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Seite V2/4 WOCHENENDE REPORTAGE Samstag/Sonntag, 19. /20.

März 2011

8:00 ... weg von der Wurst


Wo soll’s In der Cafeteria auf dem Uni-Campus über der Stadt wickelt sich Sabrina
Schlereth erst einmal das Kind vom Bauch. Schlereth, 30, rotbraunes Haar, ein rundes
Piercing über dem Kinn, trägt den sechs Monate alten Kilian nun auf dem Schoß. Von

hingehen?
der Metzgerei ihres Vaters hat sie es bis an die Fachhochschule geschafft. Heute
lebt sie in Würzburg und studiert Soziale Arbeit. Sie ist stolz darauf, sie wirkt
glücklich. Sie sagt: „Ich habe mich selbst immer wieder rausgezogen.“
Sabrina Schlereth kommt aus Schlimpfhof, einem Ort im Niemandsland
zwischen Würzburg und Fulda. Sie war 14, als sie mit der Hauptschule
fertig wurde und eine Ausbildung zur Fleischereifachverkäuferin begann.
„Ich wollte das nie so richtig“, sagt sie. Es war der Wunsch der Eltern.
Vier Jahre hielt sie es in der Metzgerei aus – dann zog sie weg. Zuerst
Berlin hätte man vermutet, Hamburg vielleicht oder landete Schlereth in Würzburg, dann in Finnland, wo sie sich sechs
Monate Auszeit auf einer Husky-Farm nahm, bis ihr das Geld ausging.
auch Köln. Aber nein, es ist Würzburg: 130 000 Dann kam sie nach Deutschland zurück, musste wieder Wurst und
Hackfleisch verkaufen. Es war ein Albtraum.
Einwohner, pittoreske Lage am Main, hübsche Kilian quengelt. Schlereth kramt in ihrer Umhängetasche, zieht
Altstadt. Hier ist der Anteil der 27- bis 32-Jährigen einen Plüschpinguin heraus und schüttelt ihn. Das Tier rasselt, und
Kilian geht es gleich besser. „Mir ging es damals richtig schlecht“,
der höchste in Deutschland: Exakt 10,5 Prozent erinnert sich Schlereth. Auch ihr Körper machte nicht mehr mit. „Ich
habe in kürzester Zeit 15 Kilo zugenommen und meine Tage nicht
sind es. Wer die Generation der 30-Jährigen mehr bekommen.“ Schuld daran war die Angst vor der Zukunft. „Ich
habe mich mit 40 Jahren als alte, frustrierte, fette Fleischereifachverkäu-
kennenlernen will, der sollte also nicht Prenzlauer ferin gesehen.“ Die Erinnerung lässt sie noch heute schaudern. Die seeli-
Berg oder Eimsbüttel besuchen, sondern einen sche Belastung wuchs rasant, bis ihr das Arbeitsamt eine Umschulung
bezahlte. Durch einen Freund kam Schlereth ins Würzburger Blindeninsti-
Tag in der unterfränkischen Provinz verbringen. tut, ließ sich dort zur Heilerziehungspflegerin ausbilden. Sie bekam ihr Leben
in den Griff, kam zur Universität, verliebte sich – und wurde Mutter.
Man wird dort Menschen kennenlernen, die vor Sabrina Schlereth schaut ihren Sohn an. Wenn der Vater nicht auf ihn aufpas-
wichtigen Entscheidungen stehen – oder ihr sen kann, ist Kilian bei den Uni-Seminaren dabei. Von Oktober an kommt er in die
Krippe, denn Schlereth will mit der Bachelor-Arbeit beginnen. Sie hat gekämpft und
Leben gerade umgekrempelt haben. gewonnen. „Jetzt geht es mir konstant gut“, sagt sie. Fleischereifachverkäuferin: Dieser
Albtraum ist nun weit weggerückt.

Von Hannah Beitzer, Malte Conradi,


Caroline Ischinger, Lena Jakat und Camilo Jiménez

23:00 ... auf die Tanzfläche


In der durchschnittlichen Großstadt-Disco Im beschaulichen Würzburg fühlt man sich fast wie in
stellt man gerade erst die Stühle von den der Münchner Schickeria, als einer sagt: „Hier geht es um
Tischen. Aber das „Studio“ ist schon Sehen und Gesehen werden.“ Die besoffenen Erstsemes-
gestopft voll. Hier treffen sich 30-Jäh- ter, die aufgestylte Studio-Besucher beim Geldausgeben
rige mit Hang zur Exklusivität. Auf stören, will man hier nicht haben. Man will der Jugend
der Tanzfläche wippen die Frau- nicht nacheifern, sondern schicke Kleider tragen, vom
en – knappe Kleider, hohe interessanten Job erzählen – ja, eben exklusiv feiern. „Wer
Schuhe – zum Takt des han- auflegt, interessiert hier wenig“, sagt Schmitt. Er scheint
delsüblichen House-R’n’B- es zu bedauern. Deswegen will er noch ins Airport fahren,
Gemischs. Die Männer – seinen anderen Club. Seit 1983 betreibt er Würzburgs
gegelte Haare, in die größte Diskothek, einen Ort mit so vielen Treppen und
Hose gesteckte Hem- Lounges, dass sich DJs manchmal auf dem Weg zum Gig
den und polierte Schu- verlaufen. Sven Väth hat hier schon aufgelegt, ebenso
he – stehen an der Bar Paul van Dyk. In den Neunzigern kamen Elektrofans aus
und schauen dem der ganzen Region hierher. An diesem Freitag findet man
Gewirbel aus blondier- nur einen einzigen Menschen über 25: Roman Böer, alias
ten Haarschöpfen zu. „Tocadisco“, der gerade sein 15-jähriges DJ-Jubiläum
„Das Alter spielt feiert. Vor den Türen drängelt sich ein jüngeres, legereres
beim Feiern eine große Publikum als vor dem „Studio“. Der Mittdreißiger Böer
Rolle“, sagt Rudi findet es nicht komisch, vor lauter Leuten aufzulegen, die
Schmitt, der das „Stu- gerade einmal eingeschult wurden, als er seine Musikkarri-
dio“ seit 2002 betreibt. ere begann. „Die Hochphase beim Weggehen hat man mit
„Die Älteren wollen heute Ende 20 schon hinter sich“, sagt er. „Mit 30 will man nicht
unter sich sein.“ Mit sei- mehr schwitzend in der Crowd stehen, da will man ge-
nem karierten Hemd, der pflegt an einem Tisch sitzen.“ Böer wirkt wie ein routinier-
leisen Stimme und dem fränki- ter Manager, nicht wie ein Teil der Feiermeute. „Hallo,
schen Dialekt entspricht Würzburg“, ruft er ins Mikrofon, als er auf das DJ-Pult
Schmitt nicht gerade der gängi- steigt. Die Leute auf der Tanzfläche johlen.
gen Vorstellung von einem 60-jähri- Und während die junge Menge hier schwitzt, sind die
gen Nachtclubbetreiber. Früher, so 30-Jährigen anderswo. Vielleicht im Erwachsenen-Club
sagt er, ernteten ältere Clubgänger schiefe „Studio“. Oder sie genießen jetzt, wo das Kind im
Blicke vom jungen Publikum: „Trau keinem Bett ist, freie Zeit mit dem Partner. Vielleicht basteln
über 30.“ Heute seien es die 30-Jährigen, die nicht sie an einem Buchprojekt, am nächsten Karriereschritt
mit den 20-Jährigen feiern wollen. Ins Studio wird nur oder planen ihre Hochzeit. Mit 30 sind Tanzflächen
Publikum von 25 aufwärts gelassen. oft nur noch Nebenschauplätze.

18:00 ... einfach nach Hause


Der Schlag traf ihn von hinten und Es ist später Nachmittag. Schotte, ein nachdenkli-
unerwartet. Es war das Ende eines cher Mann im karierten Pullunder, sitzt im Konferenz-
langen Konferenztags, und Björn Schot- zimmer seiner Firma und lässt den Blick über den
te verschlang einen Döner im Münch- Main schweifen. Fast drei Jahre sind seit dem Schlag-
Gerrit van Aaken, 30 ner Hauptbahnhof. Dann kam der anfall vergangen, und wenn er darüber redet, wählt er
Schlaganfall. Schotte war 29 Jahre seine Worte präzise. Er erinnert sich: Am nächsten
Wenn ich abends heimkomme, will ich meine alt. Der Schmerz im Hinterkopf, Nachmittag waren die Symptome immer noch da, er
Ruhe haben. Meine Frau und ich wohnen in das gestörte Blickfeld, das hefti- begann zu lallen. Seine Kollegen drängten ihn, ins
ge Wanken – er dachte, es sei Krankenhaus zu fahren. Die Diagnose: Ein angebore-
Zell, einem Vorort. Es heißt ja immer: „Die beste der Kreislauf, etwas Ruhe und nes Loch im Herzen hatte den Schlaganfall verur-
Altersvorsorge ist das Eigenheim.“ alles wäre wieder gut. sacht. Auch das Übergewicht, der Stress und der
Auf seinen Körper hatte Schot- wenige Schlaf hatten eine Rolle gespielt.
Daran glaube ich fest. Wir sind fleißig am te nie Rücksicht genommen. „Wie durch ein Wunder habe ich keine bleibenden
Bausparen. Manchmal fühle ich mich Jahrelang kannte er nur eine Schäden davongetragen“, sagt Schotte. Trotzdem hat
Aufgabe: arbeiten, etwas errei- der Schlaganfall sein Leben verändert: „Ich war jahre-
sehr spießig, was das Partyleben angeht. chen, das Unternehmen aufbau- lang auf 180 im Business – mit so einer Vollbremsung
Wir bleiben lieber zu Hause und laden en. Und jeder Erfolg hatte ihm die aus dem Leben gerissen zu werden, war sehr schwer
Kraft gegeben, weiterzumachen: für mich.“ Der Warnschuss hat ihn nachdenklich ge-
Freunde zu Spieleabenden oder zum Kochen Selbständig mit 20, die erste eigene macht. Er unternahm eine Kurskorrektur. Er trat kür-
ein. Bald machen wir einen Trommelkurs an Firma gleich nach dem Zivildienst, zer. Über seine Erfahrungen kann man heute im Inter-
mit 23 Chefredakteur eines Fachmaga- net lesen. Nun will er ein Buch schreiben. Mit Anfang
der Volkshochschule. Andererseits arbeite ich zins. Heute ist Schotte 32, einer von 30 besitzt er eine Ruhe, die andere erst viele Jahre
freiberuflich als Web-Designer. Da kann vier Inhabern eines Software-Unterneh- später erreichen. Die 16-Stunden-Tage im Büro will er
mens mit 70 Mitarbeitern und Firmensitzen nicht mehr. Er will seine Freundin öfter sehen, und der
man gar nicht spießig sein. Ich habe kein festes in Würzburg und München. Eine Karriere wie dicke Mann zwingt sich zum Sport. Schotte steht
Einkommen. Um meine Krankenversicherung im Zeitraffer. Einige seiner Schulkameraden, so schließlich auf. Und während seine jungen Mitarbeiter
erzählt er, denken gerade erst darüber nach, wo sie noch vor dem Bildschirm sitzen, sagt er: „Jetzt gehe
muss ich mich selbst kümmern. sich um einen ersten Job bewerben sollen. ich einfach nach Hause.“
Ich bin aber kein Träumer, sondern ziemlich
zielstrebig und gut organisiert.

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