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Vom Wachsen Pflanze in ihm ruht.

Sie ist gei-


stig schon vorhanden. So wie
der wahre Mensch im Alltags-

C hristus ist das Samenkorn,


das in uns wartet. Wie ein
pflanzliches Samenkorn, benö-
mensch geistig schon vorge-
bildet ist. Er muss nur durch
den Weg zur Wahrheit erweckt
tigt unser geistiges nur die idea- werden. Der Gedanke, dass
len Bedingungen, um zu keimen die Kraft der Verwandlung in
und zu wachsen. Das Samen- uns liegt, muss die Seele er-
korn Jesu will gepflegt werden. füllen und ganz durchlichten
Wir müssen die bildende Kraft Unsere empfindende und den-
in ihm durch Zuwendung auf- kende Konzentration auf die in-
wecken. Unser ganzes Sein muss nere Verwandlungsfähigkeit ist
von dem Gedanken der schlum- der entsprechende gute Boden
mernden Existenz der Christus- für das Samenkorn Jesu.
kraft in uns durchdrungen sein. Wir beten: Herr, durch Deine Gnade und
Vom pflanzlichen Samenkorn unser Streben soll das Schlafende in uns
können wir lernen. Beim Be- erwachen.
Du bist der Weg zum wahren Menschen,
trachten des Körnchens ist die
der Weg in Liebe und Wahrheit.
in ihm liegende Potenz unseren Entzünde das göttliche Feuer in uns
Augen nicht sichtbar – und den- und lass es zum inneren Licht werden.
noch wissen wir, dass die ganze Amen

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Arnold Schönberg: Himmels­klänge Er begann, sich mehr und mehr für seine jüdischen Wurzeln
zu interessieren. Nun las er die wesentlichen Standardwerke über
und Klanghimmel die Geschichte des jüdischen Volkes. Gleichzeitig setzte er sich mit
der aktuellen Frage des Zionismus auseinander, den er in seinem
von Matthias Henke Mitte der zwanziger Jahre entstandenen Sprechdrama Der biblische
Weg reflektierte. Wenig später begab er sich an das Libretto und
A m 23. Dezember 1921 komponierte Schönberg eine Fantasie
über das »altkatholische Christliedlein« Es ist ein Ros entsprungen
– für zwei Geigen, Cello, Klavier und Harmonium. Kurze Zeit später,
die Komposition seiner Oper Moses und Aron. Und als er 1933 aus
Deutschland vertrieben wurde, kehrte er in Paris, unter Anwesen-
heit des Taufzeugen Marc Chagall, in die jüdische Glaubensge-
pünktlich zum Weihnachtsfest, gelangte das polyphone Werk im meinschaft zurück.
erweiterten Familienkreis zur Uraufführung: Der Komponist dürfte Die religiöse Rückbesinnung bedeutete aber nicht, mit sämt-
den Cellopart übernommen haben, seine Tochter Trude die Klavier- lichen transzendentalen Vorstellungen zu brechen. So blieb Schön-
stimme, und Anton Webern, der wenige Gehminuten entfernt in berg weiterhin der christlichen Mystik Emanuel von Swedenborgs
der Mödlinger Nachbarschaft wohnte, nahm vermutlich am Har- verpflichtet. Er hatte nicht nur die Schriften des schwedischen
monium Platz. Theosophen studiert, sondern auch die philosophischen Werke
Führt man sich die intime Weihnachtsszene vor Augen, mag des französischen Dichters Honoré de Balzac, einer der wichtigen
der Gedanke an Gemütlichkeit und heimischen Frieden aufkom- Swedenborg-Exegeten. Besonders stark ließ sich Schönberg von
men. Vor allem, wenn man bedenkt, dass die unmittelbare Nach- Balzacs Erzählung Seraphita beeinflussen. Von der Über­geschlecht­
kriegszeit, die Österreich eine heute kaum vorstellbare Hungers- lichkeit der engelshaften Titelgestalt, die männlich und weib-
not, Heizstoffmangel und weitere Eng­pässe beschert hatte, sich lich ist. Und von der Himmelsvision, die Balzac in Anlehnung an
langsam dem Ende zuneigte. Doch der Schein trügt. Schönberg Swedenborg schildert: Im Himmel gäbe es weder Unten noch
(mit Familie) war im Sommer Opfer einer heftigen antisemitischen Oben, weder Vor noch Zurück, es sei alles Eins, die Dimensionen
Attacke geworden, die sein Selbstverständnis als deutscher Kom- seien aufgehoben, das Kleinste hänge mit dem Größten zusam-
ponist und Christ ebenso schwer wie nachhaltig erschütterte. Man men, das Größte beinhalte stets das Kleinste.
könnte in seinem Entschluss, eines der populärsten deutschen Hier, bei Swedenborg und Balzac, hatte Schönberg das philo-
Weihnachtslieder zu verarbeiten, die Willensbekundung sehen, sophische Gerüst für sein Komponieren gefunden. Wie der Engel
das gefährdete Eigenbild zu schützen, noch einmal alle Kräfte für Seraphita die menschliche Geschlechterteilung überwindet, die
dessen Erhalt zu mobilisieren. biologische Dualität, so war Schönberg aufgebrochen, die Dua-
Doch der Versuch scheiterte. Die Demütigungen, die Schön- lität der Tongeschlechter (Dur-Moll) zu entgrenzen. Und wie der
berg im Sommer 1921 hatte hinnehmen müssen, nagten in ihm. Himmel Swedenborgs keine Hierarchie der Richtungen kennt, und
Dass er das oberösterreichische Mattsee, die von ihm selbst gewähl- sich das Kleine auf das Große bezieht, so darf auch Schönbergs
te Sommerfrische, hatte verlassen müssen. Dass ihm und seiner Fa- Zwölftonreihe in alle Richtungen gespiegelt werden, so bestim-
milie dort Gewalt angedroht wurde. Dass die nationalsozialistische men auch ihre Details die Anlage der gesamten Komposition.
Presse hetzte, der beliebte Fremdenverkehrsort müsse judenrein Ein beeindruckendes Beispiel für Schönbergs Klanghimmel
bleiben – diese Schmähungen konnte er nicht verdrängen. Als ihm ist im Schlussteil seines Kurzoratoriums Ein Überlebender aus War-
1923 schließlich das Gerücht zugetragen wurde, Wassily Kandins- schau (1947) zu hören. Den Tod vor Augen intonieren die gefan-
ky, sein langjähriger Freund und Weggefährte, habe sich ebenfalls genen Juden eine Zwölftonreihe, um mit ihren Himmelsklängen
antisemitisch geäußert, leitete Schönberg eine Kehrtwende ein. die Schrecken des Irdischen zu bannen.
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Der geistige Sinn der Schrift Distanzierung von der Hermeneutik des geistigen Schriftsinns oder
eben der Lehre vom Vierfachen Schriftsinn.
Frühkirchliche Lehre mit neuer Aktualität Im Folgenden soll es nicht um Swedenborgs Sichtweise von
von Rudolf Voderholzer »geistigem Schriftsinn« gehen, sondern es soll Antwort gegeben
werden auf die Fragen: Was besagt die klassische, im Grunde uralte,
Vorbemerkung der Schriftleitung: Rudolf Voderholzer ist Prie- frühkirchliche, von den Kirchenvätern der ersten Jahrhunderte im
ster der Erzdiözese München und Freising. Seine Dissertation Anschluss an die Bibel formulierte Lehre vom geistigen Schriftsinn?
verfasste er über die Exegesegeschichtlichen Studien des fran- Aus welcher Fragestellung heraus wurde sie entwickelt? Wie steht
zösischen Theologen Henri de Lubac, dessen diesbezügliche es um die gegenwärtige Relevanz der Lehre vom geistigen Schrift-
Werke er zum Teil ins Deutsche übersetzte. Dabei stieß er auf sinn in der Theologie?
die große Bedeutung der so genannten »geistigen Schriftausle- II. Ein Text – zwei verschiedene künstlerische
gung«. Rudolf Voderholzer wurde im Wintersemester 2003/04
Interpretationen. Erste Hinführung zum Wesen
in München habilitiert. Von 2003 bis 2005 war er Akade-
»geistiger Schriftauslegung«
mischer Oberrat an der Theologischen Fakultät in Fribourg.
Seit Sommersemester 2005 ist er Professor für Dogmatik in Da die Lehre vom geistigen Schriftsinn nicht nur in Kommentaren
Trier und nebenher Pastor in einem kleinen Winzerdorf an der und Predigten, sondern, davon ausgehend, auch in der Liturgie
Ruwer. Der folgende Beitrag ist eine erweiterte Fassung seines und Kunst ihren Ausdruck gefunden hat, kann ein Vergleich zweier
Vortrags vom 18. März 2006 im Swedenborg Zentrum Zürich. Bilder als erste Hinführung zum Wesen geistiger Schriftauslegung
dienen.
I. Einleitung und Fragestellung Es handelt sich beide Male um eine Illustration zum Schrift-
wort Lk 10,25–37, Jesu Parabel vom Barmherzigen Samariter. Die
E manuel Swedenborg hatte im April 1745 eine Vision und hörte,
wie der Herr zu ihm sprach: »Ich habe dich erwählt, um den
Menschen den geistigen Sinn der Schrift auszulegen.« Von da an
abgedruckten Bilder sind nicht nur, was ihre Entstehungszeit betrifft,
durch einen zeitlichen Abstand von fast 1400 Jahren getrennt. Aus
ihnen spricht auch jeweils ein anderer Zugang zur Schrift.
gab er zahlreiche Kommentare heraus, und der Begriff »Geistiger
Das jüngere der beiden Bilder – es stammt von Karl ­Caspar
Sinn der Schrift« wird fortan mit der Art seiner Schriftauslegung
(1879–1956) aus dem Jahre 1914 – bemüht sich, bei allem Expressionis­
verbunden sein.
mus der Farbgebung, um eine realistische Darstellung der Bergung
Der Begriff und die Sache »geistiger Sinn der Schrift« hatten im
des Verletzten durch den Samariter. Der Hintergrund ist als unbarm-
Jahr 1745 schon eine lange Geschichte hinter sich, um genauer zu
herzige, kahle, der brütenden Sonneneinstrahlung ausgesetzte Wü-
sein: die Hochblüte der geistigen Schriftauslegung lag bereits etliche stengegend gemalt, so wie es tatsächlich dem Weg von Jerusalem
Jahrhunderte zurück. Martin Luther hatte, nachdem er selbst noch nach Jericho entspricht, auf dem über ca. 40 km durch raue Wü-
in seiner Ausbildung mit der Lehre vom Vierfachen Schriftsinn, die
mit dem geistigen Schriftverständnis aufs engste verbunden ist, ver-  Diese war allerdings schon ein paar Jahrhunderte vor Luther im Nieder-
gang begriffen gewesen, so dass man sagen kann, Luther habe eigentlich
traut gemacht worden war und sie anfangs auch noch angewendet
bereits eine dekadente Form abgelehnt. Inhaltlich unterscheiden sich seine
hatte, später vehement verworfen. Luthers Plädoyer für den buch- Auslegungen denn auch nicht wesentlich von der traditionellen geistigen
stäblichen Sinn der Schrift allein bedeutet umgekehrt eine schroffe Auslegung.

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stengegend ein Höhenun-
terschied von über 1000m
überwunden werden muss.
Die Kopfbedeckung lässt
den Retter als Samariter, also
als Angehörigen der mit den
Juden im Schisma, lebenden
Volksgruppe erkennen. Der
Verwundete ist eben verbun-
den worden. Neben dem die
Scham bedeckenden Len-
denschurz hat er einen Kopf-
verband angelegt bekom-
men. Schmerzverzerrt hält
er sich das Knie, das offen-
bar durch den Raubüber-
fall besonders in Mitleiden-
schaft gezogen ist. Links im
Dieses ältere Bild ist nur verständlich vor dem Hintergrund der
Bild wartet geduldig der Esel,
um den Verwundeten bis zur kirchlichen Auslegungstradition, die man die geistige Auslegung
Herberge tragen zu können. nennt. Sie deutet alle Schriftzeugnisse, auch die neutestamentlichen
Bis auf den heutigen Tag kann, ausgehend von dieser Para- Gleichnisse und Parabeln, im Licht des Gesamtzeugnisses der Hei-
bel Jesu, in unserem Sprachgebrauch ein »Samariter« ein Mensch ligen Schrift.
genannt werden, der bereit ist, auf die ihm am Wegrand begeg- Schon Origenes (180/85–253/54), einer der größten Theologen
nende Not ohne zu zögern zu reagieren und sich dem unmittelbar aller Zeiten, in jedem Fall aber der für die Ausbildung der Lehre vom
als hilfsbedürftig erweisenden als Nächster zu zeigen, so wie es geistigen Schriftsinn wichtigste Theologe, bezeugt diese Auslegung
der Antwort Jesu auf die Frage entspricht, wer denn »mein Näch- in seinen Lukas-Homilien. Origenes nennt zunächst als Grundaus-
ster« sei. sage des Gleichnisses: »Damit sagt uns der Herr, dass der unter die
Die Interpretation, die dem älteren der beiden Bilder zugrunde Räuber Gefallene nur einem Nächster gewesen ist, nämlich dem, der
liegt, unterscheidet sich davon. Das Bild stammt aus dem so genann- den festen Willen hatte, die Gebote zu halten, und sich anschickte,
ten Rossano Codex, entstanden in Syrien um das Jahr 550: Auch hier jedem Menschen Nächster zu sein, der der Hilfe bedarf.« Und Ori-
ein gefallener Mensch, nackt, am Boden liegend, ganz ausgestreckt, genes verkennt auch nicht, dass dem Wortsinn nach ein moralischer
und ein Helfer, der sich tief hinabbeugt. Daneben steht ein Engel, Appell im Vordergrund steht, denn der Herr sage uns: »Geh hin und
der dem Helfer eine Schale reicht und ein Tuch. Der Helfer aber, der
Samariter in der Parabel Jesu, ist kein anderer als der Gleichniserzäh-  Origenes, In Luc. hom. XXXIV: In Lucam Homiliae. Homilien zum Lukasevan-
gelium II (= FC 4/2, H.-J. Sieben), 336–345. Das Folgende ist auch ausgeführt
ler selbst, Jesus, kenntlich gemacht durch den Kreuznimbus. Jesus ist in: Voderholzer, Rudolf, Die Einheit der Schrift und ihr geistiger Sinn, Freiburg
der Barmherzige Samariter! 1998, 184f.

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tu desgleichen!« (Lk 10,36f.). In einem zweiten Schritt bringt Ori- vor einer Verkürzung in einen bloßen Moralismus, indem es die zu-
genes dann seine Auslegung, die in der Modifikation einer Deu- vorkommende und vorausgehende Liebe Gottes zum Menschen he-
tung besteht, die bereits ein Presbyter vor ihm vorgetragen habe, rausstellt, die den Menschen seinerseits zur Zuwendung und Liebe
also ihrerseits schon traditionell ist. Mit Bezug auf Joh 8,48f., wo dem Nächsten gegenüber befreit und befähigt.
Jesus zwar den Vorwurf der mit ihm streitenden Juden, von einem Das erste Bild stellt eine Auslegung der Stelle aus dem Lukase-
Dämon besessen zu sein, zurückweist, nicht aber den, ein Samari- vangelium im »buchstäblichen Sinne« vor Augen, das zweite Bild
taner zu sein, wird Jesus selbst mit dem Samariter identifiziert. Sein aber ist eine Auslegung »im geistigen Sinn«. Doch wir haben in
Reittier ist sein irdischer Leib, mit dem er den Verwundeten, d.h. die mehrfacher Weise vorgegriffen. Die Lehre vom geistigen Sinn der
Sünden des Menschen trägt, unter der Herberge versteht Origenes Schrift ist zunächst einmal nicht entwickelt worden im Bezug auf die
die Kirche, der Wirt ist der Engel der Kirche, die beiden Denare ver- Auslegung des Neuen Testamentes, sondern im Blick auf das Alte
sinnbilden die Kenntnis des Vaters und des Sohnes (und das Wissen Testament.
darum, wie der Sohn im Vater und der Vater im Sohn ist). Origenes Bevor wir uns dieser Ursprungssituation zuwenden, muss, noch
schließt seine Homilie mit einem Literalsinn und geistigen Sinn ver- grundsätzlicher, die Frage geklärt werden: Was ist das eigentlich für
bindenden Aufruf, man solle so wie Paulus Christus nachfolgen, der ein Text, was ist das für ein merkwürdiges Buch, diese Bibel, um
nicht nur mit Worten, sondern mit Taten den Menschen ein Näch- deren Auslegung es geht?
ster geworden sei.
Eine ähnliche Auslegung bietet auch Ambrosius von Mailand III. Die Voraussetzung: das besondere Wesen der
(339–397) in seinem Kommentar zum Lukasevangelium.
Diese Auslegung ordnet den moralischen Appell ins Gesamt des
»Bibel« als »Heilige Schrift« der Christen
Glaubens ein, der da besagt, dass vor aller Aufforderung zum Dienst 1. Gottes Wort im Menschenwort
am Nächsten Gottes Dienst am Menschen steht: Der gefallene und
Wenn in einem katholischen Gottesdienst aus der Heiligen Schrift
der Hilfe bedürftige Mensch, das sind wir alle, das ist die in Adam ge-
fallene Menschheit, die sich vom Barmherzigen Samariter Jesus Chri- vorgelesen wird, präsentiert der Lektor am Schluss das Buch mit dem
stus helfen lassen, die Wunden ihrer Seele verbinden, die Schuld ver- Zuruf: »Wort des lebendigen Gottes!«. Das Wort der Heiligen Schrift
geben und schließlich auf die Beine stellen lassen darf, um sodann wird als »Wort Gottes« geglaubt und verehrt. Doch kommt es auf
das Empfangene weiterzuschenken in der Liebe zum Nächsten. das spezifische Verständnis dieses Begriffes an.
Diese Auslegung der Lukas-Stelle, von der sich das Bild im Hier kann vielleicht ein Seitenblick auf das Verständnis des Koran
Rossano-Codex inspirieren lässt, bewahrt die christliche Botschaft im Islam eine erhellende Hilfe darstellen. Den frommen Muslimen
gilt der Koran als das unmittelbar von Gott mit Hilfe des Erzengels
 Diese Auslegung des Origenes impliziert die ganze Christologie und auch Gabriel diktierte Wort der Rechtweisung, zu dem der Prophet Mo-
seine Lehre von der Präexistenz der Seele. Diese letztgenannte Vorstellung
widerspricht allerdings der Lehre der Kirche. Origenes betont die Freiwillig-
hamed nicht das geringste menschliche Element beigetragen haben
keit des Abstiegs von Jerusalem (Himmel) nach Jericho (Welt). Der Sündenfall darf. Vergleicht man dieses Verständnis der heiligen Schrift des Islam
Adams ist nicht Verhängnis, sondern im freien Willen begründet. »Während mit dem Verständnis der Bibel für die Christen, dann fällt der Unter-
jedoch bei den übrigen Menschen der Abstieg Folge der frei gewählten schied ins Auge: Für Christen ist, nach einer Formulierung des Apo-
Sünde ist, ist er bei Jesus Folge seiner Liebe zu den gefallenen Menschen.«
(Kommentar von Sieben, FC 4/2, 338f., Anm. 7).  Vgl. Rudolf Voderholzer, Bibel und Koran. Christliches und islamisches Offen-
 Ambrosius von Mailand, Lukaskommentar, BKV², Bd. 21, dt. von Joh. Ev. barungsverständnis im Vergleich, in: Rivista Teologica di Lugano 7 (2002)
­Niederhuber, Kempten / München 1915, 362–368. 313–322.

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stels Paulus, sein Verkündigungswort (und damit das Wort der bi- das ist ein Spezifikum des christlichen Glaubensverständnisses, dass
blischen Verkündigung überhaupt) Gottes Wort im Menschenwort. seine Bibel in einer ganz merkwürdigen Doppeltheit sich zeigt:
Urbild dafür ist das Fleisch gewordene Wort (Joh 1,14) Gottes, Jesus
Christus selbst, in dem Gottes Wort als Menschenwort begegnet. 3. Die Einheit der Schrift
Das erste und entscheidende Wort Gottes ist die Person des Sohnes, Altes und Neues Testament gehören unauflöslich zusammen. Beide
der als der Gottmensch in seiner Verkündigung und in seinem Han- bezeugen auf je unterschiedliche Weise Gottes Offenbarung in Chri-
deln Gottes Zuwendung zu den Menschen bringt.
stus. Das Alte Testament ist in seinem Wesen Vorausverkündigung
2. Die Bibel ist Offenbarungszeugnis Jesu, das Neue Testament ist die Bezeugung des Christusereignisses
mit den Ausdrucksformen des Alten Testaments. Mit Augustinus ge-
»Offenbarung«, worauf der Glaube antwortet, ist ein geschichtlich-
personales Geschehen, das im Christusereignis seinen Höhepunkt sprochen: Das Neue liegt im Alten verborgen, das Alte liegt offen im
hat. Als das Fleisch gewordene WORT ist Christus und sein Evange- Neuen (Novum in Vetere latet, Vetus in Novo patet). Da sich die Of-
lium die eine Quelle der Offenbarung im strengen Sinn. Offenba- fenbarung geschichtlich ereignet, und in ihrer Geschichte vom Alten
rung ist mehr als »geschrieben« steht. Offenbarung ist mehr und auf den Neuen Bund zuläuft, kann das Zeugnis des Alten Bundes
größer als die Schrift. Sie geht als geschichtliches Ereignis der Schrift seine endgültige Auslegung auch nicht vor Abschluss der Offenba-
voraus. Kirchliche Überlieferung und die Heiligen Schriften sind nicht rung in Christus erfahren. Da die Schrift nicht selbst Offenbarung
selbst »Offenbarungsquellen«, sondern Vermittlungsformen. ist, sondern die Offenbarung des dreifaltigen Gottes bezeugt, ist die
Die Bibel bezeugt das Offenbarunghandeln Gottes in seinem gesamte Schrift auf die Mitte der Offenbarung hin auszulegen. Die
Volk Israel und, als Erfüllung und Höhepunkt, in dem Fleisch gewor- Theologie der Kirchenväter und des Mittelalters hat diesen Gedan-
denen Sohn Gottes, in seinem Leben, Verkündigen, in seinem Han- ken oft mit der Formulierung zum Ausdruck gebracht, dass Jesus
deln, aber eben auch in seinem Leiden, Sterben und Auferstehen. Christus, das Fleisch gewordene Wort des Vaters, sozusagen die Ab-
Von diesem Geschehen geben die Schriften Zeugnis. Die Worte der
kürzung (das »Verbum abbreviatum«) oder die »Verdichtung« aller
Schrift sind dabei ganz menschlich und ganz göttlich. Der Heilige
Worte der Schrift ist.
Geist, der die Autoren der Schrift erfüllt, benützt sie nicht sozusagen
Die klassische Lehre vom »geistigen Sinn der Schrift« versteht
als unbeteiligte Werkzeuge, sondern der Geist aktiviert alle mensch-
lichen und sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten. Der Geist garan- sich nun aber zuallererst als eine Systematisierung der Art und Weise,
tiert, dass das Zeugnis wahr und zuverlässig ist in dem, was für das wie sich das Neue Testament auf das Alte zurückbezieht. So sollen
Heil der Menschen notwendig ist. Grundsätzlich aber gilt: Die Bibel in einem nächsten Schritt zwei Schriftstellen näher betrachtet wer-
ist kein vom Himmel gefallenes Buch, sondern das in der Kraft des den, auf die man sich bei der Ausformulierung dieser Lehre immer
Heiligen Geistes von menschlichen Autoren verfasste Zeugnis der wieder gestützt hat.
Offenbarung, das aus dem Glaubensbewusstsein Israels und der  Damit ist der »Eigenwert« des Alten Testaments nicht bestritten und auch
Kirche hervorgegangen ist. Das Christentum ist dem entsprechend einer jüdischen Auslegung der hebräischen Bibel nicht von Vorneherein die
auch keine Buchreligion, sondern die Religion Jesu Christi, eine Per- Legitimität abgesprochen. Vgl. dazu Voderholzer, Die Einheit der Schrift und
son-Religion. Für die Bibel der Christen heißt dies nun drittens, und ihr geistiger Sinn, 455–462.
 Vgl. dazu: Henri de Lubac, »Verbum abbreviatum«, in: ders., Typologie – Alle-
 Vgl. dazu die Dogmatische Konstitution über die Göttliche Offenbarung »Dei gorie – Geistiger Sinn. Studien zur Geschichte der christlichen Schriftausle-
Verbum« des Zweiten Vatikanischen Konzils (1965). gung (= Theologia Romanica 23), Freiburg 1999, 204–217.

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IV. »Verstehst Du auch, was Du liest?« (Apg 8,30) – die sagte er: Verstehst du auch, was du liest? 31 Jener antwortete: Wie
neutestamentlichen Grundlagen der Lehre vom könnte ich es, wenn mich niemand anleitet? Und er bat den Philip-
geistigen Schriftsinn pus, einzusteigen und neben ihm Platz zu nehmen. 32 Der Abschnitt
der Schrift, den er las, lautete:
1. Philippus erschließt dem äthiopischen Kämmerer den Sinn
Wie ein Schaf wurde er zum Schlachten geführt; / und wie ein Lamm,
der Schrift: Apg 8,26-40 das verstummt, / wenn man es schert, / so tat er seinen Mund nicht
»Verstehst Du auch, was Du liest?« (Apg 8,30), fragt in der Apostel- auf [Jes 53,7]. 33 In der Erniedrigung wurde seine Verurteilung auf-
geschichte der frühchristliche Missionar Philippus den auf einem gehoben. / Seine Nachkommen, wer kann sie zählen? / Denn sein
Leben wurde von der Erde fortgenommen. [Jes 53,8 G]
Wagen von Jerusalem herkommenden und – gemäß antikem Brauch
– laut das Buch des Propheten Jesaja lesenden Kämmerer der äthio- 34 Der Kämmerer wandte sich an Philippus und sagte: Ich bitte
pischen Königin. Nachdem der gottesfürchtige Pilger die Frage ver- dich, von wem sagt der Prophet das? Von sich selbst oder von einem
neint und dies mit dem Fehlen einer entsprechenden Unterweisung anderen? 35 Da begann Philippus zu reden und ausgehend von die-
begründet hat, erschließt ihm Philippus ausgehend vom Jesajabuch sem Schriftwort verkündete er ihm das Evangelium von Jesus. 36
das Evangelium von Jesus Christus (Apg 8,30): Als sie nun weiterzogen, kamen sie zu einer Wasserstelle. Da sagte
26 Ein Engel des Herrn sagte zu Philippus: Steh auf und zieh der Kämmerer: Hier ist Wasser. Was steht meiner Taufe noch im
nach Süden auf der Straße, die von Jerusalem nach Gaza hinabführt. Weg? 37 [Einige Textzeugen fügen hinzu: Da sagte Philippus zu ihm:
Sie führt durch eine einsame Gegend. 27 Und er brach auf. Nun war Wenn du aus ganzem Herzen glaubst, ist es möglich. Er antwortete:
da ein Äthiopier, ein Kämmerer, Hofbeamter der Kandake10, der Kö- Ich glaube, dass Jesus Christus der Sohn Gottes ist.] 38 Er ließ den
nigin der Äthiopier, der ihren ganzen Schatz verwaltete. Dieser war Wagen halten und beide, Philippus und der Kämmerer, stiegen in
nach Jerusalem gekommen, um Gott anzubeten, 28 und fuhr jetzt das Wasser hinab und er taufte ihn. 39 Als sie aber aus dem Wasser
heimwärts. Er saß auf seinem Wagen und las den Propheten Jesaja. stiegen, entführte der Geist des Herrn den Philippus. Der Kämmerer
29 Und der Geist sagte zu Philippus: Geh und folge diesem Wagen. sah ihn nicht mehr und er zog voll Freude weiter.
30 Philippus lief hin und hörte ihn den Propheten Jesaja lesen. Da
An dieser Stelle sind etliche Beobachtungen bemerkenswert:
 Vgl. Pesch, Rudolf, Die Apostelgeschichte I (= EKK V/I) Zürich / Einsiedeln
1986, 295: » Die Frage des Philippus [...] ist die Grundfrage biblischer Herme- V. 29: Der Geist führt den Philippus dem Gottsucher über den
neutik. Bedingung des Verstehens der Bibel ist nicht schon das Lesenkönnen; Weg.
private Schriftlektüre ist noch keine hinreichende Bedingung dafür, daß dem V. 31: Der Gottsucher bekennt, dass ihm die Schriftstelle aus
Leser auch der Sinn der Schrift aufgeht. Die Schrift ist das Zeugnis eines dem Kontext des AT allein her unverständlich bleibt. Er weiss darum,
‚Weges‘, der Geschichte Gottes mit seinem Volk; und es bedarf zu ihrem
auf Belehrung angewiesen zu sein.
Verständnis eines des Weges Kundigen, der ihren Sinn aufschließt. Daß der
Prophet nicht von sich selbst oder einem anderen seiner Zeit sprach, wie der V. 35: Philippus nimmt die Frage des Gottsuchers auf und zum
Kämmerer zunächst meinte, läßt sich nicht durch schriftgelehrte Diskussion Anlass, ihm, ausgehend davon, das Evangelium von Jesus zu verkün-
– heute nicht durch historisch-kritische Exegese – entscheiden, sondern nur den. Im Licht des Kreuzestodes und der Auferstehung Jesu klärt sich
aus der Ein-Sicht in die Geschichte Jesu von Nazareth als der Aufgipfelung der die Identität der im Vierten Gottesknechtslied beschriebenen Gestalt
Geschichte Gottes mit seinem Volk.«
10 »Kandake« ist Titel der äthiopischen Königin. – »Kämmerer«, wörtlich:
und das seiner stellvertretenden Sühne. Für den, der nun aufgrund
»Eunuch«, was entweder im gängigen Sinn (Verschnittener, Entmannter) dieser Erklärung zum Glauben gekommen ist, ändert sich das Leben,
oder als Titel für einen hohen Beamten zu verstehen ist. er ist in eine neue Existenz hineingeführt worden, die sich dadurch
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ausdrückt, dass er um die Taufe bittet und durch die Taufe in die Le- wird es ganz eigenartig. Der Gast ergreift endgültig die Initiative. Der
bensgemeinschaft mit diesem gekreuzigt-auferstandenen Christus Gast wird zum Gastgeber, nimmt das Brot, spricht das Dankgebet,
eingeht. Jesus Christus über das Zeugnis der Schrift, die ein sach- und bei dieser das Abendmahl vergegenwärtigenden Geste gehen
kundiger Vertreter der Kirche in der Kraft des Heiligen Geistes aus- den Jüngern die Augen auf, und dann sehen sie ihn nicht mehr.
gelegt hat, zu Jesus Christus kommen, heißt zugleich in eine neue Die Parallele zur späteren Szene in der Apostelgeschichte mit
Existenzform eintreten. Philippus und dem Kämmerer wird überdeutlich. In der Kirchenge-
V. 39: Nach der Taufe ist Philippus plötzlich den Augen des schichte wird sich also wiederholen, was sich mit Jesus selbst zuge-
Kämmerers entzogen. Der Geist hat ihn »entführt«. tragen hat.
Die Stelle in der Apostelgeschichte hat innerhalb des lukani- Beide Male wird das Christusereignis im Licht des Alten Testa-
schen Geschichtswerkes eine vorausgehende Parallele in Lk 24, wo ments ausgelegt. Umgekehrt erweist sich Christus als der wahre Sinn
davon die Rede ist, daß der auferstandene Herr den Emmausjün- der alttestamentlichen Botschaft, der ihre tiefere, zuvor noch verbor-
gern, ausgehend von Mose und allen Propheten (sowie dann auch gene Bedeutung ans Licht bringt.
noch den Psalmen) den Sinn der Schrift erschließt, der niemand an- Sowohl in der Apostelgeschichte wie auch in der ihr vorausge-
deres ist als ER selbst. henden Emmausperikope führt die Sinnerschließung die zum Glau-
2. Der auferstandene Herr erschließt den Emmaus-Jüngern ben Gekommenen zugleich in ein neues Existenzverhältnis: Die
den Sinn der Schrift: Lk 24,13–35. 44–49 Emmausjünger, denen sich der Herr erst vollständig beim Brotbre-
chen, d.h. in der Eucharistie erschließt, kehren buchstäblich um und
Die beiden Jünger machen sich nach der Katastrophe des Karfreitags werden zu österlichen Kündern der Botschaft von der Auferstehung
verzweifelt und niedergeschlagen auf den Heimweg nach Emmaus, Jesu Christi; der Kämmerer bittet um die Taufe und kehrt dann vol-
60 Stadien, 12 km entfernt von Jerusalem. All ihre Hoffnungen ler Freude in seine Heimat zurück11.
waren zerbrochen. Auf diesem ihrem von Trauer und Depression Von dem französischen Schriftsteller Paul Claudel (1868–1955)
bedrückten Heimweg gesellt sich der Auferstandene zu ihnen, den stammt das Wort, die Predigt der Kirchenväter sei nichts anderes ge-
sie aber nicht erkennen, und der sie durch sein geschicktes Fragen wesen als eine einzige Auswortung der Lektion von Emmaus12. Sie
dazu bringt, dass sie ihm ihren Kummer klagen. Als sie ihm auch stellten, so wie es Jesus unterwegs getan hatte, die gesamte Schrift
die Trümmer ihres Glaubens und ihre zerstörte Hoffnung hinhalten, (Gesetz, Propheten und Weisheitsbücher, wofür in Lk 24,44 die Psal-
ergreift er ein erstes Mal die Initiative, indem er beginnt, ihnen aus men stellvertretend stehen) ins österliche Licht und machen sie trans-
der Schrift ihre Glaubenszweifel und Glaubensprobleme zu lösen.
Und während es draußen immer dunkler wird, sie gehen ja in die 11 Von diesem Jesus Christus bezeugt das Johannesevangelium (Joh 1,18), daß
Nacht hinein, wird es – gegenläufig zur Tageszeit – in ihren Herzen er, der am Herzen des Vaters geruht hat, Fleisch geworden ist und in seinem
gesamten Wirken Kunde vom Vater gebracht hat, d.h. wörtlich: der Her-
immer heller. meneut des Vaters geworden ist. Mit diesen wenigen neutestamentlichen
Die entscheidenden Sätze sind: »Musste nicht der Messias all das Hinweisen ist der Horizont jeder christlichen Hermeneutik aufgespannt.
erleiden, um so in seine Herrlichkeit zu gelangen? Und er legte ihnen 12 Paul Claudel, Ich liebe das Wort, Recklinghausen 1955, 53f. Der Göttinger
dar, ausgehend von Mose und allen Propheten, was in der gesamten Neutestamentler Hans Hübner bemerkt zu der Stelle: »Jesu erste Tätigkeit
Schrift über ihn geschrieben steht« (Lk 24,26f.). Später erinnern sich als Auferstandener ist demnach das alttestamentliche Kolleg über sich selbst. Er
appelliert dabei an das Herz seiner beiden Zuhörer, appelliert an ihre Bereit-
die beiden: Brannte uns nicht das Herz? Doch sie erkennen ihn immer schaft, sich mit ihrer ganzen Person, ihrer ganzen Existenz der Botschaft des
noch nicht! Sie laden ihn ein mit den Worten: Herr, bleibe bei uns, Alten Testaments zu öffnen.« (Hans Hübner, Biblische Theologie des Neuen
denn es will Abend werden und der Tag hat sich geneigt. Und dann Testamentes III, Göttingen 1995, 141f. (Hervorhebungen H. H.)

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parent auf Christus hin. Die Predigt der Kirchenväter, die sich mit dem entsprechend eine Ur-Prägung. In der Technik gibt es den »Prototyp«,
Begriff »geistige Schriftauslegung« kurz und bündig zusammenfassen das heißt wörtlich übersetzt: Die erste Ausführung eines Modells.
lässt, ist, das soll damit gesagt werden, die konsequente Anwendung Nun verwendet das NT diesen Begriff mehrfach, wenn es sich
dieses Prinzips, dass das ganze Alte Testament auf die Vollendung auf das AT bezieht. Allen voran ist Röm 5 zu nennen: Adam ist das Ur-
des Heilsgeschehens im Leben und Sterben Jesu Christi vorausweist. bild, das Vorausbild für den Kommenden, für Christus. Man spricht
Die Bezeichnung dieser Art von Verstehen des Alten Testaments in der Theologie von der Adam-Christus-Typologie. Christus, der
als »geistiges Verstehen« oder eben »geistiger Schriftsinn« ist nicht Gottmensch, ist der wahre und »letzte« Adam (vgl. 1 Kor 15,45), in
die einzige Begrifflichkeit, der man in diesem Zusammenhang be- dem Gott selbst die mit der Schöpfung verbundene Urgestalt über-
gegnet. Die Vielfalt kann auf den ersten Blick verwirren. Im folgenden bietend wiederherstellt, nachdem die Schöpfung durch den Ein-
soll ein wenig Licht in diese begriffliche Vielfalt gebracht werden. bruch der Sünde Schaden genommen hatte.
Als es darum ging, die wichtigsten Beiträge von Henri de Lubac, Eine weitere wichtige Stelle ist 1 Kor 10,1–11. Dort heißt es, die
der durch seine Studien maßgeblich dazu beigetragen hat, die wahre Ereignisse des Exodus seien typoi, Vorausbilder für das Heilsgesche-
Bedeutung der klassischen Lehre wieder zu erkennen und auch ihre hen in Christus: der Exodus, also die Herausführung Israels aus Ägyp-
Gegenwartsrelevanz wahrzunehmen, in deutscher Sprache zu ver- ten und die Rettung in der Hindurchführung durch das Rote Meer;
öffentlichen und dafür einen passenden Titel zu wählen, haben sich die Speisung mit dem Manna; die Gabe des Trankes in der Wüste,
Übersetzer und Verlag für folgende Zusammenstellung von Begrif- das Wasser aus dem Felsen. All dies geschah, so Paulus in 1 Kor 10,11,
fen entschieden: »Typologie – Allegorie – Geistiger Sinn«13: vorausbildhaft, und sollte sich durch Christus in der Kirche in ver-
gleichbarer, das Urbild allerdings überbietend, wieder ereignen.
V. Typologie / Allegorie / Geistiger Sinn: verschiedene Schließlich ist 1 Petr 3, 20–22 zu nennen: Die Sintflut ist ein
Aspekte ein- und derselben Sache Vorausbild für die Taufe, in der alles Widergöttliche und Sündhafte
Diese Zusammenstellung ist im Sinne einer Steigerung gemeint, in- abgewaschen, sozusagen vernichtet wird. Das besondere an dieser
sofern damit jeweils dieselbe Sache unter einer immer tieferen Rück- Passage aus dem Ersten Petrusbrief ist, dass hier von der Überbie-
sicht bezeichnet wird. tung in der Taufe ausgegangen wird, die als »antitypos«, also als Ge-
genbild bezeichnet wird.
1. Typos = Vorausbild; lat. figura. Davon abgeleitet: Typologie Ausgehend von diesem Verfahren, das schon Jesus selbst ange-
(Entsprechungslehre) wandt hatte und das dann Paulus mit dem Wort »typos« benennt,
Was meint der erste der verwendeten Begriffe »Typologie«, oder »Ty- hat man später in der theologischen Fachsprache, die sich zur Erklä-
pologisches Auslegungsverfahren«? rung dieser Hermeneutik entwickelt hat, den Begriff der Typologie
Das griechische Wort »Typos« ist im Deutschen längst als Lehn- eingeführt14.
wort heimisch geworden. Wir sprechen von »Typ« oder »Typen«. 14 Forschungsgeschichtlich bedeutsam war das Buch: Leonhard Goppelt,
Gemeint ist damit ein »Vorbild«, ein »Urbild«, ein »Muster«. Wörtlich Typos. Die typologische Deutung des Alten Testaments im Neuen, Gütersloh
steckt darin das Verbum: »schlagen«, »prägen«, ein »Typos« ist dem- 1939 (ND: Darmstadt 1990). Es steht für die Wiederentdeckung des typolo-
gischen Auslegungsverfahrens auch in der wissenschaftlichen Exegese und
13 Vgl. Lubac, Henri de, Typologie – Allegorie – geistiger Sinn. Studien zur vertrat die These, dass typologisches Denken nicht eine überholte und ver-
Geschichte der christlichen Schriftauslegung (= Theologia Romanica 23), nachlässigenswerte Nebenerscheinung, sondern die für das Neue Testament
Aus dem Französischen übertragen und eingeleitet von Rudolf Voderholzer, charakteristische Methode ist, sich heilsgeschichtlich auf das Alte Testament
Freiburg 1999. zu beziehen.

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Typologische Auslegung heißt dem entsprechend die Suche im 2. Allegorie (wörtlich: »anderes sagen«; Gal 4,24)
Alten Testament nach Vorausbildern, nach Ähnlichkeiten, nach ver-
Ein anderer Terminus, der einen Aspekt der Auslegung auf Christus
gleichbaren Strukturen, die im AT aus sich heraus auf die Wirklichkeit
hin thematisiert, ist in der Geschichte noch häufiger anzutreffen:
des Neuen Testaments vorausweisen. Dies ist legitim, weil es letzt-
»Allegorie«. Er kann oft gleichbedeutend mit »geistiger Sinn« ver-
lich ein und derselbe Gott ist, der sich im Alten und im Neuen Testa- wendet werden.
mente offenbart, der sich auch in seinem Handeln treu bleibt und Auch die Rede von der Allegorie hat ihren Ausgangspunkt im
sich in jeweils ähnlicher und vergleichbarer Weise zu erkennen gibt. Neuen Testament. An einer Stelle nämlich verwendet der Apostel
Klassische Beispiele sind die schon genannte Rettung des Volkes Paulus diesen Begriff, und zwar in Gal 4,24, wenn er sagt, die bei-
Israel durch den Zug durch das Rote Meer als Vorausbild für die den Frauen Abrahams, nämlich Sarah und Hagar, seien »allegorisch
Taufe; oder, angelehnt an Beispiele, die Jesus selbst anführt, Jonas zu verstehen«. Damit will er sagen, auch diese Geschichten aus dem
als Typus Christi: »Wie Jona drei Tage und drei Nächte im Bauch des Buch Genesis verweisen auf das Heilsgeschehen in Christus, insofern
Fisches war, so wird auch der Menschensohn drei Tage und drei Hagar das Vorausbild ist der unfreien Synagoge, während Sarah das
Nächte im Inneren der Erde sein« (Mt 12,40)15. In all diesen Fällen Vorausbild der vom Gesetz befreiten Kirche ist, die Paulus dann eben
ist wichtig das Moment der Überbietung des Typos oder Vorbildes auch unsere Mutter nennen kann. Paulus, der im Galaterbrief die
durch die Wirklichkeit, den Antitypos, Christus. Galater beschwört, sich nicht wieder unter das jüdische Gesetz zu
Das lateinische Wort für Typos ist »figura«, Figur oder Form: begeben, da sie doch zur Freiheit des Evangeliums geführt worden
Deshalb kann man diese Art der Durchführung der geistigen Aus- sind, unternimmt mit dieser Argumentation einen letzten Versuch,
legung auch »figürliche Auslegung« genannt finden. Sie beschreibt die Galater zum Verbleib in der Freiheit und zur Anerkenntnis ihrer
sozusagen die Methode der geistigen Auslegung. neu gewonnenen Würde zu bewegen.
Die Typologie, die als Methode in der Geschichtsdeutung ins- Unter der Rücksicht der Schriftauslegung ist diese Stelle aus
gesamt Anwendung findet, ist nur ein erster, man könnte sogar dem Galaterbrief vor allem deshalb wichtig, weil in ihr der Termi-
sagen, noch äußerlicher Aspekt an der geistigen Schriftauslegung. nus biblisch bezeugt ist, der über weite Strecken der Begriff für den
Er bedarf einer inneren Legitimation. Ihr kommt man näher mit dem »geistigen Schriftsinn« werden sollte. Mit »Allegorie« wird dabei
nächsten Begriff. vornehmlich der Text verstanden, der einen tieferen Sinn birgt,
15 Ein Beispiel für geistige Schriftauslegung ist, davon ausgehend, der Kom-
das Verfahren der Erschließung dieses Sinnes bezeichnet man als
mentar des Hieronymus (347–420) zum Buch des Propheten Jona, der »Allegorese«.
erst kürzlich in der Quellenreihe Fontes Christiani (abgekürzt: FC) in einer Etwa zeitgleich mit Paulus wird auch der jüdische Philosoph
deutsch-lateinischen Ausgabe erschienen ist: Hieronymus, Kommentar zu Philo von Alexandrien (15/10 v. Chr. – 50 n. Chr.) den Begriff der
dem Propheten Jona (= FC; Bd. 60), übersetzt und eingeleitet von Siegfried
Allegorie einführen bei seinem Bemühen, die überlieferte biblische
Risse, Turnhout 2003. In der genannten Reihe, die eine ältere »Bibliothek der
Kirchenväter« (abgekürzt: BKV) fortführt, sind viele frühkirchliche Kommen- Tradition in einem veränderten zeitgeschichtlichen Kontext aufge-
tare im geistigen Schriftsinn aufgenommen. Doch es sind noch bei weitem klärten hellenistischen Juden zu vermitteln. Seine allegorischen Deu-
nicht alle Texte aus dem Griechischen bzw. Lateinischen übersetzt. Aus einer tungen ähneln formal in vieler Hinsicht den von christlichen Auto-
Fülle von weiteren Beispielen seien hier nur noch die Genesis-Homilien des ren vorgetragenen, unterscheiden sich aber inhaltlich dadurch, dass
Origenes erwähnt: Origenes, Homilien zum Buch Genesis (= Edition Cardo;
Bd. 90). Übertragen und herausgegeben von Sr. Theresia Heither OSB, Köln
Philo kosmologische, philosophische oder moralische Deutungen
2002. Vgl. auch: Fiedrowicz, Michael (Berab.), Prinzipien der Schriftausle- der biblischen Geschichten vorträgt, während die christlichen Deu-
gung in der Alten Kirche (= Traditio christiana 10), Frankfurt 1998. tungen alle unter christologischem Vorzeichen stehen werden. Ähn-
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liches gilt für die allegorisierenden Mythendeutungen im helleni- Etwas »allegorisch« auslegen, heißt im Gefolge des heiligen
stisch-heidnischen Umfeld, welche die überlieferten Erzählungen Paulus, es im Geiste, geführt vom Geist, erleuchtet vom Heiligen
von den Göttern als Ausdruck philosophischer Weisheiten, nicht Geist, auf Christus hin auslegen, und zwar – wie man noch hinzufü-
aber als reale Gegebenheiten zu verstehen lehrten16. gen muss – auf den ganzen Christus hin, auf Christus und die Kirche,
Wie kaum ein anderer theologischer Begriff ist somit die Ver- in der er durch die Zeiten hindurch fortlebt. Damit sind wir beim
wendung des Begriffs der »Allegorie« / »Allegorese« von Missver- dritten Terminus angelangt, auf den die Reihung zuläuft:
ständnissen und Doppeldeutigkeiten überlagert17. In der Kunst-
geschichte denkt man an »Personifizierungen« (»Allegorie des 3. Der Sinn, den der Geist eröffnet
Frühlings«), in der gegenwärtigen Bibelwissenschaft wird mit »Al- Die umfassendste und tiefste Bezeichnung für diese Art der Ausle-
legorie« vor allem eine Sonderform des Gleichnisses bezeichnet, in gung der ganzen Schrift auf Christus hin ist »geistige« Auslegung.
dem es, nicht wie beim Gleichnis, das den Schwerpunkt der Aus- Denn das Erkenntnisprinzip, das sowohl der typologischen oder fi-
sage auf einen einzigen Vergleichspunkt legt, auf alle Einzelheiten gürlichen Auslegung bzw. der allegorischen Auslegung zugrunde
ankommt. Schon in der Antike, und damit ist das gravierendste Miß- liegt, ist der Heilige Geist, von dem der Herr im Abendmahlssaal
verständnis angesprochen, wurde manchen christlichen Allegori- in der Stunde des Abschieds sagt, er werde die Jünger in die ganze
kern unterstellt, sie würden mit der Methode der Allegorie die Bibel Wahrheit einführen (Joh 16,13). Erkenntnisprinzip ist der Heilige
mit den heidnischen Mythen auf eine Stufe stellen, ähnlich wie die Geist, der wesentliche Inhalt aber ist Christus. Christus und der Geist
hellenistischen Mythendeuter durch übertragende Auslegungen an- dürfen nicht auseinander gerissen werden.
stößige Stellen weginterpretieren und somit und die geschichtliche Der geistige Sinn erschließt sich nicht einfach der wissenschaft-
Basis der Heiligen Schrift leugnen. Gerade mit diesem letzten Miss-
lichen Analyse. Wenngleich er dem buchstäblichen, von wissen-
verständnis tat und tut man der allegorischen Auslegung großes
schaftlicher Exegese erarbeiteten Sinn auch nicht entgegengesetzt
Unrecht. Allegorische Auslegung im christlichen Kontext bedeutet
ist, entstammt er einer anderen Quelle: Der geistige Sinn ist ein Ge-
nicht die Leugnung der Geschichte, sondern ihre Durchleuchtung
schenk des Heiligen Geistes. Die Kirchenväter betonen immer wie-
auf ihren tieferen Sinn hin18.
der, dass man um ihn beten muss19. Er wird mehr empfangen als
16 So haben etwa »aufgeklärte« antike Mythendeuter die Geschichte des erarbeitet.
Saturn, der seine Kinder verschlingt, interpretiert als die Zeit, die alles ver- Die geistige Auslegung, so sehr sie sich der Freiheit des Geistes
schlingt, was sie hat entstehen lassen. Die Geschichte der Hera, wie sie von
verdankt, ist umgekehrt nicht eine beliebige Auslegung, sondern sie
Zeus in Ketten gelegt und auf dem Olymp in der Luft aufgehängt wird mit
zwei Ambossen um die Knöchel und einer goldenen Kette an den Händen, hat als Norm und Richtschnur die Reinheit des Glaubens, die »Re-
wurde »allegorisch« als ein Sinnbild für die Hervorbringung des Universums gula fidei«, das Credo der Kirche, wie es schon den Schriften des
mit seinen vier Elementen gedeutet. Henri de Lubac, der großen Wert auf Neuen Testaments selbst zugrunde liegt und vorausgeht 20, und mit
den Unterschied zwischen heidnischer und christlicher Allegorie legt, fragt:
»Findet man denn in der Väterexegese irgend etwas, was vergleichbar wäre 19 Vgl. dazu de Lubac, Typologie – Allegorie – Geistiger Sinn, 168f.
mit der ‚allegorischen‘ Deutung derselben Hera, die Thetis mit Okeanos ver- 20 Es gehört zu den wichtigsten Ergebnissen der historischen Forschung, dass
söhnt, eine Szene, in der Interpreten des Homer eine Allegorie sahen für die die Tradition und das »Dogma«, worin sie sich verdichtet, in Gestalt der »Pra-
Übereinstimmung, die letztendlich in der Natur herrscht zwischen dem Troc- esymbola« (Vorformen des Dogmas), sachlich und zeitlich der Schriftwer-
kenen und dem Feuchten?« (Typologie – Allegorie – Geistiger Sinn, 371f.). dung der Schrift des Neuen Testamentes vorausgehen. Vgl. Schlier, Heinrich,
17 Vgl. zur Klärung: De Lubac, Hellenistische und christliche Allegorese, in: Kerygma und Sophia, in: ders., Die Zeit der Kirche: Exegetische Aufsätze
Ders., Typologie – Allegorie – Geistiger Sinn, 343–391. und Vorträge, Freiburg 1955. 31962, 206–232. Die wichtigsten dieser Credo-
18 Vgl. dazu ausführlich: Voderholzer, Die Einheit der Schrift, 177–234. Sätze sind: 1 Kor 15,3–5; Röm 10,9; 1 Kor 8,6; Phil 2,6–11 usw.

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dem die geistige Auslegung nach dem klassischen Verständnis nicht in 2 Kor 3,9–11 den Glanz, der von Mose ausging, relativiert, indem
in Widerspruch geraten darf. er ihn als das Vergängliche der alles überstrahlenden Herrlichkeit
Schon seit Augustinus (354–430), dessen Sichtweise von Tho- des Bleibenden gegenüberstellt. Der Dienst des Mose, ein Dienst
mas von Aquin (1224–1274) später ausdrücklich bestätigt wird, ist am Buchstaben, steht dem Dienst des Geistes, d.h. dem Dienst des
unbestritten, dass ein verbindlicher Glaubensgegenstand in der Hei- Paulus gegenüber. Für Paulus hat Mose nämlich sein Gesicht deshalb
ligen Schrift im Wortsinn grundgelegt sein muss, und dass durch verhüllt, um das allmähliche Verblassen des Glanzes zu verbergen.
geistige Schriftauslegung nur gefunden werden kann, was andern- Diese Deutung mag sich nahegelegt haben durch das wiederholte
orts auch buchstäblich bezeugt ist21. Betreten des Bundeszeltes, während dessen sich der Glanz wieder
Der Glaube wird darüber hinaus in der Liturgie gefeiert. Eine erneuern konnte. Paulus löst nun das Bild des verhüllten Antlitzes
gute geistige Auslegung wird daher niemals dem Gebet der Kir- aus dem ursprünglichen Zusammenhang heraus und macht es zum
che zuwiderlaufen, aber sie kann die persönliche Frömmigkeit be- Mittelpunkt seiner Argumentation, die direkt auf die gegenwärtige
reichern. Man nennt den geistigen Schriftsinn in der Tradition der Situation abzielt: das Gegenüber von Mose-Anhängern in der Syna-
Kirche oft auch den »mystischen« Sinn, weil er das Mysterium tiefer goge und den christlichen Gemeinden. Während Mose sein Gesicht
zu erfassen lehrt, das letztlich Christus in Person selber ist. verhüllen mußte, kann Paulus offen reden, denn er ist Christus zuge-
Auch diese letzte, dann ja auch für Swedenborg bestimmend wandt, der Quelle unvergänglichen Glanzes. Ebenso kann die ganze
gewordene Bezeichnung »geistiger Sinn« hat im Neuen Testament Gemeinde mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit Gottes wi-
nicht nur terminologisch eine Grundlage, sondern sie wird von Pau- derspiegeln und so in sein eigenes Bild verwandelt werden. Ande-
lus auch hermeneutisch reflektiert. Dieser sein Gedankengang soll rerseits liegt über dem Alten Testament bis in die Gegenwart hinein
in einem nächsten Schritt nachgezeichnet werden. der Schleier, weil das Denken der Israeliten verhärtet wurde. Noch
einen Schritt weitergehend überträgt Paulus in Vers 15 schließlich
VI. »Buchstabe und Geist«: der zweifache Schriftsinn das Bild vom Schleier auf die Herzen der Israeliten, denen das wahre
Verständnis der Schriften, nämlich ihre Ausrichtung auf Christus hin,
1. 2 Kor 3,4–18: Vom Buchstaben der tötet, und vom Geist, verborgen bleibt. Wendet sich jemand aber Christus zu, fällt auch
der lebendig macht. der Schleier und die Schriften offenbaren ihm die göttliche Herrlich-
keit in ungebrochener Fülle. Diese Entbergung wird von Paulus als
Der Apostel Paulus knüpft in dieser für die Schriftauslegung und ihre
Wirkung des Geistes beschrieben. Sie umfaßt zugleich den Prozeß
Prinzipien wichtigen Stelle bei dem »Schleier« an, den Mose nach Ex
der Verwandlung der Schriften als auch den der existentiellen Be-
34,33 – vom Berg Sinai herunterkommend – über sein Gesicht zog,
kehrung des Gläubigen zu Christus hin. Christologie und Geistlehre
um die Israeliten nicht mit dem von der Begegnung mit Gott her-
sind in diesem Abschnitt auf das engste verbunden. Dennoch fallen
rührenden Glanz seines Gesichtes zu blenden22. Gemäß jüdischer
Christus und der Geist nicht in eins. Wer sich Christus zuwendet,
Auslegungstradition hielt der Abglanz des Göttlichen auf dem Ant- wendet sich dem in der Kraft des Geistes auferstandenen Herrn zu.
litz des Mose an und die Israeliten ertrugen aufgrund der Schuld, Und es ist der Geist, der lebendig macht, der schließlich auch das
die sie sich durch das Anfertigen des goldenen Kalbes während des geistige, d.h. christologische Verständnis der Schrift bewirkt. Die
ersten Aufenthaltes des Mose auf dem Sinai zugezogen hatten, sei- Verweigerung Christus und seinem Geist gegenüber macht umge-
nen Anblick nicht. Der Apostel nimmt eine Neudeutung vor, wenn er kehrt aus dem Buchstaben den Buchstaben, der tötet (vgl. 2 Kor
21 Vgl. Walter, Peter, Art. Schriftsinne, in: LThK³, Bd. 9 [2000] 268f. 3,6). Nicht der Buchstabe als solcher tötet, sondern nur die Verwei-
22 Vgl. zum Folgenden Voderholzer, Die Einheit der Schrift, 245f. gerung gegenüber dem Geist. Verstehen bzw. Nichtverstehen der
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Schrift hängt also für Paulus an der Zugehörigkeit zu Christus und allem von Adolf Jülicher (1857–1938)23 initiierte Gleichnisforschung
dem Erfülltsein mit seinem Geist. diese Allegorisierungen mit Nachdruck als falsch und dem Wortsinn
zuwiderlaufend bekämpft. Allmählich beginnt sich jedoch die Ein-
2. Gibt es ein geistiges Verständnis auch des Neuen Testaments?
sicht durchzusetzen, dass sich die unterschiedlichen Zugangswei-
Zu Beginn der Ausführungen stand ein Vergleich zweier unter- sen zur Schrift nicht ausschließen, sondern dass sie zur Synthese ge-
schiedlicher Deutungen eines neutestamentlichen Textes. Wenn es bracht werden können. Darin dürfte die größte Aktualität der Lehre
nun aber stimmt, dass das Neue Testament die geistige Auslegung vom Vierfachen Schriftsinn bestehen, in der die Hermeneutik des
des Alten Testaments ist, dann kann man doch nicht wiederum diese geistigen Schriftsinns schon früh ihre Zusammenfassung fand.
geistige Auslegung vergeistigen. Anders gesagt: Das Neue Testa-
ment ist die Erfüllung des Alten Testaments. Christus ist der Geist VII. Die Zusammenfassung der klassischen Lehre in der
des Alten Testamentes. Deshalb darf man das Neue Testament nicht
Lehre vom Vierfachen Schriftsinn
seinerseits wieder allegorisch auslegen.
Und darauf hat die Theologie auch immer wert gelegt. Insofern
Um sich die klassische Lehre leicht einprägen zu können, wurde sie im
das Neue Testament das Heilsgeschehen in Christus bezeugt, ist es
Mittelalter in einen rhythmischen Merkvers, ein Distichon, ein Zwei-
wörtlich zu nehmen: Die Verkündigung, die Geburt aus der Jung-
frau Maria, Jesu Zeichen und Wunder, sein Kreuz und seine Auferste- zeiler aus einem Hexameter und einem Pentameter, gegossen:
hung, all das darf nicht geistig bzw. allegorisch ausgelegt werden. Littera gesta docet, quid credas allegoria.
Das muss erst einmal wörtlich genommen werden. Es ist die Basis Moralis quid agas; quo tendas anagogia.
des christlichen Glaubens. Ohne Kreuz und Auferstehung in einem (Der Buchstabe lehrt die Ereignisse; was du zu glauben hast, die Alle-
ganz konkret geschichtlichen Sinn, wäre der christliche Glaube ohne gorie; der moralische Sinn, was du zu tun hast; wohin du streben
Grundlage. Anders gesagt: ein »nur« allegorisches Verständnis die- sollst, die Anagogie.)
ser Heilsgeschichte hat die Theologie immer abgelehnt.
Damit ist ausgesagt, daß die Heilige Schrift vier Sinndimensi-
Aber es gibt im Bezug auf das Neue Testament noch Weiteres
onen beinhaltet: den buchstäblichen Sinn (der mit der Geschichte
zu bedenken: Die Zeichen und Wunder Jesu, die noch vor Kreuz und
korrespondiert), den allegorischen Sinn (der sich auf den Glauben
Auferstehung geschehen, sie gehören gewissermaßen noch dem
bezieht), den moralischen Sinn (der auf das Handeln abzielt, das
Alten Bund an und verweisen über sich selbst hinaus. Die Heilungen
Jesu sind somit Vorausbilder des Heilsgeschehens in der Kirche. Die in der Liebe seine höchste Norm hat), und schließlich den anago-
Gleichnisse Jesu, die ja auch nicht einfach Heilsgeschichte bezeugen, gischen Sinn (der die Hoffnung weckt und stärkt).
sind auch auf das Ganze des Glaubens hin auszulegen. Und auch Schon ein erster Blick auf diese Lehre zeigt, daß es nicht um eine
Tod und Auferstehung sind nicht nur als neutrale Geschichtsereig- willkürliche Aneinanderreihung von in sich unzusammenhängenden
nisse erzählt, sondern wollen den Hörer und Leser ins Geschehen Aspekten geht, sondern daß darin eine Struktur erkennbar wird, die
mit hinein nehmen. Und so haben die Kirchenväter und mittelalter- den gesamten Glaubensvollzug umfaßt: Die Schrift bezeugt ein Ge-
lichen Theologen schließlich auch von einem geistigen Verstehen schehen, ist also kein Mythos. Dieses Zeugnis (des Buchstabens) will
des Neuen Testamentes gesprochen. Ein Beispiel geistiger oder »al- im Leser und Hörer den Glauben wecken, der nun in der Liebe wirk-
legorischer« Gleichnisauslegung ist die Deutung der Parabel vom 23 Vgl. Jülicher, Adolf, Die Gleichnisreden Jesu I, Tübingen 1899 [= ²1910],
Barmherzigen Samariter auf Christus hin. Nachdem die allegorische 50, wo er bekennt, die allegorisierende Gleichnisauslegung bekämpfen zu
Gleichnisdeutung lange Zeit in der Kirche üblich war, hat die vor wollen.

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sam wird und in der Hoffnung auf die ewige Gemeinschaft mit Gott hende, in dieser Terminologie eben »Allegorie« genannte Schriftsinn
seinen letzten Ziel- und Orientierungspunkt hat. hat zwei weitere Aspekte in sich, die nicht einfach noch draufgesetzt
Im einzelnen: Der Buchstabe lehrt die Ereignisse. Dies besagt, werden, sondern ein inneres Moment darstellen.
daß die Heilige Schrift Alten und Neuen Testaments, wie oben be- Der moralische Sinn, was du zu tun hast: In der Schrift als ganzer
reits ausgeführt, zu verstehen ist als Zeugnis einer geschichtlichen und somit auch in jedem Abschnitt ist auch Lebensweisung enthal-
Offenbarung Gottes in seinem Volk Israel und dann als Ziel und Hö- ten. Die Schrift zielt auf die Verwandlung des Christen in einen lie-
hepunkt in Jesus Christus. Die Heilige Schrift ist nicht selbst Offenba- benden Menschen ab. Der Glaube verwirklicht sich in der Liebe, sagt
rung, sondern Offenbarungszeugnis, insofern menschliche Autoren, schon der Apostel Paulus.
vom Heiligen Geist inspiriert, in menschlichen Worten Ereignisse Seinen Zielpunkt hat die Lehre vom Vierfachen Schriftsinn in
bezeugen, in denen sich Gott selbst kundtut: Gottes Wort in Men- der Eschatologie.
schenwort. Die traditionelle Schriftauslegung ordnet dieser ersten Wohin du streben sollst, die Anagogie: Anagogie, von griech.
Ebene den buchstäblichen Sinn zu24. »ana« = »hinauf« und »agein« = »führen« ist ein Wortneuschöpfung
Bleibend gültig und zunehmend von geradezu entscheidender und bezeichnet die letzte Dimension, in die sich das biblische Zeug-
Bedeutung ist die grund­sätzliche Überzeugung, daß christlicher nis erstreckt. Das in der Schrift bezeugte Wort Gottes baut nicht
Glaube sich nicht auf allzeit gültige philosophische Aussagen oder auf nur den Glauben auf und entfacht nicht nur die Liebe des Christen,
in Mythen und Märchen gekleidete menschliche Einsichten stützt, sondern führt seinen gläubigen Blick immer auch hin zu den verhei-
sondern auf der Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte beruht. ßenen und erhofften Gütern.
Was du zu glauben hast, die Allegorie: In einem zweiten Schritt, Die beiden letzten Aspekte sind dabei aber nicht äußere Hin-
der in der theologischen Tradition mit »allegoria« bezeichnet wird, zufügungen zur Allegorie, sondern gewissermaßen ihre innere
geht es nun um die theologische Deutung des geschichtlichen Er- Dimension25. Es gibt keinen Glauben ohne Hoffnung und ohne
eignisses. Zum rechten Verständnis der klassischen Lehre ist es wich- Liebe. Deswegen bewegt der geistige Sinn der Schrift den Leser
tig, dass der spezifisch christliche Bedeutungsgehalt des so vielfach und Betrachter immer schon hin zu einem Leben in Glaube, Hoff-
mißverstandenen Begriffs Allegorie/Allegorese beachtet wird. Unter nung und Liebe.
Allegorie, noch einmal sei es betont, versteht die gesamte Tradition Somit umfassen die drei über den buchstäblichen Sinn hinaus-
der Kirche den theologischen Zugang zur Schrift, der auf dem hi- gehenden Glieder insgesamt den »geistigen« Schriftsinn. Zur Ver-
storischen Fundament aufbaut und das geschichtliche Zeugnis auf anschaulichung der Lehre eignet sich das Beispiel »Jerusalem«, das
die sich darin bekundende Selbstmitteilung Gottes befragt. »Die Al- Johannes Cassian26 bereits im 5. Jh. zur Illustration des Vierfachen
legorie baut den Glauben auf«, wird Gregor der Große sagen und Schriftsinns herangezogen hat.
damit eine klassische Formulierung prägen.
Damit aber ist für den Christen noch nicht das Ziel der Schrift- Das vierfache Jerusalem
begegnung erreicht. Der über den buchstäblichen Sinn hinausge- Es umgreift durch seine Weite irgendwie alle anderen möglichen
24 Die Entwicklung der modernen exegetischen Wissenschaft nötigt im Hin- Beispiele. Die Stadt Jerusalem kann nacheinander in einem vierfa-
blick auf diese erste Ebene zu einigen weiteren Überlegungen. Nicht jeder chen Sinn verstanden werden: 1. Jerusalem als historische Stadt ist
biblische Text hat ein geschichtliches Ereignis im Blick. Man weiß heute der Schauplatz der Passion Jesu und damit Ort der Heilsgeschichte.
aufgrund der Arbeiten der sog. Gattungskritik zu unterscheiden zwischen
verschiedenen literarischen Formen, die jede ernstzunehmende Auslegung 25 Vgl. De Lubac, Typologie – Allegorie – Geistiger Sinn, 225f.
beachten muss. 26 Vgl. Johannes Cassian (360/65 – 432/435), Unterredung 14,8.

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2. Im allegorischen Sinn kann Jerusalem als Sinnbild für die in Chri- 1. Integration von Wissenschaft und Mystik
stus erneuerte Stadt Gottes (Civitas Dei) gelten. 3. Im moralischen
Die kirchlich vermittelte und vom Geist getragene mystische Be-
Sinn bezeichnet sie die christliche Seele, in die der Herr Einzug hal-
ziehung zu Christus steht nicht in Konkurrenz zu wissenschaftlicher
ten will wie seinerzeit in das historische Jerusalem. Und schließlich
Kritik, schon gar nicht zu einer historisch-kritischen Erforschung der
4. kennt schon die Apokalypse das Bild vom himmlischen Jerusalem
geschichtlichen Grundlagen des Glaubens28. Billige Kritik an der hi-
als der Stadt der Vollendung.
storischen Forschung beraubt sich nicht nur einer möglichen und
Die Lehre vom Vierfachen Schriftsinn muß nicht so verstan-
auch notwendigen Vergewisserung des Wahrheitsanspruchs des
den werden, daß in jedem Schriftwort oder Schriftabschnitt alle
christlichen Bekenntnisses, sondern stellt auch der vorgeblichen
vier Sinndimensionen aufweisbar sind. Entscheidend ist die Grund-
»Mystik« ein schlechtes Zeugnis aus. »Der Gegensatz zu einer ge-
einsicht und die sich darauf stützende, den gesamten christlichen
sunden Kritik ist die Kritiklosigkeit oder die Überkritik. Der Gegensatz
Glaubensvollzug in der Schrift verwurzelnde Dynamik: von der Ge-
zu einer guten wörtlichen Exegese ist eine schlechte wörtliche Exe-
schichte zum Glauben, der sich in der Liebe verwirklicht und von der gese. Die Praxis der geistigen Auslegung ist weder eine Gewähr für
Hoffnung getragen ist. kritischen Geist, noch ein Zeichen für mangelnde Kritik«29.
Der Alttestamentler Norbert Lohfink hat die aktuelle Bedeu- So wird die Lehre vom Vierfachen Schriftsinn zunehmend in
tung der Lehre vom Vierfachen Schriftsinn mit folgenden Worten ihrer Bedeutung wieder erkannt und als Lösung für manche Apo-
beschrieben: »Die uns heute so fremdartig anmutende Hermeneu- rien im Bereich der biblischen Hermeneutik betrachtet. So empfiehlt
tik des Vierfachen Schriftsinns war nichts als ein genialer und durch der Katechismus der Katholischen Kirche (1992/93 herausgegeben)
viele Jahrhunderte hindurch praktizierter Versuch, jeden einzelnen in Nr. 115 bis 119 die Lehre vom Vierfachen Schriftsinn als Anlei-
Text immer vom Ganzen der Bibel her und auf das Ganze hin zu tung zu einer umfassenden Schriftinterpretation. Aber nicht nur im
lesen und dabei nicht loszulassen, bis der Text so durchsichtig ge- katholischen Bereich erfährt diese traditionelle Lehre eine Renais-
worden war, dass er seine Bedeutung für die eigene Glaubense- sance. Auch im Bereich der evangelischen Theologie mehren sich
xistenz aufleuchten ließ«27. die Stimmen, die sich dieser vom älteren Luther verworfenen The-
orie wieder annähern. So bekennt der Göttinger Neutestamentler
VIII. Die Wiederentdeckung der Lehre vom geistigen Hans Hübner (* 1930): »Hätte mich jemand vor einigen Jahrzehnten
Schriftsinn (Vierfachen Schriftsinn) gefragt, ob ich etwas Positives zur mittelalterlichen Lehre vom vier-
Gerade angesichts der zunehmend erkannten Grenzen eines nur fachen Schriftsinn sagen könnte, ich hätte überlegen lächelnd, viel-
historisch-kritischen Zugangs zur Heiligen Schrift ist gegenwärtig leicht sogar ein wenig von oben nach unten herab gesagt: ›Fra-
vielerorts eine Renaissance der Lehre vom geistigen Sinn der Schrift gen Sie doch einmal meinen Kollegen, vielleicht tut’s der!‹ Vielleicht
oder eben der Lehre vom Vierfachen Schriftsinn zu beobachten. hätte ich als lutherischer Theologe auf Dr. Martin Luther, dessen
Ihr kommt dabei ihre integrative Kraft zugute. Denn die klassische frühe Bibelauslegung immerhin Thema meiner Dissertation war, ver-
Lehre zwingt nicht zur Verabschiedung des historisch-kritischen Zu- 28 Vgl. Rudolf Voderholzer, Mystik aus dem Mysterium. Henri de Lubac (1896–
gangs, sondern ermöglicht ihre Integration in einen umfassenderen 1991) und die Erneuerung der Theologie aus der einen Quelle der Offenba-
Zugang zur Schrift. rung, in: Delgado, Mariano / Fuchs, Gotthard (Hgg.), Die Kirchenkritik der
Mystiker. Prophetie aus Gotteserfahrung, Bd. III. Von der Aufklärung bis zur
27 Lohfink, Norbert, Bibel und Bibelwissenschaft nach dem Konzil, in: Ders., Gegenwart, Fribourg / Stuttgart 2005, 441–459.
Bibelauslegung im Wandel. Ein Exeget ortet seine Wissenschaft, Frankfurt 29 Henri de Lubac, Geist aus der Geschichte. Das Schriftverständnis des Orige-
²1967, 13–28, hier 23. nes, Einsiedeln 1968, 497, Anm. 184.

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wiesen und hätte voller Stolz darauf aufmerksam gemacht, daß Lu- tergabe prinzipiell deutungsoffener historischer Texte. In der altte-
ther auf dem Wege von seiner ersten Psalmenvorlesung (1513/15) stamentlichen Wissenschaft spricht man seit den 50er Jahren des
zur Römervorlesung (1515/16) den vierfachen Schriftsinn, der doch 20. Jahrhunderts von »relecture«,33 wobei das »Wiederaufnehmen«
Einfallstor für alle möglichen Auslegungssubjektivismen und Willkür von historischen Texten in neuen Kontexten diesen auch neue Be-
sei, überwunden habe. Heute freilich schaue ich nicht mehr so de- deutungsaspekte verleiht34. Dabei kommt es darauf an, dass sich
spektierlich auf die sog. allegorische Schriftauslegung eines Philon der Übergang vom Alten zum Neuen Testament nicht auf derselben
von Alexandrien oder eines Origenes. Und heute scheint mir der Ebene vollzieht wie die inneralttestamentlichen relectures, handelt
bekannte mittelalterliche Zweizeiler über den vierfachen Schriftsinn es sich doch im Falle des im Neuen Testament bezeugten Christus-
gar nicht mehr als der Inbegriff aller Torheit [...]. Natürlich, als Exe- ereignisses nicht um eine weitere Etappe alttestamentlicher Heilsge-
get einer theologischen Fakultät z.Z. des ausgehenden 20. Jahrhun- schichte, sondern um die Stiftung des Neuen und Ewigen Bundes
derts lasse ich mich nicht mehr in das Prokrustesbett der mittelal- und damit um eine eschatologische Neukontextualisierung, welche
terlichen Methodik hineinzwängen. Ich frage mich jedoch, ob sich die gesamte Schrift des Alten Testaments in eine neues Licht taucht.
nicht hinter all den Willkürlichkeiten, die unbezweifelbar durch die Denn in je unterschiedlicher Weise unterziehen alle neutestament-
Praxis des mehrfachen Schriftsinnes produziert wurden, eine Wahr- lichen Autoren das Alte Testament einer christologischen »relecture«.
heit verbirgt, die zu bedenken uns unbedingt aufgegeben ist.«30 Diese »relecture« aber, um mit Karl-Heinz Menke zu sprechen, »un-
Von Seiten der alttestamentlichen Wissenschaft hat vor allem terscheidet sich von allen inneralttestamentlichen Aktualisierungen,
Brevard S. Childs mit seinem so genannten »canonical approach«
weil sie nicht nur durch so genannte Weissagungsbeweise oder ty-
(kanongemäßer Zugang zur Schrift) die klassische Zuordnung der
pologische Exegese, sondern vor allem und zuerst durch die Iden-
Testamente und die in Christus konvergierende Einheit der Bibel neu
tifikation des Jesus Christus mit dem Wort Gottes erfolgt. Da es ein
sehen und verstehen gelehrt31.
überbietbares Wort Gottes nicht geben kann, ist Jesus Christus nicht
2. Überraschende Bestätigung von Seiten der
33 Vgl. Albert Gelin, La question des »relectures« à l’intérieur d’une tradition vivante,
Literaturwissenschaft: Rezeptionsästhetik in : Sacra Pagina I (BETHL XII), Gembloux 1958, 303–315, besonders 304. Der
Die neueste Entwicklung in der Wiederentdeckung der Lehre vom Hinweis findet sich bei: Klaus Scholtissek, Relecture – zu einem neu entdeckten
Programmwort der Schriftauslegung, in: BiLi 70 (1997) 309–315, hier: 313.
geistigen Schriftsinn vollzieht sich auf der Basis der Rezeption rezep- 34 Es gehört zu den allgemein nachvollziehbaren Erfahrungen, dass man von
tionsästhetischer Einsichten in der Theologie32. Die Rezeptionsäs- Anderen bisweilen besser verstanden wird, als man sich selbst versteht.
thetik geht aus vom Sinn konstituierenden Beitrag des Rezipienten Oder Prediger, die im Abstand von einigen Jahren wieder dieselbe Schrift-
bzw. einer Rezeptionsgemeinschaft bei der Interpretation und Wei- stelle auszulegen haben, kennen das Phänomen, dass vertieftes theologi-
sches Studium, aber auch Lebenskrisen, einschneidende Erfahrungen oder,
30 Hans Hübner, Eine moderne Variante der mittelalterlichen Lehre vom vierfa- im besten Fall, der Fortschritt im geistlichen Leben in der Regel zur Folge
chen Schriftsinn: Vetus Testamentum in Novo receptum, in: Ders., Biblische haben, dass ein Schrifttext auf ganz neue Weise spricht, dass ganz andere
Theologie als Hermeneutik, Göttingen 1995, 286–293, hier: 286. Aspekte und Zusammenhänge aufleuchten, die in einem früheren Stadium
31 Childs, Brevard S., Die Theologie der einen Bibel, 2 Bde., Freiburg 1994 und ohne bestimmte Lebenserfahrungen, ohne entsprechende lebensgeschicht-
1996. liche Neukontextualisierung so nicht wahrgenommen werden konnten. Vgl.
32 Vgl. Rudolf Voderholzer, »Die Heilige Schrift wächst irgendwie mit den schon Montaigne (1533–1592): »Ein gebildeter Leser entdeckt in den Texten
Lesern« (Gregor der Große). Dogmatik und Rezeptionsästhetik, in: MThZ 56 oft andere Vollkommenheiten als solche, die der Autor selbst in sie gelegt
(2005) 162–175. Vgl. Georg Braulik, Rezeptionsästhetik, kanonische Inter- oder an ihnen bemerkt hat. Und derart verleiht der Leser dem alten Text
textualität und unsere Meditation des Psalters, in: Heiliger Dienst 57 (2003) immer reichere Bedeutung und Gesichter« (zit. nach H.R. Jauß, Art. Rezep-
57–81, hier: 57f. tion. Rezeptionsästhetik, in: HWP 8 [1992] 996–1004: 999).

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die Überbietung des Wortes Gottes, welches die Schriften des AT zu auf dem Weg zu Gott angesehen
sein beanspruchen. Vielmehr ist Christus, wie Irenaeus (haer. II, 28, und täglich eingeübt wird, dann
3) formuliert, das eine Wort in den vielen Worten.«35 legt sich ein allegorisches, oder
Vor diesem Hintergrund hat mit Ludger Schwienhorst-Schön- sagen wir etwas offener: ein gei-
berger neuerdings sogar wieder ein Vertreter der alttestamentlichen stiges Verständnis durchaus nahe.
Wissenschaft für die Rehabilitierung der allegorischen Hohelieddeu- Die allegorische Interpretation
tung im Kontext monastisch-kontemplativer Frömmigkeit plädiert.36 wäre dann nur die reflexive Fas-
Er lässt eine lange vorherrschende Denunzierung der allegorischen sung dessen, was in diesem Rezep-
Hoheliedauslegung hinter sich und plädiert für eine Neubewertung tionskontext wie selbstverständlich
der traditionellen Sichtweise. Bedenkt man, dass das Hohelied der wahrgenommen wird.«37
Liebe einer der bevorzugten Texte geistiger Schriftauslegung war, In einem Bericht zur Lage der
zeichnet sich hier eine bemerkenswerte Annäherung der Positionen alttestamentlichen Theologie der
und damit die Wiedergewinnung eines wichtigen Ausschnitts tradi- Gegenwart stellte Schwienhorst-
tioneller, von der Auslegung der Heiligen Schrift genährter Mystik Schönberger neuerdings sogar die
an. Schwienhorst-Schönberger trägt dabei einerseits der historisch- Frage, ob sich momentan nicht sogar ein »Paradigmenwechsel«38 in
kritischen Rekonstruktion der ursprünglichen Bedeutung in einem der Bibelwissenschaft vollzieht. Dies käme einer Rückkehr zu wesent-
Primärkontext als profane Liebeslyrik Rechnung – dies hat bleibende lichen Einsichten der Lehre vom geistigen Schriftsinn gleich.
Bedeutung und unbestrittene Legitimität –, verweist aber anderer-
seits auf die rezeptionsästhetische Einsicht, »dass die Bedeutung IX. Aus-»Blick«: der Verduner Altar als vollkommenste
eines literarischen Textes kein zeitlich abgeschlossenes Phänomen künstlerische Umsetzung typologisch-geistiger
ist. Sie ist weder einfachhin identisch mit der Intention des Autors Schriftauslegung
noch mit der Bedeutung, die in einer ersten Rezeptionsphase kon-
stituiert wird. Ändert sich der Rezeptionskontext, ändert sich auch Der Verduner Altar ist die vielleicht vollkommenste künstlerische
die Bedeutung. Mit ›Rezeptionskontext‹ meine ich«, so fährt Schwi- Durchführung typologisch-geistiger Schriftauslegung und typolo-
enhorst-Schönberger fort, »jetzt sowohl den sprachlichen als auch gischer Geschichtstheologie39. Er wurde vom Meister Nikolaus von
den außersprachlichen ›Zusammenhang‹. Liest jemand das Hld im Verdun40, daher der Name, 1181 für die Kanzelbrüstung der Kloster-
Kontext der Heiligen Schrift mit dem Vorverständnis, hier ginge es
37 Schwienhorst-Schönberger, Das Hohelied und die Kontextualität des Verste-
durchgehend um Gott, um sein Verhältnis zu seinem Volk, seiner Kir- hens, 86.
che, zur Seele des Einzelnen, geschieht die Lektüre darüber hinaus in 38 Ludger Schwienhorst-Schönberger, Einheit statt Eindeutigkeit. Paradigmen-
einer monastisch-kontemplativen Lebenswelt, in der die Herauslö- wechsel in der Bibelwissenschaft, in: HerKorr 57 (2003) 412–417.
sung aus den Verstrickungen der Leidenschaft als ein Voranschreiten 39 Vgl. dazu: Röhrig, Floridus, Der Verduner Altar, 7. neu bearbeitete Auflage,
Klosterneuburg / Wien 1995. Vgl. auch: Berve, Markus, Die Armenbibel. Her-
35 Karl-Heinz Menke, Art. Wort Gottes, in: LThK³ Bd. 10 (2001), 1301. kunft. Gestalt. Typologie, Beuron ²1989.
36 Vgl. Ludger Schwienhorst-Schönberger, Das Hohelied und die Kontextuali- 40 Die genauen Lebensdaten sind nicht bekannt. Sein Wirken ist im Rhein-
tät des Verstehens, in: D.J.A. Clines; H. Lichtenberger; H.-P. Müller (Hgg.), Maas-Gebiet nachgewiesen in den Jahren 1181 bis 1205. Meister Nikolaus
Weisheit in Israel. Beiträge des Symposiums »Das Alte Testament und die gilt als einer der führenden Goldschmiede und Emailkünstler seiner Zeit.
Kultur der Moderne« anlässlich des 100. Geburtstags Gerhard von Rads Nikolaus wird auch die Mitarbeit am Dreikönigsschrein des Kölner Domes
(1901–1971), Heidelberg, 18.–21. Oktober 2001, 81–91. zugeschrieben.

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kirche in Klosterneuburg bei Wien geschaffen und etwa 150 Jahre spä- Der Taufe Jesu (Mk 1,9–11 parr.), um noch ein zweites Beispiel zu
ter zu einem Flügelaltar erweitert und umgebaut. Heute ist er in einer nennen, sind einmal der Durchzug durch das Rote Meer (Ex 14,22)
Kapelle im Kreuzgang des Augustiner-Chorherren-Stiftes Klosterneu- sowie »das Meer auf zwölf Rindern«, jener große Behälter mit Reini-
burg bei Wien untergebracht und kann dort auch besichtigt werden. gungswasser im Tempel (1 Kön 7,23–26), zugeordnet.
In drei übereinander angeordneten Bilderreihen (in der Mitte, Der Verduner Altar eignet sich darüber hinaus auch zur Illustra-
unter der Zeitangabe »sub gratia« – zur Zeit der Gnade, das Leben tion für gute und auch misslungene geistige Auslegung. Für seine
Jesu; oben die alttestamentlich-heilsgeschichtliche Etappe vor der heutige Gestalt musste der Verduner Altar nämlich im Jahre 1331 um
Gesetzgebung am Sinai »ante legem«; unten die Epoche des Alten zwei Reihen ergänzt werden. Es sind die Reihen acht und zehn. Sie
Bundes unter dem Gesetz »sub lege«) wird in 51 Emailbildern die fallen nicht nur handwerklich, wie ein geübter Blick schnell erken-
gesamte Heilsgeschichte vor Augen gestellt und der Alte Bund dem nen kann, sondern auch theologisch hinter die Bilder aus dem 12.
Neuen zugeordnet gemäß dem von Augustinus kurz und prägnant Jahrhundert zurück. Wenn, um nur ein Beispiel zu nennen, in Reihe
zusammengefassten Grundsatz: Das Neue liegt im Alten verborgen, zehn der Kreuzabnahme Jesu in der oberen Reihe »vor dem Gesetz«
das Alte liegt offen im Neuen (Novum in Vetere latet, Vetus in Novo das Bild vom Pflücken des Apfels im Paradies durch Eva gegenüber-
patet) (vgl. Dei Verbum 16). gestellt wird, dann ist leicht ersichtlich, dass hier keinerlei innerer
Dem ersten Bild in der Christusreihe, der Verkündigung Ma- Zusammenhang besteht42. Die todbringende Frucht wurde niemals
riens (Lk 1,26–38), ist beispielsweise für die Epoche »vor dem Ge- als ein Vorausbild Christi betrachtet. Schon eineinhalb Jahrhunderte
setz« die Verheißung der Geburt des Isaak zugeordnet, wie sie im nach der Verfertigung des Altars war der geistige Elan, der das Werk
Rahmen der Begegnung der drei Engel mit den schon betagten ursprünglich ausgezeichnet und der sich noch ganz an der Theolo-
Abraham und Sarah bei den Eichen von Mamre in Gen 18,1–16 ge- gie der Kirchenväter inspiriert hatte, ermattet.
schildert wird. In der Epoche »unter dem Gesetz« entspricht dem Die 51 Bilder sind nicht nur in drei Reihen aufeinander bezo-
die Ankündigung der Geburt des Simson in Ri 13,2–5. Die innere gen, sondern auch noch durch ihre spezifische Mitte innerlich struk-
Verbindung besteht darin, dass Gott jeweils durch seine Zuwen- turiert: Das Kreuzigungsbild nämlich ist nicht nur die geometrische
dung zu den Geringen und Machtlosen in der Situation mensch- Mitte des ganzen Werkes. Es ist auch noch dadurch von den ande-
licher Aussichtslosigkeit den Anfang neuen Heiles bewirkt. Das Alte ren 50 Bildern unterschieden, dass die Bildfläche ein wenig größer
Testament ist durchzogen vom Motiv der ungesegnet-gesegneten gehalten ist. Der Künstler verbindet damit die Aussage, dass das
Frauen. Er, der »die Mächtigen vom Thron stößt und die Niedrigen Kreuz, das heißt die Lebenshingabe des Gottessohnes Jesus Christus
erhebt« (Lk 1,52; vgl. Ijob 5,11), nimmt Sarah, Hanna (1 Sam 2,1–10), für das Heil der Welt, der hermeneutische Schlüssel für das Verständ-
Elisabeth (Lk 1,7) und viele andere in seinen Dienst und segnet sie nis der gesamten Heilsgeschichte ist. Christus als die Offenbarung
mit Zukunft. »Das Geheimnis des letzten Platzes (Lk 14,10) deutet Gottes in Person ist letztlich der eine und entscheidende Inhalt aller
sich an, der Platztausch von Ersten und Letzten (Mk 10,31), die Um- biblischen Zeugnisse, er ist die Mitte der Schrift (Martin Luther), von
kehr der Wertungen in der Bergpredigt, die Umkehr der in der Hy- ihm her und auf ihn hin erschließt sich, geführt vom Heiligen Geist,
bris gründenden irdischen Wertungen. Aber auch die Theologie der ihr tiefster Sinn.
Jungfräulichkeit findet ihren ersten, noch verborgenen Ansatz: Die
irdische Unfruchtbarkeit wird zur wahren Fruchtbarkeit«41.
41 Ratzinger, Joseph, Tochter Zion. Betrachtungen über den Marienglauben der
Kirche, Einsiedeln 1977, 18. 42 Vgl. auch Röhrig, Der Verduner Altar, 73.

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Das Athanasianische angenommen hat, weil es (= das Göttliche des Vaters) das gesamte
Weltall erfüllt. Aber die Vorstellung des Raumes darf auf dieses
Glaubensbekenntnis Göttliche nicht angewandt werden, weil Gott an sich betrachtet
Mensch ist, was gezeigt werden soll. Dasselbe gälte, wenn (? Si-
Ein unveröffentlichtes Manuskript militer sicut si) das Göttliche, welches Sohn heißt, das Mensch-
von Emanuel Swedenborg liche annähme, es ist nämlich mit dem Göttlichen, welches Vater
heißt, gleich. Man leugnet nämlich nicht, daß (? quia) das Gött-
Vorbemerkung der Schriftleitung: 1991 und 1994 wurde die liche des Herrn das Menschliche angenommen hat, und die Vor-
Übersetzung von »De Athanasii Symbolo« (1759) bis ein- stellung einer Ausdehnung im Universum kann man von diesem
schließlich Abschnitt 140 in den Offenen Toren abgedruckt. Göttlichen (= dem Göttl. des Sohnes) nicht mehr festhalten als
Einige Leser haben bemerkt, dass das Manuskript Swedenborgs vom Göttlichen des Vaters. (Verständnisschwierigkeiten an den
umfangreicher ist als der seinerzeit veröffentlichte deutsche mit ? gekennzeichneten Stellen)
Text. Deswegen sei hier nun auch noch der Rest der immer 145. Ausdehnung des Göttlichen im Universum kann man
nur als Rohfassung gedachten Übersetzung der kleinen, aber vom Göttlich Hervorgehenden aussagen, welches das Göttlich
interessierten Leserschaft übergeben. Wahre ist und das Wort heißt. Durch das Wort ist alles gemacht
worden, was gemacht worden ist, und die Welt ist aus ihm er-
141. Man könnte meinen, es sei gegen die Erkenntnis schaffen worden; nach den Worten bei Johannes, Kapitel 1. Aber
(­perceptionem), daß das Göttliche des Vaters das Menschliche an- man muß [auch] eine Vorstellung vom Göttlichen selber haben,
nahm; dagegen [widerspreche es der Erkenntnis] nicht, daß das eine Vorstellung wie von einem Menschen, dessen göttliche Liebe
Göttliche des Sohnes [das Menschliche annahm], obgleich es das- wie eine Sonne erscheint, und das Licht ist daher das Göttlich
selbe [Göttliche] ist, denn zum einen ist das Göttliche des einen Wahre und die Wärme das Göttlich Gute. Aber stets gehört die
auch das des anderen (wörtl. aequale alteri), es gibt nämlich nur Vorstellung der Ausdehnung allein zur natürlichen Welt, nicht zur
ein Göttliches, und zum anderen sind sie der Substanz nach eins. geistigen Welt. In dieser ist die Ausdehnung wie auch der Raum
Folglich darf es [= das Göttliche] auch nicht getrennt werden, weil und die Entfernung nur eine Erscheinung, worüber man näheres
man auf diese Weise die der Personen nach drei göttlichen Wesen, im Werk „Himmel und Hölle“ findet, wo vom Raum die Rede ist.
die als der Substanz nach ein Wesen das Menschliche annahmen, 146. Als der Herr umgewandelt und in Herrlichkeit gesehen
in anderer Hinsicht trennen würde und das eine Wesen die Seele wurde, sprach eine Stimme aus einer Wolke: „Das ist mein gelieb-
im Menschlichen wäre und das andere nicht. ter Sohn.“ Das Menschliche des Herrn war es, das umgewandelt
142. Und somit rettete das eine [göttliche Wesen] das und in Herrlichkeit gesehen wurde, und das war der Sohn Gottes
menschliche Geschlecht und nicht ein zweites, d. h. einem [gött- (Mt 17 und anderswo).
lichen Wesen] wäre das Erlösungswerk [zuzuschreiben], keinem 147. Das Wesentliche der Lehre der neuen Kirche, die neues
zweiten, denn der Herr erlöste aus seinem Menschlichen heraus. Jerusalem genannt wird, ist dies (das Vorangehende oder das
143. Und außerdem glaubt man nach dem gemeinsamen Nachfolgende ?) vom Herrn. Wer dort sein will, anerkennt das,
Glauben, daß die Seele des Herrn dem Göttlichen, welches Vater denn jene Kirche ist die eigentlich christliche Kirche, und niemand
heißt, entstammte. wird zu ihr zugelassen, außer derjenige, der einen einzigen Gott,
144. Außerdem haben die Menschen die Vorstellung, daß das somit allein den Herrn, denkt und an ihn glaubt. Dazu muß man
Göttliche, welches Vater heißt, das Menschliche deswegen nicht wissen, daß jeder nach seinem Gottesbekenntnis in den Himmel
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zugelassen wird. Man erkundet die Beschaffenheit seines Denkens sind in der geistigen Welt mit dem verbunden, was das Erkennen
und Glaubens an Gott. Durch das Bekenntnis erfolgt nämlich die sieht und der Wille liebt. Dorthin kehrt sich der Mensch und alle
Verbindung, und wenn die Verbindung vorhanden ist, dann ist seine Bereiche. Deswegen ist der ganze Himmel zum Herrn hin
auch die Erleuchtung in allen Einzelheiten gegeben. Die ganze gerichtet. Näheres über diese Verbindung entnehme man dem
Liebe und der ganze Glauben sind davon (= von dem Gottes­ Werke über Himmel und Hölle. Erfahrungen über die Hinwen-
bekenntnis?) abhängig, weswegen diejenigen, die Gott leugnen, dung (­conversione) in Übereinstimmung mit den Gedanken und
in der Hölle sind. Also ist es das Erste und Erstrangige Gott zu der Liebe, und über die Erleuchtung, wenn (die Ausrichtung) zum
wissen und anzuerkennen, zu glauben und zu lieben, das übrige Herrn hin (geschieht).
hängt davon ab. 152. Mehrere Geheimnisse über die Hinwendung und die
143. Das Salben im Alten Testament bildete den Herrn vor, daherstammende Erleuchtung des Menschen: z.B. hat jeder Ge-
weswegen er Messias und Christus oder Gesalbter genannt sellschaften, zu denen man sich wendet, wenn man im Dunklen
wird, denn in ihm war das göttlich Gute der göttlichen Liebe. ist (?). Ferner ist Gegenwart gegeben, wenn man an jemanden
Das Öl, mit dem die Könige gesalbt wurden, bezeichnet das denkt, und Verbindung mit demjenigen, den man liebt. Ferner
Gute der Liebe. wenden sich diejenigen, die andere Götter anerkennen, ihren ei-
149. Der Ausdruck „Sohn Gottes“ bezeichnet das Göttlich genen Liebesarten zu. Ferner wenden sich diejenigen, die sich
Wahre, weil „Söhne“ im Wort das Wahre bezeichnen, daher „Sohn zum Vater wenden, ihm verschiedenartig zu. Der größte Teil wen-
Gottes“ das Göttlich Wahre. Daher versteht man unter dem Aus- det sich zum Himmelspol, von wo keine Umdrehung (conversio)
druck Sohn Gottes von Ewigkeit her das Göttlich Hervorgehende, (?). Deswegen können diejenigen, die den Herrn nicht anerken-
welches das Göttlich Wahre heißt, aus dem der Himmel ist; und nen, nicht mit den Engeln des Himmels sein usw. usw.
daher war auch der Herr in der Welt das Göttlich Wahre, welches 153. Wenn die Menschen des Altertums Gott bildlich dar-
später von ihm hervorging. Daher kommt es, daß jene „Söhne stellten, stellten sie ihn als einen Menschen dar, dessen Haupt mit
Gottes“ genannt werden, die das Göttlich Wahre aufnehmen. einem Strahlenkranz umgeben war, als wären Sonnenstrahlen
150. Der Herr wurde unmittelbar vom Göttlichen empfangen ringsherum. Ähnlich stellen die heutigen Menschen den Herrn
und später von ihm geboren. Denn das von Maria Geborene ent- dar. Dies hat seine Ursache in einer allgemeinen Vorstellung, die
fernte der Herr kraft des in ihm wohnenden Göttlichen (­expulit allen Menschen vom Himmel her eigen ist, daß nämlich Gott ganz
Dominus ex Divino Suo). Von diesem Göttlichen nahm er das mit wie eine Sonne ist bzw. daß eine Sonne um Gott herum ist.
dem Göttlichen korrespondierende Menschliche an und vereinigte 154. So wie die Menschen des Altertums Gott in Bildern wie
so das Göttliche mit dem Menschlichen. Das ist gemeint, wenn es einen Menschen darstellten, so geschieht es auch heute (vgl. Ori-
heißt, daß das Göttliche das Menschliche annahm. Daher ist der ginal). Ziehe bemalte Tafeln zu Rate. Auch dies hat seine Ursa-
Herr von Jehovah nicht nur empfangen, sondern auch geboren che in der allgemeinen Vorstellung über Gott aus dem Himmel.
worden, nach den Worten in Ps. 2.7: „Die Ankündigung stimmt Heute hingegen ist die Vorstellung des Göttlichen in menschlicher
zu (?), Jehovah sagte zu mir: Mein Sohn bist du, heute habe ich Gestalt gänzlich verloren gegangen. Der Grund ist, daß man aus
dich gezeugt.“ Daher ist er der Sohn Gottes. dem räumlichen Denken heraus folgert, da nämlich eine Ausdeh-
151. Das Wesentlichste der Kirche besteht darin, seinen Gott nung der Sphäre vom Göttlichen ausgehend im Universum be-
zu kennen und anzuerkennen. Ohne dieses Wesentlichste gibt es steht, wie die der Sonne. Ja sogar die von den Engeln ausgehende
keine Verbindung mit Gott, somit keinen Himmel und kein ewi- Sphäre erstreckt sich in den weiten Himmel. Die Ursache dieser
ges Leben. Der Grund ist folgender: das Erkennen und der Wille Vorstellungsweise ist, daß die Menschen zu äußerlich sind und
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daher begrenzt wie die Sinnlichen. Die Bewohner aller Erdkörper Gottes, wie auch König sind Synonyme; sie bezeichnen den Herrn
nehmen Gott in menschlicher Form wahr, ebenso die Weisen des mit Blick auf das Göttlich Menschliche. Ebenda(?).
Altertums, wie Abraham, und die heutigen Menschen mit inner- 157. Das Göttlich Menschliche isst das Heilige (Lk. 1 und an-
licher Weisheit, wie die Afrikaner. Die heutigen Weisen nehmen derswo im Wort, von Ps. LXXXIX 4, 5, 20; und Dan. IX); der Hei-
Gott jedoch nicht in menschlicher Form wahr. Dies tun nur die lige der Heiligen an vielen Stellen, der Heilige Israels (trage reich-
Einfältigen, bei denen die allgemeine Vorstellung über Gott aus lich Stellen zusammen). Daß das Heilige das Göttlich Menschliche
dem Himmel durch die verdrehten Vernunftschlüsse noch nicht ist, wird bei Lk. 1 deutlich.
ausgelöscht ist. 158. Daß der Geist das Göttlich Hervorgehende ist, steht auf-
155. Auch die Ausführungen aus dem Wort in der Erklär- grund von Jes. XI 2,3 fest, wo vom Herrn die Rede ist.
ten Offenbarung 684 sollen zur Kenntnis genommen werden. 159. In unserer Glaubenslehre heißt es, der Herr habe den
Demnach war allein der Herr hinsichtlich seines Menschlichen Tod besiegt und sei triumphierend in den Himmel aufgefahren
mit Jehovah vereinigt, weil im Herrn das göttlich Gute der gött- und sitze zur Rechten des Vaters. Was meinen der Tod, den er be-
lichen Liebe war, welches durch Öl bezeichnet wird und durch siegt hatte, und der Triumph anderes, als die Unterjochung der
das Salben vorgebildet wird. Stellen aus dem Wort sollen dort Höllen, denn der Tod bezeichnet die Hölle, weil dort alle Tote hei-
ebenfalls erscheinen, die zeigen, daß das Menschliche des Herrn ßen. Und was meint das Sitzen zur Rechten des Vaters anderes,
als die göttliche Allmacht? Denn wie kann ein Menschliches, das
göttlich ist.
nicht zugleich das Göttliche ist, zur Rechten des unendlichen
156. Ein Begriff (Canon), der mehr ins einzelne gehend er-
Göttlichen sitzen?
klärt werden soll: Der Herr ist „der Gesalbte Jehovahs“, „der Mes-
160. Die das Göttliche, Vater genannt, vom Herrn trennen
sias“ und „Christus“, ferner „der Sohn Gottes“ hinsichtlich des
und es außerhalb des Menschlichen stellen, sollen Philippiner ge-
Göttlich Menschlichen, weil nämlich das Göttlich Gute der gött-
nannt werden, nach Philippus, der vom Herrn erbat, den Vater
lichen Liebe, welches Jehovah und der Vater ist, in ihm aufgrund
zu sehen. Ihm sagte der Herr, er sehe ihn, und wer ihn sehe, sehe
der Empfängnis war. Aus dem Göttlich Guten wurde das Mensch- den Vater, weil der Vater in ihm und er im Vater sei.
liche des Herrn zum Göttlich Wahren, somit von gleicher Beschaf- 161. Der Herr legte alles Mütterliche im Grab ab und verherr-
fenheit wie der Himmel. Später wurde das Menschliche des Herrn lichte sich bei seiner Auferstehung. Daß er deswegen starb, ergibt
allmählich zum Göttlich Guten der göttlichen Liebe durch Verei- sich aus dem Gleichnis des Herrn vom Samen, das in die Erde ge-
nigung mit dem Vater. Dieses [Gute] war das Sein seines Lebens streut wird, wo es zuerst stirbt, ferner aus den Worten an die Frau,
und seine Seele, welches Jehovah heißt. Auf diese Weise wurde daß sie ihn noch nicht berühren sollte, weil er noch nicht zum
der Herr eins mit Jehovah und so der Vater nach beiden (dem Vater aufgestiegen war. Im Grab war nämlich alles derartige zer-
Menschlichen und dem Göttlichen?). Das Göttlich Wahre, das stört worden (dissipandum erat).
den Himmel bildet und Heiliger Geist heißt, geht dann hervor. 162. Der Herr entfernte im Grab, also durch den Tod, alles
Jene, die es vom Herrn empfangen sind „Söhne Gottes“. Aus die- Menschliche aus der Mutter und zerstörte es. Deswegen unter-
sen Ausführungen kann man auch entnehmen, daß der Herr in zog er sich Versuchungen, auch dem Kreuzesleiden, da es (= das
der Zeit nicht nur von Jehovah empfangen, sondern auch von Menschliche aus der Mutter) ja nicht mit dem eigentlich Gött-
ihm geboren worden ist und daß der Heilige Geist von ihm her- lichen verbunden werden konnte. So zog er das Menschliche aus
vorgeht. Man sehe die in der Erklärten Offenbarung 684 zusam- dem Vater an, so daß der Herr, der mit dem Menschlichen durch
mengetragenen Stellen. Gesalbter, Messias, Christus und Sohn und durch (? probe et clare) verherrlicht wurde, auferstanden ist.
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Auch das gehört zum Glauben der Kirche, daß er den Tod, d.h. ben aufgenommen wurden, aber doch so, daß die Dreiheit einer
die Hölle, besiegt hat und triumphierend auferstanden ist. Der einzigen Person, also des Herrn, von denen, die in der Erleuch-
dritte Tag, an dem er auferstand, bezeichnet auch die Fülle und tung sind, hätte empfangen werden können. Und am Ende der
das Ganze, und das Passah bezeichnet die Verherrlichung. Kirche wird sie (die Dreiheit einer einzigen Person) tatsächlich auf-
163. Der Herr hat die Sünden getragen. Das bedeutet, daß nehmen. Der athanasianische Glaube ist an sich unbegreifbar,
er die Angriffe der Höllen ausgehalten hat, und besonders, daß daher auch anglaubbar und zudem widersprüchlich. Hier sollen
er das Falsche und Böse der Kirche vorgebildet hat. Denn es gibt Aussagen zusammengestellt werden, die zeigen, daß diese Wahr-
viele Vorbildungen, vor allem solche, die zu seiner Passion gehö- heit offensichtlich ist, und daß dieser Glaube dennoch nieman-
ren. Sie sollen aufgezählt und durch das bekräftigt werden, was dem hinderlich [bei der Erkenntnis der Wahrheit] ist, weil er an-
die Propheten ausgehalten haben, womit sie die Kirche vorbil- genommen werden kann, aber nur von denen, die das, was sie
deten. Diese Vorbildungen sollen, da sie zahlreich sind, dort zu- glauben, einsehen wollen. Diejenigen, die ihre Glaubensinhalte
sammengestellt werden, wo es auch von Jesaja heißt, daß er die aber nicht einsehen wollen, mögen in ihrer Meinung verharren.
Sünden getragen hat. Daß sie auf diese Weise auch tatsächlich Sie sollen aber wissen, daß niemand in der geistigen Welt etwas
entfernt werden, ist ein Geheimnis, das erklärt werden kann, hier aufnimmt, was er nicht sieht, d.h. versteht. Er sagt sich nämlich,
durch gegen den Herrn zugelassene Versuchungen usw. vielleicht ist es nicht wahr.
164. Die Worte im athanasianischen Glaubensbekenntnis 167. Die Mohammedaner erkennen drei Personen nicht an,
klingen, als wenn es erlaubt sei, an drei Götter zu denken, aber sondern nur einen einzigen Gott. Deswegen leugnen sie die
nur einen Gott zu nennen. Die Worte sollen zitiert werden. Gottheit des Herrn und erkennen einzig den Vater als Gott an.
165. Was heißt Unrecht tragen? 1.) Allen Höllen standhalten, (2) Deswegen verhalten sich auch die Sozinianer so, wenn sie
durch Versuchungen. 2.) Der Herr gab dem Zustand der Kirche sagen, es gebe nur einen Gott, nämlich den Vater. (3) Deswe-
sichtbaren Ausdruck, wie die Propheten. Einer von ihnen nahm gen erkennen viele – Gebildete und Einfältige in gleicher Weise
eine Dirne zur Frau, ein anderer sollte nackt und barfuß gehen, – stillschweigend nur den Vater als Gott an und sehen im Herrn
ein weiterer Fladen aus Kot essen, auf der rechten und linken Seite einen gewöhnlichen Menschen. Jeder befrage sich selbst, ob er
liegen und das Unrecht tragen. So auch der Herr in allen Einzel- vom Herrn die Vorstellung der Göttlichkeit hat. Wenn ja, dann
heiten seiner Passion. soll er an ihn glauben, um das ewige Leben zu haben. (4) Deswe-
166. Drei Personen zu nennen war anfangs erlaubt, weil man gen klagen die Juden die Christen an, daß sie drei Götter haben.
noch nicht anders denken konnte, als an Jehovah, den Gott und (5) Deswegen verehren die meisten im anderen Leben, wenn
Vater, den Schöpfer des Weltalls. Man konnte sich praktisch nicht man sie erforscht, entweder allein den Vater oder den Heiligen
vorstellen, daß es – weil tauglich (?) – der Herr ist. Daß der Schöp- Geist, aber nicht den Herrn. Und dennoch ist ohne den Glauben
fer des Weltalls herabgestiegen und Mensch geworden sei, konn- an den Herrn kein Heil möglich. (6) Dies alles hat seine Ursache
ten sie geistig nicht fassen. Nur die Vorstellung von Jehovah, daß darin, daß man die eine Gottheit in drei Personen aufgeteilt hat.
er den ganzen Himmel und die ganze Welt vermöge seiner Ge- 168. Von drei Personen und einem einzigen Gott zu spre-
genwart und Vorsehung anfülle, verhinderte dies (was?). Deswe- chen, ist ein Widerspruch, denn der Personbegriff beinhaltet
gen werden im Buchstabensinn des Wortes drei genannt, als han- etwas Unterschiedenes und von einer anderen Person Verschie-
dele es sich dabei um drei Personen, in deren Namen die Taufe denes. Die Unterscheidung und Verschiedenheit wird als solche in
geschehen sollte. Daher war es erlaubt, daß ähnliche Äußerungen der Kirchenlehre überliefert. Und da die Unterscheidung Verschie-
auch im für die Christenheit bestimmten athanasianischen Glau- denheit zwischen den Personen schafft, ist folglich jede Person
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getrennt von der anderen Gott. Und aus der Getrenntheit foIgt Gedankens wie ein gewöhnlicher Mensch angesehen wurde, von
die Existenz von drei Göttern. (2) Daß die Substanz oder Seinsheit dem man kaum etwas Göttliches dachte, weil man das Göttliche
einen einzigen Gott bewirkt, kann sich niemand vorstellen, wenn in der Vorstellung außerhalb des Herrn ansiedelte und nicht in-
die Seinsheit oder Substanz unterschieden wird, und zwar durch nerhalb, wie er selbst lehrt. Unter dem Göttlichen außerhalb des
die Attribute einer göttlichen Person, die einer anderen nicht Herrn verstanden die meisten den Vater, also eine andere Per-
eigen sind. Auf diese Weise verehrt man nämlich die eine gött- son, so daß der Herr in der Welt schließlich kaum noch beachtet
liche Person aus diesem und die andere aus jenem Grund. wurde. Daher vollzieht sich nun seine neuerliche zweite Ankunft.
169. Wenn du aber gedanklich die Substanz oder Seinsheit 174. Daß der Herr der Schöpfer ist, ist bei Johannes offen-
mit der Person gleichsetzt, dann ist notwendigerweise eine ein- sichtlich. Durch das Wort ist nämlich alles Gemachte gemacht
zige Person und in ihr ein Dreifaches vorhanden, somit Einheit in worden. Auch ist er das Göttlich Hervorgehende, welches das
Dreiheit und Dreiheit in Einheit. Licht ist.
170. Außerdem ist jedes Attribut, das eine Person von einer 175. Der Herr nennt so oft den Vater, weil der Herr selbst vor
anderen unterscheidet, göttlich. Ein Attribut des Vaters ist gött- seiner Ankunft der Vater war. Der Sohn war damals das Göttlich
lich, ein Attribut des Sohnes ist göttlich, ein Attribut des Heili- Hervorgehende oder das Wort. Dies war damals der Sohn und
gen Geistes ist göttlich. Und alles Göttliche bei den drei Personen ebenso auch das Göttlich Menschliche. Denn im Alten Testament
ist eine verschiedene göttliche Substanz oder Seinsheit. Da nun – also bevor der Herr geboren und das Göttlich Menschliche Sohn
Athanasius das sah, achtete er darauf, daß alle drei Personen in Gottes genannt wurde – kannte man keinen anderen Vater, weil
jedem einzelnen Attribut sein sollten. Daraus folgt, daß auch die kein anderer existierte. Daher nennt der Herr so oft den Vater.
Substanz oder Seinsheit nur dann eine ist, wenn sie in einer ein- Aber später wurde er auch hinsichtlich des Göttlich Menschlichen,
zigen Person vorhanden ist. aus dem dann das Göttlich Hervorgehende stammt, zum Vater.
171. Das Menschliche des Herrn ist göttlich. Das ist bei Jo- 176. Das hervorgehende Gute nennt der Herr den Vater in
hannes ersichtlich, der sagt, daß das Wort, durch das alles ge- den Himmeln. Diesen zu sehen bedeutet in der Liebe und Un-
macht und geschaffen wurde und das ewig heißt, Gott genannt schuld sein. Das hervorgehende Göttlich Wahre nennt er hinge-
wird und daß es Fleisch wurde. Folglich wurde Gott, der das Wort gen den Sohn des Menschen.
ist, Fleisch, d. h. Mensch. Daher ist das Menschliche des Herrn 177. Wie das Göttlich Hervorgehende vor der Ankunft des
göttlich. Herrn beschaffen war, wird mit Hilfe von Ringen und Graden be-
172. Daß er in der Welt das letzte Gericht durchführte, ergibt schrieben, durch die Himmel und die inneren Bereiche des Men-
sich aus all den Stellen bei den Propheten, wo von seiner Ankunft schen hindurch. Es gibt nachfolgende Grade, von denen im Werk
die Rede ist. Sie heißt dort schrecklicher, grausamer usw. Tag. über Himmel und Hölle die Rede war. Deswegen sind die Grade
173. Dargelegt werden soll, daß am Ende der Kirche die An- entsprechende und so gleichsam hinübertragende Grade, so-
kunft des Herrn geoffenbart wird. Am Ende der jüdischen Kirche lange die Aufnahme in jedem Grad erfolgt (zur übers. vgl. Text
kam der Herr selbst ins Fleisch und offenbarte sich als Gott oder und Anmerkungen). Wenn aber im letzten Grad die Aufnahme
Jehovah, der nach den Worten bei den Propheten kommen wolle. des Göttlichen nicht mehr erfolgt, wie es in der jüdischen Kirche
Ferner soll dargelegt werden, daß der Herr selbst derjenige ist, der der Fall war, dann konnte sich das Göttlich Hervorgehende nicht
den Himmel mit der Erde lenkt und leitet und der einzige Gott ist. bis dorthin erstrecken. Deswegen nahm er selbst das Mensch-
Das heißt bei den Evangelisten (Mt 24) seine Ankunft. Bisher be- liche an, aus dem das Göttlich Hervorgehende ausgeht, welches
achtete man ihn nämlich fast nicht, weil er in der Vorstellung des ebenfalls in den letzten Schöpfungsbereichen sein und auf diese
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Weise die Himmel bewahren und das menschliche Geschlecht ret- des Schilfrohrs gehört in den Bereich des natürlichen Menschen.
ten kann. Daher die Allgegenwart des Menschlichen des Herrn im Daher wird er (= der Herr) die Stärke genannt wird, sowie die
Abendmahl. Von seiner Allgegenwart sprach der Herr bei Matt- Rechte, welche die gesamte Macht bezeichnet.
häus [XVIII 20, XXVIII 20]. 180. Der Herr ist der alleinige Gott, Jes XLV 13–14. Dort ist
178. Das Göttlich Hervorgehende ist nämlich von der Art, vom Herrn die Rede,
daß es im größten und im kleinsten Mensch ist. Denn wie es im 181. Das ganze Leben des Herrn war von darstellender Art
größten beschaffen ist, so ist es auch im kleinsten beschaffen, und (repraesentativa), so daß er [als Gottkraft] in den letzten Schöp-
in der Natur, wo das Göttlich Hervorgehende im letzten ist. Alles fungsbereichen war und so aus den ersten durch die letzten
wurde nämlich wie folgt geschaffen: Die Neigung, die zum Guten Schöpfungsbereiche die Höllen unterjochte und alles in Ordnung
gehört, oder die Liebe, die zum Guten gehört, oder das Gute, brachte. In den letzten Dingen ist die gesamte Stärke vorhanden.
das zur Neigung und zur Liebe gehört, umkleidet sich mit dem Daher kommt es, daß er auch durch alle Einzelheiten seines Lei-
Menschlichen in den einzelnen Graden vom ersten bis zum letz- densweges den Zustand der Kirche dargestellt hat, der nämlich
ten. Daher sind auch die Engel menschliche Formen. Gleiches ist gegen das Göttliche und gegen das Wahre und Gute des Himmels
mit der Natur der Fall, daher ist auch dort die menschliche Form und der Kirche gerichtet war. Ein Geheimnis ist es, daß die Geister
vorhanden. Dies Geheimnis ist in der Welt noch unbekannt, daß nicht den Menschen sehen, sondern nur seine Neigungen. Die
die natürliche Anlage in den einzelnen Graden so beschaffen ist, bösen Geister sind gänzlich gegen die Neigungen zum Wahren
daß sich nämlich die Neigung mit einem Körper umkleidet, und und Guten, die sie hassen und völlig zerstören wollen. Auf diese
dies infolge des Göttlich Hervorgehenden. Die Ursache [dieser Weise ließ der Herr Versuchungen gegen sich zu, denn er war zu-
Erscheinung] ist folgende: was vom Herrn hervorgeht, geht von gleich in den letzten Schöpfungsbereichen. So soll man es auch
den Einzelteilen seines Körpers hervor, den inwendigen und den verstehen, daß er alle Bestimmungen des Gesetzes erfüllt hat.
auswendigen. Daher kommt es, daß das Göttlich Hervorgehende 182. Einige Bemerkungen über die Versuchungen des Herrn,
der Herr in den Himmeln ist und Menschensohn auch Paraklet mit denen die Versuchungen beim Menschen verglichen werden
und Heiliger Geist heißt. Aus dem Gesagten wird klar, was seine sollen. Die Versuchungen beim Menschen bewirken nämlich, daß
Allgegenwart ist. Weil die Neigung und die Liebe die menschliche die Höllen entfernt werden und der Mensch geistig und ein Engel
Form in jedem Himmel bzw. Grad anzieht, folgt, daß das angezo- wird. Was sollten dann die gegen den Herrn zugelassenen Ver-
gene Menschliche das Göttlich Wahre ist, und daß jene im Gött- suchungen bewirken, der aufgrund seiner Empfängnis Gott war
lich Hervorgehenden und wahrhaft Menschen sind, die in der und sie aus seinem Göttlichen heraus bestanden hat. Folgt daraus
Liebe und daher (im) Wahren (sind). Daher kommt es auch, daß nicht, daß er alle Höllen unterjocht und sein Menschliches ver-
die Liebe die Umfassung aller Wahrheiten ist, und daß die Liebe herrlicht hat?
das Sein ist, dessen Existenz das formhaft Menschliche ist, in des- 183. Es soll erwogen werden, ob ein und dieselbe Seinsheit
sen Einzelteilen das Sein aus der Liebe sein soll. oder Substanz, in der gleiche Eigentümlichkeiten und gleiche At-
179. Der Grund der Ankunft des Herrn ist folgender: Die tribute sind, anders als eins genannt und in drei Personen auf-
Stärke ist in den letzten Dingen und somit im materiellen Körper geteilt werden kann. Anders wäre es, wenn verschiedene Eigen-
vorhanden. Die Gründe dafür, daß die Stärke in den letzten Din- tümlichkeiten und verschiedene Attribute derselben Seinsheit
gen vorhanden ist, sollen dargelegt werden. Daher die Worte in oder Substanz angehörten. Dann kann eine Aufteilung in drei
Ps LXVIII 29, 30. Andernfalls hat er (= der Herr) keine Macht über Personen erfolgen. Aber auch dann macht dieselbe Seinsheit aus
den natürlichen Menschen, wo alles Böse beisammen ist. Das Tier dreien nicht eins.
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184. Niemand kann eine Reinheit, die auf der Zurechnung des stellung ist bei den Christen, besonders den Gelehrten, verloren
Verdienstes des Herrn beruhen soll, verstehen. Kann etwa diese Zu- gegangen, weil sie aus dem Raum und somit von dem Gedan-
rechnung einen Menschen, dessen Leben nicht gereinigt ist, um- ken der Ausdehnung her denken. Dennoch ist Gott selbst wie ein
bilden, ändern und wandeln und aus einem Teufel einen Engel ma- Mensch, umgeben von der göttlichen Liebe, die um den Herrn als
chen? Muß nicht das Lebensböse entfernt werden? Und kann dies Menschen, wie eine Sonne erscheint.
durch die Zurechnung des Verdienstes, durch den Erlaß (condo- 190. Diese Liebe oder Sonne ist die göttliche Liebe des Herrn,
nationem) der Sünden und die Rechtfertigung durch den Glauben wie sie unmittelbar von ihm hervorgeht. Die Strahlenringe sind
allein geschehen, so daß Gott also auf das Böse nicht mehr achtet. die herabsteigenden Stufen (devolutiones) des Unendlichen, so
Das Böse bleibt und vergiftet und feindet die Gesellschaften an. daß es den Engeln in ihrer Ordnung eingefügt (applicari) werden
185. Nach der gängigen Vorstellung ist das Göttliche in drei kann, denn ein Engel kann die Gegenwart der göttlichen Liebe
Personen geteilt. Aber nach der Vorstellung aus dem athanasia- ebensowenig aushalten wie ein Mensch die Gegenwart des Feu-
nischen Glaubensbekenntnis ist die zweite Person nicht nur gött- ers der Sonne.
lich, sondern auch menschlich, so daß in der zweiten Person mehr 191. Das Göttlich Hervorgehende ist das sich im Weltall Aus-
ist als in der ersten und dritten, das Menschliche nämlich. Und dehnende und ist das Göttlich Wahre und das Licht der geistigen
dies kann keineswegs gerettet werden, wenn nicht im Herrn ein Sonne. Daher ist es das Innerste der geistigen Welt, der Ursprung
Dreifaches ist und sein Menschliches göttlich ist. der Natur und das im geschaffenen Weltall Ausgedehnte. Später
186. Wenn es heißt, daß Gott Mensch wurde und daß Gott formt es sich allmählich in den Sphären, deren letzte die Atmo-
aus der Jungfrau Maria geboren werden wollte, daß ferner das sphäre der natürlichen Welt ist.
Wort, welches Gott ist, Fleisch wurde und daß – ebenfalls nach 192. Beschrieben werden soll, wie der Herr das mütterlich
dem athanasianischen Glaubensbekenntnis – das Göttliche das Menschliche ausziehen konnte. Das mütterlich Menschliche war
Menschliche angenommen, hat, folgt dann nicht klar, daß das nämlich schwach, weil es dem Körper anhaftet. Und weil es böse
Menschliche göttlich ist. Dieser Gedanke soll wieder aufgenom- ist, korrespondiert es mit der Hölle. Wenn es ausgezogen wird,
men und erklärt werden. dann folgt das mit den Göttlichen übereinstimmende und Korre-
187. Der Herr war nicht der Sohn Marias. Das geht aus seinen spondierende nach. Der Körper ist nämlich nichts weiter als eine
Worten an die Pharisäer hervor. Demnach war er nicht der Sohn Entsprechung der Seele oder des Geistes eines Menschen, und
Davids (Mt 22) und deswegen auch nicht der Sohn Marias. eine Entsprechung mit dem Himmel besteht in dem Maße, wie
188. Im athanasianischen Glaubensbekenntnis heißt es, daß das Böse entfernt wird. Dann wird nämlich etwas Neues anstelle
das Göttliche das Menschliche angenommen hat. Folglich ist das des Bösen angezogen, und der Mensch wird wiedergeboren,
Menschliche das Göttlich Menschliche. Anders kann das Mensch- wird geistig und ein Engel. Der Herr aber, dessen Seele das Gött-
liche nicht vom Göttlichen angenommen werden, insofern sie wie liche selbst war, machte seinen Körper zu einer Entsprechung mit
Seele und Körper sind. Daher erfolgte damals keine Vermischung dem Göttlichen in ihm, somit [erhob er ihn] über den Himmel.
(commixtio), sondern eine Vereinigung (unio) wie die von Seele Aber das Böse beim Menschen kann nicht ausgezogen, sondern
und Körper. nur entfernt werden, weil er nicht das Leben in sich ist und auch
189. Die Vorstellung eines Göttlich Menschlichen von Gott nicht seiner Seele nach das Göttliche ist, sondern nur ein aufneh-
ist auf allen Erdkörpern im Weltall vorhanden (Zitate) – und auch mendes Organ des Göttlichen. Daher stirbt der Mensch körper-
bei den Heiden auf unserem Weltkörper; wie bei den Afrikanern. lich. Aber der Herr zog kraft des Göttlichen in ihm das Böse von
Dies ist infolge des Einflußes aus dem Himmel so. Aber diese Vor- der Mutter aus, weswegen er mit dem ganzen Körper auferstand.
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Das Schwache behielt er, weil er sonst nicht hätte versucht wer- dere Denkweise lediglich der Vorstellung des Menschen, der von
den können, besonders (minus) am Kreuz, wo alles Mütterliche dieser Art ist.
ausgezogen wurde. 196. Aus dem Wort und dem Kirchenglauben ist ersichtlich,
193. Der athanasianischen Lehre von der Trinität zufolge soll daß das Göttliche des Herrn das ist, was er den Vater nennt. Aber
man sich denken, daß drei Götter zugleich ein einziges Göttliches daß er dies den Vater nennt, wird bis heute nicht gedacht.
bilden. Tatsächlich können drei Wesen eins sein, nämlich eines 197. Stellen, die vom Vater handeln, sollen herangezogen
Sinnes, aber Gott als Person nicht. Weil das so ist und von Atha- werden, und das Johannesevangelium soll von Anfang bis Ende
nasius vorhergesehen wurde, heißt es: Obgleich es drei gibt, darf gelesen werden.
dennoch nach dem katholischen Glauben nur ein Gott genannt 198. Auch die Vorstellung der Europäer, besonders der Ge-
werden. Aber Denken und Reden müssen ein und dasselbe sein, bildeten, ist falsch (fallax). Sie hat ihren Grund in der Unfähig-
andernfalls können sie nicht bestehen. keit, sich zu denken, daß der Mensch oder das Menschliche gött-
194. Daß der Herr sein Menschliches göttlich machte, ist aus lich sein kann, obgleich jene, die [innerlich] im dritten Himmel
der Tatsache ersichtlich, daß er alle Höllen unterjochte. Das Böse sind, keine andere Vorstellung haben können, und zwar infolge
stammt beim Menschen nämlich ausschließlich von der Hölle des Einflußes des Himmels, von dem gehandelt werden soll.
bzw. ihrem Einfluß durch böse Geister. Nach deren Entfernung 199. Wie allenthalben im Wort sichtbar ist, nannten die alten
Weisen die Engel, sooft sie welche sahen, Jehovah und Schöpfer des
ist der Mensch sozusagen ohne Böses. Im Unterschied zum Men-
Weltalls. Stellen auch aus der Offenbarung sollen angeführt werden.
schen entfernte der Herr kraft seines Göttlichen die Höllen so sehr,
200. Auch Stellen über den Herrn sollen angeführt werden
daß sie keinen Versuch unternehmen (hiscant = mucksen), zum
– mehrere aus der Offenbarung –, wo den Herrn oder das Lamm
Herrn zu schauen und ihn zu nennen. Das erreichte er aus eigener
betreffend mehrfach Göttliches gesagt wird.
Macht durch Trennung der Höllen und der Himmel voneinander,
201. Daß der Herr der einzig zu verehrende Gott ist, ist deut-
die er nun fortwährend trennt. Sobald die Höllen entfernt sind,
lich aus der Tatsache ersichtlich, daß die Höllen gegen den Herrn
ist auch das Böse entfernt, denn die Höllen entfernen oder das sind, den sie bitter haben. Dagegen sind sie nicht so gegen den
Böse entfernen ist dasselbe. Der Herr, der ja dem Göttlichen ent- Vater gesonnen, den einige Höllen – und zwar ohne Haß – den
stammte und seinem Leben und seiner Seele nach das Göttliche Schöpfer des Weltalls nennen nach der in der Welt angenom-
ist, hat die Höllen oder das Böse vollständig von sich getrennt. menen Redeweile. Aber gegen den Herrn sind die Höllen allesamt.
Daraus ist ersichtlich, daß er sein Menschliches göttlich machte. Sie wollen und können ihn nicht nennen, und ihnen allen ist es die
195. Wenn es heißt, Gott-Vater habe das Menschliche ange- höchste Freude, die Anbeter des Herrn zu peinigen. Diese Freude
nommen, dann sieht der kirchliche Mensch darin einen Vorgang, ist ihre größte. Beispiel Gyllenborg. Eine Sphäre gegen den Herrn
der erhabener ist, als daß er gedacht werden dürfte, und größer, dünstet (exhalit) aus allen Höllen aus, eine Sphäre für den Herrn
als daß er geschehen kann. Aber dennoch sagt man vom Gött- dagegen aus allen Himmeln. Daher rührt das Gleichgewicht. Es
lichen des Herrn dem Glauben zufolge, daß sein Göttliches dem ist untersucht worden mit Gyllenborg, um zu sehen, ob er sich
des Vaters völlig gleicht. Niemand ist folglich der Größte und der zurückhalten könne, meine Brust zu peinigen – und dies durch
Kleinste, früher und später. Und so wie der Eine ewig, ungeschaf- vielfache Strafen – aber er konnte es nicht. (Übersetzung nach
fen, allmächtig, Gott und Herr ist, so ist es auch der Andere. Somit der englischen Vorlage: to see whether he could refrain from tor-
ist es (= das Göttliche des Vaters und des Herrn) gleichartig; eins menting me in the breast ..., da ich das lateinische Original, insbe-
ist nicht erhabener als das andere. Deswegen entstammt eine an- sondere den grammatischen Bezug von crucianda, nicht durch-
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schaue: nec posset abstinere a me crucianda pectus meum). Jener gen werden, die zeigen, was über den alleinigen Glauben und
und auch andere bekannten, daß dies ihre höchste Freude sei. die Rechtfertigung geschrieben wurde. Entnehmen kann man
202. Anders bei den Menschen, weil ihr Leben oder ihre Seele sie ihren Gebeten zur Kommunion. Sie wissen demnach, daß die
eine Neigung ist, die böse ist. Daher wird das Böse bei ihnen vom praktische Religion der Weg zum Himmel ist und nicht der the-
Herrn nur entfernt, nicht abgetrennt. oretische Weg.
203. Außerdem werden alle Kinder im Himmel zur Anerken- 208. Die Worte des Herrn an Petrus sollen angeführt wer-
nung des Göttlich Menschlichen des Herrn geführt. Ebenso wer- den, wo der Herr dreimal sagte: “Liebst du mich Simon Petrus?”
den alle Erwachsenen, die ein Leben der tätigen Liebe lebten, darin Und dennoch folgte nicht er, sondern Johannes dem Herrn. Diese
unterwiesen. Die es annehmen, kommen in den Himmel. Auch alle Worte fielen, weil Petrus den alleinigen Glauben bezeichnet und
Engel des Himmels werden inne, daß es sich so verhält. Und in je Johannes das Gute der tätigen Liebe. Aus den dortigen Worten
höheren Himmeln sie wohnen, desto klarer ist dieses Innewerden, an Petrus geht hervor, daß jene, die in der Lehre vom alleinigen
denn dort kann niemand anders denken. Das hat folgenden Grund: Glauben sind, nicht in der Lage sind, das Göttlich Menschliche des
Der ganze Himmel ist das Göttlich Menschliche und sogar jeder Herrn anzuerkennen, sondern nur jene [können es anerkennen],
Gedanke verläuft (vadit) nach der Form des Himmels. Was darüber die im Guten der tätigen Liebe sind. Deswegen soll auch hier kurz
im Werk von Himmel und Hölle enthalten ist, soll zitiert werden. gesagt werden, was unter “den Herrn lieben” zu verstehen ist.
204. Daß es wirklich so ist und dieser Sachverhalt sogar der Daß Glaube ohne tätige Liebe nicht gegeben werden kann, und
wichtigste in der Kirche ist, ergibt sich auch daraus, daß niemand daß er von der tätigen Liebe ausgeht und auch so beschaffen ist
angenommen und gerettet werden kann, wenn er nicht das Gött- wie diese, möge man in der Lehre vom Neuen Jerusalem nachse-
liche des Herrn in seinem Menschlichen anerkennt. Daher sagte hen und auch an vielen Stellen in der Erklärten Offenbarung.
der Herr so oft: „Du glaubst, daß ich das kann. Es geschehe dir 209. Die Christen können das Göttlich Menschliche kaum
also nach deinem Glauben.“ Der Herr ist folglich allmächtig und
denken und innerlich wahrnehmen (percipere); die Erfahrung mit
somit Gott.
mehreren Christen belegt das. Der Grund ist: Sie denken an einen
205. Der Herr sagte oftmals, die Werke, die er verrichte, tue
gewöhnlichen Menschen und nicht an die menschliche Seinsheit,
er aus dem Vater. Dies sagte er, damit man an sein Göttliches
die Liebe nämlich. Umgekehrt können die Engel nicht anders den-
glaube bzw. daran, daß sein Menschliches göttlich sei, weswe-
ken, auch die Heiden nicht, die einsichtig sind.
gen er auch über sich dasselbe sagte (wie vom Vater). Dann sollen
Stellen angeführt werden, siehe (Rest unverständlich: Tala (?) Fi- Aus dem athanasianischen Glaubensbekenntnis
lius, Apoc.; die engl. übers. hat: see concerning the Son [of Man]
clothed to the ankle (Rev. I 13]). 210. Aus dem Vorangehenden ist klar, daß es nicht drei un-
206. Das soll später vorgebracht werden und zwar nach den endliche, ewige, allmächtige Götter und Herren gibt, sondern nur
Aussagen in der Erklärten Offenbarung 250, vielleicht auch 251 einen, und daß niemand von ihnen der größte und der kleinste, und
und eventuell die Äußerungen über die zehn Jungfrauen 252 der erste und der letzte ist. Folglich gibt es nur ein Göttliches. Aus
gegen Ende. diesem Göttlichen wurde der Herr empfangen und war es sogar
207. Zuletzt sollten vielleicht Äußerungen angeführt wer- selbst. Und weil es ein und dasselbe ist, [ist klar], daß es Jehovah
den, die zeigen, was unter “den Herrn lieben” verstanden wird, ist. Das soll aus dem Wort des Alten Testaments bekräftigt werden.
nämlich seine Gebote halten. Dies ist aus dem Wort zu entneh- 211. Zwei Worte sollen herangezogen und erklärt werden.
men. Anschließend könnten Formulierungen zusammengetra- 1.) „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben, und niemand
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kommt zum Vater außer durch mich.“ 2.) „Mein Vater ist der Win- 214. Vielleicht sollten zum Schluß Stellen zusammengetragen
zer und ich bin der Weinstock.“ usw. Klar ist, daß diese Worte werden, wo im Neuen Testament Glaube und glauben genannt
im Hinblick auf sein Menschliches gesprochen wurden, denn er werden.
sprach auch vom Vater. Wenn aus diesen beiden Worten eine
Lehre vom Herrn gemacht worden wäre, dann würde jedem be- Was an erster Stelle und was an letzter Stelle steht
kannt sein, daß der Herr der ist, an den man sich allein wenden 215. Bekannt ist aus zwei Stellen bei Matthäus und bei Lukas,
soll, und daß sein Menschliches göttlich ist. die zitiert werden sollen, daß der Herr der Sohn Gottes ist, sein
212. Aussprüche sollen zusammengestellt werden, wo der
Vater aber das Göttliche, welches das Weltall erschaffen hat. Wenn
Herr Jehovah, der Heilige Israels und Erlöser heißt, z. B. Jes. XLI 13,
er also als Mensch der Sohn Gottes ist, dann folgt, daß auch der
14, Kap. XLIX 7, 8, 9, 26; Kap. LIV 5; Kap. LXIII 8, 9, 16; Psalm XIX;
Herr als Mensch Gott ist. Bekanntlich wird jeder Mensch nach dem
und vieles an anderen Stellen. Ebenso Aussprüche, wo er Erlöser,
Vater benannt und heißt sein Sohn, weil nämlich das Leben eines
Bildner, Schöpfer und Macher heißt.
jeden Menschen aus dem Vater stammt und nur die Umkleidung
213. Damals, als die (christliche) Kirche vom Herrn gegrün-
(induitio) in der Mutter bereitet wird. Deswegen wird jeder Mensch
det wurde, war es das Wichtigste, ihn anzuerkennen und anzu-
nach dem Vater benannt, nicht nach der Mutter. Warum nennt
nehmen, dergestalt, daß er selbst der war, von dem das Wort des
man also in der Kirche, da doch bekannt ist, daß das Göttliche des
Alten Testamentes (handelte) und daß er selbst Gott war und alles
Herrn sein Vater war, den Herrn „Sohn Marias“? Daher kommt es,
konnte. Daher sagte er so oft: „Glaubst du, daß ich es vermag?“
(Mt IX 28), ferner „Weil du glaubst“ und „Dir geschehe nach dei- daß man den Herrn für einen bloßen Menschen hält, nicht aber für
nem Glauben“ (Mt IX 29), nämlich nach dem Glauben, daß der Gott unter den Bedingungen des Menschseins (quoad Humanum).
Herr Gott war, der alles vermag bzw. allmächtig (= allvermögend) 216. Auch beim Menschen ist es so: Was er vom Vater hat, ist
ist. Das war das Wichtigste, denn ohne diesen Glauben gibt es seine Liebe bzw. Neigung, weil sie das eigentliche Leben des Men-
kein Heil, weil alles vom Herrn kommt. Durch das Bekenntnis und schen ist und der Körper aus ihr lebt. Somit stammt das Leben
den Glauben aus dem Herzen vollzieht sich die Verbindung, an- eines Menschen vom Vater und nicht im geringsten von der Mut-
dernfalls ist sie und somit auch das Heil nicht möglich. Ähnliches ter. Und wenn nun also das Leben selbst göttlich bzw. die gött-
geschieht heute, zu einer Zeit, da die neue Kirche – das soge- liche Liebe ist, und der Körper nur Gehorsam leistet, dann folgt
nannte Neue Jerusalem – gegründet und ihre Lehre gelehrt wird. klar, daß der Herr als Mensch Gott ist.
Das Wichtigste ist zu wissen und zu glauben, daß der Herr der ein- Zitiert werden soll zuerst und auch zuletzt das bei Lukas I 34,
zige Gott ist, von dem alles Heil ausgeht. Deswegen wird das jetzt 35 Geschriebene (Das lat. Original ist mir nicht ganz klar.)
gelehrt, und das ist auch der Grund dieses Werkes. Denn ohne 217. Das ganze prophetische Wort handelt vom Herrn. Stellen
diesen Glauben kommt niemand in die neue Kirche und nimmt könnten reichlich angeführt werden, wo er oft „der Heilige Isra-
nichts aus ihrer Lehre an. Somit kann er fortan auch nicht gerettet els“, „der Erlöser“ und „Jehovah, der Erlöser“ genannt wird. Man
werden, denn es ist nun nicht mehr erlaubt, an drei gleiche Göt- sehe Jes. LX 1ff. Dort heißt es, Jehovah werde sich über dir erhe-
ter zu glauben und einen zu nennen, und ebensowenig ist es er- ben und seine Herrlichkeit werde über dir gesehen werden. Ab-
laubt, sich das Göttlich Menschliche getrennt vom Göttlichen zu gesehen von zahlreichen Worten, die dort vom Göttlich Mensch-
denken (die engI. Übersetzung läßt bei „de Humano Divino“ Di- lichen gesagt wurden.
vino fort und übersetzt also: the Human of the Lord as separate 218. Die Neigung eines Menschen, in die er hineingeboren
from the Divine), wie es bei den meisten der Fall ist. wird, stammt vom Vater, weil sie seine Seele ist. Bei den Men-
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schen ist mit ihrer Geburt die böse Neigung und Begierde vorhan-
den, weil die Seele des Vaters so geartet ist. Beim Herrn hingegen
– und zwar nur bei ihm – war infolge seiner Geburt die gute Nei-
gung vorhanden, weil die Seele aus dem Vater unmittelbar das
Göttliche war, welches die Liebe des Guten (od. zum Guten) und
das Gute an sich ist. Dann verbindet sich die gesamte Weisheit
mit der Liebe, und aus ihr wird alles Böse vertrieben, denn sie
[evil and love] können nicht eins sein. Und daher hat der Herr sein
Menschliches göttlich gemacht, aus dem Göttlichen in ihm.

Zum Schluß
219. Der Inhalt dieses Werkes ist in Büchern enthalten, die in
lateinischer Sprache und an die Erzbischöfe, Bischöfe und Vorste-
her des Königreiches geschickt wurden.
220. Athanasius und die Gelehrten nach ihm meinten die drei
göttlichen Wesen dadurch zu einem zu verbinden, daß das Wesen
eins sei und eine Einheit in der Dreiheit und eine Dreiheit in der Ein-
heit bestehe. Aber wer denkt schon in den Bahnen dieser Spitzfin-
digkeit (subtilitate), die einem keine Hilfe ist zu begreifen, daß Gott
einer ist? Kann man überhaupt in ihren Bahnen denken? Vielmehr
denken sie, daß drei Personen existieren und jede Gott ist. Und
diese Vorstellung bemächtigt sich des Denkens im heiligen Bezirk
(in templum), so daß er nicht einen, sondern drei Götter sieht, was
gegen die christliche Religion ist, der zufolge ein einziger Gott ist.

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