Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
Wieviel
Kriminalität braucht
die Gesellschaft?
Verlag C. H. Beck
Nils Christie ist Professor für Kriminologie an
der Universität Oslo. Sein mittlerweile in 14 Spra-
chen vorliegendes Gesamtwerk zählt schon jetzt
zu den Klassikern der soziologisch-
kriminologischen Literatur.
Die Wurzeln 8
2. Monokulturen 27
Mehrdimensionalität 27
Die Großtanten 29
Entwicklung als Imperialismus 31
Der Lohn der Arbeit 33
Wie man Kinder am Bauen hindern kann 39
Kapital 40
Die neue Kathedrale 41
Mobilität 43
Eine monoinstitutionelle Gesellschaft 44
Eine totalitäre Lösung 45
Der Preis eines monolithischen Entlohnungssystems 47
Leuchtendes São Paulo 48
Verbrechensfreie Territorien 51
HANDLUNGEN
AUTORITÄT
RESSOURCE
M EHRDIMENSIONALITÄT
DIE GROßTANTEN
KAPITAL
ENTLOHNUNGSSYSTEMS
Vor nicht allzu langer Zeit machte ich eine Reise nach
Brasilien. São Paulo ist das Wirtschaftszentrum des
Landes, eine hektische Stadt, in der es unglaublichen
Reichtum gibt. Wie immer in fremder Umgebung,
dauerte es einige Zeit, bis ich begriff, was um mich
herum vor sich ging. Ich sah mich mit zwei Aussagen
und einer Beobachtung konfrontiert:
1. «Selbst an kühlen Tagen fahre ich immer mit ge-
schlossenen Fenstern und laufender Klimaanlage»,
sagte mir eine Dame.
Was für eine Gleichgültigkeit gegenüber der Not-
wendigkeit, Energie zu sparen, dachte ich mir.
2. «Während der Nacht halte ich niemals vor einer
roten Ampel», sagte mir ein anderer Autofahrer. Was
für ein unsozialer Fahrer, dachte ich.
3. Und dann die Beobachtung: In allen armen Län-
dern ist es eine allgemein übliche Erscheinung, daß
sich ganze Horden von Kindern an allen größeren
Kreuzungen sammeln und Kaffee, Limonade, Zeitun-
gen und das Reinigen der Wagenfenster anbieten. Nicht
so in São Paulo.
Der gemeinsame Nenner: Die Angst vor Verbre-
chen. Die Klimaanlage mußte laufen, weil die Fenster
aus Angst vor Räubern geschlossen blieben. Vor einer
Kreuzung anzuhalten galt als gefährlich. Deshalb fuhr
man bei Rot weiter. Und wegen der geschlossenen
Fenster und weil möglichst nicht angehalten wurde,
gab es keine Möglichkeit, Service und Waren anzubie-
ten.
Eine Kollegin interviewte mich für eine juristische
Zeitschrift. Sie war eine Aktivistin, die für die Rechte
der Strafgefangenen kämpfte. Sie erwähnte ganz ne-
benbei, daß sie während der letzten Jahre achtmal
ausgeraubt worden sei. Sie hatte eine Freundin, die
Vorlesungen über Kriminologie hielt und die nur weni-
ge Tage zuvor auf andere Weise in Schwierigkeiten
geraten war. Sie fuhr ein altes Auto ohne Klimaanlage.
Um die Hitze zu überstehen, fuhr sie deshalb mit ge-
öffneten Fenstern. Es herrschte dichter Verkehr, der
schließlich zum Stillstand kam. Ein Arm kam zum
Fenster herein, eine Rasierklinge wurde ihr an die
Kehle gesetzt. Der Räuber – es war eine Frau – ver-
langte ihr Geld. Die Kriminologin war müde und hung-
rig, und es war ihr heiß. Sie befand sich auf dem
Heimweg und wollte ihren Kindern etwas zu essen
machen. «Jetzt reicht's, heute wird nicht mehr geraubt»,
sagte sie und fuhr an. Die Frau mit der Rasierklinge
zog den Arm zurück und ging kopfschüttelnd fort.
Unverdienterweise war sie an ein Opfer ohne Manieren
geraten.
Am nächsten Tag ging ich zu einer Polizeiinspekti-
on. Es war ein winziges Gebäude neben einem interna-
tionalen Hotel mit Einzel- und Doppelzimmern, die
vorzüglich für die Unterbringung von Gästen ausgestat-
tet waren. In der Polizeistation mußten sich 70 Männer
eine Zelle teilen. Der Platz reichte nicht aus, daß alle
gleichzeitig sitzen konnten. Die beiden Duschen konn-
ten während des Tages nicht benutzt werden, weil
Gefangene darin standen, um das Gedränge in der Zelle
ein bißchen zu verringern. Die Hitze, der Gestank, die
Enge, Hände und Arme, die durch die Gitterstäbe
gestreckt wurden – Dante hätte vermutlich seinen
Augen nicht getraut.
Doch zurück zur Stadt. Überall elektrische Zäune
und Wachposten mit Pistolen vor den meisten großen
Gebäuden. Man sichert, was man hat, mit allen verfüg-
baren Mitteln. Oben in den Bergen, in beruhigender
Entfernung von den Apartment-Palästen, waren einige
Lichter zu sehen, es waren die Lampen der Barrios, der
selbstgebauten Hütten und Slums der Armen.
Brasilien ist nicht Skandinavien, aber vielleicht wird
Skandinavien mit jedem Schloß, das wir vor die Tür
hängen, ein bißchen mehr wie Brasilien?
Einmal im Jahr wird in Norwegen eine riesige Akti-
on organisiert, um Geld für wohltätige Zwecke zu
sammeln, die an der Spitze der sozialen Agenda stehen
– für Flüchtlinge, für die Weltkinderhilfe, den Kampf
gegen Aids und gegen alle Arten von Elend. Zeitungen,
Rundfunk und Fernsehen bemühen sich, Begeisterung
für den guten Zweck zu wecken, und Tausende von
Sammlern gehen von Tür zu Tür. Kürzlich wurden
einige altgediente Sammler im Rundfunk interviewt.
Die Arbeit sei erheblich schwieriger geworden, sagten
sie. Nicht, weil die Leute weniger spendeten, wenn
man erst einmal Kontakt mit ihnen aufgenommen hatte,
sondern weil es so schwierig geworden sei, an sie
heranzukommen. Früher konnte man in einen Wohn-
block hineingehen und innerhalb des Gebäudes von Tür
zu Tür gehen. Heute werden die Sammler nicht in die
Gebäude hineingelassen, wenn sie nicht jemanden
kennen, der dort wohnt. Die Eingänge der Wohnblocks
sind heute fast immer verschlossen. Die Geldsammler
können auf einen Klingelknopf drücken, aber die Tür
wird ihnen nicht immer geöffnet. Gefahren von drau-
ßen könnten lauern. Schließlich sind die Nachbarn
füreinander verantwortlich.
VERBRECHENSFREIE TERRITORIEN
SELBSTDARSTELLUNG
TERROR
Die «Mafia» ist nicht der einzige Begriff, der für staat-
liche Zwecke nützlich ist. Die Bezeichnung «Terrorist»
ist ebenso nützlich, wie man am Krieg gegen Tschet-
schenien deutlich erkennen kann. Die Feinde waren
keine Soldaten und natürlich keine Freiheitskämpfer
oder religiöse Fundamentalisten, sondern einfach Ter-
roristen. Sergei Kovalev (2000), Präsident des Instituts
für Menschenrechte in Moskau und Mitglied der russi-
schen Staats-Duma, beschreibt die Situation folgen-
dermaßen:
TROLLE
Westeuropa
England und Wales 139 Österreich 85
Portugal 135 Griechenland 80
Spanien 126 Schweiz 69
Italien 100 Dänemark 66
Frankreich 99 Schweden 64
Niederlande 93 Norwegen 62
Deutschland 91 Finnland 60
Irland 86 Island 37
Belgien 85
Nordamerika
USA 730
Kanada 116
Mittelamerika
Kuba (geschätzt) 500 El Salvador 158
Belize 459 Mexiko 156
Panama 359 Nicaragua 143
Costa Rica 229 Guatemala 71
Honduras 172
Südamerika
Südpazifik
Neuseeland 155
Australien 112
POLNISCHE RHYTHMEN
Das erste ist der Rhythmus der Linie. Nach dem Be-
ginn mit der niedrigsten Zahl im Jahr 1945 wurde im
Jahr 1950 mit 98000 Häftlingen ein erster Höhepunkt
erreicht. Sechs Jahre später sank die Zahl auf 35 000
und stieg dann wieder auf 105 000 im Jahr 1963. Die
höchste Zahl wurde 1973 mit 125 000 Gefängnisinsas-
sen erreicht. In diesem Stil ging es weiter, bis die Zahl
im Jahr 1989 wieder sank, diesmal auf 40000.
Nach meiner Interpretation ist dies das Bild eines
Gefängnissystems ohne Hintertür, ohne Entlassungs-
prozeduren, auf die man zurückgreifen kann, wenn der
Druck auf das System zu stark wird. Ein repressiver
Staat, mächtige Staatsanwälte, strenge Richter – es war
leichter, ja zu einer Haftstrafe zu sagen, als nein. Aber
die Spannungen stiegen. Die Zahl der Häftlinge, die
untergebracht werden konnten, war begrenzt, ebenso
die Zahl von Personen, für die es sinnvolle Arbeit gab.
Und die Gefängnisinsassen protestierten. Es kam zu
mehreren Gefängnisaufständen. Die rhythmische Ant-
wort auf diese Situation bestand in Amnestien. Um-
fangreiche Amnestien wurden 1956, 1964, 1969, 1974,
1977 und 1981 erlassen – und ganz besonders 1989, in
dem Jahr, in dem die Mauer zwischen Ost und West
zusammenbrach. Das Diagramm zeigt, wie ungeeignet
Gefängniszahlen als Indikatoren für die Kriminalität in
einem Land sind. Aus diesem Diagramm geht ganz klar
hervor, daß es politische Entscheidungen sind, die sich
in der Anzahl der Häftlinge widerspiegeln. Andere
Länder handhaben diese Angelegenheit wesentlich
weniger auffällig.
Eine weitere faszinierende Entwicklung, die das
Diagramm aufzeigt, ist die Zeit nach 1989. Das alte
Regime war zusammengebrochen. Freiheit, jetzt auch
für die Gefängnisinsassen.
Aber es blieb nicht bei der niedrigen Anzahl von
40000 Häftlingen. Eine Zeitlang sah es so aus, als
würde sich die Zahl um 55000-60000 herum einpen-
deln. Es waren die Jahre einer politischen Bewegung –
später einer politischen Partei – mit dem Namen Soli-
darität, einer Solidarität, die offensichtlich auch die
Gefängnisinsassen mit einbezog. Aber dann wurde die
neue Freiheit alt, und der Trend im Diagramm eben-
falls. Von 1999 an bis zum Oktober 2002 ist die Zahl
der Häftlinge von genau 56765 auf 81654 angestiegen.
Diese Zahl habe ich für die Tabelle auf Seite 80/81
verwendet, in der Polen mit 260 Häftlingen pro 100
000 Einwohner verzeichnet ist. Tatsächlich ist die
Situation sogar noch ernster. Die Gefängnisse sind
überfüllt. Nach offiziellen Schätzungen standen in den
letzten Monaten des Jahres 2002 18000 Personen auf
der Warteliste, um ihre Haftstrafen anzutreten. In Wirk-
lichkeit ist die Zahl vermutlich noch sehr viel größer.
Wären die Personen auf der Warteliste mitgezählt
worden, hätte die Zahl der Häftlinge die 100000-Marke
schon wieder überschritten.
Was ist geschehen?
Erstens: Amnestien wurden als Teil der Vergangen-
heit betrachtet, als primitives Instrument, mit dem die
Fehler des Systems korrigiert wurden. Und man kann
mit gutem Grund argumentieren, daß Amnestien auch
tatsächlich nicht die beste aller Lösungen sind. Eine
große Zahl von Gefangenen wird gleichzeitig entlassen,
so daß das Sozialhilfesystem plötzlich und dramatisch
unter Druck gerät. Aber man muß natürlich abwägen,
ob dieser Druck schlimmer ist als der Druck, der durch
eine dramatisch ansteigende Zahl von Häftlingen ver-
ursacht wird.
Eine zweite Erklärung für die steigende Zahl von
Gefangenen ist ganz einfach die Tatsache, daß Polen
sich in einem Prozeß der «Verwestlichung» befindet.
Das alte Strafverfolgungssystem ist immer noch vor-
handen, die Polizei, die Staatsanwälte, die Richter –
nach 1989 gab es keine größeren Säuberungen. Zu eben
dieser Situation kommen die Elemente hinzu, von
denen in früheren Kapiteln die Rede war: Polen ist auf
dem besten Weg, eine Monokultur zu werden. Und in
Polen wie in anderen westlichen Staaten gibt es viele
Politiker, die das Verbrechen zur Selbstdarstellung
benutzen. In diesem Bemühen erhalten sie tatkräftige
Unterstützung von den Medien. Wie Maria Los (2002)
feststellt, hat in den Massenmedien ein radikaler Wech-
sel des Augenmerks von guten Nachrichten in der
staatlichen Propaganda zu schlechten Nachrichten in
den privaten Medien stattgefunden. Und sie fährt fort:
Wir haben gesehen, daß der Osten der Osten und der
Westen der Westen ist, auch was die Anzahl der Ge-
fängnisinsassen betrifft. Aber nicht ganz. Slowenien
befindet sich auf einer Ebene mit den nordischen Län-
dern. England und Wales hingegen scheinen sich über-
raschenderweise beständig osteuropäischen Standards
anzunähern. Im Jahr 2003 gab es in England und Wales
139 Häftlinge pro 100 000 Einwohner. Diese Zahl ist
laufend im Anstieg begriffen, wobei jede Woche rund
600 Gefangene hinzukommen. 8 Noch vor einigen Jah-
ren war Portugal der Hauptkerkermeister in Westeuro-
pa. England und Wales haben sich in dem Sinn an
Osteuropa angegliedert, daß sie, was die relative Zahl
der Gefängnisinsassen betrifft, an Bulgarien vorbeige-
zogen sind und jetzt mit der Slowakei auf einer Ebene
stehen. Es gibt keine Anzeichen dafür, daß sich dieser
Trend in absehbarer Zeit ändern könnte. Sie haben
Kanada überholt, den Staat, der ihnen früher so ähnlich
war, und sie werden bald – in relativen Zahlen ausged-
rückt -zweimal so viele Häftlinge haben wie das be-
nachbarte Irland. Sie haben seit langem die Verbindung
zu der Zeit in ihrer Geschichte verloren, in der Winston
Churchill und seine Gesinnungsgenossen das Mittel des
Einsperrens mit beträchtlichem Mißtrauen betrachteten
(Bennet 2003) und dafür sorgten, daß die Zahl der
Häftlinge in England und Wales zu den niedrigsten in
Westeuropa gehörte. Die Ähnlichkeit Englands mit den
USA kommt auch durch die Hautfarbe der Gefängnis-
insassen zum Ausdruck. Nach den letzten Zahlen des
Innenministeriums befindet sich derzeit einer von
hundert schwarzen erwachsenen Briten im Gefängnis. 9
Bei meinem Versuch, diese Situation zu verstehen,
fühle ich mich durch die Kombination von Nähe und
beträchtlicher Zuneigung gehandicapt, die blind für ein
gerechtes Urteil machen können. Aber natürlich kann
ich nicht umhin festzustellen, daß England und Wales
wesentliche Elemente ihres Sozialgefüges Schritt für
Schritt geändert haben.
Erstens befinden sie sich in einem Prozeß der radi-
kalen Anpassung an eine eindimensionale Gesellschaft.
Verglichen mit der Zeit unmittelbar nach dem Zweiten
Weltkrieg geht es allen besser, aber die sozialen Unter-
schiede innerhalb der Bevölkerung sind größer gewor-
den. Arme Leute sind nicht mehr so arm wie früher,
aber sie bekommen die Unterschiede zu spüren und
sind unglücklich darüber. Der Wohlfahrtsstaat ist ein-
deutig nicht mehr das, was er noch vor fünfzig Jahren
war. Zwischen den Jahren 1946 und 2000 folgten in
England drei Generationen aufeinander. In ihren ab-
schließenden Worten zu ihrer Untersuchung über Ein-
kommen und Lebensstandard schreiben Dearden,
Goodman und Saunders (2003),
ISLÄNDISCHER BLUES?
TRIVIALE WAHRHEITEN
ALTMODISCHES RUßLAND
STEHEN
MINIMALISMUS
• Dresden
• Hiroshima und Nagasaki
• Die Gulags
QUISLING
DIE SÄUBERUNG
DAS DENKMAL
TRIBUNALE
WAHRHEITSFINDUNGSKOMMISSIONEN
VERSÖHNUNG
HABEN
Sei freundlich
Töte nicht
Foltere niemanden
Füge niemandem absichtlich Schaden zu
Vergebung steht als Wert über der Vergeltung
DIE UNTERGRENZE
NATIONALSTAATEN?
Ich bin nicht glücklich über das, was nun folgt. Die
USA – ein Land, das uns kulturell, intellektuell und
emotional so nahesteht. Ich bin bei mehreren Gelegen-
heiten dort gewesen und wurde immer herzlich emp-
fangen. Ich liebe dieses Land in vieler Hinsicht. Früher
habe ich mir immer gedacht, daß ich, wenn ich nicht in
Oslo leben könnte, New York City zum Wohnort wäh-
len würde.
Verglichen mit der ehemaligen UdSSR und dem
heutigen Kuba sind die USA wie ein offenes Buch. Die
Gefängniszahlen sind leicht zugänglich und werden
klar dargestellt. Amerikanische Zeitungen meldeten es
mit dicken Schlagzeilen, als die Zahl der Häftlinge im
Jahr 2002 die Zwei-Millionen-Marke überschritten
hatte, und das gleiche geschah, als im Jahr 2003 weite-
re einhunderttausend hinzugekommen waren. Viel-
leicht spiegelt sich ein Teil des Problems in dieser
Offenheit wider?
Es hat den Anschein, daß die riesige Gefängnispo-
pulation für die Amerikaner kein Grund zur Scham ist.
Sie wird als unvermeidliche Antwort auf das Verbre-
chen betrachtet und allenfalls als Zeichen von Kraft
und Effektivität bewertet. Natürlich gibt es Opposition
gegen die vorherrschende Linie, aber diese Opposition
kann weder stark noch einflußreich genannt werden.
Für mich ist das Strafverfolgungssystem der Verei-
nigten Staaten ein System, das die fundamentalsten
Werte negiert, die sie für sich in Anspruch nehmen. Es
ist eine offene Gesellschaft. Niemand zensiert das, was
ich sage. Ich kann mich frei bewegen. Ich werde sogar
wieder eingeladen. Aber was in dem amerikanischen
Strafverfolgungssystem für zwei Millionen Menschen
und für die weiteren viereinhalb Millionen geschieht,
die auf Bewährung oder bedingt auf freiem Fuß sind,
hat längst ein Niveau überschritten, von dem noch
gesagt werden kann, daß es die Werte der USA wider-
spiegelt. Materiell gesehen sind die Vereinigten Staaten
das reichste Land der Welt. Dennoch sind sie ein Land,
das Gefängnisse an Stelle eines sozialen Netzes ver-
wendet. Sie sind ein Land, in dem ständig von Freiheit
geredet wird. Dennoch haben sie die größte Gefängnis-
population der Welt. Sie sind ein Land, das einen wü-
tenden Bürgerkrieg ausgefochten hat, dessen Ziel,
wenigstens zum Teil, die Abschaffung der Sklaverei
war.
Dennoch befindet sich ein abnormer Prozentsatz
von Schwarzen hinter Gefängnismauern. Die USA sind
ein Land, das sehr viel Wert auf das soziale Leben legt.
Dennoch lebt eine ungewöhnlich hohe Zahl ihrer Ge-
fängnisinsassen in einer so totalen Isolation, daß es
nichts Vergleichbares gibt (King 1999). Sie sind ein
Land, das betont, daß die Staatsgewalt begrenzt sein
muß. Dennoch beschäftigen sie eine enorme Zahl von
Beamten, deren Aufgabe es ist, die Staatsmacht so groß
wie möglich zu halten, und zwar sowohl auf staatlicher
als auch auf Bundesebene. Zusammenfassend ist zu
sagen, daß die USA ein Land sind, das mit Ausschlie-
ßung statt mit Integration arbeitet und außerdem auch
noch einen Teil der unerwünschtesten Personen hin-
richtet.
Die Strafverfolgungspolitik der Vereinigten Staaten
stellt eine Bedrohung der menschlichen Werte im
eigenen Land dar. Und auch im Hinblick auf die Erhal-
tung des zivilen Charakters der Gesellschaft ist ein so
enormer Strafverfolgungssektor eine ernste Gefahr.
Aber durch seine Vorbildfunktion ist diese Strafverfol-
gungspolitik auch im Ausland eine Gefahr. Parlamenta-
rier aus meinem Land reisen nach New York, um sich
über das Zero Tolerance Programme zu informieren.
Sie sind nicht die einzigen, die dorthin kommen. Es
besteht die Gefahr, daß wir, die wir Kritik üben, mit
Verachtung betrachtet und so zur Konformität mit
amerikanischen Standards gezwungen werden.
Was soll man in dieser Situation tun? Sollte man,
wenn man über die Gefängnissituation Bescheid weiß,
berufliche Reisen in ein Land vermeiden, das einen
derart übertrieben großen Strafverfolgungsapparat
unterhält? Diese Meinung vertrete ich nicht. Eine sol-
che Haltung stünde in vollkommenem Gegensatz zu
allem, was ich mit diesem Buch zu vermitteln versu-
che. Natürlich dürfen wir niemals den Kontakt zu
denjenigen abbrechen, deren Auffassungen wir nicht
teilen.
Ganz im Gegenteil, wir sollten noch öfter hinreisen.
Aber eine unerläßliche Bedingung für berufliche Besu-
che in einer offenen Gesellschaft wie den USA ist die
klare Aussage, daß man mit ihrer Strafverfolgungspoli-
tik nicht einverstanden ist. Es ist unbedingt notwendig
zu sagen, daß es, von außen gesehen, schwer verständ-
lich ist, warum die abnorme Größe des amerikanischen
Strafverfolgungssystems nicht zum dominanten Thema
für die Kollegen in den USA wird. Es ist schwer zu
verstehen, warum nicht allein die Existenz dieses Sy-
stems zum dominanten Thema ihrer verschiedenen
beruflichen Konferenzen wird – und bleibt, bis das
Strafverfolgungssystem der Vereinigten Staaten norma-
lisiert worden ist. Und die riesigen Forschungsstiftun-
gen, die Rockefeiler Foundation, die Ford Foundation,
– wo sind sie, wenn sie die Aufgabe, die innere Funkti-
on ihres Staates in Ordnung zu bringen, überhaupt nicht
wahrnehmen? Wie ist es möglich, daß die verschiede-
nen professionellen Gruppen innerhalb der Universitä-
ten und in den Gefängnissen nicht zu Verbänden von
Aktivisten werden, die sich darum bemühen, das ame-
rikanische System zur Normalität zurückzuführen?
Ich bin nicht unbedingt so offen in meiner Kritik,
wenn ich totalitäre Staaten besuche. Offene Worte
können, besonders wenn sie in der Öffentlichkeit ge-
sprochen werden, zum sofortigen Verlust des Kontak-
tes führen. Und es könnte unsere Kollegen in diesen
Ländern in ernste Schwierigkeiten bringen, manchmal
sogar in Gefahr. Alle, die an der Forschungsarbeit über
Gefängnisse und verschiedene Formen inakzeptablen
Verhaltens beteiligt sind, wissen, daß sie ihre Quellen
schützen müssen. Dies ist auch der Fall, wenn unsere
Quellen Personen sind, die in Staaten arbeiten, in denen
sie streng bestraft werden könnten. Die russische Dich-
terin Anna Achmatova geriet in ernste Schwierigkeiten,
weil sie von britischen Bewunderern besucht und
umarmt wurde. Wenn man solche Staaten besucht, ist
mehr Selbstzensur erforderlich als in den Vereinigten
Staaten. Ich glaube, daß die Vereinigten Staaten auf
diesen Unterschied stolz sein können.
Gleichzeitig bedeutet dies, daß wir sowohl die Mög-
lichkeit als auch die Verpflichtung haben, offen zu
reden, wenn wir mit unseren amerikanischen Kollegen
zusammenkommen. Wir sind verpflichtet, unsere Sor-
gen publik zu machen.
Kriminologen haben ein außerordentliches Potenti-
al, gefährlich zu sein. Kein Wunder, daß Foucault so
skeptisch war. Einige von uns arbeiten sehr nahe an der
Macht und dem absichtlichen Zufügen von Schmerz.
Es kann sehr leicht passieren, daß wir Techniker des
Schmerzzufügens in einem Ausmaß werden, das in
krassem Widerspruch zu zentralen Werten steht. Ande-
rerseits kann die Nähe zur Macht auch ein Vorteil sein.
Sie kann uns die Möglichkeit geben, den Staat über den
bedauerlichen Zustand seines Strafverfolgungssystems
zu informieren, wenn man dieses System in einer Rela-
tion zu Werten und Anstand betrachtet.
Vermutlich gibt es in den USA allein mehr Krimi-
nologen und andere Experten auf diesem Gebiet als in
allen anderen Ländern zusammengenommen. Einige
von ihnen arbeiten in gefährlicher Nähe zu einem
bedauerlichen System. Einige arbeiten auch in diesem
System. Durch ihre Nähe sind sie beteiligt und daher
die natürlichen Ziele der Kritik aus dem Ausland.
Gleichzeitig weiß ich natürlich, daß viele der Kolle-
gen in den Vereinigten Staaten, vielleicht sogar die
Mehrheit, viele der oben dargestellten Ansichten über
das amerikanische Strafverfolgungssystem teilen. Sie
wissen, daß die Gefängnisse Universitäten für das
Verbrechen sind und daß es besser ist, in richtige Uni-
versitäten zu investieren. Sie wissen, daß das Leben in
den Innenstädten geschädigt wird, wenn so viele ihrer
Einwohner in den Gefängnissen verschwinden. Sie
wissen es, und viele sagen es auch, 5 haben jedoch das
Gefühl vollkommener Hilflosigkeit. Und das ist auch
realistisch. Vielleicht mögen die Schwingungen, die
von den Flügeln eines Schmetterlings in Italien hervor-
gerufen werden, einen Wirbelsturm in der Sahara ver-
ursachen, aber es ist schwer, sich vorzustellen, daß
Vorlesungen über das Verbrechen in Berkeley das
Verhalten in Washington ändern können – wenn diese
Vorlesungen nicht mit den Interessen der Herrschenden
übereinstimmen.
Wenn ich früher aus der Sowjetunion nach Hause
kam oder heute aus Rußland oder anderen osteuropä-
ischen Staaten, hatte und habe ich oft das Gefühl, daß
man mir zugehört hat. Ich glaube, daß diese Besuche
etwas bewirkt haben könnten, nicht viel, aber vielleicht
sind sie ein kleiner Impuls unter vielen für die Men-
schen, die mit dem Strafverfolgungssystem zu tun
haben. Vielleicht liegt es daran, daß ich im dortigen
Umfeld ein so seltsamer Vogel bin. Nicht viele sagen
das, was ich sage. Vielleicht liegt es an den Ansichten
der sogenannten osteuropäischen Intelligentsia, einer
Schicht, die einen beträchtlichen Einfluß ausübt. Viel-
leicht hängt es auch mit dem von mir im Vorstehenden
beschriebenen ehrlichen Wunsch zusammen, sich den
westeuropäischen Standards anzunähern. Aber in den
Vereinigten Staaten existiert ein solches Bedürfnis
nicht. Sie sind der Standard. Es ist nicht schwer zu
verstehen, daß viele der Kollegen in den USA den
Kampf aufgeben und sich scheuen, ihr System wegen
seiner Schrecken zu kritisieren.
Ein weiterer Faktor, der die Verantwortung der ame-
rikanischen Kollegen mindert, ist die Tatsache, daß
Europa möglicherweise schon bald in die Fußstapfen
der USA treten könnte. In den USA gibt es mehr Kri-
minologen, aber Europa befindet sich auf dem gleichen
Weg. Es paßt sich in der Entwicklung innerhalb des
Strafverfolgungssystems an die moderne Zeit an, aber
auch im Hinblick auf die Möglichkeiten für Akademi-
ker, diese Entwicklung zu kritisieren. Dies kann ich
anhand der Zustände in meinem eigenen Land illustrie-
ren.
INDIVIDUELLER WIDERSTAND
WURZELN
1 Christie (1952/1974).
2 Christie (1960).
3 Christie und Bruun (1991).
4 Christie (1995b).
2. MONOKULTUREN
1 Als Schuljunge erfuhr ich, daß ein Verwandter
meiner Familie ein bekannter Mann gewesen war, als
unsere Verfassung im Jahr 1814 konzipiert wurde. Er
starb kurz vor der Geburt meiner Großtan-
ten. Ich lief zu den Großtanten und bat sie, mir von
diesem großen Mann zu erzählen. Sie weigerten sich
strikt. Er war eine Un-Person. Er hatte mit einer Frau
zusammengelebt, mit der er nicht verheiratet war. Und
was noch schlimmer war, er hatte Kinder mit ihr ge-
habt. Es half auch nichts, daß er sie durch einen damals
möglichen gesetzlichen Schritt legitimiert hatte.
6. KEINE BESTRAFUNG
1 Vgl. Fangen (2001) und Bjørgo (1997).
2 Im Febr. 2003 wurden sie zu 17 bzw. 18 Jahren
Haft verurteilt.
3 Der Ausdruck Abolitionismus wurde vom
Kampf gegen die Sklaverei, besonders in den USA,
übernommen. Innerhalb der Bewegung bestand ein
Konflikt zwischen den Befürwortern einer vollständi-
gen Abschaffung der Sklaverei und Vertretern einer
Lösung, durch die die Sklaverei durch verschiedene
Mittel eingeschränkt werden sollte. Ebenso wie im
Kampf gegen die Sklaverei gibt es in der abolitionisti-
schen Bewegung eine gemäßigte Gruppe. Das sind die
Minima-listen. Der Name hat in der Geschichte der
Sklaverei keinen guten Klang, aber wo es um die
komplexe Suche nach Antworten auf extrem uner-
wünschte Handlungen geht, ist es ein guter Name.