PDF of Verschworungsdenken Zwischen Popularkultur Und Politischer Mobilisierung Florian Hessel Pradeep Chakkarath Mischa Luy Eds Full Chapter Ebook

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Verschwörungsdenken Zwischen

Populärkultur und politischer


Mobilisierung Florian Hessel Pradeep
Chakkarath Mischa Luy Eds
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Florian Hessel, Pradeep Chakkarath, Mischa Luy (Hg.)
Verschwörungsdenken
In der Reihe Psyche und Gesellschaft sind bisher unter anderem fol-
gende Titel erschienen:

Ulrich Bahrke, Rolf Haubl, Tomas Plänkers (Hg.): Utopisches Denken – Destruk-
tivität – Demokratiefähigkeit. 100 Jahre »Russische Oktoberrevolution«. 2018.
Bandy X. Lee (Hg.): Wie gefährlich ist Donald Trump? 27 Stellungnahmen aus
Psychiatrie und Psychologie. 2018.
Sascha Klotzbücher: Lange Schatten der Kulturrevolution. Eine transgene-
rationale Sicht auf Politik und Emotion in der Volksrepublik China. 2019.
Oliver Decker, Christoph Türcke (Hg.): Ritual. Kritische Theorie und Psycho-
analytische Praxis. 2019.
Oliver Decker, Christoph Türcke (Hg.): Autoritarismus. Kritische Theorie und
Psychoanalytische Praxis. 2019.
Rolf Haubl, Hans-Jürgen Wirth (Hg.): Grenzerfahrungen. Migration, Flucht,
Vertreibung und die deutschen Verhältnisse. 2019.
Caroline Fetscher: Das Paddock-Puzzle. Zur Psychologie der Amoktat von Las
Vegas. 2021.
Johann August Schülein: Psychoanalyse als gesellschaftliche Institution.
Soziologische Betrachtungen. 2021.
Steffen Elsner, Charlotte Höcker, Susan Winter, Oliver Decker, Christoph
Türcke (Hg.): Enhancement. Kritische Theorie und Psychoanalytische Praxis.
2021.
Florian Bossert: Viraler Angriff auf fragile Subjekte. Eine Psychoanalyse der
Denkfähigkeit in der Pandemie. 2022.
Klaus Ottomeyer: Angst und Politik. Sozialpsychologische Betrachtungen zum
Umgang mit Bedrohungen. 2022.
Carlo Strenger: Die Angst vor der Bedeutungslosigkeit. Das Leben in der
globalisierten Welt sinnvoll gestalten. 2. Aufl. 2022.
Hans-Jürgen Wirth: Gefühle machen Politik. Populismus, Ressentiments und
die Chancen der Verletzlichkeit. 2022.
Vera King: Sozioanalyse – Zur Psychoanalyse des Sozialen mit Pierre Bourdieu.
2022.
Daniel Burghardt, Moritz Krebs (Hg.): Verletzungspotenziale. 2022.

Psyche und Gesellschaft


Herausgegeben von Johann August Schülein
und Hans-Jürgen Wirth
Florian Hessel, Pradeep Chakkarath,
Mischa Luy (Hg.)

Verschwörungsdenken
Zwischen Populärkultur
und politischer Mobilisierung

Mit Beiträgen von Rebekka Blum, Felix Brauner,


Pradeep Chakkarath, Florian Eisheuer, Carolin Engels,
Melanie Hermann, Florian Hessel, Frank Horzetzky,
Martin Jay, Julian Kauk, Helene Kreysa, Alexey Levinson,
Mischa Luy, Nora Feline Pösl, Jan Rathje, Felix Riedel,
Sebastian Salzmann, Stefan R. Schweinberger,
Stefan Vennmann, Anne Voigt, Hans-Jürgen Wirth
und Deborah Wolf

Psychosozial-Verlag
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Erweiterte und überarbeitete Buchausgabe von psychosozial Nr. 159 (I/2020):


»Verschwörungsdenken«
© 2022 Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG, Gießen
info@psychosozial-verlag.de
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Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form
(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)
ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert
oder unter Verwendung elektronischer Systeme
verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Umschlagabbildung: Joachim Sperl, www.joachimsperl.com
Umschlaggestaltung und Innenlayout nach Entwürfen von Hanspeter Ludwig, Wetzlar
Satz: SatzHerstellung Verlagsdienstleistungen Heike Amthor, Fernwald
ISBN 978-3-8379-3173-0 (Print)
ISBN 978-3-8379-7871-1 (E-Book-PDF)
Inhalt

Verschwörungsdenken:
Zwischen Populärkultur
und politischer Mobilisierung 9
Zu Semantik, Strukturen und Funktionen
einer Wahrnehmungs- und Deutungskultur: Eine Einleitung
Florian Hessel, Mischa Luy & Pradeep Chakkarath

Elemente des Verschwörungsdenkens 31


Ein Essay
Florian Hessel

On the Spectrum:
Verschwörungstheorien und Erklärungen 51
Martin Jay

Nichtklassische Konspirologie 65
Ein Essay
Alexey Levinson

»Vertraut mir, ihr solltet niemandem vertrauen« 89


Verschwörungsmentalität in der Coronakrise
aus mentalisierungstheoretischer Perspektive
Felix Brauner

5
Inhalt

Politische Bildungsarbeit
für eine »Gesellschaft der Mündigen« 107
Melanie Hermann, Florian Eisheuer & Jan Rathje

»Falsche Konkretheit« als politisches Instrument 129


Zu Franz L. Neumanns dialektischem Psychogramm
des Verschwörungsdenkens
Stefan Vennmann

Argwohn, Misstrauen, Verfolgungsängste:


Verschwörungstheorien in der Coronakrise 149
Psychoanalytische und sozialpsychologische Überlegungen
Hans-Jürgen Wirth

Verschwörung, Wahnarbeit
und schizophrene Wirklichkeit 171
Gruppenanalytische Behandlung
während der Coronapandemie
Frank-Andreas Horzetzky

Das Verhältnis von Antifeminismus


und Verschwörungsdenken 193
Antimoderne Krisenbearbeitung in der Coronapandemie
Rebekka Blum

Von Verschwörungsideologien,
Vernetzungsstrategien
und Vernichtungsphantasien 215
Digitale soziale Netzwerke, »alternative Heilmethoden«
und Esoterik in der Covid-19-Pandemie
Nora Feline Pösl

Verschwörung audiovisuell gedacht 239


Alex Jones’ The 9/11 Chronicles
Deborah Wolf

6
Inhalt

#flattenthecurve 259
Wie begrenzen wir die Welle von Falschinformationen
und Verschwörungserzählungen
in digitalen sozialen Netzwerken?
Julian Kauk, Helene Kreysa, Anne Voigt & Stefan R. Schweinberger

»Und dann habe ich mir überlegt,


warum hörst du denn nichts darüber?« 281
Zum Zusammenhang
von Verschwörungsdenken und Preppen
Mischa Luy

Zur »alltäglichen« Integration und Mobilisierung


von Verschwörungsideologien 305
Carolin Engels & Sebastian Salzmann

Moderne Hexereivorstellungen
und Antisemitismus 325
Zwei Verschwörungsmythen
im europäisch-westafrikanischen Vergleich
Felix Riedel

7
Verschwörungsdenken:
Zwischen Populärkultur
und politischer Mobilisierung
Zu Semantik, Strukturen und Funktionen
einer Wahrnehmungs- und Deutungskultur: Eine Einleitung1

Florian Hessel, Mischa Luy & Pradeep Chakkarath

»Nichts passiert zufällig. Nichts ist wie es scheint.


Alles hängt zusammen.«
Michael Barkun (2013)

»Erst die Theorie entscheidet darüber, was man


beobachten kann.«
Albert Einstein, zit. n. Heisenberg (1969)

»Verschwörungstheorie« gehört zu den schillerndsten Begrifflichkeiten in


den Sozialwissenschaften. Auch umgangssprachlich ist sie – wie das damit
bezeichnete Phänomen selbst – heute omnipräsent: in Alltag, Populär-
kultur und Politik. Verfochten werden Verschwörungsvorstellungen von
Linken und Rechten, Religiösen und Säkularen, Einzelnen oder ganzen
Gruppen, kreuz und quer durch das soziodemografische Spektrum. Sie
bieten Orientierung und Erklärung, sie »wissen« bspw., wer das Wetter
wie und warum kontrolliert, wieso die Fabrik nebenan wirklich schließt
oder wer zu welchen Zwecken Krankheiten und Krieg in die Welt bringt;
von wo aus Osama bin Laden noch immer Pläne schmiedet, hinter wel-
chen Politiker*innen reptiloide Außerirdische stecken oder eine »Gender-
Lobby«, wer das World Trade Center in New York am 11. September 2001
wirklich einstürzen ließ oder warum überhaupt Herrschaft, Ausbeutung,
Betrug und Leiden unser aller Leben prägen – und wer davon ursächlich
profitiert. Und wer – wie die meisten dies von sich sagen würden – nicht
an »Verschwörungstheorien« und die in ihnen behaupteten »Verschwö-

1 Der ursprünglich 2020 als Editorial der psychosozial, 43(1) erschienene Text wurde über-
arbeitet, um ausgewählte Literaturhinweise ergänzt und mit einem neuen Schluss ver-
sehen.

9
Florian Hessel, Mischa Luy & Pradeep Chakkarath

rungen« glaubt, ist in der Regel der festen, mitunter vielleicht aber voreili-
gen Überzeugung, sprichwörtlich »bloße Verschwörungstheorien« von
seriösen Theorien klar unterscheiden zu können.
Im Zuge der Erschütterung so mancher überkommener Sicherheit in der
kollektiven Urteilsbildung haben sich sogenannte Verschwörungstheorien
nicht nur erfolgreich als Topoi in Literatur, Film und Serien, in sozialen
Medien, Feuilletons und Feierabenddebatten etabliert, sondern weisen da-
rüber hinaus auch ein besorgniserregendes Potenzial für politische Agita-
tion, Verunsicherung und – oftmals gewaltlegitimierende – Propaganda auf.
Nicht nur vor diesem disparaten, hier lediglich schlaglichtartig skizzierten
Hintergrund erscheint uns eine Begrifflichkeit wie »Verschwörungsden-
ken« geeigneter, um sowohl die gleichzeitig wirkenden Aspekte von (ko-
gnitiver) Deutung und Wahrnehmung sowie (praktischer) Aneignung als
auch deren gesellschaftlich-kulturelle Dimension(-en) wissenschaftlich zu
thematisieren. Wenn wir im Untertitel zu dieser Einleitung von Verschwö-
rungsdenken als einer ganz bestimmten Wahrnehmungs- und Deutungs-
kultur sprechen, so legen wir nicht zufällig auch eine kulturpsychologische
Perspektive an das Thema an. Es ist eine unserer Grundüberzeugungen,
dass Kultur untrennbar mit wissensbasierten Praktiken des Menschen
verwoben ist und so Erlebnis- und Handlungsmöglichkeiten in unter-
schiedlichsten Handlungsfeldern und diskursiven Rahmungen sowohl er-
möglicht als auch begrenzt, sowohl verstehbar als auch analysierbar und
kritisierbar macht (Chakkarath & Straub, 2020). Wer das Zusammenspiel
von kognitiven, epistemologischen, emotionalen, klinischen, kommunika-
tiven, politischen, auch identitätspolitischen Aspekten genauer verstehen
will, sollte einer solch komplexen Perspektive einiges abgewinnen können.
Gerade die Sozialwissenschaften sind zu einer eingehenden Befassung mit
diesem Gegenstand aufgefordert, sowohl was Begrifflichkeiten als auch his-
torische Entwicklungen und gesellschaftliche Dimensionen der damit ver-
bundenen Phänomene betrifft.

Verschwörung, Verschwörungsidee
und Verschwörungstheorie: Ein historischer Abriss

»Konspiration« entstammt dem lateinischen »conspiratio« und bedeu-


tete ursprünglich so viel wie Übereinstimmung, Einigkeit oder Gleichklang.
Die heute gebräuchliche Übersetzung des Wortes als »Verschwörung« mag

10
Verschwörungsdenken: Zwischen Populärkultur und politischer Mobilisierung

sich einer semantischen Überlappung von »conspiratio« und »coniura-


tio« verdanken, wobei Letzteres eine gemeinschaftliche und für gewöhnlich
heimliche Vereinbarung durch Treueeid bezeichnet (vgl. DWDS, 2022a, b).
Wenn auch der Begriff der »Verschwörung« nicht zu allen Zeiten, in allen
Gesellschaften und in allen Sprachen das Gleiche bezeichnete (vgl. exempl.
Roisman, 2008), so richtete er sich doch in diesem Sinne schon in den grie-
chischen Stadtstaaten und im antiken Rom auch auf eine bestimmte Form
der Herbeiführung politischen Wandels mittels Tyrannenmord. Ihren klassi-
schen Ausdruck (in Europa) hat diese Funktion an der Schwelle zur Neuzeit
etwa in Niccolò Machiavellis Discorsi (1531) und in William Shakespeares
Julius Caesar (1599) gefunden.2 Im 17. Jahrhundert entstand im angelsächsi-
schen Recht die Konstruktion der »criminal conspiracy«, nach der bis heute
in den USA insbesondere Fälle organisierter Kriminalität verfolgt werden.
Hier geht es um eine Verabredung von Personen, in koordinierter und teils
konspirativer Form ein oder mehrere Verbrechen zu begehen. In der Form
der »conspiracy to commit crimes against peace« wurde diese Rechtstra-
dition Bestandteil der Statuten der Nürnberger Prozesse gegen die deut-
schen Hauptkriegsverbrecher nach 1945. Im Gegensatz zu den USA stellt
der in Deutschland als partielle Entsprechung existierende Straftatbestand
der »Bildung krimineller Vereinigungen« (StGB § 129) allerdings in der
Öffentlichkeit keinen erkennbaren Referenzpunkt der Debatten um »Ver-
schwörungen« bzw. geheime gemeinschaftliche Verabredungen dar.
Obwohl insbesondere innerhalb des christlichen Antijudaismus kul-
turelle Prototypen wie Ritualmordbeschuldigungen eine lange, bis in die
Antike zurückreichende Tradition haben, wurden Bezeichnung und Idee
der »Verschwörung« im Sinne einer intendierten, (un-)heimlichen Sub-
version einer differenzierten Sozialordnung ab dem späten 18. Jahrhundert
etabliert. Insbesondere geistliche Propagandisten der Gegenaufklärung
denunzierten eine angebliche »Verschwörung gegen die Religion«, ausge-
hend und betrieben von den Freimaurer- oder Illuminatenorden. Ausfor-
muliert wurde diese Deutungsstruktur 1797/98 von einem französischen
Jesuitenpater, Augustin Barruel (vgl. Rogalla von Bieberstein, 2008 [1992],

2 Eine entsprechende Legitimierung politischen Mords findet sich bereits in dem ein-
flussreichsten staatstheoretischen Werk (Süd-)Asiens, dem Arthashastra, das zwischen
dem 3. vorchristlichen und dem 2. Jahrhundert kompiliert wurde und heute ebenso als
»machiavellistisch« bezeichnet wird wie u. a. Teile der Lehren von Han Fei (3. Jhd. v. Chr.)
und Ibn Zafar (12. Jhd.).

11
Florian Hessel, Mischa Luy & Pradeep Chakkarath

S. 83–126). In der Folge wurden entsprechende, umfassende Welterklä-


rungsmodelle einer »causalité diabolique« (Léon Poliakov) in Europa
und Nordamerika in unterschiedlichen politischen Kontexten bis hin zu
der antisemitischen Propagandaschrift par excellence, den notorischen
Protokollen der Weisen von Zion mit ihrer Erfindung einer »jüdischen
Weltverschwörung«, und darüber hinaus tradiert (vgl. Cohn, 1998 [1969];
Lipset & Raab, 1970; Pfahl-Traughber, 1993; Herf, 2006).
»Verschwörungstheorie« wurde ab der Mitte des 20. Jahrhunderts dann
zu einem Sammelbegriff oder Schlagwort zur Bezeichnung einer Vielzahl
an verschiedenen, tatsächlich oder manchmal auch angeblich auf Basis
einer »Verschwörung« argumentierenden Konstrukten mit jeweils ten-
denziell großer Erklärungsreichweite in Politik oder Massenkultur (vgl.
Melley, 1999; Fenster, 2008; Thalmann, 2019; Butter & Knight, 2020).3
Als derartiger Sammelbegriff scheint die Bezeichnung aus den USA nach
Europa »importiert« worden zu sein, vermutlich ab den 1970er Jahren mit
literarischen Produkten der »counter culture« (zentral Shea & Wilson,
1975; vgl. auch Ronson, 2007), wonach eine (über-)mächtige Gruppe an
Personen sich verabredet habe, um verdeckt Leben und Lebensumstände
einer anderen, größeren Gruppe von Menschen auf einer letztlich struk-
turellen Ebene zu beeinflussen oder zu kontrollieren. Infolge der islamis-
tischen Selbstmordanschläge vom 11. September 2001 und des »war on
terror« erhielten entsprechende Deutungsmuster politisch-gesellschaftlich
wie medial nochmals global ungeheuren Auftrieb (vgl. Jaecker, 2005; Fens-
ter, 2008; Butter, 2018; Wolf, i. d. Bd.).4

3 Die Bezeichnung im heute vertrauten Sinn vermutlich erstmals bei Karl Popper (1980
[1945]); vgl. Pidgen, 2006; Jay, i. d. Bd. Eine weitere Vorgeschichte jenseits des zuvor Be-
schriebenen skizziert McKenzie-McHarg (2018).
4 Auf die Entwicklungsgeschichte von (modernen) Verschwörungsvorstellungen kann aus
Platzgründen an dieser Stelle wie in den weiteren Beiträgen nicht in wünschenswerter
Ausführlichkeit eingegangen werden. Dasselbe gilt für eine ausführlichere und differen-
ziertere Analyse des Zusammenhangs bestimmter verschwörungsassoziativer Begriff-
lichkeiten und ihres jeweiligen, oft auch spezifischen, von historischen und kulturellen
Umständen abhängigen gesellschaftlichen Effekts. Wir verweisen für einen kursorischen
Überblick auf den online verfügbaren Artikel von Florian Hessel (2020), den Beitrag
von Alexey Levinson in diesem Band sowie auf die weiteren hier im Text genannten
Publikationen. Zur gesellschafts- wie globalgeschichtlichen Bedeutung der Verbreitung
außerhalb Westeuropas und Nordamerikas vgl. exempl. Poliakov (1987), Tibi (1994), Gray
(2010) sowie viele der Beiträge in Caumanns & Niendorf (2001), Butter & Reinkowski
(2014), Uscinski (2018), Dyrendal et al. (2018).

12
Verschwörungsdenken: Zwischen Populärkultur und politischer Mobilisierung

Die wissenschaftliche Thematisierung als ein in seiner Besonderheit


zu verstehendes Phänomen beginnt historisch als Bestandteil dieser Ent-
wicklung ab den 1950er Jahren. 1964 erscheint in Harper’s Magazine ein
Aufsatz mit dem Titel »The Paranoid Style in American Politics« aus der
Feder des Historikers Richard Hofstadter. Unter Bezugnahme auf die »po-
litischen Hexenjagden« der McCarthy-Ära und auf die »lunatic fringe«
der US-amerikanischen extremen Rechten bezeichnete Hofstadter als
»paranoid style« einen auf der Basis des Denkens in Verschwörungen ar-
gumentierenden Modus der politischen Agitation und einen damit korres-
pondierenden »style of mind«: »a way of seeing the world and expressing
oneself« (Hofstadter, 1996 [1964], S. 3f.; vgl. bereits Löwenthal, 1990
[1949], S. 39–41). Die Rolle und Verwendung von Verschwörungs- und
Verfolgungsvorstellungen als Technik »totaler Herrschaft« bzw. als Merk-
mal autoritärer Politik thematisierten einige Jahre zuvor bereits Hannah
Arendt (vgl. 2005 [1951]) und Franz Neumann (vgl. Vennmann, i. d. Bd.),
während Max Horkheimer und Theodor W. Adorno (1987 [1947]) einige
Aspekte im Rahmen ihrer kritisch gesellschaftstheoretischen Überlegungen
zum modernen Antisemitismus grundlegend eingeordnet hatten.

Bezeichnungen – Debatten

»Verschwörungstheorie«, »Verschwörungsideologie« und »Verschwörungs-


mythos«, »Verschwörungskultur«, »Verschwörungskonstrukt« und »Ver-
schwörungserzählung«, »Verschwörungsmentalität«, »Verschwörungs-
glauben« und »Verschwörungsdenken« gehören zu den nebeneinander und
zum Teil gleichzeitig verwendeten Begrifflichkeiten, die – so sie überhaupt
theoretisch-konzeptionellen Anspruch erheben – teilweise stark differierende
Funktionen erfüllen.5 Am weitesten verbreitet sind offenkundig weiterhin
die Bezeichnungen »Verschwörungstheorie« bzw. Verschwörungstheore-
tiker*innen«,6 da diese nicht zuletzt im Sinne einer »Alltagstheorie«, aber
auch aufgrund des intellektuellen und wissenschaftlichen Nimbus des »Theo-

5 Für eine andere Thematisierung der »Bezeichnungsdebatten« vgl. Oberhauser (2021).


6 Darauf weisen neben unserer Erfahrung über Google Trends (für »Verschwörungstheo-
rie«, »Verschwörungserzählung«, »Verschwörungsideologie«, »Verschwörungsmythos«)
und Google Books NGram Viewer verfügbare Daten hin (Stand jeweils: 30.05.2022). Zum
Gehalt des Theoriebegriffs in diesem Zusammenhang vgl. Hepfer (2015, S. 23ff.).

13
Florian Hessel, Mischa Luy & Pradeep Chakkarath

rie«-Begriffs in der Öffentlichkeit, die bevorzugten massenmedialen Benen-


nungen für tatsächliche oder manchmal auch angebliche Vertreter*innen von
Verschwörungskonstrukten sind, gelegentlich sogar eine Selbstbeschreibung
(etwa Bröckers, 2002). Entsprechend fungiert »Verschwörungstheorie« als
massen- und alltagskulturelles Schlagwort, das das Verständnis kanalisieren
soll und auch immer eine etwas der Lächerlichkeit preisgebende, aber psycho-
logisch zutiefst ambivalente Abwertung enthält. In diesem Sinn wird sie ins-
besondere in den Massenmedien als Hilfskonstruktion verwendet.
Als Bezeichnung ohne Anspruch auf eine Definition verwendete der
Historiker Dieter Groh »Verschwörungstheorien« ähnlich in seinen kul-
turwissenschaftlichen Arbeiten, die im deutschsprachigen Raum bis vor
wenigen Jahren den wichtigsten Referenzpunkt wissenschaftlicher Aus-
einandersetzung bildeten. Derart mehrheitlich pragmatischen – und gele-
gentlich ambivalenten – Charakter hat die Verwendung der Bezeichnung
»conspiracy theory« in vielen weiteren wissenschaftlichen, aber auch
journalistischen Arbeiten (vgl. etwa Melley, 1999; Reinalter, 2002; Grüter,
2006; Fenster, 2008; Horn & Rabinbach, 2008; Olmsted, 2009; Hepfer,
2015; Raab et al., 2017; Alt & Schiffer, 2018; Butter, 2018; Douglas et al.,
2019; Merlan, 2019; Appel & Mehretab, 2020; van Prooijen, 2020). Als
Charakteristika des Phänomens benennt Groh (1987, S. 3–5; vgl. ähnlich
bereits Lipset & Raab, 1970, S. 13–17) eine bestimmte, auf (All-)Macht
fixierte »theory of action«, Gruppenbildung über »countersolidarity«,
einen (ahistorisch) bruchlosen Zeithorizont, manichäische Struktur des
Inhalts sowie eine psychodynamisch strukturierte Entlastungsfunktion.
Als offene Frage formuliert, wurde Grohs These einer »anthropologischen
Konstante« – basierend auf der grundsätzlichen Identifizierung von »an-
thropologisch tiefsitzenden Bedürfnissen nach Weltorientierung« (1991,
S. 284; vgl. Caumanns & Niendorf, 2001) im Verschwörungsdenken –
immer wieder im Sinne eines unveränderbaren, überhistorischen »Natur-
zusammenhangs« von menschlicher Kognition und Verschwörungsideen
rezipiert (etwa Raab et al., 2017).
In einem Schritt begrifflicher Differenzierung und implizit angelehnt an
Norman Cohn (1998 [1969]) sprechen die Historiker Geoffrey T. Cubitt
(1989) und Johannes Rogalla von Bieberstein (2008 [1992]) sowie der Po-
litikwissenschaftler Armin Pfahl-Traughber (1993, 2002) vom Gegenstand
als »Verschwörungsmythos«. Cubitt (1989, S. 13) kennzeichnet so einen
sich historisch gebenden monokausalen Deutungsrahmen, dem dann in
einer »Verschwörungstheorie« aktuelle Ereignisse eingepasst werden.

14
Verschwörungsdenken: Zwischen Populärkultur und politischer Mobilisierung

»[A]ls Bewusstseinshaltung sowie als ideologisches Kampfinstrument«


(Rogalla von Bieberstein, 2008 [1992], S. 13) kommen hier eine gewisse
Unterhaltungsfunktion mit der Konstruktion einer »Meta-Welt« ohne
Anerkennung von Zufall, Feindbestimmung sowie Bezug auf gesellschaft-
liche Veränderungsprozesse zusammen. »Verschwörungsmythos« sieht
Pfahl-Traughber (2002, S. 32) weitergehend als »Sonderform oder Über-
steigerung« einer »Verschwörungsideologie«. Dabei betont er, neben
dem längeren Zeithorizont, Geschlossenheit und Unwiderlegbarkeit als
Unterscheidungskriterien zu einer (falsifizierbaren) »Verschwörungshypo-
these«. Beide, Verschwörungsideologie wie Verschwörungsmythos, wirk-
ten als »unveränderbares Dogma« (ebd.) realitätsgestaltend, insbesondere
im politischen Rahmen. Eine trennscharfe Abgrenzung zwischen beiden
Bezeichnungen, dies wird von Pfahl-Traughber explizit eingeräumt, er-
scheint letztlich kaum möglich.
Die Bezeichnung »Verschwörungsideologie« wurde von Wolfgang
Wippermann (2007) aufgegriffen und ist – wobei nicht zwingend de-
ckungsgleich – etwa als »conspiracism« auch im englischen Sprachraum
vereinzelt anzutreffen (Muirhead & Rosenblum, 2019). Sie war über
einige Jahre hinweg die im pädagogischen Bereich in Deutschland gän-
gigste Bezeichnung, insbesondere da sie in die methodisch-konzeptionell
einflussreichen Bildungsprojekte der Amadeu Antonio Stiftung (2015)
integriert wurde. Mit dieser Begrifflichkeit sollen die politisch-autoritären
Wirkungen des Denkens in Verschwörungen sowie dessen weiterhin enger
Zusammenhang mit Ressentiments wie Antisemitismus betont werden.7
Einen Einfluss auf die öffentliche Sprachpraxis konnte dieser Versuch eines
sprachlichen Rebranding unserer Wahrnehmung nach nicht ausüben.
Dies könnte zwischenzeitlich allerdings in gewissem Maße für die Be-
grifflichkeit »Verschwörungserzählung« gelten, die in Öffentlichkeit
und Pädagogik, vor allem angestoßen durch neuere Publikationen (insb.
Nocun & Lamberty, 2020) nun breiter verwendet wird. Intuitiv zugäng-
lich wird hier der Aspekt der Sinnstiftung und Bedeutungskonstruktion
reflektiert. »Verschwörungserzählung« oder »Verschwörungsnarrativ«
und seltener »Verschwörungskonstrukt« finden sich dergestalt bereits
zuvor in den allermeisten Arbeiten zum Thema, wobei außerhalb von

7 Vgl. dazu auch Hermann et al. und Hessel in diesem Band sowie die Berichte hrsg. v.
American Jewish Committee Berlin Ramer Institute (AJC, 2021) und u. a. vom Londoner
Media Diversity Institute (MDI et al., 2021).

15
Florian Hessel, Mischa Luy & Pradeep Chakkarath

Studien zu Literatur oder Film die Termini fast ausschließlich allgemein


deskriptiven Charakter aufweisen und – bis heute – kaum theoretisch-
konzeptionell, etwa narrationspsychologisch, gefüllt werden.8 Im Hin-
blick auf die Allgegenwart einer »language of conspiracy« und der kul-
turellen Vertrautheit mit ihr spricht Peter Knight (2000, S. 1; ähnlich
Melley, 1999) von einer massenkulturellen »Verschwörungskultur«, wäh-
rend – in einer Art Vorgriff auf heute in Bezug auf die Verbreitung von
Verschwörungskonstrukten in digitalen sozialen Medien in der Öffent-
lichkeit allzu populären Deutungen – Elaine Showalter (1999) in ihrer
kontrovers diskutierten Arbeit »konspirative Kulturen« (ebd., S. 43) mit
medial vermittelten, angeblichen »psychischen Epidemien« (ebd., S. 11)
in Verbindung bringt.
Einen Denkstil kennzeichnend handelt es sich bei »Verschwörungs-
mentalität« um eine sozialpsychologisch orientierte Bezeichnung, die von
dem Psychologen Serge Moscovici (1987) eingeführt wurde und sich zu-
mindest implizit an die Begriffsbildungen der Autoritarismus-Studien des
Instituts für Sozialforschung anlehnt (etwa Adorno et al., 1950; Löwen-
thal, 1990 [1949]; vgl. Ziege, 2009). Inzwischen wurde der Terminus im
Rahmen der empirischen Sozialforschung zu Rechtsextremismus und auto-
ritären Tendenzen als ein zentrales Item genauer differenziert, gelegentlich
unter stärkerer Betonung kognitionspsychologischer Ansätze (beginnend
mit Imhoff & Decker, 2013). Assoziiert werden alle Bezeichnungen mit
tiefsitzendem und tendenziell undefiniertem Misstrauen gegenüber gesell-
schaftlichen Institutionen, das sich in aktuellen Studien – im Sinne einer
»generalisierten politischen Einstellung« (Imhoff & Bruder, 2014) – in
Deutschland als breit anschlussfähiger Bestandteil eines autoritären Syn-
droms manifestiert (Decker & Brähler, 2018, 2020; vgl. Zick et al., 2019;
Zick & Küpper, 2021).
»Verschwörungsglauben«, »Verschwörungsdenken« und »konspi-
rologisches Denken« wurden gelegentlich als Beschreibungen gebraucht,
werden allerdings in jüngerer Zeit von einigen Studien als kognitiv orien-
tierte Entsprechungen zu jenem »way of seeing the world and expressing
oneself«, den schon Hofstadter (1996 [1964]) so identifizierte, spezi-
fischer verwendet (vgl. Barkun, 2013; Anton et al., 2014; Meyer, 2018;

8 In diesem Zusammenhang sei stellvertretend für die zahlreichen literarischen wie kul-
turwissenschaftlichen Arbeiten Umberto Ecos zum Thema, auf die posthum erschie-
nene Aufsatzsammlung Il complotto (dt. Verschwörungen, 2021) verwiesen.

16
Verschwörungsdenken: Zwischen Populärkultur und politischer Mobilisierung

Luy et al., 2020; ähnlich Grüter, 2006; Heil, 2006). Eine Fortsetzung im
engeren Sinn haben die Arbeit von Hofstadter und seine Begriffsbildung
des »paranoid style« dagegen lediglich in sehr wenigen Studien wie der
des Politikwissenschaftlers Daniel Pipes (1999) gefunden. Hofstadter kann
allerdings als Wegbereiter einer rezipient*innenorientierten Forschung
gelten (vgl. klassisch Goertzel, 1994; sowie aktuell z. B. van Prooijen, 2020;
eine Übersicht über Forschungsthemen und -felder in Butter & Knight,
2020), während in erweitertem Sinn zahlreiche Beobachter*innen weiter-
hin auf die von Hofstadter herausgestellten antidemokratischen Wirkungs-
potenziale von Verschwörungsvorstellungen Bezug nehmen (vgl. etwa
Goldberg, 2001; Fenster, 2008; Amadeu Antonio Stiftung, 2015; Salzborn,
2016; Douglas et al., 2019; Merlan, 2019; Muirhead & Rosenblum, 2019;
Nocun & Lamberty, 2020; AJC, 2021).

Was heißt Denken in Verschwörungen?


Annäherungen an einen
historisch-gesellschaftlichen Funktionswandel

Tendenziell hat sich in den letzten Jahren – auch infolge einer gewissen Re-
Orientierung der deutschsprachigen Forschung an englischsprachigen Ver-
öffentlichungen und Themen – die von dem Politologen Michael Barkun
(2013, S. 3) formulierte Beschreibung durchgesetzt: »[A] conspiracy belief
is the belief that an organization made up of individuals or groups was or
is acting covertly to achieve some malevolent end.« Die Mehrzahl der wis-
senschaftlichen Theorieansätze über Verschwörungskonstrukte sind sich
über das rein Deskriptive hinaus zumindest in grundlegenden Bestimmun-
gen einig: Innerhalb von Verschwörungsvorstellungen wird stark intentio-
nalistisch, monokausal und personalisierend argumentiert; es wird hinter
dem Schein des Gegebenen etwas Verstecktes, wesentlich (Un-)Heimli-
ches behauptet; die dergestalt vorgenommenen (Gruppen-)Einteilungen
tragen stark manichäische Züge (vgl. exempl. Hofstadter, 1996 [1964];
Moscovici, 1987; Groh, 1987, 1991; Cubitt, 1989; Goertzel, 1994; Pfahl-
Traughber, 2002; Barkun, 2013; Butter, 2018; Douglas et al., 2019; van
Prooijen, 2020; Butter & Knight, 2020).
Inhaltlich lassen sich Verschwörungskonstrukte weiter durch verschie-
dene Kriterien typisieren. Fragen lässt sich danach, wer die »Verschwö-
rer*innen« und ihre Helfer*innen sind: Handelt es sich dabei vorgeblich

17
Florian Hessel, Mischa Luy & Pradeep Chakkarath

um – existente oder behauptete – Personen(-gruppen), die bereits – tat-


sächlich oder angeblich – Machtpositionen innehaben und diese vermeint-
lich nutzen, um ihre Macht zu konsolidieren oder auszubauen, oder ist es
eine »Verschwörung von unten«? Sind die »Verschwörer« Feinde, Fein-
dinnen aus dem Innen oder aus dem Außen der Gruppe, der Gesellschaft,
der Nation oder gar der Erde? Wie groß ist die Gruppe der »Verschwörer«
und der in die »Verschwörung« Eingeweihten? Weitere inhaltlich diffe-
renzierende Merkmale sind die Fragen nach dem Zeithorizont und der
Reichweite der »Verschwörung«: Betrifft die »Verschwörung« ein ein-
zelnes, zeitlich begrenztes Ereignis oder wird, eventuell über längere Zeit-
räume, die Kontrolle ganzer gesellschaftlicher Funktionsbereiche, Länder
oder final die Weltherrschaft angestrebt oder »aufrechterhalten«? In
diesem Zusammenhang unterscheidet Barkun (2013, S. 6) inhaltlich vier
Typen von Verschwörungskonstrukten in einer Matrix zwischen »Grup-
pe«–»Aktivität« und »geheim«–»nicht geheim« sowie für deren »Er-
klärungsreichweite« zwischen einer Ereignis- und einer Systemausrichtung
sowie »Superverschwörungstheorien«.9
Das thematische Spektrum erscheint dabei als potenziell unendlich
weit – allerdings bleiben die tatsächlich aufgegriffenen Themen auf Be-
reiche menschlicher Existenz beschränkt, die Kontingenz, Unsicherheit
und Ambivalenz aufweisen: Eine – kulturell unvermittelbare – »offene
Verletzung des ›Realitätsprinzips‹« findet nicht statt (Adorno; s. Hessel,
i. d. Bd.). Da jede Verschwörungsvorstellung insofern auf offene geschicht-
liche Entwicklungszusammenhänge, auf uneindeutige bzw. unübersicht-
liche gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse abzielt und das
Individuum darin scheinbar eindeutig positioniert, ist auch eine Abgren-
zung zwischen unterschiedlichen Ausprägungen, zum Beispiel eine globale
oder lokale Ausrichtung, letztlich kaum mehr als typologisch relevant.
Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 ist nicht nur die Pro-
minenz und auch die Masse an Verschwörungskonstrukten nochmals
gestiegen,10 sondern vor allem auch die Forschung verstärkt und diversi-
fiziert worden (vgl. dazu nun das Handbook of Conspiracy Theories, das
selbst zumindest partiell im Kontext eines Forschungsclusters entstanden

9 Ein Modell auf der Basis rein mathematischer Wahrscheinlichkeiten hat Grimes (2016)
entwickelt.
10 Inwieweit dies tatsächlich zutrifft, wird kontrovers diskutiert, vgl. etwa Uscinski et al.
(2022).

18
Verschwörungsdenken: Zwischen Populärkultur und politischer Mobilisierung

ist; Butter & Knight, 2020). Wie sich bereits andeutete, stellt sich die
Forschungslage vielleicht als wenig systematisiert, aber insgesamt im enge-
ren sozialwissenschaftlichen wie im psychologischen Fachbereich als ver-
gleichsweise gut, zum Teil sogar inzwischen als quantitativ unüberschaubar
und inhaltlich repetitiv dar (vgl. die Übersicht allein über die neuere, vor
allem kognitionspsychologische Literatur bis 2019 in Douglas et al., 2019).
Eine analytisch-sozialpsychologische Thematisierung blieb allerdings weit-
gehend ein Desiderat (vgl. klassisch Löwenthal, 1990 [1949]; sowie Wulff,
1987; Maaz, 2001; Decker & Brähler, 2018; Luy et al., 2020; Brunner et
al., 2021). Der Trend zu weiteren Forschungsanstrengungen und wissen-
schaftlichen wie populären Publikationen hat sich infolge verschiedener
gesellschaftlich-politischer Ereignisse, unter die Entwicklungen im Be-
reich des Rechtsextremismus und -terrorismus, die Präsidentschaft Donald
Trumps in den USA und noch mehr die Covid-19-Pandemie zu rechnen
sind, weiter verstärkt. Das Bedürfnis der politischen Öffentlichkeit an In-
formationen und (wissenschaftlichen) Deutungen ist so ausgeprägt – und
drängend – wie kaum zuvor in der Vergangenheit (vgl. exempl. bpb, 2021).
Seit 2020 wurden neben zahlreichen Projekten der politischen Bildung
und Prävention zum Thema auch einige außeruniversitäre Institutionen zur
Forschung und Information (etwa das Berliner CeMAS, Center für Monito-
ring, Analyse und Strategie) etabliert.
Die Tatsache, dass bisher keine Bezeichnung für das Phänomen allge-
mein anerkannt wurde, ist entgegen gängiger Annahmen keineswegs auf
eine mangelnde wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema zurück-
zuführen. Die Vielzahl an – zum Teil in denselben Arbeiten – nebenein-
ander verwendeten Bezeichnungen reflektiert ebenso sehr unterschiedliche
theoretisch-konzeptionelle Perspektiven wie mehr noch den Gegenstand
und dessen Form und Veränderung selbst. In der Verlagerung der Schwer-
punkte der Bezeichnungen von inhaltlichen Aspekten (»conspiracy
myth«; Cubitt, 1989) hin zu einer stärkeren kognitiven Orientierung
(»conspiracy belief«; Barkun, 2013) reflektiert sich auch ein Wandel von
historischen, geschlossenen Welterklärungsmodellen hin zu kombinierba-
ren Konglomeraten von Verschwörungskonstrukten, der mit politischen,
sozioökonomischen und soziokulturellen, zunehmend »globalisierten«
Transformationsprozessen und Krisen in enger Verbindung steht. Inso-
fern kann es nicht das Ziel sein, in erster Linie eine allgemeingültige oder
umfassend anerkannte Begrifflichkeit zu finden, sondern es muss um eine
kritische Betrachtung der Angemessenheit der existierenden gehen und

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Florian Hessel, Mischa Luy & Pradeep Chakkarath

noch mehr um die Bemühung, dem Gegenstand als solchem mit all seinen
Verflechtungen mit anderen Phänomenen in deren historischen Funktions-
wandel und dessen globalen Dimensionen noch besser gerecht zu werden
(zur globalen Verbreitung vgl. die Regionalartikel in Butter & Knight,
2020, S. 569ff.).
Insofern erscheint – so lange Begrifflichkeiten und die Stringenz von
Begriffsverwendungen eine substanzielle Bedeutung zukommt – zur Ab-
grenzung von »Verschwörung« und »Verschwörungstheorie« als For-
schungsgegenständen eine pragmatische Verwendung verschiedener Be-
zeichnungen angebracht, um jeweils zentrale inhaltliche oder historische
Differenzen reflektieren zu helfen. Im Wesentlichen scheint uns die de-
skriptive Bezeichnung »Verschwörungskonstrukte« für in irgendeiner
Form zusammenhängende Deutungsangebote auf Basis einer »Verschwö-
rung« sinnhaft. »Verschwörungsmythos« bzw. »Verschwörungsideo-
logie« spezifizieren Verschwörungskonstrukte, die historisch-kulturell
bereits tradiert sind bzw. einen starken politischen Weltanschauungscha-
rakter aufweisen und ein darüber hinausweisendes, weiteres Spektrum von
Inhalten verklammern. In Bezug auf Individuen bzw. einzelne Elemente,
die in Verschwörungskonstrukten enthalten sind oder sein können, können
insbesondere »Verschwörungsidee«, »Verschwörungsvorstellung« oder
analoge Sprachformen verwendet werden. Im in den Buchtitel aufgenom-
menen »Verschwörungsdenken« sehen wir, wie bereits gesagt, die im Ge-
genstand gleichzeitig wirkenden Aspekte von (kognitiver) Deutung und
Wahrnehmung, von (praktischer) Aneignung sowie deren gesellschaftlich-
kultureller Dimension(-en) am besten thematisierbar.
Gerade an Hofstadters klassischem Aufsatz sowie an der Verwendung
von »Verschwörungstheorie« als Label in der Öffentlichkeit oder »Ver-
schwörungsideologie« im wissenschaftlich-pädagogischen Bereich sowie
generell an stärker auf politische Zusammenhänge abzielenden Arbeiten
wird gelegentlich ein denunziatorischer Unterton und eine Tendenz zum
othering bzw. eine gewisse Eindimensionalität in der Betrachtung bemän-
gelt. Entweder meint man, innerhalb wissenssoziologischer Ansätze im
Verschwörungskonstrukten zugrundeliegenden Denkstil eine erst einmal
wertfrei zu konstatierende Wissensform unter anderen zu sehen (vgl.
Anton et al., 2014; Meyer, 2018), oder man erkennt aus kulturgeschicht-
lichen Studien ein als – teils mit allen Implikationen des Worts – »stigma-
tisiert« wahrgenommenes, gesellschaftlich-kulturell eingebundenes Idiom
(vgl. Knight, 2000, 2008; Olmsted, 2009; Thalmann, 2019).

20
Verschwörungsdenken: Zwischen Populärkultur und politischer Mobilisierung

Doch die in den Bezeichnungsdebatten zum Ausdruck kommende Un-


eindeutigkeit ist nicht durch den Blick allein auf die möglichen bzw. sich
vollziehenden politischen Verwendungen oder auf verandernde, ausgren-
zende Externalisierungseffekte aufzulösen – es handelt sich bei diesen,
letztlich gesellschaftlichen Widersprüchen nicht um Datenfehler. Ver-
schwörungsideen und -konstrukte wie überhaupt das Denken in »Ver-
schwörungen« interessieren uns als Sozialwissenschaftler*innen, insofern
sie eine wie auch immer geartete gesellschaftliche Wirksamkeit und einen
entsprechenden Resonanzraum haben. Der Hintergrund dieser Wirksam-
keit, zentral die psychosoziale Attraktivität von Verschwörungsvorstellungen,
kann dabei nur aus deren jeweiliger historisch-gesellschaftlicher Grundlage
in deren Widersprüchlichkeit erklärt werden. Auch diejenigen, die sich zu-
gutehalten, nicht an »Verschwörungstheorien« zu »glauben«, oder die
deren Struktur und politische Konsequenzen reflektieren, verstehen fast
intuitiv was der darin behauptete Sinn ist. Warum uns als in dieser Gesell-
schaft aufgewachsenen und lebenden Menschen Verschwörungsideen eben
keineswegs fremd sind, ist kritisch sozialpsychologisch und gesellschafts-
theoretisch erklärungsbedürftig.
Ansätze zu einer solchen, bisher in der Forschung zu wenig repräsen-
tierten Aufklärung vorzulegen, ist das Anliegen der Herausgeber und der
Autor*innen des vorliegenden Bandes. Entsprechend sind im Folgenden
verschiedene Essays und Studien versammelt, die unterschiedliche Dimen-
sionen und Facetten des Phänomens des Denkens in »Verschwörungen«
erkunden und transdisziplinär beleuchten, aus soziologischer, gesellschafts-
theoretischer, sozialpsychologischer oder psychoanalytischer, medien-
wissenschaftlicher, ethnologischer, wissenschaftsgeschichtlicher oder phi-
losophischer Perspektive, aus Sicht der Erforschung von Ressentiments,
politischer Bewegungen, digitaler Medien, des gesellschaftlichen Alltags,
der analytischen Psychotherapie oder der Grundlagen politischer Bildung
und Demokratieerziehung, in Deutschland, den USA, im subsaharischen
Westafrika oder dem (post-)sowjetischen Russland. Einige der Beiträge sind
ursprünglich in Ausgabe 1/2020 der Zeitschrift psychosozial erschienen
und wurden für diese Neuveröffentlichung von den Autor*innen nochmals
durchgesehen und (teilweise umfangreich) überarbeitet und ergänzt. Dass
wir zusätzlich noch weitere Autor*innen und wertvolle Beiträge gewinnen
konnten, freut uns ungemein – das von uns intendierte Panorama des Ver-
schwörungsdenkens zwischen Populärkultur und politischer Mobilisierung
hat, so hoffen wir, damit nochmals an Breite und Tiefenschärfe gewonnen.

21
Florian Hessel, Mischa Luy & Pradeep Chakkarath

Verschwörungskonstrukte und -vorstellungen, so betonen nahezu alle


im Folgenden versammelten Beiträge, sind heute unabhängig von ihrer je-
weilig unterschiedlichen thematischen »Reichweite« oder der Stärke ihres
»Erklärungsanspruchs« gleichzeitig ein Symptom wie ein Katalysator einer
autoritären Tendenz der Gesamtgesellschaft und des »kulturellen Klimas«
(Adorno). Einer Betrachtung als absolut eigenständiges Phänomen, als
wertfrei »anderer« Modus von Realitätskonstruktion, als verselbststän-
digter Effekt »der sozialen Medien« oder gar als überhistorische »anth-
ropologische Konstante« muss dieser Zusammenhang entgehen. Negiert
wird so die Historizität des Phänomens wie auch die Historizität wissen-
schaftlicher Thematisierung und ignoriert wird der Funktionswandel, dem
das Phänomen im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung, ihrer Trans-
formationen und Krisen, unterworfen ist, wie auch dessen inhaltlich und
formal grundlegend politische, normativ antidemokratische Codierung.
Im Kern reproduziert man damit – unwillentlich – den Mythos des Den-
kens in »Verschwörungen« selbst.

Zynismus und Gewalt: Zur sich aktualisierenden Relevanz


des Verschwörungsdenkens – und der Aufklärung

Während dieser Text in seiner ursprünglichen Form als Editorial für die
Ausgabe 1/2020 der psychosozial (Luy et al., 2020, S. 5ff.) begonnen und
fertiggestellt wurde, erreichten uns die Nachrichten von dem antisemiti-
schen Anschlag an Jom Kippur in Halle (9. Oktober 2019) und dem rassis-
tischen Anschlag in Hanau (19. Februar 2020). Wenige Monate zuvor, am
1. Juni 2019, war bereits der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke
von einem Rechtsextremisten erschossen worden. Während der Arbeit
an dieser Einleitung, am 14. Mai 2022, betritt ein rassistisch orientierter
Täter einen Supermarkt in einem vorwiegend von nichtweißen Menschen
bewohnten Stadtteil im US-amerikanischen Buffalo und erschießt zehn
Afroamerikaner*innen.
Der Attentäter von Halle bekannte sich in seiner an die Dramaturgie
früherer rechtsextremer Anschläge von Oslo/Utoya bis Christchurch an-
knüpfenden, im Internet live gestreamten Mordserie, zu einem Konglome-
rat an Ressentiments und Verschwörungsideen – Ideen wie sie ähnlich auch
der Mörder von Walter Lübcke und die Attentäter von Hanau und Buffalo
vertraten. Unter dem Label »großer Austausch« (»great replacement«)

22
Verschwörungsdenken: Zwischen Populärkultur und politischer Mobilisierung

wird dieses Set an Phantasmagorien seit einigen Jahren flexibel synthetisiert


und propagiert – mit Sprachführer*innen bis in den Deutschen Bundestag,
das Országgyűlés in Budapest, das Capitol in Washington, D. C., und den
Kreml in Moskau. Demzufolge arbeiten angeblich »liberale Eliten« und
»Feministinnen« etwa an einer »Gender-Umerziehung« zur Senkung der
Geburtenraten und folgend zur gezielten Förderung von Einwanderung
aus sogenannten islamischen Ländern, um die völkisch-rassistisch homo-
gen vorgestellte Bevölkerung kulturell oder »physisch« umzustrukturie-
ren – orientiert am älteren rechtsextremen Sprachgebrauch von »Volks-
tod« oder »white genocide« (vgl. Botsch & Kopke, 2018). Hinter diesem
angeblichen, vielschichtigen Komplott ständen – ob nun codiert formu-
liert oder ganz konkret – »die Juden« (vgl. dazu insgesamt auch Blum,
i. d. Bd.).
Die Mutter des Attentäters und zweifachen Mörders von Halle demons-
trierte, warum eine Unterteilung zwischen unterschiedlichen »Graden an
Verschwörungsglauben« angesichts von Empirie und Erfahrung letztlich
verleugnenden Charakter hat. Auf die von ihrem Sohn selbst vorgetragene,
antisemitische Rationalisierung seiner Mordtaten angesprochen, gab sie
Spiegel TV zu Protokoll: »Er hat nichts gegen Juden in dem Sinne. Er hat
was gegen die Leute, die hinter der finanziellen Macht stehen – wer hat das
nicht?« (o. A., 2019).
Dass das Denken in »Verschwörungen« entsprechend als kulturell
flexibles Vehikel und (sozial-)psychologisch wie politisch mobilisierbare
Ressource zur Deutung und Aneignung von Realität fungiert (vgl. insb.
Engels & Salzmann, i. d. Bd.), zeigte sich schon im Mai 2020, als die er-
wähnte psychosozial-Ausgabe erschien, und erfährt nochmals schlagende
Bestätigung, während dieser Text im Mai 2022 geschrieben wird. In diesen
Zusammenhang gehört das soziodemografisch heterogene, aber in der Ori-
entierung an verschwörungsideologischen Deutungen und der Ausrich-
tung auf tendenziell autoritäre Krisenlösungen oder -leugnungen geeinte
Publikum der »Querdenken«-Demonstrationen und »Spaziergänge«
gegen die staatlichen Corona-Schutzmaßnahmen und Impfkampagnen
wie auch deren eskalative Dynamik, die dort anzutreffende Offenheit zu
Themensetzungen der extremen Rechten und z. T. offene Gewaltbereit-
schaft (vgl. Frei & Nachtwey, 2021; Nachtwey et al., 2021; Muschenich,
2022). Dazu gehört auch die propagandistische, antiliberale Begleitmusik
des Angriffskriegs gegen die Ukraine über »westliche Verschwörung«
und »Zersetzung«, kombiniert mit der entsprechenden Steuerung aller

23
Florian Hessel, Mischa Luy & Pradeep Chakkarath

Medien und Informationskanäle und der Zerschlagung staatsunabhängi-


ger, zivilgesellschaftlicher Initiativen innerhalb der autokratisch beherrsch-
ten Russländischen Föderation (vgl. etwa Alyukov, 2022; Trudoljubow,
2022) – eine Propaganda, die wie bereits 2014/15 weit über Russland
hinaus wirkt, gerade in den Medienumwelten des Verschwörungsmilieus
(vgl. für Deutschland Rathje, 2022).
Dass die nunmehr seit einigen Jahrzehnten vorliegenden, von uns doku-
mentierten und ergänzten Analysen (Luy et al., 2020) im Lichte aktueller
Entwicklungen weiter zutreffen, bekräftigt die anhaltende sozialwissen-
schaftliche und zunehmend praktische Relevanz des Themas. Auf diese Be-
stätigung, und gerade auf die weitere Realisierung verschiedener, namentlich
politisch antidemokratischer Potenziale hierzulande wie weltweit, hätten
wir und die Autor*innen gern verzichtet. Denn das Denken in »Verschwö-
rungen« – das legen alle Beiträge in diesem Band nahe – ist in seiner kom-
promisslosen Institutionalisierung des Misstrauens hoch kompatibel mit
gesellschaftlich virulenten Ressentiments wie Xenophobie, Antisemitismus
oder Antifeminismus und inkompatibel mit einer auf Vertrauens- und
Kompromisspotenzialen beruhenden demokratischen Öffentlichkeit. Unser
Zeitalter erscheint gleichzeitig als von größter sozialer Ungleichheit wie glo-
balem Austausch und umfassend zugänglichen Informationen geprägt – der
strukturell immer enger werdenden Verflechtung der Welt zu einem ge-
teilten Handlungs- und Kommunikationsraum. Der dergestalt generierten,
unübersichtlichen Masse für sich sinnfreier Fakten scheint von allzu vielen
Menschen oft als einziges »wirkliches« Faktum der begriffslose Glauben an
die Sinnhaftigkeit eines subjekt- oder eigengruppenzentrierten Ordnungs-
wunsches und des Ressentiments entgegen- und vorausgesetzt zu werden.
Plausibilität, Quellenkritik, Belegbarkeit oder Ansichten zu zivilen Um-
gangsformen werden selbst zur »bloßen Meinung« erklärt und über den
vielgescholtenen Begriff der Wahrheit sollen Gewaltherrscher, Demagogen
oder »irgendwer auf Telegram« besser urteilen können als das ganze selbst-
aufklärende Denken der Menschheit seit den Upanishaden, den Gesprächen
des Konfuzius oder den sokratisch-platonischen Dialogen. Die Verfahren
von Repräsentation und Interessensausgleich werden zur verschwörerischen
Manipulation umgedeutet, die Institutionen von politischen Gemeinwesen
als exklusive Beute betrachtet – nach dem von dem Politikwissenschaftler
Ivan Krastev (2017, S. 25; vgl. Müller, 2016; Geiselberger, 2017) kritisch
formulierten, globalen »populistischen« Motto: »Entweder ›wir‹ kon-
trollieren sie, oder unsere Feinde tun es.«

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Verschwörungsdenken: Zwischen Populärkultur und politischer Mobilisierung

In der Verklärung der Welt mit den Mitteln des digitalen Zeitalters,
noch mehr im Achselzucken des »Wer weiß schon noch was wahr ist?«
liegt bereits der Kern einer Desavouierung vieler, vielleicht sogar aller
potenziell geteilten Bezugspunkte, die ein Mindestmaß an kollektiven
Übereinstimmungen verbürgen könnten, auf deren Basis eine Verstän-
digung über Tatsachen und Fiktionen – »die Wurzel der Humanität«
(Hegel, 1989 [1807], S. 65)11 – allererst möglich wäre. Und als eine
Geste der Gleichgültigkeit akzeptiert solches Achselzucken – ob nun
»hilflos« oder zynisch – einen Zugriff auf das gesellschaftlich als legi-
tim und legitimiert Aufgefasste durch eine – u. U. auch mit Gewalt ge-
stützte – Setzung der Herrschenden. Glaubt man das Denken in »Ver-
schwörungen« losgelöst von dessen gesellschaftlichen und historischen
Kontexten betrachten zu können – sich selbst scheinbar »wertfrei«
vom gesellschaftlichen Geschehen zu dispensieren –, so werden die Wis-
senschaften, die sich mit dem vergesellschafteten Menschen, dem zoon
politikon beschäftigen, nicht nur ihrem kritischen Anspruch, sondern
auch der aus jeder Tradition menschheitsgeschichtlichen, selbstrefle-
xiven Aufklärungsdenkens entspringenden Aufgabe und Verpflichtung
nicht gerecht.

Danksagung

Wir bedanken uns bei N. N. und Paul Mentz (Dortmund) für ihre jewei-
lige Übersetzung der Texte von Alexey Levinson aus dem Russischen und
Martin Jay aus dem Englischen, bei Joachim Sperl (Hamburg) für das Ti-
telbild und den gestalterischen Rat, bei Christoph Hövel (Recklinghausen)
für den Austausch, bei Prof. Lev Gudkov (Moskau) für die freundliche Ver-
mittlung, beim Hans Kilian und Lotte Köhler-Centrum (Bochum) für die
finanzielle und ideelle Unterstützung. Unser besonderer Dank gilt auch,
stellvertretend für alle beteiligten Mitarbeiter*innen und Lektor*innen
des Psychosozial-Verlags, Christian Flierl und David Richter, die uns bei
der Bearbeitung dieser Thematik über fast drei Jahre hinweg kompetent
und engagiert unterstützt haben. Und selbstverständlich danken wir allen
Autor*innen für ihre anregenden Beiträge und die gewinnbringende Zu-
sammenarbeit.

11 Für den Hinweis danken wir Christoph Hövel.

25
Florian Hessel, Mischa Luy & Pradeep Chakkarath

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Biografische Notizen
Florian Hessel, Dipl.-Soz. Wiss., ist Lehrbeauftragter für Sozialpsychologie und Sozial-
theorie der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum (RUB) sowie
der TU Hamburg und arbeitet als freier Bildungsreferent und wissenschaftlicher Berater
in der Antisemitismusprävention und Demokratieförderung. Er ist Gründungsmitglied
von Bagrut e. V. Verein zur Förderung demokratischen Bewusstseins.

Mischa Luy, M. A., ist Sozialwissenschaftler und promoviert am Lehrstuhl für Sozialtheorie
und Sozialpsychologie an der Ruhr-Universität Bochum zum Gegenstand der deutschen
Prepperszene. Daneben ist er als wissenschaftlicher Berater tätig beim Modellprojekt
#kopfeinschalten – Kritisch gegen Verschwörungsdenken. Er ist Stipendiat der Hamburger
Stiftung zur Förderung von Kultur und Wissenschaft.

Pradeep Chakkarath, Dr., lehrt Sozial- und Kulturpsychologie an der Fakultät für Sozial-
wissenschaft der RUB und ist (mit Jürgen Straub) Co-Direktor des Hans Kilian und Lotte
Köhler Centrums für kulturwissenschaftliche Psychologie und historische Anthropo-
logie (KKC). Er ist 2. Vorsitzender der Gesellschaft für Kulturpsychologie und Mitheraus-
geber der psychosozial.

30
Elemente des Verschwörungsdenkens
Ein Essay1

Florian Hessel

K. K. H. (1950–2021) zum Gedächtnis

»Weil die Wahrheit viel beängstigender ist. Nie-


mand regiert die Welt. Niemand kontrolliert ir-
gendetwas.«
Informant von Jon Ronson (2007)

Das Denken in Verschwörungen begegnet uns in der modernen Welt als


selbstverständlich. Es existiert in unterschiedlichsten Formen und in
nahezu allen gesellschaftlichen Milieus. Der Kern der Vorstellung präsen-
tiert sich als eine Schicksalsfrage der Menschheit: Eine verborgene, aber
doch genau zu benennende Gruppe von Personen würde das Leben und
die Lebensumstände einer anderen, weitaus größeren Gruppe – einer Ge-
sellschaft, Kultur, vielleicht gar der ganzen Welt – nach ihrem (bösen)
Willen, aus »fremden«, eigensüchtigen Interessen unmittelbar, verdeckt
und unbemerkt beeinflussen, lenken oder gar vollständig beherrschen. Als
»Basis einer Repräsentation von Gesellschaft« (Moscovici, 1987, S. 154)
stattet diese Vorstellung bestimmte Ereignisse ebenso wie gesellschaftli-
chen Alltag mit bestimmtem Sinn aus und kreiert eine intensiv »gefühlte
Wahrheit«. Die Erfahrung von Realität wird nahezu vollständig nach
diesem bedrohlichen Bild geordnet und kann, insofern die jeweilige »Ver-
schwörung« per definitionem für Uneingeweihte unsichtbar und verbor-
gen sei, sinnhaft als eine sich selbst begründende Struktur unabhängig von
jedem Beweis oder Gegenbeweis fortgeschrieben werden. Zentriert auf das
Selbst und die eigene Person, werden Zumutungen von gesellschaftlicher

1 Der Autor bedankt sich für wertvolle Hinweise bei Paul Mentz, Olaf Kistenmacher und
Janne Misiewicz. – Der ursprünglich in psychosozial 1/2020 erschienene Text wurde für
diese Ausgabe durchgesehen und geringfügig ergänzt.

31
Florian Hessel

Komplexität und emotionaler Ambivalenz reduziert sowie Erfahrungen


und Gefühle von Angst und Ohnmacht, Frustration und Dissonanz kom-
pensiert. Doch so hermetisch geschlossen der Erfahrungsraum – in Bezug
auf das Funktionieren und die innere Ordnung einer Gesellschaft, Kultur,
der ganzen Welt – sich für die Einzelnen entsprechend gestalten mag, ist
dessen Struktur, Gehalt und Genese selbst keineswegs so einheitlich, wie es
intuitiv erscheint, und nur aus seinen einzelnen gesellschaftlichen Elemen-
ten heraus zu verstehen.
Verschwörungsideen und entsprechende Konstrukte haben eine spe-
zifische (Wirkungs-)Geschichte und unterliegen in deren Verlauf einem
Funktionswandel (vgl. Hessel, 2020). Unter den Bedingungen kapi-
talistischer Vergesellschaftung und Herrschaft zielen Verschwörungs-
konstrukte tendenziell auf die »Erklärung« gesellschaftlicher Totalität,
also einer Gesellschaftsform, ihrer Ökonomie, Politik und Kultur, als
Ganzer. Dies ist überhaupt erst möglich und »sinnhaft«, nachdem alle
Momente menschlichen Zusammenlebens auf allgemeine Prinzipien von
Vergesellschaftung bezogen sind, also Gesellschaft im modernen Sinne
existiert und »den Menschen als ein Selbstständiges gegenübertrat, mit
ihnen nicht unmittelbar mehr identisch war, sich gegen sie behauptete
und verfestigte« (Institut für Sozialforschung, 1974 [1956], S. 29). Ver-
schwörungsideen existierten in nuclei in weiten Teilen der Geschichte,
doch das Ende direkter, personalisierbarer Herrschaft als gesellschaftlich-
politisches Prinzip, wie es in Europa bis zur Französischen Revolution
letztlich gültig war, ist auch das Ende der Möglichkeit eines tatsächlich
verallgemeinerbaren Gebrauchs einer Verschwörung bzw. geheimen Ver-
abredung zwischen konkreten Personen als Technik der Herrschaft. Um
mehr als einen einfachen Machtwechsel und meist auch das Lebensende
der individuell Herrschenden herbeizuführen, bedarf es in hochgradig
differenzierten, global zunehmend verflochtenen und durch die Vermitt-
lung und gegenseitige Durchdringung aller gesellschaftlichen Funktionen
oder Teilbereiche gekennzeichneten nationalstaatlichen Klassengesell-
schaften eines diese Ordnung transzendierenden Prozesses, der ebenso
wie diese nicht mehr ursächlich an konkrete Personen gebunden sein
kann.
Macht, Herrschaft und Ausbeutung wurden strukturell vom Wirken
Einzelner oder bestimmter Personengruppen – in Europa dem Adel und
dem Klerus – entkoppelt. In dem Maße wie sie zunehmend institutionali-
sierten Prozesscharakter gewinnen, abstrakt, anonym und verallgemeinert

32
Elemente des Verschwörungsdenkens

werden, wird dies im Verschwörungsdenken gespiegelt in Form einer Per-


sonalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse,2 die nunmehr als Wirkung un-
sichtbarer und übermächtiger Personen oder Personengruppen konstruiert
werden.
Denn in diesem gesellschaftlichen Prozess formiert sich eine Dialektik
von depersonalisierter, tendenziell anonymer Herrschaft einerseits, und
einer Ideologie des Individualismus andererseits, die das einzelne Indi-
viduum als das wirkmächtige, selbstverantwortliche, autonome Subjekt
bürgerlicher Gesellschaft, Ökonomie und Politik setzt und dessen Stel-
lung als Privateigentümer, Lohnarbeiter, Rechtsperson reflektiert. Der
darin reproduzierte Widerspruch ist in der Erfahrung der Mehrheit der
Gesellschaftsmitglieder ständig präsent. Innerhalb der formalen Demo-
kratisierung von Herrschaft und Machtpositionen steht der Einbeziehung
potenziell aller citoyens in die Politik – in erster Linie der Mobilisierung
zunehmend größerer Teile der Bevölkerung dafür – die Erfahrung von
Ohnmacht und Fremdbestimmung, von Distanz und relativer Ungreif-
barkeit konkreter Entscheidungsprozesse gegenüber.3 So verweist etwa
Hannah Arendt (1970, S. 80) auf die Erscheinung der bürokratisierten
politischen Ordnung des 20. Jahrhunderts als »›System‹« schlechthin
und bemerkt, es gebe, »wenn man Verantwortung verlangt oder auch
Reformen, nur den Niemand«. Mit ihm könne »man nicht rechten, ihn
kann man nicht beeinflussen oder überzeugen, auf ihn keinen Druck der
Macht ausüben«. Betont ambivalent bezieht sie sich an dieser Stelle auf
zwei jener bürgerlichen Heroen antibürgerlicher Reflexe am Ende des
langen 19. Jahrhunderts, Sorel und Pareto. In deren Verachtung der indivi-
dualistischen bourgeois für das vermeintlich gesichts- und verantwortungs-
lose Ganze, die »Charaktermasken« (Karl Marx) und das »stahlharte
Gehäuse« (Max Weber) prozessual verselbstständigter gesellschaftlicher
Reproduktion – der geschichtlichen Schöpfung »ihrer« Klasse –, schlägt,
angesichts der Aporien zunehmend demokratisch legitimierter Herrschaft,
die Sorge des einzelnen Individuums um in die Angst des gekränkten in-

2 In Anlehnung an die geschichtsdidaktische Verwendung (»Geschichte Großer Männer«)


wird hier für die (sozial-)psychologische Funktion »Personalisierung« gegenüber der
ebenfalls in der Literatur verwendeten »Personifikation« bzw. »Personifizierung« (als
einer Erzähltechnik) bevorzugt.
3 Samuel Salzborn (2019, S. 189–202) entwickelt im Rahmen ähnlicher Überlegungen hier
eine Dialektik von Öffentlichkeit und Geheimnis in der Moderne.

33
Florian Hessel

dividualistischen Subjekts vor Ohnmacht und Fremdbestimmung, Bedeu-


tungslosigkeit und Austauschbarkeit. Die Personalisierung der sozialen
und politischen Verhältnisse – der »Jemand« – löst die Antinomie zwar
lediglich deklarativ, dafür umso vehementer. Inwieweit der »Jemand« die
Gestalt der Verderber oder eben auch des Retters annehmen kann, deutet
die Wirkungsgeschichte von Sorel wie Pareto an: Die aktivistische Phi-
losophie des einen bildete eine der Grundlagen protofaschistischer Ideo-
logie; die Elitensoziologie des anderen lehrte Mussolini ein Stück des
Wegs zur Macht.

Der Abdruck der Gesellschaftsgeschichte der Epoche, die wir (noch) als
unsere eigene erkennen, des »bürgerlichen Zeitalters« (Max Horkhei-
mer), ist in der Form der Verschwörungskonstrukte und des Umgangs mit
ihnen weiter in doppelter Weise erkennbar. Am Beginn ihrer massenhaften
Resonanz und Wirkungskraft steht die Verbindung zwischen gesellschaft-
licher Krise und deren Bewältigung. Diejenigen, die man zu Recht als Re-
aktionäre und Parteigänger der Konterrevolution bezeichnete, gossen so
ihre Empörung über das Ende der ancien régimes in eine Form, die das epo-
chal Neue, Unerklärliche dieser Machtübernahme der zuvor durch »weise
Vorsehung« Machtlosen und jener anderen, potenziell egalitären Herr-
schaftsstruktur als an göttlicher Ordnung oder ewiger Tradition frevelnde
Konspiration »erklärte«. Gleichzeitig schuf man damit das propagandis-
tische Instrument, das das Unverständnis für die neuen Strukturen von
Herrschaft und Vergesellschaftung (den »Niemand«) und die dann zügig
enttäuschten Hoffnungen breiter Gesellschaftsschichten in politischen Ge-
brauchswert (den »Jemand«) zu übersetzen versprach.
Die tiefgreifenden gesellschaftlichen Umwälzungen in der Moderne
und ihre politisch-ökonomischen Formen bedeuten nicht nur »eine Ver-
lagerung der sozialen Struktur und Dynamik von klaren, feststehenden
Mustern hin zu systematischem Zufall« (Gellner, 1995, S. 98), sondern
noch mehr die Perpetuierung und letztlich Institutionalisierung dieser Ver-
unsicherung. Kontingenz, Krise und Transformation gewinnen Permanenz,
da sie den gesellschaftlichen Verhältnissen ebenso wie die Universalisierung
von Herrschaft bis ins Private und in die Psyche hinein innewohnen. So
hält Erich Fromm (1980 [1937], S. 204) fest:

34
Elemente des Verschwörungsdenkens

»Auch wenn [der bürgerliche Mensch] zu wissen glaubt, was vorgeht, so


ändert diese Illusion doch nichts daran, daß ihm die Orientierung über
die in der Gesellschaft und in ihm selbst wirkenden fundamentalen Kräfte
nahezu völlig fehlt. Er sieht hundert Einzelheiten, hält sich an die eine oder
andere und versucht, von einer aus das Ganze zu verstehen, um nur immer
wieder von neuen Einzelheiten überrascht und verwirrt zu werden.«

Stabilität stellt letztlich auf gesellschaftlicher Ebene eher die Ausnahme


denn die Regel dar und dies begünstigt die Fortschreibung von Verschwö-
rungsideen. Der Zusammenbruch und die Verunsicherung überkommener
Sozialmilieus, gewohnter Lebenswelten, fester Glaubenssysteme oder pa-
triarchaler Machtstrukturen reflektieren sich deutlich in den paradigma-
tischen, vollständigen Welterklärungsmodellen, die parallel zur Französi-
schen und zur Russischen Revolution geschaffen und verbreitet wurden,
den Vorstellungen universeller Verschwörungen von Freimaurern und Il-
luminaten, von Juden, Revolutionären und anderen Cliquen »sittenloser
Freigeister«. Und ebenso reflektieren sich heute ähnliche, gesellschaftlich
noch komplexere Verunsicherungen in den entsprechend flexibler kombi-
nierbaren Phantasmagoriekonglomeraten vom »Kulturmarxismus« oder
der »Gender-Umerziehung«, vom »Great Reset« oder »großen Aus-
tausch«.
Erhalten hat sich etwa in den Vorstellungen des Abbé Barruel, des pro-
minentesten Propagandisten der »Freimaurer-Jakobiner-Verschwörung«
seit 1797, und seiner Konsorten eine tatsächliche Verbindung der von
ihnen – und durchaus zutreffend – als Gefahr für Thron und Altar denun-
zierten Aufklärung und ihrer gesellschaftspolitischen Protagonist*innen
mit den Logen der Freimaurer am Beginn des langen 19. Jahrhunderts.
Nicht nur stellten solche Logen an manchen Orten und in bestimmten Re-
gionen den einzigen Raum dar, in dem sich gegen das Bestehende richtende
Gedanken offener diskutiert werden konnten. Sie gaben dergestalt eines
der Modelle ab, wie entsprechend Gleichgesinnte sich zusammenfinden
und organisieren konnten, so etwa in den berühmten Clubs der Französi-
schen Revolution. In vielen europäischen Regionen außerhalb Frankreichs,
gelegentlich wohl auch in Lateinamerika und in Ägypten – noch später
spiegelbildlich verkehrt in Indochina –, finden wir bis zur Revolution von
1848 und einige Jahre darüber hinaus solche mehr oder weniger erklärt
klandestinen Kreise von carbonari und romantisch-nationalistischen Insur-
rektionalisten, deren grandiose Pläne zur Volkserhebung fast ausnahmslos

35
Florian Hessel

wenig grandios scheiterten (vgl. Hobsbawm, 1966, S. 217–261). Der prak-


tische Internationalismus der Sache der Freiheit, der Wechsel zwischen den
nationalen Aufstandsprojekten und nicht zuletzt der romantische Glaube
an die geschichtliche Kraft des heroischen Individuums dürfte dem Mythos
von der boden- und vaterlandslosen Verschwörung gegen die Nation etwas
historischen Grund unter den Füßen geliefert haben. Über die parallelen
Umwege ihrer eigenen aktivistischen Heldenlegende wie der berufsmäßi-
gen Übertreibungen der Geheimpolizeien sich vollziehend, zählt dieser
Zusammenhang zu den Ironien einer Gesellschaftsgeschichte, in der Be-
freiung und Herrschaft unreflektiert verwoben bleiben.4
Die Chiffre »Verschwörung« enthält somit eine fühlbare begriff-
liche Ambivalenz, die einen Teil von deren anhaltender Wirkungskraft
ausmacht. Sie bildet den gesellschaftlichen Funktionswandel der Sache
selbst ab – einen Funktionswandel, der in ihrer Thematisierung kaum
hinreichend reflektiert wird. Der Gehalt der Bezeichnung »Verschwö-
rung« wird oftmals in der wissenschaftlichen wie in der alltagssprachli-
chen Verwendung als ein überhistorisches Datum behandelt. So springen
insbesondere populäre Arbeiten zu Verschwörungskonstrukten zwischen
der Politik der antiken polis und der antijudaistischen Dämonologie des
europäischen Mittelalters, den Propagandisten der Konterrevolution von
1789/92 und 1918/20 und den Medien und media events der pluralisier-
ten Kulturindustrie des späten 20. Jahrhunderts. Wie durch diese Kultur-
industrie und ihr Feuilleton wird hier schlagwortartig eine vorgeblich in-
variante Bedeutung hypostasiert, die kaum einer Erklärung bedarf und die
intuitiv zugänglich erscheint.
Ebenso wie innerhalb des Denkens in Verschwörungen wird Geschicht-
lichkeit so suggestiv aufgelöst in den unterhaltsamen und griffigen Mythos
von ewiger Geltung. Was wir heute wie eingangs skizziert intuitiv unter
einer »Verschwörung« verstehen (wollen), ist jedoch nicht dasselbe, kann
kaum dasselbe sein, wie etwa in der polis der griechischen Antike oder im
Teufelsglauben des Mittelalters.5 Keineswegs geht es darum, die Realität
von Intrigen, Manipulation und Desinformation, von nichtöffentlichen
Absprachen und Entscheidungen in der Gegenwart zu leugnen, denen

4 Zu diesen und den folgenden Überlegungen entfaltet Martin Jay (i. d. Bd.) eine komple-
mentäre Sichtweise.
5 Die Bedeutung der Dimension (historische) Zeit betonen Ute Caumanns und Mathias
Niendorf (2001).

36
Elemente des Verschwörungsdenkens

gegenüber kritische Skepsis mehr als angebracht ist. Allerdings ist gerade
deren Realität in extremster Form als staatlich organisierte Kriminali-
tät mit der personalisierenden Vorstellung von »Verschwörungen« nicht
mehr vermittelt bzw. kaum noch vermittelbar. Die Bezeichnung und ihr
unterstellter Gehalt sind eine Schöpfung der modernen Propagandisten
von entsprechend ausstaffierten modernen Verschwörungskonstrukten.
Und in diesem Sinn ist eine »Verschwörung« die Behauptung von der Ab-
hängigkeit sozialer, politischer, ökonomischer Strukturen von individuel-
len, identifizierbaren Personen im Zeitalter von deren Unmöglichkeit. Je
weniger Verschwörung als potenziell gesellschaftsverändernde Kraft und
je kruder ihre reale Erbschaft als Absprache über gefälschte Abgaswerte,
als antisemitische Propaganda gegen einen jüdischen Philanthropen oder
als staatlich betriebene Mordkampagne, umso mehr »Verschwörungen«
und ahistorische, relativistische Verschwörungstheoriebetrachtung, die aus
dem widersprüchlichen, geschichtlich kontingenten und »sinnfreien« ge-
sellschaftlichen Ganzen von Herrschaft, Ausbeutung und Gewalt »tieferen
Sinn« unkritisch herauszulesen versprechen.
Der Aufstieg und die Omnipräsenz der Kulturindustrie, deren Bilder
und Strukturen als »geborgte Erfahrung« (Herta Herzog) einen großen
Teil unserer Imagination rahmen, spielt hier eine gewichtige Rolle.6 Als
Produkt der bürgerlichen, zunehmend massendemokratischen Gesell-
schaft und ihrer individualistischen Ideologie basiert ihre Wirkung auch
auf der narrativen Transformation dieser Ideologie von handlungsfähi-
gen, autonomen, heroischen Individuen zu Protagonist*innen, mit denen
wir uns identifizieren können. Personifizierung von gesellschaftlichen
Strukturen ist eine Verlängerung dieser Konstellation. Nicht nur können
ansonsten kaum darstellbare, nichtpersonengebundene Verhältnisse er-
zählerisch handhabbar gemacht werden, es kann so auch, wie an den para-
digmatischen Produkten der populärsten Film- und Musikgenres bis zum
heute ubiquitären Superherofilm oder »Gangster«-Rap zu sehen ist, eine
ideologieimmanent legitimierte und schließlich im Happy End überwind-
bare Grenze des Handelns und der Handlungsfähigkeit unserer Held*in-
nen markiert werden.

6 In den von Robert Goldberg (2001) in seine Darstellung des Verschwörungsdenkens im


modernen (Nord-)Amerika eingearbeiteten Bezügen und Verbindungen zeigt sich auch,
wie früh »Verschwörung« und »Verschwörungstheorie« nicht nur Sujet, sondern Schema
der Kulturindustrie darstellten.

37
Florian Hessel

In der strikten Ordnung eines modernen Verschwörungskonstrukts zeigt


sich ein bestimmtes Verhältnis zu gesellschaftlicher Macht und Herrschaft
wie auch zu individueller Handlungsmacht und Ohnmacht. Entgegen
einem weitverbreiteten Missverständnis wird innerhalb von Verschwö-
rungsvorstellungen keineswegs irrational argumentiert. Die Konstruk-
tionen sind in sich, wie bereits Richard Hofstadter (1996 [1965], S. 36)
hervorgehoben hat, geradezu hyperrationalistisch und in bestimmter
Hinsicht »far more coherent than the real world«. Voneinander isolierte
Fakten werden addiert und oft – in Büchern und Blogs, aber auch in You-
Tube-Filmen – in einer Imitation akademischer und dokumentarischer
Konventionen der Darstellung, mit Anhängen und Literaturverzeichnis-
sen, Fußnotenapparaten und Linksammlungen, Expert*innen und Off-
Kommentaren, präsentiert. Jedem noch so ephemeren Detail wird eine be-
wusste Bedeutung zugesprochen – es gibt keinen Zufall, keine Kontingenz:
Alles, was zusammen auftritt, hängt auch zusammen und wird von einer
unsichtbaren und gelenkten Struktur, der »Verschwörung«, verbunden ge-
sehen. Es wird versucht, »to match [the infallibly rational and totally evil
enemy’s] imputed competence with its own, leaving nothing unexplained
and comprehending all of reality« (ebd., S. 36f.). Darin zeigt sich deut-
lich ein positivistisches Verhältnis zur gesellschaftlichen Struktur – das
herrschende Prinzip rein instrumenteller Vernunft wird nicht kritisch hin-
terfragt, sondern bis zur Unkenntlichkeit auf die Spitze getrieben. Gerade
der Anspruch auf Kontrolle und Berechnung total unterworfener Verhält-
nisse wird beim Wort genommen und der Mythos und die Ideologie, dies
sei bereits erreicht oder erreichbar, reproduziert. Es ist die Vorstellung der
modernen, rationalistischen, bürgerlich geprägten Gesellschaft von »sich
selbst« und deren Verdoppelung in einem Zerrspiegel. Ebenso wie dem
Zugriff instrumenteller Vernunft soll dem Denken in »Verschwörungen«
nichts entgehen und kein Rest, nichts Nicht-Identisches bleiben.
Insofern der Ordnungs- und Herrschaftsanspruch im Mittelpunkt steht,
ist »Kohärenz« nicht im Sinne von wissenschaftstheoretischer »Wider-
spruchsfreiheit« misszuverstehen. So belegen empirische Studien immer
wieder, dass es nicht nur möglich, sondern heute durchaus üblich ist, dass
Verschwörungsvorstellungen anhängende Personen mehrere, sich gegen-
seitig ausschließende Deutungen für ein und dasselbe Ereignis kommu-
nizieren, ohne dabei Effekte kognitiver Dissonanz offen kompensieren zu

38
Elemente des Verschwörungsdenkens

müssen (vgl. Wood et al., 2012). Es gilt hier, könnte man sagen, form over
matter. Und diese Tendenz kommt gegenwärtig in der Vollendung eines
weiteren Funktionswandels von Verschwörungsvorstellungen – vom Welt-
erklärungsmythos zu flexibilisierten Konglomeraten – voll zur Geltung,
der auch den letzten Rest des gesellschaftlichen Wahrheitskerns einer rela-
tivistischen Betrachtung erledigt. In der Entwicklung hin zur »Verschwö-
rung ohne die Theorie« (Muirhead & Rosenblum, 2018, o. S.) hält man
sich nicht einmal mehr mit Ansätzen detaillierter »Erklärung« und damit
einem Rest an Vermittlung mit gesellschaftlicher Struktur auf. Vielmehr
treten autoritäre Aggression und manichäische Feindbestimmung gänzlich
unbekleidet auf.
Der Mythos von der allmächtigen Verschwörung gegen die Gesellschaft
erscheint als Affirmation des Mythos von der Allmacht in der Gesellschaft.7
Keineswegs ein verstellter Impuls der Kritik gegenwärtiger Modi der Verge-
sellschaftung und Politik, ist er vielmehr – heute mehr denn je – Reflexion
der Behauptung der unbeschränkten Handlungsmacht der vergesellschaf-
teten Einzelnen einerseits und der Unhintergehbarkeit und Alternativlo-
sigkeit der gesellschaftlichen Struktur andererseits – Behauptungen von
Eindeutigkeit, die sich an der realen Ohnmacht der Einzelnen und der
inhärenten Krisenhaftigkeit der Gesellschaft brechen, an Erfahrungen von
Ambivalenz. Die Wirkung ist regressiv, da jedes Potenzial von Vertrauen in
den Anderen verneint, namentlich das Gefühl von Fremdbestimmung und
Ohnmacht rationalisiert und verstärkt wird.8
Als eine absolute Überzeugung trennt die Vorstellung die soziale Welt
entsprechend in zwei personalisierte Gruppen, die »Verschwörer« und die
»Opfer der Verschwörung«, denen dualistisch fast absolute Handlungs-
macht und fast absolute Ohnmacht zugeordnet werden. Der vollzogene

7 So schreiben die Soziologen Lev Gudkov und Boris Dubin (2005, S. 70) über die Konstel-
lation des Massenbewusstseins in Russland und dessen Technologen während des »Falls
Chodorkovskij«: »Es handelt sich nicht um Ignoranz eines Menschen, der nicht weiß, daß
er in einem Unrechtsstaat lebt, weil er einen anderen Staat nie gesehen hat. Wir haben
es mit etwas anderem zu tun: Die Menschen identifizieren sich mit dem Willen der Ob-
rigkeit, der als eine nicht zu ändernde Kraft akzeptiert wird, an die man sein Verhalten
anpassen muß, ohne sich aber damit zu solidarisieren. […] Da [… hinter dem Vorgehen
der Strafverfolgungsbehörden gegen Chodorkovskij] eine reale Kraft steht, werden alle
oder fast alle ihre Handlungen mit der Zeit innerlich gerechtfertigt.«
8 Ähnliche Effekte ließen sich schon an Besucher*innen des Thrillers JFK beobachten (But-
ler et al., 1995).

39
Florian Hessel

Akt der Mimikry, der Versuch sich selbst aktiv der (All-)Macht anzuver-
wandeln, tut dies innerhalb der Grenzen des konformistischen »Verständ-
nisses«. Ebenso begründete der anonyme rechtsextreme Nutzer des On-
line-Messageboards 4chan, der im Sommer 2019 erfolgreich zur Schaffung
eines »Netzwerk[s] von gefälschten jüdischen Profilen auf Twitter und
Facebook« zur Verbreitung antisemitischer Mythen aufforderte, seinen
Aufruf: »Er behauptete, Juden könnten sich jederzeit als Weiße ausgeben
und diese dann dämonisieren. Das wolle man nun umdrehen« (Gensing,
2019).
Dies veranschaulicht, dass nicht nur Realität in bestimmter Weise »er-
klärt« wird, wie bisher gesagt, sondern verdeutlicht, dass es sich um eine
Form der Praxis handelt, die in der An- und Einpassung von Realität an
und in die eigene Wahrnehmungstendenz besteht. Die Funktion der »Er-
klärung« erscheint genauer betrachtet als ebenso instrumenteller Akt wie
als Rationalisierung dieser Praxis, deren nach außen, auf ein Anderes abgela-
dener psychologischer Gehalt ein aus dem Eigenen entspringender Wunsch,
eine Angst, ein Bedürfnis ist. Der anonyme 4chan-Nutzer möchte sich die
»imputed competence« und Allmacht der »Bedrohung« aneignen und
schafft auf sich zentriert genau die Ordnung, aus der er seine Objekte aus-
wählt (ein »jüdisches« Netzwerk). Gleichzeitig weiß er, dass er dies tut
und was er damit bezwecken möchte. Im Zusammenhang dieses Falls wie in
Bezug auf den interessierenden Gegenstand gilt, was Lutz Winckler (1970,
S. 100) in seiner Untersuchung zur faschistischen Sprache und deren Wir-
kung festgehalten hat: Weil man »die Wirklichkeit nur im Bild der fiktiven
Gegenwelt erfahren kann, spricht [… man] die Sprache dieser Gegenwelt.«9
Umgekehrt formt die »Sprache der Gegenwelt« die Wirklichkeit
ebenso zum »Bild der fiktiven Gegenwelt« und selbst eine instrumentelle,
berechnende Verwendung als Mittel der Propaganda affiziert so noch ihre
zynischsten Verwender*innen. Indem man spricht und handelt, als sei die
behauptete »Verschwörung« Realität, bestätigt sich immer wieder die
Funktionalität dieser Vorstellung und man formt die Welt als Erfahrungs-
raum.10 Aber nicht nur wird eine bestimmte Deutung oder ein bestimm-
ter Deutungsrahmen innerhalb spezifischer Milieus als wirkungsmächtige,

9 Nach Ergebnissen von linguistischen Studien dürften auch die ersten Propagandisten
des »QAnon«-Kults dessen Erfinder und die Autoren der darüber in Fragmenten ver-
breiteten Fantasien sein (vgl. Kirkpatrick, 2022).
10 Vgl. dazu auch den Beitrag von Alexey Levinson i. d. Bd.

40
Elemente des Verschwörungsdenkens

handlungsleitende Tatsache behandelt bzw. selbst als Handlung verstanden,


auch dass in der Öffentlichkeit gegen diese Behauptungen argumentiert
wird und argumentiert werden muss, verleiht weitere Wirkungskraft und –
suggestiv – praktische Bestätigung.
Als eine Form spezifischer Praxis bestimmt auch Sigmund Freud – in
seinen wenigen, verstreuten Überlegungen und Untersuchungen zur Psy-
chologie und Psychopathologie des klinischen Verfolgungswahns – die Dy-
namik von Verschwörungs- und Verfolgungsvorstellungen innerhalb der
psychischen Ökonomie von Einzelnen. Er erkennt diese als einen Versuch
der Rekonstruktion einer »verrückten« Wirklichkeit: »Was wir für die
Krankheitsproduktion halten, die Wahnbildung«, so Freud (1911c [1910],
S. 308), »ist in Wirklichkeit der Heilungsversuch, die Rekonstruktion«.
Was sich im klinischen Kontext als »wahnhaft« beschreiben ließ, ist nicht
identisch mit den hier interessierenden sozialpsychologischen Momenten
der Erfahrungs- und Realitätsgestaltung, deren effektiver Geschlossen-
heit und relativer Unaufklärbarkeit. Ihre Dynamiken und funktionalen
Aspekte erscheinen allerdings analogisierbar. Für den Einzelnen werde die
»verrückte« Welt selbstzentriert aktiv wiederaufgebaut, »nicht prächtiger
zwar, aber wenigstens so, daß er wieder in ihr leben kann« (Herv. d. A.).
Und, so schreibt Freud (ebd.) weiter, »der Mensch hat eine Beziehung zu
den Personen und Dingen der Welt wiedergewonnen, oft eine sehr inten-
sive, wenn sie auch feindlich sein mag«.

Die*Der Einzelne kann durch die Annahme einer ominösen, aber in Per-
sonen identifizierbaren Struktur der Fremdbestimmung, Bedrohung und
totalen Manipulation die reale Ohnmacht und den ebenso empfundenen
wie inszenierten Kontrollverlust über ihre*seine Welt in sich stimmig »er-
klären« und rationalisieren, sich praktisch aneignen und einen Gewinn an
Handlungsmacht und Kontrolle fühlen. Der bestimmte, aber nicht (mehr)
notwendig ausformulierte Gehalt der »Rekonstruktion« der Welt als
»Gegenwelt«, die Ordnung der Verschwörungsvorstellung, wirkt nicht
nur im Sinne einer »einfachen« Reduktion von Komplexität sozialer Ver-
hältnisse und Strukturen. Diese Rekonstruktion beinhaltet auch, was eine
projektive Personalisierung genannt werden muss. Projektion fasst die Ver-
legung eigener unbewusster bzw. verdrängter Triebe, Wünsche und Ängste

41
Florian Hessel

in oder auf ein Anderes, ein äußeres Objekt oder eine andere Person. Indi-
viduelle, sozialisatorisch und kulturell tabuierte Strebungen, zum Beispiel
sexuell-moralischer und/oder sadistisch-aggressiver Natur, aber auf einer
anderen Ebene auch die alltägliche Erfahrung der Partizipation an und
Eingebundenheit in die gesellschaftliche Praxis von Herrschaft und Aus-
beutung, können so etwa in der Gestalt »der Bilderberger« oder »der ge-
schlossenen transatlantischen Elite« aus der Sphäre des Eigenen verdrängt
und in bestimmter Form externalisiert werden. Wie bereits angedeutet ist
dieser sozio-psychologische Mechanismus wesentlicher Teil der Grund-
lage, auf der die Erfahrung der Realität in ein bestimmtes Bild gestaltet
werden kann – ihre Wahrnehmung wird wie in einem Vexierspiegel ge-
brochen. »Die ›Projektion‹ verhindert eine unvoreingenommene Wahr-
nehmung« – als Abwehr gerade dessen, was »im Binnenraum unserer uns
angestammten Erfahrungswelt, im Umgang mit den uns bekannten Per-
sonen und im Messen an unserer eigenen Wertordnung entstanden« ist
(Mitscherlich, 2003 [1971], S. 142).
Die Wahl des »anderen« Objekts ist dabei nicht beliebig. Es wird, um
Freud zu paraphrasieren, nicht willkürlich ins Blaue hinaus projiziert, son-
dern dorthin, wo sich etwas Ähnliches finden lässt. Doch was bedeutet
Ähnliches? Freuds Fallstudien – wiederum gelesen als Modelle möglicher
psychologischer Bedeutungsdynamik – benennen die im Konstrukt kre-
ierte Aufmerksamkeit als dem eigenen Unbewussten entzogen und eine
daraus folgende Wiederkehr des Verdrängten von außen (Freud, 1922b
[1921], S. 199f.) bzw. eine »Aufhebung der Verdrängung« durch Projek-
tion, wobei »das innerlich Aufgehobene von außen wiederkehrt« (Freud,
1911c [1910], S. 308). Projiziert wird im Denken in »Verschwörungen«
zum einen die eigene Partizipation an und in den Strukturen gesellschaft-
licher Macht und Herrschaft, die jeden sozialen Austausch in der Form
prägen, und die wir durch und in unserem Handeln selbst reproduzieren;
zum anderen der Wunsch nach Macht und Handlungsmacht ohne alltäg-
lich erfahrene (kränkende) Beschränkung und entsprechende Ambivalenz.
Und projiziert wird dies in Richtung derjenigen Personen(-gruppen), die
vielleicht ein »Mehr« an gesellschaftlichem Einfluss, an Macht oder Re-
präsentation haben und/oder denen dies zumindest zugeschrieben wird:
Nichts wird zum Thema, »[w]as in einer Kultur nicht gedacht worden ist«
(Wulff, 1987, S. 14).
Dies formt ein weiteres Element psychologischer wie situationaler Dy-
namik. »As he begins attributing to others the attitudes which he has

42
Elemente des Verschwörungsdenkens

toward himself«, so heißt es in einer klassischen Studie zur Mikrosozio-


logie klinischer Paranoia, »he unintentionally organizes these others into
a functional community, a group unified in their supposed reactions, atti-
tudes, and plans with respect to him« (Cameron, 1943, S. 38). Zwar kann
von keinem vollständig bewussten Akt ausgegangen werden, aber eine –
wenn auch unbewusste respektive verdrängte – psychologische Motivation
und Intention ist, wie zuvor skizziert, vorhanden. Und als eine bestimmte
Praxis hat diese auch einen instrumentellen Charakter.
Denn wo in einer personalisierenden Verschwörungsvorstellung er-
fahrene Ohnmacht, Fremdbestimmung und vermeintlicher Sinnverlust
projektiv »erklärt« bzw. rationalisiert und angeeignet werden, wird funk-
tional die Schaffung eines klaren, politischen Feindbilds betrieben. An
diesem Punkt der Fokussierung auf gesellschaftliche Macht, Handlungs-
macht und Herrschaft liegt eine der Verbindungslinien des Denkens in
»Verschwörungen« und antimodernistischen modernen Ressentiments
wie Antiamerikanismus und Antisemitismus, zunehmend auch Antifemi-
nismus.11 Die Verbindung namentlich zwischen Antisemitismus und Ver-
schwörungsvorstellungen wird auf zwei Ebenen verständlich. Zum einen
stellt die Judenfeindschaft ein kulturell lang tradiertes Reservoir an Bildern
und Deutungsspuren zur Verfügung, zum anderen spielt Projektion bzw.
Projektivität in beiden Fällen eine zentrale Rolle.
Antisemitische Verschwörungsmythen und ihre Prototypen, Konstrukte
in denen »den Juden« eine zentrale Rolle als Agenten des Bösen oder des
Teufels zugewiesen wird, haben kulturhistorisch (insbesondere in Europa)
eine lange Geschichte und sind leider noch immer allzu vertraut. Und
gerade weil die damit verbundenen Phantasmagorien und Dämonologien
verfügbar, mittlerweile qua Kolonialismus, Weltmarkt und digitalisierter
Kulturindustrie global fast allgemein abrufbar und anwendbar sind, stel-
len diese ein bequemes Vokabular (nicht nur) für Verschwörungsideen
und -konstrukte bereit. Historisch haben einige Verschwörungsmythen
umgekehrt den Charakter von antisemitischen Codes angenommen, wie
etwa seit dem 19. Jahrhundert die Rede von der angeblichen Macht »der
Rothschilds«. Und aufgrund der »Entwertung« von Judenfeindschaft in
der Öffentlichkeit nach 1945 und deren nun noch stärker indirekter, kom-
munikationslatenter Äußerung, scheinen Verschwörungskonstrukte heute,
einen weiteren gesellschaftlichen Funktionswandel reflektierend, in vielen

11 Vgl. dazu auch den Beitrag von Rebekka Blum i. d. Bd.

43
Florian Hessel

Fällen auch eine Form entlastender, schuldabwehrender Ersatz- und Um-


wegkommunikation zu sein, in noch konkreterem Sinn ein Medium von
Antisemitismus (vgl. ähnlich Diner, 2019, S. 485).
Das Verschwörungsvorstellungen und Antisemitismus gemeinsame Ele-
ment der Projektion bedeutet funktional eine Umkehrung, die insbeson-
dere in der antisemitischen Praxis der Gewalt in Wort und Tat als Täter-
Opfer-Umkehr ganz und gar wörtlich zu verstehen ist: Jüdinnen und Juden
wurden und werden für ihre Verfolgung, den Hass, der auf sie gerichtet
wird, verantwortlich gemacht. Der nationalsozialistische Völkische Beob-
achter titelte etwa gelegentlich der (verhaltenen) internationalen Proteste
gegen den ersten Boykott »jüdischer« Geschäfte im Mai 1933: »Der jü-
dische Krieg beginnt« (zit. n. Auerbach, 1994, S. 122) – nicht »nur« das
Verhältnis von Täter und Opfer umkehrend, sondern auch von Ursache
und Wirkung, von antisemitischer Verfolgung und von dieser Verfolgung
forciertem, internationalem, vernetztem Widerstand und Protest. Diese
Rationalisierungen einer verfolgenden Gewaltpraxis, die ihre Realität als
Erfahrungsraum ganz praktisch schafft, identifizieren aufmerksame Be-
obachter einige Jahre später als sozio-psychologische Mechanismen pathi-
scher Projektion (vgl. Horkheimer & Adorno, 1987 [1947], S. 217–230).
Während in der Praxis des Antisemitismus die abstrakten Aspekte und
negativen Auswirkungen moderner kapitalistischer, politisch-ökonomi-
scher Vergesellschaftung und Herrschaft an und in »den Juden« festge-
macht und externalisiert werden bzw. überhaupt als »jüdisch« bestimmt
werden (vgl. Postone, 2005, S. 178–182), ist es im Denken in »Verschwö-
rungen« konkreter die eigene widersprüchliche Eingebundenheit in diese
gesellschaftlichen Prozesse, die projektiv personalisiert wird. Erfahrbare
Ohnmacht und Ambivalenz wird hier als konformistische Suche nach ver-
sprochener Macht und autoritäres Verlangen nach behaupteter Übermacht
und Eindeutigkeit inszeniert und angeeignet.
Verschwörungsideen stellen in vielen, letztlich den meisten Fällen ein
wichtiges Element des Antisemitismus dar, da in der Projektion das eigene
Verdrängte als Unheimliches, eben Verborgenes, »Fremdes«, Bedrohliches
von außen zurückkehrt bzw. die Umkehrung von Täter und Opfer als pro-
pagandistische, offene Lüge psychologisch rationalisiert werden muss. Sie
sind aber nicht mit diesem identisch. In diesem Zusammenhang kann eher
von einer inhaltlichen Affinität und von funktionalen Überschneidungen
gesprochen werden, die in den Strukturen einer gesellschaftlich notwendig
autoritätsbezogenen Sozialisation und Subjektformation sowie im kultu-

44
Elemente des Verschwörungsdenkens

rellen Klima eine begünstigende Grundlage finden. Gleichwohl ist es kein


Zufall, dass die meisten Vertreter*innen von Verschwörungskonstrukten
Antisemiten sind.

Schematismus, Stereotypie und relative Starrheit der Reaktionsbildungen;


Aggressivität, Selbstzentriertheit und Projektivität, das heißt die Neigung
für alles irgendwie negative Verantwortliche im Außen, im »Anderen«,
zu suchen, in Manipulation und Verschwörung – als eng miteinander ver-
bundene Bestandteile eines autoritätsgebundenen Syndroms sind diese
und andere Momente über die letzten 70 Jahre bis heute immer wieder
untersucht und belegt worden. Auf der sozialpsychologischen Ebene der
Konstitution der Subjekte müssen diesbezüglich gerade Erfahrungen von
Ohnmacht und Frustration als ein zentraler Bestandteil der Herausbildung
von bestimmten Mustern internalisierter Reaktionspotenziale identifiziert
werden: Personen, »who failed […] to strike a balance between renuncia-
tions and gratifications, and whose whole inner life is determined by the
denials imposed upon them from outside, not only during childhood but
also during their adult life«, bauten demgegenüber eine Innenwelt auf,
die konsequent gegen die Außenwelt gesetzt werde, stellt Adorno in The
Authoritarian Personality (1975 [1950], S. 483) fest. »They can exist only
by self-aggrandizement«, führt er weiter aus, »coupled with violent rejec-
tion of the external world« und »by building up a pseudoreality against
which their aggressiveness can be directed without any overt violation of
the ›reality principle‹« (ebd.). »[O]hne offene Verletzung des ›Realitäts-
prinzips‹« meint hier auch, ohne klinische Symptome zu manifestieren
bzw. sich durch kulturell unvermittelbare Inhalte von der sozialen Umwelt
abzukoppeln. Diese im konkreten Sinn konformistische Dynamik verweist
nochmals auf den gesellschaftlich-politischen Resonanzboden als entschei-
denden Aspekt.
Diese von Adorno analysierten psychologischen und inhaltlichen
Muster sind – im Gegensatz zu anderen, nun weitgehend historischen –
in empirischen Untersuchungen in Deutschland am Beginn des 21. Jahr-
hunderts als zentrale Bestandteile eines autoritären Syndroms nachweisbar.
Die Verbreitung entsprechender (sozial-)psychologischer Strukturen wird
nicht zuletzt durch die in erschreckend großen Teilen der Bevölkerung vor-

45
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Hin und her wanderte die Schwester und rasselte dann
umständlich mit dem Schlüsselbund. Das harte, knarrende Geräusch
der Schlüssel störte mißtönig die Stille und machte die Oberin
aufschauen aus ihrer Andacht. Langsam erhob sie sich, schritt vor
die Stufen des Hochaltars und kniete dort nochmals zu kurzem
Gebet nieder.
Die Glocke der Turmuhr schlug die neunte Stunde. So schnell sie
konnte, durcheilte die Schwester Salesia den Kirchenraum und
wartete in der Nähe des Altars am Eingang zur Sakristei auf die
Oberin.
In der Sakristei trafen die beiden Frauen zusammen. Mit kurzem
Gruß, wie sie das stets zu tun pflegte, wollte die Oberin an der
Schwester vorbeigehen. Aber Schwester Salesia griff nach ihrer
Hand und bat mit leiser Stimme: „Auf an Augenblick, Schwester
Oberin. Ich hab’ mit Ihnen z’reden!“
Sie waren aus der Sakristei in den gedeckten Klostergang
getreten, der das alte Frauenkloster zu Mariathal mit der Kirche
verbindet. Die Schwester Salesia verschloß nun auch die von der
Sakristei nach dem Gang führende Tür, nachdem sie früher die
Pforte von der Kirche zur Sakristei sorgfältig versperrt hatte.
Langsam schritten die beiden Frauen durch den dunklen Gang.
Die alte Schwester hatte eine kleine Laterne angezündet, deren
matter Schein nur spärlich in das tiefe Dunkel des engen, langen
Ganges leuchtete. Die Holzdielen krachten unheimlich unter den
sonst fast lautlosen Tritten der Frauen.
„Schwester Oberin ...“ begann die alte Schwester mit flüsternder
Stimme ... „tuan’s mir’s nit verübeln, daß i no mit Ihnen reden
möcht’.“
Die strengen Regeln des Klosters forderten es, daß nach der
Abendandacht nichts mehr gesprochen wurde. Nur im Falle
dringender Notwendigkeit war das Sprechen im leisen Flüstertone
erlaubt.
Die Oberin hielt unnachsichtig an dieser Regel fest. Mit einem
verwunderten, etwas unwilligen Blick sah sie auf die Schwester.
„Ich muß heut’ no mit Ihnen reden!“ fuhr die Schwester Salesia
fort. „Es laßt mir koa Ruah nit. Ich hab’s schon immer tun wollen,
aber ich hab’ mir no nie recht getraut.“
Nun schaute die Oberin ehrlich erstaunt auf die Schwester.
„Es ist wegen der Sophie ...“ sagte die Schwester Salesia mit
Nachdruck. „Das Mädel ist ganz verändert. Es ist nit recht, wie Sie
sie einzwängen tun!“
„Ich die Sophie einzwängen?“ frug die Oberin verwundert.
„Ja ... einzwängen tun Sie’s!“ behauptete die alte Schwester in
unwilligem Tone. „Sie meinen’s nit so. Ich weiß es. Aber Sie
verstehen die Kinder nit! Haben’s nit g’sehen heut’, wie sie g’weint
hat? So ein Kind, das an Freiheit g’wöhnt ist, das darf man nit mit
Gewalt zurückhalten. Das ist wie ein junges freies Waldtierl, wie ein
Vogerl, das no nit im Käfig war. Sie müssen ihr z’erst beibringen, daß
ihr der Käfig g ’ f a l l t . Sonst ist’s g’fehlt!“
Ohne sie mit einer Silbe zu unterbrechen, hörte die Oberin die
Schwester an. Dann sagte sie mit beinahe schüchterner Stimme:
„Glauben Sie, daß die Sophie tatsächlich so unglücklich ist, wie sie
sich heute gebärdet hat? Die Kinder haben Launen, ich kenne das.
Man darf da nicht nachgeben!“ meinte sie überlegend.
Schwester Salesia stellte die kleine Laterne, die sie noch immer
in der Hand trug, auf den Fußboden, richtete sich leise ächzend, wie
es ihre Art war, wieder empor und stemmte eine Hand in die
unförmliche, dicke Hüfte. Dann sagte sie mit etwas lauterer Stimme
als bisher: „Schauen’s die Sophie an, Schwester Oberin ... wie die
eingangen ist. Für der ihre Art ist Strenge nix. Da richten Sie nix aus
damit. Das können’s mir glauben!“
Die Oberin sah nachdenklich vor sich hin.
„Sie ist ein verstocktes Kind!“ meinte sie dann sinnend. „Man wird
nit klug aus ihr. Ich glaub’, sie ist verschlagen und sittenlos!“
„Naa! Schwester Oberin, das ist sie nit!“ sagte die Schwester
Salesia in so lautem, überzeugtem Ton, daß die Oberin ängstlich
abwehrte ...: „Pst! Silentium!“
„Ja! Weil’s wahr ist!“ knurrte Schwester Salesia mit leiser Stimme.
„Sie kennen das Mädel nit und kennen die Welt nit. Aber i c h kenn’
sie, und Sie dürfen mir’s glauben, das Karrnerkind, das das Leben
von der schlechtesten Seite g’sehen hat, ist trotzdem so rein und
unschuldig geblieben wie Ihnere wohlbehüteten und verhätschelten
Poppelen da herinnen, die glei’ versagen, wenn sie ihre Nasen in die
Welt außi stecken. Weil das keine rechte Art ist, wie Sie die Mädeln
erziehen. Weil Sie ihnen alles verheimlichen tun und ihnen nur vom
Satan und vom ...“
„Schwester Salesia!“ unterbrach sie die Oberin strenge. „Es ziemt
Ihnen nicht, mich zu unterweisen!“ Mit einem kalten, strafenden Blick
sah sie auf die Schwester, die ganz klein und noch kugeliger zu
werden schien.
Die alte Schwester schaute unsicher zu der hohen, schlanken
Frauengestalt empor. „Sie haben recht!“ stimmte sie dann bei. „Es
nutzt doch nix. Sie und ich, Schwester Oberin, wir zwei werden uns
doch nit verstehen.“
„Ist auch gar nicht notwendig, Schwester!“ gab die Oberin mit
kaltem Tone zur Antwort. Und kurz grüßend ging sie mit fast
lautlosen Schritten durch den dunkeln Klostergang. — — —
Ein Gutes hatte diese nächtliche Unterredung trotzdem gebracht.
Die Oberin überließ von jetzt ab die Sophie Zöttl wieder dem ganz
besonderen Schutz der Schwester Salesia. Das Kind durfte wie
vordem der Schwester bei der Arbeit helfen. Sie durfte viel im Garten
sein und dort die Blumen und schmalen Gemüsebeete pflegen.
Und doch war Sophie eine andere geworden. Sie freute sich über
die neugewonnene Freiheit, aber sie sehnte sich mit der ganzen
Kraft ihres jungen Herzens hinaus aus dem Kloster. Hinaus in die
ungebundene, unbeschränkte, vollkommene Freiheit.
Schwester Salesia sah diese Veränderung, die mit dem Kinde
vorging, mit geheimer Angst. Und sie war doppelt lieb und gut zu
dem Kinde.
„Schwester, warum darf i nit aus dem Garten gehen?“ fragte
Sophie einmal, als sie beide zwischen den Beeten knieten und
Unkraut jäteten. „Da drüben hinter der Friedhofmauer, da ist der
Buchenwald so dicht. Ganz dunkel ist’s, weil die Blätter alle so goldig
sind. Und so still ist’s da. Stiller wie in der Kirch’n drinnen. I möcht’
spielen in dem Wald!“
Mit sehnsüchtigen Augen schaute das kleine Mädel hinüber, wo
der herrliche Buchenwald sich aufbaute, der hinter der Kirche von
Mariathal sich noch viele Stunden den Berg hinan und taleinwärts
erstreckt.
Das Mädchen erhob sich, dehnte und reckte ihre Glieder wie eine
geschmeidige junge Katze und breitete die dünnen braunen Arme
aus. Dann stellte sie sich auf die Fußspitzen und hob neugierig den
schlanken Hals, als wollte sie so viel wie möglich von den
verborgenen Schönheiten da draußen entdecken.
„Was möchtest denn spielen im Wald da?“ frug die Schwester sie
über eine Weile.
„I?“ Das Mädel dachte nach. „I ... auf die Bäum’ tät’ i kraxeln und
schauen, daß i ein Eichkatzel erwischen tät’. Oder i tät’ einmal
probieren, ob i noch was kann von meiner Kunst, und tät’ a
Vorstellung geben!“
„A Vorstellung den Eichkatzeln und den Vogerln im Wald, ha?“
frug die Schwester mit gutmütigem Spott. „Die werden aber viel
verstehen vom Seiltanzen!“
„Ja, den Vogerln und den Eichkatzeln!“ sagte die Sophie trotzig.
„Ihr da im Kloster wollt’s ja doch nix wissen von meiner Kunst!“
machte sie dann verächtlich. „Und ihr versteht auch nix davon!“
„Aber doch mehr als wie die Vogerln, ha?“ frug die Schwester.
Sophie hob die Schultern und machte ein ganz verstocktes,
eigensinniges Gesichtel. Das tat sie jetzt häufig, wenn sie keine
Antwort geben wollte.
Aber die Schwester sah es doch, daß sich das Kind unglücklich
fühlte. Schwerfällig erhob sie sich von dem Gartenbeet, wo sie
gerade Unkraut gejätet hatte, und ging zu dem Mädel hin.
„Hast recht Sehnsucht, Sophie? Möchtest fort von da?“ frug sie
leise und mit zarter Stimme und fuhr mit leichter, liebkosender Hand
über die dunkeln Haare des Kindes.
Sophie fühlte es, daß die alte Schwester die einzige sein würde
im Kloster, die um sie trauern würde, wenn sie fortging. Aus ganzem
Herzen sehnte sie sich fort aus der Enge des Klosters. Mit jedem
Tag noch mehr. Aber sie fühlte es instinktiv, daß dieses Geständnis
der Schwester Salesia wehe tun müßte. Und kränken wollte sie ihre
alte Freundin nicht.
Sophie legte ihre beiden Arme um den Hals der Schwester
Salesia und küßte sie stürmisch. Dann drehte sie sich mit ihr wie ein
Wirbel im Kreise herum.
„Aber Schwester, Schwesterle, was glauben’s denn! Ich will nit
fort. Von Ihnen schon gar nit! Nur da drüben ...“
„Ja ... ja ... so laß mi doch aus! Du Ungut du! Du sollst ja spielen
da drüben! So gib doch a Ruh!“ keuchte die Schwester ganz außer
Atem und krebsrot im Gesicht „I will schon reden mit der Oberin, ob
sie’s erlaubt.“ —
Die Oberin gab ihre Einwilligung, und Sophie machte von der
willkommenen Freiheit den ausgiebigsten Gebrauch. Stundenlang
trieb sie sich in den Wäldern herum und kam bald nur mehr ins
Kloster, wenn sie der Hunger dazu nötigte.
Je länger die Tage wurden und je kürzer und schwüler die
Nächte, desto mehr trieb es das Kind hinaus in den Wald. Sie
vergaß Zeit und Ordnung und überwand oftmals den nagenden
Hunger oder nährte sich von den Beeren des Waldes.
Einmal, da hatte sich die Sophie weit hinaus ins Inntal gewagt.
Sie war durch den Buchenwald gewandert mit flüchtigen Schritten,
an dem Berg hinan und hinüber zu den drei Seen, die auf hügeligem
Vorland eingebettet lagen, umgeben von Wäldern und anstrebenden
Felswänden.
Wie ein verzaubertes Land, so herrlich schön kam dem Kinde
diese Gegend vor. Es war ihr, als ginge sie gleich einem jener
Märchenkinder, von denen die Schwester Salesia so schön zu
erzählen wußte, in einem Paradiesgarten spazieren.
Still und ruhig lag das tiefe, grüne Wasser des klaren Bergsees.
Es war ein herrlicher, klarer Hochsommertag. Schwül und heiß
brütete die Sonne. Weit breitete sich das Inntal vor den Augen des
Kindes, das wie im Traume wandelnd immer höher und höher stieg,
bis die Nacht sich senkte.
Da suchte sich das Karrnerkind furchtlos und ohne Zagen sein
Lager im weichen Moos unter einer Kiefer und schlief süß und
traumlos, bis die ersten goldenen Morgenstrahlen sie weckten. Sie
fühlte sich so frank und frei, so glückselig hier in Gottes weiter Welt.
Und es kam ihr vor, als hätte sie noch nie im Leben einen so
erquickenden Schlaf gehabt.
Vergessen war das Kloster in Mariathal mit seinen Regeln und
Vorschriften und vergessen die Oberin mit dem ernsten, strengen
Gesicht. Auch an die alte Schwester Salesia dachte Sophie jetzt
kaum. Sie fühlte nur den einen großen Trieb in sich ... frei zu sein
und zu wandern, so lange sie wollte und wohin sie wollte.
Erst nach einigen Tagen kehrte Sophie ins Kloster zurück. Sie tat
es ungern, und es war lediglich eine Art Pflichtgefühl gegen die
Schwester Salesia, das sie nochmals die Mauern des Klosters
betreten hieß.
Innerlich beneidete sie jetzt die freien Kinder der Karrner. Wie
schön hatten es die doch. Ihr altes Karrnerheim, die Mutter, die wilde
Horde der Geschwister und Schips, der Hund, ja sogar der Gaudenz
Keil, alle diese vertrauten Gestalten, die ihrem Gedächtnis allmählich
entschwunden waren, tauchten nun wieder in ihrer Erinnerung frisch
und lebensvoll auf. Sie beneidete ihre Geschwister ihrer Freiheit
wegen.
Hätte es der Zufall gefügt, daß ihr in dieser Stimmung der
Gaudenz Keil gerade begegnet wäre, die Sophie hätte sich ihm mit
tausend Freuden wieder angeschlossen. In dem großen Drange
nach Ungebundenheit vergaß sie alle Leiden ihrer Kindheit, oder sie
erschienen ihr unbedeutend und nichtig.
Es brauchte viel gutes Zureden von seiten der Schwester
Salesia, daß sich die Oberin noch einmal entschloß, die kleine
Ausreißerin in Gnaden aufzunehmen. Aber von jener Stunde an
übernahm sie wieder selbst mit fester Hand die Erziehung des
Kindes. Sie fand, daß Güte und Nachsicht nicht geeignet seien, den
wilden Sinn des Karrnermädels zu zähmen.
Und nun bekam Sophie die ganze Strenge und den eisernen
Willen dieser Frau zu fühlen. Sie lernte es, sich zu fügen und sich zu
beugen. Sie lernte, einem einzigen Blick aus den Augen dieser Frau
zu gehorchen. Und sie lernte es, sich dankbar zu erweisen für ein
Leben, das sie innerlich von Tag zu Tag mehr und mehr
verabscheute. — — —
Abermals zog der Winter ins Land. Und die gleichförmigen
Wintertage im Kloster wollten für Sophie kein Ende nehmen. Ein Tag
schlich dahin wie der andere. Ereignislos, ohne Freude und ohne
Glück. Und manchmal hatte Sophie das Gefühl, als müsse sie wie
ein junges Raubtier an den eisernen Stäben ihres Käfigs rütteln.
Sophie Zöttl war ein hoch aufgeschossenes Mädel geworden, mit
linkischen Bewegungen und eckigen Schultern. Ihr braunes
Gesichtel hatte einen verschlossenen Ausdruck. Und die Augen
bekamen jetzt immer mehr den heimtückischen, lauernden Blick der
kleinen Karrnerin von ehedem. Sophie Zöttl haßte nun alles im
Kloster. Sie haßte die Unterrichtsstunden und die Tageseinteilung.
Sie haßte die Gegenstände und die Räume des Klosters. Und sie
haßte die Menschen da drinnen und sogar die Schwester Salesia.
Diese und die Ennemoserin machte sie dafür verantwortlich, daß sie
noch immer im Kloster bleiben mußte. Und sie wollte nicht mehr
bleiben. Um keinen Preis.
Alles Bitten half nichts. Die Ennemoserin und die Schwester
Salesia waren sich darüber einig, daß der Charakter des jungen
Mädchens erst im Kloster gefestigt werden mußte, bevor man sie
den Gefahren der großen Welt aussetzen konnte.
Als Sophie sah, daß alles Bitten und Flehen vergebens war,
wurde sie immer heimtückischer und verschlagener. Sie sann auf
Mittel und Wege, alle im Kloster zu ärgern, wo sie nur konnte. Sie
log und naschte und war widerspenstig bei jedem Gebot, wenn es
nicht unmittelbar von der Oberin kam. Denn vor dieser hatte sie noch
immer eine Art Respekt. Eine Scheu, ähnlich derjenigen, die sie
früher vor der rohen Kraft des Gaudenz Keil besaß.
So wurde Sophie immer mehr zum Sorgenkind des Klosters. Es
war, als ob alle edlen Instinkte, welche die alte Schwester durch ihre
Herzensgüte wachgerufen hatte, mit einem Male vernichtet worden
wären.
Je eigensinniger die Sophie wurde, desto härter und strenger
wurde die Oberin. Sie wollte und konnte es nicht glauben, daß ihre
Erziehung nur schlechte Früchte trug. Sie griff zu harten Strafen und
erreichte damit, daß der Haß in dem Herzen des Kindes immer
mächtiger aufloderte.
Mit der Zeit artete das Verhältnis zwischen der Oberin und dem
Karrnermädel zu einem deutlichen stummen Kampfe aus. Sophie
war bestrebt, alle Schlechtigkeiten zu begehen, die sie nur ersinnen
konnte. Und das nur zu dem einen Zweck, die Oberin zu ärgern. Sie
zerstörte sogar die Treibhausblumen für die Kirche und dachte gar
nicht daran, daß sie dadurch die Schwester Salesia am meisten
kränkte. Denn die Blumen waren ja die Pflegekinder und
auserkornen Lieblinge der alten Schwester.
Im Frühjahr war’s, da fing die Sophie heimlich draußen im Garten
eine Blindschleiche, tötete sie und legte das kalte Reptil der jungen
Klosterschwester, welche die Aufsicht im Schlafsaal hatte, ins Bett.
Es war dieselbe Schwester, die das Karrnermädel damals an ihrem
ersten Abend im Kloster beten gelehrt hatte. Und Sophie hatte ihr
auch stets eine Zuneigung bewahrt. Sie überlegte nicht, daß ihr toller
Streich der Schwester Schaden bringen konnte, sondern malte sich
in ihrer boshaften Rachsucht nur den Eindruck aus, den die Sache
auf die Oberin machen würde.
Der Eindruck war übel genug, denn die junge Schwester trug
einen solchen Schrecken davon, daß sie einige Tage hindurch krank
in heftigem Fieber lag. Öffentlich wurde Sophie von der Oberin als
die Schuldige gebrandmarkt. Mit kleinen, boshaft schielenden
Augen, aus denen nur Haß und Abneigung sprachen, schaute das
Mädel auf die hochgewachsene, schlanke Frau.
„Und du wirst doch niedergezwungen werden, Sophie Zöttl!“
sprach die Oberin mit fester Stimme. „Und wirst gehorchen und dich
beugen, wie wir es alle tun!“ Es lag ein unerschütterlicher Wille in
diesen Worten. Sie fühlte es selber, daß es ein langer und schwerer
Kampf zwischen ihr und dem Mädel werden würde.
Die Oberin sollte diesen Kampf dann schließlich doch verlieren.
Aus freien Stücken gab sie ihn auf. Das geschah, als Sophie durch
ihre Streiche das Maß ihrer Sünden voll gemacht hatte.
In einem Anfall von beinahe teuflischer Bosheit schlich Sophie
Zöttl in den Schlafsaal, wo das große Madonnenbild hing. Dort
rückte sie sich einen Stuhl zurecht, holte einen Bleistift und
zeichnete in das zarte, verklärte Antlitz der Gottesmutter einen
großmächtigen Schnurrbart.
Als abends die Kinder den Saal betraten, sahen sie das entstellte
Bild. Keines der Mädchen verzog eine Miene. Stumm und starr vor
Entsetzen umstanden sie das entweihte Heiligtum.
Die junge Klosterschwester nahm Sophie wortlos bei der Hand
und führte sie zur Oberin. Ohne zu fragen, wußten es alle im Saal,
daß nur Sophie die Täterin gewesen sein konnte.
In dieser Nacht mußte Sophie ganz allein in einer Zelle schlafen.
Sie schlief schlecht, und trotzdem träumte sie einen kurzen, schönen
Traum von Freiheit und Glück.
Tags darauf ließ die Oberin die Ennemoserin zu sich rufen, und
wortlos, ohne Abschied übergab sie das Karrnermädel der Frau.
Mit gesenktem Kopf und doch innerlich jubelnd folgte Sophie
Zöttl der Ennemoserin in ihr kleines Heim nach Rattenberg.
Viertes Kapitel.

D er Ennemoserin war es anfangs schwer gefallen, ihr einsames


Häusel mit dem fremden Mädel zu teilen. Der lange Schmied,
welcher der Vormund der Sophie war, hatte der Frau geraten, das
Mädel zu einem Bauern als Magd zu verdingen.
„Wirst di lang plagen, Ennemoserin!“ sagte er. „Tua sie zu an
Bauern, und guat ist’s. Hat sie ihr Essen und ihr G’wand, und du
hast dei’ Ruah! Hättest dir’s nit sollen aufladen die Plag’.“
Davon aber wollte die Ennemoserin nichts wissen. Hatte sie A
gesagt, so wollte sie B auch sagen. Dieses wilde Karrnermädel jetzt
allein auf eigene Füße zu stellen, das wäre ihr als ein Verbrechen an
dem Kinde erschienen ...
Es war schon geraume Zeit her, seit das Häusel draußen am
Stadteingang junges, frohes Leben gesehen hatte. Fast zu lebhaft
war es damals zugegangen in dem baufälligen Bauernhäuschen,
das teilweise in den steil emporragenden Felsen des Rattenberger
Schloßberges eingebaut war.
Wie ein kleines Räubernest im bäuerlichen Stil, so lebte das
einstöckige, schmale Haus an dem schroff vorspringenden Felsen.
Das windschiefe Schindeldach war mit großen Steinen beschwert,
an denen schon vielfach das Moos wucherte.
Kleine, blitzblank geputzte Fensterscheiben grüßten aus dem
alten Gemäuer. Vor den Fenstern prunkte als auffallender Schmuck
ein herrlicher Blumenflor von dunkelroten Geranien und
herabhängenden vollen, bauchigen Nelken in allen Farben. Es war
eine wirkliche Lust, diesen Blumenflor zu sehen, und die
Ennemoserin war auf ihn fast ebenso stolz wie auf ihre Kinder.
Drei Kinder hatte die Ennemoserin gehabt, und alle drei hatte sie
verlieren müssen. Zwei Buben von zwölf und vierzehn Jahren und
ein kleines, zartes, blondes Diandl.
Große, starke Jungen waren die Buben, die im kühnen Übermut
ihre jungen Kräfte messen wollten mit dem breiten Bergfluß. Der war
aber ein heimtückischer Geselle und liebte es nicht, daß man seine
Wellen zu Spielgenossen machte.
Oft waren die Buben schon mit einem Kahn den Inn entlang
gerudert, allen Mahnungen und Bitten der Mutter zum Trotz, die sie
vor der Gefahr eindringlich warnte. Sie hörten nicht auf sie, bis dann
das Unglück kam.
Eine mondhelle, schöne Sommernacht war’s, da trieb ein leerer
Kahn vom Oberland kommend innabwärts. Die Leichen der beiden
Knaben wurden erst viele Wochen später draußen im Bayrischen
angeschwemmt.
Seit jener Zeit war die Ennemoserin trübsinnig geworden. Die
Leute sagten, sie sei halb verrückt, weil sie sich zurückzog vor ihnen
und ihr Leid einsam trug.
Die Ennemoserin hatte wenig Glück gekannt im Leben. Ihr Mann
war früh gestorben, und sie konnte nicht einmal recht trauern um ihn.
Die wenigen Jahre, die sie zusammen lebten, waren für das Weib
ein Martyrium gewesen.
Jetzt blieb ihr nur noch ein Glück und eine Hoffnung auf dieser
Welt, ihr jüngstes Kind, das Roserl. Ein blondhaariges Diandl mit
braunen Glutaugen und einem sonnigen, strahlenden Gesichtel, das
nur zum Glück geschaffen schien.
Das Roserl wuchs heran, von der Mutter gehegt und gepflegt wie
ein duftender Nelkenstock aus dem Blumenflor der Ennemoserin.
Die Leute in Rattenberg und in der nächsten Umgebung hatten
ihre Freude an dem hübschen Roserl von der Ennemoserin. Und die
Burschen schauten sich ganz besonders gerne nach ihr um, wenn
sie mit leichten, zierlichen Schritten durch die Hauptstraße und durch
die Gäßchen der Stadt ging.
Die Ennemoserin war keine wohlhabende Frau. Als das Roserl
heranwuchs, mußte sie daran denken, ihr Mädel irgendwie gut zu
versorgen. Und weil sie sich nicht gerne auf längere Zeit von ihrem
Mädel trennen mochte, so gab sie das Roserl nach Kufstein hinunter
zu einer Schneiderin. Dort sollte sie das Handwerk lernen und dann
wieder zur Mutter ziehen.
Dem Roserl gefiel es gut in Kufstein. Nur zu gut. Die Leute in
Rattenberg fingen bald an, über sie zu schwatzen. Als der Klatsch zu
den Ohren der Mutter drang, war’s für das Mädel zu spät.
Die Ennemoserin machte sich auf den Weg nach Kufstein, um ihr
Kind wieder heimzuholen. Sie kam aber ohne das Mädel zurück, und
niemand erfuhr, was zwischen Mutter und Tochter vorgefallen war.
Die Ennemoserin trug ihren Kopf gerade und aufrecht und verbiß
ihren Kummer. Sprach selten ein Wort mit den Leuten. Und die
gaben’s bald ganz auf, sie über das Roserl auszuforschen.
Aber Kufstein und Rattenberg sind nicht allzu weit voneinander
entfernt, und üble Kunde findet ihren Weg gar schnell. Man erzählte
sich in Rattenberg, daß das Roserl immer tiefer und tiefer sank, und
man prophezeite, daß sie einmal übel enden werde.
Das dauerte so eine Weile. Dann verschwand das Roserl aus der
kleinen Grenzstadt, und es vergingen Jahre, ehe man wieder von ihr
hörte. Eines Tages erzählte jemand, der in Wien gelebt hatte, daß er
das Roserl von der Ennemoserin dort getroffen habe. Und was er
von ihr zu erzählen wußte, war schlimmer, als wenn er von ihrem
Tod berichtet hätte.
Die Ennemoserin war eine fromme Frau geworden. Bei allen
Gottesdiensten, die in der Pfarrkirche abgehalten wurden, war sie
anwesend. Sie betete länger als die andern Frauen der Stadt und
hielt sich am liebsten in den Kirchen auf.
Es gab niemand in Rattenberg, der sie für eine Betschwester
gehalten hätte; und freche Neugierde wich gar bald der Achtung vor
dem einsamen Schmerz dieser Frau.
Die Ennemoserin tat Gutes, wo sie konnte. Nach ihren Kräften
und nur um Gotteslohn. In ihrem Herzen war ein starkes
Gottvertrauen, der feste Glaube, daß Gott ihr Tun und Handeln als
ein Opfer und eine Sühne annehmen werde für das sündhafte Leben
ihres Kindes. Und nur um Gott eine Seele zuzuführen, hatte sie sich
des Karrnermädels angenommen und vertrat jetzt die Stelle einer
Mutter an ihr.
Neues junges Leben zog wieder ein in dem
blumengeschmückten Berghäusel vor dem Stadteingang. Und die
Blumen vor den Fenstern blühten noch schöner und üppiger, da
Sophie sie so gut zu pflegen verstand.
Die Sophie fühlte sich bald heimisch bei der Ennemoserin. Ihr
widerspenstiges, trotziges Wesen hatte sie abgelegt und war nur
mehr sonnige Heiterkeit und frohe Lebenslust. Was sie erreichen
wollte, das hatte sie jetzt erreicht. In Freiheit zu leben und ohne
Zwang und Fesseln. Und wenn auch die Ennemoserin schweigsam
war und am liebsten ihre eigenen Wege ging, so machte das dem
Mädel gar nichts aus.
Sie war froh über ihr neues Dasein, und ein Gefühl echter,
warmer Dankbarkeit gegen die Frau beseelte sie. Sie wollte ihr
Freude machen und brachte es bald in der Schule so weit, daß sie
zu den besten Schülerinnen zählte. Daheim half sie der
Ennemoserin mit flinken, geschickten Händen bei der Hausarbeit, so
daß ihre Pflegemutter bald ganz entlastet war. Sie hatte keine Klage
über das Mädel und gewann sie von Tag zu Tag lieber.
So lebten sich diese beiden ungleichen Menschen rasch
zusammen ein. Aber sie wurden nie so recht vertraut miteinander.
Das herzliche Verhältnis, das die Schwester Salesia und das
Karrnerkind verbunden hatte, fehlte bei ihnen.
Manchmal trieb es das Mädel doch hinüber zu der alten
Schwester nach Mariathal. Dann erzählte sie der Schwester wie in
früheren Zeiten von ihrem ganzen Tun und Treiben. Und ganz so wie
ehedem fand die Schwester wieder die richtigen Worte und das
wahre Verständnis für das Mädel.
Mit vielen guten Ermahnungen von seiten der Schwester Salesia
kam die Sophie jedesmal nach Hause. Das kleine Heim war ihr dann
doppelt lieb und wert. Wie in einem Paradies von Freiheit und Glück
kam sie sich drinnen vor. Die Schwester Salesia meinte einmal
lachend zu ihr, daß sie wohl hauptsächlich nur deshalb so gerne
nach Mariathal komme, um sich immer wieder einen neuen Grausen
vor dem Kloster zu holen ...
So verstrichen die Jahre, und die Sophie war ein kräftiges junges
Mädchen geworden.
Mit geheimer Angst beobachtete die Ennemoserin das
Heranblühen der Sophie. Sie hatte Furcht, das Mädel aus ihrer
Obhut zu entlassen. Bis jetzt hatte Sophie noch nie den Wunsch
geäußert, fortzukommen. Aber die Ennemoserin mußte daran
denken, das Mädel auf eigene Füße zu stellen.
Siebzehn Jahre war die Sophie nun alt geworden. Ein großes,
üppiges Mädel mit einem ausgeprägten, breiten Rassegesicht.
Tiefbraun die Haut und schwarz das leicht gewellte Haar, das sie in
zwei Zöpfen um den Kopf geschlungen trug. Zwei dicht bewachsene
Brauen wölbten sich in großen, scharf gezeichneten Bogen über den
Augen, und das braune Haar fiel widerspenstig in die niedere, breite
Stirn. Ihre Lippen waren voll und üppig und von tiefstem Rot. Und ein
tiefes Rot blühte auf den herben Wangen des Mädels. Sie machte
überhaupt einen herben, fast verschlossenen Eindruck, dem nur der
Schalk widersprach, der ständig in ihren nicht sehr großen, dunkeln
Augen lauerte.
Wenn sie ging, so wiegte sich der junge Körper in unbewußter
Koketterie leicht in den Hüften. Und der starke, etwas zu derbe
Nacken des Mädchens hatte in dem kleinen Ausschnitt des
schwarzen Miederleibchens etwas Lockendes und Verführerisches.
Bildsauber war die Sophie geworden. Mit Unruhe bemerkte es
die Ennemoserin bei den gemeinsamen sonntäglichen Kirchgängen,
daß die Burschen von Rattenberg sich öfter, als ihr lieb war, nach
dem Mädel umsahen. Auch die Sophie war sich allmählich der
stummen Huldigungen der Burschen bewußt geworden und wurde
immer eitler und herausfordernder in ihrem Wesen.
Das alles verursachte der Ennemoserin nur noch mehr Angst vor
der Zukunft. Von Monat zu Monat verschob sie es, das Mädel aus
dem Haus zu geben, um sie etwas lernen zu lassen. Sie vermied es
sogar, mit ihr über diesen Punkt zu sprechen, und Sophie fühlte sich
so vollkommen zufrieden und behaglich, daß sie keinen andern
Wunsch hegte als den, immer bei ihrer Pflegemutter bleiben zu
können.
Bis eine Begegnung, die sie mit ihrer eigenen Mutter hatte, sie
aus ihrer Ruhe aufscheuchte.
Wieder war der Herbst ins Land gezogen, und der Föhn, der
Vorbote des Winterschnees, trieb die letzten traurigen Reste des
goldgelben Blätterschmucks im tollen Reigen durchs Inntal. Lau und
unnatürlich warm war die Luft, und die weißen Wolkenstriche am
Himmel zogen sich immer mehr zusammen. Bedeckten das
Firmament und ballten sich dann drohend zu schweren,
regenverheißenden Dunstgebilden.
Tiefschwarz und in fast greifbarer Nähe hoben sich drüben im Tal
die Wälder und Berge ab. Die grauen, kahlen Felsen des
Sonnwendjoches hatten die eigenartige Färbung der milden
Regenluft des Südwindes.
Es war noch ziemlich früh am Nachmittag, als die Sophie sich
anschickte, im Auftrag ihrer Pflegemutter einen Gang ins nächste
Dorf zu machen. Der Weg führte innaufwärts der Landstraße nach,
in jene Gegend, wo die beiden Buben der Ennemoserin zum
letztenmal gesehen worden waren. Die Sophie dachte plötzlich
daran, wie die Kinder ihr junges Leben lassen mußten.
Unwillkürlich verlangsamte sie ihren Schritt und sah auf das
spielerische Treiben des hellen Wassers. Ganz sanft und leise
plätscherten die Wellen und hatten ein gleisnerisches Aussehen.
Langsam schlenderte die Sophie ihres Weges und sang dann leise
ein Liedchen vor sich hin.
Auf einmal aber blieb sie stehen und zog die Luft in scharfen
Zügen ein. Wie ein Reh war sie anzusehen mit dem lauernd
vorgebeugten Oberkörper und dem spähenden Blick.
Ein unangenehmer, brenzlicher Geruch lag in der Luft. Ein
Geruch von Rauch und verkohltem Holz. Die Sophie kannte diesen
Geruch jetzt, und sie wußte, daß irgendwo in nächster Nähe ein
Karrnerlager sein mußte.
Und jäh durchzuckte es den Körper des jungen Mädchens wie
mit einem elektrischen Schlag. Karrnerleute waren in ihrer Nähe.
Leute ihres eigenen Standes. Die mußte sie sehen.
Seit sie damals von der Ennemoserin geführt ihr fahrendes Heim
verlassen hatte, war sie nie mehr mit Karrnerleuten
zusammengetroffen. Ein starkes Verlangen, wieder einmal mit
Menschen ihres eigenen Standes zu sprechen, überkam sie. Sie
mußte hingehen und sehen, wo die Leute waren. Vielleicht kannte
sie die Karrner sogar. Oder die konnten ihr von Gaudenz Keil und
von ihren Leuten erzählen. So schnell sie konnte, sprang sie der
Richtung nach, aus welcher der Rauch kam.
Abseits vom Wege, ganz am Rande des Innflusses, wo seine
Ufer völlig mit dichtem Gebüsch verwachsen sind, hatten die Karrner
ihr Lager für die kommende Nacht aufgeschlagen.
Sophie Zöttl stand wie angewurzelt und starrte auf das kleine
Heim der fahrenden Leute, zu denen sie einst selbst gehört hatte.
Ein großer, bissiger, schwarzer Köter kam bellend auf Sophie
zugeschossen, und ein kleiner, gelber Kläffer saß vor dem mit
Segeltuch bespannten Karren und sekundierte dem empörten Zorn
seines Kameraden mit einem langgezogenen Geheul.
In einiger Entfernung von dem Karren war zwischen
zusammengetragenen Steinen ein Feuer angeschürt. Ein großes,
zerlumpt aussehendes Weib, das einen Säugling im Arm wiegte,
rührte mit nachlässiger Gebärde in der über dem Feuer stehenden
Pfanne. Einige hellblonde, schmutzige Kinder balgten sich in ihrer
Nähe und zogen und zerrten einander an den Haaren. Als sie
Sophie erblickten, schnellten sie wie Gummibälle empor, um das
junge, gut gekleidete Mädchen anzubetteln.
Sophie Zöttl stand noch immer regungslos da und starrte hinüber
zu der Frau beim Feuer. Ganz so wie diese Frau aussah, so hatte
sie ihre eigene Mutter in der Erinnerung. Nur daß sie die Benedikta
jünger und hübscher im Gedächtnis trug, während diese Karrnerin
ein altes, häßliches Weib war. Ein derbes Karrnerweib mit
lederartiger Haut und tiefen Furchen im Gesicht. Die pechschwarzen
Haare, die ihr zum Teil in wirren Strähnen über die Stirn fielen, waren
schon stark mit weißen Fäden durchzogen. Und lässig und
unordentlich war der Knoten des spärlichen Haares im Nacken
befestigt.
Trotzdem erinnerte das ganze Gebaren des Weibes an die
Benedikta Zöttl. Der Sophie fiel es jetzt plötzlich auf, daß sie
jedesmal, wenn sie an ihre Mutter dachte, diese nur bei ihrem
Namen nannte und ihr nie den Titel Mutter gab. Die Mutter, ihre
Mutter, das war nun schon seit Jahr und Tag die Ennemoserin
geworden.
Je länger die Sophie auf das Karrnerweib starrte, desto größeren
Widerwillen empfand sie vor ihr, und ein warmes, inniges Gefühl von
Liebe und Dankbarkeit für die Ennemoserin, die sich ihrer
angenommen hatte, überkam das junge Mädchen.
Die schmutzigen, gelbhaarigen Kinder mit den zerlumpten
Kleidern und den ungekämmten Haaren umdrängten die Sophie und
wollten Geld von ihr haben. Dabei griffen sie immer zudringlicher
werdend nach ihren Händen. Die bloße Berührung mit den
ungewaschenen Rangen war dem Mädchen so widerlich, daß sie,
um sich von ihnen loszumachen, auf die kleine freche Bande
einschlug.
Das laute Heulen der Kinder und ein wütendes Gekläff der
Hunde bewirkten, daß die Frau am Feuer aus ihrer Lethargie
erwachte und auf das fremde Mädchen aufmerksam wurde. Mit
nachlässigen, langsamen Schritten näherte sich die Karrnerin.
Mechanisch wiegte sie den Säugling in ihrem linken Arm.
Je näher die Karrnerin kam, desto aufgeregter wurde die Sophie.
Ihr Herz klopfte in unruhigen Schlägen, und die Farbe wich aus
ihrem Gesicht. Mit großen, erwartungsvollen Augen schaute sie auf
das Karrnerweib. Und dann, als diese ihr ganz nahe gegenüber
stand, erkannte das junge Mädchen seine Mutter.
Benedikta Zöttl nickte nur leise mit dem Kopf. Ohne die geringste
Spur von Aufregung oder von Freude zu zeigen, fragte sie mit
gleichgültiger Stimme: „Bist da, Sophal?“
Als ob sie ihr Kind erst vor wenigen Stunden verlassen hätte, so
ruhig fragte das Weib. Und doch lag eine lange Trennung
dazwischen. Jahre, die aus dem unreifen Kind ein wissendes
Mädchen gemacht hatten und aus dem kräftigen, starken
Karrnerweib eine früh gealterte Frau.
Die Sophie bemerkte erst jetzt die Veränderung, welche die Zeit
bei ihrer Mutter hervorgebracht hatte. Die hohe Gestalt der Frau war
eingesunken, und sie war fast zum Skelett abgemagert. Die Sophie
erinnerte sich, daß beinahe alle Karrnerweiber, die sie gekannt hatte,
so häßliche alte Weiber waren wie die Benedikta.
Die Karrnerin bot der Sophie nicht einmal die Hand zum Gruß.
Aber neugierig betrachtete sie das gut gekleidete, hübsche Mädel
und ließ dann mit Kennermiene den leise knisternden Seidenstoff
ihrer Schürze durch zwei Finger gleiten. Das schwarze Samtmieder,
die breite, hellfarbige Seidenschürze und das schwere Seidentuch
im Mieder, der breitkrempige Hut mit der goldenen Stickerei am
Innenrand und den breiten, schwarzen Moireebändern, die rückwärts
fast bis zu den Füßen reichten, verliehen dem hochgewachsenen
Mädel ein ungemein schmuckes Aussehen.
Befriedigt nickte das Karrnerweib. Darauf fuhr sie mit ihren
derben, braunen Händen vorsichtig über die Schürze des Mädchens.
„Sauber bist, Sophal!“ sagte sie dann.
Noch immer konnte die Sophie vor innerer Erregung kein Wort
hervorbringen. Die Röte kam und wich aus ihrem Gesicht im raschen
Wechsel. Und immer eindringlicher und aufmerksamer beobachtete
das Weib ihr Kind.
„Bin aa amal so g’wesen!“ sagte sie. „Grad so wie du. Ja, ja, es
ist lang her.“
Dann wiegte sie wieder ihren Oberkörper hin und her und preßte
den Säugling fester an sich, als könnte er ihr entgleiten. Und die
schreienden, gelbhaarigen Kinder kamen neugierig
herbeigesprungen und betrachteten das fremde Mädel wie ein
Wundertier. Mit offenen Mäulern standen sie da oder bohrten mit den
schmutzigen Fingern vor Verlegenheit in den Nasen.
„I kenn’ di schon lang!“ fuhr die Benedikta fort. „Es hat mi do
g’wundert, was aus dir g’worden ist und wie du ausschaust. Fast alle
Jahr sind wir da vorbei zogen. Da hab’ i dir aufpaßt.“
Und dann erzählte die Benedikta in kurzen Worten, wie es ihr seit
der Trennung von der Tochter ergangen war. „Alle Jahr a Kind,
woaßt wohl. Unseroans kennt sonst nix. Es ist aa ’s beste, solang
oans jung ist. Lei iatz, iatz kimmt’s mi a bissel hart an, aber es macht
nix. Und der Tonl, der Bua, der war für nix. Ist bald g’storben. Hat lei
mehr so dahin g’serbt, und der Gaudenz hat sei’ Wuat kriegt auf ihn.
Der vertragt’s halt nit, wenn oans a so dahin serbt. Ist aa nix für
unseroans, woaßt wol! Und’s Glück hat ihn aa verlassen, den
Gaudenz. Hat sein’ Wagen und sei’ Roß verkafen müssen und hat
g’fluacht und g’wettert. ’s war a harte Zeit.“
So erzählte das Weib, und allmählich wurde die Sophie
zutraulicher. Auch sie berichtete der Mutter von ihrem Leben. Sie
setzte sich zu der Frau in das Gras. Das Feuer knisterte leise in ihrer
Nähe. Die Kinder tollten wieder unbändig herum und spielten und
sprangen den beiden Hunden um die Wette. Der Krummschnabel,
der vorne in einem kleinen Käfig am Wagen hing, rieb seinen
rollenden Waldgesang. In schmelzenden, hingebungsvollen Tönen
sang er sein Lied von der Sehnsucht und der Freiheit.
Die Sophie saß neben ihrer Mutter und hielt mit beiden Händen
die Knie umschlungen, die sie leicht emporgezogen hatte.
Versonnen starrte das Mädchen in das leise knisternde Feuer. Es
war ihr, als ob die Jahre, die sie von den Ihren getrennt gelebt hatte,
nun mit einemmal geschwunden wären. Ein Gefühl der
Zugehörigkeit zu diesen Leuten überkam sie und ein Verlangen, mit
ihnen zu ziehen, weit hinaus in die ferne Welt.
Die Benedikta wiegte ihren Oberkörper in unaufhörlich
schaukelnder Bewegung und sah dabei von seitwärts fortwährend
auf die Tochter. „Hast an Schatz?“ fragte sie dann über eine Weile
völlig unvermittelt.

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