Sie sind auf Seite 1von 27

beantwortet, so stammt die

Vom Beten Antwort genau aus der Sphäre,


von Klaus Binding die unser Gebet berührt hat. Es
bleibt auf der Ebene des Ver-
gänglichen. Nicht unser himm-
lischer Vatergott, der Herr der
W as tun wir, wenn wir be-
ten? Beten und Bitten sind
ursprungsgleich. Was wollen
ewigen Liebe, antwortet, son-
dern der Herr des Vergängli-
wir erbitten? Wenn unser Ge- chen, der Gott dieser Welt.
bet zum ewigen Vatergott zielt,
wie können wir dann Vergäng-
liches von ihm wollen? Unser
religiöses Suchen strebt zum
B itten wir um Ewiges, Antwor-
tet das Ewige. Beten und
Bitten wir um zeitlich, irdisch
Ewigen, das ist doch der Weg Vergängliches, reagiert der
und die Wahrheit. Wir wollen Herrscher der Vergänglichkeit.
Lösung von nur Vergängli- Ewiges ruft Ewiges, das Zeitli-
chem. Das ewig Göttliche will che das Zeitliche.
uns ja gerade aus den zeitlichen
Verstrickungen befreien und Wir beten: Herr, gib uns die
uns zum Dasein außerhalb von Kraft des wahren Glaubens.
Raum und Zeit geleiten. War- Hilf uns, die eigensinnigen
um sollten wir dann den Vater Wünsche zu verbrennen. Führe
um vergängliche Erfüllung bit- uns ins Licht der Ewigkeit und
ten? In Demut und Erkenntnis stärke unsere Herzen. Der Vater
des Ewigen bitten wir um die weiß, was wir brauchen, bevor
Gnade des rechten Glaubens, wir anfangen zu beten. Ja, Herr
um Anschluss ans Ewige, um Christus, deine Gnade komme.
die Gabe des Geistes, denn Amen
Gott ist Geistewiger Geist. Nur
das kann unser Beten, Bitten »Ja, das ist das erste und
sein. Das persönlich vergängli- letzte, dass man zu Dir bete,
che Bitten bleibt im Bereich des denn wie sollte der Liebende
Vergänglichen. Der Impuls die- schneller in Deine Arme eilen
ser Gebete erreicht aufgrund können als im Gebet und wo
seiner irdisch-menschlichen sollte er tiefer seine Schuld
Intention nicht die Sphäre des bekennen.«
Göttlichen. Wird dieses Bitten (Ludwig Meidner)
OFFENE TORE 4/05 169
er in Bethlehem und der ganzen
Wort zum Tage Umgebung alle Knaben bis zum Sadhu Sundar Singh und die
im Deutschlandradio am
4. Dezember 2005
Alter von zwei Jahren töten.
Aber einige Personen wa-
Neue Kirche
ren damals doch anwesend. von Eric Sharpe
von Pfarrer Thomas Noack
Zunächst natürlich Maria und

L iebe Hörerin, lieber Hörer, Ad-


vent, – das ist die Zeit der An-
Josef. Maria steht symbolisch für
die Sehnsucht nach Gott und die I n den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde die Auf-
merksamkeit der Christen in nahezu allen Teilen der Welt auf
das Zeugnis und die Persönlichkeit eines indischen Predigers na-
kunft des Erlösers. Und für uns soll Empfänglichkeit der Seele. Josef
es die Zeit der Vorbereitung auf steht für das gelassene Gemüt, mens Sadhu Sundar Singh1 gelenkt. In der Hindu-Tradition ist ein
seine Ankunft sein. Doch ich frage das nicht Zeuger, wohl aber »Sadhu« (Wort des Sanskrit; wörtlich: »einer, der auf dem richtigen
mich: Können wir uns überhaupt Zeuge der göttlichen Geburt ist. Pfad wandelt«) ein heiliger Mann, auch ein Heiliger oder Seher, je-
auf sein Kommen vorbereiten? Ochs und Esel sind Sinnbilder für mand, der der Welt entsagt hat, um den Weg zur Erleuchtung zu
Bekanntlich war damals kein bodenständige Güte und schlich- finden. Das Phänomen selbst ist in Indien nicht selten, worin sich
Platz in der Herberge. Damals tes Wissen. Die Hirten symboli- Sadhu Sundar Singh aber von anderen Sadhus unterscheidet, ist
führte die Eintragung in die Steu- sieren Fürsorge und Mitmensch- sein Christsein.
erlisten dazu, dass die Geburt Jesu lichkeit. Und die drei Weisen aus Sundar Singh wurde am 3. September 1889 im Dorf Rampur
zu einer Nebensächlichkeit wurde. dem Morgenland stehen für im nördlichen Punjab geboren. Sein Name lässt vermuten, dass er
Heute hingegen ehren sogar die ursprüngliche Weisheitstraditio-
Großen dieser Welt das Krippen- nen, die vom theologischen Es-
kind. Damals aber waren sie nicht tablishment nicht selten als heid-
anwesend. Augustus war in Rom nischer Unsinn abgetan werden.
und erwartete das Ergebnis der Was ist all diesen Anwesenden
Steuererhebung. Der Hohepries- gemeinsam? Sie repräsentieren
ter war in Jerusalem und bereitete das Niedrige, das in der Lage ist
eine Sitzung des Hohen Rates vor. das Hohe zu erkennen.
Die Pharisäer lagen in ihren Betten Damals versetzte die Ein-
und träumten von einem Messi- tragung in die Steuerlisten alle
as aus dem Hause Davids, der die Bewohner des Reiches in Bewe-
Königsherrschaft ihres Gottes her- gung. Heute hält uns der vor-
beiführen sollte. Der einzige Gro- weihnachtliche Rummel in Atem.
ße, der von der Sache in Bethle- Schenken Sie sich doch einfach
hem Wind bekommen hatte, war einmal nichts als nur Liebe, Ver-
Herodes der Große. Und das war ständnis und Mitmenschlichkeit,
nicht gut. Denn er befürchtete, je- und bereiten Sie sich in diesem
mand könne ihm seine Herrschaft Geiste auf die Geburt des göttli-
streitig machen. Deswegen ließ chen Kindes vor.

170 OFFENE TORE 4/05 OFFENE TORE 4/05 171


ein Sikh war, aber falls er es war, hat der Sikhismus in seinem Leben Wie ich schon erläuterte, erschien im Jahr 1916 das erste einer
keine Spuren hinterlassen, und in späteren Jahren hatte er es sich ganzen Flut von Büchern über den Sadhu. Geschrieben hatte es ein
angewöhnt, auf sein religiöses Leben bezogen zu sagen, er sein ein indischer Christ namens Alfred Zahir, und es enthielt die meisten
Hindu2 gewesen. der Wunder- und Abenteuergeschichten, die dann ein Jahrzehnt
Seine Grundschulausbildung erhielt er in einer Schule, die von später so intensiv diskutiert werden sollten6.
Amerikanern der Presbyterianer Kirche geleitet wurde, und dort ent- Viele dieser Geschichten wurden einige Jahre später in einem
wickelte er eine tiefe Abneigung gegen die ihm vermittelte christ- anderen kleinen Buch wiederholt, das von Sundar Singhs »spiritu-
liche Lehre, eine Abneigung, die ihren Höhepunkt etwa in seinem eller Mutter« Rebecca Parker, der Frau eines Missionars der Londo-
14. Lebensjahr erreichte, als er eine öffentliche Verbrennung zumin- ner Missionsgesellschaft, geschrieben wurde. Rebecca Parkers Buch
dest eines Teils des Neuen Testaments durchführte. Kurz darauf be- Sadhu Sundar Singh: Called of God (Von Gott gerufen, 1918), das
kam er aber Gewissensbisse, vielleicht auch Angst. Später erklärte später viele Male wieder aufgelegt werden sollte, wurde in verschie-
er dazu, schon kurz vor dem Selbstmord gestanden zu haben, als dene europäische Sprachen übersetzt und von einigen herausragen-
er von einer Vision Jesu gefangen genommen wurde, der zu ihm den Gelehrten besprochen. Allerdings war es erst das nächste Buch
sprach und ihn in seinen Dienst nahm. Er wurde an seinem 16. Ge- über Sundar Singh, das ihm weltweite Aufmerksamkeit bescherte.
burtstag getauft und nahm fast sofort den Lebensstil eines Sadhu an. Im Jahre 1929 unternahm Sundar Singh, nachdem er in Indien
Von Zeit zu Zeit stand er zwar auch mit anderen spirituellen schon ziemlich bekannt geworden war, seine erste Predigtreise in
Pilgern in Verbindung und besuchte auch einige Jahre ein anglika- den Westen. Es war eine Reise um die Welt, die ihn nach Europa,
nisches theologisches Seminar, aber dennoch war sein Weg mehr in die Vereinigten Staaten und nach Australien brachte. Im ganzen
der eines Einzelgängers. In der missionarischen Literatur wurde er gesehen wurde die Reise unstrittig aufgenommen, aber ein Treffen,
das erste Mal in einem Artikel erwähnt, der in einem anglikanischen das in Oxford stattfand, trug mit dazu bei, die spätere Krise im Le-
Journal im Jahr 19083 veröffentlicht wurde. Das erste Buch über ihn ben und Predigtdienst des Sadhu zu beschleunigen. Zu jener Zeit
erschien acht Jahre später im Jahre 1916.4 war in Oxford ein junger Student der Indienforschung namens A.
Es ist praktisch unmöglich, irgendetwas wirklich Genaues dar- J. Appasamy, der später ein anglikanischer Bischof in Indien wurde,
über zu erfahren, was Sundar Singh in den acht Jahren von 1908 und ihm gelang es, den bekannten Theologen und Neutestament-
bis 1916 getan hat. Er fastete und betete, das ist gewiss. Sicherlich ler B. H. Streeter davon zu überzeugen, dass es etwas in Sundar
reiste er auch, – aber wohin? In späteren Darstellungen, und von Singhs Leben und Zeugnis gebe, das eine nähere Untersuchung
denen gibt es viele, wird behauptet, dass er mehrmals nach »Tibet« rechtfertige7. Die beiden interviewten Sundar Singh über einen län-
und zurück gepilgert sei und dass er dort eine ganze Serie von haar- geren Zeitraum und veröffentlichten im Folgejahr ihre Erkenntnisse
sträubenden Erlebnissen gehabt habe. Man behauptete, er habe über den Sadhu. Darin sind die visionären Aspekte des Lebens Sun-
eine geheime christliche Bruderschaft unter den heiligen Hindu- dar Singhs erstmalig der Öffentlichkeit bekannt gemacht worden,
männern entdeckt, und er selbst erklärte, einen christlichen Maha- und in diesem Buch ist auch erstmals der Name Swedenborg in Ver-
radscha hohen Alters angetroffen zu haben. Viele Male war er, wie bindung mit Sundar Singh erwähnt worden.
er selber berichtet hat, an der Schwelle zum Märtyrertod. Aber jedes Das Buch von Streeter und Appasamy war aber auch in an-
Mal gelang es ihm noch, wenn auch verletzt und schlimm zugerich- derer Hinsicht bedeutungsvoll. Es trug den Untertitel »A Study in
tet, lebendig davon zu kommen. Ob Sundar Singh aber überhaupt Mysticism and Practical Religion« (Eine Studie über Mystizismus
jemals – physisch – das Land betreten hat, das wir Tibet nennen, un- und praktische Religion) und teilte der christlichen Welt mit, dass
terliegt doch einigen Zweifeln5. Sundar Singh die seltene Erscheinung eines tatsächlich und heute
172 OFFENE TORE 4/05 OFFENE TORE 4/05 173
lebenden Mystikers war. Vorher war der Mystizismus in vielen Ver- borgs wohl in seiner kurzen Studienzeit stattfanden. Zumindest la-
öffentlichungen in westlichen Ländern nämlich mehr als eine An- gen sie vor seinem ersten Besuch im Westen, also vor 1920.
gelegenheit der Vergangenheit als der Religion der Gegenwart be- Bei dem Versuch zu bestimmen, wann, wo und wie Sundar
handelt worden. Sundar Singh dagegen zeigte alle Zeichen eines Singh zum ersten Mal mit den Schriften Swedenborgs in Kontakt
lebenden Mystikers. Er hatte Visionen gehabt, Stimmen gehört, er gekommen sein könnte, sind wir auf Deutungen angewiesen. Nach-
verbrachte viele Stunden in Gebet und Meditation, und dennoch weisbar ist allerdings, dass es seit 1850 Swedenborg-Literatur in In-
waren seine Aussagen im Innersten eindeutig vom Evangelium ge- dien gegeben hat, und dass der Pastor der Neuen Kirche Goldsack
prägt. Streeter war nicht der Meinung, dass seine Leser nun selbst im Jahre 1917 eine sechsmonatige Missionsreise durch Indien un-
Erfahrungen mit Trance, Visionen und Stimmen machen sollten. Er ternahm, auf der er circa 40 öffentliche Vorträge hielt, davon min-
hielt solche Versuche im Gegenteil für gefährlich, da sie zu leicht destens einen auch in Lahore, wo Singh einige Jahre vorher Theolo-
in die Irre führen könnten. Aber er war bereit, die Echtheit der gie studiert hatte. Goldsack hinterließ auch Swedenborg-Literatur in
Erfahrungen des Sadhu anzuerkennen, wobei er allerdings dazu zehn öffentlichen Bibliotheken, und sein Assistent Natha Singh war
neigte, sie auf der psychologischen und nicht einer übernatürli- – wie der Sadhu – ein Sikh, der auch aus der gleichen Gegend Indi-
chen Ebene zu erklären (ein eher rationalistischer Erklärungsver- ens kam. Nach den Ausführungen von Streeter/Appasamy scheint
such, der einige andere westliche Autoren, insbesondere Friedrich
es nahe zu liegen, dass Sundar Singhs Studium der klassischen Mys-
Heiler in Marburg, ärgerte, was wir hier allerdings nicht weiter er-
tiker wohl während seiner Studienzeit in Lahore begann, und einer
örtern können).
von ihnen war – nach Singhs eigener Aussage – auch Swedenborg.
In einer frühen Phase ihres Berichts erwähnten Streeter und Ap-
Sundar Singhs zweite Reise in den Westen fand 1922 statt, und
pasamy innerhalb eines kurzen Rückblicks auch einige der bekann-
im April besuchte er Uppsala in Schweden, wo er Gast des Erzbi-
ten Mystiker, die Sundar Singh während seines Studiums und da-
schofs Nathan Söderblom war. Söderblom nahm ihn unter ande-
nach gelesen zu haben behauptetet hat. Sie schreiben:
rem auf eine Fahrt zu den Sehenswürdigkeiten mit, wobei er auch
»Es war offenbar in Lahore, wo er das erste Mal mit dem Werk die Kathedrale von Uppsala besichtigte und dabei das Grab Swe-
›Die Nachfolge Christi‹, einem seinerzeit viel gelesenen Buch in denborgs sah. Später schrieb Söderblom, dass Sundar Singh von
Kontakt kam … Er hat auch ein Buch über das Leben des heiligen
drei Dingen in der Kathedrale beeindruckt gewesen sei: Dem Toten-
Franz von Assisi gelesen, aber wann und von welchem Autor, das
schrein des schwedischen Schutzheiligem St. Erik, einem mittelalter-
konnte er nicht mehr sagen. An solchen Details hat er keinerlei
Interesse. Irgendwann hat er auch einmal in Al-Ghasali und an- lichen Mantel mit einem gestickten Bild von der Geburt Christi und
dere Mystiker des Sufismus hineingeschaut. In ähnlicher Weise von Swedenborgs Grab. »Swedenborg war ja, wie er, ein Seher«,
hat er auch etwas über Jakob Böhme, die heilige Theresa von diese Worte stammen von Söderblom, aber man muss wohl davon
Avila, den heiligen Johannes vom Kreuz und auch ein wenig über ausgehen, dass Singh an Swedenborg sicherlich nicht so interessiert
Swedenborg gelesen sowie über Madame Guyon. Wir haben die gewesen wäre, wenn er nicht schon vorher über ihn, seine Bedeu-
Vorstellung, dass er über die zuletzt Genannten erst in den letzten tung und seine Schriften, wie gründlich oder oberflächlich auch im-
fünf Jahren etwas gelesen hat, aber hierüber war von ihm nichts mer, informiert gewesen wäre. Das würde bestätigen, was Streeter
Genaues zu erfahren.«
und Appasamy ein Jahr vorher geschrieben hatten. Söderblom sei-
Was die späteren Kontakte zwischen dem Sadhu und der nerseits glaubte nicht, dass Sundar Singhs Kenntnisse Swedenborgs
Neuen Kirche betrifft, muss man nach diesen Erkenntnissen davon schon sehr ausgeprägt waren, denn in einem kleinen Buch, das er
ausgehen, dass seine ersten Kontakte mit den Schriften Sweden- im gleichen Jahr vor dem Besuch veröffentlicht hatte, schrieb er:
174 OFFENE TORE 4/05 OFFENE TORE 4/05 175
»Sundar Singhs göttliche Verehrung gilt Christus. Seine Kennt- Interesse an der Theologie hatte, dass aber auf der Ebene der Visio-
nisse über Swedenborg sind sehr oberflächlich. Es ist sicher, dass nen dennoch »auffallende Ähnlichkeiten« zwischen beiden zu ver-
sich der christliche Mystiker von den endlosen Beschreibungen zeichnen wären. Es ist interessant, dass zu jener Zeit in Schweden
und eher mechanisch orientierten Vorstellungen Swedenborgs niemand auf die Idee kam, dass der Sadhu eine Gefahr für die Neue
eher abgestoßen fühlen würde. Andererseits dürfte er nicht viele
Kirche darstellen könnte, und es kann auch mit Sicherheit gesagt
Schwierigkeiten haben, sich Swedenborgs auf Christus zentrier-
werden, dass von Seiten der evangelischen Staatskirche niemand
ten Gottesglauben zu Eigen zu machen.«
die Befürchtung hatte, der Sadhu könnte mehr als ein nur vorüber-
Die Beurteilung »sehr oberflächlich« wurde sicherlich direkt gehendes Interesse an Swedenborg zeigen.
von Streeter und Appasamy übernommen. Was den anderen Punkt Anschließend besuchte Sundar Singh andere europäische Län-
betrifft, nämlich die vermeintliche Reaktion des Sadhu beim Lesen der, und zwar auch die Schweiz. Ein Bericht über ein Treffen in Lau-
Swedenborgs, konnte Söderblom nicht falscher liegen. sanne, der zunächst in der Zeitschrift »Le Messager de la nouvelle
Auch während des Besuchs in Schweden im Jahre 1922 gab Eglise« (Bote der Neuen Kirche) erschienen war, wurde dann ins
es Kontakte des Sadhu zu Mitgliedern der Neuen Kirche, und zwar Englische übersetzt und 1922 in »New Church Life« (Das Leben in
mit Frau Georgine Nordensköld und Pastor David Rundström, viel- der Neuen Kirche) unter dem etwas eigenartigen Titel »A Hindoo
leicht auch mit weiteren Personen, die alle versuchten, den Sadhu visits Lausanne« (Ein Hindu besucht Lausanne) abgedruckt. Darin
für Swedenborg und die Neue Kirche zu interessieren. Pastor Rund- wird Sundar Singh als »der neue Apostel des Herrn« bezeichnet,
ström gab dem Sadhu eine Ausgabe der Himmlischen Geheimnisse, und es wird festgehalten, dass einige Mitglieder der Neuen Kirche
was der Sadhu in einem Brief unter dem 7. Mai 1922 bestätigte. bei seinen Vorträgen dabei waren, wozu es dann weiter heißt: »…
Es ist auch keineswegs nur nebensächlich, dass Eric von Born, ein viele Mitglieder erwärmten sich aus tiefstem Herzen an dem Gedan-
wichtiges Mitglied der Neuen Kirche in Schweden, in einem 1959 ken, dass das Licht, das sie solange zu verbreiten versucht hatten,
veröffentlichten Artikel ausdrücklich feststellte, dass »der Sadhu nun vielleicht soweit vorgedrungen sei, dass die Morgendämme-
schon früher (d. h. also vor 1922) Himmel und Hölle gelesen hatte rung beginnt.« Offenkundig lehrte Sundar Singh in ähnlicher Weise
und nun die Gelegenheit bekam, wenigstens die ersten Bände der wie Swedenborg. »Hier ist ein Mann, dem – wie Swedenborg – die
Himmlischen Geheimnisse kennen zu lernen.« Es ist schade, dass ich geistigen Augen geöffnet wurden, und wie im Falle Swedenborgs
für die Behauptung, er habe schon früher Himmel und Hölle gele- hat es dem Herrn gefallen, ihm zu erscheinen. Er ist tatsächlich in
sen, keine unabhängige Bestätigung habe finden können, aber sie der geistigen Welt gewesen.« Dem Berichterstatter der Zeitschrift
könnte dennoch der Wahrheit entsprechen. Im positiven Fall würde »New Church Life«, (E. E. Iungerich) war angesichts dieser Begeis-
es uns helfen, wenigstens einige der Ähnlichkeiten zwischen den Vi- terung allerdings etwas unwohl. Obwohl er einerseits erklärte, dass
sionen des Sadhu und denen Swedenborgs zu erklären. »alles, was auf der Erde geschieht, egal ob gut oder schlecht, sich
In Schweden gab es aber auch andere, die sich damit befass- schließlich zum Vorteil der Neuen Kirche auswirken wird«, fühlte er
ten, die beiden Visionäre zu vergleichen. Noch während der Sadhu sich doch verpflichtet, die Leser daran zu erinnern, dass »das zweite
in Schweden weilte, nämlich am 8. Mai 1922, veröffentliche Major Kommen des Herrn durch die Schriften Swedenborgs erfolgt« und
Oswald Kuylenstierna, obwohl er offenbar nicht selbst Mitglied der dass ein derartiges Interesse, wie es für den Sadhu gezeigt wurde,
Neuen Kirche war, einen kurzen Artikel in einer führenden Stockhol- die Aufmerksamkeit der Menschen von den Schriften Swedenborgs
mer Zeitung, dem Svenska Dagbladet, in dem er darauf hinweist, ab und der Welt der Geister zuwenden könnte. Es sei deshalb denk-
dass Sundar Singh zwar Swedenborg diametral gegenüber zu ste- bar, so schrieb er, dass Sundar Singh neben Oliver Lodge und Co-
hen scheint, zumal er keine wissenschaftliche Ausbildung und kein nan Doyle gar in die Reihe falscher Lehrer gestellt werden muss.
176 OFFENE TORE 4/05 OFFENE TORE 4/05 177
Die Möglichkeit, dass Sundar Singh nur ein weiterer Spiritualist Sundar Singhs erste Vision hielt er deswegen nicht für eine Vision
sein könnte, machte der Neuen Kirche in diesem Stadium der Ent- Jesu, »sondern die Erscheinung des Herrn wurde nur vorgetäuscht,
wicklung Sorge. In Amerika hatte man außer dem Buch von Stree- und zwar von schwärmerischen Geistern, die auch in der Folge eine
ter und Appasamy aus dem Jahre 1921 absolut nichts, worauf man Reihe von Wundern bewirkten.« Den Rest seines Aufsatzes widmete
eine Beurteilung Sundar Singhs hätte aufbauen können. Im Novem- Alden einer Darstellung der Tricks dieser Geister, die »… nicht durch
ber 1922 veröffentlichte W. H. Alden einen weiteren Artikel in New offene Lügen täuschen, sondern sich die Fantasie der Menschen
Church Life, der ausgesprochen kritisch ausfiel. Sein Grundgedanke durch scheinbare Wahrheiten geneigt machen, die aber der einen
war, dass niemand behaupten sollte, direkte Offenbarungen vom Wahrheit so sehr ähneln, dass die Wahrheitssucher getäuscht wer-
Herrn bekommen zu haben und auch nicht danach streben sollte, den können. Das Böse ist sehr subtil …«.
und Sundar Singh schien genau dies zu behaupten. Darüber hinaus Wie ich aber schon zu verstehen gegeben habe, liegt eine an-
wirkten seine Beglaubigungen nicht über jeden Zweifel erhaben: dere Erklärung für die Ähnlichkeiten zwischen Sundar Singhs Visi-
»… er ist ein Sadhu im Sinne des Hinduismus, behauptet aber ein onen (oder vielmehr der Erklärung, die er für diese Visionen gab)
christlicher Sadhu zu sein«, und dann fuhr Alden ganz unverblümt und einigen Aspekten der Lehren Swedenborgs nahe, nämlich, dass
fort und sagte: »Er ist ein Mann, der noch nie etwas von Sweden- Sundar Singh schon wenigstens ein Werk Swedenborgs gelesen
borg gehört hat« und trotzdem »widmet er sich der Verbreitung hatte. Vieles andere würde noch klarer werden, wenn dieses Buch
der gleichen Botschaften, die der christlichen Welt von Swedenborg sich als Himmel und Hölle herausstellte.
überbracht worden sind … Wie kann das wohl sein?« Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die westliche Welt Inhalt und Cha-
Tatsache ist nun aber, dass Sundar Singh durchaus von Swe- rakter der Visionen Sundar Singhs fast ausschließlich danach beur-
denborg gehört hatte. Wie wir bei Streeter und Appasamy gesehen teilen müssen, was bei Streeter und Appasamy darüber geschrieben
haben, waren unter den westlichen Mystikern, die Sundar Singh stand. Auf seinen Reisen und bei sonstigen Predigtverpflichtungen
vor 1920 gelesen hatte, Boehme, die heilige Theresa, Johannes hatte der Sadhu den Aspekt der Visionen vermieden, wahrschein-
vom Kreuz, Swedenborg und Madame Guyon. Und bei seinem Be- lich, weil ihm klar wurde, dass die evangelischen Christen, mit de-
such 1922 an Swedenborgs Grab in Uppsala im April wusste Sun- nen er hauptsächlich zusammenkam, nicht bereit gewesen wären,
dar Singh offenbar genug, um in Swedenborg einen Seher wie sich sie ernst zu nehmen, ja, dass sie sich sogar gegen ihn feindlich ein-
selbst zu erkennen. gestellt hätten, wenn sie über Art und Wesen seiner visionären Er-
Alden war geneigt, auch manches andere an Sundar Singhs fahrungen erfahren hätten. Visionen waren in evangelischen Kreisen
Botschaft als Ergebnis der »… Fähigkeit eines Hindu zu starken emo- nur insoweit akzeptabel, als sie den Berichten der Bibel und ihrer
tionalen Erfahrungen« zu erklären. So habe er sich diverse Episoden Terminologie entsprachen. Das traf wohl für einige Visionen des
der Bibel zu Eigen gemacht und darüber hinaus habe er eine unge- Sadhu zu, allerdings nicht für alle. In jedem Falle war es den evange-
sunde Neigung zu Märtyrern und dem Märtyrertum. Darüber hi- lischen Christen verboten, mit den Geistern der Verstorbenen »auf
naus »… hat er kein neues Verständnis des Christentums geliefert, der anderen Seite« in Kontakt zu treten, ein Umstand, der jeden Spi-
jedenfalls keinen Gedanken, der anders gewesen wäre, als was un- ritualismus unweigerlich als Irrtum hinstellte. Und so blieb es auch
ter evangelischen Christen verbreitet ist.« Er habe zwar einige rich- während der folgenden vier Jahre. Sundar Singhs Visionen setzten
tige Vorstellungen über den Herrn und die geistige Welt, diese seien sich zwar fort, aber er nahm davon Abstand, in der Öffentlichkeit
aber auch mit manchen Falschheiten durchmischt. Aldens Schluss- darüber zu sprechen. Im Jahre 1926 brach er sein Schweigen aber.
folgerung lautete deshalb, dass Sundar Singhs Geist ein hervorra- Sundar Singhs visionäres Buch »Visions of the Spiritual World«
gender Kandidat für die »Invasion schwärmerischer Geister« sei. (Visionen der geistigen Welt) erschien erstmalig im Jahre 1926. Es
178 OFFENE TORE 4/05 OFFENE TORE 4/05 179
berichtete in einfachen Worten über seine Erfahrungen mit der dere über das Vorwissen, das der Sadhu hatte und ob er wirklich
geistigen Welt und von seinen Unterhaltungen mit »Engeln«. Das vorher Swedenborg gelesen hatte.«
Geschilderte erschien weitestgehend als der geltenden Lehre ent- Genau die gleiche Auffassung vertrat einen Monat später im
sprechend, denn schließlich waren »Engel« ja Teil der christlichen November 1927 John Goddard in The New-Church Messenger:
Mythologie, und das Buch konnte im schlimmsten Fall immer noch
als die Arbeit einer frommen Fantasie erklärt und gedeutet werden. »Er beschreibt die geistige Welt in Begriffen, die denen Sweden-
borgs so stark ähneln, dass wir bezweifeln, dass er mit Sweden-
Für die evangelischen Christen gab es auch keinen Grund, einen
borgs Schriften nicht vertraut gewesen ist und nicht – bewusst
swedenborgischen Einfluss zu vermuten, zumal sie sich nicht be-
oder unbewusst – sich darauf bezogen hat … seine Beschreibung
wusst waren, dass der Sadhu sehr wohl entsprechende Kontakte stimmt so stark mit der Swedenborgs überein, dass wir nicht
gehabt hatte. Nathan Söderblom jedoch war einer von denen, die anders können, als eine Erklärung zu fordern.«
eine gewisse Ähnlichkeit zu Swedenborg feststellten, und so schrieb
er im Vorwort zu der schwedischen Übersetzung: »Dieses kleine Nach Godddards Ansicht könnte die Sache dadurch geklärt
Buch zeigt besser als die früheren Schriften des Sadhu, dass seine werden, dass man unterstellt, dem Sadhu sei eine Art »ergänzen-
Visionen kaum als Ergebnisse von Ekstasen angesehen werden kön- der Offenbarung« zuteil geworden, die größere Wahrscheinlichkeit
nen, sondern dass sie – in der Form von Visionen – deutliche Einbli- spreche aber dafür, dass er eben doch Swedenborg gelesen hatte.
cke vermitteln. Die Visionen beruhen nicht auf Emotionen, sondern Und diese Auffassung war zu jener Zeit auch absolut richtig.
auf Reflexionen. Sie stellen Mahnungen und Lehrinhalte dar. Die Goddards Interesse an der Frage der direkten Übernahme von
Swedenborg war nun jedoch so stark geworden, dass er über des-
Fantasie wird einem klaren Standpunkt untergeordnet. Man fühlt
sen Londoner Herausgeber an den Sadhu schrieb und konkret an-
sich an Hesekiel oder Swedenborg erinnert …«. Diese Aussage war
fragte, ob er tatsächlich Himmel und Hölle gelesen habe. Sundar
für ihn aber mehr eine Angelegenheit des Stils als des Inhalts.
Singh antwortete am 26. Dezember 1927 und schrieb:
Die Inhalte des Buches »Visions of the Spiritual World« irritier-
ten viele Mitglieder der Neuen Kirche. Sie konnten nicht wissen, »… ich möchte mitteilen, dass ein Freund mir nach der Veröf-
was der Sadhu in den letzten Jahren gelesen hatte. Einerseits waren fentlichung meines Buches ›Visions of the Spiritual World‹ eine
sie von den Anklängen an Swedenborgs Lehre überrascht, anderer- Ausgabe von ›Himmel und Hölle‹ zusandte. Und ich habe mich
seits aber auch von den Widersprüchen, die sich in diesem kleinen gefreut, dass dieser wunderbare Gottesmann Swedenborg ähn-
liche Erfahrungen gemacht hat. Ich würde sehr gerne mehr über
Buch fanden. John Whitebread hat dies im Oktober 1927 im New
diesen Seher und Heiligen lesen.«
Church Review treffend ausgedrückt:
Das ist ein sehr rätselhafter Brief. Liest man, was da steht, er-
»Ist es möglich, dass der Sadhu Swedenborg gelesen und dann
auch Visionen hatte, die die von Swedenborg aufgenommenen
scheint es schlichtweg als Versuch zu einer Art Täuschung oder we-
Gedanken reflektierten? Oder erhielt er direkte Informationen nigstens einer Verschleierung. Sundar Singh waren ja seit 1922 di-
vom Himmel? Die große Ähnlichkeit seiner Gedanken mit den verse Büchergeschenke von Bewunderern aus Swedenborg-Kreisen
Lehren Swedenborgs, die Aufteilung der geistigen Welt, die zugesandt worden, ganz abgesehen von der schon erwähnten
mit den gleichen Begriffen dargestellt wird, dies alles legt den Möglichkeit, dass er Himmel und Hölle schon vor 1920 gelesen
Eindruck nahe, dass er zunächst dieses Wissen von Swedenborg hatte. Wir sollten uns jedoch an zwei Dinge erinnern: Erstens, dass
übernommen und die Geister ihn dann darin bestätigt haben. Es sich Sundar Singh zu jener Zeit in einem schlechten Gesundheits-
wäre sicherlich interessant, mehr hierüber zu erfahren, insbeson- zustand befand, wodurch er Schwierigkeiten gehabt haben könnte,
180 OFFENE TORE 4/05 OFFENE TORE 4/05 181
sich an Ereignisse der Vergangenheit zu erinnern, zweitens könnte er »Ich bewerte diesen Schatz ausgesprochen hoch und werde sorg-
einige Befürchtungen gehabt haben, dass seine Freunde unter den fältig lesen, wie es mir von dem höchst ehrenwerten Swedenborg
evangelischen Christen wenig erfreut sein könnten, von solchen Le- empfohlen wurde … Nach meinen Reisen hoffe ich einiges über
segewohnheiten zu erfahren. Das mag nicht sehr wahrscheinlich meine Aussprachen mit Swedenborg in der geistigen Welt zu
schreiben.«
sein, immerhin stellt es aber eine Möglichkeit dar. Ein dritter Erklä-
rungsversuch besteht darin, dass Sundar Singh, der Goddard offen- Wir haben schon festgestellt, dass Pastor John Goddard aus
bar nicht kannte, in dieser Phase nur das bestätigen wollte, was der Newtonville, Massachusetts, Ende des Jahres 1927 eine Korrespon-
Frager seiner Meinung nach hören wollte. Unglücklicherweise hat denz mit dem Sadhu begonnen hatte, die sich über einige Jahre
Goddard seinen eigenen Brief an Sundar Singh nicht veröffentlicht, fortsetzte, und zwar bis zum endgültigen Verschwinden des Sadhu
und deshalb wissen wir nicht, wie er formuliert war. im Jahr 1929. Weitere Bücher aus dem Swedenborg-Werk wurden
Sundar Singh hatte in seinem kleinen Buch Swedenborgs Na- ihm zugesandt, und am Ende seines Lebens muss Sundar Singh
men nicht erwähnt. Jedoch gibt es darin eine Passage, die – wie eine sehr beachtliche Swedenborg-Bibliothek besessen haben. Am
später bekannt wurde – ein versteckter Hinweis sein könnte. Darin 30. Mai 1928 schrieb er an Goddard, um sich für ein Bücherpaket,
sehen wir den Sadhu in einem Gespräch mit einer Gruppe von En- das Himmel und Hölle (schon wieder), Die Eheliche Liebe sowie Die
geln, und er bittet sie, ihm ihre irdischen Namen zu nennen. Einer Göttliche Liebe und Weisheit enthielt, zu bedanken.
antwortet ihm, jeder habe einen neuen, himmlischen Namen erhal- »Ich freue mich feststellen zu können, dass viele Dinge, die ich in
ten, der außer dem Herrn und dem Namensträger selbst nieman- der geistigen Welt und den Himmeln gesehen habe, genau dem
dem bekannt sei. Welchen Sinn sollte es da haben, irdische Namen gleichen, was Swedenborg geschildert und in seinen Werken
zu enthüllen? Etwa zur gleichen Zeit scheint Sundar Singh die Über- beschrieben hat. Ja, ich habe den ehrenwerten Swedenborg in
zeugung gewonnen zu haben, dass einer dieser »Engel« auf der meinen Visionen mehrere Male gesehen.«8
Erde niemand anderer gewesen sein könne als Swedenborg.
Am 12. November 1928 schrieb er:
Etwa zwei Jahre nach der Veröffentlichung der Visions schrieb
Sundar Singh an den Sekretär der indischen Swedenborg-Gesell- »Ja, ich habe mit dem ehrenwerten Swedenborg und einigen
schaft, A. E. Penn, und erklärte, er habe tatsächlich über mehrere anderen Heiligen und Engeln über die Höllen gesprochen, aller-
Jahre mit dem »Engel« Swedenborg in Kontakt gestanden, aller- dings fühle ich mich außerstande all das, was sie mir sagten,
dings ohne es zu wissen: angemessen zu erklären.«

»Ich sah ihn vor einigen Jahren mehre Male, kannte aber seinen Und am 2. Januar 1929 schrieb er:
irdischen Namen nicht. Sein Name in der geistigen Welt ist ja »Was die Lehre der Reinkarnation und auch der Seelenwande-
ein ganz anderer, und zwar entspricht der seiner hohen Position rung betrifft, habe ich mit Swedenborg und auch mit ehemaligen
und Aufgabe sowie seinem ausgesprochen schönen Charakter. Er Hindu-Heiligen gesprochen. Einige dieser Hindus haben nach
ist über alle Maßen glücklich und beständig dabei, anderen zu ihrem Übergang in die geistige Welt den Herrn als den alleinigen
helfen.« wahren Gott und Retter angenommen, andere noch nicht. Aber
alle sagen, dass die Reinkarnation unmöglich ist….«
Einige Tage vorher hatte er an den gleichen A. E. Penn ge-
schrieben, um sich für die Zusendung der Himmlischen Geheim- Übrigens war es dieser Brief, wo Sundar Singh – anders als
nisse zu bedanken (ein Buch, von dem er eine Ausgabe, wie wir ge- sonst in der Korrespondenz – den wahrscheinlich einzigen direk-
sehen haben, seit Jahren gehabt hatte): ten Hinweis auf die Schriften Swedenborgs gab. Es wird wohl nicht
182 OFFENE TORE 4/05 OFFENE TORE 4/05 183
überraschen, dass er sich auf Himmel und Hölle bezieht, und zwar und mit ihm in der geistigen Welt in Kontakt gekommen bin,
auf die Unmöglichkeit, die Hinduauffassung von der Seelenwande- kann ich ihn nachdrücklich als einen großen Seher empfehlen.‹«
rung zu akzeptieren. Und in einem späteren Brief, datiert auf den Sundar Singh, der sich zu jener Zeit in einem sehr kritischen
11. März 1929, bestätigte er, dass er in der geistigen Welt …»Sze- Gesundheitszustand befand, verließ Subathu, um nach »Tibet« zu
nen und Dinge, fast genau so, wie sie Swedenborg in Himmel und reisen, und zwar etwa am 18. April 1929, dem Tag, an dem seine
Hölle beschrieben hat« gefunden habe. letzten Briefe an seine Freunde geschrieben wurden. Man hat da-
Interessanterweise wurde der Name Swedenborg in Sundar nach nie wieder etwas von ihm gesehen oder gehört.
Singhs Korrespondenz mit seiner »spirituellen Mutter« Mrs. Parker Eine Zeitlang war sein Verbleiben Gegenstand von Diskussio-
niemals erwähnt und auch nur ein einziges Mal in einem Brief an nen. Schließlich, so wurde argumentiert, war er ja schon früher in
Söderblom. Als er am 13. November 1928 an ihn schrieb, fragte »Tibet« gewesen und er könnte gerade so geheimnisvoll wieder auf-
er, ob es wohl möglich wäre, die Niederschriften seiner Ausspra- tauchen, wie er verschwunden war. Eine kontroverse Diskussion um
chen mit Swedenborg in Buchform zu veröffentlichen.9 Söderblom ihn folgte. Appasamy’s Artikel hatte den Zorn, zumindest aber die
scheint auf diesen Brief nicht geantwortet zu haben, weil er offen- Sorge einiger evangelischer Christen in Indien erweckt, und einer
bar meinte, dass der Sadhu bei dieser Gelegenheit die Grenzen des von ihnen schrieb ihm, dass seine positive Wertung Swedenborgs
theologisch Akzeptablen überschritten hatte. (Es mag erlaubt sein »abstoßend« sei. Er warnte ihn, er solle nicht den Geist Gottes be-
hinzuzufügen, dass das Lesen gerade dieses Briefes mein Interesse trüben, zumal viele in Indien sich nach ihm richten könnten. »Ich
an einer Ausarbeitung wie dieser erstmalig geweckt hat.) fordere Sie nochmals auf, in dieser Angelegenheit ernsthaft den Wil-
Im März 1929 wurde Sundar Singh in Subathu von A. J. Appa- len Gottes zu erforschen.«
samy besucht, Streeters Mitarbeiter an dem Buch von 1922, mit dem In Publikationen der Neuen Kirche wurde Sundar Singh weiter-
die Auseinandersetzung mit dem Sadhu begann. Appasamy schrieb hin als ein »begeisterter Student der Werke Swedenborgs« bezeich-
darüber im National Christian Council Review vom März 1929: net. Ihm wurden von Swedenborgianern noch Briefe gewidmet, wo
ihm bestätigt wurde, »… wir sind über einige Jahre mit Ihrem Leben
»Er sprach … mit wirklicher Begeisterung von Swedenborgs und Ihrem Werk in einer gewissen Verbindung gewesen.« The Hel-
Büchern. Als Sundar Singhs Buch Visionen der Geistigen Welt ver-
per druckte den Beitrag eines »englischen Sadhu« namens George
öffentlicht worden war, sandte ihm die Swedenborg-Gesellschaft
Leik, der behauptete, mit dem Sadhu in einer einsamen Höhle zu-
einige von Swedenborgs Schriften und wies darauf hin, dass in
sammengekommen zu sein, wo er mit der Erläuterung des vier-
mancherlei Hinsicht Sundar Singhs Erfahrungen denen Sweden-
ten Evangeliums beschäftigt sei, »damit der normale Mensch, der
borgs ähnelten. Diese Bücher … hat er mit großem Interesse gele-
sen. ›Swedenborg war ein großartiger Mann, ein Philosoph, ein
Mann von der Strasse« es verstehen kann. Diese Aussagen waren
Wissenschaftler und vor allem ein Seher klarer Visionen (dies sagte aber wahrscheinlich nichts anderes als eine fromme Phantasie. In je-
der Sadhu zu Appasamy). In meinen Visionen spreche ich oft mit dem Fall half das Verschwinden des Sadhu dabei, eine Legende zu
ihm. Er hat in der geistigen Welt einen hohen Rang inne. Er ist ein bilden, deren Echo bis heute vernehmbar ist, immerhin ein halbes
prächtiger Mann, dabei aber bescheiden und stets bereit zu die- Jahrhundert später.
nen. Auch ich sehe wunderbare Dinge in der geistigen Welt, ich Es ist die Legende von Sundar Singh, die bis heute verhindert
kann sie aber nicht mit der Genauigkeit und mit den Fähigkeiten, hat, dass der Westen wirklich begreift, was für ein Mann er war und
die Swedenborg hat, beschreiben. Er ist eine hochbegabte und die Voraussetzungen versteht, die er bei seinem Zusammentreffen
bestens geübte Seele. Nachdem ich seine Bücher gelesen habe mit Christen (und anderen Menschen) des Westens mitbrachte.
184 OFFENE TORE 4/05 OFFENE TORE 4/05 185
Ich möchte bei dieser Gelegenheit zwar nicht vorschlagen, rückbli- Punkt bot Swedenborg eine Dimension der Hoffnung, die in den
ckend den Charakters Sundar Singhs zu analysieren, aber es gibt Hauptlehren der missionierenden Gemeinden vollständig fehlte.
schon einige Punkte, die es wert sind, kommentiert zu werden. Aus diesen Gründen akzeptierte Sundar Singh Swedenborgs
Der erste ist, dass Sundar Singh in all seinem Umgang mit der Zeugnisse auch in anderen Punkten. Dies machte ihn jedoch im for-
Christenheit an theologischen Fragen ganz und gar nicht interessiert malen Sinn keineswegs zu einem Swedenborgianer. Ihn interessier-
war, und mit großer Wahrscheinlichkeit wusste er auch nichts von ten Unterschiede der Benennungen überhaupt nicht, und er macht
den unterschiedlichen Interpretationen der christlichen Botschaft, auch keine Anstalten, sich mit der Neuen Kirche zu verbinden, von
durch die die christlichen Kirchen und Benennungen voneinander der Ebene des Lesens der Werke einmal abgesehen. Vielleicht hätte
getrennt werden. In einem rein formalen Sinn war er, man muss das die Neue Kirche ihn als einen »anonymen Swedenborgianer« rekla-
wohl so sagen, ein Anglikaner, obwohl es absurd wäre zu behaupten, mieren können, aber der Sadhu selbst würde wahrscheinlich wenig
dass der Sadhu je Mitglied einer Anglikanischen Gemeinde gewesen Grund hierfür gesehen haben.
wäre. In religiöser Sprache ausgedrückt war er ein »allein Gehender«, Der zweite Punkt ergibt sich aus dem ersten. Sein Leben lang
der Gemeinschaft annahm, wenn sie angeboten wurde, darauf aber wurde die eine Sache, die auf dem spirituellen Pilgerweg des Hindu
nie angewiesen war. Sein Leseverhalten scheint eklektisch und unkri- nötig ist, dem christlichen Sadhu verweigert: die Führung durch ei-
tisch gewesen zu sein, und es gibt kaum Zweifel daran, dass er sich nen persönlichen Guru. Sowohl in Indien als auch im Westen hatte
den Schriften Swedenborgs einfach als christlichem Werk zuwandte, Sundar Singh Tausende von Christen getroffen, von denen viele
das sich von anderen einzig und allein insoweit unterschied, als es wertvoll aber langweilig waren. Für Rebecca Parker empfand er eine
die Dimension der spirituellen Erfahrung anerkennt. Selbst wenn er tiefe persönliche Zuneigung, Söderblom und einige andere erweck-
gewusst hätte, dass andere Christen über einige Aspekte der swe- ten in ihm ein gewisses Maß an Bewunderung, aber bezüglich der
denborgischen Lehre absolut nicht begeistert waren, hätte ihm das zentralen Frage seines eigenen persönlichen religiösen Lebens, näm-
wahrscheinlich nichts ausgemacht (allerdings muss auch zugege- lich der visionären Erfahrung, konnte er von keinem von ihnen ir-
ben werden, dass die Nichterwähnung des Namens Swedenborg in gendeine Führung erwarten. Beim Lesen Swedenborgs fand er zum
seiner Korrespondenz mit seiner evangelischen »geistigen Mutter« ersten Mal einen Christen, der Visionen verstand. In einem Wort,
vielmehr darauf hinweist, dass er über ihre Reaktion unsicher war). Swedenborg wurde der Guru des Sadhu. Und da Swedenborg ja
Er nahm Swedenborgs Zeugnis über die geistige Welt an, da er Zeugnis davon abgelegt hatte, dass ein Lebens des Dienens sich auch
keinen anderen Christen gefunden hatte, der in der Lage war, über- jenseits des Grabes fortsetzt, war die Tatsache, dass Swedenborg vor
haupt etwas darüber zu sagen und weil seine eigene direkte Erfah- so vielen Jahren gestorben war, kein Hindernis dafür, die Verbindun-
rung ihm Beweis für dieses Zeugnis war. Im Übrigen hat die Neue gen zwischen Guru und Schüler aufrechtzuerhalten. Swedenborg
Kirche »den Heiden« nicht gnadenlos zur ewigen Qual verdammt, lebte ja noch; in Visionen konnte er sich ihm nahen, und Sweden-
wie die extremeren evangelikalen Christen es zu tun gewohnt wa- borg konnte ihn noch belehren. In Sundar Singhs spirituellen Di-
ren. Wenn diese Evangelikalen Recht hätten, wäre auch Sundar mensionen tat er genau das. Einige werden sicherlich den Eindruck
Singhs geliebte Mutter zu ewiger Qual verurteilt – in diesem Punkt haben, dass es sich dabei um nicht mehr als Wunschdenken auf Sei-
sprach Swedenborg mit einer durch und durch milderen Stimme10. ten des Sadhu handelt, und in diesem Punkt dürften die Auffassun-
Weiterhin wurde die Hindu-Alternative – Wiedergeburt auf der Erde gen in der Neuen Kirche sicherlich geteilt sein. Dass aber die letzten
– von der Neuen Kirche ebenso abgelehnt wie von allen anderen Lebensjahre Sundar Singhs durch diese Serie von Visionen erträg-
Christen. Die Mehrheit hielt es allerdings für ausgeschlossen, dass es lich wurden, kann nicht bezweifelt werden. Schließlich öffneten die
eine geistige Weiterentwicklung jenseits des Grabes gibt. In diesem Schriften Swedenborgs dem Sadhu eine Dimension christlicher Spi-
186 OFFENE TORE 4/05 OFFENE TORE 4/05 187
ritualität, die er unter seinen mehr konventionell orientierten christ- dar Singh eine Art Basis oder Modell für einige seiner Erlebnisse geliefert haben. Stokes
und Sundar Singh waren in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts beide Mitglieder
lichen Bekannten und Freunden sonst nicht hatte finden können.
eines quasi-franziskanisch orientierten anglikanischen Ordens, und ein Mitbruder war
Es gibt natürlich noch viele weitere Aspekte der Geschichte der spätere Mitarbeiter von Tagore und Gandhi, Charles Freer Andrews.
des Sundar Singh, die ich in dieser Arbeit nicht zu erörtern versucht 4 Alfred Zahir, Shaida-i-Salib (Agra 1916) in englischer Übersetzung: »A Lover of the
habe. Als Schlussfolgerung meiner Arbeit möchte ich jedoch fest- Cross« (Einer, der das Kreuz liebt). Bedauerlicherweise habe ich niemals eine Kopie dieses
Buches zu sehen bekommen.
stellen, dass es meiner Ansicht nach höchste Zeit ist, die »Akte Sun- 5 In einem Brief Stephen Neills an den Verfasser vom 17. April 1975 heißt es dazu: »Meine
dar Singh« wieder zu öffnen, vor allem auch angesichts von eini- eigene Auffassung ist, dass der Sadhu sicherlich ein ehrenwerter Mann war, dass er aber
gen oberflächlichen und auch törichten Dingen, die über ihn in den die Trennlinie zwischen Fakten und Phantasie kaum ziehen konnte. Ich glaube nicht,
letzten Jahren11 geschrieben worden sind. Er verdient es, bekannt dass er überhaupt jemals in Tibet war, aber ich bin sicher, dass er fest davon überzeugt
war, dort gewesen zu sein. Er hatte eine sehr lebhafte Phantasie und stellte sich oft vor,
gemacht zu werden, so wie er war, aber nicht im Halbdunkel ro- Dinge erlebt zu haben, die tatsächlich nur die Früchte seiner eigenen Phantasie waren.
mantischer Frömmigkeit. Vielleicht wird man die ganze Geschichte Ich glaube, dass so etwas nicht selten das Ergebnis des Fastens ist.«
nie erzählen können, aber in den Teilen, die nachvollzogen werden 6 Was diese Diskussion betrifft, die ich hier nicht führen kann, verweise ich auf Sharpe,
können, wird die Neue Kirche eine weitaus wichtigere Rolle zu spie- »Sadhu Sundar Singh and his Critics« (Sadhu Sundar Singh und seine Kritiker), das schon
in Fußnote 1 angesprochen worden ist.
len haben, als es früher je anerkannt worden ist. 7 Aus dem Brief Streeters an Sundar Singh vom 8. März 1929: »Ich habe das Gefühl, dass
Aus: Studia Swedenborgiana, Volume 5, January 1984, Number 2. in mir ein neues Licht entzündet worden ist über die Bedeutung verschiedener Dinge
im Neuen Testament, und zwar durch das Gespräch mit Ihnen und durch das Lesen des
Buchs von Mrs. Parker.« Was diese »Dinge« waren, kann man von Streeters Buch »The
Anmerkungen Four Gospels: A Study of Origins«, London, 1924, Seiten 191-195 (Die vier Evangelien:
1 Soweit mir bekannt ist, befindet sich die vollständigste Bibliographie über Sundar Singh in Eine Untersuchung ihrer Ursprünge) ableiten. Sie befassten sich mit der Art, wie die
Paul Gable: Sadhu Sundar Singh (Leipzig, 1937), Seiten 173-189. Die einzige akzeptable Inhalte des Evangeliums mündlich weiter vermittelt worden waren.
moderne Biographie ist von A. J. Appasamy, Sundar Singh, A Biography (London 1958, 8 Die Korrespondenz mit Goddard findet sich in voller Länge in Appasamy’s Biografie, nach-
Madras 1966). Ich habe einige Aspekte seiner Arbeit in drei Artikeln dargestellt, und zwar in dem sie vorher in The Helper (zitiert bei Appasamy, Seiten 215-219) erschienen war. Erst
»Sadhu Sundar Singh and his crincs, an episode in the meaning of East and West« (Sadhu kürzlich ist eine deutsche Übersetzung von Appasamy in Offene Tore 5/1983, Seiten 195-
Sundar Singh und seine Besonderheiten: Eine Episode mit Bedeutung für den Osten und den 200 veröffentlicht worden. Übrigens hält Appasamy die Fiktion aufrecht, dass Sundar Singh
Westen« in Religion VI/I; Frühjahr 1976, Seiten 48-66); »Christian Mysticism in Theory and vor der Veröffentlichung seines Werks »Visions of the Spiritual World« keinerlei Kenntnis
Practice: Nathan Söderblom and Sadhu Sundar Singh,« (Christliche Mystik in Theorie und der Werke Swedenborgs und auch keinen Kontakt mit Swedenborgianern gehabt habe.
Praxis: Nathan Söderblom und Sadhu Sundar Singh) in Religious Traditions 4/1 (1981), Sei- 9 Ich habe in meinen Visionen ihren ehrenwerten Landsmann Swedenborg gesehen. Er ist
ten 19-37; und »Nathan Soderblom, Sadhu Sundar Singh and Emanuel Swedenborg,« in E. eine höchst wunderbare Persönlichkeit und er hat mir verschiedene interessante Fakten
J. Sharpe and A. Hultgard (eds.), Nathan Soderblom and his Contribution to the Study of Reli- vermittelt. Meinen Sie, dass es nützlich sein könnte, wenn ich meine Unterredungen mit
gion (Nathan Söderblom und sein Beitrag zum Studium der Religionen, unveröffentlicht). ihm in Buchform niederlegte?
2 Einige frühere Übersetzer haben übermäßige Aufmerksamkeit darauf verwandt, dass Sun- 10 Für diesen Hinweis danke ich Pastor Olle Hjern aus Stockholm.
dar Singh eine Sikh-Herkunft habe, wie zum Beispiel Friedrich Heiler in »Sadhu Sundar 11 Die jüngste Literatur über Sundar Singh fällt in die Kategorie des frommen Taschenbuchs
Singh – Ein Apostel des Ostens und des Westens«, 4. Auflage, München 1926, Seiten 4- und bezieht sich ausschließlich auf die unkritische Literatur der 1910er und 1920er Jahre. In
19. Sundar Singh scheint niemals die Sikh-Schrift »Guru Granth Sahib« erwähnt zu haben, diese Sparte gehört auch der Teil über Sundar Singh in Robin Boyd’s Buch »An Introduction
dagegen hat er behauptet, die Bhagavad Gita als Kind auswendig gelernt zu haben. to Indian Christian Theology« (Einführung in die christliche Theologie Indiens; Madras,
3 S. E. Stokes, »Interpreting Christ to India: a new departure in missionary work,« (Christus 1969). Darin wird er zwar als »zentrale und höchst wichtige Persönlichkeit der indischen
den Indern vermitteln: Ein Neubeginn in der missionarischen Arbeit) in The East and the Christenheit« bezeichnet, aber die Frage wird zu stark unter ausschließlich theologischen
West (1908), Seiten 121-138. Im Jahre 1919 veröffentliche Stokes auch ein Kinderbuch Kategorien behandelt, während die visionäre Komponente in der Spiritualität des Sadhu
mit dem Titel: Arjun, the life-story of an Indian boy (Arjun, die Lebensgeschichte eines auf ein Minimum reduziert wird. Es wäre schade, wenn frühere Bücher über den Sadhu
indischen Jungen; 2. Auflage London, 1911), in dem ein indischer Evangelist Kathar einfach wieder aufgelegt würden, ohne eine genauere Betrachtung über Hintergründe
Singh auftritt, in dem wahrscheinlich mindestens teilweise Sundar Singhs Leben darge- und Zusammenhänge seines Lebens. Ein deutliches Zeichen ist auch, dass Boyd völlig
stellt wurde. Eine andere Möglichkeit besteht darin, dass die erzählten Geschichten Sun- uninformiert ist über die Verbindungen zwischen dem Sadhu und der Neuen Kirche.

188 OFFENE TORE 4/05 OFFENE TORE 4/05 189


kritischer« Exeget zu würdigen, und das seit dem 18. Jahrhundert
Kain und Abel gewonnene historische Wissen muss bei der Auslegung des geisti-
Eine Auslegung von Genesis 4,1 bis 16 in der gen Sinnes berücksichtigt werden. Swedenborg selbst spricht diese
Tradition Swedenborgs Einsicht mit den Worten aus: »Der buchstäbliche Sinn des Wortes
von Thomas Noack ist die Grundlage (basis), die Hülle (continens) und die Stütze (fir-
mamentum) seines geistigen und himmlischen Sinnes.« (LS 27-36).
1. Das exegetische Programm »Der buchstäbliche Sinn ist gleichsam der Leib, und der innere Sinn
ist gleichsam die Seele dieses Leibes.« (NJ 260). Zweitens: Sweden-
B ei meiner Lektüre der »himmlischen Geheimnisse« fiel mir vor
Jahren die folgende Bemerkung Swedenborgs auf: »Es genügt,
vom Allgemeinsten eine nur allgemeine Vorstellung zu geben.« (HG
borgs Auslegung von Genesis 4,1 bis 16 liest sich wie sein Kommen-
tar zur altprotestantischen Orthodoxie, das heißt zur Problematik
771). Da ich damals noch der Meinung war, Swedenborg hätte den des Verhältnisses von Glaube (Kain) und Nächstenliebe (Abel). Swe-
inneren Sinn erschöpfend ausgelegt, verhalf mir diese vergleichs- denborgs Auslegung des inneren Sinnes bleibt also im Bezugssys-
weise nebensächliche Bemerkung zu der Einsicht, dass uns Sweden- tem einer bestimmten Dogmatik bzw. dogmatischen Diskussion an-
borg in den »Arcana caelestia« wohl einen Weg weist, aber nicht bis gesiedelt. Ich schließe daraus das Folgende: Wenn die im Grunde
zum Ziel führt. An einem Wegweiser soll sich der Wanderer nicht unausschöpflichen, göttlichen Tiefen des inneren Sinnes in eine äu-
festklammern, vielmehr soll er sich von ihm weg weisen lassen. ßere Sprache übertragen werden, dann ist damit unausweichlich
Mit anderen Worten, der Schüler Swedenborgs ehrt seinen Meister eine Begrenzung verbunden. Das heißt, jeder Ausleger des inneren
nicht, wenn er dessen Auslegung immer nur wiederkäut. Vielmehr Sinnes muss sich für eine Terminologie entscheiden1; in diesem Wort
soll er im Geiste seines Lehrers weiterdenken. Daraus entwickelte ist das lateinische Wort für Grenze (terminus) enthalten. Das termi-
sich im Laufe der Jahre das exegetische Programm einer Auslegung nologische System ermöglicht es dem Exegeten des inneren Sinnes
in der Tradition Swedenborgs. die unendliche Fülle desselben in eine fassliche Gestalt zu bringen.
Dieses Programm kann an dieser Stelle zwar nicht mit ei- Das bedeutet nun aber, dass auch andere Terminologien möglich
nem Schlag verwirklicht werden. Aber erste Schritte sind immer- sind und entwickelt werden können. Ich werde dementsprechend
hin möglich. Bei meiner Lektüre des hebräischen Urtextes von Ge- im Folgenden vereinzelt die gewohnte Sprache verlassen und den
nesis 4,1 bis 16 und der Auslegung in HG 338 bis 398 machte ich inneren Sinn in neue Begriffe gießen. Da ich aber noch kein neues
zwei grundlegende Beobachtungen, die für die Entwicklung einer System entwickelt habe, kann das nur vereinzelt geschehen.
eigenständigen Auslegung im Geiste Swedenborgs von Bedeutung Die Suche nach den verborgenen Schätzen der himmlischen
sind. Erstens: Swedenborg gilt als Offenbarer des inneren Sinnes. Weisheit beginnt mit einer Übersetzung von Genesis 4,1 bis 16. Sie
Doch nicht alles, was er zu Genesis 4,1 bis 16 zu sagen hat, dringt ist eigentlich ein Ergebnis der exegetischen Arbeit und müsste da-
bis in die geistige Dimension vor. Viele Äußerungen können als Bei- her am Ende stehen. Dennoch ist es gerechtfertigt, sie an den An-
träge zu einer historischen Exegese angesehen werden, auch wenn fang zu stellen. So kommt zum Ausdruck, dass der Text der Aus-
diese Form der Exegese und ihre Methoden damals erst im Entste- gangspunkt unserer Wahrnehmungen ist.
hen waren. Der innere Sinn ist nur dann ein innerer, wenn er sich 2. Übersetzung von Genesis 4,1 bis 16
innerhalb der Grenzen des äußeren Sinnes bewegt. Daher braucht
die geistige Auslegung die natürliche oder historische wie ein Haus 1. Und der Mensch erkannte Eva seine Frau, und sie empfing und gebar
den Boden. Swedenborg ist dementsprechend auch als »historisch- Kain und sprach: »Ich habe einen Mann erworben, den Jahwe«.
190 OFFENE TORE 4/05 OFFENE TORE 4/05 191
2. Und sie fuhr fort, seinen Bruder Abel zu gebären. Und Abel 3. Die Einheit und ihr Thema
wurde ein Hirt der Herde, Kain aber wurde ein Knecht des Bodens.
Genesis 4,1 bis 16 wird hier als eine Einheit angesehen. Diese Sicht
3. Und es geschah am Ende der Tage, da brachte Kain von der
ist jedoch umstritten, denn die Verse 1, 2 und 16 wurden ganz
Frucht des Bodens Jahwe eine Gabe dar.
oder teilweise abgesondert und zur Kainitengenealogie der Verse
4. Und auch Abel brachte dar, von den Erstgeburten seiner Herde und
17 und 18 gezogen.4 Für eine Exegese in der Tradition Sweden-
zwarvonihremFett.UndJahweschauteaufAbelundaufseineGabehin.
borgs schließt sich daran (und überhaupt an die Genealogien in der
5. Aber auf Kain und seine Gabe schaute er nicht hin. Da ent-
Urgeschichte) eine grundsätzliche Frage an. Ist die Erzählung von
brannte Kain sehr (im Zorn) und sein Angesicht senkte sich.
Kain und Abel eine Einfügung in ein genealogisches Gerüst, das ur-
6. Und Jahwe sprach zu Kain: »Warum entbrennst du (im Zorn),
sprünglicher als die (sekundäre) Erzählung ist? Oder sind die gene-
und warum senkt sich dein Angesicht? alogischen Listen der heutigen Urgeschichte nur das Überbleibsel
7. Ist es nicht so?: Wenn du Gutes tust, so geschieht Erhebung. einer ursprünglich viel umfangreicheren Erzählung? Swedenborg
Wenn du aber nicht Gutes tust, dann ist die Sünde ein lagernder ging bekanntlich von der Existenz eines Alten Wortes aus (siehe
(Schlangendämon) vor der Tür. Und nach dir ist sein Verlangen, du auch Jakob Lorbers »Haushaltung Gottes«), aus denen die Urge-
aber sollst|willst über ihn (= den Dämon oder Abel?) herrschen.«2 schichten der Genesis entnommen wurden (WCR 279d). Wenn die
8. Und Kain sprach zu seinem Bruder Abel: »…«3 Und es geschah, swedenborgsche Exegese gewillt ist, diese Denkmöglichkeit aufzu-
als sie auf dem Feld waren, da erhob sich Kain gegen seinen Bru- greifen, dann dürfte die in der zweiten Frage enthaltene These die
der Abel und erschlug ihn. wahrscheinlichere sein.5
9. Und Jahwe sprach zu Kain: »Wo ist dein Bruder Abel?« Und er Nach der äußeren Abgrenzung der Einheit wende ich mich der
sprach: »Ich weiß es nicht. Bin ich der Hüter meines Bruders?« inneren bzw. der Gliederung zu. Die Verse 1 und 2 bilden den Ein-
10. Und er sprach: »Was hast du getan? Horch! Das (vergossene) gang (die Exposition). Die Verse 3 bis 5 beschreiben den Kult oder
Blut deines Bruders schreit zu mir vom Boden. das Gottesverhältnis von Kain und Abel. Die Verse 6 und 7 enthal-
11. Und nun, verflucht bist du vom Boden, der sein Maul aufgeris- ten eine zurechtweisende Jahwerede (die Stimme des Gewissens).
sen hat, um das Blut deines Bruders von deiner Hand zu nehmen. Der Vers 8 schildert den Brudermord. Die Verse 9 bis 12 entfalten
12. Wenn du (nun) den Boden beackerst, wird er dir seine Kraft die schlimmen Folgen der Tat. Die Verse 13 bis 15 handeln demge-
nicht mehr geben. Unstet und flüchtig wirst du sein auf Erden.« genüber von der Bewahrung des Brudermörders. Der Vers 16 bil-
13. Und Kain sprach zu Jahwe: »Zu groß ist meine Verkehrtheit, det den Ausgang (den Schluss). Die Verse 6 bis 7 und 9 bis 15a sind
als dass sie aufgehoben werden könnte. Rede. Daher fallen die Handlungen in Vers 8 (der Brudermord) und
14. Siehe, du vertreibst mich heute vom Angesicht des Bodens, 15b (die Bezeichnung Kains durch Jahwe) besonders auf. Das Zen-
und dein Angesicht wird mir verborgen sein. Unstet und flüchtig trum der Erzählung ist der Brudermord (Vers 8). Das Ziel der Erzäh-
werde ich auf Erden sein, und es wird so kommen, dass jeder, der lung ist jedoch die Bewahrung und Unantastbarkeit des Brudermör-
mich findet, mich erschlagen will.« ders (Vers 15b).
15. Aber Jahwe sprach zu ihm: »Ebendarum soll jeder, der Kain Dem Thema von Genesis 4,1 bis 16 nähern wir uns an, indem
erschlägt, siebenfach Rache erleiden.« Und Jahwe versah Kain mit wir die Stellung dieser Einheit im engeren Umfeld betrachten. Auch
einem Zeichen, damit jeder, der ihn findet, ihn unerschlagen lasse. Swedenborg wendet die Kontextanalyse an, was Bemerkungen wie
16. Dann zog Kain vom Angesicht Jahwes fort und wohnte im »aus dem Vorhergehenden und dem Nachfolgenden wird ersicht-
Lande Nod, östlich von Eden. lich« (HG 270) oder »aus der Sachfolge (ex rerum serie) geht her-
192 OFFENE TORE 4/05 OFFENE TORE 4/05 193
vor« (HG 2816) belegen. Zuerst weise ich auf gedankliche Verbin- (J. Lorber, HGt 1,57,43). Dem wird in Genesis 5 der Stammbaum
dungen der Erzählung von Kain und Abel mit Genesis 2 und 3 hin, Seths als ergänzender Gegensatz gegenüber gestellt. Von einer er-
und dann auf Verbindungen mit Genesis 5. gänzenden bzw. zusammengehörigen Gegenüberstellung spreche
Adam und Eva machen die Erfahrung des Guten und Bösen, ich, weil die sieben Namen von Genesis 4 in Genesis 5 ähnlich- oder
für die sie sich entschieden hatten (Genesis 2,9 und 3,6), in den Ge- gleichlautend enthalten sind.8 Der Stammbaum in Genesis 5 stellt
stalten von Kain (das Böse) und Abel (das Gute). Die Erzählung von die gesegnete Linie der »Kinder der Höhe« (J. Lorber, HGt 1,147,2)
Kain und Abel stellt sonach die Entwicklung im Anschluss an die Ent- dar. Der in Kain und Abel aufgebrochene Gegensatz des Bösen und
scheidung des Urelternpaares, vom Baum der Erkenntnis des Guten des Guten zieht also in der Konsequenz zwei Nachkommenschaften
und Bösen zu essen, anschaulich dar. Kam es bereits im Gottesgar- und dementsprechend zwei Welten nach sich. Seitdem gibt es un-
ten zum Bruch im (vertikalen) Verhältnis zu Jahwe, so kommt es nun, ten und oben oder den äußeren, weltzugewandten und den inne-
jenseits von Eden zum Bruch im (horizontalen) Verhältnis der Men- ren, gottzugewandten Menschen.
schen untereinander. Erst zerbricht die Liebe zum himmlischen Vater, Das Motiv von Genesis 4,1 bis 16 ist der Brudermord. Es ist in
dann die geschwisterliche Liebe. Kain bringt den Tod in die menschli- der Literatur weit verbreitet.9 Am bekanntesten ist die Sage von Ro-
che Erfahrungswelt. Damit erfüllt sich die Warnung von Genesis 2,17: mulus und Remus. Sie ähnelt auch darin der Erzählung von Kain
»Doch vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse sollst du nicht es- und Abel, dass Romulus nach der Tötung seines Bruders zum Grün-
sen, denn an dem Tag, an dem du davon ißt, wirst du (ab)sterben.« der einer Stadt (Rom) wurde. Auch Kain erbaute nach der Ermor-
Adam stellt die ursprüngliche, gottgewollte und somit unverdorbene dung Abels eine Stadt (Hanoch). Nach Swedenborg stellen Städte
seelisch-geistige Beschaffenheit des homo sapiens (des weisen Men- Lehren dar (HG 402). Sieht man in Kain eine (mythische) Personifi-
schen) dar. Als aber dieses Geisteslicht im Erdenkleid den Weg der Er- kation der objektbezogenen Verstandeskräfte und in Abel ein Perso-
fahrung durch die fünf Körpersinne betrat, da begann es abzusterben. nifikation der auf weniger Konkretes bezogenen Gefühlskräfte, dann
Kain löscht Abel aus. Am Ende bleibt nur noch die Finsternis des nack- sagt uns der Brudermord, dass die (äußeren) Verstandeskräfte nur
ten Weltbewusstseins übrig. Zu beachten ist ferner, dass die Verflu- dann Lehren, Philosophien, Ideologien, Weltanschauungen oder all-
chung der Scholle voranschreitet. Dem Adam wurde gesagt: »… ver- gemein gesagt Systeme konstruieren oder erbauen können, wenn
flucht sei der Mutterboden deinetwegen. Mit Schmerzen sollst du von sie es schaffen, sich aus der Dominanz der Gefühle zu lösen, so dass
ihm essen6 alle Tage deines Lebens, (denn) Dornen und Disteln läßt diese in der Sphäre des neuen Herrn zu einem Nichts werden.
er dir wachsen und (doch) musst du das Grünzeug des Feldes essen. Swedenborg formuliert in HG 337 so etwas wie einen Titel zu
Im Schweiße deines Angesichtes sollst du dein Brot essen …« (Gene- Genesis 4,1 bis 16: »Die Entartung (de degeneratione) der ältesten
sis 3,17-19). Doch immerhin, dem Adam brachte die »adamah« noch Kirche bzw. die Verfälschung ihrer Lehre«. Der Urmensch schlug aus
Frucht hervor. Dem Kain aber wurde gesagt: »… verflucht bist du vom der ursprünglichen Art, als er sein (primitives) Gegründetsein in der
Mutterboden, der sein Maul aufgerissen hat, um das Blut deines Bru- Gefühlwahrnehmung (Abel) verließ, um die Objektwahrnehmung
ders von deiner Hand zu nehmen. Wenn du (nun) den Mutterboden (Kain) zu kultivieren. So verließ er die himmlischen und geistigen
beackerst, wird er dir seine Kraft (seinen Ertrag) nicht mehr geben.« Sphären und wurde mehr und mehr ein Bürger der Raumzeitwelt.
(Genesis 4,11-12). Die »adamah« wird unfruchtbar, weil der befruch- Da aber nur die Gefühlskräfte das Bewusstsein aus dem Ursprung
tende Geist sie nicht mehr durchdringt, obwohl er (in der Gestalt des unversehrt erhalten können, kam es, als Abels Blut im Boden die-
Blutes Abels) in ihr versickert.7 ser Welt versickerte, zur allmählichen Auflösung des Wissens um die
Die Erzählung von Kain und Abel mündet in dem Stammbaum hohe Herkunft des homo sapiens. Das nennt Swedenborg die Ver-
Kains, das heißt in die ungesegnete Linie der »Kinder der Tiefe« fälschung der Lehren oder Überlieferungen der Urkirche.
194 OFFENE TORE 4/05 OFFENE TORE 4/05 195
4. Die Auslegung der einzelnen Verse Auf dem Weg nach innen streifen wir das Zeitliche ab und begeben
uns mehr und mehr in die Beobachtung der Zustände. Swedenborg
Zu Genesis 4,1: In den deutschen Übersetzungen10 der heiligen
schreibt: »Wenn man die Vorstellung von Zeit entfernt, dann bleibt
Schrift ist »ha-adam« entweder mit »Adam« (als Eigenname) oder
diejenige des Zustandes der Dinge, die zu jener Zeit waren.« (HG
mit »der Mensch« (gemeint ist der erstgeschaffene Mensch) wie-
488). In diesem Sinne meint die älteste Kirche nicht nur eine religi-
dergegeben. Von der Möglichkeit, »ha-adam« mit »der Mann« zu onsgeschichtliche Epoche, sondern auch den Zustand der Kindheit.
übersetzen, macht keine der herangezogenen deutschen Bibeln Ge- Swedenborg charakterisiert die älteste Kirche oft als eine himmli-
brauch, obwohl der Mann und seine Frau zum erwarteten Verständ- sche (HG 281), wobei himmlisch in seiner Terminologie auf die
nis eines ersten Menschenpaares besser passt als der Mensch und Liebe zum himmlischen Vater hindeutet (HG 1001). »Ha-adam« hat
seine Frau. Swedenborg hat »homo« (der Mensch) im Unterschied etwas mit dem naiven (das heißt kindlichen) Urzustand des mensch-
zu Sebastian Schmidt, dessen lateinische Bibelübersetzung er im- lichen Wesens zu tun. Soeben aus der göttlichen Macht in die Frei-
mer vor sich hatte und wo er »Adam« las. heit des eigenen Lebens entlassen, ist es noch ganz im Urvertrauen
Der Mensch und seine Frau versinnbildlichen »die älteste Kir- geborgen und schaut doch schon mit großen Augen in die verlo-
che« (HG 338). Dazu zwei Bemerkungen. Erstens: »Ha-adam« kann ckende Weite der Welt hinaus. Sie wird ihn magisch anziehen und
kollektiv (die Urmenschheit) oder individuell (der Urmensch) ver- nötigen, sein Wesen auf allen Ebenen zu gebären, nicht selten un-
standen werden. Swedenborg hat sich in seiner Auslegung der Ur- ter großen Schmerzen. »Ha-adam« kann uns sonach die Geschichte
geschichte für das kollektive Verständnis der »Personennamen« ent- des Individualgeistes auf dem Weg der Personwerdung erzählen.
schieden (siehe seine Bemerkung zu Noah in HG 1025). Zweitens: Die Geburten sind die stufenweisen Verwirklichungen der aus der
Das kollektive Verständnis Adams (»ha-adam« gleich die älteste Kir- Macht des Allmächtigen freigestellten Potenz. Während »ha-adam«
che) hat aber noch etwas von Raum und Zeit an sich und steht so- und seine »chawwah« (Eva) noch aus der Hand Gottes hervorgin-
mit in einer gewissen Spannung zu dem, was Swedenborg sonst gen, sie sind also nicht Geborene, sondern Geschaffene, Kreationen
zum inneren Sinn sagt: »Vor den Engeln, die im inneren Sinn sind, des göttlichen Geistes, beginnt nun mit Kain und Abel die Kette der
verschwindet alles, was zur Materie, zu Raum und Zeit gehört.« (HG Geburten. Was hat es zu bedeuten, dass gleich mit dem Auftakt des
488, vgl. auch 813, 3254). Das bedeutet, Swedenborgs Verständ- eigenen Gebärens ein Gegensatz, eine Dualität erzeugt wird?
nis von »ha-adam« als Sinnbild für die Urkirche ist erst der Anfang Der Mensch »erkannte« seine Frau. Wie sinnentstellend »freie«
der Enthüllung des inneren Sinnes. Oder, um es noch einmal mit Bibelübersetzungen sein können, zeigt am Beispiel dieser Stelle
den Eingangsworten zu sagen: Swedenborg ist nur ein Wegweiser, die »Gute Nachricht Bibel«; dort heißt es: »Adam schlief mit sei-
der uns zwar den Weg weist, aber in seinen Schriften das himmli- ner Frau« (Gen 4,1). »Schlafen« (nicht wach sein) ist beinahe das
sche Ziel noch nicht vollständig offenbart. So lädt er uns ein, eigene Gegenteil von »erkennen« (hellwach sein).11 Die nicht-wörtlichen
Fortschritte in der Erforschung der geistigen Sinnwelten zu machen. Bibelübersetzungen geloben zwar »die selbstverständliche Treue
Dabei sollte uns allerdings bewusst sein, dass wir die Grenze des zum Original« (Gnb 345), aber mit der Preisgabe der sprachlichen
Sagbaren nicht schnell und auch nicht beliebig weit voranschieben Form können diese Übersetzer immer nur den Sinn in die Zielspra-
können. Je weiter wir nach innen vorstoßen, desto subtiler werden che übertragen, den sie selbst im Kopf haben. Die Übersetzer der
die Schwingungen des inneren und innersten Sinnes. Bis in welche Gnb denken an den Beischlaf, aber indem sie mit dieser Vorstellung
Höhe kann unser Herz diese Schwingungen noch wahrnehmen? im Kopf das hebräische »jada‘« mit »schlafen« verständlicher wie-
Und ab wann versagt uns die Sprache ihren Dienst am Heiligtum? dergeben wollen, erschweren sie dem Bibelleser den Weg in das in-
Wir werden also nur behutsam vorgehen können. nere Heiligtum des Wortes. Denn nun kann er beispielsweise nicht
196 OFFENE TORE 4/05 OFFENE TORE 4/05 197
mehr so leicht den Zusammenhang zwischen dem Essen vom Baum hängt nun davon ab, ob sich der Mensch in das Spiegelbild so sehr
der Erkenntnis des Guten und Bösen und der Geburt vom Kain (das verliebt, dass er meint, es sei das Urwesen, oder ob er den Schein
Böse) und Abel (das Gute) in Folge der Erkenntnis, die der Mensch durchschauen und erkennen kann, dass sein Ichwesen nur ein Re-
nun in seine Frau einbildet (oder einführt), entdecken. Das Aneig- flex des Urwesens im Bewusstsein des äußeren Menschen ist. Im
nen (Essen) der einen Erkenntnis wirkt sich auch auf die andere, er- ersten Fall wird das Ich zum Idol, zum Megastar der Diesseitsparty
zeugende Erkenntnis aus. mit leider tödlichem Ausgang. Im zweiten Fall bleibt das Ichwesen
Franz Delitzsch (1813–1890) macht darauf aufmerksam, dass mit dem Urwesen verbunden und wird zur Kirche, das heißt zum
»erkennen« im Sinne von Genesis 4,1 nie »von den Thieren« vor- Raum der Ruhe des siebten Tages. »Ha-adam« erkannte in »chaw-
kommt, »denn was beim Thiere naturnothwendiger Instinct ist, das wah« Kain (die Selbstverblendung) und Abel (den Atem Gottes),
ist beim Menschen freies, sittlich verantwortliches Thun«.12 Das Er- beide erkannte er in dem, was ihm eigen war. Und so nahmen sie
kennen seines weiblichen Gegenübers ist als geistiger Akt der spe- durch »chawwah« Gestalt an und wurden Geborene aus dem Sa-
zifisch menschliche Akt des Erzeugens, denn der Mensch ist der men der Erkenntnis des Adam.
Fackelträger des Geistes, der geistige Samen durch seine Natur aus- »Die Mutter aller Lebendigen« (Gen 3,20) bringt als erste Ge-
gebären soll. Wir müssen uns von der Meinung des Sensualismus burt den Todbringer Kain zur Welt, sie sprach: »Qaniti« Erworben
oder Empirismus ganz und gar befreien, wonach der Erkennende (oder erschaffen) habe ich einen Mann, den Jahwe.« »Qajin« (Kain),
nur aufnimmt, nämlich Eindrücke durch die Sinne. Wir können Ge- den Namen ihres Sohnes, bringt die Urmutter mit »qanah« in Ver-
nesis 4,1 nur verstehen, wenn wir sehen, dass das Erkennen ein bindung. Das Verb bedeutet sowohl »erwerben« als auch »erschaf-
Akt des Gebens ist. Das geht aus dem Dreiklang der Verben »erken- fen« (Seebass 148). Swedenborg entscheidet sich für »acquirere«
nen«, »empfangen«, »gebären« deutlich hervor. Da die Folge des (erwerben) und deutet den Freudenruf der »Mutter aller (geistig)
Erkennens das Empfangen ist, muss das Erkennen selbst ein Geben Lebendigen«, also der Urkirche, dahingehend, dass einige anfin-
sein. Von »ha-adam« geht demnach ein geistiger Impuls aus, der gen, den Glauben (Kain) für »etwas Selbständiges (res per se)«
von seiner Frau empfangen und verwirklicht wird. »Ha-adam« (der zu halten (HG 340). Sie überließen sich dem Eindruck, dass man
geistbegabte Erdling) ist ein zwiespältiges Wesen. Gott und Welt, durch das Glaubenswissen etwas zum Glaubensleben hinzuerwer-
Geist und Materie stoßen in ihm zusammen. »Ha-adam« erkennt ben könne. »Qajin«, der oder das Erworbene, stellt die Sphäre des
das, und diese Erkenntnis durchläuft wie eine Schockwelle seine Na- Habens dar oder die Verblendung des in die Eigenmächtigkeit ent-
tur und erzeugt den ersten unversöhnlichen, fundamentalen Konf- lassenen Menschen, der zuerst sich selbst und dann auch alles Sei-
likt, dargestellt durch Kain und Abel. ende besitzen will.
Swedenborg übersetzt »ischschah« mit »mulier« (Weib) oder In Genesis 14,19.22 bezeichnet das Partizip »qoneh« den
»uxor« (das ehelich mit dem Mann verbundene Weib).13 Geistig Schöpfergott. Wenn man von daher »qaniti« in Genesis 4,1 mit »ich
bedeutet »ischschah« »das Eigene« (proprium) und »die Kirche« habe erschaffen« übersetzt, dann bedeutet das, dass sich die Ur-
(ecclesia). Man kann sich fragen, welcher Zusammenhang zwischen mutter, die zum allerersten Mal ein lebendiges Wesen geformt und
diesen beiden Begriffen besteht, zumal Swedenborg sagt: »Das Ei- geboren hat, als Göttin versteht. »Ihr werdet sein wie Gott« (Gen
gene ist nichts als nur etwas Böses und Falsches.« (HG 215). Doch 3,5), »chawwah« (Eva) ist zur Göttin geworden, denn sie hat Leben
die Antwort ist einfach. Das Eigene oder das Ichwesen des Men- erschaffen. Allerdings ist sie auch einem Wahn verfallen. Das Werk-
schen ist an und für sich so etwas wie ein Spiegelbild Gottes, und zeug hält sich nämlich für die Ursache. Das Organ erliegt der Täu-
in einem solchen Bild ist eben alles spiegelverkehrt. Also ist das Bild schung, dass die schöpferische Macht nicht nur in ihm wirksam,
Gottes als solches etwas durch und durch Verkehrtes. Alles weitere sondern ihm auch eigen sei. Dazu Swedenborg: »Der Mensch emp-
198 OFFENE TORE 4/05 OFFENE TORE 4/05 199
findet es nicht anders, als dass er aus seinem eigenen Leben heraus Identifikation dieses Glaubens mit dem von einer Frau geborenen
lebt, denn das Werkzeugliche empfindet das Ursprüngliche als ihm Jahwe, das heißt mit dem Messias, bedeutet so gesehen, dass der
eigen. Es vermag hier nicht zu unterscheiden, denn die ursprüng- bloße Glaube als Erlöser verkündet wird. Swedenborg sieht aller-
liche Ursache (causa principalis) und die werkzeugliche Ursache dings noch einen anderen Zusammenhang. Der Gottesname Jahwe
(causa instrumentalis) wirken nach einem in der gelehrten Welt be- wird in der hebräischen Bibel vom Verb »sein« her erhellt (Exodus
kannten Lehrsatz als eine Ursache zusammen.« (WCR 473). Dem- 3,14). Demnach schälten sich bereits in der Urkirche die Glaubens-
entsprechend wird sich Kain als Herr gebärden. lehren als etwas selbständig Seiendes heraus (»res per se«, HG 340).
Swedenborg (siehe Esl) versteht »et-jahwe« als Akkusativ, so Zu Genesis 4,2: Die Kirchenväter sahen in Abel eine Vorbildung
dass wir im Anschluss an Swedenborg übersetzt haben: »Ich habe oder Präfiguration Christi.15 Diese Deutung ist auch noch beim Swe-
einen Mann erworben, den Jahwe.« Ein Blick in die deutschen Bi- denborg der von J. F. I. Tafel sogenannten »Adversaria«16 vorhan-
beln zeigt jedoch, dass wir damit von der üblichen Praxis abwei- den, wo es heißt: »Die beiden erstgeborenen Söhne Adams bilden
chen. In der Elberfelder Bibel heißt es: »Ich habe einen Mann her- die beiden Fürsten oder Führer vor, Kain offensichtlich den Fürsten
vorgebracht mit dem Herrn.« In der Lutherbibel heißt es: »Ich habe der Welt mit seinem Haufen, Abel hingegen den Fürsten des Him-
einen Mann gewonnen mit Hilfe des Herrn.« In der Zürcher Bibel mels bzw. den Messias ohne Nachkommenschaft.« (WE 90).17 In
heißt es: »Ich habe einen Sohn bekommen mit des Herrn Hilfe.« den »himmlischen Geheimnissen« hat Swedenborg jedoch die per-
Und in der (katholischen) Einheitsübersetzung heißt es: »Ich habe sonale Hülle abgestreift und präsentiert uns ein abstraktes Verständ-
einen Mann vom Herrn erworben.« Das heißt, die gegenwärtig nis (vgl. »in sensu abstracto« in HG 2232). Das geistige Verständnis
maßgeblichen Interpreten sehen in »et« die Präposition »mit« (bzw. ist beim Swedenborg der »himmlischen Geheimnisse« zugleich ein
»mit Hilfe von«). Die Einheitsübersetzung glättet dieses Verständnis abstraktes, das sagt er ausdrücklich: »Im inneren Sinn wird alles von
sprachlich ein wenig und so wird dann aus »mit« »von«. Was spricht den Personen entfernt (in sensu interno abstrahuntur omnia a per-
demgegenüber für unsere Übersetzung in der Tradition Sweden- sonis)« (HG 5434; vgl. auch EO 78). Und so wird aus Abel, der Präfi-
borgs? Erstens der sprachliche Befund: Horst Seebass sagt klar, dass guration des Messias, die »tätige Liebe« (HG 341), denn die Person
»die philologisch einfachste Auffassung die eines doppelten Akkusa- Christi ist geradezu die Verkörperung oder der Inbegriff dieser Liebe
tivs« ist (148). Und Franz Delitzsch bemerkt: »… häufig findet sich (vgl. Joh 13,34).
nach einem ersten Acc. ein zweiter näher bestimmender mit ›et‹ Abel war »ein Hirt der (Kleinvieh)herde« (Gen 4,2). Um zu ei-
6,10; 26,34; Jes 7,17, während ›et-jahve‹ als abverbialer Satztheil in nem hohen Verständnis dieser Tätigkeitsbeschreibung aufsteigen
der Bed. ›mit jahve‹ sonst nicht vorkommt …« (162). Der sprach- zu können, darf man nicht bei Vorstellungen wie »Hirtenromantik«
liche Befund weist demnach ziemlich deutlich auf Swedenborgs oder »Schäferidylle« stehen bleiben. Denn der Hirte bezeichnete in
Übersetzung. Daher sollte man sich für sie entscheiden, wenn man der altorientalischen Vorstellungswelt den (göttlichen) König und
in ihr auch einen Sinn entdecken kann, womit wir nun zweitens Gott selbst: In »altorientalischen Königstitulaturen« ist »das Wort
beim inhaltlichen Befund sind. Delitzsch weist auf einen interessan- ›Hirte‹ eine der gebräuchlichsten Bezeichnungen«. »Die Insignien
ten Zusammenhang hin. Beim Verständnis von »et-jahwe« als Akku- der ägyptischen Könige, die sog. Geißel und das Zepter, waren ur-
sativ würde Eva »das männliche Kind … für den Messias … oder sprünglich die Abzeichen des Hirten, nämlich Fliegenwedel und
den menschgewordenen Jahve halten« (162). Sie knüpft an ihn »die Hirtenstab. Auch der griechische Mythos weiß um die Wesensver-
Hoffnung auf Erfüllung der Verheißung vom Weibessamen [siehe wandtschaft zwischen Hirt und König, wenn er den Königssohn Pa-
Genesis 3,15].« (163)14. Nach Swedenborg ist Kain ein Sinnbild für ris auf den Hängen des Ida seine Herde weiden läßt. Da nach alter
»die Lehre des von der Liebe getrennten Glaubens« (HG 325). Die Vorstellung der König der irdische Repräsentant Gottes ist, so wird
200 OFFENE TORE 4/05 OFFENE TORE 4/05 201
auch dieser im Bild des Hirten geschaut. In der mesopotamischen schaft des Geistes über die Materie, ein leeres Geschwätz, und zwar
wie in der griechischen Kunst findet sich das Bild des Hirten, der ein einfach deswegen, weil es den Geist als ein selbständiges Wesen in
Lamm oder Kalb auf der Schulter trägt; so wurde auch der griechi- seinen Augen gar nicht gibt.20
sche Gott Hermes als Kriophoros [Schafträger] dargestellt.«18 Auch Kain war »ein Bearbeiter des Bodens« (»obed adamah«, Gen
in der Heiligen Schrift bezeichnet »weiden« das fürsorgliche Wir- 4,2). Swedenborg übersetzte die hebräische Wendung »obed ada-
ken des Regenten und wird von Jahwe, der das Volk hütet (Ps 23; mah« mit »colens humum«. Das Verb »colere« und das dazugehö-
Jes 40,11) und von Königen und Herrschern ausgesagt (Ez 37,24). rige Substantiv »cultus« (Kult) gehören in den gottesdienstlichen
Und selbstverständlich denken wir auch an den Messias, den Chris- Zusammenhang (siehe beispielsweise »colere Dominum« in HG
tus; er ist der von Gott gesalbte König der Menschenherde. Er ist 7724). Auch das hebräische Verb »abad«, das im »obed adamah«
das Vollbild des guten Hirten (Joh 10), die eschatologische Verwirk- enthalten ist, bedeutet einesteils »arbeiten« und »dienen«; andern-
lichung der alten Hoffnung auf einen solchen Hirten. Nachdem die- teils aber, auf Gott bezogen, ist es die Bezeichnung für das Gottes-
ser Menschheitshirte nun erschienen ist, können alle anderen Hir- verhältnis und für den Kult oder den Dienst an einem Heiligtum.
tengestalten der Vergangenheit nur noch als Präfigurationen des Daher kann mit »obed adamah« zwar einesteils »ein Ackerbauer«
einen guten Hirten angesehen werden. Und so ist auch Abel ein gemeint sein (siehe »agricola« in der Vulgata), andernteils kann im
Schattenbild des Christus und zum Herrscher bestimmt, zum »Hir- »obed adamah« aber auch die Bedeutung »Anbeter des Irdischen«
ten der Herde«. mitschwingen. Die »adamah« wird so gesehen zu einem Kultob-
Die hohe, geistige Bedeutung Abels steht nun im Gegensatz jekt, das heißt zum Gegenstand einer Verehrung, die eigentlich
zur Bedeutung seines Namens. Denn »hebel«so müsste sein Name nur Gott zukommen soll. Kain ist dann nicht nur ein Bebauer, son-
eigentlich in der Umschrift lautenbedeutet »Hauch«, »ein Nichts«, dern ein Diener der »adamah«. Und indem er sich immer mehr der
»Täuschung«, »Wahn«.19 Wir können uns einen Zugang zum Ver- Machtsphäre des Erdreiches (»adamah«) ausliefert, wird er am Ende
ständnis dieses merkwürdigen Mißverhältnisses bahnen, wenn ganz und gar zu einem Knecht und Sklaven des irdischen Reiches.21
wir uns daran erinnern, dass auch heute ein großer Streit darüber Wer also bei seinen Meditationen der heiligen Schrift auf den »sen-
herrscht, ob das Seelische eine Ausdünstung des Gehirns oder doch sus spiritualis« (das geistige Empfinden) achtet, der wird im »obed
eine andere, immaterielle Entität sei. Ist die Seele also »ein Nichts«? adamah« nicht nur den Dienst am Boden, sondern auch die Ver-
Ist die Rede von einer Seele eine »Täuschung«, ein »Wahn«? Dass knechtung durch den Boden oder das Irdische wahrnehmen. Daher
die zweite Geburt Evas den Namen »hebel« bekommt, bedeu- schrieb Swedenborg: »Von denen, die auf das Leibliche und Irdische
tet, dass die Seele im Bewusstsein der gefallenen Menschheit an sehen, sagte man (einst), dass sie den Boden beackern« (HG 345).
Substanz verliert. Denn die Wirklichkeit der Schlange, die physi- In der Nachkommenschaft Kains wird der kulturelle oder äußerli-
kalischen Wellen und Schwingungen drängen sich in den Vorder- che Fortschritt der Menschheit zur Sprache kommen (siehe Genesis
grund, so dass die Seele und ihre Wirklichkeit mehr und mehr zu ei- 4,20 bis 22).
nem Nichts wird. Und tatsächlich stehen in der Erzählung von Kain Der innere Sinn ist nuancenreich. Im »obed adamah« können
und Abel ausschließlich Kain und seine Sichtweise im Mittelpunkt. wir auch den Bibelausleger erkennen, der ausschließlich die buch-
Abel kommt nicht zu Wort, nur Kain spricht in Genesis 4,1 bis 16. stäbliche Grundlage der heiligen Schrift bearbeitet und dem der
Außerdem ist die Verwendung von »Bruder« in Genesis 4,1 bis 16 Geisthauch des Wortes (Abel) als leeres Geschwätz erscheint, als
aufschlussreich, denn damit ist immer nur Abel gemeint, nie Kain. das Gerede der Schwärmer. Solche Leute sind Grundlagenverehrer
Das heißt, dass die Bezugsperson, die im Mittelpunkt steht und das oder sogar Fundamentalisten. Sie erschlagen mit ihren Worten die
Umfeld determiniert, Kain ist. Für Kain ist Abel, das heißt die Herr- Seele des Wortes (Abel). Daher sieht Swedenborg in Kain den blo-
202 OFFENE TORE 4/05 OFFENE TORE 4/05 203
ßen Glauben, der sich von der geschwisterlichen Liebe verabschie- gen: Erstens: »Die Sünde« ist im Hebräischen (wie im Deutschen) ein Femininum. »Der
Lagernde« hingegen ist ein Maskulinum. Daher kann man nicht übersetzen: »Die Sünde
det hat (die Orthodoxie). Kain ist die sterile Glaubenswissenschaft,
lagert«. Andererseits ist »die Schlange« von Genesis 3 im Hebräischen ein Maskulinum.
die nur noch die historischen Zusammenhänge beackert und die Deswegen habe ich mich für die Übersetzung »die Sünde ist ein lagernder Schlangendä-
Seele des Wortes auf dem Feld ihrer theologischen Wissenschaft er- mon« entschieden. Zweitens: Die maskulinen Suffixe in der zweiten Vershälfte können
würgt. Aber auch Kain darf am Leben bleiben, und für Abel wird ein sich nur auf den Lagernden oder auf Abel beziehen. Ich konnte mich zwischen den
beiden Möglichkeiten nicht entscheiden, eventuell ist die Doppeldeutigkeit gewollt.
Ersatz (Set) gefunden, aus dem schließlich das lebendige Wort (Je-
Im ersten Fall ist zu lesen: »Und nach dir (Kain) ist sein Verlangen (= das Verlangen des
sus Christus) hervorgehen wird. lagernden Schlangendämons), du aber sollst herrschen über ihn (= über den lagernden
Während die Tätigkeit Abels in der Urgeschichte bisher keine Schlangendämon).« Im zweiten Fall ist zu lesen: »Und nach dir (Kain) ist sein Verlagen
Rolle spielte, hat die Tätigkeit Kains dort bereits eine Geschichte. (= Abels Verlangen), du aber willst herrschen über ihn (= über Abel).«
Am Anfang des sogenannten zweiten Schöpfungsberichts heißt 3 Was Kain zu Abel sprach, ist im masoretischen Text (der in den Urtextausgaben abge-
druckt wird) nicht überliefert. Der samaritanische Pentateuch, die (griechische) Septua-
es: »und (noch) gab es keinen Menschen, um den Boden zu be- ginta, die (syrische) Peschitta und die (lateinische) Vulgata lesen hier jedoch noch: Laß
bauen« (Gen 2,5). Die Bestimmung des Menschen besteht darin, uns auf das Feld gehen!
dem Boden bzw. der Grundlage seines Daseins einen Dienst zu er- 4 Siehe Horst Seebass, Genesis I: Urgeschichte (1,1 – 11,26), Neukirchen-Vluyn 1996,
weisen, nämlich den Dienst der Verbindung des äußeren Menschen Seite 144, (Sigel: Seebass). Die Kainitengenealogie sähe dann so aus: »1. Und der
Mensch erkannte Eva seine Frau, und sie empfing und gebar Kain und sprach: Ich habe
mit dem inneren und innersten. Diesem Sinn seines Daseins darf einen Mann erworben, den Jahwe. 2. Und sie fuhr fort, seinen Bruder Abel zu gebären.
der »adam« zunächst im Garten Eden nachkommen, das heißt im Und Abel wurde ein Hirt der Herde, Kain aber wurde ein Knecht des Bodens. 16. Und
Wonneland seiner kindlichen Liebe zu seinem himmlischen Vater. Kain zog vom Angesicht Jahwes fort und wohnte im Lande Nod, östlich von Eden. 17.
Denn weiter heißt es: »Und Jahwe Elohim nahm den Menschen und Und Kain erkannte seine Frau, und sie empfing und gebar Henoch. Und er wurde der
Erbauer einer Stadt und nannte den Namen der Stadt nach dem Namen seines Sohnes
setzte ihn in den Garten Eden, um ihn zu bebauen und ihn zu behü- Henoch. 18. Und dem Henoch wurde Irad geboren, und Irad zeugte Mehujael, und
ten.« (Gen 2,15). Doch der Mensch konnte sich in diesem Zustand Mehujael zeugte Metuschael, und Metuschael zeugte Lamech.«
der vollkommenen Geborgenheit in Jahwe Elohim (in der göttlichen 5 Damit begeben wir uns auf das Feld der Pentateuchkritik (sie will das Werden der fünf
Liebe und Weisheit) nicht halten, deswegen muss er seinen Auftrag Bücher Mose aufhellen). Bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts besaß das klassische
Wellhausen-Modell (nach dem Theologen und Orientalisten Julius Wellhausen benannt)
nun jenseits von Eden verwirklichen (im sog. Diesseits). »Und Jahwe
eine so allgemeine Gültigkeit, dass es wie selbstverständlich sogar in die kirchenamt-
Elohim ließ ihn aus dem Garten Eden gehen, um die Scholle zu lichen Bibelausgaben aufgenommen wurde (siehe die Einheitsübersetzung oder die
beackern, von der er genommen war.« (Gen 3,23). Kain ist dieser Stuttgarter Erklärungsbibel). Doch heute befindet sich die Pentateuchforschung in einer
Ackermann jenseits von Eden, der den Staub kultivieren und dem Totalrevision aller ihrer Hypothesen. Das eröffnet zumindest theoretisch die Möglichkeit,
die spärlichen Hinweise Swedenborgs zu einem umfassenden Erklärungsmodell weiter-
Höchsten von daher etwas darbringen will.
zuentwickeln, ohne sogleich als hoffnungslos veraltet angesehen zu werden. Das Alte
Fortsetzung folgt Wort Swedenborgs führt dann zu der Annahme, dass für die Urgeschichten eine Quelle
sui generis vorauszusetzen ist. Eine solche Quelle kann man auch aufgrund der altorien-
Anmerkungen talischen Vergleichstexte zu den biblischen Urgeschichten vermuten.
1 Auch die tiefenpsychologische Auslegung biblischer Texte vollzieht sich im Rahmen 6 Wörtlich: »Mit Schmerzen soll du ihn (den Mutterboden) essen«. Doch auch Sweden-
einer Terminologie, oftmals ist es die von C. G. Jung. Aufgrund solcher Beobachtungen borg übersetzt: »in magno dolore edes de ea« (in großem Schmerz wirst du von ihm
meine ich, dass man ein bestimmtes terminologisches System nicht für das einzig rich- essen).
tige halten darf. Das gilt auch für die Sprache Swedenborgs. Sie kann durch ein anderes 7 Auf weitere im wesentlichen sprachliche Zusammenhänge zwischen Genesis 2,4b bis
Begriffssystem abgelöst werden. 3,24 und Genesis 4,1 bis 16 möchte ich wenigstens in Form einer Fußnote hinweisen. In
2 Dem Vers 4,7 geht der Ruf voraus, der dunkelste der Genesis zu sein (vgl. Seebass 152). Genesis 3,9 spricht Jahwe Elohim zum Menschen: »Wo bist du?«, in Genesis 4,9 spricht
In meiner Übersetzung spiegelt sich daher in besonderer Weise mein Verständnis dieser Jahwe zu Kain: »Wo ist dein Bruder Abel?«. In Genesis 3,13 spricht Jahwe Elohim zur Frau:
Stelle. Aber selbst die (dem eigenen Verständnis angepasste) Übersetzung läßt noch ein »Was hast du da getan?«, in Genesis 4,10 spricht Jahwe zu Kain: »Was hast du getan?«.
wenig die Schwierigkeiten des hebräischen Textes erkennen. Daher zwei Erläuterun- In Genesis 3,16 spricht Jahwe Elohim zur Frau: »Nach deinem Mann wird dein Verlan-

204 OFFENE TORE 4/05 OFFENE TORE 4/05 205


gen sein, er aber wird (will) über dich herrschen«, in Genesis 4,7 spricht Jahwe zu Kain: 13 Eine Übersicht der Übersetzung von »ischschah« in Genesis 1 bis 4,16 durch Swedenborg
»Nach dir wird sein (gemeint ist der Dämon oder Abel) Verlangen sein, du aber sollst (siehe Esl): Er übersetzt »ischschah« mit »mulier« in Genesis 2,22; 3,1.2.4.6.12.13.15.16.
(oder willst) über ihn (gemeint ist der Dämon oder Abel) herrschen«. In Genesis 3,17 Mit »uxor« übersetzt er das Wort in Genesis 2,23.24.25; 3,8.17.20.21; 4,1.
spricht Jahwe Elohim zu Adam: »der Boden sei verflucht um deinetwillen«, in Genesis 14 Diese Deutung fand ich auch bei Jakob Böhme: »Höre und besiehe das schöne Kind in
4,11 spricht Jahwe zu Kain: »verflucht bist du vom Boden«. Nach Genesis 3,23 soll der Adams und Evas Willen, was ihr Begehren vor und nach dem Falle war: Sie begehrten das
Mensch den Boden bebauen; genau diese Tätigkeit übt Kain aus, er ist »ein Bebauer des irdische Reich, als dann Eva durchaus nur irdisch gesinnet war. Denn als sie Cain gebar,
Bodens« (Genesis 4,2). In Genesis 3,24 heißt es: »Er trieb den Menschen aus«, in Genesis sprach sie: ›Ich habe den Mann, den Herrn‹, sie gedachte, es wäre der Schlagentreter, er
4,14 spricht Kain zu Jahwe: »Du hast mich heute vom Angesicht des Bodens vertrieben«. würde das irdische Reich einnehmen und den Teufel verjagen, sie dachte nicht, daß sie
In Genesis 3,24 sollen die Cherubim »östlich (miq-qedem) vom Garten Eden« lagern, in sollte ihres falschen, irdischen, fleischlichen Willens sterben, und in einem heiligen Willen
Genesis 4,16 liegt das Land Nod »östlich (qidmat) von Eden«. geboren werden. Einen solchen Willen führte sie auch in ihren Samen ein, desgleichen
8 Zum Stammbau von Genesis 4 gehören die sieben Glieder Adam, Kain, Henoch, Irad, auch Adam.« (Mysterium Magnum 26,23). Eva glaubte demnach, den Schlagentreter
Mehujael, Metuschael, Lamech (danach Aufspaltung in die Dreiheit Jabal, Jubal, Tubal- von Genesis 3,15 geboren zu haben.
Kain). Zum Stammbaum von Genesis 5 gehören die zehn Glieder Adam, Set, Enosch, 15 Spuren des frühchristlichen Verständnisses Abels: Die Abel-Christus-Typologie ist von
Kenan, Mahalalel, Jered, Henoch, Metuschelach, Lamech, Noah (danach Aufspaltung in Ambrosius »in der Schrift ›De Cain et Abel‹ zum erstenmal in voller Breite dargelegt
die Dreiheit Sem, Ham, Jafet). Genesis 5 unterscheidet sich dadurch von Genesis 4, dass worden. Ihm folgten … Augustinus, Leo d. Gr., Maximus von Turin, Paulinus von
am Anfang Set und Enosch hinzugekommen sind, in der Mitte Mahalalel und Henoch Nola, Gregor d. Gr., Isidor, Hrabanus Maurus, Rupert von Deutz und andere (siehe PL
vertauscht sind (Henoch wird dadurch zum 7. Glied) und am Ende zusätzlich Noah 219,243).« (Hans Martin von Erffa, Ikonologie der Genesis, Band 1, 1989, Seite 359). In
erscheint (der Begründer der nachsintflutlichen Menschheit). einer ehemals Johannes Chrysostomus zugeschriebenen Schrift »De sacrificiis Caini, de
9 Belege findet man beispielsweise bei Eugen Drewermann, Strukturen des Bösen, 1988, donis Abelis« usw. heißt es: »weil Abel als erster für die Gerechtigkeit gekämpft hat, war
Band 1, Seiten 111ff., Band 2, Seiten 247ff. er als erster würdig, für seine Frömmigkeit zu leiden: so wurde er zu einem Vorbild Christi
10 Die folgenden deutschen Übersetzungen der heiligen Schrift wurden herangezogen: (imago Christi)«. Bei dem Benediktinermönch Radbert von Corbie (Paschasius Radber-
1. Übersetzungen in der Tradition Swedenborgs: 1.1. Die deutsche Übersetzung von tus) liest man zusammenfassend: »Darum ist Abel der erste als Vorbild Christi (figura
Esl (siehe unten) in »himmlische Geheimnisse«, Tübingen 1845ff. (Esd). 1.2. »Die Bibel Christi) und sehr gerechter Prophet, zum Beispiel wenn man liest, er habe Gottvater ein
oder die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments übersetzt … von Dr. Leonhard Lamm dargebracht und geopfert; er zeigte ihm, daß er mit seinem Glauben und seinen
Tafel«, Frankfurt am Main 1880 (Leo). 1.3. »Die Bibel oder die Heilige Schrift des Alten Werken ein künftiges Lamm sei, das zum Heil der ganzen Welt Gottvater im lieblichen
und Neuen Testaments übersetzt … von Dr. Leonhard Tafel, revidiert von Professor Lud- Geruch als Schlachtopfer darzubringen sei. Darum ist auch Abel, der im Glauben an
wig H. Tafel«, Philadelphia 1911 (Lud). 2. »Wörtliche« Übersetzungen (der Schwerpunkt Christus festblieb, so wie der Rebschoß an der Rebe, getötet worden als Vorbild (figura)
bei diesem Übersetzungstyp ruht ganz bei der Ursprache): 2.1. »Elberfelder Bibel«, revi- jenes, und wurde zum Setzling aus der Rebe und zum treuen Zeugen« (Erffa 1,359f.).
dierte Fassung von 1991 (Elb). 3. »Mittlere« Übersetzungen (dieser Übersetzungstyp 16 Swedenborg gab diesem Werk den Titel »Explicatio in Verbum Historicum Vet. Test.«. In
sucht einen mittleren Weg zwischen Ursprache und Zielsprache bzw. einer wörtlichen Ermangelung einer deutschen Übersetzung dieses umfangreichen Werkes verwende ich
und einer verständlichen Übersetzung): 3.1. »Die Bibel nach der Übersetzung Martin das Sigel »WE« (nach dem englischen Titel »The Word Explained«) und folge auch der
Luthers«, revidierte Fassung von 1984 (Lut). 3.2. Die »Zürcher Bibel« in der revidierten dortigen Nummerierung der Abschnitte.
Fassung von 1931 (Zur). 3.3. Die »Einheitsübersetzung«, Stuttgart 1980 (Ein). 3.4. 17 Auch bei Jakob Lorber ist Abel die erste Christusvorbildung (HGt 1,11.25).
»Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments übersetzt von Hermann Menge«, 18 Manfred Lurker, Wörterbuch biblischer Bilder und Symbole, 1990, Seite 173. Siehe auch
Stuttgart 1949 (Men). 4. »Freie« Übersetzungen (bei diesem Übersetzungstyp hat sich den Begriff des Hirtenkönigs in Bezug auf Ägypten bei Jakob Lorber (GEJ IV,202,16;
das Interesse ganz auf die Zielsprache verlagert): 4.1. »Gute Nachricht Bibel«, revidierte 204,9, 206,14).
Fassung 1997 der »Bibel in heutigem Deutsch«, Stuttgart 2000 (Gnb). 4.2. »Hoffnung 19 So lesen wir zum Beispiel im Psalm 39,6: »Siehe, nur handbreit hast du meine Tage
für alle – die Bibel«, Basel 2002 (Hfa). Außerdem wurden die folgenden lateinischen gemacht, wie nichts ist meine Lebenszeit vor dir. Nur ein Hauch (hebel) ist der Mensch.«
Übersetzungen berücksichtigt: 1. »Biblia Sacra sive Testamentum Vetus et Novum … a Und in Kapitel 7,16 sagt Hiob: »Ich mag nicht mehr – nicht ewig will ich leben! Laß ab
Sebastiano Schmidt«, Argentoratum (Straßburg) 1696 (Ss). 2. Emanuel Swedenborgs von mir! Meine Tage sind nur noch ein Hauch (hebel).«
lateinische Übersetzung der Bücher »Genesis« und »Exodus« in »Arcana Caelestia« (Esl). 20 Viktor Mohr bringt Abel mit »ahab« (lieben) in Verbindung. Siehe H. E. Sponder, Haus-
11 Ich übersetze »jada‘« zwar nicht mit »schlafen«, aber natürlich muss man hier an die haltung Gottes durch Jakob Lorber, Lexikaler Anhang, 1979, Seite 36.
Gemeinschaft des Mannes mit der Frau denken. Nach HG 4914 (zu Gen 38,26) hat 21 Kain übt eine Arbeit aus, die nicht ihn frei macht, sondern versklavt. Je mehr der Mensch
»erkennen« die Bedeutung »conjungi« (sich verbinden bzw. verbunden werden; vgl. dem Irdischen dient, je mehr er sich von der Sorge um das Irdische beherrschen läßt,
conjugium = Ehe). desto unfreier wird er, desto mehr wird er vom Irdischen beherrscht. Daher kann Jesus
12 Franz Delitzsch, Commentar über die Genesis, Leipzig 1872, Seite 162. (Sigel: Delitzsch) sagen: »Wer die Sünde tut, ist Sklave der Sünde.« (Joh 8,34).

206 OFFENE TORE 4/05 OFFENE TORE 4/05 207


dern einen Monismus des kulturellen Lebens. Und so wie dieser unverse-
Angst vor dem Islam? hens zu einer intoleranten Haltung gegenüber Andersdenkenden führen
Diskussionsbeitrag auf einem Internationalen Kolloquium am 13. kann, die dann seine Stoßkraft noch potenziert, so disponiert die Neigung
November 2004 an der Theologischen Fakultät in Valencia / Spanien zum Pluralismus zu einer grenzenlosen Toleranz, die lähmt und schwächt.
über das Thema: »Die christliche Kultur und die Zukunft Europas« Die ontische Wurzel könnte sein, dass nach islamischem Glauben
»Gott« in einem extrem monistischen Sinne verstanden wird: »Allah«
von Heinrich Beck bedeutet nicht eine dreipersonale Einheit, wie der christliche Gott, son-
dern nur eine singuläre Person. So besteht in der Welt von ihrer göttli-
D ie gegenwärtige kulturelle Lage in Europa charakterisiert sich
durch zwei Phänomene: den Niedergang der traditionellen christ-
lichen Kultur und den Anstieg eines vitalen islamischen Einflusses.
chen Seinsgrundlage her nur die Disposition für Einheit und nicht auch
für Vielfalt und Pluralität.
Die christliche Kirche, die katholische wie die protestantische, Umgekehrt ist es gerade die christliche Auffassung Gottes als
verliert in hohem Masse von ihren Gläubigen und von ihrem Ein- Ein Sein in der Gemeinschaft distinkter Personen, die dazu befähigt
fluss auf das öffentliche Leben. Christliche Werte gelten immer we- und motiviert, in der Welt sowohl eine Differenz und Vielfalt indivi-
niger, wie sich z. B. an den Beziehungen der Geschlechter beobach- dueller Überzeugungen und kultureller Bereiche als auch ihre onti-
ten lässt, an der zunehmenden Praxis von Abtreibung oder an der sche Zusammengehörigkeit und Einheit anzuerkennen und zu ach-
Diskussion bio-ethischer Fragen. Für diese Situation scheint es kenn- ten – was eine »lebendige Ordnung« grundlegen kann, die »Einheit
zeichnend, dass man in der Präambel der Verfassung der Europäischen in der Verschiedenheit« und »Verschiedenheit in der Einheit« besagt.
Union (EU) darauf verzichtet hat, einen Bezug auf Gott zu erwähnen. Von hier aus öffnet sich der Blick auf eine unverzichtbare Aufgabe
Die Ursache für einen solchen Schwund des christlichen Profils und Möglichkeit des christlichen Glaubens in bezug auf die künftige
und für die Ausbreitung eines religiösen Indifferentismus könnte eine Kultur Europas. Der Niedergang der christlichen Kultur in ihrer traditi-
in der ontischen Disposition des europäischen Menschen liegende Nei- onellen Struktur und der Aufstieg des Islam bedeuten eine existentielle
gung zu rationaler Distanzierung und zur Ausgliederung einer Vielfalt Herausforderung für die Substanz des Christentums als konstitutives
von persönlichen Überzeugungen und öffentlichen Lebensformen dar- und kreatives Element Europas.
stellen. Dies scheint sich durch die Tatsache zu bestätigen, dass auf dem Um aber dieser Perspektive zu entsprechen, erscheint es erforder-
geistigen Untergrund der europäischen Kultur die »Deklarationen der lich, dass der Christ seine Identität nicht in einem defensiven Sinne ge-
Menschenrechte« entstanden, die vorschreiben, den Menschen als sol- genüber dem Islam versteht, sondern in einem dialogischen Sinne. Er
chen zu achtenunbeschadet seiner Zugehörigkeit zu Geschlecht, Rasse muss aus einem selbstgenügsamen Selbstverständnis, das in sich selbst
und religiösen oder atheistischen Glaubensüberzeugung. Die europä- verschlossen ist, heraustreten und geistig in die Mentalität des Islam ein-
ische Kultur, dies ist offensichtlich, begünstigt eine pluralistische und treten, um sie von ihren eigenen Voraussetzungen her zu verstehen. Von
humanistische Ethik und zeigt eine anthropozentrische Orientierung. da aus könnte der Christ in eine reichere christliche Identität zurückkeh-
In diese kulturelle Disposition Europas tritt heute mit großer Vitalität ren, die nun eine ausdrückliche Beziehung zum Islam einschlösse. Eine
der Islam ein. Die Zahl seiner Gläubigen und die Potenz seines öffentlichen solche neue dialogische Identität bedeutete letztlich eine vollkommenere
Einflusses scheinen zu steigen. Der Islam zeigt nun einen Habitus, der sich Verwirklichung des Auftrags des Christentums als Religion der Liebe. Und
dem Europas entgegensetzt: Denn er begünstigt und schätzt gerade außerdem: Wenn der Christ sich dem Moslem in einer Haltung des re-
nicht eine Vielzahl von individuellen Überzeugungen und autonomen Le- spektvollen Verstehens und der Offenheit nähert, dann besteht – auf
bensformen, sondern fordert vielmehr deren Einheit Die Prinzipien aller der Grundlage des Vertrauens in den gemeinsamen Gott! – Hoffnung,
Bereiche des kulturellen Lebens werden aus dem Koran abgeleitet; dieser dass auch der Moslem sich mehr gegenüber dem Christen öffnet.
gilt auch als Gesetzbuch für den Staat und es besteht keine Trennung von Nur auf diese Weise, glaube ich, öffnet sich Zukunft sowohl für
Religion und Staat. Man praktiziert nicht eine anthropozentrische, son- das Christentum in Europa als auch für ein Europa, in dem das Chris-
dern eine theozentrische Ethik, und man will nicht den Pluralismus, son- tentum einen Ort und einen konstitutiven kulturellen Einfluss besitzt.

208 OFFENE TORE 4/05 OFFENE TORE 4/05 209


keiner Systematik, sie lassen sich leiten von Observationen und De-
Das Blaue vom Himmel tails, vom Klang eines Wortes oder vom Einspruch gegen eine The-
August Strindberg in seinen wenig bekannten Prosaarbeiten orie, vor allem aber von Analogien und Ähnlichkeiten. Das hat er
von Thomas Fechner-Smarsly von seinem Lehrmeister, dem Mystiker und Traumdeuter Emanuel
Swedenborg (1688-1772), dem er das »Blaue Buch« zugeeignet
Der schwedische Schriftsteller August Strindberg (1849- hat. Dessen »Himmlische Geheimnisse«, vor allem dessen Korres-
1912) ist vor allem als Dramatiker berühmt geworden. Weit pondenzenlehre dienen Strindberg als Leitfaden durch das Chaos
weniger kennt man seine Prosaarbeiten, von den Gedichten, der Welt. Laut Swedenborg besitzt jedes natürliche Ding ein spiri-
Essays, Abhandlungen nicht zu reden. Jeglicher Gattungsbe- tuelles Gegenstück, mit dem es verbunden ist, es »korrespondiert«
zeichnung entzieht sich »Das Blaue Buch«, erschienen in vier mit ihm, und dieses wiederum mit einem göttlichen. Indem man
Bänden in den Jahren 1906 und 1912. die natürlichen Dinge studiert, gelangt man soeben über die Kor-
respondenzen zu Einsichten in die übersinnlichen.

W ahrlich: ein Buch über Gott und die Welt! Eines für alle und
keinen. Ein Sammelsurium und eine Wunderkammer des
Geistes bestimmt für den täglichen Hausgebrauch. Die Rede ist von
Aufklärerische, kritisch-rationale Auseinandersetzung interes-
sierte den späten Strindberg nur bedingt. Eher im Gegenteil: Im Ra-
tionalismus erkannte er sein Feindbild. Seine Sicht der Naturdinge
einer Spätschrift August Strindbergs und von einem Opus, das sei- war geschult an Vorbildern wie Francis Bacon oder dem schwedi-
nesgleichen sucht. Dieses schwer klassifizierbare Etwas, das Strind- schen Chemiker Jöns Jacob Berzelius und ihrer Art der Naturbeo-
berg »Ein Blaues Buch« nannte, stellt mit seinen knapp 1200 Seiten bachtung. Das Grundmuster seiner Texte, den fortgesetzten Dia-
so etwas wie ein Vermächtnis dar. Begonnen im Jahr 1906, erschien log zwischen Lehrmeister und Schüler, dürfte Strindberg allerdings
der vierte und letzte Band tatsächlich wenige Wochen vor Strind- nicht von Swedenborg, sondern eher aus biblischen Vorbildern so-
bergs Tod im April 1912. wie aus Platos Dialogen geschöpft haben.
Im »Blauen Buch« finden alle möglichen Gegenstände Platz, Man kann das »Blaue Buch« an beliebiger Stelle aufschlagen.
und auch die unmöglichen. Hier ein Auszug aus dem Katalog der Systematiker und Motivforscher beginnen die Lektüre am besten
Dinge, über die Strindberg handelt: über den Wiedehopf, über auf Seite 115. Da gibt der Autor Auskunft über »Die Geschichte
Zola, über Verdauung (schlechte), über Schallwellen (das Telefon, des Blauen Buches«. Bei Goethe habe er gelesen, gesteht Strind-
die Telepathie, den universalen Kontakt), über Vorzeichen, über berg, dass dieser ein Breviarium Universale hatte verfassen wollen,
den Vogelflug, über die Sündflut, über Röntgenstrahlen, über Kälte- ein Erbauungsbüchlein für Bekenner aller Religionen. Das wollte er
ströme, über die Gestalt der Wolken und was sich dahinter verbirgt, auch, ein Wort der Weisheit für jeden Tag des Jahres. Strindberg las
über Bayreuth, über die Oberklasse, über Lears Weib, über Chladnis die heiligen Schriften, aber »siehe da, die Bücher verweigerten sich!
Klangfiguren, über Goethes Okkultismus, über die Windungen des Veda, Zend Avesta waren geschlossen und gaben mir keine Spra-
Gehirns. che; nur der Koran gab eine, aber einen Löwen!«
So nahmen Strindbergs Pläne ihre eigene Richtung. Bald
Alle Freiheiten schwebte ihm ein konfessionsloses »Herbarium Humane« vorrein
Strindberg nimmt sich alle Freiheiten des arrivierten literarischen weltliche Weisheiten über den Menschen sollte es enthalten. Dann
Souveränsund das heißt auch: keine Rücksicht, weder auf den Leser kam der 15. Juni 1906und an diesem Tag eine Strassenbahn mit der
noch auf lebende oder tote Personen. Seine Gedankenspiele folgen Nummer 365. Strindberg, spätestens seit seinem Aufenthalt in Paris
210 OFFENE TORE 4/05 OFFENE TORE 4/05 211
Mitte der 1890er Jahre und der sogenannten »Inferno«-Krise (wenn teorologie, der Physik und der Sprachgeschichte. Er durchstreift sie
es denn eine Krise war) ein Semiotiker im Alltäglichen, nahm es mit aufs Geratewohl, er wildert darin. Vieles, schreibt die Herausgeberin
Zahlen und Zeichen sehr genau und jene als Hinweis auf die Tage Angelika Gundlach, erwiese sich bei näherer Überprüfung als »haar-
des Jahres und die Anzahl der Texte, die er zu schreiben gedachte sträubender Unsinn«. Und ein Problem des selbsternannten Polyhis-
(es wurden schließlich »nur« 328 im ersten »Blauen Buch«). Weitere tors besteht in einer Fehleinschätzung des Publikums: Für den Laien
Zeichen folgten, die auch im »Okkulten Tagebuch« vermerkt wur- behandelte sein Buch zu avancierte Gegenstände, für den Fach-
den. Diese seit über zehn Jahren geführten Aufzeichnungen dienten mann enthielt es zu viele Mängel.
Strindberg zudem als Fundgrube und Ideenreservoir für das nun
zu schreibende Buch. Viele der naturwissenschaftlichen Beobach- Neues Genre
tungen und Spekulationen, Strindberg nannte sie »Entdeckungen«, Als August Strindberg im Sommer 1906 mit der Niederschrift zu
dürften auf solche Notate zurückgehen. »Ein Blaues Buch« begann, ging es ihm nicht zuletzt darum, ein
Es war nicht das erste Mal, dass sich Strindberg mit den Natur- neues Genre auszuprobieren. Die meisten seiner nach 1900 ge-
wissenschaften befasste. Vor allem die erste Hälfte der 1890er Jahre schriebenen Dramen lagen ungespielt herum, und falls doch ein-
erlebten den Schriftsteller als Konvertiten, der sich von der Litera- mal eines aufgeführt wurde, endete es in einem Fiasko, wie sein
tur ab- und den seiner Meinung nach »seriösen« Wissenschaften »Engelbrecht« oder »Mittsommer«. Und den 1904 fertiggestellten
zuwandte. In dieser Zeit entstanden kaum nennenswerte literari- Schlüsselroman »Schwarze Fahnen«, eine in jeder Hinsicht unver-
sche Texte. Stattdessen kleinere und größere Schriften, über Farb- blümte Abrechnung mit der schwedischen Kultur- und Geisteselite,
fotografie und den Zufall, über die Nerven der Pflanzen, über den hatte zunächst kein einziger Verlag zu drucken gewagt. Strindberg
Blick zum Weltraum und die Spektralanalyse. Einem Gebiet freilich fühlte sich nicht zum ersten Malumgeben von Feinden und ging
widmete Strindberg viel Zeit und Aufmerksamkeit: der Chemie und zum Angriff über.
ihrer esoterischen Seite, der Alchemie. Mit Ernst Haeckel als Leits- So sind die Charakterstudien im »Blauen Buch« nichts anderes
tern und dessen Formulierung eines evolutionären Monismus, mit als Karikaturen-Porträts und ganz unzweifelhaft persönlich gemeint.
Prouts Hypothese über den Wasserstoff und der Idee eines Urele- Seinem »schlimmsten Feind«das war der Schriftsteller, Kritiker und
ments wollte Strindberg die herrschende Elementelehre erschüt- frühere Freund Gustaf af Geijerstamwidmet er gleich zwei Einträge
tern, wie überhaupt seine Wissenschaft immer den (künstlerischen) ins Schadensbuch, darunter den wunderbar spitzen »Der Klebrige«,
Stachel der Provokation enthielt. Das hinderte ihn nicht, Kontakt der so beginnt: »Es gibt klebrige Menschen, unzureichend, leer, die
zu jenen Autoritäten zu suchen, die er kritisierte, und ihnen seine nicht auf der eigenen Wurzel leben können, sondern auf dem Ast
Schriften zuzusenden, dem Chemiker Marcelin Berthelot etwa oder eines anderen sitzen müssen, ganz wie die Mistel, die ja so klebrig
dem Astronomen Camille Flammarion. Mit mäßiger Resonanz: Man ist, dass man Vogelleim aus ihr kochen kann.« Scharfzüngig, pole-
blieb höflich dem berühmten Schriftsteller gegenüber, aber man misch, manchmal bitter, manchmal bösartigem Umgang mit der
nahm ihn wohl auch nicht ganz ernst. Feder war Strindberg stets bildstark, aber eines gewiss nicht: ein
Erst spekulieren, dann experimentieren, lautete Strindbergs Pro- Evangelist. Die christliche Versöhnungslehre erschien ihm schwer
gramm. Diese Grundhaltung erkennt man im »Blauen Buch« wie- erklärlich. Wenn er schrieb, zeigte sich Strindberg von seiner alttes-
der. Neben allgemeinen philosophischen und psychologischen Be- tamentarischen Seite, sein Impuls hieß nicht selten: Rache. Ob für
trachtungen widmet sich Strindberg den Feldern der Astronomie, erlittenes Unrecht oder für bloß eingebildetes, lässt sich heute kaum
der Biologie, der Chemie, der Mathematik, der Medizin, der Me- mehr unterscheiden.
212 OFFENE TORE 4/05 OFFENE TORE 4/05 213
Es steht außer Frage, dass Strindberg seit dem Bekenntnisro-
man »Inferno« (1897) eine gläubige Haltung vertritt. Weggefährten
Spirituelle Lebenshilfe
haben diese religiöse Wende im Werk des Autors teils scharf kriti- Geistiges Heilen in erweitertem Sinn
siert, teils verständnislos kommentiert. Der Herausgeber der schwe- Zu der gleichnamigen Buchveröffentlichung von Gertrud Emde1
dischen Ausgabe des »Blauen Buches«, Gunnar Ollén, brachte es von Heinrich Beck
auf den Punkt: »Er war Theist, gottgläubig, auf eine alttestamentari-
sche Weise, aber kaum auf eine christliche.« D iese Schrift stellt sehr lebendig eine Aufgabe und Möglichkeit
des Christen vor, die gewöhnlich viel zu wenig beachtet wird,
obwohl sie eine zentrale Dimension des Lebens betrifft: die Beru-
Ein Wanderer auf dem Weg
fung und Kompetenz, aus geistigen Quellen Hilfe und Heilung in
Es war ein langer Weg vom Atheismus der 1880er Jahre über den menschlicher Not und Krankheit zu vermitteln. Darin liegt ein spezi-
wissenschaftlichen Monismus des folgenden Jahrzehnts zu dem fischer Bezug zur »Ganzheit« des Menschen. Die Verfasserin berich-
selbstgestrickten Theismus, den Strindberg im neuen Jahrhundert tet aus ihrem eigenen Werdegang als sensitiv besonders begabte
vertrat und in Stücken wie »Ein Traumspiel«, »Nach Damaskus« Persönlichkeit und aus ihrem konkreten Umgang mit leidenden
oder seinem Epilog »Die große Landstrasse« auch auf der Bühne und hilfesuchenden Menschen. An eindrucksvollen Beispielen ent-
durchscheinen ließ. Ein Naturalist im Sinne Zolas war Strindberg wickelt sie Prinzipien des Heilens, die jeder Christ und religiös en-
wohl nie wirklich gewesen, eher ein Opponent gegen jede Rich- gagierte Mensch zu praktizieren und »einzuüben« versuchen sollte.
tung, die gerade in Mode war, ein Wanderer auf seinem eigenen Der Band dokumentiert in überarbeiteter Fassung vier Vor-
Weg, und nicht zufällig sind die genannten Stücke durchweg Stati- träge: Der erste: »Christliches Heilen« handelt von der »Fähigkeit
onendramen. So ist auch das »Blaue Buch« das Fahrten- und Traum- und Pflicht eines jeden Christen, einem Kranken in Notfällen spiri-
buch eines lebenslang Ruhelosen. tuell heilend beizustehen«. Der zweite: »Wie können wir geistiges
Die meisten Texte sind kurz und prägnant, zwischen einer hal- Heilen verstehen und anwenden?« handelt über den »Sinn von
ben und zwei Druckseiten, nur wenige gehen darüber hinaus. Aus Krankheiten und Schicksalen« und die »Aspekte, auf die es demzu-
folge bei der geistigen Heilung ankommt«. Der dritte: »Spirituelle
den insgesamt 650 Stücken hat Angelika Gundlach, die bereits die
Lebensberatung«
große, leider mittendrin stillgelegte Frankfurter Strindberg-Ausgabe
erörtert »Möglichkeiten zur Befreiung von negativen geistigen Ein-
des Insel-Verlags betreut hatte, eine kluge Auswahl getroffen und
flüssen und zur psychischen Heilung«. Den zusammenfassenden
mit einem vorzüglichen Anmerkungsapparat versehen. Dabei hält
und vertiefenden Abschluss bildet ein vierter Vortrag: »Grundlagen
Gundlach sich an die Strindbergsche Abfolge. Franz Greno besorgte geistigen Heilens«, der im Rahmen einer Ringvorlesung zum Thema:
die bibliophile Ausstattung ganz in Blau: blauer Samteinband, blau- »Geist, Heilung, Energie im Spannungsfeld von Wissenschaft, Re-
toniges Papier, blaue Schrift. Das Buch hat es verdient: Man hält ligion und Geschäft« an der Universität Bayreuth gehalten wurde.
das himmlisch-wolkige Blau des samtenen Einbands in Händen und Bereits das »Vorwort« stellt klar: »Unter ›geistigem Heilen‹
freut sich über all das Blaue vom Himmel darin. wird in diesem Buch nicht die medizinische Behandlung von
Geisteskrankheiten verstanden, sondern vielmehr die Vermitt-
August Strindberg: Das Blaue Buch. Ausgewählt und übersetzt von lung von Hilfen zur Gesundung aus einem immateriellen, ›geis-
Angelika Gundlach. Die andere Bibliothek Band 248. Eichborn- tigen‹ Seinsbereich« das heißt zutiefst aus der Liebe Gottes zu
Verlag, Frankfurt am Main 2005. 420 S., Fr. 54.–. seiner Schöpfung. Diese Vermittlung geschieht durch Segnun-
214 OFFENE TORE 4/05 OFFENE TORE 4/05 215
gen bzw. vertrauensvolle Fürbitten. Sie tritt darum nicht in Kon- gelangt zu seinen »Früchten« nicht ohne die »Reben«; aber die
kurrenz zu einer medizinischen Behandlung durch den Arzt, son- »Früchte« sind letztlich nicht Produkte der »Reben«, sondern
dern ist eher als deren Ergänzung oder wirksame Grundlage des »Weinstocks«.
zu betrachten. Dabei geht es stets um mehr als um bloße Be- 2. Die Grundlage einer Heilung auf Seiten des Heilsuchenden ist
freiung von gesundheitlichen Beschwerden. Diese werden viel- gleichfalls eine Selbstprüfung: nun in bezug auf die Motive des
mehr in einem übergreifenden Lebens- und Schicksalszusam- Heilwerdenwollens, wobei das eindringliche Gespräch mit dem
menhang »geortet«, so dass eine »Vermittlung von Heilung aus Heiler bzw. der Heilerin helfen kann, sich ihrer bewusst zu wer-
geistigen Quellen« von vornherein auf das »Heil des ganzen den. Hier leitet die wesentliche Frage: Ist der Beweggrund rein
Menschen« abzielt und damit in der Perspektive des umfassen- vordergründig und »egozentrisch« oder der Wunsch nach ei-
den Ganzheitsbezugs einer »spirituellen Lebenshilfe« geschieht. nem Leben, das der göttlichen Sinnordnung entspricht? Hinzu
So verstandene »Geistheilung« könnte grundsätzlich im muss die Bereitschaft kommen, sich von falschen Verhaftungen
Rahmen jeder Religion stattfinden, in der »Gott« als »lieben- zu lösen und ggf. die Lebensführung zu ändern. Z.B. würden
der schöpferischer Grund der Welt« verehrt wird, also z.B. auch eine ungeordnete Konsumhaltung wie schlechte Eßgewohn-
im Islam oder im Hinduismus. Das spezifisch Christliche der heiten den Leib, der nach Paulus ein »Tempel des hl. Geistes«
von der Verfasserin vorgetragenen Heilweise besteht in der Be- sein sollte, zu einem »Mülleimer« degradieren, in den Leben
ziehung auf Jesus Christus und der durch ihn uns zugesproche- aus göttlicher Quelle kaum einfließen könnte.
nen besonderen Berufung und Vollmacht als »Kinder Gottes«. 3. Auf der Basis dieser beiden Voraussetzungen muss als erster und
Ich möchte nun versuchen, diese Heilweise im Sinne der grundlegender Akt sowohl vom Heilvermittelnden als auch vom
Verfasserin darzustellen. Dabei gliedere ich sie in verschiedene Heilsuchenden eine bewusste und völlige Hingabe an den Willen
»Schritte«, die weniger als eine zeitliche Folge, sondern als die »in- Gottes vollzogen werden: »Vater, nicht mein, sondern Dein Wille
nere Aufbauordnung« des heilenden Handelns aufzufassen sind. geschehe!« Eine solche Hingabe basiert auf dem Glaubensbe-
wusstsein, dass Gott in seinem Wesen reine Liebe ist und stets das
1. Die Grundlage auf Seiten des Heilers bzw. der Heilerin ist eine Beste für seine Geschöpfe will. Wenn daher nach seiner allweisen
Selbstprüfung in bezug auf die Motive des Heilens und ggf. die Vorsehung ein bestimmtes Leiden für den betreffenden Men-
Reinigung von rein irdischen Interessen (wie vielleicht dem Be- schen ein sinnvoller Weg zum Heil ist, indem dieser Mensch in
dürfnis, durch das Heilen eigene »Macht« oder öffentliche Be- der Auseinandersetzung mit sich selbst und durch die Annahme
wunderung zu erleben oder auch wirtschaftlichen Gewinn zu seiner Situation etwas lernen soll, das zu seiner Reifung unbe-
erzielen). Dies geschieht im Zuge der Entscheidung, sich als dingt notwendig ist (was u. U. gar nicht leicht zu erkennen ist),
»reiner Kanal« völlig selbstlos der göttlichen heilenden Liebe so kann ihm von der Liebe Gottes her das Leiden nicht erspart
zur Verfügung zu stellen in der Nachfolge Jesu Christi und werden. Andererseits aber ist es wohl auch denkbar, dass sich
im Bewusstsein seines ausdrücklichen Auftrags. Dieser ist im der Leidende geistig und seelisch so umstellt, dass der Sinn, um
Neuen Testament klar ausgedrückt, wie etwa mit den Worten dessentwillen das Leiden von der Vorsehung zugelassen ist, auch
Jesu: »Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben«: Das Heil das er ohne das faktische Leiden erreicht werden kann. So erscheint es
bringen wollte und darin integriert auch die Heilung von allen stets als das Beste und ist es für jede Bitte um eine konkrete Hei-
möglichen Krankheiten –, eben die »Früchte des Weinstocks«, lung grundlegend, sich der Weisheit und dem Willen Gottes be-
sollen durch unsere Vermittlung, durch die »Umsetzungsarbeit dingungslos anzuvertrauen und vollkommen zu überlassen, mit
der Reben«, immer weiter hervorkommen. Der »Weinstock« der ausdrücklichen Gebetshingabe: »Dein Wille geschehe!«2
216 OFFENE TORE 4/05 OFFENE TORE 4/05 217
4. Wenn dies geschehen ist und erst dann! kann in einem zwei- haltung und Sanierung seiner sichtbaren Schöpfung gedacht
ten Akt eine direkte Bitte um Heilung einsetzen. Dies bedeu- sind. Ihre Anrufung und Bitte um Mitwirkung erscheint insbe-
tet eine mitfühlende Hinwendung des Heilers bzw. der Heilerin sondere dann sinnvoll, wenn das Leiden eines Menschen deut-
zum Heilsuchenden, eine tiefe Hingabe an den notleidenden liche Anzeichen einer Belastung durch zerstörerische geistige
Menschen in seiner Not, indem der Heiler diese, zusammen mit Einflüsse trägt, die in die Richtung des »Dämonischen« weisen;
dem Kranken selbst! Gott hinhält: »Vater, schau Dir diesen Men- denn dazu dürfte eine »Mobilisierung« von positiven geistigen
schen, der Dein Kind ist, an! Hab' Erbarmen und wende seine »Mächten und Gewalten« in der angemessenen Proportion ste-
Not!« Je vertrauensvoller diese Bitte ausgesprochen wird, desto hen. »Heilung« bedeutet dann an der Wurzel die Befreiung von
gewisser darf man auf Erhörung hoffen. Wenn der Heiler so vor entsprechenden Abhängigkeiten, wobei selbstverständlich die
Gott für den Heilsuchenden hintritt und mit aller Entschieden- beharrliche Mitarbeit der betroffenen Person unerlässlich ist.
heit für ihn eintritt, sollte er sich ausdrücklich auf die Worte Jesu Diese Zusammenhänge werden vor allem in dem bereits ein-
berufen: »Wo zwei oder drei in meinem Namen beisammen gangs erwähnten 3. Beitrag des Buches: »Spirituelle Lebens-
sind, da bin ich mitten unter ihnen!« und in der Gewissheit der beratung Möglichkeiten zur Befreiung von negativen geistigen
Nähe und Begleitung Jesu seine weiteren Worte beherzigen: Einflüssen und zur psychischen Heilung« angesprochen.
»Wer bittet, dem wird gegeben!«, »wer anklopft, dem wird auf- Die Verfasserin schließt auch die Möglichkeit von »Selbsthei-
getan!«, »bittet um was immer ihr wollt, glaubet nur, dass ihr lung« nicht aus (vgl. z.B. S. 90 f.). Dabei ist das was über den Hei-
es erhalten habt, und ihr werdet es erfahren« und: »Wenn euer ler bzw. die Heilerin (in den Punkten 1, 3 und 4) und was über
Glaube nur so groß ist wie ein Senfkorn, kann er Berge verset- den Heilsuchenden (in Punkt 2) gesagt wurde, in entsprechender
zen«. Dementsprechend sollten sich beide, Heilvermittelnder Weise auf dieselbe Person zu beziehen. Die Übung von »Selbsthei-
wie Heilsuchenderden heilen Zustand bereits möglichst leben- lung« als einer besonderen Fähigkeit und Aufgabe des Christen im
dig vorstellen und sich in ihn freudig und vertrauensvoll geistig Umgang mit sich selbst ist immer angebracht; jedoch dürfte sie
»hineinbewegen«in dem Bewusstsein, dabei in Jesu Sinn und bei »schweren Fällen« in der Regel allein nicht ausreichen.
Auftrag zu handeln, der sich gerade im Hinblick auf die gege- So bedeutet das Buch von Gertrud Emde eine wichtige Anre-
bene Situation konkretisiert. Aufgrund der liebenden Einheit gung, sich dessen mehr bewusst zu werden, was man als Christ
und Gemeinschaft mit Jesus Christus kann die gläubige Bitte um und »Kind Gottes« eigentlich ist!
konkrete Heilung nicht etwa als eine »Selbstüberforderung des
Anmerkungen
Heilers« oder als ein »Vergewaltigungsversuch Gottes« empfun-
1 Schriftenreihe DONATA, Bd. 5, Verlag Dr. Günter Emde, Pittenhart:2003 (99 Seiten),
den werden. Sie erfolgt ja in absoluter Unterordnung unter den
ISBN 3-923637-57-8
Willen Gottes und in völliger Hingabe an ihn (siehe Schritt 3). 2 Eine ganz andere Voraussetzung ist gegeben, wenn der Leidende in der Nach-
5. Die bisher beschriebenen Schritte bzw. Gliedelemente der folge Christi die Krankheit als stellvertretendes Leiden für Andere trägt – sei es,
»geistigen Heilung« als »spiritueller Lebenshilfe« erscheinen in dass er sich in Liebe freiwillig Gott dafür angeboten hat, oder dass es ihm in der
Teilhabe an der »Einheit der Schöpfung« und am »mystischen Leib Christi« auf-
deren Sinnstruktur schlechthin konstitutiv und unbedingt not- erlegt ist. Aber auch dann ist die Hingabe an den unverfügbaren Willen Gottes
wendig. Als eine äußerst hilfreiche und wirksame Ergänzung das Entscheidende. Denn, wie es bei Paulus heißt, »selbst wenn ich meinen Leib
kann aber noch der Einbezug von »unsichtbaren Helfern«, näm- zum Verbrennen hingäbe, hätte aber die Liebe nicht – es nützte mir nichts!«
lich von Engelwesen erfahren werden, die als personale geistige
Energien des Lichtes und der Liebe von Gott geschaffen und
gewissermaßen als seine »Assistenten« bei der Entfaltung, Er-
218 OFFENE TORE 4/05 OFFENE TORE 4/05 219
Zur Erinnerung an Berufslosigkeit waren der Grün-
Wilhelm Schläppi dung einer Familie nicht förder-
lich, aber es fehlte wohl auch die
Wilhelm Schläppi, geboren am Bestimmung dazu. Mittlerweile
23.2.1914, ist am 31.10.2005 in über 30 vollzog ich den Wechsel
die geistige Welt eingegangen. Der von der Landwirtschaft in die In-
eine oder andere Leser dieser Zeit- dustrie und wurde Fabrikarbeiter.
schrift wird noch Druckausgaben Doch mein eher unbewusstes Su-
der Werke Emanuel Swdenborgs chen nach dem Schatz im Acker
in seinem Bücherregal haben, die veranlasste mich, alles andere zu
»Willi« Schläppi hergestellt hat. Er verkaufen, um denselben zu er-
gehörte zu den stillen Dienern, die werben und führte mich ins Taxi-
ohne Aufsehen zu erregen einen gewerbe nach Zürich. Damit war
wichtigen Beitrag für eine große endlich die Möglichkeit gegeben,
Sache leisten. Aus der nachfolgen- im großen Angebot von religiösen
den Lebensbeschreibung, die er Vorträgen und Veranstaltungen zu
selbst niedergeschrieben hat, wird sichten, was dann mit einem Vor-
seine tiefe Verbundenheit mit der trag über das Leben nach dem
Theologie Swedenborgs ersichtlich. Tod, gehalten von Pfr. Dr. Friede-
mann Horn, endlich ans Ziel führ-
»Aufgewachsen bin ich im schö- te. Anschließend folgte eifriges
nen Berneroberland. Das Noma- Studium der Swedenborgschriften
denleben, der ständige Wechsel bis zur Gründung unserer Haus-
von Alp- und Talwirtschaft ver- druckerei im Gemeindeheim an
unmöglichte mir den Besuch, der der Apollostraße. Nun folgte der
zum Erlernen eines Berufes erfor- Wechsel vom Lesen zur Mitarbeit
derlichen Sekundarschule. Doch im Verlag, bis es dann 1972 zu
Bücher übten immer schon eine einer ganztägigen Anstellung im
grosse Anziehungskraft auf mich Swedenborg Verlag kam, dem ich
aus, so z.B. Biographien außer- bis 1988 – meinem 75. Lebensjahr
gewöhnlicher Menschen, Okkul- – meine Treue hielt. Ich bin dem
tismus, Spiritismus, Hypnose und Herrn unendlich dankbar, dass er
bald auch Bücher religiöser Art. mich zur Neuen Kirche geführt
Mein religiöses Leben hielt sich hat, denn nur durch die inneren
über Jahrzehnte im Hintergrund. Wahrheiten des göttlichen Wor-
Die Wirtschaftskrise der 30er Jah- tes konnten bei mir auch die äu-
re, nachfolgender Aktivdienst und ßeren richtig lebendig werden.«
220 OFFENE TORE 4/05

Das könnte Ihnen auch gefallen