Sie sind auf Seite 1von 18

))\øir( ist weder Addition noch

Nebeneinander der,Ich,.n

Jean-Luc Nancy, Singulär plural sein

In den 28 Bänden der Enzyhlop¿iàie, dem Kompendium des


\Øissens der Aufklärung, das Denis Diderot und Jean-Bap-
tiste Le Rond d'Alembert zwischen 1752 u¡d t77z herausga-
ben, findet sich eine Definition von Fanatismus, die bis heute
gültig ist. ,Fanatismus ist ein blinder und leidenschaftlicher
Eifer<, heißt es in dem von Alexandre Deleyre verfassten Ein-
trag, ,der abergläubischen Anschauungen entspringt und
dazu führt, dass man nicht nur ohne Scham und Reue, son-
dern gar mit einer A¡t Freude und Genugtuung lächerliche,
ungerechte und grausame Handlungen begeht.nt Das eint
auch die Fanatiker der Gegenwart, seien sie pseudo-religiöse
oder politische Eiferer: dass sie sich Dogmen und Aberglau-
ben zurechtlegen, die Hass entzünden und rbegründenn. Und
dass sie ohne Scham und Reue mal nur lächerliche Positionen

vertreten, mal ungerechte und mal grausame Handlungen be-


gehen. Manchmal wirk ihr blindes Propagieren noch der un-
sinnigsten Verschwörungstheorien eher belustigend. Aber die

r87
3. LOB DES UNREINEN 3. LOB DES UNREINEN

Heiterkeit schwindet bald, wenn dieser Aberglaube tatsäch- indem sie liberal und offen bleibt. \Øenn das moderne, sä-

lich eine Doktrin festigt, die andere zu mobilisieìen vermag. kulare, plurale Europa angegriffen wird, dann darf es nicht
\Øenn Hass geschürt wird, um Menschen einzuschüchrern, aufhören, modern, säkular und plural zu sein.'W'enn religiöse
um sie zu denunzieren und zu stigmatisieren, ihnen öffent- und / oder rassistische Fanatiker eine Spaltung der Gesellschaft
lichen Raum und Sprache zu nehmen, sie zu verletzen und in Kategorien aus Identität und Differenz beabsichtigen, dann
anzugreifen - dann ist das alles andere als amüsant und lä- braucht es solidarische Allianzen, die in Ähnlichkeiten unter
cherlich. Ob der Fanarismus sich mit der Vorstellung einer 'W'enn
Menschen denken. fanatische Ideologen ihr \Øeltbild
homogenen Nation verbindet, einer rassistischen Konzeption nur in groben Vereinfachungen präientieren, dann kann es
von Zugehörigkeit zu einem aJs ethruos versrandenen oVolkn nicht darum gehen, sie in Schlicht- und Grobheit zu überbie-
oder ob er sich mit einer pseudo-religiösen Idee von oRein- ten, sondern dann braucht es Differenzierung.
heit< verkoppelt, all diese Doktrinen einr die illiberale Mecha-
nik von willklirlich-absichtsvoller Inklusion und Exklusion. Dazu gehört auch, den Essentialismus der Fanatiker nicht
ebenfalls mit essentialistischen Unterstellungen zu beant-
\Øenn Fanatiker in ihrem Dogmatismus von eñ\¡as abhän- worten. Die lftitik an und der'Widerstand gegen Hass und
gig sind, dann von Eindeutigkeit. Sie brauchen eine reine Missachtung sollte sich deswegen immer auf die Strukturen
Lehre von einem ,homogeneno Volk, einer owahren< Reli- und Bedingungen von Hass und Missachtung richten. Es geht
gion, einer >ursprünglichen< Thadition, einer onatürlichenn nicht darum, Personen als Menschen zu dämonisieren, son-
Familie und einer nauthentischenn Kultur. Sie brauchen Pass, dern ihre sprachlichen und nicht-sprachlichen Handlungen
worte und Codes, die keinen Einspruch, keine Uneindeutig- zu l¡ritisieren oder zu verhindern. Und wenn es sich um jus-
keit, keine Ambivalenz zulassen - und eben darin liegt ihre titiable Verbrechen handelt, gehören natürlich die Täter und
größte Schwäche. Das Dogma des Reinen und Schlichten Täterinnen rechtsstaatlich verfolgt und, wenn möglich, ver-
lässt sich nicht durch mimetische Anpassung bekämpfen. Es urteilt. Um dem Hass und dem Fanatismus der Reinheit zu
ist aussichtslos, dem Rigorismus mit Rigorismus, den Fanati- begegnen, braucht es aber auch zivilgesellschaftlichen (und zi-
kern mit Fanatismus, den Hassenden mit Hass zu begegnen. 'S7'iderstand
vilen) gegen die Techniken des Ausgrenzens und
Demokratiefeindlichkeit lässt sich nur mit demokratischen, Eingrenzens, gegen die Raster derrWahrnehmung, die manche
rechtsstaatlichen Mitteln bekämpfen. \Øenn die liberale, oÊ sichtbar und andere unsichtbar machen, gegen die Blick-Re-
fene Gesellschaft sich verteidigen will, dann kann sie das nur, gime, die Individuen nur noch als Stellvertreter von Kollek-

188 189
3. LOB DES UNREINEN 3. LOB DES UNREINEN

tiven gelten lassen. Es braucht mutigen Einspruch gegen all Vor allem aber braucht es ein Plädoyer für das Unreine und
die kleinen und gemeinen Formen der Demütigunþ und der Differenzierte, denn das ist es, was die Hassenden und die
Erniedrigung ebenso wie Gesetze und Praktiken des Beistands Fanatiker in ihrem Fetischismus des Reinen und Schlichten
und der Solidarität mit denen, die ausgeschlossen werden. am meisten irritiert. Es braucht eine Kultur des aufgeklärten
Dazu braucht es andere Erzählungen, in denen andere Per- Zweifels und der lronie. Denn das sind Genres des Denkens,
spektiven und andere Menschen wahrnehmbar gemacht die den rigoristischen Fanatikern und rassistischen Dogma-
werden. Nur wenn die Raster des Hasses ersetzt werden, nur tikern zuwider sind. Ein solches Plädoyer für das Unreine
wenn nÄhnlichkeiten entdeckt (werden), wo vorher nur DiÊ muss mehr sein als nur ein leeres Versprechen. Es braucht
ferenzen gesehen (wurden)u, kann Empathie entstehen.2 nicht nur eine Behauptung von Pluralität in den europäischen
Gesellschaften, sondern ernsthafte politische, ökonomische,
Dem Fanatismus und Rassismus muss nicht nur in der Sache, kulturelle Investitionen in ein solches inklusives Mitein-
'Warum?
sondern auch in der Form widerstanden werden. Das bedeu- ander. \Øarum Pluralität werwoll sein soll? Ersetzt
'Was
tet eben nicht, sich selbst zu radikalisieren. Das bedeutet eben so nicht eine Doktrin eine andere? bedeutet Pluralität
nicht, mft Hass und Gewalt das herbeiphanrasierre Bürger- fìir diejenigen, die fürchten, kulturelle oder religiöse Vielfalt
kriegsszenario (oder das einer Apokalypse) zu befordern. Es würde sie in ihren eigenen Praktiken und Überzeugungen be-
braucht vielmehr ökonomische und soziale Interventionen an schränken?
den Orten und in den Strukturen, wo jene Unzufriedenheit
entsteht, die in Hass und Gewalt umgeleitet wird. '!l'er Fana- osofern wir im Plural existierenn, schrieb Hannah Arendt in
'W'elt
tismus präventiv bekämpfen will, wird nicht darauf verzichten Vita Actiua, ound das heißt sofern wir in dieser leben,
können, sich zu fragen, welche sozialen und ökonomischen uns bewegen und handeln, hat nur das Sinn, worüber wir
Unsicherheiten mit der falschen Sicherheit pseudo-religiöser miteinander und wohl auch mit uns selbst sprechen können,
'\W'er
oder nationalistischer Dogmen überdeckt werden. den was im Sprechen einen Sinn ergibt.o3 Für Hannah Arendt ist
Fanatismus präventiv bekämpfen will, wird sich fragen müs- die Pluralitát zunächst einmal ein nicht hintergehbares empi-
sen, warum so vielen Menschen ihr Leben so wenig werr isr, risches Faktum. Es existiert schlicht kein Mensch einzeln und
dass sie bereit sind, es ftir eine Ideologie hinzugeben. isoliert, sondern wir leben in der\Øelt in einer größerenZahI,
eben im Plural. Nun bedeutet Pluralität in der Moderne aber
nicht Vervielfältigung eines Urmodells, einer vorgegebenen

190 T9T
3. LOB DES UNREiNEN 3. LOB DES UNREINEN

Norm, der alle anderen sich anzugleichen haben. Sondern die nur allein. Es braucht das soziale Miteinander, in dem sich die
condition humaine und das menschliche Handeln'zeichnen eigenen'W'ünsche und Bedürfnisse spiegeln oder brechen. Ein
sich für A¡endt durch jene Pluralität aus, >in der zwar alle das- \Øir, das sich nur als monochrome Einheit versteht, enthált
selbe sind, nämlich Menschen, aber dies auf die merkwürdige weder Vielfalt noch Individualität. Das heißt: Kulturelle oder
Art und'll'eise, dass keiner dieser Menschen je einem anderen religiöse Vielfalt, eine heterogene Gesellschaft, ein säkularer
gleicht, der einmal gelebt hat, lebt oder leben wirdn.a Diese Staat, der die Bedingungen und Strukturen schaffl, damit
Beschreibung widerspricht elegant der sonst so gängigen Vor- verschiedene Lebensentwúrfe darin gleichwertig existieren
stellung von Identität und Differenz. Hier geht es vielmehr können, schränkt die individuellen Überzeugungen nicht ein,
sowohl um gemeinsame Zugehörigkeit zum universalen \Øir sondern ermöglicht und schützt sie erst. Plaralität in einer
als Menschen als auch gleichzeitig um Einzigartigkeit als un- Gesellrchafi bedcutet nicht den Wrlust der indiaiduellen (oder
verwechselbare Individuen. Der Plural, von dem hier die Rede þollektiuen) Freiheit, sondern gdrantiert sie erst.
ist, ist kein statisches'S7ir, eine Masse, die sich zwangsweise
selbst homogenisiert. Sondern der Plural in der Thadition Pseudoreligiöse Fanatiker und völkische Nationalisten zeich-
Hannah Arendts ist einer, der sich aus der Vielfalt individuel- nen gern ein anderes Bild: Sie fordern ein homogenes, ur-
ler Besonderheiten bildet. Alle âhneln einander, aber niemand sprüngliches, reines Kollektiv und suggerieren, es böte mehr
gleicht einem oder einer anderen - das ist die >merkwürdige< Schutz oder größere Stabilität. Sie behaupten, eine plurale
und bezaubernde Bedingung und Möglichkeit von Pluralität. Gesellschaft gefåhrde den Zusammenhalt und unterwandere
Jede Normierung, die zu einer Bereinigung der Singularität eine von ihnen geschätzte Tiadition. Dem sei zum einen ent-
der einzelnen Menschen führt, widerspricht einem solchen gegnet: Auch die Idee des säkularen Staates gehört zur Thadi-
Begriffvon Pluralität. tion. Nämlich zur Tiadition der Aufklárung. Und auch eine
Tladition ist gemacht. Zum anderen: Die Doktrin einer rei-
Bei Jean-Luc Nancy heißt es: oDas Singuläre ist von vornherein nen, homogenen Nation garantieft keineswegs Stabilität, weil
jeder Einzelne, folglich jeder mit und unter allen anderen.o5 sie zunächst einmal aussortiert, was als angeblich ,fremdu
Das Singuläre ist demnach nicht das egoistisch Einzelne. Und odepfeindlichu oder ounechtn deklariert wird. Gerade der
das Plurale ist nicht bloß ,Addition oder Nebeneinander der essentialisdsch aufgeladene Begriff von Gemeinschaft bietet
>Ich.<. Individualität ist nur im Mit- und Füreinander erkenn- keinen Schutz. Nur eine liberale Gesellschaft, die sich als oÊ
bar und realisierbar. Allein ist niemand einzigartig, sondern fene und plurale versteht, die keine Vorgaben hinsichtlich reli-

192 193
3. LOB DES UNREINEN 3. LOB DES UNREINEN

giöser oder atheistischer Lebensenrwürfe macht, schützt auch nicht. Sie machen mir auch keine Angst. Im Gegenteil: Mich
die individuell abweichenden Überzeugungen oder Körper, beghicken die verschiedensten Rituale oder Feste, Praktiken
die devianten Vorstellungen und Praktiken vom guten Leben, und Gewohnheiten. Ob Menschen sich in Spielmannszügen
von Liebe oder vom Glück. Das ist nicht einfach ein ratio- oder bei den o'W'agner-Festspielenn in Bayreuth, ob sie sich im
nales oder normatives Argument, wie gern unterstellt wird. Stadion von FC Union Berlin oder bei >Pønsy Presents... < im
Sondern das Plädoyer für das Unreine adressiert die affektiven oSüdblocku in líreuzberg vergnügen, ob sie an die unbefleckte
Bedürfnisse von Menschen als verletzbare und auch verunsi, EmpFángnis glauben oder an die Teilung des Roten Meers, ob
cherbare \Øesen. Die kulturelle Vielfah einer modernen Ge- sie Kippa tragen oder eine Lederhose oder Drøg - die gelebte
sellschaft anzuerkennen bedeutet ja nicht, dass die einzelnen und respektierte Vielfalt der Anderen schützt nicht nur deren
Lebensentwürfe, die einzelnen Tladitionen oder religiösen Individualitär, sondern auch meine eigene. Insofern ist das
Üb.r"e.,gnngen darin keinen Platz hätten. Eine globalisierte Plädoyer für das Unreine nicht einfach eine ,vernünftigeo,
\Øirklichkeit anzuerkennen bedeutet ja nicht, respektlos ge- rationalisdsche Doktrin frir die plurale Verfasstheit einer säku-
genüber den jeweiligen Vorstellungen vom guten Leben zu auch wenn oft so argumentiert wird. Mir
laren Gesellschaft -
sein. scheint es vielmehr zentral.zu sein, auch die affektiven Vorzüge
zu betonen: Die kulturelle oder religiöse oder sexuelle Viel-
Mich persönlich berahigt kulturelle oder religiöse oder se- falt bedeutet nicht per se einen Verlust an Zugehörigkeitsge-
xuelle Verschiedenheit in einem säkularen Rechtsstaat. So- fühl oder emotionaler Stabilitát, sondern im Gegenteil einen
lange ich diese Verschiedenheit im öffentlichen Raum sehe, Gewinn. Die soziale Bindungskraft einer offenen, liberalen
so lange weiß ich auch die Freiheitsräume gewahrt, in denen Gesellschaft ist nicht geringer als die in einer geschlossenen,
ich als Individuum mit all meinen Eigenheiten, meinen Sehn- monokulturellen Provinz. Die affektive Bindung bezieht sich
süchten, meinen möglicherweise abweichenden überzeugun- exakt darauf: in einer Gesellschaft zu leben, die meine indi-
gen oder Praktiken geschützt werde. Ich fühle mich weniger viduellen Eigenheiten verteidigt und beschützt, selbst wenn
verletzbar, wenn ich spüre, dass die Gesellschaft, in der ich sie nicht mehrheitsfähig, selbst wenn sie altmodisch, neumo-
lebe, verschiedene Lebensenrwürfe, verschiedene religiöse disch, merlcwürdig oder geschmacklos sind. Eine Gesellschaft,
oder politische Überzeugungen zulässt und aushált. In diesem die sich als ausdrücklich offene und inklusive definiert und
Sinne beruhigen mich auch jene Lebens- oder Ausdrucksfor- sich beständig selbstkritisch befragt, ob sie das wirklich in
men, die mir persönlich eher fernstehen. Sie irritieren mich ausreichendem Maße ist, eine solche Gesellschaft erzeugt das

194 195
3. LOB DES UNREINEN 3. LOB DES UNRÊINEN

Vertrauen, nicht willkürlich ausgegrenzt oder angegriffen zu nicht nur für jene, die Schweinefleisch essen, sondern für
werden. alle -, dann müssen wir eine Sprache und Praktiken und Bil-
der finden für diese Pluralität. Nicht nur für die, die immer
Wirþl¡ch im Plural zu existieren bedrutet wechselseítigen Regekt schon sichtbar und erwünscht rilaren, sondern auch für die
uor der Indiuidualitàt und Einzigartigheit aller.Ich muss nicht anderen, über deren Erfahrungen oder Perspektiven gern ge-
genauso leben oder glauben wollen wie alle anderen. Ich muss schwiegen wird.
die Praktiken und Überzeugungen anderer nicht teilen. Sie
müssen mir weder sympathisch noch verständlich sein. Auch Kommt es in einer solchen pluralen Gesellschaft zu Konflik-
darin besteht die enorme Freiheit einer wirklich offenen, libe- ten? Ja, selbswerständlich. \7ird es unterschiedliche kultu-
ralen Gesellschaft: sich nicht wechselseitig mögen zu müssen, relle oder religiöse Sensibilitäten geben? Ja, natürlich. Aber
aber lassen zu können. Dazu gehören ausdrücklich auch jene für diese Konflikte zwischen religiösen Anforderungen und
religiösen Vorstellungen, die manchem vielleicht irrational den Kompromissen, die eine säkulare, plurale Gesellschaft
oder unverständlich erscheinen. Zu den subjektiven Frei- wiederum von den Gläubigen verlangt, lassen sich keine
heiten gehören ausdrücklich auch fromme Lebensenrwürfe, allgemeingültigen Formeln finden. Vielmehr muss jeder
die von der Mehrheit in einer offenen Gesellschaft vielleicht einzelne Konflikt um jede einzelne Praxis konkret betrach-
ebenso abweichen wie weniger traditionelle oder atheistische. rer werden, um abzuwägen: '$ü'arum ist dieses Ritual, diese
Ein säkulares Staatsverständnis bedeutet keineswegs verordne- Praxis bedeutsamfür eine Religion? \Tessen Rechte werden
tenAtheismus für alle Bürgerinnen und Bürger. Entscheidend damit möglicherweise verletzt oder geleugnet? \Øird Gewalt
ist nur: Je weniger essentialistisch, je weniger homogen, je we- gegen eine Person ausgeübt? Mit welchem Recht kann eine
niger >rein< die Gesellschaft sich versrehr, desto geringer der solche Praxis verboten werden? Es ist eine philosophisch wie
Zwang, sich identitär verklumpen zu sollen. rechtlich hoch anspruchsvolle Debatte, mit welchen Grün-
den religiöse Praktiken sich in einer säkularen Gesellschaft
Es ist in Vergessenheit geraten: Das Vokabular einer inklu- öffentlich behaupten können und mit welchen Gründen sie
siven, offenen Gesellschaft ist zunehmend ausgehöhlt oder eingeschränkt oder untersagt werden können. Die Frage der
verdrängt worden.'W'ir müssen wieder ausbuchstabieren, was Grenzen der Religionsfreiheit, das Verhältnis von Säkularis-
'W'enn
das heißen kann und soll: im Plaral zu existieren wir mus zu Demokratie verlangt noch eindringliche öffentliche
wollen, dass das Miteinander einen Sinn ergibt - und zwar Debatten. Ja, das ist mühsam, und es wird zu rechtlichen

196 t97
3. LOB DES UNREINEN 3. LOB DES UNREINEN

Verboten von bestimmten Praktiken oder futualen kommen, Verfahren bereit, in dem nicht nur beschlossen und gewählt,
die mit dem Grundgesetz unvereinbar sind (wie etwa Zãangs- sondern auch gemeinsam erörtert und abgewogen wird. Sie ist
verheiratung von Minderjährigen). Aber diese Prozesse des eine Ordnung, in der immer wieder nachjustiert werden muss
Aushandelns gehören zum Kern einer demokratischen Kul- und kann, was nicht gerecht genug oder nicht inklusiv ge-

tur. Sie gefiáhrden die Demokratie nicht, sie bestätigen sie als nug war. Dazu braucht es auch eine Fehlerkultur, eine öffent-
erfahrungsoffene¡ deliberativer Lernprozess. Das serzr vor- liche Diskussionskultur, die nicht allein durch wechselseitige
aus, dass jede und jeder einzelne Gläubige sich sowohl sei- Verachtung, sondern auch durch wechselseitige Neugierde
nem Glauben gegenüber verpflichtet fiihlt, aber eben auch der geprägt ist. Irrtümer im eigenen Denken und Handeln zu er-
säkularen, pluralen Gesellschaft gegenüber. Das setzt voraus, kennen ist für die politischen Akteure so elementar wie für
dass jede und jeder einzelne Gläubige auch zu unterscheiden die medialen oder zivilgesellschaftlichen. Sie sich gegenseitig
lernt zwischen partikularen'S7'erren, die nicht verallgemei- auch einmal zu verzeihen - auch das gehört zur moralischen
nerbar sind, und jenen grundgesetzlichen Normen, die für Textur einer lebendigen Demokratie. Gerade die strukturellen
alle gelten, ganz gleich welchen Glaubens oder welcher über- Bedingungen wie sozialen Gewohnheiten der Kommunika-
zeugungen. Dazu gehört auch, dass die säkulare Gesellschaft tion in den sozialen Netzwerken verhindern leider zuneh-
prüft, wie säkular sie tatsächlich ist. Und ob manche Institu- mend eine solche Diskussions-Kultur, in der es auch möglich
tionen wie Gesetze nicht bestimmte Gläubige oder Kir- ist, Fehler einzugestehen oder sich zu verzeihen.
chen eigentümlich bevorzugen. Um diese praktischen wie
rechtsphilosophischen Konflikte auszuhalten und ihre An- In ihrer Frankfurter Poetik-Vorlesung schrieb die Dichterin
wendungen zu verhandeln, braucht es nur ein gewisses Maß Ingeborg Bachmann einmal vom Denken, ,,das zuerst noch
an Vertrauen in die Prozesse einer Demokratie. nicht um Richtung besorgt ist, einem Denken, das Erkennt-
nis will und mit der Sprache und durch die Sprache etwas
Eine demolratische Gesellschaft ist eine dynamische, lernfä- erreichen will. Nennen wir es vorläufig: Realität.o6 Das gilt
hige Ordnung, und das setzt auch die individuelle wie kollek- auch für eine demokratische Öffentlichkeit und Kultur, in der
tive Bereitschaft voraus, individuelle oder kollektive Irrtümer nicht immer schon die fuchtung vorgegeben oder bekannt
einzugestehen, historische Ungerechtigkeiten zu korrigieren ist, sondern in der auch offen und selbstkritisch gedacht und
und sich gegenseitig zu verzeihen. Eine Demokratie ist nicht debattiert w€rden kann und muss. Je polarisierter und ent-
einfach eine Diktatur der Mehrheir, sondern sie stellt ein grenzrer die öffentliche Debatte ist, umso schwerer Êållt es,

198 199
3. LOB DES UNREINEN 3. LOB DES UNREINEN

dieses Denken, das noch nicht um Richtung bemüht isr, zu und moralisch zu dieser Geschichte zu verhalten, sie auch
\Magen. Aber genau diese Suche nach Erkenntnis brauËht es. als ihre zu begreifen - ohne die individuelle oder familiäre
Genau die Suche nach den Tätsachen, nach jenen Beschrei- Verwobenheit mit Schuld und Scham. Auch zu ihnen gehört
bungen der \Øirklichkeit, die nicht vorgefiltert sind durch diese Geschichte, weil sie hier leben und Staatsbürgerinnen
ideologische Ressentiments. Dabei kann und darf jede und und Staatsbürger sind. Sich auszunehmen von dem Nachden-
jeder mitmachen. Es gibt keine spezifische Expertise ftir die ken über die Shoah hieße implizit, sich selbst auszuschließen
Demolçratie. Der Philosoph Martin Saar schreibt: oDenn die aus der politischen Erzählung und dem Selbswerständnis die-
politische Freiheit und das demokratische Begehren der Frei- ser Demokratie.
heit kennt jeder, selbst der, dem sie vorenthalten wird.nT
,Es gibt kein Erinnern und keine Beziehung zur Geschichte,
die nicht durch einen \Øunsch, also durch etwas in die Zu-
'W'eisendes
kunft angeregt würde<, sagte der französische
Es wird sicherlich auch schwer werden, unterschiedliche his- Kunsthistoriker und Philosoph Georges DidiHuberman in
torische und politische Erfahrungen und Erinnerungen der einem Gespräch mit der Zeitschrift Lettre.s Dieser doppelten
Menschen aus verschiedenen Herkunftsländern zu vereinen. Richtung der Erinnerung, in die Vergangenheit und in die
Das lässt sich als potentielle Quelle von Konfikten nicht Zukunft zugleich, gilt es, sich gewahr zu sein. Nur jene Erin-
ignorieren. Es wird entscheidend sein, bestimmte moralische nerung, die dem furchtbaren Erbe der Geschichte auch eine
und politische Konstanten, wie das mahnende Gedenken an vorwärtsgewandte Aufgabe entnimmt, kann wirken und le-
die Verbrechen des Nationalsozialismus, wieder neu zu er- bendig bleiben. Nur eine Erinnerungskultur, die immer wie-
läutern und zu begründen. Sie müssen und können auch für der neu die Hoffnung artikuliert, eine inklusive Gesellschaft
diejenigen gelten, die mit der Shoah keine eigene familiäre zu schafFen, eine, die nicht zulässt, dass Einzelne oder ganze
Geschichte verbinden. Auch Migranrinnen und Migranten Gruppen als ,fremdn oder ounreinn ausgesondert werden,
müssen sich mit dieser historischen Referenz, dem Schrecken kann lebendig bleiben. Nur das Erinnern, das auch in der
der Geschichte dieses Landes befassen. Das heißt: Das Geden- Gegenwart aufmerl.sam bleibt für die Mechanismen von Aus-
ken kann nicht einfach nur verordnet, sondern es muss auch grenzung und Gewalt, kann vermeiden, dass es irgendwann
erläutert werden, warum es für alle relevant sein kann und bedeutungslos wird.
muss. Sie müssen die Möglichkeit bekommen, sich politisch

200 201
3. LOB DES UNREINEN 3. LOB DES UNREINEN

'Was aber, wenn die hisrorische Erfahrung, an


die erinnerr Schmerz und welches Tlauma, das ist weniger bekannt, als
wird, und die Gegenwart, in der ihr eine gesellschãhliche hierzulande vorausgesetzt wird. Das wird zu Irritationen firh-
und politische Auþbe zukommen soll, immer weiter aus- ren. Und es wird nötig sein zu erläutern, welche Verbrechen
einanderrücken?'Was, wenn die Zeuginnen und Zeugen, die hier geschehen sind und wie sie auch den Nachgeborenen als
sich persönlich erinnern, und die Nachgeborenen oder Ver- Erbe und Aufgabe bleiben. Für das Erinnern an Auschwitz
schonten, denen sie etwas erzählen können, sich immer weiter gibt es keine Halbwertszeit. Es wird deswegen nötig sein, mit
voneinander entfernen? Nicht nur im Alter, sondern auch in moderneren didaktischen Methoden diese Geschichte als et-
dem, was ihnen vertraut ist, was sie als Eigenes erleben und was zu erzählen, das sich mit neugieriger Einfühlung selbst
verstehen?-W'ie lässt sich das Gedenken an die Verbrechen des aneignen lässt. Die vielen wunderbaren Beispiele aus den
Nationalsozialismus auch in Zukunft wachhalten, ohne es auf Programmen von Museen und Kultureinrichtungen zeigen
etwas Statisches zu reduzieren? Diese Fragen bedrängen vor Iängst, dass es möglich ist, auch Jüngere anzusdft€n, sich so
allem Jüdinnen und Juden - aber sie gehen alle in dieser Ge- lreativ wie ernsthaft mit der Geschichte des Nationalsozia-
sellschaft etwas an. Diese Fragen drängen sich nicht erst auf, lismus auseinanderzusetzen. Diese Arbeit wird noch stärker
seitmit den syrischen Geflüchteten eine bewusstere Refexion gefördert werden müssen als bislang, um Formate speziell fi'rr
auf die moralische Grammatik einer Einwanderungsgesell- jene zu entwickeln, die mit anderen kulturellen und histori-
schaft stattfindet. Sie stellen sich auch durch die revanchis- schen Referenzen auf die Geschichte blicken.
tischen Parolen rechtspopulistischer Bewegungen und durch
die tädichen Angriffe auf Jüdinnen und Juden in der Öffent- Das setzt vorâus, sich nicht allein der besonderen Tiefe der
lichkeit. Es braucht keineswegs einen Generalverdacht des Schuld der Vergangenheit bewusst zu bleiben, sondern auch
Antisemitismus gegenüber Syrern oder Sachsen, um sich zu wachsam in der Gegenwart zuzuhören, von welchen Verlet-
fragen, wie eine Erinnerungskultur jenen vermittelt werden zungen die Gefltichteten berichten und welche Erinnerun-
kann, die nicht mit ihr aufgewachsen sind oder die sie nur als gen ihre Erzählungen bergen. Es wird nicht gelingen, \ryenn
verordnet empfinden. niemand dem anderen zuhört. Es wird nicht gelingen, wenn
nicht auch Geflüchtete von ihren Erinnerungen, ihren Ängs-
Natürlich kommen mit den syrischen Geflüchteten auch an- ten sprechen dtirfen. Zuzuhören heißt ja nicht: allem zuzu-
dere Erfahrungen und andere Perspektiven aufden Staat Israel srimmen, was da zu hören ist. Es bedeutet lediglich, verstehen
\üØas
zu uns. die Geschichte des Holocaust bedeutet, welchen zu wollen, woher der oder die andere kommt und welcher

202 203
3. LOB DES UNREINEN 3. LOB DES UNREINEN

Blickwinkel eine andere Perspektive erzeugt. \Øer wir als Ge- klarieren. Sondern dazu gehört auch nachzuvollziehen, was es
sellschaft sein wollen, wird sich auch darin zeigen, åb und tatsächlich heißt, eine Einwanderungsgesellschaft zu sein. Die
wie eine solche zeitoffene, vielstimmige Erzählung gelingt. Zeiten, in denen Migrantinnen und Migranten und ihre Kin-
Und wer wir als Gesellschaft sein wollen, wird sich auch der und Enkel nur Objekte des öffentlichen Diskurses sein
darin zeigen, ob es gelingt, jede noch so offene, vielstimmige dürfen, sind endgültig vorbei. Es wird Zeit zu verstehen, dass

Erzählung auf menschenrechtliche und säkulare Konstanren Migrantinnen und Migranten, Geflüchtete, die hierherge-
festzulegen.e kommen sind, auch Subjekte der öffentlichen Diskurse sind.
Das verlangt eine Pluralisierung der Perspeþtiaen, eine kritische
Diese Aufgabe ist allerdings nicht neu. Sondern die Refle- Befragung der Raster der'W'ahrnehmung und des Kanons des
xion auf die Erfahrungen historischer Schuld und das Nach- \Øissens, der kulturelle Praktiken und Überzeugungen tra-
denken über das Leid und die Perspektive derer, die extreme diert. Im Plural zu existieren wird auch heißen, jenes \Øissen
Entrechtung und Misshandlungen, die Iftieg und Gewalt an- ernst zu nehmen, das als wenigerwerwoll gilt, nurweil es hin-
derswo erfahren haben, stellt sich in einer Einwanderungsge- zugekommen ist. In der schulischen Bildung ist dieses \Øissen,
sellschaft immer wieder. Zur deutschen Erinnerung gehören sind diese Perspektiven bislang unterrepräsentiert. Die Litera-
längst die Erfahrungen und Perspektiven der verschiedenen tur, Kunst- und Kulturgeschichte nicht nur der europäischen,
Menschen und Gruppen aus dem ehemaligen Jugoslawien, sondern auch der außereuropäischen Gesellschaften wird in
10
zur deutschen Erinnerung gehören längst die Erfahrungen den Bildungseinrichtungen erstaunlich vernachldssigt. Die-
und Perspektiven der verschiedenen Menschen und Gruppen ser enge schulische Kanon ist den Anforderungen einer glo-
-W'elt
aus der Túrkei, aus den Kurdengebieten, aus Armenien und balisierten und der Lebenswirklichkeit einer Einwande-
vielen anderen Regionen mehl Zur deurschen Erinnerung rungsgesellschaft nicht ausreichend nachgekommen. Es gibt
gehören längst auch die post-kolonialen Erfahrungen und vereinzelte Brechungen dieser eingeschränkten Sicht. Es gibt
Perspektiven schwarzer Deutscher. Im Plural zu existieren immer wieder Schulen und Lehrerinnen und Lehrer, die sich
heißt auch, diese unterschiedlichen Erinnerungen und Er- auch Stoffe und andere Autorinnen oder Autoren vorneh-
fahrungen erst einmal anzuerkennen und auszuhalten, dass men - aber noch nicht genug. Es geht nicht darum, Büchner
sie artikuliert und öffentlich verhandelt werden. Im Plural zu und \Wieland abzuschaffen, aber eben doch auch mal Orhan
existieren, das bedeutet nicht nur, sich nach Jahrzehnten der Pamuk oder Dany Laferrière oder Tþrézia Mora oder Slavenka
Migration zögerlich als rEinwanderungsgesellschaftn zu de- Drakulió zu lesen. Diese Texte sind nicht allein für die Kin-

204 205
3. LOB DES UNREINEN 3. LOB DES UNREINEN

der aus migrantischen Familien elemenrar, die vielleicht die In seinen Vorlesungen aus dem Jahr 1983, die in Die Regie'
Erfahrungsräume ihrer Eltern und Großeltern darin èrken- rung des Selbst und der ønd.eren erschienen sind, entwickelt
nen können und sie aufgewertet sehen. Das ist auch wichtig. der französische Philosoph Michel Foucault anhand des grie-
'Wahrsprechen.rl
Aber sie sind vor allem für die anderen Kinder relevant: weil chischen Begriffs parrhesiø die Idee vom
sie lernen, über das Naheliegende, das Bekannte hinaus eine Dabei bedeutet Pønhesia zunächst einmal nur Redefreiheit.
neue \Øelt zu imaginieren und zu enrdecken. Es ist auch eine Aber für Foucault bezeichnet Parrhesiø jenes \Wahrsprechen,
Übung in Perspektivenwechsel und Einfühlung. das mächtige Meinungen oder Positionen kritisiert. Dabei
geht es Foucault nicht allein um den Inhalt des Gesagten,
'S7'ahrheit
Die Pluralisierung der Perspektiven sollte sich auch noch also die Tâtsache, dass jemand die sagt, sondern
weiter in den Behörden und staatlichen Institutionen (bei charakteristisch für die Parrhesia ist die Art und Weise, wie
der Polizei, auf den Bürgerämtern, in den Justizapparaten) die Dinge gesagt werden. Das Foucaulttche \Øahrsprechen ist
vollziehen. Da gibt es teilweise bereits ein spürbares Bemü- voraussetzungsvoll. Es reicht nicht aus, einfach nur die'W'ahr-
hen um mehr Diversität. Das ist gut. Die sichtbare Vielfalt heit zu benennen, sondern die Parrhesiaverlangt auch, sie tat-
in den Institutionen und Unternehmen ist ja nicht einfach sächlich zu meinen.Ich sage nicht nur etwas \Øahres, sondern
politische Kosmetik, sondern sie eröffnet auch jüngeren Men- ich glaube auch, dass es wahr ist. Die Parrhesia kann nicht in
schen ganz andere reale Phantasien, was sie einmal werden manipulativer, täuschender Absicht gesprochen werden. Sie

könnten. Die sichtbare Vielfalt pluralisiert auch die Vorbilder ist als Aussage nicht nur wahr, sondern immer auch wahrhaÊ
und Rollenmuste! an denen sich andere orientieren können. tig. Damit unterscheidet sie sich von jener Form unwahrhaf-
In den Behörden und staatlichen Institutionen zeigt sich das tiger Bekenntnisse, die gegenwärtig oft von nationalistischen
Selbswerständnis einer Gesellschaft: Hier signalisierr sie, wer Bewegungen und rechtspopulistischen Parteien zu hören
den Staat repräsentieren darf und kann - und wer uneinge- sind: Die sagen, sie hätten nichts gegen Muslime, aber ... Die
schränkt dazugehört. Je vielfåltiger die Mitarbeiter und Mit- sagen, sie wollten das Asylrecht nicht antasten, aber ... Die
arbeiterinnen der Behörden, desro glaubwtirdiger ist auch das sagen, sie lehnten Hass und Gewalt ab, aber man müsse doch
demokratische Versprechen aufAnerkennung und Gleichheit. mal sagen dlirfen ... Das hat nichts mit tWahrsprechen zu
tun.
*

206 207
3, LOB DES UNREINEN 3. LOB DES UNREiNEN

'Sl'ahrsprechen
Außerdem bedarf es für das einer bestimmten Raster der \Wahrnehmung und die Blick-Regime, die jene un-
Konstellation der Macht. Der oder die \Tahrsprech.ird. i.r sichtbar machen, die in sozial prekären Verhälmissen leben
jemand, der oder die das ,\Øort ergreift und dem Tyrannen müssen: jene, die nicht wegen ihrer religiösen oder kulturel-
-Vahrspre-
die \Øahrheit sagt(, heißt es bei Foucault. Mit dem len Überzeugungen ausgeschlossen werden, sondern schlicht,
chen ist also immer ein Sprechen verbunden, zu dem einem weil sie arm oder arbeitslos siid. Sie werden missachtet in
das Recht oder der Status fehlt, es ist ein Sprechen, bei dem einer Gesellschaft, die sich immer noch über Arbeit definiert,
der oder die Sprechende etwas risþiert. Nun gibt es bei uns obgleich jeder weiß, dass Massenarbeitslosigkeit eine struk-
keine klassischen Tyrannen, aber das \Øahrsprechen braucht turelle Konstante darstellt. Auch in ihrem Namen und für
es dennoch. Eric Garners Satz h stops today, rDas muss heure ihre Sichtbarkeit braucht es das \Øahrsprechen gegenüber dem
aufhöreno, illustriert, wie ein solches \Wahrsprechen in der Täbu der sozialen Klasse. Es werden ja nicht nur bestimmte
Gegenwart klingen könnte. Es braucht den Mut, das \Øort Menschen als politisch oder sozial ,überflüssigo stigmatisiert.
zu ergreifen, für sich selbst oder für andere, denen das Recht Es wird die Kategorie der sozialen Klasse schlicht ignoriert, als
oder der Status dazuzugehören, abgesprochen wird. Die Parr- ob es sie nicht mehr gäbe. \Øáhrend viele als kategorial An-
hesia, die in der gegenwärtigen Öffentlichkeit verlangt ist, dere markiert und ausgegrenzt werden, wird bei armen oder
wendet sich gegen die machwollen Dispositive aus Gesagtem arbeitslosen Menschen gelegentlich so getan, als gäbe es sie
und Ungesagrem, gegen die Rasrer des Hasses, die Migran- gar nicht als Gruppe. Für diejenigen, die in prekären und ar-
tinnen und Migranten abwerten und denunzieren, gegen die men Verháltnissen leben, führt dieses Verleugnen der sozialen
Blick-Regime, die schwarze Menschen übersehen, als seien sie Ungleichheiten dazu, dass sie ihre Situation als vermeintlich
nicht Menschen aus Fleisch und Blut, gegen die permanenren individuell und selbswerschuldet empfinden.
Verdächtigungen gegen Muslime, gegen die Mechanismen
und Gewohnheiten, die Frauen benachteiligen, und gegen die Die israelische Soziologin Eva Illouz hat darauf hingewiesen,
Gesetze, die Schwulen und Lesben, Bisexuellen undTransper- dass das \Øahrsprechen nicht unbedingt nur eine Richtung
sonen die Möglichkeit nehmen, zu heiraten und Familien zu oder einen Adressaten kennt. Es gibt mitunter historische
gründen wie andere Menschen auch. Es richtet sich gegen all Situationen, in denen einem die Aufgabe zukommt, ver-
jeneTechniken derAusgrenzung und Missachtung, mir denen schiedenen Machtkonstellationen zugleich widersprechen
Jüdinnen und Juden wieder isoliert und stigmatisiert werden. zu müssen.12 Das bedeutet, dass das'W'ahrsprechen sich wo-
Das \Wahrsprechen der Gegenwart richtet sich auch gegen die möglich nicht nur gegen den Staat und seine ausgrenzenden

208 209
3. LOB DES UNREINEN 3. LOB DES UNREINEN

Diskurse richtet, nicht nur gegen machwolle Bewegungen Das setzt voraus: all die Verknüpfungen, all die Ketten an As-
und Parteien, sondern womöglich auch gegen das eiçne so- soziationen, die über Jahre und Jahrzehnte eingeübten begriÊ
ziale Umfeld, gegen die Familie, den Freundeskreis, die reli- lichen oder bildlichen Verk¡ümmungen und Stigmatisierun-
giöse Gemeinschaft, den politischen Kontext, in dem man gen unterbrechen. All die Muster der'Wahrnehmung, die
^t
sich bewegt - und in dem es möglicherweise auch mutigen Raster, in denen Individuen zu Kollektiven und die Kollektive
Einspruch gegen ausgrenzende Codes und selbstgeFållige Res- mit Eigenschaften und pejorativen Zuschreibungen verkop-
sentiments braucht. Das verlangt, sich nicht einfach in einer pelt werden, zu unterwandern. >Soziale Konflikte werden
realen oder eingebildeten Opfer-Position, in der Rolle einer entlang narrativer Feldlinien choreographiertn, schreibt Al-
marginalisierten Gemeinschaft einzurichten, sondern darauf brecht Koschorke in Wahrheit und Erf.ndung, und in die-
zu achten, ob sich innerhalb der eigenen Gruppe, individu- sem Sinne gilt es, mit dem eigenen Sprechen und Handeln die
ell oder kollektirr, auch ausgrenzende und stigmatisierende Choreographien zu durchkreuzen.r3 Die Raster des Hasses,
Dogmen oder Praktiken verdichten. Ob auch hier Raster der wie im ersten Teil dieses Essays beschrieben, werden geformt
'W'ahrnehmung
geformt werden, in die sich Hass und Miss- in Erzählungen, die die \Øirklichkeit besonders engführen. So
achtung ausschütten können. Auch hier, so Illouz, bedarf es werden einzelne Individuen oder ganze Gruppen nur noch
des universalistischen Einspruchs. mit Eigenschaften verbunden, die sie abwerten: Sie gelten
als ,fremdn, )anders(, ,fauln, ,animalischn, ,moralisch kor-
Die Foucault'sche Beschreibung der Parrhesia gibt einen Hin- ruptn, oundurchschaubarn, rilloyalo, npromiskn, runehrlichn,
weis daraue wie der \Widerstand gegen Hass und Fanatismus ,aggressivn, rkranku, >pervers<, ohyper-sexualisiert<, ofrigido,
sich artikulieren sollte: Diejenigen, denen die Subjektivität nungläubign, ugoftlosn, oehrlosn, osündig<, ransteckendn, ode-
genommen werden sollte, deren Haut, deren Körper, deren generiert<, >asozialn, ounpatriotischn, >unmännlichn, run-
Scham nicht respektiert wird, die nicht als Menschen, als weiblichn, )staatszersetzend(, )terror-verdächtigo, rkriminello,
Gleiche, sondern als oAsozialen, als ,unproduktiveso oder oun- ozickig<, rdreckign, oschlampign, rschwachu, uwillenlosn, owil-
wertes( Leben, diejenigen, die als ,Perversen, als ,IGiminellen, lign, nverführerischn, omanipulativo, rgeldgierig( u.s.w.
als nKranken, als ethnisch oder religiös >lJnreineo oder olJnna-

türliche< kategorisiert und damit entmenschlicht wurden, sie Auf diese 'Weise verdichten sich die permanent wiederhol-
alle gilt es wieder als Individuen einzubauen in ein uniuersales ten Assoziationsketten zu vermeintlichen Gewissheiten. Sie
Wir. lagern sich ein in mediale Repräsentationen, sie verfestigen

2t0 2tl
3. LOB DES UNREINEN 3. LOB DES UNREINEN

sich in fiktionalen Formaren, in Erzählungen oder Filmen, sie den, damit wieder einzelne Personen und ihre Handlungen
werden im Netz, aber auch in Institutionen wie der Schule erkennbar werden. Und die Losungsworte und Bezeichnun-
reproduziert, wenn Lehrerinnen oder Lehrer Empfehlungen gen, die ausgrenzen und eingrenzen, müssen unterwandert
abgeben sollen, wer auß Gymnasium darf und wer nicht. Sie und verwandelt werden.
verfestigen sich in intuitiven oder nicht ganz so intuitiven
Praktiken der Personen-Kontrollen und sie materialisieren Die Praxis des Resignifizierens, also der Aneignung und Um-
sich in den Auswahlprozessen für ausgeschriebene Stellen, bei deutung von stigmatisierenden Begriffen und Praktiken, hat
denen bestimmte Bewerberinnen und Bewerber seltener ein- eine lange Tiadition, in die sich zu reihen sicherlich auch als
-Widerstands
geladen werden. eine poetische Technik des gegen Hass und Miss-
achtung bezeichnet werden kann. Die afro-amerikanische
Mangelnde Vorstellungshrnrtitt ein mrichtiger Widrrsacher uon Bürgerrechtsbewegung, aber auch die Emanzipationsbewe-
Gerechtigkeit und Emanzipatizn - und das \Øahrsprechen, gung von Schwulen, Lesben, Bisexuellen, Tianspersonen und
das es braucht, ist eines, das die Vorstellungsräume wieder queeren Menschen ist voller Beispiele für solche ironischen,
erweitert. Soziale und politische Räume der Partizipation, performativen Resignifizierungs-Praktiken. In der Gegenwart
demokratische Spielräume beginnen auch mit dem Diskurs ist deoHate Poetry Slamo eines der beispielhaften Formate,
und den Bildern, in denen Menschen angesprochen und an- -Vahrsprechens
das eine k¡eative und heitere Variante des ge-
erkannt werden. Die Differenzierung, die dem fanatischen gen Hass und Missachtung vollfrihrt.ra Es gibt andere Mittel,
Dogma des Schlichten und Reinen entgegengesetzt werden die machwollen Zuschreibungen und Stigmatisierungen zu
muss, beginnt genau dort: den verschwörungstheoretischen durchkreuzen. Es gibt konkrete Maßnahmen-Kataloge, wie
Phantasien, den kollektiven Zuschreibungen, den groben gerade in den sozialen Medien stärker gegengesteuert \Mer-

Verallgemeinerungen der ideologischen Ressentiments wieder den kann, um den Echokammern des Hasses zu begegnen.
ein präzises Beobachten gegenüberzustellen. oGenaues Beob- Es braucht alle diese Instrumente: soziale und künstlerische
achten bedeutet zerteilen<, schreibt Herta Müller - und so Interventionen, öffentliche Debatten und Auseinandersetzun-
müssen die Raster der-W'ahrnehmung, die die \Øirklichkeit gen, politische Bildungs- und Schulungsmaßnahmen, aber
verengen, zerteilt und aufgelöst werden. Die falschen Verallge- auch Gesetze und Verordnungen.
meinerungen, in denen Individuen nur noch als Stellvertrerer
für eine ganze Gruppe verhaftet werden, müssen zerteilt wer- *

2t2 213
3. LOB DES UNREINEN 3. LOB DES UNREINEN

Foucault verweist auf einen weiteren Asp ekt der Parrhesia, des als eine Form des \Wahrsprechens gegen die Macht zu deu-
\Øahrsprechens: Es richtet sich nicht allein an ein mächtiges, ten. Aber die Hilfsbereitschaft unzähliger Bürgerinnen und
tyrannisches Gegenüber (und ,wirfr ihm die-Wahrheit an Bürger, junger und álterer Menschen, all jener Familien, die
den Kopf*), sondern es adressiert auch den oder die \Øahr- Geflüchtete bei sich aufgenommen haben, jener Polizistinnen
sprechende selbst. Das gefállt mir besonders gur. Als ob man und Feuerwehrleute, die in Sonderschichten gearbeitet, jener
wahrsprechend in sich hineinmurmeh, zu sich selbst spricht, Lehrerinnen und Erzieher, die sich ftir'Sí'illkommensklassen
mit sich selbst einen Pakt eingeht.'W'ahrsprechen gegen mäch- eingeteilt, jeder und jede, die mit Zeit oder Lebensmitteln
tiges Unrecht bedeutet immer auch eine Art Bund des'W'ahr- oder \Øohnraum geholfen haben, sie alle setzten sich auch
sprechenden mit sich selbst: Im Aussprechen der sozialen und über soziale Erwartungen und bürokratische Regeln hinweg.
politischen'Wahrheit fühle ich mich auch durch sie und an Sie haben dieAufgabe derVersorgungvon Geflüchteten nicht
sie gebunden. Nun liegt in diesem mutigen Akt des \Øahr- einfach an staatliche oder kommunale Stellen delegiert. Son-
sprechens, das hebt Foucault hervo¡ nicht allein eine Pflicht, dern sie haben vielmehr das vielfach existierende politische
sondern das'Sl'ahrsprechen bindet einen auch an die Freiheit, Vakuum durch das dissidente und großzügige Engagement
die sich im rVahrsprechen zeigt und vollzieht. Das rWahrspre- einer enorm heterogenen, sozialen Bewegung geftillt. Das war
chen gegen Unrecht als ein Akt der Freiheit ist ein Geschenk, und ist keineswegs immer einfach. Es kostete und kostet Zeit,
denn es eröffnet den \Øahrsprechenden ein Verhältnis zu sich aber auch liraft und Mut. Denn so wie jede Begegnung mit
selbst, das der entfremdenden \Øirkungsweise der Macht, ih- Geflüchteten immer das Potential birgt, etwas zu entdecken,
rer Mechanik der Exklusion und der Stigmatisierung, wider- das einen beglückt und bereichert, so birgt jede Begegnung
spricht. rü/ahrsprechen kann deswegen auch nie nur ein ein- immer auch das Potential, etwas zu entdecken, das man nicht
maliger Akt, eine einzelne Handlung sein, sondern ihr Pakt versteht, das einem widerstrebt, das einen verstört.
wirkt dauerhaft auf das sprechende Subjekt und verpflichtet
es. Für mich zählt dieses Engagement als eine Version des \Øahr-
sprechens, weil es unter zunehmendem Druck der Straße,
Vermutlich wissen das am ehesten all die zahllosen Helferin- mitunter großen Anfeindungen und Drohungen stattfindet.
nen und Helfer, die sich in der humanitären lGise frir Gefltich- Noch immer braucht es \Øachschutz vor Flüchtlingsunter-
tete engagiert haben. Es mag auf den ersten Blick eine überra- künften, noch immer werden freiwillige Helferinnen und
schende Lesart sein, dieses zivilgesellschaftliche Engagement Helfer beschimpft und bedroht. Es verlangt Mut, sich diesem

2t4 215
3. LOB DES UNREINEN 3. LOB DES UNREINEN

Hass entgegenzustellen und sich nicht beirren zu lassen in gegeben und normal erscheint: nicht nur Rechte auf Teil-
dem, was einem humanitär geboten oder menschlicË selbst- habe, sondern auch die Phøntasie des Glücþs.
verständlich erscheint. Jeder Anschlag, jeder Amoklauf eines
psychisch kranken oder fanatisch-mobilisierten Gefl üchteten Zu den dissidenten Strategien gegen Exklusion und Hass ge-
setzt dieses Engagement zusätzlichem Druck und zusätzlichen hört deswegen auch, Geschichten vom gelungenen, dissiden-
Einwänden von außen aus. Es brauchr ungeheure Geduld ten Leben und Lieben zu erz'àhlen, damit sich, jenseits all der
und auch Selbswertrauen, sich weiterhin um diejenigen zu Erzählungen vom Unglück und von der Missachtung, auch
kümmern, die Hilfe und Zuspruch brauchen und die für die die MöglichÞeit drs Glücþs als etwas festsetzt, das es für jeden
Tâten anderer nicht bestraft werden dürfen. und jede geben könnte, als eine Aussicht, auf die zu hoffen,
jede und jeder ein Anrecht hat: nicht nur diejenigen, die der
Zum zivilen \Tiderstand gegen den Hass gehört für mich herrschenden Norm entsprechen, nicht nur diejenigen, die
auch, sich die Ráume der Phantasie zurückzuerobern. Zu den weiß sind, die hören können, nicht nur diejenigen, die sich
dissidenten Strategien gegen Ressentiment und Missachtung in dem Körper, in dem sie geboren sind, zurechtfinden, nicht
gehören auch, und das mag, nach allem, was zuvor zu hören nur diejenigen, die so begehren wie es die \Øerbeplakate oder
war, überraschen, die Geschichten uom Glücþ. Angesichts all die Gesetze vorschreiben, nicht nur diejenigen, die sich frei
der unterschiedlichen Insrrumente und Strukturen der Macht, bewegen können, nicht nur diejenigen, die den >richtigen<
die Menschen marginalisieren und entrechren, geht es beim Glauben haben, die orichtigenn Papiere, den nrichtigenn Le-
'W'iderstand
gegen Hass und Missachtung auch darum, sich benslauf, das ,richtigeo Geschlecht. Sondern alle.
die verschiedenen Möglichkeiten des Glücklichwerdens und
des wirklich freien Lebens zurückzuerobern. Dem Tyrannen \Øahrsprechen heißt auch, mit der'Wahrheit, die ausgespro-
zu widersprechen bedeutet immer, den repressiv-produktiven chen wurde, einen Pakt einzugehen. Nicht nur zu glauben,
Zurichtungen der Macht zu widerstehen. Und das heißt auch: dass alle Menschen vielleicht nicht gleichartig, aber gleich-
die Rolle des Unterdrückten, Unfreien, Verzweifelten nicht wertig sind, sondern diese Gleichwertigkeit auch auszubuch-
zu akzeptieren. Stigmatisiert und ausgegrenzt zu werden heißt stabieren: sie wirklich einzuklagen, permanent, gegen den
ja nicht allein, in seinen Handlungsmöglichkeiten beschränkt Druck, gegen den Hass, damit sie nach und nach nicht nur
zu werden, sondern es raubt allzu oft schon die IGaft und den p o e tis c h imagini e r t, so ndr rn re a I u e rw ir þ li c h t wird.
Mut, für sich etwas fordern zu können, was allen anderen

216 217
3. LOB DES UNREINEN

,Macht ist immer ein Machtpotential und nicht erwas lJnver-


änderliches, Messbares, Verlässliches wie lGaft oder Stärkeu,
schreibt Hannah Arendt in Vitø Actiua, oMacht (...) besitzt Anmerkungen
eigentlich niemand, sie entsteht zwischen Menschen, wenn
sie zusammen handeln, und sie verschwindet, wenn sie sich
zerstreuen.nl5 Das wäre auch die zutreffendste und schönste
Beschreibung von einem \ü/ir in einer offenen, demokrati-
schen Gesellschaft: Dieses rX/ir ist immer ein Potential und
nicht etwas Unveränderliches, Messbares, Verlässliches. Das
'W'ir
definiert niemand allein. Es entsteht, wenn Menschen
zusammen handeln, und es verschwindet, wenn sie sich auf-
spalten. Gegen den Hass aufzubegehren, sich in einem'W'ir
zusammenzufinden, um miteinander zu sprechen und zu
handeln, das wäre eine mutige, konstruktive und zarte Form
der Macht.

218

Das könnte Ihnen auch gefallen