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Erster Teil: Verdrängung

Markus ging aus der Tür hinaus und warf noch einen kurzen Blick zurück. Der Anflug eines
Lächelns breitete sich auf seinem Gesicht aus, als Lena ihm noch eine Kusshand zuwarf
und dann die Tür schloss. Markus sah hinauf zum abnehmenden Mond, welcher halb von
weiß erleuchteten Wolken verdeckt wurde. Morgen oder so würde die dünne Sichel auch
verschwunden sein.

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Aber nur sie! Das Glück bleibt! Endlich bleibt das Glück einmal.
Markus atmete tief durch und machte sich auf den Nachhauseweg. Er war nicht lang, aber
doch genug, um nachdenken zu können.
Er hatte eine Freundin! Man, er konnte es immer noch nicht wahrhaben. Nach all der Zeit
hatte er endlich mal wieder Glück gehabt. Lena war wunderbar, er konnte sich kaum
vorstellen eine bessere Freundin zu haben.
Er war glücklich.
Freudig hüpfte er stepptanzartig durch die Straßen Leinbergs, einem kleinen gemütlichen
Örtchen in Mittelhessen. Markus vollführte eine unbeholfene Pirouette und wäre beinahe
gefallen, hätte er sich nicht noch rechtzeitig an einer der Laternen am Straßenrand
festhalten können.
Ein Schwindelanfall überkam ihn. Das war wohl etwas zu viel des Guten gewesen.
Markus hielt sich mit der rechten Hand an der Laterne fest und sah auf seine Armbanduhr.
Es dauerte einen Moment, bis die Zeiger ihre wilden Drehungen eingestellt und ihre
Kopien eingesaugt hatten und er nun scharf dreiundzwanzig Uhr fünfzehn ablesen konnte.
Markus stutzte. Er war um einundzwanzig Uhr von Lenas Haus los gelaufen, nach Hause
waren es vielleicht zwanzig Minuten. Er ließ den Baum los und ging einige Schritte nach
vorne. Verwirrt sah er sich um.
War er nicht eben noch in der Eichengasse gewesen? Jetzt befand er sich mitten im
nahen Wald. Ein unheimlicher Druck legte sich auf seinen Bauch. War er einfach nur vom
Weg abgekommen? Das musste es sein!
Er war so in Gedanken versunken gewesen, dass er glatt zu weit gelaufen war, versuchte
er sich einzureden. Doch seine Glücksgefühle waren wie weggeblasen.
'Es fängt wieder an', dachte er, als er konzentriert den Weg nach Hause einschlug.

Doktor psych. Lars Stein. Das stand auf der kleinen Tür zur kleinen Praxis des kleinen,
unwichtigen Psychoanalytikers, welcher ich bin. Ich meine, es ist ja nicht so, dass ich mich
darüber wundere - ein Psychologe hat in einer Kleinstadt, wie Messing eine ist, nun mal
keine Chance. Hätte ich eine Praxis in Frankfurt, würde alles wohl viel besser laufen, doch
Frankfurt ist nahezu überfüllt von Psychologen, oder doch zumindest sozialer
Beratungsstellen, das nimmt beinahe schon amerikanische Ausmaße an. Irgendwo habe
ich mal eine Studie gelesen, in Amerika gäbe es mehr Psychoanalytiker, als Postboten.
Wieviel daran dran ist, kann ich nicht sagen, aber ich weiß doch zumindest, dass die
Frankfurter Umgebung zwar genug davon hat, aber besonders die Menschen, die Leute,
wie mich brauchen, nicht zu uns gehen. Frankfurt ist eine der verbrechensreichsten Städte
Deutschlands, noch vor Berlin, doch ich höre von Kollegen nur, dass sie sich mehr um
besorgte Eltern pubertierender Kinder mit Piercings und Haaren vor den Augen kümmern
müssen, als um die wirklich "schweren Fälle". Immerhin damit kann ich punkten. Ich habe
zwar ebenfalls mehr gesunde Menschen behandeln müssen, als Leute mit wirklich
geistigen Problemen, aber ein Fall wird mir doch immer in Erinnerung bleiben.
Es mag viele schlafwandelnde junge Menschen geben, doch Markus Kuhn war
irgendwie... anders. Man kann es nicht anders beschreiben, denn ich weiß bis heute
nicht, wo eigentlich das Problem lag. Meine Vermutung, dass der fünfzehnjährige wegen
der Trennung seiner Eltern in eine depressive Phase geraten ist, konnte nicht bestätigt
werden. Er war immer guter Laune, erzählte mir von seinem Leben, seinen Problemen in
seiner Klasse und von seinen wenigen Freunden. Er war ein typischer Außenseiter,
entwicklungstechnisch etwas zurück, aber intelligenter, als viele andere seines Alters. Der
Junge war guter Laune und hatte nie jemandem etwas getan. Doch war er freiwillig zu mir

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gekommen, da er dachte er würde verrückt werden.
Er erzählte mir, dass er abends normal ins Bett gegangen wäre, doch am nächsten
Morgen wachte er irgendwo in der Umgebung seines Heimatortes Leinberg auf. Einmal
sogar hat er es vollbracht hier im 12km entfernten Messing aufzuwachen, komplett
angezogen, inmitten des städtischen Parks unter einem Baum. Der Junge war wohl einer
der härtesten Fälle von Somnambulismus, die mir bekannt sind.
Wie genau sich das Problem schließlich auflöste, ist mir bis heute ein Rätsel. Es hörte
einfach von einen auf den andern Tag auf. Einfach so, ohne auch nur irgendeine Art von
Ergebnis oder Fazit, mit dem ich mir es hätte erklären können. Meine Psychoanalysen
liefen ins Leere, ich kann mir weder erklären, weswegen der Junge schlafwandelte, noch
wieso er es urplötzlich wieder sein lies.
Die ganze Sache ist nun vier Jahre her, doch noch immer rätsle ich, was dem Jungen
gefehlt haben könnte. Oft lese ich mir noch einmal die alten Unterlagen durch, nur um
wieder einmal vor der unmöglichen Aufgabe zu stehen, den Sinn zu erfassen.
Markus war kein typischer Fall von Somnambulist, also dem Schlafwandel, welcher in den
Tiefschlafphasen des Schlafes eintritt, allerdings konnte man ihn auch nicht zu den an
REM-Parasomnie Erkrankten zählen. Das typische Schlafwandeln ist nicht mehr, als das
plötzliche Erwachen mitten im Schlaf, was jeder Mensch einmal nachts erlebt, nur eben
ohne wirklich zu erwachen. Der Körper stellt sich aufs Erwachen ein, also durchblutet die
Muskeln und stellt sich darauf ein sie verwenden zu können, indem er die nötigen
Hirnsektoren animiert. Allerdings wacht der Betroffene nicht auf, weswegen er sich
lediglich bewegt und Aktionen vollzieht, welche das Gehirn routiniert ausführen kann, ohne
dass der Schlafwandler wach sein muss. Markus hatte sicherlich keine Routine darin
durchs Feld in die Nachbarstadt zu laufen und das auch noch nachts.
Die zweite Möglichkeit wäre die REM-Parasomnie, also das Schlafwandeln in
Traumphasen. Hier handelt der Betroffene, wie er auch im Traum handelt, da der Körper
aus irgendeinem Grund unfähig ist, den Körper auf die Schlafphasen vorzubereiten, also
die Muskulatur zu entspannen. Solche Leute tendieren dazu wild um sich zu schlagen,
nicht aber durch die Gegend zu laufen. Außerdem können sie sich oft an ihre Träume
erinnern und so Verbindungen zu realem Handeln herstellen, wenn man ihnen davon
berichtet. Anders als das Schlafwandeln, dauert die REM-Parasomnie nicht länger als
einige Minuten, da danach der Schlafende bereits in eine Tiefschlafphase fällt.
Markus musste mehrere Stunden nächtlich schlafgewandelt haben, konnte sich weder an
etwas erinnern, noch Verbindungen zu Träumen herstellen. Er berichtete mir sogar davon,
gar keine Träume gehabt zu haben, was selbst bei normalen Schlafwandlern unnatürlich
wäre.
Was also war das Geheimnis des Jungen? Weshalb hörte das Problem urplötzlich auf, als
hätte es nie existiert?
Telefonklingeln. Wie immer wenn ich in den tiefsten Gedanken bin! Widerwillig streckte ich
mich aus, um nach dem blauen Hörer am anderen Ende des Schreibtisches zu greifen.
"Psychologische Praxis und Beratungsstelle, Doktor Stein. Was kann ich für sie tun?",
brummte ich in die Muschel.
"Ähm... Lars? Ich bin's Markus...", ertönte es aus dem Hörer. Markus? Na, wenn das kein
Zufall war!
"Markus! Wie geht es dir? Schön von dir zu hören."
Einen Moment herrschte tiefe, erdrückende Stille in der Leitung, dann sagte Markus:
"Lars, ich muss mit dir reden. Ich brauche einen Termin oder?"
Verdutzt blickte ich auf meinen Kalender. Er war so gut wie leer. Wie hätte es auch anders
sein können, in diesem Kaff.
"Du kannst gerne morgen nach der Schule vorbeikommen, da sieht es bei mir recht gut

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aus. Worum geht es denn?"
Wieder einige Momente der Stille. Anscheinend hatte Markus Angst. Angst vor mir, Angst
vor dem, was er mir gleich sagen würde oder Angst vor der Behandlung. In jedem Fall war
es ihm sehr unangenehm mit mir zu telefonieren.
"Ich möchte ihnen das morgen sagen, in Ordnung? Ich muss selbst erst nachdenken.
Vielleicht ist es ja nichts."
"Hm nun gut. Du kannst immer gerne vorbeikommen, das weißt du doch. Ich freue mich
darauf, dich einmal wiederzusehen, immerhin ist es eine halbe Ewigkeit her, seitdem wir
uns das letzte Mal sahen, nicht war?"
Diesmal kam die Antwort sofort, auch wenn sie nicht so aussah, wie ich es mir erhofft
hatte.
"Lars, ich kann jetzt nicht reden, meine Mutter kommt gerade zur Tür rein. Bis dann."
Die letzten Worte kamen geflüstert. Anscheinend gab es noch immer einige Probleme
daheim, aber das werde ich ja mit Sicherheit morgen erfahren.
Noch bevor ich etwas erwidern konnte, hörte ich bereits das Freizeichen des Telefons.
Einfach aufgelegt. Ich fragte mich weswegen Markus sich nach all der Zeit wieder
meldete. War etwas vorgefallen? Es blieb nur abzuwarten.
Ich hasse Überraschungen.

Markus legte das schlichte graue Schnurlostelefon auf die Komode, auf der es immer lag,
wenn es nicht gerade auf der Ladestation stand.
"Hi Mama!", rief er zur Eingangstür vor und lief hinaus in den Flur.
Mit einem lauten Seufzen ließ seine Mutter die Einkaufstüten auf den Boden herab und
fing an sich die Schuhe auszuziehen. Ohne ein weiteres Wort nahm Markus eine der
beiden gelben Tüten und fing an den Inhalt in den Kühlschrank zu räumen.
"Hast du deine Hausaufgaben schon gemacht?", fragte seine Mutter, obwohl sie genau
wusste, dass er sie sowieso bereits gemacht hatte.
"Ja, natürlich", antwortete er dennoch pflichtbewusst und knäulte die leere Tasche zu
einem kleinen Ballen zusammen, welchen er mit gekonntem Wurf im Plastikmüll
verschwinden ließ, wonach er sich der anderen Tasche zuwandte.
Er half freiwillig so gut er nur konnte, auch wenn seine Mutter dies eher als eine Art
Selbstverständlichkeit ansah, für die es keinen Lob bedurfte. Er hatte sich damit
abgefunden, dass alles nun anders lief, seit dem sein Vater nicht mehr da war. Seine
Mutter wurde zunehmend launischer die letzten vier Jahre, doch meistens hielt es sich auf
einem gesunden Niveau, mit dem er durchaus zurecht kam. Er war schließlich keine
Heulsuse, dazu hatte er ein zu dickes Fell aufgebaut.
Anders als die meisten anderen Jugendlichen, deren Eltern sich trennten, hatte er die
seelische Belastung mit einem ausgereiften Humor und Optimismus verarbeitet. Wenn es
gerade schlimm war, dann hieß das ja, dass es nur noch besser werden könnte. Und wie
es das Schicksal wollte, wurde es besser. Langsam zwar, aber es wurde besser. Er
gewöhnte sich daran, dass er nun Herr Kuhn war, dass er nun der Herr im Haus war. Er
gewöhnte sich daran, dass seine Mutter sich nicht daran gewöhnte und den gegenteiligen
Weg einschlug, mit dem Verlust fertig zu werden. Markus war ein Meister darin geworden,
sich an etwas zu gewöhnen.
Angefangen hatte ja alles schon in der Grundschule. Man hatte ihn gehänselt und ab und
an auch verprügelt. Er war immer den Launen seiner Mitschüler ausgesetzt gewesen, aber
daran hatte er sich irgendwann gewöhnt und antwortete darauf in seiner Art: Mit Humor.
Als ihn eines Nachmittags nach der Schule wieder ein Junge schlagen wollte, lachte er ihn

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einfach aus. Er lachte ihn wegen seiner Unwissenheit, wegen seiner Schwäche aus. Ein
Mensch, der sich nur schlagend zu verständigen weiß, ist kein starker Mensch. Darum
lachte Markus. Das hielt zwar die Schläge nicht ab und den Schmerz auch nicht, im
Gegenteil: Der Hohn stachelte den Schläger ja geradezu an. Doch es war das letzte Mal
gewesen, dass man ihn geschlagen hat. Markus konnte es sich leisten immer mit einem
Grinsen im Gesicht umherzulaufen - das schreckte komischerweise ab. Es war beinahe
schon so, dass man langsam aber sicher Respekt vor ihm bekam, vielleicht sogar Angst.
Markus machte sich nie etwas vor. Er wusste, dass man ihn in der Klasse für verrückt
hielt. Doch was gab es für eine bessere Tarnung, als den Irren zu spielen? Was gab es für
einen besseren Schutz?
Das Gehänsel hörte natürlich nicht auf, es nahm eher zu. Doch es machte Markus nichts
mehr aus. Er hatte sich daran gewöhnt ein Außenseiter zu sein.
"Mensch, das ist haltbare Milch, die kommt nicht in den Kühlschrank. Bleib mal bei der
Sache", fuhr ihn seine Mutter an. Er ließ nur einen Seufzer heraus und stellte die Packung
H-Milch an den richtigen Platz.
So war sie eben, seine Mutter Sarah Kuhn. Er lächelte. Sarah, die Herrschende. Ja das
passte.

Müde ließ ich mich in mein Bett plumsen. Fallen wäre nicht wirklich der richtige Ausdruck,
da es eher so eine Art fehlgeschlagenes Hinsetzen war, was ich eben vollbracht hatte.
Plumsen eben.
Der Tag war nicht wirklich arbeitsreich gewesen, doch Langeweile strengt meist mehr an,
als wirklich harte Arbeit. Und es ist unbefriedigende Anstrengung. Hat man etwas geleistet,
so ist man wenigstens aus gutem Grund erschöpft und kann stolz einschlafen. Doch
dieses lästige Nichtstun! Die Auftragsknappheit bring mich nicht nur finanziell in den Ruin,
eigentlich müsste ich mich ja schon selbst therapieren. Die Zeit im Büro verbringe ich mit
der Suche nach Kunden, indem ich bei Beratungsstellen nach den schwereren Fällen
frage, oder - wenn ich ganz verzweifelt bin - bei kundenreicheren Kollegen aus der
Umgebung oder gar Internet-Foren, in denen ich mich nach potentiellen, psychisch
kranken, Kunden umsehe.
Eigentlich müsste Psychologe der einzige wirklich sichere Job sein, da jeder Psychologe
irgendwann selbst einen Therapeuten benötigt und dieser wiederum einen weiteren und
so weiter. Die Kette müsste sich eigentlich unendlich fortsetzen und jeder von uns hätte
Arbeit. Scheinbar wurde ich übersehen und ausgelassen...
Ein hysterisches Lachen entsprang meinem Mund. Ein depressiver Psychologe! Na
fantastisch, kein Wunder, dass ich keine Aufträge mehr bekomme. Als Psychologe konnte
ich schon keine Arbeit finden und als Therapeut fehlen mir die Kunden. Wie soll das alles
nur weiterlaufen? Habe ich hierfür etwa studiert?
Nein! Ich darf mich nicht aufgeben. Ich weiß warum ich diesen Beruf gewählt habe und
warum es immer die beste Wahl gewesen war: Mein Herz schlägt für die Psychologie, ich
liebe diese Tätigkeit!
Mein Traum war es schon immer gewesen, Leuten zu helfen, die mit sich und der Welt
nicht mehr zurecht kommen. Schon als Jugendlicher half ich Freunden dabei nicht in die
typische Jugend-Depression zu verfallen und sich selbst aufzugeben. Ich bin dabei vielen
in Erinnerung geblieben und wir pflegen noch heute gute Freundschaften. Bei einigen
jedoch haben sich die Wege getrennt, doch ich weiß, dass ich auch ihnen ein klein wenig
den Weg ebnen konnte damals.
Ich verlange keinen Ruhm, keine Dankesworte, ja man muss nicht einmal wahrhaben

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wollen, dass meine Hilfe nötig war. Es reicht mir das Gefühl ein klein wenig zum Glück der
Menschen beigetragen zu haben, denn diese Menschen wiederum helfen anderen
Menschen und so fort. Es entsteht ein Lauffeuer des gegenseitigen Glücklichmachens.
Eine heimliche und friedliche Revolution des Helfens.
So zumindest sollte es ablaufen.
Anscheinend war die Menschheit nicht bereit sich helfen zu lassen. Sie krepiert lieber
langsam und einsam vor sich hin. Jeder stirbt für sich alleine und auch die Menschheit als
Ganzes bildet da keine Ausnahme. Ich mag möglicherweise pessimistisch klingen, doch
ich bin mir sicher, dass die Menschheit nicht mehr lange in dieser Form weiterleben kann
und wird. Es würde bald zu Ende gehen.
Mühsam richtete ich mich auf und klappte den Kalender auf meinen Nachttisch um. April.
Ein weiterer Monat ohne Kundschaft. Ein weiterer Monat ohne ausreichend Geld. Ein
weiterer Monat ohne Hilfe.
Doch es sollte der letzte Monat mit diesen Problemen sein. In wenigen Tagen sollte alles
anders werden. Ich ahnte nichts davon. Alles würde anders werden. Doch nicht besser -
nein. Viel schlimmer.
Doch davon konnte ich noch nichts ahnen, davon hatte ich absolut nichts geahnt.
Ich knipste also das Licht aus und drehte mich auf die Seite, um einzuschlafen. Meine
Gedanken schwebten um Markus und seinen Anruf am Nachmittag. Würde mir Markus'
Problem vielleicht helfen, wieder eine optimistischere Meinung über mein Leben zu
bekommen? Es blieb nur abzuwarten.
Ich hasse Überraschungen.

Der Schulbus war mal wieder gerammelt voll. Hätte Markus nicht Glück und würde bereits
in einer der ersten Haltestellen einsteigen, würde er nie einen Sitzplatz bekommen, denn
bereits nach der dritten Haltestelle, sind alle voll belegt und kreischende Mittelstufler
drängen sich dicht an dicht zwischen müden Gymnasiasten herum.
Ein junges Mädchen, vielleicht 15 Jahre alt, saß neben Markus und versuchte im
Gewackel des Busses noch schnell die Hausaufgaben zu machen. Mathematik schien
nicht ihre Stärke zu sein, denn sie kritzelte verzweifelt irgendwelche kryptischen Zeichen
an den Heftrand, als ihr die Lösung nicht einfallen wollte.
"3x+12 ist es in dieser Zeile rechts", half Markus nach.
Verdutzt, dass dieser fremde Junge, sie angesprochen hatte, sah das Mädchen hoch und
überlegte eine Zeit ob sie ihm danken sollte oder nicht. Da saß neben ihr dieser blonde
Junge mit den beinahe grünen Augen und sprach sie einfach an. Ohne Vorwarnung! Das
Mädchen war nicht wirklich schüchtern, aber es war ihr dennoch unangenehm mit
Fremden zu sprechen. Sie wusste selbst nicht wo das Problem lag, aber wer kennt schon
die Gründe für seine Ängste?
Schließlich bezwang sie ihren inneren Drang, einfach wegzusehen und den Jungen zu
ignorieren, und presste ein leises "Danke" heraus. Sie konnte ihm nicht in die Augen
sehen, das regte sie am meisten auf. Dabei waren seine Augen das schönste an ihm. Den
kurzen Moment, in dem sie ihn die grün-blauen Seen geblickt hatte, hatte sie sich fast
darin verloren. Seine Augen schienen tief zu sein, wie unergründliche Ozeane, so
mysteriös und geheimnisvoll, wie ein altes Buch. Und so traurig. Seine Augen sahen weise
und zugleich traurig aus, wie als wären sie die Augen eines alten Mannes, der bereits die
Schrecken des Lebens hinter sich hatte, und nicht die eines Heranwachsenden.
Schnell schrieb sie die Lösung neben das Gleichzeichen, doch sie konnte sich einfach
nicht mehr konzentrieren. Gerade wollte sie das Heft wegpacken, als ihr der Junge einfach

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den Stift wegnahm.
"Was soll denn das? Schau mal, du bist noch gar nicht fertig", sagte er zu ihr und fing an
die letzten beiden Zeilen der Gleichung unter ihr Gekritzel zu schreiben. Seine Handschrift
war die eines typischen Jungen: Viel zu eng, aber auch viel zu groß. Aber er war vielleicht
auch einfach nur müde.
Wortlos ließ sie ihn die beiden Zeilen ergänzen und nahm den Stift wieder entgegen, als
der Junge fertig war.
"Danke... wirklich danke", sagte sie nun etwas lauter und konnte sich sogar zu einem
Lächeln in seine Richtung zwingen.
Markus sah das lächelnde Mädchen neben sich irritiert an. War sie schüchtern? Oder war
er einfach zu spontan vorgegangen? Er hatte ihr lediglich bei den Hausaufgaben helfen
wollen und sie verhielt sich, als hätte er sie gerade nach ihrer Handynummer gefragt.
Ihr Lächeln war echt, zwar erzwungen, aber dennoch nicht gespielt. Es war ein schönes
Lächeln.
Doch Lenas Lächeln war schöner. Lenas Lächeln war das schönste Lächeln überhaupt.
Mit diesem Gedanken im Kopf musste er auch Lächeln. Das Mädchen packte nun ihre
Schulsachen in den Rucksack, also war das kurze "Gespräch" damit beendet.
Markus sah aus dem Fenster des Schulbusses und erkannte, dass er gleich an Lenas
Haltestelle ankam.
Und da war sie. Braunes Haar, schulterlang, braune Augen, hell wie Haselnüsse, und mit
einem rosa Pullover. Rosa... Markus verzog unvermeidlich das Gesicht. Nun gut, sie war
ein Mädchen und Mädchen tragen nun mal rosa.
Er versuchte durch Blicke ihre Aufmerksamkeit zu erregen, doch Lena war scheinbar zu
müde, denn sie hielt sich einfach nur mit gesenktem Kopf an einer der Haltestangen fest
und wartete bis der Bus weiterfuhr.
Noch zwei Haltestellen und er würde das kleine Leinberger Gymnasium erreichen. Markus
hoffte er würde Lena dort nochmal alleine und in Ruhe treffen.
Und das Mädchen neben ihm war glücklich, denn der hübsche Junge neben ihr hat ihr
Lächeln erwidert.
Als der Bus schließlich im kleinen Busbahnhof der Schule zum Stehen kam und all die
Schüler sich, wie Senf aus der Tube, aus dem Bus quetschten, versuchte Markus noch
einmal Lena zu erreichen, doch sie konnte als eine der ersten aus dem Bus aussteigen,
während er selbst erst viele andere aussteigen ließ, bevor er selbst aus dem Bus kletterte,
deswegen war sie schon weg.
Einen kurzen Moment wurde ihm schwindelig, als er aus dem warmen Bus in die noch
frische Luft des jungen Frühlings stieg. Als er sich wieder gefasst hatte, ging er in Richtung
Schulgebäude.
Schon von weitem sah er die beiden ungleichen Gestalten beisammen stehen und wild
gestikulieren. Anscheinend waren sie mitten in einen Streit vertieft.
Markus musste lächeln. Seine beiden besten Freunde, Alex und Max, hatten wohl nicht
viel mehr als den letzten Buchstaben ihres Vornamens gemeinsam. Alex war ein typischer
Computerfreak, der anscheinend jeden Vorurteil über diese voll zu erfüllen versuchte. Er
war leicht übergewichtig, machte meist einen verwirrten Eindruck und hatte leicht nach fett
glänzende dunkelbraune Haare. Lediglich die Brille fehlte, aber wer ist schon perfekt?
Max war das genaue Gegenteil von Alex: Schlank, sportlich und ein klein wenig
beschränkt. Er verstand viel von Automechanik und könnte alle Bundesligaergebnisse der
letzten zehn Jahre auswendig aufzählen, doch mit Computern und Elektronik und so Zeug
konnte man ihn jagen. Alex dagegen würde am liebsten sofort die Schule schmeißen und
eine eigene Softwarefirma aufmachen, wenn man ihn ließe.
"Morgen, ihr beiden!", begrüßte Markus seine beiden besten Freunde, mit einen breiten

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Grinsen im Gesicht.
Alex kratzte sich erschrocken am Hinterkopf und antwortete: "Morgen, Markus... Wie geht
es dir?"
Max dagegen nutzte die willkommene Ablenkung erstmal um Luft zu holen. Anscheinend
war der Streit ziemlich heftig gewesen. Und Markus hatte auch schon eine Ahnung, worum
er gehandelt hatte.
"Also mir geht es gut und euch?", fragte Markus und legte entspannt die Arme hinter den
Kopf.
Max war es, der diesmal das Wort ergriff: "Also mir geht es gut. Wie geht's Lena?"
Ha! Er hatte es doch gewusst, worum die beiden sich gestritten hatten!
"Lena geht es gut, auch wenn sie vorhin etwas müde wirkte", erklärte Markus mit einem
Zwinkern.
Max stieß einen verächtlichen Laut aus und verschwand Richtung Schulgebäude.
Alex sah ihn mitleidig an.
"Tut mir Leid", versuchte er sich für Max zu entschuldigen, "Er glaubt noch immer, dass du
uns auf den Arm nehmen willst oder einfach nur angeben willst. Ich meine... du und ein
Mädchen wie Lena! Das wäre ja fast, wie wenn AMD und Intel zusammenarbeiten
würden!"
"Ist gut, du Held!", lachte Markus auf. Die beiden hatten ja recht. Wüsste er es nicht
besser, würde er es ja selbst nicht für wahr halten. Aber er wusste, wen er gestern Abend
geküsst hatte. Er wusste, wen er gestern Abend mehr als nur geküsst hatte. Er wusste,
wer heute nur allen Grund dazu hatte müde zu sein.
Und er wusste auch, was gestern Abend auch passiert ist, dass er plötzlich im Wald stand,
dass er sich gefühlt hatte, wie als wäre er aus einem Traum aufgewacht. Wie damals...
"Komm, lass uns reingehen, es klingelt sowieso gleich", schlug Alex vor.
Markus nickte nur kurz, nachdem er aus seinen Gedanken gerissen worden ist.
Zusammen mit Alex ging er nun auch in die große Aula und dann die Treppe nach oben.
Er hatte jetzt Englisch und somit im dritten Stock Unterricht.
Lena stand im zweiten Stock in der Tür zum Treppenhaus und wartete mit ihrer Klasse auf
ihren Lehrer. Markus warf ihr ein allerliebstes Lächeln zu und Lena erwiderte es müde. Ja
sie war sein. Lena war seine Freundin.
"Achja, sag mal, mit wem hast du eigentlich da draußen vorm Bus geredet?", fragte Alex
plötzlich.
"Wie? Ich habe mit niemandem geredet", stellte Markus verwirrt fest.
"Natürlich. Da war doch dieser Typ mit dem grauen Mantel. Er hat etwas zu dir gesagt,
oder nicht?"
Grauer Mantel? Da war kein Mann im grauen Mantel gewesen!
"Egal, vergiss es.", meinte Alex beleidigt, als Markus keine Anstalten machte zu antworten.
Plötzlich war da wieder dieses Schwindelgefühl. Das gleiche Schwindelgefühl, wie gestern
Abend in der Straße.
Das gleiche Schwindelgefühl, wie vorhin am Bus.

Mittagszeit. Immer das gleiche. Ich saß hier auf meinem Sessel und sah mir das Kind
gegenüber auf dem anderen Sessel an. Nunja, eigentlich war das Mädchen schon 15,
aber irgendwie erschien sie mir, trotz ihrer Versuche erwachsen zu wirken, noch immer
wie ein Kind. Vielleicht machte gerade das ein Kind aus: Erwachsen wirken zu wollen.
"Wann hast du das letzte Mal Alkohol getrunken?", fragte ich und fing mir einen entsetzten
Blick der Mutter ein.

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"Mein Kind hat natürlich noch nie Alkohol getrunken! Wie kommen sie darauf, so etwas ein
15jähriges Mädchen zu fragen?", warf mir die Mutter an den Kopf.
"Hören Sie... Ich versuche mich mit Ihrer Tochter zu unterhalten und dabei stelle ich eben
auch solche Fragen. Ich habe Ihnen angeboten dabeizusein, doch, wie Sie sich sicher
erinnern werden, unter der Auflage, dass sie sich aus dem Gespräch heraushalten! Da Sie
dies nicht einsehen möchten, muss ich sie leider bitten draußen zu warten.", erklärte ich
ihr, so ruhig ich kann. Es ist immer das gleiche: Eltern schleifen ihre Quälgeister zu mir,
damit ich aus den Rabauken wieder gehorsame Züchtlinge mache, aber lassen mich dann
nicht meine Arbeit machen. Ein Psychologe ist kein Wunderheiler, der einfach so in die
Köpfe der Leute sieht und ihnen dann sagt, was sie falsch machen und wie sie wieder ein
wunderbarer Durchschnittsmensch in unserer wunderbaren Gesellschaft werden.
Psychologe ist einfach nur ein Job, wie jeder andere. Er hat nur einen schlechten Ruf,
dabei hätten verdammt viele Menschen dort draußen einen nötig. Es ist, wie als wären
sich die Leute zu schade einen Klempner zu bestellen, wenn die Toilette verstopft ist. Es
wäre eine Sache von einem Tag und jeder kann wieder ohne Angst, dass alles überläuft,
sein tägliches Geschäft erledigen. Viele hätten es nötig. Aber ganz bestimmt nicht die
Kleine hier vor mir.
"Was fällt Ihnen eigentlich ein?! Komm Christine, wir gehen!", fauchte die Mutter herum.
Ich hatte kurze Zeit das Gefühl kleine Flämmchen aus ihrem Mund herausschießen zu
sehen.
Irritiert stand die Tochter auf und folgte Gehorsam ihrer Mutter. Das war wahrscheinlich
das erste Mal, seit einigen Monaten, dass die Tochter einen Befehl ihrer Mutter befolgt
hatte.
"Sie haben für zwei Stunden bezahlt. Bisher haben wir erst 20 Minuten Zeit gehabt uns
kennenzulernen. Lassen Sie mich bitte meine Arbeit machen.", versuchte ich die Situation
zu retten, doch bekam von der Mutter nur den Blick des Todes zu sehen. Christine blieb
allerdings stehen und sah mich verschüchtert an. Das passte so überhaupt nicht zu dem
restlichen Aussehen. Gefärbte Haare, wenigstens fünf verschiedene Farben, säumten
ihren Kopf. Das Piercing in ihrer Lippe war mit Sicherheit nicht mit Erlaubnis ihrer Eltern
entstanden. Es sah noch relativ frisch aus und ich hatte so das Gefühl, dass sie sich das
selbst gestochen hat. Das einzige was mich wunderte, war dass ihre Mutter ihr das noch
nicht herausgerissen hatte. Möglicherweise erwartete sie, dass ich das für sie erledige.
"Christine, setz dich doch wieder", schlage ich dem Punk-Girl vor. Mit ausdruckslosem
Gesicht setzt sich das Mädchen wieder auf den Sessel.
"Was machen Sie da? Sie sollen dem Kind eintrichtern, mir wieder zu gehorchen und ihm
nicht noch gut zureden, meine Anweisungen zu ignorieren!", wirft mir die Mutter schreiend
vor.
"Möchten Sie sich einmal hier zu mir auf die Couch setzen? Anscheinend haben sie ein
Aggressionsproblem zu bewältigen.", entgegne ich nur.
Ohne ein weiteres Wort verlässt sie den Raum.
Christine sieht mich verwirrt an. Ich glaube sie überlegt gerade, ob sie sich bedanken oder
besser ihrer Mutter hinterherlaufen sollte.
"Also gut... Es tut mir Leid, Christine. Ich hoffe das verschlimmert deine Beziehung zu
deiner Mutter nicht noch zusätzlich."
Sie sieht mich überrascht an und lächelt.
"Ach was. Sie haben die Schlampe ja gesehen, wie die abgegangen ist! Ich bin ja ein so
schlechtes Kind! Ich kotze noch, wenn ich das höre!", entgegnete sie und ich muss mich
erstmal wieder an den typischen Jugendslang anpassen.
"OK... kannst du mir nun die Antwort auf meine Frage vorhin geben?"
"Wann ich das letzte Mal gesoffen habe? Vorgestern mit so'n paar Punks auf'm

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Kirchplatz!", entgegnete sie gelangweilt.
"Trinkst du da öfter mit deinen Freunden?"
"Naja, meine Alten kriegen das ja nicht mit. Die interessiert ja nicht, was ich mache oder
so. Denen ist doch eh scheißegal was aus mir wird!"
"Wie kommst du darauf, dass ihnen das egal ist?"
"Ey, das Arschloch von Erzeuger säuft den ganzen Tag nur und hängt am Ende nur wieder
bekifft vor der Klotze 'rum und schaut sich Pornos an. Meine Alte kriegt das net mit, die
ignoriert das einfach. Die is' nur immer dabei mich fertigzumachen, mir zu sagen, was für
'ne Schlampe ich doch wär, nur weil ich schon wieder mit 'nem Kerl im Bett lieg! Was is'
schon dabei? Andere machen das doch auch, aber die Schlampe rafft das einfach nicht!"
"Hey hey, nur sachte. Bitte, versuch wenigstens ein bisschen die Gewaltausdrücke zu
vermeiden, ok?", versuchte ich sie zu beruhigen. Langsam nahm das Ganze etwas
Überhand.
Als Antwort verschränkte sie nur die Arme und nahm eine Sitzposition ein, bei der ich gar
nicht anders konnte, als auf das riesige Loch in ihrer roten Strumpfhose zu starren,
welches an der Innenseite ihres Oberschenkels, ganz knapp vor wichtigen Stellen,
hervorstach.
Als ich ihr Lächeln bemerkte, wandte ich schnell meinen Blick wieder meinen Unterlagen
zu. Bisher hatte ich nichts erreicht bei dem Mädchen. Was sie mir erzählte, war vielleicht
ein Teilchen des Problems, was sie mit ihren Eltern hatte, aber da war mit Sicherheit noch
viel mehr. Nur um da heranzukommen, musste ich ihr Vertrauen gewinnen. Und ich hatte
sogar schon eine Idee, wie ich ihr Vertrauen gewinnen konnte.
"Du hörst Punk-Musik, richtig? Wie heißt deine Lieblingsband?", versuchte ich sie aus der
Defensive zu locken.
"Terrorgruppe und natürlich Wizo", warf sie mir zu, in dem Glauben, so ein alter Sack, wie
ich, würde mit den Namen sowieso nichts anfangen können.
"Wizo war durchaus eine klasse Band. Ich habe früher aber immer viel Slime gehört. Sagt
dir das noch was, oder bist du aus dieser Epoche heraus?"
Mit einem Mal konnte ich ihre Mandeln sehen. Ihre Kinnlade fiel einfach herunter, als wäre
dies das Letzte gewesen, mit dem sie gerechnet hatte: Ein Psychiater, der Punk hört!
"Sie... sie hören Punk?", fragte sie verwirrt und unüberzeugt.
"Oh ich höre eigentlich jegliche Art von Rock. Ich bin mit Punk, aber auch mit Heavy Metal
aufgewachsen und höre auch heute noch sehr viel Gitarrenmusik jeglicher Art. Hat dich
dies überrascht?"
"Aber hallo!", stieß sie überrascht aus. Ich hatte sie beeindruckt, das war ein guter Anfang.
Ich wollte gerade einen weiteren Trumpf ausspielen, da klingelte das Telefon.
"Entschuldige kurz", sagte ich zu ihr und nach einem kurzen Nicken ihrerseits, nahm ich
den Hörer ab.
"Psychologische Praxis und Beratungsstelle, Doktor Stein. Was kann ich für sie tun?"
"Lars, ich bin's Markus. Hast du nachher Zeit?", höre ich den Jungen mit beruhigter
Stimme durchs Telefon.
"Natürlich, für dich immer. Ich bin hier wohl in etwas mehr als einer Stunde fertig. Sagen
wir so gegen... sechzehn Uhr? Passt dir das?"
"Ja, das ist gut. Ich bin dann also gegen sechzehn Uhr in deiner Praxis."
"Fein. Bis dann!"
"Bis dann"
Mit einem seltsamen Gefühl im Magen legte ich den Hörer zurück auf die Station. Hatte
Markus all die Zeit in den letzten vier Jahren sein Problem nur verdrängt? Hatte er nun
endlich die Grenze zwischen Verdrängung und Erkenntnis überschritten? Vielleicht konnte
ich nun etwas für ihn tun.

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"Soll ich vielleicht etwas Musik anmachen? Da kann man sich doch viel besser
unterhalten, meinst du nicht?", fragte ich das Mädchen.
Christine nickte und ich legte eine CD in meine kleine Anlage in der Praxis. Mein zweiter
Trumpf war damit ausgespielt. Jetzt lag es an ihr, sich mir zu seelisch zu öffnen. Nur so
könnte ich ihr helfen, wenn es denn überhaupt ein Problem gab.

Zweiter Teil: Erkenntnis

Die Sonne schien. Der Himmel war wolkenlos und es schien noch ein toller Nachmittag zu
werden. Es war sogar recht warm für diese Jahreszeit.
Markus steckte das Handy in die Hosentasche, ging aus dem Schulgebäude heraus und
sah sich um. Überall liefen Schüler in Grüppchen Richtung Ausgang der Schule. Max und
Alex waren nirgends zu sehen, also ging Markus alleine den Weg herunter zu den
Bushaltestellen. Ein kurzer Blick auf die Uhr sagte ihm, dass er noch mehr als eine Stunde
Zeit hatte, bis er bei Lars sein musste. Er hatte also mehr als genug Zeit nach Hause zu
laufen und von dort mit dem Bus in den Nachbarort zu fahren.
Als er schon einige Meter vom Schulgelände entfernt war, hörte er plötzlich Schritte hinter
sich.
"Hey, Süßer!", rief ihm eine junge Frauenstimme zu. Keuchend tauchte Lena neben ihm
auf.
"Hey, Schatz", grüßte Markus fröhlich und gab seiner Freundin einen Kuss.
"Wie geht es dir denn heute?", fragte er frech grinsend, "Du sahst vorhin etwas müde
aus."
Lena legte seitlich einen Arm um seine Hüfte und flüsterte ihm zu: "Nach dem was du
gestern Abend mit mir gemacht hast, ist das doch nicht weiter verwunderlich, oder?"
Markus lachte fröhlich und legte nun ebenfalls einen Arm um ihre Hüfte. Es war ein tolles
Gefühl, sie so nah bei sich zu haben.
Normalerweise war Markus die Nähe zu Menschen immer etwas unangenehm, aber bei
Lena war dies etwas anderes. Es war nicht das typische Gefühl, dass einem ein
Stückchen Freiheit gestohlen und die Privatsphäre eingeschränkt würde. Mit Lena war
dies ein wunderbarer Moment und ein wunderbares Gefühl, was sie beide teilten, kein
Verlust von Freiheit oder dergleichen. Es war perfekt.
"Tja. Naja, wenigstens haben wir heute erstmal Zeit uns zu erholen", stellte Markus fest.
"Warum?", wollte Lena wissen, "Was machst du denn heute? Treffen wir uns nicht?"
"Vielleicht später, aber erstmal muss ich in einer Stunde zu einem alten Freund von mir
fahren", erklärte Markus.
"Was ist das denn für ein Freund? Kenn' ich den?"
Markus lächelte.
"Ich glaube nicht. Immerhin habe ich ihn vier Jahre lang nicht gesehen. Und damals
kannten wir uns ja noch nicht so gut."
"Das ist wahr... erzähl mir was von diesem Freund", verlangte Lena aufgeregt, "Es ist doch
ein Kerl oder? Nicht, dass du dich heimlich mit andern Mädchen triffst!"
Markus lachte erneut auf.
"Nein, Schatz. Es ist nur mein alter Psychologe, keine heimliche zweite Freundin!"
Plötzlich löste sich Lena aus ihrer seitlichen Umarmung.

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"Psychologe? Wie bitte?"
"Hey, nicht gleich falsch verstehen. Mir geht es gut!", erklärte Markus beruhigend, "Mach
dir keine Sorgen."
"Okay. Aber das erklärst du mir noch, ja?", sagte Lena zweifelnd.
"Klar. Vielleicht schon heute Abend", schlug Markus erleichtert vor. Er hatte keine Lust jetzt
über alte Zeiten zu reden. Er hatte gerade so gute Laune.
Während sie zu Lenas Haus liefen, unterhielten sie sich über alle möglichen Dinge, die sie
am Tag erlebt hatten. Es war wieder mal ein Lehrer krank gewesen und Lena hatte eine
Chemie-Klausur zurück (10 Punkte). Außerdem war ein Mädchen aus Lenas Klasse jetzt
schon eine ganze Woche nicht mehr in der Schule gewesen und niemand wusste, was mit
ihr los war. Bei ihr Daheim hob niemand das Telefon ab. Es wurden schon Gerüchte laut,
dass sie vermisst würde oder gar tot sei, aber niemand nahm das wirklich ernst.
Wahrscheinlich lag sie einfach mit einer Grippe im Bett.
"Danke fürs heimbringen", sagte Lena schließlich, als sie vor ihrem Haus ankamen. Sie
küssten sich noch sehr lange, bis sie sich schließlich voneinander lösten und Markus
weiterging.
Kaum war er einige Meter vom Haus weg, da tippte ihm jemand von hinten auf die
Schulter. Es war das Mädchen aus dem Bus.
"Hallo. Danke für deine Hilfe im Bus. Ich bin Nicole.", sagte sie schüchtern.
"Ich bin Markus", stellte Markus sich vor, "sag mal läufst du mir schon länger hinterher?"
Nicole wurde rot und stotterte etwas herum.
"Ja, schon... Ich habe mich erst eben getraut dich anzusprechen."
Klar, jetzt ist er ja auch alleine unterwegs.
"Na denn. Musst du auch hier lang?", fragte er das Mädchen.
Nicole nickte und sie gingen nebeneinander die Straße entlang.
"Weißt du, dass dir da noch wer gefolgt ist? Schon die ganze Zeit!", sagte Nicole plötzlich
leise und sah kurz hinter sich, "Und der ist immer noch da!"
"Was?", fragte Markus verdutzt und sah ebenfalls hinter sich. Niemand war da. Nur eine
ganze Menge Bäume und Erde, aber keine Menschenseele weit und breit.
"Da ist niemand", stellte Markus fest und sah das Mädchen fragend an, doch er sah nur
noch mehr Bäume.
Verdammt! Es war schon wieder passiert. Er stand mitten im Wald. Ein kurzer Blick auf die
Uhr zeigte ihm, dass wieder mehr als zwei Stunden verstrichen waren! Er kam viel zu spät
zu Lars. Aber was viel wichtiger war: Er war allein. Was hatte er in den letzten beiden
Stunden gemacht? Wo war Nicole?
Und wann hatte das endlich ein Ende?

Er war zu spät. Um vier wollte Markus hier sein, doch hatten wir fast halb sechs.
Irgendwas musste passiert sein, anders konnte ich mir das nicht vorstellen. Früher war
Markus immer pünktlich gewesen, kam teilweise schon zehn Minuten früher in meine
Praxis. Überpünktlichkeit nannten das manche Leute, doch Markus nannte dies einfach
"ideale Busverbindung".
Ich spielte mit dem Gedanken die Nummer zu wählen, von der er mich vorhin angerufen
hatte, doch wartete lieber noch ein paar Minuten. Vielleicht hatte er einfach nur den Bus
verpasst.
Er hatte ja immerhin noch eine halbe Stunde Zeit hier einzutreffen oder sich zu melden,
bevor ich Feierabend machte.
Ein Klopfen an der Tür. Vorsichtig wurde sie geöffnet und Markus' Blondschopf ragte durch

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den Türspalt hindurch.
"Entschuldige die Verspätung... Ich versuch dir gleich zu erklären, was los ist.", keuchte er.
Scheinbar war er gerannt.
"Möchtest du ein Glas Wasser? Du bist ja ganz außer Atem", stellte ich besorgt fest. Ich
holte ein Glas aus einem kleinem Schränkchen hinter dem Schreibtisch hervor und
schenkte ihm Wasser ein. Dankbar nahm er das Glas und leerte es in einem Zug.
"Danke dir, Lars.", sagte er erfrischt und erleichtert.
"Ok. Und nun fang bitte mal von vorne an. Warum kommst du so spät?"
Markus sah mir direkt in die Augen - eine Handlung, die ich von anderen Kunden und
Patienten nicht kenne. Die wenigstens Menschen können noch genug Selbst- und
Fremdvertrauen aufbringen, um einem Menschen in die Augen zu sehen. Es heißt zwar,
die Augen seien ein Spiegel zur Seele, doch kann einem diese Seele ja niemand stehlen.
Beide Seiten provitieren ja davon, aber scheinbar versteht das die Menschheit nicht mehr.
Markus jedenfalls ist anders. Er konnte mir schon immer in die Augen sehen, wie er es
auch jetzt tat. Seine Augen sahen aus, wie früher, der Rest von ihm war in erheblichen
Maße gealtert. Ich hatte einen Mann vor mir und kein verschrecktes halbes Kind mehr.
"Es ist wie damals.... nur anders.", begann er, "Ich kann das nicht beschreiben. Ich habe
Blackouts, sehe Dinge, die gar nicht da sind und kann nicht wirklich sagen, was Realität
und was Illusion ist. Ich schlafwandle auch wieder, ähnlich wie damals, nur dass ich
diesmal immer im Wald aufwache. Außerdem ist mir nun oft schwindlig, wenn so etwas
geschieht."
"Halt halt, mal nicht so schnell!", versuchte ich ihn zu beruhigen, "Lass mich erstmal einen
Notizbock rausholen. Ich will mir das aufschreiben, vielleicht können wir ein System
entdecken."
Er nickte und wartete, bis ich einen Notizblock und Stift vor mir liegen hatte und anfing das
eben Gehörte niederzuschreiben.
Wir sammelten Details zu seinen Blackouts und ich setzte Ausrufezeichen hinter die
Schlagworte, die ich für ausschlaggebend hielt. Nur hinter einem Stichwort setzte ich ein
Fragezeichen: Unbekannter mit grauem Mantel.
Handelte es sich hierbei um eine sogenannte negative Halluzination? Eine positive
Halluzination lässt Dinge erscheinen, die eigentlich gar nicht da sind. Eine negative
dagegen lässt reales in der Imagination verschwinden: Man sieht vorhandene Dinge
einfach nicht, selbst wenn man sich darauf konzentrieren würde. Sie existieren einfach
nicht.
Nur warum sollte Markus' Unterbewusstsein ihm den Unbekannten 'ausblenden' wollen?
"Erzähl mir von Lena.", bat ich ihn, einer spontanen Idee folgend.
Er lächelte und erklärte: "Lena ist das wunderbarste Mädchen der Stadt. Ich schwärme ihr
schon seit der sechsten Klasse hinterher. Ich habe allerdings nie den Mut gehabt, sie
anzusprechen."
"Wie kam es dazu, dass ihr nun doch miteinander geht?", wollte ich wissen.
"Nunja, das war vor etwa drei Wochen. Ich war eines Wochenends auf dem
Nachhauseweg von einer Party und da sah ich sie am Straßenrand sitzen. Völlig alleine,
einfach so. Es war vielleicht zwei oder halb drei Uhr nachts!"
"Hast du sie angesprochen?"
"Ich habe sie gefragt, warum sie so alleine hier draußen herumsitzt."
"Was hat sie geantwortet?"
Markus überlegte eine kurze Zeit. Schließlich wurden seine Augen starr und er sah mir
wieder in die Augen.
"Ich... Ich erinnere mich nicht. Ich weiß nur, dass sie irgendwie Streit mit ihrem Vater
hatte... Sie hat immer Streit mit ihm..."

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"Aber an das Gespräch selbst erinnerst du dich nicht?", harke ich nach.
"Nein", gestand Markus, "ich erinnere mich nicht mehr. Oder vielleicht... vielleicht fingen da
ja schon die Blackouts an?"
Das war auch meine Idee gewesen.
"Versuchen wir etwas anderes. Als du mich gestern angerufen hattest: Was war zuvor
geschehen?"
Markus sah auf den Schreibtisch hinab. Sein Blick war wieder starr.
"Ich... Ich war bei Lena. Wir haben einen wunderbaren Abend gehabt, haben geküsst und
rumgemacht und so weiter. Schließlich hatten wir Sex. Aber... Naja das fing ja erst später
an. Beim Nachhauseweg... Wieder. Ich glaube ich bekomme nur Blackouts, wenn ich auf
dem Weg nach Hause bin!"
Ich lächelte.
"Ich glaube nicht, dass das etwas damit zutun hat. Was geschah weiter?"
"Naja. Ich lief durch die Straßen und dann wurde mir schwindlig. Plötzlich fand ich mich im
Wald wieder. Ich kann nicht sagen, wie ich dort hingekommen war, nur dass wiedermal
einige Stunden vergangen waren. Das gleiche ist mir vorhin passiert. Deswegen kam ich
auch erst so spät."
"Hast du dich heute, vor dem Blackout, noch mit Lena unterhalten?"
"Ja habe ich. ... Meinst du, sie hat etwas damit zutun?!", fragte Markus entsetzt.
Beschwichtigend hob ich die Hände. "Hey, das hab ich nicht behauptet. Ich versuche nur
Ideen zu sammeln. Aber ich glaube wir kommen so wirklich nicht weiter."
"Was schlägst du vor?"
"Wir könnten es mit Hypnose versuchen. Ich weiß, damals hatte es auch nicht geklappt,
aber ich glaube diesmal ist es etwas anderes. Wollen wir es versuchen?"
Markus nickte.
"Gut. Dann lege dich bitte auf die Couch und schließe die Augen."
Markus stand auf und legte sich auf die Couch. Er kannte die folgende Prozedur schon,
auch wenn es vier Jahre her ist. Bei einer Hypnose ist Vertrauen das wichtigste. Vertraut
der Hypnotisierte dem Hypnoten nicht, kann die Hypnose auch nicht funktionieren, denn
eigentlich hypnotisiert sich jeder Mensch selbst. Der Hypnot gibt ihm nur die Anleitung
dazu und hilft durch Schlagworte und Symbole den gewünschten Entspannungsgrad und
Erfolg zu erzielen.
Ich setzte mich auf einen kleinen Schemel neben der Couch.
"Warum passiert so etwas immer mir?", fragte Markus leise.
Ich wusste darauf keine Antwort.

Markus lag auf der Couch und hörte auf die leisen, beruhigenden Worte Lars'.
"Entspanne dich. Höre draußen auf den Wind, der durch die Blätter raschelt. Höre auf das
Brummen der Klimaanlage und auf deinen eigenen Atem. All dies hilft dir, dich zu
entspannen. Höre auf deinen Herzschlag und fühle, wie er langsamer wird."
Markus hörte auf seinen Herzschlag. Er hämmerte, in freudiger Erregung auf die Hypnose,
recht schnell, wurde jedoch immer langsamer, bis er schließlich gemütlich, beruhigend vor
sich hin pochte.
Markus wusste, dass er bereits in Trance war. Lars hatte ihm suggeriert, dass sein
Herzschlag langsamer wird und Markus hatte seinen Körper dazu angeregt, eben dieses
zu tun. Hypnose läuft nach einem ganz grundsätzlichen Prinzip ab: Du tust, was dir
geraten wird, als sei es ein Befehl, und zwar unterbewusst. Dabei ist man dennoch bei
vollem Bewusstsein, man wundert sich höchstens darüber, dass man so gerade heraus

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über Dinge erzählt, die man normalerweise in dieser Form niemandem anvertrauen würde.
Eigentlich hypnotisiert man sich also selbst. Nur nimmt das Unterbewusstsein
Suggestionen und Vorschläge des Hypnotiseurs gerne entgegen, wenn man ihm vertraut.
Dabei muss der Hypnotiseur nicht einmal wirklich ein Mensch sein, ja selbst Fernsehen
oder das Lesen von Boulevard-Zeitungen kann man als Hypnose bezeichnen. Keine
Frage, weswegen viele Menschen den Müll, den sie dadurch erfahren, für bare Münze
nehmen.
"Du bist nun völlig entspannt. Schließe deine Augen und erinnere dich an die letzten
Stunden."
Markus schloss die Augen. Er erinnerte sich, wie er in die Praxis kam. Er erinnerte sich,
wie er im Wald erwachte. Dann erinnerte er sich an nichts mehr.
"Ich kann mich nicht erinnern", sagte Markus, wie von selbst.
Lars sah ihn einen Moment nachdenklich an.
"Du blockierst deine Erinnerung selbst. Wenn ich 'drei' sage, kannst du dich erinnern. Eins.
Zwei. Drei."
Markus konnte sich nicht erinnern.
"Ich habe gegraben", sagte er dennoch.
Er kannte die Prozedur schon. Bewusst erinnerte er sich nach wie vor an nichts, doch sein
Unterbewusstsein nahm die Suggestion von Lars ernst und löste die Blockaden in seinem
Gedächtnis.
Eine kurze Szene flackerte vor seinen Augen auf. Er schob Erde beiseite, wie als wolle er
etwas ausgraben. Er befand sich definitiv im Wald.
"Ich bin im Wald und grabe. Ich weiß nicht, wonach ich suche, aber ich grabe nach
irgendetwas."
Lars sah ihn nun etwas verwirrt an.
"Weißt du gar nicht nach was du gegraben hast? Was hast du gefunden?"
Eine weitere Szene flackerte auf. Er trat die Erde fest. Ihm wurde schwindlig. Ein grauer
Mantel. Dann stand er allein im Wald.
"Ich glaube ich habe etwas vergraben", sagte Markus unbewusst.
"Geh noch einige Minuten zurück. Es ist wichtig, dass wir wissen, was du vergraben hast!"
Lars war nun wirklich angespannt. Sein Blick zeigte irgendetwas zwischen Neugier und
Furcht.
Markus versuchte sich zu erinnern. Er versuchte in der Zeit zurückzureisen. Er versuchte
herauszufinden was er vergraben hatte. Eine dritte Szene tat sich vor seinem inneren
Auge auf. Ein beschriebenes Blatt. Ein Tagebuch? Ein grauer Mantel. Ein seltsam
trauriges Gesicht. Das Gesicht eines verzweifelten Mannes. Nein. Der graue Mantel
gehört nicht zu diesem Gesicht. Dieses Gesicht. Lena? Das Gesicht war Lena geworden.
Lena im grauen Mantel? Lena lächelt. Ihr Lächeln ist wunderschön. Blut. Erde. Blut. Lena.
Schwärze.
"Markus!"
Lars rüttelt ihn.
"Markus! Wach auf!"
Verwirrt schlägt Markus die Augen auf. Was ist passiert?
"Markus. Bist du wach? Siehst du mich? Verstehst du mich?"
Markus nickte und versuchte sich aufzusetzen. Als er sich seiner Umgebung bewusst
wurde, hielt er inne. Er lag auf Asphalt, in einer Seitenstraße in der Nähe von Lars' Praxis.
"Wie komme ich hier her?", fragte er verwirrt. Seine Stimme war heiser.
Lars sah ihn einen Moment durchdringend an, dann sagte er: "Du bist einfach
aufgestanden und bist losgelaufen... du hast geschrien, Markus. Was hast du erlebt? An
was hast du dich erinnert?"

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Markus dachte einen Moment nach. Er erinnerte sich nicht.
"Ich habe Lena gesehen... und einen grauen Mantel, doch ich weiß nicht ob er Lena
gehört, oder jemand anderem. Da war noch dieses Gesicht. Das Gesicht eines Mannes,
aber ich kann es mir nicht mehr vorstellen, es geht nicht. Lena hat mich angelächelt und
dann war alles schwarz. Ich weiß nicht nach was ich gegraben habe oder was eben los
war!"
Markus brach in Tränen aus. Lars saß vor ihm und wusste zunächst nicht wirklich, was er
tun sollte. Er hatte schon oft Menschen weinen sehen, aber bei keinen hatte er sich so
hilflos und unwissend gefühlt, wie bei Markus.
Markus stand vorsichtig auf. Noch immer liefen ihm die Tränen die Wangen herab, doch er
wischte sie mit einem verschmitzten Lächeln weg.
"Entschuldige Lars. Ein so großer Junge, wie ich sollte nicht weinen."
Lars lächelte nun auch. Es war ein befreiendes Lächeln, was all den Druck der letzten
Minuten fortspülte und beinahe vergessen machte. Aber eben nur beinahe.
"Lass uns wieder reingehen", sagte Lars noch immer lächelnd, "und dann erzählst du mir
nochmal von Lena."

Je länger mir Markus von Lena erzählte, desto seltsamer kam mir diese Geschichte vor.
Diese gesamte Situation war irgendwie... surreal. Er beschrieb mir Momente, wie aus
Filmen. Wenn ich es nicht besser wusste, hätte ich annehmen müssen, dass mich Markus
anlog oder einfach nur prahlte. Ihm fielen selbst einige seltsame Dinge ein, die einfach
nicht stimmen konnten. Da waren zum Beispiel die Momente, an die er sich einfach nicht
erinnern konnte. Wichtige Momente, wie der Tag an dem sie sich das erste mal geküsst
hatten. Viele Erinnerungen fehlten einfach völlig, aber es war fast so, als hätte sein
restliches Leben diese Lücken nahtlos gefüllt. Lediglich die Blackouts saßen wie schwarze
Löcher in seinem Gedächtnis, alle anderen Erinnerungen hingen direkt aneinander und
dennoch fehlten einige wichtige Momente. An einem Tag noch waren sie nur gute Freunde
und am nächsten Tag waren sie plötzlich ein Paar und hatten sich bereits geküsst, nur
dass es eben diesen Moment des Zusammenkommens nie gab. Die Erinnerung daran
fehlte völlig, lediglich das Wissen, dass es passiert ist, war da.
Diese Lücken verunsicherten Markus und auch mich. Ich konnte mir das nicht erklären,
zumindest nicht, ohne einen sehr gewagten und schrecklichen Gedankengang zu
verfolgen.
Diese Lena-Momente, wie ich sie mal nennen möchte, schienen einer Art Regelmäßigkeit
zu unterliegen. Es lief immer im gleichen Schema ab: Markus hatte das Wissen über
vergangene wichtige Ereignisse in der Beziehung der beiden, aber nicht die Erinnerung.
Dann traf er Lena und alles schien normal zu sein, doch sobald er wieder ging hatte er
einen dieser Blackouts und wacht an völlig anderen Orten auf.
Konnte es sein, dass Lena ihn beeinflusste? Sie schien nicht älter als Markus zu sein,
eher jünger, was bedeutete dass sie etwa 18 oder 19 war. Kann man mit diesem Alter
bereits über ausgereifte Suggestionstechniken verfügen?
Und was war mit diesem Mann im grauen Mantel? Die Hypnose erbrachte nichts.
Zumindest nichts was uns weiterbrachte. Markus hatte im Wald etwas ausgegraben oder
vergraben, aber wir konnten ja nicht den ganzen Wald durchkämmen und umgraben, um
das Geheimnis zu lüften.
"Lars?"
Ich blickte auf. Ich war völlig in Gedanken versunken gewesen und hatte nicht mal
mitbekommen, dass Markus die ganze Zeit noch da war.

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"Entschuldige, ich war in Gedanken. Ja?"
Markus sah mich ernst an. Zu ernst für meinen Geschmack. Mein Leben lief verdammt
noch mal ernst genug ab und Markus blickte drein als wüsste er dies ganz genau.
"Kann es sein, dass Lena nicht existiert?"
Überraschung, daran hatte ich auch schon gedacht. Nur gab es da eines zu bedenken:
"Sagtest du nicht, dass du Lena schon lange kennst? Seit der Grundschule nicht wahr?
Und außerdem kenne deine Freunde sie ja auch. Zumindest vom sehen. Wie kann sie da
nicht existieren?"
Markus nickte leicht und erklärte: "War ja auch nur so ein Gedanke. Es kommt mir einfach
seltsam vor, dass ausgerechnet ich so ein Glück haben sollte ein Mädchen, wie sie, zu
finden! Ich meine ich bin ja nicht gerade ein Frauenheld und viel Erfahrung hab ich auch
nicht mit sowas. Warum sollte sich Lena für mich interessieren?"
"Na na na! Du bist ein sehr intelligenter und netter Junge! Deswegen wird sie auch mit dir
zusammen sein und nicht mit so einem anderen Jungen, der sie wahrscheinlich eh nur
verletzen würde!"
Ich versuchte ihn zu beruhigen und das gelang mir auch ganz gut. Nur ich glaubte selbst
nicht an meine Worte. Er hatte recht: Mädchen in seinem Alter interessieren sich
hauptsächlich für die Machos. Starke Kerle, die sie beschützen können und Erfahrung
bieten können, die sie zwar ab und an etwas schlecht behandeln, aber dafür zumindest
sexuell alle Wünsche erfüllen können. Nach allem was ich von Lena wusste, passte sie
absolut in diese Kategorie Mädchen.
Es war nicht so, dass ich es dem Jungen nicht gönnte und vielleicht brachte mich auch nur
meine eigene Einsamkeit dazu so zu denken, aber nach allem was ich als Psychologe
über Jugendliche und ihre Beziehungen sagen konnte, war dies ein äußerst seltener Fall
von wahrer Liebe.
"Ich würde vorschlagen, du bringst Lena das nächste Mal einfach mit. Wie wäre das?",
unterbreitete ich ihm.
"Nein... Sie würde nicht mit zu dir kommen wollen. Sie hält mich sonst nur für verrückt."
"Also was machen wir dann?"
Markus dachte einen Moment nach und sagte dann: "Ich denke es ist besser, wenn wir
das einfach unter uns weiter besprechen. Ich gehe erstmal nach Hause und morgen gehe
ich zu Lena. Ich werde mal versuchen vorsichtig mit ihr darüber zu reden, aber ich kann
nichts versprechen!"
Das musste er auch gar nicht. Ich hatte bereits meinen Entschluss gefasst. Ich hatte eine
Idee, die dümmer nicht hätte sein können. Ich bin Psychologe und kein Detektiv, dennoch
plante ich Markus am nächsten Tag heimlich zu beschatten und ihn auf Schritt und Tritt zu
verfolgen. Vielleicht würde ich so herausbekommen, was er in seinen Blackouts tat. Und
vielleicht würde ich so auch herausbekommen wo Lena wohnte.
Letzlich war es nur zu seinem Besten oder?
Es war die dümmste Idee, die ich je hatte!

"Wo zum Teufel warst du?", fragte seine Mutter. Markus kam grade zur Tür herein,
erschöpft vom langen Fußmarsch von. Busse fuhren um diese Uhrzeit in einer so
ländlichen Gegend einfach nicht mehr und somit blieb ihm nur der Weg durchs Feld.
"Entschuldige, ich war mit Alex und Max unterwegs.", erklärte Markus vorsichtig und
versuchte sich an seiner Mutter vorbeizuschieben.
"Achja? Und da muss man so spät nach Hause kommen? Hast du mal dran gedacht
bescheid zu sagen?", fauchte Sarah ihn an.

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Markus hatte wirklich keine Lust zu streiten, aber nach diesem stressigen Tag konnte er
sich kaum noch zurückhalten.
"Ich bin doch wohl alt genug mal ein bisschen länger weg zu sein, ohne dir sofort Bericht
erstatten zu müssen oder nicht?"
Sarah wirkte kurze Zeit ein wenig irritiert, doch bekam sich recht schnell wieder in den
Griff. Es war zwar selten, dass Markus ihr widersprach, aber dennoch nicht das erste mal.
"Soso. Bist mir auf einmal ein wenig schnell erwachsen geworden. Bleibst ewig weg,
plötzliche Frauengeschichten und was noch? Drogen?"
"Wovon redest du?!"
Nun war Markus verwirrt. Er hatte seiner Mutter nichts von Lena erzählt.
"Dein Freund Alex hat angerufen! Hat gefragt wo du steckst, ihr hättet euch verabredet
und du wärst nicht da. Hab ihm nur gesagt, dass du nicht hier wärst, da meinte er bloß:
'Naja, dann wird er wohl bei Lena sein.' Also? Hast du mir etwas zu sagen?"
Seine Mutter sah ihn an, als würde es für ihn gar keine andere Möglichkeit geben, als ihr
von Lena zu erzählen. Doch Markus ließ sich von ihr nicht manipulieren. Es gab gute
Gründe ihr nichts von Lena und bessere ihr nichts von seinem heutigen Besuch bei Lars
zu erzählen. Seine Mutter war, was Beziehungen betrifft, sehr skeptisch seit der
Scheidung. Sie war der Meinung, dass Liebe nicht existiere und sich Menschen nur aus
Spaß am Geschlechtsverkehr binden würden. Liebe sei nur das Gefühl, was den Trieb
sich fortzupflanzen unterstützt und Triebe sind wie Süchte: Sie bringen nichts als Ärger
und Leid.
In gewisser Weise dachte Markus ähnlich. Er hielt auch nichts von Süchten, hatte ja auch
ohne Drogen schon genug Probleme die Kontrolle über sich zu behalten.
Doch Liebe war etwas, das konnte einfach nicht negativ sein. Es war das Etwas, was das
Leben überhaupt erst Lebenswert machte. Natürlich spielte das Körperliche eine gewisse
Rolle dabei, doch bei weitem nicht so stark, wie seine Mutter dies sich dachte. Deswegen
hatte er auch gar keine Lust mit ihr zu diskuttieren, sondern sagte nur: "Lena ist der
Spitzname für Max. Er hat letztens so oft vom Freund einer Lena aus unserer Schule
gesprochen, wie gut er doch im Basketball sei und wie schrecklich toll aufgemotzt doch
seine Karre ist, da meinte Alex nur, dass er von dem Typen schwärme, als wär er Lena
selbst. Seit dem nennen wir ihn spaßeshalber Lena. Und ja ich war bei Max und ja später
tauchte auch Alex dort noch auf. Also reg dich bitte wieder ab."
Markus hoffte mit dieser Notlüge durchzukommen. Er hatte sie so beiläufig und
selbstverständlich ausgesprochen, wie es nur ging.
Seine Mutter sah ihn kurze Zeit forschend an, setzte dann dazu an etwas zu sagen und
ging ihm dann wortlos aus dem Weg.
Markus öffnete die Tür zu seinem Zimmer und ging hinein. Nunja, er versuchte es
zumindest, denn noch in der Tür erstarrte er vor Schreck: Lena saß auf seinem Bett und
sah ihn ausdruckslos an.
"Wa....", setzte Markus an, doch blieb ihm das Wort im Hals stecken. Er sah sich Lena
genau an, suchte nach irgendwelchen Zeichen, dass er sie sich nur einbildete, doch alles
war vorhanden: Die Bettdecke unter ihr war zerknittert, sie warf einen korrekten Schatten
und sah absolut materiell aus. Aber warum hatte ihre Mutter sie noch nicht entdeckt?
Und...
"Wie zum Teufel kommst du hier rein?", stieß er schließlich leise hervor. Lena zeigte nur
auf das offene Fenster und lächelte.
Markus war sich ziemlich sicher, dass er das Fenster nicht hat offen stehen lassen. Max
kletterte auch gelegentlich die Abflussrinne hinauf und kam, zum Schrecken Sarahs, zum
Fenster in die Wohnung hinein.
Schnell schloss Markus die Zimmertür und setzte sich neben Lena.

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Er hatte irgendwie das dringende Bedürfnis sie zu küssen, doch etwas in ihm wehrte sich
dagegen. Ist dieser Dran etwa der 'Trieb', von dem seine Mutter immer sprach? Wenn dem
so war, wollte er ihm besser nicht nachgeben. Allerdings war Lenas Lächeln einfach
bezaubernd! Es war genau dieses Lächeln, was sie zu ihrem ersten Mal ermutigt hatte.
Genau dieses Lächeln, was er an ihr besonders liebte. Ein Lächeln, was man einfach
küssen musste.
"Warum behauptest du wir wären zusammen?", fragte sie plötzlich. Das Lächeln war
verschwunden. Stattdessen sahen ihn zwei eiskalte Augen an. Ihm lief ein Schauer den
Rücken herunter. Er brachte kein Wort heraus.
"Dieser Max hat mich darauf angesprochen. Sagte, du behauptest, wir hätten was
miteinander", zischte sie.
Markus spürte, wie ihm das Blut in die Beine lief. Er fühlte sich, als säße er ein paar
Zentimeter hinter sich selbst.
"Bist du ein Freak oder sowas?"
Markus wurde schwindlig und schlecht. Lena sah sich im Zimmer um.
"Hast du hier irgendwelche Fotos von mir, die du als Wichsvorlage verwendest oder so ein
Scheiß?"
Sie sah ihm direkt in die Augen.
"Seit wann beobachtest du mich schon?"
Markus fühlte sich wie in Hypnose. Wie von selbst antwortete er: "Seit 68 Tagen."
Lena sah ihn weiterhin kalt an.
"Warum ich?"
"Weil ich dich liebe", sagte Markus wieder von selbst. Er hatte keine Kontrolle mehr über
seinen Körper und seine Gedanken. Er fühlte sich wie im Kino und er spielte in diesem
schrecklichen Film die Hauptrolle.
"Ist dir schonmal in den Sinn gekommen, dass ich dich nicht liebe? WIr kennen uns ja
nicht mal!"
Lena wurde langsam wütend. Markus hoffte nur seine Mutter würde nichts mitbekommen.
"Ich muss dir etwas zeigen. Du wirst dann alles verstehen", sagte Markus. Irgendwie hatte
er das Gefühl mehr zu sich selbst, als zu Lena gesprochen zu haben.
"Vergiss es! Ich komm doch nicht mit dir mit, Psycho! Nebenan ist deine Mutter, ich brauch
nur schreien und sie kommt herein!"
"Nicole wird mitkommen. Sie wartet schon unten."
Markus war nun völlig verwirrt. Was geschah mit ihm?
Lena zog eine Augenbraue hoch und sah ihn zweifelnd an.
"Wer ist Nicole?"
"Komm einfach mit. Du kannst jederzeit weglaufen, wenn etwas nicht stimmt", sagte
Markus' Körper und stand auf.
Er trat ans Fenster und begann herauszuklettern. Lässig, als hätte er das schon tausend
Mal gemacht, rutschte er die Regenrinne herab. Lena folgte ihm.
"Hallo Markus!", sagte Nicole fröhlich.
"So... und nun?", fragte Lena ein wenig ängstlich.
"Jetzt", sagte Markus und lächelte schief, "gehen wir in den Wald."

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