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Meine Zeit steht in deinen Händen.

Nun kann ich ruhig sein, ruhig sein in Dir.


Du gibst Geborgenheit.
Du kannst alles wenden.
Gib mir ein festes Herz, mach es fest in Dir.
(Peter Strauch)

Liebe Gemeinde,
wie geht es Ihnen in der aussergewöhnlichen Lage? Haben Sie sich schon an den neuen,
verlangsamten Rhythmus gewöhnt? Was hat sich für Sie konkret geändert seit den Ver-
ordnungen des Bundesrats? Für mich ist es nun Tag 4 im Home Office, und mich be-
schleicht das Gefühl, dies könnte erst der Beginn einer längeren Sache sein.
Seit ein paar Tagen geht mir eine Liedzeile nicht mehr aus dem Kopf: «Meine Zeit steht
in deinen Händen. Nun kann ich ruhig sein, ruhig sein in Dir.» Zugegeben, das mit der
Ruhe klappt noch nicht so ganz. Zu tief steckt der Reflex, mehrmals täglich meine
Agenda zu prüfen, ob ich auch ja keinen Termin verpassen werde. Doch das Bild, das
sich in meiner Agenda zeigt, ist neu und ungewohnt: Sie ist leer. Über weite Wochen
habe ich Treffen abgesagt, Termine gestrichen und Besuche auf unbestimmte Zeit ver-
schoben.
Bis vor Kurzem waren mir die vielen Emails lästig und Telefonanrufe haben mich unter-
brochen. Ich fühlte mich wie in Polo Hofers Song ‘Kiosk’: «Sie wei aui öppis vomer!»
Doch jetzt? Jetzt liegen zwischen dem morgendlichen Kaffee und der abendlichen Bett-
lektüre gut sechzehn Stunden, die ich selbst gestalten und füllen kann. Ich freue mich
über Anrufe und ich tippe sogar gerne Emails. Ich schreibe wieder Postkarten und bin
seit neustem glücklich, liegt der nächste Briefkasten zweihundert Meter entfernt.
Mitten in eine diese Stunden hinein tönt dieses Lied. Wir sangen es, als wir Kinder wa-
ren und in der Jungschar abends ums Lagerfeuer sassen. «Du gibst Geborgenheit, Du
kannst alles wenden. Gib mir ein festes Herz, mach es fest in Dir.» In dieser ausserge-
wöhnlichen Lage höre ich das Lied mit neuen Ohren. Ja, Geborgenheit, das wünschen
sich viele. Ältere und hochaltrige Menschen, die schon vor Ausbruch der Pandemie einen
eingeschränkten Radius hatten. In Gedanken bin ich bei ihnen, wenn ich das Lied
summe. Menschen, die täglich in der Pflege arbeiten und weit über die körperlichen und
seelischen Grenzen hinweg beansprucht werden. Für sie bete ich, wenn ich das Lied leise
summe. Menschen, die an einer psychischen Krankheit leiden und denen Isolation und
Ungewissheit in besonderer Weise zusetzt. Für sie hoffe ich, wenn ich das Lied leise
singe.
«Gib mir ein festes Herz, mach es fest in Dir.» So lautet die Bitte und der schliesse ich
mich gerne an. Die Ungewissheit kann zuweilen stark belasten. Nun sind keine Pläne
mehr möglich. Für uns, die wir es gewohnt sind zu planen, eine Zumutung. Das feste
Herz brauche ich jetzt. Darin äussert sich Vertrauen und Gelassenheit, damit gilt, wie es
in Psalm 31,16 ursprünglich heisst: In deiner Hand meine Zeiten.
Meine Zeit habe ich bisher immer als meine Lebenszeit verstanden und in grossen
Sprüngen gedacht. Bis zur Matura noch drei Jahre, bis zum Master noch fünf, bis zum
Ende des Vikariats noch ein Jahr. Und jetzt? Jetzt bin ich herausgefordert, in kleinen
und kleinsten Einheiten zu denken. In Stunden, höchstens Tagen. Das braucht Übung,
doch ich glaube, in jeder Übung steckt eine Chance. Die Chance, endlich Zeit für jene
Dinge zu haben, die nicht in erster Linie mit dem Beruf in Verbindung stehen. Plötzlich
fühle ich eine neue Verbundenheit mit den Menschen, die die Gelassenheit schon viel
länger oder noch ganz natürlich in sich tragen. Mit meiner Grossmutter, die zu sagen
pflegt: «Mou luege, was dä Tag bringt.» Mit den Kindern aus meiner WG, die kein Ge-
fühl für später haben, sondern ganz im Jetzt leben. Ihnen gemeinsam ist die Fähigkeit,
in Tagen zu denken und zu handeln. Sie teilen diese Sorge nicht, von denen das Lied er-
zählt und die mich bis vor Kurzem einiges an Schlaf gekostet haben: «Sorgen quälen,
werden mir zu gross. Mutlos frag ich: Was wird morgen sein?»
Ich nehme diese neue Erfahrung als Chance, die Frage nach dem Morgen nicht mutlos
zu stellen. Viel lieber furchtlos, sorglos und ganz bewusst ziellos. Das scheint mir des-
halb wichtig, weil das der Beitrag ist, den ich leisten kann. Ich will mich in Ruhe und Ge-
lassenheit üben und so zu Hause bleiben. Ich will meine Bedürfnisse hinter die des Kol-
lektivs zurückstellen. Das ist manchmal anstrengend und herausfordernd, aber ich will
dranbleiben und solidarisch sein, wo immer ich kann. Und wenn es mir schwerfällt,
singe ich dieses Lied.
Das möchte ich Ihnen ans Herz legen: Einzustimmen in das Lied, welches das Vertrauen
besingt, um ein festes Herz bittet und die Fackel der Hoffnung hochhält. Im Hoffen da-
rauf, dass selbst in der Verzweiflung gelte: In deiner Hand meine Zeiten. Die fröhlichen
und die heiteren, die trüben und die schweren, die leichten und die langfädigen. Und
vielleicht, allmählich, stellt sich so die Ruhe und die Geborgenheit eines Tages wie von
selbst ein. Leise, zart und unbemerkt wie die Kirschblüte, die ihre Knospen im Versteck-
ten treiben lässt, und unverhofft mit ihrer ganzen Schönheit die Welt verzaubert.
Alles Liebe und bleiben Sie gesund!
Sina von Aesch und das Pfarrteam der Kirchgemeinde Nydegg

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