kritische Diskurs,
welcher die Konvention begleitet, in Eckpunkten nachgezeichnet als auch der Versuch gewagt,
grundsätzliche (und unbeantwortete) Fragen zum Umgang mit der kulturellen Vergangenheit zu
besprechen. Dabei werden insbesondere die Überlegungen des Ethnologen Ingo Schneider zum
Verhältnis zwischen Gegenwart und Vergangenheit, das Konzept der invented traditions von Eric
Hobsbawm und das Modell von Barbara Kirshenblatt-Gimblett, die dafür den Begriff des
metakulturellen Produkts entwickelt, detaillierter vorgestellt.

3.1. Übereinkommen zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes der


UNESCO
Bereits gegen Ende des zweiten Weltkriegs traten Stimmen auf den Plan, welche sich dafür stark
machten, die Zeugnisse der europäischen Geschichte vor der Zerstörungswut des Krieges zu
schützen. So wurde 1943 die Monuments, Fine Arts, and Archives Section (MFAA) innerhalb der US-
Armee gegründet, welche beim Vorrücken der Alliierten versuchten, bedeutsame historische
Bauwerke, Museen, Kirchen und andere Kunst- und Kulturwerke so weit als möglich “aus der
Schusslinie” zu halten. Eng verwoben mit diesen Bemühungen ist der Name des amerikanischen
Kunstspezialisten George Stout, der sich nachhaltig für Aufstellung der MFAA einsetzte und in
ihr diente. Nach dem zweiten Weltkrieg erfolgte im November 1945 die Gründung der Organisation
der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur, kurz UNESCO, welche sich der
Förderung eben jener Felder verschrieben hat. Ein Schwerpunkt dieser Arbeit lag und liegt seit
jeher auf der Sicherung und Bewahrung von Kulturgütern. Ein erster Meilenstein hierfür war die
1954 verabschiedete Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten. Das
Übereinkommen zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt von 1972, welches 1975 in Kraft trat,
legte im Anschluss daran die Basis für die Liste des UNESCO-Welterbes, wobei Welterbe hier

23
sowohl Weltkulturerbe wie auch Weltnaturerbe umfasst. Mit Stand 2018 umfasst die Liste 1092
Stätten in 167 Ländern, darunter etwa die Ruinen Hatras, der einstigen Hauptstadt des
Partherreiches im heutigen Irak, die historische Altstadt Florenz oder der Tikal Nationalpark in
Guatemala, in dem sich eine Vielzahl der ikonischen Maya-Pyramiden befinden.5
Bestrebungen, auch immaterielle Kulturerbe unter dem Schutzmantel der UNESCO zu sammeln,
reichen bis in die frühen 1970er Jahre zurück. Im Kern zielten die damals von Bolivien
vorgebrachten Überlegungen darauf ab, den Schutz von geistigem Eigentum und Copyright auf
das kulturelle Patrimonium einer Volksgemeinschaft auszuweiten. Die UNESCO arbeitete ein
Dokument mit dem Titel Possibility of Establishing an International Instrument for the Protection of Folklore
aus, kam jedoch zu dem Schluss, “the protection of folklore applying copyright was not realistic”.
(Aikowa 2004, S. 138)
Bei der 21. Generalversammlung der UNESCO im Jahr 1980 wurde das Bestreben, Folklore einen
international bindenden rechtlichen Schutz zukommen zu lassen, erneut formuliert. Daraufhin
wurden von der UNESCO Studien vorgelegt, welche 1982 gemeinsam mit der Weltorganisation für
geistiges Eigentum (WIPO) im Konzept Model Provisions for National Law on the Protection of Expressions
of Folklore against Illicit and Other Prejudicial Actions mündete. Allerdings verliefen auch diese
Bemühungen erneut im Sand, so dass die UNESCO 1985 ohne Beteiligung der WIPO ein
Expert_innengremium einberief, welches sich mit der näheren Definition von Folklore
auseinandersetzen sollte. Vor diesem Hintergrund wurde 1989 die Recommendation on the Safeguarding
of Traditional Culture and Folklore erarbeitet, welche allgemein als Vorläuferdokument der 2003
verabschiedeten International Convention for the Safeguarding of the Intangible Cultural Heritage gilt (vgl.
ebd., S. 138f.)
Barbara Kirshenblatt-Gimblett unterstreicht, dass es bei der 2003 vorgelegten Konvention zum
Schutz von Intangible Cultural Heritage (ICH) zu einer konzeptionellen Neuerung des Konzeptes
von Kulturerbe gekommen ist. Fortan wird der Blick nicht auf das eurozentrische Bild kultureller
Errungenschaften in Form von Monumenten und Prunkstücken beschränkt, sondern sie attestiert
einen Schwenk bei der Auffassung von ICH “to include not only the masterpieces, but also the
masters.” (Kirshenblatt-Gimblett 2004, S. 53) Dabei wird ICH nicht mehr als Variation oder
Untergruppe von kulturellem Erbe im klassischen Sinne (wie etwa Angkor Wat oder Robbin
Island) gedacht, sondern der Fokus wird nun auf vom Verschwinden bedrohte, aber lebendige
Tradition gelegt. Nicht nur, was buchstäblich in Stein gemeißelt wurde, sondern kulturelle
Ausdrucksformen wie Tanz und Performance sollen damit in ihrer Bedeutung gewürdigt werden.
Dabei geht es vor allem darum, die notwendigen Reproduktionsbedingungen zu bewahren. Damit

5 siehe https://whc.unesco.org/en/list/ (aufgerufen am 3.12.2018)

24
stellt ICH gewissermaßen eine Hybridvariante der beiden klassischen Formen von kulturellem
Erbe dar: “Whereas like tangible heritage, intangible heritage is culture, like natural heritage, it is
alive.” (ebd., S. 53)
In der Konvention von 2003 definiert die UNESCO ICH wie folgt (UNESCO 2003, S. 2)6:

“The “intangible cultural heritage” means the practices, representations, expressions, knowledge, skills
- as well as instruments, objects, artifacts and cultural spaces associated therewith - that communities,
groups and, in some cases, individuals recognize as part of their cultural heritage. This intangible cultural
heritage, transmitted from generation to generation, is constantly recreated by communities and groups
in response to their environment, their interaction with nature and their history, and provides them with
a sense of identity and continuity, thus promoting respect for cultural diversity and human creativity.
For the purposes of this Convention, consideration will be given solely to such intangible cultural
heritage as is compatible with existing international human rights instruments, as well as with the
requirements of mutual respect among communities, groups and individuals, and of sustainable
development.”

Für die vorgelegte Definition werden spezifische Ausdrucksformen gelistet, welche eine
Manifestation von ICH darstellen können. Diese umfassen:

● oral traditions and expressions, including language as a vehicle of the intangible cultural
heritage;
● performing arts;
● social practices, rituals and festive events;
● knowledge and practices concerning nature and the universe;
● traditional craftsmanship.

Die UNESCO hebt in der Konvention vier zentrale Ziele hervor, die durch die Ratifizierung der
Mitgliedstaaten erreicht werden sollen: Erstens das Bewahren (safeguarding) von ICH, zweitens
den Respekt für das immaterielle Kulturerbe von verschiedenen Gruppen und Gemeinschaften zu
sichern, drittens das Bewusstsein um die Bedeutung von ICH auf lokaler, nationaler und
internationaler Ebene zu stärken sowie gegenseitige Anerkennung zu fördern und viertens
internationale Kooperation und Unterstützung zur Verfügung zu stellen (ebd., S. 2).
Schon an dieser Stelle drängt sich ein Verdacht auf, dem im Folgenden näher nachgegangen
werden soll, nämlich, dass die große Stärke dieser Definition zugleich ihre zentrale Schwäche

6Die International Convention for the Safeguarding of the Intangible Cultural Heritage liegt zwar auch in deutschsprachiger
Fassung vor, allerdings werden nur die arabische, chinesische, englische, französische, russische und spanische Version
von der UNESCO als rechtlich bindend angesehen. Dementsprechend wurde für diese Arbeit das englische
Dokument als Unterlage herangezogen.

25
darstellt: Die große konzeptionelle Offenheit eines solchen Verständnisses von ICH etabliert
einerseits einen integrativen Zugang, welcher ICH gegen kulturchauvinistische Anwandlungen und
insbesondere gegen einen eurozentristischen Kulturbegriff, der manifeste kulturelle
Errungenschaften, wie sie dem Westen immanent sind implizit als höherwertig gegenüber an
Praktiken und Reproduktion orientierten Phänomenen setzt und fraglos für das “klassische”
Kulturerbe Pate stand, abschirmt. Andererseits überlässt sie die konkrete Benennung von ICH
dadurch einem politischen Aushandlungsprozess. Außerdem ist fraglich, inwieweit es gelungen ist,
die Liste des immateriellen Kulturerbes vor einer eurozentristischen Perspektive zu bewahren –
zwar umfasst die Liste bis dato und 15 Jahre nach ihrer Ratifizierung 508 Einträge aus 122 Ländern,
mehr als ein Viertel davon entfällt jedoch auf europäische Länder.7

3.2. Kritische Einschätzung der Konvention


In der wissenschaftlichen Community wurde die Konvention von Anfang an von einem kritischen
Diskurs begleitet. Der amerikanische Kulturanthropologe Richard Kurin weist darauf hin, dass die
Anwendung der Konvention für Außenstehende nicht immer gerade nachvollziehbar ist. So
werden zwar verbale Expressionen wie etwa Geschichten, Erzählungen oder Ausdrucksweisen
eine Kulturgemeinschaft als Form von ICH anerkannt, ihre Sprache als solches jedoch nicht (vgl.
Kurin 2004, S. 69). Auch arbeitet Kurin heraus, dass nicht jegliche Form von kultureller Aktivität
entsprechend der Konvention als kulturelles Erbe begriffen werden kann. Ihm scheinen zwei
Aspekte zentral: Erstens hat die Definition Handlungen im Blickfeld, welche als “traditionell” und
“sinnvoll” angesehen werden, womit etwa routinierte utilitaristische Handlungsstrukturen
ausgenommen wären. Zweitens geht es um Handlungen, die von einer Kulturgemeinschaft geteilt
werden und mit ihr “symbolisch identifiziert” werden (vgl. ebd., S. 69, eigene Übersetzung). Kurin
unterstreicht, dass im Ausarbeitungsprozess der Konvention die meisten beratenden
Expert_innen darüber übereinstimmten, dass gegenwärtige Kulturphänomene wie
Computerspiele, sportliche Großveranstaltungen oder Bollywood Choreographien nicht unter
schützenswerte Formen von immateriellem Kulturerbe fallen würden. Vor dem Hintergrund der
Definition der Konvention ist dies allerdings nur schwer zu argumentieren, da sie die wesentlichen
Merkmale erfüllen: Sie stellen ritualisierte Handlungsabläufe dar, die einer mehr oder weniger
abgrenzbaren Kulturgemeinschaft sinnvoll erscheinen und von ihr fortlaufend reproduziert

7
25,98%. Eigene Berechnung. Quelle: https://ich.unesco.org/en/lists (aufgerufen am 3.12. 2018). Russland und die
Türkei nicht mitgerechnet.
Diese Zählung umfasst sowohl List of Intangible Cultural Heritage in Need of Urgent Safeguarding, Representative List of the
Intangible Cultural Heritage of Humanity als auch Register of Good Safeguarding Practices.

26
werden. Und in der Tat, 2018 hielt Reggae Einzug auf die Liste des immateriellen Kulturerbes der
UNESCO.8 Reggae stellt zweifelsohne eine gelebte kulturelle Praxis mit sinnstiftender Bedeutung
für eine mehr oder weniger abgegrenzte Gemeinschaft dar, er weist aber auch insbesondere zwei
Merkmale auf, die einem intuitiven Verständnis von immateriellem Kulturerbe widerstreben: Zum
einen handelt es sich bei Reggae, auch wenn die Musikrichtung insbesondere für die jamaikanische
Bevölkerung lebensweltliche Bedeutung in ihrem Alltag aufweist und die Nominierung bei der
UNESCO vom jamaikanischen Staat eingereicht wurde, zweifelsfrei um ein globales Phänomen.
Reggae ist nicht an eine spezifische Volksgruppe oder Region gebunden, sondern eine bedeutende
Sub- und (insbesondere im europäischen Raum) Jugendkultur, die international vernetzt ist.
Zweitens weist der Reggae als Musikrichtung eine vergleichsweise kurze Geschichte auf: Etwa in
den 1960er Jahren etablierte sich auf Jamaika eine betont langsame Spielweise des auf sogenannten
Offbeats basierenden Ska, welcher wiederum seine Wurzeln im amerikanischen Rhythm and Blues
hat.9 Populär wurde der Stil insbesondere durch den jamaikanischen Musiker Bob Marley (1945 -
1981), der eine Vielzahl von internationalen Hits feierte und dessen Konterfei noch heute ikonisch
als Symbol des Reggaes gilt. In der europäischen Musikszene wurde die Musikrichtung
insbesondere über den Umweg britischer Acts Ende der 1970er Jahre bekannt, wie etwa The Police
(Roxanne) oder Eric Clapton (I Shot the Sheriff), welche die Offbeat-betonende Spielweise in
ihren Stil integrierten. Reggae stellt dabei keinen Einzelfall dar, im Jahr zuvor wurde die
neapolitanische Pizza auf die Liste des immateriellen Kulturerbes der UNESCO gesetzt.10
Diesen Einträgen soll an dieser Stelle nicht die Berechtigung abgesprochen werden. Ihre
Thematisierung soll vielmehr aufzeigen, dass eine einfache und intuitive Grenzziehung von ICH
zu “anderen”, nicht “geerbten” kulturellen Praktiken nicht (oder nur schwerlich) auszumachen ist
und die Konvention selbst sich davor scheut, hier ein klares Regulativ vorzugeben. Damit wird die
Liste zu einem Politikum. Für die Arbeit mit ICH ergibt sich so die Einsicht11:

Die Konzeption von immateriellem Kulturerbe ist getragen von einer Vielzahl impliziter Normvorstellungen
darüber, was gute und schützenswerte Kultur ist. Der Kulturbegriff ist nicht von Strukturmerkmalen gefestigt,
sondern vom politischen Ziel einer Bewahrung (und Schaffung) von Diversität.

8
Reggae zählt jetzt zum Immateriellen Weltkulturerbe. In: ZEIT ONLINE:
https://www.zeit.de/kultur/musik/2018-11/unesco-weltkulturerbe-jamaika-reggae-musik (aufgerufen am 3.12.2018)
9
Ska stellt also keine “schnelle Variante” von Reggae dar, wie fälschlicherweise oft angenommen.
10
Lists of Intangible Cultural Heritage and the Register of good safeguarding practices.
https://ich.unesco.org/en/RL/art-of-neapolitan-pizzaiuolo-00722 (aufgerufen am 3.12. 2018)
11 Im Folgenden sollen zentrale Argumentationsschirtte der Arbeit kursiv hervorgehoben werden, um die analytische

Kette zu unterstreichen.

27
Eine Einschränkung stellt die Konvention lediglich in Bezug auf gewisse Standards und Normen
dar, die durch eine kulturelle Praktik nicht verletzt werden dürfen. So müssen kulturelle
Ausdrucksformen (1) in Einklang mit den Menschenrechten stehen, (2) den gegenseitigen Respekt
zwischen Gemeinschaften sicherstellen und (3) nachhaltig sein (Vgl. Kurin 2004, S. 70). All diese
Punkte mögen auf den ersten Blick selbstverständlich sein, aber offenbaren bei einem genaueren
Blick durchaus ihre Tücken, welche Kurin detaillierter herausgearbeitet. So ist klar, dass mit
Hinblick auf die Menschenrechte Folterpraktiken keine Form von ICH darstellen können, auch
weibliche Genitalverstümmelung, obwohl traurigerweise gelebte Praxis, würde mit Sicherheit keine
Zustimmung für die Aufnahme auf die Liste der UNESCO finden. Wie aber verhält es sich mit
rituellen Gesangsdarbietungen, an denen traditionell nur die Männer einer Gemeinschaft
teilnehmen dürfen, Frauen jedoch grundsätzlich ausgeschlossen sind? Die Konvention selbst gibt
darauf nur eine unzulängliche Antwort. In Bezug auf die Forderung nach gegenseitigem Respekt
führt Kurin an, dass viele Kulturgemeinschaften ihr traditionelles Selbstbild stark in Abgrenzung
zu anderen Gruppen ausbilden, in dem etwa in ritualisierter Form Triumphe zelebriert werden
oder an Märtyrer_innen erinnert wird. “The Convention's standard is quite idealistic, seeing culture
as generally hopeful and positive, born not of historical struggle and conflict but of a varied flowing
of diverse cultural ways.” (ebd., S. 70) Am letzten Punkt, der Nachhaltigkeit, kritisiert Kurin, dass
er zumindest irreführend sei. Denn wäre eine kulturelle Praktik vollumfassend nachhaltig, wäre sie
nicht vom Verschwinden bedroht und bedürfte keines Schutzes der UNESCO. Dem kann aber
entgegengehalten werden, dass sich die Anforderung einer Nachhaltigkeit der Kulturpraxis wohl
im engeren Sinne auf den Umgang mit natürlichen Ressourcen richtet und verhindern soll, dass
Tätigkeiten mit einer rituell-historischen Dimension wie etwa die Robbenjagd oder der Walfang
unter den Schutzmantel der UNESCO flüchten könnten. Ein weiterer Kritikpunkt, der
unmittelbar nach der Formulierung der Konvention formuliert wurde, betrifft die institutionelle
Organisation. Die Konvention sieht vor, dass die beteiligten Nationalstaaten eine Inventarisierung
betreiben und nationale Listen anlegen, in denen das ICH eines Staates zusammengetragen wird.
Damit geht die Befürchtung einher, dass die Konvention von Regierungen missbräuchlich zur
Imagepflege genutzt werden könnte, anstatt auf die lokalen Kulturträgerinnen und Kulturträger
und ihre Bedürfnisse für die Gewährleistung über das Fortbestehen einer Kulturleistung
einzugehen (Vgl. Kirshenblatt-Gimblett 2004, S. 56). Überspitzt kann man sagen, die Liste birgt
Gefahr, “most visible, least costly” zu sein, nicht mehr als eine symbolische Geste (ebd., S. 57).
Kurin fällt letztlich jedoch ein positives Urteil über die Konvention von 2003: “While doubts
persist about the institutional machinery and the ability of the Convention to attract adequate
external funding appropriate to the level of need, the Convention may still provide an important

28
opportunity.” (Kurin 2004, S. 75f) Vor diesem Hintergrund ist eine tiefgehende
Auseinandersetzung mit den Vorstellungen und Annahmen, welche für die Konzeption von
Kultur als Erbgegenstand Geburtshelfer stehen, nicht nur legitimierbar, sondern geradezu
erforderlich. Denn, wie Ingo Schneider (2005)12 passenderweise für seinen Aufsatz Zur Semantik
des kulturellen Erbes als Untertitel gewählt hat, eröffnet eine eingehendere Auseinandersetzung
“mehr Fragen als Antworten”.

3.3. Zwischen den Zeiten


Der oben unterstrichene Befund, dass Kulturerbe auf einem nicht explizierten Kanon aus Wert-
und Normvorstellungen baut, zeigt sich nicht vorrangig dadurch, welche Kulturformen als
Kulturerbe deklariert werden, sondern primär daran, welche es nicht werden. Dabei handelt es
sich nicht um einen Formfehler, sondern um einen notwendigen Selektionsmechanismus. Man
stelle sich nur eine Gesellschaft vor, die zwanghaft dazu verdammt wäre, jede einmal
vorgenommene Kulturpraxis auf ewig zu reproduzieren.
Schneider (2005, S 37ff.) attestiert der Gegenwartsgesellschaft diesbezüglich eine eigenartige
Dialektik: Zum einen scheinen Veränderungsprozesse immer schneller voran zu schreiten, zum
anderen aber habe es zu keiner Epoche weniger “planloses Vergessen” gegeben. Das Bestreben,
sich einem Vergessen der vorangegangen Kulturformen entgegen zu stemmen, führt dazu, dass,
mit Hannerz (1996, S. 24) gesprochen, Kulturerbe nach und nach zu einem “storage problem”
wird. Hier findet sich ein erster Hinweis auf einen Gedanken, dem im weiteren Verlauf der Arbeit
noch ausführlicher nachgegangen werden soll: Das Konzept des Kulturerbes erhebt sich vor einer
auffallenden Unklarheit bezüglich der Zeitdimension des Kulturbegriffs. In gewisser Weise wird
hier Kultur gleichzeitig als statisch und dynamisch gedacht. Vielfach drängt sich der Eindruck auf,
dass zwar die gegenwärtige Kultur als höchst wandelbar und in steter Transformation begriffen
wird, Kulturerbe aber fixe Bezugspunkte einer gewissermaßen anderen Zeitachse wahrgenommen
werden. Schneiders Beobachtung führt so zu der zwar plausiblen aber nicht verifizierten Annahme,
dass die schnelllebige Gegenwartskultur ein psychologisches Bedürfnis nach stabilen und
unumstößlichen kulturellen Fixpunkten nährt. Dazu passt, dass die UNESCO als Untergruppe der
ICH-Liste die List of Intangible Cultural Heritage in Need of Urgent Safeguarding führt. Dabei scheint es
mehr als fragwürdig, ob es die jeweiligen kulturellen Praktiken sind, die dringend des Schutzes
bedürfen, oder ob die zugrundeliegende Überzeugung nicht vielmehr jene ist, dass die
gegenwärtige Kultur des Schutzes vor dem Verschwinden einer vorangegangenen Kulturform

12
Der Aufsatz wurde von Schneider erneut veröffentlicht, siehe Schneider (2014)

29
bedarf. So drängt sich die Frage auf, ob der aktuellen “Konjunktur” des kulturellen Erbes nicht
zuletzt ein “tiefes Misstrauen an der Gegenwart” zugrunde liegt (vgl. Schneider 2005, S. 39).
Kulturerbe ist also nicht eine Entität, welche einem Brocken gleich in der Sozialwelt “herum liegt”,
so dass man Gefahr läuft, darüber zu stolpern, wenn man die Augen nicht offen hält - vielmehr
verlangt es eine Form der aktiven Zuwendung, des Erkennens und Anerkennens und des
Benanntwerdens.
Für Schneider geht es bei der Auseinandersetzung mit kulturellem Erbe entscheidend um das
Zusammenspiel von Erinnern und Vergessen.13 Er verweist auf die antiken Texte Ciceros, bei dem
die “Kunst des Gedächtnisses” (ars memoriae) stets als Gegenstück zur “Kunst des Vergessens“ (ars
oblivionis) gedacht wird. In der modernen Philosophie findet sich dieser Gedanke bei Nietzsche
wieder, der sich davon überzeugt zeigt, dass Vergessen ein integraler Bestandteil allen Handelns
sei (ebd., S. 38). Ein Diskurs um kulturelles Erbe, der diesen Aspekt verkennt, in dem er keine
Aussagen darüber trifft, in welchem Maße und in welcher Form Kulturpraxis dem Vergessen
übergeben werden soll, läuft Gefahr, ein vollkommen starres Kulturverständnis zu generieren, in
dem alle Tätigkeit auf ewig gleich dem Sisyphos wiederholt werden muss. Anzeichen einer solchen
Tendenz, jede Form von historischen Kulturpraxis, welche nicht gewisse Minimalstandards an
Menschlichkeit grob verletzt, als genuin schützenswert zu begreifen, gibt es zur Genüge. So titelt
The Onion 2000 scherzhaft “We May Be Running Out of Past” (vgl. Kirshenblatt-Gimblett 2004,
S. 59). Dahinter steckt aber ein ernsthaftes Problem, das Schneider “Gefahr der Erstarrung”
(Schneider 2005., S. 43) nennt. Ein anschauliches Beispiel hierfür bietet das materielle Kulturerbe:
Wenn ganze Stadtteile zum schützenswerten Kulturgut erklärt werden, mag das zweifelsohne einen
ästhetischen Mehrwert haben, aus städteplanerischer Sicht können langfristig jedoch auch eine
Vielzahl von Problemen auftreten, wenn ganze Viertel, welche vor dem Hintergrund vergangener
Lebensbedürfnisse entstanden, unverändert in den Herausforderungen einer neuen Zeit bestehen
müssen. Dass Kulturgüter, die in ihrem Entstehungsprozess sicherlich nicht frei von den konkret-
historischen Anforderungen und Zwecken entstanden, heute in ihrer Geschichtlichkeit über die
unmittelbaren Ansprüche unserer Zeit gestellt werden, ist somit ein Indiz für Schneiders Befund
des aktuellen Misstrauens gegenüber der Gegenwart. Auch unterbindet ein Diskurs, der Alter a
priori höherwertig setzt, eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit den Notwendigkeiten und
Zwängen und damit der Beschaffenheit der Gegenwartsgesellschaft. “As the retro clock speeds
up, life becomes heritage almost before it has a chance to be lived and heritage fills the life space.”
(Kirshenblatt-Gimblett 2005, S. 2) Dies gilt in Teilen auch für intangible Kulturgüter, bei denen
sich die Schutzmaßnahmen ebenfalls als ein zweischneidiges Schwert offenbaren. So findet sich

13
Zur Bedeutung von Vergessen für den Begriff der Kultur siehe auch Wiehl (1988)

30
auf der Liste der masterpieces der UNESCO auch die Zápara-People, eine etwa 300 Mitglieder zählende
Volksgruppe in den Anden. Diese verfügen über eine eigene Sprache, Kosmologie und
Mythologie. Durch die Inventarisierung ihrer Kultur wird diese nun gewissermaßen an einem
willkürlichen Zeitpunkt eingefroren und ihrer dynamischen Entwicklung entzogen. Schneider
befürchtet, dass die Schutzmaßnahmen die Zápara-People letztlich dazu verdammen als “eine
Repräsentation ihrer selbst fort[zu]bestehen.” (ebd., S. 43) Der Gefahr in einer globalisierten Welt
kulturelle Diversität zu vernichten steht die nicht weniger konkrete Gefahr gegenüber, Kultur zu
musealisieren, sie zu einer Kopie ihrer selbst zu machen. Dieses Spannungsverhältnis resultiert aus
einer grundsätzlichen Widersprüchlichkeit von kulturellem Erbe:

Kulturerbe ist bedeutend für eine Zeit, in die es eigentlich aber nicht mehr passt, da es sonst nicht dem dynamischen
Prozess der Kultur äußerlich geworden wäre. Es ist gewissermaßen aktuell aufgrund seiner Obsoleszenz.

3.4. Inventing Traditions


Noch komplexer und undurchsichtiger wird der Sachverhalt, wenn man einen genaueren Blick auf
die Geschichtlichkeit von sozialen Phänomenen wirft. Das Alltagsverständnis unterscheidet nicht
zwischen Traditionen, Bräuchen und Riten, und suggeriert, dass es sich dabei um soziale
Handlungsstrukturen handelt, welche sich über lange Zeiträume kontinuierlich verfeinert und
ritualisiert haben, so dass bestimmte Formen von Handlungsabläufen bestehen bleiben, welche
den Wandlungsprozessen der Zeit widerstanden. Dieser Auffassung setzt der englische Historiker
Eric Hobsbawm seine Analyse der sogenannten invented traditions gegenüber. Damit beschreibt er
sowohl Traditionen, welche sinnbildlich am Reißbrett konstruiert wurden als auch jene, welche
nachweislich in einer sehr kurzen zeitlichen Periode aufkamen und (gezielte) Verbreitung fanden.
“’Invented tradition’ is taken to mean a set of practices, normally governed by overtly or tacitly
accepted rules and of a ritual or symbolic nature, which seek to include certain values and norms
of behavior by repetition, which automatically implies continuity with the past.” (Hobsbawm
2012a., S. 1) Sie stellen eine Kontinuität zu einer gewünschten und “suitable” Vergangenheit her.
Auch Hobsbawm vermutet - ähnlich wie Schneider -, dass Traditionen dem Bedürfnis entspringen,
einer schnelllebigen Moderne mit ihrem konstanten Innovationsdruck das Bild der Beständigkeit
entgegenzusetzen. Bei ihm tritt jedoch stärker akzentuiert ihre politische Bedeutung hervor, indem
er ihren Ursprung im Zusammenhang mit konkreten Machtverhältnissen und Interessen darstellt.
So beschreibt er eine “Massenproduktion” an Traditionen in Europa für den Zeitraum vor dem
ersten Weltkrieg (1870-1914), deren Ursprung in den Transformationsprozessen des Staatswesens
zur damaligen Zeit zu suchen sind. “(...) the state, seen from above in the perspective of its formal

31
rulers or dominant groups, raised unprecedented problems of how to maintain or even establish
the obedience, loyalty and cooperation of its subjects or members, or its own legitimacy in their
eyes.” (Hobsbawm 2012b, S. 265)14
Aus diesem Blickwinkel sind Traditionen keine historischen Restbestände, sondern
Herrschaftsinstrumente, die einem spezifischen Zweck dienen. “They seem to belong to three
overlapping types: a) those establishing or symbolizing social cohesion or the membership of
groups, real or artificial communities, b) those establishing or legitimizing institutions, status or
relations of authority, and c) those whose main purpose was socialization, the inculcation of beliefs,
value systems and conventions of behavior.” (Hobsbawm 2012a, S. 9)
Hobsbawm unterscheidet dabei nicht primär zwischen invented und old traditions - “Where the old
ways are alive, traditions need be neither revived nor invented.” (ebd., S. 8) -, sondern zählt
Traditionen zu einem Komplex von sozialen Praktiken und grenzt sie zum einen von Bräuchen
(Custom) und zum anderen von Konventionen bzw. Routinen ab (vgl. ebd., S. 2ff). Bräuche und
nicht Traditionen stellen dabei, entgegen der landläufigen Meinung, das Funktionsprinzip
sogenannter traditioneller Gesellschaften dar. Sie unterbinden keine Veränderungsprozesse,
limitieren und formen diese aber und gewähren so soziale Kontinuität. Sie sind aber nicht invariant,
wie es Traditionen sind, weil diese Invarianz nicht mit den Lebensbedingungen traditioneller
Gesellschaften vereinbar wäre. Sie sind auch für moderne Gesellschaften von Bedeutung und
vermengen sich fallweise mit Traditionen: “’Custom’ is what judges do; ‘tradition’ (…) is the wig,
robe and other formal paraphernalia and ritualized practices surrounding their substantial action.”
(ebd., S. 2f) Konventionen und Routinen unterschieden sich von Traditionen, da ihnen keine
symbolische Bedeutung innewohnt. Sie sind, in der marxistischen Terminologie, welcher sich
Hobsbawm durchaus verbunden fühlt, der Basis und nicht dem Überbau15 zuzuordnen. So ist etwa
das Anlegen von Schutzkleidung als routinierter Vorgang in gewissen Situationen schlicht sinnvoll,
das Tragen eines Polizeihelms, mit seinen kodifizierten Formen und Insignien, aber ist auch von
symbolischer Bedeutung.
Für die Auseinandersetzung mit dem Konzept des Kulturerbes sind die Überlegungen
Hobsbawms in mehrerlei Hinsicht von Bedeutung: So zeigen sie (1) die politische Bedeutung der
Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und öffnen die Konstituierung von Kulturerbe

14
Dabei lässt sich dieser Herrschaftsanspruch nicht nur im Umgang mit der “eigenen” Vergangenheit nachweisen,
auch im Umgang mit fremden Kulturen kann die Geschichtsschreibung und -zurschaustellung ein gehaltvolles
Instrument der bestehenden Machtverhältnisse darstellen: “Removal of objects was one step in the process of
stripping subject peoples of their culture in order to convert them, modernize them, or otherwise transform them in
a grand rite of separation.” (Kirshenblatt-Gimblett 2005, S.5) Die Ethnologie in ihrer frühen Gestalt wird von
Kirschenblatt-Gimlett deswegen auch als “handmaiden of colonialism” bezeichnet.
15
Zu eine eingehende Auseinandersetzung mit dem Basis-Überbau-Theorem, siehe Kapitel 5.1.

32
erstmals hin zu Fragen des Macht- und Herrschaftsverhältnisses. Sie weisen darauf hin (2), dass
Traditionen keinesfalls stets historische Restbestände sind, die aus der Zeit gefallen sind, sondern
vielfach als Gegenentwurf zum Zeitgeist konstruiert wurden um Einfluss auf eben jenen zu
nehmen und liefern (3) mit der Unterscheidung zwischen Bräuchen und Traditionen ein sensibles
Instrument um zwischen sozialen Formen, welche willkürlich gewachsen und welche gezielt
implementiert wurden, zu unterscheiden.

3.5. Heritage als ein metakulturelles Produkt


Kulturelles Erbe, so scheint es, stellt primär ein operatives Konzept dar, das den Fokus auf
Anwendbarkeit und praktische Handhabung legt, im Idealfall auf die Bedürfnisse einer
marginalisierten Kulturgemeinschaft gerichtet. Eine detaillierte Definition wird gerade auch aus
diesen Gründen gescheut. Folglich scheint es hilfreich, einen Schritt weg von der ICH-Konvention
der UNESCO und den daran unmittelbar anschließenden Diskurs zu machen und grundlegende
Fragen zur Repräsentation von Kultur zu richten. Hier sind insbesondere die Schriften der
amerikanischen Anthropologin Barbara Kirshenblatt-Gimblett ein ergiebiger Quell. Kirshenblatt-
Gimblett (1998) liefert eine tiefgründige und feinsinnige Analyse des Wesens der Darstellung,
Ausstellung und Vorstellung von Kulturgütern verschiedener Volksgruppen. Die “klassische”
Arbeit in Museen richtet ihren Fokus dabei auf die Auseinandersetzung mit Artefakten und ihre
detailgetreue Inszenierung. Für Kirshenblatt-Gimblett - und das ist ein zentraler Gedanke ihrer
Arbeiten, der für allem für die Auffassung von Kulturerbe relevant ist - steht dabei außer Frage,
dass die repräsentative Arbeit mit Kulturgütern kein passives Arrangieren darstellt, sondern einen
aktiven Eingriff. Folglich spricht sie auch nicht von “ethnographischen Objekten”, sondern von
“ethnographischen Fragmenten”. “We make fragments” (ebd., S. 19), so die prägnante
Formulierung, mit der sie den Aspekt der repräsentativen Intervention unterstreicht. Diese
Fragmente sind eingebettet in “poetics of detachment” (ebd., S 18), sie bewahren also eine
fortwährende Beziehung zum Abwesenden. Ethnographisch sind sie diese Fragmente nicht
genuin, sondern aufgrund ihrer Darstellung; they are “put on display”.
Kirshenblatt-Gimblett unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen zwei Formen der
Darstellung von Fragmenten: in situ und in context. In situ Repräsentationen fußen auf Metonymie
und Mimesis; sie verweisen auf ein abwesendes Ganzes (ebd., S. 19). Die Wahrnehmung, dass
dieses Ganze dabei eine neutrale Entität wäre, erweist sich dabei als trügerisch: “”Wholes” are not
given but constituted, and often they are hotly contested.” (ebd., S. 21) Demgegenüber werden in
context Repräsentationen von vornherein als interpretatives Problem angesehen. Sie setzen auf
Erklärung und Arrangement, setzen Kulturfragmente in ein Verhältnis zu anderen Fragmenten

33
und setzten sich dabei über zeitliche und geographische Grenzen hinweg. Sie üben dabei eine
starke kognitive Kontrolle über die Objekte aus. Diese Probleme bleiben auch in der
Auseinandersetzung mit intangiblen Kulturgütern und dem Versuch, diese zu bewahren, bestehen.
Auch Kulturformen, die ihren Ausdruck nicht in Objekten finden, können zu
Ausstellungsobjekten werden, etwa in Gestalt von Performances und Dokumentationen. In
gewisser Weise sind die beschriebenen Interventionseffekte der Repräsentation sogar noch
gravierender, da sie rekursiv auf die Kulturfragmente selbst einwirken: “Denn es wäre naiv
anzunehmen, die unterschiedlichen Bemühungen um das kulturelle Erbe, um dessen Bewahrung,
Erhaltung, Wiederbelebung, Unterschutzstellung, Archivierung etc. würde nicht die davon
betroffenen Kulturphänomene selbst in ihrer Konsistenz radikal verändern.” (Schneider 2005, S.
42) In der Arbeit mit ICH steht, wie bereits dargelegt, die Forderung an erster Stelle, die
Bedürfnisse derjenigen in den Fokus der Schutzmaßnahmen zu rücken, welche als Träger_innen
einer Kulturpraxis fungieren. “At the same time, the performers, ritual specialists, and artisans
whose “cultural assets” become heritage through this process experience a new relationship to
those assets, a metacultural relationship to what was once just habitus. Habitus refers here to the
taken for granted, while heritage refers to the self-conscious selection of valued objects and
practices.” (Kirshenblatt-Gimblett 2005, S. 1) Solche Schutzmaßnahmen stellen aber
unausweichlich einen Eingriff in das Verhältnis einer kulturellen Gemeinschaft zu ihrer kulturellen
Praxis dar. “(...), all heritage interventions—like the globalizing pressures they are trying to
counteract—change the relationship of people to what they do. They change how people
understand their culture and themselves. They change the fundamental conditions for cultural
production and reproduction.” (ebd, S. 2) Alltagsphänomene werden somit der heritage sphere
übergeben:

Der Prozess der Kodifizierung von immateriellem Kulturerbe stellt zwangsläufig einen Eingriff dar, welcher zu einer
(zumindest teilweisen) Neukonstituierung der kulturellen Praktik führt. Das Bestreben, die Ursprungsform zu
bewahren, resultiert in ihrer Veränderung, auch wenn sie äußerlich ident bleibt, da es nicht nur auf die
Wahrnehmung der Außenstehenden einwirkt, sondern auch in die der involvierten Gemeinschaft. Eine vermeintlich
natürliche Tätigkeit wird zu einer artifiziellen.

Barbara Kirshenblatt-Gimblett beschreibt Heritage deswegen als eine metakulturelle Produktion: “I


define heritage as a mode of cultural production that has recourse to the past and produces
something new. Heritage as a mode of cultural production adds value to the outmoded by making
it into an exhibition of itself.” (ebd., S. 1) Kulturerbe ist damit kein Relikt der Vergangenheit mehr,

34
sondern eine neue Kulturform, welche sich in Auseinandersetzung mit den Bedürfnissen der
Gegenwart herauskristallisiert hat und bei der Bestehendes mit einer neuen Wertigkeit ausgestattet
wird: Value of the Past, Value of Exhibition und Value of Difference (Kirshenblatt-Gimblett 1998, S.
150ff). Kirshenblatt-Gimblett spricht deswegen gar von einer heritage industry, die etwas Neues
herstellt (vgl. ebd., S. 156). Anschaulich wird dieser Eingriff an einem einfachen Beispiel: “There
is a difference between doing the practice and doing something about it, between performing a
song and recording it.” (Kirshenblatt-Gimblett 2005, S. 4)
Die Überlegungen von Kirshenblatt-Gimblett sind auch deswegen so relevant, weil die Grenzen
zwischen materiellen und immateriellen (eine negative Definition, die dadurch beschreibt, was es
nicht ist) in vielen Fällen bei weitem nicht so klar sind, wie man im ersten Augenblick annehmen
möchte. Sie selbst (Kirshenblatt-Gimblett 2004, S. 59) führt hier den japanischen Ise Jingu Tempel
an. Diese komplexe Holzkonstruktion wird alle 20 Jahre komplett zerstört und neu aufgebaut. Seit
seiner Entstehung im Jahre 690 wurde der Schrein 61 Mal wiedergebaut, ein Prozess, der zwischen
zwei und vier Jahren in Anspruch nimmt. Diese Zeit wird von regionalen Handwerkern16 unter
Zurücklegung ihrer regulären Arbeit aufgewandt. Auch wenn der Tempel nun im wahrsten Sinne
des Wortes tangibel ist, so stellt das Material, aus dem er besteht, sicherlich nicht die
schützenswerte Komponente dieses Kulturphänomens dar. Auch die vorhandenen Pläne und
Aufzeichnungen über die Konstruktion, für die keinerlei Nägel zum Einsatz kommen, machen
nicht unbedingt den Kern der Praktik aus. Er liegt vielmehr im Fortbestehen der involvierten
Gemeinschaft.
Ähnlich verhält es sich bei einigen Fallstudien, welche im Rahmen des AlpFoodway Projektes
erhoben wurden. So stellt bei der Fisser Gerste etwa die materielle Komponente einen
unverzichtbaren Bestandteil für das Überleben der Kulturpraxis dar. Das Saatgut einer vergessenen
Sorte, das nur durch Maßnahmen der Tiroler Genbank wiederbeschafft werden konnte, die
Saatgutaufbereitungsanlage in Flaurling, die raren Anbauflächen für Getreide in Tirol, die
Gerätschaften für Anbau und Ernte - all dies ist elementar für den Fortbestand einer alten
Landsorte. Ohne eine engagierte Gemeinschaft, welche die Gerste Jahr für Jahr, aussät, kultiviert,
erntet und verarbeitet, wäre dieser Fortbestand allerdings genauso aussichtslos. Die Gerstenkörner
in einer Museumsvitrine ausgestellt, sie wären gegenstandslos. Auch hier passt der Ausspruch von
Kirshenblatt-Gimblett: “Use it or loose it.” (Kirshenblatt-Gimblett 2005, S. 4)

16
Die Arbeiten am Schrein werden ausschließlich von Männern vorgenommen.

35
3.6. Eine Frage der Ökonomie
Mit dem Konzept der heritage industry tritt erstmals ein Aspekt auf den Plan, dem bislang keine
Beachtung geschenkt wurde. ICH wurde bis zu diesem Punkt vom Bestreben des Schutzes und
Erhalt einer minoritären Kulturpraxis aus gedacht. Bewusstsein über das Bestehen von seltenen
Kulturformen zu schaffen, kann aber auch einen ökonomischen Mehrwert generieren: “In den
vergangenen Jahrzehnten wurde kulturelles Erbe mehr und mehr als Wertschöpfungsvehikel und
Vermarktungsinstrument entdeckt, und wird demgemäß speziell in Kontexten wie Tourismus,
Industrie, Politik oder Regionalentwicklung verstärkt eingesetzt.” (Kirchengast 2009, S. 63) Gerade
für den Tourismus hat das Konzept des Naturerbes und Kulturerbes eine immer stärkere
Bedeutung gewonnen. “Heritage is one of the ways locations become a destination.” (Kirshenblatt-
Gimblett 1998, S. 153)
Die Frage nach der Rolle der Ökonomie ist eine komplexe. Einerseits – das spielt gerade in den
Fallbeispielen der alpinen Essenskultur im Projekt AlpFoodway eine Rolle – ist eine
(landwirtschaftliche) Praktik, die ökonomisch unrentabel ist, nur in subventionierter Form
überlebensfähig. Subventionen wiederum schaffen eine Fülle von Auflagen und Abhängigkeiten,
welche auf die Kulturform einwirken, so dass eine ökonomische Nachhaltigkeit für den
Fortbestand einer Praktik erstrebenswert scheint. Eine ökonomisch profitable Tätigkeit wiederum
ist nicht auf institutionellen Schutz angewiesen, was einerseits den Auflagendruck mindert,
andererseits auch keine Regularien für die Auslegung einer historischen Praktik greifen lässt. In
vielen Fällen wird eine kulturelle Praxis dergestalt ummodelliert, dass sie eine ökonomische
Rendite generiert, etwa indem vormals interne Festlichkeiten verstärkt für Außenstehende geöffnet
werden. Diese Verschiebungen stellen einen tiefen Eingriff in die Abläufe einer Praktik dar, auch
wenn die Erscheinungsformen unberührt bleiben. Denn durch die Orientierung hin zu
Außenstehenden wird eine Handlung zur Performance. Noch gravierender können diese
Transformationsprozesse bei Tätigkeiten ausfallen, welche von jeher in einem Wirtschaftskontext
standen, etwa im Bereich der Lebensmittelerzeugung und -verarbeitung. Hier ist die Gefahr oft
sehr greifbar, dass Kulturerbe zu einem Marketingtool verkommt. Schneider (2005, S. 46) weist
darauf hin, dass in vielen Fallbeispielen die Erhebung und Kodifizierung von Kulturerbe
hauptsächlich von ökonomischen Motiven geleitet ist. In zwei hier behandelten Fällen lässt sich
diese Gratwanderung zwischen der notwendigen Valorisierung und einem Ausverkauf einer
Praktik beobachten: Dies betrifft zum einen den Krautinger und zum anderen die Fisser Gerste.
Im Falle des Krautingers zeigen sich Konflikte innerhalb der involvierten Gemeinschaft: Dürfen
für das Brennen des Krautingers Rüben aus anderen Regionen zugekauft werden, um die
Produktionsmenge zu erhöhen? Dürfen Samen aus industrieller Vermehrung genutzt werden, oder

36
sollte auf die traditionelle Hofsaat zurückgegriffen werden, auch wenn der Ertrag geringer ist? Hier
liegt im Augenblick keine allgemein geteilte Auffassung vor. Noch gravierender ist die Frage nach
den Grenzen der ökonomischen Nutzung bei der Fisser Gerste. Initiiert von einer Gruppe
Idealist_innen, die regionale Lebensmittel fördern wollen, wird die Produktionskette heute von
Zillertal Bier getragen. Hier zeigen sich eklatante Widersprüche zwischen der Perspektive eines
Unternehmens und Landwirt_innen. Soll die Fisser Gerste nur in der Region Oberes Gericht
angebaut werden oder in ganz Tirol? Ist es ein regionales Kulturgut oder nur eine Getreidesorte,
die einen höheren Ertrag erzielt?
Umgekehrt ist es nicht minder spannend zu beobachten, wie im Falle des Enzners und der
Lesachtaler Mühlenkultur diese Probleme umschifft werden: In Galtür wird eine
Kommerzialisierung von vornherein auf Grund der strengen Auflagen ausgeschlossen. Im
Lesachtal steht im Unterschied zu den anderen Fallstudien kein Produkt im Zentrum, sondern
eine Tätigkeit. Diese wird zwar Außenstehenden zugänglich gemacht, etwa durch Führungen
entlang des Mühlenwegs, hier stellt sich jedoch gewissermaßen zum einen eine natürliche
Obergrenze ein, da keine unbegrenzte quantitative Steigerung möglich ist und zum anderen wurde
durch die Festlegung einer Obergrenze für Gästebetten ein Mechanismus etabliert, der eine
überbordende Nutzung ausschließt.

3.7. Warum kulturelles Erbe?


Die kritische Auseinandersetzung mit der Idee einer (ver-)erbbaren Kultur haben in Teilen ein
vernichtendes Bild des Konzepts von Kulturerbe gezeigt. Dies soll nicht über die Bedeutung einer
(kritischen) Auseinandersetzung mit der kulturellen Vergangenheit hinwegtäuschen: „In ihrer
kulturellen Überlieferung wird eine Gesellschaft sichtbar: für sich und für andere.“ (Assmann 1988,
S. 16) Jan Assmann entwickelt hierfür das Konzept eines kulturellen Gedächtnisses. Per Definition
grenzt er dies in zwei Richtungen ab: Zum einen hin zu dem, was er “kommunikatives” oder
“Alltagsgedächtnis” nennt, das seinen Ursprung in einer unorganisierten und unspezialisierten
Alltagskommunikation hat. Es weist eine hohe Rollenreziprozität auf, ist sozial vermittelt und
gruppenbezogen, verfügt allerdings über einen vergleichsweise beschränkten Zeithorizont von
etwa 80 bis 100 Jahren (Oral history). Demgegenüber ist das kulturelle Gedächtnis alltagsfern
(Alltagstranszendenz) und wurzelt in geschichtlichen Fixpunkten, die Assmann als “Zeitinseln”
beschreibt. Es ist dabei jedoch stets “identitätskonkret”, das heißt, es stellt Gruppen ein Set an
Aussagen darüber zur Verfügung, was sie ist und auch, was sie nicht ist. So stellt es zu jedem
Zeitpunkt eine Beziehung der Gegenwart zu einer Zeitinsel her. Assmann nennt diese Eigenschaft
Rekonstruktivität. Es ist geformt, organisiert, verbindlich und reflexiv. (Vgl. ebd, S. 13ff) Assmann

37
grenzt das kulturelle Gedächtnis so zum anderen von der Wissenschaft ab, der die Bezogenheit
auf ein kollektives Selbstbild abgeht. „Unter dem Begriff des kulturellen Gedächtnisses fassen wir
den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -
Bildern und -Riten zusammen, in deren „Pflege“ sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein
kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das
eine Gruppe ihr Bewußtsein von Einheit und Eigenart stützt.“ (ebd., S. 15) Hier wird deutlich,
dass die Auseinandersetzung mit und aktive Hinwendung zu der gemeinsamen kulturellen
Vergangenheit einer Gruppe eine identitätsstiftende und sozial integrative Rolle hat. Auch ist zu
unterstreichen, dass dies keine Ausnahmeerscheinungen sind, sondern automatische Prozesse und
integraler Bestandteil der Sozialisation. Sieht man sich als plakatives Beispiel die Sprache an, so
wird deutlich, dass sie als Produkt einer vielschichtigen Kulturalität ebendiese kulturellen Formen
in sich trägt und reproduziert. So sind selbst Fragen der individuellen Subjektausdeutung stets
geknüpft an vergangene Kulturformen. Die Tatsache, dass Kultur immer eine historische Genese
darstellt, die in die gegenwärtige Sozialität hineinwirkt, macht die Auseinandersetzung mit der
kulturellen Geschichte für die Soziologie so bedeutend. Schneider allerdings bezweifelt, ob der
gegenwärtige Begriff von kulturellem Erbe diese Aufgabe meistern kann, da er sich ausschließlich
den positiven Aspekten der kulturellen Vergangenheit zuwendet, negative Momente jedoch
ausspart. (vgl. Schneider 2005, S. 40) Hilmar Schäfer (2014, S. 76) kritisiert umgekehrt, dass eine
theoretische Auseinandersetzung mit Kulturerbe, die auf Assman fußt, blind ist für die materielle
Komponenten von Kulturerbe, die auch vermeintlich immateriellen Fällen zwangsläufig zu eigen
ist. Dieser Vorwurf wird in Kapitel 6 vertieft.

In einem ersten Zwischenfazit können vor diesem Hintergrund folgende Punkte


zusammengetragen werden:

1. Der Begriff des kulturellen Erbes, die Konzepte von Heritage und immateriellem Kulturerbe weisen bei
näherer Betrachtung immanente Probleme auf. Zum einen muss der Vorstellung von einem genuin
schützenswerten wie schutzbedürftigen Kulturerbe der Vorwurf der Schönfärberei gemacht werden. Auch
steht die Kodifizierung nicht zwangsläufig im Interesse des betroffenen Kulturgutes. Vielfach geht ein wenig
reflektiertes Risiko der Musealisierung damit einher. Zum anderen zeigt sich, dass diese Form der
Kulturarbeit – also die Heritification – schnell in einer Überkommerzialisierung resultieren kann. Zwar
ist eine ökonomische Nachhaltigkeit (Inwertsetzung) eine notwendige Vorbedingung für das Fortbestehen
einer kulturellen Tätigkeit, vielfach läuft dieses Bedürfnis allerdings Gefahr, zum Selbstzweck zu werden.

38
2. Dies bisherigen Überlegungen legen nahe, dass eine zentrale Ursache der mit dem Konzept des Kulturerbes
einhergehenden Probleme darin besteht, dass es willentlich vermieden wird, eine nähere Beschreibung dessen
vorzubringen, was vererbt wird, was Heritage und damit letztlich was Kultur eigentlich ausmacht. Die
konzeptionelle Offenheit von Kulturerbe weist zwar fraglos ein integratives Potential auf, macht die
Kodifizierung allerdings zwangsläufig zu einem politischen Prozess. Welche Form von Kultur
schützenswert ist, welche Narrative gepflegt werden sollen, lässt sich nicht aus dem theoretischen Rahmen
des Kulturerbediskurses beantworten. Damit wird die Liste der UNESCO zu einem Spielball
verschiedenster Interessensgruppen.

3. Trotz all dieser Einwände haben die hier angestrebten Ausführungen gezeigt, dass eine weiterführende
Analyse sich als lohnend erweisen könnte. Denn wie Assmann aufzeigt, ist das kulturelle Gedächtnis
durchaus implizit konkret – d.h. auch ohne eine Benennung und Kodifizierung – und ein zwingender Teil
jeglicher Form von Gesellschaft. Dieser Prozess der Pflege und Reproduktion einer kulturellen
Vergangenheit inklusive ihres Wirkens in die Gegenwart ist folglich zwangsläufig von soziologischem
Interesse.

Die vorliegende Arbeit verfolgt dabei den Ansatz, dass der vielversprechendste Weg zu einem
tieferen Verständnis dieser Wirkmechanismen der kulturellen Vergangenheit über eine genauere
Analyse des Kulturbegriffs selbst führt. Was ist Kultur? Der in Alltags- wie Wissenschaftssprache
allgegenwärtige Begriff scheint für eine Vielzahl von Vorstellungen und Modellen zu stehen. Erst
eine nähere Eingrenzung ermöglicht es, Aussagen darüber zu ermöglichen, wie Kultur vererbt
werden könnte.

39
4. Allgemeine Überlegungen zum Begriff der Kultur
Vorab mag eine kurze etymologische Betrachtung des Kulturbegriffs hilfreich sein: Das deutsche
Wort Kultur entstammt dem lateinischen Substantiv cultura, welches sich vorrangig mit „Pflege
(des Ackers), Bearbeitung, Bestellung, Anbau und Landbau“ übersetzen lässt. Darüber hinaus kann
es unter Umständen auch „geistige Pflege, Ausbildung intellektueller Fähigkeiten und (religiöse,
huldigende) Verehrung“ bedeuten, eine Konnotation, die beim Verb colere stärker zum Ausdruck
kommt. Moebius (Vgl. 2010, S. 14) weist darauf hin, dass dessen Partizip Perfekt Passiv cultus,
welches die Grundlage des deutschen Begriffes Kult bildet, sowohl eine aktive Pflege wie auch
eine passive Pflege beinhaltet. Im Deutschen findet das Wort Kultur etwa seit dem 17. Jahrhundert
Verwendung, wobei die flektierte lateinische Form auch in älteren Texten anzutreffen ist. Zunächst
stand eine landwirtschaftliche Bedeutung im Vordergrund (insb. Agrikultur), allmählich erst wurde
der Begriff auf den Bereich der Gesellschaft ausgeweitet. Für die Schärfung des Begriffs erweisen
sich insbesondere Johann Gottfried Herder und Immanuel Kant als einflussreich. (Vgl.
Etymologisches Wörterbuch des Deutschen 2005, S. 743)
Einen Überblick und der Versuch einer Systematisierung der verschieden gebrauchten
Kulturbegriffe, findet sich bei Andreas Reckwitz (2006). Reckwitz analysiert die verschiedenen
Konnotationen und Verwendungsweisen und destilliert vier grobe Kategorien heraus, die im
Folgenden kurz vorgestellt werden.

4.1. Der normative Kulturbegriff

Der normative Kulturbegriff ist nicht rein deskriptiv angelegt, sondern projiziert eine
erstrebenswerte Lebensweise. Er dient der Affirmation, sowie der Fremd- aber auch der
Selbstkritik. Die Ursprünge einer solchen Verwendung finden sich bei Cicero, der die Aufgabe der
Philosophie in der cultura animi, der Pflege des menschlichen Geistes, sah (Vgl. Reckwitz 2006, S.
66; Welsch 1994, S. 2). Dieses Konzept wird in der Renaissance von Erasmus von Rotterdam
erneut aufgegriffen. In beiden Fällen ist Kultur eng das Individuum und den persönlichen Intellekt
gebunden. Mit Samuel von Pufendorf tritt Ende des 17. Jhd. eine Verbreiterung des Begriffes an,
in dem er ihn nicht dazu heranzieht, den einzelnen Menschen, sondern eine gesamte Lebensform
zu beschreiben, und dabei Kultur als Gegenbegriff zum Barbarischen positioniert. Wolfgang
Welsch führt an, dass Kultur als „Generalbegriff“, welcher „sämtliche menschlichen
Lebensäußerungen umfassen soll“ zum ersten Mal bei Naturrechtslehrer Samuel von Pufendorf
1684 vorzufinden ist. (Vgl. Welsch 1994, S. 2)

40
Bei Kant findet sich anschließend erstmals die Gegenüberstellung von Kultur und Zivilisation:
Zivilisiert ist demnach, wer auf moralischen Prinzipien ruhende Umgangsformen an den Tag legt,
ohne Kultur jedoch verbleiben diese Formen inhaltslos und nur dem äußerlichen Anstand
verpflichtet. Erst die Kultur ermöglicht einen Zugang zur tieferen Logik der Moral und geht über
die Reproduktion gesellschaftlicher Normen hinaus. Der zivilisierte Mensch ist in einem
Dualismus zwischen seiner animalischen Natur und den Anforderungen seiner gesellschaftlichen
Sozialisierung gefangen, Kultur vermag diese Gegensätze miteinander zu versöhnen, in dem sie
Natur und Moralität in Einklang bringt. (vgl. Reckwitz 2010, S. 21)
Der normative Kulturbegriff ist aber auch ein im höchsten Maße politischer Begriff, der eng mit
dem Aufkommen des Bürgertums verwoben ist. Eine genauere Untersuchung dazu findet sich bei
Norbert Elias. Dieser zeichnet nach, wie der das Aufkommen des Kulturbegriffs in Abgrenzung
zum Begriff der Zivilisation mit dem Erstarken des Bürgertums in Deutschland zusammenfiel.
Demnach diente der Kulturbegriff der nicht zuletzt als Distinktionsmerkmal gegenüber der
Aristokratie. Während in den höfischen Gesellschaften Frankreichs und Englands der Begriff der
Zivilisation die Errungenschaften der Nation in den Vordergrund stellte, diente der deutsche
Kulturbegriff vornehmlich dazu, die individuellen geistigen Errungenschaften hervorzustreichen.
(vgl. Moebius 2010, S. 17)
Dabei treten einige Schwächen des normativen Kulturbegriffs offen zu Tage: Ein Kulturbegriff,
der per Definition nicht wertfrei ist und keinen Seins- sondern einen Soll-Zustand charakterisiert,
ist in der kulturwissenschaftlichen Praxis oft wenig hilfreich, da er a priori in seiner Fähigkeit,
menschliches Handeln zu erklären, stark limitiert ist. Darüber hinaus hält Reckwitz fest, dass auch
die normative Philosophie nicht mehr auf einen derart konzipierten Kulturbegriff angewiesen ist,
da an seiner statt das Konzept der Rationalität getreten ist (vgl. Reckwitz 2006, S. 72). Allgemein
lässt sich festhalten, dass ein Kulturbegriff, wie er von Reckwitz zusammenfassend als normativ
charakterisiert wird, landläufig synonym mit dem Begriff der Hochkultur verwendet wird. Dies
zeigt sich alltagssprachlich, wenn Kultur als Sammelbegriff für all jene Tätigkeitsgebiete dient, in
denen kulturelle Objektivationen produziert werden.

4.2. Der totalitätsorientierte Kulturbegriff

Demgegenüber steht ein Kulturbegriff, der maßgeblich auf den deutschen Aufklärer und
Philosophen Johann Gottfried Herder zurückgeht.17 In dieser Verwendung ist Kultur “keine

17
Der Kulturbegriff Herders wird detaillierter in Kapitel 5.5 behandelt, da er einen zentralen Ausgangspunkt der
Überlegungen Charles Taylors darstellt. Während Reckwitz Herder als Grundlage eines Kulturbegriffes heranzieht,
der sich vom normativen abwendet und ihn so gewissermaßen als Gegenstück konzipiert, soll hier aufgezeigt werden,

41
ausgezeichnete Lebensform mehr, sondern die spezifische Lebensform eines Kollektivs in einer
historischen Epoche.” (Reckwitz 2006, S. 72) Ein totalitätsorientierter Kulturbegriff ist demnach
holistisch, aber auch historisch angelegt. Er verweist auf die innerste Wesensart einer
Kulturgemeinschaft, zumeist eines “Volkes”. Er ist demnach daran ausgerichtet die Lebensweisen
verschiedener Gruppen in Kontext zueinander zu setzen, ohne sie zu hierarchisieren. Ein solches
Verständnis wurde vor allem von der Anthropologie aufgegriffen und gepflegt.
Auch der deutsche Volkskundler Anton Hilckman weist in seinem Versuch einer Klärung des
Kulturbegriffs auf dem Umstand hin, dass Konzepte wie Kultur oder Zivilisation die Menschheit
nicht von ihrer Wiege an begleiteten, obwohl sie allgemein als eine zentrale Eigenheit des
Menschen angesehen werden: „Die Antike und das Mittelalter kannten sie überhaupt nicht,
obwohl sie zweifellos das, was wir Kultur nennen, besaßen.“ (Hilckman 1963, S. 697) Er datiert
das Aufkommen des Kulturbegriffs auf das Ende des 18. Jahrhunderts und sieht früh die Tendenz
einer missbräuchlichen Verwendung, in der das kultivierte über das nicht-kultivierte gestellt wird
und mit dem Kulturbegriff eine politische Agenda verfolgt wird. Für Hilckman erfüllt Kultur die
Kriterien dessen, was er als menschliches Fundamentalphänomen bezeichnet: „Menschliche
Fundamentalphänomene sind solche Gegebenheiten, die einmal etwas spezifisch Menschliches
sind, als etwas, das den Menschen von allen nicht-menschlichen Lebewesen unterscheidet, die aber
andererseits auch etwas Universal-Menschheitliches sein müßten.“ (ebd., S. 698, Hervorhebung im
Original) Damit steht Kultur für Hilckman in einer Reihe mit Sprache und Religion. Selbst diese
äußerst allgemein gehaltene Verortung kann allerdings nicht ohne eine kritische Anmerkung stehen
bleiben. Zunächst scheint die Trennung zwischen Kultur, Sprache und Religion willkürlich,
beziehungsweise deren Übergänge fließend. Hilckman greift dieser Kritik voraus, in dem er Kultur
als „das Ganze menschlicher Daseinsgestaltung“ und darüber hinaus als „bewußte[…]
menschliche[…] Diesseitsgestaltung“ konzipiert und damit eine scharfe Trennung zur Religion
aufbietet, welche „die Gesamtheit der Bemühungen des Menschen, sich zu einer jenseitigen
Realität in Beziehung zu setzen“ umfasst, auch wenn er eingesteht, dass beide Phänomene – Kultur
und Religion – oftmals die gleichen Wirkungskanäle, etwa Gebräuche und Sitten, bespielen.
Sprache hingegen stellt nach Hilckman eine „unbewußte Schöpfung des Menschen“ dar, mit der
er „auch nicht der Natur formend und gestaltend“ gegenübertritt (vgl. ebd., S. 699).
“Kultur umfaßt hier (a) die regelmäßige und beobachtbare Lebensweise selbst (»Gewohnheiten«,
»Gebräuche«), (b) gleichzeitig die ideellen und normativen Voraussetzungen dieser Handlungen
(»Wissen«, »Glauben«, »Moral«), (c) schließlich die ›künstlichen‹ Produkte und Artefakte, die in

dass Herder (und auf ihm bauend auch Taylor) sehr wohl ausgeprägte normative Elemente mit ihrer Vorstellung der
Kultur verbinden.

42
diesem Zusammenhang hergestellt werden (»Kunst«, »Recht«).” (Reckwitz 2006, S, 74f) Somit wird
grundsätzlich alles vom Menschen erzeugte zu Kultur. Damit werden auch sämtliche materiellen
Sphären wie Technologie oder Produktionsmittel Teil der kulturellen Konfiguration einer
Gemeinschaft18, letztlich werden gar alle gesellschaftlichen Dimensionen in der Kulturbegriff
inkorporiert, so dass Kultur zu einem Synonym für Gesellschaft wird. Folglich existiert Kultur nur
noch als Gegenbegriff erstens der anderen Kultur und zweitens der Natur.
Wie wohl ein solche Kulturverständnis Verfehlungen und implizite Exklusionsmechanismen von
anderen Kulturbegriffen aufzeigen kann, weist es eine Vielzahl operative Schwächen auf. Ein
derart weitläufig angelegter Kulturbegriff führt zwangsläufig zu einer theoretischen Unschärfe und
damit zu unterkomplexen Erklärungsmodellen. Reckwitz, der, wie wir sehen werden, insbesondere
die Agenda verfolgt, den Kulturbegriff handlungstheoretisch fruchtbar zu machen, kritisiert
dementsprechend, dass ein totalitätsorientierter Kulturbegriff “kein systematisches Vokabular zur
Handlungserklärung” liefert (ebd., S. 78)

4.3. Der differenztheoretische Kulturbegriff

Die dritte Art der Verwendung des Begriffes der Kultur, die Reckwitz ausmacht, ist gewissermaßen
eine Hybridvariante der beiden vorgestellten Konzeptionen. Reckwitz charakterisiert ihn als einen
Zugang, der einerseits den Blick auf jene gesellschaftlichen Vorgänge richtet, die auch aus der
Perspektive des normativen Kulturbegriffs deutungswürdig erscheinen (Produktionsfelder
kultureller Objektivationen), andererseits aber die hierarchische Komponente des normativen
Ansatzes tilgt. In den Fokus rücken also jene Tätigkeiten, welche unsere Vorstellungen über die
Welt ausverhandeln. Somit bleibt ein spezifisches gesellschaftliches Feld, “das sich in
institutionalisierter Form auf den Umgang mit Weltdeutungen spezialisiert hat.” (Reckwitz 2006,
S. 79)
Ein solches Kulturverständnis lässt sich besonders anschaulich am Beispiel der Systemtheorie von
Talcott Parsons nachvollziehen. Parsons selbst schreibt:

“There are still some anthropologists and sociologists who do not even consider the distinction
necessary on the ground that all phenomena of human behavior are sociocultural, with both societal
and cultural aspects at the same time. (...) Separating cultural from societal aspects is not a classifying of
concrete and empirically discrete sets of phenomena. They are distinct systems in that they abstract or
select two analytically distinct sets of components from the same concrete phenomena. Statements made
about relationships within a cultural pattern are thus of a different order from those within a system of
societal relationships.” (Kroeber/Parsons 2014, S. 127)

18
Nicht in der Verwendung von Ferdinand Tönnies

43
Kultur ist für Parsons zwar mit anderen gesellschaftlichen Aspekten und Vorgängen verwoben,
bildet aber - und hier erfolgt die Abgrenzung zum totalitätsorientierten Kulturbegriff - ein
eigenständiges System, das auch nur vor dem Hintergrund der ihm eigenen Regeln und
Mechanismen verstanden werden kann. Bei Parsons bildet Kultur eines der vier Subsystem des
sozialen Systems und ist in der Analyse seines AGIL-Schemas für latent pattern maintenance
zuständig.19 D.h. “das Kultursystem stellt mit Weltbild und Wertehorizont die Sinnressourcen
bereit.” (Rosa et al. 2013, S. 166)
Ein differenztheoretischer Kulturbegriff findet sich auch bei Friedrich Tenburck. Dieser hält fest,
dass ein totalitätsorientierter Kulturbegriff zwar zur Beschreibung archaischer Gesellschaften
dienlich ist, aber in der Betrachtung moderner, arbeitsteiliger Gesellschaften zu kurz greift. Er
„umfaßt die ›überschüssigen kulturellen Bedeutungen‹, wie sie von einer Kulturintelligenz kreiert
und verbreitet werden und auf dem Wege der Massenmedien in die Alltagswelten eindringen. Die
Weltdeutungen der modernen Kultur sind nicht das Produkt aller sozialen Gruppen
gleichermaßen, sondern werden arbeitsteilig in Form von Bildungs- und
Weltanschauungsangeboten kultureller ›Experten‹ und ›Expertinnen‹ hervorgebracht.” (Reckwitz
2006, S. 80f)
Reckwitz kritisiert an einem dergestalt konzipierten Kulturbegriff, dass die Reduktion und
Limitation von Kultur auf ein bestimmtes Feld der Sozialtheorie nicht dazu in der Lage sind, die
“symbolischen Bedingungen jedes Handelns” aufzuzeigen (ebd., S. 82). Diesem Einwand muss
allerdings entgegengehalten werden, dass etwa Junge (2009, S. 38) Parsons dahingehend
interpretiert, dass das “kulturelle System die entscheidende steuernde Größe für alle anderen
Teilsysteme des Handlungssystems sind.” So gesehen wäre Kultur kein getrenntes Subsystem, das
unabhängig von den restlichen Teilen des Sozialsystem agiert und umgekehrt diese unbehelligt
lässt, sondern würde gerade dem Anspruch gerecht werden, den Reckwitz erhebt, nämlich Kultur
als leitendes Prinzip der Handlungstheorie zu verankern.

4.4. Der bedeutungs- und wissensorientierte Kulturbegriff

Den Abschluss bildet der bedeutungs- und wissensorientierte Kulturbegriff dem Reckwitz fraglos
inhaltlich am nächsten steht und der von ihm offen protegiert wird. Konzeptionell knüpft er direkt
an die Kritik am differenztheoretischen Kulturbegriff an. Anstatt Kultur als gesellschaftliches
abgegrenztes Subsystem zu begreifen, wird sie als ein Komplex von bedeutungskonstituierender
Sinnsysteme angelegt. Häufig findet sich in diesem Zusammenhang die Formulierung der

19
Für einen tieferen Einblick in die Systemtheorie Parsons siehe Parson (2009) und Rosa et al. (2013, S. 156-177)

44
symbolischen Ordnungen, “mit denen sich die Handelnden ihre Wirklichkeit als bedeutungsvoll
erschaffen und in Form von Wissensordnungen ihr Handeln ermöglichen und einschränken.”
(ebd., S. 84) Kultur wird so zu einer konstitutiven Vorbedingung des Handelns:

“Das entscheidende Merkmal der Kulturwirklichkeit des Menschen – im Unterschied zur tierischen
Lebensweise – ist nun nicht, daß Regeln und Institutionen vorliegen, welche eine soziale Ordnung
sichern und die Instinktarmut kompensieren; als entscheidendes Merkmal erscheint vielmehr, daß der
Mensch in einem »symbolischen Universum« lebt und die Welt nicht anders erfahren kann als dadurch,
daß er ihr – im Unterschied zu den bedeutungslosen Signalen der Tierwelt – fortwährend Bedeutungen
verleiht, er nur in einer »Bedeutungswelt« handeln kann.” (ebd., S. 86)

Die von Reckwitz vorgelegte Typologie zeigt zuerst eine verbreitete Doppelbedeutung des Wortes
Kultur auf: Kultur beschreibt sowohl das Sollende (normative Kulturbegriff) als auch das Seiende
(totalitätsorientierter Kulturbegriff). Im alltäglichen Sprachgebrauch wird hierfür oft der Begriff
der Hochkultur verwendet. In diesem Zusammenhang ist Kultur etwas, das dem Individuum
zunächst äußerlich ist und von diesem in einem oft mühsamen Prozess internalisiert werden kann.
Hier stellt Kultur auch einen innergesellschaftlichen Distinktionsmechanismus dar. Andererseits
dient Kultur häufig, um die Gesamtheit von sozialen Gepflogenheiten zu beschreiben. In diesem
Verständnis dient Kultur ebenfalls vielfach als ein Distinktionsmechanismus, allerdings als
zwischengesellschaftlicher. Er kann dabei sowohl eine integrative Funktion einer sozialen Gruppe
aufweisen (wir) als auch eine exklusive (die anderen).

Wie kann man sich vor diesem Hintergrund dem Konzept von kulturellem Erbe nähern? Der
Term kulturelles Erbe beinhaltet zwangsläufig die Vorstellung, dass es sich bei Kultur um etwas
handeln muss, dass vererbt werden kann. Damit können erste Aussagen getroffen werden, was
Kultur in einem solchen Verständnis nicht sein kann: Kultur ist aus dieser Perspektive keine
gegebene Selbstverständlichkeit, sie stellt keine übergeordnete und unumstößliche Kategorie dar.
Denn ein Erbe muss nicht angenommen werden, es ist fakultativ, mehr noch, das Modell des
Kulturerbes legt nahe, dass es eine aktive Hinwendung einfordert. Wenn das Erbe nicht gepflegt
wird, geht es verloren. Hierbei wird eine eigenartige Ambivalenz deutlich, die nicht so recht in das
Schema von Reckwitz zu passen scheint: Einerseits, wie dargelegt, wird ein konkretes Tun
eingefordert, es ist eine Anrufung an das Subjekt bzw. eine Gemeinschaft eine Kulturform zu
erhalten und zu pflegen. Damit ist es ganz klar auf der Sollens-Ebene zu verorten. Andererseits
hat der Kulturbegriff von ICH ja durchaus das alltägliche und gruppenspezifische vor Augen: Sieht
man sich beispielsweise die Mühlenkultur im Lesachtal zwischen Osttirol und Kärnten an, die auf
der österreichischen UNESCO-Liste des immateriellen Kulturerbes verzeichnet ist, wird klar, dass
hier ein Kulturgut verhandelt wird, das nicht zwangsläufig das erstrebenswerte Ideal einer

45
Gesellschaft markiert. Genauso wenig ist es einem spezifischen Subsystem der Weltdeutung
zuzuordnen, wie es der differenztheoretische Kulturbegriff einfordern würde, noch ist es
Ausdruck der symbolischen Ordnung im Sinne des wissensbasierten Kulturbegriffs. Vielmehr
kommt in dem Kulturgut die Seinsform einer Gesellschaft zum Ausdruck – so wird in den
Interviews deutlich, wie diese Mühlenkultur sämtliche Lebensbereiche der Lesachtaler
Bäuer_innen durchzogen hat (die materielle, die religiöse und die soziale Sphäre) – allerdings nicht
der gegenwärtigen, sondern vergangenen.

Kulturerbe trägt sowohl einen totalitätsorientierten wie auch einen normativen Kulturbegriff in sich. Es fasst das
Selbstverständliche, das nicht mehr selbstverständlich ist. Das Sein der Vergangenheit wird somit zum Sollen der
Gegenwart.

Die grundlegende Typologie reicht folglich nicht aus, um diesem Anspruch gerecht zu werden.
Darum sollen im folgenden Kapitel verschiedene kulturtheoretische Ansätze diskutiert werden.

46
5. Eine hermeneutische Begegnung mit dem
Kulturbegriff
Vor dem Hintergrund der Überlegungen zum impliziten Kulturbegriff von ICH, soll in diesem
Kapitel nun der Versuch gemacht werden, einen Kulturbegriff herauszuarbeiten, der den
Doppelanspruch, sowohl die Seins- wie auch die Sollens-Ebene abzubilden, zu leisten vermag.
Dementsprechend wird im Folgenden die Anstrengung unternommen, den Kulturbegriff von zwei
gegenüberliegenden Endpunkten aus zu denken: Zum einen soll eine Annäherung an eine
Konzeption von Kultur stattfinden, die eben jene Seinsebene des Kulturbegriffs abbildet und
Kultur als Ausdruck der etablierten Sozialmechanismen einer Gesellschaft begreift. Hier dient der
historische Materialismus als Ausgangspunkt und soll um die Perspektive der kritischen Theorie
erweitert werden. Ihr entgegen soll Kultur als Anrufung an das Subjekt wie auch als Ausdruck von
Subjektivität dargestellt werden und der Prozess der Abbildung der normativen Ansprüche einer
Sozialgemeinschaft im Individuum betrachtet werden. Ein solcher Zugang wird im Rahmen der
Arbeit als Subjektorientiertes Forschungsprogramm bezeichnet. Als Grundlage dienen hier die
Texte von Georg Simmel, ergänzt werden diese durch die Überlegungen Charles Taylors, der wie
Simmel Kultur zwar als dem Subjekt äußerlich gesetzt begreift, sie aber dennoch primär als
subjektives Bedürfnis konzipiert.
Es ist in diesem Zusammenhang verführerisch, Theoriefragmente und Zitate zu einem mehr oder
weniger homogenen Komplex zu arrangieren, so dass die Argumentation zum einen zwingend
und zum anderen auf einem breiten Konsens ruhend erscheint. (Reckwitz (2012) etwa ist einen
solchen Weg gegangen, der aus den Arbeiten von Geertz, Taylor und Foucault die Praxistheorie
als logische Notwendigkeit extrahiert. Hier geht es aber genau nicht darum, die Kongruenz der
soziologischen Kulturtheorie hervorzuheben, sondern im Gegensatz die unterschiedlichen
Facetten zu beleuchten, um so diesem Doppelanspruch gerecht werden zu können.
Dementsprechend wird versucht werden, ein vollumfängliches Bild der beiden Zugänge
anzubieten, das über die Aspekte, die ICH direkt tangieren hinausgeht, um ein grundlegendes
Verständnis für die unterschiedliche Beurteilung des Sachverhalts verständlich zu machen.

5.1. Karl Marx und der Ausgangspunkt materialistischer Kulturtheorien


Es ist bezeichnend, dass aktuelle Publikationen, die darum bemüht sind, einen Überblick über die
verschiedenen Denkschulen und Ansätze der Kultursoziologie und Kulturtheorie im allgemeinen
zu geben, Karl Marx meist komplett aussparen oder ihn nur in eine Randnotiz erwähnen (Vgl.

47
etwa Moebius 2009, Junge 2009). Etwas begreiflicher wird dieser Sachverhalt eventuell, wenn man
das Werkverzeichnis der Marx-Engels-Werke zur Hand nimmt. Auf 918 Seiten findet sich kein
einziger Eintrag zu Kultur, Kultur ist schlicht kein Teil der marxistischen Terminologie.
Nichtsdestotrotz sind die Ausführungen und Überlegungen Marx ein fundamentaler Baustein in
vieler Theorien und Ansätze, so dass ein Blick auf das marxistische Kulturkonzept fruchtbar
scheint, auch wenn dieses nur indirekt rekonstruiert werden kann.
Eine frühe Auseinandersetzung mit dem Kulturbegriff, die dem orthodoxen Marxismus
zuzurechnen ist, findet sich beim italienischen Philosophen und Marxisten Antonio Gramsci in
einem 1916 vorgelegten Aufsatz Kultur und Sozialismus. Gramsci wendet sich hier gegen den
dominierenden Kulturbegriff seiner Zeit:

„Wir müssen uns abgewöhnen und aufhören, die Kultur als enzyklopädisches Wissen zu verstehen,
wobei der Mensch nur als ein Gefäß gesehen wird, das mit empirischen Daten angefüllt und
vollgepfropft werden muß, mit nackten und zusammenhangslosen Fakten, die er dann in seinem Gehirn
wie in den Abschnitten eines Wörterbuchs rubrizieren muß, um schließlich bei jeder Gelegenheit auf
die verschiedenen Anforderungen, die die äußere Welt an ihn stellt, antworten zu können“ (Gramsci
1991, S. 25f)

Vielmehr gilt es nach Gramsci einen Grundgedanken Novalis aufzugreifen, wonach es dem oder
der Einzelnen nur möglich ist andere zu (er-)kennen, wenn es ihm oder ihr gelungen ist, sich zuvor
selbst erkannt zu haben. Darauf aufbauend möchte Gramsci einen anderen Kulturbegriff
durchsetzen: „Wirkliche Kultur ist etwas völlig anderes. Kultur ist Organisation, Disziplinierung
des eigenen inneren Ichs, Inbesitznahme der eigenen Persönlichkeit und die Erlangung eines
höheren Bewußtseins, mit dem man dazu kommt, den eigenen historischen Wert zu verstehen, die
eigene Funktion im Leben, die eigenen Rechte und Pflichten.“ (ebd, S. 26) Kultur ist demnach
zuerst das Erkennen der individuellen Einbettung in die konkreten historischen Verhältnisse mit
besonderem Augenmerk auf die Produktionsverhältnisse. Dabei wächst dieses Bewusstsein über
das Individuum hinaus – so die Annahme Gramscis –, so dass es letztlich eine ganze Klasse
umfasst. Kultur ist somit eine politische Kategorie, welche die notwendige Voraussetzung
gesellschaftlicher Umgestaltungsprozesse darstellt. Gramsci spricht hier von einer „kulturellen
Imprägnierung“, im Falle der französischen Revolution etwa war dies die Aufklärung (vgl. ebd., S.
27). Im Zeitalter des Kapitalismus leistet demnach der Marxismus einen essentiellen Beitrag, in
dem er die Funktionsweise der Produktionsverhältnisse aufzeigt und somit das Herausbilden eines
Bewusstseins um die Verflechtung des Selbst in die historischen Verhältnisse ermöglicht. „Durch
die Kritik der kapitalistischen Zivilisation hat sich das einheitliche Bewußtsein des Proletariats
herausgebildet oder es ist dabei, sich herauszubilden. Und Kritik will heißen Kultur, nicht alleine

48
spontane und naturalistische Evolution. Kritik, das ist genau jenes Bewußtsein vom Ich, das
Novalis zum Ziel der Kultur erklärt hat. (sic!)“ (ebd., S. 28)
Gramsci hat sich nicht die Mühe gemacht seinen Kulturbegriff systematisch von dem Begriff der
Ideologie zu differenzieren, der in seinem späteren Werk von zentraler Bedeutung ist. Ideologie
ist dabei gewissermaßen mit einer Doppelbedeutung belegt. „Es ist erforderlich, zwischen
Ideologien zu unterscheiden, die historisch organisch gewachsen sind, die einer bestimmten Basis
notwendigerweise angehören und willkürlichen, rationalistischen „gewollten“ Ideologien.“ (ebd.,
S. 94f.) Willkürliche Ideologien sind dabei individuelle Auswüchse, die sich aber zeitnah
verflüchtigen und höchstens als widerlegter Irrtum erhalten bleiben. Demgegenüber sind
Ideologien, die Ausdruck der konkreten Verhältnisse sind, in der Lage, gestaltend in der Welt zu
intervenieren. Sie ermächtigen Menschen sich zu organisieren und stehen somit in direktem
Zusammenhang zum oben skizzierten Ideal der Kultur, in dem sie Individuen dazu befähigen, sich
in ihrer Einbindung in die Bedingungen ihrer Existenz zu reflektieren. Ideologien liegen somit
nahe bei kulturellen Imprägnierungen, die in Gramscis Denken den unausweichlichen
revolutionären Perioden vorausgehen. All dies wird verständlich vor dem Hintergrund des
realpolitischen Gestaltungsanspruchs der marxistischen Theorie. Diese Überlegungen zum
Verhältnis der Bedingungen der materiellen Reproduktion und den gesellschaftspolitischen
Vorstellungen inklusive der daraus resultierenden Rahmenbedingungen, bringt uns zu einem
zentralen Konzept der marxistischen Theorie und zum Schlüssel zu Konzeption von Kultur im
orthodoxen Marxismus: Dem Basis-Überbau-Theorem.

Das Basis-Überbau-Theorem
Das Sein bestimmt das Bewusstsein, lautet ein häufig bemühter Aphorismus aus dem Werk von Karl
Marx. Dabei handelt es sich eigentlich um ein gekürztes (und leicht verfälschtes) Zitat, in dem
Marx den Grundgedanken seiner Abhandlung Zur Kritik der politischen Ökonomie von 1859 zum
Ausdruck bringt:

„In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von
ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten
Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser
Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich
ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche
Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen,
politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr
Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.“ (Marx 1974, S.9)

49
Die zentrale Idee ist demnach, dass sich die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht unabhängig von
den ökonomischen Prozessen, d.h. zunächst der materiellen Rahmenbedingungen, denken lassen,
sondern vielmehr ein Ausdruck eben jener sind. Kultur, wie sie Gramsci denkt, ist dabei zwar nicht
ein Synonym für den Überbau, aber zumindest ein Teil desselben. Legt man eine weitläufige
Konzeption des Kulturbegriffs an, so fasst Kultur eine Vielzahl von Phänomenen, die von Marx
dem Überbau zugerechnet werden und ist folglich zu jedem historischen Zeitpunkt Ausdruck der
der Gesellschaft zugrundeliegenden materiellen Strukturen. Konkret heißt das, dass die sozialen
Organisationsformen, die wir landläufig unter Kultur subsumieren, also die geistigen Erzeugnisse,
die intersubjektiven Gepflogenheiten, die impliziten und expliziten Regelwerke sozialer Interaktion
sowie die dominanten Interpretationsmuster über gesellschaftliche Zusammenhänge und die Welt
im Allgemeinen, in der kapitalistischen Moderne stets auch geprägt sind von der kapitalistischen
Produktionslogik, auf der die Epoche fußt. Mehr noch, nach einer starken Lesart von Marx Zitat
könnte man gar von einer Determination sprechen, so dass die Kultur der kapitalistischen
Gegenwartsgesellschaft auch stets eine kapitalistische Kultur sein muss. Zumindest zwei Einwände
können an dieser Stelle vorgebracht werden, um der oftmals dominanten, unilinearen
Interpretation des Marx’schen Basis-Überbau-Theorem entgegenzutreten. Einer findet sich bei
Gramsci, der festhält, dass das Verhältnis von Basis und Überbau komplexer ist, als es in der
Rezeption meist scheint. Er führt als Veranschaulichungsbeispiel technische Instrumente und
Apparaturen an, die nicht einer Sphäre klar zugeordnet werden können und sowohl Teil der
gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse wie ihrer ideologischen Konfiguration sind,
beispielsweise der Wissenschaft. Gramsci spricht hier von materieller Basis mit Überbaucharakter
(vgl. Gramsci 1991, S. 98). Dies verdeutlicht, dass das Verhältnis von Basis und Überbau
komplexer ist, als dies ein linearer Determinismus abbilden würde. Eine noch deutlichere
Formulierung findet sich bei Friedrich Engels. Dieser hält in einem Brief fest: „Daß von den
Jüngeren zuweilen mehr Gewicht auf die ökonomische Seite gelegt wird, als ihr zukommt, haben
Marx und ich teilweise verschulden müssen. Wir hatten den Gegnern gegenüber das von diesen
geleugnete Hauptprinzip zu betonen, und da war nicht immer Zeit und Gelegenheit, die übrigen
an der Wechselwirkung beteiligten Momente zu ihrem Rechte kommen zu lassen.“ (zit. in Fetscher
1983, S. 121)
Eine genaue Vermessung der Wechselwirkungen zwischen Basis und Überbau im Denken Marx
sei an dieser Stelle getrost der Philosophiegeschichte überlassen. Von Bedeutung für die weitere
Sondierung des Kulturbegriffs sind allerdings folgende Kerngedanken, die ihr durchgeschlagen
haben. Erstens, Kultur ist keine willkürliche und freischwebende Entität, sondern verwurzelt in
den Bedingungen der menschlichen Reproduktion. Gerade bei den im Rahmen dieser Arbeit

50
verhandelten Beispiele scheint dies sehr plausibel: Ob die Kultivierung einer Getreidesorte wie im
Fall der Fisser Gerste, den Lesachtaler Mühlen oder dem Destillieren von Enizanwurzeln in Galtür
– diese Phänomene als Kulturgut zu beschreiben, heißt zuallererst Prozesse der menschlichen
Reproduktion, der Ernährung, als Kultur zu begreifen. Auch wenn ihr Entstehungskontext kein
kapitalistischer ist, wie Gramsci und Marx bei ihren Ausführungen primär vor Augen hatten,
sondern der der Subsistenzwirtschaft, bleibt die Einsicht, dass sie weder gottgegeben, noch ein
historisches Zufallsprodukt und auch kein Ausdruck singulärer Willkür sind, sondern sich nahe an
den Anforderungen der materiellen Reproduktion herausgebildet haben: Ein Getreide, das in
steilen Hanglagen bestehen kann; der Notwendigkeit Getreide in einem abgeschnittenen Gelände
vor Ort zu verarbeiten; das Bestreben, selbst auf 2000 Metern Seehöhe dem Berg noch Ressourcen
abzuringen und diese nutzbar zu machen. Zweitens eröffnet eine solche Perspektive einen Blick
auf die historische Dimension von Kultur. Sozialer Wandel, wenn auch eruptiv konzipiert, ist ein
essentieller Bestandteil der materialistischen Kulturtheorie. Kulturerbe kann hier als Brücke zu
einer vergangenen Gesellschaftsformation dienen, in dem es in einer symbolischen Form erhält,
was einst Ausdruck der materiellen Grundlage einer sozialen Gemeinschaft war.

5.2. Die Rolle der Kultur in der Kritischen Theorie


Dem Versuch den Kulturbegriff der Kritischen Theorie zu erörtern, muss zunächst eine
Eingrenzung dessen vorangehen, was unter Kritischer Theorie verstanden wird. Grob lassen sich
drei Generationen innerhalb der Kritischen Theorie ausmachen: Die erste Schaffensperiode
umfasst im Wesentlichen die Arbeiten von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, aber auch
andere Sozialphilosophen wie Herbert Marcuse und Walter Benjamin, welche am 1924
gegründeten Institut für Sozialforschung in Frankfurt tätig waren, bis sie vor der NS-Diktatur in
die USA flohen. Die zweite Generation der Kritischen Theorie war bestimmt von Jürgen
Habermas Theorie des kommunikativen Handelns. Habermas war darum bemüht, mit seinen
Ausführungen Einzug in den öffentlichen Diskurs der neugegründeten Bundesrepublik
Deutschland zu halten und distanzierte sich deutlicher als Adorno und Horkheimer von Marx und
den revolutionären Ansprüchen des orthodoxen Marxismus. Als Protagonist_innen der dritten
Phase können schließlich Axel Honneth und Nancy Fraser betrachtet werden.20

20 Ob diese dritte Generation noch der Kritischen Theorie zuzurechnen sei, ist Gegenstand fortwährender
Diskussionen, denn zumindest bei Honneth und seiner Theorie der Anerkennung treten die Einflüsse der kapitalistischen
Wirtschaftsordnung auf die sozialen Prozesse, und damit ein zentrales Wesensmerkmal der Kritischen Theorie,
zusehends in den Hintergrund.

51
Im Folgenden soll nun vor allem den Ausführungen der ersten Generation um Horkheimer und
Adorno, der so genannten Frankfurter Schule, die Aufmerksamkeit gewidmet werden. Hierfür sind
insbesondere zwei Texte von zentraler Bedeutung: Zum einen der von Horkheimer 1937 verfasste
Aufsatz Traditionelle und kritische Theorie, der gewissermaßen das Grundsatzprogramm der ersten
Schaffensperiode darstellt und zum anderen der von Horkheimer und Adorno gemeinsam
verfasste Text Kulturindustrie, welcher als Kapitel in der Dialektik der Aufklärung 1944 im
amerikanischen Exil entstand.
Die von Horkheimer entworfene Kritische Theorie ist als Einspruch gegen das damals
vorherrschende Wissenschaftsverständnis, das innerhalb der Sozialwissenschaften hauptsächlich
mit dem Weberschen Konzept von Objektivität und seinem Postulat der Wertfreiheit ausformuliert
war, zu verstehen. Auch wenn es nicht sinnvoll wäre, sich an dieser Stelle in epistemologischen
Details zu verlieren oder die Arbeit mit ausufernden Exkursen zu füttern, scheint ein kurzer Blick
auf die Theorie Max Webers im Sinne der Kontextualisierung hilfreich. Im Kern zielen Webers
Ausführungen darauf ab, dass „politische und weltanschauliche Positionen, d.h. Sollensurteile,
logisch nicht aus wissenschaftlichen Untersuchungen abgeleitet werden können.“ (Rosa et al. 2013,
S. 57). Oder, in der prägnanten Sprache Webers ausgedrückt: „Politik gehört nicht in den Hörsaal.“
(Weber 2002, S. 496) Denn für ihn steht es außer Frage, dass die Wissenschaft nicht in der Lage
ist, zu den letzten Problemen (das wahre Sein, der wahre Gott etc.) vorzudringen und dies nicht einer
unscharfen Methodik geschuldet ist, sondern der simplen Einsicht, dass es auf die Frage, was wir
tun sollen, keine allgemeingültige Antwort gibt (vgl. ebd., S. 507). Folglich muss sich jede
Betrachtung sozialer Fragen zuerst auf die Unterscheidung zwischen Zweck und Mittel besinnen
(vgl. Weber 1973a, S. 149). Die Zwecke sind für Weber gleichrangig und lassen sich analytisch nicht
in eine hierarchische Struktur überführen (vgl. ebd., S.154). Ist diese Trennung jedoch akzeptiert,
vermag die Wissenschaft die für einen gewählten Zweck notwendigen Mittel herauszuarbeiten
(Weber 1973b, S. 508), sie kann „unvermeidliche[.] Nebenfolgen“ aufzeigen (ebd., S. 508) und sie
kann die Inkongruenzen verschiedener Wertaxiome aufschlüsseln, denn: „(…) alles Handeln, und
natürlich auch (…) das Nicht-Handeln [bedeutet] in seinen Konsequenzen eine Parteinahme
zugunsten bestimmter Werte, und damit (…) gegen andere.“ (Weber 1973a, S. 150)
Horkheimer greift nun unmittelbar die Überlegungen Webers auf, wenn er an seinem Denken
kritisiert: „Eine Arbeitsteilung tut sich auf zwischen den Menschen, die in den gesellschaftlichen
Kämpfen auf den Gang der Geschichte einwirken und dem soziologischen Diagnostiker, der ihnen
einen Standort zuweist.“ (Horkheimer 1988, S. 196) Diesem Verständnis nach wird Theorie dem
mathematischen Ideal folgend als ein Set an ableitbaren Sätzen begriffen, welcher von universaler
Gültigkeit seien. Erst im Anschluss werden die Sätze mittels Hypothesen an die Realität

52
herangetragen und an ihr gemessen. Horkheimer verwehrt sich gegen eine solche
Herangehensweise und will letztlich nicht weniger, als die Theorie-Praxis-Dichotomie neu zu
ordnen. Wenn Weber verlangt, dass eine theoretische Erklärung sich nicht in einer “möglichst
vollständigen Aufzählung aller beteiligten Umstände” erschöpfen dürfen, sondern vielmehr
“determinierende Vorgänge”, also kausale Wirkmechanismen aufzeigen müsse (ebd., S. 168), lässt
sich dieser Anspruch dem Einwand Horkheimers zufolge allerdings nicht von der jeweiligen
Aufgabenstellung abstrahieren. “Was die Wissenschaftler auf den verschiedenen Gebieten somit
als das Wesen der Theorie ansehen, entspricht in der Tat ihrer unmittelbaren Aufgabe.” (ebd., S.
168) Damit wird das zentrale Wesensmerkmal der Kritischen Theorie deutlich: Theorie entsteht
demnach nicht im luftleeren Raum, sondern trägt ihre Entstehungsgeschichte und ihre materiell-
realen Bedingungen als immanenten Teil in sich. Sie kann nicht losgelöst von der Praxis betrachtet
werden. “Soweit der Begriff der Theorie jedoch verselbstständigt wird, als ob er etwa aus dem
inneren Wesen der Erkenntnis oder sonst wie unhistorisch zu begründen sei, verwandelt er sich in
eine verdinglichte, ideologische Kategorie.” (ebd., S. 168) Übertragen auf die hier vorliegende
Fragestellung lässt sich demnach schlussfolgern, dass jegliche Konzeption von Kultur nicht frei ist
von den kulturellen Rahmenbedingungen innerhalb derer die theoretische Ausformulierung
stattfindet. Die Ursprünge für dieses falsche Verständnis einer über den Begebenheiten
schwebenden Theorie entspringen für Horkheimer direkt des inneren Widerspruchs der
bürgerlich-kapitalistischen Produktionsweise, welche dem/der Wissenschaftler_in den
“Dualismus von Denken und Sein, Verstand und Wahrnehmung” (ebd., S. 170) als natürlich
erscheinen lässt. Die Sozialwissenschaften stehen hier vor einer doppelten Herausforderung, denn
nicht nur die Beobachter_in ist hier ein historisches Produkt, das unauflöslich in
Reproduktionsprozesse eingegliedert ist, auch sein Gegenstand ist Resultat seiner Geschichte.
Horkheimer nennt soziale Tatsachen deshalb “in doppelter Weise gesellschaftlich präformiert:
durch den geschichtlichen Charakter des wahrgenommenen Gegenstands und den geschichtlichen
Charakter des wahrnehmenden Organs.” (ebd., S. 174) Durch die Replikation des inneren
Widerspruchs der spätkapitalistischen Gesellschaft in der sozialwissenschaftlichen Betrachtung
ergibt sich für Horkheimer eine Dichotomie zwischen Aktivität und Passivität, entweder wird das
Soziale vom Individuum aus gedacht (wie das etwa bei Max Weber der Fall ist) und scheint
demnach als zufälliges Nebenprodukt, oder das Soziale wird von einer absoluten Gesellschaft
abgeleitet, welche Handlungen und Interaktionen determiniert (wie es zumindest in der
Zuschreibung bei Emile Durkheim zu finden ist). Dieser cartesianische Dualismus reproduziert sich
im spätkapitalistischen Subjekt in Form eines falschen Selbstbewusstseins, dass sich zum einen, vor
dem Hintergrund des kapitalistischen Warenaustausches, frei wähnt, ohne die gesellschaftlichen

53
Zwänge zu erkennen, in die es eingebunden ist und zum anderen die Gesellschaft als etwas
totalitäres erfährt, dem es passiv und ohnmächtig ausgesetzt ist und sich seiner Wirkungssphäre
entzieht. Die Kritische Theorie will nun die Trennung von Gesellschaft und Individuum, “die
natürlichen Schranken (der) Aktivität”, überwinden (ebd., S. 181). Es geht nicht darum, das
Individuum von der Gesellschaft abzuleiten oder umgekehrt, sondern das Verhältnis als eine
dynamische Interdependenz zu begreifen. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen fordert
Horkheimer, dass die Wissenschaft stets der sachlichen Notwendigkeit folgen muss, die inneren
Widersprüche der Gesellschaft zu überwinden. Damit wird die Nähe zu Marx offenkundig, der in
seinen berühmten Feuerbachthesen formuliert hat: “Die Philosophen haben die Welt nur
verschieden interpretiert, es kömmt darauf an, sie zu verändern. (sic!)” (Marx 1983, S. 535) Auch die
Kritische Theorie sieht es als ihre zentrale Aufgabe an, die Widersprüchlichkeit der kapitalistischen
Gesellschaft aufzuzeigen und zu überwinden. Für die Wissenschaft lassen sich aber keine allgemein
gültigen Verfahren ausmachen: “Allgemeine Kriterien für die kritische Theorie als Ganzes gibt es
nicht; denn sie beruhen immer auf der Wiederholung von Ereignissen und damit auf einer sich
selbst reproduzierten Totalität.” (Horkheimer 1988, S. 197) Zusammenfassend kann man die
Kerngedanken der Kritischen Theorie wie folgt fassen: Die Kritische Theorie fordert eine
“Theorieperspektive ein, die die beobachtbaren sozialen Tatbestände nicht als »Wirklichkeit«,
sondern als historisch entwickelt und in einem gesellschaftlichen Zusammenhang stehend
betrachtet.” (Moebius 2009, S.46)
Vor dem Hintergrund des Befundes der inneren Zerrissenheit der Gegenwartsgesellschaft ist auch
die Kulturanalyse von Horkheimer und Adorno zu lesen, für die Kultur den Prämissen der
Kritischen Theorie folgend keine überzeitliche Entität ist, sondern nur in ihrer konkret-
historischen Ausgestaltung begriffen werden kann. Die Kulturindustrie ist dabei nicht nur ein
Kapitel in der Dialektik der Aufklärung, sie ist auch sinnbildlich für diese. Für Adorno und
Horkheimer stellt sich die Ausgangsfrage, “warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft
menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art der Barbarei versinkt.” (Horkheimer/Adorno
2010, S. 1) Für sie besteht die Antwort darin, dass die Aufklärung, die zwar für eine freie
Gesellschaft unabdingbar ist, mit dem Triumph der instrumentellen Vernunft und den Siegeszug
über die vormals animistische Natur, aber zugleich bereits den Keim ihrer Negation in sich trägt.
Als Veranschaulichung dieser Dialektik dient Odysseus, “der sich gegen die mythischen Mächte
nur um den Preis der innerlichen Entsagung, des Opfers und der Verhärtung behauptet.” (Moebius
2010, S. 47) Diese Dialektik zeigt sich auch in der konkret-historischen Ausgestaltung der
spätkapitalistischen Institutionen, denn zum einen schafft die vom technischen Fortschritt
getragene steigende Produktivität neue Freiheitsräume, zum anderen bildet sich aber ein neues

54
Herrschaftssystem derjenigen heraus, die über die Produktionsmittel verfügen. “Nimmt die
Aufklärung die Reflexion auf dieses rückläufige Moment nicht in sich auf, so besiegelt sie ihr
eigenes Schicksal.” (Horkheimer/Adorno 2010, S. 3)
Im Text Kulturindustrie, sezieren Horkheimer und Adorno den Stellenwert und das Wirken der
Kultur im Spätkapitalismus, die zu einer paradoxen Ware verkommt: “Sie steht so völlig unterm
Tauschgeschäft, daß sie nicht mehr getauscht wird; sie geht so blind in dem Gebrauch auf, daß
man sie nicht mehr gebrauchen kann.” (ebd., S. 170) Dieser kryptische Befund verlangt ohne Frage
nach weiterer Elaboration: Eine zugänglichere Interpretation dieses Grundgedankens findet sich
bei Konstantionos Rantis (2018, S.92): “Die Besonderheit der Kulturindustrie liegt u.a. darin, dass
sie nicht einfach Waren, sondern von einem tiefen Widerspruch geprägte Kulturwaren
produziert.” Kunstwaren müssen demnach einerseits die Autonomie des Kunstwerks darstellen,
andererseits haben sie nicht nur einen Gebrauchswert, sondern auch einen Mehrwert. Sie sind also
Teil der kapitalistischen Produktionslogik und im Gegensatz zum Werk des vormaligen liberalen
Zeitalters, welches Horkheimer und Adorno stets als Kontrastpunkt bemühen, nicht nur auf eine
gewisse Rücksichtnahme auf die Notwendigkeiten seiner materiellen Einbindung bedacht, sie
konstituieren vielmehr ihre innersten Wesenszüge anhand der Logik ihrer Reproduktion: “Kultur
schlägt heute alles mit Ähnlichkeit.” (Horkheimer/Adorno 2010, S.128) Im Gegensatz zur
bürgerlichen Kunst des Liberalismus, die einen emanzipatorischen Kern in sich trägt und welche
die in ihr hervorgebrachte Harmonie erringen muss, sind die Produkte der Kulturindustrie eine
beliebige inhaltslose Aneinanderreihung fertiger Klischees, die “denkende Aktivitäten des
Betrachters geradezu verbieten” (ebd., S. 134). Sie ist damit Ausdruck der bereits im oben
besprochenen Grundlagenprogramm der Kritischen Theorie von Horkheimer umrissenen
“falsche[n] Identität von Allgemeinem und Besonderem” (ebd., S. 128). Dabei wird die
Durchschnittlichkeit heroisiert, das Besondere hingegen beschränkt sich auf einen Akzent oder
eine eigenwillige Frisur, mit denen die Darsteller_innen den ewig gleichen Rollen eine
Pseudoindividualität einhauchen. Die vorstrukturierte Aneinanderreihung der stets gleichen
Elemente lässt auch keine Weiterentwicklung zu und die “vorweg garantierte Harmonie verhöhnt
die errungene des großen bürgerlichen Kunstwerks.” (ebd., S. 134) Die Auflösung ist hier kein
dem Werk immanenten Entwicklungsprozess mehr, sondern bereits in den Ausgangspunkten für
alle ersichtlich offengelegt, so dass jede Tragik ins Banale driftet. Jedoch: “Die Liquidation der
Tragik bestätigt die Abschaffung des Individuums.” (ebd., S. 163) Denn in der Gleichsetzung des
Besonderen mit dem Allgemeinen, ohne jede Gefahr eines Bruchs, wiegt sich die Betrachter_in in
eine naturgegebenen Besonderheit, nur um letztlich ihrer Beliebigkeit und damit Ersetzbarkeit in
der spätkapitalistischen Produktionslogik übergeben zu werden. Die Kulturindustrie erfüllt damit

55
einen bestimmten Zweck, in dem sie der Betrachter_in ihre innere Zerrissenheit als Produzent_in
und Konsument_in, zwischen Arbeit und Vergnügen als unhinterfragbar darstellen. Diese
Disziplinierung findet sich demnach in dem vorgefertigten Formenschema der kulturindustriellen
Waren: “Donald Duck in den Cartoons wie die Unglücklichen in der Realität erhalten ihre Prügel,
damit die Zuschauer sich an die eigenen gewöhnen.” (ebd., S. 147) Dabei geht es Horkheimer und
Adorno nicht darum, Kultur als Form der Zerstreuung zu verdammen, wie ihnen vielfach
unterstellt wird, vielmehr ist es die Zusammenführung von Kunst und Zerstreuung, welche die
Kunst entleert und die Hinwendung zur Zerstreuung zu einem Prozess der konstanten
Disziplinierung verkommen lässt. Auch geht es ihnen nicht darum, eine Ode an die reine Kunst
des bürgerlichen Zeitalters zu verfassen, über deren dialektischen Charakter sie sich keine
Illusionen zugestehen: “Die Reinheit der bürgerlichen Kunst, die sich als Reich der Freiheit im
Gegensatz zur materiellen Praxis hypostasierte, war von Anbeginn mit dem Ausschluß der
Unterklasse erkauft (...). Ernste Kunst hat jenen sich verweigert, denen Not und Druck des Daseins
den Ernst zum Hohn macht und die froh sein müssen, wenn sie die Zeit, die sie nicht am Triebrad
stehen, dazu benutzen können, sich treiben zu lassen.” (ebd., S. 143) Die Dialektik der
Kulturindustrie besteht folglich darin, dass ihre innere Zerrissenheit gerade daraus resultiert, dass
sie sich widerspruchslos gebart und das widerspruchsvolle Prinzip der Individualität verschleiert
(vgl. ebd., S. 164)
Der Term der Kulturindustrie ist dabei sehr bewusst gewählt. In ihren ersten Entwürfen
verwendeten Horkheimer und Adorno noch den Begriff Massenkultur, wie Adorno später
vermerkte. Davon rückten sie allerdings ab, um eine Deutung auszuschließen, die “den Anwälten
der Sache” nur allzu lieb wäre: “daß es sich um etwas wie spontan aus den Massen selbst
aufsteigende Kultur handle, um die gegenwärtige Gestalt von Volkskunst.” (Adorno 1997, S. 337)
Dieses Bild könnte der Kulturindustrie nicht fremder sein. Denn Kulturindustrie hat nach ihrer
Konzeption einen klar intentionalen Charakter: “Kulturindustrie ist willentliche Integration ihrer
Abnehmer von oben.” (ebd., S. 337) Der Begriff soll allerdings noch mehr zum Ausdruck bringen:
“Den Begriff der Kulturindustrie prägt ein inhärenter Widerspruch. Einerseits bezieht sich Kultur
der marxistischen Tradition zufolge auf den Überbau der Gesellschaft, andererseits verweist der
zweite Teil des Kompositums auf deren Unterbau und auf die Produktionssphäre.” (Rantis 2018,
S. 90) Es geht dabei nicht darum, die Kultur als Anhängsel der Industrie zu portraitieren, obwohl
sie im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit (Walter Benjamin) auf die Einbindung in die
Sphäre der industriellen Fertigung angewiesen ist. So weisen Horkheimer und Adorno darauf hin,
dass die Entstehung von Filmen stets vom Gutdünken der finanzierenden Banken abhängig ist
(vgl. Horkheimer/Adorno 2010, S. 130f.) Es geht vielmehr darum aufzuzeigen, dass sich die Logik

56
der Industrie in der Kultur rezipiert. “Zur allgemeinen Struktur der Kulturindustrie gehören die
Standardisiertheit, Monotonie und der Warencharakter der Kultur.” (Moebius 2010, S. 49) Die
Inhaltsleere der Kultur ist somit auch die Inhaltsleere der spätkapitalistischen Gesellschaft.

5.3. Ein materialistischer Kulturbegriff


Welche Einsichten lassen sich nun aus den Überlegungen der Kritischen Theorie zur Kultur
gewinnen? Wie lässt sich vor diesem Hintergrund so etwas wie ein materialistischer Kulturbegriff
formulieren? Bei der Lektüre von Marx sowie Adorno und Horkheimer wird schnell deutlich, dass
ihre Überlegungen nur schwerlich in den von Reckwitz zur Verfügung gestellten Rahmen passen.
Ihre Überlegungen können weder dem normativen, dem totalitätsorientierten, dem
differenztheoretischen, noch dem bedeutungsorientierten Kulturbegriff zugeordnet werden. Der
augenscheinliche Pessimismus der Kritischen Theorie verdeutlicht zunächst, dass Kultur
keineswegs als zu jedem Zeitpunkt gelungen anzusehen ist. Kultur als Ausdruck der
gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse bildet im gleichen Maße ihre Widersprüchlichkeiten
und Konfliktlinien ab. Was wie eine Banalität anmutet, in der Diskussion um Kulturerbe aber
gerne aus dem Blick gerät, findet hier eine argumentative Grundlage: Kultur ist nicht genuin
positiv, nicht die Tatsache, dass eine Tätigkeit, ein Artefakt, eine symbolische Ordnung oder eine
soziale Konvention dem Feld der Kultur zugerechnet werden kann, legitimiert ihr kritikloses
Fortbestehen. Die Kultur einer Gesellschaft ist zwangsläufig Spiegelbild ihrer Machtverhältnisse
und reproduziert diese vollumfänglich. Die zweite Erkenntnis aus den Überlegungen von
Horkheimer und Adorno, die für den Komplex des Kulturerbes relevant sind, verbleibt näher an
der Problematik ihrer Ausführungen: Der unabwendbaren Ökonomisierungen sämtlicher sozialer
Phänomene in der kapitalistischen Gesellschaft. Wie bereits dargelegt bedeutet die Überführung
eines kulturellen Randphänomens zu einem kodifizierten ICH das Überheben einer vergangenen
Gesellschaftsordnung in die Gegenwartsgesellschaft (von Interesse für den Mechanismus der
Heritifcation wird erst, was im realen oder vermeintlichen Kontrast zu den aktuellen Bedingungen
steht). Dieses Überführen in die Ansprüche der zeitgenössischen Gesellschaftsformation
beinhaltet nun zwangsläufig die Anforderung, dass sich Kulturerbe den ökonomischen (und damit
den kapitalistischen) Wirkmechanismen einordnet. Wieder und wieder ist in der Debatte um ICH
festgehalten, dass Nachhaltigkeit – als Grundlage einer lebendigen Kulturpraktik – auch die
ökonomische Nachhaltigkeit, sprich Wirtschaftlichkeit inkludiert. Denn ein Phänomen, das
wirtschaftlich nicht bestehen kann, kann als Ganzes nicht bestehen. In der einfachsten Form
funktioniert die geforderte ökonomische Nachhaltigkeit durch Tourismus, bei dem
Besucher_innen durch Performances, Festivals oder Museen, Verkauf von Text- und

57
Bilddokumenten oder Führungen und Workshops mit dem jeweiligen Kulturgut vertraut gemacht
werden. Gerade in Fällen, in denen die kulturellen Traditionen von jeher (auch) einen
ökonomischen Anspruch hatten, etwa bei der Herstellung von Marktgütern in Form von
Lebensmitteln, scheint das Risiko einer “Überkommerzialisierung” besonders greifbar. Das Risiko
dazu ist etwa im Falle der Fisser Gerste, wie folgende Interviewpassage mit einem
Verantwortlichen bei Zillertal Bier nahelegt:21 „weil wir uns schon, da ham ma jetzt viel energie die letzten
viereinhalb jahre hineingesteckt, über diese fisser imperialgerste eine alleinstellung als rohstoff erarbeiten wollen. wir
machen ja des nicht nur als, als lust, die ham wir auch, weil für spannende sachen, und tollerei, sondern auch um
für uns ein alleinstellungsmerkmal herauszuarbeiten.“
Aus den fatalistischen Augen der Kritischen Theorie bedeutet diese Transformation zwangsläufig
ihre Zersetzung, von der im besten Fall eine leere Hülle zurückbleibt, eine sinnentleerte Praktik,
die einzig um den kapitalistischen Anspruchs des Mehrwerts arrangiert ist. Auch ohne diese
resignative Analyse zu übernehmen, sollten die Gefahren einer ökonomischen Ausbeutung von
kulturellem Erbe ernst genommen werden. Dies geschieht dort, wo ICH zu einem reinen
Marketinginstrument verkommt, das auf einen Wettbewerbsvorteil abzielt.

Kultur lässt sich aus einer materialistischen Perspektive als ein Komplex von sozialen Wirkmechanismen begreifen,
die Ausdruck der materiellen Reproduktionsbedingungen einer Gesellschaft sind - sich aber nicht darauf beschränkt.
Umgekehrt festigt sie die ökonomische Logik eines historischen Punkts und spiegelt diese in den Kulturphänomenen
wider. Sie internalisiert somit auch die Konfliktlinien und Machtverhältnisse ihres Entstehungskontexts.

Zwar wurde in den Ausführungen sowohl Gramscis wie auch denen von Horkheimer und Adorno
die Rolle des Subjekts durchaus thematisiert, es verbleibt dabei aber zumeist in einer ohnmächtigen
Position. Kultur stellt (vereinfacht) eine gesetzte Struktur dar, die auf das Subjekt einwirkt, seine
Handlungsspielräume einschränkt und im Extremfall - der spätkapitalistischen Kultur nach
Horkheimer und Adorno - zerrüttet zurücklässt. Wie eingangs des Kapitels dargelegt, soll hier nun
der Versuch unternommen werden, Kultur auch von der Gegenseite, der des Subjektes, zu denken.
Der Methodologische Individualismus oder Rational Choice Theorien können dabei keine Hilfe
sein, da sie in ihrem Anspruch, alles aus den Interaktionen intentionaler Motivlagen zu
konstruieren, letztlich keine historisch stabilen Phänomene zulassen können. Folglich soll ein
anderer Zugang gewählt werden, der Kultur zwar einen strukturellen Charakter zukommen lässt,

21
In Übereinstimmung mit dem GAT-System wurden sämtliche Transkribte in Kleinschrift abgefasst und
dialektale Färbungen übernommen.

58
sie aber vom Ausgangspunkt des subjektiven Bedürfnisses denkt. Einen Einstieg hierfür bieten die
Ausführung zum Wesen der Kultur von Georg Simmel.

5.4. Georg Simmel: Kultur als Sehnsucht nach der Überwindung des
Dualismus zwischen Subjekt und Objekt
Wie viele grundlegende Arbeiten zum Kulturbegriff in der klassischen Soziologie, beginnt auch
Simmel seine Ausführungen mit einer Distinktion zwischen Mensch und Tier. Der Mensch, so
Simmel, begreift sich selbst als Subjekt, das der Welt fordernd, aber auch von ihr entrissen
gegenübersteht. Für Simmel ist diese Weltbeziehung der „erste große Dualismus“, ein „endloser
Prozess zwischen dem Subjekt und dem Objekt“. Dieses zentrale Charakteristikum des
menschlichen Wesens ist für Simmel Wiege und Referenzpunkt der Kultur: „Mitten in diesem
Dualismus wohnt die Idee der Kultur“ (Simmel 1919, S. 223)
An dieser Stelle ist eine zentrale Annahme Simmels hervorzuheben, die für ihn zwar eine
unbezweifelbare Tatsache darstellt, aber geradezu im Vorbeigehen eingeführt wird und die sich
entscheidend für seinen Kulturbegriff und dessen Abgrenzung erweist: Simmel geht davon aus,
dass allem „Lebendigen“ eine Zeitlichkeit innewohnt, die es vom „Unlebendigem“ unterscheidet.
Das Unlebendige existiert stets nur in der Gegenwart, es ist augenblicklich. Das Lebendige
hingegen ist Resultat seiner Gewordenheit, also Ausdruck des Vergangenen, das untrennbar mit
ihm verwoben ist. Darüber hinaus wohnt ihm bei Simmel aber auch immer bereits seine Zukunft
inne – es umfasst sowohl Vergangenheit, in Form seiner Genese, als auch Zukunft in Form von
Wollen, Pflicht, Berufung und Hoffnung. (vgl. ebd., S. 223f.) Auch die Persönlichkeit trägt so ein
„mit unsichtbaren Linien vorgezeichnetes Bild in sich.“ (ebd., S. 224) Den dialektischen Prozess
zwischen Subjekt und Objekt, dem Lebendigen und dem Unlebendigen, welcher der Freilegung
eben jenes vorgezeichneten Bildes dient, begreift Simmel nun als Kultur; Kultur, so Simmel in
seinem blumigen Schreibstil, ist demnach „der Weg der Seele zu sich selbst; denn keine solche ist
jemals nur das, was sie in diesem Augenblick ist, sondern ein Mehr, es ist ein Höheres und
Vollendeteres ihrer selbst in ihr präformiert.“ (ebd., S. 223f) Um das zu veranschaulichen, bemüht
Simmel ein Bild aus dem allgemeinen Sprachgebrauch: „Ein Gartenobst, das die Arbeit des
Gärtners aus einer holzigen und ungenießbaren Baumfrucht gezogen hat, nennen wir kultiviert;
oder auch: dieser wilde Baum ist zum Gartenobstbaum kultiviert worden.“ (ebd., S. 225) Wird der
Stamm eines Baumes jedoch zu einem Schiffsmast verarbeitet, so würde man demnach nicht von
einer Kultivierung des Baumes sprechen, weil dies nicht seiner schon im Keim angelegten
Vollendung entspräche. An anderer Stelle greift Simmel das Gleichnis auf und ergänzt es um die

59
Dimension des Unlebendigen: Wenn aus einem Marmorblock eine Statue geschlagen wird, ist das
Ergebnis zweifelsohne ein kulturelles Werk, aber man würde auch hier nicht von einer
Kultivierung des Steines sprechen, da ihm im Gegensatz zum lebendigen Material eine solche
mitgegebene Vollendung fehlt (Simmel 2009, S. 716). Kultivierung bedeutet demnach die
Überführung der Seele aus ihrem „Naturzustand“ in ihren bereits vorab in ihr abgebildeten
„Kulturzustand“. Die Grenzen zwischen den beiden „Aggregatszuständen“ Naturform und
Kulturform sind für Simmel fließend und können nicht abschließend verortet werden: „Freilich
ist in der Entwicklung des einzelnen Lebensinhaltes die Grenze, an der seine Naturform in seine
Kulturform übergeht, eine fließende und es wird sich über sie keine Einstimmigkeit erzielen
lassen.“ (ebd., S. 719) Mit dieser Unterscheidung zwischen Naturzustand und Kulturzustand
finden Simmels Ausführungen Anschluss bei seinem Zeitgenossen Heinrich Rickert, der wie
Simmel dem Neukantianismus zugeordnet werden kann. „Naturprodukte sind es, die frei aus der
Erde wachsen“, hält Rickert fest. „Kulturprodukte bringt das Feld hervor, wenn der Mensch
geackert und gesät hat. Hiernach ist Natur der Inbegriff des von selbst Entstandenen, ‘Geborenen’
und seinem eigenen ‘Wachstum’ Überlassenen. Ihr steht die Kultur als das von einem nach
gewerteten Zwecken handelnden Menschen entweder direkt Hervorgebrachte oder, wenn es
vorhanden ist, so doch wenigstens um der daran haftenden Werte willen absichtlich Gepflegte
gegenüber.“ (Rickert 1924, S. 18, zit. in Feher 2009, S.1) Das Besondere an den Überlegungen
Simmels ist allerdings, dass die Form des Kulturzustandes a priori gesetzt ist. Für Simmel folgt die
Kultivierung damit gewissermaßen einem allgemeinen Prinzip: „(…) in allem Wirken haben wir
eine Norm, einen Maßstab, eine ideell vorgebildete Totalität über uns, die eben durch dies Wirken
in die Form der Realität übergeführt wird.“ (Simmel 2009, 725) In diesem Zusammenhang spricht
er bei Kultur von einer „Totalität der Seele“ (vgl. Simmel 1919, S.225).
Wie eingangs angerissen, ist es allerdings erst die Dialektik von Subjekt und Objekt, die den
Vorgang der Kultivierung auszeichnet: „Die Kultur bleibt aus dem Spiele, solange die Seele ihren
Weg sozusagen nur durch eigenes Gebiet nimmt und sich in der reinen Selbstentwicklung des
eigenen Wesens - gleichviel, wie dieses sachlich bestimmt sei - vollendet.“ (ebd., S. 236) Erst die
Auseinandersetzung mit den Objekten ermöglicht so die Kultivierung des Subjekts, in dem die
Seele „(…) den Umweg über die Gebilde der geistig-geschichtlichen Gattungsarbeit nimmt: durch
Wissenschaft und Lebensformen, Kunst und Staat, Beruf und Weltkenntnis (…)“ (Simmel 1917)22
Das Zusammenspiel zwischen „subjektiv-seelischen Energien“ und den objektiven Formen
zeichnet sich durch eine komplexe Wechselwirkung, eine Dialektik aus, denn beiden wohnt nach

22Die von Simmel gehaltene Rede findet sich online unter: http://socio.ch/sim/krieg/krieg_kris.htm (abgerufen am
25.5.2019)

60
Simmel eine Geistigkeit inne. Im „Kulturprozess“ geschieht nun „ein Objektivwerden des Subjekts
und ein Subjektivwerden eines Objektiven“ (Simmel 1919, S 228), denn die objektiven Formen
sind immer auch Resultat subjektiver Bestrebungen: „Der Geist erzeugt unzählige Gebilde, die in
einer eigentümlichen Selbständigkeit fortexistieren, unabhängig von der Seele, die sie geschaffen
hat, wie von jeder anderen, die sie aufnimmt oder ablehnt.“ (ebd., S. 223) Objekte sind folglich
Verfestigungen von subjektivem Geist, die in Eigenständigkeit fortbestehen, umgekehrt, kann sich
das Subjekt nur in Auseinandersetzung mit den Objekten ausbilden, Kultus ist demnach immer
„Synthese“ (vgl. ebd., S. 235). Die unauflösliche Zirkularität dieses Verhältnisses ist bei Simmel ein
grundsätzlicher Wesenszug allen menschlichen Seins: „Subjekt-Objekt als Korrelate, deren jedes
nur am anderen seinen Sinn findet, liegt schon die Sehnsucht und Antizipation einer Überwindung
dieses starren, letzten Dualismus jene erwähnten Betätigungen nun transponieren ihn in besondere
Atmosphären, in denen die radikale Fremdheit seiner Seiten herabgesetzt ist und gewisse
Verschmelzungen zulässt. (sic!)“ (ebd., S. 228)
Allerdings ist in diesem Subjekt-Objekt Verhältnis schon im Keim ein Riss angelegt, welcher die
Tragödie der Kultur begründet. Denn die Wege, welche die Gebilde des objektiven Geistes der Seele
ob ihrer Kultivierung abverlangen, müssen dabei keinesfalls widerspruchsfrei sein: „Der
Dualismus von Subjekt und Objekt, den ihre Synthese voraussetzt, ist doch nicht nur ein
sozusagen substantieller, das Sein beider betreffender. Sondern die innere Logik, nach der jedes
von beiden sich entfaltet, fällt mit der des anderen keineswegs selbstverständlich zusammen.“
(Simmel 1919, S. 240) Die objektiven Kulturgüter entziehen sich den subjektiven Energien, welche
sie einst gebaren und können diesen in verfestigter Form später sogar feindselig gegenüberstehen.
So kann, in einem Beispiel Simmels, dem Menschen schon die Sprache gelegentlich als „eine
fremde Naturmacht“ wahrgenommen werden, welche einschränkend wirkt und selbst unsere
innersten Empfindungen „verbiegt“ (vgl. Simmel 1919, S. 241). Ferner können unterschiedliche
Ansprüche der objektiven Welt das Individuum zerrissen zurücklassen, wenn dieses nicht in der
Lage ist, diese miteinander in Einklang zu bringen:

„Der Mensch steht nicht nur unzählige Male im Schnittpunkt je zweier Kreise von objektiven Mächten
und Werten, deren jeder ihn mit sich reißen möchte; sondern er fühlt sich selbst als Zentrum, das all
seine Lebensinhalte harmonisch , und gemäß der Logik der Persönlichkeit um sich herum ordnet - und
fühlt sich zugleich mit jedem dieser peripherischen Inhalte solidarisch, der doch auch einem anderen
Kreise angehört und hier von einem anderen Bewegungsgesetz beansprucht wird; so dass unser Wesen
sozusagen den Schnittpunkt seiner selbst und eines fremden Forderungskreises bildet.“ (Simmel 1919,
S. 242)

In seinen Werken Die Philosophie des Geldes (2009[1900]) und der 1916 in Wien gehaltenen Rede Die
Krisis der Kultur (1917) tritt bei Simmel eine stark kulturpessimistische Perspektive zu Tage. Hier

61
kommt eine weitere theoretische Konzeption hinzu: Die Unterscheidung zwischen subjektiver und
objektiver Kultur. „Unter „objektiver Kultur“ versteht Simmel die Gesamtheit aller durch
Menschen geschaffenen materiellen und geistigen Dinge (beispielsweise Technik, Wissenschaft,
aber auch Kunst). Die „subjektive Kultur“ hingegen ist das Bedürfnis und die Bereitschaft des
Menschen, sich die Bestandteile der von subjektivem Geist geschaffenen objektiven Kultur
anzueignen und ihnen einen spezifischen persönlich-subjektiven Ausdruck zu geben.“ (Moebius
2009, S. 26) In der Moderne kommt es hier zu mehreren Selbstwidersprüchen, welche das Subjekt und
das Objekt voneinander entfremden. Zuerst ist „kulturelles Verhalten“ Simmel immer an die Form
von Zweck und Mittel gebunden. In der Moderne kommt es aber vor, „daß die Reihe der Mittel für
unsere Endzwecke, die „Technik“ im weitesten Sinne unablässig verlängert und verdichtet wird.
(…) Das ungeheure, intensive und extensive Wachstum unserer Technik, - die durchaus nicht nur
die Technik materieller Gebiete ist -, verstrickt uns in ein Netzwerk von Mitteln und Mitteln der
Mittel, das uns durch immer mehr Zwischeninstanzen von unseren eigentlichen und endgültigen
Zielen abdrängt.“ (Simmel 1917) Simmels Beispiel hierfür ist das des Geldes: Ursprünglich
lediglich ein Mittel des Tausches wird ist in der modernen Gesellschaft nach und nach zum
Endzweck. Dazu kommt eine „qualitative Fremdheit“ zwischen den Subjekten und den Objekten,
welche ihr Eigenleben fernab der subjektiven Bestrebungen, welche sie ursprünglich
hervorbrachten, führen. So verzichtet der objektive Geist zusehends darauf, die Subjekte zu
kultivieren, welche umgekehrt den Bezug zu den Objekten verlieren und beginnen, diese zu
meiden. Daran reiht sich auch ein dritter Selbstwiderspruch: „Aber nicht nur diese qualitative
Fremdheit steht zwischen dem Objektiven und dem Subjektiven höherer Kulturen; sondern
wesentlich auch die quantitative Unbeschränktheit, mit der sich Buch an Buch, Erfindung an
Erfindung, Kunstwerk an Kunstwerk reiht – eine sozusagen formlose Unendlichkeit, die mit dem
Anspruch, aufgenommen zu werden, an den Einzelnen herantritt.“ (Simmel 1917) Reckwitz
schreibt so zusammenfassend über die Perspektive Simmels: “Simmels Kulturdefinition gewinnt
seine zivilisationskritische Bedeutung, indem er sie in die Diagnose einer ›Tragödie der Kultur‹
münden läßt. Dadurch, daß sich die kulturellen Objektivationen immer mehr verfeinern und einen
vielfach bewunderten immanenten Sachwert erhalten, verlieren sie zwangsläufig an menschlichem
›Kulturwert‹; sie bleiben für die Persönlichkeit der subjektiven Seele, die nicht mehr in der Lage
ist, sie sich in ihrer ganzen Komplexität anzueignen, bedeutungslos: bloße Zivilisation, nicht
Kultur. [sic!]” (Reckwitz 2006, S. 69f)
Der Ausweg, welchen Simmel in seiner Rede zur Krisis der Kultur jedoch propagiert, kann aus
heutiger Sicht nur als verstörend bezeichnet werden: Simmel setzt große Hoffnungen in den Krieg
im Allgemeinen und den Ersten Weltkrieg im speziellen. Er dichtet dem Krieg die Wirkung einer

62
Katharsis an und geht davon aus, dass der Krieg überflüssige Kulturobjekte tilgt und durch diese
Vereinfachung das Subjekt wieder in Beziehung zu den Objekten zu setzen vermag (vgl. ebd.).
Dieser dunkle Fleck in Simmels Theorie mag einen entscheidenden Einflussfaktor darstellen,
warum ihm heute weit weniger Aufmerksamkeit und Rezeption zukommt, als den anderen
“Gründervätern” der Soziologie.
Wenn dieser Aspekt jedoch ausgeklammert wird, lassen sich aus Simmels Ausführungen durchaus
schon die Eckpunkte eines subjektorientierten Forschungsprogramms ablesen. Zuerst kann
herausgearbeitet werden, dass Kultur einerseits keine übergeordnete Entität ist, wie es der
klassische Strukturbegriff evoziert und andererseits sich nicht auf die intentionale Energie der
Individuen beschränkt. Sie ist vielmehr in der Wechselwirkung zwischen dem Subjekt und der Welt
der Objekte und Objektivationen zu verorten. Bei Simmel ist ihre Form jedoch im Subjekt selbst
angelegt, vorgezeichnet, der Mensch als Kulturwesen also nicht beliebig formbar. In der
Marxistischen Theorie sind Kultur und materielle Reproduktion direkt aneinander gekoppelt, eine
fehlende Kongruenz zwischen diesen Ebenen - wie sie dem Kulturerbe zu eigen ist - lässt sich nur
über Umwege erklären, wie sie etwa die Kritische Theorie mit ihrem Postulat über die innere
Widersprüchlichkeit der kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft gemacht hat, erklären. Mit
Simmel hingegen, wenn Kulturform den konkreten menschlichen Lebensbedingungen
vorausgestellt wird, ist es wesentlich naheliegender, dass eine Form von ICH gepflegt wird, die
den Reproduktionsbedingungen (zumindest stückweise) äußerlich geworden ist. Allerdings ist
Simmels Konzept der a priori vorgezeichneten Kultur nicht unbedingt in der Lage, wenn es zwar
die allgemeine Kulturtätigkeit des menschlichen Wesens erklärt, zu vermitteln, weshalb ganz
spezifische Kulturformen gepflegt werden. So ist es im höchsten Maße unplausibel, dass es ein in
der Welt verankertes Wesensmerkmal der Wildschönauer_innen ist, Krautinger zu brennen. Hier
muss die Theorie verfeinert werden, um konkrete Phänomene deuten zu können. Der Gedanke,
dass Subjekte eine gewisse kulturelle Präformation mitbringen, spielt, wenn auch in abgeänderter
Form, im Werk Charles Taylors ebenfalls eine zentrale Rolle. Sein Ansatz, der insbesondere aus
der Beobachtung der Interaktion unterschiedlicher Kulturgemeinschaften entspringt, kann
zusätzlich Klarheit schaffen, was das Bedürfnis anbelangt, ganz konkrete Kulturpraktiken zu
reproduzieren.

5.5. Charles Taylor: Kultur als Frage der Authentizität


Um die verbindenden Theorielinien zwischen Georg Simmel und dem kanadischen
Sozialphilosophen Charles Taylor zu erschließen, scheint es sinnvoll, den Blick zu Anfang auf
einen anderen Philosophen zu richten, auf dem Taylor viele seiner Überlegungen aufbaut: Johann

63
Gottfried Herder. Herder, der dem deutschen Idealismus zuzurechnen ist, hat in seiner 1770
vorgelegten Abhandlung über den Ursprung der Sprache grundlegende Prämissen einer Kulturtheorie
vorgegeben, auf die sich Taylor wiederholt explizit bezieht.
Herder beginnt seine Abhandlung mit Beobachtungen im Tierreich, der Sphäre der Tiere, wie es
Herder nennt. Hier macht Herder ein allgemeines Prinzip aus: „Je vielfacher die Verrichtungen und
Bestimmung des Tieres, je zerstreuter ihre Aufmerksamkeit auf mehrere Gegenstände, je unsteter ihre Lebensart,
kurz, je größer und vielfältiger ihre Sphäre ist, desto mehr sehen wir ihre Sinnlichkeit sich verteilen und schwächen.“
(Herder 2016, S. 48, Hervorhebung im Original) So ist die Spinne in der Lage kunstvolle Netze zu
weben, die Biene komplexe Stöcke zu bauen, aber ihre Befähigungen beschränken sich auch
weitestgehend auf diese Tätigkeiten. Tiere, die sich also in verschiedenen Situationen behaupten
müssen, legen nach Herder weniger ausgeprägte Kunstfertigkeiten an den Tag. Er spricht hier von
einer „umgekehrten Proportion“ zwischen ihren „Extensionen“ und ihren „Künsten“ (vgl. ebd.,
S. 48). Im höchsten Maße trifft dies nun auf den Menschen zu: „Seine Sinne und Organisation sind
nicht auf eins geschärft: er hat Sinne für alle und natürlich also für jedes einzelne schwächere und
stumpfere Sinne (sic!).“ (ebd., S. 48, Hervorhebung im Original) Damit findet sich bei Herder eine
Anthropologie, die heute hauptsächlich mit dem Konzept des von Instinktarmut geprägten
Mängelwesens von Arnold Gehlen assoziiert wird. Bei Herder wird der Mensch für das Wegfallen
der Instinkte – einer „blinde(n) Determination“ – mit einem Mehr an „Helle“ entschädigt. Er ist
keine „unfehlbare Maschine in den Händen der Natur“, sondern befähigt, sich selbst zu erfahren
und sich damit selbst zum Zweck zu machen. Der Begriff, mit dem Herder dies zum Ausdruck
bringt, ist die „Besonnenheit“, sie stellt das Gegenstück zum Instinkt dar und damit das spezifisch
Menschliche. (vgl. ebd., S. 49f.) Sie ist auch die Geburtshelferin der Sprache: „Der Mensch, in den
Zustand der Besonnenheit gesetzt, der ihm eigen ist, und diese Besonnenheit (Reflexion) zum erstenmal frei würkend,
hat Sprache erfunden (sic!).“ (ebd., S. 50, Hervorhebung im Original) Bei seinen folgenden
Ausführungen über die Entwicklung und Handhabung der Sprache legt Herder den Grundstein
für ein neues Verständnis von Kultur, auch wenn der Kulturbegriff selbst bei Herder im
Hintergrund verbleibt. Denn das Medium, das zur Weitergabe und Organisation der Sprache dient,
ist für ihn die Bildung. Er entwirft vier verschränkte und dynamisch ineinandergreifende
Bildungsebenen, welche das Individuum in seiner kulturellen Befähigung prägen und leiten: Das
Individuum, die Familie, die Nation und schließlich die Gattung als Ganzes (vgl. ebd., S. 44f). Der
oder die Einzelne ist so stets eingebunden in eine Reihung kultureller Prozesse, welche seine oder
ihre Handlungsräume vorstrukturieren, im Umkehrschluss werden durch die individuellen
Handlungen die auf Nachfolgende strukturierend wirkende Kräfte geschärft: „Jedes Individuum
ist Sohn oder Tochter, ward Unterricht gebildet: folglich bekam er immer einen Teil der

64
Gedankenschätze seiner Vorfahren frühe mit und wird sich nach seiner Art weiterreichen (…).“
(ebd., S. 56) Roland Bordards hält fest, dass der Mensch so in einer gegenläufigen Bewegung
sowohl „Produzent von Kultur“ wie auch als „Produkt von Kultur“ gedacht wird (vgl. ebd., S. 45).
Für Taylor erweisen sich zwei Aspekte von Herders Denken als wegweisend: „Es ist ein
geschichtliches und ein kontextualistisches Verständnis, welches Herder dem Begriff von Kultur
hinzufügt.“ (Sorgo, S. 41) So wird Kultur zum einen als dynamischer Prozess gedacht, der zu
verschiedenen Zeitpunkten unterschiedliche Ausprägungen aufweist. Hier lässt sich durchaus ein
möglicher Brückenschlag zum materialistischen Kulturbegriff ansetzen. Zum anderen tritt mit der
kulturellen Bildungsebene der Nation ein entscheidender Akteur in der Kulturtheorie auf: Das
Volk. In diesem Zusammenhang steht auch das oft zitierte Kugelmodell Herders: „[J]ede Nation
hat ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich, wie jede Kugel ihren Schwerpunkt!“23 Das
bedeutet für Herder (und im Folgenden auch für Taylor, wie darzulegen sein wird), dass jede
Kultur auch nur aus sich heraus verstanden werden kann und jedes “Volk” seinen eigenen Kontext
hervorbringt. Damit öffnet Herder auch das Fenster hin zu einer kulturellen Pluralität, oder besser:
zu einer Pluralität der Kulturen (vgl. Sorgo S. 41). Es darf allerdings auch nicht verschwiegen, dass
Herders Kulturbegriff eine ausgeprägte ethnische Dimension aufweist. Wolfgang Welsch arbeitet
dementsprechend „drei Momente“ Herdes Kulturkonzept heraus (Vgl. Welsch 1994, S. 3f)24:

1. Ethnische Fundierung

Herders Vorstellung von Kultur ist fundamental an das damit in Verbindung stehende „Volk“
gebunden, welches Träger und Produzent der Kultur ist.

2. Soziale Homogenisierung

Darüber hinaus ist jede und jeder Einzelne in seinem Wirken und Handeln an ihre oder seine
Zugehörigkeit zu einem bestimmten „Volk“ gebunden, da dessen Kultur die individuellen
Handlungsspielräume determiniert. Dabei scheint kein Raum für unterschiedliche kulturelle
Prozesse innerhalb eines Volkes angedacht.

3. Interkulturelle Abgrenzung

23
Siehe Herder: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774), online:
https://www.tabularasamagazin.de/herders-kugelmodell-der-kultur-die-kugel-geben-eine-runde-sache-2/
(aufgerufen am 1.6.2019)
24 Es soll an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, dass Welsch harsche Kritik an Herders Kulturbegriff übt: „Ich

will diese Diagnose des traditionellen Kulturkonzepts in einem weiteren Schritt verschärfen und deutlich machen, daß
dieses Konzept nicht nur deskriptiv untauglich, sondern auch normativ gefährlich und untragbar ist.“ (Welsch 1994,
S.6) Für Welsch tragen Herders Überlegungen zur Kultur die Grundzüge eines kulturellen Rassismus in sich. Da die
Auseinandersetzung mit Herder hier aber ausschließlich der Hinführung zum Werk Charles Taylors dient, kann auf
die Kritik im Folgenden nicht weiter eingegangen werden.

65
Letztens dient der Kulturbegriff so der Differenzierung und der Abgrenzung nach außen, so dass
jedes „Volk“ eine spezielle Kultur hat, die es von anderen unterscheidet.
Andreas Reckwitz (2012, S. 481) hält fest, dass Taylors Überlegungen zur Kultur, von einer
spezifischen Fragestellung geprägt sind: Seine Perspektive richtet sich auf die Bedingungen für ein
gelingendes Miteinander verschiedener Ethnien innerhalb eines Staatsgebildes, Taylor verhandelt
Kultur also stets unter dem Gesichtspunkt der Multikulturalität. Hier fließen die Überlegungen
Herders ein, die Kultur als spezifisches Wesensmerkmal einer Gruppe begreifen. Der oder die
Einzelne trägt – in Anlehnung an Simmel – diese mit unsichtbaren Linien vorgezeichneten
Kulturformen als Ausdruck seiner oder ihrer Zugehörigkeit in sich. Dies darf keinesfalls so
verstanden werden, dass Individuen ethnisch determinierte Kulturformen in sich trügen, was
nichts anderes als ein theoretisch ausformulierter Rassismus wäre. Vielmehr geht es darum, dass
die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft mit der Internalisierung gewisser Kulturformen
einhergeht.
Taylor ist nun bemüht, diese – nicht unproblematische – Vorstellung in das moderne Staatswesen
zu integrieren. Um Taylor Zugang zu dieser Thematik nachvollziehbar darlegen zu können, scheint
es hilfreich, einen groben Überblick über die Grundüberlegungen des Kommunitarismus zu geben,
mit dem Taylor oft assoziiert wird, auch wenn sich die Gesamtheit seines Werkes nicht vollständig
in diese Denkrichtung eingliedern lässt. Eine zentrale Beobachtung kommunitaristischer
Theoretiker_innen ist, was mit Alan Wolfe als Paradox der Moderne bezeichnet werden kann:
„Einerseits ist die moderne Kultur für den Einzelnen mit wachsenden wechselseitigen
Abhängigkeiten von anderen verbunden, gleichzeitig werden andererseits die moralisch-
normativen Regulationen für diese Verbundenheit immer schwächer.“ (Junge 2009, S. 48) Gemein
ist kommunitaristischen Ansätzen, dass sie sowohl die „Bedeutung eines starken republikanischen
Individualismus“ wie auch den stabilisierenden Effekt auf eine Gesellschaft von „Integration
durch geteilte Wertbindungen [ihrer] Mitglieder“ (vgl. ebd., S. 49) betonen. Um dieses
Spannungsverhältnis auszutarieren, bildet sich eine wechselseitige Beziehung heraus, die Matthias
Junge als kommunitaristische Dreieck bezeichnet (vgl. Junge 1998, S. 94ff. & Junge 2009, S.48).
Dieses Dreieck bildet sich aus den Komponenten Gemeinschaft, Selbst und dem Guten. Das Gute ist
hierbei ein ungreifbarer Kanon an Traditionen, Sitten und Praktiken, die von den Mitgliedern einer
Gemeinschaft als erstrebenswert erachtete werden. Es handelt sich somit (zumindest
vordergründig) um keine normative Kategorie, sondern einen integrativen Mechanismus, den eine
Gruppe ausbildet, um das Selbst in ein sinnvolles Verhältnis zur Gemeinschaft zu stellen: „Die
Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft kann nur durch die Anerkennung des Guten einer
Gemeinschaft erworben werden.“ (Junge 1998, S. 95) Eine Gemeinschaft wiederum reproduziert

66
sich durch geteilte Wertbindungen, die sowohl die Konzeption des Guten strukturieren, wie auch
individuelle Selbstentwürfe stabilisiert. Umgekehrt steht das Selbst im Schnittpunkt zwischen den
sie in die Gemeinschaft integrierenden Bindungen und dem Ideal des Guten. Das
kommunitaristische Dreieck ist somit so angelegt, „daß jede Seite des konzeptionellen Dreieckes,
wie in der Geometrie auch, durch den Bezug auf die beiden anderen Seiten definiert wird.“ (ebd.,
S. 95) Diese Darlegung scheint vor allem aus zwei Gründen notwendig: Zuerst ist der Begriff des
Guten in der gegenwärtigen Soziologie alles andere als geläufig und wird allgemein mit einem
Naserümpfen bedacht, da er sehr schnell dem Verdacht der Normativität anheimfällt, so dass er
nicht im Vorbeigehen eingeführt werden kann. Zweitens bildet ein Verständnis der
kommunitaristischen Konzeption des Guten eine hilfreiche Grundlage, um sich dem Spezifischen
Taylors Kulturtheorie zu nähern.
Andreas Reckwitz (2010, S. 72f) arbeitet in seiner Rezeption drei grundlegende Konzepte im Werk
Taylors heraus, die die Basis für seine „hermeneutische Kulturtheorie“ bilden und die als
Ausgestaltung des von Junge vorgelegten kommunitaristischen Dreiecks verstanden werden
können: Taylor beschreibt den Menschen demnach in der Tradition Herders als self-interpreting
animal. Fundament hierfür ist seine Eigenschaft, die Taylor significance feature nennt, also die
Annahme, „dass jeder menschliche Handlungsakt notwendigerweise von Akten des
Sinnverstehens, von interpretativen Sinnzuschreibungen der Akteure ermöglicht wird, mit denen
diese den Gegenständen und Personen ihrer Handlungsumwelt spezifische Bedeutungen
zuschreiben.“ (ebd. S. 72) Von zentraler Bedeutung sind dabei interpretative Akte, welche die
Akteurinnen und Akteure dazu befähigen ihre Identität zu konstruieren und ihre Umwelt in ein
sinnhaftes Verhältnis zu ihrem Selbst zu setzen. Diese Befähigung entspricht somit dem, was Junge
unter dem Punkt des Selbst zusammenfasst. Das Komplementärstück hierzu bildet im Denken
Taylors das sogenannte kollektive Hintergrundwissen, das ein übersubjektives System beschreibt, das
der oder dem Einzelnen erst ermöglicht, Sinnzuschreibungen vorzunehmen. Das kollektive
Hintergrundwissen entspricht somit der Funktion der Gemeinschaft. Das Gute bildet in dieser
Analogie schließlich Taylors Konzept der starken Wertungen, denn diese bilden das Gegenstück zum
kollektiven Hintergrundwissen und ermächtigen die Akteurinnen und Akteure über die sinnhafte
Strukturierung ihrer Umwelt hinaus ihr Handeln zu legitimieren und somit bestimmte
Handlungsstrukturen zu motivieren.
Diese grundsätzlichen Überlegungen Taylors zur Kulturtheorie werden verständlicher, wenn man
den Blick auf ihre konkrete Anwendung richtet: Taylors Plädoyer für eine multikulturelle
Gesellschaft. Voran geht ihr die Kritik des Kommunitarismus am Ideal des utilitaristischen
Individualismus und an der praktischen Ausgestaltung des politischen Liberalismus, deren

67
„differenz-blinder“ sozialer Raum (vgl. Taylor 1997, S. 31) eine hegemoniale Kultur widerspiegelt,
in der die sozioökonomisch schwächeren Gruppen gezwungen werden, sich dem Gefüge der
Mehrheitsgesellschaft einzufügen. Taylor spricht hier von einem „Partikularismus unter der Maske
25
des Universellen.“ (vgl. ebd., S. 35) Um dem zu entgehen, propagiert Taylor eine Politik der
gleichheitlichen Anerkennung, die zwar weiterhin eine Politik des Universalismus darstellt, welche allen
Menschen im gleichen Maße Würde zuspricht, aber auch eine Politik der Differenz beinhaltet, welche
eine „Anerkennung jedes Menschen um seiner unverwechselbaren Identität willen“ berücksichtigt
(vgl. ebd., S. 27f.) So sollen formale Gleichheitskriterien mit spezifischen Gemeinschaftskriterien
verbunden werden. Hier werden zwei für Taylor zentrale und dabei aufs engste miteinander
verwobene Begrifflichkeiten eingeführt: Anerkennung und Identität.

„Die These lautet, unsere Identität werde teilweise von der Anerkennung oder Nicht-Anerkennung, oft
auch von der Verkennung durch die anderen geprägt, so daß ein Mensch oder eine Gruppe von
Menschen wirklichen Schaden nehmen, eine wirkliche Deformation erleiden kann, wenn die Umgebung
oder die Gesellschaft ein einschränkendes, herabwürdigendes oder verächtliches Bild ihrer selbst
zurückspiegelt. Nichtanerkennung oder Verkennung kann ein Leiden verursachen, kann eine Form von
Unterdrückung sein, kann den anderen in ein falsches, deformiertes Dasein einschließen.“ (Taylor 1997,
S. 13f)

Taylor führt also die oben skizzierten Linien des Selbst und der sinnstiftenden Gemeinschaft in
Form einer Identität zusammen, welche sich reziprok in der Auseinandersetzung mit signifikanten
Anderen (hier greift Taylor auf George Herbert Mead zurück) herausbildet. Zentral ist es für Taylor
dabei, „sich selbst und der eigenen Existenz treu zu sein“ (Taylor 1997, S. 17), d.h. insbesondere
sich einer „aufgezwungenen, destruktiven Identität zu entledigen“ (ebd., S.14). Damit tritt das Ideal
der Authentizität hervor, das für die Herausarbeitung des Kulturbegriffs bei Taylor von kardinaler
Bedeutung ist, da es die Grundlage einer höheren Moralität, in Form einer „Stimme im Inneren“
(ebd., S. 17), darstellt. In unserer modernen Gesellschaft, welche tritt an Stelle der religiösen
Legitimierung moralischer Fragen eine „culture of self-fulfilment“ (vgl. Taylor 1991, S. 15): „The
moral ideal behind self-fulfilment is that of being true to oneself“ (ebd., S. 11) Auch hier schlägt
Taylor eine Brücke zu Herder, welcher die Einzigartigkeit aller Menschen unterstrich: „Herder put
forward the idea that each of us has an original way of being human. Each person has his or her
own "measure" is his way of putting it.” (Taylor 1991, S. 22) Authentizität wird so in einem ersten
Schritt zu einem moralischen Anspruch und in einem zweiten zu einem moralischen Kompass und
damit zur Bedingung für den Multikulturalismus einer säkularen Gesellschaft. Mit Hinblick auf das

Dieser Vorwurf findet sich auch in den materialistischen Kulturtheorien, insbesondere wurde er von Immanuel
25

Wallerstein (2010) in seinem Buch „Die Barbarei der Anderen“ herausgearbeitet.

68
Konzept des kommunitaristischen Dreiecks, kann Authentizität somit als das Gute moderner
Gemeinschaften gesehen werden.
Für das Kulturverständnis ergeben sich daraus durchaus gewichtige Implikationen, so schreibt
Taylor: „Wie das Individuum, so sollte auch das „Volk“ sich selbst, das heißt seiner Kultur treu
sein“ (Taylor 1997, S. 20) Er warnt eindringlich davor, den Ausgestaltungsprozess der Identität
von Mitgliedern von Minderheiten und benachteiligten Gruppen denselben Regularien, wie sie für
die Mehrheitsgesellschaft gelten, zu überlassen. „Diese Assimilation ist eine Todsünde gegen das
Ideal der Authentizität.“ (ebd., S. 29) So begrüßt er Maßnahmen, die der spezifischen kulturellen
Praxis einer Gruppe Rechnung tragen und fordert einen Schutz für die Kulturräume
marginalisierter Gruppen ein. So soll Minderheiten das Recht vorbehalten sein, Mitglieder der
Mehrheitsgesellschaft aus ihren kulturellen Gepflogenheiten auszuschließen, um das Gelingen
ihrer Identität und ihrer Identitätsbildung, also der den Anerkennungsprozessen, zu gewährleisten
(vgl. Taylor 1997, S. 30).26 Beispiele hierfür findet Taylor etwa in seiner kanadischen Heimat im
Fall der Provinz Quebec. Er plädiert dafür, Kinder verpflichtend in französischsprachige Schulen
zu schicken, um den Fortbestand der Kultur zu gewährleisten.

5.6. Ein subjektorientierter Kulturbegriff


Zentral scheint dabei, dass bei Taylor Kultur das Resultat eines gelungenen Prozesses ist, einer
reziproken Anerkennung, wobei die Formen der kulturellen Ausgestaltung der oder dem
Einzelnen durch Zugehörigkeiten bereits vorgegeben sind, so wie dies auch bei Herder
vorzufinden ist. Hier lassen sich Gemeinsamkeiten mit den Überlegungen Simmels ausmachen
und eine erste Zwischenbilanz auf dem Weg zu einem subjektorientierten Kulturkonzept ziehen:
Kultur wird als ein individueller Prozess portraitiert, der zwar nicht vorherbestimmt, so aber doch
– an äußere Bedingungen geknüpft – vorgezeichnet ist. Diese “Blaupause” erhebt die Kultur über
den Rang eines intentionellen Akts hinaus, da die sie der Psychogenese vorangeht. Bei Simmel ist
sie im Wesen des Menschen zu verorten und hat damit einen ahistorischen Charakter, bei Taylor
hingegen ist sie das Resultat der Entwicklungsgeschichte einer Gemeinschaft. Dennoch ist sie auch
bei Taylor in einer Form verfestigt, dass sich der oder die Einzelne ihr nur schwerlich entziehen
kann und wenn, so nur um den Preis der Authentizität. Ein solcher Ansatz kann nur ein unscharfes
Verständnis für sozialen Wandel hervorbringen, da die primäre Orientierung der Pflege und
Fortführung kultureller Praktiken gilt. Diesen Wandel – oder auch Brüche – zu erklären, ist

26Unklar bleibt die Grenze zwischen der deskriptiven und der normativen Dimension des Ideals der Authentizität.
Einerseits ist es ein Ideal, das Taylor in der modernen Gesellschaft beobachtet und dessen Einhaltung für ihn
Bedingung für das Gelingen multikultureller Lebensräume ist. Andererseits wird es von ihm auch aktiv eingefordert
und verlässt somit den Raum einer rein funktionalen Komponente Taylors Gesellschaftsentwurfs.

69
hingegen die Stärke des materialistischen Kulturbegriffs, wie wir gesehen haben. Aus der
Perspektive des materialistischen Kulturbegriffs kommt es notwendigerweise zu kulturellen
Bruchlinien, wo ein Transformationsprozess der Ordnung der materiellen Reproduktion
vonstatten geht. Kulturelles Erbe lässt sich somit als Relikt einer vorangegangenen
Wirtschaftsform erklären. Bei den im Rahmen dieser Arbeit diskutierten Fallstudien ist eine solche
Analyse besonders plausibel, da es sich um Praktiken handelt, die ihren Ursprung in der Logik der
agrarisch geprägten Lebensweise des Alpenraums haben. Durch die gesellschaftlichen und
ökonomischen Modernisierungsprozesse in diesem Gebiet verbleiben sie als kulturelle Form, sind
den sozialen Mechanismen jedoch äußerlich geworden. Aus der Sicht des subjektorientierten
Ansatzes nach Simmel und Taylor lassen sich solche kulturellen Brüche nicht in dieser Form
erläutern: Wenn Kultur nicht von den gesellschaftlichen Verhältnissen, sondern von einer
(gruppenspezifischen) Vorprägung abgeleitet wird, sind Bruchlinien nur dort zu erwarten, wo
verschiedene Kulturgruppen aufeinander treffen. Marginalisierte (und somit schutzbedürftige)
Kulturpraktiken ergeben sich somit aus Migrationsbewegungen und multikultureller Interaktion.
Sie sind aber nicht vorgesehen, dass sie von ein und derselben Gemeinschaft hervorgebracht
werden.
Umgekehrt entwickelt der subjektorientierte Kulturbegriff bei der Auseinandersetzung mit ICH
dort seine Stärke, wo der materialistischer zu versagen droht. Aus materialistischer Sicht scheint
Kulturerbe lediglich als ein aus der Zeit gefallenes Relikt und Schutzbemühungen erscheinen als
pure Nostalgie. Mit dem von Taylor vorgelegten Konzept der Authentizität kann erstmals eine
theoretische Legitimierung von ICH erbracht werden. Das Bedürfnis nach Authentizität
ermöglicht eine Erklärung für die Vielzahl an kleinstrukturierten Initiativen, in denen Menschen
sich organisieren und versuchen, traditionelle Kulturformen zu pflegen und zu erhalten. So kann
das Enzianstechen in Galtür vor dem ökonomistischen Verständnis des materiellen Kulturbegriffs
nur unzulänglich erklärt werden. Mag das Graben, Verarbeiten und Destillieren der Enzianwurzel
zu früheren Zeiten auch Teil der Logik der materiellen Reproduktion gewesen sein, so erfüllt es
einen solchen Zweck augenscheinlich nicht mehr – die Erzeugnisse werden nicht veräußert,
sondern lediglich im kleinen Kreise zu besonderen Anlässen konsumiert. Nachvollziehbar werden
die unternommenen Bemühungen um das Fortbestehen dieser Praktik auch gegen Widerstand
etwa vom Alpenverein erst, wenn man sie als Ausdruck des subjektiven Bedürfnisses der
Kultivierung betrachtet. In ihrem Zentrum steht dabei stets die Gruppenzugehörigkeit, die
Teilhabe an diesem für Außenstehende nicht zugänglichen Ritual, welches gerade in Regionen, die
von starkem Tourismus gekennzeichnet sind, besonders bedeutend für die Ausbildung eines
Gemeinschaftsgefühls sein dürften.

70
In Kapitel 3 wurde herausgearbeitet, dass eine Handhabung des von der UNESCO vorgelegten
ICH-Konzepts Schwierigkeiten offenbart, da Kultur ein ungreifbares und unbeschreibbares
Phänomen bleibt. Anschließend wurde anhand einer strukturierten Analyse der gängigen
Kulturbegriffe nachgezeichnet, dass die impliziten Vorstellungen von immateriellem Kulturerbe
einen Brückenschlag zwischen totalitätsorientiertem und normativem Verständnis beinhaltet, in
dem Elemente von der Seins- auf die Sollensebene gerückt werden. Mit der Ausarbeitung eines
materialistischen und eines subjektorientierten Kulturbegriffs, die jenseits der Typologie von
Reckwitz liegen, konnten wichtige Erklärungsansätze bezüglich der Entstehung wie der Bedeutung
von ICH geliefert werden. Somit lässt sich erstmals im Rahmen dieser Arbeit eine Konzeption von
ICH formulieren:

Immaterielles Kulturerbe tritt dort zutage, wo eine Kulturpraxis auf Grund eines Transformationsprozesses der
Ordnung der materiellen Reproduktion einer Gesellschaft dieser äußerlich geworden ist. Zugleich bleibt diese
Kulturpraxis weiterhin bedeutend für das Authentizitätsbedürfnis der involvierten Subjekte.

Gewissermaßen dient der subjektorientierte Kulturbegriff als die Grundlage der Legitimation von
ICH, der materialistische als Maßstab der Kritik, so dass es sinnvoller scheint, sie zwar miteinander
zu denken, aber nicht auf einen Kulturbegriff herab zu brechen.
In einem nächsten Schritt soll nun die konkrete Beschaffenheit von immateriellem Kulturerbe
näher beleuchtet werden. Dabei rückt ein Begriff ins Zentrum, der bislang zwar Anwendung fand,
jedoch keine theoretische Fundierung: Die Praktik. Im nächsten Kapitel soll dementsprechend
konkrete Ausgestaltungen von ICH vor dem Hintergrund der Praxistheorie verhandelt werden.

71
6. Kultur(erbe) aus Sicht der Praxistheorie
In den vergangenen Jahren hat sich mehr und mehr ein theoretisches Paradigma innerhalb der
Sozialwissenschaften formiert, das den Praxisbegriff ins Zentrum seiner Ausführungen rückt.
Dabei handelt es sich bei der Praxistheorie um eine “heterogene, aber dennoch definierbare
Theoriebewegung.” (Schäfer 2016, S. 9) All diesen Ansätzen ist gemein, dass sie die Dichotomie
zwischen struktur- und handlungsorientierten Perspektiven innerhalb der Soziologie aufbrechen
wollen.27 An ihrer Stelle soll der Begriff der Praxis gesetzt werden, der das relationale Verhältnis
von Handlungsschemata zum zentralen Aspekte der Analyse macht. Praktiken28 sind dabei
einerseits so konzipiert, dass sie beständiger sind als flüchtige individual-psychologische
Motivlagen, aber auch dynamischer, als deterministische soziale Strukturen. Eine allgemeine
Definition findet sich bei Hilmar Schäfer (2016, S. 12):

“Praktiken sind das Tun, Sprechen, Fühlen und Denken, das wir notwendig mit anderen teilen. Dass
wir es mit anderen gemeinsam haben, ist Voraussetzung dafür, dass wir die Welt verstehen, uns sinnvoll
darin bewegen und handeln können. Praktiken bestehen bereits bevor der/die Einzelne handelt und
ermöglichen dieses Handeln ebenso wie sie es strukturieren und einschränken. Die werden nicht nur
von uns ausgeführt, sie existieren auch um uns herum und historisch vor uns. Sie zirkulieren unabhängig von
einzelnen Subjekten und sind dennoch davon abhängig, von ihnen aus- und aufgeführt zu werden.”

Ein Beispiel hierfür stellt die Eheschließung dar, die auf einer Praxis des Heiratens beruht, welche
sich durch ständige Wiederholung reproduziert. Die oder der Einzelne kann dabei die Praxis nicht
beliebig umgestalten, formt jedoch den Reproduktionsprozess durch individuelle Ausdeutungen,
so dass die Praxis gleichermaßen stabile wie dynamische Züge aufweist. Umgekehrt wirkt der
Veränderungsprozess der Praktik in die Individualität hinein, da eine Umwälzung der Kategorien
(in diesem Beispiel der Ehe) auf die subjektiven Konstruktionsmechanismen der Lebenswelt
rückwirken. Gemein ist praxistheoretischen Ansätzen, dass sie ein besonderes Augenmerk auf
Zeitlichkeit, Körperlichkeit und Materialität von sozialen Prozessen richten (vgl. Schäfer 2016, S.13ff).
Dieser Zugang bietet, wie sich im Folgenden zeigen wird, zentrale Vorteile, wenn man ICH
theoretisch greifbar machen will. Den Analysefokus weder auf die involvierten Personen, noch an
überzeitliche Konventionen zu legen, sondern auf Praktiken, die ein ums andere Mal vollzogen
werden müssen, dabei aber in einer historischen Linie stehen, ermöglicht es, den Handlungsvollzug

27 Wie dargelegt wurde, ist dieser Anspruch auch Triebkraft der Kritischen Theorie und ebenso der Analyse Simmels.
28 In der Literatur lässt sich keine eindeutige Trennlinie zwischen dem Begriff der Praktik und dem der Praxis
ausmachen. Während Bourdieu den Begriff der Praxis nutzte, windet in der aktuellen Praxistheorie hauptsächlich der
Begriff der Praktik Verwendung. Für die vorliegende Arbeit soll demnach folgende Verwendung vorgeschlagen
werden: Praktik fasst demnach ein singuläres Phänomen (etwa das Fußballspiel), während Praxis eine weitläufige,
soziale Verzahnung (etwa Sport) ins Auge fasst. Damit wäre die Praktik ein Teil der Praxis einer Gesellschaft. Praktiken
bildet den Plural von Praktik, während der gelegentlich verwendete Plural Praxen nicht aufgegriffen wird.

72
der Heritage-community zu kontextualisieren. So entsteht ein Verständnis von immateriellem
Kulturerbe, das die Handlungs- und Deutungsspielräume der beteiligten Aktuer_innen aufzeigt,
gleichzeitig aber nicht Gefahr läuft, die Grenzen dieser Räume zu negieren.

6.1. Grundlagen und Ausgangspunkte


Entsprechend der Heterogenität des praxistheoretischen Ansatzes kann nicht eine lineare
Genealogie nachgezeichnet werden. Zweifelsohne waren aber die Schriften von Pierre Bourdieu,
der im Jahre 1972 (und 1979 in deutscher Übersetzung) das Buch Entwurf einer Theorie der Praxis
vorlegte, wegweisend. Darin entwickelt er vor dem Hintergrund dreier ethnologischer Studien eine
praxeologische Erkenntnisweise. Auch ihm ist daran gelegen, den von ihm attestierten Dualismus
sozialwissenschaftlicher Erkenntnis zu befrieden: Bourdieu unterscheidet hier zwischen einem
phänomenologischen Zugang29, welcher die “soziale Welt als eine natürliche und selbstverständliche
Welt” begreift (Bourdieu 2015, S. 147) und sich folglich darauf beschränkt, vorwissenschaftliche
Erfahrung in wissenschaftlicher Form zu beschreiben (vgl. Schwingel 1995, S.45). Dadurch ist der
Zugang jedoch blind gegenüber der Tatsache, dass jeder Handlung ein mehr an Sinn innewohnt,
als dies der agierenden Person bewusst ist. Nach Bourdieu negiert ein solches Verständnis dadurch
die Frage nach den Bedingungen seiner eigenen Möglichkeiten. Ihr gegenüber steht der Ansatz,
den Bourdieu objektivistisch nennt30 und der sich dadurch auszeichnet, dass sie “Modelle objektiver,
vom Willen und Bewusstsein der Akteure unabhängiger Relationen (beispielsweise sprachlicher,
verwandtschaftlicher oder ökonomischer Art) konstruiert” (ebd., S 47). Dies geschieht allerdings
“um den Preis des Bruchs mit dieser primären Erfahrung” (Bourdieu 2015, S. 147). Vor dem
Hintergrund dieses Dualismus wimmelt es in der Soziologie an Gegensatzpaaren wie Individuum
und Gesellschaft, Lebenswelt und System, Mikro- und Makroebene und dergleichen. Einen
Ausweg bietet für Bourdieu die praxeologische Erkenntnisweise. Der Kerngedanke dieses Ansatzes
besteht darin, dass die (Alltags-)Praxis von einer eigenen logischen Qualität ist und nicht objektiv
in eine theoretische Erkenntnis übertragen werden kann, denn die Eigenart der praktischen Logik
führt dazu, dass diese nicht innerhalb der Ansprüche wissenschaftlicher Logik (Eindeutigkeit,
Widerspruchsfreiheit etc.) abgebildet werden kann. Primärerfahrungen zu “verwissenschaftlichen”
ist demnach kein gangbarer Weg: “Die praxeologische Erkenntnis unterscheidet sich von der
phänomenologischen, deren Kenntnisse sie im Übrigen in sich aufnimmt, in einem wesentlichen
Punkt: Sie unterstellt zunächst, wie der Objektivismus, daß das Objekt der Wissenschaft gegen die
Evidenz des Alltagswissens mittels eines Konstruktionsverfahrens erobert sein will, das, damit

29 Als namhafte Vertreter führt Bourdieu etwa Alfred Schütz und Erving Goffman an.
30 Als bedeutende Vertreter werden etwa Claude Lévi-Strauss und Louis Althusser angegeben.

73
unauflöslich verbunden, einen Bruch mit allen »präkonstruierten« Repräsentationen, wie vorgängig
erstellten Klassifikationen und offiziellen Definitionen, darstellt.” (ebd., S. 148) Bourdieu, der
Alltagserfahrungen also grundsätzlich einen hohen Stellenwert beimisst, widerspricht an dieser
Stelle etwa Schütz, der in den sozio-kulturellen Rahmenbedingungen “bloß den Horizont [einer]
Tätigkeit” sieht (Schütz 2004, S. 70), und will zunächst genau jenen Bruch vollziehen, wie es vom
Objektivismus vorgesehen wird. Die Praxeologie möchte nun aber die “dialektiken Beziehungen
zwischen diesen objektiven Strukturen und den strukturierten Dispositionen, die diese aktualisieren
und reproduzieren” (ebd., S. 147) aufzeigen und nachzeichnen. “Die praxeologische Erkenntnis
annulliert nicht die Ergebnisse des objektiven Wissens, sondern bewahrt und überschreitet sie,
indem sie integriert, was diese Erkenntnis ausschließen mußte, um allererst jene zu erhalten.” (ebd.,
S. 148) Anschaulich wird dies an Bourdieus Studie Die feinen Unterschiede (1982), in der er nachweist,
dass sich objektive Strukturen (insbesondere die soziale Klassenlage) auf individuell-
psychologische Dispositionen wie etwa Geschmacksurteile niederschlagen. Er zeichnet hier jedoch
keinen determinierenden Strukturalismus nach, sondern entwirft das Konzept des Habitus, der
entgegen den linearen Gesetzmäßigkeiten von Strukturelementen einer praktischen Logik folgt
und diese Mechanismen in die Praxis überträgt. So ist der soziale Raum – also das, was im groben
als gesellschaftliche Struktur begriffen wird – für Bourdieu eine “abstrakte Darstellung, eine
Konstruktion”, vergleichbar mit einer Landkarte, welche die Totalität von Positionen sichtbar
macht, “die von den Akteuren selbst weder in ihrer Gesamtheit noch in ihren vielfältigen
Wechselbeziehungen jemals wahrnehmbar sind” (Bourdieu 1982, S. 277). Er unterscheidet sich
demnach fundamental vom praktischen Raum, der voll von Leerstellen und Diskontinuitäten
erscheint. Als Wirkmechanismus des praktischen Raums ist der Habitus – als “System dauerhafter
Dispositionen” (Bourdieu 2015, S. 165) – nun gleichermaßen strukturiert wie strukturierend, d.h. er
ist zum einen “Erzeugungsprinzip objektiv klassifizierbarer Formen von Praxis” (Bourdieu 1982, S.
277), umgekehrt zugleich aber auch Klassifikationssystem. Wenn wir als Beispiel den Zusammenhang
zwischen Klassenlage (Position im sozialen Raum) und Geschmacksurteil (dauerhafte
Dispositionen – Habitus) nehmen, so ist der Habitus geprägt von der klassenspezifischen
Sozialisation (strukturiert), zugleich jedoch formen die kollektiven Geschmacksurteile die
Kategorienbildung dessen, was wir als Klasse begreifen (strukturierend). Das Konzept des Habitus
ermöglicht folglich einen neuen Blick auf soziale Praktiken, die sie weder als individuelle
Ausdrucksformen noch als übergeordnete Systeme begreift.
Welche Bedeutung ein solcher Zugang für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit hat, die sich
mit dem Wirkungsmechanismen und Besonderheiten von kulturellem Erbe befasst, wird
insbesondere am Beispiel von Retroinnovationen, also sozialen Handlungskonzepten, die zwar

74
explizit auf eine kulturelle Tradition verweisen, aber gleichzeitig eine historische Diskontinuität
aufweisen, sichtbar. Um eine solche Retroinnovation handelt es sich bei der Fisser Gerste. In
diesem Fall lassen sich klar individuelle Bemühungen nachzeichnen, die nicht nur einer
fortwährenden Reproduktion einer sozialen Praktik dienten, sondern eine klare und intendierte
Wandlung einer beinahe vergessenen Kulturpraxis (in diesem Fall die Kultivierung einer
endemischen Getreidesorte) zum Ziel hatten. Gleichzeitig wird offensichtlich, dass diese
Handlungen nicht im „luftleeren“ Raum geschahen, sondern eingebettet waren in sozial
transferierte Wissensbestände, Narrative und Wertmuster. Folglich würde ein behavioristischer
Ansatz zu kurz greifen. Umgekehrt könnten die individuellen Anstrengungen, auch gegen
anfängliche Widrigkeiten ein solches Projekt zu lancieren, aus einer strukturalistischen Perspektive
nicht erklärt werden.
Weitere Grundlagenarbeit zum Komplex der Praxistheorien, auf die sich vor allem die Gruppe um
Andreas Reckwitz bezieht, wurde von Theodore R. Schatzki geleistet. Schatzki (2016, S. 29ff)
beschreibt Praxistheorie als ein Konzept “flacher Ontologien”. In soziologischen Theorien ist
vielfach eine Ontologie implizit, bei der mehrere “Realitätsebenen” in einem hierarchischen
Verhältnis zueinander stehen. Diese Ebenen – meist als Mikro- und Makroebene konzeptualisiert
– sind entweder durch Kausalität (die Prozesse der einen Ebene bestimmen die der anderen) oder
durch Supervenienz (Prozesse in der einen Ebene ziehen zwangsläufig korrespondierende
Prozesse in der anderen Ebene nach sich) miteinander verbunden. Ein plastisches Beispiel hierfür
wäre etwa das Basis-Überbau-Theorem, wie es hier im Rahmen der materiellen Kulturtheorie
besprochen wurde. Hier stellen Sein und Bewusstsein zwei voneinander getrennte Ebenen dar, die
durch gewisse Wirkmechanismen aneinander gebunden sind. Schatzki will von einem solchen
Modell abkommen: “Praxisontologien sind flach, weil sie erstens Praktiken als zentrales Element
der Konstitution sozialer Phänomene begreifen und zweitens davon ausgehen, dass Praktiken sich
nur auf einer Ebene erstrecken.” (Schatzki 2016, S. 32) Das Soziale setzt sich für Schatzki aus
“Bündeln von Praktiken” und “materiellen Arrangements” zusammen, lediglich die Natur stellt
für Schatzki eine gesonderte Ebene dar. Obwohl Schatzki bemüht ist, Bourdieu in sein Konzept
einer flachen Ontologie zu integrieren, zeigen sich im Vergleich doch teils gravierende
Unterschiede. Schatzkis Perspektive ist wesentlich näher an einem methodologischen
Individualismus, der nach Schatzki zwar ebenfalls ein hierarchisches Verhältnis ontologischer
Ebenen negiert, aber bei dem Individuen als einzig verbliebene Sozialkategorie auch keine Ebene
bilden. Bourdieu umgekehrt lehnt eine individualistische Perspektive rundheraus ab, weil sie wie
oben beschrieben keinen Blick auf das Mehr an Sinn hat, das Handlungen innewohnt. Und
während Struktur für ihn zwar ein abstraktes Konzept ist, das sich letztlich nur an seinen

75
praktischen Manifestationen beschreiben lässt, sind ihre Auswirkungen durchaus real. Dies
unterstreicht einmal mehr, dass nicht von DER Praxistheorie gesprochen werden kann.

6.2. Andreas Reckwitz: Praktiken als kleinste Einheit des Sozialen


Ein umfassender und aktueller Versuch eine allgemeine Praxistheorie zu formulieren, findet sich
bei Andreas Reckwitz. Reckwitz legt seine Praxistheorie so an, dass nicht Norm- oder
Symbolsystem, Diskurs oder Kommunikation die kleinste Einheit des Sozialen und damit
präferierte Analyseeinheit sind, sondern ein an Schatzki angelehnter Nexus von routinierten
Handlungs- und Sprechakten, der durch ein implizites Verstehen “zusammengehalten” wird. Diese
routinierten und implizit verstandenen Akte stellen eine soziale Praktik dar (Vgl. Reckwitz 2010,
S. 113). Demnach stellt die Praxistheorie eine Unterkategorie der “cultural theories” dar welche sich
von den klassischen Modellen des Homo Economicus (darunter fasst Reckwitz alle soziologischen
Theorien zusammen, die im weitesten auf dem Rational Choice Ansatz basieren) und des Homo
Sociologicus (hierunter fallen alle Sozialtheorien welche Handlungen vor dem Hintergrund Normen-
und Rollensysteme betrachten) dadurch unterscheiden, dass sie Handlung anhand symbolischer
Sinnstrukturen erklären (vgl. Reckwitz 2002, S. 244). Diese Positionierung der Praxistheorie
jenseits eines individuellen und eines strukturellen Erklärungsansatzes des Sozialen liegt, wie
bereits dargelegt, durchaus auf einer Linie mit den Positionen von Bourdieu und Schatzki.
Reckwitz (vgl. ebd., S. 246ff) arbeitet aber zurecht heraus, dass dieser Anspruch keineswegs ein
Alleinstellungsmerkmal der Praxistheorien ist. Als andere Formen dieser unter cultural theories
zusammengefasster Position nennt Reckwitz den Mentalismus, den Textualismus und den
Intersubjektivismus. Eine Abgrenzung zu diesen Strömungen kann das Verständnis der
Praxistheorie weiter schärfen: Für Reckwitz unterscheiden sich die Zugänge insbesondere dadurch,
wo sie das Soziale verorten, d.h. wo die primäre Analyseeinheit angesetzt wird. Für den kulturellen
Mentalismus (als Pionier eines solchen Verständnisses macht Reckwitz Ferdinand de Saussure aus)
ist hier die Bewusstseinsstruktur von hervorstechender Bedeutung. Für ihn ist das Soziale ein
Resultat symbolischer Strukturen des Unterbewussten, womit die soziale und die psychologische
Ebene ident werden: Es sind diese unterbewussten Strukturen, welche die soziale Ordnung
hervorbringen. Im Textualismus (hierunter fallen insbesondere Theorien, die auf den Arbeiten von
Clifford Geertz und Michel Foucault aufbauen) werden diese unterbewussten Strukturen nun
gewissermaßen externalisiert: Sie werden nicht mehr den individuellen Mentaleinheiten
zugeordnet, sondern Verkettungen von Zeichen und Symbolen, Diskursen oder
Kommunikationssystemen beschrieben. Der Intersubjektivismus (Beispielhaft hierfür ist etwa die
Theorie des kommunikativen Handelns von Jürgen Habermas) letztlich konzipierte eine

76
emergente Entität, die aus der Interaktion resultiert (die Welt 3 in den Worten Karl Poppers), so
dass aus dem gegenseitigen Sprechakt eine objektive Wirklichkeit erwächst. Dieser Ansatz fußt auf
der sogenannten linguistischen Wende, die Sprache zu einer unhintergehbaren Bedingung des
Denkens erhob. Die Praxistheorie hingegen postuliert, wie bereits dargelegt, sogenannte Praktiken
als Analyseeinheit der Sozialtheorie.
Für Reckwitz sind dabei zwei Aspekte von zentraler Bedeutung für die Praxistheorie: Erstens
richtet die Praxistheorie den Fokus verstärkt auf die Materialität der Praktiken, wobei der
Körperlichkeit eine besondere Aufmerksamkeit zukommt. Der Körper ist in der Praxistheorie kein
vernachlässigbares Nebenprodukt oder erfüllt eine nicht näher zu beschreibende Trägerfunktion,
wie sie ihm etwa vom Behaviorismus beigemessen wird, sondern stellt selbst einen integralen
Bestandteil einer Praktik dar. “The body is [...] not a mere ‘instrument’, which ‘the agent’ must
‘use’ in order to ‘act’, but routinized actions are themselves bodily performances (which does not
mean that a practice consists only of these movements and of nothing more, of course).” (Reckwitz
2002, S. 251) Damit wird bereits der Unterschied zu den oben erwähnten anderen Typen der
sozialen Kulturtheorien deutlich. Im Gegensatz zum Mentalismus wird Bewusstsein und Körper
nicht voneinander getrennt, sondern stellen gewissermaßen einen unteilbaren Nucleus dar und
anders als beim Textualismus und Intersubjektivismus wird das Soziale nicht veräußert, sondern
ist auf eine leibliche Dimension angewiesen. “Eine Praktik besteht aus bestimmten routinisierten
Bewegungen und Aktivitäten des Körpers.” (Reckwitz 2010, S. 114) Die körperlichen Aktivitäten
umfassen dabei nicht nur internalisierte Bewegungsabläufe, wie sie etwa beim Einsatz eines
Werkzeugs zu Tage treten, sondern auch “intellektuelle” Kompetenzen, wie Sprechen oder Lesen.
Deswegen begreift Reckwitz Praktiken als “skillful performance von kompetenten Körpern” (ebd., S.
113, Hervorhebungen im Original). Das implizite Wissen einer Tätigkeit wird so als Aspekt der
Körperlichkeit konzipiert. Das Soziale ist eine Praktik entweder als eine kollektive körperliche
Aktivität, also in Form der Interaktion, oder in ihrer intersubjektiven Anerkennung als legitimes
Exempel einer Praktik. Der Aspekt der Materialität beschränkt sich allerdings nicht nur auf die
körperliche Dimension, auch die Materialität der Dinge wird im Kontext zu anderen
sozialtheoretischen Ansätzen unterstrichen. Dabei bemüht Reckwitz einen sehr breiten Artefakt-
Begriff, der sämtliche Gebrauchsgegenstände des Alltags inkludiert. Ähnlich dem Körper stellen
diese Artefakte keine Begleiterscheinung sozialer Praktiken dar, sondern sind vielmehr als ein Teil
von ihnen zu begreifen. Auch sie befinden sich – im Bild Schatzkis Forderung nach einer flachen
Ontologie gesprochen – auf ein und derselben Ebene, d.h. dass sie die Praktiken weder bestimmen,
noch von ihnen geformt sind. So können Artefakte einerseits nicht ohne eine entsprechende
Kompetenz benutzt werden, diktieren die Praktik also nicht, und lassen andererseits keine

77
beliebige Nutzung zu. Dieser Aspekt der Materialität ist besonders – mehr als die Körperlichkeit
– aufschlussreich für die Betrachtung von kulturellem Erbe, denn wie bereits eingangs dargelegt,
mutet die Trennung von materiellem und immateriellen Kulturerbe zuweilen durchaus beliebig an,
was eine wissenschaftliche Beschreibung von ICH verkompliziert. Die Einsicht, dass auch ICH
zwangsläufig eine materielle Dimension impliziert, kann hier Klarheit bringen. Weiters verbirgt
sich hier ein Hinweis, worauf das Bedürfnis, kulturelles Erbe zu pflegen, fußen könnte. “When
particular ‘things’ are necessary elements of certain practices, then, contrary to classical sociological
argument, subject–subject relations cannot claim any priority over subject–object relations, as far
as production and reproduction of social order(liness) is concerned.” (Reckwitz 2002, S. 253) Mit
dem Ansatz der Praxistheorie lässt sich etwa die Instandhaltung der verbliebenen Wassermühlen
in Maria Luggau eher erklären, als mit den hier besprochenen materialistischer Kulturtheorien.
Simmel und Taylor wiederum mögen so einem Verhalten gegenüber prinzipiell aufgeschlossener
sein, haben aber kein Auge für die Besonderheiten der Materialität an sich.
Neben der Materialität streicht Reckwitz die implizite Logik der Praxis heraus (Vgl. Reckwitz 2010,
S. 115f). Bereits bei Bourdieu wurde auf die die autonome Logik der Praxis verwiesen. Was bei
ihm allerdings ein epistemologisches Problem ist, ist bei Reckwitz zunächst eines der sozialen
Ordnung. Denn, wie er herausgearbeitet, die expliziten vorgebrachten Regeln einer Praktik sind
keinesfalls zwangsläufig ident mit ihrer impliziten Logik. Diese Logik beinhaltet Elemente der
Intentionalität, lässt sich aber nicht ausreichend dadurch erklären; ebenso beinhaltet sie
Normenstrukturen, aber sie darauf zu reduzieren würde ebenso zu kurz greifen. Reckwitz
beschreibt diese Logik folglich als ein inkorporiertes Wissen, das einer Praktik nicht vorausgeht,
sondern ein simultaner Bestandteil ist. Es ist auch keinem Individuum zuzuordnen, sondern muss
als Bestandteil einer Praktik verstanden werden.

“Jede Praktik und jeder Komplex von Praktiken – vom Zähneputzen bis zur Führung eines
Unternehmens, von der Partnerschaft bis zur Verhandlung zwischen Konfliktparteien – bringt sehr
spezifische Formen eines praktischen Wissens zum Ausdruck und setzt dieses bei den Trägern der
Praktik voraus. Beim Vollzug einer Praktik kommen implizite soziale Kriterien zum Einsatz, mit denen
sich die Akteure in der jeweiligen Praktik eine entsprechende »Sinnwelt« schaffen, in denen Gegenstände
und Personen eine implizite gewusste Bedeutung besitzen, und mit denen sie umgehen, um
routinemäßig angemessen zu handeln.” (ebd., S. 116f)

Dieses praktische Wissen ist dabei nicht nur ein konkretes Wissen um einen Sachverhalt, es ist
vielmehr als ein Verständnis der Welt zu begreifen. Die Tatsache, dass es der Praktik und nicht
dem/der Akteur_in innewohnt, erklärt, weshalb dieses Wissen von den involvierten Individuen
nicht zwangsläufig sprachlich ausformuliert werden kann.

78
Damit sind bereits die Grundelemente der Praxistheorie vorgestellt worden. Bevor diese nun
allerdings auf den Sachverhalt der vorliegenden Arbeit angewandt werden sollen, werden wir den
Blick zunächst noch auf Elizabeth Shove richten, welche die Bestandteile einer Praktik in sehr
plastischer Weise arrangiert hat, was einen intuitiven Zugang erleichtert.

6.3. Elizabeth Shove: Die Elemente einer Praktik

Wie Reckwitz und Schäfer unterstreicht auch Shove die besondere und vielfach vernachlässigte
Bedeutung der konkreten Materialität des Sozialen.31 Was Shoves Arbeit aber für die hier
vorliegende Problematik einer soziologischen Konzeptualisierung von kulturellem Erbe so
bedeutend macht, ist, dass sie ihre Überlegungen nicht um ein Problem der sozialen Ordnung
konzipiert, sondern vielmehr nach den Bedingungen von sozialem Wandel fragt und folglich
Praktiken dynamisch konzipiert. Diese Perspektive der konstanten Erneuerung durch
fortwährende Reproduktion, ist bei der Betrachtung des Phänomens immateriellen Kulturerbes
besonders hilfreich. Denn Wandel, auch wenn das im ersten Moment widersinnig zu sein scheint,
ist eine immanente Komponente von ICH, die zuerst durch ihre dezidierte Negierung zum
Vorschein tritt. Kulturerbe, so das implizite Narrativ, trotzt entweder dem Wandel der Zeit von
innen heraus oder muss, durch Unterstützung aus dem Außen, vor ihm bewahrt werden. Dabei ist
offensichtlich, dass die betrachte Praktik selbst auch einen historischen Wandel durchläuft: Die
involvierten Personen, die Abläufe, die Wahrnehmung, die materiellen Komponenten, die
Verzahnung mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen – sie alle verändern sich im Laufe der
Zeit. Aus Sicht der Praxistheorie handelt es sich dabei um einen unhintergehbaren Prozess, den
zu Leugnen absurd wäre. Trotzdem bleibt im Falle von ICH der Verweis auf einen oftmals nicht
näher definierten, aber unveränderlichen „Kern“, eine Komponente, die überzeitlich die Integrität
der heridifizierten Praktik garantiert. Diesen zu fassen, soll nun mit Hilfe der Überlegungen Shoves
greifbarer werden.
Shove beschreibt Wandel dabei als fortlaufenden Vorgang und nicht als eruptiven Schock,
Innovationen im Bereich der Praktiken sind ein “ongoing and not an on-off process” (Shove et al.
2012, S. 11). Demnach ist Wandel ein immanenter Bestandteil einer Praktik. Shove stützt ihre
Analyse von sozialen Praktiken dabei auf zwei zentralen Annahmen: “The first is that social
practices consist of elements that are integrated when practices are enacted. The second is that

31
Shove zeigt dies Beispielhaft an der Entwicklung und Verbreitung von Nordic Walking. Erst die Einbeziehung
eines speziellen Materials, der Walking-Stöcke, lässt eine eigene Praktik, die über landläufiges Gehen hinausreicht,
entstehen. Eigene Forschungsteams befassen sich mit dem Einfluss der Stöcke, Kurse werden organisiert und
Ratgeber geschrieben. (Shove/Pantzar 2005)

79
practices emerge, persist and disappear as links between their defining elements are made and
broken.” (ebd., S. 21)
Shove versucht, aufbauend auf den Arbeiten von Reckwitz, die Elemente, aus denen sich eine
Praktik zusammensetzt, zu katalogisieren. Reckwitz listet unter anderem körperliche und mentale
Aktivitäten, Dinge inklusive ihres Gebrauchs, explizites Wissen und Hintergrundwissen auf. Shove
systematisiert diese Aspekte nun und führt sie in ein dreiteiliges System über (vgl. Shove et al., S.
23): Praktiken konstituieren sich demnach aus materials, worunter Shove “objects, infrastructure,
tools, hardware and the body itself” zusammenfasst. Als zweites Element macht sich competences
aus, hierunter fallen “multiple forms of understanding and practical knowledgeability”. Schließlich
beschreibt Shove meaning als verbleibendes Element. Dies Kategorie enthält “mental activities,
emotion and motivational knowledge.” Während bei materials und competence erstens weitgehend
Klarheit darüber vorliegt, was darunter zu verstehen ist und zweitens großteils Einigkeit unter
praxistheoretischen Autor_innen über ihre Bedeutung herrscht, stellt das Element meaning ein
komplexeres Problem dar. Dabei ist wichtig, die hier angelegte Sinnstruktur nicht mit Rationalität
zu verwechseln, sondern eine breite Konzeption von meaning anzulegen. Praktiken konstituieren
sich nun aus den interdependenten Verbindungen zwischen diesen drei Elementen, sie sind ein
emergentes Produkt, dass nur dort aufzutreten vermag, wo material, competence und meaning in ein
sinnvolles Verhältnis gesetzt werden können. Als plakatives Beispiel mag etwa der Fußball dienen.
Ein Ball, der auf einer Wiese liegt, “initiiert” das Spiel nicht, er determiniert das Spielverhalten
nicht. Er stellt allerdings einen Teil der unverzichtbaren materiellen Basis des Spiels dar. Von
Fußball lässt sich aber erst dort sprechen, wo diese Dimension mit der Motivation zu spielen
(meaning) und einem gültigen Spielprinzip - das Runde muss ins Eckige - inklusive der geteilten
Regeln (competence) in Verbindung tritt. Dieses Dreieck lässt sich nicht von einem Eckpunkt aus
konstruieren oder ableiten, sondern entsteht erst aus ihrem Zusammenspiel.

Abb.1.: Das Dreieck einer Praktik nach Shove, eigene Darstellung

80
Dies führt über zum zweiten Punkt in Shoves Modell, dem sozialen Wandel. Denn die hier
beschriebenen Verbindungen (links) sind weder von einem der Elemente determiniert, noch stellen
sie einen historischen Endpunkt dar: “(...) connections between defining elements have to be
renewed time and again. This suggests that stability and routinization are not end points of a linear
process of normalization. Rather, they should be understood as ongoing accomplishments in
which similar elements are repeatedly linked together in similar ways.” (ebd., S. 24) Hier wird der
Kerngedanke der Praxistheorie besonders greifbar: Praktiken sind nicht a priori in der Welt
vorhanden, sie manifestieren sich lediglich im konkreten Vollzug und bleiben nur so lange
lebendig, solange ihre Durchführung wieder und wieder “performt” wird. Sie sind aber ein “Mehr”
als es von individuell-rationalistischen Ansätzen erklärt werden könnte, da die Elemente, aus denen
sie sich konstituieren, im Gegensatz zu Praktiken durchaus eine Resilienz aufweisen. Sie sind relativ
stabil und können sowohl räumliche wie zeitliche Veränderung überdauern (vgl. ebd., S. 44). Da
sie aber stets neu in Verbindung gesetzt werden müssen, ist Wandel ein immanenter Teil von
Praktiken, der sich allerdings nicht willkürlich, sondern in Bezug auf stabile Elemente vollzieht.

6.4. ICH als Praktik


Wie könnte vor diesem theoretischen Hintergrund nun eine Konzeption von immateriellem
Kulturerbe aus der Perspektive der Praxistheorie aussehen? Der Ausgangspunkt der hier
angestrebten Überlegungen besteht in der Einsicht, dass die landläufige Handhabung des
Kulturerbekonzepts an einem unzureichenden Kulturbegriff krankt. Bei der Annäherung an den
Kulturbegriff wurde herausgearbeitet, dass Kultur sowohl einen materiell fundierten
Wirkmechanismus wie ein subjektives Bedürfnis und Bestreben darstellt. Beide Dimensionen
lassen sich in die Analyse der Praxistheorie einfügen. “Die Praxistheorie begreift Kultur als
fundamentale Aspektstruktur jeglicher Form von Sozialität.” (Schäfer 2014, S. 79) Karl Hörning
(2004) spricht in diesem Zusammenhang von einer kulturellen Rahmung der Praxis. Damit soll zum
Ausdruck gebracht werden, dass in den Interaktionen des Alltags zumeist nicht anhand offizieller
Codes und expliziten Handlungsnormen verlaufen. Gleichzeitig greift es aber auch zu kurz, sie als
bloße Verhaltensregelmäßigkeiten abzutun. Höring (ebd., S.148f) unterscheidet in diesem
Zusammenhang zwischen expliziten Regeln und impliziten Normen. Diese impliziten Normen
bilden sich entlang eines praktischen Wissens heraus (“Gewusst, wie”) und werden, wo es sich
bewährt hat, in explizite Regeln (“Gewusst, dass”) überführt. Dieses praktische Wissen weist nun
einen kulturellen Rahmen auf, sprich sozial breit akzeptierte Standards. Damit wird, wie bei
Reckwitz, Kultur aus Sicht der Praxistheorie als Hintergrundwissen verstanden, welches eine
Verbindung von Kompetenz und Performance ermöglicht. Auf das Modell von Shove übertragen,

81
das Praktiken als Verbindung von material, competence, und meaning beschreibt, kann Kultur als die
dominante Art und Weise, wie diese Verbindung ausgebaut werden, aufgefasst werden. Hier wird
der zirkuläre Charakter, den die theoretische Auseinandersetzung mit dem Kulturbegriff aufgezeigt
hat, anschaulich: Die Art, wie Praktiken ausgestaltet werden (Wie-Tun) ist geprägt von den
vorangegangenen Praktiken und kulturell geformt. Gleichzeitig stellen diese Praktiken selbst (Was-
Tun) Kulturformen dar und präformieren somit weitere Praktiken.
Im besonderen Maße gilt das nun für Praktiken, die sich aktiv vorangestellten Kulturformen
zuwenden: Eine explizit praxistheoretische Auseinandersetzung mit kulturellem Erbe findet sich
bei Schäfer (2014). Schäfer hält fest, dass die Trennung zwischen materiellem und immateriellem
Kulturerbe aus Sicht der Praxistheorie obsolet wird. Bereits in der Rezeption von Barbara
Kirschenblatt-Gimblett, die Kulturerbe als metakulturelle Produktion beschreibt (siehe Kapitel
3.5), wurde aufgezeigt, dass die Trennlinien zwischen diesen Kategorien vielfach keinesfalls so
scharf verlaufen, wie intuitiv naheliegend. Schäfer geht nun davon aus, dass kulturelles Erbe
zwangsläufig eine Artefaktdimension und ein Tun miteinander verbinden. Die können
Versammlungsorte oder Kostüme auf der einen, Kompetenzen in Pflege, Repräsentation und
Klassifizierung auf der anderen Seite sein (vgl. ebd., S. 77). Dies steht in einer Linie mit den
Ausführungen und Reckwitz und Shove, die insistieren, dass jede Praxis sowohl Materialitäten wie
auch Kompetenzen inkludiert. Wenn diese Perspektive akzeptiert wird, ist die Grundlage
geschaffen, Kulturerbe als Praktik zu beschreiben. Dafür scheint es gar nicht notwendig, wie
Schäfer, die Trennung zwischen materiellem und immateriellem Kulturerbe gänzlich über Bord zu
werfen. Entscheidend ist nur, dass beide Formen sowohl eine Materialität wie eine notwendige
sozial transferierte Kompetenz aufweisen. In den hier vorgestellten Fallbeispielen würde dies wie
folgt dargestellt werden können:

82
Materialität Kompetenz

Enzner § Enzianpflanzen und ihr § Losverfahren und Zuteilung der


natürliches Habitat Grabrechte
§ Werkzeuge zum “Stechen” § Wissen um die Standorte der
§ Transportmittel und Enziankulturen
Destillerie § Wissen um das “Stechen” der
§ Konsumationsräume Wurzeln
§ Wissen um die Verarbeitung
§ Konsumation

Lesachtaler Brot- § Topologie § Erhalt und Instandhaltung der


und Mühlenkultur § Wassermühlen historischen Wassermühlen
§ Getreide und Äcker § Anbau von Getreide
§ Backöfen § Bedienung der Mühlen
§ Brot § Brotbacken
§ Ausrichten von Festivitäten

Krautinger § weiße Stoppelrübe § Anbau der weißen Stoppelrübe


(Krautrübe) § Verarbeitung der Rübe
§ Anbauflächen § Destillieren des Brands
§ Destillerie

Fisser Gerste § zuerst: altes Saatgut § Wissen um den Anbau


(Genbank) § Anbaukoordination
§ Saat § Bierbrau
§ Äcker § Destillieren des Whiskeys
§ Gerste § Verarbeitung zu Brot und Suppe
§ wiedererrichtete Mühle
Tab.1.: Kompetenzen und Materialitäten der diskutierten Fallstudien

Es ist allerdings nicht damit getan, kulturelles Erbe als Praktik zu beschreiben und die einzelnen
Fälle dementsprechend in ihre Komponenten aufzugliedern. Denn kulturelles Erbe weist aus Sicht
der Praxistheorie eine besondere Qualität auf: Es stellt nicht nur eine Praktik dar, die eine
besonders lange historische Kontinuität aufweist – wenn dem so wäre, müsste etwa das Essen mit
Besteck als kulturelles Erbe angesehen werden oder das Benutzen der Eisenbahn, die seit über 200
Jahren Verwendung findet und damit einen größeren Zeithorizont aufweist als viele der
Phänomene, die unter ICH verhandelt werden und dennoch geradezu der Inbegriff der Moderne
ist, von der sich Kulturerbe abzugrenzen sucht – sondern es handelt sich um vielmehr um
Praktiken, die eine Neuausrichtung als kulturhistorischen Verweis erfahren haben. Dies findet auf

83
zwei Ebenen statt: Zuerst findet durch die Konzeption einer Praxis als Kulturerbe eine
Transformation ihrer selbst statt. Dies wurde bereits in Kapitel 3.3 behandelt. Denn mit der
Neuverortung der Praxis im Nexus des Kulturerbes findet eine Kontextualisierung der Praktik
statt, welche auch ihre formelle Ausgestaltung tangiert. “World heritage is first and foremost a list.
(...) The list is the context for everything on it.” (Kirshenblatt-Gimblett 2004, S. 57) Eine Praktik
wird nun nicht mehr schlicht reproduziert, sondern die Performance findet in einer Art statt, die
ihren langfristigen Fortbestand sicherstellen soll. Dazu gehören etwa eine explizite Kanonisierung
ihrer Bestandteile, ein öffentliches Zurschaustellen oder andere Aspekte, die mit einer Praktik
verwoben werden, um ihren Platz in der Reihe der Formen des kulturellen Erbes zu gewährleisten.
“In a word, safeguarding requires highly specialized skills that are of a different order from the
equally specialized skills needed for the actual performance of Kutiyattam or Bunraku or Georgian
polyphonic song.” (ebd., S. 55) Auch Schäfer teilt diese Einschätzung, wonach nun nicht mehr die
Praktik als solche zu betrachten ist, sondern sie von “ein[em] Komplex aus Relationen, aus
Verbindungen zu anderen Zeiten, Orten und Entitäten” definiert wird (vgl. Schäfer 2014, S. 78).
Die Transformation auf der zweiten Ebene verläuft gewissermaßen subtiler. Denn selbst dort, wo
die “Form” ident bleibt, die Praktik keine neuen Elemente aufnimmt und ihrer historischen
Vorlage äußerlich gleicht, zeigt sie sich im Inneren eine Neukonstitution. Bislang wurden bei den
hier behandelten Fallbeispielen die Dimensionen der Materialität und der Kompetenz analysiert
und aufgeschlüsselt. Nach Shove ist eine solche Betrachtung, wie dargelegt, jedoch unzulänglich,
da die dritte Komponente, meaning – was sich wohl am treffendsten mit Sinnstruktur übersetzen
lässt –, ausgespart wurde. In ihrer historischen Genese gleicht sich diese Sinnstruktur all der hier
beleuchteten Fällen: Sie entstanden im Rahmen berglandwirtschaftlicher Subsistenzwirtschaft und
sind gekennzeichnet von dem Bestreben, kargen und unwirtlichen Bedingungen zu trotzen und
zusätzliche Güter zu generieren. Dies ist selbstverständlich nicht die Grundlage aller Praktiken aus
dem Nexus des kulturellen Erbes – manche sind in der religiösen Dimension verwurzelt und
weisen eine dementsprechende Sinnstruktur auf, andere entspringen dem Feld der Künste. In ihrer
Gestalt als kulturelles Erbe folgen sie allerdings einer neuen Sinnstruktur. “Translokale Effekte
können ebenso wie eine veränderte taxonomische Klassifikation, eine andere museale Präsentation
oder eine Restaurierung die Wahrnehmung eines Objektes und die Praxis des Umgangs mit ihm
wandeln.” (ebd., S. 78) Die Praktik stellt nun einen Verweis dar und reproduziert sich nicht aus
sich selbst heraus, sondern in Referenz zu einem Geflecht an Kulturformen. Aus diesem Grund
bezeichnet Schäfer Praktiken, die als kulturelles Erbe klassifiziert werden, als Praktiken der
Zeitbearbeitung. Ihnen kommt eine neue “Aufgabe” zu, nämlich die Auseinandersetzung mit der
Kulturgenese einer Gemeinschaft.

84
Die im Rahmen des Projektes vollzogenen Erhebungen haben jedoch verdeutlicht, dass sich die
Sinnstruktur von gelebten Formen des kulturellen Erbes keineswegs darauf beschränkt. Vielmehr
lassen sich verschiedene, in Teilen überlappende Motivlagen anhand der geführten Interviews
ausmachen.

Authentizität
In Anlehnung an die Überlegungen Taylors kann der vielleicht grundlegende Aspekt einer
heredifizierten Praxis als Authentizität bezeichnet werden. Im Gegensatz zu anderen
Motivationen, die von den involvierten Personen in den Interviews klar benannt werden, lässt sich
diese Form von meaning nur indirekt rekonstruieren. So werden in Interviews etwa auf “Urkräfte”
verwiesen oder von einem mit der Praktik verbundenen „Geist“ gesprochen. Wenn eine
esoterische Betrachtung ausgeschlossen wird, wird so schnell deutlich, dass es sich um ein
tieferliegendes Bedürfnis handelt, zu dem die Akteur_innen selbst keinen direkten Zugang haben.
Die Vergangenheit stellt dabei einen zentralen Bezugspunkt dar, wie das Interview mit einem der
Pioniere der Wiederbelebung der Fisser Gerste unterstreicht: “weil sie immer gfragt haben, was da
besonderes an der gerste is, dass das so eine dynamik kriegt, dann sag i das is der geist, der drinnen is, die geschichten,
(...).” Ein anschauliches Beispiel findet sich in Bezug auf die historischen Mühlen im Lesachtal,
deren Bedeutung im Interview mit der Gründerin der Mühlenvereins wie folgt beschrieben wurde:
“holz, a holzbau is immer schen, wasser, is immer schen und grundnahrungsmittel, das tägliche brot und das
verbindet, also so überschaubar in ana klanen wassermühle, des gfallt mia einfach. und die erbliche, die erbliche
komponente spielt auch eine rolle. weil mein vater war bauer und müller, der war echter müller, gelernter müller hat
aber dann den hof übernehmen müssen, mei großvater war bauer, müller und bürgamasta und das spielt schon einen
rolle. also der geruch von dieser mühle, (...), das war meine frühe kindheit und des hab i von anfang an, hat ma des
gefallen. des war eigentlich unter anderem der hauptgrund.”
Hier zeigt sich die starke subjektive Hinwendung zur Praktik. Sie stellt einen Verweis auf eine
vorangegangene Gesellschaftsformation dar und erfüllt damit ein in Kapitel 5 herausgearbeitete
zentrale Bedingung von kulturellem Erbe. Damit hält die Authentizität eine Sonderstellung inne.
Authentizitätsbedürfnis reiht sich nicht ein in eine Schlange von neu emergierten Sinnstrukturen,
sondern stellt gewissermaßen das Kernkriterium von ICH dar. Erst diese Subjekthaltung setzt eine
Praktik in den Nexus des immateriellen Kulturerbes, d.h. dass die formelle Ausgestaltung der
Praktik alleine nicht ausschlaggebend sein kann bezüglich ihrer Kategorisierung. Die
Subjektposition kann nach diesem Verständnis den Schlüssel zu einer gelungenen Überführung
einer historischen Praktik in die Gegenwart darstellen.

85
Dies darf aber nicht im Umkehrschluss heißen, dass alleine die Subjektposition für die Definition
von ICH herangezogen werden darf. Die im Rahmen dieser Arbeit entwickelte Argumentation
vertritt vielmehr die Position, dass es eines Zusammenspiels bedarf: Das subjektive
Authentizitätsbedürfnis gerichtet auf eine historische Bruchstelle, die somit zur Verheißung in der
Gegenwart auf eine andere Form des Lebens jenseits der aktuell vorherrschenden Bedingungen
wird.

Ökonomie
Die ökonomisch geprägte Motivation nimmt unter den nicht der Authentizität zuzuordnenden
Sinnstrukturen eine ambivalente Position ein. Einerseits entspringen die untersuchten Praktiken
einer ökonomischen Logik - allerdings einer von Subsistenzwirtschaft geprägten, die einer anderen
gesellschaftlichen Konfiguration, sprich materiellen Reproduktionsbedingungen, entstammt. Hier
könnte jedoch ein Naheverhältnis ausgemacht werden. Andererseits scheint die ökonomische
Motivation in den Interviews schambehaftet. Viele Erzeuger_innen, etwa beim im Falle des
Krautingers, geben zu Protokoll, mit dem Verkauf der Produkte keinen nennenswerten Gewinn
zu lukrieren, obwohl zum Teil mit modernster Maschinerie große Mengen an Rüben verarbeitet
werden. Intuitiv scheint ein ökonomisches Ansinnen demnach im Widerspruch zum
Authentizitätsgebot einer Praktik aus dem Nexus des immateriellen Kulturerbes zu stehen. Dass
die Mechanismen der Ökonomie eine Bedrohung für ICH angesehen werden, ist durchaus
nachvollziehbar. Im Ansatz zeigt sich das sowohl bei der Fisser Gerste wie auch beim Krautinger.
Im Fall der Fisser Gerste dominiert ein ökonomischer Akteur die komplette Produktionskette und
verhindert so eine freie Entfaltung. Den involvierten Landwirt_innen bleibt nur ein kleiner Teil
der Ernte für den Eigengebrauch, etwa um Brot zu backen oder die in Tirol traditionell verbreitete
Gerstensuppe zu kochen. Andererseits muss angeführt werden, dass die überdurchschnittlichen
Preise, die für das regionale Getreide ausbezahlt werden, den Wiederaufstieg der Fisser Gerste in
weiten Teilen erst ermöglicht hat. In der Wildschönau werden vermehrt Rüben aus anderen
Regionen und industrieller Fertigung importiert um Krautinger zu brennen. Dieses Produkt darf
nach Übereinkunft der ARGE Krautinger zwar nicht Wildschönau in der Produktbezeichnung
führen, dennoch stellt es einen bedenklichen Eingriff in die Praktik dar. Praktiken, gerade im
Bereich der Landwirtschaft, sind auf eine gewisse Wirtschaftlichkeit angewiesen, um langfristig
bestehen zu können. Wo die Grenze einer ökonomischen Valorisierung verläuft und wo eine
Kommerzialisierung den Kern einer ICH-konsistenten Praktik aushöhlt, lässt sich von außen oft
schwer festmachen. Werden jedoch die obig ausgeführten Überlegungen aufgegriffen, wonach sich
ICH nicht ausschließlich durch die historisch tradierten Formen einer Praktik, sondern über die
Subjekthaltung der Authentizität definiert, kann eine Antwort gegeben werden. Problematisch

86
wird der Aspekt der Ökonomisierung demnach dann, wenn dadurch die Authentizitätsbedürfnisse
der involvierten Subjekte in den Hintergrund treten. Eine abschließende Beurteilung ist demnach
nur von einem Standpunkt innerhalb der Gemeinschaft aus möglich.

(Ökologische) Hochwertigkeit/Regionalität
Grundsätzlich muss von einer analytischen Perspektive ausgehend unterstrichen werden, dass
ökologische Hochwertigkeit und Regionalität keinesfalls eine Einheit bilden müssen. Zwar ist es
durchaus naheliegend, dass ein landwirtschaftlicher Ansatz, der auf ökologische Nachhaltigkeit
bedacht ist, sich um regionale Kreisläufe bemüht, kurze Transportwege anstrebt und eine enge
Bindung der Abnehmer_innen forciert, gesetzt ist dies allerdings nicht. Auch ist Regionalität
keinesfalls ein Garant für eine ökologische Bewirtschaftung – die Herkunft sagt zunächst nichts
über den Einsatz von Spritzmittel, die Intensität der Flächennutzung oder die Biodiversität aus. In
den Interviews zeigt sich allerdings an vielen Stellen, dass gerade für die involvierten
Landwirt_innen hier eine untrennbare Einheit besteht, wie sie sich in folgender Aussage des oben
angeführten Pionier der Fisser Gerste widerspiegelt: “das war das, was man mich gefragt hat, was ich
eigentlich will mit der sache. dann habe ich gesagt, das saatgut zu hundert prozent in ´tirol geschaffen, zu hundert
prozent von tiroler bauern, ökologisch sauber, also keine schmähs. es gibt hier nur hundert prozent, also dass das
sauber angebaut wird ohne kunstdünger, ohne irgendwelche hilfsstoffe und dass das dann zu hundert prozent in dem
produkt drinnen ist.” Immer wieder wird deutlich, dass Regionalität mit höherwertigen und
umweltverträglichen Produkten identifiziert wird. Spannend ist dabei, dass diese Perspektive auf
die unterschiedlichsten Arbeitsschritte angelegt wird. Dies kann sowohl die ursprüngliche
Herkunft des Saatguts betreffen, den Anbau oder die Verarbeitung. Im Fall der Fisser Gerste
wurde in Interviews die Annahme geäußert, dass ein Getreide, dass über einen sehr langen
Zeitraum Bestandteil der lokalen Bevölkerung war, für diese Bevölkerung besonders gut
bekömmlich sei, weil sich der Körper daran gewöhnt habe: “ja einfach das regionale. man muss denken,
unsere vorfahren haben sich an lebensmittel gewöhnt, unser körper, die hier wachsen. über hunderte jahre oder
vielleicht über tausende jahre oder länger. wieso soll ich dann ein lebensmittel herholen oder essen, was man gar nicht
wirklich gewöhnt ist zum essen. und die sind natürlich für unsere gegend geschaffen, einer der am berg oben ist, der
ist für den berg geschaffen und der, der am meer ist, ist vielleicht eher fürs meer geschaffen oder für diese gegend. und
so ist es mit dem getreide auch, das ist widerstandsfähig, kleinstrukturiert angebaut braucht man auch keine
schädlingsbekämpfung, so wie wir landwirtschaft betreiben.” An anderer Stelle stand wiederum die
Hochwertigkeit des Produkts aufgrund der ursprünglichen Kultivierung ohne den Einsatz von
industriellen Anbaumitteln im Vordergrund. Die besondere Qualität liegt demnach im Korn. Im
Lesachtal, wo die Mühlen im Fokus der kulturellen Praktik stehen, kaufen einige Mühlenbesitzer

87
Korn aus dem Tal oder aus benachbarten Regionen zu, um es für den Eigengebrauch selbst zu
mahlen. Die besondere Wertigkeit der Lebensmittel liegt in der Wahrnehmung der involvierten
Subjekte dann nicht in der der Herkunft der Saat, es werden handelsübliche Sorten bezogen. Als
wichtig wird hingegen die Anbaumethode, also die biologische Landwirtschaft, empfunden. Ihr
wird eine höhere Wertigkeit zugesprochen. Die bedeutsamste Komponente ist jedoch die
Verarbeitung, also das Mahlen des Getreides, von Hand und nach althergebrachten Verfahren. So
wird der langsame Mahlprozess als besonders schonend für das Getreide beschrieben, so dass
mehr Inhaltsstoffe erhalten blieben als bei einer industriellen Verarbeitung.
Demnach bilden in der Wahrnehmung der Akteur_innen Regionalität, Verträglichkeit und
ökologische Nachhaltigkeit eine Einheit. Dabei werden unterschiedliche Erklärungsansätze
herangezogen. Ein verbindendes Element stellt das Vertrauen in einen Prozess vor Ort dar, auf
den Einfluss genommen werden kann und der als Gegenentwurf zu einer industriell-großskalierten
Landwirtschaft wahrgenommen wird.
Auf den Wert und die Bedeutung einer untersuchten Praktik angesprochen, stellt diese (regionale)
Hochwertigkeit ein oft genanntes Motiv dar. Dabei lassen sich zwei Zugänge ausmachen: Einer
Gruppe geht es um die Hochwertigkeit an sich, ihnen ist daran gelegen (auch für den Eigenbedarf)
qualitative und besondere Produkte zu erzeugen, die einen klaren Gegenentwurf zur oftmals
dezidiert abgelehnten dominanten Lebensmittelindustrie darstellen. Dabei spielen Gesundheit,
eine kritische Haltung gegenüber konventioneller Lebensmittelerzeugung und den
Wirtschaftskreisläufen im Allgemeinen eine Rolle. Einer zweiten Gruppe gilt Regionalität vor allem
als vorgelagertes Motiv, das im Letzten auf die obig beschriebene ökonomische Motivation abzielt,
wie folgende Aussage eines Verantwortlichen bei Zillertal Bier widerspiegelt: „wenn regionalität keine
rolle spielen würde, dann hatten solche firmen wie wir keine berechtigung, wenn es nur über den preis geht. weil was
is denn regionalität mehr wie die geschichte erzählen, wie dass ma de kennt, de was herstellen (…), dass ma vertrauen
hat in die marke, in die familie, weil ma weiß, de machen des so, oder so, oder so, auf diese spezielle art und weise.“

Gemeinschaft/soziale Nachhaltigkeit
Bei der Auswertung der Interviews konnte noch eine weitere Form von meaning destilliert werden:
Gemeinschaft und soziale Nachhaltigkeit. Die Einbindung und die Festigung einer Gemeinschaft
kann ein sinnstiftendes Element für die Reproduktion einer historischen Praktik sein. Besonders
deutlich wird dies im Falle des Enzners in Galtür. Wie in Kapitel 2 beschrieben war die
Verarbeitung der Enzianwurzel zu Schnaps in vielen Regionen Tirols verbreitet. Einzig in Galtür
hat sich diese Praktik erhalten, die heute auf einer gesetzlichen Ausnahmeregelung für die
Gemeinde fußt. Heute wird am Kirchtag das Recht zum Wurzelstechen unter der einheimischen

88
Bevölkerung verlost. Hier zeigt sich bereits eine Transformation der Praktik und eine Ausweitung
der sozialen Dimension. Sowohl im Feld der Produktion (das Auslosen, das Graben, das Brennen)
als auch der Konsumation wird eine identitätsstiftende Dimension deutlich. Durch die
Partizipation wird das gemeinschaftliche Zugehörigkeitsgefühl gestärkt, was gerade in einer stark
touristisch geprägten Region von besonderer Bedeutung ist. So wird der Enzner Außenstehenden
in der Regel nicht zugänglich gemacht und auch Mitglieder der lokalen Gemeinschaft konsumieren
ihn meist nur zu besonderen Anlässen. Dazu ein lokaler Experte: “da musst schon einen speziellen handel
gemacht haben, dass er dir dann zum schluss einen enzner auf den tisch stellt.”
Auch bei der Fisser Gerste lässt sich diese Sinnstruktur in den Interviews nachweisen. Hier steht
sie allerdings in einem starken Konkurrenzverhältnis zur ökonomischen Nutzung, wie oben
aufgezeigt wurde. Nichtsdestotrotz spielt „für die region selber denke ich, und vor allem für die beteiligten,
ist es eine ganz wichtige geschichte, es ist sicher identitätsstiftend. das bedeutet, der regionale bezug, der ja in anderen
bereichen auch immer wichtiger wird, ist da ganz hervorragend gegeben. und das tolle war, dass das die leute ja aus
eigenem interesse gemacht haben, das ist also kein aufgesetztes projekt. solche gibt es auch, aber die projekte, die von
unten, von bottom-up sind, die funktionieren meistens viel besser.“

Festzuhalten ist, dass diese Liste keinesfalls einen Vollständigkeitsanspruch darstellt. Sie ist
vielmehr eine Systematisierung der in den Interviews zum Ausdruck gebrachten Subjekthaltung,
die im Anschluss auf das Modell von Shove übertragen wurden. Eine Sonderstellung hat jedoch
die Authentizität inne. Dieses amorphe und schwer fassbare Konzept wurde in seiner
theoretischen Bedeutung schon bei Taylor herausgearbeitet. Es stellt die Grundlage für einen als
gelungen anzusehenden Umgang mit ICH dar. Es zeigt sich jedoch in der empirischen Erhebung,
dass Authentizität nicht exklusiv die Sinnstruktur einer Praktik im Nexus von ICH bilden muss,
sondern zusätzliche Motive bedeutsam sein können. Zu diskutieren bleibt, ob nicht gerade die
Pluralität von meaning hilfreich ist, um einer Musealisierung entgegen zu wirken.

89
7. Fazit oder: Das Cola-Fröschli
Im Kulinarischen Erbe der Schweiz (Imhof 2015, S. 162) findet sich ein Eintrag, der im ersten
Moment dazu verleitet, die Augenbrauen hochzuziehen: Das Cola-Fröschli. Ein industriell
gefertigtes Zuckerbonbon mit Cola-Geschmack, das seit 1938 in Basel-Landschaft hergestellt wird.
Jährlich werden Millionen Stück davon produziert und erfreuen sich ungebrochen großer
Beliebtheit. Aber irgendwie will sich dieses Bild doch nicht so recht einfügen, in die Vorstellung
von einem (wenn hier auch kulinarischen und nicht explizit kulturellem) Erbe, das eher
Assoziationen an unberührte Natur (die allerdings in Wahrheit auch seit Jahrhunderten kultiviert
wird) und unverarbeitete Lebensmittel, eventuell Landwirt_innen in Trachtenkleidung, aber
keinesfalls an Dinge wie Glukosesirup oder Genuss-Säure hervorruft. Andererseits sind die
formalen Kriterien – eine lebendige Tradition mit einer involvierten Gemeinschaft – gegeben, so
dass zunächst nichts dagegenspricht, das Cola-Fröschli als Erbstück Schweizer Kultur anzusehen.
Nehmen wir das Cola-Fröschli also zum Anlass, die hier angestrengten Überlegungen nochmals
zusammenzufassen und anhand der im Rahmen der Arbeit angestellten Ausführungen zu
ergründen, welche theoretischen Argumente diese zunächst diffuse Empfindung der Irritation
stützen.
Ziel der vorliegenden Arbeit war es, ein tieferes Verständnis für die impliziten (Wert-)
Vorstellungen über das Konzept von immateriellem Kulturerbe zu ermöglichen. Vor diesem
Bemühen wurde als grundlegende Frage festgehalten:

Auf welcher theoretischen Grundlage kann eine soziologische Auseinandersetzung mit dem Phänomen Kulturerbe
erfolgen?

Es wurde demnach explizit der Anspruch formuliert, sich nicht in allgemeiner, oft essayistischer
Form dem Thema zu nähern, wie das in vielen Publikationen zu beobachten ist, sondern eine
Auseinandersetzung mit dem Konzept von ICH vor dem Hintergrund des soziologischen
Theoriekanons auszuarbeiten. Dabei wurde eingangs nachgezeichnet, dass die Auseinandersetzung
mit der eigenen historischen Genese, deren Manifestation als Kulturerbe beschrieben werden
kann, eine bedeutende, integrative Funktion einer Gemeinschaft darstellt. Das Konzept von
Kulturerbe weist jedoch das Risiko stark musealisierender Tendenzen auf und ist oft blind
gegenüber den dunklen Flecken (etwa Machtasymmetrien, Unterdrückungsmechanismen oder
Exklusionsprinzipien) von Kulturen. Ein zentrales Problem scheint dabei zu sein, dass, zumindest
im Fall der UNESCO-Konvention, eine größtmögliche Offenheit gegeben sein soll, die keine

90
Kulturformen ausschließt. Allerdings läuft der Ansatz, Kultur nicht näher zu definieren, Gefahr,
Kulturerbe zu einer inhaltslosen Floskel verkommen zu lassen.
Eine Auseinandersetzung mit dem Begriff der Kultur hat offenbart, dass hier zumeist entweder
eine Hinwendung zur Seins-Dimension (Kultur als die impliziten Regeln, Werte, Weltdeutungen
etc. einer Gemeinschaft) oder zu Sollens-Dimension (Kultur als die gelungene Einfügung des
Individuums in die sozialen Verhältnisse) nachzuweisen ist. Kulturerbe jedoch spricht hier eine
spannende Dichotomie an: Es stellt zum einen Verweis auf vorangegangene Verhältnisse dar und
beschreibt somit den Seins-Zustand einer früheren Gesellschaftsformation. Gleichzeitig fungiert
es als Anrufung und erhebt ein vergangenes Sein zum gegenwärtigen Sollen. Vor dem Hintergrund
dieser Überlegungen wird verständlich, weshalb Kulturerbe schwerlich in bestehende Konzepte
von Kultur, etwa der von Reckwitz (2006, S. 64ff) vorgelegten Typologie, einfügen lässt.
In einem ersten Schritt wurde deshalb ein materialistischer Kulturbegriff herausgearbeitet. Auf das
Konzept des Kulturerbes bezogen, lassen sich dabei zwei zentrale Aussagen hervorheben: Erstens,
Kultur fasst nicht nur die gültigen, kollektiven Sinnstrukturen einer Gemeinschaft – sie ist in ihrer
Genese gebunden an die innere soziale Logik und eng verzahnt mit den materiellen
Reproduktionsbedingungen einer Gesellschaft. Zweitens, und das wird insbesondere unter
Einbezug der Kritischen Theorie ersichtlich, stellt die Gewordenheit der Kultur kein Garant ihrer
Gelungenheit dar. Nicht jede historisch tradierte Kulturform ist genuin erstrebens- und damit
schützenswert. Zusammengenommen lässt sich aufs Konzept des Kulturerbes festhalten:
Kulturerbe lässt sich als Verweis auf eine vorangegangene materielle Reproduktionsordnung der
Gesellschaft lesen, im Falle der hier thematisierten Fallbeispiele der Alpinen Essenskultur handelt
es sich dabei um Subsistenzwirtschaft. Mit Hinblick auf das Cola-Fröschli mag diese Perspektive
auch das diffuse Unwohlsein erklären bei dem Gedanken, das Cola-Fröschli dem Nexus des
(kulturellen) Erbes zuzuordnen: Es fehlt der Verweis auf die durch einen Bruch zu
unterscheidende, vorangestellte Gesellschaftsformation. Zu nahe an den gegenwärtigen
Verhältnissen scheint die maschinelle Fertigung. Auch Cola, wenn auch schon weit älter als ein
Jahrhundert, fungiert als Symbol der aktuellen kapitalistischen Wirtschaftslogik und ist somit kaum
geeignet, das Bedürfnis nach einem Vermerk einer „anderen“ Welt zu befriedigen.
Wenn nun historisch tradierte Kulturformen nicht automatisch als erhaltenswert angesehen
werden können, drängt sich die Frage auf, welche Kriterien herangezogen werden, um
schützenswerte kulturelle Praktiken zu identifizieren. Die Antwort darauf kann selbstverständlich
keine allgemeine Gültigkeit beanspruchen, sondern nur aus individuellen Subjekthaltungen
bestehen. Hier erwiesen sich die Ausführungen Georg Simmels als dienlich, der Kultur als eine
Wechselwirkung zwischen objektiviertem Geist und subjektiver Position begreift. Er sieht als „(…)

91
die Formel der Kultur, dass subjektiv-seelische Energien eine objektive, von dem schöpferischen
Lebensprozess fürderhin unabhängige Gestalt gewinnen und diese ihrerseits wieder in subjektive
Lebensprozesse in einer Weise hineingezogen wird, die dessen Träger zur abgerundeten
Vollendung seines zentralen Seins bringt.“ (Simmel 1917) Schützenswert sind demnach
Kulturformen, die für die gelungene Psychogenes von Bedeutung sind. Mit Charles Taylor gelang
es, dieses, im Subjekt zu verortende Bedürfnis nach kulturellen Verweisen zu benennen:
Authentizität. Hier konnte eine erste Antwort auf die zentrale Frage der Arbeit gegeben werden:
Immaterielles Kulturerbe tritt dort zutage, wo eine Kulturpraxis auf Grund eines Transformationsprozesses der
Ordnung der materiellen Reproduktion einer Gesellschaft dieser äußerlich geworden ist. Zugleich bleibt diese
Kulturpraxis weiterhin bedeutend für das Authentizitätsbedürfnis der involvierten Subjekte.
Vor diesem Zugang scheint eine Heredifizierung (vgl. Kirchengast 2009) des Cola-Fröschlis
zumindest als fragwürdig. Selbst, wenn die subjektive Hinwendung gegeben ist, scheint es zu sehr
in der gegenwärtigen Epoche verankert um das Kriterium des historischen Verweises zu erfüllen.
Damit besteht ein klarer Unterschied zu den im Rahmen der Arbeit diskutierten Fallbeispielen, die
zwar in Teilen auf eine ähnlich lange Geschichte zurückblicken (etwa bei der Fisser Gerste), aber
als Referenzpunkt einer anderen Gesellschaftslogik dienen.
Diese Überlegungen können jedoch nur den ersten Schritt bilden, da sie noch nicht die eingangs
verlangte Handhabbarkeit des Konzepts gewährleisten können. Hier kann in einem zweiten Schritt
auf die Praxistheorie gebaut werden. Wenn Kultur nicht als äußere Struktur und nicht als Summe
individueller Handlungen, sondern als Praktik gedacht wird, kann die transtemporale Qualität von
Kulturerbe erfasst werden. Der Dualismus von Seins- und Sollens-Ebene kann so konzeptionell
überwunden werden. Elizabeth Shove liefert darüber hinaus ein Modell, das uns hilft, konkrete
Fallbeispiele von ICH zu analysieren. Demnach lassen sich Praktiken in eine Wechselwirkung aus
competence, material und meaning aufschlüsseln. Hier tritt eine entscheidende Eigenschaft zu Tage:
Praktiken sind keine überzeitlichen Konstanten, sondern fußen auf konstanter Reproduktion.
Kulturerbe, so wurde gezeigt, weißt nun einen Bruch in der Sinnstruktur (meaning) auf. An die
vormalige Logik (in unseren Beispielen die bereits erwähnte Subsistenzwirtschaft) tritt das mit
Hilfe von Simmel und Taylor identifizierte Authentizitätsbedürfnis. Dieses konnte auch empirisch
in den geführten Interviews nachgewiesen werden. Allerdings konnten ebenso weitere
Sinnelemente identifiziert werden, die eine Ergänzung zum Authentizitätsbedürfnis darstellen
können.

Immaterielles Kulturerbe schützt das Besondere, stärkt das Bewusstsein für die historische Genese
von sozialen Gebilden und schafft ein Bild der Pluralität. Der Verweis auf die noch intakten

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Praktiken einer vormaligen Gesellschaftsformation, die nach einer anderen Logik strukturiert war,
zeigt die Möglichkeiten eines anderen Lebens auf, der als Gegenentwurf zur herrschenden
Gesellschaftsordnung ein Refugium darstellen kann. Eine gelungene Auseinandersetzung mit der
Kulturgenese verklärt die Vergangenheit zu keinem Ort der Sehnsucht, sondern bezieht auch
dunkle Flecken in der Geschichte mit ein, so dass Vergangenheit und Gegenwart gemeinsam Wege
in die Zukunft weisen können.

Ausblick
Im Rahmen der vorliegenden Arbeit war es nicht möglich, einen umfassenden Blick auf die mit
der Etablierung, Kodifizierung und letztlich Institutionalisierung von Kulturerbe verbundenen
Machtstrukturen zu beleuchten. Zwar haben Hobsbawm und die Kritische Theorie den Blick hin
in diese Richtung geöffnet, aber den konkreten Fragen, wer die Deutungshoheit über die einzelnen
Kulturpraktiken inne hat, welche Parteien von dem Prozess ausgeschlossen werden und welche
Agenda bei der Ausgestaltung der Reglementierung verfolgt wird, konnte hier nicht nachgegangen
werden. Hier sollte die weitere Forschung anknüpfen und die Frage nach den Machtstrukturen in
einem nächsten Schritt explizit in den Fokus rücken.
Grundsätzlich kann festgehalten werden, dass eine Anwendung der Praxistheorie auf das
Kulturerbekonzepts als sehr vielversprechend scheint. Da sich die vorliegende Arbeit
ausschließlich auf ICH konzentrierte, könnte eine Ausweitung auf kulturelles Erbe in seiner
materiellen Manifestation ergiebig sein, da gerade die Praxistheorie der Materialität eine besondere
Rolle beimisst.
Ebenso scheint eine Vertiefung der Frage vor dem Hintergrund der Resonanztheorie von Hartmut
Rosa (2018) zweckdienlich. Während bei Taylor vor allem intersubjektive Beziehungen im Fokus
seiner Überlegungen zu Authentizität stehen, weitet Rosa mit seinem Resonanzbegriff den Blick
und widmet sich explizit – mit Verweis auf Taylor und Rosas Lieblingsbeispiel Pink Floyd –
gelingenden Subjekt-Objekt-Beziehungen (vgl. Rosa 2011). Die Resonanztheorie in Bezug zur
Praxistheorie zu setzen verspricht folglich nicht nur in Hinblick auf das Konzept von Kulturerbe
von Interesse zu sein, sondern stellt eine spannende Herausforderung für die gegenwärtige
theoretische Soziologie dar.

93
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