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Der Limerickmann

Die Ecke an der Eberhardt-und Hauptstraße ist noch feucht, wegen


des Sturms gestern. Mit jedem Windstoß hämmert der überdeckte
Himmel auf den dünnen Wollpullover des Georg Beckmann. Kalt,
müde und möglicherweise krank steht er noch täglich auf einer
alten Holzkiste und in dem er Blätter in der Luft schwenkt, ruft er
mit einer rhythmischen Kadenz:

„Ich hab’ Limericks zu verkaufen!


Fünf Euro für neun oder sieben für dreizehn!
I’ bin Professionell!
sie gehen sehr schnell!
Versichert, um die Frauen zu erfreuen“!

Beckmann macht in drei Monaten keine Umsätze und zwar


blicken die Leute ihn auch kaum an. Vor vier Wochen hat ein
Kellerlokal ihm einen Limerick für einige Spätzle eingetauscht.
Sie hätten sie ihm umsonst gegeben; Beckmann wusste das, das
Kellerlokal wusste das, aber sie verhielten sich noch dem normalen
Anstand gemäß, um das Stigma der „Wohltätigkeit“ zu vermeiden.
Er erinnert sich dieses Tages und das Gewichts des Essens in
seinem Magenso schwer, so füllend. Das Gefühl dauerte zwei
Tage, bevor es aus seinem Körper gezwungen wurde. Solange er
konnte, hielt er es in sich. Fünf Tage, eine Woche dachte
Beckmann, aber sein Verdauungstrakt hatte andere Pläne. Es ist
jetzt egal; vier Wochen sind für irgendetwas zu lang, um in einem
Körper zu bleibenohne Miete sowieso.
Also steht er noch da und fängt wieder an: „Ich hab’
Limericks zu verkaufen!/ Fünf Euro für neun oder sieben für
dreizehn!/ I’ bin Professionell/ Sie geh“
„Professionell“?! Ein dickleibiger Mann in einem schwarzen
Frack unterbricht: „Der Mensch ist ein ärmlicher Wicht! Ich
weiß“!
Mit einem ruhigen Lachen halten zwei Männer und eine Frau
an, als sich eine Menge beginnt, zu formen. Beckmann ignoriert
den Mann im Frack und macht weiter: „ Ich hab’ Limericks zu
verkaufen!/ Fünf Euro für neun oder sie“
„Und sieh! Er macht einen neuen Anlauf“! Der Mann dreht
sich, um die Menge anzureden: „Sein Blut ist matt, wie seine
Seele! Und dennoch wird er nicht aufhören“!
Die Menge lacht sich halb tot, wie der Mann zu Beckmann
blickt. Mit seinen fetten Fingern wischt er das blonde Haar von
seinen dunklen Augen und sagt ruhiger dieses Mal: „Du,
‚Künstler’, wie keiner mehr ist, ein vollendeter Armenhausgeck“.
Beckmann tritt von seiner Holzkiste hinab. Er konnte jetzt
sehen, dass er einen vollen Kopf kürzer war der Mann. Er schiebt
nervös seine Blätter hin und her und sagt furchtsam:

„Meine Damen und Herren, haben sie bitte kein Mitleid.


Und zu dem Mann in dem Goethekleid,
es ist mein Fach.
Ohne Widerspruch,
Macht die Menge einen Entscheid“?

Schweigen. Mit Ausnahme von einigen Zuschauern, die auf eine


fliegende Faust warten, begann die Menge sich zu zerstreuen.
„Was ist das entsetzlichste von allen entsetzlichen Dingen“?
Von Angesicht zu Angesicht wispert der Frack mit
Geringschätzung, „Ein ‚Dichter,’ für den die Nachwelt keine
Kränze flicht”.
Der Mann schlägt die Blätter aus den Händen Beckmanns,
als die Zuschauern sich wieder nähern und mit Interesse sich auf
ihn zu bewegen. Fast in Tränen sucht Beckmann nach einem
Ausgang:

„Geboren war ich mit diesem Kummer.


Ich bin bei Ihnen kein Mitläufer.
Mit pedantischen Ansprachen
ohne ursprünglichen Gedanken
sind Sie nur noch ein Schiller Rezitator“.

Beckmann lässt seinen Kopf hängen und geht schnell weg, seine
verstreuten Limericks und Kiste zurücklassend. Das Gesicht des
Mannes ist helles Rot, er nimmt den Kasten auf und schreit zu
Beckmann: „ Sinnreich bist du, die Straße von den Gelehrten zu
säubern, nun so sage doch, Limerickmann, wie man eine
Krautkiste uns verdeutscht“?!
Den Mann fürchtend, geht er schneller. Er geht nach rechts
und dann nach zwei Blöcken links. Beckmann sieht über seine
Schulter und entscheidet, dass er schließlich den Mann verloren
hat. Er entleert seine Lungen und gerade als er beginnt, sich zu
entspannen, ergreift etwas seinen Arm. Er macht eine Faust mit
seiner freien Hand und dreht sich schnell um, damit er seinen
Angreifer ins Gesicht sehen kann. Aber es gibt keinen Mann,
sondern eine junge, schlanke Frau, die einen Stapel von feuchten,
schmutzigen Limericks hält.
„ Sie ließen diese fallen", sagt sie furchtsam und gibt sie zu
Beckmann. Er nimmt sie mit schweigend und beginnt
wegzugehen.
„ Warten Sie! Ich möchte einige kaufen. Sieben für dreizehn
Euro, richtig"? Ruhig bleibend, bietet Beckmann ihr die
beschmutzten Papiere an. Sie nimmt die sieben erst und geht ohne
ein Wort weg. Sie nahm die besten nicht; Beckmann glaubte, dass
die Frau mit ihm Mitleid hatte und er nicht überrascht wäre, wenn
er diese im Müll später auf der Straße sähe. Es ist ihm egal. Er
steckt das Geld und die Limericks in seine Tasche und eilt davon.

Am nächsten Tag gab es keinen Mann im Frack; ein ganz


frackloser Tag. Dann wiederum hätte er durchaus vorbeikommen
können, während Beckmann bei einem seiner vielen
Toilettenbesuche war. Diese wurden dadurch hervorgerufen, weil
die Spätzle so hart wie Backsteine durch seinen Körper wanderten.

Jesse Pluim

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