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Marsha Norman

NACHT, MUTTER

Night, Mother
Aus dem Amerikanischen von
Alissa Walser

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Aufführung durch Berufs- und Laienbühnen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung und
Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Abschnitte. Das Recht der deutschsprachigen Aufführung ist nur vom Rowohlt
Theater Verlag, Hamburger Straße 17, 21465 Reinbek, Tel.: 040 – 72 72 -270, Fax: -276 zu erwerben. Den Bühnen und Vereinen gegenüber
als Manuskript gedruckt. Dieser Text gilt bis zum Tag der Uraufführung / deutschsprachigen Erstaufführung / bis zur ersten Aufführung der
Neuübersetzung als nicht veröffentlicht im Sinne des Urheberrechtsgesetzes. Es ist nicht gestattet, vor diesem Zeitpunkt das Werk oder einzelne
Teile daraus zu beschreiben oder seinen Inhalt in sonstiger Weise öffentlich mitzuteilen oder sich öffentlich mit ihm auseinanderzusetzen. Der
Verlag behält sich vor, gegen ungenehmigte Veröffentlichungen gerichtliche Maßnahmen einleiten zu lassen.
PERSONEN

JESSIE CATES – Ende dreißig oder Anfang vierzig, blass und körperlich irgendwie instabil. Erst
im letzten Jahr hat Jessie Kontrolle über Geist und Körper gewonnen, und heute abend
will sie diese Kontrolle auf keinen Fall aus der Hand geben. Sie trägt Hosen und eine
lange schwarze Jacke mit tiefen Taschen, in der einen steckt ein Notizblock, eventuell hat
sie einen Bleistift hinters Ohr geklemmt oder einen Kuli an eine der Taschen gesteckt.
Normalerweise redet Jessie nicht gern viel. Ihr sonderbarer Humor kommt bei den
wenigsten an. An diesem Abend scheint sie im Einklang mit sich selbst zu sein, als wisse
sie genau, was sie vorhabe, aber es ist ihr klar bewußt, daß, Minute um Minute, die Zeit
vergeht. Merkwürdigerweise war Jessie noch nie so kommunikativ oder umgänglich wie
an diesem Abend, aber wir dürfen nicht vergessen, daß sie nicht immer so war. Die
Vertrautheit zwischen den beiden Frauen rührt vom langen Zusammenleben. Ihr Sprechen
ist voller Verknappungen, und ihr körperliches Miteinander birgt einen Hauch
routinemäßiges Trösten. Natürlich auch routinemäßige Enerviertheit.

THELMA CATES – Jessies Mutter, Ende fünfzig oder Anfang sechzig. Sie spürt ihr Alter bereits
und streßt sich nicht unnötig, oder, wenn es ihrem Willen dient, läßt sie sich helfen. Aber
sie spricht schnell und erzählt gern. Sie glaubt, alles sei so, wie sie sagt, daß es sei. Ihre
Festgefahrenheit ist letztlich eher mental als körperlich. Sie ist geschwätzig und neugierig,
und es ist ihr Haus.

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ANMERKUNG DER AUTORIN

Die Zeit ist die Jetzt-Zeit, Beginn der Handlung etwa 20:15. Die Uhren auf der Bühne, in der
Küche und auf dem Tisch im Wohnzimmer laufen während der Vorstellung und sollen für das
Publikum sichtbar sein.

Es gibt keine Pause.

Schauplatz ist ein relativ neues Haus, allein an einer Landstraße gelegen, mit einem Wohnzimmer
und angrenzender Küche. In der Mitte ein Flur, von dem die Schlafzimmer abgehen. Mit einer
Zugleine kann man von der Flurdecke eine Leiter herablassen, die zum Dachboden führt. Eines
der Schlafzimmer hat eine vom Publikum aus sichtbare Tür zum Flur. Sie sollte Focus des
gesamten Bühnenbilds sein, nur hin und wieder durch die Beleuchtung ausgeblendet, und dann
wieder Konzentrationspunkt des Ganzen. Von diesem Punkt geht sowohl eine Bedrohung als
auch eine Hoffnung aus. Eine gewöhnliche Tür, die ins absolute Nichts führt. Diese Tür ist
Mittelpunkt jeglicher Handlung, und sie sollte äußerst sorgfältig entworfen und konstruiert sein.

Das Wohnzimmer ist vollgestopft mit Zeitschriften und Handarbeits-Katalogen, Aschenbechern


und Tellern voller Süßigkeiten. Überall Beispiele für Mamas Handarbeiten - Kissen, Wolldecken
und Quilts, Spitzen-Deckchen und kleine Teppiche, sehr hübsche Exemplare. Das Haus ist eher
gemütlich als unordentlich, doch es liegt einfach viel Zeugs herum, was aufgeräumt sein will. Es
wirkt eher persönlich als einladend, aber nicht wunderlich. Auf keinen Fall sind Bühnenbild und
Ausstattung eine Aussage über Intelligenz oder Geschmack von Jessie und Thelma. Es sollte sie
einfach als sehr eigene, wirkliche Menschen ausweisen, die zufällig in einem bestimmten Teil des
Landes leben. Starke Akzente, die die Distanz zwischen Jessie und Thelma und dem Publikum
noch vergrößern würden, wären ebenfalls falsch.

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Mama, auf Zehenspitzen, langt nach den Napfküchlein im Küchenschrank, dabei
summt sie irgendeine ausgefallene kleine Melodie. Sehen kann sie sie nicht, aber
sie tastet ihnen nach, sie will unbedingt eines, deshalb scheut sie keine Mühe.
Vielleicht sind es die anstrengendsten Bewegungen, die Mama überhaupt macht.
Sie findet ein Küchlein, mit Kokosflocken bestreut, gefüllt mit Himbeer und
Marshmallows, ein sogenannter Schneeball, und sie begreift, daß bereits einer aus
der Packung fehlt. Sie ruft nach Jessie, die offensichtlich irgendwo im Haus ist.

MAMA (packt das Küchlein aus) Jessie, der letzte Schneeball, Süße. Schreib’s auf die
Liste, okay? Die Hershey-Schokoriegel sind auch alle, und wo sind die Erdnuß-
Riegel? Da war bestimmt wieder Dawson am Werk. Ich sollte einen großen
Spiegel an die Kühlschranktür hängen. Dann traut er sich nicht mehr an meine
Leckerbissen, was meinst du? Hörst du mich, Schätzchen? (Dann eher zu sich
selbst) Mag ich gar nicht, wenn die Kokosflocken runterregnen. Wieso fallen die
jetzt ab?

Jessie kommt mit einem Stapel Zeitungen aus ihrem Schlafzimmer.

JESSIE Haben wir alte Handtücher?

MAMA Da bist du ja!

JESSIE (hält ihr ein Handtuch hin, das auf dem Zeitungsstapel lag) Handtücher, die du
nicht mehr brauchst. (Während sie Mamas Schneeballpapierchen aufhebt)
Vielleicht das Badetuch von Loretta? Strandtuch, sagt man. Willst du es noch?

Mama schüttelt den Kopf, Nein.

MAMA Was hast du da drin gemacht?

JESSIE Und ein großes Stück Plastik, ein Gummi-Laken oder so. Mehrere Mülltüten
täten’s auch.

MAMA Fang jetzt keine Sauerei an, Jessie. Es ist schon acht.

JESSIE Vielleicht eine alte Decke oder Handtücher, wie wir mal mit der Seifenlieferung
kriegten?

MAMA Ich hab gesagt, keine Sauerei. Deine Haare sind schwarz genug, Schätzchen.

JESSIE (durchsucht weiter die Küchenschränke, findet noch zwei, drei Handtücher für
ihren Stapel) Nicht für die Haare, Mama. Vielleicht irgendwo ‘n paar alte Kissen,
oder total gut wär so‘n Schaumgummipolster vom Liegestuhl.

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MAMA Du weißt schon, was wir heute haben oder? (Sie hält die Fingernägel hoch.) Alle
abgebrochen, siehst du? Ich habe die ganze Woche gewartet, Jess. Wir haben
Samstag, Süße.

JESSIE Ich weiß. Ich hab’s auf meinem Plan.

MAMA (geht ins Wohnzimmer) Soll ich sie gleich waschen, oder machst du erst mal deine
Sauerei? (Schaut den Schneeball an) Die sind alle. Hab ich das schon gesagt?

JESSIE Morgen kommt Nachschub. Ich hab dir ‘ne ganze Kiste voll bestellt.

MAMA (studiert das TV-Programm) Ganze Kisten trocknen aus, Jessie.

JESSIE Dann ab damit in die Gefriertruhe, bis dir danach ist. Wo ist Papas Revolver?

MAMA Auf dem Dachboden.

JESSIE Wo auf dem Dachboden? Ich bin deinen ganzen Kram durch, hab ihn nirgendwo
gefunden.

MAMA Einer von den Schuhkartons, glaube ich.

JESSIE Voller Schuhe. Hab ich schon nachgeschaut.

MAMA Na ja, dann hast du halt nicht richtig geschaut. Der Karton mit denen, die er im
Krankenhaus anhatte. Als er starb, hieß es, ich könnte sie zurückhaben, aber ich
konnte diese Schuhe nie ausstehen.

JESSIE (zieht sie aus ihrer Tasche) Die Patronen hab ich gefunden. In der alten
Milchkanne.

MAMA (als Jessie Richtung Flur geht) Die Schrotflinte hat Dawson mitgenommen oder?
Gib mir mal den Korb, Schätzchen.

JESSIE (bringt ihr den Korb) Ich hoffe bloß, Dawson hat den Revolver dagelassen.

MAMA (unterbricht sie wieder) Und meine Brille, bitte. (Jessie macht kehrt, um die Brille
zu holen.) Ich hab ihm gesagt, die Gummistiefel soll er auch mitnehmen, aber er
meinte, die seien zum Angeln. Ich hab gesagt, dann soll er mit angeln anfangen.

JESSIE (langt nach dem Reinigungsspray, reinigt Mamas Brille für sie) Der ist bloß zu
faul, da raufzuklettern, Mama. Oder er ist schlau. Diesem Boden ist nicht zu
trauen.

MAMA (zieht ihr Strickzeug heraus) Boden kann man das nicht nennen, Schätzchen, mal
hier ‘n Brett, mal da eins. Miss mir das mal ab. Ich brauch fünfzehn Zentimeter.

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JESSIE (während sie misst) Dawson könnte jedenfalls ‘n paar Klamotten von da oben
brauchen. Die kann man doch noch tragen. Ruf lieber die Heilsarmee an, eh dir
alles auf den Kopf kracht. Genau fünfzehn Zentimeter.

MAMA Ist voll sicher! Solange du nicht raufsteigst.

JESSIE (will wieder gehen) Ich pass auf.

MAMA Wozu der Revolver, Jess?

JESSIE (diesmal macht sie nicht wieder kehrt, sondern läßt die Leiter im Flur herunter)
Schutzmaßnahme. (Sie macht die Leiter fest, während Mama spricht.)

MAMA Du nimmst das Fernsehen viel zu wichtig, Schätzchen. Mein Leben lang bin ich
hier keinem Verbrecher begegnet. Was es hier zu stehlen gibt, lohnt doch nicht
den ganzen Weg hier raus. Für keinen.

JESSIE (die erste Stufe hinauf) Ricky ausgenommen.

MAMA Ricky ist durcheinander. Das ist kein Verbrechen.

JESSIE Wasch dir schon mal die Hände. Ich komme gleich. Und richtig abtrocknen. Du
trocknest dir die Hände ab, bis ich zurückkomme, sonst läuft nichts, klar?

MAMA Ich dachte, Dawson hat gesagt, du sollst nicht auf die Sprossen steigen.

JESSIE (im Hinaufgehen) Hat er.

MAMA Die Idee mit dem Revolver find ich nicht gut, Jess.

JESSIE (ruft vom Dachboden herab) Weißt du noch, welcher Schuhkarton?

MAMA Schwarz.

JESSIE Schwarze Schachtel?

MAMA Schwarze Schuhe.

JESSIE Keine große Hilfe, Mutter.

MAMA War auch nicht als große Hilfe gemeint, Süße. (Keine Antwort.) Wir haben nichts,
was einer wollen könnte, Jessie. Ich meine, was bei uns herumliegt, will ja nicht
mal ich.

JESSIE Ich auch nicht. Wasch dir die Hände.

Mama steht auf, geht hinüber, steht am Fuß der Leiter.

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MAMA Komm da runter, du kriegst noch einen Anfall. Ich kann dich von da oben nicht
runterholen.

JESSIE Weiß ich.

MAMA Wenn sie kommen, geben wir ihnen einfach alles, was meinst du? Alles, was sie
wollen, die Verbrecher.

JESSIE Gute Idee, Mama.

MAMA Ricky wächst da raus, und wird mal ein richtig toller Junge, Jess. Aber ich muß dir
sagen, daß wir den Revolver im Haus haben, würde ich Ricky lieber nicht
erzählen.

JESSIE Hier. Ich hab ihn.

MAMA Ricky muß da einfach durch. Vielleicht hat er miese Typen um sich. Er braucht
bloß ‘n bißchen Zeit, Süße. Der wird wieder in die Schule gehen, oder er findet
einen Job, oder er ruft dich eines Tages an und sagt, es tut ihm leid, daß er soviel
Mist gebaut hat, und dann lädt er dich zum Abendessen ein, in so einem
Schickimicki-Schuppen.

JESSIE (steigt die Sprossen runter) Keine Angst. Ist nicht für ihn, ist für mich.

MAMA Ich hätte auch nicht gedacht, daß du deinen Jungen abknallen willst, Jessie.
Vielleicht früher manchmal, na ja, jeder hätte schon gern mal einen abgeknallt,
aber keiner tut’s. Ich glaube einfach, es muß nicht ...

JESSIE (unterbricht) Deine Hände sind nicht gewaschen. Soll ich dir die Nägel machen
oder nicht?

MAMA Ja, klar, aber ...

JESSIE (geht zum Stuhl) Dann wasch dir die Hände und hör mir auf mit Ricky. Seitdem er
diese beiden Ringe mitgehen ließ, hab ich nichts mehr von Wert, also sind jetzt
andere dran, der läßt kein Haus aus. Ich hoffe, irgendwann sperren sie ihn ein. Ich
würde ihn eigenhändig ausliefern, wenn ich wüßte, wo er steckt.

MAMA Das sagst du nicht im Ernst.

JESSIE Wort für Wort. Wasch dir die Hände, zum letzten Mal jetzt.

Jessie setzt sich mit dem Revolver hin, beginnt, ihn zu säubern, drückt den
Zylinder heraus, prüft, ob Patronenkammern und Lauf leer sind, dann tropft sie Öl
auf ein Stückchen Stoff und schiebt es mit der Reinigungsbürste aus der Schachtel
durch den Lauf. Mama geht in die Küche und wäscht sich, wie befohlen, die
Hände; ihre Unruhe, verursacht durch den Revolver, versucht sie zu verbergen.

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MAMA Ich hätt dir sagen sollen, bring die Milchkanne mit runter. Agnes Fletcher hat ihre
an einen vom Flohmarkt verkauft, vierzig Dollar das Stück.

JESSIE Ich geh gleich noch mal hoch und hol sie. Ein Wagenrad ist auch oben. Und sogar
ein Butterfaß. Bring ich alles mit runter, wenn du willst.

MAMA (kommt jetzt herüber, ergreift die Initiative.) Was tust du da?

JESSIE Der Lauf muß sauber sein, Mama. Das alte Pulver, der ganze Staub ...

MAMA Wozu?

JESSIE Hab ich dir doch gesagt.

MAMA (greift nach dem Schießeisen) Und ich hab dir gesagt, hier gibt’s keine
Verbrecher.

JESSIE (zieht ihn rasch an sich) Und ich hab dir gesagt ... (Versucht Ruhe zu bewahren)
Der Revolver ist für mich.

MAMA Na ja, wenn du willst, kannst du ihn haben. Wenn ich sterbe, kriegst du sowieso
alles.

JESSIE Ich bring mich um, Mama.

MAMA (geht zum Sofa zurück) Sehr witzig. Sehr witzig.

JESSIE Aber wahr.

MAMA (rasch, irritiert) Keineswegs! Sag so was nicht, Jessie.

JESSIE Wer soll’s dir sagen, wenn nicht ich? Willst du überrascht werden? Du liegst
schön in deinem Bett oder putzt dir vielleicht gerade die Zähne, da hörst du diesen
... Krach aus dem Flur?

MAMA Dich umbringen.

JESSIE Mich erschießen. In ein paar Stunden.

MAMA Zeit, daß du dein Mittel nimmst.

JESSIE Ich hab’s schon genommen.

MAMA Und was ist jetzt los mit dir?

JESSIE Überhaupt nichts. Fühl mich prima.

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MAMA Du fühlst dich prima. Aber du bringst dich um.

JESSIE Hab sogar gewartet, bis ich mich gut genug fühle.

MAMA Keine Witze, Jessie. Für Witze bin ich zu alt.

JESSIE Das ist kein Witz, Mama

Mama mustert sie einen Moment lang, schweigt.

MAMA Dieser Revolver taugt nichts, weißt du. Er hat ihn kaputtgemacht, kurz vor seinem
Tod. Er hat ihn eines Tages in den Dreck fallen lassen.

JESSIE Scheint okay.

Jessie läßt die Trommel herumwirbeln, spannt und drückt ab. Der Revolver ist
noch nicht geladen, deshalb hört man nur das Klicken, aber eins ist gewiss: er
wird funktionieren. Unverkennbar weiß Jessie, wie man mit einem Revolver
umgeht. Mama ist sprachlos.

Ich hab schon den von Cecil bereitgelegt, nur falls ich den hier nicht gefunden
hätte, aber lieber ist mir Papas.

MAMA Die Patronen sind mindestens 15 Jahre alt.

JESSIE (zieht noch eine Schachtel heraus) Die sind von letzter Woche.

MAMA Woher hast du die?

JESSIE Aus ‘nem Waffenladen, von dem mir Dawson erzählt hat.

MAMA Dawson!?

JESSIE Ich hab ihm erzählt, ich hätte Angst vor Landstreichern. Er fand die Idee gut. Er
hat mir gesagt, wonach ich fragen solle.

MAMA Wenn der geahnt hätte ...

JESSIE Er fand es prima. Er glaubte, ich würde allmählich ins Leben zurückkehren. Dann
hat er mir lang und breit alles über Patronen erzählt, und gemeint, solche
Gespräche sollten wir öfter mal führen.

MAMA Wo war ich derweil?

JESSIE Am Telefon mit Agnes. Wegen der Milchkanne, nehm ich an. Jedenfalls hab ich
Dawson gefragt, ob er glaube, daß die mir ein paar Patronen schicken würden, und

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er sagte, er würde kurz mal für mich anrufen, wenn er am Telefon sei, würden sie
sie sicher schicken. Und er hatte recht. Hier sind sie.

MAMA Wie kommt der dazu?

JESSIE Wollte mir einfach helfen, Mama.

MAMA Und ich sag dir auch noch, wo der Revolver ist.

JESSIE (mit einem Lächeln, genießt den Scherz) Siehst du? Jeder tut, was er kann.

MAMA Zu mir hast du gesagt, Schutzmaßnahme!

JESSIE Stimmt ja auch! Allerdings sitz ich noch an deinen Nägeln. Möchtest du
Chinaberry, diese neue Farbe?

MAMA Ich rufe jetzt auf der Stelle Dawson an. Mal sehen, was er zu dieser
Glanzleistung zu sagen hat.

JESSIE Dawson hat nichts mehr damit zu tun.

MAMA Er ist dein Bruder.

JESSIE Mehr aber auch nicht.

MAMA (steht auf, geht Richtung Telefon) Dawson fackelt da nicht lange rum. Schluß, aus.
Der nimmt die Kanone mit.

JESSIE Wenn du ihn anrufst, muß ich es eben tun, bevor er hier ist. Sobald du den Hörer
auflegst, geh ich ins Schlafzimmer und schließ die Tür ab.

MAMA Das machst du nicht! Wahnsinn, wie du redest, Jessie!

JESSIE Dawson kommt gerade noch rechtzeitig, um dir beim Aufwischen zu helfen. Also
los, ruf ihn an. Dann die Polizei. Dann das Bestattungsunternehmen. Und dann
Loretta, und fragst sie, ob sie dir die Nägel macht.

Mama geht zum Telefon, wählt, aber Jessie ist schnell, sie steht schon hinter ihr,
nimmt ihr den Hörer aus der Hand, legt ihn wieder auf. Jessie, bestimmt und
ruhig:

Nein, hab ich gesagt. Das ist privat. Dawson ist unerwünscht.

MAMA Nur ich?

JESSIE Ich will sonst niemanden hier. Du und ich, das genügt. Wenn Dawson auftaucht,
komm ich mir blöd vor, weil ich’s nicht schon zehn Jahre früher getan hab.

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MAMA Ich glaube, wir rufen lieber den Arzt. Oder den Notdienst, wie wär das? Dieser
eine Fahrer, auf den stehst du, das weiß ich. Wie heißt er, Timmy? Den holen wir,
dann kannst du mit jemandem reden.

JESSIE (geht zu ihrem Stuhl zurück.) Ich hab genug geredet, Mama. Du. Und sonst
niemand.

MAMA Wir sitzen also den ganzen Abend hier rum, wie schon X-tausend mal, und dann
bringst du dich um? (Jessie gibt keine Antwort.) Du wirst daneben treffen. (Wieder
keine Antwort.) Und sabberst dann stumpfsinnig vor dich hin. Willst du das? Dein
Ohr wegschießen? Du weißt, was der Arzt sagt, wenn du dich aufregst. Du spannst
den Hahn und kriegst einen Anfall.

JESSIE Ich glaube, das schaff ich noch, Mama, mich umzubringen.

MAMA Du wirst dich nicht umbringen, Jessie. Du fühlst dich doch nicht mal schlecht.
(Jessie lächelt oder lacht leise, und Mama versucht es auf eine andere Tour.)
Menschen bringen sich nicht wirklich um, Jessie. Nein, tut mir leid, das macht
keinen Sinn, außer du bist zurückgeblieben oder geistesgestört, aber normaler als
du kann man nicht sein, Jessie, jedenfalls meistens. Vor dem Sterben hat man
Angst.

JESSIE Ich nicht, Mama. Mir ist sowieso dauernd kalt.

MAMA Lächerlich.

JESSIE Es ist, was ich mir wünsche. Still und dunkel.

MAMA Das ist es im Garten auch, Jessie. Mach die Augen zu, stopf dir Watte in die
Ohren. Leg dich ein bißchen hin. In deinem Zimmer ist es still. Den Fernseher laß
ich aus, die ganze Nacht.

JESSIE So still, daß ich nicht merke, wie still. Und keiner holt mich zurück.

MAMA Tot, du weißt nicht, wie das ist. Vielleicht ist es überhaupt nicht still. Vielleicht ist
es wie ein Wecker, und du kannst nicht aufwachen, also kannst du ihn nicht
abstellen. Nie mehr.

JESSIE Tot ist jeder und alles, was ich je kannte, verschwunden. Tot ist gleich totenstill.

MAMA Das ist eine Sünde. Du kommst in die Hölle.

JESSIE Ja ja.

MAMA Jawohl!

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JESSIE Wenn du mich fragst, Jesus war ein Selbstmord.

MAMA Allein dafür kommst du in die Hölle. Jessie!

JESSIE (echte Überraschung) Es war mir nicht bewußt, daß ich das denke.

MAMA Jessie!

Jessie antwortet nicht. Sie legt den geladenen Revolver zurück in die Schachtel
und geht in die Küche hinüber. Aber Mama befürchtet, daß sie ins Schlafzimmer
will. Mama, panisch:

Meine Handtücher kannst du nicht nehmen! Die gehören mir. Seit eh und jeh. Und
die möchte ich noch.

JESSIE Ich habe gefragt, ob du das Badetuch willst, und du hast nein gesagt.

MAMA Und den Revolver von deinem Vater kannst du auch nicht nehmen. Der gehört
jetzt auch mir. Und in meinem Haus kannst du es auch nicht machen.

JESSIE Ach, also komm.

MAMA Nein. Völlig unmöglich. Das laß ich nicht zu. Das Haus läuft auf meinen Namen.

JESSIE Ich muß ins Schlafzimmer und muß die Tür hinter mir abschließen, damit man
dich nicht wegen Mordes verhaftet. Wahrscheinlich wird man deine Hände
sowieso auf Pulverspuren testen, aber die lassen dich schon laufen.

MAMA Nicht in meinem Haus!

JESSIE Wenn ich gewußt hätte, daß du dich so anstellst, hätt ich’s dir nicht gesagt.

MAMA Wie soll ich mich denn anstellen? Soll ich sagen, mach ruhig? Schon okay, Süße.
Vielleicht probier ich’s auch mal. Wieso hast du eigentlich so lange gewartet?

JESSIE Es ist völlig zwecklos, du bringst mich nicht davon ab, basta. Willst du Kaffee?

MAMA Du hast bald Geburtstag, Jessie. Bist du nicht neugierig, was wir für dich haben?

JESSIE Du Rußpulver, Loretta einen neuen Hausmantel, wahrscheinlich pink, und


Dawson hat neue Hausschuhe für mich, zu klein, aber passend zum Morgenrock,
wird er sagen. (Mama kriegt keinen Ton raus.) Stimmt’s? (Offensichtlich stimmt
einiges.) Bin sofort wieder da.

Jessie nimmt die Revolverschachtel, legt sie auf den Stapel Handtücher und
Mülltüten und nimmt alles mit in ihr Schlafzimmer. Mama, die einen Moment
allein bleibt, geht zum Telefon, nimmt den Hörer ab, schaut in Richtung

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Schlafzimmer, beginnt zu wählen und legt den Hörer wieder auf, als Jessie ins
Zimmer zurückkommt. Jessie überlegt, schweigt. Sie leben schon so lange
zusammen, daß sie so gut wie nie nachfragen müssen, was die andere gerade tun
wollte.

MAMA Ich war drauf und dran, hab’s aber nicht getan. Ich hab ihn nicht angerufen.

JESSIE Gut. Danke.

MAMA (neuer Versuch) Was soll das alles, Jessie?

JESSIE Wie?

Jessie widmet sich jetzt der nächsten Aufgabe auf “ihrem Plan”, sie füllt die
vielen Süßigkeiten in den Gläsern neu auf, nimmt die leeren Papierhüllen aus den
Pralinen-Schachteln etc. Normalerweise stibitzt Mama dabei immer etwas. Heute
abend nicht. Jessie bietet ihr trotzdem etwas an.

MAMA Was hab ich getan?

JESSIE Nichts. Ein Karamel?

MAMA (ignoriert das Bonbon) Du bist wütend auf mich.

JESSIE Kein bisschen. Ich mach mir Sorgen um dich, aber bevor ich geh, tu ich für dich,
was ich kann. Heute abend wird nicht bloß herumgesessen. Ich habe eine Liste
gemacht.

MAMA Eine Liste?

JESSIE Wie die Waschmaschine funktioniert und so.

MAMA Bist du früher dreckig rumgelaufen?

JESSIE Nein.

MAMA Ich weiß, wie die Waschmaschine funktioniert. Kleider rein. Waschpulver rein.
Anstellen. Warten.

JESSIE Man beschäftigt sich mit was. Man wartet nicht nur.

MAMA Mag man sich beschäftigen, aber hauptsächlich wartet man. Das Warten ist das
Schlimmste. Wenn möglich, bezahlt man jemanden für das Warten.

JESSIE (nickt) Okay. Wo ist das Waschpulver?

MAMA Das find ich schon.

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JESSIE Siehst du?

MAMA Falls du wütend bist, weil du die Wäsche machen mußt, dann soll Loretta sie
machen.

JESSIE O-oh, für den Anblick würde sich das Bleiben fast lohnen.

MAMA Die würde nie im Leben dran denken, oder?

JESSIE Nää.

MAMA Was die bloß hat?

JESSIE Hält sich für was Besseres. Ist sie aber nicht.

MAMA Vielleicht, wenn sie nicht dauernd dieses Gelb anhätte.

JESSIE Die Nummer von der Waschmaschienen-Reparatur steht auf einem Kärtchen, es
klebt an der Seite.

MAMA Loretta muß hier nie wieder herkommen. Dawson läßt sie einfach zu Hause, wenn
er kommt. Und Dawson treffen wir auch nie mehr, wenn er dich nervt. Nervt er
dich?

JESSIE Allerdings. Vergiß nicht, das Fussel-Sieb zu reinigen, wenn du den Trockner
benutzt. Aber tu bloß deine Hausschuhe nicht rein, die Sohlen schmelzen.

MAMA Was nervt dich an Dawson?

JESSIE Er nennt mich einfach Jess, als wüßte er, wer vor ihm steht. Ständig überlegt er,
was ich den ganzen Tag so mache. Ich meine, das überlege ich selber, aber es ist
mein Tag, und da muß ich mir das überlegen und nicht er.

MAMA Familie ist Glückssache, Jessie. Du persönlich bist nicht gemeint, Schätzchen.
Keiner trampelt absichtlich auf dir herum. Keiner ist absichtlich deine Familie, es
ist einfach so.

JESSIE Sie wissen zu viel.

MAMA Wovon?

JESSIE Sie wissen alles mögliche über einen, haben es mitgekriegt, als man noch gar
keine Chance hatte, überhaupt zu sagen, ob es einem recht ist, daß sie das wissen
oder nicht. Sie waren dabei, als es passiert ist, aber es geht sie nichts an, es geht
nur mich an. Aber sie mischen sich ein. Mein BH vom Versandhandel zum
Beispiel wurde bei ihnen abgegeben.

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MAMA Reiner Zufall!

JESSIE Egal ... sie haben ihn ausgepackt. Sie haben die kleinen Rosenknospen gesehen.
(Bietet ihr weitere Süßigkeiten an) Pfefferminz?

MAMA (schüttelt verneinend den Kopf) Was wissen sie über dich? Ich sag, sie sollen es
nie wieder erwähnen. Nicht Ricky, nicht Cecil, nicht deine Anfälle, nicht daß dir
die Haare ausgehen, daß du zuviel Kaffee trinkst oder das Haus nicht mehr
verlässt. Und so weiter.

JESSIE Ich kann einfach ihr Geschwätz nicht ausstehen. Du rufst im Lebensmittelladen
an, und lässt auf Dawsons Name anschreiben. Die Nummer steht in einer ganzen
Liste von Nummern hinten auf dem Telefonbuch drauf.

MAMA Na gut! Jetzt kommen wir der Sache langsam näher. Die werden hier nie wieder
einen Fuß über diese Schwelle setzen.

JESSIE Sie sind es nicht, Mutter. Ich würde mich nicht umbringen, bloß um sie
loszuwerden.

MAMA Du gehst sowieso aus dem Zimmer, wenn sie hier sind.

JESSIE Ich bleibe, so lange ich kann. Außerdem kommen sie deinetwegen.

MAMA Nur weil ich im Zimmer bleibe, wenn sie kommen.

JESSIE Sie sind es nicht.

MAMA Was dann?

JESSIE (geht die Liste auf ihrem Notizblock durch) Der Lebensmittelladen stellt samstags
nicht mehr zu. Und wenn du die Bestellung noch am selben Tag willst, mußt du
vor 10 Uhr anrufen. Und unter 15 Dollar stellen sie gar nichts mehr zu. Ich sage
ihnen immer, was wir brauchen, und dann sag ich, sollen sie Zigaretten
draufhauen, bis wir bei 15 Dollar sind.

MAMA Es ist Ricky. Du versuchst, an ihn ranzukommen.

JESSIE Wenn ich das für möglich hielte, würde ich bleiben.

MAMA Es soll ihm leid tun, daß er dich verletzt hat.

JESSIE Er hat mich verletzt, ich hab ihn verletzt. Wir sind ungefähr quitt.

MAMA Du sagst ihm damit, daß du Töten okay findest. Dann kann er ja als nächstes ruhig
töten, oder? Nicht so wild. Mama hat’s auch getan.

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JESSIE Es ist sowieso nur eine Frage der Zeit, Mama. Wenn er anruft, soll Dawson das
regeln.

MAMA Kleines, es ist nicht gesagt, daß jeder Anruf neue Scherereien bringt. Eines Tages
kriegst du zu hören, er hat einen Job, er wird heiraten, oder er ist in die Armee,
wäre das nicht schön?

JESSIE Wenn du, bevor du im Lebensmittelladen anrufst, bei der ”Naschkatze” anrufst,
Susie soll dein Zuckerzeug nach nebenan in den Laden rüberbringen, dann wird
alles zusammen hier rausgeliefert. Allerdings mußt du mit Susie selbst reden.
Damit die es nicht wieder ganz unten in die Tüte packen, wie schon mal, weißt du
noch?

MAMA Vielleicht kommt Ricky uns besuchen. Und wenn er anruft?

JESSIE Es ist nicht Ricky, Mama.

MAMA Plötzlich ruft irgend jemand an, Jessie.

JESSIE Nicht Samstagabends, Mama.

MAMA Was hast du dann? Bist du krank? Wenn dein Zahnfleisch sich wieder entzündet,
gehen wir morgen früh zum Zahnarzt mit dir.

JESSIE Nein. Kannst du deine Medikamente selber bestellen, oder soll Dawson das
machen? Ich hab ihm einen Zettel geschrieben. Wenn du willst, schreib ich es
dazu.

MAMA Deine Augen sehen nicht gut aus. Hab ich gestern schon gedacht.

JESSIE Das war bloß das Traubenkraut. Ich bin nicht krank.

MAMA Epilepsie ist krank, Jessie.

JESSIE Sie bringt mich nicht um. (Pause.) Wenn sie es täte, müßt ich’s nicht tun.

MAMA Du mußt doch nicht.

JESSIE Nein, überhaupt nicht. Das mag ich daran.

MAMA Ich erlaub’s dir nicht!

JESSIE Du hast nichts zu sagen.

MAMA Jessie!

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JESSIE Am besten, ich häng mir ein riesiges Schild um den Hals, wie das von Papa an der
Scheune. Bin Angeln.

MAMA Dir gefällt es hier nicht.

JESSIE (lächelt) Genau.

MAMA Ich meine hier in meinem Haus.

JESSIE Ich weiß, was du meinst.

MAMA Du hättest nicht wieder bei mir einziehen dürfen. Hättest du dein Häuschen
behalten oder dir was anderes gesucht, als Cecil dich verließ, dann hättest du
inzwischen wenigstens einen neuen Freundeskreis. Ein eigenes Leben. Mit deinen
eigenen Sachen um dich rum. Einen Ort, an dem Ricky dich besuchen könnte. Du
hättest nicht hierher kommen dürfen.

JESSIE Mag sein.

MAMA Aber gezwungen hab ich dich nicht, oder?

JESSIE Wenn es ein Fehler war, dann haben wir ihn beide gemeinsam gemacht. Du hast
mich aufgenommen. Dafür bin ich dankbar.

MAMA Du warst damals nicht in der Verfassung, allein zu sein, aber ich seh schon, du
brauchst vielleicht einen Ort ganz für dich. Hier in der Nähe oder weiter weg, wie
du willst. Eine erwachsene Frau sollte ...

JESSIE Mama ... Ich kann mich einfach nicht freuen, und ich habe keinen Grund,
anzunehmen, daß es nicht noch schlimmer wird. Ich bin’s leid. Ich bin verletzt.
Ich bin traurig. Ich fühle mich ausgelaugt.

MAMA Was bist du leid?

JESSIE Alles.

MAMA Was heißt das?

JESSIE Besser kann ich’s nicht sagen.

MAMA Du mußt es aber besser sagen, vorher geb ich keine Ruhe. Was war das alles.
Verletzt ... (Bevor Jessie antworten kann) Das hast du dir vorher so zurechtgelegt,
um es mir zu sagen, ja? Hast du es aufgeschrieben? Wie lange denkst du schon
dran?

JESSIE Immer mal wieder seit zehn Jahren. Pausenlos seit Weihnachten.

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MAMA Was war Weihnachten?

JESSIE Nichts.

MAMA Warum dann Weihnachten?

JESSIE Einfach so. Haargenau darum.

Pause. Mama weiß genau, was Jessie meint. Sie war ja schließlich dabei. Jessie
packt die mit Süßem gefüllten Tütchen weg.

Siehst du, wo was steht? In der ersten Reihe die scharfen Roten, und saure Drops
und Hustenbonbons zusammen in einem Tütchen. Dahinter frische Toffees und
Lakritze.

MAMA Noch mal zu deiner Liste. Was hat dich verletzt?

JESSIE (Mama weiß es ganz genau) Mama...

MAMA Okay. Warum traurig? Es gibt im Moment nichts wirklich Trauriges. Wenn jetzt
nach deiner Scheidung wär oder so, das wäre verständlich.

JESSIE (schaut auf ihre Liste, dann in die Schublade) Also, in dieser Schublade ist alles,
was sonst keinen Platz hat. Verlängerungskabel, Radio-Batterien, Feuerzeuge,
Schmirgelpapier, Klebeband, Uhu, Reißnägel und so Zeugs. Mausefallen sind
unterm Waschbecken, aber ruf Dawson an, wenn du eine hast, er soll das machen.

MAMA Traurig wegen was?

JESSIE Wie alles so ist.

MAMA Das genügt nicht. Was alles?

JESSIE Ach, alles von dir und mir bis Rot China.

MAMA Ich glaube, die Chinesen lassen wir mal beiseite.

JESSIE (geht wieder ins Wohnzimmer) Im Flurschrank in der Schachtel sind noch
Glühbirnen. Im Sicherungskasten haben wir mehrere Päckchen Sicherungen.
Kerzen und Streichhölzer sind im Besenschrank oben, aber falls das Licht ausgeht,
rufst du einfach Dawson an und rührst dich nicht vom Fleck. Und laß bloß den
Kühlschrank zu. Solange du die Tür nicht aufmachst, bleibt alles kühl.

MAMA Ich habe dich was gefragt.

JESSIE Ich habe die Zeitung gelesen. Ich mag einfach nicht, wie’s zugeht. Draußen ist’s
nicht besser als hier drin.

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MAMA Wenn du es wegen der Zeitung tust, dann weiß ich was!

JESSIE Im Fernsehen kommt auch nichts anderes.

MAMA (tritt nach dem Fernseher) Dann raus damit!

JESSIE Das würdest du nie tun.

MAMA Wart’s ab.

JESSIE Was würdest du den ganzen Tag machen?

MAMA (verzweifelt) Singen. (Jessie lacht.) Da lachst du. Du wirst sehen. Ich singe um
dein Leben, wenn’s sein muß, bis morgen früh, Jessie, bitte!

JESSIE Nein. (Dann zärtlich) Trotzdem, lustige Idee. Was singst du?

MAMA (hat keine Ahnung, was sie jetzt sagen soll) Wir beide haben’s nicht so schlecht
hier!

JESSIE (geht in die Küche zurück) Heute morgen habe ich angerufen, die Zeitung
abbestellt, außer Sonntags, die Rätsel, die kriegst du noch.

MAMA Komm, wir holen wieder einen Hund, Jessie! Dieses Riesenvieh hattest du doch
gern, diesen Königs-Hund, ja?

JESSIE (wäscht sich die Hände) Ja, der Königs-Hund.

MAMA Mein Gott, bin ich blöd. Der ist in den Trecker gerannt.

JESSIE Dann ist er blöd, nicht du.

MAMA Daß ich davon anfange.

JESSIE Schon okay. Küchenkrepp und Schwämme unterm Waschbecken.

MAMA Wir holen einen neuen Hund und halten ihn im Haus. Hunde kosten nicht viel!

JESSIE (nimmt jetzt große Pillengläser aus dem Schrank) Nein.

MAMA Dann kannst du dich um was kümmern.

JESSIE Ich hatte ja dich, Mama.

MAMA (manisch füllt sie die Pillengläser auf) Du tust zu viel für mich. Ich kann den
ganzen Tag lang Pillengläser auffüllen, Jessie, ich kann das Schrankpapier

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wechseln, und wenn ich damit fertig bin, kann ich den Boden wischen. Laß mich
einfach mal machen. Du rührst in diesem Haus keinen Finger mehr, wenn du nicht
willst. Du mußt dich nicht um mich kümmern, Jessie.

JESSIE Ich weiß. Du hast es mir nur erlaubt, damit ich was zu tun habe, stimmt’s?

MAMA (begreift, daß dies ein Fehler war) So gut wie du bin ich natürlich nicht, ich meine
ja nur, wenn du es leid bist oder wenn du dir ausgenutzt vorkommst ...

JESSIE Mama, du bist doch immer Bus gefahren. Im Bus ist es heiß und rumplig und
überfüllt und zu laut und, mehr als alles in der Welt, willst du aussteigen, und du
steigst nur aus einem einzigen Grund nicht aus, es sind noch 50 Blocks bis dahin,
wo du hinwillst? Also, ich kann, wenn ich will, sofort aussteigen, denn auch wenn
ich noch 50 Jahre bleibe und dann abspringe, lande ich an genau demselben Fleck.
Wenn ich Lust habe, steige ich aus. Sobald’s mir reicht, ist meine Haltestelle. Und
mir reicht es.

MAMA Du tust dir selber leid!

JESSIE Abflussreiniger ist auch unterm Waschbecken.

MAMA Du kannst dich nicht freuen! Wer um Gottes willen hat dir je Freude versprochen?
Glaubst du, ich hab mich gefreut?

JESSIE Ja, allerdings, ich glaube, du bist ziemlich glücklich. Du hast was, das du gern
tust.

MAMA Zum Beispiel?

JESSIE Zum Beispiel Häkeln.

MAMA Das bring ich dir bei.

JESSIE Diese Fleißarbeiten bringen mir nichts, Mama.

MAMA Freude rennt einem nicht hinterher, Jessie. Setz dich an die Rätsel, leg ein
Gärtchen an oder geh einkaufen. Wir rufen ein Taxi, und du gehst zu Woolworth.

JESSIE Für die nächsten zwei Wochen hab ich dich voll eingedeckt. Das Klopapier reicht
bis Thanksgiving.

MAMA (unterbricht) Du führst dich auf wie so’ne verzogene Göre, Jessie. Du bist sauer,
und die andern sind alle langweilig, du kannst nichts mit dir anfangen, mich
kannst du nicht ausstehen, und rausgehen ist nichts und drinbleiben auch nicht, am
Telefon redest du nicht, und fern guckst du auch nicht, und du fühlst dich
beschissen, aber es ist ganz allein deine Schuld.

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JESSIE Zeit, daß ich was ändre.

MAMA Du mußt dich nicht gleich umbringen. Du kannst doch ... neues Geschirr für uns
kaufen! Fänd ich toll. Oder vielleicht erlaubt der Arzt jetzt, daß du den
Führerschein machst, oder ich weiß was, wir stellen die Möbel um, jetzt gleich.

JESSIE Mach ich alles. Wenn du willst. Ich dachte immer schon, wenn der Fernseher
anders stünde, hättest du tagsüber nicht diese Spiegelung drauf. Ich tu, was du
willst, bevor ich gehe.

MAMA (durch diese Worte zutiefst erschreckt) Such dir einen Job!

JESSIE Ich hatte einen, Telefon-Marketing, mein Verdienst hat nicht mal für die
Telefonrechnung gereicht, und ich hab’s im Andenkenladen im Krankenhaus
probiert, dann hieß es, mit meinem Lächeln würde ich die Leute verunsichern.

MAMA Buchhaltung, das wär’s. Für deinen Vater hast du die Bücher geführt.

JESSIE Die hat nie einer geprüft.

MAMA Als er starb, wurden sie geprüft.

JESSIE Und danach hat man mir die Bücher weggenommen.

MAMA Ja, weil’s ohne ihn kein Geschäft mehr gab, Jessie!

JESSIE (räumt die Pillenfläschchen weg) Du weißt, arbeiten ist nicht drin. Ich kann nichts
tun. Mein ganzes Leben lang war ich nie unter Leuten, außer als ich in die Klinik
eingeliefert wurde. Ständig drohte der Anfall. Wozu also ein Job? Der Job, den ich
kriegen könnte, würde mich nur noch mehr deprimieren.

MAMA Jessie!

JESSIE Es ist die Wahrheit!

MAMA Du hältst es für die Wahrheit!

JESSIE (die Klarheit trifft sie) Stimmt. Ich halt’s für die Wahrheit!

MAMA (hysterisch) Dann kann ich nichts mehr tun!

JESSIE (leise) Nein. Bei Gott nicht. (Mama klappt zusammen, wenn nicht körperlich,
dann zumindest emotional.) Und ich kann auch nichts mehr tun, für mein Leben,
nichts ändern, nichts verbessern, nicht mal meine Einstellung. Es mehr zu mögen,
es in den Griff zu kriegen. Aber ich kann es beenden. Schließen, abschalten wie
ein Radio, wenn nichts kommt, was ich hören möchte. Es ist das einzige, was ich

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wirklich besitze, es gehört mir, und ich bestimme, was damit geschieht. Es endet.
Ich werde es beenden. Also. Freuen wir uns noch ein bißchen.

MAMA Freuen.

JESSIE Wir können uns nicht den ganzen Abend lang bloß aufregen. Warum stell ich dir
nicht ein paar Fragen, die mich schon immer interessiert haben, und du machst mir
eine heiße Schokolade. Wie früher.

MAMA (aus Verzweiflung) Dazu brauch ich Kakao, Jessie.

JESSIE (nimmt den Kakao aus dem Schrank) Hab ich gekauft, Mama. Und einen
Karamell-Apfel, bitte, und dann mach ich dir die Nägel.

MAMA Das Abendessen hast du stehen lassen.

JESSIE Heißt das, ich krieg keinen Karamell-Apfel?

MAMA Natürlich nicht. Ich meine, (lächelt zaghaft) natürlich kriegst du einen Karamell-
Apfel.

JESSIE Das mein ich doch auch.

MAMA Ich mache die besten Karamell-Äpfel der Welt.

JESSIE Das weiß ich doch.

MAMA Jedenfalls früher. Und einen Kakao wie meinen kriegt man heute gar nicht mehr.

JESSIE Der braucht vor allem Zeit, ich weiß, aber ...

MAMA Salz ist der Trick.

JESSIE Ganz schön aufwendig.

MAMA (weicht zurück Richtung Herd) Nicht aufwendig. Wieso aufwendig? Rein in den
Topf und umrühren. Na bitte. Wunderbar. Karamell-Äpfel. Kakao. Okay.

Jessie geht zum Buffet, um ihre Zigaretten herauszuholen, während Mama nach
dem richtigen Tiegel sucht. Kurz der Anflug eines Lächelns, vielleicht räuspert
sich Mama. Ein Moment Waffenstillstand. Echt, aber trotz allem ungemütlich.
Jessie, die von Anfang an ununterbrochen heumwirbelte, bleibt jetzt gerne sitzen.
Mama schaut nach einem Tiegel für den Kakao, dazu nimmt sie alle Töpfe aus
dem Schrank. Es wirkt, als schaffe sie absichtlich Unordnung, damit Jessie wieder
alles wegräumen muß. Mama schindet Zeit oder versucht es wenigstens, und sie
ist Gastgeberin.

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JESSIE Heute schon mit Agnes geredet?

MAMA Sie hat mich diese Woche aus der Telefonzelle angerufen. Weiß Gott warum. Hat
einen absolut perfekten Superanschluß zu Hause.

JESSIE (lacht) Und, wie ist sie drauf?

MAMA Wie sie immer so drauf ist, Jessie. Durchgeknallt.

JESSIE Ist sie wirklich verrückt oder bloß blöde?

MAMA Nein, wirklich verrückt. Wahrscheinlich rief sie aus der Zelle an, weil sie zu
Hause mal wieder ein Feuer-Problemchen hatte.

JESSIE Mutter ...

MAMA Im Ernst! Agnes Fletcher hat bisher noch jedes Haus angezündet, in dem sie
gewohnt hat. Acht Mal hat’s gebrannt, allmählich ist wieder mal was fällig.

JESSIE (lacht) Nein!

MAMA (hat jetzt richtig Spaß dran) Überraschen würd’s mich nicht.

JESSIE (lacht) Wieso hast du mir das nie erzählt? Wieso sperrt man sie nicht ein?

MAMA Vermutlich weil nie wer verletzt wurde. Agnes hat immer alle geweckt, damit sie
dem Feuer zusehen konnten, nachdem sie es gelegt hatte.

JESSIE Wie lieb von ihr.

MAMA Einmal hat sie die Stühle von der Veranda rausgestellt und Bowle serviert.

JESSIE (kopfschüttelnd) Echte Bowle?

MAMA Die Häuser, in denen die wohnten, waren sowieso kurz vorm Einstürzen, das
wußte jeder, warum also warten, mehr hab ich nicht rausgekriegt. Agnes braucht
das Gefühl, es gehe voran.

JESSIE (denkt kurz darüber nach) Freut mich für sie.

MAMA (findet den richtigen Tiegel) Warum fragst du nach Agnes? Eine Tasse oder zwei?

JESSIE Eine. Sie ist deine Freundin. Keine Marshmallows.

MAMA (holt die Milch etc.) Marshmallows sind ein Muß. Wie früher, Jess. Zwei oder
drei? Besser sind drei.

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JESSIE Na gut, drei. Ihr Haus brennt komplett runter? Ihre Klamotten, ihre Kissen, alles?
Ich weiß nicht, ob ich das glauben soll.

MAMA Als sie ein junges Mädchen war, Jess, nicht jetzt. Es ist lange her. Aber die hat’s
immer noch in sich, da bin ich sicher.

JESSIE Jetzt würde sie ihr Haus nie anzünden. Wo sollte sie hin? Buster ist tot, er kann ihr
kein neues mehr bauen. Wozu also?

MAMA Wäre aber doch spannend. Und man weiß nie.

JESSIE Doch, Mama, man weiß. Sie würde es nicht tun.

MAMA (muß es zugeben, doch widerwillig) Dann eben nicht.

JESSIE Was noch? Warum trägt sie so viele Pfeifen um den Hals?

MAMA Warum hat sie das ganze Haus voller Vögel?

JESSIE Ich wußte nicht, daß sie das ganze Haus voller Vögel hat!

MAMA So ist es aber. Sie behauptet, die flögen ihr einfach zu. Na ja, Tatsache ist, den
Papagei, den sie zuletzt gekauft hat, zahlt sie noch ab. Bloß nicht im Leerlauf
leben, sagt sie. Sie sagt lauter so blödes Zeug. (Jessie lacht, Mama fährt fort,
überzeugt, damit etwas zu erreichen.) Sie ißt einfach zuviel von diesem Okra.
Man kann nicht zweimal täglich frisch und fröhlich Okra essen, und meinen, das
hätte keine Folgen. Hat sie verrückt gemacht.

JESSIE Sie ißt wirklich zweimal täglich Okra? Woher nimmt sie das im Winter?

MAMA Sie ißt es jedenfalls in Mengen. Vielleicht nicht zweimal täglich, aber ...

JESSIE Mehr als der Durchschnittsbürger.

MAMA (allmählich verärgert) Was weiß ich, wieviel Okra der Durchschnittsbürger ißt.

JESSIE Weißt du, wieviel Okra Agnes ißt?

MAMA Nein.

JESSIE Wie viele Vögel hat sie?

MAMA Zwei.

JESSIE Wozu dann die Pfeifen?

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MAMA Es sind keine richtigen Pfeifen. Bloß kleine aus Plastik an einer Kette, die sie mal
beim Bingo gewonnen hat, und ich hab dir das nur erzählt, damit du eventuell mal
wieder lachst, einmal wenigstens, auch wenn es nicht wahr ist, Jessie. Es muß ja
nicht immer alles wahr sein, was man redet.

JESSIE Warum kommt sie nie her?

Plötzlich ist Mama still, aber Kakao und Milch sind im Tiegel, also zündet sie den
Herd an und rührt.

MAMA Ach, eine tolle Idee. Wir hätten öfter Kakao trinken sollen. Kakao ist Spitze.

JESSIE Bloß, daß du keine Milch magst.

MAMA (ein weiterer Versuch, aber weniger nachdrücklich) Milch kann ich nicht
ausstehen. Verschleimt den Rachen, schlimmer als Okra. Irgendwie richtig eklig.

JESSIE Wegen mir, stimmt’s?

MAMA Nein, Jess.

JESSIE Doch, Mama.

MAMA Okay. Dann halt ja, aber sie ist verrückt. Verrückter geht’s nicht. Sie ist
geistesgestört.

JESSIE Warum genau? Hab ich irgendwann mal was gesagt? Oder hat sie mal einen
Anfall mitgekriegt und hat Angst, wenn sie rüberkommt, passiert’s gleich noch
mal?

MAMA Vermutlich.

JESSIE Vermutlich was? Was hat sie gesagt? Sie muß dir ja einen Grund genannt haben.

MAMA Du hast kalte Hände.

JESSIE Was hat das damit zu tun?

MAMA Wie eine Leiche, sagt sie, und eine Leiche bin ich selbst schon bald.

JESSIE Ganz und gar verrückt.

MAMA Ganz und gar Agnes. “Jessie hat dem Tod die Hand gereicht, und ich kann nicht
riskieren, mich anzustecken, Thelma, ich kann nicht rüberkommen, ob du mich
verstehst oder nicht, ich kann nicht kommen. Bis zur Toreinfahrt ja, aber keinen
Schritt weiter.”

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JESSIE (lacht, beruhigt) Ich dachte, sie hätte was gegen mich! Sie hat Angst vor mir! Na
so was! Angst vor mir.

MAMA Ich könnte sie schon holen, Jessie. Ich könnte jetzt gleich anrufen, sie soll uns
besuchen und die Vögel mitbringen. Ich wußte nicht, daß sie dich beschäftigt. Ich
sag einfach, sie muß kommen, dann kommt sie auch. Sie schuldet mir noch was.

JESSIE Nein, schon gut. Ich hab mich nur gewundert. Kommt sie rüber, wenn ich im
Krankenhaus bin?

MAMA Sie hat nur so’n winziges Ding von Küche. Wenn sie hier ist, fühlt sie sich wie ...
(Schwächt es ein wenig ab) Na ja, ein Tapetenwechsel tut uns allen mal gut, oder?

JESSIE (spielt mit) Ja klar. Außerdem schwirren hier keine Vögel um einen rum.

MAMA Ich ertrage diese Vögel nicht. Sie behauptet, ich verstehe sie nicht. Was soll man
an Vögeln groß verstehen?

JESSIE Was Agnes an ihnen findet, zum Beispiel. Warum sie bei ihr bleiben, wo sie
draußen bei den andern Vögeln sein könnten. Wieviel Wasser sie brauchen. Was
ihr Gezwitscher bedeutet. Wie sie fliegen. Wofür sie Agnes halten.

MAMA Warum immer über alles soviel wissen wollen, Jessie? Soviel ist gar nicht dran an
allem, und ich hab schon so einiges gesehen.

JESSIE Du hast so einiges erzählt, meinst du. Die Lüge mit Agnes hätte nicht sein müssen.

MAMA Ich hab nicht gelogen. Du hast mich nur nie gefragt!

JESSIE Das war gelogen, die ganzen abgefackelten Häuser, die unzähligen Vögel, die
Unmengen von Okra und warum sie nie zu uns kommt. Wenn ich dir weiter die
Wahrheit aus der Nase ziehen muß, dann sitzen wir morgen früh noch hier.

MAMA Das macht mir gar nichts. Ich bin überhaupt nicht müde.

JESSIE Mama ...

MAMA Na schön. Frag, was du willst. Hier, bitte.

Eine unangenehme Stille, als der Kakao fertig ist. Mama gießt ihn in die Tassen,
die Jessie hinhält.

JESSIE (als Mama das erste Schlückchen nimmt) Hast du Papa geliebt?

MAMA Nein.

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JESSIE (zufrieden, daß Mama die Regeln jetzt verstanden hat) Hätt ich auch nicht
gedacht. Hast du ihn wirklich mit fünfzehn geheiratet?

MAMA Wie er’s erzählt hat? Ich sitze im Dreck, er kommt vorbei, schleppt mich ab in die
Küche, “Und dort ist sie geblieben”?

JESSIE Genau.

MAMA Nein. Eine riesige, fette Lüge, das Ganze. Er hat nur gedacht, es sei lustiger so. Oh
Gott, diese Milch.

JESSIE Der Kakao hilft.

MAMA (zufrieden, daß sie sich wenigstens hierin einig sind) Aber nicht ganz, oder? Man
schmeckt sie durch, oder?

JESSIE Ja, sie ist schlecht. Ich dachte, mein Gedächtnis sei schlecht, aber nein. Es ist die
Milch, na prima.

MAMA Schade um die Schokolade. Laß es ruhig stehen.

JESSIE (stellt ihre Tasse hin) Trotzdem danke.

MAMA Ich hätte das gar nicht machen sollen. Mir war klar, daß es dir nicht schmecken
würde. Hat dir doch noch nie geschmeckt.

JESSIE Hast du ihn nie geliebt, oder hat er was getan, und deine Liebe war weg oder was?

MAMA Ich hab ihm leid getan. Er wollte eine einfache Frau vom Land, und die hat er
geheiratet, und das hat er mir dann mein ganzes Leben lang vorgeworfen, ich hätte
mich ändern sollen, ihn überraschen müssen. Eines Tages zum Beispiel, er stand
auf der Veranda, da sagte ich, er solle sich ein Hemd anziehen, er ging rein und
holte eins, und dann sagte er, total friedlich, aber so, daß es saß: “Du hast recht,
Thelma. Wenn Gott gewollt hätte, daß die Leute ohne Kleider herumlaufen, dann
kämen sie so zur Welt.”

JESSIE (merkt, Mama ist verletzt) Das hat er so dahergequatscht, Mama.

MAMA Nie hat er auch nur ein Wort zuviel gesagt, Jessie. Wahrscheinlich war das alles,
was er an diesem Tag mit mir geredet hat, Jessie. Wenn er es also gesagt hat, dann
hieß es auch was, aber was, darauf bin ich nie gekommen. Was wollte er sagen?

JESSIE Keine Ahnung. Ich konnte ihn besser leiden als du, aber besser gekannt hab ich
ihn auch nicht.

MAMA Wie hätte ich ihn lieben sollen, Jessie. Ich war einfach nicht, was er wollte. (Jessie
antwortet nicht.) Aber gefehlt hat ihm nichts. Du hast ihn für uns beide geliebt. Du

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bist ihm hinterhergelaufen wie eine ... Jessie, für den Mann gab’s nichts als ackern
und dasitzen ... und phantasieren, wem er die Farm verkaufen könnte.

JESSIE Mir hat er einen Spielkameraden aus Pfeifenputzern gebastelt, und dann hat er sich
zurückgelehnt und gelächelt, als würde das Draht-Männchen gleich loshopsen –
und ich mich vor Freude gleich überschlagen. Und er ist die ganze Nacht bei einer
kranken Kuh geblieben, und morgens hat er mir eine Herde müder Draht-
Elefanten auf die Bettdecke gelegt.

MAMA Manchmal saß er bloß da.

JESSIE Ich mochte es, wenn er dasaß. Mann im Sessel, groß, alt, verblichen, traurig. Still.

MAMA Agnes kriegt aus ihren Vögeln mehr raus als ich aus euch beiden zusammen. Als
hätte er dort in seinem Sessel das Schild um den Hals, Bin Angeln. Ich sah ihn
aufs Wasser starren. Ich sah ihn die Wolkenfront beobachten, die heraufzog. Es
kam sogar soweit, daß ich praktisch das Boot schon sah. Aber du, du wußtest,
woran er dachte, und das erzählst du mir jetzt.

JESSIE Ich weiß es nicht, Mama! An sein Leben, vermutlich. Sein Getreide. Seine Stiefel.
An uns. Alles mögliche. Du weißt schon.

MAMA Nein, nichts weiß ich, Jessie! Jeden Abend nach dem Essen habt ihr ganz leise
miteinander geredet. Was habt ihr da getuschelt?

JESSIE Wir haben nicht getuschelt, du warst bloß in der andern Ecke des Zimmers.

MAMA Worüber habt ihr geredet?

JESSIE Wir haben darüber geredet, warum schwarze Socken wärmer sind als blaue
Socken. Rennt man damit zu seiner Mutter? Du warst einfach eifersüchtig, weil
ich mich lieber mit ihm unterhielt, als mit dir das Geschirr abzuwaschen.

MAMA Ich war eifersüchtig, weil du dich am liebsten nur noch mit ihm unterhalten hast!
(Jessie langt über den Tisch nach einer kleinen Uhr, zieht sie auf.) Wenn ich
gestorben wäre und nicht er, er hätte dich nicht aufgenommen.

JESSIE Das hätte ich auch nicht erwartet, von ihm.

MAMA Was hättest du gemacht?

JESSIE Ihn besucht.

MAMA Ach, ich verstehe. Er ist gestorben, und du bist auf mich angewiesen, und das
macht dich wütend.

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JESSIE (steht vom Tisch auf) Jetzt nicht mehr. Er hat es nicht vorsätzlich getan. Und ich
hätte ja nicht einziehen müssen. Das haben wir doch schon durch.

MAMA Oder vielleicht denkst du, wenn ich ihn mehr geliebt, wenn ich ihn überhaupt
geliebt hätte, wäre er noch am Leben.

JESSIE Hab ich nie gedacht.

MAMA Du hast ihm auch leid getan, Jessie, mach dir da nichts vor. Er sagte, du seist zu
schwach, und zwar vom Tag deiner Geburt an, und er sagte, du hättest keine
Chance.

JESSIE (nimmt die Zuckerdose und füllt die Schale mit Zucker auf) Ich weiß, daß er mich
geliebt hat.

MAMA Und wenn schon. Geändert hat es nichts.

JESSIE Das war auch nicht nötig. Ich vermisse ihn.

MAMA Er ist nie wirklich zum Angeln, weißt du. Kein einziges Mal. Seine Anglerkiste
war voller Kautabak, er ist immer bloß rausgefahren zum See und hat im Wagen
gesessen. Dawson hat es mir erzählt. Und der hat es von Bennie, der die Köder
verkauft. Alle haben darüber gelacht. Und dann kam er vom Angeln und hatte
nichts vorzuweisen als ... eine komplette Sippe aus Pfeifenputzern - Hühner,
Schweine, einen Hund mit einem schlimmen Bein – das hatte was Unheimliches.
Ich wurde schon vom Hinschauen krank, und ich habe seine Pfeifenputzer ein paar
Mal versteckt, aber immer hatte er irgendwo noch welche.

JESSIE Ich dachte, nach seinem Tod, daß es dir vielleicht besser ginge. Du würdest
aufleben. Aufatmen. Dich irgendwie verwandeln.

MAMA In was? Die Queen? In ‘ne Schuhverkäuferin? Warum? Weil er es gern so gehabt
hätte? Oder du? (Jessie schüttelt den Kopf.) Ich war nicht zu seinem Vergnügen da
und bin auch nicht zu deinem da, Jessie. Ich weiß nicht, wofür ich hier bin, aber
ich denke auch nicht darüber nach. (Es wird ihr bewußt, was all das bedeutet.)
Aber ich wette, wenn er noch am Leben wäre, würdest du dich nicht umbringen.
Klasse Gefühl, wenn einem das klar wird.

JESSIE (füllt jetzt den Honig auf) Das ist nicht wahr.

MAMA Ach nein? Warum hast du dann nach ihm gefragt? Warum wolltest du wissen, ob
ich ihn geliebt habe?

JESSIE Ich hatte so meine Vermutungen.

MAMA Schön. Du hattest Recht. Fühlst du dich jetzt besser?

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JESSIE (reinigt sorgfältig das Honigglas) Recht gehabt haben gibt ein gutes Gefühl.

MAMA Es war gleichgültig, ob ich ihn geliebt habe. Mir gleichgültig und ihm
gleichgültig. Hieß ja nicht, daß wir nicht miteinander klargekommen wären. Es
war einfach nicht wichtig. Wir haben nicht darüber geredet. (Fegt alle Töpfe vom
Schrank) Stell die Töpfe auf die Veranda!

JESSIE Wozu?

MAMA Ich brauch nur den einen. (Reißt die Schublade mit dem Besteck auf) Leg mir ein
Messer, eine Gabel und einen großen Löffel hin und den Dosenöffner, so daß ich
alles finde. (Beginnt Messer und Gabeln in eine der Pfannen zu werfen)

JESSIE Hör auf! Die Schublade habe ich gerade erst aufgeräumt!

MAMA (schmeißt den Tiegel in die Spüle) Und schmeiß alle Teller und Tassen raus. Ich
nehm Pappe. Loretta kann haben, was sie will, und Dawson kann den Rest
verkaufen.

JESSIE (ruhig) Was soll das?

MAMA Ich werde nicht kochen. Hab sowieso nie gern gekocht. Ich mag Süßes. In
Tütchen. Oder eingewickelt in Plastikpapierchen. Und Thunfisch. Thunfisch mag
ich. Ich werde Thunfisch essen, danke.

JESSIE (nimmt den Tiegel aus der Spüle) Und wenn du Apfelmus machen willst? In
diesem kleinen Topf geht das unmöglich. Und wenn dir die Karotten anbrennen
und die Pfanne verkohlt?

MAMA Ich mag keine Karotten.

JESSIE Und wenn dieses Jahr ein Erdbeer-Jahr ist, und du gehst mit Agnes sammeln.

MAMA Dann soll sie einen Topf mitbringen. Du hast gesagt, du tust, was ich will! Ich will
nicht, daß diese Unmenge von Töpfen, an die ich sowieso nicht dran komme,
meine Schränke verstopfen. Schmeiß sie raus. Alle.

JESSIE (sammelt die Töpfe zusammen) Ich stell alle wieder rein. Ich bring sie nicht auf die
Veranda. Wenn du sie brauchst, sind sie hier. Du wirst dich bücken und sie
rausholen, den für den Kakao und so weiter. Und wenn Besuch kommt und
kochen möchte, dann ist alles da, basta!

MAMA Wer soll zum Kochen kommen?

JESSIE Agnes.

MAMA In meinen Töpfen. Nie im Leben.

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JESSIE Es gibt keinen Grund, warum ihr beide nicht einfach hier zusammenleben könntet.
Für beide wär’s billiger, plus ihr hättet wen zum Reden. Und wenn dir die Vögel
auf die Nerven gingen, könntest du, na ja, eines Tages, wenn Agnes außer Haus
ist, sich die Haare machen läßt, mit ihnen spazierengehen!

MAMA (während Jessie das Besteck ordnet) Also deshalb nervst du mich dauernd mit
Agnes. Du glaubst, es ruht sich bequem, wenn du einen neuen Babysitter für mich
besorgst. Ich will nicht mit Agnes leben. Ich will kaum noch sprechen mit Agnes.
Man trifft sich. Dann geht man wieder heim, weiter nichts. Agnes soll sich bloß
fernhalten von diesem Haus. So einfach kommst du mir nicht davon, Kind.

JESSIE Also schön. Aber nachdenken wird man ja wohl dürfen.

MAMA Ich will über nichts nachdenken müssen. Ich will, daß es weitergeht!

JESSIE (schließt die Schublade mit dem Besteck) Ich möchte wissen, was Papa in der
Nacht, in der er gestorben ist, zu dir gesagt hat. Du kamst aus seinem Zimmer
rausgestürmt und hast gesagt, ich könnte ja, wenn ich wollte, bei ihm ausharren,
du aber wolltest ”Rauchende Colts” sehen. Was hat er zu dir gesagt?

MAMA Er hatte mir überhaupt nichts zu sagen. Deshalb, Jessie, bin ich gegangen. Er hat
kein Wörtchen gesagt. Seine letzte Chance, nicht mit mir zu sprechen, hat er voll
und ganz genutzt.

JESSIE (nach einer kurzen Pause) Tut mir leid, daß du ihn nicht geliebt hast. Tut mir leid
für dich, meine ich. Mir schien er ein netter Typ zu sein.

MAMA (als Jessie zum Kühlschrank geht) Möchtest du jetzt deinen Apfel?

JESSIE Sobald ich hier fertig bin, Mama.

MAMA Der Apfel wird dir auch nicht schmecken. Wie der Kakao. Gegessen hast du nie
gern. Egal was! Wovon hast du dich die ganzen Jahre ernährt, Zahnpasta?

JESSIE (fängt an den Kühlschrank zu putzen) Also, du weißt, der Milchmann kommt
Mittwoch und Samstag, er legt die Bestellzettel in einen Eierkarton, und die
Rechnungen gibst du einmal im Monat Dawson.

MAMA Machen die diese Orangen-Limonade noch?

JESSIE Nicht Orangen, einfach Limonade.

MAMA Die laß ich mir kommen. Ich dachte, die machen sie nicht mehr. Aber du hast sie
bloß nicht mehr bestellt.

JESSIE Du sollst Milch trinken.

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MAMA Nein, nein, nie wieder. Die in der heißen Schokolade war, hurrah, die letzte!

JESSIE (holt den Mülleimer unter der Spüle hervor) Ich hab ihnen gesagt, sie sollen auf
jeden Fall zwei Liter die Woche bringen, egal, was du sagst. Ich hab ihnen gesagt,
wenn die Cola alle ist, würdest du die Milch schon trinken. Ich hab gesagt, ich sei
ganz sicher, daß du sie nicht auf den Boden gießt ...

MAMA (spricht ihren Satz zuende) Und du hast ihnen gesagt, daß ab jetzt nicht mehr du
die Bestellung machst?

JESSIE Ich hab ihnen gesagt, daß ich kurz mal Urlaub mache und daß sie nach dir schauen
sollen.

MAMA Und sie fanden das gar nicht komisch? Du, die keinen Schritt vor die Tür geht?
Du, die nur vom Klappbett aus, halbtot, einen Blick auf die Einfahrt wirft?

JESSIE (amüsiert, aber ohne zu lachen) Die haben gesagt, es wäre ja auch allmählich Zeit,
aber warum ich dich nicht mitnähme. Und ich hab gesagt, daß ich glaube, du
hättest keine Lust, und sie: “Ja, unter Urlaub stellt sich jeder was anderes vor.”

MAMA Ich nehme an, das findest du lustig.

JESSIE (nimmt ein Glas nach dem andern aus dem Kühlschrank) Weißt du, wegen mir
hätte man den Krankenwagen nicht rufen müssen. Die haben mich in der
Notaufnahme aufwachen lassen, mehr aber auch nicht. Das wäre hier auch
gegangen. Also, ich zähl jetzt auf, und du sagst einfach ja oder nein. Essiggurken
magst du, das weiß ich. Ketchup?

MAMA Bleibt.

JESSIE Das steht schon seit dem letzten vierten Juli hier rum.

MAMA Das Ketchup bleibt. Alles bleibt.

JESSIE Willst du Ketchup aus der Flasche trinken oder was? Wieso willst du die
Lebensmittel, und die Töpfe, in denen du sie kochen kannst, nicht? Das Zeug hier
drin wird schlecht werden, Mutter.

MAMA Nichts, was ich getan habe, war dir je gut genug, und ich will wissen, warum.

JESSIE Das ist nicht wahr.

MAMA Und ich will wissen, warum du so lange hier gewohnt hast, wenn du dich
dermaßen gefühlt hast.

JESSIE Du hast nicht die leiseste Ahnung, wie ich mich fühle.

Norman, NACHT, MUTTER 32


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MAMA Na ja, wie auch? Du bist so weit weg, Jessie.

JESSIE Weit weg?

MAMA Wie ist es da, wo du bist? Sagen die Leute immer das Richtige, und kriegen sie
immer, was sie wollen, oder wie?

JESSIE Wovon redest du?

MAMA Wieso liest du die Zeitung? Wieso ziehst du den Pulli nicht an, den ich für dich
gemacht habe? Erinnerst du dich, wie ich mal ausgesehen habe, oder bin ich nur
irgendeine alte Frau? Siehst du Sternchen, wenn du einen Anfall hast? Wie bist du
von diesem Pferd gefallen, wie genau? Warum hat Cecil dich verlassen? Wo hast
du meine alte Brille hingtan?

JESSIE (Mamas Intensität trifft sie) Sie ist in der Kommode, in der untersten Schublade in
einer alten Magnesiummilch-Schachtel. Cecil hat mich vor die Wahl gestellt, er
oder die Zigaretten.

MAMA Jessie, so doof war er nicht, das weiß ich.

JESSIE Ich habe nie verstanden, warum er das so gehaßt hat, das ist doch das Beste
überhaupt. Eine Zigarette ist das einzige, was ich kenne, das immer hält, was man
sich verspricht. Jede ist wie die davor, steht immer zur Verfügung, wenn man Lust
hat, und ist wirklich still.

MAMA Deine Anfälle hat er nicht ertragen, und das weißt du.

JESSIE Sag Attacken, nicht Anfälle. Attacken.

MAMA Das ist ein und dasselbe. Eine Attacke im Krankenhaus ist zu Hause ein Anfall.

JESSIE Die haben ihn nicht im geringsten gestört. Allerdings hat er sich verantwortlich
gefühlt. Es war seine Idee, an diesem Tag reiten zu gehen. Es war seine Idee, daß
ich alles könne, wenn ich nur wolle. Ich fiel vom Pferd, weil ich nicht wußte, wie
man klammert. Cecil ist aus so ziemlich dem gleichen Grund gegangen.

MAMA Er hatte ein Mädchen, Jessie. Ich hab sie im Werkzeugschuppen überrascht.

JESSIE (nach einer kurzen Pause) Okay. Das sagt alles. (Zündet sich noch eine Zigarette
an) War sie sehr hübsch?

MAMA Es war Agnes’ Mädchen, Carlene. Du weißt, wie sie aussieht.

JESSIE (geht ins Wohnzimmer hinüber) Ich nehm an, da hast du mal ein offenes Wörtchen
mit Agnes gewechselt, hm?

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MAMA Ich fand immer, er war nicht gut genug für dich. Die sind von Tennessee
hergezogen, weißt du.

JESSIE Was redest du? Du mochtest ihn lieber als ich. Du hast ihn hier rausgelockt, er
sollte deine Veranda bauen, sonst wäre ich ihm nie begegnet. Du hast gedacht, er
könnte dir hier ums Haus herum ein bißchen zur Hand gehen, mal auf ’n Kaffee
reinkommen, ‘n bißchen mit dir reden. Weiß Gott, was du gedacht hast. Diese
Lockenpracht.

MAMA Er ist der beste Schreiner, dem ich je begegnet bin. Und wenn die Welt untergeht,
dein Häuschen wird stehen, Jessie.

JESSIE Nötig war eine Veranda nicht, Mama.

MAMA Na schön! Ich wollte einen Mann für dich.

JESSIE Selber war ich natürlich nicht in der Lage, einen zu finden.

MAMA Wie hättest du einen Mann finden sollen, wo du bei keinem Menschen je den
Mund aufkriegst?

JESSIE Das läuft bei mir eben in aller Stille ab, na und?

MAMA Ich hätte dich also bloß rumsitzen lassen sollen? Wie deinen Papa? Einfach so?

JESSIE Vielleicht.

MAMA Das hab ich anders gesehen.

JESSIE Was hast du denn schon gewußt?

MAMA Ich hab nie behauptet, daß ich viel weiß. Wie hätte ich hier draußen irgendwas
lernen sollen? Mit dem, was ich wußte, hätt ich nie machen können, was ich in
meinem Leben gemacht habe. Es passiert einfach. Man tut, was man kann, und
dann schaut man weiter. Ich hab dich mit dem Falschen verheiratet, das gebe ich
zu. Also habe ich dich, als er abgehauen ist, aufgenommen.Tut mir leid.

JESSIE Er war nicht der Falsche.

MAMA Er hat dich nicht geliebt, Jessie, sonst wäre er nicht gegangen.

JESSIE Er war nicht der Falsche, Mama. Ich habe Cecil über alles geliebt. Ich habe
versucht, mich fit zu machen, hab versucht, wach zu bleiben. Hab versucht, reiten
zu lernen. Hab versucht, draußen zu bleiben, wo er war, aber er wußte immer, daß
ich es versuchte, also hat es nicht funktioniert.

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MAMA Er war egoistisch. Einmal hat er mir erzählt, er könne nicht mit ansehen, wie
andere Leute in seine Häuser, die er gebaut hat, einziehen. Er wüßte, sie würden
sie ruinieren.

JESSIE Ich liebte diese Brücke, die er hinterm Haus über den Bach gebaut hat. Es hätte
nichts Besonderes sein müssen, ein paar Bretter hätten genügt, er aber nahm diese
gelbe Kiefer und schmirgelte sie so glatt ...

MAMA Er hatte eine Verantwortung. Er hatte eine Frau und einen Sohn, aber bei dir hat er
versagt.

JESSIE Oder das Kinderbettchen, das er für Ricky gebaut hat. Ich hab ihm gesagt, er
bräuchte nicht so viel Zeit reinzustecken, aber er sagte, es müsse halten, und am
Schluß war das Ding dann 100 Kilo schwer, und ich hab’s nicht mehr vom Fleck
gekriegt. Ich sagte: “Wie lange muß ein Kinderbett halten?” Aber vielleicht hat er
gedacht, wenn es richtig solide wäre, bliebe Ricky darin ein Kind.

MAMA Ricky ist ganz wie Cecil.

JESSIE Kein bißchen. Ricky ist wie ich, so total, als es ein Mensch nur sein kann. Wir
haben sogar dieselbe Hosengröße. Ich glaube, das sind seine.

MAMA Dieselbe Größe. Heißt nicht dieselbe Persönlichkeit.

JESSIE Ich seh es in seinem Gesicht. Ich höre es, wenn er redet. Wir schauen in die Welt
und sehen dasselbe. Ungerechtigkeit. Der einzige Unterschied zwischen uns ist,
daß Ricky herumzieht und versucht, eine Rechnung zu begleichen. Er weiß, trauen
kann er keinem, und das hat er eins zu eins von mir. Und er weiß, um Arbeit muß
er sich nicht bemühen, und rate mal, von wem er das hat. Und er läuft, als seien
die Bretter im Boden lose, und du weißt, wer diesen Boden gelegt hat, ich
nämlich.

MAMA Ricky ist noch nicht so weit. Man weiß nicht, was mal aus ihm wird!

JESSIE (geht in die Küche zurück) Doch, ich weiß es, und Cecil wußte es auch. Ricky ist
ich plus Cecil vereint für immer und ewig auf viel zu engem Raum. Und, wie
immer, zerfleischen wir uns in diesem Jungen drin, und wenn du das nicht siehst,
dann bist du blind.

MAMA Er braucht Zeit, Jess.

JESSIE Ach, die wird er kriegen, jede Menge. 5 Jahre für Betrug, 10 Jahre für bewaffneten
Raubüberfall ...

MAMA (zornig) Hör auf! (Dann bittend) Jessie, vielleicht ist Cecil inzwischen bereit, es
noch mal zu probieren, Kleines, so was kommt manchmal vor. Geh in die Stadt.
Triff ihn. Sprich mit ihm. Er hat nicht geahnt, was er an dir hatte. Vielleicht sieht

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er jetzt alles anders, aber das weißt du erst, wenn du ihn triffst. Oder ruf ihn an!
Gleich jetzt! Vielleicht ist er zu Hause.

JESSIE Was soll ich sagen? Alles beim Alten, Cecil, ich möchte dich nur ein bißchen
anschauen, falls du nichts dagegen hast? Nein. Er hat mich geliebt, Mama. Er hat
nur nicht geahnt, wie alles um mich herum zusammenstürzt. Ich glaube, er hat
genau das Richtige getan. Er hat sich noch mal eine Chance gegeben. Aber ich
habe gebettelt, er solle mich mitnehmen. Ich sagte, ich würde Ricky und dich und
alles, was mir lieb ist hier draußen, verlassen, wenn er mich bloß mitnähme, aber
das konnte er nicht, und das verstehe ich. (Pause.) Ich habe den Brief geschrieben,
den ich dir gezeigt habe. Ich habe ihn geschrieben. Nicht Cecil. Ich schrieb: “Tut
mir leid, Jessie, ich kann nicht alles für dich gradebiegen”. Ich schrieb, ich würde
mich ewig lieben, nicht Cecil. Aber es war sein Gefühl.

MAMA Dann hätte er dich mitnehmen müssen!

JESSIE (nimmt die Mülltüte, die sie gefüllt hat) Mama, wenn man umzieht, nimmt man
den Müll nicht mit.

MAMA Hör auf, dich als Müll zu bezeichnen, Jessie.

JESSIE (trägt die Tüte zur großen Mülltonne) Das sagt man halt so, Mama. Hab ständig
meine Liste im Kopf, weiter nichts. (Sie öffnet die Tonne, lädt den Müll ab, sichert
dann den Deckel.) Na ja, doch noch ein bißchen was anderes. Ich meine, es ist
schon gut, daß Cecil gegangen ist. Auf eine Art ... irgendwie erleichternd. So was
wie mich wollte er nicht sehen, also war es besser, wenn er mich nicht ständig vor
Augen hatte.

MAMA Ich mach dir jetzt deinen Apfel.

JESSIE Nein danke. Hol das Nagel-Set, ich komme sofort.

Jessie bindet die große Mülltüte im Eimer zu und ersetzt die kleine Mülltüte unter
der Spüle; während der ganzen Zeit versucht sie verzweifelt, ihre Ruhe
zurückzugewinnen. Mama schaut ihr aus einer Distanz zu, unbewußt langt ihre
Hand nach dem Telefon. Dann fällt ihr was besseres ein. Sie denkt an die einzige
Alternative, die es noch gibt, und sie ist bereit, sie auszuprobieren. Vielleicht
glaubt sie sogar, daß sie funktioniert.

MAMA Jessie, ich glaube dein Papa hatte kleine ...

JESSIE (unterbricht sie) Müll ist immer Dienstagabends. Stell ihn möglichst spät raus.
Sonst gehen die Hunde von Davis dran. (Sie ersetzt die Mülltüte im Eimer unter
der Spüle.) Und immer die dicken schwarzen Tüten bestellen. Billige lohnen nicht.
Die Plastikbändchen liegen hier, wo die Hämmer sind und all das. Nimm sie
gleich raus aus der Packung, wenn du ‘ne neue aufmachst, und leg sie in die
Schublade. Sonst sind sie weg, und Gummis und alles andre funktioniert nicht.

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MAMA Ich glaube, dein Papa hatte auch Anfälle. Ich glaube, er saß in seinem Sessel und
hatte kleine Anfälle. Vor einiger Zeit hab ich mal in einer Zeitschrift gelesen, wie
man so einen kleinen Anfall erkennt, einfach so’n kleinen Blackout, da müssen
nicht mal die Augen geschlossen sein, man nennt das ”Denkpannen”.

JESSIE (nimmt den Schutzbezug aus dem Wäschekorb) Ich glaube, du willst die Maniküre,
auf die wir uns beide gefreut haben, gar nicht. Den Sofaüberwurf hab ich
gewaschen, aber drauf kriegen wir den nur zu zweit.

MAMA Ich hab seine Augen beobachtet. Das war ganz sicher einer. In dieser Zeitschrift
stand, manche Leute wüßten nicht mal, daß sie so was gehabt haben.

JESSIE Papa hätte schon gewußt, wenn er Anfälle gehabt hätte, Mama.

MAMA Die Dame in dieser Geschichte hat ihre Anfälle mitgezählt, 80 000 in den letzten
elf Jahren.

JESSIE Wenn du den Überwurf das nächste Mal wäschst, er trocknet besser, wenn du ihn
nass drauf machst.

MAMA Jessie, hör zu, was ich dir sage. Diese Dame hatte pro Tag zwischen fünf und
fünfhundert Anfälle von je vielleicht 15 Sekunden Dauer, alles in allem hatte sie
also ungefähr zwei Wochen ihres Leben verloren, und sie arbeitete als Sekretärin,
ganztags, und hatte einen I.Q. von 120.

JESSIE (muß lachen über Mamas Versuch) Du willst über Anfälle sprechen, ja?

MAMA Ja. Will ich. Ich will sagen ...

JESSIE (unterbricht sie) Mir war meist überhaupt nicht klar, daß ich einen gehabt hatte,
außer, wenn ich in andern Klamotten aufwachte und mich fühlte, als sei ich
überfahren worden. Manchmal spür ich, wie mein Kopf anfängt sich zu drehen,
oder ich höre mich schreien. Und manchmal hab ich tatsächlich diese blöde
Benommenheit kurz davor, aber beim Fernsehen, na ja, kriegt man das nicht
unbedingt mit.

Während Mama und Jessie das Sofa überziehen und die Wolldecke wieder auf den
Sessel drapieren, spiegelt die körperliche Anstrengung irgendwie die psychische
im Dialog.

MAMA Ich seh’s, wenn du soweit bist. Deine Augen werden so riesig! Aber Jessie, du
hast nie ...

JESSIE (ergreift die Initiative) Wie sehen sie aus? Die Attacken.

MAMA (widerwillig) Immer wieder anders, Jess.

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JESSIE Okay. Nimm irgendeine. Eine richtige. Ich glaube, das will ich jetzt wissen.

MAMA Da gibt’s nicht viel zu erzählen. Du ... sackst einfach zusammen zu einem
Häufchen, wie eine Marionette, bei der man alle Fäden auf einmal durchschnitten
hat, oder wie beim Erschießungskommando in einem mexikanischen Film, du
rutschst einfach an der Wand runter. Weißt du nicht, was passiert? Wie kannst du
nicht wissen, was passiert?

JESSIE Ich bin voll beschäftigt.

MAMA Das ist nicht lustig.

JESSIE Ich lache nicht. In meinem Kopf dreht sich alles, ich falle, und dann was?

MAMA Na ja, deine Brust wölbt sich rein und raus, so ein würgendes Geräusch, du
schnappst nach Luft, als könntest du nicht schnaufen.

JESSIE Mach’s mal vor. Dieses Geräusch.

MAMA Nein, mach ich nicht. Es hört sich scheußlich an.

JESSIE Ja genau. So hat es sich auch angefühlt. Und was dann.

MAMA Deine Kiefer klappen zu, und ich muß schnell deine Zunge aus dem Weg schaffen,
damit du dich nicht selber beißt.

JESSIE Oder dich. Dich beiß ich auch, oder?

MAMA Einmal hast du mich ganz schön erwischt. Ich mußte ‘ne Tetanus kriegen! Aber
jetzt weiß ich, auf was ich achten muß. Du läufst blau an, und dann die
Zuckungen. Als ob ich neben dir stünde, dich mit einem Viehschocker anstupste,
oder als ob du die Finger bei jeder Gelegenheit in eine Lampenfassung stecken
würdest.

JESSIE Schaum vor dem Mund wie ein durchgedrehter Hund.

MAMA Ein paar Blasen, Jess, nicht Schaum, wie wenn die Waschmaschine überläuft, Gott
sei Dank, ein paar Blasen, wie wenn ein Baby aufstößt. Ich bringe einen nassen
Waschlappen, das genügt. Und dann lassen die Zuckungen nach, du machst dich
nass und aus und vorbei. Zwei Minuten, wenn’s hochkommt.

JESSIE Wie komm ich ins Bett?

MAMA Rate mal?

JESSIE Inzwischen bin ich zu schwer für dich. Wie also?

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MAMA Ich ruf Dawson an. Aber ich mach dich sauber, bevor er hier ist, und ich schmeiß
ihn raus, bevor du aufwachst.

JESSIE Du könntest mich einfach am Boden liegen lassen.

MAMA Ich will, daß du an einem schönen Platz aufwachst, okay? (Gibt sich große Mühe)
Und, Jessie, weshalb ich überhaupt drauf komme! Du hast jetzt ein ganzes Jahr
lang keine Attacke mehr gehabt. Ein ganzes Jahr, weißt du, was das heißt?

JESSIE Ja, vermutlich stimmt der Phenobarbiturat-Spiegel ungefähr.

MAMA Ganz genau. Du kriegst vielleicht nie wieder einen, nie! Du hast es vielleicht ein
für alle Mal hinter dir!

JESSIE Möglich.

MAMA Ein für alle Mal. Ich weiß es!

JESSIE Jedenfalls fühl ich mich gut. Und wie. Ich seh nicht mehr doppelt, und mein
Zahnfleisch ist nicht entzündet. Kein Ausschlag und nichts. Mir geht’s so gut wie
noch nie in meinem Leben. Ich möchte mich sogar schon beinahe ärgern oder
aufregen, und hab nicht mal mehr Angst, es könne einen Anfall auslösen. Ich laß
es einfach zu.

MAMA Aber natürlich! Schrei mich ruhig an, wenn du magst. Ich hab damit kein Problem.
Du brauchst hier nicht so tun, als seist du nur auf Besuch, Jessie. Dieses Haus
gehört auch dir.

JESSIE Und das beste ist, mein Gedächtnis ist wieder da.

MAMA Du hast immer schon ein gutes Gedächtnis gehabt. Wann ist dir jemals was nicht
mehr eingefallen? Mich ermahnst du immer, wenn ...

JESSIE Weil ich Listen für alles angelegt habe. Aber jetzt fällt mir auch ein, was das auf
der Liste soll. Seh ich Geschirrtücher, hab ich mich immer gefragt, muß ich sie
waschen, kaufen, oder muß ich sie suchen, weil mir nicht mehr eingefallen ist, wo
ich sie nach dem Waschen hingelegt hatte. Aber jetzt weiß ich, es heißt, verpack
sie als Geschenk, Loretta hat Geburtstag.

MAMA (fertig mit dem Sofa) Die Listen hast du auch immer gesucht, das habe ich
bemerkt. Jetzt weißt du immer genau, wo sie sind! (Dann plötzlich besorgt)
Loretta hat doch noch nicht Geburtstag, oder?

JESSIE Ich habe dir eine Liste mit allen Geburtstagen gemacht. Sogar deinen hab ich
drauf. (Kleines Lächeln) Du kannst also Loretta anrufen und sie erinnern.

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MAMA Komm, gehen wir mit Loretta ins Howard Johnsons und essen gebackene
Muscheln. Ich weiß, du liebst diese Muschelbrötchen.

JESSIE (winzige Pause) Da bin ich nicht mehr da, Mama.

MAMA Worüber haben wir gerade geredet? Du bist sehr wohl da. Es geht dir gut, Jessie.
Du fängst noch mal ganz neu an. Du hast es selber gesagt. Du erinnerst dich
wieder und ...

JESSIE Da bin ich nicht mehr da. Ein Jahr wie dieses, hätte ich es schon früher erlebt, bei
klarem Verstand und so, ich wäre längst weg.

MAMA (keine Bitte, ein Befehl) Nein, Jessie.

JESSIE (legt die restliche Wäsche zusammen) Doch, Mama. Kaum konnte ich mich
wieder erinnern, da begriff ich, wohin das alles geführt hat.

MAMA Die Anfälle sind passé!

JESSIE Es sind nicht die Anfälle, Mama.

MAMA Dann bin’s eben ich, ich hab sie dir verpaßt, das hab ich aber nicht!

JESSIE Es sind nicht die Anfälle! Du hast es selber gesagt, für die Anfälle gibt’s
Medikamente.

MAMA (unterbricht) Die Anfälle hast du von deinem Vater, Jessie. Er hat sie dir vererbt
wie die grünen Augen und das glatte Haar. Ich bin nicht schuld daran!

JESSIE Er hatte eben kleine Anfälle, was soll’s? Vererbt ist das nicht. Ich bin vom Pferd
gefallen. Ein Unfall.

MAMA Das Pferd war nicht das erste Mal, Jessie. Du hast einen Anfall gehabt, da warst
du fünf Jahre alt.

JESSIE Stimmt nicht.

MAMA Oh doch! Du hast Eis am Stil geleckt, und schon lagst du flach. Er hat es dir
vererbt. Er ist schuld, nicht ich.

JESSIE Na ja, eilig hast du’s nicht gehabt, mir das zu sagen.

MAMA Wie willst du das einer Fünfjährigen sagen?

JESSIE Was hat der Arzt gemeint?

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MAMA Er meinte, bei Kindern kämen sie gehäuft. Er sagte, man könne nichts tun, als den
nächsten abwarten.

JESSIE Aber bei mir kam kein nächster. (Es ist jetzt absolut still.) Soll das heißen, ich
hatte als Kind ständig Anfälle, und du hast mir immer erzählt, ich sei hingefallen
oder was, und erst als Cecil diesen Anfall mitgekriegt hat, kam man langsam mal
drauf, zu fragen, was eigentlich mit mir los war?

MAMA Ständig nicht, Jessie, und als du in die Schule kamst, wurden sie anders, eher wie
die von deinem Papa. Das war vielleicht super, hier zu hocken, und ihr zwei geht
an und aus wie die Glühbirnen.

JESSIE Wie viele Anfälle hab ich gehabt?

MAMA Verletzt hast du dich nie. Ich hab dich nicht aus den Augen gelassen. Ich hab dich
jedes Mal aufgefangen.

JESSIE Aber gesagt hast du keinem was.

MAMA Das geht keinen was an.

JESSIE Du hast dich geschämt.

MAMA Ich wollte nicht, daß es jemand weiß. Du am allerwenigsten.

JESSIE Ich am allerwenigsten. Wie schön. Ich hätte es wissen müssen, Mama, nicht du.
Hat Papa es gewußt?

MAMA Er glaubte, du seist ... du würdest oft hinfallen. Das glaubte er. Daß du
unvorsichtig seist. Oder vielleicht glaubte er, ich hätte dich geschlagen. Ich weiß
nicht, was er glaubte. Er hat nicht nachgedacht darüber.

JESSIE Weil du ihm nichts erzählt hast!

MAMA Wenn ich ihm von dir erzählt hätte, hätte ich ihm auch von sich selbst erzählen
müssen!

JESSIE Das find ich ungut. Total ungut.

MAMA Ich hab nicht erwartet, daß du’s gut findest. Darum hab ich dir nichts erzählt.

JESSIE Hätte ich gewußt, daß ich Epileptikerin bin, Mama, wäre ich auf kein Pferd
gestiegen.

MAMA Sollte ich dir das Gefühl geben, daß irgendwas faul an dir ist?

JESSIE Ach, hol das Nagel-Set und setz dich hin!

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MAMA (schmeißt es auf den Boden) Ich will keine Maniküre!

JESSIE Ja, das sehe ich.

MAMA Wer weiß, vielleicht hab ich dich fallen lassen.

JESSIE Wenn du sagst, du hast es nicht, dann hast du es nicht.

MAMA (beginnt zusammenzubrechen) Vielleicht hab ich dir was Falsches gefüttert.
Vielleicht hattest du Fieber, und ich hab’s nicht rechtzeitig erkannt. Vielleicht ist
es eine Strafe.

JESSIE Wofür?

MAMA Ich weiß nicht. Für mein Gefühl deinem Vater gegenüber. Weil ich keine Kinder
mehr wollte. Weil ich zu viel geraucht oder nicht richtig gegessen habe, als ich mit
dir schwanger war. Irgendwas muß ich getan haben.

JESSIE Keineswegs. Es ist einfach eine Krankheit, kein Fluch. Epilepsie bedeutet nichts.
Es gibt sie einfach.

MAMA Ich meine jetzt nicht die Anfälle, Jessie! Ich meine, daß du dich umbringen willst.
Es geht hier ganz klar um mich. Sonst würdest du das nicht tun. Ich habe dir was
nicht gesagt, ich habe dich mit dem falschen Mann verheiratet, ich habe dich
aufgenommen, ich habe zugeschaut, wie dir dein Leben abhanden kommt, oder
auch alles zusammen. Ich weiß nicht, was ich getan habe, aber ich hab’s getan,
ganz klar. Ich bin an allem schuld, Jessie, aber ich weiß nicht weiter!

JESSIE (gereizt, weil sie es noch mal wiederholen muß) Es hat nichts mit dir zu tun!

MAMA Alles, was du tust, hat mit mir zu tun, Jessie. Wasch dir das Gesicht oder schneid
dir in den Finger, nichts tust du, ohne es mir anzutun. So ist das! Ob du mich
umbringst, oder dich, Jessie, es ist ein und dasselbe. Es hat mit mir zu tun, Jessie.

JESSIE Und wenn schon! Und wenn es ganz und gar um dich geht! Wenn du alles bist,
was ich habe, und du nicht genug bist, was dann? Wenn ich den Rest ertragen
könnte, wenn es bloß dich nicht gäbe? Wenn die einzige Möglichkeit, dich ein für
allemal loszuwerden, heißt, mich umzubringen? Was dann? Dann sollte ich
wenigstens das tun!

MAMA (Tränen der Verzweiflung) Laß mich nicht allein, Jessie! (Jessie steht einen
Moment lang da, dann dreht sie sich in Richtung Schlafzimmer.) Nein!

Mama packt sie am Arm.

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JESSIE (zieht ihren Arm vorsichtig weg) Es gibt einen Karton voll Sachen, die soll jemand
kriegen. Ich hol sie mal kurz. Ent ... spann dich einen Moment.

Kaum ist Jessie weg, geht Mama in Richtung Telefon, aber diesmal kommt sie
nicht mal dazu, den Hörer abzunehmen, statt dessen bückt sie sich, um die
Flaschen aufzuräumen, die vom Tablett gefallen sind. Jessie kommt zurück, sie
trägt einen Karton, in dem Lebensmittel geliefert werden. Wahrscheinlich steht
Hersehy Kisses oder Starkist Tuna drauf. Mama immer noch auf dem Boden,
räumt auf, in der Hoffnung, daß Jessie bleiben wird, wenn sie nur alles hübsch
genug herrichtet.

MAMA Jessie, wie soll ich ohne dich leben? Hier. Ich brauche dich! Du mußt mir sagen,
daß ich nicht so krumm dastehen soll, mußt mir sagen, wie süß ich in meinem rosa
Kleid aussehe und daß ich meine Milch trinken soll. Du mußt alles abschließen,
damit ich weiß, wir brauchen nachts keine Angst haben, und wenn ich aufwache,
mußt du schon da stehen und Kaffee machen und zuschauen, wie ich von Tag zu
Tag älter werde, und wenn es soweit ist, mußt du mir beim Sterben helfen. Ich
kann es nicht allein, Jessie. Ich bin nicht wie du, Jessie. Ich hasse Stille, und ich
will nicht sterben, und ich will nicht, daß du gehst, Jessie. Wie soll ich ... (Muß
einen Moment unterbrechen) Wie soll ich morgens noch aufstehen, wenn ich
weiß, du hast dich umbringen müssen, damit der Schmerz aufhört, und ich stand
die ganze Zeit daneben und hab’s nicht gemerkt. Und als du mir die Chance
gegeben hast, es besser zu machen, dich zum Leben zu überreden, hab ich sie
nicht nutzen können. Wie soll ich danach weiterleben, mit mir, Jessie?

JESSIE Ich hab’s dir nur gesagt, um es zu erklären, damit du dir keine Schuld gibst und
dich nicht schlecht fühlst. Nichts, das du hättest sagen können, hätte mich davon
abgebracht. Ich wollte nicht gerettet werden von dir. Ich wollte nur, daß du es
weißt.

MAMA Bleib bei mir, nur noch ein bißchen. Nur ein paar Jahre noch. So viele hab ich
nicht mehr, Jessie. Wenn ich tot bin, kannst du tun, was du willst. Vielleicht ist es
dir, wenn ich nicht mehr da bin, hier im Haus ruhig genug. Vielleicht pflanzt du
eines Tages am Weg ein paar Begonien, und vielleicht bringt der Sommer genau
so viel Regen, wie sie brauchen. Bis dahin ist Ricky verheiratet, er schickt dir die
Enkelchen rüber, und wenn’s der Papa nicht sieht, steckst du ihnen was Süßes zu
und bist richtig froh, wenn sie wieder nach Hause gegangen sind und dich deiner
Stille überlassen.

JESSIE Verstehst du nicht, Mama, alles was ich tu, endet genau so. Wie konnte ich
glauben, du würdest mich verstehen? Wie konnte ich glauben, du wolltest
manikürt werden? Wir könnten uns eine Stunde lang die Hände reichen, und ich
könnte mich anschließend erschießen? Dieser ganze Abend tut mir leid, Mama,
aber genau deshalb muß ich es tun.

MAMA Wenn du den Mumm hast, dich umzubringen, Jessie, hast du auch den Mumm
weiterzuleben.

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JESSIE Ich weiß. Die Frage ist wirklich nur, wo möchte ich lieber sein.

MAMA Schau, vielleicht fällt mir nichts für dich ein, aber das heißt nicht, es gibt keinen
Ausweg. Du findest einen. Du kommst drauf. Probier nur immer wieder. Sei tapfer
und probier noch ein bißchen. Nicht jetzt aufgeben!

JESSIE Ich gebe nicht auf! Dies ist das Andere, das ich ausprobiere. Sicher gäbe es noch
einiges, was vielleicht funktionieren würde, aber vielleicht funktionieren reicht
nicht mehr. Es muß auf jeden Fall funktionieren. Das funktioniert auf jeden Fall.
Deshalb hab ich mich dafür entschieden.

MAMA Aber vielleicht passiert irgendwas. Und schon ist alles anders. Wer weiß, was,
aber vielleicht wäre es das Warten wert! (Jessie reagiert nicht.) Probier’s noch
mal, für zwei Wochen. Wir könnten oft reden wie heute abend.

JESSIE Nein, Mama.

MAMA Ich werd besser zuhören. Ehrlich antworten, wenn du was wissen willst. Und ich
laß dir das letzte Wort.

JESSIE Nein, Mama! Wir würden nicht oft wie heute abend reden, denn nur das jetzt
folgende Kapitel hat dieses letzte so einzigartig gemacht, Mama. Nein, Mama.
Das ist mein letztes Wort. Mein Kommentar. Nein. Dawson und Loretta, die Rot
Chinesen, Epilepsie, Ricky und Cecil und du. Ich. Die Hoffnung. Ich sage, Nein!
(Dann geht sie zu Mama auf dem Sofa.) Laß mich einfach los, Mama.

MAMA Wie kann ich dich loslassen?

JESSIE Du kannst, weil du mußt. Anders ist’s bei dir nie gelaufen.

MAMA Du bist mein Kind!

JESSIE Ich bin, was aus deinem Kind geworden ist. (Mama ist unfähig zu antworten.) Ich
habe ein altes Kinderbild von mir gefunden. Das war eine andere, nicht ich. Eine
Rosarote, Fette, sie hat keine Ahnung, was krank bedeutet oder einsam, sie hat
geschrieen und wurde gestillt, sie hat die Ärmchen in die Luft gestreckt und wurde
auf den Arm genommen, und sie hat sich gewehrt mit Händen und Füßen, aber sie
hat keinem weh getan, sie schlief ein, wenn sie Lust hatte, Augen zu und weg. Sie
lag meistens einfach da und lachte die Farben über ihrem Kopf an, und sie kaute
an einem getüpfelten Wal, und fast jeden Tag wachte sie auf und hatte wieder
einen neuen Trick auf Lager, dann drehte sie sich um und sabberte aufs Laken,
und sie spürte deine Hand, wie sie die Steppdecke hochzog und mich zudeckte.
Die war ich am Anfang, und die ist übriggeblieben. (Ohne Selbstmitleid) Um
nichts anderes geht es. Ich habe jemanden verloren, na schön, mein eigenes Selbst.
Das ich nie war. Oder das ich sein wollte und nie erreicht habe. Ich habe auf eine
gewartet, die nie kam. Und nie kommen wird. Also, verstehst du, es spielt keine

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Rolle, was in der Welt oder auch nur unter diesem Dach noch alles passieren wird.
Ich war, worauf es sich zu warten lohnte, und ich habe es nicht geschafft. Ich ...
die mich vielleicht hätte ändern können ... ich werde nicht auftauchen, also gibt es
keinen Grund zu bleiben, außer, um dir Gesellschaft zu leisten, und das ... ist nicht
Grund genug, meine Gesellschaft ... bringt’s nicht. (Pause.) Oder.

MAMA (weiß, sie muß die Wahrheit sagen) Nein. Meine auch nicht.

JESSIE Ich hatte so einen merkwürdigen, absurden Einfall, na ja, so merkwürdig vielleicht
auch nicht. Jedenfalls, nach Weihnachten, nachdem ich mich entschieden hatte,
fragte ich mich immer mal wieder, was mich abhalten könnte, wofür sich das
Bleiben lohnen würde, und weißt du, was es war? Irgend etwas, vielleicht, müßte
ich richtig gerne mögen können, vielleicht, sollte ich zum Beispiel Reispudding
oder Cornflakes zum Frühstück richtig mögen können, das würde vielleicht schon
reichen.

MAMA Reispudding ist was Großartiges.

JESSIE Für mich nicht.

MAMA Und du hast keine Angst?

JESSIE Angst vor was?

MAMA Ich habe Angst davor, um mich, meine ich. Wenn meine Zeit kommt. Ich weiß, sie
rückt näher, aber ...

JESSIE Du weißt nicht wann. Wie im Gruselfilm

MAMA Jaaa, sie folgt mir, wie ein Killer, der frei rumläuft, sich im Garten versteckt, bloß
darauf wartet, daß ich eines Tages mal keine Hand frei hab, und wie soll ich mich
überhaupt schützen, ich weiß nicht, wie er aussieht, wie es sich anhört, wenn er
hinter mir herschleicht, ob es weh tut und wie lange es dauert, und was ich noch
nicht erledigt hab, wenn ...

JESSIE Du hast noch jede Menge Zeit.

MAMA Im Moment wüßt ich nicht wofür.

JESSIE Für alles mögliche, wie soll ich das wissen. Für dein restliches Leben. Für Agnes,
die noch ein Haus ansteckt, oder Dawson, dem die Haare ausfallen, oder ...

MAMA (eilig) Jessie, ich kann nicht einfach dasitzen und sagen: Okay, bring dich um,
wenn du willst.

JESSIE Du kannst sehr wohl. Wie grade eben. Sag es noch mal.

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MAMA (wirklich entsetzt) Jessie! (Stilles Grauen) Ich warne dich! (Außer sich) Ich warne
dich! Glaubst du, du kannst hier einfach so abhauen, wie’s dir grade passt, wie
wenn du vor der Glotze sitzt? Nein, Jessie, das geht nicht. Deinetwegen komm ich
mir bescheuert vor, bloß weil ich am Leben bin, Kind, das ist absolut unrecht! Mir
gefällt’s hier, und ich bleibe, bis man mich rausschmeißt, bis ich schreiend, um
nicht zu sagen kreischend, in mein Grab gezerrt werde, und es ist klug von dir,
vorher zu verschwinden, denn so ein Getöse, Kleines, hast du in deinem Leben
nicht gehört. (Jessie wendet sich ab.) Mit wem rede ich überhaupt? Du bist gar
nicht mehr da, oder? Ich seh direkt durch dich durch! Ich kann dich nicht
aufhalten, du bist gar nicht mehr da! Du glaubst wohl, jetzt müßten alle über dich
reden! Du glaubst, das stößt sie ganz schön vor den Kopf. Jawohl, seit
Weihnachten freust du dich heimlich, “Junge, die werden Augen machen”, hast du
gedacht. Herzchen, kein einziger wird auch nur irgendwelche Augen machen. Das
sieht dir ähnlich. Immer mit dem Kopf durch die Wand, ganz meine Tochter, na
schön. (Jessie steht auf und geht in die Küche, aber Mama folgt ihr.) Du weißt,
wen man bemitleiden wird? Mich! Sehr richtig! Nicht dich, mich! Für dich wird
man sich schämen. Jawohl. Schämen! Wenn Dawson drauf angesprochen wird,
wird er das Thema wechseln, so schnell er kann. Er wird erzählen, wie hoch
heutzutage die Parkgebühren für sein Auto sind.

JESSIE Laß mich in Ruhe.

MAMA Das ist die Wahrheit!

JESSIE Ich hätt dir bloß einen Zettel schreiben sollen!

MAMA (schreit) Genau! (Dann begreift sie plötzlich, was sie gesagt hat, der Gedanke
lähmt sie beinahe, sie dreht ihr Gesicht langsam zu Jessie, flüstert fast.) Nein.
Nein. Ich ... hab vielleicht vieles nicht bedacht, was du gesagt hast.

JESSIE Schon okay, Mama.

Mama wird durch die emotionale Katastrophe der letzten Minuten fast
ohnmächtig. Sie setzt sich an den Küchentisch, verletzt, wütend und voller
verzweifelter Angst. Aber sie wirkt eher gefühlslos. Sie ist so weit jenseits dessen,
was man als Schmerz erkennt, daß sie tatsächlich unerreichbar ist, und das ist
Jessie bewußt, und sie redet leise, sucht Zeichen der Besserung. Sie wäscht sich
die Hände im Waschbecken.

Ich weiß noch, du mochtest Papas Pfarrer, wenn du ihn also wegen dem
Gottesdienst fragen willst, fänd ich das okay.

MAMA (keine Antwort, bloß ein Wort) Was.

JESSIE (reibt sich die Hände mit Lotion ein) Such ein paar Lieder aus, die du magst, oder
laß sie Agnes aussuchen, sie weiß genau, welche. Ach, und ich habe das Kleid
reinigen lassen, das du bei Papas angehabt hast. Du hast klasse ausgesehen.

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MAMA Weiß ich nicht mehr, Schätzchen.

JESSIE Und wenn erstmal deine Freunde in der Leichenhalle eintrudeln, ist es gar nicht
mehr so schlimm. Wahrscheinlich triffst du Leute, die du seit Jahren nicht mehr
gesehen hast, aber ich habe mir schon überlegt, was du zu ihnen sagst, um diese
Anfangs-Nervosität beim Hereinkommen zu überwinden.

MAMA (wiederholt einfach) Hereinkommen.

JESSIE Begleit sie rüber, dann können sie ihre Blumen anschauen, das finden die gut. Und
wenn sie sagen: “Thelma, es tut mir so leid”, sagst du einfach: “Ich bin so froh,
daß du gekommen bist, Connie.” Und dann fragst du, wie’s diesen Sommer in
ihrem Garten lief oder was sie an Thanksgiving vorhaben oder wie’s ihren
Kindern ...

MAMA Ich glaube, nach den Kindern sollte ich nicht fragen. Ich kommentiere kurz, was
sie anhaben, das kommt immer gut. Und ich bringe was Gehäkeltes mit.

JESSIE Agnes wird da sein, da brauchst du vielleicht überhaupt nicht reden.

MAMA Vielleicht kommt Connie Richards, dann bring ich sie dazu, mir zu verraten, wo
sie dieses Irische Garn, wie sie’s nennt, herkriegt. Aus Irland nicht, soviel ist klar.
Ich glaube, es hat so eine grüne Hülle.

JESSIE Und daß du auf jeden Fall hinterher genug Leute nach Hause einlädtst, es muß
Essen da sein für alle und noch was für dich übrigbleiben. Aber daß keiner was
mitnimmt, vor allem nicht Loretta.

MAMA Loretta richtet das ganze Essen her, Kleines. Da ist es angemessen, daß sie ein
paar Macaroni abkriegt.

JESSIE Nein, Mama. Von jetzt an mußt du egoistischer sein. (Setzt sich mit Mama hin)
Also, irgendeiner wird mit der Frage kommen, warum ich es getan habe, und da
sagst du einfach, du weißt es nicht. Daß du mich geliebt hast und weißt, daß ich
dich geliebt habe und daß wir heute Abend hier saßen wie an einem ganz
normalen Abend und daß ich dann zu dir rüberkam, dich geküsst habe und gesagt
habe: “Nacht, Mutter”, und daß du noch den Schlüssel in der Schlafzimmertür
gehört, und das nächste, was du gehört hast, war der Schuss. Und die Gründe
dafür, na ja, du glaubst, die hab ich einfach mitgenommen.

MAMA (leise) Was Persönliches.

JESSIE Gut. Das ist gut, Mama.

MAMA Das werde ich dann sagen.

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JESSIE Persönlich. Jawohl.

MAMA Sag ich das auch zu Loretta und Dawson? Wir saßen beieinander, du hast mich
geküßt, “Nacht, Mutter”? Die werden mehr wissen wollen, Jessie. Die werden das
nicht glauben.

JESSIE Na ja, dann sag ihnen, was wir gemacht haben. Ich habe die Gläser mit den
Süßigkeiten aufgefüllt. Habe den Kühlschrank geputzt. Wir haben Kakao gekocht
und haben das Sofa frisch bezogen. Du hattest keine Ahnung. Klar? Ich glaube, es
ist besser so. Wenn die wissen, daß wir darüber geredet haben, werden sie nicht
verstehen, daß du mich einfach hast gehen lassen. (Mama antwortet nicht.) Das ist
privat. Der heutige Abend ist privat, gehört dir und mir, und ich will nicht, daß
irgend jemand irgendwas davon abbekommt.

MAMA Wenn du meinst.

JESSIE (steht jetzt hinter Mama, fasst sie an den Schultern) Also, ich will nicht, daß du
reinkommst, wenn du den Schuß hörst. Natürlich wirst du allein gar nicht
reinkommen können, aber ich will auch nicht, daß du’s probierst. Ruf Dawson an,
dann ruf die Polizei an und dann ruf Agnes an. Und dann mußt du dich
beschäftigen, bis jemand kommt, also wäschst du den Kakaotopf. Du wäschst
diesen Topf, bis du die Klingel hörst. Und wenn‘s eine Stunde dauert. Du wäschst
diesen Topf.

MAMA Ich mach meine Anrufe, und dann setz ich mich einfach hin. Ich muß mich nicht
beschäftigen. Was wird die Polizei sagen?

JESSIE Man wird nach Pulverspuren suchen, wird dich fragen, was passiert ist, und bis
dahin wird der Krankenwagen hier sein, die kommen und holen mich, du weißt,
wie das abläuft. Du bleibst hier bei Dawson und Loretta. Und hältst Dawson fern.
Ich will erst die Polizei im Zimmer, nicht Dawson, okay?

MAMA Und wenn Dawson und Loretta wollen, daß ich mit zu ihnen komme?

JESSIE (kommt ins Wohnzimmer zurück) Wie du willst.

MAMA Ich glaube, ich bleibe hier. Die haben doch bloß koffeinfreien Kaffee.

JESSIE Vielleicht könnte Agnes ein paar Tage bei dir bleiben.

MAMA (steht jetzt auf, schaut ins Wohnzimmer) Ich glaube, ich bin lieber allein. (Geht auf
den Karton zu, den Jessie gebracht hat) Willst du, daß ich das alles an die Leute
verteile?

JESSIE (sie setzen sich aufs Sofa, Jessie den Karton auf dem Schoß) Loretta soll meinen
kleinen Rechner kriegen. Den hat Dawson eigentlich für sich gekauft, weißt du,
aber dann sah er einen, der ihm besser gefiel, und zwei konnte er nicht mit nach

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Hause bringen, wo Loretta jeden Cent umdreht, also hat er den ersten mir
gegeben. Ist doch witzig, wenn sie den jetzt kriegt, findest du nicht? Und im
Schrank ist eine Tüte für sie mit all meinen Hausschuhen. Sag ihr, ich weiß, daß
sie passen und daß ich keinen einzigen davon je getragen habe, und wenn du ihr
das sagst, muß Dawson auf jeden Fall dabei sein. Ich bin froh, daß er Loretta so
sehr liebt, aber ich möchte nur, er kriegt mit, daß nicht jede ihre Schuhgröße hat.

MAMA (nimmt den Rechner) Okay.

JESSIE (langt wieder in die Kiste) Dieser Brief ist für Dawson, aber es geht darin
hauptsächlich um dich, lies ihn, wenn du willst. Da ist eine Liste mit Weihnachts-
und Geburtstagsgeschenken für dich für die nächsten zwanzig Jahre, wenn du
einen bestimmten Wunsch hast, dann schreibst du ihn auf diese Liste mit drauf,
bevor du sie ihm gibst. Wenn du dich lieber überraschen läßt, lies die Seite nicht.
Dieses Jahr kriegst du zu Weihnachten hauptsächlich was für den Haushalt, einen
neuen Teppich fürs Bad und was zum Häkeln, aber nächstes Weihnachten,
nächstes Weihnachten muss er ziemlich tief in die Tasche greifen. Ich glaube, es
wird dir sehr gefallen, und du kommst nie drauf.

MAMA Glaubst du, das macht er mit?

JESSIE Wenn nicht, wird er sich wie ein richtiges Arschloch fühlen. Wenn ich ihn drum
bitte, und auf diesem Wege und so. Unter dieser Nummer erreichst du Cecil. Ich
habe letzte Woche angerufen, und er nahm ab, das heißt, er wohnt noch dort.

MAMA Was soll ich ihm sagen?

JESSIE Sag ihm, daß wir über ihn geredet haben, daß ich nur gut von ihm gesprochen
habe, aber hauptsächlich sag ihm, er muß Ricky finden und ihm sagen, was ich
getan habe. Er muß ihm sagen, daß du hier draußen was für ihn hast, von mir, er
soll es abholen. (Sie zieht eine Geschenktüte aus dem Karton.)

MAMA (die Tüte fühlt sich leer an) Was ist das?

JESSIE (indem sie sie abnimmt) Meine Uhr. (Legt sie in die Tüteund nimmt ein Band aus
der Tüte, um zuzubinden)

MAMA Er wird sie verkaufen.

JESSIE Das war auch die Idee. Ich bin froh, daß er sie nicht längst gestohlen hat. Ich
würde ihn gerne richtig gut zum Essen einladen.

MAMA Dafür kauft er sich Dope!

JESSIE Na, dann hoffe ich, er kriegt richtig gutes Dope dafür, Mama. Der Rest, Mama, ist
für dich.

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Jessie übergibt Mama den Karton. Mama nimmt eins nach dem andern
betrachtend in die Hand.

MAMA (überrascht und erfreut) Wann hast du das alles gemacht? Wohl immer, wenn ich
mich ein bißchen hingelegt habe.

JESSIE Vermutlich. Ich hab versucht, es für mich zu behalten. (Während Mama über die
Geschenke staunt) Bloß ein paar Kleinigkeiten. Wenn du’s mal dringend nötig
hast. Nichts Gekauftes, eher was, das du vielleicht gern anschaust, Bilder oder
Sachen, die du verloren hast. Sachen, von denen du nicht wußtest, daß du sie hast.
Wirst schon sehen.

MAMA Ich bin nicht sicher, ob ich sie will. Sie werden mich an dich erinnern.

JESSIE Nein, überhaupt nicht. Das sind eher so Sachen wie zum Beispiel eine kostenlose
Tube Zahnpasta, sie hing eines Tages an der Tür.

MAMA Ach so. Na gut.

JESSIE Na ja, vielleicht ist auch ein nettes Geschenk dabei. Omas Ring, den sie mir
gegeben hat, ich dachte, vielleicht möchtest du ihn, aber ich dachte, wenn ich ihn
dir jetzt gleich gäbe, würdest du ihn nicht tragen wollen.

MAMA (stellt die Schachtel auf einen der Tische) Nein. Wahrscheinlich nicht. (Wendet
sich wieder zu ihr) Ich glaube, ich bin bereit für die Maniküre. Soll ich mir die
Hände noch mal waschen?

JESSIE (steht auf) Mama, es ist Zeit, daß ich gehe.

MAMA (läuft auf sie zu) Nein, Jessie, du hast noch die ganze Nacht!

JESSIE (als Mama sie festhält) Nein, Mama.

MAMA Es ist noch nicht mal zehn.

JESSIE (sehr ruhig) Laß mich gehen, Mama.

MAMA Ich kann nicht. Du kannst nicht gehen. Das kannst du nicht machen. Du hast nicht
gesagt, daß es so bald sein würde, Jessie. Ich habe Angst. Ich liebe dich.

JESSIE (nimmt ihre Hände weg) Laß mich los, Mama. Was ich zu sagen hatte, habe ich
gesagt.

MAMA (steht eine Minute still) Du hast gesagt, du wolltest mir die Nägel machen.

JESSIE (geht einen winzigen Schritt rückwärts) Ich kann nicht. Es ist zu spät.

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MAMA Es ist nicht zu spät!

JESSIE Ich will nicht, daß du Dawson und Loretta aufweckst mit deinem Anruf. Sie sollen
noch wach sein und angezogen, damit sie sofort kommen können.

MAMA (während Jessie zurückweicht, rückt Mama nach, aber vorsichtig) Die sind schnell
wach, Jessie, wenn es sein muß. Nicht sie zählen hier, Jessie. Sondern du. Und
ich. Wir sind noch nicht fertig. Wir haben hier noch einiges vor uns. Ich weiß
nicht, wo meine Rezepte sind, und du hast mir nicht gesagt, was ich Doktor Davis
sagen soll, wenn er anruft, und wieviel ich Ricky sagen soll und wen ich anrufen
soll, wenn das Laub zusammengeharkt werden ...

JESSIE Versuch nicht, mich abzuhalten, Mama, du schaffst es nicht.

MAMA (packt sie wieder, diesmal kräftig) Schaffe ich sehr wohl! Ich stell mich in den
Flur und laß dich nicht vorbei. (Sie kämpfen.) Du mußt mich schon
zusammenschlagen, wenn du mich loswerden willst, Jessie. Ich laß dich nicht so
einfach ... (Mama kämpft mit Jessie an der Tür, es gelingt Jessie, loszukommen,
und:)

JESSIE (fast geflüstert) Nacht, Mutter.

Jessie verschwindet in ihrem Schlafzimmer, und man hört, wie sie die Tür
abschließt, kurz bevor Mama bei der Tür ist.

MAMA (schreit) Jessie! (Sie hämmert an die Tür.) Jessie, laß mich rein. Nein, Jessie. Ich
schrei so lange, bis du die Tür aufmachst, Jessie. Jessie! Jessie! Und wenn ich
nicht mache, was du gesagt hast! Ich werde Cecil sagen, was für ein beschissener
Mann er war, daß du dich so fühlen mußtest, und Rickys Uhr gebe ich Dawson,
wenn ich will, und das einzige, was du tun kannst, damit ich tu, was du willst,
komm raus und hilf mir, Jessie! (Hämmert wieder) Jessie! Schluß jetzt! Ich hab
nichts gewußt! Ich war die ganze Zeit bei dir. Wie konnte ich ahnen, daß du so
allein warst?

Mama hört einen Augenblick auf, atemlos und panisch, legt ihr Ohr an die Tür,
und als sie nichts hört, richtet sie sich wieder auf und schreit wieder:

Jessie! Bitte!

Man hört den Schuß, er klingt wie eine Antwort, er klingt wie Nein. Mama bricht
vor der Tür zusammen, tränenüberströmt, aber sie schreit nicht mehr. Sie hat
einen Schock.

Jessie, Jessie, Kind ... Vergib mir. (Pause.) Ich dachte, du seist mein.

Sie geht von der Tür weg, durchs Wohnzimmer, geht zwischen den Möbeln herum,
als wisse sie nicht, wo sie sei, als wisse sie nicht, was tun. Schließlich geht sie in

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die Küche zum Herd, nimmt den Kakaotopf, trägt ihn mit zum Telefon, behält ihn
in der Hand, während sie die Nummer wählt. Sie schaut auf den Tiegel, hält ihn
fest umklammert, als hinge ihr Leben daran. Sie hört Loretta antworten.

Loretta, Kleines, gib mir mal Dawson.

ENDE

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