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Faculté des Lettres, Langues et Arts (FLLA)

Département d’Allemand

ER-GIDD

(Equipe de Recherche en Germanistique, Interculturalité et Développement Durable)

2018-2020

Mémoire N°......…/

Zur Verortung der Heimat im Kontext von der Migration:


Untersuchung zu Stefanie Zweigs Nirgendwo in Afrika

Pour l’obtention du Grade de Master en Etudes germaniques interculturelles

Domaine : Lettres, Langues et Arts

Mention : Etudes germaniques

Spécialité : Etudes germaniques interculturelles

Présenté par

KOSSI Aladji Daniel

Soutenu publiquement : Le 30/12/2020

Composition du jury de soutenance

Président du jury : M. AZAMEDE Kokou, Maître de Conférences

Examinateurs/ Juges : M. DOUTI Boaméman, Maître-Assistant

Directeur de Mémoire : M. AHOULI Akila, Maître de Conférences


Widmung

Im Andenken an meinen unvergessenen Vater Kossi Komla

2. | S e i t e
Danksagung

Ich danke all denjenigen herzlich, die an die Entstehung dieser Arbeit geglaubt und mich
dabei unterstützt, betreut, ermutigt und immer wieder neu motiviert haben. Danken möchte
ich vor allem Dr. Akila Ahouli und Dr. Ingo Breuer, die meine Arbeit durch ihre sorgfältige
Arbeit und hilfreichen Hinweise unterstützt haben. Ich möchte mich auch bei den Leitern und
Mitgliedern des Forschungslabors Équipe de Recherche en Germanistique Interculturalité et
Développement Durable (ER-GIDD), insbesondere Prof. Serge Glitho, Dr. Boaméman Douti
und Dr. Mantahèwa Lebikassa, bedanken, die mir bereitwillig wichtige Literatur vermittelt
und mich immer durch kritisches Nachfragen zur Schärfung meiner Gedanken angeregt
haben. Frau Gisela Raith danke ich herzlich für das Korrekturlesen und die Gespräche zu
Heimatkonzepten. Darüber hinaus geht mein Dank an meine FreundInnen, Judith Lippelt,
Tim Kerkmann, Lauritz Hahn, Konstantin Klingbeil, Richard Naab, Bilikisu Salami, Amevi
Kossi, Ehon Eric, Pawiwa Tchandaou und Panamlé Lam, die mich angespornt oder die Arbeit
lektoriert haben. Frau Juliane Liebrecht und ihren Söhnen Paul und Moritz bin ich dankbar
für ihre emotionale Unterstützung. Dank gebührt auch Frau Yendouboame Lare Kombate,
Frau Labilé Sepopo Lassey und Frau Afiavi Ahoyi Azongnide, ohne deren Hilfe der
Masterstudiengang für mich nicht möglich gewesen wäre.

Mein großer Dank geht an den DAAD für die finanzielle Förderung der Arbeit in
Deutschland.

Dem International Office, vor allem Herrn Benjamin Chardey und Frau Nicole Conde, danke
ich für ihre hilfreiche Unterstützung an der Universität zu Köln.

Dem Schreibzentrum der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln danke ich für die
lehrreichen Informationen hinsichtlich Schreibtechnik und äußerer Gestaltung der Arbeit.

3. | S e i t e
Inhaltsverzeichnis

Widmung ..................................................................................................................... 2

Danksagung................................................................................................................. 3

Inhaltsverzeichnis ....................................................................................................... 4

0. Einleitung ................................................................................................................ 6
0.1. Zur Relevanz des Themas .................................................................................. 6
0.2. Fragestellungen und Untersuchungsziel ............................................................ 7
0.3. Zum Untersuchungsmaterial .............................................................................. 9
0.4. Forschungsstand und Eingrenzung des Themas ................................................ 9
0.5. Methodisches Verfahren und Gliederung der Arbeit ....................................... 13

1. Begriffliches Instrumentarium ........................................................................... 17


1.1. Heimat, Heimatgefühl, Heimatlosigkeit .......................................................... 17
1.2. Vaterland .......................................................................................................... 19
1.3. Fremde ............................................................................................................. 21
1.4. Interaktion von Identitäts- und Heimatkonstruktion........................................ 23
1.5. Individuelle Identität (Ich-Identität) ................................................................ 25
1.6. Kollektive Identität (Wir-Identität) .................................................................. 26
1.7. Stereotype als Katalysator der kollektiven Identität ........................................ 28

2. Analyse des Romans ............................................................................................. 31


2.1. Zur Entstehung der autobiographischen Erzählung Nirgendwo in Afrika ....... 31
2.2. „Leb Wohl, Vaterland! Jambo Bwana!“: Ein neues Leben in der Fremde ..... 33
2.3. Heimat als „erinnerte Wirklichkeit“ in der Fremde ......................................... 38
2.4. Neue Heimat in der Fremde ............................................................................. 42
2.5. Zerstörbarkeit der Heimat: Die Heimat liegt in Trümmern. ............................ 49
2.6. Die Sprache in der Heimat-Fremde-Konfrontation ......................................... 55
2.7. Stefanie Zweig und Regina Redlich: Zwischen Realität und Fiktion ............. 59
2.8. Zum exotischen Aspekt des Heimatkonzepts .................................................. 61

Schlussbetrachtung .................................................................................................. 65

Literaturverzeichnis ................................................................................................. 69

4. | S e i t e
Primärliteratur ......................................................................................................... 69
Sekundärliteratur ..................................................................................................... 69
Tertiärliteratur ......................................................................................................... 75
Fernsehsendung....................................................................................................... 75
Internetquellen ........................................................................................................ 75

5. | S e i t e
0. Einleitung

0.1. Zur Relevanz des Themas

Die Globalisierung bringt mit sich zunehmende Migrationsbewegungen. Die weltweiten


Migrationsströme haben die politischen und gesellschaftlichen Diskussionen zum Thema
„Heimat“ intensiviert. Heimat – verstanden als Zugehörigkeit zu einem geographischen Ort,
einer Sprache, einem Volk, einer Gruppe, einer Familie, einer sozialen Schicht – führt in den
Debatten im Kontext der Migration zur Frage nach Identität, Integration und Verortung der
Heimat. Diese Verbindung von Heimat mit Migration, Identität und sozialer Integration bzw.
Inklusion hat sie im Zeitalter von Globalisierung und Kosmopolitismus nicht nur zu einem
allgegenwärtigen Thema gemacht, sondern ihr auch ein breites Forschungsfeld eröffnet.
Exemplarisch hierfür ist das zweite prioritäre Themenfeld1 der aktuellen Forschungsthematik
der Universität Lomé, im Rahmen dessen die Heimatproblematik auf verschiedenen Ebenen
(Gesellschaft, Identität, Nation und Integration) behandelt wird. Auch das zweite2 und das
siebte Unterziel3 des zehnten Zieles von Agenda 20304 beschäftigen sich mit der Frage von
Migration und sozialer Inklusion, die im engen Zusammenhang zur Heimatthematik stehen.

Im Zusammenhang mit der aktuellen Forschungsthematik der Universität Lomé beschäftige


ich mich als afrikanischer Germanist und Mitglied der Forschungseinrichtung Équipe de
Recherche en Germanistique, Interculturalité et Développement Durable (ER-GIDD) – wie
auch die Leiter des Labors, Prof Akila Ahouli; Dr. Boaméman Douti sowie andere Kollegen
– intensiv mit der Thematik ‚Literatur und Entwicklung‘. Ausgehend von literarischen Texten
ist es mir möglich, mich im Rahmen der interkulturellen Germanistik mit Themen zu
beschäftigen, „die in den öffentlichen Diskursen zugleich auf universelle Probleme
verweisen, in der interkulturellen Fremderfahrung konstitutive Bedeutung haben und

1
Deuxième thématique de recherche (THERE) de la plateforme de la recherche scientifique à l’université de
Lomé :
2. Edification de la paix sociale (Herbeiführung sozialen Friedens)
2.1. Justice, sociétés et gouvernement (Justiz, Gesellschaft und Regierung)
2.1.3. Cohésion nationale et intégration régionale (Nationaler Zusammenhalt und regionale Integration)
2.1.3.6. Identité et nation en Afrique (Identität und Nation in Afrika)
2
10.2. Bis 2030 alle Menschen unabhängig von Alter, Geschlecht, Behinderung, Rasse, Ethnizität, Herkunft,
Religion oder wirtschaftlichem oder sonstigem Status zu Selbstbestimmung befähigen und ihre soziale,
wirtschaftliche und politische Inklusion fördern.
3
10.7. Eine geordnete, sichere, reguläre und verantwortungsvolle Migration und Mobilität von Menschen
erleichtern, unter anderem durch die Anwendung einer planvollen und gut gesteuerten Migrationspolitik
4
10. Ungleichheit in und zwischen Ländern verringern

6. | S e i t e
weltweit Anknüpfungsmöglichkeiten bieten.“5 Heimat —selbst wenn sie ein in keine andere
Sprache übersetzbares deutsches Wort ist— gehört zu diesen Themen, die in aller Munde sind
und weltweilt zu gesellschaftlichen Debatten führen. In dieser Arbeit soll der Heimatbegriff
im Kontext von Migration in Stefanie Zweigs Roman Nirgendwo in Afrika6 analysiert werden.
Dadurch habe ich vor, nicht nur einen ‚anderen Blick‘7 auf das Thema zu werfen, sondern
auch Paradigmen zu wechseln. Denn Heimat kann nicht mehr, wie zur Zeit des Biedermeiers8
im heutigen Zeitalter der Globalisierung noch in politisch nationalen und patriotischen
Diskursen verstanden wird. Heimat neu zu denken, ist schon ein Schritt im Kampf gegen die
Xenophobie und andere Diskriminierungen. So kann der Fremde in der Fremde Heimat
finden. Diese gesellschaftliche Toleranz beziehungsweise Akzeptanz von Fremde und
Fremdheit soll zur gesellschaftlichen Entwicklung beitragen.

0.2. Fragestellungen und Untersuchungsziel

Wirft man einen Blick auf die Geschichte der Menschheit, so fällt auf, wie mobil der Mensch
ist. „Wir sind alle Migranten“9 lautet der Titel eines Artikels der freien
Wissenschaftsjournalistin Saskia Gerhart, in dem sie hervorhebt, wie der erste Mensch aus
Afrika die Welt bevölkerte. Die Anforderungen des Arbeitsmarktes in einer zunehmend
globalisierten Welt zwingen heute viele Menschen zur Migration. Sie verlassen ihren

5
Vgl. Helene Griendl: „Interkulturelle Germanistik. Darstellung und Kritik“, aufrufbar auf:
https://homepage.univie.ac.at/franz.martin.wimmer/se02.html , Zugriff am 27. 07. 2019.
6
Stefanie Zweig: Nirgendwo in Afrika, München: Heyne 1995, S. 6. Zitat und Belege beziehen sich auf diese
Angaben. Seitnummern werden im Text angegeben.
7
Helene Griendl: „Interkulturelle Germanistik“, a. a. O.
8
„Einer der Höhepunkte [der] Verherrlichung der Heimat ist das Biedermeier (1815-1848). Im Mittelpunkt
dieser literarischen Epoche gibt es die Idee der eigenen heimischen Welt, in der man das deutsche gutbürgerliche
Leben führen kann. Die Betonung des vertrauten, idyllischen Raums bildet im Biedermeier das eigene Haus mit
der patriarchalisch strukturierten Familie. Lob des Hauses, Glorifizierung der Mutter aber vor allem auch die
Verehrung des Kindes als Bild der Unschuld und die Idealisierung des Wechsels der Generationen gehören zu
dieser Epoche. Eine solche idealisierte und sentimentale Idee der heimischen zyklischen Mikrowelt der
Kindheit/Vergangenheit funktioniert besonders als Kompensationsraum, in dem die Versagungen,
Unsicherheiten, Zufälligkeiten und Unbegreiflichkeiten des eigenen Lebens ausgeglichen werden und die
Annehmlichkeiten überhöht erscheinen: die Heimat, eine schöne, ausgeglichene Spazierwelt. Diese festen
Formeln des Pittoresken, die in den Bildern und Sprachbildern des Biedermeiers tonangebend waren, sind noch
bis heute maßgebend für die Vorstellung von der heimatlichen Lebenswelt als eine verengte und verarmte
idyllische Mikrowelt“: Hanne Gunst: „Es wurde eine berauschende Heimkehr.“. Heimkehr nach Afrika’. Eine
Untersuchung Stefanie Zweigs Afrikaromane Karibu heißt willkommen, Wiedersehen mit Afrika und Doch die
Träume blieben in Afrika als literarische Revisionen ‚unseres Afrikas’, Philosophische Fakultät, Universität
Gent, zur Erlangung des Mastergrades, vorgelegte Masterarbeit, Gent: 2008, S. 24.
9
Saskia Gerhart: „Evolution. Wir sind alle Migranten“ in: Zeit Online vom 21. September 2016, aufrufbar auf:
https://www.zeit.de/zustimmung?url=https%3A%2F%2Fwww.zeit.de%2Fwissen%2Fgeschichte%2F2016-
09%2Fevolution-mensch-wanderung-afrika-klima ,Zugriff am 05. 06. 2019.

7. | S e i t e
Geburtsort und ziehen aus beruflichen Gründen in die Fremde. Andere fliehen vor Kriegen,
die ihr Land verwüsten. Und viele weitere Menschen suchen wegen politischer und religiöser
Verfolgung Zuflucht in der Fremde. Das Exil der Juden und der von den Nationalsozialisten
Verfolgten in der NS-Zeit sowie die Situation der heutigen Asylbewerber und Flüchtlinge
sind hierfür veranschaulichende Beispiele.

Aufgrund von Sprachbarrieren oder in der Fremde erlebter sozialer Diskriminierung kann bei
einem Einwanderer das Gefühl der Heimatlosigkeit entstehen. Er fühlt sich nicht zuhause,
denn es bestehen Grenzen, die ihn von anderen trennen. Grenzen – so Joseph Gomsu –
verbinden und trennen zugleich. Manche sind sichtbar, andere eher unsichtbar“10. Die
vorliegende Arbeit legt den Fokus auf die sichtbaren und unsichtbaren Grenzen, die
Einwanderer bzw. Exilanten umgeben, und ihre Eingewöhnung in der Fremde nicht
erleichtern. Das sind konstruierte Identitäten und Nichtzugehörigkeitsgefühle die zur
zeitlichen und räumlichen Verortung der Heimat in der Fremde führen.

In der Fremde fühlen sich einige Exilanten noch der verlassenen heimatlichen Scholle und
dem dortigen Alltagsleben verbunden. Da die Heimat unerreichbar oder „unheimlich“11
geworden ist, bleiben ihnen nur Erinnerungen und die Heimatsprache als ein Stück Heimat in
der Fremde. Andere Exilanten aber überwinden diese Grenzen und finden durch Willen und
Akzeptanz eine neue Heimat in der Fremde.

Beispiel hierfür ist in Stefanie Zweigs autobiographischem Roman Nirgendwo in Afrika aus
dem Jahr 1995 zu finden. Zweigs Roman handelt von der jüdischen Familie Redlich (dem
Familienvater Walter, seiner Frau Jettel und der Tochter Regina), die wegen der
Judenverfolgung in der NS-Zeit Deutschland verlassen müssen. Die drei finden Zuflucht in
Kenia, wo der Vater auf einer Farm Arbeit findet. Die junge Regina fühlt sich wohl im neuen
Land. Die Eltern hingegen leiden unter Heimweh und haben Sehnsucht nach der verlassenen
Heimat. Während die Tochter sich rasch in der Fremde einlebt und dort eine neue Heimat
findet, suchen die Eltern Zuflucht in Erinnerungen und in der Muttersprache. Muttersprache
und Erinnerungen verbinden sie mit der verlassenen Heimat.

Daraus leitet sich die Frage ab, wo sich die Heimat im Kontext von Migration einordnen lässt?

10
Joseph Gomsu: „‚Erstgeborene‘ und ‚letzte Wilde‘. Grenzüberschreitung und Identitätsprobleme in Giselher
W. Hoffmanns Roman Die Erstgeborenen“, in: Carlotta von Maltzan /Akila Ahouli / Marianne Zappen-Thomson
(Hrsg.): Grenzen und Migration. Afrika und Europa, Bern: Peter Lang 2019, S. 9-20, hier S. 9.
11
W. G. Sebald: Unheimliche Heimat. Essays zur österreichischen Literatur, 4. Aufl., Frankfurt am Main:
Fischer 2012, S. 11.

8. | S e i t e
Bei der vorliegenden Untersuchung soll der zeitlichen und räumlichen Verortung der Heimat
im Kontext von Migration anhand von literarischen Figuren und deren Handlungen
nachgegangen werden.

Diese Arbeit stützt sich auf die Hypothese, dass Heimat an keinen festgelegten Ort gebunden
ist, sondern sich überall finden lässt.

0.3. Zum Untersuchungsmaterial

Seit der Antike finden sich bei Dichtern und Schriftstellern im Exil Werke zur Thematik
‚Heimat‘. Im deutschen Sprachraum erreicht die Heimatthematik ihren zahlenmäßigen
Höhepunkt jedoch bei Exilliteraten während und nach der NS-Zeit. Die Autorin des für die
vorliegende Arbeit ausgewählten Untersuchungsmaterials, Stefanie Zweig, gehört zu den
Schriftstellern der Exilliteratur, bzw. Emigrantenliteratur und ihr Roman Nirgendwo in Afrika
eignet sich aus mehreren Gründen zur Veranschaulichung der Thematik. Fast all ihre Afrika-
Romane (…doch die Träume blieben in Afrika (1998); Karibu heißt willkommen (2000);
Vivian und ein Mund voll Erde (2001) u.a.) sind von ihrem eigenen Aufenthalt in Afrika
inspiriert, wo sie ihre Kindheit verbracht hat. Die Hauptmotive ihrer Werke sind Heimat,
Sehnsucht und das Gefühl der Heimatlosigkeit. In vorliegender Masterarbeit wird vor allem
ihr Bestseller Nirgendwo in Afrika untersucht. 2001 fand die Verfilmung unter der Regie von
Caroline Link statt. Die Verfilmung wurde dann 2003 mit dem Academy-Award in der
Kategorie ‚Bester fremdsprachiger Film‘ ausgezeichnet. Wesentlich aus dem
Rezeptionsspektrum des Werks lässt sich seine Auswahlrelevanz für die vorliegende
Untersuchung nachweisen.

0.4. Forschungsstand und Eingrenzung des Themas

Über die Heimatthematik sind unzählige wissenschaftliche Arbeiten vorhanden. In seinem


Artikel „Heimat. Ein fragenreicher Gedankenstrom entlang von 22 Zitaten“, beleuchtet
Johann Georg Lughofer die Multidimensionalität von der Heimatthematik anhand von 22
Zitaten berühmter Philosophen, Schriftsteller und Wissenschaftler: Heimat ist nach Friedrich
Nietzsche und Irmgard Keun überall dort, wo es Schutz und Sicherheit gibt. Friedrich Schiller,
Johann Wolfgang von Goethe und Max Frisch hingegen finden Heimat im Menschen selbst.
Heinrich von Kleist sieht seinerseits Heimat in der Freiheit. Der Mensch finde seine Heimat,

9. | S e i t e
wo er sich frei fühle. Für Heinrich Böll bleibt Heimat die Sehnsucht nach der Kindheit, die
mit schönsten Erinnerungen verbunden ist. Laut den Exilanten Ernst Wiechert und Stefan
Zweig lernt man den Wert der Heimat erst zu schätzen, wenn man sie verloren hat. Der
Verlust der Heimat macht die Fremde aber nicht zur neuen Heimat, sondern die Heimat fremd,
meint Alfred Polgar. Für die Wissenschaftlerin Corinna Waffender und den Regisseur Edgar
Reitz bleibt Heimat zu guter Letzt eine Utopie.12 Diese Beleuchtung der Heimatthematik aus
unterschiedlichen Perspektiven zeigt sowohl die Mehrdeutigkeit vom Begriff ‚Heimat‘ als
auch die Schwierigkeit, diesen Begriff klar zu bestimmen. Obendrein bilden oft Orte und
Gefühle (Sicherheit, Freiheit, Vertrautheit und Bekanntheit) dabei eine untrennbare Einheit.
Heimat wird somit mittels Gefühle definiert, die mit einem gewissen Ort verbunden sind. Dies
zeigt, dass Heimat eine emotionale beziehungsweise soziale Konstruktion sein kann, die stark
von den persönlichen Erfahrungen geprägt wird. Dieser Aspekt des sozialen bzw.
emotionalen Wesens der Heimat soll in der vorliegenden Arbeit anhand der Hauptfiguren des
ausgewählten Romans näher betrachtet und diskutiert werden.

Neben dem mit einem Ort verbundenen Gefühl von Sicherheit, Freiheit, Vertrautheit und
Verborgenheit steht in der Heimatkonstruktion immer das Zugehörigkeitsgefühl: das Gefühl,
einem Sprachraum, Kulturkreis, Staat oder einer Region anzugehören, der/die sich von
anderen Sprachräumen, Kulturkreisen, Staaten und Regionen unterscheidet. Peter Weichhart
stellt in diesem Sinne in seinem Artikel „Heimat, raumbezogene Identität und Descartes‘
Irrtum“13 fest, dass sich Heimat sowohl auf eine einzelne Wohnung als auch auf Gebäude,
Regionen, Staaten, Städte, Kulturkreise und auch auf den Planeten Erde beziehen kann.

Werner J. Patzelt schließt im selben Zusammenhang in seinem Artikel „Heimat, Vaterland


und Patriotismus“14, dass Heimat „etwas ganz Irdisches [ist], nicht einen irgendwie nur
imaginierten Ort oder ein Ziel, das man erst erreichen will – wie jene ‚Heimat im Himmel‘“.
Vielmehr bezieht sich Heimat ihm nach auf Vaterland und Patriotismus.

12
Johann Georg Lughofer: „Heimat. Ein fragenreicher Gedankenstrom entlang von 22 Zitaten“, in: Ders. (Hrsg):
Zur Exophonie. Heimat – Heimatland – Heimatliteratur, aufrufbar auf:
http://www.goethe.de/ins/si/pro/10j/publikationen/exo-II-30-9-11-web.pdf , Zugriff am 05. 06. 2019.
13
Peter Weichhart: „Heimat, raumbezogene Identität und Descartes‘ Irrtum“, in: Martina Hülz et al. (Hrsg.):
Heimat. Ein vielfaltiges Konstrukt, Wiesbaden: Springer VS 2019, S. 53-56, hier S. 54.
14
Werner J. Patzelt : „Heimat, Vaterland und Patriotismus“ aufrufbar auf:
https://www.researchgate.net/publication/300911814_Heimat_Vaterland_und_Patriotismus, Zugriff am 10. 06.
2019.

10. | S e i t e
Diese Bindung von Heimat ans Vaterland schildert Samuel Salzborn in seinem Buch
Grenzenlose Heimat. Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Vertriebenenverbände15, in
welchem er die Situation vertriebener Deutscher analysiert und die Klage ihrer Verbände
beschreibt. Für diese Verbände liegt die Heimat in Deutschland, obwohl die Mitglieder ihre
Heimat verlassen mussten. Diese untrennbare Bindung an die Heimat in Deutschland fassen
sie so zusammen: „Denn wir sind als Deutsche eine Einheit geblieben und egal, ob
Deutschland groß ist oder klein, ob reich oder arm, ob glücklich oder unglücklich, es ist unser
Vaterland“.16 Über die Bindung ans Vaterland hinaus tritt Walter Legros nach in der
Heimatkonstruktion das Kriterium ‚Glück‘.17

In seinem Artikel „Le quartier de Bè comme lieu d’identité dans l’histoire du Togo“18erwähnt
Dotsé Yigbe Walter Legros, der in der Sendung ‚Karambolage‘19 feststellt, es gebe in der
deutschen Geschichte eine Zeit, in der man Heimat dem Elend gegenüberstellt. Das Wort
‚Elend‘ leite sich vom althochdeutschen ‚elilenti‘ ab und bedeute „im anderen Land“, in der
Fremde, wo man in der Verbannung lebt. Heimat hingegen gelte als ‚Glück‘. Heimat kann
folglich als ein Ort definiert werden, an dem man glücklich lebt.

Wie aber kam es dazu, dass die Juden nach der Judenverfolgung in der Fremde eine neue
Heimat fanden? Jerusalem und sein Tempel waren bereits im Jahre 70 zerstört worden. Diese
Frage ist Gegenstand des Buches der Historikerin und Journalistin Barbara Beuys Heimat und
Hölle: Jüdisches Leben in Europa durch zwei Jahrtausende: Religion, Geschichte, Kultur20.
Die Tatsache, dass die Juden nach dem Verlust ihrer Heimat eine neue Heimat in der Fremde
gefunden haben, beweist, dass man in der Fremde eine neue Heimat finden kann. Dass die
Fremde zur Heimat werden kann, zeigen unter anderem auch Rolf Parr in seinem Buch Die
Fremde als Heimat: Heimatkunst, Kolonialismus, Expeditionen21 und Rafatou Tchagao in

15
Samuel Salzborn: Grenzenlose Heimat. Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Vertriebenenverbände,
Berlin: Elefanten Press 2000.
16
Ebd., S.94.
17
Vgl. Dotsé Yigbé: „Le quartier de Bè comme lieu d’identité dans l’histoire du Togo“, in: Essoham Assima-
Kpatcha / Koffi Nutefé Tsigbe (Hrsg.): Le refus de l’ordre colonial en Afrique et au Togo (1884-1960), Lomé:
Presses de l’UL 2013, S. 381- 394, hier S. 385.
18
Ebd.
19
„Karambolage“ ist eine Fernsehsendung auf Arte, Konzipiert von der Französischen Filmemacherin Claire
Doutriaux, in der wöchentlich deutsch-französische Eigenheiten und Kuriositäten auf künstlerische humorvolle
und experimentelle Art und Weise vorgestellt und erklärt werden.
20
Barbara Beuys : Heimat und Hölle. Jüdisches Leben in Europa durch zwei Jahrtausende. Religion,
Geschichte, Kultur, Reinbeck bei Hamburg: rowohlt 1996.
21
Rolf Parr: Die Fremde als Heimat Heimatkunst, Kolonialismus, Expeditionen, Paderborn: Konstanz
University Press 2014.

11. | S e i t e
ihrer Doktorarbeit Das Heimatkonzept in Stefanie Zweigs Vivian und Ein Mund voll Erde.22
Das Heimatkonzept in Stefanie Zweigs Afrikaromanen ist aber für Hanne Gunst mit
exotischen und utopischen Darstellungen der Fremde und mit dämonischen, klischeehaften
Darstellungen der ursprünglichen Heimat verbunden23: „Afrika ist das Tierparadies“ und
„Europa der Kulturraum der ‚Enge ,Farblosigkeit und Monotonie‘, wo die Menschen,[…] nur
selten lachen“24. Europa ist auch mit „Depressionen, „Frust und Überdruß, Krisen und
Kriegen, Steuern, Börsenkursen und Reichtum“ assoziiert“25. Hanna Gunsts Überlegungen
beschränken sich aber nur auf drei Romane von Stefanie Zweig, unter denen Zweigs
Nirgendwo in Afrika nicht zu finden ist. Die vorliegende Arbeit setzt sich zum Ziel, den von
Gunst erwähnten exotischen Aspekt des Heimatkonzepts in Zweigs Romanen in ihrem Werk
Nirgendwo in Afrika zu untersuchen.

Im Mittelpunkt der genannten wissenschaftlichen Arbeiten steht der Begriff ‚Heimat‘ und
dessen Erläuterung bzw. seine Verwendung in unterschiedlichen Kontexten. Die zuletzt
erwähnten Arbeiten haben gezeigt, wie Heimat in der Fremde konstruiert werden kann. In
meiner Masterarbeit werde ich den Fokus auf den Aufbau der Heimat bei den Hauptfiguren
in Zweigs Nirgendwo in Afrika zu legen. Dabei werde ich Anpassungsprozess und -
schwierigkeiten der Hauptfiguren an ihre neue Umgebung interpretieren sowie ihr Gefühl der
Heimatlosigkeit näher untersuchen.

Über das ausgewählte Untersuchungsmaterial sind weitere wissenschaftliche Arbeiten


vorhanden. Die wichtigsten Arbeiten über Zweigs Roman Nirgendwo in Afrika sind unter
anderem die veröffentlichte Doktorarbeit von Lucile Bourcet-Salenson Stefanie Zweig et
l’exil juif au Kenya sous le Troisième Reich26 und ihr literaturkritischer Artikel „Remigrés
juifs allemands. Problèmes identitaires d‘après Stefanie Zweig “.27 Die beiden Arbeiten von
Lucile Bourcet-Salenson beschäftigen sich mit den während der nationalsozialistischen

22
Rafatou Tchagao: Das Heimatkonzept in Stefanie Zweigs Vivian und Ein Mund voll Erde, der Philosophischen
Fakultät der Universität zu Köln zur Erlangung des Doktorgrades vorgelegten Dissertation, Köln: 2018.
23
Vgl. Hanne Gunst: „Es wurde eine berauschende Heimkehr.“. Heimkehr nach Afrika’. Eine Untersuchung
Stefanie Zweigs Afrikaromane Karibu heißt willkommen, Wiedersehen mit Afrika und Doch die Träume blieben
in Afrika als literarische Revisionen ‚unseres Afrikas’, der Philosophischen Fakultät der Universität Gent zur
Erlangung des Mastergrades vorgelegten Masterarbeit, Gent: 2008, S. 94.
24
Ebd., S.76.
25
Ebd.
26
Lucile Bourcet-Salenson: Stefanie Zweig et l’exil juif au Kenya sous le Troisième Reich, Paris: Harmattan
2008.
27
Lucile Bourcet-Salenson: „Remigrés juifs allemands. Problèmes identitaires d‘après Stefanie Zweig “, in:
Anne Saint Sauveur-Henn (Hrsg.): Migration, Intégrations et identités multiples. Le cas de l’Allemagne au XXe
siècle, Sorbonne : Presses Sorbonne Nouvelle 2011, S. 147-156.

12. | S e i t e
Gewaltherrschaft im Exil lebenden Juden am Beispiel von Familie Zweig in Kenia und deren
Rückkehr in das in Trümmern liegende Deutschland der Nachkriegszeit. Boaméman Douti
fokussiert in dem vierten Kapitel seiner Doktorarbeit auf den Aspekt des Kulturaustauchs in
Zweigs Roman Nirgendwo in Afrika28.

Die Thematik der Verortung der Heimat steht nicht im Zentrum der oben genannten Arbeiten.
Sowohl Bourcet-Salenson als auch Douti legen den Fokus auf die Hauptfiguren Regina und
Walter. Der Blick wird in dieser Masterarbeit auf die Figur Jettel erweitert.

0.5. Methodisches Verfahren und Gliederung der Arbeit

Dem Untersuchungsziel angemessen, werden in der Arbeit Theorien beziehungsweise einige


Methoden dienlich. Meine Arbeit Zur Verortung der Heimat im Kontext von der Migration
baut auf der dekonstruktivistischen Theorie auf, denn Heimat kann im Kontext von der
Migration neu denken werden.

Dekonstruktion lässt sich am einfachsten definieren als Kritik an all jenen hierarchischen
Oppositionen, die das abendländische Denken entscheidend mitbestimmt haben: innen/außen,
Körper/Geist, wörtlich/übertragen, Rede/Schrift, Anwesenheit/Abwesenheit, Natur/Kultur,
Form/Bedeutung29.
Es geht in dieser Arbeit um die Opposition Heimat/Fremde. In seiner Beschäftigung mit der
dekonstruktivistischen Theorie des französischen Philosophen Jacques Derrida geht Michael
Hofmann davon aus, dass sich einzelne Zeichen zwar von anderen Zeichen unterscheiden,
eine definitive Bedeutungszuweisung für das einzelne Zeichen aber aufgeschoben bzw.
suspendiert wird, ohne dass der Aufschub jemals zu einem Ende gelangt30. Für die Spur des
Differierenden, des Nicht-Identischen führt Derrida den Begriff der „différance“31 ein.

Diese Bedeutungsoffenheit des Begriffs „Heimat“ liegt meiner Arbeit zugrunde: Heimat wird
nicht als eine fixierte Gegend oder rein fixiertes Gefühl gesehen, dem Begriff wird keine feste
Struktur zugewiesen. Heimat ist in Bezug auf den mit Derridas Dekonstruktion methodisch
verbundenen Grundbegriff „différance“ ein endloser Aufschub: von der Romantisierung des

28
Boaméman Douti: Poetik eines kulturellen Austausches im Postkolonialen Kontext. Untersuchungen zu
frankophonen afrikanischen und deutschsprachigen Prosatexten, Hamburg: Dr.Kovač 2017, S. 194 ff.
29
Jonathan Culler: Literaturtheorie. Eine kurze Einführung, Stuttgart: Philipp Reclam 2014, S. 159.
30
Vgl. Michael Hofmann: Interkulturelle Literaturwissenschaft. Eine Einführung, Paderborn: Wilhelm Fink
Verlag 2006, S. 50.
31
Vgl. Michael Hofmann/Iulia-Karin Patrut: Einführung in die interkulturelle im ExilLiteratur, Darmstadt:
WGB (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 2015, S. 15.

13. | S e i t e
Geburts- und Kindheitsorts bis zu jener Heimat in der Literatur, in der sich Marcel Reich-
Ranicki geborgen fühlte: „Die Literatur, eine Heimat“32. Die Opposition Heimat/Fremde
scheitert, wenn solche Heimatverständnisse in der Fremde zu finden sind.

Es handelt sich in dieser Arbeit um die Verortung der Heimat im Kontext von Migration. Die
Eigen-Fremd-Konstellation ist hier relevant. Eine Analyse aus der Perspektive der
interkulturellen Literatur wird daher neben der Dekonstruktion vorgenommen. Die Analyse
bezieht sich nicht nur auf die Darstellung verschiedener Auffassungen von Heimatkonzeption
bei den literarischen Exil-Protagonisten bzw. ihren Urhebern, sondern sie umfasst vielmehr
auch die Erzähltechniken von Stefanie Zweig, die ihr hier zu untersuchendes Werk
Nirgendwo in Afrika zu einem „Ort des Austauschs zwischen verschiedenen Kulturen“33
gemacht hat, wo nicht nur Figuren aus verschiedenen Kulturen sich begegnen und kulturelle
Einzelheiten des Anderen aneignen, sondern auch, wo Wörter aus verschiedenen Sprachen
sich begegnen und durch Transkriptions- und Übersetzungsverfahren ineinander fließen.

In einem Interview mit Sandra Abbate ist Carmine Gino der Meinung, dass interkulturelle
Literatur im kulturellen Kontext wie Exil entstehen kann, allerdings immer unter der
Voraussetzung, dass

die zwei Sprachen des Schriftstellers in einem dialogischen Austausch von Informationen
treten. Daher kann sich als interkulturell kompetenter Leser nur derjenige betrachten, der,
während er die Sprache des Romans, der Erzählung oder des Gedichtes liest, die andere hört.
Anders gesagt, derjenige, der aufgrund seiner spezifischen Sprach- und Kulturkompetenz den
dialogischen Austausch zwischen den Sprachen im Werk nachspüren, verfolgen kann“34.
Der dialogische Austausch zwischen Stefanie Zweigs Muttersprache und ihren im Exil
gelernten Sprachen ist in dem zu analysierenden Werk wahrnehmbar. Die im Verlauf des
Romans an Bedeutung gewinnenden Sprachen des Exils werde ich in Zusammenhang mit den
im Roman stilisierten Heimatkonzepten bringen. Die Tatsache, dass Zweigs Roman
Nirgendwo in Afrika die Kriterien der interkulturellen Literatur erfüllt und aus dieser
Perspektive analysiert werden kann, bestätigt ferner auch Thomas Pekar, wenn er

32
Marcel Reich-Ranicki : Die Literatur, eine Heimat. Reden über und von Marcel Reich-Ranichi, München:
Deutsche Verlags-Anstalt 2008.
33
„[Die Literatur] war und ist aber auch immer schon ein Ort des Austauschs zwischen verschiedenen Kulturen“:
Michael Hofmann/Iulia-Karin Patrut: Einführung in die interkulturelle Literatur, a. a. O., S. 7.
34
Sandro Abbate : „Literatur zwischen den Kulturen. Ein Gespräch über interkulturelle Literatur mit dem
Lyriker und Literaturwissenschaftler Carmine Gino Chiellino“, aufrufbar auf https://novelero.de/literatur-
zwischen-den-kulturen/ , Zugriff am 13.12.2020.

14. | S e i t e
interkulturelle Literatur mit den alten Kriterien des Adelbert-von-Chamisso-Preises35 für
obsolet hält und sie auf deutsche Exilliteratur in der Zeit des Nationalsozialismus erweitert. 36

In der interkulturellen Literatur werden zunächst Konzepte des Fremd- und Andersseins
aufgezeigt und problematisiert. Dabei verlieren Eigene und Fremde ihre Konturen. Wenn
Konzepte des Eigenen und Fremden ihre Konturen in der interkulturellen Literatur verlieren
können, dann wandelt sich auch die Heimat, die im Rahmen „totalisierende[r] Denkmuster
[…] als universale Form von Zugehörigkeit, die Herkunft, Sesshaftigkeit und Homogenität“37
naturalisiert. Hier kann die Dekonstruktion ins Spiel kommen.

Wie ich es schon anhand des mit Derridas Dekonstruktion methodisch verbundenem
Grundbegriff „différance“ aufgezeigt habe, ermöglicht die Dekonstruktion des
Heimatkonzepts „Spielräume des Auch-Anders-Denkbaren [oder] Auch-Anders-
Möglichen“38, genauso wie das „Spiel mit der Fremdheit in der Interkulturellen Literatur“39,
in dem das Fremde viele Facetten40 annehmen kann.

In Anlehnung an die Kombination von Interkultureller Literatur und Dekonstruktion werde


ich nicht nur die Facetten des Fremdverstehens bei den Figuren des Untersuchungsmaterials
untersuchen, sondern auch ihre Fähigkeiten, die Heimat anders zu denken.

35
Der Literaturpreis Adelbert-von-Chamisso-Preis zeichnete das deutschsprachige, bereits publizierte Werk
von Autoren aus, die nichtdeutscher Sprachherkunft sind, wie es auch Adelbert von Chamisso war.
36
Thomas Pekar: „Heimat, Anpassung und Transit in der Literatur des Exils und der Migration. Versuch einer
Zusammenführung“, in: Sabine Egger/ Withold Bonner/ Ernest W.B. Hess-Lüttich (Hrsg.): Transiträume und
transitorische Begegnungen in Literatur, Theater und Film, Frankfurt am Main: Peter Lang 2017, S. 131-154,
hier S. 131f.
37
Florentine Strzelcyk : Un-heimliche Heimat. Reibungsflächen zwischen Kultur und Nation, München:
Iudicium 1999, S. 21f.
38
Michael Hofmann/Iulia-Karin Patrut: Einführung in die interkulturelle Literatur, a. a. O. S. 14.
39
Ebd., S. 15.
40
1.das Fremde als Resonanzboden des Eigenen: Beschäftigt man sich intensiv mit dem ‚Fremden‘, so erkennt
man viele Momente des Eigenen in ihm, sodass Fremdheit tendenziell verschwindet und Ähnlichkeit feststellbar
wird. Diese Erfahrung artikulierte Goethe, als er die Gedichte des mittelalterlichen persischen Dichters Hafis
kennenlernte und diesen als seinen „Zwilling“ bezeichnete. / 2. das Fremde als Gegenbild: Hier wird das Eigene
definiert in Abgrenzung zum Fremden, wobei feste Identitäten hypostasiert werden, deren
Konstruktionscharakter eine kritische Kulturwissenschaft aufdecken kann. / 3. das Fremde als Ergänzung: Hier
wird der Kontakt mit dem Fremden positiv als Erweiterung des Eigenen aufgefasst. Das Eigene wird durch die
Fülle der fremdkulturellen Erfahrungen reicher und verändert sich und seine eigene Vorstellung kultureller
Identität. / 4.das Fremde als das Komplementäre: Hier wird vor allem in der Erfahrung einer deutlichen
Unterscheidung der Kulturen die Idee aufrecht erhalten, dass das Fremde fremd bleiben kann und dass man
somit die Fremdheit in bestimmten Fällen nicht überwinden kann, beispielsweise weil man daran scheitert, alle
auf der Welt gesprochenen Sprachen zu lernen. In solchen Fällen kann die Distanz zum Fremden gewahrt bleiben
und dennoch das Fremde in seiner Fremdheit anerkannt und respektiert werden.

15. | S e i t e
Die Arbeit gliedert sich in drei Hauptteile. Der erste Teil ist dem begrifflichen
Instrumentarium gewidmet. Dabei werden Begriffe wie Heimatgefühl, Heimatlosigkeit,
Vaterland, Fremde und Identität definiert und diskutiert, die zur Erläuterung der Thematik
beitragen. Im zweiten Teil folgt die Analyse des Werkes. Ausgehend von dem bewegten
Leben der Autorin werden die Begegnung der Protagonisten des Romans mit der Fremde und
ihre Verständigungsprobleme untersucht, die verschiedene Ausdrucksvarianten von Heimat
im Zusammenhang mit Migration offen legen. Auch die Trägerin der biographischen Züge
von Stefanie Zweig im Werk, Regina Redlich, wird mit der Verfasserin als ihr Alter Ego
konfrontiert. Ihre jeweiligen Heimatvorstellungen werden näher untersucht und interpretiert.
Abschließend werden im dritten Teil die Ergebnisse der Analyse zusammengefasst und
diskutiert

16. | S e i t e
1. Begriffliches Instrumentarium

1.1. Heimat, Heimatgefühl, Heimatlosigkeit

Auf dem Alumniportal Deutschland41 steht folgende Frage: „Ihre Meinung ist gefragt: Was
bedeutet Heimat für Sie“42. Dieselbe Frage wird in dem Filmprojekt Heimat und Identität43
von der Filmakademie Baden-Württemberg gestellt. Sowohl auf dem Alumniportal
Deutschland als auch im Filmprojekt ist die Definition des Begriffs unterschiedlich. Immer
wieder kommen zu der Definition des Begriffs ‚Heimat‘ Wörter wie Verwurzelung,
Geborgenheit, Verständnis, Vertrautheit, Bekanntheit, Verlässlichkeit, Sicherheit und
Freiheit. Der Begriff Heimat geht aber auf das alt- und mittelhochdeutsche Wort „heimôti“
bzw. „heimôt“ zurück. Er bedeutet Grundbesitz, Gut und Anwesen und verweist im näheren
Sinne auf Heim bzw. auf Haus 44.

Im Deutsch[en] Wörterbuch der Gebrüder Grimm wurde Heimat 1877 als „das elterliche
Haus und Besitzthum“45 definiert. So kann Heimat als ein Eigentum bzw. ein elterliches Erbe
definiert werden, das auf ein Lager bzw. einen Ort verweist, wo man sich niederlässt, Wurzeln
schlägt, zugehörig fühlt und „eines Tages begraben werden will — und zwar nicht, um spurlos
zu verschwinden, sondern weil dort die Eltern liegen oder man gerade dort weiterhin von
zurückgelassenen Verwandten, Freunden oder Bekannten auf dem Friedhof besucht werden
wird.“46 Heimat erscheint also als ein Ort, an dem man sich tief verbunden fühlt, wo man sich
mit Mitmenschen identifiziert, aus ihrer Vertrautheit leben und letztlich ruhen kann. Doch
die Heimat als Ort bzw. Raum kann sich irgendwo auf einer geographischen Skala befinden:
„von einer Wohnung/einem Haus, einer Gegend/Landschaft, einem Dorf/einer Stadt, einem
Landesteil, einem Land/Vaterland/einer Nation bis zu einem Kontinent, oder sogar der
Erde“.47

41
Das Alumniportal Deutschland ist die Internetseite des vom Auswärtigen Amt geförderten weltweit Alumni-
Netzwerks mit der Zielgruppe Deutschland-Alumni, auf dem sich Alumni zum Austausch zu verschiedenen
Themen und für Alumni-Projekte treffen.
42
Alumniportal Deutschland: aufrufbar auf: https://www.alumniportal-deutschland.org/events-
aktionen/mitmachaktionen/ihre-meinung-ist-gefragt-was-bedeutet-heimat-fuer-sie/, Zugriff am 30.04.2020.
43
Filmakademie Baden-Württemberg: https://www.youtube.com/watch?v=RZLW007pSPc, Zugriff am
30.04.2020.
44
Vgl. Andreas Bastian: Der Heimatbegriff. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung in verschiedenen
Funktionsbereichen der deutschen Sprache, Tübingen: Max Niemeyer 1995, S. 20.
45
Grimm, Jacob/Grimm Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, aufrufbar auf, http://woerter-
buchnetz.de/DWB/?sigle=DWB&mode=Vernetzung&le-mid=GH05424#XGH05424, Zugriff am 02.03.2021
46
Werner J. Patzelt: „Heimat, Vaterland und Patriotismus“, a. a. O.
47
Hanne Gunst: „Es wurde eine berauschende Heimkehr“, a. a. O., S. 22.

17. | S e i t e
Aus dieser tiefen Gebundenheit an einen Ort entsteht das Heimatgefühl, insbesondere wenn
man sich von diesem Ort verabschieden muss, in der Fremde lebt oder nach einer langen Zeit
zurückkehrt. Andreas Bastien berichtet, dass Elemente wie Emotion, Raum,
gemeinschaftsstiftende Strukturen und Elemente der sozialen Kategorie zu der Entstehung des
Heimatgefühls beitragen:

-Emotion: unter anderem Geborgenheit, Vertrautheit, Zugehörigkeit und Anerkennung

-Raum: unter anderem Haus, Geburtsort, Landschaft, Region

-gemeinschaftsstiftende Strukturen: unter anderem Feste, Rituale, Bräuche, Traditionen

-Elemente der sozialen Kategorie: unter anderem Mutter, Familie, Verwandte, Freunde,
Nachbarn, Kindergarten, Schule, Kirche, Gewerkschaften48

Neben diesen Elementen stehen andere wie die heimatliche Sprache, die heimatlichen
Melodien, der Geschmack einer Speise oder Gerüche.49 Die Assoziation dieser Elemente,
insbesondere in Erinnerungen bildet das Heimatgefühl. Das Heimatgefühl ist aber eine
individuelle Empfindung. Das ist ein bestimmtes Zimmer im Elternhaus, ein bestimmter
Wohnort, eine nahestehende, vertraute Person, ein regelmäßig wiederkehrendes Fest oder
bestimmte Stimmen, Melodien oder Geräusche. Das Heimatgefühl ist tatsächlich der
individuelle bzw. innere Aufbau der Heimat. Dazu schreibt Beate Mitzscherlich:

Es sind nicht nur Bilder von Gesichtern, Personen, Räumen, Landschaften, sondern auch
Klänge, Klangfarben, Dialekte, Melodien, typische Wörter und Sätze, Gerüche und
Geschmäcker, die sich als ‚heimatlich‘, das heißt in diesem Zusammenhang vertraut, bekannt
und gewohnt im wahrsten Sinn des Wortes ‚einprägen‘ und deren späteres Wiedertreffen an
anderen Orten sofort zu heimatlichen Assoziationen führt50.
Selbst wenn Deutsches Wörterbuch der Gebrüder Grimm und der Duden in ihren Definitionen
des Heimatbegriffs trotz des in der Postmoderne kritischen Hinterfragens des Begriffs die
Heimat mit Raum verknüpfen und dadurch die Verbundenheit mit einem Ort hervorheben,
kann die tiefe Verbundenheit mit einem Ort und das daraus entstehende Heimatgefühl in
übersteigerte Heimatliebe und Chauvinismus münden und zu Weltfremdheit, Xenophobie
und Rassismus führen. Die nationalsozialistische Blut-und-Boden-Ideologie ist ein
veranschaulichendes Beispiel hierfür.

48
Vgl. Andreas Bastian: Der Heimatbegriff, a. a. O., S. 35.
49
Vgl. Ebd.
50
Beate Mitzscherlich: Heimat ist etwas was ich mache. Eine psychologische Untersuchung zum individuellen
Prozess von Beheimatung, Pfaffenheim: Centaurus 2000.

18. | S e i t e
Wer sich hingegen wegen erzwungener Migration bzw. Exil oder Vertreibung von einem Ort
verabschieden musste oder einen Ort verlassen hat, dem er/sie tief verbunden ist, wird sich
heimatlos fühlen. Die Heimatlosigkeit ist also der Verlust der Heimat, das innere Gefühl keine
Heimat zu haben. Da die vorliegende Arbeit im Rahmen poststrukturalistischer Ansätze
untersucht wird, werden die Begriffe ‚Heimat‘ und ‚Heimatlosigkeit‘ aus der Perspektive der
Oppositionstypen von Algirdas Greimas51 verstanden und als Umfeld der Konstruktion, der
Dekonstruktion und der Rekonstruktion der Identität dank dem Kontakt mit der Fremde bzw.
dank der Fremderfahrung dargestellt. Wenn die ‚Kontrarität‘52 von Heimat Fremde ist, ist die
‚Kontradiktion‘ von Heimat Heimatlosigkeit. Die Heimatlosigkeit ist also laut dem
Oppositionstypus „Kontradiktion“ Nicht-Heimat. Heimat als Wohnung/Haus, Dorf/ Stadt,
Land/Vaterland/Nation wie es in den Ausführungen von Hanne Gunst und Peter Weichhart
zu lesen steht, bedeutet, dass Heimatlosigkeit unter anderem als Nicht-Wohnung, Nicht-Land,
Nicht-Vaterland und Nicht-Nation fungiert. Heimatlosigkeit ist also keine Wohnung, kein
Vaterland oder keine Nation.

1.2. Vaterland

Der Begriff ‚Vaterland‘ „taucht im deutschen Sprachraum erst im Mittelhochdeutschen auf.


[…] [und wurde] in den frühen Verwendungen zunächst ganz wörtlich verstanden, als (Acker-
)Land des Vaters, also als der Teil des eigenen Landbesitzes, der aus dem väterlichen Erbteil
stammte.“53 Im Nachhinein trägt im Neuhochdeutschen aber der Begriff die Bedeutung von
dem Land, wo „der eigene Vater lebt“54. Erst dann im Sinne des lateinischen Terminus

51
Vgl. Vera Nünning/Ansgar Nünning: Methoden der Literatur- und kulturwissenschaftlichen Textanalyse.
Ansätze, Grundlagen, Modellanalysen, Stuttgart: J. B. Metzler‘schen Verlagsbuchhandlung/ Carl Ernst Poeschel
2010, S. 160.
52
Greimas unterscheidet zwei Oppositionstypen: die Kontrarität und die Kontradiktion. Kontrarität setzt Terme
gegeneinander deren semantische Merkmale sich wechselseitig ausschließen: Tod und Leben verhalten sich z.B.
konträr. Wenn Tod, dann kein Leben und umgekehrt. Kontradiktion Nicht-Tod (Nicht-Negation) verhält sich
dagegen im Sinne einer Kontradiktion zu Tod indifferent. Nicht-Tod eröffnet vor dem Hintergrund von Tod ein
semantisches Möglichkeitsfeld, das nicht notwendig die Opposition Leben enthalten muss. Alles, was nicht tot
ist oder tot sein kann, fällt in diesen Möglichkeitsbereich. Dasselbe gilt entsprechend für Nicht-Leben (Nicht-
Affirmation). Ebd.
53
Alexander Brakel: „Das Vaterland. Ein „Parforceritt“ durch seine Geschichte“, aufrufbar auf:
https://www.kas.de/c/document_library/get_file?uuid=b67fd535-a003-0da2-fa58-
17570a05c2ea&groupId=252038, Zugriff am 09.05.2020.
54
Ebd.

19. | S e i t e
‚Patria‘ umfasst der Begriff ‚Vaterland‘ „die Geburtsstadt und deren unmittelbares
Umland“55. Vaterland weist in diesem Sinne auf das „Land der eigenen Geburt“56 hin.

Ein Vaterland ist laut Duden das Land, aus dem man stammt und dessen Volk oder Nation
man sich zugehörig fühlt. Als die Demonstranten 1989/1990 beispielhaft in der DDR
während der Montagsdemonstration „Wir sind das Volk-Wir sind ein Volk“ skandierten,
wollten sie vor allem Soldaten und Polizisten ermahnen, nicht eigene Landleute anzugreifen,
da sie, also Demonstranten und Polizisten demselben Volk angehören, aus einem
gemeinsamen Land stammen und da das Volk immer „brüderlich zusammenhält“57, wenn es
um „Schutz und Trutze“58 geht, wenn es um das gemeinsame Land bzw. das Vaterland geht.

Synonyme für Vaterland sind laut dem Duden das Geburtsland, Herkunftsland und
Heimatland. In diesem Sinne liegt das Vaterland dort, wo man geboren ist oder wo die Heimat
liegt. Für Werner J. Patzelt umfasst das Vaterland „die Heimaten all jener, die sich kulturell
und geschichtlich als Teil eines gemeinsamen größeren Ganzen empfinden“.59 Vaterland ist
also ein Mosaik von Heimaten, die durch die gemeinsame kulturelle und geschichtliche
Erfahrung eine Einheit in Vielfalt bilden. Das ist das Land, mit dessen Volk man sich neben
der gemeinsamen kulturellen und geschichtlichen Erfahrung durch bestimmte Merkmale wie
Abstammung und Sprache identifiziert. Ernst Moritz Arndt erkennt das deutsche Vaterland
überall dort, wo „die deutsche Zunge klingt“60 und Der Paragraf 6 vom Gesetz über die
Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge (kurz: Bundesvertriebenengesetz – BVFG)
definiert die Volkszugehörigkeit hinsichtlich des deutschen Vaterlandes wie folgt: „Deutscher
Volkszugehöriger im Sinne dieses Gesetzes ist, wer sich in seiner Heimat zum deutschen
Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale, wie
Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird.“61

Auch der ehemalige Bundeskanzler Konrad Adenauer betonte die Eigenart des Vaterlandes
durch Kultur, Geschichte und Sprache: „Jeder will sein Vaterland behalten mit seiner Kultur,

55
Ebd.
56
Ebd.
57
Heinrich Hoffmann von Fallersleben: „Lied der Deutschen“, aufrufbar auf:
https://de.wikisource.org/wiki/Lied_der_Deutschen, Zugriff am 09.05.2020.
58
Ebd.
59
Werner J. Patzelt: „Heimat, Vaterland und Patriotismus“, a. a. O.
60
Ernst Moritz Arndt: „Des Deutschen Vaterland (1813)“, aufrufbar auf: http://germanhistorydocs.ghi-
dc.org/pdf/deu/1_C_NS1_Des_Deutschen_Vaterland.pdf, Zugriff am 09.05.2020.
61
Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz: „Gesetz über die Angelegenheiten der Vertriebenen
und Flüchtlinge (kurz: Bundesvertriebenengesetz - BVFG)“, aufrufbar auf: https://www.gesetze-im-
internet.de/bvfg/BVFG.pdf, Zugriff am 09.05.2020.

20. | S e i t e
Geschichte und Sprache. Keiner kann verlangen, dass die berechtigte Eigenart aufgegeben
wird.“62 Trotz der Verwendung des Begriffs ‚Vaterland‘ in Nationalhymnen und politischen
Reden, wo zu Gemeinsinn bzw. gemeinsinnigem Bewusstsein und zu Verteidigung und
Schutz des Vaterlandes gerufen wird, führen die zunehmende Globalisierung und die
Integration der Einwanderer sowie die Situation der Einwandererkinder, deren Vaterland
zwischen dem Land ihrer Eltern und dem Land ihrer eigenen Geburt pendelt, zu kritischem
Hinterfragen des Begriffs. Wichtig zu bemerken ist, dass Vaterland mit Heimat assoziiert
wird und als Eingruppierung von Heimaten durch die gemeinsame kulturelle und
geschichtliche Erfahrung bezeichnet wird, da das Vaterland einige Kennzeichnen der Heimat
wie Geburtsort und Zugehörigkeit hat. Alles, was außerhalb dieses Vaterlandes sprich dieser
gemeinsamen Heimat vorkommt, ist die Fremde.

1.3. Fremde

Das deutsche Wort bzw. das Adjektiv ‚fremd‘ ist vieldeutig und kontextbedingt. Es bedeutet
aber vor allem alles, was fern, unvertraut, ungewöhnlich ist und sogar selten in Erscheinung
tritt, also „was außerhalb des eigenen Bereichs vorkommt.“63 Das soll heißen, dass im
Eigenen steht, alles was am nächsten und selbstverständlich ist64. Robert Hettlage bringt es
auf den Punkt, wenn er schreibt: „Das Fremde hat als Phänomen viele Gesichter. Ein Objekt,
ein Mensch, eine Einstellung, ein Verhalten, können als fremd und als solche interessant,
anstößig, oder beängstigend sein.“65.

Die Begriffe ‚die Fremde‘, ‚das Fremde‘ und ‚der Fremde‘ sind substantivierte Formen von
‚fremd‘. Die Fremde verweist vor allem auf „fernes Land“66. Laut Wiktionary ist die Fremde
eine Gegend, die einem unbekannt ist und weit entfernt von der Heimat liegt.

62
Konrad Adenauer, zit. nach Alexander Brakel: „Das Vaterland“, a. a. O.
63
Michael Hofmann: Interkulturelle Literaturwissenschaft. Eine Einführung, Paderborn: Wilhelm Fink Verlag
2006, S. 15.
64
Vgl. Alois Hahn: „Die soziale Konstruktion des Fremden“, in: Sprondel, Walter M. (Hrsg.): Die Objektivität
der Ordnungen und ihre kommunikative Konstruktion. Für Thomas Luckmann. Frankfurt a. M.: Suhrkamp,
1997, S. 140–163, hier, S. 141.
65
Robert Hettlage: „Fremdheit und Fremdverstehen“, a. a. O.
66
Michael Wimmer: „Fremde“, in: Christoph wulf (Hrsg.): Vom Menschen. Handbuch Historische
Anthropologie, Weinheim/Basel: o. V. 1997, S. 1066-1078, Zitiert nach Corinna Albrecht: „Fremdheit“, in:
Alois Wierlacher/Andrea Bogne (Hrsg.): Handbuch interkulturelle Germanistik, Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler
Verlag 2003, S. 232-237, hier S. 233.

21. | S e i t e
Die Fremde ist nach den von Ottfried Schäffters vorgeschlagenen Erfahrungsmodi des
Fremderlebens

das Auswärtige, das Ausländische, d.h. […] etwas, das sich jenseits einer räumlich
bestimmbaren Trennungslinie befindet. […] Es geht dann um die lokale Erreichbarkeit von
bislang Abgetrenntem. Diese Perspektive enthält gleichzeitig eine starke Betonung des
„Inneren“ als Heimat oder Einheitssphäre.“67
Neben dieser raumbezogenen Erklärung der Fremde bietet Schäffter weitere Erklärungen von
dem Wort ‚fremd‘ an, die auch bedeutend für diese Arbeit sind, da es in der vorliegenden
Arbeit zwar um Orte geht, die als fremd betrachtet werden, aber auch um Menschen,
Verhalten, Mentalität und Ereignisse. Es liegen also in den Modi des Fremderlebens von
Schäffter folgende Definitionen vom Wort ‚fremd‘ vor:

-Das Fremde als Fremdartiges, z.T. auch im Sinne von Anomalität, von Ungehörigem oder
Unpassendem steht in Kontrast zum Eigenartigen und Normalen, d.h. zu Eigenheiten, die zum
Eigenwesen eines Sinnbezirks zugehören.
- Das Fremde als das noch Unbekannte bezieht sich auf Möglichkeiten des Kennenlernens
und des sich gegenseitig Vertrautmachens von Erfahrungsbereichen, die prinzipiell erreichbar
sind.
- Das Fremde als das letztlich Unerkennbare, das für den Sinnbezirk transzendente Außen,
bei dem alle Möglichkeiten des Kennenlernens prinzipiell ausgeschlossen sind.
- Das Fremde als das Unheimliche zieht seine Bedeutung aus dem Gegensatz zur
Geborgenheit des Vertrauten. Hier geht es um die beklemmende Erfahrung, dass auch Eigenes
und Vertrautes zu Fremdartigem umschlagen kann. Die Grenze zwischen Innen und Außen
verschwimmt, wenn das „Heimische“ unheimlich wird.68

Michael Hofmann erläutert, wie das Wort ‚fremd‘ auf das Althochdeutsch „fram“ zurückgeht
und ferner die Bedeutung ‚fern‘ trägt.

Fremdheitserfahrungen haben also zu tun mit dem Auszug aus der vertrauten Umgebung, mit
Reise, Eroberung, Kolonialisierung, auch mit Kriegszügen. Der „Fremde“ in diesem Sinne ist
der von weit her Kommende, auf den in den wichtigen europäischen Sprachen die Wörter
„externum“, „peregrinum“, „foreigner“ und „étranger“ verweisen69.
Hofmann bietet nebenbei zwei weitere Bedeutungen des Wortes an:

-Fremd ist, was einem anderen gehört, wobei in diesem Verständnis auch der Aspekt der
Nationalität eine wichtige Rolle spielen kann. Im Lateinischen und Englischen werden in
diesem Zusammenhang die Wörter „alienus“ und „alien“ gebraucht.

67
Otrfried Schäffter: „Modi des Fremderlebens. Deutungsmuster im Umgang mit Fremdheit“, aufrufbar auf:
https://www.erziehungswissenschaften.huberlin.de/de/ebwb/teamalt/schaeffter/downloads/III_19_Modi_des_F
remderlebens_Endv.pdf, Zugriff am 09.05.2020.
68
Ebd.
69
Michael Hofmann: Interkulturelle Literaturwissenschaft. Eine Einführung, a. a. O.

22. | S e i t e
-Fremd ist, was von fremder Art ist und als fremdartig gilt. Hier erscheint das Fremde als das
Unvertraute, als das, was in seiner Erscheinung und möglicherweise auch in seinem „Wesen“
als grundsätzlich verschieden von dem Subjekt betrachtet wird, von dem die Bestimmung
ausgeht. Im Französischen und Englischen wird diese Facette der Fremdheit in sehr
glücklicher Weise jeweils mit einem Wort ausgedrückt, das dem die erste Bedeutungsvariante
ausdrückenden ähnelt, aber eben nicht mit ihm identisch ist: „étrange“, „strange“.70

In Hinblick auf diese verschiedenen Erklärungen des Begriffs ‚fremd‘ ergibt sich, dass das,
was als fremd bezeichnet wird, eine Wahrnehmung und Beurteilung der Anderen durch das
Eigene ist. Das Eigene und das Andere stehen hier in einer Alterität-Alienität-Beziehung und
können sich einander als fremd betrachten. Das Eigene ist auch aus der Sicht der Anderen
fremd und umgekehrt. Das Fremde ist also nichts anderes als ein anderes Eigenes. Die beiden
sind „untrennbare Bestandteile der menschlichen Identität“71

1.4. Interaktion von Identitäts- und Heimatkonstruktion

Identitätskonstruktion kann nicht von Heimatkonstruktion getrennt werden, da Heimat als


„das Umfeld verstanden werden [kann], in welchem die Identität eines Menschen zum ersten
Mal konstruiert wurde“72 und da die Identitätskonstruktion neue Heimatkonstruktionen
begünstigen kann. Die erste konstruierte Identität ist kein endgültiger Prozess und die
konstruierte Heimat nicht unumstößlich. Sowohl die Heimat als auch die Identität werden
lebenslang konstruiert, dekonstruiert und rekonstruiert73. Sobald der Mensch in Kontakt zu
anderen Umfeldern, Kulturkreisen, Menschen, Mentalität und Weltanschauungen tritt,
konstruiert er sich neue Identitäten. Barbara Ender behauptet in diesem Zusammenhang: „La
transgression des frontières et la rencontre ainsi que le mélange de différentes cultures
conduisent indubitablement à une nouvelle conception d’identité“74. (Die Überschreitung von

70
Ebd.
71
Carme Bescansa et al: „Unheimliche Heimaträume. Über die Aktualität und die Notwendigkeit beider
Konzepte in Interaktion“, in: Carme Bescansa et al (Hrsg.): Unheimliche Heimaträume. Repräsentation von
Heimat in der deutschsprahigen Literatur seit 1918, Bern: Peter Lang 2020. S. 7-19, hier S. 10.
72
Verena Vordermayer: Identitätsfälle oder Weltbürgertum? Zur praktischen Grundlegung der Migranten-
Identität, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2012, S. 27.
73
Vgl. Michel Castra: „Identité“, in: Serge Paugam (Hrsg.): Les 100 mots de la sociologie, Paris: Presses
Universitaires de France 2012, S. 72f.
74
Barbara Ender: Paysages interculturels en Autriche et expression d’écrivains issus de la migration à travers
le prix littéraire de Hohenems, der École doctorale des humanités der Université de Strasbourg zur Erlangung
des Doktorgrades vorgelegten Dissertation, Strasbourg: 2017, S. 23.

23. | S e i t e
Grenzen sowie die Begegnung und Vermischung von verschiedenen Kulturen führen
unausweichlich zu einer neuen Konzeption der Identität).

Wie bereits erwähnt beschäftigt sich diese Arbeit mit dem Zusammentreffen von Kulturen,
bzw. Zusammentreffen von Eigenem und Fremdem. Identität wird hier somit im Sinne von
kultureller Identität verstanden, da Identität ein vielfältiger Begriff ist und weitere
gebietsorientierte Bedeutungen hat. Der Soziologe Stuart Hall identifiziert „zwei
unterschiedliche Wege über kulturelle Identität“75. Er schreibt:

The first position defines ‘cultural identity’ in terms of one, shared culture, a sort of collective
‘one true self’, hiding inside the many other, more superficial or artificially imposed ‘selves’,
which people with a shared history and ancestry hold in common. Within the terms of this
definition, our cultural identities reflect the common historical experiences and shared cultural
codes which provide us, as ‘one people’ with stable, unchanging and continuous frames of
reference and meaning, beneath the shifting divisions and vicissitudes of our actual history
[…] There is, however, a second, related but different view of cultural identity. This second
position recognises that, as well as the many points of similarity, there are also critical points
of deep and significant difference which constitute ‘what we really are’; or rather –since
history has intervened – ‘what we have become’. We cannot speak for very long, with any
exactness, about ‘one experience, one identity’ without acknowledging its other side […]
Cultural identity, in this second sense, is a matter of ‘becoming’ as well as of ‘being’. It
belongs to the future as much as to the past. It is not something which already exists,
transcending place, time, history and culture. Cultural identities come from somewhere, have
histories.76
(Die erste Position bestimmt ‚kulturelle Identität‘ im Sinne einer gemeinsamen Kultur, eines
kollektiven ‚einzig wahren Selbstes‘, das hinter vielen anderen, oberflächlicheren oder
künstlich auferlegten ‚Selbsten‘ verborgen ist, und das Menschen mit einer gemeinsamen
Geschichte und Abstammung miteinander teilen. Nach dieser Definition reflektieren unsere
kulturellen Identitäten die gemeinsamen historischen Erfahrungen und die gemeinsam
genutzten kulturellen Codes, die uns als ‚einem Volk‘ unabhängig von den sich verändernden
Spaltungen und Wechselfällen in unserer aktuellen Geschichte einen stabilen
gleichbleibenden und dauerhaften Referenz- und Bedeutungsrahmen zur Verfügung stellen
[…] Nun gibt es eine zweite, mit der ersten verwandte und doch davon unterschiedene
Sichtweise von kultureller Identität. Die zweite Position erkennt in dem, ‚was wir wirklich
sind‘ oder – da die Geschichte eingegriffen hat–‚was wir geworden sind‘, neben den vielen
Ähnlichkeiten auch die entscheidenden Punkte einer tiefen und signifikanten Differenz. Wir
können nicht mehr länger exakt über eine ‚Erfahrung, eine Identität‘ sprechen, ohne ihre
andere Seite anzuerkennen […] In diesem zweiten Sinne ist kulturelle Identität ebenso eine
Frage des ‚Werdens‘ wie des ‚Seins‘. Sie gehört ebenso zur Zukunft wie zur Vergangenheit.
Sie ist nicht etwas, was schon existiert, was Ort, Zeit, Geschichte und Kultur transzendiert.
Kulturelle Identitäten haben Ausgangpunkte und Geschichten.)77

75
Stuart Hall: „Kulturelle Identität und Diaspora“, in: Ders.: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte
Werke 2, hrsg. U. übers. von Ulrich Mehlem, Dorothee Bohle et al., Hamburg: Argument Verlag 1994, S. 26-
43, hier S. 27.
76
Stuart Hall : „Cultural Identy and Diaspora“, aufrufbar auf:
https://sites.middlebury.edu/nydiasporaworkshop/files/2011/04/D-OA-HallStuart-
CulturalIdentityandDiaspora.pdf , Zugriff am 20.12.2020.
77
Stuart Hall: „Kulturelle Identität und Diaspora“, a. a. O., hier S. 27 ff.

24. | S e i t e
Die von Hall eingeführten Identitäten bedürfen an dieser Stelle eines Augenmerks. Einerseits
steht Identität im Sinne von „one shared culture“ für ein Volk mit „stabilen gleichbleibenden
und dauerhaften Referenz- und Bedeutungsrahmen“78. Diese Identität nenne ich in dieser
Arbeit die Wir-Identität. Andererseits steht Identität im Sinne von „what we really are, […]
what we have become“ für das Individuum. „[Sie] ist ebenso eine Frage des ‚Werdens‘ wie
des ‚Seins‘. Sie gehört ebenso zur Zukunft wie zur Vergangenheit. Sie ist nicht etwas, was
schon existiert, was Ort, Zeit, Geschichte und Kultur transzendiert“79. Diese letzte Identität
ist die Ich-Identität, und ihr ist der nächste Abschnitt gewidmet.

1.5. Individuelle Identität (Ich-Identität)

Die Ich-Identität setzt sich laut Jacques Lacan aus zwei Selbstbildern zusammen, die eine
untrennbare Einheit bilden und die Identität des Individuums konstruieren. Dies nennt Michel
Ermann das Doppelgesicht des Selbst, also das Doppelgesicht der Ich-Identität, das im Sinne
von Sokrates aus dem, was Bewusstsein hat, und aus dem, was zum Bewusstsein kommt,
besteht. Bei Lacan sind es das Erkannte und das Erkennende.80 Das erste Selbstbild entdeckt
das Kind schon in den ersten Lebensjahren im Spiegel. „Es beginnt, sich bewusst zu werden,
dass es seinen eigenen Körper sieht, wie er sich bewegt, wie das eigene Gesicht Grimassen
schneidet“81. „Das Kind sieht auch andere im Spiegel und sieht, wie andere es betrachten“.82
Dieser erste Kontakt des eigenen Bildes mit den Bildern von Anderen im Spiegel bestätigt
das erste Selbstbild und ist der erste Schritt zu der Identitätsbildung. Das Kind bildet neben
dem ersten Selbstbild im Spiegel, das Lacan das ‚Je‘ nennt, ein imaginäres und ideales
Selbstbild, das unerreichbar ist, und das durch Erfahrungen und gesellschaftliche
Interaktionen, bzw. kulturelle Begegnungen immer revidiert, dekonstruiert und rekonstruiert
wird. Dieses letzte Selbstbild nennt Lacan das ‚moi‘. Es ist nicht einfach, die von Lacan bei
der Identifikation der Selbstbilder in der Ich-Identität verwendeten französischen Wörter ‚je‘

78
Ebd.
79
Ebd.
80
Vgl. Michael Ermann: Der Andere in der Psychoanalyse. Die intersubjektive Wende, Stuttgart: Kohlhammer
2014.
81
Bundeszentrale für politische Bildung: „Identitätskonstruktion. Der Kampf um Selbstbild“, aufrufbar auf:
https://www.kinofenster.de/filme/archiv-film-des-
monats/kf0510/identitaetskonstruktion_der_kampf_um_das_selbstbild/, Zugriff am 11.02.2021.
82
Bernd Stiegler: Theorien der Literatur- und Kulturwissenschaften, a. a. O., S. 59.

25. | S e i t e
und ‚moi‘ zu übersetzen, da man ‚je‘ und ‚moi‘ jeweils mit ‚ich‘ ins Deutsche übertragen
würde.

Das Je-Ich ist jenes, dass real existiert, welches gesehen werden und sich in Beziehung setzen
kann. Das Moi-Ich ist nur ein Abbild des Selbst bzw. ein imaginäres Selbst.83. Selbst wenn
das Selbstbild im Spiegel bzw. das Je-Ich und das imaginierte Selbstbild bzw. das Moi-Ich
die einheitliche Identität des Individuums bilden, führt die Begegnung der beiden Selbstbilder
zu „Selbst-Entfremdung“84, weil laut Lacan „Le je n’est pas le moi“85 (das „Je“ nicht das
„moi“ ist“). Dies lässt sich durch folgendes Postulat erklären: Ich bin nicht, wie ich aussehe.
„Lacan bringt [es] auf den Punkt, wenn er den Aphorismus des französischen Dichters
Rimbaud zitiert: Ich bin ein anderer“86.

Das imaginäre Selbstbild gewinnt hier Aufmerksamkeit, da es sich je nach Erfahrungen und
dem Lebensraum des Individuums konstruieren lässt und ständig ändert87. Dieses neu
konstruierte Selbstbild spielt also eine bedeutende Rolle in der Heimatkonstruktion:

Dass sich die persönliche Identität durch eigene Erfahrung und durch Interaktion mit dem
Lebensraum konstruieren lässt, zeigt, dass die Migranten, die sich mit neuen Umständen im
Gastland auseinandersetzen müssen, sich wiederum eine neue individuelle Identität
konstruieren müssen88
Diese Ich-Identität kann eine bedeutende Rolle beim Anpassungsprozess in der Fremde
spielen und neue Heimatkonstruktionen begünstigen.

1.6. Kollektive Identität (Wir-Identität)

Die Ich-Identität ist untrennbar mit der Wir-Identität verknüpft, da der Mensch erst innerhalb
eines Kulturkreises durch eine gewisse Mentalität und Weltanschauung auswächst. Aus den
Elementen dieses Kulturkreises bildet sich die Identität aus. Sollte er bereits Erfahrung mit
anderen Kulturkreisen gesammelt haben, können auch deren Elemente in seine Identität
miteinfließen. Die Wir-Identität kann „als kulturelles Merkmal verstanden werden, von der
die Angehörigen einer Kulturgruppe geprägt sind“89 Sie ist im Sinne von Hall „shared

83
Vgl. Michael Ermann: Der Andere in der Psychoanalyse, a. a. O., S. 37.
84
Ebd.
85
Bernd Stiegler: Theorien der Literatur- und Kulturwissenschaften. Eine Einführung, a. a. O., S. 59.
86
Ebd.
87
Vgl. Boaméman Douti: Poetik eines kulturellen Austausches im Postkolonialen Kontext, a. a. O., S. 46.
88
Ebd.
89
Boaméman Douti: Poetik eines kulturellen Austausches im Postkolonialen Kontext, a. a. O., S. 46.

26. | S e i t e
culture“90. Neben dieser gemeinsamen Kulturerfahrung steht auch die gemeinsame
geschichtliche Erfahrung und vor allem der Gemeinsinn, „nämlich die Fähigkeit zum
Erkennen und zum Verstehen des Gemeinsamen“91. Nicht nur „[d]eutsche Frauen, deutsche
Treue, deutscher Wein und deutscher Sang sollen in der Welt behalten werden“92, sondern
auch deutsche Strenge, deutsche Tüchtigkeit93, deutsche Marken und deutsche Spezialitäten.

Die Wir-Identität ist immer in Bezug auf Andere definiert. Man fühlt sich einer Gruppe auf
Grundlage einer gemeinsamen kulturellen und geschichtlichen Erfahrung und geeigneten
Werten zugehörig, die sich von denen anderer Gruppen unterscheiden. Insofern erklären Alice
Bota, Khuê Pham und Özlem Topçu in ihrem Buch Wir neuen Deutschen Folgendes:

Die Deutschen fühlen mit ihrem Herzen, dass sie von hier kommen und hierhergehören. Wir
wissen es nur mit unserem Verstand. Und so kommen wir uns manchmal wie Hochstapler vor,
wenn wir versuchen, unsere deutschen Leben zu führen. […] Unsere Geschichte ist eine andere,
unsere Werte und unsere Vorstellungen vom Leben in Deutschland auch.94
Es ist leicht zu verstehen, dass Menschen wie Thilo Sarrazin, die ein bestimmtes Bild der
deutschen Identität im Kopf haben, das sich durch Migration verändernde Deutschland also
eine vermeintliche Veränderung der deutschen Identität fürchten. Deutschland schafft sich
ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen, lautet der Titel seines Buches. Für ihn schafft sich
Deutschland samt seiner Werte und Identität ab95. Deutschland existiert im engen Sinne aber
vor 1871 noch gar nicht. Denn das Land bestand davor aus verschiedenen Volksgruppen, die
gegeneinander Kriege führten. Auch wenn man die deutsche Geschichte überblickt, stößt man
auf „Barbaren“, die kein Gemeinschaftsgefühl verband. Sollte Immanuel Kant aus der
deutschen Kultur entfernt werden, da er im heutigen Russland schrieb? Und wie kann man
von deutscher Identität sprechen, wenn sich Ost- und Westdeutschland trotz der
Wiedervereinigung noch teils misstrauisch beäugen und sich so divergieren96? Die deutsche
Identität, also die Wir-Identität, die Sarrazin skizziert, ist nichts anderes als eine Illusion, ein
Konstrukt. Die Wir-Identität beschränkt sich aber nicht nur auf Territoriums- und

90
Stuart Hall: „Cultural Identy and Diaspora“, a. a. O.
91
Werner J. Patzelt: „Heimat, Vaterland und Patriotismus“, a. a. O.
92
Heinrich Hoffmann Fallersleben: Lied der Deutschen, a. a. O.
93
Katharina Walgenbach: „Die weiße Frau als Trägerin deutscher Kultur“. Koloniale Diskurse über
Geschlecht, „Rasse“ und Klasse im Kaiserreich, Frankfurt am Main: Campus Verlag 2005, S. 252.
94
Alice Bota /Khuê Pham /Özlem Topçu: Wir neuen Deutschen. Warum das Land Menschen wie uns braucht,
aber nicht immer will, Bonn: Bundeszentrale für Bildung 2012, S. 10.
95
Vgl. Ebd.
96
Vgl. Ebd.

27. | S e i t e
Volkstumskriterien. Die Wir-Identität kann sich auf kleine ethnische Gruppen beziehen und
auch ganze Völker, „Rasse“ und Spezies umfassen.

Neben den Grenzziehungen, den Anpassungsschwierigkeiten an neue Umgebungen und


Lebensarten, die sie verursachen kann, ist die Wir-Identität Grundlage von gesellschaftlichen
Konflikten, Rassismus und von anderen absurden gesellschaftlichen Diskriminierungen, die
die Menschheit erlebt hat und noch erlebt: Nazis gegen Juden, Weiße gegen Schwarze,
Menschen gegen andere Lebewesen. Carlotta von Maltzan, Akila Ahouli und Marianne
Zappen-Thomson bringen es wie folgt auf den Punkt: „Aufgrund nationalstaatlicher,
kultureller und ethnischer Zuschreibungen oder angenommener Differenzen werden
Grenzziehungen zwischen einem ‚Wir‘ und den ‚Anderen‘ vorgenommen, sodass sich die
Fronten zunehmend verhärten.“97 Der Grund liegt darin, dass alles, was sich außerhalb der
kollektiven Identität befindet, als bedrohlich empfunden und feindselig betrachtet wird, selbst
wenn es manchmal faszinierend erscheint.

1.7. Stereotype als Katalysator der kollektiven Identität

Frivole Franzosen, strenge Deutsche, aggressive Russen, dynamische Amerikaner und


kindliche Afrikaner: Das sind nicht nur Stereotype98, die von den Medien vermittelt werden,
sondern auch kollektive Vorstellungen, also Vorurteile. Im kollektiven Gedächtnis der
Einwohner der ehemaligen deutschen Kolonien steht beispielsweise noch das Bild des
disziplinierten, strengen und gerechten Deutschen. Beleg dafür ist die noch immer bestehende
Germanophilie in diesen Ländern.99 Auf der anderen Seite kommt immer noch in den
westlichen, bzw. deutschsprachigen Medien und in der Literatur das Bild der wilden,
ungebildeten und kindergleichen Afrikaner „Grands enfants“ vor100, die unfähig sind,
selbstständig Initiative zu ergreifen und als Protagonisten kaum zu Wort kommen und nur
Nebenrollen einnehmen .101 Aber kann eine ganze Menschengruppe auf ein solches Bild

97
Carlotta von Maltzan /Akila Ahouli / Marianne Zappen-Thomson: „Vorwort“, a. a. O., S. 5-6, hier, S. 6.
98
„Stereotyp ist der wissenschaftliche Begriff für eine unwissenschaftliche Einstellung“: Hans-Jürgen
Lüsebrink: Interkulturelle Kommunikation, a. a. O., S. 102.
99
Vgl. Dotsé Yigbe: „Erfahrung und Erinnerung. Deutsche Kolonialgeschichte in Togo“, in: Stiftung Deutsches
historisches Museum (Hrsg.): Deutscher Kolonialismus. Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart,
Darmstadt: Stiftung Deutsches historisches Museum 2016, S. 128-135, hier S. 132.
100
Hans-Jürgen Lüsebrink: Interkulturelle Kommunikation. Interaktion, Fremdwahrnehmung, Kulturtransfer, 4.
Auflage, Stuttgart: J. B. Metzler Verlag 2016, S. 101.
101
Vgl. Elodie Malanda: La transmission des valeurs dans les romans pour la jeunesse sur l’Afrique
subsaharienne (France, Allemagne, 1991-2010). Les pièges de la bonne intention, der Philosophischen Fakultät
der Université Sorbonne nouvelle zur Erlangung des Doktorgrades vorgelegten Dissertation, Paris: 2017.

28. | S e i t e
beschränkt werden? Stimmt es, dass sich jedes Mitglied einer Gruppe genau gleich verhält?
Natürlich nicht. Es ist jedoch bekannt, dass diese Vorstellungen, also diese Wahrnehmung
der Anderen, bzw. der Fremde komplexe soziale und kulturelle Wirklichkeiten reduzieren
„und die Darstellung von Aussehen, Denken und Fühlen von Personen auf wenige typisierte
Charakteristika [begrenzen]“. Für Hans-Jürgen Lüsebrink sind diese Vorstellungen, also
diese Stereotype eine kognitive Notwendigkeit, die der individuellen und sozialen
Orientierung dient.102 Neben dieser Orientierungsfunktion unterscheiden der Ethnologe
Hermann Bausinger und der Psychologe Alexander Thomas fünf weitere Funktionen der
Stereotype:

■ »Stereotypen entstehen nicht immer, aber in der Regel aus der Überverallgemeinerung
tatsächlicher Merkmale; es ist ihnen also ein relativer Wahrheitsgehalt zuzusprechen […]
(Verallgemeinerungsfunktion).
■ »Stereotypen bieten Identifikationsmöglichkeiten an, über die neue Realbezüge entstehen
können; es ist also mit einer realitätsstiftenden Wirkung von Stereotypen zu rechnen.«
■ Stereotypen fördern das Solidaritätsgefühl einer Gruppe und grenzen sie von negativ
besetzten Außengruppen ab (Abgrenzungsfunktion).
■ Stereotypen dienen zur Bildung positiver Images und Identifikationsmuster
(Selbstdarstellungsfunktion).
■ Sie ermöglichen ein auch nachträgliches Rechtfertigen eigener Verhaltensweisen
(Rechtfertigungsfunktion).103
Stereotype spielen also eine wichtige Rolle in der Eigen-Fremd-Beziehung, sprich in der
Beziehung der eigenen Identität (individuelle und kollektive Identität) und der konstruierten
Heimat mit der Fremde. Durch Stereotype konstruiert man sich ein positives Selbstbild. Man
betrachtet seine Heimat als das Muster und seine Kultur als die Beste. Hierdurch werden die
positiven Seiten der eigenen Kultur und die damit vermeintlichen Werte verallgemeinert.
Beispiel hierfür ist die weit verbreitete eurozentrische Anschauung, die die europäische
Entwicklungsstufe als den Gipfel und die Maßeinheit der menschlichen Entwicklung
betrachtet, sowie die radikal antiimperialistischen Afrikaner, die die alte ägyptische
Zivilisation verallgemeinern und sie auf ganz Afrika übertragen, um die Überlegenheit, bzw.
die von Europa beraubte Überlegenheit der Afrikaner zu rechtfertigen. Dieses konstruierte
positive Selbstbild, bzw. diese Selbstdarstellung führt zu negativen Vorstellungen der
Fremde. Aufgrund von einem positiven Selbstbild können Afrikaner zum Beispiel den
europäischen Lebensstil als sittenwidrig betrachten. Zudem verortet die eurozentrische

102
Vgl. Hans-Jürgen Lüsebrink: Interkulturelle Kommunikation, a. a. O. S. 102.
103
Vgl. Ebd., S. 103.

29. | S e i t e
Anschauung bespielweise andere außereuropäische Gesellschaften auf eine niedrigere
Entwicklungsstufe. Über Afrika und die Afrikaner sagt ein zwanzigjähriger deutscher
Berufsschüler:

Krieg, Nigger, Hunger, unzivilisiert, Apartheit [sic!], Süd-Afrika, es wird deutsches Geld in
punkto Entwicklungshilfe dahin verschwendet. Wilde, dicke Bäuche, dicke Nasen, wenig
Geist, Primaten. Bis auf den Süden ist Afrika ein primitives, unterentwickeltes, blutrünstiges
Land, welches ohne den ‚weißen Mann’ nicht lebensfähig wäre, weil sich die Neger selbst
erschlagen oder (sie) verhungern würden, sie erinnern mit ihrem [sic!] Verhaltensweisen mehr
an Tiere als an Menschen. Für mich liegen die Neger in ihrer Entwicklung (Verhalten,
Äußeres, Geist) mehrere 1000 Jahre hinter den Weißen zurück und erinnern mich an die Ur-
Menschen (Neandertaler…).104
Diese hässliche rassistische Äußerung dient nicht nur der Abgrenzung und Distanzierung zu
anderen, fremden Menschengruppen durch Abwertungen und negative Vorstellungen,
sondern auch der Identifikation und Förderung des Zugehörigkeitsgefühls zu einer
kollektiven Identität. Wenn der Berufsschüler Afrikaner als hungrige, unzivilisierte und
primitive Menschen betrachtet, dann sieht er sich selbst als Mitglied einer wohlhabenden,
zivilisierten und modernen Menschengruppe. Die Feindschaft den Fremden gegenüber und
deren Abwertung sowie die damit einhergehende Aufwertung des Selbstbildes stärken das
Zugehörigkeitsgefühl. Michael Jeismann schreibt im selben Zusammenhang: „[…] die
Feindschaft des Fremden war als Katalysator deutschen Nationalgefühls von zentraler
Bedeutung.“105 Diese Feindschaft mit dem Fremden kann also auch Grundlage von
Vaterlandsliebe, bzw. Heimatliebe sein, was in dieser Arbeit von großer Bedeutung ist.

104
Aussage eines 20-jährigen Berufsschüler zu Afrika, zitiert nach Ortrud Krickau: Die Welt bei uns zuhause.
Fremdbilder im Alltag. Ein Beitrag zur interkulturellen Bildung. Frankfurt am Main/London: IKO – Verlag für
Interkulturelle Kommunikation 2007, S. 41.
105
Vgl. Hans-Jürgen Lüsebrink: Interkulturelle Kommunikation. Interaktion, Fremdwahrnehmung,
Kulturtransfer, 4. Auflage, Stuttgart: J. B. Metzler Verlag 2016, S. 95.

30. | S e i t e
2. Analyse des Romans

2.1. Zur Entstehung der autobiographischen Erzählung Nirgendwo in Afrika

Unmittelbar nach der Rückkehr aus Amsterdam begann ich mit »Nirgendwo in Afrika«. Max
war dagegen. »Du bist zu alt, um Enttäuschungen zu ertragen«, sagte er mit der charmanten
Offenheit, die bei ihm väterliches Erbteil war. »Du wirst es nicht aushalten, wenn du keinen
Verlag findest.« »Wenn ich es nicht wenigstens versuche, bin ich jetzt schon tot«, erkannte
ich. Der erste Verlag, dem ich »Nirgendwo in Afrika« anbot, hat nach zehn Tagen zugesagt,
meinen autobiografischen Roman, der ein Bestseller wurde, zu bringen. Seitdem sind von mir
siebzehn Bücher bei Langen Müller erschienen.106
Viele Faktoren liegen einer literarischen Produktion zugrunde. Die Kenntnisnahme dieser
Faktoren trägt zum Verständnis des literarischen Werks bei.107 Bei Stefanie Zweig sind diese
Faktoren Enttäuschungen, Verlust des Kindheitsorts und „Erinnerungen […] mit […]
verwehten Spuren und […] zerrissene[r] Nabelschnur“108. Neben einem schwierigen neuen
Anfang in der fremden Heimat der Eltern, enttäuscht sie ihr „Leben auf zwei Kontinenten“109,
also ihre zwei Heimaten, die sich entfremden. Die ersehnte Heimat liegt in der Vergangenheit,
aber nachts sie in Träumen heimsucht: „Ich habe schon den zweiten Tag 39,5 Grad Fieber,
träume dauernd von Owuor, Rummler und Toto [aus Afrika] und darf die ganze Woche nicht
in die Schule.“110 Gemeint ist hier die Schule in Deutschland.

Neun Jahre haben Stefanie Zweig und ihre Eltern in Afrika verbracht, entscheidende
Kindheitsjahre der Autorin. Als sie sechs Jahre alt war, flohen ihre Eltern 1938 mit ihr nach
Kenia. Sie fanden dort Zuflucht in dörflicher Umgebung (Rongai und Ol‘Joro Orok). In Kenia
besuchte Stefanie Zweig eine englische Schule bzw. ein Internat, da Kenia eine britische
Kolonie war und von den Briten angesiedelt war. Später wird sie wegen dieser britischen
Schulausbildung Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache haben. Diese Schwierigkeit mit
der Muttersprache trug auch zur schweren Eingewöhnung im Nachkriegsdeutschland bei. Im
Internat in Kenia war das Leben von einem strengen Reglement und von Diskriminierung der
Flüchtlingskinder vonseiten der britischen Mitschülerinnen und einige Lehrer geprägt, sodass

106
Stefanie Zweig: Nirgendwo war Heimat. Mein Leben auf zwei Kontinenten, München: Langen Müller 2012,
S. 286.
107
Vgl. Koffi Kauffmannn Mawusé N’Sougan: Zwischen Exotik und Erotik. Geschlechterverhältnisse in der
Fremde. Eine Untersuchung zu Corinne Hofmanns Die weiße Massai, der Faculté des Lettres Langues et Arts
der Université de Lomé zur Erlangung des Mastergrades vorgelegten Masterarbeit, Lomé: 2016, S. 30.
108
Stefanie Zweig: Nirgendwo war Heimat, a. a. O., S. 258.
109
Ebd.
110
Ebd., S. 235.

31. | S e i t e
sie Freude und Zuflucht vor allem in Büchern fand. Auch in Deutschland erfährt sie solche
Diskriminierung von Schülern und einigen Lehrern mit Nazivergangenheit.

Mit den afrikanischen Einheimischen hingegen hatte sie sich angefreundet. Ihr bester Freund
war ein kenianischer Diener, der im Dienst ihrer Eltern stand. Stefanie Zweig wird schnell
mit dem afrikanischen Alltag vertraut und denkt kaum an eine Rückkehr nach Deutschland.
Nur mit halbem Herz kehrt sie daher mit ihren Eltern nach Deutschland zurück und muss ihre
Freunde sowie die zu ihrer „Heimat“ gewordenen ostafrikanischen Dörfer verlassen.

Stefanie Zweig ist fünfzehn Jahre alt, als die Familie im Jahre 1947 nach Deutschland
zurückkehrt. Nach Abschluss ihrer Schulausbildung arbeitet sie als Volontärin bei der
Jüdischen Allgemeinen Wochenzeitung in Düsseldorf. Später geht sie als Kulturredakteurin
zur Frankfurter Abendpost/Nachtausgabe. Sie leitet dort das Feuilleton von 1963 bis 1988.
Erst später beginnt sie, ihre Erlebnisse des Exils als Schriftstellerin zu verarbeiten. Diese
Erfahrungen in Afrika schildert sie in ihrem ersten, für junge Leser gedachten Afrika-Roman
Ein Mundvoll Erde (1980). Dass sie ihre Kindheit in Afrika, also ihre Afrikaerfahrung, in
einem Jugendbuch darstellt, empfindet Zweig letztlich als ungenügend, da die Gattung zu
Simplifizierung zwingt.111 1995 erscheint ihr autobiographischer Roman Nirgendwo in
Afrika. In Nirgendwo in Afrika verarbeitet Zweig tatsächlich ihre Erlebnisse in Afrika, selbst
wenn eine Autofiktion im Sinne vom Serge Doubrovsky112 in dem Roman zu bemerken ist.

Der Roman wurde zum Bestseller und genoss großen Publikumserfolg. Weltweit wurden
Millionen Exemplare verkauft und in verschiedenen Sprachen übersetzt. Die gleichnamige
Verfilmung unter der Regie von Caroline Link erhielt 2003 den Academy-Award in der
Kategorie ‚Bester fremdsprachiger Film‘. Nirgendwo in Afrika war für Stefanie Zweig ein
großer Erfolg und Quelle großer Freude, vor allem, „weil Buch und Film die alten Spuren
wieder freigaben.“113 1996 erschien von derselben Autorin Irgendwo in Deutschland als Folge
von Nirgendwo in Afrika, in dem das Leben nach der Rückkehr nach Deutschland, die
mühselige Eingewöhnungszeit in der fremd gewordenen Heimat der Eltern, sowie die
Sehnsucht nach der verlassenen, aber erwünschten Heimat in Afrika erzählt werden.

111
Vgl. Stefanie Zweig: Nirgendwo war Heimat, a. a. O., S. 285.
112
„Der Begriff ‚Autofiktion‘ […] lässt sich zunächst als Fiktion von realen Ereignissen definieren“. Vgl.
Rafatou Tchagao: Das Heimatkonzept in Stefanie Zweigs Vivian und Ein Mund voll Erde, a.a.O., S. 111.
113
Stefanie Zweig: Nirgendwo war Heimat, a. a. O., S. 287.

32. | S e i t e
Neben Ein Mund voll Erde und Nirgendwo in Afrika verarbeitete Stefanie Zweig ihre
Afrikaerfahrung in weiteren Werken. Ihre literarische Produktion enthält aber weitere
literarische Werke außer Afrika-Romane. Über ihre literarische Produktion schrieb sie: „Nach
jedem sage ich: »Das war mein letztes«, doch ich war nie eine, die sich selbst beim Wort
nimmt.“114

Stefanie Zweig starb am 25. April 2014. Ihre Afrika-Romane und die darin behandelten
Problemkreise wie Fremderfahrung, Enttäuschungen, Sehnsüchte, und vor allem die
Heimatthematik sind in der immer globaler werdenden Welt und für die damit
einhergehenden Migrationsbewegungen von großer Aktualität. Von großer Bedeutung ist in
dieser Arbeit die Inszenierung der Afrika- bzw. Fremderfahrung von Stefanie Zweig in ihrem
Roman Nirgendwo in Afrika.

2.2. „Leb Wohl, Vaterland! Jambo Bwana!“115: Ein neues Leben in der Fremde

Zweigs Roman Nirgendwo in Afrika beginnt mit dem Briefwechsel zwischen dem schon in
Kenia angekommenen Walter Redlich (dem Familienvater) und seiner noch in Deutschland
verbliebenen Familie. Der Briefwechsel wird nur einseitig aus der Perspektive des Vaters
wiedergegeben. Aus den Briefen erfährt der Leser von den ersten Fremderfahrungen Walters
und seinen damit einhergehenden Verständigungsproblemen.

Im Allgemeinen entstehen Missverständnisse bei der Begegnung mit Menschen anderer


Kulturen, weil fremde Weltanschauungen, fremde Gewohnheiten und Verhaltensrituale nicht
verstanden, manchmal für unsinnig oder vernachlässigbar gehalten und abgelehnt werden.
Solch eine Analyse führt beispielhaft Robert Hettlage im Hinblick einer Fremde-
Einheimische-Konstellation und schreibt: „[Dies]ist für die Einheimischen keineswegs
angenehm, weil diese sich aus der zufriedenen Ruhe des „Immer-schon-so“ des praktizierten
Alltags herausgerissen sehen“116 Einer der grundlegenden Sachverhalte, der zu
Verständigungsproblemen in der Fremde führt, ist die Sprachbarriere. Um die Denkweise der

114
Stefanie Zweig: Nirgendwo war Heimat, a. a. O., S. 287.
115
Nachdruck des gleichnamigen Kapitels aus Stefanie Zweigs Memoiren Nirgendwo war Heimat. Mein Leben
auf zwei Kontinenten. Das Kapitel schildert im Briefwechsel die Reise nach Afrika von Stefanie Zweigs Vater
Walter und dessen erste Fremderfahrung in Afrika. Die in der Überschrift gemischten Sprachen (Deutsch und
Suaheli) gehören zu dem Sprachstil von Stefanie Zweig und ist in der vorliegenden Analyse von großer
Bedeutung. Die Begegnung der Sprachen illustriert die Begegnung der Kulturen und ihre Folgen, vor allem den
„Verfremdungseffekt“, den die Kulturberührung auf den ersten Blick verursacht.
116
Robert Hettlage: „Fremdheit und Fremdverstehen“, a. a. O.

33. | S e i t e
Anderen zu verstehen und ihnen seine eigenen Intentionen vermitteln zu können, muss man
in der Lage sein, mit ihnen in einer Sprache zu reden. Die Sprachbarriere ist auch das erste
Problem der Figur Walter Redlich, als er in Kenia ankommt und mit einer anderen Kultur,
also mit einer anderen Lebensart, konfrontiert wird. Wegen seiner Unkenntnis der Sprache
kann er keine Arbeit in der Stadt finden: „Ich war nur eine Woche in Nairobi und schon sehr
niedergeschlagen, weil mir jeder sagte, daß ich mich hier ohne Englischkenntnisse gar nicht
erst nach einer Arbeit in der Stadt umzusehen brauchte“ (S. 6). Als er endlich auf einer Farm
als Verwalter angestellt wird, kann er sich weder mit den Arbeitern noch mit seinem
kenianischen Diener (Boy) verständigen. So sieht er sich dann auch wegen der Sprachbarriere
gezwungen, jeden Tag denselben Pudding zu essen, weil er am ersten Tag den Pudding durch
schmatzende Geräusche gelobt hat. Seinen Kummer hierzu gesteht er seiner Tochter seiner
Frau in einem Brief folgendermaßen:

[H]ier auf der Farm sind nur Schwarze, und die sprechen Suaheli und finden es furchtbar ulkig,
daß ich sie nicht verstehe. […] Um mit den Menschen auf der Farm zu reden, muß man Suaheli
lernen […]. Vielleicht kann ich bis zu meinem nächsten Brief schon genug Suaheli, um Owuor
klarzumachen, daß ich die Suppe nicht gern nach dem Pudding esse. Pudding kann er übrigens
wunderbar kochen. Beim ersten Mal habe ich viele schmatzende Geräusche gemacht. Er hat
zurückgeschmatzt, und seitdem kocht er jeden Tag den gleichen Pudding (S. 13ff).
Die Sprache ist der Schlüssel zur zwischenmenschlichen Verständigung. Sprachbarrieren sind
Ursache für Missverständnisse und Befremden. „Non-verbale Kommunikation“117 wie
Gestik, Mimik und Körperhaltung ist vieldeutig und kann falsch interpretiert werden und so
zu Verständigungsproblemen führen. Walter ist in seinem Verständigungsbemühen begrenzt.
Seine „schmatzenden Geräusche“ sind zum Beispiel entscheidend für den Koch, so dass jeden
Tag der gleiche Pudding serviert wird.

Neben den Sprachbarrieren, die in der Fremde zu Missverständnissen führen können, steht
die Mentalität und die Weltanschauung der Anderen. Wie folgt fasst die Figur Walter seine
ersten Erfahrungen mit Weltvorstellungen, Gewohnheiten und Verhaltensvorschriften seiner
neuen Umgebung zusammen: „Es dauert sehr lange, ehe man die Mentalität der Menschen
hier versteht […]“ (S. 26). Walter hat endlich Suaheli gelernt und kann Owuor erklären, dass
er nicht jeden Tag den gleichen Pudding will. Dessen Reaktion ist unfreundlich. Er wirft
Walter vor, dass er am ersten Tag seinen Pudding gelobt habe:

„Unter non-verbaler Kommunikation werden Gestik, Mimik, Proxemik (Körperbewegungen im Raum) sowie
117

non-verbale Handlungen gefasst, die häufig Formen der verbalen Kommunikation begleiten und unterstützen.
Sie haben, ebenso wie die verbale Kommunikation, eine kulturspezifische Bedeutung und einen
kulturspezifischen Stellenwert“: Hans-Jürgen Lüsebrink: Interkulturelle Kommunikation, a.a.O., S. 49.

34. | S e i t e
Als ich nämlich endlich genug Suaheli gelernt hatte, um ganze Sätze zu bilden, habe ich ihm
verraten, daß ich nicht jeden Tag den gleichen Pudding will. Das hat ihn vollkommen aus der
Fassung gebracht. Immer wieder warf er mir vor, daß ich seinen Pudding schon am ersten Tag
gelobt hätte. Dabei ahmte er meine schmatzenden Geräusche von unserer ersten
Puddingbegegnung nach und sah mich höhnisch an. Ich stand wie ein begossener Pudel da
und wußte natürlich nicht, was Abwechslung auf Suaheli heißt, falls es dieses Wort überhaupt
gibt (S. 25f).
Auch die Bananenverkäuferinnen spotten über Walter, weil er nur drei Stück Bananen kaufen
will und nicht den ganzen Stamm, der sehr billig ist:

Von Zeit zu Zeit kommen Frauen mit riesigen Bananenstauden vorbei und bieten sie auf den
Farmen an. Beim ersten Mal sind alle Schwarzen zusammengelaufen und haben sich fast
totgelacht, weil ich nur drei Stück kaufen wollte. Die Bananen sind sehr billig und ganz grün,
aber sie schmecken wunderbar (S. 25).
Walter ist die Mentalität seiner neuen Umgebung fremd, weil er immer alles mit seinem
deutschen Blick, beziehungsweise seiner deutschen Mentalität beurteilt. Das erklärt ihm sein
Diener Owuor mit folgenden Worten: „Owuor, ich verstehe dich nicht. Das hast du immer
gesagt, wenn deine Ohren nicht hören wollten […]. Die Memsahib kidogo [Regina] hat
gewußt. Sie weiß immer alles. Sie hat Augen wie wir. Du hast immer auf deinen Augen
geschlafen, Bwana [Walter]“ (S. 358f). Der Diener Owuor versucht seinerseits immer, Walter
zu verstehen. Er beurteilt nicht alles mit seinem afrikanischen Blick, sondern dringt in das
Andere ein, beziehungsweise in die deutsche Kultur, die Walter hier verkörpert, und versucht
sie zu verstehen. Die Tatsache, dass er freiwillig das Lied „Ich hab mein Herz in Heidelberg
verloren “ lernt und neue deutsche Wörter immer mehrmals wiederholt (Vgl. S. 25, 45, 54,
88, 128, u. 361), ist hierfür ein veranschaulichendes Beispiel. Er versteht, was bei Familie
Redlich passiert, ohne die Sprache zu verstehen:

Die Memsahib [Jettel] braucht ihren Koch, wenn du zu den Askaris [Soldat; es steht hier für
Krieg] gehst. /«Was sagst du da? Woher weißt du? /« Bwana, ich kann Worte riechen. (…).
Aber du verstehst uns doch gar nicht, wenn wir reden. /«Als du nach Rongai gekommen bist,
Bwana, habe ich nur mit den Ohren gehört (S. 187ff).
Dass Owuor ohne Deutschkenntnisse die Sorgen der Familie Redlich, die hier die deutsche
Kultur verkörpert, erahnen kann, lässt sich durch den von Ottfried Schäffter beschriebenen
Modus des Fremdverstehens — Fremde als Resonanzboden des Eigenen — erklären:
„Resonanz als Modus der Innen-Außen-Verschränkung lässt Fremdheit über Affinität,
Verständnis, Einfühlung, Solidarität, Liebe, Mitleid oder Empathie als prinzipiell verstehbar
erscheinen, ohne dabei die Grenze vernachlässigen oder leugnen zu müssen“118. „Beschäftigt
man sich [aber] intensiv mit dem ‚Fremden‘, so erkennt man viele Momente des Eigenen in

118
Otrfried Schäffter: „Modi des Fremderlebens“, a. a. O.

35. | S e i t e
ihm, sodass Fremdheit tendenziell verschwindet und Ähnlichkeit feststellbar wird“.119 Der
Diener Owuor beschäftigt sich stark mit der Kultur seines deutschen Herrn, sodass er keine
Deutschkenntnisse braucht, um die Sorgen seines Herrn zu verstehen und ihm Lösungen
vorzuschlagen. In dem er „nur mit den Ohren [hört]“ (S. 336) und „Wörter riech[t] [erahnt]“
(S. 187), kann er wissen, was mit seinem deutschen Herrn los ist. Dass sich Owuor intensiv
mit der Kultur seines Herrn (der deutschen Kultur) beschäftigt, dokumentieren seine
Bemühungen, jedes neue deutsche Wort von Walter zu wiederholen und ebenso seine
Fähigkeit, sinnvolle, situationsbezogene Fragen zu stellen, um mehr über die fremde Kultur
zu lernen:

»Du schenkst mir deinen Mantel, Bwana? »Das ist kein Mantel, das ist eine Robe. Ein Mann
wie du muß eine Robe tragen.« Owuor probierte das fremde Wort sofort aus. Weil es weder
aus der Sprache der Jaluo stammte noch Suaheli war, machte es ihm große Schwierigkeiten
im Mund und in der Kehle. […] Sieben Nächte lang zog Owuor [die Robe], […].Sobald der
Stoff, der in der Sonne schwarzes Licht gab und selbst bei Mondlicht dunkler war als die
Nacht, Hals und Schultern berührte, bemühten sich Owuors Zähne um das fremde Wort. Für
Owuor waren Mantel und Wort ein Zauber, von dem er wußte, daß er mit seinem Kampf gegen
die Heuschrecken zu tun hatte. Eine Weile ließ er noch die Frage wachsen, die seinen Kopf
nun schon so lange unruhig machte, aber die Neugierde fraß an seiner Geduld, und er ging
den Bwana suchen. Walter stand am Blechtank und klopfte die Rillen ab, um zu hören, wie
lange das Trinkwasser noch reichen würde, als Owuor frage: »Wann hast du die Robe
getragen? Owuor, das war meine Robe, als ich noch kein Bwana war. Ich trug die Robe zur
Arbeit.« »Robe«, wiederholte Owuor und freute sich, weil der Bwana endlich begriffen hatte,
daß gute Worte zweimal gesagt werden mußten. »Kann ein Mann in der Robe arbeiten?« »Ja,
Owuor, ja. Aber in Rongai kann ich nicht in meiner Robe arbeiten.« »Hast du mit deinen
Armen gearbeitet, als du noch kein Bwana warst?« »Nein, mit dem Mund. Für eine Robe muß
man klug sein. In Rongai bist du klug. Nicht ich (S. 44f).
Indem Owuor sich intensiv mit der deutschen Kultur beschäftigt und seinen Herrn Walter
analysiert, versteht er die Denkweise von Walter, sodass er Scherze mit ihm treiben kann:

Es war eine lange Safari, Bwana.Aber Rummler hat eine gute Nase. Er hat den Weg gefunden.
«Owuor wartete voller Spannung, ob der Bwana den Scherz glauben würde oder ob er noch
so dumm wie ein junger Esel war und nicht wußte, daß ein Mann auf Safari seinen Kopf und
nicht die Nase eines Hundes brauchte (S. 88).
Nachdem Owuor Walter und dessen Umgang mit Problemen evaluiert hat, gibt er ferner zu,
dass Walter ein Kind sei, das betreut und geschützt werden soll: „Owuor«, erinnerte sich
Regina und schaute zum Fenster hinaus, um nicht das Gesicht ihres Vaters sehen zu müssen,
»hat gesagt, ich muß dich beschützen. Du bist ein Kind. Das hat Owuor gesagt, Papa, nicht
ich“ (S. 364).

119
Michael Hofmann/Iulia-Karin Patrut: Einführung in die interkulturelle Literatur, Darmstadt: WGB
(Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 2015, S. 15.

36. | S e i t e
In seiner Analyse der Beziehungen zwischen Walter und Owuor schreibt Boaméman Douti:
„Indem Owuor nicht stumm hinter dem Stuhl seines weißen Herrn steht, stellt er sich auf
dieselbe Ebene mit ihm“120. Hier verschwinden die Grenzen der Fremdheit, sodass Owuor
Walter wie ein Kind „erziehen, betreuen und schützen [kann]“121. Im Gegensatz zu Owuor
lässt sich der Umgang von Walter mit der Fremde durch den Modus des Fremdverstehens –
Fremdheit als Komplementarität – erklären: Selbst wenn Walter in dieser neuen Gesellschaft
sich nicht vollkommen zurechtfindet, „erkennt [er] die kenianischen Kultur als Kultur mit
Eigenwert an, die sich zwar von der deutschen unterscheidet, aber von gleicher Wertigkeit
mit ihr erscheint“122. Die bedeutende Gleichwertigkeit der Kenianer gesteht ferner Walter mit
folgenden Worten: „Es dauert sehr lange, ehe man die Mentalität der Menschen hier versteht,
aber sie sind sehr liebenswert und bestimmt auch klug“ (S. 26).

Ein anderes Beispiel des Fremden als Resonanzboden ist Walters Tochter Regina. Im
Gegensatz zu ihrem Vater findet sich Regina sofort nach ihrer Ankunft in die neue
Gesellschaft gut zurecht. Sie hat verschiedene Sprachen der neuen Gesellschaft gelernt, unter
anderem Suaheli, Kikuyu, Jaluo und Englisch. Ihre Sprachkenntnisse ermöglichen es ihr, sich
mit verschiedenen Menschengruppen zu unterhalten und sie zu verstehen. Sie tritt sogar
besser in Kontakt zu anderen kenianischen Menschengruppen als einheimische Kenianer, die
nur ihre eigene Sprache können:

Auf dem Markt verliebte sich Regina in Nairobi und in Chepoi. Zunächst wurde sie seine
Geschäftspartnerin und später seine Vertraute. Weil sie Kikuyu sprach, konnte sie noch besser
mit den Männern an den Marktständen handeln als er, der Nandi, der auf Suaheli angewiesen
war (S. 217f).
Aus ihrem großen Interesse für die Fremdsprachen und ihrer Verwurzelung in der
kenianischen Fremdkultur schließt Boaméman Douti seine Ausführungen zur Figur Regina
wie folgt ab: „Zweig lässt Regina so stark in der kenianischen Kultur verwurzelt, dass diese
Kenia als ihre Heimat betrachtet und nach ihrer Rückkehr nach Deutschland an Heimweh
leidet.“123

Angesichts der eingeführten Analyse lässt sich schlussfolgern, dass Fremdheit durch Willen
und Akzeptanz überwunden werden kann. Das Fremde ist ein Konstrukt, die aufhören zu
bestehen kann. Julia Kristeva macht es in ihrem Buch Fremde sind wir uns selbst deutlich:

120
Boaméman Douti: Poetik eines kulturellen Austausches im Postkolonialen Kontext, a.a.O., S. 197.
121
Ebd.
122
Ebd.
123
Ebd. S. 199.

37. | S e i t e
„Das Fremde entsteht, wenn in mir das Bewußtsein meiner Differenz auftaucht, und es hört
auf zu bestehen, wenn wir uns alle als Fremde erkennen“.124 Heimat ist also kein Gegenpol
des Fremden. Die beiden Konzepte (Begriffe) fließen ineinander, da „das Eigene und das
Fremde untrennbare Bestandteile der menschlichen Identität und somit der Heimat [sind]“125.

Wenn Fremdheit bzw. Fremde überwunden werden kann, warum finden sich Exilanten nicht
zurecht in der Fremde? Sind sie alle „Revanchist[en]“126, die einfach den Verlust einer
idealisierten Heimat nicht akzeptieren wollen? Wie aber sieht es aus, wenn Heimat in der
Fremde als ein erinnertes Ideal auftaucht?

2.3. Heimat als „erinnerte Wirklichkeit“127 in der Fremde

Wenn Heimat bei den Exilanten als ein erinnertes Ideal auftaucht, dann entsteht in der Fremde
ein Erinnerungs- und Identifikationsraum. So wird Heimat eine Projektion der Vergangenheit,
die „zwischen Wirklichkeit und Imagination [pendelt]“128, also eine „erinnerte
Wirklichkeit“129. „Erfahrungen werden im Rückblick neu sortiert und gerahmt und aus der
Gegenwart heraus bewertet.“130 Die Vergangenheit wird beschönigt und sich in ein idyllisches
Bild der verlorenen Heimat wandeln. Dadurch wird das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer
Gruppe, einer „Heimat“, von der man jetzt getrennt ist, bestätigt. Im Rückblick auf ihre ferne
Heimat in der Vergangenheit finden die Protagonisten Walter und Jettel wünschenswert, was
sie für unangenehm hielten, als sie noch in dieser Heimat waren: „Der kleinstädtische Klatsch,
den sie in den ersten Jahren ihrer Ehe belächelt und oft sogar als lästig empfunden hatten,
erschien ihnen im Rückblick heiter und spannend“ (S. 36). Diese Beschönigung der
vergangenen Heimat erzeugt ein Heimatgefühl und verstärkt die Konstruktion eines Eigenen,
dessen Verlust unerträglich ist. Bausteine dieses Eigenen sind kollektive Gedächtnisse und

124
Julia Kristeva: Fremde sind wir uns selbst, Berlin: Suhrkamp 1990, S. 11.
125
Carme Bescansa et alii: „Unheimliche Heimaträume. Über die Aktualität und die Notwendigkeit beider
Konzepte in Interaktion“, in: Carme Bescansa et alii (Hrsg.): Unheimliche Heimaträume. Repräsentation von
Heimat in der deutschsprahigen Literatur seit 1918, a.a.O.
126
Bernhard Schlink: Heimat als Utopie, Frankfurt am Main: Edition Suhrkamp 2000, S. 15.
127
Zitiert nach Robert Krause: Lebensgeschichten aus der Fremde. Autobiografien deutschsprachiger
emigrierter SchriftstellerInnen als Beispiele literarischer Akkulturation, München: Text + Kritk 2010, S. 104.
Die Überschrift ist auch ein Zitat von Thomas E. Schmidt nach Rafatou Tchagao: Das Heimatkonzept in Stefanie
Zweigs Vivian und Ein Mund voll Erde, a. a. O. S. 44.
128
Rafatou Tchagao: Das Heimatkonzept in Stefanie Zweigs Vivian und Ein Mund voll Erde, a. a. O. S. 44.
129
Robert Krause: Lebensgeschichten aus der Fremde. Autobiografien deutschsprachiger emigrierter
SchriftstellerInnen als Beispiele literarischer Akkulturation, München: Text + Kritk 2010, S. 104
130
Harald Welzer: Das Kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung, München: C. H. Beck 2002.

38. | S e i t e
persönliche Erfahrungen, die in Erinnerung auftauchen. Wenn Walter an seine Heimat in
Deutschland denkt, dann erinnert er sich an seine schönsten Schul -oder Dienstzeiten, als er
noch ein erfolgreicher Anwalt war (Vgl. S. 46). Über diese Zeit erzählt er auch mit großer
Freude (Vgl. S. 141). Dieses konstruierte Heimatbild wird nicht vom Boykott der jüdischen
Geschäfte, von der Entlassung von Richtern wie auch von Professoren der Universitäten, von
dem Entzug der Approbation für Ärzte und Anwälte und von den staatlichen Überwachungen
überschattet, die verantwortlich für sein Schicksal als Exilant waren (Vgl. S. 37). Sie
beeinflussen sein schönes Heimatbild nicht. In seiner Erinnerung bevölkerten nette und
tolerante Menschen seine verlorene Heimat: „So waren in seinen Erinnerungen die
Leobschützer – freilich mit einigen Ausnahmen, die er namentlich aufzählen konnte und es
in Rongai auch immer wieder tat – freundliche und tolerante Menschen.“ (Ebd.).

Robert Krause geht im Anschluss an Ansätze der kulturwissenschaftlichen und


sozialpsychologischen Forschung, bzw. an die von Jan Assmann in die
kulturwissenschaftliche Diskussion eingeführten Begriffe des „kulturelle[n] Gedächtnis“131
und der „kollektive[n] Erinnerung“132 davon aus,

dass Vergangenes nie voraussetzungslos erinnert, sondern stets innerhalb eines gewissen
Bezugsrahmens rekonstruiert wird. Dieser Bezugsrahmen ist vorgegeben durch die aktuelle
Gegenwart desjenigen, der sich erinnert und mitbestimmt durch sein kulturelles und soziales
Umfeld“133
Dies gilt ebenso für das Elternpaar Walter und Jettel. Verhaltensweisen, Objekte,
Wohnungsarchitekturen und Orte in der Fremde, die Charakterzüge der verlorenen Heimat
tragen, erinnern sie an die einstige Heimat. Walter und Jettel rekonstruieren nicht nur ihre
verlorene Heimat, wenn sie im Kontakt mit Menschen oder Dingen aus der deutschen Heimat
sind, sie finden auch die damit einhergehende Geborgenheit, das Daheim-Gefühl und eine
gewisse Hoffnung wieder. Ein Beispiel hierfür ist der von Stefanie Zweig ausführlich
beschriebene erste Besuch von Walter und Jettel auf der Farm der ihnen aus Deutschland
bekannten Oha und Lilly Hahn, die – wie sie selbst – dem faschistischen Deutschland den
Rücken gekehrt hatten und ein Stück weit die alte Heimat in Afrika aufleben ließen:

Die Farm von Hahns mit Kühen und Schafen auf sanften grünen Hügeln und Hühnern, die
neben dem großen Gemüsegarten in einer Sandfläche scharrten, mit akkurat angelegten
Maisfeldern und dem Haus aus weißem Stein vor dem kurzgeschorenen Rasen, um den Rosen,
Nelken und Hibiskus wuchsen, hieß Arkadia und erinnerte an einen deutschen Gutshof. Die

131
Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen,
München: C.H.Beck 1992
132
Ebd. S. 46.
133
Robert Krause: Lebensgeschichten aus der Fremde, a. a. O, S. 99 f.

39. | S e i t e
Wege um das Haus waren mit Stein belegt, die Außenwände vom Küchengebäude in blau-
weißem Rautenmuster gestrichen, das Toilettenhaus grün und die hellen Holztüren vom
Wohnhaus mit einer Lackfarbe überzogen […] Walter und Jettel kamen sich auf Arkadia wie
verirrte Kinder vor, die von ihren Rettern mit der Ermahnung zu Hause abgeliefert werden,
nie mehr allein fortzulaufen. Es war nicht nur die Herzlichkeit und Gelassenheit ihrer
Gastgeber, die ihnen neue Kraft gab, sondern die Geborgenheit in dem Haus selbst. Alles
erinnerte sie an eine Heimat, die sie in solcher Üppigkeit nie kennengelernt hatten. Die runden,
mit grünem Leder überzogenen Tische, der wuchtige Frankfurter Schrank vor
eierschalfarbenen Stores, mit grauem Samt bezogene Stühle, Ohrensessel mit Bezügen aus
geblümtem englischem Leinen und eine Mahagonikommode mit goldenen Beschlägen
stammten von Ohas Eltern, das schwere Tafelsilber, die Kristallgläser und das Porzellan aus
Lillys Aussteuer […]. Vor dem Kamin stand ein Flügel mit einer weißen Mozartbüste auf
einer roten Samtdecke. Unmittelbar nach Sonnenuntergang trug Manjala Getränke in bunten
Gläsern herein und bald darauf so vertraute Gerichte, als könne Lilly täglich bei deutschen
Metzgern, Bäckern und Kolonialwarenhändlern einkaufen. Ihre Stimme, die selbst dann zu
singen schien, wenn sie nach den Boys rief oder die Hühner fütterte, und Ohas Frankfurter
Zungenschlag kamen Walter und Jettel wie Botschaften aus einer fremden Welt vor. Abends
sang Lilly das Repertoire ihrer Vergangenheit. […]. Obwohl Walter und Jettel solche
musikalischen Erlebnisse nie kennengelernt hatten, vergaßen sie bei den nächtlichen
Konzerten alle Bedrückung und gaben sich romantischen Gefühlen hin, die ihnen Hoffnung
und Jugend zurückbrachten (S. 77 f).
Die Atmosphäre auf der Farm Arkadia ist gekennzeichnet durch den kurzgeschorenen, von
Blumenrabatten umgebenen Rasen, die akkurat angelegten Felder, die steinernen Wege rund
ums Wohnhaus und dessen teilweise blau-weiße Rauten-Farbfassung; im Haus selbst ist es
das Mobiliar, das noch die deutsche Herkunft atmet, der Kamin, der Flügel – und ja: das
vertraute Essen. Der Erzähler ist bemüht, dem Leser die deutsche Idylle der Hahns in Afrika
möglichst plastisch vor Augen zu führen. Auf Walter und Jettel wirkt dies alles wie
„Botschaften aus einer fremden Welt“, Botschaften aus der fernen Heimat, wenn sie auch eine
solche Wohlhabenheit dort nicht kannten. Zu dem Geborgenheitsgefühl trägt auch der
Farmname bei: Arkadia134– bekannt in der Antike als Schauplatz idyllischen Landlebens.

„Es gibt keine Erinnerung ohne Wahrnehmung“135. Die Wahrnehmung der deutsch
kulturbezogenen Hausordnung ermöglicht es den Protagonisten, sich an ihre deutsche
Heimat, an ihre Vergangenheit zu erinnern. „Vergangenheit entsteht nicht von selbst, sondern
ist das Ergebnis einer kulturellen Konstruktion und Repräsentation; sie wird immer von

134
„Bereits in der Antike taucht der Name Arkadien [auch Arkadia] auf in der Dichtung, schon damals mit einem
fast magischen Beiklang, der ein gleichsam paradiesisches Leben der Menschen beschwor, meist Hirten oder
Schäfer, im Einklang mit sich, ihren Mitmenschen und mit den Pflanzen und Tieren der Natur. In der
Renaissance, im Barock, Rokoko und später in der deutschen Romantik tauchte der Begriff wieder auf, nicht
nur in der Literatur sondern auch in der Malerei, in der Musik und sogar in der Kunst des Gartenbaus in den
berühmten „Englischen Gärten“. Bis heute scheint der Begriff „Arkadien“ ein Synonym für ein irdisches
Paradies zu sein“ : Christa Bauer: „Arkadien- Mythos und Realität“, aufrufbar auf:
https://photopedia.info/?page=Tourismus&article=415|arkadien-mythos-und-realitaet, Zugriff am 15.01.2021.
135
Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, 6. Aufl., Berlin: Suhrkamp 1985, S.
364.

40. | S e i t e
spezifischen Motiven, Erwartungen, Hoffnungen, Zielen geleitet und von dem Bezugsrahmen
einer Gegenwart geformt.“136 Jan Assmann weist darauf hin, dass „Erinnerungen auch
persönlichster Art nur durch Kommunikation und Interaktion im Rahmen sozialer Gruppen
entstehen“137. Die Farm, das Haus und das Leben im Haus der Gastgeber formen ein soziales
und kulturelles Umfeld, mit dem Walter und Jettel sich identifizieren. Dieses kulturelle und
soziale Umfeld ist Symbol ihrer Identität, ihres Eigenen, von dem sie getrennt sind und mit
dem sie sich jetzt wieder verbunden fühlen.

Das Eigene aber ist unter kulturwissenschaftlicher Perspektive ein Teil eines Dialogs.
„Demnach ist das [Eigene] eben keine Gegebenheit, sondern vielmehr ein Relations- oder
Unterscheidungsbegriff zum [Fremden], ohne den dieses gar nicht denkbar wäre“138. Das
Fremde entsteht aus dem Bewusstsein des Eigenen, aus dem Bewusstsein der Zugehörigkeit
zu einer Gruppe, aus einer spezifisch kulturbezogenen Konstruktion, weil alles das, was zu
dem Eigenen nicht gehört, das Fremde bildet. Das Eigene ist auch vor allem eine Identität,
also „eine Sache von Gedächtnis und Erinnerung“139 in der Fremde. Ein Charakterzug des
Eigenen in dem Fremden führt zum kollektivem Gedächtnis – kollektiver Identität–, selbst
wenn, das kollektive Gedächtnis – die kollektive Identität – nur im Bewusstsein des
Individuums besteht und nach seiner Erfahrung und seiner Lust und Laune organisiert wird:
„Kollektive oder Wir-Identität existiert nicht außerhalb der Individuen, die dieses „Wir “
konstituieren und tragen. Sie ist eine Sache individuellen Wissens und Bewußtseins.“140.
Diese „kollektive Selbstvorstellung“141 dient vor allem der Identitätssicherung und -
stabilisierung.

In der Fremde ist die Erinnerung der Weg zu dem kollektiven Gedächtnis, das als Garant der
Identität der Exilanten dient. Wenn die Heimat der Protagonisten Walter und Jettel mit ihrem
konstruierten kollektiven Gedächtnis verbunden ist, dann ist es verständlich, „wenn [sie] sich
nicht gegen die Erinnerungen wehren [können]“ (S. 16), da ihre Heimat nicht nur an einem
fernen Ort, sondern auch in einer ferner Vergangenheit liegt. Was sie mit der Heimat
verbinden, sind nur Erinnerungen und Heimweh. „Heimweh“ – so Susanne Scharnowski–

136
Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, a. a. O., S. 88.
137
Ebd. S. 36.
138
Ortrud Gutjahr:“ Wie fremd ist eigentlich das Fremde“, aufrufbar auf https://www.jstor.org/stable/40621662,
Zugriff am 15.01.2021.
139
Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, a. a. O., S. 89.
140
Ebd. 131.
141
Ebd.130.

41. | S e i t e
„verbindet im Inneren des Menschen Heimat und Erinnerung, Ort und Zeit“142. Heimweh ist
auch Ursache der „depressiven Zuständen“ (S. 53) von Walter. Susanne Scharnowski weist
darauf hin: [Heimweh] konnte schwere körperliche Symptome und sogar den Tod nach sich
ziehen.“143 Denn „[w]enn […] Heimweh entsteht, dann ist Heimat bereits – für immer oder
zeitweise – verloren“144. Das ist eine ganze Welt, die dann scheitert. Eine „Heimat mit ihren
Ritualen, Sozialstrukturen und Bräuchen“145, deren Verlust, man jetzt in der Fremde ertragen
soll.

Wie aber sieht es aus, wenn man diesen Heimatverlust überwinden kann, wenn Fremde zur
Heimat werden kann?

2.4. Neue Heimat in der Fremde

Heimat wird nicht immer auf die Vergangenheit projiziert, sondern auch in die Zukunft
verlegt, in ein fernes, ideales Land, bzw. auf einen idealen Ort, etwa wie Heinrich Heines
Schwärmerei für Indien146 oder die Vorstellung eines fernen, idealen Heimatortes, wo man
sich von der Monotonie des Alltagslebens befreien, sich beruhigen oder die letzte Zeit seines
Lebens verbringen kann. Weitere Beispiele eines Projizierens von Heimat in die Zukunft, in
die ferne Fremde liegen in der religiösen Vorstellung der Heimat in dem weit entfernten und
unbekannten Himmel: „Unsere Heimat ist im Himmel“147 und in der Begeisterung des
deutschen Kolonialismus „Fremde in Heimat zu verwandeln“148, also Heimat auf die
Kolonien zu projizieren, da die bisherige Heimat Deutschland durch die exponentiell
fortschreitende Industrialisierung obsolet geworden war und die Normen der konstruierten
Heimat – wie sie in „den traditionsorientierten Vorstellungen der Heimatkunst – und
Heimatschutzbewegung von Authentizität, Persönlichkeit, Volkstum und zyklisch-
nachhaltigen agrarischen Lebensformen“149 bestehen -, nicht mehr erfüllt werden können.

142
Susanne Scharnowski : Heimat. Geschichte eines Missverständnisses, Darmstadt: wbg (Wissenschaftliche
Buchgesellschaft) 2019, S. 172.
143
Ebd.
144
Rafatou Tchagao: Das Heimatkonzept in Stefanie Zweigs Vivian und Ein Mund voll Erde, a. a. O. S. 46.
145
Susanne Scharnowski : Heimat, a. a. O.
146
Vgl. Nishant K. Narayanan: „Das Fremde als die gewünschte Heimat-Kontrapunktische Stellungnahme“ in:
Stefan Neuhaus/ Helga Arendt (Hrsg.): Fremde Heimat- Heimat in der Fremde, Würzburg: Königshausen &
Neumann 2020, S. 181-188, hier S. 181 f.
147
Philipperbrief 3, 20., in: Die Bibel nach der Elberfelder Überzeugung, hrsg. v. der christlichen
Schriftenverbreitung, 5. Auflage, Hückeswagen: CSV 2013.
148
Rolf Parr: Die Fremde als Heimat, a. a. O., S. 7.
149
Ebd.

42. | S e i t e
Wenn die Vorstellung von Heimat in der fernen Fremde konkretisiert werden kann, dann
entsteht in der Fremde eine neue Heimat.

Die sechsjährige Regina kann ihre Heimatvorstellung nur in eine Kinderwelt projizieren.
Afrika mit seinen Wäldern, Tieren, und mit seinen – aus europäischem Blick – „exotischen
Menschen “ erregt wie in ihren Kinderbüchern ihre Phantasie. Diese westlichen Kinderbücher
schildern paradiesische Welten mit fantastischen Figuren, etwa wie in Alice im
Wunderland150. Afrika ist das „Wunderland“ der kleinen Regina. Sie erliegt im Gegensatz zu
Alice bei Lewis Carroll dem Zauber dieses „Wunderland“ Afrika mit seinen Gerüchen,
Farben und Menschen:

Der herrliche Duft, der Owuors Haut entströmte, roch wie Honig, verjagte Angst und ließ ein
kleines Mädchen zu einem großen Menschen werden. Regina machte ihren Mund weit auf,
um den Zauber besser schlucken zu können, der Müdigkeit und Schmerzen aus dem Körper
trieb (S. 29).
Der Kontakt des jungen Mädchens mit Afrika, also mit der Fremde, ist ein Kontakt mit seiner
Kinderwelt, deswegen findet es dort alles schön, selbst das, was seine Eltern für unangenehm
halten: „»Fein«, jubelte Regina, »wir haben Löcher im Dach. So etwas hab ich noch nie
gesehen.« /»Ich auch nicht, bis ich herkam. Warte nur ab, in unserem zweiten Leben ist alles
anders.«/»Unser zweites Leben ist so schön“ (S. 31).

Dass sich Regina im Gegensatz zu ihren Eltern in der Fremde zurecht findet und sich ihr
Heimatgefühl mit Afrika verbindet, lässt sich vor allem dadurch erklären, dass Regina in der
Fremde ihre Kinderwelt wieder gefunden hat, also die Welt, die sie in ihren Kinderbüchern
kennen gelernt hat. Ihre Begegnung mit der Fremde ist die Begegnung mit den
abenteuerlichen Helden ihrer Kinderwelt, also die Begegnung mit der Welt, wie sie in den
Kinderbüchern dargestellt ist. So scheint ihr die erste Begegnung mit Owuor, der die
Bewohner des fremden Afrikas repräsentiert, wie eine Begegnung mit den Engeln aus den
Kinderbüchern:

Toto«, lachte Owuor, als er Regina aus dem Auto hob. Er warf sie ein kleines Stück dem
Himmel entgegen, fing sie wieder auf und drückte sie an sich. Seine Arme waren weich und
warm, die Zähne sehr weiß. Die großen Pupillen der runden Augen machten sein Gesicht hell,
und er trug eine hohe, dunkelrote Kappe, die wie einer jener umgestülpten Eimer aussah, die
Regina vor der großen Reise im Sandkasten zum Kuchenbacken genommen hatte. Von der
Kappe schaukelte eine schwarze Bommel mit feinen Fransen; sehr kleine schwarze Locken
krochen unter dem Rand hervor. Über seiner Hose trug Owuor ein langes weißes Hemd, genau
wie die fröhlichen Engel in den Bilderbüchern für artige Kinder (S. 29).

150
Lewis Caroll: Alice im Wunderland, 4. Aufl., Berlin: Verlagshaus Jacoby & Stuart 2016.

43. | S e i t e
Regina vergleicht Owuor nicht nur mit den Engeln der Kinderbücher, sondern findet auch
andere Gestalten aus ihrer Kinderwelt in ihm wieder, wie etwa einen „Riesen“151: „Sanft
stellte sie der Riese mit den mächtigen Händen und der glatten Haut auf die Erde“ (Ebd.) und
den „Mann im Mond“152:

Owuor hatte eine flache Nase, dicke Lippen und einen Kopf, der wie ein schwarzer Mond
aussah. […] Das Wissen, wieder Papa und Mama zu haben, erinnerte Regina an Schokolade.
Erschrocken schüttelte sie den Kopf und spürte sofort einen kalten Wind auf der Haut. Ob der
schwarze Mann im Mond nie mehr lachen würde, wenn sie an Schokolade dachte? Die gab es
nicht für arme Kinder, und Regina wußte, daß sie arm war, weil ihr Vater nicht mehr
Rechtsanwalt sein durfte (S. 29f)“.
Regina entdeckt in der Fremde ihre Kinderwelt, ihre heimliche Heimat. Dafür ist sie sogar
bereit, ihren Schokoladewunsch aufzugeben.

Die Begegnung mit der Fremde ist die Konkretisierung ihrer Kinderwelt. Selbst das Reh von
Brüderchen und Schwesterchen153 kann sie berühren und mit sich nehmen:

Als sie wieder sehen konnte, kam Owuor durch das hohe, gelbe Gras. In seinen Armen lag ein
kleines Reh. […] Noch nie hatte Regina ein Tier angefaßt. Aber sie spürte keine Angst. Sie
ließ ihr Haar über die Augen des kleinen Rehs fallen und berührte seinen Kopf mit ihren
Lippen, als hätte sie schon lange danach verlangt, nicht mehr nach Hilfe zu rufen, sondern
Schutz zu geben. […] Sie wußte, daß sich auch ihr Reh in einen Jungen verwandeln würde (S.
31f).
Regina lebt jetzt in dieser realen Welt, die sie nur in Kinderbüchern lesen und sehen durfte,
wenn sie sich artig zeigte. Nicht erstaunlich, dass sie sich in der Fremde rasch einlebt und ihre
Heimat findet.

Die Projektion einer idealen Heimat oder Wunschheimat auf die ferne Fremde und deren
Konkretisierung unterscheidet sich aber von der Projektion eines „anachronistischen
Heimatbildes“154 oder einer schon erfahrenen Heimat in der Fremde, etwa wie das „Modell
der kolonialen Inbesitznahme der Fremde als Heimat in Form einer auf vorindustrielle Zeiten

151
Riesen sind Märchenfiguren. Stefanie Zweig macht hier eine Anspielung auf d[en] jung[en] Riese von
Gebrüder Grimm, vgl. Grimm, Jacob/Grimm Wilhelm : Kinder- und Hausmärchen, Band 1, aufrufbar https:
https://maerchen.com/grimm2/der-junge-riese.php, Zugriff am 24.01.2021.
152
Im Märchen vom Mann im Mond aus Ludwig Bechsteins Deutsches Märchenbuch handelt es sich um eine
Erklärungs- und Warnsage vom Ursprung des Mondgesichts, ähnlich Grimms Der Mond bzw. Die Kornähre,
vgl. Ludwig Bechstein: Deutsches Märchenbuch, aufrufbar auf: https://maerchen.com/bechstein/das-maerchen-
vom-mann-im-mond.php, Zugriff am 24.01.2021.
153
Brüderchen und Schwesterchen ist ein Märchen. Es steht in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder
Grimm, vgl. Grimm, Jacob/Grimm Wilhelm: Kinder- und Hausmärchen, a. a. O.
154
Rolf Parr: Die Fremde als Heimat, a. a. O., S. 18.

44. | S e i t e
zurückblickenden Verheimatung“155 oder die eigene kultur- und heimatbezogene Färbung der
Fremde:

»Bismarck-Archipel« mit den Inseln »Neu-Pommern«, »Neu-Mecklenburg« und »Neu-


Hannover« im heutigen Papua-Neuguinea; »Waldersee-Höhen« und »Prinz-Heinrich-Berge«
im chinesischen Pachtgebiet Tsingtau; »Kaiser Wilhelmsland« in Melanesien;
»Bismarckburg« in Togo; Farmen mit Namen wie »Deutsche Erde« in Deutsch-
Südwestafrika, dem heutigen Namibia.156
Die letztgenannte Projektion der Heimat auf die Fremde scheitert bei ihrer Umsetzung, denn
darin besteht neben „dem Kontinuum von Vergangenheit und Gegenwart“157
Differenzkonstruktionen und Konstruktionscharakter des Eigenen: Ein Eigen mit Wurzeln in
der Vergangenheit und in einem gewissen Kulturkreis, das man auf Fremde übertragen will.
„Fremde rückt damit eine Differenz als interpretative Leistung sozialer Subjekte ins
Zentrum“158. Diese Differenz versucht man zu modellieren, damit Fremde Heimat spiegelt.
Fremde versteht sich aber „über kulturelle Differenz als Teil einer kulturdistinktiven
Beziehungsdefinition […], als Wirklichkeitsdefinition also mit einer spezifischen Verteilung
von Macht und Kontrolle “159. Nicht erstaunlich, dass die Umsetzung solcher Projektion der
Heimat in der Fremde erfolglos erscheint. Die Fremde bleibt das „unbekannte Draußen“160
und „der entfernte Raum des Unheimischen“161, die dem Eigenen der Heimat entgegensetzen.
Heimat kann in der Fremde entstehen, wenn die „Begegnung mit der Neuheit […] an dem
Kontinuum von Vergangenheit und Gegenwart nicht teilhat“162, wie es bei der fünfjährigen
Regina der Fall ist. Solange das Bewusstsein der Zugehörigkeit zu einem kulturbezogenen
Eigenem, also zu einer Heimat besteht, wird die Fremde fremd wirken. Weder die
Inbesitznahme der Fremde, noch die heimatbezogene Dekoration der Fremde kann diese in
Heimat verwandeln. Dies trifft im Werk auf Walter, Reginas Vater, zu. Walter versucht, die
Entfremdung in der Fremde zu mindern, indem er sich von seinem Vater in Deutschland eine
Sendung Rosensamen erbittet. Mit diesen Rosensamen will er in der Fremde die gleichen
Blumen züchten, wie er sie am Elternhaus in Deutschland gewohnt war: „Über Rosensamen
würde ich mich allerdings sehr freuen. Dann würden auf diesem gottverdammten Fleck Erde
die gleichen Blumen blühen wie vor meinem Vaterhaus“ (S. 15). Diese Transposition der

155
Ebd. S. 12.
156
Ebd. S. 7.
157
Homi K. Bhaba: Die Verortung der Kultur, Tübingen: Stauffenburg 2000, S. 10.
158
Ortrud Gutjahr:“ Wie fremd ist eigentlich das Fremde“, a. a. O.
159
Ebd.
160
Ebd.
161
Ebd.
162
Homi K. Bhaba: Die Verortung der Kultur, a. a. O.

45. | S e i t e
Heimat in die Fremde hilft Walter aber kaum. Es gelingt ihm weder die Entfremdung in der
Fremde zu verringern noch seine Sehnsucht nach der Heimat zu mildern. Sein Heimatgefühl
und das damit einhergehende Heimweh bleiben. Seine Sehnsucht ist noch so gewaltig wie in
seinen ersten Tagen in der Fremde. In einer Diskussion mit dem befreundeten Oscar Hahn
bekennt Walter auf die Aufforderung des Freundes: „Reiß dir endlich Deutschland aus dem
Herzen. Dann wirst du wieder leben«/ »Ich hab‘s versucht. Es geht nicht“ (S. 70).

Walters Heimat liegt in Deutschland und sein Versuch, diese Heimat in die Fremde zu
transponieren, scheitert. Fremde erscheint hier als Gegenbild des Eigenen. Walter kann sich
nicht in die Fremde finden, er hat schon eine Identität aufgebaut, die sich von der Fremde
unterscheidet. Die Sehnsucht nach dieser Identität, die seine Heimat bildet, stillt er beim
Radiohören oder bei Diskussionen mit seinem deutschen Freund Süßkind. Das Radio und
Süßkind sind seine einzigen Kontakte zur Heimat. Er bekommt durch das Radio Nachrichten
aus der Heimat und teilt seine Erinnerungen an die Heimat mit seinem Freund Süßkind. Ohne
die beiden fällt ihm das Leben in der Fremde so schwer, dass er an Depression erkrankt:

Seitdem er auf der Farm war und erst recht nach seiner Malaria sah er in Süßkind den Retter
aus lebensbedrohender Not. Er brauchte das selbstbewußte Naturell des Freundes, um nicht
seinen depressiven Zuständen und der Sehnsucht nach Deutschland nachzugeben, die ihn an
seinem Verstand zweifeln ließ. […] Er war sein einziger Kontakt zum Leben. […] »Auch
unser Radio vermißt Süßkind«, sagte Walter am Abend des 1. September. »Die Batterie ist
futsch, und ohne daß er sein Auto laufen läßt, können wir sie nicht aufladen.« /»Hörst du jetzt
keine Nachrichten mehr?« /»Nein, Regina. Die Welt ist für uns gestorben (S. 53f).
Walter hat eine Heimat, deren Baustein seiner deutschen Identität unterliegt, deswegen ist für
ihn schwer, ein neues Leben in einem fremden Land zu beginnen. Die Fremde korrespondiert
nicht mit seinem Heimatbild. Vielmehr erscheint die Fremde als Gegenbild seines
Heimatbildes.

Fremde kann aber zu Heimat werden, wenn man für sie offen ist. Wenn man bereit ist, die
Fremde mit ihren Menschen und deren Sprachen, Sitten und Bräuchen kennenzulernen, dann
„erkennt man viele Momente des Eigenen in ihr“163, dann kann Heimat in dieser Fremde
entstehen, da „Fremdheit tendenziell verschwindet und Ähnlichkeit feststellbar wird“164.
„Fremde“ — so Ortfried Schäffter — „ist ganz wie Du“165. Fremde erscheint hier als
Resonanzboden des Eigenen. Neben Johann Wolfgang von Goethe, der durch seine
Beschäftigung mit den Gedichten des mittelalterlichen persischen Dichters Hafis diesen als

163
Michael Hofmann/Iulia-Karin Patrut: Einführung in die interkulturelle Literatur, a. a. O., S. 11.
164
Michael Hofmann/Iulia-Karin Patrut: Einführung in die interkulturelle Literatur, a. a. O., S. 11.
165
Ortfried Schäffter: „Modi des Fremderlebens. Deutungsmuster im Umgang mit Fremdheit“, a. a. O.

46. | S e i t e
seinen „Zwilling“ bezeichnete166, ist die junge Regina ein veranschaulichendes Beispiel der
Facette von Fremde als Resonanzboden und ein Beweis dafür, dass Fremde in Heimat sich
wandeln kann. Im Gegensatz zu ihren Eltern zögert Regina nicht, sich neuen
Herausforderungen in der Fremde zu stellen. Sie vergisst schnell die Heimat ihrer Eltern. Die
Bereitschaft Reginas, die Sprache ihrer neuen Umgebung zu erlernen, zeigt, dass sie die
Fremde völlig unvoreingenommen kennenlernen will:

Lernte Regina von Owuor das Sprechen so gut und schnell, daß sie sehr bald von den
Menschen besser verstanden wurde als ihre Eltern, […]. Kinder finden sich schnell ab«, sagte
Jettel an dem Tag, als Regina erzählte, sie habe Jaluo gelernt, um mit Owuor und Aja in ihrer
Sprache reden zu können, »das hat schon meine Mutter gesagt. (S. 34f).
Diese Bereitschaft, die Sprache der Fremde zu lernen, um mit den dortigen Menschen zu
reden und sie zu verstehen, ermöglicht es Regina, neue Freundschaften in der Fremde zu
schließen, besonders mit Owuor, dem Koch ihrer Eltern. Von Owuor lernt Regina nicht nur
die Landessprachen, sondern auch die neue Kultur, die Mentalität der Menschen in der neuen
Umgebung und die Formen des Alltäglichen. Im dritten Kapitel heißt es: „Es war gut, daß sie
von Owuor gelernt hatte, Laute einzufangen, die sie nicht verstand. Man mußte sie nur im
Kopf einsperren und von Zeit zu Zeit herausholen, ohne den Mund aufzumachen.“ (S. 49).
Ferner liest man: „Nach dem kleinen Regen hatte Owuor ihr beigebracht, sich flach und
regungslos hinzulegen, um der Erde ihre Geräusche zu entlocken. Seitdem hatte sie oft
Süßkinds Wagen gehört, ehe er zu sehen war“ (S. 54).

Reginas Aufgeschlossenheit dem Neuen, Unbekannten gegenüber, ermöglicht ihr, die Fremde
besser als ihre Eltern zu verstehen. Sie weiß in jeder Situation, was zu sagen ist oder wie sie
sich zu verhalten habe. Die Szene mit den Bananenverkäuferinnen ist ein veranschaulichendes
Beispiel:

Alte, abgemagerte Kikuyufrauen mit geblähtem Bauch unter weißen Tüchern, glanzlosen
Augen und schweren Bananenstauden auf dem gekrümmten Rücken klopften an die Fenster.
[…] Wollten die Frauen Geschäfte machen, mußten sie ihre Bananen verkaufen, ehe der Zug
weiterfuhr. Sie flüsterten so beschwörend, als müßten sie eine Schlange von ihrer Beute
ablenken. Regina machte eine weit ausholende Bewegung mit der rechten Hand, um
anzudeuten, daß sie kein Geld hatte, aber die Frauen verstanden sie nicht. Da zog sie das
Fenster herunter und rief ihnen laut auf Kikuyu zu: »Ich bin so arm wie ein Affe. Die Alteste
[…] riß eine große grüne Banane heraus und hielt sie Regina hin. »Für den Affen«, sagte sie,
und alle, die es hörten, lachten wie wiehernde Pferde. (S. 243)

166
Vgl. Michael Hofmann/Iulia-Karin Patrut: Einführung in die interkulturelle Literatur, a. a. O., S. 11.

47. | S e i t e
Indem sie sich dem Fremden annähert, entfernt sich Regina gleichzeitig von ihrem
ursprünglichen Eigenen, von ihrer deutschen Identität. Sie konstruiert eine neue Identität in
der Fremde und hat nun wenig Interesse für Deutschland: „Freust du dich auf Deutschland?«
fragte der Professor an ihrer Schule? „‘Ja‘, sagte Regina und kreuzte rasch ihre Finger, wie
sie es als Kind von Owuor gelernt hatte, um den Körper vor dem Gift einer Lüge zu schützen,
die der Mund nicht mehr hatte halten können“ (S. 310).

Regina sieht sich nicht als Deutsche. Sie setzt sich mit Leuten aus dem Stamm Jaluo gleich
und identifiziert sich mit ihrer Umgebung. Sie will sich so verhalten wie die Einheimischen.
Über diese neue Identität schreibt Boaméman Douti: „Dass sich Regina nach der erworbenen
Kultur der Einheimischen verhält ist ein Beweis dafür, dass sie in dieser Kultur verwurzelt
ist. Regina identifiziert sich mit den Einheimischen, sie ist eine Jaluo.“167 . Sie vergisst auch
die jüdische Religion ihrer Eltern zugunsten des allmächtigen fremden Gottes Mungo. Dies
wird durch Folgendes deutlich: „Sie ärgerte sich, daß sie sich nicht wehren konnte, und redete,
obwohl es Freitag war und ihr Gewissen dabei Steine schluckte, noch lange mit Mungo“ (S.
261). Der letzte Satz des Romans ist auch ein Beweis dafür, dass sie jetzt nur der Macht des
fremden Gottes Mungo vertraut: „Regina aber genoß die Kostbarkeit des Augenblicks.
Endlich hatte ihr Vater begriffen, daß nur der schwarze Gott Mungo die Menschen glücklich
machte“ (S. 364). Ernst Arndt erklärt, dass

[w]er das Fremde thörigt treibt und übt, der lernt das Eigene nicht oder er vergißt es. Sein
Gemüth wird durch das Ungleiche und Verschiedene zu früh verwirrt und verdunkelt und nach
fremden Sitten hingelockt, er nimmt eine fremde Art, eine fremde Liebe, und einen fremden
Haß an, und kann die Art und die Liebe des Eigenen und Volksthümlichen künftig nicht mehr
mit voller Seele erfassen; er hat die Gestalt seines inneren Lebens erhalten, unglücklicher
Weise eine fremde Gestalt, und hat die hohe Kraft und Herrlichkeit des Lebens verloren,
womit er unter seinem Volke hätte kräftiglich stehen und wirken können.168
„Die Fremde hatte ihre Faszination und auch Heimat konnte zur Fremde werden.“ 169 Die
Faszination für die Fremde führt dazu, dass Regina ihr ursprünglich Eigenes, ihre Identität als
Deutsche verloren hat, und in der Fremde ein neues Eigenes, eine neue Identität, also eine
neue Heimat gefunden hat. Ihr fällt es schwer diese erworbene Identität — Heimat — zu
verlassen:

167
Boaméman Douti: Poetik eines kulturellen Austausches im Postkolonialen Kontext, a. a. O., S. 207.
168
Vgl. Hans-Jürgen Lüsebrink: Interkulturelle Kommunikation. Interaktion, Fremdwahrnehmung,
Kulturtransfer, a. a. O. S. 96.
169
Stefan Neuhaus /Helga Arend: „Einleitung“ in Dies. (Hrsg.): Fremde Heimat-Heimat in der Fremde,
Würzburg: Königshaus & Neumann 2020, S. 11.

48. | S e i t e
Versprich mir«, sagte Walter, »daß du nicht traurig bist, wenn wir nach Hause [Deutschland]
fahren. Versprich mir, daß du mir vertrauen wirst./«Noch während ihr Vater sprach, schlugen
die Erinnerungen so scharf auf Regina ein wie die geschliffene Axt auf einen kranken Baum.
Sie roch den Wald von Ol‘ Joro Orok, sah sich im Gras liegen, spürte das Feuer einer
unerwarteten Berührung und danach sofort den stechenden Schmerz (S. 308).
Dass Regina ihr ursprünglich Eigenes vergessen und eine neue Heimat in der Fremde
gefunden hat, verdeutlicht, dass Heimat und Fremde nur Konstrukte sind. Es zeigt auch, dass
Heimat und Fremde nicht homogene Entitäten sind, die sich gegenseitig ausschließen. Heimat
und Fremde können vielmehr ineinander übergehen, sodass Fremde zu Heimat und Heimat
zu Fremde werden kann.

Diese Heimat-Fremde-Assoziationskette besagt, „dass nichts und niemand an sich fremd ist,
aber prinzipiell alles fremd werden kann, sogar wir uns selbst“170. Die Heimat als fixiertes
Konstrukt des Eigenen kann also Fremde werden.

2.5. Zerstörbarkeit der Heimat: Die Heimat liegt in Trümmern.

Wie und wann aber kann Heimat zur Fremde werden? Die Antwort findet sich bei W. G.
Sebald: Wenn „in der Heimat kein Verweilen mehr [ist],“171 wenn „einzelne und ganze
gesellschaftliche Gruppen sich gezwungen sehen, [Heimat] den Rücken zu kehren und
auszuwandern“172, wenn „die Erfahrung des Heimatverlusts nie wieder gutzumachen ist“173.
Das Bild der Heimat als Fremde bzw. nicht-mehr-gewünschter Ort tritt im Text aus der
Perspektive der Figur Jettel, Reginas Mutter, auf. Sie entgegnet ihrem Mann, als er sie
auffordert, zusammen in die deutsche Heimat zurückzukehren: „»Ich kann nicht weg von hier.
Ich bin nicht mehr jung genug, neu anzufangen“ (S. 334).

Heimat entsteht vor allem aus dem Bewusstsein der Zugehörigkeit zu einem Ort, zu einer
Gruppe und aus dem damit einhergehenden Zugehörigkeitsgefühl. Wenn dieser Ort „zur
Ruine wird“174, diese Gruppe „Angst und Unbehagen erregt und kein Refugium mehr bieten

170
Ortrud Gutjahr: „Wie fremd ist eigentlich das Fremde“, a. a. O.
171
W. G. Sebald: Unheimliche Heimat. Essays zur österreichischen Literatur, a. a. O.
172
Ebd.
173
Ebd.
174
Elena Polledri: „W. G. Sebalds „Transmigration“ zwischen Räumen, Zeiten und Sprachen: eine „unheimliche
Heimat““, in: Sabine Egger/ Withold Bonner/ Ernest W.B. Hess-Lüttich (Hrsg.): Transiträume und
transitorische Begegnungen in Literatur, Theater und Film, Frankfurt am Main: Peter Lang 2017, S.87-100, hier
S. 89 f.

49. | S e i t e
kann“175, dann verändert sich die Heimatvorstellung. Heimat wird „unheimlich“176 und mit
Argwohn betrachtet. „Überall herrscht die größte Kälte, in den Verhältnissen zwischen den
Menschen sowohl als in der in ihrem Bewußtsein auf einmal als ›das andere‹ aufgegangenen
Natur.“177 Der Protagonist Walter bringt es wie folgt auf den Punkt: „Man weiß nicht mehr,
was aus einem Gespräch werden kann und was aus Menschen geworden ist, die man ein
Leben lang gekannt hat“ (S. 11). Dieser Vertrauensbruch mit der unheimlich gewordenen
Heimat kann zu der Suche nach einer neuen Heimat führen, da Heimat keine fixierte Gegend
ist und „überall und nirgends“178 liegen kann.

Es entsteht in der Fremde eine neue Heimat unter der Voraussetzung, dass die neue
Gesellschaft sich offen und tolerant zeigt und dass die Heimatsuchenden bereit sind, ihre
vergangene Heimat zu vergessen und die Fremde kennenzulernen, sonst entsteht ein
Heimatlosigkeitsgefühl, weil „das Verhältnis […] zu [d]er angestammten Heimat gebrochen
ist“179. Doch nicht alle akzeptieren diese Scheidung. Sie fühlen sich noch der verlassenen
Heimat und dem dortigen Alltagsleben verbunden, denn Heimat, selbst wenn sie „unheimlich
und unerreichbar“180 geworden ist, meint „ja den immer kulturell geprägten Raum der
Vertrautheiten und Geborgenheit, der emotionalen Bindung und Identifikation, der
Anerkennung und Wertschätzung, der Selbstverständlichkeiten und Zuordnungen“181. Dies
verstärkt das Entfremdungsgefühl in der Fremde und ermöglicht nicht die Anpassung an die
neue Gesellschaft, da Fremde immer ferngehalten und als etwas Vorübergehendes betrachtet
wird. Die Exilanten – so Robert Krause – „hoffen zu Beginn ihres Exils in der Regel, es
handelt sich nur um einen provisorischen Ausnahmezustand, der spätestens nach einigen
Wochen oder Monaten wieder vorbei sein werde“182. Exemplarisch dafür ist der Protagonist
Walter, der im Exil in Afrika noch an eine Heimat in Deutschland glaubt und Hoffnung damit
verknüpft. Weder die Judenverfolgung, die er erlebt hat, noch die Ermordung seiner
Familienmitglieder in der Heimat haben sein Heimatbild und -gefühl geändert. Für ihn liegt
die Heimat in Deutschland. Sie wurde nur von den Nazis bzw. Hitler gestohlen. „Hitlers [aber]

175
Ebd.
176
W. G. Sebald: Unheimliche Heimat, a. a. O., S. 12.
177
Ebd.
178
Bernhard Schlink: Heimat als Utopie, a. a. O. S. 15.
179
Ebd.
180
Elena Polledri: „W. G. Sebalds „Transmigration“ zwischen Räumen, Zeiten und Sprachen: eine „unheimliche
Heimat““, in: Sabine Egger/ Withold Bonner/ Ernest W.B. Hess-Lüttich (Hrsg.): Transiträume und
transitorische Begegnungen in Literatur, Theater und Film, a. a. O., hier S. 90.
181
Wolfgang Thierse: „Heimat ist mehr als funktionierende Infrastruktur“ in: Neue Gesellschaft/Frankfurter
Hefte. Fremde Heimat. Migration und Integration, 9, 2018, S. 5-10, Hier S. 7.
182
Robert Krause: Lebensgeschichten aus der Fremde, a. a. O., S. 107.

50. | S e i t e
kommen und gehen, […] das deutsche Volk bleibt bestehen“ (S. 285). Heimat ist für Walter
unzerstörbar. Sie erlebt Unruhen, sie bleibt aber sehr fest und beständig. Walter lehrt sogar
seine Tochter Regina die Heimaträuber und Unruhestifter, die Nazis, von dem deutschen
Volk, das seine Heimat bildet, zu unterscheiden:

»Ich hasse die Deutschen, Papa. Ich hasse die Deutschen.«/»Von wem hast du denn das
gelernt?«/»Von Inge. Sie haben ihren Vater verhauen und die Fenster in Dachau
kaputtgeschmissen und alle Kleider auf die Straße geworfen. Inge weint in der Nacht, weil sie
die Deutschen haßt.«/»Nicht die Deutschen, Regina, die Nazis.«/»Gibt es auch
Nazis?«/»Ja.«/»Das muß ich Inge erzählen. Dann wird sie auch die Nazis hassen. Sind denn
die Nazis so böse wie die Deutschen?«/»Nur die Nazis sind böse. Sie haben uns aus
Deutschland vertrieben.« (S. 74).
Ferner liest man in einer Diskussion zwischen Regina und ihrer Freundin Inge: „[I]ch darf zu
Hause die Deutschen nicht hassen. Nur die Nazis“ (S. 98). Das Verhältnis von Walter zu
seiner Heimat ist nicht durch die Unruhen in der Heimat und seine damit einhergehende
Situation als Exilant gebrochen. Heimat ist für ihn zwar unheimlich geworden: „Wer hätte je
gedacht, daß es so wichtig werden könnte, aus der Heimat herauszukommen“ (S. 16); „Es war
eine tödliche Gefahr, einfach in der Heimat herumzustehen“ (S. 202). Er kennt aber die
Unruhestifter und das sind die Nazis. Walter unterscheidet die Nazis von den Deutschen. Er
fühlt sich dem deutschen Volk verbunden und glaubt noch an eine deutsche Heimat ohne
Nazis. Diese innere Identität können ihm die Nazis nicht stehlen. In diese deutsche Heimat
will er zurückkehren: „»Ich wollte in Deutschland bleiben, wenn ich aus der Army entlassen
werde.«/ »Warum?«/»Deutschland ist meine Heimat, Sir«, stotterte Walter, »sorry, Sir, daß
ich das sage“ (S. 283).

Doch diese Auffassung der Unzerstörbarkeit der Heimat verhindert die Anpassung an die
Fremde. Sie kann sogar zu Depressionen führen, da man in der Vergangenheit lebt, die
Gegenwart in der Fremde nicht würdigt und an eine zukünftige Heimkehr und Verknüpfung
mit der verlorenen Heimat zweifelt. Darauf weist Walters Freund Oha den Protagonist Walter
hin. Er gibt Walter den Rat, seine vergangene Heimat zu vergessen und sich in der Fremde
zurechtzufinden:

Hör auf! Bist du denn total verrückt? Noch keine Vierzig und lebst nur in der
Vergangenheit[...]. Das war einmal. Hitler hat es nicht erlaubt.« […] Mensch, Walter, werd
endlich heimisch in diesem Land! Du dankst ihm alles. Vergiß deine Tischwäsche, deine
blöden Karpfen, die ganze verfluchte Juristerei und wer du warst. Vergiß endlich dein
Deutschland. Nimm dir ein Beispiel an deiner Tochter (S. 141f.)
Der Freund plädiert dafür, daß Walter seine deutsche Heimat vergessen soll, um wie seine
Tochter Regina sich in der Fremde einleben zu können, da sein Verhältnis zu der fernen

51. | S e i t e
Heimat problematisch ist. In der ehemaligen Heimat Deutschland sieht er „wirklich […]
nicht[s] mehr als einen Haufen Scherben und Flammen. Und Haß“ (S. 142). Doch dieses Bild
von Heimat, also von Deutschland unter Trümmern, hat Walter nicht. Er lebt in der
Vergangenheit, in einer Heimat ohne die Unruhe stiftenden Nazis und sehnt sich nach einer
solchen Heimat in der Zukunft. Auf ihn wirkt also der Vorschlag seines Freundes Oha, Heimat
zu vergessen und sich in der unbekannten Fremde einzuleben, unverständlich, wie Verrat.
Regina, die um die Liebe ihres Vaters für seine Heimat Deutschland weiß, tröstet ihn, indem
sie Oha bittet, ihren Vater und dessen Heimatvorstellung zu verstehen: „»Deutsche darfst du
nicht hassen«, sagte sie und setzte sich auf Ohas Knie, »nur Nazis. Weißt du, wenn Hitler den
Krieg verloren hat, fahren wir alle nach Leobschütz“ (S. 143). Walter ist aber bewusst, dass
zukünftig nichts in seiner Heimat sein wird wie vor dem Krieg. Um diesen Gedanken einer
nicht intakten Heimat, der ihn an seinem Verstand zweifeln läßt, zu vermeiden, zieht sich
Walter zurück in eine idyllische Heimat in der fernen Vergangenheit. Außerdem lässt er sich
nicht von der Fremde faszinieren, er geht auf Distanz zu ihr. Seine Heimat liegt anderswo —
sei es auch nur in der Vergangenheit:

In der Ferne gab ein Gitter aus schwarzweißem Licht den Blick auf eine große Zebraherde mit
vielen Jungtieren frei.In ihrer Nähe fraßen Giraffen, die kaum ihre langen Körper bewegten,
die Bäume kahl. Walter erwischte sich bei dem Gedanken, daß er die Giraffen, die er vor
seiner Zeit im Ngong nie gesehen hatte, beneidete, weil sie gar nicht anders existieren konnten
als mit hocherhobenem Kopf. Es machte ihn unsicher, daß er mit einem Mal die Landschaft
als Paradies sah, aus dem er vertrieben werden sollte. Die Erkenntnis, daß er so nicht mehr
seit dem Abschied von Sohrau empfunden hatte, beutelte seine Sinne. Scharf schlug die Kühle
der Nacht gegen seine Arme und peitschte seine Nerven. Die Dunkelheit, die wie ein Stein
vom eben noch hellen Himmel fiel, verwehrte ihm einen neuen Blick auf die Hügelkette und
nahm ihm die Orientierung. Walter wollte sich abermals Sohrau vorstellen und diesmal
genauer, aber er sah weder Marktplatz und Haus noch die Bäume davor, sondern nur seinen
Vater und seine Schwester auf einer großen leeren Fläche. Walter war wieder sechzehn und
Liesel vierzehn Jahre alt; der Vater sah aus wie ein mittelalterlicher Ritter. Er kam zurück aus
dem Krieg, zeigte seine Orden und wollte wissen, weshalb sein Sohn die Heimat im Stich
gelassen hatte (S. 236f).
Obwohl die unheimlich gewordene Heimat Walter vertrieben, ihm Arbeit, Habe, Ehre, Stolz
genommen und sogar sein Selbstbewusstsein zerstört hat, hält er noch an dieser Heimat fest.
Seine Heimat liegt in Deutschland und nirgendwo sonst. Sein Leben in der Fremde fungiert
als „Warten auf das wahre Glück“183. Das Glück die Heimat zurückzugewinnen. Das
Verhältnis von Walter zu seiner Heimat ist weder durch sein Exil in der Fremde noch durch
die anscheinend hoffnungslose Situation in der Heimat gebrochen. Es bleibt vielmehr

183
Nủria Codina: „Transiträume in den Romanen Emine Sevgi Özdamars und Feridun Zaimoğlus“ in: Sabine
Egger/ Withold Bonner/ Ernest W.B. Hess-Lüttich (Hrsg.): Transiträume und transitorische Begegnungen in
Literatur, Theater und Film, a. a. O., hier S. 41.

52. | S e i t e
beständig und verstärkt sich mittels Hoffnung und Erinnerung. Als der Krieg vorbei war, sagt
er in einem melancholischen Zustand zu einem Hund:

Ich werd‘s dir erklären, mein Freund. Ganz genau. Heute ist nicht nur der Krieg zu Ende.
Meine Heimat ist befreit worden. Ich kann wieder Heimat sagen. Brauchst nicht so dämlich
zu gucken. Ich bin auch nicht gleich draufgekommen. Es ist aus mit den Mördern, aber
Deutschland gibt es noch (S. 237).
Wenn das Verhältnis von Walter zu seiner unheimlich gewordenen Heimat trotz seines Exils
nicht gebrochen ist, ist es nicht der Fall mit seiner Frau Jettel.

Auch Walters Frau Jettel ist in den ersten Monaten ihres Exils dem fernen Deutschland so
verbunden, dass das Leben in der Fremde ihr schwerfällt und zu Konflikten mit ihrem Mann
führt. So heißt es in einem Streit mit Walter:

Der Tag, als das erste Buschfeuer nach dem großen Regen den Menengai zur roten Wand
machte, war besonders heiß. Die Luft war stechend. Sie machte das Sprechen schwer, aber
plötzlich sagte Jettel sehr laut: »Ich kann nicht mehr.« /»Mußt keine Angst haben. Das erste
Mal habe ich auch gedacht, das Haus brennt ab, und wollte die Feuerwehr holen.«/»Ich rede
nicht vom Feuer. Ich halte es hier nicht mehr aus.«/ »Du mußt, Jettel. Wir werden nicht mehr
gefragt.«/»Aber was soll hier aus uns werden? Du verdienst keinen Cent, und unser letztes
Geld ist bald weg. Wie sollen wir Regina in die Schule schicken? Das ist doch kein Leben für
ein Kind, immer nur mit Aja unter dem Baum zu hocken.« […] »Jettel, so kurz hat uns der
liebe Gott damit nicht gehalten. Sonst wärst du nicht hier, um dich zu beklagen. Wir leben,
und das ist die Hauptsache.« »Ich kann«, würgte Jettel, »das schon nicht mehr hören (S. 39f).
Man liest auch: „Nach den Nächten mit dem großen Lärm war Walter morgens früher in den
Ställen als die Hirten, die die Kühe melkten, und Jettel stand mit roten Augen in der Küche
und rührte ihren Zorn in den Milchtopf auf dem rauchenden Ofen“ (S. 35).

Jettels Auffassung von Heimat ist mit ihrem wohlhabenden Leben in Deutschland und mit
den dortigen gesellschaftlichen Ereignissen, wie Einladungen, Tanzveranstaltungen,
Konzerten und Spaziergängen verbunden. Dieses Leben kann sie in der Fremde nicht mehr
fortsetzen. Vor ihrer Abreise nach Afrika tadelt sie Walter, der schon Erfahrungen auf einer
afrikanischen Farm gemacht hat, in einem Brief aus der Fremde wegen der völlig nutzlosen
Anschaffung einer Abendgarderobe:

Das Abendkleid hättest Du nicht kaufen sollen. Hier wirst Du keine Gelegenheit haben, es zu
tragen. Du bist nämlich gewaltig im Irrtum, wenn Du glaubst, Leute wie Rubens würden Dich
zu ihren Gesellschaften einladen. Erstens besteht eine gewaltige Kluft zwischen den
alteingesessenen, reichen Juden und uns mittellosen Refugees, und zweitens lebt die Familie
Rubens in Nairobi, und das ist weiter entfernt von Rongai als Breslau von Sohrau (S. 19).
Sie begreift nicht, warum sie die Heimat verlassen muss. Ihr genügt eine Heimat, die auf ihren
Freundeskreis eingeschränkt ist:

53. | S e i t e
Jettel hatte mit ihrer Lust am Leben noch weniger Sinn für die Bedrohung gehabt. Ihr hatte es
genügt, umschwärmter Mittelpunkt eines kleinen Kreises von Freunden und Bekannten zu
sein. Als Kind hatte sie, eher zufällig als beabsichtigt, nur jüdische Freundinnen gehabt, nach
der Schule bei einem jüdischen Anwalt eine Lehre gemacht und durch Walters
Studentenverbindung, den KC, wiederum nur mit Juden Kontakt gepflegt. Ihr machte es nichts
aus, daß sie nach 1933 nur mit den Leobschützer Juden verkehren konnte (S. 37f).
In der Fremde fühlt sie sich noch dem Freundeskreis verbunden, der ihre Heimat war, und
kann sich nicht einleben. Auch die prekäre Lage, in der die Familie dort lebt, verschärft ihr
Entfremdungsgefühl und die damit verbundene Unzufriedenheit:

In Rongai wucherten ihre Selbstvorwürfe und Unzufriedenheit wie das wilde Gras. In den drei
Monaten, die sie auf der Farm war, hatte Jettel nichts anderes gesehen als Haus, Kuhstall und
den Wald. Sie hatte einen ebenso großen Widerwillen gegen die Trockenheit, die bei ihrer
Ankunft den Körper kraftlos und den Kopf willenlos gemacht hatte, wie gegen den bald darauf
einsetzenden großen Regen. Er reduzierte das Leben auf den aussichtslosen Kampf gegen den
Lehm und das fruchtlose Bemühen, das Holz für den Ofen in der Küche trocken zu bekommen
Immer da war die Furcht vor Malaria und daß Regina todkrank werden könnte. Vor allem
lebte Jettel in der ständigen Panik, Walter könnte seine Stellung verlieren und sie müßten alle
drei von Rongai fort und hätten keine Unterkunft. Mit ihrem geschärften Sinn für die Realität
erkannte Jettel, daß Mr. Morrison, der bei seinen Besuchen selbst zu Regina unfreundlich war,
ihren Mann für die Geschehnisse auf der Farm verantwortlich machte (S. 38f).
Jettels Heimat liegt in Deutschland. Da sind ihre Verwandten, ihr Freundeskreis und ihre in
Deutschland gebliebenen Schwester und Mutter. Solange es noch eine Hoffnung gibt, diese
Menschen, die ihre Heimat bilden, wiederzusehen, fühlt sie sich dieser Heimat verbunden und
sehnt sich nach ihr. In der Fremde vermisst sie nicht nur die Menschen, sondern auch das
Alltagsleben in der Heimat, das in der Fremde nicht möglich ist:

Jettel trennte sich von den letzten Kartoffeln, die sie für eine besondere Gelegenheit
aufbewahrt hatte, und brachte Owuor bei, schlesisches Himmelreich zu kochen und erzählte
ihm von den getrockneten Birnen, die sie ihrer Mutter immer in dem kleinen Laden an der
Goethestraße geholt hatte. Wehmütig, aber doch fröhlich zog sie den weißen Rock mit der rot-
blau gestreiften Bluse an, die sie seit Breslau nicht mehr herausgeholt hatte, und durfte sich
bald an Süßkinds Bewunderung berauschen. […] Der Gedanke an ihre Eltern, die immer
bemüht waren, die Heimkehr zu einem besonderen Tag zu machen, erregte sie noch mehr als
sonst. Es war, als würde sie die Zärtlichkeit schon streicheln, die sie erwartete. Ihr fiel ein,
daß die Mutter im letzten Brief vor den Ferien geschrieben hatte (S. 46 ff).
Was Jettel mit ihrer Heimat verbindet, sind die Menschen, die ihr nahestehen. Wenn diese
Menschen auch wie sie aus der Heimat fliehen müssen oder in der Heimat ermordet werden,
dann zerbricht ihr Verhältnis zur Heimat. Die Heimat geht also „unwiderruflich verloren“184:
So heißt es, als Walter sie aufforderte nach der gemeinsamen Heimat zurückzukehren: „»Du
sagst das alles nur, weil du zurück in dein verfluchtes Deutschland willst. Hast du vergessen,

184
Elena Polledri: „W. G. Sebalds „Transmigration“ zwischen Räumen, Zeiten und Sprachen. Eine „unheimliche
Heimat““, in: Sabine Egger/ Withold Bonner/ Ernest W.B. Hess-Lüttich (Hrsg.): Transiträume und
transitorische Begegnungen in Literatur, Theater und Film, a. a. O., hier S. 97.

54. | S e i t e
was mit deinem Vater passiert ist? Ich nicht. Ich bin es meiner Mutter schuldig, daß ich den
Boden nicht betrete, der mit ihrem Blut getränkt ist.«“ (S. 334). Jettel hat ihre Liebe für die
Heimat Deutschland verloren. Das ist nicht mehr ihre Heimat, sondern nur die Heimat von
Walter. Sie sieht in dieser Heimat nur Mörder und Feinde. Ein Leben in dieser unheimlich
gewordenen Heimat ist für sie nicht mehr vorstellbar. Das Leben in der Fremde, das ihr am
Anfang des Exils schwergefallen ist, scheint ihr besser als ein Leben in der
zurückgewonnenen Heimat der Elternmörder:

»Wie können wir unter Mördern leben?« schluchzte Jettel. »Alle hier sagen, daß du ein Narr
bist und daß man nicht vergessen darf. Glaubst du, eine Frau hört gern, daß ihr Mann ein
Verräter ist? Du kannst doch hier eine Stellung finden wie alle anderen auch. Sie helfen den
Leuten von der Army. Das sagen alle« (S. 335).
Jettel identifiziert Heimat nicht länger mit dem deutschen Volk wie ihr Mann. Die
Unruhestifter und die Elternmörder dissoziiert sie nicht von der Heimat. Ihr Verhältnis zur
deutschen Heimat, nach der sie sich in der Fremde sehnt und nicht vergessen will, ist nach
der Ermordung ihrer Eltern dort gebrochen. Dass das Verhältnis von Jettel zu dieser Heimat
wegen des Elternmordes gebrochen ist, bestätigt ferner, dass Heimat zerstörbar und keine
fixierte und homogene Entität ist, mit der man lebenslang verbunden bleibt. Heimat ist
austauschbar. Sie kann überall entstehen. Ein Beispiel dafür ist Jettel, die nach der Ermordung
ihrer Eltern in der ehemaligen Heimat, ein neues Leben in der Fremde beginnen und der
verlorenen Heimat den Rücken kehren will.

Dem Ort Heimat kann man den Rücken kehren, der Sprache dieser Heimat aber nicht. Die
Sprache nimmt man mit. Welche Rolle spielt die Sprache in der Heimat-Fremde-
Konfrontation?

2.6. Die Sprache in der Heimat-Fremde-Konfrontation

Deutsch ist die Sprache des Holocaust. Sollen deutsche Exil-Juden weiter Deutsch sprechen?
Welche Sprache konnten sie? Deutsch natürlich, was sonst? Jede andere wäre Kunst- oder
Zweitsprache und damit bestenfalls die zweitbeste Denk- und Gefühlssprache gewesen.185

185
Thomas Brechenmacher/Michael Wolffsohn: „Sprache und Heimat, Heimat und Hölle“, aufrufbar auf
https://www.jstor.org/stable/j.ctvbkk3vk.9, Zugriff am 06.02.2021.

55. | S e i t e
Was bleibt den Exilanten, die ihre ihnen unheimlich gewordene Heimat verlassen mussten:
Erinnerungen an eine Heimat in der Vergangenheit und ihre Heimatsprache. „Viele
Exilanten“ – so Robert Krause – „blieben noch in der Fremde ihrer Muttersprache
[Heimatsprache] verpflichtet […]“186. In einem Interview bekennt Hannah Arendt:
„Geblieben ist die Sprache. […] Ich habe immer bewusst abgelehnt, die Muttersprache zu
verlieren“187. Weitere Elemente wie Geborgenheit, Verwurzelung, Freiheit, Frieden,
Verständnis, Vertrautheit, Bekanntheit, Verlässlichkeit, Sicherheit und sogar
„Gemeinsinn“188 , die mit der Heimatvorstellung verbunden sind, stellen sich als Illusion
heraus. In einem Brief aus der Fremde macht Walter es seinem Vater deutlich: „Vor allem,
lieber Vater, mach Dir keine Illusionen mehr. Unser Deutschland ist tot. Es hat unsere Liebe
mit Füßen getreten“ (S. 22).

Wenn die Exilanten wegen der Zwangsvertreibung nicht mehr an ihre Heimat glauben und
sie für verloren halten, bleibt die Sprache der Heimat allein identitätsstiftend. „Die Sprache
ist“ – so Heidegger – „das Haus des Seins“189. Sie „lebt i[m] Unterbewusstsein viel stärker
und eigensinniger als alles andere. […] [S]ie trügt und sitzt […] in den Wurzeln des Seins.“190
Die Erklärung liegt darin, dass man in diese Sprache hineingeboren und erzogen wurde. Die
Heimatsprache bleibt also die Sprache, in der man am besten denken und seine Gefühle
ausdrücken kann. Exemplarisch hierfür ist Walter in imaginierten Gesprächen mit seiner
Tochter Regina., die in der Fremde nicht mehr richtig die Heimatsprache kann. Walter
scheitert hier an dem Versuch, ihr gegenüber in der Fremdsprache seine Gefühle über Heimat
in Worte zu fassen:

Er und sein Kind hatten keine gemeinsame Muttersprache mehr. […] Einen Augenblick lang,
[…] stellte sich Walter vor, er würde, wenn er erst Englisch gelernt hätte, nie mehr mit Regina
Deutsch sprechen. […] Das Bild, wie er beschämt und verlegen Worte herausstotterte, die er
nicht aussprechen konnte, und mit den Händen reden mußte, um sich verständlich zu machen,
hatte in der beginnenden Morgendämmerung grotesk scharfe Umrisse. Walter hörte Regina
lachen, erst leise, dann herausfordernd laut. Ihr Gelächter klang wie das verhaßte Heulen der
Hyänen. Der Gedanke, daß sie sich über ihn lustig machte und er sich nicht wehren konnte,

186
Robert Krause: Lebensgeschichten aus der Fremde, a. a. O., S. 178.
187
Günter Gaus: Zur Person. Hannah Arendt im Gespräch mit Günter Gaus, aufrufbar auf:
https://www.youtube.com/watch?v=iZILhvVX_C0, Zugriff am 24.02.2021.
188
„Gemeinsinn meint mindestens zweierlei. Erstens ist Gemeinsinn der „Sinn für das Gemeinsame“, (...)
Offenbar entsteht solcher Sinn für das Gemeinsame besonders leicht in je-nen Teilen sozialer Wirklichkeit, die
als „Heimat“ empfunden werden. (…) Zweitens meint Gemeinsinn den „Sinn des Gemeinsamen“, d.h. den Sinn
der verbindenden sozialen Strukturen und Institutionen.“: Werner J. Patzelt: „Heimat, Vaterland und
Patriotismus“ a. a. O.
189
Martin Heidegger: Über den Humanismus, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 1949, S. 5.
190
Markéta Pilátová: „Sprache als Heimat“, aufrufbar auf, https://www.literaturportal-
bayern.de/themen?task=lpbtheme.default&id=104 , Zugriff am 24.02.2021.

56. | S e i t e
versetzte ihn in Panik. Wie sollte er je in einer fremden Sprache seiner Tochter erklären, was
geschehen war, um sie alle und für immer zu Außenseitern zu machen, wie in Englisch von
einer Heimat reden, die sein Herz marterte? (S. 193).

Die Sprache ist der Zugang zur Kultur und die letzte Verbindung mit der Heimat, da sie ein
Zugehörigkeitsgefühl erzeugt. Wer sich in der Fremde nicht auskennt oder als fremd
empfindet, fühlt sich in seiner Heimatsprache geborgen, sodass die Wahrnehmung dieser
Sprache in der Fremde dasselbe Gefühl von Vertrautheit wie in der Heimat hervorruft und
eine Flucht aus der Fremde in die unerreichbare Heimat ermöglicht. Nicht erstaunlich, wenn
Walter die intimen Momente mit seiner Heimatsprache, in denen er Deutsch reden, hören,
lesen und schreiben kann, als glückliche Momente empfindet:

Für Walter war die Zeit zwischen Dunkelheit und Dämmerung ein willkommenes Geschenk
seiner Schlaflosigkeit und ideal, um Gedanken und Bilder zu entwirren, Briefe zu schreiben
und ungestört von den argwöhnischen Blicken jener Soldaten die das Glück des richtigen
Geburtslandes hatten und zu wenig Phantasie, um es auch zu schätzen, Nachrichten in
deutscher Sprache zu suchen (S. 188).
Dieser intime Kontakt mit der Heimatsprache fungiert hier als Weg in die Heimat, deswegen
sind jegliche Blicke von außen bzw. von britischen Soldaten, die als die Realität bzw. die
Fremde fungieren, unerwünscht. Sie zerstören den intimen Dialog und provozieren die
Rückkehr in die Realität bzw. in die Fremde. Die Sprache fungiert hier als ein Stück Heimat
in der Fremde, ein vertrauter Ort, wo man sich in der Fremde geborgen fühlen kann.

Bedingungslos fühlen sich die Heimatsuchenden ihrer Heimat verbunden durch die
Wahrnehmung der Heimatsprache, selbst dann, wenn es sich um Äußerungen ihrer größten
Feinde handelt. Dies gilt auch für Walter, der seine Sehnsucht nach der Heimat durch die
feindlichen Reden der Heimaträuber, der Nazis, zu stillen versucht:

Außer meinem Freund Süßkind (er lebt auf der Nachbarfarm und war schon in seinem ersten
Leben Landwirt) ist das Radio der einzige Mensch, der mit mir Deutsch spricht. Ob es Herrn
Goebbels gefallen würde, daß der Jude von Rongai den Durst nach Muttersprache mit seinen
Reden stillt? (S. 22).
Die Verbindung mit der Heimat durch die Sprache hängt nicht von dem Redner ab. Heimat
ist dort, wo man „die Witze versteh[t].“191

Ist aber das Verhältnis der Exilanten zur Sprache ihrer angestammten Heimat unzerstörbar?
Geht es nicht vor allem darum, zu verstehen und verstanden zu werden, wenn es um Heimat

191
Bruce Chatwin, Zitiert nach Markéta Pilátová: „Sprache als Heimat“, a. a. O.

57. | S e i t e
geht? Wie steht es um die Exilanten, die eine neue Heimat in der Fremde gefunden haben?
Was wird dann aus der Sprache der vergessenen Heimat in der Fremde?

Wenn die Sprache Zugang zu einer Kultur ist, dann ist das Kennenlernen einer fremden
Sprache der Zugang zu einer neuen Kultur, sprich einer neuen Heimat. Das Erwerben einer
neuen Heimat kann zur Distanzierung von der alten Heimat, also Distanzierung auch zur
Sprache der angestammten und unheimlich gewordenen Heimat führen. Das ist der Fall der
jungen Regina, die nach dem Erwerb der neuen Fremdsprachen die Sprache ihrer Eltern nicht
mehr richtig beherrscht und fehlerhaft spricht und schreibt: „»Bist du gewundet worden?«
fragte Regina./ »Mein Gott, ich hab ja vergessen, daß du nicht mehr richtig Deutsch kannst«“
(S. 202). In einem Brief an den Vater bemerkt sie: „»Balt faren wir nach Leobschutz«,“ (S.
223). Aber auch absichtsvoll zerstört Regina die Sprache ihrer Eltern, indem sie keine
sprachlichen Regeln mehr beachtet und fremde Wörter und Ausdrucksweisen in die Sprache
ihrer angestammten Heimat einfügt. Hierzu einige Beispiele: „»Jambo«, flüsterte Regina,
»jambo, bwana kidogo“ (S. 277); „Ja, aber das ist mein secret“ (S. 174); „»[E]s ist nicht gut
für den Kopf, wenn der Mund zu lange offen ist«“ (S. 172); „»Owuor muß fort, Papa. Oder
willst du, daß sein Herz eintrocknet?“ (S. 360). Ferner liest man auch: „Trotzdem begann sie
ihren Brief mit den Worten »Mein Held, mein Vater« und schloß mit der Zeile »Theirs but to
do and die« aus ihrem Lieblingsgedicht“ (S. 223). Die Zerstörung der Sprache der
angestammten Heimat bewirkt auch die Zerstörung dieser Heimat, was den
konstruktivistischen Aspekt der Heimat bestätigt.

Die Sprache ist also keine Garantie für die Sicherung der Heimat in der Fremde. Für Regina
bedeutet Sprache ein Kommunikationsmittel. Sie verbindet sie nicht zuerst mit einem
Heimatbegriff. Vielmehr ermöglichen ihr die verschiedenen Sprachen, die sie in der Fremde
erworben hat, ihre Umgebung zu verstehen und von ihrer Umgebung verstanden zu werden:
Das bezeugt Owuor:

»Owuor, hast du gewußt, daß sie Jaluo kann?»/ » Ja, Bwana. Das weiß ich. Jaluo ist doch
meine Sprache. Hier in Ol‘ Joro Orok gibt es nur Kikuyus und Nandis, aber die Memsahib
kidogo hat eine Zunge wie ich. Deshalb konnte ich zu dir kommen. Ein Mann kann nicht dort
sein, wo er nicht verstanden wird (S. 89).

Im Gegensatz zu ihrem Vater, der in seiner Heimatsprache ein Stück Heimat in der Fremde
findet, in die er flüchten kann, um der Fremde zu entkommen, ermöglicht die Sprache Regina,

58. | S e i t e
die Fremde zu entdecken und kennenzulernen. Die Sprache fungiert also nicht nur als ein
Stück Heimat in der Fremde, sondern auch als Schlüssel zu einer neuen Heimat in der Fremde.

2.7. Stefanie Zweig und Regina Redlich: Zwischen Realität und Fiktion

Heimat ist ein deutscher Mythos, „ein irrationales, völkisches, von den Romantikern
erfundenes Konzept“192. Die Romantiker sehnten nach „der eigenen heimischen Welt, in der
[sie] das deutsche gutbürgerliche Leben führen“193 und in der sie „in der Abgeschiedenheit
das Ursprüngliche und Unverfälschte suchen“194 wollten. Heimat sei insofern eine deutsche
Wirklichkeit: „In vielen Köpfen hat sich überdies die Vorstellung festgesetzt, das Wort
›Heimat‹ müsse allein schon deshalb typisch deutsch sein, weil es in anderen Sprachen so
nicht existiere“195. Begriffsgeschichtlich lässt sich Heimat „bis ins Althochdeutsche
zurückverfolgen“196.

Heute aber überschreitet der Begriff Heimat die deutschen Grenzen. Seine Verwendung in
den weltweit politischen und gesellschaftlichen Debatten sowie in der Literatur ist eine neue
Erfindung, in der Heimat mit einem Ort und einem Gefühl verbunden wird und darüber hinaus
auf ein Zugehörigkeitsgefühl verweist, das zu Ausgrenzungen führt. Exemplarisch hierfür ist
die Heimatvorstellung der rechtsextremen Gruppierung „Génération identitaire“197 in
Frankreich zu nennen, die aus Angst vor Migration und der damit vermeintlich
einhergehenden Veränderung in der Heimat, die Landesgrenzen mit Banderolen markiert, die
Sprüche tragen wie „Vous ne ferez pas de l'Europe votre maison ! Retournez dans votre pays
d'origine! (Sie werden Europa nicht zu Ihrem Zuhause machen. Gehen Sie in Ihr Heimatland
zurück!) “198. Der gleiche Zugehörigkeitsaspekt zur Heimat ist auch bei den AfD-Politikern

192
Susanne Scharnowski : Heimat. Geschichte eines Missverständnisses, Darmstadt: wbg (Wissenschaftliche
Buchgesellschaft) 2019, S. 10.
193
. Hanne Gunst: „Es wurde eine berauschende Heimkehr. a. a. O., S. 24.
194
Katja Lembke: „Vorwort“, in: Thomas Andratschke (Hrsg): Mythos Heimat. Worpswede und die
europäischen Künstlerkolonien, Dresden: Sandstein 2016, S10 – 11, hier S. 10.
195
Susanne Scharnowski : Heimat, a. a. O.
196
Anja Oestherhelt: „,Doppelheimweh und fremde Heimath‘: Clemens Brentano und die Genese des modernen
Heimatbegriffs“, in: Stefan Neuhaus/Helga Arend (Hrsg.): Fremde Heimat-Heimat in der Fremde. Clemens
Brentano und das Heimatgefühl seit der Romantik, Würzburg: Königshausen & Neuermann 2020, S. 23-39, hier
S. 23.
197
Léa Stassinet : „Alpes : des militants d'extrême droite bloquent un lieu de passage de migrants. Une centaine
de militants du mouvement Génération identitaire s'est rendue au col de l'Échelle dans les Hautes-Alpes, pour
"veiller à ce qu'aucun clandestin ne puisse rentrer en France", aufrufbar auf
https://www.rtl.fr/actu/politique/alpes-des-militants-d-extreme-droite-bloquent-un-lieu-de-passage-de-
migrants-7793106620, Zugriff am 02.03.2021.
198
Ebd.

59. | S e i t e
mit ihrem Slogan: „Dein Land, deine Heimat“199 zu bemerken. Eine solche alles Fremde
zurückweisende, engstirnige Heimatvorstellung charakterisiert Vilém
Flusser folgendermaßen:

Die Beheimateten verwechseln Heimat mit Wohnung. Sie empfinden daher ihre Heimat als
hübsch, wie wir alle unsere Wohnung als hübsch empfinden. Und dann verwechseln sie die
Hübschheit mit Schönheit. Diese Verwechslung kommt daher, daß die Beheimateten in ihre
Heimat verstrickt sind und daher für das herankommende Häßliche [Fremde], das etwa in
Schönheit verwandelt werden könnte, nicht offen stehen. Patriotismus ist vor allem ein
Symptom einer ästhetischen Krankheit200
Verwirrend erscheint der Begriff, weil Nationalisten und Identitätspolitiker ihn mit Vaterland,
Nation und Volk verbinden, während Begeisterte von Fremde und Fremdheit auf der Suche
nach Ursprünglichkeit und Unverfälschtheit ihre Heimat in der fernen exotischen Fremde
sehen, etwa wie Paul Gauguin es in seiner Malerei nach seinen Aufenthalten in Polynesien
zum Ausdruck bringt oder wie „die Reisen von Malern wie Emil Nolde und Max Pechstein
in die deutsche Südsee“201 bezeugen.

Auch Stefanie Zweig verlegt Heimat in ihren Afrika-Romanen in die Ferne. Ihr Afrika-
Roman Nirgendwo in Afrika schildert wie ihre anderen Afrika-Romane ein idealisiertes
Afrika, in dem sie ihre Heimat sieht. Über Zweigs Begeisterung für Afrika und die damit
einhergehenden Afrika-Romane schreibt Julia Augart:

Den Erfolg von Stefanie Zweigs Afrika bzw. Kenia-Romanen erklärt sich die Autorin, die
2014 im Alter von 81 Jahren starb, mit der großen Afrika-Sehnsucht der Deutschen. Doch
auch ihre eigene Sehnsucht prägt die meist autobiographisch zu lesenden Romane der Autorin,
und Zweig kreiert ein eigenes Afrika-Bild und einen imaginativen Raum Afrika. Ihre Texte
sind damit eine literarische Inszenierung eines Erinnerungsraumes und eines imaginativen
Raumes, der für sie gleichzeitig auch Heimat ist bzw. wird.202
Stefanie Zweig kreiert nicht nur in ihren Afrika-Romanen einen imaginativen Raum von
Afrika, auf den sie ihre Wunschheimat projiziert, sondern schafft auch literarische Figuren,
die autobiographische Charakterzüge tragen, um dieser unerreichbaren und idealisierten
Heimat nachzuspüren. Beispiel hierfür ist die Figur Regina Redlich, die wie die Autorin
selbst dem Zauber Afrikas erliegt und ihre Heimat dort sieht. Regina spiegelt nicht nur

199
Susanne Scharnowski : Heimat, a. a. O., S. 9.
200
Vilém Flusser, Von der Freiheit des Migranten: Einsprüche gegen den Nationalismus, Fulda: Taschenbuch
2007 S.29.
201
Katja Lembke: „Vorwort“, in: Thomas Andratschke (Hrsg): Mythos Heimat, a.a.O. S10 – 11, hier S. 10.
202
Julia Augart: „Erinnerungsraum als Transitraum. Zu literarischen Rauminszenierung Afrikas in Stefanie
Zweigs Kenia-Romanen“, in: Sabine Egger/ Withold Bonner/ Ernest W.B. Hess-Lüttich (Hrsg.): Transiträume
und transitorische Begegnungen in Literatur, Theater und Film, Frankfurt am Main: Peter Lang 2017, S. 221-
229, hier S. 221.

60. | S e i t e
Stefanie Zweigs Erinnerungen wider, sondern auch deren Wünsche und Phantasie. Zweig
imaginiert mit Hilfe der Figur des Mädchens, was sie als Heimat gewünscht, aber während
ihres Aufenthaltes in der Wunschheimat nicht wirklich erlebt hat. Dies bestätigt den
Konstruktionscharakter der Heimat. Heimat ist für Stefanie Zweig ein imaginierter Raum, wo
Erinnerungen wiederaufleben und Wünsche erfüllbar scheinen. Afrika bleibt für die Autorin
eine Heimat in der Ferne, wo sie nicht leben, aber ein gewünschtes idyllisches Leben voller
Phantasie – der Realität entrückt – sich vorstellen kann. Fakt ist, dass Stefanie Zweig nach
ihrer Rückkehr nach Deutschland nur drei Mal Afrika besuchte, das sie in ihren Büchern
lobte und als Heimat bezeichnete. Niemals ist ihr der Gedanke gekommen, in diese Heimat
zurückzukehren, um das idyllische und pittoreske Leben, das sie in ihren Afrika-Romanen
schildert, zu führen. Sie tritt auch nie wieder in Kontakt zu den Menschen, mit denen sie sich
während ihres Aufenthaltes in Afrika angefreundet hatte und die eine Rolle für die Entstehung
ihres Heimatgefühls in Afrika gespielt hatten: „Owuor, dem ich nicht schreiben konnte, weil
er nie lesen gelernt hatte, war der Erste, den ich aufgeben musste. Dreimal bin ich nach Kenia
gereist, gesucht habe ich ihn nie. Er war es, der mir beibrachte, loszulassen, ohne zu
rechten“203. Afrika ist für Stefanie Zweig „nur Erinnerung, das Paradies mit den verwehten
Spuren und der zerrissenen Nabelschnur“204. Afrika, also Zweigs Heimat fungiert hier nur als
„Ort der Sehnsucht“205, sprich ein Nicht-Ort, da sie nur in ihren Afrika-Romanen existiert und
„nicht auf einen geografischen Raum feststellbar [ist].“206 Der Titel ihres Romans Nirgendwo
in Afrika macht es deutlich. „Nirgendwo“ bedeutet an keinem Ort. Afrika, also die Heimat ist
für Stefanie Zweig ein Nicht-Ort, eine Metapher für die Erfahrung der Phantasie und der
Exotik, genauso wie sie bei anderen als Metapher für die Erfahrung der Geborgenheit,
Zugehörigkeit oder Verwurzelung auftaucht.

2.8. Zum exotischen Aspekt des Heimatkonzepts

In seiner Beschäftigung mit Zweigs Nirgendwo in Afrika hat Boaméman Douti das Werk als
ein „postkoloniales Rewriting“207 interpretiert. Die Autorin habe durch eine ästhetische
Strategie der postkolonialen AutorInnen die stereotypen Bilder des Fremden in der
Kolonialliteratur übernommen, um diese Bilder zu kritisieren, die Kolonialliteratur

203
Stefanie Zweig: Nirgendwo war Heimat, a. a. O., S. 286.
204
Ebd.
205
Stefan Neuhaus/Helga Arend: „Einleitung“: in: Stefan Neuhaus/Helga Arend (Hrsg.): Fremde Heimat-
Heimat in der Fremde, a. a. O., S. 11-23, hier S. 11.
206
Ebd.
207
Boaméman Douti: Poetik eines kulturellen Austausches im Postkolonialen Kontext, a. a. O., S. 197.

61. | S e i t e
umzuschreiben, „und dadurch für die Neubegründung des Verhältnisses zwischen dem
Fremden und dem Eigenen im postkolonialen Kontext zu plädieren.“208 Über den Aspekt des
postkolonialen Rewriting hinaus ist eine Infantilisierung Afrikas und dessen Kultur in dem
Werk zu bemerken. Die Tatsache, dass nur die junge Regina Afrika und seine Kultur versteht
und dass Afrikaner und deren Kultur eine Approbation von Europäern brauchen und von
Europäern und durch deren Mentalität validiert sein sollen, um als zivilisierte und als „kluge“
Menschen zu gelten, ist hierfür ein Beispiel. Hierbei eine Bewertung von Walter: „sie
[Afrikaner] sind sehr liebenswert und bestimmt auch klug.“ (S. 26). Ferner erfährt der Leser
von einem Kikuyu, Kimani, der trotz seiner Fähigkeit, eine Farm zu verwalten, die
Approbation und die Betreuung eines Europäers, z.B. Walters, braucht und sich einen
europäischen Herrn wünscht:

Kimani, ein Kikuyu von ungefähr fünfundvierzig Jahren, war klein, klug und dafür bekannt,
daß er mit der Zunge schneller war als eine flüchtende Gazelle mit ihren Beinen. Er befahl
den Schambaboys, was sie auf den Feldern zu tun hatten, und hatte, so lange die Farm ohne
einen Bwana war, auch ihren Lohn festgesetzt. Sobald am späten Nachmittag der Schatten die
vierte Rille des Wassertanks erreichte, schlug Kimani mit einem langen Stock gegen das
dünne Blech und gab so das Zeichen für das Ende der Tagesarbeit. Als Herr der Zeit und auch,
weil er die tägliche Ration Mais für den abendlichen Poschobrei verteilte, wurde Kimani von
allen auf der Farm respektiert – selbst von den Nandis, die weder auf den Feldern arbeiteten,
noch Mais erhielten, sondern jenseits des Flusses lebten und eigene Herden hatten. Kimani
hatte sich schon lange einen Bwana auf der Farm gewünscht, wie es in Gilgil, Thompson‘s
Fall und selbst in Ol‘ Kalao üblich war. Was nutzten ihm Ansehen und Anerkennung, wenn
das Land, für das er sorgte, nicht gut genug für einen weißen Mann war? (S. 82).
Durch die Infantilisierung der Afrikaner sucht Zweig das Ursprüngliche, Unschuldige und
Unverfälschte nicht nur in dem imaginativen Raum Afrika, sondern auch in den dort lebenden
Menschen, den Einheimischen. Das Afrikabild wird also mit einem Kinderbild assoziiert209,
damit die Erfahrung der Phantasie möglich werden kann. Überall tauchen Fabelwesen auf,
wilde Tiere, große Urwälder und exotische Bäume und Düfte:

Sie [Regina] hatte schon am ersten Ferientag ihre Fee in einem Guavenbaum von
betäubendem Duft und mit kräftigen Ästen einquartiert. Auch sie selbst konnte mühelos auf
den Baum mit den grünen Früchten klettern. Das Blattwerk gab ihr Schutz und die
Möglichkeit, den Tag wie zu Hause in Ol‘ Joro Orok wegzuträumen (S. 212).
Bedeutend ist die Infantilisierung Afrikas bei Stefanie Zweig auch deshalb, weil ihr erstes
Afrikabuch Ein Mundvoll Erde, in der sie zum ersten Mal ihre Erfahrung in Afrika schildert,
schon ein für junge Leser gedachter Afrika-Roman ist:

208
Boaméman Douti: Poetik eines kulturellen Austausches im Postkolonialen Kontext, a. a. O., S. 197.
209
Vgl. Rafatou Tchagao: Das Heimatkonzept in Stefanie Zweigs Vivian und Ein Mund voll Erde, a. a. O., S. 99.

62. | S e i t e
Ich hatte von meinem Vater und der Liebe zu Afrika in einem Jugendbuch erzählt. Die Gattung
zwingt zu einer Kürze und Simplifizierung, die mir nicht liegen. Alle meine sieben
Kinderbücher eignen sich besser für Erwachsene als für Kinder. Wie auch soll ein Kind, das
so früh kein Kind mehr war, Bücher für Kinder schreiben können?210
Neben der Interpretation des Werkes als ein postkoloniales Rewriting bewirkt Zweigs
Nirgendwo in Afrika beim Leser vor allem „eine neue Faszination Afrikas bzw. ein[en]
postkolonial[en] Exotismus, ein New Exoticism.“211. Nicht erstaunlich, dass das Werk
Bestseller in Europa wurde, und die gleichnamige Verfilmung große Publikumserfolge feiern
konnte. Die exotische Darstellung der fernen Fremde und das Verlangen der Leser und
Zuschauer nach einer erstaunenswerten Welt haben dabei eine große Rolle gespielt. „Aus
postkolonialer Perspektive gilt der Exotismus“ — so Thomas Schwarz — „im Anschluss an
Edward Said als die spezifische Ästhetik des Imperialismus, als Projektion westlicher
Wunschphantasien, als ästhetische Ausbeutung des Fremden im Imperium der westlichen
Kunstproduktion“212. Rafatou Tchagao macht es deutlich: „Durch einen ›postkoloniale[n]
Exotismus‹ rekonstruiert Stefanie Zweig ihre afrikanische Heimat.“213.

Afrika war im engsten Sinne nie das Zuhause von Stefanie Zweig. Nach ihrer Rückkehr nach
Deutschland hat sie ein vollkommen deutsch-bürgerliches Leben geführt. Über den Begriff
Heimat bekennt sie:

Ich bin sehr vorsichtig mit dem Wort Heimat. Und wenn ich gefragt werde: wo ist Ihre Heimat,
gucke ich immer ein bisschen vage. Ich kann nicht sagen, ob Deutschland meine Heimat ist.
Was ich sagen kann ist, dass ich in den besten Momenten Frankfurt als meine Heimatstadt
empfinde. Also, ich hänge sehr an Frankfurt214.
Niemals habe sie in der Vergangenheit gelebt, etwa wie ihr Vater während seines Aufenthaltes
in Afrika: „Viele Menschen schreiben mir, sie seien, wie ich, immer noch in Afrika zu Hause.
Auf mich trifft das nicht zu. Für mich ist Afrika nur Erinnerung, [ein] Paradies“215. Doch ein
exotisches Paradies ist Afrika für Stefanie Zweig, genauso wie es für alle „exotistischen
Sehnsüchte zivilisationsmüder Europäer [ist], die dem durchrationalisierten Alltag der

210
Stefanie Zweig: Nirgendwo war Heimat, a. a. O., S. 285.
211
Ebd. S. 99.
212
Thomas Schwarz: „Exotismus. Ästhetische des Imperialismus.“, aufrufbar auf:
http://www.goethezeitportal.de/fileadmin/PDF/kk/df/postkoloniale_studien/schwarz_exotismus.pdf, Zugriff
am 07.03.2021.
213
Rafatou Tchagao: Das Heimatkonzept in Stefanie Zweigs Vivian und Ein Mund voll Erde, a. a. O., S. 99.
214
AfrikaRoman. Das Literaturportal für Romane und Literatur über Afrika, aufrufbar auf:
https://www.afrikaroman.de/autor/stefanie-zweig/, Zugriff am 10.03.2021.
215
Stefanie Zweig: Nirgendwo war Heimat, a. a. O., S.286.

63. | S e i t e
westlichen Welt zumindest imaginär entkommen möchten.“216 Afrika bedeutet für Stefanie
Zweig ein Ort des Entkommens vom Alltagsleben; auf diesen Ort projiziert sie ihre Phantasie
und Sehnsüchte.

Zweigs Faszination für Afrika ist die Faszination für die ferne, exotische Fremde, für deren
Kultur und deren Menschen. Dass die Faszination für den Exotismus zu Heimat — sei es zu
einer virtuellen Heimat — in der fernen Fremde führt, belegt, dass Heimat ein Konstrukt ist
und überall entstehen kann.

Dirk Göttsche: „Zwischen Exotismus und Postkolonialismus. Der Afrika-Diskurs in der deutschsprachigen
216

Gegenwartsliteratur“, in: Mustapha Diallo / Dirk Göttsche (Hrsg.): Interkulturelle Texturen. Afrika und
Deutschland im Reflexionsmedium der Literatur., Bielefeld: Aisthesis 2003, S. 161-244, hier S.162.

64. | S e i t e
Schlussbetrachtung

Die Analyse von Zweigs Roman ergibt, dass sich Heimat überall finden lässt. Über ihre
Vorstellung in den politischen und gesellschaftlichen Diskussionen als feste Gegend hinaus
– etwa wie Heimat als Geburtsort, als Ort, an dem man aufgewachsen ist oder sich wohl fühlt
– taucht Heimat letztlich als eine Metapher auf, eine Leerstelle, auf die alle Vorstellungen
projiziert werden können: Vom Kindheitsort bis zu einem ausgedachten Vaterland oder jener
Heimat in der exotischen Ferne. Es gibt so viele Heimatvorstellungen wie Menschen auf der
Erde. Jeder hat seine Heimatvorstellung, die sich von anderen unterscheidet. Auch bei dem
einzelnen Individuum ändert sich die Heimatvorstellung im Lauf der Zeit. Heimat ist also aus
der dekonstruktivistischen Perspektive ein endloser Aufschub, da eine definitive
Bedeutungszuweisung nicht möglich ist. W. G. Sebald bringt es auf den Punkt: „Je mehr von
der Heimat die Rede ist, desto weniger gibt es sie“.217 Heimat kann nicht mit einer fixierten
Entität identifiziert werden, sei sie ein Ort oder ein Gefühl. Heimat ist überall und nirgendwo.
Sie ist alles und nichts. Sie liegt in der Vergangenheit und lässt sich in die Zukunft verlegen.
Sie ist also ein Spielfeld, auf dem endlose Bedeutungen zusammenkommen können. Heimat
– so Schlink – „ist Utopie“218. Sie ist ein Wunschbild, ein Wunschfeld, dem unterschiedliche
Wünsche anhaften.

Die Analyse von drei ausgewählten Figuren des Romans lässt schon drei verschiedene
Heimatvorstellungen erkennen. Für Walter, den Vater der Familie Redlich, liegt Heimat in
Deutschland, wo er seine schönsten Jahre – Kinderjahre und Jugendzeit wie auch die Zeit als
erfolgreicher Anwalt – verbracht hat. Die junge Regina erliegt dem Reiz der Fremde, findet
sich im Exil zurecht und lässt dort ihre Heimat entstehen. Für die Mutter, Jettel, ist die Heimat
an dem Ort, wo sie Verwandten und Freundeskreise hat. Die Trennung von diesen ihr
nahestehenden Menschen bewirkt bei ihr den Verlust der Heimat. Die verschiedenen
Heimatvorstellungen der ausgewählten Protagonisten zeigen, wie schwer eine Definition des
Begriffs „Heimat“ ist. Jede Figur hat ihre Heimatvorstellung, die von eigener Erfahrung
geprägt ist. Dies beweist, dass Heimat keine fixierte Entität ist, sondern je nach Menschen
veränderlich. Das Empfinden von Heimat ist eine persönliche, ja fast intime Sache.

Neben den klassischen Vorstellungen, die Heimat mit einem Ort und/oder einem Gefühl
verbinden, etwa wie Heimat als ein Ort, an dem man sich geborgen oder verwurzelt fühlt,

217
W. G. Sebald: Unheimliche Heimat, a. a. O., S. 11.
218
Bernhard Schlink: Heimat als Utopie, a. a. O., S. 24.

65. | S e i t e
nimmt die Heimatvorstellung noch weitere Dimensionen an. Aus dem Geburtsort wird
Heimat auf ein vollständig ausgedachtes, so nicht existentes Vaterland, Volk oder Nation
ausgedehnt. Dies wird in der Arbeit deutlich durch Aufzeigen der Heimatvorstellung von
Walter, der sich mit einem deutschen Volk, mit einem deutschen Vaterland, also mit einer
deutschen Wir-Identität verbunden fühlt. Doch diese deutsche kollektive Identität besteht nur
im Bewusstsein des Individuums, also nur im Bewusstsein von Walter. Sie konstituiert aber
seine Heimatvorstellung. Dieselbe Vorstellung von Heimat als ein Vaterland, ein Volk, eine
Nation sogar als eine kollektive Identität ist auch in den politischen und gesellschaftlichen
Diskussionen anzutreffen. Deutschland hat beispielweise ein „Bundesministerium des
Inneren, für Bau und Heimat“, auf dessen Internetseite zu lesen ist:

Heimat ist dort, wo sich Menschen wohl, akzeptiert und geborgen fühlen. Jeder kennt dieses
Gefühl, dazuzugehören und Bestandteil einer Gemeinschaft zu sein. Unsere Heimatpolitik ist
angesichts des rasanten Wandels unserer Lebensverhältnisse eine notwendige
Gestaltungsaufgabe von Bund, Ländern und Kommunen. Die Menschen suchen Sicherheit
und Orientierung. Unser Ziel ist die Neubelebung und -verortung einer gemeinsamen Identität
und eines belastbaren Wertefundaments, das uns verbindet. […] Fragen der Identität und der
Identifikation mit unserem Land sind heute wichtiger denn je. […] Daher haben wir im
Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat eine Heimatabteilung eingerichtet. Ihre
Aufgabe ist es, den Zusammenhalt, das Gemeinschaftsgefühl und die Identifikation
in bzw. mit unserem Land zu erhöhen.219
Trotz der guten Intentionen, die zur Entstehung dieses Ministeriums geführt haben, erzeugt
aber solche Auffassung von einer gemeinsamen Heimat, die auf ein ganzes Land ausgedehnt
ist, kollektive Identitäten, soziale Exklusion und Ausgrenzungen, sprich „Grenzziehungen
zwischen einem ‚Wir‘ und den ‚Anderen‘“220 wie bei Walter. Walter respektiert im Exil seine
neue Umgebung und deren Kultur, er nimmt aber Distanz zu dieser neuen Umgebung ein, da
er sich einer anderen Identität und Kultur zugehörig fühlt.

Die festgelegten Identitäten erleichtern nicht die Offenheit für neue Identitäten und andere
Heimatvorstellungen, die in unserer Zeit der Globalisierung und Weltoffenheit sehr wichtig
ist. Wegen seiner im Bewusstsein verankerten kollektiven Identität erleidet Walter im Exil
Depressionen. Seine Tochter Regina hingegen, die sich mit keinen festen Identitäten
verbunden fühlt, kann in der Fremde eine Identität konstruieren und darüber hinaus Heimat
entstehen lassen.

219
Bundesministerium des Inneren, für Bau und Heimat: „Heimat und Integration“, aufrufbar auf:
https://www.bmi.bund.de/DE/themen/heimat-integration/heimat-integration-node.html, Zugriff am 16.03.2021.
220
Carlotta von Maltzan /Akila Ahouli / Marianne Zappen-Thomson: „Vorwort“, in Dies. (Hrsg.): Grenzen und
Migration., a. a. O.

66. | S e i t e
Da Heimat ein Konstrukt ist, ist sie zerstörbar. Die Analyse hat gezeigt, wie Walter, der seine
Heimatvorstellung mit seiner deutschen kollektiven Identität verknüpft, Schwierigkeiten hat,
eine neue Heimat zu finden, als sein Verhältnis mit der alten Heimat zerbricht, als die Heimat
unheimlich wird. Nur in der Sprache und in der Erinnerung findet er Zuflucht. Erinnerungen
führen aber zu Sehnsüchten und Depressionen. Die Sprache allein ist keine Garantie für die
Sicherung der Heimat im Exil, da sie zerstörbar ist. Dies wird deutlich am Verhalten der
jungen Regina. Nach dem Erwerb fremder Sprachen im Exil vernachlässigt sie die Sprache
ihrer Eltern, indem sie sie fehlerhaft spricht und schreibt und mit Ausdrücken der neu
erworbenen Fremdsprachen aufmischt. Durch diese Strategie zerstört Regina nicht nur die
Heimat ihrer Eltern, sondern auch die Grenzen zwischen Heimat und Fremde. Aus der
Perspektive interkultureller Literatur lässt sich erklären, dass Fremde und Heimat als Eigene
„ihre Konturen verlieren, indem das Fremde im Eigenen und das Eigene im Fremden
erkennbar wird und so Zustände des Übergangs und der offenen Identität in den Blick
kommen“221. Heimat und Fremde erscheinen nicht mehr als Totalitäten, sondern als
heterogene Entitäten, die in Interaktionssituationen ineinanderfließen und sich aktualisieren
können222. Fakt ist, dass Heimat fremd – unheimlich – werden und Fremde zur Heimat sich
wandeln kann.

Die Interkulturelle Literatur hat als Ausgangspunkt Verzicht auf „Homogenisierung und
Fixierung“223, „Dekonstruktion [legt] eine Spur des Differierens offen, die durch die Zeit
gleitet und sich immer weiter verschiebt“224. Die Kombination der interkulturellen Literatur
mit der Dekonstruktion in dieser Untersuchung von Heimatkonzepten ergibt, dass Heimat in
Bezug auf Fremde nur der Teilaspekt eines Dialogs ist. Der andere Teilaspekt dieses Dialogs
ist die Fremde. Fremde ist nur die Außenseite der Heimat. Heimat allein betrachtet, kann
keine Gegend oder Struktur zugewiesen werden, da jeder Mensch seine eigene Auffassung
von Heimat hat.

Wie kann aber ein Begriff wie Heimat, für den es keine einstimmige und definitive
Bedeutungszuweisung gibt, so viel Bedeutung in den politischen und gesellschaftlichen
Debatten haben? In dieser Masterarbeit habe ich den Zusammenhang zwischen der

221
Michael Hofmann/Iulia-Karin Patrut: Einführung in die interkulturelle Literatur, a. a. O. S. 11.
222
Ortrud Gutjahr:“ Wie fremd ist eigentlich das Fremde“, aufrufbar auf https://www.jstor.org/stable/40621662,
Zugriff am 15.01.2021.
223
Vgl. Michael Hofmann: Interkulturelle Literaturwissenschaft. Eine Einführung, Paderborn: Wilhelm Fink
Verlag 2006, S. 9.
224
Florentine Strzelcyk: Un-heimliche Heimat, a. a. O. S. 21 f.

67. | S e i t e
Heimatvorstellung und der Anpassung an eine neue Umgebung bei literarischen Figuren
untersucht. Wichtig wäre es, die Politisierung des Begriffs Heimat und die damit
einhergehenden Folgen in einer weiteren Arbeit zu untersuchen.

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