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WIRTSCHAFT 23.

September 2010 DIE ZEIT No 39 25

Ausgetrickst
und abgekanzelt
Wie Politiker aktiv verhinderten, dass die Bürger beim neuen
Stuttgarter Bahnhof mitbestimmen VON KERSTIN BUND

D
as ist doch dieser Pfaffe!«, ruft ein Amtszimmer geht es gleich zur Sache. Um 16.35 nach dem Tod des Landesvaters Hans Filbin-

Fotos: Andy Ridder für DZ (u.); Uwe Anspach/dpa; Montage: DZ (verw. Fotos: Stills-Online; ingenhoven architects/Holger Knauf, Düsseldorf )
Demonstrant und fuchtelt mit Uhr sind sich die beiden »in allen Punkten einig«: ger, den Günther Oettinger in seiner Trauer-
dem Zeigefinger. »Dass der sich Schuster sagt zu, dass er das Volk befragen will, rede zum Widerständler machte, obwohl er als
für so was hergibt!« Eine ältere wenn Stuttgart 21 für die Stadt deutlich teurer NS-Marinerichter schrecklich wirkte. Die Me-
Dame fragt: »Kann es der Wille würde als geplant. Sie vereinbaren laut Palmer, dass dien schossen sich danach auf ihn ein, und da
Gottes sein, dass 282 alte Bäume gefällt werden?« Mehrkosten von »120 Millionen Euro ein Grund kam es dem Ministerpräsidenten gelegen, dass
Es ist Montagabend, wieder haben sich Tau- für einen Bürgerentscheid wären«. Am Dienstag- die Stuttgarter Blätter vom Bahnhofsumbau noch
sende Bürger am Hauptbahnhof versammelt, um mittag treten sie vor die Presse. Schuster sagt, ein immer begeistert waren. »Die Stuttgarter Zeitung
zu schreien, zu pfeifen, zu lärmen. Gegen Stutt- Bürgerentscheid sei »möglich und nötig«, wenn auf hat schon lange eine klare Haltung zu Stuttgart 21:
gart 21, gegen die Abrissbagger hinterm Bauzaun, die Stadt »erhebliche Mehrkosten« zukämen. Heu- Wir sehen das Vorhaben positiv«, schrieb der stell-
gegen »die da oben«. Mittendrin steht Johannes te nennt der OB die 120 Millionen »völlig aus der vertretende Chefredakteur Michael Maurer kürzlich
Bräuchle, 62 Jahre, evangelischer Pfarrer und seit Luft gegriffen«, seine Zusage sei an »eine Milliarde in einem Leitartikel. Und Bruno Bienzle, Urgestein
Kurzem auch Demonstrant. Nur steht er auf der Euro Mehrkosten« geknüpft gewesen. Hat er bloß der Stuttgarter Nachrichten, erinnert sich: »Pro Stutt-
anderen Seite des Protests. Bis 2005 saß Bräuchle vergessen, dass in einer Pressemitteilung der Stadt gart 21 – das war die klare Blattlinie.«
für die CDU im Gemeinderat, er stimmte da- vom 23. Juli 2007 von »Mehrkosten deutlich im Besuch im Kommunikationsbüro in der Jäger-
mals für die Verlegung des Bahnhofs unter die dreistelligen Millionenbereich« die Rede ist? straße, vor einem Jahr eingerichtet, um das unter-
Erde und soll sich jetzt – etwa wegducken? »Feig- irdische Image des Bahnhofs zu heben. Wolfgang
heit liegt mir nicht«, sagt er. Deshalb entwarf er Das Verwaltungsgericht erklärte ein Drexler empfängt in seinem Büro im sechsten Stock,
am Computer ein Logo, ließ Aufkleber und Pla- Bürgerbegehren für unzulässig von hier oben kann er beobachten, wie sich die Bag-
kate damit bedrucken. »Prosit« steht drauf für ger da unten in den Bahnhofsbeton beißen. Als man
»Pro Stuttgarter Tiefbahnhof«. Das »i« hat er da- Nach heutiger Planung beteiligt sich die Landes- dem SPD-Landtagsvizepräsidenten den Job des Pro-
zwischengeschoben, so viel Latein muss sein. »Es hauptstadt mit 238,5 Millionen Euro an Stuttgart jektsprechers antrug, verstand er sich als eine Art
möge nützen«, übersetzt der Theologe. 21 und hat weitere 53,3 Millionen Euro für einen Botschafter. Nun sagt er: »Ich bin der personifizierte
Johannes Bräuchle geht es um mehr als den Risikofonds zugesagt, falls das nicht ausreicht. Das Prellbock der Stadt.« An ihm entlud sich der ganze
Bahnhof. Es geht um Grundsätzliches. »Man darf wären Mehrkosten von 160 bis 214 Millionen Euro. Frust. Denn Drexler war einer der wenigen Politiker,
der Straße nicht die Meinungsbildung überlassen«, »Das ist ganz eindeutig über der Schwelle, die wir den die Gegner zu Gesicht bekamen – im Fernsehen,
sagt er. Proteste dürften demokratische Beschlüsse für einen Bürgerentscheid vereinbart haben«, sagt in den Nachrichten, auf der Straße.
nicht ersetzen. Wo kämen wir hin? Es ist ein biss- Palmer. Das Volk befragen wollte Schuster aber Damit ist es jetzt vorbei. Drexler hat vergangene
chen so, als würde Bräuchle nun an die Stelle treten, trotzdem nicht. Für Palmer ist das Wortbruch. Woche hingeschmissen und die Politik einen weiteren
an der Stadt, Land und Bahn versagen. Hier am Noch schwerer wiegt ein Vorfall aus dem Herbst prominenten Fürsprecher verloren. Die geringe Sicht-
Bahnhof geht er auf die Gegner ein, vermittelt, 2007. Am 13. September gründet sich ein Bündnis Boris Palmer barkeit der Befürworter, auch das ist ein Problem von
diskutiert. Am Ende hat er keinen überzeugt und aus Projektgegnern mit dem Ziel, Unterschriften von den Grünen Stuttgart 21. Die Taufpaten von damals – Bahnchef
macht doch weiter. Nicht einmal die aufgebrachte zu sammeln, falls der Gemeinderat keinen Bürger- (unten) fertigte Dürr, Ministerpräsident Teufel oder OB Rom-
Demonstrantin, die ihm seine Flugblätter in den entscheid auf den Weg bringt. Genau so kommt es ein Protokoll an mel –, sie sind von der Bildfläche verschwunden.
Hemdkragen gestopft hat, bringt ihn davon ab. am Abend des 4. Oktobers. Der Gemeinderat über seine OB Schuster jettet lieber nach Chile, um dort
Bräuchle will der »schweigenden Mehrheit«, wie stimmt nicht darüber ab. Keine 24 Stunden später Absprache mit einen Platz einzuweihen, während 50 000 Bürger zu
er sagt, eine Stimme geben und ein Gesicht. Jüngs- unterschreibt Schuster die Finanzierungszusagen Stuttgarts OB Hause auf die Straße gehen. Und Ministerpräsident
te Umfragen, wonach 54 Prozent der Baden-Würt- der Stadt für Stuttgart 21. Mappus kündigt eine neue Informationskampagne
temberger die Untertunnelung des Bahnhofs ab- »Schuster hat, ohne den Ausgang des Bürger- an. Noch mehr Plakate? Das falsche Medium, glaubt
lehnen, nimmt er nicht sonderlich ernst. Lieber begehrens abzuwarten, eine Volksabstimmung ver- der Kommunikationsexperte Frank Brettschneider.
erzählt er von den 20 000 Unterstützern, die sich eitelt«, sagt Palmer heute. Der OB lässt mitteilen, »Die Befürworter müssten im Gespräch überzeugen.«
im Internet gefunden haben. zum Zeitpunkt der Unterschrift habe er nichts von Von Bürger zu Bürger.
Bei Stuttgart 21 geht es längst nicht mehr nur »Ziel, Inhalt und Zeitpunkt des geplanten Bürger- Genau das versucht Pfarrer Bräuchle auf dem
um Argumente. »Dafür oder dagegen« ist einem begehrens« gewusst. Was er sehr wohl wusste: dass Schlossplatz. Nur will er heute nicht reden, sondern
»gut oder böse« gewichen. Das Projekt ist zur Glau- die Grünen ein Bürgerbegehren planen. So steht es kleben. An eine Handvoll Gleichgesinnter verteilt er
benssache geworden und der Bauzaun am Nord- im Protokoll der entscheidenden Ratssitzung vom »Prosit«-Aufkleber und den Auftrag, damit die Sticker
flügel zur Klagemauer. Trauerkränze hängen dort 4. Oktober 2007. In derselben Sitzung bittet der zu überkleben, mit denen die Stuttgart-21-Gegner
(»Hier wird die Demokratie beerdigt«), Trans- Grünen-Stadtrat Werner Wölfle den OB eindring- die halbe Stadt zugepflastert haben. »Wir machen
parente mit der Aufschrift »Lügenpack« und »kri- lich, »mit der Unterschrift (...) zu warten, bis klar uns sichtbar«, sagt er. Es möge nützen.
minelle Größenwahnsinnige«. Die Parolen gleiten ist, ob es zu einem Bürgerentscheid kommt«. Den-
ab in historische Vergleiche mit dem Kampf gegen noch unterschreibt Schuster am nächsten Tag. www.zeit.de/audio
Diktaturen, in dem Menschen Leib und Leben Dabei steht der OB nicht mal unter Zeitdruck,
riskierten (»Platz des Himmlischen Friedens«, »Wir Bund, Land und Bahn geben ihre Unterschrift erst
sind das Volk!«). Der Protest hat an manchen Stel- eineinhalb Jahre später. Als die Aktivisten schließlich
len die Bodenhaftung verloren, aber mehr als 60 000 Stimmen zusam-
er ist andererseits zu groß, zu bür- menhaben, 40 000 mehr als not-
gerlich, zu aufgeklärt, um ihn ein- wendig, nützt das nichts mehr. Das
fach abzutun. Das tut auch die Verwaltungsgericht erklärt das Bür-
Kanzlerin nicht, die sich demons- gerbegehren für unzulässig, da be-
trativ hinter das Projekt stellt und reits »rechtlich bindende Verträge«
es symbolisch auflädt. vorlägen. Schuster hat mit seiner
Wie konnte es nur so weit kom- Unterschrift frühzeitig Fakten ge-
men? Gab es doch am Anfang in schaffen. Einen »Bauerntrick«
der Bevölkerung eine Mehrheit für nennt das der Journalist Bruno Bi-
den neuen Bahnhof. Antworten enzle, der 26 Jahre lang das Lokal-
finden sich in einem Videoaus- ressort der Stuttgarter Nachrichten
schnitt und einem bislang unveröf- leitete.
fentlichten Gedächtnisprotokoll. Pfarrer Bräuchle will der Wie die Verantwortlichen eine
Zusammen ergeben sie ein Bild, das »schweigenden Mehr- Einbindung der Bürger von Anfang
von einer Ignoranz der Mächtigen heit« eine Stimme geben an verhinderten, macht auch ein
zeugt, die an alles dachten und da- Amateurvideo auf dem Internet-
bei einen vergaßen: den Bürger. portal YouTube deutlich, das auf
Im Zentrum steht Boris Palmer, OB von Tübin- 1997 datiert ist: Schuster hat zur »offenen Bürger-
gen. Er ist an diesem Tag zum Stuttgarter Bahnhof beteiligung« geladen, offen ist allerdings nur der
gekommen, obwohl er sich zwei Monate zurück- Saal, der so voll wird, dass die Gäste hinten stehen
ziehen wollte. Sein Bart ist dichter geworden, die müssen. Einer nimmt das Mikrofon und appelliert,
Haare länger, sonst deutet nichts darauf hin, dass das Volk doch »wenigstens in einem beschränkten
der Grünen-Politiker gerade in Elternzeit ist. Er Maß« über das Projekt abstimmen zu lassen. Applaus
mischt sich weiter ein, in seinem jüngsten Brief an in der Runde. Die Antwort des Moderators: »Wir
Wolfgang Schuster wirft er dem Stuttgarter OB machen hier keine repräsentative Befragung, ob
»Machtmissbrauch« und »Wortbruch« vor. Stuttgart 21 gewollt wird oder nicht.« Diskussions-
grundlage sei der »Rahmenplan der Stadt«. So wird
Mit einer schnellen Unterschrift schuf ein Einwand nach dem anderen abgekanzelt.
Stuttgarts Oberbürgermeister Fakten Es ist ein Verhalten, das in der Bevölkerung ein
Gefühl von Ohnmacht entstehen lässt. »Die Men-
Die Geschichte beginnt im Oktober 2004, Stuttgart schen haben das Gefühl, dass über ihre Köpfe
wählt seinen Oberbürgermeister, und Palmer tritt hinweg bestimmt wird«, sagt der Kommunikations-
gegen den CDU-Mann Schuster an. Im ersten forscher Frank Brettschneider von der Universität
Wahlgang verfehlt der Amtsinhaber die absolute Hohenheim. Ein Gefühl, das bei Tausenden irgend-
Mehrheit, die SPD-Kandidatin Ute Kumpf kommt wann in Wut umgeschlagen ist. Wut darüber, dass
mit Boris Palmer zusammen auf 53 Prozent. Für kritische Stimmen, die früh vor den Gefahren für
Palmer ist klar, dass er in einem aussichtslosen die Mineralquellen unter der Stadt oder vor den
zweiten Wahlgang nicht wieder kandidieren würde. Risiken des Stuttgarter Untergrunds gewarnt hatten,
Er weiß aber auch, dass die Grünen in der Schwa- beiseitegewischt wurden. Wut darüber, dass Gut-
benmetropole Gewicht haben. Sollte er sich für achten, die auf verkehrstechnische Mängel hin-
einen Kandidaten aussprechen, dann nicht ohne weisen, jahrelang unter Verschluss gehalten wurden.
Gegenleistung. Seine Forderung: ein Bürgerent- Wut darüber, dass das angeblich am sorgfältigsten
scheid über Stuttgart 21. Den wollte er als verkehrs- gerechnete Bahnprojekt immer teurer wird.
politischer Sprecher der Grünen-Fraktion im Land- Stuttgart 21 ist ein Beispiel, wie sich eine Stadt
tag schon lange, jetzt bietet sich eine einmalige von ihren Bürgern entfremden kann. In kaum ei-
Chance. Denn die CDU in Stuttgart ist nervös, nem Bundesland sind die Machtverhältnisse so
ohne Palmers Unterstützung könnte es eng werden stabil wie in Baden-Württemberg, die CDU regiert
mit Schusters Sieg. Noch am Wahlabend lädt sie zu hier seit mehr als 50 Jahren. Das hat etwas Verläss-
Gesprächen am folgenden Tag ins Rathaus. liches, aber darin liegt auch eine Verführung zur
Was an diesem Montag, dem 11. Oktober 2004, Bürgerferne, manche sagen: zur Arroganz.
geschieht, hat Palmer in einem ausführlichen Ge- Auch in den Stuttgarter Medien gab es lange
dächtnisprotokoll festgehalten, das der ZEIT vor- kaum kritische Berichte. Indirekt sorgte die Presse
liegt. Demnach erhält Palmer am Nachmittag einen sogar dafür, dass das Projekt am Ende umso ent-
Anruf von Schuster, er will ein Treffen. In Schusters schlossener vorangetrieben wurde. So geschehen

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