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PDF of Verschworungsdenken Zwischen Popularkultur Und Politischer Mobilisierung Florian Hessel Pradeep Chakkarath Mischa Luy Eds Full Chapter Ebook
PDF of Verschworungsdenken Zwischen Popularkultur Und Politischer Mobilisierung Florian Hessel Pradeep Chakkarath Mischa Luy Eds Full Chapter Ebook
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Kulturpsychologische Gegenwartsdiagnosen
Bestandsaufnahmen zu Wissenschaft und Gesellschaft
Pradeep Chakkarath Editor Doris Weidemann Editor
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Aufwachsen zwischen Pandemie und Klimakrise
Pädagogische Arbeit in Zeiten großer Verunsicherung
Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik 29 Rolf Göppel
Johannes Gstach Michael Winninger Eds
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Florian Hessel, Pradeep Chakkarath, Mischa Luy (Hg.)
Verschwörungsdenken
In der Reihe Psyche und Gesellschaft sind bisher unter anderem fol-
gende Titel erschienen:
Ulrich Bahrke, Rolf Haubl, Tomas Plänkers (Hg.): Utopisches Denken – Destruk-
tivität – Demokratiefähigkeit. 100 Jahre »Russische Oktoberrevolution«. 2018.
Bandy X. Lee (Hg.): Wie gefährlich ist Donald Trump? 27 Stellungnahmen aus
Psychiatrie und Psychologie. 2018.
Sascha Klotzbücher: Lange Schatten der Kulturrevolution. Eine transgene-
rationale Sicht auf Politik und Emotion in der Volksrepublik China. 2019.
Oliver Decker, Christoph Türcke (Hg.): Ritual. Kritische Theorie und Psycho-
analytische Praxis. 2019.
Oliver Decker, Christoph Türcke (Hg.): Autoritarismus. Kritische Theorie und
Psychoanalytische Praxis. 2019.
Rolf Haubl, Hans-Jürgen Wirth (Hg.): Grenzerfahrungen. Migration, Flucht,
Vertreibung und die deutschen Verhältnisse. 2019.
Caroline Fetscher: Das Paddock-Puzzle. Zur Psychologie der Amoktat von Las
Vegas. 2021.
Johann August Schülein: Psychoanalyse als gesellschaftliche Institution.
Soziologische Betrachtungen. 2021.
Steffen Elsner, Charlotte Höcker, Susan Winter, Oliver Decker, Christoph
Türcke (Hg.): Enhancement. Kritische Theorie und Psychoanalytische Praxis.
2021.
Florian Bossert: Viraler Angriff auf fragile Subjekte. Eine Psychoanalyse der
Denkfähigkeit in der Pandemie. 2022.
Klaus Ottomeyer: Angst und Politik. Sozialpsychologische Betrachtungen zum
Umgang mit Bedrohungen. 2022.
Carlo Strenger: Die Angst vor der Bedeutungslosigkeit. Das Leben in der
globalisierten Welt sinnvoll gestalten. 2. Aufl. 2022.
Hans-Jürgen Wirth: Gefühle machen Politik. Populismus, Ressentiments und
die Chancen der Verletzlichkeit. 2022.
Vera King: Sozioanalyse – Zur Psychoanalyse des Sozialen mit Pierre Bourdieu.
2022.
Daniel Burghardt, Moritz Krebs (Hg.): Verletzungspotenziale. 2022.
Verschwörungsdenken
Zwischen Populärkultur
und politischer Mobilisierung
Psychosozial-Verlag
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Verschwörungsdenken:
Zwischen Populärkultur
und politischer Mobilisierung 9
Zu Semantik, Strukturen und Funktionen
einer Wahrnehmungs- und Deutungskultur: Eine Einleitung
Florian Hessel, Mischa Luy & Pradeep Chakkarath
On the Spectrum:
Verschwörungstheorien und Erklärungen 51
Martin Jay
Nichtklassische Konspirologie 65
Ein Essay
Alexey Levinson
5
Inhalt
Politische Bildungsarbeit
für eine »Gesellschaft der Mündigen« 107
Melanie Hermann, Florian Eisheuer & Jan Rathje
Verschwörung, Wahnarbeit
und schizophrene Wirklichkeit 171
Gruppenanalytische Behandlung
während der Coronapandemie
Frank-Andreas Horzetzky
Von Verschwörungsideologien,
Vernetzungsstrategien
und Vernichtungsphantasien 215
Digitale soziale Netzwerke, »alternative Heilmethoden«
und Esoterik in der Covid-19-Pandemie
Nora Feline Pösl
6
Inhalt
#flattenthecurve 259
Wie begrenzen wir die Welle von Falschinformationen
und Verschwörungserzählungen
in digitalen sozialen Netzwerken?
Julian Kauk, Helene Kreysa, Anne Voigt & Stefan R. Schweinberger
Moderne Hexereivorstellungen
und Antisemitismus 325
Zwei Verschwörungsmythen
im europäisch-westafrikanischen Vergleich
Felix Riedel
7
Verschwörungsdenken:
Zwischen Populärkultur
und politischer Mobilisierung
Zu Semantik, Strukturen und Funktionen
einer Wahrnehmungs- und Deutungskultur: Eine Einleitung1
1 Der ursprünglich 2020 als Editorial der psychosozial, 43(1) erschienene Text wurde über-
arbeitet, um ausgewählte Literaturhinweise ergänzt und mit einem neuen Schluss ver-
sehen.
9
Florian Hessel, Mischa Luy & Pradeep Chakkarath
rungen« glaubt, ist in der Regel der festen, mitunter vielleicht aber voreili-
gen Überzeugung, sprichwörtlich »bloße Verschwörungstheorien« von
seriösen Theorien klar unterscheiden zu können.
Im Zuge der Erschütterung so mancher überkommener Sicherheit in der
kollektiven Urteilsbildung haben sich sogenannte Verschwörungstheorien
nicht nur erfolgreich als Topoi in Literatur, Film und Serien, in sozialen
Medien, Feuilletons und Feierabenddebatten etabliert, sondern weisen da-
rüber hinaus auch ein besorgniserregendes Potenzial für politische Agita-
tion, Verunsicherung und – oftmals gewaltlegitimierende – Propaganda auf.
Nicht nur vor diesem disparaten, hier lediglich schlaglichtartig skizzierten
Hintergrund erscheint uns eine Begrifflichkeit wie »Verschwörungsden-
ken« geeigneter, um sowohl die gleichzeitig wirkenden Aspekte von (ko-
gnitiver) Deutung und Wahrnehmung sowie (praktischer) Aneignung als
auch deren gesellschaftlich-kulturelle Dimension(-en) wissenschaftlich zu
thematisieren. Wenn wir im Untertitel zu dieser Einleitung von Verschwö-
rungsdenken als einer ganz bestimmten Wahrnehmungs- und Deutungs-
kultur sprechen, so legen wir nicht zufällig auch eine kulturpsychologische
Perspektive an das Thema an. Es ist eine unserer Grundüberzeugungen,
dass Kultur untrennbar mit wissensbasierten Praktiken des Menschen
verwoben ist und so Erlebnis- und Handlungsmöglichkeiten in unter-
schiedlichsten Handlungsfeldern und diskursiven Rahmungen sowohl er-
möglicht als auch begrenzt, sowohl verstehbar als auch analysierbar und
kritisierbar macht (Chakkarath & Straub, 2020). Wer das Zusammenspiel
von kognitiven, epistemologischen, emotionalen, klinischen, kommunika-
tiven, politischen, auch identitätspolitischen Aspekten genauer verstehen
will, sollte einer solch komplexen Perspektive einiges abgewinnen können.
Gerade die Sozialwissenschaften sind zu einer eingehenden Befassung mit
diesem Gegenstand aufgefordert, sowohl was Begrifflichkeiten als auch his-
torische Entwicklungen und gesellschaftliche Dimensionen der damit ver-
bundenen Phänomene betrifft.
Verschwörung, Verschwörungsidee
und Verschwörungstheorie: Ein historischer Abriss
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Verschwörungsdenken: Zwischen Populärkultur und politischer Mobilisierung
2 Eine entsprechende Legitimierung politischen Mords findet sich bereits in dem ein-
flussreichsten staatstheoretischen Werk (Süd-)Asiens, dem Arthashastra, das zwischen
dem 3. vorchristlichen und dem 2. Jahrhundert kompiliert wurde und heute ebenso als
»machiavellistisch« bezeichnet wird wie u. a. Teile der Lehren von Han Fei (3. Jhd. v. Chr.)
und Ibn Zafar (12. Jhd.).
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Florian Hessel, Mischa Luy & Pradeep Chakkarath
3 Die Bezeichnung im heute vertrauten Sinn vermutlich erstmals bei Karl Popper (1980
[1945]); vgl. Pidgen, 2006; Jay, i. d. Bd. Eine weitere Vorgeschichte jenseits des zuvor Be-
schriebenen skizziert McKenzie-McHarg (2018).
4 Auf die Entwicklungsgeschichte von (modernen) Verschwörungsvorstellungen kann aus
Platzgründen an dieser Stelle wie in den weiteren Beiträgen nicht in wünschenswerter
Ausführlichkeit eingegangen werden. Dasselbe gilt für eine ausführlichere und differen-
ziertere Analyse des Zusammenhangs bestimmter verschwörungsassoziativer Begriff-
lichkeiten und ihres jeweiligen, oft auch spezifischen, von historischen und kulturellen
Umständen abhängigen gesellschaftlichen Effekts. Wir verweisen für einen kursorischen
Überblick auf den online verfügbaren Artikel von Florian Hessel (2020), den Beitrag
von Alexey Levinson in diesem Band sowie auf die weiteren hier im Text genannten
Publikationen. Zur gesellschafts- wie globalgeschichtlichen Bedeutung der Verbreitung
außerhalb Westeuropas und Nordamerikas vgl. exempl. Poliakov (1987), Tibi (1994), Gray
(2010) sowie viele der Beiträge in Caumanns & Niendorf (2001), Butter & Reinkowski
(2014), Uscinski (2018), Dyrendal et al. (2018).
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Verschwörungsdenken: Zwischen Populärkultur und politischer Mobilisierung
Bezeichnungen – Debatten
13
Florian Hessel, Mischa Luy & Pradeep Chakkarath
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Verschwörungsdenken: Zwischen Populärkultur und politischer Mobilisierung
7 Vgl. dazu auch Hermann et al. und Hessel in diesem Band sowie die Berichte hrsg. v.
American Jewish Committee Berlin Ramer Institute (AJC, 2021) und u. a. vom Londoner
Media Diversity Institute (MDI et al., 2021).
15
Florian Hessel, Mischa Luy & Pradeep Chakkarath
8 In diesem Zusammenhang sei stellvertretend für die zahlreichen literarischen wie kul-
turwissenschaftlichen Arbeiten Umberto Ecos zum Thema, auf die posthum erschie-
nene Aufsatzsammlung Il complotto (dt. Verschwörungen, 2021) verwiesen.
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Verschwörungsdenken: Zwischen Populärkultur und politischer Mobilisierung
Luy et al., 2020; ähnlich Grüter, 2006; Heil, 2006). Eine Fortsetzung im
engeren Sinn haben die Arbeit von Hofstadter und seine Begriffsbildung
des »paranoid style« dagegen lediglich in sehr wenigen Studien wie der
des Politikwissenschaftlers Daniel Pipes (1999) gefunden. Hofstadter kann
allerdings als Wegbereiter einer rezipient*innenorientierten Forschung
gelten (vgl. klassisch Goertzel, 1994; sowie aktuell z. B. van Prooijen, 2020;
eine Übersicht über Forschungsthemen und -felder in Butter & Knight,
2020), während in erweitertem Sinn zahlreiche Beobachter*innen weiter-
hin auf die von Hofstadter herausgestellten antidemokratischen Wirkungs-
potenziale von Verschwörungsvorstellungen Bezug nehmen (vgl. etwa
Goldberg, 2001; Fenster, 2008; Amadeu Antonio Stiftung, 2015; Salzborn,
2016; Douglas et al., 2019; Merlan, 2019; Muirhead & Rosenblum, 2019;
Nocun & Lamberty, 2020; AJC, 2021).
Tendenziell hat sich in den letzten Jahren – auch infolge einer gewissen Re-
Orientierung der deutschsprachigen Forschung an englischsprachigen Ver-
öffentlichungen und Themen – die von dem Politologen Michael Barkun
(2013, S. 3) formulierte Beschreibung durchgesetzt: »[A] conspiracy belief
is the belief that an organization made up of individuals or groups was or
is acting covertly to achieve some malevolent end.« Die Mehrzahl der wis-
senschaftlichen Theorieansätze über Verschwörungskonstrukte sind sich
über das rein Deskriptive hinaus zumindest in grundlegenden Bestimmun-
gen einig: Innerhalb von Verschwörungsvorstellungen wird stark intentio-
nalistisch, monokausal und personalisierend argumentiert; es wird hinter
dem Schein des Gegebenen etwas Verstecktes, wesentlich (Un-)Heimli-
ches behauptet; die dergestalt vorgenommenen (Gruppen-)Einteilungen
tragen stark manichäische Züge (vgl. exempl. Hofstadter, 1996 [1964];
Moscovici, 1987; Groh, 1987, 1991; Cubitt, 1989; Goertzel, 1994; Pfahl-
Traughber, 2002; Barkun, 2013; Butter, 2018; Douglas et al., 2019; van
Prooijen, 2020; Butter & Knight, 2020).
Inhaltlich lassen sich Verschwörungskonstrukte weiter durch verschie-
dene Kriterien typisieren. Fragen lässt sich danach, wer die »Verschwö-
rer*innen« und ihre Helfer*innen sind: Handelt es sich dabei vorgeblich
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Florian Hessel, Mischa Luy & Pradeep Chakkarath
9 Ein Modell auf der Basis rein mathematischer Wahrscheinlichkeiten hat Grimes (2016)
entwickelt.
10 Inwieweit dies tatsächlich zutrifft, wird kontrovers diskutiert, vgl. etwa Uscinski et al.
(2022).
18
Verschwörungsdenken: Zwischen Populärkultur und politischer Mobilisierung
ist; Butter & Knight, 2020). Wie sich bereits andeutete, stellt sich die
Forschungslage vielleicht als wenig systematisiert, aber insgesamt im enge-
ren sozialwissenschaftlichen wie im psychologischen Fachbereich als ver-
gleichsweise gut, zum Teil sogar inzwischen als quantitativ unüberschaubar
und inhaltlich repetitiv dar (vgl. die Übersicht allein über die neuere, vor
allem kognitionspsychologische Literatur bis 2019 in Douglas et al., 2019).
Eine analytisch-sozialpsychologische Thematisierung blieb allerdings weit-
gehend ein Desiderat (vgl. klassisch Löwenthal, 1990 [1949]; sowie Wulff,
1987; Maaz, 2001; Decker & Brähler, 2018; Luy et al., 2020; Brunner et
al., 2021). Der Trend zu weiteren Forschungsanstrengungen und wissen-
schaftlichen wie populären Publikationen hat sich infolge verschiedener
gesellschaftlich-politischer Ereignisse, unter die Entwicklungen im Be-
reich des Rechtsextremismus und -terrorismus, die Präsidentschaft Donald
Trumps in den USA und noch mehr die Covid-19-Pandemie zu rechnen
sind, weiter verstärkt. Das Bedürfnis der politischen Öffentlichkeit an In-
formationen und (wissenschaftlichen) Deutungen ist so ausgeprägt – und
drängend – wie kaum zuvor in der Vergangenheit (vgl. exempl. bpb, 2021).
Seit 2020 wurden neben zahlreichen Projekten der politischen Bildung
und Prävention zum Thema auch einige außeruniversitäre Institutionen zur
Forschung und Information (etwa das Berliner CeMAS, Center für Monito-
ring, Analyse und Strategie) etabliert.
Die Tatsache, dass bisher keine Bezeichnung für das Phänomen allge-
mein anerkannt wurde, ist entgegen gängiger Annahmen keineswegs auf
eine mangelnde wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema zurück-
zuführen. Die Vielzahl an – zum Teil in denselben Arbeiten – nebenein-
ander verwendeten Bezeichnungen reflektiert ebenso sehr unterschiedliche
theoretisch-konzeptionelle Perspektiven wie mehr noch den Gegenstand
und dessen Form und Veränderung selbst. In der Verlagerung der Schwer-
punkte der Bezeichnungen von inhaltlichen Aspekten (»conspiracy
myth«; Cubitt, 1989) hin zu einer stärkeren kognitiven Orientierung
(»conspiracy belief«; Barkun, 2013) reflektiert sich auch ein Wandel von
historischen, geschlossenen Welterklärungsmodellen hin zu kombinierba-
ren Konglomeraten von Verschwörungskonstrukten, der mit politischen,
sozioökonomischen und soziokulturellen, zunehmend »globalisierten«
Transformationsprozessen und Krisen in enger Verbindung steht. Inso-
fern kann es nicht das Ziel sein, in erster Linie eine allgemeingültige oder
umfassend anerkannte Begrifflichkeit zu finden, sondern es muss um eine
kritische Betrachtung der Angemessenheit der existierenden gehen und
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Florian Hessel, Mischa Luy & Pradeep Chakkarath
noch mehr um die Bemühung, dem Gegenstand als solchem mit all seinen
Verflechtungen mit anderen Phänomenen in deren historischen Funktions-
wandel und dessen globalen Dimensionen noch besser gerecht zu werden
(zur globalen Verbreitung vgl. die Regionalartikel in Butter & Knight,
2020, S. 569ff.).
Insofern erscheint – so lange Begrifflichkeiten und die Stringenz von
Begriffsverwendungen eine substanzielle Bedeutung zukommt – zur Ab-
grenzung von »Verschwörung« und »Verschwörungstheorie« als For-
schungsgegenständen eine pragmatische Verwendung verschiedener Be-
zeichnungen angebracht, um jeweils zentrale inhaltliche oder historische
Differenzen reflektieren zu helfen. Im Wesentlichen scheint uns die de-
skriptive Bezeichnung »Verschwörungskonstrukte« für in irgendeiner
Form zusammenhängende Deutungsangebote auf Basis einer »Verschwö-
rung« sinnhaft. »Verschwörungsmythos« bzw. »Verschwörungsideo-
logie« spezifizieren Verschwörungskonstrukte, die historisch-kulturell
bereits tradiert sind bzw. einen starken politischen Weltanschauungscha-
rakter aufweisen und ein darüber hinausweisendes, weiteres Spektrum von
Inhalten verklammern. In Bezug auf Individuen bzw. einzelne Elemente,
die in Verschwörungskonstrukten enthalten sind oder sein können, können
insbesondere »Verschwörungsidee«, »Verschwörungsvorstellung« oder
analoge Sprachformen verwendet werden. Im in den Buchtitel aufgenom-
menen »Verschwörungsdenken« sehen wir, wie bereits gesagt, die im Ge-
genstand gleichzeitig wirkenden Aspekte von (kognitiver) Deutung und
Wahrnehmung, von (praktischer) Aneignung sowie deren gesellschaftlich-
kultureller Dimension(-en) am besten thematisierbar.
Gerade an Hofstadters klassischem Aufsatz sowie an der Verwendung
von »Verschwörungstheorie« als Label in der Öffentlichkeit oder »Ver-
schwörungsideologie« im wissenschaftlich-pädagogischen Bereich sowie
generell an stärker auf politische Zusammenhänge abzielenden Arbeiten
wird gelegentlich ein denunziatorischer Unterton und eine Tendenz zum
othering bzw. eine gewisse Eindimensionalität in der Betrachtung bemän-
gelt. Entweder meint man, innerhalb wissenssoziologischer Ansätze im
Verschwörungskonstrukten zugrundeliegenden Denkstil eine erst einmal
wertfrei zu konstatierende Wissensform unter anderen zu sehen (vgl.
Anton et al., 2014; Meyer, 2018), oder man erkennt aus kulturgeschicht-
lichen Studien ein als – teils mit allen Implikationen des Worts – »stigma-
tisiert« wahrgenommenes, gesellschaftlich-kulturell eingebundenes Idiom
(vgl. Knight, 2000, 2008; Olmsted, 2009; Thalmann, 2019).
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Verschwörungsdenken: Zwischen Populärkultur und politischer Mobilisierung
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Florian Hessel, Mischa Luy & Pradeep Chakkarath
Während dieser Text in seiner ursprünglichen Form als Editorial für die
Ausgabe 1/2020 der psychosozial (Luy et al., 2020, S. 5ff.) begonnen und
fertiggestellt wurde, erreichten uns die Nachrichten von dem antisemiti-
schen Anschlag an Jom Kippur in Halle (9. Oktober 2019) und dem rassis-
tischen Anschlag in Hanau (19. Februar 2020). Wenige Monate zuvor, am
1. Juni 2019, war bereits der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke
von einem Rechtsextremisten erschossen worden. Während der Arbeit
an dieser Einleitung, am 14. Mai 2022, betritt ein rassistisch orientierter
Täter einen Supermarkt in einem vorwiegend von nichtweißen Menschen
bewohnten Stadtteil im US-amerikanischen Buffalo und erschießt zehn
Afroamerikaner*innen.
Der Attentäter von Halle bekannte sich in seiner an die Dramaturgie
früherer rechtsextremer Anschläge von Oslo/Utoya bis Christchurch an-
knüpfenden, im Internet live gestreamten Mordserie, zu einem Konglome-
rat an Ressentiments und Verschwörungsideen – Ideen wie sie ähnlich auch
der Mörder von Walter Lübcke und die Attentäter von Hanau und Buffalo
vertraten. Unter dem Label »großer Austausch« (»great replacement«)
22
Verschwörungsdenken: Zwischen Populärkultur und politischer Mobilisierung
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Florian Hessel, Mischa Luy & Pradeep Chakkarath
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Verschwörungsdenken: Zwischen Populärkultur und politischer Mobilisierung
In der Verklärung der Welt mit den Mitteln des digitalen Zeitalters,
noch mehr im Achselzucken des »Wer weiß schon noch was wahr ist?«
liegt bereits der Kern einer Desavouierung vieler, vielleicht sogar aller
potenziell geteilten Bezugspunkte, die ein Mindestmaß an kollektiven
Übereinstimmungen verbürgen könnten, auf deren Basis eine Verstän-
digung über Tatsachen und Fiktionen – »die Wurzel der Humanität«
(Hegel, 1989 [1807], S. 65)11 – allererst möglich wäre. Und als eine
Geste der Gleichgültigkeit akzeptiert solches Achselzucken – ob nun
»hilflos« oder zynisch – einen Zugriff auf das gesellschaftlich als legi-
tim und legitimiert Aufgefasste durch eine – u. U. auch mit Gewalt ge-
stützte – Setzung der Herrschenden. Glaubt man das Denken in »Ver-
schwörungen« losgelöst von dessen gesellschaftlichen und historischen
Kontexten betrachten zu können – sich selbst scheinbar »wertfrei«
vom gesellschaftlichen Geschehen zu dispensieren –, so werden die Wis-
senschaften, die sich mit dem vergesellschafteten Menschen, dem zoon
politikon beschäftigen, nicht nur ihrem kritischen Anspruch, sondern
auch der aus jeder Tradition menschheitsgeschichtlichen, selbstrefle-
xiven Aufklärungsdenkens entspringenden Aufgabe und Verpflichtung
nicht gerecht.
Danksagung
Wir bedanken uns bei N. N. und Paul Mentz (Dortmund) für ihre jewei-
lige Übersetzung der Texte von Alexey Levinson aus dem Russischen und
Martin Jay aus dem Englischen, bei Joachim Sperl (Hamburg) für das Ti-
telbild und den gestalterischen Rat, bei Christoph Hövel (Recklinghausen)
für den Austausch, bei Prof. Lev Gudkov (Moskau) für die freundliche Ver-
mittlung, beim Hans Kilian und Lotte Köhler-Centrum (Bochum) für die
finanzielle und ideelle Unterstützung. Unser besonderer Dank gilt auch,
stellvertretend für alle beteiligten Mitarbeiter*innen und Lektor*innen
des Psychosozial-Verlags, Christian Flierl und David Richter, die uns bei
der Bearbeitung dieser Thematik über fast drei Jahre hinweg kompetent
und engagiert unterstützt haben. Und selbstverständlich danken wir allen
Autor*innen für ihre anregenden Beiträge und die gewinnbringende Zu-
sammenarbeit.
25
Florian Hessel, Mischa Luy & Pradeep Chakkarath
Literatur
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Florian Hessel, Mischa Luy & Pradeep Chakkarath
Biografische Notizen
Florian Hessel, Dipl.-Soz. Wiss., ist Lehrbeauftragter für Sozialpsychologie und Sozial-
theorie der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum (RUB) sowie
der TU Hamburg und arbeitet als freier Bildungsreferent und wissenschaftlicher Berater
in der Antisemitismusprävention und Demokratieförderung. Er ist Gründungsmitglied
von Bagrut e. V. Verein zur Förderung demokratischen Bewusstseins.
Mischa Luy, M. A., ist Sozialwissenschaftler und promoviert am Lehrstuhl für Sozialtheorie
und Sozialpsychologie an der Ruhr-Universität Bochum zum Gegenstand der deutschen
Prepperszene. Daneben ist er als wissenschaftlicher Berater tätig beim Modellprojekt
#kopfeinschalten – Kritisch gegen Verschwörungsdenken. Er ist Stipendiat der Hamburger
Stiftung zur Förderung von Kultur und Wissenschaft.
Pradeep Chakkarath, Dr., lehrt Sozial- und Kulturpsychologie an der Fakultät für Sozial-
wissenschaft der RUB und ist (mit Jürgen Straub) Co-Direktor des Hans Kilian und Lotte
Köhler Centrums für kulturwissenschaftliche Psychologie und historische Anthropo-
logie (KKC). Er ist 2. Vorsitzender der Gesellschaft für Kulturpsychologie und Mitheraus-
geber der psychosozial.
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Elemente des Verschwörungsdenkens
Ein Essay1
Florian Hessel
1 Der Autor bedankt sich für wertvolle Hinweise bei Paul Mentz, Olaf Kistenmacher und
Janne Misiewicz. – Der ursprünglich in psychosozial 1/2020 erschienene Text wurde für
diese Ausgabe durchgesehen und geringfügig ergänzt.
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Florian Hessel
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Elemente des Verschwörungsdenkens
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Florian Hessel
Der Abdruck der Gesellschaftsgeschichte der Epoche, die wir (noch) als
unsere eigene erkennen, des »bürgerlichen Zeitalters« (Max Horkhei-
mer), ist in der Form der Verschwörungskonstrukte und des Umgangs mit
ihnen weiter in doppelter Weise erkennbar. Am Beginn ihrer massenhaften
Resonanz und Wirkungskraft steht die Verbindung zwischen gesellschaft-
licher Krise und deren Bewältigung. Diejenigen, die man zu Recht als Re-
aktionäre und Parteigänger der Konterrevolution bezeichnete, gossen so
ihre Empörung über das Ende der ancien régimes in eine Form, die das epo-
chal Neue, Unerklärliche dieser Machtübernahme der zuvor durch »weise
Vorsehung« Machtlosen und jener anderen, potenziell egalitären Herr-
schaftsstruktur als an göttlicher Ordnung oder ewiger Tradition frevelnde
Konspiration »erklärte«. Gleichzeitig schuf man damit das propagandis-
tische Instrument, das das Unverständnis für die neuen Strukturen von
Herrschaft und Vergesellschaftung (den »Niemand«) und die dann zügig
enttäuschten Hoffnungen breiter Gesellschaftsschichten in politischen Ge-
brauchswert (den »Jemand«) zu übersetzen versprach.
Die tiefgreifenden gesellschaftlichen Umwälzungen in der Moderne
und ihre politisch-ökonomischen Formen bedeuten nicht nur »eine Ver-
lagerung der sozialen Struktur und Dynamik von klaren, feststehenden
Mustern hin zu systematischem Zufall« (Gellner, 1995, S. 98), sondern
noch mehr die Perpetuierung und letztlich Institutionalisierung dieser Ver-
unsicherung. Kontingenz, Krise und Transformation gewinnen Permanenz,
da sie den gesellschaftlichen Verhältnissen ebenso wie die Universalisierung
von Herrschaft bis ins Private und in die Psyche hinein innewohnen. So
hält Erich Fromm (1980 [1937], S. 204) fest:
34
Elemente des Verschwörungsdenkens
35
Florian Hessel
4 Zu diesen und den folgenden Überlegungen entfaltet Martin Jay (i. d. Bd.) eine komple-
mentäre Sichtweise.
5 Die Bedeutung der Dimension (historische) Zeit betonen Ute Caumanns und Mathias
Niendorf (2001).
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Elemente des Verschwörungsdenkens
gegenüber kritische Skepsis mehr als angebracht ist. Allerdings ist gerade
deren Realität in extremster Form als staatlich organisierte Kriminali-
tät mit der personalisierenden Vorstellung von »Verschwörungen« nicht
mehr vermittelt bzw. kaum noch vermittelbar. Die Bezeichnung und ihr
unterstellter Gehalt sind eine Schöpfung der modernen Propagandisten
von entsprechend ausstaffierten modernen Verschwörungskonstrukten.
Und in diesem Sinn ist eine »Verschwörung« die Behauptung von der Ab-
hängigkeit sozialer, politischer, ökonomischer Strukturen von individuel-
len, identifizierbaren Personen im Zeitalter von deren Unmöglichkeit. Je
weniger Verschwörung als potenziell gesellschaftsverändernde Kraft und
je kruder ihre reale Erbschaft als Absprache über gefälschte Abgaswerte,
als antisemitische Propaganda gegen einen jüdischen Philanthropen oder
als staatlich betriebene Mordkampagne, umso mehr »Verschwörungen«
und ahistorische, relativistische Verschwörungstheoriebetrachtung, die aus
dem widersprüchlichen, geschichtlich kontingenten und »sinnfreien« ge-
sellschaftlichen Ganzen von Herrschaft, Ausbeutung und Gewalt »tieferen
Sinn« unkritisch herauszulesen versprechen.
Der Aufstieg und die Omnipräsenz der Kulturindustrie, deren Bilder
und Strukturen als »geborgte Erfahrung« (Herta Herzog) einen großen
Teil unserer Imagination rahmen, spielt hier eine gewichtige Rolle.6 Als
Produkt der bürgerlichen, zunehmend massendemokratischen Gesell-
schaft und ihrer individualistischen Ideologie basiert ihre Wirkung auch
auf der narrativen Transformation dieser Ideologie von handlungsfähi-
gen, autonomen, heroischen Individuen zu Protagonist*innen, mit denen
wir uns identifizieren können. Personifizierung von gesellschaftlichen
Strukturen ist eine Verlängerung dieser Konstellation. Nicht nur können
ansonsten kaum darstellbare, nichtpersonengebundene Verhältnisse er-
zählerisch handhabbar gemacht werden, es kann so auch, wie an den para-
digmatischen Produkten der populärsten Film- und Musikgenres bis zum
heute ubiquitären Superherofilm oder »Gangster«-Rap zu sehen ist, eine
ideologieimmanent legitimierte und schließlich im Happy End überwind-
bare Grenze des Handelns und der Handlungsfähigkeit unserer Held*in-
nen markiert werden.
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Florian Hessel
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Elemente des Verschwörungsdenkens
müssen (vgl. Wood et al., 2012). Es gilt hier, könnte man sagen, form over
matter. Und diese Tendenz kommt gegenwärtig in der Vollendung eines
weiteren Funktionswandels von Verschwörungsvorstellungen – vom Welt-
erklärungsmythos zu flexibilisierten Konglomeraten – voll zur Geltung,
der auch den letzten Rest des gesellschaftlichen Wahrheitskerns einer rela-
tivistischen Betrachtung erledigt. In der Entwicklung hin zur »Verschwö-
rung ohne die Theorie« (Muirhead & Rosenblum, 2018, o. S.) hält man
sich nicht einmal mehr mit Ansätzen detaillierter »Erklärung« und damit
einem Rest an Vermittlung mit gesellschaftlicher Struktur auf. Vielmehr
treten autoritäre Aggression und manichäische Feindbestimmung gänzlich
unbekleidet auf.
Der Mythos von der allmächtigen Verschwörung gegen die Gesellschaft
erscheint als Affirmation des Mythos von der Allmacht in der Gesellschaft.7
Keineswegs ein verstellter Impuls der Kritik gegenwärtiger Modi der Verge-
sellschaftung und Politik, ist er vielmehr – heute mehr denn je – Reflexion
der Behauptung der unbeschränkten Handlungsmacht der vergesellschaf-
teten Einzelnen einerseits und der Unhintergehbarkeit und Alternativlo-
sigkeit der gesellschaftlichen Struktur andererseits – Behauptungen von
Eindeutigkeit, die sich an der realen Ohnmacht der Einzelnen und der
inhärenten Krisenhaftigkeit der Gesellschaft brechen, an Erfahrungen von
Ambivalenz. Die Wirkung ist regressiv, da jedes Potenzial von Vertrauen in
den Anderen verneint, namentlich das Gefühl von Fremdbestimmung und
Ohnmacht rationalisiert und verstärkt wird.8
Als eine absolute Überzeugung trennt die Vorstellung die soziale Welt
entsprechend in zwei personalisierte Gruppen, die »Verschwörer« und die
»Opfer der Verschwörung«, denen dualistisch fast absolute Handlungs-
macht und fast absolute Ohnmacht zugeordnet werden. Der vollzogene
7 So schreiben die Soziologen Lev Gudkov und Boris Dubin (2005, S. 70) über die Konstel-
lation des Massenbewusstseins in Russland und dessen Technologen während des »Falls
Chodorkovskij«: »Es handelt sich nicht um Ignoranz eines Menschen, der nicht weiß, daß
er in einem Unrechtsstaat lebt, weil er einen anderen Staat nie gesehen hat. Wir haben
es mit etwas anderem zu tun: Die Menschen identifizieren sich mit dem Willen der Ob-
rigkeit, der als eine nicht zu ändernde Kraft akzeptiert wird, an die man sein Verhalten
anpassen muß, ohne sich aber damit zu solidarisieren. […] Da [… hinter dem Vorgehen
der Strafverfolgungsbehörden gegen Chodorkovskij] eine reale Kraft steht, werden alle
oder fast alle ihre Handlungen mit der Zeit innerlich gerechtfertigt.«
8 Ähnliche Effekte ließen sich schon an Besucher*innen des Thrillers JFK beobachten (But-
ler et al., 1995).
39
Florian Hessel
Akt der Mimikry, der Versuch sich selbst aktiv der (All-)Macht anzuver-
wandeln, tut dies innerhalb der Grenzen des konformistischen »Verständ-
nisses«. Ebenso begründete der anonyme rechtsextreme Nutzer des On-
line-Messageboards 4chan, der im Sommer 2019 erfolgreich zur Schaffung
eines »Netzwerk[s] von gefälschten jüdischen Profilen auf Twitter und
Facebook« zur Verbreitung antisemitischer Mythen aufforderte, seinen
Aufruf: »Er behauptete, Juden könnten sich jederzeit als Weiße ausgeben
und diese dann dämonisieren. Das wolle man nun umdrehen« (Gensing,
2019).
Dies veranschaulicht, dass nicht nur Realität in bestimmter Weise »er-
klärt« wird, wie bisher gesagt, sondern verdeutlicht, dass es sich um eine
Form der Praxis handelt, die in der An- und Einpassung von Realität an
und in die eigene Wahrnehmungstendenz besteht. Die Funktion der »Er-
klärung« erscheint genauer betrachtet als ebenso instrumenteller Akt wie
als Rationalisierung dieser Praxis, deren nach außen, auf ein Anderes abgela-
dener psychologischer Gehalt ein aus dem Eigenen entspringender Wunsch,
eine Angst, ein Bedürfnis ist. Der anonyme 4chan-Nutzer möchte sich die
»imputed competence« und Allmacht der »Bedrohung« aneignen und
schafft auf sich zentriert genau die Ordnung, aus der er seine Objekte aus-
wählt (ein »jüdisches« Netzwerk). Gleichzeitig weiß er, dass er dies tut
und was er damit bezwecken möchte. Im Zusammenhang dieses Falls wie in
Bezug auf den interessierenden Gegenstand gilt, was Lutz Winckler (1970,
S. 100) in seiner Untersuchung zur faschistischen Sprache und deren Wir-
kung festgehalten hat: Weil man »die Wirklichkeit nur im Bild der fiktiven
Gegenwelt erfahren kann, spricht [… man] die Sprache dieser Gegenwelt.«9
Umgekehrt formt die »Sprache der Gegenwelt« die Wirklichkeit
ebenso zum »Bild der fiktiven Gegenwelt« und selbst eine instrumentelle,
berechnende Verwendung als Mittel der Propaganda affiziert so noch ihre
zynischsten Verwender*innen. Indem man spricht und handelt, als sei die
behauptete »Verschwörung« Realität, bestätigt sich immer wieder die
Funktionalität dieser Vorstellung und man formt die Welt als Erfahrungs-
raum.10 Aber nicht nur wird eine bestimmte Deutung oder ein bestimm-
ter Deutungsrahmen innerhalb spezifischer Milieus als wirkungsmächtige,
9 Nach Ergebnissen von linguistischen Studien dürften auch die ersten Propagandisten
des »QAnon«-Kults dessen Erfinder und die Autoren der darüber in Fragmenten ver-
breiteten Fantasien sein (vgl. Kirkpatrick, 2022).
10 Vgl. dazu auch den Beitrag von Alexey Levinson i. d. Bd.
40
Elemente des Verschwörungsdenkens
Die*Der Einzelne kann durch die Annahme einer ominösen, aber in Per-
sonen identifizierbaren Struktur der Fremdbestimmung, Bedrohung und
totalen Manipulation die reale Ohnmacht und den ebenso empfundenen
wie inszenierten Kontrollverlust über ihre*seine Welt in sich stimmig »er-
klären« und rationalisieren, sich praktisch aneignen und einen Gewinn an
Handlungsmacht und Kontrolle fühlen. Der bestimmte, aber nicht (mehr)
notwendig ausformulierte Gehalt der »Rekonstruktion« der Welt als
»Gegenwelt«, die Ordnung der Verschwörungsvorstellung, wirkt nicht
nur im Sinne einer »einfachen« Reduktion von Komplexität sozialer Ver-
hältnisse und Strukturen. Diese Rekonstruktion beinhaltet auch, was eine
projektive Personalisierung genannt werden muss. Projektion fasst die Ver-
legung eigener unbewusster bzw. verdrängter Triebe, Wünsche und Ängste
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Florian Hessel
in oder auf ein Anderes, ein äußeres Objekt oder eine andere Person. Indi-
viduelle, sozialisatorisch und kulturell tabuierte Strebungen, zum Beispiel
sexuell-moralischer und/oder sadistisch-aggressiver Natur, aber auf einer
anderen Ebene auch die alltägliche Erfahrung der Partizipation an und
Eingebundenheit in die gesellschaftliche Praxis von Herrschaft und Aus-
beutung, können so etwa in der Gestalt »der Bilderberger« oder »der ge-
schlossenen transatlantischen Elite« aus der Sphäre des Eigenen verdrängt
und in bestimmter Form externalisiert werden. Wie bereits angedeutet ist
dieser sozio-psychologische Mechanismus wesentlicher Teil der Grund-
lage, auf der die Erfahrung der Realität in ein bestimmtes Bild gestaltet
werden kann – ihre Wahrnehmung wird wie in einem Vexierspiegel ge-
brochen. »Die ›Projektion‹ verhindert eine unvoreingenommene Wahr-
nehmung« – als Abwehr gerade dessen, was »im Binnenraum unserer uns
angestammten Erfahrungswelt, im Umgang mit den uns bekannten Per-
sonen und im Messen an unserer eigenen Wertordnung entstanden« ist
(Mitscherlich, 2003 [1971], S. 142).
Die Wahl des »anderen« Objekts ist dabei nicht beliebig. Es wird, um
Freud zu paraphrasieren, nicht willkürlich ins Blaue hinaus projiziert, son-
dern dorthin, wo sich etwas Ähnliches finden lässt. Doch was bedeutet
Ähnliches? Freuds Fallstudien – wiederum gelesen als Modelle möglicher
psychologischer Bedeutungsdynamik – benennen die im Konstrukt kre-
ierte Aufmerksamkeit als dem eigenen Unbewussten entzogen und eine
daraus folgende Wiederkehr des Verdrängten von außen (Freud, 1922b
[1921], S. 199f.) bzw. eine »Aufhebung der Verdrängung« durch Projek-
tion, wobei »das innerlich Aufgehobene von außen wiederkehrt« (Freud,
1911c [1910], S. 308). Projiziert wird im Denken in »Verschwörungen«
zum einen die eigene Partizipation an und in den Strukturen gesellschaft-
licher Macht und Herrschaft, die jeden sozialen Austausch in der Form
prägen, und die wir durch und in unserem Handeln selbst reproduzieren;
zum anderen der Wunsch nach Macht und Handlungsmacht ohne alltäg-
lich erfahrene (kränkende) Beschränkung und entsprechende Ambivalenz.
Und projiziert wird dies in Richtung derjenigen Personen(-gruppen), die
vielleicht ein »Mehr« an gesellschaftlichem Einfluss, an Macht oder Re-
präsentation haben und/oder denen dies zumindest zugeschrieben wird:
Nichts wird zum Thema, »[w]as in einer Kultur nicht gedacht worden ist«
(Wulff, 1987, S. 14).
Dies formt ein weiteres Element psychologischer wie situationaler Dy-
namik. »As he begins attributing to others the attitudes which he has
42
Elemente des Verschwörungsdenkens
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Florian Hessel
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Elemente des Verschwörungsdenkens
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Hin und her wanderte die Schwester und rasselte dann
umständlich mit dem Schlüsselbund. Das harte, knarrende Geräusch
der Schlüssel störte mißtönig die Stille und machte die Oberin
aufschauen aus ihrer Andacht. Langsam erhob sie sich, schritt vor
die Stufen des Hochaltars und kniete dort nochmals zu kurzem
Gebet nieder.
Die Glocke der Turmuhr schlug die neunte Stunde. So schnell sie
konnte, durcheilte die Schwester Salesia den Kirchenraum und
wartete in der Nähe des Altars am Eingang zur Sakristei auf die
Oberin.
In der Sakristei trafen die beiden Frauen zusammen. Mit kurzem
Gruß, wie sie das stets zu tun pflegte, wollte die Oberin an der
Schwester vorbeigehen. Aber Schwester Salesia griff nach ihrer
Hand und bat mit leiser Stimme: „Auf an Augenblick, Schwester
Oberin. Ich hab’ mit Ihnen z’reden!“
Sie waren aus der Sakristei in den gedeckten Klostergang
getreten, der das alte Frauenkloster zu Mariathal mit der Kirche
verbindet. Die Schwester Salesia verschloß nun auch die von der
Sakristei nach dem Gang führende Tür, nachdem sie früher die
Pforte von der Kirche zur Sakristei sorgfältig versperrt hatte.
Langsam schritten die beiden Frauen durch den dunklen Gang.
Die alte Schwester hatte eine kleine Laterne angezündet, deren
matter Schein nur spärlich in das tiefe Dunkel des engen, langen
Ganges leuchtete. Die Holzdielen krachten unheimlich unter den
sonst fast lautlosen Tritten der Frauen.
„Schwester Oberin ...“ begann die alte Schwester mit flüsternder
Stimme ... „tuan’s mir’s nit verübeln, daß i no mit Ihnen reden
möcht’.“
Die strengen Regeln des Klosters forderten es, daß nach der
Abendandacht nichts mehr gesprochen wurde. Nur im Falle
dringender Notwendigkeit war das Sprechen im leisen Flüstertone
erlaubt.
Die Oberin hielt unnachsichtig an dieser Regel fest. Mit einem
verwunderten, etwas unwilligen Blick sah sie auf die Schwester.
„Ich muß heut’ no mit Ihnen reden!“ fuhr die Schwester Salesia
fort. „Es laßt mir koa Ruah nit. Ich hab’s schon immer tun wollen,
aber ich hab’ mir no nie recht getraut.“
Nun schaute die Oberin ehrlich erstaunt auf die Schwester.
„Es ist wegen der Sophie ...“ sagte die Schwester Salesia mit
Nachdruck. „Das Mädel ist ganz verändert. Es ist nit recht, wie Sie
sie einzwängen tun!“
„Ich die Sophie einzwängen?“ frug die Oberin verwundert.
„Ja ... einzwängen tun Sie’s!“ behauptete die alte Schwester in
unwilligem Tone. „Sie meinen’s nit so. Ich weiß es. Aber Sie
verstehen die Kinder nit! Haben’s nit g’sehen heut’, wie sie g’weint
hat? So ein Kind, das an Freiheit g’wöhnt ist, das darf man nit mit
Gewalt zurückhalten. Das ist wie ein junges freies Waldtierl, wie ein
Vogerl, das no nit im Käfig war. Sie müssen ihr z’erst beibringen, daß
ihr der Käfig g ’ f a l l t . Sonst ist’s g’fehlt!“
Ohne sie mit einer Silbe zu unterbrechen, hörte die Oberin die
Schwester an. Dann sagte sie mit beinahe schüchterner Stimme:
„Glauben Sie, daß die Sophie tatsächlich so unglücklich ist, wie sie
sich heute gebärdet hat? Die Kinder haben Launen, ich kenne das.
Man darf da nicht nachgeben!“ meinte sie überlegend.
Schwester Salesia stellte die kleine Laterne, die sie noch immer
in der Hand trug, auf den Fußboden, richtete sich leise ächzend, wie
es ihre Art war, wieder empor und stemmte eine Hand in die
unförmliche, dicke Hüfte. Dann sagte sie mit etwas lauterer Stimme
als bisher: „Schauen’s die Sophie an, Schwester Oberin ... wie die
eingangen ist. Für der ihre Art ist Strenge nix. Da richten Sie nix aus
damit. Das können’s mir glauben!“
Die Oberin sah nachdenklich vor sich hin.
„Sie ist ein verstocktes Kind!“ meinte sie dann sinnend. „Man wird
nit klug aus ihr. Ich glaub’, sie ist verschlagen und sittenlos!“
„Naa! Schwester Oberin, das ist sie nit!“ sagte die Schwester
Salesia in so lautem, überzeugtem Ton, daß die Oberin ängstlich
abwehrte ...: „Pst! Silentium!“
„Ja! Weil’s wahr ist!“ knurrte Schwester Salesia mit leiser Stimme.
„Sie kennen das Mädel nit und kennen die Welt nit. Aber i c h kenn’
sie, und Sie dürfen mir’s glauben, das Karrnerkind, das das Leben
von der schlechtesten Seite g’sehen hat, ist trotzdem so rein und
unschuldig geblieben wie Ihnere wohlbehüteten und verhätschelten
Poppelen da herinnen, die glei’ versagen, wenn sie ihre Nasen in die
Welt außi stecken. Weil das keine rechte Art ist, wie Sie die Mädeln
erziehen. Weil Sie ihnen alles verheimlichen tun und ihnen nur vom
Satan und vom ...“
„Schwester Salesia!“ unterbrach sie die Oberin strenge. „Es ziemt
Ihnen nicht, mich zu unterweisen!“ Mit einem kalten, strafenden Blick
sah sie auf die Schwester, die ganz klein und noch kugeliger zu
werden schien.
Die alte Schwester schaute unsicher zu der hohen, schlanken
Frauengestalt empor. „Sie haben recht!“ stimmte sie dann bei. „Es
nutzt doch nix. Sie und ich, Schwester Oberin, wir zwei werden uns
doch nit verstehen.“
„Ist auch gar nicht notwendig, Schwester!“ gab die Oberin mit
kaltem Tone zur Antwort. Und kurz grüßend ging sie mit fast
lautlosen Schritten durch den dunkeln Klostergang. — — —
Ein Gutes hatte diese nächtliche Unterredung trotzdem gebracht.
Die Oberin überließ von jetzt ab die Sophie Zöttl wieder dem ganz
besonderen Schutz der Schwester Salesia. Das Kind durfte wie
vordem der Schwester bei der Arbeit helfen. Sie durfte viel im Garten
sein und dort die Blumen und schmalen Gemüsebeete pflegen.
Und doch war Sophie eine andere geworden. Sie freute sich über
die neugewonnene Freiheit, aber sie sehnte sich mit der ganzen
Kraft ihres jungen Herzens hinaus aus dem Kloster. Hinaus in die
ungebundene, unbeschränkte, vollkommene Freiheit.
Schwester Salesia sah diese Veränderung, die mit dem Kinde
vorging, mit geheimer Angst. Und sie war doppelt lieb und gut zu
dem Kinde.
„Schwester, warum darf i nit aus dem Garten gehen?“ fragte
Sophie einmal, als sie beide zwischen den Beeten knieten und
Unkraut jäteten. „Da drüben hinter der Friedhofmauer, da ist der
Buchenwald so dicht. Ganz dunkel ist’s, weil die Blätter alle so goldig
sind. Und so still ist’s da. Stiller wie in der Kirch’n drinnen. I möcht’
spielen in dem Wald!“
Mit sehnsüchtigen Augen schaute das kleine Mädel hinüber, wo
der herrliche Buchenwald sich aufbaute, der hinter der Kirche von
Mariathal sich noch viele Stunden den Berg hinan und taleinwärts
erstreckt.
Das Mädchen erhob sich, dehnte und reckte ihre Glieder wie eine
geschmeidige junge Katze und breitete die dünnen braunen Arme
aus. Dann stellte sie sich auf die Fußspitzen und hob neugierig den
schlanken Hals, als wollte sie so viel wie möglich von den
verborgenen Schönheiten da draußen entdecken.
„Was möchtest denn spielen im Wald da?“ frug die Schwester sie
über eine Weile.
„I?“ Das Mädel dachte nach. „I ... auf die Bäum’ tät’ i kraxeln und
schauen, daß i ein Eichkatzel erwischen tät’. Oder i tät’ einmal
probieren, ob i noch was kann von meiner Kunst, und tät’ a
Vorstellung geben!“
„A Vorstellung den Eichkatzeln und den Vogerln im Wald, ha?“
frug die Schwester mit gutmütigem Spott. „Die werden aber viel
verstehen vom Seiltanzen!“
„Ja, den Vogerln und den Eichkatzeln!“ sagte die Sophie trotzig.
„Ihr da im Kloster wollt’s ja doch nix wissen von meiner Kunst!“
machte sie dann verächtlich. „Und ihr versteht auch nix davon!“
„Aber doch mehr als wie die Vogerln, ha?“ frug die Schwester.
Sophie hob die Schultern und machte ein ganz verstocktes,
eigensinniges Gesichtel. Das tat sie jetzt häufig, wenn sie keine
Antwort geben wollte.
Aber die Schwester sah es doch, daß sich das Kind unglücklich
fühlte. Schwerfällig erhob sie sich von dem Gartenbeet, wo sie
gerade Unkraut gejätet hatte, und ging zu dem Mädel hin.
„Hast recht Sehnsucht, Sophie? Möchtest fort von da?“ frug sie
leise und mit zarter Stimme und fuhr mit leichter, liebkosender Hand
über die dunkeln Haare des Kindes.
Sophie fühlte es, daß die alte Schwester die einzige sein würde
im Kloster, die um sie trauern würde, wenn sie fortging. Aus ganzem
Herzen sehnte sie sich fort aus der Enge des Klosters. Mit jedem
Tag noch mehr. Aber sie fühlte es instinktiv, daß dieses Geständnis
der Schwester Salesia wehe tun müßte. Und kränken wollte sie ihre
alte Freundin nicht.
Sophie legte ihre beiden Arme um den Hals der Schwester
Salesia und küßte sie stürmisch. Dann drehte sie sich mit ihr wie ein
Wirbel im Kreise herum.
„Aber Schwester, Schwesterle, was glauben’s denn! Ich will nit
fort. Von Ihnen schon gar nit! Nur da drüben ...“
„Ja ... ja ... so laß mi doch aus! Du Ungut du! Du sollst ja spielen
da drüben! So gib doch a Ruh!“ keuchte die Schwester ganz außer
Atem und krebsrot im Gesicht „I will schon reden mit der Oberin, ob
sie’s erlaubt.“ —
Die Oberin gab ihre Einwilligung, und Sophie machte von der
willkommenen Freiheit den ausgiebigsten Gebrauch. Stundenlang
trieb sie sich in den Wäldern herum und kam bald nur mehr ins
Kloster, wenn sie der Hunger dazu nötigte.
Je länger die Tage wurden und je kürzer und schwüler die
Nächte, desto mehr trieb es das Kind hinaus in den Wald. Sie
vergaß Zeit und Ordnung und überwand oftmals den nagenden
Hunger oder nährte sich von den Beeren des Waldes.
Einmal, da hatte sich die Sophie weit hinaus ins Inntal gewagt.
Sie war durch den Buchenwald gewandert mit flüchtigen Schritten,
an dem Berg hinan und hinüber zu den drei Seen, die auf hügeligem
Vorland eingebettet lagen, umgeben von Wäldern und anstrebenden
Felswänden.
Wie ein verzaubertes Land, so herrlich schön kam dem Kinde
diese Gegend vor. Es war ihr, als ginge sie gleich einem jener
Märchenkinder, von denen die Schwester Salesia so schön zu
erzählen wußte, in einem Paradiesgarten spazieren.
Still und ruhig lag das tiefe, grüne Wasser des klaren Bergsees.
Es war ein herrlicher, klarer Hochsommertag. Schwül und heiß
brütete die Sonne. Weit breitete sich das Inntal vor den Augen des
Kindes, das wie im Traume wandelnd immer höher und höher stieg,
bis die Nacht sich senkte.
Da suchte sich das Karrnerkind furchtlos und ohne Zagen sein
Lager im weichen Moos unter einer Kiefer und schlief süß und
traumlos, bis die ersten goldenen Morgenstrahlen sie weckten. Sie
fühlte sich so frank und frei, so glückselig hier in Gottes weiter Welt.
Und es kam ihr vor, als hätte sie noch nie im Leben einen so
erquickenden Schlaf gehabt.
Vergessen war das Kloster in Mariathal mit seinen Regeln und
Vorschriften und vergessen die Oberin mit dem ernsten, strengen
Gesicht. Auch an die alte Schwester Salesia dachte Sophie jetzt
kaum. Sie fühlte nur den einen großen Trieb in sich ... frei zu sein
und zu wandern, so lange sie wollte und wohin sie wollte.
Erst nach einigen Tagen kehrte Sophie ins Kloster zurück. Sie tat
es ungern, und es war lediglich eine Art Pflichtgefühl gegen die
Schwester Salesia, das sie nochmals die Mauern des Klosters
betreten hieß.
Innerlich beneidete sie jetzt die freien Kinder der Karrner. Wie
schön hatten es die doch. Ihr altes Karrnerheim, die Mutter, die wilde
Horde der Geschwister und Schips, der Hund, ja sogar der Gaudenz
Keil, alle diese vertrauten Gestalten, die ihrem Gedächtnis allmählich
entschwunden waren, tauchten nun wieder in ihrer Erinnerung frisch
und lebensvoll auf. Sie beneidete ihre Geschwister ihrer Freiheit
wegen.
Hätte es der Zufall gefügt, daß ihr in dieser Stimmung der
Gaudenz Keil gerade begegnet wäre, die Sophie hätte sich ihm mit
tausend Freuden wieder angeschlossen. In dem großen Drange
nach Ungebundenheit vergaß sie alle Leiden ihrer Kindheit, oder sie
erschienen ihr unbedeutend und nichtig.
Es brauchte viel gutes Zureden von seiten der Schwester
Salesia, daß sich die Oberin noch einmal entschloß, die kleine
Ausreißerin in Gnaden aufzunehmen. Aber von jener Stunde an
übernahm sie wieder selbst mit fester Hand die Erziehung des
Kindes. Sie fand, daß Güte und Nachsicht nicht geeignet seien, den
wilden Sinn des Karrnermädels zu zähmen.
Und nun bekam Sophie die ganze Strenge und den eisernen
Willen dieser Frau zu fühlen. Sie lernte es, sich zu fügen und sich zu
beugen. Sie lernte, einem einzigen Blick aus den Augen dieser Frau
zu gehorchen. Und sie lernte es, sich dankbar zu erweisen für ein
Leben, das sie innerlich von Tag zu Tag mehr und mehr
verabscheute. — — —
Abermals zog der Winter ins Land. Und die gleichförmigen
Wintertage im Kloster wollten für Sophie kein Ende nehmen. Ein Tag
schlich dahin wie der andere. Ereignislos, ohne Freude und ohne
Glück. Und manchmal hatte Sophie das Gefühl, als müsse sie wie
ein junges Raubtier an den eisernen Stäben ihres Käfigs rütteln.
Sophie Zöttl war ein hoch aufgeschossenes Mädel geworden, mit
linkischen Bewegungen und eckigen Schultern. Ihr braunes
Gesichtel hatte einen verschlossenen Ausdruck. Und die Augen
bekamen jetzt immer mehr den heimtückischen, lauernden Blick der
kleinen Karrnerin von ehedem. Sophie Zöttl haßte nun alles im
Kloster. Sie haßte die Unterrichtsstunden und die Tageseinteilung.
Sie haßte die Gegenstände und die Räume des Klosters. Und sie
haßte die Menschen da drinnen und sogar die Schwester Salesia.
Diese und die Ennemoserin machte sie dafür verantwortlich, daß sie
noch immer im Kloster bleiben mußte. Und sie wollte nicht mehr
bleiben. Um keinen Preis.
Alles Bitten half nichts. Die Ennemoserin und die Schwester
Salesia waren sich darüber einig, daß der Charakter des jungen
Mädchens erst im Kloster gefestigt werden mußte, bevor man sie
den Gefahren der großen Welt aussetzen konnte.
Als Sophie sah, daß alles Bitten und Flehen vergebens war,
wurde sie immer heimtückischer und verschlagener. Sie sann auf
Mittel und Wege, alle im Kloster zu ärgern, wo sie nur konnte. Sie
log und naschte und war widerspenstig bei jedem Gebot, wenn es
nicht unmittelbar von der Oberin kam. Denn vor dieser hatte sie noch
immer eine Art Respekt. Eine Scheu, ähnlich derjenigen, die sie
früher vor der rohen Kraft des Gaudenz Keil besaß.
So wurde Sophie immer mehr zum Sorgenkind des Klosters. Es
war, als ob alle edlen Instinkte, welche die alte Schwester durch ihre
Herzensgüte wachgerufen hatte, mit einem Male vernichtet worden
wären.
Je eigensinniger die Sophie wurde, desto härter und strenger
wurde die Oberin. Sie wollte und konnte es nicht glauben, daß ihre
Erziehung nur schlechte Früchte trug. Sie griff zu harten Strafen und
erreichte damit, daß der Haß in dem Herzen des Kindes immer
mächtiger aufloderte.
Mit der Zeit artete das Verhältnis zwischen der Oberin und dem
Karrnermädel zu einem deutlichen stummen Kampfe aus. Sophie
war bestrebt, alle Schlechtigkeiten zu begehen, die sie nur ersinnen
konnte. Und das nur zu dem einen Zweck, die Oberin zu ärgern. Sie
zerstörte sogar die Treibhausblumen für die Kirche und dachte gar
nicht daran, daß sie dadurch die Schwester Salesia am meisten
kränkte. Denn die Blumen waren ja die Pflegekinder und
auserkornen Lieblinge der alten Schwester.
Im Frühjahr war’s, da fing die Sophie heimlich draußen im Garten
eine Blindschleiche, tötete sie und legte das kalte Reptil der jungen
Klosterschwester, welche die Aufsicht im Schlafsaal hatte, ins Bett.
Es war dieselbe Schwester, die das Karrnermädel damals an ihrem
ersten Abend im Kloster beten gelehrt hatte. Und Sophie hatte ihr
auch stets eine Zuneigung bewahrt. Sie überlegte nicht, daß ihr toller
Streich der Schwester Schaden bringen konnte, sondern malte sich
in ihrer boshaften Rachsucht nur den Eindruck aus, den die Sache
auf die Oberin machen würde.
Der Eindruck war übel genug, denn die junge Schwester trug
einen solchen Schrecken davon, daß sie einige Tage hindurch krank
in heftigem Fieber lag. Öffentlich wurde Sophie von der Oberin als
die Schuldige gebrandmarkt. Mit kleinen, boshaft schielenden
Augen, aus denen nur Haß und Abneigung sprachen, schaute das
Mädel auf die hochgewachsene, schlanke Frau.
„Und du wirst doch niedergezwungen werden, Sophie Zöttl!“
sprach die Oberin mit fester Stimme. „Und wirst gehorchen und dich
beugen, wie wir es alle tun!“ Es lag ein unerschütterlicher Wille in
diesen Worten. Sie fühlte es selber, daß es ein langer und schwerer
Kampf zwischen ihr und dem Mädel werden würde.
Die Oberin sollte diesen Kampf dann schließlich doch verlieren.
Aus freien Stücken gab sie ihn auf. Das geschah, als Sophie durch
ihre Streiche das Maß ihrer Sünden voll gemacht hatte.
In einem Anfall von beinahe teuflischer Bosheit schlich Sophie
Zöttl in den Schlafsaal, wo das große Madonnenbild hing. Dort
rückte sie sich einen Stuhl zurecht, holte einen Bleistift und
zeichnete in das zarte, verklärte Antlitz der Gottesmutter einen
großmächtigen Schnurrbart.
Als abends die Kinder den Saal betraten, sahen sie das entstellte
Bild. Keines der Mädchen verzog eine Miene. Stumm und starr vor
Entsetzen umstanden sie das entweihte Heiligtum.
Die junge Klosterschwester nahm Sophie wortlos bei der Hand
und führte sie zur Oberin. Ohne zu fragen, wußten es alle im Saal,
daß nur Sophie die Täterin gewesen sein konnte.
In dieser Nacht mußte Sophie ganz allein in einer Zelle schlafen.
Sie schlief schlecht, und trotzdem träumte sie einen kurzen, schönen
Traum von Freiheit und Glück.
Tags darauf ließ die Oberin die Ennemoserin zu sich rufen, und
wortlos, ohne Abschied übergab sie das Karrnermädel der Frau.
Mit gesenktem Kopf und doch innerlich jubelnd folgte Sophie
Zöttl der Ennemoserin in ihr kleines Heim nach Rattenberg.
Viertes Kapitel.