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Eine Welt?

Kulturelle Differenzen und ökumenische Identität1


Andreas Nehring

„Mission EineWelt“. So heißt seit Anfang des Jahres das neue Zentrum für Partnerschaft,
Entwicklung und Mission in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. Darin hat die
bayerische Kirche drei ehemals unabhängig fungierende Einrichtungen zusammengefasst, um
ihre kirchlich-missionarische Arbeit neu zu strukturieren.

Der neue Name klingt zeitgemäß. Die Binnenmajuskel im Namen deutet an, dass auch Mission
in der Postmoderne angekommen ist. Es soll mit dem neuen Namen wohl zweierlei zum
Ausdruck gebracht werden. Wir leben in einer Welt und nicht in drei Welten, wie die Rede von
der 1. und der 3. Welt suggerierte. Und zum anderen: Die Kirche hat Teil an einer Mission, die
der ganzen einen Welt gilt. Partnerschaft; Mission ist keine Einbahnstrasse; Frieden,
Gerechtigkeit, und Bewahrung der Schöpfung; Ökumenisches Lernen; Konvivenz und jüngst
wieder Koinonia, das sind nur einige der zentralen Begriffe, die ökumenische Konzeptionen
und Perspektiven in den letzten Jahren gespeist, und die auch dazu beigetragen haben, dass sich
ein Werk wie „Mission EineWelt“ ausbilden konnte.

1. EinheitsErfahrungen?

Die Erfahrung der einen Welt ist keine Erfahrung, die nur Christen vorbehalten wäre.
Globalisierungsprozesse haben die Einheit der Welt zu einem Erfahrungshorizont werden
lassen, dem heute jeder ausgesetzt ist. Globalkolorit ist zu einer zentralen Signatur unserer Welt
geworden. Weltgesellschaft bedeutet, das hat Ulrich Beck schon vor fast zehn jahren
hervorgehoben, dass das was Menschen scheidet, sei es politisch, kulturell oder auch religiös,
heute an einem Ort, in einer Gemeinschaft und sogar in einer Biographie präsent ist.2 Wir leben
in einer Welt und zugleich in vielen Welten. Und die christlichen Kirchen leben, wie der Rest
der Welt, in dieser erfahrenen Spannung von global und lokal, von universal und partikular,
von weltweit und regional/kontextuell. Diese Spannung ist vielfach beschrieben, untersucht und
theologisch reflektiert worden. Kontextualisierungs- und Inkulturationsentwürfe, aber auch die
Diskussion um pluralistische Religionstheologie leben von dieser Spannung ebenso wie die
Multikulturalismusdebatte und die ökumenische Suche nach der sichtbaren Einheit der Kirche.

1
In: Hans Krech/Udo Hahn (Hg.), Ökumenische Konzeptionen und Perspektiven, VELKD, Hannover 2007, 77-104.
2
Ulrich Beck, Vorwort, in: Ders. (Hg.), Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt a.M. 1998, 7.

1
Die Feststellung, dass wir in einer Welt leben, kann nur aus einer, die eigene lokale
Welterfahrung überschreitenden, Perspektive formuliert werden, sei es epistemologisch oder
normativ/ethisch. Während die Erfahrung für die Zivilgesellschaft relativ neu ist, dass religiöse,
kulturelle und politische Differenzen allgegenwärtig sind und die individuelle
Weltwahrnehmung heute in unseren Städten und zunehmend auch in den Dörfern prägen,
können die Kirchen auf eine relativ lange Geschichte interkultureller Begegnungen, Konflikte
und Partnerschaft zurückblicken. Allerdings kann die Betonung von Einheit heute wohl kaum
bedeuten, dass Partnerschaft, Konvivenz oder Koinonia schon tatsächlich verwirklicht wären.
Ganz im Gegenteil. Wir machen zunehmend die Erfahrung, dass die interkulturelle
Verständigung auf allen Ebenen schwieriger wird. Unsere ökumenischen
Verständigungsbemühungen bzw. die Frage, ob eine ökumenische Hermeneutik gefunden
werden kann, die die Vision von einer Welt näher rückt, erscheint heute, gerade auch angesichts
sich verändernder kultureller Konstellationen der Zivilgesellschaft, fragwürdiger denn je.
Schon vor mehr als 15 Jahren hat der Generalsekretär des ÖRK Konrad Raiser festgestellt, dass
weder ökumenische Hermeneutiken innerhalb von ‚Faith and Order’, die die Kontinuität der
apostolischen Tradition bewahren, bzw. wieder herstellen wollen, international greifen, noch
kontextuelle Hermeneutiken, die die Partikularität kontextgebundener christlicher Erfahrungen
in den Vordergrund stellen. Beide Verstehensmuster bieten keinem neuen Rahmen
ökumenischer Kommunikation, und führen nicht zu einer neuen Sprache, sondern enthalten
vielmehr die Gefahr in sich, Gemeinschaft zu blockieren oder gar zu zerbrechen.3
‚Faith and Order’ hat in den 70er Jahren in der Rückbesinnung auf die Vollversammlung in
Uppsala zwei Studienprojekte durchgeführt, die den Zusammenhang von kirchlich-
ökumenischen Einheitsfragen mit der Problematik einer weltweiten Gemeinschaft herausstellen
sollten. Das eine Studienprogramm wurde unter dem Titel: QEinheit der Kirche – Einheit der
Menschheitf durchgeführt und das andere lautete: QEinheit der Kirche und Erneuerung der
menschlichen Gemeinschaftf. Auch das Dialogprogramm aus dem Jahr 1979 ist von dieser
Perspektive geprägt. Die Gemeinschaft der Gemeinschaften, so die Dialogstudie QDialogue in
Communityf, bildet den Rahmen nicht nur interkonfessioneller sondern auch interreligiöser
Dialoge.
Nun ist aber die Formulierung fGemeinschaft der GemeinschaftenQ komplexer als das
einfache Beziehungspaar fEinheit der Kirche –Einheit der MenschheitQ Die Formulierung

3
Konrad Raiser, Jenseits von Tradition und Kontext. Überlegungen zum Problem einer ökumenischen
Hermeneutik, in: Ökumenische Rundschau, 40 Jg., Heft 4 Oktober 1991, 425-435.

2
von Chiang Mai argumentierte zum einen inklusivistisch schöpfungstheologisch, dass
Gemeinschaft von Gott gegründet sei und daher die Bildung von Gemeinschaften Gottes Willen
entspreche, zum anderen argumentiert sie kulturanthropologisch, dass Menschen in
Gemeinschaften und damit in kulturell und religiös komplexe Wertesysteme hineingeboren
werden, die sich in Prozessen von Abgrenzung und Grenzüberschreitung formiert haben.4
Damit hat die Erklärung von Chiang Mai angedeutet, dass der Dialog ebenso wie theologische
Reflexionen über interkulturelle und interreligiöse Dialoge eingebettet sein muss in
kulturwissenschaftliche Überlegungen zur Bedeutung von „Gemeinschaft der
Gemeinschaften“. Das ist aber bisher kaum geschehen. Die Ökumenische Bewegung, der
interreligiöse Dialog und interkulturelle Theologie leben von Begegnung von Kontakten von
Austausch. Eben diese Kommunikationsmodi müssen allerdings genauer betrachtet werden.
Die Literaturwissenschaftlerin Mary Louise Pratt5 hat von Räumen der Begegnung gesprochen,
die sie contact zones genannt hat. Durch diese Kontaktperspektive soll hervorgehoben werden,
wie Subjekte sich in der Beziehung zu und Begegnung mit anderen selbst konstituieren bzw.
konstituiert werden. „Contact Zones sind Räume, in denen Kulturen sich treffen, aufeinander
treffen, miteinander ringen, und Pratt hebt hervor, dass sich diese Beziehungsaufnahme oftmals
in asymmetrischen Machtrelationen vollzieht, z.B. zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten,
zwischen Missionaren und Einheimischen, in politischen und wirtschaftlichen Kontakten, in
Globalisierungsprozessen, in Migrationskontexten. Contact Zones sind also Zonen des
transkulturellen Verkehrs, des Aushandelns von Unterschieden, der Veränderung von Kulturen.
Unter verschiedenen Begriffen wurden diese Prozesse auch theologisch reflektiert.
Akkulturation, Inkulturation, Indigenisierung oder Einheimischwerdung des Christlichen
Glaubens sind missionstheologische Konzepte, die die Ökumene über viele Jahrzehnte bewegt
haben und noch bewegen. Aber auch die ökumenischen Kontaktzonen und „insbesondere die
Zonen des Dialogs „auf dem Weg zur Einheit der Kirche“ sind durchzogen von Kriterien und
Maßstäben, die dazu ermächtigt sind, zu definieren, zu entscheiden, auszuschließen und
einzuschließen.“6
Daher ist zu fragen, welche kulturellen Muster die interkonfessionellen Dialoge heute prägen.
Wie ist das Verhältnis von kulturellen Differenzen und kulturellen Identitäten zu denken? Wer
reguliert diese Verhältnisse? Wer bestimmt ihre Struktur? Allgemeine Fragen wie diese
bedürfen einer kritischen kulturwissenschaftlichen Behandlung. Nur so erschließen sich

4
Dialog in der Gemeinschaft. Offizielle Erklärung Teil 1, Thesen 1-5, in: Michael Mildenberger (Hg.), Denkpause
im Dialog, Frankfurt a. M. 1978, 49ff.
5
Mary Louise Pratt, Imperial Eyes: Travel Writing and Transculturation, London – New York 1992, 7.
6
Claudia Jahnel, Vernakulare Ökumene in transkultureller Einheit. Ökumenische Theologie nach dem Cultural
Turn, (Zur Veröffentlichung ZMR 2007).

3
Möglichkeiten der Klärung anderer, konkreter Fragen, wie die, was unsere Partnerkirchen unter
Ökumenischer Zusammenarbeit und Konvivenz verstehen oder wie in den Kirchen Asiens oder
Afrikas über Einheit der Christenheit gedacht wird. Welche Modelle von Zusammenleben gibt
es in Indien in der Tamil-Kirche? Warum entwirft die Lutherische Kirche in Tanzania eine ganz
andere missionarische Perspektive in ihrer Gesellschaft als wir das tun? Wie steht es mit
Entwicklungshilfe und kirchlicher Zusammenarbeit in der Mekane-Jesu Kirche?, Fragen, die
angesichts der weit diskutierten Thesen Ulrich Becks von der Weltrisikogesellschaft und der
von ihm konstatierten Unfähigkeit der westlichen Soziologie, angemessene Antworten zu
geben, durchaus zeitgemäß erscheinen.7

2. Interkulturalität und ÖkumenischerDialog


Interkulturalität hat in den letzten Jahren als Gegenstand hermeneutischer Forschung an
Bedeutung in den Kulturwissenschaften gewonnen, und wenn auch Interkonfessionalität und
Interkulturalität nicht gleichgesetzt werden können, so stellt doch die Frage der
Wahrnehmung von christlichen Lebensformen in anderen Ländern eher ein interkulturelles
denn ein interkonfessionelles Problem dar.
Das Konzept der Interkulturalitäten nimmt als grundlegendes Denkmodell kulturelle
Einheiten an, indem es von der Vorstellung ausgeht, dass andere Kulturen anders sind, und
dass die Differenzen und damit die Schwierigkeiten der Verstehbarkeit in dieser Andersheit
zu suchen sind. Daraus wird die Forderung abgeleitet, andere Kulturen nicht zu ignorieren
sondern in einen interkulturellen Dialog mit ihnen zu treten.
Dieser Dialog ist allerdings, darauf hat Wolfgang Welsch mehrfach hingewiesen,8 unter der
Voraussetzung der Eigenständigkeit und Abgeschlossenheit von Kulturen letztlich unmöglich.
Denn je mehr die andere Kultur anders ist, desto mehr wird das Verstehen bloß oberflächlich
sein können und Verstehen bedeutet letztlich Verstehen in meinen Kategorien. Wird man
dieser Tendenz gewahr, wie oftmals im interreligiösen oder auch im ökumenischen Dialog, so
kurbelt man weitere, tiefere, gesteigerte Verstehensbemühungen (Kolloquien, Dialogtreffen,
Forschungsprojekte, Weltreisen) an, die jedoch an demselben Widerspruch kranken.
Unser Missverständnis oder Unverständnis oder sogar Nicht-Verstehen in ökumenischen
Prozessen liegt also kaum daran, dass wir zu wenig von den Anderen wissen.
Kommunikationsstrategien und Informationsaustausch sind intensiv und werden ständig

7
Siehe Ulrich Beck, Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach einer verlorenen Sicherheit, Frankfurt a. M., 2007.
8
Wolfgang Welsch, dessen Überlegungen ich hier paraphrasierend wiedergebe, Siehe: Wolfgang Welsch, Auf
dem Weg zu transkulturellen Gesellschaften, in: Lars Allolio-Näcke, Britta Kalscheuer, Arne Manzeschke (Hg.),
Differenzen anders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz, Frankfurt a.M. 2005, 315-341.

4
ausgebaut. Und trotzdem tauchen immer wieder Verstehensbarrieren auf. Diese Barrieren, so
möchte ich argumentieren, lassen sich nicht an der essentiellen Andersartigkeit der anderen
Kulturen festmachen, sondern sie sind Ausdruck eines, in der europäischen Denktradition
entwickelten zentristischen, Kulturbegriffs. Mit der Behauptung vom Eigencharakter der
einzelnen Kulturen schafft man das Problem einer parallelen schwierigen Koexistenz der
Kulturräume und der strukturellen Kommunikationsunfähigkeit eben dieser Kulturen.
Die Begegnung mit „dem Anderen“ ist ein wesentliches Moment der Ökumene, sei es in
interkulturellen, interkonfessionellen oder interreligiösen Begegnungen. Die Wahrnehmung
des Anderen lässt sich aber nicht auf die unmittelbare Begegnung von Menschen aus zwei oder
mehreren kulturellen Räume reduzieren, sondern diese Wahrnehmung hat eine Geschichte, die
unserer jeweilige Begegnung mit Menschen aus anderen Kulturräumen beeinflusst und prägt.
Und diese Geschichte oder das kulturelle Gedächtnis, das sich in bestimmten
Repräsentationsmustern vom Anderen niederschlägt, beeinflusst auch unser theologisches
Urteilsvermögen in Bezug auf andere Formen des Christlichen. Es geht dabei nicht um positive
oder negative Einstellung gegenüber der anderen Kirche oder Kultur, sondern um die Macht
der Bilder, die wir in uns tragen und um die Diskursformationen, in denen wir uns bewegen.9
Für einen Dialog zwischen Christen aus Deutschland und Christen aus Kirchen anderer
Regionen ist es daher notwendig, die Formen zu klären in der der Andere und die Andere uns
erscheinen. Wir müssen ein Augenmerk legen auf die Bilder, in denen die andere Kirche und
ihre Theologie dargestellt wird, auf die Denkstile und Wahrnehmungsraster, die literarischen
Konventionen und Strategien der Darstellung. Das wird meistens in den theologischen
Überlegungen zum interkonfessionellen und interreligiösen Dialog vernachlässigt. Wo der
Dialog zwischen Christen aus zwei oder mehr kulturellen Räumen methodisch reflektiert wird,
bleibt der tatsächliche Vorgang meist unbestimmt, und der Begriff schwankt zwischen einem
Hinweis auf die kommunikativen Aspekte menschlicher Interaktion als Voraussetzung für
Verstehen und der Beschreibung eines Idealzustandes gegenseitiger Anerkennung als Ergebnis
des Verstehens (so z.B. in zahlreichen Verlautbarungen des ÖRK). Dialog ist in jedem Fall
nicht frei von normativen Akzenten. Dialog offenbart daher auch oft genug die in ihm
verborgenen Machtinteressen der Dialogpartner, die hinter den gesprochenen Worten zum
Vorschein kommen.
Ist nicht der Versuch, den Anderen zu verstehen bereits ein ethnozentrisches Unterfangen, das
dem Anderen in der Verkennung des Andersseins Gewalt antut? In der reflexiven Ethnologie,

9
Vgl. dazu neuerdings Nicolas Dobra, Identität und Alterität. Zur Auflösung von Fremderfahrungen in
Selbsterfahrungen, Berlin 2007.

5
die das eigene Tun kritisch hinterfragt, wurde diese Selbstrelativierung in den letzen zwei
Jahrzehnten ebenso vorgenommen, wie in postkolonialen und poststrukturalistischen
Kulturtheorien. Vergleichen von Kulturen, verstehen wollen wurde zunehmend als
Herrschaftsakt verstanden. Vergleich bedeutete Angleichen, Assimilieren, verfügbar machen.
Insbesondere die postkoloniale Kulturkritik10 und die Debatte um Orientalismus hat deutlich
werden lassen, dass Verstehensprozesse eben in der Regel nicht Kommunikation von
ebenbürtigen Partnern implizieren, wie es die Anleitung zu ökumenischem Nachdenken über
Hermeneutik „Ein Schatz in zerbrechlichen Gefäßen“ fordert,11 sondern dass die Prozesse
durchzogen sind von unterschiedlichsten Interessen.
In den meisten neueren theologischen Ansätzen zum Ökumenischen Dialog wird als Ziel des
Dialogs ein Konsens angestrebt, als seine Voraussetzung Gemeinschaft postuliert,12 oder wo
Zielbestimmungen für den Dialog gänzlich abgelehnt werden, erscheint der Prozess des Dialogs
als quasi religiöses Ereignis einer Kommunion mit Gott und Christen anderer Kirchen. Dagegen
betonen einige Dialogansätze die Differenz als notwendige Bedingung des Dialoges und die
Erfahrung mit der Akzeptanz des kulturell Anderen als Ausgang und Ziel des Dialogs.
In den Kulturwissenschaften wird die Frage Kultureller Differenz heute aus verschiedenen
Blickwinkeln diskutiert. Man spricht von einem Cultural Turn, der sich ein den letzten Jahren
vollzogen hat. Vielleicht kann solch ein Perspektivenwechsel einige Impulse geben, die
ökumenischen Beziehungen neu zu befragen, indem man ökumenische Dialoge mit
kulturwissenschaftlichen Ansätzen konfrontiert, die gegenwärtig um die Frage von Identität
und Differenz kreisen. Ich bin davon überzeugt, dass das ökumenische Gespräch immer wieder
Impulse aus einer ganz anderen Sicht auf die Fragen nach Einheit und Kontextualität braucht.

3. Nichttheologische Faktoren
Seit Beginn der ökumenischen Bewegung sind sogenannte nichttheologische Faktoren, die
kirchliche Einheit befördern oder verhindern, immer wieder diskutiert worden. Dass christliche
Identität sich nicht allein auf die konfessionell-theologischen Positionen gründet, darauf hat
Konferenz von QFaith and Orderf schon 1951 unter dem Thema „Non-Theological Factors
that may Hinder or Accelerate the Church’s Unity“ aufmerksam gemacht. Margot Käßmann

10
Vgl. dazu exemplarisch María Do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie. Eine kritische
Einführung, Bielefeld 2005; Sebastian Conrad und Shalini Randeria (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus.
Postkoloniale Perpektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. – New York 2002.
11
Dagmar Heller (Hg.), Ein Schatz in zerbrechlichen Gefäßen. Ein Anleitung zu ökumenischem Nachdenken über
Hermeneutik (Studiendokument von Glauben und Kirchenverfassung), Frankfurt a. M. 1999, 39.
12
So die offizielle Erklärung einer Konsultation zum interreligiösen Dialog in Chiang Mai 1977 „Dialogue in
Community“, siehe in: Mildenberger, Denkpause, 47ff.

6
hat diese ganze Debatte über nichttheologische Faktoren eingehend untersucht,13 ich will daraus
nur einen Aspekt hervorheben, der von C.H. Dodd aus Cambridge besonders betont wurde14
Die Einheit der Kirche sei am stärksten gefährdet durch die Angst, nicht nur die eigene
konfessionelle, sondern auch die kulturell-nationale Identität zu verlieren.
Das ist eine Befürchtung, die, so kann man beobachten, zunimmt, je weniger Gründe gegen
eine Einigung sprechen und je mehr die Einigung als tatsächliche Möglichkeit in den Blick
gerät. Ökumene, so hat es George Lindbeck einmal ausgedrückt, ist ein Opfer ihres eigenen
Erfolgs.15 Je deutlicher der Einheitsgedanke zum Ausdruck komme, umso desinteressierter sind
viele an wirklicher Einheit. Auf der Ebene der Gemeinden wurden weder die „Gemeinsame
Erklärung“ noch andere theologische Konsensdokumente wirklich wahrgenommen,
geschweige denn inhaltlich diskutiert. Für die große Mehrzahl der katholischen wie auch der
evangelischen Kirchenmitglieder ist das gegenwärtige freundliche Nebeneinander der beiden
Kirchen kein Stachel im Fleisch, sondern Normalität, die nicht weiter stört.16 Andererseits
kommen bei den Mitgliedskirchen des ÖRK im Rahmen von Einheitsdiskussionen und
Konsenserklärungen immer wieder die Befürchtungen, vor dem Verlust kultureller Identität zur
Sprache.
Drei Aspekte möchte ich nun versuchen aus gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen
Reflexionen für die ökumenische Diskussion fruchtbar zu machen.

• Wie ist Identität zu denken?


• Wie sind Universalismus und Partikularismus aufeinander zu beziehen?
• Gibt es so etwas wie eine gemeinsame menschliche Handlungsweise, die als
ökumenisches Modell dienen könnte?

Die Kulturanthropologie hat, wie bereits angedeutet, in den letzten 20 Jahren die Annahme von
kulturübergreifenden, universal gültigen anthropologischen Grundkonstanten und
Gemeinsamkeiten als Konstrukt der europäischen Denktradition entlarvt und hat stattdessen

13
Margot Käßmann, Die eucharistische Vision. Armut und Reichtum als Anfrage an die Einheit der Kirche in der
Diskussion des Ökumenischen Rates, München 1992, 38–51.
14
C.H. Dodd, Ein Brief über die uneingestandenen Motive bei ökumenischen Diskussionen, in: Die Bedeutung
sozialer und kultureller Faktoren für die Kirchenspaltung, mit Beiträgen von C.H. Dodd, G.R. Cragg, Jacques
Ellul, Kurt Dietrich Schmidt, einem Vorwort von Oliver Tomkins und dem Bericht einer ökumenischen
Studienkonferenz, veröffentlicht im Auftrage des Ausschusses für Glauben und Kirchenverfassung im
Ökumenischen Rat der Kirchen, n. d. [Genf 1951], 5–9.
15
George Lindbeck, Non-Theological Factors and Structures of Unity, in: Günther Gassmann und Peder
NÝrgaard-HÝjen (hg.), Einheit der Kirche: neue Entwicklungen und Perspektiven, Frankfurt a. M. 1988, 133-
145, hier137.
16
Urich Ruh, Realistische Ökumene, in: Herder Korrespondenz 60, 12/2006, 595-597.

7
kulturelle Differenzen, Fremdheit und Vielfalt in den Mittelpunkt des Interesses gerückt.
Kulturwissenschaftliche Studien richten ihre Aufmerksamkeit deutlich stärker auf
Diskontinuitäten, Brüche, Grenzen, Unterschiede und Randphänomene als auf die nun brüchig
gewordenen Ausdrücke kultureller Kohärenz, wie Tradition, Identität oder „Entwicklung“ (im
Sinne eines zielgerichteten Fortschreitens).17

4. Mapping Identities
Vor fast 30 Jahren im Dezember Heft 1979 in Religion an Society hat der indische Theologe
Christopher Duraisingh für ein neues Verständnis von Identität plädiert und die indischen
Christen als hyphenated Christians, als Bindestrich-Christen bezeichnet. Indische Christen
seien „Hyphenated Wholes“, sie seien Menschen im Prozess.

„We affirm, rather, that Indian-Christianity is an emergent process, a continuous confluence,


which comes to be what it is as the two traditions- their specific strands in particular time and
place – dynamically act and interact shaping the thought and praxis of Indian-Christian
communities.“18

Duraisingh hat sich als indischer Theologe gegen essentialistische Identitätskonzeptionen


gewehrt und hat, indem er indische Christen als „mehrfach determiniert“ bezeichnet, eine
theologische Debatte angestoßen, die bis heute in Indien virulent ist.19 Der ehemalige Direktor
der Dialogabteilung des ÖRK Stanley Samartha beschrieb 1988 provozierend eine Hindu-
Christliche Beerdigung, bei der Sansktittexte aus den Upanishaden ebenso verlesen wurden wir
biblische Texte. Und er fragt:

„Kann der gleiche Körper von zwei religiösen Gruppen, Hindus und Christen beansprucht
werden. Warum nicht? Stand [der Verstorbene] nicht mit beiden in Beziehung Hindus und
Christen, biologisch und spirituell?“20

Solche Fragen irritieren unsere Konzeptionen von religiöser Identität ebenso wie die
Beobachtung, dass in den Kirchen Indiens und auch, um nur einige andere herauszugreifen,
Tansanias, Indonesiens, Brasiliens, Kameruns, volksreligiöse Praktiken unter Christen gang
und gäbe sind. Unser Anspruch auf theologische Klarheit in Fragen der lutherischen Identität
stößt z. B. in Indien auf Widerstand, weil hinter ihm der Anspruch auf Exklusivität

17
Claudia Jahnel, Vernakulare Ökumene, 2007.
18
Christopher Duraisingh, Indian Hyphenated Christians and Theological Reflections. A New Expression of
Identity, in: Religion and Society, Vol. XXVI, No.4, December 1979, 95-101, hier 98 (kursiv im Original).
19
Ähnliches lässt sich auch in anderen Kontexten, z. B. bei afrikanischen Theologen beobachten.
20
Stanley Samartha, A Hindu-Christian Funeral, in: R.S. Sugirtharajah und Cecil Hargreaves (hg.), Readings in
Indian Christian Theology, Vol.1Delhi 1993, 158-162.161

8
Alleinherrschaft des Christlichen, den auch die moderne europäische Missionsbewegung
vehement vertreten hatte, vermutet wird.21 Dieser Anspruch verfolgte, wie der
Missionshistoriker Werner Ustorf scharf notiert, das Ziel

„alle unabhängigen und lokalen Formen des Lebens und der Religion zu zähmen und dadurch
die Kontrolle über die sozialen Formen zu übernehmen. Die Intention war, die Ambiguität und
Unklarheit (fuzziness) der Welt zu meistern, indem man eine universal gültige religiöse
Rationalität in Anschlag brachte.“22

Dieser Anspruch hat sich offensichtlich nicht so durchsetzen lassen, wie europäische
Missionsunternehmungen das angestrebt haben. „Rechtfertigung allein aus Glauben“, um nur
ein prominentes Beispiel solch universal gültiger religiöser Rationalität herauszunehmen,
bedarf nicht nur einer theologischen sonders auch einer kulturellen Interpretation, bzw. sie wird
in den jeweiligen Lebensvollzügen kulturell ausgelegt, ob wir das gutheißen oder nicht.
Mir scheint, dass die Frage der Identitätskonzeptionen ein zentrales Moment ist, an dem
Differenzen zwischen mitteleuropäisch-christlichem Selbstverständnis und dem asiatischer
oder afrikanischer Christen sichtbar werden.
Identität ist ein wichtiger Begriff gegenwärtiger kulturwissenschaftlicher Diskurse. Seit
mehreren Jahren wird Identität als Schlüsselkategorie diskutiert um Ähnlichkeiten von und
Differenzen zwischen Individuen und Gruppen zu repräsentieren. Die meisten modernen
Diskurse über Identität gehen dabei von einer Einheit aus, die andere, oberflächlicheren
Differenzen transzendiert und die als das Eigentliche der Identität angesehen wird.
Der britische Kulturwissenschaftler Stuart Hall hat herausgestellt, dass aus dieser Perspektive
kulturelle Identität verstanden wird:

„im Sinne einer gemeinsamen Kultur, eines kollektiven, einzig wahren Selbstes, das hinter
vielen anderen, oberflächlicheren oder künstlich auferlegten 'Selbsten' verborgen ist, und das
Menschen mit einer gemeinsamen Abstammung miteinander teilen.“23

Dieses Identitätskonzept basiert also auf dem klassischen Kulturkonzept, das sich spätestens
seit Herder in unserer Denktradition als dominant durchgesetzt hat. Der moderne
Kulturbegriff ist durch einen Anspruch kennzeichnet, alles was in einem bestimmten Bereich,

21
Werner Ustorf, Missionswissenschaft, in: Ders. und Dietrich Ritschl, Ökumenische Theologie-
Missionswissenschaft, Stuttgart 1994, 130.
22
Werner Ustorf, Protestantism and Missions, in: Alister McGrath and Darren C. Marks (hg.), The Blackwell
Companion to Protestantism. Oxford 2004, 397-398.
23
Stuart Hall, Kulturelle Identität und Diaspora, in: Ders., Rassismus und kulturelle Identität (Ausgewählte
Schriften 2), Hamburg 1994, 27; zur Frage nach „Identität“ in den „Cultural Studies“ siehe auch: Stuart Hall und
Paul du Gay (Hg.), Questions of Cultural Identity, London 1996.

9
also in einem Volk, oder Gesellschaft, Stamm oder Gruppe getan wird und gedacht wird zu
umfassen. Herders Konzeption von Kultur, die er 1784-91 in seinen berühmten Ideen zur
Philosophie der Geschichte der Menschheit formuliert hat, informiert bis heute auch
theologische Kulturkonzeptionen. Und vor allem informiert es das ökumenische Konzept von
„Einheit in versöhnter Verschiedenheit“.
Herders Kulturbegriff war zu seiner Zeit ausgesprochen fortschrittlich. Er wandte sich gegen
ein aufklärerisches Kultur- und Geschichtsverständnis, das die Entwicklung der ganzen
Menschheit unter einer einzigen Perspektive zu sehen beanspruchte - mit dem in Europa
entwickelten Vernunftbegriff als Maß. Herder vertrat dagegen ein Konzept von autonomen
Einzelkulturen und verwehrte sich gegen die Vorstellung einer gesamt-menschheitlichen
Homogenisierung. Alle Kulturen, auch diejenigen, die in weltgeschichtlichen Prozessen am
Rand stehen, haben nach Herder ihren kulturellen Eigenwert. Er kann daher zu Recht als einer
der frühesten Kritiker des Eurozentrismus gesehen werden.
Bezeichnend ist nun, dass gerade dieses Konzept von kultureller Identität in verschiedener
Weise nicht nur in Europa, sondern überall auf der Welt immer wieder bemüht wird. In den
unterschiedlichsten Bestrebungen, Identität zu rekonstituieren, spielt die Frage nach dem
Wesen des ‚Selbst-Seins’ eine zentrale Rolle; die Frage des ‚Afrikaner-Seins’, des ‚Bosnier-
Sein’, des ‚Inder-Seins’, des ‚Nation-Seins’, des ‚Schwarz-Seins’, des ‚Frau-Seins’, des
‚Hindu-Seins’, des ‚Muslim-Seins’, und auch des ‚Christ-Seins’.
Gerade postkoloniale Aufbrüche, nationale Bewegungen und ethnische
Selbstbestimmungsprozesse, die besonders auf die Wesensbestimmungen ethnischer,
rassischer, nationaler, religiöser und kultureller Identität rekurriert haben, und die eine
bedeutende Rolle im Unabhängigkeitskampf der Völker gespielt haben, haben aber auch die
Problematik und Brüchigkeit eines essentialistischen Identitätskonzeptes zu Tage treten
lassen.
Man ist heute mit Benedikt Anderson24 dazu übergegangen, kollektive Identitäten als
„imagined communities“ aufzufassen, und die Kulturkritik interessiert sich weniger für die
Fragen der ideologischen Beurteilung eines „falschen“ oder „richtigen“ Bewusstseins, das
diese Identitäten steuert, sondern für die Diskurse in denen kulturelle Werte produziert
werden.25
Identitäten, das wird zunehmend deutlich, vor allem auch durch den Aufbruch
gesellschaftlicher Gruppen, die zuvor keine Stimme hatten oder die zum Schweigen gebracht

24
Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts, Berlin 1998.
25
Dazu Aleida Assmann und Heidrun Friese (Hg.), Identitäten. Erinnerung, Geschichte, Identität 3, Frankfurt a.
M. 1998.

10
worden sind, wie Frauen, ethnische Minoritäten oder die Subalternen einer Gesellschaft,
Migranten und zunehmend auch die Marginalisierten in den Globalisierungsprozessen,
Identitäten sind produziert und konstruiert. Und diese Konstruktionsprozesse sind umstritten.
Sie sind, wie Michel Foucault aufgezeigt hat, zutiefst verflochten mit der Ausübung von
Macht. Stuart Hall beschreibt sie als, „instabile Identifikationspunkte oder Nahtstellen, die
innerhalb der Diskurse über Geschichte und Kultur gebildet werden.“26
Die amerikanische Kulturkritikerin indischer Herkunft Gayatri Spivak hat daher gewarnt:

„Man muss aufmerksam sein gegen einfache Feststellungen von Identität, die sich elegant mit
Sprache und Herkunftsort überlagern. Ich bin zutiefst misstrauisch gegen jede
deterministische oder positivistische Definition von Identität.“27

Identitäten lassen sich, so argumentieren heute zahlreiche Kulturwissenschaftler,28 am besten


als multipel bezeichnen, sie sind etwas was sich verändert, Identitäten sind im Prozess, und
konstituieren sich im jeweiligen Kontext und je nach politischen sozialen und religiösen
Umgebungen unterschiedlich. Die Differenz zu etwas anderem ist dabei notwendige Bedingung
für jede Ausbildung von Identität, sei es dass das Andere nun begehrt oder abgelehnt wird.
Und gerade diese Dynamik in der Konstitution von Identität ist es, was die ökumenischen
Verstehensprozesse so schwierig macht. Der Differenzhorizont, der für Identität konstitutiv ist,
kann nämlich vielfältig entworfen werden: In der Erinnerung an
vormissionarische/vorkoloniale Zeiten, die idealisiert oder auch verdammt werden, z.B. durch
die Suche nach einer reinen ursprünglichen Dalit-Kultur,29 ein Projekt dass die Dalit Theologie
der Kastenlosen in Indien seit Jahren speist, oder die Wiedergewinnung eines Afrikanischen
Theismus und einer Ahnenkultur, die durch den Einfluss der westlich-kolonialen Mission
verdrängt und verloren gegangen ist, ein theologisches Projekt, das in der Tradition von John
Mbiti immer noch große Teile der afrikanischen Theologen beschäftigt.30

26
Hall, Kulturelle Identität, 30.
27
Gayatri Chakraworty Spivak, The Post-Colonial Critic. Interviews, Strategies, Dialogues, new York-London
1990, 38.
28
Vgl. z.B. Rolf Eickelpasch und Claudia Rademacher, Identität, Bielefeld 2004.
29
Siehe z.B. James Massey (Hg.), Indigenous People: Dalits. Dalit Issues in Today´s Theological Debates, Delhi
1994; Sathianathan Clarke, Dalits and Christianity. Subaltern Religion and Liberation Theology in India, Delhi
1999.
30
John S. Mbiti, Afrikanische Religion und Weltanschauung, Berlin - New York 1974. Kritisch dazu Manas
Buthelezi, Ansätze einheimischer Theologie in Südafrika, in: Tödt, Ilse (Hg.), Theologie im Konfliktfeld
Südafrika. Dialog mit Manas Buthelezi, Stuttgart, München 1976, 111–132; Valentin Y. Mudimbe, The
Invention of Africa. Gnosis, Philosophy, and the Order of Knowledge, Bloomington - Indianapolis 1988;
Kwame Anthony Appiah, African Identities, in: Gregory Castle (Hg.), Postcolonial Discourses. An Anthology,
Oxford 2001, 221–231; Mercy Amba Oduyoye, A critique of Mbiti’s view on live and marriage in Africa, in:
Jacob K. Olupona und Sulayman S. Nyang (Hg.), Religious Plurality in Africa. Essays in Honour of John S.
Mbiti, Berlin, New York 1993, 342–365.

11
Deutlich wird in der Kritik der Cultural Studies Perspektive an solchen Ansätzen, dass auch
Tradition oder das „Traditionale“, das in diesen theologischen Entwürfen oftmals beschworen
wird, eine Kategorie ist, die selbst erst durch das Projekt der Moderne geschaffen wurde und
daher als ein Teil des Moderne-Diskurses gesehen werden muss. Tradition ist ein umkämpftes
Feld, sie ist keine objektive Gegebenheit auf die man sich unhinterfragt berufen kann, sondern
eine Ansammlung von Projektionen, die einige für die Identität als konstitutiv in Anspruch
nehmen, während sich andere in der gleichen Gesellschaft von ihr als etwas Überholtem
abgrenzen.31
Das Identität konstituierende Moment kann aber auch in dem Entwurf einer Differenz zwischen
Westen und Osten ansetzen, wobei je nach Perspektive der Westen als materialistisch oder
fortschrittlich, bzw. der Osten als spirituell oder wenig kreativ konstruiert wird. Hinduistische
und buddhistische Reformbewegungen, die klassische indische Theologie und die Rezeption
asiatischer Religiosität im Westen, sei es Zen oder Yoga oder Asiatische Heilkunst leben von
diesen Differenzbildungen.32
Die Idealisierung der Vergangenheit als Identitätskonstitutivum als auch kulturelle
Abgrenzungen die sich u. a. im Hervorheben religiöser Differenzen äußern sind allerdings
insbesondere in der postkolonialen Kulturwissenschaft hinterfragt und zum Teil massiv
kritisiert worden. Koloniale Einflüsse, so wird argumentiert, haben die Länder der ehemaligen
Kolonien nachhaltig verändert. Neue Formen von wirtschaftlichen, politischen, religiösen und
kulturellen Beziehungen und Identitäten, die durch die koloniale Herrschaft sich weltweit
ausgebildet haben, können nicht einfach vernachlässigt und nach dem Ende des Kolonialismus
als „zum Glück überwunden“ abgetan werden.33 Der Afrikanische Philosoph Kwame Anthony
Appiah hat das so formuliert:

„Aber für uns bedeutet Europa zu vergessen, die Konflikte zu unterdrücken, die unsere
Identitäten geformt haben; weil es zu spät für uns ist, uns gegenseitig zu entkommen, sollten
wir danach streben, die gegenseitigen Abhängigkeiten, die die Geschichte uns auferlegt hat, zu
unser Vorteil zu kehren.“34

31
Vgl. Shalini Randeria, Martin Fuchs, Antje Linkenbach (Hg.), Konfigurationen der Moderne. Diskurse zu
Indien, Baden Baden 2004, 18.f.
32
Siehe z.B. Brian A. Hatcher, Ecclecticism and modern Hindu Discourse, New York 1999; Richard F.
Gombrich und Gananath Obeyesekere, Buddhism Transformed. Religious Change in Sri Lanka, Princeton 1988;
Jorn Borup, Zen and the Art of inverting Orientalism: religious studies and genealogical networks,
http://www.buddhanet.dk/zenorienteng.htm
33
J. Jayakiran Sebastian, Pressure on the Hyphen: Aspect of the Search for Identity Today in Indian-Christian
Theology, in: Religion and Society, Vol.44, No.4, December 1997, 27-41. 29.
34
Kwame Anthony Appiah, In My Fathers House. Africa in the Philosophy of Culture, New York-Oxford 1992,
72.

12
Wenn aber Identitäten nicht statisch, sondern vielfältig geprägt sind, dann kann man auch nicht
von fdem Afrikanischen ChristentumQ oder fder Indischen TheologieQ sprechen, sondern
allenfalls beobachten, das indische und afrikanische Christen gleich sind wie und zugleich
anders sind als die Menschen, unter denen sie leben. Natürlich tragen sie Anzeichen der
jeweiligen Kulturen an sich, Sprache, Habitus, Traditionen, aber Menschen sind davon nicht
besetzt, so als könnten die jeweiligen Aspekte bei ihnen oder den anderen in Reinform auftreten,
oder als könnte man unverändert dahin zurückehren.
Die postkoloniale Erfahrung in den meisten der Kirchen der südlichen Hemisphäre zeigt sich
darin, dass die oft mühsam konstruierten und erkämpften Identitäten immer wieder unter Druck
geraten. Religiöse oder ethnische Konflikte im eigenen Land, der übermächtige Einfluss
technologischer Entwicklungen westlicher Herkunft und die Macht des Kapitals, das die „Eine-
Welt-Kultur“ erzwingt sind ebenso wichtige oder vielleicht sogar wichtigere Momente, durch
die afrikanisch-christliche oder indisch–christliche Identitäten unter Druck geraten als die Frage
der Inkulturation oder Einheimischwerdung des ihnen anvertrauten Evangeliums, die im
Westen immer noch als die zentrale theologische Herausforderung der Kirchen in Afrika und
Asien angesehen wird.
Kirchen in Ländern in denen die Christen eine Minorität darstellen, haben daher oftmals gar
nicht die Möglichkeit, sich als fest oder kulturell etabliert zu entwerfen, sie allerdings in erster
Linie als Kirchen auf dem Weg zu deklarieren, wie das im ökumenischen Sprachgebrauch gern
geschieht, lenkt von der Komplexität der Identitätskonstruktionen in den jeweiligen politischen
und sozialen Kontexten ab, weil diese Redeweise letztlich ein lineares, eschatologisch
ausgerichtetes Ökumenemodell voraussetzt.
Bezeichnend ist dass gerade Theologen und Theologinnen aus solchen Kirchen in
ökumenischen Debatten den Abschied von evolutionären Fortschrittmodellen fordern, da sie
die darin implizierte unaufhörlicher Verbesserung ökumenischer Einheit weder erfahren noch
auch in ihrem Kontext als wünschenswert anstreben wollen.35

5. Partikulares und Universales


Ich komme damit zur zweiten Frage, wie sich nämlich Partikulares und Universales
zueinander verhalten und ob sich daraus etwas für die ökumenische Diskussion abzeichnet.
Auch im interreligiösen Dialog-Programm des ÖRK zählt das Thema „Identität“ zu den
zentralen Topoi. Die Erfahrung mit dem Thema „Identität“ ist allerdings in der Geschichte

35
Vgl. R.S. Sugirtharajah, Asian Biblical hermeneutics and Postcolonialism. Contesting the Interpretations,
Maryknoll 1998.

13
ökumenischer Reflexionen über Interreligiöse Begegnung eng verbunden mit der Abwehr der
Gefahr eines Synkretismus. Seit der Vollversammlung in Nairobi 1975 wurde immer wieder
befürchtet, dass „interreligiöser Dialog“ implizieren könnte, eine klare christliche Identität
aufzugeben und einer Multireligiosität und diffusen Multikulturalität die Oberhand zu
überlassen. Zu fragen wäre, ob sich konstruktive Anknüpfungspunkte zwischen dem
Festhalten an einer allgemein christlich verbindlichen Identität einerseits und der
Wahrnehmung kultureller und religiöser Identitätspositionierungen andererseits finden lassen?
Die Wahrnehmung der vielfältigen Identitäten die überall auftauchen und die Rede von
religiösen, sozialen, politischen und kulturellen Identitäten sind etwas signifikant Neues seit
etwa Beginn der 90er Jahre des letzen Jahrhunderts. Es fällt auf, dass diese rhizomatische
Ausbreitung der Selbstbehauptungen von Identitäten36 einhergeht mit der inflationären Rede
vom „Tod des Subjekts“ einerseits, die in der postmodernen Philosophie und Kulturtheorie
schon seit mehreren Jahrzehnten prominent ist und identitätslogische Subjektbestimmungen als
Logozentrismus oder gar Phallozentrismus entlarvt und dem Zerfall universaler Ideologien und
politischer Weltmachtansprüche andererseits, sozusagen dem Zusammenbruch der Orte von
denen das autonome Subjekt einst sprach.
Dass die weltpolitischen Ereignisse wie der Zerfall der Sowjetunion und die konfliktreichen
Aufbrüche ethnischer und nationaler Identitäten in Südeuropa, Afrika und Asien auch die
Ökumene betreffen ist m.E. nicht sehr verwunderlich. Und sie betreffen sie nicht nur darin, dass
die Kirchen herausgefordert sind, sich im Dialog und in der Versöhnungsarbeit zu engagieren,
sondern sie treffen die Ökumene im Kern. Es stellt sich die Frage, welche Einheitskonzeption
die Ökumene will, und wie diese noch begründet werden kann, bzw. von welchem Ort
gesprochen werden kann?
Man beruft sich zu recht auf die biblische Tradition. Aber wer ist das ökumenisch/theologische
Subjekt, das Einheit einfordert? Oder bilden sich nach dem Verstummen dieses Subjekts
paradoxer Weise überall neue Subjektpositionen37, breitet sich ein Partikularismus aus, der
deutlich macht, dass das Universale nichts anderes als ein in irgendeinem Augenblick dominant
gewordenes Partikulares ist,38 eine Spätfolge westlicher Missions- und

36
Laurence J Silberstein hat das Konzept des Rhizoms von Deleuze und Guattari übernommen, um das Ausbreiten
von Identitätspositionen zu beschreiben, deren Ursprung weder gefunden werden kann noch gesucht werden soll,
die aber allenfalls in ihre Ausbreitung kartographiert werden können. Laurence J. Silberstein Mapping, not
Tracing: Opening Reflection, in: Ders. (Hg.), Mapping Jewish Identities, London-New York 2000, 1-23.
37
Vgl Michel Foucault, Warum ich Macht untersuche: Die Frage des Subjekts, in: Hubert L. Dryfus und Paul
Rabinow, Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt a.M. 1987, 243-261.
38
Dazu Ernesto Laclau, Universalismus, Partikularismus und die Frage der Identität, in: Mesotes - Zeitschrift für
philosophischen Ost-West-Dialog, (3/1994), 287-299.

14
Expansionsbestrebungen, und dass es realistischer Weise keine Möglichkeit gibt, eine
versöhnte Ökumene zu errichten.
Eine der Forderungen postkolonialer Theorien lautet, Europa zu provinzialisieren. Europa,
schreibt der indische Historiker Dipesh Chakrabarty, „ist immer noch das souveräne,
theoretische Subjekt aller Geschichten einschließlich derjenigen, die wir als findischQ,
fchinesischQ oder fkenianischQ bezeichnen. In eigentümlicher Weise haben alle diese
anderen Geschichten die Tendenz, sich in Variationen einer Meistererzählung zu verwandeln,
die man fdie Geschichte EuropasQ bezeichnen könnte.“39
Die Kritik an dem impliziten Universalanspruch europäischen Denkens und auch europäischer
Theologie wird ebenfalls deutlich an dem Titel des einschlägigen Buches von Robert Schreiter:
„Abschied vom Gott der Europäer“, in dem er die Konstruktion lokaler Theologien favorisiert.40
Trotzdem ist die Durchsetzung eines reinen Partikularismus, das zeigen die Konflikte mit
einigen orthodoxen Kirchen, im ökumenischen Dialog keine Möglichkeit. Zum einen weil diese
Durchsetzung einem logischem Selbstmord gleichkommen würde: wenn Partikularismus das
einzige normative Prinzip bleibt, dann müssen auch andere, dem meinen entgegen gesetzte,
Partikularismen als normativ anerkannt werden. Zum anderen ist sie keine Möglichkeit, weil
dann die identitätslogisch verstandenen kulturellen Positionen einfach nur multipliziert würden
und schließlich muss sich jede der partikularen Positionen zur Konstruktion der eigenen
Identität auf übergeordnete Prinzipien berufen.
Wie steht es heute mit autoritativen Äußerungen der Ökumene oder muss man besser sagen in
der Ökumene? Einheit, so wird betont, meint nicht Vereinheitlichung und Verzicht auf
konfessionelle Besonderheiten. Konfessionelle Spezifika und Pluralität werden im Gegenteil
als Bereicherung gesehen. Politisch sind die europäischen Kirchen in der Ökumene zunehmend
in den Hintergrund getreten, Leitungsfunktionen werden von Vertretern aller Kirchen
wahrgenommen. Wie steht es aber mit Denktraditionen? Ähnlich wie dominante Konzeptionen
von Multikulturalismus,41 die die Pluralität unterschiedlicher Lebensformen innerhalb ein und
derselben Gesellschaft betonen, 42 und nicht der Versuchung zu erliegen scheinen, Differenzen
zu homogenisieren,43 wird das ökumenische Einheitskonzept heute eher dezentriert verstanden.

39
Dipesch Chakrabarty, Europa provinzialisieren. Postkolonialität und die Kritik der Geschichte, in: Sebastian
Conrad und Shalini Randeria (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts-
und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. - New York 2002, 283.
40
Robert J. Schreiter, Abschied vom Gott der Europäer. Zur Entwicklung regionaler Theologien, Salzburg 1992.
41
Z.B. Elisabeth Bronfen und Benjamin Marius, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-
amerikanischen Multikulturalismusdebatte, Tübingen 1997.
42
Siehe z.B. Jürgen Habermas, Staatsbürgerschaft und nationale Identität, in: Ders. Faktizität und Geltung.
Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt a.M. 1992, 632-660.
43
Dazu Hans Ebeling, Der multikulturelle Traum. Von der Subversion des Rechts und der Moral, Hamburg 1994.

15
Ökumenische Foren und das viel debattierte Konsensverfahren in Entscheidungsprozessen sind
Ausdruck dafür. Ich sehe das eher kritisch, denn letztlich wird in vielen Äußerungen des ÖRK
doch wieder die Position des ökumenisch autoritativen Subjekts eingeführt. So heißt es z.B. in
den verbindlichen „ökumenischen Erwägungen zum Dialog und zu den Beziehungen mit
Menschen anderer Religionen“ aus dem Jahr 2004:

„Aus einer globalen Sichtweise heraus sprechen wir als Christen aus unterschiedlichen
Traditionen zu den Mitgliedskirchen. Wir hoffen, dass die lokalen Kirchen diese
ökumenischen Erwägungen studieren, diskutieren und an ihre eigenen Kontexte anpassen
werden.“44

Kein Wunder, dass auch der mit der Gründung der EKD geprägte Ausdruck „versöhnte
Verschiedenheit“, der bei uns weithin das ökumenische Bewusstsein prägt, von Christen aus
der südlichen Hemisphäre durchaus kritisch gesehen wird. Wo ist die Versöhnung wenn in
Globalisierungsprozessen die Differenzen politisch wie ökonomisch immer weiter aufreißen?
Der ökumenischen Respekt vor der Besonderheit der einzelnen Mitgliedskirchen bleibt, so
positiv er auch sein mag, in den Strukturen westlicher Kulturkonzeptionen verhaftet, indem er
eine privilegierte universelle Position generiert, von der aus Pluralität positiv codiert wird.
Der/die Andere ist nicht multikulturell. Der Multikulturalismus funktioniert höchstens für uns
- nicht für sie.

Das wird sehr schön deutlich an einer Werbung von Melitta Kaffee im Internet für die Sorte
„Auslese“.
„Ausgewogen in Aroma und Geschmack. „Der Genießer-Kaffee“. Liebe Kaffeegenießer,
erleben Sie das Feuer aus Brasilien und die Würze Ostafrikas. Das mittelamerikanische
Temperament und die Milde aus dem kolumbianischen Hochland - komponiert zu einer
unwiderstehlichen Kaffeemischung. Wundern Sie sich nicht, wenn Sie sich schon nach der
ersten Tasse auf angenehme Weise belebt und angeregt fühlen. Die Mischung macht’s!“

Der Genießer ist der eigentlich Multikulturelle, oder wenn man so will, der Ökumeniker,
während die Sorten aus den verschiedenen Ländern nur eines repräsentieren: nämlich vor allem
Stereotypen kultureller Zuschreibung und damit Bilder der Differenz.
Die Erfahrung von Christen in ökonomisch marginalisierten Ländern der „einen Welt“ ist
gerade auch in der Begegnung mit Christen aus Europa oder den USA, dass es in der Ökumene
keine gleichwertige Beziehung, kein reziprokes Verhältnis zwischen den Kirchen gibt. Nach
wie vor sind es vor allem die europäischen Christen, die die Ökumene genießen, während

44
Ökumenischer Rat der Kirchen, Ökumenische Erwägungen zum Dialog und zu den Beziehungen mit Menschen
anderer Religionen. 30 Jahre Dialog und überarbeitete Leitlinien, These 4.

16
Christen aus anderen Kulturen zur Buntheit beisteuern. Der slovenische Philosoph Slavoj
¦i ek hat am gegenwärtig in Europa dominanten Verständnis eines liberalen
Multikulturalismus kritisiert, dass der Andere nur toleriert wird, „insoweit er nicht der reale
Andere ist, sondern der aseptische Andere der vormodernen ökologischen Weisheit, der
faszinierenden Riten und so fort - in dem Augenblick, wo man es mit dem realen Anderen zu tun
bekommt (…) ist Schluss mit der Toleranz“.45
¦i ek fordert, wie viele andere auch, eine Politisierung des Multikulturalismusbegriffs, um
ökonomische und soziale Differenzen deutlicher zur Sprache zu bringen. Im Übrigen eine
Forderung, der auch der Schweizer Ökumeniker und ehemalige Direktor von fFaith and
OrderQ Lukas Vischer angesichts der Erklärung des ÖRK in Canberra zum Koinoniabegriff
Ausdruck verliehen hat. Ökumene werde romantisiert und sowohl Koinonia als Konvivenz
idealisieren menschliche Beziehungen und verschleiern anders als der Konziliare Prozess die
faktischen Ungerechtigkeiten zwischen den Kirchen und in der Welt.46

6. Gemeinsame menschliches Handeln und kulturelle Differenz


Wie dann ist Ökumene praktizierbar? Der Heidelberger Missionswissenschaftler Theo
Sundermeier hat den Begriff ’Konvivenz’ eingeführt, um das ‚kommunikative Handeln’
zwischen Menschen zu beschreiben. Er erläutert den Begriff am Beispiel eines Chores. Hörend
auf die Stimme des anderen trägt jeder in Solidarität zum harmonischen (ökumenischen)
Zusammenklang bei.47 Sundermeier hat selbst betont, dass es so einfach mit dem Hören nicht
ist und seine Hermeneutik des Fremden ist ein Versuch, die Schwierigkeiten zu reflektieren.
Dass aber der Wille zu hören nicht von einem Machtdiskurs abgekoppelt werden kann und dass
Verstehen und Konvivenz sich immer innerhalb von hierarchischen Strukturen herausbilden,
dass macht Elisabeth Schüssler Fiorenza deutlich, die ebenfalls ein kritisches Modell der
Zusammenarbeit und des Zusammenlebens entwickeln will. Allerdings betont sie, dass, wenn
die bisher zum Verstummen gebrachten Stimmen mit eingeschlossen werden sollen, es
notwendig wird, von einem hermeneutischen Modell der Kommunikation abzugehen und ein
praktisches Modell des gemeinsamen Handelns zu entwickeln.48 Was hier die zentrale

45
Slavoj ¦i ek, Die repressive Toleranz des Multikulturalismus, in: Ders., Ein Plädoyer für die Intoleranz, Wien
2003, 75.
46
Lukas Vischer, Ist das wirklich die „Einheit“, die wir suchen? Zur Erklärung der Vollversammlung des
Ökumenischen Rates der Kirchen in Canberra: „Die Einheit der Kirchen als Koinonia: Gabe und Berufung“, in:
Ökumenische Rundschau 41, 1992, 7-24.
47
Theo Sundermeier, Konvivenz als Grundstruktur ökumenischer Existenz heute, in: Ders., Wolfgang Huber und
Dietrich Ritschl, Ökumenische Existenz heute 1, München 1986, 49–100.98f.
48
Elisabeth Schüssler Fiorenza, Commitment and Critical Inquiry, in: Harvard Theological Review 82, 1989, 1–
19.4f.; Vgl. Auch Andreas Nehring, Religion, Kultur, Macht - Auswirkungen des kolonialen Blicks auf die
Kulturbegegnung am Beispiel Indiens, in: ZMR 87. Jahrgang, Heft 3, 2003, 200-217.

17
Herausforderung an die Kirchen für die ökumenische Verständigung bleibt, ist die Frage des
Verhältnisses von Verstehen des Anderen und gemeinsamer Handlungsweise.
Gegen eine totale Alterität, die ein Verstehen ökumenischer Partner letztlich nicht möglich
macht ist, eben nicht nur eine gemeinsame christlich-theologische Tradition zu setzen, die als
Ebene der Verständigung dienen kann, sondern wie Ludwig Wittgenstein betont hat, die
„gemeinsame menschliche Handlungsweise“. Mir scheint die berühmte These, die Wittgenstein
in seinen Philosophischen Untersuchungen aufgestellt hat gerade für die Ökumene
weiterführend: „Die gemeinsame menschliche Handlungsweise ist das Bezugssystem, mittels
dessen wir uns eine fremde Sprache deuten.“ (PU 206)49
Diese gemeinsame menschliche Handlungsweise ist nicht als ontische oder anthropologische
Grundlage der unterschiedlichen kulturellen Lebensformen zu verstehen, auch nicht als Basis
eines humanistischen Ideals einer „großen Familie der Menschen“, die Roland Barthes schon
vor 50 Jahren als Mythos, der Differenzen verschleiert, entlarvt hat,50 sondern Wittgenstein
bezeichnet damit die Gemeinsamkeit der Situation der Begegnung, in der Vertreter
verschiedener Kulturen zwar interagieren, sich dabei aber durchaus nicht oder missverstehen
können, da in der Begegnung zunächst jeweils kulturspezifisch interpretiert wird.51

Wittgenstein richtet sich gegen eine Kultur übergreifende Theorie der Bedeutung, nach der die
Bedeutung einer Aussage sich an dem Gegenstand richtet, auf den sie bezogen ist, und er hält
dagegen, dass die Bedeutung eines Wortes sein Gebrauch ist: „Die Bedeutung eines Wortes ist
sein Gebrauch in der Sprache“ (PU 43) Einen Zusammenhang sieht Wittgenstein zwischen der
Bedeutung eines Wortes und den Regeln für seinen Gebrauch, die dadurch bestimmt sind, dass
sprachliche Äußerungen im täglichen Miteinander eine bestimmte Funktion übernehmen.
Bedeutung wird also durch die Begegnung und das gemeinsame Handeln geprägt.
Die ökumenischen Foren bieten solche Orte der Begegnung, in denen Christen in ihrer
Partikularität zusammenkommen, ohne dass die organisierte Ökumene ein Ziel, oder eine
Grundlage der Zusammenkunft vorgibt. Eine pragmatische Zugangsweise, die in der
Ökumenischen Bewegung u.a. von „Life and Work“ eingefordert wird, muss nicht auf einem,
wie auch immer fundierten Gedanken der Einheit oder Koinonia basieren, die Begegnung
besteht auch nicht in erster Linie in einem Dekodieren einer fremdkulturellen Botschaft oder

49
Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 206, Frankfurt a.M. 1967. 107.
50
Siehe Roland Barthes, Die große Familie der Menschen, in: Ders., Mythen des Alltags, Frankfurt a. M. 1964,
16-19.
51
Dazu Joachim Renn, Die gemeinsame menschliche Handlungsweise. Das doppelte Übersetzungsproblem des
sozialwissenschaftlichen Kulturvergleichs, in: Ilja Srubar und Ulrich Wenzel (hg.), Kulturen vergleichen. Sozial-
und kulturwissenschaftliche Grundlagen und Kontroversen, Wiesbaden 2005, 195-227.

18
des fremden Verhaltens, sondern vielleicht viel bescheidener, in dem Versuch, zu einer
Äußerung eines kulturell fremden ökumenischen Partners den jeweils nächsten sinnvoll
erscheinenden Schritt zu tun52 und so die Ökumenischen Beziehungen in Bewegung zu halten.

52
Dazu Hans Julius Schneider, Fortsetzung statt Übersetzung! Das Problem des Kulturverstehens aus der Sicht
einer pragmatischen Bedeutungstheorie, in: Joachim Renn, Jürgen Straub, Shimada Shingo (Hg.), Übersetzung als
Medium des Kulturverstehens und sozialer Interaktion, Frankfurt a. M. 2002, 39-62.59.

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