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Nils Christie

Wieviel
Kriminalität braucht
die Gesellschaft?

Aus dem Englischen von Sigrid Langhaeuser

Verlag C. H. Beck
Nils Christie ist Professor für Kriminologie an
der Universität Oslo. Sein mittlerweile in 14 Spra-
chen vorliegendes Gesamtwerk zählt schon jetzt
zu den Klassikern der soziologisch-
kriminologischen Literatur.

Wieviel Kriminalität braucht die Gesell-


schaft? Wie definieren Gesellschaften Verbre-
chen und Strafe? Weshalb gibt es allein schon
zwischen den westlichen Nationen so unter-
schiedliche Vorstellungen darüber, was ein
Verbrechen ist und wie die angemessene
Reaktion darauf lauten muß? Dieser provokan-
te Essay des Begründers der «Kritischen Kri-
minologie» regt an, gewohnte Bahnen des
Denkens zu verlassen und selbstkritisch unse-
ren Umgang mit Normen und Werten, mit Ver-
brechen und Strafe zu hinterfragen.

«Ein herausragendes Werk... » Zygmunt


Bauman
ISBN 3-406-52787-6

Titel der norwegischen Originalausgabe: En passende


Mengde Kriminalitet
© Universitetsforlaget, Oslo 2004
Die Übersetzung erfolgte auf der Grundlage
der englischen Ausgabe:
A Suitable Amount of Crime
Routledge 2004
Die Übersetzung dieses Buches wurde ermöglicht
durch die finanzielle Unterstützung von NORLA Ficti-
on/NORLA Non-Fiction.
Für die deutsche Ausgabe: © Verlag C. H. Beck oHG,
München 2005 Satz: Stahringer Satz GmbH, Ebsdor-
fergrund Gesamtherstellung: Ebner & Spiegel, Ulm
Umschlagabbildung: Ed Bock/CORBIS Umschlagge-
staltung: Wunderamt + Roland Angst Gedruckt auf
säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (hergestellt
aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff) Printed in Germany
ISBN 3406527876
www. beck. de
INHALT

Die Wurzeln 8

1. Das Verbrechen gibt es nicht 11


Handlungen 11
Die erstickte Frau 11
Der Zusammenbruch der zentralen Autorität 12
Der Mann im Park 15
Töchter und Ehemänner 18
Die alte und die neue Schule 20
Zornige alte Leute 21
Die Erholung nach dem Krieg 22
Das Verbrechen als unbegrenzte natürliche Ressource
24

2. Monokulturen 27
Mehrdimensionalität 27
Die Großtanten 29
Entwicklung als Imperialismus 31
Der Lohn der Arbeit 33
Wie man Kinder am Bauen hindern kann 39
Kapital 40
Die neue Kathedrale 41
Mobilität 43
Eine monoinstitutionelle Gesellschaft 44
Eine totalitäre Lösung 45
Der Preis eines monolithischen Entlohnungssystems 47
Leuchtendes São Paulo 48
Verbrechensfreie Territorien 51

3. Instrumentalisierung des Verbrechens 53


Kein Platz für das Verbrechen 53
Wo die großen Konflikte herrschten 54
Der schwache Staat 57
Verbrechensbekämpfung als Bühne zur Selbstdarstel-
lung 59
Bestrafung im Dienst der Wohlfahrt 61
Eine außerordentlich nützliche Mafia 64
Worte als Waffen 68
Die Mafia als kulturelles Produkt 69
Blockade des Verstehens 73
Terror 74
Trolle 75

4. Einsperren als Antwort 79


Gesellschaftsformen, durch die das Verbrechen ver-
mehrt wird 79
Die großen Kerkermeister 81
Gemeinsame Eigenschaften 82
Über die Wohlfahrt 89
Ost- und Westeuropa 91
Polnische Rhythmen 92
England und Wales – so nahe an Osteuropa 95

5. Staat oder Nachbarn? 99


Isländischer Blues? 99
Die Vernichtung der primären Beziehungen 101
Triviale Wahrheiten 103
Altmodisches Rußland 105
Gesellschaften, die nicht nur auf einem Bein stehen 105
Die polnischen Studenten 109

6. Keine Bestrafung 111


Zwei Arten von Gerechtigkeit 111
Das Wachstum des formellen Rechts 114
Das globale Dorf 115
Abschaffung der Bestrafung? 118
Eine Winternacht 121
Minimalismus 125

7. Antworten auf Greueltaten 127


Blind, taub und ohne Erinnerung 127
Wenn Gerechtigkeit geübt wird 129
Die Hinrichtung einer Idee 130
Blockade des Verstehens 130
Wenn Straffreiheit herrscht 132
Quisling 133
Die Säuberung 134
Das Verhindern privater Rache 134
Narvik, Oktober 2002 134
Das Denkmal 136
Spätfolgen der Bestrafung 136
Internationale Strafgerichtshöfe und Tribunale 137
Wahrheitsfindungskommissionen 138
Versöhnung 140
Von der Wichtigkeit, keine Antworten zu haben 146
8. Wann ist es genug? 147
Strafverfolgungssysteme als Zeichen 147
Die Untergrenze 154
Ist eine Niederlage unvermeidlich? 155
Reintegrative Beschämung von Nationalstaaten? 158
Weltmeister USA 167
Das verlorene Erbe der Universitäten 171
Abstand als Notwendigkeit 174
Individueller Widerstand 178
Anmerkungen 181 Literatur 185
DIE WURZELN

Viele Autoren beschäftigen sich fast ihr ganzes Leben


lang mit dem gleichen Thema. Mein zentrales Thema
ist die Bedeutung des Verbrechens. Was ist das für ein
Phänomen? Es gibt bedauerliche Handlungen (oder,
wie die deutsche Polizei sich ausdrückt, schädigendes
Verhalten, Anm. d. Übers.), aber gibt es auch das Ver-
brechen? Was verstehen wir unter dem Wort Verbre-
chen, und unter welchen Umständen verwenden wir es?
Diese Frage hat mich schon in meiner allerersten
Untersuchung beschäftigt, einer Studie über das Wach-
personal in Konzentrationslagern.1 Wie beurteilten die
Bewacher ihre eigenen Taten? Wie betrachteten dieje-
nigen, die später wegen Mißhandlungen und Morden in
den Konzentrationslagern verurteilt wurden, ihre eige-
nen Handlungen in dem Moment, in dem sie begangen
wurden? Waren diese Handlungen in ihren Augen
Verbrechen? Sie waren es nicht, und ich habe versucht
zu beschreiben, warum die Täter die Dinge so sahen,
wie sie sie sahen. Später folgten Studien über Men-
schen, die wegen wiederholter schwerer Trunkenheit an
öffentlichen Orten zu jahrelanger Zwangsarbeit verur-
teilt worden waren.2 Es bestand ein starkes Bedürfnis,
sich der Trinker zu entledigen, aber die Belästigung der
Öffentlichkeit allein reichte nicht aus für eine Gefäng-
nisstrafe. Was jedoch nicht gegen sie unternommen
werden konnte, wenn man ihre Handlungsweise als
verbrecherisch ansah, wurde möglich, wenn man sie als
Krankheitssymptom und die Zwangsarbeit als thera-
peutische Maßnahme einstufte. Vergleichbare Beurtei-
lungen traten im Bereich der Drogen in Erscheinung. 3
Hier lauteten die Fragen: Wann ist eine Substanz eine
Droge, und wodurch wird der Verkauf einer bestimm-
ten Droge zum Verbrechen, während der Verkauf
anderer zur Mitgliedschaft in der Handelskammer
führt?
Die andere Seite des Problems: Konzepte haben
Konsequenzen. Ich habe über mehrere Jahre hinweg
die Entwicklung der Gefängnisse in modernen Indust-
riestaaten verfolgt. 4 Zwischen den einzelnen Ländern
bestehen große Unterschiede, ebenso im Laufe der Zeit
innerhalb eines Landes. Wie lassen sich diese Unter-
schiede verstehen? Die Anzahl der Inhaftierten in
einem Land wird häufig als Indikator der Kriminalität
betrachtet. Wenn es jedoch so schwierig ist, das Ver-
brechen zu definieren, wie soll man dann die unter-
schiedliche Anzahl von Inhaftierten deuten? Eine Er-
klärung mag es gleichwohl geben. Da das Verbrechen
als stabile Entität nicht existiert, eignet sich das Kon-
zept des Verbrechens besonders gut, jede Art von
Kontrolle zu ermöglichen. Es gleicht einem Schwamm.
Der Begriff kann eine ganze Reihe verschiedener
Handlungen – und Menschen – in sich aufnehmen,
wenn äußere Umstände dies als nützlich erscheinen
lassen. Sein Inhalt kann jedoch auch verringert werden,
wann immer es denjenigen, die den Schwamm in der
Hand halten, gerade paßt. Dieses Verständnis des
Begriffs wirft neue Fragen auf. Zum einen: Wann ist es
genug? Zum anderen wird der Weg für eine Diskussion
über die Frage geebnet, wann ein bestimmtes Maß an
Verbrechen erreicht ist oder ab wann eine Tat verbre-
cherisch genug ist.
Das Verbrechen ist mithin vieles und nichts. Das
Verbrechen ist ein Konzept, über dessen Anwendung
frei entschieden werden kann. Die Herausforderung
besteht darin, zu verstehen, wie dieses Konzept inner-
halb verschiedener Systeme verwirklicht wird, und sich
durch dieses Verständnis die Fähigkeit zu erwerben,
die Art der Anwendung und die Personen, die sich
seiner bedienen, zu beurteilen.
Manches von dem, was in diesem Buch beschrieben
wird, wurde von mir bereits zu einem früheren Zeit-
punkt in Vorlesungen und Seminaren dargestellt, insbe-
sondere in Ost- und Westeuropa und in Süd- und Nord-
amerika. Bei diesen Gelegenheiten wurde ich mit gro-
ßer Freundlichkeit aufgenommen, und meine Beiträge
wurden anregend kommentiert. Die Lehre ist in günsti-
gen Fällen ein Prozeß, der in beide Richtungen wirkt.
Ich habe bei diesen Begegnungen viel gelernt. Aus
einleuchtenden Gründen kann ich an dieser Stelle nicht
alle nennen, die an diesem lebenslangen Prozeß teilhat-
ten, aber ich hoffe, daß manche sich in diesen Seiten
wiedererkennen werden. Ich muß jedoch drei Ausnah-
men machen. Drei Menschen haben für mich und
dieses Buch eine so große Bedeutung, daß ich meine
tiefe Dankbarkeit zum Ausdruck bringen möchte. Der
erste ist mein finnischer Freund Kettil Bruun, der über
seinen Tod hinaus eine lebendige moralische Quelle für
mich ist. Der zweite ist Stan Cohen, einer meiner älte-
sten Freunde und die Quelle unendlicher Inspiration.
Die dritte ist Hedda, mit allem, wofür sie steht.

Oslo, im November 2003 Nils Christie


1 DAS VERBRECHEN GIBT ES NICHT1

HANDLUNGEN

Norwegen hat viereinhalb Millionen Einwohner. Im


Jahr 1955 wurde die erste Statistik über Verbrechen
erstellt, die der Polizei gemeldet worden waren.2 Die
Zahlen waren schockierend: Es waren fast 30000 Fälle.
Im Jahr 2002 waren es 320000 Fälle. Die Zahl der
Personen, die mit diesen Verbrechen in Verbindung
gebracht wurden, war von 8000 auf 30000 gestiegen,
die Zahl der Verurteilungen von 5000 auf 20000, und
die Zahl der Strafgefangenen hatte sich, verglichen mit
dem niedrigsten Stand nach dem Zweiten Weltkrieg,
verdoppelt.
Ist die Kriminalitätsrate angestiegen?
Ich weiß es nicht. Und was noch bedeutsamer ist:
Ich werde es auch niemals wissen!

DIE ERSTICKTE EHEFRAU

Wie aus Stockholm3 berichtet wurde, betäubte ein


Mann seine Frau mit Medikamenten und verursachte
anschließend ihren Tod durch Ersticken. Dann schrieb
er an die Polizei, teilte mit, was er getan hatte und was
er weiter plane. Er werde das Schiff nach Finnland
besteigen, sich schwere Steine an den Körper binden
und dann ins Meer springen. Der Brief traf zwei Tage
später bei der Polizei ein. Die Polizisten fanden die
Wohnungstür unverschlossen, wie der Mann es in
seinem Brief angekündigt hatte. Auch die Frau fanden
sie genau so vor, wie er es beschrieben hatte. Die Lei-
che war so behandelt worden, wie es früher üblich war
– er hatte sie gereinigt und ihr ein Leinentuch über das
Gesicht gelegt. Sie war 86 Jahre alt, er 78. Sie hatte die
Alzheimersche Krankheit. Er hatte sie lange gepflegt,
aber nun sollte sie in ein Heim eingeliefert werden.
Nach Auskunft des Hausarztes hatten sie sich sehr
nahegestanden. Wir suchen nach dem Mann, hieß es
bei der Polizei. Er steht unter dem Verdacht, einen
vorsätzlichen Mord begangen zu haben.
In den Augen der einen ist dies eine Romeo-und-
Julia-Geschichte, andere sehen nichts als einen Mord
darin. Ich möchte verdeutlichen, was sich hinter diesen
gegensätzlichen Interpretationen verbergen könnte,
indem ich mich einigen Vorkommnissen zuwende, die
sich beim Zusammenbruch der zentralen Autorität
ereigneten.

DER ZUSAMMENBRUCH DER ZENTRALEN

AUTORITÄT

Ralf Dahrendorf (The Hamlyn Lectures, 1985, S. 1-3)


beginnt seine Abhandlung über Law and Order mit
einer eindringlichen Beschreibung des Falls von Berlin
im April 1945:

Plötzlich wurde allen klar, daß es keine Autorität


mehr gab, nicht die geringste Spur einer Autorität.

Die Läden waren verlassen, und Dahrendorf erinnert


sich:

Ich besitze immer noch fünf schmale Bände mit


romantischer Dichtung, die ich mir bei dieser
Gelegenheit angeeignet habe. Angeeignet? Alle
trugen Taschen und Koffer nach Hause, die mit
gestohlenen Dingen vollgestopft waren. Gestoh-
len? Vielleicht wäre «mitgenommen» der korrekte-
re Ausdruck, weil selbst das Wort «stehlen» seine
Bedeutung verloren zu haben schien.

Aber natürlich hielt dieser Zustand nicht an:

Der grandiose und schreckliche Augenblick voll-


kommener Gesetzlosigkeit war nur wie ein Atem-
holen zwischen zwei Regimen, die ihre Unterta-
nen beide gleich hart im Griff hielten. Wie die
erschreckende Ekstase der Revolution ging der
Augenblick vorüber. Während das absolute Ge-
setz von gestern das absolute Unrecht von mor-
gen -und das Unrecht von gestern das Gesetz von
morgen wurde, gab es eine kurze Zeit der Ano-
mie, die nur wenige Tage anhielt, und vorher und
nachher wenige Wochen, in denen die Normen
erst zusammenbrachen und dann neu errichtet
wurden.

Meine eigenen Erinnerungen an die Kapitulation einer


Hauptstadt sind anders. Sie beziehen sich auf Oslo,
genau fünf Jahre vor diesen Ereignissen. In der Nacht
des 9. April 1940 hatten die Fliegersirenen ununterbro-
chen geheult. Ich erinnere mich noch heute an das
Gefühl der Erleichterung, das mich erfaßte: Jetzt würde
mein Vater keine Zeit mehr haben, sich wegen eines
unangenehmen Briefes aufzuregen, der immer noch
unabgeliefert in meiner Tasche steckte und von dem
ich annahm, daß darin von meinen mangelhaften Fort-
schritten in der deutschen Sprache die Rede sein würde.
Und bald folgten weitere gute Nachrichten: Die Schule
war geschlossen und würde auch weiterhin geschlossen
bleiben. Auf meinem Heimweg von der geschlossenen
Schule erhielt ich eine unerwartete Gelegenheit, mein
schlechtes Deutsch anzuwenden: Ein Auto hielt, zwei
deutsche Offiziere baten mich höflich, ihnen behilflich
zu sein, eine bestimmte Adresse zu finden. Ebenso
höflich gab ich ihnen Auskunft.
Erst Monate später hatte ich begriffen, daß man den
Besatzern niemals eine Antwort geben durfte, es sei
denn, man konnte sie mit einer falschen Auskunft in
die Irre schicken. Ebenso lange dauerte es, bis ich,
nicht nur intellektuell, verstand, daß es kein Diebstahl
war, den Feind zu bestehlen, oder bis ich begriff, auch
in diesem Fall physisch, daß einer der angesehensten
Jugendführer in unserer Nachbarschaft ein Mitglied der
Quisling-Partei war und daß man deshalb nie wieder
mit ihm reden oder ihm auch nur zunicken durfte, wenn
man ihm begegnete. Ich fürchte, ich habe es niemals
ganz geschafft. Vielleicht war er der Mann, den ich
fünf Jahre später am Tag der Befreiung, kurz bevor
Dahrendorf seine Erlebnisse in Berlin hatte, in einiger
Entfernung auf den Wald zurennen sah. Der Verbre-
cher. Gleichzeitig liefen wir, die nicht gesündigt hatten,
zum Stadtzentrum, um die aus dem Gefängnis befreiten
Helden zu feiern.
Ich kann mich in Dahrendorfs Berlin nicht zu Hause
fühlen. In seinem Bild ist die Anomie nur eine Aus-
nahme. Wenige unglaubliche Tage, in denen die alten
Gesetze keine Gültigkeit mehr hatten. Dann kamen
neue Gesetze, die, ebenso wie die alten, vom Staat
erlassen worden waren. Der Übergang von einem
Regime zu einem anderen. Es ist das Bild einer Gesell-
schaft, die mit der gleichen Gewalt von oben kontrol-
liert wird wie die Menschen in den Militärlagern, die
Foucault (1977) als Prototyp der Disziplin beschreibt.
Ein streng regiertes Panoptikum.
Meine Kindheitserlebnisse – und ähnliche Erfah-
rungen sind bis zum heutigen Tag hinzugekommen –
beziehen sich auf ein Leben, in dem die Normen durch
einen langen und komplizierten Prozeß des Zusam-
menwirkens von Menschen geformt, umgeformt und
am Leben erhalten werden. Normen sind nicht einfach
vorhanden, sie entstehen. Deshalb fühle ich mich in der
Beschreibung des sozialen Lebens in dem Ungarn, das
Hans Magnus Enzensberger in seinem Buch Ach Euro-
pa! (1987) vorführt, mehr zu Hause als in Dahrendorfs
Schilderung von Berlin. Enzensberger beschreibt eine
Gesellschaft, in der Unklarheiten vorherrschen, in der
moralische Begriffe ständig neu diskutiert und Komp-
romisse zur wesentlichen Bedingung für das Überleben
werden. Das Verbrechen ist hier nichts als ein hohles
Konzept, hoffnungslos ungenau, gemessen an den
feinen Unterscheidungen und Deutungen, die eigentlich
gebraucht werden.
Heinz Steinert (1986) verwendet das Wort Problem
als Ausgangspunkt. Das Verbrechen ist als Ausgangs-
punkt wenig hilfreich. Aber Menschen haben Probleme
und verursachen Probleme. Und wir müssen etwas
gegen diese Probleme unternehmen. Die Gefahr besteht
darin, Probleme zu schnell als Verbrechen zu definie-
ren. Wenn wir das tun, verlieren wir interessante Alter-
nativen aus den Augen. Wir könnten uns sogar noch
einen Schritt weiter vom Konzept des Verbrechens
entfernen und folgendes sagen: Unser grundlegender
Ausgangspunkt sollte einfach das Wort Handlungen
sein. Der nächste Schritt besteht darin, festzustellen,
welche Handlungen als schlecht betrachtet werden.
Dann folgt eine Analyse der als schlecht eingestuften
Handlungen – ein Schema mit Kategorien wie Störun-
gen, wie Unerfreuliches, Häßliches und Sünde – und
zuletzt, aber nur als eine von vielen Alternativen, Ver-
brechen. Wenn das Verbrechen das letzte Konzept in
dieser Reihe ist, ist es leichter, die analytische Frage zu
stellen: Wie sehen die sozialen Bedingungen aus, unter
denen Handlungen als Verbrechen eingestuft werden?
Das Verbrechen existiert nicht. Nur Handlungen
existieren, Handlungen, denen häufig in unterschiedli-
chen sozialen Systemen unterschiedliche Bedeutungen
beigemessen werden. Handlungen und die Bedeutun-
gen, die ihnen unterlegt werden, sind unsere Daten.
Unsere Aufgabe besteht darin, dem Schicksal von
Handlungen durch das Universum der Bedeutungen zu
folgen.4 Die Frage lautet insbesondere: Welches sind
die sozialen Bedingungen, die es ermöglichen oder
verhindern, daß Handlungen die Bedeutung von Ver-
brechen beigemessen wird?
Ralf Dahrendorfs Tage der Befreiung – jene Tage,
in denen es «keine Autorität mehr gab, nicht die ge-
ringste Spur einer Autorität» – dauerten nur kurz. Für
Dahrendorf war es nur wie ein «Anhalten des Atems
zwischen zwei Regimes». Für Enzensberger und die
Ungarn, die er beschreibt, blieben wenigstens gewisse
Elemente jener Tage der Befreiung weiter bestehen.
Regimes existieren, aber ihre Existenz ist veränderlich.
Normen und Gesetze sind vorhanden, aber Normen und
Gesetze sind offen für die verschiedensten Interpreta-
tionen. Für Dahrendorf ist das anders. Die Normen
stabilisieren sich, werden zu etwas Gegebenem, so zum
Beispiel, wenn er sagt:

Wenn die Vorstellung eines Gesetzes sinnvoll


sein soll, muß sie sich auf Regeln beziehen, deren
Gültigkeit absolut ist. Entweder werden bestimmte
Verhaltensweisen als gesetzwidrig untersagt und
daher bestraft, oder nicht. (S. 68)

Seit er sich 1945 in Berlin seine fünf schmalen Bände


mit romantischer Dichtung angeeignet hat, hat er einen
weiten Weg zurückgelegt.
Aber all dies hat sich im Krieg abgespielt. Mancher
wird die Meinung vertreten, daß die Normen im Frie-
den stabiler seien. Was als Verbrechen angesehen wird,
steht dann auf einer haltbareren Grundlage. Ich bin mir
da nicht so sicher. Wenden wir uns einem Skandina-
vien im Frieden zu:

DER M ANN IM PARK

Der Schauplatz für das, was hier beschrieben werden


soll,5 ist ein kleiner, von Apartmenthäusern umgebener
Park. Es ist Juni, der Monat, in dem im Norden das
Licht, die Sonne und der Sommer gefeiert werden. Es
ist ein Sonntagvormittag, die Zeit für den Kirchgang,
wie diese stillsten Stunden der Woche früher bezeich-
net wurden. Auf mehreren Baikonen, die auf den Park
hinausgehen, sitzen Leute bei einem späten Frühstück,
lesen oder ruhen sich aus.
Ein Mann betritt den Park. Er hat ein paar Plastiktü-
ten bei sich und setzt sich damit nieder. Sie enthalten
Bierflaschen. Er öffnet eine Flasche, dann eine zweite
und schließlich mehrere, spricht mit sich selbst und mit
einigen Kindern, die sich bald um ihn versammeln. Er
redet und singt zum Vergnügen seiner Zuhörerschaft.
Nach einiger Zeit steht der Mann auf, geht auf ein
Gebüsch zu und öffnet seinen Hosenschlitz. Mehrere
Kinder begleiten ihn.
An dieser Stelle brauchen wir nicht nur ein Apart-
menthaus, sondern zwei, um zu verdeutlichen, was mit
dieser Geschichte gesagt werden soll. Die beiden Ge-
bäude, die an den Park grenzen, gleichen sich zwar
vollkommen, haben aber eine unterschiedliche Ge-
schichte. Das eine der Häuser wurde auf die heute
übliche Weise von einem professionellen Bauträger
gebaut. Als die Mieter einzogen, war der Bau schlüs-
selfertig, alle Stockwerke konnten von der Tiefgarage
aus mit einem Lift erreicht werden. Nennen wir dieses
Gebäude das Haus der Vollkommenheit. Das andere
Gebäude hingegen hatte eine turbulente Geschichte.
Der Bauunternehmer machte Bankrott. Es war kein
Geld mehr da. Es gab keinen funktionierenden Lift,
keine Eingangstüren in den Korridoren, die Küchen
waren noch nicht installiert – alles in allem eine ver-
zweifelte Situation. Die künftigen Bewohner – sie
hatten schon vor dem Bankrott gezahlt – waren ge-
zwungen, die schlimmsten Mängel selbst zu beheben.
Gemeinschaftsaktionen waren notwendig, um Türen
einzubauen, Zimmerdecken und Fußböden zu sanieren
und die Einfahrt zu pflastern. Ein Krisenkomitee wurde
gebildet, um den Bauunternehmer zu verklagen. Es war
schwere Arbeit und erzwungener Zusammenhalt. Nen-
nen wir dieses Gebäude das Haus der Probleme.
Und nun zurück zu dem Mann im Park.
Wenn ein Mann halb im Gebüsch versteckt und von
Kindern umringt seinen Hosenschlitz öffnet, so ist das
eine Situation, die sehr unterschiedlich interpretiert
werden kann. Im Haus der Probleme war der Fall klar.
Der Mann im Gebüsch ist Peter, der Sohn von Anna. Er
hatte einen Unfall, als er noch klein war, und benimmt
sich gewöhnlich ein bißchen seltsam, aber er ist so
freundlich wie die Mittsommernacht lang ist. Wenn er
zuviel trinkt, genügt es, seine Familie anzurufen, dann
kommt jemand und bringt ihn nach Hause. Im Haus
der Vollkommenheit sieht die Situation anders aus.
Niemand kennt ihn. Ein fremder Mann, der von Kin-
dern umringt ist. Er entblößt seinen Penis. Alle anstän-
digen Zuschauer auf den Baikonen rennen zum Telefon
und rufen die Polizei. Ein Fall von Exhibitionismus
wird gemeldet und möglicherweise ein schweres Se-
xualverbrechen verhindert.
Was hätten die guten Nachbarn im Haus der Voll-
kommenheit, die durch ihre eigenen Verhältnisse in
ihrer Wahrnehmung behindert waren, sonst tun sollen?
Ihr Bauunternehmer war nicht pleite gegangen. Sie
waren nicht gezwungen gewesen, mit ihren Nachbarn
zusammenzuarbeiten, sich gegenseitig Werkzeug aus-
zuleihen oder sich um die Kinder der Nachbarn zu
kümmern, während andere die Einfahrt asphaltierten,
und in endlosen Sitzungen darüber zu beraten, wie man
es vermeiden könne, durch den Bankrott noch mehr zu
verlieren. Sie waren nicht gezwungen gewesen, einan-
der kennenzulernen, ein System des kommunikativen
Handelns und gleichzeitig einen Schatz gemeinsamer
Erkenntnisse zu schaffen. Deshalb konnte sich auch die
Kenntnis der Schicksale von Peter und Anna in ihrem
Haus nicht so verbreiten, wie es in dem anderen Haus
der Fall gewesen war. Als verantwortungsbewußten
Bürgern blieb ihnen nur eine Möglichkeit, nämlich die
Polizei zu rufen. Weil es im Haus der Vollkommenheit
kein alle betreffendes Schicksal gegeben hatte, wurde
Peter dort zu einem potentiellen Verbrecher, während
man ihn im Haus der Probleme zu seiner Mutter nach
Hause gebracht hätte. Allgemeiner ausgedrückt heißt
das: Begrenzte Kenntnis innerhalb eines sozialen Sy-
stems eröffnet die Möglichkeit, einer Handlung die
Bedeutung eines Verbrechens beizumessen.
Dieser Umstand hat Konsequenzen für die Vorstel-
lung davon, was ein Verbrechen ist und wer die Ver-
brecher sind. In einem sozialen System mit intensiver
interner Kommunikation erhält man viele Informatio-
nen über die Menschen, von denen man umgeben ist.
Zwischen Menschen, die sich gegenseitig nicht kennen,
werden die öffentlichen Kontrollorgane zur einzigen
Alternative. Aber diese Organe produzieren Verbre-
chen allein schon durch ihre Existenz. Das Strafverfol-
gungssystem befindet sich in der gleichen Situation wie
König Midas. Alles, was er berührte, wurde zu Gold,
und wie wir wissen, verhungerte er. Vieles, was die
Polizei berührt, und alles, was die Gefängnisse berüh-
ren, wird zu Verbrechen und Verbrechern, und alterna-
tive Interpretationen von Handlungen und handelnden
Personen können dabei untergehen. In einer solchen
Gesellschaft können sich auch die eigenen Überlebens-
strategien ein wenig außerhalb des gesetzlich akzeptier-
ten Bereiches befinden. Ein breites Netzwerk vergrö-
ßert auch die Chance, daß man Menschen kennt oder
kennenlernt, die von den Behörden als Verbrecher
eingestuft werden. Damit sind wir wieder bei meinem
allgemeinen Thema: Handlungen sind nicht etwas
Bestimmtes, sie werden dazu gemacht. Menschen sind
nicht etwas Bestimmtes, sie werden dazu gemacht. Ein
breites soziales Netzwerk mit Verbindungen nach allen
Richtungen bringt zumindest eine gewisse Unsicherheit
darüber mit sich, was ein Verbrechen ist und wer die
Verbrecher sind.
Die Menschen im Haus der Vollkommenheit lebten
ein modernes Leben in einem Haus, in dem sie von
ihren Nachbarn isoliert wurden. Damit waren sie aber
auch von den Informationen über alle nachbarlichen
Angelegenheiten abgeschnitten. Dieser Mangel an
Information zwang sie, die Polizei zu rufen. Der Fall
wurde zu einem Kriminalfall, weil die Nachbarn zu
wenig voneinander wußten.
TÖCHTER UND EHEMÄNNER

Die meisten Kinder handeln gelegentlich in einer Wei-


se, die der Gesetzeslage nach als kriminell betrachtet
werden könnte. So kann zum Beispiel Geld aus dem
Portemonnaie der Mutter verschwinden, und es kann
klar sein, daß eines der Kinder das Geld genommen
haben muß. Oder die Kinder streiten sich vielleicht, das
Resultat sind blutige Nasen und zerschlagenes Mobi-
liar. Aber gewöhnlich denken wir in solchen Fällen
nicht in den Kategorien des Strafgesetzbuches, betrach-
ten solche Handlungen nicht als Verbrechen. In der
Regel bezeichnen wir unsere Kinder nicht als Verbre-
cher.
Warum nicht?
Weil wir das Gefühl haben, daß das ganz einfach
nicht richtig wäre.
Und warum nicht?
Wir wissen zuviel, wir kennen unsere Kinder aus
tausend anderen Situationen. Wir kennen ihre Großzü-
gigkeit und die Sorge um ihre Geschwister, die unsere
Tochter gewöhnlich an den Tag legt. Wir kennen ihre
Freuden und Sorgen. Eine Bezeichnung aus dem Straf-
gesetzbuch wäre ganz einfach unpassend. Auf ihrer
Stirn ist kein Platz für ein solches Stigma.
Was passiert ist, kann innerhalb der Familie geregelt
werden. Aber gelegentlich geschieht es, daß die Ereig-
nisse auch außerhalb der Familie bekannt werden. Das
moderne Leben kann als Schauplatz betrachtet werden,
wo eine ganze Armee von Leuten bereitsteht, die den
Dingen eine Bedeutung geben wollen. Verschiedene
Spezialisten können sich einmischen. Sie können als
Dienstleister betrachtet werden, man kann aber auch
die Meinung vertreten, daß sie miteinander konkurrie-
ren, den Phänomenen die Bedeutung zu unterlegen, die
in ihrem speziellen Beruf als natürlich erscheint. Im
Gesundheitssystem – stellen wir uns einmal einen
extremen Fall von ratlosen Eltern und unsensiblen
professionellen Ratgebern vor – könnten einige der
Handlungen als Indikatoren für die Entwicklung einer
gestörten Persönlichkeit betrachtet werden. Eine psy-
chiatrische Behandlung könnte die Folge sein. Im
Strafverfolgungssystem – stellen wir uns den schlimm-
sten Fall vor – könnten einige, von Jugendlichen be-
gangene Handlungen als Diebstahl oder Gewalttätigkeit
betrachtet werden, die das Eingreifen der Polizei, eine
Gerichtsverhandlung und eine mögliche Bestrafung zur
Folge haben würden. Das Verbrechen existiert nicht,
solange die Handlung nicht einen hochspezialisierten
Prozeß durchlaufen hat, durch den ihr eine Bedeutung
unterlegt wird und in dessen Verlauf sie vom Strafrich-
ter als die Art von inakzeptabler Handlung eingestuft
wird, die man Verbrechen nennt. Die Bezeichnung
Verbrechen ist eine, aber nur eine von vielen Möglich-
keiten, schädigendes Verhalten zu klassifizieren.
Die Tochter des Hauses ist für die meisten von uns
ein relativ einfacher Fall, der die positive Wirkung
einer engen Beziehung in einer solchen Situation ver-
deutlicht. Hier ist für das Verbrechen kein Platz. Abge-
sehen von den allerextremsten Fällen stehen unsere
Kinder darüber.
Aber was in diesem Fall eindeutig ist, bedeutet für
viele Frauen ein Problem, wenn sie einen gewalttätigen
Mann haben. Er ist groß, er hat Kraft, und er ist gefähr-
lich. In vielen Fällen isoliert er die Frau, um dafür zu
sorgen, daß seine Definition der Situation die gültige
bleibt. In seinen eigenen Augen ist er nicht gewalttätig,
er diszipliniert seine Frau nur. Vielleicht hängt sie für
ihren Lebensunterhalt von ihm ab, oder sie erinnert sich
an eine Zeit, in der sie sich geliebt haben, und beugt
sich deshalb seiner Definition. Intimität kann davor
schützen, daß Handlungen als Verbrechen betrachtet
werden. Aber vom Standpunkt der Frau aus gesehen,
muß das nicht unbedingt ein Vorteil sein.
Ein Teil des Themas dieses Buches ist eine Analyse,
was berechtigterweise als Verbrechen betrachtet wer-
den muß. Wir behaupten, daß dies eine offene Frage
ist, über die diskutiert werden kann und die vor allem
vor dem Hintergrund unserer Werte betrachtet werden
muß. Damit soll jedoch nicht abgestritten werden, daß
das Konzept des Verbrechens in gewissen Situationen
und für gewisse Zwecke sich als das zutreffende erwei-
sen kann. Dies ist besonders dann der Fall, wenn zwi-
schen den beteiligten Parteien eine Ungleichheit der
Kräfte besteht. Ich werde darauf in Kapitel 6 noch
einmal zu sprechen kommen.
DIE ALTE UND DIE NEUE SCHULE

In meiner Schulzeit wiederholte sich immer wieder das


gleiche Schauspiel. Ort: der Schulhof. Zeit: die große
Pause in der Mitte des Schultages, wenn der Schulhof
voller Kinder war. Ereignis: Ein kleiner Kreis von
Kindern bildete sich. Innerhalb von wenigen Sekunden
vervielfältigte sich ihre Zahl. Im Zentrum des Kreises
konnte man – sofern man nahe genug herankam – zwei
wütende Jungen sehen, die in einer wilden Rauferei
begriffen waren. Aber der Kampf dauerte nicht lange.
Der aufsichthabende Lehrer drängte sich durch den
Kreis, faßte die Jungen bei den Ohren oder am Genick
und führte sie einem, wie wir annahmen, schrecklichen
Schicksal zu, das der Direktor über sie verhängen
würde. Heute könnte es passieren, daß sie zur Polizei-
inspektion oder zu den bei der Schule stationierten
Polizisten gebracht werden. Estrada (1999 und 2001,
insbesondere S. 650-651) hat diese Entwicklung in
zwei Stadien der schwedischen Schulgeschichte be-
schrieben. Der alte schwedische Schuldirektor erklärte:

Es besteht keine Notwendigkeit, ein Vergehen,


das bereits begangen worden ist, der Polizei zu
melden... Die Schulbehörde empfiehlt es nicht, in
einer solchen Situation auf alle Fälle eine Anzeige
bei der Polizei zu erstatten. Es ist besser, die
Angelegenheit auf persönlicher Ebene in der
Schule zu regeln, soweit dies möglich ist. Schließ-
lich trägt die Schule eine große Verantwortung für
die Schüler.

Und nun der neue Direktor:

Wenn etwas passiert, sollte es sofort gemeldet


werden. Man sollte nicht erst entscheiden, ob es
sich um ein Vergehen handelt oder nicht. Das ist
Sache der Polizei.

Diese unterschiedliche Sichtweise spiegelt sich im


dramatischen Anstieg der bei der Polizei gemeldeten
Fälle von Gewalt durch Jugendliche wider. Allerdings
handelt es sich meistens um leichte Fälle. Während
früher in Form eines Besuches bei der Polizei Meldung
erstattet wurde, wird heute telefoniert oder ein Fax
gesendet.

ZORNIGE ALTE LEUTE

Sehr alte Leute werden häufig als liebenswürdig, be-


scheiden und rücksichtsvoll beschrieben. Das Leben
hat sie weise gemacht. Jetzt, so nahe vor dem Tod, sind
sie dankbar für alles, was für sie getan wird, und
freundlich gegen diejenigen, die sie in den Altenhei-
men pflegen. So erscheint das Bild, und häufig trifft es
auch zu. Aber es gibt Ausnahmen, und Malin Åkers-
tröm (2000, 2002) hat sich mit diesen Ausnahmen
beschäftigt. Manche alte Leute beißen, schlagen die
Pfleger, reißen sie an den Haaren, stoßen sie gegen
Wände, fügen ihnen ernste körperliche Schäden zu und
verhalten sich auf eine Weise, die unter anderen Um-
ständen mit Sicherheit als gewalttätig bezeichnet wer-
den würde. Aber nicht in Pflegeheimen für alte Leute.
Åkerström berichtet, daß ein Drittel aller Beschäf-
tigten in Pflegeheimen jede Woche mit solchem Ver-
halten konfrontiert werden, während derartige Hand-
lungen nur von 14 Prozent aller Insassen von Nerven-
heilanstalten berichtet werden. Dennoch reden die
Pfleger in Altenheimen nicht von Gewalt.
Statt dessen neigen sie dazu, die Ereignisse herun-
terzuspielen. Wenn sie beschreiben, was sich zugetra-
gen hat, tun sie es auf scherzhafte Weise. Und sie
haben eine allgemeingültige Ideologie. Den Patienten
muß auf alle Fälle mit Geduld begegnet werden. Au-
ßerdem kann die physische Aggression der alten Leute
nicht als Gewalt eingestuft werden, weil sie oft erkenn-
bar verwirrt sind. Und es nützt auch nichts, ihre Hand-
lungen als Verbrechen einzustufen. Sie können nicht
bestraft werden, und sie befinden sich bereits in einer
Institution, die die Aufgabe hat, sie zu behandeln.

DIE ERHOLUNG NACH DEM KRIEG

In einer modernen Gesellschaft ist es unser Schicksal,


unter Fremden zu leben. Dadurch entsteht ein Klima,
das besonders dazu geeignet ist, unerwünschten Hand-
lungen die Bedeutung von Verbrechen beizumessen.
Die Wichtigkeit der Frage, ob eine enge Beziehung
besteht oder nicht, ist in allen Lebensbereichen erkenn-
bar, wenn es darum geht, den Dingen eine Bedeutung
zu geben. Besonders wichtig ist diese Frage im Krieg –
es ist sehr viel leichter, die Handlungen des Feindes als
Verbrechen zu betrachten, als die eigenen Handlungen
ebenso zu beurteilen. Ebenso wichtig ist die Frage nach
dem Charakter der Beziehung jedoch auch nach dem
Krieg. Als Deutschland im Jahr 1945 besiegt war und
fünf Jahre militärischer Besatzung zu Ende gingen,
stürzten sich die norwegischen Behörden in eine wilde
Verfolgung aller, die mit den Besatzern kollaboriert
hatten. Alle Mitglieder der Nazi-Partei wurden als
Verbrecher eingestuft, ebenso alle anderen, die den
Besatzern auf unterschiedliche Weise geholfen hatten.
Todesstrafen wurden verhängt, die normalen Gefäng-
nisse erwiesen sich als zu klein, alte deutsche Gefange-
nenlager wurden mit Kollaborateuren gefüllt. Während
der Besatzungszeit und unmittelbar nach der Kapitula-
tion der Deutschen wurde in der Öffentlichkeit endlos
von der Hinrichtung und Deportation der Kollaborateu-
re geträumt.
Aber als die Zeit verging, zeigten sich zwei ver-
schiedene Tendenzen. Erstens wurden die Strafen
weniger hart, und zwar in einem solchen Maß, daß es
notwendig wurde, frühere Urteile zu revidieren. Krieg
und Besatzung gerieten in den Hintergrund, wodurch es
möglich wurde, manche der Kollaborateure mehr als
normale menschliche Wesen zu sehen. Der zweite
Trend bestand darin, die Kollaborateure, denen eine
wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den Deutschen
vorgeworfen wurde, mit besonderer Nachsicht zu
behandeln. Dag Ellingsen (1993) beschreibt das Phä-
nomen. Nach seiner Aussage wurden nicht alle Wirt-
schaftskollaborateure mit Nachsicht behandelt. Dieje-
nigen, die zu einem frühen Zeitpunkt abgeurteilt wur-
den, erhielten, ebenso wie die anderen Kollaborateure,
sehr strenge Strafen. Aber diejenigen, die so früh verur-
teilt wurden, waren meist kleine Fische, deren Fälle der
Staatsanwaltschaft keine große Mühe machten und die
ohne Schwierigkeiten auch von den überlasteten Ge-
richten bewältigt werden konnten. Die Anklageschrif-
ten gegen die großen Sünder mußten lange vorbereitet
werden. Dabei konnte es sich beispielsweise um Unter-
nehmer handeln, die im Süden Norwegens begonnen
hatten, Flughäfen für die Deutschen zu verbessern,
noch ehe der Krieg im hohen Norden vorbei war, und
die ihre Kollaboration während der fünfjährigen Besat-
zungszeit fortgesetzt hatten. Die Zeit, die in solchen
Fällen verstrich, bedeutete gewöhnlich ein nachsichti-
geres Urteil.
Andere Faktoren kamen hinzu. Komplizierte Fälle
bedeuteten endlose Vernehmungen durch die Polizei
und das Hinzuziehen von Rechtsanwälten, die die
Kollaborateure vertraten. Diese Rechtsanwälte waren
nicht die gewöhnlichen Verteidiger von Personen, die
unter normalen Umständen als Verbrecher betrachtet
werden, sondern Zivilrechtsexperten, respektable
Rechtsanwälte die der Mittel- und Oberschicht ange-
hörten. Und die Komplikationen bedeuteten langwieri-
ge Gerichtsverhandlungen und die Anwesenheit von
Angeklagten mit einer sozialen Stellung, wie man sie
bei Strafverfahren nur selten antrifft. Es wurde immer
schwieriger, ihre Handlungen als Verbrechen und sie
selbst als Verbrecher zu betrachten. Gegen Ende all
dieser Prozesse ergab sich eine zusätzliche Komplika-
tion. Das Land mußte wieder aufgebaut werden. Die
bedeutendsten Angeklagten, denen Wirtschaftskollabo-
ration vorgeworfen wurde, waren genau diejenigen, die
am besten in der Lage waren, diese Aufgabe zu erfül-
len. Ihnen gehörten die großen Firmen, die zwar teil-
weise erst durch die Kollaboration mit den Besatzern
groß geworden waren, die aber nun ein wichtiges Po-
tential darstellten. Es wurde immer schwieriger, ihr
früheres Verhalten als wirklich verbrecherisch und sie
selbst als Verbrecher anzusehen, die eine Bestrafung
durch den Staat verdienten.
Viel von dem oben Gesagten kommt in dem Schick-
sal eines Mannes zum Ausdruck. In seinem Fall han-
delte es sich nicht um ein Wirtschaftsverbrechen. Es
ging um etwas Ernsteres als Geld. Der Mann hatte auf
höchster Ebene kollaboriert und hatte zum Nazi-
Kabinett Vidkun Quislings gehört. Er war Kultusmini-
ster gewesen und wurde zum Tod verurteilt. Sein Fall
kam vor den Obersten Gerichtshof. Gewöhnlich treten
die Angeklagten dort nicht persönlich auf. Aber der
Angeklagte kann darauf bestehen, an den Verhandlun-
gen teilzunehmen, und genau das tat dieser Mann. Tag
für Tag wurde dieser Prototyp eines Beamten in den
Gerichtssaal geführt. Müde und blaß, mit traurigem
Gesicht und in einem abgetragenen Anzug von einem
Schnitt, wie ihn seine Richter auch einmal getragen
hatten, mit höflicher Stimme und ebensolchem Voka-
bular. Seiner Ausbildung als Jurist nach hätte er einer
von ihnen sein können, wäre nicht sein schicksalhafter
Glaube an ein anderes politisches System gewesen. Der
Oberste Gerichtshof wandelte das Todesurteil in eine
lebenslängliche Haftstrafe um. Ein Teilnehmer des
Prozesses, dessen Identität ich hier nicht aufdecken
möchte, behauptet, daß das tägliche Erscheinen des
Ministers vor dem Gerichtshof sein Leben gerettet
habe. Nach der damaligen Interpretation des Gesetzes
konnte es keinen Zweifel daran geben, daß seine Hand-
lungen verbrecherisch waren, aber er kam seinen Rich-
tern zu nahe, um noch den Eindruck eines Verbrechers
zu machen und seinen Tod gerechtfertigt erscheinen zu
lassen.

DAS VERBRECHEN ALS UNBEGRENZTE NATÜRLICHE

RESSOURCE

Das Verbrechen ist unbegrenzt. Das heißt: Handlungen,


die die Möglichkeit in sich tragen, als Verbrechen
betrachtet zu werden, sind wie eine unbegrenzte natür-
liche Ressource. Wir können ihr wenig in Form von
Verbrechen entnehmen – oder auch viel. Handlungen
sind nicht etwas Bestimmtes, sie werden es. Ihre Be-
deutungen werden geschaffen, wenn sie ausgeführt
werden. Sie zu klassifizieren und zu bewerten gehört zu
den wesentlichsten Aktivitäten eines Menschen. Die
Welt stellt sich uns so dar, wie wir sie wahrnehmen.
Das Verbrechen ist daher ein Produkt kultureller, sozia-
ler und geistiger Prozesse. Alle Handlungen, auch die,
die als unerwünscht gelten, können auf ein Dutzend
verschiedene Weisen verstanden werden: als schlecht,
wahnsinnig, böse, als falsch verstandene Ehre, als
jugendliches Draufgängertum, als politisches Helden-
tum – oder als Verbrechen. Die gleichen Handlungen
können einem deshalb in verschiedenen parallelen
Systemen als juristisches, psychiatrisches, pädagogi-
sches oder theologisches Problem begegnen.
Aber ich möchte doch folgendes klarstellen: Weder
hier noch später behaupte ich, daß inakzeptable Hand-
lungen – vollkommen inakzeptable Handlungen, für
mich nicht existieren. Ich leugne nicht, daß manche
Leute von Projektilen aus den Schußwaffen anderer
getroffen werden. Ich bestreite auch nicht, daß manche
Menschen den Autos anderer zum Opfer fallen, daß
Geld aus Schubladen oder von Bankkonten ohne Zu-
stimmung der Besitzer entwendet wird. Und ich leugne
auch nicht, daß ich starke moralische Einwände gegen
die meisten dieser Handlungen habe und versuche, sie
aufzuhalten oder zu verhindern. Und ebensowenig
bestreite ich, daß es besser ist, manche dieser Handlun-
gen als Verbrechen zu betrachten.
Ich bin gleichwohl daran interessiert zu wissen, wie
Bedeutungen entstehen und modifiziert werden. Das ist
keine unmoralische Haltung. Meine Welt ist angefüllt
mit Werten, von denen viele mir befehlen, zu handeln
und zu reagieren. Aber das kann mich nicht daran
hindern, mich lebhaft für die Frage zu interessieren,
wie Handlungen zu ihrer Bedeutung kommen.
Angesichts dieser allgemeinen Perspektive gibt es
einige Fragen, die in der Kriminologie traditionell
gestellt werden, die ich jedoch nicht stellen werde.
Insbesondere halte ich es nicht für sinnvoll, nach der
Entwicklung der Kriminalität zu fragen. Das bedeutet
nicht, daß Verbrechensstatistiken gänzlich ohne Inter-
esse wären. Solche Statistiken informieren uns über
Phänomene, die von einer bestimmten Gesellschaft als
Verbrechen gesehen und registriert werden. Ferner
erfahren wir daraus, was mit den Personen geschieht,
die als die wichtigsten Täter betrachtet werden. Aber
Verbrechensstatistiken sind selbst soziale Phänomene.
Sie sagen uns, was das System als Verbrechen betrach-
tet, womit es sich auseinandersetzt und womit es sich
überhaupt auseinandersetzen kann. Verbrechensstati-
stiken sind soziale Fakten, die unbedingt der Interpreta-
tion bedürfen. Diese Sicht der Verbrechensstatistiken
hat Konsequenzen. Sie bedeutet, daß es wenig sinnvoll
ist zu fragen, ob die Kriminalität zunimmt, stabil ist
oder abnimmt. Das Verbrechen existiert nicht als gege-
bene Größe. Es ist keine besonders reizvolle Aufgabe,
die Schwankungen im Auftreten eines Phänomens zu
messen, dessen Inhalt sich mit der Zeit ändert.
In diesem Punkt unterscheidet sich meine Auffas-
sung vermutlich bis zu einem gewissen Grad von der,
die David Garland (2001) in seinem Buch The Culture
of Control vertritt. Ich sage vermutlich, weil Garland
sich in diesem Punkt in seinem interessanten Buch
meiner Meinung nach unklar ausdrückt. Er sagt, so
mein Eindruck, daß das Verbrechen als Phänomen
existiert, das man als feste Größe beschreiben kann, die
sich im Laufe der Zeit verändert und von der wir sagen
können, daß sie ab- oder zunimmt. Ich habe auch den
Eindruck, daß er der Meinung ist, die Kriminalität sei
angestiegen, und daß diese Überzeugung ein wichtiges
Element seiner Analyse ist. Aber er drückt sich in
diesem Punkt sehr vorsichtig aus. Ich hoffe, seine
grundlegende Auffassung ist die, unsere soziale Situa-
tion habe sich in einer Weise entwickelt, daß man den
Eindruck einer zunehmenden Kriminalität haben muß
und daß dieser Eindruck alle möglichen sozialen Kon-
sequenzen hat.
Diese allgemeine Sichtweise des Verbrechens macht
es möglich, zwei zentrale Fragen zu stellen, die mitei-
nander im Zusammenhang stehen:
Erstens, was steht hinter dem Anwachsen oder Ab-
nehmen von Handlungen, die allgemein als uner-
wünscht oder inakzeptabel betrachtet werden? Und wie
ist es letztlich möglich, einen Einfluß auf die Häufig-
keit dieser unerwünschten Handlungen auszuüben?
Zweitens, welche Umstände sind die Ursache dafür,
daß ein wechselnder Anteil dieser unerwünschten
Handlungen als Verbrechen und die Täter als Verbre-
cher betrachtet werden? Unter welchen materiellen,
sozialen, kulturellen und politischen Bedingungen
werden die Bezeichnungen Verbrechen und Verbrecher
zur vorherrschenden Sichtweise unerwünschter Hand-
lungen und der Personen, die diese Handlungen ausfüh-
ren?
Es ist eine Perspektive, die den Weg frei macht für
das allgemeine Thema dieses Buches: Wann ist es
genug? Oder: Wann ist eine Tat wirklich verbreche-
risch? Diese Frage führt ganz natürlich zur nächsten:
Was ist eine angemessene Strafe?
2 MONOKULTUREN

M EHRDIMENSIONALITÄT

Es ist ein Teil unseres gemeinschaftlichen Wissens, daß


wir in multikulturellen Gesellschaften leben. Unsere
Gesellschaften haben sich aus dem Leben in einfachen,
homogenen Dörfern entwickelt, in denen wir uns alle
sowohl physisch als auch in bezug auf unsere Werte
ziemlich ähnlich waren. Aber allmählich ist die Welt
zusammengewachsen. Im Zuge dieses Prozesses waren
wir gezwungen, uns an Unterschiede zu gewöhnen. Wir
haben den Wandel vom Leben in Monokulturen zu
einem Leben in multikulturellen Gesellschaften durch-
gemacht.
Diese Aussage ist ebenso korrekt wie vollkommen
falsch.
Ich erinnere mich an einen schönen, warmen Som-
mertag unmittelbar nördlich des Polarkreises. Die
Fähre war unterwegs zu einer jener winzigen Inseln,
auf denen Menschen nur deshalb überleben können,
weil sie den Fischen und Walen der Nordsee so nahe
sind. Wenige Häuser duckten sich vor dem Wind hinter
die Klippen. Als wir uns langsam dem Hafen näherten,
beobachteten wir einen Mann, der Holz für den Winter
hackte. Es ist eine schwere Arbeit. Wegen der sommer-
lichen Hitze war er nur mit Shorts bekleidet. Mit har-
monischen, rhythmischen Bewegungen zerteilte er ein
Stück Holz nach dem anderen. Ein uraltes norwegi-
sches Bild. Mensch und Natur in Harmonie, eine un-
gebrochene Linie seit der Wikingerzeit. Mehrere Kin-
der sahen ihm zu. Bald würden sie die Tradition fort-
setzen.
Gibt es mehr darüber zu sagen? Nur das eine: Der
Mann und die Kinder waren alle kohlrabenschwarz.
Selbst die Fischerdörfer im hohen Norden haben ihre
Homogenität verloren. Und dies ist natürlich auch in
anderen Teilen Norwegens der Fall, nur noch in sehr
viel stärkerem Maß. In dem Stadtteil von Oslo, in dem
ich lebe, lernen mehr als 50 Prozent der Schüler des
Gymnasiums Norwegisch als zweite Fremdsprache. Es
ist also vollkommen korrekt zu sagen, daß wir sowohl
im Hinblick auf die Hautfarbe als auch im Hinblick auf
die Sprache einen Übergang von mono-zu multikultu-
rell vollzogen haben.
Nun aber die nächste Frage: Sind diese Beobach-
tungen bezüglich Hautfarbe und Sprache gute Indikato-
ren für eine multikulturelle Gesellschaft? Die Men-
schen unterscheiden sich voneinander, aber das ist
vielleicht nur äußerlich der Fall. Vielleicht stimmt das,
was in fortschrittlichen Kinderbüchern behauptet wird:
Im Inneren sind wir uns alle ähnlich! Ich werde alsbald
zu dem Ergebnis gelangen, daß diese fortschrittlichen
Bücher möglicherweise recht haben. Aber wenn es so
ist, dann ist das sehr bedauerlich. In der Vergangenheit
waren wir manchmal, wenn auch nicht immer, multi-
kulturell. Erst jetzt sind wir uns alle ähnlich. Ähnlich in
den Dingen, die wir für wert halten, darum zu kämpfen.
Um uns diesem Problem anzunähern, ist es viel-
leicht notwendig, uns auf eine andere analytische Ebe-
ne zu begeben. Anstatt zu fragen, ob Individuen sich
voneinander unterscheiden, könnten wir auch fragen,
ob Institutionen sich voneinander unterscheiden. Bei
dem Wort Institutionen denke ich an das Ordnen der
wesentlichen Elemente von Gesellschaften. Institutio-
nen sind Zentren elementarer Aktivitäten – mit ihren
Werten, Normen und Verhaltensweisen. Man kann sie
entweder in eine große Zahl von unterschiedlichen
Institutionen oder auch in wenige, abstraktere Katego-
rien einteilen. Dag Østerberg nimmt eine Einteilung in
vier Hauptkategorien vor. In der ersten finden wir die
Produktion materieller Notwendigkeiten und die für
den Austausch erforderlichen Beziehungen, die auf
Geld basieren und in denen zielgerichtete Rationalität
die vorherrschende Denkweise ist. In einer zweiten
Kategorie finden wir die Reproduktion, wobei Sorge
für und Rücksichtnahme auf andere im Mittelpunkt
stehen. Eine dritte Kategorie von Institutionen beinhal-
tet die Aktivitäten, die mit Macht und Politik zu tun
haben, in einer vierten finden wir die Institutionen, die
der Formulierung von Symbolen und der Verständi-
gung dienen, entweder auf der Ebene des täglichen
Lebens oder systematisiert in Erziehung, Wissenschaft
und Kunst.
In der Soziologie haben wir uns daran gewöhnt, In-
stitutionen, oder die wichtigsten Gruppen von Institu-
tionen, als grundlegend voneinander verschieden zu
betrachten. Eben diese Unterschiede machen es mög-
lich, zwischen den Institutionen zu differenzieren,
ihnen unterschiedliche Namen zu geben und ihre cha-
rakteristischen Eigenschaften und ihre jeweilige Stärke
miteinander zu vergleichen. In einer solchen Analyse
stützen wir uns oft intuitiv auf die Vorstellung von
Pluralismus.
Es ist jedoch auch möglich, sich ein anderes Bild zu
machen. Man kann auch von einer Vorstellung ausge-
hen, wonach eine Institution sich ausbreitet, in andere
Institutionen eindringt und sie in sich aufnimmt. In
diesem Bild herrscht eine Art von institutionellem
Imperialismus, wobei eine Institution eine vollständige
Vorherrschaft gewinnt, alle Entscheidungen von dieser
einen Institution getroffen werden und/oder wichtige
Bestandteile der meisten oder aller anderen Institutio-
nen kolonialisiert werden.
Und wo stehen wir selbst in diesem Bild?

DIE GROßTANTEN

Ich habe lebhafte Kindheitserinnerungen an Zeiten, die


ich mit drei Großtanten verbracht habe. Maria Hansine
wurde 1852 geboren, Sara 1854 und Anna 1859. Sie
stammten aus einer Dynastie von Pastoren, zur damali-
gen Zeit eine bedeutende Klasse, deren Bedeutung
jedoch ihren Preis hatte. Sie hatten einen hohen Status,
jedoch zuwenig Geld, um standesgemäß leben zu kön-
nen. Wenig Geld bedeutete geringe Chancen für eine
Heirat und Kinder. Männer, die nichts zu bieten hatten,
konnten keinen Heiratsantrag machen – und für die
Mädchen, die sich in einer solchen Situation befanden,
bedeutete es, daß sie nicht über eine lockende Mitgift
verfügten. Hinzu kam für diese Mädchen noch das
Problem, daß manche geeigneten Männer sich ver-
drückten und besonders attraktive Mädchen aus den
niedrigeren Klassen heirateten. So mangelte es an
möglichen Ehemännern für die Töchter der Dynastie.
Marie und Sara heirateten nie. Anna heiratete in relativ
reifem Alter, blieb kinderlos und zog mit ihren beiden
Schwestern zusammen, als ihr Mann starb. Aber auch
das Schicksal meiner Großonkel wurde von dem ihrer
Schwestern bestimmt. Von ihnen wurde erwartet, daß
sie für deren Lebensunterhalt aufkamen, wodurch jeder
Versuch, selbst zu heiraten, im Keim erstickt wurde.
Die Mädchen hatten vier Brüder. Der älteste entkam in
ein anderes Land, als seine Schwestern noch klein
waren und von den Eltern versorgt wurden. Dort grün-
dete er eine Familie. Die beiden nächsten waren nur
wenig älter als ihre drei Schwestern. Sie blieben le-
benslänglich unverheiratet. Es gab einmal ein Gerücht
über Großonkel Gerhardt und eine Dame, als er in
einem Haus oben im Tal als Hauslehrer arbeitete, aber
es wurde niemals etwas daraus. Die Schwestern besa-
ßen nichts. Sie hatten selbstverständlich keine bezahlte
Arbeit. Sie lebten in den Häusern anderer und zogen
die Kinder anderer Familien auf. Onkel Gerhardt sorgte
für das Allernotwendigste. Der vierte von den Brüdern,
mein Großvater, wurde für die Fortpflanzung dadurch
gerettet, daß er das jüngste Kind der Familie war, was
bedeutete, daß seine Schwestern schon lange, bevor er
erwachsen wurde, von den älteren Brüdern versorgt
wurden. Die drei Schwestern waren sehr arm. Später
erfuhr ich, daß sie lange Zeit gemeinsam nur einen
Wintermantel besaßen. Es war ihnen ein großer Kum-
mer, daß jede von ihnen im Winter nur an jedem dritten
Sonntag in die Kirche gehen konnte. Aber ihr Kummer
bezog sich mehr auf ihre Beziehung zu Gott als auf die
zu den Nachbarn. Sie lebten in einer Zeit, in der es
möglich war, arm, aber stolz zu sein, in der man hoch-
intelligent sein und dennoch in materiellem Elend leben
konnte, in der man ein unentbehrliches Familienmitg-
lied, jedoch ohne persönliches Einkommen sein konnte.
Bei Beerdigungen konnte man hören, daß die Verstor-
bene eine so gescheite Frau gewesen sei, die kluge
Ratschläge zur Bewältigung schwieriger sozialer oder
materieller Situationen geben konnte. Vielleicht wurde
auch gesagt, daß sie immer so freundlich gewesen sei
und niemals viel für sich selbst behalten habe. Sie habe
gemäß dem Sprichwort gelebt, daß niemand etwas in
eine geschlossene Hand legen könne. Eine ehrbare
Seele habe uns verlassen, oder, sie habe niemals einer
Fliege etwas zuleide getan.
Was ich hier zum Ausdruck bringen möchte, hat mit
Nostalgie nichts zu tun. Es ist auch nicht notwendig,
sich darüber Gedanken zu machen, ob das Leben mei-
ner Großtanten und Großonkel besser oder schlechter
war, als mein eigenes oder das meiner Enkel zu sein
scheint. Ich möchte lediglich zeigen, daß ihr Leben
typisch ist für eine multiinstitutionelle Situation. Sie
lobten Gott, aber hinter zugezogenen Vorhängen tran-
ken sie ihren Aquavit, um «Erkältungen vorzubeugen».
Sie liebten Bücher, aber diese Liebe verhalf ihnen nicht
zu einem Einkommen. Sie waren stolz auf ihre Familie,
aber auch das nur innerhalb bestimmter Grenzen. 1 Sie
arbeiteten ihr ganzes Leben lang in den Familien ande-
rer, verdienten aber so gut wie kein Geld. Das beeint-
rächtigte ihr Leben, aber nicht ihre Selbstachtung. Sie
waren mit Armut geschlagen, aber – soviel ich feststel-
len kann – sie starben mit dem Bewußtsein, ein Leben
in Würde geführt zu haben. Sie lebten in einer Zeit, in
der ihr Leben nicht von einer einzigen Institution kont-
rolliert wurde, obwohl ihnen die religiöse vermutlich
am meisten bedeutete. Insgesamt lebten sie ein Leben
in institutionellem Pluralismus.

ENTWICKLUNG ALS IMPERIALISMUS

Eine vorherrschende Idee in unserer Kultur besteht in


dem Wunsch, auszuziehen und alle Gesellschaften nach
unseren eigenen Vorstellungen zu formen. Ebenso ist
es mit der Modernität.
Im Jahr 1949 startete Harry Truman eine Kampagne
zur Beseitigung der Unterentwicklung, durch die die
ganze Welt zu einer einzigen Familie hochindustriali-
sierter Nationen umgestaltet werden sollte. Die Armen
der Dritten Welt sollten aus ihrer Unterentwicklung
und Armut gerettet werden. Es war eine sehr überzeu-
gende Idee, die von der Voraussetzung ausging, daß ein
gutes Leben nur nach einem von wirtschaftlichen Ge-
sichtspunkten dominierten Standard möglich sei.
Gleichzeitig war es jedoch eine Idee, die bedeutete,
daß alle Nationen sich nach unserem Vorbild und
gemäß unseren simplifizierenden Wunschstrukturen
entwickeln sollten. Später kam der Begriff Unterent-
wicklung aus der Mode. Statt dessen kam die Bezeich-
nung Entwicklungsländer auf. Das klingt optimisti-
scher, so, als befänden sie sich bereits auf dem richti-
gen Weg. Heute lautet die korrekte Bezeichnung Län-
der der Dritten Welt, aber die Wirklichkeit ist die
gleiche. Den Ländern der Dritten Welt muß geholfen
werden, unseren Standard zu erreichen. Ihre Waggons
der dritten Klasse müssen umgebaut werden, damit sie
so sind wie unsere Waggons der ersten Klasse. Aber zu
diesem Zweck müssen diese Länder eine wichtige
Eigenschaft ändern: Statt multiinstitutionell zu sein,
müssen sie monoinstitutionell werden. Dann werden sie
als Nationen in der Lage sein, sich aus ihrer Situation
der internationalen Abhängigkeit herauszuarbeiten. Das
ist jedenfalls die Wunschvorstellung. Als Staaten wer-
den sie dann nicht mehr um die Hilfe der hochindust-
rialisierten Länder bitten müssen. Aber manche ihrer
Bürger werden um Hilfe genau der Staaten bitten müs-
sen, die sich gerade aus ihrer nationalen Abhängigkeit
befreit haben (oder denen versprochen wurde, daß dies
demnächst geschehen würde). In diesem Prozeß wird
nationale Abhängigkeit gegen individuelle Abhängig-
keit vertauscht. Oder, auf andere Weise erklärt: Die
Länder der Dritten Welt waren in all ihrer Unterent-
wicklung oft auf eine Weise organisiert, die allen Men-
schen einen Platz bot und für alle Hände Verwendung
hatte. Wenn diese Nationen nun zur Kategorie der
Gesellschaften gehören sollen, die aus Produzenten und
Verbrauchern bestehen, werden viele ihrer Einwohner
die volle Teilnahme an den Aktivitäten einbüßen, die
als die einzig wichtigen betrachtet werden, dem Produ-
zieren und Konsumieren. Ivan Illich (1992, S. 90)
schreibt:

Bis weit in das industrielle Zeitalter hinein war das


Leben für die meisten Menschen, die in Kulturen
lebten, in denen sie nur das Existenzminimum
produzierten, von der Erkenntnis bestimmt, daß
es Grenzen gab, die einfach nicht überschritten
werden konnten. Das Leben bewegte sich inner-
halb unveränderlicher Notwendigkeiten. Der Bo-
den brachte nur die bekannten Feldfrüchte hervor,
der Weg zum Markt nahm drei Tage in Anspruch,
der Sohn konnte am Beispiel seines Vaters er-
kennen, wie seine eigene Zukunft aussehen wür-
de... Mängel, wobei Mängel an lebensnotwendi-
gen Dingen gemeint sind, mußten ertragen wer-
den... Gemäß der Moral einer solchen Wirtschaft
wird das Vorhandensein von Wünschen ebenso
für selbstverständlich gehalten wie die Gewißheit,
daß sie nicht befriedigt werden können.

Man lebte das Leben, wie es nun einmal war. Man


hatte Wünsche, aber in der Form von Hoffnungen,
nicht als Bedürfnisse, die auf Rechten beruhten. Nach
Illichs Sichtweise wird der Mensch vom Homo sapiens
(der weise Mensch oder Gourmet) in einen Homo
miserabilis verwandelt.
So gesehen ist die Idee der Entwicklung eine impe-
rialistische Idee. Imperialistisch in der Arroganz der
hochentwickelten Länder, die sagen: «Wir helfen euch,
so zu werden, wie wir sind.» Und imperialistisch durch
die Tatsache, daß die Hilfe in der Forderung und/oder
dem Zwang besteht, von einer multiinstitutionellen
Organisation zu einer monoinstitutionellen überzuge-
hen, in der die Ideen und Werte einer einzigen, domi-
nanten Institution die anderen Institutionen koloniali-
sieren.

DER LOHN DER ARBEIT

Ich erinnere mich lebhaft und mit starken Emotionen


an den Tag in meinem Leben, an dem ich erfuhr, daß
ich eine Dauerstellung an der Universität erhalten hatte.
Ein Besitztitel, eine Lebensstellung. In meinem ganzen,
der Forschung gewidmeten Leben hatte ich das Glück,
niemals etwas tun zu müssen, weil es mir Geld einbrin-
gen würde. Es ist immer umgekehrt gewesen. Ich habe
Geld erhalten, das mich befähigt hat, das zu tun, was
ich mit großer Begeisterung getan habe.
Ich bin in meinem Land keineswegs der einzige, der
ein so privilegiertes Leben führen kann. Ebenso privi-
legiert sind Menschen, die gewöhnlich als geistig be-
hindert bezeichnet werden. Ich ziehe es vor, sie unge-
wöhnlich zu nennen. Sie und einige als normal geltende
Menschen leben in sechs Dörfern in verschiedenen
Gegenden Norwegens. Die gleiche Art von Dörfern
gibt es in mehreren europäischen Ländern, insbesonde-
re in Großbritannien und in Deutschland.
Eine wichtige Besonderheit des Lebens innerhalb
dieser Dörfer besteht darin, daß sie den Zusammenhang
zwischen Arbeit und Geld durchbrochen haben. Alle
Dorfbewohner arbeiten, aber es gehört zu den Grund-
sätzen dieser Dörfer, daß Geld nicht als Entlohnung
verwendet wird. Alles Geld wird einfach in einen Topf
geworfen und den Notwendigkeiten entsprechend
verwendet, aber es wird nicht als Entlohnung benutzt.
Im offiziellen Budget tauchen Bezeichnungen wie
Lehrer, Pfleger oder Pflegerin, Arzt oder Bauer auf.
Aber innerhalb des Dorfes haben diese Begriffe nur
eine begrenzte Bedeutung, und was das wichtigste ist,
die Bezahlung für diese Stellungen kommt niemals bei
den Personen an, die sie einnehmen. Alles Geld vom
Staat, den Gemeinden und Spendern und alle Einnah-
men aus dem Verkauf von Gemüse oder Töpferwaren,
die im Dorf erzeugt werden, werden auf ein gemeinsa-
mes Konto für das ganze Dorf eingezahlt.
Aber die Dorfbewohner werden, unabhängig von ih-
rem Zustand, versorgt. Sie haben ein Zimmer in einem
Haus mit sehr ungewöhnlichen Menschen – und eini-
gen, die überhaupt nicht ungewöhnlich sind, wenn man
von der Tatsache absieht, daß sie in einem solchen
Dorf wohnen möchten. Sie haben Zugang zu allen
Bequemlichkeiten des modernen Lebens: Gesunde
Nahrung, wenn nötig ein Auto für diejenigen, die fah-
ren können, oder ein Platz in einem Auto für die, die es
nicht können, eine Urlaubsreise nach Griechenland mit
anderen Dorfbewohnern oder ein Musikfestival in St.
Petersburg.
Studenten hören ungläubig zu, wenn ich ihnen von
dem gemeinsamen Konto erzähle, daß alles Geld in
einen Topf geworfen wird, aus dem alle den Notwen-
digkeiten entsprechend etwas entnehmen können. Das
kann nicht sein. Das muß zu Mißbrauch oder zu endlo-
sen inneren Streitigkeiten darüber führen, wie das Geld
verwendet werden soll. Meine Antwort lautet: Machen
Sie den Versuch, über diese Frage mit sehr alten Arbei-
tern zu reden. So alt, daß sie nicht von der Sozialversi-
cherung, sondern von der Sykekasse reden, buchstäb-
lich der kleinen Schachtel, in die sie während der Wo-
chen, in denen sie das Glück hatten, eine Bezahlung zu
erhalten, regelmäßig einen Teil ihres Lohns einzahlten.
Aus dieser Schachtel erhielten sie ein wenig Geld,
wenn der Körper einfach nicht mehr mitmachte. Die
Definition eines arbeitsunfähigen Körpers war Sache
des Arbeiters selbst. Das Problem mit dem Geld in der
Schachtel war nicht Mißbrauch, sondern das Gegenteil
davon, es wurde zu wenig entnommen. So ist es auch
in dem Dorf. Die Erfahrung, ein gemeinsames Schick-
sal zu haben, bewegt die Leute zu einem spartanischen
Leben. Die Höhe des Konsums ist eine Folge der Or-
ganisation eines sozialen Systems. Durch das Leben in
großen Systemen, von denen angenommen wird, daß
sie nach beiden Seiten offen sind, wird eine bestimmte
Art von Moral geweckt. Durch das Leben in kleinen
Systemen, in denen es offensichtlich ist, daß das eigene
Verhalten unmittelbare Folgen für alle anderen hat,
kann eine vollkommen andere Moral entstehen.
Das Geld im gemeinsamen Topf macht es leichter,
die Verbindung zwischen Geld und Arbeit zu durch-
brechen. Niemals habe ich in den Dörfern jemanden
sagen hören, daß Geld ein Grund dafür sei, eine Aufga-
be zu übernehmen. Der Grund, aus dem gearbeitet
wird, ist die Tatsache, daß die Arbeit erledigt werden
muß. Alle arbeiten, manche mit Begeisterung, andere
mit beachtlichem Geschick, um sich das Leben leicht-
zumachen. Aber Geld oder das Fehlen von Geld wird
niemals als Grund für irgendeine Aktivität genannt.
Kühe müssen gemolken werden, und ihre Schwänze
müssen vom Milcheimer ferngehalten werden – was
manchmal eine wichtige Aufgabe sein kann –, Unkraut
muß beseitigt, Essen zubereitet, der Lahme vom Blin-
den gestützt oder geschoben und der Blinde vom Lah-
men in die richtige Richtung gewiesen werden. Geld ist
eine Notwendigkeit für die Beziehungen mit der Au-
ßenwelt, aber intern ist es irrelevant. Das hat unmittel-
bare Konsequenzen für die Bewertung der Aktivitäten.
Der Lohn für die Arbeit ist die Arbeit selbst. Im Engli-
schen gibt es im Gegensatz zum Norwegischen und
Deutschen die Möglichkeit, zwischen labour und work
zu unterscheiden. Labour (erzwungene Arbeit) ist eine
schwere Bürde. Historisch gesehen besteht eine Ver-
bindung zwischen Zwangsarbeit und Folter. Das Wort
work erweckt eher die Vorstellung von Leistung. Es hat
etwas mit Kreativität zu tun. Ein Kunstwerk wird ge-
schaffen! Für diesen Schöpfungsakt ist Geld eine Be-
drohung. Die Arbeit ist nicht mehr in sich selbst eine
Belohnung. Sie wird zum Werkzeug für etwas anderes
und dadurch zu erzwungener Arbeit.
Wenn Geld und Konsum eine geringere Bedeutung
haben, bleibt Raum für andere Aktivitäten. Das größte
der von mir beschriebenen Dörfer heißt Vidaråsen.
Hier gibt es viele ganz normale Gebäude – Wohnhäu-
ser, Werkstätten, eine Farm – und drei große öffentli-
che Gebäude. Das größte davon ist der Theatersaal.
Hier, in einem Dorf mit 160 Einwohnern, befindet sich
der größte Konzert- und Theatersaal des Landes. Musi-
ker kommen mit Begeisterung zu Aufführungen hier-
her. Das zweitgrößte Gebäude, das von mir als «Zelt»
bezeichnet wird, dient religiösen Zwecken, wird aber
auch für Vorträge und andere kulturelle Aktivitäten
genutzt. Das dritte Gebäude, das gerade erst fertigge-
stellt wurde, ist ein Zentrum für Menschen, die einer
speziellen Fürsorge bedürfen. Drei Gebäude, die alle
mit Geld aus dem Topf gebaut wurden, drei Symbole
für Institutionen, die von zentraler Bedeutung für die
Dorfkultur sind: Kultur, Religion und Pflege. Zusam-
men mit der Arbeit sind sie die zentralen Elemente des
Lebens in einem solchen Dorf. Dadurch ist eine Viel-
falt lebensnotwendiger Aktivitäten möglich. Dadurch
wird buchstäblich für jeden ein Platz geschaffen.
Wir sollten jedoch auch nicht romantisieren. Kleine,
eng verflochtene Gesellschaften wie diese, in denen die
Menschen voneinander abhängen, sind auch Schauplät-
ze interner Konflikte. In anderem Zusammenhang habe
ich einen kleinen Artikel mit dem Titel «A Living
Society is a Quarrelling Society» (Eine lebendige
Gesellschaft ist eine streitende Gesellschaft, Christie
1973) veröffentlicht. Dieser Artikel bietet auch für die
Realitäten in den Dörfern eine zutreffende Beschrei-
bung.
Viele Jahre lang war ich mit diesen Dörfern verbun-
den und habe sie in einem kleinen Buch mit dem Titel
Jenseits von Einsamkeit und Entfremdung (1992) be-
schrieben. Vor zwei Jahren wurde ich gebeten, ein
neues Vorwort für eine Übersetzung ins Italienische zu
schreiben, und habe dies auch getan. Aber da seit der
ersten Ausgabe eine so lange Zeit verstrichen war, bat
mich der Herausgeber, zu beschreiben, wie sich die
Dörfer in den rund 15 Jahren entwickelt haben, die
vergangen sind, seit ich dort gelebt und meine Beo-
bachtungen gemacht habe. Dies brachte mich in Verle-
genheit. Tatsächlich war nicht viel passiert. Es war eine
Zeit der Stabilität, nicht der Veränderung gewesen.
Aber warum sollte dies ein Grund sein, sich zu
schämen? Warum ist es so viel leichter, Veränderungen
zu beschreiben, als ihr Gegenteil? Ich glaube, es liegt
daran, daß eine fehlende Entwicklung dem Geist der
Zeit widerspricht und deshalb so leicht als Fehler inter-
pretiert wird. Die Menschen in Vidaråsen und den
anderen Dörfern repräsentieren einen Lebensstil, der
sich dem Druck zur Entwicklung nicht unterworfen hat.
Sie haben sich geweigert, sich zu modernisieren. Sie
haben die Werte der alten Gesellschaften analysiert und
sich bewußt gemacht und ihr Leben diesen Werten
entsprechend organisiert.
Das also ist das Problem, das sich ergibt, wenn man
spätere Entwicklungen beschreiben soll. Seit der ersten
Ausgabe ist nicht viel passiert. Und warum sollte das
auch der Fall sein? Dörfliches Leben hat einen langsa-
men Rhythmus: Geburt, Altern, Tod – und das Eintref-
fen von Neuankömmlingen für ein Jahr oder für den
Rest ihres Lebens. Einige neue Gebäude wurden errich-
tet, einige alte wurden restauriert, aber in erster Linie
ist das Leben einfach weitergegangen. Es war das ganz
gewöhnliche Dorfleben.
Eine andere, schwierige Frage bleibt: Wie ist das
möglich? Wie soll man das Fehlen jeder Entwicklung
in einer Welt erklären, in der der Glaube an den Fort-
schritt vorherrscht?
Ich habe keine zuverlässigen Antworten, aber einige
Vorschläge. An erster Stelle steht die Fokussierung auf
die Dorfbewohner als Ausgangspunkt aller wesentli-
chen Aktivitäten in den Dörfern. Manche der Bewoh-
ner können nicht gut laufen, was die Ausdehnungsmög-
lichkeiten der Dörfer einschränkt. Die mangelnde
Bereitschaft, eine bürokratische Hierarchie zu akzeptie-
ren, hat die gleiche Wirkung. Solche Organisations-
formen wären kaum zu verhindern, wenn die Dörfer
größer würden. Die Eliminierung von Geld als Anreiz
ist ein weiterer Faktor. Es ist nichts damit gewonnen,
groß und modern zu bauen. Im Gegenteil, Entwicklung
kann als Bedrohung für die Lebensqualität betrachtet
werden -mehr Leute, mit denen zusammengearbeitet
werden muß, weniger Zeit für enge Beziehungen.
Viele der Dorfbewohner sind jedoch in der «norma-
len Gesellschaft» aufgewachsen. Sie wurden dazu
erzogen, Fortschritt als erstrebenswertes Ziel zu be-
trachten. Sie wurden ausgebildet, um eine berufliche
Stellung zu bekommen, eine Familie zu gründen, ge-
sellschaftlichen und wirtschaftlichen Aufstieg anzust-
reben, vielleicht eine eigene Firma zu gründen – alles
normale Zeichen des Erfolgs. Warum bleiben sie in den
Dörfern? Warum wandeln sie die Dörfer nicht in irgen-
deine Art von modernen Pflegeheimen um?
Ich nehme an, der Hauptgrund dafür ist die Tatsa-
che, daß es in den Dörfern so viele andere Herausforde-
rungen gibt. Wenn man mit einem Menschen zusam-
menlebt, der nicht normal sprechen kann, ist es ein
enormer Sieg, wenn man es eines Tages geschafft hat,
die Körpersprache dieses Menschen zu verstehen, und
anschließend sogar noch Fortschritte darin macht.
Wenn jemand, dem es noch nie gelungen ist, ohne
Hilfe von einem Haus zum anderen zu gehen, eines
Tages eine solche Heldentat vollbringt, ist das fast
einen ganzen Tag lang Grund zur Freude. Hinzu kom-
men all die anderen erfreulichen Aspekte des Gesell-
schaftslebens in einem Ghetto. Das Leben in einem
Dorf hat viele stabilisierende Faktoren.
Dennoch hätte es auch schiefgehen können. Die
Dörfer hätten durch ihre wirtschaftliche Situation zer-
stört werden können. Nicht durch einen Mangel an
Geld, sondern durch ihren Überschuß!
Ich habe bereits von der grundlegenden Regelung
gesprochen, alles Geld in einen Topf zu werfen. Was
ich nun erwähnen muß, ist die Tatsache, daß diese
Regelung für die Dörfer die Möglichkeit bedeutet,
relativ wohlhabende soziale Systeme zu werden. Die
Dörfer erhalten weniger Geld vom norwegischen Staat,
als andere Systeme bekommen würden, die ebensoviele
Menschen mit außergewöhnlichen Schwierigkeiten
betreuen. Aber die Menschen, die hier leben, haben
praktisch keine privaten Ausgaben. Das Dorf ist ihr
Zuhause. Sie brauchen keine Häuser oder Autos zu
kaufen und keine Versicherungen abzuschließen. Des-
halb verbleibt ein großer Teil des Geldes in dem ge-
meinsamen Topf. Und aus diesem Topf wird Geld
entnommen und dafür verwendet, Häuser zu renovie-
ren, neue Pferde und zusätzlichen Grund und Boden zu
erwerben, einen neuen Festsaal oder neue Häuser für
weitere Dorfbewohner zu bauen. Und darin besteht die
Bedrohung. Das Geld hätte zu übermäßiger Expansion
führen können, zu einer zusätzlichen Belohnung be-
sonders verdienstvoller Dorfbewohner – die dann den
egalitären Standard innerhalb des Dorfes gefährdet
hätte, oder zu einem allgemeinen Lebensstandard, der
so hoch über dem gelegen hätte, was in Norwegen
üblich ist, daß es Ärger gegeben hätte. Die Stabilität
der Dörfer hätte in Gefahr geraten können, nicht weil
sie zu wenig, sondern weil sie zu viel Geld hatten.
Dieses Problem wurde durch Großzügigkeit gelöst.
Das Bemerkenswerteste, das geschehen ist, seit ich
meine ersten Beobachtungen machte, ist die enorme
Expansion der Dorfbewegung im östlichen Europa.
Vier neue Dörfer wurden gegründet, eines in Rußland,
eines in Estland, eines in Polen und erst kürzlich eines
in Litauen. Sie alle erhielten großzügige Unterstützung
von den norwegischen Dörfern in Form von Geld,
Baumaterial und Personal. Als ich von dieser Entwick-
lung erfuhr, war ich zunächst skeptisch und fürchtete,
die norwegischen Dörfer könnten sich übernommen
haben. Geld und Arbeitskräfte wurden in den norwegi-
schen Dörfern gebraucht. Es war gefährlich, das alles
nach Osten zu schicken.
Ich hatte mich geirrt. Ich hätte mich an die Instituti-
on des Potlatch erinnern sollen. Oder ich hätte an ande-
re Fälle denken sollen, die von Sozialanthropologen
beschrieben werden, an Fälle, in denen der Überschuß
zerstört, weggegeben oder neu verteilt wurde, damit die
grundlegende Struktur des Stammes oder der Gemein-
schaft nicht verändert oder zerstört wurde. Die Hilfe,
die bei der Gründung neuer Dörfer in Osteuropa gelei-
stet wurde, hat die Dörfer in Norwegen befähigt, ihre
Identität zu bewahren. Der unternehmerische Geist hat
ein Ventil gefunden, wodurch kein Schaden angerichtet
wurde. Der Überschuß wurde für einen guten Zweck
verwendet. Er diente der Entwicklung, aber der Ent-
wicklung von weiteren Dörfern, weiteren Beispielen
für eine alternative Lebensweise. Und dies in Ländern,
in denen Alternativen dringend gebraucht werden als
Gegengewicht gegen verwestlichte Vorstellungen mit
ihrer Botschaft von den Segnungen des wirtschaftli-
chen Konkurrenzkampfes und der Entwicklung, die
jetzt in den Osten vordringen.

WIE MAN KINDER AM BAUEN HINDERN KANN

Kinder sind fast immer aktiv. Sie füttern ihre Puppen


und fechten ihre Kriege aus, sie bauen Schlösser aus
Kartons und Paläste aus Sand. Sie tun es zum Spaß, sie
schaffen etwas, und die Tätigkeit selbst ist ihre einzige
Belohnung. Es ist eine wichtige und schwierige Frage,
warum so viele von ihnen diese Aktivitäten beenden,
warum sie aufhören, etwas zu schaffen.
Weil es so anstrengend ist?
Beobachten Sie Kinder dabei, wie sie sich ein
Baumhaus bauen. Oder versuchen Sie, es sich vorzu-
stellen, wenn es in Ihrer Nähe keine Kinder gibt. Sie
werden vom frühen Morgen bis zum späten Abend
nicht müde. Sie schleppen Bretter zu ihrem Bauplatz,
sägen, hämmern, schlagen Nägel ein und verletzen sich
die Finger. Sie können tage- oder wochenlang damit
beschäftigt sein, bis ihr Bauwerk fertig ist und sie
allmählich beginnen, neue Pläne zu schmieden.
Wir werden mit dem Bedürfnis zu schöpferischer
Tätigkeit geboren. Aber die Arbeit kann uns auf ver-
schiedene Weise verleidet werden. Die gefährlichste
Art ist Bezahlung. Sie lenkt unsere Aufmerksamkeit
von der Arbeit ab. Nicht mehr das, was man tut, steht
im Mittelpunkt, sondern das, was man dabei verdient.
Arbeit wird zum Mittel für einen anderen Zweck, und
die Tätigkeit wird zu dem, was man in Deutschland
uneigentlich nennt – sie ist keine Aktivität mehr, mit
der etwas geschaffen werden soll, sondern eine Aktivi-
tät, mit der etwas anderes erreicht werden soll, etwas,
das zu dem, was geschaffen wird, hinzukommt: die
finanzielle Entlohnung. Geben sie den Kindern Geld
für den Bau von Baumhäusern, und sie werden bald
damit aufhören.
Wenn man die Beziehung zwischen Arbeit und
Lohn aufhebt, wird auch noch etwas anderes hinfällig:
der seltsame Glaube, daß die Menschen nach Verdienst
entlohnt werden. Wer es am meisten verdient, be-
kommt auch den höchsten Lohn? Weil einer der beste
Puppenmacher in der Stadt oder im Land ist? Weil
Puppen gefragter sind als Schaukelpferde? Weil man in
eine Familie von Puppenmachern hineingeboren wur-
de? Weil man stark und/oder rücksichtslos genug war,
sich ein Monopol für die Produktion von Puppen zu
sichern? Wo der Lohn für die Arbeit die Arbeit selbst
ist, wird klar, daß die finanziellen Unterschiede in
normalen Gesellschaften viele andere Gründe haben als
die Arbeit selbst.
Eine Bezahlung würde der Bautätigkeit der Kinder
ein rasches Ende bereiten. Daneben kenne ich nur noch
eine wirkungsvolle Methode, ihnen die Lust am Bauen
auszutreiben. Man braucht ihnen nur zu sagen, wie sie
es machen sollen. Ich brauchte nur den Hammer zu
ergreifen und sie aufzufordern, mir genau zuzusehen,
und dann einen kleinen Kurs im Baumhausbau abzu-
halten, mit einem Abschlußexamen für alle, die sich als
geschickt genug erwiesen haben, auf einen Baum zu
klettern. Solange es sich um eine Hütte in einem Baum
handelt, ist die Vorstellung absurd. Auf Gesellschafts-
ebene regeln wir die Dinge aber genauso – und wun-
dern uns dann, warum so viele Kinder so passiv wer-
den.

KAPITAL

Wir wissen, daß Georg Simmel (1989, S. 555) recht


hatte. Geld ist der Feind persönlicher Beziehungen:

Das Geld ermöglicht nicht nur, uns von den Bin-


dungen Anderen gegenüber, sondern auch von
denen, die aus unserem eigenen Besitz quellen,
loszukaufen.

Geld wird in sich selbst zum Symbol der Fremdheit.


Wenn ich einen engen Freund bitte, mir beim Transport
meiner Möbel von einem Haus in ein anderes zu hel-
fen, und ihn am Ende eines langen Umzugstags auffor-
dere, mir eine Rechnung zu schicken, wird er das ent-
weder für einen Witz halten oder ernsthaft gekränkt
sein. Wenn ich ihm im Ernst Geld anbiete, sage ich ihm
damit, daß «wir keine Freunde sind». (Gezelius 2002,
S. 241)
Vor einiger Zeit stellte ich einigen Studenten die
Frage, woran sie bei dem englischen Wort capital
denken. Fast alle antworteten: Geld, und nur wenige
zögerten dabei. Tags zuvor hatte ich im Oxford English
Dictionary nachgeschlagen und konnte darauf hinwei-
sen, daß Geld in dieser Quelle des Wissens erst an
achter Stelle aufgeführt ist. Am Anfang der Liste ste-
hen Köpfe, größere Städte und größere Gebäude – alles
Begriffe, die der ursprünglichen Bedeutung des Wortes
näher kommen. Es sagt sehr viel über unsere Zeit aus,
daß Geld für viele den Platz von Köpfen eingenommen
hat.
In alten Städten waren die Kirchen das wichtigste
Wahrzeichen, dicht gefolgt von den königlichen Palä-
sten als Nummer zwei. Danach folgten Universitäten
und Schulen. In meinem Stadtviertel ist die Schule
immer noch das größte von allen Gebäuden. Was für
ein Monument für die Bedeutung der Institution des
Unterrichts muß diese Schule vor 110 Jahren gewesen
sein, ein fünfstöckiges Bauwerk, gekrönt von einem
metallenen Türmchen, das wie ein Bismarckhelm
geformt ist. Paläste für Gott, Paläste für den König,
Paläste für das Wissen und den Unterricht. In den
heutigen modernen Städten sind sie alle von Wolken-
kratzern und Einkaufszentren überschattet, von Palä-
sten für den Handel und das Geld. Die Auswahl des
Ziels für den Anschlag am 11. September 2001 war
kein Zufall.

DIE NEUE KATHEDRALE

Es geschah in Kanada. Es ist ein Höhepunkt der Trivia-


lität, daß ich nichts anderes vorhatte, als Unterwäsche
zu kaufen, und mein Hotel verließ, um danach zu su-
chen. In Kanada kann es sehr kalt sein, und mehrere
Städte haben ihre Zentren so ausgebaut, daß Käufer
aller Art von einem Gebäude zum anderen gehen kön-
nen, ohne ins Freie treten zu müssen. In Höhe des
ersten Obergeschosses gibt es kleine, überbaute Brük-
ken, auf denen mögliche Kunden auf ihrer Jagd nach
Waren die Straßen überqueren können, ohne dem Wind
und dem Schnee ausgesetzt zu sein. Die darunterlie-
genden Straßen sind für den Autoverkehr und für we-
niger gut gekleidete Menschen da – für solche, denen
sang- und klanglos der Zugang zu öffentlichen Gebäu-
den verweigert wird, die damit also nicht mehr öffent-
lich sind.
Bald hatte ich mich in dem Gewirr von Waren ver-
irrt. Pelze auf der linken Seite, Schals geradeaus, dann
eine kleine Brücke. Und wo sind jetzt das Hotel und
diese verdammte Unterwäsche? Nachdem ich die Ski-
Ausrüstung hinter mir gelassen und durch eine Öffnung
in der Wand gegangen war, war ich plötzlich da. In der
Kathedrale. Ein asiatisches Paar und ich kamen gleich-
zeitig an. Wir standen mit offenem Mund da. Seit Rom
hatte ich nichts Vergleichbares gesehen. Diese riesige
Halle, die Kuppel, das farbige Glas. Wir waren in einer
Art Galerie gelandet. Tief unten konnte ich ver-
schwommen den Fußboden erkennen. Verschwom-
men? Nicht ganz, ich hatte einen Blick auf das er-
hascht, was gerade mein wichtigstes Anliegen war:
eine Abteilung für Herrenunterwäsche. Ich war in eines
der größten Kaufhäuser Kanadas geraten.
In unserer Vergangenheit gibt es zahlreiche Beispie-
le monoinstitutioneller Epochen, in denen bestimmte
Institutionen eine fast absolute Vorherrschaft erlangt
hatten. Es konnte die Familie sein, die die Macht hatte,
Gesellschaften, in denen verwandtschaftliche Bezie-
hungen das Leben der Menschen fast vollständig be-
stimmten – durch die Verteilung von Besitz und die
Festlegung politischer Loyalitäten. Es konnte auch die
Kirche sein, die die dominierende Stellung einnahm.
Dann wurde das kanonische Recht zur absoluten Quelle
aller rechtlichen Entscheidungen, Könige und Königin-
nen beugten sich der Autorität der Erzbischöfe, und aus
der Bibel wurde das Recht des Ehemannes auf absolute
Herrschaft innerhalb der Familie herausgelesen. Es gibt
auch Beispiele für die Vorherrschaft des Militärs. In
solchen Zeiten wurde der Krieger zum wichtigsten
Rollenmodell für die Aristokratie, und ihre heldenhaf-
ten Kriegsabenteuer vernichteten ganze Nationen. All
dies sind Fälle von institutionellem Imperialismus, in
denen eine Institution die meisten anderen koloniali-
sierte.
M OBILITÄT

Die alten Grundbesitzer hatten ein Problem. Sie waren


in ihrem Landbesitz verwurzelt. Manche lebten gerne
dort und wurden zu respektierten Persönlichkeiten in
der Gegend. Andere dachten vielleicht an Ausbeutung,
aber auch sie mußten sich um soziale Bindungen küm-
mern. Sie waren angewiesen auf die Arbeit der von
ihnen abhängigen Menschen und brauchten ein Mini-
mum an Vertrauen und Loyalität in ihrem Umfeld,
wenn sie nicht eine absolute Macht als Sklavenhalter
ausüben konnten. Das gilt auch für Fabrikbesitzer und
Geschäftsinhaber. Ohne ein Minimum an Respektabili-
tät konnten Scheunen auf geheimnisvolle Weise in
Flammen aufgehen, Maschinen konnten unerwartet
zum Stillstand kommen, und niemand wäre bereit
gewesen, ihnen in einer stürmischen Nacht beizuste-
hen, in der sie den Fjord überqueren mußten, um den
Arzt zu holen.
Der neue Typ von Besitzenden, Leute, die das Geld
über Konten hin- und herschieben, befindet sich in
einer vollkommen anderen und historisch einmaligen
Situation. Ihr Eigentum hat kein Gewicht. Es kann
durch einen Knopfdruck hin- und herbewegt werden.
Und es steht ihnen frei, mit ihrem Besitz umherzuzie-
hen. Sie sind die neuen Vagabunden, die bestens gerü-
stet sind, jederzeit an die Orte zu ziehen, die zum je-
weiligen Zeitpunkt am besten dazu geeignet erschei-
nen, den Erhalt und das Wachstum ihres Vermögens zu
sichern. Zu diesem Zweck haben sie ihre eigenen In-
formationssysteme, vorwiegend natürlich in Form von
inoffiziellen Netzen, aber auch verschiedene Zeitschrif-
ten dienen diesem Zweck. Eine davon, International
Living, bietet ständig billige Grundstücke in aller Welt
an, vorwiegend in Ländern, die von Naturkatastrophen
oder politischem Umsturz heimgesucht wurden und in
denen die Preise für Häuser und Grundstücke auf einen
Tiefpunkt gefallen sind. Im Frühjahr 2003 war Argen-
tinien geradezu ein Traum für Leute, die auf billige
Erwerbungen aus waren, aber man sollte sich sputen,
die Verhältnisse könnten sich wieder normalisieren. In
Nicaragua kann man immer noch günstig Grund und
Boden erwerben; überdies gibt es ständig Informatio-
nen über Steuerparadiese. Durch diese Zeitschrift bin
ich auf Dr. W G. Hill und The Passport Report in der
11. Ausgabe des Jahres 1997 gekommen. Er schreibt:

Warum sollten Sie Ihr Leben und Ihre Freiheit


irgendeiner Regierung anvertrauen? Wenn Sie
nur einen Paß besitzen, sind Sie Politikern Re-
chenschaft schuldig, die Sie als ausbeutbare
Ressource betrachten könnten. Sie können über-
wacht, mit einem Etikett versehen und festgehal-
ten werden. Das muß aber nicht so sein. Wenn
Sie zwei weitere Pässe besitzen, müssen Sie zu
keinem Land «gehören». Sie machen Ihre eige-
nen Gesetze. Ihre persönliche und finanzielle
Unabhängigkeit kann gewahrt bleiben. Ihre Bewe-
gungsfreiheit ist gesichert.

Damit soll nicht etwa gesagt werden, daß Sie irgendein


Gesetz brechen müßten, um sich einen zweiten Reise-
paß zu verschaffen. Ganz im Gegenteil. So etwas wür-
de W. G. Hill Ihnen niemals empfehlen. Er kann Ihnen
aber sagen, wie Sie auf legalem Weg zu Papieren
kommen können, die auf Ihren Namen ausgestellt
sind... In vielen Fällen ist nicht einmal ein fester
Wohnsitz erforderlich. Es gibt sogar einige Orte, die
Sie in Ihrem ganzen Leben kein einziges Mal aufsu-
chen müssen, um einen Paß zu bekommen.

EINE MONOINSTITUTIONELLE GESELLSCHAFT

Wir leben nicht mehr zur Zeit meiner Großtanten.


Wir befinden uns in einer monoinstitutionellen Situati-
on, in einem Zustand von institutionellem Imperialis-
mus, diesmal jedoch durch das Anschwellen der Insti-
tution der Produktion, des Handels und der Geldwirt-
schaft.
Bauwerke sind Symbole institutioneller Hegemonie.
Das gilt jedoch auch für das, was in diesen Bauten
geschieht, insbesondere dafür, nach welchen Prinzipien
das Leben organisiert ist. Vorstellungen aus dem Be-
reich der Wirtschaft sind zweifellos in die benachbarten
Institutionen eingewandert. Das Geld ist der alles be-
stimmende Faktor. Aktivitäten werden nach dem Profit
bewertet, den sie erwirtschaften, und der Profit wird in
Geld berechnet, nach dem Prinzip, daß die höchste
Produktivität auch am besten bezahlt werden muß. Das
scheint ganz selbstverständlich zu sein. Aber wenn man
nicht in diese Vorstellung hineingeboren ist, ist es
natürlich keineswegs selbstverständlich, daß Aktivitä-
ten außerhalb der Institution der Produktion und des
Handels auf die gleiche Weise entlohnt werden müs-
sen.
Das meiste Geld für die beste Mutter? Nein, an die-
ser Stelle treten wir auf die Bremse. Aber das meiste
Geld für den wertvollsten Wissenschaftler? Da wird
schon etwas weniger scharf gebremst. Und selbst in-
nerhalb der Institution der Religion sind Kämpfe um
das Geld zu erkennen. Norwegen hat eine «Staatskir-
che». Vor einiger Zeit hat die Gewerkschaft der Pfarrer
damit gedroht, einen Streik zu inszenieren, um das
allgemeine Gehaltsniveau für ihre Mitglieder zu erhö-
hen. Aber sie ist nicht so weit gegangen, die beste
Bezahlung für jene zu verlangen, die als die «besten»
Prediger gelten oder die meisten Gläubigen in ihren
Kirchen versammeln können. Aber die leitenden Bi-
schöfe erhalten höhere Gehälter als die normalen Bi-
schöfe und Pfarrer mit großen Gemeinden mehr als
Pfarrer mit kleinen Gemeinden. Und Parlamentsab-
geordnete, die gewöhnlich so begeistert von der Idee
sind, daß die Löhne dem Marktpreis entsprechen müs-
sen, scheinen immer noch mit der Entscheidung zu
zögern, daß Hinterbänkler weniger Geld erhalten sollen
als Vorderbänkler. Aber im Mai 2003 hat ein Parla-
mentsausschuß in meinem Land eine Gehaltserhöhung
für den Parlamentspräsidenten und für die Vorsitzen-
den sämtlicher parlamentarischer Ausschüsse vorge-
schlagen.
Die Hegemonie des marktwirtschaftlichen Denkens
ist heutzutage so vollständig etabliert, daß sie bis zu
einem gewissen Grad unsichtbar geworden ist. Sie ist
zu einem selbstverständlichen Teil des Lebens gewor-
den. Wie könnte es auch anders sein? Um das Selbst-
verständliche in Frage zu stellen, müssen wir ein paar
weniger respektable Parallelen ziehen.
EINE TOTALITÄRE LÖSUNG

Um ein Phänomen verstehen zu können, empfiehlt es


sich, Vergleiche zu ziehen. Wir haben bereits einen
Zustand beschrieben, in dem eine Institution in alle
anderen Institutionen eingedrungen ist. Was ist damit
vergleichbar? Dafür sollten wir das Phänomen des
Totalitarismus betrachten.
Der Ursprung des Wortes ist nicht ganz klar. Klein
(1971) vermutet in seinem etymologischen Lexikon,
daß das Konzept des Totalitarismus etwas mit dem
Wort towetos – vollgestopft – zu tun hat, das seinerseits
mit tumere – anschwellen wie ein Krebsgeschwür –
verwandt ist. Insoweit unterscheidet sich dies nicht
allzusehr von gewissen Entwicklungen in der Markt-
wirtschaft. Gewöhnlich ist das aber nicht das einzige,
das über totalitäre Gesellschaften ausgesagt wird.
Carl Joachim Friedrich bietet folgende Definition
totalitärer Regime an (nach Linz 2000):

1. eine totalitäre Ideologie,


2. eine einzige Partei, die diese Ideologie
vertritt und die in der Regel von einem
Mann, dem Diktator, geleitet wird.
3. eine stark ausgebaute Geheimpolizei und
drei Arten von Monopolen oder, genauer
gesagt, monopolistischer Kontrolle, näm-
lich der Kontrolle (a) der Massenkommuni-
kation, (b) der operativen Waffen und (c)
aller Organisationen, einschließlich der
wirtschaftlichen, was eine zentral geplante
Wirtschaft beinhaltet.

Berat Hagtvet (1981, S. 285f. ) schreibt:

Totalitäre Staaten sind ein Versuch, alle struktu-


rellen Unterschiede aufzuheben oder zu schwä-
chen, von denen moderne Staaten gewöhnlich
gekennzeichnet sind. In totalitären Diktaturen
stellen wir fest, daß die Wirtschaft, das Kulturle-
ben, die Familie, der Gesetzesapparat und alle
anderen Subsysteme gegenüber dem politischen
System nur eine begrenzte Autonomie besitzen.
Gemessen an totalitären Diktaturen erscheint es nicht
gerechtfertigt zu behaupten, daß wir infolge der enor-
men Dominanz der Marktwirtschaft in einem totalitä-
ren Regime leben. Wenn wir aber nicht darauf beste-
hen, daß totalitäre Phänomene nur in einer Diktatur
auftreten können, sieht die Situation anders aus. Wenn
wir uns an die Geschichte des Konzepts halten, tumere
– anschwellen –, ist es keineswegs unvernünftig, die
totalitären Aspekte wahrzunehmen, die mit unserem
gegenwärtigen System verbunden sind. Vielleicht
hindert uns die Gewohnheit, totalitäre Regime als
Produkt eines Diktators zu betrachten, daran, den totali-
tären Charakter unserer gegenwärtigen Existenz zu
erkennen.
Ich behaupte, daß unsere Gesellschaft sich gegen-
wärtig auf den alten Zustand zubewegt, in der eine
Institution die dominierende Stellung einnimmt und in
die meisten anderen Institutionen eingewandert ist. Im
Zentrum des modernen Lebens stehen Produktion und
Konsum, und zwar nicht, weil dies der Vorstellung
eines einzelnen Mannes oder einem einzelnen, alles
umfassenden Plan entspricht, obwohl viele der interna-
tionalen Bemühungen, den Handel zu globalisieren,
dem sehr nahe kommen. Kein Diktator sagt uns, daß
Geld und Konsum die wichtigsten Lebensziele seien,
aber es wird uns gesagt. Nicht in Form von großen
Shows – in großen Paraden mit Militärmusik. Unsere
Zeit ist die Zeit der schönen Leute – es wird uns vor
Augen gehalten, wie sie leben und wie sie zu dem
geworden sind, was sie sind. Was für eine Schande,
nicht erfolgreich zu sein. Im Verkauf dieser Botschaft
ist die heutige Marktwirtschaft vermutlich erheblich
effektiver als der Propagandaapparat der alten totalitä-
ren Diktaturen.

DER PREIS EINES MONOLITHISCHEN

ENTLOHNUNGSSYSTEMS

Es gibt immer noch ein paar abgeschirmte Bereiche, in


denen alternative Werte etwas gelten, ein paar heimli-
che Gärten, ein paar Klöster, ein paar Akademien,
einige Zirkel von Bohemiens, ein paar oppositionelle
Jugendkulturen. Aber die dominanten Ideen sind inner-
halb der wirtschaftlichen Institution zu finden, für die
Produktion, finanzieller Gewinn und Konsum im Mit-
telpunkt stehen.
Solche Gesellschaften mit ihren vereinfachten Ent-
lohnungssystemen sehen sich mit einigen unvermeidli-
chen Problemen konfrontiert. In multiinstitutionellen
Gesellschaften gibt es Institutionen, in denen eine
Entlohnung mit Geld keinen Platz hat. Man spielt um
des Spielens willen, geht zum Fluß um des Spazier-
gangs willen, trifft sich mit Freunden oder Verwandten
um des Zusammenseins willen. Wenn Geld bei einer
zunehmenden Anzahl von Aktivitäten eine Rolle zu
spielen beginnt, findet man sich in einer Situation
wieder, in der Aktivitäten, die in sich selbst eine Be-
lohnung sind, in immer geringerer Zahl zur Verfügung
stehen. Wenn Geld, beziehungsweise das Ausgeben
von Geld, zum Ziel aller Aktivitäten wird, wird das
Leben für alle, die kein Geld haben, trübselig und leer.
Es bleiben so wenig andere Möglichkeiten übrig, sich
zu bewähren. Kein Geld zu besitzen wird zu einem
eindeutigen Indikator dafür, daß das Leben ein Fehl-
schlag war.
Eine Person, die ich relativ gut kenne, hat im Alter
von dreizehn Jahren einmal gesagt: «Ich wünschte, ich
würde niemals älter werden.» Vermutlich wollte sie
damit zum Ausdruck bringen, daß das Leben der Er-
wachsenen nicht besonders verlockend ist. Es wird
immer wieder behauptet, daß es früher keine Alternati-
ven gegeben habe. Die Leute waren fest an ihre schwe-
re Arbeit hinter dem Pflug oder im Haushalt gebunden
und wußten, daß ihr Leben genauso sein würde wie das
ihrer Urgroßväter und Urgroßmütter. Wir hingegen
können unser Schicksal selbst in die Hand nehmen.
Man kann aber auch zu einem gegenteiligen Schluß
kommen. Die Alten hatten viele Aufgaben neben der
hinter dem Pflug und im Haushalt, während unser
Leben dadurch eingeschränkt wird, daß das Verdienen
und Ausgeben von Geld ein so ausschließliches Ziel
aller Aktivitäten ist. Was unseren Lebenszweck betrifft,
leben wir in einem Monolithen und sind darin gefangen
wie in einem Granitblock.
Vom Standpunkt wirtschaftlicher Rentabilität aus
gesehen, besteht in hochindustrialisierten Gesellschaf-
ten kein großer Bedarf an der Arbeitskraft von Män-
nern und Frauen. Was die meisten gut machen, können
Maschinen oder Arbeiter in weniger industrialisierten
Ländern noch besser. Arbeitslosigkeit ist deshalb das
Schicksal einer beträchtlichen Zahl von Mitbürgern –
der jungen, der alten, der kranken, der weniger gut
qualifizierten, der Menschen mit anderer Hautfarbe
oder einer anderen Kultur. Für viele dieser Menschen
ist bezahlte Arbeit nur ein ferner Traum, ebenso ihre
Rolle als Konsumenten mit Hilfe von Geld, das auf die
biblische Weise mit Schweiß verdient wird. Menschen
in dieser Situation können schwere Probleme haben –
und die Gesellschaft mit ihnen.

LEUCHTENDES SÃO PAULO

Vor nicht allzu langer Zeit machte ich eine Reise nach
Brasilien. São Paulo ist das Wirtschaftszentrum des
Landes, eine hektische Stadt, in der es unglaublichen
Reichtum gibt. Wie immer in fremder Umgebung,
dauerte es einige Zeit, bis ich begriff, was um mich
herum vor sich ging. Ich sah mich mit zwei Aussagen
und einer Beobachtung konfrontiert:
1. «Selbst an kühlen Tagen fahre ich immer mit ge-
schlossenen Fenstern und laufender Klimaanlage»,
sagte mir eine Dame.
Was für eine Gleichgültigkeit gegenüber der Not-
wendigkeit, Energie zu sparen, dachte ich mir.
2. «Während der Nacht halte ich niemals vor einer
roten Ampel», sagte mir ein anderer Autofahrer. Was
für ein unsozialer Fahrer, dachte ich.
3. Und dann die Beobachtung: In allen armen Län-
dern ist es eine allgemein übliche Erscheinung, daß
sich ganze Horden von Kindern an allen größeren
Kreuzungen sammeln und Kaffee, Limonade, Zeitun-
gen und das Reinigen der Wagenfenster anbieten. Nicht
so in São Paulo.
Der gemeinsame Nenner: Die Angst vor Verbre-
chen. Die Klimaanlage mußte laufen, weil die Fenster
aus Angst vor Räubern geschlossen blieben. Vor einer
Kreuzung anzuhalten galt als gefährlich. Deshalb fuhr
man bei Rot weiter. Und wegen der geschlossenen
Fenster und weil möglichst nicht angehalten wurde,
gab es keine Möglichkeit, Service und Waren anzubie-
ten.
Eine Kollegin interviewte mich für eine juristische
Zeitschrift. Sie war eine Aktivistin, die für die Rechte
der Strafgefangenen kämpfte. Sie erwähnte ganz ne-
benbei, daß sie während der letzten Jahre achtmal
ausgeraubt worden sei. Sie hatte eine Freundin, die
Vorlesungen über Kriminologie hielt und die nur weni-
ge Tage zuvor auf andere Weise in Schwierigkeiten
geraten war. Sie fuhr ein altes Auto ohne Klimaanlage.
Um die Hitze zu überstehen, fuhr sie deshalb mit ge-
öffneten Fenstern. Es herrschte dichter Verkehr, der
schließlich zum Stillstand kam. Ein Arm kam zum
Fenster herein, eine Rasierklinge wurde ihr an die
Kehle gesetzt. Der Räuber – es war eine Frau – ver-
langte ihr Geld. Die Kriminologin war müde und hung-
rig, und es war ihr heiß. Sie befand sich auf dem
Heimweg und wollte ihren Kindern etwas zu essen
machen. «Jetzt reicht's, heute wird nicht mehr geraubt»,
sagte sie und fuhr an. Die Frau mit der Rasierklinge
zog den Arm zurück und ging kopfschüttelnd fort.
Unverdienterweise war sie an ein Opfer ohne Manieren
geraten.
Am nächsten Tag ging ich zu einer Polizeiinspekti-
on. Es war ein winziges Gebäude neben einem interna-
tionalen Hotel mit Einzel- und Doppelzimmern, die
vorzüglich für die Unterbringung von Gästen ausgestat-
tet waren. In der Polizeistation mußten sich 70 Männer
eine Zelle teilen. Der Platz reichte nicht aus, daß alle
gleichzeitig sitzen konnten. Die beiden Duschen konn-
ten während des Tages nicht benutzt werden, weil
Gefangene darin standen, um das Gedränge in der Zelle
ein bißchen zu verringern. Die Hitze, der Gestank, die
Enge, Hände und Arme, die durch die Gitterstäbe
gestreckt wurden – Dante hätte vermutlich seinen
Augen nicht getraut.
Doch zurück zur Stadt. Überall elektrische Zäune
und Wachposten mit Pistolen vor den meisten großen
Gebäuden. Man sichert, was man hat, mit allen verfüg-
baren Mitteln. Oben in den Bergen, in beruhigender
Entfernung von den Apartment-Palästen, waren einige
Lichter zu sehen, es waren die Lampen der Barrios, der
selbstgebauten Hütten und Slums der Armen.
Brasilien ist nicht Skandinavien, aber vielleicht wird
Skandinavien mit jedem Schloß, das wir vor die Tür
hängen, ein bißchen mehr wie Brasilien?
Einmal im Jahr wird in Norwegen eine riesige Akti-
on organisiert, um Geld für wohltätige Zwecke zu
sammeln, die an der Spitze der sozialen Agenda stehen
– für Flüchtlinge, für die Weltkinderhilfe, den Kampf
gegen Aids und gegen alle Arten von Elend. Zeitungen,
Rundfunk und Fernsehen bemühen sich, Begeisterung
für den guten Zweck zu wecken, und Tausende von
Sammlern gehen von Tür zu Tür. Kürzlich wurden
einige altgediente Sammler im Rundfunk interviewt.
Die Arbeit sei erheblich schwieriger geworden, sagten
sie. Nicht, weil die Leute weniger spendeten, wenn
man erst einmal Kontakt mit ihnen aufgenommen hatte,
sondern weil es so schwierig geworden sei, an sie
heranzukommen. Früher konnte man in einen Wohn-
block hineingehen und innerhalb des Gebäudes von Tür
zu Tür gehen. Heute werden die Sammler nicht in die
Gebäude hineingelassen, wenn sie nicht jemanden
kennen, der dort wohnt. Die Eingänge der Wohnblocks
sind heute fast immer verschlossen. Die Geldsammler
können auf einen Klingelknopf drücken, aber die Tür
wird ihnen nicht immer geöffnet. Gefahren von drau-
ßen könnten lauern. Schließlich sind die Nachbarn
füreinander verantwortlich.

VERBRECHENSFREIE TERRITORIEN

Mein Heim ist mein Schloß. In diesem Schloß kann


man ein Privatzimmer für sich alleine haben.
Privat?
Das Wort hat lateinische Wurzeln. Privare, berau-
ben, die Vorstellung der Römer vom Schicksal des
Abgeschnittenseins von den anderen, getrennt zu sein
von der Gesellschaft, abgeschnitten und entfernt von
allem, was wichtig ist.
Und wieder befinden wir uns auf vertrautem Boden.
Das Apartment, ja, genau, der Ort, wo man für sich
gehalten wird, fern von allem anderen. Ich bin in Woh-
nungen von Leuten eingeladen worden, deren Türen
mit mehreren Schlössern und außerdem noch mit zwei
Stahlstangen ausgestattet waren, die quer über die Tür
gelegt wurden. Es nahm sehr viel Zeit in Anspruch,
hineinzukommen, sogar für den Besitzer selbst. In
einigen Häusern gab es auch noch Schlösser und
Alarmanlagen an den Fenstern, häufig mit einer direk-
ten Leitung zur Polizei oder zu einem Sicherheits-
dienst. Wenn solche Häuser verkauft werden, dann
deshalb, weil die Bewohner in noch größere, noch
besser bewachte Wohnblocks ziehen wollen.
In den romanischen Ländern gibt es die Tradition
der Concierge, einer freundlichen, aber wachsamen
Frau. Inzwischen wurde sie erst durch einen Mann,
dann durch einen Mann mit einer Schußwaffe ersetzt,
der schließlich in einen kleinen, kugelsicheren Raum
mit Überwachungskameras verbannt wurde, von dem
aus er die ganze Wohnanlage im Auge behalten kann.
Um das ganze Gebäude wird ein Sicherheitskreis gezo-
gen. Aber warum nur um das Gebäude? Man könnte
doch das ganze Stadtviertel einzäunen. Vergoldete
Städte, Paradiese für diejenigen, die viel zu verlieren
haben. Sie entstehen in allen westlichen Ländern. Am
Eingang stehen Wachleute, die dafür sorgen, daß nur
Leute mit triftigen Gründen und den besten Referenzen
eingelassen werden.
Ein Problem bleibt allerdings in den Stadtzentren
bestehen, und zwar die öffentlichen Gebäude und
Plätze, die angeblich für alle da sind. Hier können
zweifelhaftere Gestalten aufkreuzen. Eine Lösung
besteht darin, solchen Orten einen halbprivaten Status
zu geben. Einem nicht betrunkenen Penner kann man
den Zugang zu den größeren Straßen nicht verweigern,
aber wenn die Einkaufszentren der Stadt jemandem
gehören, ist die Kontrolle einfach. Wie Bottoms und
Wiles (1992) dargestellt haben, kann man durch solche
Kontrollen unerwünschte Personen fernhalten. Pennern
kann auf diese Weise mehr oder weniger diskret mitge-
teilt werden, daß sie hier nichts zu suchen haben. Aber
es gibt auch noch andere Möglichkeiten. Repräsentati-
ve Stadtviertel können eingezäunt werden, wie in Los
Angeles. Zwischen diesen Vierteln befinden sich
Highways, und die Slums sind nicht weit weg. Bänke
kann man so konstruieren, daß man nicht darauf schla-
fen kann und daß die Versuchung, länger darauf zu
sitzen, sehr gering ist. Im Hauptbahnhof von Kopenha-
gen wurden alle Bänke entfernt. Außerdem ist es in der
großen Halle verboten, auf dem Fußboden zu sitzen.
Als die ersten Autos in New York auftauchten, wur-
de das als große hygienische Verbesserung gelobt.
Früher brauchte man Stiefel, um durch Pferdeäpfel und
Schweinekot die Fifth Avenue entlangzugehen. Dann
nahmen die Autos Überhand, und die Städte mußten
umgebaut werden. Die Pferdeäpfel sind verschwunden,
und die Schweinekoben machten dem wertvolleren
Baugrund für Menschen Platz. Und heute geht der
Fortschritt weiter, diesmal unter dem Banner von Kri-
minologen im Kampf gegen Leute, die es seltsamer-
weise vorzuziehen scheinen, in Vierteln mit zerbroche-
nen Fensterscheiben zu leben. Es ist einfacher, sich
einem Bach entgegenzustemmen als einem Fluß, und
einfacher, sich einem Fluß entgegenzustemmen als
einer Flut, und offensichtlich ist es einfacher, jemanden
zu verhaften, der in der U-Bahn schwarzfährt, als je-
manden daran zu hindern, sich zu einem Menschen zu
entwickeln, der später vielleicht sehr viel schwerere
Verbrechen begeht.
Das, was mit den Schlössern an den Türen, den ver-
goldeten Städten und den Menschen geschieht, die
hinter zerbrochenen Fensterscheiben leben – das alles
ist nur eine Miniaturausgabe dessen, was ganze Staaten
heutzutage tun. Die Reichen schützen ihr Eigentum,
indem sie sich hinter Mauern verschanzen. Das gleiche
tun die reichen Staaten, um die Bürger der armen Län-
der aus ihren Territorien fernzuhalten. Das Schengener
Abkommen und andere derartige Verträge verwandeln
ganze Staatengruppen in vergoldete Territorien.
3 INSTRUMENTALISIERUNG DES VERBRECHENS

KEIN PLATZ FÜR DAS VERBRECHEN

Manchmal ist es leichter, die Bedingungen zu verste-


hen, durch die ein Phänomen entsteht, wenn diese
Bedingungen gerade nicht vorhanden sind. So ist es
auch mit dem Verbrechen.
Ich wuchs in einer Zeit heran, in der mein Land von
deutschen Truppen besetzt war. Persönlich habe ich
diese Zeit als leichte Jahre in Erinnerung. Keine nahen
Verwandten oder Freunde kamen während des Krieges
ums Leben, keiner wurde gefoltert oder verletzt. Wir
gehörten zu der Mehrheit der Norweger, die in ihrer
negativen Haltung gegenüber den Besatzern und ihrer
intensiven Verachtung für die Kollaborateure mitei-
nander vereint waren. So ist das Leben, wenn man den
Feind im eigenen Haus hat. Es ist ein Leben, in dem es
nur Schwarz und Weiß, Engel und Teufel gibt. In den
Straßenbahnen hingen Plakate, mit denen die Fahrgäste
darauf hingewiesen wurden, daß es ein Vergehen sei,
stehen zu bleiben, wenn neben einem sitzenden deut-
schen Soldaten ein Platz frei sei. Es gab auch Plakate,
auf denen verkündet wurde, daß auf Zugehörigkeit zur
Widerstandsbewegung die Todesstrafe stehe. Alle
Radiogeräte waren konfisziert worden, Fernsehen gab
es noch nicht, nur ein paar pro-deutsche Zeitungen
waren erhältlich, es gab keine Zeitschriften, kein Thea-
ter, keine Filme. Alle Sportveranstaltungen waren
verboten, die meisten Lehrer wurden, zumindest vorü-
bergehend, verhaftet und nach Nordnorwegen ge-
schickt, weil sie sich weigerten, sich der von den Nazis
dominierten Gewerkschaft anzuschließen. Keine öf-
fentlichen Versammlungen fanden statt, mit Ausnahme
der von den Kollaborateuren für Kollaborateure organi-
sierten Veranstaltungen. Dennoch sind meine Erinne-
rungen an den Krieg vorwiegend friedlich.
Es war eine Zeit, die mit sozialem Leben ausgefüllt
war.
Ich war noch zu jung, um mich an den Widerstands-
aktivitäten zu beteiligen, und das gleiche galt für meine
Freunde. Was übrig blieb, war in meiner Erinnerung
das Lesen von Büchern und ein ungeheuer intensives
Zusammensein mit anderen Jugendlichen. Wir trafen
uns in unseren Wohnungen oder an Straßenecken. An
den Herbstabenden herrschte vollkommene Dunkelheit,
ohne Straßenbeleuchtung, ohne erleuchtete Fenster, um
den britischen Flugzeugen das Suchen ihrer Ziele zu
erschweren. Stundenlanges Zusammensein und dann
der Weg nach Hause, in Gruppen oder alleine. Hatten
wir Angst während dieser Fußmärsche? Ich wäre nie-
mals auf den Gedanken gekommen, und ich glaube, ich
kann auch für meine Freunde beiderlei Geschlechts und
für die Eltern sprechen, die uns in die völlig dunklen
Abende hinausgehen sahen. Sie ermahnten uns nie-
mals: Seid vorsichtig! Es gab nichts zu befürchten. Die
deutschen Soldaten waren zwar per definitionem Un-
geheuer, in ihrem täglichen Verhalten jedoch extrem
diszipliniert. Das Verbrechen war keine Realität. Wir
dachten niemals daran und redeten niemals darüber.
Wir sprachen über all die üblichen Dinge des täglichen
Lebens, am meisten natürlich über Liebe und sexuelles
Vergnügen und das Ende des Krieges. Ich kann mich
an keine einzige Diskussion über das Verbrechen im
traditionellen Sinn oder die Kriminalität im allgemei-
nen erinnern. Vielleicht gibt es unter Kriegsbedingun-
gen für dieses Thema keinen Platz. Der Feind ist der
Verbrecher, seine Taten sind die Verbrechen. Mehr gibt
es nicht.
Diese Tage sind in meinem Land längst Vergangen-
heit. Vielleicht ist das einer der Gründe, warum ich
mich in Finnland so heimisch fühle – einem Land, in
dem es immer noch so viele brennende Themen gibt,
über die man streiten kann, daß das Verbrechen nur
schwer bis in den Vordergrund des Bewußtseins vor-
dringt.

WO DIE GROßEN KONFLIKTE HERRSCHTEN

Tammerfors ist das Manchester Finnlands, eine Stadt


der Schwerindustrie, eine Hochburg der Gewerkschaf-
ten. Als ich vor einigen Jahren dorthin kam, waren die
Einwohner dieser Stadt in einem wütenden Streit be-
griffen. Es ging um den General Mannerheim. Manner-
heim ist ein finnischer Nationalheld. Große Straßen
tragen seinen Namen, überall gibt es Denkmäler, die an
ihn erinnern. Mannerheim zu Pferde, Mannerheim zu
Fuß, Mannerheim in Uniform, bereit, in den Krieg zu
ziehen. Während des Winterkriegs im Jahr 1939 und im
Fortsetzungskrieg von 1940 bis 1944 erwarb er Ruhm
und Ehre für sein Land. Deshalb wollten alle Städte,
die etwas auf sich hielten, ein Denkmal von ihm haben.
Nicht so Tammerfors.
Mannerheim hatte eine Geschichte. Im Jahr 1918
wütete in Finnland ein blutiger Bürgerkrieg. Die Russi-
sche Revolution hatte auf das Land übergegriffen.
Tammerfors war die Hochburg der Roten, Mannerheim
der General der Weißen. Die Weißen bewegten sich
langsam auf Tammerfors zu. Es wurde erbittert ge-
kämpft, und es ging das Gerücht, daß keine Gefange-
nen verschont würden. Zu gewissen Zeiten erwiesen
sich die Gerüchte als wahr. Der Historiker Heikki
Ylikangas (1995) hat die Ereignisse aufgedeckt. Am
Ende fiel Tammerfors. Tausende von Roten wurden
entweder sofort getötet oder starben in den folgenden
Jahren in den Gefangenenlagern. 1
Und jetzt wollte ein neuer Stadtrat, dem die Zeit des
Bürgerkriegs ferne lag, ein Denkmal für Mannerheim
errichten, für den General der Feinde. Später wurde ein
Kompromiß gefunden. Tammerfors bekam sein Denk-
mal. Es wurde irgendwo in den umliegenden Wäldern
aufgestellt.
Was ich verdeutlichen möchte, ist, daß Finnland ein
Land voller tiefer innerer Konflikte ist oder zumindest
war. Erst neuerdings ist der Bürgerkrieg zum Thema
der öffentlichen Diskussion geworden. Jetzt wird darü-
ber gestritten, ob eine Wahrheitsfindungskommission
eingesetzt werden soll. Aber die tiefen Konflikte wur-
den immer sehr stark empfunden. In den Broschüren
für Touristen ist von Wäldern, Seen und Saunen die
Rede. All dies gibt es tatsächlich, und es ist durchaus
eine Reise wert. Aber als ich in Helsinki die sogenann-
te Lange Brücke überquerte, wurde ich von meinem
finnischen Begleiter daran erinnert, daß diese Brücke
einmal die letzte Maschinengewehrstellung der Vertei-
diger der einstigen Hauptstadt der Roten gewesen ist.
Unten im Hafen bewunderte ich das schöne Haus, in
dem einer der letzten russischen Gouverneure in der
Stadt gewohnt hatte. Ein finnischer Patriot erschoß ihn.
Von den kleinen Booten am Pier kaufte ich Gemüse
von Schwedisch sprechenden Bauern – sie haben in der
Umgebung gelebt, seit Finnland erobert und zu einem
Teil Schwedens gemacht worden war. Auf dem Rück-
weg ins Stadtzentrum fragte ich in meinem besten
Schwedisch nach dem Weg, aber der Finne, den ich
angesprochen hatte, wandte sich einfach ab. Vermut-
lich glaubte er, daß ich der schwedischen Minderheit
im Land angehörte, den ehemaligen Eroberern, von
denen viele immer noch zu den höheren Klassen zähl-
ten. Vermutlich war er der Meinung, daß ich ihn auf
finnisch hätte anreden sollen, einer Sprache, die ich als
Finne schwedischer Abstammung in der Schule gelernt
hätte. Wenn ich ihm gesagt hätte, daß ich Norweger sei
und man deshalb nicht von mir erwarten könne, daß ich
seine Sprache beherrsche, hätte er mit Sicherheit höf-
lich geantwortet, sogar auf schwedisch, wenn er das
gekonnt hätte, oder auf englisch, oder mit Händen und
Füßen. Wie dem auch sei, ich fand den Weg zu meiner
alten Freundin, die gerade erst ein Baby bekommen
hatte. Sie hatte dem Neugeborenen den Namen Karelia
gegeben, den Namen eines bedeutenden Teils von
Finnland, der nach dem Zweiten Weltkrieg an Rußland
verlorenging.
Nicht nur die Seen, die Saunen und die Freund-
schaften machen Finnland zum besten Land im Nor-
den. Die zahlreichen Konflikte seiner Geschichte haben
ebenfalls dazu beigetragen. In neuerer Zeit sieht es so
aus, als ob sich das ändern würde. Finnland ist näher an
die Herzländer der Europäischen Union mit ihrer mo-
noinstitutionellen Monotonie herangerückt. Aber noch
vor wenigen Jahren war ich immer wieder überrascht
von der Intensität des kulturellen und politischen Le-
bens des Landes. In Finnland wurde heftig über das
Leben und den nicht allzu fernen Tod diskutiert. Die
Finnen lebten mit der Zerrissenheit ihrer Geschichte
und setzten ihr Leben mit neueren Spaltungen fort. In
den dreißiger Jahren haben sie ihre Erfahrungen mit
vereinzelten Anhängern des Faschismus gemacht. Nach
dem Krieg hatten sie eine starke kommunistische Partei
– radikale Jugendliche, die Stalinisten wurden und
nicht, wie in den anderen skandinavischen Ländern,
Maoisten (Suominen 1996). Und dann, bis zur Auflö-
sung der Sowjetunion, machten sie verzweifelte Versu-
che, den Osten und den Westen in ihrer Außenpolitik
auszubalancieren. Wenn man Finnland bereiste, kam
man in ein Land, in dem beständig und hitzig über ein
breites Spektrum ernsthafter Probleme diskutiert wur-
de. Und nun zu meinem Hauptargument.
Dadurch wurde eine Situation geschaffen, in der das
Verbrechen keine besonders wichtige Rolle in der
Diskussion spielte. Das Verbrechen wird natürlich
immer Interesse erregen, aber hier tat es das nur in
begrenzter Form. Die Finnen töten einander häufiger
als die Einwohner der anderen nordischen Länder, aber
sie reden weniger darüber. Die Drogenpanik ist in
Finnland erst vor kurzem ausgebrochen. Ihre Diskus-
sionen darüber, wie man das, was als Verbrechen be-
trachtet wird, unter Kontrolle halten könnte, waren
sachlicher als die in den anderen nordischen Ländern. 2
Bis vor kurzem war Finnland eine Art Negativ-Fall, der
demonstrierte, daß das Verbrechen die öffentliche
Diskussion nicht beherrschen kann, wenn es so viel
Wichtigeres gibt. Das starke Interesse für das Thema
Verbrechen, wie wir es in anderen Ländern finden, ist
vielleicht auf den Mangel an anderen Problemen zu-
rückzuführen, die als relevant und wichtig betrachtet
werden. Der Irakkrieg wird sich vermutlich dahinge-
hend auswirken, daß das Interesse an den konventionel-
leren Verbrechen in den meisten westlichen Ländern
für kurze Zeit zurückgeht.

DER SCHWACHE STAAT

Die meisten Nationalstaaten befinden sich offensich-


tlich in einer Situation, in der ihre Macht eingeschränkt
wird. Wenn sich die Staaten nicht so betragen, wie das
Großkapital es wünscht, zieht das Kapital einfach in ein
anderes Land um. Das gilt auch für das Kleinkapital. Es
gibt immer einen Himmel auf Erden, wo die Steuern
nicht so hoch und teure Sozialleistungen für alle nur in
begrenztem Maß vorhanden sind. Die neuen Reichen
brauchen die Sozialleistungen nicht. Mit dem vielen
Geld, daß sie vor den Finanzämtern in den altmodi-
schen Ländern gerettet haben, in denen man noch an
den Wert sozialer Sicherheit für alle glaubt, können sie
leicht selbst für alles aufkommen. Soziale Sicherheit ist
zu einem Wert geworden, der zunehmend schwerer zu
verwirklichen ist, weil die reichen Leute das Land
verlassen, oder damit drohen, dies zu tun.
Für die altmodischen Staaten kommt noch ein zwei-
ter Verlust hinzu: Es gibt keinen größeren Konflikt
mehr. Der Kalte Krieg mit all dem damit verbundenen
Elend, mit der Unterdrückung von Dissidenten, der
mangelnden Respektierung der Menschenrechte, der
Verschwendung von Geld für Waffen und Überwa-
chungsmaßnahmen – dieser Kalte und manchmal auch
nicht ganz Kalte Krieg war Anlaß für einige Handlun-
gen der Staaten. Und er hatte einige günstige Auswir-
kungen auf den Schutz der Schwachen in einigen der
Wohlfahrtsstaaten. Während des Kalten Krieges gegen
den Ostblock war es ein Anliegen der westlichen Staa-
ten, dafür zu sorgen, daß ihre Arbeiter zufrieden waren,
damit sie sich Ideologien, die aus dem Osten kamen,
nicht zu eigen machten. Für viele hatten die Wohl-
fahrtssysteme zwar das Flair des Sozialismus, aber
während des Kalten Krieges wurden sie dennoch von
den wesentlichsten Teilen des westlichen Establish-
ments aktiv unterstützt. Mit dem Ende des Konflikts ist
die Welt zusammengewachsen, und die Rechte der
Arbeiter und die sozialen Sicherungssysteme sind nicht
mehr Teile des Verteidigungssystems, sondern werden
als überflüssige Hindernisse für die wirtschaftliche
Entwicklung betrachtet.
In dieser Situation entsteht ein neuer Staatstypus.
Ein starker Staat ist nicht mehr gefragt. Der globale
Markt ist stark und soll es auch bleiben, und die Bedeu-
tung des Staates wird sinken. Jetzt besteht Bedarf an
einem ausreichend geschwächten Staat. Diese Formu-
lierung stammt aus Zygmunt Baumans Buch über die
Globalisierung (Globalization. The Human Consequen-
ces, 1998). Er hat folgendes über die neue Rolle der
neuen Staaten zu sagen:

Um ihre Bewegungsfreiheit und die uneinge-


schränkte Möglichkeit zu sichern, ihre Ziele zu
verfolgen, benötigen die globale Finanzwirtschaft,
der Handel und die Informationsindustrie eine
politische Fragmentierung – morcellement – der
Weltszene. Sie alle haben, wie man sagen kann,
ein begründetes Interesse an «schwachen Staa-
ten», das heißt an Staaten, die zwar schwach
sind, aber dennoch Staaten bleiben... Schwache
Quasi-Staaten können leicht auf die (nützliche)
Rolle von Polizeibezirken reduziert werden, die für
das Mindestmaß an Ordnung sorgen, das für
wirtschaftliche Betätigung gebraucht wird, von
denen aber nicht befürchtet werden muß, daß sie
als wirksame Bremsen für die globale Freiheit der
Firmen fungieren könnten. (S. 67I)

VERBRECHENSBEKÄMPFUNG ALS BÜHNE ZUR

SELBSTDARSTELLUNG

Im norwegischen Parlament gibt es ein Spezialkomitee


für juristische Angelegenheiten. In der Diskussion über
das Verbrechen spielt dieses Komitee eine wichtige
Rolle. Wie einer der Vorsitzenden mir erklärt hat,
bedeutet eine Versetzung in dieses Komitee, verglichen
mit den anderen Komitees, ein völlig anderes Leben.
Man befindet sich im Zentrum des öffentlichen Interes-
ses. Anrufe, Briefe, Zeitungen, Rundfunk und Fernse-
hen – ein neues Leben mit immenser Sichtbarkeit in der
Öffentlichkeit. Für einen Politiker bedeutet das, aus
dem Tal der Schatten in den hellen Sonnenschein hi-
nauszutreten.
In Schweden und Dänemark ist die Situation die
gleiche. Das Verbrechen ist ins Zentrum des politi-
schen Interesses gerückt. Das ist neu, denn es ist nicht
immer so gewesen. In der Zeit nach dem Zweiten
Weltkrieg war das Wort kriminalpolitikk, wie es in
Skandinavien heißt, eine vollkommen falsche Bezeich-
nung für das, was wirklich geschah. Nicht die Politik
oder Politiker hatten das Sagen. Die Entscheidungen
wurden von <Experten> getroffen und dann von Politi-
kern gehorsam in die Tat umgesetzt. Rechtswissen-
schaftler hatten einen enormen Einfluß. Bis 1973 hatten
die Justizminister in Norwegen immer eine juristische
Ausbildung. Wie hätten sie juristische Probleme lösen
und, was noch wichtiger war, wie hätten sie sich eine
Meinung über das richtige Strafmaß bilden sollen,
wenn sie keine Juristen gewesen wären? Die Parlamen-
tarier, insbesondere die Leiter des Komitees für juristi-
sche Angelegenheiten, stützten sich ebenfalls ganz auf
die Juristen. In Norwegen fungierte ein und dieselbe
Person zwanzig Jahre lang als Vorsitzender dieses
Komitees. Er war kein Mitglied der Regierungspartei.
Es gab zwei Gründe dafür, daß er sich so lange halten
konnte: Erstens wurde eine Tätigkeit im juristischen
Komitee nicht als zentraler Bestandteil der Politik
betrachtet. Es war eine technische Tätigkeit, für die ein
Spezialwissen erforderlich war. Damals war es kein
Sonnenscheinamt, Vorsitzender dieses Komitees zu
sein. Um diesen Posten herrschte kein großer Konkur-
renzkampf. Hinzu kam, daß der alte Vorsitzende im
Laufe der Zeit mehr und mehr als Bestandteil des
juristischen Establishments betrachtet wurde. Je mehr
Zeit verging, desto mehr redete und dachte er wie ein
Jurist. Unter den Juristen war er berühmt für seine so
weit gehende Annäherung an ihren Berufsstand, daß
seine mangelnde juristische Ausbildung keine Rolle
mehr spielte. Er hielt das Verbrechen aus der Politik
heraus und die Politik aus dem Verbrechen.
Aber all das war früher einmal.
Im heutigen, ausreichend geschwächten Staat träu-
men die meisten Politiker davon, etwas mit juristischen
Problemen zu tun zu haben, besonders mit dem Straf-
recht. Die Erklärung hierfür ist ziemlich offensichtlich:
Es sind so wenig andere Themen übrig, mit denen sich
ein Politiker und seine Partei profilieren können. Wo
Geld zum beherrschenden Lebensziel wird und die
vorherrschende Ideologie besagt, daß eine unregulierte
Marktwirtschaft der Weg zu diesem Ziel sei, wird das
Verbrechen zu einer wichtigen Arena für das, was von
der Politik noch übrig ist. Hier ist es möglich, sich als
Person darzustellen, die es verdient, Wählerstimmen zu
bekommen, und deren Werte von einem Volk wohlha-
bender Konsumenten geteilt werden.
Fast überall versuchen Politiker in einem wütenden
Konkurrenzkampf zu beweisen, daß sie und ihre Par-
teien im Kampf gegen das Verbrechen im allgemeinen
führend sind. Bill Clinton hat dies in seinen demonstra-
tiven Stellungnahmen gegenüber dem Verbrechen
bewiesen. Tony Blair tut das gleiche. George W Bush
demonstriert es – wir werden uns in Kürze dem Thema
Terrorismus zuwenden. Die Politik ist ganz allgemein
zu einer Arena geworden, in der Individuen und Partei-
en sich gegenseitig mit der Forderung nach harten
Maßnahmen zu überbieten suchen. Es gibt so wenig
andere Gebiete, auf denen man sich profilieren kann.
Definition und Bekämpfung des Verbrechens wird zu
einem Thema von überwältigender Bedeutung. Die
Hausmeister des ausreichend geschwächten Staates
stellen ihren Wert unter Beweis. Das Verbrechen, oder
besser gesagt, der Kampf gegen das Verbrechen, wird
unentbehrlich zur Schaffung der Legitimität in dem und
für den ausreichend geschwächten Staat.
Man sollte meinen, daß dies in Skandinavien, wo
der Wohlfahrt und dem Schutz der Schwachen traditio-
nell eine große Bedeutung beigemessen wird (Mathie-
sen 1985), anders sein müßte. Und daß es tatsächlich
anders ist, spiegelt sich in der geringen Zahl der Inhaf-
tierten wieder. Verglichen mit dem, was in den meisten
hochindustrialisierten Ländern geschieht, zeigen unsere
Politiker ein beträchtliches Maß an Zurückhaltung. Das
gleiche gilt für die Staatsanwaltschaft und die Gerichte.
In kleinen Ländern, in denen es schwerfällt, sich ge-
genseitig nicht als Menschen zu betrachten, ist es nicht
so ohne weiteres möglich, Wohlfahrt und Bestrafung
miteinander zu verbinden. Es wird jedoch möglich,
wenn man das Zufügen von Schmerz als Mittel zum
Schutz der Schwachen und Verletzlichen betrachtet.
Genau das geschieht auf dem Gebiet der Drogenbe-
kämpfung, an der sich die nordischen Länder nicht nur
widerwillig beteiligen, sondern bei der sie in vorderster
Front stehen. Am deutlichsten erkennbar ist dies in
Schweden.

BESTRAFUNG IM DIENST DER WOHLFAHRT

Im internationalen Vergleich scheint Schweden die


Inkarnation eines Wohlfahrtsstaates zu sein. Es ist ein
Land, dem seit Generationen Kriege und große Katast-
rophen erspart geblieben sind, ein Land, in dem die
Sozialdemokraten seit langem die politische Hegemo-
nie ausgeübt haben, ein Land, in dem die Menschen
sich umeinander kümmern.
Henrik Tham (1995, 2001) hat die Entwicklung in
diesem einst so fest gegründeten Wohlfahrtsstaat be-
schrieben. Er schildert die Haltung der Sozialdemokra-
ten gegenüber strafrechtlichen Fragen als – ursprüng-
lich – desinteressiert. Die Sozialdemokraten interessier-
ten sich für soziale Reformen, insbesondere für die
Verbesserung der Bedingungen für die Armen. Diese
Reformen waren der Schlüssel zur Schaffung einer
guten Gesellschaft. Allmählich begannen die Sozial-
demokraten, sich etwas stärker für die Strafrechtspoli-
tik zu interessieren, aber ihr Interesse galt Reformen,
die vor allem die Größe des Strafverfolgungssystems
reduzieren sollten. Lennart Geijer, der in den siebziger
Jahren schwedischer Justizminister war, setzte es sich
zum politischen Ziel, die Zahl der Strafgefangenen in
ganz Schweden auf 500 zu verringern, verglichen mit
den 4000, die das Land damals hatte.
Aber dann änderten sich die Zeiten. Der Krieg ge-
gen die Drogen erreichte Schweden. Es wurden Forde-
rungen nach strengen Strafen als Waffe in diesem
Kampf laut. Der damalige Premierminister, Olof Pal-
me, versuchte, diese Forderungen abzuwehren, indem
er auf die Notwendigkeit hinwies, die Lebensbedin-
gungen zu ändern, die zum Drogenmißbrauch führten.
Aber die Aktivisten, die höhere Strafen forderten,
hatten andere Argumente. Von der äußersten Linken
kamen Hinweise auf Karl Marx und seine Sicht des
Lumpenproletariats als Feind der Arbeiterklasse. An-
dere – ebenfalls von der Linken, die häufig in den
Institutionen zur Behandlung von Drogensüchtigen
arbeiteten – argumentierten mit der traditionellen Soli-
darität der Sozialdemokraten mit den Schwachen. Dazu
gehörte das Argument, die Jugendlichen müßten ge-
schützt werden. Ihr Leben sei in Gefahr, strafrechtliche
Maßnahmen müßten diese Entwicklung verhindern.
Eine drogenfreie Gesellschaft wurde zum offiziellen
Ziel erklärt. Schritt für Schritt wurden die strafrechtli-
chen Maßnahmen verschärft, und nicht nur die, die sich
gegen den Drogenkonsum richteten. Wie Henrik Tham
darstellt, hat in den letzten 20 Jahren eine komplette
Kehrtwendung stattgefunden. Die Forderung nach einer
verringerten Anwendung von Haftstrafen wurde durch
die Forderung nach einem Waffenarsenal ersetzt, das
unvermeidlich zu einem vermehrten Gebrauch von
Gefängnissen führen muß.
Gerade jetzt haben sich die Liberalen und die Kon-
servativen mit Forderungen nach verschärften Strafen
ebenfalls in die strafrechtliche Arena begeben. Es war
nicht von vornherein klar, daß dies passieren würde.
Besonders die Liberalen sind traditionell am Wohl des
Individuums und an den Menschenrechten interessiert.
Henrik Tham vermutet, daß diese Tradition in Schwe-
den schwächer sein könnte als in anderen europäischen
Ländern, weil die mittelalterliche Herrschaft der Ari-
stokratie dort länger überlebt hat als in den meisten
Ländern Europas. Schweden stürzte sozusagen von der
Herrschaft der Aristokratie direkt in eine Gesellschaft,
die von den Sozialdemokraten beherrscht wurde – die
liberale Tradition konnte gar nicht erst richtig Fuß
fassen.
Dies mag zutreffen. Schweden und, bis zu einem
gewissen Grad, auch Norwegen, sind im Krieg gegen
die Drogen ganz besonders aktiv, und die sozialdemo-
kratische Tradition ist der Grund dafür. Es gibt keinen
Anlaß, zu bezweifeln, daß die Härte der Strafmaßnah-
men gegen den Mißbrauch von Drogen ihre Wurzeln
größtenteils in den Vorstellungen von der Wohlfahrt
und der Notwendigkeit hat, die Schwachen zu schüt-
zen. Aber das Resultat sieht häufig so aus, daß eine
beträchtliche Anzahl gerade der Personen geschädigt
wird, die eigentlich geschützt werden soll. In einem
kürzlich von Tham herausgegebenen Bericht (2003)
stimmen sieben Forscher miteinander überein: Der
Krieg gegen die Drogen hat in Schweden katastrophale
Folgen. Einer der Autoren, Markus Heilig, schreibt:

In Schweden wird allgemein geglaubt, daß wir in


der Drogenpolitik und Behandlung ein fortschrittli-
ches Land seien. Die Realität auf der Straße sieht
anders aus. Und für mich, als Forscher, Arzt und
Mensch, ist diese Politik vollkommen unerträglich.

Nach Heiligs Aussage gibt es gut dokumentierte und


wirksame Behandlungsmethoden, aber aus ideologi-
schen Gründen stehen diese Methoden für die Mehr-
zahl der heroinsüchtigen Patienten nicht zur Verfü-
gung. Lenke und Olsson weisen in demselben Bericht
nach, daß die Zahl der Todesfälle jedes in einem Wohl-
fahrtsstaat akzeptable Maß überschreitet. Gleichzeitig
zeigen Tham und Träskman, daß die strafrechtliche
Verfolgung des Drogenkonsums im krassen Gegensatz
zu den sonst üblichen Standards steht.3
Im Kampf gegen die Drogen hat sich eine interes-
sante, bedeutende Allianz herausgebildet, die Allianz
zwischen Schweden und den Vereinigten Staaten.
Schweden sorgt für das Alibi in Sachen Wohlfahrt:
Wenn Schweden diesen Krieg mit solchem Eifer be-
treibt und sich gegen die meisten Vorschläge zur Ein-
schränkung der in diesem Krieg verwendeten Waffen
stellt, dann muß der Krieg doch richtig sein. Es muß
ein Krieg im Interesse der Wohlfahrt sein. Schweden
liefert die Legitimation, die Vereinigten Staaten haben
die Macht. Macht im Ausland in Form eines Kampfes
auf fremdem Territorium wie in Kolumbien und Afg-
hanistan, wo die Opiumproduktion ihren alten Stand
inzwischen wieder erreicht hat, oder durch wirtschaftli-
chen Druck auf die Staaten, die im Kampf gegen die
Drogen angeblich den nötigen Eifer vermissen lassen.
Und natürlich Macht zu Hause, die durch die enorme
Zahl der Inhaftierten in den USA demonstriert wird.
Gemeinsam tragen die beiden Länder außerordentlich
große Geldsummen für die Drogenpolitik der Vereinten
Nationen bei und verschaffen sich damit einen ebenso
großen Einfluß auf die Art, in der der Antidrogenkrieg
geführt wird.4
Der Krieg gegen die Drogen findet im Dienst hoher
Werte statt. Wenn man ein derartiges Ziel hat, kommt
man der Kontrolle der Teile jeder Gesellschaft ein
gutes Stück näher, die gewöhnlich mit Gefängnisstra-
fen belegt werden. Das spiegelt sich in den Strafgefan-
genen wider. Fast die Hälfte aller Strafgefangenen in
Norwegen und Schweden werden im Zusammenhang
mit dem Gebrauch oder Verkauf von Drogen verurteilt.
Im Großen und Ganzen haben sie die gleichen Eigen-
schaften wie diejenigen, die auch zu früheren Zeiten
von unserem Gefängnissystem erfaßt wurden. Sie
ähneln der traditionellen Unterschicht, die schon immer
im Gefängnis saß. Jetzt kommt zu ihren früheren Ei-
genschaften auch noch die Verbindung mit Drogen
hinzu.
EINE AUßERORDENTLICH NÜTZLICHE M AFIA

Ein freundlicher und friedlicher Feind ist kein guter


Feind. Böse und gefährlich muß er sein. Und stark.
Stark genug, um dem aus dem Krieg heimkehrenden
Helden Ehre und Huldigungen zu sichern. Aber nicht
so stark, daß der Held nicht wieder nach Hause kommt.
Die Bilder, die man sich vom Feind macht, sind wich-
tige Elemente bei der Vorbereitung eines Krieges. In
unserem Zusammenhang haben Begriffe wie «Mafia»
und «Organisiertes Verbrechen» einen hohen Ge-
brauchswert. Das Fehlen aller präzisen Definitionen
macht sie zu nützlichen Slogans für die meisten Arten
von Gegnern. Für den Krieg, der von einem ausrei-
chend geschwächten Staat ausgefochten wird, sind
diese Worte außerordentlich nützlich.
Zwischen Helsinki in Finnland und St. Petersburg in
Rußland liegt nur eine Eisenbahnfahrt von wenigen
Stunden. Höfliche finnische Zollbeamte, höfliche
Russen. Die erste größere Haltestelle auf der russischen
Seite der Grenze ist Viborg, dessen Bahnhof wie ein
Palast aussieht. Und so sollte es auch sein. Hier konnte
der Zar auf seinen Reisen in seine finnische Provinz
und wieder nach Hause eine Rast einlegen. Wenige
Sekunden, bevor der Zug in St. Petersburg hält, passie-
ren wir Kresty. Der Name bedeutet Kreuz, und als
solches fungiert der Ort auch. Hier befindet sich das
örtliche Gefängnis für St. Petersburg, das seit den
Tagen Anna Achmatovas (1889-1966) berühmt ist. Sie
schrieb ein Gedicht über dieses Gefängnis und seine
Insassen, zu denen auch ihr Sohn gehörte. Auch heute
noch gehört dieses Gefängnis zu den schlimmsten
Europas. Es wurde für 2000 bis 3000 Häftlinge gebaut,
heute sind dort 9000 Gefangene zusammengepfercht.
St. Petersburg ist Rußlands Juwel – und ein Kerker.
Es wurde gebaut, um der Aristokratie zu gefallen und
die Macht des Reiches zu demonstrieren, und es ist voll
von Wundern der Kunst und Architektur. Und vollge-
sogen mit Verbrechen – so steht es jedenfalls in den
Touristenbroschüren, in den Warnungen der Polizei
und in etlichen kriminologischen Berichten. Und diese
Indikatoren der negativen Seite der Stadt scheinen
ununterbrochen anzuwachsen. Tötungsdelikte, schwere
Körperverletzungen, Diebstähle – all dies nimmt in
ganz Rußland zu, aber ganz besonders in Moskau und
St. Petersburg. Hinter all dem steht die Mafia, oder,
wenn dieser Begriff versagt, das Organisierte Verbre-
chen. Wann immer man nach Rußland fährt, wird man
mit diesen beiden Begriffen konfrontiert. Damit ist
alles und nichts gesagt.
So weit, so schlecht.
Man kann jedoch auch eine andere Ansicht haben.
Ein bedeutender Forscher auf diesem Gebiet in Skandi-
navien ist Johan Bäckman. In mehreren Artikeln, die
neuerdings in dem Buch The Inflation of Crime in
Russia (Bäckman 1998a) zusammengefaßt wurden,
beschreibt er die Nützlichkeit des Bildes von der Mafia.
Nützlich innerhalb von Rußland, aber auch im Ausland.
In einem Kapitel mit der Überschrift «The Russia-
Genre as a Construction of Reality» weist er auf die
Verwendung des Mafia-Themas in der westlichen
Literatur, insbesondere im Film hin:

Das Rußland-Genre ist eine ungemein einträgli-


che Industrie. So hat zum Beispiel der Film Gol-
den Eye von 1995, der mit einem Budget von 60
Millionen produziert wurde, weltweit 350 Millionen
US-Dollar eingespielt. Der geschätzte Gewinn von
Filmen des Rußland-Genres betrug im Jahr 1990
allein in den USA eine Milliarde US-Dollar. Welt-
weit sind es zwei oder drei Milliarden. Seit den
achtziger Jahren haben sich die Gewinne verdop-
pelt.
In dieser Schätzung, die aus der Internet Film-
datenbank von 1997 stammt, sind jedoch nicht
alle Medien enthalten, die sich mit dem Rußland-
Genre befassen, wie zum Beispiel die populäre
Literatur und der Journalismus.
Man könnte sich fragen, ob das Erzählen von
Geschichten über das organisierte Verbrechen in
Rußland nicht profitabler ist als die Aktivitäten der
Mafia selbst.

Das Image der russischen Mafia läßt sich beim westli-


chen Publikum hervorragend verkaufen. Aber es ist im
Westen auch in politischer Hinsicht nützlich. Die Mafia
wird von Politikern ständig benutzt. Im Kongreß der
Vereinigten Staaten finden Anhörungen zu dem Thema
statt. Der alte Feind aus den Tagen des Kalten Krieges
ist verschwunden. Statt dessen haben wir die russische
Mafia – kalt, stark, unberechenbar und deshalb beson-
ders gefährlich. Wenn die Mafia in Rußland das Sagen
hat, kann man dem Land nicht trauen. Patricia Rawlin-
son, eine britische Kriminologin, die die russische
Kultur liebt und eine scharfe Beobachterin der russi-
schen Realitäten ist schreibt (1998, S. 346):

Obwohl die populistische Idee einer «Mafia»


schon in den siebziger Jahren von den Kriminolo-
gen diskreditiert wurde, ist sie durch das Auftau-
chen und die Verbreitung des russischen organi-
sierten Verbrechens außerhalb der ehemaligen
Sowjetunion zu neuem Leben erwacht. Die Me-
dien, die bereits bekannt sind für ihre Rhetorik des
Kalten Kriegs und die simplifizierende Dichotomie
zwischen Kapitalismus und Kommunismus, ver-
breiten eine ebenso von Vorurteilen geprägte und
simplifizierende Interpretation der russischen
«Mafia» und drohen, die mit ihrer Verbreitung
tatsächlich verbundenen Gefahren zu verdunkeln
und damit zu verschärfen.

Rawling beschreibt auch (S. 354f. ), wie die Medien


sich bemühen, ein dramatisiertes Bild der «Mafia-
Typen» zu verbreiten.

Die Nachfrage nach Interviews mit russischen


Gangstern übersteigt bei weitem das Angebot,
was folglich eine neue Industrie für den immer
wachsamen Unternehmer hervorgebracht hat.
Bandenmitglieder mit niedrigem Rang und sogar
«ehrliche» Leute schlüpfen für die Journalisten
gegen gute Bezahlung in die gewünschte Rolle.

Aber wie bereits gesagt, erfreut sich die Idee einer


Mafia auch innerhalb von Rußland ständiger Beach-
tung. Bäckman hat dafür mehrere Erklärungen. Eine
davon ist, daß das Leben in Rußland nicht leicht ist.
Die Lebensbedingungen haben sich nicht mit der ver-
sprochenen Geschwindigkeit verändert. Die Mafia ist
dafür eine praktische Erklärung. Hinzu kommt ein
Phänomen, daß Bäckmann «die aufgeblähte Mafia»
nennt. Das Land hat 70 Jahre lang mit einer Ideologie
gelebt, nach der das Streben nach privatem Profit ei-
nem Verbrechen gleichgesetzt wurde. Plötzlich wird
genau dies zum vorbildlichen Verhalten in einem Ruß-
land erklärt, das sich auf dem Weg zum Kapitalismus
befindet. Kein Wunder, daß einige Zwiespältigkeiten
auftreten und daß mancher, der Erfolg hat, mit einer
abwertenden Bezeichnung belegt wird. Außerdem gibt
es in Rußland nach Bäckmans Aussage die Tradition
der persönlichen Beziehungen. Wenn man Hilfe
braucht, wendet man sich an Freunde oder Freunde von
Freunden. So auch, wenn es um Geschäfte und die
Beziehungen zu den Behörden geht. Man kann darin
ein festgefügtes System privilegierter Beziehungen
sehen, und es wird auch als Mafia-Verhalten bezeich-
net. Man kann aber auch ein System darin sehen, daß
auf Vertrauen und nicht nur auf Verpflichtung beruht.
Angesichts einer totalitären Vergangenheit und in
einem nun geschwächten Staat sind persönliche Bezie-
hungen eine vernünftige Anpassung an die unsicheren
Verhältnisse. Gleichzeitig öffnen sie jedoch auch Tür
und Tor für unfaire Privilegien und den verständlichen
Zorn derer, die außerhalb des Netzwerks des Ver-
trauens stehen. Auch das führt nur allzu leicht zur
Verwendung des Wortes Mafia.
Das Bild von der Mafia ist auch für die russischen
Behörden ein außerordentlich nützliches Werkzeug, um
dem Innenministerium, insbesondere den verschiede-
nen Zweigen der Polizei, ihre alte Macht zurückzuge-
ben. Bis vor kurzem war Rußland ein Paradies für
jeden Polizisten. Die Polizei wußte, wo jeder einzelne
Einwohner lebte. Und da, wo sie wohnten, da blieben
die Leute auch. Normalen Menschen war es nicht
gestattet, herumzureisen. Die Bauern waren bis 1861
Leibeigene, aber tatsächlich lebten alle Russen seit
1932 bis in die jüngste Zeit in Knechtschaft. Wie Shel-
ley (1980, S. 113) in einem Artikel erklärte, den er
verfaßt hatte, als das System noch bestand:

Paßbestimmungen und Bevölkerungspolitik be-


herrschen das Leben aller Bürger in der Sowjetu-
nion... Der interne Paß schränkt sowohl die Be-
wegungsfreiheit als auch die Wahl des Wohnorts
ein. Er wird benötigt, um einen Flugschein oder
eine Eisenbahnfahrkarte für längere Strecken zu
erwerben oder ein Hotelzimmer zu buchen. Indivi-
duen ohne diesen Paß sind ausschließlich auf
lokale Fahrten beschränkt.

Wenn man die Vorstellung von einer Mafia als Be-


gründung hat, ist es leichter, diese Formen von Kont-
rolle aufrechtzuerhalten.

WORTE ALS WAFFEN

Behaupte ich damit, daß es keine Mafia gibt?


Nein. Ich beschränke mich darauf, Gilinsky (1997)
zuzustimmen, der erklärt, daß der Begriff Mafia ein
außerordentlich schlecht definiertes Konzept sei. Und
gerade wegen dieser Unklarheit erweist sich das Mafia-
Konzept außerhalb Rußlands als so ungemein nützlich
für die Filmindustrie und die Außenministerien, aber
auch innerhalb Rußlands für frustrierte Bürger und für
das Innenministerium.
Ein Werkzeug, das für so viele Zwecke nützlich sein
kann, hilft uns aus eben diesem Grund nicht weiter,
wenn es darum geht, eine Antwort auf Fragen wie diese
zu finden: Gibt es viele mafiaartige Erscheinungen in
Rußland? Sind sie im Anwachsen begriffen? Wie wird
die Zukunft aussehen? Die Mafia ist eine konzeptionel-
le Waffe. Wir können das soziale Leben besser verste-
hen, wenn wir beobachten, wie dieses Konzept benutzt
wird. Aber ebensowenig wie das Konzept des Verbre-
chens kann das Mafia-Konzept uns helfen, das Vor-
handensein von und die Bedingungen für unerwünsch-
tes Verhalten in einer Gesellschaft zu verstehen.
Es kann nicht bezweifelt werden, daß in Rußland,
ebenso wie in anderen Ländern auch, bedauerliche
Handlungen, entsetzliche Handlungen oder Handlun-
gen, die dem nationalen oder internationalen Recht
eindeutig widersprechen, häufig von mehr als einer
Person ausgeführt werden. Manchmal werden sie von
vielen Personen, manchmal von Personen gleichen
Alters, gleichen Geschlechts, gleicher Nationalität oder
gleichen ethnischen Ursprungs ausgeführt, die manch-
mal in hierarchischer Form, manchmal mit interner
Kontrolle organisiert sind. Manchmal beanspruchen sie
ein Monopol über ein Territorium, manchmal bezahlen
sie die Behörden, damit diese sich nicht einmischen,
manchmal töten sie ihre Gegner oder ihre Opfer. Aber
angesichts all dieser Variationsmöglichkeiten stellt die
Klassifizierung ein ernsthaftes Problem dar. Was in der
oben angeführten Liste rechtfertigt die Bezeichnung
«Mafia» oder «organisiertes Verbrechen»?
Welches sind die organisatorischen Kennzeichen,
die hierfür ausschlaggebend sind? Sind es Größe, Hie-
rarchie, interne Kontrolle, Art des Territoriums – natio-
nal oder international... ?
Manche dieser Organisationen betragen sich bei al-
lem, was sie tun, auf bedauerliche Weise, manche tun
dies meistens, manche nur bei wenigen Gelegenheiten,
manche fast nie. Wieder stellt sich die Frage: Welcher
Anteil an bedauerlichen Aktivitäten rechtfertigt die
Bezeichnung «Mafia» oder «organisiertes Verbre-
chen»?
Manche Organisationen weisen im Laufe der Zeit
einen Rückgang der illegalen Aktivitäten auf. An wel-
chem Punkt hört eine solche Organisation auf, eine
Mafiaorganisation zu sein und wird zu einem normalen
Wirtschaftsunternehmen?
Hawkins (1969) hat das organisierte Verbrechen mit
Gott verglichen. Beide haben eine gemeinsame Eigen-
schaft: Es kann nicht bewiesen werden, daß sie nicht
existieren. Ich möchte gerne hinzufügen: Sie haben
auch die Eigenschaft miteinander gemein, daß sie für
viele verschiedene Zwecke gebraucht oder mißbraucht
werden können.
Als klar definiertes Phänomen, das eindeutig be-
schrieben, gemessen und mit anderen Phänomenen
verglichen werden kann, existiert die Mafia nicht. Aber
ich bin Mafia-Mitgliedern begegnet, oder Leuten, die
ihnen nahestanden. Sie sehen gefährlich aus. Und
genau so wollen sie auch aussehen.

DIE M AFIA ALS KULTURELLES PRODUKT

Kürzlich bin ich einigen von ihnen auf einer engen


Straße an der Ostsee begegnet. Ihr eleganter Wagen
hielt gerade, unser alter Bus konnte nicht vorbei. Sie
führten ein Ballett auf, wobei sie mit eingeübter, pro-
vozierender Langsamkeit wieder in das Auto stiegen
und die schwierige Aufgabe des Türenschließens mei-
sterten, so daß der Bus vorbeifahren konnte. Ein eben-
solches Ballett wird regelmäßig vor den Plüschrestau-
rants aufgeführt: Ein stromlinienförmiger Porsche,
gefolgt von mehreren anderen Autos, fährt vor. Natür-
lich parken alle in zweiter Reihe. Einige riesige, ele-
gant gekleidete Männer steigen aus, aber sie sind nichts
im Vergleich zu den langbeinigen Damen, die sie
begleiten und deren Seidenkleider, Pelze und Schmuck
zusammen mit ihrer Körpersprache eine Aura von
Arroganz und Provokation verbreiten.
Lange Zeit dachte ich dabei an schlechte Manieren
und manchmal auch an Neureiche. Aber dann fiel mir
Joan Neuberger ein.
Joan Neuberger (1993) hat ein schönes Buch über
Hooliganismus geschrieben: Crime, Culture and Power
in St. Petersburg 1900-1914. Das Wort Hooliganismus
wurde Ende des achtzehnten Jahrhunderts nach Ruß-
land importiert und ohne größere Veränderung über-
nommen. Die Autorin beginnt ihr Buch mit einem Zitat
aus einer Zeitung aus dem Jahr 1913:

Eine entsetzliche Situation hat sich in unserer


Stadt ausgebreitet und nimmt unter dem Namen
Hooliganismus Formen an, die die Sicherheit
unserer Gesellschaft gefährden. Bösartige Angrif-
fe, Faustkämpfe, Messerstechereien, abstoßende
Formen von Verkommenheit und unentschuldbare
Trunkenheit breiten sich auf unseren Straßen aus
– und die Schuldigen sind nicht nur erwachsene
Männer, sondern auch Frauen und Kinder.

Und, wie Joan Neuberger in ihrer Einleitung feststellt:

In den veröffentlichten Diskussionen wurden nicht


miteinander vergleichbare Verbrechen über einen
Kamm geschoren, weil sie anscheinend eine neue
Mentalität des Trotzes unter Kleinkriminellen und
später in der gesamten Unterschicht offenbarten.
Auf den Straßen übten die Hooligans selbst eine
neue Art von Macht aus... indem sie ihre Fähigkeit
benutzten, respektable Passanten, die auf der
gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leiter über
ihnen standen, zu verspotten und einzuschüch-
tern. Die Hooligans stellten sich nicht direkt gegen
die Institutionen der Macht, sondern forderten die
existierenden Hierarchien des täglichen Lebens
durch öffentliches und symbolisches Verhalten
heraus. Sie bedrohten offen die etablierten For-
men sozialer Autorität, aber sie wirkten sich auch
unter der Oberfläche aus und rührten an einige
der noch nicht artikulierten Feindseligkeiten, Äng-
ste und Unsicherheiten, die sich in der neuen
russischen Hauptstadt herausgebildet hatten. (S.
2)

Ebenso wie der Begriff Hooliganismus stammt der


Begriff Mafia aus dem Westen und wurde unmittelbar
in seiner westlichen Form in Gebrauch genommen. Ein
neues Konzept, eine neue Rolle. Vielleicht war einiges
von dem Verhalten in embryonaler Form schon vorher
da. Dann kam das Konzept. Und dann begannen mehr
Menschen zu der Beschreibung zu passen. Schließlich
wurde eine Rolle mit vorgefertigtem Manuskript für
das Verhalten daraus.
Von Neuberger inspiriert, können wir versuchen,
noch einen Schritt weiter zu gehen und das Ganze als
Botschaft zu lesen. Wir müssen herausfinden, was die
neuen Reichen mit ihrem Verhalten ausdrücken wollen.
Der Hooliganismus war ein Protest. Ein Protest, den
Polizisten, Kriminologen und Sozialarbeiter mit Eifer
auszurotten versuchten. Diese neuen, sehr reichen und
schillernden jungen Leute könnte man als funktionelles
Äquivalent zu den fortgeschritteneren Graffiti-Malern
im Westen betrachten. Ihre Kunst – die westlichen
Graffiti – kann, ästhetisch wie auch moralisch, als
Negierung der herrschenden Kultur gesehen werden.
Zeichen und Symbole sind machtvolle Aspekte unserer
Realität. Graffiti an den Wänden des Rathauses oder
der Kirchentür können als Gegenangriff interpretiert
werden, als Versuch, ein alternatives Verständnis der
Welt zu schaffen (Skardhamar 1998, Høigård 2002).
Rußland hat 70 Jahre lang unter einer offiziellen Ideo-
logie der puritanischen Arbeitsethik gelebt. Der Sta-
chanow-Arbeiter war das Ideal. Dieses Ideal ist in die
Seelen vieler Menschen tief eingegraben. Jetzt zer-
schmettern wir es und fahren unseren Porsche wohin
wir wollen.
Aber indem sie dies tun, stärken sie die Ideale, die
sie beschmutzen, und sie stärken den Staat.
Mit Bäckmans Hilfe habe ich gezeigt, wie nützlich
der Begriff Mafia sein kann. Er «erklärt» Anomalitäten
und verleiht dem Staat größere Macht. Aber das Kon-
zept und die dahinter vermuteten Realitäten haben
ihren Preis.
Vor allem entsteht durch all das wirre Gerede von
der Mafia der Eindruck, daß unerwünschte Handlungen
wie Tötungsdelikte und Diebstahl in Rußland beson-
ders häufig vorkommen, daß es in Rußland mehr uner-
wünschtes Betragen dieser Art gibt als im Westen.
Aber ist dies denn nicht der Fall?
Es ist sehr schwierig, die zur Verfügung stehenden
Informationen zu interpretieren. Mein allgemeiner
Eindruck, aber es ist nicht mehr als ein Eindruck, ist
der, daß das Niveau von Gewalt gegen Menschen in
Rußland, verglichen mit Westeuropa, sehr hoch ist,
aber nicht höher als in den USA und in Lateinamerika.
Aber die Art der Gewalt in Rußland ist dem, was in
Westeuropa vorkommt, sehr ähnlich. Es handelt sich
hauptsächlich um Gewalt innerhalb der Familie oder in
und in der Umgebung von Bars. Und es handelt sich
um Gewalt, die vor Alkohol nur so trieft. Die Gewalt
hat ihre Wurzeln in erbärmlichen Lebensbedingungen,
verbunden mit der kulturellen Tradition schweren
Alkoholmißbrauchs. Kauko Aromaa und Andri Ahven
(1995) haben die gleichen Erscheinungen in Estland
festgestellt. Die meisten Tötungsdelikte sind Familien-
angelegenheiten, keine Mafiamorde.
Die Zahl von Handlungen, denen die Bedeutung
von Diebstahl und Raub unterlegt werden, ist vermut-
lich ebenfalls im Anstieg begriffen. Touristen mit
ihrem sichtbaren Reichtum sind dabei besonders attrak-
tive Opfer. Rußland entwickelt sich langsam zu einer
ganz normalen, in Klassen unterteilten Gesellschaft mit
allen Problemen, die eine solche Gesellschaft hat. Aber
auf Grund meiner eigenen Beobachtungen und intensi-
ver Gespräche mit russischen und skandinavischen
Freunden und Kollegen, die das Land besucht haben,
bin ich weit von der Überzeugung entfernt, daß sich die
Situation in russischen Städten stark von der unter-
scheidet, die man im Westen vorfindet. Eine weitere
Bestätigung dieser Ansicht ist in der Studie von Aro-
maa und Lehti (1995) enthalten.
Manche mögen der Meinung sein, daß diese Beo-
bachtungen in krassem Gegensatz zu dem von den
Medien vermittelten Bild stehen. Bin ich zu freundlich
in der Beurteilung eines Nachbarlandes? Sehe ich über
die Probleme hinweg? Was ich hier ausgeführt habe,
paßt nicht zu den Berichten der Medien. Vermutlich
sind diese Russen doch gefährlich?
Sie sind es zumindest dann nicht, wenn sie nach
Finnland reisen, was eine Million von ihnen alljährlich
tut. Bäckman (1998b) hat im jährlichen Nordischen
Forschungsseminar von 1998 über die Folgen dieser
Invasion berichtet:

Trotz der Zahl von einer Million Besuchern aus


Rußland,5 zeigt die Verbrechens- und Verurtei-
lungsstatistik, daß in jedem Jahr nur etwa ein
Prozent der Verdächtigen und Verurteilten russi-
sche Staatsbürger sind. Die Mehrzahl der von den
Russen begangenen Straftaten sind Verkehrsde-
likte und einfache Diebstähle... Im Jahr 1996
standen nur drei Russen und vier Schweden unter
Verdacht, in Finnland einen Mord begangen zu
haben, während die Zahl der finnischen Verdäch-
tigen über 500 betrug... Von insgesamt 3200
Strafgefangenen waren nur sechs russische
Staatsbürger.

Der dramatische Anstieg der Zahl der russischen Auto-


und Motorradfahrer auf finnischen Straßen hat nicht zu
den erwarteten Massakern geführt:6 Im Jahr 1997 hat es
in Finnland mehr als 400 Verkehrstote gegeben, aber
nur neun dieser Todesfälle konnten auf russische Auto-
fahrer zurückgeführt werden.

BLOCKADE DES VERSTEHENS

Wie problematisch der Begriff Mafia ist, zeigte sich


auch in den ersten Monaten des Jahres 2003. In Belg-
rad im ehemaligen Jugoslawien war der Premiermini-
ster Djindjic ermordet worden – von der Mafia, sagte
man uns. Ein Krieg gegen die Mafia wurde gefordert.
Vergessen war die Geschichte der jüngsten Ent-
wicklungen in Jugoslawien. Der internationalen Blok-
kade des Landes war man lange Zeit mit einer intensi-
ven Schmuggeltätigkeit über die Grenzen begegnet.
Der Schmuggel wurde vom Staat sanktioniert, weil das
Leben in Jugoslawien dadurch erst möglich wurde. Die
Schmuggler verdienten gut, aber in dieser politischen
Situation erschien ihre Existenz als absolut unumgäng-
lich. Das bedeutet nicht, daß diese Leute ausschließlich
als Helden betrachtet wurden oder sich anständig be-
tragen hätten. In einer Untergrundwirtschaft, wie sie
sich hier entwickelt hatte, können interne Konflikte
nicht mit Hilfe der staatlichen Organe geregelt werden.
Interne Konflikte kommen zum Ausbruch, die Gewalt
blüht. Besonders kompliziert wird die Situation dann,
wenn sich die äußeren Umstände ändern, beispielswei-
se wenn es zu einer Art Frieden kommt, wie in Nordir-
land, oder wenn die Blockade beendet wird, wie es im
Fall von Jugoslawien geschah. Der Staat meldet sich
zurück und versucht die vorher wichtigen, nun jedoch
illegalen Aktivitäten unter Kontrolle zu bringen. Auch
für den Premierminister Zoran Djindjic waren die
Schmuggler einmal wichtig gewesen. Aber nun mußten
sie wieder in die normale Gesellschaft eingegliedert
werden.
In einem solchen Fall sind mehrere Vorgehenswei-
sen denkbar. Eine davon ist, die Tatsache zu akzeptie-
ren, daß diese Organisationen zu einer bestimmten Zeit
für das Überleben des Landes notwendig waren, sie für
ihre Leistungen in der Vergangenheit zu ehren und eine
Amnestie für ihre Missetaten zu erlassen. Dadurch
können sie und ihre Talente vielleicht allmählich wie-
der in die normale Gesellschaft eingegliedert werden,
aber es ist auch offensichtlich, daß der Versuch eben-
sogut fehlschlagen kann. Es ist möglich, daß sie von
vielen Mitbürgern aus gutem Grund gehaßt werden.
Häufig besteht auch eine Verbindung zwischen ihnen
und bestimmten politischen Gruppierungen. Hier liegt
es nahe, auf das Mafia-Konzept zurückzugreifen, und
wenn dies gelungen ist, ihnen dieses Stigma anzuhän-
gen, einen Krieg gegen sie zu führen. Ein Krieg gegen
die Mafia ist eine sehr viel respektablere Angelegenheit
als ein Krieg gegen politische Gegner. Die Wahl der
Bezeichnung beeinflußt das Verständnis eines Phäno-
mens und damit auch die Mittel, mit denen ihm begeg-
net wird.

TERROR

Die «Mafia» ist nicht der einzige Begriff, der für staat-
liche Zwecke nützlich ist. Die Bezeichnung «Terrorist»
ist ebenso nützlich, wie man am Krieg gegen Tschet-
schenien deutlich erkennen kann. Die Feinde waren
keine Soldaten und natürlich keine Freiheitskämpfer
oder religiöse Fundamentalisten, sondern einfach Ter-
roristen. Sergei Kovalev (2000), Präsident des Instituts
für Menschenrechte in Moskau und Mitglied der russi-
schen Staats-Duma, beschreibt die Situation folgen-
dermaßen:

Die russischen Politiker begannen eine neue


Sprache zu verwenden – eine Ausdrucksweise,
die gewöhnlich für die Welt des Verbrechens
benutzt wird... Alte Redewendungen nahmen eine
vollkommen neue Bedeutung an. So hörte das
Wort «Terrorist» sehr schnell auf, eine Person zu
bezeichnen, die einer kriminellen Untergrundor-
ganisation angehört, deren Ziel politischer Mord
ist. Jetzt bedeutete das Wort einfach «bewaffneter
Tschetschene» an jedem beliebigen Ort.
Aus militärischen Berichten aus Tschetschenien
ging dies klar hervor: «Eine Gruppe von dreitau-
send Terroristen wurden in Gudermes einge-
schlossen.» «Zweieinhalbtausend Terroristen
wurden in Shali liquidiert.» Und der Krieg selbst
wurde «antiterroristische Spezialoperation der
russischen Truppen» genannt.

Die ganze Situation führte zu einer extremen Polizei-


überwachung aller Personen in Moskau, die verdächtigt
wurden, tschetschenischer Abstammung zu sein. Sie
half Vladimir Putin, an die Spitze der russischen Politik
zu gelangen, und wird nach Meinung Kovalews dazu
führen, daß Rußland zu einem autoritären Polizeistaat
wird, der die äußeren Merkmale einer Demokratie
bewahrt. Gleichzeitig wird es jedoch auch zu mark-
twirtschaftlichen Reformen kommen.
Diesen Abschnitt habe ich vor dem 11. September
2001 geschrieben. Nach diesem Datum brauchte ich
meine Argumentation nur fortzuführen.

TROLLE

Am 11. September 2001 hat sich so vieles verändert.


Nicht wegen unseres Wissens um die drei entführten
Flugzeuge und unseren Vorstellungen, was sich wohl
während der letzten Minuten ihres Flugs in diesen
Flugzeugen abgespielt haben mag. Nicht wegen der
beiden Türme in New York, die einstürzten. Nicht
wegen der 4000 Menschen, die ausgelöscht wurden. Es
war ungeheuerlich, ja. Aber nichts Besonderes in der
unmenschlichen Geschichte der Menschen. Nichts im
Vergleich zu den beiden Weltkriegen. Nichts im Ver-
gleich zu Auschwitz, Hiroshima und Nagasaki, Dres-
den, den Gulags, Vietnam, Kambodscha. Nichts.
Warum dann?
Weil die Katastrophe nicht New York oder die USA
getroffen hat, sie hat uns, den Westen getroffen. Sie
kam aus dem Himmel und leuchtete wunderbar in der
Sonne. So elegant. Vielleicht war es der Kontrast zwi-
schen Form und Inhalt. Sie hätte aus dem dunklen,
nebeligen Untergrund kommen müssen. Die Erde hätte
sich öffnen müssen, ein knochiger Arm der Rache hätte
hervorkommen müssen, ein Arm und eine Hand jener,
die nicht teilhat-
ten an unserem großen Festmahl, an den Jahren ma-
teriellen Fortschritts in der westlichen Welt. Rache und
ein neues Gleichgewicht. Das wäre leichter zu verste-
hen gewesen.
Präsident Bush hat eine andere Erklärung als die
von dem knochigen Arm aus dem Erdspalt. Ich zitiere
aus seiner gefeierten Rede an das amerikanische Volk
anläßlich einer gemeinsamen Sitzung des Kongresses
am 20. September 2001:
Die Amerikaner fragen sich, warum sie uns has-
sen? Sie hassen das, was wir in dieser Kammer
für richtig halten – eine demokratisch gewählte
Regierung. Sie haben selbsternannte Führer. Sie
hassen unsere Freiheiten – unsere Religionsfrei-
heit, unsere Redefreiheit, unsere Freiheit, zu
wählen und uns zu versammeln und unterschied-
liche Meinungen zu vertreten.

Hand in Hand mit dieser Interpretation der Ereignisse


geht eine dunkle Terminologie: Am 5. Dezember er-
klärte der Präsident:

Die Bösen wollen Amerika immer noch schaden...


Die Zeit ist gekommen, in der die freie Welt auf-
stehen und die Freiheiten verteidigen muß, die
diese Bösen so hassen.

Mit diesen Worten des Präsidenten stehen wir wieder


auf dem vertrauten Boden der Kriminologie: Böse
Menschen, vielleicht sogar Monster. Wir müssen sie
austreiben. Oder vernichten. Oder, wie Bush es am 20.
September formulierte:

Die einzige Möglichkeit, den Terrorismus als Be-


drohung für unsere Lebensweise zu besiegen, ist,
ihn zu stoppen, ihn auszurotten und zu zerstören,
wo immer er sich entwickelt. (Applaus).

Mit dieser Terminologie sind jedoch einige Probleme


verbunden. Böse Menschen sind in sich selbst eine
Erklärung. Die Diskussion endet, das Phänomen ist
geklärt, es besteht kein Anlaß zu weiteren geistigen
Anstrengungen.
Bösen Menschen gegenüber ist auch der nächste
Schritt so gut wie selbstverständlich. Sie müssen ausge-
rottet werden. Die natürliche Antwort heißt Krieg.
Krieg und Vernichtung.
In den nordischen Ländern haben wir unsere eige-
nen Monster, nicht ganz so böse wie Terroristen, nicht
durch und durch böse, aber fast. Meistens sind sie ein
bißchen dumm. Wir nennen sie Trolle. Trolle therapiert
man nicht. Man bringt ihnen auch nichts bei und ver-
sucht es nicht mit einem Rehabilitationsprogramm. Ein
Troll zu sein ist ein Zustand.
Die Haupttäter vom 11. September wurden nicht
Trolle genannt. Sie wurden als «Terroristen» bezeich-
net, und Osama bin Laden ist der «Superterrorist». Das
ist ein altes Thema in der Kriminologie. Sie werden als
Terroristen betrachtet. Aber sind Menschen ihre Hand-
lungen, und wenn ja, welche Teile ihrer Handlungen?
Ist Stehlen die wichtigste Charaktereigenschaft eines
Diebes – und Töten die wichtigste Charaktereigen-
schaft eines Menschen, der getötet hat? Manche Men-
schen sind sehr nahe daran, ihre Taten zu sein. Gandhi
und Jesus sollen diesem Typus angehört haben. Aber
gewöhnlich können wir erkennen, daß die meisten
Menschen multidimensional sind. Eine Person kann
einige Handlungen begangen haben, die wir bedauern,
aber sie hat auch andere Seiten. Wenn man offen ist für
diese Sicht, ist es nicht mehr ganz so leicht, den ande-
ren Menschen als Monster zu betrachten, selbst wenn
wir einige Aspekte seines oder ihres Verhaltens für
absolut inakzeptabel halten.
Aber diese Forderung, zwischen Handlung und Per-
son zu differenzieren, ist selbst innerhalb der Krimino-
logie umstritten. Wir haben unsere eigenen Monster. In
der Kriminologie werden sie Psychopathen genannt.
Von allen Psychopathen wird derjenige, der einem
Monster am nächsten kommt, in meiner Sprache følels-
kald psykopat genannt. Auf Deutsch wäre das vermut-
lich ein gefühlskalter Psychopath. Ich bin noch niemals
einem solchen Menschen begegnet, aber manchen
Psychiatern scheint das andauernd zu passieren.
Orham Panuk hat eine andere Erklärung als Präsi-
dent Bush. Panuk (2001) ist ein Romanschriftsteller aus
Istanbul. In der Ausgabe vom 15. November 2001 der
New York Review of Books schreibt er:

Weder der Islam noch die Armut selbst sind


schuld an der Unterstützung für die Terroristen,
deren Grausamkeit und Erfindungsreichtum ohne
Vorbild in der Geschichte der Menschheit sind. Es
liegt eher an der niederschmetternden Demüti-
gung, unter der die Länder der Dritten Welt leiden.
Zu keiner Zeit in der Geschichte ist die Kluft
zwischen Arm und Reich so groß gewesen... zu
keiner Zeit in der Geschichte wurde das Leben
der Reichen durch das Fernsehen und durch
Hollywoodfilme mit solcher Eindringlichkeit in das
Bewußtsein der Armen gerückt.

Die norwegischen Trolle haben eine besondere


Schwachstelle. Das Sonnenlicht ist gefährlich für sie.
Beim ersten Sonnenstrahl, der sie trifft, zerspringen sie
oder werden zu Stein. Das ist die Erklärung für die
vielen seltsamen Felsformationen, die man zu sehen
bekommt, wenn man in den norwegischen Bergen
wandert.
Die Vorstellung von Monstern ist sehr schwer auf-
rechtzuerhalten, wenn man sie kennenlernt. Eine nor-
male Bekanntschaft kann genügen, oder auch eine
wissenschaftliche. Wenn wir ein bißchen mehr über das
menschliche Verhalten wissen, insbesondere dann,
wenn wir uns selbst im Verhalten des anderen wiede-
rerkennen, löst sich das Monster in Nichts auf.
Aber für die Handlungen eines Staates können sie
sehr nützlich sein.
4 EINSPERREN ALS ANTWORT

GESELLSCHAFTSFORMEN, DURCH DIE DAS

VERBRECHEN VERMEHRT WIRD

Wenn ich diktatorische Machtbefugnisse und das Be-


dürfnis hätte, eine Situation zu schaffen, in der das
Verbrechen blüht, würde ich unsere Gesellschaften in
eine Form bringen, die dem, was man in vielen moder-
nen Staaten findet, sehr ähnlich wäre.
Wir haben Gesellschaften geschaffen, in denen es
ganz besonders leicht fällt und auch im Interesse vieler
ist, unerwünschtes Verhalten als Verbrechen zu defi-
nieren – im Gegensatz zu schlechten, verrückten, ex-
zentrischen, ungewöhnlichen, unanständigen oder ganz
einfach unerwünschten Handlungen. Wir haben unsere
Gesellschaften auch in einer Weise geformt, die uner-
wünschtes Betragen provoziert, und gleichzeitig die
Möglichkeiten nichtstaatlicher Kontrolle reduziert. Es
ist offensichtlich, daß dieser Zustand die Gefängnissi-
tuation in der industrialisierten Welt beeinflussen muß.
Als erstes und in erster Linie wird in der Mehrzahl der
so beschaffenen Gesellschaften ein erhöhter Druck auf
die Gefängnissysteme entstehen. Es wird jedoch auch
Ausnahmen geben. Die Anzahl der Gefängnisinsassen
ist in jeder Gesellschaft auch ein Ergebnis der Ge-
schichte des betreffenden Landes und eine Folge der
vorherrschenden politischen Ideen und hängt nicht
zuletzt von der Bereitschaft ab, nach anderen als straf-
rechtlichen Lösungen zu suchen.
Die Tabelle auf Seite 80/81 zeigt die Anzahl von
Häftlingen pro 100000 Einwohner in einigen größeren
Regionen der Erde. Die Länder innerhalb der einzelnen
Regionen sind nach der Zahl ihrer Häftlinge geordnet,
wobei das Land mit der höchsten Zahl jeweils an erster
Stelle steht. Die meisten Zahlen stammen aus der sehr
hilfreichen Statistik, die von Roy Walmsley (2002)
zusammengetragen wurde (und durch das International
Centre für Prison Studies1 laufend aktualisiert und der
Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt wird). Einige
Zahlen basieren auf Material, das mir durch direkten
Kontakt mit Repräsentanten verschiedener Gefängnis-
verwaltungen in Ländern zugänglich gemacht wurde,
die ich besucht habe. Einige meiner Zahlen unterschei-
den sich von denen, die von Roy Walmsley und dem
International Centre for Prison Studies gesammelt
wurden. Diese Unterschiede spielen jedoch für die
anschließenden Überlegungen keine Rolle. Die meisten
Zahlen stammen aus den Jahren 2000-2002.

Anzahl der Häftlinge pro 100000 Einwohner des jewei-


ligen Landes

Westeuropa
England und Wales 139 Österreich 85
Portugal 135 Griechenland 80
Spanien 126 Schweiz 69
Italien 100 Dänemark 66
Frankreich 99 Schweden 64
Niederlande 93 Norwegen 62
Deutschland 91 Finnland 60
Irland 86 Island 37
Belgien 85

Mittel- und Osteuropa

GUS 607 Rumänien 215


Weißrußland 554 Georgien 196
Ukraine 406 Ungarn 176
Lettland 361 Tschechien 159
Estland 328 Slowakei 139
Litauen 327 Bulgarien 114
Moldawien 300 Türkei 89
Polen 260 Slowenien 56

Nordamerika

USA 730
Kanada 116
Mittelamerika
Kuba (geschätzt) 500 El Salvador 158
Belize 459 Mexiko 156
Panama 359 Nicaragua 143
Costa Rica 229 Guatemala 71
Honduras 172

Südamerika

Chile 204 Peru 104


Uruguay 166 Bolivien 102
Argentinien 154 Paraguay 75
Brasilien 137 Venezuela 62
Kolumbien 126 Equador 59

Südpazifik

Neuseeland 155
Australien 112

Die gigantischen Unterschiede zwischen den einzelnen


Ländern gehören zu den auffälligsten Fakten, die aus
dieser Tabelle hervorgehen. Während Island ganz am
Ende der Liste steht, sind die USA und Rußland im
Einsperren ihrer Bürger die absoluten Weltmeister
unter den industrialisierten Ländern.
Im folgenden werden wir mehrfach auf diese Tabel-
le zurückkommen. Zunächst wollen wir jedoch die
Frage stellen, ob die beiden großen Kerkermeister
irgendwelche gemeinsamen Eigenschaften haben.

DIE GROßEN KERKERMEISTER

In den USA gibt es heute (2003) mehr als 2,1 Millionen


Strafgefangene. Das bedeutet, auf 100 000 Einwohner
kommen 730 Häftlinge – mehr als 0,7 Prozent. Seit
1975 ist die Zahl unglaublich gestiegen. Das Wachstum
hat sich in letzter Zeit ein wenig verlangsamt, ist je-
doch nicht zum Stillstand gekommen. Zu den Inhaftier-
ten kommen noch weitere 4,7 Millionen Menschen
hinzu, die gegen Kaution oder auf Bewährung auf
freiem Fuß sind oder bedingt aus der Haft entlassen
wurden. Das bedeutet, daß im Jahr 2003 6, 8 Millionen
Bürger der Vereinigten Staaten in irgendeiner Form
unter der Kontrolle des Strafverfolgungssystems stan-
den. 2, 4 Prozent der Gesamtbevölkerung der USA
befinden sich ständig unter der Kontrolle dieser Institu-
tion. Bei den Staatsbürgern, die 15 Jahre oder älter
sind, sind es 3, 1 Prozent.
Rußland hinkt deutlich hinterher, und zwar in zu-
nehmendem Maße. Am 1. Januar 2003 gab es dort
866000 Strafgefangene oder 607 auf 100 000 Einwoh-
ner. Zwei Jahre zuvor waren es noch mehr als eine
Million Strafgefangene oder 680 auf 100 000 Einwoh-
ner. Die Zahl der Untersuchungshäftlinge sank von
282000 im Jahr 2000 auf 145000 im Jahr 2003. 2 In
Rußland sind aber gerade die Untersuchungsgefängnis-
se ausgesprochene Orte des Grauens. Vivian Stern
(1999) hat ein Buch über die russischen Haftbedingun-
gen herausgegeben. Der Titel, Sentenced to Die?, trifft
genau ins Schwarze. Das Schlafen in drei Schichten in
feuchten Räumen mit Hunderten von Mitgefangenen ist
nicht gerade ein guter Schutz gegen die explosionsarti-
ge Ausbreitung von Tuberkulose und AIDS in den
Gefängnissen. Und diese explosionsartige Ausbreitung
wird irgendwann die gesamte russische Bevölkerung
treffen. Nach ihrer Verurteilung werden die Delinquen-
ten aus Moskau in die Strafkolonien, die ehemaligen
Gulags, gebracht. Hier sind die Bedingungen wesent-
lich besser.
Im Mai 2001 hat die Duma, das russische Parla-
ment, mehrere wichtige Gesetze verabschiedet, durch
die die Zahl der Strafgefangenen um ein Drittel ver-
mindert werden soll. Die Wirkung dieser Gesetze ist
deutlich erkennbar. Vor den Reformen hatte ein Häft-
ling im Durchschnitt weniger als einen Quadratmeter
zur Verfügung. Heute sind es durchschnittlich 3, 5
Quadratmeter. Die von der Gesundheitsbehörde festge-
legte Mindestquadratmeterzahl pro Häftling beträgt 4
Quadratmeter. (Kalinin 2002, S. 17)
GEMEINSAME EIGENSCHAFTEN

Was haben diese beiden Staaten, abgesehen von ihren


hohen Häftlingszahlen, miteinander gemein?
Die erste und offensichtlichste Ähnlichkeit zwi-
schen den USA und Rußland besteht darin, daß sie so
groß sind, sowohl was ihre Fläche als auch was ihre
Macht und ihre Bevölkerungszahl betrifft. All dies ist
die Grundlage für organisatorische Muster, die die
Entstehung sozialer Distanz begünstigen. In den großen
Straßen Moskaus gibt es eine eigene Fahrbahn in der
Mitte, die für den Präsidenten und sein Gefolge von
Würdenträgern reserviert ist. In verkleinertem Maßstab,
wie ihn ein auf Besuch befindlicher Akademiker ken-
nenlernt, und auf normalen, holprigen russischen Stra-
ßen befand ich mich in der gleichen gesellschaftlichen
Situation. Mehrere Stunden lang fuhr ein Polizeiwagen
mit Sirene und Blaulicht vor uns her, ein weiterer
folgte. Normale Fahrzeuge mußten halten. Hier kom-
men wir, die Kaiser – oder zumindest jemand, der mit
denen da oben in Verbindung steht.
Aber so etwas gibt es nicht nur in Moskau. Westli-
che Hauptstädte haben ihre Hubschrauber für die Re-
gierenden an Stelle der reservierten mittleren Fahrbah-
nen. Und sie haben ihre festgelegte Anzahl von fest
miteinander verbündeten Machthabern. Ich erinnere
mich noch lebhaft an eine Veranstaltung in Washington
DC. Es war ein gesellschaftliches Ereignis mit ganz
besonders hochgestellten Persönlichkeiten. Das, was
mir von diesem Abend am lebhaftesten in Erinnerung
blieb, war die Rede des Gastgebers. Viele Gäste waren
geladen, die meisten waren gekommen, aber einige
waren verhindert. Sie alle hatten jedoch – und wir
erfuhren den Namen von jedem einzelnen Würdenträ-
ger, der nicht anwesend war – den Gastgeber persön-
lich angerufen und erklärt, warum sie nicht kommen
konnten. Der Anruf einer Sekretärin hätte nicht genügt.
Ich hatte das Gefühl, mich auf einer Party für Leute zu
befinden, die dem König nahestanden. Es wurde erwar-
tet, daß man anwesend war oder persönlich außeror-
dentlich triftige Gründe für seine Abwesenheit vor-
brachte. Widrigenfalls konnte man in Gefahr geraten,
ausgestoßen zu werden.
All dies ist bis zu einem gewissen Grad einleuch-
tend: In großen sozialen Systemen, und ich spreche von
pyramidenförmigen Systemen, befindet sich nur ein
sehr kleiner Teil der Bevölkerung an der obersten
Spitze. Oder es ist zumindest eine ungewöhnliche
politische Genialität erforderlich, wenn man die Bedin-
gungen für eine breitere Beteiligung der Bevölkerung
schaffen will. Wenn nur eine kleine Gruppe an der
Spitze steht, werden diejenigen, die dort oben stehen,
extrem wichtig füreinander. Aber gleichzeitig ist es
unvermeidlich, daß sich in dieser Situation ein großer
Abstand zu den Regierten herausbildet. Sozialer Ab-
stand ist jedoch eine der Voraussetzungen für einen
exzessiven Gebrauch des Strafverfolgungssystems.
Eine weitere Übereinstimmung zwischen Rußland
und den USA besteht darin, daß in beiden Ländern die
Position der Richter sehr schwach ist. In den USA ist
dies ganz offensichtlich der Fall. Verglichen mit West-
europa haben die Richter in den USA ihre Entschei-
dungsfreiheit schrittweise an die Politiker und die
Staatsanwälte verloren. Das amerikanische System der
Verurteilungstabellen gibt den Politikern – die den
Inhalt der Tabellen bestimmen – die Befugnis, bis ins
Detail über das Strafmaß zu entscheiden.3 Die gleiche
Wirkung hat der exzessive Gebrauch von obligatori-
schen Gesetzen zur Festlegung des Strafmaßes. Wenn
die Tatsachen des Falles klar sind, hat der Richter so
gut wie keinen Ermessensspielraum. Bei einer Befra-
gung der Richter der Vereinigten Staaten stimmten 86
Prozent der Amtsrichter und Bewährungshelfer darin
überein, daß die Richtlinien den Staatsanwälten zu viel
Ermessensspielraum und Kontrolle überlassen. Rund
71, 5 Prozent waren mehr oder weniger strikt dagegen,
das gegenwärtige System der obligatorischen Verurtei-
lungsrichtlinien beizubehalten. 4
Die Richter in den USA werden großenteils direkt
gewählt. Aber die Anzahl der Personen, die an dem
Wahlprozeß teilnehmen können, ist begrenzt. Mehr als
4 Millionen Menschen, darunter 1, 4 Millionen schwar-
ze Männer, dürfen nicht wählen, weil sie vorbestraft
sind. Viele werden ihr Wahlrecht niemals zurückerhal-
ten (Mauer und Chesney-Lind 2002). Für einen Politi-
ker gibt es hier nicht viel zu gewinnen. Im Gegensatz
zum Richter konnte der Staatsanwalt seine Macht
erhalten. Er kann ein Abkommen mit dem Angeklagten
treffen und beispielsweise Teile der Anklage fallen
lassen, wenn dieser bestimmte andere Taten zugibt. In
einem System mit Verurteilungstabellen kann der
Staatsanwalt das Endergebnis sehr stark beeinflussen.
Aber auch in der klassischen, in den osteuropä-
ischen Staaten vorherrschenden Situation hängt der
Richter in hohem Maß von der politischen Macht ab,
um sein Amt zu bekommen und zu behalten. Der
Staatsanwalt hat hier eine ganz besondere Bedeutung.
Das ist einer der Hauptgründe dafür, daß so viele Leute
in Untersuchungshaft sitzen und auf ihren Prozeß
warten. Die Richter in Rußland und Weißrußland spre-
chen nur ungern jemanden frei. Statt dessen geben sie
den Fall an den Staatsanwalt zurück. Während der
Staatsanwalt nachdenkt, muß der Untersuchungs-
häftling warten. Häufig zieht sich dies über Jahre hin.
Ich kann meine Aussage über die Machtverteilung
nicht beweisen. Aber ich beobachte, und ich höre zu.
Eine Schilderung der Situation erlebte ich anläßlich
einer Konferenz in Weißrußland im Mai 2002. Weiß-
rußland wird in Kürze der Hauptkerkermeister in Euro-
pa sein, wenn Rußland die Zahl seiner Häftlinge wie
geplant reduziert. Vor einigen Jahren hatte Weißruß-
land noch 500 Häftlinge auf 100000 Einwohner. Im
Jahr 2001 waren es 560. Das sind insgesamt 56000
Gefangene. Weißrußland hat 10 Millionen Einwohner.
An jener Konferenz in Weißrußland nahmen Vertre-
ter der Gefängnisverwaltung und mehrere Direktoren
von Gefängnissen und Strafkolonien teil, ferner einige
Richter und Staatsanwälte. Gegen Ende der Konferenz
bat eine kleine Frau, die ganz am unteren Ende des
Tisches saß, um das Wort. Sie war Richterin gewesen,
war jedoch von ihrem Amt zurückgetreten und erzählte
uns, warum sie dies getan hatte. Während sie sprach,
wurde die Atmosphäre im Raum immer eisiger, aber
sie ließ sich nicht beirren. Sie war eine ausgebildete
Juristin und hatte gelernt, worum es ging: Das wichtig-
ste Ziel bestand darin, so viele Verbrecher wie möglich
zu fangen und einzusperren. Als Juristin bei der Polizei
hatte sie genau dies getan, und zwar so gut, daß sie
befördert wurde. Sie wurde Richterin mit dem entspre-
chenden Status und dem Apartment, das zu einem
solchen Amt gehört. Auch hier kannte sie die Spielre-
geln: Es kam darauf an, dafür zu sorgen, daß der An-
geklagte verurteilt wurde. Milde Strafen und mehr als
nur ein winziger Prozentsatz von Freisprüchen waren
inakzeptabel. Irgendwann erkannte sie ihre Abhängig-
keit von dem Staat, den sie eigentlich kontrollieren
sollte, und gab ihr Amt auf.
Ein weiterer Punkt, den die größten Kerkermeister
miteinander gemein haben, ist die Tatsache, daß die
Wurzeln ihrer Gefängnissysteme teilweise in der Leib-
eigenschaft oder der Sklaverei zu suchen sind.
Liberty for some lautet der Titel, den Scott Chri-
stianson (1998) seinem wichtigen Buch zu diesem
Thema gegeben hat. Mit der hier und jetzt unvermeidli-
chen Simplifizierung kann man ohne allzu große Über-
treibung sagen, daß die Schwarzen, als sie im Süden
befreit wurden und sich auch frei bewegen durften, ihre
Plätze im vorderen Teil der Busse einnahmen und nach
Norden fuhren, dann in die Innenstädte und von dort
aus direkt in die Gefängnisse wanderten. Von 100000
männlichen Schwarzen befanden sich gegen Ende des
Jahres 2001 3535 im Gefängnis. Auf 100000 männli-
che Weiße kamen dagegen nur 462 Häftlinge. 5 Die
große Zahl von Gefängnisinsassen hat sehr viel mit der
Tradition der Sklaverei zu tun.
Das gleiche Phänomen findet man auch in der russi-
schen Geschichte, die hier auch Weißrußland ein-
schließt. In der Zarenzeit gab es nicht besonders viele
Strafgefangene. Man hatte eine Alternative. Es gab die
Leibeigenschaft. Die Bauern waren das Eigentum ihrer
Herren. Ohne die Erlaubnis des Aristokraten, dem sie
gehörten, durften sie sich weder frei bewegen noch
heiraten. Das bedeutete, daß die unteren Klassen streng
kontrolliert wurden. Und wenn die Kontrolle versagte
oder jemand sich schlecht benahm, der kein Bauer war,
hatte man Sibirien. Dieses riesige Land wurde zu einem
großen Teil mit Strafgefangenen besiedelt. 6 So gesehen
stellten die Gulags keinen wesentlichen Bruch mit der
Vergangenheit dar. Sie waren nicht in erster Linie für
Dissidenten da. Sie waren Produktionsgemeinschaften,
die sich aus Menschen aus den niederen Klassen zu-
sammensetzten. Die Leibeigenschaft hatte eine neue
Gestalt angenommen.
Die Super-Kerkermeister haben also im Grunde ge-
nommen ähnliche Systeme, und diese Systeme haben
auch ähnliche soziale und kulturelle Züge: Ihre speziel-
le Musik, Sprache und Kleidung. In Moskau gibt es
einen FM-Sender, der vorwiegend Gefängnisslang und
Gefängnismusik sendet. Die gleiche Erscheinung gibt
es offensichtlich auch in Teilen der Kultur der USA.
Auch in der inneren Organisation der Systeme scheint
es Übereinstimmungen zu geben. Zumindest für das
russische Gefängnissystem kann wohl gesagt werden,
daß sich darin überall, abgesehen vielleicht von der
Mehrzahl der frühen Dissidenten, eine streng in
Schichten aufgeteilte Gesellschaft entwickelt, in der die
unberührbaren Verlierer ganz unten stehen. Infolge
besserer materieller Bedingungen, mehr Möglichkeiten,
einzelne Häftlinge zu isolieren und mehr Wachpersonal
pro Häftling, mag dies in den meisten amerikanischen
Gefängnissen anders sein, obwohl die zahlreichen
Berichte über Bandenkriege darauf schließen lassen,
daß die Behörden weit davon entfernt sind, die Dinge
wirklich unter Kontrolle zu haben.
Es gibt jedoch auch Unterschiede. Der wesentlichste
besteht darin, daß die großen Kerkermeister sich hin-
sichtlich des Gebrauchswerts ihrer Gefängnisse vonei-
nander unterscheiden.
Rußland hat nun schon seit einiger Zeit Schwierig-
keiten mit seinen Gefängnissen und Strafkolonien. Sie
werfen einfach keinen Profit mehr ab. Auch wenn es
uns nicht gefällt, die Gulags spielten eine wesentliche
Rolle für die Kriegsanstrengungen von 1940-1945.
Auch in der Planwirtschaft der UdSSR in der Zeit nach
dem Zweiten Weltkrieg (oder dem großen Vaterländi-
schen Krieg, wie er im Osten genannt wird) konnten
die Gulags einigermaßen effizient arbeiten. Aber in
einer Marktwirtschaft sind sie ganz einfach nicht kon-
kurrenzfähig. Im heutigen Rußland stellt das Gefäng-
nissystem daher einen großen Aderlaß für die Wirt-
schaft dar.
Laura Piacentini (2002) hat sich darum bemüht he-
rauszufinden, was mit den russischen Strafkolonien
passierte, als sich das Wirtschaftssystem änderte. Sie
hat zwei interessante Beobachtungen gemacht. Erstens
hing die Anpassung an die neue Situation von der
Entfernung zu Moskau ab. Je größer die Entfernung,
desto mehr Entscheidungsfreiheit hatte die örtliche
Gefängnisverwaltung. Inspektoren aus Moskau kamen
nur selten und in großen Abständen. In der Nähe von
Moskau war die Situation anders. Hier mußte die Ge-
fängnisverwaltung nach der Flöte der Zentralverwal-
tung tanzen. Diese Flötentöne waren im Strafvollzug
wohlbekannt. Die Kolonien konnten keine Arbeit mehr
anbieten. Große Fabrikhallen standen buchstäblich leer,
nur kleine Gruppen von Gefangenen beschäftigten sich
in irgendeiner Ecke mit unbedeutenden Aufgaben. Die
Antwort, die alle Theoretiker des Strafvollzugs und die
zentrale Gefängnisverwaltung darauf zu geben hatten,
war laut und deutlich: Die Häftlinge sind hier, um zu
gesetzestreuen Bürgern gemacht zu werden. Darum
muß die Strafkolonie Therapie und Erziehung anbieten.
Aber in den russischen Strafkolonien waren dies, eben-
so wie in den meisten Strafanstalten in der ganzen
Welt, nur leere Worte.
Ganz anders war die Situation im Inneren Sibiriens,
weit entfernt von den wachsamen Augen der Zentral-
verwaltung. In den Jahren nach 1990 war die Situation
extrem schwierig. In den Strafkolonien waren, ebenso
wie in ganz normalen Fabriken, Monate vergangen,
ohne daß die Belegschaft eine Bezahlung erhielt.
Gleichzeitig bestand ein verheerender Mangel an Nah-
rung, Kleidung und Heizmaterial für die Gefangenen.
In dieser Situation entwickelte sich ein ausgeklügeltes
Tauschhandelssystem. Die Kolonien suchten in den
umliegenden Gemeinden nach Arbeit, die getan werden
mußte. Sie hatten hungernde Gefangene, die bereit
waren, fast alles zu tun, wenn sie dafür irgend etwas
bekamen, was ihr Überleben in der Kolonie sichern
konnte.
Auf diese Weise entwickelten sich einige der Straf-
kolonien an der Peripherie des Landes zu ziemlich
effektiven Produktionsgemeinschaften. Und damit sind
wir bei dem Dilemma angelangt, vor dem alle stehen,
die sich in Sachen Strafvollzug für kompetent halten.
Diese Kolonien bieten keine Behandlung an, und nach
der Theorie und allen internationalen Konventionen ist
das schlecht. Aber sie versorgen die Gefangenen mit
Arbeit und sogar mit Nahrung. Und nun zur Kehrseite
der Medaille, und damit kommen wir zu einer neuen
Übereinstimmung zwischen den USA und Rußland: In
dieser Situation besteht bei den beiden großen Kerker-
meistern die Gefahr, daß das Fundament für ein neues
Zwangsarbeitssystem gelegt wird.
Im Gegensatz zu Rußland können sich die USA ihre
große Zahl von Häftlingen problemlos leisten. Für viele
in den USA bedeutet das Bauen und Betreiben von
Gefängnissen Profit. Dies ist einer der wesentlichen
Punkte, um die es in meinem Buch Kriminalitätskont-
rolle als Industrie (Christie 1995b) geht. In jüngerer
Zeit wurden sogar Fälle beschrieben, in denen Gefäng-
nisse innerhalb der Vereinigten Staaten bewiesen, daß
sie, was billige Arbeitskräfte für die amerikanische
Industrie betrifft, mit den Ländern der Dritten Welt
durchaus konkurrieren können. Und natürlich ist es
besser, wenn die Gefangenen zu essen haben und nicht
hungern. Es ist auch besser, wenn sie arbeiten, statt
lange Stunden des Nichtstuns zu durchleiden. Aber
diese Vorteile haben ihre Gefahren. Für die Obrigkeit
ist es praktisch, daß sie arbeiten.
Ein Heer von inhaftierten Arbeitskräften ist eine
wunderbare Möglichkeit, das Bedürfnis nach Kontrolle
der Unterschicht mit dem Bedarf an billiger Arbeit zu
verbinden. Das kann Staaten in Versuchung bringen. Es
kann zu einer Wiederbelebung der Institution der Skla-
verei führen.

ÜBER DIE WOHLFAHRT

Die Super-Kerkermeister waren unser Ausgangspunkt


für dieses Kapitel. Aber unsere Tabelle auf Seite 80/81
gibt auch Anlaß zu weiteren wichtigen Fragen und
Sorgen. Von besonderem Interesse ist der Unterschied
zwischen den Vereinigten Staaten und Kanada. Dieser
Unterschied ist fast unglaublich. In Kanada gibt es 116
Häftlinge pro 100 000 Einwohner verglichen mit den
USA und ihren 730 Gefängnisinsassen. Zwei Länder,
die so nahe beieinander liegen und doch so unter-
schiedlich sind. Sie haben eine gemeinsame Grenze,
die von Küste zu Küste reicht, die gleiche Sprache,
weitgehend die gleiche Religion, ihre Medien verbrei-
ten bis zu einem gewissen Grad die gleichen Inhalte,
und was das Geld und den Lebensstil betrifft, haben sie
auch weitgehend die gleichen Ideale. Wie können wir
die Unterschiede in der Anzahl von Häftlingen erklä-
ren? Selbst ohne die Überrepräsentation von Schwar-
zen in den Gefängnissen der USA gäbe es dort immer
noch mehr als dreimal so viele Strafgefangene wie in
Kanada.
Als erstes und vor allen Erklärungsversuchen ist es
ganz einfach wichtig festzustellen, daß eine solche
Ausnahmesituation wie in Kanada möglich ist! Kanada
ist ein hochentwickelter, gut funktionierender, moder-
ner Staat. Wie in anderen modernen Staaten auch, gibt
es dort Probleme mit dem Verbrechen. Auch in Kanada
gibt es Politiker, die diese Probleme als Mittel zur
Selbstdarstellung benutzen. Dennoch beträgt dort die
Anzahl der Häftlinge nur ein Sechstel dessen, was der
südliche Nachbar aufzuweisen hat! Und dieser Unter-
schied ist während der letzten Jahre auch noch gewach-
sen. In Kanada wird die Zahl der Gefängnisinsassen
ständig kleiner, während sie in den USA laufend im
Wachsen begriffen ist. Der Umfang des Strafverfol-
gungssystems trifft uns also nicht als Schicksal, son-
dern ist Gegenstand politischer Entscheidungen, die
unterschiedlich ausfallen können.
Was hat Kanada so Besonderes an sich?
Es ist ja schon fast peinlich, aber ich habe dafür kei-
ne klare Antwort parat, nur ein paar Vermutungen, die
in diesem Fall auf regelmäßigen, über mein ganzes
Leben verteilten Aufenthalten in diesem Land basieren.
Als erstes möchte ich sagen, daß sich ein Aufenthalt
in Kanada für einen Skandinavier nicht wesentlich von
einem Besuch in einem anderen skandinavischen Land
unterscheidet. Ein bißchen langweilig vielleicht. Alles
wohlorganisiert, Menschen, die sich ordentlich betra-
gen, höfliche Beziehungen.
Wenn man einen etwas tieferen Einblick in die Ver-
hältnisse bekommt, stößt man auf eine zweite grundle-
gende Übereinstimmung: Kanada ist ganz einfach ein
Wohlfahrtsstaat. Man findet dort alles – Altersrente,
Krankenversicherung, Mutterschaftsurlaub vor und
nach der Geburt, Arbeitslosenunterstützung. Natürlich
hat das System seine Schwächen, und die lebhaften
Diskussionen über die Möglichkeiten, diese Schwächen
zu beheben, werden das soziale Netz für die Armen im
Endeffekt weitmaschiger machen. Aber die Situation
der Armen unterscheidet sich in Kanada grundlegend
von der in den USA. Das kanadische Wohlfahrtssystem
wird von der Spitze des politischen Establishments
verteidigt. Das Anwachsen der Ungleichheiten im
Einkommen, wie es in den Vereinigten Staaten stattge-
funden hat, hat es in Kanada «infolge des ausgleichen-
den Einflusses von Transfers durch die Regierung»
(Sharpe 2000, S. 158) nicht gegeben.
Der dritte Faktor steht hiermit in einem Zusammen-
hang. Kanada hat jahrelang eine Beamtenschaft gehabt,
die sich ganz bewußt darum bemüht hat, die Zahl der
Gefängnisinsassen unter Kontrolle zu halten. In dieser
Hinsicht habe ich persönliche Erfahrungen, weil ich an
Konferenzen des Finanzministeriums in Ottawa über
das Budget für das Gefängnissystem beteiligt war. Alle
Ministerien waren angewiesen worden, ihre Budgets zu
reduzieren, aber die für Recht und Ordnung zuständi-
gen Personen erklärten, daß dies unmöglich sei: Sie
müßten ihre Budgets vergrößern, weil die Kriminalität
zunähme! Aber war es wirklich unmöglich? Ich war
eingeladen worden, mich zu dieser Frage zu äußern.
Die Frage führte zu einer faszinierenden Diskussion
darüber, wie und um welchen Preis man den Schaden –
alle Arten von Schäden – für die kanadische Gesell-
schaft begrenzen könnte.
Das Ergebnis dieser Diskussionen war folgendes: In
der kanadischen Gesellschaft wird der Gebrauch des
Strafverfolgungssystems als Alternative zu den sozia-
len Sicherungssystemen offenbar nicht als in Frage
kommende Lösung betrachtet.

OST- UND WESTEUROPA

Wenn wir zu unserer Tabelle zurückkehren und unser


Augenmerk auf den europäischen Schauplatz lenken,
stoßen wir auf zwei auffallende Beobachtungen. Ers-
tens: Der größte Unterschied in der Zahl der Gefäng-
nisinsassen besteht zwischen Ost und West. Nur vier
Länder in Westeuropa haben mehr als 100 Häftlinge
pro 100000 Einwohner, während die Mehrzahl der
osteuropäischen Länder über diesem Niveau liegt.
Zweitens stellen wir jedoch fest, daß auch innerhalb
von Osteuropa riesige Unterschiede bestehen. Gleich
nach der GUS und Weißrußland folgen die Ukraine
und die Baltischen Republiken auf den Spitzenplätzen,
alle mit 300 und mehr Häftlingen pro 100000 Einwoh-
ner. Ganz am Ende der Liste finden wir Slowenien –
dieses kleine Land befindet sich, was die Anzahl seiner
Gefängnisinsassen betrifft, auf einer Ebene mit den
nordischen Ländern und hat diese Position seit Jahren
gehalten.
Das allgemeine Bild ist deutlich erkennbar: Rußland
ist der Hauptkerkermeister in Europa, gefolgt von den
ehemaligen Mitgliedern der Sowjetunion. Wenn man
die Gefängnisse dieser Länder besucht, fällt auf, wie
ähnlich sie in ihrer sozialen Organisation und materiel-
len Form den Gefängnissen in Rußland sind. Hinter
diesen Herzländern mit etwas niedrigeren, aber immer
noch hohen Häftlingszahlen folgen die früher unabhän-
gigen Staaten, die jedoch bis zum Ende des Kalten
Krieges zum Ostblock gehört haben.
Diese Länder sind in so vieler Hinsicht einge-
quetscht zwischen Ost und West. In meinem Buch
Kriminalitätskontrolle als Industrie (Christie 1995b)
habe ich beschrieben, wie Finnland nach dem Zweiten
Weltkrieg die bewußte Entscheidung getroffen hat,
auch im Hinblick auf die Strafverfolgungspolitik aus
Osteuropa auszuscheren. Und das Land hatte Erfolg.
Seit Jahren sind dort die Gefängniszahlen niedriger als
in Dänemark, Norwegen und Schweden. Aber natürlich
gehörte Finnland während des Kalten Krieges auch
nicht zum Ostblock, und seine Strafverfolgungspolitik
war Teil seines Kampfes, sich an Skandinavien anzu-
schließen. Es ist jedoch offensichtlich, daß der gleiche
Kampf bezüglich der Strafverfolgungspolitik nun auch
in den Ländern des ehemaligen Ostblocks stattfindet.
Polen ist ein interessantes Beispiel.

POLNISCHE RHYTHMEN

Vom kriminologischen Standpunkt aus gesehen, ist das


nachfolgende Diagramm ein Schatz – und für die Men-
schen, die sich hinter den Zahlen verbergen, grausame
Wirklichkeit.7 Es handelt sich um ein Diagramm der
Gesamtzahl der Gefängnisinsassen in Polen von 1945
bis zum Oktober 2002. Drei Merkmale des Diagramms
sind bemerkenswert.
Gesamtzahl der Gefängnisinsassen in Polen
von 1945-2002

Das erste ist der Rhythmus der Linie. Nach dem Be-
ginn mit der niedrigsten Zahl im Jahr 1945 wurde im
Jahr 1950 mit 98000 Häftlingen ein erster Höhepunkt
erreicht. Sechs Jahre später sank die Zahl auf 35 000
und stieg dann wieder auf 105 000 im Jahr 1963. Die
höchste Zahl wurde 1973 mit 125 000 Gefängnisinsas-
sen erreicht. In diesem Stil ging es weiter, bis die Zahl
im Jahr 1989 wieder sank, diesmal auf 40000.
Nach meiner Interpretation ist dies das Bild eines
Gefängnissystems ohne Hintertür, ohne Entlassungs-
prozeduren, auf die man zurückgreifen kann, wenn der
Druck auf das System zu stark wird. Ein repressiver
Staat, mächtige Staatsanwälte, strenge Richter – es war
leichter, ja zu einer Haftstrafe zu sagen, als nein. Aber
die Spannungen stiegen. Die Zahl der Häftlinge, die
untergebracht werden konnten, war begrenzt, ebenso
die Zahl von Personen, für die es sinnvolle Arbeit gab.
Und die Gefängnisinsassen protestierten. Es kam zu
mehreren Gefängnisaufständen. Die rhythmische Ant-
wort auf diese Situation bestand in Amnestien. Um-
fangreiche Amnestien wurden 1956, 1964, 1969, 1974,
1977 und 1981 erlassen – und ganz besonders 1989, in
dem Jahr, in dem die Mauer zwischen Ost und West
zusammenbrach. Das Diagramm zeigt, wie ungeeignet
Gefängniszahlen als Indikatoren für die Kriminalität in
einem Land sind. Aus diesem Diagramm geht ganz klar
hervor, daß es politische Entscheidungen sind, die sich
in der Anzahl der Häftlinge widerspiegeln. Andere
Länder handhaben diese Angelegenheit wesentlich
weniger auffällig.
Eine weitere faszinierende Entwicklung, die das
Diagramm aufzeigt, ist die Zeit nach 1989. Das alte
Regime war zusammengebrochen. Freiheit, jetzt auch
für die Gefängnisinsassen.
Aber es blieb nicht bei der niedrigen Anzahl von
40000 Häftlingen. Eine Zeitlang sah es so aus, als
würde sich die Zahl um 55000-60000 herum einpen-
deln. Es waren die Jahre einer politischen Bewegung –
später einer politischen Partei – mit dem Namen Soli-
darität, einer Solidarität, die offensichtlich auch die
Gefängnisinsassen mit einbezog. Aber dann wurde die
neue Freiheit alt, und der Trend im Diagramm eben-
falls. Von 1999 an bis zum Oktober 2002 ist die Zahl
der Häftlinge von genau 56765 auf 81654 angestiegen.
Diese Zahl habe ich für die Tabelle auf Seite 80/81
verwendet, in der Polen mit 260 Häftlingen pro 100
000 Einwohner verzeichnet ist. Tatsächlich ist die
Situation sogar noch ernster. Die Gefängnisse sind
überfüllt. Nach offiziellen Schätzungen standen in den
letzten Monaten des Jahres 2002 18000 Personen auf
der Warteliste, um ihre Haftstrafen anzutreten. In Wirk-
lichkeit ist die Zahl vermutlich noch sehr viel größer.
Wären die Personen auf der Warteliste mitgezählt
worden, hätte die Zahl der Häftlinge die 100000-Marke
schon wieder überschritten.
Was ist geschehen?
Erstens: Amnestien wurden als Teil der Vergangen-
heit betrachtet, als primitives Instrument, mit dem die
Fehler des Systems korrigiert wurden. Und man kann
mit gutem Grund argumentieren, daß Amnestien auch
tatsächlich nicht die beste aller Lösungen sind. Eine
große Zahl von Gefangenen wird gleichzeitig entlassen,
so daß das Sozialhilfesystem plötzlich und dramatisch
unter Druck gerät. Aber man muß natürlich abwägen,
ob dieser Druck schlimmer ist als der Druck, der durch
eine dramatisch ansteigende Zahl von Häftlingen ver-
ursacht wird.
Eine zweite Erklärung für die steigende Zahl von
Gefangenen ist ganz einfach die Tatsache, daß Polen
sich in einem Prozeß der «Verwestlichung» befindet.
Das alte Strafverfolgungssystem ist immer noch vor-
handen, die Polizei, die Staatsanwälte, die Richter –
nach 1989 gab es keine größeren Säuberungen. Zu eben
dieser Situation kommen die Elemente hinzu, von
denen in früheren Kapiteln die Rede war: Polen ist auf
dem besten Weg, eine Monokultur zu werden. Und in
Polen wie in anderen westlichen Staaten gibt es viele
Politiker, die das Verbrechen zur Selbstdarstellung
benutzen. In diesem Bemühen erhalten sie tatkräftige
Unterstützung von den Medien. Wie Maria Los (2002)
feststellt, hat in den Massenmedien ein radikaler Wech-
sel des Augenmerks von guten Nachrichten in der
staatlichen Propaganda zu schlechten Nachrichten in
den privaten Medien stattgefunden. Und sie fährt fort:

In einer Bevölkerung, die an ein Strafverfolgungs-


system gewöhnt war, das gekennzeichnet war
durch routinemäßige Inhaftierung von Verdächti-
gen, eine Mißachtung gesetzlicher Feinheiten,
lange Haftstrafen und ein Verbot öffentlicher Kritik,
hat [die Enthüllung schlechter Nachrichten] ver-
ständlicherweise die Vorstellung von einem Sy-
stem geweckt, das sich am Rande des Chaos
oder des Zusammenbruchs befindet. (S. 166)

Meine Einschätzung ist die – und ich sage das insbe-


sondere im Hinblick auf das Diagramm –, daß wir hier
ein Gefängnissystem vor uns haben, in dem die Gefahr
schwerer Unruhen besteht. Polen ist nun in die Europä-
ische Union eingetreten. Das wird zwangsläufig zu
einem Rückgang der Zahl der Bauern führen. Die
überschüssigen Arbeitskräfte werden in die Städte
ziehen. Die sozialen Probleme werden zunehmen. Der
Druck auf die Gefängnisse wird ansteigen. Amnestien
folgten bisher regelmäßig auf Gefängnisaufstände.
Aufstände werden stattfinden, und Amnestien werden
folgen. Aber diese Art von Reform hat einen hohen
Preis.

ENGLAND UND WALES – SO NAHE AN OSTEUROPA

Wir haben gesehen, daß der Osten der Osten und der
Westen der Westen ist, auch was die Anzahl der Ge-
fängnisinsassen betrifft. Aber nicht ganz. Slowenien
befindet sich auf einer Ebene mit den nordischen Län-
dern. England und Wales hingegen scheinen sich über-
raschenderweise beständig osteuropäischen Standards
anzunähern. Im Jahr 2003 gab es in England und Wales
139 Häftlinge pro 100 000 Einwohner. Diese Zahl ist
laufend im Anstieg begriffen, wobei jede Woche rund
600 Gefangene hinzukommen. 8 Noch vor einigen Jah-
ren war Portugal der Hauptkerkermeister in Westeuro-
pa. England und Wales haben sich in dem Sinn an
Osteuropa angegliedert, daß sie, was die relative Zahl
der Gefängnisinsassen betrifft, an Bulgarien vorbeige-
zogen sind und jetzt mit der Slowakei auf einer Ebene
stehen. Es gibt keine Anzeichen dafür, daß sich dieser
Trend in absehbarer Zeit ändern könnte. Sie haben
Kanada überholt, den Staat, der ihnen früher so ähnlich
war, und sie werden bald – in relativen Zahlen ausged-
rückt -zweimal so viele Häftlinge haben wie das be-
nachbarte Irland. Sie haben seit langem die Verbindung
zu der Zeit in ihrer Geschichte verloren, in der Winston
Churchill und seine Gesinnungsgenossen das Mittel des
Einsperrens mit beträchtlichem Mißtrauen betrachteten
(Bennet 2003) und dafür sorgten, daß die Zahl der
Häftlinge in England und Wales zu den niedrigsten in
Westeuropa gehörte. Die Ähnlichkeit Englands mit den
USA kommt auch durch die Hautfarbe der Gefängnis-
insassen zum Ausdruck. Nach den letzten Zahlen des
Innenministeriums befindet sich derzeit einer von
hundert schwarzen erwachsenen Briten im Gefängnis. 9
Bei meinem Versuch, diese Situation zu verstehen,
fühle ich mich durch die Kombination von Nähe und
beträchtlicher Zuneigung gehandicapt, die blind für ein
gerechtes Urteil machen können. Aber natürlich kann
ich nicht umhin festzustellen, daß England und Wales
wesentliche Elemente ihres Sozialgefüges Schritt für
Schritt geändert haben.
Erstens befinden sie sich in einem Prozeß der radi-
kalen Anpassung an eine eindimensionale Gesellschaft.
Verglichen mit der Zeit unmittelbar nach dem Zweiten
Weltkrieg geht es allen besser, aber die sozialen Unter-
schiede innerhalb der Bevölkerung sind größer gewor-
den. Arme Leute sind nicht mehr so arm wie früher,
aber sie bekommen die Unterschiede zu spüren und
sind unglücklich darüber. Der Wohlfahrtsstaat ist ein-
deutig nicht mehr das, was er noch vor fünfzig Jahren
war. Zwischen den Jahren 1946 und 2000 folgten in
England drei Generationen aufeinander. In ihren ab-
schließenden Worten zu ihrer Untersuchung über Ein-
kommen und Lebensstandard schreiben Dearden,
Goodman und Saunders (2003),

daß zwar der allgemeine Lebensstandard mit


jeder aufeinanderfolgenden Kohorte angestiegen
ist, daß jedoch die Ungleichheit der Einkommen
und Löhne ebenfalls zugenommen hat. Diese
Feststellungen allein stellen bereits einen bedeu-
tenden Indikator für die Veränderungen in der
britischen Gesellschaft während der letzten Jahr-
zehnte des zwanzigsten Jahrhunderts dar. Es ist
jedoch wichtig, sich ins Gedächtnis zurückzurufen,
daß es auch zwischen dem Einkommen der Mitg-
lieder einer Kohorte ein beträchtliches Gefälle
gibt, das von ihrem Familienhintergrund und der
sozialen Klasse des Vaters abhängt, und daß
dieses Gefälle in der letzten Generation offenbar
steiler geworden ist. So ist die britische Gesell-
schaft nicht nur eine zunehmend ungleiche Ge-
sellschaft geworden, das Einkommen der später
Geborenen ist auch sehr viel stärker an die sozia-
le Stellung ihrer eigenen Elterngeneration gebun-
den. (S. 189)

Ein zweiter wichtiger Faktor ist der, daß England und


Wales die Macht der Gerichte eingeschränkt haben.
Das Innenministerium stellt den Gerichten genaue
Statistiken zur Verfügung, anhand derer jeder Ge-
richtshof seine eigene Urteilspraxis mit dem verglei-
chen kann, was an allen anderen Gerichten im Land
geschieht. Die Richter erhalten auch verschiedene
Richtlinien, zwar keine Verurteilungstabellen wie in
den USA, aber doch verschiedene Formen von zentra-
ler Lenkung mit Angabe eines genauen Strafmaßes für
jedes Vergehen. Und dieser Prozeß setzt sich ständig
fort. Der Guardian Weekly von 8. Mai 2002 beschreibt
einen Vorschlag des Innenministers vom Vortag fol-
gendermaßen:

Lebenslänglich soll tatsächlich lebenslänglich


bedeuten für
1. mehrfachen Mord mit einem hohen Maß
an vorangegangener Planung, der mit
Entführung oder sadistischem Verhalten
verbunden ist
2. Mord an einem Kind unter ähnlichen
Umständen
3. terroristischen Mord
4. Strafmaß kommt nicht zur Anwendung
bei Mördern im Alter unter 20 Jahren

Ein Minimum von 30 Jahren für das Töten


1. eines Polizisten im Dienst oder von Ge-
fängnispersonal
2. mit Hilfe einer Schußwaffe oder von
Sprengstoff
3. aus rassistischen, religiösen oder sexisti-
schen Motiven
4. aus sadistischen oder sexuellen Motiven
(für einen erwachsenen Täter)
5. für andere mehrfache Vergehen

Ein Minimum von 15 Jahren


1. für andere Morde, die von Erwachsenen,
und alle Morde, die von Kindern unter 17
Jahren begangen werden

Der Guardian berichtet, daß «angesehene Rechtsan-


wälte unglücklich über die Ankündigung» seien... Die
Anwaltskammer habe sie als «konstitutionellen Sprung
ins Dunkle» bezeichnet und erklärt, daß Mr. Blunkett
(der Innenminister) versuche, «den Griff der Exekutive
um den Hals des Gerichtswesens zu institutionalisie-
ren». Die Howard Leage for Penal Reform erklärte, daß
das Paket die gegenwärtige Zahl von 3900 Häftlingen,
die lebenslängliche Haftstrafen verbüßen, um 50 Pro-
zent vergrößern könne.
Großbritannien hat sein System auch dadurch ver-
einheitlicht, daß ein Amt geschaffen wurde, das dem
eines Generalprokurators ähnelt. Der Inhaber dieses
Amtes wird Solicitor General genannt und hat die
nötigen Machtbefugnisse, um alle Beteiligten auf einer
Linie zu halten. Für die höheren Gerichtshöfe wurde
ein System professioneller Staatsanwälte entwickelt
und für die Staatsanwaltschaft die Möglichkeit der
Berufung geschaffen. Früher konnte nur die verurteilte
Person Berufung einlegen. Als offizieller Grund für
viele dieser Maßnahmen wird oft der Wunsch nach
«einheitlicher Verurteilung» genannt. Man kann jedoch
auch einen starken Trend zur Zentralisierung darin
sehen. Ich habe britische Richter kennengelernt, die die
gleichen Klagen führen wie manche Richter in den
USA: Wir haben nicht mehr den gleichen Ermessens-
spielraum wie früher! Zentrale Behörden sind weit von
den Angeklagten entfernt, aber den Politikern um so
näher. Die Politiker reagieren auf eine hohe Strafen
begünstigende Stimmung in der Bevölkerung und
fördern eine solche Stimmung sogar. Die Gefahr ist
sehr groß, daß der Wechsel der Macht von den Gerich-
ten zu den Politikern und ihren Beamten die Tür zu
schärferen Strafmaßnahmen öffnet.
Auch im Bereich der Bewährungshilfe hat es in
Großbritannien wesentliche Veränderungen gegeben.
Vor langer Zeit herrschte hier die Idee vor, sich mit
dem Delinquenten zu befreunden. Das hat sich allmäh-
lich geändert. Ebenso wie in den USA wird die Bewäh-
rung zunehmend als Strafmaßnahme gesehen. Außer-
dem wurde die Bewährungshilfe zentralisiert. Auch
hier ist es möglich, zu kontrollieren, ob die Sozialarbei-
ter die offizielle Linie einhalten.
Strafverfolgungssysteme sind Indikatoren für den
Gesellschaftstypus. Veränderungen im Strafverfol-
gungssystem stehen in einem Zusammenhang mit
Veränderungen in der betreffenden Gesellschaft. Die
oben beschriebenen Tendenzen zur Zentralisierung im
Strafverfolgungssystem von England und Wales, der
Wechsel vom Versuch, mit dem Delinquenten Freund-
schaft zu schließen, zur Durchsetzung von Kontrolle
und das starke Anwachsen der Anzahl von Häftlingen
sind vermutlich alle die Folge von anderen grundlegen-
den Veränderungen. Für den allgemeinen politischen
Prozeß in einem Land ist es wichtig, zur Kenntnis zu
nehmen, was geschieht, und dieses Wissen zur Selbst-
reflexion zu nutzen.
5 STAAT ODER NACHBARN?

ISLÄNDISCHER BLUES?

Island ist das westeuropäische Land mit der geringsten


Anzahl von Strafgefangenen. Im Sommer 2002 gab es
dort 100 Häftlinge, das sind 35 pro 100 000 Einwohner.
Es gibt in Island ein großes Gefängnis mit einer Kapa-
zität von 87 Insassen. Aber die Isländer mögen keine so
großen Haftanstalten, und so gibt es zum Glück auch
noch vier kleine Gefängnisse mit einer Kapazität zwi-
schen 6 und 14 Personen. Elendur Baldrusson (2000)
arbeitet bei der Gefängnisverwaltung. Er berichtet, daß
«schwierige Gefangene schon oft von dem großen
Gefängnis in eines der kleineren verlegt worden sind,
in der Regel mit Erfolg».
Es ist so leicht, diese Erfahrung als bedeutungslos
abzutun. Dieses kleine Land Island! Was dort geschieht
ist für riesige Nationen vollkommen belanglos! Dem
stimme ich zu. Andererseits haben manche dieser
Länder ziemlich viel Island in Form von Inseln inner-
halb ihrer Grenzen. Erstens in Gestalt von kleinen
Gemeinden und Städten. Aber große Städte haben auch
ihre Inseln. New York hat mehrere davon. Von Paris
wird behauptet, daß es aus einer großen Zahl französi-
scher Dörfer bestehe, und auch London ist, soweit ich
das beurteilen kann, ein Konglomerat von Dörfern. In
meiner kleinen Stadt Oslo lebe ich auf einer solchen
Insel. Ich bin vor rund 18 Jahren dorthin gezogen, und
seitdem muß ich ständig darüber nachdenken, warum
es so wunderbar ist, dort zu wohnen.
Hauptsächlich deshalb, weil dieser Teil der Stadt im
Großen und Ganzen ein Stadtteil für Menschen mit
geringem Einkommen ist, auch wenn es Ausnahmen
wie mich gibt. Es gibt hier ganz einfach viele arme
Leute. Daraus resultieren vier soziale Tatsachen.

1. Ein beträchtliches Maß an Elend. Die Lebens-


erwartung für Männer ist hier um 10 Jahre
kürzer als im West End. Es ist hier verbreiteter
als anderswo, als Single zu leben und Proble-
me mit Alkohol und Drogen zu haben.
2. Infolge ihrer Armut haben die meisten Leute
hier kein Auto. Aus diesem Grund kaufen die
meisten nicht außerhalb des Stadtviertels ein.
Es gibt keine bequemen Verkehrsmittel, mit
denen man zu den Supermärkten außerhalb
des Stadtteils fahren könnte. Hinzu kommt,
daß viele nicht genug Bargeld zur Verfügung
haben, um für mehrere Tage auf Vorrat einzu-
kaufen. Die Folge davon ist:
3. Die örtlichen Läden überleben. Oslo hat nicht
viele Stadtteile, in denen es so viele Kioske
und kleine Läden gibt wie hier.
4. Und dann kommt noch etwas sehr Wichtiges
hinzu: Ein ungewöhnlich hoher Prozentsatz
der Leute, die hier wohnen, leben von irgen-
deiner Art von Sozialhilfe. Das bedeutet, daß
sie mehr Freizeit haben als die meisten Men-
schen.

Wenn also der Samstag kommt und ich eigentlich zum


Langlaufen draußen im Wald sein sollte, wie es für
viele Einheimische selbstverständlich ist, zieht es mich
statt dessen hinaus in die Straßen der näheren Umge-
bung, um einzukaufen, mit den Leuten zu reden oder
einfach nur dort zu sein.
Das hat weitere Konsequenzen. Diese Insel ist, wie
leicht zu erraten ist, voll von allen Arten von Men-
schen. Manche sind mit irgendeiner Diagnose akten-
kundig. Aber in einem Viertel mit so viel Interaktion
gehören die Leute nicht nur einer diagnostischen Kate-
gorie an. Menschen werden zu Charakteren: Der Mann
mit dem blinden Hund, der Zigarettenstummelsammler,
die freundliche alte Dame, der junge Kerl, dem man
besser aus dem Weg geht...
Das bedeutet auch, daß es in solchen Vierteln weni-
ger Verbrechen gibt als in den wohlhabenderen Teilen
der Stadt. Mit dieser Feststellung möchte ich natürlich
nicht sagen, daß in meinem Stadtteil weniger Eigentum
ohne Zustimmung des Besitzers verschwindet als in
anderen. Ich behaupte auch nicht, daß weniger Leute
körperliche Verletzungen davontragen als anderswo.
Vermutlich kommt beides sogar häufiger vor. Was ich
zum Ausdruck bringen möchte, ist, daß diese Dinge auf
meiner Insel eine andere Bedeutung bekommen. Wir
leben nicht in Angst, weil wir unsere Nachbarn kennen.
Und die Wahrscheinlichkeit ist ziemlich groß, daß wir
einige der an diesen Vergehen Beteiligten kennen, oder
jemanden, der ein paar davon kennt. Das bedeutet
wiederum, daß es einem nicht so natürlich vorkommt,
die offiziellen Bezeichnungen anzuwenden, wie «Dieb-
stahl» oder «Gewalt». Das Verbrechen ist ein von
Menschen produziertes Phänomen. Unter Leuten, die
etwas voneinander wissen, ist es weniger natürlich, die
Kategorien des Verbrechens anzuwenden. Wir mögen
das, was sie tun, schlecht finden und versuchen, es zu
verhindern. Aber wir haben nicht so viel Verwendung
für die einfachen Kategorien aus dem Strafrecht. Und
wenn sie angewendet werden, bleibt das Stigma nicht
im gleichen Maß an den Leuten hängen.

DIE VERNICHTUNG DER PRIMÄREN BEZIEHUNGEN

Wir wissen sehr genau, was passiert, wenn die primä-


ren Beziehungen sich auflösen.
Manche werden sich noch an George Caspar Ho-
mans erinnern, den amerikanischen Marineoffizier,
dessen Stimme Stürme übertönen konnte. Er wandelte
sich zum Anthropologen, und in seinem 1951 veröf-
fentlichten Buch The Human Group (dt.: Theorie der
sozialen Gruppe, 1978) stellte er die schöne Horrorge-
schichte über den Niedergang von «Hilltown» dar.
Einst wurden in dieser Stadt ständig wichtige Entschei-
dungen getroffen. Man konnte sich dem sozialen Leben
nicht lange fernhalten, ohne daß womöglich falsche
Entscheidungen über wichtige Angelegenheiten getrof-
fen wurden. Die Stadt war ein Ort mit all den Freuden
und Leiden des sozialen Lebens, mit einer Gesell-
schaftsordnung, die für primäre Kontrolle bestens
geeignet war. Wie wir wissen, muß primäre Kontrolle
von jemandem ausgeübt werden, der dicht am Gesche-
hen lebt und gefühlsmäßig beteiligt ist. Wenn keiner da
ist, wird der Staat jemanden einsetzen. Und nun zum
traurigen Ende der Geschichte: Am Fuß des Hügels
wurde eine Eisenbahn gebaut, die leichten Zugang zur
großen Welt ermöglichte. Die Stadt verwandelte sich in
eine verschlafene Vorstadt, in der das interne Leben
nur noch wenig Bedeutung hatte.
Neunundvierzig Jahre später veröffentlichte Robert
Putnam (2000) sein Buch Bowling Alone. Früher war
ein amerikanischer Durchschnittsbürger gesellig, hatte
viele Freunde, die oft zusammenkamen, und engagierte
sich für das staatliche Leben. Heute scheint er sozial
isoliert zu sein. Gestützt auf unzählige Studien, ver-
gleicht Putnam die Generationen. Wie verhielten sich
Fünfzigjährige im Jahr 1955 im Vergleich zu Gleichalt-
rigen im Jahr 1995? Er beschreibt einen eindeutigen
Trend zu verstärkter sozialer Isolation. Ein Symbol für
diese Entwicklung: Bowling ist keine Gruppenaktivität
mehr, sondern eine individuelle Betätigung. Bowling-
hallen schaffen sich riesige Fernsehbildschirme an,
damit man fernsehen kann, während man auf das näch-
ste Spiel wartet. Das angeschlossene Restaurant ist
verschwunden, ebenso wie die Freunde, die man früher
zwischen den Spielen dort traf. Jetzt fährt man nach
dem Spiel – das zu einem Wettkampf mit sich selbst
geworden ist – nach Hause in eine andere Vorstadt, wo
weitere sieben Stunden Fernsehen auf einen warten –
sieben Stunden und zwei Fernsehgeräte sind in Ameri-
ka die statistische Norm. Das Leben in einem Netz
sozialer Bindungen nimmt ab, während der Konsum
von Verbrechen auf dem Bildschirm zunimmt.
Was ihre Bedeutung für das politische Leben anbe-
langt, stieß Putnams Analyse auf Kritik. Seine Studie
ist auch überraschend frei von Klassenperspektiven.
Dennoch ist es eine wesentliche Beobachtung, daß die
Menschen nicht mehr so viel zusammenkommen wie
früher. Das macht sie abhängig von den Medien für die
Beschreibung dessen, was geschieht, und für die Inter-
pretation der Ereignisse. Es bedeutet auch eine größere
Abhängigkeit vom Staat, um mit dem, was als Gefahr
angesehen wird, fertigzuwerden.
Wenn ich meine Nachbarn kenne und in einer Art
von sozialem Netz lebe, ist es kein Problem für mich,
wenn ein paar Jugendliche sich in meinem Hausgang
schlecht benehmen. Ich kann jemanden anrufen, der ein
paar von ihnen kennt, oder ich kann mich an den kräf-
tigen Nachbarn wenden, der ein Stockwerk über mir
wohnt, oder – was vielleicht noch besser wäre -ich
kann die kleine Dame um Hilfe bitten, von der ich
weiß, daß sie in der Lösung lokaler Konflikte beson-
ders geschickt ist.
Aber ohne ein solches Netz und im Bewußtsein all
der Nachrichten über die Zunahme des Verbrechens
würde ich die Tür verschließen und die Polizei rufen.
Damit würde ich Bedingungen schaffen, die uner-
wünschtes Verhalten provozieren und unter denen
dieses Verhalten gleichzeitig als Verbrechen interpre-
tiert wird. Vielleicht hätte ich damit sogar den Bedin-
gungen Vorschub geleistet, unter denen eine E-Mail
akzeptiert wird, die ich erhielt, während ich an diesem
Manuskript arbeitete.
Es handelte sich um ein unwiderstehliches Angebot
mit dem Titel: «Bespitzeln Sie Ihren Babysitter.» Ein
paar Tage darauf erhielt ich das gleiche Angebot noch
einmal, diesmal unter dem Titel: «Beobachten Sie Ihre
Teenager, und behalten Sie Ihren Babysitter im Auge.»

Es handelt sich um eine geheime, drahtlose Ka-


mera, die professionell von der CIA, dem FBI und
anderen verwendet wird... Und so funktioniert es:
Eine kleine Kamera, die in einer Glühbirne ver-
steckt und so unauffällig ist, daß niemand auf den
Gedanken kommt, daß er beobachtet wird. Sie
können sie in jede beliebige Lampe einschrauben
[sogar über der Dusche], es kann auch an einem
dunklen Ort sein, das spielt keine Rolle... Dann
nehmen Sie das andere Teil und schließen es an
ihr VCR an [oder an einen beliebigen Fernseher,
heißt es in anderen Anzeigen], und es ist, als ob
Sie mit einer Videokamera über der betreffenden
Person stünden... Das Videosignal «wickelt sich»
vollkommen unabhängig von der Voltzahl um das
Stromkabel. Kein privater Haushalt und kein Büro
sollte ohne diese Sicherheitseinrichtung sein.

Es gibt jedoch auch noch andere Gefahren. Eine weite-


re E-Mail spendet Trost: Die Überschrift lautet: «Stop-
pen Sie Kinderschänder», und angeboten wird der
Zugang zu einer Datenbank mit mehr als 50000000
Polizeiakten. Wir erfahren:

Die Chance, daß einer oder mehrere dieser ge-


fährlichen Verbrecher in ihrer Nähe wohnen, ist
groß. Rund 200000 verurteilte Vergewaltiger sind
zu jedem Zeitpunkt in Amerika registriert. Viele
sind Wiederholungstäter.

Der Zugang zu der Datenbank mit den Sexualverbre-


chern ist kostenlos, aber der Zugang zu den Akten der
50 Millionen kostet 10 Dollar.

TRIVIALE WAHRHEITEN

Und was tun und sagen wir, die unzähligen Sozialwis-


senschaftler? Wir wissen von Berufs wegen über viele
Konsequenzen all dieser Dinge Bescheid. Aber wir
sagen es nicht, nicht oft genug, nicht eindringlich ge-
nug und vor allen Dingen nicht konkret genug mit
Beispielen und Einzelheiten. Was wir zu sagen haben,
steht zu sehr im Widerspruch zum Geist unserer Zeit.
Wir wissen Bescheid über die Stadtplanung. Ein
großes Einkaufszentrum wird außerhalb einer alten
Stadt geplant. Vorteile: verminderte Arbeitslosigkeit
während der Bauzeit, erhöhtes Einkommen für die
Baufirmen und später für die Firmen, die das Einkaufs-
zentrum betreiben, vermutlich ein größeres Warenan-
gebot und verbesserte Parkmöglichkeiten. Aber nun die
strafrechtlichen Folgen: eine größere Zahl von Verhaf-
tungen wegen Ladendiebstahls und der soziale Tod des
alten Stadtzentrums, was zu mehr unerwünschtem
Verhalten führt. Polizei und Wachpersonal müssen an
die Stelle der fehlenden Ladentische und der örtlichen
kleinen Läden treten.
Wir können also sagen: Schafft die Supermärkte ab
und stellt in allen Läden einen Ladentisch zwischen die
Kunden und die Waren.
Als Alternative zu den Methoden der U-Bahn-
Polizei in New York können wir sagen: Um die Kosten
für die Strafverfolgung zu senken, laßt keine Straßen-
bahn und keinen Bus ohne Schaffner fahren. Eine
Kontrolle, die von einer Person ausgeübt wird, durch
die nicht der Eindruck entsteht, als sei die Verbre-
chenskontrolle der Hauptzweck ihrer Tätigkeit, vermit-
telt allen Passagieren ein verstärktes Gefühl der Sicher-
heit. Dadurch entsteht eine ruhigere Atmosphäre, die
anderen Passagiere sind mehr zur Kooperation bereit,
und es muß weniger Gewalt angewendet werden. Aber
natürlich entstehen auch Kosten: die Löhne für die
Schaffner, abzüglich der Kosten für die Fahrkartenau-
tomaten, der elektronischen Überwachung und der
Strafgebühren von Leuten, die schwarzfahren.
Wir könnten natürlich auch wirklich radikal werden
und sagen: Armut ist ein relativer Begriff. Reduziert
den Reichtum der Reichen, und die Armen wären nicht
mehr so arm.
Wenn wir von Journalisten und anderen befragt
werden, wissen wir sehr viel. Aber wir wissen natürlich
auch, daß die Journalisten sich nicht besonders dafür
interessieren und nicht noch einmal kommen werden.
Sie werden sich nützlicheren Kriminologen zuwenden,
nicht solchen freien Eierköpfen. Im Kapitel 8 werde ich
auf dieses Thema zurückkommen.

ALTMODISCHES RUßLAND

Ich genieße das Privileg, nahe an Osteuropa zu leben.


Norwegen und Rußland haben hoch im Norden eine
gemeinsame Grenze. Und wir hatten keine Kriege –
abgesehen von den norwegischen Einfällen zur Wikin-
gerzeit. Aber es ist noch mehr an der Sache. Ich fühle
mich zu Hause, wenn ich nach Osten fahre. Das liegt
nicht an einer Ähnlichkeit mit den gegenwärtigen
Lebensbedingungen in meinem Heimatland. Es ist eher
so, als würde ich in die Zeit meiner Großmutter zu-
rückkehren, nicht nur in Rußland. In Polen, Ungarn und
vielen anderen osteuropäischen Ländern verhält es sich
ebenso.
Warum?
Ich habe keine stichhaltige Erklärung dafür, sondern
wieder nur eine vage Vermutung. Vielleicht liegt es am
Kommunismus. Aber nicht so, wie es in der alten
Propaganda angepriesen wurde, nicht wegen der Wir-
kung des Kommunismus, wie er uns in den Märchen
vom Arbeiterparadies geschildert worden ist. Nicht
wegen der Umwandlung einiger Gesellschaften, die
nach 1918 stattfand. Und ganz bestimmt nicht wegen
des Erfolgs dieser Umwandlungen. Ganz im Gegenteil,
es liegt am Mißerfolg. Der Kapitalismus konnte die
westlichen Länder tatsächlich verändern. Er hat sie in
ihre gegenwärtige monolithische Form gebracht und
mit ihrer Form auch ihre Grundwerte verändert. Der
staatliche Kommunismus des östlichen Typs konnte die
Gesellschaften ebenfalls verändern. Geändert wurden
der Regierungstyp und der Personenkreis, der die
Macht innehatte. Unter enormen menschlichen und
materiellen Opfern wurden die Lebensbedingungen für
viele verbessert. Die materiellen Strukturen wurden
modernisiert. Aber die Kommunisten waren nicht sehr
gut darin, die menschliche Seele zu modernisieren.

GESELLSCHAFTEN, DIE NICHT NUR AUF EINEM BEIN

STEHEN

Selbst mitten im Kalten Krieg gab es ein paar berufli-


che Kontakte zwischen Ost- und Westeuropa. Anfang
1960 erhielten wir in Norwegen einen offiziellen Be-
such von sowjetischen Kriminologen und erwiderten
diesen Besuch im Jahr 1968. Von dieser Zeit an gab es
einen ständigen Austausch. Eines meiner Bücher –
Limits to Pain (1981) – wurde 1985 in der UdSSR
veröffentlicht. Ich glaube, es war das erste «westliche»
kriminologische Werk, das dort gedruckt wurde. Da-
durch wurden die Kontakte legalisiert, die Möglichkeit
für weitere Zusammenarbeit mit den Russen wurde
eröffnet, und dadurch, daß dies plötzlich legitim war,
konnten wir auch mit den Kollegen in den anderen
osteuropäischen Ländern Kontakt aufnehmen.
Ich habe diese kleine Schilderung des Hintergrundes
eingefügt, um meiner nächsten Aussage, die nur eine
detailliertere Beschreibung des oben gesagten ist, eine
gewisse Glaubwürdigkeit zu geben. All diese Länder
waren und sind bis zu einem gewissen Grad immer
noch bemerkenswert altmodisch. Und es ist ganz
selbstverständlich, daß es so ist. Es waren Gesellschaf-
ten, die auf einem sehr viel niedrigeren technischen und
materiellen Niveau funktionierten als die im Westen.
Die Bevölkerung lebte dort unter einem politischen
System, in dem es Sache des Staates war, die lebens-
notwendigen materiellen Güter zur Verfügung zu stel-
len. Aber dieser Staat war, was die Lieferung betraf,
nicht besonders zuverlässig. Und es war ein Einpartei-
ensystem. Politische Opposition war eine gefährliche
Sache. Die Leute wollten auf der Straße nicht mit
einem reden, und Besuche in den Privatwohnungen der
Leute konnten für den Gastgeber Gefahren mit sich
bringen. Aus Osteuropa mit dem Zug auszureisen war
eine äußerst unangenehme Erfahrung. Bewaffnete
Kontrolleure drangen in den Zug ein und durchsuchten
die Gepäckablagen. Vielleicht machte jemand den
Versuch, aus ihrem Staat zu fliehen. Taschenlampen
unter dem Zug, Hunde und natürlich Schußwaffen. Es
war, als verließe man ein Gefängnis.
Ein Mangel an materiellen Gütern und ein Übermaß
an staatlicher Kontrolle. Kein Wunder, daß viele bei
anderen Systemen Schutz suchten!
Kürzlich nahm ich eine Enkeltochter mit nach Ruß-
land. Ich wollte zu einem Seminar in Astrachan. Es war
eine lange Reise, während der wir reichlich Zeit hatten,
uns mit den anderen Teilnehmern zu unterhalten. Die
meisten Begegnungen begannen auf die gleiche Weise.
Meine vierzehnjährige Enkeltochter wurde herzlich
begrüßt – wie schön, ein norwegisches Mädchen ken-
nenzulernen. Und dann kam wenige Sekunden später
mit Sicherheit die verhängnisvolle Frage: Was sie mit
ihrem Leben anfangen wolle, was sie studieren und was
für einen Beruf sie erlernen wolle? Meine Enkelin sah
mich verzweifelt an, bis sie sich an die immer wieder-
kehrende Frage gewöhnt hatte. Sie war ein ganz norma-
ler norwegischer Teenager. Das Leben stand ihr offen.
Sie würde ihrer Schulpflicht genügen, dann vielleicht
ein Jahr lang im Ausland herumreisen, danach mögli-
cherweise die Universität, vielleicht zuerst auch noch
ein paar Jahre arbeiten, um ein bißchen Geld zu verdie-
nen... Dann vielleicht ein paar Studienjahre, aber all
das wäre ganz bestimmt nichts, in das ein Großvater
sich einmischen könnte. «So eine Frage ist mir mit
einer einzigen Ausnahme zu Hause noch nie gestellt
worden», sagte sie mir nach den ersten Kreuzverhören.
Aber ich spürte, daß meine russischen Kollegen mir die
Schuld gaben. Sie hielten mich für einen schlechten
Großvater, für ausgesprochen pflichtvergessen. Eine so
gescheite und lebhafte Enkelin – und er ist nicht in der
Lage, sie für ihre Berufswahl auf den richtigen Weg zu
bringen!
Ich hätte darauf vorbereitet sein sollen. Seit Jahren
verblüffte mich die Überlebensfähigkeit der Intelligent-
sia in Osteuropa. In diesen Gesellschaften, die zum
Nutzen der Arbeiterklasse geschaffen waren, traf ich
nur selten einen Akademiker, bei dem nicht mindestens
ein Elternteil und häufig auch noch die Großeltern
Akademiker waren. Vermutlich, aber hier befinde ich
mich auf dünnerem Eis, vermutlich ist dies nur ein
Spezialfall dessen, was auch in anderen Teilen der
russischen Gesellschaft passiert ist. Bei einem kärgli-
chen Leben und unter der täglichen Kontrolle eines
mächtigen Staates hatten die Familien und familiäre
Werte eine größere Bedeutung angenommen als im
Westen. Der ständige Mangel zwang die Generationen
zur Nähe. Für ein junges Paar – vielleicht war die Frau
schwanger – war ein Raum oder ein Teil eines Raumes
in der Wohnung der Eltern die einzige Lösung. Oder
die Familie hatte kleine Kinder, und sowohl der Vater
als auch die Mutter brauchten eine bezahlte Arbeit, um
leben zu können. Da wurden Großeltern zu einer Kost-
barkeit, ebenso wie ihre Kinder es für sie waren, wenn
die Altersrente nicht ausbezahlt wurde. Oder die Dat-
scha, das kleine Sommerhaus, das alle so liebten, die
eines besaßen, ein wahres Glück für die ausgedehnte
Familie, ein Ort, wo die Kinder sich aufhalten konnten,
ein Ort, wo man Gemüse für alle anbauen konnte. In
einem solchen System ist es sehr gefährlich, ein Au-
ßenseiter zu sein. Das soziale Kapital trägt materielle
Zinsen.
Die dunkle Seite des Einparteiensystems drängte die
Menschen in die gleiche Richtung. Informanten sind
für ein solches System unentbehrlich, wie man es nach
dem Zusammenbruch der Deutschen Demokratischen
Republik an den Stasi-Akten so deutlich erkennen
konnte. Man wußte nie so genau, wer die Informanten
waren. Vermutlich (aber sicher war das nicht) gehörten
sie nicht zur engsten Familie. Ivo Moszny, ein scharf-
sichtiger Soziologe aus Brno in Tschechien, hat in
Gesprächen und Vorlesungen wiederholt auf dieses
Phänomen hingewiesen. Ich hatte ihn während des
«Prager Frühlings» kennengelernt, einer kurzen Perio-
de, in der die politische Unterdrückung nicht so
schlimm war. Als dieser eigenartige Frühling vorbei
war, wurde er sozusagen gerettet. Er erhielt eine Stel-
lung als Hausmeister in seiner alten Universität. Heute
ist er Fakultätsdekan an der gleichen Universität. Ein-
mal fuhr eine Gruppe skandinavischer Kriminologen in
einem alten norwegischen Bus über Polen und die
damalige Tschechoslowakei nach Wien. Es war zu der
Zeit, als Moszny noch Hausmeister war. In unserem
Bus, fern von den Ohren der staatlichen Kontrollorga-
ne, hielt er uns einen bemerkenswerten Vortrag. Dabei
ging es um die Bedeutung der Familie für den Wider-
stand gegen totalitäre Staaten.
Hunderte von kleinen abgeschirmten Bereichen ent-
standen, in denen ein anderes Leben möglich war als
das vom Staat kontrollierte. Die Familie war einer
davon. Aber auch die Kultur der Vergangenheit, das
kulturelle Erbe war ein solcher Bereich, die großen
Romane, die Musik, die Dichtung. Das Leben in mate-
rieller Not konnte auch Raum für ein alternatives Le-
ben schaffen. Das ist eine mögliche Erklärung für das
kulturelle Interesse, das man auch heute in Rußland
und einigen seiner Nachbarstaaten antrifft. Aber viel-
leicht ist dieses Interesse auch mehr als nur ein Refu-
gium vor einem totalitären Regime. Vielleicht ist dieses
ausgeprägte kulturell-ästhetische Interesse ein tiefer
Charakterzug des russischen Menschen überhaupt.
Vielleicht wird es auch einen materiellen Überfluß
überleben. Aber glücklicherweise liegt dieser entschei-
dende Test einstweilen noch in ferner Zukunft.
Doch das sowjetische Erbe liegt nicht so weit zu-
rück. Wenden wir uns nun diesem Problem zu.

DIE POLNISCHEN STUDENTEN

Ich war eingeladen worden, Vorträge in Polen zu hal-


ten, und sprach über einige der oben genannten The-
men. Die Notwendigkeit von informellen sozialen
Beziehungen, die Notwendigkeit, seine Nachbarn zu
kennen, die Notwendigkeit einer primären Kontrolle als
Alternative zur Kontrolle durch den Staat. Ich sah
nichts als verständnislose Gesichter. Natürlich traf ich
auf verständnislose Gesichter! Wenn man gelernt hat,
seinem Nachbarn zu mißtrauen, wenn man mit Situa-
tionen rechnet, in denen der Nachbar ein Spion für das
System sein kann, dann rechnet man auch damit, daß
all das wiederkommt. Warum soll man Beziehungen
knüpfen, die sich als gefährlich erweisen können? Das
ist eine der ernsten Folgen des Heranwachsens in ei-
nem Einparteienstaat.
Diese Folgen treten auch zutage, wenn man ver-
sucht, Schlichtung oder restaurative Justiz in Osteuropa
einzuführen. Die Leute haben das alles schon erlebt.
Sie hatten Hauskomitees und Nachbarschaftskomitees,
und sie hatten Arbeitergerichte in den Fabriken. Nicht
noch mehr davon, besten Dank!
Auch dies ist leicht zu verstehen. Sie hatten das al-
les, aber es wurde streng politisch gelenkt. Diejenigen,
die die Entscheidung trafen, waren vielleicht Vermitt-
ler, aber sie waren auch Parteimitglieder. Im Gegensatz
zu dem großen Interesse an alternativen Konfliktlö-
sungsmöglichkeiten im Westen betrachtet man diese
Dinge in Osteuropa mit sehr viel weniger Enthusias-
mus, und das aus guten historischen Gründen.
Diese Erfahrung könnte jedoch auch wichtig für
Versuche im Westen sein, den Staat durch außergerich-
tliche Methoden zur Konfliktlösung einzudämmen.
Wenden wir uns nun diesem Thema zu.
6 KEINE BESTRAFUNG

ZWEI ARTEN VON GERECHTIGKEIT

Wir kennen das Bild: Frauen, die sich am Brunnen oder


an einem Treffpunkt am Fluß versammeln. Häufig
kommen sie täglich zur gleichen Zeit hierher, holen
Wasser, waschen und tauschen Neuigkeiten und Mei-
nungen aus. Ausgangspunkt ihrer Gespräche sind
häufig konkrete Handlungen und Situationen. Diese
werden beschrieben, mit ähnlichen Vorkommnissen in
der Vergangenheit verglichen und eingeordnet: War es
richtig oder falsch, was geschehen ist, war es schön
oder häßlich, war es ein Zeichen von Stärke oder
Schwäche? Die Männer tun an ihren Treffpunkten oft
das gleiche. Langsam, aber keineswegs immer, zeich-
net sich ein gemeinsames Verständnis der Vorkomm-
nisse ab. Es ist ein Prozeß, bei dem Normen durch
Interaktion geschaffen werden. Wir wollen dies hori-
zontale Gerechtigkeit nennen, die von Personen ge-
schaffen wird, die infolge ihrer Nähe zueinander weit-
gehend gleichgestellt sind. Natürlich herrscht keine
vollkommene Gleichheit. Manche sind besser gekleidet
als andere, manche stammen aus besseren Familien,
manche sind gescheiter. Aber verglichen mit dem, was
nun folgt, sind sie gleichgestellt. Und ihre Entschei-
dungen beruhen auf der Tatsache, daß sie an einem
Prozeß teilhaben.
Horizontale Gerechtigkeit hat drei wesentliche Cha-
rakteristika:
1. Entscheidungen haben lokalen Charakter. Wie die
Fälle in weit entfernten Dörfern gelöst werden, ist nur
von begrenztem Interesse. Das, worauf es ankommt, ist
das hier und jetzt, das mit der Vergangenheit vergli-
chen und mit Sorge um die Zukunft betrachtet wird.
Das kann zu Ungleichheiten zwischen einzelnen Re-
gionen führen. Die «gleiche» Handlung kann in Region
A anders beurteilt werden als in den Regionen B und C.
Aber innerhalb jeder einzelnen Region können die
Menschen einhellig der Meinung sein, daß in ihrem
Bereich der Gerechtigkeit genüge getan worden ist.
2. Wichtige Fragen werden auf radikal andere Weise
gehandhabt als in einem Rechtssystem. Die Frage, was
für die Entscheidung relevant ist, wird für einen Punkt
von zentraler Bedeutung gehalten, aber da, wo horizon-
tale Gerechtigkeit herrscht, auch für etwas, für das es
keine vorgefertigten Lösungen gibt. Was relevant ist,
wird durch den Prozeß selbst festgestellt. Bedeutend
ist, was den Teilnehmern als bedeutsam erscheint.
Zwischen allen Betroffenen muß ein Minimum an
Übereinstimmung über die Frage der Relevanz ge-
schaffen werden. Daß Kari vor 15 Jahren von Per
gedemütigt worden ist, kann von allen an der Diskussi-
on Beteiligten für außerordentlich wichtig gehalten
werden, wenn Karis kleine Schwester nun Pers kleinen
Bruder mit Teer übergossen und in Federn gewälzt hat.
3. Am Brunnen wird Entschädigung wichtiger als
Strafe. Dies hängt mit verschiedenen strukturellen
Elementen in kleinen Gesellschaften zusammen. Kleine
Gesellschaften sind oft relativ egalitär. Das bedeutet
nicht notwendigerweise, daß alle gleich vermögend
sind oder das gleiche Prestige genießen. Wenn es je-
doch zu Konflikten kommt, schließen die Beteiligten
Bündnisse mit ihren Verwandten und Freunden und
mobilisieren alle Kräfte, bis sie irgendwie gleich stark
sind wie ihre Gegner. Viele solcher Gesellschaften sind
auch weit entfernt von jeder von außen kommenden
Autorität, die Macht ausüben könnte. Das bedeutet, daß
sie allein mit den Konflikten fertigwerden müssen. In
einer solchen Situation kennen sich die Beteiligten
schon seit langem und wissen, daß sie auch in Zukunft
zusammenleben müssen. Sie können es nicht so ma-
chen wie moderne Menschen, die einfach alle Bezie-
hungen abbrechen und in ein anderes Sozialsystem
ziehen, wenn Konflikte drohen. Strafen stören die
Funktion eines solchen Systems ganz empfindlich.
Strafen – das absichtliche und bewußte Zufügen von
Schmerz – bringt ein fragiles System nahe an den
Bürgerkrieg heran. Wenn die von außen kommende
Autorität fern ist, wenn keine Ausweichmöglichkeiten
bestehen und wenn keiner der Beteiligten mächtiger ist
als der andere, ist Entschädigung und nicht Schmerz
die natürliche Antwort.
Und nun das andere Bild: Mose nach seiner Rück-
kehr vom Berg. Unter dem Arm trug er die in Stein
gemeißelten Gebote, die ihm von einem diktiert wor-
den waren, der noch höher stand als der Gipfel des
Berges. Mose war nur der Bote, die Leute – das Volk –
waren die Empfänger, die von hoch oben kontrolliert
wurden. Sehr viel später wirkten Jesus und Mohammed
nach den gleichen Prinzipien. Dies sind klassische
Fälle dessen, was wir hier als vertikale Gerechtigkeit
bezeichnen wollen.
Im Fall von Mose und seiner vertikalen Gerechtig-
keit haben wir eine andere Situation als im Fall einer
horizontalen Gerechtigkeit. Wenn es Gesetze gibt, die
in Stein gemeißelt sind, entsteht die Vorstellung, daß es
etwas gibt, was allgemeingültig ist. Gleiche Fälle müs-
sen gleich und den Gesetzen entsprechend behandelt
werden. Aber die Fälle sind niemals gleich, wenn man
alles berücksichtigt. Natürlich nicht. Deshalb kann,
wenn es formelle Gesetze gibt, nicht alles berücksich-
tigt werden. Es ist unvermeidlich, die meisten Fakto-
ren, die mit einer Handlung zu tun haben, zu eliminie-
ren, um Fälle zu konstruieren, die für gleich oder ähn-
lich gehalten werden können. Diesen Prozeß nennt man
Eliminierung dessen, was irrelevant ist. Was jedoch
irrelevant ist, ist eine Frage der Werte. Um Gleichheit
zu erreichen, braucht man deshalb Regeln für das
Irrelevante. Über Irrelevanz wird dogmatisch entschie-
den – was Nicht Juristen so oft erleben, wenn ihnen
ihre Rechtsanwälte verbieten, vor Gericht etwas vor-
zubringen, das sie für ihr bestes Argument halten.
Jurastudenten werden dazu ausgebildet, dies zu wissen
und anzuwenden. Diese Art von Gerechtigkeit wird
dadurch erreicht, das Grenzen dafür festgelegt werden,
was berücksichtigt werden kann. Anders kann unter
solchen Umständen keine Gleichheit erreicht werden.
Dies steht in scharfem Gegensatz zur horizontalen
Gerechtigkeit, wo die Frage, was relevant ist, von den
Teilnehmern im Laufe des Prozesses entschieden wird.
Bei vertikaler Gerechtigkeit, verbunden mit sozialer
Distanz, entsteht eine Situation, die geeignet ist, zu
Bestrafung und dem absichtlichen Zufügen von
Schmerz zu führen.
Modernität bedeutet in hohem Maß ein Leben unter
Menschen, die wir nicht kennen und die wir auch nie-
mals kennenlernen werden. Das ist eine Situation, in
der das Strafrecht ohne große Bedenken angewendet
werden kann. Strafrecht und moderne Zeit passen gut
zueinander.

DAS WACHSTUM DES FORMELLEN RECHTS

Jedes zweite Jahr kommt eine neue Ausgabe eines


eigenartigen Buches in meinem Büro an. Das Buch
wird von der Juristischen Fakultät der Universität Oslo
herausgegeben. Es ist rot und groß und umfangreich
und sogar auf «Bibelpapier» gedruckt. Im Jahr 1930
hatte es 2099 Seiten, im Jahr 2002 war die Seitenzahl
auf 3111 angewachsen. Dieses Buch enthält alle in
Norwegen gültigen Gesetze vom Jahr 1687 an bis zur
Gegenwart. Kein Rechtsanwalt kann ohne eine neue
Ausgabe dieses Buches existieren. Jurastudenten tragen
es häufig unter dem Arm – für sie hat es die gleiche
symbolische Bedeutung wie das Stethoskop für die
Medizinstudenten.
Zu den Gesetzen in Büchern kommen heutzutage
auch noch elektronisch übermittelte Nachrichten hinzu.
Alle Rechtsexperten, die Zugang zu einer juristischen
Datenbank haben, können beim Morgenkaffee die
letzten juristischen Entscheidungen auf ihren Bild-
schirm rufen. Und in Kürze werden sie Zugang zu einer
solchen Datenbank haben müssen, wenn sie ernst ge-
nommen werden wollen. In allen hochindustrialisierten
Ländern werden die Gerichte ständig elektronisch auf
dem laufenden gehalten. In der Strafgerichtsbarkeit
werden die Verurteilungstabellen im amerikanischen
Stil schon bald überholt sein. Informationen über De-
linquenten und Vergehen können in das elektronische
System eingegeben werden, und heraus kommen die
Einzelheiten eines «Profils» – die Bandbreite von
Urteilen in «ähnlichen» Fällen, an die man sich zwar
nicht unbedingt halten muß, die jedoch überzeugende
Beispiele dafür sind, wie andere Richter urteilen. Von
den in Stein gemeißelten Geboten zu einem Diagramm
auf einem Bildschirm, in dem dargestellt ist, wie ein
normales Urteil aussieht. Die elektronische Revolution
hat keine egalitäre Justiz, sondern eine pyramidenför-
mige hervorgebracht.
Gleichzeitig werden Brunnen und viele andere
Schauplätze für informelle Diskussionen abgeschafft,
obwohl manche Cafés diese Funktion bis zu einem
gewissen Grad übernommen haben. Verschwunden
sind auch viele von den alten Dörfern. Aber in jüngster
Zeit ist ein neuer Dorftypus entstanden. Was dort ge-
schieht, ist ein Beispiel für die Stärke des horizontalen
Rechtssystems, an dem sich alle beteiligen können.

DAS GLOBALE DORF

Die Frauen am Brunnen sahen viele dieser Dinge oft


unterschiedlich. Es war, als wären sie sich ihrer Klassi-
fikationen nicht so sicher. Was ist was, und wer ist
wer? Aber es gibt sie nicht mehr. Statt dessen werden
Schlichtungsverfahren von anderen in Anspruch ge-
nommen, die heute stark und wichtig sind: von den
großen Wirtschaftsunternehmen.
Es wird oft gesagt, daß das Dorf in modernen Ge-
sellschaften tot sei. Verschwunden. Nur noch eine leere
Schale, in der man schlafen kann. Unser Schicksal ist
das Leben in der Megastadt, ein Leben unter Fremden.
Das ist richtig, aber es ist auch falsch. Die Dörfer sind
gestorben. Mit Ausnahme des globalen Dorfes.
Wenn wir heute die Bedeutung des Dorfes studieren
wollen, müssen wir nicht aufs Land gehen, sondern
mitten in die Zentren der Länder. Wir müssen buch-
stäblich in die Stadtzentren gehen. In die City von
London, die Wall Street oder in einige der inneren
Stadtviertel von Tokio oder Singapur und vielleicht
sogar von Oslo. Dort müssen wir die am besten be-
wachten Gebäude ausfindig machen und im Inneren
dieser Gebäude versuchen, uns Zugang zu einigen der
großen Unternehmen zu verschaffen, die dort untergeb-
racht sind. In meinem Land könnte es eine der großen
Ölgesellschaften sein, oder noch besser, eine der gro-
ßen Anwaltskanzleien. Wenn man über ihre Schwelle
tritt, ist das so ähnlich, als beträte man eine Hütte in
einem afrikanischen Dorf.
Wie kann ich etwas so Absurdes behaupten? Aus
drei triftigen Gründen. Wenn ich sie aufzähle, wird
man akzeptieren müssen, daß ich im folgenden verein-
fachen und einen idealen Typus beschreiben mußte.
Erstens sind diejenigen, die in der modernen Hütte
leben, mit ihren Nachbarn in einer Weise verbunden,
die in ihrer Funktion der alten Hütte sehr ähnlich ist:
durch Telefone, manchmal mit integrierten TV-Bildern,
durch Telefonkonferenzen, wobei häufig Ozeane zwi-
schen den Teilnehmern liegen, durch Faxe und E-
Mails. Sie sind miteinander verbunden und leben in der
gleichen kulturellen Landschaft, die geprägt ist durch
die Lektüre der Financial Times, des Wall Street Jour-
nal und des Economist.
Zweitens sind sie, ebenso wie die Bewohner des al-
ten Dorfes, unentrinnbar aneinander gebunden. Es gibt
keinen zweiten Globus, auf den sie ausweichen könn-
ten. Sie leben auf dieser Welt mit dem Wissen, daß sie
entweder bleiben oder in die Wüste gehen müssen.
Drittens ist die Autorität von außen weit weg und
verfügt nur über begrenzte Macht. Eine einzige moder-
ne Anwaltskanzlei kann über einen größeren Stab von
studierten Juristen verfügen als das Justiz- und das
Innenministerium zusammen. Sie wissen mehr über das
Gesetz und haben größere Ressourcen zur Verfügung
als ihre Regierungen.
All dies macht sie den altmodischen Dorfbewohnern
ähnlich, wenn Konflikte drohen. Sie können nicht
ausweichen, also setzen sie die Beziehungen fort. Aber
weil sie sich zu ihrem Schutz an keine Autorität von
außen wenden können, sind sie gezwungen, sich so zu
verhalten, wie in einem gewöhnlichen Dorf. Sie müs-
sen ihre Konflikte mit außergerichtlichen Methoden
lösen. Aus persönlicher Erfahrung und aus der Sozial-
anthropologie wissen wir, daß jeder Versuch, andere
Dorfbewohner zu bestrafen, zu einem Abbruch der
Beziehungen führt. Es ist eine Kriegserklärung. Konf-
likte in Dörfern ohne äußere Autorität, in denen die
Bewohner bleiben wollen, führen meistens dazu, daß
die Beteiligten Koalitionen bilden, um ein Gleichge-
wicht der Kräfte zu erreichen. Wenn diese Grundlage
geschaffen ist, kommen sie zusammen und versuchen,
eine außergerichtliche Lösung zu erreichen. Wenn die
Beziehungen fortgesetzt werden sollen, ist gewöhnlich
Entschädigung des Opfers und nicht Schmerz für den
Delinquenten die Antwort auf falsches Verhalten. Das
gilt für General Electric ebenso wie für Dorfbewohner
überall in der Welt.
Das Strafgesetzbuch ist ein hervorragendes Instru-
ment für gewisse Zwecke, aber ein sehr ungeeignetes
für andere. Es ist ein Instrument, bei dessen Gebrauch
wir viele Gesichtspunkte eliminieren, und es basiert auf
Dichotomien – alles oder nichts, schuldig oder nicht
schuldig. In vielen Fällen sind wir halb schuldig. Wenn
diese Halbschuld im Licht von früherem Fehlverhalten
der anderen Partei gesehen wird – oder von Personen,
die mit der anderen Partei in Verbindung stehen –
eröffnet dies die Möglichkeit zum Kompromiß. Außer-
gerichtliche Lösungen sind integrierende Lösungen, die
den Zweck haben, das Sozialsystem als Gemeinschaft
interagierender Individuen zu erhalten.
Analog zum Dorfgesetz werden die Rechtsanwälte
im globalen Dorf meistens die Gesamtsituation berück-
sichtigen und nach friedlichen Kompromissen und
Entschädigungen suchen, bevor sie das Schwert ziehen.
Wie Friedensstifter und Vermittler es überall sind, sind
sie hochangesehen und, in unserer Kultur, auch hoch-
bezahlt. Ohne ein hohes Ansehen wird es ihnen in
manchen Arten von Dörfern nur schwer gelingen,
Frieden zu stiften. Deshalb werden sie ihre Ehre so-
wohl vor politischer Verstrickung als auch vor Klienten
mit geringer Bedeutung schützen. Hohe Bezahlung ist
die logische Folge hohen Ansehens. Zusätzlich zu Geld
und Prestige haben sie vermutlich auch mehr Spaß als
andere Rechtsanwälte. Innerhalb ihres globalen Dorfes
und innerhalb ihres wirtschaftlich-administrativen
Systems arbeiten sie wieder mit Fällen in ihrer Gesam-
theit. Sie haben den gleichen Spaß wie die altmodi-
schen Stammesangehörigen, nämlich festzustellen, wie
die Gesetzeslage aussieht, am Suchen nach Lösungen
teilzuhaben, mit denen alle Beteiligten leben können,
und danach haben sie die Befriedigung, innerhalb ihres
Systems den Frieden wiederherzustellen. Ihre Tätigkeit
ist eine holistische, die den Frieden zum Ziel hat, im
Gegensatz zu einer spezialisierten, die zum Krieg führt.
Paradoxerweise verursachen diese Rechtsanwälte in
ihrem globalen Dorf jedoch vielfach die Zerstörung der
noch verbliebenen lokalen Dörfer. Ihre wirtschaftlichen
Entscheidungen sind Teil der treibenden Kräfte der
internationalen Entwicklung der Industrialisierung. Ihre
Tätigkeit im globalen Dorf ist eines der Schlüsselele-
mente im Prozeß der Modernität. Ihre Tätigkeit schafft
die Bedingungen, unter denen eine andere Art von
Juristen benötigt wird, die im vollkommenen Gegen-
satz zu allem stehen, was für die Konflikte am Brunnen
richtig war.
Was habe ich also bisher beschrieben?
Ich habe zwei Möglichkeiten beschrieben, Konflikte
zu lösen, die Art des Mose und die der Frauen am
Brunnen. Und ich habe gesagt, daß beide Lösungsme-
thoden im Wachstum begriffen sind und sich ausbrei-
ten. Wachstum bei der Strafgerichtsbarkeit, aber auch
Wachstum des Interesses an Schlichtungsmöglichkei-
ten.

ABSCHAFFUNG DER BESTRAFUNG?

In der Diskussion über die Strafgerichtsbarkeit gibt es


eine Richtung, die als Abolitionismus bezeichnet wird.
Die Abolitionisten stellen Fragen wie diese: Infolge
welcher Logik oder Ethik ist es so sicher, daß Bestra-
fung eine größere Priorität verdient als Friedensstif-
tung? Infolge meines beklagenswerten Betragens hast
du ein Auge verloren, aber ich werde dir mein Haus
dafür geben. Wegen deines verrückten Fahrstils bin ich
verletzt worden, aber ich habe dir vergeben. Bestrafung
ist beabsichtigter Schmerz. Hat das absichtliche Zufü-
gen von Schmerz als Instrument Vorteile gegenüber der
Wiederherstellung zerstörter Werte? Hat dieser
Schmerz Vorteile und daher Priorität gegenüber Ver-
söhnung, Wiedergutmachung und Vergebung? Ich
stimme den Auffassungen zu, die hinter diesen Fragen
stehen, aber ich kann den Abolitionisten nicht bis zur
letzten Konsequenz Recht geben.
Die radikalsten Vertreter des Abolitionismus wollen
das Strafrecht und die von Richtern verhängte Bestra-
fung ganz und gar abschaffen. Aber wenn man dieser
Ansicht bis zur letzten Konsequenz folgt, ergeben sich
mehrere schwerwiegende Probleme.
Das erste betrifft Menschen, die an einem Versöh-
nungsprozeß nicht teilnehmen wollen und nicht daran
interessiert sind, eine mögliche Einigung zu erzielen.
Manche Täter haben nicht die Fähigkeit oder wagen es
nicht, ihrem Opfer in die Augen zu sehen oder gar um
Verzeihung zu bitten. Sie geraten in Panik und ziehen
ein unpersönliches Gerichtsverfahren vor. Ebenso
wären viele Opfer nicht zur Versöhnung bereit. Sie
ziehen es vor, wenn der Täter bestraft wird. In beiden
Fällen beginnt ein Strafrechtsverfahren. Ein außerge-
richtlicher Konfliktlösungsprozeß kann in einem mo-
dernen Staat nicht erwogen werden, wenn kein Straf-
rechtsverfahren als mögliche Alternative zur Verfü-
gung steht. Das könnte dazu führen, daß einer Person in
einem außergerichtlichen Verfahren vergeben wird,
während eine andere bestraft wird. Es kann jedoch kein
Verstoß gegen ethische Grundsätze sein, wenn man-
chen, wenn auch nicht allen, vergeben wird. Diejeni-
gen, die bestraft werden, erhalten das, was ihnen auch
passiert wäre, wenn es keine Wiedergutmachung gäbe.
Vermutlich wären die Strafen für diejenigen, die be-
straft werden, ein bißchen milder. Wenn es Vergebung
als mögliche Alternative in einigen Fällen gibt, würde
dies vermutlich allgemein die Härte der Strafen inner-
halb eines Systems verringern.
Ein weiteres großes Problem, das bei einer vollstän-
digen Abschaffung der Bestrafung bestünde, wäre die
Gefahr, daß der Versöhnungsprozeß degenerieren
könnte. Der Delinquent oder seine nahen Verwandten
könnten in ihrer Verzweiflung zu viel versprechen, um
der Angelegenheit eine günstigere Wendung zu geben.
Der Schiedsrichter, der Vermittler oder Teilnehmer des
Kreises müßten dies verhindern und könnten gezwun-
gen sein, einen solchen Fall an den Strafgerichtshof
zurückzugeben. Der Delinquent könnte von der ande-
ren Partei zu stark unter Druck gesetzt werden. Es gibt
Beispiele von kleinen Gemeinschaften, in denen die
Männer in dem Personenkreis, der für die Konfliktlö-
sung verantwortlich ist, eine Vormachtstellung ein-
nehmen, und wo die mißbrauchten Frauen einer fortge-
setzten Unterdrückung ausgesetzt sind.
Im Fall von Konflikten auf Staatsebene können die
gleichen Bedenken vorgebracht werden. Laura Nader
(2002) bringt dies folgendermaßen zum Ausdruck:

Gründliche Feldforschung läßt erkennen, auf


welche Weise erzwungene Harmonie dahinge-
hend wirkt, daß sich zur Wehr setzende eingebo-
rene Gruppen, die zornig sprechen oder handeln,
zum Schweigen gebracht werden. (S. 127)
Es begann in hohem Maß so auszusehen, als sei
ADR [Alternative Dispute Resolution] ein Befrie-
dungsplan, ein durch Gerede von einer imaginä-
ren Explosion von Prozessen verhüllter Versuch
von Seiten der Mächtigen in der Justiz und in der
Wirtschaft, Prozesse von Seiten der Massen ein-
zudämmen. (S. 144)

Bei aller Begeisterung für Schlichtungsverfahren ist es


wichtig, nicht zu vergessen, daß die Rituale und die
Ordnung der Strafgerichtshöfe eine bedeutende Schutz-
funktion haben können. Wenn die Spannungen steigen
und vielleicht Gewalt unmittelbar bevorzustehen
scheint, können die feierlichen und oft unendlich lang-
weiligen und öden Rituale der Strafgerichtsbarkeit eine
beruhigende Wirkung haben. Gerichtsverfahren können
bestimmte Konfliktsituationen erträglich machen,
genau wie kirchliche Rituale – oder heutzutage die
Rituale der Laienredner – das Leid bei der Beerdigung
eines geliebten Menschen erträglich machen.
Eine besondere Situation entsteht dann, wenn ein
Individuum einer Organisation gegenübersteht, bei-
spielsweise ein Ladendieb einer großen Firma, der
Graffiti sprühende Jugendliche der Gemeinde- oder
Stadtverwaltung oder der Schwarzfahrer der U-Bahn-
Verwaltung. Das, worauf es hier ankommt, ist nicht
notwendigerweise die Ungleichheit der Macht, sondern
die Tatsache, daß eine Partei Repräsentant einer großen
Organisation ist. Dabei könnte es sich um eine Person
mit großer Routine, aber geringem persönlichem Inter-
esse an dem Konflikt handeln. Die andere Partei muß
im Gegensatz dazu vielleicht zum ersten Mal für sich
selbst sprechen. Unser offizielles Schlichtungssystem
in Norwegen ist mit Ladendieben überschwemmt, mit
Fällen, die für eine Vermittlung ganz besonders ungee-
ignet sind. Das Schlichtungssystem kann dadurch leicht
zu verhüllten Jugendgerichten pervertiert werden.
Høigårds Buch über Graffiti, Street Galleries (2002, S.
288-293), enthält eine sehr relevante Kritik dieser
Entwicklung. Was in diesen Schlichtungsgremien vor
sich geht, ist in ihren Augen eine Bestrafung von Kin-
dern.
Anders wäre es, wenn zu den Vermittlern in den
Gremien auch das Topmanagement der großen Firma,
der U-Bahn-Verwaltung oder der Stadtverwaltung
gehören würde. Dann wäre es möglich, Fragen über die
Organisation des Ladens zur Sprache zu bringen, wenn
die Versuchungen in dem Laden so zur Schau gestellt
werden, daß sie für Jugendliche fast unwiderstehlich
sind, und wenn der Laden viel zu wenig Verkaufsper-
sonal beschäftigt, um seinen Profit zu vergrößern. Oder
man könnte die Frage stellen, ob die Graffiti an der
Wand nicht viel schöner und/oder interessanter seien,
als das riesige Plakat mit der Werbung für Unterwä-
sche. Solche Gespräche könnten für das Sozialsystem
im allgemeinen sehr nützlich sein, aber die Hoffnung,
so etwas einführen zu können, ist vermutlich eine
Utopie.
Ein dritter Fall für die Strafgerichtsbarkeit ist eine
Situation, in der es kein eigentliches Opfer gibt. Viel-
leicht wurde ein Glaube beleidigt. Jemand könnte Gott
oder Allah gelästert haben in einer Nation, in der das
für eine schwere Sünde gehalten wird. Oder vielleicht
muß man das unter Kontrolle halten, was manche Leute
sich selbst und ihrem eigenen Körper antun. Hierfür
sind gegenwärtig die Maßnahmen gegen den Drogen-
konsum das wichtigste Beispiel.
Und dann kommt noch der trivialere Gesichtspunkt,
daß manche einfache Regelungen letztlich unterstützt
werden müssen. Manche Autofahrer bestehen darauf,
so schnell zu fahren, wie sie wollen. Außergerichtliche
Maßnahmen, wie das Entziehen des Führerscheins oder
die Beschlagnahme des Fahrzeugs können versucht
werden, reichen aber nicht immer aus. Eine Bestrafung
muß als letztes Mittel möglich bleiben.
Für manche sind keine der oben beschriebenen Sor-
gen relevant. Sie würden dennoch bestrafen. Sie wür-
den sagen: Die Gesellschaft muß das tun. Unabhängig
von der Nützlichkeit oder dem praktischen Nutzen
einer Strafe sind gewisse Handlungen so schrecklich,
daß der oder die Täter die Rache der Gesellschaft zu
spüren bekommen müssen. Das ist ihre Meinung.
EINE WINTERNACHT

Gerade in der Woche, in der ich dieses Kapitel schrieb,


gingen 40000 Osloer Bürger auf die Straße. Es war am
1. Februar, und es war dunkel und bitterkalt. Ein star-
ker Nordwind fegte durch die Straßen, und die Tempe-
ratur betrug -13°C. Dennoch war es herzerwärmend,
dabeizusein.
Der Grund für all dies war Benjamin. Einige seiner
Freunde hielten Reden, ebenso der Premierminister.
Eine junge Frau sang. Danach folgte eine feierliche
Prozession durch die Straßen. Benjamin war drei Tage
zuvor ermordet worden. Er war gerade 15 geworden.
Niedergestochen von drei jungen Leuten mit Sympa-
thien für die Nazi-Ideologie. Das reicht, war die vor-
herrschende Meinung im Land. Benjamin war dunkel-
häutig gewesen. Ein Jahr zuvor hatte er im nationalen
Fernsehsender den norwegischen Rassismus angepran-
gert. Das dürfte einer der Gründe für seinen Tod gewe-
sen sein.
Die Prozession war eine Manifestation gemeinsamer
Werte und gleichzeitig ein Beispiel für die neuen Be-
gräbnisrituale, die sich allmählich einbürgern – wie die
Blumen für Diana, die Kerzen an Gräbern oder an
Orten, an denen schreckliche Ereignisse stattgefunden
haben. Öffentliche Teilnahme, die von den Medien
gefördert und über die ausgiebig berichtet wird.
Aber nun stellt sich die Frage: Ist das genug?
Es ist bereits viel geschehen, um die Ausbreitung
der Nazi-Ideologie und die Gründung von Nazi-
Organisationen zu verhindern. Der Staat stellt Geld für
Jugendaktivisten zur Verfügung, damit sie jungen
Leuten, die Nazi-Organisationen angehören, helfen
können, sich daraus zurückzuziehen und zu einem
normalen Leben zurückzukehren. Eltern bemühen sich,
ebenso die Schulen, und Forscher versuchen, sich den
Nazi-Gruppierungen anzunähern, um ihr Verhalten und
ihre Motive zu verstehen. 1
Dennoch, ist das genug? Zwei junge Männer und
eine Frau wurden für schuldig befunden. 2 Ist es mög-
lich, in einem solchen Fall an restaurative Justiz zu
denken? Der Wert eines Menschenlebens wurde in
Frage gestellt. Und nicht nur das. Die Tat wurde von
Personen begangen, die diese Tat, zumindest zu An-
fang, für etwas Positives gehalten haben, eine Aktion,
mit der sie das Vordringen einer nach ihrer verblende-
ten Auffassung «minderwertigen» Kultur, vielleicht
sogar einer «minderwertigen» Rasse verhindern woll-
ten. Bin ich immer noch der Meinung, daß auch dies
ein Fall für restaurative Justiz ist?
Es gibt noch mehr schwierige Fälle. Das ganze nor-
wegische Volk war kürzlich von dem Mord an zwei
kleinen Mädchen schockiert, die in einem kleinen See
irgendwo in einem Wald im Süden des Landes
schwimmen wollten. Zwei junge Männer wurden für
schuldig befunden und zu langen Haftstrafen verurteilt.
Einer von ihnen schien zu lachen, als er den Gerichts-
saal verließ. Das ganze Volk war entrüstet, und ich
ebenfalls.
Versuchen wir dennoch, uns ein anderes Ende der
Geschichte vorzustellen. Was wäre passiert, wenn ein
Schlichtungsverfahren eingeleitet worden wäre und die
Verwandten nach einem langen Prozeß gesagt hätten:
Du hast unsere Kinder getötet, aber wir haben dir ver-
geben. Angesichts unseres jetzigen Wissens über deine
Lebensgeschichte und im Glauben an die Ehrlichkeit
deiner tiefen Reue haben wir dir vergeben. Wir wissen,
wie deine Zukunft aussehen wird, wenn du Jahre im
Gefängnis verbringst, deshalb bitten wir die Behörden,
dich freizulassen. Was wäre geschehen, wenn die
Verwandten dies gesagt und die Behörden ihrer Bitte
entsprochen hätten?
Ich habe keinen Zweifel, daß dies eine Lösung wäre,
die tiefe Wurzeln in unserem Moralempfinden hat.
Gleichzeitig habe ich jedoch auch keinen Zweifel, daß
es vollkommen unvernünftig ist, zu erwarten, daß so
etwas geschieht, oder gar zu fordern, daß die nächsten
Verwandten der Mordopfer an einem Verhandlungs-
prozeß teilnehmen sollen, der möglicherweise zu einem
solchen Ergebnis führen könnte. Es ist absolut ver-
ständlich und moralisch vertretbar, wenn die nächsten
Verwandten sich für eine Bestrafung des Täters ent-
scheiden. Aber wenn ein Schlichtungsverfahren statt-
finden würde, könnten wir uns dann eine Situation
vorstellen, in der der Fall damit enden würde – mit
Vergebung? Warum soll es so selbstverständlich sein,
daß die Sache immer noch ein Fall für den Staatsanwalt
und die Gefängnisverwaltung wäre?
Wenn alle Opfer und alle Verwandten derer, die
nicht mehr reden können, gefordert hätten, daß Verge-
bung geübt werden soll, dann könnte vielleicht ein
Soziologe mit Emile Durkheim in der Hand argumen-
tieren, daß es im Hinblick auf den sozialen Zusammen-
halt der betreffenden Gesellschaft unvermeidlich sei,
daß auf die abscheulichen Taten eine Strafe folgen
muß. Aber die Chance auf eine Vergebung von seiten
der beteiligten Parteien ist so verschwindend gering,
daß eine solche Warnung ebenso realistisch wäre, wie
die Warnung vor dem Zusammenbruch des Ölmarkts,
weil die meisten Leute sich moralisch verpflichtet
fühlen könnten, auf die Verwendung von Privatautos
zu verzichten. Aber wenn es geschehen würde, wäre
ich auf der Seite der Eltern, die um Vergebung bitten
würden. Der ganze Prozeß, das Herausfinden dessen,
was geschehen ist, die Ermittlung der Schuld, die Su-
che nach Vergebung und schließlich der Akt der Ver-
gebung – das alles wäre eine eindringliche Enthüllung
schrecklicher, fast unglaublicher, furchtbarer, grausa-
mer Taten. Die Enthüllung all dessen würde eine ein-
dringliche Distanzierung von diesen Taten darstellen,
während gleichzeitig der Akt der Vergebung anderen,
ebenso wichtigen Grundwerten unserer Gesellschaft
gerecht würde.
Aber wäre das Gerechtigkeit? In extremen Fällen
werden Kinder auf grausame Weise sexuell mißbraucht
und dann getötet. Es kann doch nicht recht sein zuzu-
lassen, daß die Schuldigen nur mit Worten davonkom-
men? Aber die gegenteilige Auffassung kann ebenfalls
die falsche Antwort sein. Die Strafe kann niemals
ebenso schwer sein wie das begangene Unrecht. Wie
Giertsen (2003) schreibt:

Die Strafe ist ein symbolischer Ausdruck. Sie kann


dem Verbrechen nicht eins zu eins entsprechen
und kann nicht als Maßstab für den Wert des
Opfers dienen. Die Strafe ist an erster Stelle die
Feststellung, daß eine Tat einen bedeutenden
Wert beschädigt hat, einen Wert, der wiederher-
gestellt werden muß. (S. 13)

Die Strafe kann dem Schaden nicht gleichkommen. Die


Verwandten könnten sagen: Der Mörder wurde nur zu
zwölf Jahren verurteilt, während mein Junge sein gan-
zes Leben verloren hat. Das ist nicht gerecht! Und das
trifft natürlich in gewissem Sinne zu. Aber sie argu-
mentieren auf eine Weise, die die Gesellschaft in inak-
zeptable Zustände führen würde. Wenn wir die Men-
schlichkeit aufrechterhalten wollen, ist all dies nicht
nur eine Frage einfacher Vergeltung. Der verlorene
Sohn kann nicht zurückgebracht werden. Eine ver-
gleichbare Strafe wäre es, dem Schuldigen unter den
gleichen Bedingungen, unter denen er gehandelt hat,
das Leben zu nehmen. Unsere Ethik muß jedoch von
einer breiteren Perspektive ausgehen. Wenn eine Strafe
verhängt wird, muß diese Strafe unsere gesamten Wer-
te repräsentieren.
Die Opfer und Opferorganisationen sind oft tief ver-
letzt, wenn ihr Leiden nicht eins zu eins in der Bestra-
fung zum Ausdruck kommt. Dies wird oft in Form von
scharfer Kritik an den Gerichten geäußert, einer Kritik,
die von den Medien begierig aufgegriffen und ins
Bewußtsein der Politiker gerückt wird.
Was soll man in dieser Situation tun?
Es gibt keine anderen Möglichkeiten als die übli-
chen: Gegenargumente, Austausch von Ideen, Versu-
che von Klarstellungen. Entscheidungen bezüglich der
Strafrechtspolitik sind kulturelle Fragen. Sie sind nicht
eine Frage instinktiver Handlungen und Reaktionen. Es
handelt sich um ein Gebiet voller tiefer, moralischer
Fragen. Es ist ein Thema für Romanschriftsteller,
Dramaturgen und Künstler – vor allem aber für Staats-
bürger. Es ist nicht nur ein Thema für Experten, natür-
lich nicht. Aber es ist auch nicht nur ein Thema für
Opfer. Gebraucht wird ein ganzer Chor von Stimmen,
die einen ganzen Wald von Sorgen vorbringen, teilwei-
se von Sorgen, die nicht so leicht verdaulich sind und
die auch oft nicht in Einklang miteinander zu bringen
sind. Je mehr das Thema als kulturelle Angelegenheit
betrachtet wird, um so weniger Raum bleibt für simpli-
fizierende Lösungen.

MINIMALISMUS

Ich hoffe, durch meine bisherige Argumentation klar-


gestellt zu haben, daß der Abolitionismus in seiner
reinen Form keine durchführbare Lösung ist. Wir kön-
nen das Strafrechtssystem nicht vollständig abschaffen.
Aber ich hoffe, es ist mir in den vorangegangenen
Kapiteln gelungen zu zeigen, daß wir ziemlich weit in
diese Richtung gehen können. Das Verbrechen existiert
nicht als natürliches Phänomen. Es ist nur eine von
vielen Möglichkeiten, beklagenswerte Handlungen zu
betrachten. Es steht uns frei zu wählen, und die Unter-
schiede im Strafniveau zu unterschiedlichen Zeiten in
einzelnen Staaten und auch zwischen verschiedenen
Staaten sind eine Illustration dieser Freiheit.
Was in dieser Situation meinem Herzen am näch-
sten kommt, könnte als Minimalismus3 bezeichnet
werden. Das kommt dem abolitionistischen Standpunkt
sehr nahe, wobei jedoch akzeptiert wird, daß in be-
stimmten Fällen eine Bestrafung unvermeidlich ist.
Sowohl für die Abolitionalisten als auch für die Mini-
malisten sind unerwünschte Handlungen der Aus-
gangspunkt und nicht Handlungen, die als Verbrechen
definiert werden. Und sie fragen, wie mit diesen Hand-
lungen umgegangen werden kann. Kann Schadenersatz
für die geschädigte Partei hilfreich sein, oder ist es
nützlicher, ein Komitee zur Wahrheitsfindung einzu-
richten, oder sollte man dem Delinquenten helfen, um
Vergebung zu bitten? Ein minimalistischer Standpunkt
gibt uns Entscheidungsfreiheit. Wenn man die ganze
Folge von Ereignissen, die zu der unerwünschten
Handlung geführt haben, zum Ausgangspunkt nimmt,
ist Bestrafung eine, aber nur eine von vielen Möglich-
keiten. Wenn Konflikte und nicht Verbrechen Aus-
gangspunkt der Analyse sind, eröffnet sich eine be-
freiende Perspektive. Das bedeutet, daß wir nicht in
einer «strafrechtlichen Notwendigkeit» gefangen sind,
sondern frei wählen können.
Gut – und schlecht. Dadurch verschwindet der
Zwang, eine Bestrafung als absolute Verpflichtung zu
betrachten, aber gleichzeitig sehen wir uns gezwungen,
Gründe für unsere Entscheidung anzugeben, zu bestra-
fen oder auch nicht. Im folgenden wollen wir die Mög-
lichkeiten eines minimalistischen Standpunkts an Hand
einiger Katastrophen unserer Zeit überprüfen.
7 ANTWORTEN AUF GREUELTATEN

BLIND, TAUB UND OHNE ERINNERUNG

Es besteht kein Zweifel daran, daß keiner von uns


überleben würde, wenn wir alles, an das wir uns erin-
nern könnten, auch wirklich im Gedächtnis behalten
würden. Wir wären überlastet. Wir nehmen nicht alles
wahr, was an den Wänden geschrieben steht, an denen
wir vorbeigehen. Und wenn wir es registrieren, merken
wir uns nur einen kleinen Teil davon. Wir sind sehr
selektiv in dem, was wir sehen, was wir uns einprägen
und an was wir uns erinnern. Was für den Arzt eine
Abtreibung ist, kann vom Priester als Tötung wahrge-
nommen werden. Für manche Frauen kann es ein Au-
genblick großer Erleichterung sein, für andere die
schrecklichste Sünde, die in ihrem Bewußtsein 1 hinter
Mauern verborgen wird. Wir nehmen selektiv wahr,
wir prägen uns die Dinge selektiv ein, wir erinnern uns
selektiv. Wir konstruieren.
Ich habe meine Kindheit in einem besetzten Land
während des Zweiten Weltkriegs verlebt. Ich tat die
üblichen Dinge. Ich hielt mich an die Regeln: Verbrü-
dere dich niemals mit einem deutschen Soldaten oder
mit einem norwegischen Mitglied der Nazi-Partei.
Dennoch habe ich keinerlei Erinnerung an das, was
passierte, als die Juden deportiert wurden. Ich erinnere
mich an keinen einzigen Kommentar dazu aus meinem
im allgemeinen patriotischen Kreis. Die normale nor-
wegische Polizei verhaftete die Juden. Weil es so viele
waren, wurden hundert gewöhnliche Taxis für den
Transport zu dem Schiff verwendet, das die meisten
von ihnen ihrem Tod in einem deutschen Konzentrati-
onslager entgegentrug. Ich nehme an, daß die Fahrer
diese Episode in ihrem Leben sehr schnell vergaßen.
Als die wenigen Überlebenden aus den Lagern zurück-
kehrten, kamen sie in ein Land, in dem weitgehend
vergessen war, daß es sie je gegeben hatte. Auch ein
großer Teil ihres Eigentums war verschwunden. Erst
1996 erhielten sie – oder in den meisten Fällen ihre
Kinder und Enkel – eine angemessene Entschädigung.
Schweigen ist eine der Antworten auf Greuel.
Schweigen, weil niemand da ist, der zuhören könnte.
Isolation des Opfers ist eines der besonderen Charakte-
ristika von Sozialsystemen, in denen gesetzwidrige
Gewalt angewandt wird. Der Mechanismus kann im
Fall von mißhandelten Frauen beobachtet werden. Die
Ehemänner neigen in solchen Fällen dazu, Frau und
Kinder zu isolieren und dafür zu sorgen, daß keine
engen Freunde oder Verwandten in der Nähe sind. Die
Kinder dürfen keine Freunde mit nach Hause bringen.
Es ist niemand da, mit dem die Betroffenen reden
könnten. Oder vielleicht gibt es auch nichts zu erzäh-
len. Das Abendessen war noch nicht fertig, als der
Mann an diesem Tag nach Hause kam, oder das Fleisch
war nicht zart genug. Vielleicht hatte er einen Grund
für seinen Ärger? Das intellektuelle Bedürfnis der Frau
nach einer Erklärung wird auf ihre eigenen Unzuläng-
lichkeiten gelenkt und erstickt ihren Protest. Um dies
zu ändern, ist es unerläßlich, daß sie aus ihrer Isolation
herauskommt und Zugang zu einer Zuhörerschaft
bekommt, die die Definition ihres Mannes von der
Situation nicht bestätigt.
So war es auch in den Konzentrationslagern. Dieje-
nigen, die nicht in der Lage waren, sich als Feinde der
Unterdrücker zu fühlen, schienen noch schlechter dran
zu sein als militante Gegner, die eine bestimmte Sache
unterstützten. Diejenigen, die sich nicht als Feinde
sehen konnten, hatten keine Erklärung, nichts, das sie
sich sagen konnten, außer daß alles ein furchtbares
Mißverständnis sei.
Die meisten Gefangenen versuchten verzweifelt, das
Schweigen zu brechen, den Menschen außerhalb des
Lagers die Wahrheit mitzuteilen. Der Milcheimer aus
dem Ghetto in Lodz ist ein bewegendes Beispiel. Lodz
ist eine große Industriestadt, die etwa auf halbem Weg
zwischen Krakau und Warschau liegt. Inmitten des
Überlebenskampfes im Ghetto wurden täglich drei
Exemplare einer Zeitung gedruckt. Wenige Tage bevor
im Jahr 1944 der letzte große Transport aufbrach,
wurde von allen Ausgaben je ein Exemplar in einem
Eimer versteckt, vergraben, nach dem Krieg wieder
ausgegraben und in dem schrecklichen/wunderbaren
Buch von Lucjan Dobroszycki (1984) veröffentlicht:
The Chronicle of the Lodz Ghetto 1941-44. Die Opfer
hatten eine Stimme bekommen.
WENN GERECHTIGKEIT GEÜBT WIRD

Nicht weit von Krakau entfernt liegt Auschwitz und


gleich daneben eines der großen Todeslager, Birkenau.
Wo die Eisenbahnstrecke im Lager Birkenau endet,
wurde nach dem Zweiten Weltkrieg ein Galgen errich-
tet. Hier wurde der Lagerkommandant aufgehängt.
Ich war noch nie in der Lage, das zu verstehen. Ein
Leben für anderthalb Millionen! Ein gebrochener Hals
für alle, die verhungert, erstickt oder ermordet worden
waren. Für mich wurde die Hinrichtung des Komman-
danten zu einer Art Schändung der 1, 5 Millionen
Opfer. Der Wert eines jeden von ihnen war nur noch
der 1, 5millionste Teil des Wertes des Kommandanten.
Aber was hätte man sonst tun sollen? So fragten
mich meine polnischen Kollegen, als ich damals meine
Zweifel äußerte. Und ich hatte keine Antwort bereit,
außer dieser: Vielleicht hätte man ein Gericht abhalten
sollen. Tag für Tag hätten Überlebende berichten müs-
sen, was geschehen war. Alle Arten von Opfern hätten
ihrer Verzweiflung, ihrer Wut und ihrem Wunsch nach
Rache Ausdruck gegeben. Der Kommandant hätte
ebenfalls seinen Standpunkt und seine Gründe darge-
stellt, an Ort und Stelle, im Angesicht der Überleben-
den und seiner Richter.
Aber nun zum Richter. Sofern er ein freier Richter
und nicht nur ein von den Siegern eingesetzter Scharf-
richter gewesen wäre, was hätte er am Ende beschlie-
ßen sollen?
Eine Möglichkeit, und das wäre die gewesen, die ich
bevorzugt hätte, wäre gewesen, daß der Richter folgen-
des zum Lagerkommandanten gesagt hätte: «Es steht
außer Zweifel, daß du es getan hast. Du hast mehr als
eine Million Menschen töten lassen. Du bist schuldig.
Deine Handlungen sind moralisch unvorstellbar absto-
ßend. Wir haben es gehört. Die ganze zivilisierte Welt
wird erfahren, was für schreckliche Taten du an diesem
schrecklichen Ort begangen hast. Mehr kann dazu nicht
gesagt und getan werden. Geh in Schande!»
Aber natürlich weiß ich, daß so etwas niemals hätte
geschehen können. Anfang der sechziger Jahre hatte
ich lange Gespräche mit Professor Batawia in Wär-
schau. Er war Professor für forensische Psychiatrie und
hatte ausgiebig mit dem Auschwitz-Kommandanten
Rudolf Höss gesprochen. Wir verglichen unsere Noti-
zen.
Ich hatte auf dem gleichen Gebiet gearbeitet und
Wachleute befragt, die in den Nacht- und Nebellagern
im Norden Norwegens gefoltert und getötet hatten. Wir
stellten fest, daß wir beide zwei Dinge erfahren hatten:
Erstens hatte keiner von uns irgendwelche Ungeheuer
aus den Lagern getroffen. Das mag alle überraschen,
die gehofft hatten, daß hinter den Greueltaten Bestien
standen. Im großen und ganzen gab es sie nicht. Zwei-
tens war weder die polnische noch die norwegische
Öffentlichkeit sonderlich daran interessiert zu erfahren,
was wir festgestellt hatten. Batawia wurde es ganz
einfach verboten, seine Ergebnisse zu veröffentlichen.
Meine kleinen Artikel wurden ignoriert. Erst als eine
neue Generation herangewachsen war, wurde ich gebe-
ten, den ganzen Bericht als Buch (Christie, 1952/74) zu
veröffentlichen. Kurz nach den Greueltaten verlangten
die Menschen Rache und nicht Analyse.

DIE HINRICHTUNG EINER IDEE

Dennoch ist es denkbar, daß die Menschen recht hatten,


die den Kommandanten aufgehängt haben. Sie haben
nicht nur den Kommandanten, sondern ein ganzes
System hingerichtet. Sein gebrochener Hals symboli-
sierte eine zerbrochene Idee. Es war die Nazi-
Ideologie, die an diesem Galgen aufgehängt wurde.
Gesellschaften brauchen klare und schnelle Antworten,
wenn ihre fundamentalsten Werte angegriffen worden
sind, wie es in der Nazizeit geschehen ist.
Ich teile diese Meinung. Natürlich teile ich sie, wie
könnte ich sie nicht teilen.

BLOCKADE DES VERSTEHENS

Dennoch nagen in einer entfernten Ecke meines sozio-


logischen Gewissens ein paar Zweifel. Wir töten den
Kommandanten, ja. In Nürnberg haben wir sogar die
Hauptinitiatoren getötet. Wir haben die bösen Ideen
und ihre wichtigsten Vertreter schnell und einmütig
ausgelöscht. Wir haben unmißverständlich klarge-
macht, daß bestimmte Handlungen – Völkermord und
die Vernichtung von dem, was diese Leute als uner-
wünschte Minoritäten bezeichneten – so unentschuld-
bar sind, daß keine Gnade möglich ist. Dennoch: Ha-
ben wir damit das ganze Ziel erreicht? Wir haben den
Kommandanten und die führenden Männer in Nürn-
berg aufgehängt und uns damit das Gefühl verschafft,
etwas erreicht zu haben. Es wurde Rache geübt, die oft
als Gerechtigkeit bezeichnet wird. Aber gleichzeitig
wurde die Diskussion über die Ideen und Interessen
und die immer noch lebendigen, damit verbundenen
Phänomene, die hinter der Nazizeit standen, erfolgreich
abgeschnitten.
Der Lagerkommandant war schuldig, und vom
Standpunkt der Vergeltung aus gesehen, hat er sein
Schicksal ganz sicher verdient. Gleichzeitig fungierte
er jedoch als Sündenbock, ebenso wie seine Bosse, die
in Nürnberg gehängt worden sind. Hinter ihnen standen
ungezähmte Kräfte, die durch die gegen ihre Vertreter
verhängten Strafen geschützt wurden. Wenn man
Greueltaten mit individuellen Strafen begegnet, kann
dadurch die Entwicklung eines komplexeren und dar-
um hilfreicheren Verständnisses dieser Kräfte und
Phänomene im allgemeinen verhindert werden. Erst
1989 konnten wir mit Zygmunt Baumans Buch Dialek-
tik der Ordnung, Die Moderne und der Holocaust (dt.
1992) in die tieferen Schichten des Verständnisses der
Konzentrationslager vordringen.
Während die Kommandanten gehängt wurden und
die Richter in Nürnberg sich mit der Suche nach per-
sönlicher Schuld an den Greueltaten begnügten, ließ
man andere Phänomene ruhen und weiterwachsen. Drei
Themen kamen in Nürnberg nicht zur Sprache:

• Dresden
• Hiroshima und Nagasaki
• Die Gulags

Dresden wurde in weniger als 24 Stunden ausge-


löscht, wobei es mindestens 135000 Opfer gab. Nach-
träglich war es schwierig, rationale militärische Gründe
für ihre Vernichtung zu finden. Aber in Nürnberg, vor
dem Gerichtshof der Sieger, wurde niemals darüber
gesprochen.
Hiroshima und Nagasaki wurden mit je einer Atom-
bombe in Friedhöfe verwandelt. Die Gründe, die zu
dieser Massentötung von Zivilisten führten, sind un-
klar. Aber niemand hätte diese Frage in Nürnberg oder
vor irgendeinem anderen internationalen
Gerichtshof zur Sprache bringen können, auch wenn
er es gewollt hätte. Es war schwer, rationale militäri-
sche Gründe für das zu finden, was geschehen war.
Eine besser begründete Hypothese scheint die zu sein,
daß der Abwurf der Bomben ein Warnzeichen an die
Adresse der UdSSR sein sollte, ein grandioser Auftakt
für den Kalten Krieg.
Und dann sind da noch die Gulags. Natürlich konnte
in Nürnberg, wo ein prominenter Russe zu den Rich-
tern gehörte, nicht darüber geredet werden. Aber wäh-
rend in Nürnberg Todesurteile gefällt wurden, füllten
sich die Gulags immer weiter.
Wenn wir die Individuen aufhängen, die mit den
Greueltaten am direktesten in Verbindung gebracht
werden können, stellen wir bestimmte Standards wie-
der her. Wir führen es allen vor Augen: Massenmörder
enden am Galgen. Vielleicht hindern wir andere daran,
sich in den Dienst böser Kräfte zu stellen.
Das sind die üblichen Gründe, die für alle strengen
Strafen angeführt werden. Und ich glaube, daß sie hier
noch weniger Gültigkeit haben als in gewöhnlicheren
Fällen. Die Täter, die diese Art von üblen Handlungen
begehen, sehen sich selbst als Diener von Staaten, die
von Aggressoren umgeben sind. Oder sie sehen sich
nur als Funktionäre, wie Adolf Eichmann in seinem
Büro. Oder sie betrachten sich als Soldaten in einem
unvermeidlichen und gerechten Krieg, den ihre Gegner
Terror nennen. In meinem Land haben wir nach dem
Zweiten Weltkrieg den Hauptverräter Vidkun Quisling
erschossen. Es wäre unvernünftig zu glauben, daß dies
den nächsten möglichen Verräter beeinflussen könnte.
Die Situation wird anders sein, das Ziel wird ein ande-
res sein. Und die nächste Person wird sich unter ähnli-
chen Umständen bei ihren Taten als eindeutiger Sieger
sehen. Die Banditen auf der anderen Seite sind diejeni-
gen, die man vor Gericht stellen wird.

WENN STRAFFREIHEIT HERRSCHT

Aber natürlich weiß ich auch, was geschehen wäre,


wenn der Kommandant von Auschwitz-Birkenau und
einige der Nazi-Bosse nicht aufgehängt worden wären.
Der Zorn über sie war überwältigend und unkontrol-
lierbar. In einigen Konzentrationslagern wurden die
Wachleute am Tag der Befreiung niedergemacht.
Unter solchen Umständen muß das Bedürfnis nach
Rache respektiert werden. Aber dann muß es gezähmt,
in einen Strafrechtsapparat geleitet und dadurch in
geordnete Bahnen gelenkt werden, daß es in die Hände
des Staates gelegt wird. Wenn Straflosigkeit herrscht,
kann der Frieden nicht wiederhergestellt werden.
Das ist eines der Hauptargumente für förmliche
strafrechtliche Maßnahmen. Es ist ein gutes Argument.
Aber es führt zu Lösungen, die mit hohen Kosten ver-
bunden sind, mit Kosten, die häufig erst viel später im
Leben einer Nation in Erscheinung treten. Lassen Sie
mich dies mit Erfahrungen in meinem eigenen Land,
Norwegen, verdeutlichen.

QUISLING

Während des Zweiten Weltkriegs wurde der Name


«Quisling» häufig als Synonym für das Wort «Verrä-
ter» gebraucht. In Norwegen ist dies immer noch so,
was nicht verwunderlich ist. Vidkun Quisling war ein
norwegischer Offizier. Er war der Gründer unserer
1933 entstandenen Nationalsozialistischen Partei. Im
Jahr 1939 besuchte er Hitler. Am 9. April 1940 mar-
schierten die Deutschen in Norwegen ein. Am selben
Tag erklärte sich Vidkun Quisling zum Premiermini-
ster. Er blieb der führende Kollaborateur bis zur deut-
schen Kapitulation im Mai 1945. Einen Tag später
wurde er verhaftet und vor Gericht gestellt. Er wurde
von einem hoch angesehenen Rechtsanwalt verteidigt,
aber dennoch zum Tod verurteilt. Seine Berufung
wurde vom Obersten Gerichtshof abgelehnt, und am
24. Oktober 1945 wurde er hingerichtet.
Sein Name wurde zum Synonym. Aber Quisling
war nicht der einzige, der mit den Besatzern kollabo-
riert hatte. Von den damals 3, 5 Millionen Einwohnern
Norwegens wurden 80000 Mitglieder der Nazi-Partei.
Und viele andere halfen den Besatzern – manche als
Arbeiter, andere als Informanten oder direkt als Folte-
rer im Dienst der Gestapo. Ein besonderer Ausdruck
war im Gebrauch: Kollaborateure wurden als landssvi-
kere bezeichnet. Das bedeutete etwas Schlimmeres, als
einfach nur Verräter zu sein. Es bedeutete, Verräter am
eigenen Land zu sein, die ganze Nation im Stich zu
lassen, die in Zeiten des Krieges und der Besatzung zur
wichtigsten Basis für Identität und Souveränität wird.

DIE SÄUBERUNG

Die Schlagzeile der allerersten Zeitung, die nach der


deutschen Kapitulation in Norwegen erschien, lautete:
RO – ORDEN – VERDIGHET. RUHE, ORDNUNG,
WÜRDE. Greift nicht zu Selbstjustiz, laßt die staatli-
chen Organe die Strafen vollstrecken, die mit Sicher-
heit und mit Gerechtigkeit erfolgen werden. Und sie
folgten tatsächlich. Alle Mitglieder der Nazi-Partei,
auch die, die sich vollkommen passiv verhalten hatten,
wurden vor Gericht gestellt. Besonders während der
ersten Jahre nach der Besatzung waren die Urteile
extrem hart. Mehr als 40000 Personen wurden in irgen-
deiner Form bestraft. 17000 erhielten Haftstrafen.
Fünfundzwanzig Norweger wurden hingerichtet. Zwölf
Deutsche teilten dieses Schicksal.

DAS VERHINDERN PRIVATER RACHE

Quisling entging seiner Strafe nicht, und seine Anhän-


ger ebensowenig. Der Gedanke, Quisling in den Stra-
ßen von Oslo zu begegnen, war in der Zeit nach dem
Ende der deutschen Besatzung fast unvorstellbar und
unerträglich. Durch das, was Quisling und seinen Kol-
laborateuren geschah, wurde eine Art von Frieden
wiederhergestellt.
Das beruhigte die Situation in der Zeit unmittelbar
nach der deutschen Kapitulation. Private Rache war
relativ selten, abgesehen von besonders grausamen
Erniedrigungszeremonien, denen Frauen unterworfen
wurden, die Beziehungen zu deutschen Soldaten gehabt
hatten, und auch von grausamen Handlungen gegen
ihre Kinder (Ohlsen 1998). Mit diesen Ausnahmen
gewann ein friedliches Land einen Teil seines Friedens
zurück. Aber es war ein Frieden, der seinen Preis hatte.

NARVIK, OKTOBER 2002

Im Oktober 2002 fand in Narvik, einer hoch im Norden


gelegenen Stadt, eine ungewöhnliche Begegnung statt.
Narvik wurde im Jahr 1940 bekannt wegen der auße-
rordentlich erbitterten Kämpfe zwischen den deutschen
Truppen auf der einen und den britischen, französi-
schen, polnischen und norwegischen Streitkräften auf
der anderen Seite. Viele Soldaten kamen ums Leben.
Sie sind auf einem Friedhof im Zentrum von Narvik
begraben. Zwischen 1942 und 1943 ereignete sich eine
neue Katastrophe in der Nähe der Stadt. Ein Elends-
schiff traf ein. An Bord befanden sich jugoslawische
Gefangene, die als Teil von Hitlers Nacht- und Nebel-
aktion in den hohen Norden deportiert wurden. Ein
Lager wurde errichtet. Nach dem ersten Winter waren
nur noch 30 Prozent der Gefangenen am Leben.
Und dann die Begegnung im Jahr 2002, sechzig Jah-
re nach diesen Ereignissen. Es war eine Begegnung für
Frieden und Versöhnung. Hier standen wir, die Reprä-
sentanten aller beteiligten Nationen. Manche waren
Veteranen, aber auch junge Soldaten aus verschiedenen
Ländern nahmen teil, zusammen mit Botschaftern, dem
Präsidenten des norwegischen Parlaments, dem Bür-
germeister von Narvik und einigen Akademikern. Wir
versammelten uns auf dem Friedhof. Die deutschen
Gräber auf der linken Seite, die Gräber der Alliierten
vor uns und auf der rechten Seite aufgereiht. Wir trafen
uns in der Kirche mit Gebeten in allen Sprachen, die
hier vertreten waren. Und wir trafen uns in Seminaren
über die Theorie und Praxis der Versöhnung.
Wir waren alle da.
Wirklich?
Die deutschen Veteranen waren eingeladen worden
und hatten die Einladung angenommen. Aber die Vete-
ranen waren inzwischen alt und krank. Die Deutschen
kamen nicht. Was für eine Erleichterung. Die norwegi-
schen Veteranen hatten sich grollend bereit erklärt, mit
ihnen zusammenzukommen. Jetzt blieb ihnen diese
Begegnung erspart. Nur der deutsche Botschafter kam.
Aber eine andere Kategorie von Menschen war gar
nicht erst eingeladen worden. Die Anhänger von Vid-
kun Quisling waren nicht anwesend. Nicht ein einziger
ehemaliger Kollaborateur ließ sich blicken. «Ich hätte
nicht kommen können, wenn sie eingeladen worden
wären», sagte ein führender norwegischer Kriegsvete-
ran, der auch Überlebender der Konzentrationslager in
Deutschland war. Ich kenne ihn als freundlichen, an-
ständigen Menschen. «Nun ja», fügte er hinzu, «wenn
sie ihre alten Missetaten ausdrücklich eingestanden
hätten, wäre die Situation vielleicht anders gewesen.»
In der hitzigen Diskussion, die darauf folgte, rief der
Vorsitzende mir zu: «Würden Sie einen ehemaligen
Folterer hier zur Versöhnung akzeptieren?» Das würde
ich.

DAS DENKMAL

Wir besuchten auch das alte Konzentrationslager am


Stadtrand von Narvik. Ein Denkmal war hier errichtet
worden. Dem Text auf dem Stein zufolge war es «eine
Gabe aus Dankbarkeit vom norwegischen und jugosla-
wischen Volk zur Erinnerung an die mehr als 500
Jugoslawen, die als Opfer des Nationalsozialismus
zwischen 1941 und 1943 in dem deutschen Lager...
starben.»
Starben? Sie wurden umgebracht!
In dem deutschen Lager? Ja, es wurde von der deut-
schen SS organisiert und geleitet. Aber die Wachleute
waren Norweger. Es gab mehrere hundert davon. Nach
dem Krieg wurden 47 von ihnen vor Gericht gestellt
und zu langen Haftstrafen verurteilt. Ich kenne sie gut.
Wie oben erwähnt, habe ich mit den meisten von ihnen
einige Zeit nach dem Ende der Besatzung gesprochen,
auch mit denjenigen Wachmännern, die sich im glei-
chen Lager nicht besonders schlecht betragen hatten.
Über die Fälle, die vor Gericht behandelt worden war-
en, wurde in den norwegischen Medien ausführlich
berichtet.

SPÄTFOLGEN DER BESTRAFUNG

Was im Oktober 2002 in Narvik geschah, ist kein


Beweis sondern eine Illustration. Die Kollaborateure
und Kriegsverbrecher wurden nach dem Ende der
Besatzung alle streng bestraft. Aber auch Bestrafungen
im großen Stil hatten den Haß in der Bevölkerung nicht
auslöschen können. Die Kollaborateure werden in
Norwegen immer noch verachtet, manche ihrer Kinder
fühlen sich wie Ausgestoßene, selbst ihre Enkel
schweigen über die Geschichte ihrer Familie. Ein be-
trächtlicher Teil der Bevölkerung ist deshalb bis zum
heutigen Tag aus der anständigen Gesellschaft ausge-
schlossen. Und die meisten Norweger glauben immer
noch, daß das Töten in Konzentrationslagern eine
Sache gewesen sei, an der nur Deutsche beteiligt war-
en.

INTERNATIONALE STRAFGERICHTSHÖFE UND

TRIBUNALE

Der Gerichtshof in Nürnberg war eindeutig ein Gericht,


das von den Siegern eingesetzt worden war. Internatio-
nal war er nur in dem Sinn, daß die vier Richter aus den
größeren Ländern kamen, die Deutschland besiegt
hatten. Und es war ein Gerichtshof, der über einen
Feind zu Gericht saß, der eine vollständige Niederlage
erlitten hatte. Kein Wunder, daß Dresden, Hiroshima,
Nagasaki und die Gulags nicht zur Sprache kamen.
Bei den neueren Versuchen, internationalen Stan-
dards zur Geltung zu verhelfen, hat sich diese Situation
bis zu einem gewissen Grad geändert. Einige Gerichts-
höfe sind tatsächlich internationaler geworden. Der
Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Ju-
goslawien in Den Haag und die ähnliche Institution für
Ruanda in Arusha in Tansania sind Beispiele hierfür.
Der neu gegründete Internationale Strafgerichtshof soll
diesem Typ angehören.
Aber es ist klar, daß der internationale Charakter
sehr begrenzt ist. Am klarsten erkennbar ist dies im
Fall des Internationalen Strafgerichtshofs. Die mächtig-
sten Nationen haben sich nicht bereit erklärt, sich
seiner Autorität zu unterwerfen. Die USA haben nicht
unterschrieben und haben sogar starken Druck auf
andere Nationen ausgeübt, um deren unterschriebene
Zusicherung zu erhalten, daß sie vor dem Internationa-
len Strafgerichtshof keine Anklagen gegen Bürger der
Vereinigten Staaten erheben werden. Die GUS und
Israel sind weitere mächtige Staaten, die das Abkom-
men nicht ratifiziert haben. Die Mächtigen haben im-
mer die Tendenz, so zu handeln.
Es gibt auch noch andere Probleme mit internationa-
len Gerichtshöfen. Eines davon ist die internationale
Politik. Als ich mich im Frühling 2001 zum ersten Mal
darauf vorbereitete, über dieses Thema zu schreiben,
war die jugoslawische Regierung unter enormem
Druck, Milosevic zum Gerichtshof nach Den Haag zu
schicken. Wenn sie ihn nach Den Haag schicken wür-
de, würde sie Geld vom Westen für den Wiederaufbau
des Landes erhalten. Wenn sie ihn im eigenen Land vor
Gericht stellen würde, würde sie nichts bekommen. Sie
schickte ihn nach Den Haag. 2
Der Internationale Gerichtshof für Ruanda kann als
Beispiel für andere Probleme dienen. Der Gerichtshof
hat seinen Sitz in Arusha in Tansania. Ihn zu unterhal-
ten kostet jährlich mehrere Millionen Dollar. Er wurde
für die Elite-Verdächtigen eingerichtet – rund 100
Menschen, die in einem nahegelegenen, anständigen
Gefängnis auf ihre Gerichtsverhandlung warten. Dahin-
ter stand die Idee, daß die Hauptschuldigen zuerst
verurteilt werden sollten. Das bedeutet jedoch, daß die
kleinen Fische warten müssen. Das tun sie in Gefäng-
nissen auf der anderen Seite der Grenze, in Ruanda.
Rund 120000 Gefangene werden hier unter Bedingun-
gen in Haft gehalten, unter denen mit Sicherheit mehr
von ihnen sterben werden, als man vor dem Internatio-
nalen Gerichtshof in Arusha aburteilen wird. Im Jahr
1999 starben in Gefängnissen in Ruanda 3000 Perso-
nen.3 Glücklicherweise wurde 2002 in Ruanda ein
System von Gacaca-Tribunalen eingerichtet, ein Sy-
stem, das mit Laien arbeitet und mehr dem Zweck von
Vermittlung und Wiedergutmachung zu dienen scheint.
Ich habe keine klaren Antworten auf die hier an-
gesprochenen Probleme. Was ich nicht verbergen kann,
sind sehr zwiespältige Gefühle, die an Skepsis grenzen,
was die internationalen Strafgerichtshöfe als Antwort
auf Greueltaten betrifft. Strafprozesse haben immer
Restriktionen für den Informationsfluß zur Folge und
sind deshalb nicht das beste Instrument, um zu klären,
was geschehen ist. Internationales Strafrecht ist zwang-
släufig immer das Recht der Sieger und ist deshalb für
die Versuche, Frieden zu schaffen, von zweifelhaftem
Nutzen. Es ist ein Instrument, um Teile dessen zu
beschreiben, was in der Vergangenheit geschehen ist.
Wir brauchen jedoch Systeme, die nach vorne blicken.
Wir brauchen Instrumente, die sowohl klären, was in
der Vergangenheit geschehen ist, als auch hilfreich für
die Zukunft sind. Systeme für Wahrheit und Versöh-
nung könnten eine mögliche Antwort sein.

WAHRHEITSFINDUNGSKOMMISSIONEN

Kommissionen zur Wahrheitsfindung sind ein systema-


tischer Versuch, das Schweigen zu brechen, verbunden
mit dem Vertrauen auf die Macht der Wahrheit. In
Südafrika spielte Erzbischof Tutu eine entscheidende
Rolle bei der Schaffung einer Bühne für die Aufdek-
kung der Wahrheit. Menschen, die durch physische und
geistige Qualen in unglaublicher Weise erniedrigt
worden waren, erhielten Gelegenheit, ihre Geschichten
zu erzählen. Sie konnten dies Auge in Auge mit ihren
Unterdrückern tun. Und, was das Wesentliche ist –
abgesehen von massiver Kritik, mit der die Kommis-
sionen ebenfalls bedacht wurden, die Opfer erhielten
Gelegenheit, sich auf das zu konzentrieren, was sie
gesehen und erfahren hatten, wobei sie nicht an Rache
und schon gar nicht an die Aufgabe denken mußten, zu
erreichen, daß jemand förmlich verurteilt wurde. Wenn
es sich um einen Strafgerichtshof gehandelt hätte, wäre
die Kommission gezwungen gewesen, den Informati-
onsfluß auf das zu begrenzen, was für rechtlich relevant
gehalten wurde. Und diejenigen, die ihre Geschichte
erzählten, wären bei der anderen Seite auf Zweifel
gestoßen und wären Kreuzverhören unterworfen wor-
den.
Manche dieser Aspekte waren auch entscheidend für
die Situation der Unterdrücker. Meistens war ihr Er-
scheinen vor der Wahrheitsfindungskommission die
Alternative zu einer Anklage vor einem Strafgerichts-
hof. Wenn sie redeten, taten sie es unter Druck. Und sie
hatten viel zu verteidigen, wie zum Beispiel ihre
Selbstachtung und ihre Ehre. Aber sie hatten sich bereit
erklärt, das Schweigen zu brechen, zu kooperieren und
zu enthüllen, was sie wußten. Und sie konnten in einem
Rahmen sprechen, der nicht durch rechtliche Zwänge
bestimmt war.
Sprachen sie die Wahrheit?
Sofern es darum ging, die Schuld an konkreten
Handlungen nach den Kriterien des Strafrechts festzu-
stellen, können wir das nicht mit Gewißheit sagen.
Vielleicht hätte man zutreffendere Informationen be-
kommen können. Strafgerichtshöfe sind eigens zu
diesem Zweck konzipiert. Aber wenn es darum ging,
die Gesamtheit der Ereignisse zur Sprache zu bringen,
insbesondere, sie so zur Sprache zu bringen, wie die
Parteien sie sahen, dann haben Wahrheitsfindung-
skommissionen ganz erhebliche Vorzüge. Sie sind eine
Bühne für Enthüllungen, für Klagen, für Gefühlsäuße-
rungen – und auch für das Abstreiten der Schuld. Wenn
es hauptsächlich darum geht, zu zeigen, was geschehen
ist, und nicht über das Zufügen von Schmerz zu ent-
scheiden, dann haben Wahrheitsfindungskommissionen
einen beträchtlichen Vorteil. 4
Für den Zweck, beim Zufügen von Schmerz Irrtü-
mer zu vermeiden, sind Strafrechtsinstitutionen – so-
fern sie richtig funktionieren, was manchmal nicht der
Fall ist – vermutlich das Beste, was erfunden werden
kann. Aber wenn es um eine gründlichere Aufdeckung
der Ereignisse geht, auf die die Möglichkeit folgen soll,
die Wunden zu heilen, dann sind Wahrheitsfindung-
skommissionen – sofern sie ordentlich funktionieren,
was manchmal nicht der Fall ist – vermutlich ein besse-
res Instrument als Strafgerichtshöfe. Eine Einschrän-
kung: Dies ist ein idealtypisches Bild. Mehrere Wahr-
heitsfindungskommissionen haben unter außerordent-
lich ungünstigen politischen und/oder wirtschaftlichen
Bedingungen gearbeitet. Dabei hatten sie mit den glei-
chen Problemen zu kämpfen, die sich auch Strafge-
richtshöfen in der gleichen Situation gestellt hätten.

VERSÖHNUNG

Die Wahrheit ist ein wichtiger Schritt. Aber um Frieden


zu schaffen, sind weitere Schritte nötig. Was am wich-
tigsten ist: Auch Versöhnung muß erreicht werden.
Dieser Prozeß besteht aus zwei Teilen. An erster
Stelle steht die Frage der Entschädigung der Opfer. Es
ist ja sehr schön, daß die Wahrheit an den Tag gebracht
worden ist. Wenn die oft reichen und mächtigen Täter
mit den häufig sehr armen Opfern zusammenkommen,
wird geklärt, was in der Vergangenheit geschehen ist.
Aber die Wahrheit und Entschuldigungen sind nicht
genug. Das grundlegende Problem der Ungleichheit
bleibt bestehen, auch wenn ein gemeinsames Verständ-
nis der Geschichte erreicht worden ist. Diese Probleme
müssen ebenfalls angesprochen werden, werden bei
dem Prozeß jedoch oft ignoriert. Wenn er die Wahrheit
gesagt hat, kehrt der wohlhabende Täter in seine kom-
fortable Villa zurück, während der ehemalige Häftling
in sein materielles Elend zurücksinkt.
Die zweite Frage hat mit Schlichtung zu tun, die
zum Frieden führen soll. Hier kann die Frage erhoben
werden, ob Frieden nach jahrelanger Unterdrückung,
nach Jahren des Tötens und des Vergewaltigens und
vielleicht sogar nach versuchtem Völkermord über-
haupt möglich ist. Natürlich kann kein vollständiger
Frieden erreicht werden. Ehemänner wurden getötet,
vergewaltigte Frauen bleiben mit ihren Narben zurück
und vielleicht sogar mit Kindern, die ihnen in voller
Absicht von ihren Feinden
aufgezwungen worden sind. Oder sie gehören, wie
das fahrende Volk in meinem Land, einer Gruppe an,
deren Mitglieder sterilisiert und deren Kinder von den
Behörden an unbekannte Orte gebracht wurden. Solche
Untaten können nicht ungeschehen gemacht werden.
Besonders kompliziert war in Europa während der
letzten Jahre die Situation im Kosovo, wo die Serben
außerordentlich schwerwiegende Handlungen begin-
gen, wo der Westen mit militärischen Mitteln eingriff
und wo auch von Seiten der Kosovo-Albaner sehr
beklagenswerte Handlungen begangen wurden. Vor der
Bombardierung befanden sich 1300 internationale
Beobachter im Kosovo. Sie wurden zurückgezogen,
damit die Bombardierung beginnen konnte. Die mei-
sten Beobachter scheinen der Meinung zu sein, daß
13000 internationale Beobachter im Kosovo in der
Lage gewesen wären, für Frieden zu sorgen und auf
diese Weise die Bombardierungen und die Flucht von
800000 Zivilisten vor ihren Verfolgern zu verhindern.
In letzter Zeit befanden sich 45000 ausländische Solda-
ten in der Provinz.
Es gibt zwei denkbare Lösungsmöglichkeiten für
den Kosovo-Konflikt. Die erste ist die übliche Lösung
mit Strafen: Töte die Mörder, sperre sie ein, oder füge
ihnen auf andere Weise Schaden zu. Oder man könnte
den Konfliktparteien helfen, zusammenzukommen,
eine Bühne zu schaffen, wo sie ihre Geschichten erzäh-
len und ihre Kümmernisse offenlegen können, und
dann langsam, vielleicht nach sehr vielen vergeblichen
Versuchen, zu einer Art von gemeinsamem Verständnis
dessen kommen können, was geschehen ist und was
getan werden könnte, um die Lage zu verbessern.
Der Gipfel der Naivität?
Nicht ganz. Ein starker Einfluß auf die moderne
Strafrechtspolitik kommt von den Traditionen der
Eingeborenen in Neuseeland und Australien und aus
der indianischen Kultur, besonders in Kanada, aber
auch in den USA. Es ist unübersehbar, wie stark über-
repräsentiert die eingeborenen Jugendlichen in den
Gefängnissen sind. Dadurch hat sich gezeigt, daß es
unvermeidlich ist, zu den alten Konfliktlösungsmetho-
den zurückzukehren. Diese alten Methoden basieren
auf Schlichtung. In relativ egalitären Gesellschaften,
die von der zentralen Autorität weit entfernt sind, ist es
ziemlich offensichtlich, daß Bestrafungen zum Bürger-
krieg führen können, ebenso wie Bestrafungen auf der
internationalen Bühne ohne eine zentrale Macht zum
Aufleben alter Konflikte und zum Krieg führen kön-
nen. In solchen Gesellschaften ist es von ausschlagge-
bender Bedeutung, die Situation zu bereinigen, zu
«restaurieren», um das Sozialsystem zu erhalten. Re-
staurieren ist ein altnordischer Ausdruck. Er bedeutet
wörtlich, die hölzernen Balken – staur –, die herunter-
gefallen sind, wieder aufzuheben, oder, was in diesem
Zusammenhang zutreffender ist, das Haus wieder
aufzubauen. Dies stellt eine Negierung der Ideale des
Strafrechts dar. Wenn von Tadel und Schande Ge-
brauch gemacht werden soll, muß es eine Art von
reintegrierender Schande sein. Wenn ein Täter eindeu-
tig überführt ist, ist die wichtigste Frage, wie er oder
sie den angerichteten Schaden materiell oder symbo-
lisch wiedergutmachen kann und nicht, wie man errei-
chen kann, daß die betreffende Person leidet. Restaura-
tive Konferenzen dieser Art sind in vieler Hinsicht eine
Weiterentwicklung der Wahrheitsfindungskommissio-
nen.
Auf dem Balkan unmöglich ?
Vor einigen Jahren wurde ich mit dieser Behaup-
tung in Tirana, der Hauptstadt von Albanien konfron-
tiert. Es war eine riesige Konferenz mit Hunderten von
Teilnehmern. Das Thema war, wie man die Blutrache
beenden könnte. «Unmöglich», sagten viele der Teil-
nehmer. «Wir sind stolz, und darum muß dem Gesetz
der Blutrache gehorcht werden.» Dann erhob sich ein
großer, weißhaariger Mann. Später erfuhr ich, daß er
General bei den Guerilla-Truppen gewesen war, die
gegen die italienische Besatzung gekämpft hatten, und
später in der Armee. Aber das war lange her. «Ich habe
unter Hoxa (dem ehemaligen Diktator Albaniens) so
viele Jahre im Gefängnis verbracht. Jetzt ist das vorbei.
Ich empfinde keinen Haß. So sind die Albaner nicht.
Sie sind nicht anders als andere Menschen», sagte er.
Damit war die Diskussion beendet. Das Schlichtungs-
projekt ist inzwischen in Albanien fest etabliert.
Aber eine Versöhnung ist zumindest dann nicht
möglich, wenn Bestien hinter den Greueltaten stehen!
Wie bereits erwähnt, habe ich fast mein ganzes Le-
ben lang mit Verbrechen und Bestrafung gearbeitet,
aber ich bin niemals einem Ungeheuer begegnet. Unter
den Mördern in den Konzentrationslagern konnte ich
keines finden, und auch danach habe ich keines getrof-
fen. Es gibt Menschen, gegen die ich eine Abneigung
habe, aber es gibt niemanden, der vollkommen uner-
reichbar wäre, an den man nicht wenigstens während
einiger wichtiger Augenblicke herankäme. Ich gehe
davon aus, daß wir alle als Menschen einige Erfahrun-
gen miteinander gemein haben. Wir alle wurden in den
frühen Stadien unseres Lebens umsorgt, und die mei-
sten von uns haben auch später einige gemeinsame
Erfahrungen gemacht, seien sie nun positiv oder nega-
tiv. Dadurch entsteht ein Minimum an gemeinsamem
Boden, eine Plattform, auf der wir Spuren von Ähn-
lichkeiten mit anderen Menschen erkennen können.
Vielleicht zeigt es sich auch, daß wir diese Plattform
vergrößern können. Vielleicht begegnen wir einer
Person, die Sinti und Roma verachtet und systematisch
versucht, ihnen Schaden zuzufügen. Dennoch könnten
wir in Form der gemeinsamen Überzeugung daß man
sich um seine Verwandten kümmern muß, eine ge-
meinsame Plattform finden. Allmählich könnte es
vielleicht möglich sein, die Zigeuner als Leute zu
sehen, denen die Sorge für die Menschen, die ihnen
nahestehen, außerordentlich wichtig ist und die deshalb
in die Kategorie von Leuten gehören, denen kein Scha-
den zugefügt werden darf.
Aber selbst dann, wenn echte Kommunikation statt-
findet, selbst wenn wir in der Lage sind, uns gegensei-
tig als Mitmenschen zu betrachten, können wir
manchmal gezwungen sein, Gewalt anzuwenden. 5 Es
könnte dunkle Ecken in meiner Seele geben, die ich
selbst dann nicht kontrollieren kann, wenn ich mir der
Gefahr bewußt bin. Es könnte richtig sein, Gewalt
gegen mich anzuwenden, um inakzeptables Verhalten
zu verhindern. Es könnte Situationen geben, in denen
Einsperren die letzte Möglichkeit ist. So kann es auch
im Fall von politischen Konflikten sein. Ich kann man-
ches mit einer Person gemein haben, die hartnäckig
darauf besteht, für Ziele zu kämpfen, die ich für inak-
zeptabel halte. Ich könnte in eine Lage geraten, in der
mir keine andere Lösung mehr einfiele als Gegenge-
walt.
Welchen Sinn hat es dann, darauf zu bestehen, daß
wir mit allen Menschen etwas gemein haben und daß es
möglich und wichtig ist, in jedermann ein paar men-
schliche Züge zu finden?
Weil das ungeheuer wichtig ist für die Kontrolle
desjenigen, der die Kontrolle ausübt. Wenn man den
anderen Menschen als Bestie betrachtet, die ganz und
gar außerhalb der normalen Menschheit steht, ist es
möglich, die grundlegende Regel zu ignorieren, daß
andere Menschen als Mitmenschen geachtet werden
müssen. Die Vorstellung, daß es Monster gibt, ist für
jedermann gefährlich, aber ganz besonders für diejeni-
gen von uns, die die offizielle Aufgabe haben, das
Betragen anderer Menschen zu kontrollieren.
Aber wenn die Handlungen ganz und gar außerhalb
dessen stehen, was akzeptiert werden kann, wenn sie
unglaublich sind, wie zum Beispiel Völkermord?
Einige Nationen, einschließlich der meinen, basie-
ren auf Genozid. Wir Norweger haben nach besten
Kräften versucht, unsere eingeborene Bevölkerung, das
Volk der Sami und vor allem ihre Kultur auszurotten.
Ich habe Sami-Leute getroffen, die physisch bestraft
wurden, wenn sie in der Schule ihre eigene Sprache
sprachen. Aber im Jahr 1990 bekamen die überleben-
den Sami ihr eigenes Parlament. Es war eine Kompen-
sation für die ganz besonders häßliche Zerstörung eines
ihrer wichtigsten Lachsflüsse. Erst kürzlich hat meine
Universität, die Universität von Oslo, eine ganze
Sammlung von Schädeln an die Sami zurückgegeben.
Die Schädel waren für Studienzwecke von Anthropo-
logen gesammelt und nicht weit von einem Büro ent-
fernt ausgestellt worden, das ich eine Zeitlang benützt
habe. Damals habe ich nicht darüber nachgedacht.
Manche dieser Sami waren wegen Hexerei hingerichtet
worden, andere wegen Widerstands gegen die norwegi-
schen Behörden. Ich gebe zu, daß diese Sünden lange
zurückliegen und klein sind im Vergleich zu dem, was
der weiße Mann in Afrika und Amerika angerichtet hat.
Aber sie waren nicht klein für die Sami, die gegen
Menschen aufstanden, die sie vielleicht als norwegi-
sche Monster betrachteten.
Was ich hier klarzumachen versuche, ist die Tatsa-
che, daß Greueltaten eine weit verbreitete Erscheinung
in der menschlichen Geschichte sind, ein Teil unseres
Schicksals. Viele Nationen sind in solche Greuel ver-
wickelt gewesen, sei es als Opfer oder als Täter, in
vielen Fällen auch als beides. Es ist wichtig, Greuelta-
ten als Teil der Normalität in der Abnormalität zu
sehen. Wir müssen Wege finden, solche Greuel sowohl
zu verhindern als auch darauf zu reagieren und dabei
unseren gemeinsamen Wissensschatz einzusetzen, um
sozialer Konflikte Herr zu werden.
Aber wenn die Handlungen völlig außerhalb des
Normalen stehen? Wie die von Osama bin Laden ver-
anlaßten Taten in den Augen des Westens oder wie die
von Ariel Sharon befohlenen Handlungen in den Augen
der Palästinenser? Kann man sich so etwas im Rahmen
eines Versuchs vorstellen, Frieden zu stiften? Bin ich
gewillt, mit dem Teufel zu verhandeln, in der Hölle
oder mit Menschen, die in unserer Vorstellung zumin-
dest Brüder des Teufels sind?
Auch diese Frage muß ich bejahen.
Was am 11. September 2001 geschah, war im höch-
sten Grade abstoßend, weil es gegen nichtmilitärische
Opfer gerichtet war. Es ist schwer zu verstehen, aber es
ist nicht unmöglich, es zu verstehen. Greueltaten, aber
nicht von Ungeheuern durchgeführt. Weit vom Norma-
len entfernt, aber nicht so weit, daß ein Dialog voll-
kommen ausgeschlossen wäre. Um es kurz zu sagen:
ein Fall, in dem das Werkzeug der Sozialwissenschaf-
ten im allgemeinen und der Kriminologie und Friedens-
forschung im besonderen anwendbar sein könnte.
Wir müssen immer versuchen, Verhandlungen in
Gang zu setzen. Vor und vorzugsweise anstelle der
Anwendung von Gewalt und zu jedem späteren Zeit-
punkt muß versucht werden, die Voraussetzungen für
einen Dialog zu schaffen. Wir müssen mit den Men-
schen zusammenkommen, von denen wir annehmen,
daß sie etwas Entsetzliches getan haben. Wir müssen
versuchen, zu verstehen, warum sie es getan haben.
Wir müssen versuchen, alternative Möglichkeiten zu
finden, die Handlungen einzuordnen, und wir müssen
auch nach gemeinsamen Grundlagen suchen. Wie sonst
sollten wir Gewalt beenden, wenn wir zulassen, daß
gegnerische Parteien sich jeweils in ihrem eigenen,
einseitigen Verständnis der Situation vergraben? Was
das Verhindern von Gewalt betrifft, könnte man die
USA durch Gespräche vermutlich besser schützen als
durch Bomben.
Vielleicht würde bei solchen Gesprächen nichts he-
rauskommen. Aber es wäre ethisch richtig und vermut-
lich auch nützlich herauszufinden, wie die Parteien die
Dinge sehen, bevor zu den Waffen gegriffen werden
darf. Vielleicht wäre es am Ende ja möglich, daß die
Parteien ganz allmählich erkennen würden, daß die
andere Seite auch ihre triftigen Gründe hat.

VON DER WICHTIGKEIT, KEINE ANTWORTEN ZU

HABEN

Der wichtigste Schluß, den ich aus meinen Versuchen


gezogen habe, Antworten auf Greueltaten zu finden,
ist, daß es für einzelne Fälle keine einfachen Antworten
gibt und vermutlich auch für Greueltaten im allgemei-
nen nicht. Das klingt negativ, und das soll es auch.
Vorzugeben, daß man Antworten hätte, könnte kontra-
produktiv sein. Hinter der Behauptung, die richtigen
Antworten zu haben, stehen viele persönliche Interes-
sen. So vieles wird als Antwort auf Greuel in die Welt
gesetzt, das tatsächlich die Gefahr weiterer Greuel
vergrößert. Strafmaßnahmen können bestimmte Natio-
nen oder Kräfte innerhalb dieser Nationen stärken, aber
andere dafür schwächen. Sie können auch die Saat für
neue Greuel in sich tragen. Internationale Gerichtshöfe,
die stark von den Idealen gewöhnlicher Gerichte ab-
weichen, können eine tiefere Erfahrung der Kräfte
verhindern, die hinter den Massenmorden stehen. Der
Schluß, daß es keine guten Antworten auf Greueltaten
gibt, ist alles andere als heroisch. Er wird keine kraft-
vollen Maßnahmen initiieren und auch keine neuen
Verteidigungsmöglichkeiten gegen böse Kräfte schaf-
fen. Aber wenn wir zugeben, daß es keine guten Ant-
worten gibt, schaffen wir damit vielleicht die Grundla-
ge, auf der wir den Frieden aufbauen können. Wenn die
Suche nach guten Antworten vergeblich ist, sind wir
gezwungen, zu den normalen, zivilen Mitteln zur Konf-
liktlösung zurückzukehren, zu Gesprächen, Vermitt-
lung und Wiederaufbau – und zivilen und Strafge-
richtshöfen, wo dies eine Eskalation verhindern kann.
Wir müssen mit Kummer und Elend im Schatten
von Greueltaten leben. Aber gleichzeitig müssen wir
auch einige altmodische Methoden ausprobieren, die
Konflikte zu lösen, vielleicht sogar bevor die Schuldi-
gen so weit gekommen sind, darum zu bitten. Wir
wollen keinen Gedächtnisschwund. Aber nachdem alle
Informationen ans Tageslicht gebracht und in alle
Gedächtnisse und alle menschliche Geschichte eingra-
viert worden sind, kann es sein, daß wir am Ende keine
bessere Lösung finden als Vergebung und Wiederauf-
bau.
8 WANN IST ES GENUG?

Wenn wir das Verbrechen als unerschöpfliche natürli-


che Ressource betrachten, können wir einige Fragen
stellen, die nur selten ausdrücklich gestellt werden. Wir
können fragen: Wann ist es genug? Und im Anschluß
daran: Wann ist es zu wenig Verbrechen? Welche
Arten von Handlungen müssen in welchem Umfang in
Erscheinung treten, damit wir sie berechtigterweise als
Verbrechen bezeichnen können? Und danach können
wir fragen, welches ist das richtige Maß an Kontrolle
durch den Strafverfolgungsapparat – und schließlich,
welches ist die richtige Anzahl von offiziell stigmati-
sierten Sündern? Wie groß dürfen wir das Strafverfol-
gungssystem werden lassen, oder umgekehrt, wie klein
kann es werden, sofern wir es überhaupt brauchen? Ist
es möglich, eine obere und dann auch eine untere
Grenze des Maßes an Bestrafung festzulegen, das in
einem modernen Staat angewandt werden sollte? Und
zuletzt, für diejenigen von uns, die auf diesem Gebiet
arbeiten: Ist es möglich, einen Einfluß darauf auszuü-
ben, was geschieht?

STRAFVERFOLGUNGSSYSTEME ALS ZEICHEN

Strafverfolgungssysteme haben eine tiefe Bedeutung.


Sie vermitteln einen Einblick in die zentralen Eigen-
schaften der Staaten, die sie repräsentieren. Nichts
sagte mehr über das nationalsozialistische Deutschland,
über die UdSSR oder das maoistische China aus als ihr
Strafverfolgungsapparat – angefangen mit der Polizei-
praxis über die Gerichtshöfe bis hin zu den Gefängnis-
sen, Straflagern und Gulags. In konkreten Fällen kön-
nen wir Staaten ihrem Strafverfolgungssystem entspre-
chend bewerten. Anhand unserer Standards und Werte,
der Dinge, die uns gefallen oder auch nicht, können wir
sagen, daß mit dem betreffenden Staat etwas nicht
stimmt. Oder das, was wir sehen, gefällt uns, und wir
schätzen den betreffenden Staat entsprechend ein.
Eine solche Beurteilung kann sich auf vier wesentli-
che Faktoren stützen:
1. Die Arten von Verbrechen, gegen die in ei-
nem Staat vorgegangen wird. Manche Regime
bestrafen Handlungen, von denen die Bürger
anderer Staaten der Meinung sind, daß sie
nicht bestraft werden dürften (beispielsweise
politische oder religiöse Opposition).
2. Formen der Entscheidungsfindung, die ange-
wandt werden, wenn die Frage des Zufügens
von Schmerz erwogen wird. Staaten können
inakzeptable Methoden anwenden, wie das
Erzwingen von Geständnissen durch Folter
oder vergleichbare Maßnahmen. Oder sie ar-
beiten ohne Jury, ohne unabhängige Verteidi-
ger, hinter verschlossenen Türen oder mit
Richtern, die politisch voreingenommen oder
nicht frei sind, weil sie in eine bestimmte Ka-
tegorie gehören, wie Priester, Freimaurer oder
Offiziere der Streitkräfte.
3. Die Frage nach der Art von Personen, über
die der beabsichtigte Schmerz verhängt wird,
insbesondere die Frage, wie repräsentativ sie
für die Bevölkerung im allgemeinen bezüg-
lich Alter, Geschlecht, Rasse, Klasse und
dergleichen sind. Eine extrem ungleiche Ge-
fängnispopulation kann auf schwere Mängel
innerhalb des Systems hinweisen.
4. Die Frage nach dem Umfang und den Formen
der Bestrafung. Ein extrem hohes Strafmaß
und extrem schmerzhafte Formen der Bestra-
fung können auf gewisse bedauerliche Eigen-
heiten im Gebrauch des absichtlich zugefüg-
ten Schmerzes innerhalb des Systems hinwei-
sen.

Der letzte Punkt, und darin insbesondere die Frage


des Strafmaßes, wird im folgenden im Mittelpunkt
meiner Untersuchung stehen. 1
Meine Frage an dieser Stelle steht in engem Zu-
sammenhang mit dem Titel dieses Buches: Wieviel
Kriminalität braucht die Gesellschaft? Wir haben
gesehen, daß das, was als Verbrechen betrachtet wird,
durch die soziale Organisation bestimmt wird. Daraus
folgt die nächste Frage: Ist es möglich, irgendwelche
Kriterien dafür aufzustellen, wieviel Bestrafung in
einer Gesellschaft als angemessen betrachtet werden
kann? Und in diesem Zusammenhang: Ist es möglich
zu sagen, daß ein Staat bezüglich des Umfangs der
Bestrafung besser ist als ein anderer? Insbesondere: Ist
es möglich, zu sagen, daß ein Staat mit einem geringen
Maß an Bestrafungsformen besser ist als einer mit
einem hohen Maß?
Man kann intuitiv das Gefühl haben, daß wir dies
ohne weiteres tun könnten. Oder wir stoßen auf Fälle,
die so weit außerhalb der Normalität stehen, daß jede
Argumentation überflüssig erscheint. Hitlers Konzent-
rationslager, die dafür konzipiert waren, daß die Ge-
fangenen sich zu Tode arbeiteten oder direkt ausge-
löscht wurden, sind in gewisser Weise außerhalb des-
sen, worüber man diskutieren kann. Auch die Situation
in der Sowjetunion war noch lange nach dem Zweiten
Weltkrieg jenseits aller Standards, sowohl was die Zahl
der Gefangenen als auch was ihre Lebensbedingungen
anbelangte.
Aber wenn wir uns nun fragen, wie Anzahl und Le-
bensbedingungen von Gefangenen in der modernen
Zeit einzuschätzen sind, wann ist es dann genug? Und
wann ist es mehr als genug? Wo ist für moderne Ge-
sellschaften die Grenze? Wann hat die Gefängnispopu-
lation in einem Land ein Niveau erreicht, wo zumindest
unsere Intuition sagt, daß dies falsch, vollkommen
falsch, inakzeptabel ist? Und wann sind die Lebensbe-
dingungen menschenunwürdig? Wir haben ein paar
intuitive Antworten. Der Leser, der dieses Buch bis
hierher gelesen hat, wird hoffentlich wissen, wofür
mein Herz in diesen Dingen schlägt. Aber ist es mög-
lich, das, was unser Herz sagt, mit logischen Argumen-
ten zu verbinden?
Lassen Sie mich versuchen, dies anhand von drei
Aussagen zu tun, die mit WENN beginnen.

1. WENN wir an Freundlichkeit und Vergebung als


Werte glauben – dann sollten wir die Institution der
Strafgerichtsbarkeit möglichst klein halten.

Als Menschen haben die meisten von uns einige grund-


legende Ansichten darüber, was wir anderen Menschen
antun dürfen. Um es im Geist von Cooley (1902) aus-
zudrücken: Wenn man uns nicht mit einem Minimum
an Freundlichkeit und Fürsorge begegnet, können wir
niemals erwachsen werden, können uns niemals zu
Menschen entwickeln. Grundlegend sind Regeln wie
die folgenden:

Sei freundlich
Töte nicht
Foltere niemanden
Füge niemandem absichtlich Schaden zu
Vergebung steht als Wert über der Vergeltung

Dies sind Kernwerte. Ohne mich auf eine tiefere Erör-


terung des Naturrechts einzulassen, glaube ich sagen zu
können, daß diese Werte außerhalb jeder Diskussion
stehen – sie sind selbstverständlich. Und ebenso selbst-
verständlich ist es, daß Bestrafung einen Bruch mit
diesen Werten darstellt. Es hat den Anschein, als ob wir
oft vergessen würden, was Bestrafung eigentlich ist. Es
ist eine Handlung mit der Absicht, dafür zu sorgen, daß
andere Menschen leiden. Bestrafung ist das absichtli-
che und bewußte Zufügen von Schmerz. Bestrafung ist
eine Handlung, die in grundsätzlichem Widerspruch zu
den oben genannten, von uns hochgehaltenen Werten
steht. Auge um Auge war ein einschränkendes Gebot,
keine Forderung. Strafen werden überall verhängt und
überall akzeptiert, dennoch steht das Verhängen von
Strafen im Widerspruch zu anderen zentralen Werten.
Das Zufügen von Schmerz ist ein Kernelement der
Bestrafung, selbst in Ländern, in denen es weder Folter
noch die Todesstrafe gibt. Mit dem Einsperren nehmen
wir der bestraften Person nicht das ganze Leben. Aber
wir nehmen ihr Teile des Lebens. Mit einer lebensläng-
lichen Haftstrafe nehmen wir ihr das Leben fast ganz.
Oder wie Zygmunt Bauman (2000, S. 209) die Riesen-
gefängnisse mit ihrer totalen Isolation der Gefangenen
beurteilt:

Abgesehen davon, daß die Gefangenen immer


noch essen und defäkieren, könnte man ihre
Zellen für Särge halten.

Das Zufügen von Schmerz ist eine Aktivität, die in


grundlegendem Widerspruch zu anderen, hochgehalte-
nen Werten steht. Vom ethischen Standpunkt aus ist
daher eine Gesellschaft, in der nur in geringem Umfang
Schmerz zugefügt wird, einer Gesellschaft, die dies in
großem Umfang tut, vorzuziehen. Folter und Tod
wurden früher für selbstverständliche Formen der
Bestrafung angesehen. Heute werden sie in den meisten
Ländern, die unserer Kultur nahestehen, nicht mehr
akzeptiert. Die Nichtexistenz von Folter und Todesstra-
fe kann als Kronjuwel in absentia unseres Strafverfol-
gungssystems betrachtet werden. Ihre Nichtexistenz ist
unser Stolz. Aber Einsperren kommt dem Nehmen des
Lebens ebenfalls sehr nahe. Einsperren bedeutet, das
meine wegzunehmen, das gewöhnlich zum Leben
gehört. Das Verhängen von Haftstrafen wird jedoch
nicht in gleicher Weise bekämpft wie Folter und To-
desstrafe.
Für mich ist das Kleinhalten der Gefängnispopulati-
on in einem Staat ein ebenso heiliger Grundsatz wie die
Nichtexistenz von Folter und Todesstrafe. Die Un-
gleichheiten in unserem System treten dadurch weniger
deutlich hervor. Dem Leben wird in Übereinstimmung
mit unseren heiligsten Werten mehr Raum eingeräumt.
Wenn diese Werte bedroht sind, müssen wir die Bedin-
gungen ändern, die sie bedrohen, nicht die Werte
selbst.
Wenn wir also an Freundlichkeit und Vergebung als
Werte glauben, müssen wir die Institution der Strafver-
folgung mit ihrem absichtlichen und bewußten Zufügen
von Schmerz auf dem niedrigsten Niveau halten.

2. WENN wir an den Wert glauben, bürgerliche Ge-


sellschaften bürgerlich zu halten – dann müssen wir die
Institution der Strafverfolgung kleinhalten.

Natürlich ist es durchaus möglich, unerwünschtes


Verhalten in großem Umfang durch Polizeiaktionen
und anschließende Bestrafung zu kontrollieren. Ich
weiß dies, weil ich unter einer militärischen Besatzung
aufgewachsen bin. Eine norwegische Flagge auf dem
Kragen konnte eine Gefängnisstrafe bedeuten. Als die
Flagge als zu gefährlich betrachtet wurde, konnte ein
Papiersticker genügen – solche Dinge halten eine Be-
völkerung im Widerstand zusammen. Aber die Besat-
zer verstanden dies, die Sticker wurden verboten. Eini-
ge Leute, die solche Sticker trugen, wurden verhaftet,
und der Gebrauch dieses Symbols in der Öffentlichkeit
ging zurück. Oder in heutiger Zeit: Das Fahren ohne
Sicherheitsgurt ist gefährlich. Ein paar gut publizierte
hohe Geldstrafen verringern die Verbreitung dieser
gefährlichen Angewohnheit auf ein Minimum. Motor-
radfahrer müssen einen Helm tragen. Das
Nichtbefolgen dieser Vorschrift ist leicht zu kontrol-
lieren – keine schwere Bürde für den Strafverfolgungs-
apparat.
Bestrafung ist ein schweres Werkzeug. Staatsbür-
gern soll Schmerz zugefügt werden. Ein solcher Zweck
erfordert Macht. Innerhalb unserer Kultur bedeutet das,
daß strikte Formen der Kontrolle über den Gebrauch
der Macht und des beabsichtigten Schmerzes entwik-
kelt werden müssen. Während das bürgerliche Leben
aus einer Mischung aus formeller und informeller
Interaktion besteht, wird die Strafverfolgungsinstitution
von formellen Aspekten regiert – zum Schutz derer,
denen Schmerz zugefügt werden soll, aber auch zum
Schutz derer, die Schmerz zufügen.
Interaktion zwischen freien Bürgern ist der Prototyp
des bürgerlichen Lebens. Vieles davon kann am Bei-
spiel des Lebens in primären Beziehungen dargestellt
werden. Bürgerlichkeit bedeutet in diesem Fall, auf
persönlicher Ebene zusammenzukommen, als vollstän-
dige Personen, nicht in streng regulierten und begrenz-
ten Rollen. Auch primäre Kontrolle kann stark sein und
mißbräuchlich ausgeübt werden. Aber in relativ offe-
nen und bis zu einem gewissen Grad egalitären Bezie-
hungen ist die Kontrolle zumindest teilweise gegensei-
tig. Die Kontrolle ist ein integraler Bestandteil der
Beziehung. Dies kann ebenfalls zu Mißbrauch führen,
wodurch formelles Handeln unvermeidlich wird. Der
gewalttätige Partner ist ein wichtiges Beispiel. Das
Problem ist nur, daß die Intervention des Staates häufig
ebenfalls versagt und daß dadurch Alternativen zu
existieren aufhören, Alternativen wie Krisenzentren,
gemeinsame Aktionen von Frauen oder das Eingreifen
der Nachbarn. «An diesem Samstagabend hat sie wie-
der so schrecklich geschrien. Warum greift die Polizei
nicht ein?»

3. WENN wir an den Wert des Lebens in zusam-


menhängenden, einheitlichen Gesellschaften glauben –
dann müssen wir das Wachstum der Institution der
Strafverfolgung verlangsamen.

Ein starkes Wachstum der Strafverfolgungsinstitu-


tionen stellt eine ernste Bedrohung für die Ideale des
sozialen Zusammenhangs und der Assimilation dar.
Solange Menschen, die als von der Norm abweichend
oder in ihrem Verhalten verbrecherisch betrachtet
werden, nur in geringer Zahl und an weit voneinander
entfernten Orten vorkommen, kann ihre Verfolgung
und Bestrafung den Zusammenhang der Gesellschaft
im allgemeinen verbessern. Wenn die Gefängnispopu-
lation klein ist, kann man das Abweichen von der
Norm für eine Ausnahme halten. Es ist allgemein be-
kannt, daß die Normalität durch das Wissen, daß es
einige seltene abnorme Fälle gibt, gestärkt wird. Aber
im Fall einer großen Gefängnispopulation ist nicht
mehr von einem Abweichen von der Norm die Rede,
sondern von Krieg. Die zusammenhängende Gesell-
schaft, in der es ein paar nützliche Außenseiter gibt,
wird zu einer geteilten Gesellschaft, in der große Teile
als potentiell gefährlich für die gesellschaftliche Ord-
nung des Ganzen betrachtet werden. Gleichzeitig sind
die Gefängnisse für diejenigen, die bestraft werden,
nicht mehr Orte der Schande, sondern weitgehend
normale Teile des gesellschaftlichen Lebens.
Eine riesige Gefängnispopulation bedeutet auch, daß
eine große Zahl junger Männer aus den Innenstädten
abgezogen wird, insbesondere eine große Zahl von
Angehörigen der dort lebenden Minoritäten. Die Chan-
cen auf eine normale Entwicklung, auf Familiengrün-
dung, auf die Versorgung von Kindern, auf Ausbildung
und bezahlte Arbeit werden beschnitten. Junge Frauen,
die in den Innenstädten leben, vergleichen ihre Lebens-
situation oft mit Kriegsbedingungen. Es gibt so wenige
Männer, so wenig Möglichkeiten, irgendeine Art von
Familienleben zu führen. Und wenn man eine Familie
gegründet hat, ist die Gefahr sehr groß, daß sie wieder
auseinandergerissen wird, weil der Mann im Gefängnis
verschwindet. Manche mögen diese Wirkung vielleicht
begrüßen, sie sollten jedoch auch bedenken, daß da-
durch Bedingungen geschaffen werden, die weit von
dem entfernt sind, was man gewöhnlich in demokrati-
schen Gesellschaften vorfindet.
Die Alternative zu Kriegsbedingungen und Massen-
inhaftierungen besteht natürlich darin, diesem Bevölke-
rungsteil einen normalen Anteil an der normalen Ge-
sellschaft zuzugestehen – Ausbildung, Arbeit und
Beteiligung an Politik und Kultur. Die gegenwärtige
Anwendung von Masseninhaftierungen versperrt den
Weg zu einer solchen Entwicklung.
Halvdan Koht, ehemaliger norwegischer Außenmi-
nister und Geschichtsprofessor, hat dies einmal folgen-
dermaßen beschrieben:2

Die Entstehung unserer Nation ist ein langer Pro-


zeß gewesen, in dessen Verlauf Klassenpatrio-
tismus in Nationalpatriotismus transformiert wur-
de... jedesmal, wenn sich eine neue Klasse erhob
und ihre Rechte und ihren Anteil an der Macht in
der Gesellschaft forderte, schien es so, als würde
Haß entstehen und eine Saat ausgebracht wer-
den, die zur Zerstörung der Gesellschaft als Gan-
zes führen könnte. Schließlich, wenn die unteren
Klassen ihr Ziel erreicht hatten, war jedoch zu
erkennen, daß die Gesellschaft sich neue Dimen-
sionen eröffnet hatte und reicher geworden war
als zuvor.

DIE UNTERGRENZE

Es gibt triftige Gründe für die Versuche, der gegenwär-


tigen Expansion der Strafverfolgungsinstitution entge-
genzuwirken. In einer Situation, in der weltweit ständig
Druck in Richtung auf eine Expansion der Strafge-
richtsbarkeit und der Gefängnispopulation ausgeübt
wird, ist es klar, daß Opposition zu dieser Entwicklung
das Gebot der Stunde ist. Bekämpfen wir die Bedin-
gungen, die für inakzeptables Verhalten verantwortlich
sind, begrenzen wir die Größe des Strafverfolgungsap-
parats und tun wir insbesondere unser Möglichstes, um
das Ausmaß des Zufügens von Schmerz zu reduzieren.
Ein vertretbares Maß kann in dieser Situation nur ge-
funden werden, wenn wir uns in die Richtung bewegen,
die der gegenwärtigen entgegengesetzt ist.
Aber diese Ansicht muß nicht bis zur Absurdität ge-
trieben werden. Selbst in der besten Gesellschaft gibt es
Situationen, in denen allgemein akzeptierte Werte
bedroht sind. Es gibt Situationen, in denen diejenigen,
die diese Werte bedrohen, sich weigern, ihre Versuche
zu unterlassen, sich weigern, sich mit denjenigen,
denen sie Schaden zugefügt haben, zu einem Prozeß
der Versöhnung zusammenzusetzen, oder in denen
diejenigen, denen Schaden zugefügt worden ist, sich
weigern, sich mit den Schuldigen zusammenzusetzen.
Für solche Situationen und Menschen haben wir die
Institution der Strafgerichtsbarkeit als Schatz in der
Gesellschaft.
Eine totale Schrumpfung des Strafverfolgungssy-
stems bringt vor allem eine spezielle Gefahr mit sich:
Wenn ein stark empfundener Bedarf dafür besteht,
kann es sein, daß Strafmaßnahmen unter falschem
Vorzeichen vorgenommen werden. Es wird Macht
ausgeübt, aber ohne die vorstehend beschriebenen
Kontrollmaßnahmen, die sich im Strafrecht herausge-
bildet haben. Eine weitere Gefahr besteht darin, daß
das Zufügen von Schmerz unter dem Deckmantel der
Therapie versteckt werden könnte. Die UdSSR hatte
ihre Nervenheilanstalten für Dissidenten. Wie ich in
meinem Vorwort «Wurzeln» erwähnt habe, gab es in
Norwegen die sogenannte obligatorische Behandlung
von Alkoholproblemen. Es war eine Spezialmaßnahme
für Leute, die so arm waren, daß sie ihren Schnaps an
öffentlichen Plätzen konsumieren und ihr Elend für alle
sichtbar machen mußten. Die Behandlung fand in
einem besonders strengen Gefängnis statt, in dem sie
jahrelang festgehalten wurden. Einer der Experten
erklärte, daß es ein Fall von schwerer Ungerechtigkeit
gewesen wäre, sie strafweise dort festzuhalten. Aber
wenn es eine Therapie war, konnte kein Einspruch
dagegen erhoben werden. Ich fürchte, daß die heutzu-
tage so populären «Drogengerichte» – sie sollen angeb-
lich milder sein als normale Strafprozesse – die glei-
chen Gefahren mit sich bringen könnten wie unsere
alten Spezialmaßnahmen gegen Obdachlose und Vaga-
bunden.
Es gibt also eine Untergrenze für die Reduzierung
der Institution des Strafrechts. Aber eine Warnung vor
einer Unterschreitung dieser Grenze wäre das gleiche
wie der alte Witz mit der Warnung vor einer Über-
schwemmung in der Sahara. Wir müssen unsere Auf-
merksamkeit dem Gegenteil zuwenden, der Gefahr
einer Gesellschaft, die abnorm viele und hohe Strafen
verhängt.

IST EINE NIEDERLAGE UNVERMEIDLICH?

Eine wesentliche Frage für uns in den nordischen Län-


dern und auch in Westeuropa und Kanada ist die, ob
die in den USA beobachteten Entwicklungen unver-
meidlich sind. Sind sie eine Folge ihres Wirtschaftssy-
stems? Und werden die Wohlfahrtsstaaten sich allmäh-
lich mit Konsequenzen konfrontiert sehen, die dem
amerikanischen Modell ähneln, mit Konsequenzen, die
zu wachsenden Klassenunterschieden und einer wach-
senden Unsicherheit unter der Bevölkerung im allge-
meinen führen? Wir beobachten, wie die Kriminalpoli-
tik einer Anzahl von Industrienationen zur wichtigsten
Bühne für die Selbstdarstellung von Politikern wird.
Angesichts einer mangelnden Kontrolle der internatio-
nalen Wirtschaft wird die Notwendigkeit, die Konse-
quenzen einer Deregulierung der Wirtschaft unter
Kontrolle zu behalten, außerordentlich wichtig. Unsi-
cherheit, ständige Veränderungen und die Verschlech-
terung der Lebensumstände der verletzlichsten Teile
der Bevölkerung charakterisieren einen deregulierten
Arbeitsmarkt. Die Unsicherheiten werden durch politi-
sche Versprechungen bezüglich strenger Maßnahmen
gegen die Delinquenten gedämpft, wobei das Wort
Delinquent allmählich zu einem Euphemismus für die
unterste Volksschicht geworden ist und womöglich zu
einem Euphemismus für gefährliche Klassen oder in
manchen Ländern für Menschen mit der falschen Haut-
farbe werden kann. Angesichts solcher Veränderungen
ist die Situation reif für kriegsähnliche Zustände. «Ihr
habt uns geholfen, den Krieg gegen unsere äußeren
Feinde zu gewinnen», rief eine frühere Justizministerin
der Vereinigten Staaten einer Gruppe von Militärexper-
ten zu. Und sie fuhr fort: «Jetzt müßt ihr uns helfen,
den Krieg gegen das Verbrechen zu Hause zu gewin-
nen.» Das Ergebnis dieses Krieges ist eine Gefängnis-
population von mehr als zwei Millionen Menschen.
Werden diejenigen von uns, mit denen es noch nicht
so weit gekommen ist, in der Lage sein, einer ähnlichen
Entwicklung zu widerstehen? Ich bin alles andere als
überzeugt, daß wir Erfolg haben werden. Aber die
Angelegenheit ist so wichtig, daß es angebracht ist, ein
paar altmodische Redewendungen zu gebrauchen: Wir
haben die moralische Verpflichtung, unser Äußerstes
zu tun, um eine derartige Entwicklung zu verhindern.
Als Forscher auf diesem Gebiet sind wir in höchster
Gefahr, zu willigen Vollstreckern dieser Entwicklung
zu werden, wenn wir den Mund halten. Insbesondere
die Kriminologen sind so eng mit der Bestrafung ver-
bunden, daß wir eine ganz besondere Verantwortung
als Warner haben.
In gewisser Weise befinden wir uns in einer paralle-
len Situation zu unseren Kollegen in den Naturwissen-
schaften. Sie beobachten die zerstörerischen lokalen
und weltweiten Folgen der industriellen Entwicklung
und unserer Art, das Leben zu organisieren: Immer
mehr Fabriken, vermehrter Ölkonsum, mehr Autos,
mehr Flugzeuge, mehr vergiftete Luft, mehr vergiftetes
Wasser, eine schleichende globale Erwärmung. Da-
durch muß notwendigerweise schwerer Schaden ent-
stehen. Viele von ihnen warnen laut vor diesen Bedro-
hungen.
Wir befinden uns in genau der gleichen Situation!
Wir beobachten den schleichenden Schaden, der unse-
ren Sozialsystemen angetan wird. Und wir müssen auf
die gleiche Weise handeln, wie verantwortungsbewußte
Naturwissenschaftler es tun. Wie Patricia Rawlings es
kürzlich in einem Gespräch über diese Parallelen for-
muliert hat: Die Kriminologen müssen zur Greenpeace-
Organisation der Sozialsysteme werden!
In dieser Situation müssen wir vom Verbrechen als
gesellschaftliche Konstruktion reden. Wir müssen uns
mit dem Phänomen des unerwünschten Verhaltens
beschäftigen, die vielen Möglichkeiten, es zu betrach-
ten, und die Folgen der unterschiedlichen Auffassungen
beschreiben. Wir müssen die allgemeinen Kräfte auf-
decken, die sowohl zu unerwünschtem Verhalten als
auch zur Einstufung dieser Handlungen führen. Und
wir müssen unsere soziologische Vorstellungskraft
mobilisieren und versuchen, Ratschläge zu alternativen
Möglichkeiten zu erteilen.
In den vorangegangenen Kapiteln wurde bereits viel
hierzu gesagt. An dieser Stelle darum nur noch ein
allgemeiner Punkt: Wir sollten nicht immer mit Verge-
hen und Delinquenten beginnen und dann fragen, was
geschehen muß. Wir sollen die ganze Sache umgekehrt
betrachten. Wir sollten mit dem Sanktionssystem be-
ginnen und dabei grundlegende Werte zum Ausgangs-
punkt nehmen. Wir sollten fragen: Welche Art von
Schmerz und welche Art der Zufügung von Schmerz
erscheint uns für unsere Gesellschaft akzeptabel? Wie
groß können wir den Strafverfolgungssektor unserer
Gesellschaft werden lassen, ohne Werte wie Freund-
lichkeit, den zivilen Charakter und den Zusammenhang
unserer Gesellschaft zu gefährden? Und wenn diese
Grenzen festgelegt sind und wir beobachten, daß sie
bedroht sind oder überschritten werden, müssen wir
Ratschläge geben, was geschehen sollte. Das Niveau
der Bestrafung muß zur unabhängigen Variablen erho-
ben werden. Die Bedingungen, die zu unerwünschtem
Verhalten und anschließenden Forderungen nach Be-
strafung führen, müssen zu abhängigen Variablen
werden, die geändert werden können. Wir können nicht
konkret und genau sagen, wann es genug ist, aber wir
können sagen, daß Bestrafung eine Aktivität ist, die auf
der Werteskala einen niedrigen Stellenwert hat. Bestra-
fung sollte deshalb die letzte und nicht die erste Alter-
native sein. Wir können und sollten sagen, daß Kosten
in Form von Straftaten in Planungsprozesse einbezogen
werden müssen. Wirtschaftliche Gewinne müssen in
Relation zu den strafrechtlichen Kosten gesehen wer-
den.

REINTEGRATIVE BESCHÄMUNG VON

NATIONALSTAATEN?

Aber spielt es überhaupt eine Rolle, was wir sagen?


Sind wir, die wir von Berufs wegen auf dem Gebiet der
Abweichung von der Norm und der Kontrolle tätig
sind, in der Lage, die Entwicklung, die sich in diesen
Tagen und Jahren vor unseren Augen vollzieht, zu
beeinflussen? Nicht sehr stark, aber ich sollte ein paar
persönliche Erfahrungen und auch ein paar Hindernisse
beschreiben, die vor uns liegen. Ich werde von dem
Ausdruck ausgehen, um den sich so vieles dreht, was
John Braithwaite? schreibt: Reintegrative Beschämung.
Dieses Konzept gehört zu den wesentlichsten Aktivitä-
ten der Kontrolle abweichenden Verhaltens: Deine
Handlungen waren bedauerlich, schlecht, falsch. Wir
müssen dir das sagen. Schande über dich. Aber im
übrigen bist du in Ordnung. Hör auf, falsch zu handeln,
komm nach Hause, und wir werden das Lamm schlach-
ten, ein großes Festmahl verzehren und deine Heim-
kehr feiern!
Um eine Person zu reintegrieren, muß sowohl das
Negative wie auch das Positive offengelegt werden.
Gerade in dieser Hinsicht ist Bestrafung ein so untaug-
liches Werkzeug. Vom Standpunkt der Reintegration
aus gesehen, sollte ein Gefangener nach Verbüßung
seiner Strafe immer mit einem Orchester vor dem
Gefängnis begrüßt werden. Danach sollte das große
Integrationsfest folgen. Das wäre echte Reintegration.
Und nun zur Schande auf Staatsebene:
Länder zu beobachten ist wie das Lesen von Bü-
chern. Als Kriminologe bin ich auch Kulturarbeiter. In
ihrer Eigenschaft als Kulturarbeiter könnten Krimino-
logen als Buchkritiker fungieren. Wir müssen beschrei-
ben, was wir beobachten oder lesen, und es dann nach
klar umrissenen Standards beurteilen. Und wir müssen
versuchen, über unsere Beobachtungen zu informieren.
In vielen Fällen ist es nicht nötig, mehr zu tun.
Wichtige Entscheidungsträger werden sich mit den
Augen des Beobachters sehen und Änderungen ihrer
Strafrechtspolitik veranlassen.
Genau das ist damals im Jahr 1960 in Finnland ge-
schehen. Ich hatte eine Studie ausgearbeitet, in der die
Gefãngniszahlen in Dänemark, Finnland, Norwegen
und Schweden miteinander verglichen wurden, und
hielt eine Vorlesung über die Ergebnisse vor der Juri-
stischen Fakultät in Helsinki. Eines der wichtigsten
Ergebnisse war, daß Finnland im Vergleich zu den
Zahlen der anderen nordischen Länder vollkommen aus
der Reihe tanzte. Dies erinnerte uns daran, daß das
Land einmal eine russische Provinz gewesen war und
in mancher Hinsicht immer noch Ähnlichkeit mit Ruß-
land hatte. Ich hatte nicht die Absicht, mit meiner
Vorlesung irgend etwas zu ändern, ich wollte die Situa-
tion nur erklären. Damals war ich noch jung und be-
scheiden. Aber die Zahlen lösten bei den Zuhörern
einen Schock aus und wurden zum Anlaß für mehrere
Veränderungen in ihrem System. Finnland wollte
kulturell ein Teil Skandinaviens und nicht Rußlands
sein. Das war besonders in der stalinistischen Zeit
unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg wichtig.
Heute ist Rußland ein Land, das, auch im Hinblick
auf die Anzahl seiner Gefängnisinsassen, weit von
Europa entfernt ist. Aber wichtige Teile der russischen
Intelligentsia wollen, daß ihr Land Teil Westeuropas
sein soll. Besucher werden eingeladen, sich ein Bild zu
machen und ihre Beobachtungen zu äußern. Penal
Reform International4 ist einer der aktivsten Teilneh-
mer an diesem Prozeß. Ich selbst bin nur ein sehr klei-
nes Rädchen in all dem.
Als Besucher in Rußland habe ich ein wenig das
gleiche Gefühl, das ich hatte, wenn ich Finnland in
vergangenen Tagen besuchte – das Gefühl, einer Kultur
zu begegnen, deren Vertretern es peinlich ist, die Er-
fahrung zu machen, daß sie selbst zu weit von den
allgemeinen europäischen Standards entfernt sind. Dies
ist auch der Fall, wenn es um die Frage der relativen
Größe der Gefängnispopulation geht. Die Russen, von
der Führungsspitze bis zu den unteren Rängen, spre-
chen nur mit beträchtlicher Verlegenheit von der Ge-
samtgröße ihrer Gefängnispopulation und den Zustän-
den in ihren Untersuchungsgefängnissen. Wenn ich an
Universitäten und Hochschulen in Rußland Vorträge
halte, ist mein Thema stets die dringende Notwendig-
keit, die Anzahl der Häftlinge zu reduzieren. Ich sage
immer wieder, daß es sinnlos ist, von psychologischer
Behandlung oder Erziehung in einem System zu reden,
das so hoffungslos überfüllt ist wie das russische. Die
Polizei muß dafür belohnt werden, den Fall aufzuklä-
ren, und nicht dafür, den Schuldigen in eine Gefängnis-
zelle zu bringen. Wenn Rußland ein normaler Teil von
Europa sein will, muß dies auch für die Anzahl der
Strafgefangenen gelten.
Estland, Lettland und Litauen sind in der gleichen
Situation. Sie möchten sich Skandinavien annähern.
Wir sind nur durch ein bißchen Wasser voneinander
getrennt, und vieles in unserer Kultur ist ähnlich. Aber
der Glaube an eine Ähnlichkeit ist eine Illusion, wenn
sie einen Strafverfolgungsapparat aufrechterhalten, der
in eine andere Zeit und eine andere Kultur gehört.
Kann die allgemeine Kultur eines Landes davon unbee-
influßt bleiben? Man sollte auch erwarten, daß Länder
mit einer so riesigen Zahl von Häftlingen perfekte
Bedingungen für die Entstehung antisozialer Subkultu-
ren bieten. Menschen, die in solchen Subkulturen
heranwachsen, werden nicht die willkommensten Bot-
schafter ihres Landes sein, wenn sie Skandinavien
bereisen, dem sie angeblich so nahe stehen.
Die Verlegenheit vieler Beamter und Funktionäre in
diesen Ländern hat jedoch auch eine andere Seite:
Heute berichten manche von ihnen mit beträchtlichem
Stolz von einer Reduzierung ihrer Gefängnispopulati-
on, insbesondere in den Untersuchungsgefängnissen.
Diese Entwicklung ist ein Zeichen dafür, daß Rußland
sich an Europa annähert. Diese Reduzierung stellt
zugleich eine Illustration einer der wichtigsten Aussa-
gen dieses Buches dar: Die Anzahl der Strafgefangenen
hängt nicht vom Verbrechen ab, sondern von der all-
gemeinen Kultur. Und noch von einer weiteren Verän-
derung berichten viele mit Stolz: Rußland hat inzwi-
schen die Todesstrafe abgeschafft. Dies war notwendig,
um in den Europarat aufgenommen zu werden.
Aber diese Reduzierungen sind alles andere als sta-
bil. Von zwei Kriegen geht eine Bedrohung aus. Der
erste ist der Krieg in Tschetschenien und die Gewalt,
die direkt und indirekt damit verbunden ist. Die zweite
Bedrohung ist der Krieg gegen die Drogen. Strafrechts-
reformer sind nicht die einzigen Besucher in Rußland.
Die Drogenexperten sind auch da. Ich habe deprimie-
rende Stunden in der Duma zugebracht, in denen ich
einem einflußreichen Parlamentarier zuhörte, der über
die Wichtigkeit des Schutzes russischer Jugendlicher
vor Drogen sprach. Der Drogenkonsum wird sich zu
einer Epidemie entwickeln, sagte er. Ein Drogenkon-
sument steckt mit seiner Sucht zehn Neulinge an, und
so wird es weitergehen. Strenge Strafen sind eine Not-
wendigkeit, um diese seuchenartige Ausbreitung auf-
zuhalten. Ich hatte all das schon einmal gehört. Der
Osten ist gefährlich nahe daran, den verlorenen Krieg
gegen die Drogen im Westen mit vorhersehbaren Er-
gebnissen zu wiederholen.
Die Situation südlich der russischen Grenzen läßt
wenig Hoffnung auf eine Reduzierung der dortigen
Gefängnispopulation zu. Weißrußland ändert sich
nicht. Es ist ganz einfach ein totalitärer Staat. Dort will
man kein Teil Westeuropas sein. Man will so sein, wie
Rußland war, und gleichzeitig Einfluß auf Rußland
ausüben, wieder zu werden, was es einmal war. Ich
glaube, das erklärt die wachsende Zahl von Häftlingen
und auch den Ärger, den die in Kapitel 4 beschriebene
Richterin auslöste, als sie nicht mehr mitmachen woll-
te. Und natürlich wurde dort auch die Todesstrafe nicht
abgeschafft. Ich wurde in den Keller eines der größeren
Gefängnisse geführt. Hier warteten zwei Gefangene in
einer engen Zelle auf ihre Hinrichtung. Ich konnte das
Angebot ablehnen, sie durch ein Guckloch zu besichti-
gen, und wandte meine Aufmerksamkeit statt dessen
den zähnefletschenden Hunden am Ende des Korridors
zu. Nur wenige Monate zuvor hatten zwei andere Ge-
fangene, die auf ihre Hinrichtung warteten, in der
gleichen Zelle Selbstmord begangen. Sie hatten sich
gemeinsam am gleichen Seil erhängt.
Dennoch ist die Situation in Rußland, dem größten
Kerkermeister Europas, nicht hoffnungslos. Der An-
stieg der Häftlingszahlen wurde gebremst, und eine
leichte Reduzierung ist zu beobachten. Die Bereit-
schaft, über die Probleme zu reden, ist vorhanden, und
diese Atmosphäre macht eine offene Diskussion über
das Thema möglich.
Nur wenige Wochen bevor das Manuskript für die-
ses Buch an den Verlag ging, verbrachte ich einige
Tage in Kuba und hielt dort Vorträge. Gewöhnlich
lerne ich ein Land durch sein Strafverfolgungssystem
kennen, aber in diesem Fall war das nicht so einfach.
Ich erhielt keinen Zugang zu den kubanischen Gefäng-
nissen, und die Zahl der dortigen Gefangenen ist ein
Staatsgeheimnis, so wie es früher auch in der Sowjetu-
nion war. Aber natürlich war es nicht unmöglich, die
Zahlen für die UdSSR zu schätzen. Ich habe die Grund-
lagen für meine Schätzungen in meinem Buch Krimi-
nalitätskontrolle als Industrie (Christie 1995b) be-
schrieben. Was jedoch Kuba betrifft, so ist mein Wis-
sen betrüblich lückenhaft. Ich habe nur grobe Schät-
zungen zu bieten. So werden in Kuba zum Beispiel
gegen Prostituierte Maßnahmen ergriffen, die nicht als
Bestrafung bezeichnet werden. Ich habe keine Ahnung,
wie viele davon betroffen sind und unter welchen
Umständen sie leben.
Aber ich bin mir sehr sicher, daß Kuba zu der Kate-
gorie von Ländern gehört, in denen die Häftlingszahlen
sehr hoch sind. Meiner Schätzung nach gibt es dort zur
Zeit, im Jahr 2003, zwischen 50000 und 60000 Gefan-
gene. Vermutlich kommt die zweite Zahl der Wirklich-
keit näher als die erste. Das bedeutet, daß die Anzahl
der Gefangenen pro 100 000 Einwohner zwischen 454
und 545 liegt. Für karibische Verhältnisse sind diese
Zahlen sehr hoch. Die Zahlen weisen auch auf ein
starkes Anwachsen seit 1997 hin, als Kuba, meiner
Schätzung nach, weniger als 300 Gefangene auf
100000 Einwohner hatte. Im Jahr 1987 war die Ge-
fängnispopulation sogar noch kleiner. Vermutlich hat
sich die Zahl der Häftlinge seitdem verdreifacht. In
diesem Frühling hat Kuba auch drei Gefangene hinge-
richtet. Viele Jahre lang bestand eine stillschweigende
Übereinkunft, Todesurteile nicht zu vollstrecken.
Was steht hinter dieser Entwicklung?
Kuba ist ein Land, das einem immensen Druck von
seinem nördlichen Nachbarn ausgesetzt ist. Sein erklär-
ter Sozialismus, verbunden mit seinem eigensinnigen
Nationalismus führt zu strengen Sanktionen von seiten
der USA. Hinzu kommt, daß die kubanische Wirtschaft
durch die Auflösung der UdSSR beträchtlich geschä-
digt wurde. Um zurechtzukommen, hat Kuba seine
Wirtschaft bis zu einem gewissen Grad liberalisiert.
US-Dollars sind nun eine zugelassene Währung in dem
Land. Manche erhalten Geld von Verwandten, die im
Ausland leben. Für kubanische Verhältnisse werden sie
dadurch relativ wohlhabend. Auch das Geld, das durch
den Tourismus ins Land kommt, ist schwer zu kontrol-
lieren. All dies macht es unmöglich, die Entwicklung
eines blühenden Schwarzmarktes und das Anwachsen
der Unterschiede innerhalb der Bevölkerung zu verhin-
dern. Haddad (2003) bringt eine detaillierte Beschrei-
bung der ganzen Situation. Das Leben ist schwierig,
und die Schwierigkeiten werden um so härter empfun-
den, weil nicht alle darunter zu leiden haben. Vergli-
chen mit den Staaten, die ihm am nächsten liegen, hat
Kuba ein hochentwickeltes Wohlfahrtssystem für den
verletzlichsten Teil der Bevölkerung. Keine Analpha-
beten, keine Kinder, die auf der Straße schlafen. Und es
gibt dort ein so gut entwickeltes Krankenhaussystem,
daß selbst die konservativsten norwegischen Parlamen-
tarier von Reisen dorthin nach Hause kommen und
erzählen, daß wir viel von Kuba zu lernen haben. Den-
noch fordern externer Druck und interne Unterschiede
ihre Opfer. Ein verletzlicher Staat beißt, und eine frust-
rierte Bevölkerung toleriert diese Bisse.
Hinzu kommt die Härte, die durch Geheimhaltung
entsteht. In gewisser Hinsicht ist die Situation mit den
Zuständen in Finnland nach dem Zweiten Weltkrieg
vergleichbar. Die Finnen waren sich nicht bewußt, wie
weit die Größe ihrer Gefängnispopulation von den in
Skandinavien üblichen Standards abwich, aber als sie
es wußten, änderten sie die Situation. Wenn die Zahl
der Häftlinge ein Staatsgeheimnis ist, wie in Kuba, ist
es nicht leicht, eine Diskussion über das Thema in
Gang zu setzen. Die Geheimhaltung macht auch jede
Kritik an der inneren Funktion des Systems sehr
schwierig. Wie werden die Richter ausgewählt, wer
sind sie, und wie sieht ihr Schicksal aus, wenn sie von
der harten politischen Linie abweichen? Wer sind die
Staatsanwälte, und wie sind sie ausgebildet? Wie wer-
den die Gefängnisaufseher ausgewählt und ausgebildet
– und was für Werte haben sie?
Ein letzter Gesichtspunkt hat mit der kubanischen
Geschichte und Kulturtradition zu tun. Die Kubaner
haben das Gefühl, sich im Krieg zu befinden, und auch
die Geschichte des Landes war extrem blutig. In einer
sehr wichtigen Hinsicht hat Kuba außerdem die gleiche
historische Erfahrung gemacht, wie Rußland und die
USA: Kuba war ein Sklavenstaat. Erst 1868 wurde die
Sklaverei vollständig abgeschafft. Sechs Jahre zuvor
waren von 1, 4 Millionen Einwohnern noch fast eine
halbe Million schwarze Sklaven.
Wie soll man diese Probleme angehen? Ich habe es
mit der alten Methode probiert, das Ideal mit der Wirk-
lichkeit zu vergleichen.
In Kuba gibt es das Ideal, eine egalitäre Gesellschaft
zu schaffen. Die Ideale ähneln denen der skandinavi-
schen Wohlfahrtsstaaten. Traditionell gibt es enge
Kontakte zwischen den Gewerkschaften in Kuba und in
Skandinavien. Aber was wird aus diesen Idealen, wenn
sich der Staat eine ungewöhnlich große Gefängnispo-
pulation zulegt?
Ich wurde nicht eingeladen, auch nur ein einziges
kubanisches Gefängnis zu besuchen. Aber anhand von
Beobachtungen, die ich in großen Gefängnissen in
Ländern gemacht habe, die eine gewisse Ähnlichkeit
mit Kuba haben, konnte ich zumindest meine Schlüsse
ziehen, wie solche Gefängnisse sich gewöhnlich ent-
wickeln. In einem so schnell wachsenden System und
bei so vielen Gefangenen müssen die Gefängnisse groß
und überfüllt sein. Es wird relativ wenige Aufseher
geben. Das bedeutet, daß die Gefangenen selbst das
innere Leben der Gefängnisse beherrschen. Das muß
zur Entwicklung eines hierarchischen Systems unter
den Insassen führen. An der Spitze wird ein König
stehen, der von seinem Hofstaat umgeben ist. Eine
Gruppe von Schurken wird zu seinen Diensten stehen
und die Häftlinge kontrollieren, die einen niedrigeren
Rang einnehmen. Dann wird es eine große Zahl von
Gefangenen mit eher normalem Rang geben, und zu
unterst stehen die Unberührbaren, die die niedrigen
Arbeiten verrichten und für die bessergestellten Gefan-
genen als Prostituierte fungieren müssen. Innerhalb
solcher Systeme entsteht ein Kastensystem, das in
krassem Gegensatz zu dem steht, was Kuba für die
Gesellschaft als Ganzes schaffen möchte. Ich habe
niemals gefragt, ob diese Beschreibung für Kuba zu-
trifft, aber ich habe auch nichts Gegenteiliges gehört.
Damit sind wir wieder zu der Frage nach einer an-
gemessenen Zahl von Häftlingen zurückgekehrt. In
einem Land mit einer so großen Gefängnispopulation
entsteht eine Anti-Gesellschaft. Der Staat schafft eine
Gesellschaft, die in krassem Widerspruch zu seinen
eigenen vorherrschenden Idealen steht. In der Absicht,
einen egalitären Wohlfahrtsstaat zu erhalten, schafft er
Systeme, die eine Negierung dieses Wohlfahrtsstaates
sind. Er schafft Systeme, deren Teilnehmer effektiv für
ein Leben geschult werden, das in direktem Gegensatz
zu den Idealen steht, die die kubanische Regierung
anstrebt. Das kann auf die Dauer nichts nützen.
Es wird sich zu einer Gefahr für die fundamentalen
Werte der Gesellschaft entwickeln.
Was ich hier beschrieben habe, ist eines der Kern-
elemente meiner Versuche, einige Staaten so weit zu
beschämen, daß sie ihre Strafverfolgungspolitik; än-
dern. Außerdem spreche ich noch über ein anderes
Thema, wenn ich in Kuba und anderen Ländern Vor-
träge halte, die mit ihrer extrem großen Gefängnispo-
pulation von der Norm abweichen, und zwar über
alternative Formen der Konfliktlösung.
In vielen Fällen sind riesige Häftlingszahlen eine
neuere Entwicklung. In vielen Ländern hat es früher
andere Lösungen gegeben, auf die vorwiegend zurück-
gegriffen wurde – manche davon waren ziemlich dra-
konisch, andere aber auch durchaus friedlich. Dies ist
der Ansatz für Hinweise auf alternative Konfliktlö-
sungsmöglichkeiten: Restaurative Justiz und vieles von
dem, was in den Kapiteln 6 und 7 dieses Buches be-
schrieben wurde. Das ist kein imperialistisches Manö-
ver, mit dem den betreffenden Staaten fremde Maß-
nahmen aufgezwungen werden sollen. Es ist ein Ver-
such, die Staaten auf ihre eigenen Wurzeln hinzuwei-
sen, zu dokumentieren, daß eine große Gefängnispopu-
lation kein Schicksal ist. Es gibt Alternativen.
Aber ich komme aus Norwegen, einem kleinen
Land, in dem beträchtliche Meinungsfreiheit herrscht,
in dem es mehrere politische Parteien gibt, in dem ich
mich jeder beliebigen Gruppierung anschließen kann,
in dem es keine Beschränkungen der Reisefreiheit gibt
– jedenfalls nicht, wenn man Norweger ist. Bin ich
angesichts dieses Hintergrundes nicht verpflichtet,
Kuba wegen seiner Beschränkung eben dieser Freihei-
ten zu kritisieren? Wäre es nicht richtig, das Land in
erster Linie wegen des Einsperrens politischer Gegner
anzuprangern?
Ich ziehe es vor, am anderen Ende, mit normalen
Strafgefangenen zu beginnen. Die Einsperrung politi-
scher Gegner ist Teil einer politischen Kultur. Diese
politische Kultur steht in einer Wechselbeziehung zur
Strafrechtskultur. Staaten mit großen Gefängnispopula-
tionen neigen gewöhnlich dazu, von dieser Maßnahme
Gebrauch zu machen. In solchen Staaten sind die Bar-
rieren gegen das Einsperren politischer Gegner weniger
hoch. Ebenso ist die Barriere gegen die Verhängung
der Todesstrafe
über politische Gegner weniger hoch in Ländern, in
denen ein extensiver Gebrauch von der Todesstrafe
gegen Angeklagte gemacht wird, die als «normale
Verbrecher» betrachtet werden.
Das gleiche gilt für die Folter. Einmal wurde ich zur
Eröffnung eines Zentrums gegen die Folter in Grie-
chenland eingeladen. Es war kurz nach dem Fall der
Militärjunta, die das Land nach einem Staatsstreich
regiert hatte. Am besten erinnere ich mich noch an die
Erklärung eines ehemaligen politischen Gefangenen: Er
wurde gefragt, ob er gefoltert worden sei. Nein, sagte
er feierlich. Aber wegen der Schreie der gefolterten
normalen Häftlinge sei es entsetzlich gewesen, in die-
sem Gefängnis festgehalten zu werden. Die Folter war
ein ganz normaler Bestandteil der Polizeimethoden.
Wie hätten sie sonst in Griechenland Verbrechen auf-
klären sollen? Später hörte ich, daß ein hochgestellter
Polizeibeamter mit seinem Rücktritt gedroht hatte,
wenn ihm die Anwendung dieses Werkzeugs für er-
folgreiche Polizeiarbeit verwehrt würde. Sie wurde ihm
verwehrt. Ich weiß nicht, ob er zurückgetreten ist.
Was ich damit sagen möchte, ist, daß die beste Me-
thode, die Anwendung von Gefängnisstrafen für politi-
sche Gegner zu reduzieren, darin besteht, die Verhän-
gung von Haftstrafen ganz allgemein zu reduzieren. In
allen Ländern, unabhängig von ihrem politischen Sy-
stem, sind die meisten Häftlinge arm und elend. Wenn
wir ihre Lebensbedingungen verbessern und sie vor
allem aus den Gefängnissen herausholen, verhindern
wir gleichzeitig die Anwendung von Haftstrafen für
politische Gegner. Verkleinerung der Gefängnispopula-
tionen, Verbesserung der Zustände in den Gefängnis-
sen, Abschaffung der Todesstrafe und der Folter, das
sind auf unserem Gebiet die besten Mittel, um sowohl
politische als auch ethnisch und gesellschaftlich be-
nachteiligte Minoritäten zu schützen. Ich respektiere
die Meinung vieler, daß ich mich laut und vernehmlich
gegen Einparteienstaaten mit ihren Verstößen gegen
die Menschenrechte im allgemeinen und norwegische
Standards im besonderen aussprechen sollte. Aber das
werde ich nicht tun. Das würde bedeuten, am falschen
Ende zu beginnen.
WELTMEISTER USA

Ich bin nicht glücklich über das, was nun folgt. Die
USA – ein Land, das uns kulturell, intellektuell und
emotional so nahesteht. Ich bin bei mehreren Gelegen-
heiten dort gewesen und wurde immer herzlich emp-
fangen. Ich liebe dieses Land in vieler Hinsicht. Früher
habe ich mir immer gedacht, daß ich, wenn ich nicht in
Oslo leben könnte, New York City zum Wohnort wäh-
len würde.
Verglichen mit der ehemaligen UdSSR und dem
heutigen Kuba sind die USA wie ein offenes Buch. Die
Gefängniszahlen sind leicht zugänglich und werden
klar dargestellt. Amerikanische Zeitungen meldeten es
mit dicken Schlagzeilen, als die Zahl der Häftlinge im
Jahr 2002 die Zwei-Millionen-Marke überschritten
hatte, und das gleiche geschah, als im Jahr 2003 weite-
re einhunderttausend hinzugekommen waren. Viel-
leicht spiegelt sich ein Teil des Problems in dieser
Offenheit wider?
Es hat den Anschein, daß die riesige Gefängnispo-
pulation für die Amerikaner kein Grund zur Scham ist.
Sie wird als unvermeidliche Antwort auf das Verbre-
chen betrachtet und allenfalls als Zeichen von Kraft
und Effektivität bewertet. Natürlich gibt es Opposition
gegen die vorherrschende Linie, aber diese Opposition
kann weder stark noch einflußreich genannt werden.
Für mich ist das Strafverfolgungssystem der Verei-
nigten Staaten ein System, das die fundamentalsten
Werte negiert, die sie für sich in Anspruch nehmen. Es
ist eine offene Gesellschaft. Niemand zensiert das, was
ich sage. Ich kann mich frei bewegen. Ich werde sogar
wieder eingeladen. Aber was in dem amerikanischen
Strafverfolgungssystem für zwei Millionen Menschen
und für die weiteren viereinhalb Millionen geschieht,
die auf Bewährung oder bedingt auf freiem Fuß sind,
hat längst ein Niveau überschritten, von dem noch
gesagt werden kann, daß es die Werte der USA wider-
spiegelt. Materiell gesehen sind die Vereinigten Staaten
das reichste Land der Welt. Dennoch sind sie ein Land,
das Gefängnisse an Stelle eines sozialen Netzes ver-
wendet. Sie sind ein Land, in dem ständig von Freiheit
geredet wird. Dennoch haben sie die größte Gefängnis-
population der Welt. Sie sind ein Land, das einen wü-
tenden Bürgerkrieg ausgefochten hat, dessen Ziel,
wenigstens zum Teil, die Abschaffung der Sklaverei
war.
Dennoch befindet sich ein abnormer Prozentsatz
von Schwarzen hinter Gefängnismauern. Die USA sind
ein Land, das sehr viel Wert auf das soziale Leben legt.
Dennoch lebt eine ungewöhnlich hohe Zahl ihrer Ge-
fängnisinsassen in einer so totalen Isolation, daß es
nichts Vergleichbares gibt (King 1999). Sie sind ein
Land, das betont, daß die Staatsgewalt begrenzt sein
muß. Dennoch beschäftigen sie eine enorme Zahl von
Beamten, deren Aufgabe es ist, die Staatsmacht so groß
wie möglich zu halten, und zwar sowohl auf staatlicher
als auch auf Bundesebene. Zusammenfassend ist zu
sagen, daß die USA ein Land sind, das mit Ausschlie-
ßung statt mit Integration arbeitet und außerdem auch
noch einen Teil der unerwünschtesten Personen hin-
richtet.
Die Strafverfolgungspolitik der Vereinigten Staaten
stellt eine Bedrohung der menschlichen Werte im
eigenen Land dar. Und auch im Hinblick auf die Erhal-
tung des zivilen Charakters der Gesellschaft ist ein so
enormer Strafverfolgungssektor eine ernste Gefahr.
Aber durch seine Vorbildfunktion ist diese Strafverfol-
gungspolitik auch im Ausland eine Gefahr. Parlamenta-
rier aus meinem Land reisen nach New York, um sich
über das Zero Tolerance Programme zu informieren.
Sie sind nicht die einzigen, die dorthin kommen. Es
besteht die Gefahr, daß wir, die wir Kritik üben, mit
Verachtung betrachtet und so zur Konformität mit
amerikanischen Standards gezwungen werden.
Was soll man in dieser Situation tun? Sollte man,
wenn man über die Gefängnissituation Bescheid weiß,
berufliche Reisen in ein Land vermeiden, das einen
derart übertrieben großen Strafverfolgungsapparat
unterhält? Diese Meinung vertrete ich nicht. Eine sol-
che Haltung stünde in vollkommenem Gegensatz zu
allem, was ich mit diesem Buch zu vermitteln versu-
che. Natürlich dürfen wir niemals den Kontakt zu
denjenigen abbrechen, deren Auffassungen wir nicht
teilen.
Ganz im Gegenteil, wir sollten noch öfter hinreisen.
Aber eine unerläßliche Bedingung für berufliche Besu-
che in einer offenen Gesellschaft wie den USA ist die
klare Aussage, daß man mit ihrer Strafverfolgungspoli-
tik nicht einverstanden ist. Es ist unbedingt notwendig
zu sagen, daß es, von außen gesehen, schwer verständ-
lich ist, warum die abnorme Größe des amerikanischen
Strafverfolgungssystems nicht zum dominanten Thema
für die Kollegen in den USA wird. Es ist schwer zu
verstehen, warum nicht allein die Existenz dieses Sy-
stems zum dominanten Thema ihrer verschiedenen
beruflichen Konferenzen wird – und bleibt, bis das
Strafverfolgungssystem der Vereinigten Staaten norma-
lisiert worden ist. Und die riesigen Forschungsstiftun-
gen, die Rockefeiler Foundation, die Ford Foundation,
– wo sind sie, wenn sie die Aufgabe, die innere Funkti-
on ihres Staates in Ordnung zu bringen, überhaupt nicht
wahrnehmen? Wie ist es möglich, daß die verschiede-
nen professionellen Gruppen innerhalb der Universitä-
ten und in den Gefängnissen nicht zu Verbänden von
Aktivisten werden, die sich darum bemühen, das ame-
rikanische System zur Normalität zurückzuführen?
Ich bin nicht unbedingt so offen in meiner Kritik,
wenn ich totalitäre Staaten besuche. Offene Worte
können, besonders wenn sie in der Öffentlichkeit ge-
sprochen werden, zum sofortigen Verlust des Kontak-
tes führen. Und es könnte unsere Kollegen in diesen
Ländern in ernste Schwierigkeiten bringen, manchmal
sogar in Gefahr. Alle, die an der Forschungsarbeit über
Gefängnisse und verschiedene Formen inakzeptablen
Verhaltens beteiligt sind, wissen, daß sie ihre Quellen
schützen müssen. Dies ist auch der Fall, wenn unsere
Quellen Personen sind, die in Staaten arbeiten, in denen
sie streng bestraft werden könnten. Die russische Dich-
terin Anna Achmatova geriet in ernste Schwierigkeiten,
weil sie von britischen Bewunderern besucht und
umarmt wurde. Wenn man solche Staaten besucht, ist
mehr Selbstzensur erforderlich als in den Vereinigten
Staaten. Ich glaube, daß die Vereinigten Staaten auf
diesen Unterschied stolz sein können.
Gleichzeitig bedeutet dies, daß wir sowohl die Mög-
lichkeit als auch die Verpflichtung haben, offen zu
reden, wenn wir mit unseren amerikanischen Kollegen
zusammenkommen. Wir sind verpflichtet, unsere Sor-
gen publik zu machen.
Kriminologen haben ein außerordentliches Potenti-
al, gefährlich zu sein. Kein Wunder, daß Foucault so
skeptisch war. Einige von uns arbeiten sehr nahe an der
Macht und dem absichtlichen Zufügen von Schmerz.
Es kann sehr leicht passieren, daß wir Techniker des
Schmerzzufügens in einem Ausmaß werden, das in
krassem Widerspruch zu zentralen Werten steht. Ande-
rerseits kann die Nähe zur Macht auch ein Vorteil sein.
Sie kann uns die Möglichkeit geben, den Staat über den
bedauerlichen Zustand seines Strafverfolgungssystems
zu informieren, wenn man dieses System in einer Rela-
tion zu Werten und Anstand betrachtet.
Vermutlich gibt es in den USA allein mehr Krimi-
nologen und andere Experten auf diesem Gebiet als in
allen anderen Ländern zusammengenommen. Einige
von ihnen arbeiten in gefährlicher Nähe zu einem
bedauerlichen System. Einige arbeiten auch in diesem
System. Durch ihre Nähe sind sie beteiligt und daher
die natürlichen Ziele der Kritik aus dem Ausland.
Gleichzeitig weiß ich natürlich, daß viele der Kolle-
gen in den Vereinigten Staaten, vielleicht sogar die
Mehrheit, viele der oben dargestellten Ansichten über
das amerikanische Strafverfolgungssystem teilen. Sie
wissen, daß die Gefängnisse Universitäten für das
Verbrechen sind und daß es besser ist, in richtige Uni-
versitäten zu investieren. Sie wissen, daß das Leben in
den Innenstädten geschädigt wird, wenn so viele ihrer
Einwohner in den Gefängnissen verschwinden. Sie
wissen es, und viele sagen es auch, 5 haben jedoch das
Gefühl vollkommener Hilflosigkeit. Und das ist auch
realistisch. Vielleicht mögen die Schwingungen, die
von den Flügeln eines Schmetterlings in Italien hervor-
gerufen werden, einen Wirbelsturm in der Sahara ver-
ursachen, aber es ist schwer, sich vorzustellen, daß
Vorlesungen über das Verbrechen in Berkeley das
Verhalten in Washington ändern können – wenn diese
Vorlesungen nicht mit den Interessen der Herrschenden
übereinstimmen.
Wenn ich früher aus der Sowjetunion nach Hause
kam oder heute aus Rußland oder anderen osteuropä-
ischen Staaten, hatte und habe ich oft das Gefühl, daß
man mir zugehört hat. Ich glaube, daß diese Besuche
etwas bewirkt haben könnten, nicht viel, aber vielleicht
sind sie ein kleiner Impuls unter vielen für die Men-
schen, die mit dem Strafverfolgungssystem zu tun
haben. Vielleicht liegt es daran, daß ich im dortigen
Umfeld ein so seltsamer Vogel bin. Nicht viele sagen
das, was ich sage. Vielleicht liegt es an den Ansichten
der sogenannten osteuropäischen Intelligentsia, einer
Schicht, die einen beträchtlichen Einfluß ausübt. Viel-
leicht hängt es auch mit dem von mir im Vorstehenden
beschriebenen ehrlichen Wunsch zusammen, sich den
westeuropäischen Standards anzunähern. Aber in den
Vereinigten Staaten existiert ein solches Bedürfnis
nicht. Sie sind der Standard. Es ist nicht schwer zu
verstehen, daß viele der Kollegen in den USA den
Kampf aufgeben und sich scheuen, ihr System wegen
seiner Schrecken zu kritisieren.
Ein weiterer Faktor, der die Verantwortung der ame-
rikanischen Kollegen mindert, ist die Tatsache, daß
Europa möglicherweise schon bald in die Fußstapfen
der USA treten könnte. In den USA gibt es mehr Kri-
minologen, aber Europa befindet sich auf dem gleichen
Weg. Es paßt sich in der Entwicklung innerhalb des
Strafverfolgungssystems an die moderne Zeit an, aber
auch im Hinblick auf die Möglichkeiten für Akademi-
ker, diese Entwicklung zu kritisieren. Dies kann ich
anhand der Zustände in meinem eigenen Land illustrie-
ren.

DAS VERLORENE ERBE DER UNIVERSITÄTEN

Wir kennen die Konsequenzen der sozialen Verände-


rungen, die zur Zeit stattfinden. Aber wir sagen unsere
Meinung darüber nicht, nicht oft genug und nicht mit
dem nötigen Nachdruck. Was wir zu sagen haben,
klingt unpraktisch und widerspricht dem Geist unserer
Zeit. Wir halten uns zurück, um nicht das Gefühl zu
haben, vollkommen unzeitgemäß zu sein. Was wir zu
sagen haben, ist im Grunde genommen nichts anderes,
als daß wir das Wachstum der eindimensionalen Ge-
sellschaft verlangsamen müssen, wenn wir dem Wach-
stum des Strafverfolgungssystems Einhalt gebieten
wollen. Wir müssen der dominierenden Stellung der
wirtschaftlichen Institution einen Riegel vorschieben.
Entwicklung ist eine Täuschung. Es gibt vermutlich
keine Alternativen als die Rückkehr zu einer Gesell-
schaftsform, in der wir uns weitgehend gegenseitig als
Menschen und nicht als Träger einer Rolle sehen. Auch
wenn wir so leben, werden wir uns gegenseitig um-
bringen. Das Paradies liegt ein Stockwerk höher. Aber
wir werden weniger von unserer Umgebung abge-
schnitten und isoliert sein, als wenn wir unter Bedin-
gungen leben, unter denen der Strafverfolgungsapparat
zur einzigen und selbstverständlichen Antwort wird.
Zusätzlich zu diesem allgemeinen Rat werden wir
die trivialen Wahrheiten zur Kenntnis nehmen müssen,
die in Kapitel 5 beschrieben sind – Schaffner in U-
Bahnen, keine Supermärkte mehr, Ausbau von Wohn-
vierteln und, was am wichtigsten ist, Schlichtung an-
stelle des Zufügens von Schmerz.
Solche Botschaften sind nicht gerade leicht zu ver-
mitteln, nicht einmal an den Universitäten.
Diejenigen von uns, die sich im relativ sicheren Ha-
fen einer Universität befinden, haben Kriminologiestu-
denten. Die Studenten werden sich in den Arbeitsmarkt
eingliedern. Sie möchten dies mit Kenntnissen tun, von
denen sie annehmen, daß sie gebraucht werden. Noch
mehr theoretisches Wissen über das Verbrechen und
die Verbrechenskontrolle scheint für die Stellungen,
um die sich unsere Studenten bewerben wollen, nicht
besonders wichtig zu sein und wird von den Leuten, die
sie einstellen sollen, nicht unbedingt mit Begeisterung
begrüßt werden. Die Gefahr ist groß, daß dieser Um-
stand auf das, was wir, die Lehrer, schreiben und sagen,
einen Einfluß haben wird. Insbesondere könnten unsere
Ratschläge, was die Studenten lesen sollen, davon
beeinflußt werden.
In den fünfziger und sechziger Jahren, als es in un-
serem Fach wenige Lehrer und nur eine wagemutige
kleine Schar von Studenten gab, als das gesellschaftli-
che und politische Interesse an dem, was wir taten,
äußerst begrenzt war, war das Nachdenken über radika-
le Alternativen ein natürlicher Bestandteil des wissen-
schaftlichen Lebens. Aber dann nahm die Zahl der
Studenten langsam zu, die Studenten brauchten Jobs,
und es wurde ein Lehrplan gebraucht, der als nützlich
für die zukünftigen Berufe der Studenten betrachtet
werden konnte. Stellungen konnte es in den Ministerien
und in der Kommunalverwaltung geben, und heute
zunehmend bei der Polizei, bei der Bewährungshilfe
und in den Gefängnissen.
Gegenwärtig ist die Kriminologie in ihrem eigenen
Erfolg gefangen. Stellungen für Forscher hängen von
Stellungen für die Studenten ab, die wiederum von der
Art der Ausbildung abhängen, die die Studenten taug-
lich für Positionen in den Institutionen macht, die wir
mit Hilfe unserer beruflichen Fähigkeiten in Frage
stellen sollen. Stan Cohen (1988) hatte in vieler Hin-
sicht recht mit seiner wütenden Kritik in seinem Buch
Against Criminology. Bisher ist jedoch noch nicht alles
schiefgegangen. Glücklicherweise sind Universitäten
Organisationen, die sich nur schwer ändern lassen.
Aber die Situation ist heute ganz besonders schwierig,
die Universitäten stehen unter außerordentlich starkem
Druck zu beweisen, daß sie nützlich und ihr Geld wert
sind. Aber gute Universitäten sollten nicht in erster
Linie von unmittelbar praktischem Nutzen sein, sie
sollten als Basen für Führer in ein unbekanntes Land
dienen und warnen, wenn Gefahren drohen.
Die Entwicklungen in der Kriminologie, aber auch
in hohem Maß in den Sozialwissenschaften im allge-
meinen, sind unerfreuliche Beispiele für die Gefahren,
die drohen, wenn Universitäten gezwungen werden
oder freiwillig die Aufgabe übernehmen, ihren Staaten
so zu dienen, wie diese Staaten sind und wie sie sich
selbst zu jedem beliebigen Zeitpunkt sehen.
Das zentrale Problem ist hier, daß auch die Univer-
sitäten in der monoinstitutionellen Situation gefangen
sind, die in Kapitel 2 beschrieben wurde. Auch die
Universitäten sahen sich in beträchtlichem Ausmaß
gezwungen, ähnliche Elemente zu übernehmen wie
andere auf dem Markt agierende Organisationen. Uni-
versitäten sind zunehmend so organisiert, als wären sie
Fabriken oder Läden. Sie machen Reklame, um Stu-
denten anzulocken, sie versprechen, eine Ausbildung
zu vermitteln, die sich für die Studenten als nützlich
erweisen wird, und die einzelnen Fakultäten werden bis
zu einem gewissen Grad der Zahl der Studenten ent-
sprechend bezahlt, die sich bei ihnen einschreiben und
später Examen ablegen.
Um die besten Studenten anzuziehen, ist es wichtig,
möglichst viel Geld für Forschungszwecke zu mobili-
sieren. In der Kriminalitätskontrollindustrie ist sehr viel
Geld zu haben. Die Polizeipräsidien brauchen Hilfe,
ebenso die Gefängnisse und die Kontrollorgane außer-
halb der Gefängnisse. Diejenigen, die das Geld zu
Forschungszwecken zur Verfügung stellen, der Zugang
zu Informationen und Stellungen für die Studenten, all
das kommt weitgehend von der gleichen Institution, die
wir ohne Einschränkungen untersuchen und kritisieren
können sollten.
Und auch dies ist uns klar: Wenn wir die Fragen
nicht beantworten, die von dem allgemeinen politi-
schen System gestellt werden, wird eine andere Art von
Forschern mit Freuden unseren Platz einnehmen. Wie
Freeley (2003) darstellt, war der große Wechsel der
Perspektive von einer Wohlfahrts-Kriminologie zu
einer Kontroll-Kriminologie in den USA in erster Linie
die Folge der Ideen und Weltanschauungen der neuen
Forscher, die sich aus Militärexperten und ähnlichen
Leuten rekrutierten:

Diejenigen, die Wilsons Ideen aufgriffen und damit


losrannten, waren die jungen Senkrechtstarter
vom Institute of Defense Analysis und RAND. Sie
verpflanzten verbrechensspezifische Planung und
Ideen wie verteidigbaren Raum, situationsgebun-
dene Verbrechensverhinderung und verbrechens-
spezifische Planung in die Systemanalyse und die
Kosten-Nutzen-Berechnung und begründeten so
die neue Kriminologie. Vermutlich bestand der
einzige und stärkste Einfluß auf nationaler Ebene
in der Förderung dieser neuen Denkweise. Das
sind die intellektuellen Wurzeln der neuen Krimi-
nologie und der neuen Kultur der Verbrechens-
kontrolle. (S. 121)

In einer Gesellschaft, die in ihrem Denken so sehr auf


das sogenannte ‹Kriminalitätsproblem› konzentriert ist,
ist die ganze Situation besonders schwierig. Die Sozi-
alwissenschaften im allgemeinen und das Studium von
abweichendem Verhalten und gesellschaftlicher Kont-
rolle im besonderen sind in ernster Gefahr. Es ist, als
ob diejenigen, die unsere ehrwürdige Institution schüt-
zen sollten, nicht erkennen, was geschehen wird, wenn
die Kräfte des Marktes in unsere Universitäten einged-
rungen sind, was sie verlieren, was die Wissenschaftler
verlieren, was die Gesellschaft verliert. Angesichts der
enormen Kraft des marktwirtschaftlichen Denkens ist
diese altmodische Institution zum Schutz des freien
Denkens nahe daran, ihr kritisches Potential einzubü-
ßen. Die Betonung unserer Unabhängigkeit und aka-
demischen Freiheit ist nicht nur ein Schmuck, der am
Tag der Inauguration vorgeführt wird. Unabhängigkeit
ist die Grundbedingung für die Bewahrung unserer
Fähigkeit zur Kritik.

ABSTAND ALS NOTWENDIGKEIT

Kommt aus eurem Elfenbeinturm heraus, sagen so


viele. Aber wir sind draußen. Laßt uns wieder hinein-
gehen, ist meine Antwort. Laßt uns den Elfenbeinturm
wenigstens erhalten. Wir können nicht nur drinnen
sein. Abstand ist notwendig, um die ganze Perspektive
zu sehen.
Wir müssen auch draußen sein. Aber dann geraten
wir bald in Schwierigkeiten. Lassen Sie mich von
meiner Erfahrung mit der Arbeit an diesen Problemen
in einem kleinen Land wie dem meinen erzählen.
Ich glaube, daß unser norwegisches Strafverfol-
gungssystem viel zu groß ist. Wir könnten mit einer
viel kleineren Gefängnispopulation auskommen. Wir
könnten auch Gefängnisse haben, in denen informelle
Formen der Interaktion herrschen. Wir könnten mit
Schlichtung und restaurativer Justiz arbeiten, um au-
ßergerichtliche Lösungen für viele Konflikte zu finden,
die jetzt vom Strafverfolgungssystem gehandhabt
werden. Wir haben zugelassen, daß unser Strafverfol-
gungssystem wuchs, obwohl viele Probleme hätten
vermieden werden können, wenn mehr Wert auf das
Wohlfahrtssystem gelegt worden wäre. Dies ist mein
grundsätzlicher Standpunkt, der von vielen meiner
Kollegen geteilt wird.
Aber gleichzeitig bin ich natürlich in ständigem
Kontakt mit den Personen, die das Strafrechtssystem in
Gang halten, ebenso wie ich mit den Menschen in
Kontakt bin, die Objekte dieses Systems sind. Ich halte
Vorträge für Gefangene und Wachleute, für Polizisten
und Richter. Sie laden uns ein, und wir laden sie ein.
Immer wieder organisieren wir gemeinsame Seminare
für Gefangene und Wachleute oder auch nur für Ge-
fangene. Ich bin mir ziemlich sicher, daß es heute in
Norwegen kein einziges Gefängnis gibt, in dem ich
nicht willkommen wäre, wenn ich darum bitten würde,
hineingelassen zu werden. Das ist nicht immer so
gewesen. Einmal, Anfang der siebziger Jahre, wurden
Professor Vilhelm Aubert und ich daran gehindert, mit
den Gefangenen in einem bestimmten Gefängnis zu
sprechen. Es wurde ein Skandal daraus, das Parlament
beschäftigte sich mit der Ablehnung, aber die Ent-
scheidung wurde nicht geändert. Heute würde das nicht
mehr passieren.
Wie wir alle wissen, wirkt sozialer Kontakt in beide
Richtungen. Wir lehren, aber es wird uns auch etwas
gelehrt. Wir nehmen Einfluß, aber wir werden auch
beeinflußt. Und persönliche Zuneigungen entwickeln
sich. Ich habe viele der Menschen gern, die ich in
diesen Systemen treffe, von Gefangenen bis hin zum
Gefängnisdirektor. Ich finde keine Ungeheuer unter
den Gefangenen, aber auch nicht unter den Menschen,
die in den Systemen arbeiten. Ganz im Gegenteil, ich
treffe viele Engagierte, die ihr Bestes tun, um sowohl
ihre Pflichten als Wachleute zu erfüllen, als auch
gleichzeitig das Leben für diejenigen, die sie bewa-
chen, erträglich zu machen. Die Angestellten im Kri-
minalitätskontrollsystem lesen unsere Bücher. Sie
übernehmen einige unserer Perspektiven. Aber wir
sehen auch die ihren. Wenn sie konkrete Probleme
haben, versuchen wir, eine Lösung zu finden. Wenn sie
allgemeinere Fragen haben, die sich für Studien eignen,
beteiligen wir uns an einem Dialog über mögliche
Forschungsprogramme. Wir kommen einander näher.
Sie sind diejenigen, die den Schmerz zufügen. Und wir
helfen, dies zu ermöglichen.
Ist diese Kooperation richtig?
Ich möchte sagen, es kann nicht anders sein. Das
Strafverfolgungssystem ist unser wichtigstes Studien-
gebiet. Wir müssen nahe herankommen, um etwas zu
sehen. Aber wenn wir zu nahe herankommen, könnten
wir blind werden.
Als die Kriminologie in Norwegen noch jung war,
sagte mir ein angesehener Polizeipsychologe, wie
bedauerlich er es finde, daß sich das Kriminologische
Institut in der Osloer Universität mitten in der Stadt
befindet. Wir sollten unseren Sitz in einem nahegele-
genen Gefängnis haben. Hier seien die Gefangenen,
unsere Studienobjekte, die wir zu erklären hätten.
Diese Episode machte einen großen Eindruck auf
mich. Sie belehrte mich darüber, welche Gefahren mit
der Forderung verbunden sind, daß wir nützlich im
Sinn einer Institution von Spezialisten innerhalb des
Strafverfolgungssystems sein sollten. Zum Schluß
schrieb ich einen kleinen Artikel über die Beziehung
zwischen den Gefängnissen und verschiedenen Spezia-
listen, die für die Gefängnisse oder die Gefängnisver-
waltung nützlich sein könnten (Christie 1970). Ich
verglich zwei idealtypische Modelle für die Beziehung
zwischen Spezialisten und Gefängnissen: das Autar-
kiemodell und das Importmodell. Betrachten wir die
Ärzte. Sie können ein integraler Bestandteil des Ge-
fängnisbetriebs oder Teil des allgemeinen, kommuna-
len Gesundheitsdienstes sein. Das gleiche gilt für die
Lehrer. Sie können dem allgemeinen Schulsystem der
Kommune angehören, wobei ihr Vorgesetzter der
Schuldirektor ist, oder sie können Teil des Gefängnis-
systems sein und dem Gefängnisdirektor unterstehen.
Im Fall des Importmodells kommen alle Spezialisten
aus der Außenwelt und werden in die Gefängnisse
eingeladen, bzw. importiert. Sie behalten ihre Identifi-
zierung mit der Außenwelt bei, und die in der Außen-
welt gültigen Standards bleiben auch die Standards für
ihre Arbeit. Außerdem steht es ihnen frei, sich Forde-
rungen des Gefängnispersonals zu widersetzen, wenn
diese Forderungen nicht im Einklang mit ihren berufli-
chen Standards sind.
Diese Regelung wurde in Norwegen tatsächlich zum
vorherrschenden Modell. Aber jetzt schwingt das Pen-
del zurück. Das Ausbildungsniveau ist auf allen Gebie-
ten im Wachsen begriffen, und die Ausbildungsstätten
für Gefängnispersonal bilden keine Ausnahme. Diese
Schulen haben kürzlich den Antrag gestellt, Hoch-
schulstatus zu erhalten. Die Ausbildung dauert dort drei
Jahre nach Abschluß der High-School. Die Gefängnis-
aufseher haben heute das Gefühl, besser qualifiziert zu
sein, und wenn sie auch noch an ein paar zusätzlichen
Kursen teilgenommen haben, übernehmen sie Aufga-
ben, die schon beinahe therapeutisch sind. An der
Schule unterrichten verschiedene Experten. Eine For-
schungsabteilung ist angeschlossen. Bei der Polizei
findet eine ähnliche Entwicklung statt. Ihre Schule hat
bereits Hochschulstatus und verfügt über eine For-
schungsabteilung. 2003 bekamen sie ihre «eigenen»
Professoren. Stück für Stück wird das Strafverfol-
gungssystem wieder autark.
Das ist sehr gut, denn es vermittelt den Leuten, die
im Strafverfolgungssystem arbeiten, eine bessere Qua-
lifikation. Aber gleichzeitig ist diese Entwicklung auch
gefährlich. Die Personen, die dort arbeiten – von Ge-
fängnisaufsehern bis zu den Lehrern in den Schulen –,
werden in hohem Maß in dem System gefangen sein.
Es wird ihnen nicht vollkommen freistehen (und es
wird auch die Motivation dazu fehlen), Fehlschläge
bekanntzumachen, und vor allem werden sie nichts
gegen das Anwachsen des Systems – ihrer beruflichen
Basis – unternehmen.
Besonders gefährlich ist in dieser Situation die Tat-
sache, daß all dies zur gleichen Zeit geschieht, zu der
die Universitäten in marktwirtschaftliche Institutionen
umgewandelt werden. Gerade jetzt, wo wir sie am
meisten brauchen, werden die Schutzschilde entfernt.
Theoretisch gesehen ist die ganze Entwicklung ein
faszinierender Beweis für die Macht der eindimensio-
nalen Gesellschaft. Vom Standpunkt derjenigen – von
uns aus gesehen –, die den starken Wunsch haben,
genügend Raum für freie Kritik zu erhalten, ist die
Entwicklung sehr alarmierend.
All dies ist wahr. Aber es ist nicht die ganze Wahr-
heit. Es gibt Risse in der Wand. Die Hegemonie ist
nicht total. Vielleicht kann der Markt nicht alle Bedürf-
nisse erfüllen. Vielleicht ist Kreativität wichtiger als
Geld. Vielleicht wird sich eine neue Generation von
Universitätsangehörigen zusammentun und wenigstens
Teile des Elfenbeinturms wieder aufbauen. Es wird
immer ein paar Menschen geben, die protestieren.

INDIVIDUELLER WIDERSTAND

Die Dörfer für ungewöhnliche Menschen, die ich im


Kapitel 2 beschrieben habe, können in gewisser Hin-
sicht als kleine Zentren des Widerstands gesehen wer-
den. Andere Beispiele sind die Mennoniten und die
Amish-People in Kanada und den USA, die jüdischen
Siedlungen im alten Osteuropa oder Stämme, die tief
im Urwald verborgen sind. Sie überleben die dominie-
rende monolithische Kultur unserer Zeit, indem sie sich
verbergen oder Gegenkulturen schaffen.
Dies verdeutlicht die Bedeutung der Gemeinschaft.
Aber diese Einsicht kann leicht zu Pessimismus führen.
Sie kann dazu führen, daß wir die Bedeutung indivi-
dueller Aktionen vergessen. Deshalb folgen nun einige
kleine Geschichten, die nur den Zweck haben, den
Glauben an das einzelne Individuum wieder aufzurich-
ten.
Vor langer Zeit bin ich einem Mann begegnet, der
mich etwas über die Freiheit gelehrt hat. Er war zu
einer Gefängnisstrafe verurteilt worden, die er als
zutiefst ungerecht empfand, und begann einen Hunger-
streik. Er wurde in eine Isolationszelle im tiefsten
Keller des Gefängnisses gebracht. Seine Kleider wur-
den ihm weggenommen, um einen Selbstmord zu
verhindern. Verlockende Speisen wurden ihm gebracht,
aber vergebens. Dann wurde er gewaltsam gefüttert,
aber er entledigte sich der Nahrung, indem er seine
Exkremente aß und sich erbrach. Damals hatten die
Ärzte die raffinierteren Methoden zur Zwangsernäh-
rung noch nicht erfunden. Der Gefängnisdirektor kam
zu ihm herunter. Er bat den Mann unter Tränen, doch
zu essen. Der Kommentar des Mannes lautete: «Ich
hatte mich noch nie so frei gefühlt. Man konnte mir
nichts mehr wegnehmen.»
Mauricio Rosencoff ist ein Bekannter von mir. Er
stammt aus Uruguay. Elf Jahre lang wurden er und
zehn andere Männer von der Militärjunta, die das Land
regierte, in vollkommener Isolation gehalten. Interna-
tionale Aufmerksamkeit verhinderte ihre Hinrichtung,
aber nicht die Folter und die totale Isolation. Über
lange Zeiten hinweg erhielten sie fast kein Wasser. Um
zu überleben, mußten sie ihren eigenen Urin trinken.
Um als Menschen zu überleben, beschäftigten sich fast
alle mit irgendeiner kulturellen Aktivität. Mauricio
Rosencoff schrieb Gedichte im Kopf. Irgendwann
besorgte er sich einen Bleistift und schaffte es, seine
Gedichte auf kleinen Papierschnipseln aus dem Ge-
fängnis zu schmuggeln. Als er entlassen wurde, stellte
er fest, daß er in Uruguay ein berühmter Dichter ge-
worden war. «Sie haben uns wie die Hunde behandelt»,
sagte Mauricio, «aber wir haben nicht zurückgebellt.»
Später hielten wir in Oslo ein Seminar über Folter ab.
Mauricio nahm daran teil. Das gleiche tat ein Mann,
der in Uruguay einer der Folterer gewesen war. Nach
dem Seminar gingen die beiden Männer miteinander
zum Essen.
Janina Bauman ist das dritte Beispiel einer Persön-
lichkeit, die hartnäckig an ihrer Menschlichkeit fes-
thält. Sie überlebte die deutsche Invasion in Polen. Sie
überlebte im Warschauer Ghetto, flüchtete und überleb-
te abermals, indem sie sich außerhalb des Ghettos
versteckte. Und sie hat auch das Leben mit ihren Erin-
nerungen überlebt. Vierzig Jahre später schrieb sie ihr
wunderbares, schreckliches Buch Als Mädchen im
Warschauer Ghetto. Ein Überlebensbericht (1995).
Das Buch inspirierte ihren Mann, Zygmunt Bauman, zu
seinem Buch Dialektik der Ordnung. Die Moderne und
der Holocaust (1992). Im August 1992 entwickelte
Janina das Thema in unserem Institut in Oslo noch
weiter, als sie ein Seminar mit dem Titel abhielt: «Mit
Würde überleben». Sie selbst ist ein leuchtendes Vor-
bild.6
Nicht einmal Gefängnisse, die wir zu Recht als tota-
le Institutionen bezeichnen, nicht einmal sie sind wirk-
lich total. Der nackte Gefangene überlebte, indem er
die Kontrolle über seinen eigenen Körper behielt.
Mauricio Rosencoff überlebte, indem er Gedichte
schrieb. Janina Bauman überlebte – insbesondere die
Jahre nach dem Holocaust –, indem sie dem, was ge-
schehen war, Worte gab.
Dies ist mein Beitrag zur Hoffnung in diesem Buch.
Totalitäre Mächte haben, selbst unter den extremsten
Bedingungen, nicht die ganze Macht. Nicht in den
Gefängnissen, nicht im Ghetto, nicht im totalitären
Staat. Manche Menschen fassen den Entschluß, in
Würde zu leben und schließlich zu sterben.
ANMERKUNGEN

WURZELN
1 Christie (1952/1974).
2 Christie (1960).
3 Christie und Bruun (1991).
4 Christie (1995b).

1. DAS VERBRECHEN GIBT ES NICHT


1 Ich danke Cecilie Høigård für ihren hartnäcki-
gen Widerstand gegen einige frühere Vorschläge.
2 Gefängniszahlen existieren seit 1814.
3 Dagens Nyheter, 13. und 14. März 1997.
4 Dies war, vielleicht in erster Linie bei deutsch-
österreichischen Soziologen und Kriminologen in den
achtziger und neunziger Jahren ein brennendes Prob-
lem. Ich profitierte viel von Diskussionen mit Henner
Hess, Sebastian Scheerer und Heinz Steinert, alle in
Frankfurt. Wichtige Inspirationen hierfür kamen von
Louk Hulsman aus Rotterdam. Ein interessanter neue-
rer Beitrag des Max-Planck-Instituts in Feiburg ist das
Buch Images of Crime, hg. v. Hans-Jörg Albrecht,
Afroditi Koukoutsaki und Telemach Serassis (2001).
Besonders relevant ist in diesem Zusammenhang ein
Artikel von Serassis über «The Lost Honour of Crimi-
nology: A Documentary of the Vicissitudes of a Dis-
cipline».
5 Dieser Fall ist erfunden, aber nicht vollkommen
frei. Vieles von dem Material für den Fall geht auf den
schwedischen Anthropologen Åke Daun (1974) zurück,
aber auch auf meine lebenslangen Erfahrungen in den
skandinavischen Ländern.

2. MONOKULTUREN
1 Als Schuljunge erfuhr ich, daß ein Verwandter
meiner Familie ein bekannter Mann gewesen war, als
unsere Verfassung im Jahr 1814 konzipiert wurde. Er
starb kurz vor der Geburt meiner Großtan-
ten. Ich lief zu den Großtanten und bat sie, mir von
diesem großen Mann zu erzählen. Sie weigerten sich
strikt. Er war eine Un-Person. Er hatte mit einer Frau
zusammengelebt, mit der er nicht verheiratet war. Und
was noch schlimmer war, er hatte Kinder mit ihr ge-
habt. Es half auch nichts, daß er sie durch einen damals
möglichen gesetzlichen Schritt legitimiert hatte.

3. INSTRUMENTALISIERUNG DES VERBRECHENS


1 Bis zum Winterkrieg gegen die UdSSR im Jahr
1939 erhielten die jungen Männer aus der Arbeiterklas-
se in Finnland keine militärische Ausbildung. Man
traute ihnen nicht.
2 Dank der Veröffentlichungen von Inkeri Anttila
und Patrik Törnudd (1973) und Törnudd (1996).
3 In Norwegen ist die Situation nicht viel besser,
siehe Frantzen (2002). Für eine allgemeine Beschrei-
bung der Drogenpolitik in den nordischen Ländern
siehe Christie und Bruun (1991). Das Buch ist in den
wichtigsten nordischen Sprachen und auf deutsch
erhältlich.
4 Für eine allgemeine Beschreibung der Drogen-
kommission der Vereinten Nationen, eine Beschrei-
bung, die auch heute noch gültig ist, siehe Bruun,
Rexed und Pan (1975).
5 Finnland hat 5 Millionen Einwohner.
6 Jährlich überqueren mehr als 300000 russische
Fahrzeuge die Grenze und befahren die finnischen
Straßen (Bäckman 1998b, S. 2).

4. EINSPERREN ALS ANTWORT


1 http: //www. kcl. ac.
uk/depsta/rel/icps/woldbrief/.
2 Quelle: Ludmilla Alpern, Moscow Centre for
Prison Reform.
3 Katja Franko Aas hat eine faszinierende Disser-
tation über die Beziehung zwischen Technologie und
Verurteilungstheorie und Praxis geschrieben (2003).
4 Federal Judicial Centre, http: //www. fjc.
gov/pubs. html.
5 Für mich repräsentiert eine Person den Wider-
stand gegen all dies, nämlich Al Bronstein, der Rechts-
berater der Schwarzen während ihrer Aktionen in
Alabama während der gefährlichen sechziger Jahre. Bis
in die Gegenwart war er ein Hauptaktivist gegen die
Entwicklung der Gefängnisse im Norden. Heute ist er
immer noch ein wichtiger Berater für Prison Reform
International in London.
6 Von Anton Čechov (2002) gibt eine einmalige
Beschreibung des Lebens der auf die Insel Sachalin bei
Japan deportierten Gefange-
nen. Die Insel wurde in den neunziger Jahren des
neunzehnten Jahrhunderts auf diese Weise besiedelt.
Tschechow hielt sich 1890 nicht als Gefangener, son-
dern als Arzt dort auf, der ein soziales Gewissen für
seine Landsleute hatte. Ich bin Ludmilla Alpern sehr
dankbar, die mich auf diesen einmaligen Bericht über
eine Strafkolonie aufmerksam machte.
7 Dieses Diagramm habe ich, zusammen mit wei-
teren Zahlen, anläßlich eines einwöchigen Aufenthalts
mit Vorträgen und Seminaren in Warschau von Monika
Platek und Pawel Moczydlowski erhalten, wobei ich
auch von Klaus Witold und Dagmara Wozniakowska
unterstützt wurde.
8 The Guardian, 16. Juni 2003.
9 The Observer, 30. März, 2003.

6. KEINE BESTRAFUNG
1 Vgl. Fangen (2001) und Bjørgo (1997).
2 Im Febr. 2003 wurden sie zu 17 bzw. 18 Jahren
Haft verurteilt.
3 Der Ausdruck Abolitionismus wurde vom
Kampf gegen die Sklaverei, besonders in den USA,
übernommen. Innerhalb der Bewegung bestand ein
Konflikt zwischen den Befürwortern einer vollständi-
gen Abschaffung der Sklaverei und Vertretern einer
Lösung, durch die die Sklaverei durch verschiedene
Mittel eingeschränkt werden sollte. Ebenso wie im
Kampf gegen die Sklaverei gibt es in der abolitionisti-
schen Bewegung eine gemäßigte Gruppe. Das sind die
Minima-listen. Der Name hat in der Geschichte der
Sklaverei keinen guten Klang, aber wo es um die
komplexe Suche nach Antworten auf extrem uner-
wünschte Handlungen geht, ist es ein guter Name.

7. ANTWORTEN AUF GREUELTATEN


1 Das englische Wort <mind> (in der ursprüngli-
chen, englischen Version des Buches) bedeutet be-
zeichnenderweise einfach Gedächtnis, oder im Altnor-
dischen minne.
2 Milosevic mag ein schlechter Mensch sein und
wäre vermutlich auch von einem Gericht in Belgrad für
schuldig befunden worden. Zu dieser Frage habe ich
keine Meinung. Aber während ich dies schreibe, ist es
bereits klar erkennbar, daß Milosevic die Art, auf die er
nach Den Haag gebracht wurde, als Bestandteil seiner
Verteidigung benutzt.
3 Penal Reform International, Jahresbericht 2000,
S. 7.
4 Für eine außerordentlich aufschlußreiche Unter-
suchung der Beziehung zwischen Versöhnung und
restaurativer Justiz siehe Parmentier (2001).
5 Ich danke Ragnhild Hennung für ihre Argumente
zu diesem Punkt.

8. WANN IST ES GENUG?


1 Es ist ein interessanter Aspekt des Lebens, daß
Staaten, die wegen der Punkte (3) und (4) – Anzahl der
Häftlinge und ungleiche Repräsentation verschiedener
Bevölkerungsgruppen in der Gefängnispopulation –
Anlaß zur Kritik geben, häufig die schärfsten Kritiker
von Staaten sind, die in den Punkten (1) und (2) – Art
der Verbrechen und Formen der Entscheidungsfindung
– von der Norm abweichen.
2 Zitiert nach Slagstad (1999, S. 456).
3 John Braithwaite ist auf dem Gebiet der Schlich-
tung und restaurativen Justiz sowohl in der Entwick-
lung von Ideen als auch in der Praxis außerordentlich
bedeutend. Sein letztes Buch, Restorativ Justice and
Responsive Regulation (Braithwaite 2002) stellt die
bislang vollständigste Zusammenfassung seines Wer-
kes dar. Eine besondere Freude beim Lesen von
Braithwaite ist die Harmonie zwischen Inhalt und
Form. Er schreibt über Versöhnung, und er bedient
sich, selbst wenn er polemisch wird, einer außerordent-
lich gelassenen Ausdrucksweise.
4 Penal Reform International hat ihren Hauptsitz in
London, unterhält jedoch auch ein Büro in Moskau.
5 Ich bin versucht, mehrere Personen und Organi-
sationen namentlich zu nennen, vermeide es aber den-
noch, dies zu tun. Es gibt so viele, die einen Platz auf
einer solchen Ehrenliste verdienen, und ich kenne sie
auch gar nicht alle. Deshalb wird keiner erwähnt, und
damit aber auch keiner vergessen.
6 Mit Hilfe einer vergleichenden Analyse der bei-
den großen Ghettos in Polen während des Zweiten
Weltkriegs, von denen das eine in Warschau und das
zweite in Lodz lag, konnte sie auch auf die sozialstruk-
turellen Faktoren hinweisen, die die Möglichkeiten
zum Schutz der Menschenwürde unter extremen Be-
dingungen vergrößern. Ihr wichtigstes Thema bei
dieser Analyse war die Tatsache, daß ein Sozialsystem,
in dem die Frage der Nützlichkeit über die Werte ge-
stellt wird, sich in großer Gefahr befindet, sowohl das
Leben als auch die Menschenwürde zu zerstören.
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