Sie sind auf Seite 1von 715

Adolf Singelmann

Die Welt als Garten


Über Gartenkunst
Eine Streitschrift

Die Welt als Garten  1


Inhaltsverzeichnis
Vorwort 8

Zur Einführung 10

Der Begriff und die Profession 10

Verhältnis zwischen Gartenkunst und Natur 12

Das Verhältnis zwischen Landschaft und Natur 15

Die Problematik des Naturbegriffs 17

Die klärende Funktion der Unterscheidung 18

Kapitel 1 Die Differenztheorie  23

1.1 Die ‚Form der Unterscheidung’ 23

1.2 Die ‚Form der Unterscheidung‘ in der Kunst 26

1.3 Frühere und Verwandte Theorien  27

1.4 Die alte Denkweise 29

1.5 Die Unterscheidung mit zwei Seiten als Skala 30

Kapitel 2 Die Vegetation im Garten 34

2.1 Die biologischen Grundlagen der Vegetation 34

2.1.1 Zusammenfassung 37

2.2 Das Verhältnis physis/techne, entwicklungsgeschichtlich gesehen 38

2.3 Das Verhältnis physis/techne in der heutigen Praxis 40

2.4 Techne ist ‚Tun und Lassen’ 43

2.5 Station bei Heidegger 44

2.6 Die Vegetation im Garten: Zusammenfassung 49

Kapitel 3 Funktion und Gestaltung 51

3.1 Über Schmuck, Dekoration und Ornament 51

2  Die Welt als Garten


3.2 Die ornamentale Wirkung der Gestalt 53

3.2.1 Zwischenbemerkung 55

3.3 Das Ornament in der Baukunst 56

3.4 Ornament ohne Funktion 58

3.5 Bildende Kunst und Ornament 59

3.6 Die Bedeutung des Materials 60

Kapitel 4 Funktion und Ornament in der Gartenkunst  63

4.1 Wege im ‚Urgarten’  63

4.2 Wegetypen 64

4.2.1 Wege als Ordnungssystem 64

4.2.2 Wege zum ‚Lustwandeln’ 66

4.3 Die klassischen Wege-Systeme 67

4.3.1 Wege im Barockgarten 67

4.3.2 Wege im Landschaftsgarten 68

4.4 Funktion der Wege 72

4.4.1 Einfluss der Technik 72

4.4.2 Die psychologische Wirkung der Wegeführung 72

4.5 Zusammenfassung: Funktion/Ornament 74

4.6 Station bei Schiller. 74

Kapitel 5 Der Raum als Medium von Architektur und Gartenkunst  81

5.1 Die Waldlichtung als ‚Urraum’ 81

5.2 Die Entwicklung des klassischen Stadtraumes als Grundlage der abendländischen Kultur 83

5.3 Die Unterscheidung der Räume  85

5.4 Die besondere Bedeutung des Waldes 87

5.5 Die Auflösung des Klassischen Raumes 88

Die Welt als Garten  3


5.5.1 Die fraktale Dimension 88

5.5.2 Die Zwischenstadt 89

5.6 Die neue Raumidee 92

5.6.1 Der Urwohnraum, die Höhle 94

5.6.2 Das Raum-Zeit-Kontinuum 95

5.6.3 Der Konstruktivismus in der neuen Architektur 95

5.6.4 Der fließende Raum 96

5.6.5 Die Zeit nach dem Bauhaus 99

5.7 Der neue Raum und die Gartenkunst 102

5.8 Zusammenfassung 107

Kapitel 6 Über Wahrnehmung und Kunst  110

6.1 Kunst als Produktion und Rezeption  110

6.2 Entwicklungspsychologie - Die Grundlage von Wahrnehmung 110

6.3 Formen der Adaptation 115

6.3.1 Kognitionsschema 116

6.3.2 Gestaltungsschema 117

6.3.3 Erlebnisschema 118

6.4 Verstehen von Kunst 121

6.5 Wahrnehmung ist Konstruktion 123

6.5.1 Synästhetik 123

6.5.2 Raumerfahrung durch Bewegung 124

6.5.3 Die haptische Wahrnehmung  125

6.5.4 Weitere leibliche Wahrnehmungen 126

Zwischenbemerkung: Eine negative Tendenz im Naturschutz 126

6.5.5 Atmosphären  126

4  Die Welt als Garten


6.5.6 Fühlen und Denken 129

6.6 Archetypen  131

6.7 Morphische Felder 134

Kapitel 7 Gartenkunst und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft. 137

7.1 Gartenkunst und Landschaftsmalerei 138

7.2 Die Bildung von Systemen 148

7.2.1 Theoretische Grundlagen der Systembildung  148

7.2.2 Systembildung im Kunstbetrieb  151

7.2.3 Der Naturschutz als soziales Funktionssystem  152

7.2.4 Eine Systembildung in der heutigen Gartenkunst 156

7.2.5 Die Unvereinbarkeit geschlossener Systeme 159

7.3 Die Unterscheidung von Gartenkunst und bildender Kunst  162

7.3.1 Die Entwicklung in der bildenden Kunst  162

7.3.2 Die Entwicklung der Gartenkunst im Vergleich 162

7.3.3 Medium und Form als Unterscheidungsmerkmal 163

7.3.4 Pflanzen als ‚Medium und Form’ in der Gartenkunst 164

7.3.5 Architektur als Medium und Form in der Gartenkunst 165

7.4 Systemreferenzen in der Kunst 165

7.4.1 „Little Sparta“ als Beispiel 167

7.4.2 Beispiele der Land Art  168

7.4.3 Künstler als Gärtner 172

7.5 Systeminterferenzen in der Gartenkunst 175

Kapitel 8 Die Welt als Garten  189

8.1 Eine Begriffsbestimmung  189

8.2 Ist die ‚Welt als Garten’ ein System? 190

Die Welt als Garten  5


8.3 Heidegger und das Wohnen 194

8.4 Was ist Kunst? Was ist Gartenkunst? 196

8.4.1 Adornos Kunsttheorie 198

Mimesis198

Das Versöhnte und Unversöhnte 199

Das Naturschöne 202

8.5 Gartenkunst, soziologisch gesehen 203

8.5.1 Bourdieu und die Eliten 204

8.5.2 Gerhard Schulzes Milieus 205

8.5.3 Die Gleichberechtigung unterschiedlicher Lebensformen. 207

8.5.4 Entwicklung in der Kunst 208

8.5.5 Avantgarde und Gros 209

8.5.6 Folgerungen für die Gartenkunst 211

8.5.7 Was ist Urbanität? 212

Kapitel 9 Aspekte der ‚Gartenwelt’ 216

9.1 Die räumliche Struktur 216

9.2 Vegetation als Substanz der Gartenwelt 217

9.2.1 Die Bedeutung der Bodenfruchtbarkeit 217

9.2.2 „Nachwachsende Rohstoffe“ als einschneidender Faktor in der Gartenwelt 218

9.3 Das Bild der Landschaft, Zukunftsaspekte 219

9.3.1 Die Landwirtschaft und das Bild der Landschaft 220

9.3.2 Der Naturschutz in der Gartenwelt 222

Jürgen Dahls Federgeistchen 222

Überholte Symbole 223

Der Einfluss ökologischer Erkenntnisse auf die Wahrnehmung 224

6  Die Welt als Garten


Der Wert des Seltenen 224

Die Utopie eines gesellschafts-konformen Naturschutzes 225

9.4 Aspekte der Gartenkunst  226

9.4.1 Pflanzen als Medium in der Gartenkunst 227

Formen der Pflanzenverwendung 227

Pflanzen in Einzelstellung 227

Pflanzen in Vergesellschaftung 228

9.4.2 Das Verhältnis von Vegetation und Architektur im Garten  229

9.4.3 Die Vegetation und der ‚fließende Raum’ 230

Kapitel 10 Zusammenfassung  233

Literaturverzeichnis 237

Abbildungsverzeichnis 245

Die Welt als Garten  7


Vorwort
Diese Arbeit kann man als Bilanz eines langen Berufslebens bezeichnen. Ich war in den unterschiedlichsten
Berufsfeldern tätig, aber immer bestrebt, jeweils hinter den praktischen Alltagsfragen die theoretischen Grundlagen
zu erkennen. Am Anfang bewegte sich mein Denken oft in Extremen. So hatte ich mir in der Lehrzeit in der zu
ihrer Zeit größten Sortimentsbaumschule immense Pflanzenkenntnisse angeeignet. Die kamen mir aber im Laufe
des späteren Studiums bald als unnützer Ballast vor, weil ich mich immer mehr der ‚heimischen’ Natur zuwandte.
Diese hatte sich in der Nachkriegszeit in Berlin wegen der mangelnden ‚Pflege’ die Straßen zurückerobert. Ich war
auf meinem täglichen Weg von Steglitz nach Dahlem immer wieder fasziniert, wenn ich in den Pflasterritzen eine
neue Pflanze entdeckte, wie zum Beispiel die Wegwarte oder den Steinsamen, die weit verbreitet waren. Ich stellte
fest, dass ‚Natur’ und ‚Stadt’ kein Widerspruch sein muss und entdeckte so eine für mich neue Ästhetik, die dazu
führte, dass ich meine Entwürfe nur noch nach rein pflanzensoziologischen Prinzipien ausführte, eine zu der Zeit
extreme Haltung.

In der Bibliothek der Lehr- und Forschungsanstalt fand ich Literatur über das Bauhaus. Aus dessen Prinzipien und
meiner neuen Auffassung der Natur entwickelte ich für mich eine Theorie, die ich in meiner Examensarbeit 1954
so zum Ausdruck brachte:

Unsere Raumvorstellung ist eine unendliche im Gegensatz zur antiken. Die moderne Architektur öff-
net sich deshalb nach außen. Sie umgrenzt keinen endlichen Raum mehr, sondern verkörpert die
Spannung zwischen dem „vernünftigen und dem kosmischen Prinzip“ zwischen Mensch und Natur.
War die klassische Raumvorstellung „statisch“, so ist die moderne „dynamisch“. Architektur und Natur
durchdringen sich gegenseitig, ohne ihr Sein und ihre eigenen Gesetze aufzugeben. ... Das moder-
ne Prinzip [ist] das Nebeneinander und das Ineinander von Natur und Kultur, von Architektur und
Landschaft.

Meine Neigung zu dieser radikalen Abkehr von der Konvention wurde sicher auch verstärkt durch das Erlebnis des
damals pulsierenden Berliner Kunstlebens, das durch Namen wie Karl Hofer, Karl Hartung, Bernhard Heiliger, E.
W. Nay und andere und durch die Auseinandersetzung zwischen gegenständlicher und abstrakter Kunst gekenn-
zeichnet war. Dank der in Dahlem durch Paul Mittelstädt propagierten „studentischen Freiheit“ konnte ich voll in
dieses spannende Geschehen eintauchen, und so ließ ich keinen Vortrag von Will Grohmann im Haus am Waldsee
und keine Kunstausstellung aus.

Nach dem Studium wurde schnell klar, dass in der damaligen prekären Arbeitswelt dieses ideale Leben nicht fortge-
setzt werden konnte. In einem bewussten ‚Kontrastprogramm’ dirigierte ich deshalb drei Jahre lang in einer großen
Erdbaufirma Bagger und Planierraupen.

In dem anschließenden Staatsdienst war ich dann, wie in den Jahren üblich, als Generalist tätig. Ein Schwerpunkt
war der Naturschutz, den ich ziemlich fundamentalistisch vertrat. Das änderte sich aber mit der Zeit, je mehr die
Naturschutzbewegung politischen Einfluss gewann und der Konflikt mit den anderen grünen Fakultäten zunahm.
Meine dadurch entstandene kritische Einstellung begründe ich in dieser Arbeit.

Ich habe mich seit meiner Jugend für die Philosophie interessiert; So lag es nahe, nach meiner Pensionierung die-
ser Neigung als Gasthörer an der Hamburger Universität zu folgen. Ich bin in den drei Jahren zwar kein Philosoph
geworden, aber ich kann mich seitdem ‚angstfrei’ in der philosophischen Literatur bewegen. Letztlich wurde ich
dadurch motiviert, diese Arbeit in Angriff zu nehmen.

8  Die Welt als Garten


Bewegt hatte mich auch die kritische Auseinandersetzung mit der postmodernen Architektur und im Zusammenhang
damit die Kritik des Oberbaudirektors Egbert Kossak, der den Vorwurf erhoben hatte, dass die Gartenarchitekten
nicht auf der Höhe der Zeit seien.1

Wesentliche Impulse erhielt ich von Lyotards Widerstreit und Gerhard Schulzes Soziologie der „Erlebnisgesellschaft“.
Einen entscheidenden Einfluss hatten aber die „Gesetze der Form“ von Spencer-Brown, die Niklas Luhmann in
Deutschland bekannt gemacht hatte. Sie sind das theoretische Werkzeug, mit dem ich meine Idee über das Verhältnis
zwischen Architektur- und Naturraum von 1954 weiter entwickelt habe.

Rückblickend sehe ich ein Versäumnis darin, dass ich erst spät versucht habe, an dem öffentlichen fach-
lichen Diskurs teilzunehmen. Ein Versuch vor etwa zehn Jahren, erste Grundgedanken dieser Arbeit
einem größeren Kollegenkreis zur Diskussion vorzulegen, blieb ohne Resonanz.

Zum akademischen Betrieb fehlt mir jegliche Verbindung, sodass ich mich darauf beschränken musste, die einschlä-
gige Literatur, darunter einige Dissertationen, zu studieren. Vielleicht war aber gerade die Tatsache, dass ich nicht
im normalen wissenschaftlichen Betrieb sozialisiert wurde, die Voraussetzung für ein unbefangenes Denken und
für die Entwicklung unkonventioneller Lösungen. Dass diese nicht ohne Widerspruch bleiben werden, ist mir klar.
Insofern nenne ich es bewusst eine Streitschrift. Denn in der Kunst und somit auch in der Gartenkunst gibt es kei-
nen Fortschritt ohne „Widerstreit“.

1  „Garten und Landschaft“ 11/86

Die Welt als Garten  9


Zur Einführung

Der Begriff und die Profession


Der Begriff Gartenkunst wurde bis vor kurzem fast nur in Bezug auf historische Gärten benutzt. So wurden z.B. in
einem Seminar über „Gartenkunst“, Untertitel: „Historische Gärten in Holstein“, nur Barock- und Landschaftsgärten
des 18. und 19. Jahrhunderts behandelt. Und noch 1990 erschien ein Buch über historische Gärten mit dem Titel:
„Gartenkunst in Europa.“ Die Ursache für diese verengte Sichtweise mag darin liegen, dass diese Anlagen - oft in
restaurierter Form - noch gegenwärtig und erlebbar sind, wie z. B. die Herrenhäuser Gärten oder der Englische
Garten in München. Auch gelten ihre Schöpfer, wie Le Notre, Skell u. a, für uns als anerkannte Künstler. Dagegen
scheute man sich, die gegenwärtige Gartengestaltung als Kunst anzusehen. Das nahm schon seinen Anfang mit
der Erstarrung des Landschaftsstils am Ende des 19. Jahrhunderts, als von Kunst nicht mehr die Rede sein konn-
te. Die Entwicklung verlief parallel zum Niedergang der Baukunst. Die Stadtvilla im Renaissancestil mit einem
Brezelweggarten ist für uns das Schreckensbild jener Zeit. Aber „eigenartigerweise [wähnte man sich] gerade da-
mals auf dem Gipfel deutscher Gartenkunst.“ 2

Die Reaktion auf den Eklektizismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts war die Reformarchitektur, die - von England
ausgehend - in Deutschland von Muthesius und anderen vertreten wurde. Diese Architekten fühlten sich auch
für den Garten zuständig und bezogen ihn in ihr funktionales Konzept ein, deklariert als „erweiterter Wohnraum.“

Nach anfänglichem Widerstand übernahmen auch Gartenarchitekten diesen Stil und fügten den Teil hinzu, den
die Architekten nicht beherrschten, nämlich eine entsprechende Verwendung der Pflanzen. Hierfür stehen die
Namen Willy Lange, Leberecht Migge und andere. Eine neue Dimension von Gartenbildern ermöglichten die
Staudenzüchtungen von Karl Förster. Vorrang hatte aber das funktionalistische Prinzip. Besonders die Welle der
Stadtparkplanungen bis Ende der 20er Jahre war auf die Erfüllung sozialhygienischer Funktionen ausgerichtet, wo-
bei die Gestaltung neobarocke Züge hatte.

Während Ende des 19. Jahrhunderts der Landschaftsgarten im reinen Manierismus erstarrte, erwachte in
Kreisen der Bevölkerung das Interesse für die eigentliche Landschaft. Aus dem Heimatschutz entwickelte sich die
Naturschutzbewegung. Die Ursache hierfür war die sprunghafte Zunahme der Industrialisierung, deren negative
Auswirkung auf die Natur immer deutlicher wurde. Gartenarchitekten gehörten zunächst nicht zu den Protagonisten
dieser Bewegung. Erst als es um fachliche Fragen, wie die Beseitigung oder Kaschierung von Folgeschäden ging,
entstand für diese ein neues Betätigungsfeld. Themen waren Haldenbegrünungen, Rekultivierung von Kiesgruben,
aber auch die landschaftliche Einbindung von Autobahnen und die Renaturierung verbauter Gewässer. Eine wich-
tige Hilfswissenschaft war die Pflanzensoziologie. Anstatt nur nach ‚rauchharten’ Gehölzen zu fragen, wurde die
Standortgerechtigkeit Kriterium der Planung.

In den ersten Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg bestand die Chance, beim Wiederaufbau der Städte die
Forderung der Charta von Athen nach Durchgrünung der Städte zu erfüllen. Diese Aufgabe war so groß, dass es
zunächst nur um Flächensicherung gehen konnte. In Hamburg z.B. gab es den Haushaltstitel „Einfachbegrünung“,
mit dessen Mitteln nur die Rasenansaat, einfache Wanderwege und Pflanzungen durchgeführt werden konnten.
An eine künstlerische Gestaltung war nicht zu denken. Auch die Vielfalt der Aufgaben nahm zu: Grünanlagen,
Siedlungsgrün, Straßenbegleitgrün, Kinderspielplätze, Sportanlagen, Außenanlagen an Schulen und Kindergärten
und vieles mehr waren zu planen. Die Gartenarchitekten waren in dieser Zeit - besonders im administrativen
Bereich - Generalisten, die in vielen Städten auch noch für den Naturschutz und die städtebauliche Grünplanung
zuständig waren. Die Gartenkunst war zu dieser Zeit explizit kein Thema.

2  Hoffmann, (1993), 274.

10  Die Welt als Garten


Das bedeutet natürlich nicht, dass es unter dem herrschenden Funktionalismus nicht auch hervorragende künstleri-
sche Leistungen gab von Gartenarchitekten wie Mattern, Hammerbacher, Reich, Lüdtge, Plomin und andere.
Aber es gab kaum Diskussionen oder gar Streit über dieses Thema und auch keine Prinzipien, die man als stilbildend
bezeichnen könnte.

Ein tief greifender Wandel, der in seiner Wirkung als gegenläufig bezeichnet werden kann, vollzog sich in der
Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts. Der Grund dazu war einerseits das Erstarken des
Umweltbewusstseins und andererseits die Bewegung der Postmoderne.

Nach der Propagierung des „blauen Himmels über der Ruhr“ fühlten sich viele junge Menschen berufen, an dieser
großen Aufgabe mitzuwirken. Die Biologie und die Geographie wurden beliebte Studienfächer. Da der behördli-
che Natur- und Umweltschutz viele dieser neu Ausgebildeten nicht aufnehmen konnte, bildeten sich ganz neue
Strukturen in der nichtstaatlichen Naturschutzbewegung aus, die zunehmend auch politischen Einfluss gewann.

In der Landschaftsarchitektur konnte man jetzt teilweise von einem ökologischen Funktionalismus sprechen. Wie
Jürgen Wenzel feststellte, reagierte die Profession „mit einem Wechsel ihres Objekts. Zu ihrer wichtigsten Aufgabe
erklärte sie nun den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen. So wurde der Artenreichtum einer Grünfläche so-
gar zum Gradmesser ihrer Erholungseignung. ... Stadtplanung und Landschaftsarchitektur wurden zu Gegnern.“3
Diese Entwicklung und die Verunsicherung des Berufsfeldes schlug sich auch nieder in den Änderungen der
Berufsbezeichnung: Gartengestalter - Gartenarchitekt – Garten- und Landschaftsarchitekt – Landschaftsarchitekt.

In der Architektur vollzog sich ein Wandel, der in eine ganz andere Richtung ging: Die Entwicklung der Postmoderne.
Es war die Reaktion auf die ‚Kastenarchitektur’ der späten Moderne. Es entstand ein Stil, der sich ‚narrativ’ der
Versatzstücke vergangener Epochen bediente. Die Beachtung der Funktionen – ‚form follows funktion’ - wurde
sekundär. Die wichtigsten Apologeten waren Heinrich Klotz und Charles Jencks.4 Die Außenanlagen zu dieser
Architektur wurden aus Versatzstücken des Barocks zunächst von den Architekten mit ausgeführt.

Die Landschaftsarchitekten, die dem ökologischen Diktat nicht folgten und ihre Aufgabe weiterhin in einer krea-
tiven, ästhetischen Gestaltung sahen, saßen jetzt zwischen allen Stühlen. Nach Ulrich Eisel wurde ihnen nun die
Anerkennung „von zwei Seiten verweigert: Einerseits von denen, die – wie sie – für das Grün in der Gesellschaft
zuständig gemacht wurden, ... die Naturschützer und Umweltplaner. Andererseits aber auch von denen, die für
das Gegenteil zuständig sind, die Architekten ...“ 5 Dieses Spannungsverhältnis führte schließlich zu einer Spaltung
der grünen Profession. Zunächst im akademischen Bereich, in dem Landschaftsarchitekten sich der Fakultät der
Architekten anschlossen.

So ist jetzt eine Bewegung entstanden, die den Anspruch erhebt, wieder Gartenkunst zu sein. Ihre Motivation wird
treffend von Udo Weilacher dargestellt:

...von der Landschaftsarchitektur, einst unter der Bezeichnung Gartenkunst als eine der wichtigsten
und einflussreichsten Künste gefeiert, wird immer eindrücklicher gefordert, dass sie zu einer zeitge-
mäßen Aussagekraft im aktuellen Kontext finden müsse. Vor fast hundert Jahren ist der Anspruch
auf ästhetische Qualität , der an die Landschaftsarchitektur zu stellen wäre, zugunsten funktionaler
Nutzbarkeit und Erfüllung soziologischer und ökologischer Anforderungen stark in den Hintergrund

3  Wenzel, (2005), 288ff


4  Klotz, (1985), Jencks, (1987).
5  Eisel, (1997), .17

Die Welt als Garten  11


gedrängt worden. Der damit verbundene Verlust an Ausdrucks- und gesellschaftlicher Impulskraft war
gravierend und leitete eine Entwicklung ein, die zu regelrechter Sprachlosigkeit führte.6

So orientiert man sich denn auch zunächst, wie die Architektur, an vergangenen Stilen: Achsiale, symmetrische
Gestaltungen, die nur gelegentlich durch Diagonale gebrochen werden, Hecken, Baumraster und Alleen bilden das
neue, ‚alte’ Vokabular.

Neuerdings spielt das Schlagwort ‚Dekonstruktivismus’ in Architektur und Landschaftsarchitektur eine große Rolle,
abgeleitet von der Theorie des französischen Philosophen Derrida. Der hat sich allerdings von dieser Verwendung
seines Schlüsselbegriffs distanziert. So überwiegt denn auch bei vielen Beispielen das Spektakuläre der äußeren
Form vor dem künstlerischen Gehalt.7

In dem Bestreben, den künstlerischen Anspruch der Landschaftsarchitektur zu untermauern, wird der Blick zuneh-
mend auch auf die Bildende Kunst gerichtet. So wie die Landschaftsmalerei als Vorbild für den Landschaftsgarten
galt, werden jetzt Vorbilder aus der modernen bildenden Kunst gesucht. So sieht man in manchen Entwürfen
Formen nach Art der russischen Suprematisten, Picassos, Piet Mondrians und anderer Künstler, die vor fast hundert
Jahren zur Avantgarde gehörten. – Noch größer ist die Affinität zur Landart. Hier kann man schon von einem flie-
ßenden Übergang sprechen, zumal auch viele bildende Künstler sich mit ‚Natur’ auseinander setzen.8

Abgesehen davon, dass es nach wie vor verbreitet eine konventionelle, pragmatische Gartengestaltung gibt, ist in
der Fachliteratur und besonders im Wettbewerbswesen eine Avantgarde Ton angebend, die mit betont künstleri-
schem Anspruch auftritt. Kennzeichnend ist eine - im Vergleich zu früheren Epochen - zurückhaltende Verwendung
von Pflanzen, besonders im innerstädtischen Bereich und ein geradezu idiosynkratisches Verhältnis zur Ökologie.
Das Interesse ist auf eine Formgebung gerichtet, die als vergleichbar mit der Architektur und der bildenden Kunst
angesehen wird.

Seit einigen Jahren gibt es aber auch eine Bewegung, deren öffentliche Wirkung weit stärker ist. Entwickelt von
Spezialisten, aber getragen von Nichtfachleuten – Dilettanten im klassischem Sinne - ist ein Gartenstil entstan-
den, in dem die Pflanzen wieder die Hauptrolle spielen. Verbreitet wird dieser Stil in zahllosen Gartenzeitschriften,
Hochglanzbroschüren, in speziellen Gartenschauen, die gerne von Gutsherrinnen veranstaltet werden und mit den
immer beliebter werdenden ‚Tagen der offenen Gartenpforte.’

Verhältnis zwischen Gartenkunst und Natur


Die bisherige Darstellung zeigt, dass eine enge Beziehung zwischen Gartenkunst und Architektur besteht. Beide ha-
ben sich mit Form und Funktion auseinanderzusetzen. Ein Unterschied besteht darin, dass im Garten Pflanzen ver-
wendet werden. Dies ist aber auch der Grund für das Konfliktpotenzial in der Theorie der Gartenkunst. Einerseits
werden Pflanzen als ‚Material’ für die Gestaltung betrachtet, andererseits als etwas, das man gerne ‚symbolische
Natur’ nennt. Es geht also um das Verhältnis zwischen Garten und Natur. Auch in diesem Zusammenhang ist ein
Blick auf die historische Entwicklung sinnvoll. Ich gehe weit zurück auf das, was ich den Urgarten nenne: ein Stück
Land, in dem die lebenswichtigen Nutzpflanzen durch eine Einfriedigung gegen die ‚wilde Natur’ beschützt waren.
Dieses Prinzip gilt heute noch in vielen Nutzgärten. Es galt auch für alle historischen Gärten bis zur Renaissance.
Im Zuge der Aufklärung, mit der Entwicklung des Barockgartens trat dann ein grundlegender Wandel ein. Dieser
bestand darin, dass sich der Garten zur Natur hin öffnete. War der Urgarten schlechthin Negation der Natur, so trat

6  Weilacher,(1999), 9
7  Krebs, (2002),
8  Weilacher (1999); Kunstforum, (1988), (1999a), (1999b).

12  Die Welt als Garten


der Barockgarten in ein Spannungsverhältnis zu ihr. Das mag ungewohnt klingen nach der vorherrschenden Lesart,
die immer die Naturfeindlichkeit des Barocks betont.

Aber schon bei Dezallier d´Argenville, Autor eines anfangs des 18. Jahrhunderts weit verbreiteten Lehr- und
Musterbuches, lesen wir:

Beim Bau eines Gartens muss darauf geachtet werden, dass dieser der Natur mehr verdankt als der
Kunst; dieser darf er nur das entlehnen, was zur Hervorhebung der Natur dient. ... Die einzelnen Teile
des Gartens müssen so glücklich liegen, dass sie gleichsam vom Schöpfer der Natur gesetzt und be-
pflanzt zu sein scheinen.9

Das zeigt, dass die Schöpfer der Barockgärten durchaus ein bewusstes positives Verhältnis zur Natur hatten. Auch
bei Lucius Burckhardt erfahren wir eine ungewohnte spezielle Sicht des Barockgartens:

Der Park von Versailles sieht genau so nicht aus, wie er uns in der Geschichtsstunde beschrieben wur-
de: ... Dargestellt ist ... nicht die Macht des Sonnenkönigs, sondern vielmehr das Verhältnis des (da-
mals) Beherrschbaren zum Unbeherrschten, zum Gebiet des Abenteuers und der Jagd. ... Gleich einem
Musikstück zieht der Garten den plötzlichen Übergang vom Schloss in die Länge durch eine Folge von
verzögerten Motiven. ... Der Wald am Ende des Parks ist wahrlich der Urwald.10

Ähnlich sieht es der Kunsthistoriker und Gartendenkmalpfleger Géza Hajós:

Es wäre sicher falsch, im Renaissancegarten genauso wie im Barockgarten nur die Absicht, die Natur
zu „beherrschen“, sehen zu wollen; in beiden Gartenformen ging es um das Kennenlernen der Natur,
als Auseinandersetzung oder Wettstreit zwischen Ordnung und Unordnung, zwischen Künstlichem
und Wilden, zwischen Mensch und Umwelt. Dass die Natur damals noch in vielfacher Hinsicht eine
„Bedrohung“ darstellte, erklärt nur sehr zum Teil ihre ästhetische Verarbeitung, denn gerade die un-
mittelbar Betroffenen, die der Naturgewalt oft wehrlos ausgeliefert waren, konnten sich keine idylli-
sche Betrachtung leisten.11

Und auch für den Kunsthistoriker Torsten O. Enge ist der französische Barockgarten eine
Landschaftsarchitektur, die „eine wesentliche Gestaltung der Idee der Natur leistet.“12

Ich betone diese ungewöhnliche Sicht auf den Barockgarten, um deutlich zu machen, dass das Naturverhältnis in
der Gartenkunst nicht in erster Linie eine formale Frage ist.

Wenn wir die weitere Entwicklung in großen Zügen verfolgen und von Details absehen, z. B. ob Pflanzen beschnit-
ten werden oder nicht, so ist der Übergang vom Barock- zum Landschaftsgarten, anders als es meist geschieht, nicht
als Bruch anzusehen. Wenn im Barockgarten, wie Lucius Burckhardt sagt, der Übergang vom Schloss, also vom
Architektonischen zum ‚Urwald,’ zur freien Natur inszeniert wird, so wird im Landschaftsgarten die ‚ganze Natur’
als solche inszeniert. So lesen wir bei Christian C. L. Hirschfeld, dem großen Theoretiker der Gartenkunst:

Die Natur ordnet alle Gegenstände in der Landschaft mit Freyheit und Ungezwungenheit an. Keine
symmetrische Gleichheit, keine künstliche Abzirkelung, keine Einförmigkeit im Umfang, in Gestalt
und Bildung der Tiefen, Anhöhen und Ebenen, der Pflanzen, Blumen, Stauden und Wälder, der Bäche

9  A.J. Dezallier d´Argenville, (1960), 125.


10  Burckhardt, Lucius, (2007), 49 f.
11  Hajós, 1988
12  Enge, (1990), 219.

Die Welt als Garten  13


und Seen. Alles erscheint in einer ganz freien Anordnung, mit der größten Abwechslung, mit einer Art
von angenehmer Nachlässigkeit und Zerstreuung, die mehr wert ist als die sorgfältigste Genauigkeit.
Dieses Vorbild stellt die Natur dem Gartenkünstler zur Nachahmung vor Augen. ... Ein schöner Garten
ist kein anderer, als der nach der schönen Natur mit Geschmack und Beurteilung angelegt ist.13

Uns ist natürlich bewusst, dass mit der ‚Schönen Natur’ das gemeint war, was Schiller die ‚Gefildenatur’ nannte, also
die weitgehend menschlich angeeignete Natur. - Eine andere Naturinszenierung beschreibt Rousseau in seinem
Roman der „Neuen Heloise“: Der Garten der Julie, der reine Natur darstellen sollte, sei keineswegs „allein durch
Vernachlässigung, durch Verunkrautung und das Walten-Lassen der Natur entstanden“ sondern „je natürlicher
der Garten sein soll, desto aufwendiger sei seine Pflege“14 Hier wird das Paradox der ‚künstlichen Natur’ in ihrer
Inszenierung besonders deutlich.

Der Landschaftsgarten entfernte sich im Laufe der Zeit immer weiter von der Naturinszenierung und erstarrte zu
einem leeren Formalismus. Bei Marie Luise Gothein lesen wir von dem englischen Architekten und Vertreter der
Reformarchitektur Blomfield, welcher feststellte, dass „der Landschaftsgarten in seinen Nachahmungen ebenso
künstlich [sei], wie der des alten Stils. Natur an sich habe weder mit geraden noch mit gekrümmten Linien etwas
zu tun, und es könne eine offene Frage bleiben, ob der natürliche Mensch einen geraden Weg einem gebogenen
vorziehen würde“ und „ ... was das eigentliche Wesen der Natur ... anbeträfe, so habe ein beschnittener Baum eben-
soviel Natürlichkeit wie ein Waldbaum, und es sei daher nicht unnatürlicher einen Baum zu beschneiden, als Gras
zu schneiden.“15

In den neuen Gärten der Reformarchitektur suchten nun einige Gartenarchitekten eine Synthese von Natürlichkeit
und Künstlichkeit, indem sie in den architektonischen Rahmen Naturmotive einfügten. Für Willy Lange z. B. be-
ruhte

jede Kunst auf Steigerung der Natur; als Künstler sucht sich der Mensch zu befreien von der Natur,
über sie hinaus zu gelangen; die Natur als Ganzes vermag er in seinen Werken nicht zu steigern, wohl
aber einzelne ihrer Wesenszüge; hier schafft sich der Mensch seine „Ideen“ ... und in diesen Idealen
sucht er in Kunstwerken ein Dasein zu geben, das höher, „edler“ ihm scheint, gesteigert im Vergleich
mit der Natur.16

Diese Steigerung der Natur meinte Lange zu erreichen, indem er die Bepflanzung der Gärten nicht nach ökologisch-
wissenschaftlichen sondern nach „physiognomisch-künstlerischen Grundsätzen“ vornahm. Noch 1957 wurde diese
Gegensätzlichkeit von namhaften Gartenarchitekten leidenschaftlich diskutiert.17 Doch allmählich setzte sich dann
der indifferente Begriff ‚Grün’ durch; es ging jetzt z. B. um ‚Hilfe durch Grün’ und um ‚Grünplanung.’

Erst mit der Spaltung der Profession in Gartenkünstler und Ökologen beginnt man wieder ‚Farbe zu bekennen.’
Viele Gartenkünstler bewegen sich jetzt in der Begriffswelt der bildenden Kunst. Die Darstellung von ‚Natur’ wird
diskriminiert als ‚Naturalismus,’ der mit Kunst nicht zu vereinbaren ist. Das Verhältnis zur Naturästhetik ist proble-
matisch. So sagte Dieter Kienast in einem Interview: „Den Begriff Schönheit will ich nicht ins Spiel bringen, weil
er mit dem Reizwort des Naturschönen verbunden ist, und dabei geht es immer um Lieblichkeit.“ 18 Entsprechend
wird denn auch das ‚Natürliche’ aus der Stadt verbannt. Stefanie Krebs schreibt im Anschluss an Adriaan Geuze:

13  Hirschfeld, (1985), 138 f.


14  Burckhardt, (2007), 52.
15  Gothein, (1926), 445.
16  Lange, (1922), 2.
17  Garten und Landschaft, Heft 1 – 5, 1957.
18  Kienast, (1999), 146.

14  Die Welt als Garten


„Weil die alten Gegensätze von Natur und Stadt nicht mehr gelten, - Natur wird künstlich erzeugt, Stadt wird
in ihren unkontrollierten Wucherungen bisweilen wie ein Naturereignis wahrgenommen – sollten wir ... heute
auch nicht mehr wie im 19.Jahrhundert versuchen, mit Parks die Illusion von Natur in die Stadt zu holen.“ 19 Das
Verhältnis Natur / Gartenkunst ist zum Antagonismus geworden

Das Verhältnis zwischen Landschaft und Natur


Ein anderes Reizwort ist ‚Arkadien.’ Das weist auf ein verwandtes Problem hin, welches die Profession bewegt,
die Landschaft. Das Gegensatzpaar ‚Kunst / Natur’ heißt jetzt ‚Stadt / Landschaft.’ Landschaftsarchitekten, die
sich auf diesem Gebiet betätigen, betreiben ‚Landschaftsplanung.’ Das ist eine Arbeit mit wissenschaftlichem
Anspruch, bei der man zunächst nicht an Gartenkunst denkt. Es geht hier um Kartierungen, Flächenausweisungen,
Ausgleichsregelungen, kurz um Ökologie. Kann man das unter dem Thema Gartenkunst behandeln? Es gibt zwei
Gründe dafür: Erstens gibt es eine Bewegung, welche die ‚Welt als Garten’ sehen will. ‚Die Welt als Garten’ ist ein
Motto, das im Zusammenhang mit der Expo 2000 geprägt wurde. Es symbolisiert die Forderung, die Natur in allen
Bereichen der Welt so pfleglich zu nutzen, dass sie in ihrer Substanz für spätere Generationen erhalten bleibt. Als
‚Garten’ kann man aber auch die Landschaft unter einem künstlerischem Gesichtspunkt sehen.

Zweitens steht auch das Thema Landschaft unter der Spannung des Konfliktes zwischen Natur und menschlichem
Einfluss. Also nicht nur autonome Werke in einem begrenzten Raum, sondern der gesamte Raum mit allen seinen
gesellschaftlichen Belangen und Ansprüchen ist das Thema der theoretischen Erörterungen. Entsprechend komplex
und unübersichtlich ist es. So stellt Udo Weilacher fest:

Eine unter akutem Theoriedefizit leidende Profession [sieht sich] am Beginn des 21. Jahrhunderts
plötzlich mit neuen, sich vielerorts noch unscharf abzeichnenden Umweltentwicklungstendenzen kon-
frontiert, die auf scheinbar komplizierte und zugleich subtile Weise das Bild von Landschaft und Stadt
sowie die Naturwahrnehmung des Menschen und die Vorstellung von Lebenswelten außerordentlich
rasant und tief greifend verändern.20

Explizit mit der Landschaft auseinander gesetzt hat sich der Philosoph Joachim Ritter.21 Seine Kernaussage ist,
dass der städtische Mensch, der einer ursprünglichen „ganzen Natur“ entzweit ist, als Kompensation die ästhetische
Hinwendung zur Landschaft braucht. Aber:

Der Naturgenuss und die ästhetische Zuwendung zur Natur setzen ... die Freiheit und die gesellschaft-
liche Herrschaft über die Natur voraus. Wo die Natur zu der Gewalt wird, die ihre Ketten zerbricht
und den Menschen, den schutzlos gewordenen, fortreißt, da waltet im Furchtbaren der Schrecken, der
blind ist. Freiheit ist Dasein über der gebändigten Natur. Daher kann es Natur als Landschaft nur unter
der Bedingung der Freiheit auf dem Boden der modernen Gesellschaft geben.22

Ritter bezieht sich u. a. auf Schillers Elegie „Der Spaziergang“, in dem ein Mensch, „entflohen des Zimmers
Gefängnis“ die Natur erlebt: Den „Berg, mit dem rötlich schimmernden Gipfel“, „den grünenden Wald“, „die blü-
hende Au“. Er sieht das „glückliche Volk der Gefilde“, den Menschen, dessen Felder „friedlich sein ländliches Dach
umruhn“. Doch, abgelenkt durch „der Pappeln stolze Geschlechter“ die „in geordnetem Pomp vornehm und präch-
tig daherziehn“ denkt er an die Stadt und das städtische Leben in allen seinen Erscheinungen und Verwicklungen.
- Schließlich findet er sich in einer wilden Natur wieder, in der „jegliche Spur menschlicher Hände“ fehlt.

19  Krebs, (2002), 169.


20  Weilacher, Udo, in: Martin Prominski, (2004), 9.
21  Ritter, (1974).
22  ebd., 162

Die Welt als Garten  15


Wie Schiller, sieht auch Ritter den Gegensatz zwischen Stadt und freier Natur, die er, abgeleitet von Schiller, die
„umruhende Natur“ nennt. Diese umfasst für ihn offensichtlich sowohl die bäuerliche „Gefildenatur“, wie auch den
Wald und die unberührte „wilde“ Natur. Die umruhende Natur ist also die Natur, in die man hinausgeht.

Sie wird erst für den Hinausgehenden zur Landschaft, die so zu der Stadt gehört, „die sich aus dem
felsigen Kern türmend erhebt.“ ... Schiller spricht zugleich aus, daß die notwendige und unaufhebbare
Bedingung der mit der Stadt gesetzten Freiheit des Menschen, die Verwandlung der „umruhenden“
Natur des ländlichen Daseins in die genutzte Natur als Objekt menschlicher Herrschaft wird.23

Diese ritterschen Thesen sind in letzter Zeit mehrfach kritisiert worden worden, unter anderen von Martin
Prominski.24 Der beruft sich auf Autoren, die den Landschaftsbegriff in der bisherigen Bedeutung infrage stellen.
So zum Beispiel auf Rainer Piepmeier, der

das Ende der ästhetischen Kategorie „Landschaft“ [konstatiert]. Die Argumentation Ritters nachzeich-
nend stellt er fest, dass der ästhetische Landschaftsbegriff notwendig des Korrelates der Stadt bzw.
der angeeigneten Natur bedarf und sich selbst auf das Gegenüber, die freie, umruhende Natur be-
zieht. Die Existenz dieses für ästhetischen Landschaftsbegriff konstitutiven Verhältnisses stellt er an-
gesichts der 1980 fast vollständig angeeigneten Natur in Frage: „Die ästhetische Funktion des ländli-
chen Gefildes als der freien Natur ist (...) vergangen, wenn das Gefilde Gegenwart wurde als flurbe-
reinigte Traktorenlandschaft oder auch als Erholungslandschaft, die ja bereits angeeignete Natur ist.
Damit ist prinzipiell die für Ritters Landschaftskonzept grundlegende Trennung von Stadt und Land
als Landschaft aufgehoben. Das Moment des ‚Hinausgehens’ hat die Möglichkeit seiner Realisation
verloren.“

Ohne Korrelat, ohne Gegenüber bricht die Statik des ästhetischen Landschaftsbegriffs auseinander.25

John Brinckerhoff Jackson wird zitiert: „Landschaft ist ... niemals nur ein natürlicher Raum ... sie ist immer
synthetisch, immer unvorhersehbaren Veränderungen unterworfen.“ Er nennt dies die „Landschaft Drei“ 26 - Und
nach Sieferle: „überzieht [ein] Industriealisierungs- und Modernisierungsprozess sowohl Stadt und Land, die al-
ten Bestandteile ‚verflüchtigen’ sich. Es entstehe ein homogener Landschaftstypus, die ‚Totale Landschaft.’“ Und
schließlich stellt Prominski zustimmend fest: „In der ‚Totalen Landschaft’ ist die alte Kulturlandschaft nur noch ein
künstliches Reservat. Dieser Artefaktcharakter betrifft nun alle Bestandteile der Landschaft – ob Naturschutzgebiete
oder Gewerbegebiete, alle sind Konstrukte.“ 27

Diese Analysen konstatieren also die Aufhebung der Unterscheidung von Stadt und Landschaft. Damit seien „dem
ästhetischen Landschaftsbegriff im Sinne von Ritter die zentralen Säulen geraubt, ohne die er zerbricht.“28 Die
neuen Begriffe, die „Landschaft Drei“ oder die „totale Landschaft“ sind jedoch nach meiner Auffassung negativ; sie
sagen nur, dass es die alte Landschaft nicht mehr gibt. Was an deren Stelle treten soll, ist nicht erkennbar. So sieht
denn auch Prominski ein Dilemma in dieser neuen Begriffsbestimmung: „Die ‚Landschaft Drei’ scheint den realen
Prozessen, wie der Verwischung der Gegensätze ‚natürlich / künstlich’ oder ‚Stadt / Landschaft’ zu entsprechen, ist
aber mit ihrer Weite und systemischen Charakter kaum greifbar,“ „ der Begriff scheint zu weit und zu unscharf“ 29

23  ebd. 159.


24  Prominski, (2004), 51 bis 81.
25  ebd., 57
26  ebd., 58.
27  ebd., 61
28  ebd., 59
29  ebd., 71

16  Die Welt als Garten


Wenn man alle diese Aussagen wörtlich nimmt, erscheinen sie insofern radikal, als sie faktisch die ‚Natur’ aus
der Landschaft getilgt sehen. „Alle Bestandteile der Landschaft sind Konstrukte!“ So zeigt sich eine Parallele zur
Gartenkunst. Hier wie dort ist die Natur, so wie man sie heute versteht, ausgeblendet. Für den größten Flächenanteil
der mitteleuropäischen Landschaft, den agrarischen, fehlt bisher ein kreativer Ansatz, der über die ökonomischen
und ökologischen Belange hinaus, eine künstlerische Gestaltung verfolgt. Zu bedenken bleibt, dass der Topos ‚Hinaus
ins Grüne’ – in die Natur - immer noch ein Grundbedürfnis der heutigen Gesellschaft bezeichnet. Es geht also um
den Naturbegriff, um die Frage: „Was heißt denn schon Natur“ 30

Die Problematik des Naturbegriffs


Norbert Elias beschreibt den Naturbegriff als „die anfangslose Synthese eines Symbols“ 31 In ihm ist also alles ent-
halten, was in der Menschheitsgeschichte über Natur gedacht und gefühlt wurde. Dies wird schon deutlich, wenn
man sich die Attribute vor Augen führt, die in den bisherigen Erörterungen der ‚Natur’ beigefügt wurden. So ist die
Natur: die ganze, die wilde, die freie, die unberührte, die reine, die umruhende, die schöne, die erhabene, die kulti-
vierte, die gesteigerte, die künstliche, die genutzte, die angeeignete, die synthetische Natur. Alle diese Begriffe sind
relativ; so kann z. B. die umruhende Natur als die reine, schöne aber auch als die genutzte oder angeeignete Natur
angesehen werden. Je nach Sichtweise wird das Natürliche oder das Künstliche bezeichnet.

Selbst ein Philosoph wie Martin Seel tut sich schwer mit der Begriffsbestimmung von Natur und Landschaft. Er
schreibt:

... zur ästhetischen Wahrnehmung von Landschaft [braucht es] das Moment der Fremdheit ge-
genüber der Natur; die gesamte Natur ist keine insgesamt vertraute Natur. ... dieses befremdliche
[kann] fast jederzeit innerhalb der „vertraut gewordenen und eingebürgerten Landschaft’ hervortre-
ten. ... auch innerhalb der kultivierten Natur kann die gesamte Natur erscheinen. ... Die reineren
Naturzonen sind gleichsam für ihre landschaftliche Erfahrung da, während die ästhetische Präsenz von
Kulturlandschaften nur eine bestimmte Phase ihres sonstigen Gegebenseins ist. Die in einem starken
Sinn freie Natur konfrontiert uns ungeschützter mit ihrer landschaftlichen Erscheinung, weil hier das
lebensweltliche Gegebensein der Natur für uns ein landschaftliches Gegebensein ist. Die gesamte Natur
ist hier nicht eine Gegenwelt in der alltäglichen Welt, sie ist eine Gegenwelt zu dieser Welt. Die Freiheit
der ungestalteten Landschaft ist ein Extrem der Freiheit der (und in der) gestalteten Landschaft. ... Wo
Kulturlandschaft ist, kann striktere Naturlandschaft werden: als Steigerung der Freiheit in kultivierter
Landschaft.32 (Unterstreichung A.S.)

Natürlich kann man nachvollziehen, was Seel meint, besonders wenn ein Begriff von einem anderen unterschie-
den wird. Für sich gesehen stehen fast alle diese Attribute für den menschlichen Einfluss auf die Natur, aber eine
Definition ihrer Bedeutung ist schwierig. - Allgemein besteht die Auffassung, dass es eine unberührte Natur heute
kaum noch gibt. So sagt Peter Latz in einem Interview mit Udo Weilacher:

Was wir als so genannte Kulturlandschaft begreifen, ... ist in Wirklichkeit eine ganz brutale histori-
sche land- und forstwirtschaftliche Nutzlandschaft. ... ich möchte ziemlich radikal zwischen Natur und
Landschaft unterscheiden, denn sie haben im Prinzip nichts miteinander zu tun. Landschaft ist ein
kultureller Begriff, den eine Gesellschaft modifiziert im Kopf hütet. Natur ist eine Gesetzmäßigkeit, ein
Mythos.33

30  Schäfer, (1993).


31  Elias, (1986), 469ff.
32  Seel, (1991), 231.
33  Weilacher, (1999), 130.

Die Welt als Garten  17


Diese weit verbreitete Ansicht ist die Ursache für das Hauptproblem in dem Diskurs über Gartenkunst und Landschaft.
Wenn es ‚Die Natur’ nicht mehr gibt, was tritt dann an ihre Stelle? Immer öfter ist von Hybriden und Hybridisierung
die Rede, als „Auflösung des Natur-Kultur-Gegensatzes.“ 34 Meistens ist der Begriff negativ besetzt: Hybride an Stelle
der schönen reinen Natur. Prominski meint, „der hybride Charakter ihres Gegenstandes ‚Landschaft’ [habe] es der
Landschaftsarchitektur bisher schwer gemacht, sich zu verorten.“ 35 Und auch in den Diskurs der bildenden Kunst
hat der Begriff Eingang gefunden: „Gewissermaßen im Doppelpack machten wir uns daran zu beobachten, wie das
ursprüngliche Gegensatzpaar Natur / Kultur in eine hybride Form übergeht, die aus gesellschaftlichen, organisch /
natürlichen wie technologischen Aspekten gleichermaßen genährt wird.“ 36

Nach dem Duden Fremdwörterlexikon ist „die (auch der) Hybride ein Bastard (aus Kreuzungen hervorgegan-
genes ... Individuum, dessen Eltern sich in mehreren erblichen Merkmalen unterscheiden.)“ Der metaphorische
Gebrauch des Begriffs Hybride will also darstellen, dass zwei verschiedene Einheiten zu einer neuen Einheit ‚ver-
schmelzen,’ zu einem Individuum, das heißt ein ‚Unteilbares.’ Es ist offenbar außerordentlich unbefriedigend, mit
der Unterscheidung zwischen menschlich beeinflusster und ‚reiner’ Natur zu leben. Adorno sprach in diesem
Zusammenhang von der „Negativen Dialektik.“ „einem Zustand, in dem die Kommunikation des Unterschiedenen
einen Misston in das Getriebe der auf Einheit drängenden Bewusstseinsformation brachte.“ 37 So erklärt sich, dass
die Avantgarde der Gartenkunst die Natur in der Unterscheidung Kunst / Natur weit gehend negiert, und die
Unterscheidung in der Diskussion über Landschaft aufgehoben wird in der ‚Synthese’ oder der ‚Totalen Landschaft.’

Die klärende Funktion der Unterscheidung


Wolfgang Welsch benutzt auch den Hybrid-Begriff aber in einer anderen Bedeutung. Hybridbildung ist ihm zufolge
ein „Strukturmerkmal“ postmoderner Gestaltung. Doch bei der „Verkreuzung von Kodes“ darf keine Vermischung
eintreten. „Vermischung würde das Ganze in Indifferenz absacken lassen.“ 38

„Differenz“ ist das neue Stichwort, das in den Geisteswissenschaften immer größere Bedeutung gewinnt. S. J.
Schmidt beschreibt die Postmoderne „als definitiven Übergang vom identitätstheoretischem zum differenztheore-
tischem Denken“.39 Die Geschichte der Philosophie ist geprägt von der Auseinandersetzung über diese Denkweisen.
Etwa seit den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts liegen verschiedene Modelle des differenztheoretischen
Denkens vor. Die wichtigste Grundlage für meine Arbeit sind die „Laws of Form“ des englischen Mathematikers
George Spencer-Brown, die 1969 erschienen. In Deutschland hat sie Niklas Luhmann bekannt gemacht, und
auch ich verwende sie im Sinne Luhmanns, das heißt, wie Kritiker sagen, in einer vereinfachten Form.40 Bei den
theoretischen Ressourcen seiner Gesellschaftstheorie handelt es sich nach seinen Worten

um interdisziplinäre Diskussionszusammenhänge, die ... einen Prozess radikaler Veränderung durch-


laufen haben und mit der Systembegrifflichkeit der 50ger und frühen 60ger Jahre kaum noch etwas
gemein haben. Es sind ganz neue faszinierende intellektuelle Entwicklungen, die es erstmals ermögli-
chen, die alten Gegenüberstellungen von Natur- und Geisteswissenschaften ... zu unterlaufen.

Die am tiefsten eingreifende, für das Verständnis des Folgenden unentbehrliche Umstellung liegt
darin, dass nicht mehr vom Objekt die Rede ist, sondern von Unterscheidungen, und ferner, dass

34  Weidinger, ( 2001), 23.


35  Prominski, (2004), 13.
36  Bianchi, (1999), 43.
37  Wiggershaus, (1987), 38
38  Welsch, (1988), 323f.
39  Schmidt, (1998), 181.
40  Schönwälder, (2004), 255ff

18  Die Welt als Garten


Unterscheidungen nicht als vorhandene Sachverhalte (Unterschiede) begriffen werden, sondern dass
sie auf eine Aufforderung zurückgehen, sie zu vollziehen, weil man andernfalls nichts bezeichnen
könnte, also nichts zu beobachten bekäme. ... Man kann dies mit Hilfe des Formbegriffs verdeutlichen,
den George Spencer-Brown seinen Laws of Form zu Grunde legt. Formen sind danach nicht länger
als (mehr oder weniger) schöne Gestalten zu sehen, sondern als Grenzlinien, als Markierungen einer
Differenz, die dazu zwingt, klarzustellen, auf welcher Seite man sich befindet und wo man dement-
sprechend für weitere Operationen anzusetzen hat. Die andere Seite der Grenzlinie (der „Form“) ist
gleichzeitig mitgegeben. Jede Seite der Form ist die andere Seite der anderen Seite. Keine Seite ist et-
was für sich selbst. Man aktualisiert sie nur dadurch, dass man sie und nicht die andere bezeichnet.41

Diese „Form der Unterscheidung mit zwei Seiten“ ist eng verwandt mit Derridas Différance „jene Bewegung
durch die sich die Sprache ... im Allgemeinen ... als Gewebe von Differenzen konstituiert.“ (Erstmals veröffentlicht
1968) 42 Dies erwähne ich, weil Derrida im gegenwärtigen Diskurs über die Gartenkunst eine Rolle spielt.43

Aus dem Jahr 1969 stammt eine Arbeit des chilenischen Biologen Umberto Maturana, die „Biologie der Kognition“,
die einen großen Einfluss auf andere Forschungsbereiche hatte, z. B. auf die Theorie des Radikalen Konstruktivismus
und auch auf die Arbeiten von Niklas Luhmann. Bemerkenswert ist, dass Maturana zur gleichen Zeit wie Derrida
und Spencer- Brown die Differenz oder Unterscheidung als Wahrnehmungsgrundlage erkennt:

Der Beobachter kann ... einen Gegenstand nur beschreiben, wenn es zumindest einen anderen
Gegenstand gibt, von dem er ihn unterscheiden kann. Dieser zweite Gegenstand, der als Bezugsgröße
für die Beschreibung dient, kann jeder beliebige Gegenstand sein. Die letztmögliche Bezugsgröße für
jede Beschreibung ist jedoch der Beobachter selbst.44

Damit kommt der Begriff des Beobachters der Unterscheidung ins Spiel, wodurch die klassische Dualität
Subjekt / Objekt ersetzt wird. Auslöser dieser neuen Denkweisen ist zweifellos die Revolution, die Anfang des
20. Jahrhunderts in der Physik das Denken verändert hat. Das klassische physikalische Weltbild war nicht mehr
haltbar, als in der Quantenphysik in verschiedenen Experimenten Elektronen einmal als Partikel und in einer an-
deren Versuchsanordnung als Welle erschienen. Nils Bohr hat dies Anfang der 30er Jahre als Komplementarität
beschrieben. Er hat dieses Prinzip auch auf andere Bereiche der Wissenschaft übertragen und eine allgemeine
Erkenntnislehre daraus entwickelt.45

In dieser Arbeit will ich versuchen, mit den Mitteln der neuen Denkweise, dem differenztheoretischen Denken, die
Grundlagen und Probleme der Gartenkunst zu erhellen und einer Lösung näher zu bringen. Das Hauptanliegen ist
die Unterscheidung von Natur und Menschenwerk aber auch zum Beispiel die Unterscheidung Form / Funktion.
Und letztlich wird sich ergeben, dass jede Begriffsbestimmung nur als Unterscheidung möglich ist. Die ‚Form der
Unterscheidung mit zwei Seiten’ ist deshalb das wichtigste Instrument meiner Theoriebildung. –

Es ist bisher schon deutlich geworden, dass das Verhältnis von Natur zu Gartenkunst und von Natur zu Landschaft
keine echten Unterscheidungen sind, weil die Begriffe unscharf sind. Um zu klaren Begriffen zu kommen, die eine
saubere Unterscheidung ermöglichen, halte ich mich an ein Verfahren Heideggers: So wie Elias von der ,anfangslo-
sen Synthese des Symbols Natur’ spricht, sieht Heidegger Begrifflichkeiten, „die durch eine Kette verschiedenartiger

41  Luhmann, (1997), 60.


42  Derrida, (2004), 124.
43  Krebs, (2002)
44  Maturana, (2000), 25.
45  Fischer, (1990), 37ff.

Die Welt als Garten  19


Interpretationen hindurchgegangen“ sind. „die Grundbegriffe haben ihre ursprünglichen ... Ausdrucksfunktionen
eingebüßt.“ Er sieht die Aufgabe der „phänomenologische[n] Hermeneutik“ darin, die

überkommene ... Ausgelegtheit nach ihren verdeckten Motiven, unausdrücklichen Tendenzen und
Auslegungswegen aufzulockern und im abbauenden Rückgang zu den ursprünglichen Motivquellen
der Explikationen vorzudringen. Die Hermeneutik bewerkstelligt ihre Aufgabe nur auf dem Wege der
Destruktion. ... Die Destruktion ist ... der eigentliche Weg, auf dem sich die Gegenwart in ihren eige-
nen Grundbewegtheiten begegnen muss, und zwar so begegnen, dass ihr dabei aus der Geschichte
die ständige Frage entgegen springt, wie weit sie ( die Gegenwart ) selbst um Aneignungen radikaler
Grunderfahrungsmöglichkeiten und deren Auslegungsmöglichkeiten bekümmert ist.46

‚Destruktion’ verstehe ich dabei nicht als ‚Zerstörung’, sondern eher als ein ‚Auseinandernehmen’, so wie etwa
ein Junge einen alten Wecker auseinander nimmt, um dem Geheimnis seiner Mechanik auf die Spur zu kommen.
Diese Methode dürfte auch geeignet sein, den Begriff Natur und dessen Gegenbegriffe wie Kultur, Technik und
Gestaltung, die ebenfalls durch „ eine Kette verschiedenartiger Interpretationen hindurchgegangen sind“, zu „de-
struieren“, um so zu Begriffen zu kommen, die für die Diskussion über Gartenkunst besser geeignet sind. (Man kann
das auch – nach Derrida - dekonstruieren nennen.)

Ich ersetze deshalb den Begriff „Natur“, der durch zahllose romantische, mythologische und metaphysische
Konnotationen belastet ist, durch das griechischen Wort physis, das der Altphilologe Wolfgang Schadewaldt als
das „Urwort“ von Natur bezeichnet, als

die wohl genialste griechische Seinsvision, die auch den größten Erfolg in der Welt gehabt hat. ... Es
ist ... so durchsichtig in seiner Bildung, dass wir es deutlich verstehen können. Der Stamm ist phy , wie
in dem Verb phyo dazu die Endung –sis, die eine Aktion bezeichnet, gegenüber der auf –ma , die das
Einzelding meint. ... Die Grundbedeutung, die im Stamm steckt, ist soviel wie „wachsen lassen“ „her-
vor treiben“ , medial „wachsen“. Also ein Hervortreiben, wie ein Baum Blätter treibt oder ein Tierleib
Hörner. Die Bildung mit –sis ist nun wichtig, weil sie eine Tätigkeit bezeichnet, ein In-Funktion-Sein
. ... Wichtig ist ... , dass wir uns im Umgang mit dem Wort von etwas lösen, das erst bei uns hineinge-
kommen ist ... , nämlich dass die Natur etwas Gegebenes, Objektives, Festes, Statisches sei, von dem
man im Alltag spricht als von „der Natur da draußen“, als Kollektiv von all dem, was es da gibt. ... Diese
Vorstellung der Natur als etwas kollektiv Gegebenen, dem Menschen Gegenüberstehenden, des ganz
Anderen ... ist insofern geradezu verhängnisvoll, als diese so gefasste Natur denn auch zum Objekt
unseres Forschens wird, mit dem wir machen können, was wir wollen. ... Dem steht gegenüber die
ganz andere Bedeutung des Wortes physis, das schon durch seine Endung -sis niemals solch objektiven
Bereich umfassen kann, sondern ein Walten und Wesen darstellt, ... im Sinne eines Hervortreibens und
Wachsenlassens. 47

Wir können also, nach der Übersetzung Schadewaldts, physis verstehen als Wachsen, und zwar Wachsen als Prozess,
nicht als Zustand. Dazu gehören neben den Organismen Pflanzen und Tiere auch deren Wechselbeziehung unter-
einander und ihr Angewiesensein auf ihre jeweilige anorganische Umwelt, die vier Elemente des Empedokles: Feuer
(Sonnenlicht), Luft, Wasser und Erde. So verstanden, sind mit dem Wort physis alle wertenden Attribute,
die den Begriff Natur belasten, ausgeschlossen. Die Eiche im Wald, die Rose im Garten, die Rübe auf
dem Feld und der Grashalm in der Pflasterfuge sind alle als physis gleichwertig.

46  Heidegger, (2002), 33 f


47  Schadewaldt, (1978). S. 201 ff.

20  Die Welt als Garten


Unterschiedlich sind jedoch die Beziehungen, die wir Menschen zu den Pflanzen, zu der Vegetation, zur physis ha-
ben. Es geht um den Einfluss, den wir auf sie ausüben. Den fasse ich unter dem griechischen Wort techne zusam-
men. Nach Schadewald bezeichnet es bei den Griechen

eine bestimmte Wissensart , ... zugeordnet dem poiein, „herstellen“. Man deutet es sich also am besten
als ‚herstellendes Wissen‘ oder doch auf ein Herstellen gerichtetes Wissen. Damit unterscheidet es sich
eindeutig von den anderen Wissensarten. istorie ist nichts anderes als ein Erkundethaben ... episteme ...
ist die höchste Weise des bewussten Wissens. Demgegenüber haben wir in techne eine ganz besonde-
re Wissensart, die so beschaffen ist, dass, wenn man sie anwendet, ein ganz bestimmter Prozess des
Entstehens, Werdens, Gestaltens, Schaffens in Gang gebracht wird. ...Man kann sagen, es ist eine Art
Fachwissens, immer im Hinblick darauf, dass etwas dann irgendwie entsteht, vollzogen wird. ... Ein
solches Wissen das man hat und kann, ist also die techne, und zwar ein auf das Herstellen, ein wirkliches
Tun, poiein, gerichtetes Wissen. 48

Mit dem Kunstgriff der Einführung der Begriffe physis und techne ist also eine klare Grundlage geschaffen für die
Analyse des Verhältnisses von Natur und menschlichem Einfluss. Physis ‚enthält’ keine techne und techne keine physis.
Beide sind in jedem Zustand unserer Lebenswelt genau zu unterscheiden. Um ihren speziellen Charakter als Termini
technici dieser Arbeit zu betonen, schreibe ich sie in kursiver Schrift.

Dies bedeutet nun keinesfalls, dass unser Naturverhältnis nicht auch mental und emotional bestimmt ist. Im Gegenteil:
die Klärung des Zusammenwirkens von physi und techne’ ist die Voraussetzung dafür, dass in der Gartenkunst unser
Naturverhältnis in der heutigen Lebenswelt zum Ausdruck kommt. „Die Anerkennung der Differenz von Natur und
Menschlicher Leistung ist das genaue Gegenteil jener Haltung der Indifferenz, in der die Natur als das bloße Material
praktischer Verfügung erscheint.“49

Ich werde im ersten Kapitel die Unterscheidung physis / techne als Beispiel bei der Einführung in die ‚Gesetze der
Form’ benutzen. Danach wird sich zeigen, dass diese ein Instrument sind, das alle Gegensatzpaare in einem neuen
Licht erscheinen lässt. Die ‚Blinden Flecke,’ die nicht nur den Diskurs der Gartenkunst verdunkeln, werden sich
entscheidend erhellen lassen.

Im zweiten Kapitel wird die Vegetation als Grundelement der Gartenkunst behandelt und zwar als Botanik im
Sinne Maturanas und als Ergebnis des Zusammenwirkens von physis und techne sowohl in der geschichtlichen
Entwicklung, wie auch in der heutigen Praxis. Als wichtiges Prinzip für die Gartenkunst sehe ich die Unterscheidung
von ‚Tun und Lassen’ an. Die Verschiebung zum ‚Lassen bestimmt die historische Entwicklung der Gartenkunst. Das
Thema wird vertieft durch eine Betrachtung von Heideggers Abhandlung ‚Der Ursprung des Kunstwerks’, in der ich
meine Idee des Physis-techne-Verhältnises wieder finde.

Die Unterscheidung von Funktion und Gestaltung als eines der Hauptthemen im Architektur-Diskurs wird im dritten
Kapitel behandelt. Durch einen Rückblick auf die geschichtliche Entwicklung versuche ich, den Begriff ‚Ornament’
aus der üblichen verengten Sichtweise zu befreien.

Im vierten Kapitel wird dieselbe Unterscheidung angewendet bei einer Betrachtung der gartenarchitektonischen,
baulichen Elemente und ihre Bedeutung und Wirkung in der Gartenkunst. – Ich konzentriere mich dabei haupt-
sächlich auf die Wegesysteme der verschiedenen Stile. Da diese sowohl das Formgefühl, wie auch das Körpergefühl
beeinflussen, sehe ich eine Verbindung zu Schillers Theorie der Ästhetik, die er in den Briefen „Über die ästhetische

48  ebd. 171 f .


49  Seel, (1991), 14.

Die Welt als Garten  21


Erziehung des Menschen“ entwickelte. Fasziniert bin ich von der Struktur seiner Theorie, die den Gesetzen der
Form Spencer-Browns frappierend ähneln. Auch andere Ideen meiner Arbeit finde ich bei Schiller wieder.

Eine weitere Gemeinsamkeit von Architektur und Gartenkunst und ein Kernthema dieser Arbeit ist der Raum als
Medium. Hier trifft nicht nur zu, dass Parallelen bestehen, sondern der Begriff des Raumkontinuums und des flie-
ßenden Raumes bedeutet, dass eine innige Verbindung zwischen moderner Architektur und Gartenkunst besteht;
ja, dies ist ein Musterfall einer Form der Unterscheidung mit zwei Seiten. Das ist Thema des fünften Kapitels.

Im 6. Kapitel geht es um Wahrnehmung im weitesten Sinne. Also nicht nur um Perzeption, sondern auch um
Bewusstseinsbildung und um Kunstproduktion und –rezeption. Besonders für die Gartenkunst ist die Rezeption
von besonderer Bedeutung, weil hierbei alle Sinne beteiligt sind, nicht nur der optische, wie in der bildenden Kunst.
Wahrnehmung der Natur – um die geht es letztendlich in der Gartenkunst – berührt tiefste Schichten menschlicher
Psyche. Deshalb setze ich mich mit Themen, wie dem kollektiven Gedächtnis, den Archetypen und mit morphoge-
netischen Feldern auseinander.

Als eine Ursache für die prekäre Situation der Gartenkunst sehe ich die Spaltung der Profession: einerseits in
den Anspruch, Kunst zu sein, andererseits in die Wissenschaft und die Ökologie. Die Folge ist ihre Hinwendung
zur bildenden Kunst. Geschichtlich ist dies schon vorgegeben mit der Unterordnung der Landschaftskunst un-
ter die Landschaftsmalerei. Eine emanzipierte Gartenkunst darf aber Ökologie und Planungswissenschaft nicht als
Gegensätze betrachten, sondern muss sie als Grundlagen mit einbeziehen. Im 7. Kapitel befasse ich mich deshalb
mit dem Verhältnis zwischen Gartenkunst und bildender Kunst.

Im 8. und 9. Kapitel unternehme ich den Versuch, Gesichtspunkte für eine Theorie der Gartenkunst aufzuzeigen,
die auf das Ziel gerichtet ist, die Welt als Garten zu sehen.

22  Die Welt als Garten


Kapitel 1 Die Differenztheorie

1.1 Die ‚Form der Unterscheidung’


Wenn als wichtigste theoretische Grundlage dieser Arbeit die „Laws of Form“ von George Spencer-Brown genom-
men wird, dann ist das sicher fragwürdig, denn sie sind nach Tatjana Schönwälder

Ein kryptisches, schwer zu durchdringendes und noch schwerer zu fassendes Buch, zumindest auf die
zehn ersten Blicke. Das liegt an Spencer-Browns reduktionistischem Stil, an seiner vollkommen neuen
und andersartigen Notation gegenüber anderen logischen Kalkülen und an seiner teilweise eigentüm-
lichen Verwendung der englischen Begriffe.50

Und Paul Watzlawick stellt fest:

„Laws of Form“ ist sicher das Werk eines Genies; ich habe jedoch bis heute wenige Leute gefunden, die
seine Lektüre nicht schon auf Seite 2 entmutigt aufgaben.51

Dies klingt nun wiederum schlimmer, als es ist. Denn auf Grund seiner reduktionistischen Methode braucht Spencer-
Brown nur die Hälfte der ersten Seite, um den Kern seiner Theorie deutlich und verständlich darzustellen.52 Daran
anschließend entwickelt er seinen hochkomplexen Kalkül. Er verfährt nach einer injunktiven Methode, in der er
seine Leser z. B. auffordert, „dies und das“ zu lassen oder „dies-und-das so-und-so“zu nennen. Andererseits sagt er
seinem Leser aber auch, es sei

nicht nötig, dass er seine Illustrationen auf die Vorschläge des Textes beschränkt. Er mag nach Laune
abschweifen, seine eigenen Illustrationen erfinden, gleich ob diese mit den Befehlen des Textes konsi-
stent oder inkonsistent sind. Nur auf diese Weise, aufgrund seiner eigenen Entdeckungen, wird er die
Schranken oder Gesetze jener Welt erkennen, von der der Mathematiker spricht.53

Diese Möglichkeit werde ich in Anspruch nehmen. Doch zunächst folge ich den Anweisungen Spencer-Browns.
Sein Ausgangspunkt ist eine allgemeine Prämisse:

Wir nehmen die Idee der Unterscheidung und die Idee der Bezeichnung 54 als gegeben an, und dass
wir keine Bezeichnung vornehmen können, ohne eine Unterscheidung zu treffen. Wir nehmen daher
die Form der Unterscheidung für die Form. 55

Diese lapidare Feststellung ist nicht selbstverständlich. In der Alltagssprache verwenden wir für Gegenstände un-
serer Lebenswelt in der Regel Begriffe, die etwas Identisches bezeichnen. Wenn jemand ‚Haus’ oder ‚Baum’ sagt,
weißt jeder, der unsere Sprache spricht, unmittelbar, was gemeint ist. Wenn aber zum Beispiel Menschen aus der
Stadt in einem Mischwald auf Buchen hingewiesen werden, dann werden die meisten sagen, dass sie diese nicht
erkennen können. Erst wenn man zeigt, dass die Buchen sich durch ihre glatte Rinde z. B. von den Eichen mit der
rauen Rinde unterscheiden, können sie Buchen wahrnehmen und bezeichnen. So können wir also auch sagen,

50  Schönwälder, (2oo4), 42.


51  Watzlawick, (1996), 194.
52  Spencer-Brown, (1999), 1.
53  ebd., 69
54  im Original: „indication“, von Schönwälder übersetzt als „Hinweis“
55  Spencer-Brown, (1999) 1

Die Welt als Garten  23


keine Wahrnehmung ohne Unterscheidung. - Ein entscheidendes Phänomen ist es, dass wir etwas Neues,
Unbekanntes mehrfach unterscheiden und vergleichen müssen, bis wir es ‚kennen.’ Wenn der Städter öfter in den
Wald geht, wird er wieder auf Buchen und deren Unterscheidung von anderen Bäumen achten und sich manchmal
irren, bis das Bild ‚Buche’ in ihm manifest geworden ist. Nach Jean Piaget hat sich ein ‚kognitives Schema’ gebildet
56
, oder nach Heinz von Förster, dem Mitbegründer der Kybernetik, ein ‚Eigenwert.’ 57 Beides sind Begriffe für das
Ergebnis von Operationen, die rekursiv wiederholt werden, bis das Ergebnis sich nicht mehr verändert. Man kann
sagen, dass unser Weltbild – nicht nur das der visuellen Wahrnehmung - vorwiegend aus kognitiven Schemata oder
Eigenwerten besteht, die wir im Laufe unserer Ontogenese gebildet haben, was uns aber kaum noch bewusst ist.

Bei Spencer-Brown geht es aber nicht nur um einfaches Unterscheiden. Er definiert die „Form der Unterscheidung“
wie folgt:

Unterscheidung ist perfekte Be-Inhaltung.58

Das heißt, eine Unterscheidung wird getroffen, indem eine Grenze mit getrennten Seiten so angeord-
net wird, dass ein Punkt auf der einen Seite die andere Seite nicht erreichen kann, ohne die Grenze zu
kreuzen. ...

Wenn einmal eine Unterscheidung getroffen wurde, können die Räume, Zustände oder Inhalte auf je-
der Seite der Grenze, indem sie unterschieden sind, bezeichnet werden. Es kann keine Unterscheidung
geben ohne Motiv, und es kann kein Motiv geben, wenn nicht Inhalte als unterschiedlich im Wert
angesehen werden.59

Diese Kernsätze enthalten ein „Universum an Bedeutungen.“ was in einer umfangreichen Sekundärliteratur viel-
fach erörtert wird. Eine besonders klare Darstellung finden wir bei Tatjana Schönwälder:

Die Form einer Unterscheidung besteht aus vier Aspekten, die simultan entstehen, wenn eine
Unterscheidung getroffen wird: Die Grenze, die [zwei] unterschiedenen Seiten, [und] der ‚Hintergrund’
oder Kontext, vor dem unterschieden wird. Damit bildet die Form eine Einheit, die aus einer Differenz
besteht: eine Form mit zwei verschiedenen Inhalten. Die Betonung liegt hier aber nicht auf der Frage,
inwiefern sich die zwei unterschiedenen Seiten unterscheiden, sondern darauf, dass es überhaupt eine
Ungleichheit gibt. Durch die Unterscheidung werden sie als verschieden voneinander zueinander in
Beziehung gesetzt und bilden als solche eine Einheit. Damit gehört zur Form jedes ‚Inhalts’ im wei-
testen Sinne immer auch das, was er nicht ist, die andere Seite seiner Form. In dieser Hinsicht unter-
scheidet sich der grundlegende Form-Begriff von Spencer-Brown wesentlich von anderen, philoso-
phiegeschichtlichen Gebräuchen, in denen beispielsweise die Form dem Inhalt oder der Materie oder
ähnlichem gegenübergestellt wird. In diesen Fällen bezeichnet die Form nur die eine, unterschiedene
Seite, nicht aber die simultan mit entstehenden anderen Aspekte.60

Der Ansatz Spencer-Browns reicht „von der radikalen Reduktion auf die Unterscheidung als einem einfachsten
Ausgangspunkt bis zu den mehrfachen Windungen der selbstreferentiellen, rekursiven Formen; von der mathemati-
schen Sprache des Calkulus of indications bis zu sprachkritisch-methodologischen Erläuterungen religiöser Sprachen.“

56  Buggle, (1993), S. 30 ff


57  Förster, (1994), 147 ff
58  Im Original: „continence“, andere Übersetzungen: „Enthaltsamkeit, Zusammenhang.“
59  Spencer-Brown, (1999) 1.
60  Schönwälder, (2oo4), 59.

24  Die Welt als Garten


61
Es handelt sich im Grunde um eine neue Welt-‚Anschauung’. Diese Komplexität ist für Nichtmathematiker
schwer zu erfassen. Die Laws of Form werden dann auch meistens in ihrer ‚vereinfachten’ Form, die „Form der
Unterscheidung mit zwei Seiten“, wie Luhmann sie nennt, verwendet. -

Reduktiv ist auch das Zeichen, das Spencer-Brown für den größten Teil seines Kalküls verwendet, der „Haken“

Er hat zwei Funktionen: einmal, mit dem waagerechten Balken, dient er als Hinweis auf die eine Seite der
Unterscheidung und als ihre Markierung (marked state) und andererseits, mit dem senkrechten Balken, als
Aufforderung, die Grenze zwischen den Seiten zu kreuzen. Etwas schwierig ist es, den Charakter der Außenseite,
des unmarkierten Zustandes (unmarked state) zu erfassen. Es scheint offen zu sein, von was die markierte Seite
unterschieden wird. Es kann etwas Bestimmtes sein, oder auch ‚alles Andere,’ Unbestimmte.

Ich habe deshalb für die Darstellung meiner Überlegungen, wie Spencer-Brown ausdrücklich anheim stellt, ein
abgewandeltes Zeichen gewählt, das beide Seiten der Unterscheidung ins Blickfeld stellt und auch das Motiv oder
den Kontext benennt:

Motiv, Kontext
Seite Seite

Dabei ist zu erinnern, dass die Grenze – symbolisiert durch den senkrechten Strich - für die Unterscheidungsoperation
das Wichtigste ist. Die ‚Grenze’ ist eine Metapher, also nichts räumlich oder zeitlich Konkretes, sondern sie steht
dafür, dass immer nur eine Seite der Unterscheidung gesehen und beschrieben werden kann, niemals beide gleich-
zeitig.

Ich erläutere das an einem beliebigen Beispiel, das hierfür besonders geeignet ist, das Biotop Trockenrasen.

Trockenrasen
physis techne

Unter physis sehen wir die Vegetation, den Artenreichtum, die Empfindlichkeit und Schutzbedürftigkeit, aber auch
die Nährstoffarmut und Trockenheit des Bodens und die sonnige Lage. Die andere Seite ist der menschliche Einfluss.
Das sind z. B. die extensive Nutzung, die Verhinderung der Verbuschung durch Beweidung oder Mahd und der
Verzicht auf Düngung. Das ist die Seite der techne.

An diesem Beispiel wird deutlich dass man nicht nur die beiden Seiten nicht gleichzeitig sehen kann, sondern dass
meistens auch nur die eine Seite, die Seite der physis, gesehen wird. Die andere Seite, die techne, ist dann der Blinde
Fleck der Unterscheidung. (Der menschliche Einfluss bleibt bei der Beschreibung der Trockenrasen meistens außen
vor.) ‚Blinder Fleck’ ist eine treffende Metapher, die nicht nur zum Ausdruck bringt, dass die andere Seite nicht
gesehen wird, sondern auch, dass der Blinde Fleck selbst, (wie der im Auge), nicht gesehen wird. Man kann von
fast allen Auseinandersetzungen, die ich bisher beschrieben habe sagen, dass die Vertreter einer Richtung für die
Gegenseite „mit Blindheit geschlagen waren.“ Zum Beispiel sah Hirschfeld im Barockgarten nur das ‚Künstliche’
und im Landschaftsgarten nur das ‚Natürliche.’ - Der Blinde Fleck wird uns in der weiteren Untersuchung immer
wieder auffallen.

61  Ebd.

Die Welt als Garten  25


Auf einen besonderen Aspekt weist Niklas Luhmann hin:

Strukturell gesehen existiert die Zwei-Seiten-Form im Zeitmodus der Gleichzeitigkeit. Operativ gesehen
ist sie nur im Nacheinander der Operationen aktualisierbar, weil die Operation von der einen Seite aus,
die Operation von der anderen Seite ausschließt. Die Form ist die Gleichzeitigkeit des Nacheinander.62

Auf unser Beispiel bezogen heißt das, Im Zeitmodus der Gleichzeitigkeit sehen wir den Trockenrasen, und in der
Operation des Unterscheidens sehen wir physis und techne nacheinander. – An anderer Stelle drückt er dies so aus:

Die beiden Seiten sind gleichzeitig und in einem vorher / nachher Verhältnis gegeben. Als Unterscheidung
sind sie gleichzeitig aktuell, als Referenz einer Bezeichnung nur nacheinander.63

Um es noch einmal kurz zu sagen: Das Kreuzen über die Grenze benötigt Zeit, und das Operieren auf beiden Seiten
der Unterscheidung gleichzeitig ist nicht möglich. Gedanklich kann aber das hin-und-her-Kreuzen zwischen den
beiden Seiten sehr schnell erfolgen. Dirk Baecker nennt das Oszillation.

Oszillation heißt, dass immer dann, wenn der marked state bezeichnet wird, sofort anschließend der
unmarked state bezeichnet wird. Die Klingel funktioniert so.64

Schönwälder weist in diesem Zusammenhang noch auf einen weiteren Gesichtspunkt hin:

Die oszillierende Gleichung ... stellt formal die Form in ihrer differenzierten Einheit dar. Sie ist für
Spencer-Brown der Schlüssel zum Verständnis von Paradoxien. Aus dieser Perspektive könnte gesagt
werden, dass Paradoxien entstehen, weil wir versuchen, auf die beiden Seiten einer Unterscheidung
zugleich hinzuweisen und nicht sehen, dass das nur abwechselnd nacheinander geht.65

In Bezug auf die Unterscheidung physis / techne und auf andere Unterscheidungen werden wir immer wieder auf
solche Paradoxien treffen. Zum Beispiel bei der ‚Totalen Landschaft’, in welcher Natur und menschlicher Einfluss,
also physis und techne nicht getrennt werden. Zu diesem Begriff, der ja wohl für die ganze Erdoberfläche gelten
soll, gibt es auch keine Unterscheidung. Nach dem Satz, dass wir keine Bezeichnung vornehmen Können, ohne eine
Unterscheidung zu treffen, wäre ‚Totale Landschaft’ also ein Paradoxon, ein Unwort.

1.2 Die ‚Form der Unterscheidung‘ in der Kunst


Das sind also die Grundzüge der Form der Unterscheidung mit zwei Seiten. In ihrer weiteren Anwendung wird ihr
Prinzip immer deutlicher werden, aber auch ihre Komplexität sich zeigen. Ihr universeller Charakter wird deutlich,
wenn wir Werke der modernen Kunst auf das Differenzprinzip untersuchen. Ein frühes Beispiel sind die Portraits
von Picasso, die er in den 30ger Jahren gemalt hat, und in denen er die Personen gleichzeitig en face und en profil
darstellt. Von Paul Klee gibt es abstrakte Bilder, in denen winzige Symbole gegenständliche Assoziationen hervor-
rufen, so dass Abstraktionen und Gegenständlichkeit oszillierend wahrgenommen werden. Exemplarisch sind auch
Werke von Donald Judd z.B. „untitled“ von 1966.

62  Luhmann, (1993a), 202.


63  Ders. (1993b), 100.
64  Baecker, (2002), 80.
65  Schönwälder, (2004) 60.

26  Die Welt als Garten


Abb. 1/1

Es besteht aus Schubladen-ähnlichen, radikal reduzierten Quadern, die übereinander an einer Wand befestigt sind.
Die Abstände sind so austariert, dass die Körper abwechselnd getrennt oder als Einheit gesehen werden können,
und dass man sowohl positiv die Körper und negativ die Zwischenräume und den umgebenden Raum wahrnimmt.
– Geradezu programmatisch sind die bekannten Zeichnungen von Escher, bei denen die Paradoxie in der Oszillation
der Betrachtung überdeutlich wird.

1.3 Frühere und Verwandte Theorien


Ich möchte noch zeigen, dass der Kalkül Spencer-Browns nicht als exotische Theorie dasteht, und dass das diffe-
renztheoretische Denken nicht völlig neu ist. Schon Kant spricht von den „zwei Grundquellen des Gemüts,“ aus
denen „unsere Erkenntnis entspringt.“ Das sind die Sinnlichkeit und der Verstand.

Unsere Natur bringt es mit sich, dass die Anschauung niemals anders als sinnlich sein kann, d.i. nur die
Art enthält, wie wir von Gegenständen affiziert werden. Dagegen ist das Vermögen, den Gegenstand
sinnlicher Anschauung zu denken, der Verstand. Keine dieser Eigenschaften ist der anderen vorzu-
ziehen. Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht
werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Daher ist es
ebenso notwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen, (d. i. ihnen den Gegenstand in der Anschauung
beizufügen,) als seine Anschauungen sich verständlich zu machen (d. i. sie unter Begriffe zu bringen).
Beide Vermögen, oder Fähigkeiten, können auch ihre Funktionen nicht vertauschen. Der Verstand
vermag nichts anzuschauen, und die Sinne nichts zudenken. Nur daraus, dass sie sich vereinigen, kann
Erkenntnis entspringen. Deswegen darf man aber doch nicht ihren Anteil vermischen, sondern man
hat große Ursache, jedes von dem anderen abzusondern, und zu unterscheiden.66 (Hvh.: kursiv i. O.,
fett: A.S.)

Dies ist eine ganz klare Form der Unterscheidung mit zwei Seiten, die Kant generell als Grundlage für Erkenntnis
darstellt. Zwei Seiten, die zusammen gehören, die aber gleichzeitig unterschieden werden müssen:

Erkenntnis
Verstand Sinnlichkeit

Gedanken Inhalt

Begriffe Anschauung

66  Kant, KrV, B75/A50.

Die Welt als Garten  27


Als Begründer der Differenztheorie gilt Martin Heidegger.67 Seine Grundunterscheidung ist die zwischen Sein und
Seiendem, genannt die „ontologische Differenz,“ die Jahraus so beschreibt:

Das Sein selbst ist nicht greifbar, alles das, was greifbar ist, ist lediglich Seiendes. „Sein ist jeweils das
Sein eines Seienden“. Aber es ist nicht darauf reduzierbar: „Das Sein des Seienden ‚ist’ nicht selbst ein
Seiendes.“ Das Sein ist also lediglich das, was das Seiende überhaupt erst als Seiendes erscheinen lässt.
... Einerseits können wir also sagen, daß Sein und Seiendes strikt voneinander geschieden
sind. Andererseits sind sie gar nicht voneinander zu trennen ... Einerseits haben wir die Absenz,
die Abwesenheit des Seins, andererseits die Präsenz des Seins im Seienden.68 (Hvh. A.S.)

Ausdrücklich auf Heidegger bezieht sich besonders Derrida, der sich ebenfalls intensiv und grundlegend mit der
Differenztheorie auseinander gesetzt hat. Er hat sie weiter entwickelt indem er nicht nur eine Unterscheidung
mit zwei Seiten sieht, sondern die Operationen der Unterscheidung „zu einem Bündel“ zusammenfasst, mit dem
„Charakter eines Einflechtens, eines Webens, eines Überkreuzens.“ 69 - Die Darstellung dieser komplexen Theorie
Derridas würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, und auch meine Kompetenz überstrapazieren. Ich beschränke
mich deshalb darauf, die Übereinstimmungen, die ich mit dem Kalkül Spencer-Browns erkenne, herauszustellen.

Derrida erfindet ein Wort, das genau so ausgesprochen wird wie différence, das er aber mit „a“ schreibt: différance.
Mit dieser Schreibweise will er die Bedeutung des Ausdrucks différence erweitern. Er bezieht sich auf das französi-
sche Verb différer, das zwei Bedeutungen hat. Einmal: „die eher gewöhnliche und identifizierbare: nicht identisch
sein, anders sein, erkennbar sein und so weiter.“ Die andere Bedeutung ist: „etwas auf später zu verschieben, sich
von der Zeit und den Kräften bei einer Operation Rechenschaft ablegen,“ .... „Différer in diesem Sinne heißt tempo-
risieren, heißt bewußt oder unbewußt auf die zeitliche und verzögernde Vermittlung eines Umwegs rekurrieren.“ 70

Dieses „Temporisieren“ hat eine große Ähnlichkeit, ich möchte sagen ist das Gleiche, wie das Kreuzen der Grenze
in Spencer-Browns Form, für das, wie wir gesehen haben, ebenfalls Zeit benötigt wird. An anderer Stelle wird die
Übereinstimmung noch deutlicher:

... die Philosophie [lebt] in und von der différance und [ist] blind gegen das Gleiche, das nicht identisch
ist. Das Gleiche ist gerade die différance (mit a) als aufgeschobener und doppeldeutiger Übergang von
einem Differenten zum anderen. Man könnte auf diese Weise alle Gegensatzpaare wieder aufgreifen,
auf denen die Philosophie aufbaut und von denen unser Diskurs lebt, um an ihnen nicht etwa das
Erlöschen des Gegensatzes zu sehen, sondern eine Notwendigkeit, die sich so ankündigt, dass einer der
Termini als différance des anderen erscheint, als der andere in der Ökonomie des Gleichen unterschie-
den / aufgeschoben ..., das Intelligible als von dem Sinnlichen sich unterscheidend ..., als aufgeschobe-
nes Sinnliches ...;71 ... die Kultur als unterschiedene / aufgeschobene – unterscheidende / aufschieben-
de Natur ...; jedes andere der Physis – techne, nomos, thesis, Gesellschaft, Freiheit, Geschichte, Geist
und so weiter – als aufgeschobene Physis ... oder als unterscheidende Physis. Physis in différance. ...
Von der Entfaltung dieses Gleichen als différance her kündet sich die Gleichheit der Verschiedenheit
und der Wiederholung in der ewigen Wiederkunft an,72

67  Jahraus, (2004)


68  Ebd., 98ff
69  Derrida, (2004), 111.
70  ebd. 117.
71  Das ist Kants Unterscheidung: „Begriff und Anschauung“!
72  ebd. 132f

28  Die Welt als Garten


Ich sehe folgende Übereinstimmungen oder Ähnlichkeiten der Theorie Derridas mit der Spencer-Browns: Derridas
„Gleichheit der Verschiedenheit“, und das „Gleiche als différance“ ist dasselbe, wie Spencer-Browns „Form“. Das
„Unterscheidende“ ist zu vergleichen mit der „Grenze zwischen den beiden Seiten“, und das „Aufschiebende“,
„Temporisierende“ ist die Zeit, die zum Kreuzen der Grenze bei Spencer-Brown benötigt wird.

Derrida thematisiert aber noch einen Gesichtspunkt, der für meine Überlegungen wichtig ist. Er stellt der physis
mehrere Begriffe als Unterschiedenes gegenüber: Physis / techne, physis / nomos und so weiter. Wenn man die-
se Gegensatzpaare vergleicht, stellt man fest, dass sie in verschiedenen Kontexten stehen und dass physis seine
Bedeutung dabei mehr oder weniger verändert. Ich verwende die Unterscheidung physis / techne im Kontext ‚Garten’
(im weiten Sinne) als Unterscheidung von Wachsendem und dem menschlichen Einfluss darauf. Es geht also um
den Kontext ‚Vegetation im Garten’. Die Unterscheidung physis / nomos dagegen entspräche dem Kontext ‚Gesetze
der Natur.’ und dabei bezieht sich physis auf einen erweiterten Bereich. Ein anderes Beispiel wäre der Kontext
‚Gesundheit’ in dem physis für die physiologische Grundverfassung eines Menschen und techne für den Einfluss
der Medizin stände. Auch hier ist ein ‚Bündel’ zu sehen um den Begriff physis.

Werner Stegmaier erläutert den Begriff ‚différance’ folgendermaßen:

... „différer“ ... schließt so schon ein, was nach Derrida die Schriftzeichen leisten, den Aufschub in der
Zeit, der denn auch eine Verschiebung ihres Sinns in der Zeit mit sich bringt. Dies, die Verschiebung
einer Unterscheidung durch die Unterscheidung als solche, lässt sich nach Begriffen metaphysischer
Präsenz nicht fassen. „Différance“ ist darum kein definierbarer Begriff, sondern ihrerseits ein Zeichen,
Derridas Zeichen für die unsichtbare Verschiebung unterscheidender Zeichen in ihrem Gebrauch.
Danach haben wir es ... stets mit temporalisierten zerstreuten Ordnungen zu tun, mit Ordnungen nicht
aus definitiven und allgemeinen Begriffen, sondern aus letztlich individuell gebrauchten Zeichen für
individuelle Zusammenhänge.73

Wir werden im Folgenden sehen, dass sich in den Unterscheidungen ständig Überschneidungen ergeben. Was und
wie unterschieden wird, entscheidet der Beobachter.

Trotzdem müssen für eine saubere Gedankenführung die Kontexte oder Motive der Unterscheidungen und die davon
abhängigen Bedeutungsnuancen der unterschiedenen Begriffe klar definiert werden. Es muss dabei immer wieder
vergegenwärtigt werden, dass wir nicht über Zustände, über Identitäten reden, sondern über Unterscheidungen,
die ein Beobachter macht.

Ich werde, wie gesagt, die Form der Unterscheidung mit zwei Seiten in meiner Arbeit als wichtigstes Strukturelement
verwenden. Der Rückblick auf verwandte Theoreme und der Hinweis auf Derridas Différance soll nur die Bedeutung
Spencer-Browns für die moderne Erkenntnistheorie hervorheben. Aus dem gleichen Grund gehe ich auch noch
einmal auf die ‚klassischen’ Lehren ein, auf das, was Luhmann die „alteuropäische Tradition“ nennt.74

1.4 Die alte Denkweise


Die rigideste Form ist der Satz vom ausgeschlossenem Dritten, (Tertium non datur) der nach Aristoteles lautet:
Zwischen den Entgegengesetzten der Kontradiktion ist kein Mittleres.75 Dem entspricht z.B. der Satz: „ ... ich möchte
ziemlich radikal zwischen Natur und Landschaft unterscheiden, denn sie haben im Prinzip nichts miteinander zu
tun.“ (s. Anm. 31)

73  Stegmaier, (2000), 353ff.


74  Luhmann, (1997) 893ff.
75  Meyers kleines Lexikon, (1987), 422.

Die Welt als Garten  29


Einen stärkeren Einfluss auf unseren Diskurs hat jedoch die Dialektik, wie sie vor allem von Hegel entwickelt wurde:

Hegels Philosophie zielt auf die Überwindung der „Entzweiung der Wirklichkeit,“ die durch Kants
Unterscheidung zwischen ... intelligibler Welt und Bereich des sinnlich Erfahrbaren eingetreten ist.
Hierzu setzt Hegel das Absolute ... als metaphysisches Vernunftprinzip, das die Identität von Subjekt und
Objekt garantiert, voraus. Dieses Absolute ... bestimmt er als „Identität der Identität und Nichtidentität“
... „Das Bewusstsein über die innere Form der Selbstbewegung“ des Absoluten ist die Dialektik des
Dreischritts These – Antithese – Synthese, „die absolute Methode des Erkennens“, ...

Die dialektisch – spekulative Darstellung, ... verläuft jeweils dreischrittig: 1.Der Verstand setzt einen
abstrakten begrifflichen Gegensatz, dessen Bestimmungen ... er als voneinander unabhängig begreift.
2. Die Dialektische Vernunft entwickelt „das eigene Sichaufheben solcher endlicher Bestimmungen
und ihr Übergehen in ihre entgegengesetzte“ d.h. den Widerspruch, der sich in dem Begriff selbst not-
wendig auftut, wenn man ihn als These abstrakt seiner Antithese gegenüberstellt. Denn jeder der
beiden Begriffe setzt den jeweils anderen zu seiner eigenen Bestimmung voraus. ... 3. Die
spekulative Vernunft hebt die Gegensatzbestimmungen als selbständige auf ... indem sie beide in einer
Synthese miteinander vermittelt und zu Momenten einer höheren Einheit („Identität der Identität
und Nichtidentität“) herabsetzt. 76 (Hervorh. A.S.)

Also auch Hegel – den Adorno kritisch den Identitätsphilosophen nennt - geht davon aus, dass jeder Begriff einer
Unterscheidung bedarf. Er geht aber über diese Unterscheidung hinaus, um in einer Synthese wieder zu etwas
Identischem zu kommen. Dagegen hält Spencer-Brown die Unterscheidung streng aufrecht durch die Errichtung
einer Grenze zwischen den beiden Seiten. Dieser scheinbar so geringe Unterschied ist aber tatsächlich so bedeutsam,
wie der zwischen klassischer und moderner Physik.

1.5 Die Unterscheidung mit zwei Seiten als Skala


Oben habe ich als Beispiele einer Unterscheidung Baum und Haus oder Eiche und Buche angeführt und festgestellt,
dass diese Dinge, wenn sie ‚gelernt’ sind, zu Eigenwerten, und man kann auch sagen, zu Identischem werden. Ich
nenne dies:

Einfache Unterscheidung
Eiche Buche

Baum Haus

Ein Problem sind die Seiten einer Unterscheidung, die als Form nicht zu trennen sind, wie um Beispiel die
Unterscheidung physis / techne im Kontext Gartenvegetation. Die Einwirkung von techne kann sehr intensiv sein,
zum Beispiel im Renaissancegarten, oder auch minimal im Naturgarten. Dazwischen kann man sich unendlich viele
Abstufungen vorstellen. Die Intensität der Einwirkung ist ‚skaliert’. Das ergibt die Form:

Skalierte Unterscheidung
physis techne

Um dies zu verdeutlichen, gebe ich ein anderes Beispiel aus der optischen Wahrnehmung: Die Farbmischung aus
Blau und Grün. In ihrer ‚reinen’ Form empfinden wir sie als zwei identische Farben. Sie können aber gemischt

76  Ebd. 101f

30  Die Welt als Garten


werden vom reinen Blau bis zum reinen Grün. Es entsteht eine Farbskala. Interessant ist der Punkt, an dem beide
Farben zu gleichen Teilen gemischt werden. Es entsteht ‚Blaugrün’. Oft kommt es vor, dass jemand dazu sagt: „Das
ist blau“ und jemand anders behauptet: „Das ist grün.“ Entscheidend ist, von welcher Seite her die Farbe gesehen
wird. Wer vom Blau herkommt, sieht dieses noch weit im grünen Bereich vorherrschen und umgekehrt.

Bekannt sind auch graphische Spielereien, die eine Metamorphose von einer Gestalt zu einer anderen darstellen,
zum Beispiel eine von Escher, in der sich ein Fisch in einen Vogel verwandelt. – Eine andere zeigen H. und M.
Haken: die Verwandlung eines Männergesichts in einen Mädchenakt.

Abb. 1/2 Beispiel einer Hysterese

Sie beschreiben dies als

Hysterese77 bei der visuellen Wahrnehmung. Fangen wir oben links an, so erkennen wir ein
Männergesicht, das auch in der zweiten Zeile noch gesehen wird und erst am Schluss in die
Wahrnehmung eines Mädchens umschlägt. Beginnen wir umgekehrt unten rechts und gehen dann in
der gleichen Zeile nach links, so erkennen wir ein Mädchen, das auch noch in der oberen Zeile erkannt
wird und erst am Schluss wieder in ein Männergesicht umschlägt.78

Wir sehen, dass auch hier der ‚Blinde Fleck’ im Spiel ist.

Mit dem Begriff der Skala entsteht eine neue Qualität des Erkennens. Es gibt nicht die Identität z. B. einer Hybride,
sondern jeder Punkt auf der Skala der Unterscheidung markiert nur eine kontingente Relation der je-
weiligen Unterscheidung.

Mir ist dies klar geworden bei der Lektüre von Martin Seels „Ästhetik der Natur“:

Freie Natur ... ist ein Skalenausdruck, dessen Bedeutung erlischt, sobald er die beiden Enden der Skala
berührt. Absolut frei wäre allein die Natur, zu der kein Mensch je die Distanz aufgebracht hätte, die
es zur ästhetischen Anschauung braucht. Absolut unfrei wäre die Natur, die technisch so zugerichtet
wäre, dass kein Mensch länger da wäre, der die lebenswichtige Distanz zur Natur aufbringen könnte.
Die vollkommen freie ist wie die vollkommen unfreie Natur eine Natur ohne Menschen, ... In diesem
Sinn ist ästhetische Natur immer schon eine vom Menschen beeinflusste Natur, ohne freilich immer
ein von ihm zurechtgemachter Raum zu sein – was eine weitere graduelle Bestimmung ist.79

77  Lt. Duden: „das Zurückbleiben einer Wirkung hinter dem jeweiligen Stand der sie bedingenden veränderlichen
Kraft.“
78  Haken (1994), 36.
79  Seel, (1991), 27.

Die Welt als Garten  31


Martin Seel begründet hier ein Paradigma, nach dem Natur immer Natur bleibt, gleichviel, wie der Mensch auf sie
einwirkt.

Dem entspricht meine Auffassung des Verhältnisses von physis – techne als Form der Unterscheidung mit zwei Seiten.
Die Intensität der Einwirkung auf die physis ist skaliert. Solange die Enden der Skala nicht erreicht sind, bleibt die
Substanz der physis erhalten. Erst wenn ein Garten ganz aus Plastik hergestellt wird, ist das Ende der Skala erreicht.
Dann bleibt als Unterscheidung nur die Schaufensterdekoration. – Das andere Ende der Skala ist der Urwald. Die
Lebensweise seiner Bewohner lässt sich nicht als techne definieren. Also muss hier auch der Begriff „Welt als Garten“
halt machen. Das heißt ja nicht, das der Urwald nicht zu schützen sei; im Gegenteil: hier hat techne absolut fern zu
bleiben.

Auch Stefanie Krebs stellt dieses skalierte Verhältnis fest:

Die Kategorien natürlich – künstlich sind nicht unabhängig voneinander, sie sind nur in ihrem Verhältnis
zueinander zu verstehen: nicht entweder- oder, sondern weniger oder mehr. Die Aufmerksamkeit hat
sich verschoben vom „Objekt an sich,“ an das die Moderne geglaubt hatte, zum „Objekt in Beziehung
zu anderen,“ in einem System von Beziehungen.80 (Hvh. A.S.)

Dies zeigt, dass die Hysterese nicht ein besonderes Phänomen der Wahrnehmung ist, sondern ein allgemeines
der menschlichen Erkenntnis und Wahrnehmung überhaupt. Bei der skalierten Unterscheidung pysis / techne ist
das gut zu beobachten: Wer von der Seite der techne ausgeht, zum Beispiel von der ‚industriellen Landwirtschaft’,
sieht in jedem Landschaftsteil nur techne, und das führt dann zu dem Begriff ‚Totale Landschaft’. (siehe Anm. 26)
Ein engagierter Naturschützer findet dagegen schützenswerte Naturbestandteile auch in menschlich überformten
Landschaften

Ich erwähnte schon, dass in der Form der skalierten Unterscheidung oft die eine, unmarkierte Seite als Blinder Fleck
unsichtbar bleibt. An den Enden der Skala der Unterscheidung ist dieser Umstand besonders oft zu beobachten. So
ist im minimalistischen Garten die physis und im Ökogarten techne oft der Blinde Fleck.

Der Bereich innerhalb der Endpunkte der Skala ist das Feld der Gartenkunst. Das geht vom Heckenlabyrinth an ei-
nem Ende bis zum Ökogarten am anderen Ende. Diese Skalierung bedeutet für die Form der Unterscheidung physis
/techne, dass das Verhältnis zwischen beiden Seiten frei gewählt werden kann und entschieden werden muss. Es gibt
kein Rezept für ein ‚richtiges’ Verhältnis. Als ‚sichere’ Lösung wird dann oft der Bereich nahe den Endpunkten der
Skala gewählt wo die andere Seite ein Blinder Fleck ist: Die Ökologie oder der Minimalismus. Beide Enden aber ber-
gen immer die Gefahr des Fundamentalismus in sich. Das Fehlen fester Vorgaben darf jedoch auch nicht dazu füh-
ren, in Beliebigkeit zu verfallen, sondern die Kunst besteht darin, in diesem Horizont der Möglichkeiten eine in sich
schlüssige Idee zu verwirklichen. Dies erinnert an einen Satz von Karl Jaspers: „Der Sturz aus den Festigkeiten
... wird Schwebenkönnen – was Abgrund schien, wird Raum der Freiheit“ 81 Die ‚Festigkeiten’ sind das Identische.
‚Schweben können’ im Raum der Freiheit ist eines der Wesenszüge der modernen Kunst.

Den landläufigen Diskurs über das Verhältnis zwischen Natur und Gartenkunst könnte man in seiner ‚dialektischen’
Form kurz so darstellen: Zunächst stehen sich ‚Natur’ und ‚Kunst’ als These und Antithese antagonistisch gegen-
über. Die Naturgartenbewegung und der Naturschutz sehen nur die ‚reine’ Natur. Die Avantgarde der Gartenkunst
verbannt alles ‚Naturalistische’ aus ihren Werken. Als Synthese wird dann der Begriff Hybrid gebildet. Ähnlich
ist das Verhältnis Stadt / Landschaft zu sehen: Als These und Antithese. Nachdem die Grenzen zwischen Stadt

80  Krebs, (2002), 96.


81  Jaspers, (1971), 31

32  Die Welt als Garten


und Landschaft verwischt sind, werden als Synthese oder als neue Identität die Begriffe Totale Landschaft oder
Landschaft Drei kreiert

Was aus dieser Denkweise entsteht, ist die absolute Beliebigkeit, die dann auch in einer allgemeinen Verunsicherung
zu spüren ist. Totale Landschaft kann alles sein und ist deshalb auch nicht definierbar.

Die weiteren Untersuchungen werden zeigen, welche Erkenntnisse die Anwendung der ‚Form der Unterscheidung
mit zwei Seiten’ bringen. Entscheidend ist, dass die Spannung der beiden Seiten der Unterscheidung immer erhalten
bleibt.

Die Welt als Garten  33


Kapitel 2 Die Vegetation im Garten
Im Kontext Garten unterscheide ich zunächst die Vegetation von der Architektur, anders gesagt die
Pflanzenverwendung von dem Gebauten, wie Wege, Plätze, Mauern und so weiter.

Garten
Vegetation Architektur

Ich erinnere daran, dass ‚Garten’ bei diesen grundsätzlichen Überlegungen die ‚Landschaft’ mit einbezieht im Sinne
von: ‚Die Welt als Garten.’

Die Vegetation oder Pflanzenverwendung ist die eigentliche Substanz der Gartenkunst, die nur ihr ei-
gen ist.

Architektur in der Gartenkunst ist dagegen ein Teil, der sie mit anderen Kunstrichtungen verbindet und vergleichbar
macht, hauptsächlich mit der Baukunst und dem Städtebau. In der Avantgarde der gegenwärtigen Gartenkunst do-
miniert das Architektonische vor dem Gärtnerischen, auch deshalb ist es angebracht, die Unterschiede dieser beiden
Seiten zu untersuchen. Zunächst geht es also um die Vegetation, das Wachsende, Lebendige, um die Pflanzungen
als das Wesentliche der Gartenkunst, und zwar in dem Spannungsverhältnis des Wachsens unter dem Einfluss des
Menschen.

Vegetation
physis techne

2.1 Die biologischen Grundlagen der Vegetation


Wenn man den Einfluss von techne auf physis richtig verstehen will, muss man erst einmal die biologischen
Zusammenhänge, denen die Vegetation unterliegt, erfassen. Ich folge hier dem chilenischen Biologen Humberto
Maturana, (dessen Forschungen nicht nur die Biologie, sondern zum Beispiel auch die Wissenschaftstheorie des
Radikalen Konstruktivismus82 und die Systemtheorie Niklas Luhmanns wesentlich beeinflusst haben.) Maturana
unterscheidet bei der Beschreibung der Organismen (er spricht abstrakt von zusammengesetzten Einheiten) zu-
nächst deren Organisation und Struktur.

Organismus
Organisation Struktur

Dieser Unterschied wird metaphorisch erläutert am Beispiel eines Stuhles (als zusammengesetzte Einheit): Beine,
Sitzfläche und Rückenlehne bestimmen die Organisation eines Stuhles. Wenn eines dieser Bestandteile fehlt, han-
delt es sich nicht mehr um einen Stuhl. Ob jedoch die Beine des Stuhls aus Stahl oder Holz, die Sitzfläche gepolstert
ist oder nicht, und ob er eine runde oder eckige Rückenlehne hat, ist für die Klassifizierung als Stuhl irrelevant. Dies
wird als Struktur des Stuhles bezeichnet. Die Struktur kann beliebig variieren, solange die Organisation aufrecht
erhalten bleibt. Wenn zum Beispiel die Beine zu dünn wären, würde die Organisation des Stuhles ‚zusammenbre-
chen’. 83

82  Schmidt, (1994), 89 ff.


83  Maturana, (1987), 49.

34  Die Welt als Garten


Zur Organisation der Pflanze gehören in erster Linie die Organe, welche die Nährstoffe aufnehmen und solche, die
Kohlensäure der Luft assimilieren, sowie ihr Regenerationsvermögen und ihre Homöostase.

Die Organisation eines Organismus ist also das, was seine Klassenidentität bestimmt, während die Struktur je nach
Lebenslage variabel ist. „Eine dynamisch zusammengesetzte Einheit ist ... eine zusammengesetzte Einheit im Prozess
kontinuierlichen Strukturwandels, die gleichzeitig ihre Organisation aufrecht erhält.“ 84

Der Strukturwandel eines Organismus wird in seiner Ontogenese, zum Beispiel bei der Entwicklung einer Pflanze
vom Steckling bis zur erwachsenen Form, besonders deutlich sichtbar. Sofern die Pflanze ein entsprechendes
Regenerationsvermögen hat, wie zum Beispiel die Weide, bilden sich in den Blattachseln statt Blätter Wurzeln
und so aus den abgeschnittenen Trieben neue Pflanzen. – Wir werden sehen, dass in der Regel alle gärtnerische
Einwirkung ein Einwirken auf die Struktur ist, - direkt oder indirekt - und dass eine Veränderung der Organisation
das Absterben der Pflanze bedeutet.

Um diese Vorgänge zu verstehen, müssen die Einwirkungen auf die Struktur aber noch genauer betrachtet werden.
Dazu ist zunächst festzustellen, dass zu jedem Organismus essentiell seine Umgebung gehört. Maturana nennt den
Existenzbereich einer Einheit ihr Medium. Das geht zurück auf Üxkülls Lehre, nach der jeder Organismus seine
eigene Umwelt hat. Medien im Sinne Maturanas sind zum Beispiel der Wald, der See und das Feuchtgebiet.

Weiter ist wichtig, wie Maturana einen Organismus als lebendes System definiert: „Der Mechanismus, der Lebewesen
zu autonomen Systemen macht, [ist] die Autopoiese; sie kennzeichnet Lebewesen als autonom.“ (griech. autos =
selbst, poiein = machen)

... den Lebewesen ist eigentümlich, dass das einzige Produkt ihrer Organisation sie selbst sind, das
heißt, es gibt keine Trennung zwischen Erzeuger und Erzeugnis. Das Sein und das Tun einer autopoi-
etischen Einheit sind untrennbar, und dies bildet ihre spezifische Art von Organisation. 85

Eine weitere Feststellung ist, dass autopoietische Einheiten grundsätzlich geschlossene Systeme sind; sie bestimmen
ihre Ausdehnung, indem sie ihre Grenzen in „ihrem Bereich der Existenz [selbst] festlegen.“ 86 Geschlossenheit
bedeutet, dass sie nur solche Einflüsse zulassen, die mit ihrer Struktur vereinbar sind. „ Ein externes Agens, das mit
einer zusammengesetzten Einheit interagiert, löst ... in dieser einen Strukturwandel lediglich aus, kann diesen aber
nicht festlegen.“

Aber „ ... die Struktur einer zusammengesetzten Einheit [determiniert] auch, mit welchen strukturellen
Konfigurationen des Mediums sie überhaupt interagieren kann.“ 87 Maturana nennt die Interaktionen zwischen
Organismus und Medium, d. h. „ die Relationen der dynamischen strukturellen Übereinstimmung mit dem Medium,
durch die eine Einheit ihre Klassenidentität bewahrt“, strukturelle Kopplung oder auch Anpassung.88

Den „ Teil des Mediums, mit dem die Einheit strukturell gekoppelt ist,“ nennt er Nische.89 „Lebende Systeme ...
können ... nicht unabhängig von jenem Teil der Umgebung verstanden werden, mit dem sie interagieren: der

84  Maturana, (2000), 161.


85  Maturana (1987), 55 ff
86  Maturana, (2000), 182
87  ebd. 162.
88  ebd. 165
89  ebd. 169.

Die Welt als Garten  35


Nische; noch kann diese Nische unabhängig von dem lebenden System, das sie bestimmt, definiert werden.“90 Auch
dies ist eine typische Form der Unterscheidung mit zwei Seiten:

Vegetation
Pflanze Nische

Die Nische ist kein fester Teil des Mediums, sondern sie ändert sich korrelativ mit dem Organismus. So kann zum
Beispiel im Medium Wald ein junger Baum seine Nische dadurch verändern, dass er mit zunehmendem Alter den
Boden beschattet und mit seinem Laub eine Rohhumusdecke bildet. Oder eine Leguminose ‚gestaltet’ ihre Nische
durch die Bildung Stickstoff sammelnder Knöllchenbakterien. - Auch konkurrierende Pflanzen gehören zur Nische
eines Organismus. Vegetationen bestehen also nur aus Organismen und Nischen, d.h. jede Pflanze gehört zur Nische
der Nachbarpflanze und die Beziehungen zwischen beiden sind durch die strukturelle Kopplung bestimmt. Das
kann dazu führen, dass eine dominierende Art alle Nachbarn verdrängt, oder auch dass sich verschiedene Arten
‚vertragen,’ was dann ‚Pflanzengemeinschaft’ genannt wird. – Der wichtigste Teil der Nische ist aber der Boden, das
Substrat, in dem die Pflanze wurzelt und sich ernährt.

Als Beispiel für die Breitenwirkung Maturanas zitiere ich, wie Luhmann den Begriff „strukturelle Kopplung“ in
seiner Theorie verwendet:

Die strukturelle Kopplung ... bestimmt nicht, was im System geschieht, sie muss aber vorausgesetzt
werden, weil andernfalls die Autopoiese zum Erliegen käme, und das System aufhören würde zu exi-
stieren. Insofern ist jedes System immer schon angepasst an seine Umwelt.91

Auf die Vegetation bezogen, heißt das, die Autopoiese kann nur in einer für sie verträglichen Nische aufrechterhal-
ten werden.

Zwei Punkte aus Maturanas Theorie sind noch hervorzuheben: Der erste betrifft den Begriff ‚Determiniertheit.’
Der wird gerne mit ‚Gesetzmäßigkeit’ assoziiert und kommt der Vorstellung entgegen, dass alles nach ‚festen
Naturgesetzen’ abläuft. Dagegen sagt Maturana:

Die Struktur eines strukturdeterminierten Systems [wählt] zwar die Konfigurationen des Mediums
aus, mit denen es interagieren kann, alle seine Interaktionen mit von ihm unabhängigen Systemen
[entstehen] jedoch als Zufallsergebnisse [und können] nicht aus der Struktur des strukturdetermi-
nierten Systems allein vorhergesagt werden. 92 (Hvh. A.S.)

Und bei Luhmann heißt es dazu:

Man sieht heute (im Unterschied zu älteren Vorstellungen über „Naturgesetze“), dass die Stabilität von
Organismen ebenso wie von ökologischen „Gleichgewichten“ eine Vermeidung strikter Kopplungen
voraussetzt; oder mit anderen Worten: Robustheit beim Absorbieren von Störungen.93

Das Zufallsprinzip herrscht z. B. bei Brachflächen, die der Sukzession überlassen werden. Ihr Verlauf wird in erster
Linie von der Abundanz der natürlichen Fortpflanzung bestimmt, wenn unzählige Samen eine Nische finden oder
nicht finden, was zu jedem Zeitpunkt von den gerade herrschenden Verhältnissen unterschiedlichster Art abhängt.

90  ebd. 26.


91  Luhmann, (1997), 100 f
92  Maturana, (2000), 163
93  Luhmann, (1997), 525 f

36  Die Welt als Garten


Der zweite Punkt ist für unseren Umgang mit Pflanzen besonders wichtig. Das ist eine gewisse Unberechenbarkeit
und Unsicherheit der Wirkungsweise unseres Einwirkens auf die Vegetation. Maturana erläutert das Verhältnis zwi-
schen Organismus und Nische anhand einer Metapher:

Eine zusammengesetzte Einheit in ihrem Medium verhält sich wie ein Seiltänzer, der sich auf einem
Seil ... bewegt und sein Gleichgewicht erhält (seine Anpassung), indem er seine Gestalt (seine Struktur)
jeweils so verändert, dass sie mit den visuellen und den schwerkraftbedingten Interaktionen überein-
stimmt, die er beim Tanz auf dem Seil ausführen muss (während er seine Nische verwirklicht), und der
fällt, wenn dies nicht gelingt.94

Diese potentielle Labilität gilt es immer im Auge zu behalten, wenn wir mit Pflanzen umgehen.

2.1.1 Zusammenfassung

Die bisherige Betrachtung der biologischen Grundlagen führt in Bezug auf das Verhältnis von physis und techne zu
folgenden Feststellungen:

• Die Einwirkung von techne auf physis erfolgt überwiegend indirekt auf Medium und Nische der Organismen.

• Die Nische eines Organismus wird durch techne verändert. Das ist unschädlich, solange die strukturelle
Kopplung zwischen Nische und Organismus aufrechterhalten bleibt. Wenn dies nicht mehr der Fall ist, bricht
die Organisation des Organismus zusammen, d.h. er stirbt ab und andere siedeln sich in der so veränderten
Nische an.

• Solange die strukturelle Kopplung besteht, hat es für den Organismus keine essentielle Bedeutung, ob techne
auf die Nische einwirkt oder nicht. Die Pflanze ‚unterscheidet’ nicht, ob die Nährstoffe in der Nische originär
vorhanden waren oder ob sie ‚künstlich’ zugeführt wurden. Das Gleiche gilt zum Beispiel für das Wässern.
Für die Kartoffeln in der Lüneburger Heide ist es egal, ob das lebenswichtige Wasser vom Regen oder aus der
Bewässerungsanlage stammt.

• Es gibt also keine ‚künstliche’ Nische, sondern nur eine, mit der der strukturdeterminierte Organismus eine
optimale oder weniger optimale strukturelle Kopplung eingehen kann.

• In diesem Sinne ist also das Einwirken von techne auf physis grundsätzlich nicht ‚unnatürlich,’ solange die
Organisation der Organismen nicht beeinträchtigt wird.

• Da die Interaktionen zwischen Nische und Organismus dem Zufall unterliegen, sind auch die Folgen der
Einwirkung von techne dem Zufall unterworfen. Das erklärt die vielen Fehlschläge, die wir im Umgang mit
der ‚Natur’ erleben. Die Folgen unserer Eingriffe können wir zwar nach ihrer Wahrscheinlichkeit einschätzen
aber nicht als Gesetzmäßigkeit bestimmen.

• Für die einzelnen Organismen sind alle anderen, mit denen sie interagieren, Teil ihrer Nische, die durch diese
anderen positiv oder meistens negativ beeinflusst wird. ‚Pflanzengesellschaften’ oder ‚Ökosysteme’ sind also
keine „Zusammengesetzte Einheiten“ mit eigener Organisation und Struktur, sondern was so bezeichnet
wird, sind statistische Auffälligkeiten typischer Nischenbildung, die wie Gesetzmäßigkeiten erscheinen.

94  Maturana, (1998), 170.

Die Welt als Garten  37


• Dem entspricht letztlich auch Wolfgang Habers Aussage: „Wenn man die Natur als Ökosystem begreifen will,
macht man sie eigentlich auch zu einer Art Maschine.“ 95 Und entsprechend ist auch die Aussage „Natur ist
eine Gesetzmäßigkeit“ (S. Anm. 31) nicht haltbar.

• Das heißt aber, dass „Natur“ heute immer als das Zusammenwirken von physis und techne zu sehen ist und
somit in unserer Verantwortung liegt. Das heißt aber auch, dass die Machbarkeit begrenzt ist und dass in der
Gartenkunst zum Wissen die Intuition, das Gefühl für das Nichtmachbare kommen muss.

2.2 Das Verhältnis physis/techne, entwicklungsgeschichtlich gesehen


Wenn wir unser Verhältnis zur Natur und unseren Einfluss auf sie verstehen und beschreiben wollen, ist es sinnvoll,
die geschichtliche Entwicklung zu betrachten. Denn unsere Verhaltensweisen und unsere Befindlichkeiten in Bezug
auf Natur unterliegen nicht in erster Linie aktuellen und modischen Einflüssen, sondern sie haben sich in unzäh-
ligen Generationen herausgebildet und sind so zu unserer ‚zweiten Natur’ geworden. Es geht um die Bildung von
Archetypen, die bei allen Betrachtungen über Gartenkunst zugrunde gelegt werden sollten. Es geht mir in meiner
Darstellung weniger um eine geographisch und chronologisch exakte Beschreibung. Die liegt uns vor in den zwei
bedeutenden Büchern von Hansjörg Küster über dieses Thema.96 In Anlehnung an diese Werke wähle ich eine
etwas abstraktere Form, die sich auf die Beschreibung des menschlichen Einflusses – techne – beschränkt.

Die erste ‚Manipulation’ der Natur vermutet Küster schon bei den Menschen der mittleren Steinzeit, die anscheinend
Haselnüsse in den Wäldern ausgesät haben. So „könnte man die so plötzliche und durchschlagende Ausbreitung
des Haselbusches in Mitteleuropa vor 9000 Jahren gut erklären.“ Das hieße, dass der Mensch bereits damals seine
Umwelt aktiv gestaltet hat „indem er ein Gehölz schonte, schützte oder gar pflanzte, weil er dadurch Nahrung ge-
winnen konnte,“ die auch im Winter zur Verfügung stand.97

Allgemein geht man in der Vorgeschichte davon aus, dass Die Lebensform der Jäger und Sammler in der „neoli-
thischen Revolution“ vom Ackerbau abgelöst wurde. Aber „es ist eines der größten Rätsel der Menschheits- und
Landschaftsgeschichte, wie sich dieser Wandel vollzog.“ Er hat „sich ... in Wirklichkeit nicht in einem revolutionären
Prozeß entwickelt, sondern Schritt für Schritt nach den Gesetzen der Evolution.“ 98

Nach meiner Auffassung dürfte der erste Schritt in dieser Evolution die Domestizierung von Wildtieren gewesen
sein. Vielleicht zuerst in den asiatischen Steppen, wo Nomaden ständig neue Weidegründe fanden. Hier hat sich
diese Lebensform der Hirten bis heute erhalten.

In den Waldgebieten Mitteleuropas war das Nahrungsangebot für die Herden wesentlich reicher als in den Steppen.
An den Rändern der Wälder boten Eicheln und Bucheckern ein nahrhaftes Futter für die Tiere. Gleichzeitig wei-
deten diese aber auch alles Laub von herunter hängenden Ästen, Büschen und Jungpflanzen ab. Das verhinderte
die natürliche Verjüngung der Wälder, die dadurch immer lichter wurden. Küster beschreibt eine weitere Form
der Waldnutzung, das „Schneiteln“. Dabei wurden im Sommer junge Zweige abgeschnitten, um sie im Winter
als Laubheu zu verfüttern.99 Auch durch die Entnahme von Nutzholz wurden die Wälder ausgelichtet. So ent-
standen „die typischen Hutewälder: lockere Bestände aus alten, sehr breitkronigen und grobästigen Eichen und
Buchen. Gerade die alten Bäume mit ihren großen Kronen lieferten aber eine besonders reiche Mast.“ 100 Diese

95  Haber, (2001), S. 67.


96  Küster, (1995 und 1998).
97  Küster, (1995), 68.
98  ebd. 72f.
99  ebd. 106.
100  Henning, (1983), 35.

38  Die Welt als Garten


Waldweidewirtschaft hat sich bis in die Neuzeit erhalten. Noch im 18. Jahrhundert wurden in manchen Gegenden
so genannte ‚Schweinekriege’ ausgefochten, wenn sich benachbarte Orte um die Weiderechte in den dazwischen
liegenden Wäldern stritten.

Abb.2/1 Hudewaldrest im Sachsenwald

Wie kann sich ein evolutionärer Übergang zum Ackerbau vollzogen haben? Es liegt nahe, sich die vom Vieh gelich-
teten Wälder als Voraussetzung für die Anlage von Äckern vorzustellen. Ich habe kürzlich eine von Wildschweinen
aufgebrochene Waldblöße gesehen und war zuerst im Zweifel, ob hier nicht Maschinen am Werke waren. Die
Frauen in der Steinzeit werden beobachtet haben, dass auf solchen Flächen besonders üppige Kräuter wuchsen.
Sie begannen deshalb, in der Nähe ihrer Behausung den Boden mit den ersten primitiven Geräten zu lockern und
Kräuter auszusäen. Sie stellten auch fest, dass das Wachstum durch bestimmte Pflegemaßnahmen gefördert werden
konnte. So wurden die nicht nutzbaren konkurrierenden Kräuter – Unkräuter - entfernt und zu dicht stehende
Nutzpflanzen vereinzelt.

Die im Laufe der Zeit gesammelten Erfahrungen führten bald dazu, den Boden bei Trockenheit zu wässern und im
Frühjahr zu düngen. Vor allem aber mussten die Pflanzflächen mit Weidengeflecht eingefriedet werden, um sie vor
Wildfraß zu schützen. So war der ‚Urgarten’ entstanden! Diese techne der Vereinzelung von Pflanzen gehört neben
der Herstellung von Werkzeugen, dem Gebrauch des Feuers und der Domestizierung von Wildtieren zu den wich-
tigsten Erfindungen der Menschheitsgeschichte.

Auch Marie Luise Gothein sieht die „Anfänge aller Gartenkultur ... mit der Seßhaftigkeit der Völker“ zusam-
menfallen; „sobald ... die erste Frucht, mit der Hacke bestellt, den Menschen zwingt, sich in festen Wohnplätzen
anzusiedeln, muß er seinen Fruchtplatz mit einem Zaun umgeben, ... . Wenn wir also diesen primitiven Garten
... im Gegensatz zu dem freien Feld ansehen, so ist der Garten das Frühere gegenüber der Bewirtschaftung des
Feldackers, die erst in einem Lande, in dem die allgemeine öffentliche Sicherheit schon die Fluren schützt, sich
entfalten kann.“101

Erst durch die Verbesserung der Geräte für die Bodenlockerung und durch erste Züchtungen von Getreidearten wird
sich der Ackerbau entwickelt haben. Die Waldweide und die darauf folgende Ausweitung der Ackerflächen war ein
dynamischer Prozess, der sich bis in die Neuzeit fortgesetzt hat. Noch eine vor 250 Jahren aufgenommene Flurkarte
einer Sachsenwaldgemeinde zeigt den zerfransten Übergang zwischen diesen unterschiedlichen Wirtschaftsflächen:

101  Gotheim, (1926), 3.

Die Welt als Garten  39


Abb. 2/2 Sachsenwaldgemeinde im 18. Jh.

In jüngerer Zeit hat dann die überhand nehmende Entnahme von Nutzholz zur Bildung von Buschländern und
Heiden geführt. Die an manchen Stellen noch vorhandenen Hutewälder geben uns aber noch ein anschauliches Bild
von einer Landschaft, wie sie über Jahrtausende in Mitteleuropa bestanden hat.

In Dörfern, in denen der Wald schon weiter zurückgedrängt war, wurden Weiden hinter den Höfen angelegt, um
das Milchvieh zum Melken in der Nähe zu haben und ebenso Heuwiesen für das Winterfutter. So waren die vier
Grundelemente entstanden, aus denen unsere Landschaft bis heute besteht: Die Gärten, die Äcker, die Wiesen und
Weiden, und die Wälder, hervorgegangen aus den Hutewäldern und dem Urwald, der vorher da war.

Aus der bisherigen Darstellung ist nur erkennbar, dass der menschliche Einfluss auf die Natur – techne / physis – sehr
früh eingesetzt hat. Er war die Voraussetzung für die Evolution des modernen Menschen und ist zu seiner zweiten
Natur geworden. Insofern ist diese diachronische Betrachtung eine wichtige Grundlage für die Beurteilung unseres
heutigen Naturverhältnisses. Sie zeigt, dass die ‚Aneignung der Natur’ untrennbar zum Wesen der Spezies Mensch
gehört.

2.3 Das Verhältnis physis/techne in der heutigen Praxis


Ich unterscheide zwei Seiten der Einwirkung, die direkte auf die Pflanze und die auf die Nische.

techne
Einwirkung auf die Pflanze Einwirkung auf die Nische

Die erste bezieht sich auf die direkte Manipulation der Struktur der Pflanzen. Die Wichtigste ist der Pflanzenschnitt.
Küster führt das Schneiden von Gehölzen in der Gartentechnik auf das Schneiteln zur Laubheugewinnung zurück.102
Es ist also auch eine uralte Technik. Es gibt Pflanzen, die jeden Schnitt ‚vertragen,’ aber auch andere, die nicht diese
Regenerationsfähigkeit haben, und deren Organisation zerbricht, wenn sie zu stark beschnitten werden. Bei Linden
z. B. sind der technische Vorgang und seine Folgen eindeutig. Die verbleibenden Knospen treiben wieder aus und
die Pflanze wächst weiter. Wenn sie nicht mehr beschnitten wird, entwickelt sich in der Folge ein normaler Baum,

102  Küster, (1998), 172.

40  Die Welt als Garten


wie man in alten Anlagen oft beobachten kann. Dieser Vorgang ist das Gleiche – von der physis aus betrachtet, - als
wenn der Baum in seiner Jugend vom Wild verbissen worden wäre. Es ist deshalb verständlich, dass Blomfield den
Pflanzenschnitt als Beispiel anführt, um die „Natürlichkeit“ des architektonischen Stils zu reklamieren. 103

Das Pflanzen und Schneiden von Hecken hatte zunächst als Beeteinfassung einen funktionellen Grund. Der
Pflanzenschnitt im Barock hat jedoch eine tiefere Bedeutung. Es ist nicht nur der Einfluss der Architektur und die
Gleichsetzung der Pflanze mit dem Stein als Material, sondern durch den Schnitt soll der Garten nicht altern. Der
Barockgarten ist ein Symbol für die Zeitlosigkeit. Eine Parallele besteht zu der kosmetischen Mode dieser Zeit, über
die der Kunsthistoriker Werner Kloos schreibt:

Puder wurde angewendet, weil er die Spuren des Älterwerdens, die Zeichen der Vergänglichkeit, die
grauen Haare zu verdecken vermochte. ...Nicht nur alternde Menschen puderten ihr Haar, sondern
auch die jungen Leute, sogar die Kinder. Da alle grau gepuderte Köpfe trugen, waren Altersunterschiede
nicht mehr genau wahrzunehmen. ... und die Greisinnen lächelten mit scheinbar faltenlosem Antlitz
und kirschroten Lippen.104

Genau so ewig jung war der Barockgarten, und so lässt er sich auch wieder rekonstruieren, was ihn zu einem be-
liebten Objekt der Gartendenkmalpflege macht. - So ein tieferer Sinn ist in der heutigen Mode des Pflanzenschnitts
wohl nicht zu erkennen. Der einzige Grund scheint zu sein, ‚Naturalismus’ zu vermeiden.

Der andere Einfluss der techne richtet sich auf das Medium oder die Nischen der Vegetation. Zur Nische gehören
einerseits der Boden, das Substrat und zum anderen die jeweiligen Konkurrenten.

Nische
Boden Konkurrenten

Die Bodenbearbeitung war die Voraussetzung für die Entstehung des Urgartens und ist immer noch wichtig-
ste Grundlage der Kulturlandschaft. - In den 40ger und 50ger Jahren war die Erhaltung der Bodengare und der
Wasserkapazität ein wichtiges Thema in der Bodenkunde. In der Praxis des Landschaftsbaus wurde dies mit dem
Einsatz immer schwererer Maschinen stark vernachlässigt. Es gewinnt aber wieder an Bedeutung, vor allem durch
die Naturgartenbewegung.

Andere Ziele verfolgt eine gegensätzliche Form dieses Einflusses: Die Schaffung von Extremstandorten. Dabei wird
z.B. mit hohem materiellen Aufwand Mutterboden abgeschoben, um Trockenrasen zu erzeugen, oder Wiesenflächen
künstlich vernässt, um Wiesenvogel-Biotope zu schaffen. – Eine extreme Art der Nischengestaltung ist auch die
Arbeitsweise von Le Roy, wenn er zum Beispiel Bauschutt in seine Anlagen einbringt

Ebenso zur Nische gehören auch die jeweiligen Konkurrenten. Die Reduzierung derselben ist eine wichtige
Nischen-Behandlung. Ob Rübenacker, Blumen- oder Staudenbeet: ihr Prinzip ist die Vereinzelung der Nutzpflanzen
und die Bekämpfung der Konkurrenten – des Unkrauts – oder in Staudenbeeten die Vermeidung von aggressiven
Ausläufer treibenden Stauden. - Auch durch Mulchen mit organischen und anorganischen Substraten wird die
Unkrautbekämpfung praktiziert, was gleichzeitig eine positive Wirkung auf die Bodengare hat. – Diese Art der
Kultivierung der Nutzpflanzen und das Prinzip der Optimierung durch Ausschaltung der Konkurrenten bestehen
ebenfalls seit der Erfindung des Urgartens, sind eine archetypische Prägung.

103  Gotheim, (s. Anm. 13.)


104  Kloos, (1979)

Die Welt als Garten  41


Eine Alternative zur Vereinzelung sind seit relativ kurzer Zeit Tendenzen zur ‚Vergesellschaftung.’ Das sind Schritte
zu ‚natürlicheren,’ artenreicheren Pflanzungen, zum Beispiel Stauden, die in ausgewogener Konkurrenz zueinan-
der wachsen und eindrucksvolle Bilder bieten. Besonders interessant sind solche mit einer gewissen Dynamik, die
dadurch entsteht, dass sich einige Arten selbst aussäen und entstandene Lücken ausfüllen. Hier braucht nur selek-
tierend eingegriffen werden, wenn eine Art zu stark dominiert. Jedoch gehört auch Fingerspitzengefühl dazu, was
Ian Hamilton Finley zu der Bemerkung veranlasste:

In der Natur ist der Konflikt ständig präsent. Sobald man anfängt, einen Garten zu bewirtschaften,
wird man feststellen, dass jedes kleine Pflänzchen ein Imperialist ist, der seinen Grund behaupten will.
Harmonie ist jene unsichere Balance zwischen verschiedenen Elementen.105

Interessante Beispiele für Pflanzungen, die - nach diesen Prinzipien ausgeführt -, eine ganz neue Gartenästhetik
kreieren, sind die von Wolfgang Oehme in Amerika und neuerdings auch in Sachsen oder die von Petra Pelzer
unter anderen in Magdeburg.106 Auch am Hermannshof in Weinheim wird seit den 80ger Jahren in dieser Richtung
experimentiert von Hans Lutz, Urs Walser und Richard Hansen, woraus sich der „German New Style“ ent-
wickelt hat. „Im Ausland wurde die Methode berühmt als ‚German Gardening.’ “ 107

Eine weitere Alternative zur Einzelpflanzung besteht darin, Konkurrenzstarke und langlebige Arten in Monokultur
zu verwenden, in der Praxis Bodendecker oder Rasenersatzpflanzen genannt. Das sind z. B. Pachysandra, Evonymus
radicans, manche Geranien und andere. Im Botanischen Garten in Berlin zeigte uns Jelitto 1953 eine Fläche mit
Waldsteinia ternata, die nach seiner Angabe seit 50 Jahren bestand. Es könnte sein, dass sie heute noch existiert.

Als Monokultur kann man auch die normalen Rasenflächen bezeichnen. Durch das ständige Mähen werden alle
Pflanzen außer den Gräsern unterdrückt und was den Messern der Mähmaschine entgeht, wie z. B. Bellis perennis,
wird notfalls mit Herbiziden beseitigt. Dies ist ein Beispiel für eine intensive techne.

Wir können also zwei weitere Formen der Unterscheidung feststellen:

Pflanzen
vereinzelt vergesellschaftet

Pflanzung
dynamisch statisch

Eine wichtige Unterscheidung für das Einwirken von techne ist, ob es sporadisch oder kontinuierlich erfolgt.
Kontinuierlich nenne ich die Eingriffe, die in regelmäßigen Zeitabständen erfolgen, zum Beispiel die Wiesen- und
Rasenmahd und die Pflege von Biotopen. Sie bewirken oft die Bildung scheinbar stabiler Pflanzengesellschaften, die
sich aber sofort verändern, wenn der Rhythmus der Pflege unterbrochen wird; ein Problem, mit dem der Naturschutz
ständig zu kämpfen hat. Gerade die kontinuierliche Einwirkung erzeugt Naturstücke, bei denen techne oft als Blinder
Fleck unerkannt bleibt. So ist in der Pflanzensoziologie, die sehr viel zum Naturverständnis beigetragen hat, von der
menschlichen Einwirkung, die eine Bildung bestimmter Pflanzengesellschaften erst ermöglicht, kaum die Rede. Mir
ist dies erst durch Gernot Böhmes Begriff der „sozial konstituierten Natur“ bewusst geworden.108

105  Weilacher, (1999), 103.


106  Leppert, (2008)
107  Radziewsky, (2008), 128ff
108  Böhme, Schramm, (1985)

42  Die Welt als Garten


Sporadische und akute Eingriffe sind zum Beispiel das Roden von Flächen oder das Umbrechen von Wiesen und
Neuansaaten. Als Unterscheidung sehen wir:

techne
kontinuierlich sporadisch

2.4 Techne ist ‚Tun und Lassen’


In der bisherigen Betrachtung des Verhältnisses von techne zu physis geht es überwiegend um kulturtechnische
Einwirkungen. Dafür könnte man auch ein anderes griechisches Wort wählen: poiein. ‚Poiein’ steht im altgriechi-
schen Wörterbuch für ‚tun.’ Es steht aber auch für ‚lassen’ im Sinne von ‚bewirken’ und ‚erlauben.’

Heidegger hat diesen besonderen Charakter von ‚Lassen’ herausgestellt:

... das recht gedachte „Feststellen“ der Wahrheit [kann] keineswegs dem „Geschehenlassen“ zuwider-
laufen. Denn einmal ist dieses „Lassen“ keine Passivität, sondern höchstes Tun ... im Sinne der Thesis,
ein „Wirken“ und „Wollen“109

Und damit kommt eine neue Kategorie des Naturbewusstseins in den Blick, die in der Neuzeit immer mehr an
Bedeutung gewinnt, nachdem die Möglichkeiten der Menschheit, Natur zu verändern, extreme Formen angenom-
men haben. Neben dem Jahrtausende alten ‚Handlungszwang’, der von der Arbeit im ‚Urgarten’ bestimmt war und
ist, tritt als völlig neues Prinzip das ‚Lassen’. Als ‚Form der Unterscheidung’

techne

Tun Lassen

sind die beiden Seiten in allen Handlungskonzepten nicht zu trennen, sie sollten aber als Handlungsleitung immer
bewusst sein.

Schon der Übergang vom Französischen zum Englischen Garten war der geistige Wandel vom Tun zum Lassen. Das
„Zurück zur Natur“ hieße dann: Wachsen lassen oder: Mehr wachsen lassen, denn auch diese Unterscheidung ist
eine skalierte; auch hier bewegt man sich an den Endpunkten der Skala in fragwürdigen Extremen.

Ein markanter Vorgang des Lassens war, als wir Ende der 70ger Jahre einige Rasenflächen in Grünanlagen nur noch
zweimal im Jahr mähten. Als sich danach die ersten Bellis- und Veronika-Teppiche bildeten, war der Charakter
dieser Anlagen völlig verändert. Der Erfolg derartiger Versuche war aber nicht immer erfolgreich. Es braucht eben
immer techne, wissendes Handeln. - Protagonisten dieser Bewegung in der extremen Form waren manche Vertreter
der Naturgarten-Bewegung, wie Le Roy und andere. Entscheidendes ‚Lassen’ in Bezug auf die ‚Welt als Garten’ ist
die Schonung der Regenwälder.

Heute schlägt der Zeiger bei den tonangebenden Vertretern der Profession wieder stark auf die Tun-Seite aus. Aber
auch die meisten Maßnahmen des Naturschutzes sind motiviert vom Machen.

109  Heidegger, 2003, 71. .

Die Welt als Garten  43


2.5 Station bei Heidegger
Der Ausgangspunkt meiner bisherigen Überlegungen war die Problematik des menschlichen Naturverhältnisses
und zwar betrachtet in geschichtlicher und in biologischer Hinsicht. Das Ziel war, die diffusen Ansichten von Natur
und Kultur zu klären. Die Form der Unterscheidung mit den Seiten physis und techne bezieht sich auf den gesamten
Bereich der Naturnutzung. Für die Betrachtung der Gartenkunst muss das Verhältnis genauer untersucht werden.
Eingangs habe ich festgestellt, dass zur Gartenkunst das Vegetative und das Architektonische gehören, dass aber die
Vegetation ihre eigentliche Substanz bildet. Deshalb will ich schon am Ende dieses Kapitels über die ‚Vegetation im
Garten’ versuchen, dem Wesen der Gartenkunst näher zu kommen.

Hilfe finde ich in Heideggers Abhandlung „Der Ursprung des Kunstwerks“ aus dem Jahre 1935.110 Ich kann zwar die
Gedankengänge Heideggers nur oberflächlich nachzeichnen – letztlich muss man alles im Zusammenhang lesen,
um zum vollen Verständnis zu kommen – aber ich will versuchen, das heraus zu stellen, was für die Gartenkunst
wesentlich ist. Es wird sich zeigen, dass das was ich bisher etwas vordergründig und abstrakt dargestellt habe, bei
Heidegger an Tiefe und Substanz gewinnt.–.

Auch Heidegger entwickelt seine Erkenntnisse aus Unterscheidungen. So bezeichnet denn auch Oliver Jahraus
Heidegger als den „Vorläufer jener Differenzphilosophie von Dekonstruktion und Systemtheorie ..., die im späten
20. Jahrhundert wichtig wird.“ Also die von Adorno, Gadamer, Derrida, Luhmann und anderen.111

Ich beginne mit Heideggers Definition von physis und techne:

Der Baum und das Gras, der Adler und der Stier, die Schlange und die Grille gehen erst in ihre abge-
hobene Gestalt ein und kommen so als das zum Vorschein, was sie sind. Dieses Herauskommen und
Aufgehen selbst und im Ganzen nannten die Griechen frühzeitig die physis. (28) 112

Das entspricht der Übersetzung, die wir von Schadewald kennen. Den Begriff techne verwendet Heidegger dagegen
in einem engeren Sinne:

So üblich und einleuchtend der Hinweis auf die von den Griechen gepflogene Benennung von
Handwerk und Kunst mit demselben Wort techne auch sein mag, er bleibt doch schief und oberfläch-
lich; denn techne bedeutet weder Handwerk noch Kunst und vollends nicht das Technische im heutigen
Sinne, meint überhaupt niemals eine Art von praktischer Leistung.

Das Wort techne nennt vielmehr eine Weise des Wissens. Wissen heißt gesehen haben, in dem weiten
Sinne von sehen, der besagt: vernehmen des Anwesenden als eines solchen. Das Wesen des Wissens
beruht für das griechische Denken in der aletheia, d. h. in der Entbergung des Seienden. Die techne ist ...
insofern ein Hervorbringen des Seienden, als es das Anwesende als ein solches aus der Verborgenheit
her eigens in die Unverborgenheit seines Aussehens vor bringt; techne bedeutet nie die Tätigkeit eines
Machens. (46f)

110  Heidegger, (2003).


111  Jahraus, (2004), 231
112  Bei den Zitaten aus dem ‚Ursprung’ füge ich die Seitenzahl in Klammern anstelle einer Fußnote an. Stellen,
die ich hervorheben möchte, sind fett gedruckt. Die Wörter, die im Original in griechischer Schrift stehen, sind kur-
siv geschrieben.

44  Die Welt als Garten


Statt aletheia sagt Heidegger im Folgenden auch „Wahrheit.“ Ein Grundgedanke besteht darin, dass etwas aus der
Verborgenheit in die Unverborgenheit, ins Bewusstsein hervorgebracht wird. Dies gehört zum eigentlichen Wesen
der Kunst.113

An dieser Stelle ist weise ich auf eine Querverbindung zu Derrida hin, wodurch eine Verwandtschaft zwischen
techne und différance deutlich wird: Derrida stellt den „sekundären und vorläufigen Charakter des Zeichens infra-
ge,“ um ihm „eine ‚ursprüngliche’ différance entgegenzusetzen,“ was zur Folge hätte, dass man

die Autorität der Anwesenheit oder ihres einfachen Gegenteils, der Abwesenheit oder des Fehlens, in-
frage stellt. Erfragt wird somit die Grenze, die uns immer schon gezwungen hat, ... den Sinn von Sein
überhaupt als Anwesenheit oder Abwesenheit in den Kategorien des Seienden oder der Seiendheit ...
zu gestalten. Offenkundig ist die Frage, auf die wir damit zurückkommen, von Heideggerschem Typus,
und die différance scheint uns auf die ontisch-ontologische Differenz zurückzuführen.114

Derridas Abwesenheit und Anwesenheit „in den Kategorien des Seienden“ entspricht der Verborgenheit und
Unverborgenheit des Seienden bei Heidegger. –

Ich kehre zu Heidegger zurück: Dieser modifiziert im Weiteren die Bedeutung von physis und ersetzt es durch ein
anderes Wort:

Sie [die physis] lichtet zugleich jenes, worauf der Mensch sein Wohnen gründet. Wir nennen es die Erde.
Von dem, was das Wort hier sagt, ist sowohl die Vorstellung einer abgelagerten Stoffmasse als auch die
nur astronomische eines Planeten fernzuhalten. Erde ist das, wohin das Aufgehen alles Aufgehende
und zwar als ein solches zurückbirgt. Im Aufgehenden west die Erde als das Bergende. (28)

Im Gegensatz zu physis meint Erde also nichts Gegenständliches oder Stoffliches. Physis bezog sich auf den gesamten
Bereich der Vegetation, Garten, Landschaft, Biotop und so weiter. Erde bezieht Heidegger allein auf das Kunstwerk.
Der Begriff erscheint zunächst abstrakt und geheimnisvoll. Rüdiger Safranski deutet ihn als „die undurchdringli-
che, sich selbst genügende Natur.“115

‚Erde’ wird nun auch nicht, wie physis, von techne unterschieden, sondern ein anderes Wort eröffnet einen neuen
Horizont von Bedeutungen: Die Welt. Der Kontext oder das Medium dieser Unterscheidung ist das Kunstwerk,
Heidegger sagt kurz: „das Werk“. Wir können stattdessen auch jeweils „das Gartenkunstwerk“ sagen.

Werk
Erde Welt

Diese Unterscheidung hat durchaus Ähnlichkeit mit der Unterscheidung physis / techne im Kontext Vegetation. Aber
sie bezieht sich nur auf die Vegetation, die im Kunstwerk aufgeht. Es ist deshalb nicht äußerlich, dass Heidegger neue
Begriffe wählt. In diesen bleiben jedoch die Begriffe physis und techne als ‚Spur’ enthalten.

Dieses Begriffspaar Erde und Welt soll nun den „Ursprung des Kunstwerks“ erhellen:

113  Wenn ich bisher den Begriff ‚techne’ auch im Sinne von ‚poein’ gebraucht habe, dann bezog ich mich auf
die Deutung von Schadewald. (s. Anm. 44). Eine eindeutige Unterscheidung dieser beiden Begriffe ist wohl nicht
möglich.
114  Derrida, (2004), 120f.
115  Safranski (1995), 346.

Die Welt als Garten  45


Werksein heißt: eine Welt aufstellen. Aber was ist das: eine Welt? ....

Welt ist nicht die bloße Ansammlung der vorhandenen abzählbaren oder nicht abzählbaren, bekann-
ten und unbekannten Dinge. Welt ist aber auch nicht nur eingebildeter, zur Summe des Vorhandenen
hinzu vorgestellter Rahmen. Welt weltet und ist seiender als das Greifbare und Vernehmbare, worin wir
uns heimisch glauben. Welt ist nie ein Gegenstand, der vor uns steht und angeschaut werden kann.
Welt ist das immer Ungegenständliche, dem wir unterstehen, solange die Bahnen von Geburt und Tod,
Segen und Fluch uns in das Sein entrückt halten. (30f)

Das Werk, wie es vor uns steht, ist etwas Gegenständliches. Das was Heidegger „Welt“ nennt könnte missverstan-
den werden, denn Welt im üblichen Sinne ist alles, was uns umgibt. Deshalb grenzt er sie ab gegen „die bloße
Ansammlung“ der Dinge . „Welt ist das immer Ungegenständliche.“ Man kann sagen: das, was der Künstler aus-
drücken will und der Rezipient aufnimmt. Aber:

... indem [das Werk] eine Welt aufstellt, [läßt es] den Stoff nicht verschwinden, sondern allererst her-
vorkommen und zwar im Offenen der Welt des Werkes: der Fels kommt zum Tragen und Ruhen ...; die
Metalle kommen zum Blitzen und Schimmern, die Farben zum Leuchten ... (32)

und ich ergänze: „die Pflanzen zum Grünen und Blühen.“

Damit ist die Wirkung des Werkes beschrieben. Der Stoff verändert im Werk seinen Charakter, etwa im Unterschied
zu seiner Betrachtung im Alltag oder in der Wissenschaft.

Das Wesen des Werkes lässt sich aber nur im Zusammenwirken der unterschiedenen Seiten ‚Erde’ und ‚Welt’ ver-
stehen.

Wohin das Werk sich zurückstellt und was es in diesem Zurückstellen hervorkommen läßt, nannten
wir die Erde. Sie ist das Hervorkommend-Bergende. Die Erde ist das zu nichts gedrängte Mühelose-
Unermüdliche. Auf die Erde und in sie gründet der geschichtliche Mensch sein Wohnen in der Welt.
Indem das Werk eine Welt aufstellt, stellt es die Erde her. Das Herstellen ist hier im strengen Sinne des
Wortes zu denken. Das Werk rückt und hält die Erde selbst in das Offene einer Welt. Das Werk lässt die
Erde eine Erde sein. (32) ...

Diese Herstellung der Erde leistet das Werk, indem es sich selbst in die Erde zurückstellt. Das
Sichverschließen der Erde aber ist kein einförmiges, starres Verhangenbleiben, sondern es entfaltet
sich in eine unerschöpfliche Fülle einfacher Weisen und Gestalten. Zwar gebraucht der Bildhauer den
Stein so, wie nach seiner Art auch der Maurer mit ihm umgeht. Aber er verbraucht ihn nicht. Zwar
gebraucht auch der Maler den Farbstoff, jedoch so, dass die Farbe nicht verbraucht wird, sondern erst
zum Leuchten kommt. (34)

Und ich füge hinzu: „Zwar gebraucht der Gartenkünstler die Pflanze so, wie nach seiner Art auch der Gärtner mit
ihr umgeht, aber er verbraucht sie nicht, sondern bringt sie erst zum Blühen und Wirken.“

Nun ist klar, warum Heidegger ‚Erde’ statt ‚physis’ sagt: Physis umfasst alles, auch das, mit dem sich die Praxis
und die Wissenschaft befassen. Erde dagegen gehört zum Werk. Der Gärtner kultiviert Pflanzen, aber erst im
Gartenkunstwerk kommen sie zum Wirken.

46  Die Welt als Garten


Die Erde ist das ‚Sichverschließende’. Erst das Werk rückt die Erde in das Offene einer Welt. - Zum Werk gehört also
die Welt als geistige Schöpfung, und die Erde, nicht als Material, sondern als der ‚Stoff’ in dem sich das Kunstwerk
verwirklicht. Erde und Welt sind, wie gesagt, eine ‚Form der Unterscheidung mit zwei Seiten’

Die Begriffe Erde und Welt gebrauchte schon Paul Klee 1916, als er die Wesensart seines Freundes Franz Marc mit
seiner eigenen verglich: „Marc ist menschlicher, ... wärmer, der Erdgedanke steht bei ihm vor dem Weltgedanken
und das Faustische ist ihm selbstverständlich. Sich selbst empfindet Klee im Gegensatz zu Marc als Neutralgeschöpf,
der Erdgedanke trete bei ihm vor dem Weltgedanken zurück, und das Faustische liege ihm fern. Er nehme ei-
nen entlegenen Schöpfungspunkt ein, wo er Formeln voraussetze für Mensch, Tier, Pflanze, Gestein und für die
Elemente, Kunst aber sei ein Schöpfungnsgleichnis.“ 116

Ich sehe hier eine große Ähnlichkeit mit den Gedanken Heideggers. Es ist auch ein Beispiel für bestehende innere
Zusammenhänge im Unterschied zu oberflächlichen Vergleichen zwischen einzelnen Kunstgattungen, zum Beispiel
Gartenkunst und bildender Kunst.

In seinem Buch „Wälder“ beschreibt Robert P. Harrison - offensichtlich von Heidegger beeinflusst - Frank Lloyd
Wrights ‚Haus am Wasserfall’, das uns daran erinnere,

daß die Erde dazu neigt, sich in sich zu verschließen oder sich in ihre Einschließung zurückzuziehen,
und daß die Erde kein Schutzraum werden kann, wenn sie nicht durch menschliche Aneignung entfal-
tet oder enthüllt wird. Mittlerweise ist klar geworden, dass Aneignung nicht Besitznahme oder Erwerb
bedeutet, sondern die Enthüllung von Freiheit im Raum des Wohnens.117

Ebenso lesen wir bei Heidegger: „Auf die Erde ... gründet der geschichtliche Mensch sein Wohnen in der Welt.“ (s.
o.)

Ich will nun versuchen, das Verhältnis von Erde und Welt konkret in Bezug auf die Gartenkunst nachzuzeichnen.
Ich gehe aus von ihrer Substanz, der Vegetation, der physis. Diese wurde eingangs biologisch, wissenschaftlich nach
Maturana beschrieben. Nun besteht wohl Einvernehmen darüber, dass bei allen Erkenntnissen der Wissenschaft
über die Funktionen der Organismen, das Geheimnis des Lebens selbst nicht bekannt ist, was auch Martin Seel
zum Ausdruck bringt: „soviel [der Mensch] mit dem Werden der Natur machen kann, er kann das Werden der Natur
nicht machen.“118

Hier setzt Heidegger an mit dem Begriff ‚Erde.’ Erde ist das uns Verborgene, Geheimnisvolle. - Für die Romantiker
war es das Suchen nach der ‚Blauen Blume.’ - Das Wesen der Kunst ist der Versuch, in dieses Geheimnis einzu-
dringen. Das geschieht, indem das Werk eine Welt aufstellt. Allgemein muss man wohl von ‚Welten’ sprechen.
Die Voraussetzung für die Welt der Gartenkunst ist zunächst alles, was wir bisher über sie wissen: die biologischen
Grundlagen der Vegetation, das Geschichtliche seit dem Urgarten, ihr Verhältnis zur Gesellschaft und zu den ande-
ren Künsten, die Bedingungen ihrer Wahrnehmung, ihre Wirkung auf unsere seelische Verfassung und so weiter.
Nur mit diesem Wissen kann es gelingen, in das Geheimnis der Erde einzudringen.

Wie kann dieses Eindringen geschehen? Erde und Welt, als die zwei Seiten einer Unterscheidung sind durch eine
Grenze getrennt, die man kreuzen muss, um von einer Seite auf die andere zu gelangen. Es gibt keine Vermischung,
Synthese oder Ähnliches. Und doch ist das Verhältnis zwischen beiden ein inniges. Heidegger hat dies auf seine
Weise anschaulich gemacht.

116  Grohmann, (2003), 7f.


117  Harrison, (1992), 277.
118  Seel, (1991), 21.

Die Welt als Garten  47


Welt und Erde sind wesenhaft voneinander verschieden und doch niemals getrennt. Die Welt gründet
sich auf die Erde und Erde durchragt die Welt. ... Die Welt trachtet in ihrem Aufruhen auf der Erde
diese zu überhöhen. Sie duldet als das Sichöffnende kein Verschlossenes. Die Erde aber neigt dahin, als
die Bergende jeweils die Welt in sich einzubeziehen und einzubehalten. (35)

Die Welt, also die geistige Grundlage des Werkes, will also das Verschlossene der Erde in die Unverborgenheit, die
aletheia, die Wahrheit bringen.

Die Einrichtung der Wahrheit ins Werk ist das Hervorbringen eines solchen Seienden, das vorher noch
nicht war. ...Wo die Hervorbringung eigens die Offenheit des Seienden, die Wahrheit, bringt, ist das
Hervorgebrachte ein Werk. Solches Hervorbringen ist das Schaffen. (50)

Ein Hervorbringen dessen, ‚das vorher noch nicht war,’ heißt, dass ein Werk etwas enthält, das unser Bewusstsein
erweitert, unsere ‚Welt’ bereichert. Gartenkunst als ‚Werk’ soll so gesehen das Bewusstsein unseres
Verhältnisses zur Natur erweitern.

Wie geschieht nun aber die Einrichtung der Wahrheit ins Werk? Dies ist die Kernfrage:

Die Wahrheit richtet sich ins Werk. Wahrheit west nur als der Streit zwischen Lichtung und
Verbergung in der Gegenwendigkeit von Welt und Erde. Die Wahrheit will als dieser Streit
von Welt und Erde ins Werk gerichtet werden. Der Streit soll in einem eigens hervorzubringenden
Seienden nicht behoben, auch nicht bloß untergebracht, sondern aus diesem eröffnet werden. Dieses
Seiende muss daher in sich die Wesenszüge des Streites haben. In dem Streit wird die Einheit von
Welt und Erde erstritten. ... Die aufgehende Welt bringt das noch Unentschiedene und Maßlose zum
Vorschein und eröffnet so die verborgene Notwendigkeit von Maß und Entschiedenheit.

Indem aber eine Welt sich öffnet, kommt die Erde zum Ragen. Sie zeigt sich als das alles Tragende, als
das in sein Gesetz Geborgene und ständig sich Verschließende. Welt verlangt ihre Entschiedenheit und
ihr Maß und läßt das Seiende in die Offenheit ihrer Bahnen gelangen. Erde trachtet, tragend-aufragend
sich verschlossen zu halten und alles ihrem Gesetz anzuvertrauen. Der Streit ist kein Riß als das
Aufreißen einer bloßen Kluft, sondern der Streit ist die Innigkeit des sich Zugehörens der
Streitenden. Dieser Riß reißt die Gegenwendigen in die Herkunft ihrer Einheit aus dem einigen [!]
Grunde zusammen. Er ist Grundriß. Er ist Auf-riß, der die Grundzüge des Aufgehens der Lichtung
des Seienden zeichnet. Dieser Riß ... bringt die Gegenwendigen von Maß und Grenze in den einigen
Umriß. (50f)

Wenn man diese Gedankengänge mit dem abstrakten Kalkül Spencer-Browns vergleicht, ist es, als wenn dieser
plötzlich mit ‚Leben’ erfüllt wird. Die ‚gegenwendigen Erde und Welt’ sind die ‚zwei Seiten einer Unterscheidung.’
Das ‚Kreuzen der Grenze’ ist bei Heidegger ein ‚Streit’. Ich habe oben bereits auf den skalierten Charakter der
‚Unterscheidung mit zwei Seiten’ hingewiesen, und dass das Finden des ‚richtigen’ Punktes auf dieser Skala ent-
scheidend ist. Mit dem Begriff des Streites rührt Heidegger an das Wesen jeglicher Kunst. - Hier ist daran zu erin-
nern, dass auch die ‚Grenze’ Spencer-Browns keine Trennung bedeutet, sondern nur der Befehl ist , jeweils nur die
eine oder die andere Seite der Unterscheidung zu beobachten. Aber in der Kunst ist es mit dem Beobachten allein
nicht getan. Das ‚richtige’ Verhältnis der beiden Seiten zueinander muss erstritten werden. – Für Heidegger ist die
Grenze keine Kluft, sondern ein ‚Riss’. Dieser Riss reißt aber nichts auseinander, sondern er ist ein Umriss, der das

48  Die Welt als Garten


Gegenwendige, das Unterschiedene im Werk einigt und somit das Wesen eines Kunstwerkes ausmacht. 119
Das
gleicht der ‚Form’ Spencer-Browns.

In der Gartenkunst geht dieser ‚Streit’ auch um die Eigenwüchsigkeit der Vegetation im Verhältnis zu ihrer
Dienlichkeit für den Menschen, um das Verhältnis von physis zu techne und vor allem um Tun und Lassen. Die
Geschichte der Gartenkunst ist die Entwicklung dieses Streites. Und je stärker sich der Mensch von der Natur eman-
zipiert hat, umso mehr braucht er die ‚Welt als Garten’ zur Kompensation seiner selbst vollzogenen Naturferne.
Die heutige tonangebende Gartenkunst hat in diesem Streit kapituliert und folgt nur dem ‚Tun-Prinzip’; das Prinzip
‚Lassen’ – Wachsen-Lassen – gilt als naturalistisch, als unkünstlerisch.

Auch Martin Seel sieht die Unterscheidung physis / techne als Grundlage unseres ästhetischen Naturverhältnisses:

Das Wissen, dass das, was wir als äußere Natur ansprechen, vielfach artifiziell geprägt ist, [hindert uns]
nicht daran, die Gegenstände dieser Natur vom bloßen Artefakt und das Geschehen dieser Natur vom
zielgerichteten Handeln zu unterscheiden. Unser ästhetischer Sinn für die Schönheit der Natur
basiert auf dieser Unterscheidung. ...

Ästhetisch interessant ... ist Natur wegen ihrer nicht vom Menschen bewirkten Prozessualität, we-
gen der Selbständigkeit und Veränderlichkeit ihrer Gestaltungen, wegen der ungelenkten Fülle der
Erscheinungen, die sie unseren Sinnen darbietet. ...

... Der Ästhetische Sinn für Natur ist ein Erzeugnis der menschlichen Lebensform, aber ein durchaus
paradoxes. Denn das Gefallen am Naturschönen ist ein Gefallen daran, dass nicht alles Menschenwerk,
nicht alles menschliche Formung, nicht alles sinnhafte Setzung ist. Die Erfahrung des Naturschönen ist
eine Erfahrung positiver Kontingenz.120 (Hvh. A.S.)

2.6 Die Vegetation im Garten: Zusammenfassung


• Die Pflanze ist die Hauptsubstanz der Gartenkunst.

• Die Pflanze ist eine autopoietische Einheit in struktureller Kopplung mit ihrer Nische.

• Wie immer auch physis durch techne beeinflusst wird, sie bleibt immer physis,

• Diese Erkenntnis ist die Voraussetzung für die Anwendung der ‚Form der Unterscheidung mit zwei Seiten’:
physis / techne

• Der menschliche Einfluss auf die Natur ist Triebfeder der Evolution der Spezies Mensch.

• Gartenkunst beruht auf diesem Urverhältnis Mensch / Natur.

• Die Intensität des Einflusses von techne auf physis ist skaliert. Welcher Punkt auf dieser Skala eingenommen
wird, ist nicht beliebig, sondern ist Teil der künstlerischen Entscheidung.

• In diesem Zusammenhang ist ein neues Paradigma unseres Natureinflusses zu sehen: das ‚Lassen.’

119  In der oberflächlichen Diskussion um den Dekonstruktivismus wird der ‚Riss’ eher als eine Spaltung, eine
Kluft gedeutet und ‚wörtlich’ genommen. - Siehe z. B.: Krebs, (2002), 2.
120  Seel, (1996), 228

Die Welt als Garten  49


• Die Widersprüche im Diskurs über Gartenkunst und Natur beruhen meistens auf dem Blinden Fleck der
Unterscheidung.

• Die Bezugnahme auf Heideggers ‚Ursprung des Kunstwerks’ sollte die Besonderheit der Gartenkunst im
Vergleich zu den anderen Künsten herausstellen. Wenn Heidegger die Gartenkunst auch nicht explizit an-
spricht, so kann man doch jeden Satz direkt auf sie beziehen.

50  Die Welt als Garten


Kapitel 3 Funktion und Gestaltung

3.1 Über Schmuck, Dekoration und Ornament


Fast alle menschlichen Erzeugnisse – Artefakte – kann man nach ihrer Zweckmäßigkeit aber auch nach ihrer
Gestaltung, Schönheit und ihrem Schmuck beurteilen. Es geht um die Unterscheidung mit zwei Seiten:

Artefakt
Funktion Schmuck

Ausnahmen sind autonome Kunstwerke die keine Funktion in diesem Sinne erfüllen. Für die Bau- und Gartenkunst
ist diese Unterscheidung dagegen essentiell.

In der Kunsttheorie wird sie hauptsächlich in Bezug auf die Architektur behandelt, weshalb ich diese als Grundlage
meiner ersten Betrachtung nehme. Zunächst geht es um eine Begriffsbestimmung.

Im Diskurs über moderne Architektur hat, in Bezug auf diese Unterscheidung der Satz: ‚form follows function’
Furore gemacht. Der Begriff ‚Form’ ist aber zu abstrakt, um die Problematik der Bau- und Gartenkunst zu behan-
deln; er könnte in dieser Arbeit auch mit der ‚Form’ Spencer-Browns verwechselt werden. Ich suche deshalb einen
anderen Begriff mit entsprechender Bedeutung.

Ich entnehme ihn einem anderen Satz, der im Architektur-Diskurs ebenso folgenreich war, dem Verdikt von Adolf
Loos: „Ornament ist Verbrechen.“ Das mag befremdlich klingen, ist doch der Begriff ‚Ornament’ hier absolut ne-
gativ besetzt. Deshalb soll die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs und ihre Pervertierung herausgestellt werden:

Niklas Luhmann hält es für nahe liegend,

den Ursprung der Kunst ... im Ornament zu vermuten. Man könnte einen Vergleich wagen: Was für die
Evolution der Gesellschaft die Evolution von Sprache bedeutet, ist für die Evolution des Kunstsystems
die Evolution des Ornamentalen; in beiden Fällen langdauernde Vorarbeit mit dann schließlich erup-
tiven Konsequenzen, wenn einmal die Kommunikation so in sich selbst gesichert ist, dass Grenzen
erkennbar werden. Aber zunächst wird nicht die Differenz von Ding und Verzierung betont, sondern
gerade die Einheit, die Hervorhebung der Bedeutung. „Kosmos“ im griechischen Verständnis ist zu-
gleich Ordnung und Schmuck.121

Einen ähnlichen Ansatz finden wir bei Hans-Georg Gadamer, der zwar die Ausdrücke Dekoration und Schmuck
benutzt, was aber das Gleiche wie Ornament meint:

Der Begriff der Dekoration [muss] aus dem Gegensatz zu dem Begriff der Erlebniskunst herausgelöst
werden und in der ontologischen Struktur der Darstellung, die wir als die Seinsweise des Kunstwerks
herausgearbeitet haben, seinen Grund finden. Man hat sich nur dessen zu erinnern, dass das
Schmückende, das Dekorative, seinem ursprünglichen Sinne nach das Schöne schlechthin ist. ... Alles
was Schmuck ist und schmückt, ist in Bezug auf das, was es schmückt, auf das, woran es ist, auf das,
was sein Träger ist, bestimmt. Es besitzt nicht einen ästhetischen Eigengehalt, der erst nachträglich eine
einschränkende Bedingung durch den Bezug auf seinen Träger erhielte. ... Schmuck ist ... nicht erst

121  Luhmann, (1997a) 348f

Die Welt als Garten  51


ein Ding für sich, und wird dann an etwas anderem angebracht, sondern er gehört zum Sichdarstellen
seines Trägers.122

Beide Autoren betonen die grundsätzliche Zusammengehörigkeit von Ding und Ornament. Das Ding kann reiner
Kunstgegenstand sein, einer der zum Beispiel rituellen Zwecken dient, oder ein Gebrauchsgegenstand, der eine
bestimmte Funktion hat. Es ist ein ursprüngliches Bedürfnis des Menschen, die besondere Bedeutung von be-
stimmten Gegenständen durch Verzierung hervor zu heben. Archäologen bestimmen alte Kulturschichten nach den
Verzierungen der jeweiligen Tonerzeugnisse, zum Beispiel die der Schnur- oder Bandkeramiker. Aber auch in der
Architektur dient das Ornament seit Alters her dazu, die Bedeutung eines Bauwerkes hervorzuheben.

Es geht also um die ‚Form der Unterscheidung mit zwei Seiten’:

Kulturgegenstand
Funktion Ornament

Damit komme ich zurück auf das Verdikt von Adolf Loos, „Ornament ist Verbrechen.“ Um dies zu verstehen, muss
man auf den Niedergang der Architektur und der Gebrauchskunst im 19. Jahrhundert zurückgehen. Nach Sigfried
Giedion beginnt dieser schon mit dem Empirestil und dem damals herrschenden Geschmack, „der isolierte Formen
in den Vordergrund rückt und vor der zugrunde liegenden Realität des Dinges ausweicht.“ Und: „Was sich im
Empirestil ... abspielt, ist nichts anderes als eine Entwertung der Symbole. Wie Napoleon den Adel entwertet hat,
so hat er auch das Ornament entwertet.“ Eine wesentliche Ursache des weiteren Niederganges sieht Giedion in
der „Mechanisierung der Ausschmückung.“ Und er stellt fest: „Es gibt keine Periode in der Geschichte, in der der
Mensch den Instinkt, wie seine intimste Umgebung zu gestalten ist, so weit verloren hätte.“ Giedion zeigt viele
Beispiele, die diese Entwicklung belegen,123 z.B. dieses Möbel:

Abb. 3/1 „Großer, von Diwanen umgebener Blumentisch“ 1842

In der Architektur führt dies zu dem von Loos beklagten Zustand. Die Fassadenelemente werden fabrikmäßig herge-
stellt und – willkürlich ausgewählt – an die ‚Architekturkästen angeklebt.’ Es besteht kein genuiner Zusammenhang
mehr zwischen Gebäude und Fassade. – Das gleiche gilt nun auch für die Gartenkunst. Ein Zeichen für deren Verfall
war die so genannte Teppichgärtnerei:

Beete, die „malerisch“, d. h. ohne Ordnung und Plan auf den Rasen ausgestreut sind, bald als Füllhorn,
bald als Stern, bald als Blumenkorb oder Blumenpyramide, die nichts zu tun haben mit der Umgebung
und selbst die Blumen in ihrer Mischung und Zusammendrängung hässlich und kleinlich erscheinen

122  Gadamer (1990), 164.


123  Giedion, (1987), 375ff.

52  Die Welt als Garten


lassen. Unter dieser traurigen Erfindung der Teppichgärtnerei hat das ganze XIX. Jahrhundert zu leiden
gehabt.124

Abb. 3/2 „Teppichgärtnerei“

Auch Gothein fordert also, dass das Ornament zu seinem Träger, dem Park , eine Beziehung haben muss.

Die Reaktion auf den Niedergang des Ornaments war die so genannte Sachlichkeit. Doch auch diese Entwicklung
hatte einen negativen Grundzug: Das bloße Abschlagen der Stuckornamente hinterließ nur trostlose, formlose
Gebilde. Adorno benennt die Kehrseite der Sachlichkeit:

Bis zum bitteren Ende gedacht, wendet ... Sachlichkeit sich zum barbarisch Vorkünstlerischen. Noch die
ästhetisch hochgezüchtete Allergie gegen Kitsch, Ornament, Überflüssiges, dem Luxus sich Nähernden
hat auch den Aspekt von Barbarei, des nach Freuds Theorie destruktiven Unbehagens an der Kultur.125

Somit ist der Charakter des Ornaments als Schmuckelement in seiner positiven und negativen Erscheinung be-
schrieben. Negativ ist das Ornament in der Konnotation des rein Dinghaften, das nachträglich dem Träger angefügt
wird, ohne mit diesem in einer inneren Beziehung zu stehen. Positiv aufzufassen ist das Ornament – man auch
sagen: das Ornamentale - als Eigenschaft.

3.2 Die ornamentale Wirkung der Gestalt


Ich sehe das Ornament auch noch in einer anderen Bedeutung, die nicht so geläufig ist. Ich erläutere dies an-
hand der Entwicklung eines Gebrauchsgegenstandes. Betrachten wir einen Krug der Schnurkeramiker aus dem 3.
Jahrtausend v. Chr.

124  Gothein, (1926), 412.


125  Adorno, (1973), 97

Die Welt als Garten  53


Abb.3/3 Schnurkeramik

Hier wurde eine reine Zweckform (Funktion) durch das Eindrücken einer Schnur in den weichen Ton verziert.
Das Ornament wurde appliziert. Aber die Applikation war nicht beliebig, sondern diese Technik war in vielen
Generationen hindurch entstanden. Funktion und Ornament waren untrennbar.

Ein Krug der Etrusker aus dem 7. Jahrhundert v. Chr. zeigt eine deutliche Weiterentwicklung:

Abb.3/4 Etruskerkrug

Sein Hersteller hat, wie seine Vorgänger, die Funktion des Aufbewahrungsgefäßes durch die bauchige Form gewahrt
und die Schmuckelemente in verfeinerter Weise eingebracht. Aber sein Krug hat eine ganz neue Qualität. Das wird
deutlich, wenn man sich die Verzierungen wegdenkt. Zunächst ist festzustellen, dass die funktionelle Eigenschaft
verbessert ist: Die obere Verengung des ‚Bauches’ schützt den Inhalt, die trichterartige Ausweitung dagegen er-
leichtert das Befüllen des Gefäßes. Diese Unterscheidung der beiden Funktionen wird betont durch den scharfen
Einschnitt zwischen Bauch und Trichter. Die Linienführung, mit der dies geformt ist, führt über die Funktion hinaus
und wird zum Ornament, oder wie man herkömmlich sagen würde, zur schönen Gestalt. Ornamental an diesem
Krug sind also seine Gestalt und seine Verzierung. Insgesamt haben wir einen Gebrauchsgegenstand vor uns, der in
seiner Vollendung und Ausdrucksstärke bis heute Vorbild für diesen Typ von Gefäßen ist. Die Unterscheidung ist:

Gebrauchsgegenstand
Funktion Ornament

54  Die Welt als Garten


Und im Kontext des Ornaments unterscheide ich:

Ornament
Applikation Gestalt

Diese Verwendung des Begriffs Ornament für die Applikation einer Verzierung wie auch für die ‚schöne Gestalt’ ist
ungewohnt. Sie ist aber sinnvoll, weil auch diese Unterscheidung eine skalierte ist. Es gibt immer Übergänge zwi-
schen diesen beiden Seiten der Unterscheidung. Ein Endpunkt dieser Skala zur ‚Guten Gestalt’ hin sind zum Beispiel
viele Gebrauchsgegenstände von Wilhelm Wagenfeld, die ohne Dekor, nur durch ihre Form wirken.

Abb. 3/5 Service Arzberg 2000

3.2.1 Zwischenbemerkung

Ich erinnere daran, dass es sich bei dem bisher Dargestellten immer um Beobachtungen handelt. Sie können sich
auf einzelne Aspekte beziehen, oder auch auf gemeinsame, wie das Beispiel des Etruskerkruges zeigt: Er ist Träger
eines applizierten Ornaments, aber auch seine Gestalt ist ‚ornamental’ und in ihm sind Funktion und Ornament
harmonisch vereint. Die Motive und Kontexte meiner bisher getroffenen Unterscheidungen waren: Architektur,
Gebrauchsgegenstand, Kulturgegenstand. Es handelt sich um unterschiedliche Bereiche, die als Kontexte gleiche
Unterscheidungen enthalten. Aber auch die von der Funktion unterschiedenen Seiten sind unterschiedlich be-
nannt: Schmuck, Verzierung, Ornament, Gestalt. – Und eine weitere Differenzierung ist dadurch gegeben, dass
eine Seite einer Unterscheidung Kontext einer weiteren Unterscheidung sein kann; hier: Applikation / Gestalt, im
Kontext Ornament. Diese Benennungen bezeichnen unterschiedliche Gegebenheiten, die jedoch gleiche oder auch
modifizierte Unterscheidungen generieren können. Hinzu kommt, dass die meisten Unterscheidungen skaliert sind;
es kann die Funktion dominieren oder das Ornament oder beide sind gleichwertig. Hierin zeigt sich die Komplexität
in der Anwendung der Zwei-Seiten-Unterscheidung.

Die Beziehungen überschneiden sich, sodass man von einem ‚Geflecht’ im Sinne Derridas sprechen kann. Jedoch ist
jede ‚Faser’ dieses Geflechtes durch einen eigenen Kontext oder ein eigenes Motiv bestimmt, und besteht als ‚Form
der Unterscheidung’ aus zwei Seiten, die durch eine Grenze voneinander getrennt sind. Graduelle Modifikationen
ergeben sich daraus, dass – wie wir gesehen haben – Unterscheidungen in verschiedenen Kontexten stehen kön-
nen und verschiedene Begriffe im gleichen Kontext gleiche Unterscheidungen bezeichnen können. Ich beschreibe
dies so ausführlich, um zu zeigen, dass mit dieser Denkmethode, oder besser Beobachtungsmethode es möglich ist,
komplexe Gegebenheiten zu analysieren.

Die Welt als Garten  55


Ich fasse die verschiedenen Kontexte und Seiten mit dem Begriff Ornament, zusammen zu der Grundunterscheidung

Artefakt
Funktion Ornament

Dabei steht der Begriff ‚Ornament’ für alles Schmückende, Schöne, so wohl für die Applikation wie auch für die
schöne Gestalt.

3.3 Das Ornament in der Baukunst


Um das Wesen des Ornaments weiter zu verdeutlichen, betrachte ich noch einige Beispiele aus der Baukunst. So hat
sich der Philosoph Ernst Bloch mit der Gotik befasst und beschreibt sie als

... ein Ineinander von Erregung, wie keine bisherige Kunst sie erfahren hat, und einem exzessiven
Ornament, das die Erregung nicht stillt, sondern ihr gerecht wird. Das also ist der Gegensatz zur sanft-
organischen Regelmäßigkeit der Griechen, ... in der Gotik ist [das Ornament] die gebaute Auftriebs- und
Jubelsymbolik selber ... [die Gotik] zeigt radikal-organische Ordnung. Und diese wiederum bestimmt fast
alle Einzelheiten des Kirchengebäudes symbolisch in Richtung der Auferstehung und des Lebens,
dergestalt, dass gerade die Pflanzenornamente mystisch bezogen sind, auf einen Wundergarten der
Gottesmutter, im Sinne der transzendierenden Botanik, die im Spätmittelalter sich ausgebildet hatte.126

Eine andere Sicht der Gotik finden wir bei Otl Aicher:

Die Entstehung der gotischen Architektur ist in einer ähnlichen Weise konstruktionsmutig gewesen
wie die Entstehung des Industriebaus im 19. Jahrhundert. Diese Seite der Gotik bleibt natürlich den
Blicken mehr oder weniger versperrt, die ein Kreuzrippengewölbe nicht als eine brillante konstruk-
tive Leistung ablesen können, sondern als „Himmelsnetz“ verstehen. Eine [gotische] Kathedrale ist
eine blendende Organisation eines Systems von Kraftlinien, der Verteilung von Lasten, sodass sich
der dadurch entstehende Raum interpretieren lässt als Ergebnis von Bautechnik, wie die Bautechnik
sich umgekehrt als Einfall erwiest, bestimmte Raumaufgaben zu lösen. ... Die Gotik hat die Wand als
Konstruktionselement aufgelöst zugunsten der Struktur, Bögen, Rippen und Pfeilern. Es entstand ein
dreidimensionales Strukturgitter, als Raumabschluss diente vorwiegend Glas.127

Dies ist ein Beispiel für zwei unterschiedliche Sichtweisen einer ‚Form mit zwei Seiten,’ die jeweils einen Blinden
Fleck auf der entgegen gesetzten Seite haben. Bloch sieht in der gotischen Architektur das Ornamentale als Element
der sakralen Stimmung und zwar einmal die Gestalt als „Auftriebs- und Jubelsymbolik“ und zum anderen die ap-
plizierten Pflanzenornamente als „Wundergarten.“ Aicher sieht dagegen in erster Linie die bauliche Konstruktion
als ein System von Kraftlinien.

Auch im Barock hat das Ornamentale die gleiche Wirkung und Bedeutung. Adorno hat das beschrieben:

Auch der Begriff des Ornamentalen, gegen den Sachlichkeit revoltiert, hat seine Dialektik. Daß der
Barock dekorativ sei, sagt nicht alles, Er ist decorazione assoluta, als hätten diese von jedem Zweck,
auch dem theatralischen sich emanzipiert und ihr eigenes Formprinzip entwickelt. Sie schmückt nicht
länger etwas, sondern ist nichts anderes als Schmuck; dadurch schlägt sie der Kritik am Schmückenden
ein Schnippchen. Barocken Gebilden von hoher Dignität gegenüber haben die Einwände gegen das

126  Bloch, (1977), 848f.


127  Aicher, (2003) 143f.

56  Die Welt als Garten


Gipserne etwas Täppisches: das nachgiebige Material stimmt genau zum Formapriori der absoluten
Dekoration. Durch fortschreitende Sublimierung ist in derlei Gebilden aus dem großen Welttheater,
dem theatrum munde das theatrum dei geworden, die sinnliche Welt zum Schauspiel für die Götter.128

Adorno sieht das applizierte Ornament im Vordergrund. Aber auch im Barock ist die konstruktive Form Grundlage
der Raumwirkung. Während der gotische Raum zweidimensional gen Himmel strebt, sieht der barocke Raum die
ganze dreidimensionale Welt und das Himmelsgewölbe. Durch „die gewellte Wand“ und den „flexiblen Grundriß
... tritt eine richtige Modellierung des Raumes auf, ein Anschwellen und Zurückweichen, die es dem Licht ermög-
lichen, ein plastisches Gewoge zu erzeugen.“129 Und weil das Auge diese Komplexität gar nicht im Ganzen fassen
kann, kommt die vierte Dimension noch dazu. Aber noch eine Besonderheit des Barock ist zu verzeichnen: Der
Raum verwandelt sich durch das Ornamentale in einen Illusionsraum. „Wand und Decke sollen hier als eines er-
scheinen, Die wirklichen Pilaster setzen sich als gemalte fort, ins Unendliche ragen gemalte Bauten, von unten ge-
sehen, mit krassester Verkürzung empor. Alle Mittel optischer Täuschung ... werden aufgeboten, um den Raum zu
steigern.“ 130 Hier kommen die Wirkungen der Ornamentik voll zum Ausdruck.

Ein geradezu modern wirkendes Beispiel der Klassizistik stellt die Zeichnung eines Werkes von Karl Friedrich
Schinkel dar: vom Schloss Charlottenhof im Park Sanssouci. Der Blick von innen nach außen zeigt eine Reihe
dorischer Säulen mit einem schlichten Architrav; über diesem ein Band von Arabesken, die in ihrer Dichte wie
eine Textur wirken und als oberen und unteren Abschluss eine schlichte Kasettendecke und ein ganz einfaches
Plattenmuster. Die Ausgewogenheit von Sachlichkeit und Ornament ist vorbildlich, wie auch die Unterscheidung
von tragenden und lastenden Teilen. In überraschender Weise modern ist die Einheit von Innen- und Außenraum,
was noch durch die innen und außen frei wachsende Vegetation betont wird. Dies ist ein schönes Beispiel für die
Ausgewogenheit von Gestalt und ornamentaler Applikation.

Abb. 3/6 Charlottenhof in Sanssouci

Ein Werk der modernen Architektur, das auf der Skala Funktion / Ornament in die Nähe der reinen Funktion rückt
und trotzdem ornamentalen Charakter hat beschreibt Adorno:

Funktionalismus ... hätte die Konstruktion so weit zu treiben, dass sie Expressionswert gewinnt durch
ihre Absage an traditionale und halbtraditionale Formen. Große Architektur empfängt ihre überfunk-
tionale Sprache, wo die, rein aus ihren Zwecken heraus, diese als ihren Gehalt mimetisch gleichsam
bekundet. Schön ist die Scharounsche Philharmonie, weil sie, um räumlich ideale Bedingungen für

128  Adorno,(1973), 437


129  Giedion, (1965), 92.
130  Bloch, (1977), 825.

Die Welt als Garten  57


Orchestermusik herzustellen, ihr ähnlich wird, ohne Anleihen bei ihr zu machen. Indem ihr Zweck
in ihr sich ausdrückt, transzendiert sie die bloße Zweckmäßigkeit, ohne daß im Übrigen ein
solcher Übergang den Zweckformen garantiert wäre. Das neusachliche Verdikt über den Ausdruck und
alle Mimesis als ein Ornamentales und Überflüssiges, als unverbindlicher subjektiver Zutat gilt nur
soweit, wie Konstruktion mit Ausdruck fourniert wird; nicht für Gebilde absoluten Ausdrucks.131
(Hvh. A.S.)

Adorno hält hier streng die Unterscheidung von Funktion und Ausdruck in der Einheit des Werkes aufrecht und
unterscheidet ebenfalls Ornament als inneren Ausdruck oder als äußerliches ‚Fournier.’ - Ähnliches kann man von
Mies van der Rohes ‚Neuen Nationalgalerie’ in Berlin sagen. Auch sie ist von unverwechselbarer Gestalt, ein
„System aus Transparenz und Gravitas“, wie Fritz Neumeyer es ausdrückt,132 und bringt so ihre Multifunktionalität
zum Ausdruck.

3.4 Ornament ohne Funktion


Ebenso unverwechselbar sind viele Gebäude der Gegenwart. Jedoch wird bei manchen diese Unverwechselbarkeit
selbst zur Funktion. Sie wird erreicht durch immer originellere Formen, durch das, was man heute schlicht Design
nennt. Architektur „ist reines Zeichen geworden.“133 Und Rem Koolhaus glaubt, „dass wir gerade den globalen
Triumph des Exzentrischen erleben. Lauter extravagante Bauten entstehen, ohne Inhalt, ohne Funktionalität. Es
geht ausschließlich um spektakuläre Formen, und natürlich ums Ego der Architekten. ... Die Bauwelt hat sich in
nur 15 Jahren radikal verändert.“ Das liegt daran, „dass Medien und Architektur mehr denn je voneiander abhängig
sind. ... wer hat denn den ‚Stararchitekten’ erfunden? Die Medien mit ihrer grotesken Gier nach Sensationen und
aufregenden Bildern.“ 134

Genau so spektakulär und unverwechselbar müssen auch Gebrauchsgegenstände wie Parfümflaschen, Möbel und
Modeartikel sein. Man spricht deshalb auch von Warenästhetik, die manchmal zur Dysfunktionalität führt. „Eitle
Konstruktionen, die keine Form mehr bewältigen, sondern sie nur ausdrücken wie eine Zitrone, bezeichnen“ - so
Neumeyer - „ das Dilemma der Selbstreferentialität, denn Form ist ohne Bezug auf ein Anderes, das zur Erscheinung
gebracht werden soll, nicht möglich.“135

Und ein historisches Beispiel für Ornament ohne Funktion bringt Adolf Max Vogt im Hinblick auf die
Revolutionsarchitekten Boullee und Ledoux: „Um den Urkörper der Geometrie artikulieren zu Können, haben
sie die Architektur an die Grenze des Absurden geführt oder gedrängt. Sie haben den Esprit de Géométrie so buch-
stäblich und so primär ernst genommen, dass darüber der Esprit d’Architecture tödlich erschöpft werden musste.“136

Das Problem des Ornaments ohne Funktion ist auch in der Gartenkunst gegenwärtig. Man sieht immer öfter
Entwürfe, die nur durch die Exzentrizität äußerlicher Formen Aufmerksamkeit erringen.

Ein besonderes Problem liegt vor, wenn bei der Planung neuer Anlagen historische Teile erhalten werden, deren
ursprüngliche Funktion kaum noch nachvollziehbar ist, zum Beispiel die breiten Pflasterstraßen neben dem Kanal
im Parc la Villette oder auch am Hakenufer auf Entenwärder in Hamburg. Die Flächen wirken auf die Besucher ab-

131  Adorno, (1973), 72f.


132  Neumeyer (2003), 282f.
133  ebd.
134  Koolhaas, (2008)
135  Neumeyer, (2003), 283
136  Vogt, (1991), 69

58  Die Welt als Garten


weisend und unverständlich weil auf die alte Funktion als Ladestraße kein Hinweis mehr gegeben ist. Hier kommen
weder Funktion noch Ornamentales zur Geltung.

Abb. 3/7 Parc la Villette

Ein Gegenbeispiel ist der Park Duisburg-Nord, in dem die Hochofenanlagen als Industriedenkmal bewusst sind und
Gefühle der Erhabenheit und Bewunderung wecken.

3.5 Bildende Kunst und Ornament


Um das Verhältnis von Ornament und Funktion weiter zu klären, ist ein Blick auf die autonome bildende Kunst
sinnvoll. Als ein besonders erhellendes Beispiel mit quasi umgekehrten Vorzeichen nehme ich ein ready-made von
Marcel Duchamp, den ‚Flaschentrockner am Strand’: Dies ist ein Gebrauchsgegenstand, dessen Funktion ‚ge-
löscht’ wurde, indem er in einem neuen Kontext, in einer anderen Umgebung zu einem abstrakten Artefakt wurde.
Die Voraussetzung dazu ist, dass der Rezipient die ursprüngliche Funktion ‚vergisst’ und nur die abstrakte Gestalt
verinnerlicht.

Abb. 3/8 Flaschentrockner als ready-made

Die Welt als Garten  59


Dieses Beispiel zeigt, dass die Bedeutung eines Gegenstandes nur durch die Zugehörigkeit zu einem bestimmten
System bestimmt ist. Der Flaschentrockner war im System ‚Gaststätten’ ein Gebrauchsgegenstand und wurde am
Meeresstrand im System ‚Kunst’ zum Kunstwerk. Andere ready-mades wurden im Museum zum Kunstwerk.

Andererseits gibt es Beispiele, wo Künstler ihren Werken, vor allem im öffentlichen Raum, ansatzweise eine
Funktionalität unterlegen, um so die Akzeptanz des Publikums zu erlangen. So sah man zum Beispiel 1987 in
‚SULPTUR PROJEKTE MÜNSTER’ etliche Werke dieser Art, zum Beispiel zwei Bänke, „Pair of Parc Benches“ von
Scott Burton.

Abb. 3/9 Kunstwerk „Zum Gebrauch“

In der Gartenkunst ist eine ähnliche Tendenz zu verzeichnen, wenn skulpturale Objekte zum Beispiel mit der
Funktion ‚Spielen’ eingesetzt werden.

Auch wenn Henry Moore sagte: „Wir werden dagegen kämpfen müssen, dass die Skulptur in der Landschaftsgärtnerei
zum Ornament reduziert wird,“137 sah er ein Problem gerade darin, seine Skulpturen mit der Landschaftsgärtnerei
in Verbindung zu bringen, weil sie hier zu bloßen Applikationen in einem anderen Kunstsytem würden. Dagegen
stellte er sie gerne in freier Landschaft auf oder in einem Kontrast zu einem modernen Bauwerk, zum Beispiel dem
ehemaligen Bundeskanzleramt in Bonn.

Diese Systemzugehörigkeit werde ich noch näher betrachten in Bezug auf die Unterscheidung der Gartenkunst
von der bildenden Kunst. Auf eine besondere Weise thematisiert Per Kirkeby dieses Problem, wenn er autono-
me Plastiken aus Klinkern mauern lässt, die durch den Charakter des Materials und dessen Verarbeitung mit der
Funktion ‚Gebäude’ assoziert werden. Auch diese Kunstwerke irritieren durch die Abwesenheit einer gewohnten
Funktion.138

3.6 Die Bedeutung des Materials


Wenn wir das Ornament in seiner umfassenden Bedeutung als Zierde, Schmuck und Schönheit betrachten, dann ist
hier auch das Material, aus dem die Artefakte hergestellt sind, einzubeziehen.

137  Calvocoressi, (1989), 67.


138  Bußmann, (1987), 151.

60  Die Welt als Garten


Für die Funktion ist die Art des Materials sekundär. Ein Haus kann aus Holz oder Stein gebaut werden und die go-
tischen Kathedralen aus Sandstein oder Ziegeln. Aber für die Ästhetik und die Aura von Artefakten ist die Wahl des
Materials wichtig.

Eine Aura wird wesentlich durch den Wert des Materials erzeugt. Ein Goldschmuck hat für seine Trägerin eine ande-
re Bedeutung, als ein Modeschmuck. Der Deutsche Pavillon in Barcelona beeindruckt auch durch die Verwendung
von Onyx, Marmor und Travertin. Der Carrara-Marmor hat ganze Kulturepochen beherrscht, sodass man sich heu-
te schwer vorstellen kann, dass die Griechen ihre Marmor-Plastiken bunt bemalt hatten.

Aber auch die Nachahmung von edlem Material war lange Zeit legitimiert, wie das Beispiel des Barocks zeigt, in
dem vergoldete Gipsornamente und gemalte Marmorsäulen das Bild prägten. Selbst die Ornamente aus Pappmaché
im mecklenburgischen Schloss Ludwigslust sind für uns nicht anstößig. Auch die Verwendung von Tapeten an-
stelle von Wandgemälden gehört zu dieser Art von Schmuck. - Erst die Massenproduktion von Gegenständen
aus Gips, Gusseisen und Kunststoff hat die Materialnachahmung in Verruf gebracht und die Forderung nach
Materialgerechtigkeit provoziert.

Besondere Probleme bereitet bis heute eine andere ‚Nachahmung’, die von Stein durch Beton. In der moder-
nen Architektur haben die neuen Baustoffe Stahl und Beton durch ihre nahezu unbegrenzten Möglichkeiten die
Entwicklung entscheidend bestimmt in positiver und negativer Hinsicht. Wenn sie nur nach funktionalen Prinzipien
eingesetzt werden, entsteht das, was uns heute in den Städten als Hässlichkeit entgegen tritt, gegenüber der die
Gründerzeitfassaden schon wieder einen eigenen Charme entwickeln.

Ornamentale Wirkung als Gestalt entwickelt Beton dort, wo extreme Anforderungen an statische Belastbarkeit gefor-
dert werden. Positive Beispiele gibt es schon vom Anfang des 20. Jahrhunderts, zum Beispiel die Stahlbetonbrücken
Maillards.139 Und bis heute gibt es viele Beispiele von Brücken, bei denen höchste Anforderungen an die
Konstruktion mit beeindruckender Schönheit gepaart sind. Allgemein überzeugen auch Bauwerke, bei denen die
Eigenschaft des Stahlbetons sichtbar wird, große Spannweiten überbrücken zu können oder dünne Schalen zu bil-
den, wie zum Beispiel an der Oper in Sydney. Erst die exzessive Verwendung des Betons hat diesen mit der Zeit in
Verruf gebracht und ist inzwischen zum Synonym für alle negativen Bauentwicklungen geworden, zum Beispiel,
wenn von der ‚Zubetonierung der Landschaft’ gesprochen wird.

So ist es zu einer Qualitätsfrage der modernen Architektur geworden, wie weit in ihr Funktionalität und Ornamentales
vereinigt sind. Auch verschiedene Versuche, Beton durch Oberflächenbehandlung ‚erträglich’ zu machen, zum
Beispiel durch Sandstrahlung oder als Waschbeton, fruchten wenig. Geradezu peinlich sind die Nachahmungen
von Natursteinstrukturen durch Verwendung entsprechender Matrizen. Durchgesetzt hat sich eine ‚ornamentale
Applikation’ durch Verblendung mit Naturstein oder Klinker und anderes oder durch einen Vorsatzbeton, der aus
natürlichen Zuschlagstoffen besteht.

Eine besondere Problematik im Bestreben, Flächen – besonders Wege- und Platzflächen – aufzuwerten, besteht in
der Verwendung von Mustern als Verzierungen. In südlichen Ländern hat dies eine lange Tradition. Hier bei uns
wurde sie besonders mit der Verwendung der ‚Ersatzbaustoffe’ aktuell.

Man kann dabei unterscheiden die Bildung von Rastern, die geeignet sind große Flächen zu strukturieren oder
die Anwendung eines Musters in Form einer ‚engmaschigen’ Textur, die eine homogene Fläche erzeugt, wie der
Fußboden in Schinkels Architekturbild.

139  Giedion, (1965), 289ff.

Die Welt als Garten  61


Die Verwendung dieser Art von Ornamenten ist besonders geschmacksabhängig. Wenn Verzierungen dazu dienen
sollen, Bedeutendes hervorzuheben, dann ist es wichtig, dieses von Unbedeutendem zu unterscheiden. Wenn alles
gleichmäßig verziert wird, kann dies nur zur völligen Anästhetisierung führen.

62  Die Welt als Garten


Kapitel 4 Funktion und Ornament in der Gartenkunst

4.1 Wege im ‚Urgarten’


Zu Beginn des 2. Kapitels habe ich die Vegetation und die Architektur als Grundbestandteile des Gartens bezeichnet.

Garten
Vegetation Architektur

Zunächst war von der Vegetation die Rede und davon, wie sie durch techne für den Menschen nutzbar wurde.

Als Architektur bezeichne ich alles Gebaute, was in der Gartenpraxis als Platz- und Wegebau, Mauern und Treppen,
Einfriedigungen und so weiter bezeichnet wird. Dieser Teil ist direkt vergleichbar mit der Baukunst und wurde
in der Geschichte der Gartenkunst auch oft von Architekten besetzt. Die nähere Untersuchung wird zeigen, dass
das Wichtigste Element der Stilbildung die Gartenwege sind. Dafür blicke ich zunächst wieder zurück auf den
‚Urgarten’. – Diese Betrachtung ist natürlich nicht historisch, sondern nur typologisch zu sehen. -

Ich war ausgegangen von den ersten Pflanzungen und Aussaaten auf gelockertem Boden. Zunächst werden es nur
wenige Pflanzenarten gewesen sein, die kultiviert wurden. Die hierfür zuständigen Frauen stellten irgendwann fest,
dass die Unkrautbekämpfung einfacher ist, wenn die Pflanzen in geraden Reihen stehen. Und mit der Zunahme der
kultivierten Arten legten sie separate Beete an, die durch Wege voneinander getrennt sind. Damit hatten Frauen
ein wichtiges geometrisches Ordnungsprinzip kreiert, nach dem noch heute Gemüsegärten angelegt werden. Erste
Darstellungen hiervon findet man auf Zeichnungen ägyptischer Gärten.140

Ich distanziere mich hier von dem bei Kunsthistorikern vorherrschenden Topos des Paradieses als ersten Garten.141
Vielmehr war der ‚Urgarten,’ dessen Grundprinzip noch in jedem Garten fortlebt, die Grundlage für die menschliche
Vorstellung des Paradieses.

Dieser ‚Urgarten’ enthielt also schon die funktionale Grundstruktur: Vegetationsflächen, die durch Wege erschlos-
sen sind. Die erste Unterscheidung wird modifiziert zu:

Garten
Vegetation Erschließung

Im Laufe der kulturellen Entwicklung wurde das Pflanzensortiment immer reichhaltiger und die Ansprüche der ein-
zelnen Arten auch unterschiedlicher, zum Beispiel die von Gemüsesorten und die von mehrjährigen Gewürz- und
Heilkräutern. Für einige brauchte man große und für andere kleine Beete und das Ganze sollte in einer gewissen
Ordnung geschehen. Ein verbreitetes Muster einer solchen Ordnung ist der Klostergarten, in dem durch zwei sich
kreuzende Wege vier Teile entstehen, die manchmal symmetrisch aber auch unterschiedlich aufgeteilt werden.
Der Brunnen in der Mitte, der zur Bewässerung dient, ist das erste plastische Element im Garten. - Auch diese
Aufteilung des Klostergartens ist bis heute eine gebräuchliche Form geblieben.

140  Gotheim, (1926), 8.


141  z. B. v. Buttlar, (1989), 7.

Die Welt als Garten  63


Der erste Gemüsegarten hatte eine rein funktionale Ordnung. Allerdings hat auch diese Ordnung schon eine ästhe-
tische Seite, im Hinblick auf die Grundunterscheidung Ordnung und Chaos. Beim Typus Klostergarten kam nun zu
der Funktion gleichwertig die Befriedigung eines ästhetischen Bedürfnisses hinzu.

Dieses wurde dann immer mehr verfeinert, die Beete mit Hecken oder Steinen eingefasst und die Wege mit Kies
bestreut und zu den Nutzpflanzen kamen irgendwann Blumen und Zierpflanzen. Aus dem Ordnungsprinzip
entstand der Schmuckgarten, der in dieser Form im Renaissance-Garten seine Vollendung fand. Es geht um die
Unterscheidung:

Wege
Funktion Ornament

4.2 Wegetypen
Somit habe ich die Wege als eine funktionale Grundstruktur des ‚Urgartens’ bestimmt und so sind die Gartenwege
auch bis heute in der Gartenkunst entscheidende Elemente der Stilbildung. Wenn wir zum Beispiel den Barock-
vom Landschaftsgarten unterscheiden, sehen wir – zumindest äußerlich - in erster Linie das Wegesystem und seine
Funktion. Es ist also angebracht, Gartenwege ausführlich zu betrachten im Hinblick auf Funktion und Ornament.

Die natürlichste Funktion der Wege ist die Verbindung von A nach B. Die ‚Naturform’ dieser Funktion ist der
Trampelpfad. Er ist nicht immer der Kürzeste Weg, weil er selten schnurgerade ist. Er umgeht kleinste Hindernisse
und Unebenheiten und ist dadurch der angenehmste Weg. Sein Merkmal ist also: bequemste Verbindung zweier
Punkte ohne technischen Aufwand.

Dieser wurde erstmals erforderlich bei den viel befahrenen Handelswegen, wenn zum Beispiel Hügelketten durch
das Graben von Hohlwegen überwunden wurden, und bei weichem Boden die Befestigung mit Holzbohlen oder
Steinpflaster das Einsinken der Wagenräder verhinderte. Diese Technik ist zu verfolgen von den Römerstraßen bis
zu den Autobahnen.

Aber gerade bei letzteren, bei deren Bau die moderne Technik jedes Hindernis, ob Berg oder Tal, überwinden konn-
te, kam erstmals eine ornamentale Komponente hinzu: Als man feststellte, dass die Autofahrer auf den schnurgera-
den Straßen schnell ermüdeten, passte man bei späteren Planungen die Trassenführung mehr den landschaftlichen
Gegebenheiten an, wofür dann erstmals Landschaftsarchitekten zuständig waren.

4.2.1 Wege als Ordnungssystem

Die Funktion der Wege als Verbindung zweier Punkte ist in der Gartenkunst eher von untergeordneter Bedeutung.
Wege dienen hier in erster Linie der Erschließung eines bestimmten Raumes. Je nach Größe und Funktion der
Räume sind Struktur und Form der Wege verschieden. Bei dem Typ ‚Klostergarten’ dienen die Wege dazu, einzelne
Pflanzen oder Pflanzengruppen erreichen und betrachten zu können. Ich nenne sie ‚ordnende Wegesysteme.’
Heutige Beispiele derartiger Systeme sind Botanische Gärten, Rosen-, oder Staudengärten. Ihre Form ist sekun-
där, doch wird die orthogonale, rasterförmige die ursprüngliche gewesen sein. Schon die Ägypter legten ihre
Gemüsegärten und sogenannten Totengärten so an.142

142  Gotheim, (1926), 23.

64  Die Welt als Garten


Abb. 4/1 Wegeraster in einem ägyptischen Totengarten

Seitdem ist dieses Ordnungsprinzip fester Bestandteil menschlichen kreativen Schaffens geworden,
auch in der Architektur und in den bildenden Künsten, und ich möchte auch hier von einer archety-
pischen Prägung zu sprechen.

In der Gartenkunst war dieses Rastersystem im Renaissance-Garten am stärksten ausgeprägt. Innerhalb der quadra-
tischen Quartiere wurden hier hauptsächlich Schmuckformen aus Hecken in geometrischen und floralen Mustern
gebildet. Die Funktion der Nutzung war zweitrangig. Im Barockgarten entwickelte sich diese Schmuckform weiter
zu den Broderien und Bosketts. -

Gegenwärtig findet man diese ornamentale Gestaltungsform wieder, so zu sagen als postmoderne Wiederentdeckung.
Wie beim Hotel Kempinski in München-Erding, besteht ihre einzige Funktion darin, der Repräsentation und als
Zeichen der Firmenidentität zu dienen. Günter Mader stellt dazu fest: „Wie die meisten Parterregärten in der
Geschichte der Gartenkunst, ist auch dieser Garten mehr für die distanzierte Betrachtung angelegt als für den be-
schaulichen Rundgang.“ 143 Er ist wohl am besten aus den oberen Geschossen oder aus dem Flugzeug zu betrachten.

Abb. 4/2 Modernes Gartenraster

Auch im Städtebau finden wir dieses ‚ordnende Wegesystem’ im größeren Maßstab wieder, zum Beispiel schon
beim Bau der Stadt Milet. Die Griechen haben es offensichtlich von den Ägyptern übernommen. In der Barockzeit
wurden manche Städte danach geplant, zum Beispiel Mannheim und Karlsruhe, wodurch der Ordnungswille des

143  Mader, (1999), 210ff

Die Welt als Garten  65


Herrschers Ausdruck fand. Und auch gegenwärtig - ebenfalls als postmoderne Wiederentdeckung - taucht es in der
Stadtplanung auf, so in der „Architektur Olympiade Hamburg 2006,“ - ausgezeichnet mit einer Goldmedaille.144

Abb, 4/3, 4/4 2500 Jahre Stadtraster

4.2.2 Wege zum ‚Lustwandeln’

Die wichtigste Funktion der Gartenwege ist das, was man einmal ‚Lustwandeln’ nannte. Es ist immer noch die
intensivste Art des Naturgenusses. Sei es in Form des Spazierengehens im Park, mit der Komponente des ‚Sehens
und Gesehenwerdens,’ – man sagt auch Promenieren, Flanieren und Bummeln - oder das Wandern zu Fuß oder
mit dem Fahrrad.

Dieses Bedürfnis ist in der Menschheitsgeschichte relativ neu und ist abhängig von dem jeweiligen Naturverhältnis.
Erst ein entlastetes Verhältnis ermöglicht den Naturgenuss. Ansatzweise ist das wohl schon bei den freien Bürgern
im antiken Griechenland der Fall gewesen. Bei Platon lesen wir, wie Sokrates von seinem Freund Phaidros aus der
Stadt gelockt wird mit der Aussicht, von ihm die Rede des Lysias zu hören. Am Ziel angelangt, lobt Sokrates den
„schöne[n] Ruheplatz“ unter der Platane und den schönen „Wipfel des Keuschbaumes ... wie er gerade in vollster
Blüte steht, so daß er den Ort ganz mit seinem Duft erfüllt. Und die lieblichste Quelle, die unter der Platane fließt ...“
Doch als Phaidros ihm vorhält, dass er „ nie aus der Stadt über die Grenzen hinaus“ wandere, antwortet Sokrates:
„Die Fluren und die Bäume [wollen] mich nichts lehren, wohl aber in der Stadt die Menschen“145

Im Mittelalter bis in die Neuzeit war das Lustwandeln dann als Müßiggang verpönt. Das Gehen von einem Ort zum
anderen war Mühsal. Erst in der Romantik wird diese neue Form des Naturgenusses intensiv gepflegt, so wie es
Schiller beispielhaft in dem ‚Spaziergang’ beschreibt.

144  Freie und Hansestadt Hamburg, (2007), 40ff


145  Platon, Phaidros, 229E f.

66  Die Welt als Garten


4.3 Die klassischen Wege-Systeme

4.3.1 Wege im Barockgarten

Aber schon im Barock ist ein Wandel des Naturverhältnisses zu verzeichnen. Wie wir bei Lucius Burckhardt gesehen
haben, stellt der Barockgarten auch die Spannung zwischen beherrschbarer und unbeherrschbarer Natur dar.146
Allerdings war seine primäre Funktion nicht der Naturgenuss sondern die Zerstreuung unter den strengen Gesetzen
des Hofes. Unter diesem Gesichtspunkt ist das Wegesystem des Barockgartens zu betrachten.

Die Nutzungen waren sehr unterschiedlich. Es ging um das Promenieren der Hofleute oder um allerlei Spiele der
Gesellschaft. Die Wege mussten unterschiedlichen Zwecken genügen. Die Hauptpromenaden im Parterre mussten
breit genug sein, um die weiten Reifröcke der Damen aufnehmen zu können oder den Kutschen und Sänften, mit
denen man sich zur Jagd in den Waldpark begab, genügend Platz zu bieten.

Die Nebenwege zwischen und in den Bosketts, die Schäfer- und Versteckspielen dienten, konnten dagegen schmäler
sein. Schon durch diese unterschiedlichen Funktionen ergab sich ein spannungsreiches Bild des Wegesystems. Vor
allem aber durfte keine Langeweile beim Promenieren entstehen, deshalb die Unterbrechung der Hauptachse durch
Querachsen, Rondeels, Brunnenplätze, die Aufteilung in zwei Parallelwege und deren Zusammenführung und die
Schaffung von Blickpunkten. Und bei Hansmann lesen wir von den Grundregeln, die Dezallier d´Argenville
aufstellte:

Ein Garten darf seine Schönheiten nicht mit einem Male preisgeben, ... Ein Garten soll stets größer
erscheinen als er ist. ... Man kann ... das Auge über die wahre Größe im Unklaren lassen, wenn es
auf Elemente wie Hecken, Wandelgänge oder Durchblicke stößt. Sie verhindern willkommen völlige
Überschaubarkeit und lassen so an größere Dimensionen denken.147

Die reichen Verzierungen wie Statuen, Vasen und die Broderien. sind ausführlich beschrieben worden von Gothein,
Hennebo148, Hansmann149 u. a., so dass ich dies nicht näher auszuführen brauche.

Zeigen möchte ich aber, dass die Gartenarchitekten des Barocks Funktionen und Proportionen des Wegesystems
sehr bewusst beachtet haben nach Regeln, die noch heute gültig sind. Dies sehen wir in dem Lehr- und Musterbuch
des Dezallier d´Argenville, das seinerzeit in vielen Auflagen und Übersetzungen erschienen ist.150

Er schreibt: „Zum Exempel, eine Allée, so 100. Klaftern lang , und nur 2. bis 3. Klaftern breit wäre sehr mangelhaft
und allzu enge , da sie hingegen ein schönes Ansehen bekommt , wenn man sie 5. bis 6, Klaftern breit macht ... Also
müssen die Alléen so... 400. Klaftern lang, 10. bis 12. Klaftern breit sein.“ Das sind bei 800 m Länge, eine Breite
von 20 bis 24 m. Bei dieser Breite waren aber in der Regel nur die Seitenstreifen befestigt und der Mittelstreifen
als Rasen angelegt, „welche man oft mähen muss, damit man sie schön und rein erhalte“ Die Breite war gefordert,
„damit man zu Ende der Allée einen Theil von dem Vorder-Theil des Hauses sehen ... kann.“ 151 Generell soll sich
die Breite der Wege danach richten, wie viel Platz ein oder mehrere Menschen nebeneinander brauchen: „Die
Breite eines Raumes, welchen ein Mensch einnimmt ist ungefähr 3 Schuh, wenn nun die Allée ein Klafter breit ist,

146  Siehe Anm. 9


147  Hansmann, (1983), 160
148  Hennebo, (1965)
149  Hansmann, (1983)
150  Blond, (1731), 69.
151  Ebd. 66

Die Welt als Garten  67


so können 2 Personen gemächlich nebeneinander gehen. 4 Personen aber ohne an einander zu stoßen, in einer 2
Klafter breiten Allée.“ 152

Zusammenfassend kann man sagen, dass das Wegesystem des Barockgartens - bei aller Funktionalität - in seinen
Proportionen, seiner Vielfalt, seiner Symmetrie und den bewussten Abweichungen von dieser, einen überzeugen-
den ornamentalen Charakter hat. Wie bei den Bauwerken des Barocks bilden ornamentale Gestalt und ornamentale
Applikationen eine Einheit. Zweifellos ist der Barock ein Höhepunkt in der Geschichte der Gartenkunst. So ist auch
zu erklären, dass bis in die Gegenwart Formen dieses Stils als Versatzstücke immer wieder Verwendung finden.

Abb. 4/5 Vielfalt im Barockgarten

4.3.2 Wege im Landschaftsgarten

Der Übergang vom Barock- zum Landschaftsgarten ist in einer umfangreichen Literatur beschrieben, bezogen auf
die gesellschaftlichen Veränderungen, den Einfluss der Landschaftsmalerei und so weiter. Ich befasse mich hier nur
mit der formalen Frage der Wege, ihrer Funktion und Ornamentik. - In den ersten Gärten des Überganges waren
es rein formale Veränderungen. Es begann damit, dass man Teile, zum Beispiel Bosketts, mit regellos gekrümmten
Wegen versah. Es war eine Formspielerei, der keine Funktion zugrunde lag, wie es Gothein mit einem Plan des
Übergangsstils zeigt.

152  Ebd. 70

68  Die Welt als Garten


Abb. 4/5 Garten im „Übergangsstil“

Änlich war die Wegeführung im Park Sanssouci, bevor Lenné die Gestaltung bestimmte. In Lennés „Verschönerungs
Plan“ sind die Wege dann offensichtlich mit Zirkel und Kurvenlineal gezeichnet, allerdings wohl in erster Linie, um
die Planung dem König schmackhaft zu machen:

Abb. 4/6 Wegeplanung „gezirkelt“

Der aktuelle Übersichtsplan lässt vermuten, dass diese Formen nicht maßstäblich in die Wirklichkeit übertragen,
sondern die Wege draußen – in Anlehnung an den Plan - nach den örtlichen Gegebenheiten angelegt wurden:

Die Welt als Garten  69


Abb. 4/6 Ausführung

Dieses Verfahren wurde schon von Hirschfeld gefordert in dem Abschnitt „von Wegen und Plätzen:“

Es ist ... widersinnig, wenn sich der Garten nach Gängen, die schon vor seiner völligen Einrichtung ent-
worfen sind, bequemen muß. Sie können erst als dann gehörig bestimmt und wohl angelegt werden,
wenn alle Theile und Scenen des Gartens ihre vollkommene Anpflanzung und Ausbildung erhalten
haben. ... die Gänge an sich [sind] zu unerhebliche Gegenstände, als daß sie verdienen, beson-
ders zur Schau ausgestellt zu werden.153 (Hvh. A.S.)

Für Hirschfeld ist also die Funktion das Primäre, dem sich die Form unter zu ordnen hat.

Von Sckell ist bekannt, dass er die Wegetrassen vor Ort mit einem extra angefertigten Stock voranschreitend in
den Boden eingezeichnet hat. „Er zeichnete in der Natur den ersten Weg, der vom Hofgarten zum Hirschangerfeld
hinführt. Ein Plan von der Hand Sckells ist aus dieser Gründungszeit leider nicht vorhanden.“ schreibt Hallbaum.154
Man kann wohl auch vermuten, dass er für diese erste Baustufe des Englischen Gartens in München gar keinen
Plan benötigt hat.

Hirschfeld setzt sich weiter mit der Funktion der Wege auseinander:

Die vornehmste Bestimmung der Gänge ist, daß sie, ohne zum Umkehren zu nötigen, zu allen merk-
würdigen Scenen herumführen ... [und] daß sie eine solche Wendung nehmen müssen, bei welcher
nicht allein überhaupt Abwechslung und Mannigfaltigkeit genossen wird, sondern auch die besten
Prospekte bald auf einmal, bald allmählig, in der vorteilhaftigsten Enthüllung erscheinen, hingegen der
Anblick misfälliger Auftritte ganz verdeckt bleibt.

...

Nach der Lage und Beschaffenheit nicht nur des Bodens, sondern auch der Gartenscenen selbst, müs-
sen die Wege bald in der Tiefe verweilen, bald mit den Anhöhen sich erheben, bald eine gerade Linie

153  Hirschfeld, (1779), Bd. 2, 130ff.


154  Hallbaum, (1927), 104.

70  Die Welt als Garten


fortlaufen, bald sich krümmen, bald von einem schmalen, bald von einem breiten Umfang sein, und
dadurch schon eine gewisse Abwechslung in sich enthalten.

Und zur Form der Wege stellt er fest:

... die gemeine reguläre Schlangenlinie enthält fast ebenso viele Einförmigkeit, als die gerade Linie.
Dagegen verdient die sich ohne Regelmäßigkeit frey krümmende und mit Abwechslung schlängeln-
de Manier unstreitig den Vorzug. Wir wollen sie die Naturlinie nennen, indem sie sowohl in den
Vorbildungen der Natur vor Augen liegt, als auch da, wo sie von der Hand des Menschen gezogen
wird, sich nach der Beschaffenheit des Bodens, und nach der Lage der natürlichen Gegenstände richtet.
(Hvh. A. S.)

Aber auch

Die gerade Linie ist nicht gegen die Natur, und sie wird auch nicht dadurch verwerflich, daß sie in der
alten Manier herrschte. Sie führt eine gewisse Art von Bequemlichkeit mit sich. Und es giebt Fälle, wo
sie ... mit Vortheil gebraucht werden kann.

Und schließlich betont Hirschfeld noch einmal,

dass bei den gekrümmten Wegen zuvörders jedes Kennzeichen der Kunst zu vermeiden [ist], Die
Wendungen müssen überall natürlich seyn; es muß keine Fortschreitung, keine Einbiegung, kein
Auslauf vorkommen, die nicht aus der Beschaffenheit des Bodens entsprungen scheinen, und mit der
Lage der Gegenstände, die sich auf ihm befinden, übereinstimmen.155

Und bei Pückler lesen wir:

Wege sind die stummen Führer der Spazierengehenden und müssen selbst dazu dienen, ihn ohne
Zwang jeden Genuß auffinden zu lassen. [Die Wege sollen aber nicht in bloßen Schlangenlinien ge-
führt werden,] sondern nur mit Leichtigkeit und Zweckmäßigkeit die Biegungen machen, ... die nötig
sind um den Gegen- ständen zu folgen ...; aber auch ihre Biegungen unterliegen dennoch gewissen
malerischen Geschmacksregeln, und es müssen daher wohl zuweilen erst Hindernisse geschaffen wer-
den, wo sie fehlen, um die günstigste Linie auf natürlich scheinende Weise zu erhalten.156

Die ‚malerischen Geschmacksregeln’ bekamen aber mit der Zeit die Oberhand und wurden in der Königlichen
Gärtner-Lehranstalt zu Potsdam zu einem festen Regelwerk entwickelt.157 Das von Hirschfeld propagierte
Verfahren wurde umgekehrt: Zuerst war ein ornamentales Wegesystem zu zeichnen, für dessen gezirkelte Formen
und Verzweigungen es feste Normen gab, genau wie für die Baum- und Strauchpflanzungen. Die angehenden
Gartenkünstler mussten denn auch lernen, diese Formen im geodätischen Verfahren in die Wirklichkeit zu über-
tragen.

Diese Schematisierung führte dann nach und nach zum Niedergang der Gartenkunst mit den bereits erwähnten
maßstabslosen Brezelweggestaltungen. Auf der Skala Funktion / Ornament war die Funktion weit gehend elimi-
niert.

155  Hirschfeld, (1779), Ebd.


156  Pückler- Muskau, (1977), 56ff.
157  Meyer, Gustav, (1860),

Die Welt als Garten  71


4.4 Funktion der Wege
Nach dieser historischen Betrachtung der Wege ist noch näher auf ihre Funktionen einzugehen, die ansatzweise
schon deutlich geworden sind. Zusammenfassend kann man sagen, die Art und Form der Wege sind wesendlich
bestimmend für die Befindlichkeit der Nutzer, und die Einflüsse darauf sind vielfältig.

4.4.1 Einfluss der Technik

Es beginnt mit der Beschaffenheit der Wegeoberflächen. Die haptische Wirkung auf die Fußsohlen bestimmt das
Wohlgefühl. Es ist ein Unterschied, ob man auf rauem Pflaster, auf glattem Asphalt oder Platten, auf Grand oder
auf weichem Rindenmulch geht. Die Entscheidung für eine dieser Möglichkeiten wird bestimmt von der jeweiligen
Situation aber auch von den wirtschaftlichen Vorgaben bezüglich der laufenden Pflege. Asphalt hatte seine Boomzeit,
als immer mehr Grünanlagen in den Städten geschaffen wurden, aber die Unterhaltungsmittel knapp waren. Die
psychologische Wirkung war jedoch auf die Dauer so negativ, dass zum Beispiel Hamburgs Erster Bürgermeister
anordnete, die zahlreichen breiten Asphaltwege auf dem Gelände der Internationalen Gartenschau 1973 zurückzu-
bauen und in Grandwege umzuwandeln.

Erfreulicherweise hat die Forschung inzwischen wassergebundene Wegedecken entwickelt, die auch nach Regen
und Frost noch gut begehbar sind. – Problematisch sind Decken aus Kies oder gar aus grobem scharfkantigen Splitt,
die für Damen mit eleganten Schuhen unpassierbar sind.

4.4.2 Die psychologische Wirkung der Wegeführung

Die Bedeutung dieser technischen Fragen sollte nicht unterschätzt werden, aber wichtiger sind die Wirkungen der
Wegeführung. Wir haben gesehen, dass sowohl beim Barockgarten wie auch beim Landschaftsgarten Abwechslung
und Mannigfaltigkeit gefordert war. Das hängt natürlich in erster Linie von den Inhalten und von der Raumbildung
der Gärten und Landschaftsteile ab, aber eben auch davon, wie diese durch die Wege erschlossen werden. Die
schönsten Landschaftsszenen können nicht wahrgenommen werden, wenn sie nicht durch Wege erschlossen sind
und sei es nur durch Trampelpfade. -

Bernhard Waldenfels hat dies untersucht und spricht von dem „gelebten Raum,“ der auf ein „leibliches Subjekt“
bezogen ist.

Je nach Art und Grad der leiblichen Beteiligung können wir unterscheiden zwischen einem
Stimmungsraum, der auf den so oder so befindlichen Leib, einem Handlungsraum, der auf den handeln-
den und hantierenden Leib, und einen Anschauungsraum, der auf den sinnlich anschauenden Leib
bezogen ist. Durch die Verflechtung dieser Verschiedenen Arten des Raumerlebens wird der
einseitigen Visualisierung der Umwelt ... ein Riegel vorgeschoben.158 (Hvh. A.S.)

Bei Betonung des Handlungsraumes legt Waldenfels

besonderen Wert auf die Handlung als leibliche Bewegung, sei es als Fortbewegung oder als ein Aufenthalt,
der selbst noch als Anhalten einer Bewegung zu deuten ist. Die leibliche Bewegung ... ist in der Tat eine
Instanz, welche unmittelbar Raum generiert oder regeneriert.159

...

158  Waldenfels, (1986), 33f.


159  Ebd., 36

72  Die Welt als Garten


Wege , die den Raum durchmessen und von hier nach dort führen, sind keine bloßen Strecken, die
wir mehr oder weniger schnell zurücklegen, sondern Bahnen, die bestimmte Bewegungsrichtungen
und Bewegungsabläufe vorschreiben, nahe legen oder ausschließen. Flüsse und Bergrücken, ...
Hecken und Zäune, ... skandieren den Raum, lassen ihn schrumpfen oder sich dehnen, bieten
Überraschungen oder ein monotones Einerlei, setzen Hindernisse oder gewähren Durchlaß. Dies ist
nur ein Aspekt jener Strukturen der Landschaft die das Leben der Bewohner formen, verformen, ani-
mieren oder einengen und verkümmern lassen. ... Hier liegen die Ansatzpunkte für eine Pathologie des
Landschaftserlebens, aber auch für eine Landschaftskunst, die nicht bloß schönen Schein produziert,
sondern alte Erfahrungsstrukturen verändert und neue inauguriert. 160

Dies alles gilt natürlich auch für Gärten, für die ‚Welt als Garten.’ Insbesondere ist unter diesen Aspekten die ge-
genwärtige „Achsenmode“ zu beurteilen, deren Wirkung man nur als „monotones Einerlei“ bezeichnen kann. -
Waldenfels hält abschließend ein „Plädoyer für das Gehen:“

Gemeint ist die erfahrene Selbstbewegung eines Gehenden, der – wie die ausgreifenden Gestalten
Giacomettis – Raum schafft und einnimmt, der eine Landschaft um sich verbreitet und sich um ihr
umtut und nicht nur ein Schauspiel vor Augen hat.

In dem Sinne des: „Ich bewege mich,“ das dem „ich denke“ innewohnt, es verleiblicht und verräum-
licht, ohne dass Denken und Gehen je über ein Vertrauensverhältnis hinauskommen.

...

Bei der Eigenbewegung ist zu unterscheiden zwischen zielgerichteten oder zielentlasteten oder ziellosen
Bewegungen wie dem Umherfahren, Umhergehen, Wandern, Spazieren und Flanieren. Nicht um-
sonst finden Spaziergänger und Flaneure ihre modernen Verfechter in Rousseau, Baudelaire oder
Walter Benjamin, ... . Die ziellose und zielentlastete Bewegung, ... umkreist den Stimmungsraum, der
unsere Handlungsfelder umtönt, ohne in ihnen aufzugehen. Sie verwandelt Umwege in Rundwege,
Seitenwege, ohne die Sehlust von der Gehlust abzulösen.161

Auch Lucius Burckhardt hat sich intensiv mit diesem Thema befasst und hat daraus seine „Spaziergangswissenschaft“
entwickelt. Ihn interessiert „der Spaziergang nicht als Darstellung, sondern ... als eine Wahrnehmung.“ Er stellt
fest, dass die Wahrnehmung weit gehend vorbestimmt ist durch das, was man schon kennt und deshalb erwar-
tet. „Zwischen den Spaziergänger und sein Betrachtungsfeld stellt sich ein System, das die Betrachtung steuert.“
162
Dabei können sich die unterschiedlichsten Dinge, wie Felder Wiesen, Dörfer usw. in der Erinnerung zu ei-
nem Gesamtbild zusammenfügen. „Diese Integrationsleistung wird ermöglicht durch den raffinierten Begriff der
Landschaft, mit welchem wir aus heterogenen Umgebungen eine Einheitlichkeit herauszufiltern vermögen, die nun
das Gesehene kommunizierbar macht.“ 163 Herausgefiltert werden, soweit wie möglich, alle „störenden“ Dinge. So
entsteht aber die Gefahr, dass nur das Gewohnte und Konventionelle als Landschaft angesehen wird: das Problem
von Assimilation und Akkommodation.

Aufgabe der Spaziergangswissenschaft ist es also, Eindrücke zu sammeln und zu eindrückliche


Bilderketten aufzureihen, ohne auf die traditionellen Metaphern zu verzichten, die ja allein die ge-
wonnenen Bilder kommunizierbar machen, aber auch ohne den Eindruck hervorzurufen, mit der
Schilderung einer Einheit sei das Funktionieren dieser Einheit erschöpfend beschrieben und verstan-

160  Ebd., 38f


161  Ebd., 40f
162  Burckhardt, (2007), 257f
163  Ebd., 262.

Die Welt als Garten  73


den. Die Spaziergangswissenschaft ist also ein Instrument sowohl der Sichtbarmachung bisher verbor-
gener Teile des Environments als auch ein Instrument der Kritik der konventionellen Wahrnehmung
selbst. 164

Auf einige Folgerungen Burckhardts werde ich noch zurückkommen.

Ich halte Wegesysteme für die wichtigsten architektonischen Elemente in der Gartenkunst. Aber in Bezug auf die
Unterscheidung ‚Funktion / Ornament’ sind auch die vielfältigen Architekturen der Gärten zu betrachten, wie
Mauern, Terrassen, Wände, Wasserbecken und so weiter. Meine Kritik richtet sich hier gegen die zunehmende
Dominanz des Ornamentalen, das unter dem Begriff ‚Design’ das Entwurfsgeschehen bestimmt, in dem die Funktion
oftmals nur Vorwand für eine exaltierte Gestaltung ist.

4.5 Zusammenfassung: Funktion/Ornament


• Die Unterscheidung Funktion/Ornament ist neben physis/techne eine Grundunterscheidung der Gartenkunst.

• Wenn auf der Skala Funktion/Ornament eine Seite stark überwiegt, bedeutet das meistens einen Tiefstand
des Stils. („Ornament ist Verbrechen“ oder „Kastenarchitektur“)

• Ornament kann als Applikation oder als Gestalt (Schöne Form) auftreten.

• Das Ornament kann eine praktische Funktion als Ordnungsfaktor haben oder Auslöser von Stimmungen sein
oder eine rein geistige Wirkung im autonomen Kunstwerk haben.

• Die Auswahl des Materials beeinflusst die Wirkung des Ornaments.

• In der Gartenkunst spielen die Wege eine wichtige Rolle als Ornament. Ihre Funktion besteht darin, gemein-
sam mit der Vegetation das Raumerlebnis und die leibliche Gestimmtheit der Nutzer zu bestimmen.

• Allgemein gesehen bekommt gegenwärtig das Ornamentale oft das absolute Übergewicht vor der Funktion.
Als ‚Design’ entsteht eine Nähe zur Mode und zur Gestaltung von Parfümflaschen.

4.6 Station bei Schiller.


Diese Betrachtung der Gartenwege legt mehrere Unterscheidungen nahe: Wege, die sich nach den räumlichen
Geländeverhältnissen richten, und solche, die auf dem Papier entworfen werden. Dann habe ich unterschieden:
Wege, die ein Ordnungsprinzip verfolgen und solche, die ornamentale Wirkung haben. (Die Unterscheidung
Funktion/Ornament ist dabei ziemlich abstrakt, weil der Begriff ‚Funktion’ vieldeutig ist.) Und schließlich, nach
Waldenfels, unterscheide ich die visuelle von der leiblichen Wahrnehmung der Wege; man kann auch sagen: die
formale von der sinnlichen.

Für diese schreibe ich als ‚Form der Unterscheidung mit zwei Seiten’:

Wirkung der Wege


Auf das Formgefühl Auf das Körpergefühl

164  Ebd., 265.

74  Die Welt als Garten


Das ist eine Unterscheidung, die – neben der Unterscheidung Tun und Lassen - für die Gartenkunst von spezieller
Bedeutung ist. Ich untersuche sie auf der Grundlage der faszinierenden philosophischen Arbeit von Friedrich
Schiller: „Über die ästhetische Erziehung des Menschen.“ Interessant ist sie für mich aus mehreren Gründen: Sie ist
dualistisch strukturiert, so dass man in ihr ‚Formen der Unterscheidung mit zwei Seiten’ sehen kann, sie ist komplex
in den Variationen ihrer Grundunterscheidung, und vor allem, sie bietet einen Schlüssel für die Handhabung ihrer
Unterscheidungen auf einer Skala und vor allem, sie erhellt die Frage: was ist Kunst.

Schiller hat seine Theorie entwickelt in 27 Briefen, die an den (dänischen) Augustenburger Prinzen gerichtet waren.
Er befasst sich – über die Ästhetik im engeren Sinne hinaus – mit der gesellschaftlichen Entwicklung seiner Zeit
(1793), die durch die negativen Ereignisse in Frankreich nach der Revolution 1789 überschattet war.

Schiller betrachtet den Staat im ästhetischen Sinne als höchstes Kunstwerk und sein Ziel ist die Erziehung des
Menschen zum sittlichen Wollen. Sein Ausgangspunkt ist aber die Ästhetik in künstlerischer Hinsicht, und darauf
will ich mich konzentrieren. Die duale Struktur seiner Theorie ist so ausgeprägt und anschaulich, dass ich mich weit
gehend darauf beschränken kann, seine Unterscheidungen zu zitieren.

Im ersten Brief bemerkt er, „daß es größtenteils Kantische Grundsätze sind, auf denen [seine] nachfolgenden
Behauptungen ruhen werden.“ Und das ist in erster Linie Kants Satz: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen
ohne Begriffe sind blind.“

Im 6. Brief sagt er: „Die mannigfaltigen Anlagen im Menschen zu entwickeln, [ist] kein anderes Mittel, als sie ein-
ander entgegenzusetzen. Dieser Antagonism der Kräfte ist das große Instrument der Kultur.“ - Dieser Satz ist der
Anlass, die Verbindung zu den ‚Laws of Form’ herzustellen.

Schillers Grundunterscheidung ist: Die Welt der Sinne und die Welt des Denkens. Er spricht auch vom „sinnli-
chen Trieb“ oder „Stofftrieb“ im Unterschied zum „vernünftigen Trieb“ oder „Formtrieb“ Überhaupt verwendet
Schiller immer neue Begriffe, was für die feine Nuancierung seines Denkens spricht aber auch dafür, wie er mit der
Komplexität der Probleme ringt.

Für Kant wie für Schiller schreibe ich als Grundunterscheidung:

Erkenntnis
Begriffe Anschauung
Welt des Denkens Welt der Sinne

Schiller geht zunächst vom Menschen aus, von seinem Zustand und seiner Entwicklung. So im 11. Brief:

... die Abstraktion ... gelangt ... zu zwei letzten Begriffen, ... . Sie unterscheidet im Menschen et-
was, das bleibt, und etwas, das sich unaufhörlich verändert. Das Bleibende nennt sie seine Person, das
Wechselnde seinen Zustand. ... 165

Person und Zustand ... die wir uns in dem notwendigen Wesen als eins und dasselbe denken, sind ewig
zwei in dem endlichen. Bei aller Beharrung der Person wechselt der Zustand, bei allem Wechsel des
Zustands beharret die Person. ...

165  Diese Unterscheidung ist vergleichbar mit Maturanas Unterscheidung der zusammengesetzten Einheit in
Organisation und Struktur

Die Welt als Garten  75


Die Person muß also ihr eigener Grund sein, denn das Bleibende kann nicht aus der Veränderung
fließen; und so hätten wir denn fürs erste die Idee des absoluten, in sich selbst gegründeten Seins, d.
i. die Freiheit. Der Zustand muß einen Grund haben; er muß, da er nicht durch die Person, also nicht
absolut ist, erfolgen; und so hätten wir fürs zweite die Bedingung alles abhängigen Seins oder Werdens,
die Zeit. ...

Bis hier hin ergibt sich als ‚Form der Unterscheidung’:

Mensch
Person Zustand
Das Bleibende Das Wechselnde
Das absolute Sein Das Werden
Die Freiheit Die Zeit

Im Folgenden beschreibt Schiller die Wechselwirkungen der unterschiedenen Seiten:

[Der Mensch] ... unabhängig von allem sinnlichen Stoffe betrachtet, ist bloß die Anlage zu einer mög-
lichen unendlichen Äußerung; und solange er nicht anschaut und nicht empfindet, ist er noch weiter
nichts als Form ... . Seine Sinnlichkeit, für sich allein ... betrachtet, vermag weiter nichts, als daß sie
ihn, der ohne sie bloß Form ist, zur Materie macht ... . Solange er bloß empfindet, bloß begehrt, ... ist
er noch weiter nichts als Welt, [das heißt] formloser Inhalt der Zeit. ...

Um also nicht bloß Welt zu sein, muß er der Materie Form verleihen; um nicht bloß Form zu sein, muß
er der Anlage, die er in sich trägt, Wirklichkeit geben. Er verwirklicht die Form, wenn er die Zeit er-
schafft und dem Beharrlichen die Veränderung, der ewigen Einheit seines Ichs die Mannigfaltigkeit der
Welt gegenüberstellt; er formt die Materie, wenn er die Zeit wieder aufhebt, Beharrlichkeit im Wechsel
behauptet und die Mannigfaltigkeit der Welt der Einheit seines Ichs unterwürfig macht.

Schiller leitet aus diesen Sätzen „zwei entgegengesetzte Anforderungen an den Menschen“ ab,

die zwei Fundamentalgesetze der sinnlich-vernünftigen Natur. Das erste dringt auf absolute Realität:
er soll alles zur Welt machen, was bloß Form ist ... ; das zweite dringt auf absolute Formalität: er soll
alles in sich vertilgen, was bloß Welt ist ... ; mit anderen Worten: er soll alles Innre veräußern und alles
Äußere formen.

Es haben sich weitere Variationen der Unterscheidung ergeben:

Mensch
Form Materie
Beharrlichkeit Veränderung
Einheit des Ichs Mannigfaltigkeit der Welt
Formalität Realität

Wenn man diese Sätze aufmerksam liest, stellt man fest, dass Schiller ständig die Seiten wechselt, entsprechend dem
Satz von Spencer-Brown: „Eine Grenze mit getrennten Seiten [wird] so angeordnet, dass ein Punkt auf der einen
Seite die andere Seite nicht erreichen kann, ohne die Grenze zu kreuzen.“ (s. Anm. 61)

76  Die Welt als Garten


Im 12. Brief entfaltet Schiller weitere Aspekte seiner Grundunterscheidung. Zunächst spricht er von zwei Trieben
die „uns antreiben“ dem „sinnlichen Trieb“ den er auch „Sachtrieb“ oder „Stofftrieb“ nennt und den „Formtrieb,“
auch „vernünftigen Trieb.“

Der sinnliche Trieb „geht aus von dem physischen Dasein des Menschen ... und ist beschäftigt, ihn in die Schranken
der Zeit zu setzen und zur Materie zu machen“ Materie heißt Veränderung in der Zeit und die „bloß erfüllte Zeit
heißt Empfindung.“ Der Formtrieb „geht aus von dem absoluten Dasein des Menschen oder von seiner vernünftigen
Natur und ist bestrebt, ihn in Freiheit zu setzen, Harmonie in die Verschiedenheit seines Erscheinens zu bringen und
bei allem Wechsel des Zustands seine Person zu behaupten.“ ... „Er umfaßt mithin die ganze Folge der Zeit“ das heißt
„er hebt die Veränderung auf; er will, daß das Wirkliche notwendig und ewig und daß das Ewige und Notwendige
wirklich sei. ...“ „Mit einem Wort:“ so endet er den 13. Brief, „den Stofftrieb muß die Persönlichkeit und den
Formtrieb muß die Empfänglichkeit oder die Natur in seinen gehörigen Schranken halten.“ (Hvh. A.S.)

Schiller hat also die Modi seiner Grundunterscheidung zusammengefasst in der Unterscheidung Formtrieb und
Stofftrieb. Nach dem Prinzip der ‚Form der Unterscheidung’ erhebt sich die Frage nach dem Motiv oder Kontext
der Unterscheidung, entsprechend dem Satz Spencer-Browns: „Es kann keine Unterscheidung geben ohne Motiv
...’ (s. Anm. 61)

Im 14. Brief stellt Schiller eine Verbindung her durch einen dritten Trieb, den er den Spieltrieb nennt. Ich folge
zunächst seinen Ausführungen:

Der sinnliche Trieb will, daß Veränderung sei, daß die Zeit einen Inhalt habe; der Formtrieb will, daß
die Zeit aufgehoben, daß keine Veränderung sei. Derjenige Trieb also, in welchem beide verbunden
wirken, ... Der Spieltrieb ... würde dahin gerichtet sein, die Zeit in der Zeit aufzuheben, Werden mit
absolutem Sein, Veränderung mit Identität zu vereinbaren. ...

Der Spieltrieb ... wird das Gemüt zugleich moralisch und physisch nötigen; er wird also, weil er alle
Zufälligkeit aufhebt, auch alle Nötigung aufheben und den Menschen sowohl physisch als moralisch
in Freiheit setzen. ...

Der Spieltrieb ... wird zugleich unsere formale und unsere materiale Beschaffenheit ... zufällig machen;
er wird also, eben weil er beide zufällig macht, ... die Zufälligkeit in beiden aufheben, mithin Form in
die Materie und Realität in die Form bringen.

Den Begriff ‚Zufälligkeit’ greife ich auf, um auch hier eine Verbindung herzustellen zu dem Prinzip der ‚Skala.’ Als
skaliert habe ich das Verhältnis zum Beispiel von physis und techne bezeichnet und festgestellt, dass dieses Verhältnis
frei gewählt werden könne und entschieden werden müsse und dass jeder Punkt auf dieser Skala nur eine kontin-
gente Relation der jeweiligen Unterscheidung markiere. Ich sehe eine Übereinstimmung zwischen dieser Kontingenz
und dem, was Schiller ‚Zufälligkeit’ nennt. Allerdings hatte ich bisher nicht geklärt, wie die freie Wahl eines ‚festen’
Punktes auf der Skala stattfindet. Hierzu bietet Schiller mit dem Spieltrieb eine Lösung.

Im 15. Brief fährt Schiller fort:

Der Gegenstand des sinnlichen Triebes ... heißt Leben. ... Der Gegenstand des Formtriebes heißt Gestalt,
... ein Begriff, der alle formalen Beschaffenheiten der Dinge und alle Beziehungen derselben auf die
Denkkräfte unter sich fasst. Der Gegenstand des Spieltriebes ... wird also lebende Gestalt heißen können;
ein Begriff, der allen ästhetischen Beschaffenheiten der Erscheinungen und mit einem Worte dem was
man in weitester Bedeutung Schönheit nennt, zur Bezeichnung dient. (Hvh. A.S.)

Die Welt als Garten  77


So haben wir also Begriffe von Schiller bekommen, die Denken und Handeln der Kunst bestimmen: Der Formtrieb
oder ‚Gestalt,’ der sinnliche Trieb oder ‚Leben’ und die Schönheit oder ‚lebende Gestalt,’ die ich als Motiv oder
Kontext der Unterscheidung ansehe:

Schönheit,
Formtrieb Sinnlicher Trieb

Und der Spieltrieb ist das Vermögen, den Punkt auf der Skala zu finden, an dem die künstlerische Idee verwirklicht
wird.

Bei Heidegger haben wir einen ähnlichen Ansatz gesehen: Ich vergleiche Heideggers Erde und Welt mit Schillers
sinnlichen Trieb und Formtrieb. Und was Schiller Spieltrieb nennt, ist bei Heidegger der Streit. Er sagt: „Wahrheit west
nur als der Streit zwischen Lichtung und Verbergung in der Gegenwendigkeit von Welt und Erde.“

Wahrheit
Welt Erde

Schiller sprach von der „Schönheit im weitesten Sinne“ und deshalb setze ich ‚Schönheit’ mit ‚Wahrheit’ gleich.

(Bei dieser Gelegenheit merke ich an, dass in der Weise, wie ich Spencer-Browns ‚Laws of Form’ verwende – so, wie
ich es von Luhmann und seinen Schülern übernommen habe – das skalierte Verhältnis der unterschiedenen Seiten
mit dem von mir entwickelten Symbol nicht darstellbar ist. Angesichts der Komplexität des Kalküls von Spencer-
Brown nehme ich an, dass dies mit dessen Symbolen möglich wäre. Meine mathematischen Kenntnisse reichen
aber nicht aus, das herauszufinden. Andererseits halte ich die Idee der Skalierung für so wichtig, dass ich mich mit
der verbalen Darstellung begnügen muss.)

Für Schiller ist der Spieltrieb – das heißt die Verankerung auf der Skala – sehr bedeutend:

... unter allen Zuständen des Menschen [ist es] gerade das Spiel und nur das Spiel, was ihn vollkommen
macht und seine doppelte Natur auf einmal entfaltet. ...

Denn ... der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz
Mensch, wo er spielt.

Doch dann – im 16. Brief – entwickelt Schiller einen irritierenden Gedanken, Sein Schönheitsideal, das durch die
griechische Kunst, zum Beispiel durch „die Idealgestalten einer Venus, einer Juno, eines Apolls“ (15. Brief) geprägt
ist, sucht seine Verwirklichung in dem „möglichstvollkommensten [!] Bunde und Gleichgewicht der Realität und
der Form, ... Dieses Gleichgewicht bleibt aber immer nur Idee, die von der Wirklichkeit nie ganz erreicht werden
kann.“ In der Erfahrung „wird jederzeit, mehr oder weniger, das Übergewicht einen Mangel und der Mangel ein
Übergewicht begründen.“

In Schillers Gedanken ist hier ein statisches Element festzustellen, das wohl dem griechischen Schönheitsideal ge-
schuldet ist, das aber zu seinen bisherigen Ausführungen im Widerspruch steht. Ein „absolutes Gleichgewicht“ ist
mit dem Spielprinzip nicht zu vereinbaren.

Ich habe den Spieltrieb mit dem Skalenbegriff verglichen. Deshalb will ich an dieser Stelle einmal dessen Charakter am
Beispiel der bildenden Kunst beleuchten. Die bildende Kunst als autonome Kunst ist frei in ihren Ausdrucksweisen,
und gerade die Moderne ist dadurch gekennzeichnet, dass sie die Möglichkeiten auf der Skala der Unterscheidungen

78  Die Welt als Garten


auslotet. So sind die Werke Jackson Pollocks ganz auf der Seite des sinnlich Zufälligen und die eines Sol Le Witt
oder Carl André auf der anderen Seite der Skala, des Rationalen und Formalen angesiedelt. Ein anderes Beispiel
ist die künstlerische Entwicklung von Piet Mondrian, von seiner expressiven Frühphase zu seinem konstruktiven
Hauptwerk. – Alle diese Werke sind vollkommene Kunstwerke, und ihre teilweise extreme Ausrichtung auf die
eine oder andere Seite der Unterscheidung ist keineswegs als Mangel anzusehen, sondern ist ein Wesenszug der
Moderne des 20. Jahrhunderts.

Der 18. Brief bringt dann wieder Klarheit in das Verhältnis von Sinnlichkeit und Formalem, das eindeutig als ‚Form
der Unterscheidung mit zwei Seiten’ gesehen werden kann:

Durch die Schönheit wird der sinnliche Mensch zur Form und zum Denken geleitet; durch die Schönheit
wird der geistige Mensch zur Materie zurückgeführt und der Sinnenwelt wiedergegeben.

Aus diesem scheint zu folgen, daß es zwischen Materie und Form, zwischen Leiden und Tätigkeit einen
mittleren Zustand geben müsse und daß uns die Schönheit in diesen mittleren Zustand versetze. Diesen
Begriff bildet sich auch wirklich der größte Teil der Menschen von der Schönheit, sobald er angefangen
hat, über ihre Wirkungen zu reflektieren, und alle Erfahrungen weisen darauf hin.166 ... aber [nichts]
ist ungereimter und widersprechender als ein solcher Begriff, da der Abstand zwischen Materie und
Form, zwischen Leiden und Tätigkeit, zwischen Empfinden und Denken unendlich ist und schlechter-
dings durch nichts kann vermittelt werden. Wie heben wir nun diesen Widerspruch? Die Schönheit
verknüpft die zwei entgegengesetzten Zustände des Empfindens und des Denkens, und doch gibt es
schlechterdings kein Mittleres zwischen beiden, Jenes ist durch Erfahrung, dieses ist unmittelbar
durch Vernunft gewiß.

Dies ist der eigentliche Punkt, auf den zuletzt die ganze Frage über die Schönheit hinausläuft, und ge-
lingt es uns, dieses Problem befriedigend aufzulösen, so haben wir zugleich den Faden gefunden, der
uns durch das ganze Labyrinth der Ästhetik führt. (Hvh. A.S.)

Schiller benennt also explizit die Schönheit als verbindendes Element, als Kontext oder Motiv der Unterscheidung
von Form und Materie. Um diese für mich so wichtigen Kernsätze hervorzuheben, schreibe ich noch mal:

Schönheit
Form Materie

Im 19. Brief entwickelt Schiller einen Gedanken, von dem man annehmen könnte, dass Spencer-Brown unmit-
telbar von ihm angeregt worden sei: Er sieht in dem „Zustand des menschlichen Geistes vor aller Bestimmung, die
ihm durch Eindrücke der Sinne gegeben wird, ... eine Bestimmbarkeit ohne Grenzen. Das Endlose des Raumes
und der Zeit ist seiner Einbildungskraft zu freiem Gebrauch hingegeben, ... man ... [kann] diesen Zustand der
Bestimmungslosigkeit eine leere Unendlichkeit nennen ...“

Wie entsteht jetzt „aus der unendlichen Menge möglicher Bestimmungen ... eine einzelne Wirklichkeit, ... eine
Vorstellung“ ? - Schiller stellt fest:

Um eine Gestalt im Raum zu beschreiben, müssen wir den endlosen Raum begrenzen; um uns eine
Veränderung in der Zeit vorzustellen, müssen wir das Zeitganze teilen. Wir gelangen also nur durch
Schranken zur Realität, nur durch Negation oder Ausschließung zur Position oder wirklichen Setzung,
nur durch Aufhebung unserer freien Bestimmbarkeit zur Bestimmung.

166  Daraus entstehen, wie wir gesehen haben, Begriffe wie ‚Hybride’ oder ‚Synthese.’

Die Welt als Garten  79


Aber aus einer bloßen Ausschließung würde in Ewigkeit keine Realität und aus einer bloßen
Sinnenempfindung in Ewigkeit keine Vorstellung werden, wenn nicht etwas vorhanden wäre, von
welchem ausgeschlossen wird, wenn nicht durch eine absolute Tathandlung des Geistes die Negation
auf etwas Positives bezogen und aus Nichtsetzung Entgegensetzung würde; diese Handlung des Gemüts
heißt urteilen oder denken, und das Resultat derselben der Gedanke

Ehe wir im Raum einen Ort bestimmen, gibt es überhaupt keinen Raum für uns; aber ohne den abso-
luten Raum würden wir nimmermehr einen Ort bestimmen. ...

Wir gelangen also ... nur durch den Teil zum Ganzen, nur durch die Grenze zum unbegrenzten; aber
wir gelangen auch nur durch das Ganze zum Teil, nur durch das Unbegrenzte zur Grenze.

Schillers „endloser Raum“ ist bei Spencer-Brown der „unmarked state,“ den Luhmann „unmarked space“ nann-
te.167 In Kapitel 2 der Laws of Form heißt es: “Triff eine Unterscheidung ... Nenne den Raum, in dem sie getroffen
wird, den Raum der durch die Unterscheidung geteilt oder gespalten wird. Nenne die Teile des Raumes, der durch
die Teilung oder Spaltung gebildet wird, die Seiten der Unterscheidung oder wahlweise die Räume, Zustände oder
Inhalte, die durch die Unterscheidung unterschieden werden.“ - Und Schillers Aussage, dass keine Vorstellung
werden kann, „wenn nicht etwas wäre, von welchem ausgeschlossen wird,“ entspricht dem lapidaren Satz Spencer-
Browns: wir können „keine Bezeichnung vornehmen, ... ohne eine Unterscheidung zu treffen.“

Ich komme zurück auf den Ausgangspunkt dieser Betrachtung: Die Gestaltung und Wirkung der Gartenwege, wo-
bei ich das Formgefühl vom Körpergefühl unterschieden habe. Die Übereinstimmung mit Schillers Formtrieb und
Sinnlichem Trieb ist evident.

Die weiteren Überlegungen werden als Form der Unterscheidung immer wieder zeigen, dass Schillers
Grundunterscheidung allgemeine Gültigkeit besitzen.

167  Luhmann, (1997b), 58.

80  Die Welt als Garten


Kapitel 5 Der Raum als Medium von Architektur und
Gartenkunst
‚Raum’ ist ein Begriff, der kaum eindeutig zu beschreiben ist. Er gleicht insofern der Zeit, von der schon Augustinus
sinngemäß sagte, er wisse genau, was Zeit ist, er könne es aber nicht erklären. Hier geht es nun nicht um Schillers
abstrakten unendlichen oder absoluten Raum, sondern um den der Architektur und der Gartenkunst. Ich werde ihn
in erster Linie im Hinblick auf seine Wirkung auf die Menschen als – im Wortsinne – erlebten und gefühlten Raum,
als Lebensraum untersuchen.

Analog zum ‚Urgarten’ gehe ich zurück auf die ursprüngliche Entwicklung des Raumgefühls. Manche Autoren
sehen den Ursprung der menschlichen Prägung in den afrikanischen Savannen.168 Ich gehe nicht so weit zurück,
sondern sehe für die Menschen in Mitteleuropa den Wald als erste räumliche Umgebung, unterschieden von den
asiatischen Steppen oder afrikanischen Savannen.

5.1 Die Waldlichtung als ‚Urraum’


Ich stütze mich im Folgenden auf das hervorragende Buch „Wälder“ von Robert P. Harrison, in dem er die „Rolle,
die Wälder in der kulturellen Phantasie des Abendlandes gespielt haben“ untersucht. Er stellt fest:

... der größte Teil des von Menschen bewohnten Abendlandes war ... in der Vergangenheit mehr oder
weniger dicht bewaldet. ... die westliche Zivilisation rodete sich buchstäblich ihren Raum inmitten
von Wäldern. Ein dunkler Waldsaum definierte die Grenzen ihres Ackerbaus, die Ränder ihrer Städte,
die Begrenzungen ihres institutionellen Herrschaftsbereichs, aber auch die Ausschwei- fungen ihrer
Phantasie. ... die herrschenden Institutionen des Abendlandes – Religion, Recht, Familie, Stadt - [eta-
blierten sich] ursprünglich in Opposition zu den Wäldern, die in dieser Hinsicht die ersten und die
letzten Opfer der Ausdehnung der städtischen Welt geworden sind. (9)169

Einen „bemerkenswerten Ansatzpunkt“ für seine Ausführungen findet Harrison bei dem italienischen Philosophen
Giambattista Vico (1668 – 1744) und dessen „schöpferischen Archeologie der metaphorischen Ursprünge des
menschlichen Denkens.“ (22)

Vico beschreibt die ersten Bewohner der Wälder, die „Giganten“, die, „von den Müttern verlassen“, gesetzlos „in
tierischer Freiheit“ die Wälder durchstreiften. (17f) Sie sahen keinen Himmel und keine Götter, bis Vulkan, der
Gott des Feuers und der Technik, Lichtungen in die Wälder brannte. (24) Auf den Lichtungen konnten Familien
gegründet werden, deren Symbol der Stammbaum wurde. „Die Aneignung des Waldes“ war eine „Metapher für
menschliche Institutionen.“ „Vom Familienstammbaum zum Baum der Erkenntnis, vom Baum des Lebens zum
Baum der Erinnerung haben Wälder in der kulturellen Evolution der Menschheit einen unentbehrlichen Fundus
der Symbolisierung bereit gestellt, und dies so sehr, dass der Aufstieg des modernen wissenschaftlichen Denkens
losgelöst von der Vorgeschichte solcher metaphorischen Entlehnungen ganz undenkbar bleibt.“ (22)

Das geht zum Beispiel daraus hervor, wie Vico die Entwicklung des lateinischen Wortes „lex“ für „Gesetz“ erläutert:
Er schreibt, dass dieses Wort „anfangs das Einsammeln von Eicheln bedeutet haben muß, wonach ... die Steineiche
ilex ... genannt wurde. ... Alsdann bedeutete lex ‚das Einsammeln von Hülsenfrüchten’ wonach diese legumina ge-
nannt wurden. Später ... musste lex aus einer Notwendigkeit des Politischen‚Versammlung von Bürgern’ ... bedeu-

168  z. B. Spanier, (2001), oder Sieverts, (1999), 13.


169  Harrison, (1992), Ich setze anstatt einer Fußnote die Seitenzahl in Klammern.

Die Welt als Garten  81


ten; daher war die Gegenwart des Volkes Gesetz. ... Schließlich wurde das Sammeln von Buchstaben ... legere, ‚lesen’
genannt.“ (53f)

Ein anderes Beispiel einer Aneignung des Waldes beschreibt Harrison mit der Entstehung Roms. Es beginnt damit,
dass Romulus, im Wald mit seinem Bruder Remus ausgesetzt, von der Wölfin, „der mythischen Gestalt des Waldes,“
gesäugt und aufgezogen wurde. Zum Manne herangewachsen, gründete er „auf einer Lichtung auf dem Kapitol“ die
Stadt Rom. Sie wurde „Zufluchtstätte“ für „Waldvagabunden ... die in der Wildnis außerhalb der Grenzen häuslicher
Religion und ziviler Gesellschaft gelebt hatten.“ (68) „wer die Stadtgrenzen betrat, floh dorthin aus den Wäldern,
die zu einer Grenze oder einem Randstreifen wurden gegen den der städtische, in strengem Sinne institutionelle
Raum definiert wurde. ... Die Wälder wurden ... als locus neminis, ‚Niemandsland,’ bezeichnet. ... Stadt und Wald
waren somit strikt voneinander abgesetzt. ... Die res nullius stand der res publica auf solche Weise gegenüber, dass ein
Waldsaum dem städtischen Raum seine natürliche Grenze verlieh.“ (69)

Aber diese Grenze wurde immer weiter zurück gedrängt. Harrison beschreibt die Entwaldung des Mittelmeerraumes
durch die Griechen und Römer. Das Holz wurde für den Haus- und Schiffsbau benötigt und die gerodeten Flächen
für den Ackerbau. Einer fruchtbaren Zeit folgte die Erosion der Böden durch Regen und Wind bis zur Karst- und
Wüstenbildung.

Dass diese Handlungsweise nicht nur vom Nützlichkeitsdenken bestimmt wird, zeigt eine andere Legende, das
Gilgamesch-Epos, in dem das Verhältnis zum Wald durch Aggression bestimmt wird. Vico sah eine grundle-
gende Feindschaft religiösen Ursprungs zwischen den Institutionen der Menschheit und den am Rande liegenden
Wäldern. (29)

Gilgamesch wurde es als Heldentat angerechnet, dass er auf dem Berg der Zedern Huwawa, den Wächter des Waldes
erschlägt, um danach die Zedern zu fällen und in die Stadt zu bringen. (30) Er will „die Bäume das Schicksal derer
teilen lassen, die innerhalb der Mauern leben“ und sterben müssen. „Stämme werden die Kadaver werden“

Harrison zieht eine grundsätzliche Erkenntnis aus dieser Legende:

Es ist eine bedauerliche Tatsache der Geschichte, dass die Menschen nie aufgehört haben, die Geste
Gilgameschs zu wiederholen. Der destruktive Impuls in Bezug auf die Natur hat nur zu oft psychische
Gründe, die über die Gier nach materiellen Ressourcen oder das Bedürfnis, eine Umwelt zu domestizie-
ren hinausgehen. Zu oft sind im Angriff auf die Natur und ihre Arten bewusste Wut und Rachsucht am
Werk, so als wollte man auf das Natürliche die unerträglichen Ängste der Endlichkeit projizieren.(34)

Auf diesen Grundzug menschlichen Verhaltens habe ich bereits in Bezug auf den Barockgarten hingewiesen: Das
Bewusstsein von Altern und der Endlichkeit sollte durch Kosmetik und durch Beschneiden der Pflanzen verdrängt
werden.

Ein jüngeres Beispiel für aggressives Verhalten gegenüber der Natur sind die Verwüstungen, die mit der
Flurbereinigung bis in die 70ger Jahre einhergingen. Dabei wurden nicht nur Flächen entwässert und Ackerschläge
vergrößert, um moderne Maschinen einsetzen zu können, was durchaus verständlich ist; sondern es wurde alles
Naturhafte beseitigt, wie kleine Feuchtbiotope und Gehölzgruppen am Rande, wo sie überhaupt nicht störten. Die
‚Bereinigung’ hatte absolut aggressive Züge.

In diesem Zusammenhang erhebt sich die Frage, wie weit auch der zur Zeit modische Minimalismus, in dem alles
‚Naturalistische’ aus der Stadt verbannt wird, einen derartigen psychologischen Hintergrund hat. Das wird noch
näher zu erörtern sein.

82  Die Welt als Garten


5.2 Die Entwicklung des klassischen Stadtraumes als Grundlage der
abendländischen Kultur
In der vorstehenden Betrachtung haben wir also den Raum der Lichtung in den Wäldern als Voraussetzung für
die Entstehung der Zivilisation gesehen, dass aber die grenzenlose Ausweitung dieser Lichtung die Verwüstung
bedeutet. Der Wald ist also das Symbol für die Selbsterhaltung der Natur – physis - und damit ebenso Garant für
die Erhaltung der Zivilisation, wenn nicht der Menschheit. Gegenwärtig tritt dies immer mehr in das öffentliche
Bewusstsein, ausgelöst durch die drohende Vernichtung der Regenwälder, die durch eine atavistische, aggressive
Haltung unkontrollierter Mächte bestimmt ist.

Der Wald ist aber auch die Bühne unserer Mythen und Märchen, für die Elfen und Faune und damit der Gegensatz
von der Stadt, der Welt der Vernunft und der Technik. Diesem Gegensatzpaar gilt meine weitere Betrachtung

Den Charakter der Stadt als geistigen Raum in seiner Entstehung hat der spanische Philosoph Ortega y Gasset
(1883 – 1955) in seiner anschaulichen Sprache beschrieben, und ich erkenne darin manche Parallelen zu der
Darstellung Vicos, die wir bei Harrison gesehen haben:

Griechen und Römer sind, wenn sie in der Geschichte erscheinen, in Städten, urbs, polis, behaust,
... . Die Stadt ist eine letzte Gegebenheit von geheimnisvollem Ursprung. ; ... Allerdings gestatten
Ausgrabungen und archäologische Forschungen uns, etwas von dem zu erkennen, was auf atheni-
schem und römischem Boden geschah, ehe Athen und Rom bestanden. Aber der Übergang von jener
rein bäuerlichen, durch nichts ausgezeichneten Prähistorie zum Keim der Stadt ... bleibt dunkel; man
kennt nicht einmal den ethnischen Zusammenhang zwischen jenen vorgeschichtlichen Völkern und
diesem erstaunlichen Gemeinwesen, die das Repertoire der Menschheit um eine große Neuheit be-
reicherten, indem sie einen öffentlichen Platz und um ihn her eine gegen das Feld geschlossene Stadt
erbauten. ... die Stadt beginnt als Hohlraum, als Markplatz, forum, agora; und alles Weitere ist
Vorwand, um dies Hohl zu sichern. ... Die Polis ist ursprünglich nicht ein Haufe bewohnbarer Häuser,
sondern ein Ort des bürgerlichen Zusammentreffens, ein abgegrenzter Raum zu öffentlichen Zwecken.
... Man beachte, dass hiermit eine neue Gattung Raum konstruiert wurde, ... . Solange gab es
nur einen Raum, das Land, ... . Der Landmann ist noch pflanzenhaft. Sein Leben bewahrt, wenn er
denkt, fühlt, will, etwas von der bewußtlosen Dumpfheit des Vegetativen. ... aber der antike Mensch
löst sich entschlossen vom Land, von der Natur, von dem geobotanischen Kosmos ab. Wie ist das
möglich? ... Sehr einfach: er hegt ein Stück Land vermittels einiger Mauern ein und stellt dem ge-
staltlosen, unendlichen Raum den umschlossenen, endlichen gegenüber. So entsteht der Platz.
Er ist nicht wie das Haus ein nach oben hin geschlossenes Inneres, darin den Höhlen gleichend, die
es auf dem Felde gibt; er ist schlechthin die Verneinung des Feldes. Dank den Mauern, die ihn
umgeben, ist der Platz ein Stück Land, das dem Rest den Rücken dreht, von ihm absieht und sich ihm
entgegensetzt. Dieses rebellische Kleinland, das sich von der großen Mutter abgeschnürt hat und seine
Eigenrechte ihr gegenüber wahrt, ist als Land aufgehoben und darum ein Raum sui generis, völlig
neu, worin der Mensch, aus jeder Gemeinschaft mit Pflanze und Tier gelöst, ein in sich kreisen-
des, rein menschliches Reich schafft: den bürgerlichen Raum. Darum wird einst der große Städter...
Sokrates sagen: „Ich habe nichts mit den Bäumen auf dem Felde, ich habe nur mit den Menschen in
der Stadt zu tun.170 (Hvh. A. S.)

Hier werden natürlich keine historisch chronologischen Abläufe beschrieben, sondern jahrhunderte lange, histo-
risch erforschte Entwicklungen oder in Legenden bewahrte Erinnerungen. Man muss sich klar machen, dass dieser
endliche Raum, der aus dem unendlichen Raum ‚herausgeschnitten’ wurde, eine völlig neue Qualität hat. Harrison

170  Ortega y Gasset, (1958), 111f.

Die Welt als Garten  83


beschreibt den Prozess des Zurückdrängens des Waldes, und Ortega setzt bei dem Zeitpunkt an, an dem der Wald
schon weit gehend verschwunden ist; als eingetreten ist, was Harrison beschreibt:

In dem Maße, wie die Ordnung der menschlichen Dinge ihren Lauf nimmt, ... rücken die Wälder im-
mer weiter fort vom Mittelpunkt der Lichtungen. Im Mittelpunkt vergisst man schließlich, dass man
auf einer Lichtung wohnt. Der Mittelpunkt wird utopisch. Je größer der Kreis der Lichtung, desto mehr
ist der Mittelpunkt nirgends und desto mehr wird der logos reflektierend, abstrakt, universalistisch ...
.171

Aber das Zurückdrängen des Waldes war nicht der einzige Faktor, der den antiken Raum bestimmte; dazu kam eine
erste ökologische Katastrophe, die das antike Griechenland einschneidend veränderte. In Platons Bericht des Kritias
wird geschildert, wie früher, im „Athen der Vergangenheit“ die „Bürger, welche sich mit dem Gewerbe und mit
dem Gewinn der Früchte der Erde beschäftigten,“ getrennt von den Kriegern wohnten, und „dass an Fruchtbarkeit
die ganze Erde von unserem Land übertroffen wurde.“ Die Berge waren „mit Erde bedeckt,“ und es trug „vieles
Gehölz auf den Bergen.“ Und der reichlich vorhandene Fruchtboden sog den Regen ein „in einer Umschließung
von Tonerde“ und ließ ihn so in die „Tiefen hinabfließen“ und „bereitete so an allen Orten reichhaltige Quellen.“

Da nun aber „viele bedeutende Überschwemmungen ... Statt gefunden haben ... so [ist] die Erde ... in der Tiefe
verschwunden. So ist denn in dem gegenwärtigen [Lande] gleichsam wie von einem durch Krankheit dahinge-
schwundenen Körper nur noch die Knochen übrig geblieben, indem die Erde, soweit sie fett und weich war, rings-
um abgeflossen und nur das magere Gerippe des Landes zurückgelassen ist.“ 172

Was wir von Kritias nicht erfahren, ist die Ursache, die zu den „bedeutenden Überschwemmungen“ geführt hat,
nämlich die Abholzung der Wälder an den Berghängen, der zufolge das Wasser nach starken Regenfällen nicht mehr
zurück gehalten wurde, sondern in Sturzbächen den Boden mit zu Tal riss.

In dieser devastierten Landschaft konnte zwar noch Landwirtschaft betrieben werden, aber der Boden gab nicht
soviel her, dass die wachsende Bevölkerung damit ernährt werden konnte. Es musste zunehmend Getreide aus
anderen Mittelmeerländern eingeführt werden, wodurch ein reger Handel entstand und damit Verbindungen zu
anderen Kulturen. – Die eigene Landwirtschaft wurde überwiegend von Sklaven betrieben: „Im Athen des Perikles
kommen auf etwa 50.000 freie Bürger ungefähr 100.000 Sklaven“ 173

Erst diese Entwicklung im antiken Griechenland macht die Aussage Ortegas von dem städtischen Raum als „Land
aufgehoben“ und “Raum sui generis,“ in dem „der Mensch, aus jeder Gemeinschaft mit Pflanze und Tier gelöst, ein
in sich kreisendes, rein menschliches Reich schafft,“ verständlich.

Nur in diesem rein geistigen Raum konnten die Grundlagen der abendländischen Kultur entstehen, die der
Philosophie, der Wissenschaft und der Mathematik. Es ist anzunehmen, dass die Griechen ein erstes geometrisches
Denken von den Ägyptern übernommen haben, die es entwickelt hatten, weil sie nach jeder Überschwemmung des
Nils ihr Land neu vermessen mussten. - Die Pythagoräer bauten auf diesem Wissen auf und schufen ihre Zahlen-
und Symmetriegesetze, wodurch – wie Schadewald schreibt – „eine neue Wendung in das Denkgeschehen kommt,
ein neuer Seinsbereich eröffnet wird.“ 174 Davon war auch Platon beeinflusst, der im ‚Timaios’ eine Vorstellung
entwickelte, nach der sich die Welt aus fünf kleinsten Polyedern zusammensetzt, die wiederum aus zwei Arten von

171  Harrison, (1992), 287.


172  Platon, (1991), 443ff, (111 b - d)
173  Stein, (1946), 137.
174  Schadewald, (1978), 281.

84  Die Welt als Garten


Dreiecken gebildet werden. Man nennt sie die platonischen Körper.175 - Dies alles wurde von Euklid in einem uni-
versellen Weltbild zusammen gefasst. Die Raumvorstellung, die diesem entspricht, nenne ich den ‚Euklidischen
oder Klassischen Raum’

In einer so aus geometrischen Körpern zusammen gesetzten Welt war der Mensch überzeugt, dass alles messbar,
berechenbar und kontrollierbar ist, und das war die Voraussetzung für die erfolgreiche Entwicklung der abendlän-
dischen Wissenschaft. Aber nicht nur die Erfolge der Wissenschaft faszinieren uns, sondern auch die Ästhetik der
geregelten und wie gesetzmäßig erscheinenden geometrischen Formen. Auch „Kants transzendentale Ästhetik be-
ruht auf der Annahme der universellen Gültigkeit der Euklidischen Geometrie.“ 176

Entwicklungsgeschichtlich ist anzumerken, dass dieses Denken im ‚dunklen Mittelalter’ weit zurück trat. Die mit-
telalterliche Stadt ist mit der antiken Polis nicht zu vergleichen. Der Marktplatz mit der Kirche inmitten der um-
mauerten Stadt und der verwinkelten Gassen unterscheidet sich Grund legend von der griechischen agora, genau
so, wie die Menschen in der engen geistigen Welt der Zünfte und Stände sich von den freien Bürgern Athens
unterscheiden. Erst in der Renaissance gewinnt das ‚klassische Denken’ wieder die Oberhand. Es folgt die Zeit der
Entdeckungen und Erfindungen.

Mit der Entdeckung der Perspektive änderte sich auch die Raumvorstellung des Mittelalters. Die Perspektive fordert
geradezu dazu auf, lange Fluchten von Fensterreihen, Arkaden oder Wegeachsen zu bilden. Die Geometrisierung
setzte sich immer mehr durch, auch in der Gartenkunst; hier allerdings in wechselnder Intensität. Auf den
Renaissance- und den Barockgarten folgte die Auflösung im frühen Landschaftsgarten, die aber – wie wir gesehen
haben - sehr schnell von der Geometrie des Zirkels abgelöst wurde. So ist auch der Landschaftsgarten in dieser
Sichtweise ein klassischer Raum. - Im 20. Jahrhundert traten die Stile im modischen Wechsel auf, oder sie wurden
individuell unterschiedlich angewendet. Heute wird die Gartenkunst wieder stark von der Geometrie beherrscht;
lange Wegeachsen, ‚harte Kanten,’ klassische Klarheit prägen das Bild, und „der Pappeln stolze Geschlechter ziehen
[wieder] in geordnetem Pomp vornehm daher. Regel wird alles und ... alles Bedeutung“ 177

Soweit die historische Entwicklung. Nun komme ich zu einem wesentlichen Thema dieser Arbeit:

5.3 Die Unterscheidung der Räume


In der Theorie der Gartenkunst, die hauptsächlich von Kunsthistorikern bestimmt wird, spielt die Frage des Raumes
als Vorstellung nur eine geringe Rolle. Beschrieben werden in erster Linie formale Beziehungen zur Architektur
oder das Verhältnis zur Malerei also architektonische Gärten oder Landschaftsgärten. Beide gelten als Stile der
Gartenkunst, die mit der freien Natur nichts zu tun haben.

Ich sehe die unterschiedlichen Raumvorstellungen als eine der wichtigsten Fragen der Gartenkunst an. Ich habe die
Lichtung als einen Urraum bezeichnet, denn der Wald ist kein Raum. Erst wenn eine Fläche des Waldes ‚geräumt’
ist, entsteht ein Raum, eine Lichtung. - Viele Flurbezeichnungen mit ‚ruhm’ oder ‚rade’ weisen noch auf diesen
Vorgang hin. - Der Wald ist also konstitutiv für die Lichtung. Und auch wenn der Wald weiter zurück gedrängt wird,
bleibt die Lichtung, und der Wald bleibt deren Grenze. Diese Feststellung ist für meine weiteren Überlegungen sehr
wichtig. – Der Raum dieser Lichtung trägt die Vegetation, von der die Ernährung der Menschheit abhängt; ich habe
ihn deshalb in einer früheren Arbeit auch den ‚Vegetativen Raum’ genannt, abgeleitet von Ortegas ‚Dumpfheit des
Vegetativen.’ Ich verwende im Folgenden die ‚Lichtung’ - in Bezug zum Raum - synonym mit dem ‚Vegetativen
Raum’ - bezogen auf den Inhalt.

175  Timaios, 53a – 56c, in Platon (1991)


176  Metzler, (1989), 229.
177  Schiller: ‚Spaziergang’

Die Welt als Garten  85


Von dieser Lichtung - oder Vegetativen Raum - unterscheide ich nun den Klassischen Raum, so wie er von Ortega
charakterisiert wurde. Wodurch unterscheiden sich diese beiden Räume in ihrem Wesen?

Zunächst zum klassischen, geometrischen Raum: Er wird mathematisch definiert durch drei Achsen: Länge Breite
und Höhe. Durch diese lässt sich jeder Punkt in dem Raum bestimmen. Die Problematik dieser Raumanschauung
lässt sich am besten erklären durch die Betrachtung einer geometrischen, zweidimensionalen Fläche. Auch auf die-
ser können wir jeden Punkt bestimmen, wie wir gelernt haben, durch die X- und Y- Achse. Das funktioniert aber
nur, wenn die Fläche eben ist. Der Mathematiker Matthias Kreck spricht hier von der ‚Glattheitsforderung.’ 178
Nun ist die Erde aber nicht glatt, sondern als Kugeloberfläche gekrümmt und es gibt Berge und Täler. Die Darstellung
als glatte Fläche, als Landkarte gelang in befriedigender Weise erst dem berühmten Mathematiker Carl Friedrich
Gauß. Und in der Gartenkunst löste man das Problem, indem man die unebenen Flächen planierte und in Terrassen
umformte. Heute ist dieses Prinzip wieder modern; Hügel werden geometrisch geformt und Flächen in ‚Schollen’
aufgebrochen, mit dem Unterschied, dass statt des rechten Winkels überwiegend spitze Winkel das Bild bestimmen.

Die Glattheitsforderung gilt nach Kreck auch für den dreidimensionalen. nicht gekrümmten Raum. Dieser geo-
metrische Raum unterscheidet sich wesentlich von dem Vegetativen Raum und der ‚physis’. Eine Pflanze ist nicht
geometrisch zu beschreiben. Die Vegetation folgt zwar physikalischen Gesetzen wie Schwerkraft und Licht, aber
geometrische Formen spielen bei ihr keine Rolle. – Nur der Wald wurde vorübergehend, etwa ein gutes Jahrhundert
lang, der Geometrie unterworfen. Als die Forstwissenschaft den Waldbau rationalisierte, teilte sie den Wald in recht-
eckige Jagen ein, um die Bäume besser zählen zu können. Der Wald wurde zu einem „Buch mit Zahlen“, wie mir
einmal ein älterer Vermessungstechniker sagte, empört, weil ich einen Wanderweg, unabhängig von den Jagen,
durch einen Hamburger Wald plante. – Auch die in dieser Zeit praktizierte Monokultur im Wald hängt sicher mit
dieser materialistischen Haltung zusammen. – Dieser vorübergehende Irrweg im Waldbau ist nicht zu vergleichen
mit dem Ackerbau, dessen Formen sich über Jahrtausende entwickelten, wie ich dargestellt habe.

Für die Unterscheidung der Räume sehe ich noch ein weiteres Kriterium: die Zeit: Die Lichtung ist zeitlos. Selbst
wenn sie immer größer wird, verändert sie nicht ihren Charakter; die Vegetation wächst seit ewigen Zeiten im
Rhythmus der vier Jahreszeiten. Entsprechend verändern sich auch die Behausungen der Landleute nicht in ih-
rer Struktur. Sie unterliegen keiner Stilwandlung, sondern sind nur zweckmäßig in Bezug auf unterschiedliche
Klimabedingungen und Bewirtschaftungsformen. Der Klassische Raum dagegen ist zeitlich. Das Weltbild, die
Gesellschaftsformen, die Baustile verändern sich in der Zeit. Und selbst wenn man das Wachsen der Vegetation
oder das Werden und Vergehen des Lebens als zeitlich sehen will, unterscheidet es sich durch seine Irreversibilität
von der Reversibilität des Klassischen Raumes oder - wie man in diesem Fall sagen kann - der rationalen Welt der
Wissenschaft und Technik.

Ein weiteres Kriterium ist das für diese Betrachtung Entscheidende: In der Lichtung ist kein Innenraum von ei-
nem Außenraum zu unterscheiden, denn der Wald ist ja kein Raum. Dagegen ist für den Klassischen Raum die
Trennung von Innen- und Außenraum konstitutiv, so wie Ortega es beschrieben hat. Es ergeben sich nun die
Unterscheidungen:

Lebensraum
Lichtung, Vegetat. Raum Klassischer Raum

und

178  Kreck, (2001)

86  Die Welt als Garten


Klassischer Raum
Innenraum Außenraum

Wenn man diese beiden Unterscheidungen vergleicht, kann der Eindruck entstehen, dass die Lichtung zweimal
als Teil einer Unterscheidung erscheint. Das ist der Fall, wenn man die Lichtung als ‚Objekt’ betrachtet. Deshalb ist
immer wieder an die ‚Laws of Form’ zu erinnern, in denen es nicht um Objekte sondern um Beobachtungen geht.
Die Lichtung im Kontext ‚Lebensraum’ ist in der Beobachtung nicht identisch mit dem Außenraum im Kontext
‚Klassischer Raum.’

Diese Unterscheidung des vegetativen vom klassischen Raum ist schwer zu verstehen. Sie ist – was paradox er-
scheint – überhaupt nicht räumlich zu sehen, sondern nur gedanklich oder erkenntnismäßig. Das heißt, im vege-
tativen Raum sind die euklidischen Gesetze aufgehoben. Er ist bestimmt durch die stochastischen und irreversiblen
Vorgänge des Wachsens. Als vegetativer Raum enthält die Lichtung die Ernährungsgrundlage der Menschen, Äcker,
Wiesen und Gärten, aber auch das, was man bisher Ödland genannt hat. Im allgemeinen Bewusstsein ist dies alles
immer noch ‚die Natur,’ und diese besteht insgesamt aus ‚physis und techne.’ Neu ist das Bewusstsein, dass unsere
Handlungsmaxime verantwortlich vom ‚Tun und Lassen’ gesteuert sein muss. Darin sind alle ‚Naturen,’ die ‚freie,’
‚angeeignete’ und so weiter enthalten. In diesem Bewusstsein können die Ideen Naturschutz und ‚Welt als Garten’
vereint werden.

5.4 Die besondere Bedeutung des Waldes


Zur Lichtung gehört immer der Wald, auch wenn dieser in weiten Bereichen nur noch sporadisch vorhanden ist.
Eine waldlose Landschaft nennen wir Steppe. Der Wald ist immer die ideelle Begrenzung der Lichtung. Wichtig ist,
sich die Beschaffenheit dieser Grenze vorzustellen: Den Waldrand als geometrische Linie, als scharfe Trennung zwi-
schen Acker und Wald gibt es erst seit relativ kurzer Zeit. Über Jahrtausende war der Übergang von der Lichtung zum
Wald so, wie ich ihn oben als Hutewald beschrieben habe. (s. Abb. 2/1) Im kollektiven Gedächtnis der Menschen hat
sich dies manifestiert als Urbild des heutigen Landschaftsparks. Diese nüchterne Tatsache gilt es zu beachten, wenn
weiter unten die Beziehung zwischen Gartenkunst und Bildender Kunst untersucht wird.

Der Wald behält auch – zumindest für den mitteleuropäischen Menschen – seinen geheimnisvollen Zauber, den
Schiller so eindrucksvoll beschreibt, wenn er auf seinem Spaziergang aus der freien Landschaft in den Wald tritt:

Mich umfängt ambrosische Nacht: in duftende Kühlung nimmt ein prächtiges Dach schattender
Buchen mich ein,

In des Waldes Geheimnis entflieht mir auf einmal die Landschaft, ...

Auch in anderer Hinsicht hat der Wald seinen ursprünglichen Charakter nicht verändert: Er ist im gewissen
Sinne ‚Locus nemisis,’ ‚Niemandsland’ geblieben: Alle Wälder - auch Privatwälder - sind bis heute mit großer
Selbstverständlichkeit und per Gesetz öffentlich zugänglich.

Ich insistiere hier so auf die Bedeutung des Waldes, weil dieser in der Profession bisher nur eine geringe Beachtung
gefunden hat: ‚Wald ist Sache der Förster.’ Das gilt auch besonders für den Naturschutz. Mir ist kein Fall bekannt,
in dem im Zuge der Eingriffsregelung eine Aufforstung als Ersatzmaßnahme gefordert wurde. Nur der Urwald ist
seit einiger Zeit in Deutschland interessant geworden, aber mit der Folge, dass er ‚Besitz’ der Wissenschaft und
Naturschutzverbände wurde und kein ‚Niemandsland’ mehr ist; der Mensch ist in ihm nicht erwünscht, höchstens
unter bestimmten Bedingungen. In der ‚Welt als Garten’ muss der Wald eine Schlüsselrolle spielen.

Die Welt als Garten  87


Ein Indiz für die Beliebtheit des gelichteten Waldes als Wohnort sind die Grundstückspreise am Rande der Städte.
Am teuersten – zum Beispiel in Hamburg – sind die Grundstücke in den Walddörfern und besonders die an einem
Waldrand mit ‚unverbaubarem Ausblick’ auf eine Wiesenlandschaft oder ein Gewässer. Noch beliebter sind nur
die Grundstücke am Elbhang mit Blick auf das Urstromtal. Der Grund hierfür ist – nach Küster - eine andere rudi-
mentäre archaische Prägung: Die Rentierjäger nach der Eiszeit mussten, um Beute machen zu können, die Herden
„von oben her, das heißt von Hügeln und Bergen aus, beobachten.“ 179 – Es ist wohl unbestritten, dass alle diese
kollektiven Prägungen in der Landschaftsplanung zu berücksichtigen sind. Das ist aber heute mit Schwierigkeiten
und Problemen belastet.

5.5 Die Auflösung des Klassischen Raumes


In der Einleitung habe ich die Probleme der Profession erörtert, die sich aus der Auflösung der Stadtgrenzen erge-
ben haben und die mit Begriffen, wie ‚Zersiedelung der Landschaft’ oder ‚Siedlungsbrei’ beschrieben werden. Das
Ergebnis dieser Entwicklung wird von einigen Autoren als „Landschaft Drei“ oder auch als „Totale Landschaft“
bezeichnet. In der Realität ist aber „das Bild der Stadt, das in unseren Köpfen spukt, [immer noch] ein mittelalter-
liches: die Stadt als ... ein geschlossenes System mit einem harten Rand ... . In dieser Vorstellung hat die moderne
Stadtlandschaft noch keinen Platz gefunden.“ 180 (Tatsächlich ist der „Harte Rand“ immer noch einer der häufigsten
Topoi in Erläuterungsberichten städtebaulicher und freiraumplanerischer Wettbewerbe.) -

Die Unterscheidung des Klassischen vom Vegetativen Raum ist auch eine geographische Frage. Klärung bringen
hier neue theoretische Erkenntnisse. So die Untersuchungen an der Universität Stuttgart „über fraktale Gesetze im
Stadtwachstum181 und die Theorie von Thomas Sieverts von der „Zwischenstadt.“ 182

5.5.1 Die fraktale Dimension

Von Humpert et al wurde die Struktur von 60 Metropolen untersucht. In der abstrakten Darstellung so genannter
Schwarzpläne zeigte sich, „dass sich diese Ballungsräume weltweit ähneln.“ Besonders die europäischen Metropolen
glichen sich in der „gleichmäßigen Zerfransung ihrer Ränder.“ Es zeigte sich, dass das Verhältnis der Länge der
Siedlungsränder zu den Siedlungsflächen immer annähernd gleich ist, das heißt, je größer die Fläche, um so länger
werden die Ränder, weil „diese Siedlungskörper immer mehr Rand produzieren. Die Abhängigkeit von Randlänge
und Fläche deutet auf fraktale Strukturen hin.“ 183

Das bedeutet auch, dass die Randdistanzen, das heißt die Entfernung der Siedlungsmitte von ihrem Rand sich nicht
signifikant unterscheiden, „und dass Ballungsräume – unabhängig von ihrer Größe und ihrer Lage – eine durch-
schnittliche maximale Randdistanz von 3,4 Kilometer aufweisen.“ 184

Besonders für die „verstädterten Zonen Europas“ gilt: „je entwickelter eine Stadt ist, desto differenzierter ist der
Aufbau der Größenkategorien, desto stärker ist sie also partikularisiert: neben dem großen Hauptzentrum gibt es
mittelgroße und kleinere Siedlungspartikel.“ 185

179  Küster (1995), 54.


180  Humpert et al, (1996), 6.
181  Ebd.
182  Sieverts, (1999).
183  Humpert et al, (1996), 8.
184  ebd., 8f
185  ebd., 9

88  Die Welt als Garten


Das alles zeigt „eine noch wenig bekannte Eigenschaft des Phänomens Stadt: die offene Stadtlandschaft besitzt eine
Tendenz zum fraktalen Wachstum. ... Das Streben nach ‚Entdichten’ ist größer als nach ‚Verdichten.’ Es gibt eine
durchgängige Gesetzmäßigkeit: je größer die Siedlungskörper, umso zerklüfteter werden sie.“ Und es besteht eine
„formale Ähnlichkeit der Ballungsräume: Die ‚Löcherbildung’ so wie das ‚Randbilden’ treten bei zunehmender
Dichte im Verstädterungsprozess in allen Kulturen und Kontinenten auf. ... Die fraktale Formbildung von städti-
schen Ballungsräumen [ist] vor allem das Ergebnis anthropologischer Grundmuster.“ 186

Die Forscher kommen zu der Erkenntnis, dass gerade die Siedlungsränder eine deutliche Präferenz haben. Deshalb
„sollten wir in großen Agglomerationen die Verteilung, Zerfransung und Verinselung positiv bewerten. Ein zerklüf-
teter Siedlungsraum besitzt viele Randlagen – und damit auch viele hochqualifizierte Standorte. Hier [muss] ein
Umdenken ... stattfinden. Der Rand darf nicht weiter das Privileg einiger weniger bleiben.“ 187

5.5.2 Die Zwischenstadt

Zu einer ähnlichen, positiven Einstellung zur gegenwärtigen städtebaulichen Situation kommt Thomas Sieverts.
Auch er stellt fest, „dass ‚Stadt’ der Neuzeit auf der ganzen Welt auf ihr Umland ausgreift und dabei eigene Formen ei-
ner verstädterten Landschaft oder einer verlandschafteten Stadt ausbildet.“ Er nennt diese Gebilde „Zwischenstädte.“
„Sie breiten sich in großen Feldern aus, sie haben sowohl städtische wie landschaftliche Eigenschaften. Diese
Zwischenstadt steht zwischen ... der auch als Mythos noch sehr wirksamen Alten Stadt und der ebenfalls noch tief
in unseren Träumen verankerten Alten Kulturlandschaft.“ 188

Sieverts bezieht sich explizit auf die Forschungen der Stuttgarter Wissenschaftler, aber er geht über deren abstrak-
te und einseitige Betrachtung der Siedlungsflächen hinaus und kommt mit der Einbeziehung der Landschaft und
deren Unterscheidung von den Bauflächen zu einer ganzheitlichen Betrachtung. Diese Unterscheidung bringt ihm
aber auch einige kritische Bemerkungen Prominskis ein. Dieser lässt sie nicht gelten, weil – wie wir oben gesehen
haben – in seiner ‚Totalen Landschaft’ kein Raum für derartige Unterscheidungen ist. Die Bedeutung von Sieverts
‚Zwischenstadt’ ist aber so immens, dass es sich lohnt, sie näher zu betrachten und vermeintliche Widersprüche zu
klären. Ich wende wieder die Operation der Unterscheidung an. Dabei hebe ich die Begriffe im Text hervor, die auf
eine Unterscheidung hinweisen oder besonders wichtig sind. – Ich zitiere:

In allen Zwischenstädten haben sich kennzeichnende Muster der Durchdringung von Freiräumen und
Bebauung herausgebildet. ... Es ist die Suche nach der Vereinbarung der Gegensätze einer Teilhabe ...
am Stadtleben und der Teilhabe an der Natur. ...Dieses wird ... von unzähligen Bauherren in der tägli-
chen Praxis immer wieder betrieben und führt zu einer Maximierung der Randlänge zwischen Bebauung
und Freiraum. Die auch ökologisch besonders interessanten Grenzbereiche ... haben in den letzten
Jahren das Interesse der ‚Fraktalforscher’ gefunden, die versucht haben, diese Wachstumsprozesse der
Stadt mathematisch abzubilden, mit durchaus zum Nachdenken anregenden Ergebnissen: Sie zeigen,
... wie ‚selbstähnlich’ z.T. die Entwicklungen auf unterschiedlichen Maßstabsebenen in der fein-
maschigen Durchdringung von Bebauung und Freiraum erscheinen.189 (Hvh. A.S.)

Die erste Unterscheidung ist also die von Freiraum und Bebauung im Kontext der Zwischenstadt:

186  ebd., 12
187  ebd., 13
188  Sieverts, (1999), 14.
189  ebd., 18f

Die Welt als Garten  89


Zwischenstadt
Freiraum Bebauung

Diese Unterscheidung ist noch sehr abstrakt: ‚Bebauung’ meint alles Gebaute im üblichen Sinne und nicht etwa den
Anbau von Gemüse oder Getreide. Und ‚Freiraum’ ist das Unbebaute. Eine ganz wichtige Aussage ist, dass diese bei-
den Zustände in allen Maßstabsebenen „selbstähnlich“ sind und sich „feinmaschig durchdringen“. Durchdringen
heißt nicht Vermischen! Hier gilt der Grundsatz der Differenztheorie: die Unterscheidung bleibt bestehen; vom
großen Siedlungskomplex bis zum kleinsten Hausgarten ist die Bebauung von dem Freiraum zu unterscheiden.
Die fraktale Grenze ist nicht nach den Gesetzen der euklidischen Geometrie zu beschreiben, da sie sich immer
feiner ‚selbstähnlich’ auflöst. Dennoch ist sie eine Grenze im Sinne Spencer-Browns, in der immer nur eine Seite
zur Zeit beobachtet werden kann. Und dies korrespondiert wiederum mit der oben entwickelten Unterscheidung
zwischen klassischem und vegetativen Raum; der klassische Raum wird quasi ‚aufgelöst.’ Dies ist der entscheidende
Unterschied zur ‚Totalen Landschaft’

Sieverts erläutert sein Konzept weiter:

Die Zwischenstadt kann eine beliebige Vielfalt von Siedlungs- und Bebauungsformen entwickeln, so-
lange sie insgesamt in ihrem Erschließungsnetz erlebbar und vor allem wie ein ‚Archipel’ in das
‚Meer’ einer zusammenhängend erlebbaren Landschaft eingebettet bleibt: Die Landschaft muss
zu dem eigentlichen Bindeelement der Zwischenstadt werden, ... der Freiraum [ist] immer als unver-
zichtbarer komplementärer Bestandteil jeglicher Art von Stadt zu betrachten, auch dort, wo sich
sein Charakter von der existenziell erforderlichen Ernährungsbasis zur ökologischen Ausgleichsfläche
und zum Erholungsraum gewandelt hat.190 (Hvh. A.S.)

Mit der Einführung des Landschaftsbegriffs bietet Sieverts nun eine Angriffsfläche der Kritik: Prominski sieht die
‚Landschaft’ bei Sieverts „fast bis zur Unkenntlichkeit“ verwischt, weil er sie „einmal als ‚Land’, ein anderes mal als
‚Natur’, ‚Freiraum’ oder ‚Kulturlandschaft’ [versteht], „was zu vielen Unklarheiten führt“ 191 - Wenn man dieses
Missverständnis klären will, muss man den Begriff ‚Landschaft’ von allen Konnotationen – vor allem den kunsthi-
storischen, wie ‚Arkadien’ oder ‚Alte Kulturlandschaft’ und so weiter – befreien und versuchen zu verstehen, in wel-
chem Sinne Sieverts diesen Begriff gebraucht. (Nach Wittgenstein bestimmt der Gebrauch den Sinn eines Wortes.)
– Ich verstehe Sieverts ‚Landschaft’ im Sinne der Begriffe, die ich oben angeführt habe: ‚Lichtung’, ‚Urraum’ und
‚Vegetativer Raum’. Ein Hauptkriterium einer so verstandenen Landschaft ist, dass eine Fläche mit Vegetation be-
deckt ist. Ein befestigter Platz ist keine Landschaft; die „Stadtlandschaft“ verliert ihren Sinn. So sind auch Sieverts
weiteren Ausführungen zu verstehen:

Es geht ... um eine möglichst verträgliche Einfügung der Stadt in die Naturkreisläufe. Ökologie ist mit
Recht zu dem übergreifenden Leitbegriff der Stadtentwicklung geworden, ...

Zwischen Landschaft und Stadt [besteht] das ökologische und kulturelle Kontinuum einer gebau-
ten Struktur. Diese ‚Cultura’ in der ursprünglichen lateinischen Bedeutung des Be- und Gebauten,
stellt sich z.B. als agrar-ökonomisch optimierte Feldflur, als Glashaus-Kultur, als Schrebergartenanlage,
als altes Einfamilienhausgebiet mit großen Grundstücken, als Siedlungskolonie, als ... mit grünen
Höfen ausgestattetes Stadtviertel des 19. Jahrhunderts und ebenso auch Hochhausquartier mit grünen
Dächern dar. Jedes dieser Strukturelemente, und nicht nur die von Gebäuden freien Bereiche, müssten

190  ebd., 20.


191  Prominski, (2004), 66.

90  Die Welt als Garten


nach dieser Auffassung ihren Beitrag als Cultura ebenso zur Erhaltung sozio-ökonomischen wie auch
unserer natürlichen Lebensgrundlage bieten.192 (Hvh. A.S.)

Auch hier könnte der Begriff ‚Cultura’ als ‚Be- und Gebautes’ missverstanden werden. ‚Cultura’ heißt Anbau im
Sinne von ‚Landwirtschaft’ und nicht ‚Gebautes’ im Sinne von ‚architektura’. Gemeint ist aber offensichtlich – wie
oben - die ökologische Durchdringung der Stadtarchitektur mit Vegetation.

Sieverts entwickelt in seiner Theorie ein umfassendes Modell von der Entwicklung der Zwischenstadt in architekto-
nischer, ökologischer und soziologischer Hinsicht, von denen ich nur einige Passagen zitiere, die für die Gartenkunst
relevant sind:

Stadt und Landschaft werden eine neue Symbiose eingehen müssen, polarisiert zwischen biotechni-
schen Anlagen in der Stadt und neuen Wildnissen in der Landschaft. Stadtökologie wird sich dabei
wandeln von einer vorwiegend der Analyse und dem Schutz vorhandener Landschaftsreste dienender
Wissenschaft zu einer Disziplin, die neue Formen von Stadt-Kulturlandschaften aktiv entwickelt.193

...

[Die] Entwurfsmethode [für die Zwischenstadt, A.S.] versucht eine Synthese aus Kernen stabi-
ler Permanenz und weiten Feldern weitgehender Unbestimmtheit. Unbestimmtheit bedeutet
aber nicht gestalterische Neutralität, sondern eine atmosphärisch gestimmte, durch Spielregeln be-
stimmte und durch den Grad an ‚Natürlichkeit’ beziehungsweise ‚Künstlichkeit’ definierte und ein-
gegrenzte Entwicklungsoffenheit. ... Das Entwerfen mit ‚Natur und Zeit’ überlagert die vorgenannten
Entwurfansätze.

Insbesondere im entwerferischen Umgang mit von der Natur überwucherten Industriebrachen wird
praktisch erfahren, dass es den alten Gegensatz zwischen Kultur und Natur nicht mehr gibt, und dass
der Kreislauf vom Bauen über Nutzungen zu Brachen sich vielfach auf nur ein bis zwei Generationen
verkürzt hat. Derartige Erfahrungen führen zu Experimenten in der Entwicklung von Baugebieten,
die zugleich hochwertige Biotope sind, in denen die Landschaft gebaut und das Gebaute Anteile von
Landschaftsqualitäten hat – als ein Kontinuum von technisch kontrollierten Naturanteilen bis zu weit-
gehend der Natur ‚frei’ überlassenen Bereichen. Der alte Gegensatz von Technik und Natur wird ‚auf-
gehoben’ in einem Dritten, das beide Qualitäten hat. [Und das ist nicht die ‚Totale Landschaft,’ sondern
die ‚Form der Unterscheidung mit zwei Seiten:’ physis und techne. A.S.]

Die Erfahrung mit Stadtbrachen und das Denken in unterschiedlichen Naturanteilen einer gebauten
Stadtwelt führen von selbst zum Denken in zeitlichen Veränderungen in Form von zeitlichen Zäsuren
und Kreisläufen. Diese Denkfiguren umfassen gleichermaßen das Denken in kulturellen und öko-
nomischen Nutzungszyklen, wie in Dimensionen einer Entwicklungsökologie, in der auch durch das
Bauen neue ökologische Chancen für Artenvielfalt geschaffen werden. Die noch unserer Gesetzgebung
zugrunde liegende Dichotomie von ‚Bösen Bauen’ und ‚Guter Natur’ wird tendenziell aufgehoben, als
ein Schritt in Richtung auf eine symbiotische Stadt.194

Anzumerken ist, dass „Ökologie“ in dieser Landschaft im weitesten Sinne zu verstehen ist. In ihr hat eine
Ruderalfläche genau so eine Berechtigung, wie eine Gartenschau.

192  Sieverts, (1999), 50, 53.


193  Ebd., 55
194  ebd., 189.

Die Welt als Garten  91


Ich halte diese Theorie von Sieverts für außerordentlich wichtig. Sie ist die unbedingte Voraussetzung auch für
die Gartenkunst, wenn die Idee der ‚Welt als Garten’ verwirklicht werden soll. Es ist nicht gerade schmeichelhaft
für unsere Profession, dass eine derartige - auch für die Landschaftskunst - grundlegende Theorie - von einem
Städteplaner entwickelt - unter Gartentheoretikern keine positive Resonanz findet.

5.6 Die neue Raumidee


So haben uns also Humpert et al und Sieverts die neue Struktur unserer Lebenswelt bewusst gemacht. Den ‚klas-
sischen Raum,’ die alte Stadt, die mit ‚harten Kanten’ gegen die Landschaft abgegrenzt war, gibt es nicht mehr. Die
neue Stadt nach der industriellen Revolution hat sich aufgelöst in einen „Archipel im Meer der Landschaft,“ eine
Inselwelt im vegetativen Raum. Der vegetative Raum war ursprünglich, wie oben dargestellt, eine Lichtung im
Wald. Der Wald ist in weiten Bereichen zurück gedrängt worden; Lichtungen mit einem Siedlungskern sind nur
noch selten vorhanden, zum Beispiel im Schwarzwald, wie man über Google Earth sehen kann.

Abb. 5/1, 5/2 Lichtungen im Schwarzwald

Aber auch die verstreuten, mehr oder weniger umfangreichen Waldreste sind – topologisch gesehen – Grenzen
des vegetativen Raumes; selbst eine einzelne Baumgruppe hat noch diese Funktion. Erst die völlig ‚ausgeräumte’
Landschaft wird zur Steppe.

Verändert hat sich nach dem Ende der Waldweide seit dem 18. Jahrhundert nur der fraktale Charakter der Grenze
zwischen Acker und Wald. Es entstand ein fester Waldrand. In der Gefühlswelt der modernen Mitteleuropäer –
zumindest der meisten – ist der Wald aber noch immer ‚das Andere’ des freien Feldes, was Schiller so knapp und
eindrucksvoll im ‚Spaziergang’ ausgedrückt hat.

Die andere Grenze des vegetativen Raumes ist die Bebauung, die Stadt. Das völlig neue dieser Grenze ist ihr verän-
derter geometrischer Charakter, als Folge des fraktalen Wachstums. Diese Grenze ist nicht mehr linear zu beschrei-
ben, also als eine eindimensionale Linie, die eine zweidimensionale Fläche begrenzt, sondern ihre Dimension ist
‚gebrochen,’ ‚fraktal.’ Das heißt, ihre Formen sind vom mikroskopischen bis zum makroskopischen Bereich selb-
stähnlich.

Friedrich Cramer zeigt als ein Beispiel die ‚Kochschen Kurven’ an denen die Selbstähnlichkeit besonders deutlich
wird.195

195  Cramer,(1989), 172ff

92  Die Welt als Garten


Abb. 5/3 „Kochsche Kurven“

Ein anderes Beispiel, das oft angeführt wird, ist die Meeresküste, deren Buchten im Mikrobereich bis auf die
Sandkörner ‚herabgerechnet’ werden können. – Auch der Aufbau eines Baumes ist fraktal; die Selbstähnlichkeit
seines Geästes ist schon vom Wachstum her zu erkennen. Die fraktale Struktur des vegetativen Raumes ist vom
makro- bis zum mikroskopischem Bereich zu verfolgen von den großen Flächen zwischen den Stadtteilen und
Siedlungen über Grünzüge, die sich immer mehr verästeln, bis zu den Freiflächen an den Gebäuden. Auch die
‚Löcher’ in der Stadt, die Parks, gehören zu den fraktalen Formen.

Es ist beachtlich, dass Hermann Mattern schon 1957 diese Idee der fraktalen Stadtgrenze darstellte mit seiner „Stadt
von morgen“ auf der Interbau Berlin.

Abb. 5/4 Fraktale Stadtplanung

An den Gebäudegrenzen endet aber zunächst die ‚feinmaschige Durchdringung von Bebauung und Freiraum.’ Doch
auch diese Grenzen zwischen Gebäude und Freiraum sind keine ‚harten Kanten,’ sondern auch sie haben im letz-
ten Jahrhundert einen Grund legenden Wandel erfahren, der zum ‚Raumkontinuum’ und zum ‚Fließenden Raum’
führte. Ihr Charakter und ihre Ausbildung sind eines der Kernthemen der modernen Architektur und Gartenkunst.

Die Welt als Garten  93


Dieser Wandel ist genau so revolutionär und tief greifend wie die Auflösung der Stadt. Er rührt an tiefste Schichten
des kollektiven und individuellen Unbewussten, und entsprechend unklar und wechselvoll ist sein Verlauf. Dieser
Wandel ist aber nicht monokausal zu beschreiben. Ich werde deshalb die Entwicklung der Raumvorstellung und des
Raumgefühls unter verschiedenen Gesichtspunkten untersuchen.

5.6.1 Der Urwohnraum, die Höhle

Ich habe die Lichtung als den Urraum bezeichnet. Der Urwohnraum ist die Höhle, die den ersten Menschen Schutz
vor Wetter und wilden Tieren bot. Wo keine Höhlen vorhanden waren, mussten sie durch Bauten ersetzt werden,
die sich aber von innen aus gesehen, nicht sehr von den Höhlen unterschieden. Solange es kein Fensterglas gab,
mussten die Öffnungen auf das Nötigste beschränkt sein; Licht kam wenig hinein.

Diese Raumform bestand bis in die Neuzeit. Ein Musterbeispiel dieses Typus ist die Villa ‚Rotonda,’ die wie „kein ande-
rer Villenbau Palladios ... in gleichem Maße die Bewunderung von Zeitgenossen und nachfolgenden Generationen
gefunden“ hat. Bei Manfred Wundram und Thomas Pape lesen wir über sie:

Von jeder Seite führt ein schmaler tonnengewölbter Gang in ein über kreisförmigen Grundriss errich-
teten Innenraum. ... Ohne jedes direkte Licht bleibt der Raum dunkel, notwendigerweise ziehen die
fast schachtartigen Korridore auf allen vier Seiten den Blick nach außen, in Richtung des Lichtes“ 196

Die Gänge führen auf Säulenportiken, (‚überdachte Sitzplätze’) von denen man einen Ausblick auf „die lieblich-
sten Hügel“ hat, wie „in ein riesiges Theater.“ (Palladio) – Die Autoren sehen hierin eine „enge Verschmelzung, ja
Durchdringung von Landschaft und Architektur.“ Mir scheint aber eher der Vergleich des Hauses mit einer Höhle
gerechtfertigt, aus der man ins Freie hinaustritt, zumal man erst zwanzig Stufen herabsteigen muss, um in die
Landschaft zu gelangen.

Abb. 5/5 Palladio-Villa

Palladios Werke waren stilbildend, so dass man von einem Palladianismus spricht. Besonderen Einfluss hatte er auf
die Bauten in den englischen Gärten.

Es geht also zunächst um die Belichtung der Wohnungen, und die ist tatsächlich von der Entwicklung der
Glasscheiben abhängig. Zuerst gab es nur die Butzenscheiben und danach lange Zeit nur kleine Formate, sodass die
Fenster mit vielen Sprossen unterteilt werden mussten. Erst die fortschreitende Technik der Glasherstellung ermög-
lichte große Fensterscheiben, die den freien Blick in die Landschaft ermöglichten; sie war die Voraussetzung aber
nicht die Ursache der neuen Raumidee.

196  Wundram, Manfred, Thomas Pape, (1988), 195.

94  Die Welt als Garten


5.6.2 Das Raum-Zeit-Kontinuum

Einen wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung der Raumidee in der Architektur hatte die Relativitätstheorie
Einsteins. So veröffentlichte „der russische Konstruktivist El Lissitzky ... 1925 einen umfangreichen Essay, der die
Ergebnisse seiner Auseinandersetzung mit Einsteins Relativitätstheorie zusammenfasste.“ 197 Lissitzky stand in
enger Verbindung mit anderen Künstlern und Architekten, so dass die Idee des Raum-Zeit-Kontinuums intensiv im
Archtekturdiskurs behandelt wurde. Einstein lehnte diese Vergleiche kategorisch ab. Aber in Wirklichkeit ging es
den Künstlern auch nicht um die physikalischen Gegebenheiten, sondern um eine Metapher für den architektoni-
schen Raum. Es ging um die Erkenntnis, dass die Raumvorstellung der modernen Architektur nur als Bewegung,
also als zeitlicher Ablauf zu beschreiben ist.198

Sigfried Giedion, der ein Protagonist dieser Entwicklung war, stellt sie so dar:

Um 1910 wurde man sich ... bewusst, dass die Ausdrucksmittel des Malers den Kontakt mit dem mo-
dernen Leben verloren hatten. Es war Paris, wo daraus folgende Bestrebungen – mit dem Kubismus
– erstmals ein sichtbares Resultat erreichten. Die Methode, räumliche Beziehungen darzustellen, wie
sie die Kubisten entwickelt hatten, führte zu plastischen Methoden der neuen Raumkonzeption. ...

Die vier Jahrhunderte alte Geflogenheit, die Außenwelt mit den Augen der Renaissance zu sehen, das
heißt in ihrer Dreidimensionalität, war so tief im menschlichen Geist verwurzelt, dass sie keine andere
Form der Perzeption zuließ. ...

Der dreidimensionale Raum ist der Raum der euklidischen Geometrie. ... Um die wahre Natur des
Raumes zu erfassen, muß der Beschauer sich selbst in ihm bewegen. In den eisernen Wendeltreppen
des Eiffelturmes ist wohl zuerst rein körperlich das Erlebnis einer Durchdringung von Außen- und
Innenraum möglich gewesen.199

Eine ‚Vorahnung’ des Raum-Zeit-Kontinuums hatte schon Novalis: er statuierte im „Allgemeinen Brouillon“ dass
„Zeit und Raum ( ) zugleich (entstehen) und ( ) also wohl Eins (sind). ... Raum ist beharrliche Zeit – Zeit ist fließen-
der, variabler Raum – Raum - Basis alles Beharrlichen – Zeit – Basis alles Veränderlichen.“ 200

Und schon in Bezug auf den Landschaftsgarten ist fest zu stellen, dass er nur im Durchschreiten, also im zeitlichen
Ablauf räumlich zu erfassen ist.

5.6.3 Der Konstruktivismus in der neuen Architektur

Wichtige theoretische Grundlagen der modernen Architektur entwickelte der holländische Maler und Architekt
Theo van Doesburg. Er „war mit einer besonderen Fähigkeit begabt, neue Entwicklungen bereits im Keim zu er-
kennen, zu assimilieren und zu radikalisieren. ... [Er] strebte eine Synthese von Kunst und Leben an, ein Ziel, das er
mit einer Reihe seiner Zeitgenossen teilte, darunter den Ungarn Lásló Maholy-Nagy, ... und den Russen Lissitzky.“

197  Müller, (2004), 4


198  Ich beschreibe hier so ausführlich die Entwicklung der neuen Raumidee und den Einfluss, den bildende
Künstler darauf hatten, weil deren Werke heute in rein formalistischer Weise als Vorbilder in der Gartenkunst die-
nen: Ein Fehlschluss, der noch näher zu erörtern ist.
199  Giedeon, (1965).
200  Müller, (2004), 98.

Die Welt als Garten  95


Eine enge Beziehung bestand auch zu Mondrian. Die Malerei war ein Ausgangspunkt für seine Entwicklung des
Architektonischen, auch das „Schwarze Quadrat“ Malewitschs beeinflusste ihn. Die Architekturformen, die er
mit dem Architekten van Eesteren entwickelte, setzten sich aus elementaren geometrischen Körpern, wie Kuben,
Quadern und Scheiben zusammen. Diese Architekturform nannte van Doesburg „Konstruktivismus.“ 201

Daraus ist eine Verbindung zu Gropius abzuleiten. Dieser setzte bei der Planung von Serienhäusern ebenfalls ty-
pisierte geometrische Körper ein. Auch die berühmten Meisterhäuser in Dessau und das Haus Auerbach sind nach
diesem Formprinzip gebaut. Zwar schrieb Gropius über das Bauhaus-Gebäude:

Diese Transparenz sucht die Vorstellung eines fließenden Raumkontinuums zu erzeugen. Das Gebäude
scheint zu schweben und der Raum hindurchzuströmen. Ausschnitte des unendlichen Außenraumes
werden einbezogen in die architektonische Raumkomposition, die in die Umgebung hinausgreift. Der
Raum selbst scheint sich zu bewegen.202

Aber tatsächlich wirken diese Gebäude trotz der teilweise großen Fenster doch noch sehr geschlossen: ‚kubistisch.’

Ähnlich ist die Raumvorstellung Corbusiers zu sehen. Seine Villa Savoye zum Beispiel steht auf Säulen, vom
Boden abgehoben. Der Dachgarten ist ummauert und nur ein relativ kleines Fenster ermöglicht einen Blick auf die
Landschaft.

Ein besonderes Phänomen dieser frühen Entwicklung in der Architektur ist gekennzeichnet durch deren Verbindung
mit der Malerei. Die ist schon dadurch gegeben, dass van Doesburg wie auch Corbusiers Architekten und Maler
waren. Die Idee besonders van Doesburgs war, in der Malerei und Architektur alle Formen auf einfache geome-
trische Strukturen zu reduzieren und dadurch zu einem Gesamtkunstwerk zu kommen. Die Funktion und die
Raumwirkung der Architektur standen nicht im Mittelpunkt des Interesses.

5.6.4 Der fließende Raum

Die Verwirklichung der Idee des fließenden Raumes ist Mies van der Rohe zuzuschreiben. Ullrich Müller schreibt
dazu:

Mit dem Entwurf des Landhauses in Backstein von 1923/24 konzipierte Mies van der Rohe erstmals
ein Bauwerk, dessen Raumgefüge aus der freien Disposition gliedernder Wandscheiben entstand, mit
dem bezwingenden Ergebnis, dass der entwickelte offene Grundriss das herkömmliche Prinzip der
allseitig umschlossenen Raumeinheiten überwand. Die Wohnräume des Landhauses, durch asymme-
trisch organisierte Mauerabschnitte unterschiedlicher Länge gefasst, durchdringen sich wechselseitig
und öffnen sich zum Außenraum durch raumhohe Glaswände. Zentrifugale Mauerzüge, die sich aus
der rechtwinkeligen Struktur des Baukomplexes lösen und in drei Himmelsrichtungen streichen, ver-
spannen das schwebende Gebilde aus Wandfeldern und Mauerwinkeln, indem sie über den vorgege-
benen Rahmen der Zeichnung hinausweisen.203

201  Van Straaten, (2000), 43ff.


202  Müller,(2004), 146
203  Ebd., 78ff

96  Die Welt als Garten


Abb. 5/6 „Landhaus aus Backstein“ von Mies van der Rohe

Und Ähnliches über diesen Entwurf lesen wir bei Giedeon:

Die aus dem Inneren vorstoßenden Flächen machen nicht, wie noch bei van Doesburg, an den Grenzen
des Hauses halt. Windmühlenartig werden sie in den Außenraum weitergeführt. Gleichzeitig werden
die Flächenelemente zum Sammelpunkt von Strukturelementen: Die Transparenzwirkung durch-
gehender Fensterreihen, die schwebend horizontale Deckenplatte ... werden hier meisterhaft durch
künstlerische Kontrolle integriert.204

Der Entwurf für das ‚Landhaus in Backstein’ war kein konkretes Bauvorhaben, sondern er wurde angefertigt für
die ‚Große Berliner Kunstausstellung’ 1924 und hatte also nur programmatischen Charakter. Konstruktiv gesehen
verwendete Mies van der Rohe von den ‚geometrischen Grundformen’ nur die Mauerscheiben und die Platten für
Decken und Böden.

Hier wurde aber zum ersten Mal die Idee des fließenden Raumes konsequent dargestellt. Konkret verwirklichen
konnte Mies diese Idee erst 1929 mit dem Deutschen Pavillon in Barcelona.

Enthusiastisch hat 1931 Walter Riezler dieses neue Raumgefühl beschrieben, im Hinblick auf das Haus Tugendhat
von Mies:

Alles Statische, in sich Ruhende tritt zurück hinter der Dynamik dieser ineinander gleitenden Raumteile,
deren Rhythmus seine Lösung erst im Freien, im Einstwerden mit dem Allraum der Natur findet.
Der Raum ist, wenn man so will, ‚atonal’ oder ‚polytonal’ im Sinne der modernen Musik wie auch der
Malerei, und daher Ausdruck eines allgemeinsten Weltgefühls, in dem sich, wie in der Philosophie, ein
völlig neues Weltbild sich ankündigt.205 (Hvh. A.S.)

Mies van der Rohe hat verwirklicht, was bis dahin nur als abstrakte Raumidee vorhanden war, das Kontinuum von
Naturraum und Wohnraum. Ich präzisiere: Das Raumkontinuum, bestehend aus der Lichtung des Waldes,
dem fraktal die Stadt durchdringenden Vegetativen Raum, bis zum offenen Wohnraum.

204  Giedeon, (1965), 357.


205  Müller, (2004), 27.

Die Welt als Garten  97


Nun ist allerdings festzustellen, dass diese neue Raumidee keineswegs Allgemeingut geworden ist. Genau wie die
moderne Kunst braucht es offensichtlich eine lange Zeit, bis die Ideen der Avantgarde das Gros der Gesellschaft er-
reichen. Beispielhaft aber auch symptomatisch für die Akzeptanz und damit für die Schwierigkeiten der Umsetzung
dieser Raumidee in der Praxis. ist das Farnsworth-Haus. Wenn man die Abbildungen dieses Hauses betrachtet, ist
man überwältigt von seiner kristallinen Schönheit. Aber „die Auftraggeberin [war] nach der Fertigstellung bitter
enttäuscht, erwies sich doch das Haus aufgrund seiner abstrakten Einfachheit als überraschend schwierig zu bewoh-
nen.“ 206

Abb. 5/7 Farnsworth-Haus

Hier wird ein Problem deutlich, mit dem Mies van der Rohe bei der Ausführung seiner Wohnhäuser zu kämpfen
hatte. – Das ‚Landhaus in Backstein’ war reines ‚Ornament’, ‚Gestalt.’ Als funktionierendes Wohnhaus kann man es
sich schwer vorstellen. Der Barcelona-Pavillon ist ein Ausstellungsbau, ein Schaustück. Es wirkt durch seine Gestalt
und die edlen Materialien; nach einer Wohnfunktion ist nicht gefragt.

Bei den Häusern Esters und Lange in Krefeld musste Mies Kompromisse eingehen, obwohl Lange Sammler mo-
derner Kunst war. Mies verfolgte zunächst die Idee, „die Räume durch große Glaswände zu öffnen, was jedoch am
Einspruch des Bauherrn scheiterte, ein Veto, das ihm ... erhebliche Schwierigkeiten“ bereitete.207

Es scheint immer noch dem allgemeinen Lebensgefühl zu widersprechen, die Außenwelt ‚ungefiltert’ in den
Innenraum fließen zu lassen. Selbst Mies van der Rohe hat dies – bewusst oder unbewusst - nicht konsequent zuge-
lassen: Er stellte fast immer seine Wohngebäude auf einen Podest. Die Abbildung des Landhauses in Backstein zeigt
im Vordergrund eine niedrige Stützmauer. Auch der Garten mit dem Pool am Barcelona-Pavillon ist nur über eine
Treppe zu erreichen, und dem Haus Lange ist gar eine Ebene vorgelagert, die man mit einem Barockparterre verglei-
chen kann. Auch sie ist durch eine Stützmauer von cirka neunzig Zentimeter Höhe vom übrigen parkartigen Garten
getrennt. Das Farnsworth-Haus, in einem ebenen Garten gelegen, hat Mies auf Stelzen gestellt; das Haus scheint zu
schweben, ohne Verbindung mit dem Boden. Der Bezug zum Außenraum ähnelt hier dem des Tugendhat-Hauses,
das an einem Hang liegt und deshalb keine ebenerdige Verbindung zum Garten haben kann. - Eine fragwürdige
Auffassung zu diesem Phänomen äußert Ullrich Müller in Bezug auf das Landhaus in Backstein:

Unabhängig von der dem Bauwerk eingeschriebenen Bewegung und Plastizität dominiert der
Eindruck des Schwebens, der zweifellos durch die extreme Betonung der Horizontalen in Form der
Mauerfluchten zustande kommt, verstärkt durch die niedrige Futtermauer, die eine Geländekante auf-

206  Zimmermann, (2006)


207  Müller, (2004), 186.

98  Die Welt als Garten


zufangen scheint, tatsächlich aber eine Art Podium bildet, wie Mies van der Rohe es auf der Gartenseite
der Häuser Lange und Esters in Krefeld und auf der Eingangsseite des Barcelona-Pavillons schuf, um
die Sphäre des künstlerischen Raumes zu markieren.208 (Hvh. A. S.)

Diese Auffassung widerspricht nun entschieden der Idee des Kontinuums: „ununterbrochener, gleichmäßiger
Fortgang von etwas, lückenloser Zusammenhang, durch Verbindung vieler Punkte entstehendes, fortlaufendes geo-
metrisches Gebilde“ (Duden). Wenn Müller den „künstlerischen Raum“ abgrenzen will, - gegen was? gegen das
Chaos? – dann entspricht das noch ganz den Denkgewohnheiten des ‚Klassischen Raumes.’

Mies van der Rohe hat dann 1935 seine Raumidee weiterentwickelt, wohl um dem Bedürfnis der Bauherren einer-
seits nach Geborgenheit und andererseits nach Offenheit zu entsprechen. Er schrieb über den Entwurf des Hauses
Hubbe in Magdeburg, der dann allerdings nicht verwirklicht wurde: Das Grundstück lag

... unter alten schönen Bäumen mit einem weiten Blick über die Elbe. Es war ein ungewöhnlich schö-
ner Platz zum Bauen. Nur die Sonnenlage bot Schwierigkeiten. Der schöne Blick ging nach Osten,
nach Süden war der Blick ganz reizlos, fast störend. ... Ich habe deshalb den Wohnteil des Hauses nach
Süden hin durch einen von Mauern umgrenzten Gartenhof erweitert und so diesen Blick aufgefangen
und doch die volle Besonnung freigehalten. Elbabwärts dagegen ist das Haus ganz geöffnet und geht
frei in den Garten über, ... einen schönen Wechsel stiller Abgeschlossenheit und offener Weite ...
209
(Hvh. A.S.)

5.6.5 Die Zeit nach dem Bauhaus

Nach 1933 mussten die meisten Bauhaus-Künstler emigrieren, hauptsächlich nach Amerika, wo sie ihre Kunst
weiter entwickeln konnten. In Deutschland wurden ein Neoklassizismus und die ‚Blut-und-Boden-Architektur’
verordnet. Nur wenige Architekten versuchten, das neue Raumideal weiter zu verwirklichen, verbrämt mit dem
geforderten Giebeldach, so zum Beispiel Sep Ruf. Erst nach dem Kriege wurden die Bauhausideen wieder aufge-
griffen, allerdings meistens in einer angepassten Form. Das heißt, in Wohnhäusern mit konventionellem Grundriss
wurde mindestens der Hauptraum nach außen geöffnet, indem man die Außenwand durch eine Glaswand ersetzte.

Das entscheidende Kriterium, das sich weit gehend durchsetzte, war der stufenlose Übergang vom Wohnzimmer auf
eine Terrasse und weiter auf die Rasenfläche. Es zeigte sich, dass dies für das Gefühl des Raumkontinuums wichtiger
ist, als Raum begleitende Mauerscheiben, denn das Raumgefühl wird nicht allein optisch bestimmt, sondern viel
stärker durch das sich Bewegen zwischen innen und außen. Ich habe dies selbst bei der Gestaltung meines Gartens
erfahren. Auf der Südseite des Hauses musste ein größerer Höhenunterschied bewältigt werden. Dazu hatte ich
zwischen Wohnzimmer und Terrasse nach einem Podest drei Stufen eingebaut und weitere zwischen Terrasse und
Garten. Es zeigte sich, dass die Terrasse im täglichen Gebrauch so nicht genutzt wurde. Erst nach der Anhebung auf
das Wohnzimmerniveau konnte sie die Funktion als erweiterten Wohnraum übernehmen.

Dieses Gestaltungsprinzip verfolgte zum Beispiel auch Sep Ruf, der 1951 schrieb:

Das Einfamilienhaus konzipiert man heute schon so, dass man ein Differenziertes Wohnen hat, Ein
großes Fenster, einen großen Raum, einen Garten, der hineinfließt in den Innenraum und von dem
man wiederum auch das Draußen einbezieht, ja ständig mit ihm in Verbindung sein will. Das müssen
wir aber auch im sozialen Wohnungsbau den anderen, die es sich nicht leisten können, geben.210

208  Ebd. 82
209  Bergdoll, (2002), 104.
210  Nerdinger, (2008), 022.

Die Welt als Garten  99


Aber in Deutschland entstanden auch Bauwerke, in denen das Prinzip des Raumkontinuums und des fließen-
den Raumes in idealer Weise verwirklicht sind. Ich nenne einige Beispiele: Die deutsche Pavillongruppe auf der
Weltausstellung in Brüssel von Sep Ruf und Egon Eiermann

[Sie bestand] nur aus schwebenden leichten Formen. Sämtliche Wände schienen entmaterialisiert,
die gesamte Anlage vermittelte den Eindruck von Transparenz und Leichtigkeit. Die Natur zog sich
durch die Anlage ... Innen und außen gingen ineinander über, Grenzen schienen aufgehoben und der
Besucher bewegte sich durch fließende Räume.211

Dieses Bauwerk hatte eine sehr spezielle Funktion als Ausstellungsgebäude und darüber hinaus als politisches
Symbol für ein gewandeltes Deutschland. – Die Außenanlagen wurden von Walter Rossow gestaltet.

Das Wohn- und Empfangsgebäude des Bundskanzlers in Bonn von Sep Ruf vereinigt die Funktionen des Wohnens
und der Repräsentation. Als Raumfolge hat er modellhaften Charakter. Er besteht aus

zwei quadratische[n], gegeneinander versetzt angeordnete[n] 20 mal 20 Meter und 24 mal 24


Meter große[n] eingeschossige[n] Atriumbauten, ... . Der kleinere, niedrigere, weit gehend mit
Klinkermauerwerk geschlossene Baukörper enthält die Privaträume des Bundeskanzlers, die auf einen
Innenhof ... ausgerichtet sind. Im Gegensatz dazu öffnet sich der größere und höhere Pavillon ... mit
geschosshohen, verschiebbaren Wänden zum Park. Die fließend angelegten Raumfolgen lassen sich je
nach gesellschaftlichem Anlass durch Versenk- und Schiebewände den Erfordernissen anpassen. Nur
wenige Stahlstützen tragen das weit ausladende und dadurch fast zu schweben scheinende Dach.

Abb.5/8 Sep Ruf, Bundeskanzler Bungalow, Bonn

Wenn man den Grundriss dieses Gebäudes betrachtet, kann man ein ideales Raumkontinuum beschreiben: Der eine
Pol ist die ‚Höhle’ in Form des geschlossenen Atriums. An dieses schließen sich mehrere nach außen offene Räume
und der Übergang zu dem Hauptgebäude an. Dieses öffnet sich weit nach außen; seine Offenheit ist aber durch be-
wegliche Wände variabel. Der andere Pol des Raumkontinuums ist der stufenlos anschließende Park.

211  Ebd., (094).

100  Die Welt als Garten


Abb. 5/9 Bundeskanzlerbungalow in Bonn, Grundriss

Weitere Beispiele sind die Siedlungen von Richard Neutra in Walldorf und Quickborn. Die beschreibt der Architekt
und Vorsitzende der Richard J. Neutra Gesellschaft Hilmer Goedeking, der selbst einen Neutra-Bungalow be-
wohnt:

Die Häuser ... weisen alle für Neutra typischen Merkmale auf, mittels derer sich Privatheit und
Offenheit und Großzügigkeit verbinden lassen: große Fenster, deren Rahmen aufs Äußerste reduziert
sind, Glasschiebetüren, die das Wohnzimmer mit den Terrassen verschmelzen lassen, und diagonal
organisierte Grundrisse die stets neue und andere Durchblicke erlauben, sowie das berühmte „spi-
der leg“ (eine Stütze für die weit auskragenden Dachüberstände), das eine sprossenfreie Glasecke im
Wohnraum ermöglicht. Die Grundrisse sind so gestaltet, dass sie sich eng mit den Gärten, den Bäumen
und der Umgebung verweben. Immer wieder werden lange Blicke über das eigene Grundstück hinaus
möglich, ohne dabei einen Einblick von außen zu gewähren.212

Die Unterscheidung von ‚Privatheit und Offenheit’ ist von großer Bedeutung. Anthropologisch gesehen ist die ar-
chetypische ‚Höhlenprägung’ immer noch wirksam, das Streben nach Schutz und Geborgenheit. Erst in der Neuzeit
ist durch die Entlastung und Entfremdung von der Natur (Ritter) die Zuwendung zu ihr entstanden.

Den Charakter der unterschiedlichen Raumformen soll abschließend diese schematische Darstellung zeigen:

Geschlossener Raum Fließender Raum Kombinierter Raum

212  Internet-Eintrag der Deutschen Stiftung Denkmalschutz, (2005)

Die Welt als Garten  101


Ich sehe folgende Unterschiede und Charakteristika: Der geschlossene (‚klassische’) Raum ist von Mauern um-
geben, die eine Außen- und Innenseite haben. Dem entspricht die Konvention des Unterschiedes zwischen
Fassadenausbildung und Innendekoration. Diese unterlagen zuletzt im Rokoko einem gemeinsamen Stil. Das
Biedermeier steht dann „für die Ablösung des Interieurs von der Fassade; Innenarchitektur verselbständigt sich
und zersetzt dadurch die Einheit des Stils, die bis dahin verbindlich war.“ 213 - Der Fließende Raum ist reiner
Bewegungsraum; seine Wände haben nur Außenseiten. Die kombinierte Raumform ist ein Kontinuum aus Innen-
und Außenraum. Wichtig ist die Feststellung, dass Innen- und Außenseite und damit Innen- und Außenraum den
gleichen Stilelementen unterliegen.

5.7 Der neue Raum und die Gartenkunst


Es ist wohl evident, dass eine Gartenkunst, die dieser neuen Raumidee entspricht, sich Grund legend von der klassi-
schen Gartenkunst unterscheiden müsste. Diese war gebunden an den klassischen Raum, an die geschlossene Stadt.
Selbst die Inszenierung des Landschaftsgartens fand in einem idealen euklidischen Raum statt.

Ich untersuche zunächst, ob und wie sich die Gartenkunst in Verbindung mit der neuen Architektur entwickelt hat.
Wie schon dargestellt, waren in der Reformarchitektur Haus und Garten funktional und formal eine Einheit auf
Grund des Primats der Architektur.

Abb. 5/10 „Reformgarten“

Auch in der Entwicklung des Bauhausstils war dies scheinbar der Fall. Zu dieser Auffassung kommt jedenfalls
Dorothea Fischer-Leonhardt in ihrer Untersuchung „Die Gärten des Bauhauses“ 214

Der maßgebliche Architekt der Bauhausgebäude war Walter Gropius. Seine Stilmittel sind, wie oben
bereits angedeutet, die Kuben, ähnlich wie die van Doesburgs. Große Fensteröffnungen stellen zwar
eine optische Verbindung zwischen Innen- und Außenraum her, aber eine physische innige Verbindung
ist nicht gegeben. Bei seinem eigenen Haus sind sieben Stufen zu überwinden, um in den Garten zu
gelangen; bei den übrigen Meisterhäusern sind es nur zwei, aber auch bei denen sind die Terrassen
durch massive Mauern vom Gartenraum getrennt.

213  Grasskamp, (1992), 146.


214  Fischer-Leonhardt, (2005).

102  Die Welt als Garten


Fischer-Leonhardt ist nun sichtlich bemüht, Gropius eine gartenkünstlerische Kompetenz zu zu schreiben, zunächst
bezogen auf das eigentliche Bauhausgebäude:

Gropius [präsentiert] mit den am Bauhausgebäude geschaffenen gärtnerischen Anlagen einen völlig
neuen Ansatz innerhalb der Gartenkunstgeschichte, deren Purismus bis dahin beispiellos ist. Deshalb
ist das Umfeld des Bauhausgebäudes als eine Neuinterpretation der Gartenkunst durchaus positiv zu
bewerten. Seine aufgezwungene Zurückhaltung gegenüber dem Gebäude, die völlige Reduktion auf
Rasenflächen und Wege nach rein funktionalen Gesichtspunkten, ist gartenkünstlerisch allerdings
wenig spektakulär. Und auch der Nutzung des Außenraumes waren durch die sparsame Ausstattung
Grenzen gesetzt. Es ist wohl die stilvolle Kombination von großflächigen Rasenfeldern und geradför-
migen Wegeführungen und gezielt eingefügten Baumreihen, die bis heute ein stilistisch harmonisches
Gesamtbild ergibt. Der Freiraum aber unterliegt dabei deutlich der baulichen Dominanz einer
Architektur, die ohne diese qualitätsvolle und zurückhaltende Einrahmung womöglich bedeutend
weniger Aufmerksamkeit in der Baugeschichte erregt hätte. (Hvh. A.S.)

Diese Eloge auf Gropius ist wohl hauptsächlich dem großen Namen geschuldet; sie ist aber offensichtlich auch af-
firmativ beeinflusst von der zurzeit herrschenden Mode des Minimalismus in der Gartenkunst. Ich vermag in der
völligen Reduktion bei der Gestaltung der Außenanlagen keinen Ansatz einer künstlerischen Idee zu entdecken.
Gropius ging es offenbar, wie Fischer-Leonhardt es selbst bemerkt, um die „Dominanz der Architektur.“

Um Gropius aber gerecht zu werden, ist es sinnvoll, sein Naturverhältnis zu betrachten. Sein abstraktes
Raumverständnis habe ich oben schon erwähnt: (S. Anm. 205) nämlich die Idee des Raumkontinuums zwischen
Architektur und Natur. Diese Idee hat er verfolgt, indem er für die geplanten Meisterhäuser des Bauhauses ein mit
Kiefern bewachsenes Grundstück bestimmte. Wie der Blick aus dem Fenster des Gropius-Hauses zeigt, wird die
Stimmung des Außenraumes ganz und gar von diesen Bäumen bestimmt; die übrigen Gestaltungselemente wie
Wege und Rasenflächen kann man dagegen vernachlässigen.

Abb. 5/11 „Blick in die Natur“

Auch die Lebensweise der Bewohner dieser Häuser war von dieser Konzeption bestimmt: Ihr Leben im Außenraum
konzentrierte sich auf die Terrassen und Dachgärten. Auf einem Bild sieht man, dass sonnenbadende Personen so-
gar die Dachterrasse mit einer hohen Plane umgeben hatten, um sich vor fremden Blicken zu schützen. Der Garten
war also praktisch nicht nutzbar. „Wie sollte [er] auch genutzt werden? Verfügte er doch, so wie ihn sich Gropius
erdacht hatte, über keine wirklich funktionalen Möblierungen, die einen längeren Aufenthalt ermöglicht hätten.“

Die Welt als Garten  103


215
Selbst diese fundamentalen Bestandteile der Gartenarchitektur waren für Gropius nebensächlich, waren nicht
sein Thema.

Abb. 5/12 Statt Garten, Haus im Walde

Gropius hat einmal konstatiert, dass die Kunstakademie herkömmlicher Ausrichtung „( )den verhängnisvollen
Irrtum der Identität der Begriffe Natur und Kunst (schuf), diese ( ) aber ihrem Ursprung nach Gegensätze sind.
Das Künstliche will das Natürliche überwinden, um den Gegensatz in einer neuen Einheit aufzulösen.“ 216 Das
Verhältnis von Architekturraum und Naturraum, wie Gropius es sieht, kann man also im gewissen Sinne als ‚Form
der Unterscheidung mit zwei Seiten’ sehen. Er kann diese Idee aber nur verwirklichen, wo und wenn er ‚Natur’
vorfindet. Er ist jedoch nicht in der Lage sie zu ‚installieren.’ Das wäre Aufgabe eines kongenialen Gartenarchitekten
gewesen, der ihm aber nicht zur Verfügung stand. So bleibt die Verbindung von Innen- und Außenraum bei Gropius
eine rein visuelle, genau wie bei Corbusier, der seine ‚Langfenster’ explizit als Rahmung des Landschaftsbildes sah.

Wie ist dagegen Mies van der Rohe mit dem Außenraum, mit der Vegetation umgegangen? Dies wurde lange Zeit
negativ beurteilt. Schuld daran ist Philip Johnson, der für eine Ausstellung im Museum of Modern Art 1932 die
Grundrisse dieser Gebäude neu zeichnen ließ.

Zu diesem Zweck wurden nur wenige Linien ... weggelassen, aber diese Auslassungen sollten in ganz
erheblichem Maße die Wahrnehmung und Deutung von Mies´ Werk beeinflussen. Die Tatsache, dass
der Weg zum mit Buschwerk bewachsenen Abhang hinter dem Deutschen Pavillon und die Umrisse
der Terrasse als Podium für die Gartenfassade des Hauses Tugendhat nicht mehr dargestellt wurden,
löste Mies´ Gebäude aus ihrer Umgebung heraus und vereinfachte die für sein Gestalten wesentli-
chen Schichtungen von Außen- und Innenräumen. ... Indem sie die Bäume aus den Lageplänen für
Barcelona und Brno tilgten, überlieferten sie einen autonomen, universalen Raum, der sich überall
verinnerlichen und reproduzieren ließ.217

In Wirklichkeit hatte Mies van der Rohe ein ausgeprägtes Verhältnis zum Garten und zum Außenraum als Naturraum,
wie nur wenige Architekten. Dabei war er souverän genug, auch mit Gartenfachleuten zusammen zu arbeiten, so

215  Fischer-Leonhardt, (2005), 95.


216  Zitiert bei Müller, (2004), 76.
217  Bergdoll, (2002), 67.

104  Die Welt als Garten


zum Beispiel bei seinem ersten bedeutenden Wohnhaus, dem Haus Riel, wo Karl Foerster intensiv mit gewirkt
hat,218 oder beim Haus Tugendhat, wo es zu einer Zusammenarbeit mit einer Gartenarchitektin kam.

Barry Bergdoll geht bei seiner Untersuchung „Das Wesen des Raumes bei Mies van der Rohe“ von der Prämisse
aus, dass für Mies der Raum im architektonischen Sinne und die Vegetation zusammen gehörten. Bergdoll zeigt den
Ausgangspunkt der Entwicklung mit dem Reformgarten des Hauses Perl.219 Das Haus Riel war dann „das erste in
einer Reihe von Villen, bei denen Mies eine Gegenüberstellung von Nahsicht und weitem Ausblick in die Landschaft
inszenierte.“ 220 -

Interessant ist ein Zitat von 1923. Mies schreibt: „Eine Landschaft oder ein Wald besteht ... nicht aus formal gleichen
Gebilden, und ein Wacholderbusch steht sehr gut zu einem Rosenstrauch; wäre die Natur so langweilig wie unsere
architektonischen Gebilde, so wäre hier längst eine Revolution ausgebrochen.“ 221 Das zeigt, dass auch Mies klar
zwischen Gebilden der Natur und der Architektur unterscheidet.

In Bezug auf die Raumvorstellung Mies van der Rohes sieht Bergdoll allerdings immer noch affirmativ „die abrupte
Trennung zwischen der Geometrie des Gartens und der natürlichen Landschaft,“ die nach meiner Auffassung die
Idee des fließenden Raumes abschwächt. Andererseits hebt er an vielen Beispielen das harmonische Zusammenspiel
zwischen den „scharfkantigen, asymmetrischen Bauformen [und] der Natur“ hervor. So zum Beispiel beim Haus
Esters, wo Mies „sich die Hauswände von Blütenranken überwuchert vorstellt,“ 222 Und besonders beim Haus
Tugendhat zeigen viele Skizzen und Zeichnungen, welche Bedeutung Mies der Vegetation beimisst.

Typisch ist ein Projekt von 1952, das „50 mal 50 Haus.“ 223 Es wurde nicht ausgeführt; von ihm existieren nur der
Grundriss und ein Bild des Modells, das per Fotomontage in einen Park gestellt wurde.

Abb. 5/13 Das 50 mal 50 Haus

Das Haus ist in seiner Offenheit mit dem kurz vorher fertig gestellten Farnsworth Haus zu vergleichen. Es steht aber
nicht wie dieses auf Stelzen, sondern ist ebenerdig in den mit Bäumen bestandenen Park gestellt. Keine Mauern
hemmen den Blick in die Natur und keine Stufe den Schritt in den Garten. Ich sehe hierin einen wichtigen Schritt
in der Entwicklung des fließenden Raumes und des Kontinuums von Innen- und Naturraum.

218  Neumeyer, (2002), 315.


219  Bergdoll, (2002), 75.
220  Ebd., 74.
221  Ebd., 82.
222  Ebd., 89.
223  Zimmerman, (2006), 60.

Die Welt als Garten  105


An einer anderen Stelle ist dieses Prinzip ebenso deutlich geworden, allerdings nur im Modell für die Großsiedlung
Lafayette. Hier wird der fließende Raum von unterschiedlich hohen Wohnhäusern gebildet. Sehr eindrucksvoll
stellt Mies hier dar, wie er sich die Komplementarität von Architektur und Natur vorstellt, durch den massierten
Einsatz von hainartigen Baumgruppen, die in fraktalen Formen vielfältige Räume bilden.

Abb. 5/14 Eine fraktale Stadt

Mies hat sein Prinzip in einem Interview erläutert:

Auch die Natur sollte ihr eigenes Leben leben. Wir sollten uns hüten, sie mit der Farbigkeit unse-
rer Häuser und Inneneinrichtungen zu stören. Doch wir sollten uns bemühen, Natur, Häuser
und Menschen in einer höheren Einheit zusammenzubringen. Wenn Sie die Natur durch die
Glaswände des Farnsworth-Hauses sehen, bekommt sie eine tiefere Bedeutung, als wenn Sie draußen
stehen. Es wird so mehr von der Natur ausgesprochen – sie wird ein Teil eines größeren Ganzen.224
(Hvh. A.S.)

Wenn Mies van der Rohe sagt, man solle die Natur nicht durch die Farbigkeit der Häuser stören, dann steht dahinter
die Auffassung, dass Architektur und Vegetation sich gegenseitig beeinflussen. Während im Barock die künstlichen
floralen Ornamente den Übergang zwischen Schloss und ‚Urwald’ symbolisierten, treten jetzt die natürlichen
vegetabilen Formen in unmittelbare Beziehung zur Architektur und werden zum Ornament für sie!
Voraussetzung für diese ornamentale Wirkung ist aber, dass die Pflanzen in ihrer natürlichen Form mit den klaren
Linien der Architektur in einen Kontrast treten; jedes Formgehölz würde hier einen Stilbruch darstellen, denn
analog zum Kontinuum Innen / Außenraum ist mit dieser Raumvorstellung die Architektur mit den Naturformen
elementar verbunden. Die Kritik, die manchen modernen Gebäuden, die auf einer kahlen Rasenfläche stehen,
entgegengebracht wird, entzündet sich an ihrer kühlen Nacktheit. Erst eine komplementäre Vegetation ließe ihre
wahre Schönheit erscheinen, in der Spannung zwischen Architektur und Natur.

Verwirklichen konnte Mies den stufenlosen Übergang vom Haus in den Garten schon 1933 mit dem relativ beschei-
denen Haus Lemke in Berlin. Trotz der mit Sprossen versehenen Fenster ist hier das Raumideal, wie bei dem „50
mal 50 Haus“ verwirklicht. 225

224  Ebd., 63
225  Riley, (2002), 272ff.

106  Die Welt als Garten


Der Bauherr hatte „die Vorstellung, dass man an schönen Tagen den an sich beschränkten Wohnraum nach dem
Garten hin erweitern müsste.“ 226 Die weitere Entwicklung des Gartens sieht Bergdoll dann aber kritisch. Ich zitiere
im Zusammenhang:

Lemke beschloß, Foerster zur Gartengestaltung heranzuziehen, mit dem Mies seit seiner frühen
Bautätigkeit in Neubabelsberg nicht mehr zusammengearbeitet hatte. Obwohl sich Georg Gardner,
beratender Gartenarchitekt der Berliner Bauausstellung um den Auftrag beworben hatte, wandte
sich Lemke an Foersters Gärtnerei in Bornim, die Anfang der dreißiger Jahre bereits eine Abteilung
für Gartengestaltung unter der Leitung von Herta Hammerbacher und ihrem damaligen Ehemann
Hermann Mattern führte. An dem nicht aufeinander abgestimmten Entwurfsprozeß und an der
Uneinheitlichkeit von Haus- und Gartenplan – die wie aus zwei verschiedenen Welten zu stammen
scheinen – Läßt sich ablesen, wie weit Mies´ und Foersters Gartengestaltungen sich in 15 Jahren ausein-
anderentwickelt hatten. ... Die [von Hammerbacher entworfene] Gartengestaltung löste klare, gerade
Abgrenzungen auf, gab naturhaften, lockeren Blumen- und Buschgruppen gegenüber geometrischen
Beeten den Vorzug und folgte den gegebenen Geländekonturen, was in den dreißiger Jahren zum
Markenzeichen des sogenannten Bornimer Kreises um Foerster wurde. Einer Gartenbauschule, die
kongenial zur organischen Architektur Hans Scharouns passte, mit dem Hammerbacher und Mattern
auch häufig zusammenarbeiteten. /226

Bergdoll geht von der immer wieder vertretenen Auffassung aus, dass Gebäude und Gartenerschließung dem glei-
chen Formenkanon unterliegen; das kommt daher, dass in erster Linie von der Grafik des Grundrisses her geur-
teilt wird. Die zwei verschiedenen Welten, die Bergdoll sieht, sind aber nur die unterschiedlichen Funktionen der
Gebäudemauern und der Gartenwege und entsprechen der Komplementarität der beiden Seiten des fließenden
Raumes. - Sicherlich konnte man hier nicht von einer idealen Zusammenarbeit sprechen, aber ein Bild aus der
frühen Zeit des Gartens zeigt, das die Bepflanzung des Gartens sicher im Einklang mit der Vorstellung Mies van
der Rohe gestanden hätte. - Ob die „klare[n], gerade[n] Abgrenzungen“ der Architektur auch im Garten herrschen
müssen, ist bis heute strittig. Dieses Problem ist noch näher zu untersuchen.

5.8 Zusammenfassung
Dieses Kapitel ist überschrieben: Der Raum als Medium von Architektur und Gartenkunst. Mein Anliegen war, die
verschiedenen Raumauffassungen und ihren Einfluss auf Architektur und Gartenkunst zu analysieren. Ich habe den
‚Urraum,’ die Lichtung im Wald als ‚vegetativen Raum’ und die erste große Revolution in der Menschheitsgeschichte,
die Gründung der Städte und damit die Entstehung des ‚klassischen Raumes’ beschrieben. Gegenwärtig sind wir
mitten in einer Entwicklung, in der sich die alte Stadt, der klassische Raum auflösen. Dieser Vorgang wird überwie-
gend noch negativ als Zersiedelung angesehen. Entsprechend dramatisch sind die Verwerfungen in der Architektur
und Gartenkunst in den letzten Jahrzehnten.

Wie ein Gewitter kam die Postmoderne über uns. Sie war verursacht durch die Perversion der Moderne, die
ausschließliche Betonung der Funktion der so genannten Kastenarchitektur. Man suchte die Heilung in der
Rückbesinnung auf historische Vorbilder. Einer ihrer Protagonisten in Deutschland war Heinrich Klotz. Dessen
Kritik richtete sich aber nicht nur gegen die Auswüchse der modernen Architektur, sondern gerade gegen ihre
eigentlichen Grundsätze. So kritisiert er zum Beispiel das Bauhausgebäude von Gropius: „Der freie Grundriß, der
allseitig umgehbare Bau auf grüner Fläche, enthielt per se ein gerüttelt Maß an Stadtfeindlichkeit. Es sind die Folgen
eines solchen Planungsideals der Moderne, gegen das sich die Postmoderne wendet.“227

226  Bergdoll, (2002), 103.


227  Klotz, (1985), 36.

Die Welt als Garten  107


Und an anderer Stelle kommt seine Gegenposition so zum Ausdruck:

Rob Krier hat in einem demonstrativen Akt das gesamte Stadtzentrum Stuttgarts in einem Großmodell
rekonstruiert und sowohl die Struktur des 19. Jahrhunderts wiederzugewinnen gesucht als auch
im analogen Vorgehen dazu eine Block- und Platzbebauung ergänzt, so dass als ein Vorstellungsbild
... ein an der Geschichte orientiertes Handlungskonzept der Ergänzung und Wiedergewinnung des
Bestehenden und Gewesenen visuell veranschaulicht [wird.] 228

Das ist eine absolut rückwärts gewandte Anschauung. Das, was wir heute Zwischenstadt nennen, bleibt – im
Wortsinne – außen vor, und die Natur spielt in dieser Gedankenwelt überhaupt keine Rolle. Es geht ausschließlich
um die klassische Stadt, den klassischen Raum; nur die Stadtmauern fehlen.

Die Postmoderne ist genau so schnell verschwunden, wie sie aufgetaucht war. Ihre einzige positive Wirkung war,
dass sie die Fehlentwicklungen in der modernen Architektur bewusst gemacht hat. Und so konnte Jürgen Habermas
im Jahr 2003 zu der Auffassung kommen:

Die moderne Architektur, die sich sowohl aus der organischen wie aus den rationalistischen Anfängen
eines Frank Lloyd Wright und eines Adolf Loos entwickelt hat und in den gelungensten Werken ei-
nes Gropius und Mies van der Rohe, eines Corbusier und Alvar Aalto zur Blüte gelangt ist, diese
Architektur ist immerhin der erste und einzige verbindliche, auch den Alltag prägende Stil seit den
Tagen des Klassizismus. Allein diese Baukunst ist dem Geist der Avantgarde entsprungen, ist der avant-
gardistischen Malerei, Musik und Literatur unseres Jahrhunderts ebenbürtig. Sie hat die Traditionslinie
okzidentalen Rationalismus fortgesetzt und war selbst kräftig genug, Vorbilder zu schaffen, das heißt
klassisch zu werden und eine Tradition zu begründen, die von Anbeginn nationale Grenzen überschrit-
ten hat.229

Tatsächlich hat sich diese Tradition weiter entwickelt; Die Idee der Offenheit, des Raumkontiuums ist lebendig und
setzt sich immer mehr durch. Neu ist die größere Variabilität und Individualität der Formen. Ein Indiz hierfür sind
bebilderte

Abb. 5/15 Wohnhaus im Bauhausstil, 2011

Immobilienanzeigen in den Zeitungen, die immer mehr Gebäude mit weit geöffneten Räumen zeigen und explizit
mit dem „Bauhausstil“ werben. Der „designte“ Garten des gezeigten Beispieles entspricht allerdings nicht meinen
Vorstellungen.

Ich fasse dieses Kapitel „der Raum als Medium von Architektur und Gartenkunst“ zusammen als Formen der
Unterscheidung mit zwei Seiten:

228  Ebd. 301.


229  Habermas, (2003), 176.

108  Die Welt als Garten


Raum
Wald/Lichtung Steppe/Fläche
geschlossener Raum offener Raum
‚klassischer’ Raum Raumkontinuum
statischer Raum fließender Raum
perspektivischer Raum Bewegungsraum

Raumgrenzen
linear (Stadtkante) fraktal (Zwischenstadt)

Nach dieser Untersuchung der allgemeinen Raumcharaktere und speziell der Raumidee der modernen Architektur,
erhebt sich jetzt die Frage, wie sich die Gartenkunst zu dieser Entwicklung verhält.

Bevor ich aber zu diesem wichtigen Thema komme, ist noch eine weitere theoretische Grundfrage zu klären, die
psychischen Voraussetzungen der Produktion und Rezeption von Kunst und also auch der Gartenkunst.

Die Welt als Garten  109


Kapitel 6 Über Wahrnehmung und Kunst

6.1 Kunst als Produktion und Rezeption


Ich stelle zunächst fest, dass in der Kunst immer eine Beziehung zwischen Produktion und Rezeption besteht.
Reinold Schmücker, der eine „kommunikationstheoretische Kunstästhetik“ entwickelt, begreift „ein Kunstwerk
als Medium eines Interaktionsprozesses.“ 230

Indem wir versuchen, ein Kunstwerk zu verstehen, unterstellen wir ... , in dem betreffenden Werk
manifestiere sich eine Mitteilung, die an keinen bestimmten Adressaten, sondern an jeden gerichtet ist,
der ihm als Rezipient seine Aufmerksamkeit schenkt. 231 –

Dieses Verstehen kann nun gelingen oder nicht. In der autonomen Kunst sind die Schwierigkeiten des Nichtverstehens
allgegenwärtig. Ein bekanntes Beispiel ist van Gogh, der zu Lebzeiten von der Kunstwelt unverstanden blieb. In der
Bau- und Gartenkunst ist das Nichtverstehen aber problematisch, weil mit der Ablehnung durch die Rezipienten
– die Nutzer, – auch die jeweilige Funktion nicht erfüllt wird. Ein Haus, in dem sich die Bewohner nicht wohl füh-
len oder eine Grünanlage, die kaum frequentiert wird, haben ihren Zweck verfehlt. Ein autonomes Kunstwerk im
Museum findet dagegen meistens Akzeptanz von Menschen, die ausdrücklich bemüht sind, zu verstehen. Das ist
einer der Unterschiede zwischen bildender Kunst und Gartenkunst.

Ein weiterer Ausgangspunkt ist die Feststellung Schmückers, dass auch

jegliche Art der Kunstproduktion ein rezeptives Verhalten impliziert. ... Denn Kunstproduktion ist
immer schon Bezugnahme auf Vorfindliches, das sich der sinnlichen Wahrnehmung darbietet. Dieses
Vorfindliche können, müssen aber nicht unbedingt andere, in physischen Objekten sich manifestieren-
de Kunstwerke sein. 232

Das heißt also, dass der Produzent eines Kunstwerkes gleichzeitig Rezipient ist. Er rezipiert einerseits Vorbilder, an-
dererseits ständig die Ergebnisse seines Schaffens. Jeder, der kreativ tätig ist, kennt wohl das Gefühl des Erstaunens,
wenn plötzlich das Ergebnis einer ‚Eingebung’ vor einem liegt. Man kann deshalb davon ausgehen, dass sowohl die
Produktion, wie auch die Rezeption von Kunstwerken den gleichen psychologischen Vorgängen der Wahrnehmung
und Erkenntnis unterliegen. Die will ich näher untersuchen.

6.2 Entwicklungspsychologie - Die Grundlage von Wahrnehmung


Ich beziehe mich dabei zunächst auf die Grundzüge der Entwicklungspsychologie Jean Piagets, nach der
Darstellung Franz Buggles.233 Diese Grundzüge sind auch von anderen Wissenschaftlern aufgenommen und in an-
deren Wissenschaftsbereichen bestätigt und weiterentwickelt worden, so dass man hierin eine Grundlage moderner
Wahrnehmungs- und Erkenntnistheorie sehen kann.

Piaget geht in seiner Theorie nicht nur auf die früheste Entwicklungsstufe menschlicher Individuen zurück, son-
dern bezieht auch niedere Organismen in seine Forschung ein. Er sieht „ein Entwicklungskontinuum ... zwischen

230  Schmücker, (1998), 271.


231  Ebd., 272.
232  Ebd., 280f.
233  Buggle, 1993.

110  Die Welt als Garten


fundamentalsten Interaktionen und Austauschprozessen zwischen Organismus und Umwelt auf phylogenetisch
wie ontogenetisch frühesten Stufen der Entwicklung und den höchsten kognitiven Leistungen des Homo sapiens.“
Und eine

über alle Entwicklungsstufen gleich bleibende Grundfunktion der Adaptation, der notwendigen, im-
mer wieder neu zu leistenden Anpassung eines jeden Organismus jeder Entwicklungshöhe an seine
Umwelt.

Sieht man den Organismus als offenes System, das in dauerndem Austausch von Materie, Energie
und Information mit seiner Umgebung bestimmte offene Sollwerte oder Gleichgewichtszustände ...
innerhalb nicht zu überschreitender Toleranzwerte realisieren und aufrechterhalten muß, soll er nicht
zusammenbrechen, so ließe sich genau die Summe der organismischen Prozesse, die diese Sollwerte
oder Gleichgewichtszustände herstellen, mit dem Begriff der Adaptation bezeichnen. 234 Oder unter ei-
nem anderen Aspekt gesehen: Adaptation liegt dann vor, wenn die Interaktion oder Austauschprozesse
zwischen Organismus und Umwelt so gestaltet oder modifiziert werden, dass weitere, folgende
Austauschprozesse, die im Dienste der Erhaltung des jeweiligen Organismus stehen, begünstigt wer-
den.

Dabei lassen sich nach Piaget zwei, in der Realität immer zusammen vorkommende, aber dennoch
bei verschiedenen Adaptationsvorgängen verschieden stark akzentuierte und von daher begrifflich zu
unterscheidende Grundaspekte jeder Adaptation aufzeigen: Geschieht Adaptation primär so, dass
Elemente der Umwelt vorhandenen Strukturen oder Eigenschaften des Organismus ange-
paßt und diesem „einverleibt“ werden ... , so spricht Piaget von Assimilation ... .

Steht umgekehrt bei Adaptationsvorgängen die modifizierende Anpassung des Organismus


und seiner Strukturen an vorgegebene Eigenschaften der Umwelt im Vordergrund, ... so
spricht Piaget von Akkommodation. ...

Für Piaget ... hat Adaptation immer einen Doppelaspekt: sie ist immer sowohl Anpassung (und da-
mit Umgestaltung) der Umwelt an den Organismus als auch Anpassung des Organismus und seiner
Strukturen an die Umweltgegebenheiten. Hier zeigt sich die Auffassung Piagets vom Menschen, ... als
eines wesentlich aktiven, die Umwelt gestaltenden und nicht nur auf die Umwelt passiv reagierenden
und von ihr einseitig determinierten Wesens. ...

Adaptation ... wird für Piaget immer begleitet, weil erst ermöglicht, durch ein innerorganismisches
Geschehen, sozusagen die „innere Seite“ jeder Adaptation, durch das Phänomen der „Organisation.“
„Organisation“ bedeutet für die Tendenz aller Organismen, Strukturen und Aktivitäten zu systematisie-
ren, hierarchisch zu koordinieren, in immer höhere, komplexere, übergreifendere funktionale Systeme
zu integrieren, um so übergeordnetere immer umfassendere und komplexere Funktionen zu realisie-
ren.235 (Hvh.: kursiv im Original, fett A.S.)

Soweit Buggles Darstellung der Grundzüge von Piagets Theorie. Ich sehe dabei manches Verwandtes zu Maturanas
Theorie. Es ist aber ein scheinbarer Widerspruch zwischen Maturanas und Piagets Aussagen zu klären. Piagets spricht
vom Organismus, der sich als offenes System mit seiner Umwelt austauscht, jedoch innerhalb nicht zu überschrei-
tenden Toleranzgrenzen. Maturana beschreibt die Organismen als geschlossene Systeme, die ihre Grenzen selbst
festlegen. Geschlossenheit bedeutet nach Maturana, „dass sie nur solche Einflüsse zulassen, die mit ihrer Struktur

234  Siehe Maturanas Metapher des Seiltänzers, Anm. 101.


235  Buggle, (1993), 24ff

Die Welt als Garten  111


vereinbar sind.“ Er nennt den Austausch zwischen System und Umwelt Strukturelle Kopplung.236 Wie wichtig
diese Geschlossenheit gerade bei kognitiven Systemen ist, ergibt sich aus der Tatsache, dass ständig Millionen von
‚Informations-Bits’ auf das System eindringen, die sozusagen gefiltert werden müssen, weil sonst das System zu-
sammenbrechen würde. Das was Piaget Einhaltung der Toleranzgrenzen nennt, entspricht der Geschlossenheit, die
dies verhindert. Ich bleibe deshalb bei der Definition der geschlossenen Systeme, die auch Grundlage der Theorie
Luhmanns ist.

Die bisherige Beschreibung der Adaptation bezog sich vorwiegend auf die physische Seite der Organismen; denn
das Leitmotiv Piagets ist:

Erkenntnis aus ihren biologischen Ursprüngen heraus transparent zu machen und ein Kontinuum zwi-
schen ursprünglich-niedersten Lebensäußerungen und höchsten Erkenntnisprozessen aufzuzeigen. ...

Auch Erkenntnisprozesse ... werden von Piaget als Adaptationsvorgänge angesehen, durch die kognitive
Elemente der Umwelt aktiv an bestehende Erkenntnisstrukturen ... des jeweiligen Organismus assimi-
liert ... werden, wie andererseits dieselben instrumentellen Erkenntnisstrukturen ... sich im Vorgang
der Akkommodation den zu erkennenden Objekten und Relationen und deren strukturellen Merkmalen
... anpassen.“ 237

Piaget hat seine Theorie auf Grund von Beobachtungen der kindlichen Entwicklungsstufen aufgestellt. Zum
Verständnis kann auch ein Blick auf die neueren Ergebnisse der Hirnforschung beitragen, die Piagets Theorie bestä-
tigen. Der Hirnforscher Gerhard Roth beschreibt

Wahrnehmungsakte und Handlungen, die wir routinemäßig tun, nachdem wir sie immer und immer
wieder ausgeführt haben; wir können sie „wie im Schlaf“. Der Grund hierfür ist, dass im Gehirn für
diese Handlungen „fertige“ Nervennetze vorliegen, die aktiviert werden. Dabei ... sind die notwendigen
Anpassungen an kleinere Veränderungen der vorliegenden Situationen in den Netzen mit berücksich-
tigt. [Das ist Assimilation, A. S.] Wir geraten aber „aus dem Takt“, wenn die Veränderungen zu groß
werden. ...

Wird ... vom retikulären Überwachungs- und Bewertungssystem etwas als wichtig im Lichte vergange-
ner Erfahrung angesehen, so wird geprüft ... welche cortikalen Areale für dieses Problem „zuständig“
sind. ... [dann] wird vom retikulären System „untersucht“, ob dort ein Neuronennetzwerk vorhan-
den ist, das die Aufgabe „routinemäßig“ bewältigen kann. Wenn dies nicht der Fall ist, dann muß ein
Netzwerk neu angelegt bzw. ein vorhandenes „umverdrahtet“ werden. Die entsprechenden Areale
erhalten nun die Aufgabe, sich mit dem Problem zu befassen. Dabei kann es sich um das Erkennen
eines unbekannten Objekts, das Verstehen einer neuartigen Aussage, das Erlernen einer ungewohn-
ten Bewegung, das Lösen eines Problems oder das Vorstellen eines neuartigen Sachverhalts handeln.
Letzlich müssen immer neue Neuronenverknüpfungen angelegt werden, die in der Lage sind, ein
Verhalten zu steuern oder einen internen Zustand zu erzeugen, welcher vom Gehirn als Lösung des
Problems angesehen wird. Das geschieht mit allen Mitteln, die dem Gehirn zur Verfügung stehen, und
dies sind neben den aktuellen Sinnesdaten auch die Gedächtnisinhalte, die auf ihre mögliche Relevanz
hin geprüft werden müssen. [Das ist Akkommodation. A.S.] 238

236  siehe Anm. 93 - 95


237  Buggle,(1993), 28f.
238  Roth, (1997), 232.

112  Die Welt als Garten


Piaget hat auch die Systemtheorie Niklas Luhmanns beeinflusst. Ich gebe hier die Ausführungen von Horster zu
Luhmanns Theorie wieder:

Das psychische System nimmt nur das aus der Umwelt auf, was sich in das System integrieren lässt.
Was das ist, bestimmt sich aufgrund von Selbstreferenz. „Ein selbstreferenzielles System operiert stets
in der Form des Selbstkontaktes. Es nimmt Wirkungen aus der Umwelt auf und gibt Wirkungen an die
Umwelt ab in der Form von Aktivitäten, die sich jeweils intern abstimmen und insofern stets struktu-
rell Selektivität aufweisen.“ Niemand anders sagt dem System, was es aufnehmen soll. Das System ent-
scheidet auf der Basis seiner Selbstinterpretation, ob sich etwas aus der Umwelt assimilieren lässt
oder ob es sich selbst akkommodieren will. Wir können auch sagen, dass das System entscheidet,
ob die Aufnahme von Informationen aus der Umwelt für es selbst sinnvoll sind, ob sie Informationen
sind oder nur Rauschen.239 (Hvh. A.S.)

Und Luhmann selbst führt aus:

Der Begriff der Anpassung [hat] eine unabweisbare ... Prominenz, solange die System/Umwelt-Differenz
das Leitparadigma der Systemtheorie ist, denn diese Differenz kanalisiert die Informationsverarbeitung
des Systems ... durch die Alternative von Anpassung des Systems an die Umwelt oder Anpassung der
Umwelt an das System.240

Auch bei Ernst von Glaserfeld erkennt man das Prinzip:

Die Anwendung des Wissens beruht darauf, dass das kognitive Subjekt den Fluß der elementaren
Erfahrung durch Assimilation an vorhandene Begriffe segmentiert und, solange das in befriedigender
Weise funktioniert, dank dieser Begriffe zu einer kohärenten Wirklichkeit koordiniert.

Wo die Assimilation fehlgeht, das heißt, wo das Ergebnis der Erwartung nicht entspricht, werden
Handlungen oder Begriffe abgeändert (Akkommodation) was, wenn es erfolgreich ist, zur Erweiterung
des Wissens führt.241

Wenn man alle diese Aussagen auf ihren Kern zurückführt, erkennt man die ‚Form der Unterscheidung mit zwei
Seiten:’

Adaptation
Assimilation Akkommodation

Und besonders charakteristisch für diese Unterscheidung ist ihre Eigenschaft der Skalierung. Das wird deutlich,
wenn man die Extreme auf der Skala betrachtet: Das Individuum, das sich im Extrem der Assimilation bewegt, ist der
Mensch mit dem festen Weltbild, den festen Grundsätzen, der nur seine Meinung gelten lässt, der Fundamentalist.
- Das Individuum, das sich immer akkommodiert, unterliegt jedem Einfluss, der auf ihn einwirkt. Es ist der Mensch
ohne eigene Meinung, der Mitläufer. Und die absolute Einseitigkeit führt auf beiden Seiten zu Verblendung und im
Extrem zum Schwachsinn. Hieraus ist abzuleiten, dass die Ausgewogenheit zwischen diesen Extremen sehr wichtig

239  Horster, (1997), 85f.


240  Luhmann, (1987), 477.
241  Glaserfeld, (1997), 54.

Die Welt als Garten  113


ist. „Das Ziel ... ist, wie Piaget unermüdlich erklärte, ... die Erreichung und Erhaltung eines inneren Gleichgewichts
(Äquilibration.)“ 242

Nun kann das Ziel „eines inneren Gleichgewichts“ zu dem falschen Eindruck führen, dass es sich hier um einen
statischen Zustand handelt. Das ist absolut nicht der Fall. Wie schon gesagt, ist der Hauptgegenstand der Forschung
Piagets die kognitive Entwicklung des Individuums. Er beginnt mit der Beobachtung des frühesten Stadiums der
Neugeborenen, ihrer ersten Auseinandersetzung mit der Umwelt durch passive Reflexe. Es sind der Greif- und
der Saugreflex. Der Greifreflex entwickelt sich dann zum aktiven Greifen. Der Säugling greift nach allem, was in
seine Nähe kommt und führt es zum Munde, um es näher zu untersuchen. Dies ist der Anfang der menschlichen
Kognition, die schließlich zum Begreifen führt. Dieser körperliche Aspekt des Begreifens ist der Ausgangspunkt für
das noch zu behandelnde Thema der Synästhetik.

Der Antrieb dieser ganzen Entwicklung ist die Akkommodation. Das ganze Leben eines Individuums ist bestimmt
durch die ständige Erweiterung seines Weltbildes durch Akkommodation, und die Assimilation dient dabei der
Sicherung der erworbenen Erkenntnis oder Anschauung. Dies lässt sich in allen Bereichen der Kognition verfolgen,
zum Beispiel in der Entwicklung des Musikverständnisses. Es beginnt bei den meisten Menschen mit Kinderliedern
und Volksliedern und entwickelt sich - in einem entsprechenden kulturellen Umfeld - oft als Wiederholung der
Entwicklung der Musikstile, so dass man hier von einer Spiegelung der Phylogenese in der Ontogenese sprechen
kann: Vivaldi, Bach, Mozart, Beethoven, Brahms, Mahler, Strauß, Bartok. – Ein anderes Beispiel ist die Rezeption
der bildenden Kunst in der Gesellschaft. Van Gogh fand zu Lebzeiten keinerlei Anerkennung; heute hängen die
Reproduktionen seiner Bilder bei ‚Lieschen Müller’ über dem Sofa. - Ganz wichtig ist die Tatsache, dass jede
Akkommodation, jedes Vordringen in neue kognitive Bereiche mit Lustgewinn verbunden ist. Das kann
man besonders gut bei Kleinkindern beobachten, die begeistert sind, wenn sie etwas Neues gelernt haben, körper-
lich oder geistig. Wie bei Jonny, der zum erstenmal eine Treppe bezwingt.

Abb. 6/1, 6/2 Ein Welteroberer

Das gilt auch für die Entwicklung des produktiven und des rezeptiven Vermögens in der Kunst. Umberto Eco hat
dies am Beispiel der Musik deutlich gemacht:

242  Ebd.

114  Die Welt als Garten


Die Gestaltgesetze, mögen sie auch die Grundlage des musikalischen Verstehens bilden, [können] die
musikalische Gestaltung als Ganzes nur insofern beherrschen, als sie in der Entwicklung des Materials
ständig verletzt werden; die Erwartung des Hörers ist nicht ein Warten auf selbstverständliche, sondern
auf ungewohnte Lösungen, auf Verletzungen der Regel, die den schließlichen Rückgang zur gesetzmä-
ßigen Ordnung noch überzeugender erscheinen lassen.243

Ich fasse zusammen: Das ‚Spiel’ der Kunst ist eine Form der Adaptation, eine ‚Form der Unterscheidung mit zwei
Seiten.’ Assimilation ist ein Filtern; nur was durch den Raster der Gewohnheit, der Voreingenommenheit passt,
wird assimiliert. – Akkommodation setzt Offenheit voraus. Im freien Spiel der Neugierde und Kreativität wird
ausprobiert, was ins Bild passt. Das Bild verändert, entwickelt sich. Hier besteht eine gedankliche Verbindung zu
Schillers Spieltrieb im 14. Brief. Und nach Umberto Eco gehört es

zu den Bedingungen unseres Weiterlebens als denkende Wesen, daß wir es verstehen, unse-
re Intelligenz und unsere Sensibilität so fortzuentwickeln, dass jede Erfahrung das System unserer
Assimilationsschemata bereichert und modifiziert. Dieses System muß sich organisch funktionstüchtig
erhalten, d. h. ohne Sprünge und Deformationen weiterwachsen. 244

6.3 Formen der Adaptation


Nun gilt es, die Grundstruktur der Adaptation zu konkretisieren im Hinblick auf Kunstproduktion und -rezep-
tion. Hier eröffnet sich ein weites Feld von Bedeutungen, die alle von der Grundunterscheidung Assimilation /
Akkommodation abgeleitet werden können und wie diese eine Skala der Unterscheidung bilden. Ich habe eine
Anzahl davon in einer Tabelle zusammengefasst und lose geordnet nach Bedeutungs- und Wahrnehmungsschemata.

Adaptation

Assimilation Akkommodation
Kognitionsschema:

Redundanz Rauschen

Eindeutigkeit Ambiguität

Ästhetik Anästhetik

Gestaltungsschema:

Gestalt Amorphie

Prägnanz Diffusion

Klarheit Unschärfe

Geometrie, Symmetrie Freie Foren

Stereotypie Rhythmus

Einheitlichkeit Kontrast, Vielfalt

Statik Dynamik, Wachsen

243  Eco, (1998), 141.


244  Ebd. 146.

Die Welt als Garten  115


Adaptation

Codierung Beliebigkeit

Klischee, Manier Originalität, Innovation

Erlebnisschema:

Übersichtlichkeit Langeweile Überraschung Spannung,


Vergnügen

Harmonie Dissonanz

Ruhe Erregung

Gewohntes Ungewohntes

Einfachheit Komplexität

Ordnung Spontaneität

Die Reihe kann sicher noch erweitert werden. Die Reihenfolge ist mehr oder weniger beliebig und die Glieder
sind teilweise austauschbar. Manche Bedeutungen überschneiden sich auch, wie die Ausführungen der einzelnen
Autoren zeigen, was auf die gemeinsame Wurzel der Adaptation zurückzuführen ist. -

Einige Beispiele sollen die Bedeutung dieser Unterscheidungen erläutern. Es wird sich zeigen, dass sie insgesamt die
Wahrnehmung und das Wesen der Gestaltung und der Kunst bestimmen.

6.3.1 Kognitionsschema

Die Unterscheidungen im kognitiven Schema: Redundanz / Rauschen sowie Eindeutigkeit / Ambiguität kann man
als eine Grundunterscheidung der Adaptation bezeichnen. Dies wird in der Darstellung Umberto Ecos deutlich:

Eine völlig zweideutige Botschaft erscheint als äußerst informativ, weil sie mich auf zahlreiche inter-
pretative Wahlen einstellt, aber sie kann an das Geräusch angrenzen, d.h. sie kann sich auf bloßes
Geräusch reduzieren. Eine produktive Ambiguität ist die, welche meine Aufmerksamkeit erregt und
mich zu einer Interpretationsanstrengung anspornt, mich aber dann Dekodierungserleichterungen
finden lässt, ja mich in dieser scheinbaren Unordnung als Nicht-Offensichtlichkeit eine viel besser
abgemessene Ordnung finden lässt, als es die Ordnung ist, die in redundanten Botschaften herrscht.
... Es ist dies das Problem der Kolorierung der Geräusche, d.h. des Minimums an Ordnung, das in die
Unordnung eingeführt werden muß, damit diese aufnehmbar wird.245 (Hvh. A.S.)

Wie für alle Unterscheidungen auf der Assimilationsseite, gilt auch für die Redundanz, dass sie nicht per se negativ
aufzufassen ist. Ein gewisses Maß an Redundanz – also Wiederholungen - ist immer notwendig, wenn komplizierte
Gegebenheiten verdeutlicht werden sollen. Der Begriff Eindeutigkeit impliziert dagegen oft Borniertheit, die wie-
derum Ambiguität als Wankelmütigheit ansieht.

Mit der Unterscheidung von Ästhetik und Anästhetik hat sich Wolfgang Welsch ausführlich befasst:

Ein ästhetisches Grundgesetz besagt, dass unsere Wahrnehmung nicht nur Belebung und Anregung,
sondern auch Verweilen, Ruhezonen und Unterbrechungen braucht. Dieses Gesetz verurteilt die der-

245  Eco, (1991), 146.

116  Die Welt als Garten


zeit grassierende Verschönerungstendenz zum Scheitern. Die Totalästhetisierung läuft auf ihr Gegenteil
hinaus. Wo alles schön wird, ist nichts mehr schön; Dauererregungen führen zu Abstumpfungen;
Ästhetisierung schlägt in Anästhetisierung um. Gerade ästhetische Gründe sprechen also dafür, den
Ästhetisierungstrubel zu durchbrechen. Inmitten der Hyperästhetisierung tun ästhetische Brachflächen
not.246

Auch hiernach gilt für jegliche Gestaltung, auf der Skala der Unterscheidung ein gutes Verhältnis zu finden.

6.3.2 Gestaltungsschema

Die ‚Gestalt’ als Begriff spielt in der allgemeinen Wahrnehmungstheorie eine prominente Rolle, so dass sie als
Gestaltpsychologie einen eigenen Wissenschaftsbereich bildet. Der Leitbegriff ist die „gute Form.“ „ ... das, was die
Gestaltpsychologen die ‚gute Form’ nennen, [ist] dasjenige unter allen Modellen, welches ‚die geringste Information
erfordert und die größte Redundanz besitzt.’“ 247

Zunächst ist festzustellen, dass Wahrnehmung immer Selektion ist. Nach den Erkenntnissen der Hirnforschung
nimmt ein Mensch nur einen winzigen Bruchteil der laufenden Sinneseindrücke wahr, und zwar nur das, was je-
weils für ihn und seine Existenz wichtig ist. Nach Wolfgang Welsch hat

die Gestaltpsychologie ... uns gelehrt, daß zu jedem Wahrnehmen nicht nur ein Nichtwahrnehmen
gehört, sondern daß solcher Ausschluß, solche Selektivität für das Wahrnehmenkönnen konstitutiv ist.
Neurophysiologische Untersuchungen haben diesen Zusammenhang inzwischen besser verständlich
gemacht: Kognitive Systeme können generell nur, weil sie selbstreferenziell geschlossen sind, um-
weltoffen operieren. Wir sehen nicht, weil wir nicht blind sind, sondern wir sehen, weil wir für das
Meiste blind sind; entsprechend heißt, etwas sichtbar zu machen, im gleichen Akt etwas anderes un-
sichtbar zu machen. – Keine aisthesis ohne anaisthesis - nicht einmal im einfachsten Wahrnehmen.248

Diesem Sichtbar- und Unsichtbarmachen entspricht der Leitbegriff der Gestaltpsychologie: ‚Figur und Grund.’
‚Figur’ ist das, was man wahrnimmt und ‚Grund’ ist das ‚Unsichtbare.’ Das Auge muss also etwas unterscheiden
können, zum Beispiel ein Haus in der Landschaft. Extrem ist der Blick auf eine Zielscheibe, bei dem man gar nichts
anderes sieht. Am stärksten wird eine Figur vom Grunde abgehoben, wenn sie fest umrissen ist. Eine andere Weise
ist die Unterscheidung durch einen Kontrast, beispielsweise durch hell / dunkel oder durch eine starke Farbwirkung,
wie die Signalfarbe Rot an Verkehrszeichen.

Im Zusammenhang hiermit ist ein anderer Wirkungsfaktor der Wahrnehmung zu sehen: die Prägnanz. Prägnant
sind die Dinge, die sich einprägen, das heißt, das was in der Erinnerung haften bleibt.

In der Gartenkunst sind die Gestaltungsschemata von größter Bedeutung. Auszugehen ist von der Tatsache, dass
die ‚natürliche Vegetation’ meistens ein diffuses Bild abgibt. Seit dem Urgarten ist der Mensch bestrebt, hierin
Ordnung zu schaffen. Das hat im Nutzgarten einen praktischen Grund, ist im Schmuckgarten aber ein ästheti-
sches Bedürfnis. Die Methode, Pflanzen zu beschneiden als Hecken oder in dekorative Formen entspringt einem
archetypischen Bedürfnis. Noch heute verwenden Laien, wenn ihren Garten bepflanzen, vornehmlich Koniferen
und kompakte Immergrüne, die eine fest umrissene Gestalt bilden. Frei wachsende Gehölze werden entweder als
Solitärs verwendet, die sich vom Hintergrund abheben, oder sie werden kugel- oder kastenförmig beschnitten, wie
im Barock. Eine artenreiche Strauchpflanzung wird als ‚Gestrüpp’ empfunden. In der professionellen Planung soll-

246  Welsch, (1993), 45.


247  Eco, (1998), 150.
248  Welsch, (1990), 31f.

Die Welt als Garten  117


te man dieses Grundprinzip der Wahrnehmung nicht ganz unberücksichtigt lassen. So lässt sich zum Beispiel das
Figur-Grund-Verhältnis dadurch herstellen, dass man Gruppen von Immergrünen in ein Spannungsverhältnis zu
größeren Strauch- und Baumgruppen setzt. Die großen Landschaftsparks sind nach diesem Prinzip gestaltet. Die
neuerdings auch in der professionellen Gestaltung beliebten Taxusfiguren, Kugeln und Pyramiden sind wohl nur
einem vorübergehenden modischen Nachklang der Postmoderne geschuldet.

Ein Beispiel für Prägnanz, sehe ich in der Bildung starker Farbeindrücke. Die berühmten ‚100000 Tulpen’ be-
geistern immer wieder das Publikum. Rosen- oder Sommerblumenpflanzungen in einem grünen Rahmen haben
die gleiche Wirkung; jedoch sollten sie eine gewisse Differenzierung erfahren, um nicht langweilig zu wirken.
Schon die Rabatten der Barockgärten waren abwechslungsreich bepflanzt. Prägnanz ist auch zu erreichen durch
Großflächigkeit: eine ‚Blumenwiese’ wirkt erst in einer gewissen Größe; in einem Vorgarten wäre sie unangebracht.

6.3.3 Erlebnisschema

Das Gestalt- und Prägnanzprinzip beziehe ich hauptsächlich auf die Gestaltung der Pflanzung im Garten. Es hat
natürlich auch eine Bedeutung für die übrige Gartengestaltung: Raumbildung, Wegeformen und architektonische
Elemente. Wichtiger sind jedoch die weiteren Gestaltungsschemata, wie Klarheit, Symmetrie, Geometrie usw.
Ihr ausgewogenes Verhältnis zu ihren jeweiligen Gegensätzen bestimmt die psychologischen Bedingungen im
Erlebnisschema.

Die Betonung der einen Seite auf der Skala der Unterscheidung birgt immer eine Gefahr in sich: Klarheit steht für
Ordnung, Ruhe und Harmonie; wenn aber Spannung, Überraschung und Erregung nur wenig ausgeprägt sind, tritt
Langeweile ein. Gerade in vielen modernen Anlagen, in denen „Klarheit“ das oberste Gebot des Planungskonzeptes
ist, kann man diesen Effekt beobachten. Darauf werde ich noch näher eingehen. Umgekehrt ist es natürlich genau
so negativ zu sehen, wenn eine Gestaltung diffus, unscharf und nur aus unklaren freien Formen besteht. In der
Praxis ist es unerlässlich, die durchschnittliche Fähigkeit zur Akkommodation der zu erwartenden Rezipienten zu
berücksichtigen.

Wie schon mehrfach betont, kommt es bei den skalierten Unterscheidungen auf die Wahl des Punktes auf der Skala
an. Ein optimales Skalenverhältnis zeigt Michael Winter anhand eines historischen Beispiels:

Gegenüber der Forderung der klassischen Ästhetik in der Architektur des 17. Jahrhunderts, alle geo-
metrischen und symmetrischen Beziehungen einer Anlage auf den ersten Blick verstehen zu können,
... macht Versailles eine entscheidende Einschränkung. Das Ganze versteht nur der sofort, der den
Plan davon besitzt. Für die Körper, die sich ohne Plan in der Ebene bewegen, ist allein die Perspektive
entlang der Symmetrieachse in ihrer rationalen Struktur erfassbar. Rechts und links davon bleiben
Symmetrie und Geometrie, die Rationalität der Raumgestaltung zwar erhalten, entziehen sich in ih-
rer Gesamtheit jedoch der Einsicht des Betrachters. Er kann auf seinem Weg nur sukzessive partielle
Symmetrien wahrnehmen und ist unvorhersehbaren Aus- und Einblicken ausgeliefert. ... Le Notre
schuf einen Park voller Überraschungen. ... Nicht Statik, sondern Bewegung, nicht totale Übersicht,
sondern Überraschung, sind die ästhetischen Prinzipien von Versailles. Bewegung und Überraschung
sind aber nicht willkürlich, sondern genau berechnet und in die Gesamtsymmetrie einkalkuliert.249

Sehr aufschlussreich in diesem Zusammenhang sind die Forschungen eines niederländischen Teams von Psychologen
um Henk Staats über die emotionalen Qualitäten von Gestaltungen. Sie untersuchten die Wirkungen unter-
schiedlicher Waldzustände auf Versuchspersonen: ‚ordentliche’ gut erschlossene Waldpartien und unwegsame dich-

249  Winter, (1986)

118  Die Welt als Garten


te Partien. Grundlage des Programms war „Russels Hauptthese, ... dass allen emotionalen Erfahrungen zwei
Grunddimensionen zugrunde liegen: Vergnügen und Erregung.“

Es zeigte sich, dass es deutliche Unterschiede in der emotionalen Qualität gab, die von der Erschließung
und dem Waldtyp abhängig sind. Während die Erregung größer ist, wenn die Erschließung geringer
und der Wald dichter sind, verhielt es sich mit dem Vergnügen ganz anders. Bei hoher Erregung ist hier
das Vergnügen relativ gering, aber es ist im Maximum, wenn Erregung um einen Mittelwert
pendelt. Besonders beeindruckte uns, dass negative Erfahrungen während des Spaziergangs später
oft ganz unterschiedlich bewertet werden: der Gang durch den dichten und unzugänglichen Wald, der
in einigen Abschnitten die unruhigsten und am wenigsten angenehmen Erfahrungen brachte. Wurde
hinterher positiver bewertet als während des Spaziergangs.250 (Hvh. A.S.)

Diese Untersuchung zeigt also sehr deutlich, dass die Akzeptanz am größten ist, wenn zwischen Langeweile und
Spannung ein Mittelwert besteht; aber sie zeigt auch, dass dieser Mittelwert kein Festpunkt ist, sondern dass sich
die Versuchspersonen im Laufe der Zeit auch an den ‚wilden’ Zustand der dichteren Waldpartien akkommodieren
konnten. Die Autoren folgerten aus ihren Untersuchungen, „dass sich die emotionale Qualität von Entwürfen zu
einem gewissen Grade planen und manipulieren lässt.“

Sie zeigen in dem Aufsatz noch eine interessante „Typologie von Gefühlszuständen“, die James Russel entwickelt
hat: „erregt / hochgestimmt / froh / freundlich / entspannt / ruhig / schläfrig / gelangweilt / bedrückt / unzufrieden
/ erschreckt / angespannt.“ 251

Zur Verdeutlichung dieses Themas der Adaptation zitiere ich noch zwei einschlägige Auffassungen. Dezidiert die von
Friedrich Cramer:

Schönheit ist offenbar am ergreifendsten, am deutlichsten dort, wo sie an die Grenzen zum Chaos
vorstößt, wo sie ihre Ordnung freiwillig aufs Spiel setzt. Schönheit ist eine schmale Gratwanderung
zwischen dem Risiko zweier Abstürze: auf der einen Seite die Auflösung aller Ordnung in Chaos, auf
der anderen die Erstarrung in Symmetrie und Ordnung. Nur auf diesem gefährlichen Grat entsteht
Schönheit, wird Gestalt.252

Die Metapher der Gratwanderung ist aber missverständlich. Der Grat ist keine feste Größe; was für den einen schon
chaotisch erscheint, ist für den anderen gerade anregend.

Ähnlich formuliert es W. Schulz:

Ein mittleres Ausmaß an Information (wird) als am schönsten empfunden. ... Schönheit zeigt sich
am ausgewogenen Verhältnis zwischen ordnenden und stimulierenden Elementen. Vermutlich wirken
besonders jene Strukturen als „schön“, die auf den ersten Blick klare Orientierung ermöglichen, auf
den zweiten Blick aber durch Vielfalt an Gestaltungselementen Neugierde und Explorationsverhalten
hervorrufen.253

In eindrucksvoller Weise hat sich jetzt Gerhard Richter mit diesem Phänomen auseinander gesetzt. In seinem
Buch „Wald“ zeigt er 270 ganzseitige Fotos, die alle in einem Laubwald aufgenommen sind. Der erste Eindruck ist

250  Staats et al, (1994), 103ff.


251  Ebd., 108.
252  Cramer, (1989), 204f.
253  Schulz, (1989)

Die Welt als Garten  119


chaotisch. Die Fotos zeigen Waldszenen die auf den ersten Blick völlig gleichartig sind: gefällte und entwurzelte
Bäume, Totholz, alte und junge Bäume, wirres Gebüsch aber auch schöne glatte Stämme. Doch wenn man das
Buch aufmerksam durchblättert, ist man zunehmend fasziniert von unterschiedlichsten Stimmungen, dramatische,
ruhige und gar liebliche. Aus einer anfangs sinnlos erscheinenden Ansammlung gleichartiger Bilder entsteht durch
Akkommodation eine fantastische Stimmungswelt voller Assoziationen. (Das Gleiche gilt für die Prosa, die zwischen
den Bildern eingefügt ist: ohne Satzzeichen und ohne Syntax).254

Richter hat sich in seinem sonstigen Werk nie auf Abstraktion oder Gegenständlichkeit festgelegt. Und so könnte
man in diesem Werk der Waldbilder eine Zwischenwelt sehen, die zu einer Gruppe seiner abstrakten Bilder führt,
die eine ähnliche Struktur haben. Ich füge dies hier ein, weil mich das Verhältnis der Gartenkunst zur bildenden
Kunst noch näher beschäftigen wird, aber auch, weil die Rezeption dieses Werkes, das kaum ordnende Elemente
enthält, ein hohes Maß an Akkommodation erfordert, genau wie derartige Szenen in der Natur. --

Ebenfalls zum Erlebnisschema gehören die beiden „Gegensatzpaare von Einfachheit und Komplexität sowie von
Ordnung und Spontaneität“ von Gerhard Schulze, der sie als „Die fundamentale Semantik“ und als „ein einfaches
Strukturgerüst“ bezeichnet, um das herum „die soziale Wirklichkeit ... aufgebaut ist“ 255 Dieses Modell, das Schulze
für die Beschreibung der sozialen Milieus entwickelt hat, ist auch für das Kunstsystem relevant.

Das Besondere dieser Darstellung ist, dass die Adaptation nicht nur aus einer eindimensionalen Skala besteht, son-
dern dass hier zwei Dimensionen zusammen wirken: Der Denkstil und der Handlungsstil. Schulze nennt das die
psychophysische Semantik. In Bezug auf die Adaptation ist festzustellen, dass die Pole Einfachheit und Ordnung
durch Assimilation bestimmt sind, die Pole Spontaneität und Komplexität durch Akkommodation.

Für die unübersehbar vielen Manifestationen des Erlebens stellt die psychophysische Semantik ein
einfaches Beschreibungsschema bereit. ... gegenwärtig [genügen] zwei Dimensionen, charakteri-
sierbar durch entgegengesetzte Erlebnishaltungen, für eine fundamentale Beschreibung. Die bei-
den Basisdimensionen haben zu tun mit der Dualität von Innen und Außen, von Kognition und
Aktion, von Denken und Handeln. ... In Erlebnissen fließen sowohl psychische (kognitive) wie
physische (körperliche) Empfindungsmodalitäten zu einem Gesamteindruck zusammen. Wohl sind
die Mischungsverhältnisse unterschiedlich, doch gibt es ebenso wenig völlig unkörperliche geistige
Erlebnisse wie völlig ungeistige körperliche Erlebnisse.256

Das entspricht dem Ausgangspunkt zu diesem Kapitel, der Feststellung, „dass in der Kunst immer eine Beziehung
zwischen Produktion und Rezeption besteht.“ 257 In der Kunstproduktion spielt der Handlungsstil eine größere Rolle
als in der Rezeption, der Denkstil bestimmt beide.

254  Richter, (2008)


255  Schulze, (1993), 350
256  Ebd., 253f.
257  S. Anm. 236.

120  Die Welt als Garten


Die fundamentale Semantik nach Gerhard Schulze:258

6.4 Verstehen von Kunst


Diese Beziehung ist jetzt noch näher zu untersuchen. Das Problem ist immer das Verstehen oder Nichtverstehen.
Nach Niklas Luhmann ist dies das Problem der doppelten Kontingenz. „Kontingent ist etwas, was weder not-
wendig ist, noch unmöglich ist; was also so, wie es ist, ... aber auch anders möglich ist.“ 259 Die doppelte Kontingenz
erklärt Luhmann mit einer Metapher:

Zwei blackboxes bekommen es ... miteinander zu tun. Jede bestimmt ihr eigenes Verhalten durch
komplexe selbstreferenzielle Operationen innerhalb ihrer Grenzen. Das, was von ihr sichtbar wird, ist
deshalb notwendig Reduktion. Jede unterstellt das Gleiche der anderen. Deshalb bleiben die blackbo-
xes bei aller Bemühung und bei allem Zeitaufwand ... füreinander undurchsichtig.260

Solche ‚blackboxes’ sind also auch Kunstproduzent und –rezipient. Die doppelte Kontingenz besteht hier aus fol-
gender Gegebenheit: Kunst ist immer etwas Neues, eine Erweiterung eines bestimmten Weltbildes. Der Künstler
‚ringt’ damit, seine Ideen auszudrücken. Seine Ausdrucksweise ist kontingent. Der Rezipient kann das Neue des
Kunstwerkes nicht assimilieren; ob er sich aber akkommodieren kann oder nicht, ist ebenfalls kontingent. Diese
doppelte Kontingenz ist die Ursache für die Verständnisschwierigkeiten in der Kunstrezeption.

258  Ebd., 255.


259  Luhmann, (1987), 152.
260  Ebd., 156.

Die Welt als Garten  121


Ein Mittel, diese Schwierigkeit zu mindern, besteht darin, dass der Künstler eine für ihn typische Handschrift ent-
wickelt, die der Rezipient ‚lernen’ kann. Über die Möglichkeiten aber auch die Gefahren lesen wir bei Umberto
Eco:

Was heißt es, von der Einheit von Inhalt und Form in einem gelungenen Werk zu sprechen, wenn
nicht, dass dasselbe strukturale Schema die verschiedenen Organisationsebenen beherrscht? Es etabliert sich
eine Art Netz von homologen Formen, das den besonderen Code dieses Werks bildet. Dieser ist die Regel der
Operationen, die daran gehen, den vorherstehenden Code zu zerstören, um die Ebenen der Botschaft
zweideutig zu machen. ... die ästhetische Botschaft [verwirklicht] sich im Verstoß gegen die Norm. ...
Dieser Verstoß gegen die Norm ist nichts anderes als die zweideutige Strukturation bezüglich des Codes.
Diese Regel, dieser Code des Werks ist von Rechts wegen ein Idiolekt (... der private und individuelle Code
eins einzigen Sprechers ...) Dieser Idiolekt erzeugt Nachahmung, Manier, stilistische Gewohnheit ... .261
(Hvh. i. O.)

Und Thure von Uexküll stellt zu dieser Verständnisfrage fest:

Die Verknüpfung, die Kodierung von Zeichen muß einmal vom Sender und dann wieder vom
Empfänger vorgenommen werden, soll die Informationsübertragung zustande kommen. Die entschei-
dende Frage ist daher, wie sich Sender und Empfänger über den Kode verständigen. Das ist das Problem
von Kommunikation überhaupt. 262

Wir folgern also, dass der Code eines wahren Kunstwerks immer etwas Neues ist, das gegen das Hergebrachte ver-
stößt und dadurch irritiert. Durch Akkommodation entsteht neues Bewusstsein. Wenn andere Künstler diesen Code
weiter entwickeln, kann ein neuer Stil entstehen. Ein Beispiel aus der Kunstgeschichte ist der Pointillismus, aus
dessen Abwandlung van Gogh einen starken Idiolekt entwickelte, der dann den Übergang zum Expressionismus
einleitete.

Beispiele für die zahlreichen gegenwärtigen sehr ausgeprägten Idiolekte sind die Nagelbilder von Günther Uecker
oder die Steinblöcke von Rückriem. Sehr bekannt, weil ihr Code sehr eingängig ist, sind die Werke von Vasarely
und Hundertwasser. - Geprägt durch häufigen Wechsel ihres Codes sind das Lebenswerk Picassos und Paul
Klees.

In der Gartenkunst der Gegenwart sind individuelle Codes nicht sehr häufig. Eine erkennbare Handschrift hatten
unter anderen Mattern und Hammerbacher, und einen ausgeprägten Idiolekt sehe ich in dem Werk von Gustav
Lüttge, der seinen Stil in jeder Hinsicht perfektionierte.

Verbunden mit dem Wesen des Codes und des Idioleks ist die Gefahr der Nachahmung. Diese besteht kaum da, wo
sie gleich ins Auge springt; eine Verhüllung a la Christo würde sofort als Kitsch abgetan sein. Weniger auffällig sind
Codes, die an sich sehr ansprechend sind, aber auf die Dauer durch ständige Anwendung zu Klischees werden. Als
ein Beispiel in der Gartenkunst nenne ich nur das immer wiederkehrende Stereotyp des orthogonalen Rasters, der
von einer Diagonalen durchschnitten wird. Noch problematischer ist die Übernahme von Codes aus der bildenden
Kunst, was noch näher erörtert werden soll. - Wenn sich einmal eine Kritik der Gartenkunst etablieren würde, wäre
dies Problem der Nachahmung ein wichtiges Kriterium.

261  Eco, (1991), 151f.


262  von Uexküll, (1998), 231.

122  Die Welt als Garten


Zur Vertiefung dieses Themas weise ich auf die Ausführungen Ullrich Eisels über Nachahmung und Nachfolge
hin.263

6.5 Wahrnehmung ist Konstruktion


Alle diese Theorien über Wahrnehmung, ausgehend von Piaget, Maturana u. a. und vor allem beeinflusst von der
Hirnforschung, haben zu einer neuen Erkenntnistheorie geführt, dem Radikalen Konstruktivismus. Dazu Siegfried
J. Schmidt:

Die Erkenntnistheorie des Radikalen Konstruktivismus lässt sich kurz auf folgenden Nenner bringen:
Sie versteht sich als Kognitionstheorie ... Das soll heißen, sie ersetzt die traditionelle epistemologische
Frage nach Inhalten oder Gegenständen von Wahrnehmung und Bewusstsein durch die Frage nach
dem Wie und konzentriert sich auf den Erkenntnisvorgang, seine Wirkungen und Resultate. ...

Der sogenannte gesunde Menschenverstand ... [geht bei seinen] Überlegungen davon aus, dass wir
über unser Wahrnehmungssystem in direktem Kontakt mit der Welt stehen. ...

Sieht man dagegen das Wahrnehmungsproblem nicht vom Aspekt der Sinnesorgane sondern vom
Standpunkt des Gehirns aus, dann eröffnet sich eine völlig andere Perspektive. ... Wahrnehmung
[vollzieht] sich nicht in den Sinnesorganen, sondern in spezifischen sensorischen Hirnregionen: „So
sehen wir nicht mit dem Auge, sondern mit, oder besser in den visuellen Zentren des Gehirns ...
Wahrnehmung ist demnach Bedeutungszuweisung zu an sich bedeutungsfreien neuronalen Prozessen,
ist Konstruktion und Interpretation.“ (Roth) 264

Bei der Bedeutungszuweisung operiert das Gehirn auf der Grundlage früherer interner Erfahrung und stammesge-
schichtlicher Festlegungen: erst dann wird ein Wahrnehmungsinhalt bewusst. Das heißt aber, bewusst wird nur das,
was bereits gestaltet und geprägt ist. Was wir nur schwer einsehen können, ist dass jeder Mensch seine eigene Welt
konstruiert, so dass wir immer wieder erstaunt sind, wenn der Andere „die Sache ganz anders sieht.“

6.5.1 Synästhetik

Wenn wir die Grundlagen der Rezeption in den verschiedenen Kunstgattungen vergleichen, stellen wir erheb-
liche Unterschiede fest, die für die Charakterisierung der Gartenkunst von großer Bedeutung sind. Ich vergleiche:

Malerei: Die Wahrnehmung ist optisch.

Bildhauerei: optisch, kinästhetisch, haptisch,

Architektur: optisch, kinästhetisch.

Gartenkunst: optisch, kinästhetisch, haptisch, akustisch, olfaktorisch, gustatorisch.

Kurz gesagt: Nur die Erzeugnisse der Gartenkunst, wobei die ‚Welt als Garten,’ also die Landschaft, einbezogen ist,
affizieren alle Sinne. Diese Tatsache wird bei den weiteren Überlegungen noch sehr wichtig sein. Deshalb soll das
näher untersucht werden.

263  Eisel, (1997), 22ff.


264  Schmidt, Siegfried J. (1994), 13ff.

Die Welt als Garten  123


Das Zusammenwirken der Sinne bezeichnet man als Synästhetik. Schon durch die Entwicklungspsychologie Piagets
wird das synästhetische Prinzip erklärt. Das Greifschema als die Koordinierung von haptischer und optischer
Wahrnehmung ist, wie wir gesehen haben, die Grundlage erster Kognition. Synästhetisches Wahrnehmungsorgan
ist der Leib. Gernot Böhme sieht den Leib als

Inbegriff des leiblichen Spürens. Im Gegensatz zur naturwissenschaftlichen Erfahrungsweise, die


den menschlichen Körper grundsätzlich als den Körper des anderen thematisiert, ist der Leib nur in
Selbsterfahrung gegeben. ... Es geht darum, das leibliche Spüren als eine Weise zu begreifen, ... in der
wir unsere Natur selbst sind.265

Und bei Alexandre Mitraux lesen wir, dass schon Rousseau sich mit den unterschiedlichen Formen der
Naturwahrnehmung beschäftigt hat in der „Form einer Abrechnung mit der Ästhetik des Blicks.“

In der ersten Form der Landschaftserfahrung zeigt sich die Natur dem Menschen aus der Distanz, ver-
mittelt sich ihm lediglich über den Gesichtssinn, verkümmert zum Panorama. ...

In der zweiten Form dagegen wird die Natur in mehreren Sinnesmodalitäten zugleich wahrgenom-
men. Sie affiziert aus der Nähe oder in unmittelbarer Berührung, vermittelt sich dem Menschen durch
dessen Tasten und Riechen und ist dann auch ein Medium der sinnlichen Vermittlung des Menschen
mit sich selbst. ... Das Berühren der Pflanzen ist unaufhebbar eine lustgefärbte Selbstberührung.266

6.5.2 Raumerfahrung durch Bewegung

Dieses Thema habe ich bereits oben im Zusammenhang mit der psychologischen Wirkung der Wegeführung und in
Bezug auf den fließenden Raum angeschnitten. Es soll hier weiter vertieft werden.

Schon Husserl fasste die beiden Aspekte,

das Sich-Bewegen und das Bewusstsein davon ... unter dem Begriff der „Kinästhese“. ... Die
Erfahrung in einem Horizont von Möglichkeiten ist rückgekoppelt an das Bewusstsein, wie es sich
weitere Sinneseindrücke durch Aktivitäten des Körpers beschaffen könnte. Darin artikuliert sich das
Bewusstsein von unserem Körper als Wahrnehmungs- und Empfindungsorgan, das von uns willent-
lich bewegt wird. Husserl spricht in diesem Sinne von einem Leibbewusstsein. Der Leib wird zum
Wahrnehmungsorgan.267

Heinz Paetzold hat diesen Aspekt der Wahrnehmung ausführlich untersucht.268 Er sieht den „Leib als eine unhin-
tergehbare Voraussetzung aller sinnlichen Raumerfahrungen“269 und betrachtet die Bewegungsformen des Leibes
im Zusammenhang mit unterschiedlichen Raumqualitäten: Der gestimmte Raum

[wird] im ziellosen Gehen, im Wandern ... und vielleicht auch im städtischen Flanieren zugänglich. Im
ziellosen und nicht funktional bestimmten Gehen werde ich des gestimmten Raumes inne. Dazu trägt
bei die aufmerksamlose Bewegung des Leibes, die fließende Rhythmik des Schreitens. Der Leib öffnet
sich der Welt: Die Sinnesorgane spielen zusammen, ohne einem Ziel unterworfen zu sein. Das Auge

265  G. Böhme, (2002), 21.


266  Mitraux, (1986), 219f.
267  Prechtl, (1991), 72.
268  Paetzold, (1990)
269  Ebd. 28

124  Die Welt als Garten


folgt zwanglos dem Blick, ... . Auf solche Weise realisiert sich der Leib als ein Resonanzboden der Welt,
wie umgekehrt seine Gestimmtheit sich spiegelt in der Welt.270

Wir erkennen in diesem gestimmten Raum unmittelbar alle Arten und Formen von Gärten und Landschaften. Als
negatives Beispiel sehe ich die grassierende Mode der unendlich langen ‚Achsen’, die nur einen missgestimmten
Raum erzeugen.

Vom gestimmten Raum unterscheidet Paetzold den Aktionsraum.

Damit ist diejenige Struktur von Räumlichkeit gemeint, die sich dem handelnden Leib erschießt. Handeln
ist hier zu interpretieren als zielgerichtetes Tun. Es schließt also Dinge ein, auf die sich das Handeln rich-
tet, und außerdem solche Dinge, mit denen Handlungen vollzogen werden. (Zum Beispiel Sportgeräte
A. S.) ... Ein wesentliches Merkmal des Aktionsraumes ist seine Gerichtetheit: Der handelnde Leib bildet
sein Zentrum.271 (Hvh. i. O.)

Die optische Wahrnehmung bezieht er auf den Anschauungsraum: darin ist der Leib

in seiner Eigendynamik qualitativ und quantitativ reduziert: Gliedmaßen und Rumpf sind in ihren
spezifischen lokomotorischen und aktionistischen Funktionen außer Kraft gesetzt. ... Sie sind lediglich
Träger der Sinne.272

Der Anschauungsraum ist ein ‚Fernraum’, der durch die Raumtiefe und die Perspektive bestimmt ist. Aber auch
diese optische Wahrnehmung ist nur möglich, wenn das wahrnehmende Subjekt sich die Fähigkeit dazu in sei-
ner ontogenetischen Entwicklung durch Bewegung erworben hat. - Der Anschauungsraum ist die Grundlage der
Landschaftsmalerei, was noch näher zu untersuchen ist.

6.5.3 Die haptische Wahrnehmung

Hiermit ist nicht nur der Tastsinn der Hände gemeint, sondern die Berührungen und das Spüren des ganzen Leibes
mit der Natur, mit Pflanzen, Wind und Wetter. Mich interessiert besonders die Bedeutung der haptischen Erfahrung
für die Entwicklung der Kinder. Auf die Anfänge im Säuglingsalter habe ich bereits hingewiesen. Für die weitere
Entwicklung ist die Berührung mit den ‚vier Elementen’ sehr wichtig. Erde, Wasser, Luft und Feuer waren nicht
ohne Grund die Urelemente der alten Griechen. Die Affinität zu ihnen scheint tief in der Psyche der Menschen
verwurzelt zu sein. Das wird deutlich, wenn Kinder beim Spielen beobachtet, beim ‚Matschen’ am Strand, beim
‚Kokeln’ oder in der Luft beim Schaukeln.

Ein eindruckvolles Erlebnis hatte ich, nachdem wir in den Sommerferien im Zuge einer Schulhofumgestaltung ei-
nen großen Sandhaufen aufgeschüttet hatten. Es war eine Schule in einem sozial benachteiligten Gebiet, in dem die
Kinder nicht viel aus ihrer Umgebung herauskamen. In der ersten großen Pause wurde der Sandberg gestürmt, was
eine unvermutete, an Ekstase grenzende Begeisterung auslöste.

Eine andere Beobachtung ist die, dass Kinder in einem bestimmten Alter einen gewissen Destruktionstrieb ausleben;
dabei werden zum Beispiel Zweige abgebrochen und als Waffe oder Peitsche benutzt. Ein falscher Ordnungssinn
sollte sie nicht daran hindern. – Man könnte diese Reihe fortsetzen; ich will nur folgern, dass bei der Gestaltung der

270  Ebd., 30.


271  Ebd., 31.
272  Ebd., 33.

Die Welt als Garten  125


‚Welt als Garten,’ die Befriedigung dieser Spieltriebe eine wichtige Aufgabe ist, wichtiger als das Aufstellen immer
aufwendigerer technischer Spielgeräte.

Ein Beispiel für das ‚Begreifen’ eines Kindes habe ich mit dem achtjährigen Enno erfahren. Er hatte mit seinem
Bruder in einer Knickeiche in tagelanger Arbeit ein Baumhaus gebaut, was bedeutet, dass er eine intensive hap-
tische Erfahrung in dem Baum hatte. Ohne eine bewusste Beziehung zu diesem Erlebnis malte er danach einen
Baum, der sich signifikant von Darstellungen Gleichaltriger unterschied.

Ennos Baum Die Naive

Die Bedeutung der Berührung des Leibes mit der Natur, mit den vier Elementen, gilt genau so für Erwachsene. Auch
hier ist die Reihe von Beispielen eine unendliche. Ich beschränke mich auf wenige: Wandern durch Dünen oder
barfuß im Watt, Garten umgraben, Baden, Schwimmen, ‚Wind um die Ohren’ wehen lassen, Sitzen am Lagerfeuer
und – zum Element Erde gehörig - in der Vegetation: das Gehen durch hohes Gras, trockenes Laub, Walddickicht
und so fort.

6.5.4 Weitere leibliche Wahrnehmungen

Hierzu nenne ich nur einige Beispiele. Akustik: Singen der Vögel, Heulen des Windes; Olfaktorik: Duft von
Blumen oder trockenem Heu, Geruch des Waldbodens; Gustatorik: Geschmack von Walderdbeeren und so weiter.

Zwischenbemerkung: Eine negative Tendenz im Naturschutz

Die Bedeutung dieser synästhetischen Wahrnehmungen für unser Naturverhältnis ist evident. Sie sind besonders
in naturnahen Grünflächen gegeben. Gerade im Umfeld der Großstädte sind diese deshalb von großer Bedeutung.
Hier macht sich nun zunehmend eine negative Tendenz bemerkbar: Damit keine Trampelpfade entstehen und ‚die
Menschen die Natur nicht stören,’ werden, abgehoben vom Boden, Holzstege gebaut. Dies ist eine Fehlentwicklung
im heutigen Naturschutz, nämlich die Menschen aus der Natur fern zu halten. Die Chance, Natur auf Dauer zu
erhalten, besteht aber nur darin, Menschen als Gesellschaft Natur wahrnehmen zu lassen, und das ist nur durch
synästhetische Wahrnehmung möglich. Nur mit allen Sinnen, das heißt durch körperliche Berührung ist Natur als
ganze erfahrbar. Die Wahrnehmung vom Holzsteg aus ist mit dem Erleben von Natur am Bildschirm vergleichbar,
es ist ein schwaches Surrugat.

6.5.5 Atmosphären

Es ist also festzustellen, dass die Natur dem Menschen nicht nur als Bild gegen über tritt. Der Mensch ist selbst Natur,
wenn er als Leib nicht nur Nahrung, sondern die unterschiedlichsten Einflüsse über alle seine Sinne aufnimmt. Von
der Hirnforschung wissen wir, dass durch die Wahrnehmung der Außenwelt auch die Physis des Menschen beein-
flusst wird. So bewirken äußere Reize die Bildung von Neurotransmittern und Endorphinen, die das Nervensystem
und damit die Homöostase, das heißt unterschiedlichste Funktionen des Leibes steuern. Sie können positive und
negative Gefühle erzeugen. So werden auch die oben beschriebenen Raumeindrücke gebildet.

126  Die Welt als Garten


Eingehend befasst mit der Synästhetik im weitesten Sinne hat sich Gernot Böhme. Bei ihm lesen wir:

Es geht darum, die emotionalen Anteile, d. h. die affektive Teilname am Wahrgenommenen wieder
in den Wahrnehmungsbegriff zu integrieren. Wenn Wahrnehmung das sinnliche Sichbefinden in
Umgebungen ist, dann stellt der Wahrnehmende nicht nur quasi aus außerweltlicher Position fest, was
in seiner Umgebung passiert, er wird vielmehr durch den Zustand seiner Umgebung affektiv betroffen
und wird einer so und so beschaffenen Umgebung in seiner eigenen Befindlichkeit bewusst. ...

Diese Feststellung führt dazu, der Umgebung quasi objektive Gefühlscharaktere zuzuschreiben. Sie
werden ... „Atmosphären“ genannt. Die sind als „quasi objektiv“ zu bezeichnen, insofern sie zwar nicht
wie Objekte vorfindlich, aber doch durch gegenständliche Arrangements praktisch erzeugbar
sind. In Atmosphären von Umgebungen , seien es nun Atmosphären von Landschaften, von Plätzen
oder Innenräumen, kann man „hineingeraten“. Atmosphären „hängen“ an Dingen und gehen von
Dingen und Menschen aus. Atmosphären sind zwar nicht „objektiv“, - und das heißt im Sinne neu-
zeitlicher Wissenschaft durch Apparate – feststellbar, aber es gibt gleichwohl darüber eine intersubjek-
tive Verständigung. ... [Man könnte also] die Ästhetik, auf die wir uns zubewegen, eine Theorie der
Atmosphären nennen. 273 (Hvh. A. S.)

Böhme ist sichtlich bemüht, seinen Begriff der Atmosphären gegen Missdeutungen zu schützen. Kritisiert wird er
zum Beispiel von Ruth und Dieter Groh. Diese wenden ein, „dass Wahrnehmung der menschlichen Natur als
Leib-Natur kein genuines Ziel ästhetischer Naturwahrnehmung ist. Diese richtet sich vielmehr auf schöne und
erhabene Gegenstände der Äußeren Natur.“ 274 (Hvh. A. S.) Dies ist die alte Ästhetik des Bildlichen, in erster Linie
optisch Wahrnehmbaren.

Dem entgegen steht eine Ansicht Adornos, wenn sie sich auch nicht ausdrücklich auf leibliche Wahrnehmung
bezieht: „Wer vom Naturschönen redet, begibt sich an den Rand der Afterpoesie. Einzig der Pedant vermißt sich,
in der Natur Schönes und Häßliches zu unterscheiden, aber ohne alle solche Unterscheidung würde der Begriff des
Naturschönen leer.“ 275 und an anderer Stelle sagt er, dass die „bewußtlose Wahrnehmung“ mehr von der Schönheit
der Natur weiß. „Je intensiver man Natur betrachtet, desto weniger wird man ihrer Schönheit inne, wenn sie einem
nicht schon unwillkürlich zuteil ward.“ 276 Diese Aussage wendet sich implizit gegen die Überbetonung des Visuellen
und die „bewusstlose Wahrnehmung“ meint das Gleiche, wie das „Sichbefinden“ und die „affektive Betroffenheit.“

Um den Charakter von Atmosphären zu verdeutlichen, will ich sie als ‚Form der Unterscheidung’ darstellen:

Atmosphäre
Naturaffekte Adaptation

Naturaffekte und Adaptation sind streng durch eine Grenze von einander getrennt und bilden als Form der
Unterscheidung zusammen die Atmosphäre.

Das bedeutet: Naturaffekte sind objektiv vorhanden, das sind zum Beispiel Wetterbedingungen, physischer Zustand
der Umgebung, wie Wiesental, Wald, Hügel, Berge und so weiter. Die andere Seite der Unterscheidung ist die
Adaptation durch ein Individuum, und die ist abhängig von dessen psychischen Verfasstheit.

273  Böhme, (1989), 10f.


274  Groh (1996). 127.
275  Adorno, (1973), 110.
276  Ebd. 108.

Die Welt als Garten  127


Aber auch Heilung ist durch positive Affekte möglich. In Holland werden Depressionen in blühenden Tulpenfeldern
therapiert. und auch der Erfolg von Kuren ist mit abhängig von der Umgebung; Kurorte befinden sich immer in
hervorragenden Landschaften.

Intensiv hat sich auch der Psychologe Reinhart Schober mit Atmosphären befasst, der sie – wie Böhme – für
planbar und herstellbar hält.277 Er stellt fest, „dass sich Menschen wie atmosphärisch ausgehungert in historischen
Gassen drängen“ und kritisiert „eine allzu rationale Planung,“ die durch „so weiträumige Worte wie ‚Aufwertung’,
‚Achsen’, ‚Akzente’, ‚Anbindung’“ bestimmt sind. Er fordert, „Atmosphäre als bewusste Planungsdimension einzu-
setzen.“ Als „Grundelement“ der Atmosphäre sieht er

die Ausdruckswirkung. Von Gegenständen, Materialien, Farben, Formen, Proportionen, Menschen


Tieren, Aktivitäten, Themen, Musik, ... kann etwas ausgehen, das uns emotional berührt. ... Einzelne
dominante Elemente, Figur-Grund-Verhältnisse, können die Auffassung einer Situation prägen. Das
sind die entweder positiven oder negativen Atmosphäre-Träger. Finden sie sich zu einer zusammen-
passenden Einheit zusammen, liegt ein Atmosphärefeld vor. ...

Die innere Struktur eines Feldes muss sowohl eine Einheit darstellen wie auch in sich verschieden sein,
um nicht monoton zu wirken

Er unterscheidet „vier Grundarten von Atmosphäre:“

• Anregung, Stimulation, Ereignis,

• Entspannen und Genießen, Beruhigung,

• Langeweile, Depression,

• Lästigkeit, Ärger, Überdruß, Angst.

Diese Begriffe gleichen meiner Liste der Unterscheidungen im Kontext der Adaptation oder ergänzen sie. Auch sie
bilden – zwischen Anregung und Angst - insgesamt eine Skala.

Zu bemerken ist, dass bei dem heute in der Gartenkunst vorherrschenden Minimalismus das Atmosphärische sich
in vielen Anlagen in der unteren Hälfte der Skala bewegt: Langeweile, Ärger.

Schober entwickelt dann eine „Erlebnisdramaturgie“ von der ich einige Auszüge stichwortartig wieder gebe:

Neugierweckung: Blicke werden angezogen durch komplexe vielversprechende Sinnesreize. Etwas


Ungewissheit muß sein ... Leichte Disharmonien sind interessant 278 ... ganz wichtig ist, dass auch
einmal nichts ist, bis kurz vor der Langeweile. Verweilen, Ausruhen ... Prinzip der halbgeöffneten
Tür, irgendwo hineinlugen können. Im Park auch einmal mit halb versteckten Parkfiguren arbeiten ...
Spiel mit Sinnesreizen: Alles was die Sinne erfreut. Mal direkt angenehm, mal als wohliger Schauder
... Steigerungen: Unerwartete Intensitätserhöhungen, Spiel mit Überraschungen. Hindernis vor Zielen.
... Gelegenheit zum Ausschwingen: Hier wird mit einer herabgesetzten Bewußtseinslage gearbeitet,
die dadurch geringere Reize erfordert, zum Beispiel Schwelgen in harmonischen Farben, Formen,

277  Schober, (2001), 140ff


278  siehe Anm. 256 und 257.

128  Die Welt als Garten


Proportionen und Themen, große Ausblicke, freie Plätze, Promenaden ... Geborgenheit und Idylle:
Kleinräumige Partien, Wohlbehagen, Gemütlichkeit, Nähe. ... u. s. w.

Man kann feststellen, dass auch Schober das Prinzip der skalierten Unterscheidungen anwendet. Er stellt dies dar
in einem Schaubild mit zwei Achsen, deren senkrechte die Unterscheidung ‚Erregung / Ruhe’ und die waagerechte
die Unterscheidung ‚Vermeidung / Annäherung’ darstellt.

Abb.6/4

Schober registriert schließlich, .

das starke Hinausströmen aus der Stadt an Wochenenden und im Urlaub und, dass durchgehend in
Tourismusstudien die schöne Landschaft auf Platz eins bei der Frage nach der gewünschten Kulisse
steht.

Sehnsucht nach Natur und Landschaft wird durch das Bewusstsein der schwindenden Natur genährt,
also von Leben, die tägliche Konfrontation mit Ozonloch und Klimakatastrophe ... Eine Ästhetik der
Kahlheit kann nicht allzu sehr erfreuen.

Setzen wir auf die überschwänglichen Elemente Wildheit und Pracht. Nicht indem wir einen Urwald
durch die Städte ziehen, sondern in einer feinen ornamentalen Art. Anregungen finden wir in der
fraktalen Formensprache aus der Chaostheorie. ...

In stilisierter oder halbstilisierter Form lassen sich Ableitungen für die Wiedergewinnung von
Ornamentik herstellen. Das Diktum von Adolf Loos, dass Ornament Verbrechen sei, heben wir auf.

Mit den konkreten Vorschlägen, die Schober macht, die zum Teil in Richtung Postmoderne gehen, stimme ich nicht
in allem überein. Aber seine strukturellen Kriterien für die Bildung von Atmosphären sind für die Gartenkunst
beachtenswert.

6.5.6 Fühlen und Denken

Bei der bisherigen Behandlung der synästhetischen Wahrnehmung ging es in erster Linie um emotionale
Zusammenhänge. Wahrnehmung wird aber auch von rein verstandesmäßigen Erkenntnissen beeinflusst.

Die Welt als Garten  129


Dazu hat Luc Ciompi eine „interdisziplinäre Metatheorie“ über das „Zusammenwirken von Fühlen und Denken“
entwickelt, die er „fraktale Affektlogik“ nennt. Hierbei bezieht er sich unter anderem auch auf die „Untersuchungen
Jean Piagets zur Genese kognitiver Strukturen im Laufe der Kindheit.“ Ich zitiere einige seiner für mich wichtigen
Kernsätze:

„Fühlen und denken [wirken] in allen psychischen Leistungen untrennbar zusammen.“ Erkenntnisse der „ak-
tuellen Hirnforschung“ belegen, „dass es ein reines affektfreies Denken überhaupt nicht gibt und geben kann –
nicht einmal ... in der Wissenschaft und Mathematik.“ Affekte lassen sich „definieren als umfassende körperlich-
seelische Gestimmtheiten oder Befindlichkeiten von unterschiedlicher Qualität, Bewusstseinsnähe und Dauer. ... Affekte in die-
sem Sinn ‚affizieren’ grundsätzlich den gesamten Organismus; es handelt sich somit um typisch psychosomatische
Phänomene“ 279 Kognition definiert Ciompi im „scharfen Unterschied zum obigen Affektbegriff [als] die Fähigkeit
zur Wahrnehmung und weiteren Verarbeitung von sensorischen Unterschieden und Gemeinsamkeiten. ... Im Gegensatz zu
den Affekten „affizieren’ Kognitionen keineswegs den ganzen Organismus.“ Für Ciompi haben daher Affekte das
Übergewicht: „Denken und Handeln werden von Affekten nicht nur ständig begleitet, sondern auch geleitet.“ Und „in welcher
emotionalen Verfassung wir die Welt betrachten, so erscheint ... sie für uns – und gerade dies gilt ... in hohem Maß
ebenfalls für unsere Wahrnehmung der Natur.“ „Während wir die Natur in guter Stimmung zum Beispiel als schön,
erhaben oder lieblich erleben, wird sie uns in ängstlicher ... Verfassung als schrecklich oder unheimlich erscheinen,
und auf den in tiefer Trauer oder Depression versunkenen Menschen kann selbst die schönste Landschaft noch als
bedrückend oder gleichgültig wirken.“ 280 - Auch entwicklungsgeschichtlich gilt, dass Naturgenuss nur im entlaste-
ten Zustand möglich war und ist.

Ciompi bezieht sich ausdrücklich auf die ‚Form der Unterscheidung’ von Spencer-Brown. Das ergibt:

Wahrnehmung
Fühlen Denken

Nun ist das Verhältnis von Fühlen und Denken in Bezug auf die Wahrnehmung in der Gartenkunst zu erörtern,
wobei ich daran erinnere, dass Wahrnehmung sich sowohl auf die Produktion, wie auf die Rezeption bezieht.

An erster Stelle ist zu nennen der Einfluss der Ökologie auf die Profession. Ich sehe das durchaus positiv, denn
Ökologie bezieht sich auf den ‚Hauptwerkstoff’ der Gartenkunst, die Vegetation. So sollte es schon selbstverständlich
sein, den Garten auch als Lebensraum zu sehen, und zum Beispiel auch Pflanzen zu verwenden, die Tieren Nahrung
und Unterschlupf bieten. - Eindeutig ist, dass bei der Pflanzenverwendung ein Grundwissen über die Ansprüche der
Arten vorhanden sein muss. Das heißt nicht, dass Pflanzpläne streng nach pflanzensoziologischen Gesichtspunkten
aufzustellen sind. Aber einige Grundregeln sollten doch beachtet werden, zum Beispiel feuchtigkeits- und trocken-
heitsliebende Pflanzen nicht nebeneinander zu stellen, was Lucius Burckhardt oft beanstandete.

‚Fühlen und Denken’ in Einklang zu bringen ist im Prinzip für alle Arten der Kunstausübung wichtig; für die
Gartenkunst ist es eine der entscheidenden Fragen. Dabei ist die Behandlung der Vegetation als Affekt bestimmen-
des Element von eminenter Bedeutung. Es geht auch hierbei um die Hauptunterscheidung ‚physis und techne.’ in
der Deutung Heideggers.281

279  Siehe auch Anm. 265.


280  Ciompi, (2005), 32ff
281  Heidegger, (2003), 28 und 46f.

130  Die Welt als Garten


6.6 Archetypen
Archetypen habe ich bisher schon in verschiedenen Zusammenhängen thematisiert, ohne näher auf diesen Begriff
einzugehen. Wenn ich sie hier unter dem Hauptthema ‚Wahrnehmung’ behandle, so ist doch eine Unterscheidung
zu machen: Alle bisher beschriebenen Formen der Wahrnehmung sind Adaptationen äußerer Einflüsse durch
Assimilation und Akkommodation von Individuen. Archetypen sind keine äußeren Einflüsse, sondern vererbte,
also genetisch bestimmte Prägungen. Sie sind also keine Wahrnehmungen im engeren Sinne, sondern psychi-
sche Phänomene, die man konstatieren aber bisher nicht erklären kann. Am ehesten ist wohl der Vergleich mit
Instinkten angebracht.

Der Begriff des Archetypus wurde vor allem von C. G. Jung eingeführt. Er unterscheidet das „persönliche
Unbewusste“ dessen Inhalt „in der Hauptsache die sogenannten gefühlsbetonten Komplexe“ sind, „welche die persön-
liche Intimität des seelischen Lebens ausmachen“, von dem „kollektiven Unbewussten, dessen Inhalt die sogenann-
ten Archetypen“ sind.

„Ein ... wohlbekannter Ausdruck der Archetypen ist der Mythus und das Märchen. ... hier handelt es sich um spezi-
fisch geprägte Formen, welche durch lange Zeiträume übermittelt wurden. Der Begriff Archetypus“ bezeichnet da-
gegen „nur jene psychischen Inhalte, welche noch keiner bewussten Bearbeitung unterworfen waren, mithin also
noch unmittelbare seelische Gegebenheit darstellen.“ ... Die unmittelbare Erscheinung der Archetypen, „wie sie uns
in Träumen und Visionen entgegentritt, ist viel individueller unverständlicher oder naiver als z.B. im Mythus.“ 282

Auch andere Autoren arbeiten mit vergleichbaren Begriffen. So zum Beispiel Gerhard Roth, der das phylogeneti-
sche vom ontogenetischem Gedächtnis unterscheidet 283 und Martin Seel, der von der „zugleich naturgegebenen
und kulturell ausgeformten Sensibilität“ spricht.284 Dabei ist sicher die naturgegebene Sensibilität mit dem phyloge-
netisch entstandenen Archetypus zu vergleichen.

Es ist offensichtlich, dass der Begriff rational nicht zu erklären ist, wie etwa ‚Gestalt’ oder sogar ‚Atmosphäre’. Aber
eben so sicher ist, dass es etwas Derartiges gibt, wodurch das Verhalten der Menschen beeinflusst wird. Es ist deshalb
sinnvoll, entsprechende individuelle Erfahrungen bewusst zu machen.

Ich hatte in dieser Hinsicht drei markante Erlebnissr: Das erste betrifft mich persönlich. Ich bin aufgewachsen in
einer Kleinstadt in Holstein in einer im landläufigen Sinne reizlosen Landschaft. Mit neun Jahren kam ich in ein
Kinderheim in Angeln an der Ostsee. Hier erlebte ich zum ersten Mal eine ‚Bilderbuchlandschaft’, die hügelige
Moränenlandschaft.

282  Jung, (1957),12f.


283  Roth,(1992), 318.
284  Seel, (1996), 226f.

Die Welt als Garten  131


Abb. 6/5 Holsteinische Schweiz

Unter anderem einen Laubwald, in dessen Mitte sich eine Lichtung von etwa 70 Meter Durchmesser befand. Dieser
Eindruck war so prägend, dass ich noch heute alle Einzelheiten vor Augen habe.

Die anderen Erlebnisse betreffen zwei meiner Söhne. Der eine fuhr als Dreijähriger(!) mit der Bahn von Stadthagen
ins Weserbergland und schaute aus dem Fenster auf die Landschaft. Nach einer gewissen Zeit sagte er spontan:
„Schön hier, nicht?“ - Von dem anderen Sohn habe ich eine entsprechende Wortschöpfung in Erinnerung. Als wir
an einem Sonntag einen Ausflug planten, schlug er vor, mal wieder zu der „gemütlichen Wiese“ zu fahren. Das war
eine Wiese, die von Wald und Knicks umgeben war, auf der wir vor einiger Zeit gespielt hatten.

Diese Erlebnisse spielten in einer Zeit, in der es bei uns keinen Fernseher und noch nicht die vielen Landschaftsbilder
auf Hochglanzpapier gab. Es waren also Erlebnisse, die spontan und ohne äußeren Einfluss entstanden. – Heute
wäre der Nachweis von ‚archetypischen’ Erlebnissen problematisch, weil Natureindrücke, die nicht von der heu-
tigen Bilderflut der Medien beeinflusst sind, kaum noch möglich sind. Das bedeutet aber nicht, dass archetypische
Prägungen nicht mehr wirksam sind.

Wenn man die Fälle betrachtet, - die ich bisher behandelt habe oder die noch zu finden sind - bei denen man von
Archetypen sprechen kann, so ist fest zu stellen, dass es Übergänge gibt zu den Einflüssen, die der Adaptation un-
terliegen. Das trifft zum Beispiel zu auf die atmosphärischen Wirkungen. Eine andere Unterscheidung sehe ich in
dem ‚Alter’ der Archetypen, das heißt in der Zeit ihrer Entstehung, bezogen auf die Entwicklungsgeschichte der
Menschheit, was man natürlich nur grob bestimmen kann. Es handelt sich wieder um skalierte Übergänge. – Unter
diesem Gesichtspunkt will ich einige Beispiele menschlichen Handelns und Fühlens aufführen, die ich als archety-
pisch ansehe:

• Die vier Elemente: Die Luft zum Atmen, Wasser und Erde – das was wir früher Mutterboden nannten – als
Grundlage des Lebens, und Feuer, dessen Beherrschung den Menschen vom Tier unterscheidet.

• Jagen und Sammeln, das in sublimierter Form immer noch ausgeübt wird; das Jagen in ritualisierter Weise
und das Sammeln in vielfältiger Verkleidung, sei es als Sammeln von Briefmarken oder von Kapital.

• Die Höhle als Wohnraum und das Aufsuchen von Aussichtspunkten.

132  Die Welt als Garten


• Das Lichten des Waldes als Voraussetzung des Sesshaftwerdens und in Verbindung damit die Auseinandersetzung
mit den Mythen des Waldes.

• Der Urgarten, das Beackern des Bodens. Dies wurde zum Beispiel 1945 deutlich, als jeder versuchte, ein
Stückchen bepflanzbaren Bodens zu finden.

• Blumen als Symbol des Frühlingserwachens.

• Das Streben nach Ordnung im Chaos, geometrisches Denken.

• Die Freude am Schmücken des Körpers und des Lebensraumes.

• Das Suchen nach Dichte in der Stadt.

Sehr anschaulich und aufschlussreich hat Bernd Lötsch diese Fragen behandelt unter dem Thema „Bauökologie
und Humanethologie.“ 285 Ich zitiere daraus zur Konkretisierung und Ergänzung meiner nüchternen Aufzählung:

Lötsch geht davon aus, dass der Mensch „die Spuren einer Jahrmillionen langen Evolution in sich [trägt], die im
Naturmilieu und in sozialen Kleinverbänden ablief. Seine angeborenen Verhaltenselemente sind seit mindestens
40.000 Jahren unverändert.“ Verhaltensbiologisch gesehen zeigt der Mensch eine „deutliche Ambivalenz ... gegen-
über Dichte: Er flieht sie und er sucht sie.“ Dichtes Zusammenleben wird durch Raumgliederung erträglich. Unter
anderen stellt Lötsch „planungsrelevante Verhaltenskonstanten zusammen“:

• Wahrung von Individualabstand, Einzel- und Gruppenterritorium

• Stimulation (Abwechslung, Ausblick, dichte Folge visueller Informationen, anregende Vielfalt im Umfeld,
Reiz des Urbanen)

• Sicherheit, (Schutz gegen Fremdblick)

• Wunsch nach Orientierung, nach unverwechselbaren , identitätsfördernden Strukturen

• Wunsch nach Naturkontakt, „Phytophilie“

• Zugang zu Wasser

• Freude am Elementaren

• Präferenz für Saumbiotope (Ufer, Waldrand, Steppenhabitate mit Gehölzgruppen)

Besonders interessant ist Lötschs Feststellung bezüglich „Gestalt statt Raster, Rhythmus statt Stereotypie“:
Danach können Menschen fünf, sechs oder sieben Punkte unterscheiden, ohne zu zählen. Die Ansammlung glei-
cher Elemente über die Zahl neun hinaus erfordert nummerieren und zählen. „Die stereotype Wiederholung ...
führt zu Orientierungsverlust“ - „Die rhythmische Wiederholung gleicher (nicht identer) Teile ist ein wesentli-
ches Konstruktionsprinzip und Erkennungsmerkmal des Lebens – man denke an Zellstrukturen, an Raupen oder
Fiederblättchen – häufig wird rhythmische Wiederholung auch als visuelles Signal entwickelt, um aufzufallen. ...

285  Lötsch, (1988), 35ff.

Die Welt als Garten  133


deshalb sprechen Tier und Mensch auf solche Strukturen positiv an, wurde Wiederholung zum Gestaltungsprinzip
dekorativer Kunst, von der Perlenkette bis zum klassischen Ornament.“ – Soweit Lötsch.

Ein weiteres Indiz für das Vorhandensein archetypischer Prägungen lieferte die Untersuchung eines amerikani-
schen demoskopischen Instituts, das die „meistgeliebten und meistgehassten Bilder der Amerikaner“ erfragte.
„Sämtliche soziale Gruppen ..., Museumsgänger wie Bildungsignoranten bevorzugten ... mehrheitlich das gleiche:
als Lieblingsbild eine parkähnliche Landschaft ... unter weitem blauen Himmel.“ Und erstaunlicher Weise brachten
entsprechende Umfragen in allen anderen Kulturkreisen und Klimazonen die gleichen Ergebnisse.286

Angesichts solcher Erkenntnisse ist es schon absurd, wenn Sieferle fragt, warum angesichts der Tatsache, dass viele
Vögel „es längst erlernt [haben], Fernsehantennen als Ersatz für Äste zu nehmen,“ es „den Menschen nicht gelingen
[sollte], etwa die Hochspannungsmasten ... ebenso als ‚Wälder’ zu erleben, wie einst die jetzt Absterbenden Bäume.“
287

Ich sehe mich dagegen in der Sicht der Dinge bestätigt von Peter Latz:

Nicht als dekoratives, sondern als essentielles Element gehören der Reiz der Jahreszeiten, das Wetter
sowie Blühereignisse zum archetypischen Repertoire unseres Lebenszyklus. Und nicht nur erfreuli-
che Ereignisse, auch furchterregende wie Blitz und Donner oder die Gischt der reißenden Fluten. Bei
unseren Freiräumen liegen möglicherweise mehr Informationen außerhalb von Form und Gestalt als
innerhalb. Bereitet Gestaltung womöglich nur den Ort vor, jene Naturereignisse zu erleben? Sicherlich
gehört gerade der Schutz vor der Kraft der Natur, vor zuviel Wind, vor zuviel Sonne, vor zuviel Lärm,
vor allen möglichen Widrigkeiten zu unserem Repertoire. Was mich mehr daran interessiert, ist Dinge
zu erforschen, die man möglicherweise spontan verwendet wie das Unsichtbare in der Kommunikation
oder das nicht Sichtbare des Ästhetischen, und dies systematischer einzusetzen. 288

6.7 Morphische Felder


Abschließend zu diesem Kapitel möchte ich – ungeschützt – eine Idee einbringen, die den Charakter der Archetypen,
der bisher von Niemandem erklärt wurde, erhellen kann. Es ist Rupert Sheldrakes Theorie der „Morphischen
Felder.“ Sie besagt dass

Selbstorganisierende Systeme aller Komplexitätsgrade – also Moleküle oder Kristalle ebenso wie
Zellen, Gewebe, Organismen und Gesellschaften von Organismen – von Feldern organisiert wer-
den, die ich „morphische Felder“ nenne. Morphogenetische Felder sind einfach eine bestimmte Art
von morphischen Feldern, nämlich solche, die für die physische Entwicklung und Erhaltung von
Organismen sorgen. Morphogenetische Felder organisieren auch die Entwicklung von Molekülen, also
etwa die Einfaltung der genetisch kodierten Aminosäurenketten zu den komplexen dreidimensionalen
Strukturen der Proteine. 289

Sheldrake sieht also in der Formbildung von Organismen ein Zusammenwirken der Gene mit morphogenetischen
Feldern:

286  ZEIT- Magazin 37, 5. 9. 1997.


287  Sieferle, (1986), 259f.
288  Latz, (2005), 6f.
289  Sheldrake, (1991), 30f

134  Die Welt als Garten


Formbildung von Organismen
Gene Morphogenetische Felder

Auch die Bildung von Kristallen wird nach Sheldrake

von morphogenetischen Feldern gesteuert, denen eine „Erinnerung“ an frühere Kristalle der gleichen
Art innewohnt. Das würde bedeuten, daß eine Substanz wie zum Beispiel Penizillin nicht etwa un-
ter dem Einfluß zeitloser mathematischer Gesetze auf die für sie charakteristische Art kristallisiert,
sondern weil sie früher schon so kristallisierte: Sie folgt dabei einer durch Wiederholung gebildeten
Gewohnheit.

Diesen Prozess nennt Sheldrake „morphische Resonanz“

Das ist ... ein auf Ähnlichkeit beruhender Einfluß, der aber, anders als die in der Physik bekann-
ten Resonanzphänomene, unabhängig ist von Raum und Zeit. Morphische Resonanz wird
mit der Entfernung nicht schwächer, und sie kann aus der Vergangenheit auf die Gegenwart einwir-
ken. Übertragen wird hierbei nicht Energie, sondern Information. Diese Hypothese gibt uns
die Möglichkeit, die Regelmäßigkeiten in der Natur nicht mehr wie bisher auf ewige, nichtmaterielle
und nichtenergetische Gesetze zurückzuführen, sondern auf Gewohnheiten, die durch morphische
Resonanz vererbt werden.290 (Hvh. A. S.)

Auch das Gedächtnis und „die Vererbung von Instinkten und Verhaltensanlagen“ beruhen nach Sheldrakes Theorie
auf morphischer Resonanz.

Das individuelle Gedächtnis und die individuelle Lernfähigkeit sind vor dem Hintergrund eines kollek-
tiven Gedächtnisses zu sehen, das von früheren Individuen der Spezies durch morphische Resonanz
vererbt wird. Im bereich des Menschen existiert eine solche Vorstellung bereits in C. G. Jungs Theorie
vom kollektiven Unbewussten, das ich als eine Art erbliches kollektives Gedächtnis verstehe. Die
Hypothese der morphischen Resonanz lässt das kollektive Unbewusste als Aspekt eines viel allgemei-
neren Prozesses erscheinen: der Vererbung von Gewohnheiten in allen Bereichen der Natur.291

Dass diese Hypothesen, die weder physikalisch beweisbar noch messbar sind, in der Welt der Naturwissenschaften
abgelehnt werden oder zumindest umstritten sind, wundert nicht. Sehr deutlich kommt dieser Gegensatz bei
Friedrich Cramer zum Ausdruck. Der sieht den Formbildungsprozess von Organismen allein in der DNS festgelegt.
Diese enthält nach seiner Auffassung

nicht nur die räumlichen Strukturinformationen für den künftigen Organismus, sondern auch das exakte
zeitliche Programm seiner Entwicklung von der einen befruchteten Eizelle bis zum fertigen Lebewesen
mit vielen Milliarden hochdifferenzierten Zellen, die genau zur richtigen Zeit an den ihnen zugewie-
senen Plätzen entstehen und eingebaut werden. Ein kaum faßliches zeitlich-topologisches Problem! 292

Diese komplexen „biochemischen Mechanismen“ werden nach Cramer gesteuert durch „Zuckerstrukturen an den
Zelloberflächen, ... die von entsprechenden Erkennungsmolekülen gelesen werden. ... Dieses zeitliche Programm ist
in den Genen genau festgelegt; wird es gestört, kommt es zu Missbildungen.“

290  Sheldrake, (1991), 131.


291  Ebd., 138f.
292  Cramer, (1997), 183f.

Die Welt als Garten  135


Wie man sich diese ‚lesenden Moleküle’- die ja nicht nur einen ‚Bauplan’ des zu bauenden Organismus sondern
auch eine ‚Uhr’ enthalten müssen – vorstellen soll, ist rätselhaft. – Offensichtlich ist diese Vorstellung der organi-
schen Formbildung durch die ‚blendenden’ Erkenntnisse der modernen Genforschung hervorgerufen. Wenn man
dies aber zu Ende denkt, läuft das wieder auf eine Form des alten mechanistischen Weltbildes hinaus. Dabei wäre
es nahe liegend, den ‚Bauplan’ und die ‚Uhr’ als morphisches Feld zu sehen, das zusammen mit den biochemischen
Wirkungen die Formbildung steuert.

Ich habe das Thema Wahrnehmung so ausführlich behandelt, weil es von Grund legender Bedeutung sowohl für
die Produktion, wie auch die Rezeption von Kunst ist. Besonders das Zusammenwirken von Assimilation und
Akkommodation und die Beachtung der Skala zwischen diesen beiden Polen sind für die Kreation und Rezeption
entscheidend. Die Problematik, die das Verhältnis dieser beiden Seiten der Kunst belastet, ist die doppelte Kontingens,
die Fähigkeit des Produzenten, seine Idee zum Ausdruck zu bringen und die Möglichkeit des Rezipienten, sie zu
verstehen.

Das Besondere der Gartenkunst besteht darin, dass sie alle Sinne anspricht. Die Synästhetik unterscheidet sie von
allen anderen Künsten, besonders von der bildenden Kunst.

136  Die Welt als Garten


Kapitel 7 Gartenkunst und ihre Stellung in der heutigen
Gesellschaft.
Bisher habe ich Grund- und Randbedingungen behandelt, die für die Betrachtung der Gartenkunst relevant sind.
Die methodische Grundlage der Arbeit sind die Prinzipien der Differenztheorie. Dabei hat sich gezeigt, dass die ‚Form
der Unterscheidung’ viele Widersprüche und Gegensätze lösen und fruchtbar machen konnte. Am wichtigsten ist
die Unterscheidung von physis und techne, die im bisherigen Diskurs immer problematisch war. Die Erkenntnis,
dass faktisch die Natur in der ganzen Welt vom Menschen beeinflusst ist, schärft den Blick auf das eigentliche Wesen
der physis, das zu schützen und zu entwickeln ist als Lebensgrundlage in der Welt als Garten.

Weitere Grund legende Betrachtungen sind das Verhältnis von Funktion und Gestaltung, das alle Lebensbereiche
berührt, der Raum als Medium von Architektur und Gartenkunst, die Wahrnehmung und ihre Bedeutung für die
Produktion und Rezeption von Kunst.

Diese Fragen spielen im gegenwärtigen Diskurs über Gartenkunst kaum eine Rolle. Dieser ist, soweit es sich
um die geschichtliche Entwicklung handelt, weit gehend bestimmt vom Wissenschaftskanon der Literatur- und
Kunstgeschichte. Als Beispiel zitiere ich aus der Einleitung von Ehrenfried Kluckert zu dem großartigen Buch
über Gartenkunst in Europa. Für ihn liegt

Der Garten aller Gärten ... in der unerreichbaren Ferne eines Wunschtraumes, in dem die Sehnsüchte
und Hoffnungen, aber auch die Nöte der Menschen Zuflucht finden. Da die Erfüllung der letzten
Wünsche im Diesseits nicht zu erlangen ist, wird sie ... im Jenseits angesiedelt. Dessen Abbild wird aber
auf Erden ausgemalt und gestaltet, damit der Wunschtraum niemals vergessen würde: Die Rede ist
vom Goldenen Zeitalter, von den Elysischen Gefilden, von Arkadien und schließlich vom locus amoenus.
Der Garten oder das Paradies ist den uralten Vorstellungen von einer verlorenen, aber verheißungsvoll
zu erwartenden Glückseligkeit der Menschen gemeinsam.

Diese Projektionen haben in einer ganz entscheidenden Weise die Struktur und Thematik der abend-
ländischen Gartenkultur geprägt. Die Aussage gewinnt besonders dadurch an Bedeutung, dass die
Begriffe Garten und Paradies eine gemeinsame Sprachwurzel besitzen.293

Hier finden sich also fast alle literarischen Topoi, die in Abhandlungen über Gartenkunst immer wiederkehren.
Auch für Adrian von Buttlar zum Beispiel ist „ein Garten immer ein Wunschbild der Welt und zugleich eine
Rekonstruktion des ersten aller Gärten: des Paradieses.“ 294 - Diese Auffassung des Gartens als ‚Wunschbild’ hat aber
einen negativen Zug, als wenn es sich um eine unrealistische Utopie handelt, eine Flucht aus dem Alltag.

Um dem Wesen der Gartenkunst näher zu kommen, wie es für die Entwicklung der ‚Welt als Garten’ zu sehen ist,
ist es nützlich, das Verhältnis zu den anderen bildenden Künsten zu klären. Auch dies kann nur durch die Methode
der Unterscheidung erfolgen. Es gilt also, die Unterschiede aber auch die Gemeinsamkeiten heraus zu arbeiten. - Am
wichtigsten ist die Verbindung zur Landschaftsmalerei, die immer noch kritiklos als Vorbild des Landschaftsgartens
gilt.

293  Kluckert, (2000), 8.


294  Buttlar, (1989), 7.

Die Welt als Garten  137


7.1 Gartenkunst und Landschaftsmalerei
Die tief sitzende Auffassung vom Primat der Landschaftsmalerei ist sicher auch von der philosophischen Autorität
Immanuel Kants beeinflusst. In der Kritik der Urteilskraft setzt er sich ausführlich mit diesem Thema auseinan-
der. Die bildenden Künste unterteilt er als erstes in die „der Sinnenwahrheit oder die des Sinnenscheins. Die erste
heißt die Plastik, die zweite die Malerei. ... Zur Plastik ... gehört die Bildhauerkunst und Baukunst.“ Die Baukunst
‚adelt’ er als „die Kunst, Begriffe von Dingen, die nur durch Kunst möglich sind, und deren Form nicht die Natur,
sondern einen willkürlichen Zweck zum Bestimmungsgrunde hat, zu dieser Absicht, doch auch zugleich ästhetisch-
zweckmäßig darzustellen.“ Es geht also um den Gegensatz Kunst / Natur.

Die „Malerkunst,“ die den „Sinnenschein künstlich mit Ideen verbunden darstellt,“ teilt er ein in die schöne
„Schilderung der Natur“ und die schöne „Zusammenstellung ihrer Produkte.“ Die erste ist die „eigentliche Malerei,
die zweite die Lustgärtnerei.“ 295

Am wichtigsten ist die erste Unterscheidung: Sinnenwahrheit und Sinnenschein. Sinnenwahrheit umfasst die
Bildhauerkunst und die Architektur, also so zu sagen das, was konkret, körperlich fassbar ist. Die Malerkunst ist
dagegen nur Sinnenschein, also wohl nur das, was das Auge wahrnehmen kann. Dass Kant auch die Gartenkunst
unter diesem Kriterium einordnet, ist eine folgenschwere Tatsache, die sich bis heute auswirkt.

Wie kommt Kant zu dieser Zuordnung? Er sieht in der Gartenkunst „nichts anders, als die Schmückung des Bodens
mit derselben Mannigfaltigkeit (Gräser, Blumen, Sträuchen und Bäumen, selbst Gewässern, Hügeln und Tälern),
womit ihn die Natur dem Anschauen darstellt, nur anders und angemessen gewissen Ideen, zusammengestellt.“

In einer Anmerkung grenzt er die Lustgärtnerei weiter gegen die Plastik und die Baukunst ab:

Daß die Lustgärtnerei als eine Art von Malerkunst betrachtet werden könne, ob sie zwar ihre Formen
körperlich darstellt, scheint befremdlich; da sie aber ihre Formen wirklich aus der Natur nimmt (die
Bäume, Gesträuche, Gräser und Blumen aus Wald und Feld ...), und insofern nicht, etwa wie die Plastik,
Kunst ist, auch keinen Begriff von dem Gegenstande und seinem Zwecke (wie etwa die Baukunst)
zur Bedingung ihrer Zusammenstellung hat, sondern bloß das freie Spiel der Einbildungskraft in der
Beschauung: so kommt sie mit der bloß ästhetischen Malerei, die kein bestimmtes Thema hat (Luft,
Land und Wasser durch Licht und Schatten unterhaltend zusammenstellt), sofern überein.296

Kant sieht also eine Übereinstimmung der ‚Lustgärtnerei’ mit der Landschaftsmalerei darin, dass sie zweckfrei das
‚freie Spiel der Einbildungskraft’ betreibt. Problematisch ist aber seine Ansicht, dass sie nicht wie die Plastik Kunst
sei, weil sie ‚ihre Formen wirklich aus der Natur nimmt.’ Den Unterschied zur Baukunst sieht er darin, dass sie kei-
nem Zweck dient, also keine Funktion hat, außer „der Beschauung.“

Damit ist im gewissen Maße der Grund gelegt für die heutigen Probleme der Gartenkunst: Die Fixierung auf die
Prinzipien der Malerei und die Furcht, naturalistisch zu gestalten. Für ‚Naturalismus’ steht heute ‚Ökologie’, was die
Hinwendung zur Architektur bewirkt hat. Ich stelle dem entgegen, was ich mit der ‚Form der Unterscheidung:’ phy-
sis / techne entwickelt habe; physis in Verbindung mit techne bleibt immer Natur. Naturalismus ist ein Spezialbegriff
der Kunsttheorie, der auf die Gartenkunst nicht angewendet werden kann.

Kant schließt seine Betrachtung über die bildende Kunst:

295  Kant, KdU, § 51


296  Ebd., (Anm.)

138  Die Welt als Garten


Zu der Malerei im weiten Sinne würde ich noch die Verzierung der Zimmer durch Tapeten, Aufsätze und
alles schöne Ameublement, welches bloß zur Ansicht dient, zählen; imgleichen die Kunst der Kleidung
nach Geschmack ... . Denn ein Parterre von allerlei Blumen, ein Zimmer mit allerlei Zierraten (Selbst
den Schmuck der Damen darunter begriffen), machen an einem Prachtfeste eine Art von Gemälde aus,
welches ... bloß zum Ansehen da ist, um die Einbildungskraft im freien Spiele mit Ideen zu unterhalten,
und ohne bestimmten Zweck die ästhetische Urteilskraft zu beschäftigen. 297

Diese Ansichten Kants zählen sicher nicht zu seinen großen philosophischen Leistungen und sind wohl auch zeit-
bedingt. Aber sie wirken bis heute nach.

Fest verankert im kunsthistorischen Diskurs ist der Topos von dem Landschaftsgarten als dreidimensionales begeh-
bares Landschaftsbild.298 Als Beispiel aus der umfangreichen Literatur zitiere ich aus einer Arbeit Günter Herzogs
über den Maler Hubert Robert. Herzog gibt hier insgesamt einen sehr interessanten und informativen Abriss der
bildenden Kunst des 17. Jahrhunderts. Seine Ansicht über die Bedeutung der Landschaftsmalerei ist aber typisch
für einen Kunsthistoriker.

Er sieht als ein vordringlich zu untersuchendes Phänomen, „in dem sich die Beziehung zwischen Malerei und
Landschaftsgarten definiert, [das Bildhafte.]“ 299 An der Wiege des Landschaftsgartens steht nach seiner Ansicht
der „Ausspruch Alexander Popes aus dem Jahr 1734: Alle Gärtnerei ist Landschaftsmalerei.“ 300 Für diese
Grundauffassung kann Herzog natürlich viele Zeugen aufrufen, zum Beispiel den Marquis de Giradin, der den
Bauherren von Landschaftsgärten empfiehlt: „sich selbst ein Bild ihres Vorhabens zu machen oder sich eines ma-
chen zu lassen. ... das Bild einer Landschaft [kann] von keinem anderen Künstler erfunden, skizziert, gezeichnet,
koloriert, retuschiert werden als von einem Landschaftsmaler ...“ 301 Und Herzog stellt fest:

Das „Bildhafte“ ... wird zum alle Gattungen dominierenden Organisationsprinzip der Kunst in der
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und löst damit die Architektur als herrschende Ordnungsmacht
ab. Selbst Architektur wird als Assoziationen auslösendes Bild rezipiert und selbst Natur kann nur noch
im Bild wirklich und wirksam werden. 302

Herzog beschreibt das Wirken Hubert Roberts, der seine Lehrzeit natürlich in Italien absolvierte, und dessen „im-
mer wiederkehrende Lieblingsmotive die Felsen, die Wasserfälle und der Sibyllentempel von Tivoli“ waren. In
Frankreich entfaltet Robert eine fruchtbare Tätigkeit. Herzog erforscht am Beispiel des Gartens von Méréville akri-
bisch, wie weit sein bildnerisches Werk in konkrete Landschaftsgestaltung umgesetzt wurde. Demnach entwarf
Robert

einzelne vollständige Gartenbilder, bestimmte die Gestaltung der angemessenen Landschaft, entwarf
nach den Vorstellungen des Marquis und der Marquise ... die gewünschten Gebäude und sonstige
Fabriques, Denkmäler, Grotten und Felsen, aus denen diese Gartenbilder komponiert wurden. Er ver-

297  Kant, KdU, § 51


298  Buttlar, (1989), 14.
299  Herzog, (1989), 13.
300  Ebd., 31.
301  Ebd.
302  Ebd., 125.

Die Welt als Garten  139


gab Aufträge an Schreiner, Steinmetzen und Bildhauer, die nach seinen Anweisungen Gipsmodelle
anfertigten, handelte Preise und Löhne aus und beaufsichtigte die ... laufenden Arbeiten.303

Dabei ist von 9 Fuß hohen und 6 Fuß breiten Bildern die Rede, die „für den kleinen Salon ... und das Billardzimmer“
angefertigt wurden.

Alles in allem entsteht der Eindruck, als wenn der Garten eine erweiterte Gemäldegalerie war, in die nacheinander
Gemälde (Gartenmotive) aufgehängt (eingebaut) wurden. Diese Vorgänge erscheinen uns heute eher als Kuriosum.
Für Herzog beweisen sie

eindeutig und erstmalig in der Geschichte der Gartenkunst, daß ... Gartenbilder tatsächlich nach
Gemälden gebaut worden sind, eine zweidimensionale Kunst in eine Raum-Zeit-Kunst übertragen
wurde.

Das ist die typische Sicht eines Kunsthistorikers. Er beschreibt aber eigentlich nur eine Kunstform, die in ihrem
dekorativen Charakter eher der Bühnenbildnerei zu zuordnen ist und in der insofern noch Elemente des Barocks
weiter wirken.

Abb. 7/1 Bühnenbild, keine Gartenkunst

Dagegen hat bei Franz Hallbaum, der das klassische Standardwerk über den Landschaftsgarten geschrieben hat,
die Natur ein stärkeres Gewicht. Er sieht den „Garten in einer eigentümlichen Schwebe zwischen reiner Kunst
und reiner Natur.“ 304 - Das entspräche meiner Unterscheidung von physis und techne. – Doch Hallbaum sucht als
Kunsthistoriker nach Argumenten, um zur reinen Kunst zu kommen:

Zunächst wird innerhalb des Naturgegebenen eine Auswahl getroffen nach der Seite des Typischen und
nach der Seite des Bildfähigen, eine Idee der Auswahl, die von jeher zum Wesen aller klassischen Kunst
gehört hat. Als das Mittel dieser Fixierung einer idealen Naturschönheit gilt in erster Linie die Vedute,

303  Ebd., 104.

304  Hallbaum, (1927), 45.

140  Die Welt als Garten


die bildmäßig aus der normalen Augenhöhe des Menschen erfaßt werden soll und sich vornämlich aus
den lebendigen Teilen des Gartens: Wiesen, Bäumen, Himmel zusammensetzt. 305

Hallbaum sieht also die Auswahl des Bildfähigen als Kriterium der klassischen Kunst. Aber er behält noch die Natur
im Auge:

Der Landschaftsgarten arbeitet zwar mit Größen, die weniger meßbar sind und sich vielfach der
Gestaltung durch Menschenhand vollständig entziehen. Dafür kann er auf die Mitwirkung eines be-
freundeten Naturgeschehens rechnen. Der Formwille der Kunst und die Lebendigkeit der organischen
Natur sind bewußt zur Deckung gebracht. 306

Schließlich dominiert aber doch die Auffassung, dass wahre Gartenkunst nur unter dem Schirm der Malerei gedei-
hen kann:

In allen ... Äußerungen, mögen sie von Seiten der Dichter, Maler oder Gärtner stammen, wird die
ideale Zusammengehörigkeit der gärtnerischen Bilder mit Landschaftsgemälden als gegeben voraus-
gesetzt. Hier tritt ... die ordnende und verbindende Kraft der Vedute in ihre Rechte [!] ein. Denn
das gehört zum elementaren Wesen des Landschaftsgartens, daß seine Veduten mit gleichem Recht
aus der Natur wie auch aus der Landschaftsmalerei hergeleitet werden können. In dieser hatten die
Maler bereits eine Schönheitswahl getroffen und nach bestimmten Gesetzlichkeiten zum Bild gestal-
tet. Die Landschaftsmaler bieten also die prästabilisierten Bilder des Idealen und des Heroischen, die
der Landschaftsgärtner im Räumlichen realisiert. Daher die allgemein und emphatisch aufgestellte
Stilforderung, daß der Landschaftsgärtner sich mit den Ideen der großen Landschaftsmaler erfüllen ...
müsse, um sich nachschaffend dem idealen Urbild anzunähern. 307

Dieses Ideal sieht Hallbaum aber dadurch „gestört,“ dass Caspar David Friedrich anstelle der “idealen“ die „reale
Landschaft“ darstellte, und völlig ungeeignet als Vorbild für die Landschaftskunst empfindet er den Impressionismus
und hofft, dass nach der „absurden Unbildmäßigkeit der expressionistischen Malerei, ... in der Gartenkunst die
Hinneigung zum Bildmäßigen und somit zur Landschaftlichen Vedutenstilisierung sich wieder durchsetzt.“ 308

Hallbaum lebt also noch 1927 ganz in der Welt der vormodernen Kunst, in der Hoffnung, dass die Entwicklung
der modernen Malerei, in der alles aus der menschlichen Lebenswelt „bildfähig“ ist, nur eine vorübergehende
Fehlentwicklung sei.

Die Idee von der Vorbildfunktion der Landschaftsmalerei für die Gartenkunst hat aber auch schon früh ihre Kritiker
gefunden. Von Buttlar weist darauf hin, dass schon Schiller 1795 vom Scheitern des neuen Gartenstils sprach,
„weil man mit der Anlehnung an die Prinzipien der Malerei die Suche nach autonomer Form und Eigengesetzlichkeit
aufgegeben habe“ und er zitiert Schiller:

Aus der strengen Zucht des Architekts flüchtete sie sich in die Freiheit des Poeten, vertauschte plötzlich
die härteste Knechtschaft mit der regellosesten Lizenz und wollte nun von der Einbildungskraft allein
das Gesetz empfangen ... der neue Gartengeschmack scheiterte, weil er aus seinen Grenzen trat und

305  Ebd., 48.

306  Ebd.
307  Ebd., 48.
308  Ebd., 52ff.

Die Welt als Garten  141


die Gartenkunst in die Malerei hinüberführte. Er vergaß, daß der verjüngte Maßstab, der der letzteren
zustatten kommt, auf eine Kunst nicht wohl angewendet werden kann, welche die Natur durch sich
selbst repräsentiert ... 309

Und Ritter zitiert H. Lützeler, der darauf hinweist, daß „ die künstlerische Begegnung des Menschen mit der
Natur“ in Wahrheit alles andere als „natürlich“ sei und daß „unsere innere Nähe zur Landschaftsmalerei“ uns „de-
ren eigenartige Problematik“ gerade verdecke. 310

Eine frühe Kritik, die in der Interpretation von Eckard Lobsien geradezu modern erscheint, ist besonders treffend:

In seiner Akademierede vom 11. Dezember 1786 bemerkte Sir Joshua Reynolds, es sei nachgerade
unmöglich einen Landschaftsgarten zu malen. Die Landschaftskunst nämlich gestaltet die Natur nach
eigenen Gesetzen, sie transformiert das vorfindliche Terrain in ein geschlossenes System spezifischer
Künstlichkeit. Die Gartenkunst ist nur in dem Maße Kunst, wie sie sich in einer kohärenten Differenz
zur empirischen Wirklichkeit artikuliert. Dasselbe gilt auch für die Landschaftsmalerei: auch sie ist nur
Kunst als konsistente Künstlichkeit. Daraus folgt, daß die Natur entweder in einen Garten oder in ein
Gemälde transformiert werden kann, daß aber die Bezugnahme des einen Künstlichkeitssystem
auf das andere zu ganz und gar unverträglichen Interferenzen führen müsste. Jede Kunstform
vermag eben nur auf ihre spezifische Weise die Imagination anzusprechen, sie kann nur nach dem für
sie gültigen Regelsystem die particular natur zur general natur steigern. Denn das ist nach Reynolds der
eigentliche Zweck der Kunst: hinter den mangelhaften Kompromissen des faktisch gegebenen die ide-
ale Gestalt zu enthüllen, an die Stelle kontingenter Wirklichkeit deren Inbegriff (archetype) zu setzen.
311
(Hvh. fett, A. S.)

Diese Auffassung hat eine erstaunliche Ähnlichkeit mit der Systemtheorie Luhmanns, mit der ich mich noch näher
befassen werde. Ein Schlüsselwort für meine Kritik der modernen Gartenkunst ist der Begriff Interferenz: „Falsche
Analogie ... durch die Einwirkung eines ... Systems auf ein anderes, die durch Ähnlichkeit von Strukturen ... ent-
steht.“ 312

Bezeichnend für die Oberflächlichkeit diese Vorgänge und Ansichten ist eine oft beschriebene Mode jener Zeit:
„Zum Zwecke der Suche nach Bildern in der Natur benutzten die englischen Reisenden den ‚Claude-Spiegel’ ... .
Sie drehten der Landschaft ... den Rücken zu und betrachteten sie ... in einem leicht konvexen, getönten ... und
gerahmten Taschenspiegel, um sie, wie sie meinten, mit den Augen Claude Lorrains zu sehen.“ 313

Der Gemeinplatz von der Vorbildfunktion der Malerei für die Landschaftskunst ist seit jeher so dominant, dass noch
niemand gefragt hat, wie denn die Landschaftsmaler auf die Idee gekommen sind, Naturlandschaft zu malen. Die
Antwort ist einfach: Es war das allgemeine Erwachen des Interesses an Natur, die Hinwendung zu den Schönheiten
der Natur als Folge der Aufklärung. Und dieses Interesse richtete sich an das, was der Städter beim Heraustreten
aus der Stadt sah: die Gefildenatur. Besonders in Deutschland wurden die großen Parks dort angelegt, wo noch alte
Baumgruppen der Hutewälder vorhanden waren. Wirksam wurden also archetypische Bilder.

Hinzu kam das romantische Interesse an der Antike. Von diesem Gesichtspunkt aus gesehen, sind die Gemälde
Lorrains keine Bilder von Wunschlandschaften, sondern narrative Darstellungen von Vorstellungen antiker Welten.

309  Buttlar, (1989), 159.


310  Ritter, (1974), 178.
311  Lobsien, (1986), 159.
312  Fremdwörterlexikon
313  Herzog, (1989), 145.

142  Die Welt als Garten


Bei den Malern dominierte dieses Interesse. An dem Beispiel Hubert ist sichtbar, dass die Versatzstücke aus dem
Arsenal antiker Bilder die eigentlichen Inhalte der Gemälde sind; die Landschaft ist dagegen nur dekorativer Rahmen.
Ein Indiz für diese Auffassung erhält man, wenn man darauf achtet, wie Generationen von Landschaftsmalern
Naturgegenstände, zum Beispiel Bäume, klischeehaft malten.

Hobbena 1668-1709 Reinhold 1788-1825 Robert 1733-1808


Abb. 7/2a-c Klischees

Erst Künstler wie Caspar David Friedrich malten ‚nach der Natur’, was Hallbaum folgerichtig beklagte.

Auch die gesellschaftliche Rolle der Landschaftsmaler ist zu beleuchten. Es ist wohl unbestreitbar, dass der Spiritus
rector immer der gebildete Adelige als Auftraggeber war. Dass der seinen Kutschenmaler nach Italien schickte, um
Motive für seine Parkschöpfung zu sammeln, ändert nichts an seiner eigentlichen Urheberschaft. Andererseits war
natürlich auch die Geschicklichkeit des Malers wichtig, und dessen Handschrift Teil des Künstlerischen Ergebnisses.
Aber ein Beweis für die Vorbildfunktion der Malerei ist daraus nicht abzuleiten. - Man kann eine Parallele zu der
heutigen Praxis ziehen, wenn Designer und Computer-Graphiker bei der Herstellung von Gartenplänen mitwirken,
was auch oft zu fragwürdigen Ergebnissen führt.

Ich bestreite allerdings nicht, dass die Landschaftsmalerei die Wahrnehmung von Natur beeinflusst hat. Sie hat
sicher bei den Italienreisenden das Interesse für die Schönheiten der Toskana geweckt. Insofern ist sie mit den
Bildern in den Prospekten der heutigen Reiseindustrie zu vergleichen. Entscheidend ist aber damals wie heute, ob
das geweckte Interesse in ein Naturerlebnis mündet, oder sich auf eine rein optische Wahrnehmung beschränkt. - Es
handelt sich auch hier um eine skalierte ‚Unterscheidung mit zwei Seiten,’ was ich im Prinzip schon in 6. Kapitel
behandelt habe:

Naturwahrnehmung
Direkte, leibliche Indirekte, bildliche

Und auch hier entscheidet der Blinde Fleck über die Wahrnehmung: Wer an einem sonnigen Frühlingsmorgen
durch eine Wiesenlandschaft oder durch einen ergrünenden Buchenwald oder durch einen erblühenden Park wan-
dert, der denkt sicher nicht an ein Gemälde von Lorrain, es sei denn, er ist ein Kunsthistoriker, der – seinerseits – nur
das wahrnimmt, was er mit irgendeinem Landschaftsgemälde vergleichen kann.

Eine so verstandene Naturwahrnehmung hat Nietzsche auf den Punkt gebracht:

... bei dem gewaltigen, die ganze Natur lustvoll durchdringenden Nahen des Frühlings erwachen jene
dionysischen Regungen, in deren Steigerung das Subjective zu völliger Selbstvergessenheit hinschwin-
det. ... Unter dem Zauber des Dionysischen ... [feiert] die entfremdete, feindliche oder unterjochte
Natur wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenem Sohn, dem Menschen. ... Der Mensch ist nicht

Die Welt als Garten  143


mehr Künstler, er ist Kunstwerk geworden: die Kunstgewalt der ganzen Natur ... offenbart sich hier
unter den Schauern des Rausches.314

Auch in diesen Sätzen erkennt man die Zwei-Seiten-Form: der leiblich affizierte Mensch und die „Kunstgewalt der
Natur.“

Es ist noch eine andere Form des Einflusses der Malerei zu erörtern: ihr Einfluss auf die grundsätzliche
Rezeptionsfähigkeit von Naturformen. Auch dies ist ein Thema der Wahrnehmungstheorie. Ich habe oben dar-
gestellt, dass die Adaptation bestimmt wird durch das Verhältnis von Assimilation und Akkommodation. Es ist of-
fensichtlich, dass die Wahrnehmung ungewohnter Formen - die Akkommodation - durch Kunstwerke beeinflusst
werden kann. Etwas übertrieben hat Oskar Wilde das beschrieben:

... was und wie wir sehen hängt von den Künsten ab, sie uns beeinflusst haben. ... das weiße flim-
mernde Sonnenlicht ... mit seinen seltsamen malvenfarbenen Klecksen und seinen unruhigen violet-
ten Schatten ist die letzte Schöpfung der Kunst ...315

Aber wenn er sagt, dass die Natur dies „ganz ausgezeichnet reproduziert,“ ist das natürlich missverständlich. Was
er beschreibt, ist die Tatsache, dass unser Gehirn seine Umwelt nach vorhandenen intrinsischen und extrinsischen
Vorbildern konstruiert.

Gottfried Boehm befasst sich ausführlich mit dieser Frage und stellt zum Beispiel fest:

Monet [begreift] die Natur nicht als einen festen Bestandteil von Dingen, mit einer eindeutigen räum-
lichen Gliederung, die im Ausschnitt des Bildes komponiert wird. Was er in der Natur sieht, ist nicht
das Faktische, sondern das Wirkende: das Licht, seine Dichte und Transparenz, in dem sich die Dinge
lösen, die Farbe ohne Formwert, die – vielfach überlagert – die Erscheinung der Natur bewerkstelligt.
Die Natur wird zu einem Ereignis des Auges.316

Boehm gibt eine ausführliche Darstellung der Entwicklung der modernen Malerei von Monet über Kandinsky,
Mondrian bis Pollock und fasst den Kern dieser Entwicklung zusammen mit dem berühmten Satz Paul Klees:
„Kunst gibt nicht Sichtbares wieder, sondern macht sichtbar.“

Ein Bild von Jackson Pollock nehme ich als Beispiel für einen Vergleich der Rezeption eines Kunstwerks mit der
eines Natur-‚Bildes’, der Abbildung eines Strauchgewirrs.

314  Zit. bei Liessmann, (1999), 73.


315  Smuda, (1986), 65.
316  Boehm, (1986), 90ff

144  Die Welt als Garten


Abb. 7/3c Strauchgewirr vor dem Fenster

Pollock hat beim Malen sicher nicht an so etwas gedacht, sondern er trug „die Spannung seines körperlichen
Zustandes, entlang der Bewegungsspuren, der ekstatischen Drippings, ins Bild ein.“317 Mich erinnern aber derartige
chaotisch durcheinander wachsenden Zweige und Äste oft an Bilder von Pollock und andere und werden so zu äs-
thetischen Eindrücken. Pollock hat so die Schönheit eines ungewöhnlichen Naturbildes für mich ‚sichtbar’ gemacht

Abb. 7/3a Jackson Pollock, Autumn Rhythm, 1950

Ein Beispiel einer konkreten Darstellung ‚chaotischer’ Natur ist die „Traditional Landscape“ von Ian Mckeever. Das
Bild erinnert an Pollock aber auch an die „Waldbilder“ von Gerhard Richter. Chaos wird als Ästhetik wahrgenom-
men.318

317  Ebd., 107.


318  KUNSTFORUM INTERNATIONAL, (1984), 56.

Die Welt als Garten  145


Abb. 7/3b Ian Mckeever, Traditional Landscape, No. 9, 1983

Grundsätzlich lässt sich also sagen, dass Kunst in jeglicher Form dem Menschen immer neue Wahrnehmungsräume
erschließt, aber nicht durch einfache ‚Vor’-Bilder, die nachzuahmen sind, sondern durch Anregung des Vermögens
zu akkommodieren, was – wie gesagt – Kunstproduktion und -rezeption verbindet.

Diese Einbeziehung der modernen Malerei in die Überlegungen lassen den Topos von der Vorbildfunktion der
Landschaftsmalerei als überholt erscheinen. Die Vedutenmalerei war eine zwar bestimmende aber relativ kurze
Phase der Kunstgeschichte. Ihr Ende markiert den Anfang eines neuen Landschaftsgefühls, und die Assoziation des
Begriffs ‚Landschaft’ mit ‚Landschaftsmalerei’ ist insofern heute anachronistisch.

In diesem Zusammenhang sind noch zwei Topoi zu behandeln, die eine ähnliche Wirkung entfalten: Die Besteigung
des Mont Ventuox durch Petrarca und der viel strapazierte Begriff Arcadia.

Die Bergbesteigung Petrarcas 1336 wird in letzter Zeit oft als Erwachen des Landschaftsgefühls angesehen. Damit
wird dem kunsthistorischen Begriff Landschaft eine überzeitliche Bedeutung beigemessen. Die Hintergründe des
Briefes, in dem Petrarca die Besteigung schildert, wurden von Ruth und Dieter Groh erforscht. Sie haben festge-
stellt, dass der Brief nicht 1336, sondern erst zehn Jahre später, als der Adressat schon gestorben war, geschrieben
wurde. Über das Landschaftsgefühl, das darin zum Ausdruck kommt, schreiben sie:

Daß Petrarca seinem Brief-Ich im Text keinen Raum gibt, einer Ergriffenheit durch den Fernblick an-
gemessen Ausdruck zu verleihen, kann nur denjenigen verwundern, der den Brief über die Besteigung
des Mont Ventoux als Zeugnis einer frühmodernen Landschaftserfahrung lesen möchte. Wer dagegen
... die Bedeutung des Mont Ventoux nach der rhetorischen Rekonstruktion des Textes darin erkennt,
daß der Berg vor allem als Metapher für außernatürliche Signifikate dient, wird jenes Stummbleiben
ganz plausibel finden: auf Landschaftserfahrung ... kam es hier gar nicht an. ... Der fiktive Brief ... ist
vor allem die Allegorie einer Lebenskrise. 319 (Hvh. A. S. )

Und ein besonders schillernder Gemeinplatz ist „Arkadien“. Er gehört im Diskurs der modernen Gartenkunst zu den
negativ besetzten Begriffen wie auch Naturalismus, Naturschönheit und Landschaft. Seine Bedeutung hat Petra
Maisak so formuliert:

319  Groh, (1996), 76ff

146  Die Welt als Garten


Arkadien gehört wie das verlorene Paradies, der Garten Eden und die saturnische goldene Zeit zu
den wirkungsmächtigen Wunschbildern, die über Jahrhunderte hinweg tradiert werden und von
der Sehnsucht nach einer von der Realität antithetisch abgesetzten Wunschwelt leben, in die Wert-
und Glücksvorstellungen projiziert werden, deren Verlust dem Auseinanderbrechen der Einheit von
Mensch, Gottheit und Natur, der Selbstentfemdung des Menschen in einer entfremdeten Welt zuge-
schrieben wird. 320

Im Kern heißt dies, dass ‚Arkadien’ ein unrealistisches Wunschbild sei. Um den Hintergrund dieser Vorstellung zu
erhellen, ist es sinnvoll, den Ursprung des Begriffes zu untersuchen: Es sind die griechischen Hirtengedichte, die uns
von Vergil überliefert sind und als deren ‚Erfinderin’ die Legendengestalt Daphnis gilt. Es handelt sich aber durchaus
um realistische Szenen aus dem Leben der Hirten mit ihren Sorgen und Leidenschaften und deren Beeinflussung
durch die antiken Götter. Geschildert wird ihre Lebenswelt, in der die Natur der selbstverständliche Hintergrund ist.
So werden die Naturszenen nicht als schmückender Rahmen dargestellt, sondern sie sind unmittelbarer Bestandteil
und Bezug des Hirtenlebens. So beginnt schon die erste Ekloge: „Du, Tityrus, lehnst dich zurück, beschirmt von
der weitverzweigten Buche, und übst auf feinem Schilfrohr ein ländliches Lied. Wir aber müssen den Heimatboden
verlassen, die lieblichen Gefilde.“ Derartige reale Naturbezüge sind Bestandteil des gesamten Werkes. Ich reihe im
Folgenden einige typische Sequenzen aneinander:

... hier zwischen deinen vertrauten Flüssen und den heiligen Quellen wirst du die schattige Kühle ge-
nießen. Vom nahen Grenzrain hier wird dich wie bisher die Hecke, deren blühendes Weidengebüsch
Bienen von Hybla abgrasen, oft mit sanftem Summen zum Schlummer laden. ... das mit Rasen be-
deckte Dach der armen Hütte ... blühenden Schneckenklee und bittere Salweiden ... Dornenhecken
bieten jetzt grünen Eidechsen Unterschlupf ... Honig möge ihm fließen und der rauhe Brombeerbusch
Balsamfrüchte tragen ... Büsche und niedrige Tamarisken erfreuen nicht alle. Wenn wir von Wäldern
singen, sollen es Wälder sein, die eines Konsuls würdig sind ... harte Eichen werden Honigseim aus-
schwitzen ... Warum setzen wir uns also nicht hier nieder, wo Haselsträucher zwischen Ulmen stehen
... hier säumt zartes Schilfrohr das grüne Ufer des Mincius, und aus der heiligen Eiche ertönt das
Summen der Bienen ... Hier ist purpurner Frühling, hier schüttet die Erde rings um den Fluß eine Fülle
bunter Blumen aus, hier überragt eine strahlende Pappel die Grotte, und geschmeidige Weinranken
weben eine schattige Laube ... Hier gibt es kühle Quellen, hier weichen Rasen, hier Wald: Hier möchte
ich mit dir in der Fülle des Lebens vergehen. 321

Hier geht es nicht um abstrakte Bilder und Phantasiegebilde oder Wunschbilder, sondern um intensiv empfunde-
ne konkrete Natureindrücke. Es ist keine Gegenwelt, sondern Lebenswelt. Diese hat von Albrecht aus der
Biographie Vergils gedeutet. So stellt er fest: „seine Liebe zur Landschaft Italiens [entspringt sicher] einer naturver-
bundenen Kindheit und nicht etwa nur der sentimentalischen Sehnsucht des Städters nach den Ursprüngen.“ Und
er spricht von der „geheimnisvolle[n] Koexistenz von Natur und Kultur in Vergils Genius“ Für mich am wichtigsten
ist aber die Ansicht,

... daß uns Vergil nicht nur in eine „geistige“ Landschaft führt (ein verklärtes Arcadien) oder eine
„literarische“ Landschaft (Theokrits Sizilien), sondern auch – und mit besonderer Liebe – in die reale
Landschaft Oberitaliens, seine Heimat ... . 322

320  Zit. in: Herzog, (1989), 125.


321  Vergil, (2001).
322  Ebd., 263ff.

Die Welt als Garten  147


Es handelt sich hier also ursprünglich nicht um ein Arkadien als Wunschbild und auch nicht um ein Naturbild als
Hintergrund für eine Handlung, sondern um ein gelebtes Naturverhältnis, das sich überhaupt nicht von heutigen
Empfindungen unterscheidet, von Empfindungen, die archetypisch sind.

Zur „geistigen Landschaft,“ zur „Metapher der glückseligen, naturverbundenen Hirtenidylle“ 323 ist das Arkadien
aber erst durch viele Generationen von Künstlern und Kunsthistorikern geworden, die selber der Natur entfremdet
waren. Die negative Konnotation, die viele Gartenkünstler mit dem Begriff verbinden, ist - sofern er denn über-
haupt noch in Verbindung mit der Gartenkunst relevant ist - unberechtigt.

Landschaft nach heutigem Empfinden zu definieren ist schwierig weil der Begriff, wie gesagt, meistens im kunsthi-
storischem Kontext verstanden wird. Wenn er weiter im Diskurs über Gartenkunst benutzt werden soll, muss seine
Konnotation geändert werden. Eine Voraussetzung dafür ist die Emanzipation vom Diskurs der Kunsthistoriker,
aber auch – wenn man die gegenwärtige Entwicklung betrachtet – die Abgrenzung von der Bildenden Kunst.

7.2 Die Bildung von Systemen

7.2.1 Theoretische Grundlagen der Systembildung

Das im vorigen Abschnitt untersuchte Verhältnis der Landschaftskunst zur Landschaftsmalerei konzentrierte sich,
generell gesehen, auf die Unterscheidung rein visueller von leiblicher Wahrnehmung. Bestimmt wird der Diskurs
über dieses Thema bisher von der Dominanz der Kunsthistoriker. Für eine Emanzipation der Gartenkunst von der
bildenden Kunst, ist eine weitere Unterscheidung zu treffen, und zwar auf dem Hintergrund ihrer gesellschaftlichen
Stellung. Als Grundlage nehme ich die Systemtheorie von Niklas Luhmann, und benutze hierzu die Einführungen
von Horster und Reese-Schäfer und Luhmanns letztes Werk: „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ 324

Luhmann ersetzt die konventionelle Theorie der gesellschaftlichen Stratifikation in Ober-, Mittel- und Unterschicht
durch die Theorie der sozialen Funktionssysteme, als „eine neuartige Form gesellschaftlicher Differenzierung“ 325.
Funktionssysteme sind zum Beispiel Wirtschaft, Politik. Erziehung, Gesundheit usw. Ein wesentlicher Unterschied
ist darin zu sehen, dass die Funktionssysteme nicht wie die sozialen Schichten aus Individuen sondern nur aus
Kommunikationen bestehen. Luhmann spricht deshalb auch von Kommunikationssystemen.

Im zweiten Kapitel ist schon gesagt, dass Luhmanns Theorie von Maturana beeinflusst ist. So benutzt er auch des-
sen Begriffe ‚Autopoiese’, ‚Geschlossene Systeme’ und ‚Strukturelle Kopplung’ in seinem Kontext. Und, wie schon
mehrfach klar geworden ist, basiert seine Theorie, wie die Maturanas auf der ‚Form der Unterscheidung.’ Insofern
ist die Struktur der von beiden getroffenen Unterscheidungen auch zu vergleichen:

Maturana:

Milieu
Pflanze Nische

323  Kinast, (2004), 36.


324  Horster, (1997), Reese-Schäfer, (1996), Luhmann, (1997b).
325  Luhmann, (1997)

148  Die Welt als Garten


Luhmann:

Gesellschaft
System Umwelt

So wie zur Nische einer Pflanze alle benachbarten Pflanzen gehören, besteht die Umwelt eines Systems aus allen
anderen Systemen. Und umgekehrt ausgedrückt gehört jedes System zur Umwelt eines beliebigen anderen Systems.
Auch diese Homologie zeigt, wie grundlegend Maturanas Forschungen für die moderne Wissenschaftstheorien sind.
– Luhmann schreibt:

daß System und Umwelt als die zwei Seiten einer Form zwar getrennt [sind], aber nicht ohne die je-
weils andere Seite existieren können. Die Einheit der Form bleibt als Differenz vorausgesetzt; Aber die
Differenz selbst ist nicht Träger der Operationen. ... [die] sind nur als Operationen des Systems möglich,
also nur auf der Innenseite der Form. 326

Luhmann unterscheidet zunächst soziale Systeme von psychischen Systemen, die sich strukturell gleichen, weil
ja auch soziale Systeme aus psychischen Systemen bestehen, genauer gesagt aus Kommunikationen psychi-
scher Systeme. Dass soziale Systeme nicht aus Individuen bestehen, geht schon daraus hervor, dass ein einzel-
nes Individuum in verschiedenen Systemen operieren, das heißt kommunizieren kann. So muss zum Beispiel ein
frei schaffender Landschaftsarchitekt, wenn er überleben will, generell im System Wirtschaft operieren und als
Freiraumplaner in der Gartenkunst, und wenn er Landschaftspläne macht, in den Systemen Ökologie und Recht.
Und wenn er seinen Plan in Kommunalausschüssen vertreten muss, kommuniziert er zwangsläufig im System
Politik.

Ein Leitbegriff für die Entstehung von Systemen ist für Luhmann die Autopoiese:

Autopoietische Systeme sind Systeme, die nicht nur ihre Strukturen, sondern auch die Elemente, aus
denen sie bestehen, im Netzwerk eben dieser Elemente selbst erzeugen. Die Elemente (und zeitlich
gesehen sind das Operationen), aus denen autopoietische Systeme bestehen, haben keine unabhängige
Existenz ... Sie werden vielmehr erst im System erzeugt, und zwar dadurch, daß sie ... als Unterschiede
in Anspruch genommen werden. Elemente sind Informationen, sind Unterschiede, die im System ei-
nen Unterschied machen. Und insofern sind es Einheiten der Verwendung zur Produktion weiterer
Einheiten der Verwendung, für die es in der Umwelt des Systems keinerlei Entsprechung gibt.

...

Autopoiesis ist ... nicht als die Produktion einer bestimmten „Gestalt“ zu begreifen, entscheidend ist
vielmehr die Erzeugung einer Differenz zwischen System und Umwelt. Durch Abkoppelung
des Systems von dem, was dann als Umwelt übrig bleibt, entstehen intern Freiheitsräume, da die
Determination des Systems durch seine Umwelt entfällt.

...

Es gibt weder Input noch Output von Elementen in das System oder aus dem System. Das System
ist nicht nur auf struktureller, es ist auch auf operativer Ebene autonom. Das ist mit dem Begriff der
Autopoiesis gesagt. 327 (Hvh. A. S.)

326  Ebd. 63. ‚Innenseite’ bezieht sich auf den ‚Haken’ als Symbol der ‚Zwei-Seiten-Form’, siehe S. 27.
327  Ebd., 65ff.

Die Welt als Garten  149


Ebenso legt das System selbst seine Grenzen fest. „Grenze“ ist hier eine Metapher, abgeleitet von der stofflichen
Begrenzung eines Organismus nach Maturana. Bei Luhmann ist diese Systemgrenze eine Grenze der ‚Form
der Unterscheidung’ zwischen System und Umwelt. Diese Grenze bewirkt die Geschlossenheit des Systems.
Geschlossenheit heißt, dass die Struktur eines Systems nur von diesem selber bestimmt werden kann. Man be-
zeichnet dies auch als ‚Selbstreferentialität’. Einflüsse der Umwelt auf das System sind nur in einer ‚strukturellen
Kopplung’ möglich. Dabei entscheidet nur das System, welche Einflüsse für die Struktur nützlich oder unschädlich
sind und deshalb zugelassen werden können.328

Da aber auch die Umwelt des Systems aus sozialen Funktionssystemen besteht, gilt auch umgekehrt, dass das
System Einfluss auf andere Systeme nur unter den Bedingungen struktureller Kopplung ausüben kann. Und
wie die Systeme, besteht auch die strukturelle Kopplung nur aus Kommunikation. Dabei ist anzumerken, dass
Kommunikation keine einfache „Übertragung von Sinn“ ist,329 wie die konventionelle Metapher: „Sender, Kanal,
Empfänger“ glauben machte, sondern dass sie immer von den unterschiedlichen Strukturdeterminationen der be-
teiligten Systeme abhängt. – Nach Luhmann ist Kommunikation eine Einheit, „die aus den drei Komponenten
Information, Mitteilung und Verstehen besteht, die durch die Kommunikation erst erzeugt werden.“ 330 Und dieser
Vorgang unterliegt, wie ich oben schon dargestellt habe, der doppelten Kontingenz, was die Probleme mancher
Kommunikation erklärt. (Siehe Anm. 264.)

Soweit also die Bedingungen für die Entstehung von sozialen Systemen, ihr Verhältnis zur Umwelt und der Vergleich
mit Maturanas Theorie der lebenden Systeme. Auch Luhmanns weitere Beschreibung der Funktionen der Systeme
erinnert noch an Maturana. In den lebenden Systemen war die Organisation als das bestimmende und unveränder-
liche Prinzip definiert und die Struktur als der variante Bestandteil, der die Anpassung an das Milieu regelte.

Luhmanns Funktionssysteme sind komplexer aufgebaut. Ihr bestimmendes und unveränderliches Prinzip hängt „von
einem jeweils eigenen binären Schematismus ab, der für jedes System eine eigene Typik der Informationsverarbeitung
und damit auch eine eigene Realitätskonstruktion von dem unterscheidet, was sonst geschieht. Musterfälle sind
die Unterscheidung von wahr und unwahr im Wissenschaftssystem oder die Unterscheidung von Eigentum /
Nichteigentum ... in der Wirtschaft.“ 331 Diesen Schematismus nennt Luhmann allgemein den „binären Code“.

Alle Systeme unterscheiden sich durch ihre je eigenen Operationsweisen voneinander, die durch einen binären Code
strukturiert sind. Die soziale Funktion eines Systems besteht darin, sich durch eine spezifische Operationsweise von
seiner Umwelt abzugrenzen, und dadurch seine Grenze zu stabilisieren. Die Umwelt steuert keine Operationen bei,
sondern Störungen.332

Weitere Beispiele, die Luhmann anführt, sind in der Politik: Macht haben / nicht haben, im Rechtssytem: Recht /
Unrecht, in der Ausbildung: Prüfung bestehen / nicht bestehen, im Gesundheitssystem: Gesundheit / Krankheit. -
In dieser Zwei-Seiten-Form, die aus einem positiven und einem negativen Wert besteht, ist nur der positive Wert
anschlussfähig: wenn sich zum Beispiel in der Wissenschaft etwas als falsch herausstellt, muss neu angefangen
werden.

328  Zum Bezug auf Maturana siehe Anm. 93 bis 102.


329  Luhmann, (1997), 73.
330  Ebd., 72.
331  Luhmann, (1993b), 184f.
332  Horster, (1997), 63.

150  Die Welt als Garten


Wie gesagt, ist der Code eines Systems unveränderlich. Wenn er geändert wird, liegt ein anderes System vor. Wie,
nach Maturana, zu der Organisation die Struktur hinzukommt, um den Organismus anpassungsfähig zu machen,
muss auch der Code ergänzt werden. „Codes allein sind ... nicht existenzfähig“ 333

In der Praxis entsteht ... ein Bedarf für Entscheidungsregeln, die festlegen, unter welchen Bedingungen
der Wert bzw. der Gegenwert richtig oder falsch zugeordnet ist. Wir nennen solche Regeln Programme.
Die Unterscheidung von Codes und Programmen strukturiert ... die Autopoiesis der Funktionssysteme
in unverwechselbarer Weise ... und damit kommt ihre Ausdifferenzierung zustande.334

Zum Beispiel sind im Rechtssystem, mit dem Code Recht/Unrecht, die Programme: Verfassungen, Gesetze,
Verordnungen, Gerichtsentscheidungen usw., oder in der Wissenschaft: Experimente, die in der Wiederholung
überprüft werden, Testreihen, Messungen usw.

Ich fasse die Hauptkriterien der Systembildung zusammen:

• Ein Funktionssystem und seine jeweilige Umwelt gehören als die zwei Seiten einer ‚Form der Unterscheidung’
zusammen und bilden so die Gesellschaft.

• Systeme bestehen nur aus Kommunikation, nicht aus Individuen.

• Systeme entstehen durch Autopoiese, das heißt, sie bilden die Strukturen, aus denen sie bestehen selbst und
erzeugen eine Differenz zwischen sich und der Umwelt.

• Diese Differenz wird durch eine Grenze konstituiert.

• Darauf beruhen die Geschlossenheit des Systems und seine Selbstreferentialität.

• Geschlossenheit bedeutet, dass das System alle seine Operationen selbst bestimmt.

• Einfluss der Umwelt auf ein System und – umgekehrt - des Systems auf die Umwelt ist nur mittels einer struk-
turellen Kopplung möglich. Dabei entscheidet nur das System welche Einflüsse zugelassen werden.

• Die Entstehung und die Erhaltung eines Systems wird durch einen binären Code ‚gesteuert’, dessen Seiten
bestimmen, was positiv oder negativ für das System ist.

• Der Code ist unveränderbar; wenn er geändert wird, entsteht ein neues System.

• Flexibel wird das System durch die Anwendung von ‚Programmen’, welche die Bedingungen festlegen, unter
denen entschieden wird, was positiv oder negativ für das System ist, die aber verändert werden können.

7.2.2 Systembildung im Kunstbetrieb

Im Folgenden bringe ich zum weiteren Verständnis der Systembildung ein Beispiel, das gleichzeitig zum eigentli-
chen Thema dieser Arbeit überleitet: eine kritische Darstellung der bildenden Kunst als soziales System von Hannes
Böhringer:

333  Ebd., 121.


334  Luhmann, (1997), 750ff.

Die Welt als Garten  151


Ein System ist etwas, das sich selbst aufbaut und in Gang hält, indem es sich von den unübersehbar
vielen anderen unterscheidet und mit der ständigen Reproduktion dieser Differenz zur Umwelt die
Elemente reproduzieren kann, aus denen es Besteht. Ein solches Gebilde, das die Systemtheoretiker
„autopoietisch“ und „selbstreferentiell“ nennen, ist das soziale System Kunst: ein geschlossener Kreis.
Kunst baut auf Kunst auf. Kunst ist Kunst, weil sie im sozialen System Kunst als Kunst auftaucht.
Sie definiert sich selbst durch sich selbst. Sie bestimmt selbst, was Kunst ist durch den Ausschluß von
Nichtkunst.

Kunst produziert nicht nur Kunstwerke, sondern mit ihnen zugleich produziert sie auch Erwartungen,
wie es mit der Kunstproduktion weitergehen könne, reizt auf diese Weise die Produktion von
Anschlusselementen an und ermöglicht so die ununterbrochene Reproduktion des Systems. Zu den
sich mit Kunstproduktion wandelnden Erwartungen gehört als Konstante immer auch die Erwartung
von Abwechslung, Überraschung, von etwas Neuem. Nur muß die Diskontinuität im Rahmen bleiben,
Das Neue immer noch anschlussfähig bleiben mit dem Alten, mit Stilrichtungen der Kunstgeschichte,
und als Ausdruck eines Zeitgeistes mit Gegenwärtigem. 335

Böhringers Code für die bildende Kunst ist also:

Kunst / Nichtkunst.

Als Programm nennt er „die Erwartung von Abwechslung, Überraschung, von etwas Neuem.“ Ich sehe als weiteren
Programmpunkt die Akzeptanz im Kunsthandel, und in diesem Zusammenhang die Preisbildung. Der Preis demon-
striert die gegenwärtige Bedeutung eines Künstlers. Die Problematik dieser Programmierung ist offensichtlich.

Dies ist keineswegs eine Einzelmeinung: Auch nach Sven Behrisch ist „die Kunst längst zu einem geschlossenen
System mit eigener Logik geworden, in das wenig von außen eindringt und das auch kaum nach außen wirkt. ...
Museen machen Ausstellungen über Museen und werden durch ihre Architektur selbst zu Kunstwerken. Alles
reflektiert sich gegenseitig, es ist eine einzige größenwahnsinnige Selbstbespiegelung mit klaren Hierarchien.“ 336

Anzumerken ist, dass es natürlich auch Künstler gibt, die sich diesem System entziehen , oder die noch nicht von
ihm vereinnahmt sind. Man kann in dieser Art von Funktionssystemen auch gewisse Fehlentwicklungen sehen,
was übrigens Luhmann, soweit ich gesehen habe, nicht thematisiert hat. Kunst, die nachhaltig die gesellschaftliche
Entwicklung beeinflusst, wird es in diesem System oder unabhängig von ihm, nach wie vor geben. Welche Art von
Kunst das ist, wird die Geschichte entscheiden.

7.2.3 Der Naturschutz als soziales Funktionssystem

Ich habe dargestellt, wie sich das Berufsfeld der Landschaftsarchitekten in den letzten Jahrzehnten aufgelöst hat in
Gartenarchitektur, Landschaftsplanung und Ökologie. Im Zuge dieser Auflösung hat sich der Naturschutz als ein
typisches Funktionssystem herausgebildet. Ich beleuchte dies ausführlicher, weil der Naturschutz in der ‚Welt als
Garten’ eine wichtige Rolle spielen muss, die er in seiner jetzigen Form nicht erfüllen kann. Der heutige Naturschutz
ist ein Beispiel einer negativen Systembildung.

Die geschichtliche Entwicklung des Naturschutzes ist oft beschrieben worden: Der Ursprung war der Heimatschutz
als Reaktion auf die industrielle Revolution. Es ging also zunächst nicht um den Schutz der ‚freien Natur’, son-
dern um die ästhetisch empfundene bäuerliche Kulturlandschaft, also das romantische Motiv, das für die heutige

335  Böhringer, (1990), 16.


336  Behrisch, in: DIE ZEIT, Nr. 21 v. 14.5. 2009, 59.

152  Die Welt als Garten


Gartenkunst ein Grund ist, sich gegen den Naturschutz abzugrenzen. Das Interesse richtete sich aber allmählich
auch auf spezielle Naturgegenstände, besonders auf die Vogelwelt, die noch immer eines der Hauptthemen des
Naturschutzes ist, aber auch schon auf einzelne seltene Arten, wie das Edelweiß in den Alpen.

Schließlich ist – nach Ritter – „die Bewegung des Naturschutzes“ Folge „der Entzweiung zwischen der ‚objektiven’
Natur ... und der Natur als Lebenswelt. Zu dieser Entzweiung gehört in der modernen Gesellschaft die Bewegung des
Naturschutzes. Die ursprüngliche und freie Natur soll gegen die Einbeziehung in die objektive Natur der Nutzung
geschützt werden. Sie wird durch Gesetz dem Prozeß der ihrer nutzenden Objektivierung entzogen“ 337 Anzumerken
ist, dass Ritter mit der „ursprünglichen und freien“ natürlich nicht die ‚unberührte’ Natur meint.

Aber auch die Verankerung des Naturschutzes in Gesetzen brachte noch nicht die allgemeine Anerkennung in der
Gesellschaft. In der Aufbauphase nach dem zweiten Weltkrieg musste der Landschaftsschutz ständig hinter dem
Flächenbedarf der Stadtplaner zurückstehen. Der Naturschutz musste sich auf den Kernbereich der Naturschutzgebiete
beschränken. Das vorherrschende Gefühl der Vertreter des Naturschutzes war das der Ohnmacht.

Das Bewusstsein der Gesellschaft änderte sich erst allmählich mit der Erkenntnis der Umweltgefahren, ausgelöst
von den Schlagworten: „Grenzen des Wachstums“, „Waldsterben“ und der daraus abgeleiteten Forderung nach dem
„blauen Himmel über der Ruhr“. Ebenso wandelten sich die Motive des Naturschutzes. Die ästhetische Sicht auf die
alte Kulturlandschaft war immer mehr verpönt, und wurde - im Gegensatz zu Ritters Aussage - von einer wissen-
schaftlichen Objektivierung abgelöst. Die Wissenschaft der Ökologie wurde zur Grundlage des Naturschutzes. Ein
Beispiel ist das Denkmodell von der Vernetzung in der Natur, deren Verletzung zur Zerstörung der Lebensgrundlagen
führen würde. Andere Leitbegriffe, die sich in der allgemeinen Kommunikation durchgesetzt haben, sind die
„Biologische Vielfalt“, das „Ökologisches Gleichgewicht“ oder die Gefahr der „Verinselung“.

Aber im Konkurrenzkampf der gesellschaftlichen Interessen musste der Naturschutz ein schlagkräftiges Argument
finden, das allgemeine Anerkennung finden konnte. So bildete sich mit der Zeit der binäre Code heraus:

wertvoll / wertlos

Die Frage nach dem Wert von Naturprodukten war schon immer wichtig für die Menschen. Die wichtigste ist:
essbar oder nicht essbar oder die Brauchbarkeit, zum Beispiel Holz für den Hausbau: haltbar und leicht zu bear-
beiten. In dem Maße, in dem die unmittelbare Überlebensfrage zurücktrat, richtete sich die Wertschätzung auf
die ländliche Idylle, auf die Schönheit der Natur. Erst in jüngster Zeit wird der Code wertvoll / wertlos wieder zur
Überlebensfrage erhoben. Mit der Durchsetzung dieses Codes in der gesellschaftlichen Kommunikation
hat sich der Naturschutz als soziales Funktionssystem etabliert.

Die Programme, nach denen entschieden werden kann was wertvoll ist oder was nicht, sind vielfältig. Das wichtigste
Kriterium ist die Seltenheit. Um dieses Kriterium zu objektivieren, wurde die Biotopkartierung zu einem umfang-
reichen Tätigkeitsfeld für Ökologen. Das Ergebnis sind die so genannten Roten Listen, in denen der Seltenheitsgrad
von „gefährdet“ bis „vom Aussterben bedroht“ festgelegt ist. Darauf baut sich der Artenschutz auf, der zum wich-
tigsten Instrument des Naturschutzes geworden ist. Fragwürdig ist dieses System dadurch, dass die Roten Listen
regional aufgestellt werden. So kann es vorkommen, dass zum Beispiel durch die Ausdehnung der Großstadt in den
letzten fünfzig Jahren eine Art innerhalb der Landesgrenzen Hamburgs selten geworden ist und auf die Rote Liste
kommt, während sie in Mecklenburg noch massenhaft vorkommt.

Global gesehen ergibt sich folgendes Bild: Es gibt auf der Erde geschätzte mehrere Millionen Arten. Abgesehen von
den Ubiquisten, hat jede Art ein begrenztes Ausbreitungsgebiet, in dem die Individuendichte von innen nach außen

337  Ritter, (1974), 181.

Die Welt als Garten  153


abnimmt. Die Ränder verschieben sich ständig, sodass in den Randgebieten die jeweilige Art neu auftritt oder „aus-
stirbt“. Ein Beispiel ist der ‚berühmte’ Wachtelkönig: „In West-, Nordwest- und Mitteleuropa sind die Vorkommen
äußerst lückenhaft, während in Ost- und Südosteuropa sowie in den asiatischen Verbreitungsgebieten recht dichte,
individuenreiche Bestände existieren.“ (Wikipedia)

Im scheinbaren Widerspruch zum Wert des Seltenen steht ein anderer Programmpunkt, die „Biodiversität“. Die ist
in Form der FHH- Richtlinie der EU ebenfalls zu einem wirkungsvollen Machtmittel des Naturschutzes geworden.
Wolfgang Haber unterzieht dies einer kritischen Betrachtung:

Biodiversität ist schlecht definierbar; nicht einmal in der Konvention ist dies wissenschaftlich ein-
wandfrei gelungen. Dies verführt, nach dem Vorbild der Roten Listen, zu ihrer Beschränkung auf die
(vermeintlich) leichter erfassbare Artenvielfalt, die ihrerseits noch auf reine Artenzahlen reduziert wird
– und die Irreführung verstärkt. Über zwei Drittel aller Arten entfallen auf Kleintiere sowie Algen und
Pilze, die nur wenige Spezialisten kennen. Viele weitere Organistengruppen ... sind einer Aufgliederung
in Arten gar nicht zugänglich. Davon abgesehen dürfen Arten als Indikatoren biologischer Vielfalt nicht
einfach mit Funktionsträgern im ‚Netz des Lebens’ verwechselt werden. 338

Generell hat der Begriff ‚Aussterben’ in der Kommunikation über Naturschutz immer mehr Gewicht bekommen.
Es hat zu einem Phänomen geführt, das Luhmann „Angstrhetorik“ nennt:

... die angstbezogene Kommunikation [ist] ein Resonanzprinzip, das Bestimmtes vergrößert und an-
deres abdunkelt. Diese Differenz wird nicht zuletzt durch eine gezielte öffentliche Rhetorik der Angst
gesteigert. ... In der öffentlichen Rhetorik wird die Angst zum Prinzip der Selbstbehauptung hochstili-
siert. Wer Angst hat, ist moralisch im Recht, besonders wenn er für andere Angst hat und seine Angst
einem anerkannten, nicht pathologischen Typus zugerechnet werden kann.339

Versuche, die komplizierte Struktur von Risiko- und Sicherheitssystemen unter wissenschaftlicher
Verantwortung aufzuklären, liefern der Angst nur neue Nahrung und Argumente. ... Angst ist also
von den Funktionssystemen aus nicht zu kontrollieren. ... Angst widersteht jeder Kritik der reinen
Vernunft.340

Ähnlich beleuchtet Odo Marquard das Problem der Angst:

[Wo] Gefahren und Nöte, Krankheiten, Mühen und Unbequemlichkeiten ... gemindert oder erledigt
werden, stirbt gleichwohl die menschliche Angstbereitschaft ... nicht ab, sondern sie wird nur arbeits-
los und macht sich auf die Suche nach neuen Gelegenheiten, Angst zu haben; und sie findet sie auch,
selbst dann, wenn sie sie erfinden muß: nämlich in der modernen Kultur selber.341

Der Naturschutz, der Schutz der Natur, geht per se von der Gefährdung der Natur aus. Mit dem Begriff des ‚Aussterbens’
ist ein Symbol entstanden, das in der gesellschaftlichen Kommunikation von unübertroffener Durchschlagskraft ist.

Bourdieu zufolge vollziehen sich gesellschaftliche Legitimationsprozesse nicht, wie üblicher Weise un-
terstellt, (ausschließlich) im Modus einer expliziten, politisch motivierten und diskursiv artikulierten
Propaganda. Vielmehr handelt es sich dabei um alltägliche, stillschweigend und unbemerkt stattfin-
dende Vorgänge. Allgemein gesehen, wird eine Macht dann anerkannt, wenn diese in der Lage ist, mit

338  Haber, Wolfgang, Naturschutz und Kulturlandschaften im Widerspruch, Garten und Landschaft, 8/2007, 28.
339  Luhmann, (1988), 243f.
340  Ebd., 238ff.
341  Marquard, (1986)

154  Die Welt als Garten


ihr verbundene Symbole ... als legitime durchzusetzen. Symbolische Macht vollzieht sich also „nicht
auf der Ebene physischer Stärke, sondern auf der des Sinnes und der Erkenntnis“ ... Das bedeutet nun
freilich nicht, ... daß symbolische Macht ... eine unverbindliche Form von Macht wäre, ... [es] handelt
sich um eine ganz reale Macht, die immer in einem mehr oder weniger engen Zusammenhang mit
objektiven Macht- und Kräfteverhältnissen steht.342

Als geschlossenes System ist es dem Naturschutz gelungen, einerseits sich gegen alle anderen Belange der Gesellschaft,
vor allem den ökonomischen, abzuschotten, andererseits durch strukturelle Kopplung - sozusagen semipermeabel
- die eigenen Programme und Symbole in wichtigen Funktionssystemen der Gesellschaft zu verankern. In erster
Linie hat er sich auf die Politik ausgewirkt, die zunehmend seine Programme übernehmen musste, um Wähler zu
gewinnen. Über das politische gelang dann der Einfluss auf das Rechtssystem, bis in die europäische Gesetzgebung.

Eines der wichtigsten gesetzlichen Erfolge ist die Eingriffsregelung und in deren Rahmen die Ausgleichszahlungen,
die inzwischen in vielfacher Millionenhöhe in die Kassen des Naturschutzes fließen. Die Intention, Eingriffe in
die Natur zu verhindern, ist nicht immer eindeutig, sondern oft entsteht der Eindruck, dass ein Widerstand nur
aufgebaut wird, um eine hohe Ausgleichszahlung ‚herauszuschlagen’. Durch diesen ‚Ablaßhandel’ werden dann
„Naturschutzmaßnahmen“ möglich, die auf der Skala ‚Tun und Lassen’ als reines Tun erscheinen, und der symboli-
sche Code ‚wertvoll’ wird zum materiellen Wert. Ein groteskes Beispiel ist die Klage des BUND gegen ein wichtiges
Vorhaben für den Umweltschutz, den Bau des Pumpspeicherwerkes Goldisthal. Erst nach einer ‚Ablasszahlung’ von
3,5 Millionen Euro war der Verband bereit, die Klage zurück zu nehmen. 343 Pumpspeicherwerke sind sinnvoll zur
Regelung der Windkraftenergie und damit wichtig für eine ökologische Zukunft.

In diesem Zusammenhang ist eine Entwicklung zu sehen, die auf die Systembildung einen starken Einfluss hatte
und hat: Das wachsende Umweltbewusstsein in der Gesellschaft hatte zur Folge, dass immer mehr junge Leute
sich berufen fühlten, an der Rettung der Natur mitzuwirken und dazu entsprechende Studienfächer wie Biologie
oder Geographie wählten. Die Menge der Absolventen konnte dann im administrativen Naturschutz und in
den Lehrberufen nicht aufgenommen werden und fand dafür Betätigung in den Verbänden. Deren finanzielle
Entwicklung erlaubte zunehmend, viele der jungen Fachleute fest anzustellen. So hat sich eine politische Macht ent-
wickelt, die sich keinen demokratisch gewählten Gremien unterwerfen muss, im Unterschied zum administrativen
Naturschutz, der zudem deutlich weniger Ressourcen hat. Doch beide zusammen bilden das System Naturschutz.

Ein typisches Beispiel für dessen Wirken ist eine Planung im Zusammenhang mit dem Bau des neuen Münchener
Rangierbahnhofs. Es geht um Flächen, die „als Testgelände für schwere Lastwagen und Panzer benutzt wurde[n].
eine Nutzung, die Biotopstrukturen schuf, die von Seiten des Naturschutzes als äußerst wertvoll erachtet wur-
den.“ Deshalb hat man ein „naturschutzfachlich-ökologische[s] Konzept“ erarbeitet, auf dem die Planung beruht.
Deren Verfasser schreiben:

Im Sinne der Ökologie wollen wir zum einen Flächen offen halten, um darauf Rohbodenstandorte
zu schaffen – durch periodisches Abschieben mit der Planierraupe. Auf diesen Böden entste-
hen dieselben Biotope wie auf dem ehemaligen Panzertestgelände: Pioniervegetation in verschiede-
nen Sukzessionsstadien. ... Die ökologische Analyse weist dem Standort Rangierbahnhof trocken-
warme Sukzessionsstandorte zu. Sie sind auf kontinuierliche Veränderungen angewiesen: Was frü-
her das Hochwasser besorgte, soll heute die Parkpflege gewährleisten: Boden abschieben, Schneisen
in den Bestand schlagen, Gräben ausheben und Wälle aufschütten, Trichter ins Gelände sprengen,
Bauschuttdeponienanlegen, Moto-Cross-Landschaften ausweisen. ... An manchen Orten erinnern nur

342  Schwingel, (1995), 114f.


343  DIE ZEIT, Nr. 38 vom 16.9.2010, 41.

Die Welt als Garten  155


die Betonscheiben daran, daß dieses sich ständig verändernde Gelände keine Brache, sondern ein Park
ist.

Bezahlt werden soll dies kleine „Naturschutz-Disneyland“ aus „Ablösezahlungen für Ausgleichsmaßnahmen“. 344

Diese Planung wurde zwar von Landschaftsarchitekten aufgestellt, aber durchaus im Sinne gängiger Verfahrensweisen
des Naturschutzes. Zahlreiche ähnliche Maßnahmen werden - hauptsächlich von Naturschutzverbänden – durchge-
führt, wobei die Zielsetzungen sehr verschieden und oftmals widersprüchlich sind, je nach den Vorlieben des jewei-
ligen Verbandes. So haben zum Beispiel Hamburger Vogelschützer in den Vier- und Marschlanden großflächig tau-
sende Erlen gerodet, um ein Wiesenvogelbiotop zu schaffen. Ein über viele Jahrzehnte entstandenes Feuchtbiotop
war plötzlich ‚wertlos’ geworden. - Auch hier standen viele Millionen von Ausgleichszahlungen zur Verfügung.

Unter dieser „Willkürkomponente“ 345 werden immer öfter wichtige gesellschaftliche Projekte verhindert oder er-
schwert. Zweifelhafte Berühmtheit haben auf diese Weise neben dem Wachtelkönig wie auch der Feldhamster oder
die drei Millimeter große Bauchige Windelschnecke erlangt. Da die Organismen, die in den Fokus des Artenschutzes
geraten immer kleiner und somit immer zahlreicher werden, wird man bald an jedem Ort mehrere „aussterbende“
Arten nachweisen können.

Die Kritik an dieser Entwicklung nimmt zu. Die Frage ist, wie lange der symbolische Code ‚wertvoll’, also die
Unterscheidung zwischen wertvoller und wertloser Natur von der Gesellschaft anerkannt wird. Es ist anzunehmen,
dass die Beeinflussung der Gesellschaft durch die einseitige strukturelle Kopplung irgendwann nicht mehr gelingt.
Auch geschlossene Systeme können zusammenbrechen, wenn sie sich völlig von der Gesellschaft abschließen. Ein
Beispiel ist die gegenwärtige Wirtschaftskrise: Aus dem allgemeinen Wirtschaftssystem, das dem Code ‚Werte schaf-
fen’ folgte, hatte sich der Programmteil ‚Finanzen’ heraus gelöst und zu einem eigenen System entwickelt, das blind
dem Code ‚Profitmaximierung’ gefolgt ist, ohne Rücksicht auf gesamtgesellschaftliche Belange. Die Folge war der
Zusammenbruch des Finanzsystems mit der Folge einer ernsten Wirtschaftskrise.

Ein generelles Problem des Systems Naturschutz ist in seiner inneren Struktur begründet: Der Code und die
Programme unterliegen einem Absolutheitsanspruch. Eine Selbstkritik innerhalb des Systems ist nicht möglich,
weil die Voraussetzung hierfür eine demokratische Struktur wäre, die aber nicht vorhanden ist. Darin liegt ein
Unterschied zu politischen Parteien, in denen ständig um bessere Programme gerungen wird.

Von diesen Überlegungen ausgehend, ist ein Weg zu finden, den überaus wichtigen Naturschutz aus der antagoni-
stischen Haltung in ein übergreifendes System zu integrieren, in ‚die Welt als Garten’. In diesem System darf es
keine ‚wertlose Natur’ geben. Eine künftige Gartenkunst muss diese wichtige gesellschaftliche Aufgabe in ihr
Programm aufnehmen.

Davon sind wir gegenwärtig weit entfernt. Deshalb ist zunächst die Stellung der Gartenkunst in der gegenwärtigen
Gesellschaft insbesondere ihr Verhältnis zur Architektur und zur bildenden Kunst zu untersuchen.

7.2.4 Eine Systembildung in der heutigen Gartenkunst

Eine spezielle Entwicklung in der Gartenkunst, die ebenfalls zu einer Systembildung geführt hat, kann man als
Komplement zum Naturschutz sehen. Als die Dominanz der Ökologie in der Planung jede künstlerische Intention zu
ersticken drohte, führte dies, wie schon gesagt, fast zwangsläufig dazu, dass sich Gartenarchitekten an die Bereiche

344  Neumann, (1996), 7.


345  Luhmann, (1990), 144.

156  Die Welt als Garten


Architektur und bildende Kunst anlehnten. Besonders stark war der Einfluss der Architektur. Man war bestrebt,
sich deren Qualitätsmaßstäben anzugleichen. Ich sehe folgende Entwicklung:

Während in der ersten Aufbauphase nach dem Krieg die Gartenbauverwaltungen alles selber machten, wurden
- mit Zunahme der Aufgaben - immer öfter Planungsaufträge an freischaffende Gartenarchitekten vergeben, So
nahm deren Zahl entsprechend zu, und es kam im Laufe der Zeit zur Gründung größerer Planungsbüros. Zur
Qualitätssteigerung wurden immer öfter Projekte auf der Grundlage von Wettbewerben durchgeführt. Die Folge
war, dass das Wettbewerbswesen an Bedeutung gewann, und die Existenz der Freischaffenden hing zuneh-
mend von einer erfolgreichen Beteiligung an Wettbewerben ab. Das war der Keim für die Bildung des Systems
‚Wettbewerbswesen.’

Ich erinnere daran, dass ein Funktionssystem nicht aus Personen, sondern nur aus Kommunikation besteht. Im
Wettbewerbssystem kommunizieren Wettbewerbsteilnehmer mit einer Jury, und der binäre Code des Systems ist

gewinnen / verlieren

Die Autopoiese des Systems gründet sich unter anderem darauf, dass immer öfter die Preisträger eines Wettbewerbs
Juroren des nächsten werden.

Wer an Wettbewerben teilgenommen hat, weiß dass es nützlich ist, die Vorlieben der Ton angebenden Juroren zu
kennen. Man richtet sich danach, wenn man Erfolg haben will. Ebenso nützlich ist es, die Formensprache von eta-
blierten Preisträgern zu übernehmen. So entsteht in dem System Selbstreferenz.

Ein weiteres Kriterium ist die Geschlossenheit des Systems gegen seine Umwelt: die Auftrageber und die Nutzer.
Sie werden zwar durch die Sachpreisrichter vertreten; nach meiner Erfahrung in vielen Verfahren ist deren Einfluss
aber meistens zu gering, um das Ergebnis maßgeblich zu bestimmen. Sie werden dominiert von den Fachleuten und
sind oft nur das Alibi einer Referenz an die Nutzer.

Ein Beispiel von vielen ist der Liebefeld-Park im schweizerischen Könitz. Im Wettbewerbsprogramm der
Auftraggeberin war die Vorstellung nach einer „kleinteiligen, modellierten Fläche“ zum Ausdruck gebracht worden.
Die Jury zeichnete aber eine Arbeit aus, die dieser Vorstellung diametral entgegengesetzt war, „eine Volkswiese,, die
in „ihrer wohltuender Weite und Großzügigkeit ... als städtisches und ländliches Element zugleich gelesen werden
[kann].“ „Die schlichte Gestaltung gehört zur Philosophie [!] der Landschaftsarchitektin. Sie erschließt sich aber
nicht auf Anhieb den Besuchern.“ 346

Im Hinblick auf meine Unterscheidung ‚Funktion und Ornament’ tritt in diesem System die Funktion weit in den
Hintergrund. Die geringe Akzeptanz, die diese Anlagen dann in der Bevölkerung finden, wird nicht selten als
Zeichen künstlerischer Qualität gesehen. Hinter dieser Entwicklung steht sicher das Bestreben der Profession, der
Gartenkunst mehr Autonomie zu verleihen. Insofern trifft hier die Kritik Bourdieus einen Kern des Problems:

Die beharrliche Insistenz auf die Autonomie künstlerischer Intention führt zu einer besonderen
Gesinnungsethik. Sie tendiert dazu, die Werke nach der Reinheit der künstlerischen Intention zu be-
urteilen, und verkehrt sich damit bisweilen in eine Art Geschmacksterror: Wenn nämlich der Künstler
unter Hinweis auf seine Gesinnung bedingungslose Anerkennung für sein Werk fordert. So zeigt sich
seither das Streben nach Autonomie als ein bestimmendes Moment des intellektuellen Standes. Indem
der Künstler sich vom Publikum distanziert ... fördert er den Kultus einer sich selbst genügenden
Form ... und verlangt zugleich Bestätigung seines eigenen exklusiven und schlechthin unerklärli-

346  Garten und Landschaft Juli 2010, 30ff.

Die Welt als Garten  157


chen Wesens. Die Abkapselung gegenüber der Gesellschaft geht einher mit einer Intensivierung der
Verbindungen, die die Mitglieder der künstlerischen Sozietät zueinander unterhalten. Auf diese Weise
entstehen die von Schücking so genannten „gegenseitigen Bewunderungsschulen“, kleine esoterisch
verschlossene Sekten.347

Die Programme, die gegenwärtig den Code ‚gewinnen’ bestimmen, sind vielfältig. Beherrschend sind die, welche
auf die Architektur und die bildende Kunst bezogen sind.

Der wichtigste Programmpunkt ist das Prinzip ‚Klarheit’. In fast keinem der Erläuterungsberichte zu
Wettbewerbsarbeiten und in den Beurteilungen der Juroren fehlt der Begriff ‚Klarheit.’ Er steht für die Grundhaltung,
die auf den Wettbewerbserfolg gerichtet ist. Schon die Prägnanz der Plangrafik, die den Wiedererkennungswert der
Arbeit gewährleistet, wenn die Jury eine große Anzahl von Arbeiten beurteilen soll, bestimmt oft den Erfolg. Diese
leichte Erkennbarkeit wird auch mit dem Modewort ‚Lesbarkeit’ bezeichnet. Erreicht wird die Prägnanz durch ‚klare
Formen’, wie Kreise, Ovale, lange Achsen und so weiter.

Erfolgreich ist auch der Blick zurück auf die Anfänge der Moderne. „Immer mehr Wettbewerbsbeiträge [besinnen
sich] auf die Moderne, beziehungsweise auf die konkret-abstrakte Formensprache der 20ger Jahre“ stellen Kienast
und Vogt fest, ohne dass klar wird, ob sie das affirmativ oder negativ sehen. 348

Ähnliche Wirkung hat der Bezug auf den „Dekonstruktivismus“, der allerdings weniger auf die Philosophie
Derridas als auf die Formenspielerei der einschlägigen Architekturen gerichtet ist. Beispiele sind dysfunktionale,
spitzwinklige Wegemuster, unmotivierte „Brüche“ oder die sinnlose Mode der Rasenschollen. Fritz Neumeyer
nennt sowas „Eitle Konstruktionen, die keine Form mehr bewältigen, sondern sie nur ausdrücken wie eine
Zitrone.“ Sie „bezeichnen das Dilemma der Selbstreferentialität, denn Form ist ohne Bezug auf ein Anderes, das zur
Erscheinung gebracht werden soll, nicht möglich.“ 349 Gefördert wird dieser neue Stil durch die Computer gestützte
Entwurfsmethode. Es gibt kaum Entwürfe, die nicht in mindestens drei „Schichten“ dargestellt werden, wodurch
Fragmentierung, Heterogenität und Zufall entstehen sollen.

Geradezu anachronistisch ist die Bemühung, sich gegen die fraktale Grenzziehung zwischen Stadt und Landschaft
zu stellen; der Topos ‚harte Kante’ ist programmatisch. Beispiele sind die Großsiedlung Heiterblick in Leipzig mit
einem „klar zur Landschaft abgegrenzten Parcous“, und einer „Terrasse Bürgerpark, die durch die Bäume eine klare
Kante zur Landschaft bildet“,350 und die Landesgartenschau Leverkusen, deren Kernbereich durch „harte Kanten
und gerade Linien“ gekennzeichnet sind. 351

Rätselhaft ist das Phänomen der ‚endlosen’ Achsen. Achsen waren auch im Barockgarten beherrschendes
Gestaltungsmerkmal. Aber die Barockachse hat Anfang und Ziel und ist gegliedert in unterschiedliche Abschnitte,
deren Form sich ständig ändert, so dass das Wandeln auf ihnen ein kurzweiliges Erlebnis ist. Durch Querachsen
ist sie in die Struktur des Gartens eingebunden. Es herrscht ein menschlicher Maßstab. Der Maßstab der heutigen
Achsen ist bestimmt durch die jeweilige längste Ausdehnung es zu beplanenden Geländes. Der Entwurfsprozess
scheint damit zu beginnen, erst einmal einen langen Strich zu ziehen. Es kann aber auch sein, dass am Ende
des Entwurfsprozesses das Ganze ‚durchgestrichen’ wird als ‚dekonstruktivistische’ Geste. Vorbild könnte auch die
„Linie von einer Meile Länge, durch die Wüste von Nevada gezogen“ von Michael Heizer sein.352 Das Sichbewegen

347  Bourdieu, (1997), 83f.


348  Kienast, Dieter, Günther Vogt, (1993). 6
349  Neumeyer, (2003), 283.
350  Garten und Landschaft, Mai 2005, 25
351  Garten und Landschaft, Juni 2005, 31.
352  DUMONTS Chronik der Kunst, (1990), 669.

158  Die Welt als Garten


auf diesen Achsen ist so langweilig wie das Laufen auf dem Laufband im Fitniskeller. Beliebt sind sie als Motiv bei
Fotografen, die sie gerne als in die Unendlichkeit fluchtende Perspektiven darstellen.

Diese Maßstabslosigkeit zeigt sich auch bei manchen architektonischen Elementen, wie endlosen Treppen und ab-
surd langen Bänken. Motiv ist das Spektakel, das um jeden Preis auffallen wollen, die Guinnessbuch-Mentalität. Zu
diesem System gehört auch die Zulieferindustrie. So wirbt ein Bankhersteller mit „Purismus und Stringenz“ und mit
Bänken in der Ausführung „endlos“, die für „jeden Ort geeignet sind“, (nur nicht zum bequemen Sitzen.)

Diese beschriebenen Programmpunkte beziehen sich alle auf formale Kriterien; auf der Skala der Unterscheidung
‚Funktion / Ornament’ dominiert das Ornamentale. Die Erbkrankheit dieses Systems besteht aber darin, dass die
Naturschönheit, die Telos der Gartenkunst sein sollte, negiert wird. Es ist ein Fehlschluss, den Naturalismus-Begriff
, der in der bildenden Kunst sinnvoll ist, in der Gartenkunst anzuwenden.

Zusammenfassend kann man das System darstellen anhand eines typischen Beispiels: dem Landschaftspark Riem in
München, den Lisa Diedrich so beschreibt:

Kein Weg schwingt, kein Waldsaum krümmt sich, alle Kanten laufen so gerade, wie die der Gebäude im
Stadtviertel. ... von Ost nach West fluchtet eine zwei Kilometer lange Terrasse genau zwischen Stadt und
Park hindurch. ... Eine nur 70 Zentimeter hohe, aber zwei Meter breite Mauer mit Granitbelag trennt
die Stadt vom Park, und sie würde zum Sitzen einladen, wenn sie nicht so pompös ins Nichts fluchten
würde. ... Seine Geometrie verdankt der Park dem Nordost-Südwest ausgerichteten Flurmuster, einer
rational, geradlinigen Ordnung. Konsequent pflanzte Vexlard darauf die Vegetation in Reihe, wie in der
Baumschule. ... Das hat sich noch keiner getraut. [!] 353

München-Riem ist in jeder Hinsicht typisch für die Programmbildung und die Autopoiese des Systems. Das ist einmal
die Innovation und Überraschung, also das noch nie Dagewesene des Entwurfes, die Programme des Gewinnercodes
und vor allem die Behandlung in den Fachmedien und die Preise, mit denen diese Arbeit ausgezeichnet wurde,
wodurch dieses Werk zum Prototyp wurde. So ist es denn auch nicht verwunderlich, dass seine Formensprache
Nachahmung findet, zum Beispiel in dem prämierten Entwurf für den Seepark Zülpig – Landesgartenschau 2014 354
und vielen anderen.

Dieses Kommunikationssystem der „Wettbewerbs-Gartenkunst“ beherrscht gegenwärtig das Berufsbild der


Landschaftsarchitektur. Ich bin aber überzeugt, dass dies eine vorübergehende Erscheinung ist, so wie die Maskerade
der Postmoderne in der Baukunst. Diese hat nach ihrer Überwindung zu einem Baustil geführt, den man als
Weiterentwicklung der Bauhausideen bezeichnen kann. Ob die gegenwärtige formalistische Gartenkunst einmal
eine ähnliche positive Entwicklung nach sich zieht, bleibt abzuwarten.

7.2.5 Die Unvereinbarkeit geschlossener Systeme

Die bisherige Zustandsbeschreibung der Profession zeigt, dass wir weit von dem Ziel einer ‚Welt als Garten’ entfernt
sind. Eine Ursache ist das Nebeneinander und Gegeneinander von geschlossenen Systemen, in erster Linie von
Gartenkunst und Naturschutz. Ich will das anhand des Beispiels ‚Adlershof’ in Berlin verdeutlichen.

Es geht um die städtebauliche Nutzung des ehemaligen Flugplatzes Johannistal durch Einrichtungen für Wissenschaft,
Gewerbe und Wohnen. Da das Gelände über Jahrzehnte nicht genutzt war, befand es sich in einem naturhaften

353  Dietrich, (2001), 58f.


354  Garten und Landschaft, Juli 2009, 8.

Die Welt als Garten  159


Zustand. Daraus wird sich schon der erste Konflikt zwischen Stadtplanern und der in Berlin besonders starken
Naturschutzadministration ergeben haben..

Die Konfliktlösung war eine zwanghafte Abgrenzung der Interessengebiete, durch die „klaren Raumkanten“
zwischen Bebauung und Grünflächen. „Die 70 Hektar große zentrale Freifläche wurde ... für ein besonderes
Gutachterverfahren ausgespart.“ 355 Die Idee der oben beschriebenen Zwischenstadt - die Durchdringung von
Gebautem und Gewachsenem - hatte keine Chance

In der ausgesparten Freifläche stießen nun die beiden ‚Grünsysteme’ Naturschutz und Gartenkunst aufeinan-
der. „Der Naturschutz reklamierte aufgrund der ausgedehnten Vorkommen von wertvollen Trockenrasen und
Halbtrockenrasen mit fundierten faunistischen und vegetationskundlichen Gutachten weite Teile als Schutzgebiete.“
Andererseits sollten „für die Beschäftigten und Besucher des neuen Wirtschaftsstandortes große Areale [für Sport-
und Freizeiteinrichtungen] vorgehalten werden. Als Erholungsraum sollte der Park für die heutigen und zukünfti-
gen Bewohner des Stadtteils nutzbar und gleichzeitig als öffentlicher Raum Imageträger für den Technologiestandort
sein.“ In so einem Falle wird dann um jeden Hektar gerungen. „Der Park hätte dreimal so groß sein müssen. ... In
diesem Konflikt zwischen Ökoidyll, easy living mit Sport und Fun, High-Tech-Image sowie bewohnerorientierter
Freiraumplanung schloss sich ein Wettbewerb aus ... da die unterschiedlichen Vorstellungen nicht kompatibel wa-
ren.“ 356

In dem anstatt dessen durchgeführten Gutachterverfahren wurde dann ein Entwurfskonzept ausgewählt, das
„sich mit großer Klarheit am städtebaulichen Entwurf [orientiert] . Der Stadtkante werden Aktivbänder mit ver-
schieden großen Kammern vorgelagert ... Damit wird die Weite des ehemaligen Flugfeldes mit der Kernzone des
Naturschutzes ... freigehalten.“

Dieser Entwurf hat die typischen oben beschriebenen Merkmale des Systems: schematisch parallel zu den Stadtkanten
geführte schnurgerade Wege von zirka 800 Meter (gefühlten zwei Kilometer) Länge und additiv aneinander gereih-
ten Gartenräumen. Der Schematismus wird im Luftbild besonders deutlich.

355  Tischer, (1996), 32.


356  Becker, (1996), 36.

160  Die Welt als Garten


Abb. 7/5 Luftbild vom Park Adlershof

Als symbolisch für das Systemverhalten kann man die Stege bezeichnen, die in einem Meter Höhe über die
Naturflächen geführt wurden. Von hohen Gittern gesäumt sollen Besucher die Natur genießen. Abgesehen
von den Kosten, die ein derartiges Bauwerk verursacht, (nach nur zehn Jahren sind schon jetzt umfangreiche
Reparaturarbeiten erforderlich), sind diese Stege auch ‚naturschutzfachlich’ unsinnig. Ohne sie würden sich zwar
hier und da Trampelpfade bilden. Durch die trittfesten Arten, die sich darauf ansiedeln, würde aber sogar eine
Bereicherung im Sinne der Artenvielfalt stattfinden.

Abb. 7/6 „Abgehoben von der Natur“

Symbolisch sind diese Stege für beide Systeme: Der Naturschutz ist bestrebt, Menschen aus der Natur fern zu
halten, für die Gartenkunst ist Natur etwas ihr Fremdes. In Adlershof ist dieser Antagonismus Gestalt geworden. -
Bezeichnend ist auch die Mittelverteilung: „Das Investitionsvolumen für Ausgleichsmaßnahmen [belief] sich auf 18
Millionen DM, für die Anlage des Parks [standen] 15 Millionen zur Verfügung.“ 357 – Bei einem Besuch an einem

357  http://www.berlinews.de/wista/archiv/261.shtml

Die Welt als Garten  161


schönen Sommertag begegneten mir auf dem kilometerlangen Rundweg gerade mal fünf Radfahrer. – Positiv be-
eindruckt war ich dagegen von dem vegetationstechnischen Erfolg bei der Anlage der großflächigen Blütenwiesen.

7.3 Die Unterscheidung von Gartenkunst und bildender Kunst


Die Systembildung in der Gartenkunst, die ich auf das Wettbewerbswesen zurückgeführt habe, hat große Ähnlichkeit
mit dem oben beschriebenen Kunst-System. Man kann sagen, dass die Orientierung, der Blick auf die bildende
Kunst programmatisch für das System Gartenkunst ist. Zahllos sind die Beispiele, in denen Gartenkünstler von
abstrakten Formen der Malerei und besonders durch Werke der Landart ‚inspiriert’ werden. Das erinnert äußer-
lich sehr an das Verhältnis des Landschaftsgartens zur Landschaftsmalerei. Es ist fraglich, ob dies zukunftsträchtig
für die Gartenkunst ist. Um dies zu klären, will ich die Beziehung zur bildenden Kunst näher zu untersuchen. Es
ist zwar richtig, dass Gartenkunst und bildende Kunst gemeinsame Grundlagen haben. Eine Emanzipation der
Gartenkunst kann aber nur gelingen, wenn die Wesensunterschiede bewusst werden. Es geht also wieder
um eine Unterscheidung oder, besser gesagt, um Unterscheidungen, die aus mehreren Gesichtspunkten zu beob-
achten sind. Als erstes stelle ich die Entwicklung dieser beiden Kunstformen gegenüber. Durch die Zusammenschau
- unter Vernachlässigung von Details – werden schon Unterschiede erkennbar.

7.3.1 Die Entwicklung in der bildenden Kunst

Die ersten bildnerischen Äußerungen der Menschheit, zum Beispiel die Höhlenmalereien, waren mythologische
Beschwörungen des Jagdglücks oder der Fruchtbarkeit. Lange Zeit war es dann Aufgabe der Malerei, die religiösen
Geschichten zu illustrieren und das Bild der Herrscher zu verherrlichen. Nach der Aufklärung ging es dann um die
Darstellung des allgemeinen Lebensgefühls und um die Beschreibung der bürgerlichen Welt. Erst in der Romantik
wandte sich das Interesse speziell der „Natur da draußen“ zu. Mit dem allgemeinen Niedergang der Kunst im 19.
Jahrhundert verflachte sich das bürgerliche Schönheitsideal bis zum Kitsch. - Symbolisch für die Wende ist das
bereits erwähnte Bild von Manet, „Das Frühstück im Freien.“ Danach machte der Impressionismus bewusst, dass
die Welt Gegenstand unterschiedlicher Wahrnehmung ist, während im Expressionismus durch Übersteigerung des
Ausdrucks die Darstellung von Gefühlen gelang. - Ein entscheidender Bruch in der Entwicklung war dann Anfang
des 20. Jahrhunderts der Verzicht auf jegliche Narration in der bildenden Kunst. In der abstrakten Kunst geht es nur
noch um reine Gefühlswerte von Farben und Formen, vergleichbar mit der Musik.

Diese kurze Darstellung der Entwicklung mag genügen, um den generellen Charakter der bildenden Kunst heraus
zu stellen, nämlich innere Zustände und Empfindungen bildhaft wahrnehmbar zu machen.

7.3.2 Die Entwicklung der Gartenkunst im Vergleich

Die Entwicklung der Gartenkunst habe ich bereits in der Einleitung beschrieben; vom Urgarten über Barock- und
Landschaftsgarten bis zum modernen Gartenkunstwerk. Als Grundthema dieser Entwicklung habe ich das jeweilige
Verhältnis der Menschen zur Natur gesehen, was auch Lucius Burckhardt klar zum Ausdruck bringt:

Natur ist unsichtbar, aber: Gärten handeln immer von der Natur. Sie vermitteln das, was direkt nicht
wahrgenommen werden kann als Bild. Die Geschichte der Gartenkunst ist die Geschichte der Stellung
der Gesellschaft zur Natur. 358

Dieses Naturverhältnis ist zwar auch Thema der bildenden Kunst. Aber Natur ist in der bildenden Kunst im-
mer nur Abbild, Darstellung, Schein. In der Gartenkunst ist Natur dagegen immer Erscheinung. Wobei - mei-

358  Burckhardt, (2007), 49.

162  Die Welt als Garten


ner Grundannahme entsprechend – mit Natur immer das Zusammenwirken von physis und techne gemeint ist.
Adorno hat dies dezidiert herausgestellt:

Natur, als ein Schönes, [läßt sich nicht] abbilden. Denn das Naturschöne als Erscheinendes ist selber
Bild. Seine Abbildung hat etwas Tautologisches, das, indem es das Erscheinende vergegenständlicht,
zugleich es wegschafft. Die keineswegs esoterische Reaktion, welche die lila Heide oder gar das gemal-
te Matterhorn als Kitsch empfindet, reicht weit über derart exponierte Sujets hinaus: innerviert wird
darin die Unabbildbarkeit des Naturschönen schlechthin.359

Zu einer ähnlichen Unterscheidung kommt auch Martin Seel:

Natur ist ein Lebenszusammenhang, Kunst steht über und in Zusammenhängen des Lebens. Wie sehr auch
Natur im ästhetischen Verhältnis zum Zeichen von Wirklichkeit werden mag, sie bleibt Element einer
selbständigen Sphäre des Lebens. Wie sehr auch Kunst zu einem Teil der Lebenswirklichkeit werden
kann, sie bleibt ein Medium, an dem sich die Wirklichkeit des Lebens bricht. Naturschönes ist eine
besondere Sphäre der lebensweltlichen Wirklichkeit, Kunst steht auf besondere Weise in dieser. An
beider Stellung zur menschlichen Geschichte wird dies evident. ... Kunst (und ihre Wahrnehmung)
kann nur gelingen, Wenn sie ... einen ästhetischen Bezug zum Naturschönen hat. 360 (Hvh. in fett: A.S.)

Es geht mir hier nicht darum, eine Rangstufung von Natur oder Kunst zu konstruieren; beide gehören zur Lebenswelt
des Menschen. Aber ebenso wende ich mich gegen einen Primat der Kunst vor der Natur und damit der bildenden
Kunst vor der Gartenkunst. Es geht vielmehr um eine Unterscheidung, in der die Gartenkunst als die ‚Form physis
und techne’ mit der bildenden Kunst verglichen wird. – Ich erinnere daran, dass ich am Anfang des 2. Kapitels die
Vegetation, also die Natur, als Substanz der Gartenkunst bezeichnet habe und dass das Architektonisch-Formale in
seiner dienenden Funktion mit der Baukunst zu vergleichen ist. Bei der Unterscheidung von der bildenden Kunst
geht es also um die Natur in diesem Sinne in der ‚Welt als Garten’.

7.3.3 Medium und Form als Unterscheidungsmerkmal

Um die Unterscheidung der Gartenkunst von anderen Systemen zu verdeutlichen, greife ich auf ein weiteres
Theorem von Niklas Luhmann zurück, das in seinem Gesamtwerk eine wichtige Rolle spielt: Die Unterscheidung
von Medium und Form. Ich stütze mich auf seine Ausführungen in dem Buch ‚Die Kunst der Gesellschaft’ und in
seinem Hauptwerk ‚Die Gesellschaft der Gesellschaft.’ 361

Luhmann ersetzt mit dieser Unterscheidung die klassische Unterscheidung „Substanz/Akzidenz oder Ding/
Eigenschaften.“ Es geht nicht um die physikalischen Eigenschaften des Marmorblocks als Materie, aus dem der
Bildhauer die Statue schafft, sondern es geht um Wahrnehmung, sowohl in der Produktion, wie in der Rezeption.
„Die Differenz von Medium und Form ist eine Eigenleistung des wahrnehmenden Organismus“ (des Beobachters.)

Wahrnehmung
Medium Form

Medium und Form bestehen gemeinsam aus Elementen. Elemente sind keine „naturalen Konstanten“, sondern
Einheiten, „die von einem beobachtenden System konstruiert (unterschieden) werden, zum Beispiel ... die Töne

359  Adorno, (1989), 105.


360  Seel, (1991), 273ff.
361  Luhmann, (1999, 166 bis 171, und Ders., (1997), 195 bis 201. Ich verzichte bei den folgenden Zitaten auf
eine genaue Stellenangabe.

Die Welt als Garten  163


in der Musik.“ Diese Elemente sind aber nicht als Einzelteile zu denken, sondern nur in einer Verbindung, die
Luhmann „Kopplung“ nennt. Die Kopplung der Elemente bestimmt die ‚Form der Unterscheidung’ von ‚Medium
und Form.’ 362 Luhmann unterscheidet die „lose Kopplung“ von der „festen Kopplung.“ Ein Medium ist eine lose
Kopplung von Elementen, „eine offene Mehrheit möglicher Verbindungen.“ Zum Beispiel sind Wörter in lexikali-
scher Anordnung lose gekoppelt. In der festen Kopplung eines Satzes werden sie zur Form. Aus einer Anzahl von
Wörtern kann man unterschiedliche Sätze formen; die Formbildung ist kontingent. Die Kopplung der Elemente ist
das Gemeinsame der Unterscheidung ‚Medium und Form’, deren „zwei Seiten ... nicht voneinander gelöst, nicht
gegeneinander isoliert gedacht werden können.“

Kopplung von Elementen

Lose Kopplung Feste Kopplung

Medium Form

Weiter stellt Luhmann fest, dass „das Medium stabiler [ist] als die Form“, aber dass „das Medium nur an den Formen
und nicht als solches beobachtet werden kann“. Das Medium ‚Sprache’ zum Beispiel ist nur denkbar, wenn Wörter
(Elemente) zu Sätzen (Form) ‚geformt’ werden.

Die Unterscheidung ‚Medium und Form’ ist eine besondere Art von ‚Formen der Unterscheidung mit zwei Seiten’,
in der keine Seite ohne die andere denkbar ist. Die Seiten physis und techne zum Beispiel sind durchaus auch für
sich sinnvoll zu benutzen, Medium und Form dagegen nur zusammen.

7.3.4 Pflanzen als ‚Medium und Form’ in der Gartenkunst

Ich habe mehrfach betont, dass die Pflanze für mich die wichtigste Substanz der Gartenkunst ist. Ich kann mir einen
Garten ohne Wege, aber keinen Garten ohne Pflanzen vorstellen; das wäre ein Platz oder ein Environment. Wege
und Bauwerke bilden ein eigenes Medium. Und wenn wir unter ‚Garten’ ‚Die Welt als Garten’ verstehen, dann
gehören zu diesem System alle Wege und Plätze vom Gartenweg und –terrasse bis zur Autobahn und Stadtplatz
und von der Gartenlaube bis zum Stadtgebäude. - Betrachten wir nun die Pflanzung als ‚Medium und Form’: Die
Pflanzen nicht als botanische Entitäten, sondern als Gegenstände der Wahrnehmung.

In der Baumschule oder Staudengärtnerei sehen wir sie als einzelne Elemente in loser Kopplung. Sie bilden keine
Form. Erst in der gestalteten Zusammenstellung im Garten, in einer festen Kopplung, werden sie zur Form. Das
gilt für einen Barockgarten, wie auch für einen Landschaftsgarten. In vielen modernen Anlagen allerdings, wie
zum Beispiel in der Gartenschau München/Riem oder im Garten einer REHA-Klinik in Ostholstein, wird die lose
Kopplung beibehalten, wird diese zweifelhafte ‚Form der Formlosigkeit’ ein Gestaltungsmotiv. Fachkenntnisse wer-
den dafür nicht benötigt.

362  Luhmann benutzt den Begriff ‚Form’ etwas irritierend in unterschiedlicher Bedeutung. Die ‚Form der
Unterscheidung’ sowie ‚Medium und Form’ sind als unterschiedliche Termini zu denken, so wie es sich aus dem
Kontext ergibt.

164  Die Welt als Garten


Abb. 7/7 „Pflanzeneinschlag“ als Gestaltungsmotiv

Als Elemente in fester Kopplung, als ‚Form’, sind die Pflanzen in allen Epochen der Gartenkunst Stil bildende Mittel.
Ihre wichtigste Funktion sehe ich in der Raumbildung, entsprechend dem Archetypus ‚Lichtung’. Dazu dienen Baum-
oder Strauchgruppen aber auch Hecken, geschnitten oder frei wachsend. Im Zusammenhang mit der Raumbildung
ist die Entstehung von Atmosphären zu sehen, beeinflusst durch Frühlings- Sommer und Herbstfärbungen, durch
Blütenfarben und durch einen unterschiedlichen Habitus. Auch Solitärs sind in diesem Sinne Formen. Sie bilden
Schwerpunkte im Raum. – Generell kann man sagen, dass die Pflanze als Medium und Form den Eindruck aller
Gärten vom Urgarten bis zur Landschaft bestimmen. Wichtig ist, dass das Zusammenwirken von physis und techne
auf einem ausgeprägten Fachwissen beruht.

7.3.5 Architektur als Medium und Form in der Gartenkunst

Im 4. Kapitel wurde die Architektur, speziell die Wege, in der Unterscheidung von Funktion und Ornament be-
handelt. Jetzt geht es nicht um Funktion, sondern um Garten-Architektur in ihrer Wahrnehmung als Medium und
Form.

Zunächst sind die Elemente dieser Form zu bestimmen. Das sind einmal die Wege im ‚Urgarten’, die funktionell in
loser Kopplung mehr oder weniger zufällig angeordnet waren. In Form gebracht, habe ich sie als Ordnungssysteme
bezeichnet. – Wichtiger sind die Elemente, die das Ornamentale, die Gestalt bilden. In loser Kopplung nehmen wir
wahr: Geraden, Kurven, rechte Winkel, spitze Winkel, Quadrate, Kreise, Ovale, Raster, Pyramiden, Hügel, Mauern,
Böschungen, Treppen, Rampen und so weiter. Diese Vielzahl der Elemente des Mediums lässt die Komplexität der
Formen erkennen, die in fester Kopplung möglich sind. Die Betrachtung dieser Elemente in loser Kopplung ist des-
halb wichtig, weil sie so auch im Medium der bildenden Kunst auftreten, zum Beispiel in den abstrakten Bildern
Kandinskys. In der festen Kopplung als Form werden sie die Unterschiede der Systeme bestimmen.

7.4 Systemreferenzen in der Kunst


Die Systemtheorie und das Verhältnis von Medium und Form sind also ein Ansatz, um die Unterscheidung von
Gartenkunst und bildender Kunst zu erhellen. Dazu kommt eine weitere These Luhmanns, die lautet:

Die Welt als Garten  165


Medien und Formen [werden] jeweils von Systemen aus konstruiert. Sie setzen also immer
eine Systemreferenz voraus. Es gibt sie nicht „an sich“. Somit ist die Unterscheidung von
Medium und Form ... ein rein systeminternes Produkt. 363

Das bedeutet aber auch, dass ‚Medium und Form’ eines Systems nicht ohne weiteres auf ein anderes System über-
tragen werden kann. Betrachten wir also das systeminterne Verhältnis dieser beiden Kunstformen:

Werke der bildenden, besonders der skulpturalen Kunst haben schon immer Eingang in Gärten gefunden. Besonders
im Barockgarten hatte sie einen wichtigen Anteil an der Gesamtgestaltung. Sie diente hauptsächlich der Bildung
von Schwerpunkten in der architektonischen Struktur der Anlagen. Ihr narrativer Gehalt war sekundär. – Im
Landschaftsgarten hatten die Statuen eine andere Bedeutung; sie waren Teil der ‚Erzählungen’ in den verschie-
denen Gartenszenerien und damit auch Stimmungsträger. Auch in modernen Gärten werden Bildwerke in unter-
schiedlicher Form zur Verschönerung und Bedeutungssteigerung aufgestellt. - Es ist verständlich, dass auf Grund
dieser Verhältnisse der Gedanke einer engen Verbindung oder gar einer Einheit von Bildkunst und Gartenkunst
entsteht. Dies ist zu hinterfragen.

Man braucht sich dazu nur die Gärten ohne jegliche Skulpturen oder Vasen vorzustellen, um zu erkennen, dass
Barockgärten immer Barockgärten und Landschaftsgärten immer Landschaftsgärten bleiben. Dafür spricht auch die
Annahme, dass nicht alle Bauherren in der Lage waren, einen teuren Schmuck für ihren Garten zu bezahlen. – Als
ich einen Barockgarten in Holstein zu restaurieren hatte, reichten die zur Verfügung stehenden Mittel gerade, um
die historische Planie und die Hauptalleen und –wege herzustellen. Es wurde dennoch von niemandem angezwei-
felt, dass hier ein Barockgarten wieder erstanden war.364 – Diese Überlegungen zeigen, dass in diesen historischen
Gärten Medium und Form der Systeme Gartenkunst und bildende Kunst zusammenwirken, ohne ein einheitliches
System zu bilden.

Dieses Verhältnis zwischen Systemen kann man auch verallgemeinern, und das spricht gegen die Möglichkeit, ein
‚Gesamtkunstwerk’ zu schaffen. Eine Oper von Wagner – dem Protagonisten der Gesamtkunstwerk-Idee – heute in
Kostümen und im Bühnenbild der Uraufführung zu spielen, ist schwer vorstellbar. Von den Systemen Kostümkunst,
Bühnenbildnerei, Sprache und Musik ist nur die Musik zeitlos; die Sprache ist schon problematisch. Das heißt nun
nicht, dass ein Werk, - zum Beispiel eine große Grünanlage - in dem mehrere Kunstarten zusammenwirken, nicht
aus einer gemeinsamen Idee hervorgehen kann, wenn Künstler der verschiedenen Sparten an einer gemeinsamen
Aufgabe arbeiten. Aber die jeweilige Systemreferenz bleibt bestehen.

Die Frage ist nun, wie man das Zusammenwirken der beiden Systeme – Gartenkunst / bildende Kunst - beschreiben
kann. Eine grundsätzliche Feststellung ist die, dass dem System Gartenkunst Elemente des Systems bildende Kunst
hinzugefügt, importiert werden können. Dabei kann zum Beispiel die Nachbildung einer antiken Statue in einem
Barockgarten oder im Landschaftsgarten und sogar in einem modernen Stadtpark stehen; das jeweilige System
wird dadurch nicht verändert und es entsteht auch kein neues System; wohl aber werden die Atmosphäre und die
Bedeutung verändert.

Man kann also generell feststellen, dass die Werke der bildenden Kunst – als Medium und Form - nur als ‚Importe’
in anderen Systemen auftauchen: An Bauwerken (ursprünglich an Tempeln, in der Gegenwart als ‚Kunst am Bau’),
in Museen, in der freien Landschaft und eben auch in Gärten. Dabei verändern sie durchaus ihren Charakter: Eine
moderne Plastik im Museum hat eine andere Aura als die in einer Fußgängerstraße oder in einem Park. So ist auch
die Aussage von Henry Moore zu verstehen, die ich oben (Anm. 142) zitiert habe: „Wir werden dagegen kämpfen
müssen, daß die Skulptur in der Landschaftsgärtnerei zum Ornament reduziert wird.“

363  Luhmann, (1999), 166.


364  Singelmann, (1979).

166  Die Welt als Garten


7.4.1 „Little Sparta“ als Beispiel

Ich will dieses Prinzip an einem sehr bedeutsamen und bekannten Beispiel überprüfen: Ian Hamilton Finlays
„Little Sparta“. Dieser Garten hat schon viele Kritiker und Kunsthistoriker beschäftigt. In einer Veranstaltung
des Kunsthistorischen Seminars in Hamburg über Gartenkunst, an der ich als Gasthörer teilnahm, befasste
man sich in erster Linie mit diesem Garten. In der Diskussion ging es aber fast nur um das ‚System’ bildende
Kunst; das Feld ‚Landschaftsarchitektur’ war den Teilnehmern völlig fremd. So wurde zum Beispiel gefragt, was
Landschaftsarchitekten so machen und ob die wohl auch eine akademische Ausbildung hätten. (Ein Beispiel von
Selbstreferenz in der Universität.)

Zur Beschreibung des Gartens zitiere ich Ausführungen Günter Metgens:

Little Sparta liegt ... in grandioser Einsamkeit. ... Schafweiden [umgeben] den Park; die Kunst scheint
sublimiert aus dem Landbau hervorzugehen, was dem konservativen Denken ... eines Künstlers ent-
spricht, der zunächst Schriftsteller war. ... Als selbstgelernter Gärtner hat er dies ehemalige Gehöft
geduldig in einen poetischen Raum verwandelt. Überall finden sich Stelen, Verse, Inschriften; ... Noch
das kleinste Eck und sogar die Trittsteine im Wasser sind mit Texten ... beschrieben ... . Man gerät von
einer Stimmung, einem Geisteszustand in den Anderen. Finlay, der das dichterische Wort kurz und
schlagfertig nach Art des Dadaismus ... handhabt, hat aus diesem Gelände einen Hain aus Metaphern
gemacht, die nach dem Modell des Emblems funktionieren, bei dem Wort und Bild untrennbare
Hälften einer visuellen Strategie sind. Embleme fassen das Überkommende und das Neue in ebenso
treffenden wie hermetischen Formeln zusammen. ... [In diesem Garten] haben das Martialische wie
das Totalitäre Genre Platz; ... Diese Kollage von Klassischem und Zeitgenössischem empfindet Finlay als
normal, wohnen doch Idylle und Schrecken für ihn immer zusammen. Als Beispiel nennt er das ET IN
ARKADIA EGO, das bekanntlich mitten im Hirtenparadies den Tod meint ... Weit vom Quietismus der
Idylle entfernt, stellt dieser Garten für den Künstler einen Kriegsschauplatz dar, auf dem widerstreiten-
de Tendenzen zusammenstoßen. 365

Auch dies ist die Beschreibung eines Kunstexperten, die wenig über das Verhältnis zwischen Kunst und Garten
aussagt. Das erfahren wir aber von Finlay selbst aus einem Interview, das Udo Weilacher mit ihm führte.366
Bezeichnend für sein Naturverständnis ist der Satz. „Der Hain ist für mich das Grundelement des Gartens, denn
er bietet einem viele gestalterische Möglichkeiten. Die Bäume sind ganz klar Natur aber der Hain ist keine Natur,
sondern Kultur.“ - Im Prinzip entspricht das meiner Unterscheidung von physis und techne. Die Bäume sind reine
physis und der Hain ist durch techne veränderte physis. – Im Allgemeinen wird Little Sparta als Gesamtkunstwerk
gesehen, und anscheinend auch von Finlay selbst: Er versteht „nicht etwa das Artefakt als Werk, sondern das Werk
ist der Garten als Komposition.“ 367 - Ich habe schon festgestellt, dass die Atmosphäre und die Bedeutung eines
Gartens durch Kunstwerke verändert werden. Das ist in Little Sparta extrem der Fall, so dass uns dieses Werk als
Einheit erscheint.

Trotzdem gilt die Feststellung, dass es sich hier um zwei unterschiedliche Systeme handelt: um den Garten eines
dilettierenden Gärtners, in dem Werke eines Künstlers ausgestellt sind. Es besteht kein wesentlicher Unterschied
zwischen den hier ausgestellten Kunstobjekten und denen, die Finlay für andere Orte, wie zum Beispiel für
das Kröller-Müller-Museum, die Dokumenta oder für Galerien angefertigt hat. Die Objekte, beschriftete Steine,
Modelle von Kriegschiffen, Handgranaten usw. sind Elemente – Medium und Form - des Systems bildende Kunst.
Die Systemunterscheidung geht auch aus der Bemerkung Finlays hervor, dass in seinem Garten „die Natur zum

365  Metken, (1993), 111ff.


366  Weilacher, (1999), 93ff.
367  Ebd.

Die Welt als Garten  167


Bestandteil der Kunst“ wird, und sich zugleich „als Natur entfalten“ darf, „aber nur unter der Voraussetzung,
daß es der Kunst zuträglich ist.“ (Hvh. A.S.) Der Garten ist also als ‚Ausstellungsraum’ konzipiert. Dafür spricht
auch seine Bemerkung, dass er sich „in der Tradition des Landschaftsgartens“ fühle und „der Natur die Kultur
entgegen[stellt].“ Wenn man sich aber die Artefakte wegdenkt, bleibt ein zwar ganz geschickt angelegter aber an-
sonsten ganz gewöhnlicher Hausgarten. – „Little Sparta“ gehört in seiner Substanz zum System ‚Bildende Kunst’
und kann somit kein Vorbild für die Gartenkunst sein. Für Kunsthistoriker ist der Garten der blinde Fleck.

7.4.2 Beispiele der Land Art

Wenn Finlay ‚Natur’ sagt, meint er – wie wir gesehen haben – physis, beeinflusst durch techne. Im Garten ist dieser
Einfluss intensiv. In der ‚Welt als Garten’ ist der Einfluss von techne skaliert bis zu dem, was wir ‚unberührte Natur’
nennen. Dies ist das Feld der Land Art. Bei den Objekten der Land Art ist ihr Charakter als ‚Importe’ in die freie
Natur offensichtlich. Am Beispiel Richard Long wird es besonders deutlich.

Long ‚importiert’ aber nicht irgendein Artefakt in die Landschaft, sondern gewissermaßen nur die Idee eines
Artefakts, indem er das Material, das er in der Landschaft findet, zu einer geometrischen Figur ordnet. Dabei geht er
immer von dem Vorhandenen aus, dem er sich körperlich nähert: „Das Gehen ist für Long die Möglichkeit, sich dem
Charakter einer Landschaft zu nähern, sie in ihren spezifischen Details wahrzunehmen, sich ihren Gegebenheiten
und Bedingungen anzupassen. Allein in diesem ‚Dialog’ entstehen schließlich seine Arbeiten, im Einklang mit dem
Ort und seinem Material.“368 Dabei thematisieren seine Steinsetzungen in subtiler Weise das Verhältnis von physis
und techne. Sein Eingriff in die Landschaft durch das ‚Ordnen’ der Steine zu einem Kreis oder zu einer Linie ist
ein Eingriff – techne – in die unberührte Landschaft. Aber entscheidend ist, dass er, bezogen auf physis und tech-
ne als ‚Form der Unterscheidung mit zwei Seiten’, die physis als die eine Seite der Form nicht verändert; für das
Biotop ‚Schotterfeld’ ist es irrelevant, ob die Steine zerstreut oder im Kreis geordnet liegen; der Kreis ist nur von
der techne-Seite aus beobachtbar. Er selbst sagt: „mein ganzes Schaffen [steht] in einem ... Gleichgewicht zwi-
schen naturgegebenen Formen und dem Formalismus menschlicher Abstraktion wie Linien und Kreisen. Hier trifft
mein Menschsein auf die naturgegebenen Kräfte und Formen der Welt, und das ist das eigentliche Thema meines
Schaffens.“ 369

Abb. 7/8 Richard Long, Steinkreis

Typisch ist die Vergänglichkeit dieser Werke, die auf die Dauer nur in der Fotografie erhalten bleiben. Aber nicht
nur, denn Long transloziert sie oftmals in eine Galerie oder in ein Museum, wo er sie in gleicher Weise wieder aus-
legt. Die Werke des Systems ‚Land Art’ werden aus der Landschaft in das System ‚Ausstellung’ überführt. Medium
und Form bleiben unverändert aber die Aura ist eine andere; Ein Rezipient, der Longs Artefakte in der Landschaft
nicht kennt, sieht das Werk in der Ausstellung mit anderen Augen. Die Frage ist, ob so ein Objekt der Land Art in
einem Ausstellungsraum nicht ein Wesentliches seiner Aura verliert.

368  Wedewer, (1993), 6.


369  Weilacher, (1999), 16.

168  Die Welt als Garten


Mit Richard Longs Arbeiten sind Werke anderer Land-Art-Künstler zu vergleichen, zum Beispiel die Michael
Heizers. Sie unterscheiden sich aber im Maßstab. So brauchte Heizer für das ‚Double Negativ’ in der Wüste Nevada
zwei Tonnen Dynamit um 240.000 Tonnen Sandstein wegzusprengen. Das Ergebnis sind zwei in einer Felsbucht
sich gegenüber liegende Gräben von sechzehn Meter Tiefe. – Ein anderes Werk Heizers, die ‚Effegy Tumulie’, hat
ebenso gigantische Ausmaße, ist jedoch aus Erdmassen einer Abraumhalde geformt und erinnert an Bilder, die von
Indianern in der nordamerikanischen Landschaft errichtet wurden. Heizer sagt über seine Arbeit: „Was mich vor
allem interessiert, sind die physikalischen Eigenschaften, Dichte, Volumen, Masse, Raum, Zeit. Zum Beispiel, wenn
ich einen Granitfelsen von sechs Meter Länge finde. Das ist Masse. Das ist schon an sich eine Skulptur ... Meine
Arbeit ist die Antithese einer Skulptur ... Ich möchte auch, daß meine Arbeit lebt, verfällt und stirbt, während ich
selbst noch am Leben bin.“ 370

In diese Reihe gehört auch ein bekanntes Werk von Walter de Maria, das ‚Lightning Field’ in New Mexiko.
Vierhundert sechs Meter lange Stahlstäbe wurden auf einer ein Quadratkilometer großen Hochebene in einem
strengen Raster aufgestellt, und zwar so, dass die oberen Enden eine fiktive Ebene bilden. Diese Installation faszi-
niert nicht nur durch die Blitze, die in dieser gewitterreichen Gegend in sie einschlagen, sondern auch durch den
Kontrast zwischen Naturform und mathematischer Ordnung, zwischen Chaos und Ordnung.

Diesen Beispielen von vielen ist gemeinsam, dass die Künstler das Museum hinter sich ließen, um ihre Ideen in der
unberührten Natur zu verwirklichen. Deshalb sind sie auch hauptsächlich in den Wüstengebieten Nordamerikas
entstanden. Dieser extremen Art verwandt sind Werke, die in – meistens abgelegene – Kulturlandschaften impor-
tiert wurden.

Ein Beispiel, das mich besonders beeindruckt hat, ist Herman Priganns „Ring der Erinnerung“. Dieser wurde nach
der Wiedervereinigung im Harz auf der ehemaligen innerdeutschen Grenze errichtet. Auf einem Kreis von siebzig
Meter Durchmesser wurde ein Wall aus Totholz des umliegenden Waldes aufgeschichtet. Zur Erinnerung an die
deutsche Teilung ist der Kreis von den Resten des Grenzzaunes durchschnitten. Der Wall ist innen und außen durch
Findlinge markiert. An vier Öffnungen, die auf die Himmelsrichtungen hinweisen, und im Zentrum liegen Steine
mit den Inschriften Terra, Aqua, Aer, Flora, Fauna als Symbole des Naturbezuges.

Abb. 7/9 Herman Prigann, Ring der Erinnerung

Dieses Kunstwerk ist mehrfach codiert: Es steht für die ökologische Katastrophe des Waldsterbens, für die politische
Katastrophe der deutschen Teilung und für die Erinnerung, die als Spur bleibt, wenn auch das Totholz vermodert
und der Wall von Brombeeren überwuchert sein wird. Und es ist eine Auseinandersetzung mit der geschichtlichen
Dimension der Landschaft. - Mit dem Ring der Erinnerung wurde ein Kunstwerk von starker atmosphärischer

370  DOUMONTS Chronik der Kunst, (1990), 669.

Die Welt als Garten  169


Wirkung in der Kulturlandschaft geschaffen. Aber auch der ökologische Bezug täuscht nicht darüber hin, dass es
sich hier um zwei Systeme handelt, Landart in der ‚Welt als Garten.’ 371

Noch zu nennen in dieser Reihe wäre in England Andy Goldsworthy, der in Schottland aus Steinen errichtete
Schafhürden nachbaut und aus Steinen und Totholz Artefakte in der Landschaft schafft, 372 und in Deutschland Tim
Ulrichs, Harald A. Finke, Doris Cordes-Vollert und viele andere. Letztere waren an dem „Projekt Schüberg –
Die Natur sprechen lassen“ beteiligt. (Der Schüberg ist ein bewaldeter Hügel im Osten Hamburgs.) Über das Motiv
dieses Projektes schreibt Hartmut Böhme:

[Wir wollen] sehen, in welcher Weise die Kunst heute im Umgang mit Natur uns wieder wahrneh-
mungsfähiger machen könnte – und welche Wege dabei Künstler gehen, die ihren ästhetischen Impuls
aus dem Schrecken über die menschengemachte Naturzerstörung beziehen und in ihren Arbeiten in
leiser Weise nach anderen Formen des Wahrnehmens, Denkens und Gestaltens von Natur suchen.373

Diesen Artefakten der Land Art ist gemeinsam, dass sie sich auf die‚freie Natur’ beziehen; sie wurden in die
freie Landschaft importiert (oder besser exportiert). Wenn man so will, handelt es sich um Fremdkörper, die ein
Spannungsverhältnis zur Landschaft erzeugen. Es geht um eine klare Unterscheidung:

Land Art
Artefakt Landschaft

In keinem Fall geht es um Landschaftsgestaltung.

Anders zu sehen ist aber das Beispiel einer ‚Grenzgängerin’, Kathrin Gustafson: „[Ihr] erster Auftrag für Kunst
am Bau ... ging schief. Ihr ‚Shadow Walk’ im Flughafen San Francisco blieb ein Schatten. Sie verließ die Sitzung der
Kunstkommission wortlos ... und blieb Landschaftsarchitektin.“ Vorher war sie längere Zeit Modedisignerin, bis ihr
Interesse für die Landschaftskunst erwachte. Die meisten ihrer Objekte sind auch der bildenden Kunst zuzuordnen,
zum Beispiel „ein Wasserreservoir im Freizeitpark von Morbras ... an dem sich bereits ihre typische Formensprache
zeigt: grasüberzogene Erdfalten, das Terrain als große Skulptur. Landart könnte man vermuten. Aber Gustafson zö-
gert: ‚Ich liebe es, Erdmassen zu bewegen. Aber ich liebe auch Dinge, die eine Funktion haben.’“ 374

Mit dieser lapidaren Äußerung unterscheidet Kathrin Gustafson präzise bildende Kunst von Landschaftskunst:
Erdplastiken, die sie nach Tonmodellen ausführen lässt, und Landschaftsparks, die zwar auch kunstvolle
Architekturelemente enthalten, die aber in erster Linie Erholungsfunktionen erfüllen. Hier werden bewusst zwei
Systeme unterschieden, in denen die Künstlerin jeweils operiert, die aus ähnlichen Elementen bestehen, die
in Medium und Form aber unterschieden sind. - Man könnte hierin auch eine Übergangsform sehen zwischen
Gartenkunst und bildender Kunst. Das wäre eine skalierte ‚Form der Unterscheidung mit zwei Seiten’. Das ändert
aber nichts an der Grundauffassung, dass es sich um die Unterscheidung zweier Systeme handelt, und dass das
Operieren auf der einen oder auf der anderen Seite jeweils das Überschreiten einer Grenze bedarf. Entscheidend
ist dabei, ob auf beiden Seiten die jeweilige künstlerische Kompetenz vorhanden ist.

Das war bei Ernst Cramer der Fall. Ich erinnere mich, wie fasziniert wir von seinem „Theatergarten“ auf der
IGA 1963 in Hamburg waren und an unsere Empörung, als dieser nach dem Ende der Ausstellung von ignoranten
Gartenbaubeamten ‚zurückgebaut’ wurde; ein „Vandalismus von oben“! 375 Auch Cramer war ein Grenzgänger

371  Prigann, (1993), 42ff.


372  Dokumentationen im Verlag 2001.
373  Hartmut Böhme, (1989), 99.
374  Lisa Diedrich: in Topos 21, 16ff
375  Buchloh, (1989).

170  Die Welt als Garten


zwischen Gartenkunst und bildender Kunst; aber der Theatergarten war ganz klar eine Plastik, ein Implantat der
bildenden Kunst in einen Park von einem Künstler, der auch Gartenarchitekt war.

In diesem Zusammenhang ist auch der „Berggarten“ in Graz von Dieter Kienast zu erwähnen. - Kienast bezieht
sich ausdrücklich auf Cramer als sein Vorbild. – Der Berggarten ist eher eine große Erdplastik als ein Garten und als
solche sehr eindrucksvoll. Nach Ende der Gartenbauausstellung wurde er inzwischen in eine Ausstellungsfläche für
Plastiken im Freien umfunktioniert. –

Abb, 7/10 Berggarten Graz

Er ist im gewissen Sinne mit ‚Little Sparta’ zu vergleichen: Garten als Ausstellungsfläche für bildende Kunst. Aber
auf der Skala der Unterscheidung Gartenkunst / bildende Kunst ordne ich ihn der bildenden Kunst zu. Typologisch
kann man ihn mit dem Jüdischen Museum in Berlin vergleichen, das sich auf der Skala Architektur / Plastik bewegt.
Der Berggarten ist in seiner neuen Funktion sehr eindrucksvoll; richtungsweisend für die Gartenkunst ist er nicht.

Ein anderes Beispiel ist der„Garden of Cosmic Speculation“ von Charles Jencks. Ich kann ihn nur beurteilen aufgrund
der hervorragenden Aufnahmen von Udo Weilacher.376 Die zeigen eine Anlage von faszinierender Ornamentik und
bewundernswerter technischer Ausführung. Es mag auch manches darin „zu lesen“ sein. Als Implantat in der schot-
tischen Landschaft empfinde ich ihn als Fremdkörper, der kein Spannungsverhältnis zu dieser herstellt; man kann
ihn sich beliebig in jeder Landschaft vorstellen. Er ist eine Erdplastik, ein Werk der bildenden Kunst, kein Garten.

Ein besonderer Fall ist der UNESCO-Garten von Noguchi, den Udo Weilacher in seinem Buch über
Landschaftsarchitektur und Land Art beschreibt. Er charakterisiert Noguchi als einen Bildhauer, dem es „vor der
Land Art [gelang], die Auffassung von Skulptur so zu erweitern, daß der Landschaftsraum nicht mehr Hintergrund,
sondern eigentlicher Gegenstand künstlerischen Schaffens wurde.“ 377 Ich sehe für den UNESCO-Garten den
Landschaftsraum jedoch weder als Hintergrund noch als Gegenstand, sondern es handelt sich hier einfach um ein
Artefakt, das kaum Beziehung zu seinem Umfeld hat. - „Am Ende [überwog] der kühle, moderne Charakter des
Gartens mit seiner kontrollierten biomorphen Formen und kubistischen Körpern. Der Grundriß erinnert an ein sur-

376  Weilacher, (2005), 22ff.


377  Weilacher, (1999), 43.

Die Welt als Garten  171


realistisches Gemälde von Joan Miró oder an ein Relief von Hans Arp, doch im Lauf der Zeit verwischte wuchernde
Vegetation die ursprüngliche skulpturale Klarheit der Gestaltung.“ 378

Das alles macht nach meiner Auffassung klar, dass der UNESCO-Garten nicht zur Gartenkunst gehört. Weilacher
muss letztlich feststellen: „Trotz der Bedeutung des UNESCO-Gartens als Meilenstein in der Entwicklung der
modernen Gartenkunst [!] fand er weder in der landschaftsarchitektonischen noch in der Kunstpublizistik be-
sondere Würdigung. Die Kunstkritiker erachteten das Werk nicht als Kunst, sondern als Garten, während die
Landschaftsarchitekten dem Garten als Kunstobjekt kaum Beachtung schenkten. ... [Noguchi] nahm Pflanzen als
skulpturale Formen wahr und war nicht so sehr interessiert ... sie als wachsendes Material zu begreifen.“ 379

Auf Grund dieser Beispiele dürfte deutlich geworden sein, was die Land Art von anderen Kunststilen und von der
Gartenkunst unterscheidet.

7.4.3 Künstler als Gärtner

„Künstler als Gärtner“ ist das Titel-Thema einer Ausgabe der Zeitschrift KUNSTFORUM INTERNATIONAL, das
sich mit dem Verhältnis zwischen Natur und heutiger bildender Kunst beschäftigt. In einer zweiten Nummer wird
dies durch ein so genanntes „Gartenarchiv“ ergänzt. 380

Schon eine oberflächliche Durchsicht dieser beiden Bände macht deutlich, dass es hier um Artefakte im System der
bildenden Kunst handelt, das von der Gartenkunst klar zu unterscheiden ist. Das geht schon aus wenigen Beispielen
hervor.

Die meisten entsprechen der Auffassung Mario Terzics, der „Garten und Landschaft als erweitertes Zeichenblatt“
sieht. Es geht ihm darum, „Kunststudenten ein reales Experimentierfeld anzubieten, auf dem deutlicher und kon-
sequenter als auf Papier essentielle Fähigkeiten erprobt werden können ... Gartenarbeit als Metapher für ein umfas-
sendes künstlerisches Agieren ...“ 381

Typische Beispiele sind der Tisch, den Geer Pouls mit der Schere in den Rasen zeichnet,382 oder Gary Rieveschl,
der einen „Kinderkreis“ mit Blumenzwiebeln zeichnet.383 Mit Beton zeichnet Alan Sonfist ein Wegeornament auf
eine Rasenfläche, gewissermaßen die Karikatur eines Landschaftsgartens. 384 Und ein „minimalistisches“ Rasenstück
verpflanzt Luc Wolf in einen verwilderten Garten.385

378  Ebd., 46
379  Ebd.
380  KUNSTFORUM, (1999a,b)
381  KUNSTFORUM, (1999b), 107.
382  Ebd., 204.
383  Ebd., 213.
384  Ebd., 221.
385  Ebd., 247.

172  Die Welt als Garten


Abb. 7/11a-d „Künstler als Gärtner“

Man muss nicht im Einzelnen die Intentionen der Künstler ergründen, um zu erkennen, dass diese Werke nichts
mit Gartenkunst zu tun haben. Es werden zwar auch hier Pflanzen als Elemente eines Mediums verwendet, aber
es ist evident, dass Medium und Form zum System bildende Kunst gehören. Es entstehen keine Gärten, sondern
Installationen mit Pflanzen.

Diese Systemreferenz wird auch durch Äußerungen von Künstlern deutlich. So antwortete Tobias Rehberger –
einer der bedeutenden Gegenwartskünstler, der 2009 den deutschen Pavillon auf der Bienale in Venedig gestaltete
- auf die Bitte, zu definieren, was ein Garten sei:

Ich glaube nicht, daß ich das kann ... im Endeffekt ist es für mich das gleiche wie ein Stuhl, für mich
geht es nicht eigentlich um einen Garten, sondern für mich ist das eine Skulptur. ... Ich bin kein Gärtner
oder Landschaftsarchitekt, sondern Künstler. Oder Skulpteur. Deswegen steht das Skulpturale an erster
Stelle. Daß es dann zufällig mit Pflanzen zu tun hat oder mit Garten, ist für mich fast eher zweitrangig.
Mit Garten meine ich immer eine Skulptur und nie einfach nur einen Garten.386

Ein Beispiel für Rehbergers Auffassung ist seine Installation „Within view of seeing“ von 1998, die aber offensicht-
lich schon Vorbild für manche Gartengestaltung geworden ist. 387

Ähnliches sagt Anette Weiß: „Mich interessiert das Prozessuale, das ‚Geheimnis des Lebens’, in künstlerischer
Hinsicht nicht so sehr. Ich glaube, man muß sehr aufpassen, nicht ins Esoterische abzugleiten, wenn man sich auf
die Eigendynamik des Mediums Pflanze einlässt.“ 388

Etwas anders liegen die Dinge bei dem „Schwarzen Garten“ in Nordhorn von Jenny Holzer.389 Es handelt sich um
eine Gedenkstätte für die Gefallenen der letzten Kriege. Was Jenny Holzer hier gestaltet hat, kann man schon im
weiteren Sinne als ‚Garten’ bezeichnen. Aber die Symbolik, die sie hinein legt, hat nichts mit Gartenkunst zu tun; sie

386  KUNSTFORUM, (1999a), 119.


387  Ebd., 112f.
388  Ebd., 127.
389  Ebd., 88ff.

Die Welt als Garten  173


ist zwar im einzelnen nachvollziehbar, aber die Farbensymbolik, die ihr Leitmotiv ist – schwarze Tulpen für Trauer,
weiße für Unschuld – nähert sich dem Niveau der Trivialkultur. Das ist bezeichnend dafür, wenn Künstler sich in
dem für sie fremden System Gartenkunst betätigen.

Ein berühmter Künstlergärtner war Burle Marx. Tatsächlich war er aber in erster Linie Maler, der seine Gemälde
wie auch seine Vorlagen für Platzgestaltungen und Blumenbeete nach den gleichen formalen Vorstellungen schuf.
Als Medium unterscheiden sich bei ihm Pflanzen nicht von Ölfarbe oder Pflastersteinen. - Nebenbei war er seit
Kindheitstagen leidenschaftlicher Pflanzensammler und insofern auch Gärtner, der sich als Gartenarchitekt betätig-
te. Aber seine großen Landschaftsgärten wirken - zumindest nach europäischen Vorstellungen - seltsam gekünstelt.
390

Abb. 7/12 „Malergarten“

Alle diese Beispiele zeigen, dass die Deutung des Verhältnisses Gartenkunst / bildende Kunst von Kunsttheoretikern
und Kunsthistorikern beherrscht wird. Das sehen wir bei Paolo Bianchi, der den heutigen „Künstlergärtner“ in der
Tradition des Berufes des „Kunstgärtners“ sieht, der neben dem Gartenhandwerk auch die anderen Künste beherr-
schen musste. „Denn mit ihnen mußte sich das Gartenhandwerk verbinden, um selbst zu einer ‚bildenden Kunst’
aufzusteigen. [!] Künstlergärtner besinnen sich auf den modernen Begriff von Landschaft als dem Entwurf eines
einzelnen, welcher der Natur gegenübertritt und sie in individueller Weise auffasst.“ 391 (Hvh., A.S.) Das
ist die Auffassung einer autonomen Kunst, die auf die Gartenkunst angewendet, zur absoluten Beliebigkeit führen
würde.

Als Letztes zitiere ich Barbara Nemitz, die Initiatorin der „Künstlergärten in Weimar“: „Das nicht-intellektuelle
Medium Vegetation, das uns sonst in Garten, Park, in der Agrikultur oder ganz einfach in der Landschaft begegnet,
wird im Kunstkontext zu einem intellektuellen Medium, das zahlreiche Fragen aufwirft.“ Eine ihrer Fragen lau-
tet: „Inwieweit ist eine Pflanze heute überhaupt noch Natur?“ Auch sie grenzt das System, das sie „Kunstkontext“
nennt, gegen „Garten, Park“ usw. ab.

Das alles verführt mich dazu, diesen Abschnitt mit einem Kommentar Gernot Böhmes abzuschließen, den er in
Bezug auf das Verhältnis von Künstlern zur Ökologie verfasst hat, den man aber sinngemäß auch bezüglich ihres
Verhältnisses zur Gartenkunst anwenden könnte:

Künstler mögen zwar häufig besonders sensible Zeitgenossen sein, aber sie verstehen sich und man ver-
steht sie falsch, wenn man sie zu besseren Philosophen oder Naturforschern hochstilisiert. So sind die

390  Garten und Landschaft, 9/1989, 27ff.


391  KUNSTFORUM, (1999a), 52.

174  Die Welt als Garten


Beiträge engagierter Künstler zu ökologischen Diskurs leider häufig auf dem Niveau, das der Künstler
als durchschnittlicher Zeitungsleser und Stammtischbesucher hat.392

Und die Beiträge der Künstler zur Gartenkunst sehe ich auf dem Niveau durchschnittlicher Kleingärtner. Für
Landschaftsarchitekten, die sich ihr Leben lang mit Pflanzen beschäftigen und sich mit der Frage: „Was heißt denn
schon Natur?“ 393 auseinandergesetzt haben, muten diese Versuche bildender Künstler, dem Wesen der Natur näher
zu kommen sehr naiv an. – Das kann man aber auch von den Gartenkünstlern sagen, die sich in dem System ‚bil-
dende Kunst’ bewegen, um die vermeintlichen Defizite an Modernität in der Gartenkunst zu beheben.

Durch diese Darstellungen dürfte deutlich geworden sein, dass Gartenkunst und bildende Kunst verschiedenen
Systemen angehören.

Kunst
Gartenkunst Bildende Kunst

Ich erinnere an dieser Stelle noch einmal an Spencer-Browns Maxime seiner Erkenntnistheorie: „Wir nehmen die
Idee der Unterscheidung und die Idee der Bezeichnung als gegeben an, und daß wir keine Bezeichnung vornehmen
können, ohne eine Unterscheidung zu treffen.“

Wie der Begriff der „Totalen Landschaft“, führt die Gleichsetzung von Gartenkunst und bildender Kunst zum
„Rauschen“, zur Beliebigkeit und schlimmstenfalls zu dem, was wir Kitsch nennen. Selbst wenn es Berührungspunkte
und vielleicht skalierte Übergänge gibt, ändert dies nichts an dem Grundsatz, dass Elemente der bildenden Kunst
keine Vorbilder für die Gartenkunst sind. Das soll im Folgenden noch vertieft werden.

7.5 Systeminterferenzen in der Gartenkunst


Zur grundsätzlichen Unterscheidung von Gartenkunst und bildender Kunst habe ich festgestellt: In der bildenden
Kunst wird Natur dargestellt, in der Gartenkunst tritt Natur in Erscheinung. Jetzt geht es um die ‚Modernität’
dieser beiden Kunstsysteme, das heißt um ihre Stellung im Bewusstsein der heutigen Gesellschaft.

Die Entwicklung der modernen bildenden Kunst im 20. Jahrhundert ist in einer schier unermesslichen Literatur
beschrieben und bewertet worden. „Moderne Kunst“ ist zu einem allgemein gebräuchlichen Begriff geworden,
dessen Konnotation eindeutig ist.

Das kann man von der Gartenkunst nicht sagen. Schon das oben beschriebene problematische Verhältnis zwischen
moderner Architektur und Gartenkunst ist bezeichnend. Es stellt sich also die Frage, welches die Gründe für die-
se Sonderstellung der Gartenkunst sind. Es sind die Entwicklungen, die ich in der Einleitung als eine wesentliche
Problemstellung beschrieben habe: die „Entzweiung“ der Menschen von der Natur (nach Richter) und als Folge für
die Profession: deren Aufspaltung in Ökologie und Kunst. Die Gartenkunst, deren Thema bis ins 19. Jahrhundert
selbstverständlich die Natur war, ist ‚heimatlos’ geworden, nachdem die Natur wissenschaftlich vereinnahmt und
unter dem Verdikt ‚Naturalismus’ aus der Gartenkunst verbannt wurde.

Das Ergebnis ist die Suche nach einer neuen Systemreferenz, die bisher eindeutig in Richtung bildende Kunst und
Baukunst geht. Nach den Grundsätzen der Systemtheorie ist aber schon voraus zu sagen, dass dieser Weg in die Irre
führt, zu Systeminterferenzen. Ich habe den Begriff ‚Interferenz’ schon im Zusammenhang des Verhältnisses der

392  Böhme, (2002), 258.


393  Schäfer, (Hrg.), (1993).

Die Welt als Garten  175


Landschaftsmalerei zur Landschaftskunst interpretiert als: „Falsche Analogie ..., die Einwirkung eines ... Systems auf
ein anderes, die durch Ähnlichkeit von Strukturen ... entsteht.“ (siehe Anm. 313). Ein Grundsatz der Systemtheorie
besagt, dass jedes System einen eigenen Code mit spezifischen Programmen hat, der nicht geändert und auch nicht
übertragen werden kann. Nur hierdurch lassen sich Systeme voneinander unterscheiden. Und nach dem Leitsatz,
„dass wir keine Bezeichnung vornehmen können, ohne eine Unterscheidung zu treffen“, sind die Unterschiede
zwischen Gartenkunst und den anderen bildenden Künsten herauszustellen. Durch Interferenzen werden sie ver-
wischt.

Die krasseste Form einer „falschen Analogie“ ist die naive Übertragung von Elementen von der Malerei auf die
Gartenkunst. Die Formen kommen eigentlich nur auf dem Papier zur Geltung. In der Ausführung stehen sie mei-
stens für Dysfunktionalität. Die Beispiele hierfür sind zahllos. Als ein programmatisches Symbol kann man eine
Lithographie Kandinskys ansehen, die in Topos, Heft 2 kommentarlos abgebildet ist. Das Heft steht unter dem
Motto: „Leitbild der Moderne“.

Abb. 7/14 Leitbild für Gartenkunst?

Ich nehme als Beispiel aus dem gleichen Heft den Plan für den Park in Modena. Er ist nicht von einer abstrakten
Graphik zu unterscheiden. Er wurde zwar nicht ausgeführt, war aber immerhin in einem Wettbewerb preisgekrönt.

176  Die Welt als Garten


Abb. 7/15 Park oder Graphik?

In dem Park Juan Carlos in Madrid ist wie bei Kandinsky der Kreis die Grundform, die von heterogenen Elementen
durchschnitten wird, und hier wie dort sind ringsherum graphische Formen verstreut. Als Versatzstück wurde eine
organoide Form eingefügt. 394

Abb. 7/16 Park in Madrid

Abb. 7/17 Thames Barrier Park

394  Topos 23, 1998, 25

Die Welt als Garten  177


Ein rein graphisches Muster ist auch das Gestaltungskonzept für den Thames Barrier Park am Ufer der Themse.
Entsprechend stehen auch hier die Pflanzen in Reih und Glied, wie in der Baumschule.395

Ein krasses Beispiel ist der Park Nou Barris, an der Peripherie Barcelonas. „Kubistische Gemälde Picassos der Horta
de Sant Joan beeinflussten die Gestalter bei ihrem Entwurf. Die vorhandenen fragmentierten Freiräume sollten zu
einer geometrischen Landschaft verbunden werden.“396 Am Anfang der gestalterischen Überlegungen stand also
nicht der ‚Ort’, wie immer reklamiert wird, sondern ein abstraktes Gemälde.

Abb. 7/13 Nou Barris Parc, inspiriert von Picasso

Ein bedeutendes Thema der Gartenkunst in der ‚Welt als Garten’ ist der Einfluss auf die freie Landschaft. Die
Geometrie der Kulturlandschaft war bisher durch die Formen der Bewirtschaftung bestimmt; so war der rechteckige
Acker sinnvoll, um ihn in geraden Furchen pflügen zu können. Dieses Prinzip scheint mit der neuen Auffassung
einer „geometrischen Landschaft“ nicht vereinbar zu sein. Im Landschaftspark Wartenberg in Berlin wechseln will-
kürlich keilförmig geschnittene Grünflächen mit spitzwinkligen „sogenannten Waldfraktalen ab.397

Abb. 7/18 Abstrakte Landschaft

395  Topos 35, 2001, 56


396  Topos 39, 2002, 25.
397  Garten und Landschaft 7/2008, 36

178  Die Welt als Garten


Ähnliches gilt für das „Landschaftsplanerische Konzept für das neue BMW-Werk im Norden von Leipzig“, in dem
die Landschaftsarchitekten „durch serielle Pflanzungen markante neue Landschaftselemente“ gestalteten. 398

Abb. 7/19 Freie Landschaft als Pflegefall für BMW

Diese geometrischen Landschaften sind durch eine rationelle Landwirtschaft nicht zu unterhalten. Offensichtlich
denkt man daran, Landwirte als Pflegekräfte in Lohnarbeit heranzuziehen. Wenn sich dieses Prinzip weiter durch-
setzt, können Bauern am Rande der Großstädte sich künftig entscheiden, ob sie als Erfüllungsgehilfen für die
Ökologie oder für die Gartenkunst tätig werden wollen.

Ich charakterisiere abschließend diese Art der Interferenzen mit einem Zitat von Stefan Tischer. Der sieht die
Entwicklung vor allem im Hinblick auf spanische und französische Projekte der 80ger und frühen 90ger Jahre, die
aber auch Nachahmung in Deutschland fanden:

In recht vielen Beispielen verlor sich die Idee der neu interpretierten und fortgeschriebenen Moderne
im Styling von Ausstattung und Einzelelementen, in der Dekonstruktion als lustiges Formenspiel, im
wilden Splittern von Wegfragmenten und im Sprenkeln von Baumgrüppchen. ... oft ist nur ein forma-
les Klischee gegen ein neues ausgetauscht worden.399

Ein anderer Einfluss der bildenden Kunst auf die Gartenkunst besteht darin, dass einzelne Kunstwerke als Vorbild
oder Anregung genommen werden, was manchmal einem Plagiat nahe kommt. Das gilt für eine Installation Paul
Isenraths auf der Dokumenta 6 von 1977:

Zwei ... lange Wasserrinnen, rechtwinklich zueinander gesetzt, reflektierten als helle Wasserlinien in
der grünen Karlsaue zwar narzistisch den Himmel, jedoch bedeutend subtiler machten sie dem auf
Gleichgewicht bedachten Betrachter die spezifische Geländeneigung deutlich, von der unbewusst die
räumliche Orientierung und Umweltwahrnehmung beeinflusst wird. Das Wasser wird zum Medium,
„zum Mittel der Erkenntnis wie auch der die Sensibilität des Sehens schärfenden Irritation.“ 400

Eine der Rinnen wurde 1990 als „Maßkraft“ in der Ausstellung „Bis jetzt“ im Georgengarten Hannover gezeigt, wo
sie die gleiche subtile Wirkung erzeugte. Hier die Beschreibung von Lothar Romain:

398  Garten und Landschaft 2/2004, 22


399  Tischer, (2000)
400  Kolberg, (2002), 6.

Die Welt als Garten  179


... eine Stahlrinne, die entgegen dem Verlauf des leicht hügeligen Geländes vollkommen waagerecht
sechzig Meter lang bis schließlich bis in den Boden hinein geführt wird, mit Wasser gefüllt – das
Gleichgewicht der Wasserwaage demonstrierend und doch von höchster Fragilität und Verletzlichkeit.
Jede leise Bewegung lässt den spiegelnden Wasserstreifen in Bewegung geraten, sich leicht Kräuseln:
lautlose Unruhe, die sich buchstäblich wieder auflöst. Hier wird eine Wassergerade vorgeführt als
Plastik, nicht etwa als land art im Park minimalisiert. 401

Abb. 7/20a Wasserrinne, von beiden Seiten

Ich zitiere dies hier so ausführlich, weil die seitdem in vielen Gärten auftauchenden Wasserrinnen mit der künst-
lerischen Intention des Originals nichts mehr gemein haben. Sie sind eine einfache formale Zutat, etwa um eine
Achse zu betonen

Abb.7/20b Wasserrinne in Oberhausen

Ebenso ‚befruchtend’ gewirkt hat ein Kunstobjekt von Pedro Cabrita Reis, das auf der Dokumenta IX, 1992 zu
sehen war: Ein schmaler Gang zwischen zwei Mauern. Auch dies ein beliebtes Motiv, das in Abwandlung oft er-
scheint, gerne in Cortenstahl.

Eine andere Anregung ist die Verwendung von überdimensionierten Versalien in Gärten, die in der modernen
Kunst als Elemente von Gemälden und Installationen eingesetzt werden, schon früh von Paul Klee und gegenwär-
tig zum Beispiel von Joseph Kosuth und Jenny Holzer.

401  Romain, (1990), 29f.

180  Die Welt als Garten


Besonders beeindruckt hat mich eine Installation von Ludger Gerdes, die ebenfalls im Georgengarten zu sehen
war. Aus zwei Meter hohen Großbuchstaben, bestehend aus Neonröhren, wurde das Wort „ICHS“ gebildet. Der
Hintergrund war eine Baumkulisse und im Vordergrund spiegelte sich die Installation im Wasser. Die Wirkung
dieses Kunstwerkes war extrem irritierend: Einmal „der absurd scheinende Plural des Wortes ‚ICH’ ... darauf hin-
weisend, daß die Vorstellung von einer festen Identität und der Existenz einzig richtiger Methoden längst hinfällig
geworden ist,“ 402 und ebenso der Ort der Aufstellung: Vor einer Baumkulisse, die dem Auge keinen Halt bietet und
hinter einem Gewässer, in dem sich die Installation spiegelt. Mir erschien diese Installation wie eine Botschaft aus
einer anderen Welt: bedrohlich durch die Größe und in der magischen Wirkung verstärkt durch die Spiegelung.

Abb. 7/21 Installation im Georgenpark

Auch diese Verwendung der Schrift als Element im Medium der bildenden Kunst verleitet zu dem Versuch, auf die-
se Weise Gärten die Weihe von Kunst zu geben. Bekannt ist der Schriftzug in einem Garten von Kienast, der „das
Geländer eines Aussichtspunktes am Rande des Waldes“ bildet. 403 Dazu wurden mit den Bauherren „immer wieder
neue Schriftzüge erwogen,“ 404 bis der bedeutungsschwere Satz „Auch ich war in Arkadien“ Zustimmung fand, na-
türlich bildungsbürgerlich in Latein: ET IN ARCADIA EGO.

Der Systemunterschied ist offensichtlich. Versalien als Elemente in Medium und Form werden im System Garten
zur beliebigen Dekoration. Bezeichnend ist, dass man diesem Artefakt keine autonome Wirkung zutraute, und des-
halb zur Motivation noch einen Gartenzaum brauchte.

Ein weiteres Beispiel einer Systeminterferenz sind Verkleinerungen und Vergrößerungen. In der Bildenden Kunst
sind sie Elemente des Schaffens von Claes Oldenburg, die inzwischen einen hohen Bekanntheitsgrad erlangt ha-
ben.

402  Hartung, (1995), 6.


403  Weilacher, (1999), 154.
404  Kienast, (2002), 151.

Die Welt als Garten  181


Abb. 7/22 Fahrrad als Größenvergleich

Er bildet Alltagsdinge ab, meistens in extremer Vergrößerung. Es geht ihm, wie er sagt, um Verfremdung, die eine
genaue Beobachtung ermöglicht. 405 Mir erscheint diese Erklärung jedoch etwas vordergründig. Ich sehe in seinen
Werken eine tiefenpsychologische Dimension, die an die Märchenwelt, an Riesen und Zwerge, an Däumling und
Gullivers Reisen erinnert. Oldenburg selbst sagt: „In unseren Träumen können wir uns alle Dinge in allen Größen
vorstellen.“ 406 - Bekannt sind auch die riesigen Figuren von Jonathan Borowsky in Frankfurt und Berlin.

Vergrößerungen und Verkleinerungen waren auch ein Motiv in den „Gärten der Potenzen“ in der BUGA München-
Riem. Sie waren aber nicht als solche erkennbar. Auch die schriftlichen Erklärungen waren nicht nachvollziehbar.
Für den unbefangenen Betrachter waren es einfach beliebige abstrakte Formen.

Abb. 7/23 „Blattunterseite“ Abb. 7/24 „Zellwand“

Die Interferenzen zur Landart haben sich schon im vorigen Artikel angezeigt. Die Übernahme ihrer Elemente ist
besonders verlockend. Das gilt zum Beispiel für die überall aus dem Boden wachsenden Erdpyramiden. Man könn-
te sagen, das sei das Gleiche, wie die in der Landschaftskunst üblichen Bodenmodellierungen. Es gibt aber einen
Unterschied: Die Bodenmodellierung dort dient zur Darstellung einer archetypischen Form der Raumbildung; gleich-
wohl besteht auch da die Gefahr der Bildung von Stereotypen. Die Verwendung der Erdpyramide als Versatzstück
ist von vornherein fragwürdig.

Einen großen Einfluss auf das Formempfinden der Gegenwart hat der Minimalismus ausgeübt. Sein Ursprung
ist schon im Reduktionismus der frühen Moderne zu sehen, als es um die Überwindung des sinnentleerten
Eklektizismus ging, um das Verdikt ‚Ornament ist Verbrechen’, in der Architektur zum Beispiel durch das Bauhaus.

405  Interview in art Das Kunstmagazin, Nr. 12, 1991, 28ff.


406  Ebd.

182  Die Welt als Garten


Aber es ging nicht nur um Reduktion. Gottfried Boehm, der einen sehr fundierten Überblick der modernen
Malerei gibt, verweist darauf,

daß die Bildideen, die zu Beginn dieses Jahrhunderts entstanden – so radikal ikonoklastisch und so
reduktionistisch sie auch waren – niemals einem Erkenntnisinteresse, einem bildnerischen Denken ab-
geschworen hatten. Malewitschs suprematistische Bilder, Kandinskys abstrakt-expressive Werke ...
Mondrians Kompositionen der dreißiger Jahre, auch noch Ad Reinhards letzten, die schwarzen Bilder,
die Werke Pollocks, Newmans, Rothkos u.v.a., ihnen allen geht es um eine souveräne Deutung der
Welt. Souverän deshalb, weil sie keineswegs darum bemüht ist, unser zivilisatorisches Alltagswissen
oder dasjenige der Wissenschaften zu bestätigen, sondern in der Malerei gründende, z. T. paradoxe
Auslegungen, vieldeutige Metaphern der Wirklichkeit zu geben. Bei allen genannten Malern lässt sich
dies bis ins Detail nachweisen, jedenfalls dann, wenn man die Bilder nicht auf ihre formalen Aspekte
reduziert. 407

Das gilt auch für die autonomen Kunstwerke, die man speziell dem Minimalismus zuordnet, wenn auch mit ihnen
die Formreduktion am weitesten getrieben wird. Sie

besitzen ein auf elementare stereometrische Gestaltung reduziertes Formenvokabular. Die einzelnen
Einheiten eines Werkes gliedern sich in einfache arithmetrischen Teilungen und Reihungen. Dabei
ist kein Element einem anderen über- oder untergeordnet. Die ... Kriterien der Komposition und
Hierarchisierung werden ... radikal aufgegeben. ... Inhaltlich verzichten [sie] auf jede Verweisfunktion,
... sie sind autonom und definieren sich ausschließlich durch ihr formales Verhältnis zum umgebenden
Raum.“ 408

Einer der Hauptvertreter des Minimals war Donald Judd, (wenn er sich auch stets gegen diese Vereinnahmung
gewehrt hat.) Eines seiner Hauptmotive war die Vermeidung jeglicher Illusion, die in der Malerei vorherrschte, zum
Beispiel die räumliche Darstellung im Tafelbild. So kam er zur Entwicklung seiner dreidimensionalen Installationen.
„Die Einfachheit der Formen [benutzte er,] um Farbe im Raum zu artikulieren, ohne daß dies durch komplexe
Formen abgelenkt würde.“ 409 Auf seine Raumkonzeption habe ich bereits im ersten Kapitel hingewiesen als Beispiel
einer ‚Form der Unterscheidung’ in der bildenden Kunst. „Judd gelingt es, im Sehakt Innen und Außen, Farbe und
Form so voneinander zu trennen, daß sie sich jeweils selbst behaupten, zugleich aber in einem übergeordneten
Ganzen erfahren werden.“ 410 Eine ‚Form der Unterscheidung’!

Carl Andre geht noch einen Schritt weiter in dem Verhältnis zwischen Objekt und Rezipient. „Er entkörpert die
Skulptur, ohne sie aufzugeben, bis zum schieren Bodenbelag. Dabei gibt er seiner Arbeit eine soziale ... Begründung:
Das standardisierte Material soll für alle käuflich, die Plastik für alle ausführbar sein.“ Das gilt auch für seine Objekte
aus sägerauen Holzbalken, die in viele identische Stücke zerteilt und in streng orthogonalen Formen ausgelegt
oder gestapelt sind. Andre hat Plastiken geschaffen „als ‚Ort’ und ‚Weg’, als Operationsfeld, das zur Begehung und
Erschließung herausfordert.“ 411

Wenn man einen Grundzug in der Entwicklung der modernen Kunst sucht, dann ist es das Ausloten der Darstellungs-
und Wahrnehmungsmöglichkeiten, oftmals bis zu extremen Positionen. Extrem war auch manche Formreduktion
der „Minimalisten, die ausschließlich auf die Definition von Raumverhältnissen ausgerichtet waren und sich jede

407  Boehm, (1987), 226f.


408  Elger, (2000), 15f.
409  Ebd.
410  Honisch, (1996), 157.
411  Schneckenburger, (1998), 528f.

Die Welt als Garten  183


darüber hinausgehende Reflexion verbaten.“ 412 Das ist aber keineswegs negativ zu sehen; denn gerade die Extreme
in der Kunst, van Gogh, Picasso, Malewitch und auch die Minimalisten haben zu neuen Sichtweisen und zu
Bewusstseinsänderungen geführt. Andererseits markieren aber Extreme oft das Ende einer Entwicklungsrichtung.
Nach Gottfried Boehm

[sagte] die tautologische Identitätsformel minimalistischer Objekte ... vor allem ein „Ist“ aus, das ohne
Subjekt und ohne Inhalt blieb. „What you see is what you see“, wie es Stella 1964 formulierte. Wichtig
zu sehen, daß in ihrer eigenen Konsequenz eine Kunst nach der radikalsten Reduktion im Grunde gar
nicht denkbar war. Minimal- und Konzept-Kunst definierten sich als ein Finalstadium, bereiteten auf
diesem Wege die Postmoderne indirekt mit vor. 413

Die Finalität deutete sich schon in einigen Werken an. So bei den Betonskulpturen Judds, die nicht mehr die subtilen
Raumverhältnisse verkörpern, sondern eher an nicht fertig gewordenen Munitionsbunker oder Garagen erinnern.
Sie leiten über zum System Architektur; (Judd wollte ursprünglich Architekt werden.) Völlig verlässt er das System
bildende Kunst mit seinen Möbelentwürfen, die zwar ‚minimalistisch’ geformt sind, die aber ihre Funktion nicht
erfüllen; auf den Stühlen möchte man keine fünf Minuten sitzen. Sie sind ein typisches Beispiel einer Interferenz
zweier Systeme, der bildenden Kunst und des Möbeldesigns.

Die Werke Carl Andres tendieren zur Gebrauchskunst, was die Kehrseite ihres sozialen Aspektes ist. Ihre Faszination
liegt aber in ihrer Einfachheit und selbstverständlichen Präsenz. Vor allem: sie sind autonom, ohne Funktion. Und
das gilt im gleichen Sinne für die meisten Werke des Minimalismus. Donald Judd und andere haben sich denn auch
wiederholt auf die Gestaltpsychologie berufen, um die einfachen Formen zu begründen.414

Das erklärt wohl auch den enormen Einfluss, den der Minimalismus auf die Formgebung in unserer Alltagswelt
hatte und hat, zum Beispiel auf die Mode. So las man in einem Schweizer Modemagazin:

Minimalismus ist das große Wort der 90ger Jahre, in den USA repräsentiert von Calvin Klein ... In
Deutschland ist es Jil Sander, die eine pure, auf sich selbst konzentrierte durchdachte Mode entwirft.
Luxuriöse Zweckmode, die im Leben funktioniert. Einfache Silhouetten, die sich auf eine Recherche des
Materials konzentriert. Kein Schmuck keine Verzierungen, alles ist konzentriert auf das Wesentliche. 415

Ich zitiere dies, um auf den Unterschied zwischen Kunst und Mode hinzuweisen. Ich sehe in der Kunst als eines
ihrer Wesenszüge die Erweiterung der Wahrnehmungsfähigkeit. Die Verwendung minimalistischer Formen in der
Mode ist dagegen Ausdruck eines vorübergehenden Lebensgefühls. Inzwischen sind schon andere, gegensätzliche
Wellen über die Modewelt hinweggegangen. Deshalb besteht keine Interferenz zwischen den Systemen Kunst und
Mode; Die Verwendung von Elementen fremder Medien und Formen ist der Mode systemimmanent. Das gilt auch
allgemein für das Design von Gebrauchsgegenständen.

Sicherlich ist auch die Gartenkunst, wie die Architektur, nicht frei von modischen Einflüssen. Das gilt besonders für
ephemere Werke, wie die Dekorationen in Ausstellungen wie die Chelsea Flower Show. Auffällig ist, dass immer
öfter von ‚Garten-Design’ gesprochen wird. Das Modische nimmt immer mehr überhand.

Aber eine Betrachtung, die sich mit der Gartenkunst befasst, muss klären, was zu deren Grundprinzipien gehört
oder was nur modische Einflüsse sind. Erkennbare Grundprinzipien können dann eventuell zur Definition eines

412  Romain, (1990), 20.


413  Boehm, (1987), 225.
414  Schneckenburger, (1998), 525.
415  Bolero, Das Schweizer Magazin, Nr. 1/2, 2001.

184  Die Welt als Garten


Stils führen. In der Vergangenheit, im Barock und im Landschaftsstil war das stilbestimmende Prinzip, wie gesagt,
das jeweilige Naturverhältnis der Menschen. Unter dieser Prämisse ist der Einfluss des Minimalismus auf die moder-
ne Gartenkunst zu untersuchen.

Als Protagonistin dieser Richtung hat sich Gabriele Kiefer in einem Essay mit diesen Fragen befasst.416 Auch sie
geht von Unterscheidungen aus, vom „dialektischen Prinzip.“ (Ihr Bezug auf die „coincidentia oppositorum“ ist
allerdings fragwürdig, denn Cusanus, von dem dieser Begriff stammt, sah die Gegensätze nur in der Unendlichkeit,
in Gott aufgelöst, und das ist reine Metaphysik.) Als Entgegensetzung sieht sie die „Reizüberflutung“ im öffentli-
chen Raum einerseits, gegen die „einschläfernde Einfallslosigkeit“ in den Produkten des „revolutionär-öko-sozio-
logischen Elans andererseits.“ - Zunächst rätselhaft ist ihr Begriff „Urbane Natur“, denn sie sagt nicht, wovon sie
ihn unterscheidet. Der Satz: „Eine Gestaltung, die sich der städtischen Natur widersetzt, bleibt eindimensional und
lebensfeindlich“ gibt keine Aufklärung. Klar ist nur die Aussage, dass ein Freiraum nur verstehbar sei, „wenn er
sich als charakteristische Einheit der Stadt begreift und dadurch selbst urbane Natur – in Wesen und Gestalt -
wird.“ (Hvh. A.S.) Die Unterscheidung ist also offensichtlich die zwischen städtischer und nicht-städtischer Natur.
Was das „Wesen“ dieser unterschiedenen Naturen sei, bleibt offen. Für mich erhebt sich die Frage, wie dieses
Denkmodell in der Realität der fraktal strukturierten Zwischenstadt funktionieren soll; wo hört die Stadt auf, wo
beginnt die nicht-städtische Natur? – Sehr fragwürdig ist ihre Auffassung von der Gartenkunst als „Gegenwelt,“
als eine „Welt, die im Kontrast zum Alltag steht.“ Das mag für die Vergangenheit gelten; vielleicht noch für die
Zeit der Volksparkbewegung. Als Modell für die Zukunft ist diese Auffassung nicht geeignet. Sie steht im absoluten
Gegensatz zu der Idee der „Cultura“ Thomas Sieverts´ (Siehe Anm. 197), beziehungsweise zu der Idee der „Welt als
Garten.“

Kiefer kommt schließlich – dialektisch gesehen – von der Reizüberflutung (These) und der „öko-soziologischen“
Langeweile (Antithese) zur Synthese, zur „Reduktion als Grundprinzip.“

Eine Gegenwelt zur heutigen, alltäglichen Reizüberflutung zu schaffen, kann nur auf Reduktion als
Grundprinzip basieren. ... Die Beschränkung auf wenige Elemente und die nicht-naturalistische
Funktion von Leere bietet dem Nutzer permutative Wahlfreiheit an interpretatorischen Möglichkeiten.
In der Stadt unterstützt ein minimalistischer Freiraum durch seine demonstrative Zurückhaltung und
Stille die persönliche Gedankenfreiheit. 417 (Hvh. A.S.)

Von der bildenden Kunst des Minimalismus übernimmt sie die „repetitiven Strukturen,“ die wir zum Beispiel von
Donald Judd kennen. Sie nennt das auch „serielle Landschaftsarchitektur ... die das Gestaltungsprinzip ihrer Teile
auf eine Formel bringt und somit größtmöglichen Zusammenhang schafft.“ Durch diese Formel wird jedoch „jede
Einzelheit der Komposition fest[gelegt],“ so dass „während des Entwurfsablaufs, der sozusagen ‚computerartig’ vor-
programmiert ist, kein[ ] willkürliche[r] Einfluß mehr“ genommen werden kann. Allerdings sind diese „Prinzipien
der Gestaltordnung ... für den nicht Eingeweihten aufgrund ihrer Vielschichtigkeit nicht erkennbar.“

Unter dem Gesichtspunkt ‚Medium und Form’ zeigt sich ganz klar, dass diese Gestaltungsrichtung nur darin be-
steht, die Elemente des Minimalismus zu übernehmen. Bei den Künstlern des Minimalismus, wie Judd, Sol Lewitt
und anderen war die Formreduktion die Voraussetzung für die eigentlichen künstlerischen Intentionen, wie die
abstrakte Darstellung der Raumverhältnisse und Farbwirkung. Dem System Gartenkunst wird diese Abstraktion
nicht gerecht.

416  Kiefer, (1997), 48f.


417  Ebd.

Die Welt als Garten  185


Die Stadträume werden in erster Linie durch Architektur bestimmt. Der Gedanke, dass reine Leere „Gedankenfreiheit“
verspricht, ist nicht nachvollziehbar. Die Erfahrung zeigt, dass solche Räume eher gemieden werden, wenn es sich
nicht um Verkehrsflächen handelt, wie zum Beispiel Bahnhofsvorplätze.

Das gilt auch allgemein für minimalistische Grünanlagen. Leider ist bisher noch niemand auf den Gedanken gekom-
men, die Frequentierung von Anlagen im Hinblick auf ihre Gestaltung zu untersuchen. Ich habe zum Beispiel das
Gelände der Gartenschau in Wismar, dessen Gestaltungsform man als minimalistisch bezeichnen kann, während
der Ausstellung und in den Jahren danach mehrfach besucht und musste feststellen, dass die Besucherzahl bei vor-
bildlichem Pflegezustand der Anlagen bei bestem Wetter immer erstaunlich gering war. Ich konnte das immer leicht
feststellen, weil das Gelände vom erhöhten Eingangsbereich aus mit einem Blick überschaubar ist. - Mir ist klar, dass
die Frequentierung einer Anlage von mehreren Faktoren abhängt, zum Beispiel von der Nähe zu dicht besiedelten
Gebieten. Eine Untersuchung dieser Art müsste auch dies berücksichtigen.

Abb. 7/25 Buga Wismar, „minimale“ Besucherfrequenz an einem sonnigen Nachmittag

Eine problematische Interferenz besteht auch darin, sich eins zu eins dem Formenvokabular der Architektur zu un-
terwerfen. Dabei geht jegliche Spannung verloren, von der zum Beispiel die Gartenkunst des Barocks lebte.

Abb. 7/26 Bundesministerium für Arbeit, Berlin

Der Tenor dieser gegenwärtig vorherrschenden Richtung in der Gartenkunst ist die Distinktion von allem was als
‚Naturalismus’ angesehen wird. Das gilt nicht nur für minimalistische Lösungen, sondern für alle beschriebenen
Interferenzen zwischen Gartenkunst und bildender Kunst. Dass diese Richtung nicht zukunftsfähig ist, wird inzwi-
schen zunehmend kritisch wahrgenommen.

Ich gebe einige entsprechende Meinungen wieder. So urteilt Thies Schröder:

Wo ... der Naturverweis negiert und allein die Freiheit der Kunst betont wird, entledigt sich die
Landschaftsarchitektur oftmals ihrer ursprünglichen Bedeutung, nämlich der Hinterfragung des

186  Die Welt als Garten


Mensch-Natur-Verhältnisses. Es bleibt ein eklektizistisches, modisches und meist wenig kraft-
volles Sammelsurium von Assoziationen, statt „Landschaft“ in ihrer Mehrdeutigkeit entsteht
Förmchenspielerei.418

Stefan Tischer untersucht die Rolle des Nutzers und meint:

Unter dem Vorwand, nichts vorgeben, nichts dekorieren, nichts ausstatten zu wollen, wird ausschließ-
lich derjenige als künftiger Nutzer gesehen, der im minimalistischen Raum agiert, ihn belebt und so
im ästhetischen Sinn zum Gestaltungselement wird. Tragisch ist dies deshalb, weil einerseits völlig die
eigenen Wurzeln verkannt werden, die ... traditionell stark im Dekorativen liegen; andererseits wird
bei allem Glauben an Virtualität und eigene Motivationskraft die Fähigkeit potenzieller Akteure völlig
verkannt, die zunehmend Stimulanzien für die Aktion brauchen. Diese können gerade im öffentlichen
Raum nicht ausschließlich im bebauten Umfeld liegen, in der bloßen Hoffnung, dieses strahle genü-
gend auf den Freiraum aus. 419

Ich unterstelle, dass Tischer mit „Dekorativen“ das Gleiche meint, was ich im 3. Kapitel, ‚Funktion und Gestaltung’,
als Ornament zusammengefasst habe. – Ganz auf meiner Linie der Systemreferenz liegt Sven-Ingvar Anderson,
wenn er sagt:

[Es gibt] immer eine Beziehung zwischen den unterschiedlichen Künsten. Gartenkunst zählt ... zu den
bildenden Künsten. Sie sollte aber nicht versuchen, andere Künste zu imitieren. Genau das geschieht
zur Zeit: Man versucht um jeden Preis, künstlerisch zu arbeiten, versucht sich an Installationen, am
Minimalismus oder ähnlichem. Ich halte das für ausgesprochen falsch. ... Wenn Gartenkünstler ihren
Zugang zur Kunst über eine andere Kunst finden, dann geht ihnen etwas verloren.420

Und Umberto Eco spricht von einer

Dialektik zwischen Erfindung und Manier, die in der Geschichte der Kunst schon immer auftrat, wenn
ein Künstler eine neue formale Möglichkeit, die eine tiefgehende Veränderung der Fühlweise und
des Weltbildes implizierte, „erfand“ und sogleich ein Heer von Nachahmern diese Form, ohne die
Implikationen zu erfassen, als leere Form verwendete. 421

Eine „tiefgründige Beschreibung und damit eine kritische Auseinandersetzung mit Landschaft“ durch „poetisches
Zeichnen“ übernehme ich von Catharine Dee. Sie gründet ihre Kritik auf eine wenig geläufige Betrachtungsweise,
die innere Beziehung zwischen Wahrnehmung, Zeichnen und Gestalten. Dass Zeichentechnik Gestaltungsformen
beeinflusst, ist evident. Die alte Technik mit Reißbrett, Reißschiene und Winkel förderte offensichtlich eine ortho-
gonale Gestaltung, wenn auch meist unbewusst. Etwas mehr Freiheit brachte die Zeichenmaschine, die den „120°
Stil“ begünstigte. Und die Bedeutung des Computers für den Entwurf haben wir oben bei Gabriele Kiefer gesehen.
– Catharine Dee entwickelt eine subtile Theorie des Zeichnens, die jeder Gartenkünstler verinnerlichen sollte; ich
kann sie nur in ganz groben Zügen wiedergeben.

Es geht um die „poetische Zeichnung“, die als „dichte“ oder „dünne Beschreibung“ entstehen kann. „Die dünne
Beschreibung stellt wenig mehr als die oberflächliche Erscheinung dar und ignoriert dabei die Bedeutungsebene.
Dünne Landschaftsbeschreibungen entstehen auf unkritische Art (wenn zum Beispiel einfach graphische Stilmittel

418  Schröder, (1997), 37.


419  Tischer, (2000), 71f.
420  Anderson, (1999), 162.
421  Eco, (1998), 267.

Die Welt als Garten  187


kopiert werden).“ - Ein weiterer Begriff ist das „wohnende Zeichnen“, eine „zeichnerische Interaktion über einen
längeren Zeitraum.“ 422 Darin „drückt sich Prozesshaftigkeit, Einfühlung und körperlicher Kontakt mit dem Ort
aus.“ – Die „Öko-Zeichnung“ ist die „Darstellung der Landschaft als etwas Vernetztes, in dem es wimmelt, flie-
ßend im Lebendigen. Wie die Arbeiten von Jackson Pollock, so konzentrieren sich auch diese Zeichnungen auf die
Vernetzungen, auf das Verwobene, auf die Struktur als Ganzes, statt auf einzelne isolierte Landschaftsformen.“ –
„Das körperliche Zeichnen“ ist eine Art, „die sich den Sinnen, ... dem Versteckten und dem Unmittelbaren widmet.“
...

Diese Zeichnungen verkörpern die Gleichzeitigkeit und Synästhesie der Landschaftserfahrung. Sie
sind phänomenologisch. Das körperliche Zeichnen sträubt sich gegen die Verwendung distanzierter,
panoptischer , orts- ungebundener, klinischer und minimalistischer Darstellungen, die schon seit lan-
gem unsere Visualisierung von Landschaft ... bestimmen. Diese Darstellungen haben schon immer,
das Körperliche und das menschliche Wohlbefinden, das Unsichtbare in der Landschaft, ignoriert. Die
Eleganz einer minimalistischen Darstellung kann zur Tortur des Körpers werden und uns dazu verlei-
ten, Orte zu gestalten, die nicht mehr dem Wohlbefinden dienen. 423

Das soll natürlich nicht heißen, dass Gartenkünstler nur mit dem 6B-Bleistift entwerfen dürfen; es genügt, wenn
sie sich des Einflusses des jeweiligen Darstellungsmittels bewusst sind und die Plangraphik nicht für das eigentliche
Artefakt halten.

An den Schluss dieser Betrachtung stelle ich ein Zitat Gottfried Boehms, das leider auch auf viele der beschriebenen
Interferenzen zutrifft:

Die mögliche Verwechselbarkeit zwischen formulierten und intendierten Gefühlen lässt einen bekann-
ten und selten gebetenen Begleiter der Moderne am Horizont auftauchen: den Kitsch ... die natürliche
Nachhut der Avantgarden. Er triumphiert, wo das Gemeinte und der Effekt sich gefühlvoll über mögli-
ches Gelingen erheben. 424

Ein Mittel gegen diese Interferenzen in der Gartenkunst wäre das Eindringen in das Wesen der modernen Kunst.
Das müsste schon im Lehrplan der Universität stärker vertreten sein. Wer sich nur an der Oberfläche dieses
Lebensbereiches bewegt, läuft als Gartenkünstler immer Gefahr, oberflächliche Formen als Kunst anzusehen.

Nach diesen vielfältigen Analysen der Gartenkunst, ihrer geschichtlichen Entwicklung, ihres Verhältnisses zur
Gesellschaft, zu den anderen Künsten, ihrer Funktion und den Bedingungen ihrer Wahrnehmung usw. will ich
jetzt Möglichkeiten einer künftigen Entwicklung nachgehen: der Welt als Garten.

422  Das erinnert an Heideggers Begriff des „Wohnens“, auf den ich noch zu sprechen komme.
423  Dee, (2004), 58ff.
424  Boehm, (1987), 236f.

188  Die Welt als Garten


Kapitel 8 Die Welt als Garten

8.1 Eine Begriffsbestimmung


Anlässlich der Expo 2000, die unter dem Motto „Mensch – Natur – Technik“ stand, kreierte der Bund deutscher
Landschaftsarchitekten ein Leitthema: „Die Welt als Garten“, das auf eine Welt verweisen sollte, „in der der Mensch
schonend und nachhaltig mit der Natur umgeht.“

Mit dem Begriff ‚Garten’ ist nicht nur das Stück Erde am Haus gemeint. Auch die Welt unterliegt wie
ein Garten den Naturkreisläufen. ... Im Garten kann der Mensch Natur erleben, Naturerkenntnisse
und -verständnis gewinnen, Natur gestalten. Ein Garten schafft Lebensräume für Tiere und Pflanzen,
gleichzeitig dient er den wirtschaftlichen Interessen der Menschen. Der Garten liefert damit ein Bild
für den Umgang mit Natur und Landschaft, er steht für die Harmonie von Umwelt und Kultur, für den
Verbund von Mensch und Natur. 425

Auf den ersten Blick kann der Eindruck entstehen, der Begriff „Garten“ stände hier nur als Metapher für ein ökolo-
gisches Bekenntnis. Es steckt aber mehr dahinter, was die Worte „Natur gestalten“ und „Harmonie von Umwelt und
Kultur“ ausdrücken. Es geht um ein Denken, in dem Ökologie und Gartenkunst keine Gegensätze sind, sondern
sich gegenseitig bedingen. Einfach ausgedrückt heißt das, dass wir die ganze Welt hegen und pflegen müssen, ganz
gleich, ob es sich um einen Rübenacker, ein Naturschutzgebiet, um einen Stadtpark oder eine Blumenwiese, um die
Regenwälder oder die afrikanischen Savannen handelt.

Und nach dem Leitsatz, „dass wir keine Bezeichnung vornehmen können, ohne eine Unterscheidung zu treffen,“
unterscheide ich den „Garten“ von der „Wüste“; dabei denke ich weniger an die Sahara und die Wüste Gobi, son-
dern an die Verwüstungen, die der Mensch seit der Antike bis heute zu verantworten hat.

Ich betone nochmals, dass diese säkulare Aufgabe nicht allein wissenschaftlich zu lösen ist, sondern auch künstle-
risch unter einem umfassenden Begriff der Naturschönheit. So wie die Gartenkunst immer Ausdruck des jeweiligen
Naturverhältnisses war, muss auch heute unsere Auffassung von Natur – bestimmt durch das Zusammenwirken von
physis und techne und Tun und Lassen – Grundlage der Gartenkunst sein.

Auf die Profession hat sich diese Idee bisher aber kaum ausgewirkt. Sie hat die Spaltung in Ökologie und Gartenkunst
noch nicht überwunden, wie ich in meinen bisherigen Ausführungen nachgewiesen habe. Um die Ursache hierfür
zu ergründen, muss deshalb die Entwicklung und Bedeutung des Begriffes „Garten“ erhellt werden. Ist er überhaupt
mit der „Welt“ in einen Zusammenhang zu bringen?

Ich gehe, wie schon mehrfach in meinen Erörterungen, auf den fiktiven Begriff des „Urgartens“ zurück: Seine
Entstehung beruhte auf der Entdeckung, dass Kräuter sich besser entwickelten, wenn man sie in gelockerten Boden
pflanzte oder säte. Um das zu praktizieren, mussten die Menschen sesshaft werden und sich feste Unterkünfte schaf-
fen. Um die kultivierten Pflanzen vor Wildverbiss zu schützen, mussten die Beete eingefriedet werden. So entstand
der Urgarten. Eine wichtige Erfindung hierfür war der Zaun, der aus Weiden-„gerten“ geflochten wurde. Diese
Bauweise diente aber nicht nur zur Einfriedigung des Gartens, sondern aus den „gewundenen“ Weiden wurden
auch die „Wände“ der Häuser hergestellt. Diese etymologischen Zusammenhänge sind seit langem Gegenstand der
Gartentheorie.

425  Jahresheft des BDLA 1993 (?) 62f.

Die Welt als Garten  189


Die Technik der geflochtenen Wände ist so faszinierend, dass sie von Ökofreaks noch heute ausgeübt wird. Später
wurden sie dann durch Mauern oder Hecken ersetzt. Die Einfriedigung wird nach wie vor mit dem Wesen des
Gartens in Verbindung gebracht. - In Deutschland ist dies übrigens besonders ausgeprägt: Wenn ein Einfamilienhaus
fertig gestellt ist, wird als erstes ein Gartenzaun errichtet, aber nicht nur als Schutz gegen wilde Tiere, sondern als
Manifestierung des Eigentums. In Amerika, wo die Rinderherden sich in der Prärie frei bewegen konnten, sind
Gartenzäune weniger üblich.

Das Symbol für den eingefriedeten Garten ist der Hortus conclusus, in dem der ursprüngliche Zweck des Gartens,
Nahrungspflanzen zu schützen, zurück tritt. Er wird in Dichtung und künstlerischer Darstellung zum Raum der
Kontemplation und damit zur „Gegenwelt“, mit der allerlei Phantasien und „Wunschbilder“ verbunden sind.
Übereinstimmung mit dem Urgarten besteht nur darin, dass auch in ihm die „wilde Natur“ ausgeschlossen ist.

Mit der Ausbreitung des Ackerbaus veränderte sich das Bild. Auf gleicher Fläche konnten immer mehr Menschen
ernährt werden. Durch verbesserte Jagdmethoden wurde der Wildbestand dezimiert. Die Äcker brauchten nicht
mehr eingefriedet zu werden. Die Kulturtechnik: Lockerung des Bodens, physis und techne, war die gleiche. Es ent-
stand die Gefildelandschaft. In dieser entwickelte sich dann die Idee des Landschaftsgartens, dessen Wesensmerkmal
der zaunlose Übergang zur freien Landschaft ist. Dies war der erste Schritt zu der ‚Welt als Garten’.

Dieser Rückblick auf den Urgarten zeigt, dass die Einfriedigung das Sekundäre war. Primär geht es um die Kultivierung
der Nutzpflanzen; und so können wir weiter vom Garten sprechen, auch wenn die Zäune fehlen. Der
Hortus conklusus ist ein Relikt, das nur noch in der Konvention von Literatur und Kunst am Leben erhalten wird.
Er ist aber die Ursache für die Spaltung der Profession in Kunst und Ökologie: Gartenkunst, wie sie von der heutigen
‚Avantgarde’ verstanden wird, schließt sich ab gegen die ‚Welt’ der Ökologie. Symbolisch gesprochen, müssen wir
also den ‚Gartenzaun’ in den Köpfen beseitigen, um zu einer ‚Welt als Garten’ zu kommen. Um es auf den Punkt zu
bringen: Die Ansicht, „der Garten [sei] das komprimierte Wunschbild der Welt, ... die Sehnsucht nach dem Paradies,
... der letzte Luxus unserer Tage“ 426 ist irreführend. Ich setze dagegen: Der Garten der Welt gehört wie die Wohnung
zu den Grundbedürfnissen der Menschen.

Die Idee, die Welt als Garten zu sehen, wird trotzdem immer in der Gefahr sein, missverstanden zu werden. Es ist
deshalb zu überlegen, welche praktischen und geistigen Voraussetzungen dieser Idee zugrunde zu legen sind. Man
muss sich von verschiedenen Seiten an diese Frage herantasten, um schließlich dieses Symbol mit Inhalt zu füllen.
Wichtige Methoden meiner bisherigen Überlegungen waren die Form der Unterscheidung nach Spencer-Brown
und Luhmanns Systemtheorie. Deshalb erhebt sich die Frage:

8.2 Ist die ‚Welt als Garten’ ein System?


Zunächst ist zu fragen, welche Unterscheidung gibt es zu diesem Begriff? Dazu brauche ich eine Definition: Die
‚Welt als Garten’ ist das Ergebnis der menschlichen Einwirkung (techne) auf die Natur (physis) zur Erhaltung der
Lebensgrundlage. Als Seiten der Unterscheidung sehe ich die ‚Welt der Wirtschaft’, die die Verteilung der Ressourcen
steuert und die ‚Welt der Politik’, die das Zusammenleben der Menschen regelt. Somit ist leicht erkennbar, dass die
‚Welt als Garten’ die wichtigste Überlebensgrundlage ist, denn ohne die Produktion von Nahrungsmitteln hat die
Wirtschaft nichts zu verteilen und ist ein friedliches Zusammenleben nicht denkbar.

Schwieriger ist die Frage, ob und wie die Welt als Garten als ein System im Sinne Luhmanns zu sehen ist. Dazu
wäre ein Code zu finden, unter dem alle Kommunikation über den Begriff zusammen zu fassen ist. Nach dem bis-
her Gesagten könnte die „Sicherung der Lebensgrundlagen“ ein Code sein. Festzustellen ist aber, dass die Sorge um
die Erhaltung der Lebensgrundlagen bisher zu einer bedenkenlosen Ausbeutung der Naturressourcen geführt hat.

426  Weilacher, (2005), 14.

190  Die Welt als Garten


Dies wird von vielen als Anthropozentrismus gebrandmarkt. Inzwischen setzt sich aber die Auffassung durch, dass
der anstatt dessen geforderte Physiozentrismus letztlich auch nur eine besondere Form des Anthropozentrismus ist.
Wir wollen eben die Welt nicht ohne Menschen denken. Deshalb gehört zu dem Code als wichtiges Kriterium die
Nachhaltigkeit. Ich wähle deshalb den zweiwertigen Code:

Neben diesem Code wären sicher auch viele Programme zu benennen, nach denen in diesem System operiert wer-
den kann und somit wären zwei Kriterien, die zu einer Systembildung nach Luhmann gehören, benannt. Aber die
wichtigsten Kriterien fehlen: die Selbstreferentialität, die Autopoiese und die Geschlossenheit. Die Welt als Garten
erzeugt sich nicht selbst, und sie muss offen sein für alle Belange der Gesellschaft. So können wir sie also nur bedingt
als ein System betrachten; besser ist es wohl, anstatt dessen von einer Idee zu sprechen.

Die Vielzahl der ‚Programme’ weist darauf hin, dass es sich dabei um ein sehr komplexes Thema handelt. Schon
die Frage, was zu den Lebensgrundlagen gehört, ist kompliziert. Es geht nicht nur um die Ernährung, was
schon schwierig genug zu beantworten ist, es geht zum Beispiel auch um seelische Befindlichkeiten, soweit die-
se durch das Verhältnis zur Natur beeinflusst sind. Im Grunde sind alle bisher von mir beschriebenen Probleme,
Gesichtspunkte und Unterscheidungen in irgendeiner Weise programmatisch unter diesem Code einzuordnen. Zur
Vergegenwärtigung zähle ich einige Punkte auf:

• Gartenkunst als Symbol unseres Naturverhältnisses

• Gartendenkmalschutz

• Ökologie und Planungswissenschaft

• Artenschutz und Konservierung alter Kulturlandschaft

• Konventionelle und industrielle Landwirtschaft

• Energiegewinnung aus organischen Stoffen

• Nachwachsende Rohstoffe

Es ist deutlich, dass es sich bei diesen Themen nach bisherigem Verständnis um mehr oder weniger geschlossene,
selbstreferentielle Systeme handelt. Gartenkunst, Ökologie und Naturschutz operieren, wie ich gezeigt habe, jeweils
unter einem eigenen Code. Ihre Inkommensurabilität ist mehrfach beschrieben worden, zum Beispiel von Ulrich
Eisel (1997). In diesen Systemen herrscht ein eigenartiger Zwang, der die Kommunikation untereinander - die
strukturelle Kopplung - erschwert oder verhindert. Es ist aber evident, dass diese Systeme zu der übergeordne-
ten Idee ‚Welt als Garten’ gehören. Die Voraussetzung für ihre Einordnung ist deshalb, dass ihre Codes aufgelöst
werden. Aus den geschlossenen Systemen werden dann wichtige Grundlagen der ‚Welt als Garten’. Das hört sich
zwar einfach an, setzt aber tatsächlich ein grundlegendes Umdenken voraus. Wenn ich zum Beispiel im System
Naturschutz, also in der Kommunikation über Natur, den zweiwertigen Code wertvoll / wertlos auflöse indem

Die Welt als Garten  191


ich nachweise, dass es keine ‚wertlose’ Natur gibt, dann bricht das System Naturschutz zusammen und muss als
Aufgabe in der ‚Welt als Garten’ neu konzipiert werden. Dazu komme ich noch.

Im Prinzip haben sich schon Luhmann und Habermas mit diesem Problem im weitesten Sinne auseinandergesetzt;
Habermas in seiner Diskursethik mit dem Ideal einer ‚herrschaftsfreien Kommunikation’. Ich bin aber auf einen
Denker aufmerksam geworden, der eine für mich sehr einleuchtende Theorie und Denkmethode entwickelt, der
sich vor allem gegen das Überhandnehmen des wissenschaftlichen Denkens wendet und für eine Annäherung der
Wissenschaften an die Künste eintritt. Es ist der Philosoph Paul Feyerabend.

Der spricht nicht nur eine für Philosophen ungewöhnliche Sprache, sondern er liebt es auch, zu provozieren. So ist
seine Äußerung zu sehen:

Der Gedanke einer festgelegten Methode oder einer feststehenden Theorie der Vernünftigkeit [beruht]
auf einer allzu naiven Anschauung vom Menschen und seinen sozialen Verhältnissen. Wer sich dem
reichen, von der Geschichte gelieferten Material zuwendet und es nicht darauf abgesehen hat, es zu
verdünnen, um seine ... Sucht nach geistiger Sicherheit in Form von Klarheit, Präzision, „Objektivität“,
„Wahrheit“ [zu befriedigen], der wird einsehen, daß es nur einen Grundsatz gibt, der sich unter allen
Umständen und in allen Stadien der menschlichen Entwicklung vertreten lässt. Es ist der Grundsatz:
Anything goes.427

Wegen dieses Grundsatzes ist Feyerabend oft kritisiert worden, von Leuten, die aber die darin enthaltene Ironie
nicht erkannten. „Anything goes“ meint „Alles“ und deshalb „Nichts“; es ist eine Leerformel.428 Feyerabend will da-
mit ausdrücken, dass es eben keinen Grundsatz gibt, der sich unter allen Umständen vertreten lässt. Er vertritt keine
Beliebigkeit, sondern sein Grundsatz ist die Pluralität:

Eine einheitliche Meinung mag das Richtige sein für eine Kirche, für die eingeschüchterten oder gie-
rigen Opfer eines (alten oder neuen) Mythos ... Für die objektive Erkenntnis brauchen wir viele ver-
schiedene Ideen. Und eine Methode, die die Vielfalt fördert, ist auch als einzige mit einer humanisti-
schen Auffassung vereinbar.429

Feyerabend gründet seine Theorie auf umfangreiche wissenschaftshistorische Untersuchungen und setzt sich auch
kritisch mit der gegenwärtigen Wissenschaftstheorie auseinander. Ihm ist deshalb auch der Vorwurf gemacht wor-
den, ein wissenschaftlicher Anarchist zu sein. Das ist aber nur die Folge seiner ungewöhnlichen Denkmethode,
deren Problematik ihm durchaus bewusst ist:

Grundlegender theoretischer Wandel setzt ... neue Weltauffassungen und neue Sprachen voraus, um
sie auszudrücken. Nun ist der Aufbau einer neuen Weltauffassung und einer entsprechenden neu-
en Sprache etwas recht Langwieriges in der Wissenschaft und in der Metawissenschaft. Die Begriffe
der neuen Sprache klären sich erst, wenn der Vorgang schon ziemlich weit fortgeschritten ist, der-
art, daß jedes einzelne Wort Knotenpunkt zahlreicher Verbindungen zu anderen Wörtern, Sätzen,
Gedankensplittern, Gesten ist, die zunächst widersinnig wirken, aber sich als völlig vernünftig her-
ausstellen, wenn die Verbindungen begriffen werden. ... Man [muß] lernen, mit unerklärten Begriffen zu
argumentieren und Sätze zu verwenden, für die noch keine klaren Gebrauchsregeln vorhanden sind.430

427  Feyerabend, (1986), 31f.


428  Paul Hoyningen-Huene in: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 216, 2000.
429  Feyerabend, (1986), 54.
430  Ebd., 335.

192  Die Welt als Garten


Die Welt als ‚Garten’ zu sehen, ist sicher ein „grundlegender theoretischer Wandel.“ Feyerabend macht klar, dass es
hierfür kein Rezept gibt, sondern dass nur eine langwierige Entwicklung zu diesem Ziel führen kann. Ich sehe übri-
gens in der Auffassung, dass jedes Wort ein „Knotenpunkt“ ist, auch eine Übereinstimmung mit Derrida, mit dessen
„Bündel mit dem Charakter eines Einflechtens, eines Webens, eines Überkreuzens“. (siehe Anm. 75)

Wenn Feyerabend die „Sucht nach Klarheit und Präzision“ kritisiert, erinnert mich das an das oben beschriebene
System der „Wettbewerbs-Gartenkunst“. So ist es auch folgerichtig, dass Feyerabend Wissenschaften und Kunst
unter den gleichen erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten beurteilt:

Weder die Künste noch die Wissenschaften kennen stabile Randbedingungen, die die Tätigkeit ihrer
Adepten ein für alle mal einschränken und mit einer Autorität versehen, die hinausgeht über die
Autorität bloßer Meinungen; weder die Wissenschaften noch die Künste können uns auf eine wis-
senschaftlich oder künstlerisch einwandfreie Weise sagen, wohin eine bestimmte Idee oder Methode
führen wird. Fachleute machen natürlich fortwährend solche Voraussagungen, und zwar mit gro-
ßer Bestimmtheit, aber die Geschichte ihrer Fächer zeigt, daß sie sich nicht dabei an die tatsächliche
Prinzipien ihrer Fächer halten, sondern sie verwandeln diese Prinzipien in politische Schlagworte oder
Dogmen.431

Nach diesen Überlegungen und Erkenntnissen komme ich zu dem Schluss, dass ich die ‚Welt als Garten’ sinnvoller
weise nicht als System sehen kann. Jedoch bleiben die Unterscheidungen, die ich behandelt habe – ‚physis / techne’
und ‚Funktion / Form’ usw. – die Grundlage aller Operationen. Da diese Unterscheidungen skaliert sind, muss im-
mer der jeweilig optimale Punkt auf der Skala bestimmt werden. Diese Frage ist das Kernproblem der Gartenkunst.
Bei Heidegger wird die Einheit (die Form der Unterscheidung) „von Welt und Erde erstritten“.

Einen ähnlichen Ansatz finde ich bei Jean- Francois Lyotard.432 Seine Ideen haben große Ähnlichkeit mit
Luhmanns Systemtheorie, nur dass er sie nicht von der Soziologie sondern von der Linguistik her entwickelt. An
die Stelle von ‚System und Code’ treten bei ihm ‚Diskursart und Satzregelsystem’. Auch hierbei gilt, dass zu einer
Diskursart ein bestimmtes Satzregelsystem gehört. Ändert sich dieses, dann ändert sich auch die Diskursart. Das
Ganze sieht Lyotard aber etwas ‚lockerer’ als Luhmann. Anstelle des starren Prinzips der strukturellen Kopplung
kann auch nach Lyotard ein Standpunkt zwischen den Diskursarten und den Satzregelsystemen erstritten werden.
Das ist Lyotards Widerstreit.

Die Form der Unterscheidung: physis / techne kann ich also auch als zu zwei Diskursarten gehörig betrachten. Sie
gehören in unserer Lebenswelt untrennbar zusammen und bleiben dennoch strikt unterschieden. Wie ich oben
dargestellt habe, kann physis überwiegen und techne der blinde Fleck sein. Das ist der Diskurs über ‚Naturschutz’,
und umgekehrt, wenn techne überwiegt, der über ‚Eingriff’. Was nun im konkreten Fall überwiegen soll, ist zu
„erstreiten,“ ist ein „Widerstreit.“ Gleiches gilt für alle Unterscheidungen.

Bei diesem Streit geht es auch um „Fakten“, die Gegenstand wissenschaftlicher oder politischer Erwägungen sein
können, aber im tieferen Sinne geht es um „Nichtidentisches“. Und so sehe ich als wichtigstes Lösungsprinzip Schillers
„Spieltrieb“, das heißt die künstlerische Durchdringung aller Lebensfragen. Das wäre der Sinn der Gartenkunst in
der Welt als Garten.

Das unumgehbare Leitmotiv für die Welt als Garten ist: Die nachhaltige Sicherung der Lebensgrundlagen der
Menschheit. Die Grundlagen für dieses Leitmotiv sind wissenschaftliche ökologische Erkenntnisse aber auch ethi-
sche und künstlerische Prinzipien. Dem müssen sich alle Systeme der Welt unterwerfen.

431  Feierabend, (1984), 10.


432  Lyotard, (1989).

Die Welt als Garten  193


8.3 Heidegger und das Wohnen
Eine Frage ist, wie die ‚Welt als Garten’ als Lebenswelt zu denken ist. Eine Annäherung finde ich wieder bei
Heidegger in seinen Gedanken zum ‚Wohnen’, die er in seinem Vortrag „Bauen, Denken, Wohnen“ entwickelt
hat. 433

Heidegger nähert sich diesem Thema, wie so oft, über die Sprache. Danach ist das Wort ‚bauen’ von dem althoch-
deutschen ‚buan’ abgeleitet, welches ‚wohnen’ bedeutet. „Die eigentliche Bedeutung des Zeitwortes bauen, nämlich
wohnen, ist uns verloren gegangen. Eine verdeckte Spur hat sich noch im Wort ‚Nachbar’ erhalten. Der Nachbar
ist der ‚Nachgebur’, ... derjenige, der in der Nähe wohnt.“ Im niederdeutschen ‚Nahber’ wird das noch deutlicher.
„Die Zeitwörter buri, büren, beuren, beuron, bedeuten alle das Wohnen, die Wohnstätte.“ (Zum Beispiel in den
Ortsnamen ‚Wesselburen’ oder ‚Ibbenbüren’). Doch Heidegger geht dem Bedeutungsursprung noch weiter nach:

Wo das Wort bauen noch ursprünglich spricht, sagt es zugleich, wie weit das Wesen des Wohnens
reicht. Bauen, buan, bhu, beo ist nämlich unser Wort „bin“ in den Wendungen: ich bin, du bist, die
Imperativform bis, sei. Was heißt dann: ich bin? Das alte Wort bauen, zu dem das „bin“ gehört, antwor-
tet: „ich bin“, „du bist“ besagt: ich wohne, du wohnst. Die Art, wie du bist und ich bin, die Weise, nach
der wir Menschen auf der Erde sind, ist das Buan, das Wohnen. Mensch sein heißt: als Sterblicher auf
der Erde sein, heißt: wohnen. Das alte Wort bauen, das sagt, der Mensch sei, insofern er wohne, dieses
Wort bauen bedeutet nun aber zugleich: hegen und pflegen, nämlich den Acker bauen, Reben bauen.
Solches Bauen hütet nur, nämlich das Wachstum, das von sich aus seine Früchte zeitigt.

Heidegger unterscheidet Bauen als Herstellen und Bauen als Pflegen. Beide sind „in das eigentliche Bauen, das
Wohnen, einbehalten.“

Das Bauen als Wohnen, d. h. auf der Erde sein, bleibt nun aber für die alltägliche Erfahrung des
Menschen das im vorhinein, wie die Sprache so schön sagt, „Gewohnte“ Darum tritt es hinter den
mannigfaltigen Weisen, in denen sich das Wohnen vollzieht, hinter den Tätigkeiten des Pflegens und
Errichtens zurück. Diese Tätigkeiten nehmen in der Folge den Namen bauen und damit die Sache des
Bauens für sich allein in Anspruch. Der eigentliche Sinn des Bauens, nämlich das Wohnen, gerät in die
Vergessenheit.

Er geht aber weiter der Sprache nach, um das Wesen des Wohnens zu erhellen und bezieht sich auf das gotische
Wort „wunian“, das „ebenso wie das alte Wort bauen das Bleiben, das Sich-Aufhalten“ bedeutet. Es heißt aber auch:
„zufrieden sein, zum Frieden gebracht, in ihm bleiben. Das Wort Friede meint das Freie, das Frye und fry bedeutet:
bewahrt vor Schaden und Bedrohung, bewahrt vor... d. h. geschont.“

Das Schonen selbst besteht nicht nur darin, daß wir dem Geschonten nichts antun. Das eigentliche
Schonen ist etwas Positives und geschieht dann, wenn wir etwas zum voraus in seinem Wesen belassen,
wenn wir etwas eigens in sein Wesen zurückbergen. ... Der Grundzug des Wohnens ist dieses Schonen. Er
durchzieht das Wohnen in seiner ganzen Weite. Sie zeigt sich uns, sobald wir daran denken, daß im
Wohnen das Menschsein beruht und zwar im Sinne des Aufenthalts der Sterblichen auf der Erde.

Zu der „Erde“ denkt Heidegger den „Himmel“ hinzu und zu den „Sterblichen“ die „Göttlichen“. Diese Vier bilden
eine „ursprüngliche Einheit“. Er erläutert diese Begriffe im Einzelnen:

433  Heidegger, (1954), 139ff.

194  Die Welt als Garten


Die Erde ist die dienend Tragende, die blühend Fruchtende, hingebreitet in Gestein und Gewässer, auf-
gehend zu Gewächs und Getier. ...

Der Himmel ist der wölbende Sonnengang, der gestaltwechselnde Mondlauf, der wandernde Glanz der
Gestirne, die Zeiten des Jahres und ihre Wende, Licht und Dämmer des Tages, Dunkel und Helle der
Nacht, das Wirtliche und Unwirtliche der Wetter, Wolkenzug und blauende Tiefe des Äthers. ...

Die Göttlichen sind die winkenden Boten der Gottheit. Aus dem heiligen Walten dieser erscheint der
Gott in seine Gegenwart oder er entzieht sich in seine Verhüllung. ...

Die Sterblichen sind die Menschen. Sie heißen die Sterblichen, weil sie sterben können. Sterben heißt,
den Tod als Tod vermögen. Nur der Mensch stirbt und zwar fortwährend, solange er auf der Erde, unter
dem Himmel, vor den Göttlichen bleibt. ...

Jeder Absatz schließt mit der Bemerkung, dass wir mit jedem Begriff die anderen drei „mitdenken“. Heidegger kon-
struiert also hier eine Einheit – eine mit vier Seiten - er nennt sie „das Geviert“. „Die Sterblichen sind im Geviert,
indem sie wohnen.“

Ich sehe eine Übereinstimmung des „Gevierts“ mit Spencer-Browns „Form der Unterscheidung“, die knapp zwei
Jahrzehnte später entwickelt wurde. Auch das Geviert ist keine Form der Dialektik mit These und Antithese, son-
dern eine Form der Unterscheidung, aber eine mit vier Seiten. Das Motiv oder der Kontext dieser Unterscheidung
ist das Wohnen. Ich stelle diese Einheit so dar:

Alle vier Seiten gehören zum Wohnen. - Um nun die Verbindung zu der ‚Welt als Garten’ und zur ‚Gartenkunst’
herzustellen, will ich versuchen, die Intentionen Heideggers so zu interpretieren, dass sie zur tragenden Idee dieser
Arbeit beitragen: 434

Die „Erde“, die „dienend Tragende“ steht im Geviert als die allgemeine Lebensgrundlage des Menschen. Dazu ge-
hören die Äcker, die Wiesen, Wälder, Seen, die Meere und die Bodenschätze.

Auch der Himmel ist Voraussetzung des Lebens auf der Erde. Ohne die Sonne gäbe es keine Assimilation in den
Pflanzen, und diese könnten nicht wachsen, wenn das Wasser der Meere nicht verdunsten und als Regen das Leben
spendende Wasser bringen würde.

Was Heidegger mit dem Begriff „die Sterblichen“ meint, erschließt sich nicht auf den ersten Blick. Ich deute den
Satz: „Nur der Mensch stirbt ... fortwährend, solange er auf der Erde, unter dem Himmel, vor den Göttlichen bleibt“
so: Nur der Mensch hat – im Gegensatz zum Tier - das Bewusstsein, sterblich zu sein. Aber gerade dieses Bewusstsein
ist die Voraussetzung dafür, dass der Mensch ein Gefühl der Verantwortung für die folgenden Generationen entwic-
keln kann und deshalb die Erde „schont“. Statt „die Sterblichen“ können also wir auch „die Verantwortlichen“

434  Anzumerken ist, dass Heideggers Begriffe immer in ihrem jeweiligen Kontext zu verstehen sind; hier zum
Beispiel die „Erde“ im Kontext „Wohnen“ oder - siehe oben - im Kontext „Kunstwerk“.

Die Welt als Garten  195


sagen. Heidegger bezeichnet das Schonen als „Grundzug des Wohnens“ und spricht auch vom „Retten“. „Die Erde
retten ist mehr, als sie ausnützen oder gar abmühen. Das Retten der Erde meistert die Erde nicht und macht sich die
Erde nicht untertan, von wo nur ein Schritt ist zur schrankenlosen Ausbeutung.“

Problematisch ist für mich der Begriff „die Göttlichen“, also das, was die Menschen seit jeher „hinter den Dingen“
gesehen haben, und was sie sich nur in einer personifizierten Form vorstellen konnten. Burkhard Biella nennt
dies eine „anthropomorphe Hypostasierung“ und schlägt vor, „statt dessen vom Unverfügbaren zu sprechen,“ 435
was aber auch nicht sehr verständlich ist. Seit der Aufklärung ist dieser Bereich menschlichen Denkens in viel-
facher Form und Blickrichtung behandelt worden in unterschiedlicher Begrifflichkeit. Für mein Vorhaben, die
‚Welt als Garten’ und die Gartenkunst mit Heideggers „Geviert“ in Verbindung zu bringen, wähle ich anstatt der
„Göttlichen“ einen Begriff der Brüder Böhme: „Das Andere der Vernunft“. 436 Einfach ausgedrückt heißt das,
dass wir Vorstellungen oder Empfindungen haben, die wir uns vernunftmäßig oder wissenschaftlich nicht erklären
können. Das hat sich zwar in der Menschheitsentwicklung ständig verändert. Die Blitze, die einst den Göttern zu-
geschrieben wurden, können wir uns heute physikalisch erklären. Gegenwärtig glauben die Mikrobiologen, mit der
Entschlüsselung der DNA dem Geheimnis des Lebens nahe zu kommen.437 Aber soweit auch die Wissenschaft fort-
schreitet, es bleibt immer etwas, das sich unserem begrifflichen Denken entzieht. Dem entspricht auch die Aussage
Martin Seels: „soviel [der Mensch] mit dem Werden der Natur machen kann, er kann das Werden der Natur nicht
machen.“ 438 Das ist jedoch nicht Ausdruck von Resignation, sondern im Gegenteil: Das Ergründen des ‚Anderen der
Vernunft’ – des Göttlichen - ist Wesensmerkmal des Menschen und gehört zum „Wohnen“.

Wie ist nun heute das „Wohnen“ im Sinne Heideggers zu sehen? Eine Bilanz ist eher negativ. Die Erde wird nicht
geschont, sondern bedenkenlos ausgebeutet, mit der Folge zunehmender Wüstenbildung. Die CO2 -Belastung wirkt
sich auf den „Himmel“ aus, wie Heidegger es nicht ahnen konnte. Diese Probleme sind heute allgemein so bewusst,
dass ich sie nicht näher erörtern muss. Sie sind auch, soweit die ‚Verantwortlichen’ zur Vernunft kommen, wissen-
schaftlich und politisch lösbar.

Wenn aber das „Wohnen“ im Sinne Heideggers in der Welt als Garten gelingen soll, dann muss das Viertel aus dem
Geviert, das „Göttliche“, das ich das „Andere der Vernunft“ nenne, mit zu Grunde gelegt werden.

Für viele ist der Weg dazu nach wie vor die Religion. Esoteriker haben verschiedene Methoden, den Zugang
zum Übersinnlichen zu finden. Seit der Aufklärung ist zunehmend die Philosophie die kompetente Instanz.
Ausdrucksmittel ist jedoch seit Urzeiten die Kunst und somit auch die Gartenkunst, wenn auch in wechselnden
Formen. Adorno sieht „das theologische Erbe der Kunst“ in der „Säkularisation von Offenbarung“ 439 und auch
Schmücker sieht in der Kunst ein „verdinglichtes Offenbarungsgeschehen.“ 440 Die Frage nach dem Wesen der
Gartenkunst muss also das „Andere der Vernunft“ mit einbeziehen.

8.4 Was ist Kunst? Was ist Gartenkunst?


Die Fragestellung drückt aus, dass die beiden Begriffe sowohl Gleiches, wie auch Unterschiedliches beinhalten.
Gleich ist die Frage nach dem Wesen der Kunst. Die Schwierigkeit dieser Frage wird deutlich, wenn man landläufige
Antworten betrachtet:

435  Biella, (1998), 8.


436  Böhme, G. und H., (1985).
437  Siehe Anm. 299
438  Siehe Anm. 127.
439  Adorno, (1989), 162.
440  Schmücker, (1998).

196  Die Welt als Garten


Im Juli 1999 richtete die Deutsche Gesellschaft für Gartenkunst und Landschaftskultur an ihre Mitglieder die Frage
nach deren persönlichen „Auffassung zum Begriff Gartenkunst.“ Neben funktionalen Kriterien und Besonderheiten
der Mittelverwendung in der Gartenkunst enthielten die meisten Antworten Definitionen, die man als zirkulär be-
zeichnet. Zum Beispiel: Von Gartenkunst könne man sprechen, wenn

• „erkennbare gültige Regeln [!] einer künstlerischen Gestaltung ... angewandt wurden“

• „das Werk unter künstlerische Kriterien [eine] ausgewogene Komposition darstellt“

• man „zeitgenössischen Gärten ... den Rang eines Kunstwerkes zuschreibt“

• „gärtnerische Bauwerke ... gartenkünstlerisch überzeugen“ 441

Solche zirkulären Definitionen gibt es aber auch von anerkannten Experten wie Frank Sibley, dessen „überaus
einflussreiche[r] Essay über ‚Ästhetische Begriffe’“ von Karlheinz Lüdeking kritisch kommentiert wird: Nach
Sibley ist zur Beantwortung der Frage, was Kunst sei, Geschmack erforderlich.

Was aber ist unter Geschmack zu verstehen? Sibley sagt dazu zunächst nur, es sei nicht eine subjek-
tive Vorliebe (im Sinne von „Geschmacksache“) gemeint, sondern die Fähigkeit, „zu bemerken oder
zu sehen oder zu erkennen, daß Dinge bestimmte Qualitäten haben.“ Diese „bestimmten“ Qualitäten
der Dinge, die man mit Hilfe des Geschmacks feststellen kann, sind natürlich genau ihre ästhetischen
Qualitäten und damit wird die Definition zirkulär: Ästhetische Begriffe sind jene, zu deren Verwendung
Geschmack erforderlich ist, und Geschmack ist die Fähigkeit, die Qualitäten festzustellen, die mit ästhe-
tischen Begriffen bezeichnet werden. 442

Alle diese logischen Zirkel bringen das jeweilige subjektive Gefühl über das, was Kunst sei, zum Ausdruck. Sie zei-
gen aber auch, dass das Wesen der Kunst nicht logisch erklärbar ist.

Das heißt aber nicht, dass bestimmte Bedingungen der Kunstproduktion und –rezeption nicht formuliert werden
können. So muss ein Künstler selbstverständlich die Mittel seines Metiers beherrschen. Das sagt schon der Kalauer,
der in der Umfrage der DGGL auch gebracht wurde: „Kunst kommt von Können, wenn es von Wollen käme, hieße
es Wunst.“ - Und ebenso selbstverständlich ist es, dass ein Rezipient ein gewisses Interesse und Aufgeschlossenheit
für Kunst haben muss.

Wichtiger sind die Fragen und Bedingungen der Wahrnehmung, die ich im 6. Kapitel behandelt habe, als deren
Grundlage ich im Kontext der Adaptation die Unterscheidung von Assimilation und Akkommodation sehe. Diese
Formen der Wahrnehmung sind konstitutiv für Kunstschaffen und Kunstgenuss: sie erklären aber noch nicht das
eigentliche Wesen der Kunst.

Der Abschnitt „Fühlen und Denken“ bringt uns der Kernfrage näher. „Affekte“ als „umfassende körperlich-see-
lische Gestimmtheiten“ kann man auch als „das Andere der Vernunft“ sehen. 443 Martin Seel formuliert dies so:

In der Erfahrung vieler Kunstwerke – aber auch der erhabenen Natur – erleben wir Phasen eines aku-
stischen oder visuellen Rauschens, eines Geschehens ohne erkennbar Geschehendes, das zwar sinnlich

441  Garten und Landschaft, Heft 1/2000


442  Lüdeking, (1998), 99.
443  Siehe Anm. 287.

Die Welt als Garten  197


verfolgt, aber nicht kognitiv erfasst werden kann. Sensitive Wahrnehmung überschreitet hier die
Grenzen des erkennenden Bewußtseins. 444 (Hvh. A.S.)

Wichtig ist die Unterscheidung der Kunst als Erkenntnisform. Wie Konrad Paul Liessman ausführlich referiert, un-
terscheidet schon Konrad Fiedler (1841 – 1895) „die Welt des Künstlers“ von der Welt „des diskursiven Denkens.“

Alle Kunst ist Entwicklung von Vorstellungen, sowie alles Denken Entwicklung von Begriffen ist.“
Beide dieser Verfahren dienen der Erkenntnis, ohne daß sie sich wechselseitig aufeinander beziehen
können. Unter diesem Gesichtspunkt ist Erkenntnis für Fiedler auch die entscheidende Bestimmung
für Kunst: „Nur wer die Kunst weder einem ästhetischen noch einem symbolischen Zwecke dienstbar
macht, wird ihr ganz gerecht werden können; denn sie ist mehr als ästhetisches Reizmittel und mehr
als Illustration, sie ist eine der Erkenntnis dienende Sprache. 445

8.4.1 Adornos Kunsttheorie

Ein bedeutendes Werk der Kunsttheorie ist Adornos „Ästhetische Theorie.“ Sie enthält entscheidende Anregungen
in der Frage nach dem Wesen der Kunst.

Adornos Denkansatz ist ein differenztheoretischer. Er nennt ihn zwar dialektisch, er entspricht aber genau dem
Prinzip der ‚Form der Unterscheidung mit zwei Seiten.’ Seine wichtigsten Gegensatzpaare sind:

• Konstruktion / Mimesis

• Versöhntes / Unversöhntes

• Identisches / Nichtidentisches

Sie beziehen sich auf Kunst als Produktion und als Rezeption. Ihre Bedeutungen überlagern sich zum teil; auch sie
bilden ein „Gewebe.“

Mimesis

Adorno verwendet einen Begriff der alten Griechen als einen Schlüssel zu seiner Kunsttheorie, die Mimesis.
Mimesis heißt ursprünglich: Darstellen des Göttlichen im kultischen Tanz, als „sinnlichen Ausdruck dessen,
was unserer Wahrnehmung entgeht.“ 446 Durch Platon erfährt diese Bedeutung jedoch einen entscheidenden
Wandel. Platon sieht „die Künste als bloße Nachahmung dritten Ranges der Ideen: als Abbild von Abbildern.“ 447
Die Wirklichkeit ist für Platon nur ein Schatten der Ideen (siehe das Höhlengleichnis). Die Kunst ist deshalb für ihn
drittrangig.448 Erst in der Renaissance wird die getreue Abbildung der Natur wieder zur legitimen Aufgabe der Kunst,
bis sie in der Moderne als ‚Naturalismus’ endgültig in Verruf kam.

Adorno benutzt ‚Mimesis’ im Sinne des ‚Anderen der Vernunft’. Er betrachtet das Kunstwerk als Einheit aus der
Mimesis und dem Konstruktiven oder Rationalen. Danach ist „Konstruktion die ... einzig mögliche Gestalt des ra-
tionalen Moments im Kunstwerk, ... ist in der Monade des Kunstwerks ... der Statthalter von Logik und Kausalität

444  Seel, (2000), 27.


445  Liessmann, (1999),90.
446  Koller, zit. von Thomas Metscher in Sandkühler, (1990), Stichwort: Widerspiegelung, ästhetische.
447  Ebd.
448  Danach wäre die Landschaftskunst als Nachahmung der Landschaftsmalerei viertrangig.

198  Die Welt als Garten


... Sie ist Synthesis des Mannigfaltigen.“ 449 Aber Konstruktion und Mimesis gehören zusammen als eine ‚Form der
Unterscheidung’:

Die Sentimentalität und Schwächlichkeit fast der gesamten Tradition ästhetischer Besinnung rührt
daher, daß sie die der Kunst immanente Dialektik von Rationalität und Mimesis unterschlagen
hat. ... Fortlebende Mimesis, die nichtbegriffliche Affinität des subjektiv Hervorgebrachten zu sei-
nem Anderen, nicht Gesetzten, bestimmt Kunst als eine Gestalt der Erkenntnis, und in sofern ih-
rerseits als ‚rational’. Denn worauf das mimetische Verhalten anspricht, ist das Telos der Erkenntnis,
das sie durch ihre eigenen Kategorien zugleich blockiert. Kunst komplettiert Erkenntnis um das
von ihr Ausgeschlossene und beeinträchtigt dadurch wiederum den Erkenntnischarakter, ihre
Eindeutigkeit,“ 450 (Hvh. A.S.)

Und an anderer Stelle schreibt er:

Mimesis ist in der Kunst das Vorgeistige, dem Geist Konträre und wiederum das, woran er entflammt.
In den Kunstwerken ist der Geist zu ihrem Konstruktionsprinzip geworden, aber genügt seinem Telos
nur dort, wo er aus dem zu Konstruierenden, den mimetischen Impulsen, aufsteigt, ihnen sich an-
schmiegt, anstatt daß er ihnen souverän zudiktiert würde. 451

Es dürfte klar sein, dass es hier um das eigentliche Wesen der Kunst geht. Zur Verdeutlichung zitiere ich, was
Friedrich Tomberg im Anschluss an Adorno schreibt:

Echte Mimesis bezieht sich auf das, was an den Dingen mehr ist als ihr vorweg bekanntes Dasein,
auf das Nichtidentische an ihnen. Sie ist ungegenständliche Nachahmung und damit nicht Imitation
eines Wirklichen, sondern Vorwegnahme eines Ansichseins, das noch gar nicht ist. Diese Möglichkeit
schreibt Adorno der Kunst zu, sofern sie nur auf sich selbst als Schöpfung und nicht auf Geschaffenes
bezogen ist und in dieser Formimmanenz zum Gleichnis des Absoluten, als des Nichtbedingten, gegen-
ständlich Unnachahmlichen wird. – Mimesis bedeutet nach Adorno ursprünglich die „dem Lebendigen
tief einwohnende Tendenz, deren Überwindung das Kennzeichen alles Lebendigen ist: ...dem Hang
sich gehen zu lassen, zurückzusinken in Natur.“ 452 (Hvh. A.S.)

Mimesis und Konstruktion gehören also im Kunstwerk zusammen, und doch ist „die Divergenz des Konstruktiven
und des Mimetischen von keinem Kunstwerk zu schlichten.“ Es ist eine Form der Unterscheidung mit zwei Seiten.
Adorno stellt auch fest, dass das Verhältnis der beiden Seiten dieser Unterscheidung ein skaliertes ist: „... die fraglose
Polarität des Mimetischen und Konstruktiven [ist] nicht ... auf eine invariante Formel zu reduzieren.“ 453

Das Versöhnte und Unversöhnte

Ein weiteres Begriffspaar, dessen Divergenz „nicht zu schlichten“ ist, und das wie ‚Mimesis’ in der ‚Ästhetischen
Theorie’ immer wieder erörtert wird, ist das Versöhnte und das Unversöhnte. Während die Konstruktion
und die Mimesis sich auf das Schöpferische in der Kunst und das Identische und Nichtidentische sich auf die
Erkenntnismöglichkeit beziehen, ist die Unterscheidung von Versöhntem und Unversöhntem Adornos Schlüssel für
die Rezeption von Kunst.

449  Adorno, (1989), 91.


450  Ebd., 86.
451  Ebd., 180.
452  In: Sandkühler, (1990), Bd. 3, 420f.
453  Adorno, (1989), 72.

Die Welt als Garten  199


Die Rezeption wahrer Kunst ist zunächst Konfrontation mit Unbekanntem, mit dem Nichtidentischem, dem
Mimetischen. Das bedeutet immer Anstrengung, Belastung. Das erklärt auch, warum viele Menschen sich weigern,
sich mit moderner Kunst auseinander zu setzen. Wahrnehmungspsychologisch gesehen ist der Grund hierfür die
mangelnde Fähigkeit zu akkommodieren.

Diesen Zustand kann man nach Adorno als den unversöhnten bezeichnen. Der Gegenpol dieser Unterscheidung
ist die „Versöhnung als Gewalttat“ im „formalistischen Klassizismus.“ 454 Kunstrezeption ist also sozusagen das
Spannungsfeld zwischen Versöhntem und Unversöhntem. Versöhnung heißt Annäherung an das Mimetische, heißt
aber nicht dass dieses zum Identischen wird. Versöhnung ist die

Verhaltensweise, die des Nichtidentischen inne wird. ... Versöhnung als Verhaltensweise ... wird
heute gerade dort verübt, wo die Kunst der Idee von Versöhnung absagt, in Werken, deren Form
ihre Unerbittlichkeit diktiert. Noch solche unversöhnliche Versöhnung in der Form jedoch hat zur
Bedingung die Unwirklichkeit der Kunst. 455 (Hvh. A. S.)

Die Bedeutung dieser Begriffe changiert in eigentümlicher Weise bis zur Paradoxie. Dem entspricht aber das Wesen
der Kunstproduktion und –rezeption. Die klassische Kunstauffassung war bestimmt durch das, was Kant das „all-
gemeine Gefallen“ nannte, das aber – wie wir gesehen haben – von Experten mit „Geschmack“ definiert war.
Hierüber gab es keinen Streit; diese Kunst war das absolut Versöhnte. Die moderne Kunst ist dagegen der Streit
zwischen Versöhntem und Unversöhntem. Ich sehe hier eine enge gedankliche Beziehung zu Heidegger, der über
das Verhältnis von „Erde“ und „Welt“ sagt: „Der Streit ist kein Riß als das Aufbrechen einer bloßen Kluft, sondern
der Streit ist die Innigkeit des sich Zugehörens der Streitenden.“ 456 Dabei steht „Erde“ für das Verborgene, das
Nichtidentische, das Unversöhnte und „Welt“ für das Offene, das Identische, das Versöhnte. Alle diese Begriffspaare
gehören zusammen, jeweils als ‚Form der Unterscheidung mit zwei Seiten’.

Diese hat aber hier einen besonderen Charakter. Die Unterscheidung physis / techne zum Beispiel ist eindeutig,
beide Seiten lassen sich genau bestimmen, was ich ausführlich beschrieben habe. Das Wesen des Kunsterlebnisses
besteht aber darin, dass durch Innewerden des Unversöhnten dieses sich in Versöhnung wandelt. Adorno sieht dar-
in einen „Prozeß“ des „ästhetischen Verhaltens“, der im „Verhältnis des Einzelnen zur Kunst“ stattfindet. „Am Ende
wäre das ästhetische Verhalten zu definieren als die Fähigkeit, irgend zu erschauern, so als wäre die Gänsehaut das
erste ästhetische Bild.“ 457

Zur weiteren Klärung füge ich ein Zitat Martin Seels an. Dabei sehe ich zwischen der „Beherrschbarkeit“ und
„Unbeherrschbarkeit“ Seels und dem „Versöhnten“ und „Unversöhnten“ Adornos eine deutliche Übereinstimmung:

Nicht die Bestimmbarkeit - und damit letztendlich die Beherrschbarkeit - , sondern vielmehr die
Unbestimmbarkeit und letztendliche Unbeherrschbarkeit des Wirklichen ist die Quelle der ästheti-
schen Lust. Im ästhetischen Zustand überwinden wir den Glauben an die Möglichkeit und den Sinn
einer vollständigen Bestimmbarkeit des Gegebenen. Die ästhetische Lust ist von einem Interesse am
Unbekannten geleitet; entsprechend hat die spielerische Selbstgewinnung in der freien ästhetischen
Betrachtung als Kehrseite eine ekstatische Selbstpreisgabe. ... In der Erfahrung vieler Kunstwerke –
aber auch der erhabenen Natur – erleben wir Phasen eines akustischen oder visuellen Rauschens,
eines Geschehens ohne erkennbar Geschehendes, das zwar sinnlich verfolgt, aber nicht kognitiv er-

454  Ebd., 78.


455  Ebd., 202.
456  Siehe oben: Heidegger, (2003),50f
457  Adorno, (1989), 489.

200  Die Welt als Garten


fasst werden kann. Sensitive Wahrnehmung überschreitet hier die Grenzen des erkennenden
Bewusstseins. 458 (Hvh. A.S.)

Konkret lässt sich das prozessuale Verhältnis zwischen ‚Versöhntem’ und ‚Unversöhntem’ am Beispiel des
Musikverständnisses darstellen. Jemand, der die klassische Musik – etwa bis Brahms – verinnerlicht hat und zum
ersten Mal zum Beispiel die fünfte Sinfonie von Mahler hört, wird manches zunächst als ‚Rauschen’ empfinden.
Durch Akkommodation kann aber dann beim Hören des vierten Satzes, des Adagiettos, das eintreten, was Adorno
den „Schauer“ nennt, das „Gänsehaut“-Erlebnis.459 Das ist der Punkt der Versöhnung. Bei wiederholtem Hören wird
diese Musik immer noch besondere Empfindungen auslösen, etwa bei einer besonders eindringlichen Interpretation.
Der Schauer wird sich seltener einstellen. Das Versöhnte wird zum Bestand der musikalischen Erlebniswelt und der
Musikliebhaber wird sich vielleicht mit Richard Strauss und Schönberg auseinander setzen. - Problematisch wird es,
wenn zum Beispiel das Thema aus dem Schlusssatz von Beethovens 9. Sinfonie von der Schlagerindustrie verein-
nahmt wird. Dadurch kann der Zugang zu dem mimetischen Gehalt des Kunstwerkes sehr gestört werden. Das gilt
im gewissen Maße auch für die massenhafte Darstellung der Natur in Hochglanzbildern und Film. Dadurch kann
die originäre Wahrnehmung eher behindert werden.

Dadurch komme ich noch zu einem anderen Gesichtspunkt der Kunstausübung, die Interpretation von Musik und
Dichtung und im Zusammenhang damit zu der kollektiven Wirkung von Kunst. Ein Orchesterwerk gelingt nur,
wenn die Musiker und der Dirigent gemeinsam auf eine Idee der Interpretation eingestimmt sind. Das Besondere
dieser Kunstgattung ist, dass dieses Gestimmte - im gelungenen Fall - sich auf die Hörer überträgt. Das gilt auch für
die Schauspielkunst. Man kann vom festlichen Charakter eines Kunsterlebnisses sprechen, wenn dieses in einer
Gemeinschaft von Gleichgestimmten stattfindet. Deutlich konnte man das in der Menge spüren, die staunend vor
Christos verhülltem Reichstag stand. - Ich erwähne dies, weil ich eine gleiche Wirkung in der Gartenkunst sehe,
nämlich zum Beispiel in einer gelungenen Gartenschau, wo man schon mal von einem Gartenfest sprechen kann,
in dem die Besucher durchaus in einem Gemeinschaftsgefühl für die Naturschönheit aufgeschlossen sind. Ich sehe
hierin übrigens auch eine Wirkung der oben beschriebenen ‚Morphischen Resonanz’.

Adorno spricht in einem anderen Fall von „falscher Versöhnung“, wenn „radikal abstrakte[ ] Malerei ... zum
Wandschmuck des neuen Wohlstands“ wird.460 Und er sieht noch eine anderen Aspekt in der Entwicklung: „In der
Geschichte der bildenden Kunst und Literatur [wurden] stets neue Schichten der äußeren Welt sichtbar, entdeckt
und assimiliert, während andere abstarben, ihre Kunstfähigkeit verloren.“ 461 Das heißt aber nicht, dass alle alten
Werke nun für uns keine Kunst mehr sind; im Gegenteil, das jeweilige, für seine Zeit Rationale und Konstruktive,
bleibt Gegenstand unserer Bewunderung genau so wie das, was wir als das Mimetische jener Zeit erkennen. So ist
zum Beispiel ein Barockgarten für uns hohe Gartenkunst, wenn er auch unserem heutigen Naturverständnis nicht
mehr entspricht, und bei manchen großen Kunstwerken, wie Friedrichs „Mönch am Meer“ spüren wir auch heute
noch den mimetischen Gehalt.

Diese Prozesshaftigkeit relativiert also nicht den Erkenntnischarakter der Kunst. In jedem gelungenen Kunstwerk ist
ein Überschuss enthalten, der sich der Vernunft entzieht und das Bewusstsein seiner Zeit erweitert. Als Konstante
bleibt immer die Mimesis erhalten, das Suchen nach dem Anderen der Vernunft und – so Heidegger – nach dem
Göttlichen.

458  Seel, (2000), 27.


459  Adorno, (1989), 489.
460  Adorno, (1989), 340.
461  Ebd. 219.

Die Welt als Garten  201


Das Naturschöne

Ich habe schon in der Einleitung auf das Problem hingewiesen, das die heutigen Gartenkünstler mit dem Begriff
des Naturschönen haben. (Siehe Anm. 17) Dieser Begriff wird ständig mit ‚Naturalismus’ in Verbindung gebracht,
was der Dominanz des Kunsthistorischen im Diskurs über Gartenkunst geschuldet ist. Alle meine bisherigen
Überlegungen zielten auf den Grundgedanken, dass das Naturschöne das eigentliche Motiv der Gartenkunst ist. Die
Unmittelbarkeit der Naturwahrnehmung unterscheidet die Gartenkunst von der bildenden Kunst.

Die Klärung dieser Frage ist unerlässlich, wenn wir dem Ideal der ‚Welt als Garten’ näher kommen wollen. Es geht
also um das Verhältnis zwischen Natur und Kunst oder speziell um die Unterschiede deren Wahrnehmung und
Rezeption.

Ich habe im 6. Kapitel dargelegt, dass in der Kunst Produktion und Rezeption eng aufeinander verwiesen sind;
Kunst zu verstehen ist eine geistige Leistung. Dasselbe gilt für die Naturwahrnehmung, deren psychologischen
Bedingungen ebenfalls beschrieben wurden. (Siehe Anm. 258 – 262). Es geht in beiden Fällen um die Spannung
zwischen Assimilation und Akkommodation. Aber das Empfinden des Naturschönen ist mit wahrnehmungspsycho-
logischen Kriterien allein nicht zu erklären. Ich folge deshalb weiter den Ausführungen Adornos, seinen berühmten
Sätzen:

Das Naturschöne ist die Spur des Nichtidentischen an den Dingen im Bann universa-
ler Identität. Solange er waltet, ist kein Nichtidentisches positiv da. Daher bleibt das
Naturschöne so versprengt und ungewiß [so] wie das, was von ihm versprochen wird, alles
Innermenschliche überflügelt. 462

Ein Kern dieser Aussage ist der „Bann universaler Identität.“ Das heißt, dass wir im Allgemeinen die Erscheinungen
der Natur im begrifflichen Sinne als schön empfinden. Wenn wir zum Beispiel die botanischen Merkmale von Rosen
oder ihr gesundes Laub, die schöne Farbe und die gute Verzweigung beschreiben, oder wenn der Förster die gute
Bestockung seines Waldes hervorhebt, dann sind das identische Aussagen. Und nur in einer besonderen Stimmung
oder unter besonderen Bedingungen fühlen – ‚erkennen’ - wir „die Spur des Nichtidentischen“, das Naturschöne.
Dieses ‚Erkennen’ ist aber begrifflich nicht zu fassen. Nur Dichter vermögen dies in gelingenden Werken. Es erinnert
mich an Martin Seels Kontemplation. 463- Adorno führt den Gedanken unter Einbeziehung der Kunst fort:

Das Lückenlose, Gefügte, in sich Ruhende der Kunstwerke ist Nachbild des Schweigens, aus wel-
chem allein Natur redet. Das Schöne an der Natur ist gegen herrschendes Prinzip wie gegen diffuses
Auseinander ein Anderes; ihm gliche das Versöhnte. 464 (Hvh. A.S.)

Diese Gedanken rühren an das Wesen des Naturempfindens und der Kunst und besonders also auch der Gartenkunst.
Wir erfahren sie in ähnlicher Form auch bei anderen Philosophen. So bei Lyotard, der im Hinblick auf seine
Auffassung der Postmoderne schreibt:

[Diese] wäre dasjenige, das im Modernen in der Darstellung selbst auf ein Nichtdarstellbares anspielt;
das sich dem Trost der guten Formen verweigert; ... das sich auf die Suche nach neuen Darstellungen
begibt, jedoch nicht um sich an deren Genuß zu verzehren, sondern um das Gefühl dafür zu schärfen,
daß es ein Undarstellbares gibt.465

462  Adorno, (1989), 114.


463  Seel, (1991)
464  Adorno, (1989) 115.
465  Lyotard, (1987), 29.

202  Die Welt als Garten


Und ebenso befasst sich Martin Seel mit dieser Frage und stellt fest:

Seit Heidegger dem Zuhandenen und Vorhandenen das Sein gegenübergestellt und Adorno das
Zauberwort vom ‚Nichtidentischen’ in die Welt gesetzt hat, ist eine Positivierung des Unwahrscheinlichen,
Irregulären, Nichtverfügbaren im Gange, die man für theologisch halten könnte, wenn sie nicht ein-
fach realistisch wäre.

Und im Zusammenhang hiermit zitiert er Lyotards „Darstellung des Undarstellbaren“ und fragt, „was aus diesen
unbestreitbaren Grenzen der Darstellbarkeit eigentlich folgt“

Es folgt, daß in jeder Darstellung vieles nicht dargestellt bleibt. Je mehr und genauer dargestellt
wird, jedes Mal wiederholt sich das Verhältnis von Dargestelltem und (in der jeweiligen Darstellung)
Undargestelltem. Es ist unmöglich, eine Brücke oder Blume oder sonst einen Wahrnehmungsgegenstand
vollständig darzustellen. Es ist aber keineswegs unmöglich, eine Blume oder Brücke zutreffend zu
identifizieren und zu charakterisieren. Erst in der Darstellbarkeit, heißt das, tritt Undarstellbarkeit
auf. ... Dieses Undarstellbare ist aber nichts außerhalb des Darstellbaren, es ist ein Verhältnis des
Darstellenkönnens selbst. 466

Somit sind einige wichtige Grundsätze der Produktion und Rezeption von Kunst und Gartenkunst umschrieben.
Heideggers Paradigma vom Wohnen kann als Rahmen für die Idee der ‚Welt als Garten’ dienen und Adornos ästheti-
sche Theorie kann als Zugang zu dem Viertel des Gevierts, dem „Göttlichen“ gelten. Das sind sicher keine „Rezepte“,
nach denen man Kunst „machen“ kann. Aber die Formen der Unterscheidung: Konstruktion / Mimesis, Versöhntes
/ Unversöhntes und Identisches / Nichtidentisches sind Maßstäbe der Überprüfung in Fragen der Kunst und der
Gartenkunst. In Bezug auf die heutige Situation stelle ich fest, dass Gartenkunst nicht nur darin bestehen kann, ex-
zentrische Formen – zumal aus der bildenden Kunst entlehnt – zu verwenden. Das Nichtidentische, Nichtdarstellbare
kann in jeder Blume, in jeder Atmosphäre, in jedem gestalteten Freiraum aufscheinen. Die Grundlage ist immer
unser Verhältnis zur Natur, das Wirken von techne auf physis und die Abwägung zwischen Tun und Lassen. Das ist
das originäre Thema der Gartenkunst.

8.5 Gartenkunst, soziologisch gesehen


Ich komme zurück auf Heideggers Geviert. Dessen Seiten ‚Himmel’ und ‚Erde’ habe ich als Symbol unserer ökolo-
gischen Fragen gesehen. Die Seite der ‚Göttlichen’ umfasst für mich auch das Wesen der Kunst. Die ‚Sterblichen,
die ich die ‚Verantwortlichen’ genannt habe, kann ich auch als die ‚Gesellschaft’ sehen. Wenn die Gartenkunst
im Zusammenhang mit der ‚Welt als Garten’ gedacht werden soll, dann ist das Verhältnis zwischen Kunst und
Gesellschaft näher zu untersuchen. Ich gehe konkret von der gegenwärtigen Situation der Profession aus. Ein be-
herrschendes Problem habe ich schon mit der Beschreibung des Systems ‚Wettbewerbswesen’ in der Gartenkunst
dargestellt. Die Geschlossenheit dieses Systems wirkt sich dahin aus, dass viele seiner Erzeugnisse (Anlagen) nur
eine geringe Akzeptanz finden. Das wird von manchen kritisch gesehen, für andere liegt das aber in ‚der Natur der
Sache’, denn viele fortschrittliche Künstler hätten ja mit Unverständnis zu kämpfen gehabt. - Immerhin werden
zum Beispiel in Zürich zum Oerliker Park „zur Zeit Studien erstellt, die die geringe Nutzung durch die Bevölkerung
klären sollen.“ 467

466  Seel, (1998), 893f.


467  Garten und Landschaft 8/05, S. 16.

Die Welt als Garten  203


8.5.1 Bourdieu und die Eliten

Mit dieser soziologischen Frage setzt sich Wolfram Höfer ausführlich auseinander und kommt zu Ergebnissen, die
auf mich zum Teil recht befremdlich wirken, und zu meiner obigen Systemkritik passen.468 Höfer erörtert mit Bezug
auf das Werk des französischen Soziologen Bourdieu, „Der feine Unterschied“, 469 „[die] Funktion [des ästhetischen
Urteils] im Kampf um gesellschaftliche Positionen, ... denn die Verschärfung dieses Kampfes ist ein wesentliches
Merkmal gesellschaftlicher Flexibilisierung: Eine ererbte [!] oder erworbene Position muß immer wieder gegenüber
Konkurrenten verteidigt werden.“ 470

Er bezieht sich auf Kant und stellt fest, dass das reine ästhetische Urteil „nicht von allen Menschen in gleicher
Weise“ gefällt werden kann. Grundsätzlich trüge „zwar jeder die Möglichkeit zum ästhetischen Urteil in sich,“ aber
nur derjenige sei tatsächlich zu diesem Urteil fähig, „der sich selbst in Richtung der individuellen Vollkommenheit
gebildet hat. Von einer moralischen Position aus können diese Menschen dann zu einer ‚Elite’ gezählt werden. Die
Zugehörigkeit zu einer Elite ... [ist] durch die Kennerschaft, wie sie sich im Urteil über das Kunstschöne ausdrückt
[bestimmt].“ 471

Zu diesem „kulturellen Kapital“ zählt Höfer auch den Naturgenuss, der nach seiner Auffassung „ähnlich wie der
Kulturgenuß, weitreichende Kenntnisse voraussetzt.“ 472 Und er beschreibt auch, „welche Rolle“ nach seiner
Auffassung „das Geschmacksurteil als Merkmal der gesellschaftlichen Distinktion beim gestalterischen Umgang mit
Natur in der Landschaftsarchitektur einnimmt.“

Ich will die tief gehenden aber zum Teil sehr kritisch zu sehenden Gedankengänge Höfers, die neben Bourdieu und
der gegenläufigen Theorie der ‚Erlebnisgesellschft’ Gerhard Schulzes auch Kants ‚Kritik der Urteilskraft’ einbezie-
hen, nicht im einzelnen referieren, sondern ich zitiere, was für mich wesentlich ist, seine affirmative Beschreibung
des Wettbewerbswesens, die meine obige Systembeschreibung bestätigt:

Landschaftsarchitekten und Preisrichter stehen ... jeweils im Kampf um gesellschaftliche Positionen.


Die Preisrichter müssen ... ein Geschmacksurteil fällen und benötigen dafür einen sensus communis,
ein Gespür für den guten Geschmack. Die Landschaftsarchitekten müssen mit ihren Arbeiten zum
Ausdruck bringen, daß ihr dokumentiertes kulturelles Kapital eine solche Entscheidung rechtfertigt.
Eine Gestaltung, die den Geschmack der Avantgarde trifft ist damit erfolgversprechend.473

Es geht also, wie oben beschrieben, um ‚gewinnen / nicht gewinnen.’ Eine Beurteilung dieser Anschauung muss
schon bei Kant ansetzen, dessen Begriff des ‚reinen Geschmacks’ ihr zugrunde liegt. Ich übernehme eine entspre-
chende Kritik von Thomas Hecken:

Da der Sinnengeschmack nach Kant ausschließlich die „negativen“ Effekte hervorbringt, definiert
Kant, daß die Schönheit nur von einer interesselosen Anschauung erkannt werden kann: ein typischer
Umkehrschluß. Anstatt zu folgern: Ich betrachte die Genüsse der anderen als vulgär, also habe ich
von ihnen verschiedene, sagen wir intellektuellere Genüsse, schließt er: Die Genüsse der anderen sind
vulgär, also sind Genüsse an sich vulgär, deshalb können meine Anschauungen nicht durch Genüsse

468  Höfer, (2000)


469  Bourdieu, (1998)
470  Höfer, 166
471  Ebd.
472  Ebd., 171.
473  Ebd., 182.

204  Die Welt als Garten


motiviert sein. Die Einsicht, daß es verschiedene Arten und Formen des Genusses gibt, muß Kant aus
diesen Gründen verschlossen bleiben. ... Es spricht der bürgerliche homo ästheticus. 474

Die Zirkularität der Definition des ‚Geschmacks’ habe ich oben schon angesprochen. (Siehe Anm. 440) Kurz kann
man sagen: Geschmackvoll ist das, was ein Mensch, der Geschmack hat als geschmackvoll empfindet. Bestenfalls
kann man sagen, dass die Feststellung, was Geschmack sei, immer nur die Übereinkunft einer bestimmten
Menschengruppe ist.

Es ist offensichtlich, dass die hier beschriebenen Anschauungen gegenwärtig Gegenstand einer allgemeinen gesell-
schaftlichen Auseinandersetzung sind. Der lange verpönte Begriff der Elitenbildung ist wieder hoffähig geworden
und die Unterscheidung von Ober-, Mittel- und Unterschicht hat wieder Eingang in den politischen Diskurs gefun-
den. Grob gesagt geht es um die Frage, ob die Gesellschaft vertikal hierarchisch oder horizontal egalitär zu sehen ist.
Die zweite Form haben wir schon bei Niklas Luhmann kennen gelernt. Luhmanns soziale Systeme bestehen gleich
berechtig nebeneinander. Sie werden aber, wie oben beschrieben, nicht aus Individuen gebildet, sondern sie sind
Formen der Kommunikation.

8.5.2 Gerhard Schulzes Milieus

Auch Gerhard Schulze sieht einen Wandel der Gesellschaftsstruktur, begründet durch „Verschwinden traditionel-
ler Großgruppen, Auflösung proletarischer Milieus, Bedeutungsverlust sozialer Hierarchien, Individualisierung als
Zerfaserung altgewohnter Sozialtypen.“ Er teilt die Gesellschaft ein in Gruppen von Menschen mit gleichen kultu-
rellen Ambitionen. Die nennt er Milieus, deren Entstehung auch er durch eine „erhöhte Binnenkommunikation“
bedingt sieht.475 Von seiner komplexen Analyse der „Erlebnisgesellschaft“ gebe ich nur einige Bruchstücke wieder,
die für meine Überlegungen von Bedeutung sind.

Schulze teilt die Gesellschaft in fünf Milieus ein, die er zunächst in zwei Altersgruppen gliedert: Über 40 Jahre
sind die Mitglieder des Niveaumilieus, des Integrationsmilieus und des Harmoniemilieus; unter 40 Jahre die des
Selbstverwirklichungsmilieus und des Unterhaltungsmilieus. Ich gebe nur einige typische Merkmale der einzelnen
Milieus wieder und zwar solche, die Schulze unter den Kategorien „Alltagsästhetik“ und „Lebensphilosophie“ an-
führt:

Niveaumilieu:

• Präferenzen: Klassische Musik, Oper, Theater, überregionale Zeitungen, Sprachen lernen, Schreiben u.a.

• Distanzierungen: Basteln, Auto pflegen, Volksfestszene, Trivialmusik und –literatur, Fernsehshows u.a.

• Lebensphilosophie: Perfektion.

Harmoniemilieu:

• Präferenzen: Volksmusik, Fernsehshows, Heimatfilme, deutsche Schlager, Auto pflegen, Wohnung verschö-
nern, Bildzeitung, Goldenes Blatt u.a.

• Distanzierungen: Suche nach Abwechslung, Sport, klassische Musik, Selbsterfahrungsgruppen,


Kultursendungen im Fernsehen, Sprachen lernen, Fortbildung u.a,

474  Hecken, (1985), 293.


475  Schulze, (1993), 23.

Die Welt als Garten  205


• Lebensphilosophie: Harmonie

Integrationsmilieu:

• Präferenzen wie auch Distanzierungen kommen vor, wie die im Niveau- und Harmoniemilieu, mit unter-
schiedlichen Gewichtungen. Man kann von einem Aufsteigermilieu sprechen.

• Lebensphilosophie: Harmonie und Perfektion

Selbstverwirklichungsmilieu:

• Präferenzen: Neue Kulturszene, Sport, Sachbücher, Suche nach Abwechslung, Kneipenszene, Pop, Rock,
Folk, überregionale Zeitungen, Ausstellungen, klassische Musik, Schauspiel u. a.

• Disanzierungen: Talkshows, Naturfilme, lokale Sendungen, Volksmusik, Trivialliteratur, Goldenes Blatt u.a.

• Lebensphilosophie: Narzißmus und Perfektion.

Unterhaltungsmilieu:

• Präferenzen: Auto fahren und pflegen, Vergnügungsviertel, Sportszene, Science-fiktion, Pop, Rock, Folk,
deutsche Schlager, Kino, Kneipenszene, Trivialliteratur, Goldenes Blatt u. a.

• Distanzierungen: Politische Diskussionen im Fernsehen, Theater, Oper, Konzert, gehobene Literatur, überre-
gionale Zeitungen u. a.

• Lebensphilosophie: Narzisßmus.

Ich lasse es dahingestellt, ob Schulzes Beschreibung der Milieus, die er vor knapp zwanzig Jahren publiziert hat und
die er nach den seinerzeitigen Altersgruppen gegliedert hat, noch in jeder Hinsicht aktuell ist. Manche Angehörige
des Selbstverwirklichungsmilieus gehören vielleicht heute dem Niveaumilieu an. Man kann wohl auch von einem
neuen Milieu sprechen, dem der Neureichen, deren Präferenzen Haute Couture, Haute Cuisine, Porsche fahren
und andere sind und deren Lebensphilosophie Reichtum-mehren ist. Es handelt sich dabei um eine besondere Art
der ‚Eliten’.

Gültig bleibt das Grundprinzip von Schulzes Gesellschaftsmodell, dass es unterschiedliche Milieus gibt, die bei einer
gewissen Abgeschlossenheit gleich berechtigt nebeneinander bestehen. Schulze distanziert sich denn auch aus-
drücklich von Bourdieu:

Nicht Bourdieus, sondern unser Fehler ist es, wenn wir uns durch seine Analyse den Blick für die sozi-
ale Realität in der deutschen Gesellschaft der Gegenwart verstellen lassen. Dieses Risiko ist umso höher,
als Bourdieus Diagnose durch Vertrautheit besticht. Er schildert das Frankreich des 20. Jahrhunderts so,
daß wir das Deutschland des 19. Jahrhunderts wiederzuerkennen glauben. Die symbolische Distinktion
zwischen Gruppen gleicher Lage im dimensionalen Raum der Kapitalarten (ökonomisches Kapital,
kulturelles Kapital, soziales Kapital) erscheint als Kulturkampf zwischen Oberschicht, Kleinbürgertum
und Proleten, ausgefochten innerhalb einer Hierachie des Geschmacks, die von oben nach unten

206  Die Welt als Garten


durch Herablassung, von unten nach oben durch Emporschauen und peinlich misslingende
Imitation sozial in Szene gesetzt wird.476 (Hvh. A. S.)

Ich lege auf diese soziologischen Fragen einen so großen Wert, weil die ‚Welt als Garten’ nur mit einem ent-
sprechenden Gesellschaftsmodell denkbar ist. Eine Gartenkunst als Gesamtkunstwerk im Sinne des Barocks oder
Landschaftsgartens ist nicht mehr denkbar, weil es einen Auftraggeber wie den absoluten Herrscher nicht mehr
gibt, sondern Nutzer und Auftraggeber kann nur eine demokratisch verfasste Gesellschaft sein. Hierbei geht es nicht
vordergründig um politische Tagesfragen, sondern um die Grundsatzfrage gesellschaftlicher Solidarität, um

8.5.3 Die Gleichberechtigung unterschiedlicher Lebensformen.

Schon Adorno hat diese Auffassung vertreten: „Die lebendigen Menschen, noch die zurückgebliebensten und kon-
ventionell befangensten, haben ein Recht auf die Erfüllung ihrer sei’s auch falschen Bedürfnisse.“ „Sogar im fal-
schen Bedürfnis der Lebendigen regt sich etwas von Freiheit.“ 477

Während Adorno aus seiner Sicht noch vom „falschen Bedürfnis“ spricht, hält Martin Seel ein leidenschaftliches
Plädoyer für eine gesellschaftliche Solidarität:

„Eine Theorie sozialer Integration schließt ein Verständnis des Wohlergehens sozialer Gemeinschaften ... mit ein.“
Grundlegend für alles existentielles Gelingen ist, „daß sich menschliches Leben auf eine nicht-zwangshafte Weise
als ein selbstbestimmtes vollzieht.“

Um der Individualität von Lebensformen und Lebensläufen willen sind allgemeine Grundsätze der
sozialen und politischen Anerkennung geboten. Daher schließt unverzerrte soziale Rücksicht im-
mer eine spezifische Wahrnehmungsfähigkeit mit ein: die Fähigkeit wahrzunehmen, was für die
jeweils Betroffenen Bedingungen eines für sie gelingenden Lebens sind; die Fähigkeit wahrzunehmen,
wie es Betroffenen unter vermeintlich günstigen oder ungünstigen Bedingungen tatsächlich ergeht; die
Fähigkeit wahrzunehmen, in welchen zahllosen Formen sich ein gutes menschliches Leben realisie-
ren kann; die Fähigkeit wahrzunehmen, wie hartnäckig gerade moderne Gesellschaften vielen
ihrer Mitglieder den Zugang zu einem für sie guten Lebens versperren; wie wenig die eigene
partikulare Vorstellung von einem guten Leben von anderen geteilt wird; wie sehr es allen anderen
ebenso wie mir selbst um ein für sie gutes Leben geht; wie sehr wir alle der Zerbrechlichkeit unseres
Wohlergehens ausgesetzt sind; wie eine individuell durchgehaltene, sozial gestützte und recht-
lich gesicherte Wahrnehmung der Interessen anderer die gemeinsamen Aussichten auf ein
gelingendes Leben bessern kann; die Fähigkeit wahrzunehmen, wie sehr die Wechselseitigkeit die-
ser Wahrnehmungen einen sozialen Raum der freizügigen Realisierung individueller und kollektiver
Lebensprojekte konstituiert und erhält.

Eine Wahrnehmungsfähigkeit dieser Art ... ist eine wesentliche Wurzel gesellschaftlicher Solidarität;
... Sie basiert nicht auf einer mit anderen geteilten Konzeption des Guten, sondern auf einer sozialen
Aufmerksamkeit für die formal verstandene Möglichkeit eines guten Lebens. 478 (Hvh. fett: A. S.)

Schon an anderer Stelle hat sich Martin Seel gemeinsam mit Angela Kepler mit diesem Thema unter einem et-
was anderen Aspekt befasst:

476  Schulze, (1993), 20.


477  Zitiert in: Welsch, (1988), 114.
478  Seel, (1995), 735 – 740.

Die Welt als Garten  207


Sie verstehen demokratische Kultur ist nicht nur „horizontal als öffentliche[n] Streit zwischen den Gebildeten und
Berufenen“, auch nicht nur „diagonal, als Heranführung der Massen“ an das Bildungsniveau, sondern

Vertikal 479 ... , als offene Koexistenz und Konkurrenz der ästhetischen Bereiche. Erst dieses verti-
kale Verständnis ... nimmt den Gedanken einer demokratischen Kultur ernst. Denn die politische
Gemeinschaft grundsätzlich Freier und Gleicher schließt ein Zusammenleben des subtilen und subli-
men mit dem banalen und trivialen Geschmack notwendiger Weise mit ein. Zur Idee einer demokrati-
schen Kultur gehört weder die Erwartung, daß sich das Subtile in the long run durchsetzen werde, noch
der Glaube, daß die ästhetische Kultur der politischen prinzipiell entgegengesetzt sei. Zum Begriff
einer demokratischen Kultur – in dem die ästhetische als ein wichtiger Teil des politischen
erkannt ist – gehört vielmehr die Norm einer ungezügelten Koexistenz des Elitären und
Populären. 480 (Hvh. A. S.)

In diesem Zusammenhang ist auf ein Schlagwort einzugehen, das seit den 80ger Jahren diskutiert wird, der Begriff
„Aneignung“. Es wurde als revolutionäre Idee angesehen, dass die „sterilen“ Grünanlagen von der Bevölkerung
in Besitz genommen würden. Das war im Ansatz eine Reaktion auf das allgegenwärtige: „Betreten des Rasens
verboten“. Eine generelle Aneignung wäre aber nur möglich, wenn es sich um eine homogene Nutzergruppe han-
deln würde. Tatsächlich stehen jedoch die verschiedenen Milieus in Konkurrenz zueinander mit unterschiedlichen
Interessen, so dass die Aneignung durch eine dominierende Gruppe eher zu einer Privatisierung führt. In der
Praxis ist deshalb eine Trennung der Funktionen sinnvoll. So wird zum Beispiel das Harmoniemilieu immer nach
Schaugärten mit vielen Blumen, den symbolischen „10.000 Tulpen“ verlangen.

Soweit also der Grundsatz einer gesellschaftlichen Solidarität, den ich als eine Voraussetzung für eine ‚Welt als
Garten’ ansehe. An dieser Stelle ist aber eine Kritik des bisher Beschriebenen nötig. Ich nehme den obigen Begriff
„Koexistenz“ als Stichwort. Er ist bezeichnend für eine Grundeinstellung, die ich auch bei Schulze sehe, nämlich
eine überwiegend synchrone Betrachtung der gesellschaftlichen Zustände. Sie ist kein falscher Blickwinkel, weil
Solidarität ein übergeordnetes Kriterium ist. In einer diachronen Betrachtung ist aber zu fragen, ob die Kunst im
weitesten Sinne sich verändern und damit die Gesellschaft verändern kann; und besonders erhebt sich die Frage,
kann sie einen „neuen Menschen“ formen? Vordergründig muss man das verneinen, wie eine bedeutende hi-
storische Entwicklung gezeigt hat: der „Bauhausstil“. Die Künstler des Bauhauses waren durchdrungen von der
Vorstellung eines „neuen Menschen.“ Sie wollten eine Bau- und Wohnkultur schaffen, indem durch eine funk-
tionelle Planung und rationelle Fertigung preiswerte Produkte für einen größeren Konsumentenkreis bereitge-
stellt wurden. Trotz entsprechenden soziologischen Untersuchungen wurde der angestrebte Nutzerkreis aber nicht
erreicht. In den Arbeiterwohnungen hielt das ‚Gelsenkirchener Barock’ Einzug, und die Bauhaus-Möbel blieben
einem exklusiven potenten Käuferkreis vorbehalten. Das implizit verfolgte Ziel, die Menschen zur „guten Form“ zu
erziehen, schlug fehl.

Nun kann man aber doch feststellen, dass sich gegenwärtig die „Neue Form“ immer mehr durchsetzt. Bei techni-
schen Geräten ist sie selbstverständlich geworden und in Inseraten für Immobilien werden immer öfter Häuser „im
Bauhausstil“ angeboten. Es bewegt sich also doch etwas. Wie das vor sich geht, ist näher zu untersuchen. Dabei ist
die Entwicklung in der Architektur und Gestaltung mit der in der bildenden Kunst vergleichbar.

8.5.4 Entwicklung in der Kunst

Einer der wenigen Künstler, die sich intensiv mit der Kunsttheorie befasst haben war – neben Paul Klee – Wassily
Kandinsky. Er beschreibt die Entwicklung mit einem Symbol:

479  Mit ‚vertikal’ ist hier sicher keine wertende hierarchische Ordnung gemeint.
480  Kepler, Seel, (1991), 878.

208  Die Welt als Garten


Ein großes spitzes Dreieck ... mit der spitzesten kleinsten Abteilung nach oben gewendet – ist das gei-
stige Leben schematisch richtig dargestellt. Je mehr nach unten, desto größer, breiter, umfangreicher
und höher werden die Abteilungen des Dreiecks.

Das ganze Dreieck bewegt sich langsam ... aufwärts, und wo „heute“ die höchste Spitze war, ist „mor-
gen“ die nächste Abteilung, d.h. was heute nur der obersten Spitze verständlich ist, ... wird morgen
zum sinn- und gefühlvollen Inhalt des Lebens der zweiten Abteilung.

An der Spitze der obersten Spitze steht manchmal allein nur ein Mensch. ... Und die ihm am nächsten
stehen, verstehen ihn nicht. Entrüstet nennen sie ihn Schwindler und Irrenhauskandidaten. ...

In allen Abteilungen des Dreiecks sind Künstler zu finden. Jeder von denselben, der über die Grenzen
der Abteilung hinausblicken kann, ... hilft der Bewegung. ... Wenn er aber nicht dieses scharfe Auge
besitzt, ... dann wird er von allen seine Abteilungsgenossen ... verstanden und gefeiert. Je größer diese
Abteilung ist, ... desto größer ist die Menge, der des Künstlers Rede verständlich ist.481

Kandinsky beschreibt Vorgänge, die uns durchaus geläufig sind. Er denkt dabei sicher an Monet, Cezanne, van Gogh
und natürlich an sich selbst. Alle diese Künstler sind zu ihren Lebzeiten kaum verstanden worden. Erst spät wur-
den sie anerkannt und zu Vorbildern von Nachfolgern und Nachahmern. Kandinsky bezieht in sein Dreieck sowohl
Künstler wie auch „die Menge, der des Künstlers Rede verständlich ist“ mit ein.

Aber erst im Rückblick zeigt sich der Vorgang so, wie ihn Kandinsky beschreibt. Danach könnte man ja geradezu
eine Gesetzmäßigkeit darin sehen, dass an der Spitze immer ein verkanntes Genie steht, das die Aufwärtsbewegung
des Dreiecks bestimmt, das aber von der Masse nicht erkannt wird. In der Realität sehen die Verhältnisse dagegen
ganz anders aus. Nicht jede revolutionäre Idee hat bleibenden Erfolg. Neu ist zwar die Erscheinung, dass heute auf
besonders radikale und ausgefallene Künstler „gewettet“ wird; das heißt, ihre Werke bringen es im Kunsthandel oft
zu Spitzenpreisen. Wer will aber voraussagen, ob Künstler wie Jonathan Meese oder Daniel Richter oder ob nicht
ganz andere, heute weniger bekannte, dereinst als die Spitzen der Kunstbewegung ihrer Zeit gesehen werden?

8.5.5 Avantgarde und Gros

Es geht also, mit anderen Worten, um das Verhältnis der „Avantgarde“ zu dem „Gros“, das selbstverständlich auch in
der Gartenkunst relevant ist. Ich stütze meine Überlegungen dazu auf eine Untersuchung der Literaturwissenschaftler
Bettina Clausen und Karsten Singelmann. 482

Die gehen aus von der ursprünglichen militärischen Konnotation des Begriffs, die „noch unmittelbar am Vorbild des
grenzüberschreitenden, geländesichernden Vortrupps älterer Marschordnungen orientiert war ... am Muster jener
ebenso hochmotivierten wie gefährdeten ‚Vorhut’, die dem ‚Gros’ erst den Weg bahnt.“ In dieser Bedeutung kann
der Begriff in der Kunsttheorie aber keine Geltung haben,

denn: es setzte dies jenen dreifach falschen Glaubenssatz voraus, nach dem es, erstens, in den Künsten
ähnlich wie in den vorangetriebenen Prozessen einer technopolitisch-naturwissenschaftlichen
Entwicklung stets ‚voran’ gehe; daß, zweitens, in der Kunstentwicklung ein ‚Vorn’ stets auszumitteln
wäre, und drittens, daß, qualitativ gesehen, ‚Spitzenkünstler’ stets der sei, der erkennbar in der ‚ersten
Reihe’ produziere – unhaltbare Prämissen durchweg. 483

481  Kandinsky, (1952), 29f.


482  Clausen, Singelmann, (1992), 455 bis 465.
483  Ebd. 457.

Die Welt als Garten  209


Ihr Versuch einer Neubestimmung des Begriffs ‚Avantgarde’ geht aus von der „axiomatischen, nicht hintergehbaren
Generalstruktur ihrer Gebundenheit an das Gros einerseits, wie aus der ebenso tradierten Abgelöstheit ihrer Strategien
von den Vorgehensweisen des Gros auf der anderen Seite.“ 484 Auf der Grundlage dieses „Essential“ werden die Kriterien
einer Neubestimmung entwickelt: 485

... die Forderungen an eine [Kunst] der Avantgarde [hätten] über die normativen Forderungen an eine
[Kunst] der Moderne erkennbar hinauszureichen. Das heißt, wo sich Modernität‚ bestimmt durch die
Übereinkunft, daß sich der je ‚moderne’ [künstlerische] Sinnverständigungsprozeß auf der „Höhe der
Zeit“ ... befinde und diesen Zeitgeist des Gros mit den je verfügbaren Mitteln objektiviere - dort hätte
‚Avantgarde’ sich ihrerseits darüber zu definieren eben diesen „Geist der Zeit“ in den Formen seiner
temporären Erstarrung zu verlassen und das in ihm reduzierte bis unterdrückte Potenzial nichtkonfor-
mer (Überschuß-)Wahrneh mungen zu befreien.

Avantgarde hätte also Erkenntnis-Überschüsse hervorzubringen, und dies, indem sie ihre äs-
thetischen Aktionen sowohl auf das gesellschaftlich Reale als auch auf den aktuellen Stand
der kunstinternen Ausdrucksmittel verpflichtet. An diese „doppelte Referentialität“ ist das
Überschuß-Handeln von ‚Avantgarde’ genauso gebunden, wie das [künstlerische] Handeln des ‚Gros
im [Kunstsystem]’; die vom Gros nicht abgetrennt denkbare Avantgarde impliziert damit durchaus
eine strukturale ‚Ähnlichkeit’ beider Handlungskonzeptionen im Symbolsystem der [Kunst]. nicht
jedoch deren ... vielfach antagonistisch verstandene, substantielle ‚Anders-artigkeit’.“

... Ästhetische Operationen, die diese „doppelte Bezüglichkeit“ verweigern, ... wären nicht mehr sinn-
voll in dies Konzept von ‚Avantgarde’ integrierbar. ... Weder also programmatische Negierungen des
„Ästhetizismus“, [Anm.: des pur Artistischen] noch betont-artistische Formen des ‚Sinnentzuges’,
demonstrative Effekte von ‚Unverständlichkeit’ oder gar forcierte Signalisierung des unbedingt
‚Neuen’ ergäben für sich allein Kriterien für die Bestimmung von Avantgarde-Leistungen.“ 486 (Hvh.
A.S.)

Wichtig ist die Auffassung, dass Leistungen, die den „Geist der Zeit“ aufbrechen, nicht äußerlich erkennbar sind. Sie
können sich „von Seiten des Rezipienten vielmehr nur über den Weg der eigenen, gleichfalls doppelten referenti-
ellen Einsicht erschließen.“

Die Autoren kritisieren auch das ständige „Vorantreiben amimetischer Darstellungsweisen, [das] Zurücktreten
von Dargestelltem überhaupt zugunsten des Verweises auf die Mittel der Darstellung“, eine Kritik, die man
auch gegen die „Wettbewerbs-Gartenkunst“ richten kann, die das Mimetische zugunsten effektvoller graphischer
Darstellungsweisen vernachlässigt.

Abschließend wird fest gestellt, dass es bei der Avantgarde nicht „um die Diktatur der jeweils ‚brandneuen’
Einstellung unserer Optiken geht, ... sondern um die Offerierung unerschlossener Bewusstseinsräume, die zu
begehen dem [Rezipienten] anheimgestellt werden.“ Es geht um „eine stets auf Erfüllung des Utopischen – und
nicht auf dessen unablässige Perpetuierung – bedachte Kunstanstrengung.“ 487 (Hvh. fett: A. S.)

484  Ebd. 463.


485  Die Autoren befassen sich mit Literatur. Ihre Aussagen lassen sich aber allgemein auf die Kunst anwenden.
Ich ersetze deshalb das Wort „Literatur“ und seine Ableitungen im Original jeweils durch das Wort „[Kunst]“ und
seine Ableitungen.
486  Ebd. 463f
487  Ebd, 465.

210  Die Welt als Garten


8.5.6 Folgerungen für die Gartenkunst

Voraus zu schicken ist, dass die Gartenkunst nicht autonom ist. Sie hat eine sozialhygienische Funktion für die
Erholung der Menschen im weitesten Sinne, zum Beispiel durch körperliche Betätigung in der Natur oder durch
Naturgenuss an sich. Deshalb muss die „Theorie sozialer Integration“ nach Seel ein Leitmotiv der Gartenkunst sein.
Das heißt, dass öffentliche Anlagen unterschiedliche Bewusstseinslagen und Wahrnehmungsfähigkeiten berück-
sichtigen müssen. Als ein positives Beispiel, in dem dieses Prinzip verwirklicht wurde, nenne ich die IGA Rostock,
die ein Angebot an unterschiedliche Milieus und Vorlieben brachte. Aber auch andere Ausstellungen und Anlagen
wären zu nennen, die in der Regel auch die höchsten Besucherfrequenzen aufweisen

Das heißt natürlich nicht, dass es hier nur um Konventionalität geht, sondern es geht um Vielfalt, man könn-
te auch sagen, es geht um Mehrfachcodierung. Und es geht auch um die „Vorwärts-Bewegung“ der Avantgarde
der Gartenkunst. Dabei erhebt sich nun die Frage: wohin soll es denn gehen? Wo ist „Vorne“? Die gegenwärtig
herrschende oben beschriebene Wettbewerbs-Gartenkunst, kann man sicher nicht als Avantgarde bezeichnen, da
sie sich völlig vom Gros getrennt hat. Um im Bild der militärischen Konnotation zu bleiben: ich sehe sie eher als
Marketenderin, welche die „Eroberungen“ der Avantgarde der bildenden Kunst aus dem vorigen Jahrhundert: die
äußerlichen Formen des Suprematismus, des Konstruktivismus und Minimalismus wohlfeil als Gartenkunst ver-
kauft.

Wenn man überhaupt eine Richtung für die Avantgarde der Gartenkunst vorgeben kann, in die „Erkenntnis-
Überschüsse“ führen sollten, dann ist es die Entwicklung des Mensch-Natur-Verhältnisses; - ich wiederhole: um das
Verhältnis von physis und techne, Tun und Lassen, Denken und Fühlen. Und ob es sich dann um Kunst handelt,
zeigt sich nur dadurch, ob hinter dem „Identischen die Spur des Nichtidentischen als das Naturschöne“ aufscheint.

Eine Avantgarde der Gartenkunst hätte vor allem den Gegensatz von Ökologie und Naturästhetik aufzulösen in eine
‚Form der Unterscheidung mit zwei Seiten’:

Gartenkunst
Naturästhetik Ökologie

Das heißt, dass weder die reine Naturgartenbewegung eines Le Roys oder Urs Schwarz noch die modische
Verwendung der Pflanzen zur Bildung ornamentaler Formen eine zukunftsweisende Richtung sein kann. Die „dop-
pelte Referentialität“ auf das „gesellschaftlich Reale“ und die aktuellen „kunstinternen Ausdrucksmittel“ sehe ich
gegeben einmal in Gartenbeispielen wie man sie in vielen Gartenzeitschriften sieht, in denen sich die Tendenz zur
naturhaften Gestaltung zeigt und ebenso in den zunehmend erfolgreichen Versuchen der Profession, zum Beispiel
standortgerechte Blumenwiesen herzustellen, worin durchaus eine neue Naturästhetik einer Avantgarde zu erken-
nen ist. Peter Latz sieht das ähnlich:

Ökologie müsste Symbol für Natur und Kultur zugleich sein, muss also auch Kunst sein. ... Das Bild
von Natur kann eine Struktur des „Belassenen“ und des „Gebauten“ sein. Die Akzeptanz der fragmen-
tarischen Welt verzichtet auf die Ganzheiten des Großbildes und im Gewebe der Anordnungsmuster
bleibt Platz für den Zufall Natur.488

Ein übergeordnetes Telos einer Avantgarde muss sein, sich mit den tief greifenden globalen Veränderungen unserer
Zeit auseinander zu setzen, mit den Problemen des Klimas, des Bevölkerungswachstums und der Schonung der
natürlichen Ressourcen. Es ist zwar richtig, dass zu der Lösung dieser Probleme politische und wissenschaftliche

488  Latz, (2005), 96.

Die Welt als Garten  211


Anstrengungen unternommen werden müssen, aber nachhaltige Lösungen sind nur denkbar, wenn die Idee der
‚Welt als Garten’ auch als ästhetisches Bewusstsein wirksam wird.

Bevor ich nun zu konkreten Themen der Gartenwelt und Gartenkunst komme, ist noch ein anderer soziologischer
Begriff zu klären, der in letzter Zeit Hochkonjunktur hat, die Frage:

8.5.7 Was ist Urbanität?

Urbanität ist ein Modewort, das zu eindimensionalem Denken sowohl bei Stadtplanern, wie auch bei
Landschaftsarchitekten führt. Ich habe zwei Beispiele, die das belegen; das erste betrifft die Stadtplanung:

Nach dem Kriege erfolgte der Wiederaufbau der Städte überwiegend nach den Grundsätzen der Charta von Athen.
Anstelle der ungesunden Stadtviertel der Gründerzeit entstanden in den Außenbereichen durchgrünte Gartenstädte,
in Hamburg zum Beispiel die Siedlungen von Reichow: Hohnerkamp und Farmsen oder in Bielefeld die Sennestadt.
In den Innenstädten trat anstelle der Straßenrandbebaung der Zeilenbau, eingebettet in Grünflächen, die dann spä-
ter abschätzig ‚Abstandsgrün’ genannt wurden.

Anfang der 60ger Jahre kam dann zunehmend Kritik auf wegen fehlender ‚Urbanität’ dieser Stadtteile. Ich erinnere
mich an Diskussionen im Städtebauseminar in der Hamburger Baubehörde in jener Zeit mit Hebebrand und den
Planern der Neuen Heimat. Man schaute auf die Innenstadtviertel, wie Eppendorf, die weniger im Bombenkrieg
gelitten hatten und in die wieder ‚urbanes Leben’ eingekehrt war. Die Erkenntnis die man daraus zog war einfach:
Man verglich die Bebauungsdichte, gemessen an der Geschossflächenzahl, die in den Zeilenbaugebieten 0,4 bis 0,6
betrug und in den alten Stadtteilen über 2,0. Also wurde über Dichten von GFZ 2,0 und höher diskutiert. Extrem
war der Vorschlag der Neuen Heimat für die Sanierung St. Georgs mit dem so genannten Alsterzentrum. Ausgeführt
wurden dann aber ‚verdichtete’ Siedlungen, wie der Osdorfer Born in Hamburg oder die Gropiusstadt in Berlin.
Bezeichnenderweise waren am Osdorfer Born keine öffentlichen Grünanlagen vorgesehen, weil man den Begriff
Urbanität nicht mit Grünflächen assoziierte. Diese wurden erst später angelegt, nachdem sich die Siedlung zum so-
zialen Brennpunkt entwickelt hatte. Die erhoffte Urbanität hatte sich nicht eingestellt. – Nebenbei ist zu erwähnen,
dass einige Grünplaner dem Schematismus der Geschossflächenzahl mit dem Schematismus einer ‚Grünmassenzahl’
begegnen wollten, Grün in Kubikmetern gemessen!

In meinem zweiten Beispiel, in der gegenwärtigen Gartenkunst, hat der Begriff eine ganz andere Bedeutung, die
aber genau so eindimensional ist. Danach wird ‚Urbanität’ mit architektonischer Gestaltung gleichgesetzt. Der Begriff
‚urban’ wird also im Grunde synonym für ‚architektonisch’ benutzt. Es geht nur um formalistische Fragen. Eine
Parallele zur Stadtplanung besteht nur darin, dass in der Innenstadt kein Grün geduldet wird, und wenn ja, dann
nur in Reih und Glied und in Form geschnitten. Diese Gestaltungsform garantiert aber eben nicht, dass Urbanität
entsteht. Es ist wohl kein Zufall, dass auf den meisten Abbildungen derartiger Plätze kaum Menschen zu sehen sind.
Urbanität ist von anderen Faktoren abhängig.

Was bedeutet also nun ‚Urbanität’ in der Zwischenstadt, in der ‚Gartenwelt’? „Das Adjektiv [urban] wurde in 18.
Jh. aus lat. urbanus ‚fein vornehm, gebildet’ entlehnt. Dies ist von lat. urbs ‚Stadt’ abgeleitet und bedeutet eigentlich
‚zur Stadt gehörend’. Das Adjektiv wurde zunächst nur im Sinne von ‚gebildet und weltgewandt’ gebraucht, im 20.
Jh. ... dann im Sinne von ‚städtisch, für städtisches Leben charakteristisch’“.489

Nun wird wohl niemand behaupten, dass heute ‚gebildete’ Menschen nur in der Stadt leben und auf dem Lande das
glückliche „Volk der Gefilde“, das noch nicht „zur Freiheit erwachet“ ist. (Schiller) Das hat vielleicht noch vor hun-
dert Jahren gegolten. Die Voraussetzung dafür war der Bürgerliche Bildungskanon, der längst irrelevant geworden

489  Duden Das Herkunftswörterbuch.

212  Die Welt als Garten


ist. Heute ist Urbanität unabhängig von der Stadt zu definieren. Sie ist ein Lebensgefühl und bedeutet in erster Linie
intensive Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, an kulturellen Veranstaltungen, sowohl der Hoch- wie auch der
Trivialkultur, und dazu gehören das Konsumverhalten und die Freizeitgestaltung. Gerhard Schulze hat diese neu-
en Gesellschaftsstrukturen beschrieben und anstelle der sozialen Schichten die unterschiedlichen Milieus gesetzt,
die aber nicht hierarchisch geordnet sind. Ein Schlüsselwort für urbanes Leben ist also Bildung und eine wichtige
Voraussetzung für Bildung ist die Beherrschung der Zivilisationstechniken. Dazu gehören die Telekommunikation,
die Beherrschung der Verkehrssysteme und der verschiedensten Apparate aber auch die Flexibilisierung der
Berufsausübung. Die Chance an der Teilhabe haben alle Menschen, zumindest in den westlichen Ländern. Das
hängt nicht davon ab, ob jemand in der Stadt oder auf dem Lande wohnt.

Es gibt auch eine ständige Fluktuation. Junge Familien mit Kindern ziehen von der Stadt aufs Land und wenn die
Kinder groß sind, zieht es sie wieder in die Stadt.

Aber viele Menschen stehen der Technik immer noch feindlich gegenüber und sehen in ihr den unvereinba-
ren Gegensatz zur Natur. Dagegen steht die Ansicht von Karl Jaspers, in der auch das Wesen von Urbanität zum
Ausdruck kommt:

Die technische Welt scheint die Natur zu zerstören. Man klagt, das Dasein werde unnatürlich. Die
künstliche Technik, welche auf ihrem Wege Häßlichkeit und Naturferne in Kauf nehmen muß, könn-
te aber am Ende einen intensiveren Zugang zu aller Natur ermöglichen. Der moderne Mensch vermag
mit neuer Bewusstheit Sonne und Elemente zu erfahren. Technik bringt die Voraussetzungen, um
ein Leben im Ganzen der geographischen Welt, in der Weiträumigkeit von Licht und Luft und aller
Weisen ihrer Erscheinung zu führen. Indem alles nahe und erreichbar wird, wird die Heimat weit. In
dieser Natureroberung erwächst dann die eigentliche Lust an der unberührten Natur, die ich einsam in
sinnlicher Gegenwart an diesem Orte durch die Tätigkeit meines Leibes in ihr mir zur Wahrnehmung
bringe und entdecke. Nur indem ich diese Entdeckbarkeit in meiner jeweils unmittelbaren Umwelt
erweitere und mich nicht vom Boden löse, vielmehr diese Lösung nur als eines der technischen Mittel,
den Boden mir nahezubringen ergreife, kann ich die Chiffre der Natur in den künstlich geschaffenen
Möglichkeiten490 ... tiefer erblicken.

Mit der Technisierung ist ein Weg beschritten, der weitergegangen werden muß. Ihn rückgängig zu
machen hieße das Dasein bis zur Unmöglichkeit erschweren. Es hilft nicht zu schmähen sondern zu
überwinden. Dazu muß das Technische das Selbstverständliche sein, das in der Ausübung fast außer-
halb des Feldes ausdrücklicher Aufmerksamkeit liegt. Gegenüber der Notwendigkeit, daß jede Tätigkeit
zu besserem Gelingen technisch unterbaut sein muß, ist dann das Bewußtsein für das Nichtmechanisierbare
bis zur Untrüglichkeit zu schärfen. Eine Verabsolutierung der Technik wäre vernichtend für das Selbstsein;
ihm muß jeder Leistungssinn von einem anderen Sinn durchdrungen bleiben.491

Für mich beschreiben diese Sätze einen wesentlichen Aspekt des heutigen urbanen Lebens. Das ist auch eine Absage
an alles sektenhafte ‚Naturleben’. Natürlichkeit und Technik, physis und techne gehören zum Leben. Der „andere
Sinn“ bezieht sich dann auf alle anderen geistigen Inhalte des Lebens.

Soweit also die Bedeutung des Begriffes ‚Urbanität’ im Hinblick auf das Bewusstsein der Gesellschaft. Er hat aber
auch eine Relevanz in Bezug auf die Planung. Aber wie gesagt, hat das weder etwas mit Dichte noch mit irgendwel-
chen formalistischen Fragen zu tun, seien es orthogonale oder ‚dekonstruktivistische’ Formen. Urbanität entsteht
nur durch Vielfalt, durch Überlagerungen unterschiedlicher gesellschaftlicher Funktionen. Diese sind in alten ge-

490  Unter „künstlich geschaffen“ verstehe ich nach meinem Leitmotiv: physis, durch techne beeinflusst
491  Jaspers, (1931), 184f.

Die Welt als Garten  213


wachsenen Städten noch vorhanden. Allerdings degenerieren sie hier zunehmend durch die Überhandnahme von
Konsumeinrichtungen in Teilen der Innenstädte, die dann nach Ladenschluss wie ausgestorben wirken. In dieser
Hinsicht haben die viel beklagten Einkaufszentren „auf der grünen Wiese“ auch eine positive Seite, indem kulturelle
und gesellige Funktionen nicht völlig aus den Städten verdrängt werden.

Sofern wir von Urbanität in der Gartenkunst reden wollen, ist auch dazu nur zu unterscheiden zwischen Vielfalt
und Einfalt. Die Erzeugnisse der Wettbewerbs-Gartenkunst, die unter dem Diktum von „Klarheit und Lesbarkeit“
stehen, erzeugen keine Urbanität. Klarheit bedeutet Überschaubarkeit auf einen Blick; der zweite Blick erzeugt
schon Langeweile. Das Schlagwort „Lesbarkeit“ müsste doch eigentlich narrative Vielfalt bedeuten; davon kann
aber selten die Rede sein. - Für Urbanität stehen immer noch Grünanlagen wie der Palmengarten in Frankfurt oder
Planten un Blomen in Hamburg. Das ist aber wie gesagt, nicht die Frage nach modernen oder konventionellen
Formen, sondern es geht allein um die Pluralität der Funktionen, wie auch Weilacher schreibt:

Die Raumgefüge der Zukunft müssen ... komplett genug für den Gebrauch, unvollständig genug für die
subjektive Aneignung, auch komplex und damit antizipationsfähig genug sein, um auf den ständigen
Wandel reagieren zu können. 492

Das gilt für alle Räume, nicht nur für die städtischen. Der Begriff Urbanität ist nicht mehr relevant als Planungsbegriff
für Gestaltungsformen, sondern vielleicht noch für unterschiedliche Lebensformen, die mehr naturnah, ‚ländlich’
oder naturferner, ‚städtisch’ sein können. Er steht für eine besondere Atmosphäre, die aber nicht formalistisch zu
bestimmen ist.

Festzustellen ist jedoch, dass der Begriff immer noch Hochkonjunktur hat. So spricht man von „urbaner Wildnis“
oder auch vom „urbanen Wald“. 493 Urbane Wildnis sieht man vor allem im Zusammenhang mit aufgelassenen
Industrieflächen, zum Beispiel im Emscherpark. Hier sehe ich eine starke romantische Komponente darin, dass
Ruinengelände von der „Natur“ zurück erobert werden, ein Reiz, der offensichtlich viele Menschen beeindruckt.
Nach meinen Grundunterscheidungen ‚physis / techne’ und ‚Tun und Lassen’ überwiegen hier physis und Lassen.
Mit ‚Urbanität’ hat dies wenig zu tun.

„Urbaner Wald“ ist im Gespräch in Verbindung mit dem „Rückbau“ in der Stadt. Das ist im Hinblick auf die demo-
graphische Entwicklung von großer Bedeutung. Beachtlich ist, dass hier an Aufforstung gedacht wird, was bisher in
der Profession kaum ein Thema war, weder bei Landschaftsplanern noch bei Naturschützern. Wald war allein Sache
des geschlossenen Systems Forstwirtschaft. So erklärt sich auch, dass nicht von Aufforstung die Rede ist sondern
von „Wald etablieren“ und dass man das „Urbanen Wald“ nennt, und nicht der seit Jahrzehnten eingeführte Begriff
„Erholungswald“ verwendet wird. Es wird Zeit, diesen kleinlichen Dissens zwischen den Fakultäten zu überwinden,
und konsequenterweise sollte hier auch das Fachwissen der Förster einbezogen werden.

Dieses neue Konzept wird hauptsächlich ökonomisch begründet, weil es langfristig gesehen geringe Pflegekosten
erfordert. Ich sehe aber die grundsätzliche Bedeutung darin, dass Wald überhaupt Gegenstand der Planung wird.

Zur ‚Hochform’ gelangt der Begriff dann mit der „Urbanen Landschaft“. Darunter wird das „gesamte
Raumgeschehen“ verstanden „mit Gebäuden, Freiräumen, Infrastruktur, naturräumlichen und kultur-
räumlichen Bedingungen, Menschen, Tieren und Pflanzen und den Wechselbeziehungen von Natur und
Kultur“.494

492  Weilacher, (2005), 20.


493  Garten und Landschaft Februar 2004 und Mai 2010.
494  Landschaftsarchitekten 2/2010, 36ff.

214  Die Welt als Garten


Der Begriff ist also allumfassend. Aber nach dem Grundsatz, dass man „keine Bezeichnung vornehmen kann, ohne
eine Unterscheidung zu treffen“, ist er leer. Hier besteht das gleiche Dilemma, das ich in der Einleitung (Anm. 23)
im Zusammenhang mit dem Begriff „Totale Landschaft“ behandelt habe, mit dem Unterschied, dass „urban“ besser
klingt und dass damit alles konnotiert werden kann, was die gegenwärtige Gartenkunst bewegt. In dem zitierten
Aufsatz ist denn auch nur von einer Theorie der Entwurfstechnik die Rede. Was „urban“ bedeuten soll, bleibt un-
klar.

Die Welt als Garten  215


Kapitel 9 Aspekte der ‚Gartenwelt’
Wenn ich jetzt versuche, die Idee der ‚Welt als Garten’ zu konkretisieren, dann wird es nicht vielmehr als die
Zusammenfassung der bis hier entwickelten Gedanken sein, hier und da mit einer Vertiefung und Erweiterung. Bei
der Komplexität des Themas kann man keine einheitliche Theorie oder ein neues System schaffen. Was gebildet
wird, ist ein Bündel von Unterscheidungen. Es ist der Versuch, gegenwärtige Fehlentwicklungen bloß zu legen und
Wege zu neuen Gestaltungsformen aufzuzeigen. Dabei geht es um konventionelle Fragen der Gartengestaltung als
auch um die übergeordnete Frage des Mensch- / Naturverhältnisses. Es geht um globale und lokale Sichtweisen. -
Natürlich gibt es auch andere „Welten“: die soziale Welt, die Wirtschaftswelt, die politische Welt und so weiter. Alle
stehen in Wechselbeziehung mit der ‚Welt als Garten’, mit der ‚Gartenwelt’.

9.1 Die räumliche Struktur


Gartenkunst ist eine Raumkunst. Deshalb ist die Raumstruktur eine wichtige Frage in Bezug auf die Gartenwelt.
Als Symbol für den ‚Urraum’ habe ich im 5. Kapitel die Waldlichtung und als entscheidende globale Veränderung
der klassischen Raumvorstellung und damit der konventionellen Landschaft die fraktale Form der ‚Zwischenstadt’
nach Sieverts und als neue Raumidee das Raumkontinuum oder den fließenden Raum dargestellt. Das Prinzip der
Zwischenstadt ist die „Durchdringung von Freiräumen und Bebauung,“ die anstelle der Trennung von Stadt und
Land durch die ‚Stadtkante’ getreten ist. Dabei haben sich „Kerne stabiler Permanenz“ erhalten, die eine „Synthese
[mit] ... Feldern weitgehender Unbestimmtheit“ bilden. Ein positiver Gesichtspunkt dieser Entwicklung ist der, dass
in diesem Raumgebilde viele Menschen in unmittelbarer Nähe zur Natur leben können. Dieses zu erhalten und
noch zu verbessern muss Ziel der Planung sein.

Die immer noch vertretene Forderung nach Verdichtung der Innenstädte, um der ‚Zersiedelung’ entgegen zu wir-
ken, ist ein kontraproduktiver Anachronismus. Die Begründungen, die in dem Zusammenhang angeführt werden,
sind haltlos; die entsprechenden Zahlen sind irreführend: Wenn zwei Hektar Ackerfläche mit Einfamilienhäusern
bebaut werden, heißt das nicht, dass zwei Hektar versiegelt werden sondern höchstens ein fünftel davon. Und auch
dies kann noch durch ein entsprechendes Regenwasser-Management weit gehend kompensiert werden. Und auch
ökologisch gesehen, ist ein Gebiet mit Hausgärten wertvoller als ein Maisacker.

Auch das Problem der Verkehrswege ist durch die Verdichtung der Städte nicht zu verbessern. Die Entfernungen zu
den Gewerbegebieten, die sich meistens in den Randgebieten befinden oder gar in den Gemeinden außerhalb der
Städte, sind kaum in irgendeiner Weise zu optimieren, zumal der Wohnungswechsel den meisten Menschen bei
uns, im Gegensatz zu den Amerikanern, schwerer fällt als der Wechsel des Arbeitsplatzes.

Die Struktur der räumlichen Durchdringung kann sehr unterschiedlich sein. Wichtig ist, wie gesagt, die Möglichkeit
des Wohnens ‚Innen’ und ‚Außen’. Überholt sind jedoch Modelle städtebaulicher Großformen wie Grünzüge,
Grünachsen oder grüne Ringe. Das stellt auch Lucius Burckhardt fest in seiner „Spaziergangswissenschaft“:

Der Spaziergang zum Stadtrand dient auch der Kritik der plötzlich wieder auflebenden Grün-
Großkonzepte. In einer Zeit, wo städtebaulich wenig zu machen ist, redet man plötzlich wieder von
Grünschneisen und einem Grünring um die Stadt. Das angestrebte Ziel ist der Spaziergänger, der von
seiner Wohnung zur nächsten Grünschneise strebt, dort radial zum Stadtrand wandert und schließlich,
aber es ist so lächerlich, daß man sich schämt, es niederzuschreiben, auf dem Grünring um die Stadt
läuft oder radelt.495

495  Burckhardt, (2007), 290.

216  Die Welt als Garten


Burckhardt vertritt einen „Spaziergang“, der „in seinen Sequenzen spannungsreich“ angelegt ist und „durch gegen-
sätzliche Stadtteile führt: durch enge Gassen, zwischen öffentlichen Bauten, schließlich durch Wohnquartiere und
dann ins Grüne.“ 496 Sein Ziel ist es „den stereotypen Bildern der Stadtplaner und Grünplaner die wirklichen Bilder
des Stadtbewohners entgegenzusetzen.“

Deshalb muß Grünplanung gerade nicht auf die Kontinuität der Schneisen und Ringe tendieren, sondern
auf ihre Unterbrechung. Jedem bewohnten Stadtteil sollte ein kurzer Spaziergang zum Stadtrand oder
zu einem innerstädtischen Freiraum zugeteilt sein, in bevorzugten Städten kann dieses ein Flußraum
sein, dort aber sollte nicht nur gärtnerische Gestaltung, sondern auch das Spiel der Baulücken ... für
Abwechslung sorgen.497

Dem muss auch die Wegeplanung folgen im Zusammenwirken der Stadt- und Grünplanung. Es sind spezielle
Wegesysteme für Fußgänger und Radfahrer zu schaffen. Die Grundform sollten Rundwege in verschiedenen Längen
sein.

Eine besondere Bedeutung für die räumliche Struktur der Stadt haben Sieverts „Felder weitgehender Unbestimmtheit“
in letzter Zeit mit dem Brachfallen städtischer Bauflächen und den dadurch entstehenden Baulücken erlangt.498
Diese erfordern ganz neue Ansätze von Gestaltungsformen. Die Anlagen, obwohl sie zeitlich begrenzt sind, können
für die verbliebenen Bewohner, besonders für Kinder, ganze Lebensabschnitte bestimmen. In diesen Fällen ist eine
intensive Mitwirkung der Anlieger angebracht, wobei die zeitliche Unbestimmtheit immer bewusst bleiben muss.
Wir kommen also zu einer neuen Unterscheidung, die unserem bisherigen Denken fremd war, die zwischen dau-
erhaften Anlagen, die mit zunehmendem Alter immer schöner werden und ephemeren Grünflächen, die dynami-
schen Veränderungen unterliegen.

9.2 Vegetation als Substanz der Gartenwelt


Neben der Raumstruktur hat die Vegetation essentielle Bedeutung für die Gartenwelt. Ich habe im 2. Kapitel die bio-
logischen Grundlagen der Vegetation behandelt: die Pflanzen als autopoietische Einheiten in struktureller Kopplung
mit ihren Nischen, sowie Formen der Vergesellschaftung, das Verhältnis physis zu techne und Tun und Lassen und im
Kapitel 7 die Pflanzen als Medium und Form in der Gartenkunst. Im Hinblick auf die Gartenwelt ist nun die globale
Bedeutung der Vegetation zu beleuchten, Vegetation als Ernährungsgrundlage einer wachsenden Weltbevölkerung.

9.2.1 Die Bedeutung der Bodenfruchtbarkeit

Zur Vegetation gehören, wie gesagt, die Pflanzen und ihr Substrat, der Boden. Ein Hauptproblem für die Gartenwelt
ist die rapide Abnahme kulturfähiger Böden weltweit bis zur Wüstenbildung, und das ist nicht nur ein Problem der
Entwicklungsländer. Die Ursachenforschung beschäftigt sich vorwiegend mit dem Klimawandel, was aber hier nicht
zu behandeln ist. Mein Thema sind die biologischen Ursachen, und zwar die Vernachlässigung des Bodenlebens, was
seit der Antike zur Verkarstung der Landschaften geführt hat. Ich habe oben bereits angedeutet, wie wichtig ein ge-
sundes Edaphon für die nachhaltige Fruchtbarkeit des Bodens ist. Es geht um die Fähigkeit der Nährstoffspeicherung
und vor allem um die Optimierung der Wasserkapazität der Böden, wodurch die Wüstenbildung verhindert wer-
den kann. Und nicht nur die Wüstenbildung, auch die weltweit zunehmenden Überschwemmungen haben eine
Ursache in der mangelnden Bodengesundheit.

496  Ebd., 291.


497  Ebd., 292.
498  Siehe Anm. 198, 199.

Die Welt als Garten  217


Absolut negativ sind die gegenwärtig vorherrschenden Monokulturen zu sehen, besonders der Maisanbau, der eine
Verdichtung und Erosion des Bodens nach sich zieht. Aber es ist falsch, die „industrielle Landwirtschaft“ zu verteu-
feln. Nicht der Einsatz von Maschinen an sich ist schädlich, sondern die Vernachlässigung der Frage der Fruchtfolge
und die mangelnde Zuführung organischer Stoffe. Die modernen landwirtschaftlichen Maschinen sind durchaus
in der Lage, eine optimale Bodenstruktur herzustellen, wenn die anderen Faktoren gesichert sind. Biologischer
Landbau ist also nicht durch „vorindustrielle“ Bearbeitungsmethoden gekennzeichnet, sondern durch die umfas-
sende Beachtung nachhaltiger Bodenfruchtbarkeit. Wichtigster Faktor ist der Dauerhumus, der durch eine umfas-
sende Kreislaufwirtschaft der organischen Stoffe zu sichern wäre. Bewusst provozierend sage ich: Wichtiger als der
alles beherrschende konservierende Artenschutz ist der Schutz eines reichen Bodenlebens.

Ich habe keinen Einblick, welche Rolle die Bodenkunde heute im Studienplan angehender Landschaftsarchitekten
spielt. Lehrreich ist jedenfalls ein Blick ins Internet unter den Stichworten Bodenkunde und Bodenfruchtbarkeit. –
Natürlich spielen auch weltwirtschaftliche Fragen und die negativen Wirkungen von fehlgeleiteten Subventionen,
die nur die Bodenspekulation fördern, eine Rolle, was hier aber nicht zu erörtern ist.

9.2.2 „Nachwachsende Rohstoffe“ als einschneidender Faktor in der


Gartenwelt

Die sich anbahnende weltweite Ölverknappung hat eine Entwicklung ausgelöst, deren Tragweite nicht überschätzt
werden kann. Es geht um den Anbau „nachwachsender Rohstoffe“. Gegenwärtig bahnt sich eine Besorgnis erre-
gende Entwicklung an, indem großmaßstäblich Erdöl durch Pflanzenöl oder durch aus Zuckerrohr gewonnenen
Alkohol ersetzt wird, weit gehend auf gerodeten Regenwaldflächen. Eben so negativ ist die bei uns subventionierte
Stromgewinnung aus Mais zu sehen, auch im Hinblick auf die Bodenverschlechterung. Fragwürdig ist diese Methode
schon aufgrund der geringen Effizienz, das heißt, dass der Energieaufwand für die Kultur – Bodenbearbeitung,
Düngung, Aussaat, Schädlingsbekämpfung, Ernte – fast so groß ist, wie die gewonnene Energie.

Zu beurteilen ist der Anbau von nachwachsenden Rohstoffen auf Kosten der Nahrungsmittelproduktion auch unter
dem Gesichtspunkt, dass Millionen Menschen in der Welt verhungern.

Es ist deshalb dringend zu fordern, Kulturformen für nachwachsende Rohstoffe zu entwickeln, die nicht oder mög-
lichst wenig die Nahrungsmittelproduktion beeinträchtigen. Dafür bieten sich zunächst Grenzböden an, auf denen
der Mitteleinsatz für normale Landwirtschaftliche Kulturen höher ist als der Ertrag. Weiter kämen Flächen infrage,
die aus anderen Gründen nicht oder vermindert kulturfähig sind, wie Restflächen oder Hangflächen.

Ich schlage als Beispiel ein Modell vor, das von den norddeutschen Wallhecken, Knicks, inspiriert ist. Die Knicks
hatten (und haben) mehrere Funktionen. Sie dienten einerseits als Einfriedigung und Windschutz und lieferten
andererseits Heizmaterial für den bäuerlichen Herd. Die Knickpflanzen waren heimische Gehölze, die aus den
Wäldern geholt wurden.

Eine moderne Form könnte so aussehen: Auf einem großen Ackerschlag werden in Abständen von 100 bis 150
Metern parallele Gehölzreihen gepflanzt. Davon wird jedes Jahr, je nach Pflanzenart, ein Siebentel bis ein Zehntel
abgeerntet, so dass ein sieben- bis zehnjähriger Umtrieb stattfindet. Diese Kulturform kann genossenschaftlich
organisiert werden, in einem Umfang, der den Betrieb eines Kleinkraftwerkes ermöglicht. – Als Voraussetzung
wäre zu erforschen, welche Gehölze am besten geeignet sind, d. h. welche den größten Zuwachs bei geringer
Wurzelkonkurrenz bringen. Im Prinzip werden es tief wurzelnde Pflanzen sein. Zweitens sind der optimale Abstand
und die Richtung der Reihen zu ermitteln, so dass Windschutz und eine geringe Verschattung optimiert werden und
der Einsatz von großen Landmaschinen nicht behindert wird.

218  Die Welt als Garten


Die Probleme, die die nachwachsenden Rohstoffe aufwerfen, lassen erkennen, welche Umwälzungen in der
Landschaft bevorstehen. Lucius Burckhardt sah noch die Gefahr

daß in Teilen des Landes, wo die Rationalisierung sich als unrentabel erweist, die Landwirtschaft auf-
hört, das Landschaftsbild verwildert und zerstört wird, und daß damit ebenso sehr die Kennzeichen
des „lieblichen Ortes“ verloren gehen wie bei der übermäßigen Nutzung. Die totale Ausbeutung – oder
andernorts die Nichtbewirtschaftung – des Bodens hebt den Gegensatz von Natur und Garten auf. So
wird zur Notwendigkeit, was zu Beginn des Industriezeitalters ein Vergnügen großer Herren war: die
Gestaltung der Landschaft.499

Eine Nichtbewirtschaftung wird es bald nicht mehr geben, aber die Gestaltung der Landschaft unter veränderten
Bedingungen ist die Aufgabe der Zukunft.

9.3 Das Bild der Landschaft, Zukunftsaspekte


Das Motto „Die Welt als Garten“ mit dem Zusatz „Über Gartenkunst“ soll zum Ausdruck bringen, dass Gartenkunst
stärker als andere Kunstarten mit essentiellen Lebensfragen verbunden ist, mit Fragen der Ernährung, der
Energieversorgung, des Zusammenlebens und der seelischen Gesundheit. Dies alles ist zu sehen als ‚Form der
Unterscheidung’ mit mehreren Seiten. Das heißt, dass die Behandlung einer dieser Seiten immer die Gefahr in sich
birgt, dass die anderen als ‚Blinder Fleck’ keine Beachtung finden. Wenn ich von dem ‚Bild der Landschaft’ spreche,
besteht dazu die Gefahr, dass dies unter Kategorien der bildenden Kunst verstanden wird, was ich im 7. Kapitel
behandelt habe. Andererseits können wir auf den Begriff ‚Landschaftsbild’ nicht verzichten. Er muss nur von den
alten Konnotationen befreit werden, von den Stereotypen wie Landschaftsmalerei, Arkadien und so weiter. Es geht
aber immer noch um Naturästhetik, und ich beziehe mich dazu auf Gernot Böhme:

Zu den fundamentalen Lebensbedürfnissen des Menschen [gehört] nicht nur das Bedürfnis nach einer
schönen Umgebung überhaupt, sondern das Bedürfnis nach Natur: nämlich daß da etwas ist, das von
selbst da ist und ihn durch sein selbsttätiges Dasein berührt. Der Mensch hat ein tiefes Bedürfnis nach
dem anderen seiner selbst. ...

Die ökologische Naturästhetik darf ... weder qua Ökologie nur ein Machen von Umwelt sein, noch
qua Ästhetik ein bloßes Hinnehmen von Natur. Wie dieses Paradox zu lösen ist, dafür gibt die Theorie
und Praxis des Landschaftsgartens ... ein Beispiel. Als konkrete Naturpoetik war sie eine Kunst, der es
darum ging, gerade Natur als Natur hervorzubringen. Sie arrangierte Natur, damit die um so deutlicher
von sich her auf den Menschen zukäme. ... Die Theorie der Landschaftsgärtnerei [erweist sich] als
Paradigma für eine künftige ökologische Naturästhetik. 500

Böhme ist wegen dieser Ansichten oft kritisiert und missverstanden worden, besonders auch von Gerhard Hard,
der den Begriff ‚Landschaft’ immer mit dem Bild eines Schnitzels assoziiert. Gernot Böhme denkt natürlich nicht an
Landschaftsgärten, wie sie vor 200 Jahren entstanden sind, sondern es geht ihm um das Prinzip, das er ein Paradox
nennt, nämlich dass Nutzen und Schönheit in der „sozial konstituierten Natur“ zusammen gehören.

Ein positives Beispiel ist die Einbindung der Autobahnen in die Landschaft durch Landschaftsarchitekten. Dies
kann als Vorbild dienen für die Lösung gegenwärtiger Probleme. Ich denke an den zunehmenden Widerstand der
Bevölkerung gegen die Windenergie-Parks und die in Verbindung damit notwendigen neuen Überlandleitungen.
Durch eine entsprechende Landschaftsplanung könnten die Beeinträchtigungen gemindert und die Akzeptanz ge-

499  Burckhardt, (2007), 196f.


500  Böhme, (1989), 92ff.

Die Welt als Garten  219


fördert werden. Dazu müssten in den Planfeststellungsverfahren verbindliche Landschaftsbegleitpläne aufgestellt
werden.

Dabei geht es nicht in erster Linie um ein Kaschieren der technischen Elemente, sondern um die Schaffung eines
Gegengewichtes durch eine robuste und gezielt eingesetzte Vegetation. Ich stelle mir eine relativ kleinräumige
Gliederung der Landschaft in diesen Bereichen vor, wodurch der Blick abgelenkt wird. Entsprechende Pflanzungen
könnten als nachwachsende Rohstoffe dienen. Die Raumbildung muss aber im Übrigen die Belange einer rationalen
Landwirtschaft berücksichtigen, also grundsätzlich orthogonal sein. Das führt zum nächsten Thema:

9.3.1 Die Landwirtschaft und das Bild der Landschaft

Im klassischen Sinne ist der Begriff ‚Landschaft’ unmittelbar mit der ‚Gefildenatur’, das heißt mit der landwirtschaft-
lich genutzten Natur verbunden, was man auch ‚Kulturlandschaft’ nennt. Dieses Landschaftsbild hat sich kollektiv
fest etabliert, obwohl die Landwirtschaft auch schon in der Vergangenheit große Wandlungen durchgemacht hat,
zum Beispiel durch die Verkoppelung im 18. Jahrhundert welche die Gewannflur und Almende ablöste. Als Störung
des gewohnten Bildes wurde erst die Wandlung durch die Flurbereinigung empfunden. Gegenwärtig stehen sich
das Ideal einer kleinräumlich strukturierten Landschaft und die Realität der ‚industriellen Landwirtschaft’ unver-
söhnlich gegenüber.

Es erhebt sich die Frage, wie soll eine Landwirtschaft aussehen, die sich in das Ideal einer Gartenwelt einfügt?
Kann man das Landschaftsbild überhaupt planerisch beeinflussen, und gäbe es ein Leitbild dafür? Oder sollte man
die Entwicklung sich selbst überlassen? Schließlich ist die klassische Landschaft, die Gefildelandschaft, doch auch
‚natürlich’ entstanden.

Ich bin überzeugt, dass eine Steuerung unverzichtbar ist. Ich sage bewusst nicht ‚Planung’, weil damit leicht die
Herstellung von fertigen Bildern assoziiert wird. Wenn man aber die Entwicklung den Spezialisten überlässt, werden
wir eine Landschaft bekommen, die der ähnelt, die im 19. Jahrhundert durch die Monokultur der Kiefernwälder
entstanden war. Ansätze sind schon in Gegenden zu erkennen, die durch Maisfelder geprägt sind. Eine derartige
Fehlentwicklung kann aber nur durch die Zusammenarbeit von Land- und Forstwirten, Bodenkundlern, Ökologen
und nicht zuletzt von Landschaftsplanern und Landschaftsarchitekten vermieden werden. - Dass auch ökonomische
und politische Faktoren eine beherrschende Rolle spielen, zum Beispiel durch das Subventionswesen, ist evident,
kann jedoch hier nicht weiter erörtert werden.

Als fiktives Beispiel einer gemeinschaftlichen Problemlösung nehme ich den obigen Vorschlag einer Streifenkultur
von Energiepflanzen. Wissenschaftlich ist die Auswahl optimaler Pflanzen zu erforschen. Agraringenieure hätten
den Reihenabstand und die rationellste Erntemethode zu klären. Als Faktor, der das Landschaftsbild beeinflusst,
müssten Landschaftsarchitekten den Ernterhythmus bestimmen, was die folgende schematische Skizze veranschau-
licht. Zugrunde gelegt ist ein siebenjähriger Umtrieb. Der Rhythmus der Abschnitte ist unregelmäßig, wodurch ein
abwechslungsreiches Bild entsteht. (Der Höhenmaßstab ist stark überhöht).

220  Die Welt als Garten


Entscheidend ist, dass bei einer Planung alle relevanten Belange berücksichtigt werden. Ein Negativbeispiel ist die
bereits erwähnte Flurbereinigung, der ein typisches eindimensionales Denken zugrunde lag. – Andererseits gibt es
heute aber auch Vorschläge von Landschaftsplanern, die nur ökologische Belange berücksichtigen, aber aus Sicht
der Landwirtschaft untragbar sind.

Zu berücksichtigen ist aber auch die Bedeutung der Agrarlandschaft als Erholungsraum, zum Beispiel im Hinblick
auf das Thema ‚Urlaub auf dem Bauernhof’. So liegt etwa die Erschließung schöner Landschaftsteile durch
Wanderwege auch im Interesse der Landwirte, ebenso wie die Renaturierung von Bachtälern, die außerdem auch
dem Hochwasserschutz dienen würde. Also auch die Wasserbauer gehören mit ins Boot, schon um die Schäden zu
beseitigen, die sie in der Vergangenheit angerichtet haben.

Nachwachsende Rohstoffe können selbstverständlich unter bestimmten Bedingungen auch flächig angebaut
werden. Auch hier besteht die Möglichkeit, Erholungsfunktionen einzufügen, zum Beispiel Labyrinthe und
Spieleinrichtungen auf Lichtungen.

Als eine besondere Möglichkeit, Landschaftsbilder und damit den Erholungswert zu verbessern, sehe ich – be-
sonders in Norddeutschland – darin, durch Bauernwälder Raumwirkungen zu optimieren. Beispiele sind in der
Lüneburger Heide zu finden. Problematisch sind hier nur die Monokulturen der Kiefernwälder, die besonders durch
Waldbrände gefährdet sind. Bei der Umwandlung in Mischwälder sollten auch gezielt Wildsträucher mit einge-
bracht werden, zur Förderung der Artenvielfalt von Flora und Fauna. Und die Förster sollten sich dazu durchringen,
in große Wälder Lichtungen einzufügen, mit unterschiedlichen Nutzungen.

Anders liegen die Verhältnisse in Gegenden, die seit jeher wegen ihrer Schönheit eine große Anziehungskraft für
die Menschen haben. Das gilt für die deutschen Mittelgebirge und für die so genannten „Schweizen“, von der
Holsteinischen bis zur Sächsischen Schweiz. Ein Blick auf Satellitenbilder zeigt, dass diese Landschaften durch den
Wechsel von Wald und Lichtung geprägt sind. Bewaldet sind die Hänge und gelichtet die Talsohlen. Diese archety-
pische Raumstruktur und das ausgeprägte Relief machen offensichtlich den Erholungswert dieser Landschaften aus.
Aber oft sind sie der Grund für die Schwierigkeiten einer rationellen Bewirtschaftung. Hier muss die Gesellschaft
den Landwirten helfen. Anstelle der Förderung der Großbetriebe in den fruchtbaren Ebenen, sind hier nachhalti-
ge Subventionen sinnvoll. Das heißt aber nicht, dass die Landwirte fremd bestimmt, etwa von Naturschützern, zu
Landschaftspflegern degradiert werden; die Priorität hat auch hier die landwirtschaftliche Produktion. Ein beson-
derer Wert muss hier aber auch auf die Schaffung einer optimalen Infrastruktur für die Erholungsfunktion gelegt
werden, was die Aufgabe von Landschaftsarchitekten wäre.

Das Ziel ist also die Entwicklung einer neuen Kulturlandschaft - ‚Gefildelandschaft’ - die sowohl die Belange einer
modernen Landwirtschaft wie auch die Erholungsfunktion erfüllt. Erreicht werden kann das, wie gesagt, nur durch
eine enge Zusammenarbeit der verschiedenen Disziplinen, am besten durch die Schaffung interdisziplinär struk-
turierter Behörden. – Abschließend sei noch einmal Lucius Burckhardt zitiert, der sich intensiv mit dem Thema
Landschaft in seiner Spaziergangswissenschaft befasst hat:

Kulturlandschaft kann ... aktuell, gegenwärtig, fortschrittlich sein. Nur heute ist das nicht mehr gestat-
tet. ... Kulturlandschaft ist die Landschaft, in die man zu spät kommt, deren Reiz darin besteht, daß
man darin gerade noch lesen kann, wie es einmal war. Und wie es einmal war, das ist für uns so, wie
es „eigentlich“ sein müsste. ...

Die Kulturlandschaft als solche existiert ... nicht. Sie ist immer ein Unterwegs, unterwegs von der
Vergangenheit in die Zukunft und damit die Momentaufnahme der Gegenwart – und unterwegs von
der Stadt in den Urwald ... .

Die Welt als Garten  221


Die Wiederherstellung der Kulturlandschaft ist also die Erzeugung ihrer Wahrnehmung durch die
Anlagen von Wegen durch die Zeiten, ist also Spaziergangswissenschaft.501

Eine künftige Kulturlandschaft muss die Belange des technisch ökonomischen Landbaus genau so wie ökologische
Anforderungen: Nachhaltigkeit, Schadstofffreiheit und Umweltverträglichkeit in sich vereinen. Dadurch kann sich
durchaus ein Landschaftsbild entwickeln, das auch naturästhetisch wahrgenommen werden kann.

9.3.2 Der Naturschutz in der Gartenwelt

Im 7. Kapitel habe ich die Entwicklung des Naturschutzes zu einem geschlossenen sozialen System beschrieben,
das auf dem zweiwertigen Code ‚wertvoll / wertlos’ beruht und das durch die Angstrhetorik über den Begriff des
Aussterbens in der gesellschaftlichen Kommunikation fest etabliert ist. Als wertvoll wird in erster Linie das einge-
stuft, was selten ist. Das sind diejenigen Arten, die in den jeweiligen Roten Listen als „vom Aussterben bedroht“ ge-
führt werden. Das heißt, komplexe ökologische Zusammenhänge werden reduziert auf das Vorhandensein seltener
Arten. Das alles gilt es kritisch zu hinterfragen, um die Stellung des Naturschutzes in der Gartenwelt zu bestimmen.

Jürgen Dahls Federgeistchen

Das System Naturschutz beruft sich auf wissenschaftliche Theorien, die aber zunehmend kritisiert werden. (Siehe
Anm. 101) Ich beziehe mich auf die viel beachtete leidenschaftliche Darstellung von Jürgen Dahl, „Verteidigung des
Federgeistchens“. Darin relativiert er viele Aussagen der Wissenschaft, zum Beispiel das ‚ökologische Gleichgewicht’
als statisches Symbol, das Prinzip der ‚Vernetzung’ oder die Bedeutung der ‚Artenvielfalt’. Er folgert:

Die Ökologie beschreibt weder das Paradies noch die Richtung in der es liegt, ... Sie beschreibt ein
subtiles Zusammenspiel zwischen den Lebewesen, aber sie beschreibt auch die brutale Verdrängung
einer raren Spezies durch einen Allerweltsrüpel. Sie kündet von einigen heilen Weltecken, aber die
Verkündigung ist untermalt vom Lärm der ökologischen Katastrophen, auch solcher, die die Natur sich
selbst bereitet, ganz ohne Zutun des Menschen.

Die Ökologie ist keine Gesetzessammlung, die sich zu einer Umwelt-Ethik umformen ließe. Alles,
was sich unter dem Etikett der Ökologie an Vorschlägen und Vorschriften, an Empfehlungen und
Mahnungen, an Verboten und Geboten annonciert wird, beruft sich zwar auf nachgewiesene ökologi-
sche Zusammenhänge – aber die Wertung dessen, was als unerwünscht und erlaubt ... zu gelten hat,
liegt außerhalb der Ökologie.502

Es geht auch Jürgen Dahl um eine Wertung, und scheinbar ist auch für ihn die Seltenheit ein Kriterium. Als Beispiel
betrachtet er einen seltenen Falter, das Federgeistchen. Das Einzigartige dieser Art besteht darin, dass bei ihr die
Hinterflügel aus federartigen Gebilden bestehen, die nur während des Fluges zu sehen sind, weil sie, sobald sich der
Schmetterling niederlässt, in einer Tasche verschwinden.

Für Dahl besteht aber der Wert dieser Art für uns allein in seiner Schönheit. Für die Ökologie sei es unerheblich,
ob sie, so selten wie sie vorkommt, erhalten bleibt oder nicht. Er rekurriert also auf ein Kriterium, das für den
heutigen Naturschutz nebensächlich ist: die Ästhetik der Natur, und nicht nur auf der Seltenheit, sondern auch auf
der Vielfalt gründet sich für Dahl das ästhetische Empfinden. Aber diese Vielfalt „ist nicht mehr jene zweckmäßige
Diversität, von der die Ökologen künden, sondern ein Reichtum weit jenseits aller Zweckmäßigkeit.“ 503 Letztlich

501  Burckhardt, (2007), 93ff.


502  Dahl, (1983), 230.
503  Ebd., 265.

222  Die Welt als Garten


kommt er aber auch auf das Prinzip, das ich mit den Unterscheidungen „physis / techne“ und „Tun und Lassen“
vertrete:

Wir müssen den Garten der Welt bestellen, wenn wir darin überleben wollen. Und selbst wenn wir
bescheiden sind und, anders als alle anderen Lebewesen, nicht rücksichtslos und selbstsüchtig nur auf
die eigene Vermehrung und Verbreitung aus sind, müssen wir doch unablässig gegen „natürliche“
Zusammenhänge handeln. Wir müssen durch Eingriffe aller Art immer wieder irgendwas zu verhin-
dern trachten, was die „Natur“ von sich aus praktizieren möchte, und wir müssen immer wieder ver-
suchen, ihr etwas abzuverlangen, was sie von sich aus gar nicht gäbe.504

So sieht er auch die Naturgartenbewegung, die nur vom „Lassen“ bestimmt ist, kritisch „als subtile[n] Luxus ...
von geringem Erkenntniswert.“ Denn „aus Le Roys vielgelobten Wildwuchsanlagen [ist] schließlich doch nur die
platte Einsicht mitzunehmen, daß da, wo man was wachsen lässt, immer etwas wächst.“ 505 Das entspricht der
Feststellung, dass jede offene Nische bald wieder von einem Organismus besetzt wird, mehr oder weniger zufällig.
(Siehe Anm. 99).

Die Ansichten Dahls sind zum Teil nicht einfach zu interpretieren und in mancher Hinsicht missverständlich. Auch
seine Prognose, dass die Entwicklung auf eine Katastrophe zuläuft, nach der die Welt „gerade eben am Untergang
vorbei, in namenlose Armut versinkt“, ist ein Pessimismus, der heute – dreißig Jahre später – nicht mehr ange-
bracht ist. Man kann doch ein allmähliches, wenn auch unendlich langsames Umdenken und ein Gegensteuern in
der Gesellschaft feststellen. Aber davon abgesehen, enthalten Dahls Ausführungen wichtige Ansätze, die eine neue
Rolle des Naturschutzes in der Welt als Garten begründen können.

Überholte Symbole

Seine kritische Ansicht über manche Symbole im ökologischen Diskurs, wie „ökologisches Gleichgewicht“ und
„Vernetzung“ werden heute von vielen Wissenschaftlern geteilt, wenn auch in der öffentlichen Diskussion diese
Symbole immer noch eine bestimmende Rolle spielen. Nach dem Philosophen Dieter Birnbacher lädt ein Begriff wie
der des Gleichgewichts „zu einem naturalistischen Fehlschluß ein, der an sich rein deskriptiv funktioniert, aber ...
nur allzu leicht normativ gedeutet wird, so als wäre ‚Gleichgewicht’ eo ipso der einzig wünschenswerte, schlechthin
optimale Zustand eins Systems, den es nur möglichst lange aufrecht zu erhalten ... gilt.“ 506

Auch der Begriff der Vernetzung wird noch immer von Naturschützern zur Begründung ihrer Flächenansprüche
ins Feld geführt. Ein Beispiel, das als eine Vernetzung angesehen werden könnte, ist der Kleine Moorbläuling,
der sowohl auf eine bestimmte Wirtspflanze angewiesen ist, den Lungenenzian, von dem sich seine Raupen er-
nähren, wie auch auf die Knotenameise, in deren Nestern die Raupen überwintern. Nach Maturana (Siehe Anm.
94 bis 96) ist dies aber nur eine besonders exotische Nischenbildung, die nichts mit Vernetzung zu tun hat; das
Moor bleibt bestehen, auch wenn der Lungenenzian und damit der Moorbläuling nicht vorhanden sind. Diese
interessante Nischenbildung ist im Laufe der Evolution entstanden durch das, was Maturana „natürliches Driften“
nennt. Dieses Driften ist nicht teleologisch - zweck- und zielgerichtet - bestimmt, sondern unterliegt rein dem
Zufall.507 Diese Zufälligkeit ist aber die Ursache für den ungeheuren Artenreichtum, der im Laufe der Evolution
durch lauter Verzweigungen entstanden ist. Dies erklärt auch die Entstehung von manchen exotischen Formen und
Eigenschaften, die für das Überleben der jeweiligen Art ohne Bedeutung sind.

504  Ebd., 366.


505  Ebd.
506  Birnbacher, (1980), 108.
507  Maturana, Varela, (1987), 119ff.

Die Welt als Garten  223


Die beschriebenen Symbole stehen für ein Grundproblem des Naturschutzes, den Anspruch, auf einer naturwis-
senschaftlichen Basis zu handeln. Wie in der physikalischen Welt besteht die Haupttätigkeit im Zählen und Messen.
Das hat aber nur Sinn auf „Inseln der Ordnung“, (Cramer) auf denen die Entwicklung fast still steht, wie bei
Hochmooren, oder wie bei Wiesenbiotopen bei denen die natürliche Entwicklung durch menschlichen Einfluss ver-
hindert wird,. Im Allgemeinen finden wir uns aber „in einer Welt des Zufalls wieder, einer Welt, in der Reversibilität
und Determinismus nur für einfache Grenzfälle gelten, während Irreversibilität und Unbestimmtheit die Regel
sind.“ 508 „Man hat nichts mehr, woran man sich festhalten kann, alles fließt. Auf der Welt gibt es zur Zeit etwa 5
Millionen Arten. Aber insgesamt hat es in der Geschichte der Erde 500 Millionen Arten gegeben, das heißt; das was
wir jetzt sehen, ist nur 1 Prozent dessen, was einmal existiert hat.“ 509

Das heißt aber nicht, dass die Artenvielfalt nicht erhalten werden muss. Dabei geht es zum Beispiel gar nicht so sehr
um das Argument, dass in den Regenwäldern noch ungehobene Schätze an Heilpflanzen vorhanden sind. Es geht
um die Ästhetik unserer Lebensräume, und diese Ästhetik ist eine essentielle Grundlage menschlichen Lebens. Die
Frage, 5 oder 10 Prozent des Landes unter Naturschutz zu stellen sind, ist ökologisch nicht zu entscheiden. Sie wird
willkürlich nach der politischen Durchsetzbarkeit entschieden.

Der Einfluss ökologischer Erkenntnisse auf die Wahrnehmung

Dies alles zeigt, dass die Ökologie keine Wertung erlaubt. Sie ist eine beschreibende aber keine vorschreibende
Wissenschaft. Für unser Naturverhältnis und Naturverständnis ist sie trotzdem von großer Bedeutung. Ich habe
das schon in dem Abschnitt „Denken und Fühlen“ begründet. Danach haben ökologische Erkenntnisse Einfluss
auf unsere ‚gefühlte’ ästhetische Wahrnehmung. Ein Beispiel ist die veränderte Einstellung zum ‚Unkraut’: Vom
Urgarten bis zum heutigen Gemüsegarten ist das Unkraut nicht tolerierbar. Außerhalb dieser Gärten wird jedoch aus
‚Unkraut’ infolge ökologischer Erkenntnis ‚Wildkraut’ geworden. Beispielsweise wurden noch in den 70ger Jahren
in einem Hamburger Naturschutzgebiet ausgedehnte Bennnesselbestände mit Herbiziden behandelt. Erst nach der
Aufklärung durch Ökologen, wonach Brennnesseln wichtige Wirtspflanzen für viele Tiere sind, veränderte sich die
Wahrnehmung und damit die Einstellung zu diesem ‚Unkraut’. Das gilt auch für die Entdeckung der Stadtbiotope.
Auch die wurden (und werden von ‚ordnungsliebenden’ Hausbesitzern noch heute) rigoros bekämpft.

Ökologische Erkenntnisse beeinflussen also unsere Wahrnehmung. Ich habe die Frage der Wahrnehmung im 6.
Kapitel so ausführlich behandelt, weil sie eine Grundlage unseres Naturverständnisses ist. Durch die Wahrnehmung
wird die Konstruktion unseres Weltbildes bestimmt. Wahrnehmung – griechisch: Aisthesis – ist im weitesten Sinne
Ästhetik. Das heißt, Ästhetik ist nicht nur „Augenschmaus“, und es nehmen nicht nur alle Sinne an der ästhe-
tischen Wahrnehmung teil, sondern auch rationale Erkenntnisse beeinflussen das ästhetische Empfinden. Die
Naturerscheinungen, die uns so beeindrucken sind also ‚wertvoll’ in diesem ästhetischen Sinne. Das
unterscheidet sich kategorisch von dem Wert des binären Codes „wertvoll / wertlos“ im Naturschutz-
System.

Der Wert des Seltenen

Die Frage dieses Wertes ist noch näher zu untersuchen. Jürgen Dahls Auffassung dass die Ökologie wertfrei operiert;
gipfelt in der Feststellung, dass selbst in einer Welt aus heißer Schwefelsäure eine bestimmte einzellige Alge „nach
allen Regeln der Ökologie“ sich wohl fühlen würde. Damit ist der ökologische Wert an sich absolut relativiert.

Schwieriger ist die Wertbestimmung aufgrund der Seltenheit, was an tiefenpsychologische Fragen rührt. Warum
empfinden wir das Seltene als kostbar? Es ist phylogenetisch erklärbar: Auch der gegenwärtige Mensch ist immer noch

508  Prigogine / Stengers, (1986), 18.


509  Cramer, (1989), 222.

224  Die Welt als Garten


Jäger und Sammler. Für die Sammlerleidenschaft gib es unendlich viele Beispiele. Auch das Bestimmen und damit
Erkennen neuer Arten ist ein Sammeln. In der Regel richtet sich das Interesse aber besonders auf seltene Exemplare
des Sammlergebietes. Für mich war es bei der Bestimmung von Wildpflanzen immer ein Erlebnis, wenn ich eine der
seltenen Formen erkannt hatte, besonders, wenn es eine schöne Blume war. Bei den Kräutersammlerinnen dürfte
es ein seltenes Heilkraut gewesen sein; in vielen Märchen spielt ein einzelnes ‚Kräutlein’ eine Schlüsselrolle. Für die
Briefmarkensammler ist es die Blaue Mauritius.

Wenn nun mehrere Konkurrenten so ein seltenes Exemplar haben wollen, dann steigt der materielle Wert des-
selben, so dass man bei Briefmarken-, Münz- und Kunstsammlern offen von Wertanlagen spricht. Ein materieller
Wert entsteht aber nur dadurch, dass von irgendjemandem der Besitz des seltenen Gegenstandes angestrebt wird.

Damit ist klar, dass der Wert einer seltenen Tier- oder Pflanzenart nicht materiell bestimmt werden kann, denn sie
kann normalerweise nicht in Besitz genommen werden. Allerdings kann man in der Haltung und in dem Verständnis
der Naturschutzverbände durchaus ein Besitzstreben feststellen: Wenn ein Naturschutzgebiet ausgewiesen und ei-
nem Naturschutzverband zur ‚Pflege’ anvertraut wird, zeigt dieser typische Verhaltensweisen eines Besitzers. So
werden Regeln für das Verhalten der Nichtmitglieder aufgestellt, und am liebsten das Betreten „besonders wertvol-
ler“ Bereiche ganz verboten. Gerne wird vom Tabu gesprochen. (Tabu: „etwas, das sich dem ... Zugriff aus Gründen
moralischer, religiöser od. konventioneller Scheu entzieht; [wovon] nicht gesprochen werden [darf].“ 510)

Aber auch eine materielle Wertbestimmung spielt im Naturschutz eine immer größere Rolle: In der Eingriffsregelung
bei Großvorhaben wird die Lösung meistens durch eine Ausgleichszahlung gesucht. Für die administrative Abwicklung
solcher Verfahren wurde eine Wertskala entwickelt, vom Acker über Wiesen, Feuchtgebieten, Trockenrasen bis zu
Hochmooren, die am „teuersten“ sind. Bei einem Eingriff muss dann eine Fläche an anderer Stelle entsprechend
„höhergestuft“ werden. So wurde tatsächlich schon (vergeblich) versucht, künstlich eine Trockenrasenfläche zu
schaffen durch das Abschieben von Mutterboden. Ein anderes Beispiel solchen „Planierraupen-Naturschutzes“ habe
ich im Kapitel 7 angeführt.

Die Utopie eines gesellschafts-konformen Naturschutzes

Das selbstreferentielle System Naturschutz ist so fest in der Gesellschaft verankert, dass qualitative Änderungen als
utopisch erscheinen müssen. Trotzdem will ich der Frage nachgehen, unter welchen Bedingungen und Grundsätzen
eine Änderung möglich sein kann.

Als Prämisse stelle ich fest, dass jede Theorie und jede Ideologie anthropozentrisch ist; eine Erkenntnis, die sich
immer mehr durchsetzt. Auch der Naturschützer vertritt seine eigenen Interessen bis zum Besitzstreben. Tatsache
ist zudem, dass das System Naturschutz nur in wohlhabenden Gesellschaften bestehen kann. In Ländern, in de-
nen Hungersnöte herrschen, ist an eine derartige Form des Naturschutzes nicht zu denken. Daraus ergibt sich
ein Ansatz, was künftig in erster Linie Gegenstand eines anderen Naturschutzes sein muss: die globale Erhaltung
der Bodenfruchtbarkeit und das Aufhalten der Wüstenbildung in den subtropischen Gebieten durch Förderung
der heimischen Landwirtschaft. Das ist eine ökologische und ethische Frage und bedeutet für die wohlhabenden
Länder zum Beispiel den Verzicht auf die subventionierten Getreideexporte in Entwicklungsländer einerseits und
der Import von billiger Soja andererseits. Grundsätzlich müssen die eigenen Ressourcen der Lebensmittelproduktion
voll aktiviert werden. Das kann aber nur durch eine allgemeine Bewusstheitsänderung erreicht werden, die durch
das System Naturschutz eher behindert wird.

Das heißt nun nicht, dass dadurch die Pflege der Natur bei uns zweitrangig würde. Im Gegenteil: Naturverständnis und
Naturliebe sind eine Voraussetzung für die seelische Hygiene der Gesellschaft. Dazu gehört auch das Bewusstsein, dass

510  Fremdwörterlexikon

Die Welt als Garten  225


wir Teil der Natur und von ihr abhängig sind. Eine positive Einstellung zur Natur ist aber nicht durch Angstrhetorik
zu erreichen. Es ist höchst bedenklich, dass besonders von Jugendlichen die Natur als schwächlich und deshalb
schutzbedürftig angesehen wird und dadurch eine Berührungsangst entsteht. Wichtig ist im Gegenteil die leibliche
Erfahrung der Heranwachsenden durch Spielen und Toben in der Natur.

Die Aufgabe der Landschaftsarchitekten muss sein, in allen Bereichen und Zusammenhängen die Schönheit der
Natur durch ‚Tun und Lassen’ zu fördern. Eine Naturästhetik im weitesten Sinne muss das Leitbild sein. Das
schließt selbstverständlich ein, das die Reste ursprünglicher Natur, wie Moore und Urwälder erhalten werden müs-
sen. Zu dem ist der Begriff des Naturdenkmals zu reaktivieren. Dazu gehören alle Biotope, die infolge speziel-
ler Bewirtschaftungsformen entstanden sind; eigentlich handelt es sich um ‚Kulturdenkmale’. Und, um auf den
Ausgangspunkt zurück zu kommen, selbstverständlich müssen das Federgeistchen und der Lungenenzian im Sinne
der Artenvielfalt erhalten werden. Aber das ist eine Frage der Naturästhetik und damit die Frage einer des Menschen
würdigen Kultur. Nicht hinnehmbar ist, dass immer wieder gesellschaftlich wichtige Maßnahmen aufgrund nicht
überprüfbaren Gefährdungsszenarien behindert oder nur durch hohe Ablasszahlungen ermöglicht werden.

Der hier reklamierte Bewusstseinswandel wird sich nur unter großen Schwierigkeiten einstellen. Die vielen
Probleme konnten hier nur angedeutet werden. Der wichtigste Grundsatz des Naturschutzgesetzes, dass die Natur
als „Grundlage für Leben und Gesundheit des Menschen ... zu schützen“ sei, muss aus dem gegenwärtigen lokalen
und ideologischen Bezug auf die globale Idee einer Welt als Garten erweitert werden.

9.4 Aspekte der Gartenkunst


Wenn ich bisher von Aspekten der Gartenwelt gesprochen habe, dann ging es in erster Linie um wissenschaftli-
che – ‚identische’ – Fragen. So sind zum Beispiel Probleme der Bodenfruchtbarkeit nur wissenschaftlich zu lösen,
ebenso wie die Technik der Energiegewinnung aus nachwachsenden Rohstoffen; obwohl hier schon Aspekte der
Landschaftsgestaltung hinzukommen. Da dies alles Einfluss auf die Entwicklungsländer hat, ist auch die ethische
Seite dieser Weltprobleme zu berücksichtigen.

Wenn ich mich jetzt Aspekten der Gartenkunst im engeren Sinne zuwende, dann geht es nicht um etwas
Gegensätzliches, sondern – ich wiederhole es immer wieder – es geht um Formen der Unterscheidung mit zwei
Seiten, die schon behandelt wurden:

Gartenkunst

Identisches Nichtidentisches

Versöhntes Unversöhntes

Denken Fühlen

Darstellbares Nichtdarstellbares

Fragen der Kunst richten sich hauptsächlich an die rechte Seite der Unterscheidungen, jedoch ist die linke Seite
immer mit zu denken. Dabei sind immer die bisher entwickelten theoretischen Grundlagen zu berücksichtigen. In
Bezug auf die Vegetation geht es um das Verhältnis von physis und techne, Pflanze und Nische, Vereinzelung oder
Vergesellschaftung der Pflanzen, Dynamik oder Statik der Pflanzungen und in Bezug auf die Gartenarchitektur
vor allem um das Verhältnis von Funktion und Ornament. Und zur Erinnerung: Alle diese Unterscheidungen sind
skaliert, und den angemessenen Punkt auf der Skala zu finden, ist ein Kriterium der Kunst. Unter dieser Prämisse
wende ich mich den einzelnen Themen zu:

226  Die Welt als Garten


9.4.1 Pflanzen als Medium in der Gartenkunst

Formen der Pflanzenverwendung

Ich gehe zurück auf die im 7. Kapitel behandelte Unterscheidung „Medium und Form.“ Danach sind Pflanzen im
Medium Vegetation als Elemente in „loser Kopplung“ vergleichbar mit Wörtern in lexikalischer Anordnung im
Medium Sprache oder mit Tönen auf der Tonleiter im Medium Musik. So nehmen wir sie wahr, wenn sie wie auf
Gärtnereibeeten angeordnet sind. Und so wie Wörter erst in „fester Kopplung“ als „Form“, das heißt in Sätzen,
und so wie Töne erst in einem Musikstück einen Sinn ergeben, so erscheinen Pflanzen in fester Kopplung, als
„Form“ erst in einem bestimmten Arrangement.

Der Vergleich mit den Medien Sprache und Musik lassen aber auch einen deutlichen Unterschied erkennen: Die
Gartenkunst unterscheidet sich von allen anderen bildenden Künsten dadurch, dass ihr Medium, die Pflanze, einen
ästhetischen ‚Eigenwert’ hat, was man so etwa von der Farbe oder einem Marmorblock nicht sagen kann. Diese
Bedeutung der Pflanze für die Gartenkunst ist näher zu untersuchen.

Ich habe oben die Kulturtechnik der Vereinzelung im Urgarten als entscheidenden Schritt in der
Menschheitsentwicklung beschrieben. Diese Technik diente zunächst der Erzeugung von Nahrungspflanzen. Als
wichtigen Schritt in der Kulturentwicklung wird aber die Pflanze auch schon bald eine Bedeutung als Schmuck
erlangt haben. Das Schmücken mit Blumen ist eine archetypische Prägung. Viele Symbole hierfür finden wir schon
in der Kunst frühester Zeiten. Ein bekanntes ist das „Paradiesgärtlein mit der Himmelskönigin,“ in dem Blumen in
ihrer individuellen Schönheit dargestellt sind. In der Heraldik spielen Blumen eine große Rolle. Eine frühe literari-
sche Darstellung finden wir in Vergils Hirtengedichten. Darin ist die Rede vom „purpurnen Frühling“, in dem „die
Erde rings um den Fluß eine Fülle bunter Blumen“ ausschüttet. Aber auch die Schönheit unscheinbarer Pflanzen
wurden Gegenstand künstlerischer Betrachtung, wie Dürers kleines Rasenstück oder das Veilchen in der Romantik
als Symbol einer Schönheit im Verborgenen. Im Gegensatz dazu steht die Steigerung der Schönheit durch Auslese,
also durch Züchtung, die schon früh praktiziert wurde, dargestellt zum Beispiel in den barocken holländischen
Blumenstilleben. Das Arrangement einer festen Kopplung kann also für den Beobachter die Pflanzung im Garten
aber auch die Blume auf der Wiese sein.

Allen diesen Erscheinungsformen der Vegetation ist gemeinsam, dass in ihnen das Naturschöne als „Nichtidentisches“
erscheinen kann, unabhängig von dem skalierten Verhältnis zwischen physis und techne. Unter diesem Gesichtspunkt
will ich die verschiedenen Verwendungsformen der Pflanzen betrachten.

Pflanzen in Einzelstellung

In der Einzelstellung sehen wir die Pflanze als Individuum. In reiner Form ist dies verwirklicht in den so genannten
Sondergärten, wie Rosen-, Dahlien-, Irisgärten und so weiter. Wie tief diese Gärten ein fundamentales Bedürfnis
der Menschen befriedigt, kann man zum Beispiel im Dahliengarten in Altona beobachten, wenn an einem schö-
ne Septembertag an die tausend junge und alte Besucher den Garten bevölkern und sich an der Schönheit dieser
Prachtblumen erfreuen, viele mit dem Fotoapparat bewaffnet. Eine lange Tradition haben auch die Rosengärten,
nach denen sich Städte mit dem Prädikat „Rosenstadt“ schmücken. Bei der Rose kommt hinzu, dass sie einen hohen
Symbolwert hat.

Die Motivation für diese Art der Pflanzenpräsentation ist auch das Bestreben, durch Züchtung bestimmte Eigenschaften
der Pflanzen zu verbessern. Das kann die Widerstandskraft gegen Krankheiten aber auch das Erscheinungsbild be-
treffen. Letzteres unterliegt oft der Mode und damit auch der Gefahr der Entartung, zum Beispiel wenn immer
größere Blüten angestrebt werden. Bei dem Rosensortiment lässt sich der Geschmackswandel gut beobachten. Vor
etwa 50 Jahren waren einfach blühende Sorten sehr beliebt, die an Wildrosen erinnerten; ich erinnere mich an die

Die Welt als Garten  227


wunderbare ‚Betty Prior’. Als nostalgische Reaktion kamen dann wieder alte stark gefüllte und duftende Sorten in
Mode.

Einzelstellung bedeutet, wie ich gezeigt habe, dass Pflanzen in ihrer Nische nicht unter Konkurrenzdruck durch
andere Pflanzen stehen. Das erzeugt eine gewisse Statik in derartigen Pflanzungen. Das hat sicher auch prakti-
sche Gründe. Pflegekräfte mit geringerer fachlicher Ausbildung können so leichter zwischen Kulturpflanzen und
Unkraut unterscheiden.

Aber auch diese konventionelle Kulturform kann schon ganz verschiedene Bilder erzeugen. Die einfachste Form
sind Massenpflanzungen, wie die berühmten 10.000 Tulpen. Lebendiger sind schon Pflanzungen in unterschiedlich
großen Gruppen verschiedener Arten bis zu Mischungen nach unterschiedlichen Kriterien. Die Tendenz geht also
zu Bildern, die sich dem in der Natur herrschenden Zufallsprinzip annähern.

Alle diese Gestaltungsformen verfolgen das Ziel, die Pflanzen in ihrer Schönheit zu präsentieren. Dazu werden je-
weils, zum Beispiel in Sondergärten die passenden Rahmen geschaffen. Die Elemente sind in „fester Kopplung“. Das
ist nicht zu vergleichen mit der heute üblichen lustlosen Darbietung auf langweiligen Beeten, in „loser Kopplung“.

Pflanzen in Vergesellschaftung

Bedeutend anspruchsvoller sind dynamische Pflanzungen, in denen sich einzelne Arten durch Aussaat oder
Ausläufer ausbreiten können. Hier werden Pflanzen, wie oben beschrieben, jeweils zur Nische ihrer Nachbarn.
Diesen Konkurrenzkampf zu steuern erfordert gute Pflanzenkenntnisse und ständige Entscheidungen zwischen
‚Tun und Lassen’: Lässt man die Sämlinge oder Ausläufer wachsen, oder muss man konkurrenzstarke Arten ein-
dämmen.

Tatsächlich sind auf diesem Gebiet unseres Faches in letzter Zeit eindrucksvolle Fortschritte erzielt worden, maßgeb-
lich beeinflusst unter anderen von Wolfgang Oehme und Petra Pelzer, von Cassian Schmidt am Hermannshof
in Weinheim und Heiner Lutz. Im Internet findet man unter den Suchwörtern ‚Präriestauden’ und ‚Blumenwiesen’
zahllose gute Beispiele aber auch manche problematische. Insgesamt tut sich hier ein neues Feld der Gartenkunst
auf, das zum einen ein profundes Wissen und ebenso eine positive Einstellung zur Naturästhetik erfordert. Heiner
Lutz hat hierzu wichtige Grundsätze unter dem Leitbegriff „Aspektbildner“ aufgestellt:

Pflanzenverwendung, die sich am Gestalterischen orientiert, hat ... die natürlichen Standortsverhältnisse
ebenso zu beachten wie rein gärtnerisches Wissen über die Ansprüche von Pflanzen und deren
Entwicklung. Als Landschaftsarchitekt denke ich aber nicht nur an Aspekte des Standortes und der
Vegetationskunde; das gestalterische Moment mit dem Erscheinungsbild der Vegetation spielt eine gleich
berechtigte Rolle. ... Pflanzenverwendung hat ... immer mit Gestaltung zu tun. Also ist es notwendig,
bei der Pflanzenauswahl auf die Gastaltbildung zu achten. Ein erster Schritt ist dabei die Beschäftigung
mit Wahrnehmungsprozessen und Gestaltgesetzen. Die Gestaltlehre spricht bei Dominanz weniger
Elemente von Klarheit, Einfachheit und Prägnanz. Die wichtigste Gestaltregel heißt: Einheitlichkeit
im Großen und Vielfalt im Kleinen. Sie definiert Vielfalt aus Variation und / oder wechselnder
Kombination weniger gestaltbildender Elemente und ganz bewusst nicht als simple Addition möglichst
vieler und verschiedener Elemente. ... Pflanzenverwendung braucht eine Ordnung unter räumlichen
Gesichtspunkten wie auch nach rein ästhetischen Kriterien. 511 (Hvh. A.S.)

Ich teile mit Lutz auch die Auffassung, dass Stauden und Sträucher kombiniert werden sollten und dass gärtne-
risch kultivierte und heimische Arten im Prinzip gleich berechtigt nebeneinander verwendet werden können. Eine

511  Topos 37, 16ff

228  Die Welt als Garten


Einschränkung mache ich allerdings bei Pflanzungen in der ‚freien Natur’, wo ökologische Gesichtspunkte vorherr-
schen sollten. Wenn im Begleitgrün einer Landstraße plötzlich Amelanchier und Pinus montana auftauchen, dürfte
das wohl der Fehlgriff eines Straßenmeisters sein. Das Wissen um ökologische Zusammenhänge, nämlich, dass
heimische Pflanzen das Milieu für unzählige Arten der Fauna bilden, wird im Sinne von ‚Denken und Fühlen’ zu
einem ästhetischen Bewusstsein.

Zusammenfassend stelle ich fest, dass die Pflanze als Medium das wichtigste Thema der Gartenkunst ist. Der Garten
im weiten Sinne ist das Symbol unseres Naturverhältnisses. Das künstlerische Ziel muss sein, das Naturschöne als
Nichtidentisches spürbar zu machen. Um es zu erreichen, müssen die Bedingungen der Wahrnehmung berück-
sichtigt werden, die ich im 6. Kapitel deshalb so ausführlich behandelt habe. Konkret geht es um die Spannweite
zwischen der prägnanten Schönheit einer Einzelpflanze, wie der hoch gezüchteten Rose im Rosengarten und der
Impression einer Blütenwiese.

Peter Latz hat hierzu ähnliche, noch tiefer greifende Gedanken geäußert:

Nicht als dekoratives, sondern essentielles Element gehören der Reiz der Jahreszeiten, das Wetter so-
wie Blühereignisse zum archetypischen Repertoire unseres Lebenszyklus. ... Bei unseren Freiräumen
liegen möglicherweise mehr Informationen außerhalb von Form und Gestalt, als innerhalb. Bereitet
Gestaltung womöglich nur den Ort vor, jene Naturereignisse zu erleben? Was mich ... interessiert, ist
Dinge zu erforschen, die man möglicherweise spontan verwendet wie das Unsichtbare in der visuellen
Kommunikation oder das Nichtsichtbare des Ästhetischen, und dies systematischer einzusetzen. 512

Das „Nichtsichtbare“ ist gleich bedeutend mit dem „Nichtidentischem.“ - Peter Latz schreibt dann am Schluss:
„ ... mit leichter Trauer stellen wir fest, dass wir uns immer weniger denen verbunden fühlen, die Tulpen und
Narzissen, Rosen uns Rittersporn züchten.“ Diese resignative Auffassung teile ich allerdings nicht, denn auch die
Pflanzenzüchtung gehört zu unserem „archetypischen Repertoire.“ Es entspricht dem Grundsatz dieser Arbeit: Auch
die durch Züchtung (durch techne) veränderte Pflanze bleibt physis, ‚reine’ Natur.

Ich verzichte bewusst darauf, dieses Pflanzenthema zu illustrieren. Es gibt eine Fülle hervorragender
Veröffentlichungen. Zum Beispiel verweise ich auf das Buch der englischen Gartenarchitektin und Gartenjournalistin
Heidi Howcroft: „Blumengärten – Klassisch, ländlich und Modern“, in dem sie einen Querschnitt heutigen gärtneri-
schen Könnens darstellt. Auch sie bringt den Skalencharakter der Lösungen zwischen physis und techne und Tun und
Lassen zum Ausdruck und distanziert sich deutlich von dem „für das neue Millennium typische[n] minimalistischen
Gartenstil“, dessen Gärten man „als die hochgezüchteten Pudel der Gartenwelt bezeichnen könnte.“513

9.4.2 Das Verhältnis von Vegetation und Architektur im Garten

Im 4. Kapitel habe ich die Gartenarchitektur unter dem Gesichtspunkt von Funktion und Ornament behandelt,
hauptsächlich in Bezug auf die Wegesysteme und deren psychologischen Wirkungen. Und im 7. Kapitel wurde die
Überbetonung des Designs unter Vernachlässigung der Funktion kritisiert. Eine wichtige Frage ist nun noch, wie
sich die Gestaltung der Gartenarchitektur und die der Pflanzung zueinander verhalten.

Festzustellen ist zunächst, dass fast immer Pflanzung und Architektur nach den gleichen formalen Grundsätzen be-
handelt werden. Sind die Wege orthogonal gestaltet, müssen auch die Pflanzen in Reih und Glied aufmarschieren;
ist die Gestaltung mehr ‚dekonstruktivistisch’, werden auch die Pflanzbeete nach Vorbildern der abstrakten Malerei
geformt, oder die Perversion der Formgehölze kommt zum Zuge und die Rasenflächen werden zu ‚Schollen’ auf-

512  Topos 50, 6ff


513  Howcroft, (2005), 11.

Die Welt als Garten  229


gebrochen - Umgekehrt herrscht im Naturgarten weitgehende Formlosigkeit. Das reicht von der Verwendung alter
Materialien bis zur Herstellung künstlicher Ruinen.

Die Ursache für dieses herrschende Prinzip ist wieder das einheitliche Denken, das nicht in der Lage ist,
Unterscheidungen zu treffen: in der Gartenkunst muss alles ‚künstlich’ sein und im Naturgarten alles ‚natürlich’. Es
ist also bewusst zu machen, dass Vegetation und Architektur im Garten zwar eine Einheit bilden, dass aber beide
unterschiedlichen Gesetzen unterliegen. Konkret bedeutet dies, dass eine naturhafte Pflanzung durchaus mit stren-
gen architektonischen Formen kombiniert werden kann, wenn die Funktion dies nahe legt.

Meine Grundüberzeugung ist aber, dass in diesem Verhältnis die Vegetation im Prinzip die Priorität haben muss.
Das heißt, in der Planung ist von dem Bild, von der räumlichen und atmosphärischen Wirkung der Vegetation
auszugehen. Aufgabe der Erschließung ist dann, dieses erlebbar zu machen. Vorbild ist also das oben beschrie-
bene Gestaltungsprinzip der frühen Landschaftsgärten. In der gegenwärtigen tonangebenden Gartenkunst ist das
Verhältnis umgekehrt.

9.4.3 Die Vegetation und der ‚fließende Raum’

Im 5. Kapitel habe ich ausführlich die Charaktere des Raumes als Medium von Architektur und Gartenkunst
dargestellt. Wesentlich ist der Übergang vom ‚klassischen Raum’, dem die geschlossene Stadt entspricht, zum
‚Raumkontinuum’, das sowohl in der ‚Zwischenstadt’, wie auch im ‚fließenden Raum’ zum Ausdruck kommt.
Diese Entwicklung ist nicht zu vergleichen mit einer Änderung eines Stils, wie zum Beispiel dem Übergang vom
Rokoko zum Klassizismus. Sie ist nur mit anthropologischen Kriterien zu beschreiben, etwa wie der Übergang von
der Jäger- und Sammler- zur Ackerbaugesellschaft. Entsprechend problematisch und schwierig vollzieht sich der
Übergang im Bewusstsein der Gesellschaft. So wird die Zwischenstadt nach wie vor als Zersiedelung gebrandmarkt,
die Gartenkunst schützt sich mit ‚harten Kanten’ gegen den fließenden Raum und noch immer werden Häuser mit
Fachwerk und Butzenscheiben gebaut.

Wie ich schon feststellte, setzt sich aber in der Architektur immer mehr ein weiter entwickelter Bauhausstil durch.
Dabei ist zu beobachten, dass eine Richtung – von Gropius beeinflusst – mehr die kubische Form betont, die an-
dere – in Anlehnung an Mies van der Rohe – mehr den Übergang zum Außenraum. Abgesehen von diesem klei-
nen Unterschied wird ein Baustil dominant, der sich sowohl von der Postmoderne, wie auch vom so genannten
Dekonstruktivismus distanziert.

Erhalten bleibt das Problem, das schon zu Bauhauszeiten bestand, dass in der Gartenkunst keine adäquate
Entwicklung erkennbar ist. An vielen Beispielen sieht man, dass als Antwort auf eine eindrucksvolle Architektur,
der Außenraum als nackte Rasenfläche nur mit einigen albernen Buxuskugeln oder Blumenkübeln dekoriert wird.
Diese unbefriedigende Tatsache führt dazu, dass zum Beispiel Meinhard von Gerkan ein Wohnhaus in Finnland
in einen Kiefernwald stellt, um die Architektur zur Geltung zubringen, und die Spannung zwischen Innen- und
Außenraum wirksam werden zu lassen so wie es Gropius mit den Meisterhäusern in Dessau tat. 514

Ein ideales Beispiel ist der Bundeskanzlerbungalow in Bonn von Sep Ruf, der in einem Park gebaut wurde. Hier
besteht ein stufenloser Übergang zwischen Innen und Außen, der nicht nur optisch erlebbar ist. Aber auch hier ist
keine adäquate Gartengestaltung vorhanden. Aber der Raum ist bestimmt durch den alten Baumbestand. 515 (S.
Abb. oben)

514  In HÄUESER ARCHITEKTUR / DESIGN / KUNST / GARTEN 1/09


515  Nerdinger, (2008), 46ff.

230  Die Welt als Garten


Da nun Häuser nicht nur in Kiefernwäldern gebaut werden, ist zu fragen, nach welchen Grundsätzen eine
Gartenvegetation in Beziehung zu einer modernen Architektur zu gestalten ist. Den wichtigsten habe ich von
Walter Rossow übernommen, der uns immer wieder einprägte, dass die Gartenkunst eine Raumkunst ist. Das hat
mich letztlich dazu gebracht, die Lichtung als den Urraum zu sehen. Auf den fließenden Raum bezogen, bedeutet
dies, dass auch dieser räumliche Strukturen haben muss zwischen Gebäude und ‚Wald’. Diese Räume können, wie
die Innenräume, unterschiedliche Größen und Funktionen haben und sie sollten ohne künstliche Barrieren inein-
ander übergehen. Dass dabei Sichtbeziehungen zu beachten sind, ist selbstverständlich, aber auf keinen Fall sollte
alles auf einen Blick überschaubar sein. Wechselnde Perspektiven müssen das Raumerleben bestimmen. Auch der
kleinste Garten muss geheime Ecken haben, die zu jeder Jahreszeit Überraschungen offenbaren.

Ein weiterer Grundsatz ist, dass auf eine starke Architektur mit einer ebenbürtigen Vegetation zu reagieren ist. Die
klaren Flächen der Architektur müssen mit den vegetabilen Formen kontrastieren. Das wird nur erreicht durch
eine lebendige, reich strukturierte Pflanzung mit Einzelbäumen als Akzentuierung. Je klarer die Architektur, umso
spannungsreicher und vielgestaltiger muss die Pflanzung sein. Eine starke Architektur, die von innen her räumlich
entwickelt wird, verträgt es nicht nur, außen von einer vitalen Vegetation eingefasst zu werden, sie fordert geradezu
dazu auf.

Die architektonischen Elemente des Außenraumes, wie überdachte Sitzplätze oder ähnliche, sollten mit der klaren
Formensprache der Gebäude harmonieren.

Schließlich ist noch das Bewusstsein zu entwickeln, dass jeder Garten, jede Grünanlage Teil der Zwischenstadt ist.
Das ist nicht die Forderung nach Einheitlichkeit, sondern der Appell, ein zeitgemäßes Verhältnis zwischen Mensch
und Natur bei jeder Gestaltung zu Grunde zu legen.

Ich sehe ein Grunddefizit der heutigen Gartenkunst in ihrem gestörten Verhältnis zur Vegetation. Die Ursache liegt,
wie ich dargestellt habe, in dem Spannungsverhältnis zwischen Kunst und Ökologie. Eine weitere Ursache für diese
Entwicklung ist aber auch in einem Umstand zu sehen, den Peter Wirtz beklagt:

den kontinuierlichen Verlust von handwerklichem Grundwissen. ... Selbst ein Grundkonsens darüber,
was Landschaftsarchitektur ist oder sein sollte, lässt sich nicht mehr erkennen. ... Pflanzen werden nur
aufgrund ihrer graphischen Qualitäten ausgesucht. ... Der zeitliche Aspekt ... wird negiert, ... Der Mangel
an praktischem Wissen, an Pflanzenkenntnis, an dreidimensionaler Denkweise, an Bodenkunde, an
Wissen über die Zusammenhänge zwischen Boden und Baum oder den Gartenbau in urbanem Umfeld
wird immer gravierender. ... Durch die Abstraktion auf dem Papier oder am Computer entfernen sich
die Planer noch weiter von der Realität. 516

Auch Peter Latz beklagt den vernachlässigten „Umgang mit der Pflanze.“517 Ich sehe hierin einen Tiefpunkt
der Gartenkunst, der mit deren Zustand am Anfang des 20. Jahrhunderts zu vergleichen ist, als Brezelwege und
Teppichbeete das Bild beherrschten. Ich denke, dass es sich hierbei, wie ich schon sagte, nur um ein vorüberge-
hendes Phänomen handelt, das mit der Postmoderne in der Architektur zu vergleichen ist, die auch nur wenige
Jahrzehnte gedauert hat. Aber das Thema ist zu wichtig um nur als modische Frage behandelt zu werden. Es geht
um die Frage des Mensch-Natur-Verhältnisses, um archetypische Prägungen, um Naturästhetik und um sozialhy-
gienische Fragen.

516  In Topos 37, 63ff.


517  In Topos 50, 9.

Die Welt als Garten  231


Um die Idee der „Welt als Garten“ voran zu bringen, ist es erforderlich, unser Tun und Lassen ständig kritisch zu
hinterfragen, ob es mit den gesellschaftlichen und geistigen Entwicklungen unserer Zeit im Einklang steht. Ich habe
versucht einen Beitrag hierzu zu leisten.

232  Die Welt als Garten


Kapitel 10 Zusammenfassung
Das Wort Gartenkunst wurde bis vor wenigen Jahrzehnten fast nur mit historischen Gärten in Verbindung gebracht.
So wie in der Nachkriegszeit Architektur und Städtebau auf die Schaffung von Wohnraum und Bewältigung des
Verkehrs konzentrierten, erschöpfte sich die Grünplanung in der Erstellung von Abstandsgrün und Sicherung einer
Grünstruktur im Sinne der Charta von Athen. Das war durchaus sinnvoll und verständlich. Aber auf die Dauer
wurde der reine Funktionalismus immer kritischer gesehen. In der Architektur entwickelte sich infolge dessen die
Postmoderne mit einem neuen künstlerischen Anspruch.

Die grüne Fakultät schlug einen ganz anderen Weg ein und folgte dem Leitbild ‚Ökologie’. Die Reaktion auf diese
einseitige Entwicklung war die Spaltung der Profession. Gartenarchitekten, die in der Ökologie nicht die alleini-
ge Grundlage ihres Wirkens sehen wollten, suchten nach neuen Formen der Gartenkunst. Sie fanden sie in der
Anlehnung an die Entwicklung in der Architektur und bildenden Kunst.

Damit entbrannte der alte Streit, der seit der Einführung des Landschaftsgartens die Stilbildung in der Gartenkunst
beherrschte, der Streit über das Verhältnis zwischen Kunst und Natur. Dieser Konflikt ist ungeschlichtet; die
Gartenkünstler lehnen alles ab, was sie als Naturalismus ansehen, die Ökologen wollen möglichst jeden Eingriff in
die Natur vermeiden. Dem wird entgegengehalten, dass es reine Natur ja gar nicht mehr gebe. Besonders umstrit-
ten ist der Landschaftsbegriff. Die Erkenntnis, dass die Landschaft überall unter einem menschlichen Einfluss steht,
führte zu dem Begriff „Totale Landschaft“.

Dieses Dilemma ist in der alten Unterscheidung von Naturlandschaft und Kulturlandschaft begründet und
zwar durch die Erkenntnis, dass auch die Kulturlandschaft Natur enthält, während die Tatsache, dass auch die
Naturlandschaft unter menschlichem Einfluss steht, erst in neuerer Zeit bewusst geworden ist. Um mit dieser un-
klaren Bewusstseinslage fertig zu werden, wird gerne der Begriff Hybride benutzt, was aber auch wenig befriedigt.

Eine Möglichkeit, diesem semantischen Chaos zu entkommen, sehe ich in den „Laws of Form“ von Spencer-Brown
gegeben, die ich in Anlehnung an Luhmann als „Form der Unterscheidung mit zwei Seiten“ bezeichne. Der Kernsatz
dieses Gesetzes besagt, dass „wir keine Bezeichnung vornehmen können, ohne eine Unterscheidung zu treffen“. Die
beiden Seiten der Unterscheidung bilden die „Form“. Der Unterschied zu dem Begriff des Hybriden besteht darin,
dass die beiden Seiten der Form zwar zusammen gehören, aber immer getrennt bleiben. Das heißt, dass immer nur
eine Seite zurzeit beobachtet werden kann. Wenn man die andere Seite beobachten will, muss man eine Grenze
überschreiten. Wenn man nur eine Seite sieht, scheinbar ohne ein Unterschiedenes, dann ist dieses durch einen
„blinden Fleck“ verdeckt.

Um nun zu einer gedanklichen Klarheit zu kommen und die vielen verwirrenden Konnotationen zu vermeiden,
verwende ich anstelle von „Natur“ und „Kultur“ neue Be-griffe, die eine konsistente Unterscheidung ermögli-
chen. Norbert Elias hat „Natur“ als ein „Symbol einer anfangslosen Synthese“ bezeichnet, das heißt, dass unzählige
Generationen den Begriff mit allen möglichen Gedankenverbindungen angereichert haben. Wenn man diese „ein-
klammert“, bleibt da eine Bedeutung, die man bezeichnen kann als etwas „Wachsendes“, das aus sich selbst entsteht
und sich fortpflanzt. Um deutlich zu machen, dass hier durch Reduktion eine besondere Bedeutung entstanden ist,
ersetze ich „Natur“ durch das griechischen Wort „physis“, und für jeglichen menschlichen Einfluss wähle ich das
Wort „techne“. Techne bedeutet nach Schadewald etwa: wissendes Handeln. Mit diesen beiden Begriffen steht eine
‚Form der Unterscheidung’ und damit eine neue Sicht zur Verfügung auf die alle Motive und Kontexte, wie Garten,
Landschaft, Kultur und so weiter zurückgeführt werden können. Jeder Zustand, der in irgendeiner Weise mit
‚Natur’ in Verbindung steht, ist zu beobachten als ein Zusammenwirken von physis und techne.

Die Welt als Garten  233


Während der Begriff physis eindeutig ist, muss der Begriff ‚techne’ näher erläutert werden. Er hat in unserem
Kontext wenig zu tun mit dem, was heute als Technik bezeichnet wird. Als ‚wissendes Handeln’ beinhaltet er alles
Erfahrungswissen und alle wissenschaftlichen Erkenntnisse der Menschheit in Bezug auf ihr Naturverhältnis.

Im Hinblick auf unser heutiges Naturverhältnis kommt aber noch ein ganz wichtiger Aspekt hinzu: die Unterscheidung
von Tun und Lassen. Das bewusste ‚Lassen’ ist eine neue Verhaltensweise, und so können wir unter ‚techne’ auch
ein ‚wissendes Verhalten’ verstehen.

Die Intensität des Einflusses von techne auf physis ist nun sehr unterschiedlich, von der ‚reinen’ Natur bis zur
Kulturlandschaft. Diese Unterschiedlichkeit trifft übrigens für die meisten Unterscheidungen zu. Ich habe dies als
Skalierung bezeichnet. Für die Gartenkunst hat diese eine außerordentliche Bedeutung. Für die Entwicklung
vom Renaissancegarten bis zur modernen Landschaftsgestaltung ist die Intensität des Einflusses von techne auf phy-
sis wesensbestimmend. So gilt also auch für die moderne Gartenkunst, den ‚richtigen’ Punkt auf der Skala der
Unterscheidung zu treffen. Schiller hat die Fähigkeit hierzu den „Spieltrieb“ genannt und nach Heidegger ist der
Punkt auf der Skala nur im „Streit“ zu finden. Daraus folgt die grundsätzliche Kontingenz künstlerischen Schaffens,
für dessen Gelingen es kein ‚Rezept’ gibt. Für die Gartenkunst ist allerdings fest zu stellen, dass das Operieren an
den Enden der Skala, - minimalistisch einerseits und naturalistisch andererseits - problematisch ist. Das ist ein ent-
scheidender Unterschied zu der autonomen bildenden Kunst der Avantgarde, in der alle Bereiche nach allen Seiten
ausgelotet wurden bis in die Sackgassen der Extreme.

Ein weiterer Unterschied besteht in Bezug auf das wichtigste Medium der Gartenkunst, die Vegetation. Sie kann als
‚Material’ aufgefasst werden, mit dem bestimmte formale Vorstellungen verwirklicht werden, oder als ein Medium,
in dem unser Naturverhältnis zum Ausdruck kommt. Diese Unterscheidung ist sicherlich das heikelste Problem in
der Theorie der Gartenkunst. Sie ist auch die Ursache für die Spaltung der Profession. Es geht um die Frage, ist die
Pflanze in ihrer ökologischen Bedeutung oder als Teil eines bestimmten Bildes zu sehen, und es geht damit um die
Vereinbarkeit von Naturschutz und Gartenkunst in der ‚Welt als Garten’.

Ein Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist die Theorie von Humberto Maturana. Danach ist jeder Organismus,
also jede Pflanze, ein geschlossenes autopoietisches System, das mit seiner Umwelt nur durch eine „strukturelle
Kopplung“ in Wechselbeziehung steht, aber nicht ohne seine Nische bestehen kann. Diese Theorie steht in ei-
nem gewissen Gegensatz zu landläufigen Denkmodellen, wie Ökosystem, Biotop, Vernetzungen und so weiter.
Diese beruhen auf Beobachtungen von „Lebensgemeinschaften“ auf meist extremen Standorten. Die Limnologen
waren die ersten, die in Gewässern, zum Beispiel in Teichen Zusammenhänge entdeckten, die sie als feste, quasi
gesetzmäßige Abläufe ansahen. Die Pflanzensoziologen entwickelten daraus eine Wissenschaft, die eine Systematik
in die Vielfalt der Natur bringen sollte. Dazu musste aber die Gliederung immer weiter aufgefächert wurde in
Ordnungen, Verbände, Hauptassoziationen, Haupt-Subassoziationen und Assoziationen. So kamen einige hundert
Pflanzengesellschaften zusammen, wobei Übergangsformen nicht berücksichtigt sind. Nicht thematisiert wurden
der menschliche Einfluss und die Vielzahl der Ubiquisten.

Nach Maturana kann man diesen Sachverhalt reduzieren auf die Feststellung, dass jedes Milieu und jede Nische von
Organismen besetzt wird, die dazu ‚passen’. Wichtig ist die Feststellung, dass hierbei Wechselbeziehungen bestehen,
dass also Milieu und Nischen durch die Besiedelung verändert werden. Dabei spielen der Zufall und besonders der
menschliche Einfluss oft eine Rolle. Ein negativer Einfluss kann durch aggressive Neophyten entstehen, wenn diese
eine gewohnte Vielfalt heimischer Pflanzen stören.

Das führt unmittelbar zu der Frage, die in der Vergangenheit schon leidenschaftlich diskutiert wurde: Das Verhältnis
heimischer zu ‚fremdländischen’ Pflanzen. Auch hierin ist eine Skala zu sehen, von einem ideologischen Purismus
bis zur absoluten Beliebigkeit.

234  Die Welt als Garten


Mein Schlüsselbegriff zur Behandlung dieses Problemfeldes ist die Ästhetik in weitester Bedeutung. Das ist zum
einen die Ästhetik im Sinne von ‚Denken und Fühlen’, wenn ich zum Beispiel das Zusammenwirken von Fauna
und Flora in einem Biotop als ein sinnhaftes Naturschauspiel erkenne und fühle. Der andere Pol ästhetischen
Empfindens ist die reine Freude an der Schönheit etwa einer Rose, unabhängig davon, ob diese gezüchtet wurde
oder eine heimische Wildrose ist.

Der Wesenskern dieser Ästhetik ist das Naturschöne im Sinne Adornos als „Nichtidentisches im Banne univer-
saler Identität“. Das ist unabhängig vom Einwirken der techne auf die physis. Das Naturschöne wird zwar beein-
flusst durch die Bedingungen der Wahrnehmung, aber es ist das eigentliche Telos der Gartenkunst.

Unter diesem Gesichtspunk ist auch der Naturschutz zu sehen. Wie Jürgen Dahl es am Beispiel des Federgeistchens
gezeigt hat, ist auch der Naturschutz nicht rein wissenschaftlich – also identisch – zu begründen, sondern letztlich
im Sinne des Nichtidentischen im Naturschönen. Auch der Schutz eines Biotops ist nur im Zusammenwirken von
physis und techne und durch Tun und Lassen möglich. Die Frage, ob die Natur als Lebensgrundlage funktioniert,
hängt nicht davon ab, ob 5 oder 10 Prozent der Landflächen unter Schutz gestellt werden, sondern nur davon, ob
die globale Naturnutzung nachhaltig ist. Diese Erkenntnis wird auf die Dauer für den Schutz der Natur wirkungs-
voller sein als die heute geschürte Angstrhetorik.

Der Begriff des ‚Naturschönen’ muss aber noch näher untersucht werden. Er kann nicht definiert werden, denn
dann währe es ja etwas ‚Identisches’. Das Schöne ist auch nicht dasjenige, das nur von solchen Menschen zu beur-
teilen ist, die ‚Geschmack’ haben, wie von Philosophen von Baumgarten bis Bourdieu behauptet wird.

Ich habe mich deshalb ausführlich mit Fragen der Wahrnehmung befasst, um zu sehen, wie die Rezeption von
Kunst und Naturschönheit begründet ist. Man kann das zusammenfassen einmal von Seiten der Rezipienten als
das Verhältnis von Assimilation zu Akkommodation, und von Seiten der Objekte als das Verhältnis zwischen Chaos
und Ordnung. Meine Folgerung ist, dass jeder Mensch im Rahmen seiner Wahrnehmungsfähigkeit in der Lage ist,
Kunst- und Naturschönheit zu empfinden und diese Fähigkeit in seiner Ontogenese auch weiter zu entwickeln.
Wichtig sind in diesem Zusammenhang archetypische Prägungen, zum Beispiel das Raumgefühl der ‚Lichtung’, die
das ästhetische Empfinden beeinflussen.

Die Gartenkunst in der Welt als Garten muss diese Tatsachen berücksichtigen, denn sie ist, wie die Baukunst, nicht
autonom. Sie muss das „Wohnen“ der Gesellschaft, im Sinne Heideggers, mit seinen unterschiedlichen Funktionen
und Ansprüchen als Grundlage nehmen. Das Ziel einer Avantgarde muss dabei die Entwicklung und Verfeinerung
des Naturverhältnisses der Gesellschaft sein. Dabei darf aber die Verbindung zum Gros nie abreißen.

Konkret heißt das, dass eine Vielfalt der Gestaltungsformen zu entwickeln ist. Tatsächlich gibt es hierfür schon
viele Beispiele, die nur nicht immer recht gewürdigt werden. Als vorbildlich habe ich die Gartenschau in Rostock
angesehen, die von geschickt gestalteten Sommerblumen- und Staudenpflanzungen bis zu reinen Naturflächen ein
reiches Angebot enthielt. Richtungsweisend sind auch Anlagen, in denen das Prinzip „Lassen“ vorherrscht, wie zum
Beispiel der Landschaftspark Duisburg Nord oder der Naturpark Südgelände in Berlin.

So will ich noch einmal als oberstes globales Prinzip herausstellen: die verantwortungsvolle Steuerung des
Verhältnisses der techne auf die physis. Ebenso global zu sehen ist das Raumkontinuum zwischen Stadt und Land.
Die fraktale Struktur ist keine Fehlentwicklung, sondern die Chance, allen Menschen den Zugang zu einem Stück
Natur zu ermöglichen.

Für die Gartenkunst im engeren Sinne besteht die wichtigste Aufgabe darin, sich von der bildenden Kunst zu eman-
zipieren und die Komplementarität zwischen Garten- und Baukunst zu kultivieren. Dabei kommt der Vegetation die

Die Welt als Garten  235


größte Bedeutung zu. Auf der Skala der Unterscheidung Funktion / Ornament ist der Funktion mehr Raum zu ge-
ben; das was gegenwärtig modisch als Design und Dekonstruktivismus angeboten wird, ist kritisch zu hinterfragen.

Meine Kritik an der heutigen Gartenkunst richtet sich gegen die Vernachlässigung des Mediums Pflanze und gegen
das Grundprinzip „Klarheit“ das immer wieder betont wird. Klarheit drückt das Identische aus und bleibt deshalb an
der Oberfläche. Das Nichtidentische, das Telos der Kunst, ist nur im Unbestimmten der skalierten Unterscheidungen
zu finden. Die wichtigste Skala in der Gartenkunst ist die zwischen Tun und Lassen in der Unterscheidung physis /
techne. Wo jeweils der „Punkt“ auf dieser Skala getroffen wird, ist kontingent aber nicht beliebig, sondern Gegenstand
der künstlerischen Entscheidung.

Und damit schließe ich meinen Versuch, die Idee der „Welt als Garten“ mit einigen theoretischen Überlegungen zu
unterfüttern.

236  Die Welt als Garten


Literaturverzeichnis
Adorno, Theodor W.(1973, 9. Aufl. 1989) Ästhetische Theorie, Frankfurt/M.

Aicher, Otl, (2003), Gegenarchitektur, in: Bruyn, Gerd de und Stephan Trüby, (Hrsg.), architektur-theorie.doc,
Basel.

Anderson, Sven-Ingmar, (1999), Das Antidot zur virtuellen Realität, in: Weilacher, (1999)

Baecker, Dirk, (1993), (Hrsg.), Kalkül der Form, Frankfurt.

Baecker, Dirk, (2002) Wozu Systeme?, Berlin.

Becker, Carlo W., (1996), Kooperatives Gutachterverfahren (Berlin Adlershof), in Garten und Landschaft, 7/1996,
35ff.

Bergdoll, Barry, (2002), Das Wesen des Raumes bei Mies van der Rohe, in: Riley (2002)

Bernard, Stefan, Philipp Sattler, (Hrg.), (1997), Vor der Tür, aktuelle Landschaftsarchitektur aus Berlin, München.

Bianchi, Paolo, (Hrg.) (1999a) Künstler als Gärtner, in: KUNSTFORUM INTER- NATIONAL, Bd. 145, Köln.

Bianchi, Paolo, (Hrg.), (1999b), Das Gartenarchiv, in: KUNSTFORUM INTERNATIONAL, Bd. 146. Köln.

Biella, Burkhard, (1989), Ein Denkweg an den anderen Anfang des Wohnens, in: Wolkenkuckucksheim,
Internetzeitung, 3. Jahrgang, Heft 2.

Birnbacher, Dieter (1980), Sind wir für die Natur verantwortlich?, in: Ders. (Hrg.), Ökologie und Ethik, Stuttgart.

Bloch, Ernst, (1977), Das Prinzip Hoffnung, Gesamtausgabe, Band 5, Frankfurt/M.

Blond, Alexandro, (1731)Die Gärtnerey in ihrer Theorie oder Betrachtung als Praxi oder Übung, Augsburg. (Das ist
die deutsche Übersetzung von d´Argenvilles La Théorie et la Pratique du Jardinage)

Boehm, Gottfried, (1986), Das neue Bild der Natur. Nach dem Ende der Landschaftsmalerei, in: Smuda, (1986),
(Hrg.)

Boehm, Gottfried, (1987), Die Zeit der Unterscheidung, in: Kamper, Dietmar, (Hrg.), Die unvollendete Vernunft:
Moderne versus Postmoderne, Frankfurt/M.

Böhme, Hartmut, Gernot Böhme, (1985), Das Andere der Vernunft, Zur Entwicklung der Rationalitätsstrukturen
am Beispiel Kants, Stuttgart.

Böhme Gernot, Engelbert Schramm, (1985) (Hrsg), Soziale Naturwissenschaft, Frankfurt/M.

Böhme, Gernot, (1989), Für eine ökologische Naturästhetik, Stuttgart.

Böhme, Gernot, (2002), Die Natur vor uns, Naturphilosophie in pragmatischer Hinsicht, Kusterdingen.

Böhme, Hartmut, (1989), Die Natur sprechen lassen, in: Kulturstiftung Stormarn, (Hrg.), Nunatak, Projekt Schüberg,
Hamburg.

Böhringer, Hannes, (1990), Attention in Clair-Obscur: die Avantgarde, in: Barck et al, (Hrsg.), Aisthesis,
Wahrnehmung heute, Leipzig.

Bourdieu, Pierre, (1997 6), Zur Soziologie der symbolischen Formen, Stuttgart.

Bourdieu, (1998 10) Der feine Unterschied, Stuttgart.

Bruyn, Gerd de, Stephan Trüby, Hrsg., (2003), architektur_theorie.doc, texte seit 1960, Basel.

Die Welt als Garten  237


Buchloh, Benjamin H.D., (1989), Vandalismus von Oben, in: Grasskamp, Walter, (Hrg.), Unerwünschte Monumente,
München.

Buggle, Franz, (1993), Die Entwicklungspsychologie Jeans Piagets, Stuttgart, Berlin, Köln.

Burckhardt, Lucius, (2007), Warum ist Landschaft schön? Kassel.

Bußmann, Klaus, Kaspar König, (Hrsg.) (1987), Skulptur Projekte in Münster 1987, Köln.

Buttlar, Adrian von, (1989), Der Landschaftsgarten, Gartenkunst des Klassizismus und der Romantik, Köln.

Calvocoressi, Richard, (1989), Standortsuche, in: Grasskamp, Walter, (Hrg.), Unerwünschte Monumente, München.

Chamoux, Francois, (1963) Griechische Kulturgeschichte, München, Zürich.

Ciompi, Luc, (2005), Mensch, Natur und Gefühl, Aus der Perspektive der fraktalen Affektlogik, in: Gebauer, (2005).

Clausen, Bettina, Karsten Singelmann, (1992), Avantgarde heute? In: Rolf Grimminger; (Hrg.): Hansers
Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Band 12, Klaus Briegleb und
Sigrid Weigel, (Hrg.): Gegenwartsliteratur seit 1968,. München, Wien.

Cramer, Friedrich, (1989), Chaos und Ordnung, Die Komplexe Struktur des Lebendigen, 3. Aufl., Stuttgart.

Cramer, Friedrich, (1997), Die Thesen von Rupert Sheldrake im Lichte moderner entwicklungsbiologischer
Forschung, in: Dürr, Hans Peter, Franz-Theo Gottwald, (Hrg.), Rupert Sheldrake in der Diskussion, Bern,
München, Wien.

Dahl, Jürgen, (1983), Verteidigung des Federgeistchens, Über Ökologie und über Ökologie hinaus, in: Bauwelt,
1983, Heft 7/8.

Dee, Catharine, (2004), Poetisch-kritisches Zeichnen in der Landschaftsarchitektur, in Topos 49, München.

Derrida, Jacques, (2004), Die Différance, Ausgewählte Texte, Reclam, Stuttgart.

Dezallier d´Argenville Antoine Joseph, Die Grundregeln der Gartenkunst, in: Friedrich Georg Jünger, (1960), Gärten
im Abend- und Morgenland, München und Esslingen.

Diedrich, Lisa, (2001), Promenade Architecturale im Landschaftspark Riem, in: Topos 37, Dez. 2001

DUMONTS Chronik der Kunst des 20. Jahrhunderts, (1990) Köln.

Eco, Umberto, (1991), 7. Aufl., Einführung in die Semiotik, München.

Eco, Umberto, (1998), 8. Aufl., Das offene Kunstwerk, Frankfurt/M.

Eisel, Ulrich, (1997), Unbestimmte Stimmungen und bestimmte Unstimmigkeiten, in: Bernard, Stefan, Philip Sattler,
(Hrsg.), Vor der Tür, Aktuelle Landschaftsarchitektur in Berlin, München.

Elger, Dietmar, (2000), Donald Judd, Farbe, Ostfildern-Ruit.

Elias, Norbert, (1986) Über die Natur, in: Merkur, Heft 448, Juni 1986.

Enge, Torsten Olaf, Carl Friedrich Schröer, Hrg., (1990), Gartenkunst in Europa, Köln.

Feyerabend, Paul, (1984), Wissenschaft als Kunst, Frankfurt /M.

Feyerabend, Paul, (1986) Wider den Methodenzwang, Frankfurt /M.

Fischer, Ernst P., (1990), Die zwei Gesichter der Wahrheit, Goldmann Verlag.

Fischer-Leonhardt, Dorothea, (2005), Die Gärten des Bauhauses, Gestaltungskonzepte der Moderne, Berlin.

238  Die Welt als Garten


Förster, Heinz von, (1988).Erkenntnistheorien und Selbstorganisation, in: Siegfried J. Schmidt, (1988)

Freie und Hansestadt Hamburg, Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt, Architektur Olympiade Hamburg, 2006

Gadamer, Hans-Georg, (1990), Wahrheit und Methode, Tübingen,

Gebauer, Michael, Ulrich Gebhard, (Hrg.), (2005), Naturerfahrung, Wege zu einer Hermeneutik der Natur,
Kusterdingen.

Giedion, Sigfried, (1987), Die Herrschaft der Mechanisierung, Frankfurt/M.

Giedion, Sigfried, (1965), Raum, Zeit, Architektur, Die Entstehung einer neuen Tradition, Ravensburg

Glaserfeld, Ernst von, (1997), Wege des Wissens, Heidelberg.

Gothein, Marie Luise, (1926), Geschichte der Gartenkunst, Jena.

Grasskamp, Walter, (1989), Unerwünschte Monumente, München

Grasskamp, Walter, (1992), Die unästhetische Demokratie: Kunst in der Marktgesellschaft, München.

Groh, Ruth, Dieter Groh, (1996), Natur als Maßstab – Eine Kopfgeburt, in: dies., Die Außenwelt der Innenwelt,
Stuttgart.

Groh, Ruth, (2007), Natur und Kultur in der Landschaftsarchitektur in: Dziembowski, Bettina von, Dominik von
König, Udo Weilacher, (Hrsg.), Neuland, Bildende Kunst und Landschaftsarchitektur, Basel, Boston ,Berlin.

Grohmann, Will, (2003), Der Maler Paul Klee, Köln.

Haber, Wolfgang, (2001), Natur zwischen Chaos und Cosmos, in: Wir und die Natur, Berichte der Bayrischen
Akademie f. Naturschutz,

Habermas, Jürgen, (2003), Moderne und postmoderne Architektur, in: de Bruyn, (2003)

Hajós, Géza, (1988), Kunst kontra Natur? In: KUNSTFORUM, Bd. 93, 1988.

Haken, Hermann, Maria Haken-Krell, (1994), Erfolgsgeheimnisse der Wahrnehmung, Frankfurt /M., Berlin.

Hallbaum, Franz, (1927), Der Landschaftsgarten, Sein Entstehen und seine Einführung in Deutschland durch
Friedrich Ludwig von Sckell, München.

Hansmann, Wilfried, (1983), Gartenkunst der Renaissance und des Barocks, Köln

Harrison, Robert P.,(1988), Wälder, Ursprung und Spiegel der Natur, München, Wien

Hartung, Elisabeth, (1995), Freie Denkräume, in: Künstler, Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst, Ausgabe 30,
Heft 13, München.

Hecken, Thomas, (1985), Kant mit Fourier? Bourdieusche Geschmacksfragen, in: Merkur 434, 39. Jg., H. 4. Stuttgart.

Heidegger, Martin, (1954), Bauen Denken Wohnen, in: Ders., Reden und Aufsätze, Stuttgart.

Heidegger, Martin, (2002), Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, Frankfurt /M.

Heidegger, Martin, (2003), Der Ursprung des Kunstwerkes, in: Ders., Holzwege, 8. unv. Aufl. Frankfurt /M.

Hennebo, Dieter, (1963), Renaissance – Manierismus – Barock in: Dieter Hennebo, Alfred Hoffmann, Geschichte
der Gartenkunst, Hamburg.

Hennebo, Dieter, (Hrg.), (1985), Gartendenkmalpflege, Grundlagen der Erhaltung historischer Gärten und
Grünanlagen, Stuttgart.

Die Welt als Garten  239


Henning, Rolf, (1983), Der Sachsenwald, Neumünster.

Hirschfeld, Christian C.L., (1779), Theorie der Gartenkunst, 5 Bände, Leipzig; Nachdruck in 2 Bänden, Hildesheim,
1985.

Herzog, Günter, (1989), Hubert Robert und das Bild im Garten, Worms.

Höfer, Wolfram, (2000), Natur als Gestaltungsfrage, Zum Einfluß aktueller gesellschaftlicher Veränderungen auf die
Idee von Natur und Landschaft als Gegen-stand der Landschaftsarchitektur, München.

Hoffmann, Alfred, (1963) Der Landschaftsgarten, in: Dieter Hennebo, Alfred Hoffmann, Geschichte der Gartenkunst,
Hamburg.

Honisch, Dieter, (1996), Donald Judd, in: Bastian Heuer, (Hrg.), Katalog der Sammlung Marx, Berlin.

Horster, Detlef, (1997), Niklas Luhmann, München.

Howcroft, Heidi, (2005), Blumengärten – Klassisch, ländlich und modern, München, 2005.

Humpert, Klaus, Sibylle Becker, Klaus Brenner, (1996), Über fraktale Gesetze im Stadtwachstum, in: Topos 17, Dez.
1996, München

Jahraus, Oliver, (2004), Martin Heidegger, Eine Einführung, Stuttgart,

Jaspers, Karl, (1931), Die geistige Situation der Zeit, Abdruck der 5. Auflage von 1932, Berlin 1953.

Jaspers, Karl, (1971), Einführung in die Philosophie, München.

Jencks, Charles, (1987), Die Postmoderne, Der neue Klassizismus in Kunst und Architektur, Stuttgart.

Jung, Carl Gustav, (1957), Bewußtes und Unbewußtes, Frankfurt/M.

Junge, Kai, (1993), Medien als Selbstreferenzunterbrecher, in: Dirk Baecker, 1993.

Kähler, Gert, (Hrsg.), (1991), Dekonstruktion? Dekonstruktivismus? Aufbruch ins Chaos oder neues Bild der Welt?,
Nachdr., Braunschweig, Wiesbaden.

Kandinsky, Wassily, (1952), 10. Aufl. o. J.), Über das Geistige in der Kunst, Bern.

Kepler, Angela, Martin Seel, (1991), Zwischen Vereinnahmung und Distanzierung, in: MERKUR 510/511, 45. Jg.,
Heft 9/10. Stuttgart.

Kiefer, Gabriele, (1997), Das städtische Wohnzimmer, in Bernard, (1997).

Kienast, Dieter, (1999), Die Kultivierung der Brüche, in: Weilacher, (1999),

Kienast Dieter, (2004), Essays, Birkhäuser Verlag für Architektur, Basel.

Kienast, Dieter, (2002), Die Poetik des Gartens Über Chaos und Ordnung in der Landschaftsarchitektur, Basel.

Kienast, Dieter, Günther Vogt, (1993), Die Form, der Inhalt und die Zeit, in: Topos 2, Jan. 1993.

Kloos, Werner, (1979), Die Sammlung Schwarzkopf im Herrenhaus Steinhorst, in: Konerding, (1979)

Klotz, Heinrich, (1985), Moderne und Postmoderne, Architektur der Gegenwart, 1960 – 1989, Braunschweig/
Wiesbaden.

Kluckert, Ehrenfried, (2000), Gartenkunst in Europa, Von der Antike bis zur Gegenwart. Köln.

Kolberg, Gerhard, (2002), Das passive Element, in: Künstler Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst, Ausgabe 57,
Heft 2, München.

240  Die Welt als Garten


Konerding, Volker, Adolf Singelmann, Werner Klooos, (1979), Das Herrenhaus Steinhorst und die Sammlung
Schwarzkopf, Neumünster.

Koolhaas, Rem, (2008), Die Freiheit ist größer denn je, DIE ZEIT Nr. 24, 5. 6. 2008.

Krebs, Stefanie, (2002), Zur Lesbarkeit zeitgenössischer Landschaftsarchitektur, Verbindungen zur Philosophie des
Dekonstruktivismus, Hannover.

Kreck, Matthias, (2001), Was ist ein Raum? www.uni-heidelberg.De /presse/ruca/ruca2-2001/kreck.html

KUNSTFORUM INTERNATIONAL, (1984), Bd. 70, Malerei – z. B. Landschaft, Köln.

KUNSTFORUM INTERNATIONAL, (1988) Bd. 93, Kunst und Ökologie, Köln.

KUNSTFORUM INTERNATIONAL, (1999a), Bd. 145, Künstler als Gärtner, Köln.

KUNSTFORUM INTERNATIONAL, (1999b), Bd. 146, Das Gartenarchiv, Köln.

Küster, Hansjörg, (1995), Geschichte der Landschaft in Mitteleuropa, München.

Küster, Hansjörg, (1998), Die Geschichte des Waldes, München.

Lange, Willy, (1922), Gartenbilder, Leipzig.

Latz, Peter, (2005), Landschaftsarchitektur als interkulturelles Prinzip, in Topos, EUROPEAN LANDSCAPE
MAGAZIN, Heft 50, München.

Leppert, Stefan, (2008) Zwischen Gartengräsern, München.

Liessmann, Korad Paul, (1999), Philosophie der modernen Kunst, Eine Einführung, Wien.

Lobsien, Eckard, (1986), Landschaft als Zeichen. Zur Semiotik des Schönen, Erhabenen und Pittoresken, in: Smuda,
(1986).

Lötsch, Bernd, (1988), Ökologisches Bauen als Ausdruck eines neuen Bewusstseins, in: Erweiterte Dokumentation
des DEUBAU-KONGRESSES 1987, Architektur und Natur, Bonn, Hamburg.

Lüdeking, Karlheinz, (1998), Analytische Philosophie der Kunst, Eine Einführung, München.

Luhmann, Niklas, (1987), Soziale Systeme, Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M.

Luhmann, Niklas, (1990), Ökologische Kommunikation, Kann die Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen
einstellen?, 3. Aufl., Opladen.

Luhmann, Niklas, (1993a) Die Paradoxie der Form, in: Baecker, (Hrg), (1993).

Luhmann, Niklas, (1993b) Soziologische Aufklärung 5, konstruktivistische Perspektiven, 2. Aufl. Opladen

Luhmann, Niklas, (1997), Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M.

Luhmann, Niklas, (1999), 3. Aufl. Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt/M.

Lutz, Heiner, (2001), Das Prinzip der Aspektbildner, in: Topos, EUROPEAN LANDSCAPE MAGAZINE, Heft 37, Dez.
2001.

Lyotard, Jean-Francois, (1987), Postmoderne für Kinder, Wien

Lyotard, Jean-Francois, (1989), Der Widerstreit, München.

Mader, Günter, (1999), Gartenkunst des 20. Jahrhunderts: Garten- und Landschaftsarchitektur in Deutschland,
Stuttgart.

Die Welt als Garten  241


Marquard, Odo, (1986), „Die arbeitslose Angst“, DIE ZEIT, (12. 12. 1986)

Maturana, Umberto, Francisco Varela, (1987) Der Baum der Erkenntnis, Bern, München, Wien.

Maturana, Umberto, (2000), Biologie der Kognition, in ders.: Biologie der Realität, Frankfurt/M.

Metgen, Günter, (1993), Et in Arcadia ego? Natur als Thema zeitgenössischer Künstler, in: MERKUR, 2/1993.

Metzler, (1989), Philosophisches Lexikon, Stuttgart.

Meyers kleines Lexikon, Philosophie, Mannheim, 1987.

Meyer, Gustav, (1860). Lehrbuch der schönen Gartenkunst, Berlin, Nachdruck 1985, Berlin.

Mitraux, Alexandre, (1986) Ansichten der Natur und Aisthesis, Einige kritische Bemerkungen zum Landschaftsbegriff,
in: Smuda, (1986)

Müller, Ulrich, (2004), Raum, Bewegung und Zeit im Werk von Walter Gropius und Mies van der Rohe, Berlin.

Nerdinger, Winfried, (Hrg.) (2008), Sep Ruf, 1908 – 1982, Moderne mit Tradition

Neumann, Klaus-D., (1996), Ökopark am Rangierbahnhof Nord, München, in: Topos 17, Dez. 1996, München.

Neumeyer, Fritz, (2002), Der Erstling von Mies: Ein Wiedereintritt in die Atmosphäre vom ‚Klösterli’, in: Riley,
(2002),

Neumeyer, Fritz, (2003), Das Schauspiel der Objektivität, in: Bruyn, (2003)

Ortega y Gasset, José, (1958), Der Aufstand der Massen, Hamburg.

Paetzold, Heinz, (1990), Ästhetik der neueren Moderne, Stuttgart.

Platon, (1991), Sämtliche Werke, Bd. VIII, Frankfurt/M. Leipzig.

Prechtl, Peter, (1991), Husserl zur Einführung, Hamburg.

Prigann, Herman, (1993), Ring der Erinnerung, Berlin.

Prigogine, Ilya, Isabelle Stengers, (1986) Dialog mit der Natur, München.

Prominski, Martin, (2004), Landschaft entwerfen, Zur Theorie aktueller Landschaftsarchitektur, Dietrich Reimer
Verlag.

Pückler-Muskau, Fürst, (1977), Andeutungen über Landschaftsgärtnerei, Stuttgart.

Radziewsky, Elke von, (2008), Wildwuchs mit System, in: ARCHITEKTUR & WOHNEN, Ausgabe 3/08

Reese-Schäfer, Walter, (1996), Luhmann zur Einführung, 2. Aufl., Hamburg

Richter, Gerhard, (2008), Wald, Köln.

Riley,Terence, Barry Bergdoll, (Hrsg.), (2002), Mies in Berlin, Ludwig Mies van der Rohe, Die Berliner Jahre 1907
– 1938, München, Berlin, London, New York

Ritter, Joachim, (1974), Landschaft, Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft, in: Subjektivität,
Frankfurt/M.

Romain, Lothar, (1990), Betrachten – Betroffen – Aktiv, Positionen der Plastik in der Bundesrepublik, in: Ders.,
(Hrg.), Bis jetzt, Plastik im Außenraum der Bundesrepublik, München.

Roth, Gerhard, (1992), Das konstruktive Gehirn, Neurobiologische Grundlagen von Wahrnehmung und Erkenntnis,
in Schmidt, Siegfried J. (1992).

242  Die Welt als Garten


Roth, Gerhard, (1997), Das Gehirn und seine Wirklichkeit, Frankfurt/M.

Safranski, Rüdiger, (1995), Ein Meister aus Deutschland, Heidegger und seine Zeit, München, Wien, 346.

Safranski, Rüdiger, (2007), Romantik, Eine deutsche Affäre, München.

Sandkühler, Hans Jörg, Hrg., (1990), Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaft, Hamburg.

Schadewald, Wolfgang, (1978), Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen, Frankfurt/M.

Schäfer, Robert, (Hrg.), (1993) Was heißt denn schon Natur?, Ein Essaywettbewerb, München.

Schmidt, Siegfried J., (1998) Modernisierung, Kontingenz, Medien: Hybride Beobachtungen, in: Gianni Vattimo,
Wolfgang Welsch, (Hrsg.) Medienwelten, München.

Schmidt, Siegfried J. (Hrg.), (6. Aufl., 1994), Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, Frankfurt/M.

Schmücker, Reinold, (1998), Was ist Kunst? Eine Grundlegung, München.

Schneckenburger, Manfred, (1998), Skulpturen und Objekte, in: Walther, Ingo F. (Hrg.), Kunst des 20. Jahrhunderts,
Taschen.

Schober, Reinhart, (2001), Von der rationalen zur atmosphärischen Planung, in: Stadt und Raum, 3/2001, Winsen/
Aller

Schönemann, Heinz, (Hrsg.) (1993), Peter Joseph Lenné, Katalog der Zeichnungen, bearbeitet von Harri Günther
und Sibylle Harksen, Tübingen, Berlin

Schönwälder, Tatjana, Katrin Wille, Thomas Hölscher, (2004), George Spencer- Brown, Eine Einführung in die
„Laws of Form,“ Wiesbaden

Schröder, Thies, (1997), Aufbruch ohne Ziel, in: Bernard, (Hrg.), (1997)

Schulze, Gerhard, (1993), Die Erlebnisgesellschaft, Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt / New York

Schulz W., (1986) Stadtgestalt, Ästhetik und Wohlbefinden, in: Wiener Stadtentwicklungssymposium, , zitiert von
Peter Arlt in KUNSTFORUM, BD. 145, 220.

Schwingel, Markus, (1995), Bourdieu zur Einführung, Hamburg.

Seel, Martin, (1991), Eine Ästhetik der Natur, Frankfurt/M.

Seel, Martin, (1995), Erinnerung an das Wohlergehen, in MERKUR 557, 49. Jg. Heft 8, Stuttgart.

Seel, Martin, (1996), Ethisch- ästhetische Studien, Frankfurt/M.

Seel, Martin, (1998), Philosophie nach der Postmoderne, in: MERKUR 594/595, 52. Jg. Heft 9/10, Stuttgart.

Seel, Martin, (2000), Ästhetik des Erscheinens, München, Wien.

Sheldrake, Rupert, (1991), Die Wiedergeburt der Natur, Wissenschaftliche Grundlagen eines neuen Verständnisses
der Lebendigkeit und Heiligkeit der Natur, Bern, München, Wien.

Sieferle, Rolf Peter, (1986), Entstehung und Zerstörung der Landschaft, in: Smuda, (1986)

Sieverts, Thomas, (1999), Zwischenstadt: zwischen Ort und Welt, Raum und Zeit, Stadt und Land; Braunschweig,
Wiesbaden.

Singelmann, Adolf, (1979), Der Barockgarten Steinhorst, in: Konerding, (1979).

Smuda, Manfred (Hrsg.), (1986) Landschaft, Frankfurt/M.

Die Welt als Garten  243


Smuda, (1986), Natur als ästhetischer Gegenstand und als Gegenstand der Ästhetik, in: ders. (Hrg.) (1986)

Spanier, Heinrich, (2001), Natur und Kultur, in: Bayrische Akademie für Naturschutz und Landschaftspflege,
(Hrsg.), Wir und die Natur, 74.

Spencer-Brown, George, (1999), Laws of Form, deutsch von Thomas Wolf, Gesetze der Form, Lübeck, Bohmeier.

Staats, Henk, Brigitta Gattersleben, Jasper Kipps,(1994), Ein Spaziergang im Wald der Zukunft, Topos 1994/6, 103ff,
München.

Stegmaier, Werner, (2000), Derrida, De la Grammatologie, in: Ehrhard Jaumann, (Hrsg.), Jahrhundertbücher,
München.

Stein, Werner, (1946), Kulturfahrplan, Berlin, Darmstadt, Wien

Straaten, Evert van, (2000), Theo van Doesburg, Konstrukteur eines neuen Lebens, in: Birnie Danzker, Jo-Anne,
(Hrsg.), Theo van Doesburg, Maler – Architekt

Tischer, Stefan, (1996), Berlin Adlershof, in: Garten und Landschaft, 7/1996.

Tischer, Stefan, (2000), Minimalismus als Irrweg, in Topos 33, München.

Uexküll, Thure von, (1998), Naturwissenschaft als Zeichenlehre, in: MERKUR, Deutsche Zeitschrift für europä-
isches Denken, Heft 3, 43. Jahrg. 1998, Heft 481. Stuttgart.

Vergil, (2001), Bucolica Hirtengedichte; Übersetzung, Anmerkungen, interpretierender Kommentar und Nachwort
von Michael von Albrecht, Stuttgart.

Vogt, Adolf Max, (1991), Mit Dekonstruktion gegen Dekonstruktion, in: Kähler (1991)

Waldenfels, Bernhard, (1986), Gänge durch die Landschaft, in Smuda, (1986).

Watzlawick, Paul, (1996), Wie wirklich ist die Wirklichkeit?, 21. Aufl. München.

Weidinger, Jürgen, (2001), in: BDLA Landschaftsarchitektur, Heft 4, 2001, 23.

Wedewer, Susanne, (1993), Reine Kunst in reiner Landschaft, in: Künstler, kritisches Lexikon der Gegenwartskunst,
München, Ausgabe 20.

Weilacher, Udo, (1999), Zwischen Landschaftsarchitektur und Landart, Basel.

Weilacher, Udo, (2005), In Gärten, Profile aktueller europäischer Landschaftsarchitektur, Basel, Berlin, Boston.

Wenzel, Jürgen, (2005), Landschaftsarchitektur und Städtebau, in: Stadt und Raum, 6/2005.

Welsch, Wolfgang, (1988), Unsere postmoderne Moderne, Weinheim.

Welsch, Wolfgang, (1990) Ästhetisches Denken, Stuttgart.

Welsch, Wolfgang, (1993), Das Ästhetische – Eine Schlüsselkategorie unserer Zeit?, in: ders., (Herg.) Die Aktualität
des Ästhetischen, München.

Wiggershaus, Rolf, (1987), Theodor W. Adorno, München.

Winter, Michael, (1986), Die Schönheit der Medusa, Merkur 443, 1986/1, 3. Stuttgart.

Wundram, Manfred, Thomas Pape, (1988), Andrea Palladio, Architekt zwischen Renaissance und Barock, Köln.

Zimmerman, Claire, (2006) Mies van der Rohe, Köln.

244  Die Welt als Garten


Abbildungsverzeichnis
1/1 Donald Judd, „untitlet“ , DUMONTS Chronik der Kunst des 20. Jahrhunderts, Köln, 1990.

1/2 Hysterese, Haken, Herrmann, Maria Haken Krell, Erfolgsgeheimnisse der Wahrnehmung, Ullstein, Frankfurt/M.
Berlin, 1994.

2/1 Hutewald, eigene Aufnahme.

2/2 Historische Flurkarte einer Sachsenwaldgemeinde, eigene Aufnahme.

3/1 Ornamentaler Brunnen, Giedion Sigfried, Die Herrschaft der Mechanisierung, Europäische Verlagsanstalt,
Frankfurt/M, 1987.

3/2 Ziergarten im Park zu Muskau, Gothein, Marie Luise, Geschichte der Gartenkunst, Band 2, Eugen Diederichs,
Jena, 1926.

3/3 Krug der Schnurkramiker, Welt- und Kulturgeschichte, Band 01, Zeitverlag, Hamburg, 2006.

3/4 Vorratsgefäß der Etrusker, Welt- und Kulturgeschichte, Band 03, Zeitverlag, Hamburg, 2006.

3/5 Service Arzberg 2000, Wilhelm Wagenfeld, eigene Aufnahme

3/6 Terrasse am Schloss Charlottenhof von K. F. Schinkel, in: Harri Günther und Sibylle Harksen, Peter Joseph
Linné, Katalog der Zeichnungen, Ernst Wasmuth Verlag, Tübingen/Berlin, 1993.

3/7 La Villette, Ladestraße, eigene Aufnahme.

4/1) Ägyptisches Totengärtlein, Gothein, Marie Luise, Geschichte der Gartenkunst, Band 1, Eugen Diederichs Jena
1926.

4/2 Parterregarten am Hotel Kempinski, München, Mader, Günter, Gartenkunst des 20. Jahr- hunderts, Deutsche
Verlagsanstalt, stuttgart, 1999.

4/3 Stadtgrundriss Milet, Chamoux, Francois, Griechische Kulturgeschichte, Droemersche Verlagsanstalt, München
Zürich.

4/4 Moderne Rasterplanung, Architekturolympiade Hamburg 2006, Goldmedaille im Städtebau, Projekt: Röttiger-
Kaserne, Büro: MVDRV Rotterdam, Freie und Hansestadt Hamburg, Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt

4/5 Wegenetz in Versailles, Prospekt.

4/6 Wege im Übergangs-Stil, in Band 2, Gothein (s. oben)

4/7 Wegeplanung mit Zirkel, Peter Joseph Lenné, Katalog der Zeichnungen, Ernst Wasmuth Verlag, Tübingen/
Berlin1993.

4/8) Wege in der Realität, Quelle wie vor.

5/1 Lichtungen im Schwarzwald, google earth.

5/2 Dorfflur in einer Lichtung, google earth

5/3 Koch-Kurven, Cramer, Friedrich, Chaos und Ordnung, 1989, Deutsche Verlagsanstalt GmbH, Stuttgart.

5/4 Garten und Landschaft 3/2003.

5/5 Villa „Rotonda“ Grundriss; Wundram, Pape, Marton, Andrea Palladio, Benedikt Taschen Verlag, Köln, 1988.

5/6 „Fließender Raum“, Ulrich Müller, s. oben.

Die Welt als Garten  245


5/7 Farnsworth-House, Zimmermann, Claire, Mies van der Rohe, TASCHEN GmbH, Köln 2006

5/8 Bundeskanzler Bungalow im Park, Sep Ruf, Nerdinger, Winfried, (Hrsg) in Zusammenarbeit mit Irene Meißner
Architekturmuseum der Technischen Universität München in der Pinakothek der Moderne, Prestel, München,
2008.

5/9 Grundriss des Bundeskanzler-Bungalows von Sep Ruf, wie vor.

5/10 Garten und Reformarchitektur, Gothein, Marie Luise, s. oben

5/11 Blick von der Terrasse Gropius in den Waldgarten, Fischer-Leonhardt, Dorothea, Die Gärten des Bauhauses,
jovis Verlag, Berlin, 2005

5/12 Garten am Meisterhaus, eigene Aufnahme.

5/13 „50 mal 50 Haus“, Zimmermann, Claire, Mies van der Rohe, TASCHEN GmbH, köln 2006.

5/14 wie vor.

5/15 Aus einem Inserat, Hamburger Abendblatt.

6/1, 6/2 Welteroberer, Eigene Aufnahme

6/3 Kinderzeichnungen Eigene Aufnahme.

.6/4 Schober, Reinhard, Von der rationalen zur atmosphärischen Planung, in: STADT UND RAUM, Messe und
Medien GmbH, Winsen/Aller, 3/2001.

6/5 Moränenlandschaft, eigene Aufnahme.

7/1 Hubert Robert. Homme désespéré. Bühnenbildentwurf, Privatbesitz. In: Herzog, Günter, Hubert Robert und das
Bild im Garten, Wernersche Verlagsanstalt, Worms, 1989.

7/2 Details klischeeartiger Baumdarstellungen verschiedener Künstler des 18. und 19. Jahrhunderts. (Kleiner,
Lorrain, Hobbema, Herzog,)

7/3a Jackson Pollock, Autumn Rhythm: Number 30; Emmerling, Leonhard, Jackson Pollock, TASCHEN, Köln 2009.

7/3b IAN MACKEEVER, Traditional Landscape, KUNSTFORUM INTERNATIONAL, Bd. 70, 2/84.

7/3c Strauchgewirr, Eigene Aufnahme.

7/5 Adlershof, Luftbild, Google Earth.

7/6 „Abgehoben“ von der Natur. Eigenes Foto.

7/7 Pflanzen- Einschlag? Eigenes Foto.*

7/8 Richard Long, Steinkreis Moure Gloria, Richard Long, Spanish Stones

Ediciones Poligrafa SA Barcelona, 1998.

7/9 Ring der Erinnerung, Prigann Herman, Ring der Erinnerung,

Verlag Dirk Nishen, Berlin, 1993.

7/10 Berggarten Graz, Eigene Aufnahme

7/11a KUNSTFORUM INTERNATIONAL, Bd146, 1999, Köln

7/11b wie vor.

7/11 c wie vor.

246  Die Welt als Garten


7/11d wie vor.

7/12 Garten und Landschaft, 9/1989.

7/13 Nou Barris Park, inspiriert von Picasso, Topos 39/2002.

7/14 Wassily Kandinsky: Orange. Farblithographie 1923, Topos 2

7/15 Parco della Resistenza, Modena, preisgekrönte Wettbewerbsarbeit, Topos2, 1993.

7/16 Park Juan Carlos in Madrid, Topos 23, 1998.

7/17 Thames Barrier Park, Topos 35, 2001.

7/18 Landschaftsplanerishes Konzept mit „seriellen Pflanzungen“ Garten und Landschaft, 2/2004.

7/19 Landschaftsplanung mit „Waldfraktalen“ Garten und Landschaft 7/2008,

7/20 Paul Isenrath. „Maßkraft“, Bis jetzt, Plastik im Außenraum der Bundesrepublik, Stiftung Niedersachsen, 1990.

7/21 Ludger Gerdes, „Ichs“, wie vor.

7/22 Claes Oldenburg, „Gartenschlauch“, art Das Kunstmagazin, 8/1994.

7/23 „Blattunterseite einer Sumpfdotterblume“ Eigene Aufnahme.

7/24 „Zellwand einer Alge“ Eigene Aufnahme

7/25 Buga Wismar, Eigene Aufnahme

7/26 Bundesministerium, Unbekannt

Die Welt als Garten  247


Adolf Singelmann

Die Welt als Garten


Über Gartenkunst
Eine Streitschrift
2 2
Inhaltsverzeichnis

 1
 1

Vorwort11
Zur Einführung 14
Der Begriff und die Profession 14

Verhältnis zwischen Gartenkunst und Natur 19

Das Verhältnis zwischen Landschaft und Natur 24

Die Problematik des Naturbegriffs 29

Die klärende Funktion der Unterscheidung 31

Kapitel 1 Die Differenztheorie  41


1.1 Die ‚Form der Unterscheidung’ 41

1.2 Die ‚Form der Unterscheidung‘ in der Kunst 48

1.3 Frühere und Verwandte Theorien  49

1.4 Die alte Denkweise 54

1.5 Die Unterscheidung mit zwei Seiten als Skala 56

Kapitel 2 Die Vegetation im Garten 62


2.1 Die biologischen Grundlagen der Vegetation 62
2.1.1 Zusammenfassung 68

2.2 Das Verhältnis physis/techne, entwicklungsgeschichtlich gesehen 70

  3
2.3 Das Verhältnis physis/techne in der heutigen Praxis 75

2.4 Techne ist ‚Tun und Lassen’ 80

2.5 Station bei Heidegger 81

2.6 Die Vegetation im Garten: Zusammenfassung 92

Kapitel 3 Funktion und Gestaltung 94


3.1 Über Schmuck, Dekoration und Ornament 94

3.2 Die ornamentale Wirkung der Gestalt 99


3.2.1 Zwischenbemerkung 101

3.3 Das Ornament in der Baukunst 103

3.4 Ornament ohne Funktion 107

3.5 Bildende Kunst und Ornament 109

3.6 Die Bedeutung des Materials 112

Kapitel 4 Funktion und Ornament in der Gartenkunst  115


4.1 Wege im ‚Urgarten’  115

4.2 Wegetypen 117


4.2.1 Wege als Ordnungssystem 118
4.2.2 Wege zum ‚Lustwandeln’ 121

4.3 Die klassischen Wege-Systeme 122


4.3.1 Wege im Barockgarten 122
4.3.2 Wege im Landschaftsgarten 125

4.4 Funktion der Wege 131


4.4.1 Einfluss der Technik 131

4 4
4.4.2 Die psychologische Wirkung der Wegeführung 132

4.5 Zusammenfassung: Funktion/Ornament 136

4.6 Station bei Schiller. 136

Kapitel 5 Der Raum als Medium von Architektur und


Gartenkunst  149
5.1 Die Waldlichtung als ‚Urraum’ 149

5.2 Die Entwicklung des klassischen Stadtraumes als Grundlage der abendländi-
schen Kultur 153

5.3 Die Unterscheidung der Räume  158

5.4 Die besondere Bedeutung des Waldes 162

5.5 Die Auflösung des Klassischen Raumes 164


5.5.1 Die fraktale Dimension 164
5.5.2 Die Zwischenstadt 166

5.6 Die neue Raumidee 171


5.6.1 Der Urwohnraum, die Höhle 175
5.6.2 Das Raum-Zeit-Kontinuum 176
5.6.3 Der Konstruktivismus in der neuen Architektur 178
5.6.4 Der fließende Raum 180
5.6.5 Die Zeit nach dem Bauhaus 185

5.7 Der neue Raum und die Gartenkunst 191

5.8 Zusammenfassung 201

Kapitel 6 Über Wahrnehmung und Kunst  206


6.1 Kunst als Produktion und Rezeption  206

  5
6.2 Entwicklungspsychologie - Die Grundlage von Wahrnehmung 207

6.3 Formen der Adaptation 216


6.3.1 Kognitionsschema 218
6.3.2 Gestaltungsschema 219
6.3.3 Erlebnisschema 221

6.4 Verstehen von Kunst 227

6.5 Wahrnehmung ist Konstruktion 230


6.5.1 Synästhetik 231
6.5.2 Raumerfahrung durch Bewegung 233
6.5.3 Die haptische Wahrnehmung  235
6.5.4 Weitere leibliche Wahrnehmungen 237
6.5.5 Atmosphären  237
6.5.6 Fühlen und Denken 243

6.6 Archetypen  245

6.7 Morphische Felder 252

Kapitel 7 Gartenkunst und ihre Stellung in der heutigen


Gesellschaft.256
7.1 Gartenkunst und Landschaftsmalerei 257

7.2 Die Bildung von Systemen 277


7.2.1 Theoretische Grundlagen der Systembildung  277
7.2.2 Systembildung im Kunstbetrieb  284
7.2.3 Der Naturschutz als soziales Funktionssystem  286
7.2.4 Eine Systembildung in der heutigen Gartenkunst 295

6 6
7.2.5 Die Unvereinbarkeit geschlossener Systeme 301

7.3 Die Unterscheidung von Gartenkunst und bildender Kunst  304


7.3.1 Die Entwicklung in der bildenden Kunst  305
7.3.2 Die Entwicklung der Gartenkunst im Vergleich 306
7.3.3 Medium und Form als Unterscheidungsmerkmal 308
7.3.4 Pflanzen als ‚Medium und Form’ in der Gartenkunst 309
7.3.5 Architektur als Medium und Form in der Gartenkunst 311

7.4 Systemreferenzen in der Kunst 312


7.4.1 „Little Sparta“ als Beispiel 314
7.4.2 Beispiele der Land Art  316
7.4.3 Künstler als Gärtner 325

7.5 Systeminterferenzen in der Gartenkunst 331

Kapitel 8 Die Welt als Garten  356


8.1 Eine Begriffsbestimmung  356

8.2 Ist die ‚Welt als Garten’ ein System? 359

8.3 Heidegger und das Wohnen 365

8.4 Was ist Kunst? Was ist Gartenkunst? 371


8.4.1 Adornos Kunsttheorie 374

8.5 Gartenkunst, soziologisch gesehen 385


8.5.1 Bourdieu und die Eliten 386
8.5.2 Gerhard Schulzes Milieus 388
8.5.3 Die Gleichberechtigung unterschiedlicher Lebensformen. 392
8.5.4 Entwicklung in der Kunst 395

  7
8.5.5 Avantgarde und Gros 397
8.5.6 Folgerungen für die Gartenkunst 399
8.5.7 Was ist Urbanität? 402

Kapitel 9 Aspekte der ‚Gartenwelt‘ 409


9.1 Die räumliche Struktur 409

9.2 Vegetation als Substanz der Gartenwelt 412


9.2.1 Die Bedeutung der Bodenfruchtbarkeit 412
9.2.2 „Nachwachsende Rohstoffe“ als einschneidender Faktor in der Gartenwelt 414

9.3 Das Bild der Landschaft, Zukunftsaspekte 416


9.3.1 Die Landwirtschaft und das Bild der Landschaft 418
9.3.2 Der Naturschutz in der Gartenwelt 422

9.4 Aspekte der Gartenkunst  431


9.4.1 Pflanzen als Medium in der Gartenkunst 432
9.4.2 Das Verhältnis von Vegetation und Architektur im Garten  438
9.4.3 Die Vegetation und der ‚fließende Raum’ 439

Kapitel 10 Zusammenfassung  443


Kapitel 11 Literaturverzeichnis 451
11.1 Literaturverzeichnis 451

Literaturverzeichnis451
Kapitel 12 Abbildungsverzeichnis 465
12.1 Abbildungsverzeichnis 465

Abbildungsverzeichnis465

8 8
  9
10 10
Vorwort
Diese Arbeit kann man als Bilanz eines langen Berufslebens bezeichnen. Ich
war in den unterschiedlichsten Berufsfeldern tätig, aber immer bestrebt, je-
weils hinter den praktischen Alltagsfragen die theoretischen Grundlagen zu
erkennen. Am Anfang bewegte sich mein Denken oft in Extremen. So hatte
ich mir in der Lehrzeit in der zu ihrer Zeit größten Sortimentsbaumschule
immense Pflanzenkenntnisse angeeignet. Die kamen mir aber im Laufe des
späteren Studiums bald als unnützer Ballast vor, weil ich mich immer mehr
der ‚heimischen’ Natur zuwandte. Diese hatte sich in der Nachkriegszeit in
Berlin wegen der mangelnden ‚Pflege’ die Straßen zurückerobert. Ich war auf
meinem täglichen Weg von Steglitz nach Dahlem immer wieder fasziniert,
wenn ich in den Pflasterritzen eine neue Pflanze entdeckte, wie zum Beispiel
die Wegwarte oder den Steinsamen, die weit verbreitet waren. Ich stellte fest,
dass ‚Natur’ und ‚Stadt’ kein Widerspruch sein muss und entdeckte so eine
für mich neue Ästhetik, die dazu führte, dass ich meine Entwürfe nur noch
nach rein pflanzensoziologischen Prinzipien ausführte, eine zu der Zeit extre-
me Haltung.
In der Bibliothek der Lehr- und Forschungsanstalt fand ich Literatur über
das Bauhaus. Aus dessen Prinzipien und meiner neuen Auffassung der Natur
entwickelte ich für mich eine Theorie, die ich in meiner Examensarbeit 1954
so zum Ausdruck brachte:
Unsere Raumvorstellung ist eine unendliche im Gegensatz zur anti-
ken. Die moderne Architektur öffnet sich deshalb nach außen. Sie um-
grenzt keinen endlichen Raum mehr, sondern verkörpert die Spannung
zwischen dem „vernünftigen und dem kosmischen Prinzip“ zwischen
Mensch und Natur. War die klassische Raumvorstellung „statisch“, so
ist die moderne „dynamisch“. Architektur und Natur durchdringen
sich gegenseitig, ohne ihr Sein und ihre eigenen Gesetze aufzugeben. ...

  11
Das moderne Prinzip [ist] das Nebeneinander und das Ineinander von
Natur und Kultur, von Architektur und Landschaft.
Meine Neigung zu dieser radikalen Abkehr von der Konvention wurde si-
cher auch verstärkt durch das Erlebnis des damals pulsierenden Berliner
Kunstlebens, das durch Namen wie Karl Hofer, Karl Hartung, Bernhard Heiliger,
E. W. Nay, Ernst Schumacher und andere und durch die Auseinandersetzung
zwischen gegenständlicher und abstrakter Kunst gekennzeichnet war. Dank
der in Dahlem durch Paul Mittelstädt propagierten „studentischen Freiheit“
konnte ich voll in dieses spannende Geschehen eintauchen, und so ließ
ich keinen Vortrag von Will Grohmann im Haus am Waldsee und keine
Kunstausstellung aus.
Nach dem Studium wurde schnell klar, dass in der damaligen prekären
Arbeitswelt dieses ideale Leben nicht fortgesetzt werden konnte. In einem
bewussten ‚Kontrastprogramm’ dirigierte ich deshalb drei Jahre lang in einer
großen Erdbaufirma Bagger und Planierraupen.
In dem anschließenden Staatsdienst war ich dann, wie in den Jahren üblich,
als Generalist tätig. Ein Schwerpunkt war der Naturschutz, den ich ziemlich
fundamentalistisch vertrat. Das änderte sich aber mit der Zeit, je mehr die
Naturschutzbewegung politischen Einfluss gewann und der Konflikt mit
den anderen grünen Fakultäten zunahm. Meine dadurch entstandene kriti-
sche Einstellung begründe ich in dieser Arbeit.
Ich habe mich seit meiner Jugend für die Philosophie interessiert; So lag
es nahe, nach meiner Pensionierung dieser Neigung als Gasthörer an
der Hamburger Universität zu folgen. Ich bin in den drei Jahren zwar kein
Philosoph geworden, aber ich kann mich seitdem ‚angstfrei’ in der philo-
sophischen Literatur bewegen. Letztlich wurde ich dadurch motiviert, diese
Arbeit in Angriff zu nehmen.

12 12
Bewegt hatte mich auch die kritische Auseinandersetzung mit der post-
modernen Architektur und im Zusammenhang damit die Kritik des
Oberbaudirektors Egbert Kossak, der den Vorwurf erhoben hatte, dass die
Gartenarchitekten nicht auf der Höhe der Zeit seien.1
Wesentliche Impulse erhielt ich von Lyotards Widerstreit und Gerhard
Schulzes Soziologie der „Erlebnisgesellschaft“. Einen entscheidenden Einfluss
hatten aber die „Gesetze der Form“ von Spencer-Brown, die Niklas Luhmann
in Deutschland bekannt gemacht hatte. Sie sind das theoretische Werkzeug,
mit dem ich meine Idee über das Verhältnis zwischen Architektur- und
Naturraum von 1954 weiter entwickelt habe.
Rückblickend sehe ich ein Versäumnis darin, dass ich erst spät versucht
habe, an dem öffentlichen fachlichen Diskurs teilzunehmen. Ein Versuch
vor etwa zehn Jahren, erste Grundgedanken dieser Arbeit einem größeren
Kollegenkreis zur Diskussion vorzulegen, blieb ohne Resonanz.
Zum akademischen Betrieb fehlt mir jegliche Verbindung, sodass ich mich
darauf beschränken musste, die einschlägige Literatur, darunter einige
Dissertationen, zu studieren. Vielleicht war aber gerade die Tatsache, dass
ich nicht im normalen wissenschaftlichen Betrieb sozialisiert wurde, die
Voraussetzung für ein unbefangenes Denken und für die Entwicklung un-
konventioneller Lösungen. Dass diese nicht ohne Widerspruch bleiben wer-
den, ist mir klar. Insofern nenne ich es bewusst eine Streitschrift. Denn in der
Kunst und somit auch in der Gartenkunst gibt es keinen Fortschritt ohne
„Widerstreit“.

1  „Garten und Landschaft“ 11/86

  13
Zur Einführung

Der Begriff und die Profession


Der Begriff Gartenkunst wurde bis vor kurzem fast nur in Bezug auf histori-
sche Gärten benutzt. So wurden z.B. in einem Seminar über „Gartenkunst“,
Untertitel: „Historische Gärten in Holstein“, nur Barock- und Landschaftsgärten
des 18. und 19. Jahrhunderts behandelt. Und noch 1990 erschien ein Buch
über historische Gärten mit dem Titel: „Gartenkunst in Europa.“ Die Ursache
für diese verengte Sichtweise mag darin liegen, dass diese Anlagen - oft
in restaurierter Form - noch gegenwärtig und erlebbar sind, wie z. B. die
Herrenhäuser Gärten oder der Englische Garten in München. Auch gelten
ihre Schöpfer, wie Le Notre, Skell u. a, für uns als anerkannte Künstler. Dagegen
scheute man sich, die gegenwärtige Gartengestaltung als Kunst anzusehen.
Das nahm schon seinen Anfang mit der Erstarrung des Landschaftsstils am
Ende des 19. Jahrhunderts, als von Kunst nicht mehr die Rede sein konnte.
Die Entwicklung verlief parallel zum Niedergang der Baukunst. Die Stadtvilla
im Renaissancestil mit einem Brezelweggarten ist für uns das Schreckensbild
jener Zeit. Aber „eigenartigerweise [wähnte man sich] gerade damals auf
dem Gipfel deutscher Gartenkunst.“ 2
Die Reaktion auf den Eklektizismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts war
die Reformarchitektur, die - von England ausgehend - in Deutschland von
Muthesius und anderen vertreten wurde. Diese Architekten fühlten sich
auch für den Garten zuständig und bezogen ihn in ihr funktionales Konzept
ein, deklariert als „erweiterter Wohnraum.“
Nach anfänglichem Widerstand übernahmen auch Gartenarchitekten die-
sen Stil und fügten den Teil hinzu, den die Architekten nicht beherrschten,

2  Hoffmann, (1993), 274.

14 14
nämlich eine entsprechende Verwendung der Pflanzen. Hierfür stehen die
Namen Willy Lange, Leberecht Migge und andere. Eine neue Dimension
von Gartenbildern ermöglichten die Staudenzüchtungen von Karl Förster.
Vorrang hatte aber das funktionalistische Prinzip. Besonders die Welle der
Stadtparkplanungen bis Ende der 20er Jahre war auf die Erfüllung sozialhy-
gienischer Funktionen ausgerichtet, wobei die Gestaltung neobarocke Züge
hatte.
Während Ende des 19. Jahrhunderts der Landschaftsgarten im reinen
Manierismus erstarrte, erwachte in Kreisen der Bevölkerung das Interesse
für die eigentliche Landschaft. Aus dem Heimatschutz entwickelte sich die
Naturschutzbewegung. Die Ursache hierfür war die sprunghafte Zunahme
der Industrialisierung, deren negative Auswirkung auf die Natur immer
deutlicher wurde. Gartenarchitekten gehörten zunächst nicht zu den
Protagonisten dieser Bewegung. Erst als es um fachliche Fragen, wie die
Beseitigung oder Kaschierung von Folgeschäden ging, entstand für diese ein
neues Betätigungsfeld. Themen waren Haldenbegrünungen, Rekultivierung
von Kiesgruben, aber auch die landschaftliche Einbindung von Autobahnen
und die Renaturierung verbauter Gewässer. Eine wichtige Hilfswissenschaft
war die Pflanzensoziologie. Anstatt nur nach ‚rauchharten’ Gehölzen zu fra-
gen, wurde die Standortgerechtigkeit Kriterium der Planung.
In den ersten Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg bestand die Chance,
beim Wiederaufbau der Städte die Forderung der Charta von Athen nach
Durchgrünung der Städte zu erfüllen. Diese Aufgabe war so groß, dass es zu-
nächst nur um Flächensicherung gehen konnte. In Hamburg z.B. gab es den
Haushaltstitel „Einfachbegrünung“, mit dessen Mitteln nur die Rasenansaat,
einfache Wanderwege und Pflanzungen durchgeführt werden konnten.
An eine künstlerische Gestaltung war nicht zu denken. Auch die Vielfalt
der Aufgaben nahm zu: Grünanlagen, Siedlungsgrün, Straßenbegleitgrün,
Kinderspielplätze, Sportanlagen, Außenanlagen an Schulen und Kindergärten

  15
und vieles mehr waren zu planen. Die Gartenarchitekten waren in dieser Zeit
- besonders im administrativen Bereich - Generalisten, die in vielen Städten
auch noch für den Naturschutz und die städtebauliche Grünplanung zu-
ständig waren. Die Gartenkunst war zu dieser Zeit explizit kein Thema.
Das bedeutet natürlich nicht, dass es unter dem herrschenden
Funktionalismus nicht auch hervorragende künstlerische Leistungen gab von
Gartenarchitekten wie Mattern, Hammerbacher, Reich, Lüdtge, Plomin und
andere. Aber es gab kaum Diskussionen oder gar Streit über dieses Thema
und auch keine Prinzipien, die man als stilbildend bezeichnen könnte.
Ein tief greifender Wandel, der in seiner Wirkung als gegenläufig bezeich-
net werden kann, vollzog sich in der Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten
des vorigen Jahrhunderts. Der Grund dazu war einerseits das Erstarken des
Umweltbewusstseins und andererseits die Bewegung der Postmoderne.
Nach der Propagierung des „blauen Himmels über der Ruhr“ fühlten sich
viele junge Menschen berufen, an dieser großen Aufgabe mitzuwirken. Die
Biologie und die Geographie wurden beliebte Studienfächer. Da der be-
hördliche Natur- und Umweltschutz viele dieser neu Ausgebildeten nicht
aufnehmen konnte, bildeten sich ganz neue Strukturen in der nichtstaatli-
chen Naturschutzbewegung aus, die zunehmend auch politischen Einfluss
gewann.
In der Landschaftsarchitektur konnte man jetzt teilweise von einem öko-
logischen Funktionalismus sprechen. Wie Jürgen Wenzel feststellte, reagier-
te die Profession „mit einem Wechsel ihres Objekts. Zu ihrer wichtigsten
Aufgabe erklärte sie nun den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen.
So wurde der Artenreichtum einer Grünfläche sogar zum Gradmesser ih-
rer Erholungseignung. ... Stadtplanung und Landschaftsarchitektur wurden
zu Gegnern.“3 Diese Entwicklung und die Verunsicherung des Berufsfeldes

3  Wenzel, (2005), 288ff

16 16
schlug sich auch nieder in den Änderungen der Berufsbezeichnung:
Gartengestalter - Gartenarchitekt – Garten- und Landschaftsarchitekt –
Landschaftsarchitekt.
In der Architektur vollzog sich ein Wandel, der in eine ganz andere Richtung
ging: Die Entwicklung der Postmoderne. Es war die Reaktion auf die
‚Kastenarchitektur’ der späten Moderne. Es entstand ein Stil, der sich ‚nar-
rativ’ der Versatzstücke vergangener Epochen bediente. Die Beachtung der
Funktionen – ‚form follows funktion’ - wurde sekundär. Die wichtigsten
Apologeten waren Heinrich Klotz und Charles Jencks.4 Die Außenanlagen zu
dieser Architektur wurden aus Versatzstücken des Barocks zunächst von den
Architekten mit ausgeführt.
Die Landschaftsarchitekten, die dem ökologischen Diktat nicht folgten und
ihre Aufgabe weiterhin in einer kreativen, ästhetischen Gestaltung sahen, sa-
ßen jetzt zwischen allen Stühlen. Nach Ulrich Eisel wurde ihnen nun die
Anerkennung „von zwei Seiten verweigert: Einerseits von denen, die – wie
sie – für das Grün in der Gesellschaft zuständig gemacht wurden, ... die
Naturschützer und Umweltplaner. Andererseits aber auch von denen, die für
das Gegenteil zuständig sind, die Architekten ...“ 5 Dieses Spannungsverhältnis
führte schließlich zu einer Spaltung der grünen Profession. Zunächst im aka-
demischen Bereich, in dem Landschaftsarchitekten sich der Fakultät der
Architekten anschlossen.
So ist jetzt eine Bewegung entstanden, die den Anspruch erhebt, wieder
Gartenkunst zu sein. Ihre Motivation wird treffend von Udo Weilacher dar-
gestellt:
...von der Landschaftsarchitektur, einst unter der Bezeichnung
Gartenkunst als eine der wichtigsten und einflussreichsten Künste

4  Klotz, (1985), Jencks, (1987).


5  Eisel, (1997), .17

  17
gefeiert, wird immer eindrücklicher gefordert, dass sie zu einer zeit-
gemäßen Aussagekraft im aktuellen Kontext finden müsse. Vor
fast hundert Jahren ist der Anspruch auf ästhetische Qualität , der
an die Landschaftsarchitektur zu stellen wäre, zugunsten funktio-
naler Nutzbarkeit und Erfüllung soziologischer und ökologischer
Anforderungen stark in den Hintergrund gedrängt worden. Der damit
verbundene Verlust an Ausdrucks- und gesellschaftlicher Impulskraft
war gravierend und leitete eine Entwicklung ein, die zu regelrechter
Sprachlosigkeit führte.6
So orientiert man sich denn auch zunächst, wie die Architektur, an vergange-
nen Stilen: Achsiale, symmetrische Gestaltungen, die nur gelegentlich durch
Diagonale gebrochen werden, Hecken, Baumraster und Alleen bilden das
neue, ‚alte’ Vokabular.
Neuerdings spielt das Schlagwort ‚Dekonstruktivismus’ in Architektur
und Landschaftsarchitektur eine große Rolle, abgeleitet von der Theorie
des französischen Philosophen Derrida. Der hat sich allerdings von dieser
Verwendung seines Schlüsselbegriffs distanziert. So überwiegt denn auch
bei vielen Beispielen das Spektakuläre der äußeren Form vor dem künstleri-
schen Gehalt.7
In dem Bestreben, den künstlerischen Anspruch der Landschaftsarchitektur
zu untermauern, wird der Blick zunehmend auch auf die Bildende Kunst ge-
richtet. So wie die Landschaftsmalerei als Vorbild für den Landschaftsgarten
galt, werden jetzt Vorbilder aus der modernen bildenden Kunst gesucht.
So sieht man in manchen Entwürfen Formen nach Art der russischen
Suprematisten, Picassos, Piet Mondrians und anderer Künstler, die vor fast
hundert Jahren zur Avantgarde gehörten. – Noch größer ist die Affinität zur

6  Weilacher,(1999), 9
7  Krebs, (2002),

18 18
Landart. Hier kann man schon von einem fließenden Übergang sprechen,
zumal auch viele bildende Künstler sich mit ‚Natur’ auseinander setzen.8
Abgesehen davon, dass es nach wie vor verbreitet eine konventionelle, prag-
matische Gartengestaltung gibt, ist in der Fachliteratur und besonders im
Wettbewerbswesen eine Avantgarde Ton angebend, die mit betont künst-
lerischem Anspruch auftritt. Kennzeichnend ist eine - im Vergleich zu frü-
heren Epochen - zurückhaltende Verwendung von Pflanzen, besonders im
innerstädtischen Bereich und ein geradezu idiosynkratisches Verhältnis zur
Ökologie. Das Interesse ist auf eine Formgebung gerichtet, die als vergleich-
bar mit der Architektur und der bildenden Kunst angesehen wird.
Seit einigen Jahren gibt es aber auch eine Bewegung, deren öffentliche
Wirkung weit stärker ist. Entwickelt von Spezialisten, aber getragen von
Nichtfachleuten – Dilettanten im klassischem Sinne - ist ein Gartenstil ent-
standen, in dem die Pflanzen wieder die Hauptrolle spielen. Verbreitet wird
dieser Stil in zahllosen Gartenzeitschriften, Hochglanzbroschüren, in speziel-
len Gartenschauen, die gerne von Gutsherrinnen veranstaltet werden und
mit den immer beliebter werdenden ‚Tagen der offenen Gartenpforte.’

Verhältnis zwischen Gartenkunst und Natur


Die bisherige Darstellung zeigt, dass eine enge Beziehung zwischen
Gartenkunst und Architektur besteht. Beide haben sich mit Form und
Funktion auseinanderzusetzen. Ein Unterschied besteht darin, dass im
Garten Pflanzen verwendet werden. Dies ist aber auch der Grund für das
Konfliktpotenzial in der Theorie der Gartenkunst. Einerseits werden Pflanzen
als ‚Material’ für die Gestaltung betrachtet, andererseits als etwas, das man
gerne ‚symbolische Natur’ nennt. Es geht also um das Verhältnis zwischen
Garten und Natur. Auch in diesem Zusammenhang ist ein Blick auf die hi-

8  Weilacher (1999); Kunstforum, (1988), (1999a), (1999b).

  19
storische Entwicklung sinnvoll. Ich gehe weit zurück auf das, was ich den
Urgarten nenne: ein Stück Land, in dem die lebenswichtigen Nutzpflanzen
durch eine Einfriedigung gegen die ‚wilde Natur’ beschützt waren. Dieses
Prinzip gilt heute noch in vielen Nutzgärten. Es galt auch für alle historischen
Gärten bis zur Renaissance. Im Zuge der Aufklärung, mit der Entwicklung
des Barockgartens trat dann ein grundlegender Wandel ein. Dieser bestand
darin, dass sich der Garten zur Natur hin öffnete. War der Urgarten schlecht-
hin Negation der Natur, so trat der Barockgarten in ein Spannungsverhältnis
zu ihr. Das mag ungewohnt klingen nach der vorherrschenden Lesart, die
immer die Naturfeindlichkeit des Barocks betont.
Aber schon bei Dezallier d´Argenville, Autor eines anfangs des 18.
Jahrhunderts weit verbreiteten Lehr- und Musterbuches, lesen wir:
Beim Bau eines Gartens muss darauf geachtet werden, dass dieser
der Natur mehr verdankt als der Kunst; dieser darf er nur das entleh-
nen, was zur Hervorhebung der Natur dient. ... Die einzelnen Teile des
Gartens müssen so glücklich liegen, dass sie gleichsam vom Schöpfer
der Natur gesetzt und bepflanzt zu sein scheinen.9
Das zeigt, dass die Schöpfer der Barockgärten durchaus ein bewusstes posi-
tives Verhältnis zur Natur hatten. Auch bei Lucius Burckhardt erfahren wir
eine ungewohnte spezielle Sicht des Barockgartens:
Der Park von Versailles sieht genau so nicht aus, wie er uns in der
Geschichtsstunde beschrieben wurde: ... Dargestellt ist ... nicht die
Macht des Sonnenkönigs, sondern vielmehr das Verhältnis des
(damals) Beherrschbaren zum Unbeherrschten, zum Gebiet des
Abenteuers und der Jagd. ... Gleich einem Musikstück zieht der Garten
den plötzlichen Übergang vom Schloss in die Länge durch eine Folge

9  A.J. Dezallier d´Argenville, (1960), 125.

20 20
von verzögerten Motiven. ... Der Wald am Ende des Parks ist wahrlich
der Urwald.10
Ähnlich sieht es der Kunsthistoriker und Gartendenkmalpfleger Géza Hajós:
Es wäre sicher falsch, im Renaissancegarten genauso wie im
Barockgarten nur die Absicht, die Natur zu „beherrschen“, sehen zu
wollen; in beiden Gartenformen ging es um das Kennenlernen der
Natur, als Auseinandersetzung oder Wettstreit zwischen Ordnung
und Unordnung, zwischen Künstlichem und Wilden, zwischen
Mensch und Umwelt. Dass die Natur damals noch in vielfacher
Hinsicht eine „Bedrohung“ darstellte, erklärt nur sehr zum Teil ihre äs-
thetische Verarbeitung, denn gerade die unmittelbar Betroffenen, die
der Naturgewalt oft wehrlos ausgeliefert waren, konnten sich keine
idyllische Betrachtung leisten.11
Und auch für den Kunsthistoriker Torsten O. Enge ist der französische
Barockgarten eine Landschaftsarchitektur, die „eine wesentliche Gestaltung
der Idee der Natur leistet.“12
Ich betone diese ungewöhnliche Sicht auf den Barockgarten, um deutlich
zu machen, dass das Naturverhältnis in der Gartenkunst nicht in erster Linie
eine formale Frage ist.
Wenn wir die weitere Entwicklung in großen Zügen verfolgen und von
Details absehen, z. B. ob Pflanzen beschnitten werden oder nicht, so ist der
Übergang vom Barock- zum Landschaftsgarten, anders als es meist geschieht,
nicht als Bruch anzusehen. Wenn im Barockgarten, wie Lucius Burckhardt
sagt, der Übergang vom Schloss, also vom Architektonischen zum ‚Urwald,’

10  Burckhardt, Lucius, (2007), 49 f.


11  Hajós, 1988
12  Enge, (1990), 219.

  21
zur freien Natur inszeniert wird, so wird im Landschaftsgarten die ‚ganze
Natur’ als solche inszeniert. So lesen wir bei Christian C. L. Hirschfeld, dem
großen Theoretiker der Gartenkunst:
Die Natur ordnet alle Gegenstände in der Landschaft mit Freyheit
und Ungezwungenheit an. Keine symmetrische Gleichheit, keine
künstliche Abzirkelung, keine Einförmigkeit im Umfang, in Gestalt
und Bildung der Tiefen, Anhöhen und Ebenen, der Pflanzen, Blumen,
Stauden und Wälder, der Bäche und Seen. Alles erscheint in einer
ganz freien Anordnung, mit der größten Abwechslung, mit einer Art
von angenehmer Nachlässigkeit und Zerstreuung, die mehr wert ist
als die sorgfältigste Genauigkeit. Dieses Vorbild stellt die Natur dem
Gartenkünstler zur Nachahmung vor Augen. ... Ein schöner Garten
ist kein anderer, als der nach der schönen Natur mit Geschmack und
Beurteilung angelegt ist.13
Uns ist natürlich bewusst, dass mit der ‚Schönen Natur’ das gemeint war, was
Schiller die ‚Gefildenatur’ nannte, also die weitgehend menschlich angeeig-
nete Natur. - Eine andere Naturinszenierung beschreibt Rousseau in seinem
Roman der „Neuen Heloise“: Der Garten der Julie, der reine Natur darstellen
sollte, sei keineswegs „allein durch Vernachlässigung, durch Verunkrautung
und das Walten-Lassen der Natur entstanden“ sondern „je natürlicher der
Garten sein soll, desto aufwendiger sei seine Pflege“14 Hier wird das Paradox
der ‚künstlichen Natur’ in ihrer Inszenierung besonders deutlich.
Der Landschaftsgarten entfernte sich im Laufe der Zeit immer weiter von
der Naturinszenierung und erstarrte zu einem leeren Formalismus. Bei Marie
Luise Gothein lesen wir von dem englischen Architekten und Vertreter der
Reformarchitektur Blomfield, welcher feststellte, dass „der Landschaftsgarten

13  Hirschfeld, (1985), 138 f.


14  Burckhardt, (2007), 52.

22 22
in seinen Nachahmungen ebenso künstlich [sei], wie der des alten Stils. Natur
an sich habe weder mit geraden noch mit gekrümmten Linien etwas zu tun,
und es könne eine offene Frage bleiben, ob der natürliche Mensch einen ge-
raden Weg einem gebogenen vorziehen würde“ und „ ... was das eigentliche
Wesen der Natur ... anbeträfe, so habe ein beschnittener Baum ebensoviel
Natürlichkeit wie ein Waldbaum, und es sei daher nicht unnatürlicher einen
Baum zu beschneiden, als Gras zu schneiden.“15
In den neuen Gärten der Reformarchitektur suchten nun einige
Gartenarchitekten eine Synthese von Natürlichkeit und Künstlichkeit, in-
dem sie in den architektonischen Rahmen Naturmotive einfügten. Für Willy
Lange z. B. beruhte
jede Kunst auf Steigerung der Natur; als Künstler sucht sich der Mensch
zu befreien von der Natur, über sie hinaus zu gelangen; die Natur als
Ganzes vermag er in seinen Werken nicht zu steigern, wohl aber ein-
zelne ihrer Wesenszüge; hier schafft sich der Mensch seine „Ideen“ ...
und in diesen Idealen sucht er in Kunstwerken ein Dasein zu geben,
das höher, „edler“ ihm scheint, gesteigert im Vergleich mit der Natur.16
Diese Steigerung der Natur meinte Lange zu erreichen, indem er die
Bepflanzung der Gärten nicht nach ökologisch- wissenschaftlichen son-
dern nach „physiognomisch-künstlerischen Grundsätzen“ vornahm. Noch
1957 wurde diese Gegensätzlichkeit von namhaften Gartenarchitekten
leidenschaftlich diskutiert.17 Doch allmählich setzte sich dann der indiffe-
rente Begriff ‚Grün’ durch; es ging jetzt z. B. um ‚Hilfe durch Grün’ und um
‚Grünplanung.’

15  Gothein, (1926), 445.


16  Lange, (1922), 2.
17  Garten und Landschaft, Heft 1 – 5, 1957.

  23
Erst mit der Spaltung der Profession in Gartenkünstler und Ökologen be-
ginnt man wieder ‚Farbe zu bekennen.’ Viele Gartenkünstler bewegen sich
jetzt in der Begriffswelt der bildenden Kunst. Die Darstellung von ‚Natur’ wird
diskriminiert als ‚Naturalismus,’ der mit Kunst nicht zu vereinbaren ist. Das
Verhältnis zur Naturästhetik ist problematisch. So sagte Dieter Kienast in
einem Interview: „Den Begriff Schönheit will ich nicht ins Spiel bringen, weil
er mit dem Reizwort des Naturschönen verbunden ist, und dabei geht es
immer um Lieblichkeit.“ 18 Entsprechend wird denn auch das ‚Natürliche’ aus
der Stadt verbannt. Stefanie Krebs schreibt im Anschluss an Adriaan Geuze:
„Weil die alten Gegensätze von Natur und Stadt nicht mehr gelten, - Natur
wird künstlich erzeugt, Stadt wird in ihren unkontrollierten Wucherungen
bisweilen wie ein Naturereignis wahrgenommen – sollten wir ... heute auch
nicht mehr wie im 19.Jahrhundert versuchen, mit Parks die Illusion von
Natur in die Stadt zu holen.“ 19 Das Verhältnis Natur / Gartenkunst ist zum
Antagonismus geworden

Das Verhältnis zwischen Landschaft und Natur


Ein anderes Reizwort ist ‚Arkadien.’ Das weist auf ein verwandtes Problem
hin, welches die Profession bewegt, die Landschaft. Das Gegensatzpaar
‚Kunst / Natur’ heißt jetzt ‚Stadt / Landschaft.’ Landschaftsarchitekten, die
sich auf diesem Gebiet betätigen, betreiben ‚Landschaftsplanung.’ Das ist
eine Arbeit mit wissenschaftlichem Anspruch, bei der man zunächst nicht
an Gartenkunst denkt. Es geht hier um Kartierungen, Flächenausweisungen,
Ausgleichsregelungen, kurz um Ökologie. Kann man das unter dem Thema
Gartenkunst behandeln? Es gibt zwei Gründe dafür: Erstens gibt es eine
Bewegung, welche die ‚Welt als Garten’ sehen will. ‚Die Welt als Garten’ ist
ein Motto, das im Zusammenhang mit der Expo 2000 geprägt wurde. Es

18  Kienast, (1999), 146.


19  Krebs, (2002), 169.

24 24
symbolisiert die Forderung, die Natur in allen Bereichen der Welt so pfleglich
zu nutzen, dass sie in ihrer Substanz für spätere Generationen erhalten bleibt.
Als ‚Garten’ kann man aber auch die Landschaft unter einem künstlerischem
Gesichtspunkt sehen.
Zweitens steht auch das Thema Landschaft unter der Spannung des
Konfliktes zwischen Natur und menschlichem Einfluss. Also nicht nur au-
tonome Werke in einem begrenzten Raum, sondern der gesamte Raum mit
allen seinen gesellschaftlichen Belangen und Ansprüchen ist das Thema der
theoretischen Erörterungen. Entsprechend komplex und unübersichtlich ist
es. So stellt Udo Weilacher fest:
Eine unter akutem Theoriedefizit leidende Profession [sieht sich] am
Beginn des 21. Jahrhunderts plötzlich mit neuen, sich vielerorts noch
unscharf abzeichnenden Umweltentwicklungstendenzen konfron-
tiert, die auf scheinbar komplizierte und zugleich subtile Weise das
Bild von Landschaft und Stadt sowie die Naturwahrnehmung des
Menschen und die Vorstellung von Lebenswelten außerordentlich ra-
sant und tief greifend verändern.20
Explizit mit der Landschaft auseinander gesetzt hat sich der Philosoph
Joachim Ritter.21 Seine Kernaussage ist, dass der städtische Mensch, der einer
ursprünglichen „ganzen Natur“ entzweit ist, als Kompensation die ästheti-
sche Hinwendung zur Landschaft braucht. Aber:
Der Naturgenuss und die ästhetische Zuwendung zur Natur setzen ...
die Freiheit und die gesellschaftliche Herrschaft über die Natur vor-
aus. Wo die Natur zu der Gewalt wird, die ihre Ketten zerbricht und
den Menschen, den schutzlos gewordenen, fortreißt, da waltet im
Furchtbaren der Schrecken, der blind ist. Freiheit ist Dasein über der

20  Weilacher, Udo, in: Martin Prominski, (2004), 9.


21  Ritter, (1974).

  25
gebändigten Natur. Daher kann es Natur als Landschaft nur unter der
Bedingung der Freiheit auf dem Boden der modernen Gesellschaft ge-
ben.22
Ritter bezieht sich u. a. auf Schillers Elegie „Der Spaziergang“, in dem ein
Mensch, „entflohen des Zimmers Gefängnis“ die Natur erlebt: Den „Berg, mit
dem rötlich schimmernden Gipfel“, „den grünenden Wald“, „die blühende
Au“. Er sieht das „glückliche Volk der Gefilde“, den Menschen, dessen Felder
„friedlich sein ländliches Dach umruhn“. Doch, abgelenkt durch „der Pappeln
stolze Geschlechter“ die „in geordnetem Pomp vornehm und prächtig da-
herziehn“ denkt er an die Stadt und das städtische Leben in allen seinen
Erscheinungen und Verwicklungen. - Schließlich findet er sich in einer wilden
Natur wieder, in der „jegliche Spur menschlicher Hände“ fehlt.
Wie Schiller, sieht auch Ritter den Gegensatz zwischen Stadt und freier
Natur, die er, abgeleitet von Schiller, die „umruhende Natur“ nennt. Diese
umfasst für ihn offensichtlich sowohl die bäuerliche „Gefildenatur“, wie auch
den Wald und die unberührte „wilde“ Natur. Die umruhende Natur ist also
die Natur, in die man hinausgeht.
Sie wird erst für den Hinausgehenden zur Landschaft, die so zu der
Stadt gehört, „die sich aus dem felsigen Kern türmend erhebt.“ ...
Schiller spricht zugleich aus, daß die notwendige und unaufhebba-
re Bedingung der mit der Stadt gesetzten Freiheit des Menschen, die
Verwandlung der „umruhenden“ Natur des ländlichen Daseins in die
genutzte Natur als Objekt menschlicher Herrschaft wird.23
Diese ritterschen Thesen sind in letzter Zeit mehrfach kritisiert worden wor-
den, unter anderen von Martin Prominski.24 Der beruft sich auf Autoren, die

22  ebd., 162


23  ebd. 159.
24  Prominski, (2004), 51 bis 81.

26 26
den Landschaftsbegriff in der bisherigen Bedeutung infrage stellen. So zum
Beispiel auf Rainer Piepmeier, der
das Ende der ästhetischen Kategorie „Landschaft“ [konstatiert]. Die
Argumentation Ritters nachzeichnend stellt er fest, dass der ästhe-
tische Landschaftsbegriff notwendig des Korrelates der Stadt bzw.
der angeeigneten Natur bedarf und sich selbst auf das Gegenüber,
die freie, umruhende Natur bezieht. Die Existenz dieses für ästheti-
schen Landschaftsbegriff konstitutiven Verhältnisses stellt er an-
gesichts der 1980 fast vollständig angeeigneten Natur in Frage: „Die
ästhetische Funktion des ländlichen Gefildes als der freien Natur
ist (...) vergangen, wenn das Gefilde Gegenwart wurde als flurberei-
nigte Traktorenlandschaft oder auch als Erholungslandschaft, die
ja bereits angeeignete Natur ist. Damit ist prinzipiell die für Ritters
Landschaftskonzept grundlegende Trennung von Stadt und Land
als Landschaft aufgehoben. Das Moment des ‚Hinausgehens’ hat die
Möglichkeit seiner Realisation verloren.“
Ohne Korrelat, ohne Gegenüber bricht die Statik des ästhetischen
Landschaftsbegriffs auseinander.25
John Brinckerhoff Jackson wird zitiert: „Landschaft ist ... niemals nur ein
natürlicher Raum ... sie ist immer synthetisch, immer unvorhersehbaren
Veränderungen unterworfen.“ Er nennt dies die „Landschaft Drei“ 26 - Und nach
Sieferle: „überzieht [ein] Industriealisierungs- und Modernisierungsprozess
sowohl Stadt und Land, die alten Bestandteile ‚verflüchtigen’ sich. Es entste-
he ein homogener Landschaftstypus, die ‚Totale Landschaft.’“ Und schließ-
lich stellt Prominski zustimmend fest: „In der ‚Totalen Landschaft’ ist die alte
Kulturlandschaft nur noch ein künstliches Reservat. Dieser Artefaktcharakter

25  ebd., 57
26  ebd., 58.

  27
betrifft nun alle Bestandteile der Landschaft – ob Naturschutzgebiete oder
Gewerbegebiete, alle sind Konstrukte.“ 27
Diese Analysen konstatieren also die Aufhebung der Unterscheidung von
Stadt und Landschaft. Damit seien „dem ästhetischen Landschaftsbegriff im
Sinne von Ritter die zentralen Säulen geraubt, ohne die er zerbricht.“28 Die
neuen Begriffe, die „Landschaft Drei“ oder die „totale Landschaft“ sind jedoch
nach meiner Auffassung negativ; sie sagen nur, dass es die alte Landschaft
nicht mehr gibt. Was an deren Stelle treten soll, ist nicht erkennbar. So sieht
denn auch Prominski ein Dilemma in dieser neuen Begriffsbestimmung: „Die
‚Landschaft Drei’ scheint den realen Prozessen, wie der Verwischung der
Gegensätze ‚natürlich / künstlich’ oder ‚Stadt / Landschaft’ zu entsprechen,
ist aber mit ihrer Weite und systemischen Charakter kaum greifbar,“ „ der
Begriff scheint zu weit und zu unscharf“ 29
Wenn man alle diese Aussagen wörtlich nimmt, erscheinen sie insofern
radikal, als sie faktisch die ‚Natur’ aus der Landschaft getilgt sehen. „Alle
Bestandteile der Landschaft sind Konstrukte!“ So zeigt sich eine Parallele zur
Gartenkunst. Hier wie dort ist die Natur, so wie man sie heute versteht, ausge-
blendet. Für den größten Flächenanteil der mitteleuropäischen Landschaft,
den agrarischen, fehlt bisher ein kreativer Ansatz, der über die ökonomischen
und ökologischen Belange hinaus, eine künstlerische Gestaltung verfolgt. Zu
bedenken bleibt, dass der Topos ‚Hinaus ins Grüne’ – in die Natur - immer
noch ein Grundbedürfnis der heutigen Gesellschaft bezeichnet. Es geht also
um den Naturbegriff, um die Frage: „Was heißt denn schon Natur“ 30

27  ebd., 61
28  ebd., 59
29  ebd., 71
30  Schäfer, (1993).

28 28
Die Problematik des Naturbegriffs
Norbert Elias beschreibt den Naturbegriff als „die anfangslose Synthese eines
Symbols“ 31 In ihm ist also alles enthalten, was in der Menschheitsgeschichte
über Natur gedacht und gefühlt wurde. Dies wird schon deutlich, wenn man
sich die Attribute vor Augen führt, die in den bisherigen Erörterungen der
‚Natur’ beigefügt wurden. So ist die Natur: die ganze, die wilde, die freie, die
unberührte, die reine, die umruhende, die schöne, die erhabene, die kultivier-
te, die gesteigerte, die künstliche, die genutzte, die angeeignete, die syntheti-
sche Natur. Alle diese Begriffe sind relativ; so kann z. B. die umruhende Natur
als die reine, schöne aber auch als die genutzte oder angeeignete Natur an-
gesehen werden. Je nach Sichtweise wird das Natürliche oder das Künstliche
bezeichnet.
Selbst ein Philosoph wie Martin Seel tut sich schwer mit der
Begriffsbestimmung von Natur und Landschaft. Er schreibt:
... zur ästhetischen Wahrnehmung von Landschaft [braucht es] das
Moment der Fremdheit gegenüber der Natur; die gesamte Natur ist
keine insgesamt vertraute Natur. ... dieses befremdliche [kann] fast
jederzeit innerhalb der „vertraut gewordenen und eingebürgerten
Landschaft’ hervortreten. ... auch innerhalb der kultivierten Natur
kann die gesamte Natur erscheinen. ... Die reineren Naturzonen sind
gleichsam für ihre landschaftliche Erfahrung da, während die ästheti-
sche Präsenz von Kulturlandschaften nur eine bestimmte Phase ihres
sonstigen Gegebenseins ist. Die in einem starken Sinn freie Natur kon-
frontiert uns ungeschützter mit ihrer landschaftlichen Erscheinung,
weil hier das lebensweltliche Gegebensein der Natur für uns ein land-
schaftliches Gegebensein ist. Die gesamte Natur ist hier nicht eine
Gegenwelt in der alltäglichen Welt, sie ist eine Gegenwelt zu dieser

31  Elias, (1986), 469ff.

  29
Welt. Die Freiheit der ungestalteten Landschaft ist ein Extrem der
Freiheit der (und in der) gestalteten Landschaft. ... Wo Kulturlandschaft
ist, kann striktere Naturlandschaft werden: als Steigerung der Freiheit
in kultivierter Landschaft.32 (Unterstreichung A.S.)
Natürlich kann man nachvollziehen, was Seel meint, besonders wenn ein
Begriff von einem anderen unterschieden wird. Für sich gesehen stehen fast
alle diese Attribute für den menschlichen Einfluss auf die Natur, aber eine
Definition ihrer Bedeutung ist schwierig. - Allgemein besteht die Auffassung,
dass es eine unberührte Natur heute kaum noch gibt. So sagt Peter Latz in
einem Interview mit Udo Weilacher:
Was wir als so genannte Kulturlandschaft begreifen, ... ist in
Wirklichkeit eine ganz brutale historische land- und forstwirtschaft-
liche Nutzlandschaft. ... ich möchte ziemlich radikal zwischen Natur
und Landschaft unterscheiden, denn sie haben im Prinzip nichts
miteinander zu tun. Landschaft ist ein kultureller Begriff, den eine
Gesellschaft modifiziert im Kopf hütet. Natur ist eine Gesetzmäßigkeit,
ein Mythos.33
Diese weit verbreitete Ansicht ist die Ursache für das Hauptproblem in
dem Diskurs über Gartenkunst und Landschaft. Wenn es ‚Die Natur’ nicht
mehr gibt, was tritt dann an ihre Stelle? Immer öfter ist von Hybriden und
Hybridisierung die Rede, als „Auflösung des Natur-Kultur-Gegensatzes.“ 34
Meistens ist der Begriff negativ besetzt: Hybride an Stelle der schönen rei-
nen Natur. Prominski meint, „der hybride Charakter ihres Gegenstandes
‚Landschaft’ [habe] es der Landschaftsarchitektur bisher schwer gemacht,

32  Seel, (1991), 231.


33  Weilacher, (1999), 130.
34  Weidinger, ( 2001), 23.

30 30
sich zu verorten.“ 35 Und auch in den Diskurs der bildenden Kunst hat der
Begriff Eingang gefunden: „Gewissermaßen im Doppelpack machten wir uns
daran zu beobachten, wie das ursprüngliche Gegensatzpaar Natur / Kultur
in eine hybride Form übergeht, die aus gesellschaftlichen, organisch / natürli-
chen wie technologischen Aspekten gleichermaßen genährt wird.“ 36
Nach dem Duden Fremdwörterlexikon ist „die (auch der) Hybride ein
Bastard (aus Kreuzungen hervorgegangenes ... Individuum, dessen Eltern
sich in mehreren erblichen Merkmalen unterscheiden.)“ Der metaphorische
Gebrauch des Begriffs Hybride will also darstellen, dass zwei verschiede-
ne Einheiten zu einer neuen Einheit ‚verschmelzen,’ zu einem Individuum,
das heißt ein ‚Unteilbares.’ Es ist offenbar außerordentlich unbefriedigend,
mit der Unterscheidung zwischen menschlich beeinflusster und ‚rei-
ner’ Natur zu leben. Adorno sprach in diesem Zusammenhang von der
„Negativen Dialektik.“ „einem Zustand, in dem die Kommunikation des
Unterschiedenen einen Misston in das Getriebe der auf Einheit drängenden
Bewusstseinsformation brachte.“ 37 So erklärt sich, dass die Avantgarde der
Gartenkunst die Natur in der Unterscheidung Kunst / Natur weit gehend
negiert, und die Unterscheidung in der Diskussion über Landschaft aufgeho-
ben wird in der ‚Synthese’ oder der ‚Totalen Landschaft.’

Die klärende Funktion der Unterscheidung


Wolfgang Welsch benutzt auch den Hybrid-Begriff aber in einer anderen
Bedeutung. Hybridbildung ist ihm zufolge ein „Strukturmerkmal“ post-
moderner Gestaltung. Doch bei der „Verkreuzung von Kodes“ darf keine

35  Prominski, (2004), 13.


36  Bianchi, (1999), 43.
37  Wiggershaus, (1987), 38

  31
Vermischung eintreten. „Vermischung würde das Ganze in Indifferenz absac-
ken lassen.“ 38
„Differenz“ ist das neue Stichwort, das in den Geisteswissenschaften im-
mer größere Bedeutung gewinnt. S. J. Schmidt beschreibt die Postmoderne
„als definitiven Übergang vom identitätstheoretischem zum differenztheo-
retischem Denken“.39 Die Geschichte der Philosophie ist geprägt von der
Auseinandersetzung über diese Denkweisen. Etwa seit den sechziger Jahren
des vorigen Jahrhunderts liegen verschiedene Modelle des differenztheo-
retischen Denkens vor. Die wichtigste Grundlage für meine Arbeit sind die
„Laws of Form“ des englischen Mathematikers George Spencer-Brown, die
1969 erschienen. In Deutschland hat sie Niklas Luhmann bekannt gemacht,
und auch ich verwende sie im Sinne Luhmanns, das heißt, wie Kritiker sa-
gen, in einer vereinfachten Form.40 Bei den theoretischen Ressourcen seiner
Gesellschaftstheorie handelt es sich nach seinen Worten
um interdisziplinäre Diskussionszusammenhänge, die ... einen
Prozess radikaler Veränderung durchlaufen haben und mit der
Systembegrifflichkeit der 50ger und frühen 60ger Jahre kaum
noch etwas gemein haben. Es sind ganz neue faszinierende in-
tellektuelle Entwicklungen, die es erstmals ermöglichen, die alten
Gegenüberstellungen von Natur- und Geisteswissenschaften ... zu un-
terlaufen.
Die am tiefsten eingreifende, für das Verständnis des Folgenden un-
entbehrliche Umstellung liegt darin, dass nicht mehr vom Objekt
die Rede ist, sondern von Unterscheidungen, und ferner, dass
Unterscheidungen nicht als vorhandene Sachverhalte (Unterschiede)

38  Welsch, (1988), 323f.


39  Schmidt, (1998), 181.
40  Schönwälder, (2004), 255ff

32 32
begriffen werden, sondern dass sie auf eine Aufforderung zurückge-
hen, sie zu vollziehen, weil man andernfalls nichts bezeichnen könnte,
also nichts zu beobachten bekäme. ... Man kann dies mit Hilfe des
Formbegriffs verdeutlichen, den George Spencer-Brown seinen Laws
of Form zu Grunde legt. Formen sind danach nicht länger als (mehr
oder weniger) schöne Gestalten zu sehen, sondern als Grenzlinien, als
Markierungen einer Differenz, die dazu zwingt, klarzustellen, auf wel-
cher Seite man sich befindet und wo man dementsprechend für wei-
tere Operationen anzusetzen hat. Die andere Seite der Grenzlinie (der
„Form“) ist gleichzeitig mitgegeben. Jede Seite der Form ist die andere
Seite der anderen Seite. Keine Seite ist etwas für sich selbst. Man aktua-
lisiert sie nur dadurch, dass man sie und nicht die andere bezeichnet.41
Diese „Form der Unterscheidung mit zwei Seiten“ ist eng verwandt mit
Derridas Différance „jene Bewegung durch die sich die Sprache ... im
Allgemeinen ... als Gewebe von Differenzen konstituiert.“ (Erstmals veröffent-
licht 1968) 42 Dies erwähne ich, weil Derrida im gegenwärtigen Diskurs über
die Gartenkunst eine Rolle spielt.43
Aus dem Jahr 1969 stammt eine Arbeit des chilenischen Biologen Umberto
Maturana, die „Biologie der Kognition“, die einen großen Einfluss auf andere
Forschungsbereiche hatte, z. B. auf die Theorie des Radikalen Konstruktivismus
und auch auf die Arbeiten von Niklas Luhmann. Bemerkenswert ist, dass
Maturana zur gleichen Zeit wie Derrida und Spencer- Brown die Differenz
oder Unterscheidung als Wahrnehmungsgrundlage erkennt:
Der Beobachter kann ... einen Gegenstand nur beschreiben, wenn
es zumindest einen anderen Gegenstand gibt, von dem er ihn un-

41  Luhmann, (1997), 60.


42  Derrida, (2004), 124.
43  Krebs, (2002)

  33
terscheiden kann. Dieser zweite Gegenstand, der als Bezugsgröße
für die Beschreibung dient, kann jeder beliebige Gegenstand sein.
Die letztmögliche Bezugsgröße für jede Beschreibung ist jedoch der
Beobachter selbst.44
Damit kommt der Begriff des Beobachters der Unterscheidung ins Spiel,
wodurch die klassische Dualität Subjekt / Objekt ersetzt wird. Auslöser
dieser neuen Denkweisen ist zweifellos die Revolution, die Anfang des 20.
Jahrhunderts in der Physik das Denken verändert hat. Das klassische physika-
lische Weltbild war nicht mehr haltbar, als in der Quantenphysik in verschie-
denen Experimenten Elektronen einmal als Partikel und in einer anderen
Versuchsanordnung als Welle erschienen. Nils Bohr hat dies Anfang der 30er
Jahre als Komplementarität beschrieben. Er hat dieses Prinzip auch auf ande-
re Bereiche der Wissenschaft übertragen und eine allgemeine Erkenntnislehre
daraus entwickelt.45
In dieser Arbeit will ich versuchen, mit den Mitteln der neuen Denkweise,
dem differenztheoretischen Denken, die Grundlagen und Probleme
der Gartenkunst zu erhellen und einer Lösung näher zu bringen. Das
Hauptanliegen ist die Unterscheidung von Natur und Menschenwerk aber
auch zum Beispiel die Unterscheidung Form / Funktion. Und letztlich wird
sich ergeben, dass jede Begriffsbestimmung nur als Unterscheidung möglich
ist. Die ‚Form der Unterscheidung mit zwei Seiten’ ist deshalb das wichtig-
ste Instrument meiner Theoriebildung. –
Es ist bisher schon deutlich geworden, dass das Verhältnis von Natur zu
Gartenkunst und von Natur zu Landschaft keine echten Unterscheidungen
sind, weil die Begriffe unscharf sind. Um zu klaren Begriffen zu kommen, die
eine saubere Unterscheidung ermöglichen, halte ich mich an ein Verfahren

44  Maturana, (2000), 25.


45  Fischer, (1990), 37ff.

34 34
Heideggers: So wie Elias von der ,anfangslosen Synthese des Symbols Natur’
spricht, sieht Heidegger Begrifflichkeiten, „die durch eine Kette verschieden-
artiger Interpretationen hindurchgegangen“ sind. „die Grundbegriffe haben
ihre ursprünglichen ... Ausdrucksfunktionen eingebüßt.“ Er sieht die Aufgabe
der „phänomenologische[n] Hermeneutik“ darin, die
überkommene ... Ausgelegtheit nach ihren verdeckten Motiven, un-
ausdrücklichen Tendenzen und Auslegungswegen aufzulockern und
im abbauenden Rückgang zu den ursprünglichen Motivquellen der
Explikationen vorzudringen. Die Hermeneutik bewerkstelligt ihre
Aufgabe nur auf dem Wege der Destruktion. ... Die Destruktion ist
... der eigentliche Weg, auf dem sich die Gegenwart in ihren eigenen
Grundbewegtheiten begegnen muss, und zwar so begegnen, dass
ihr dabei aus der Geschichte die ständige Frage entgegen springt,
wie weit sie ( die Gegenwart ) selbst um Aneignungen radikaler
Grunderfahrungsmöglichkeiten und deren Auslegungsmöglichkeiten
bekümmert ist.46
‚Destruktion’ verstehe ich dabei nicht als ‚Zerstörung’, sondern eher als ein
‚Auseinandernehmen’, so wie etwa ein Junge einen alten Wecker auseinan-
der nimmt, um dem Geheimnis seiner Mechanik auf die Spur zu kommen.
Diese Methode dürfte auch geeignet sein, den Begriff Natur und dessen
Gegenbegriffe wie Kultur, Technik und Gestaltung, die ebenfalls durch „
eine Kette verschiedenartiger Interpretationen hindurchgegangen sind“, zu
„destruieren“, um so zu Begriffen zu kommen, die für die Diskussion über
Gartenkunst besser geeignet sind. (Man kann das auch – nach Derrida - de-
konstruieren nennen.)
Ich ersetze deshalb den Begriff „Natur“, der durch zahllose romantische, my-
thologische und metaphysische Konnotationen belastet ist, durch das grie-

46  Heidegger, (2002), 33 f

  35
chischen Wort physis, das der Altphilologe Wolfgang Schadewaldt als das
„Urwort“ von Natur bezeichnet, als
die wohl genialste griechische Seinsvision, die auch den größten Erfolg
in der Welt gehabt hat. ... Es ist ... so durchsichtig in seiner Bildung, dass
wir es deutlich verstehen können. Der Stamm ist phy , wie in dem Verb
phyo dazu die Endung –sis, die eine Aktion bezeichnet, gegenüber der
auf –ma , die das Einzelding meint. ... Die Grundbedeutung, die im
Stamm steckt, ist soviel wie „wachsen lassen“ „hervor treiben“ , medial
„wachsen“. Also ein Hervortreiben, wie ein Baum Blätter treibt oder
ein Tierleib Hörner. Die Bildung mit –sis ist nun wichtig, weil sie eine
Tätigkeit bezeichnet, ein In-Funktion-Sein . ... Wichtig ist ... , dass wir uns
im Umgang mit dem Wort von etwas lösen, das erst bei uns hineinge-
kommen ist ... , nämlich dass die Natur etwas Gegebenes, Objektives,
Festes, Statisches sei, von dem man im Alltag spricht als von „der
Natur da draußen“, als Kollektiv von all dem, was es da gibt. ... Diese
Vorstellung der Natur als etwas kollektiv Gegebenen, dem Menschen
Gegenüberstehenden, des ganz Anderen ... ist insofern geradezu ver-
hängnisvoll, als diese so gefasste Natur denn auch zum Objekt unseres
Forschens wird, mit dem wir machen können, was wir wollen. ... Dem
steht gegenüber die ganz andere Bedeutung des Wortes physis, das
schon durch seine Endung -sis niemals solch objektiven Bereich um-
fassen kann, sondern ein Walten und Wesen darstellt, ... im Sinne eines
Hervortreibens und Wachsenlassens. 47
Wir können also, nach der Übersetzung Schadewaldts, physis verstehen als
Wachsen, und zwar Wachsen als Prozess, nicht als Zustand. Dazu gehören
neben den Organismen Pflanzen und Tiere auch deren Wechselbeziehung
untereinander und ihr Angewiesensein auf ihre jeweilige anorganische
Umwelt, die vier Elemente des Empedokles: Feuer (Sonnenlicht), Luft,

47  Schadewaldt, (1978). S. 201 ff.

36 36
Wasser und Erde. So verstanden, sind mit dem Wort physis alle werten-
den Attribute, die den Begriff Natur belasten, ausgeschlossen. Die Eiche
im Wald, die Rose im Garten, die Rübe auf dem Feld und der Grashalm in
der Pflasterfuge sind alle als physis gleichwertig.
Unterschiedlich sind jedoch die Beziehungen, die wir Menschen zu den
Pflanzen, zu der Vegetation, zur physis haben. Es geht um den Einfluss, den
wir auf sie ausüben. Den fasse ich unter dem griechischen Wort techne zu-
sammen. Nach Schadewald bezeichnet es bei den Griechen
eine bestimmte Wissensart , ... zugeordnet dem poiein, „herstellen“.
Man deutet es sich also am besten als ‚herstellendes Wissen‘ oder
doch auf ein Herstellen gerichtetes Wissen. Damit unterscheidet es
sich eindeutig von den anderen Wissensarten. istorie ist nichts anderes
als ein Erkundethaben ... episteme ... ist die höchste Weise des bewus-
sten Wissens. Demgegenüber haben wir in techne eine ganz beson-
dere Wissensart, die so beschaffen ist, dass, wenn man sie anwendet,
ein ganz bestimmter Prozess des Entstehens, Werdens, Gestaltens,
Schaffens in Gang gebracht wird. ...Man kann sagen, es ist eine Art
Fachwissens, immer im Hinblick darauf, dass etwas dann irgendwie
entsteht, vollzogen wird. ... Ein solches Wissen das man hat und kann,
ist also die techne, und zwar ein auf das Herstellen, ein wirkliches Tun,
poiein, gerichtetes Wissen. 48
Mit dem Kunstgriff der Einführung der Begriffe physis und techne ist also
eine klare Grundlage geschaffen für die Analyse des Verhältnisses von Natur
und menschlichem Einfluss. Physis ‚enthält’ keine techne und techne keine
physis. Beide sind in jedem Zustand unserer Lebenswelt genau zu unter-
scheiden. Um ihren speziellen Charakter als Termini technici dieser Arbeit zu
betonen, schreibe ich sie in kursiver Schrift.

48  ebd. 171 f .

  37
Dies bedeutet nun keinesfalls, dass unser Naturverhältnis nicht auch mental
und emotional bestimmt ist. Im Gegenteil: die Klärung des Zusammenwirkens
von physi und techne’ ist die Voraussetzung dafür, dass in der Gartenkunst
unser Naturverhältnis in der heutigen Lebenswelt zum Ausdruck kommt.
„Die Anerkennung der Differenz von Natur und Menschlicher Leistung ist
das genaue Gegenteil jener Haltung der Indifferenz, in der die Natur als das
bloße Material praktischer Verfügung erscheint.“49
Ich werde im ersten Kapitel die Unterscheidung physis / techne als Beispiel
bei der Einführung in die ‚Gesetze der Form’ benutzen. Danach wird sich
zeigen, dass diese ein Instrument sind, das alle Gegensatzpaare in einem neu-
en Licht erscheinen lässt. Die ‚Blinden Flecke,’ die nicht nur den Diskurs der
Gartenkunst verdunkeln, werden sich entscheidend erhellen lassen.
Im zweiten Kapitel wird die Vegetation als Grundelement der Gartenkunst
behandelt und zwar als Botanik im Sinne Maturanas und als Ergebnis
des Zusammenwirkens von physis und techne sowohl in der geschicht-
lichen Entwicklung, wie auch in der heutigen Praxis. Als wichtiges Prinzip
für die Gartenkunst sehe ich die Unterscheidung von ‚Tun und Lassen’
an. Die Verschiebung zum ‚Lassen bestimmt die historische Entwicklung
der Gartenkunst. Das Thema wird vertieft durch eine Betrachtung von
Heideggers Abhandlung ‚Der Ursprung des Kunstwerks’, in der ich meine
Idee des Physis-techne-Verhältnises wieder finde.
Die Unterscheidung von Funktion und Gestaltung als eines der Hauptthemen
im Architektur-Diskurs wird im dritten Kapitel behandelt. Durch einen
Rückblick auf die geschichtliche Entwicklung versuche ich, den Begriff
‚Ornament’ aus der üblichen verengten Sichtweise zu befreien.
Im vierten Kapitel wird dieselbe Unterscheidung angewendet bei einer
Betrachtung der gartenarchitektonischen, baulichen Elemente und ihre

49  Seel, (1991), 14.

38 38
Bedeutung und Wirkung in der Gartenkunst. – Ich konzentriere mich dabei
hauptsächlich auf die Wegesysteme der verschiedenen Stile. Da diese so-
wohl das Formgefühl, wie auch das Körpergefühl beeinflussen, sehe ich eine
Verbindung zu Schillers Theorie der Ästhetik, die er in den Briefen „Über die
ästhetische Erziehung des Menschen“ entwickelte. Fasziniert bin ich von der
Struktur seiner Theorie, die den Gesetzen der Form Spencer-Browns frappie-
rend ähneln. Auch andere Ideen meiner Arbeit finde ich bei Schiller wieder.
Eine weitere Gemeinsamkeit von Architektur und Gartenkunst und ein
Kernthema dieser Arbeit ist der Raum als Medium. Hier trifft nicht nur zu,
dass Parallelen bestehen, sondern der Begriff des Raumkontinuums und des
fließenden Raumes bedeutet, dass eine innige Verbindung zwischen moder-
ner Architektur und Gartenkunst besteht; ja, dies ist ein Musterfall einer Form
der Unterscheidung mit zwei Seiten. Das ist Thema des fünften Kapitels.
Im 6. Kapitel geht es um Wahrnehmung im weitesten Sinne. Also nicht
nur um Perzeption, sondern auch um Bewusstseinsbildung und um
Kunstproduktion und –rezeption. Besonders für die Gartenkunst ist die
Rezeption von besonderer Bedeutung, weil hierbei alle Sinne beteiligt sind,
nicht nur der optische, wie in der bildenden Kunst. Wahrnehmung der
Natur – um die geht es letztendlich in der Gartenkunst – berührt tiefste
Schichten menschlicher Psyche. Deshalb setze ich mich mit Themen, wie
dem kollektiven Gedächtnis, den Archetypen und mit morphogenetischen
Feldern auseinander.
Als eine Ursache für die prekäre Situation der Gartenkunst sehe ich die
Spaltung der Profession: einerseits in den Anspruch, Kunst zu sein, anderer-
seits in die Wissenschaft und die Ökologie. Die Folge ist ihre Hinwendung
zur bildenden Kunst. Geschichtlich ist dies schon vorgegeben mit der
Unterordnung der Landschaftskunst unter die Landschaftsmalerei. Eine
emanzipierte Gartenkunst darf aber Ökologie und Planungswissenschaft
nicht als Gegensätze betrachten, sondern muss sie als Grundlagen mit einbe-

  39
ziehen. Im 7. Kapitel befasse ich mich deshalb mit dem Verhältnis zwischen
Gartenkunst und bildender Kunst.
Im 8. und 9. Kapitel unternehme ich den Versuch, Gesichtspunkte für eine
Theorie der Gartenkunst aufzuzeigen, die auf das Ziel gerichtet ist, die Welt
als Garten zu sehen.

40 40
Kapitel 1 Die Differenztheorie

1.1 Die ‚Form der Unterscheidung’


Wenn als wichtigste theoretische Grundlage dieser Arbeit die „Laws of Form“
von George Spencer-Brown genommen wird, dann ist das sicher fragwürdig,
denn sie sind nach Tatjana Schönwälder
Ein kryptisches, schwer zu durchdringendes und noch schwerer zu
fassendes Buch, zumindest auf die zehn ersten Blicke. Das liegt an
Spencer-Browns reduktionistischem Stil, an seiner vollkommen neuen
und andersartigen Notation gegenüber anderen logischen Kalkülen
und an seiner teilweise eigentümlichen Verwendung der englischen
Begriffe.50
Und Paul Watzlawick stellt fest:
„Laws of Form“ ist sicher das Werk eines Genies; ich habe jedoch bis
heute wenige Leute gefunden, die seine Lektüre nicht schon auf Seite
2 entmutigt aufgaben.51
Dies klingt nun wiederum schlimmer, als es ist. Denn auf Grund seiner re-
duktionistischen Methode braucht Spencer-Brown nur die Hälfte der ersten
Seite, um den Kern seiner Theorie deutlich und verständlich darzustellen.52
Daran anschließend entwickelt er seinen hochkomplexen Kalkül. Er verfährt
nach einer injunktiven Methode, in der er seine Leser z. B. auffordert, „dies
und das“ zu lassen oder „dies-und-das so-und-so“zu nennen. Andererseits
sagt er seinem Leser aber auch, es sei

50  Schönwälder, (2oo4), 42.


51  Watzlawick, (1996), 194.
52  Spencer-Brown, (1999), 1.

Die ‚Form der Unterscheidung’  41


nicht nötig, dass er seine Illustrationen auf die Vorschläge des
Textes beschränkt. Er mag nach Laune abschweifen, seine eigenen
Illustrationen erfinden, gleich ob diese mit den Befehlen des Textes
konsistent oder inkonsistent sind. Nur auf diese Weise, aufgrund sei-
ner eigenen Entdeckungen, wird er die Schranken oder Gesetze jener
Welt erkennen, von der der Mathematiker spricht.53
Diese Möglichkeit werde ich in Anspruch nehmen. Doch zunächst folge ich
den Anweisungen Spencer-Browns. Sein Ausgangspunkt ist eine allgemeine
Prämisse:
Wir nehmen die Idee der Unterscheidung und die Idee der
Bezeichnung 54 als gegeben an, und dass wir keine Bezeichnung vor-
nehmen können, ohne eine Unterscheidung zu treffen. Wir nehmen
daher die Form der Unterscheidung für die Form. 55
Diese lapidare Feststellung ist nicht selbstverständlich. In der Alltagssprache
verwenden wir für Gegenstände unserer Lebenswelt in der Regel Begriffe,
die etwas Identisches bezeichnen. Wenn jemand ‚Haus’ oder ‚Baum’ sagt,
weißt jeder, der unsere Sprache spricht, unmittelbar, was gemeint ist. Wenn
aber zum Beispiel Menschen aus der Stadt in einem Mischwald auf Buchen
hingewiesen werden, dann werden die meisten sagen, dass sie diese nicht er-
kennen können. Erst wenn man zeigt, dass die Buchen sich durch ihre glatte
Rinde z. B. von den Eichen mit der rauen Rinde unterscheiden, können sie
Buchen wahrnehmen und bezeichnen. So können wir also auch sagen, keine
Wahrnehmung ohne Unterscheidung. - Ein entscheidendes Phänomen ist
es, dass wir etwas Neues, Unbekanntes mehrfach unterscheiden und verglei-
chen müssen, bis wir es ‚kennen.’ Wenn der Städter öfter in den Wald geht,

53  ebd., 69
54  im Original: „indication“, von Schönwälder übersetzt als „Hinweis“
55  Spencer-Brown, (1999) 1

42  Die Differenztheorie


wird er wieder auf Buchen und deren Unterscheidung von anderen Bäumen
achten und sich manchmal irren, bis das Bild ‚Buche’ in ihm manifest gewor-
den ist. Nach Jean Piaget hat sich ein ‚kognitives Schema’ gebildet 56, oder
nach Heinz von Förster, dem Mitbegründer der Kybernetik, ein ‚Eigenwert.’
57
Beides sind Begriffe für das Ergebnis von Operationen, die rekursiv wieder-
holt werden, bis das Ergebnis sich nicht mehr verändert. Man kann sagen,
dass unser Weltbild – nicht nur das der visuellen Wahrnehmung - vorwie-
gend aus kognitiven Schemata oder Eigenwerten besteht, die wir im Laufe
unserer Ontogenese gebildet haben, was uns aber kaum noch bewusst ist.
Bei Spencer-Brown geht es aber nicht nur um einfaches Unterscheiden. Er
definiert die „Form der Unterscheidung“ wie folgt:
Unterscheidung ist perfekte Be-Inhaltung.58
Das heißt, eine Unterscheidung wird getroffen, indem eine Grenze mit
getrennten Seiten so angeordnet wird, dass ein Punkt auf der einen
Seite die andere Seite nicht erreichen kann, ohne die Grenze zu kreu-
zen. ...
Wenn einmal eine Unterscheidung getroffen wurde, können die
Räume, Zustände oder Inhalte auf jeder Seite der Grenze, indem sie
unterschieden sind, bezeichnet werden. Es kann keine Unterscheidung
geben ohne Motiv, und es kann kein Motiv geben, wenn nicht Inhalte
als unterschiedlich im Wert angesehen werden.59

56  Buggle, (1993), S. 30 ff


57  Förster, (1994), 147 ff
58  Im Original: „continence“, andere Übersetzungen: „Enthaltsamkeit,
Zusammenhang.“
59  Spencer-Brown, (1999) 1.

Die ‚Form der Unterscheidung’  43


Diese Kernsätze enthalten ein „Universum an Bedeutungen.“ was in einer
umfangreichen Sekundärliteratur vielfach erörtert wird. Eine besonders klare
Darstellung finden wir bei Tatjana Schönwälder:
Die Form einer Unterscheidung besteht aus vier Aspekten, die si-
multan entstehen, wenn eine Unterscheidung getroffen wird: Die
Grenze, die [zwei] unterschiedenen Seiten, [und] der ‚Hintergrund’
oder Kontext, vor dem unterschieden wird. Damit bildet die Form
eine Einheit, die aus einer Differenz besteht: eine Form mit zwei ver-
schiedenen Inhalten. Die Betonung liegt hier aber nicht auf der Frage,
inwiefern sich die zwei unterschiedenen Seiten unterscheiden, son-
dern darauf, dass es überhaupt eine Ungleichheit gibt. Durch die
Unterscheidung werden sie als verschieden voneinander zueinander
in Beziehung gesetzt und bilden als solche eine Einheit. Damit gehört
zur Form jedes ‚Inhalts’ im weitesten Sinne immer auch das, was er
nicht ist, die andere Seite seiner Form. In dieser Hinsicht unterschei-
det sich der grundlegende Form-Begriff von Spencer-Brown wesent-
lich von anderen, philosophiegeschichtlichen Gebräuchen, in denen
beispielsweise die Form dem Inhalt oder der Materie oder ähnlichem
gegenübergestellt wird. In diesen Fällen bezeichnet die Form nur die
eine, unterschiedene Seite, nicht aber die simultan mit entstehenden
anderen Aspekte.60
Der Ansatz Spencer-Browns reicht „von der radikalen Reduktion auf die
Unterscheidung als einem einfachsten Ausgangspunkt bis zu den mehrfa-
chen Windungen der selbstreferentiellen, rekursiven Formen; von der ma-
thematischen Sprache des Calkulus of indications bis zu sprachkritisch-
methodologischen Erläuterungen religiöser Sprachen.“ 61 Es handelt sich
im Grunde um eine neue Welt-‚Anschauung’. Diese Komplexität ist für

60  Schönwälder, (2oo4), 59.


61  Ebd.

44  Die Differenztheorie


Nichtmathematiker schwer zu erfassen. Die Laws of Form werden dann auch
meistens in ihrer ‚vereinfachten’ Form, die „Form der Unterscheidung mit
zwei Seiten“, wie Luhmann sie nennt, verwendet. -
Reduktiv ist auch das Zeichen, das Spencer-Brown für den größten Teil seines
Kalküls verwendet, der „Haken“

Er hat zwei Funktionen: einmal, mit dem waagerechten Balken, dient er als
Hinweis auf die eine Seite der Unterscheidung und als ihre Markierung (mar-
ked state) und andererseits, mit dem senkrechten Balken, als Aufforderung,
die Grenze zwischen den Seiten zu kreuzen. Etwas schwierig ist es, den
Charakter der Außenseite, des unmarkierten Zustandes (unmarked state) zu
erfassen. Es scheint offen zu sein, von was die markierte Seite unterschieden
wird. Es kann etwas Bestimmtes sein, oder auch ‚alles Andere,’ Unbestimmte.
Ich habe deshalb für die Darstellung meiner Überlegungen, wie Spencer-
Brown ausdrücklich anheim stellt, ein abgewandeltes Zeichen gewählt, das
beide Seiten der Unterscheidung ins Blickfeld stellt und auch das Motiv oder
den Kontext benennt:

Motiv, Kontext
Seite Seite

Dabei ist zu erinnern, dass die Grenze – symbolisiert durch den senkrechten
Strich - für die Unterscheidungsoperation das Wichtigste ist. Die ‚Grenze’
ist eine Metapher, also nichts räumlich oder zeitlich Konkretes, sondern sie
steht dafür, dass immer nur eine Seite der Unterscheidung gesehen und be-
schrieben werden kann, niemals beide gleichzeitig.

Die ‚Form der Unterscheidung’  45


Ich erläutere das an einem beliebigen Beispiel, das hierfür besonders geeignet
ist, das Biotop Trockenrasen.

Trockenrasen
physis techne

Unter physis sehen wir die Vegetation, den Artenreichtum, die Empfindlichkeit
und Schutzbedürftigkeit, aber auch die Nährstoffarmut und Trockenheit des
Bodens und die sonnige Lage. Die andere Seite ist der menschliche Einfluss.
Das sind z. B. die extensive Nutzung, die Verhinderung der Verbuschung
durch Beweidung oder Mahd und der Verzicht auf Düngung. Das ist die
Seite der techne.
An diesem Beispiel wird deutlich dass man nicht nur die beiden Seiten nicht
gleichzeitig sehen kann, sondern dass meistens auch nur die eine Seite, die
Seite der physis, gesehen wird. Die andere Seite, die techne, ist dann der
Blinde Fleck der Unterscheidung. (Der menschliche Einfluss bleibt bei der
Beschreibung der Trockenrasen meistens außen vor.) ‚Blinder Fleck’ ist eine
treffende Metapher, die nicht nur zum Ausdruck bringt, dass die andere Seite
nicht gesehen wird, sondern auch, dass der Blinde Fleck selbst, (wie der im
Auge), nicht gesehen wird. Man kann von fast allen Auseinandersetzungen,
die ich bisher beschrieben habe sagen, dass die Vertreter einer Richtung für
die Gegenseite „mit Blindheit geschlagen waren.“ Zum Beispiel sah Hirschfeld
im Barockgarten nur das ‚Künstliche’ und im Landschaftsgarten nur das
‚Natürliche.’ - Der Blinde Fleck wird uns in der weiteren Untersuchung im-
mer wieder auffallen.
Auf einen besonderen Aspekt weist Niklas Luhmann hin:
Strukturell gesehen existiert die Zwei-Seiten-Form im Zeitmodus der
Gleichzeitigkeit. Operativ gesehen ist sie nur im Nacheinander der
Operationen aktualisierbar, weil die Operation von der einen Seite

46  Die Differenztheorie


aus, die Operation von der anderen Seite ausschließt. Die Form ist die
Gleichzeitigkeit des Nacheinander.62
Auf unser Beispiel bezogen heißt das, Im Zeitmodus der Gleichzeitigkeit se-
hen wir den Trockenrasen, und in der Operation des Unterscheidens sehen
wir physis und techne nacheinander. – An anderer Stelle drückt er dies so
aus:
Die beiden Seiten sind gleichzeitig und in einem vorher / nachher
Verhältnis gegeben. Als Unterscheidung sind sie gleichzeitig aktuell, als
Referenz einer Bezeichnung nur nacheinander.63
Um es noch einmal kurz zu sagen: Das Kreuzen über die Grenze benötigt
Zeit, und das Operieren auf beiden Seiten der Unterscheidung gleichzeitig
ist nicht möglich. Gedanklich kann aber das hin-und-her-Kreuzen zwischen
den beiden Seiten sehr schnell erfolgen. Dirk Baecker nennt das Oszillation.
Oszillation heißt, dass immer dann, wenn der marked state bezeich-
net wird, sofort anschließend der unmarked state bezeichnet wird. Die
Klingel funktioniert so.64
Schönwälder weist in diesem Zusammenhang noch auf einen weiteren
Gesichtspunkt hin:
Die oszillierende Gleichung ... stellt formal die Form in ihrer diffe-
renzierten Einheit dar. Sie ist für Spencer-Brown der Schlüssel zum
Verständnis von Paradoxien. Aus dieser Perspektive könnte gesagt
werden, dass Paradoxien entstehen, weil wir versuchen, auf die beiden

62  Luhmann, (1993a), 202.


63  Ders. (1993b), 100.
64  Baecker, (2002), 80.

Die ‚Form der Unterscheidung’  47


Seiten einer Unterscheidung zugleich hinzuweisen und nicht sehen,
dass das nur abwechselnd nacheinander geht.65
In Bezug auf die Unterscheidung physis / techne und auf andere
Unterscheidungen werden wir immer wieder auf solche Paradoxien treffen.
Zum Beispiel bei der ‚Totalen Landschaft’, in welcher Natur und menschli-
cher Einfluss, also physis und techne nicht getrennt werden. Zu diesem
Begriff, der ja wohl für die ganze Erdoberfläche gelten soll, gibt es auch keine
Unterscheidung. Nach dem Satz, dass wir keine Bezeichnung vornehmen
Können, ohne eine Unterscheidung zu treffen, wäre ‚Totale Landschaft’ also
ein Paradoxon, ein Unwort.

1.2 Die ‚Form der Unterscheidung‘ in der Kunst


Das sind also die Grundzüge der Form der Unterscheidung mit zwei Seiten.
In ihrer weiteren Anwendung wird ihr Prinzip immer deutlicher werden, aber
auch ihre Komplexität sich zeigen. Ihr universeller Charakter wird deutlich,
wenn wir Werke der modernen Kunst auf das Differenzprinzip untersuchen.
Ein frühes Beispiel sind die Portraits von Picasso, die er in den 30ger Jahren
gemalt hat, und in denen er die Personen gleichzeitig en face und en profil
darstellt. Von Paul Klee gibt es abstrakte Bilder, in denen winzige Symbole
gegenständliche Assoziationen hervorrufen, so dass Abstraktionen und
Gegenständlichkeit oszillierend wahrgenommen werden. Exemplarisch sind
auch Werke von Donald Judd z.B. „untitled“ von 1966.

65  Schönwälder, (2004) 60.

48  Die Differenztheorie


Abb. 1/1
Es besteht aus Schubladen-ähnlichen, radikal reduzierten Quadern, die über-
einander an einer Wand befestigt sind. Die Abstände sind so austariert, dass
die Körper abwechselnd getrennt oder als Einheit gesehen werden können,
und dass man sowohl positiv die Körper und negativ die Zwischenräume
und den umgebenden Raum wahrnimmt. – Geradezu programmatisch
sind die bekannten Zeichnungen von Escher, bei denen die Paradoxie in der
Oszillation der Betrachtung überdeutlich wird.

1.3 Frühere und Verwandte Theorien


Ich möchte noch zeigen, dass der Kalkül Spencer-Browns nicht als exotische
Theorie dasteht, und dass das differenztheoretische Denken nicht völlig neu
ist. Schon Kant spricht von den „zwei Grundquellen des Gemüts,“ aus denen
„unsere Erkenntnis entspringt.“ Das sind die Sinnlichkeit und der Verstand.
Unsere Natur bringt es mit sich, dass die Anschauung niemals an-
ders als sinnlich sein kann, d.i. nur die Art enthält, wie wir von
Gegenständen affiziert werden. Dagegen ist das Vermögen, den
Gegenstand sinnlicher Anschauung zu denken, der Verstand. Keine

Frühere und Verwandte Theorien   49


dieser Eigenschaften ist der anderen vorzuziehen. Ohne Sinnlichkeit
würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner ge-
dacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne
Begriffe sind blind. Daher ist es ebenso notwendig, seine Begriffe sinn-
lich zu machen, (d. i. ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizu-
fügen,) als seine Anschauungen sich verständlich zu machen (d. i. sie
unter Begriffe zu bringen). Beide Vermögen, oder Fähigkeiten, können
auch ihre Funktionen nicht vertauschen. Der Verstand vermag nichts
anzuschauen, und die Sinne nichts zudenken. Nur daraus, dass sie sich
vereinigen, kann Erkenntnis entspringen. Deswegen darf man aber
doch nicht ihren Anteil vermischen, sondern man hat große Ursache,
jedes von dem anderen abzusondern, und zu unterscheiden.66 (Hvh.:
kursiv i. O., fett: A.S.)
Dies ist eine ganz klare Form der Unterscheidung mit zwei Seiten, die Kant
generell als Grundlage für Erkenntnis darstellt. Zwei Seiten, die zusammen
gehören, die aber gleichzeitig unterschieden werden müssen:

Erkenntnis
Verstand Sinnlichkeit

Gedanken Inhalt

Begriffe Anschauung

Als Begründer der Differenztheorie gilt Martin Heidegger.67 Seine Grund­


unterscheidung ist die zwischen Sein und Seiendem, genannt die „ontologi-
sche Differenz,“ die Jahraus so beschreibt:

66  Kant, KrV, B75/A50.


67  Jahraus, (2004)

50  Die Differenztheorie


Das Sein selbst ist nicht greifbar, alles das, was greifbar ist, ist lediglich
Seiendes. „Sein ist jeweils das Sein eines Seienden“. Aber es ist nicht dar-
auf reduzierbar: „Das Sein des Seienden ‚ist’ nicht selbst ein Seiendes.“
Das Sein ist also lediglich das, was das Seiende überhaupt erst als
Seiendes erscheinen lässt. ... Einerseits können wir also sagen, daß
Sein und Seiendes strikt voneinander geschieden sind. Andererseits
sind sie gar nicht voneinander zu trennen ... Einerseits haben wir die
Absenz, die Abwesenheit des Seins, andererseits die Präsenz des Seins
im Seienden.68 (Hvh. A.S.)
Ausdrücklich auf Heidegger bezieht sich besonders Derrida, der sich eben-
falls intensiv und grundlegend mit der Differenztheorie auseinander gesetzt
hat. Er hat sie weiter entwickelt indem er nicht nur eine Unterscheidung
mit zwei Seiten sieht, sondern die Operationen der Unterscheidung „zu
einem Bündel“ zusammenfasst, mit dem „Charakter eines Einflechtens, ei-
nes Webens, eines Überkreuzens.“ 69 - Die Darstellung dieser komplexen
Theorie Derridas würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, und auch mei-
ne Kompetenz überstrapazieren. Ich beschränke mich deshalb darauf, die
Übereinstimmungen, die ich mit dem Kalkül Spencer-Browns erkenne, her-
auszustellen.
Derrida erfindet ein Wort, das genau so ausgesprochen wird wie différence,
das er aber mit „a“ schreibt: différance. Mit dieser Schreibweise will er die
Bedeutung des Ausdrucks différence erweitern. Er bezieht sich auf das fran-
zösische Verb différer, das zwei Bedeutungen hat. Einmal: „die eher gewöhnli-
che und identifizierbare: nicht identisch sein, anders sein, erkennbar sein und
so weiter.“ Die andere Bedeutung ist: „etwas auf später zu verschieben, sich
von der Zeit und den Kräften bei einer Operation Rechenschaft ablegen,“ ....

68  Ebd., 98ff


69  Derrida, (2004), 111.

Frühere und Verwandte Theorien   51


„Différer in diesem Sinne heißt temporisieren, heißt bewußt oder unbewußt
auf die zeitliche und verzögernde Vermittlung eines Umwegs rekurrieren.“ 70
Dieses „Temporisieren“ hat eine große Ähnlichkeit, ich möchte sagen ist das
Gleiche, wie das Kreuzen der Grenze in Spencer-Browns Form, für das, wie
wir gesehen haben, ebenfalls Zeit benötigt wird. An anderer Stelle wird die
Übereinstimmung noch deutlicher:
... die Philosophie [lebt] in und von der différance und [ist] blind ge-
gen das Gleiche, das nicht identisch ist. Das Gleiche ist gerade die
différance (mit a) als aufgeschobener und doppeldeutiger Übergang
von einem Differenten zum anderen. Man könnte auf diese Weise
alle Gegensatzpaare wieder aufgreifen, auf denen die Philosophie auf-
baut und von denen unser Diskurs lebt, um an ihnen nicht etwa das
Erlöschen des Gegensatzes zu sehen, sondern eine Notwendigkeit,
die sich so ankündigt, dass einer der Termini als différance des an-
deren erscheint, als der andere in der Ökonomie des Gleichen un-
terschieden / aufgeschoben ..., das Intelligible als von dem Sinnlichen
sich unterscheidend ..., als aufgeschobenes Sinnliches ...;71 ... die Kultur
als unterschiedene / aufgeschobene – unterscheidende / aufschie-
bende Natur ...; jedes andere der Physis – techne, nomos, thesis,
Gesellschaft, Freiheit, Geschichte, Geist und so weiter – als aufgescho-
bene Physis ... oder als unterscheidende Physis. Physis in différance. ...
Von der Entfaltung dieses Gleichen als différance her kündet sich die
Gleichheit der Verschiedenheit und der Wiederholung in der ewigen
Wiederkunft an,72

70  ebd. 117.


71  Das ist Kants Unterscheidung: „Begriff und Anschauung“!
72  ebd. 132f

52  Die Differenztheorie


Ich sehe folgende Übereinstimmungen oder Ähnlichkeiten der Theorie
Derridas mit der Spencer-Browns: Derridas „Gleichheit der Verschiedenheit“,
und das „Gleiche als différance“ ist dasselbe, wie Spencer-Browns „Form“. Das
„Unterscheidende“ ist zu vergleichen mit der „Grenze zwischen den beiden
Seiten“, und das „Aufschiebende“, „Temporisierende“ ist die Zeit, die zum
Kreuzen der Grenze bei Spencer-Brown benötigt wird.
Derrida thematisiert aber noch einen Gesichtspunkt, der für mei-
ne Überlegungen wichtig ist. Er stellt der physis mehrere Begriffe als
Unterschiedenes gegenüber: Physis / techne, physis / nomos und so wei-
ter. Wenn man diese Gegensatzpaare vergleicht, stellt man fest, dass sie
in verschiedenen Kontexten stehen und dass physis seine Bedeutung da-
bei mehr oder weniger verändert. Ich verwende die Unterscheidung phy-
sis / techne im Kontext ‚Garten’ (im weiten Sinne) als Unterscheidung von
Wachsendem und dem menschlichen Einfluss darauf. Es geht also um den
Kontext ‚Vegetation im Garten’. Die Unterscheidung physis / nomos dage-
gen entspräche dem Kontext ‚Gesetze der Natur.’ und dabei bezieht sich
physis auf einen erweiterten Bereich. Ein anderes Beispiel wäre der Kontext
‚Gesundheit’ in dem physis für die physiologische Grundverfassung eines
Menschen und techne für den Einfluss der Medizin stände. Auch hier ist ein
‚Bündel’ zu sehen um den Begriff physis.
Werner Stegmaier erläutert den Begriff ‚différance’ folgendermaßen:
... „différer“ ... schließt so schon ein, was nach Derrida die Schriftzeichen
leisten, den Aufschub in der Zeit, der denn auch eine Verschiebung
ihres Sinns in der Zeit mit sich bringt. Dies, die Verschiebung einer
Unterscheidung durch die Unterscheidung als solche, lässt sich nach
Begriffen metaphysischer Präsenz nicht fassen. „Différance“ ist dar-
um kein definierbarer Begriff, sondern ihrerseits ein Zeichen, Derridas
Zeichen für die unsichtbare Verschiebung unterscheidender Zeichen
in ihrem Gebrauch. Danach haben wir es ... stets mit temporalisierten

Frühere und Verwandte Theorien   53


zerstreuten Ordnungen zu tun, mit Ordnungen nicht aus definitiven
und allgemeinen Begriffen, sondern aus letztlich individuell gebrauch-
ten Zeichen für individuelle Zusammenhänge.73
Wir werden im Folgenden sehen, dass sich in den Unterscheidungen ständig
Überschneidungen ergeben. Was und wie unterschieden wird, entscheidet
der Beobachter.
Trotzdem müssen für eine saubere Gedankenführung die Kontexte
oder Motive der Unterscheidungen und die davon abhängigen
Bedeutungsnuancen der unterschiedenen Begriffe klar definiert werden.
Es muss dabei immer wieder vergegenwärtigt werden, dass wir nicht über
Zustände, über Identitäten reden, sondern über Unterscheidungen, die ein
Beobachter macht.
Ich werde, wie gesagt, die Form der Unterscheidung mit zwei Seiten in mei-
ner Arbeit als wichtigstes Strukturelement verwenden. Der Rückblick auf
verwandte Theoreme und der Hinweis auf Derridas Différance soll nur die
Bedeutung Spencer-Browns für die moderne Erkenntnistheorie hervorhe-
ben. Aus dem gleichen Grund gehe ich auch noch einmal auf die ‚klassischen’
Lehren ein, auf das, was Luhmann die „alteuropäische Tradition“ nennt.74

1.4 Die alte Denkweise


Die rigideste Form ist der Satz vom ausgeschlossenem Dritten, (Tertium
non datur) der nach Aristoteles lautet: Zwischen den Entgegengesetzten der
Kontradiktion ist kein Mittleres.75 Dem entspricht z.B. der Satz: „ ... ich möch-

73  Stegmaier, (2000), 353ff.


74  Luhmann, (1997) 893ff.
75  Meyers kleines Lexikon, (1987), 422.

54  Die Differenztheorie


te ziemlich radikal zwischen Natur und Landschaft unterscheiden, denn sie
haben im Prinzip nichts miteinander zu tun.“ (s. Anm. 31)
Einen stärkeren Einfluss auf unseren Diskurs hat jedoch die Dialektik, wie sie
vor allem von Hegel entwickelt wurde:
Hegels Philosophie zielt auf die Überwindung der „Entzweiung der
Wirklichkeit,“ die durch Kants Unterscheidung zwischen ... intelligibler
Welt und Bereich des sinnlich Erfahrbaren eingetreten ist. Hierzu setzt
Hegel das Absolute ... als metaphysisches Vernunftprinzip, das die
Identität von Subjekt und Objekt garantiert, voraus. Dieses Absolute
... bestimmt er als „Identität der Identität und Nichtidentität“ ... „Das
Bewusstsein über die innere Form der Selbstbewegung“ des Absoluten
ist die Dialektik des Dreischritts These – Antithese – Synthese, „die ab-
solute Methode des Erkennens“, ...
Die dialektisch – spekulative Darstellung, ... verläuft jeweils dreischrit-
tig: 1.Der Verstand setzt einen abstrakten begrifflichen Gegensatz, des-
sen Bestimmungen ... er als voneinander unabhängig begreift. 2. Die
Dialektische Vernunft entwickelt „das eigene Sichaufheben solcher
endlicher Bestimmungen und ihr Übergehen in ihre entgegengesetz-
te“ d.h. den Widerspruch, der sich in dem Begriff selbst notwendig auf-
tut, wenn man ihn als These abstrakt seiner Antithese gegenüberstellt.
Denn jeder der beiden Begriffe setzt den jeweils anderen zu seiner
eigenen Bestimmung voraus. ... 3. Die spekulative Vernunft hebt die
Gegensatzbestimmungen als selbständige auf ... indem sie beide in ei-
ner Synthese miteinander vermittelt und zu Momenten einer höhe-
ren Einheit („Identität der Identität und Nichtidentität“) herabsetzt. 76
(Hervorh. A.S.)

76  Ebd. 101f

Die alte Denkweise  55


Also auch Hegel – den Adorno kritisch den Identitätsphilosophen nennt -
geht davon aus, dass jeder Begriff einer Unterscheidung bedarf. Er geht aber
über diese Unterscheidung hinaus, um in einer Synthese wieder zu etwas
Identischem zu kommen. Dagegen hält Spencer-Brown die Unterscheidung
streng aufrecht durch die Errichtung einer Grenze zwischen den beiden
Seiten. Dieser scheinbar so geringe Unterschied ist aber tatsächlich so be-
deutsam, wie der zwischen klassischer und moderner Physik.

1.5 Die Unterscheidung mit zwei Seiten als Skala


Oben habe ich als Beispiele einer Unterscheidung Baum und Haus oder
Eiche und Buche angeführt und festgestellt, dass diese Dinge, wenn sie ‚ge-
lernt’ sind, zu Eigenwerten, und man kann auch sagen, zu Identischem wer-
den. Ich nenne dies:

Einfache Unterscheidung
Eiche Buche

Baum Haus

Ein Problem sind die Seiten einer Unterscheidung, die als Form nicht zu tren-
nen sind, wie um Beispiel die Unterscheidung physis / techne im Kontext
Gartenvegetation. Die Einwirkung von techne kann sehr intensiv sein,
zum Beispiel im Renaissancegarten, oder auch minimal im Naturgarten.
Dazwischen kann man sich unendlich viele Abstufungen vorstellen. Die
Intensität der Einwirkung ist ‚skaliert’. Das ergibt die Form:

Skalierte Unterscheidung
physis techne

56  Die Differenztheorie


Um dies zu verdeutlichen, gebe ich ein anderes Beispiel aus der optischen
Wahrnehmung: Die Farbmischung aus Blau und Grün. In ihrer ‚reinen’ Form
empfinden wir sie als zwei identische Farben. Sie können aber gemischt
werden vom reinen Blau bis zum reinen Grün. Es entsteht eine Farbskala.
Interessant ist der Punkt, an dem beide Farben zu gleichen Teilen gemischt
werden. Es entsteht ‚Blaugrün’. Oft kommt es vor, dass jemand dazu sagt:
„Das ist blau“ und jemand anders behauptet: „Das ist grün.“ Entscheidend
ist, von welcher Seite her die Farbe gesehen wird. Wer vom Blau herkommt,
sieht dieses noch weit im grünen Bereich vorherrschen und umgekehrt.
Bekannt sind auch graphische Spielereien, die eine Metamorphose von einer
Gestalt zu einer anderen darstellen, zum Beispiel eine von Escher, in der sich
ein Fisch in einen Vogel verwandelt. – Eine andere zeigen H. und M. Haken:
die Verwandlung eines Männergesichts in einen Mädchenakt.

Abb. 1/2 Beispiel einer Hysterese


Sie beschreiben dies als
Hysterese77 bei der visuellen Wahrnehmung. Fangen wir oben links
an, so erkennen wir ein Männergesicht, das auch in der zweiten Zeile

77  Lt. Duden: „das Zurückbleiben einer Wirkung hinter dem jeweiligen
Stand der sie bedingenden veränderlichen Kraft.“

Die Unterscheidung mit zwei Seiten als Skala  57


noch gesehen wird und erst am Schluss in die Wahrnehmung eines
Mädchens umschlägt. Beginnen wir umgekehrt unten rechts und
gehen dann in der gleichen Zeile nach links, so erkennen wir ein
Mädchen, das auch noch in der oberen Zeile erkannt wird und erst
am Schluss wieder in ein Männergesicht umschlägt.78
Wir sehen, dass auch hier der ‚Blinde Fleck’ im Spiel ist.
Mit dem Begriff der Skala entsteht eine neue Qualität des Erkennens. Es gibt
nicht die Identität z. B. einer Hybride, sondern jeder Punkt auf der Skala der
Unterscheidung markiert nur eine kontingente Relation der jeweiligen
Unterscheidung.
Mir ist dies klar geworden bei der Lektüre von Martin Seels „Ästhetik der
Natur“:
Freie Natur ... ist ein Skalenausdruck, dessen Bedeutung erlischt, so-
bald er die beiden Enden der Skala berührt. Absolut frei wäre allein
die Natur, zu der kein Mensch je die Distanz aufgebracht hätte, die
es zur ästhetischen Anschauung braucht. Absolut unfrei wäre die
Natur, die technisch so zugerichtet wäre, dass kein Mensch länger da
wäre, der die lebenswichtige Distanz zur Natur aufbringen könnte. Die
vollkommen freie ist wie die vollkommen unfreie Natur eine Natur
ohne Menschen, ... In diesem Sinn ist ästhetische Natur immer schon
eine vom Menschen beeinflusste Natur, ohne freilich immer ein von
ihm zurechtgemachter Raum zu sein – was eine weitere graduelle
Bestimmung ist.79
Martin Seel begründet hier ein Paradigma, nach dem Natur immer Natur
bleibt, gleichviel, wie der Mensch auf sie einwirkt.

78  Haken (1994), 36.


79  Seel, (1991), 27.

58  Die Differenztheorie


Dem entspricht meine Auffassung des Verhältnisses von physis – techne als
Form der Unterscheidung mit zwei Seiten. Die Intensität der Einwirkung auf
die physis ist skaliert. Solange die Enden der Skala nicht erreicht sind, bleibt
die Substanz der physis erhalten. Erst wenn ein Garten ganz aus Plastik her-
gestellt wird, ist das Ende der Skala erreicht. Dann bleibt als Unterscheidung
nur die Schaufensterdekoration. – Das andere Ende der Skala ist der Urwald.
Die Lebensweise seiner Bewohner lässt sich nicht als techne definieren. Also
muss hier auch der Begriff „Welt als Garten“ halt machen. Das heißt ja nicht,
das der Urwald nicht zu schützen sei; im Gegenteil: hier hat techne absolut
fern zu bleiben.
Auch Stefanie Krebs stellt dieses skalierte Verhältnis fest:
Die Kategorien natürlich – künstlich sind nicht unabhängig vonein-
ander, sie sind nur in ihrem Verhältnis zueinander zu verstehen: nicht
entweder- oder, sondern weniger oder mehr. Die Aufmerksamkeit
hat sich verschoben vom „Objekt an sich,“ an das die Moderne ge-
glaubt hatte, zum „Objekt in Beziehung zu anderen,“ in einem System
von Beziehungen.80 (Hvh. A.S.)
Dies zeigt, dass die Hysterese nicht ein besonderes Phänomen der
Wahrnehmung ist, sondern ein allgemeines der menschlichen Erkenntnis
und Wahrnehmung überhaupt. Bei der skalierten Unterscheidung pysis /
techne ist das gut zu beobachten: Wer von der Seite der techne ausgeht, zum
Beispiel von der ‚industriellen Landwirtschaft’, sieht in jedem Landschaftsteil
nur techne, und das führt dann zu dem Begriff ‚Totale Landschaft’. (siehe
Anm. 26) Ein engagierter Naturschützer findet dagegen schützenswerte
Naturbestandteile auch in menschlich überformten Landschaften
Ich erwähnte schon, dass in der Form der skalierten Unterscheidung oft die
eine, unmarkierte Seite als Blinder Fleck unsichtbar bleibt. An den Enden der

80  Krebs, (2002), 96.

Die Unterscheidung mit zwei Seiten als Skala  59


Skala der Unterscheidung ist dieser Umstand besonders oft zu beobachten.
So ist im minimalistischen Garten die physis und im Ökogarten techne oft
der Blinde Fleck.
Der Bereich innerhalb der Endpunkte der Skala ist das Feld der Gartenkunst.
Das geht vom Heckenlabyrinth an einem Ende bis zum Ökogarten am an-
deren Ende. Diese Skalierung bedeutet für die Form der Unterscheidung
physis /techne, dass das Verhältnis zwischen beiden Seiten frei gewählt wer-
den kann und entschieden werden muss. Es gibt kein Rezept für ein ‚rich-
tiges’ Verhältnis. Als ‚sichere’ Lösung wird dann oft der Bereich nahe den
Endpunkten der Skala gewählt wo die andere Seite ein Blinder Fleck ist:
Die Ökologie oder der Minimalismus. Beide Enden aber bergen immer die
Gefahr des Fundamentalismus in sich. Das Fehlen fester Vorgaben darf je-
doch auch nicht dazu führen, in Beliebigkeit zu verfallen, sondern die Kunst
besteht darin, in diesem Horizont der Möglichkeiten eine in sich schlüssige
Idee zu verwirklichen. Dies erinnert an einen Satz von Karl Jaspers: „Der Sturz
aus den Festigkeiten ... wird Schwebenkönnen – was Abgrund schien, wird
Raum der Freiheit“ 81 Die ‚Festigkeiten’ sind das Identische. ‚Schweben kön-
nen’ im Raum der Freiheit ist eines der Wesenszüge der modernen Kunst.
Den landläufigen Diskurs über das Verhältnis zwischen Natur und
Gartenkunst könnte man in seiner ‚dialektischen’ Form kurz so darstellen:
Zunächst stehen sich ‚Natur’ und ‚Kunst’ als These und Antithese antago-
nistisch gegenüber. Die Naturgartenbewegung und der Naturschutz se-
hen nur die ‚reine’ Natur. Die Avantgarde der Gartenkunst verbannt alles
‚Naturalistische’ aus ihren Werken. Als Synthese wird dann der Begriff Hybrid
gebildet. Ähnlich ist das Verhältnis Stadt / Landschaft zu sehen: Als These
und Antithese. Nachdem die Grenzen zwischen Stadt und Landschaft ver-
wischt sind, werden als Synthese oder als neue Identität die Begriffe Totale
Landschaft oder Landschaft Drei kreiert

81  Jaspers, (1971), 31

60  Die Differenztheorie


Was aus dieser Denkweise entsteht, ist die absolute Beliebigkeit, die dann
auch in einer allgemeinen Verunsicherung zu spüren ist. Totale Landschaft
kann alles sein und ist deshalb auch nicht definierbar.
Die weiteren Untersuchungen werden zeigen, welche Erkenntnisse die
Anwendung der ‚Form der Unterscheidung mit zwei Seiten’ bringen.
Entscheidend ist, dass die Spannung der beiden Seiten der Unterscheidung
immer erhalten bleibt.

Die Unterscheidung mit zwei Seiten als Skala  61


Kapitel 2 Die Vegetation im Garten
Im Kontext Garten unterscheide ich zunächst die Vegetation von der
Architektur, anders gesagt die Pflanzenverwendung von dem Gebauten, wie
Wege, Plätze, Mauern und so weiter.

Garten
Vegetation Architektur

Ich erinnere daran, dass ‚Garten’ bei diesen grundsätzlichen Überlegungen


die ‚Landschaft’ mit einbezieht im Sinne von: ‚Die Welt als Garten.’
Die Vegetation oder Pflanzenverwendung ist die eigentliche Substanz der
Gartenkunst, die nur ihr eigen ist.
Architektur in der Gartenkunst ist dagegen ein Teil, der sie mit anderen
Kunstrichtungen verbindet und vergleichbar macht, hauptsächlich mit
der Baukunst und dem Städtebau. In der Avantgarde der gegenwärtigen
Gartenkunst dominiert das Architektonische vor dem Gärtnerischen, auch
deshalb ist es angebracht, die Unterschiede dieser beiden Seiten zu untersu-
chen. Zunächst geht es also um die Vegetation, das Wachsende, Lebendige,
um die Pflanzungen als das Wesentliche der Gartenkunst, und zwar in dem
Spannungsverhältnis des Wachsens unter dem Einfluss des Menschen.

Vegetation
physis techne

2.1 Die biologischen Grundlagen der Vegetation


Wenn man den Einfluss von techne auf physis richtig verstehen will, muss
man erst einmal die biologischen Zusammenhänge, denen die Vegetation

62  Die Vegetation im Garten


unterliegt, erfassen. Ich folge hier dem chilenischen Biologen Humberto
Maturana, (dessen Forschungen nicht nur die Biologie, sondern zum Beispiel
auch die Wissenschaftstheorie des Radikalen Konstruktivismus82 und die
Systemtheorie Niklas Luhmanns wesentlich beeinflusst haben.) Maturana
unterscheidet bei der Beschreibung der Organismen (er spricht abstrakt von
zusammengesetzten Einheiten) zunächst deren Organisation und Struktur.

Organismus
Organisation Struktur

Dieser Unterschied wird metaphorisch erläutert am Beispiel eines Stuhles


(als zusammengesetzte Einheit): Beine, Sitzfläche und Rückenlehne bestim-
men die Organisation eines Stuhles. Wenn eines dieser Bestandteile fehlt,
handelt es sich nicht mehr um einen Stuhl. Ob jedoch die Beine des Stuhls
aus Stahl oder Holz, die Sitzfläche gepolstert ist oder nicht, und ob er eine
runde oder eckige Rückenlehne hat, ist für die Klassifizierung als Stuhl ir-
relevant. Dies wird als Struktur des Stuhles bezeichnet. Die Struktur kann
beliebig variieren, solange die Organisation aufrecht erhalten bleibt. Wenn
zum Beispiel die Beine zu dünn wären, würde die Organisation des Stuhles
‚zusammenbrechen’. 83
Zur Organisation der Pflanze gehören in erster Linie die Organe, welche die
Nährstoffe aufnehmen und solche, die Kohlensäure der Luft assimilieren, so-
wie ihr Regenerationsvermögen und ihre Homöostase.
Die Organisation eines Organismus ist also das, was seine Klassenidentität
bestimmt, während die Struktur je nach Lebenslage variabel ist. „Eine dyna-
misch zusammengesetzte Einheit ist ... eine zusammengesetzte Einheit im

82  Schmidt, (1994), 89 ff.


83  Maturana, (1987), 49.

Die biologischen Grundlagen der Vegetation  63


Prozess kontinuierlichen Strukturwandels, die gleichzeitig ihre Organisation
aufrecht erhält.“ 84
Der Strukturwandel eines Organismus wird in seiner Ontogenese, zum
Beispiel bei der Entwicklung einer Pflanze vom Steckling bis zur erwachse-
nen Form, besonders deutlich sichtbar. Sofern die Pflanze ein entsprechen-
des Regenerationsvermögen hat, wie zum Beispiel die Weide, bilden sich
in den Blattachseln statt Blätter Wurzeln und so aus den abgeschnittenen
Trieben neue Pflanzen. – Wir werden sehen, dass in der Regel alle gärtneri-
sche Einwirkung ein Einwirken auf die Struktur ist, - direkt oder indirekt - und
dass eine Veränderung der Organisation das Absterben der Pflanze bedeutet.
Um diese Vorgänge zu verstehen, müssen die Einwirkungen auf die Struktur
aber noch genauer betrachtet werden. Dazu ist zunächst festzustellen, dass
zu jedem Organismus essentiell seine Umgebung gehört. Maturana nennt
den Existenzbereich einer Einheit ihr Medium. Das geht zurück auf Üxkülls
Lehre, nach der jeder Organismus seine eigene Umwelt hat. Medien im Sinne
Maturanas sind zum Beispiel der Wald, der See und das Feuchtgebiet.
Weiter ist wichtig, wie Maturana einen Organismus als lebendes System de-
finiert: „Der Mechanismus, der Lebewesen zu autonomen Systemen macht,
[ist] die Autopoiese; sie kennzeichnet Lebewesen als autonom.“ (griech. au-
tos = selbst, poiein = machen)
... den Lebewesen ist eigentümlich, dass das einzige Produkt ihrer
Organisation sie selbst sind, das heißt, es gibt keine Trennung zwi-
schen Erzeuger und Erzeugnis. Das Sein und das Tun einer autopoieti-
schen Einheit sind untrennbar, und dies bildet ihre spezifische Art von
Organisation. 85

84  Maturana, (2000), 161.


85  Maturana (1987), 55 ff

64  Die Vegetation im Garten


Eine weitere Feststellung ist, dass autopoietische Einheiten grundsätzlich ge-
schlossene Systeme sind; sie bestimmen ihre Ausdehnung, indem sie ihre
Grenzen in „ihrem Bereich der Existenz [selbst] festlegen.“ 86 Geschlossenheit
bedeutet, dass sie nur solche Einflüsse zulassen, die mit ihrer Struktur ver-
einbar sind. „ Ein externes Agens, das mit einer zusammengesetzten Einheit
interagiert, löst ... in dieser einen Strukturwandel lediglich aus, kann diesen
aber nicht festlegen.“
Aber „ ... die Struktur einer zusammengesetzten Einheit [determiniert]
auch, mit welchen strukturellen Konfigurationen des Mediums sie über-
haupt interagieren kann.“ 87 Maturana nennt die Interaktionen zwischen
Organismus und Medium, d. h. „ die Relationen der dynamischen struk-
turellen Übereinstimmung mit dem Medium, durch die eine Einheit ihre
Klassenidentität bewahrt“, strukturelle Kopplung oder auch Anpassung.88
Den „ Teil des Mediums, mit dem die Einheit strukturell gekoppelt ist,“
nennt er Nische.89 „Lebende Systeme ... können ... nicht unabhängig von je-
nem Teil der Umgebung verstanden werden, mit dem sie interagieren: der
Nische; noch kann diese Nische unabhängig von dem lebenden System,
das sie bestimmt, definiert werden.“90 Auch dies ist eine typische Form der
Unterscheidung mit zwei Seiten:

Vegetation
Pflanze Nische

86  Maturana, (2000), 182


87  ebd. 162.
88  ebd. 165
89  ebd. 169.
90  ebd. 26.

Die biologischen Grundlagen der Vegetation  65


Die Nische ist kein fester Teil des Mediums, sondern sie ändert sich korrelativ
mit dem Organismus. So kann zum Beispiel im Medium Wald ein junger
Baum seine Nische dadurch verändern, dass er mit zunehmendem Alter den
Boden beschattet und mit seinem Laub eine Rohhumusdecke bildet. Oder
eine Leguminose ‚gestaltet’ ihre Nische durch die Bildung Stickstoff sam-
melnder Knöllchenbakterien. - Auch konkurrierende Pflanzen gehören zur
Nische eines Organismus. Vegetationen bestehen also nur aus Organismen
und Nischen, d.h. jede Pflanze gehört zur Nische der Nachbarpflanze und
die Beziehungen zwischen beiden sind durch die strukturelle Kopplung be-
stimmt. Das kann dazu führen, dass eine dominierende Art alle Nachbarn
verdrängt, oder auch dass sich verschiedene Arten ‚vertragen,’ was dann
‚Pflanzengemeinschaft’ genannt wird. – Der wichtigste Teil der Nische ist
aber der Boden, das Substrat, in dem die Pflanze wurzelt und sich ernährt.
Als Beispiel für die Breitenwirkung Maturanas zitiere ich, wie Luhmann den
Begriff „strukturelle Kopplung“ in seiner Theorie verwendet:
Die strukturelle Kopplung ... bestimmt nicht, was im System geschieht,
sie muss aber vorausgesetzt werden, weil andernfalls die Autopoiese
zum Erliegen käme, und das System aufhören würde zu existieren.
Insofern ist jedes System immer schon angepasst an seine Umwelt.91
Auf die Vegetation bezogen, heißt das, die Autopoiese kann nur in einer für
sie verträglichen Nische aufrechterhalten werden.
Zwei Punkte aus Maturanas Theorie sind noch hervorzuheben: Der erste
betrifft den Begriff ‚Determiniertheit.’ Der wird gerne mit ‚Gesetzmäßigkeit’
assoziiert und kommt der Vorstellung entgegen, dass alles nach ‚festen
Naturgesetzen’ abläuft. Dagegen sagt Maturana:

91  Luhmann, (1997), 100 f

66  Die Vegetation im Garten


Die Struktur eines strukturdeterminierten Systems [wählt] zwar die
Konfigurationen des Mediums aus, mit denen es interagieren kann,
alle seine Interaktionen mit von ihm unabhängigen Systemen [ent-
stehen] jedoch als Zufallsergebnisse [und können] nicht aus der
Struktur des strukturdeterminierten Systems allein vorhergesagt wer-
den. 92 (Hvh. A.S.)
Und bei Luhmann heißt es dazu:
Man sieht heute (im Unterschied zu älteren Vorstellungen über
„Naturgesetze“), dass die Stabilität von Organismen ebenso wie von
ökologischen „Gleichgewichten“ eine Vermeidung strikter Kopplungen
voraussetzt; oder mit anderen Worten: Robustheit beim Absorbieren
von Störungen.93
Das Zufallsprinzip herrscht z. B. bei Brachflächen, die der Sukzession über-
lassen werden. Ihr Verlauf wird in erster Linie von der Abundanz der natür-
lichen Fortpflanzung bestimmt, wenn unzählige Samen eine Nische finden
oder nicht finden, was zu jedem Zeitpunkt von den gerade herrschenden
Verhältnissen unterschiedlichster Art abhängt.
Der zweite Punkt ist für unseren Umgang mit Pflanzen besonders wichtig.
Das ist eine gewisse Unberechenbarkeit und Unsicherheit der Wirkungsweise
unseres Einwirkens auf die Vegetation. Maturana erläutert das Verhältnis zwi-
schen Organismus und Nische anhand einer Metapher:
Eine zusammengesetzte Einheit in ihrem Medium verhält sich wie ein
Seiltänzer, der sich auf einem Seil ... bewegt und sein Gleichgewicht er-
hält (seine Anpassung), indem er seine Gestalt (seine Struktur) jeweils
so verändert, dass sie mit den visuellen und den schwerkraftbedingten

92  Maturana, (2000), 163


93  Luhmann, (1997), 525 f

Die biologischen Grundlagen der Vegetation  67


Interaktionen übereinstimmt, die er beim Tanz auf dem Seil ausführen
muss (während er seine Nische verwirklicht), und der fällt, wenn dies
nicht gelingt.94
Diese potentielle Labilität gilt es immer im Auge zu behalten, wenn wir mit
Pflanzen umgehen.

2.1.1 Zusammenfassung
Die bisherige Betrachtung der biologischen Grundlagen führt in Bezug auf
das Verhältnis von physis und techne zu folgenden Feststellungen:
• Die Einwirkung von techne auf physis erfolgt überwiegend indirekt auf
Medium und Nische der Organismen.
• Die Nische eines Organismus wird durch techne verändert. Das ist un-
schädlich, solange die strukturelle Kopplung zwischen Nische und
Organismus aufrechterhalten bleibt. Wenn dies nicht mehr der Fall ist,
bricht die Organisation des Organismus zusammen, d.h. er stirbt ab und
andere siedeln sich in der so veränderten Nische an.
• Solange die strukturelle Kopplung besteht, hat es für den Organismus
keine essentielle Bedeutung, ob techne auf die Nische einwirkt oder nicht.
Die Pflanze ‚unterscheidet’ nicht, ob die Nährstoffe in der Nische originär
vorhanden waren oder ob sie ‚künstlich’ zugeführt wurden. Das Gleiche
gilt zum Beispiel für das Wässern. Für die Kartoffeln in der Lüneburger
Heide ist es egal, ob das lebenswichtige Wasser vom Regen oder aus der
Bewässerungsanlage stammt.
• Es gibt also keine ‚künstliche’ Nische, sondern nur eine, mit der der struk-
turdeterminierte Organismus eine optimale oder weniger optimale struk-
turelle Kopplung eingehen kann.

94  Maturana, (1998), 170.

68  Die Vegetation im Garten


• In diesem Sinne ist also das Einwirken von techne auf physis grundsätz-
lich nicht ‚unnatürlich,’ solange die Organisation der Organismen nicht
beeinträchtigt wird.
• Da die Interaktionen zwischen Nische und Organismus dem Zufall un-
terliegen, sind auch die Folgen der Einwirkung von techne dem Zufall un-
terworfen. Das erklärt die vielen Fehlschläge, die wir im Umgang mit der
‚Natur’ erleben. Die Folgen unserer Eingriffe können wir zwar nach ihrer
Wahrscheinlichkeit einschätzen aber nicht als Gesetzmäßigkeit bestim-
men.
• Für die einzelnen Organismen sind alle anderen, mit denen sie interagie-
ren, Teil ihrer Nische, die durch diese anderen positiv oder meistens ne-
gativ beeinflusst wird. ‚Pflanzengesellschaften’ oder ‚Ökosysteme’ sind
also keine „Zusammengesetzte Einheiten“ mit eigener Organisation und
Struktur, sondern was so bezeichnet wird, sind statistische Auffälligkeiten
typischer Nischenbildung, die wie Gesetzmäßigkeiten erscheinen.
• Dem entspricht letztlich auch Wolfgang Habers Aussage: „Wenn man
die Natur als Ökosystem begreifen will, macht man sie eigentlich auch zu
einer Art Maschine.“ 95 Und entsprechend ist auch die Aussage „Natur ist
eine Gesetzmäßigkeit“ (S. Anm. 31) nicht haltbar.
• Das heißt aber, dass „Natur“ heute immer als das Zusammenwirken von
physis und techne zu sehen ist und somit in unserer Verantwortung liegt.
Das heißt aber auch, dass die Machbarkeit begrenzt ist und dass in der
Gartenkunst zum Wissen die Intuition, das Gefühl für das Nichtmachbare
kommen muss.

95  Haber, (2001), S. 67.

Die biologischen Grundlagen der Vegetation  69


2.2 Das Verhältnis physis/techne, entwick-
lungsgeschichtlich gesehen
Wenn wir unser Verhältnis zur Natur und unseren Einfluss auf sie verstehen
und beschreiben wollen, ist es sinnvoll, die geschichtliche Entwicklung zu
betrachten. Denn unsere Verhaltensweisen und unsere Befindlichkeiten in
Bezug auf Natur unterliegen nicht in erster Linie aktuellen und modischen
Einflüssen, sondern sie haben sich in unzähligen Generationen herausgebil-
det und sind so zu unserer ‚zweiten Natur’ geworden. Es geht um die Bildung
von Archetypen, die bei allen Betrachtungen über Gartenkunst zugrunde
gelegt werden sollten. Es geht mir in meiner Darstellung weniger um eine
geographisch und chronologisch exakte Beschreibung. Die liegt uns vor in
den zwei bedeutenden Büchern von Hansjörg Küster über dieses Thema.96
In Anlehnung an diese Werke wähle ich eine etwas abstraktere Form, die sich
auf die Beschreibung des menschlichen Einflusses – techne – beschränkt.
Die erste ‚Manipulation’ der Natur vermutet Küster schon bei den Menschen
der mittleren Steinzeit, die anscheinend Haselnüsse in den Wäldern ausgesät
haben. So „könnte man die so plötzliche und durchschlagende Ausbreitung
des Haselbusches in Mitteleuropa vor 9000 Jahren gut erklären.“ Das hieße,
dass der Mensch bereits damals seine Umwelt aktiv gestaltet hat „indem er
ein Gehölz schonte, schützte oder gar pflanzte, weil er dadurch Nahrung
gewinnen konnte,“ die auch im Winter zur Verfügung stand.97
Allgemein geht man in der Vorgeschichte davon aus, dass Die Lebensform
der Jäger und Sammler in der „neolithischen Revolution“ vom Ackerbau
abgelöst wurde. Aber „es ist eines der größten Rätsel der Menschheits-
und Landschaftsgeschichte, wie sich dieser Wandel vollzog.“ Er hat „sich ...

96  Küster, (1995 und 1998).


97  Küster, (1995), 68.

70  Die Vegetation im Garten


in Wirklichkeit nicht in einem revolutionären Prozeß entwickelt, sondern
Schritt für Schritt nach den Gesetzen der Evolution.“ 98
Nach meiner Auffassung dürfte der erste Schritt in dieser Evolution die
Domestizierung von Wildtieren gewesen sein. Vielleicht zuerst in den asia-
tischen Steppen, wo Nomaden ständig neue Weidegründe fanden. Hier hat
sich diese Lebensform der Hirten bis heute erhalten.
In den Waldgebieten Mitteleuropas war das Nahrungsangebot für die Herden
wesentlich reicher als in den Steppen. An den Rändern der Wälder boten
Eicheln und Bucheckern ein nahrhaftes Futter für die Tiere. Gleichzeitig wei-
deten diese aber auch alles Laub von herunter hängenden Ästen, Büschen
und Jungpflanzen ab. Das verhinderte die natürliche Verjüngung der Wälder,
die dadurch immer lichter wurden. Küster beschreibt eine weitere Form der
Waldnutzung, das „Schneiteln“. Dabei wurden im Sommer junge Zweige
abgeschnitten, um sie im Winter als Laubheu zu verfüttern.99 Auch durch
die Entnahme von Nutzholz wurden die Wälder ausgelichtet. So entstan-
den „die typischen Hutewälder: lockere Bestände aus alten, sehr breitkro-
nigen und grobästigen Eichen und Buchen. Gerade die alten Bäume mit
ihren großen Kronen lieferten aber eine besonders reiche Mast.“ 100 Diese
Waldweidewirtschaft hat sich bis in die Neuzeit erhalten. Noch im 18.
Jahrhundert wurden in manchen Gegenden so genannte ‚Schweinekriege’
ausgefochten, wenn sich benachbarte Orte um die Weiderechte in den da-
zwischen liegenden Wäldern stritten.

98  ebd. 72f.


99  ebd. 106.
100  Henning, (1983), 35.

Das Verhältnis physis/techne, entwicklungsgeschichtlich gesehen  71


Abb.2/1 Hudewaldrest im Sachsenwald
Wie kann sich ein evolutionärer Übergang zum Ackerbau vollzogen haben?
Es liegt nahe, sich die vom Vieh gelichteten Wälder als Voraussetzung für die
Anlage von Äckern vorzustellen. Ich habe kürzlich eine von Wildschweinen
aufgebrochene Waldblöße gesehen und war zuerst im Zweifel, ob hier nicht
Maschinen am Werke waren. Die Frauen in der Steinzeit werden beobach-
tet haben, dass auf solchen Flächen besonders üppige Kräuter wuchsen. Sie
begannen deshalb, in der Nähe ihrer Behausung den Boden mit den ersten
primitiven Geräten zu lockern und Kräuter auszusäen. Sie stellten auch fest,
dass das Wachstum durch bestimmte Pflegemaßnahmen gefördert wer-
den konnte. So wurden die nicht nutzbaren konkurrierenden Kräuter –
Unkräuter - entfernt und zu dicht stehende Nutzpflanzen vereinzelt.
Die im Laufe der Zeit gesammelten Erfahrungen führten bald dazu, den
Boden bei Trockenheit zu wässern und im Frühjahr zu düngen. Vor allem aber
mussten die Pflanzflächen mit Weidengeflecht eingefriedet werden, um sie
vor Wildfraß zu schützen. So war der ‚Urgarten’ entstanden! Diese techne der

72  Die Vegetation im Garten


Vereinzelung von Pflanzen gehört neben der Herstellung von Werkzeugen,
dem Gebrauch des Feuers und der Domestizierung von Wildtieren zu den
wichtigsten Erfindungen der Menschheitsgeschichte.
Auch Marie Luise Gothein sieht die „Anfänge aller Gartenkultur ... mit der
Seßhaftigkeit der Völker“ zusammenfallen; „sobald ... die erste Frucht, mit der
Hacke bestellt, den Menschen zwingt, sich in festen Wohnplätzen anzusie-
deln, muß er seinen Fruchtplatz mit einem Zaun umgeben, ... . Wenn wir also
diesen primitiven Garten ... im Gegensatz zu dem freien Feld ansehen, so ist
der Garten das Frühere gegenüber der Bewirtschaftung des Feldackers, die
erst in einem Lande, in dem die allgemeine öffentliche Sicherheit schon die
Fluren schützt, sich entfalten kann.“101
Erst durch die Verbesserung der Geräte für die Bodenlockerung und durch
erste Züchtungen von Getreidearten wird sich der Ackerbau entwickelt ha-
ben. Die Waldweide und die darauf folgende Ausweitung der Ackerflächen
war ein dynamischer Prozess, der sich bis in die Neuzeit fortgesetzt hat. Noch
eine vor 250 Jahren aufgenommene Flurkarte einer Sachsenwaldgemeinde
zeigt den zerfransten Übergang zwischen diesen unterschiedlichen
Wirtschaftsflächen:

101  Gotheim, (1926), 3.

Das Verhältnis physis/techne, entwicklungsgeschichtlich gesehen  73


Abb. 2/2 Sachsenwaldgemeinde im 18. Jh.
In jüngerer Zeit hat dann die überhand nehmende Entnahme von Nutzholz
zur Bildung von Buschländern und Heiden geführt. Die an manchen Stellen
noch vorhandenen Hutewälder geben uns aber noch ein anschauliches Bild
von einer Landschaft, wie sie über Jahrtausende in Mitteleuropa bestanden
hat.
In Dörfern, in denen der Wald schon weiter zurückgedrängt war, wurden
Weiden hinter den Höfen angelegt, um das Milchvieh zum Melken in der
Nähe zu haben und ebenso Heuwiesen für das Winterfutter. So waren die
vier Grundelemente entstanden, aus denen unsere Landschaft bis heute be-
steht: Die Gärten, die Äcker, die Wiesen und Weiden, und die Wälder, her-
vorgegangen aus den Hutewäldern und dem Urwald, der vorher da war.
Aus der bisherigen Darstellung ist nur erkennbar, dass der menschliche
Einfluss auf die Natur – techne / physis – sehr früh eingesetzt hat. Er war die

74  Die Vegetation im Garten


Voraussetzung für die Evolution des modernen Menschen und ist zu seiner
zweiten Natur geworden. Insofern ist diese diachronische Betrachtung eine
wichtige Grundlage für die Beurteilung unseres heutigen Naturverhältnisses.
Sie zeigt, dass die ‚Aneignung der Natur’ untrennbar zum Wesen der Spezies
Mensch gehört.

2.3 Das Verhältnis physis/techne in der heutigen Praxis


Ich unterscheide zwei Seiten der Einwirkung, die direkte auf die Pflanze und
die auf die Nische.

techne
Einwirkung auf die Pflanze Einwirkung auf die Nische

Die erste bezieht sich auf die direkte Manipulation der Struktur der Pflanzen.
Die Wichtigste ist der Pflanzenschnitt. Küster führt das Schneiden von
Gehölzen in der Gartentechnik auf das Schneiteln zur Laubheugewinnung
zurück.102 Es ist also auch eine uralte Technik. Es gibt Pflanzen, die jeden
Schnitt ‚vertragen,’ aber auch andere, die nicht diese Regenerationsfähigkeit
haben, und deren Organisation zerbricht, wenn sie zu stark beschnitten wer-
den. Bei Linden z. B. sind der technische Vorgang und seine Folgen eindeutig.
Die verbleibenden Knospen treiben wieder aus und die Pflanze wächst weiter.
Wenn sie nicht mehr beschnitten wird, entwickelt sich in der Folge ein nor-
maler Baum, wie man in alten Anlagen oft beobachten kann. Dieser Vorgang
ist das Gleiche – von der physis aus betrachtet, - als wenn der Baum in seiner
Jugend vom Wild verbissen worden wäre. Es ist deshalb verständlich, dass
Blomfield den Pflanzenschnitt als Beispiel anführt, um die „Natürlichkeit“ des
architektonischen Stils zu reklamieren. 103
102  Küster, (1998), 172.
103  Gotheim, (s. Anm. 13.)

Das Verhältnis physis/techne in der heutigen Praxis  75


Das Pflanzen und Schneiden von Hecken hatte zunächst als Beeteinfassung
einen funktionellen Grund. Der Pflanzenschnitt im Barock hat jedoch eine
tiefere Bedeutung. Es ist nicht nur der Einfluss der Architektur und die
Gleichsetzung der Pflanze mit dem Stein als Material, sondern durch den
Schnitt soll der Garten nicht altern. Der Barockgarten ist ein Symbol für die
Zeitlosigkeit. Eine Parallele besteht zu der kosmetischen Mode dieser Zeit,
über die der Kunsthistoriker Werner Kloos schreibt:
Puder wurde angewendet, weil er die Spuren des Älterwerdens, die
Zeichen der Vergänglichkeit, die grauen Haare zu verdecken vermoch-
te. ...Nicht nur alternde Menschen puderten ihr Haar, sondern auch
die jungen Leute, sogar die Kinder. Da alle grau gepuderte Köpfe tru-
gen, waren Altersunterschiede nicht mehr genau wahrzunehmen. ...
und die Greisinnen lächelten mit scheinbar faltenlosem Antlitz und
kirschroten Lippen.104
Genau so ewig jung war der Barockgarten, und so lässt er sich auch wieder
rekonstruieren, was ihn zu einem beliebten Objekt der Gartendenkmalpflege
macht. - So ein tieferer Sinn ist in der heutigen Mode des Pflanzenschnitts
wohl nicht zu erkennen. Der einzige Grund scheint zu sein, ‚Naturalismus’ zu
vermeiden.
Der andere Einfluss der techne richtet sich auf das Medium oder die Nischen
der Vegetation. Zur Nische gehören einerseits der Boden, das Substrat und
zum anderen die jeweiligen Konkurrenten.

Nische
Boden Konkurrenten

104  Kloos, (1979)

76  Die Vegetation im Garten


Die Bodenbearbeitung war die Voraussetzung für die Entstehung des
Urgartens und ist immer noch wichtigste Grundlage der Kulturlandschaft.
- In den 40ger und 50ger Jahren war die Erhaltung der Bodengare und der
Wasserkapazität ein wichtiges Thema in der Bodenkunde. In der Praxis des
Landschaftsbaus wurde dies mit dem Einsatz immer schwererer Maschinen
stark vernachlässigt. Es gewinnt aber wieder an Bedeutung, vor allem durch
die Naturgartenbewegung.
Andere Ziele verfolgt eine gegensätzliche Form dieses Einflusses: Die
Schaffung von Extremstandorten. Dabei wird z.B. mit hohem materiellen
Aufwand Mutterboden abgeschoben, um Trockenrasen zu erzeugen, oder
Wiesenflächen künstlich vernässt, um Wiesenvogel-Biotope zu schaffen. –
Eine extreme Art der Nischengestaltung ist auch die Arbeitsweise von Le
Roy, wenn er zum Beispiel Bauschutt in seine Anlagen einbringt
Ebenso zur Nische gehören auch die jeweiligen Konkurrenten. Die Reduzierung
derselben ist eine wichtige Nischen-Behandlung. Ob Rübenacker, Blumen-
oder Staudenbeet: ihr Prinzip ist die Vereinzelung der Nutzpflanzen und die
Bekämpfung der Konkurrenten – des Unkrauts – oder in Staudenbeeten
die Vermeidung von aggressiven Ausläufer treibenden Stauden. - Auch
durch Mulchen mit organischen und anorganischen Substraten wird die
Unkrautbekämpfung praktiziert, was gleichzeitig eine positive Wirkung auf
die Bodengare hat. – Diese Art der Kultivierung der Nutzpflanzen und das
Prinzip der Optimierung durch Ausschaltung der Konkurrenten bestehen
ebenfalls seit der Erfindung des Urgartens, sind eine archetypische Prägung.
Eine Alternative zur Vereinzelung sind seit relativ kurzer Zeit Tendenzen
zur ‚Vergesellschaftung.’ Das sind Schritte zu ‚natürlicheren,’ artenreicheren
Pflanzungen, zum Beispiel Stauden, die in ausgewogener Konkurrenz zuein-
ander wachsen und eindrucksvolle Bilder bieten. Besonders interessant sind
solche mit einer gewissen Dynamik, die dadurch entsteht, dass sich einige
Arten selbst aussäen und entstandene Lücken ausfüllen. Hier braucht nur

Das Verhältnis physis/techne in der heutigen Praxis  77


selektierend eingegriffen werden, wenn eine Art zu stark dominiert. Jedoch
gehört auch Fingerspitzengefühl dazu, was Ian Hamilton Finley zu der
Bemerkung veranlasste:
In der Natur ist der Konflikt ständig präsent. Sobald man anfängt,
einen Garten zu bewirtschaften, wird man feststellen, dass jedes
kleine Pflänzchen ein Imperialist ist, der seinen Grund behaupten
will. Harmonie ist jene unsichere Balance zwischen verschiedenen
Elementen.105
Interessante Beispiele für Pflanzungen, die - nach diesen Prinzipien ausgeführt
-, eine ganz neue Gartenästhetik kreieren, sind die von Wolfgang Oehme in
Amerika und neuerdings auch in Sachsen oder die von Petra Pelzer unter
anderen in Magdeburg.106 Auch am Hermannshof in Weinheim wird seit den
80ger Jahren in dieser Richtung experimentiert von Hans Lutz, Urs Walser
und Richard Hansen, woraus sich der „German New Style“ entwickelt hat.
„Im Ausland wurde die Methode berühmt als ‚German Gardening.’ “ 107
Eine weitere Alternative zur Einzelpflanzung besteht darin, Konkurrenzstarke
und langlebige Arten in Monokultur zu verwenden, in der Praxis Bodendecker
oder Rasenersatzpflanzen genannt. Das sind z. B. Pachysandra, Evonymus ra-
dicans, manche Geranien und andere. Im Botanischen Garten in Berlin zeigte
uns Jelitto 1953 eine Fläche mit Waldsteinia ternata, die nach seiner Angabe
seit 50 Jahren bestand. Es könnte sein, dass sie heute noch existiert.
Als Monokultur kann man auch die normalen Rasenflächen bezeichnen.
Durch das ständige Mähen werden alle Pflanzen außer den Gräsern un-
terdrückt und was den Messern der Mähmaschine entgeht, wie z. B. Bellis

105  Weilacher, (1999), 103.


106  Leppert, (2008)
107  Radziewsky, (2008), 128ff

78  Die Vegetation im Garten


perennis, wird notfalls mit Herbiziden beseitigt. Dies ist ein Beispiel für eine
intensive techne.
Wir können also zwei weitere Formen der Unterscheidung feststellen:

Pflanzen
vereinzelt vergesellschaftet

Pflanzung
dynamisch statisch

Eine wichtige Unterscheidung für das Einwirken von techne ist, ob es spo-
radisch oder kontinuierlich erfolgt. Kontinuierlich nenne ich die Eingriffe,
die in regelmäßigen Zeitabständen erfolgen, zum Beispiel die Wiesen- und
Rasenmahd und die Pflege von Biotopen. Sie bewirken oft die Bildung
scheinbar stabiler Pflanzengesellschaften, die sich aber sofort verändern,
wenn der Rhythmus der Pflege unterbrochen wird; ein Problem, mit dem der
Naturschutz ständig zu kämpfen hat. Gerade die kontinuierliche Einwirkung
erzeugt Naturstücke, bei denen techne oft als Blinder Fleck unerkannt bleibt.
So ist in der Pflanzensoziologie, die sehr viel zum Naturverständnis beige-
tragen hat, von der menschlichen Einwirkung, die eine Bildung bestimm-
ter Pflanzengesellschaften erst ermöglicht, kaum die Rede. Mir ist dies erst
durch Gernot Böhmes Begriff der „sozial konstituierten Natur“ bewusst ge-
worden.108
Sporadische und akute Eingriffe sind zum Beispiel das Roden von Flächen
oder das Umbrechen von Wiesen und Neuansaaten. Als Unterscheidung
sehen wir:

108  Böhme, Schramm, (1985)

Das Verhältnis physis/techne in der heutigen Praxis  79


techne
kontinuierlich sporadisch

2.4 Techne ist ‚Tun und Lassen’


In der bisherigen Betrachtung des Verhältnisses von techne zu physis geht es
überwiegend um kulturtechnische Einwirkungen. Dafür könnte man auch
ein anderes griechisches Wort wählen: poiein. ‚Poiein’ steht im altgriechi-
schen Wörterbuch für ‚tun.’ Es steht aber auch für ‚lassen’ im Sinne von ‚be-
wirken’ und ‚erlauben.’
Heidegger hat diesen besonderen Charakter von ‚Lassen’ herausgestellt:
... das recht gedachte „Feststellen“ der Wahrheit [kann] keines-
wegs dem „Geschehenlassen“ zuwiderlaufen. Denn einmal ist dieses
„Lassen“ keine Passivität, sondern höchstes Tun ... im Sinne der Thesis,
ein „Wirken“ und „Wollen“109
Und damit kommt eine neue Kategorie des Naturbewusstseins in den
Blick, die in der Neuzeit immer mehr an Bedeutung gewinnt, nachdem die
Möglichkeiten der Menschheit, Natur zu verändern, extreme Formen ange-
nommen haben. Neben dem Jahrtausende alten ‚Handlungszwang’, der von
der Arbeit im ‚Urgarten’ bestimmt war und ist, tritt als völlig neues Prinzip
das ‚Lassen’. Als ‚Form der Unterscheidung’

techne
Tun Lassen

109  Heidegger, 2003, 71. .

80  Die Vegetation im Garten


sind die beiden Seiten in allen Handlungskonzepten nicht zu trennen, sie
sollten aber als Handlungsleitung immer bewusst sein.
Schon der Übergang vom Französischen zum Englischen Garten war der
geistige Wandel vom Tun zum Lassen. Das „Zurück zur Natur“ hieße dann:
Wachsen lassen oder: Mehr wachsen lassen, denn auch diese Unterscheidung
ist eine skalierte; auch hier bewegt man sich an den Endpunkten der Skala in
fragwürdigen Extremen.
Ein markanter Vorgang des Lassens war, als wir Ende der 70ger Jahre eini-
ge Rasenflächen in Grünanlagen nur noch zweimal im Jahr mähten. Als
sich danach die ersten Bellis- und Veronika-Teppiche bildeten, war der
Charakter dieser Anlagen völlig verändert. Der Erfolg derartiger Versuche
war aber nicht immer erfolgreich. Es braucht eben immer techne, wissen-
des Handeln. - Protagonisten dieser Bewegung in der extremen Form wa-
ren manche Vertreter der Naturgarten-Bewegung, wie Le Roy und andere.
Entscheidendes ‚Lassen’ in Bezug auf die ‚Welt als Garten’ ist die Schonung
der Regenwälder.
Heute schlägt der Zeiger bei den tonangebenden Vertretern der Profession
wieder stark auf die Tun-Seite aus. Aber auch die meisten Maßnahmen des
Naturschutzes sind motiviert vom Machen.

2.5 Station bei Heidegger


Der Ausgangspunkt meiner bisherigen Überlegungen war die Problematik
des menschlichen Naturverhältnisses und zwar betrachtet in geschichtlicher
und in biologischer Hinsicht. Das Ziel war, die diffusen Ansichten von Natur
und Kultur zu klären. Die Form der Unterscheidung mit den Seiten physis
und techne bezieht sich auf den gesamten Bereich der Naturnutzung. Für
die Betrachtung der Gartenkunst muss das Verhältnis genauer untersucht
werden. Eingangs habe ich festgestellt, dass zur Gartenkunst das Vegetative

Station bei Heidegger  81


und das Architektonische gehören, dass aber die Vegetation ihre eigentli-
che Substanz bildet. Deshalb will ich schon am Ende dieses Kapitels über
die ‚Vegetation im Garten’ versuchen, dem Wesen der Gartenkunst näher zu
kommen.
Hilfe finde ich in Heideggers Abhandlung „Der Ursprung des Kunstwerks“
aus dem Jahre 1935.110 Ich kann zwar die Gedankengänge Heideggers nur
oberflächlich nachzeichnen – letztlich muss man alles im Zusammenhang
lesen, um zum vollen Verständnis zu kommen – aber ich will versuchen, das
heraus zu stellen, was für die Gartenkunst wesentlich ist. Es wird sich zeigen,
dass das was ich bisher etwas vordergründig und abstrakt dargestellt habe,
bei Heidegger an Tiefe und Substanz gewinnt.–.
Auch Heidegger entwickelt seine Erkenntnisse aus Unterscheidungen. So
bezeichnet denn auch Oliver Jahraus Heidegger als den „Vorläufer jener
Differenzphilosophie von Dekonstruktion und Systemtheorie ..., die im spä-
ten 20. Jahrhundert wichtig wird.“ Also die von Adorno, Gadamer, Derrida,
Luhmann und anderen.111
Ich beginne mit Heideggers Definition von physis und techne:
Der Baum und das Gras, der Adler und der Stier, die Schlange und
die Grille gehen erst in ihre abgehobene Gestalt ein und kommen
so als das zum Vorschein, was sie sind. Dieses Herauskommen und
Aufgehen selbst und im Ganzen nannten die Griechen frühzeitig die
physis. (28) 112

110  Heidegger, (2003).


111  Jahraus, (2004), 231
112  Bei den Zitaten aus dem ‚Ursprung’ füge ich die Seitenzahl in
Klammern anstelle einer Fußnote an. Stellen, die ich hervorheben möchte,
sind fett gedruckt. Die Wörter, die im Original in griechischer Schrift stehen,
sind kursiv geschrieben.

82  Die Vegetation im Garten


Das entspricht der Übersetzung, die wir von Schadewald kennen. Den Begriff
techne verwendet Heidegger dagegen in einem engeren Sinne:
So üblich und einleuchtend der Hinweis auf die von den Griechen ge-
pflogene Benennung von Handwerk und Kunst mit demselben Wort
techne auch sein mag, er bleibt doch schief und oberflächlich; denn
techne bedeutet weder Handwerk noch Kunst und vollends nicht das
Technische im heutigen Sinne, meint überhaupt niemals eine Art von
praktischer Leistung.
Das Wort techne nennt vielmehr eine Weise des Wissens. Wissen heißt
gesehen haben, in dem weiten Sinne von sehen, der besagt: vernehmen
des Anwesenden als eines solchen. Das Wesen des Wissens beruht für
das griechische Denken in der aletheia, d. h. in der Entbergung des
Seienden. Die techne ist ... insofern ein Hervorbringen des Seienden, als
es das Anwesende als ein solches aus der Verborgenheit her eigens in
die Unverborgenheit seines Aussehens vor bringt; techne bedeutet nie
die Tätigkeit eines Machens. (46f)
Statt aletheia sagt Heidegger im Folgenden auch „Wahrheit.“ Ein
Grundgedanke besteht darin, dass etwas aus der Verborgenheit in die
Unverborgenheit, ins Bewusstsein hervorgebracht wird. Dies gehört zum ei-
gentlichen Wesen der Kunst.113
An dieser Stelle ist weise ich auf eine Querverbindung zu Derrida hin, wo-
durch eine Verwandtschaft zwischen techne und différance deutlich wird:
Derrida stellt den „sekundären und vorläufigen Charakter des Zeichens infra-

113  Wenn ich bisher den Begriff ‚techne’ auch im Sinne von ‚poein’ ge-
braucht habe, dann bezog ich mich auf die Deutung von Schadewald. (s.
Anm. 44). Eine eindeutige Unterscheidung dieser beiden Begriffe ist wohl
nicht möglich.

Station bei Heidegger  83


ge,“ um ihm „eine ‚ursprüngliche’ différance entgegenzusetzen,“ was zur Folge
hätte, dass man
die Autorität der Anwesenheit oder ihres einfachen Gegenteils, der
Abwesenheit oder des Fehlens, infrage stellt. Erfragt wird somit die
Grenze, die uns immer schon gezwungen hat, ... den Sinn von Sein
überhaupt als Anwesenheit oder Abwesenheit in den Kategorien des
Seienden oder der Seiendheit ... zu gestalten. Offenkundig ist die Frage,
auf die wir damit zurückkommen, von Heideggerschem Typus, und
die différance scheint uns auf die ontisch-ontologische Differenz zu-
rückzuführen.114
Derridas Abwesenheit und Anwesenheit „in den Kategorien des Seienden“
entspricht der Verborgenheit und Unverborgenheit des Seienden bei
Heidegger. –
Ich kehre zu Heidegger zurück: Dieser modifiziert im Weiteren die Bedeutung
von physis und ersetzt es durch ein anderes Wort:
Sie [die physis] lichtet zugleich jenes, worauf der Mensch sein Wohnen
gründet. Wir nennen es die Erde. Von dem, was das Wort hier sagt, ist
sowohl die Vorstellung einer abgelagerten Stoffmasse als auch die nur
astronomische eines Planeten fernzuhalten. Erde ist das, wohin das
Aufgehen alles Aufgehende und zwar als ein solches zurückbirgt. Im
Aufgehenden west die Erde als das Bergende. (28)
Im Gegensatz zu physis meint Erde also nichts Gegenständliches oder
Stoffliches. Physis bezog sich auf den gesamten Bereich der Vegetation,
Garten, Landschaft, Biotop und so weiter. Erde bezieht Heidegger allein auf
das Kunstwerk. Der Begriff erscheint zunächst abstrakt und geheimnisvoll.

114  Derrida, (2004), 120f.

84  Die Vegetation im Garten


Rüdiger Safranski deutet ihn als „die undurchdringliche, sich selbst genü-
gende Natur.“115
‚Erde’ wird nun auch nicht, wie physis, von techne unterschieden, sondern
ein anderes Wort eröffnet einen neuen Horizont von Bedeutungen: Die Welt.
Der Kontext oder das Medium dieser Unterscheidung ist das Kunstwerk,
Heidegger sagt kurz: „das Werk“. Wir können stattdessen auch jeweils „das
Gartenkunstwerk“ sagen.

Werk
Erde Welt

Diese Unterscheidung hat durchaus Ähnlichkeit mit der Unterscheidung


physis / techne im Kontext Vegetation. Aber sie bezieht sich nur auf die
Vegetation, die im Kunstwerk aufgeht. Es ist deshalb nicht äußerlich, dass
Heidegger neue Begriffe wählt. In diesen bleiben jedoch die Begriffe physis
und techne als ‚Spur’ enthalten.
Dieses Begriffspaar Erde und Welt soll nun den „Ursprung des Kunstwerks“
erhellen:
Werksein heißt: eine Welt aufstellen. Aber was ist das: eine Welt? ....
Welt ist nicht die bloße Ansammlung der vorhandenen abzählbaren
oder nicht abzählbaren, bekannten und unbekannten Dinge. Welt ist
aber auch nicht nur eingebildeter, zur Summe des Vorhandenen hinzu
vorgestellter Rahmen. Welt weltet und ist seiender als das Greifbare
und Vernehmbare, worin wir uns heimisch glauben. Welt ist nie ein
Gegenstand, der vor uns steht und angeschaut werden kann. Welt
ist das immer Ungegenständliche, dem wir unterstehen, solange die

115  Safranski (1995), 346.

Station bei Heidegger  85


Bahnen von Geburt und Tod, Segen und Fluch uns in das Sein ent-
rückt halten. (30f)
Das Werk, wie es vor uns steht, ist etwas Gegenständliches. Das was
Heidegger „Welt“ nennt könnte missverstanden werden, denn Welt im üb-
lichen Sinne ist alles, was uns umgibt. Deshalb grenzt er sie ab gegen „die
bloße Ansammlung“ der Dinge . „Welt ist das immer Ungegenständliche.“
Man kann sagen: das, was der Künstler ausdrücken will und der Rezipient
aufnimmt. Aber:
... indem [das Werk] eine Welt aufstellt, [läßt es] den Stoff nicht ver-
schwinden, sondern allererst hervorkommen und zwar im Offenen
der Welt des Werkes: der Fels kommt zum Tragen und Ruhen ...;
die Metalle kommen zum Blitzen und Schimmern, die Farben zum
Leuchten ... (32)
und ich ergänze: „die Pflanzen zum Grünen und Blühen.“
Damit ist die Wirkung des Werkes beschrieben. Der Stoff verändert im Werk
seinen Charakter, etwa im Unterschied zu seiner Betrachtung im Alltag oder
in der Wissenschaft.
Das Wesen des Werkes lässt sich aber nur im Zusammenwirken der unter-
schiedenen Seiten ‚Erde’ und ‚Welt’ verstehen.
Wohin das Werk sich zurückstellt und was es in diesem
Zurückstellen hervorkommen läßt, nannten wir die Erde. Sie ist das
Hervorkommend-Bergende. Die Erde ist das zu nichts gedrängte
Mühelose-Unermüdliche. Auf die Erde und in sie gründet der ge-
schichtliche Mensch sein Wohnen in der Welt. Indem das Werk eine
Welt aufstellt, stellt es die Erde her. Das Herstellen ist hier im strengen
Sinne des Wortes zu denken. Das Werk rückt und hält die Erde selbst
in das Offene einer Welt. Das Werk lässt die Erde eine Erde sein. (32) ...

86  Die Vegetation im Garten


Diese Herstellung der Erde leistet das Werk, indem es sich selbst in die
Erde zurückstellt. Das Sichverschließen der Erde aber ist kein einför-
miges, starres Verhangenbleiben, sondern es entfaltet sich in eine un-
erschöpfliche Fülle einfacher Weisen und Gestalten. Zwar gebraucht
der Bildhauer den Stein so, wie nach seiner Art auch der Maurer mit
ihm umgeht. Aber er verbraucht ihn nicht. Zwar gebraucht auch der
Maler den Farbstoff, jedoch so, dass die Farbe nicht verbraucht wird,
sondern erst zum Leuchten kommt. (34)
Und ich füge hinzu: „Zwar gebraucht der Gartenkünstler die Pflanze so, wie
nach seiner Art auch der Gärtner mit ihr umgeht, aber er verbraucht sie
nicht, sondern bringt sie erst zum Blühen und Wirken.“
Nun ist klar, warum Heidegger ‚Erde’ statt ‚physis’ sagt: Physis umfasst al-
les, auch das, mit dem sich die Praxis und die Wissenschaft befassen. Erde
dagegen gehört zum Werk. Der Gärtner kultiviert Pflanzen, aber erst im
Gartenkunstwerk kommen sie zum Wirken.
Die Erde ist das ‚Sichverschließende’. Erst das Werk rückt die Erde in das Offene
einer Welt. - Zum Werk gehört also die Welt als geistige Schöpfung, und die
Erde, nicht als Material, sondern als der ‚Stoff’ in dem sich das Kunstwerk
verwirklicht. Erde und Welt sind, wie gesagt, eine ‚Form der Unterscheidung
mit zwei Seiten’
Die Begriffe Erde und Welt gebrauchte schon Paul Klee 1916, als er
die Wesensart seines Freundes Franz Marc mit seiner eigenen verglich:
„Marc ist menschlicher, ... wärmer, der Erdgedanke steht bei ihm vor dem
Weltgedanken und das Faustische ist ihm selbstverständlich. Sich selbst
empfindet Klee im Gegensatz zu Marc als Neutralgeschöpf, der Erdgedanke
trete bei ihm vor dem Weltgedanken zurück, und das Faustische liege ihm
fern. Er nehme einen entlegenen Schöpfungspunkt ein, wo er Formeln vor-

Station bei Heidegger  87


aussetze für Mensch, Tier, Pflanze, Gestein und für die Elemente, Kunst aber
sei ein Schöpfungnsgleichnis.“ 116
Ich sehe hier eine große Ähnlichkeit mit den Gedanken Heideggers. Es ist
auch ein Beispiel für bestehende innere Zusammenhänge im Unterschied
zu oberflächlichen Vergleichen zwischen einzelnen Kunstgattungen, zum
Beispiel Gartenkunst und bildender Kunst.
In seinem Buch „Wälder“ beschreibt Robert P. Harrison - offensichtlich von
Heidegger beeinflusst - Frank Lloyd Wrights ‚Haus am Wasserfall’, das uns
daran erinnere,
daß die Erde dazu neigt, sich in sich zu verschließen oder sich in ihre
Einschließung zurückzuziehen, und daß die Erde kein Schutzraum
werden kann, wenn sie nicht durch menschliche Aneignung entfal-
tet oder enthüllt wird. Mittlerweise ist klar geworden, dass Aneignung
nicht Besitznahme oder Erwerb bedeutet, sondern die Enthüllung
von Freiheit im Raum des Wohnens.117
Ebenso lesen wir bei Heidegger: „Auf die Erde ... gründet der geschichtliche
Mensch sein Wohnen in der Welt.“ (s. o.)
Ich will nun versuchen, das Verhältnis von Erde und Welt konkret in Bezug
auf die Gartenkunst nachzuzeichnen. Ich gehe aus von ihrer Substanz, der
Vegetation, der physis. Diese wurde eingangs biologisch, wissenschaftlich
nach Maturana beschrieben. Nun besteht wohl Einvernehmen darüber,
dass bei allen Erkenntnissen der Wissenschaft über die Funktionen der
Organismen, das Geheimnis des Lebens selbst nicht bekannt ist, was auch

116  Grohmann, (2003), 7f.


117  Harrison, (1992), 277.

88  Die Vegetation im Garten


Martin Seel zum Ausdruck bringt: „soviel [der Mensch] mit dem Werden
der Natur machen kann, er kann das Werden der Natur nicht machen.“118
Hier setzt Heidegger an mit dem Begriff ‚Erde.’ Erde ist das uns Verborgene,
Geheimnisvolle. - Für die Romantiker war es das Suchen nach der ‚Blauen
Blume.’ - Das Wesen der Kunst ist der Versuch, in dieses Geheimnis ein-
zudringen. Das geschieht, indem das Werk eine Welt aufstellt. Allgemein
muss man wohl von ‚Welten’ sprechen. Die Voraussetzung für die Welt der
Gartenkunst ist zunächst alles, was wir bisher über sie wissen: die biologi-
schen Grundlagen der Vegetation, das Geschichtliche seit dem Urgarten, ihr
Verhältnis zur Gesellschaft und zu den anderen Künsten, die Bedingungen
ihrer Wahrnehmung, ihre Wirkung auf unsere seelische Verfassung und so
weiter. Nur mit diesem Wissen kann es gelingen, in das Geheimnis der Erde
einzudringen.
Wie kann dieses Eindringen geschehen? Erde und Welt, als die zwei Seiten ei-
ner Unterscheidung sind durch eine Grenze getrennt, die man kreuzen muss,
um von einer Seite auf die andere zu gelangen. Es gibt keine Vermischung,
Synthese oder Ähnliches. Und doch ist das Verhältnis zwischen beiden ein
inniges. Heidegger hat dies auf seine Weise anschaulich gemacht.
Welt und Erde sind wesenhaft voneinander verschieden und doch
niemals getrennt. Die Welt gründet sich auf die Erde und Erde durch-
ragt die Welt. ... Die Welt trachtet in ihrem Aufruhen auf der Erde diese
zu überhöhen. Sie duldet als das Sichöffnende kein Verschlossenes.
Die Erde aber neigt dahin, als die Bergende jeweils die Welt in sich
einzubeziehen und einzubehalten. (35)
Die Welt, also die geistige Grundlage des Werkes, will also das Verschlossene
der Erde in die Unverborgenheit, die aletheia, die Wahrheit bringen.

118  Seel, (1991), 21.

Station bei Heidegger  89


Die Einrichtung der Wahrheit ins Werk ist das Hervorbringen eines sol-
chen Seienden, das vorher noch nicht war. ...Wo die Hervorbringung
eigens die Offenheit des Seienden, die Wahrheit, bringt, ist das
Hervorgebrachte ein Werk. Solches Hervorbringen ist das Schaffen.
(50)
Ein Hervorbringen dessen, ‚das vorher noch nicht war,’ heißt, dass ein
Werk etwas enthält, das unser Bewusstsein erweitert, unsere ‚Welt’ berei-
chert. Gartenkunst als ‚Werk’ soll so gesehen das Bewusstsein unseres
Verhältnisses zur Natur erweitern.
Wie geschieht nun aber die Einrichtung der Wahrheit ins Werk? Dies ist die
Kernfrage:
Die Wahrheit richtet sich ins Werk. Wahrheit west nur als der Streit
zwischen Lichtung und Verbergung in der Gegenwendigkeit von
Welt und Erde. Die Wahrheit will als dieser Streit von Welt und Erde
ins Werk gerichtet werden. Der Streit soll in einem eigens hervorzu-
bringenden Seienden nicht behoben, auch nicht bloß untergebracht,
sondern aus diesem eröffnet werden. Dieses Seiende muss daher in
sich die Wesenszüge des Streites haben. In dem Streit wird die Einheit
von Welt und Erde erstritten. ... Die aufgehende Welt bringt das noch
Unentschiedene und Maßlose zum Vorschein und eröffnet so die ver-
borgene Notwendigkeit von Maß und Entschiedenheit.
Indem aber eine Welt sich öffnet, kommt die Erde zum Ragen. Sie
zeigt sich als das alles Tragende, als das in sein Gesetz Geborgene und
ständig sich Verschließende. Welt verlangt ihre Entschiedenheit und
ihr Maß und läßt das Seiende in die Offenheit ihrer Bahnen gelangen.
Erde trachtet, tragend-aufragend sich verschlossen zu halten und alles
ihrem Gesetz anzuvertrauen. Der Streit ist kein Riß als das Aufreißen
einer bloßen Kluft, sondern der Streit ist die Innigkeit des sich

90  Die Vegetation im Garten


Zugehörens der Streitenden. Dieser Riß reißt die Gegenwendigen in
die Herkunft ihrer Einheit aus dem einigen [!] Grunde zusammen. Er ist
Grundriß. Er ist Auf-riß, der die Grundzüge des Aufgehens der Lichtung
des Seienden zeichnet. Dieser Riß ... bringt die Gegenwendigen von
Maß und Grenze in den einigen Umriß. (50f)
Wenn man diese Gedankengänge mit dem abstrakten Kalkül Spencer-
Browns vergleicht, ist es, als wenn dieser plötzlich mit ‚Leben’ erfüllt wird. Die
‚gegenwendigen Erde und Welt’ sind die ‚zwei Seiten einer Unterscheidung.’
Das ‚Kreuzen der Grenze’ ist bei Heidegger ein ‚Streit’. Ich habe oben bereits
auf den skalierten Charakter der ‚Unterscheidung mit zwei Seiten’ hingewie-
sen, und dass das Finden des ‚richtigen’ Punktes auf dieser Skala entschei-
dend ist. Mit dem Begriff des Streites rührt Heidegger an das Wesen jeglicher
Kunst. - Hier ist daran zu erinnern, dass auch die ‚Grenze’ Spencer-Browns
keine Trennung bedeutet, sondern nur der Befehl ist , jeweils nur die eine
oder die andere Seite der Unterscheidung zu beobachten. Aber in der Kunst
ist es mit dem Beobachten allein nicht getan. Das ‚richtige’ Verhältnis der
beiden Seiten zueinander muss erstritten werden. – Für Heidegger ist die
Grenze keine Kluft, sondern ein ‚Riss’. Dieser Riss reißt aber nichts auseinan-
der, sondern er ist ein Umriss, der das Gegenwendige, das Unterschiedene
im Werk einigt und somit das Wesen eines Kunstwerkes ausmacht. 119 Das
gleicht der ‚Form’ Spencer-Browns.
In der Gartenkunst geht dieser ‚Streit’ auch um die Eigenwüchsigkeit der
Vegetation im Verhältnis zu ihrer Dienlichkeit für den Menschen, um das
Verhältnis von physis zu techne und vor allem um Tun und Lassen. Die
Geschichte der Gartenkunst ist die Entwicklung dieses Streites. Und je stär-
ker sich der Mensch von der Natur emanzipiert hat, umso mehr braucht er

119  In der oberflächlichen Diskussion um den Dekonstruktivismus wird


der ‚Riss’ eher als eine Spaltung, eine Kluft gedeutet und ‚wörtlich’ genom-
men. - Siehe z. B.: Krebs, (2002), 2.

Station bei Heidegger  91


die ‚Welt als Garten’ zur Kompensation seiner selbst vollzogenen Naturferne.
Die heutige tonangebende Gartenkunst hat in diesem Streit kapituliert und
folgt nur dem ‚Tun-Prinzip’; das Prinzip ‚Lassen’ – Wachsen-Lassen – gilt als
naturalistisch, als unkünstlerisch.
Auch Martin Seel sieht die Unterscheidung physis / techne als Grundlage
unseres ästhetischen Naturverhältnisses:
Das Wissen, dass das, was wir als äußere Natur ansprechen, vielfach
artifiziell geprägt ist, [hindert uns] nicht daran, die Gegenstände die-
ser Natur vom bloßen Artefakt und das Geschehen dieser Natur vom
zielgerichteten Handeln zu unterscheiden. Unser ästhetischer Sinn
für die Schönheit der Natur basiert auf dieser Unterscheidung. ...
Ästhetisch interessant ... ist Natur wegen ihrer nicht vom Menschen be-
wirkten Prozessualität, wegen der Selbständigkeit und Veränderlichkeit
ihrer Gestaltungen, wegen der ungelenkten Fülle der Erscheinungen,
die sie unseren Sinnen darbietet. ...
... Der Ästhetische Sinn für Natur ist ein Erzeugnis der menschlichen
Lebensform, aber ein durchaus paradoxes. Denn das Gefallen am
Naturschönen ist ein Gefallen daran, dass nicht alles Menschenwerk,
nicht alles menschliche Formung, nicht alles sinnhafte Setzung ist. Die
Erfahrung des Naturschönen ist eine Erfahrung positiver Kontingenz.120
(Hvh. A.S.)

2.6 Die Vegetation im Garten: Zusammenfassung


• Die Pflanze ist die Hauptsubstanz der Gartenkunst.

120  Seel, (1996), 228

92  Die Vegetation im Garten


• Die Pflanze ist eine autopoietische Einheit in struktureller Kopplung mit
ihrer Nische.
• Wie immer auch physis durch techne beeinflusst wird, sie bleibt immer
physis,
• Diese Erkenntnis ist die Voraussetzung für die Anwendung der ‚Form der
Unterscheidung mit zwei Seiten’: physis / techne
• Der menschliche Einfluss auf die Natur ist Triebfeder der Evolution der
Spezies Mensch.
• Gartenkunst beruht auf diesem Urverhältnis Mensch / Natur.
• Die Intensität des Einflusses von techne auf physis ist skaliert. Welcher
Punkt auf dieser Skala eingenommen wird, ist nicht beliebig, sondern ist
Teil der künstlerischen Entscheidung.
• In diesem Zusammenhang ist ein neues Paradigma unseres Natureinflusses
zu sehen: das ‚Lassen.’
• Die Widersprüche im Diskurs über Gartenkunst und Natur beruhen mei-
stens auf dem Blinden Fleck der Unterscheidung.
• Die Bezugnahme auf Heideggers ‚Ursprung des Kunstwerks’ sollte die
Besonderheit der Gartenkunst im Vergleich zu den anderen Künsten
herausstellen. Wenn Heidegger die Gartenkunst auch nicht explizit an-
spricht, so kann man doch jeden Satz direkt auf sie beziehen.

Die Vegetation im Garten: Zusammenfassung  93


Kapitel 3 Funktion und Gestaltung

3.1 Über Schmuck, Dekoration und Ornament


Fast alle menschlichen Erzeugnisse – Artefakte – kann man nach ihrer
Zweckmäßigkeit aber auch nach ihrer Gestaltung, Schönheit und ihrem
Schmuck beurteilen. Es geht um die Unterscheidung mit zwei Seiten:

Artefakt
Funktion Schmuck

Ausnahmen sind autonome Kunstwerke die keine Funktion in diesem Sinne


erfüllen. Für die Bau- und Gartenkunst ist diese Unterscheidung dagegen es-
sentiell.
In der Kunsttheorie wird sie hauptsächlich in Bezug auf die Architektur be-
handelt, weshalb ich diese als Grundlage meiner ersten Betrachtung nehme.
Zunächst geht es um eine Begriffsbestimmung.
Im Diskurs über moderne Architektur hat, in Bezug auf diese Unterscheidung
der Satz: ‚form follows function’ Furore gemacht. Der Begriff ‚Form’ ist aber
zu abstrakt, um die Problematik der Bau- und Gartenkunst zu behandeln;
er könnte in dieser Arbeit auch mit der ‚Form’ Spencer-Browns verwech-
selt werden. Ich suche deshalb einen anderen Begriff mit entsprechender
Bedeutung.
Ich entnehme ihn einem anderen Satz, der im Architektur-Diskurs ebenso
folgenreich war, dem Verdikt von Adolf Loos: „Ornament ist Verbrechen.“
Das mag befremdlich klingen, ist doch der Begriff ‚Ornament’ hier absolut
negativ besetzt. Deshalb soll die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs und
ihre Pervertierung herausgestellt werden:

94  Funktion und Gestaltung


Niklas Luhmann hält es für nahe liegend,
den Ursprung der Kunst ... im Ornament zu vermuten. Man könn-
te einen Vergleich wagen: Was für die Evolution der Gesellschaft die
Evolution von Sprache bedeutet, ist für die Evolution des Kunstsystems
die Evolution des Ornamentalen; in beiden Fällen langdauernde
Vorarbeit mit dann schließlich eruptiven Konsequenzen, wenn ein-
mal die Kommunikation so in sich selbst gesichert ist, dass Grenzen
erkennbar werden. Aber zunächst wird nicht die Differenz von Ding
und Verzierung betont, sondern gerade die Einheit, die Hervorhebung
der Bedeutung. „Kosmos“ im griechischen Verständnis ist zugleich
Ordnung und Schmuck.121
Einen ähnlichen Ansatz finden wir bei Hans-Georg Gadamer, der zwar die
Ausdrücke Dekoration und Schmuck benutzt, was aber das Gleiche wie
Ornament meint:
Der Begriff der Dekoration [muss] aus dem Gegensatz zu dem Begriff
der Erlebniskunst herausgelöst werden und in der ontologischen
Struktur der Darstellung, die wir als die Seinsweise des Kunstwerks her-
ausgearbeitet haben, seinen Grund finden. Man hat sich nur dessen zu
erinnern, dass das Schmückende, das Dekorative, seinem ursprüngli-
chen Sinne nach das Schöne schlechthin ist. ... Alles was Schmuck ist
und schmückt, ist in Bezug auf das, was es schmückt, auf das, wor-
an es ist, auf das, was sein Träger ist, bestimmt. Es besitzt nicht einen
ästhetischen Eigengehalt, der erst nachträglich eine einschränkende
Bedingung durch den Bezug auf seinen Träger erhielte. ... Schmuck ist
... nicht erst ein Ding für sich, und wird dann an etwas anderem ange-
bracht, sondern er gehört zum Sichdarstellen seines Trägers.122

121  Luhmann, (1997a) 348f


122  Gadamer (1990), 164.

Über Schmuck, Dekoration und Ornament  95


Beide Autoren betonen die grundsätzliche Zusammengehörigkeit von Ding
und Ornament. Das Ding kann reiner Kunstgegenstand sein, einer der zum
Beispiel rituellen Zwecken dient, oder ein Gebrauchsgegenstand, der eine
bestimmte Funktion hat. Es ist ein ursprüngliches Bedürfnis des Menschen,
die besondere Bedeutung von bestimmten Gegenständen durch Verzierung
hervor zu heben. Archäologen bestimmen alte Kulturschichten nach den
Verzierungen der jeweiligen Tonerzeugnisse, zum Beispiel die der Schnur-
oder Bandkeramiker. Aber auch in der Architektur dient das Ornament seit
Alters her dazu, die Bedeutung eines Bauwerkes hervorzuheben.
Es geht also um die ‚Form der Unterscheidung mit zwei Seiten’:

Kulturgegenstand
Funktion Ornament

Damit komme ich zurück auf das Verdikt von Adolf Loos, „Ornament ist
Verbrechen.“ Um dies zu verstehen, muss man auf den Niedergang der
Architektur und der Gebrauchskunst im 19. Jahrhundert zurückgehen. Nach
Sigfried Giedion beginnt dieser schon mit dem Empirestil und dem da-
mals herrschenden Geschmack, „der isolierte Formen in den Vordergrund
rückt und vor der zugrunde liegenden Realität des Dinges ausweicht.“ Und:
„Was sich im Empirestil ... abspielt, ist nichts anderes als eine Entwertung
der Symbole. Wie Napoleon den Adel entwertet hat, so hat er auch das
Ornament entwertet.“ Eine wesentliche Ursache des weiteren Niederganges
sieht Giedion in der „Mechanisierung der Ausschmückung.“ Und er stellt fest:
„Es gibt keine Periode in der Geschichte, in der der Mensch den Instinkt, wie
seine intimste Umgebung zu gestalten ist, so weit verloren hätte.“ Giedion
zeigt viele Beispiele, die diese Entwicklung belegen,123 z.B. dieses Möbel:

123  Giedion, (1987), 375ff.

96  Funktion und Gestaltung


Abb. 3/1 „Großer, von Diwanen umgebener Blumentisch“ 1842
In der Architektur führt dies zu dem von Loos beklagten Zustand. Die
Fassadenelemente werden fabrikmäßig hergestellt und – willkürlich aus-
gewählt – an die ‚Architekturkästen angeklebt.’ Es besteht kein genuiner
Zusammenhang mehr zwischen Gebäude und Fassade. – Das gleiche gilt
nun auch für die Gartenkunst. Ein Zeichen für deren Verfall war die so ge-
nannte Teppichgärtnerei:
Beete, die „malerisch“, d. h. ohne Ordnung und Plan auf den Rasen
ausgestreut sind, bald als Füllhorn, bald als Stern, bald als Blumenkorb
oder Blumenpyramide, die nichts zu tun haben mit der Umgebung
und selbst die Blumen in ihrer Mischung und Zusammendrängung
hässlich und kleinlich erscheinen lassen. Unter dieser traurigen
Erfindung der Teppichgärtnerei hat das ganze XIX. Jahrhundert zu lei-
den gehabt.124

124  Gothein, (1926), 412.

Über Schmuck, Dekoration und Ornament  97


Abb. 3/2 „Teppichgärtnerei“
Auch Gothein fordert also, dass das Ornament zu seinem Träger, dem Park ,
eine Beziehung haben muss.
Die Reaktion auf den Niedergang des Ornaments war die so genannte
Sachlichkeit. Doch auch diese Entwicklung hatte einen negativen Grundzug:
Das bloße Abschlagen der Stuckornamente hinterließ nur trostlose, formlo-
se Gebilde. Adorno benennt die Kehrseite der Sachlichkeit:
Bis zum bitteren Ende gedacht, wendet ... Sachlichkeit sich zum barba-
risch Vorkünstlerischen. Noch die ästhetisch hochgezüchtete Allergie
gegen Kitsch, Ornament, Überflüssiges, dem Luxus sich Nähernden
hat auch den Aspekt von Barbarei, des nach Freuds Theorie destrukti-
ven Unbehagens an der Kultur.125
Somit ist der Charakter des Ornaments als Schmuckelement in seiner posi-
tiven und negativen Erscheinung beschrieben. Negativ ist das Ornament in
der Konnotation des rein Dinghaften, das nachträglich dem Träger angefügt

125  Adorno, (1973), 97

98  Funktion und Gestaltung


wird, ohne mit diesem in einer inneren Beziehung zu stehen. Positiv aufzufas-
sen ist das Ornament – man auch sagen: das Ornamentale - als Eigenschaft.

3.2 Die ornamentale Wirkung der Gestalt


Ich sehe das Ornament auch noch in einer anderen Bedeutung, die
nicht so geläufig ist. Ich erläutere dies anhand der Entwicklung eines
Gebrauchsgegenstandes. Betrachten wir einen Krug der Schnurkeramiker
aus dem 3. Jahrtausend v. Chr.

Abb.3/3 Schnurkeramik
Hier wurde eine reine Zweckform (Funktion) durch das Eindrücken einer
Schnur in den weichen Ton verziert. Das Ornament wurde appliziert. Aber
die Applikation war nicht beliebig, sondern diese Technik war in vielen
Generationen hindurch entstanden. Funktion und Ornament waren un-
trennbar.
Ein Krug der Etrusker aus dem 7. Jahrhundert v. Chr. zeigt eine deutliche
Weiterentwicklung:

Die ornamentale Wirkung der Gestalt  99


Abb.3/4 Etruskerkrug
Sein Hersteller hat, wie seine Vorgänger, die Funktion des Aufbewahrungsgefäßes
durch die bauchige Form gewahrt und die Schmuckelemente in verfeinerter
Weise eingebracht. Aber sein Krug hat eine ganz neue Qualität. Das wird
deutlich, wenn man sich die Verzierungen wegdenkt. Zunächst ist festzustel-
len, dass die funktionelle Eigenschaft verbessert ist: Die obere Verengung des
‚Bauches’ schützt den Inhalt, die trichterartige Ausweitung dagegen erleich-
tert das Befüllen des Gefäßes. Diese Unterscheidung der beiden Funktionen
wird betont durch den scharfen Einschnitt zwischen Bauch und Trichter. Die
Linienführung, mit der dies geformt ist, führt über die Funktion hinaus und
wird zum Ornament, oder wie man herkömmlich sagen würde, zur schö-
nen Gestalt. Ornamental an diesem Krug sind also seine Gestalt und seine
Verzierung. Insgesamt haben wir einen Gebrauchsgegenstand vor uns, der in
seiner Vollendung und Ausdrucksstärke bis heute Vorbild für diesen Typ von
Gefäßen ist. Die Unterscheidung ist:

100  Funktion und Gestaltung


Gebrauchsgegenstand
Funktion Ornament

Und im Kontext des Ornaments unterscheide ich:

Ornament
Applikation Gestalt

Diese Verwendung des Begriffs Ornament für die Applikation einer Verzierung
wie auch für die ‚schöne Gestalt’ ist ungewohnt. Sie ist aber sinnvoll, weil
auch diese Unterscheidung eine skalierte ist. Es gibt immer Übergänge zwi-
schen diesen beiden Seiten der Unterscheidung. Ein Endpunkt dieser Skala
zur ‚Guten Gestalt’ hin sind zum Beispiel viele Gebrauchsgegenstände von
Wilhelm Wagenfeld, die ohne Dekor, nur durch ihre Form wirken.

Abb. 3/5 Service Arzberg 2000

3.2.1 Zwischenbemerkung
Ich erinnere daran, dass es sich bei dem bisher Dargestellten immer um
Beobachtungen handelt. Sie können sich auf einzelne Aspekte beziehen,

Die ornamentale Wirkung der Gestalt  101


oder auch auf gemeinsame, wie das Beispiel des Etruskerkruges zeigt: Er
ist Träger eines applizierten Ornaments, aber auch seine Gestalt ist ‚orna-
mental’ und in ihm sind Funktion und Ornament harmonisch vereint. Die
Motive und Kontexte meiner bisher getroffenen Unterscheidungen wa-
ren: Architektur, Gebrauchsgegenstand, Kulturgegenstand. Es handelt sich
um unterschiedliche Bereiche, die als Kontexte gleiche Unterscheidungen
enthalten. Aber auch die von der Funktion unterschiedenen Seiten sind
unterschiedlich benannt: Schmuck, Verzierung, Ornament, Gestalt. – Und
eine weitere Differenzierung ist dadurch gegeben, dass eine Seite einer
Unterscheidung Kontext einer weiteren Unterscheidung sein kann; hier:
Applikation / Gestalt, im Kontext Ornament. Diese Benennungen bezeich-
nen unterschiedliche Gegebenheiten, die jedoch gleiche oder auch modifi-
zierte Unterscheidungen generieren können. Hinzu kommt, dass die meisten
Unterscheidungen skaliert sind; es kann die Funktion dominieren oder das
Ornament oder beide sind gleichwertig. Hierin zeigt sich die Komplexität in
der Anwendung der Zwei-Seiten-Unterscheidung.
Die Beziehungen überschneiden sich, sodass man von einem ‚Geflecht’ im
Sinne Derridas sprechen kann. Jedoch ist jede ‚Faser’ dieses Geflechtes durch
einen eigenen Kontext oder ein eigenes Motiv bestimmt, und besteht als
‚Form der Unterscheidung’ aus zwei Seiten, die durch eine Grenze vonein-
ander getrennt sind. Graduelle Modifikationen ergeben sich daraus, dass
– wie wir gesehen haben – Unterscheidungen in verschiedenen Kontexten
stehen können und verschiedene Begriffe im gleichen Kontext gleiche
Unterscheidungen bezeichnen können. Ich beschreibe dies so ausführlich, um
zu zeigen, dass mit dieser Denkmethode, oder besser Beobachtungsmethode
es möglich ist, komplexe Gegebenheiten zu analysieren.

102  Funktion und Gestaltung


Ich fasse die verschiedenen Kontexte und Seiten mit dem Begriff Ornament,
zusammen zu der Grundunterscheidung

Artefakt
Funktion Ornament
Dabei steht der Begriff ‚Ornament’ für alles Schmückende, Schöne, so wohl
für die Applikation wie auch für die schöne Gestalt.

3.3 Das Ornament in der Baukunst


Um das Wesen des Ornaments weiter zu verdeutlichen, betrachte ich noch
einige Beispiele aus der Baukunst. So hat sich der Philosoph Ernst Bloch mit
der Gotik befasst und beschreibt sie als
... ein Ineinander von Erregung, wie keine bisherige Kunst sie erfah-
ren hat, und einem exzessiven Ornament, das die Erregung nicht
stillt, sondern ihr gerecht wird. Das also ist der Gegensatz zur sanft-
organischen Regelmäßigkeit der Griechen, ... in der Gotik ist [das
Ornament] die gebaute Auftriebs- und Jubelsymbolik selber ... [die
Gotik] zeigt radikal-organische Ordnung. Und diese wiederum be-
stimmt fast alle Einzelheiten des Kirchengebäudes symbolisch in
Richtung der Auferstehung und des Lebens, dergestalt, dass gerade die
Pflanzenornamente mystisch bezogen sind, auf einen Wundergarten
der Gottesmutter, im Sinne der transzendierenden Botanik, die im
Spätmittelalter sich ausgebildet hatte.126
Eine andere Sicht der Gotik finden wir bei Otl Aicher:
Die Entstehung der gotischen Architektur ist in einer ähnlichen Weise
konstruktionsmutig gewesen wie die Entstehung des Industriebaus

126  Bloch, (1977), 848f.

Das Ornament in der Baukunst  103


im 19. Jahrhundert. Diese Seite der Gotik bleibt natürlich den Blicken
mehr oder weniger versperrt, die ein Kreuzrippengewölbe nicht als
eine brillante konstruktive Leistung ablesen können, sondern als
„Himmelsnetz“ verstehen. Eine [gotische] Kathedrale ist eine blen-
dende Organisation eines Systems von Kraftlinien, der Verteilung von
Lasten, sodass sich der dadurch entstehende Raum interpretieren lässt
als Ergebnis von Bautechnik, wie die Bautechnik sich umgekehrt als
Einfall erwiest, bestimmte Raumaufgaben zu lösen. ... Die Gotik hat
die Wand als Konstruktionselement aufgelöst zugunsten der Struktur,
Bögen, Rippen und Pfeilern. Es entstand ein dreidimensionales
Strukturgitter, als Raumabschluss diente vorwiegend Glas.127
Dies ist ein Beispiel für zwei unterschiedliche Sichtweisen einer ‚Form mit
zwei Seiten,’ die jeweils einen Blinden Fleck auf der entgegen gesetzten
Seite haben. Bloch sieht in der gotischen Architektur das Ornamentale als
Element der sakralen Stimmung und zwar einmal die Gestalt als „Auftriebs-
und Jubelsymbolik“ und zum anderen die applizierten Pflanzenornamente
als „Wundergarten.“ Aicher sieht dagegen in erster Linie die bauliche
Konstruktion als ein System von Kraftlinien.
Auch im Barock hat das Ornamentale die gleiche Wirkung und Bedeutung.
Adorno hat das beschrieben:
Auch der Begriff des Ornamentalen, gegen den Sachlichkeit revol-
tiert, hat seine Dialektik. Daß der Barock dekorativ sei, sagt nicht alles,
Er ist decorazione assoluta, als hätten diese von jedem Zweck, auch
dem theatralischen sich emanzipiert und ihr eigenes Formprinzip
entwickelt. Sie schmückt nicht länger etwas, sondern ist nichts an-
deres als Schmuck; dadurch schlägt sie der Kritik am Schmückenden
ein Schnippchen. Barocken Gebilden von hoher Dignität gegen-

127  Aicher, (2003) 143f.

104  Funktion und Gestaltung


über haben die Einwände gegen das Gipserne etwas Täppisches: das
nachgiebige Material stimmt genau zum Formapriori der absoluten
Dekoration. Durch fortschreitende Sublimierung ist in derlei Gebilden
aus dem großen Welttheater, dem theatrum munde das theatrum dei
geworden, die sinnliche Welt zum Schauspiel für die Götter.128
Adorno sieht das applizierte Ornament im Vordergrund. Aber auch im
Barock ist die konstruktive Form Grundlage der Raumwirkung. Während der
gotische Raum zweidimensional gen Himmel strebt, sieht der barocke Raum
die ganze dreidimensionale Welt und das Himmelsgewölbe. Durch „die ge-
wellte Wand“ und den „flexiblen Grundriß ... tritt eine richtige Modellierung
des Raumes auf, ein Anschwellen und Zurückweichen, die es dem Licht er-
möglichen, ein plastisches Gewoge zu erzeugen.“129 Und weil das Auge diese
Komplexität gar nicht im Ganzen fassen kann, kommt die vierte Dimension
noch dazu. Aber noch eine Besonderheit des Barock ist zu verzeichnen: Der
Raum verwandelt sich durch das Ornamentale in einen Illusionsraum. „Wand
und Decke sollen hier als eines erscheinen, Die wirklichen Pilaster setzen sich
als gemalte fort, ins Unendliche ragen gemalte Bauten, von unten gesehen,
mit krassester Verkürzung empor. Alle Mittel optischer Täuschung ... werden
aufgeboten, um den Raum zu steigern.“ 130 Hier kommen die Wirkungen der
Ornamentik voll zum Ausdruck.
Ein geradezu modern wirkendes Beispiel der Klassizistik stellt die Zeichnung
eines Werkes von Karl Friedrich Schinkel dar: vom Schloss Charlottenhof
im Park Sanssouci. Der Blick von innen nach außen zeigt eine Reihe dori-
scher Säulen mit einem schlichten Architrav; über diesem ein Band von
Arabesken, die in ihrer Dichte wie eine Textur wirken und als oberen und
unteren Abschluss eine schlichte Kasettendecke und ein ganz einfaches

128  Adorno,(1973), 437


129  Giedion, (1965), 92.
130  Bloch, (1977), 825.

Das Ornament in der Baukunst  105


Plattenmuster. Die Ausgewogenheit von Sachlichkeit und Ornament ist vor-
bildlich, wie auch die Unterscheidung von tragenden und lastenden Teilen.
In überraschender Weise modern ist die Einheit von Innen- und Außenraum,
was noch durch die innen und außen frei wachsende Vegetation betont
wird. Dies ist ein schönes Beispiel für die Ausgewogenheit von Gestalt und
ornamentaler Applikation.

Abb. 3/6 Charlottenhof in Sanssouci


Ein Werk der modernen Architektur, das auf der Skala Funktion / Ornament
in die Nähe der reinen Funktion rückt und trotzdem ornamentalen Charakter
hat beschreibt Adorno:
Funktionalismus ... hätte die Konstruktion so weit zu treiben, dass sie
Expressionswert gewinnt durch ihre Absage an traditionale und halb-
traditionale Formen. Große Architektur empfängt ihre überfunktio-
nale Sprache, wo die, rein aus ihren Zwecken heraus, diese als ihren
Gehalt mimetisch gleichsam bekundet. Schön ist die Scharounsche
Philharmonie, weil sie, um räumlich ideale Bedingungen für
Orchestermusik herzustellen, ihr ähnlich wird, ohne Anleihen bei

106  Funktion und Gestaltung


ihr zu machen. Indem ihr Zweck in ihr sich ausdrückt, transzen-
diert sie die bloße Zweckmäßigkeit, ohne daß im Übrigen ein sol-
cher Übergang den Zweckformen garantiert wäre. Das neusachliche
Verdikt über den Ausdruck und alle Mimesis als ein Ornamentales
und Überflüssiges, als unverbindlicher subjektiver Zutat gilt nur so-
weit, wie Konstruktion mit Ausdruck fourniert wird; nicht für Gebilde
absoluten Ausdrucks.131 (Hvh. A.S.)
Adorno hält hier streng die Unterscheidung von Funktion und Ausdruck in
der Einheit des Werkes aufrecht und unterscheidet ebenfalls Ornament als
inneren Ausdruck oder als äußerliches ‚Fournier.’ - Ähnliches kann man von
Mies van der Rohes ‚Neuen Nationalgalerie’ in Berlin sagen. Auch sie ist von
unverwechselbarer Gestalt, ein „System aus Transparenz und Gravitas“, wie
Fritz Neumeyer es ausdrückt,132 und bringt so ihre Multifunktionalität zum
Ausdruck.

3.4 Ornament ohne Funktion


Ebenso unverwechselbar sind viele Gebäude der Gegenwart. Jedoch wird bei
manchen diese Unverwechselbarkeit selbst zur Funktion. Sie wird erreicht
durch immer originellere Formen, durch das, was man heute schlicht Design
nennt. Architektur „ist reines Zeichen geworden.“133 Und Rem Koolhaus
glaubt, „dass wir gerade den globalen Triumph des Exzentrischen erleben.
Lauter extravagante Bauten entstehen, ohne Inhalt, ohne Funktionalität. Es
geht ausschließlich um spektakuläre Formen, und natürlich ums Ego der
Architekten. ... Die Bauwelt hat sich in nur 15 Jahren radikal verändert.“ Das
liegt daran, „dass Medien und Architektur mehr denn je voneiander abhän-

131  Adorno, (1973), 72f.


132  Neumeyer (2003), 282f.
133  ebd.

Ornament ohne Funktion  107


gig sind. ... wer hat denn den ‚Stararchitekten’ erfunden? Die Medien mit ihrer
grotesken Gier nach Sensationen und aufregenden Bildern.“ 134
Genau so spektakulär und unverwechselbar müssen auch
Gebrauchsgegenstände wie Parfümflaschen, Möbel und Modeartikel
sein. Man spricht deshalb auch von Warenästhetik, die manchmal zur
Dysfunktionalität führt. „Eitle Konstruktionen, die keine Form mehr bewälti-
gen, sondern sie nur ausdrücken wie eine Zitrone, bezeichnen“ - so Neumeyer
- „ das Dilemma der Selbstreferentialität, denn Form ist ohne Bezug auf ein
Anderes, das zur Erscheinung gebracht werden soll, nicht möglich.“135
Und ein historisches Beispiel für Ornament ohne Funktion bringt Adolf
Max Vogt im Hinblick auf die Revolutionsarchitekten Boullee und Ledoux:
„Um den Urkörper der Geometrie artikulieren zu Können, haben sie die
Architektur an die Grenze des Absurden geführt oder gedrängt. Sie haben
den Esprit de Géométrie so buchstäblich und so primär ernst genommen,
dass darüber der Esprit d’Architecture tödlich erschöpft werden musste.“136
Das Problem des Ornaments ohne Funktion ist auch in der Gartenkunst ge-
genwärtig. Man sieht immer öfter Entwürfe, die nur durch die Exzentrizität
äußerlicher Formen Aufmerksamkeit erringen.
Ein besonderes Problem liegt vor, wenn bei der Planung neuer Anlagen hi-
storische Teile erhalten werden, deren ursprüngliche Funktion kaum noch
nachvollziehbar ist, zum Beispiel die breiten Pflasterstraßen neben dem Kanal
im Parc la Villette oder auch am Hakenufer auf Entenwärder in Hamburg. Die
Flächen wirken auf die Besucher abweisend und unverständlich weil auf die
alte Funktion als Ladestraße kein Hinweis mehr gegeben ist. Hier kommen
weder Funktion noch Ornamentales zur Geltung.

134  Koolhaas, (2008)


135  Neumeyer, (2003), 283
136  Vogt, (1991), 69

108  Funktion und Gestaltung


Abb. 3/7 Parc la Villette
Ein Gegenbeispiel ist der Park Duisburg-Nord, in dem die Hochofenanlagen
als Industriedenkmal bewusst sind und Gefühle der Erhabenheit und
Bewunderung wecken.

3.5 Bildende Kunst und Ornament


Um das Verhältnis von Ornament und Funktion weiter zu klären, ist ein
Blick auf die autonome bildende Kunst sinnvoll. Als ein besonders erhel-
lendes Beispiel mit quasi umgekehrten Vorzeichen nehme ich ein ready-
made von Marcel Duchamp, den ‚Flaschentrockner am Strand’: Dies ist ein
Gebrauchsgegenstand, dessen Funktion ‚gelöscht’ wurde, indem er in einem
neuen Kontext, in einer anderen Umgebung zu einem abstrakten Artefakt

Bildende Kunst und Ornament  109


wurde. Die Voraussetzung dazu ist, dass der Rezipient die ursprüngliche
Funktion ‚vergisst’ und nur die abstrakte Gestalt verinnerlicht.

Abb. 3/8 Flaschentrockner als ready-made


Dieses Beispiel zeigt, dass die Bedeutung eines Gegenstandes nur durch
die Zugehörigkeit zu einem bestimmten System bestimmt ist. Der
Flaschentrockner war im System ‚Gaststätten’ ein Gebrauchsgegenstand und
wurde am Meeresstrand im System ‚Kunst’ zum Kunstwerk. Andere ready-
mades wurden im Museum zum Kunstwerk.
Andererseits gibt es Beispiele, wo Künstler ihren Werken, vor allem im öf-
fentlichen Raum, ansatzweise eine Funktionalität unterlegen, um so die
Akzeptanz des Publikums zu erlangen. So sah man zum Beispiel 1987 in
‚SULPTUR PROJEKTE MÜNSTER’ etliche Werke dieser Art, zum Beispiel zwei
Bänke, „Pair of Parc Benches“ von Scott Burton.

110  Funktion und Gestaltung


Abb. 3/9 Kunstwerk „Zum Gebrauch“
In der Gartenkunst ist eine ähnliche Tendenz zu verzeichnen, wenn skulptu-
rale Objekte zum Beispiel mit der Funktion ‚Spielen’ eingesetzt werden.
Auch wenn Henry Moore sagte: „Wir werden dagegen kämpfen müssen, dass
die Skulptur in der Landschaftsgärtnerei zum Ornament reduziert wird,“137 sah
er ein Problem gerade darin, seine Skulpturen mit der Landschaftsgärtnerei
in Verbindung zu bringen, weil sie hier zu bloßen Applikationen in einem
anderen Kunstsytem würden. Dagegen stellte er sie gerne in freier Landschaft
auf oder in einem Kontrast zu einem modernen Bauwerk, zum Beispiel dem
ehemaligen Bundeskanzleramt in Bonn.
Diese Systemzugehörigkeit werde ich noch näher betrachten in Bezug auf
die Unterscheidung der Gartenkunst von der bildenden Kunst. Auf eine be-
sondere Weise thematisiert Per Kirkeby dieses Problem, wenn er autonome
Plastiken aus Klinkern mauern lässt, die durch den Charakter des Materials
und dessen Verarbeitung mit der Funktion ‚Gebäude’ assoziert werden.

137  Calvocoressi, (1989), 67.

Bildende Kunst und Ornament  111


Auch diese Kunstwerke irritieren durch die Abwesenheit einer gewohnten
Funktion.138

3.6 Die Bedeutung des Materials


Wenn wir das Ornament in seiner umfassenden Bedeutung als Zierde,
Schmuck und Schönheit betrachten, dann ist hier auch das Material, aus
dem die Artefakte hergestellt sind, einzubeziehen.
Für die Funktion ist die Art des Materials sekundär. Ein Haus kann aus Holz
oder Stein gebaut werden und die gotischen Kathedralen aus Sandstein oder
Ziegeln. Aber für die Ästhetik und die Aura von Artefakten ist die Wahl des
Materials wichtig.
Eine Aura wird wesentlich durch den Wert des Materials erzeugt. Ein
Goldschmuck hat für seine Trägerin eine andere Bedeutung, als ein
Modeschmuck. Der Deutsche Pavillon in Barcelona beeindruckt auch durch
die Verwendung von Onyx, Marmor und Travertin. Der Carrara-Marmor hat
ganze Kulturepochen beherrscht, sodass man sich heute schwer vorstellen
kann, dass die Griechen ihre Marmor-Plastiken bunt bemalt hatten.
Aber auch die Nachahmung von edlem Material war lange Zeit legitimiert,
wie das Beispiel des Barocks zeigt, in dem vergoldete Gipsornamente und ge-
malte Marmorsäulen das Bild prägten. Selbst die Ornamente aus Pappmaché
im mecklenburgischen Schloss Ludwigslust sind für uns nicht anstößig. Auch
die Verwendung von Tapeten anstelle von Wandgemälden gehört zu dieser
Art von Schmuck. - Erst die Massenproduktion von Gegenständen aus Gips,
Gusseisen und Kunststoff hat die Materialnachahmung in Verruf gebracht
und die Forderung nach Materialgerechtigkeit provoziert.

138  Bußmann, (1987), 151.

112  Funktion und Gestaltung


Besondere Probleme bereitet bis heute eine andere ‚Nachahmung’, die
von Stein durch Beton. In der modernen Architektur haben die neuen
Baustoffe Stahl und Beton durch ihre nahezu unbegrenzten Möglichkeiten
die Entwicklung entscheidend bestimmt in positiver und negativer Hinsicht.
Wenn sie nur nach funktionalen Prinzipien eingesetzt werden, entsteht das,
was uns heute in den Städten als Hässlichkeit entgegen tritt, gegenüber der
die Gründerzeitfassaden schon wieder einen eigenen Charme entwickeln.
Ornamentale Wirkung als Gestalt entwickelt Beton dort, wo extre-
me Anforderungen an statische Belastbarkeit gefordert werden. Positive
Beispiele gibt es schon vom Anfang des 20. Jahrhunderts, zum Beispiel die
Stahlbetonbrücken Maillards.139 Und bis heute gibt es viele Beispiele von
Brücken, bei denen höchste Anforderungen an die Konstruktion mit beein-
druckender Schönheit gepaart sind. Allgemein überzeugen auch Bauwerke,
bei denen die Eigenschaft des Stahlbetons sichtbar wird, große Spannweiten
überbrücken zu können oder dünne Schalen zu bilden, wie zum Beispiel
an der Oper in Sydney. Erst die exzessive Verwendung des Betons hat die-
sen mit der Zeit in Verruf gebracht und ist inzwischen zum Synonym für
alle negativen Bauentwicklungen geworden, zum Beispiel, wenn von der
‚Zubetonierung der Landschaft’ gesprochen wird.
So ist es zu einer Qualitätsfrage der modernen Architektur geworden, wie
weit in ihr Funktionalität und Ornamentales vereinigt sind. Auch verschie-
dene Versuche, Beton durch Oberflächenbehandlung ‚erträglich’ zu machen,
zum Beispiel durch Sandstrahlung oder als Waschbeton, fruchten wenig.
Geradezu peinlich sind die Nachahmungen von Natursteinstrukturen durch
Verwendung entsprechender Matrizen. Durchgesetzt hat sich eine ‚orna-
mentale Applikation’ durch Verblendung mit Naturstein oder Klinker und
anderes oder durch einen Vorsatzbeton, der aus natürlichen Zuschlagstoffen
besteht.

139  Giedion, (1965), 289ff.

Die Bedeutung des Materials  113


Eine besondere Problematik im Bestreben, Flächen – besonders Wege- und
Platzflächen – aufzuwerten, besteht in der Verwendung von Mustern als
Verzierungen. In südlichen Ländern hat dies eine lange Tradition. Hier bei
uns wurde sie besonders mit der Verwendung der ‚Ersatzbaustoffe’ aktuell.
Man kann dabei unterscheiden die Bildung von Rastern, die geeignet sind
große Flächen zu strukturieren oder die Anwendung eines Musters in Form
einer ‚engmaschigen’ Textur, die eine homogene Fläche erzeugt, wie der
Fußboden in Schinkels Architekturbild.
Die Verwendung dieser Art von Ornamenten ist besonders geschmacksab-
hängig. Wenn Verzierungen dazu dienen sollen, Bedeutendes hervorzuhe-
ben, dann ist es wichtig, dieses von Unbedeutendem zu unterscheiden. Wenn
alles gleichmäßig verziert wird, kann dies nur zur völligen Anästhetisierung
führen.

114  Funktion und Gestaltung


Kapitel 4 Funktion und Ornament in der
Gartenkunst

4.1 Wege im ‚Urgarten’


Zu Beginn des 2. Kapitels habe ich die Vegetation und die Architektur als
Grundbestandteile des Gartens bezeichnet.

Garten
Vegetation Architektur

Zunächst war von der Vegetation die Rede und davon, wie sie durch techne
für den Menschen nutzbar wurde.
Als Architektur bezeichne ich alles Gebaute, was in der Gartenpraxis als
Platz- und Wegebau, Mauern und Treppen, Einfriedigungen und so weiter
bezeichnet wird. Dieser Teil ist direkt vergleichbar mit der Baukunst und
wurde in der Geschichte der Gartenkunst auch oft von Architekten besetzt.
Die nähere Untersuchung wird zeigen, dass das Wichtigste Element der
Stilbildung die Gartenwege sind. Dafür blicke ich zunächst wieder zurück
auf den ‚Urgarten’. – Diese Betrachtung ist natürlich nicht historisch, sondern
nur typologisch zu sehen. -
Ich war ausgegangen von den ersten Pflanzungen und Aussaaten auf geloc-
kertem Boden. Zunächst werden es nur wenige Pflanzenarten gewesen sein,
die kultiviert wurden. Die hierfür zuständigen Frauen stellten irgendwann
fest, dass die Unkrautbekämpfung einfacher ist, wenn die Pflanzen in gera-
den Reihen stehen. Und mit der Zunahme der kultivierten Arten legten sie
separate Beete an, die durch Wege voneinander getrennt sind. Damit hat-
ten Frauen ein wichtiges geometrisches Ordnungsprinzip kreiert, nach dem

Wege im ‚Urgarten’   115


noch heute Gemüsegärten angelegt werden. Erste Darstellungen hiervon
findet man auf Zeichnungen ägyptischer Gärten.140
Ich distanziere mich hier von dem bei Kunsthistorikern vorherrschenden
Topos des Paradieses als ersten Garten.141 Vielmehr war der ‚Urgarten,’ dessen
Grundprinzip noch in jedem Garten fortlebt, die Grundlage für die mensch-
liche Vorstellung des Paradieses.
Dieser ‚Urgarten’ enthielt also schon die funktionale Grundstruktur:
Vegetationsflächen, die durch Wege erschlossen sind. Die erste
Unterscheidung wird modifiziert zu:

Garten
Vegetation Erschließung

Im Laufe der kulturellen Entwicklung wurde das Pflanzensortiment immer


reichhaltiger und die Ansprüche der einzelnen Arten auch unterschiedlicher,
zum Beispiel die von Gemüsesorten und die von mehrjährigen Gewürz- und
Heilkräutern. Für einige brauchte man große und für andere kleine Beete
und das Ganze sollte in einer gewissen Ordnung geschehen. Ein verbreite-
tes Muster einer solchen Ordnung ist der Klostergarten, in dem durch zwei
sich kreuzende Wege vier Teile entstehen, die manchmal symmetrisch aber
auch unterschiedlich aufgeteilt werden. Der Brunnen in der Mitte, der zur
Bewässerung dient, ist das erste plastische Element im Garten. - Auch diese
Aufteilung des Klostergartens ist bis heute eine gebräuchliche Form geblie-
ben.
Der erste Gemüsegarten hatte eine rein funktionale Ordnung. Allerdings
hat auch diese Ordnung schon eine ästhetische Seite, im Hinblick auf die

140  Gotheim, (1926), 8.


141  z. B. v. Buttlar, (1989), 7.

116  Funktion und Ornament in der Gartenkunst


Grundunterscheidung Ordnung und Chaos. Beim Typus Klostergarten
kam nun zu der Funktion gleichwertig die Befriedigung eines ästhetischen
Bedürfnisses hinzu.
Dieses wurde dann immer mehr verfeinert, die Beete mit Hecken oder
Steinen eingefasst und die Wege mit Kies bestreut und zu den Nutzpflanzen
kamen irgendwann Blumen und Zierpflanzen. Aus dem Ordnungsprinzip
entstand der Schmuckgarten, der in dieser Form im Renaissance-Garten sei-
ne Vollendung fand. Es geht um die Unterscheidung:

Wege
Funktion Ornament

4.2 Wegetypen
Somit habe ich die Wege als eine funktionale Grundstruktur des ‚Urgartens’
bestimmt und so sind die Gartenwege auch bis heute in der Gartenkunst
entscheidende Elemente der Stilbildung. Wenn wir zum Beispiel den Barock-
vom Landschaftsgarten unterscheiden, sehen wir – zumindest äußerlich -
in erster Linie das Wegesystem und seine Funktion. Es ist also angebracht,
Gartenwege ausführlich zu betrachten im Hinblick auf Funktion und
Ornament.
Die natürlichste Funktion der Wege ist die Verbindung von A nach B. Die
‚Naturform’ dieser Funktion ist der Trampelpfad. Er ist nicht immer der
Kürzeste Weg, weil er selten schnurgerade ist. Er umgeht kleinste Hindernisse
und Unebenheiten und ist dadurch der angenehmste Weg. Sein Merkmal
ist also: bequemste Verbindung zweier Punkte ohne technischen Aufwand.
Dieser wurde erstmals erforderlich bei den viel befahrenen Handelswegen,
wenn zum Beispiel Hügelketten durch das Graben von Hohlwegen über-

Wegetypen 117
wunden wurden, und bei weichem Boden die Befestigung mit Holzbohlen
oder Steinpflaster das Einsinken der Wagenräder verhinderte. Diese Technik
ist zu verfolgen von den Römerstraßen bis zu den Autobahnen.
Aber gerade bei letzteren, bei deren Bau die moderne Technik jedes
Hindernis, ob Berg oder Tal, überwinden konnte, kam erstmals eine orna-
mentale Komponente hinzu: Als man feststellte, dass die Autofahrer auf
den schnurgeraden Straßen schnell ermüdeten, passte man bei späteren
Planungen die Trassenführung mehr den landschaftlichen Gegebenheiten
an, wofür dann erstmals Landschaftsarchitekten zuständig waren.

4.2.1 Wege als Ordnungssystem


Die Funktion der Wege als Verbindung zweier Punkte ist in der Gartenkunst
eher von untergeordneter Bedeutung. Wege dienen hier in erster
Linie der Erschließung eines bestimmten Raumes. Je nach Größe und
Funktion der Räume sind Struktur und Form der Wege verschieden. Bei
dem Typ ‚Klostergarten’ dienen die Wege dazu, einzelne Pflanzen oder
Pflanzengruppen erreichen und betrachten zu können. Ich nenne sie ‚ord-
nende Wegesysteme.’ Heutige Beispiele derartiger Systeme sind Botanische
Gärten, Rosen-, oder Staudengärten. Ihre Form ist sekundär, doch wird
die orthogonale, rasterförmige die ursprüngliche gewesen sein. Schon die
Ägypter legten ihre Gemüsegärten und sogenannten Totengärten so an.142

142  Gotheim, (1926), 23.

118  Funktion und Ornament in der Gartenkunst


Abb. 4/1 Wegeraster in einem ägyptischen Totengarten
Seitdem ist dieses Ordnungsprinzip fester Bestandteil menschlichen
kreativen Schaffens geworden, auch in der Architektur und in den bil-
denden Künsten, und ich möchte auch hier von einer archetypischen
Prägung zu sprechen.
In der Gartenkunst war dieses Rastersystem im Renaissance-Garten am
stärksten ausgeprägt. Innerhalb der quadratischen Quartiere wurden hier
hauptsächlich Schmuckformen aus Hecken in geometrischen und flo-
ralen Mustern gebildet. Die Funktion der Nutzung war zweitrangig. Im
Barockgarten entwickelte sich diese Schmuckform weiter zu den Broderien
und Bosketts. -
Gegenwärtig findet man diese ornamentale Gestaltungsform wieder, so zu
sagen als postmoderne Wiederentdeckung. Wie beim Hotel Kempinski in
München-Erding, besteht ihre einzige Funktion darin, der Repräsentation
und als Zeichen der Firmenidentität zu dienen. Günter Mader stellt dazu
fest: „Wie die meisten Parterregärten in der Geschichte der Gartenkunst, ist
auch dieser Garten mehr für die distanzierte Betrachtung angelegt als für
den beschaulichen Rundgang.“ 143 Er ist wohl am besten aus den oberen
Geschossen oder aus dem Flugzeug zu betrachten.
143  Mader, (1999), 210ff

Wegetypen 119
Abb. 4/2 Modernes Gartenraster
Auch im Städtebau finden wir dieses ‚ordnende Wegesystem’ im größeren
Maßstab wieder, zum Beispiel schon beim Bau der Stadt Milet. Die Griechen
haben es offensichtlich von den Ägyptern übernommen. In der Barockzeit
wurden manche Städte danach geplant, zum Beispiel Mannheim und
Karlsruhe, wodurch der Ordnungswille des Herrschers Ausdruck fand. Und
auch gegenwärtig - ebenfalls als postmoderne Wiederentdeckung - taucht
es in der Stadtplanung auf, so in der „Architektur Olympiade Hamburg 2006,“
- ausgezeichnet mit einer Goldmedaille.144

144  Freie und Hansestadt Hamburg, (2007), 40ff

120  Funktion und Ornament in der Gartenkunst


Abb, 4/3, 4/4 2500 Jahre Stadtraster

4.2.2 Wege zum ‚Lustwandeln’


Die wichtigste Funktion der Gartenwege ist das, was man einmal ‚Lustwandeln’
nannte. Es ist immer noch die intensivste Art des Naturgenusses. Sei es in
Form des Spazierengehens im Park, mit der Komponente des ‚Sehens und
Gesehenwerdens,’ – man sagt auch Promenieren, Flanieren und Bummeln -
oder das Wandern zu Fuß oder mit dem Fahrrad.
Dieses Bedürfnis ist in der Menschheitsgeschichte relativ neu und ist ab-
hängig von dem jeweiligen Naturverhältnis. Erst ein entlastetes Verhältnis
ermöglicht den Naturgenuss. Ansatzweise ist das wohl schon bei den frei-

Wegetypen 121
en Bürgern im antiken Griechenland der Fall gewesen. Bei Platon lesen wir,
wie Sokrates von seinem Freund Phaidros aus der Stadt gelockt wird mit
der Aussicht, von ihm die Rede des Lysias zu hören. Am Ziel angelangt, lobt
Sokrates den „schöne[n] Ruheplatz“ unter der Platane und den schönen
„Wipfel des Keuschbaumes ... wie er gerade in vollster Blüte steht, so daß er
den Ort ganz mit seinem Duft erfüllt. Und die lieblichste Quelle, die unter
der Platane fließt ...“ Doch als Phaidros ihm vorhält, dass er „ nie aus der Stadt
über die Grenzen hinaus“ wandere, antwortet Sokrates: „Die Fluren und die
Bäume [wollen] mich nichts lehren, wohl aber in der Stadt die Menschen“145
Im Mittelalter bis in die Neuzeit war das Lustwandeln dann als Müßiggang
verpönt. Das Gehen von einem Ort zum anderen war Mühsal. Erst in der
Romantik wird diese neue Form des Naturgenusses intensiv gepflegt, so wie
es Schiller beispielhaft in dem ‚Spaziergang’ beschreibt.

4.3 Die klassischen Wege-Systeme

4.3.1 Wege im Barockgarten


Aber schon im Barock ist ein Wandel des Naturverhältnisses zu verzeich-
nen. Wie wir bei Lucius Burckhardt gesehen haben, stellt der Barockgarten
auch die Spannung zwischen beherrschbarer und unbeherrschbarer Natur
dar.146 Allerdings war seine primäre Funktion nicht der Naturgenuss son-
dern die Zerstreuung unter den strengen Gesetzen des Hofes. Unter diesem
Gesichtspunkt ist das Wegesystem des Barockgartens zu betrachten.
Die Nutzungen waren sehr unterschiedlich. Es ging um das Promenieren der
Hofleute oder um allerlei Spiele der Gesellschaft. Die Wege mussten unter-
schiedlichen Zwecken genügen. Die Hauptpromenaden im Parterre mussten

145  Platon, Phaidros, 229E f.


146  Siehe Anm. 9

122  Funktion und Ornament in der Gartenkunst


breit genug sein, um die weiten Reifröcke der Damen aufnehmen zu kön-
nen oder den Kutschen und Sänften, mit denen man sich zur Jagd in den
Waldpark begab, genügend Platz zu bieten.
Die Nebenwege zwischen und in den Bosketts, die Schäfer- und
Versteckspielen dienten, konnten dagegen schmäler sein. Schon durch die-
se unterschiedlichen Funktionen ergab sich ein spannungsreiches Bild des
Wegesystems. Vor allem aber durfte keine Langeweile beim Promenieren
entstehen, deshalb die Unterbrechung der Hauptachse durch Querachsen,
Rondeels, Brunnenplätze, die Aufteilung in zwei Parallelwege und deren
Zusammenführung und die Schaffung von Blickpunkten. Und bei Hansmann
lesen wir von den Grundregeln, die Dezallier d´Argenville aufstellte:
Ein Garten darf seine Schönheiten nicht mit einem Male preisge-
ben, ... Ein Garten soll stets größer erscheinen als er ist. ... Man kann
... das Auge über die wahre Größe im Unklaren lassen, wenn es auf
Elemente wie Hecken, Wandelgänge oder Durchblicke stößt. Sie ver-
hindern willkommen völlige Überschaubarkeit und lassen so an grö-
ßere Dimensionen denken.147
Die reichen Verzierungen wie Statuen, Vasen und die Broderien. sind aus-
führlich beschrieben worden von Gothein, Hennebo148, Hansmann149 u. a.,
so dass ich dies nicht näher auszuführen brauche.
Zeigen möchte ich aber, dass die Gartenarchitekten des Barocks Funktionen
und Proportionen des Wegesystems sehr bewusst beachtet haben nach
Regeln, die noch heute gültig sind. Dies sehen wir in dem Lehr- und

147  Hansmann, (1983), 160


148  Hennebo, (1965)
149  Hansmann, (1983)

Die klassischen Wege-Systeme  123


Musterbuch des Dezallier d´Argenville, das seinerzeit in vielen Auflagen
und Übersetzungen erschienen ist.150
Er schreibt: „Zum Exempel, eine Allée, so 100. Klaftern lang , und nur 2. bis
3. Klaftern breit wäre sehr mangelhaft und allzu enge , da sie hingegen ein
schönes Ansehen bekommt , wenn man sie 5. bis 6, Klaftern breit macht ...
Also müssen die Alléen so... 400. Klaftern lang, 10. bis 12. Klaftern breit sein.“
Das sind bei 800 m Länge, eine Breite von 20 bis 24 m. Bei dieser Breite waren
aber in der Regel nur die Seitenstreifen befestigt und der Mittelstreifen als
Rasen angelegt, „welche man oft mähen muss, damit man sie schön und rein
erhalte“ Die Breite war gefordert, „damit man zu Ende der Allée einen Theil
von dem Vorder-Theil des Hauses sehen ... kann.“ 151 Generell soll sich die
Breite der Wege danach richten, wie viel Platz ein oder mehrere Menschen
nebeneinander brauchen: „Die Breite eines Raumes, welchen ein Mensch
einnimmt ist ungefähr 3 Schuh, wenn nun die Allée ein Klafter breit ist, so
können 2 Personen gemächlich nebeneinander gehen. 4 Personen aber ohne
an einander zu stoßen, in einer 2 Klafter breiten Allée.“ 152
Zusammenfassend kann man sagen, dass das Wegesystem des Barockgartens
- bei aller Funktionalität - in seinen Proportionen, seiner Vielfalt, seiner
Symmetrie und den bewussten Abweichungen von dieser, einen überzeu-
genden ornamentalen Charakter hat. Wie bei den Bauwerken des Barocks
bilden ornamentale Gestalt und ornamentale Applikationen eine Einheit.
Zweifellos ist der Barock ein Höhepunkt in der Geschichte der Gartenkunst.
So ist auch zu erklären, dass bis in die Gegenwart Formen dieses Stils als
Versatzstücke immer wieder Verwendung finden.

150  Blond, (1731), 69.


151  Ebd. 66
152  Ebd. 70

124  Funktion und Ornament in der Gartenkunst


Abb. 4/5 Vielfalt im Barockgarten

4.3.2 Wege im Landschaftsgarten


Der Übergang vom Barock- zum Landschaftsgarten ist in einer umfangreichen
Literatur beschrieben, bezogen auf die gesellschaftlichen Veränderungen,
den Einfluss der Landschaftsmalerei und so weiter. Ich befasse mich hier nur
mit der formalen Frage der Wege, ihrer Funktion und Ornamentik. - In den
ersten Gärten des Überganges waren es rein formale Veränderungen. Es be-
gann damit, dass man Teile, zum Beispiel Bosketts, mit regellos gekrümmten
Wegen versah. Es war eine Formspielerei, der keine Funktion zugrunde lag,
wie es Gothein mit einem Plan des Übergangsstils zeigt.

Die klassischen Wege-Systeme  125


Abb. 4/5 Garten im „Übergangsstil“
Änlich war die Wegeführung im Park Sanssouci, bevor Lenné die Gestaltung
bestimmte. In Lennés „Verschönerungs Plan“ sind die Wege dann offensicht-
lich mit Zirkel und Kurvenlineal gezeichnet, allerdings wohl in erster Linie,
um die Planung dem König schmackhaft zu machen:

126  Funktion und Ornament in der Gartenkunst


Abb. 4/6 Wegeplanung „gezirkelt“
Der aktuelle Übersichtsplan lässt vermuten, dass diese Formen nicht maß-
stäblich in die Wirklichkeit übertragen, sondern die Wege draußen – in
Anlehnung an den Plan - nach den örtlichen Gegebenheiten angelegt wur-
den:

Die klassischen Wege-Systeme  127


Abb. 4/6 Ausführung
Dieses Verfahren wurde schon von Hirschfeld gefordert in dem Abschnitt
„von Wegen und Plätzen:“
Es ist ... widersinnig, wenn sich der Garten nach Gängen, die schon vor
seiner völligen Einrichtung entworfen sind, bequemen muß. Sie kön-
nen erst als dann gehörig bestimmt und wohl angelegt werden, wenn
alle Theile und Scenen des Gartens ihre vollkommene Anpflanzung
und Ausbildung erhalten haben. ... die Gänge an sich [sind] zu uner-
hebliche Gegenstände, als daß sie verdienen, besonders zur Schau
ausgestellt zu werden.153 (Hvh. A.S.)
Für Hirschfeld ist also die Funktion das Primäre, dem sich die Form unter zu
ordnen hat.

153  Hirschfeld, (1779), Bd. 2, 130ff.

128  Funktion und Ornament in der Gartenkunst


Von Sckell ist bekannt, dass er die Wegetrassen vor Ort mit einem extra an-
gefertigten Stock voranschreitend in den Boden eingezeichnet hat. „Er zeich-
nete in der Natur den ersten Weg, der vom Hofgarten zum Hirschangerfeld
hinführt. Ein Plan von der Hand Sckells ist aus dieser Gründungszeit leider
nicht vorhanden.“ schreibt Hallbaum.154 Man kann wohl auch vermuten, dass
er für diese erste Baustufe des Englischen Gartens in München gar keinen
Plan benötigt hat.
Hirschfeld setzt sich weiter mit der Funktion der Wege auseinander:
Die vornehmste Bestimmung der Gänge ist, daß sie, ohne zum
Umkehren zu nötigen, zu allen merkwürdigen Scenen herumführen
... [und] daß sie eine solche Wendung nehmen müssen, bei welcher
nicht allein überhaupt Abwechslung und Mannigfaltigkeit genossen
wird, sondern auch die besten Prospekte bald auf einmal, bald all-
mählig, in der vorteilhaftigsten Enthüllung erscheinen, hingegen der
Anblick misfälliger Auftritte ganz verdeckt bleibt.
...
Nach der Lage und Beschaffenheit nicht nur des Bodens, sondern auch
der Gartenscenen selbst, müssen die Wege bald in der Tiefe verweilen,
bald mit den Anhöhen sich erheben, bald eine gerade Linie fortlaufen,
bald sich krümmen, bald von einem schmalen, bald von einem breiten
Umfang sein, und dadurch schon eine gewisse Abwechslung in sich
enthalten.
Und zur Form der Wege stellt er fest:
... die gemeine reguläre Schlangenlinie enthält fast ebenso viele
Einförmigkeit, als die gerade Linie. Dagegen verdient die sich ohne
Regelmäßigkeit frey krümmende und mit Abwechslung schlängelnde

154  Hallbaum, (1927), 104.

Die klassischen Wege-Systeme  129


Manier unstreitig den Vorzug. Wir wollen sie die Naturlinie nennen,
indem sie sowohl in den Vorbildungen der Natur vor Augen liegt, als
auch da, wo sie von der Hand des Menschen gezogen wird, sich nach
der Beschaffenheit des Bodens, und nach der Lage der natürlichen
Gegenstände richtet. (Hvh. A. S.)
Aber auch
Die gerade Linie ist nicht gegen die Natur, und sie wird auch nicht da-
durch verwerflich, daß sie in der alten Manier herrschte. Sie führt eine
gewisse Art von Bequemlichkeit mit sich. Und es giebt Fälle, wo sie ...
mit Vortheil gebraucht werden kann.
Und schließlich betont Hirschfeld noch einmal,
dass bei den gekrümmten Wegen zuvörders jedes Kennzeichen der
Kunst zu vermeiden [ist], Die Wendungen müssen überall natürlich
seyn; es muß keine Fortschreitung, keine Einbiegung, kein Auslauf vor-
kommen, die nicht aus der Beschaffenheit des Bodens entsprungen
scheinen, und mit der Lage der Gegenstände, die sich auf ihm befin-
den, übereinstimmen.155
Und bei Pückler lesen wir:
Wege sind die stummen Führer der Spazierengehenden und müs-
sen selbst dazu dienen, ihn ohne Zwang jeden Genuß auffinden zu
lassen. [Die Wege sollen aber nicht in bloßen Schlangenlinien ge-
führt werden,] sondern nur mit Leichtigkeit und Zweckmäßigkeit die
Biegungen machen, ... die nötig sind um den Gegen- ständen zu fol-
gen ...; aber auch ihre Biegungen unterliegen dennoch gewissen male-
rischen Geschmacksregeln, und es müssen daher wohl zuweilen erst

155  Hirschfeld, (1779), Ebd.

130  Funktion und Ornament in der Gartenkunst


Hindernisse geschaffen werden, wo sie fehlen, um die günstigste Linie
auf natürlich scheinende Weise zu erhalten.156
Die ‚malerischen Geschmacksregeln’ bekamen aber mit der Zeit die
Oberhand und wurden in der Königlichen Gärtner-Lehranstalt zu Potsdam
zu einem festen Regelwerk entwickelt.157 Das von Hirschfeld propagierte
Verfahren wurde umgekehrt: Zuerst war ein ornamentales Wegesystem zu
zeichnen, für dessen gezirkelte Formen und Verzweigungen es feste Normen
gab, genau wie für die Baum- und Strauchpflanzungen. Die angehenden
Gartenkünstler mussten denn auch lernen, diese Formen im geodätischen
Verfahren in die Wirklichkeit zu übertragen.
Diese Schematisierung führte dann nach und nach zum Niedergang
der Gartenkunst mit den bereits erwähnten maßstabslosen
Brezelweggestaltungen. Auf der Skala Funktion / Ornament war die Funktion
weit gehend eliminiert.

4.4 Funktion der Wege


Nach dieser historischen Betrachtung der Wege ist noch näher auf ihre
Funktionen einzugehen, die ansatzweise schon deutlich geworden sind.
Zusammenfassend kann man sagen, die Art und Form der Wege sind we-
sendlich bestimmend für die Befindlichkeit der Nutzer, und die Einflüsse dar-
auf sind vielfältig.

4.4.1 Einfluss der Technik


Es beginnt mit der Beschaffenheit der Wegeoberflächen. Die haptische
Wirkung auf die Fußsohlen bestimmt das Wohlgefühl. Es ist ein Unterschied,

156  Pückler- Muskau, (1977), 56ff.


157  Meyer, Gustav, (1860),

Funktion der Wege  131


ob man auf rauem Pflaster, auf glattem Asphalt oder Platten, auf Grand
oder auf weichem Rindenmulch geht. Die Entscheidung für eine dieser
Möglichkeiten wird bestimmt von der jeweiligen Situation aber auch von
den wirtschaftlichen Vorgaben bezüglich der laufenden Pflege. Asphalt hat-
te seine Boomzeit, als immer mehr Grünanlagen in den Städten geschaf-
fen wurden, aber die Unterhaltungsmittel knapp waren. Die psychologische
Wirkung war jedoch auf die Dauer so negativ, dass zum Beispiel Hamburgs
Erster Bürgermeister anordnete, die zahlreichen breiten Asphaltwege auf
dem Gelände der Internationalen Gartenschau 1973 zurückzubauen und in
Grandwege umzuwandeln.
Erfreulicherweise hat die Forschung inzwischen wassergebundene
Wegedecken entwickelt, die auch nach Regen und Frost noch gut begehbar
sind. – Problematisch sind Decken aus Kies oder gar aus grobem scharfkanti-
gen Splitt, die für Damen mit eleganten Schuhen unpassierbar sind.

4.4.2 Die psychologische Wirkung der Wegeführung


Die Bedeutung dieser technischen Fragen sollte nicht unterschätzt werden,
aber wichtiger sind die Wirkungen der Wegeführung. Wir haben gesehen, dass
sowohl beim Barockgarten wie auch beim Landschaftsgarten Abwechslung
und Mannigfaltigkeit gefordert war. Das hängt natürlich in erster Linie von
den Inhalten und von der Raumbildung der Gärten und Landschaftsteile ab,
aber eben auch davon, wie diese durch die Wege erschlossen werden. Die
schönsten Landschaftsszenen können nicht wahrgenommen werden, wenn
sie nicht durch Wege erschlossen sind und sei es nur durch Trampelpfade. -
Bernhard Waldenfels hat dies untersucht und spricht von dem „gelebten
Raum,“ der auf ein „leibliches Subjekt“ bezogen ist.
Je nach Art und Grad der leiblichen Beteiligung können wir unter-
scheiden zwischen einem Stimmungsraum, der auf den so oder so

132  Funktion und Ornament in der Gartenkunst


befindlichen Leib, einem Handlungsraum, der auf den handelnden
und hantierenden Leib, und einen Anschauungsraum, der auf den
sinnlich anschauenden Leib bezogen ist. Durch die Verflechtung die-
ser Verschiedenen Arten des Raumerlebens wird der einseitigen
Visualisierung der Umwelt ... ein Riegel vorgeschoben.158 (Hvh. A.S.)
Bei Betonung des Handlungsraumes legt Waldenfels
besonderen Wert auf die Handlung als leibliche Bewegung, sei es als
Fortbewegung oder als ein Aufenthalt, der selbst noch als Anhalten
einer Bewegung zu deuten ist. Die leibliche Bewegung ... ist in der Tat
eine Instanz, welche unmittelbar Raum generiert oder regeneriert.159
...
Wege , die den Raum durchmessen und von hier nach dort führen,
sind keine bloßen Strecken, die wir mehr oder weniger schnell zurück-
legen, sondern Bahnen, die bestimmte Bewegungsrichtungen und
Bewegungsabläufe vorschreiben, nahe legen oder ausschließen. Flüsse
und Bergrücken, ... Hecken und Zäune, ... skandieren den Raum, lassen
ihn schrumpfen oder sich dehnen, bieten Überraschungen oder ein
monotones Einerlei, setzen Hindernisse oder gewähren Durchlaß. Dies
ist nur ein Aspekt jener Strukturen der Landschaft die das Leben der
Bewohner formen, verformen, animieren oder einengen und verküm-
mern lassen. ... Hier liegen die Ansatzpunkte für eine Pathologie des
Landschaftserlebens, aber auch für eine Landschaftskunst, die nicht
bloß schönen Schein produziert, sondern alte Erfahrungsstrukturen
verändert und neue inauguriert. 160

158  Waldenfels, (1986), 33f.


159  Ebd., 36
160  Ebd., 38f

Funktion der Wege  133


Dies alles gilt natürlich auch für Gärten, für die ‚Welt als Garten.’ Insbesondere
ist unter diesen Aspekten die gegenwärtige „Achsenmode“ zu beurteilen, de-
ren Wirkung man nur als „monotones Einerlei“ bezeichnen kann. - Waldenfels
hält abschließend ein „Plädoyer für das Gehen:“
Gemeint ist die erfahrene Selbstbewegung eines Gehenden, der – wie
die ausgreifenden Gestalten Giacomettis – Raum schafft und ein-
nimmt, der eine Landschaft um sich verbreitet und sich um ihr umtut
und nicht nur ein Schauspiel vor Augen hat.
In dem Sinne des: „Ich bewege mich,“ das dem „ich denke“ innewohnt,
es verleiblicht und verräumlicht, ohne dass Denken und Gehen je
über ein Vertrauensverhältnis hinauskommen.
...
Bei der Eigenbewegung ist zu unterscheiden zwischen zielgerich-
teten oder zielentlasteten oder ziellosen Bewegungen wie dem
Umherfahren, Umhergehen, Wandern, Spazieren und Flanieren.
Nicht umsonst finden Spaziergänger und Flaneure ihre modernen
Verfechter in Rousseau, Baudelaire oder Walter Benjamin, ... . Die ziel-
lose und zielentlastete Bewegung, ... umkreist den Stimmungsraum,
der unsere Handlungsfelder umtönt, ohne in ihnen aufzugehen. Sie
verwandelt Umwege in Rundwege, Seitenwege, ohne die Sehlust von
der Gehlust abzulösen.161
Auch Lucius Burckhardt hat sich intensiv mit diesem Thema befasst und
hat daraus seine „Spaziergangswissenschaft“ entwickelt. Ihn interessiert „der
Spaziergang nicht als Darstellung, sondern ... als eine Wahrnehmung.“ Er
stellt fest, dass die Wahrnehmung weit gehend vorbestimmt ist durch das,
was man schon kennt und deshalb erwartet. „Zwischen den Spaziergänger

161  Ebd., 40f

134  Funktion und Ornament in der Gartenkunst


und sein Betrachtungsfeld stellt sich ein System, das die Betrachtung steu-
ert.“ 162 Dabei können sich die unterschiedlichsten Dinge, wie Felder Wiesen,
Dörfer usw. in der Erinnerung zu einem Gesamtbild zusammenfügen.
„Diese Integrationsleistung wird ermöglicht durch den raffinierten Begriff
der Landschaft, mit welchem wir aus heterogenen Umgebungen eine
Einheitlichkeit herauszufiltern vermögen, die nun das Gesehene kommu-
nizierbar macht.“ 163 Herausgefiltert werden, soweit wie möglich, alle „stö-
renden“ Dinge. So entsteht aber die Gefahr, dass nur das Gewohnte und
Konventionelle als Landschaft angesehen wird: das Problem von Assimilation
und Akkommodation.
Aufgabe der Spaziergangswissenschaft ist es also, Eindrücke zu
sammeln und zu eindrückliche Bilderketten aufzureihen, ohne
auf die traditionellen Metaphern zu verzichten, die ja allein die ge-
wonnenen Bilder kommunizierbar machen, aber auch ohne den
Eindruck hervorzurufen, mit der Schilderung einer Einheit sei das
Funktionieren dieser Einheit erschöpfend beschrieben und verstan-
den. Die Spaziergangswissenschaft ist also ein Instrument sowohl der
Sichtbarmachung bisher verborgener Teile des Environments als auch
ein Instrument der Kritik der konventionellen Wahrnehmung selbst.
164

Auf einige Folgerungen Burckhardts werde ich noch zurückkommen.


Ich halte Wegesysteme für die wichtigsten architektonischen Elemente in der
Gartenkunst. Aber in Bezug auf die Unterscheidung ‚Funktion / Ornament’
sind auch die vielfältigen Architekturen der Gärten zu betrachten, wie
Mauern, Terrassen, Wände, Wasserbecken und so weiter. Meine Kritik rich-

162  Burckhardt, (2007), 257f


163  Ebd., 262.
164  Ebd., 265.

Funktion der Wege  135


tet sich hier gegen die zunehmende Dominanz des Ornamentalen, das unter
dem Begriff ‚Design’ das Entwurfsgeschehen bestimmt, in dem die Funktion
oftmals nur Vorwand für eine exaltierte Gestaltung ist.

4.5 Zusammenfassung: Funktion/Ornament


• Die Unterscheidung Funktion/Ornament ist neben physis/techne eine
Grundunterscheidung der Gartenkunst.
• Wenn auf der Skala Funktion/Ornament eine Seite stark überwiegt, be-
deutet das meistens einen Tiefstand des Stils. („Ornament ist Verbrechen“
oder „Kastenarchitektur“)
• Ornament kann als Applikation oder als Gestalt (Schöne Form) auftreten.
• Das Ornament kann eine praktische Funktion als Ordnungsfaktor haben
oder Auslöser von Stimmungen sein oder eine rein geistige Wirkung im
autonomen Kunstwerk haben.
• Die Auswahl des Materials beeinflusst die Wirkung des Ornaments.
• In der Gartenkunst spielen die Wege eine wichtige Rolle als Ornament. Ihre
Funktion besteht darin, gemeinsam mit der Vegetation das Raumerlebnis
und die leibliche Gestimmtheit der Nutzer zu bestimmen.
• Allgemein gesehen bekommt gegenwärtig das Ornamentale oft das ab-
solute Übergewicht vor der Funktion. Als ‚Design’ entsteht eine Nähe zur
Mode und zur Gestaltung von Parfümflaschen.

4.6 Station bei Schiller.


Diese Betrachtung der Gartenwege legt mehrere Unterscheidungen nahe:
Wege, die sich nach den räumlichen Geländeverhältnissen richten, und

136  Funktion und Ornament in der Gartenkunst


solche, die auf dem Papier entworfen werden. Dann habe ich unterschie-
den: Wege, die ein Ordnungsprinzip verfolgen und solche, die ornamentale
Wirkung haben. (Die Unterscheidung Funktion/Ornament ist dabei ziem-
lich abstrakt, weil der Begriff ‚Funktion’ vieldeutig ist.) Und schließlich, nach
Waldenfels, unterscheide ich die visuelle von der leiblichen Wahrnehmung
der Wege; man kann auch sagen: die formale von der sinnlichen.
Für diese schreibe ich als ‚Form der Unterscheidung mit zwei Seiten’:

Wirkung der Wege


Auf das Formgefühl Auf das Körpergefühl

Das ist eine Unterscheidung, die – neben der Unterscheidung Tun und
Lassen - für die Gartenkunst von spezieller Bedeutung ist. Ich untersuche sie
auf der Grundlage der faszinierenden philosophischen Arbeit von Friedrich
Schiller: „Über die ästhetische Erziehung des Menschen.“ Interessant ist sie
für mich aus mehreren Gründen: Sie ist dualistisch strukturiert, so dass man
in ihr ‚Formen der Unterscheidung mit zwei Seiten’ sehen kann, sie ist kom-
plex in den Variationen ihrer Grundunterscheidung, und vor allem, sie bietet
einen Schlüssel für die Handhabung ihrer Unterscheidungen auf einer Skala
und vor allem, sie erhellt die Frage: was ist Kunst.
Schiller hat seine Theorie entwickelt in 27 Briefen, die an den (dänischen)
Augustenburger Prinzen gerichtet waren. Er befasst sich – über die Ästhetik
im engeren Sinne hinaus – mit der gesellschaftlichen Entwicklung seiner Zeit
(1793), die durch die negativen Ereignisse in Frankreich nach der Revolution
1789 überschattet war.
Schiller betrachtet den Staat im ästhetischen Sinne als höchstes Kunstwerk
und sein Ziel ist die Erziehung des Menschen zum sittlichen Wollen. Sein
Ausgangspunkt ist aber die Ästhetik in künstlerischer Hinsicht, und darauf
will ich mich konzentrieren. Die duale Struktur seiner Theorie ist so ausge-

Station bei Schiller.  137


prägt und anschaulich, dass ich mich weit gehend darauf beschränken kann,
seine Unterscheidungen zu zitieren.
Im ersten Brief bemerkt er, „daß es größtenteils Kantische Grundsätze sind,
auf denen [seine] nachfolgenden Behauptungen ruhen werden.“ Und das ist
in erster Linie Kants Satz: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen
ohne Begriffe sind blind.“
Im 6. Brief sagt er: „Die mannigfaltigen Anlagen im Menschen zu entwic-
keln, [ist] kein anderes Mittel, als sie einander entgegenzusetzen. Dieser
Antagonism der Kräfte ist das große Instrument der Kultur.“ - Dieser Satz ist
der Anlass, die Verbindung zu den ‚Laws of Form’ herzustellen.
Schillers Grundunterscheidung ist: Die Welt der Sinne und die Welt des
Denkens. Er spricht auch vom „sinnlichen Trieb“ oder „Stofftrieb“ im
Unterschied zum „vernünftigen Trieb“ oder „Formtrieb“ Überhaupt ver-
wendet Schiller immer neue Begriffe, was für die feine Nuancierung seines
Denkens spricht aber auch dafür, wie er mit der Komplexität der Probleme
ringt.
Für Kant wie für Schiller schreibe ich als Grundunterscheidung:

Erkenntnis
Begriffe Anschauung
Welt des Denkens Welt der Sinne

Schiller geht zunächst vom Menschen aus, von seinem Zustand und seiner
Entwicklung. So im 11. Brief:
... die Abstraktion ... gelangt ... zu zwei letzten Begriffen, ... . Sie unter-
scheidet im Menschen etwas, das bleibt, und etwas, das sich unaufhör-

138  Funktion und Ornament in der Gartenkunst


lich verändert. Das Bleibende nennt sie seine Person, das Wechselnde
seinen Zustand. ... 165
Person und Zustand ... die wir uns in dem notwendigen Wesen als
eins und dasselbe denken, sind ewig zwei in dem endlichen. Bei aller
Beharrung der Person wechselt der Zustand, bei allem Wechsel des
Zustands beharret die Person. ...
Die Person muß also ihr eigener Grund sein, denn das Bleibende kann
nicht aus der Veränderung fließen; und so hätten wir denn fürs er-
ste die Idee des absoluten, in sich selbst gegründeten Seins, d. i. die
Freiheit. Der Zustand muß einen Grund haben; er muß, da er nicht
durch die Person, also nicht absolut ist, erfolgen; und so hätten wir fürs
zweite die Bedingung alles abhängigen Seins oder Werdens, die Zeit. ...
Bis hier hin ergibt sich als ‚Form der Unterscheidung’:

Mensch
Person Zustand
Das Bleibende Das Wechselnde
Das absolute Sein Das Werden
Die Freiheit Die Zeit

Im Folgenden beschreibt Schiller die Wechselwirkungen der unterschiede-


nen Seiten:
[Der Mensch] ... unabhängig von allem sinnlichen Stoffe betrachtet, ist
bloß die Anlage zu einer möglichen unendlichen Äußerung; und so-
lange er nicht anschaut und nicht empfindet, ist er noch weiter nichts
als Form ... . Seine Sinnlichkeit, für sich allein ... betrachtet, vermag

165  Diese Unterscheidung ist vergleichbar mit Maturanas Unterscheidung


der zusammengesetzten Einheit in Organisation und Struktur

Station bei Schiller.  139


weiter nichts, als daß sie ihn, der ohne sie bloß Form ist, zur Materie
macht ... . Solange er bloß empfindet, bloß begehrt, ... ist er noch weiter
nichts als Welt, [das heißt] formloser Inhalt der Zeit. ...
Um also nicht bloß Welt zu sein, muß er der Materie Form verleihen;
um nicht bloß Form zu sein, muß er der Anlage, die er in sich trägt,
Wirklichkeit geben. Er verwirklicht die Form, wenn er die Zeit erschafft
und dem Beharrlichen die Veränderung, der ewigen Einheit seines Ichs
die Mannigfaltigkeit der Welt gegenüberstellt; er formt die Materie,
wenn er die Zeit wieder aufhebt, Beharrlichkeit im Wechsel behauptet
und die Mannigfaltigkeit der Welt der Einheit seines Ichs unterwürfig
macht.
Schiller leitet aus diesen Sätzen „zwei entgegengesetzte Anforderungen an
den Menschen“ ab,
die zwei Fundamentalgesetze der sinnlich-vernünftigen Natur. Das er-
ste dringt auf absolute Realität: er soll alles zur Welt machen, was bloß
Form ist ... ; das zweite dringt auf absolute Formalität: er soll alles in
sich vertilgen, was bloß Welt ist ... ; mit anderen Worten: er soll alles
Innre veräußern und alles Äußere formen.
Es haben sich weitere Variationen der Unterscheidung ergeben:

Mensch
Form Materie
Beharrlichkeit Veränderung
Einheit des Ichs Mannigfaltigkeit der Welt
Formalität Realität

Wenn man diese Sätze aufmerksam liest, stellt man fest, dass Schiller stän-
dig die Seiten wechselt, entsprechend dem Satz von Spencer-Brown: „Eine

140  Funktion und Ornament in der Gartenkunst


Grenze mit getrennten Seiten [wird] so angeordnet, dass ein Punkt auf der
einen Seite die andere Seite nicht erreichen kann, ohne die Grenze zu kreu-
zen.“ (s. Anm. 61)
Im 12. Brief entfaltet Schiller weitere Aspekte seiner Grundunterscheidung.
Zunächst spricht er von zwei Trieben die „uns antreiben“ dem „sinnlichen
Trieb“ den er auch „Sachtrieb“ oder „Stofftrieb“ nennt und den „Formtrieb,“
auch „vernünftigen Trieb.“
Der sinnliche Trieb „geht aus von dem physischen Dasein des Menschen ...
und ist beschäftigt, ihn in die Schranken der Zeit zu setzen und zur Materie
zu machen“ Materie heißt Veränderung in der Zeit und die „bloß erfüllte
Zeit heißt Empfindung.“ Der Formtrieb „geht aus von dem absoluten Dasein
des Menschen oder von seiner vernünftigen Natur und ist bestrebt, ihn
in Freiheit zu setzen, Harmonie in die Verschiedenheit seines Erscheinens
zu bringen und bei allem Wechsel des Zustands seine Person zu behaup-
ten.“ ... „Er umfaßt mithin die ganze Folge der Zeit“ das heißt „er hebt die
Veränderung auf; er will, daß das Wirkliche notwendig und ewig und daß das
Ewige und Notwendige wirklich sei. ...“ „Mit einem Wort:“ so endet er den 13.
Brief, „den Stofftrieb muß die Persönlichkeit und den Formtrieb muß die
Empfänglichkeit oder die Natur in seinen gehörigen Schranken halten.“
(Hvh. A.S.)
Schiller hat also die Modi seiner Grundunterscheidung zusammengefasst in
der Unterscheidung Formtrieb und Stofftrieb. Nach dem Prinzip der ‚Form
der Unterscheidung’ erhebt sich die Frage nach dem Motiv oder Kontext
der Unterscheidung, entsprechend dem Satz Spencer-Browns: „Es kann kei-
ne Unterscheidung geben ohne Motiv ...’ (s. Anm. 61)
Im 14. Brief stellt Schiller eine Verbindung her durch einen dritten Trieb, den
er den Spieltrieb nennt. Ich folge zunächst seinen Ausführungen:

Station bei Schiller.  141


Der sinnliche Trieb will, daß Veränderung sei, daß die Zeit einen
Inhalt habe; der Formtrieb will, daß die Zeit aufgehoben, daß keine
Veränderung sei. Derjenige Trieb also, in welchem beide verbunden
wirken, ... Der Spieltrieb ... würde dahin gerichtet sein, die Zeit in der
Zeit aufzuheben, Werden mit absolutem Sein, Veränderung mit
Identität zu vereinbaren. ...
Der Spieltrieb ... wird das Gemüt zugleich moralisch und physisch nö-
tigen; er wird also, weil er alle Zufälligkeit aufhebt, auch alle Nötigung
aufheben und den Menschen sowohl physisch als moralisch in Freiheit
setzen. ...
Der Spieltrieb ... wird zugleich unsere formale und unsere materiale
Beschaffenheit ... zufällig machen; er wird also, eben weil er beide zu-
fällig macht, ... die Zufälligkeit in beiden aufheben, mithin Form in die
Materie und Realität in die Form bringen.
Den Begriff ‚Zufälligkeit’ greife ich auf, um auch hier eine Verbindung her-
zustellen zu dem Prinzip der ‚Skala.’ Als skaliert habe ich das Verhältnis
zum Beispiel von physis und techne bezeichnet und festgestellt, dass dieses
Verhältnis frei gewählt werden könne und entschieden werden müsse und
dass jeder Punkt auf dieser Skala nur eine kontingente Relation der jeweiligen
Unterscheidung markiere. Ich sehe eine Übereinstimmung zwischen dieser
Kontingenz und dem, was Schiller ‚Zufälligkeit’ nennt. Allerdings hatte ich
bisher nicht geklärt, wie die freie Wahl eines ‚festen’ Punktes auf der Skala
stattfindet. Hierzu bietet Schiller mit dem Spieltrieb eine Lösung.
Im 15. Brief fährt Schiller fort:
Der Gegenstand des sinnlichen Triebes ... heißt Leben. ... Der
Gegenstand des Formtriebes heißt Gestalt, ... ein Begriff, der alle forma-
len Beschaffenheiten der Dinge und alle Beziehungen derselben auf
die Denkkräfte unter sich fasst. Der Gegenstand des Spieltriebes ... wird

142  Funktion und Ornament in der Gartenkunst


also lebende Gestalt heißen können; ein Begriff, der allen ästhetischen
Beschaffenheiten der Erscheinungen und mit einem Worte dem was
man in weitester Bedeutung Schönheit nennt, zur Bezeichnung
dient. (Hvh. A.S.)
So haben wir also Begriffe von Schiller bekommen, die Denken und Handeln
der Kunst bestimmen: Der Formtrieb oder ‚Gestalt,’ der sinnliche Trieb oder
‚Leben’ und die Schönheit oder ‚lebende Gestalt,’ die ich als Motiv oder
Kontext der Unterscheidung ansehe:

Schönheit,
Formtrieb Sinnlicher Trieb

Und der Spieltrieb ist das Vermögen, den Punkt auf der Skala zu finden, an
dem die künstlerische Idee verwirklicht wird.
Bei Heidegger haben wir einen ähnlichen Ansatz gesehen: Ich vergleiche
Heideggers Erde und Welt mit Schillers sinnlichen Trieb und Formtrieb.
Und was Schiller Spieltrieb nennt, ist bei Heidegger der Streit. Er sagt:
„Wahrheit west nur als der Streit zwischen Lichtung und Verbergung in der
Gegenwendigkeit von Welt und Erde.“

Wahrheit
Welt Erde

Schiller sprach von der „Schönheit im weitesten Sinne“ und deshalb setze ich
‚Schönheit’ mit ‚Wahrheit’ gleich.
(Bei dieser Gelegenheit merke ich an, dass in der Weise, wie ich Spencer-
Browns ‚Laws of Form’ verwende – so, wie ich es von Luhmann und seinen
Schülern übernommen habe – das skalierte Verhältnis der unterschiedenen

Station bei Schiller.  143


Seiten mit dem von mir entwickelten Symbol nicht darstellbar ist. Angesichts
der Komplexität des Kalküls von Spencer-Brown nehme ich an, dass dies mit
dessen Symbolen möglich wäre. Meine mathematischen Kenntnisse rei-
chen aber nicht aus, das herauszufinden. Andererseits halte ich die Idee der
Skalierung für so wichtig, dass ich mich mit der verbalen Darstellung begnü-
gen muss.)
Für Schiller ist der Spieltrieb – das heißt die Verankerung auf der Skala – sehr
bedeutend:
... unter allen Zuständen des Menschen [ist es] gerade das Spiel und
nur das Spiel, was ihn vollkommen macht und seine doppelte Natur
auf einmal entfaltet. ...
Denn ... der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts
Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.
Doch dann – im 16. Brief – entwickelt Schiller einen irritierenden Gedanken,
Sein Schönheitsideal, das durch die griechische Kunst, zum Beispiel durch
„die Idealgestalten einer Venus, einer Juno, eines Apolls“ (15. Brief) geprägt
ist, sucht seine Verwirklichung in dem „möglichstvollkommensten [!] Bunde
und Gleichgewicht der Realität und der Form, ... Dieses Gleichgewicht bleibt
aber immer nur Idee, die von der Wirklichkeit nie ganz erreicht werden kann.“
In der Erfahrung „wird jederzeit, mehr oder weniger, das Übergewicht einen
Mangel und der Mangel ein Übergewicht begründen.“
In Schillers Gedanken ist hier ein statisches Element festzustellen, das wohl
dem griechischen Schönheitsideal geschuldet ist, das aber zu seinen bisheri-
gen Ausführungen im Widerspruch steht. Ein „absolutes Gleichgewicht“ ist
mit dem Spielprinzip nicht zu vereinbaren.
Ich habe den Spieltrieb mit dem Skalenbegriff verglichen. Deshalb will
ich an dieser Stelle einmal dessen Charakter am Beispiel der bildenden

144  Funktion und Ornament in der Gartenkunst


Kunst beleuchten. Die bildende Kunst als autonome Kunst ist frei in ihren
Ausdrucksweisen, und gerade die Moderne ist dadurch gekennzeichnet,
dass sie die Möglichkeiten auf der Skala der Unterscheidungen auslotet. So
sind die Werke Jackson Pollocks ganz auf der Seite des sinnlich Zufälligen
und die eines Sol Le Witt oder Carl André auf der anderen Seite der Skala,
des Rationalen und Formalen angesiedelt. Ein anderes Beispiel ist die künst-
lerische Entwicklung von Piet Mondrian, von seiner expressiven Frühphase
zu seinem konstruktiven Hauptwerk. – Alle diese Werke sind vollkommene
Kunstwerke, und ihre teilweise extreme Ausrichtung auf die eine oder andere
Seite der Unterscheidung ist keineswegs als Mangel anzusehen, sondern ist
ein Wesenszug der Moderne des 20. Jahrhunderts.
Der 18. Brief bringt dann wieder Klarheit in das Verhältnis von Sinnlichkeit
und Formalem, das eindeutig als ‚Form der Unterscheidung mit zwei Seiten’
gesehen werden kann:
Durch die Schönheit wird der sinnliche Mensch zur Form und zum
Denken geleitet; durch die Schönheit wird der geistige Mensch zur
Materie zurückgeführt und der Sinnenwelt wiedergegeben.
Aus diesem scheint zu folgen, daß es zwischen Materie und Form,
zwischen Leiden und Tätigkeit einen mittleren Zustand geben müs-
se und daß uns die Schönheit in diesen mittleren Zustand versetze.
Diesen Begriff bildet sich auch wirklich der größte Teil der Menschen
von der Schönheit, sobald er angefangen hat, über ihre Wirkungen zu
reflektieren, und alle Erfahrungen weisen darauf hin.166 ... aber [nichts]
ist ungereimter und widersprechender als ein solcher Begriff, da der
Abstand zwischen Materie und Form, zwischen Leiden und Tätigkeit,
zwischen Empfinden und Denken unendlich ist und schlechterdings

166  Daraus entstehen, wie wir gesehen haben, Begriffe wie ‚Hybride’ oder
‚Synthese.’

Station bei Schiller.  145


durch nichts kann vermittelt werden. Wie heben wir nun diesen
Widerspruch? Die Schönheit verknüpft die zwei entgegengesetz-
ten Zustände des Empfindens und des Denkens, und doch gibt es
schlechterdings kein Mittleres zwischen beiden, Jenes ist durch
Erfahrung, dieses ist unmittelbar durch Vernunft gewiß.
Dies ist der eigentliche Punkt, auf den zuletzt die ganze Frage über
die Schönheit hinausläuft, und gelingt es uns, dieses Problem befriedi-
gend aufzulösen, so haben wir zugleich den Faden gefunden, der uns
durch das ganze Labyrinth der Ästhetik führt. (Hvh. A.S.)
Schiller benennt also explizit die Schönheit als verbindendes Element, als
Kontext oder Motiv der Unterscheidung von Form und Materie. Um diese
für mich so wichtigen Kernsätze hervorzuheben, schreibe ich noch mal:

Schönheit
Form Materie

Im 19. Brief entwickelt Schiller einen Gedanken, von dem man annehmen
könnte, dass Spencer-Brown unmittelbar von ihm angeregt worden sei: Er
sieht in dem „Zustand des menschlichen Geistes vor aller Bestimmung, die
ihm durch Eindrücke der Sinne gegeben wird, ... eine Bestimmbarkeit ohne
Grenzen. Das Endlose des Raumes und der Zeit ist seiner Einbildungskraft
zu freiem Gebrauch hingegeben, ... man ... [kann] diesen Zustand der
Bestimmungslosigkeit eine leere Unendlichkeit nennen ...“
Wie entsteht jetzt „aus der unendlichen Menge möglicher Bestimmungen ...
eine einzelne Wirklichkeit, ... eine Vorstellung“ ? - Schiller stellt fest:
Um eine Gestalt im Raum zu beschreiben, müssen wir den endlo-
sen Raum begrenzen; um uns eine Veränderung in der Zeit vorzu-
stellen, müssen wir das Zeitganze teilen. Wir gelangen also nur durch

146  Funktion und Ornament in der Gartenkunst


Schranken zur Realität, nur durch Negation oder Ausschließung zur
Position oder wirklichen Setzung, nur durch Aufhebung unserer freien
Bestimmbarkeit zur Bestimmung.
Aber aus einer bloßen Ausschließung würde in Ewigkeit keine Realität
und aus einer bloßen Sinnenempfindung in Ewigkeit keine Vorstellung
werden, wenn nicht etwas vorhanden wäre, von welchem ausgeschlos-
sen wird, wenn nicht durch eine absolute Tathandlung des Geistes
die Negation auf etwas Positives bezogen und aus Nichtsetzung
Entgegensetzung würde; diese Handlung des Gemüts heißt urteilen
oder denken, und das Resultat derselben der Gedanke
Ehe wir im Raum einen Ort bestimmen, gibt es überhaupt keinen
Raum für uns; aber ohne den absoluten Raum würden wir nimmer-
mehr einen Ort bestimmen. ...
Wir gelangen also ... nur durch den Teil zum Ganzen, nur durch die
Grenze zum unbegrenzten; aber wir gelangen auch nur durch das
Ganze zum Teil, nur durch das Unbegrenzte zur Grenze.
Schillers „endloser Raum“ ist bei Spencer-Brown der „unmarked state,“ den
Luhmann „unmarked space“ nannte.167 In Kapitel 2 der Laws of Form heißt
es: “Triff eine Unterscheidung ... Nenne den Raum, in dem sie getroffen
wird, den Raum der durch die Unterscheidung geteilt oder gespalten wird.
Nenne die Teile des Raumes, der durch die Teilung oder Spaltung gebildet
wird, die Seiten der Unterscheidung oder wahlweise die Räume, Zustände
oder Inhalte, die durch die Unterscheidung unterschieden werden.“ - Und
Schillers Aussage, dass keine Vorstellung werden kann, „wenn nicht etwas
wäre, von welchem ausgeschlossen wird,“ entspricht dem lapidaren Satz
Spencer-Browns: wir können „keine Bezeichnung vornehmen, ... ohne eine
Unterscheidung zu treffen.“

167  Luhmann, (1997b), 58.

Station bei Schiller.  147


Ich komme zurück auf den Ausgangspunkt dieser Betrachtung: Die
Gestaltung und Wirkung der Gartenwege, wobei ich das Formgefühl vom
Körpergefühl unterschieden habe. Die Übereinstimmung mit Schillers
Formtrieb und Sinnlichem Trieb ist evident.
Die weiteren Überlegungen werden als Form der Unterscheidung immer
wieder zeigen, dass Schillers Grundunterscheidung allgemeine Gültigkeit be-
sitzen.

148  Funktion und Ornament in der Gartenkunst


Kapitel 5 Der Raum als Medium von Architektur
und Gartenkunst
‚Raum’ ist ein Begriff, der kaum eindeutig zu beschreiben ist. Er gleicht in-
sofern der Zeit, von der schon Augustinus sinngemäß sagte, er wisse ge-
nau, was Zeit ist, er könne es aber nicht erklären. Hier geht es nun nicht um
Schillers abstrakten unendlichen oder absoluten Raum, sondern um den der
Architektur und der Gartenkunst. Ich werde ihn in erster Linie im Hinblick
auf seine Wirkung auf die Menschen als – im Wortsinne – erlebten und ge-
fühlten Raum, als Lebensraum untersuchen.
Analog zum ‚Urgarten’ gehe ich zurück auf die ursprüngliche Entwicklung
des Raumgefühls. Manche Autoren sehen den Ursprung der menschlichen
Prägung in den afrikanischen Savannen.168 Ich gehe nicht so weit zurück, son-
dern sehe für die Menschen in Mitteleuropa den Wald als erste räumliche
Umgebung, unterschieden von den asiatischen Steppen oder afrikanischen
Savannen.

5.1 Die Waldlichtung als ‚Urraum’


Ich stütze mich im Folgenden auf das hervorragende Buch „Wälder“ von
Robert P. Harrison, in dem er die „Rolle, die Wälder in der kulturellen
Phantasie des Abendlandes gespielt haben“ untersucht. Er stellt fest:
... der größte Teil des von Menschen bewohnten Abendlandes war
... in der Vergangenheit mehr oder weniger dicht bewaldet. ... die
westliche Zivilisation rodete sich buchstäblich ihren Raum inmit-
ten von Wäldern. Ein dunkler Waldsaum definierte die Grenzen ih-
res Ackerbaus, die Ränder ihrer Städte, die Begrenzungen ihres insti-
tutionellen Herrschaftsbereichs, aber auch die Ausschwei- fungen

168  z. B. Spanier, (2001), oder Sieverts, (1999), 13.

Die Waldlichtung als ‚Urraum’  149


ihrer Phantasie. ... die herrschenden Institutionen des Abendlandes
– Religion, Recht, Familie, Stadt - [etablierten sich] ursprünglich in
Opposition zu den Wäldern, die in dieser Hinsicht die ersten und die
letzten Opfer der Ausdehnung der städtischen Welt geworden sind.
(9)169
Einen „bemerkenswerten Ansatzpunkt“ für seine Ausführungen findet
Harrison bei dem italienischen Philosophen Giambattista Vico (1668 – 1744)
und dessen „schöpferischen Archeologie der metaphorischen Ursprünge
des menschlichen Denkens.“ (22)
Vico beschreibt die ersten Bewohner der Wälder, die „Giganten“, die, „von
den Müttern verlassen“, gesetzlos „in tierischer Freiheit“ die Wälder durch-
streiften. (17f) Sie sahen keinen Himmel und keine Götter, bis Vulkan, der
Gott des Feuers und der Technik, Lichtungen in die Wälder brannte. (24)
Auf den Lichtungen konnten Familien gegründet werden, deren Symbol
der Stammbaum wurde. „Die Aneignung des Waldes“ war eine „Metapher
für menschliche Institutionen.“ „Vom Familienstammbaum zum Baum der
Erkenntnis, vom Baum des Lebens zum Baum der Erinnerung haben Wälder
in der kulturellen Evolution der Menschheit einen unentbehrlichen Fundus
der Symbolisierung bereit gestellt, und dies so sehr, dass der Aufstieg des mo-
dernen wissenschaftlichen Denkens losgelöst von der Vorgeschichte solcher
metaphorischen Entlehnungen ganz undenkbar bleibt.“ (22)
Das geht zum Beispiel daraus hervor, wie Vico die Entwicklung des latei-
nischen Wortes „lex“ für „Gesetz“ erläutert: Er schreibt, dass dieses Wort
„anfangs das Einsammeln von Eicheln bedeutet haben muß, wonach ... die
Steineiche ilex ... genannt wurde. ... Alsdann bedeutete lex ‚das Einsammeln
von Hülsenfrüchten’ wonach diese legumina genannt wurden. Später ... mus-

169  Harrison, (1992), Ich setze anstatt einer Fußnote die Seitenzahl in
Klammern.

150  Der Raum als Medium von Architektur und Gartenkunst


ste lex aus einer Notwendigkeit des Politischen‚Versammlung von Bürgern’ ...
bedeuten; daher war die Gegenwart des Volkes Gesetz. ... Schließlich wurde
das Sammeln von Buchstaben ... legere, ‚lesen’ genannt.“ (53f)
Ein anderes Beispiel einer Aneignung des Waldes beschreibt Harrison mit
der Entstehung Roms. Es beginnt damit, dass Romulus, im Wald mit sei-
nem Bruder Remus ausgesetzt, von der Wölfin, „der mythischen Gestalt des
Waldes,“ gesäugt und aufgezogen wurde. Zum Manne herangewachsen,
gründete er „auf einer Lichtung auf dem Kapitol“ die Stadt Rom. Sie wurde
„Zufluchtstätte“ für „Waldvagabunden ... die in der Wildnis außerhalb der
Grenzen häuslicher Religion und ziviler Gesellschaft gelebt hatten.“ (68) „wer
die Stadtgrenzen betrat, floh dorthin aus den Wäldern, die zu einer Grenze
oder einem Randstreifen wurden gegen den der städtische, in strengem
Sinne institutionelle Raum definiert wurde. ... Die Wälder wurden ... als locus
neminis, ‚Niemandsland,’ bezeichnet. ... Stadt und Wald waren somit strikt
voneinander abgesetzt. ... Die res nullius stand der res publica auf solche
Weise gegenüber, dass ein Waldsaum dem städtischen Raum seine natürli-
che Grenze verlieh.“ (69)
Aber diese Grenze wurde immer weiter zurück gedrängt. Harrison be-
schreibt die Entwaldung des Mittelmeerraumes durch die Griechen und
Römer. Das Holz wurde für den Haus- und Schiffsbau benötigt und die gero-
deten Flächen für den Ackerbau. Einer fruchtbaren Zeit folgte die Erosion der
Böden durch Regen und Wind bis zur Karst- und Wüstenbildung.
Dass diese Handlungsweise nicht nur vom Nützlichkeitsdenken bestimmt
wird, zeigt eine andere Legende, das Gilgamesch-Epos, in dem das Verhältnis
zum Wald durch Aggression bestimmt wird. Vico sah eine grundlegende
Feindschaft religiösen Ursprungs zwischen den Institutionen der Menschheit
und den am Rande liegenden Wäldern. (29)

Die Waldlichtung als ‚Urraum’  151


Gilgamesch wurde es als Heldentat angerechnet, dass er auf dem Berg der
Zedern Huwawa, den Wächter des Waldes erschlägt, um danach die Zedern
zu fällen und in die Stadt zu bringen. (30) Er will „die Bäume das Schicksal
derer teilen lassen, die innerhalb der Mauern leben“ und sterben müssen.
„Stämme werden die Kadaver werden“
Harrison zieht eine grundsätzliche Erkenntnis aus dieser Legende:
Es ist eine bedauerliche Tatsache der Geschichte, dass die Menschen
nie aufgehört haben, die Geste Gilgameschs zu wiederholen. Der
destruktive Impuls in Bezug auf die Natur hat nur zu oft psychische
Gründe, die über die Gier nach materiellen Ressourcen oder das
Bedürfnis, eine Umwelt zu domestizieren hinausgehen. Zu oft sind im
Angriff auf die Natur und ihre Arten bewusste Wut und Rachsucht
am Werk, so als wollte man auf das Natürliche die unerträglichen
Ängste der Endlichkeit projizieren.(34)
Auf diesen Grundzug menschlichen Verhaltens habe ich bereits in Bezug
auf den Barockgarten hingewiesen: Das Bewusstsein von Altern und der
Endlichkeit sollte durch Kosmetik und durch Beschneiden der Pflanzen ver-
drängt werden.
Ein jüngeres Beispiel für aggressives Verhalten gegenüber der Natur sind die
Verwüstungen, die mit der Flurbereinigung bis in die 70ger Jahre einhergingen.
Dabei wurden nicht nur Flächen entwässert und Ackerschläge vergrößert,
um moderne Maschinen einsetzen zu können, was durchaus verständlich ist;
sondern es wurde alles Naturhafte beseitigt, wie kleine Feuchtbiotope und
Gehölzgruppen am Rande, wo sie überhaupt nicht störten. Die ‚Bereinigung’
hatte absolut aggressive Züge.
In diesem Zusammenhang erhebt sich die Frage, wie weit auch der zur Zeit
modische Minimalismus, in dem alles ‚Naturalistische’ aus der Stadt ver-

152  Der Raum als Medium von Architektur und Gartenkunst


bannt wird, einen derartigen psychologischen Hintergrund hat. Das wird
noch näher zu erörtern sein.

5.2 Die Entwicklung des klassischen Stadtraumes


als Grundlage der abendländischen Kultur
In der vorstehenden Betrachtung haben wir also den Raum der Lichtung
in den Wäldern als Voraussetzung für die Entstehung der Zivilisation gese-
hen, dass aber die grenzenlose Ausweitung dieser Lichtung die Verwüstung
bedeutet. Der Wald ist also das Symbol für die Selbsterhaltung der Natur
– physis - und damit ebenso Garant für die Erhaltung der Zivilisation, wenn
nicht der Menschheit. Gegenwärtig tritt dies immer mehr in das öffentliche
Bewusstsein, ausgelöst durch die drohende Vernichtung der Regenwälder,
die durch eine atavistische, aggressive Haltung unkontrollierter Mächte be-
stimmt ist.
Der Wald ist aber auch die Bühne unserer Mythen und Märchen, für die Elfen
und Faune und damit der Gegensatz von der Stadt, der Welt der Vernunft
und der Technik. Diesem Gegensatzpaar gilt meine weitere Betrachtung
Den Charakter der Stadt als geistigen Raum in seiner Entstehung hat der
spanische Philosoph Ortega y Gasset (1883 – 1955) in seiner anschauli-
chen Sprache beschrieben, und ich erkenne darin manche Parallelen zu der
Darstellung Vicos, die wir bei Harrison gesehen haben:
Griechen und Römer sind, wenn sie in der Geschichte erscheinen, in
Städten, urbs, polis, behaust, ... . Die Stadt ist eine letzte Gegebenheit
von geheimnisvollem Ursprung. ; ... Allerdings gestatten Ausgrabungen
und archäologische Forschungen uns, etwas von dem zu erkennen,
was auf athenischem und römischem Boden geschah, ehe Athen
und Rom bestanden. Aber der Übergang von jener rein bäuerlichen,
durch nichts ausgezeichneten Prähistorie zum Keim der Stadt ... bleibt

DieEntwicklungdesklassischenStadtraumesalsGrundlagederabendländischenKultur  153
dunkel; man kennt nicht einmal den ethnischen Zusammenhang zwi-
schen jenen vorgeschichtlichen Völkern und diesem erstaunlichen
Gemeinwesen, die das Repertoire der Menschheit um eine große
Neuheit bereicherten, indem sie einen öffentlichen Platz und um ihn
her eine gegen das Feld geschlossene Stadt erbauten. ... die Stadt be-
ginnt als Hohlraum, als Markplatz, forum, agora; und alles Weitere ist
Vorwand, um dies Hohl zu sichern. ... Die Polis ist ursprünglich nicht
ein Haufe bewohnbarer Häuser, sondern ein Ort des bürgerlichen
Zusammentreffens, ein abgegrenzter Raum zu öffentlichen Zwecken.
... Man beachte, dass hiermit eine neue Gattung Raum konstruiert
wurde, ... . Solange gab es nur einen Raum, das Land, ... . Der Landmann
ist noch pflanzenhaft. Sein Leben bewahrt, wenn er denkt, fühlt, will,
etwas von der bewußtlosen Dumpfheit des Vegetativen. ... aber der
antike Mensch löst sich entschlossen vom Land, von der Natur, von
dem geobotanischen Kosmos ab. Wie ist das möglich? ... Sehr einfach:
er hegt ein Stück Land vermittels einiger Mauern ein und stellt dem
gestaltlosen, unendlichen Raum den umschlossenen, endlichen ge-
genüber. So entsteht der Platz. Er ist nicht wie das Haus ein nach oben
hin geschlossenes Inneres, darin den Höhlen gleichend, die es auf dem
Felde gibt; er ist schlechthin die Verneinung des Feldes. Dank den
Mauern, die ihn umgeben, ist der Platz ein Stück Land, das dem Rest
den Rücken dreht, von ihm absieht und sich ihm entgegensetzt. Dieses
rebellische Kleinland, das sich von der großen Mutter abgeschnürt hat
und seine Eigenrechte ihr gegenüber wahrt, ist als Land aufgehoben
und darum ein Raum sui generis, völlig neu, worin der Mensch, aus
jeder Gemeinschaft mit Pflanze und Tier gelöst, ein in sich kreisen-
des, rein menschliches Reich schafft: den bürgerlichen Raum. Darum
wird einst der große Städter... Sokrates sagen: „Ich habe nichts mit den

154  Der Raum als Medium von Architektur und Gartenkunst


Bäumen auf dem Felde, ich habe nur mit den Menschen in der Stadt
zu tun.170 (Hvh. A. S.)
Hier werden natürlich keine historisch chronologischen Abläufe beschrie-
ben, sondern jahrhunderte lange, historisch erforschte Entwicklungen oder
in Legenden bewahrte Erinnerungen. Man muss sich klar machen, dass
dieser endliche Raum, der aus dem unendlichen Raum ‚herausgeschnitten’
wurde, eine völlig neue Qualität hat. Harrison beschreibt den Prozess des
Zurückdrängens des Waldes, und Ortega setzt bei dem Zeitpunkt an, an
dem der Wald schon weit gehend verschwunden ist; als eingetreten ist, was
Harrison beschreibt:
In dem Maße, wie die Ordnung der menschlichen Dinge ihren Lauf
nimmt, ... rücken die Wälder immer weiter fort vom Mittelpunkt der
Lichtungen. Im Mittelpunkt vergisst man schließlich, dass man auf
einer Lichtung wohnt. Der Mittelpunkt wird utopisch. Je größer der
Kreis der Lichtung, desto mehr ist der Mittelpunkt nirgends und desto
mehr wird der logos reflektierend, abstrakt, universalistisch ... .171
Aber das Zurückdrängen des Waldes war nicht der einzige Faktor, der den
antiken Raum bestimmte; dazu kam eine erste ökologische Katastrophe,
die das antike Griechenland einschneidend veränderte. In Platons Bericht
des Kritias wird geschildert, wie früher, im „Athen der Vergangenheit“ die
„Bürger, welche sich mit dem Gewerbe und mit dem Gewinn der Früchte
der Erde beschäftigten,“ getrennt von den Kriegern wohnten, und „dass an
Fruchtbarkeit die ganze Erde von unserem Land übertroffen wurde.“ Die
Berge waren „mit Erde bedeckt,“ und es trug „vieles Gehölz auf den Bergen.“
Und der reichlich vorhandene Fruchtboden sog den Regen ein „in einer

170  Ortega y Gasset, (1958), 111f.


171  Harrison, (1992), 287.

DieEntwicklungdesklassischenStadtraumesalsGrundlagederabendländischenKultur  155
Umschließung von Tonerde“ und ließ ihn so in die „Tiefen hinabfließen“ und
„bereitete so an allen Orten reichhaltige Quellen.“
Da nun aber „viele bedeutende Überschwemmungen ... Statt gefunden
haben ... so [ist] die Erde ... in der Tiefe verschwunden. So ist denn in dem
gegenwärtigen [Lande] gleichsam wie von einem durch Krankheit dahin-
geschwundenen Körper nur noch die Knochen übrig geblieben, indem die
Erde, soweit sie fett und weich war, ringsum abgeflossen und nur das magere
Gerippe des Landes zurückgelassen ist.“ 172
Was wir von Kritias nicht erfahren, ist die Ursache, die zu den „bedeuten-
den Überschwemmungen“ geführt hat, nämlich die Abholzung der Wälder
an den Berghängen, der zufolge das Wasser nach starken Regenfällen nicht
mehr zurück gehalten wurde, sondern in Sturzbächen den Boden mit zu Tal
riss.
In dieser devastierten Landschaft konnte zwar noch Landwirtschaft be-
trieben werden, aber der Boden gab nicht soviel her, dass die wachsende
Bevölkerung damit ernährt werden konnte. Es musste zunehmend Getreide
aus anderen Mittelmeerländern eingeführt werden, wodurch ein reger
Handel entstand und damit Verbindungen zu anderen Kulturen. – Die ei-
gene Landwirtschaft wurde überwiegend von Sklaven betrieben: „Im Athen
des Perikles kommen auf etwa 50.000 freie Bürger ungefähr 100.000 Sklaven“
173

Erst diese Entwicklung im antiken Griechenland macht die Aussage Ortegas


von dem städtischen Raum als „Land aufgehoben“ und “Raum sui generis,“ in
dem „der Mensch, aus jeder Gemeinschaft mit Pflanze und Tier gelöst, ein in
sich kreisendes, rein menschliches Reich schafft,“ verständlich.

172  Platon, (1991), 443ff, (111 b - d)


173  Stein, (1946), 137.

156  Der Raum als Medium von Architektur und Gartenkunst


Nur in diesem rein geistigen Raum konnten die Grundlagen der abendlän-
dischen Kultur entstehen, die der Philosophie, der Wissenschaft und der
Mathematik. Es ist anzunehmen, dass die Griechen ein erstes geometrisches
Denken von den Ägyptern übernommen haben, die es entwickelt hatten,
weil sie nach jeder Überschwemmung des Nils ihr Land neu vermessen
mussten. - Die Pythagoräer bauten auf diesem Wissen auf und schufen ihre
Zahlen- und Symmetriegesetze, wodurch – wie Schadewald schreibt – „eine
neue Wendung in das Denkgeschehen kommt, ein neuer Seinsbereich er-
öffnet wird.“ 174 Davon war auch Platon beeinflusst, der im ‚Timaios’ eine
Vorstellung entwickelte, nach der sich die Welt aus fünf kleinsten Polyedern
zusammensetzt, die wiederum aus zwei Arten von Dreiecken gebildet wer-
den. Man nennt sie die platonischen Körper.175 - Dies alles wurde von Euklid
in einem universellen Weltbild zusammen gefasst. Die Raumvorstellung, die
diesem entspricht, nenne ich den ‚Euklidischen oder Klassischen Raum’
In einer so aus geometrischen Körpern zusammen gesetzten Welt war der
Mensch überzeugt, dass alles messbar, berechenbar und kontrollierbar ist,
und das war die Voraussetzung für die erfolgreiche Entwicklung der abend-
ländischen Wissenschaft. Aber nicht nur die Erfolge der Wissenschaft faszi-
nieren uns, sondern auch die Ästhetik der geregelten und wie gesetzmäßig er-
scheinenden geometrischen Formen. Auch „Kants transzendentale Ästhetik
beruht auf der Annahme der universellen Gültigkeit der Euklidischen
Geometrie.“ 176
Entwicklungsgeschichtlich ist anzumerken, dass dieses Denken im ‚dunk-
len Mittelalter’ weit zurück trat. Die mittelalterliche Stadt ist mit der anti-
ken Polis nicht zu vergleichen. Der Marktplatz mit der Kirche inmitten der
ummauerten Stadt und der verwinkelten Gassen unterscheidet sich Grund

174  Schadewald, (1978), 281.


175  Timaios, 53a – 56c, in Platon (1991)
176  Metzler, (1989), 229.

DieEntwicklungdesklassischenStadtraumesalsGrundlagederabendländischenKultur  157
legend von der griechischen agora, genau so, wie die Menschen in der engen
geistigen Welt der Zünfte und Stände sich von den freien Bürgern Athens
unterscheiden. Erst in der Renaissance gewinnt das ‚klassische Denken’ wie-
der die Oberhand. Es folgt die Zeit der Entdeckungen und Erfindungen.
Mit der Entdeckung der Perspektive änderte sich auch die Raumvorstellung
des Mittelalters. Die Perspektive fordert geradezu dazu auf, lange Fluchten von
Fensterreihen, Arkaden oder Wegeachsen zu bilden. Die Geometrisierung
setzte sich immer mehr durch, auch in der Gartenkunst; hier allerdings in
wechselnder Intensität. Auf den Renaissance- und den Barockgarten folg-
te die Auflösung im frühen Landschaftsgarten, die aber – wie wir gesehen
haben - sehr schnell von der Geometrie des Zirkels abgelöst wurde. So ist
auch der Landschaftsgarten in dieser Sichtweise ein klassischer Raum. - Im
20. Jahrhundert traten die Stile im modischen Wechsel auf, oder sie wurden
individuell unterschiedlich angewendet. Heute wird die Gartenkunst wieder
stark von der Geometrie beherrscht; lange Wegeachsen, ‚harte Kanten,’ klas-
sische Klarheit prägen das Bild, und „der Pappeln stolze Geschlechter ziehen
[wieder] in geordnetem Pomp vornehm daher. Regel wird alles und ... alles
Bedeutung“ 177
Soweit die historische Entwicklung. Nun komme ich zu einem wesentlichen
Thema dieser Arbeit:

5.3 Die Unterscheidung der Räume


In der Theorie der Gartenkunst, die hauptsächlich von Kunsthistorikern
bestimmt wird, spielt die Frage des Raumes als Vorstellung nur eine ge-
ringe Rolle. Beschrieben werden in erster Linie formale Beziehungen zur
Architektur oder das Verhältnis zur Malerei also architektonische Gärten

177  Schiller: ‚Spaziergang’

158  Der Raum als Medium von Architektur und Gartenkunst


oder Landschaftsgärten. Beide gelten als Stile der Gartenkunst, die mit der
freien Natur nichts zu tun haben.
Ich sehe die unterschiedlichen Raumvorstellungen als eine der wichtigsten
Fragen der Gartenkunst an. Ich habe die Lichtung als einen Urraum bezeich-
net, denn der Wald ist kein Raum. Erst wenn eine Fläche des Waldes ‚ge-
räumt’ ist, entsteht ein Raum, eine Lichtung. - Viele Flurbezeichnungen mit
‚ruhm’ oder ‚rade’ weisen noch auf diesen Vorgang hin. - Der Wald ist also
konstitutiv für die Lichtung. Und auch wenn der Wald weiter zurück ge-
drängt wird, bleibt die Lichtung, und der Wald bleibt deren Grenze. Diese
Feststellung ist für meine weiteren Überlegungen sehr wichtig. – Der Raum
dieser Lichtung trägt die Vegetation, von der die Ernährung der Menschheit
abhängt; ich habe ihn deshalb in einer früheren Arbeit auch den ‚Vegetativen
Raum’ genannt, abgeleitet von Ortegas ‚Dumpfheit des Vegetativen.’ Ich ver-
wende im Folgenden die ‚Lichtung’ - in Bezug zum Raum - synonym mit
dem ‚Vegetativen Raum’ - bezogen auf den Inhalt.
Von dieser Lichtung - oder Vegetativen Raum - unterscheide ich nun den
Klassischen Raum, so wie er von Ortega charakterisiert wurde. Wodurch un-
terscheiden sich diese beiden Räume in ihrem Wesen?
Zunächst zum klassischen, geometrischen Raum: Er wird mathematisch defi-
niert durch drei Achsen: Länge Breite und Höhe. Durch diese lässt sich jeder
Punkt in dem Raum bestimmen. Die Problematik dieser Raumanschauung
lässt sich am besten erklären durch die Betrachtung einer geometrischen,
zweidimensionalen Fläche. Auch auf dieser können wir jeden Punkt bestim-
men, wie wir gelernt haben, durch die X- und Y- Achse. Das funktioniert aber
nur, wenn die Fläche eben ist. Der Mathematiker Matthias Kreck spricht hier
von der ‚Glattheitsforderung.’ 178 Nun ist die Erde aber nicht glatt, sondern als
Kugeloberfläche gekrümmt und es gibt Berge und Täler. Die Darstellung als

178  Kreck, (2001)

Die Unterscheidung der Räume   159


glatte Fläche, als Landkarte gelang in befriedigender Weise erst dem berühm-
ten Mathematiker Carl Friedrich Gauß. Und in der Gartenkunst löste man das
Problem, indem man die unebenen Flächen planierte und in Terrassen um-
formte. Heute ist dieses Prinzip wieder modern; Hügel werden geometrisch
geformt und Flächen in ‚Schollen’ aufgebrochen, mit dem Unterschied, dass
statt des rechten Winkels überwiegend spitze Winkel das Bild bestimmen.
Die Glattheitsforderung gilt nach Kreck auch für den dreidimensionalen. nicht
gekrümmten Raum. Dieser geometrische Raum unterscheidet sich wesent-
lich von dem Vegetativen Raum und der ‚physis’. Eine Pflanze ist nicht geo-
metrisch zu beschreiben. Die Vegetation folgt zwar physikalischen Gesetzen
wie Schwerkraft und Licht, aber geometrische Formen spielen bei ihr keine
Rolle. – Nur der Wald wurde vorübergehend, etwa ein gutes Jahrhundert
lang, der Geometrie unterworfen. Als die Forstwissenschaft den Waldbau
rationalisierte, teilte sie den Wald in rechteckige Jagen ein, um die Bäume
besser zählen zu können. Der Wald wurde zu einem „Buch mit Zahlen“, wie
mir einmal ein älterer Vermessungstechniker sagte, empört, weil ich einen
Wanderweg, unabhängig von den Jagen, durch einen Hamburger Wald plan-
te. – Auch die in dieser Zeit praktizierte Monokultur im Wald hängt sicher
mit dieser materialistischen Haltung zusammen. – Dieser vorübergehen-
de Irrweg im Waldbau ist nicht zu vergleichen mit dem Ackerbau, dessen
Formen sich über Jahrtausende entwickelten, wie ich dargestellt habe.
Für die Unterscheidung der Räume sehe ich noch ein weiteres Kriterium:
die Zeit: Die Lichtung ist zeitlos. Selbst wenn sie immer größer wird, ver-
ändert sie nicht ihren Charakter; die Vegetation wächst seit ewigen Zeiten
im Rhythmus der vier Jahreszeiten. Entsprechend verändern sich auch die
Behausungen der Landleute nicht in ihrer Struktur. Sie unterliegen keiner
Stilwandlung, sondern sind nur zweckmäßig in Bezug auf unterschiedliche
Klimabedingungen und Bewirtschaftungsformen. Der Klassische Raum da-
gegen ist zeitlich. Das Weltbild, die Gesellschaftsformen, die Baustile verän-

160  Der Raum als Medium von Architektur und Gartenkunst


dern sich in der Zeit. Und selbst wenn man das Wachsen der Vegetation
oder das Werden und Vergehen des Lebens als zeitlich sehen will, unterschei-
det es sich durch seine Irreversibilität von der Reversibilität des Klassischen
Raumes oder - wie man in diesem Fall sagen kann - der rationalen Welt der
Wissenschaft und Technik.
Ein weiteres Kriterium ist das für diese Betrachtung Entscheidende: In der
Lichtung ist kein Innenraum von einem Außenraum zu unterscheiden, denn
der Wald ist ja kein Raum. Dagegen ist für den Klassischen Raum die Trennung
von Innen- und Außenraum konstitutiv, so wie Ortega es beschrieben hat. Es
ergeben sich nun die Unterscheidungen:

Lebensraum
Lichtung, Vegetat. Raum Klassischer Raum

und

Klassischer Raum
Innenraum Außenraum

Wenn man diese beiden Unterscheidungen vergleicht, kann der Eindruck


entstehen, dass die Lichtung zweimal als Teil einer Unterscheidung erscheint.
Das ist der Fall, wenn man die Lichtung als ‚Objekt’ betrachtet. Deshalb ist im-
mer wieder an die ‚Laws of Form’ zu erinnern, in denen es nicht um Objekte
sondern um Beobachtungen geht. Die Lichtung im Kontext ‚Lebensraum’
ist in der Beobachtung nicht identisch mit dem Außenraum im Kontext
‚Klassischer Raum.’
Diese Unterscheidung des vegetativen vom klassischen Raum ist schwer zu
verstehen. Sie ist – was paradox erscheint – überhaupt nicht räumlich zu
sehen, sondern nur gedanklich oder erkenntnismäßig. Das heißt, im vegeta-

Die Unterscheidung der Räume   161


tiven Raum sind die euklidischen Gesetze aufgehoben. Er ist bestimmt durch
die stochastischen und irreversiblen Vorgänge des Wachsens. Als vegetativer
Raum enthält die Lichtung die Ernährungsgrundlage der Menschen, Äcker,
Wiesen und Gärten, aber auch das, was man bisher Ödland genannt hat.
Im allgemeinen Bewusstsein ist dies alles immer noch ‚die Natur,’ und die-
se besteht insgesamt aus ‚physis und techne.’ Neu ist das Bewusstsein, dass
unsere Handlungsmaxime verantwortlich vom ‚Tun und Lassen’ gesteuert
sein muss. Darin sind alle ‚Naturen,’ die ‚freie,’ ‚angeeignete’ und so weiter
enthalten. In diesem Bewusstsein können die Ideen Naturschutz und ‚Welt
als Garten’ vereint werden.

5.4 Die besondere Bedeutung des Waldes


Zur Lichtung gehört immer der Wald, auch wenn dieser in weiten Bereichen
nur noch sporadisch vorhanden ist. Eine waldlose Landschaft nennen wir
Steppe. Der Wald ist immer die ideelle Begrenzung der Lichtung. Wichtig ist,
sich die Beschaffenheit dieser Grenze vorzustellen: Den Waldrand als geome-
trische Linie, als scharfe Trennung zwischen Acker und Wald gibt es erst seit
relativ kurzer Zeit. Über Jahrtausende war der Übergang von der Lichtung
zum Wald so, wie ich ihn oben als Hutewald beschrieben habe. (s. Abb. 2/1)
Im kollektiven Gedächtnis der Menschen hat sich dies manifestiert als Urbild
des heutigen Landschaftsparks. Diese nüchterne Tatsache gilt es zu beach-
ten, wenn weiter unten die Beziehung zwischen Gartenkunst und Bildender
Kunst untersucht wird.
Der Wald behält auch – zumindest für den mitteleuropäischen Menschen
– seinen geheimnisvollen Zauber, den Schiller so eindrucksvoll beschreibt,
wenn er auf seinem Spaziergang aus der freien Landschaft in den Wald tritt:
Mich umfängt ambrosische Nacht: in duftende Kühlung nimmt ein
prächtiges Dach schattender Buchen mich ein,

162  Der Raum als Medium von Architektur und Gartenkunst


In des Waldes Geheimnis entflieht mir auf einmal die Landschaft, ...
Auch in anderer Hinsicht hat der Wald seinen ursprünglichen Charakter
nicht verändert: Er ist im gewissen Sinne ‚Locus nemisis,’ ‚Niemandsland’
geblieben: Alle Wälder - auch Privatwälder - sind bis heute mit großer
Selbstverständlichkeit und per Gesetz öffentlich zugänglich.
Ich insistiere hier so auf die Bedeutung des Waldes, weil dieser in der Profession
bisher nur eine geringe Beachtung gefunden hat: ‚Wald ist Sache der Förster.’
Das gilt auch besonders für den Naturschutz. Mir ist kein Fall bekannt, in
dem im Zuge der Eingriffsregelung eine Aufforstung als Ersatzmaßnahme
gefordert wurde. Nur der Urwald ist seit einiger Zeit in Deutschland inter-
essant geworden, aber mit der Folge, dass er ‚Besitz’ der Wissenschaft und
Naturschutzverbände wurde und kein ‚Niemandsland’ mehr ist; der Mensch
ist in ihm nicht erwünscht, höchstens unter bestimmten Bedingungen. In
der ‚Welt als Garten’ muss der Wald eine Schlüsselrolle spielen.
Ein Indiz für die Beliebtheit des gelichteten Waldes als Wohnort sind die
Grundstückspreise am Rande der Städte. Am teuersten – zum Beispiel in
Hamburg – sind die Grundstücke in den Walddörfern und besonders die an
einem Waldrand mit ‚unverbaubarem Ausblick’ auf eine Wiesenlandschaft
oder ein Gewässer. Noch beliebter sind nur die Grundstücke am Elbhang
mit Blick auf das Urstromtal. Der Grund hierfür ist – nach Küster - eine an-
dere rudimentäre archaische Prägung: Die Rentierjäger nach der Eiszeit mus-
sten, um Beute machen zu können, die Herden „von oben her, das heißt von
Hügeln und Bergen aus, beobachten.“ 179 – Es ist wohl unbestritten, dass alle
diese kollektiven Prägungen in der Landschaftsplanung zu berücksichtigen
sind. Das ist aber heute mit Schwierigkeiten und Problemen belastet.

179  Küster (1995), 54.

Die besondere Bedeutung des Waldes  163


5.5 Die Auflösung des Klassischen Raumes
In der Einleitung habe ich die Probleme der Profession erörtert, die sich aus
der Auflösung der Stadtgrenzen ergeben haben und die mit Begriffen, wie
‚Zersiedelung der Landschaft’ oder ‚Siedlungsbrei’ beschrieben werden. Das
Ergebnis dieser Entwicklung wird von einigen Autoren als „Landschaft Drei“
oder auch als „Totale Landschaft“ bezeichnet. In der Realität ist aber „das Bild
der Stadt, das in unseren Köpfen spukt, [immer noch] ein mittelalterliches:
die Stadt als ... ein geschlossenes System mit einem harten Rand ... . In die-
ser Vorstellung hat die moderne Stadtlandschaft noch keinen Platz gefun-
den.“ 180 (Tatsächlich ist der „Harte Rand“ immer noch einer der häufigsten
Topoi in Erläuterungsberichten städtebaulicher und freiraumplanerischer
Wettbewerbe.) -
Die Unterscheidung des Klassischen vom Vegetativen Raum ist auch eine
geographische Frage. Klärung bringen hier neue theoretische Erkenntnisse.
So die Untersuchungen an der Universität Stuttgart „über fraktale Gesetze
im Stadtwachstum181 und die Theorie von Thomas Sieverts von der
„Zwischenstadt.“ 182

5.5.1 Die fraktale Dimension


Von Humpert et al wurde die Struktur von 60 Metropolen untersucht. In der
abstrakten Darstellung so genannter Schwarzpläne zeigte sich, „dass sich die-
se Ballungsräume weltweit ähneln.“ Besonders die europäischen Metropolen
glichen sich in der „gleichmäßigen Zerfransung ihrer Ränder.“ Es zeigte sich,
dass das Verhältnis der Länge der Siedlungsränder zu den Siedlungsflächen
immer annähernd gleich ist, das heißt, je größer die Fläche, um so länger wer-

180  Humpert et al, (1996), 6.


181  Ebd.
182  Sieverts, (1999).

164  Der Raum als Medium von Architektur und Gartenkunst


den die Ränder, weil „diese Siedlungskörper immer mehr Rand produzieren.
Die Abhängigkeit von Randlänge und Fläche deutet auf fraktale Strukturen
hin.“ 183
Das bedeutet auch, dass die Randdistanzen, das heißt die Entfernung der
Siedlungsmitte von ihrem Rand sich nicht signifikant unterscheiden, „und
dass Ballungsräume – unabhängig von ihrer Größe und ihrer Lage – eine
durchschnittliche maximale Randdistanz von 3,4 Kilometer aufweisen.“ 184
Besonders für die „verstädterten Zonen Europas“ gilt: „je entwickelter eine
Stadt ist, desto differenzierter ist der Aufbau der Größenkategorien, desto
stärker ist sie also partikularisiert: neben dem großen Hauptzentrum gibt es
mittelgroße und kleinere Siedlungspartikel.“ 185
Das alles zeigt „eine noch wenig bekannte Eigenschaft des Phänomens Stadt:
die offene Stadtlandschaft besitzt eine Tendenz zum fraktalen Wachstum.
... Das Streben nach ‚Entdichten’ ist größer als nach ‚Verdichten.’ Es gibt
eine durchgängige Gesetzmäßigkeit: je größer die Siedlungskörper, umso
zerklüfteter werden sie.“ Und es besteht eine „formale Ähnlichkeit der
Ballungsräume: Die ‚Löcherbildung’ so wie das ‚Randbilden’ treten bei zuneh-
mender Dichte im Verstädterungsprozess in allen Kulturen und Kontinenten
auf. ... Die fraktale Formbildung von städtischen Ballungsräumen [ist] vor al-
lem das Ergebnis anthropologischer Grundmuster.“ 186
Die Forscher kommen zu der Erkenntnis, dass gerade die Siedlungsränder eine
deutliche Präferenz haben. Deshalb „sollten wir in großen Agglomerationen
die Verteilung, Zerfransung und Verinselung positiv bewerten. Ein zerklüfte-
ter Siedlungsraum besitzt viele Randlagen – und damit auch viele hochqua-

183  Humpert et al, (1996), 8.


184  ebd., 8f
185  ebd., 9
186  ebd., 12

Die Auflösung des Klassischen Raumes  165


lifizierte Standorte. Hier [muss] ein Umdenken ... stattfinden. Der Rand darf
nicht weiter das Privileg einiger weniger bleiben.“ 187

5.5.2 Die Zwischenstadt


Zu einer ähnlichen, positiven Einstellung zur gegenwärtigen städtebaulichen
Situation kommt Thomas Sieverts. Auch er stellt fest, „dass ‚Stadt’ der Neuzeit
auf der ganzen Welt auf ihr Umland ausgreift und dabei eigene Formen ei-
ner verstädterten Landschaft oder einer verlandschafteten Stadt ausbildet.“
Er nennt diese Gebilde „Zwischenstädte.“ „Sie breiten sich in großen Feldern
aus, sie haben sowohl städtische wie landschaftliche Eigenschaften. Diese
Zwischenstadt steht zwischen ... der auch als Mythos noch sehr wirksamen
Alten Stadt und der ebenfalls noch tief in unseren Träumen verankerten
Alten Kulturlandschaft.“ 188
Sieverts bezieht sich explizit auf die Forschungen der Stuttgarter
Wissenschaftler, aber er geht über deren abstrakte und einseitige Betrachtung
der Siedlungsflächen hinaus und kommt mit der Einbeziehung der
Landschaft und deren Unterscheidung von den Bauflächen zu einer ganz-
heitlichen Betrachtung. Diese Unterscheidung bringt ihm aber auch einige
kritische Bemerkungen Prominskis ein. Dieser lässt sie nicht gelten, weil –
wie wir oben gesehen haben – in seiner ‚Totalen Landschaft’ kein Raum für
derartige Unterscheidungen ist. Die Bedeutung von Sieverts ‚Zwischenstadt’
ist aber so immens, dass es sich lohnt, sie näher zu betrachten und ver-
meintliche Widersprüche zu klären. Ich wende wieder die Operation der
Unterscheidung an. Dabei hebe ich die Begriffe im Text hervor, die auf eine
Unterscheidung hinweisen oder besonders wichtig sind. – Ich zitiere:

187  ebd., 13
188  Sieverts, (1999), 14.

166  Der Raum als Medium von Architektur und Gartenkunst


In allen Zwischenstädten haben sich kennzeichnende Muster der
Durchdringung von Freiräumen und Bebauung herausgebildet. ... Es
ist die Suche nach der Vereinbarung der Gegensätze einer Teilhabe ...
am Stadtleben und der Teilhabe an der Natur. ...Dieses wird ... von un-
zähligen Bauherren in der täglichen Praxis immer wieder betrieben und
führt zu einer Maximierung der Randlänge zwischen Bebauung und
Freiraum. Die auch ökologisch besonders interessanten Grenzbereiche
... haben in den letzten Jahren das Interesse der ‚Fraktalforscher’ ge-
funden, die versucht haben, diese Wachstumsprozesse der Stadt ma-
thematisch abzubilden, mit durchaus zum Nachdenken anregenden
Ergebnissen: Sie zeigen, ... wie ‚selbstähnlich’ z.T. die Entwicklungen
auf unterschiedlichen Maßstabsebenen in der feinmaschigen
Durchdringung von Bebauung und Freiraum erscheinen.189 (Hvh. A.S.)
Die erste Unterscheidung ist also die von Freiraum und Bebauung im Kontext
der Zwischenstadt:

Zwischenstadt
Freiraum Bebauung

Diese Unterscheidung ist noch sehr abstrakt: ‚Bebauung’ meint alles Gebaute
im üblichen Sinne und nicht etwa den Anbau von Gemüse oder Getreide.
Und ‚Freiraum’ ist das Unbebaute. Eine ganz wichtige Aussage ist, dass diese
beiden Zustände in allen Maßstabsebenen „selbstähnlich“ sind und sich „fein-
maschig durchdringen“. Durchdringen heißt nicht Vermischen! Hier gilt der
Grundsatz der Differenztheorie: die Unterscheidung bleibt bestehen; vom
großen Siedlungskomplex bis zum kleinsten Hausgarten ist die Bebauung
von dem Freiraum zu unterscheiden. Die fraktale Grenze ist nicht nach den
Gesetzen der euklidischen Geometrie zu beschreiben, da sie sich immer fei-

189  ebd., 18f

Die Auflösung des Klassischen Raumes  167


ner ‚selbstähnlich’ auflöst. Dennoch ist sie eine Grenze im Sinne Spencer-
Browns, in der immer nur eine Seite zur Zeit beobachtet werden kann. Und
dies korrespondiert wiederum mit der oben entwickelten Unterscheidung
zwischen klassischem und vegetativen Raum; der klassische Raum wird quasi
‚aufgelöst.’ Dies ist der entscheidende Unterschied zur ‚Totalen Landschaft’
Sieverts erläutert sein Konzept weiter:
Die Zwischenstadt kann eine beliebige Vielfalt von Siedlungs- und
Bebauungsformen entwickeln, solange sie insgesamt in ihrem
Erschließungsnetz erlebbar und vor allem wie ein ‚Archipel’ in das
‚Meer’ einer zusammenhängend erlebbaren Landschaft eingebettet
bleibt: Die Landschaft muss zu dem eigentlichen Bindeelement der
Zwischenstadt werden, ... der Freiraum [ist] immer als unverzichtba-
rer komplementärer Bestandteil jeglicher Art von Stadt zu betrach-
ten, auch dort, wo sich sein Charakter von der existenziell erforder-
lichen Ernährungsbasis zur ökologischen Ausgleichsfläche und zum
Erholungsraum gewandelt hat.190 (Hvh. A.S.)
Mit der Einführung des Landschaftsbegriffs bietet Sieverts nun eine
Angriffsfläche der Kritik: Prominski sieht die ‚Landschaft’ bei Sieverts „fast
bis zur Unkenntlichkeit“ verwischt, weil er sie „einmal als ‚Land’, ein ande-
res mal als ‚Natur’, ‚Freiraum’ oder ‚Kulturlandschaft’ [versteht], „was zu vie-
len Unklarheiten führt“ 191 - Wenn man dieses Missverständnis klären will,
muss man den Begriff ‚Landschaft’ von allen Konnotationen – vor allem
den kunsthistorischen, wie ‚Arkadien’ oder ‚Alte Kulturlandschaft’ und so
weiter – befreien und versuchen zu verstehen, in welchem Sinne Sieverts
diesen Begriff gebraucht. (Nach Wittgenstein bestimmt der Gebrauch
den Sinn eines Wortes.) – Ich verstehe Sieverts ‚Landschaft’ im Sinne der

190  ebd., 20.


191  Prominski, (2004), 66.

168  Der Raum als Medium von Architektur und Gartenkunst


Begriffe, die ich oben angeführt habe: ‚Lichtung’, ‚Urraum’ und ‚Vegetativer
Raum’. Ein Hauptkriterium einer so verstandenen Landschaft ist, dass eine
Fläche mit Vegetation bedeckt ist. Ein befestigter Platz ist keine Landschaft;
die „Stadtlandschaft“ verliert ihren Sinn. So sind auch Sieverts weiteren
Ausführungen zu verstehen:
Es geht ... um eine möglichst verträgliche Einfügung der Stadt in
die Naturkreisläufe. Ökologie ist mit Recht zu dem übergreifenden
Leitbegriff der Stadtentwicklung geworden, ...
Zwischen Landschaft und Stadt [besteht] das ökologische und
kulturelle Kontinuum einer gebauten Struktur. Diese ‚Cultura’ in
der ursprünglichen lateinischen Bedeutung des Be- und Gebauten,
stellt sich z.B. als agrar-ökonomisch optimierte Feldflur, als Glashaus-
Kultur, als Schrebergartenanlage, als altes Einfamilienhausgebiet
mit großen Grundstücken, als Siedlungskolonie, als ... mit grünen
Höfen ausgestattetes Stadtviertel des 19. Jahrhunderts und eben-
so auch Hochhausquartier mit grünen Dächern dar. Jedes dieser
Strukturelemente, und nicht nur die von Gebäuden freien Bereiche,
müssten nach dieser Auffassung ihren Beitrag als Cultura ebenso
zur Erhaltung sozio-ökonomischen wie auch unserer natürlichen
Lebensgrundlage bieten.192 (Hvh. A.S.)
Auch hier könnte der Begriff ‚Cultura’ als ‚Be- und Gebautes’ missverstan-
den werden. ‚Cultura’ heißt Anbau im Sinne von ‚Landwirtschaft’ und nicht
‚Gebautes’ im Sinne von ‚architektura’. Gemeint ist aber offensichtlich – wie
oben - die ökologische Durchdringung der Stadtarchitektur mit Vegetation.
Sieverts entwickelt in seiner Theorie ein umfassendes Modell von der
Entwicklung der Zwischenstadt in architektonischer, ökologischer und so-

192  Sieverts, (1999), 50, 53.

Die Auflösung des Klassischen Raumes  169


ziologischer Hinsicht, von denen ich nur einige Passagen zitiere, die für die
Gartenkunst relevant sind:
Stadt und Landschaft werden eine neue Symbiose eingehen müssen,
polarisiert zwischen biotechnischen Anlagen in der Stadt und neu-
en Wildnissen in der Landschaft. Stadtökologie wird sich dabei wan-
deln von einer vorwiegend der Analyse und dem Schutz vorhandener
Landschaftsreste dienender Wissenschaft zu einer Disziplin, die neue
Formen von Stadt-Kulturlandschaften aktiv entwickelt.193
...
[Die] Entwurfsmethode [für die Zwischenstadt, A.S.] versucht eine
Synthese aus Kernen stabiler Permanenz und weiten Feldern weit-
gehender Unbestimmtheit. Unbestimmtheit bedeutet aber nicht
gestalterische Neutralität, sondern eine atmosphärisch gestimmte,
durch Spielregeln bestimmte und durch den Grad an ‚Natürlichkeit’
beziehungsweise ‚Künstlichkeit’ definierte und eingegrenzte
Entwicklungsoffenheit. ... Das Entwerfen mit ‚Natur und Zeit’ überla-
gert die vorgenannten Entwurfansätze.
Insbesondere im entwerferischen Umgang mit von der Natur über-
wucherten Industriebrachen wird praktisch erfahren, dass es den alten
Gegensatz zwischen Kultur und Natur nicht mehr gibt, und dass der
Kreislauf vom Bauen über Nutzungen zu Brachen sich vielfach auf nur
ein bis zwei Generationen verkürzt hat. Derartige Erfahrungen führen
zu Experimenten in der Entwicklung von Baugebieten, die zugleich
hochwertige Biotope sind, in denen die Landschaft gebaut und das
Gebaute Anteile von Landschaftsqualitäten hat – als ein Kontinuum
von technisch kontrollierten Naturanteilen bis zu weitgehend der
Natur ‚frei’ überlassenen Bereichen. Der alte Gegensatz von Technik

193  Ebd., 55

170  Der Raum als Medium von Architektur und Gartenkunst


und Natur wird ‚aufgehoben’ in einem Dritten, das beide Qualitäten
hat. [Und das ist nicht die ‚Totale Landschaft,’ sondern die ‚Form der
Unterscheidung mit zwei Seiten:’ physis und techne. A.S.]
Die Erfahrung mit Stadtbrachen und das Denken in unterschied-
lichen Naturanteilen einer gebauten Stadtwelt führen von selbst
zum Denken in zeitlichen Veränderungen in Form von zeitlichen
Zäsuren und Kreisläufen. Diese Denkfiguren umfassen gleichermaßen
das Denken in kulturellen und ökonomischen Nutzungszyklen, wie
in Dimensionen einer Entwicklungsökologie, in der auch durch das
Bauen neue ökologische Chancen für Artenvielfalt geschaffen werden.
Die noch unserer Gesetzgebung zugrunde liegende Dichotomie von
‚Bösen Bauen’ und ‚Guter Natur’ wird tendenziell aufgehoben, als ein
Schritt in Richtung auf eine symbiotische Stadt.194
Anzumerken ist, dass „Ökologie“ in dieser Landschaft im weitesten Sinne zu
verstehen ist. In ihr hat eine Ruderalfläche genau so eine Berechtigung, wie
eine Gartenschau.
Ich halte diese Theorie von Sieverts für außerordentlich wichtig. Sie ist die
unbedingte Voraussetzung auch für die Gartenkunst, wenn die Idee der
‚Welt als Garten’ verwirklicht werden soll. Es ist nicht gerade schmeichelhaft
für unsere Profession, dass eine derartige - auch für die Landschaftskunst
- grundlegende Theorie - von einem Städteplaner entwickelt - unter
Gartentheoretikern keine positive Resonanz findet.

5.6 Die neue Raumidee


So haben uns also Humpert et al und Sieverts die neue Struktur unserer
Lebenswelt bewusst gemacht. Den ‚klassischen Raum,’ die alte Stadt, die mit

194  ebd., 189.

Die neue Raumidee  171


‚harten Kanten’ gegen die Landschaft abgegrenzt war, gibt es nicht mehr.
Die neue Stadt nach der industriellen Revolution hat sich aufgelöst in einen
„Archipel im Meer der Landschaft,“ eine Inselwelt im vegetativen Raum. Der
vegetative Raum war ursprünglich, wie oben dargestellt, eine Lichtung im
Wald. Der Wald ist in weiten Bereichen zurück gedrängt worden; Lichtungen
mit einem Siedlungskern sind nur noch selten vorhanden, zum Beispiel im
Schwarzwald, wie man über Google Earth sehen kann.

Abb. 5/1, 5/2 Lichtungen im Schwarzwald


Aber auch die verstreuten, mehr oder weniger umfangreichen Waldreste
sind – topologisch gesehen – Grenzen des vegetativen Raumes; selbst eine
einzelne Baumgruppe hat noch diese Funktion. Erst die völlig ‚ausgeräumte’
Landschaft wird zur Steppe.
Verändert hat sich nach dem Ende der Waldweide seit dem 18. Jahrhundert
nur der fraktale Charakter der Grenze zwischen Acker und Wald. Es entstand
ein fester Waldrand. In der Gefühlswelt der modernen Mitteleuropäer – zu-
mindest der meisten – ist der Wald aber noch immer ‚das Andere’ des freien
Feldes, was Schiller so knapp und eindrucksvoll im ‚Spaziergang’ ausgedrückt
hat.

172  Der Raum als Medium von Architektur und Gartenkunst


Die andere Grenze des vegetativen Raumes ist die Bebauung, die Stadt.
Das völlig neue dieser Grenze ist ihr veränderter geometrischer Charakter,
als Folge des fraktalen Wachstums. Diese Grenze ist nicht mehr linear zu
beschreiben, also als eine eindimensionale Linie, die eine zweidimensionale
Fläche begrenzt, sondern ihre Dimension ist ‚gebrochen,’ ‚fraktal.’ Das heißt,
ihre Formen sind vom mikroskopischen bis zum makroskopischen Bereich
selbstähnlich.
Friedrich Cramer zeigt als ein Beispiel die ‚Kochschen Kurven’ an denen die
Selbstähnlichkeit besonders deutlich wird.195

Abb. 5/3 „Kochsche Kurven“


Ein anderes Beispiel, das oft angeführt wird, ist die Meeresküste, deren
Buchten im Mikrobereich bis auf die Sandkörner ‚herabgerechnet’ werden

195  Cramer,(1989), 172ff

Die neue Raumidee  173


können. – Auch der Aufbau eines Baumes ist fraktal; die Selbstähnlichkeit
seines Geästes ist schon vom Wachstum her zu erkennen. Die fraktale
Struktur des vegetativen Raumes ist vom makro- bis zum mikroskopischem
Bereich zu verfolgen von den großen Flächen zwischen den Stadtteilen
und Siedlungen über Grünzüge, die sich immer mehr verästeln, bis zu den
Freiflächen an den Gebäuden. Auch die ‚Löcher’ in der Stadt, die Parks, gehö-
ren zu den fraktalen Formen.
Es ist beachtlich, dass Hermann Mattern schon 1957 diese Idee der fraktalen
Stadtgrenze darstellte mit seiner „Stadt von morgen“ auf der Interbau Berlin.

Abb. 5/4 Fraktale Stadtplanung


An den Gebäudegrenzen endet aber zunächst die ‚feinmaschige
Durchdringung von Bebauung und Freiraum.’ Doch auch diese Grenzen zwi-
schen Gebäude und Freiraum sind keine ‚harten Kanten,’ sondern auch sie
haben im letzten Jahrhundert einen Grund legenden Wandel erfahren, der
zum ‚Raumkontinuum’ und zum ‚Fließenden Raum’ führte. Ihr Charakter
und ihre Ausbildung sind eines der Kernthemen der modernen Architektur

174  Der Raum als Medium von Architektur und Gartenkunst


und Gartenkunst. Dieser Wandel ist genau so revolutionär und tief greifend
wie die Auflösung der Stadt. Er rührt an tiefste Schichten des kollektiven
und individuellen Unbewussten, und entsprechend unklar und wechselvoll
ist sein Verlauf. Dieser Wandel ist aber nicht monokausal zu beschreiben. Ich
werde deshalb die Entwicklung der Raumvorstellung und des Raumgefühls
unter verschiedenen Gesichtspunkten untersuchen.

5.6.1 Der Urwohnraum, die Höhle


Ich habe die Lichtung als den Urraum bezeichnet. Der Urwohnraum ist die
Höhle, die den ersten Menschen Schutz vor Wetter und wilden Tieren bot.
Wo keine Höhlen vorhanden waren, mussten sie durch Bauten ersetzt wer-
den, die sich aber von innen aus gesehen, nicht sehr von den Höhlen unter-
schieden. Solange es kein Fensterglas gab, mussten die Öffnungen auf das
Nötigste beschränkt sein; Licht kam wenig hinein.
Diese Raumform bestand bis in die Neuzeit. Ein Musterbeispiel dieses Typus
ist die Villa ‚Rotonda,’ die wie „kein anderer Villenbau Palladios ... in gleichem
Maße die Bewunderung von Zeitgenossen und nachfolgenden Generationen
gefunden“ hat. Bei Manfred Wundram und Thomas Pape lesen wir über sie:
Von jeder Seite führt ein schmaler tonnengewölbter Gang in ein über
kreisförmigen Grundriss errichteten Innenraum. ... Ohne jedes direk-
te Licht bleibt der Raum dunkel, notwendigerweise ziehen die fast
schachtartigen Korridore auf allen vier Seiten den Blick nach außen, in
Richtung des Lichtes“ 196
Die Gänge führen auf Säulenportiken, (‚überdachte Sitzplätze’) von de-
nen man einen Ausblick auf „die lieblichsten Hügel“ hat, wie „in ein riesiges
Theater.“ (Palladio) – Die Autoren sehen hierin eine „enge Verschmelzung,
ja Durchdringung von Landschaft und Architektur.“ Mir scheint aber eher

196  Wundram, Manfred, Thomas Pape, (1988), 195.

Die neue Raumidee  175


der Vergleich des Hauses mit einer Höhle gerechtfertigt, aus der man ins
Freie hinaustritt, zumal man erst zwanzig Stufen herabsteigen muss, um in
die Landschaft zu gelangen.

Abb. 5/5 Palladio-Villa


Palladios Werke waren stilbildend, so dass man von einem Palladianismus
spricht. Besonderen Einfluss hatte er auf die Bauten in den englischen Gärten.
Es geht also zunächst um die Belichtung der Wohnungen, und die ist tat-
sächlich von der Entwicklung der Glasscheiben abhängig. Zuerst gab es nur
die Butzenscheiben und danach lange Zeit nur kleine Formate, sodass die
Fenster mit vielen Sprossen unterteilt werden mussten. Erst die fortschreiten-
de Technik der Glasherstellung ermöglichte große Fensterscheiben, die den
freien Blick in die Landschaft ermöglichten; sie war die Voraussetzung aber
nicht die Ursache der neuen Raumidee.

5.6.2 Das Raum-Zeit-Kontinuum


Einen wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung der Raumidee in der
Architektur hatte die Relativitätstheorie Einsteins. So veröffentlichte „der
russische Konstruktivist El Lissitzky ... 1925 einen umfangreichen Essay, der die

176  Der Raum als Medium von Architektur und Gartenkunst


Ergebnisse seiner Auseinandersetzung mit Einsteins Relativitätstheorie zu-
sammenfasste.“ 197 Lissitzky stand in enger Verbindung mit anderen Künstlern
und Architekten, so dass die Idee des Raum-Zeit-Kontinuums intensiv im
Archtekturdiskurs behandelt wurde. Einstein lehnte diese Vergleiche kate-
gorisch ab. Aber in Wirklichkeit ging es den Künstlern auch nicht um die
physikalischen Gegebenheiten, sondern um eine Metapher für den archi-
tektonischen Raum. Es ging um die Erkenntnis, dass die Raumvorstellung
der modernen Architektur nur als Bewegung, also als zeitlicher Ablauf zu
beschreiben ist.198
Sigfried Giedion, der ein Protagonist dieser Entwicklung war, stellt sie so dar:
Um 1910 wurde man sich ... bewusst, dass die Ausdrucksmittel des
Malers den Kontakt mit dem modernen Leben verloren hatten. Es
war Paris, wo daraus folgende Bestrebungen – mit dem Kubismus –
erstmals ein sichtbares Resultat erreichten. Die Methode, räumliche
Beziehungen darzustellen, wie sie die Kubisten entwickelt hatten, führ-
te zu plastischen Methoden der neuen Raumkonzeption. ...
Die vier Jahrhunderte alte Geflogenheit, die Außenwelt mit den Augen
der Renaissance zu sehen, das heißt in ihrer Dreidimensionalität, war
so tief im menschlichen Geist verwurzelt, dass sie keine andere Form
der Perzeption zuließ. ...
Der dreidimensionale Raum ist der Raum der euklidischen Geometrie.
... Um die wahre Natur des Raumes zu erfassen, muß der Beschauer sich
selbst in ihm bewegen. In den eisernen Wendeltreppen des Eiffelturmes

197  Müller, (2004), 4


198  Ich beschreibe hier so ausführlich die Entwicklung der neuen
Raumidee und den Einfluss, den bildende Künstler darauf hatten, weil deren
Werke heute in rein formalistischer Weise als Vorbilder in der Gartenkunst
dienen: Ein Fehlschluss, der noch näher zu erörtern ist.

Die neue Raumidee  177


ist wohl zuerst rein körperlich das Erlebnis einer Durchdringung von
Außen- und Innenraum möglich gewesen.199
Eine ‚Vorahnung’ des Raum-Zeit-Kontinuums hatte schon Novalis: er sta-
tuierte im „Allgemeinen Brouillon“ dass „Zeit und Raum ( ) zugleich (ent-
stehen) und ( ) also wohl Eins (sind). ... Raum ist beharrliche Zeit – Zeit ist
fließender, variabler Raum – Raum - Basis alles Beharrlichen – Zeit – Basis
alles Veränderlichen.“ 200
Und schon in Bezug auf den Landschaftsgarten ist fest zu stellen, dass er nur
im Durchschreiten, also im zeitlichen Ablauf räumlich zu erfassen ist.

5.6.3 Der Konstruktivismus in der neuen Architektur


Wichtige theoretische Grundlagen der modernen Architektur entwickelte
der holländische Maler und Architekt Theo van Doesburg. Er „war mit ei-
ner besonderen Fähigkeit begabt, neue Entwicklungen bereits im Keim zu
erkennen, zu assimilieren und zu radikalisieren. ... [Er] strebte eine Synthese
von Kunst und Leben an, ein Ziel, das er mit einer Reihe seiner Zeitgenossen
teilte, darunter den Ungarn Lásló Maholy-Nagy, ... und den Russen Lissitzky.“
Eine enge Beziehung bestand auch zu Mondrian. Die Malerei war ein
Ausgangspunkt für seine Entwicklung des Architektonischen, auch das
„Schwarze Quadrat“ Malewitschs beeinflusste ihn. Die Architekturformen,
die er mit dem Architekten van Eesteren entwickelte, setzten sich aus ele-
mentaren geometrischen Körpern, wie Kuben, Quadern und Scheiben zu-
sammen. Diese Architekturform nannte van Doesburg „Konstruktivismus.“
201

199  Giedeon, (1965).


200  Müller, (2004), 98.
201  Van Straaten, (2000), 43ff.

178  Der Raum als Medium von Architektur und Gartenkunst


Daraus ist eine Verbindung zu Gropius abzuleiten. Dieser setzte bei der
Planung von Serienhäusern ebenfalls typisierte geometrische Körper ein.
Auch die berühmten Meisterhäuser in Dessau und das Haus Auerbach sind
nach diesem Formprinzip gebaut. Zwar schrieb Gropius über das Bauhaus-
Gebäude:
Diese Transparenz sucht die Vorstellung eines fließenden
Raumkontinuums zu erzeugen. Das Gebäude scheint zu schwe-
ben und der Raum hindurchzuströmen. Ausschnitte des unend-
lichen Außenraumes werden einbezogen in die architektonische
Raumkomposition, die in die Umgebung hinausgreift. Der Raum
selbst scheint sich zu bewegen.202
Aber tatsächlich wirken diese Gebäude trotz der teilweise großen Fenster
doch noch sehr geschlossen: ‚kubistisch.’
Ähnlich ist die Raumvorstellung Corbusiers zu sehen. Seine Villa Savoye
zum Beispiel steht auf Säulen, vom Boden abgehoben. Der Dachgarten ist
ummauert und nur ein relativ kleines Fenster ermöglicht einen Blick auf die
Landschaft.
Ein besonderes Phänomen dieser frühen Entwicklung in der Architektur
ist gekennzeichnet durch deren Verbindung mit der Malerei. Die ist schon
dadurch gegeben, dass van Doesburg wie auch Corbusiers Architekten und
Maler waren. Die Idee besonders van Doesburgs war, in der Malerei und
Architektur alle Formen auf einfache geometrische Strukturen zu reduzieren
und dadurch zu einem Gesamtkunstwerk zu kommen. Die Funktion und die
Raumwirkung der Architektur standen nicht im Mittelpunkt des Interesses.

202  Müller,(2004), 146

Die neue Raumidee  179


5.6.4 Der fließende Raum
Die Verwirklichung der Idee des fließenden Raumes ist Mies van der Rohe
zuzuschreiben. Ullrich Müller schreibt dazu:
Mit dem Entwurf des Landhauses in Backstein von 1923/24 konzipier-
te Mies van der Rohe erstmals ein Bauwerk, dessen Raumgefüge aus
der freien Disposition gliedernder Wandscheiben entstand, mit dem
bezwingenden Ergebnis, dass der entwickelte offene Grundriss das her-
kömmliche Prinzip der allseitig umschlossenen Raumeinheiten über-
wand. Die Wohnräume des Landhauses, durch asymmetrisch organi-
sierte Mauerabschnitte unterschiedlicher Länge gefasst, durchdringen
sich wechselseitig und öffnen sich zum Außenraum durch raumhohe
Glaswände. Zentrifugale Mauerzüge, die sich aus der rechtwinkeligen
Struktur des Baukomplexes lösen und in drei Himmelsrichtungen
streichen, verspannen das schwebende Gebilde aus Wandfeldern
und Mauerwinkeln, indem sie über den vorgegebenen Rahmen der
Zeichnung hinausweisen.203

203  Ebd., 78ff

180  Der Raum als Medium von Architektur und Gartenkunst


Abb. 5/6 „Landhaus aus Backstein“ von Mies van der Rohe
Und Ähnliches über diesen Entwurf lesen wir bei Giedeon:
Die aus dem Inneren vorstoßenden Flächen machen nicht, wie noch
bei van Doesburg, an den Grenzen des Hauses halt. Windmühlenartig
werden sie in den Außenraum weitergeführt. Gleichzeitig werden die
Flächenelemente zum Sammelpunkt von Strukturelementen: Die
Transparenzwirkung durchgehender Fensterreihen, die schwebend
horizontale Deckenplatte ... werden hier meisterhaft durch künstleri-
sche Kontrolle integriert.204
Der Entwurf für das ‚Landhaus in Backstein’ war kein konkretes Bauvorhaben,
sondern er wurde angefertigt für die ‚Große Berliner Kunstausstellung’ 1924
und hatte also nur programmatischen Charakter. Konstruktiv gesehen ver-
wendete Mies van der Rohe von den ‚geometrischen Grundformen’ nur die
Mauerscheiben und die Platten für Decken und Böden.

204  Giedeon, (1965), 357.

Die neue Raumidee  181


Hier wurde aber zum ersten Mal die Idee des fließenden Raumes konse-
quent dargestellt. Konkret verwirklichen konnte Mies diese Idee erst 1929
mit dem Deutschen Pavillon in Barcelona.
Enthusiastisch hat 1931 Walter Riezler dieses neue Raumgefühl beschrieben,
im Hinblick auf das Haus Tugendhat von Mies:
Alles Statische, in sich Ruhende tritt zurück hinter der Dynamik die-
ser ineinander gleitenden Raumteile, deren Rhythmus seine Lösung
erst im Freien, im Einstwerden mit dem Allraum der Natur findet.
Der Raum ist, wenn man so will, ‚atonal’ oder ‚polytonal’ im Sinne der
modernen Musik wie auch der Malerei, und daher Ausdruck eines all-
gemeinsten Weltgefühls, in dem sich, wie in der Philosophie, ein völlig
neues Weltbild sich ankündigt.205 (Hvh. A.S.)
Mies van der Rohe hat verwirklicht, was bis dahin nur als abstrakte Raumidee
vorhanden war, das Kontinuum von Naturraum und Wohnraum. Ich präzi-
siere: Das Raumkontinuum, bestehend aus der Lichtung des Waldes, dem
fraktal die Stadt durchdringenden Vegetativen Raum, bis zum offenen
Wohnraum.
Nun ist allerdings festzustellen, dass diese neue Raumidee keineswegs
Allgemeingut geworden ist. Genau wie die moderne Kunst braucht es offen-
sichtlich eine lange Zeit, bis die Ideen der Avantgarde das Gros der Gesellschaft
erreichen. Beispielhaft aber auch symptomatisch für die Akzeptanz und da-
mit für die Schwierigkeiten der Umsetzung dieser Raumidee in der Praxis.
ist das Farnsworth-Haus. Wenn man die Abbildungen dieses Hauses be-
trachtet, ist man überwältigt von seiner kristallinen Schönheit. Aber „die
Auftraggeberin [war] nach der Fertigstellung bitter enttäuscht, erwies sich

205  Müller, (2004), 27.

182  Der Raum als Medium von Architektur und Gartenkunst


doch das Haus aufgrund seiner abstrakten Einfachheit als überraschend
schwierig zu bewohnen.“ 206

Abb. 5/7 Farnsworth-Haus


Hier wird ein Problem deutlich, mit dem Mies van der Rohe bei der Ausführung
seiner Wohnhäuser zu kämpfen hatte. – Das ‚Landhaus in Backstein’ war
reines ‚Ornament’, ‚Gestalt.’ Als funktionierendes Wohnhaus kann man es
sich schwer vorstellen. Der Barcelona-Pavillon ist ein Ausstellungsbau, ein
Schaustück. Es wirkt durch seine Gestalt und die edlen Materialien; nach
einer Wohnfunktion ist nicht gefragt.
Bei den Häusern Esters und Lange in Krefeld musste Mies Kompromisse
eingehen, obwohl Lange Sammler moderner Kunst war. Mies verfolgte
zunächst die Idee, „die Räume durch große Glaswände zu öffnen, was je-
doch am Einspruch des Bauherrn scheiterte, ein Veto, das ihm ... erhebliche
Schwierigkeiten“ bereitete.207
206  Zimmermann, (2006)
207  Müller, (2004), 186.

Die neue Raumidee  183


Es scheint immer noch dem allgemeinen Lebensgefühl zu widersprechen,
die Außenwelt ‚ungefiltert’ in den Innenraum fließen zu lassen. Selbst Mies
van der Rohe hat dies – bewusst oder unbewusst - nicht konsequent zu-
gelassen: Er stellte fast immer seine Wohngebäude auf einen Podest. Die
Abbildung des Landhauses in Backstein zeigt im Vordergrund eine niedrige
Stützmauer. Auch der Garten mit dem Pool am Barcelona-Pavillon ist nur
über eine Treppe zu erreichen, und dem Haus Lange ist gar eine Ebene vor-
gelagert, die man mit einem Barockparterre vergleichen kann. Auch sie ist
durch eine Stützmauer von cirka neunzig Zentimeter Höhe vom übrigen
parkartigen Garten getrennt. Das Farnsworth-Haus, in einem ebenen Garten
gelegen, hat Mies auf Stelzen gestellt; das Haus scheint zu schweben, ohne
Verbindung mit dem Boden. Der Bezug zum Außenraum ähnelt hier dem
des Tugendhat-Hauses, das an einem Hang liegt und deshalb keine eben-
erdige Verbindung zum Garten haben kann. - Eine fragwürdige Auffassung
zu diesem Phänomen äußert Ullrich Müller in Bezug auf das Landhaus in
Backstein:
Unabhängig von der dem Bauwerk eingeschriebenen Bewegung und
Plastizität dominiert der Eindruck des Schwebens, der zweifellos durch
die extreme Betonung der Horizontalen in Form der Mauerfluchten
zustande kommt, verstärkt durch die niedrige Futtermauer, die eine
Geländekante aufzufangen scheint, tatsächlich aber eine Art Podium
bildet, wie Mies van der Rohe es auf der Gartenseite der Häuser Lange
und Esters in Krefeld und auf der Eingangsseite des Barcelona-Pavillons
schuf, um die Sphäre des künstlerischen Raumes zu markieren.208
(Hvh. A. S.)
Diese Auffassung widerspricht nun entschieden der Idee des Kontinuums:
„ununterbrochener, gleichmäßiger Fortgang von etwas, lückenloser
Zusammenhang, durch Verbindung vieler Punkte entstehendes, fortlau-

208  Ebd. 82

184  Der Raum als Medium von Architektur und Gartenkunst


fendes geometrisches Gebilde“ (Duden). Wenn Müller den „künstlerischen
Raum“ abgrenzen will, - gegen was? gegen das Chaos? – dann entspricht das
noch ganz den Denkgewohnheiten des ‚Klassischen Raumes.’
Mies van der Rohe hat dann 1935 seine Raumidee weiterentwickelt, wohl
um dem Bedürfnis der Bauherren einerseits nach Geborgenheit und an-
dererseits nach Offenheit zu entsprechen. Er schrieb über den Entwurf des
Hauses Hubbe in Magdeburg, der dann allerdings nicht verwirklicht wurde:
Das Grundstück lag
... unter alten schönen Bäumen mit einem weiten Blick über die
Elbe. Es war ein ungewöhnlich schöner Platz zum Bauen. Nur die
Sonnenlage bot Schwierigkeiten. Der schöne Blick ging nach Osten,
nach Süden war der Blick ganz reizlos, fast störend. ... Ich habe deshalb
den Wohnteil des Hauses nach Süden hin durch einen von Mauern
umgrenzten Gartenhof erweitert und so diesen Blick aufgefangen und
doch die volle Besonnung freigehalten. Elbabwärts dagegen ist das
Haus ganz geöffnet und geht frei in den Garten über, ... einen schönen
Wechsel stiller Abgeschlossenheit und offener Weite ... 209 (Hvh. A.S.)

5.6.5 Die Zeit nach dem Bauhaus


Nach 1933 mussten die meisten Bauhaus-Künstler emigrieren, hauptsächlich
nach Amerika, wo sie ihre Kunst weiter entwickeln konnten. In Deutschland
wurden ein Neoklassizismus und die ‚Blut-und-Boden-Architektur’ verord-
net. Nur wenige Architekten versuchten, das neue Raumideal weiter zu ver-
wirklichen, verbrämt mit dem geforderten Giebeldach, so zum Beispiel Sep
Ruf. Erst nach dem Kriege wurden die Bauhausideen wieder aufgegriffen, al-
lerdings meistens in einer angepassten Form. Das heißt, in Wohnhäusern mit

209  Bergdoll, (2002), 104.

Die neue Raumidee  185


konventionellem Grundriss wurde mindestens der Hauptraum nach außen
geöffnet, indem man die Außenwand durch eine Glaswand ersetzte.
Das entscheidende Kriterium, das sich weit gehend durchsetzte, war der stu-
fenlose Übergang vom Wohnzimmer auf eine Terrasse und weiter auf die
Rasenfläche. Es zeigte sich, dass dies für das Gefühl des Raumkontinuums
wichtiger ist, als Raum begleitende Mauerscheiben, denn das Raumgefühl
wird nicht allein optisch bestimmt, sondern viel stärker durch das sich
Bewegen zwischen innen und außen. Ich habe dies selbst bei der Gestaltung
meines Gartens erfahren. Auf der Südseite des Hauses musste ein größerer
Höhenunterschied bewältigt werden. Dazu hatte ich zwischen Wohnzimmer
und Terrasse nach einem Podest drei Stufen eingebaut und weitere zwischen
Terrasse und Garten. Es zeigte sich, dass die Terrasse im täglichen Gebrauch
so nicht genutzt wurde. Erst nach der Anhebung auf das Wohnzimmerniveau
konnte sie die Funktion als erweiterten Wohnraum übernehmen.
Dieses Gestaltungsprinzip verfolgte zum Beispiel auch Sep Ruf, der 1951
schrieb:
Das Einfamilienhaus konzipiert man heute schon so, dass man ein
Differenziertes Wohnen hat, Ein großes Fenster, einen großen Raum, ei-
nen Garten, der hineinfließt in den Innenraum und von dem man wie-
derum auch das Draußen einbezieht, ja ständig mit ihm in Verbindung
sein will. Das müssen wir aber auch im sozialen Wohnungsbau den
anderen, die es sich nicht leisten können, geben.210
Aber in Deutschland entstanden auch Bauwerke, in denen das Prinzip des
Raumkontinuums und des fließenden Raumes in idealer Weise verwirk-
licht sind. Ich nenne einige Beispiele: Die deutsche Pavillongruppe auf der
Weltausstellung in Brüssel von Sep Ruf und Egon Eiermann

210  Nerdinger, (2008), 022.

186  Der Raum als Medium von Architektur und Gartenkunst


[Sie bestand] nur aus schwebenden leichten Formen. Sämtliche
Wände schienen entmaterialisiert, die gesamte Anlage vermittelte
den Eindruck von Transparenz und Leichtigkeit. Die Natur zog sich
durch die Anlage ... Innen und außen gingen ineinander über, Grenzen
schienen aufgehoben und der Besucher bewegte sich durch fließende
Räume.211
Dieses Bauwerk hatte eine sehr spezielle Funktion als Ausstellungsgebäude
und darüber hinaus als politisches Symbol für ein gewandeltes Deutschland.
– Die Außenanlagen wurden von Walter Rossow gestaltet.
Das Wohn- und Empfangsgebäude des Bundskanzlers in Bonn von Sep
Ruf vereinigt die Funktionen des Wohnens und der Repräsentation. Als
Raumfolge hat er modellhaften Charakter. Er besteht aus
zwei quadratische[n], gegeneinander versetzt angeordnete[n] 20 mal 20
Meter und 24 mal 24 Meter große[n] eingeschossige[n] Atriumbauten,
... . Der kleinere, niedrigere, weit gehend mit Klinkermauerwerk ge-
schlossene Baukörper enthält die Privaträume des Bundeskanzlers, die
auf einen Innenhof ... ausgerichtet sind. Im Gegensatz dazu öffnet sich
der größere und höhere Pavillon ... mit geschosshohen, verschiebbaren
Wänden zum Park. Die fließend angelegten Raumfolgen lassen sich
je nach gesellschaftlichem Anlass durch Versenk- und Schiebewände
den Erfordernissen anpassen. Nur wenige Stahlstützen tragen das weit
ausladende und dadurch fast zu schweben scheinende Dach.

211  Ebd., (094).

Die neue Raumidee  187


Abb.5/8 Sep Ruf, Bundeskanzler Bungalow, Bonn
Wenn man den Grundriss dieses Gebäudes betrachtet, kann man ein ide-
ales Raumkontinuum beschreiben: Der eine Pol ist die ‚Höhle’ in Form des
geschlossenen Atriums. An dieses schließen sich mehrere nach außen offene
Räume und der Übergang zu dem Hauptgebäude an. Dieses öffnet sich weit
nach außen; seine Offenheit ist aber durch bewegliche Wände variabel. Der
andere Pol des Raumkontinuums ist der stufenlos anschließende Park.

188  Der Raum als Medium von Architektur und Gartenkunst


Abb. 5/9 Bundeskanzlerbungalow in Bonn, Grundriss
Weitere Beispiele sind die Siedlungen von Richard Neutra in Walldorf und
Quickborn. Die beschreibt der Architekt und Vorsitzende der Richard J.
Neutra Gesellschaft Hilmer Goedeking, der selbst einen Neutra-Bungalow
bewohnt:
Die Häuser ... weisen alle für Neutra typischen Merkmale auf, mittels
derer sich Privatheit und Offenheit und Großzügigkeit verbinden
lassen: große Fenster, deren Rahmen aufs Äußerste reduziert sind,
Glasschiebetüren, die das Wohnzimmer mit den Terrassen verschmel-
zen lassen, und diagonal organisierte Grundrisse die stets neue und
andere Durchblicke erlauben, sowie das berühmte „spider leg“ (eine
Stütze für die weit auskragenden Dachüberstände), das eine spros-
senfreie Glasecke im Wohnraum ermöglicht. Die Grundrisse sind

Die neue Raumidee  189


so gestaltet, dass sie sich eng mit den Gärten, den Bäumen und der
Umgebung verweben. Immer wieder werden lange Blicke über das
eigene Grundstück hinaus möglich, ohne dabei einen Einblick von au-
ßen zu gewähren.212
Die Unterscheidung von ‚Privatheit und Offenheit’ ist von großer Bedeutung.
Anthropologisch gesehen ist die archetypische ‚Höhlenprägung’ immer
noch wirksam, das Streben nach Schutz und Geborgenheit. Erst in der
Neuzeit ist durch die Entlastung und Entfremdung von der Natur (Ritter) die
Zuwendung zu ihr entstanden.
Den Charakter der unterschiedlichen Raumformen soll abschließend diese
schematische Darstellung zeigen:

Geschlossener Raum Fließender Raum

Kombinierter Raum

212  Internet-Eintrag der Deutschen Stiftung Denkmalschutz, (2005)

190  Der Raum als Medium von Architektur und Gartenkunst


Ich sehe folgende Unterschiede und Charakteristika: Der geschlosse-
ne (‚klassische’) Raum ist von Mauern umgeben, die eine Außen- und
Innenseite haben. Dem entspricht die Konvention des Unterschiedes zwi-
schen Fassadenausbildung und Innendekoration. Diese unterlagen zuletzt
im Rokoko einem gemeinsamen Stil. Das Biedermeier steht dann „für die
Ablösung des Interieurs von der Fassade; Innenarchitektur verselbständigt
sich und zersetzt dadurch die Einheit des Stils, die bis dahin verbindlich war.“
213
- Der Fließende Raum ist reiner Bewegungsraum; seine Wände haben nur
Außenseiten. Die kombinierte Raumform ist ein Kontinuum aus Innen- und
Außenraum. Wichtig ist die Feststellung, dass Innen- und Außenseite und
damit Innen- und Außenraum den gleichen Stilelementen unterliegen.

5.7 Der neue Raum und die Gartenkunst


Es ist wohl evident, dass eine Gartenkunst, die dieser neuen Raumidee ent-
spricht, sich Grund legend von der klassischen Gartenkunst unterscheiden
müsste. Diese war gebunden an den klassischen Raum, an die geschlossene
Stadt. Selbst die Inszenierung des Landschaftsgartens fand in einem idealen
euklidischen Raum statt.
Ich untersuche zunächst, ob und wie sich die Gartenkunst in Verbindung
mit der neuen Architektur entwickelt hat. Wie schon dargestellt, waren in
der Reformarchitektur Haus und Garten funktional und formal eine Einheit
auf Grund des Primats der Architektur.

213  Grasskamp, (1992), 146.

Der neue Raum und die Gartenkunst  191


Abb. 5/10 „Reformgarten“
Auch in der Entwicklung des Bauhausstils war dies scheinbar der Fall. Zu
dieser Auffassung kommt jedenfalls Dorothea Fischer-Leonhardt in ihrer
Untersuchung „Die Gärten des Bauhauses“ 214
Der maßgebliche Architekt der Bauhausgebäude war Walter Gropius.
Seine Stilmittel sind, wie oben bereits angedeutet, die Kuben, ähnlich
wie die van Doesburgs. Große Fensteröffnungen stellen zwar eine op-
tische Verbindung zwischen Innen- und Außenraum her, aber eine
physische innige Verbindung ist nicht gegeben. Bei seinem eigenen
Haus sind sieben Stufen zu überwinden, um in den Garten zu gelan-
gen; bei den übrigen Meisterhäusern sind es nur zwei, aber auch bei
denen sind die Terrassen durch massive Mauern vom Gartenraum
getrennt.

214  Fischer-Leonhardt, (2005).

192  Der Raum als Medium von Architektur und Gartenkunst


Fischer-Leonhardt ist nun sichtlich bemüht, Gropius eine gartenkünstle-
rische Kompetenz zu zu schreiben, zunächst bezogen auf das eigentliche
Bauhausgebäude:
Gropius [präsentiert] mit den am Bauhausgebäude geschaffenen
gärtnerischen Anlagen einen völlig neuen Ansatz innerhalb der
Gartenkunstgeschichte, deren Purismus bis dahin beispiellos ist.
Deshalb ist das Umfeld des Bauhausgebäudes als eine Neuinterpretation
der Gartenkunst durchaus positiv zu bewerten. Seine aufgezwungene
Zurückhaltung gegenüber dem Gebäude, die völlige Reduktion auf
Rasenflächen und Wege nach rein funktionalen Gesichtspunkten,
ist gartenkünstlerisch allerdings wenig spektakulär. Und auch der
Nutzung des Außenraumes waren durch die sparsame Ausstattung
Grenzen gesetzt. Es ist wohl die stilvolle Kombination von großflä-
chigen Rasenfeldern und geradförmigen Wegeführungen und gezielt
eingefügten Baumreihen, die bis heute ein stilistisch harmonisches
Gesamtbild ergibt. Der Freiraum aber unterliegt dabei deutlich der
baulichen Dominanz einer Architektur, die ohne diese qualitätsvol-
le und zurückhaltende Einrahmung womöglich bedeutend weniger
Aufmerksamkeit in der Baugeschichte erregt hätte. (Hvh. A.S.)
Diese Eloge auf Gropius ist wohl hauptsächlich dem großen Namen ge-
schuldet; sie ist aber offensichtlich auch affirmativ beeinflusst von der zurzeit
herrschenden Mode des Minimalismus in der Gartenkunst. Ich vermag in
der völligen Reduktion bei der Gestaltung der Außenanlagen keinen Ansatz
einer künstlerischen Idee zu entdecken. Gropius ging es offenbar, wie Fischer-
Leonhardt es selbst bemerkt, um die „Dominanz der Architektur.“
Um Gropius aber gerecht zu werden, ist es sinnvoll, sein Naturverhältnis
zu betrachten. Sein abstraktes Raumverständnis habe ich oben schon er-
wähnt: (S. Anm. 205) nämlich die Idee des Raumkontinuums zwischen
Architektur und Natur. Diese Idee hat er verfolgt, indem er für die geplanten

Der neue Raum und die Gartenkunst  193


Meisterhäuser des Bauhauses ein mit Kiefern bewachsenes Grundstück be-
stimmte. Wie der Blick aus dem Fenster des Gropius-Hauses zeigt, wird die
Stimmung des Außenraumes ganz und gar von diesen Bäumen bestimmt;
die übrigen Gestaltungselemente wie Wege und Rasenflächen kann man da-
gegen vernachlässigen.

Abb. 5/11 „Blick in die Natur“


Auch die Lebensweise der Bewohner dieser Häuser war von dieser
Konzeption bestimmt: Ihr Leben im Außenraum konzentrierte sich auf die
Terrassen und Dachgärten. Auf einem Bild sieht man, dass sonnenbadende
Personen sogar die Dachterrasse mit einer hohen Plane umgeben hatten, um
sich vor fremden Blicken zu schützen. Der Garten war also praktisch nicht
nutzbar. „Wie sollte [er] auch genutzt werden? Verfügte er doch, so wie ihn
sich Gropius erdacht hatte, über keine wirklich funktionalen Möblierungen,
die einen längeren Aufenthalt ermöglicht hätten.“ 215 Selbst diese fundamen-

215  Fischer-Leonhardt, (2005), 95.

194  Der Raum als Medium von Architektur und Gartenkunst


talen Bestandteile der Gartenarchitektur waren für Gropius nebensächlich,
waren nicht sein Thema.

Abb. 5/12 Statt Garten, Haus im Walde


Gropius hat einmal konstatiert, dass die Kunstakademie herkömmlicher
Ausrichtung „( )den verhängnisvollen Irrtum der Identität der Begriffe Natur
und Kunst (schuf), diese ( ) aber ihrem Ursprung nach Gegensätze sind.
Das Künstliche will das Natürliche überwinden, um den Gegensatz in ei-
ner neuen Einheit aufzulösen.“ 216 Das Verhältnis von Architekturraum und
Naturraum, wie Gropius es sieht, kann man also im gewissen Sinne als ‚Form
der Unterscheidung mit zwei Seiten’ sehen. Er kann diese Idee aber nur ver-
wirklichen, wo und wenn er ‚Natur’ vorfindet. Er ist jedoch nicht in der Lage
sie zu ‚installieren.’ Das wäre Aufgabe eines kongenialen Gartenarchitekten
gewesen, der ihm aber nicht zur Verfügung stand. So bleibt die Verbindung
von Innen- und Außenraum bei Gropius eine rein visuelle, genau wie bei

216  Zitiert bei Müller, (2004), 76.

Der neue Raum und die Gartenkunst  195


Corbusier, der seine ‚Langfenster’ explizit als Rahmung des Landschaftsbildes
sah.
Wie ist dagegen Mies van der Rohe mit dem Außenraum, mit der Vegetation
umgegangen? Dies wurde lange Zeit negativ beurteilt. Schuld daran ist Philip
Johnson, der für eine Ausstellung im Museum of Modern Art 1932 die
Grundrisse dieser Gebäude neu zeichnen ließ.
Zu diesem Zweck wurden nur wenige Linien ... weggelassen, aber diese
Auslassungen sollten in ganz erheblichem Maße die Wahrnehmung
und Deutung von Mies´ Werk beeinflussen. Die Tatsache, dass der
Weg zum mit Buschwerk bewachsenen Abhang hinter dem Deutschen
Pavillon und die Umrisse der Terrasse als Podium für die Gartenfassade
des Hauses Tugendhat nicht mehr dargestellt wurden, löste Mies´
Gebäude aus ihrer Umgebung heraus und vereinfachte die für sein
Gestalten wesentlichen Schichtungen von Außen- und Innenräumen.
... Indem sie die Bäume aus den Lageplänen für Barcelona und Brno
tilgten, überlieferten sie einen autonomen, universalen Raum, der sich
überall verinnerlichen und reproduzieren ließ.217
In Wirklichkeit hatte Mies van der Rohe ein ausgeprägtes Verhältnis zum
Garten und zum Außenraum als Naturraum, wie nur wenige Architekten.
Dabei war er souverän genug, auch mit Gartenfachleuten zusammen zu ar-
beiten, so zum Beispiel bei seinem ersten bedeutenden Wohnhaus, dem Haus
Riel, wo Karl Foerster intensiv mit gewirkt hat,218 oder beim Haus Tugendhat,
wo es zu einer Zusammenarbeit mit einer Gartenarchitektin kam.
Barry Bergdoll geht bei seiner Untersuchung „Das Wesen des Raumes bei
Mies van der Rohe“ von der Prämisse aus, dass für Mies der Raum im archi-
tektonischen Sinne und die Vegetation zusammen gehörten. Bergdoll zeigt

217  Bergdoll, (2002), 67.


218  Neumeyer, (2002), 315.

196  Der Raum als Medium von Architektur und Gartenkunst


den Ausgangspunkt der Entwicklung mit dem Reformgarten des Hauses
Perl.219 Das Haus Riel war dann „das erste in einer Reihe von Villen, bei de-
nen Mies eine Gegenüberstellung von Nahsicht und weitem Ausblick in die
Landschaft inszenierte.“ 220 -
Interessant ist ein Zitat von 1923. Mies schreibt: „Eine Landschaft oder ein
Wald besteht ... nicht aus formal gleichen Gebilden, und ein Wacholderbusch
steht sehr gut zu einem Rosenstrauch; wäre die Natur so langweilig wie unse-
re architektonischen Gebilde, so wäre hier längst eine Revolution ausgebro-
chen.“ 221 Das zeigt, dass auch Mies klar zwischen Gebilden der Natur und der
Architektur unterscheidet.
In Bezug auf die Raumvorstellung Mies van der Rohes sieht Bergdoll aller-
dings immer noch affirmativ „die abrupte Trennung zwischen der Geometrie
des Gartens und der natürlichen Landschaft,“ die nach meiner Auffassung
die Idee des fließenden Raumes abschwächt. Andererseits hebt er an vielen
Beispielen das harmonische Zusammenspiel zwischen den „scharfkantigen,
asymmetrischen Bauformen [und] der Natur“ hervor. So zum Beispiel beim
Haus Esters, wo Mies „sich die Hauswände von Blütenranken überwuchert
vorstellt,“ 222 Und besonders beim Haus Tugendhat zeigen viele Skizzen und
Zeichnungen, welche Bedeutung Mies der Vegetation beimisst.
Typisch ist ein Projekt von 1952, das „50 mal 50 Haus.“ 223 Es wurde nicht
ausgeführt; von ihm existieren nur der Grundriss und ein Bild des Modells,
das per Fotomontage in einen Park gestellt wurde.

219  Bergdoll, (2002), 75.


220  Ebd., 74.
221  Ebd., 82.
222  Ebd., 89.
223  Zimmerman, (2006), 60.

Der neue Raum und die Gartenkunst  197


Abb. 5/13 Das 50 mal 50 Haus
Das Haus ist in seiner Offenheit mit dem kurz vorher fertig gestellten
Farnsworth Haus zu vergleichen. Es steht aber nicht wie dieses auf Stelzen,
sondern ist ebenerdig in den mit Bäumen bestandenen Park gestellt. Keine
Mauern hemmen den Blick in die Natur und keine Stufe den Schritt in den
Garten. Ich sehe hierin einen wichtigen Schritt in der Entwicklung des flie-
ßenden Raumes und des Kontinuums von Innen- und Naturraum.
An einer anderen Stelle ist dieses Prinzip ebenso deutlich geworden, aller-
dings nur im Modell für die Großsiedlung Lafayette. Hier wird der fließende
Raum von unterschiedlich hohen Wohnhäusern gebildet. Sehr eindrucksvoll
stellt Mies hier dar, wie er sich die Komplementarität von Architektur und
Natur vorstellt, durch den massierten Einsatz von hainartigen Baumgruppen,
die in fraktalen Formen vielfältige Räume bilden.

198  Der Raum als Medium von Architektur und Gartenkunst


Abb. 5/14 Eine fraktale Stadt
Mies hat sein Prinzip in einem Interview erläutert:
Auch die Natur sollte ihr eigenes Leben leben. Wir sollten uns hüten,
sie mit der Farbigkeit unserer Häuser und Inneneinrichtungen zu stö-
ren. Doch wir sollten uns bemühen, Natur, Häuser und Menschen
in einer höheren Einheit zusammenzubringen. Wenn Sie die Natur
durch die Glaswände des Farnsworth-Hauses sehen, bekommt sie eine
tiefere Bedeutung, als wenn Sie draußen stehen. Es wird so mehr von
der Natur ausgesprochen – sie wird ein Teil eines größeren Ganzen.224
(Hvh. A.S.)
Wenn Mies van der Rohe sagt, man solle die Natur nicht durch die Farbigkeit
der Häuser stören, dann steht dahinter die Auffassung, dass Architektur und
Vegetation sich gegenseitig beeinflussen. Während im Barock die künst-
lichen floralen Ornamente den Übergang zwischen Schloss und ‚Urwald’
symbolisierten, treten jetzt die natürlichen vegetabilen Formen in unmit-

224  Ebd., 63

Der neue Raum und die Gartenkunst  199


telbare Beziehung zur Architektur und werden zum Ornament für sie!
Voraussetzung für diese ornamentale Wirkung ist aber, dass die Pflanzen
in ihrer natürlichen Form mit den klaren Linien der Architektur in einen
Kontrast treten; jedes Formgehölz würde hier einen Stilbruch darstellen, denn
analog zum Kontinuum Innen / Außenraum ist mit dieser Raumvorstellung
die Architektur mit den Naturformen elementar verbunden. Die Kritik, die
manchen modernen Gebäuden, die auf einer kahlen Rasenfläche stehen,
entgegengebracht wird, entzündet sich an ihrer kühlen Nacktheit. Erst eine
komplementäre Vegetation ließe ihre wahre Schönheit erscheinen, in der
Spannung zwischen Architektur und Natur.
Verwirklichen konnte Mies den stufenlosen Übergang vom Haus in den
Garten schon 1933 mit dem relativ bescheidenen Haus Lemke in Berlin.
Trotz der mit Sprossen versehenen Fenster ist hier das Raumideal, wie bei
dem „50 mal 50 Haus“ verwirklicht. 225
Der Bauherr hatte „die Vorstellung, dass man an schönen Tagen den an sich
beschränkten Wohnraum nach dem Garten hin erweitern müsste.“ 226 Die
weitere Entwicklung des Gartens sieht Bergdoll dann aber kritisch. Ich zitiere
im Zusammenhang:
Lemke beschloß, Foerster zur Gartengestaltung heranzuziehen, mit
dem Mies seit seiner frühen Bautätigkeit in Neubabelsberg nicht mehr
zusammengearbeitet hatte. Obwohl sich Georg Gardner, beratender
Gartenarchitekt der Berliner Bauausstellung um den Auftrag bewor-
ben hatte, wandte sich Lemke an Foersters Gärtnerei in Bornim, die
Anfang der dreißiger Jahre bereits eine Abteilung für Gartengestaltung
unter der Leitung von Herta Hammerbacher und ihrem damali-
gen Ehemann Hermann Mattern führte. An dem nicht aufeinander

225  Riley, (2002), 272ff.


226  Bergdoll, (2002), 103.

200  Der Raum als Medium von Architektur und Gartenkunst


abgestimmten Entwurfsprozeß und an der Uneinheitlichkeit von
Haus- und Gartenplan – die wie aus zwei verschiedenen Welten zu
stammen scheinen – Läßt sich ablesen, wie weit Mies´ und Foersters
Gartengestaltungen sich in 15 Jahren auseinanderentwickelt hatten.
... Die [von Hammerbacher entworfene] Gartengestaltung löste kla-
re, gerade Abgrenzungen auf, gab naturhaften, lockeren Blumen- und
Buschgruppen gegenüber geometrischen Beeten den Vorzug und folg-
te den gegebenen Geländekonturen, was in den dreißiger Jahren zum
Markenzeichen des sogenannten Bornimer Kreises um Foerster wur-
de. Einer Gartenbauschule, die kongenial zur organischen Architektur
Hans Scharouns passte, mit dem Hammerbacher und Mattern auch
häufig zusammenarbeiteten. /226
Bergdoll geht von der immer wieder vertretenen Auffassung aus, dass
Gebäude und Gartenerschließung dem gleichen Formenkanon unterlie-
gen; das kommt daher, dass in erster Linie von der Grafik des Grundrisses
her geurteilt wird. Die zwei verschiedenen Welten, die Bergdoll sieht, sind
aber nur die unterschiedlichen Funktionen der Gebäudemauern und der
Gartenwege und entsprechen der Komplementarität der beiden Seiten
des fließenden Raumes. - Sicherlich konnte man hier nicht von einer ide-
alen Zusammenarbeit sprechen, aber ein Bild aus der frühen Zeit des
Gartens zeigt, das die Bepflanzung des Gartens sicher im Einklang mit der
Vorstellung Mies van der Rohe gestanden hätte. - Ob die „klare[n], gerade[n]
Abgrenzungen“ der Architektur auch im Garten herrschen müssen, ist bis
heute strittig. Dieses Problem ist noch näher zu untersuchen.

5.8 Zusammenfassung
Dieses Kapitel ist überschrieben: Der Raum als Medium von Architektur und
Gartenkunst. Mein Anliegen war, die verschiedenen Raumauffassungen und
ihren Einfluss auf Architektur und Gartenkunst zu analysieren. Ich habe den

Zusammenfassung 201
‚Urraum,’ die Lichtung im Wald als ‚vegetativen Raum’ und die erste große
Revolution in der Menschheitsgeschichte, die Gründung der Städte und
damit die Entstehung des ‚klassischen Raumes’ beschrieben. Gegenwärtig
sind wir mitten in einer Entwicklung, in der sich die alte Stadt, der klassi-
sche Raum auflösen. Dieser Vorgang wird überwiegend noch negativ als
Zersiedelung angesehen. Entsprechend dramatisch sind die Verwerfungen
in der Architektur und Gartenkunst in den letzten Jahrzehnten.
Wie ein Gewitter kam die Postmoderne über uns. Sie war verursacht
durch die Perversion der Moderne, die ausschließliche Betonung der
Funktion der so genannten Kastenarchitektur. Man suchte die Heilung in
der Rückbesinnung auf historische Vorbilder. Einer ihrer Protagonisten in
Deutschland war Heinrich Klotz. Dessen Kritik richtete sich aber nicht nur
gegen die Auswüchse der modernen Architektur, sondern gerade gegen ihre
eigentlichen Grundsätze. So kritisiert er zum Beispiel das Bauhausgebäude
von Gropius: „Der freie Grundriß, der allseitig umgehbare Bau auf grü-
ner Fläche, enthielt per se ein gerüttelt Maß an Stadtfeindlichkeit. Es sind
die Folgen eines solchen Planungsideals der Moderne, gegen das sich die
Postmoderne wendet.“227
Und an anderer Stelle kommt seine Gegenposition so zum Ausdruck:
Rob Krier hat in einem demonstrativen Akt das gesamte Stadtzentrum
Stuttgarts in einem Großmodell rekonstruiert und sowohl die
Struktur des 19. Jahrhunderts wiederzugewinnen gesucht als auch
im analogen Vorgehen dazu eine Block- und Platzbebauung ergänzt,
so dass als ein Vorstellungsbild ... ein an der Geschichte orientier-
tes Handlungskonzept der Ergänzung und Wiedergewinnung des
Bestehenden und Gewesenen visuell veranschaulicht [wird.] 228

227  Klotz, (1985), 36.


228  Ebd. 301.

202  Der Raum als Medium von Architektur und Gartenkunst


Das ist eine absolut rückwärts gewandte Anschauung. Das, was wir heute
Zwischenstadt nennen, bleibt – im Wortsinne – außen vor, und die Natur
spielt in dieser Gedankenwelt überhaupt keine Rolle. Es geht ausschließlich
um die klassische Stadt, den klassischen Raum; nur die Stadtmauern fehlen.
Die Postmoderne ist genau so schnell verschwunden, wie sie aufgetaucht
war. Ihre einzige positive Wirkung war, dass sie die Fehlentwicklungen in
der modernen Architektur bewusst gemacht hat. Und so konnte Jürgen
Habermas im Jahr 2003 zu der Auffassung kommen:
Die moderne Architektur, die sich sowohl aus der organischen wie
aus den rationalistischen Anfängen eines Frank Lloyd Wright und ei-
nes Adolf Loos entwickelt hat und in den gelungensten Werken eines
Gropius und Mies van der Rohe, eines Corbusier und Alvar Aalto zur
Blüte gelangt ist, diese Architektur ist immerhin der erste und ein-
zige verbindliche, auch den Alltag prägende Stil seit den Tagen des
Klassizismus. Allein diese Baukunst ist dem Geist der Avantgarde ent-
sprungen, ist der avantgardistischen Malerei, Musik und Literatur un-
seres Jahrhunderts ebenbürtig. Sie hat die Traditionslinie okzidentalen
Rationalismus fortgesetzt und war selbst kräftig genug, Vorbilder zu
schaffen, das heißt klassisch zu werden und eine Tradition zu begrün-
den, die von Anbeginn nationale Grenzen überschritten hat.229
Tatsächlich hat sich diese Tradition weiter entwickelt; Die Idee der Offenheit,
des Raumkontiuums ist lebendig und setzt sich immer mehr durch. Neu ist
die größere Variabilität und Individualität der Formen. Ein Indiz hierfür sind
bebilderte

229  Habermas, (2003), 176.

Zusammenfassung 203
Abb. 5/15 Wohnhaus im Bauhausstil, 2011
Immobilienanzeigen in den Zeitungen, die immer mehr Gebäude mit weit
geöffneten Räumen zeigen und explizit mit dem „Bauhausstil“ werben. Der
„designte“ Garten des gezeigten Beispieles entspricht allerdings nicht meinen
Vorstellungen.
Ich fasse dieses Kapitel „der Raum als Medium von Architektur und
Gartenkunst“ zusammen als Formen der Unterscheidung mit zwei Seiten:

Raum
Wald/Lichtung Steppe/Fläche
geschlossener Raum offener Raum
‚klassischer’ Raum Raumkontinuum
statischer Raum fließender Raum
perspektivischer Raum Bewegungsraum

Raumgrenzen
linear (Stadtkante) fraktal (Zwischenstadt)

204  Der Raum als Medium von Architektur und Gartenkunst


Nach dieser Untersuchung der allgemeinen Raumcharaktere und speziell der
Raumidee der modernen Architektur, erhebt sich jetzt die Frage, wie sich die
Gartenkunst zu dieser Entwicklung verhält.
Bevor ich aber zu diesem wichtigen Thema komme, ist noch eine weitere
theoretische Grundfrage zu klären, die psychischen Voraussetzungen der
Produktion und Rezeption von Kunst und also auch der Gartenkunst.

Zusammenfassung 205
Kapitel 6 Über Wahrnehmung und Kunst

6.1 Kunst als Produktion und Rezeption


Ich stelle zunächst fest, dass in der Kunst immer eine Beziehung zwischen
Produktion und Rezeption besteht. Reinold Schmücker, der eine „kommu-
nikationstheoretische Kunstästhetik“ entwickelt, begreift „ein Kunstwerk als
Medium eines Interaktionsprozesses.“ 230
Indem wir versuchen, ein Kunstwerk zu verstehen, unterstellen wir ...
, in dem betreffenden Werk manifestiere sich eine Mitteilung, die an
keinen bestimmten Adressaten, sondern an jeden gerichtet ist, der
ihm als Rezipient seine Aufmerksamkeit schenkt. 231 –
Dieses Verstehen kann nun gelingen oder nicht. In der autonomen Kunst
sind die Schwierigkeiten des Nichtverstehens allgegenwärtig. Ein bekanntes
Beispiel ist van Gogh, der zu Lebzeiten von der Kunstwelt unverstanden blieb.
In der Bau- und Gartenkunst ist das Nichtverstehen aber problematisch, weil
mit der Ablehnung durch die Rezipienten – die Nutzer, – auch die jeweilige
Funktion nicht erfüllt wird. Ein Haus, in dem sich die Bewohner nicht wohl
fühlen oder eine Grünanlage, die kaum frequentiert wird, haben ihren Zweck
verfehlt. Ein autonomes Kunstwerk im Museum findet dagegen meistens
Akzeptanz von Menschen, die ausdrücklich bemüht sind, zu verstehen. Das
ist einer der Unterschiede zwischen bildender Kunst und Gartenkunst.
Ein weiterer Ausgangspunkt ist die Feststellung Schmückers, dass auch
jegliche Art der Kunstproduktion ein rezeptives Verhalten impli-
ziert. ... Denn Kunstproduktion ist immer schon Bezugnahme auf
Vorfindliches, das sich der sinnlichen Wahrnehmung darbietet. Dieses
230  Schmücker, (1998), 271.
231  Ebd., 272.

206  Über Wahrnehmung und Kunst


Vorfindliche können, müssen aber nicht unbedingt andere, in physi-
schen Objekten sich manifestierende Kunstwerke sein. 232
Das heißt also, dass der Produzent eines Kunstwerkes gleichzeitig Rezipient
ist. Er rezipiert einerseits Vorbilder, andererseits ständig die Ergebnisse seines
Schaffens. Jeder, der kreativ tätig ist, kennt wohl das Gefühl des Erstaunens,
wenn plötzlich das Ergebnis einer ‚Eingebung’ vor einem liegt. Man kann
deshalb davon ausgehen, dass sowohl die Produktion, wie auch die
Rezeption von Kunstwerken den gleichen psychologischen Vorgängen der
Wahrnehmung und Erkenntnis unterliegen. Die will ich näher untersuchen.

6.2 Entwicklungspsychologie - Die


Grundlage von Wahrnehmung
Ich beziehe mich dabei zunächst auf die Grundzüge der
Entwicklungspsychologie Jean Piagets, nach der Darstellung Franz Buggles.233
Diese Grundzüge sind auch von anderen Wissenschaftlern aufgenommen
und in anderen Wissenschaftsbereichen bestätigt und weiterentwickelt wor-
den, so dass man hierin eine Grundlage moderner Wahrnehmungs- und
Erkenntnistheorie sehen kann.
Piaget geht in seiner Theorie nicht nur auf die früheste Entwicklungsstufe
menschlicher Individuen zurück, sondern bezieht auch niedere Organismen
in seine Forschung ein. Er sieht „ein Entwicklungskontinuum ... zwischen fun-
damentalsten Interaktionen und Austauschprozessen zwischen Organismus
und Umwelt auf phylogenetisch wie ontogenetisch frühesten Stufen der
Entwicklung und den höchsten kognitiven Leistungen des Homo sapiens.“
Und eine

232  Ebd., 280f.


233  Buggle, 1993.

Entwicklungspsychologie - Die Grundlage von Wahrnehmung  207


über alle Entwicklungsstufen gleich bleibende Grundfunktion der
Adaptation, der notwendigen, immer wieder neu zu leistenden
Anpassung eines jeden Organismus jeder Entwicklungshöhe an seine
Umwelt.
Sieht man den Organismus als offenes System, das in dauerndem
Austausch von Materie, Energie und Information mit seiner Umgebung
bestimmte offene Sollwerte oder Gleichgewichtszustände ... innerhalb
nicht zu überschreitender Toleranzwerte realisieren und aufrecht-
erhalten muß, soll er nicht zusammenbrechen, so ließe sich genau
die Summe der organismischen Prozesse, die diese Sollwerte oder
Gleichgewichtszustände herstellen, mit dem Begriff der Adaptation
bezeichnen. 234 Oder unter einem anderen Aspekt gesehen: Adaptation
liegt dann vor, wenn die Interaktion oder Austauschprozesse zwischen
Organismus und Umwelt so gestaltet oder modifiziert werden, dass
weitere, folgende Austauschprozesse, die im Dienste der Erhaltung des
jeweiligen Organismus stehen, begünstigt werden.
Dabei lassen sich nach Piaget zwei, in der Realität immer zusammen vor-
kommende, aber dennoch bei verschiedenen Adaptationsvorgängen
verschieden stark akzentuierte und von daher begrifflich zu unter-
scheidende Grundaspekte jeder Adaptation aufzeigen: Geschieht
Adaptation primär so, dass Elemente der Umwelt vorhandenen
Strukturen oder Eigenschaften des Organismus angepaßt und die-
sem „einverleibt“ werden ... , so spricht Piaget von Assimilation ... .
Steht umgekehrt bei Adaptationsvorgängen die modifizierende
Anpassung des Organismus und seiner Strukturen an vorgegebene
Eigenschaften der Umwelt im Vordergrund, ... so spricht Piaget von
Akkommodation. ...

234  Siehe Maturanas Metapher des Seiltänzers, Anm. 101.

208  Über Wahrnehmung und Kunst


Für Piaget ... hat Adaptation immer einen Doppelaspekt: sie ist immer
sowohl Anpassung (und damit Umgestaltung) der Umwelt an den
Organismus als auch Anpassung des Organismus und seiner Strukturen
an die Umweltgegebenheiten. Hier zeigt sich die Auffassung Piagets
vom Menschen, ... als eines wesentlich aktiven, die Umwelt gestalten-
den und nicht nur auf die Umwelt passiv reagierenden und von ihr
einseitig determinierten Wesens. ...
Adaptation ... wird für Piaget immer begleitet, weil erst ermöglicht,
durch ein innerorganismisches Geschehen, sozusagen die „innere
Seite“ jeder Adaptation, durch das Phänomen der „Organisation.“
„Organisation“ bedeutet für die Tendenz aller Organismen, Strukturen
und Aktivitäten zu systematisieren, hierarchisch zu koordinieren, in
immer höhere, komplexere, übergreifendere funktionale Systeme zu
integrieren, um so übergeordnetere immer umfassendere und kom-
plexere Funktionen zu realisieren.235 (Hvh.: kursiv im Original, fett A.S.)
Soweit Buggles Darstellung der Grundzüge von Piagets Theorie. Ich sehe da-
bei manches Verwandtes zu Maturanas Theorie. Es ist aber ein scheinbarer
Widerspruch zwischen Maturanas und Piagets Aussagen zu klären. Piagets
spricht vom Organismus, der sich als offenes System mit seiner Umwelt
austauscht, jedoch innerhalb nicht zu überschreitenden Toleranzgrenzen.
Maturana beschreibt die Organismen als geschlossene Systeme, die ihre
Grenzen selbst festlegen. Geschlossenheit bedeutet nach Maturana, „dass sie
nur solche Einflüsse zulassen, die mit ihrer Struktur vereinbar sind.“ Er nennt
den Austausch zwischen System und Umwelt Strukturelle Kopplung.236
Wie wichtig diese Geschlossenheit gerade bei kognitiven Systemen ist, er-
gibt sich aus der Tatsache, dass ständig Millionen von ‚Informations-Bits’
auf das System eindringen, die sozusagen gefiltert werden müssen, weil

235  Buggle, (1993), 24ff


236  siehe Anm. 93 - 95

Entwicklungspsychologie - Die Grundlage von Wahrnehmung  209


sonst das System zusammenbrechen würde. Das was Piaget Einhaltung der
Toleranzgrenzen nennt, entspricht der Geschlossenheit, die dies verhindert.
Ich bleibe deshalb bei der Definition der geschlossenen Systeme, die auch
Grundlage der Theorie Luhmanns ist.
Die bisherige Beschreibung der Adaptation bezog sich vorwiegend auf die
physische Seite der Organismen; denn das Leitmotiv Piagets ist:
Erkenntnis aus ihren biologischen Ursprüngen heraus transparent
zu machen und ein Kontinuum zwischen ursprünglich-niedersten
Lebensäußerungen und höchsten Erkenntnisprozessen aufzuzeigen. ...
Auch Erkenntnisprozesse ... werden von Piaget als Adaptationsvorgänge
angesehen, durch die kognitive Elemente der Umwelt aktiv an be-
stehende Erkenntnisstrukturen ... des jeweiligen Organismus as-
similiert ... werden, wie andererseits dieselben instrumentellen
Erkenntnisstrukturen ... sich im Vorgang der Akkommodation den
zu erkennenden Objekten und Relationen und deren strukturellen
Merkmalen ... anpassen.“ 237
Piaget hat seine Theorie auf Grund von Beobachtungen der kindlichen
Entwicklungsstufen aufgestellt. Zum Verständnis kann auch ein Blick auf die
neueren Ergebnisse der Hirnforschung beitragen, die Piagets Theorie bestäti-
gen. Der Hirnforscher Gerhard Roth beschreibt
Wahrnehmungsakte und Handlungen, die wir routinemäßig tun,
nachdem wir sie immer und immer wieder ausgeführt haben; wir
können sie „wie im Schlaf“. Der Grund hierfür ist, dass im Gehirn
für diese Handlungen „fertige“ Nervennetze vorliegen, die aktiviert
werden. Dabei ... sind die notwendigen Anpassungen an kleinere
Veränderungen der vorliegenden Situationen in den Netzen mit be-

237  Buggle,(1993), 28f.

210  Über Wahrnehmung und Kunst


rücksichtigt. [Das ist Assimilation, A. S.] Wir geraten aber „aus dem
Takt“, wenn die Veränderungen zu groß werden. ...
Wird ... vom retikulären Überwachungs- und Bewertungssystem et-
was als wichtig im Lichte vergangener Erfahrung angesehen, so wird
geprüft ... welche cortikalen Areale für dieses Problem „zuständig“
sind. ... [dann] wird vom retikulären System „untersucht“, ob dort ein
Neuronennetzwerk vorhanden ist, das die Aufgabe „routinemäßig“
bewältigen kann. Wenn dies nicht der Fall ist, dann muß ein Netzwerk
neu angelegt bzw. ein vorhandenes „umverdrahtet“ werden. Die ent-
sprechenden Areale erhalten nun die Aufgabe, sich mit dem Problem
zu befassen. Dabei kann es sich um das Erkennen eines unbekann-
ten Objekts, das Verstehen einer neuartigen Aussage, das Erlernen
einer ungewohnten Bewegung, das Lösen eines Problems oder das
Vorstellen eines neuartigen Sachverhalts handeln. Letzlich müssen
immer neue Neuronenverknüpfungen angelegt werden, die in der
Lage sind, ein Verhalten zu steuern oder einen internen Zustand zu
erzeugen, welcher vom Gehirn als Lösung des Problems angesehen
wird. Das geschieht mit allen Mitteln, die dem Gehirn zur Verfügung
stehen, und dies sind neben den aktuellen Sinnesdaten auch die
Gedächtnisinhalte, die auf ihre mögliche Relevanz hin geprüft werden
müssen. [Das ist Akkommodation. A.S.] 238
Piaget hat auch die Systemtheorie Niklas Luhmanns beeinflusst. Ich gebe
hier die Ausführungen von Horster zu Luhmanns Theorie wieder:
Das psychische System nimmt nur das aus der Umwelt auf, was sich
in das System integrieren lässt. Was das ist, bestimmt sich aufgrund
von Selbstreferenz. „Ein selbstreferenzielles System operiert stets in der
Form des Selbstkontaktes. Es nimmt Wirkungen aus der Umwelt auf

238  Roth, (1997), 232.

Entwicklungspsychologie - Die Grundlage von Wahrnehmung  211


und gibt Wirkungen an die Umwelt ab in der Form von Aktivitäten, die
sich jeweils intern abstimmen und insofern stets strukturell Selektivität
aufweisen.“ Niemand anders sagt dem System, was es aufnehmen soll.
Das System entscheidet auf der Basis seiner Selbstinterpretation, ob
sich etwas aus der Umwelt assimilieren lässt oder ob es sich selbst
akkommodieren will. Wir können auch sagen, dass das System ent-
scheidet, ob die Aufnahme von Informationen aus der Umwelt für es
selbst sinnvoll sind, ob sie Informationen sind oder nur Rauschen.239
(Hvh. A.S.)
Und Luhmann selbst führt aus:
Der Begriff der Anpassung [hat] eine unabweisbare ... Prominenz, solan-
ge die System/Umwelt-Differenz das Leitparadigma der Systemtheorie
ist, denn diese Differenz kanalisiert die Informationsverarbeitung des
Systems ... durch die Alternative von Anpassung des Systems an die
Umwelt oder Anpassung der Umwelt an das System.240
Auch bei Ernst von Glaserfeld erkennt man das Prinzip:
Die Anwendung des Wissens beruht darauf, dass das kognitive Subjekt
den Fluß der elementaren Erfahrung durch Assimilation an vorhan-
dene Begriffe segmentiert und, solange das in befriedigender Weise
funktioniert, dank dieser Begriffe zu einer kohärenten Wirklichkeit ko-
ordiniert.
Wo die Assimilation fehlgeht, das heißt, wo das Ergebnis der Erwartung
nicht entspricht, werden Handlungen oder Begriffe abgeändert

239  Horster, (1997), 85f.


240  Luhmann, (1987), 477.

212  Über Wahrnehmung und Kunst


(Akkommodation) was, wenn es erfolgreich ist, zur Erweiterung des
Wissens führt.241
Wenn man alle diese Aussagen auf ihren Kern zurückführt, erkennt man die
‚Form der Unterscheidung mit zwei Seiten:’

Adaptation
Assimilation Akkommodation

Und besonders charakteristisch für diese Unterscheidung ist ihre Eigenschaft


der Skalierung. Das wird deutlich, wenn man die Extreme auf der Skala be-
trachtet: Das Individuum, das sich im Extrem der Assimilation bewegt, ist
der Mensch mit dem festen Weltbild, den festen Grundsätzen, der nur seine
Meinung gelten lässt, der Fundamentalist. - Das Individuum, das sich im-
mer akkommodiert, unterliegt jedem Einfluss, der auf ihn einwirkt. Es ist der
Mensch ohne eigene Meinung, der Mitläufer. Und die absolute Einseitigkeit
führt auf beiden Seiten zu Verblendung und im Extrem zum Schwachsinn.
Hieraus ist abzuleiten, dass die Ausgewogenheit zwischen diesen Extremen
sehr wichtig ist. „Das Ziel ... ist, wie Piaget unermüdlich erklärte, ... die
Erreichung und Erhaltung eines inneren Gleichgewichts (Äquilibration.)“ 242
Nun kann das Ziel „eines inneren Gleichgewichts“ zu dem falschen Eindruck
führen, dass es sich hier um einen statischen Zustand handelt. Das ist
absolut nicht der Fall. Wie schon gesagt, ist der Hauptgegenstand der
Forschung Piagets die kognitive Entwicklung des Individuums. Er beginnt
mit der Beobachtung des frühesten Stadiums der Neugeborenen, ihrer er-
sten Auseinandersetzung mit der Umwelt durch passive Reflexe. Es sind der

241  Glaserfeld, (1997), 54.


242  Ebd.

Entwicklungspsychologie - Die Grundlage von Wahrnehmung  213


Greif- und der Saugreflex. Der Greifreflex entwickelt sich dann zum akti-
ven Greifen. Der Säugling greift nach allem, was in seine Nähe kommt und
führt es zum Munde, um es näher zu untersuchen. Dies ist der Anfang der
menschlichen Kognition, die schließlich zum Begreifen führt. Dieser körper-
liche Aspekt des Begreifens ist der Ausgangspunkt für das noch zu behan-
delnde Thema der Synästhetik.
Der Antrieb dieser ganzen Entwicklung ist die Akkommodation. Das ganze
Leben eines Individuums ist bestimmt durch die ständige Erweiterung sei-
nes Weltbildes durch Akkommodation, und die Assimilation dient dabei der
Sicherung der erworbenen Erkenntnis oder Anschauung. Dies lässt sich in
allen Bereichen der Kognition verfolgen, zum Beispiel in der Entwicklung des
Musikverständnisses. Es beginnt bei den meisten Menschen mit Kinderliedern
und Volksliedern und entwickelt sich - in einem entsprechenden kulturel-
len Umfeld - oft als Wiederholung der Entwicklung der Musikstile, so dass
man hier von einer Spiegelung der Phylogenese in der Ontogenese sprechen
kann: Vivaldi, Bach, Mozart, Beethoven, Brahms, Mahler, Strauß, Bartok. – Ein
anderes Beispiel ist die Rezeption der bildenden Kunst in der Gesellschaft.
Van Gogh fand zu Lebzeiten keinerlei Anerkennung; heute hängen die
Reproduktionen seiner Bilder bei ‚Lieschen Müller’ über dem Sofa. - Ganz
wichtig ist die Tatsache, dass jede Akkommodation, jedes Vordringen in
neue kognitive Bereiche mit Lustgewinn verbunden ist. Das kann man be-
sonders gut bei Kleinkindern beobachten, die begeistert sind, wenn sie etwas
Neues gelernt haben, körperlich oder geistig. Wie bei Jonny, der zum ersten-
mal eine Treppe bezwingt.

214  Über Wahrnehmung und Kunst


Abb. 6/1, 6/2 Ein Welteroberer
Das gilt auch für die Entwicklung des produktiven und des rezeptiven
Vermögens in der Kunst. Umberto Eco hat dies am Beispiel der Musik deut-
lich gemacht:
Die Gestaltgesetze, mögen sie auch die Grundlage des musikalischen
Verstehens bilden, [können] die musikalische Gestaltung als Ganzes
nur insofern beherrschen, als sie in der Entwicklung des Materials stän-
dig verletzt werden; die Erwartung des Hörers ist nicht ein Warten
auf selbstverständliche, sondern auf ungewohnte Lösungen, auf
Verletzungen der Regel, die den schließlichen Rückgang zur gesetzmä-
ßigen Ordnung noch überzeugender erscheinen lassen.243
Ich fasse zusammen: Das ‚Spiel’ der Kunst ist eine Form der Adaptation, eine
‚Form der Unterscheidung mit zwei Seiten.’ Assimilation ist ein Filtern; nur
was durch den Raster der Gewohnheit, der Voreingenommenheit passt,

243  Eco, (1998), 141.

Entwicklungspsychologie - Die Grundlage von Wahrnehmung  215


wird assimiliert. – Akkommodation setzt Offenheit voraus. Im freien Spiel
der Neugierde und Kreativität wird ausprobiert, was ins Bild passt. Das Bild
verändert, entwickelt sich. Hier besteht eine gedankliche Verbindung zu
Schillers Spieltrieb im 14. Brief. Und nach Umberto Eco gehört es
zu den Bedingungen unseres Weiterlebens als denkende Wesen, daß
wir es verstehen, unsere Intelligenz und unsere Sensibilität so fortzuent-
wickeln, dass jede Erfahrung das System unserer Assimilationsschemata
bereichert und modifiziert. Dieses System muß sich organisch funkti-
onstüchtig erhalten, d. h. ohne Sprünge und Deformationen weiter-
wachsen. 244

6.3 Formen der Adaptation


Nun gilt es, die Grundstruktur der Adaptation zu konkretisieren im
Hinblick auf Kunstproduktion und -rezeption. Hier eröffnet sich ein
weites Feld von Bedeutungen, die alle von der Grundunterscheidung
Assimilation / Akkommodation abgeleitet werden können und wie diese
eine Skala der Unterscheidung bilden. Ich habe eine Anzahl davon in ei-
ner Tabelle zusammengefasst und lose geordnet nach Bedeutungs- und
Wahrnehmungsschemata.

Adaptation
Assimilation Akkommodation
Kognitionsschema:
Redundanz Rauschen
Eindeutigkeit Ambiguität

244  Ebd. 146.

216  Über Wahrnehmung und Kunst


Adaptation
Ästhetik Anästhetik
Gestaltungsschema:
Gestalt Amorphie
Prägnanz Diffusion
Klarheit Unschärfe
Geometrie, Symmetrie Freie Foren
Stereotypie Rhythmus
Einheitlichkeit Kontrast, Vielfalt
Statik Dynamik, Wachsen
Codierung Beliebigkeit
Klischee, Manier Originalität, Innovation
Erlebnisschema:
Übersichtlichkeit Langeweile Überraschung Spannung,
Vergnügen
Harmonie Dissonanz
Ruhe Erregung
Gewohntes Ungewohntes
Einfachheit Komplexität
Ordnung Spontaneität
Die Reihe kann sicher noch erweitert werden. Die Reihenfolge ist mehr
oder weniger beliebig und die Glieder sind teilweise austauschbar. Manche
Bedeutungen überschneiden sich auch, wie die Ausführungen der einzelnen
Autoren zeigen, was auf die gemeinsame Wurzel der Adaptation zurückzu-
führen ist. -

Formen der Adaptation  217


Einige Beispiele sollen die Bedeutung dieser Unterscheidungen erläutern. Es
wird sich zeigen, dass sie insgesamt die Wahrnehmung und das Wesen der
Gestaltung und der Kunst bestimmen.

6.3.1 Kognitionsschema
Die Unterscheidungen im kognitiven Schema: Redundanz / Rauschen so-
wie Eindeutigkeit / Ambiguität kann man als eine Grundunterscheidung der
Adaptation bezeichnen. Dies wird in der Darstellung Umberto Ecos deutlich:
Eine völlig zweideutige Botschaft erscheint als äußerst informativ, weil
sie mich auf zahlreiche interpretative Wahlen einstellt, aber sie kann
an das Geräusch angrenzen, d.h. sie kann sich auf bloßes Geräusch
reduzieren. Eine produktive Ambiguität ist die, welche meine
Aufmerksamkeit erregt und mich zu einer Interpretationsanstrengung
anspornt, mich aber dann Dekodierungserleichterungen finden lässt,
ja mich in dieser scheinbaren Unordnung als Nicht-Offensichtlichkeit
eine viel besser abgemessene Ordnung finden lässt, als es die Ordnung
ist, die in redundanten Botschaften herrscht. ... Es ist dies das Problem
der Kolorierung der Geräusche, d.h. des Minimums an Ordnung, das
in die Unordnung eingeführt werden muß, damit diese aufnehmbar
wird.245 (Hvh. A.S.)
Wie für alle Unterscheidungen auf der Assimilationsseite, gilt auch für
die Redundanz, dass sie nicht per se negativ aufzufassen ist. Ein gewis-
ses Maß an Redundanz – also Wiederholungen - ist immer notwendig,
wenn komplizierte Gegebenheiten verdeutlicht werden sollen. Der Begriff
Eindeutigkeit impliziert dagegen oft Borniertheit, die wiederum Ambiguität
als Wankelmütigheit ansieht.

245  Eco, (1991), 146.

218  Über Wahrnehmung und Kunst


Mit der Unterscheidung von Ästhetik und Anästhetik hat sich Wolfgang
Welsch ausführlich befasst:
Ein ästhetisches Grundgesetz besagt, dass unsere Wahrnehmung nicht
nur Belebung und Anregung, sondern auch Verweilen, Ruhezonen und
Unterbrechungen braucht. Dieses Gesetz verurteilt die derzeit grassie-
rende Verschönerungstendenz zum Scheitern. Die Totalästhetisierung
läuft auf ihr Gegenteil hinaus. Wo alles schön wird, ist nichts mehr
schön; Dauererregungen führen zu Abstumpfungen; Ästhetisierung
schlägt in Anästhetisierung um. Gerade ästhetische Gründe sprechen
also dafür, den Ästhetisierungstrubel zu durchbrechen. Inmitten der
Hyperästhetisierung tun ästhetische Brachflächen not.246
Auch hiernach gilt für jegliche Gestaltung, auf der Skala der Unterscheidung
ein gutes Verhältnis zu finden.

6.3.2 Gestaltungsschema
Die ‚Gestalt’ als Begriff spielt in der allgemeinen Wahrnehmungstheorie
eine prominente Rolle, so dass sie als Gestaltpsychologie einen eigenen
Wissenschaftsbereich bildet. Der Leitbegriff ist die „gute Form.“ „ ... das, was
die Gestaltpsychologen die ‚gute Form’ nennen, [ist] dasjenige unter al-
len Modellen, welches ‚die geringste Information erfordert und die größte
Redundanz besitzt.’“ 247
Zunächst ist festzustellen, dass Wahrnehmung immer Selektion ist. Nach
den Erkenntnissen der Hirnforschung nimmt ein Mensch nur einen winzigen
Bruchteil der laufenden Sinneseindrücke wahr, und zwar nur das, was jeweils
für ihn und seine Existenz wichtig ist. Nach Wolfgang Welsch hat

246  Welsch, (1993), 45.


247  Eco, (1998), 150.

Formen der Adaptation  219


die Gestaltpsychologie ... uns gelehrt, daß zu jedem Wahrnehmen nicht
nur ein Nichtwahrnehmen gehört, sondern daß solcher Ausschluß,
solche Selektivität für das Wahrnehmenkönnen konstitutiv ist.
Neurophysiologische Untersuchungen haben diesen Zusammenhang
inzwischen besser verständlich gemacht: Kognitive Systeme können
generell nur, weil sie selbstreferenziell geschlossen sind, umweltoffen
operieren. Wir sehen nicht, weil wir nicht blind sind, sondern wir
sehen, weil wir für das Meiste blind sind; entsprechend heißt, etwas
sichtbar zu machen, im gleichen Akt etwas anderes unsichtbar zu ma-
chen. – Keine aisthesis ohne anaisthesis - nicht einmal im einfachsten
Wahrnehmen.248
Diesem Sichtbar- und Unsichtbarmachen entspricht der Leitbegriff der
Gestaltpsychologie: ‚Figur und Grund.’ ‚Figur’ ist das, was man wahrnimmt
und ‚Grund’ ist das ‚Unsichtbare.’ Das Auge muss also etwas unterscheiden
können, zum Beispiel ein Haus in der Landschaft. Extrem ist der Blick auf
eine Zielscheibe, bei dem man gar nichts anderes sieht. Am stärksten wird
eine Figur vom Grunde abgehoben, wenn sie fest umrissen ist. Eine ande-
re Weise ist die Unterscheidung durch einen Kontrast, beispielsweise durch
hell / dunkel oder durch eine starke Farbwirkung, wie die Signalfarbe Rot an
Verkehrszeichen.
Im Zusammenhang hiermit ist ein anderer Wirkungsfaktor der Wahrnehmung
zu sehen: die Prägnanz. Prägnant sind die Dinge, die sich einprägen, das
heißt, das was in der Erinnerung haften bleibt.
In der Gartenkunst sind die Gestaltungsschemata von größter Bedeutung.
Auszugehen ist von der Tatsache, dass die ‚natürliche Vegetation’ meistens
ein diffuses Bild abgibt. Seit dem Urgarten ist der Mensch bestrebt, hierin
Ordnung zu schaffen. Das hat im Nutzgarten einen praktischen Grund, ist

248  Welsch, (1990), 31f.

220  Über Wahrnehmung und Kunst


im Schmuckgarten aber ein ästhetisches Bedürfnis. Die Methode, Pflanzen
zu beschneiden als Hecken oder in dekorative Formen entspringt ei-
nem archetypischen Bedürfnis. Noch heute verwenden Laien, wenn ihren
Garten bepflanzen, vornehmlich Koniferen und kompakte Immergrüne,
die eine fest umrissene Gestalt bilden. Frei wachsende Gehölze werden
entweder als Solitärs verwendet, die sich vom Hintergrund abheben, oder
sie werden kugel- oder kastenförmig beschnitten, wie im Barock. Eine ar-
tenreiche Strauchpflanzung wird als ‚Gestrüpp’ empfunden. In der profes-
sionellen Planung sollte man dieses Grundprinzip der Wahrnehmung nicht
ganz unberücksichtigt lassen. So lässt sich zum Beispiel das Figur-Grund-
Verhältnis dadurch herstellen, dass man Gruppen von Immergrünen in ein
Spannungsverhältnis zu größeren Strauch- und Baumgruppen setzt. Die
großen Landschaftsparks sind nach diesem Prinzip gestaltet. Die neuerdings
auch in der professionellen Gestaltung beliebten Taxusfiguren, Kugeln und
Pyramiden sind wohl nur einem vorübergehenden modischen Nachklang
der Postmoderne geschuldet.
Ein Beispiel für Prägnanz, sehe ich in der Bildung starker Farbeindrücke.
Die berühmten ‚100000 Tulpen’ begeistern immer wieder das Publikum.
Rosen- oder Sommerblumenpflanzungen in einem grünen Rahmen haben
die gleiche Wirkung; jedoch sollten sie eine gewisse Differenzierung erfah-
ren, um nicht langweilig zu wirken. Schon die Rabatten der Barockgärten
waren abwechslungsreich bepflanzt. Prägnanz ist auch zu erreichen durch
Großflächigkeit: eine ‚Blumenwiese’ wirkt erst in einer gewissen Größe; in ei-
nem Vorgarten wäre sie unangebracht.

6.3.3 Erlebnisschema
Das Gestalt- und Prägnanzprinzip beziehe ich hauptsächlich auf die
Gestaltung der Pflanzung im Garten. Es hat natürlich auch eine Bedeutung
für die übrige Gartengestaltung: Raumbildung, Wegeformen und architekto-

Formen der Adaptation  221


nische Elemente. Wichtiger sind jedoch die weiteren Gestaltungsschemata,
wie Klarheit, Symmetrie, Geometrie usw. Ihr ausgewogenes Verhältnis zu ih-
ren jeweiligen Gegensätzen bestimmt die psychologischen Bedingungen im
Erlebnisschema.
Die Betonung der einen Seite auf der Skala der Unterscheidung birgt immer
eine Gefahr in sich: Klarheit steht für Ordnung, Ruhe und Harmonie; wenn
aber Spannung, Überraschung und Erregung nur wenig ausgeprägt sind, tritt
Langeweile ein. Gerade in vielen modernen Anlagen, in denen „Klarheit“ das
oberste Gebot des Planungskonzeptes ist, kann man diesen Effekt beobach-
ten. Darauf werde ich noch näher eingehen. Umgekehrt ist es natürlich ge-
nau so negativ zu sehen, wenn eine Gestaltung diffus, unscharf und nur aus
unklaren freien Formen besteht. In der Praxis ist es unerlässlich, die durch-
schnittliche Fähigkeit zur Akkommodation der zu erwartenden Rezipienten
zu berücksichtigen.
Wie schon mehrfach betont, kommt es bei den skalierten Unterscheidungen
auf die Wahl des Punktes auf der Skala an. Ein optimales Skalenverhältnis
zeigt Michael Winter anhand eines historischen Beispiels:
Gegenüber der Forderung der klassischen Ästhetik in der Architektur
des 17. Jahrhunderts, alle geometrischen und symmetrischen
Beziehungen einer Anlage auf den ersten Blick verstehen zu können,
... macht Versailles eine entscheidende Einschränkung. Das Ganze ver-
steht nur der sofort, der den Plan davon besitzt. Für die Körper, die
sich ohne Plan in der Ebene bewegen, ist allein die Perspektive ent-
lang der Symmetrieachse in ihrer rationalen Struktur erfassbar. Rechts
und links davon bleiben Symmetrie und Geometrie, die Rationalität
der Raumgestaltung zwar erhalten, entziehen sich in ihrer Gesamtheit
jedoch der Einsicht des Betrachters. Er kann auf seinem Weg nur suk-
zessive partielle Symmetrien wahrnehmen und ist unvorhersehbaren
Aus- und Einblicken ausgeliefert. ... Le Notre schuf einen Park voller

222  Über Wahrnehmung und Kunst


Überraschungen. ... Nicht Statik, sondern Bewegung, nicht totale
Übersicht, sondern Überraschung, sind die ästhetischen Prinzipien
von Versailles. Bewegung und Überraschung sind aber nicht willkür-
lich, sondern genau berechnet und in die Gesamtsymmetrie einkal-
kuliert.249
Sehr aufschlussreich in diesem Zusammenhang sind die Forschungen eines
niederländischen Teams von Psychologen um Henk Staats über die emotio-
nalen Qualitäten von Gestaltungen. Sie untersuchten die Wirkungen unter-
schiedlicher Waldzustände auf Versuchspersonen: ‚ordentliche’ gut erschlos-
sene Waldpartien und unwegsame dichte Partien. Grundlage des Programms
war „Russels Hauptthese, ... dass allen emotionalen Erfahrungen zwei
Grunddimensionen zugrunde liegen: Vergnügen und Erregung.“
Es zeigte sich, dass es deutliche Unterschiede in der emotionalen
Qualität gab, die von der Erschließung und dem Waldtyp abhängig
sind. Während die Erregung größer ist, wenn die Erschließung gerin-
ger und der Wald dichter sind, verhielt es sich mit dem Vergnügen
ganz anders. Bei hoher Erregung ist hier das Vergnügen relativ gering,
aber es ist im Maximum, wenn Erregung um einen Mittelwert pen-
delt. Besonders beeindruckte uns, dass negative Erfahrungen wäh-
rend des Spaziergangs später oft ganz unterschiedlich bewertet wer-
den: der Gang durch den dichten und unzugänglichen Wald, der in
einigen Abschnitten die unruhigsten und am wenigsten angenehmen
Erfahrungen brachte. Wurde hinterher positiver bewertet als während
des Spaziergangs.250 (Hvh. A.S.)
Diese Untersuchung zeigt also sehr deutlich, dass die Akzeptanz am größten
ist, wenn zwischen Langeweile und Spannung ein Mittelwert besteht; aber

249  Winter, (1986)


250  Staats et al, (1994), 103ff.

Formen der Adaptation  223


sie zeigt auch, dass dieser Mittelwert kein Festpunkt ist, sondern dass sich
die Versuchspersonen im Laufe der Zeit auch an den ‚wilden’ Zustand der
dichteren Waldpartien akkommodieren konnten. Die Autoren folgerten aus
ihren Untersuchungen, „dass sich die emotionale Qualität von Entwürfen zu
einem gewissen Grade planen und manipulieren lässt.“
Sie zeigen in dem Aufsatz noch eine interessante „Typologie von
Gefühlszuständen“, die James Russel entwickelt hat: „erregt / hochgestimmt
/ froh / freundlich / entspannt / ruhig / schläfrig / gelangweilt / bedrückt /
unzufrieden / erschreckt / angespannt.“ 251
Zur Verdeutlichung dieses Themas der Adaptation zitiere ich noch zwei ein-
schlägige Auffassungen. Dezidiert die von Friedrich Cramer:
Schönheit ist offenbar am ergreifendsten, am deutlichsten dort, wo
sie an die Grenzen zum Chaos vorstößt, wo sie ihre Ordnung freiwillig
aufs Spiel setzt. Schönheit ist eine schmale Gratwanderung zwischen
dem Risiko zweier Abstürze: auf der einen Seite die Auflösung aller
Ordnung in Chaos, auf der anderen die Erstarrung in Symmetrie und
Ordnung. Nur auf diesem gefährlichen Grat entsteht Schönheit, wird
Gestalt.252
Die Metapher der Gratwanderung ist aber missverständlich. Der Grat ist
keine feste Größe; was für den einen schon chaotisch erscheint, ist für den
anderen gerade anregend.
Ähnlich formuliert es W. Schulz:
Ein mittleres Ausmaß an Information (wird) als am schönsten emp-
funden. ... Schönheit zeigt sich am ausgewogenen Verhältnis zwi-
schen ordnenden und stimulierenden Elementen. Vermutlich wirken

251  Ebd., 108.


252  Cramer, (1989), 204f.

224  Über Wahrnehmung und Kunst


besonders jene Strukturen als „schön“, die auf den ersten Blick klare
Orientierung ermöglichen, auf den zweiten Blick aber durch Vielfalt
an Gestaltungselementen Neugierde und Explorationsverhalten her-
vorrufen.253
In eindrucksvoller Weise hat sich jetzt Gerhard Richter mit diesem Phänomen
auseinander gesetzt. In seinem Buch „Wald“ zeigt er 270 ganzseitige Fotos,
die alle in einem Laubwald aufgenommen sind. Der erste Eindruck ist chao-
tisch. Die Fotos zeigen Waldszenen die auf den ersten Blick völlig gleichartig
sind: gefällte und entwurzelte Bäume, Totholz, alte und junge Bäume, wirres
Gebüsch aber auch schöne glatte Stämme. Doch wenn man das Buch auf-
merksam durchblättert, ist man zunehmend fasziniert von unterschiedlich-
sten Stimmungen, dramatische, ruhige und gar liebliche. Aus einer anfangs
sinnlos erscheinenden Ansammlung gleichartiger Bilder entsteht durch
Akkommodation eine fantastische Stimmungswelt voller Assoziationen.
(Das Gleiche gilt für die Prosa, die zwischen den Bildern eingefügt ist: ohne
Satzzeichen und ohne Syntax).254
Richter hat sich in seinem sonstigen Werk nie auf Abstraktion oder
Gegenständlichkeit festgelegt. Und so könnte man in diesem Werk der
Waldbilder eine Zwischenwelt sehen, die zu einer Gruppe seiner abstrakten
Bilder führt, die eine ähnliche Struktur haben. Ich füge dies hier ein, weil mich
das Verhältnis der Gartenkunst zur bildenden Kunst noch näher beschäfti-
gen wird, aber auch, weil die Rezeption dieses Werkes, das kaum ordnende
Elemente enthält, ein hohes Maß an Akkommodation erfordert, genau wie
derartige Szenen in der Natur. --
Ebenfalls zum Erlebnisschema gehören die beiden „Gegensatzpaare von
Einfachheit und Komplexität sowie von Ordnung und Spontaneität“ von

253  Schulz, (1989)


254  Richter, (2008)

Formen der Adaptation  225


Gerhard Schulze, der sie als „Die fundamentale Semantik“ und als „ein ein-
faches Strukturgerüst“ bezeichnet, um das herum „die soziale Wirklichkeit ...
aufgebaut ist“ 255 Dieses Modell, das Schulze für die Beschreibung der sozi-
alen Milieus entwickelt hat, ist auch für das Kunstsystem relevant.
Das Besondere dieser Darstellung ist, dass die Adaptation nicht nur aus ei-
ner eindimensionalen Skala besteht, sondern dass hier zwei Dimensionen
zusammen wirken: Der Denkstil und der Handlungsstil. Schulze nennt das
die psychophysische Semantik. In Bezug auf die Adaptation ist festzustellen,
dass die Pole Einfachheit und Ordnung durch Assimilation bestimmt sind,
die Pole Spontaneität und Komplexität durch Akkommodation.
Für die unübersehbar vielen Manifestationen des Erlebens stellt die
psychophysische Semantik ein einfaches Beschreibungsschema be-
reit. ... gegenwärtig [genügen] zwei Dimensionen, charakterisierbar
durch entgegengesetzte Erlebnishaltungen, für eine fundamentale
Beschreibung. Die beiden Basisdimensionen haben zu tun mit der
Dualität von Innen und Außen, von Kognition und Aktion, von Denken
und Handeln. ... In Erlebnissen fließen sowohl psychische (kogniti-
ve) wie physische (körperliche) Empfindungsmodalitäten zu einem
Gesamteindruck zusammen. Wohl sind die Mischungsverhältnisse
unterschiedlich, doch gibt es ebenso wenig völlig unkörperliche geisti-
ge Erlebnisse wie völlig ungeistige körperliche Erlebnisse.256
Das entspricht dem Ausgangspunkt zu diesem Kapitel, der Feststellung, „dass
in der Kunst immer eine Beziehung zwischen Produktion und Rezeption be-
steht.“ 257 In der Kunstproduktion spielt der Handlungsstil eine größere Rolle
als in der Rezeption, der Denkstil bestimmt beide.

255  Schulze, (1993), 350


256  Ebd., 253f.
257  S. Anm. 236.

226  Über Wahrnehmung und Kunst


Die fundamentale Semantik nach Gerhard Schulze:258

6.4 Verstehen von Kunst


Diese Beziehung ist jetzt noch näher zu untersuchen. Das Problem ist im-
mer das Verstehen oder Nichtverstehen. Nach Niklas Luhmann ist dies
das Problem der doppelten Kontingenz. „Kontingent ist etwas, was weder
notwendig ist, noch unmöglich ist; was also so, wie es ist, ... aber auch an-

258  Ebd., 255.

Verstehen von Kunst  227


ders möglich ist.“ 259
Die doppelte Kontingenz erklärt Luhmann mit einer
Metapher:
Zwei blackboxes bekommen es ... miteinander zu tun. Jede bestimmt
ihr eigenes Verhalten durch komplexe selbstreferenzielle Operationen
innerhalb ihrer Grenzen. Das, was von ihr sichtbar wird, ist deshalb
notwendig Reduktion. Jede unterstellt das Gleiche der anderen.
Deshalb bleiben die blackboxes bei aller Bemühung und bei allem
Zeitaufwand ... füreinander undurchsichtig.260
Solche ‚blackboxes’ sind also auch Kunstproduzent und –rezipient. Die dop-
pelte Kontingenz besteht hier aus folgender Gegebenheit: Kunst ist immer
etwas Neues, eine Erweiterung eines bestimmten Weltbildes. Der Künstler
‚ringt’ damit, seine Ideen auszudrücken. Seine Ausdrucksweise ist kontin-
gent. Der Rezipient kann das Neue des Kunstwerkes nicht assimilieren; ob
er sich aber akkommodieren kann oder nicht, ist ebenfalls kontingent. Diese
doppelte Kontingenz ist die Ursache für die Verständnisschwierigkeiten in
der Kunstrezeption.
Ein Mittel, diese Schwierigkeit zu mindern, besteht darin, dass der Künstler
eine für ihn typische Handschrift entwickelt, die der Rezipient ‚lernen’ kann.
Über die Möglichkeiten aber auch die Gefahren lesen wir bei Umberto Eco:
Was heißt es, von der Einheit von Inhalt und Form in einem gelunge-
nen Werk zu sprechen, wenn nicht, dass dasselbe strukturale Schema
die verschiedenen Organisationsebenen beherrscht? Es etabliert sich
eine Art Netz von homologen Formen, das den besonderen Code
dieses Werks bildet. Dieser ist die Regel der Operationen, die daran
gehen, den vorherstehenden Code zu zerstören, um die Ebenen der
Botschaft zweideutig zu machen. ... die ästhetische Botschaft [ver-

259  Luhmann, (1987), 152.


260  Ebd., 156.

228  Über Wahrnehmung und Kunst


wirklicht] sich im Verstoß gegen die Norm. ... Dieser Verstoß gegen
die Norm ist nichts anderes als die zweideutige Strukturation bezüg-
lich des Codes. Diese Regel, dieser Code des Werks ist von Rechts
wegen ein Idiolekt (... der private und individuelle Code eins einzigen
Sprechers ...) Dieser Idiolekt erzeugt Nachahmung, Manier, stilistische
Gewohnheit ... .261 (Hvh. i. O.)
Und Thure von Uexküll stellt zu dieser Verständnisfrage fest:
Die Verknüpfung, die Kodierung von Zeichen muß einmal vom
Sender und dann wieder vom Empfänger vorgenommen werden, soll
die Informationsübertragung zustande kommen. Die entscheidende
Frage ist daher, wie sich Sender und Empfänger über den Kode ver-
ständigen. Das ist das Problem von Kommunikation überhaupt. 262
Wir folgern also, dass der Code eines wahren Kunstwerks immer etwas
Neues ist, das gegen das Hergebrachte verstößt und dadurch irritiert. Durch
Akkommodation entsteht neues Bewusstsein. Wenn andere Künstler die-
sen Code weiter entwickeln, kann ein neuer Stil entstehen. Ein Beispiel aus
der Kunstgeschichte ist der Pointillismus, aus dessen Abwandlung van
Gogh einen starken Idiolekt entwickelte, der dann den Übergang zum
Expressionismus einleitete.
Beispiele für die zahlreichen gegenwärtigen sehr ausgeprägten Idiolekte sind
die Nagelbilder von Günther Uecker oder die Steinblöcke von Rückriem.
Sehr bekannt, weil ihr Code sehr eingängig ist, sind die Werke von Vasarely
und Hundertwasser. - Geprägt durch häufigen Wechsel ihres Codes sind
das Lebenswerk Picassos und Paul Klees.

261  Eco, (1991), 151f.


262  von Uexküll, (1998), 231.

Verstehen von Kunst  229


In der Gartenkunst der Gegenwart sind individuelle Codes nicht sehr
häufig. Eine erkennbare Handschrift hatten unter anderen Mattern und
Hammerbacher, und einen ausgeprägten Idiolekt sehe ich in dem Werk von
Gustav Lüttge, der seinen Stil in jeder Hinsicht perfektionierte.
Verbunden mit dem Wesen des Codes und des Idioleks ist die Gefahr der
Nachahmung. Diese besteht kaum da, wo sie gleich ins Auge springt; eine
Verhüllung a la Christo würde sofort als Kitsch abgetan sein. Weniger auffäl-
lig sind Codes, die an sich sehr ansprechend sind, aber auf die Dauer durch
ständige Anwendung zu Klischees werden. Als ein Beispiel in der Gartenkunst
nenne ich nur das immer wiederkehrende Stereotyp des orthogonalen
Rasters, der von einer Diagonalen durchschnitten wird. Noch problemati-
scher ist die Übernahme von Codes aus der bildenden Kunst, was noch nä-
her erörtert werden soll. - Wenn sich einmal eine Kritik der Gartenkunst eta-
blieren würde, wäre dies Problem der Nachahmung ein wichtiges Kriterium.
Zur Vertiefung dieses Themas weise ich auf die Ausführungen Ullrich Eisels
über Nachahmung und Nachfolge hin.263

6.5 Wahrnehmung ist Konstruktion


Alle diese Theorien über Wahrnehmung, ausgehend von Piaget, Maturana
u. a. und vor allem beeinflusst von der Hirnforschung, haben zu einer neuen
Erkenntnistheorie geführt, dem Radikalen Konstruktivismus. Dazu Siegfried
J. Schmidt:
Die Erkenntnistheorie des Radikalen Konstruktivismus lässt sich kurz
auf folgenden Nenner bringen: Sie versteht sich als Kognitionstheorie
... Das soll heißen, sie ersetzt die traditionelle epistemologische
Frage nach Inhalten oder Gegenständen von Wahrnehmung und

263  Eisel, (1997), 22ff.

230  Über Wahrnehmung und Kunst


Bewusstsein durch die Frage nach dem Wie und konzentriert sich auf
den Erkenntnisvorgang, seine Wirkungen und Resultate. ...
Der sogenannte gesunde Menschenverstand ... [geht bei seinen]
Überlegungen davon aus, dass wir über unser Wahrnehmungssystem
in direktem Kontakt mit der Welt stehen. ...
Sieht man dagegen das Wahrnehmungsproblem nicht vom Aspekt
der Sinnesorgane sondern vom Standpunkt des Gehirns aus, dann er-
öffnet sich eine völlig andere Perspektive. ... Wahrnehmung [vollzieht]
sich nicht in den Sinnesorganen, sondern in spezifischen sensorischen
Hirnregionen: „So sehen wir nicht mit dem Auge, sondern mit, oder
besser in den visuellen Zentren des Gehirns ... Wahrnehmung ist dem-
nach Bedeutungszuweisung zu an sich bedeutungsfreien neuronalen
Prozessen, ist Konstruktion und Interpretation.“ (Roth) 264
Bei der Bedeutungszuweisung operiert das Gehirn auf der Grundlage frühe-
rer interner Erfahrung und stammesgeschichtlicher Festlegungen: erst dann
wird ein Wahrnehmungsinhalt bewusst. Das heißt aber, bewusst wird nur
das, was bereits gestaltet und geprägt ist. Was wir nur schwer einsehen kön-
nen, ist dass jeder Mensch seine eigene Welt konstruiert, so dass wir immer
wieder erstaunt sind, wenn der Andere „die Sache ganz anders sieht.“

6.5.1 Synästhetik
Wenn wir die Grundlagen der Rezeption in den verschiedenen
Kunstgattungen vergleichen, stellen wir erhebliche Unterschiede fest, die für
die Charakterisierung der Gartenkunst von großer Bedeutung sind. Ich ver-
gleiche:
Malerei: Die Wahrnehmung ist optisch.

264  Schmidt, Siegfried J. (1994), 13ff.

Wahrnehmung ist Konstruktion  231


Bildhauerei: optisch, kinästhetisch, haptisch,
Architektur: optisch, kinästhetisch.
Gartenkunst: optisch, kinästhetisch, haptisch, akustisch, olfaktorisch,
gustatorisch.
Kurz gesagt: Nur die Erzeugnisse der Gartenkunst, wobei die ‚Welt als Garten,’
also die Landschaft, einbezogen ist, affizieren alle Sinne. Diese Tatsache wird
bei den weiteren Überlegungen noch sehr wichtig sein. Deshalb soll das nä-
her untersucht werden.
Das Zusammenwirken der Sinne bezeichnet man als Synästhetik. Schon
durch die Entwicklungspsychologie Piagets wird das synästhetische Prinzip
erklärt. Das Greifschema als die Koordinierung von haptischer und optischer
Wahrnehmung ist, wie wir gesehen haben, die Grundlage erster Kognition.
Synästhetisches Wahrnehmungsorgan ist der Leib. Gernot Böhme sieht den
Leib als
Inbegriff des leiblichen Spürens. Im Gegensatz zur naturwissen-
schaftlichen Erfahrungsweise, die den menschlichen Körper grund-
sätzlich als den Körper des anderen thematisiert, ist der Leib nur in
Selbsterfahrung gegeben. ... Es geht darum, das leibliche Spüren als eine
Weise zu begreifen, ... in der wir unsere Natur selbst sind.265
Und bei Alexandre Mitraux lesen wir, dass schon Rousseau sich mit den
unterschiedlichen Formen der Naturwahrnehmung beschäftigt hat in der
„Form einer Abrechnung mit der Ästhetik des Blicks.“
In der ersten Form der Landschaftserfahrung zeigt sich die Natur dem
Menschen aus der Distanz, vermittelt sich ihm lediglich über den
Gesichtssinn, verkümmert zum Panorama. ...

265  G. Böhme, (2002), 21.

232  Über Wahrnehmung und Kunst


In der zweiten Form dagegen wird die Natur in mehreren
Sinnesmodalitäten zugleich wahrgenommen. Sie affiziert aus der
Nähe oder in unmittelbarer Berührung, vermittelt sich dem Menschen
durch dessen Tasten und Riechen und ist dann auch ein Medium der
sinnlichen Vermittlung des Menschen mit sich selbst. ... Das Berühren
der Pflanzen ist unaufhebbar eine lustgefärbte Selbstberührung.266

6.5.2 Raumerfahrung durch Bewegung


Dieses Thema habe ich bereits oben im Zusammenhang mit der psycholo-
gischen Wirkung der Wegeführung und in Bezug auf den fließenden Raum
angeschnitten. Es soll hier weiter vertieft werden.
Schon Husserl fasste die beiden Aspekte,
das Sich-Bewegen und das Bewusstsein davon ... unter dem Begriff der
„Kinästhese“. ... Die Erfahrung in einem Horizont von Möglichkeiten ist
rückgekoppelt an das Bewusstsein, wie es sich weitere Sinneseindrücke
durch Aktivitäten des Körpers beschaffen könnte. Darin artikuliert
sich das Bewusstsein von unserem Körper als Wahrnehmungs- und
Empfindungsorgan, das von uns willentlich bewegt wird. Husserl
spricht in diesem Sinne von einem Leibbewusstsein. Der Leib wird
zum Wahrnehmungsorgan.267
Heinz Paetzold hat diesen Aspekt der Wahrnehmung ausführlich unter-
sucht.268 Er sieht den „Leib als eine unhintergehbare Voraussetzung aller
sinnlichen Raumerfahrungen“269 und betrachtet die Bewegungsformen des

266  Mitraux, (1986), 219f.


267  Prechtl, (1991), 72.
268  Paetzold, (1990)
269  Ebd. 28

Wahrnehmung ist Konstruktion  233


Leibes im Zusammenhang mit unterschiedlichen Raumqualitäten: Der ge-
stimmte Raum
[wird] im ziellosen Gehen, im Wandern ... und vielleicht auch im städ-
tischen Flanieren zugänglich. Im ziellosen und nicht funktional be-
stimmten Gehen werde ich des gestimmten Raumes inne. Dazu trägt
bei die aufmerksamlose Bewegung des Leibes, die fließende Rhythmik
des Schreitens. Der Leib öffnet sich der Welt: Die Sinnesorgane spie-
len zusammen, ohne einem Ziel unterworfen zu sein. Das Auge folgt
zwanglos dem Blick, ... . Auf solche Weise realisiert sich der Leib als
ein Resonanzboden der Welt, wie umgekehrt seine Gestimmtheit sich
spiegelt in der Welt.270
Wir erkennen in diesem gestimmten Raum unmittelbar alle Arten und
Formen von Gärten und Landschaften. Als negatives Beispiel sehe ich die
grassierende Mode der unendlich langen ‚Achsen’, die nur einen missge-
stimmten Raum erzeugen.
Vom gestimmten Raum unterscheidet Paetzold den Aktionsraum.
Damit ist diejenige Struktur von Räumlichkeit gemeint, die sich dem
handelnden Leib erschießt. Handeln ist hier zu interpretieren als zielge-
richtetes Tun. Es schließt also Dinge ein, auf die sich das Handeln rich-
tet, und außerdem solche Dinge, mit denen Handlungen vollzogen
werden. (Zum Beispiel Sportgeräte A. S.) ... Ein wesentliches Merkmal
des Aktionsraumes ist seine Gerichtetheit: Der handelnde Leib bildet
sein Zentrum.271 (Hvh. i. O.)
Die optische Wahrnehmung bezieht er auf den Anschauungsraum: darin
ist der Leib

270  Ebd., 30.


271  Ebd., 31.

234  Über Wahrnehmung und Kunst


in seiner Eigendynamik qualitativ und quantitativ reduziert:
Gliedmaßen und Rumpf sind in ihren spezifischen lokomotorischen
und aktionistischen Funktionen außer Kraft gesetzt. ... Sie sind ledig-
lich Träger der Sinne.272
Der Anschauungsraum ist ein ‚Fernraum’, der durch die Raumtiefe und die
Perspektive bestimmt ist. Aber auch diese optische Wahrnehmung ist nur
möglich, wenn das wahrnehmende Subjekt sich die Fähigkeit dazu in sei-
ner ontogenetischen Entwicklung durch Bewegung erworben hat. - Der
Anschauungsraum ist die Grundlage der Landschaftsmalerei, was noch nä-
her zu untersuchen ist.

6.5.3 Die haptische Wahrnehmung


Hiermit ist nicht nur der Tastsinn der Hände gemeint, sondern die
Berührungen und das Spüren des ganzen Leibes mit der Natur, mit Pflanzen,
Wind und Wetter. Mich interessiert besonders die Bedeutung der haptischen
Erfahrung für die Entwicklung der Kinder. Auf die Anfänge im Säuglingsalter
habe ich bereits hingewiesen. Für die weitere Entwicklung ist die Berührung
mit den ‚vier Elementen’ sehr wichtig. Erde, Wasser, Luft und Feuer waren
nicht ohne Grund die Urelemente der alten Griechen. Die Affinität zu ih-
nen scheint tief in der Psyche der Menschen verwurzelt zu sein. Das wird
deutlich, wenn Kinder beim Spielen beobachtet, beim ‚Matschen’ am Strand,
beim ‚Kokeln’ oder in der Luft beim Schaukeln.
Ein eindruckvolles Erlebnis hatte ich, nachdem wir in den Sommerferien im
Zuge einer Schulhofumgestaltung einen großen Sandhaufen aufgeschüttet
hatten. Es war eine Schule in einem sozial benachteiligten Gebiet, in dem
die Kinder nicht viel aus ihrer Umgebung herauskamen. In der ersten großen

272  Ebd., 33.

Wahrnehmung ist Konstruktion  235


Pause wurde der Sandberg gestürmt, was eine unvermutete, an Ekstase gren-
zende Begeisterung auslöste.
Eine andere Beobachtung ist die, dass Kinder in einem bestimmten Alter ei-
nen gewissen Destruktionstrieb ausleben; dabei werden zum Beispiel Zweige
abgebrochen und als Waffe oder Peitsche benutzt. Ein falscher Ordnungssinn
sollte sie nicht daran hindern. – Man könnte diese Reihe fortsetzen; ich will
nur folgern, dass bei der Gestaltung der ‚Welt als Garten,’ die Befriedigung
dieser Spieltriebe eine wichtige Aufgabe ist, wichtiger als das Aufstellen im-
mer aufwendigerer technischer Spielgeräte.
Ein Beispiel für das ‚Begreifen’ eines Kindes habe ich mit dem achtjährigen
Enno erfahren. Er hatte mit seinem Bruder in einer Knickeiche in tagelanger
Arbeit ein Baumhaus gebaut, was bedeutet, dass er eine intensive haptische
Erfahrung in dem Baum hatte. Ohne eine bewusste Beziehung zu diesem
Erlebnis malte er danach einen Baum, der sich signifikant von Darstellungen
Gleichaltriger unterschied.

Ennos Baum Die Naive


Die Bedeutung der Berührung des Leibes mit der Natur, mit den vier
Elementen, gilt genau so für Erwachsene. Auch hier ist die Reihe von
Beispielen eine unendliche. Ich beschränke mich auf wenige: Wandern durch
Dünen oder barfuß im Watt, Garten umgraben, Baden, Schwimmen, ‚Wind
um die Ohren’ wehen lassen, Sitzen am Lagerfeuer und – zum Element Erde
gehörig - in der Vegetation: das Gehen durch hohes Gras, trockenes Laub,
Walddickicht und so fort.

236  Über Wahrnehmung und Kunst


6.5.4 Weitere leibliche Wahrnehmungen
Hierzu nenne ich nur einige Beispiele. Akustik: Singen der Vögel, Heulen des
Windes; Olfaktorik: Duft von Blumen oder trockenem Heu, Geruch des
Waldbodens; Gustatorik: Geschmack von Walderdbeeren und so weiter.
Zwischenbemerkung: Eine negative Tendenz im Naturschutz
Die Bedeutung dieser synästhetischen Wahrnehmungen für unser
Naturverhältnis ist evident. Sie sind besonders in naturnahen Grünflächen
gegeben. Gerade im Umfeld der Großstädte sind diese deshalb von großer
Bedeutung. Hier macht sich nun zunehmend eine negative Tendenz be-
merkbar: Damit keine Trampelpfade entstehen und ‚die Menschen die Natur
nicht stören,’ werden, abgehoben vom Boden, Holzstege gebaut. Dies ist
eine Fehlentwicklung im heutigen Naturschutz, nämlich die Menschen aus
der Natur fern zu halten. Die Chance, Natur auf Dauer zu erhalten, besteht
aber nur darin, Menschen als Gesellschaft Natur wahrnehmen zu lassen,
und das ist nur durch synästhetische Wahrnehmung möglich. Nur mit allen
Sinnen, das heißt durch körperliche Berührung ist Natur als ganze erfahrbar.
Die Wahrnehmung vom Holzsteg aus ist mit dem Erleben von Natur am
Bildschirm vergleichbar, es ist ein schwaches Surrugat.

6.5.5 Atmosphären
Es ist also festzustellen, dass die Natur dem Menschen nicht nur als Bild
gegen über tritt. Der Mensch ist selbst Natur, wenn er als Leib nicht nur
Nahrung, sondern die unterschiedlichsten Einflüsse über alle seine Sinne
aufnimmt. Von der Hirnforschung wissen wir, dass durch die Wahrnehmung
der Außenwelt auch die Physis des Menschen beeinflusst wird. So bewir-
ken äußere Reize die Bildung von Neurotransmittern und Endorphinen, die
das Nervensystem und damit die Homöostase, das heißt unterschiedlichste

Wahrnehmung ist Konstruktion  237


Funktionen des Leibes steuern. Sie können positive und negative Gefühle
erzeugen. So werden auch die oben beschriebenen Raumeindrücke gebildet.
Eingehend befasst mit der Synästhetik im weitesten Sinne hat sich Gernot
Böhme. Bei ihm lesen wir:
Es geht darum, die emotionalen Anteile, d. h. die affektive Teilname
am Wahrgenommenen wieder in den Wahrnehmungsbegriff zu
integrieren. Wenn Wahrnehmung das sinnliche Sichbefinden in
Umgebungen ist, dann stellt der Wahrnehmende nicht nur quasi aus
außerweltlicher Position fest, was in seiner Umgebung passiert, er
wird vielmehr durch den Zustand seiner Umgebung affektiv betroffen
und wird einer so und so beschaffenen Umgebung in seiner eigenen
Befindlichkeit bewusst. ...
Diese Feststellung führt dazu, der Umgebung quasi objektive
Gefühlscharaktere zuzuschreiben. Sie werden ... „Atmosphären“ ge-
nannt. Die sind als „quasi objektiv“ zu bezeichnen, insofern sie zwar
nicht wie Objekte vorfindlich, aber doch durch gegenständliche
Arrangements praktisch erzeugbar sind. In Atmosphären von
Umgebungen , seien es nun Atmosphären von Landschaften, von
Plätzen oder Innenräumen, kann man „hineingeraten“. Atmosphären
„hängen“ an Dingen und gehen von Dingen und Menschen aus.
Atmosphären sind zwar nicht „objektiv“, - und das heißt im Sinne
neuzeitlicher Wissenschaft durch Apparate – feststellbar, aber es
gibt gleichwohl darüber eine intersubjektive Verständigung. ... [Man
könnte also] die Ästhetik, auf die wir uns zubewegen, eine Theorie der
Atmosphären nennen. 273 (Hvh. A. S.)
Böhme ist sichtlich bemüht, seinen Begriff der Atmosphären gegen
Missdeutungen zu schützen. Kritisiert wird er zum Beispiel von Ruth und

273  Böhme, (1989), 10f.

238  Über Wahrnehmung und Kunst


Dieter Groh. Diese wenden ein, „dass Wahrnehmung der menschlichen
Natur als Leib-Natur kein genuines Ziel ästhetischer Naturwahrnehmung
ist. Diese richtet sich vielmehr auf schöne und erhabene Gegenstände der
Äußeren Natur.“ 274 (Hvh. A. S.) Dies ist die alte Ästhetik des Bildlichen, in
erster Linie optisch Wahrnehmbaren.
Dem entgegen steht eine Ansicht Adornos, wenn sie sich auch nicht aus-
drücklich auf leibliche Wahrnehmung bezieht: „Wer vom Naturschönen
redet, begibt sich an den Rand der Afterpoesie. Einzig der Pedant vermißt
sich, in der Natur Schönes und Häßliches zu unterscheiden, aber ohne alle
solche Unterscheidung würde der Begriff des Naturschönen leer.“ 275 und an
anderer Stelle sagt er, dass die „bewußtlose Wahrnehmung“ mehr von der
Schönheit der Natur weiß. „Je intensiver man Natur betrachtet, desto weni-
ger wird man ihrer Schönheit inne, wenn sie einem nicht schon unwillkürlich
zuteil ward.“ 276 Diese Aussage wendet sich implizit gegen die Überbetonung
des Visuellen und die „bewusstlose Wahrnehmung“ meint das Gleiche, wie
das „Sichbefinden“ und die „affektive Betroffenheit.“
Um den Charakter von Atmosphären zu verdeutlichen, will ich sie als ‚Form
der Unterscheidung’ darstellen:

Atmosphäre
Naturaffekte Adaptation

Naturaffekte und Adaptation sind streng durch eine Grenze von einander ge-
trennt und bilden als Form der Unterscheidung zusammen die Atmosphäre.

274  Groh (1996). 127.


275  Adorno, (1973), 110.
276  Ebd. 108.

Wahrnehmung ist Konstruktion  239


Das bedeutet: Naturaffekte sind objektiv vorhanden, das sind zum Beispiel
Wetterbedingungen, physischer Zustand der Umgebung, wie Wiesental,
Wald, Hügel, Berge und so weiter. Die andere Seite der Unterscheidung ist
die Adaptation durch ein Individuum, und die ist abhängig von dessen psy-
chischen Verfasstheit.
Aber auch Heilung ist durch positive Affekte möglich. In Holland werden
Depressionen in blühenden Tulpenfeldern therapiert. und auch der Erfolg
von Kuren ist mit abhängig von der Umgebung; Kurorte befinden sich im-
mer in hervorragenden Landschaften.
Intensiv hat sich auch der Psychologe Reinhart Schober mit Atmosphären
befasst, der sie – wie Böhme – für planbar und herstellbar hält.277 Er stellt
fest, „dass sich Menschen wie atmosphärisch ausgehungert in historischen
Gassen drängen“ und kritisiert „eine allzu rationale Planung,“ die durch „so
weiträumige Worte wie ‚Aufwertung’, ‚Achsen’, ‚Akzente’, ‚Anbindung’“ be-
stimmt sind. Er fordert, „Atmosphäre als bewusste Planungsdimension ein-
zusetzen.“ Als „Grundelement“ der Atmosphäre sieht er
die Ausdruckswirkung. Von Gegenständen, Materialien, Farben,
Formen, Proportionen, Menschen Tieren, Aktivitäten, Themen, Musik,
... kann etwas ausgehen, das uns emotional berührt. ... Einzelne do-
minante Elemente, Figur-Grund-Verhältnisse, können die Auffassung
einer Situation prägen. Das sind die entweder positiven oder negati-
ven Atmosphäre-Träger. Finden sie sich zu einer zusammenpassenden
Einheit zusammen, liegt ein Atmosphärefeld vor. ...
Die innere Struktur eines Feldes muss sowohl eine Einheit darstellen
wie auch in sich verschieden sein, um nicht monoton zu wirken
Er unterscheidet „vier Grundarten von Atmosphäre:“

277  Schober, (2001), 140ff

240  Über Wahrnehmung und Kunst


• Anregung, Stimulation, Ereignis,
• Entspannen und Genießen, Beruhigung,
• Langeweile, Depression,
• Lästigkeit, Ärger, Überdruß, Angst.
Diese Begriffe gleichen meiner Liste der Unterscheidungen im Kontext der
Adaptation oder ergänzen sie. Auch sie bilden – zwischen Anregung und
Angst - insgesamt eine Skala.
Zu bemerken ist, dass bei dem heute in der Gartenkunst vorherrschenden
Minimalismus das Atmosphärische sich in vielen Anlagen in der unteren
Hälfte der Skala bewegt: Langeweile, Ärger.
Schober entwickelt dann eine „Erlebnisdramaturgie“ von der ich einige
Auszüge stichwortartig wieder gebe:
Neugierweckung: Blicke werden angezogen durch komplexe viel-
versprechende Sinnesreize. Etwas Ungewissheit muß sein ... Leichte
Disharmonien sind interessant 278 ... ganz wichtig ist, dass auch einmal
nichts ist, bis kurz vor der Langeweile. Verweilen, Ausruhen ... Prinzip der
halbgeöffneten Tür, irgendwo hineinlugen können. Im Park auch ein-
mal mit halb versteckten Parkfiguren arbeiten ... Spiel mit Sinnesreizen:
Alles was die Sinne erfreut. Mal direkt angenehm, mal als wohli-
ger Schauder ... Steigerungen: Unerwartete Intensitätserhöhungen,
Spiel mit Überraschungen. Hindernis vor Zielen. ... Gelegenheit zum
Ausschwingen: Hier wird mit einer herabgesetzten Bewußtseinslage
gearbeitet, die dadurch geringere Reize erfordert, zum Beispiel
Schwelgen in harmonischen Farben, Formen, Proportionen und
Themen, große Ausblicke, freie Plätze, Promenaden ... Geborgenheit

278  siehe Anm. 256 und 257.

Wahrnehmung ist Konstruktion  241


und Idylle: Kleinräumige Partien, Wohlbehagen, Gemütlichkeit, Nähe.
... u. s. w.
Man kann feststellen, dass auch Schober das Prinzip der skalierten
Unterscheidungen anwendet. Er stellt dies dar in einem Schaubild mit zwei
Achsen, deren senkrechte die Unterscheidung ‚Erregung / Ruhe’ und die
waagerechte die Unterscheidung ‚Vermeidung / Annäherung’ darstellt.

Abb.6/4
Schober registriert schließlich, .
das starke Hinausströmen aus der Stadt an Wochenenden und im
Urlaub und, dass durchgehend in Tourismusstudien die schöne
Landschaft auf Platz eins bei der Frage nach der gewünschten Kulisse
steht.
Sehnsucht nach Natur und Landschaft wird durch das Bewusstsein
der schwindenden Natur genährt, also von Leben, die tägliche

242  Über Wahrnehmung und Kunst


Konfrontation mit Ozonloch und Klimakatastrophe ... Eine Ästhetik
der Kahlheit kann nicht allzu sehr erfreuen.
Setzen wir auf die überschwänglichen Elemente Wildheit und Pracht.
Nicht indem wir einen Urwald durch die Städte ziehen, sondern in
einer feinen ornamentalen Art. Anregungen finden wir in der fraktalen
Formensprache aus der Chaostheorie. ...
In stilisierter oder halbstilisierter Form lassen sich Ableitungen für die
Wiedergewinnung von Ornamentik herstellen. Das Diktum von Adolf
Loos, dass Ornament Verbrechen sei, heben wir auf.
Mit den konkreten Vorschlägen, die Schober macht, die zum Teil in Richtung
Postmoderne gehen, stimme ich nicht in allem überein. Aber seine struktu-
rellen Kriterien für die Bildung von Atmosphären sind für die Gartenkunst
beachtenswert.

6.5.6 Fühlen und Denken


Bei der bisherigen Behandlung der synästhetischen Wahrnehmung ging es
in erster Linie um emotionale Zusammenhänge. Wahrnehmung wird aber
auch von rein verstandesmäßigen Erkenntnissen beeinflusst.
Dazu hat Luc Ciompi eine „interdisziplinäre Metatheorie“ über das
„Zusammenwirken von Fühlen und Denken“ entwickelt, die er „frakta-
le Affektlogik“ nennt. Hierbei bezieht er sich unter anderem auch auf die
„Untersuchungen Jean Piagets zur Genese kognitiver Strukturen im Laufe der
Kindheit.“ Ich zitiere einige seiner für mich wichtigen Kernsätze:
„Fühlen und denken [wirken] in allen psychischen Leistungen untrennbar
zusammen.“ Erkenntnisse der „aktuellen Hirnforschung“ belegen, „dass es ein
reines affektfreies Denken überhaupt nicht gibt und geben kann – nicht ein-
mal ... in der Wissenschaft und Mathematik.“ Affekte lassen sich „definieren

Wahrnehmung ist Konstruktion  243


als umfassende körperlich-seelische Gestimmtheiten oder Befindlichkeiten
von unterschiedlicher Qualität, Bewusstseinsnähe und Dauer. ... Affekte in
diesem Sinn ‚affizieren’ grundsätzlich den gesamten Organismus; es handelt
sich somit um typisch psychosomatische Phänomene“ 279 Kognition defi-
niert Ciompi im „scharfen Unterschied zum obigen Affektbegriff [als] die
Fähigkeit zur Wahrnehmung und weiteren Verarbeitung von sensorischen
Unterschieden und Gemeinsamkeiten. ... Im Gegensatz zu den Affekten „affi-
zieren’ Kognitionen keineswegs den ganzen Organismus.“ Für Ciompi haben
daher Affekte das Übergewicht: „Denken und Handeln werden von Affekten
nicht nur ständig begleitet, sondern auch geleitet.“ Und „in welcher emotio-
nalen Verfassung wir die Welt betrachten, so erscheint ... sie für uns – und ge-
rade dies gilt ... in hohem Maß ebenfalls für unsere Wahrnehmung der Natur.“
„Während wir die Natur in guter Stimmung zum Beispiel als schön, erhaben
oder lieblich erleben, wird sie uns in ängstlicher ... Verfassung als schrecklich
oder unheimlich erscheinen, und auf den in tiefer Trauer oder Depression
versunkenen Menschen kann selbst die schönste Landschaft noch als be-
drückend oder gleichgültig wirken.“ 280 - Auch entwicklungsgeschichtlich gilt,
dass Naturgenuss nur im entlasteten Zustand möglich war und ist.
Ciompi bezieht sich ausdrücklich auf die ‚Form der Unterscheidung’ von
Spencer-Brown. Das ergibt:

Wahrnehmung
Fühlen Denken

Nun ist das Verhältnis von Fühlen und Denken in Bezug auf die Wahrnehmung
in der Gartenkunst zu erörtern, wobei ich daran erinnere, dass Wahrnehmung
sich sowohl auf die Produktion, wie auf die Rezeption bezieht.

279  Siehe auch Anm. 265.


280  Ciompi, (2005), 32ff

244  Über Wahrnehmung und Kunst


An erster Stelle ist zu nennen der Einfluss der Ökologie auf die Profession.
Ich sehe das durchaus positiv, denn Ökologie bezieht sich auf den
‚Hauptwerkstoff’ der Gartenkunst, die Vegetation. So sollte es schon selbst-
verständlich sein, den Garten auch als Lebensraum zu sehen, und zum
Beispiel auch Pflanzen zu verwenden, die Tieren Nahrung und Unterschlupf
bieten. - Eindeutig ist, dass bei der Pflanzenverwendung ein Grundwissen
über die Ansprüche der Arten vorhanden sein muss. Das heißt nicht, dass
Pflanzpläne streng nach pflanzensoziologischen Gesichtspunkten aufzu-
stellen sind. Aber einige Grundregeln sollten doch beachtet werden, zum
Beispiel feuchtigkeits- und trockenheitsliebende Pflanzen nicht nebeneinan-
der zu stellen, was Lucius Burckhardt oft beanstandete.
‚Fühlen und Denken’ in Einklang zu bringen ist im Prinzip für alle Arten
der Kunstausübung wichtig; für die Gartenkunst ist es eine der entschei-
denden Fragen. Dabei ist die Behandlung der Vegetation als Affekt bestim-
mendes Element von eminenter Bedeutung. Es geht auch hierbei um die
Hauptunterscheidung ‚physis und techne.’ in der Deutung Heideggers.281

6.6 Archetypen
Archetypen habe ich bisher schon in verschiedenen Zusammenhängen
thematisiert, ohne näher auf diesen Begriff einzugehen. Wenn ich sie
hier unter dem Hauptthema ‚Wahrnehmung’ behandle, so ist doch
eine Unterscheidung zu machen: Alle bisher beschriebenen Formen der
Wahrnehmung sind Adaptationen äußerer Einflüsse durch Assimilation und
Akkommodation von Individuen. Archetypen sind keine äußeren Einflüsse,
sondern vererbte, also genetisch bestimmte Prägungen. Sie sind also keine
Wahrnehmungen im engeren Sinne, sondern psychische Phänomene, die

281  Heidegger, (2003), 28 und 46f.

Archetypen   245
man konstatieren aber bisher nicht erklären kann. Am ehesten ist wohl der
Vergleich mit Instinkten angebracht.
Der Begriff des Archetypus wurde vor allem von C. G. Jung eingeführt. Er un-
terscheidet das „persönliche Unbewusste“ dessen Inhalt „in der Hauptsache
die sogenannten gefühlsbetonten Komplexe“ sind, „welche die persön-
liche Intimität des seelischen Lebens ausmachen“, von dem „kollektiven
Unbewussten, dessen Inhalt die sogenannten Archetypen“ sind.
„Ein ... wohlbekannter Ausdruck der Archetypen ist der Mythus und das
Märchen. ... hier handelt es sich um spezifisch geprägte Formen, welche
durch lange Zeiträume übermittelt wurden. Der Begriff Archetypus“ bezeich-
net dagegen „nur jene psychischen Inhalte, welche noch keiner bewussten
Bearbeitung unterworfen waren, mithin also noch unmittelbare seelische
Gegebenheit darstellen.“ ... Die unmittelbare Erscheinung der Archetypen,
„wie sie uns in Träumen und Visionen entgegentritt, ist viel individueller un-
verständlicher oder naiver als z.B. im Mythus.“ 282
Auch andere Autoren arbeiten mit vergleichbaren Begriffen. So zum Beispiel
Gerhard Roth, der das phylogenetische vom ontogenetischem Gedächtnis
unterscheidet 283 und Martin Seel, der von der „zugleich naturgegebenen
und kulturell ausgeformten Sensibilität“ spricht.284 Dabei ist sicher die natur-
gegebene Sensibilität mit dem phylogenetisch entstandenen Archetypus zu
vergleichen.
Es ist offensichtlich, dass der Begriff rational nicht zu erklären ist, wie etwa
‚Gestalt’ oder sogar ‚Atmosphäre’. Aber eben so sicher ist, dass es etwas
Derartiges gibt, wodurch das Verhalten der Menschen beeinflusst wird. Es

282  Jung, (1957),12f.


283  Roth,(1992), 318.
284  Seel, (1996), 226f.

246  Über Wahrnehmung und Kunst


ist deshalb sinnvoll, entsprechende individuelle Erfahrungen bewusst zu ma-
chen.
Ich hatte in dieser Hinsicht drei markante Erlebnissr: Das erste betrifft mich
persönlich. Ich bin aufgewachsen in einer Kleinstadt in Holstein in einer im
landläufigen Sinne reizlosen Landschaft. Mit neun Jahren kam ich in ein
Kinderheim in Angeln an der Ostsee. Hier erlebte ich zum ersten Mal eine
‚Bilderbuchlandschaft’, die hügelige Moränenlandschaft.

Abb. 6/5 Holsteinische Schweiz


Unter anderem einen Laubwald, in dessen Mitte sich eine Lichtung von etwa
70 Meter Durchmesser befand. Dieser Eindruck war so prägend, dass ich
noch heute alle Einzelheiten vor Augen habe.
Die anderen Erlebnisse betreffen zwei meiner Söhne. Der eine fuhr als
Dreijähriger(!) mit der Bahn von Stadthagen ins Weserbergland und schaute

Archetypen   247
aus dem Fenster auf die Landschaft. Nach einer gewissen Zeit sagte er spon-
tan: „Schön hier, nicht?“ - Von dem anderen Sohn habe ich eine entsprechen-
de Wortschöpfung in Erinnerung. Als wir an einem Sonntag einen Ausflug
planten, schlug er vor, mal wieder zu der „gemütlichen Wiese“ zu fahren.
Das war eine Wiese, die von Wald und Knicks umgeben war, auf der wir vor
einiger Zeit gespielt hatten.
Diese Erlebnisse spielten in einer Zeit, in der es bei uns keinen Fernseher und
noch nicht die vielen Landschaftsbilder auf Hochglanzpapier gab. Es waren
also Erlebnisse, die spontan und ohne äußeren Einfluss entstanden. – Heute
wäre der Nachweis von ‚archetypischen’ Erlebnissen problematisch, weil
Natureindrücke, die nicht von der heutigen Bilderflut der Medien beeinflusst
sind, kaum noch möglich sind. Das bedeutet aber nicht, dass archetypische
Prägungen nicht mehr wirksam sind.
Wenn man die Fälle betrachtet, - die ich bisher behandelt habe oder die
noch zu finden sind - bei denen man von Archetypen sprechen kann, so ist
fest zu stellen, dass es Übergänge gibt zu den Einflüssen, die der Adaptation
unterliegen. Das trifft zum Beispiel zu auf die atmosphärischen Wirkungen.
Eine andere Unterscheidung sehe ich in dem ‚Alter’ der Archetypen, das
heißt in der Zeit ihrer Entstehung, bezogen auf die Entwicklungsgeschichte
der Menschheit, was man natürlich nur grob bestimmen kann. Es handelt
sich wieder um skalierte Übergänge. – Unter diesem Gesichtspunkt will ich
einige Beispiele menschlichen Handelns und Fühlens aufführen, die ich als
archetypisch ansehe:
• Die vier Elemente: Die Luft zum Atmen, Wasser und Erde – das was wir
früher Mutterboden nannten – als Grundlage des Lebens, und Feuer, des-
sen Beherrschung den Menschen vom Tier unterscheidet.

248  Über Wahrnehmung und Kunst


• Jagen und Sammeln, das in sublimierter Form immer noch ausgeübt
wird; das Jagen in ritualisierter Weise und das Sammeln in vielfältiger
Verkleidung, sei es als Sammeln von Briefmarken oder von Kapital.
• Die Höhle als Wohnraum und das Aufsuchen von Aussichtspunkten.
• Das Lichten des Waldes als Voraussetzung des Sesshaftwerdens und in
Verbindung damit die Auseinandersetzung mit den Mythen des Waldes.
• Der Urgarten, das Beackern des Bodens. Dies wurde zum Beispiel 1945
deutlich, als jeder versuchte, ein Stückchen bepflanzbaren Bodens zu fin-
den.
• Blumen als Symbol des Frühlingserwachens.
• Das Streben nach Ordnung im Chaos, geometrisches Denken.
• Die Freude am Schmücken des Körpers und des Lebensraumes.
• Das Suchen nach Dichte in der Stadt.
Sehr anschaulich und aufschlussreich hat Bernd Lötsch diese Fragen behan-
delt unter dem Thema „Bauökologie und Humanethologie.“ 285 Ich zitiere
daraus zur Konkretisierung und Ergänzung meiner nüchternen Aufzählung:
Lötsch geht davon aus, dass der Mensch „die Spuren einer Jahrmillionen
langen Evolution in sich [trägt], die im Naturmilieu und in sozialen
Kleinverbänden ablief. Seine angeborenen Verhaltenselemente sind seit min-
destens 40.000 Jahren unverändert.“ Verhaltensbiologisch gesehen zeigt der
Mensch eine „deutliche Ambivalenz ... gegenüber Dichte: Er flieht sie und
er sucht sie.“ Dichtes Zusammenleben wird durch Raumgliederung erträg-
lich. Unter anderen stellt Lötsch „planungsrelevante Verhaltenskonstanten
zusammen“:

285  Lötsch, (1988), 35ff.

Archetypen   249
• Wahrung von Individualabstand, Einzel- und Gruppenterritorium
• Stimulation (Abwechslung, Ausblick, dichte Folge visueller Informationen,
anregende Vielfalt im Umfeld, Reiz des Urbanen)
• Sicherheit, (Schutz gegen Fremdblick)
• Wunsch nach Orientierung, nach unverwechselbaren , identitätsfördern-
den Strukturen
• Wunsch nach Naturkontakt, „Phytophilie“
• Zugang zu Wasser
• Freude am Elementaren
• Präferenz für Saumbiotope (Ufer, Waldrand, Steppenhabitate mit
Gehölzgruppen)
Besonders interessant ist Lötschs Feststellung bezüglich „Gestalt statt Raster,
Rhythmus statt Stereotypie“: Danach können Menschen fünf, sechs oder
sieben Punkte unterscheiden, ohne zu zählen. Die Ansammlung gleicher
Elemente über die Zahl neun hinaus erfordert nummerieren und zäh-
len. „Die stereotype Wiederholung ... führt zu Orientierungsverlust“ - „Die
rhythmische Wiederholung gleicher (nicht identer) Teile ist ein wesent-
liches Konstruktionsprinzip und Erkennungsmerkmal des Lebens – man
denke an Zellstrukturen, an Raupen oder Fiederblättchen – häufig wird
rhythmische Wiederholung auch als visuelles Signal entwickelt, um aufzu-
fallen. ... deshalb sprechen Tier und Mensch auf solche Strukturen positiv
an, wurde Wiederholung zum Gestaltungsprinzip dekorativer Kunst, von der
Perlenkette bis zum klassischen Ornament.“ – Soweit Lötsch.
Ein weiteres Indiz für das Vorhandensein archetypischer Prägungen liefer-
te die Untersuchung eines amerikanischen demoskopischen Instituts, das
die „meistgeliebten und meistgehassten Bilder der Amerikaner“ erfragte.

250  Über Wahrnehmung und Kunst


„Sämtliche soziale Gruppen ..., Museumsgänger wie Bildungsignoranten
bevorzugten ... mehrheitlich das gleiche: als Lieblingsbild eine parkähnliche
Landschaft ... unter weitem blauen Himmel.“ Und erstaunlicher Weise brach-
ten entsprechende Umfragen in allen anderen Kulturkreisen und Klimazonen
die gleichen Ergebnisse.286
Angesichts solcher Erkenntnisse ist es schon absurd, wenn Sieferle fragt,
warum angesichts der Tatsache, dass viele Vögel „es längst erlernt [haben],
Fernsehantennen als Ersatz für Äste zu nehmen,“ es „den Menschen nicht
gelingen [sollte], etwa die Hochspannungsmasten ... ebenso als ‚Wälder’ zu
erleben, wie einst die jetzt Absterbenden Bäume.“ 287
Ich sehe mich dagegen in der Sicht der Dinge bestätigt von Peter Latz:
Nicht als dekoratives, sondern als essentielles Element gehören der Reiz
der Jahreszeiten, das Wetter sowie Blühereignisse zum archetypischen
Repertoire unseres Lebenszyklus. Und nicht nur erfreuliche Ereignisse,
auch furchterregende wie Blitz und Donner oder die Gischt der rei-
ßenden Fluten. Bei unseren Freiräumen liegen möglicherweise mehr
Informationen außerhalb von Form und Gestalt als innerhalb. Bereitet
Gestaltung womöglich nur den Ort vor, jene Naturereignisse zu erle-
ben? Sicherlich gehört gerade der Schutz vor der Kraft der Natur, vor
zuviel Wind, vor zuviel Sonne, vor zuviel Lärm, vor allen möglichen
Widrigkeiten zu unserem Repertoire. Was mich mehr daran interes-
siert, ist Dinge zu erforschen, die man möglicherweise spontan ver-
wendet wie das Unsichtbare in der Kommunikation oder das nicht
Sichtbare des Ästhetischen, und dies systematischer einzusetzen. 288

286  ZEIT- Magazin 37, 5. 9. 1997.


287  Sieferle, (1986), 259f.
288  Latz, (2005), 6f.

Archetypen   251
6.7 Morphische Felder
Abschließend zu diesem Kapitel möchte ich – ungeschützt – eine Idee ein-
bringen, die den Charakter der Archetypen, der bisher von Niemandem erklärt
wurde, erhellen kann. Es ist Rupert Sheldrakes Theorie der „Morphischen
Felder.“ Sie besagt dass
Selbstorganisierende Systeme aller Komplexitätsgrade – also
Moleküle oder Kristalle ebenso wie Zellen, Gewebe, Organismen und
Gesellschaften von Organismen – von Feldern organisiert werden, die
ich „morphische Felder“ nenne. Morphogenetische Felder sind ein-
fach eine bestimmte Art von morphischen Feldern, nämlich solche,
die für die physische Entwicklung und Erhaltung von Organismen
sorgen. Morphogenetische Felder organisieren auch die Entwicklung
von Molekülen, also etwa die Einfaltung der genetisch kodierten
Aminosäurenketten zu den komplexen dreidimensionalen Strukturen
der Proteine. 289
Sheldrake sieht also in der Formbildung von Organismen ein Zusammenwirken
der Gene mit morphogenetischen Feldern:

Formbildung von Organismen


Gene Morphogenetische Felder

Auch die Bildung von Kristallen wird nach Sheldrake


von morphogenetischen Feldern gesteuert, denen eine „Erinnerung“
an frühere Kristalle der gleichen Art innewohnt. Das würde bedeuten,
daß eine Substanz wie zum Beispiel Penizillin nicht etwa unter dem
Einfluß zeitloser mathematischer Gesetze auf die für sie charakteristi-

289  Sheldrake, (1991), 30f

252  Über Wahrnehmung und Kunst


sche Art kristallisiert, sondern weil sie früher schon so kristallisierte: Sie
folgt dabei einer durch Wiederholung gebildeten Gewohnheit.
Diesen Prozess nennt Sheldrake „morphische Resonanz“
Das ist ... ein auf Ähnlichkeit beruhender Einfluß, der aber, anders als die
in der Physik bekannten Resonanzphänomene, unabhängig ist von
Raum und Zeit. Morphische Resonanz wird mit der Entfernung nicht
schwächer, und sie kann aus der Vergangenheit auf die Gegenwart ein-
wirken. Übertragen wird hierbei nicht Energie, sondern Information.
Diese Hypothese gibt uns die Möglichkeit, die Regelmäßigkeiten in
der Natur nicht mehr wie bisher auf ewige, nichtmaterielle und nich-
tenergetische Gesetze zurückzuführen, sondern auf Gewohnheiten,
die durch morphische Resonanz vererbt werden.290 (Hvh. A. S.)
Auch das Gedächtnis und „die Vererbung von Instinkten und
Verhaltensanlagen“ beruhen nach Sheldrakes Theorie auf morphischer
Resonanz.
Das individuelle Gedächtnis und die individuelle Lernfähigkeit sind
vor dem Hintergrund eines kollektiven Gedächtnisses zu sehen, das
von früheren Individuen der Spezies durch morphische Resonanz ver-
erbt wird. Im bereich des Menschen existiert eine solche Vorstellung
bereits in C. G. Jungs Theorie vom kollektiven Unbewussten, das ich
als eine Art erbliches kollektives Gedächtnis verstehe. Die Hypothese
der morphischen Resonanz lässt das kollektive Unbewusste als Aspekt
eines viel allgemeineren Prozesses erscheinen: der Vererbung von
Gewohnheiten in allen Bereichen der Natur.291

290  Sheldrake, (1991), 131.


291  Ebd., 138f.

Morphische Felder  253


Dass diese Hypothesen, die weder physikalisch beweisbar noch messbar
sind, in der Welt der Naturwissenschaften abgelehnt werden oder zumin-
dest umstritten sind, wundert nicht. Sehr deutlich kommt dieser Gegensatz
bei Friedrich Cramer zum Ausdruck. Der sieht den Formbildungsprozess
von Organismen allein in der DNS festgelegt. Diese enthält nach seiner
Auffassung
nicht nur die räumlichen Strukturinformationen für den künfti-
gen Organismus, sondern auch das exakte zeitliche Programm sei-
ner Entwicklung von der einen befruchteten Eizelle bis zum fertigen
Lebewesen mit vielen Milliarden hochdifferenzierten Zellen, die genau
zur richtigen Zeit an den ihnen zugewiesenen Plätzen entstehen und
eingebaut werden. Ein kaum faßliches zeitlich-topologisches Problem!
292

Diese komplexen „biochemischen Mechanismen“ werden nach Cramer


gesteuert durch „Zuckerstrukturen an den Zelloberflächen, ... die von ent-
sprechenden Erkennungsmolekülen gelesen werden. ... Dieses zeitliche
Programm ist in den Genen genau festgelegt; wird es gestört, kommt es zu
Missbildungen.“
Wie man sich diese ‚lesenden Moleküle’- die ja nicht nur einen ‚Bauplan’
des zu bauenden Organismus sondern auch eine ‚Uhr’ enthalten müssen
– vorstellen soll, ist rätselhaft. – Offensichtlich ist diese Vorstellung der or-
ganischen Formbildung durch die ‚blendenden’ Erkenntnisse der modernen
Genforschung hervorgerufen. Wenn man dies aber zu Ende denkt, läuft das
wieder auf eine Form des alten mechanistischen Weltbildes hinaus. Dabei
wäre es nahe liegend, den ‚Bauplan’ und die ‚Uhr’ als morphisches Feld zu
sehen, das zusammen mit den biochemischen Wirkungen die Formbildung
steuert.

292  Cramer, (1997), 183f.

254  Über Wahrnehmung und Kunst


Ich habe das Thema Wahrnehmung so ausführlich behandelt, weil es
von Grund legender Bedeutung sowohl für die Produktion, wie auch die
Rezeption von Kunst ist. Besonders das Zusammenwirken von Assimilation
und Akkommodation und die Beachtung der Skala zwischen diesen beiden
Polen sind für die Kreation und Rezeption entscheidend. Die Problematik,
die das Verhältnis dieser beiden Seiten der Kunst belastet, ist die doppelte
Kontingens, die Fähigkeit des Produzenten, seine Idee zum Ausdruck zu brin-
gen und die Möglichkeit des Rezipienten, sie zu verstehen.
Das Besondere der Gartenkunst besteht darin, dass sie alle Sinne anspricht.
Die Synästhetik unterscheidet sie von allen anderen Künsten, besonders von
der bildenden Kunst.

Morphische Felder  255


Kapitel 7 Gartenkunst und ihre Stellung in der
heutigen Gesellschaft.
Bisher habe ich Grund- und Randbedingungen behandelt, die für die
Betrachtung der Gartenkunst relevant sind. Die methodische Grundlage der
Arbeit sind die Prinzipien der Differenztheorie. Dabei hat sich gezeigt, dass
die ‚Form der Unterscheidung’ viele Widersprüche und Gegensätze lösen
und fruchtbar machen konnte. Am wichtigsten ist die Unterscheidung von
physis und techne, die im bisherigen Diskurs immer problematisch war. Die
Erkenntnis, dass faktisch die Natur in der ganzen Welt vom Menschen be-
einflusst ist, schärft den Blick auf das eigentliche Wesen der physis, das zu
schützen und zu entwickeln ist als Lebensgrundlage in der Welt als Garten.
Weitere Grund legende Betrachtungen sind das Verhältnis von Funktion
und Gestaltung, das alle Lebensbereiche berührt, der Raum als Medium von
Architektur und Gartenkunst, die Wahrnehmung und ihre Bedeutung für
die Produktion und Rezeption von Kunst.
Diese Fragen spielen im gegenwärtigen Diskurs über Gartenkunst kaum
eine Rolle. Dieser ist, soweit es sich um die geschichtliche Entwicklung han-
delt, weit gehend bestimmt vom Wissenschaftskanon der Literatur- und
Kunstgeschichte. Als Beispiel zitiere ich aus der Einleitung von Ehrenfried
Kluckert zu dem großartigen Buch über Gartenkunst in Europa. Für ihn liegt
Der Garten aller Gärten ... in der unerreichbaren Ferne eines
Wunschtraumes, in dem die Sehnsüchte und Hoffnungen, aber auch
die Nöte der Menschen Zuflucht finden. Da die Erfüllung der letzten
Wünsche im Diesseits nicht zu erlangen ist, wird sie ... im Jenseits an-
gesiedelt. Dessen Abbild wird aber auf Erden ausgemalt und gestaltet,
damit der Wunschtraum niemals vergessen würde: Die Rede ist vom
Goldenen Zeitalter, von den Elysischen Gefilden, von Arkadien und
schließlich vom locus amoenus. Der Garten oder das Paradies ist den

256  Gartenkunst und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft.


uralten Vorstellungen von einer verlorenen, aber verheißungsvoll zu
erwartenden Glückseligkeit der Menschen gemeinsam.
Diese Projektionen haben in einer ganz entscheidenden Weise die
Struktur und Thematik der abendländischen Gartenkultur geprägt.
Die Aussage gewinnt besonders dadurch an Bedeutung, dass die
Begriffe Garten und Paradies eine gemeinsame Sprachwurzel besit-
zen.293
Hier finden sich also fast alle literarischen Topoi, die in Abhandlungen
über Gartenkunst immer wiederkehren. Auch für Adrian von Buttlar zum
Beispiel ist „ein Garten immer ein Wunschbild der Welt und zugleich eine
Rekonstruktion des ersten aller Gärten: des Paradieses.“ 294 - Diese Auffassung
des Gartens als ‚Wunschbild’ hat aber einen negativen Zug, als wenn es sich
um eine unrealistische Utopie handelt, eine Flucht aus dem Alltag.
Um dem Wesen der Gartenkunst näher zu kommen, wie es für die
Entwicklung der ‚Welt als Garten’ zu sehen ist, ist es nützlich, das Verhältnis
zu den anderen bildenden Künsten zu klären. Auch dies kann nur durch die
Methode der Unterscheidung erfolgen. Es gilt also, die Unterschiede aber
auch die Gemeinsamkeiten heraus zu arbeiten. - Am wichtigsten ist die
Verbindung zur Landschaftsmalerei, die immer noch kritiklos als Vorbild des
Landschaftsgartens gilt.

7.1 Gartenkunst und Landschaftsmalerei


Die tief sitzende Auffassung vom Primat der Landschaftsmalerei ist sicher
auch von der philosophischen Autorität Immanuel Kants beeinflusst. In der
Kritik der Urteilskraft setzt er sich ausführlich mit diesem Thema auseinan-

293  Kluckert, (2000), 8.


294  Buttlar, (1989), 7.

Gartenkunst und Landschaftsmalerei  257


der. Die bildenden Künste unterteilt er als erstes in die „der Sinnenwahrheit
oder die des Sinnenscheins. Die erste heißt die Plastik, die zweite die Malerei.
... Zur Plastik ... gehört die Bildhauerkunst und Baukunst.“ Die Baukunst ‚adelt’
er als „die Kunst, Begriffe von Dingen, die nur durch Kunst möglich sind,
und deren Form nicht die Natur, sondern einen willkürlichen Zweck zum
Bestimmungsgrunde hat, zu dieser Absicht, doch auch zugleich ästhetisch-
zweckmäßig darzustellen.“ Es geht also um den Gegensatz Kunst / Natur.
Die „Malerkunst,“ die den „Sinnenschein künstlich mit Ideen verbunden
darstellt,“ teilt er ein in die schöne „Schilderung der Natur“ und die schöne
„Zusammenstellung ihrer Produkte.“ Die erste ist die „eigentliche Malerei, die
zweite die Lustgärtnerei.“ 295
Am wichtigsten ist die erste Unterscheidung: Sinnenwahrheit und
Sinnenschein. Sinnenwahrheit umfasst die Bildhauerkunst und die
Architektur, also so zu sagen das, was konkret, körperlich fassbar ist. Die
Malerkunst ist dagegen nur Sinnenschein, also wohl nur das, was das Auge
wahrnehmen kann. Dass Kant auch die Gartenkunst unter diesem Kriterium
einordnet, ist eine folgenschwere Tatsache, die sich bis heute auswirkt.
Wie kommt Kant zu dieser Zuordnung? Er sieht in der Gartenkunst „nichts
anders, als die Schmückung des Bodens mit derselben Mannigfaltigkeit
(Gräser, Blumen, Sträuchen und Bäumen, selbst Gewässern, Hügeln und
Tälern), womit ihn die Natur dem Anschauen darstellt, nur anders und ange-
messen gewissen Ideen, zusammengestellt.“
In einer Anmerkung grenzt er die Lustgärtnerei weiter gegen die Plastik und
die Baukunst ab:
Daß die Lustgärtnerei als eine Art von Malerkunst betrachtet wer-
den könne, ob sie zwar ihre Formen körperlich darstellt, scheint be-

295  Kant, KdU, § 51

258  Gartenkunst und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft.


fremdlich; da sie aber ihre Formen wirklich aus der Natur nimmt (die
Bäume, Gesträuche, Gräser und Blumen aus Wald und Feld ...), und
insofern nicht, etwa wie die Plastik, Kunst ist, auch keinen Begriff von
dem Gegenstande und seinem Zwecke (wie etwa die Baukunst) zur
Bedingung ihrer Zusammenstellung hat, sondern bloß das freie Spiel
der Einbildungskraft in der Beschauung: so kommt sie mit der bloß
ästhetischen Malerei, die kein bestimmtes Thema hat (Luft, Land und
Wasser durch Licht und Schatten unterhaltend zusammenstellt), so-
fern überein.296
Kant sieht also eine Übereinstimmung der ‚Lustgärtnerei’ mit der
Landschaftsmalerei darin, dass sie zweckfrei das ‚freie Spiel der
Einbildungskraft’ betreibt. Problematisch ist aber seine Ansicht, dass sie nicht
wie die Plastik Kunst sei, weil sie ‚ihre Formen wirklich aus der Natur nimmt.’
Den Unterschied zur Baukunst sieht er darin, dass sie keinem Zweck dient,
also keine Funktion hat, außer „der Beschauung.“
Damit ist im gewissen Maße der Grund gelegt für die heutigen Probleme
der Gartenkunst: Die Fixierung auf die Prinzipien der Malerei und die Furcht,
naturalistisch zu gestalten. Für ‚Naturalismus’ steht heute ‚Ökologie’, was
die Hinwendung zur Architektur bewirkt hat. Ich stelle dem entgegen, was
ich mit der ‚Form der Unterscheidung:’ physis / techne entwickelt habe;
physis in Verbindung mit techne bleibt immer Natur. Naturalismus ist ein
Spezialbegriff der Kunsttheorie, der auf die Gartenkunst nicht angewendet
werden kann.
Kant schließt seine Betrachtung über die bildende Kunst:
Zu der Malerei im weiten Sinne würde ich noch die Verzierung der
Zimmer durch Tapeten, Aufsätze und alles schöne Ameublement,
welches bloß zur Ansicht dient, zählen; imgleichen die Kunst der

296  Ebd., (Anm.)

Gartenkunst und Landschaftsmalerei  259


Kleidung nach Geschmack ... . Denn ein Parterre von allerlei Blumen,
ein Zimmer mit allerlei Zierraten (Selbst den Schmuck der Damen dar-
unter begriffen), machen an einem Prachtfeste eine Art von Gemälde
aus, welches ... bloß zum Ansehen da ist, um die Einbildungskraft im
freien Spiele mit Ideen zu unterhalten, und ohne bestimmten Zweck
die ästhetische Urteilskraft zu beschäftigen. 297
Diese Ansichten Kants zählen sicher nicht zu seinen großen philosophischen
Leistungen und sind wohl auch zeitbedingt. Aber sie wirken bis heute nach.
Fest verankert im kunsthistorischen Diskurs ist der Topos von dem
Landschaftsgarten als dreidimensionales begehbares Landschaftsbild.298 Als
Beispiel aus der umfangreichen Literatur zitiere ich aus einer Arbeit Günter
Herzogs über den Maler Hubert Robert. Herzog gibt hier insgesamt einen
sehr interessanten und informativen Abriss der bildenden Kunst des 17.
Jahrhunderts. Seine Ansicht über die Bedeutung der Landschaftsmalerei ist
aber typisch für einen Kunsthistoriker.
Er sieht als ein vordringlich zu untersuchendes Phänomen, „in dem sich
die Beziehung zwischen Malerei und Landschaftsgarten definiert, [das
Bildhafte.]“ 299 An der Wiege des Landschaftsgartens steht nach seiner
Ansicht der „Ausspruch Alexander Popes aus dem Jahr 1734: Alle Gärtnerei
ist Landschaftsmalerei.“ 300 Für diese Grundauffassung kann Herzog natür-
lich viele Zeugen aufrufen, zum Beispiel den Marquis de Giradin, der den
Bauherren von Landschaftsgärten empfiehlt: „sich selbst ein Bild ihres
Vorhabens zu machen oder sich eines machen zu lassen. ... das Bild einer
Landschaft [kann] von keinem anderen Künstler erfunden, skizziert, gezeich-

297  Kant, KdU, § 51


298  Buttlar, (1989), 14.
299  Herzog, (1989), 13.
300  Ebd., 31.

260  Gartenkunst und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft.


net, koloriert, retuschiert werden als von einem Landschaftsmaler ...“ 301 Und
Herzog stellt fest:
Das „Bildhafte“ ... wird zum alle Gattungen dominierenden
Organisationsprinzip der Kunst in der zweiten Hälfte des 18.
Jahrhunderts und löst damit die Architektur als herrschende
Ordnungsmacht ab. Selbst Architektur wird als Assoziationen auslö-
sendes Bild rezipiert und selbst Natur kann nur noch im Bild wirklich
und wirksam werden. 302
Herzog beschreibt das Wirken Hubert Roberts, der seine Lehrzeit natürlich
in Italien absolvierte, und dessen „immer wiederkehrende Lieblingsmotive
die Felsen, die Wasserfälle und der Sibyllentempel von Tivoli“ waren. In
Frankreich entfaltet Robert eine fruchtbare Tätigkeit. Herzog erforscht am
Beispiel des Gartens von Méréville akribisch, wie weit sein bildnerisches Werk
in konkrete Landschaftsgestaltung umgesetzt wurde. Demnach entwarf
Robert
einzelne vollständige Gartenbilder, bestimmte die Gestaltung der an-
gemessenen Landschaft, entwarf nach den Vorstellungen des Marquis
und der Marquise ... die gewünschten Gebäude und sonstige Fabriques,
Denkmäler, Grotten und Felsen, aus denen diese Gartenbilder kom-
poniert wurden. Er vergab Aufträge an Schreiner, Steinmetzen und
Bildhauer, die nach seinen Anweisungen Gipsmodelle anfertigten,
handelte Preise und Löhne aus und beaufsichtigte die ... laufenden
Arbeiten.303

301  Ebd.
302  Ebd., 125.
303  Ebd., 104.

Gartenkunst und Landschaftsmalerei  261


Dabei ist von 9 Fuß hohen und 6 Fuß breiten Bildern die Rede, die „für den
kleinen Salon ... und das Billardzimmer“ angefertigt wurden.
Alles in allem entsteht der Eindruck, als wenn der Garten eine erweiterte
Gemäldegalerie war, in die nacheinander Gemälde (Gartenmotive) aufge-
hängt (eingebaut) wurden. Diese Vorgänge erscheinen uns heute eher als
Kuriosum. Für Herzog beweisen sie
eindeutig und erstmalig in der Geschichte der Gartenkunst, daß ...
Gartenbilder tatsächlich nach Gemälden gebaut worden sind, eine
zweidimensionale Kunst in eine Raum-Zeit-Kunst übertragen wurde.
Das ist die typische Sicht eines Kunsthistorikers. Er beschreibt aber ei-
gentlich nur eine Kunstform, die in ihrem dekorativen Charakter eher der
Bühnenbildnerei zu zuordnen ist und in der insofern noch Elemente des
Barocks weiter wirken.

Abb. 7/1 Bühnenbild, keine Gartenkunst


Dagegen hat bei Franz Hallbaum, der das klassische Standardwerk über den
Landschaftsgarten geschrieben hat, die Natur ein stärkeres Gewicht. Er sieht

262  Gartenkunst und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft.


den „Garten in einer eigentümlichen Schwebe zwischen reiner Kunst und
reiner Natur.“ 304 - Das entspräche meiner Unterscheidung von physis und
techne. – Doch Hallbaum sucht als Kunsthistoriker nach Argumenten, um
zur reinen Kunst zu kommen:
Zunächst wird innerhalb des Naturgegebenen eine Auswahl getroffen
nach der Seite des Typischen und nach der Seite des Bildfähigen, eine
Idee der Auswahl, die von jeher zum Wesen aller klassischen Kunst ge-
hört hat. Als das Mittel dieser Fixierung einer idealen Naturschönheit
gilt in erster Linie die Vedute, die bildmäßig aus der normalen
Augenhöhe des Menschen erfaßt werden soll und sich vornämlich
aus den lebendigen Teilen des Gartens: Wiesen, Bäumen, Himmel zu-
sammensetzt. 305
Hallbaum sieht also die Auswahl des Bildfähigen als Kriterium der klassischen
Kunst. Aber er behält noch die Natur im Auge:
Der Landschaftsgarten arbeitet zwar mit Größen, die weniger meß-
bar sind und sich vielfach der Gestaltung durch Menschenhand voll-
ständig entziehen. Dafür kann er auf die Mitwirkung eines befreun-
deten Naturgeschehens rechnen. Der Formwille der Kunst und die
Lebendigkeit der organischen Natur sind bewußt zur Deckung ge-
bracht. 306
Schließlich dominiert aber doch die Auffassung, dass wahre Gartenkunst
nur unter dem Schirm der Malerei gedeihen kann:

304  Hallbaum, (1927), 45.


305  Ebd., 48.

306  Ebd.

Gartenkunst und Landschaftsmalerei  263


In allen ... Äußerungen, mögen sie von Seiten der Dichter, Maler oder
Gärtner stammen, wird die ideale Zusammengehörigkeit der gärtneri-
schen Bilder mit Landschaftsgemälden als gegeben vorausgesetzt. Hier
tritt ... die ordnende und verbindende Kraft der Vedute in ihre Rechte [!]
ein. Denn das gehört zum elementaren Wesen des Landschaftsgartens,
daß seine Veduten mit gleichem Recht aus der Natur wie auch aus
der Landschaftsmalerei hergeleitet werden können. In dieser hatten
die Maler bereits eine Schönheitswahl getroffen und nach bestimm-
ten Gesetzlichkeiten zum Bild gestaltet. Die Landschaftsmaler bieten
also die prästabilisierten Bilder des Idealen und des Heroischen, die der
Landschaftsgärtner im Räumlichen realisiert. Daher die allgemein und
emphatisch aufgestellte Stilforderung, daß der Landschaftsgärtner
sich mit den Ideen der großen Landschaftsmaler erfüllen ... müsse, um
sich nachschaffend dem idealen Urbild anzunähern. 307
Dieses Ideal sieht Hallbaum aber dadurch „gestört,“ dass Caspar David
Friedrich anstelle der “idealen“ die „reale Landschaft“ darstellte, und völ-
lig ungeeignet als Vorbild für die Landschaftskunst empfindet er den
Impressionismus und hofft, dass nach der „absurden Unbildmäßigkeit der
expressionistischen Malerei, ... in der Gartenkunst die Hinneigung zum
Bildmäßigen und somit zur Landschaftlichen Vedutenstilisierung sich wieder
durchsetzt.“ 308
Hallbaum lebt also noch 1927 ganz in der Welt der vormodernen Kunst,
in der Hoffnung, dass die Entwicklung der modernen Malerei, in der alles
aus der menschlichen Lebenswelt „bildfähig“ ist, nur eine vorübergehende
Fehlentwicklung sei.

307  Ebd., 48.


308  Ebd., 52ff.

264  Gartenkunst und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft.


Die Idee von der Vorbildfunktion der Landschaftsmalerei für die Gartenkunst
hat aber auch schon früh ihre Kritiker gefunden. Von Buttlar weist darauf
hin, dass schon Schiller 1795 vom Scheitern des neuen Gartenstils sprach,
„weil man mit der Anlehnung an die Prinzipien der Malerei die Suche nach
autonomer Form und Eigengesetzlichkeit aufgegeben habe“ und er zitiert
Schiller:
Aus der strengen Zucht des Architekts flüchtete sie sich in die Freiheit
des Poeten, vertauschte plötzlich die härteste Knechtschaft mit der
regellosesten Lizenz und wollte nun von der Einbildungskraft allein
das Gesetz empfangen ... der neue Gartengeschmack scheiterte, weil
er aus seinen Grenzen trat und die Gartenkunst in die Malerei hin-
überführte. Er vergaß, daß der verjüngte Maßstab, der der letzteren
zustatten kommt, auf eine Kunst nicht wohl angewendet werden
kann, welche die Natur durch sich selbst repräsentiert ... 309
Und Ritter zitiert H. Lützeler, der darauf hinweist, daß „ die künstlerische
Begegnung des Menschen mit der Natur“ in Wahrheit alles andere als „na-
türlich“ sei und daß „unsere innere Nähe zur Landschaftsmalerei“ uns „deren
eigenartige Problematik“ gerade verdecke. 310
Eine frühe Kritik, die in der Interpretation von Eckard Lobsien geradezu mo-
dern erscheint, ist besonders treffend:
In seiner Akademierede vom 11. Dezember 1786 bemerkte Sir Joshua
Reynolds, es sei nachgerade unmöglich einen Landschaftsgarten zu
malen. Die Landschaftskunst nämlich gestaltet die Natur nach eige-
nen Gesetzen, sie transformiert das vorfindliche Terrain in ein ge-
schlossenes System spezifischer Künstlichkeit. Die Gartenkunst ist
nur in dem Maße Kunst, wie sie sich in einer kohärenten Differenz

309  Buttlar, (1989), 159.


310  Ritter, (1974), 178.

Gartenkunst und Landschaftsmalerei  265


zur empirischen Wirklichkeit artikuliert. Dasselbe gilt auch für die
Landschaftsmalerei: auch sie ist nur Kunst als konsistente Künstlichkeit.
Daraus folgt, daß die Natur entweder in einen Garten oder in ein
Gemälde transformiert werden kann, daß aber die Bezugnahme des
einen Künstlichkeitssystem auf das andere zu ganz und gar unver-
träglichen Interferenzen führen müsste. Jede Kunstform vermag
eben nur auf ihre spezifische Weise die Imagination anzusprechen, sie
kann nur nach dem für sie gültigen Regelsystem die particular natur
zur general natur steigern. Denn das ist nach Reynolds der eigentli-
che Zweck der Kunst: hinter den mangelhaften Kompromissen des
faktisch gegebenen die ideale Gestalt zu enthüllen, an die Stelle kon-
tingenter Wirklichkeit deren Inbegriff (archetype) zu setzen. 311 (Hvh.
fett, A. S.)
Diese Auffassung hat eine erstaunliche Ähnlichkeit mit der Systemtheorie
Luhmanns, mit der ich mich noch näher befassen werde. Ein Schlüsselwort
für meine Kritik der modernen Gartenkunst ist der Begriff Interferenz:
„Falsche Analogie ... durch die Einwirkung eines ... Systems auf ein anderes,
die durch Ähnlichkeit von Strukturen ... entsteht.“ 312
Bezeichnend für die Oberflächlichkeit diese Vorgänge und Ansichten ist eine
oft beschriebene Mode jener Zeit: „Zum Zwecke der Suche nach Bildern in
der Natur benutzten die englischen Reisenden den ‚Claude-Spiegel’ ... . Sie
drehten der Landschaft ... den Rücken zu und betrachteten sie ... in einem
leicht konvexen, getönten ... und gerahmten Taschenspiegel, um sie, wie sie
meinten, mit den Augen Claude Lorrains zu sehen.“ 313

311  Lobsien, (1986), 159.


312  Fremdwörterlexikon
313  Herzog, (1989), 145.

266  Gartenkunst und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft.


Der Gemeinplatz von der Vorbildfunktion der Malerei für die Landschaftskunst
ist seit jeher so dominant, dass noch niemand gefragt hat, wie denn die
Landschaftsmaler auf die Idee gekommen sind, Naturlandschaft zu malen.
Die Antwort ist einfach: Es war das allgemeine Erwachen des Interesses
an Natur, die Hinwendung zu den Schönheiten der Natur als Folge der
Aufklärung. Und dieses Interesse richtete sich an das, was der Städter beim
Heraustreten aus der Stadt sah: die Gefildenatur. Besonders in Deutschland
wurden die großen Parks dort angelegt, wo noch alte Baumgruppen der
Hutewälder vorhanden waren. Wirksam wurden also archetypische Bilder.
Hinzu kam das romantische Interesse an der Antike. Von diesem
Gesichtspunkt aus gesehen, sind die Gemälde Lorrains keine Bilder von
Wunschlandschaften, sondern narrative Darstellungen von Vorstellungen
antiker Welten. Bei den Malern dominierte dieses Interesse. An dem Beispiel
Hubert ist sichtbar, dass die Versatzstücke aus dem Arsenal antiker Bilder
die eigentlichen Inhalte der Gemälde sind; die Landschaft ist dagegen nur
dekorativer Rahmen. Ein Indiz für diese Auffassung erhält man, wenn man
darauf achtet, wie Generationen von Landschaftsmalern Naturgegenstände,
zum Beispiel Bäume, klischeehaft malten.

Hobbena 1668-1709, Reinhold 1788-1825, Robert 1733-1808


Abb. 7/2a-c Klischees
Erst Künstler wie Caspar David Friedrich malten ‚nach der Natur’, was
Hallbaum folgerichtig beklagte.

Gartenkunst und Landschaftsmalerei  267


Auch die gesellschaftliche Rolle der Landschaftsmaler ist zu beleuchten. Es ist
wohl unbestreitbar, dass der Spiritus rector immer der gebildete Adelige als
Auftraggeber war. Dass der seinen Kutschenmaler nach Italien schickte, um
Motive für seine Parkschöpfung zu sammeln, ändert nichts an seiner eigentli-
chen Urheberschaft. Andererseits war natürlich auch die Geschicklichkeit des
Malers wichtig, und dessen Handschrift Teil des Künstlerischen Ergebnisses.
Aber ein Beweis für die Vorbildfunktion der Malerei ist daraus nicht abzulei-
ten. - Man kann eine Parallele zu der heutigen Praxis ziehen, wenn Designer
und Computer-Graphiker bei der Herstellung von Gartenplänen mitwirken,
was auch oft zu fragwürdigen Ergebnissen führt.
Ich bestreite allerdings nicht, dass die Landschaftsmalerei die Wahrnehmung
von Natur beeinflusst hat. Sie hat sicher bei den Italienreisenden das Interesse
für die Schönheiten der Toskana geweckt. Insofern ist sie mit den Bildern in
den Prospekten der heutigen Reiseindustrie zu vergleichen. Entscheidend ist
aber damals wie heute, ob das geweckte Interesse in ein Naturerlebnis mün-
det, oder sich auf eine rein optische Wahrnehmung beschränkt. - Es handelt
sich auch hier um eine skalierte ‚Unterscheidung mit zwei Seiten,’ was ich im
Prinzip schon in 6. Kapitel behandelt habe:

Naturwahrnehmung
Direkte, leibliche Indirekte, bildliche

Und auch hier entscheidet der Blinde Fleck über die Wahrnehmung: Wer an
einem sonnigen Frühlingsmorgen durch eine Wiesenlandschaft oder durch
einen ergrünenden Buchenwald oder durch einen erblühenden Park wan-
dert, der denkt sicher nicht an ein Gemälde von Lorrain, es sei denn, er ist ein
Kunsthistoriker, der – seinerseits – nur das wahrnimmt, was er mit irgendei-
nem Landschaftsgemälde vergleichen kann.

268  Gartenkunst und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft.


Eine so verstandene Naturwahrnehmung hat Nietzsche auf den Punkt ge-
bracht:
... bei dem gewaltigen, die ganze Natur lustvoll durchdringenden
Nahen des Frühlings erwachen jene dionysischen Regungen, in deren
Steigerung das Subjective zu völliger Selbstvergessenheit hinschwin-
det. ... Unter dem Zauber des Dionysischen ... [feiert] die entfremdete,
feindliche oder unterjochte Natur wieder ihr Versöhnungsfest mit ih-
rem verlorenem Sohn, dem Menschen. ... Der Mensch ist nicht mehr
Künstler, er ist Kunstwerk geworden: die Kunstgewalt der ganzen
Natur ... offenbart sich hier unter den Schauern des Rausches.314
Auch in diesen Sätzen erkennt man die Zwei-Seiten-Form: der leiblich affi-
zierte Mensch und die „Kunstgewalt der Natur.“
Es ist noch eine andere Form des Einflusses der Malerei zu erörtern: ihr
Einfluss auf die grundsätzliche Rezeptionsfähigkeit von Naturformen. Auch
dies ist ein Thema der Wahrnehmungstheorie. Ich habe oben dargestellt,
dass die Adaptation bestimmt wird durch das Verhältnis von Assimilation
und Akkommodation. Es ist offensichtlich, dass die Wahrnehmung unge-
wohnter Formen - die Akkommodation - durch Kunstwerke beeinflusst
werden kann. Etwas übertrieben hat Oskar Wilde das beschrieben:
... was und wie wir sehen hängt von den Künsten ab, sie uns beeinflusst
haben. ... das weiße flimmernde Sonnenlicht ... mit seinen seltsamen
malvenfarbenen Klecksen und seinen unruhigen violetten Schatten ist
die letzte Schöpfung der Kunst ...315
Aber wenn er sagt, dass die Natur dies „ganz ausgezeichnet reproduziert,“ ist
das natürlich missverständlich. Was er beschreibt, ist die Tatsache, dass un-

314  Zit. bei Liessmann, (1999), 73.


315  Smuda, (1986), 65.

Gartenkunst und Landschaftsmalerei  269


ser Gehirn seine Umwelt nach vorhandenen intrinsischen und extrinsischen
Vorbildern konstruiert.
Gottfried Boehm befasst sich ausführlich mit dieser Frage und stellt zum
Beispiel fest:
Monet [begreift] die Natur nicht als einen festen Bestandteil von
Dingen, mit einer eindeutigen räumlichen Gliederung, die im
Ausschnitt des Bildes komponiert wird. Was er in der Natur sieht, ist
nicht das Faktische, sondern das Wirkende: das Licht, seine Dichte und
Transparenz, in dem sich die Dinge lösen, die Farbe ohne Formwert,
die – vielfach überlagert – die Erscheinung der Natur bewerkstelligt.
Die Natur wird zu einem Ereignis des Auges.316
Boehm gibt eine ausführliche Darstellung der Entwicklung der modernen
Malerei von Monet über Kandinsky, Mondrian bis Pollock und fasst den
Kern dieser Entwicklung zusammen mit dem berühmten Satz Paul Klees:
„Kunst gibt nicht Sichtbares wieder, sondern macht sichtbar.“
Ein Bild von Jackson Pollock nehme ich als Beispiel für einen Vergleich der
Rezeption eines Kunstwerks mit der eines Natur-‚Bildes’, der Abbildung eines
Strauchgewirrs.

316  Boehm, (1986), 90ff

270  Gartenkunst und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft.


Abb. 7/3c Strauchgewirr vor dem Fenster
Pollock hat beim Malen sicher nicht an so etwas gedacht, sondern er trug „die
Spannung seines körperlichen Zustandes, entlang der Bewegungsspuren, der
ekstatischen Drippings, ins Bild ein.“317 Mich erinnern aber derartige chao-
tisch durcheinander wachsenden Zweige und Äste oft an Bilder von Pollock
und andere und werden so zu ästhetischen Eindrücken. Pollock hat so die
Schönheit eines ungewöhnlichen Naturbildes für mich ‚sichtbar’ gemacht

317  Ebd., 107.

Gartenkunst und Landschaftsmalerei  271


Abb. 7/3a Jackson Pollock, Autumn Rhythm, 1950
Ein Beispiel einer konkreten Darstellung ‚chaotischer’ Natur ist die „Traditional
Landscape“ von Ian Mckeever. Das Bild erinnert an Pollock aber auch an
die „Waldbilder“ von Gerhard Richter. Chaos wird als Ästhetik wahrgenom-
men.318

318  KUNSTFORUM INTERNATIONAL, (1984), 56.

272  Gartenkunst und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft.


Abb. 7/3b Ian Mckeever, Traditional Landscape, No. 9, 1983
Grundsätzlich lässt sich also sagen, dass Kunst in jeglicher Form dem
Menschen immer neue Wahrnehmungsräume erschließt, aber nicht durch
einfache ‚Vor’-Bilder, die nachzuahmen sind, sondern durch Anregung des
Vermögens zu akkommodieren, was – wie gesagt – Kunstproduktion und
-rezeption verbindet.
Diese Einbeziehung der modernen Malerei in die Überlegungen lassen
den Topos von der Vorbildfunktion der Landschaftsmalerei als überholt
erscheinen. Die Vedutenmalerei war eine zwar bestimmende aber rela-
tiv kurze Phase der Kunstgeschichte. Ihr Ende markiert den Anfang eines
neuen Landschaftsgefühls, und die Assoziation des Begriffs ‚Landschaft’ mit
‚Landschaftsmalerei’ ist insofern heute anachronistisch.

Gartenkunst und Landschaftsmalerei  273


In diesem Zusammenhang sind noch zwei Topoi zu behandeln, die eine ähn-
liche Wirkung entfalten: Die Besteigung des Mont Ventuox durch Petrarca
und der viel strapazierte Begriff Arcadia.
Die Bergbesteigung Petrarcas 1336 wird in letzter Zeit oft als Erwachen des
Landschaftsgefühls angesehen. Damit wird dem kunsthistorischen Begriff
Landschaft eine überzeitliche Bedeutung beigemessen. Die Hintergründe
des Briefes, in dem Petrarca die Besteigung schildert, wurden von Ruth und
Dieter Groh erforscht. Sie haben festgestellt, dass der Brief nicht 1336, son-
dern erst zehn Jahre später, als der Adressat schon gestorben war, geschrie-
ben wurde. Über das Landschaftsgefühl, das darin zum Ausdruck kommt,
schreiben sie:
Daß Petrarca seinem Brief-Ich im Text keinen Raum gibt, einer
Ergriffenheit durch den Fernblick angemessen Ausdruck zu verleihen,
kann nur denjenigen verwundern, der den Brief über die Besteigung des
Mont Ventoux als Zeugnis einer frühmodernen Landschaftserfahrung
lesen möchte. Wer dagegen ... die Bedeutung des Mont Ventoux nach
der rhetorischen Rekonstruktion des Textes darin erkennt, daß der
Berg vor allem als Metapher für außernatürliche Signifikate dient, wird
jenes Stummbleiben ganz plausibel finden: auf Landschaftserfahrung
... kam es hier gar nicht an. ... Der fiktive Brief ... ist vor allem die Allegorie
einer Lebenskrise. 319 (Hvh. A. S. )
Und ein besonders schillernder Gemeinplatz ist „Arkadien“. Er gehört im
Diskurs der modernen Gartenkunst zu den negativ besetzten Begriffen wie
auch Naturalismus, Naturschönheit und Landschaft. Seine Bedeutung hat
Petra Maisak so formuliert:
Arkadien gehört wie das verlorene Paradies, der Garten Eden und die
saturnische goldene Zeit zu den wirkungsmächtigen Wunschbildern,

319  Groh, (1996), 76ff

274  Gartenkunst und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft.


die über Jahrhunderte hinweg tradiert werden und von der Sehnsucht
nach einer von der Realität antithetisch abgesetzten Wunschwelt le-
ben, in die Wert- und Glücksvorstellungen projiziert werden, deren
Verlust dem Auseinanderbrechen der Einheit von Mensch, Gottheit
und Natur, der Selbstentfemdung des Menschen in einer entfremde-
ten Welt zugeschrieben wird. 320
Im Kern heißt dies, dass ‚Arkadien’ ein unrealistisches Wunschbild sei. Um
den Hintergrund dieser Vorstellung zu erhellen, ist es sinnvoll, den Ursprung
des Begriffes zu untersuchen: Es sind die griechischen Hirtengedichte, die
uns von Vergil überliefert sind und als deren ‚Erfinderin’ die Legendengestalt
Daphnis gilt. Es handelt sich aber durchaus um realistische Szenen aus
dem Leben der Hirten mit ihren Sorgen und Leidenschaften und deren
Beeinflussung durch die antiken Götter. Geschildert wird ihre Lebenswelt,
in der die Natur der selbstverständliche Hintergrund ist. So werden die
Naturszenen nicht als schmückender Rahmen dargestellt, sondern sie sind
unmittelbarer Bestandteil und Bezug des Hirtenlebens. So beginnt schon die
erste Ekloge: „Du, Tityrus, lehnst dich zurück, beschirmt von der weitver-
zweigten Buche, und übst auf feinem Schilfrohr ein ländliches Lied. Wir aber
müssen den Heimatboden verlassen, die lieblichen Gefilde.“ Derartige reale
Naturbezüge sind Bestandteil des gesamten Werkes. Ich reihe im Folgenden
einige typische Sequenzen aneinander:
... hier zwischen deinen vertrauten Flüssen und den heiligen Quellen
wirst du die schattige Kühle genießen. Vom nahen Grenzrain hier wird
dich wie bisher die Hecke, deren blühendes Weidengebüsch Bienen
von Hybla abgrasen, oft mit sanftem Summen zum Schlummer la-
den. ... das mit Rasen bedeckte Dach der armen Hütte ... blühenden
Schneckenklee und bittere Salweiden ... Dornenhecken bieten jetzt
grünen Eidechsen Unterschlupf ... Honig möge ihm fließen und der

320  Zit. in: Herzog, (1989), 125.

Gartenkunst und Landschaftsmalerei  275


rauhe Brombeerbusch Balsamfrüchte tragen ... Büsche und niedrige
Tamarisken erfreuen nicht alle. Wenn wir von Wäldern singen, sollen
es Wälder sein, die eines Konsuls würdig sind ... harte Eichen werden
Honigseim ausschwitzen ... Warum setzen wir uns also nicht hier nie-
der, wo Haselsträucher zwischen Ulmen stehen ... hier säumt zartes
Schilfrohr das grüne Ufer des Mincius, und aus der heiligen Eiche er-
tönt das Summen der Bienen ... Hier ist purpurner Frühling, hier schüt-
tet die Erde rings um den Fluß eine Fülle bunter Blumen aus, hier über-
ragt eine strahlende Pappel die Grotte, und geschmeidige Weinranken
weben eine schattige Laube ... Hier gibt es kühle Quellen, hier weichen
Rasen, hier Wald: Hier möchte ich mit dir in der Fülle des Lebens ver-
gehen. 321
Hier geht es nicht um abstrakte Bilder und Phantasiegebilde oder
Wunschbilder, sondern um intensiv empfundene konkrete Natureindrücke.
Es ist keine Gegenwelt, sondern Lebenswelt. Diese hat von Albrecht aus
der Biographie Vergils gedeutet. So stellt er fest: „seine Liebe zur Landschaft
Italiens [entspringt sicher] einer naturverbundenen Kindheit und nicht etwa
nur der sentimentalischen Sehnsucht des Städters nach den Ursprüngen.“
Und er spricht von der „geheimnisvolle[n] Koexistenz von Natur und Kultur
in Vergils Genius“ Für mich am wichtigsten ist aber die Ansicht,
... daß uns Vergil nicht nur in eine „geistige“ Landschaft führt (ein
verklärtes Arcadien) oder eine „literarische“ Landschaft (Theokrits
Sizilien), sondern auch – und mit besonderer Liebe – in die reale
Landschaft Oberitaliens, seine Heimat ... . 322
Es handelt sich hier also ursprünglich nicht um ein Arkadien als Wunschbild
und auch nicht um ein Naturbild als Hintergrund für eine Handlung, son-

321  Vergil, (2001).


322  Ebd., 263ff.

276  Gartenkunst und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft.


dern um ein gelebtes Naturverhältnis, das sich überhaupt nicht von heutigen
Empfindungen unterscheidet, von Empfindungen, die archetypisch sind.
Zur „geistigen Landschaft,“ zur „Metapher der glückseligen, naturverbunde-
nen Hirtenidylle“ 323 ist das Arkadien aber erst durch viele Generationen von
Künstlern und Kunsthistorikern geworden, die selber der Natur entfremdet
waren. Die negative Konnotation, die viele Gartenkünstler mit dem Begriff
verbinden, ist - sofern er denn überhaupt noch in Verbindung mit der
Gartenkunst relevant ist - unberechtigt.
Landschaft nach heutigem Empfinden zu definieren ist schwierig weil der
Begriff, wie gesagt, meistens im kunsthistorischem Kontext verstanden
wird. Wenn er weiter im Diskurs über Gartenkunst benutzt werden soll,
muss seine Konnotation geändert werden. Eine Voraussetzung dafür ist die
Emanzipation vom Diskurs der Kunsthistoriker, aber auch – wenn man die
gegenwärtige Entwicklung betrachtet – die Abgrenzung von der Bildenden
Kunst.

7.2 Die Bildung von Systemen

7.2.1 Theoretische Grundlagen der Systembildung


Das im vorigen Abschnitt untersuchte Verhältnis der Landschaftskunst
zur Landschaftsmalerei konzentrierte sich, generell gesehen, auf die
Unterscheidung rein visueller von leiblicher Wahrnehmung. Bestimmt wird
der Diskurs über dieses Thema bisher von der Dominanz der Kunsthistoriker.
Für eine Emanzipation der Gartenkunst von der bildenden Kunst, ist eine wei-
tere Unterscheidung zu treffen, und zwar auf dem Hintergrund ihrer gesell-
schaftlichen Stellung. Als Grundlage nehme ich die Systemtheorie von Niklas

323  Kinast, (2004), 36.

Die Bildung von Systemen  277


Luhmann, und benutze hierzu die Einführungen von Horster und Reese-
Schäfer und Luhmanns letztes Werk: „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ 324
Luhmann ersetzt die konventionelle Theorie der gesellschaftlichen
Stratifikation in Ober-, Mittel- und Unterschicht durch die Theorie der
sozialen Funktionssysteme, als „eine neuartige Form gesellschaftlicher
Differenzierung“ 325. Funktionssysteme sind zum Beispiel Wirtschaft, Politik.
Erziehung, Gesundheit usw. Ein wesentlicher Unterschied ist darin zu sehen,
dass die Funktionssysteme nicht wie die sozialen Schichten aus Individuen
sondern nur aus Kommunikationen bestehen. Luhmann spricht deshalb
auch von Kommunikationssystemen.
Im zweiten Kapitel ist schon gesagt, dass Luhmanns Theorie von Maturana
beeinflusst ist. So benutzt er auch dessen Begriffe ‚Autopoiese’, ‚Geschlossene
Systeme’ und ‚Strukturelle Kopplung’ in seinem Kontext. Und, wie schon
mehrfach klar geworden ist, basiert seine Theorie, wie die Maturanas auf der
‚Form der Unterscheidung.’ Insofern ist die Struktur der von beiden getroffe-
nen Unterscheidungen auch zu vergleichen:
Maturana:

Milieu
Pflanze Nische

Luhmann:

Gesellschaft
System Umwelt

324  Horster, (1997), Reese-Schäfer, (1996), Luhmann, (1997b).


325  Luhmann, (1997)

278  Gartenkunst und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft.


So wie zur Nische einer Pflanze alle benachbarten Pflanzen gehören, besteht
die Umwelt eines Systems aus allen anderen Systemen. Und umgekehrt aus-
gedrückt gehört jedes System zur Umwelt eines beliebigen anderen Systems.
Auch diese Homologie zeigt, wie grundlegend Maturanas Forschungen für
die moderne Wissenschaftstheorien sind. – Luhmann schreibt:
daß System und Umwelt als die zwei Seiten einer Form zwar getrennt
[sind], aber nicht ohne die jeweils andere Seite existieren können. Die
Einheit der Form bleibt als Differenz vorausgesetzt; Aber die Differenz
selbst ist nicht Träger der Operationen. ... [die] sind nur als Operationen
des Systems möglich, also nur auf der Innenseite der Form. 326
Luhmann unterscheidet zunächst soziale Systeme von psychischen
Systemen, die sich strukturell gleichen, weil ja auch soziale Systeme aus
psychischen Systemen bestehen, genauer gesagt aus Kommunikationen
psychischer Systeme. Dass soziale Systeme nicht aus Individuen bestehen,
geht schon daraus hervor, dass ein einzelnes Individuum in verschiedenen
Systemen operieren, das heißt kommunizieren kann. So muss zum Beispiel
ein frei schaffender Landschaftsarchitekt, wenn er überleben will, generell
im System Wirtschaft operieren und als Freiraumplaner in der Gartenkunst,
und wenn er Landschaftspläne macht, in den Systemen Ökologie und Recht.
Und wenn er seinen Plan in Kommunalausschüssen vertreten muss, kom-
muniziert er zwangsläufig im System Politik.
Ein Leitbegriff für die Entstehung von Systemen ist für Luhmann die
Autopoiese:
Autopoietische Systeme sind Systeme, die nicht nur ihre Strukturen,
sondern auch die Elemente, aus denen sie bestehen, im Netzwerk
eben dieser Elemente selbst erzeugen. Die Elemente (und zeitlich

326  Ebd. 63. ‚Innenseite’ bezieht sich auf den ‚Haken’ als Symbol der ‚Zwei-
Seiten-Form’, siehe S. 27.

Die Bildung von Systemen  279


gesehen sind das Operationen), aus denen autopoietische Systeme
bestehen, haben keine unabhängige Existenz ... Sie werden vielmehr
erst im System erzeugt, und zwar dadurch, daß sie ... als Unterschiede
in Anspruch genommen werden. Elemente sind Informationen, sind
Unterschiede, die im System einen Unterschied machen. Und insofern
sind es Einheiten der Verwendung zur Produktion weiterer Einheiten
der Verwendung, für die es in der Umwelt des Systems keinerlei
Entsprechung gibt.
...
Autopoiesis ist ... nicht als die Produktion einer bestimmten „Gestalt“
zu begreifen, entscheidend ist vielmehr die Erzeugung einer
Differenz zwischen System und Umwelt. Durch Abkoppelung des
Systems von dem, was dann als Umwelt übrig bleibt, entstehen in-
tern Freiheitsräume, da die Determination des Systems durch seine
Umwelt entfällt.
...
Es gibt weder Input noch Output von Elementen in das System oder
aus dem System. Das System ist nicht nur auf struktureller, es ist auch
auf operativer Ebene autonom. Das ist mit dem Begriff der Autopoiesis
gesagt. 327 (Hvh. A. S.)
Ebenso legt das System selbst seine Grenzen fest. „Grenze“ ist hier eine
Metapher, abgeleitet von der stofflichen Begrenzung eines Organismus nach
Maturana. Bei Luhmann ist diese Systemgrenze eine Grenze der ‚Form der
Unterscheidung’ zwischen System und Umwelt. Diese Grenze bewirkt die
Geschlossenheit des Systems. Geschlossenheit heißt, dass die Struktur eines
Systems nur von diesem selber bestimmt werden kann. Man bezeichnet dies

327  Ebd., 65ff.

280  Gartenkunst und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft.


auch als ‚Selbstreferentialität’. Einflüsse der Umwelt auf das System sind nur
in einer ‚strukturellen Kopplung’ möglich. Dabei entscheidet nur das System,
welche Einflüsse für die Struktur nützlich oder unschädlich sind und deshalb
zugelassen werden können.328
Da aber auch die Umwelt des Systems aus sozialen Funktionssystemen be-
steht, gilt auch umgekehrt, dass das System Einfluss auf andere Systeme nur
unter den Bedingungen struktureller Kopplung ausüben kann. Und wie die
Systeme, besteht auch die strukturelle Kopplung nur aus Kommunikation.
Dabei ist anzumerken, dass Kommunikation keine einfache „Übertragung
von Sinn“ ist,329 wie die konventionelle Metapher: „Sender, Kanal, Empfänger“
glauben machte, sondern dass sie immer von den unterschiedlichen
Strukturdeterminationen der beteiligten Systeme abhängt. – Nach Luhmann
ist Kommunikation eine Einheit, „die aus den drei Komponenten Information,
Mitteilung und Verstehen besteht, die durch die Kommunikation erst er-
zeugt werden.“ 330 Und dieser Vorgang unterliegt, wie ich oben schon
dargestellt habe, der doppelten Kontingenz, was die Probleme mancher
Kommunikation erklärt. (Siehe Anm. 264.)
Soweit also die Bedingungen für die Entstehung von sozialen Systemen,
ihr Verhältnis zur Umwelt und der Vergleich mit Maturanas Theorie der
lebenden Systeme. Auch Luhmanns weitere Beschreibung der Funktionen
der Systeme erinnert noch an Maturana. In den lebenden Systemen war
die Organisation als das bestimmende und unveränderliche Prinzip defi-
niert und die Struktur als der variante Bestandteil, der die Anpassung an das
Milieu regelte.

328  Zum Bezug auf Maturana siehe Anm. 93 bis 102.


329  Luhmann, (1997), 73.
330  Ebd., 72.

Die Bildung von Systemen  281


Luhmanns Funktionssysteme sind komplexer aufgebaut. Ihr bestim-
mendes und unveränderliches Prinzip hängt „von einem jeweils eige-
nen binären Schematismus ab, der für jedes System eine eigene Typik der
Informationsverarbeitung und damit auch eine eigene Realitätskonstruktion
von dem unterscheidet, was sonst geschieht. Musterfälle sind die
Unterscheidung von wahr und unwahr im Wissenschaftssystem oder die
Unterscheidung von Eigentum / Nichteigentum ... in der Wirtschaft.“ 331
Diesen Schematismus nennt Luhmann allgemein den „binären Code“.
Alle Systeme unterscheiden sich durch ihre je eigenen Operationsweisen von-
einander, die durch einen binären Code strukturiert sind. Die soziale Funktion
eines Systems besteht darin, sich durch eine spezifische Operationsweise von
seiner Umwelt abzugrenzen, und dadurch seine Grenze zu stabilisieren. Die
Umwelt steuert keine Operationen bei, sondern Störungen.332
Weitere Beispiele, die Luhmann anführt, sind in der Politik: Macht haben /
nicht haben, im Rechtssytem: Recht / Unrecht, in der Ausbildung: Prüfung
bestehen / nicht bestehen, im Gesundheitssystem: Gesundheit / Krankheit.
- In dieser Zwei-Seiten-Form, die aus einem positiven und einem negati-
ven Wert besteht, ist nur der positive Wert anschlussfähig: wenn sich zum
Beispiel in der Wissenschaft etwas als falsch herausstellt, muss neu angefan-
gen werden.
Wie gesagt, ist der Code eines Systems unveränderlich. Wenn er geändert
wird, liegt ein anderes System vor. Wie, nach Maturana, zu der Organisation
die Struktur hinzukommt, um den Organismus anpassungsfähig zu machen,
muss auch der Code ergänzt werden. „Codes allein sind ... nicht existenzfähig“
333

331  Luhmann, (1993b), 184f.


332  Horster, (1997), 63.
333  Ebd., 121.

282  Gartenkunst und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft.


In der Praxis entsteht ... ein Bedarf für Entscheidungsregeln, die festle-
gen, unter welchen Bedingungen der Wert bzw. der Gegenwert richtig
oder falsch zugeordnet ist. Wir nennen solche Regeln Programme.
Die Unterscheidung von Codes und Programmen strukturiert ... die
Autopoiesis der Funktionssysteme in unverwechselbarer Weise ... und
damit kommt ihre Ausdifferenzierung zustande.334
Zum Beispiel sind im Rechtssystem, mit dem Code Recht/Unrecht, die
Programme: Verfassungen, Gesetze, Verordnungen, Gerichtsentscheidungen
usw., oder in der Wissenschaft: Experimente, die in der Wiederholung über-
prüft werden, Testreihen, Messungen usw.
Ich fasse die Hauptkriterien der Systembildung zusammen:
• Ein Funktionssystem und seine jeweilige Umwelt gehören als die zwei
Seiten einer ‚Form der Unterscheidung’ zusammen und bilden so die
Gesellschaft.
• Systeme bestehen nur aus Kommunikation, nicht aus Individuen.
• Systeme entstehen durch Autopoiese, das heißt, sie bilden die Strukturen,
aus denen sie bestehen selbst und erzeugen eine Differenz zwischen sich
und der Umwelt.
• Diese Differenz wird durch eine Grenze konstituiert.
• Darauf beruhen die Geschlossenheit des Systems und seine
Selbstreferentialität.
• Geschlossenheit bedeutet, dass das System alle seine Operationen selbst
bestimmt.

334  Luhmann, (1997), 750ff.

Die Bildung von Systemen  283


• Einfluss der Umwelt auf ein System und – umgekehrt - des Systems auf
die Umwelt ist nur mittels einer strukturellen Kopplung möglich. Dabei
entscheidet nur das System welche Einflüsse zugelassen werden.
• Die Entstehung und die Erhaltung eines Systems wird durch einen binä-
ren Code ‚gesteuert’, dessen Seiten bestimmen, was positiv oder negativ
für das System ist.
• Der Code ist unveränderbar; wenn er geändert wird, entsteht ein neues
System.
• Flexibel wird das System durch die Anwendung von ‚Programmen’, wel-
che die Bedingungen festlegen, unter denen entschieden wird, was po-
sitiv oder negativ für das System ist, die aber verändert werden können.

7.2.2 Systembildung im Kunstbetrieb


Im Folgenden bringe ich zum weiteren Verständnis der Systembildung ein
Beispiel, das gleichzeitig zum eigentlichen Thema dieser Arbeit überlei-
tet: eine kritische Darstellung der bildenden Kunst als soziales System von
Hannes Böhringer:
Ein System ist etwas, das sich selbst aufbaut und in Gang hält, indem
es sich von den unübersehbar vielen anderen unterscheidet und mit
der ständigen Reproduktion dieser Differenz zur Umwelt die Elemente
reproduzieren kann, aus denen es Besteht. Ein solches Gebilde, das die
Systemtheoretiker „autopoietisch“ und „selbstreferentiell“ nennen, ist
das soziale System Kunst: ein geschlossener Kreis. Kunst baut auf Kunst
auf. Kunst ist Kunst, weil sie im sozialen System Kunst als Kunst auf-
taucht. Sie definiert sich selbst durch sich selbst. Sie bestimmt selbst,
was Kunst ist durch den Ausschluß von Nichtkunst.

284  Gartenkunst und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft.


Kunst produziert nicht nur Kunstwerke, sondern mit ihnen zugleich
produziert sie auch Erwartungen, wie es mit der Kunstproduktion
weitergehen könne, reizt auf diese Weise die Produktion von
Anschlusselementen an und ermöglicht so die ununterbrochene
Reproduktion des Systems. Zu den sich mit Kunstproduktion wan-
delnden Erwartungen gehört als Konstante immer auch die Erwartung
von Abwechslung, Überraschung, von etwas Neuem. Nur muß die
Diskontinuität im Rahmen bleiben, Das Neue immer noch anschlussfä-
hig bleiben mit dem Alten, mit Stilrichtungen der Kunstgeschichte,
und als Ausdruck eines Zeitgeistes mit Gegenwärtigem. 335
Böhringers Code für die bildende Kunst ist also:
Kunst / Nichtkunst.
Als Programm nennt er „die Erwartung von Abwechslung, Überraschung,
von etwas Neuem.“ Ich sehe als weiteren Programmpunkt die Akzeptanz
im Kunsthandel, und in diesem Zusammenhang die Preisbildung. Der Preis
demonstriert die gegenwärtige Bedeutung eines Künstlers. Die Problematik
dieser Programmierung ist offensichtlich.
Dies ist keineswegs eine Einzelmeinung: Auch nach Sven Behrisch ist „die
Kunst längst zu einem geschlossenen System mit eigener Logik geworden,
in das wenig von außen eindringt und das auch kaum nach außen wirkt.
... Museen machen Ausstellungen über Museen und werden durch ihre
Architektur selbst zu Kunstwerken. Alles reflektiert sich gegenseitig, es ist
eine einzige größenwahnsinnige Selbstbespiegelung mit klaren Hierarchien.“
336

335  Böhringer, (1990), 16.


336  Behrisch, in: DIE ZEIT, Nr. 21 v. 14.5. 2009, 59.

Die Bildung von Systemen  285


Anzumerken ist, dass es natürlich auch Künstler gibt, die sich diesem System
entziehen , oder die noch nicht von ihm vereinnahmt sind. Man kann in die-
ser Art von Funktionssystemen auch gewisse Fehlentwicklungen sehen, was
übrigens Luhmann, soweit ich gesehen habe, nicht thematisiert hat. Kunst,
die nachhaltig die gesellschaftliche Entwicklung beeinflusst, wird es in die-
sem System oder unabhängig von ihm, nach wie vor geben. Welche Art von
Kunst das ist, wird die Geschichte entscheiden.

7.2.3 Der Naturschutz als soziales Funktionssystem


Ich habe dargestellt, wie sich das Berufsfeld der Landschaftsarchitekten in den
letzten Jahrzehnten aufgelöst hat in Gartenarchitektur, Landschaftsplanung
und Ökologie. Im Zuge dieser Auflösung hat sich der Naturschutz als ein
typisches Funktionssystem herausgebildet. Ich beleuchte dies ausführlicher,
weil der Naturschutz in der ‚Welt als Garten’ eine wichtige Rolle spielen muss,
die er in seiner jetzigen Form nicht erfüllen kann. Der heutige Naturschutz ist
ein Beispiel einer negativen Systembildung.
Die geschichtliche Entwicklung des Naturschutzes ist oft beschrieben wor-
den: Der Ursprung war der Heimatschutz als Reaktion auf die industrielle
Revolution. Es ging also zunächst nicht um den Schutz der ‚freien Natur’,
sondern um die ästhetisch empfundene bäuerliche Kulturlandschaft, also
das romantische Motiv, das für die heutige Gartenkunst ein Grund ist, sich
gegen den Naturschutz abzugrenzen. Das Interesse richtete sich aber allmäh-
lich auch auf spezielle Naturgegenstände, besonders auf die Vogelwelt, die
noch immer eines der Hauptthemen des Naturschutzes ist, aber auch schon
auf einzelne seltene Arten, wie das Edelweiß in den Alpen.
Schließlich ist – nach Ritter – „die Bewegung des Naturschutzes“ Folge „der
Entzweiung zwischen der ‚objektiven’ Natur ... und der Natur als Lebenswelt.
Zu dieser Entzweiung gehört in der modernen Gesellschaft die Bewegung
des Naturschutzes. Die ursprüngliche und freie Natur soll gegen die

286  Gartenkunst und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft.


Einbeziehung in die objektive Natur der Nutzung geschützt werden. Sie wird
durch Gesetz dem Prozeß der ihrer nutzenden Objektivierung entzogen“ 337
Anzumerken ist, dass Ritter mit der „ursprünglichen und freien“ natürlich
nicht die ‚unberührte’ Natur meint.
Aber auch die Verankerung des Naturschutzes in Gesetzen brachte noch
nicht die allgemeine Anerkennung in der Gesellschaft. In der Aufbauphase
nach dem zweiten Weltkrieg musste der Landschaftsschutz ständig hinter
dem Flächenbedarf der Stadtplaner zurückstehen. Der Naturschutz musste
sich auf den Kernbereich der Naturschutzgebiete beschränken. Das vorherr-
schende Gefühl der Vertreter des Naturschutzes war das der Ohnmacht.
Das Bewusstsein der Gesellschaft änderte sich erst allmählich mit der
Erkenntnis der Umweltgefahren, ausgelöst von den Schlagworten: „Grenzen
des Wachstums“, „Waldsterben“ und der daraus abgeleiteten Forderung nach
dem „blauen Himmel über der Ruhr“. Ebenso wandelten sich die Motive des
Naturschutzes. Die ästhetische Sicht auf die alte Kulturlandschaft war immer
mehr verpönt, und wurde - im Gegensatz zu Ritters Aussage - von einer
wissenschaftlichen Objektivierung abgelöst. Die Wissenschaft der Ökologie
wurde zur Grundlage des Naturschutzes. Ein Beispiel ist das Denkmodell
von der Vernetzung in der Natur, deren Verletzung zur Zerstörung der
Lebensgrundlagen führen würde. Andere Leitbegriffe, die sich in der allge-
meinen Kommunikation durchgesetzt haben, sind die „Biologische Vielfalt“,
das „Ökologisches Gleichgewicht“ oder die Gefahr der „Verinselung“.
Aber im Konkurrenzkampf der gesellschaftlichen Interessen musste
der Naturschutz ein schlagkräftiges Argument finden, das allgemeine
Anerkennung finden konnte. So bildete sich mit der Zeit der binäre Code
heraus:
wertvoll / wertlos

337  Ritter, (1974), 181.

Die Bildung von Systemen  287


Die Frage nach dem Wert von Naturprodukten war schon immer wich-
tig für die Menschen. Die wichtigste ist: essbar oder nicht essbar oder die
Brauchbarkeit, zum Beispiel Holz für den Hausbau: haltbar und leicht zu be-
arbeiten. In dem Maße, in dem die unmittelbare Überlebensfrage zurücktrat,
richtete sich die Wertschätzung auf die ländliche Idylle, auf die Schönheit
der Natur. Erst in jüngster Zeit wird der Code wertvoll / wertlos wieder zur
Überlebensfrage erhoben. Mit der Durchsetzung dieses Codes in der ge-
sellschaftlichen Kommunikation hat sich der Naturschutz als soziales
Funktionssystem etabliert.
Die Programme, nach denen entschieden werden kann was wertvoll ist oder
was nicht, sind vielfältig. Das wichtigste Kriterium ist die Seltenheit. Um dieses
Kriterium zu objektivieren, wurde die Biotopkartierung zu einem umfangrei-
chen Tätigkeitsfeld für Ökologen. Das Ergebnis sind die so genannten Roten
Listen, in denen der Seltenheitsgrad von „gefährdet“ bis „vom Aussterben
bedroht“ festgelegt ist. Darauf baut sich der Artenschutz auf, der zum wich-
tigsten Instrument des Naturschutzes geworden ist. Fragwürdig ist dieses
System dadurch, dass die Roten Listen regional aufgestellt werden. So kann es
vorkommen, dass zum Beispiel durch die Ausdehnung der Großstadt in den
letzten fünfzig Jahren eine Art innerhalb der Landesgrenzen Hamburgs sel-
ten geworden ist und auf die Rote Liste kommt, während sie in Mecklenburg
noch massenhaft vorkommt.
Global gesehen ergibt sich folgendes Bild: Es gibt auf der Erde geschätzte
mehrere Millionen Arten. Abgesehen von den Ubiquisten, hat jede Art ein
begrenztes Ausbreitungsgebiet, in dem die Individuendichte von innen
nach außen abnimmt. Die Ränder verschieben sich ständig, sodass in den
Randgebieten die jeweilige Art neu auftritt oder „ausstirbt“. Ein Beispiel ist
der ‚berühmte’ Wachtelkönig: „In West-, Nordwest- und Mitteleuropa sind
die Vorkommen äußerst lückenhaft, während in Ost- und Südosteuropa so-

288  Gartenkunst und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft.


wie in den asiatischen Verbreitungsgebieten recht dichte, individuenreiche
Bestände existieren.“ (Wikipedia)
Im scheinbaren Widerspruch zum Wert des Seltenen steht ein anderer
Programmpunkt, die „Biodiversität“. Die ist in Form der FHH- Richtlinie der
EU ebenfalls zu einem wirkungsvollen Machtmittel des Naturschutzes ge-
worden. Wolfgang Haber unterzieht dies einer kritischen Betrachtung:
Biodiversität ist schlecht definierbar; nicht einmal in der Konvention
ist dies wissenschaftlich einwandfrei gelungen. Dies verführt, nach
dem Vorbild der Roten Listen, zu ihrer Beschränkung auf die (ver-
meintlich) leichter erfassbare Artenvielfalt, die ihrerseits noch auf rei-
ne Artenzahlen reduziert wird – und die Irreführung verstärkt. Über
zwei Drittel aller Arten entfallen auf Kleintiere sowie Algen und Pilze,
die nur wenige Spezialisten kennen. Viele weitere Organistengruppen
... sind einer Aufgliederung in Arten gar nicht zugänglich. Davon abge-
sehen dürfen Arten als Indikatoren biologischer Vielfalt nicht einfach
mit Funktionsträgern im ‚Netz des Lebens’ verwechselt werden. 338
Generell hat der Begriff ‚Aussterben’ in der Kommunikation über Naturschutz
immer mehr Gewicht bekommen. Es hat zu einem Phänomen geführt, das
Luhmann „Angstrhetorik“ nennt:
... die angstbezogene Kommunikation [ist] ein Resonanzprinzip, das
Bestimmtes vergrößert und anderes abdunkelt. Diese Differenz wird
nicht zuletzt durch eine gezielte öffentliche Rhetorik der Angst ge-
steigert. ... In der öffentlichen Rhetorik wird die Angst zum Prinzip
der Selbstbehauptung hochstilisiert. Wer Angst hat, ist moralisch im
Recht, besonders wenn er für andere Angst hat und seine Angst ei-

338  Haber, Wolfgang, Naturschutz und Kulturlandschaften im


Widerspruch, Garten und Landschaft, 8/2007, 28.

Die Bildung von Systemen  289


nem anerkannten, nicht pathologischen Typus zugerechnet werden
kann.339
Versuche, die komplizierte Struktur von Risiko- und Sicherheitssystemen
unter wissenschaftlicher Verantwortung aufzuklären, liefern der
Angst nur neue Nahrung und Argumente. ... Angst ist also von den
Funktionssystemen aus nicht zu kontrollieren. ... Angst widersteht je-
der Kritik der reinen Vernunft.340
Ähnlich beleuchtet Odo Marquard das Problem der Angst:
[Wo] Gefahren und Nöte, Krankheiten, Mühen und
Unbequemlichkeiten ... gemindert oder erledigt werden, stirbt gleich-
wohl die menschliche Angstbereitschaft ... nicht ab, sondern sie wird
nur arbeitslos und macht sich auf die Suche nach neuen Gelegenheiten,
Angst zu haben; und sie findet sie auch, selbst dann, wenn sie sie erfin-
den muß: nämlich in der modernen Kultur selber.341
Der Naturschutz, der Schutz der Natur, geht per se von der Gefährdung
der Natur aus. Mit dem Begriff des ‚Aussterbens’ ist ein Symbol entstan-
den, das in der gesellschaftlichen Kommunikation von unübertroffener
Durchschlagskraft ist.
Bourdieu zufolge vollziehen sich gesellschaftliche Legitimationsprozesse
nicht, wie üblicher Weise unterstellt, (ausschließlich) im Modus
einer expliziten, politisch motivierten und diskursiv artikulierten
Propaganda. Vielmehr handelt es sich dabei um alltägliche, still-
schweigend und unbemerkt stattfindende Vorgänge. Allgemein gese-
hen, wird eine Macht dann anerkannt, wenn diese in der Lage ist, mit

339  Luhmann, (1988), 243f.


340  Ebd., 238ff.
341  Marquard, (1986)

290  Gartenkunst und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft.


ihr verbundene Symbole ... als legitime durchzusetzen. Symbolische
Macht vollzieht sich also „nicht auf der Ebene physischer Stärke, son-
dern auf der des Sinnes und der Erkenntnis“ ... Das bedeutet nun frei-
lich nicht, ... daß symbolische Macht ... eine unverbindliche Form von
Macht wäre, ... [es] handelt sich um eine ganz reale Macht, die immer
in einem mehr oder weniger engen Zusammenhang mit objektiven
Macht- und Kräfteverhältnissen steht.342
Als geschlossenes System ist es dem Naturschutz gelungen, einerseits
sich gegen alle anderen Belange der Gesellschaft, vor allem den ökonomi-
schen, abzuschotten, andererseits durch strukturelle Kopplung - sozusa-
gen semipermeabel - die eigenen Programme und Symbole in wichtigen
Funktionssystemen der Gesellschaft zu verankern. In erster Linie hat er sich
auf die Politik ausgewirkt, die zunehmend seine Programme übernehmen
musste, um Wähler zu gewinnen. Über das politische gelang dann der
Einfluss auf das Rechtssystem, bis in die europäische Gesetzgebung.
Eines der wichtigsten gesetzlichen Erfolge ist die Eingriffsregelung und
in deren Rahmen die Ausgleichszahlungen, die inzwischen in vielfacher
Millionenhöhe in die Kassen des Naturschutzes fließen. Die Intention,
Eingriffe in die Natur zu verhindern, ist nicht immer eindeutig, sondern oft
entsteht der Eindruck, dass ein Widerstand nur aufgebaut wird, um eine hohe
Ausgleichszahlung ‚herauszuschlagen’. Durch diesen ‚Ablaßhandel’ werden
dann „Naturschutzmaßnahmen“ möglich, die auf der Skala ‚Tun und Lassen’
als reines Tun erscheinen, und der symbolische Code ‚wertvoll’ wird zum ma-
teriellen Wert. Ein groteskes Beispiel ist die Klage des BUND gegen ein wich-
tiges Vorhaben für den Umweltschutz, den Bau des Pumpspeicherwerkes
Goldisthal. Erst nach einer ‚Ablasszahlung’ von 3,5 Millionen Euro war der
Verband bereit, die Klage zurück zu nehmen. 343 Pumpspeicherwerke sind

342  Schwingel, (1995), 114f.


343  DIE ZEIT, Nr. 38 vom 16.9.2010, 41.

Die Bildung von Systemen  291


sinnvoll zur Regelung der Windkraftenergie und damit wichtig für eine öko-
logische Zukunft.
In diesem Zusammenhang ist eine Entwicklung zu sehen, die auf die
Systembildung einen starken Einfluss hatte und hat: Das wachsende
Umweltbewusstsein in der Gesellschaft hatte zur Folge, dass immer mehr
junge Leute sich berufen fühlten, an der Rettung der Natur mitzuwirken und
dazu entsprechende Studienfächer wie Biologie oder Geographie wählten.
Die Menge der Absolventen konnte dann im administrativen Naturschutz
und in den Lehrberufen nicht aufgenommen werden und fand dafür
Betätigung in den Verbänden. Deren finanzielle Entwicklung erlaubte zuneh-
mend, viele der jungen Fachleute fest anzustellen. So hat sich eine politische
Macht entwickelt, die sich keinen demokratisch gewählten Gremien unter-
werfen muss, im Unterschied zum administrativen Naturschutz, der zudem
deutlich weniger Ressourcen hat. Doch beide zusammen bilden das System
Naturschutz.
Ein typisches Beispiel für dessen Wirken ist eine Planung im Zusammenhang
mit dem Bau des neuen Münchener Rangierbahnhofs. Es geht um Flächen,
die „als Testgelände für schwere Lastwagen und Panzer benutzt wurde[n].
eine Nutzung, die Biotopstrukturen schuf, die von Seiten des Naturschutzes
als äußerst wertvoll erachtet wurden.“ Deshalb hat man ein „naturschutz-
fachlich-ökologische[s] Konzept“ erarbeitet, auf dem die Planung beruht.
Deren Verfasser schreiben:
Im Sinne der Ökologie wollen wir zum einen Flächen offen hal-
ten, um darauf Rohbodenstandorte zu schaffen – durch periodi-
sches Abschieben mit der Planierraupe. Auf diesen Böden entste-
hen dieselben Biotope wie auf dem ehemaligen Panzertestgelände:
Pioniervegetation in verschiedenen Sukzessionsstadien. ... Die ökolo-
gische Analyse weist dem Standort Rangierbahnhof trocken-warme
Sukzessionsstandorte zu. Sie sind auf kontinuierliche Veränderungen

292  Gartenkunst und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft.


angewiesen: Was früher das Hochwasser besorgte, soll heute die
Parkpflege gewährleisten: Boden abschieben, Schneisen in den
Bestand schlagen, Gräben ausheben und Wälle aufschütten, Trichter
ins Gelände sprengen, Bauschuttdeponienanlegen, Moto-Cross-
Landschaften ausweisen. ... An manchen Orten erinnern nur die
Betonscheiben daran, daß dieses sich ständig verändernde Gelände
keine Brache, sondern ein Park ist.
Bezahlt werden soll dies kleine „Naturschutz-Disneyland“ aus
„Ablösezahlungen für Ausgleichsmaßnahmen“. 344
Diese Planung wurde zwar von Landschaftsarchitekten aufgestellt, aber
durchaus im Sinne gängiger Verfahrensweisen des Naturschutzes. Zahlreiche
ähnliche Maßnahmen werden - hauptsächlich von Naturschutzverbänden
– durchgeführt, wobei die Zielsetzungen sehr verschieden und oftmals wi-
dersprüchlich sind, je nach den Vorlieben des jeweiligen Verbandes. So ha-
ben zum Beispiel Hamburger Vogelschützer in den Vier- und Marschlanden
großflächig tausende Erlen gerodet, um ein Wiesenvogelbiotop zu schaffen.
Ein über viele Jahrzehnte entstandenes Feuchtbiotop war plötzlich ‚wertlos’
geworden. - Auch hier standen viele Millionen von Ausgleichszahlungen zur
Verfügung.
Unter dieser „Willkürkomponente“ 345 werden immer öfter wichtige gesell-
schaftliche Projekte verhindert oder erschwert. Zweifelhafte Berühmtheit
haben auf diese Weise neben dem Wachtelkönig wie auch der Feldhamster
oder die drei Millimeter große Bauchige Windelschnecke erlangt. Da die
Organismen, die in den Fokus des Artenschutzes geraten immer kleiner und
somit immer zahlreicher werden, wird man bald an jedem Ort mehrere „aus-
sterbende“ Arten nachweisen können.

344  Neumann, (1996), 7.


345  Luhmann, (1990), 144.

Die Bildung von Systemen  293


Die Kritik an dieser Entwicklung nimmt zu. Die Frage ist, wie lange der sym-
bolische Code ‚wertvoll’, also die Unterscheidung zwischen wertvoller und
wertloser Natur von der Gesellschaft anerkannt wird. Es ist anzunehmen,
dass die Beeinflussung der Gesellschaft durch die einseitige strukturelle
Kopplung irgendwann nicht mehr gelingt. Auch geschlossene Systeme kön-
nen zusammenbrechen, wenn sie sich völlig von der Gesellschaft abschlie-
ßen. Ein Beispiel ist die gegenwärtige Wirtschaftskrise: Aus dem allgemeinen
Wirtschaftssystem, das dem Code ‚Werte schaffen’ folgte, hatte sich der
Programmteil ‚Finanzen’ heraus gelöst und zu einem eigenen System ent-
wickelt, das blind dem Code ‚Profitmaximierung’ gefolgt ist, ohne Rücksicht
auf gesamtgesellschaftliche Belange. Die Folge war der Zusammenbruch des
Finanzsystems mit der Folge einer ernsten Wirtschaftskrise.
Ein generelles Problem des Systems Naturschutz ist in seiner inneren
Struktur begründet: Der Code und die Programme unterliegen einem
Absolutheitsanspruch. Eine Selbstkritik innerhalb des Systems ist nicht mög-
lich, weil die Voraussetzung hierfür eine demokratische Struktur wäre, die
aber nicht vorhanden ist. Darin liegt ein Unterschied zu politischen Parteien,
in denen ständig um bessere Programme gerungen wird.
Von diesen Überlegungen ausgehend, ist ein Weg zu finden, den überaus
wichtigen Naturschutz aus der antagonistischen Haltung in ein übergreifen-
des System zu integrieren, in ‚die Welt als Garten’. In diesem System darf es
keine ‚wertlose Natur’ geben. Eine künftige Gartenkunst muss diese wichti-
ge gesellschaftliche Aufgabe in ihr Programm aufnehmen.
Davon sind wir gegenwärtig weit entfernt. Deshalb ist zunächst die Stellung
der Gartenkunst in der gegenwärtigen Gesellschaft insbesondere ihr
Verhältnis zur Architektur und zur bildenden Kunst zu untersuchen.

294  Gartenkunst und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft.


7.2.4 Eine Systembildung in der heutigen Gartenkunst
Eine spezielle Entwicklung in der Gartenkunst, die ebenfalls zu einer
Systembildung geführt hat, kann man als Komplement zum Naturschutz
sehen. Als die Dominanz der Ökologie in der Planung jede künstlerische
Intention zu ersticken drohte, führte dies, wie schon gesagt, fast zwangsläufig
dazu, dass sich Gartenarchitekten an die Bereiche Architektur und bildende
Kunst anlehnten. Besonders stark war der Einfluss der Architektur. Man war
bestrebt, sich deren Qualitätsmaßstäben anzugleichen. Ich sehe folgende
Entwicklung:
Während in der ersten Aufbauphase nach dem Krieg die
Gartenbauverwaltungen alles selber machten, wurden - mit Zunahme der
Aufgaben - immer öfter Planungsaufträge an freischaffende Gartenarchitekten
vergeben, So nahm deren Zahl entsprechend zu, und es kam im Laufe der
Zeit zur Gründung größerer Planungsbüros. Zur Qualitätssteigerung wur-
den immer öfter Projekte auf der Grundlage von Wettbewerben durchge-
führt. Die Folge war, dass das Wettbewerbswesen an Bedeutung gewann,
und die Existenz der Freischaffenden hing zunehmend von einer erfolgrei-
chen Beteiligung an Wettbewerben ab. Das war der Keim für die Bildung des
Systems ‚Wettbewerbswesen.’
Ich erinnere daran, dass ein Funktionssystem nicht aus Personen, sondern
nur aus Kommunikation besteht. Im Wettbewerbssystem kommunizieren
Wettbewerbsteilnehmer mit einer Jury, und der binäre Code des Systems ist
gewinnen / verlieren
Die Autopoiese des Systems gründet sich unter anderem darauf, dass immer
öfter die Preisträger eines Wettbewerbs Juroren des nächsten werden.
Wer an Wettbewerben teilgenommen hat, weiß dass es nützlich ist, die
Vorlieben der Ton angebenden Juroren zu kennen. Man richtet sich danach,

Die Bildung von Systemen  295


wenn man Erfolg haben will. Ebenso nützlich ist es, die Formensprache
von etablierten Preisträgern zu übernehmen. So entsteht in dem System
Selbstreferenz.
Ein weiteres Kriterium ist die Geschlossenheit des Systems gegen sei-
ne Umwelt: die Auftrageber und die Nutzer. Sie werden zwar durch die
Sachpreisrichter vertreten; nach meiner Erfahrung in vielen Verfahren ist de-
ren Einfluss aber meistens zu gering, um das Ergebnis maßgeblich zu bestim-
men. Sie werden dominiert von den Fachleuten und sind oft nur das Alibi
einer Referenz an die Nutzer.
Ein Beispiel von vielen ist der Liebefeld-Park im schweizerischen Könitz. Im
Wettbewerbsprogramm der Auftraggeberin war die Vorstellung nach ei-
ner „kleinteiligen, modellierten Fläche“ zum Ausdruck gebracht worden.
Die Jury zeichnete aber eine Arbeit aus, die dieser Vorstellung diametral
entgegengesetzt war, „eine Volkswiese,, die in „ihrer wohltuender Weite
und Großzügigkeit ... als städtisches und ländliches Element zugleich ge-
lesen werden [kann].“ „Die schlichte Gestaltung gehört zur Philosophie [!]
der Landschaftsarchitektin. Sie erschließt sich aber nicht auf Anhieb den
Besuchern.“ 346
Im Hinblick auf meine Unterscheidung ‚Funktion und Ornament’ tritt in die-
sem System die Funktion weit in den Hintergrund. Die geringe Akzeptanz, die
diese Anlagen dann in der Bevölkerung finden, wird nicht selten als Zeichen
künstlerischer Qualität gesehen. Hinter dieser Entwicklung steht sicher das
Bestreben der Profession, der Gartenkunst mehr Autonomie zu verleihen.
Insofern trifft hier die Kritik Bourdieus einen Kern des Problems:
Die beharrliche Insistenz auf die Autonomie künstlerischer Intention
führt zu einer besonderen Gesinnungsethik. Sie tendiert dazu, die
Werke nach der Reinheit der künstlerischen Intention zu beurteilen,

346  Garten und Landschaft Juli 2010, 30ff.

296  Gartenkunst und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft.


und verkehrt sich damit bisweilen in eine Art Geschmacksterror:
Wenn nämlich der Künstler unter Hinweis auf seine Gesinnung be-
dingungslose Anerkennung für sein Werk fordert. So zeigt sich seit-
her das Streben nach Autonomie als ein bestimmendes Moment
des intellektuellen Standes. Indem der Künstler sich vom Publikum
distanziert ... fördert er den Kultus einer sich selbst genügenden Form
... und verlangt zugleich Bestätigung seines eigenen exklusiven und
schlechthin unerklärlichen Wesens. Die Abkapselung gegenüber der
Gesellschaft geht einher mit einer Intensivierung der Verbindungen,
die die Mitglieder der künstlerischen Sozietät zueinander unterhal-
ten. Auf diese Weise entstehen die von Schücking so genannten „ge-
genseitigen Bewunderungsschulen“, kleine esoterisch verschlossene
Sekten.347
Die Programme, die gegenwärtig den Code ‚gewinnen’ bestimmen, sind viel-
fältig. Beherrschend sind die, welche auf die Architektur und die bildende
Kunst bezogen sind.
Der wichtigste Programmpunkt ist das Prinzip ‚Klarheit’. In fast keinem der
Erläuterungsberichte zu Wettbewerbsarbeiten und in den Beurteilungen der
Juroren fehlt der Begriff ‚Klarheit.’ Er steht für die Grundhaltung, die auf den
Wettbewerbserfolg gerichtet ist. Schon die Prägnanz der Plangrafik, die den
Wiedererkennungswert der Arbeit gewährleistet, wenn die Jury eine große
Anzahl von Arbeiten beurteilen soll, bestimmt oft den Erfolg. Diese leichte
Erkennbarkeit wird auch mit dem Modewort ‚Lesbarkeit’ bezeichnet. Erreicht
wird die Prägnanz durch ‚klare Formen’, wie Kreise, Ovale, lange Achsen und
so weiter.
Erfolgreich ist auch der Blick zurück auf die Anfänge der Moderne. „Immer
mehr Wettbewerbsbeiträge [besinnen sich] auf die Moderne, beziehungs-

347  Bourdieu, (1997), 83f.

Die Bildung von Systemen  297


weise auf die konkret-abstrakte Formensprache der 20ger Jahre“ stellen
Kienast und Vogt fest, ohne dass klar wird, ob sie das affirmativ oder negativ
sehen. 348
Ähnliche Wirkung hat der Bezug auf den „Dekonstruktivismus“, der aller-
dings weniger auf die Philosophie Derridas als auf die Formenspielerei der
einschlägigen Architekturen gerichtet ist. Beispiele sind dysfunktionale, spitz-
winklige Wegemuster, unmotivierte „Brüche“ oder die sinnlose Mode der
Rasenschollen. Fritz Neumeyer nennt sowas „Eitle Konstruktionen, die kei-
ne Form mehr bewältigen, sondern sie nur ausdrücken wie eine Zitrone.“
Sie „bezeichnen das Dilemma der Selbstreferentialität, denn Form ist ohne
Bezug auf ein Anderes, das zur Erscheinung gebracht werden soll, nicht
möglich.“ 349 Gefördert wird dieser neue Stil durch die Computer gestütz-
te Entwurfsmethode. Es gibt kaum Entwürfe, die nicht in mindestens drei
„Schichten“ dargestellt werden, wodurch Fragmentierung, Heterogenität
und Zufall entstehen sollen.
Geradezu anachronistisch ist die Bemühung, sich gegen die fraktale
Grenzziehung zwischen Stadt und Landschaft zu stellen; der Topos ‚harte
Kante’ ist programmatisch. Beispiele sind die Großsiedlung Heiterblick in
Leipzig mit einem „klar zur Landschaft abgegrenzten Parcous“, und einer
„Terrasse Bürgerpark, die durch die Bäume eine klare Kante zur Landschaft
bildet“,350 und die Landesgartenschau Leverkusen, deren Kernbereich durch
„harte Kanten und gerade Linien“ gekennzeichnet sind. 351
Rätselhaft ist das Phänomen der ‚endlosen’ Achsen. Achsen waren auch im
Barockgarten beherrschendes Gestaltungsmerkmal. Aber die Barockachse

348  Kienast, Dieter, Günther Vogt, (1993). 6


349  Neumeyer, (2003), 283.
350  Garten und Landschaft, Mai 2005, 25
351  Garten und Landschaft, Juni 2005, 31.

298  Gartenkunst und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft.


hat Anfang und Ziel und ist gegliedert in unterschiedliche Abschnitte, de-
ren Form sich ständig ändert, so dass das Wandeln auf ihnen ein kurzweili-
ges Erlebnis ist. Durch Querachsen ist sie in die Struktur des Gartens einge-
bunden. Es herrscht ein menschlicher Maßstab. Der Maßstab der heutigen
Achsen ist bestimmt durch die jeweilige längste Ausdehnung es zu bepla-
nenden Geländes. Der Entwurfsprozess scheint damit zu beginnen, erst ein-
mal einen langen Strich zu ziehen. Es kann aber auch sein, dass am Ende des
Entwurfsprozesses das Ganze ‚durchgestrichen’ wird als ‚dekonstruktivisti-
sche’ Geste. Vorbild könnte auch die „Linie von einer Meile Länge, durch die
Wüste von Nevada gezogen“ von Michael Heizer sein.352 Das Sichbewegen
auf diesen Achsen ist so langweilig wie das Laufen auf dem Laufband im
Fitniskeller. Beliebt sind sie als Motiv bei Fotografen, die sie gerne als in die
Unendlichkeit fluchtende Perspektiven darstellen.
Diese Maßstabslosigkeit zeigt sich auch bei manchen architektonischen
Elementen, wie endlosen Treppen und absurd langen Bänken. Motiv ist
das Spektakel, das um jeden Preis auffallen wollen, die Guinnessbuch-
Mentalität. Zu diesem System gehört auch die Zulieferindustrie. So wirbt
ein Bankhersteller mit „Purismus und Stringenz“ und mit Bänken in der
Ausführung „endlos“, die für „jeden Ort geeignet sind“, (nur nicht zum be-
quemen Sitzen.)
Diese beschriebenen Programmpunkte beziehen sich alle auf formale
Kriterien; auf der Skala der Unterscheidung ‚Funktion / Ornament’ domi-
niert das Ornamentale. Die Erbkrankheit dieses Systems besteht aber darin,
dass die Naturschönheit, die Telos der Gartenkunst sein sollte, negiert wird.
Es ist ein Fehlschluss, den Naturalismus-Begriff , der in der bildenden Kunst
sinnvoll ist, in der Gartenkunst anzuwenden.

352  DUMONTS Chronik der Kunst, (1990), 669.

Die Bildung von Systemen  299


Zusammenfassend kann man das System darstellen anhand eines typischen
Beispiels: dem Landschaftspark Riem in München, den Lisa Diedrich so be-
schreibt:
Kein Weg schwingt, kein Waldsaum krümmt sich, alle Kanten laufen
so gerade, wie die der Gebäude im Stadtviertel. ... von Ost nach West
fluchtet eine zwei Kilometer lange Terrasse genau zwischen Stadt und
Park hindurch. ... Eine nur 70 Zentimeter hohe, aber zwei Meter brei-
te Mauer mit Granitbelag trennt die Stadt vom Park, und sie würde
zum Sitzen einladen, wenn sie nicht so pompös ins Nichts fluchten
würde. ... Seine Geometrie verdankt der Park dem Nordost-Südwest
ausgerichteten Flurmuster, einer rational, geradlinigen Ordnung.
Konsequent pflanzte Vexlard darauf die Vegetation in Reihe, wie in
der Baumschule. ... Das hat sich noch keiner getraut. [!] 353
München-Riem ist in jeder Hinsicht typisch für die Programmbildung
und die Autopoiese des Systems. Das ist einmal die Innovation und
Überraschung, also das noch nie Dagewesene des Entwurfes, die Programme
des Gewinnercodes und vor allem die Behandlung in den Fachmedien und
die Preise, mit denen diese Arbeit ausgezeichnet wurde, wodurch dieses
Werk zum Prototyp wurde. So ist es denn auch nicht verwunderlich, dass
seine Formensprache Nachahmung findet, zum Beispiel in dem prämierten
Entwurf für den Seepark Zülpig – Landesgartenschau 2014 354 und vielen
anderen.
Dieses Kommunikationssystem der „Wettbewerbs-Gartenkunst“ beherrscht
gegenwärtig das Berufsbild der Landschaftsarchitektur. Ich bin aber über-
zeugt, dass dies eine vorübergehende Erscheinung ist, so wie die Maskerade
der Postmoderne in der Baukunst. Diese hat nach ihrer Überwindung zu

353  Dietrich, (2001), 58f.


354  Garten und Landschaft, Juli 2009, 8.

300  Gartenkunst und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft.


einem Baustil geführt, den man als Weiterentwicklung der Bauhausideen be-
zeichnen kann. Ob die gegenwärtige formalistische Gartenkunst einmal eine
ähnliche positive Entwicklung nach sich zieht, bleibt abzuwarten.

7.2.5 Die Unvereinbarkeit geschlossener Systeme


Die bisherige Zustandsbeschreibung der Profession zeigt, dass wir weit
von dem Ziel einer ‚Welt als Garten’ entfernt sind. Eine Ursache ist das
Nebeneinander und Gegeneinander von geschlossenen Systemen, in erster
Linie von Gartenkunst und Naturschutz. Ich will das anhand des Beispiels
‚Adlershof’ in Berlin verdeutlichen.
Es geht um die städtebauliche Nutzung des ehemaligen Flugplatzes
Johannistal durch Einrichtungen für Wissenschaft, Gewerbe und Wohnen.
Da das Gelände über Jahrzehnte nicht genutzt war, befand es sich in einem
naturhaften Zustand. Daraus wird sich schon der erste Konflikt zwischen
Stadtplanern und der in Berlin besonders starken Naturschutzadministration
ergeben haben..
Die Konfliktlösung war eine zwanghafte Abgrenzung der Interessengebiete,
durch die „klaren Raumkanten“ zwischen Bebauung und Grünflächen.
„Die 70 Hektar große zentrale Freifläche wurde ... für ein besonderes
Gutachterverfahren ausgespart.“ 355 Die Idee der oben beschriebenen
Zwischenstadt - die Durchdringung von Gebautem und Gewachsenem -
hatte keine Chance
In der ausgesparten Freifläche stießen nun die beiden ‚Grünsysteme’
Naturschutz und Gartenkunst aufeinander. „Der Naturschutz reklamier-
te aufgrund der ausgedehnten Vorkommen von wertvollen Trockenrasen
und Halbtrockenrasen mit fundierten faunistischen und vegetationskund-
lichen Gutachten weite Teile als Schutzgebiete.“ Andererseits sollten „für

355  Tischer, (1996), 32.

Die Bildung von Systemen  301


die Beschäftigten und Besucher des neuen Wirtschaftsstandortes gro-
ße Areale [für Sport- und Freizeiteinrichtungen] vorgehalten werden. Als
Erholungsraum sollte der Park für die heutigen und zukünftigen Bewohner
des Stadtteils nutzbar und gleichzeitig als öffentlicher Raum Imageträger für
den Technologiestandort sein.“ In so einem Falle wird dann um jeden Hektar
gerungen. „Der Park hätte dreimal so groß sein müssen. ... In diesem Konflikt
zwischen Ökoidyll, easy living mit Sport und Fun, High-Tech-Image sowie
bewohnerorientierter Freiraumplanung schloss sich ein Wettbewerb aus ...
da die unterschiedlichen Vorstellungen nicht kompatibel waren.“ 356
In dem anstatt dessen durchgeführten Gutachterverfahren wurde dann ein
Entwurfskonzept ausgewählt, das „sich mit großer Klarheit am städtebauli-
chen Entwurf [orientiert] . Der Stadtkante werden Aktivbänder mit verschie-
den großen Kammern vorgelagert ... Damit wird die Weite des ehemaligen
Flugfeldes mit der Kernzone des Naturschutzes ... freigehalten.“
Dieser Entwurf hat die typischen oben beschriebenen Merkmale des
Systems: schematisch parallel zu den Stadtkanten geführte schnurgerade
Wege von zirka 800 Meter (gefühlten zwei Kilometer) Länge und additiv
aneinander gereihten Gartenräumen. Der Schematismus wird im Luftbild
besonders deutlich.

356  Becker, (1996), 36.

302  Gartenkunst und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft.


Abb. 7/5 Luftbild vom Park Adlershof
Als symbolisch für das Systemverhalten kann man die Stege bezeichnen, die
in einem Meter Höhe über die Naturflächen geführt wurden. Von hohen
Gittern gesäumt sollen Besucher die Natur genießen. Abgesehen von den
Kosten, die ein derartiges Bauwerk verursacht, (nach nur zehn Jahren sind
schon jetzt umfangreiche Reparaturarbeiten erforderlich), sind diese Stege
auch ‚naturschutzfachlich’ unsinnig. Ohne sie würden sich zwar hier und da
Trampelpfade bilden. Durch die trittfesten Arten, die sich darauf ansiedeln,
würde aber sogar eine Bereicherung im Sinne der Artenvielfalt stattfinden.

Die Bildung von Systemen  303


Abb. 7/6 „Abgehoben von der Natur“
Symbolisch sind diese Stege für beide Systeme: Der Naturschutz ist bestrebt,
Menschen aus der Natur fern zu halten, für die Gartenkunst ist Natur et-
was ihr Fremdes. In Adlershof ist dieser Antagonismus Gestalt geworden.
- Bezeichnend ist auch die Mittelverteilung: „Das Investitionsvolumen für
Ausgleichsmaßnahmen [belief] sich auf 18 Millionen DM, für die Anlage
des Parks [standen] 15 Millionen zur Verfügung.“ 357 – Bei einem Besuch
an einem schönen Sommertag begegneten mir auf dem kilometerlangen
Rundweg gerade mal fünf Radfahrer. – Positiv beeindruckt war ich dagegen
von dem vegetationstechnischen Erfolg bei der Anlage der großflächigen
Blütenwiesen.

7.3 Die Unterscheidung von Gartenkunst


und bildender Kunst
Die Systembildung in der Gartenkunst, die ich auf das Wettbewerbswesen
zurückgeführt habe, hat große Ähnlichkeit mit dem oben beschriebenen

357  http://www.berlinews.de/wista/archiv/261.shtml

304  Gartenkunst und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft.


Kunst-System. Man kann sagen, dass die Orientierung, der Blick auf die bil-
dende Kunst programmatisch für das System Gartenkunst ist. Zahllos sind
die Beispiele, in denen Gartenkünstler von abstrakten Formen der Malerei
und besonders durch Werke der Landart ‚inspiriert’ werden. Das erinnert äu-
ßerlich sehr an das Verhältnis des Landschaftsgartens zur Landschaftsmalerei.
Es ist fraglich, ob dies zukunftsträchtig für die Gartenkunst ist. Um dies zu klä-
ren, will ich die Beziehung zur bildenden Kunst näher zu untersuchen. Es ist
zwar richtig, dass Gartenkunst und bildende Kunst gemeinsame Grundlagen
haben. Eine Emanzipation der Gartenkunst kann aber nur gelingen, wenn
die Wesensunterschiede bewusst werden. Es geht also wieder um eine
Unterscheidung oder, besser gesagt, um Unterscheidungen, die aus mehre-
ren Gesichtspunkten zu beobachten sind. Als erstes stelle ich die Entwicklung
dieser beiden Kunstformen gegenüber. Durch die Zusammenschau - unter
Vernachlässigung von Details – werden schon Unterschiede erkennbar.

7.3.1 Die Entwicklung in der bildenden Kunst


Die ersten bildnerischen Äußerungen der Menschheit, zum Beispiel die
Höhlenmalereien, waren mythologische Beschwörungen des Jagdglücks
oder der Fruchtbarkeit. Lange Zeit war es dann Aufgabe der Malerei, die re-
ligiösen Geschichten zu illustrieren und das Bild der Herrscher zu verherrli-
chen. Nach der Aufklärung ging es dann um die Darstellung des allgemei-
nen Lebensgefühls und um die Beschreibung der bürgerlichen Welt. Erst in
der Romantik wandte sich das Interesse speziell der „Natur da draußen“ zu.
Mit dem allgemeinen Niedergang der Kunst im 19. Jahrhundert verflachte
sich das bürgerliche Schönheitsideal bis zum Kitsch. - Symbolisch für die
Wende ist das bereits erwähnte Bild von Manet, „Das Frühstück im Freien.“
Danach machte der Impressionismus bewusst, dass die Welt Gegenstand
unterschiedlicher Wahrnehmung ist, während im Expressionismus durch
Übersteigerung des Ausdrucks die Darstellung von Gefühlen gelang. -

Die Unterscheidung von Gartenkunst und bildender Kunst   305


Ein entscheidender Bruch in der Entwicklung war dann Anfang des 20.
Jahrhunderts der Verzicht auf jegliche Narration in der bildenden Kunst. In
der abstrakten Kunst geht es nur noch um reine Gefühlswerte von Farben
und Formen, vergleichbar mit der Musik.
Diese kurze Darstellung der Entwicklung mag genügen, um den generellen
Charakter der bildenden Kunst heraus zu stellen, nämlich innere Zustände
und Empfindungen bildhaft wahrnehmbar zu machen.

7.3.2 Die Entwicklung der Gartenkunst im Vergleich


Die Entwicklung der Gartenkunst habe ich bereits in der Einleitung beschrie-
ben; vom Urgarten über Barock- und Landschaftsgarten bis zum modernen
Gartenkunstwerk. Als Grundthema dieser Entwicklung habe ich das jeweilige
Verhältnis der Menschen zur Natur gesehen, was auch Lucius Burckhardt
klar zum Ausdruck bringt:
Natur ist unsichtbar, aber: Gärten handeln immer von der Natur. Sie
vermitteln das, was direkt nicht wahrgenommen werden kann als Bild.
Die Geschichte der Gartenkunst ist die Geschichte der Stellung der
Gesellschaft zur Natur. 358
Dieses Naturverhältnis ist zwar auch Thema der bildenden Kunst. Aber
Natur ist in der bildenden Kunst immer nur Abbild, Darstellung, Schein. In
der Gartenkunst ist Natur dagegen immer Erscheinung. Wobei - meiner
Grundannahme entsprechend – mit Natur immer das Zusammenwirken
von physis und techne gemeint ist. Adorno hat dies dezidiert herausgestellt:
Natur, als ein Schönes, [läßt sich nicht] abbilden. Denn das
Naturschöne als Erscheinendes ist selber Bild. Seine Abbildung hat
etwas Tautologisches, das, indem es das Erscheinende vergegenständ-

358  Burckhardt, (2007), 49.

306  Gartenkunst und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft.


licht, zugleich es wegschafft. Die keineswegs esoterische Reaktion, wel-
che die lila Heide oder gar das gemalte Matterhorn als Kitsch empfin-
det, reicht weit über derart exponierte Sujets hinaus: innerviert wird
darin die Unabbildbarkeit des Naturschönen schlechthin.359
Zu einer ähnlichen Unterscheidung kommt auch Martin Seel:
Natur ist ein Lebenszusammenhang, Kunst steht über und in
Zusammenhängen des Lebens. Wie sehr auch Natur im ästhetischen
Verhältnis zum Zeichen von Wirklichkeit werden mag, sie bleibt
Element einer selbständigen Sphäre des Lebens. Wie sehr auch Kunst zu
einem Teil der Lebenswirklichkeit werden kann, sie bleibt ein Medium,
an dem sich die Wirklichkeit des Lebens bricht. Naturschönes ist eine
besondere Sphäre der lebensweltlichen Wirklichkeit, Kunst steht
auf besondere Weise in dieser. An beider Stellung zur menschlichen
Geschichte wird dies evident. ... Kunst (und ihre Wahrnehmung) kann
nur gelingen, Wenn sie ... einen ästhetischen Bezug zum Naturschönen
hat. 360 (Hvh. in fett: A.S.)
Es geht mir hier nicht darum, eine Rangstufung von Natur oder Kunst zu kon-
struieren; beide gehören zur Lebenswelt des Menschen. Aber ebenso wende
ich mich gegen einen Primat der Kunst vor der Natur und damit der bilden-
den Kunst vor der Gartenkunst. Es geht vielmehr um eine Unterscheidung,
in der die Gartenkunst als die ‚Form physis und techne’ mit der bildenden
Kunst verglichen wird. – Ich erinnere daran, dass ich am Anfang des 2. Kapitels
die Vegetation, also die Natur, als Substanz der Gartenkunst bezeichnet habe
und dass das Architektonisch-Formale in seiner dienenden Funktion mit
der Baukunst zu vergleichen ist. Bei der Unterscheidung von der bildenden
Kunst geht es also um die Natur in diesem Sinne in der ‚Welt als Garten’.

359  Adorno, (1989), 105.


360  Seel, (1991), 273ff.

Die Unterscheidung von Gartenkunst und bildender Kunst   307


7.3.3 Medium und Form als Unterscheidungsmerkmal
Um die Unterscheidung der Gartenkunst von anderen Systemen zu verdeut-
lichen, greife ich auf ein weiteres Theorem von Niklas Luhmann zurück, das
in seinem Gesamtwerk eine wichtige Rolle spielt: Die Unterscheidung von
Medium und Form. Ich stütze mich auf seine Ausführungen in dem Buch
‚Die Kunst der Gesellschaft’ und in seinem Hauptwerk ‚Die Gesellschaft der
Gesellschaft.’ 361
Luhmann ersetzt mit dieser Unterscheidung die klassische Unterscheidung
„Substanz/Akzidenz oder Ding/Eigenschaften.“ Es geht nicht um die physika-
lischen Eigenschaften des Marmorblocks als Materie, aus dem der Bildhauer
die Statue schafft, sondern es geht um Wahrnehmung, sowohl in der
Produktion, wie in der Rezeption. „Die Differenz von Medium und Form ist
eine Eigenleistung des wahrnehmenden Organismus“ (des Beobachters.)

Wahrnehmung
Medium Form

Medium und Form bestehen gemeinsam aus Elementen. Elemente sind kei-
ne „naturalen Konstanten“, sondern Einheiten, „die von einem beobachten-
den System konstruiert (unterschieden) werden, zum Beispiel ... die Töne in
der Musik.“ Diese Elemente sind aber nicht als Einzelteile zu denken, sondern
nur in einer Verbindung, die Luhmann „Kopplung“ nennt. Die Kopplung der
Elemente bestimmt die ‚Form der Unterscheidung’ von ‚Medium und Form.’
362
Luhmann unterscheidet die „lose Kopplung“ von der „festen Kopplung.“
Ein Medium ist eine lose Kopplung von Elementen, „eine offene Mehrheit

361  Luhmann, (1999, 166 bis 171, und Ders., (1997), 195 bis 201. Ich ver-
zichte bei den folgenden Zitaten auf eine genaue Stellenangabe.
362  Luhmann benutzt den Begriff ‚Form’ etwas irritierend in unterschied-
licher Bedeutung. Die ‚Form der Unterscheidung’ sowie ‚Medium und Form’

308  Gartenkunst und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft.


möglicher Verbindungen.“ Zum Beispiel sind Wörter in lexikalischer
Anordnung lose gekoppelt. In der festen Kopplung eines Satzes werden sie
zur Form. Aus einer Anzahl von Wörtern kann man unterschiedliche Sätze
formen; die Formbildung ist kontingent. Die Kopplung der Elemente ist das
Gemeinsame der Unterscheidung ‚Medium und Form’, deren „zwei Seiten ...
nicht voneinander gelöst, nicht gegeneinander isoliert gedacht werden kön-
nen.“

Kopplung von Elementen


Lose Kopplung Feste Kopplung

Medium Form

Weiter stellt Luhmann fest, dass „das Medium stabiler [ist] als die Form“, aber
dass „das Medium nur an den Formen und nicht als solches beobachtet wer-
den kann“. Das Medium ‚Sprache’ zum Beispiel ist nur denkbar, wenn Wörter
(Elemente) zu Sätzen (Form) ‚geformt’ werden.
Die Unterscheidung ‚Medium und Form’ ist eine besondere Art von ‚Formen
der Unterscheidung mit zwei Seiten’, in der keine Seite ohne die andere denk-
bar ist. Die Seiten physis und techne zum Beispiel sind durchaus auch für sich
sinnvoll zu benutzen, Medium und Form dagegen nur zusammen.

7.3.4 Pflanzen als ‚Medium und Form’ in der Gartenkunst


Ich habe mehrfach betont, dass die Pflanze für mich die wichtigste Substanz
der Gartenkunst ist. Ich kann mir einen Garten ohne Wege, aber keinen
Garten ohne Pflanzen vorstellen; das wäre ein Platz oder ein Environment.

sind als unterschiedliche Termini zu denken, so wie es sich aus dem Kontext
ergibt.

Die Unterscheidung von Gartenkunst und bildender Kunst   309


Wege und Bauwerke bilden ein eigenes Medium. Und wenn wir unter
‚Garten’ ‚Die Welt als Garten’ verstehen, dann gehören zu diesem System
alle Wege und Plätze vom Gartenweg und –terrasse bis zur Autobahn und
Stadtplatz und von der Gartenlaube bis zum Stadtgebäude. - Betrachten wir
nun die Pflanzung als ‚Medium und Form’: Die Pflanzen nicht als botanische
Entitäten, sondern als Gegenstände der Wahrnehmung.
In der Baumschule oder Staudengärtnerei sehen wir sie als einzelne
Elemente in loser Kopplung. Sie bilden keine Form. Erst in der gestalteten
Zusammenstellung im Garten, in einer festen Kopplung, werden sie zur
Form. Das gilt für einen Barockgarten, wie auch für einen Landschaftsgarten.
In vielen modernen Anlagen allerdings, wie zum Beispiel in der Gartenschau
München/Riem oder im Garten einer REHA-Klinik in Ostholstein, wird die
lose Kopplung beibehalten, wird diese zweifelhafte ‚Form der Formlosigkeit’
ein Gestaltungsmotiv. Fachkenntnisse werden dafür nicht benötigt.

Abb. 7/7 „Pflanzeneinschlag“ als Gestaltungsmotiv

310  Gartenkunst und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft.


Als Elemente in fester Kopplung, als ‚Form’, sind die Pflanzen in allen Epochen
der Gartenkunst Stil bildende Mittel. Ihre wichtigste Funktion sehe ich in der
Raumbildung, entsprechend dem Archetypus ‚Lichtung’. Dazu dienen Baum-
oder Strauchgruppen aber auch Hecken, geschnitten oder frei wachsend. Im
Zusammenhang mit der Raumbildung ist die Entstehung von Atmosphären
zu sehen, beeinflusst durch Frühlings- Sommer und Herbstfärbungen, durch
Blütenfarben und durch einen unterschiedlichen Habitus. Auch Solitärs
sind in diesem Sinne Formen. Sie bilden Schwerpunkte im Raum. – Generell
kann man sagen, dass die Pflanze als Medium und Form den Eindruck al-
ler Gärten vom Urgarten bis zur Landschaft bestimmen. Wichtig ist, dass
das Zusammenwirken von physis und techne auf einem ausgeprägten
Fachwissen beruht.

7.3.5 Architektur als Medium und Form in der Gartenkunst


Im 4. Kapitel wurde die Architektur, speziell die Wege, in der Unterscheidung
von Funktion und Ornament behandelt. Jetzt geht es nicht um Funktion,
sondern um Garten-Architektur in ihrer Wahrnehmung als Medium und
Form.
Zunächst sind die Elemente dieser Form zu bestimmen. Das sind einmal die
Wege im ‚Urgarten’, die funktionell in loser Kopplung mehr oder weniger zu-
fällig angeordnet waren. In Form gebracht, habe ich sie als Ordnungssysteme
bezeichnet. – Wichtiger sind die Elemente, die das Ornamentale, die Gestalt
bilden. In loser Kopplung nehmen wir wahr: Geraden, Kurven, rechte Winkel,
spitze Winkel, Quadrate, Kreise, Ovale, Raster, Pyramiden, Hügel, Mauern,
Böschungen, Treppen, Rampen und so weiter. Diese Vielzahl der Elemente
des Mediums lässt die Komplexität der Formen erkennen, die in fester
Kopplung möglich sind. Die Betrachtung dieser Elemente in loser Kopplung
ist deshalb wichtig, weil sie so auch im Medium der bildenden Kunst auf-

Die Unterscheidung von Gartenkunst und bildender Kunst   311


treten, zum Beispiel in den abstrakten Bildern Kandinskys. In der festen
Kopplung als Form werden sie die Unterschiede der Systeme bestimmen.

7.4 Systemreferenzen in der Kunst


Die Systemtheorie und das Verhältnis von Medium und Form sind also ein
Ansatz, um die Unterscheidung von Gartenkunst und bildender Kunst zu
erhellen. Dazu kommt eine weitere These Luhmanns, die lautet:
Medien und Formen [werden] jeweils von Systemen aus konstru-
iert. Sie setzen also immer eine Systemreferenz voraus. Es gibt sie
nicht „an sich“. Somit ist die Unterscheidung von Medium und
Form ... ein rein systeminternes Produkt. 363
Das bedeutet aber auch, dass ‚Medium und Form’ eines Systems nicht ohne
weiteres auf ein anderes System übertragen werden kann. Betrachten wir also
das systeminterne Verhältnis dieser beiden Kunstformen:
Werke der bildenden, besonders der skulpturalen Kunst haben schon im-
mer Eingang in Gärten gefunden. Besonders im Barockgarten hatte sie ei-
nen wichtigen Anteil an der Gesamtgestaltung. Sie diente hauptsächlich der
Bildung von Schwerpunkten in der architektonischen Struktur der Anlagen.
Ihr narrativer Gehalt war sekundär. – Im Landschaftsgarten hatten die Statuen
eine andere Bedeutung; sie waren Teil der ‚Erzählungen’ in den verschiede-
nen Gartenszenerien und damit auch Stimmungsträger. Auch in modernen
Gärten werden Bildwerke in unterschiedlicher Form zur Verschönerung und
Bedeutungssteigerung aufgestellt. - Es ist verständlich, dass auf Grund dieser
Verhältnisse der Gedanke einer engen Verbindung oder gar einer Einheit von
Bildkunst und Gartenkunst entsteht. Dies ist zu hinterfragen.

363  Luhmann, (1999), 166.

312  Gartenkunst und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft.


Man braucht sich dazu nur die Gärten ohne jegliche Skulpturen oder Vasen
vorzustellen, um zu erkennen, dass Barockgärten immer Barockgärten und
Landschaftsgärten immer Landschaftsgärten bleiben. Dafür spricht auch die
Annahme, dass nicht alle Bauherren in der Lage waren, einen teuren Schmuck
für ihren Garten zu bezahlen. – Als ich einen Barockgarten in Holstein zu re-
staurieren hatte, reichten die zur Verfügung stehenden Mittel gerade, um die
historische Planie und die Hauptalleen und –wege herzustellen. Es wurde
dennoch von niemandem angezweifelt, dass hier ein Barockgarten wieder
erstanden war.364 – Diese Überlegungen zeigen, dass in diesen historischen
Gärten Medium und Form der Systeme Gartenkunst und bildende Kunst
zusammenwirken, ohne ein einheitliches System zu bilden.
Dieses Verhältnis zwischen Systemen kann man auch verallgemeinern, und
das spricht gegen die Möglichkeit, ein ‚Gesamtkunstwerk’ zu schaffen. Eine
Oper von Wagner – dem Protagonisten der Gesamtkunstwerk-Idee – heute
in Kostümen und im Bühnenbild der Uraufführung zu spielen, ist schwer
vorstellbar. Von den Systemen Kostümkunst, Bühnenbildnerei, Sprache und
Musik ist nur die Musik zeitlos; die Sprache ist schon problematisch. Das
heißt nun nicht, dass ein Werk, - zum Beispiel eine große Grünanlage - in
dem mehrere Kunstarten zusammenwirken, nicht aus einer gemeinsamen
Idee hervorgehen kann, wenn Künstler der verschiedenen Sparten an einer
gemeinsamen Aufgabe arbeiten. Aber die jeweilige Systemreferenz bleibt be-
stehen.
Die Frage ist nun, wie man das Zusammenwirken der beiden Systeme –
Gartenkunst / bildende Kunst - beschreiben kann. Eine grundsätzliche
Feststellung ist die, dass dem System Gartenkunst Elemente des Systems
bildende Kunst hinzugefügt, importiert werden können. Dabei kann zum
Beispiel die Nachbildung einer antiken Statue in einem Barockgarten oder im
Landschaftsgarten und sogar in einem modernen Stadtpark stehen; das je-

364  Singelmann, (1979).

Systemreferenzen in der Kunst  313


weilige System wird dadurch nicht verändert und es entsteht auch kein neu-
es System; wohl aber werden die Atmosphäre und die Bedeutung verändert.
Man kann also generell feststellen, dass die Werke der bildenden Kunst – als
Medium und Form - nur als ‚Importe’ in anderen Systemen auftauchen: An
Bauwerken (ursprünglich an Tempeln, in der Gegenwart als ‚Kunst am Bau’),
in Museen, in der freien Landschaft und eben auch in Gärten. Dabei verän-
dern sie durchaus ihren Charakter: Eine moderne Plastik im Museum hat
eine andere Aura als die in einer Fußgängerstraße oder in einem Park. So ist
auch die Aussage von Henry Moore zu verstehen, die ich oben (Anm. 142)
zitiert habe: „Wir werden dagegen kämpfen müssen, daß die Skulptur in der
Landschaftsgärtnerei zum Ornament reduziert wird.“

7.4.1 „Little Sparta“ als Beispiel


Ich will dieses Prinzip an einem sehr bedeutsamen und bekannten Beispiel
überprüfen: Ian Hamilton Finlays „Little Sparta“. Dieser Garten hat schon
viele Kritiker und Kunsthistoriker beschäftigt. In einer Veranstaltung des
Kunsthistorischen Seminars in Hamburg über Gartenkunst, an der ich als
Gasthörer teilnahm, befasste man sich in erster Linie mit diesem Garten. In
der Diskussion ging es aber fast nur um das ‚System’ bildende Kunst; das Feld
‚Landschaftsarchitektur’ war den Teilnehmern völlig fremd. So wurde zum
Beispiel gefragt, was Landschaftsarchitekten so machen und ob die wohl
auch eine akademische Ausbildung hätten. (Ein Beispiel von Selbstreferenz
in der Universität.)
Zur Beschreibung des Gartens zitiere ich Ausführungen Günter Metgens:
Little Sparta liegt ... in grandioser Einsamkeit. ... Schafweiden [umge-
ben] den Park; die Kunst scheint sublimiert aus dem Landbau hervor-
zugehen, was dem konservativen Denken ... eines Künstlers entspricht,
der zunächst Schriftsteller war. ... Als selbstgelernter Gärtner hat er

314  Gartenkunst und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft.


dies ehemalige Gehöft geduldig in einen poetischen Raum verwan-
delt. Überall finden sich Stelen, Verse, Inschriften; ... Noch das kleinste
Eck und sogar die Trittsteine im Wasser sind mit Texten ... beschrie-
ben ... . Man gerät von einer Stimmung, einem Geisteszustand in den
Anderen. Finlay, der das dichterische Wort kurz und schlagfertig nach
Art des Dadaismus ... handhabt, hat aus diesem Gelände einen Hain
aus Metaphern gemacht, die nach dem Modell des Emblems funk-
tionieren, bei dem Wort und Bild untrennbare Hälften einer visuellen
Strategie sind. Embleme fassen das Überkommende und das Neue in
ebenso treffenden wie hermetischen Formeln zusammen. ... [In diesem
Garten] haben das Martialische wie das Totalitäre Genre Platz; ... Diese
Kollage von Klassischem und Zeitgenössischem empfindet Finlay als
normal, wohnen doch Idylle und Schrecken für ihn immer zusammen.
Als Beispiel nennt er das ET IN ARKADIA EGO, das bekanntlich mitten
im Hirtenparadies den Tod meint ... Weit vom Quietismus der Idylle
entfernt, stellt dieser Garten für den Künstler einen Kriegsschauplatz
dar, auf dem widerstreitende Tendenzen zusammenstoßen. 365
Auch dies ist die Beschreibung eines Kunstexperten, die wenig über das
Verhältnis zwischen Kunst und Garten aussagt. Das erfahren wir aber von
Finlay selbst aus einem Interview, das Udo Weilacher mit ihm führte.366
Bezeichnend für sein Naturverständnis ist der Satz. „Der Hain ist für mich
das Grundelement des Gartens, denn er bietet einem viele gestalterische
Möglichkeiten. Die Bäume sind ganz klar Natur aber der Hain ist keine Natur,
sondern Kultur.“ - Im Prinzip entspricht das meiner Unterscheidung von phy-
sis und techne. Die Bäume sind reine physis und der Hain ist durch techne
veränderte physis. – Im Allgemeinen wird Little Sparta als Gesamtkunstwerk
gesehen, und anscheinend auch von Finlay selbst: Er versteht „nicht etwa

365  Metken, (1993), 111ff.


366  Weilacher, (1999), 93ff.

Systemreferenzen in der Kunst  315


das Artefakt als Werk, sondern das Werk ist der Garten als Komposition.“ 367
- Ich habe schon festgestellt, dass die Atmosphäre und die Bedeutung eines
Gartens durch Kunstwerke verändert werden. Das ist in Little Sparta extrem
der Fall, so dass uns dieses Werk als Einheit erscheint.
Trotzdem gilt die Feststellung, dass es sich hier um zwei unterschiedliche
Systeme handelt: um den Garten eines dilettierenden Gärtners, in dem Werke
eines Künstlers ausgestellt sind. Es besteht kein wesentlicher Unterschied
zwischen den hier ausgestellten Kunstobjekten und denen, die Finlay für an-
dere Orte, wie zum Beispiel für das Kröller-Müller-Museum, die Dokumenta
oder für Galerien angefertigt hat. Die Objekte, beschriftete Steine, Modelle
von Kriegschiffen, Handgranaten usw. sind Elemente – Medium und Form
- des Systems bildende Kunst. Die Systemunterscheidung geht auch aus der
Bemerkung Finlays hervor, dass in seinem Garten „die Natur zum Bestandteil
der Kunst“ wird, und sich zugleich „als Natur entfalten“ darf, „aber nur un-
ter der Voraussetzung, daß es der Kunst zuträglich ist.“ (Hvh. A.S.) Der
Garten ist also als ‚Ausstellungsraum’ konzipiert. Dafür spricht auch seine
Bemerkung, dass er sich „in der Tradition des Landschaftsgartens“ fühle und
„der Natur die Kultur entgegen[stellt].“ Wenn man sich aber die Artefakte
wegdenkt, bleibt ein zwar ganz geschickt angelegter aber ansonsten ganz
gewöhnlicher Hausgarten. – „Little Sparta“ gehört in seiner Substanz zum
System ‚Bildende Kunst’ und kann somit kein Vorbild für die Gartenkunst
sein. Für Kunsthistoriker ist der Garten der blinde Fleck.

7.4.2 Beispiele der Land Art


Wenn Finlay ‚Natur’ sagt, meint er – wie wir gesehen haben – physis, be-
einflusst durch techne. Im Garten ist dieser Einfluss intensiv. In der ‚Welt als
Garten’ ist der Einfluss von techne skaliert bis zu dem, was wir ‚unberührte
Natur’ nennen. Dies ist das Feld der Land Art. Bei den Objekten der Land Art
367  Ebd.

316  Gartenkunst und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft.


ist ihr Charakter als ‚Importe’ in die freie Natur offensichtlich. Am Beispiel
Richard Long wird es besonders deutlich.
Long ‚importiert’ aber nicht irgendein Artefakt in die Landschaft, sondern
gewissermaßen nur die Idee eines Artefakts, indem er das Material, das er in
der Landschaft findet, zu einer geometrischen Figur ordnet. Dabei geht er im-
mer von dem Vorhandenen aus, dem er sich körperlich nähert: „Das Gehen
ist für Long die Möglichkeit, sich dem Charakter einer Landschaft zu nähern,
sie in ihren spezifischen Details wahrzunehmen, sich ihren Gegebenheiten
und Bedingungen anzupassen. Allein in diesem ‚Dialog’ entstehen schließlich
seine Arbeiten, im Einklang mit dem Ort und seinem Material.“368 Dabei the-
matisieren seine Steinsetzungen in subtiler Weise das Verhältnis von physis
und techne. Sein Eingriff in die Landschaft durch das ‚Ordnen’ der Steine zu
einem Kreis oder zu einer Linie ist ein Eingriff – techne – in die unberührte
Landschaft. Aber entscheidend ist, dass er, bezogen auf physis und techne
als ‚Form der Unterscheidung mit zwei Seiten’, die physis als die eine Seite
der Form nicht verändert; für das Biotop ‚Schotterfeld’ ist es irrelevant, ob
die Steine zerstreut oder im Kreis geordnet liegen; der Kreis ist nur von der
techne-Seite aus beobachtbar. Er selbst sagt: „mein ganzes Schaffen [steht]
in einem ... Gleichgewicht zwischen naturgegebenen Formen und dem
Formalismus menschlicher Abstraktion wie Linien und Kreisen. Hier trifft
mein Menschsein auf die naturgegebenen Kräfte und Formen der Welt, und
das ist das eigentliche Thema meines Schaffens.“ 369

368  Wedewer, (1993), 6.


369  Weilacher, (1999), 16.

Systemreferenzen in der Kunst  317


Abb. 7/8 Richard Long, Steinkreis
Typisch ist die Vergänglichkeit dieser Werke, die auf die Dauer nur in der
Fotografie erhalten bleiben. Aber nicht nur, denn Long transloziert sie oft-
mals in eine Galerie oder in ein Museum, wo er sie in gleicher Weise wieder
auslegt. Die Werke des Systems ‚Land Art’ werden aus der Landschaft in das
System ‚Ausstellung’ überführt. Medium und Form bleiben unverändert aber
die Aura ist eine andere; Ein Rezipient, der Longs Artefakte in der Landschaft
nicht kennt, sieht das Werk in der Ausstellung mit anderen Augen. Die Frage
ist, ob so ein Objekt der Land Art in einem Ausstellungsraum nicht ein
Wesentliches seiner Aura verliert.
Mit Richard Longs Arbeiten sind Werke anderer Land-Art-Künstler zu ver-
gleichen, zum Beispiel die Michael Heizers. Sie unterscheiden sich aber im
Maßstab. So brauchte Heizer für das ‚Double Negativ’ in der Wüste Nevada
zwei Tonnen Dynamit um 240.000 Tonnen Sandstein wegzusprengen. Das
Ergebnis sind zwei in einer Felsbucht sich gegenüber liegende Gräben von
sechzehn Meter Tiefe. – Ein anderes Werk Heizers, die ‚Effegy Tumulie’, hat
ebenso gigantische Ausmaße, ist jedoch aus Erdmassen einer Abraumhalde
geformt und erinnert an Bilder, die von Indianern in der nordamerikanischen
Landschaft errichtet wurden. Heizer sagt über seine Arbeit: „Was mich vor
allem interessiert, sind die physikalischen Eigenschaften, Dichte, Volumen,

318  Gartenkunst und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft.


Masse, Raum, Zeit. Zum Beispiel, wenn ich einen Granitfelsen von sechs
Meter Länge finde. Das ist Masse. Das ist schon an sich eine Skulptur ... Meine
Arbeit ist die Antithese einer Skulptur ... Ich möchte auch, daß meine Arbeit
lebt, verfällt und stirbt, während ich selbst noch am Leben bin.“ 370
In diese Reihe gehört auch ein bekanntes Werk von Walter de Maria, das
‚Lightning Field’ in New Mexiko. Vierhundert sechs Meter lange Stahlstäbe
wurden auf einer ein Quadratkilometer großen Hochebene in einem stren-
gen Raster aufgestellt, und zwar so, dass die oberen Enden eine fiktive Ebene
bilden. Diese Installation fasziniert nicht nur durch die Blitze, die in dieser ge-
witterreichen Gegend in sie einschlagen, sondern auch durch den Kontrast
zwischen Naturform und mathematischer Ordnung, zwischen Chaos und
Ordnung.
Diesen Beispielen von vielen ist gemeinsam, dass die Künstler das Museum
hinter sich ließen, um ihre Ideen in der unberührten Natur zu verwirklichen.
Deshalb sind sie auch hauptsächlich in den Wüstengebieten Nordamerikas
entstanden. Dieser extremen Art verwandt sind Werke, die in – meistens
abgelegene – Kulturlandschaften importiert wurden.
Ein Beispiel, das mich besonders beeindruckt hat, ist Herman Priganns „Ring
der Erinnerung“. Dieser wurde nach der Wiedervereinigung im Harz auf der
ehemaligen innerdeutschen Grenze errichtet. Auf einem Kreis von siebzig
Meter Durchmesser wurde ein Wall aus Totholz des umliegenden Waldes
aufgeschichtet. Zur Erinnerung an die deutsche Teilung ist der Kreis von
den Resten des Grenzzaunes durchschnitten. Der Wall ist innen und außen
durch Findlinge markiert. An vier Öffnungen, die auf die Himmelsrichtungen
hinweisen, und im Zentrum liegen Steine mit den Inschriften Terra, Aqua,
Aer, Flora, Fauna als Symbole des Naturbezuges.

370  DOUMONTS Chronik der Kunst, (1990), 669.

Systemreferenzen in der Kunst  319


Abb. 7/9 Herman Prigann, Ring der Erinnerung
Dieses Kunstwerk ist mehrfach codiert: Es steht für die ökologische
Katastrophe des Waldsterbens, für die politische Katastrophe der deut-
schen Teilung und für die Erinnerung, die als Spur bleibt, wenn auch das
Totholz vermodert und der Wall von Brombeeren überwuchert sein wird.
Und es ist eine Auseinandersetzung mit der geschichtlichen Dimension der
Landschaft. - Mit dem Ring der Erinnerung wurde ein Kunstwerk von star-
ker atmosphärischer Wirkung in der Kulturlandschaft geschaffen. Aber auch
der ökologische Bezug täuscht nicht darüber hin, dass es sich hier um zwei
Systeme handelt, Landart in der ‚Welt als Garten.’ 371
Noch zu nennen in dieser Reihe wäre in England Andy Goldsworthy, der in
Schottland aus Steinen errichtete Schafhürden nachbaut und aus Steinen
und Totholz Artefakte in der Landschaft schafft, 372 und in Deutschland Tim
Ulrichs, Harald A. Finke, Doris Cordes-Vollert und viele andere. Letztere
waren an dem „Projekt Schüberg – Die Natur sprechen lassen“ beteiligt. (Der

371  Prigann, (1993), 42ff.


372  Dokumentationen im Verlag 2001.

320  Gartenkunst und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft.


Schüberg ist ein bewaldeter Hügel im Osten Hamburgs.) Über das Motiv
dieses Projektes schreibt Hartmut Böhme:
[Wir wollen] sehen, in welcher Weise die Kunst heute im Umgang
mit Natur uns wieder wahrnehmungsfähiger machen könnte – und
welche Wege dabei Künstler gehen, die ihren ästhetischen Impuls aus
dem Schrecken über die menschengemachte Naturzerstörung bezie-
hen und in ihren Arbeiten in leiser Weise nach anderen Formen des
Wahrnehmens, Denkens und Gestaltens von Natur suchen.373
Diesen Artefakten der Land Art ist gemeinsam, dass sie sich auf die‚freie
Natur’ beziehen; sie wurden in die freie Landschaft importiert (oder bes-
ser exportiert). Wenn man so will, handelt es sich um Fremdkörper, die
ein Spannungsverhältnis zur Landschaft erzeugen. Es geht um eine klare
Unterscheidung:

Land Art
Artefakt Landschaft
In keinem Fall geht es um Landschaftsgestaltung.
Anders zu sehen ist aber das Beispiel einer ‚Grenzgängerin’, Kathrin
Gustafson: „[Ihr] erster Auftrag für Kunst am Bau ... ging schief. Ihr ‚Shadow
Walk’ im Flughafen San Francisco blieb ein Schatten. Sie verließ die Sitzung
der Kunstkommission wortlos ... und blieb Landschaftsarchitektin.“ Vorher
war sie längere Zeit Modedisignerin, bis ihr Interesse für die Landschaftskunst
erwachte. Die meisten ihrer Objekte sind auch der bildenden Kunst zuzuord-
nen, zum Beispiel „ein Wasserreservoir im Freizeitpark von Morbras ... an dem
sich bereits ihre typische Formensprache zeigt: grasüberzogene Erdfalten, das
Terrain als große Skulptur. Landart könnte man vermuten. Aber Gustafson

373  Hartmut Böhme, (1989), 99.

Systemreferenzen in der Kunst  321


zögert: ‚Ich liebe es, Erdmassen zu bewegen. Aber ich liebe auch Dinge, die
eine Funktion haben.’“ 374
Mit dieser lapidaren Äußerung unterscheidet Kathrin Gustafson präzise bil-
dende Kunst von Landschaftskunst: Erdplastiken, die sie nach Tonmodellen
ausführen lässt, und Landschaftsparks, die zwar auch kunstvolle
Architekturelemente enthalten, die aber in erster Linie Erholungsfunktionen
erfüllen. Hier werden bewusst zwei Systeme unterschieden, in denen die
Künstlerin jeweils operiert, die aus ähnlichen Elementen bestehen, die in
Medium und Form aber unterschieden sind. - Man könnte hierin auch eine
Übergangsform sehen zwischen Gartenkunst und bildender Kunst. Das wäre
eine skalierte ‚Form der Unterscheidung mit zwei Seiten’. Das ändert aber
nichts an der Grundauffassung, dass es sich um die Unterscheidung zweier
Systeme handelt, und dass das Operieren auf der einen oder auf der anderen
Seite jeweils das Überschreiten einer Grenze bedarf. Entscheidend ist dabei,
ob auf beiden Seiten die jeweilige künstlerische Kompetenz vorhanden
ist.
Das war bei Ernst Cramer der Fall. Ich erinnere mich, wie fasziniert wir von
seinem „Theatergarten“ auf der IGA 1963 in Hamburg waren und an unse-
re Empörung, als dieser nach dem Ende der Ausstellung von ignoranten
Gartenbaubeamten ‚zurückgebaut’ wurde; ein „Vandalismus von oben“! 375
Auch Cramer war ein Grenzgänger zwischen Gartenkunst und bildender
Kunst; aber der Theatergarten war ganz klar eine Plastik, ein Implantat der
bildenden Kunst in einen Park von einem Künstler, der auch Gartenarchitekt
war.
In diesem Zusammenhang ist auch der „Berggarten“ in Graz von Dieter
Kienast zu erwähnen. - Kienast bezieht sich ausdrücklich auf Cramer als sein

374  Lisa Diedrich: in Topos 21, 16ff


375  Buchloh, (1989).

322  Gartenkunst und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft.


Vorbild. – Der Berggarten ist eher eine große Erdplastik als ein Garten und als
solche sehr eindrucksvoll. Nach Ende der Gartenbauausstellung wurde er in-
zwischen in eine Ausstellungsfläche für Plastiken im Freien umfunktioniert. –

Abb, 7/10 Berggarten Graz


Er ist im gewissen Sinne mit ‚Little Sparta’ zu vergleichen: Garten als
Ausstellungsfläche für bildende Kunst. Aber auf der Skala der Unterscheidung
Gartenkunst / bildende Kunst ordne ich ihn der bildenden Kunst zu.
Typologisch kann man ihn mit dem Jüdischen Museum in Berlin vergleichen,
das sich auf der Skala Architektur / Plastik bewegt. Der Berggarten ist in seiner
neuen Funktion sehr eindrucksvoll; richtungsweisend für die Gartenkunst ist
er nicht.
Ein anderes Beispiel ist der„Garden of Cosmic Speculation“ von Charles Jencks.
Ich kann ihn nur beurteilen aufgrund der hervorragenden Aufnahmen von

Systemreferenzen in der Kunst  323


Udo Weilacher.376 Die zeigen eine Anlage von faszinierender Ornamentik
und bewundernswerter technischer Ausführung. Es mag auch manches dar-
in „zu lesen“ sein. Als Implantat in der schottischen Landschaft empfinde ich
ihn als Fremdkörper, der kein Spannungsverhältnis zu dieser herstellt; man
kann ihn sich beliebig in jeder Landschaft vorstellen. Er ist eine Erdplastik, ein
Werk der bildenden Kunst, kein Garten.
Ein besonderer Fall ist der UNESCO-Garten von Noguchi, den Udo Weilacher
in seinem Buch über Landschaftsarchitektur und Land Art beschreibt. Er
charakterisiert Noguchi als einen Bildhauer, dem es „vor der Land Art [ge-
lang], die Auffassung von Skulptur so zu erweitern, daß der Landschaftsraum
nicht mehr Hintergrund, sondern eigentlicher Gegenstand künstlerischen
Schaffens wurde.“ 377 Ich sehe für den UNESCO-Garten den Landschaftsraum
jedoch weder als Hintergrund noch als Gegenstand, sondern es handelt sich
hier einfach um ein Artefakt, das kaum Beziehung zu seinem Umfeld hat. -
„Am Ende [überwog] der kühle, moderne Charakter des Gartens mit seiner
kontrollierten biomorphen Formen und kubistischen Körpern. Der Grundriß
erinnert an ein surrealistisches Gemälde von Joan Miró oder an ein Relief
von Hans Arp, doch im Lauf der Zeit verwischte wuchernde Vegetation die
ursprüngliche skulpturale Klarheit der Gestaltung.“ 378
Das alles macht nach meiner Auffassung klar, dass der UNESCO-Garten
nicht zur Gartenkunst gehört. Weilacher muss letztlich feststellen: „Trotz
der Bedeutung des UNESCO-Gartens als Meilenstein in der Entwicklung
der modernen Gartenkunst [!] fand er weder in der landschaftsarchitektoni-
schen noch in der Kunstpublizistik besondere Würdigung. Die Kunstkritiker
erachteten das Werk nicht als Kunst, sondern als Garten, während die
Landschaftsarchitekten dem Garten als Kunstobjekt kaum Beachtung

376  Weilacher, (2005), 22ff.


377  Weilacher, (1999), 43.
378  Ebd., 46

324  Gartenkunst und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft.


schenkten. ... [Noguchi] nahm Pflanzen als skulpturale Formen wahr und war
nicht so sehr interessiert ... sie als wachsendes Material zu begreifen.“ 379
Auf Grund dieser Beispiele dürfte deutlich geworden sein, was die Land Art
von anderen Kunststilen und von der Gartenkunst unterscheidet.

7.4.3 Künstler als Gärtner


„Künstler als Gärtner“ ist das Titel-Thema einer Ausgabe der Zeitschrift
KUNSTFORUM INTERNATIONAL, das sich mit dem Verhältnis zwischen
Natur und heutiger bildender Kunst beschäftigt. In einer zweiten Nummer
wird dies durch ein so genanntes „Gartenarchiv“ ergänzt. 380
Schon eine oberflächliche Durchsicht dieser beiden Bände macht deut-
lich, dass es hier um Artefakte im System der bildenden Kunst handelt, das
von der Gartenkunst klar zu unterscheiden ist. Das geht schon aus wenigen
Beispielen hervor.
Die meisten entsprechen der Auffassung Mario Terzics, der „Garten
und Landschaft als erweitertes Zeichenblatt“ sieht. Es geht ihm darum,
„Kunststudenten ein reales Experimentierfeld anzubieten, auf dem deutli-
cher und konsequenter als auf Papier essentielle Fähigkeiten erprobt wer-
den können ... Gartenarbeit als Metapher für ein umfassendes künstlerisches
Agieren ...“ 381
Typische Beispiele sind der Tisch, den Geer Pouls mit der Schere in den Rasen
zeichnet,382 oder Gary Rieveschl, der einen „Kinderkreis“ mit Blumenzwiebeln

379  Ebd.
380  KUNSTFORUM, (1999a,b)
381  KUNSTFORUM, (1999b), 107.
382  Ebd., 204.

Systemreferenzen in der Kunst  325


zeichnet.383 Mit Beton zeichnet Alan Sonfist ein Wegeornament auf eine
Rasenfläche, gewissermaßen die Karikatur eines Landschaftsgartens. 384 Und
ein „minimalistisches“ Rasenstück verpflanzt Luc Wolf in einen verwilderten
Garten.385

Abb. 7/11a-d „Künstler als Gärtner“


Man muss nicht im Einzelnen die Intentionen der Künstler ergründen, um zu
erkennen, dass diese Werke nichts mit Gartenkunst zu tun haben. Es werden
zwar auch hier Pflanzen als Elemente eines Mediums verwendet, aber es ist
evident, dass Medium und Form zum System bildende Kunst gehören. Es
entstehen keine Gärten, sondern Installationen mit Pflanzen.

383  Ebd., 213.


384  Ebd., 221.
385  Ebd., 247.

326  Gartenkunst und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft.


Diese Systemreferenz wird auch durch Äußerungen von Künstlern deutlich. So
antwortete Tobias Rehberger – einer der bedeutenden Gegenwartskünstler,
der 2009 den deutschen Pavillon auf der Bienale in Venedig gestaltete - auf
die Bitte, zu definieren, was ein Garten sei:
Ich glaube nicht, daß ich das kann ... im Endeffekt ist es für mich
das gleiche wie ein Stuhl, für mich geht es nicht eigentlich um ei-
nen Garten, sondern für mich ist das eine Skulptur. ... Ich bin kein
Gärtner oder Landschaftsarchitekt, sondern Künstler. Oder Skulpteur.
Deswegen steht das Skulpturale an erster Stelle. Daß es dann zufällig
mit Pflanzen zu tun hat oder mit Garten, ist für mich fast eher zweit-
rangig. Mit Garten meine ich immer eine Skulptur und nie einfach nur
einen Garten.386
Ein Beispiel für Rehbergers Auffassung ist seine Installation „Within view
of seeing“ von 1998, die aber offensichtlich schon Vorbild für manche
Gartengestaltung geworden ist. 387
Ähnliches sagt Anette Weiß: „Mich interessiert das Prozessuale, das
‚Geheimnis des Lebens’, in künstlerischer Hinsicht nicht so sehr. Ich glaube,
man muß sehr aufpassen, nicht ins Esoterische abzugleiten, wenn man sich
auf die Eigendynamik des Mediums Pflanze einlässt.“ 388
Etwas anders liegen die Dinge bei dem „Schwarzen Garten“ in Nordhorn von
Jenny Holzer.389 Es handelt sich um eine Gedenkstätte für die Gefallenen der
letzten Kriege. Was Jenny Holzer hier gestaltet hat, kann man schon im wei-
teren Sinne als ‚Garten’ bezeichnen. Aber die Symbolik, die sie hinein legt, hat
nichts mit Gartenkunst zu tun; sie ist zwar im einzelnen nachvollziehbar, aber

386  KUNSTFORUM, (1999a), 119.


387  Ebd., 112f.
388  Ebd., 127.
389  Ebd., 88ff.

Systemreferenzen in der Kunst  327


die Farbensymbolik, die ihr Leitmotiv ist – schwarze Tulpen für Trauer, weiße
für Unschuld – nähert sich dem Niveau der Trivialkultur. Das ist bezeichnend
dafür, wenn Künstler sich in dem für sie fremden System Gartenkunst betä-
tigen.
Ein berühmter Künstlergärtner war Burle Marx. Tatsächlich war er
aber in erster Linie Maler, der seine Gemälde wie auch seine Vorlagen
für Platzgestaltungen und Blumenbeete nach den gleichen formalen
Vorstellungen schuf. Als Medium unterscheiden sich bei ihm Pflanzen nicht
von Ölfarbe oder Pflastersteinen. - Nebenbei war er seit Kindheitstagen lei-
denschaftlicher Pflanzensammler und insofern auch Gärtner, der sich als
Gartenarchitekt betätigte. Aber seine großen Landschaftsgärten wirken - zu-
mindest nach europäischen Vorstellungen - seltsam gekünstelt. 390

Abb. 7/12 „Malergarten“


Alle diese Beispiele zeigen, dass die Deutung des Verhältnisses Gartenkunst
/ bildende Kunst von Kunsttheoretikern und Kunsthistorikern beherrscht

390  Garten und Landschaft, 9/1989, 27ff.

328  Gartenkunst und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft.


wird. Das sehen wir bei Paolo Bianchi, der den heutigen „Künstlergärtner“
in der Tradition des Berufes des „Kunstgärtners“ sieht, der neben dem
Gartenhandwerk auch die anderen Künste beherrschen musste. „Denn mit
ihnen mußte sich das Gartenhandwerk verbinden, um selbst zu einer ‚bil-
denden Kunst’ aufzusteigen. [!] Künstlergärtner besinnen sich auf den mo-
dernen Begriff von Landschaft als dem Entwurf eines einzelnen, welcher
der Natur gegenübertritt und sie in individueller Weise auffasst.“ 391 (Hvh.,
A.S.) Das ist die Auffassung einer autonomen Kunst, die auf die Gartenkunst
angewendet, zur absoluten Beliebigkeit führen würde.
Als Letztes zitiere ich Barbara Nemitz, die Initiatorin der „Künstlergärten
in Weimar“: „Das nicht-intellektuelle Medium Vegetation, das uns sonst in
Garten, Park, in der Agrikultur oder ganz einfach in der Landschaft bege-
gnet, wird im Kunstkontext zu einem intellektuellen Medium, das zahlreiche
Fragen aufwirft.“ Eine ihrer Fragen lautet: „Inwieweit ist eine Pflanze heute
überhaupt noch Natur?“ Auch sie grenzt das System, das sie „Kunstkontext“
nennt, gegen „Garten, Park“ usw. ab.
Das alles verführt mich dazu, diesen Abschnitt mit einem Kommentar
Gernot Böhmes abzuschließen, den er in Bezug auf das Verhältnis von
Künstlern zur Ökologie verfasst hat, den man aber sinngemäß auch bezüg-
lich ihres Verhältnisses zur Gartenkunst anwenden könnte:
Künstler mögen zwar häufig besonders sensible Zeitgenossen sein,
aber sie verstehen sich und man versteht sie falsch, wenn man sie zu
besseren Philosophen oder Naturforschern hochstilisiert. So sind die
Beiträge engagierter Künstler zu ökologischen Diskurs leider häufig auf
dem Niveau, das der Künstler als durchschnittlicher Zeitungsleser und
Stammtischbesucher hat.392

391  KUNSTFORUM, (1999a), 52.


392  Böhme, (2002), 258.

Systemreferenzen in der Kunst  329


Und die Beiträge der Künstler zur Gartenkunst sehe ich auf dem Niveau
durchschnittlicher Kleingärtner. Für Landschaftsarchitekten, die sich ihr
Leben lang mit Pflanzen beschäftigen und sich mit der Frage: „Was heißt denn
schon Natur?“ 393 auseinandergesetzt haben, muten diese Versuche bildender
Künstler, dem Wesen der Natur näher zu kommen sehr naiv an. – Das kann
man aber auch von den Gartenkünstlern sagen, die sich in dem System ‚bil-
dende Kunst’ bewegen, um die vermeintlichen Defizite an Modernität in der
Gartenkunst zu beheben.
Durch diese Darstellungen dürfte deutlich geworden sein, dass Gartenkunst
und bildende Kunst verschiedenen Systemen angehören.

Kunst
Gartenkunst Bildende Kunst

Ich erinnere an dieser Stelle noch einmal an Spencer-Browns Maxime seiner


Erkenntnistheorie: „Wir nehmen die Idee der Unterscheidung und die Idee
der Bezeichnung als gegeben an, und daß wir keine Bezeichnung vornehmen
können, ohne eine Unterscheidung zu treffen.“
Wie der Begriff der „Totalen Landschaft“, führt die Gleichsetzung von
Gartenkunst und bildender Kunst zum „Rauschen“, zur Beliebigkeit
und schlimmstenfalls zu dem, was wir Kitsch nennen. Selbst wenn es
Berührungspunkte und vielleicht skalierte Übergänge gibt, ändert dies nichts
an dem Grundsatz, dass Elemente der bildenden Kunst keine Vorbilder für
die Gartenkunst sind. Das soll im Folgenden noch vertieft werden.

393  Schäfer, (Hrg.), (1993).

330  Gartenkunst und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft.


7.5 Systeminterferenzen in der Gartenkunst
Zur grundsätzlichen Unterscheidung von Gartenkunst und bildender Kunst
habe ich festgestellt: In der bildenden Kunst wird Natur dargestellt, in der
Gartenkunst tritt Natur in Erscheinung. Jetzt geht es um die ‚Modernität’
dieser beiden Kunstsysteme, das heißt um ihre Stellung im Bewusstsein der
heutigen Gesellschaft.
Die Entwicklung der modernen bildenden Kunst im 20. Jahrhundert ist in
einer schier unermesslichen Literatur beschrieben und bewertet worden.
„Moderne Kunst“ ist zu einem allgemein gebräuchlichen Begriff geworden,
dessen Konnotation eindeutig ist.
Das kann man von der Gartenkunst nicht sagen. Schon das oben be-
schriebene problematische Verhältnis zwischen moderner Architektur und
Gartenkunst ist bezeichnend. Es stellt sich also die Frage, welches die Gründe
für diese Sonderstellung der Gartenkunst sind. Es sind die Entwicklungen,
die ich in der Einleitung als eine wesentliche Problemstellung beschrieben
habe: die „Entzweiung“ der Menschen von der Natur (nach Richter) und
als Folge für die Profession: deren Aufspaltung in Ökologie und Kunst. Die
Gartenkunst, deren Thema bis ins 19. Jahrhundert selbstverständlich die
Natur war, ist ‚heimatlos’ geworden, nachdem die Natur wissenschaftlich
vereinnahmt und unter dem Verdikt ‚Naturalismus’ aus der Gartenkunst
verbannt wurde.
Das Ergebnis ist die Suche nach einer neuen Systemreferenz, die bisher eindeu-
tig in Richtung bildende Kunst und Baukunst geht. Nach den Grundsätzen
der Systemtheorie ist aber schon voraus zu sagen, dass dieser Weg in
die Irre führt, zu Systeminterferenzen. Ich habe den Begriff ‚Interferenz’
schon im Zusammenhang des Verhältnisses der Landschaftsmalerei zur
Landschaftskunst interpretiert als: „Falsche Analogie ..., die Einwirkung ei-
nes ... Systems auf ein anderes, die durch Ähnlichkeit von Strukturen ... ent-

Systeminterferenzen in der Gartenkunst  331


steht.“ (siehe Anm. 313). Ein Grundsatz der Systemtheorie besagt, dass jedes
System einen eigenen Code mit spezifischen Programmen hat, der nicht ge-
ändert und auch nicht übertragen werden kann. Nur hierdurch lassen sich
Systeme voneinander unterscheiden. Und nach dem Leitsatz, „dass wir kei-
ne Bezeichnung vornehmen können, ohne eine Unterscheidung zu treffen“,
sind die Unterschiede zwischen Gartenkunst und den anderen bildenden
Künsten herauszustellen. Durch Interferenzen werden sie verwischt.
Die krasseste Form einer „falschen Analogie“ ist die naive Übertragung von
Elementen von der Malerei auf die Gartenkunst. Die Formen kommen ei-
gentlich nur auf dem Papier zur Geltung. In der Ausführung stehen sie mei-
stens für Dysfunktionalität. Die Beispiele hierfür sind zahllos. Als ein pro-
grammatisches Symbol kann man eine Lithographie Kandinskys ansehen,
die in Topos, Heft 2 kommentarlos abgebildet ist. Das Heft steht unter dem
Motto: „Leitbild der Moderne“.

Abb. 7/14 Leitbild für Gartenkunst?

332  Gartenkunst und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft.


Ich nehme als Beispiel aus dem gleichen Heft den Plan für den Park in
Modena. Er ist nicht von einer abstrakten Graphik zu unterscheiden. Er wur-
de zwar nicht ausgeführt, war aber immerhin in einem Wettbewerb preisge-
krönt.

Abb. 7/15 Park oder Graphik?


In dem Park Juan Carlos in Madrid ist wie bei Kandinsky der Kreis die
Grundform, die von heterogenen Elementen durchschnitten wird, und hier
wie dort sind ringsherum graphische Formen verstreut. Als Versatzstück
wurde eine organoide Form eingefügt. 394

394  Topos 23, 1998, 25

Systeminterferenzen in der Gartenkunst  333


Abb. 7/16 Park in Madrid

Abb. 7/17 Thames Barrier Park


Ein rein graphisches Muster ist auch das Gestaltungskonzept für den Thames
Barrier Park am Ufer der Themse. Entsprechend stehen auch hier die Pflanzen
in Reih und Glied, wie in der Baumschule.395
Ein krasses Beispiel ist der Park Nou Barris, an der Peripherie Barcelonas.
„Kubistische Gemälde Picassos der Horta de Sant Joan beeinflussten die

395  Topos 35, 2001, 56

334  Gartenkunst und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft.


Gestalter bei ihrem Entwurf. Die vorhandenen fragmentierten Freiräume
sollten zu einer geometrischen Landschaft verbunden werden.“396 Am Anfang
der gestalterischen Überlegungen stand also nicht der ‚Ort’, wie immer rekla-
miert wird, sondern ein abstraktes Gemälde.

Abb. 7/13 Nou Barris Parc, inspiriert von Picasso


Ein bedeutendes Thema der Gartenkunst in der ‚Welt als Garten’ ist der
Einfluss auf die freie Landschaft. Die Geometrie der Kulturlandschaft war bis-
her durch die Formen der Bewirtschaftung bestimmt; so war der rechteckige
Acker sinnvoll, um ihn in geraden Furchen pflügen zu können. Dieses Prinzip
scheint mit der neuen Auffassung einer „geometrischen Landschaft“ nicht
vereinbar zu sein. Im Landschaftspark Wartenberg in Berlin wechseln willkür-
lich keilförmig geschnittene Grünflächen mit spitzwinkligen „sogenannten
Waldfraktalen ab.397

396  Topos 39, 2002, 25.


397  Garten und Landschaft 7/2008, 36

Systeminterferenzen in der Gartenkunst  335


Abb. 7/18 Abstrakte Landschaft
Ähnliches gilt für das „Landschaftsplanerische Konzept für das neue BMW-
Werk im Norden von Leipzig“, in dem die Landschaftsarchitekten „durch se-
rielle Pflanzungen markante neue Landschaftselemente“ gestalteten. 398

Abb. 7/19 Freie Landschaft als Pflegefall für BMW

398  Garten und Landschaft 2/2004, 22

336  Gartenkunst und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft.


Diese geometrischen Landschaften sind durch eine rationelle Landwirtschaft
nicht zu unterhalten. Offensichtlich denkt man daran, Landwirte als
Pflegekräfte in Lohnarbeit heranzuziehen. Wenn sich dieses Prinzip weiter
durchsetzt, können Bauern am Rande der Großstädte sich künftig entschei-
den, ob sie als Erfüllungsgehilfen für die Ökologie oder für die Gartenkunst
tätig werden wollen.
Ich charakterisiere abschließend diese Art der Interferenzen mit einem Zitat
von Stefan Tischer. Der sieht die Entwicklung vor allem im Hinblick auf spa-
nische und französische Projekte der 80ger und frühen 90ger Jahre, die aber
auch Nachahmung in Deutschland fanden:
In recht vielen Beispielen verlor sich die Idee der neu interpretierten
und fortgeschriebenen Moderne im Styling von Ausstattung und
Einzelelementen, in der Dekonstruktion als lustiges Formenspiel,
im wilden Splittern von Wegfragmenten und im Sprenkeln von
Baumgrüppchen. ... oft ist nur ein formales Klischee gegen ein neues
ausgetauscht worden.399
Ein anderer Einfluss der bildenden Kunst auf die Gartenkunst besteht darin,
dass einzelne Kunstwerke als Vorbild oder Anregung genommen werden,
was manchmal einem Plagiat nahe kommt. Das gilt für eine Installation Paul
Isenraths auf der Dokumenta 6 von 1977:
Zwei ... lange Wasserrinnen, rechtwinklich zueinander gesetzt, re-
flektierten als helle Wasserlinien in der grünen Karlsaue zwar narzi-
stisch den Himmel, jedoch bedeutend subtiler machten sie dem auf
Gleichgewicht bedachten Betrachter die spezifische Geländeneigung
deutlich, von der unbewusst die räumliche Orientierung und
Umweltwahrnehmung beeinflusst wird. Das Wasser wird zum

399  Tischer, (2000)

Systeminterferenzen in der Gartenkunst  337


Medium, „zum Mittel der Erkenntnis wie auch der die Sensibilität des
Sehens schärfenden Irritation.“ 400
Eine der Rinnen wurde 1990 als „Maßkraft“ in der Ausstellung „Bis jetzt“ im
Georgengarten Hannover gezeigt, wo sie die gleiche subtile Wirkung erzeug-
te. Hier die Beschreibung von Lothar Romain:
... eine Stahlrinne, die entgegen dem Verlauf des leicht hügeligen
Geländes vollkommen waagerecht sechzig Meter lang bis schließ-
lich bis in den Boden hinein geführt wird, mit Wasser gefüllt – das
Gleichgewicht der Wasserwaage demonstrierend und doch von
höchster Fragilität und Verletzlichkeit. Jede leise Bewegung lässt den
spiegelnden Wasserstreifen in Bewegung geraten, sich leicht Kräuseln:
lautlose Unruhe, die sich buchstäblich wieder auflöst. Hier wird eine
Wassergerade vorgeführt als Plastik, nicht etwa als land art im Park
minimalisiert. 401

400  Kolberg, (2002), 6.


401  Romain, (1990), 29f.

338  Gartenkunst und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft.


Abb. 7/20a Wasserrinne, von beiden Seiten
Ich zitiere dies hier so ausführlich, weil die seitdem in vielen Gärten auftau-
chenden Wasserrinnen mit der künstlerischen Intention des Originals nichts
mehr gemein haben. Sie sind eine einfache formale Zutat, etwa um eine
Achse zu betonen

Abb.7/20b Wasserrinne in Oberhausen

Systeminterferenzen in der Gartenkunst  339


Ebenso ‚befruchtend’ gewirkt hat ein Kunstobjekt von Pedro Cabrita Reis,
das auf der Dokumenta IX, 1992 zu sehen war: Ein schmaler Gang zwischen
zwei Mauern. Auch dies ein beliebtes Motiv, das in Abwandlung oft er-
scheint, gerne in Cortenstahl.
Eine andere Anregung ist die Verwendung von überdimensionierten
Versalien in Gärten, die in der modernen Kunst als Elemente von Gemälden
und Installationen eingesetzt werden, schon früh von Paul Klee und gegen-
wärtig zum Beispiel von Joseph Kosuth und Jenny Holzer.
Besonders beeindruckt hat mich eine Installation von Ludger Gerdes,
die ebenfalls im Georgengarten zu sehen war. Aus zwei Meter hohen
Großbuchstaben, bestehend aus Neonröhren, wurde das Wort „ICHS“ ge-
bildet. Der Hintergrund war eine Baumkulisse und im Vordergrund spiegelte
sich die Installation im Wasser. Die Wirkung dieses Kunstwerkes war extrem
irritierend: Einmal „der absurd scheinende Plural des Wortes ‚ICH’ ... darauf
hinweisend, daß die Vorstellung von einer festen Identität und der Existenz
einzig richtiger Methoden längst hinfällig geworden ist,“ 402 und ebenso der
Ort der Aufstellung: Vor einer Baumkulisse, die dem Auge keinen Halt bie-
tet und hinter einem Gewässer, in dem sich die Installation spiegelt. Mir
erschien diese Installation wie eine Botschaft aus einer anderen Welt: be-
drohlich durch die Größe und in der magischen Wirkung verstärkt durch die
Spiegelung.

402  Hartung, (1995), 6.

340  Gartenkunst und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft.


Abb. 7/21 Installation im Georgenpark
Auch diese Verwendung der Schrift als Element im Medium der bildenden
Kunst verleitet zu dem Versuch, auf diese Weise Gärten die Weihe von Kunst
zu geben. Bekannt ist der Schriftzug in einem Garten von Kienast, der „das
Geländer eines Aussichtspunktes am Rande des Waldes“ bildet. 403 Dazu
wurden mit den Bauherren „immer wieder neue Schriftzüge erwogen,“ 404 bis
der bedeutungsschwere Satz „Auch ich war in Arkadien“ Zustimmung fand,
natürlich bildungsbürgerlich in Latein: ET IN ARCADIA EGO.
Der Systemunterschied ist offensichtlich. Versalien als Elemente in Medium
und Form werden im System Garten zur beliebigen Dekoration. Bezeichnend
ist, dass man diesem Artefakt keine autonome Wirkung zutraute, und des-
halb zur Motivation noch einen Gartenzaum brauchte.
Ein weiteres Beispiel einer Systeminterferenz sind Verkleinerungen und
Vergrößerungen. In der Bildenden Kunst sind sie Elemente des Schaffens von

403  Weilacher, (1999), 154.


404  Kienast, (2002), 151.

Systeminterferenzen in der Gartenkunst  341


Claes Oldenburg, die inzwischen einen hohen Bekanntheitsgrad erlangt ha-
ben.

Abb. 7/22 Fahrrad als Größenvergleich


Er bildet Alltagsdinge ab, meistens in extremer Vergrößerung. Es geht ihm,
wie er sagt, um Verfremdung, die eine genaue Beobachtung ermöglicht. 405
Mir erscheint diese Erklärung jedoch etwas vordergründig. Ich sehe in seinen
Werken eine tiefenpsychologische Dimension, die an die Märchenwelt, an
Riesen und Zwerge, an Däumling und Gullivers Reisen erinnert. Oldenburg
selbst sagt: „In unseren Träumen können wir uns alle Dinge in allen Größen
vorstellen.“ 406 - Bekannt sind auch die riesigen Figuren von Jonathan
Borowsky in Frankfurt und Berlin.
Vergrößerungen und Verkleinerungen waren auch ein Motiv in den „Gärten
der Potenzen“ in der BUGA München-Riem. Sie waren aber nicht als sol-
che erkennbar. Auch die schriftlichen Erklärungen waren nicht nachvollzieh-
bar. Für den unbefangenen Betrachter waren es einfach beliebige abstrakte
Formen.
405  Interview in art Das Kunstmagazin, Nr. 12, 1991, 28ff.
406  Ebd.

342  Gartenkunst und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft.


Abb. 7/23 „Blattunterseite“ Abb. 7/24 „Zellwand“
Die Interferenzen zur Landart haben sich schon im vorigen Artikel ange-
zeigt. Die Übernahme ihrer Elemente ist besonders verlockend. Das gilt
zum Beispiel für die überall aus dem Boden wachsenden Erdpyramiden.
Man könnte sagen, das sei das Gleiche, wie die in der Landschaftskunst
üblichen Bodenmodellierungen. Es gibt aber einen Unterschied: Die
Bodenmodellierung dort dient zur Darstellung einer archetypischen Form
der Raumbildung; gleichwohl besteht auch da die Gefahr der Bildung von
Stereotypen. Die Verwendung der Erdpyramide als Versatzstück ist von
vornherein fragwürdig.
Einen großen Einfluss auf das Formempfinden der Gegenwart hat der
Minimalismus ausgeübt. Sein Ursprung ist schon im Reduktionismus der
frühen Moderne zu sehen, als es um die Überwindung des sinnentleer-
ten Eklektizismus ging, um das Verdikt ‚Ornament ist Verbrechen’, in der
Architektur zum Beispiel durch das Bauhaus. Aber es ging nicht nur um
Reduktion. Gottfried Boehm, der einen sehr fundierten Überblick der mo-
dernen Malerei gibt, verweist darauf,
daß die Bildideen, die zu Beginn dieses Jahrhunderts entstanden – so
radikal ikonoklastisch und so reduktionistisch sie auch waren – nie-
mals einem Erkenntnisinteresse, einem bildnerischen Denken abge-

Systeminterferenzen in der Gartenkunst  343


schworen hatten. Malewitschs suprematistische Bilder, Kandinskys
abstrakt-expressive Werke ... Mondrians Kompositionen der dreißiger
Jahre, auch noch Ad Reinhards letzten, die schwarzen Bilder, die Werke
Pollocks, Newmans, Rothkos u.v.a., ihnen allen geht es um eine souve-
räne Deutung der Welt. Souverän deshalb, weil sie keineswegs darum
bemüht ist, unser zivilisatorisches Alltagswissen oder dasjenige der
Wissenschaften zu bestätigen, sondern in der Malerei gründende, z.
T. paradoxe Auslegungen, vieldeutige Metaphern der Wirklichkeit zu
geben. Bei allen genannten Malern lässt sich dies bis ins Detail nach-
weisen, jedenfalls dann, wenn man die Bilder nicht auf ihre formalen
Aspekte reduziert. 407
Das gilt auch für die autonomen Kunstwerke, die man speziell dem
Minimalismus zuordnet, wenn auch mit ihnen die Formreduktion am weite-
sten getrieben wird. Sie
besitzen ein auf elementare stereometrische Gestaltung reduziertes
Formenvokabular. Die einzelnen Einheiten eines Werkes gliedern sich
in einfache arithmetrischen Teilungen und Reihungen. Dabei ist kein
Element einem anderen über- oder untergeordnet. Die ... Kriterien der
Komposition und Hierarchisierung werden ... radikal aufgegeben. ...
Inhaltlich verzichten [sie] auf jede Verweisfunktion, ... sie sind auto-
nom und definieren sich ausschließlich durch ihr formales Verhältnis
zum umgebenden Raum.“ 408
Einer der Hauptvertreter des Minimals war Donald Judd, (wenn er sich auch
stets gegen diese Vereinnahmung gewehrt hat.) Eines seiner Hauptmotive
war die Vermeidung jeglicher Illusion, die in der Malerei vorherrschte, zum
Beispiel die räumliche Darstellung im Tafelbild. So kam er zur Entwicklung

407  Boehm, (1987), 226f.


408  Elger, (2000), 15f.

344  Gartenkunst und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft.


seiner dreidimensionalen Installationen. „Die Einfachheit der Formen [be-
nutzte er,] um Farbe im Raum zu artikulieren, ohne daß dies durch komple-
xe Formen abgelenkt würde.“ 409 Auf seine Raumkonzeption habe ich bereits
im ersten Kapitel hingewiesen als Beispiel einer ‚Form der Unterscheidung’
in der bildenden Kunst. „Judd gelingt es, im Sehakt Innen und Außen, Farbe
und Form so voneinander zu trennen, daß sie sich jeweils selbst behaupten,
zugleich aber in einem übergeordneten Ganzen erfahren werden.“ 410 Eine
‚Form der Unterscheidung’!
Carl Andre geht noch einen Schritt weiter in dem Verhältnis zwischen Objekt
und Rezipient. „Er entkörpert die Skulptur, ohne sie aufzugeben, bis zum
schieren Bodenbelag. Dabei gibt er seiner Arbeit eine soziale ... Begründung:
Das standardisierte Material soll für alle käuflich, die Plastik für alle ausführ-
bar sein.“ Das gilt auch für seine Objekte aus sägerauen Holzbalken, die in
viele identische Stücke zerteilt und in streng orthogonalen Formen ausgelegt
oder gestapelt sind. Andre hat Plastiken geschaffen „als ‚Ort’ und ‚Weg’, als
Operationsfeld, das zur Begehung und Erschließung herausfordert.“ 411
Wenn man einen Grundzug in der Entwicklung der modernen Kunst sucht,
dann ist es das Ausloten der Darstellungs- und Wahrnehmungsmöglichkeiten,
oftmals bis zu extremen Positionen. Extrem war auch manche Formreduktion
der „Minimalisten, die ausschließlich auf die Definition von Raumverhältnissen
ausgerichtet waren und sich jede darüber hinausgehende Reflexion verba-
ten.“ 412 Das ist aber keineswegs negativ zu sehen; denn gerade die Extreme in
der Kunst, van Gogh, Picasso, Malewitch und auch die Minimalisten haben
zu neuen Sichtweisen und zu Bewusstseinsänderungen geführt. Andererseits

409  Ebd.
410  Honisch, (1996), 157.
411  Schneckenburger, (1998), 528f.
412  Romain, (1990), 20.

Systeminterferenzen in der Gartenkunst  345


markieren aber Extreme oft das Ende einer Entwicklungsrichtung. Nach
Gottfried Boehm
[sagte] die tautologische Identitätsformel minimalistischer Objekte ...
vor allem ein „Ist“ aus, das ohne Subjekt und ohne Inhalt blieb. „What
you see is what you see“, wie es Stella 1964 formulierte. Wichtig zu se-
hen, daß in ihrer eigenen Konsequenz eine Kunst nach der radikalsten
Reduktion im Grunde gar nicht denkbar war. Minimal- und Konzept-
Kunst definierten sich als ein Finalstadium, bereiteten auf diesem
Wege die Postmoderne indirekt mit vor. 413
Die Finalität deutete sich schon in einigen Werken an. So bei den
Betonskulpturen Judds, die nicht mehr die subtilen Raumverhältnisse ver-
körpern, sondern eher an nicht fertig gewordenen Munitionsbunker oder
Garagen erinnern. Sie leiten über zum System Architektur; (Judd wollte ur-
sprünglich Architekt werden.) Völlig verlässt er das System bildende Kunst
mit seinen Möbelentwürfen, die zwar ‚minimalistisch’ geformt sind, die aber
ihre Funktion nicht erfüllen; auf den Stühlen möchte man keine fünf Minuten
sitzen. Sie sind ein typisches Beispiel einer Interferenz zweier Systeme, der bil-
denden Kunst und des Möbeldesigns.
Die Werke Carl Andres tendieren zur Gebrauchskunst, was die Kehrseite ih-
res sozialen Aspektes ist. Ihre Faszination liegt aber in ihrer Einfachheit und
selbstverständlichen Präsenz. Vor allem: sie sind autonom, ohne Funktion.
Und das gilt im gleichen Sinne für die meisten Werke des Minimalismus.
Donald Judd und andere haben sich denn auch wiederholt auf die
Gestaltpsychologie berufen, um die einfachen Formen zu begründen.414

413  Boehm, (1987), 225.


414  Schneckenburger, (1998), 525.

346  Gartenkunst und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft.


Das erklärt wohl auch den enormen Einfluss, den der Minimalismus auf
die Formgebung in unserer Alltagswelt hatte und hat, zum Beispiel auf die
Mode. So las man in einem Schweizer Modemagazin:
Minimalismus ist das große Wort der 90ger Jahre, in den USA repräsen-
tiert von Calvin Klein ... In Deutschland ist es Jil Sander, die eine pure,
auf sich selbst konzentrierte durchdachte Mode entwirft. Luxuriöse
Zweckmode, die im Leben funktioniert. Einfache Silhouetten, die sich
auf eine Recherche des Materials konzentriert. Kein Schmuck keine
Verzierungen, alles ist konzentriert auf das Wesentliche. 415
Ich zitiere dies, um auf den Unterschied zwischen Kunst und Mode hinzu-
weisen. Ich sehe in der Kunst als eines ihrer Wesenszüge die Erweiterung
der Wahrnehmungsfähigkeit. Die Verwendung minimalistischer Formen
in der Mode ist dagegen Ausdruck eines vorübergehenden Lebensgefühls.
Inzwischen sind schon andere, gegensätzliche Wellen über die Modewelt
hinweggegangen. Deshalb besteht keine Interferenz zwischen den Systemen
Kunst und Mode; Die Verwendung von Elementen fremder Medien und
Formen ist der Mode systemimmanent. Das gilt auch allgemein für das
Design von Gebrauchsgegenständen.
Sicherlich ist auch die Gartenkunst, wie die Architektur, nicht frei von
modischen Einflüssen. Das gilt besonders für ephemere Werke, wie die
Dekorationen in Ausstellungen wie die Chelsea Flower Show. Auffällig ist,
dass immer öfter von ‚Garten-Design’ gesprochen wird. Das Modische
nimmt immer mehr überhand.
Aber eine Betrachtung, die sich mit der Gartenkunst befasst, muss klären,
was zu deren Grundprinzipien gehört oder was nur modische Einflüsse sind.
Erkennbare Grundprinzipien können dann eventuell zur Definition eines
Stils führen. In der Vergangenheit, im Barock und im Landschaftsstil war

415  Bolero, Das Schweizer Magazin, Nr. 1/2, 2001.

Systeminterferenzen in der Gartenkunst  347


das stilbestimmende Prinzip, wie gesagt, das jeweilige Naturverhältnis der
Menschen. Unter dieser Prämisse ist der Einfluss des Minimalismus auf die
moderne Gartenkunst zu untersuchen.
Als Protagonistin dieser Richtung hat sich Gabriele Kiefer in einem Essay
mit diesen Fragen befasst.416 Auch sie geht von Unterscheidungen aus, vom
„dialektischen Prinzip.“ (Ihr Bezug auf die „coincidentia oppositorum“ ist al-
lerdings fragwürdig, denn Cusanus, von dem dieser Begriff stammt, sah die
Gegensätze nur in der Unendlichkeit, in Gott aufgelöst, und das ist reine
Metaphysik.) Als Entgegensetzung sieht sie die „Reizüberflutung“ im öf-
fentlichen Raum einerseits, gegen die „einschläfernde Einfallslosigkeit“ in
den Produkten des „revolutionär-öko-soziologischen Elans andererseits.“
- Zunächst rätselhaft ist ihr Begriff „Urbane Natur“, denn sie sagt nicht,
wovon sie ihn unterscheidet. Der Satz: „Eine Gestaltung, die sich der städ-
tischen Natur widersetzt, bleibt eindimensional und lebensfeindlich“ gibt
keine Aufklärung. Klar ist nur die Aussage, dass ein Freiraum nur versteh-
bar sei, „wenn er sich als charakteristische Einheit der Stadt begreift und da-
durch selbst urbane Natur – in Wesen und Gestalt - wird.“ (Hvh. A.S.) Die
Unterscheidung ist also offensichtlich die zwischen städtischer und nicht-
städtischer Natur. Was das „Wesen“ dieser unterschiedenen Naturen sei,
bleibt offen. Für mich erhebt sich die Frage, wie dieses Denkmodell in der
Realität der fraktal strukturierten Zwischenstadt funktionieren soll; wo hört
die Stadt auf, wo beginnt die nicht-städtische Natur? – Sehr fragwürdig ist
ihre Auffassung von der Gartenkunst als „Gegenwelt,“ als eine „Welt, die im
Kontrast zum Alltag steht.“ Das mag für die Vergangenheit gelten; vielleicht
noch für die Zeit der Volksparkbewegung. Als Modell für die Zukunft ist
diese Auffassung nicht geeignet. Sie steht im absoluten Gegensatz zu der
Idee der „Cultura“ Thomas Sieverts´ (Siehe Anm. 197), beziehungsweise zu
der Idee der „Welt als Garten.“

416  Kiefer, (1997), 48f.

348  Gartenkunst und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft.


Kiefer kommt schließlich – dialektisch gesehen – von der Reizüberflutung
(These) und der „öko-soziologischen“ Langeweile (Antithese) zur Synthese,
zur „Reduktion als Grundprinzip.“
Eine Gegenwelt zur heutigen, alltäglichen Reizüberflutung zu schaffen,
kann nur auf Reduktion als Grundprinzip basieren. ... Die Beschränkung
auf wenige Elemente und die nicht-naturalistische Funktion von
Leere bietet dem Nutzer permutative Wahlfreiheit an interpretato-
rischen Möglichkeiten. In der Stadt unterstützt ein minimalistischer
Freiraum durch seine demonstrative Zurückhaltung und Stille die per-
sönliche Gedankenfreiheit. 417 (Hvh. A.S.)
Von der bildenden Kunst des Minimalismus übernimmt sie die „repetiti-
ven Strukturen,“ die wir zum Beispiel von Donald Judd kennen. Sie nennt
das auch „serielle Landschaftsarchitektur ... die das Gestaltungsprinzip ihrer
Teile auf eine Formel bringt und somit größtmöglichen Zusammenhang
schafft.“ Durch diese Formel wird jedoch „jede Einzelheit der Komposition
fest[gelegt],“ so dass „während des Entwurfsablaufs, der sozusagen ‚compu-
terartig’ vorprogrammiert ist, kein[ ] willkürliche[r] Einfluß mehr“ genom-
men werden kann. Allerdings sind diese „Prinzipien der Gestaltordnung ...
für den nicht Eingeweihten aufgrund ihrer Vielschichtigkeit nicht erkennbar.“
Unter dem Gesichtspunkt ‚Medium und Form’ zeigt sich ganz klar, dass die-
se Gestaltungsrichtung nur darin besteht, die Elemente des Minimalismus zu
übernehmen. Bei den Künstlern des Minimalismus, wie Judd, Sol Lewitt und
anderen war die Formreduktion die Voraussetzung für die eigentlichen künst-
lerischen Intentionen, wie die abstrakte Darstellung der Raumverhältnisse
und Farbwirkung. Dem System Gartenkunst wird diese Abstraktion nicht
gerecht.

417  Ebd.

Systeminterferenzen in der Gartenkunst  349


Die Stadträume werden in erster Linie durch Architektur bestimmt. Der
Gedanke, dass reine Leere „Gedankenfreiheit“ verspricht, ist nicht nach-
vollziehbar. Die Erfahrung zeigt, dass solche Räume eher gemieden wer-
den, wenn es sich nicht um Verkehrsflächen handelt, wie zum Beispiel
Bahnhofsvorplätze.
Das gilt auch allgemein für minimalistische Grünanlagen. Leider ist bisher noch
niemand auf den Gedanken gekommen, die Frequentierung von Anlagen
im Hinblick auf ihre Gestaltung zu untersuchen. Ich habe zum Beispiel das
Gelände der Gartenschau in Wismar, dessen Gestaltungsform man als mi-
nimalistisch bezeichnen kann, während der Ausstellung und in den Jahren
danach mehrfach besucht und musste feststellen, dass die Besucherzahl bei
vorbildlichem Pflegezustand der Anlagen bei bestem Wetter immer erstaun-
lich gering war. Ich konnte das immer leicht feststellen, weil das Gelände vom
erhöhten Eingangsbereich aus mit einem Blick überschaubar ist. - Mir ist klar,
dass die Frequentierung einer Anlage von mehreren Faktoren abhängt, zum
Beispiel von der Nähe zu dicht besiedelten Gebieten. Eine Untersuchung die-
ser Art müsste auch dies berücksichtigen.

350  Gartenkunst und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft.


Abb. 7/25 Buga Wismar, „minimale“ Besucherfrequenz an einem sonnigen
Nachmittag
Eine problematische Interferenz besteht auch darin, sich eins zu eins dem
Formenvokabular der Architektur zu unterwerfen. Dabei geht jegliche
Spannung verloren, von der zum Beispiel die Gartenkunst des Barocks lebte.

Abb. 7/26 Bundesministerium für Arbeit, Berlin


Der Tenor dieser gegenwärtig vorherrschenden Richtung in der Gartenkunst
ist die Distinktion von allem was als ‚Naturalismus’ angesehen wird. Das
gilt nicht nur für minimalistische Lösungen, sondern für alle beschriebe-
nen Interferenzen zwischen Gartenkunst und bildender Kunst. Dass diese

Systeminterferenzen in der Gartenkunst  351


Richtung nicht zukunftsfähig ist, wird inzwischen zunehmend kritisch wahr-
genommen.
Ich gebe einige entsprechende Meinungen wieder. So urteilt Thies Schröder:
Wo ... der Naturverweis negiert und allein die Freiheit der Kunst betont
wird, entledigt sich die Landschaftsarchitektur oftmals ihrer ursprüng-
lichen Bedeutung, nämlich der Hinterfragung des Mensch-Natur-
Verhältnisses. Es bleibt ein eklektizistisches, modisches und meist we-
nig kraftvolles Sammelsurium von Assoziationen, statt „Landschaft“ in
ihrer Mehrdeutigkeit entsteht Förmchenspielerei.418
Stefan Tischer untersucht die Rolle des Nutzers und meint:
Unter dem Vorwand, nichts vorgeben, nichts dekorieren, nichts aus-
statten zu wollen, wird ausschließlich derjenige als künftiger Nutzer
gesehen, der im minimalistischen Raum agiert, ihn belebt und so im
ästhetischen Sinn zum Gestaltungselement wird. Tragisch ist dies des-
halb, weil einerseits völlig die eigenen Wurzeln verkannt werden, die
... traditionell stark im Dekorativen liegen; andererseits wird bei allem
Glauben an Virtualität und eigene Motivationskraft die Fähigkeit po-
tenzieller Akteure völlig verkannt, die zunehmend Stimulanzien für die
Aktion brauchen. Diese können gerade im öffentlichen Raum nicht
ausschließlich im bebauten Umfeld liegen, in der bloßen Hoffnung,
dieses strahle genügend auf den Freiraum aus. 419
Ich unterstelle, dass Tischer mit „Dekorativen“ das Gleiche meint, was ich im
3. Kapitel, ‚Funktion und Gestaltung’, als Ornament zusammengefasst habe.
– Ganz auf meiner Linie der Systemreferenz liegt Sven-Ingvar Anderson,
wenn er sagt:

418  Schröder, (1997), 37.


419  Tischer, (2000), 71f.

352  Gartenkunst und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft.


[Es gibt] immer eine Beziehung zwischen den unterschiedlichen
Künsten. Gartenkunst zählt ... zu den bildenden Künsten. Sie sollte aber
nicht versuchen, andere Künste zu imitieren. Genau das geschieht zur
Zeit: Man versucht um jeden Preis, künstlerisch zu arbeiten, versucht
sich an Installationen, am Minimalismus oder ähnlichem. Ich halte das
für ausgesprochen falsch. ... Wenn Gartenkünstler ihren Zugang zur
Kunst über eine andere Kunst finden, dann geht ihnen etwas verlo-
ren.420
Und Umberto Eco spricht von einer
Dialektik zwischen Erfindung und Manier, die in der Geschichte
der Kunst schon immer auftrat, wenn ein Künstler eine neue for-
male Möglichkeit, die eine tiefgehende Veränderung der Fühlweise
und des Weltbildes implizierte, „erfand“ und sogleich ein Heer von
Nachahmern diese Form, ohne die Implikationen zu erfassen, als leere
Form verwendete. 421
Eine „tiefgründige Beschreibung und damit eine kritische Auseinandersetzung
mit Landschaft“ durch „poetisches Zeichnen“ übernehme ich von Catharine
Dee. Sie gründet ihre Kritik auf eine wenig geläufige Betrachtungsweise, die
innere Beziehung zwischen Wahrnehmung, Zeichnen und Gestalten. Dass
Zeichentechnik Gestaltungsformen beeinflusst, ist evident. Die alte Technik
mit Reißbrett, Reißschiene und Winkel förderte offensichtlich eine orthogo-
nale Gestaltung, wenn auch meist unbewusst. Etwas mehr Freiheit brachte
die Zeichenmaschine, die den „120° Stil“ begünstigte. Und die Bedeutung
des Computers für den Entwurf haben wir oben bei Gabriele Kiefer gesehen.
– Catharine Dee entwickelt eine subtile Theorie des Zeichnens, die jeder

420  Anderson, (1999), 162.


421  Eco, (1998), 267.

Systeminterferenzen in der Gartenkunst  353


Gartenkünstler verinnerlichen sollte; ich kann sie nur in ganz groben Zügen
wiedergeben.
Es geht um die „poetische Zeichnung“, die als „dichte“ oder „dünne
Beschreibung“ entstehen kann. „Die dünne Beschreibung stellt wenig mehr als
die oberflächliche Erscheinung dar und ignoriert dabei die Bedeutungsebene.
Dünne Landschaftsbeschreibungen entstehen auf unkritische Art (wenn
zum Beispiel einfach graphische Stilmittel kopiert werden).“ - Ein weiterer
Begriff ist das „wohnende Zeichnen“, eine „zeichnerische Interaktion über ei-
nen längeren Zeitraum.“ 422 Darin „drückt sich Prozesshaftigkeit, Einfühlung
und körperlicher Kontakt mit dem Ort aus.“ – Die „Öko-Zeichnung“ ist die
„Darstellung der Landschaft als etwas Vernetztes, in dem es wimmelt, flie-
ßend im Lebendigen. Wie die Arbeiten von Jackson Pollock, so konzentrieren
sich auch diese Zeichnungen auf die Vernetzungen, auf das Verwobene, auf
die Struktur als Ganzes, statt auf einzelne isolierte Landschaftsformen.“ – „Das
körperliche Zeichnen“ ist eine Art, „die sich den Sinnen, ... dem Versteckten
und dem Unmittelbaren widmet.“ ...
Diese Zeichnungen verkörpern die Gleichzeitigkeit und Synästhesie
der Landschaftserfahrung. Sie sind phänomenologisch. Das kör-
perliche Zeichnen sträubt sich gegen die Verwendung distanzier-
ter, panoptischer , orts- ungebundener, klinischer und minimalisti-
scher Darstellungen, die schon seit langem unsere Visualisierung von
Landschaft ... bestimmen. Diese Darstellungen haben schon immer,
das Körperliche und das menschliche Wohlbefinden, das Unsichtbare
in der Landschaft, ignoriert. Die Eleganz einer minimalistischen
Darstellung kann zur Tortur des Körpers werden und uns dazu verlei-
ten, Orte zu gestalten, die nicht mehr dem Wohlbefinden dienen. 423

422  Das erinnert an Heideggers Begriff des „Wohnens“, auf den ich noch
zu sprechen komme.
423  Dee, (2004), 58ff.

354  Gartenkunst und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft.


Das soll natürlich nicht heißen, dass Gartenkünstler nur mit dem 6B-Bleistift
entwerfen dürfen; es genügt, wenn sie sich des Einflusses des jeweiligen
Darstellungsmittels bewusst sind und die Plangraphik nicht für das eigentli-
che Artefakt halten.
An den Schluss dieser Betrachtung stelle ich ein Zitat Gottfried Boehms, das
leider auch auf viele der beschriebenen Interferenzen zutrifft:
Die mögliche Verwechselbarkeit zwischen formulierten und intendier-
ten Gefühlen lässt einen bekannten und selten gebetenen Begleiter
der Moderne am Horizont auftauchen: den Kitsch ... die natürliche
Nachhut der Avantgarden. Er triumphiert, wo das Gemeinte und der
Effekt sich gefühlvoll über mögliches Gelingen erheben. 424
Ein Mittel gegen diese Interferenzen in der Gartenkunst wäre das Eindringen
in das Wesen der modernen Kunst. Das müsste schon im Lehrplan der
Universität stärker vertreten sein. Wer sich nur an der Oberfläche dieses
Lebensbereiches bewegt, läuft als Gartenkünstler immer Gefahr, oberflächli-
che Formen als Kunst anzusehen.
Nach diesen vielfältigen Analysen der Gartenkunst, ihrer geschichtlichen
Entwicklung, ihres Verhältnisses zur Gesellschaft, zu den anderen Künsten,
ihrer Funktion und den Bedingungen ihrer Wahrnehmung usw. will ich jetzt
Möglichkeiten einer künftigen Entwicklung nachgehen: der Welt als Garten.

424  Boehm, (1987), 236f.

Systeminterferenzen in der Gartenkunst  355


Kapitel 8 Die Welt als Garten

8.1 Eine Begriffsbestimmung


Anlässlich der Expo 2000, die unter dem Motto „Mensch – Natur – Technik“
stand, kreierte der Bund deutscher Landschaftsarchitekten ein Leitthema:
„Die Welt als Garten“, das auf eine Welt verweisen sollte, „in der der Mensch
schonend und nachhaltig mit der Natur umgeht.“
Mit dem Begriff ‚Garten’ ist nicht nur das Stück Erde am Haus gemeint.
Auch die Welt unterliegt wie ein Garten den Naturkreisläufen. ... Im
Garten kann der Mensch Natur erleben, Naturerkenntnisse und -ver-
ständnis gewinnen, Natur gestalten. Ein Garten schafft Lebensräume
für Tiere und Pflanzen, gleichzeitig dient er den wirtschaftlichen
Interessen der Menschen. Der Garten liefert damit ein Bild für den
Umgang mit Natur und Landschaft, er steht für die Harmonie von
Umwelt und Kultur, für den Verbund von Mensch und Natur. 425
Auf den ersten Blick kann der Eindruck entstehen, der Begriff „Garten“
stände hier nur als Metapher für ein ökologisches Bekenntnis. Es steckt
aber mehr dahinter, was die Worte „Natur gestalten“ und „Harmonie von
Umwelt und Kultur“ ausdrücken. Es geht um ein Denken, in dem Ökologie
und Gartenkunst keine Gegensätze sind, sondern sich gegenseitig bedingen.
Einfach ausgedrückt heißt das, dass wir die ganze Welt hegen und pflegen
müssen, ganz gleich, ob es sich um einen Rübenacker, ein Naturschutzgebiet,
um einen Stadtpark oder eine Blumenwiese, um die Regenwälder oder die
afrikanischen Savannen handelt.
Und nach dem Leitsatz, „dass wir keine Bezeichnung vornehmen können,
ohne eine Unterscheidung zu treffen,“ unterscheide ich den „Garten“ von

425  Jahresheft des BDLA 1993 (?) 62f.

356  Die Welt als Garten


der „Wüste“; dabei denke ich weniger an die Sahara und die Wüste Gobi,
sondern an die Verwüstungen, die der Mensch seit der Antike bis heute zu
verantworten hat.
Ich betone nochmals, dass diese säkulare Aufgabe nicht allein wissenschaft-
lich zu lösen ist, sondern auch künstlerisch unter einem umfassenden Begriff
der Naturschönheit. So wie die Gartenkunst immer Ausdruck des jeweiligen
Naturverhältnisses war, muss auch heute unsere Auffassung von Natur –
bestimmt durch das Zusammenwirken von physis und techne und Tun und
Lassen – Grundlage der Gartenkunst sein.
Auf die Profession hat sich diese Idee bisher aber kaum ausgewirkt. Sie hat
die Spaltung in Ökologie und Gartenkunst noch nicht überwunden, wie ich
in meinen bisherigen Ausführungen nachgewiesen habe. Um die Ursache
hierfür zu ergründen, muss deshalb die Entwicklung und Bedeutung des
Begriffes „Garten“ erhellt werden. Ist er überhaupt mit der „Welt“ in einen
Zusammenhang zu bringen?
Ich gehe, wie schon mehrfach in meinen Erörterungen, auf den fiktiven
Begriff des „Urgartens“ zurück: Seine Entstehung beruhte auf der Entdeckung,
dass Kräuter sich besser entwickelten, wenn man sie in gelockerten Boden
pflanzte oder säte. Um das zu praktizieren, mussten die Menschen sesshaft
werden und sich feste Unterkünfte schaffen. Um die kultivierten Pflanzen
vor Wildverbiss zu schützen, mussten die Beete eingefriedet werden. So
entstand der Urgarten. Eine wichtige Erfindung hierfür war der Zaun, der
aus Weiden-„gerten“ geflochten wurde. Diese Bauweise diente aber nicht
nur zur Einfriedigung des Gartens, sondern aus den „gewundenen“ Weiden
wurden auch die „Wände“ der Häuser hergestellt. Diese etymologischen
Zusammenhänge sind seit langem Gegenstand der Gartentheorie.
Die Technik der geflochtenen Wände ist so faszinierend, dass sie von
Ökofreaks noch heute ausgeübt wird. Später wurden sie dann durch Mauern

Eine Begriffsbestimmung   357


oder Hecken ersetzt. Die Einfriedigung wird nach wie vor mit dem Wesen
des Gartens in Verbindung gebracht. - In Deutschland ist dies übrigens be-
sonders ausgeprägt: Wenn ein Einfamilienhaus fertig gestellt ist, wird als er-
stes ein Gartenzaun errichtet, aber nicht nur als Schutz gegen wilde Tiere,
sondern als Manifestierung des Eigentums. In Amerika, wo die Rinderherden
sich in der Prärie frei bewegen konnten, sind Gartenzäune weniger üblich.
Das Symbol für den eingefriedeten Garten ist der Hortus conclusus, in dem
der ursprüngliche Zweck des Gartens, Nahrungspflanzen zu schützen, zu-
rück tritt. Er wird in Dichtung und künstlerischer Darstellung zum Raum der
Kontemplation und damit zur „Gegenwelt“, mit der allerlei Phantasien und
„Wunschbilder“ verbunden sind. Übereinstimmung mit dem Urgarten be-
steht nur darin, dass auch in ihm die „wilde Natur“ ausgeschlossen ist.
Mit der Ausbreitung des Ackerbaus veränderte sich das Bild. Auf gleicher
Fläche konnten immer mehr Menschen ernährt werden. Durch verbesser-
te Jagdmethoden wurde der Wildbestand dezimiert. Die Äcker brauch-
ten nicht mehr eingefriedet zu werden. Die Kulturtechnik: Lockerung des
Bodens, physis und techne, war die gleiche. Es entstand die Gefildelandschaft.
In dieser entwickelte sich dann die Idee des Landschaftsgartens, dessen
Wesensmerkmal der zaunlose Übergang zur freien Landschaft ist. Dies war
der erste Schritt zu der ‚Welt als Garten’.
Dieser Rückblick auf den Urgarten zeigt, dass die Einfriedigung das Sekundäre
war. Primär geht es um die Kultivierung der Nutzpflanzen; und so können
wir weiter vom Garten sprechen, auch wenn die Zäune fehlen. Der Hortus
conklusus ist ein Relikt, das nur noch in der Konvention von Literatur und
Kunst am Leben erhalten wird. Er ist aber die Ursache für die Spaltung der
Profession in Kunst und Ökologie: Gartenkunst, wie sie von der heutigen
‚Avantgarde’ verstanden wird, schließt sich ab gegen die ‚Welt’ der Ökologie.
Symbolisch gesprochen, müssen wir also den ‚Gartenzaun’ in den Köpfen
beseitigen, um zu einer ‚Welt als Garten’ zu kommen. Um es auf den Punkt

358  Die Welt als Garten


zu bringen: Die Ansicht, „der Garten [sei] das komprimierte Wunschbild der
Welt, ... die Sehnsucht nach dem Paradies, ... der letzte Luxus unserer Tage“
426
ist irreführend. Ich setze dagegen: Der Garten der Welt gehört wie die
Wohnung zu den Grundbedürfnissen der Menschen.
Die Idee, die Welt als Garten zu sehen, wird trotzdem immer in der Gefahr
sein, missverstanden zu werden. Es ist deshalb zu überlegen, welche prakti-
schen und geistigen Voraussetzungen dieser Idee zugrunde zu legen sind.
Man muss sich von verschiedenen Seiten an diese Frage herantasten, um
schließlich dieses Symbol mit Inhalt zu füllen. Wichtige Methoden meiner
bisherigen Überlegungen waren die Form der Unterscheidung nach Spencer-
Brown und Luhmanns Systemtheorie. Deshalb erhebt sich die Frage:

8.2 Ist die ‚Welt als Garten’ ein System?


Zunächst ist zu fragen, welche Unterscheidung gibt es zu diesem Begriff?
Dazu brauche ich eine Definition: Die ‚Welt als Garten’ ist das Ergebnis der
menschlichen Einwirkung (techne) auf die Natur (physis) zur Erhaltung
der Lebensgrundlage. Als Seiten der Unterscheidung sehe ich die ‚Welt der
Wirtschaft’, die die Verteilung der Ressourcen steuert und die ‚Welt der
Politik’, die das Zusammenleben der Menschen regelt. Somit ist leicht er-
kennbar, dass die ‚Welt als Garten’ die wichtigste Überlebensgrundlage ist,
denn ohne die Produktion von Nahrungsmitteln hat die Wirtschaft nichts
zu verteilen und ist ein friedliches Zusammenleben nicht denkbar.
Schwieriger ist die Frage, ob und wie die Welt als Garten als ein System im
Sinne Luhmanns zu sehen ist. Dazu wäre ein Code zu finden, unter dem alle
Kommunikation über den Begriff zusammen zu fassen ist. Nach dem bis-
her Gesagten könnte die „Sicherung der Lebensgrundlagen“ ein Code sein.
Festzustellen ist aber, dass die Sorge um die Erhaltung der Lebensgrundlagen

426  Weilacher, (2005), 14.

Ist die ‚Welt als Garten’ ein System?  359


bisher zu einer bedenkenlosen Ausbeutung der Naturressourcen ge-
führt hat. Dies wird von vielen als Anthropozentrismus gebrandmarkt.
Inzwischen setzt sich aber die Auffassung durch, dass der anstatt dessen
geforderte Physiozentrismus letztlich auch nur eine besondere Form des
Anthropozentrismus ist. Wir wollen eben die Welt nicht ohne Menschen den-
ken. Deshalb gehört zu dem Code als wichtiges Kriterium die Nachhaltigkeit.
Ich wähle deshalb den zweiwertigen Code:

Neben diesem Code wären sicher auch viele Programme zu benennen,


nach denen in diesem System operiert werden kann und somit wären zwei
Kriterien, die zu einer Systembildung nach Luhmann gehören, benannt. Aber
die wichtigsten Kriterien fehlen: die Selbstreferentialität, die Autopoiese und
die Geschlossenheit. Die Welt als Garten erzeugt sich nicht selbst, und sie
muss offen sein für alle Belange der Gesellschaft. So können wir sie also nur
bedingt als ein System betrachten; besser ist es wohl, anstatt dessen von
einer Idee zu sprechen.
Die Vielzahl der ‚Programme’ weist darauf hin, dass es sich dabei um ein sehr
komplexes Thema handelt. Schon die Frage, was zu den Lebensgrundlagen
gehört, ist kompliziert. Es geht nicht nur um die Ernährung, was schon
schwierig genug zu beantworten ist, es geht zum Beispiel auch um seelische
Befindlichkeiten, soweit diese durch das Verhältnis zur Natur beeinflusst sind.
Im Grunde sind alle bisher von mir beschriebenen Probleme, Gesichtspunkte
und Unterscheidungen in irgendeiner Weise programmatisch unter diesem
Code einzuordnen. Zur Vergegenwärtigung zähle ich einige Punkte auf:

360  Die Welt als Garten


• Gartenkunst als Symbol unseres Naturverhältnisses
• Gartendenkmalschutz
• Ökologie und Planungswissenschaft
• Artenschutz und Konservierung alter Kulturlandschaft
• Konventionelle und industrielle Landwirtschaft
• Energiegewinnung aus organischen Stoffen
• Nachwachsende Rohstoffe
Es ist deutlich, dass es sich bei diesen Themen nach bisherigem Verständnis
um mehr oder weniger geschlossene, selbstreferentielle Systeme handelt.
Gartenkunst, Ökologie und Naturschutz operieren, wie ich gezeigt habe,
jeweils unter einem eigenen Code. Ihre Inkommensurabilität ist mehr-
fach beschrieben worden, zum Beispiel von Ulrich Eisel (1997). In diesen
Systemen herrscht ein eigenartiger Zwang, der die Kommunikation unter-
einander - die strukturelle Kopplung - erschwert oder verhindert. Es ist aber
evident, dass diese Systeme zu der übergeordneten Idee ‚Welt als Garten’
gehören. Die Voraussetzung für ihre Einordnung ist deshalb, dass ihre Codes
aufgelöst werden. Aus den geschlossenen Systemen werden dann wichtige
Grundlagen der ‚Welt als Garten’. Das hört sich zwar einfach an, setzt aber
tatsächlich ein grundlegendes Umdenken voraus. Wenn ich zum Beispiel im
System Naturschutz, also in der Kommunikation über Natur, den zweiwer-
tigen Code wertvoll / wertlos auflöse indem ich nachweise, dass es keine
‚wertlose’ Natur gibt, dann bricht das System Naturschutz zusammen und
muss als Aufgabe in der ‚Welt als Garten’ neu konzipiert werden. Dazu kom-
me ich noch.
Im Prinzip haben sich schon Luhmann und Habermas mit diesem Problem
im weitesten Sinne auseinandergesetzt; Habermas in seiner Diskursethik

Ist die ‚Welt als Garten’ ein System?  361


mit dem Ideal einer ‚herrschaftsfreien Kommunikation’. Ich bin aber auf
einen Denker aufmerksam geworden, der eine für mich sehr einleuchten-
de Theorie und Denkmethode entwickelt, der sich vor allem gegen das
Überhandnehmen des wissenschaftlichen Denkens wendet und für eine
Annäherung der Wissenschaften an die Künste eintritt. Es ist der Philosoph
Paul Feyerabend.
Der spricht nicht nur eine für Philosophen ungewöhnliche Sprache, sondern
er liebt es auch, zu provozieren. So ist seine Äußerung zu sehen:
Der Gedanke einer festgelegten Methode oder einer feststehenden
Theorie der Vernünftigkeit [beruht] auf einer allzu naiven Anschauung
vom Menschen und seinen sozialen Verhältnissen. Wer sich dem rei-
chen, von der Geschichte gelieferten Material zuwendet und es nicht
darauf abgesehen hat, es zu verdünnen, um seine ... Sucht nach geisti-
ger Sicherheit in Form von Klarheit, Präzision, „Objektivität“, „Wahrheit“
[zu befriedigen], der wird einsehen, daß es nur einen Grundsatz gibt,
der sich unter allen Umständen und in allen Stadien der menschlichen
Entwicklung vertreten lässt. Es ist der Grundsatz: Anything goes.427
Wegen dieses Grundsatzes ist Feyerabend oft kritisiert worden, von Leuten,
die aber die darin enthaltene Ironie nicht erkannten. „Anything goes“ meint
„Alles“ und deshalb „Nichts“; es ist eine Leerformel.428 Feyerabend will da-
mit ausdrücken, dass es eben keinen Grundsatz gibt, der sich unter allen
Umständen vertreten lässt. Er vertritt keine Beliebigkeit, sondern sein
Grundsatz ist die Pluralität:
Eine einheitliche Meinung mag das Richtige sein für eine Kirche, für
die eingeschüchterten oder gierigen Opfer eines (alten oder neuen)
Mythos ... Für die objektive Erkenntnis brauchen wir viele verschie-

427  Feyerabend, (1986), 31f.


428  Paul Hoyningen-Huene in: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 216, 2000.

362  Die Welt als Garten


dene Ideen. Und eine Methode, die die Vielfalt fördert, ist auch als
einzige mit einer humanistischen Auffassung vereinbar.429
Feyerabend gründet seine Theorie auf umfangreiche wissenschaftshistori-
sche Untersuchungen und setzt sich auch kritisch mit der gegenwärtigen
Wissenschaftstheorie auseinander. Ihm ist deshalb auch der Vorwurf ge-
macht worden, ein wissenschaftlicher Anarchist zu sein. Das ist aber nur die
Folge seiner ungewöhnlichen Denkmethode, deren Problematik ihm durch-
aus bewusst ist:
Grundlegender theoretischer Wandel setzt ... neue Weltauffassungen
und neue Sprachen voraus, um sie auszudrücken. Nun ist der Aufbau
einer neuen Weltauffassung und einer entsprechenden neuen
Sprache etwas recht Langwieriges in der Wissenschaft und in der
Metawissenschaft. Die Begriffe der neuen Sprache klären sich erst,
wenn der Vorgang schon ziemlich weit fortgeschritten ist, derart, daß
jedes einzelne Wort Knotenpunkt zahlreicher Verbindungen zu an-
deren Wörtern, Sätzen, Gedankensplittern, Gesten ist, die zunächst
widersinnig wirken, aber sich als völlig vernünftig herausstellen, wenn
die Verbindungen begriffen werden. ... Man [muß] lernen, mit uner-
klärten Begriffen zu argumentieren und Sätze zu verwenden, für die
noch keine klaren Gebrauchsregeln vorhanden sind.430
Die Welt als ‚Garten’ zu sehen, ist sicher ein „grundlegender theoretischer
Wandel.“ Feyerabend macht klar, dass es hierfür kein Rezept gibt, sondern
dass nur eine langwierige Entwicklung zu diesem Ziel führen kann. Ich sehe
übrigens in der Auffassung, dass jedes Wort ein „Knotenpunkt“ ist, auch eine
Übereinstimmung mit Derrida, mit dessen „Bündel mit dem Charakter eines
Einflechtens, eines Webens, eines Überkreuzens“. (siehe Anm. 75)

429  Feyerabend, (1986), 54.


430  Ebd., 335.

Ist die ‚Welt als Garten’ ein System?  363


Wenn Feyerabend die „Sucht nach Klarheit und Präzision“ kritisiert, erinnert
mich das an das oben beschriebene System der „Wettbewerbs-Gartenkunst“.
So ist es auch folgerichtig, dass Feyerabend Wissenschaften und Kunst unter
den gleichen erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten beurteilt:
Weder die Künste noch die Wissenschaften kennen stabile
Randbedingungen, die die Tätigkeit ihrer Adepten ein für alle mal
einschränken und mit einer Autorität versehen, die hinausgeht
über die Autorität bloßer Meinungen; weder die Wissenschaften
noch die Künste können uns auf eine wissenschaftlich oder künst-
lerisch einwandfreie Weise sagen, wohin eine bestimmte Idee oder
Methode führen wird. Fachleute machen natürlich fortwährend sol-
che Voraussagungen, und zwar mit großer Bestimmtheit, aber die
Geschichte ihrer Fächer zeigt, daß sie sich nicht dabei an die tatsäch-
liche Prinzipien ihrer Fächer halten, sondern sie verwandeln diese
Prinzipien in politische Schlagworte oder Dogmen.431
Nach diesen Überlegungen und Erkenntnissen komme ich zu dem Schluss,
dass ich die ‚Welt als Garten’ sinnvoller weise nicht als System sehen kann.
Jedoch bleiben die Unterscheidungen, die ich behandelt habe – ‚physis /
techne’ und ‚Funktion / Form’ usw. – die Grundlage aller Operationen. Da
diese Unterscheidungen skaliert sind, muss immer der jeweilig optimale
Punkt auf der Skala bestimmt werden. Diese Frage ist das Kernproblem der
Gartenkunst. Bei Heidegger wird die Einheit (die Form der Unterscheidung)
„von Welt und Erde erstritten“.
Einen ähnlichen Ansatz finde ich bei Jean- Francois Lyotard.432 Seine Ideen
haben große Ähnlichkeit mit Luhmanns Systemtheorie, nur dass er sie nicht
von der Soziologie sondern von der Linguistik her entwickelt. An die Stelle

431  Feierabend, (1984), 10.


432  Lyotard, (1989).

364  Die Welt als Garten


von ‚System und Code’ treten bei ihm ‚Diskursart und Satzregelsystem’. Auch
hierbei gilt, dass zu einer Diskursart ein bestimmtes Satzregelsystem gehört.
Ändert sich dieses, dann ändert sich auch die Diskursart. Das Ganze sieht
Lyotard aber etwas ‚lockerer’ als Luhmann. Anstelle des starren Prinzips der
strukturellen Kopplung kann auch nach Lyotard ein Standpunkt zwischen
den Diskursarten und den Satzregelsystemen erstritten werden. Das ist
Lyotards Widerstreit.
Die Form der Unterscheidung: physis / techne kann ich also auch als zu zwei
Diskursarten gehörig betrachten. Sie gehören in unserer Lebenswelt untrenn-
bar zusammen und bleiben dennoch strikt unterschieden. Wie ich oben dar-
gestellt habe, kann physis überwiegen und techne der blinde Fleck sein. Das
ist der Diskurs über ‚Naturschutz’, und umgekehrt, wenn techne überwiegt,
der über ‚Eingriff’. Was nun im konkreten Fall überwiegen soll, ist zu „erstrei-
ten,“ ist ein „Widerstreit.“ Gleiches gilt für alle Unterscheidungen.
Bei diesem Streit geht es auch um „Fakten“, die Gegenstand wissenschaftlicher
oder politischer Erwägungen sein können, aber im tieferen Sinne geht es um
„Nichtidentisches“. Und so sehe ich als wichtigstes Lösungsprinzip Schillers
„Spieltrieb“, das heißt die künstlerische Durchdringung aller Lebensfragen.
Das wäre der Sinn der Gartenkunst in der Welt als Garten.
Das unumgehbare Leitmotiv für die Welt als Garten ist: Die nachhaltige
Sicherung der Lebensgrundlagen der Menschheit. Die Grundlagen für
dieses Leitmotiv sind wissenschaftliche ökologische Erkenntnisse aber auch
ethische und künstlerische Prinzipien. Dem müssen sich alle Systeme der
Welt unterwerfen.

8.3 Heidegger und das Wohnen


Eine Frage ist, wie die ‚Welt als Garten’ als Lebenswelt zu denken ist. Eine
Annäherung finde ich wieder bei Heidegger in seinen Gedanken zum

Heidegger und das Wohnen  365


‚Wohnen’, die er in seinem Vortrag „Bauen, Denken, Wohnen“ entwickelt
hat. 433
Heidegger nähert sich diesem Thema, wie so oft, über die Sprache. Danach
ist das Wort ‚bauen’ von dem althochdeutschen ‚buan’ abgeleitet, wel-
ches ‚wohnen’ bedeutet. „Die eigentliche Bedeutung des Zeitwortes bauen,
nämlich wohnen, ist uns verloren gegangen. Eine verdeckte Spur hat sich
noch im Wort ‚Nachbar’ erhalten. Der Nachbar ist der ‚Nachgebur’, ... derje-
nige, der in der Nähe wohnt.“ Im niederdeutschen ‚Nahber’ wird das noch
deutlicher. „Die Zeitwörter buri, büren, beuren, beuron, bedeuten alle das
Wohnen, die Wohnstätte.“ (Zum Beispiel in den Ortsnamen ‚Wesselburen’
oder ‚Ibbenbüren’). Doch Heidegger geht dem Bedeutungsursprung noch
weiter nach:
Wo das Wort bauen noch ursprünglich spricht, sagt es zugleich,
wie weit das Wesen des Wohnens reicht. Bauen, buan, bhu, beo ist
nämlich unser Wort „bin“ in den Wendungen: ich bin, du bist, die
Imperativform bis, sei. Was heißt dann: ich bin? Das alte Wort bau-
en, zu dem das „bin“ gehört, antwortet: „ich bin“, „du bist“ besagt:
ich wohne, du wohnst. Die Art, wie du bist und ich bin, die Weise,
nach der wir Menschen auf der Erde sind, ist das Buan, das Wohnen.
Mensch sein heißt: als Sterblicher auf der Erde sein, heißt: wohnen. Das
alte Wort bauen, das sagt, der Mensch sei, insofern er wohne, dieses
Wort bauen bedeutet nun aber zugleich: hegen und pflegen, nämlich
den Acker bauen, Reben bauen. Solches Bauen hütet nur, nämlich das
Wachstum, das von sich aus seine Früchte zeitigt.
Heidegger unterscheidet Bauen als Herstellen und Bauen als Pflegen. Beide
sind „in das eigentliche Bauen, das Wohnen, einbehalten.“

433  Heidegger, (1954), 139ff.

366  Die Welt als Garten


Das Bauen als Wohnen, d. h. auf der Erde sein, bleibt nun aber für die
alltägliche Erfahrung des Menschen das im vorhinein, wie die Sprache
so schön sagt, „Gewohnte“ Darum tritt es hinter den mannigfaltigen
Weisen, in denen sich das Wohnen vollzieht, hinter den Tätigkeiten
des Pflegens und Errichtens zurück. Diese Tätigkeiten nehmen in der
Folge den Namen bauen und damit die Sache des Bauens für sich allein
in Anspruch. Der eigentliche Sinn des Bauens, nämlich das Wohnen,
gerät in die Vergessenheit.
Er geht aber weiter der Sprache nach, um das Wesen des Wohnens zu erhel-
len und bezieht sich auf das gotische Wort „wunian“, das „ebenso wie das alte
Wort bauen das Bleiben, das Sich-Aufhalten“ bedeutet. Es heißt aber auch:
„zufrieden sein, zum Frieden gebracht, in ihm bleiben. Das Wort Friede meint
das Freie, das Frye und fry bedeutet: bewahrt vor Schaden und Bedrohung,
bewahrt vor... d. h. geschont.“
Das Schonen selbst besteht nicht nur darin, daß wir dem Geschonten
nichts antun. Das eigentliche Schonen ist etwas Positives und ge-
schieht dann, wenn wir etwas zum voraus in seinem Wesen belassen,
wenn wir etwas eigens in sein Wesen zurückbergen. ... Der Grundzug
des Wohnens ist dieses Schonen. Er durchzieht das Wohnen in sei-
ner ganzen Weite. Sie zeigt sich uns, sobald wir daran denken, daß im
Wohnen das Menschsein beruht und zwar im Sinne des Aufenthalts
der Sterblichen auf der Erde.
Zu der „Erde“ denkt Heidegger den „Himmel“ hinzu und zu den „Sterblichen“
die „Göttlichen“. Diese Vier bilden eine „ursprüngliche Einheit“. Er erläutert
diese Begriffe im Einzelnen:
Die Erde ist die dienend Tragende, die blühend Fruchtende, hingebrei-
tet in Gestein und Gewässer, aufgehend zu Gewächs und Getier. ...

Heidegger und das Wohnen  367


Der Himmel ist der wölbende Sonnengang, der gestaltwechselnde
Mondlauf, der wandernde Glanz der Gestirne, die Zeiten des Jahres
und ihre Wende, Licht und Dämmer des Tages, Dunkel und Helle der
Nacht, das Wirtliche und Unwirtliche der Wetter, Wolkenzug und
blauende Tiefe des Äthers. ...
Die Göttlichen sind die winkenden Boten der Gottheit. Aus dem heili-
gen Walten dieser erscheint der Gott in seine Gegenwart oder er ent-
zieht sich in seine Verhüllung. ...
Die Sterblichen sind die Menschen. Sie heißen die Sterblichen, weil sie
sterben können. Sterben heißt, den Tod als Tod vermögen. Nur der
Mensch stirbt und zwar fortwährend, solange er auf der Erde, unter
dem Himmel, vor den Göttlichen bleibt. ...
Jeder Absatz schließt mit der Bemerkung, dass wir mit jedem Begriff die an-
deren drei „mitdenken“. Heidegger konstruiert also hier eine Einheit – eine
mit vier Seiten - er nennt sie „das Geviert“. „Die Sterblichen sind im Geviert,
indem sie wohnen.“
Ich sehe eine Übereinstimmung des „Gevierts“ mit Spencer-Browns „Form
der Unterscheidung“, die knapp zwei Jahrzehnte später entwickelt wurde.
Auch das Geviert ist keine Form der Dialektik mit These und Antithese, son-
dern eine Form der Unterscheidung, aber eine mit vier Seiten. Das Motiv
oder der Kontext dieser Unterscheidung ist das Wohnen. Ich stelle diese
Einheit so dar:

368  Die Welt als Garten


Alle vier Seiten gehören zum Wohnen. - Um nun die Verbindung zu der
‚Welt als Garten’ und zur ‚Gartenkunst’ herzustellen, will ich versuchen, die
Intentionen Heideggers so zu interpretieren, dass sie zur tragenden Idee die-
ser Arbeit beitragen: 434
Die „Erde“, die „dienend Tragende“ steht im Geviert als die allgemeine
Lebensgrundlage des Menschen. Dazu gehören die Äcker, die Wiesen,
Wälder, Seen, die Meere und die Bodenschätze.
Auch der Himmel ist Voraussetzung des Lebens auf der Erde. Ohne die
Sonne gäbe es keine Assimilation in den Pflanzen, und diese könnten nicht
wachsen, wenn das Wasser der Meere nicht verdunsten und als Regen das
Leben spendende Wasser bringen würde.
Was Heidegger mit dem Begriff „die Sterblichen“ meint, erschließt sich nicht
auf den ersten Blick. Ich deute den Satz: „Nur der Mensch stirbt ... fortwäh-
rend, solange er auf der Erde, unter dem Himmel, vor den Göttlichen bleibt“
so: Nur der Mensch hat – im Gegensatz zum Tier - das Bewusstsein, sterblich
zu sein. Aber gerade dieses Bewusstsein ist die Voraussetzung dafür, dass
der Mensch ein Gefühl der Verantwortung für die folgenden Generationen
entwickeln kann und deshalb die Erde „schont“. Statt „die Sterblichen“ kön-
nen also wir auch „die Verantwortlichen“ sagen. Heidegger bezeichnet das
Schonen als „Grundzug des Wohnens“ und spricht auch vom „Retten“. „Die
Erde retten ist mehr, als sie ausnützen oder gar abmühen. Das Retten der
Erde meistert die Erde nicht und macht sich die Erde nicht untertan, von wo
nur ein Schritt ist zur schrankenlosen Ausbeutung.“
Problematisch ist für mich der Begriff „die Göttlichen“, also das, was die
Menschen seit jeher „hinter den Dingen“ gesehen haben, und was sie sich nur

434  Anzumerken ist, dass Heideggers Begriffe immer in ihrem jeweiligen


Kontext zu verstehen sind; hier zum Beispiel die „Erde“ im Kontext „Wohnen“
oder - siehe oben - im Kontext „Kunstwerk“.

Heidegger und das Wohnen  369


in einer personifizierten Form vorstellen konnten. Burkhard Biella nennt dies
eine „anthropomorphe Hypostasierung“ und schlägt vor, „statt dessen vom
Unverfügbaren zu sprechen,“ 435 was aber auch nicht sehr verständlich ist. Seit
der Aufklärung ist dieser Bereich menschlichen Denkens in vielfacher Form
und Blickrichtung behandelt worden in unterschiedlicher Begrifflichkeit. Für
mein Vorhaben, die ‚Welt als Garten’ und die Gartenkunst mit Heideggers
„Geviert“ in Verbindung zu bringen, wähle ich anstatt der „Göttlichen“ ei-
nen Begriff der Brüder Böhme: „Das Andere der Vernunft“. 436 Einfach aus-
gedrückt heißt das, dass wir Vorstellungen oder Empfindungen haben, die
wir uns vernunftmäßig oder wissenschaftlich nicht erklären können. Das hat
sich zwar in der Menschheitsentwicklung ständig verändert. Die Blitze, die
einst den Göttern zugeschrieben wurden, können wir uns heute physikalisch
erklären. Gegenwärtig glauben die Mikrobiologen, mit der Entschlüsselung
der DNA dem Geheimnis des Lebens nahe zu kommen.437 Aber soweit auch
die Wissenschaft fortschreitet, es bleibt immer etwas, das sich unserem be-
grifflichen Denken entzieht. Dem entspricht auch die Aussage Martin Seels:
„soviel [der Mensch] mit dem Werden der Natur machen kann, er kann
das Werden der Natur nicht machen.“ 438 Das ist jedoch nicht Ausdruck
von Resignation, sondern im Gegenteil: Das Ergründen des ‚Anderen der
Vernunft’ – des Göttlichen - ist Wesensmerkmal des Menschen und gehört
zum „Wohnen“.
Wie ist nun heute das „Wohnen“ im Sinne Heideggers zu sehen? Eine Bilanz
ist eher negativ. Die Erde wird nicht geschont, sondern bedenkenlos aus-
gebeutet, mit der Folge zunehmender Wüstenbildung. Die CO2 -Belastung
wirkt sich auf den „Himmel“ aus, wie Heidegger es nicht ahnen konnte. Diese

435  Biella, (1998), 8.


436  Böhme, G. und H., (1985).
437  Siehe Anm. 299
438  Siehe Anm. 127.

370  Die Welt als Garten


Probleme sind heute allgemein so bewusst, dass ich sie nicht näher erörtern
muss. Sie sind auch, soweit die ‚Verantwortlichen’ zur Vernunft kommen,
wissenschaftlich und politisch lösbar.
Wenn aber das „Wohnen“ im Sinne Heideggers in der Welt als Garten gelin-
gen soll, dann muss das Viertel aus dem Geviert, das „Göttliche“, das ich das
„Andere der Vernunft“ nenne, mit zu Grunde gelegt werden.
Für viele ist der Weg dazu nach wie vor die Religion. Esoteriker haben ver-
schiedene Methoden, den Zugang zum Übersinnlichen zu finden. Seit
der Aufklärung ist zunehmend die Philosophie die kompetente Instanz.
Ausdrucksmittel ist jedoch seit Urzeiten die Kunst und somit auch die
Gartenkunst, wenn auch in wechselnden Formen. Adorno sieht „das theolo-
gische Erbe der Kunst“ in der „Säkularisation von Offenbarung“ 439 und auch
Schmücker sieht in der Kunst ein „verdinglichtes Offenbarungsgeschehen.“
440
Die Frage nach dem Wesen der Gartenkunst muss also das „Andere der
Vernunft“ mit einbeziehen.

8.4 Was ist Kunst? Was ist Gartenkunst?


Die Fragestellung drückt aus, dass die beiden Begriffe sowohl Gleiches, wie
auch Unterschiedliches beinhalten. Gleich ist die Frage nach dem Wesen der
Kunst. Die Schwierigkeit dieser Frage wird deutlich, wenn man landläufige
Antworten betrachtet:
Im Juli 1999 richtete die Deutsche Gesellschaft für Gartenkunst und
Landschaftskultur an ihre Mitglieder die Frage nach deren persönlichen
„Auffassung zum Begriff Gartenkunst.“ Neben funktionalen Kriterien und
Besonderheiten der Mittelverwendung in der Gartenkunst enthielten die

439  Adorno, (1989), 162.


440  Schmücker, (1998).

Was ist Kunst? Was ist Gartenkunst?  371


meisten Antworten Definitionen, die man als zirkulär bezeichnet. Zum
Beispiel: Von Gartenkunst könne man sprechen, wenn
• „erkennbare gültige Regeln [!] einer künstlerischen Gestaltung ... ange-
wandt wurden“
• „das Werk unter künstlerische Kriterien [eine] ausgewogene Komposition
darstellt“
• man „zeitgenössischen Gärten ... den Rang eines Kunstwerkes zuschreibt“
• „gärtnerische Bauwerke ... gartenkünstlerisch überzeugen“ 441
Solche zirkulären Definitionen gibt es aber auch von anerkannten Experten
wie Frank Sibley, dessen „überaus einflussreiche[r] Essay über ‚Ästhetische
Begriffe’“ von Karlheinz Lüdeking kritisch kommentiert wird: Nach Sibley ist
zur Beantwortung der Frage, was Kunst sei, Geschmack erforderlich.
Was aber ist unter Geschmack zu verstehen? Sibley sagt dazu zu-
nächst nur, es sei nicht eine subjektive Vorliebe (im Sinne von
„Geschmacksache“) gemeint, sondern die Fähigkeit, „zu bemerken
oder zu sehen oder zu erkennen, daß Dinge bestimmte Qualitäten
haben.“ Diese „bestimmten“ Qualitäten der Dinge, die man mit Hilfe
des Geschmacks feststellen kann, sind natürlich genau ihre ästheti-
schen Qualitäten und damit wird die Definition zirkulär: Ästhetische
Begriffe sind jene, zu deren Verwendung Geschmack erforderlich ist,
und Geschmack ist die Fähigkeit, die Qualitäten festzustellen, die mit
ästhetischen Begriffen bezeichnet werden. 442

441  Garten und Landschaft, Heft 1/2000


442  Lüdeking, (1998), 99.

372  Die Welt als Garten


Alle diese logischen Zirkel bringen das jeweilige subjektive Gefühl über das,
was Kunst sei, zum Ausdruck. Sie zeigen aber auch, dass das Wesen der Kunst
nicht logisch erklärbar ist.
Das heißt aber nicht, dass bestimmte Bedingungen der Kunstproduktion
und –rezeption nicht formuliert werden können. So muss ein Künstler
selbstverständlich die Mittel seines Metiers beherrschen. Das sagt schon
der Kalauer, der in der Umfrage der DGGL auch gebracht wurde: „Kunst
kommt von Können, wenn es von Wollen käme, hieße es Wunst.“ - Und
ebenso selbstverständlich ist es, dass ein Rezipient ein gewisses Interesse und
Aufgeschlossenheit für Kunst haben muss.
Wichtiger sind die Fragen und Bedingungen der Wahrnehmung, die ich
im 6. Kapitel behandelt habe, als deren Grundlage ich im Kontext der
Adaptation die Unterscheidung von Assimilation und Akkommodation
sehe. Diese Formen der Wahrnehmung sind konstitutiv für Kunstschaffen
und Kunstgenuss: sie erklären aber noch nicht das eigentliche Wesen der
Kunst.
Der Abschnitt „Fühlen und Denken“ bringt uns der Kernfrage näher. „Affekte“
als „umfassende körperlich-seelische Gestimmtheiten“ kann man auch als
„das Andere der Vernunft“ sehen. 443 Martin Seel formuliert dies so:
In der Erfahrung vieler Kunstwerke – aber auch der erhabenen Natur
– erleben wir Phasen eines akustischen oder visuellen Rauschens, eines
Geschehens ohne erkennbar Geschehendes, das zwar sinnlich verfolgt,
aber nicht kognitiv erfasst werden kann. Sensitive Wahrnehmung
überschreitet hier die Grenzen des erkennenden Bewußtseins. 444
(Hvh. A.S.)

443  Siehe Anm. 287.


444  Seel, (2000), 27.

Was ist Kunst? Was ist Gartenkunst?  373


Wichtig ist die Unterscheidung der Kunst als Erkenntnisform. Wie Konrad
Paul Liessman ausführlich referiert, unterscheidet schon Konrad Fiedler
(1841 – 1895) „die Welt des Künstlers“ von der Welt „des diskursiven
Denkens.“
Alle Kunst ist Entwicklung von Vorstellungen, sowie alles Denken
Entwicklung von Begriffen ist.“ Beide dieser Verfahren dienen der
Erkenntnis, ohne daß sie sich wechselseitig aufeinander beziehen kön-
nen. Unter diesem Gesichtspunkt ist Erkenntnis für Fiedler auch die
entscheidende Bestimmung für Kunst: „Nur wer die Kunst weder ei-
nem ästhetischen noch einem symbolischen Zwecke dienstbar macht,
wird ihr ganz gerecht werden können; denn sie ist mehr als ästheti-
sches Reizmittel und mehr als Illustration, sie ist eine der Erkenntnis
dienende Sprache. 445

8.4.1 Adornos Kunsttheorie


Ein bedeutendes Werk der Kunsttheorie ist Adornos „Ästhetische Theorie.“
Sie enthält entscheidende Anregungen in der Frage nach dem Wesen der
Kunst.
Adornos Denkansatz ist ein differenztheoretischer. Er nennt ihn zwar dialek-
tisch, er entspricht aber genau dem Prinzip der ‚Form der Unterscheidung
mit zwei Seiten.’ Seine wichtigsten Gegensatzpaare sind:
• Konstruktion / Mimesis
• Versöhntes / Unversöhntes
• Identisches / Nichtidentisches

445  Liessmann, (1999),90.

374  Die Welt als Garten


Sie beziehen sich auf Kunst als Produktion und als Rezeption. Ihre
Bedeutungen überlagern sich zum teil; auch sie bilden ein „Gewebe.“
Mimesis
Adorno verwendet einen Begriff der alten Griechen als einen Schlüssel zu
seiner Kunsttheorie, die Mimesis. Mimesis heißt ursprünglich: Darstellen des
Göttlichen im kultischen Tanz, als „sinnlichen Ausdruck dessen, was unserer
Wahrnehmung entgeht.“ 446 Durch Platon erfährt diese Bedeutung jedoch ei-
nen entscheidenden Wandel. Platon sieht „die Künste als bloße Nachahmung
dritten Ranges der Ideen: als Abbild von Abbildern.“ 447 Die Wirklichkeit ist
für Platon nur ein Schatten der Ideen (siehe das Höhlengleichnis). Die Kunst
ist deshalb für ihn drittrangig.448 Erst in der Renaissance wird die getreue
Abbildung der Natur wieder zur legitimen Aufgabe der Kunst, bis sie in der
Moderne als ‚Naturalismus’ endgültig in Verruf kam.
Adorno benutzt ‚Mimesis’ im Sinne des ‚Anderen der Vernunft’. Er betrach-
tet das Kunstwerk als Einheit aus der Mimesis und dem Konstruktiven oder
Rationalen. Danach ist „Konstruktion die ... einzig mögliche Gestalt des ra-
tionalen Moments im Kunstwerk, ... ist in der Monade des Kunstwerks ... der
Statthalter von Logik und Kausalität ... Sie ist Synthesis des Mannigfaltigen.“
449
Aber Konstruktion und Mimesis gehören zusammen als eine ‚Form der
Unterscheidung’:
Die Sentimentalität und Schwächlichkeit fast der gesamten Tradition
ästhetischer Besinnung rührt daher, daß sie die der Kunst imma-

446  Koller, zit. von Thomas Metscher in Sandkühler, (1990), Stichwort:


Widerspiegelung, ästhetische.
447  Ebd.
448  Danach wäre die Landschaftskunst als Nachahmung der
Landschaftsmalerei viertrangig.
449  Adorno, (1989), 91.

Was ist Kunst? Was ist Gartenkunst?  375


nente Dialektik von Rationalität und Mimesis unterschlagen hat.
... Fortlebende Mimesis, die nichtbegriffliche Affinität des subjektiv
Hervorgebrachten zu seinem Anderen, nicht Gesetzten, bestimmt
Kunst als eine Gestalt der Erkenntnis, und in sofern ihrerseits als ‚ratio-
nal’. Denn worauf das mimetische Verhalten anspricht, ist das Telos der
Erkenntnis, das sie durch ihre eigenen Kategorien zugleich blockiert.
Kunst komplettiert Erkenntnis um das von ihr Ausgeschlossene
und beeinträchtigt dadurch wiederum den Erkenntnischarakter, ihre
Eindeutigkeit,“ 450 (Hvh. A.S.)
Und an anderer Stelle schreibt er:
Mimesis ist in der Kunst das Vorgeistige, dem Geist Konträre und wie-
derum das, woran er entflammt. In den Kunstwerken ist der Geist zu
ihrem Konstruktionsprinzip geworden, aber genügt seinem Telos nur
dort, wo er aus dem zu Konstruierenden, den mimetischen Impulsen,
aufsteigt, ihnen sich anschmiegt, anstatt daß er ihnen souverän zudik-
tiert würde. 451
Es dürfte klar sein, dass es hier um das eigentliche Wesen der Kunst geht. Zur
Verdeutlichung zitiere ich, was Friedrich Tomberg im Anschluss an Adorno
schreibt:
Echte Mimesis bezieht sich auf das, was an den Dingen mehr ist als
ihr vorweg bekanntes Dasein, auf das Nichtidentische an ihnen. Sie
ist ungegenständliche Nachahmung und damit nicht Imitation eines
Wirklichen, sondern Vorwegnahme eines Ansichseins, das noch gar
nicht ist. Diese Möglichkeit schreibt Adorno der Kunst zu, sofern sie
nur auf sich selbst als Schöpfung und nicht auf Geschaffenes bezo-
gen ist und in dieser Formimmanenz zum Gleichnis des Absoluten,

450  Ebd., 86.


451  Ebd., 180.

376  Die Welt als Garten


als des Nichtbedingten, gegenständlich Unnachahmlichen wird. –
Mimesis bedeutet nach Adorno ursprünglich die „dem Lebendigen
tief einwohnende Tendenz, deren Überwindung das Kennzeichen al-
les Lebendigen ist: ...dem Hang sich gehen zu lassen, zurückzusinken
in Natur.“ 452 (Hvh. A.S.)
Mimesis und Konstruktion gehören also im Kunstwerk zusammen, und
doch ist „die Divergenz des Konstruktiven und des Mimetischen von kei-
nem Kunstwerk zu schlichten.“ Es ist eine Form der Unterscheidung mit zwei
Seiten. Adorno stellt auch fest, dass das Verhältnis der beiden Seiten dieser
Unterscheidung ein skaliertes ist: „... die fraglose Polarität des Mimetischen
und Konstruktiven [ist] nicht ... auf eine invariante Formel zu reduzieren.“ 453
Das Versöhnte und Unversöhnte
Ein weiteres Begriffspaar, dessen Divergenz „nicht zu schlichten“ ist, und
das wie ‚Mimesis’ in der ‚Ästhetischen Theorie’ immer wieder erörtert wird,
ist das Versöhnte und das Unversöhnte. Während die Konstruktion und
die Mimesis sich auf das Schöpferische in der Kunst und das Identische
und Nichtidentische sich auf die Erkenntnismöglichkeit beziehen, ist die
Unterscheidung von Versöhntem und Unversöhntem Adornos Schlüssel
für die Rezeption von Kunst.
Die Rezeption wahrer Kunst ist zunächst Konfrontation mit Unbekanntem, mit
dem Nichtidentischem, dem Mimetischen. Das bedeutet immer Anstrengung,
Belastung. Das erklärt auch, warum viele Menschen sich weigern, sich mit
moderner Kunst auseinander zu setzen. Wahrnehmungspsychologisch gese-
hen ist der Grund hierfür die mangelnde Fähigkeit zu akkommodieren.

452  In: Sandkühler, (1990), Bd. 3, 420f.


453  Adorno, (1989), 72.

Was ist Kunst? Was ist Gartenkunst?  377


Diesen Zustand kann man nach Adorno als den unversöhnten bezeichnen.
Der Gegenpol dieser Unterscheidung ist die „Versöhnung als Gewalttat“
im „formalistischen Klassizismus.“ 454 Kunstrezeption ist also sozusagen das
Spannungsfeld zwischen Versöhntem und Unversöhntem. Versöhnung
heißt Annäherung an das Mimetische, heißt aber nicht dass dieses zum
Identischen wird. Versöhnung ist die
Verhaltensweise, die des Nichtidentischen inne wird. ... Versöhnung
als Verhaltensweise ... wird heute gerade dort verübt, wo die Kunst
der Idee von Versöhnung absagt, in Werken, deren Form ihre
Unerbittlichkeit diktiert. Noch solche unversöhnliche Versöhnung in
der Form jedoch hat zur Bedingung die Unwirklichkeit der Kunst. 455
(Hvh. A. S.)
Die Bedeutung dieser Begriffe changiert in eigentümlicher Weise bis zur
Paradoxie. Dem entspricht aber das Wesen der Kunstproduktion und –re-
zeption. Die klassische Kunstauffassung war bestimmt durch das, was Kant
das „allgemeine Gefallen“ nannte, das aber – wie wir gesehen haben – von
Experten mit „Geschmack“ definiert war. Hierüber gab es keinen Streit; diese
Kunst war das absolut Versöhnte. Die moderne Kunst ist dagegen der Streit
zwischen Versöhntem und Unversöhntem. Ich sehe hier eine enge gedank-
liche Beziehung zu Heidegger, der über das Verhältnis von „Erde“ und „Welt“
sagt: „Der Streit ist kein Riß als das Aufbrechen einer bloßen Kluft, sondern
der Streit ist die Innigkeit des sich Zugehörens der Streitenden.“ 456 Dabei
steht „Erde“ für das Verborgene, das Nichtidentische, das Unversöhnte und
„Welt“ für das Offene, das Identische, das Versöhnte. Alle diese Begriffspaare
gehören zusammen, jeweils als ‚Form der Unterscheidung mit zwei Seiten’.

454  Ebd., 78.


455  Ebd., 202.
456  Siehe oben: Heidegger, (2003),50f

378  Die Welt als Garten


Diese hat aber hier einen besonderen Charakter. Die Unterscheidung physis
/ techne zum Beispiel ist eindeutig, beide Seiten lassen sich genau bestim-
men, was ich ausführlich beschrieben habe. Das Wesen des Kunsterlebnisses
besteht aber darin, dass durch Innewerden des Unversöhnten dieses sich in
Versöhnung wandelt. Adorno sieht darin einen „Prozeß“ des „ästhetischen
Verhaltens“, der im „Verhältnis des Einzelnen zur Kunst“ stattfindet. „Am
Ende wäre das ästhetische Verhalten zu definieren als die Fähigkeit, irgend zu
erschauern, so als wäre die Gänsehaut das erste ästhetische Bild.“ 457
Zur weiteren Klärung füge ich ein Zitat Martin Seels an. Dabei sehe ich
zwischen der „Beherrschbarkeit“ und „Unbeherrschbarkeit“ Seels und dem
„Versöhnten“ und „Unversöhnten“ Adornos eine deutliche Übereinstimmung:
Nicht die Bestimmbarkeit - und damit letztendlich die
Beherrschbarkeit - , sondern vielmehr die Unbestimmbarkeit und
letztendliche Unbeherrschbarkeit des Wirklichen ist die Quelle
der ästhetischen Lust. Im ästhetischen Zustand überwinden wir
den Glauben an die Möglichkeit und den Sinn einer vollständigen
Bestimmbarkeit des Gegebenen. Die ästhetische Lust ist von einem
Interesse am Unbekannten geleitet; entsprechend hat die spielerische
Selbstgewinnung in der freien ästhetischen Betrachtung als Kehrseite
eine ekstatische Selbstpreisgabe. ... In der Erfahrung vieler Kunstwerke
– aber auch der erhabenen Natur – erleben wir Phasen eines aku-
stischen oder visuellen Rauschens, eines Geschehens ohne erkenn-
bar Geschehendes, das zwar sinnlich verfolgt, aber nicht kognitiv er-
fasst werden kann. Sensitive Wahrnehmung überschreitet hier die
Grenzen des erkennenden Bewusstseins. 458 (Hvh. A.S.)

457  Adorno, (1989), 489.


458  Seel, (2000), 27.

Was ist Kunst? Was ist Gartenkunst?  379


Konkret lässt sich das prozessuale Verhältnis zwischen ‚Versöhntem’ und
‚Unversöhntem’ am Beispiel des Musikverständnisses darstellen. Jemand,
der die klassische Musik – etwa bis Brahms – verinnerlicht hat und zum
ersten Mal zum Beispiel die fünfte Sinfonie von Mahler hört, wird manches
zunächst als ‚Rauschen’ empfinden. Durch Akkommodation kann aber dann
beim Hören des vierten Satzes, des Adagiettos, das eintreten, was Adorno
den „Schauer“ nennt, das „Gänsehaut“-Erlebnis.459 Das ist der Punkt der
Versöhnung. Bei wiederholtem Hören wird diese Musik immer noch be-
sondere Empfindungen auslösen, etwa bei einer besonders eindringlichen
Interpretation. Der Schauer wird sich seltener einstellen. Das Versöhnte
wird zum Bestand der musikalischen Erlebniswelt und der Musikliebhaber
wird sich vielleicht mit Richard Strauss und Schönberg auseinander setzen.
- Problematisch wird es, wenn zum Beispiel das Thema aus dem Schlusssatz
von Beethovens 9. Sinfonie von der Schlagerindustrie vereinnahmt wird.
Dadurch kann der Zugang zu dem mimetischen Gehalt des Kunstwerkes
sehr gestört werden. Das gilt im gewissen Maße auch für die massenhafte
Darstellung der Natur in Hochglanzbildern und Film. Dadurch kann die ori-
ginäre Wahrnehmung eher behindert werden.
Dadurch komme ich noch zu einem anderen Gesichtspunkt der
Kunstausübung, die Interpretation von Musik und Dichtung und im
Zusammenhang damit zu der kollektiven Wirkung von Kunst. Ein
Orchesterwerk gelingt nur, wenn die Musiker und der Dirigent gemein-
sam auf eine Idee der Interpretation eingestimmt sind. Das Besondere die-
ser Kunstgattung ist, dass dieses Gestimmte - im gelungenen Fall - sich auf
die Hörer überträgt. Das gilt auch für die Schauspielkunst. Man kann vom
festlichen Charakter eines Kunsterlebnisses sprechen, wenn dieses in einer
Gemeinschaft von Gleichgestimmten stattfindet. Deutlich konnte man das
in der Menge spüren, die staunend vor Christos verhülltem Reichstag stand.

459  Adorno, (1989), 489.

380  Die Welt als Garten


- Ich erwähne dies, weil ich eine gleiche Wirkung in der Gartenkunst sehe,
nämlich zum Beispiel in einer gelungenen Gartenschau, wo man schon mal
von einem Gartenfest sprechen kann, in dem die Besucher durchaus in einem
Gemeinschaftsgefühl für die Naturschönheit aufgeschlossen sind. Ich sehe
hierin übrigens auch eine Wirkung der oben beschriebenen ‚Morphischen
Resonanz’.
Adorno spricht in einem anderen Fall von „falscher Versöhnung“, wenn „ra-
dikal abstrakte[ ] Malerei ... zum Wandschmuck des neuen Wohlstands“
wird.460 Und er sieht noch eine anderen Aspekt in der Entwicklung: „In
der Geschichte der bildenden Kunst und Literatur [wurden] stets neue
Schichten der äußeren Welt sichtbar, entdeckt und assimiliert, während an-
dere abstarben, ihre Kunstfähigkeit verloren.“ 461 Das heißt aber nicht, dass
alle alten Werke nun für uns keine Kunst mehr sind; im Gegenteil, das jewei-
lige, für seine Zeit Rationale und Konstruktive, bleibt Gegenstand unserer
Bewunderung genau so wie das, was wir als das Mimetische jener Zeit erken-
nen. So ist zum Beispiel ein Barockgarten für uns hohe Gartenkunst, wenn
er auch unserem heutigen Naturverständnis nicht mehr entspricht, und bei
manchen großen Kunstwerken, wie Friedrichs „Mönch am Meer“ spüren wir
auch heute noch den mimetischen Gehalt.
Diese Prozesshaftigkeit relativiert also nicht den Erkenntnischarakter der
Kunst. In jedem gelungenen Kunstwerk ist ein Überschuss enthalten, der
sich der Vernunft entzieht und das Bewusstsein seiner Zeit erweitert. Als
Konstante bleibt immer die Mimesis erhalten, das Suchen nach dem Anderen
der Vernunft und – so Heidegger – nach dem Göttlichen.

460  Adorno, (1989), 340.


461  Ebd. 219.

Was ist Kunst? Was ist Gartenkunst?  381


Das Naturschöne
Ich habe schon in der Einleitung auf das Problem hingewiesen, das die heu-
tigen Gartenkünstler mit dem Begriff des Naturschönen haben. (Siehe Anm.
17) Dieser Begriff wird ständig mit ‚Naturalismus’ in Verbindung gebracht, was
der Dominanz des Kunsthistorischen im Diskurs über Gartenkunst geschul-
det ist. Alle meine bisherigen Überlegungen zielten auf den Grundgedanken,
dass das Naturschöne das eigentliche Motiv der Gartenkunst ist. Die
Unmittelbarkeit der Naturwahrnehmung unterscheidet die Gartenkunst
von der bildenden Kunst.
Die Klärung dieser Frage ist unerlässlich, wenn wir dem Ideal der ‚Welt als
Garten’ näher kommen wollen. Es geht also um das Verhältnis zwischen
Natur und Kunst oder speziell um die Unterschiede deren Wahrnehmung
und Rezeption.
Ich habe im 6. Kapitel dargelegt, dass in der Kunst Produktion und
Rezeption eng aufeinander verwiesen sind; Kunst zu verstehen ist eine gei-
stige Leistung. Dasselbe gilt für die Naturwahrnehmung, deren psycho-
logischen Bedingungen ebenfalls beschrieben wurden. (Siehe Anm. 258 –
262). Es geht in beiden Fällen um die Spannung zwischen Assimilation und
Akkommodation. Aber das Empfinden des Naturschönen ist mit wahrneh-
mungspsychologischen Kriterien allein nicht zu erklären. Ich folge deshalb
weiter den Ausführungen Adornos, seinen berühmten Sätzen:
Das Naturschöne ist die Spur des Nichtidentischen an den
Dingen im Bann universaler Identität. Solange er waltet, ist kein
Nichtidentisches positiv da. Daher bleibt das Naturschöne so ver-
sprengt und ungewiß [so] wie das, was von ihm versprochen wird,
alles Innermenschliche überflügelt. 462

462  Adorno, (1989), 114.

382  Die Welt als Garten


Ein Kern dieser Aussage ist der „Bann universaler Identität.“ Das heißt, dass
wir im Allgemeinen die Erscheinungen der Natur im begrifflichen Sinne als
schön empfinden. Wenn wir zum Beispiel die botanischen Merkmale von
Rosen oder ihr gesundes Laub, die schöne Farbe und die gute Verzweigung
beschreiben, oder wenn der Förster die gute Bestockung seines Waldes her-
vorhebt, dann sind das identische Aussagen. Und nur in einer besonderen
Stimmung oder unter besonderen Bedingungen fühlen – ‚erkennen’ - wir
„die Spur des Nichtidentischen“, das Naturschöne. Dieses ‚Erkennen’ ist
aber begrifflich nicht zu fassen. Nur Dichter vermögen dies in gelingenden
Werken. Es erinnert mich an Martin Seels Kontemplation. 463- Adorno führt
den Gedanken unter Einbeziehung der Kunst fort:
Das Lückenlose, Gefügte, in sich Ruhende der Kunstwerke ist Nachbild
des Schweigens, aus welchem allein Natur redet. Das Schöne an der
Natur ist gegen herrschendes Prinzip wie gegen diffuses Auseinander
ein Anderes; ihm gliche das Versöhnte. 464 (Hvh. A.S.)
Diese Gedanken rühren an das Wesen des Naturempfindens und der Kunst
und besonders also auch der Gartenkunst. Wir erfahren sie in ähnlicher
Form auch bei anderen Philosophen. So bei Lyotard, der im Hinblick auf
seine Auffassung der Postmoderne schreibt:
[Diese] wäre dasjenige, das im Modernen in der Darstellung selbst auf
ein Nichtdarstellbares anspielt; das sich dem Trost der guten Formen
verweigert; ... das sich auf die Suche nach neuen Darstellungen begibt,
jedoch nicht um sich an deren Genuß zu verzehren, sondern um das
Gefühl dafür zu schärfen, daß es ein Undarstellbares gibt.465
Und ebenso befasst sich Martin Seel mit dieser Frage und stellt fest:

463  Seel, (1991)


464  Adorno, (1989) 115.
465  Lyotard, (1987), 29.

Was ist Kunst? Was ist Gartenkunst?  383


Seit Heidegger dem Zuhandenen und Vorhandenen das Sein gegen-
übergestellt und Adorno das Zauberwort vom ‚Nichtidentischen’ in
die Welt gesetzt hat, ist eine Positivierung des Unwahrscheinlichen,
Irregulären, Nichtverfügbaren im Gange, die man für theologisch hal-
ten könnte, wenn sie nicht einfach realistisch wäre.
Und im Zusammenhang hiermit zitiert er Lyotards „Darstellung des
Undarstellbaren“ und fragt, „was aus diesen unbestreitbaren Grenzen der
Darstellbarkeit eigentlich folgt“
Es folgt, daß in jeder Darstellung vieles nicht dargestellt bleibt. Je
mehr und genauer dargestellt wird, jedes Mal wiederholt sich das
Verhältnis von Dargestelltem und (in der jeweiligen Darstellung)
Undargestelltem. Es ist unmöglich, eine Brücke oder Blume oder sonst
einen Wahrnehmungsgegenstand vollständig darzustellen. Es ist aber
keineswegs unmöglich, eine Blume oder Brücke zutreffend zu identi-
fizieren und zu charakterisieren. Erst in der Darstellbarkeit, heißt das,
tritt Undarstellbarkeit auf. ... Dieses Undarstellbare ist aber nichts au-
ßerhalb des Darstellbaren, es ist ein Verhältnis des Darstellenkönnens
selbst. 466
Somit sind einige wichtige Grundsätze der Produktion und Rezeption
von Kunst und Gartenkunst umschrieben. Heideggers Paradigma vom
Wohnen kann als Rahmen für die Idee der ‚Welt als Garten’ dienen und
Adornos ästhetische Theorie kann als Zugang zu dem Viertel des Gevierts,
dem „Göttlichen“ gelten. Das sind sicher keine „Rezepte“, nach denen man
Kunst „machen“ kann. Aber die Formen der Unterscheidung: Konstruktion
/ Mimesis, Versöhntes / Unversöhntes und Identisches / Nichtidentisches
sind Maßstäbe der Überprüfung in Fragen der Kunst und der Gartenkunst.
In Bezug auf die heutige Situation stelle ich fest, dass Gartenkunst nicht nur

466  Seel, (1998), 893f.

384  Die Welt als Garten


darin bestehen kann, exzentrische Formen – zumal aus der bildenden Kunst
entlehnt – zu verwenden. Das Nichtidentische, Nichtdarstellbare kann in je-
der Blume, in jeder Atmosphäre, in jedem gestalteten Freiraum aufscheinen.
Die Grundlage ist immer unser Verhältnis zur Natur, das Wirken von techne
auf physis und die Abwägung zwischen Tun und Lassen. Das ist das originäre
Thema der Gartenkunst.

8.5 Gartenkunst, soziologisch gesehen


Ich komme zurück auf Heideggers Geviert. Dessen Seiten ‚Himmel’ und
‚Erde’ habe ich als Symbol unserer ökologischen Fragen gesehen. Die Seite der
‚Göttlichen’ umfasst für mich auch das Wesen der Kunst. Die ‚Sterblichen, die
ich die ‚Verantwortlichen’ genannt habe, kann ich auch als die ‚Gesellschaft’
sehen. Wenn die Gartenkunst im Zusammenhang mit der ‚Welt als Garten’
gedacht werden soll, dann ist das Verhältnis zwischen Kunst und Gesellschaft
näher zu untersuchen. Ich gehe konkret von der gegenwärtigen Situation
der Profession aus. Ein beherrschendes Problem habe ich schon mit der
Beschreibung des Systems ‚Wettbewerbswesen’ in der Gartenkunst darge-
stellt. Die Geschlossenheit dieses Systems wirkt sich dahin aus, dass viele sei-
ner Erzeugnisse (Anlagen) nur eine geringe Akzeptanz finden. Das wird von
manchen kritisch gesehen, für andere liegt das aber in ‚der Natur der Sache’,
denn viele fortschrittliche Künstler hätten ja mit Unverständnis zu kämpfen
gehabt. - Immerhin werden zum Beispiel in Zürich zum Oerliker Park „zur
Zeit Studien erstellt, die die geringe Nutzung durch die Bevölkerung klären
sollen.“ 467

467  Garten und Landschaft 8/05, S. 16.

Gartenkunst, soziologisch gesehen  385


8.5.1 Bourdieu und die Eliten
Mit dieser soziologischen Frage setzt sich Wolfram Höfer ausführlich aus-
einander und kommt zu Ergebnissen, die auf mich zum Teil recht befremd-
lich wirken, und zu meiner obigen Systemkritik passen.468 Höfer erörtert
mit Bezug auf das Werk des französischen Soziologen Bourdieu, „Der feine
Unterschied“, 469 „[die] Funktion [des ästhetischen Urteils] im Kampf um ge-
sellschaftliche Positionen, ... denn die Verschärfung dieses Kampfes ist ein
wesentliches Merkmal gesellschaftlicher Flexibilisierung: Eine ererbte [!] oder
erworbene Position muß immer wieder gegenüber Konkurrenten verteidigt
werden.“ 470
Er bezieht sich auf Kant und stellt fest, dass das reine ästhetische Urteil „nicht
von allen Menschen in gleicher Weise“ gefällt werden kann. Grundsätzlich
trüge „zwar jeder die Möglichkeit zum ästhetischen Urteil in sich,“ aber nur
derjenige sei tatsächlich zu diesem Urteil fähig, „der sich selbst in Richtung
der individuellen Vollkommenheit gebildet hat. Von einer moralischen
Position aus können diese Menschen dann zu einer ‚Elite’ gezählt werden.
Die Zugehörigkeit zu einer Elite ... [ist] durch die Kennerschaft, wie sie sich im
Urteil über das Kunstschöne ausdrückt [bestimmt].“ 471
Zu diesem „kulturellen Kapital“ zählt Höfer auch den Naturgenuss, der nach
seiner Auffassung „ähnlich wie der Kulturgenuß, weitreichende Kenntnisse
voraussetzt.“ 472 Und er beschreibt auch, „welche Rolle“ nach seiner Auffassung
„das Geschmacksurteil als Merkmal der gesellschaftlichen Distinktion beim
gestalterischen Umgang mit Natur in der Landschaftsarchitektur einnimmt.“

468  Höfer, (2000)


469  Bourdieu, (1998)
470  Höfer, 166
471  Ebd.
472  Ebd., 171.

386  Die Welt als Garten


Ich will die tief gehenden aber zum Teil sehr kritisch zu sehenden
Gedankengänge Höfers, die neben Bourdieu und der gegenläufigen Theorie
der ‚Erlebnisgesellschft’ Gerhard Schulzes auch Kants ‚Kritik der Urteilskraft’
einbeziehen, nicht im einzelnen referieren, sondern ich zitiere, was für mich
wesentlich ist, seine affirmative Beschreibung des Wettbewerbswesens, die
meine obige Systembeschreibung bestätigt:
Landschaftsarchitekten und Preisrichter stehen ... jeweils im Kampf
um gesellschaftliche Positionen. Die Preisrichter müssen ... ein
Geschmacksurteil fällen und benötigen dafür einen sensus commu-
nis, ein Gespür für den guten Geschmack. Die Landschaftsarchitekten
müssen mit ihren Arbeiten zum Ausdruck bringen, daß ihr dokumen-
tiertes kulturelles Kapital eine solche Entscheidung rechtfertigt. Eine
Gestaltung, die den Geschmack der Avantgarde trifft ist damit erfolg-
versprechend.473
Es geht also, wie oben beschrieben, um ‚gewinnen / nicht gewinnen.’ Eine
Beurteilung dieser Anschauung muss schon bei Kant ansetzen, dessen
Begriff des ‚reinen Geschmacks’ ihr zugrunde liegt. Ich übernehme eine ent-
sprechende Kritik von Thomas Hecken:
Da der Sinnengeschmack nach Kant ausschließlich die „negativen“
Effekte hervorbringt, definiert Kant, daß die Schönheit nur von ei-
ner interesselosen Anschauung erkannt werden kann: ein typischer
Umkehrschluß. Anstatt zu folgern: Ich betrachte die Genüsse der ande-
ren als vulgär, also habe ich von ihnen verschiedene, sagen wir intellek-
tuellere Genüsse, schließt er: Die Genüsse der anderen sind vulgär, also
sind Genüsse an sich vulgär, deshalb können meine Anschauungen
nicht durch Genüsse motiviert sein. Die Einsicht, daß es verschiedene

473  Ebd., 182.

Gartenkunst, soziologisch gesehen  387


Arten und Formen des Genusses gibt, muß Kant aus diesen Gründen
verschlossen bleiben. ... Es spricht der bürgerliche homo ästheticus. 474
Die Zirkularität der Definition des ‚Geschmacks’ habe ich oben schon an-
gesprochen. (Siehe Anm. 440) Kurz kann man sagen: Geschmackvoll ist
das, was ein Mensch, der Geschmack hat als geschmackvoll empfindet.
Bestenfalls kann man sagen, dass die Feststellung, was Geschmack sei, immer
nur die Übereinkunft einer bestimmten Menschengruppe ist.
Es ist offensichtlich, dass die hier beschriebenen Anschauungen gegenwärtig
Gegenstand einer allgemeinen gesellschaftlichen Auseinandersetzung sind.
Der lange verpönte Begriff der Elitenbildung ist wieder hoffähig geworden
und die Unterscheidung von Ober-, Mittel- und Unterschicht hat wieder
Eingang in den politischen Diskurs gefunden. Grob gesagt geht es um die
Frage, ob die Gesellschaft vertikal hierarchisch oder horizontal egalitär zu
sehen ist. Die zweite Form haben wir schon bei Niklas Luhmann kennen
gelernt. Luhmanns soziale Systeme bestehen gleich berechtig nebeneinan-
der. Sie werden aber, wie oben beschrieben, nicht aus Individuen gebildet,
sondern sie sind Formen der Kommunikation.

8.5.2 Gerhard Schulzes Milieus


Auch Gerhard Schulze sieht einen Wandel der Gesellschaftsstruktur, begrün-
det durch „Verschwinden traditioneller Großgruppen, Auflösung proletari-
scher Milieus, Bedeutungsverlust sozialer Hierarchien, Individualisierung als
Zerfaserung altgewohnter Sozialtypen.“ Er teilt die Gesellschaft ein in Gruppen
von Menschen mit gleichen kulturellen Ambitionen. Die nennt er Milieus,
deren Entstehung auch er durch eine „erhöhte Binnenkommunikation“
bedingt sieht.475 Von seiner komplexen Analyse der „Erlebnisgesellschaft“

474  Hecken, (1985), 293.


475  Schulze, (1993), 23.

388  Die Welt als Garten


gebe ich nur einige Bruchstücke wieder, die für meine Überlegungen von
Bedeutung sind.
Schulze teilt die Gesellschaft in fünf Milieus ein, die er zunächst in zwei
Altersgruppen gliedert: Über 40 Jahre sind die Mitglieder des Niveaumilieus,
des Integrationsmilieus und des Harmoniemilieus; unter 40 Jahre die des
Selbstverwirklichungsmilieus und des Unterhaltungsmilieus. Ich gebe nur
einige typische Merkmale der einzelnen Milieus wieder und zwar solche, die
Schulze unter den Kategorien „Alltagsästhetik“ und „Lebensphilosophie“ an-
führt:
Niveaumilieu:
• Präferenzen: Klassische Musik, Oper, Theater, überregionale Zeitungen,
Sprachen lernen, Schreiben u.a.
• Distanzierungen: Basteln, Auto pflegen, Volksfestszene, Trivialmusik und
–literatur, Fernsehshows u.a.
• Lebensphilosophie: Perfektion.
Harmoniemilieu:
• Präferenzen: Volksmusik, Fernsehshows, Heimatfilme, deutsche Schlager,
Auto pflegen, Wohnung verschönern, Bildzeitung, Goldenes Blatt u.a.
• Distanzierungen: Suche nach Abwechslung, Sport, klassische Musik,
Selbsterfahrungsgruppen, Kultursendungen im Fernsehen, Sprachen ler-
nen, Fortbildung u.a,
• Lebensphilosophie: Harmonie

Gartenkunst, soziologisch gesehen  389


Integrationsmilieu:
• Präferenzen wie auch Distanzierungen kommen vor, wie die im Niveau-
und Harmoniemilieu, mit unterschiedlichen Gewichtungen. Man kann
von einem Aufsteigermilieu sprechen.
• Lebensphilosophie: Harmonie und Perfektion
Selbstverwirklichungsmilieu:
• Präferenzen: Neue Kulturszene, Sport, Sachbücher, Suche nach
Abwechslung, Kneipenszene, Pop, Rock, Folk, überregionale Zeitungen,
Ausstellungen, klassische Musik, Schauspiel u. a.
• Disanzierungen: Talkshows, Naturfilme, lokale Sendungen, Volksmusik,
Trivialliteratur, Goldenes Blatt u.a.
• Lebensphilosophie: Narzißmus und Perfektion.
Unterhaltungsmilieu:
• Präferenzen: Auto fahren und pflegen, Vergnügungsviertel, Sportszene,
Science-fiktion, Pop, Rock, Folk, deutsche Schlager, Kino, Kneipenszene,
Trivialliteratur, Goldenes Blatt u. a.
• Distanzierungen: Politische Diskussionen im Fernsehen, Theater, Oper,
Konzert, gehobene Literatur, überregionale Zeitungen u. a.
• Lebensphilosophie: Narzisßmus.
Ich lasse es dahingestellt, ob Schulzes Beschreibung der Milieus, die er vor
knapp zwanzig Jahren publiziert hat und die er nach den seinerzeitigen
Altersgruppen gegliedert hat, noch in jeder Hinsicht aktuell ist. Manche
Angehörige des Selbstverwirklichungsmilieus gehören vielleicht heute dem
Niveaumilieu an. Man kann wohl auch von einem neuen Milieu sprechen,
dem der Neureichen, deren Präferenzen Haute Couture, Haute Cuisine,

390  Die Welt als Garten


Porsche fahren und andere sind und deren Lebensphilosophie Reichtum-
mehren ist. Es handelt sich dabei um eine besondere Art der ‚Eliten’.
Gültig bleibt das Grundprinzip von Schulzes Gesellschaftsmodell, dass es un-
terschiedliche Milieus gibt, die bei einer gewissen Abgeschlossenheit gleich
berechtigt nebeneinander bestehen. Schulze distanziert sich denn auch aus-
drücklich von Bourdieu:
Nicht Bourdieus, sondern unser Fehler ist es, wenn wir uns durch
seine Analyse den Blick für die soziale Realität in der deutschen
Gesellschaft der Gegenwart verstellen lassen. Dieses Risiko ist umso
höher, als Bourdieus Diagnose durch Vertrautheit besticht. Er schil-
dert das Frankreich des 20. Jahrhunderts so, daß wir das Deutschland
des 19. Jahrhunderts wiederzuerkennen glauben. Die symbolische
Distinktion zwischen Gruppen gleicher Lage im dimensionalen
Raum der Kapitalarten (ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital,
soziales Kapital) erscheint als Kulturkampf zwischen Oberschicht,
Kleinbürgertum und Proleten, ausgefochten innerhalb einer Hierachie
des Geschmacks, die von oben nach unten durch Herablassung,
von unten nach oben durch Emporschauen und peinlich misslin-
gende Imitation sozial in Szene gesetzt wird.476 (Hvh. A. S.)
Ich lege auf diese soziologischen Fragen einen so großen Wert, weil die
‚Welt als Garten’ nur mit einem entsprechenden Gesellschaftsmodell denk-
bar ist. Eine Gartenkunst als Gesamtkunstwerk im Sinne des Barocks oder
Landschaftsgartens ist nicht mehr denkbar, weil es einen Auftraggeber wie
den absoluten Herrscher nicht mehr gibt, sondern Nutzer und Auftraggeber
kann nur eine demokratisch verfasste Gesellschaft sein. Hierbei geht es nicht
vordergründig um politische Tagesfragen, sondern um die Grundsatzfrage
gesellschaftlicher Solidarität, um

476  Schulze, (1993), 20.

Gartenkunst, soziologisch gesehen  391


8.5.3 Die Gleichberechtigung unterschiedlicher Lebensformen.
Schon Adorno hat diese Auffassung vertreten: „Die lebendigen Menschen,
noch die zurückgebliebensten und konventionell befangensten, haben ein
Recht auf die Erfüllung ihrer sei’s auch falschen Bedürfnisse.“ „Sogar im fal-
schen Bedürfnis der Lebendigen regt sich etwas von Freiheit.“ 477
Während Adorno aus seiner Sicht noch vom „falschen Bedürfnis“ spricht,
hält Martin Seel ein leidenschaftliches Plädoyer für eine gesellschaftliche
Solidarität:
„Eine Theorie sozialer Integration schließt ein Verständnis des Wohlergehens
sozialer Gemeinschaften ... mit ein.“ Grundlegend für alles existentielles
Gelingen ist, „daß sich menschliches Leben auf eine nicht-zwangshafte Weise
als ein selbstbestimmtes vollzieht.“
Um der Individualität von Lebensformen und Lebensläufen willen sind
allgemeine Grundsätze der sozialen und politischen Anerkennung
geboten. Daher schließt unverzerrte soziale Rücksicht immer eine spe-
zifische Wahrnehmungsfähigkeit mit ein: die Fähigkeit wahrzuneh-
men, was für die jeweils Betroffenen Bedingungen eines für sie gelin-
genden Lebens sind; die Fähigkeit wahrzunehmen, wie es Betroffenen
unter vermeintlich günstigen oder ungünstigen Bedingungen tatsäch-
lich ergeht; die Fähigkeit wahrzunehmen, in welchen zahllosen Formen
sich ein gutes menschliches Leben realisieren kann; die Fähigkeit
wahrzunehmen, wie hartnäckig gerade moderne Gesellschaften
vielen ihrer Mitglieder den Zugang zu einem für sie guten Lebens
versperren; wie wenig die eigene partikulare Vorstellung von einem
guten Leben von anderen geteilt wird; wie sehr es allen anderen eben-
so wie mir selbst um ein für sie gutes Leben geht; wie sehr wir alle der
Zerbrechlichkeit unseres Wohlergehens ausgesetzt sind; wie eine in-

477  Zitiert in: Welsch, (1988), 114.

392  Die Welt als Garten


dividuell durchgehaltene, sozial gestützte und rechtlich gesicherte
Wahrnehmung der Interessen anderer die gemeinsamen Aussichten
auf ein gelingendes Leben bessern kann; die Fähigkeit wahrzuneh-
men, wie sehr die Wechselseitigkeit dieser Wahrnehmungen einen so-
zialen Raum der freizügigen Realisierung individueller und kollektiver
Lebensprojekte konstituiert und erhält.
Eine Wahrnehmungsfähigkeit dieser Art ... ist eine wesentliche
Wurzel gesellschaftlicher Solidarität; ... Sie basiert nicht auf einer mit
anderen geteilten Konzeption des Guten, sondern auf einer sozialen
Aufmerksamkeit für die formal verstandene Möglichkeit eines guten
Lebens. 478 (Hvh. fett: A. S.)
Schon an anderer Stelle hat sich Martin Seel gemeinsam mit Angela Kepler
mit diesem Thema unter einem etwas anderen Aspekt befasst:
Sie verstehen demokratische Kultur ist nicht nur „horizontal als öffentliche[n]
Streit zwischen den Gebildeten und Berufenen“, auch nicht nur „diagonal, als
Heranführung der Massen“ an das Bildungsniveau, sondern
Vertikal 479 ... , als offene Koexistenz und Konkurrenz der ästhetischen
Bereiche. Erst dieses vertikale Verständnis ... nimmt den Gedanken ei-
ner demokratischen Kultur ernst. Denn die politische Gemeinschaft
grundsätzlich Freier und Gleicher schließt ein Zusammenleben des
subtilen und sublimen mit dem banalen und trivialen Geschmack
notwendiger Weise mit ein. Zur Idee einer demokratischen Kultur
gehört weder die Erwartung, daß sich das Subtile in the long run
durchsetzen werde, noch der Glaube, daß die ästhetische Kultur der
politischen prinzipiell entgegengesetzt sei. Zum Begriff einer demo-

478  Seel, (1995), 735 – 740.


479  Mit ‚vertikal’ ist hier sicher keine wertende hierarchische Ordnung
gemeint.

Gartenkunst, soziologisch gesehen  393


kratischen Kultur – in dem die ästhetische als ein wichtiger Teil des
politischen erkannt ist – gehört vielmehr die Norm einer ungezü-
gelten Koexistenz des Elitären und Populären. 480 (Hvh. A. S.)
In diesem Zusammenhang ist auf ein Schlagwort einzugehen, das seit den
80ger Jahren diskutiert wird, der Begriff „Aneignung“. Es wurde als revolutio-
näre Idee angesehen, dass die „sterilen“ Grünanlagen von der Bevölkerung in
Besitz genommen würden. Das war im Ansatz eine Reaktion auf das allge-
genwärtige: „Betreten des Rasens verboten“. Eine generelle Aneignung wäre
aber nur möglich, wenn es sich um eine homogene Nutzergruppe handeln
würde. Tatsächlich stehen jedoch die verschiedenen Milieus in Konkurrenz
zueinander mit unterschiedlichen Interessen, so dass die Aneignung durch
eine dominierende Gruppe eher zu einer Privatisierung führt. In der Praxis
ist deshalb eine Trennung der Funktionen sinnvoll. So wird zum Beispiel das
Harmoniemilieu immer nach Schaugärten mit vielen Blumen, den symboli-
schen „10.000 Tulpen“ verlangen.
Soweit also der Grundsatz einer gesellschaftlichen Solidarität, den ich als
eine Voraussetzung für eine ‚Welt als Garten’ ansehe. An dieser Stelle ist aber
eine Kritik des bisher Beschriebenen nötig. Ich nehme den obigen Begriff
„Koexistenz“ als Stichwort. Er ist bezeichnend für eine Grundeinstellung, die
ich auch bei Schulze sehe, nämlich eine überwiegend synchrone Betrachtung
der gesellschaftlichen Zustände. Sie ist kein falscher Blickwinkel, weil
Solidarität ein übergeordnetes Kriterium ist. In einer diachronen Betrachtung
ist aber zu fragen, ob die Kunst im weitesten Sinne sich verändern und da-
mit die Gesellschaft verändern kann; und besonders erhebt sich die Frage,
kann sie einen „neuen Menschen“ formen? Vordergründig muss man das
verneinen, wie eine bedeutende historische Entwicklung gezeigt hat: der
„Bauhausstil“. Die Künstler des Bauhauses waren durchdrungen von der
Vorstellung eines „neuen Menschen.“ Sie wollten eine Bau- und Wohnkultur

480  Kepler, Seel, (1991), 878.

394  Die Welt als Garten


schaffen, indem durch eine funktionelle Planung und rationelle Fertigung
preiswerte Produkte für einen größeren Konsumentenkreis bereitgestellt
wurden. Trotz entsprechenden soziologischen Untersuchungen wurde der
angestrebte Nutzerkreis aber nicht erreicht. In den Arbeiterwohnungen hielt
das ‚Gelsenkirchener Barock’ Einzug, und die Bauhaus-Möbel blieben einem
exklusiven potenten Käuferkreis vorbehalten. Das implizit verfolgte Ziel, die
Menschen zur „guten Form“ zu erziehen, schlug fehl.
Nun kann man aber doch feststellen, dass sich gegenwärtig die „Neue Form“
immer mehr durchsetzt. Bei technischen Geräten ist sie selbstverständlich
geworden und in Inseraten für Immobilien werden immer öfter Häuser „im
Bauhausstil“ angeboten. Es bewegt sich also doch etwas. Wie das vor sich
geht, ist näher zu untersuchen. Dabei ist die Entwicklung in der Architektur
und Gestaltung mit der in der bildenden Kunst vergleichbar.

8.5.4 Entwicklung in der Kunst


Einer der wenigen Künstler, die sich intensiv mit der Kunsttheorie befasst
haben war – neben Paul Klee – Wassily Kandinsky. Er beschreibt die
Entwicklung mit einem Symbol:
Ein großes spitzes Dreieck ... mit der spitzesten kleinsten Abteilung
nach oben gewendet – ist das geistige Leben schematisch richtig dar-
gestellt. Je mehr nach unten, desto größer, breiter, umfangreicher und
höher werden die Abteilungen des Dreiecks.
Das ganze Dreieck bewegt sich langsam ... aufwärts, und wo „heute“
die höchste Spitze war, ist „morgen“ die nächste Abteilung, d.h. was
heute nur der obersten Spitze verständlich ist, ... wird morgen zum
sinn- und gefühlvollen Inhalt des Lebens der zweiten Abteilung.

Gartenkunst, soziologisch gesehen  395


An der Spitze der obersten Spitze steht manchmal allein nur ein
Mensch. ... Und die ihm am nächsten stehen, verstehen ihn nicht.
Entrüstet nennen sie ihn Schwindler und Irrenhauskandidaten. ...
In allen Abteilungen des Dreiecks sind Künstler zu finden. Jeder von
denselben, der über die Grenzen der Abteilung hinausblicken kann, ...
hilft der Bewegung. ... Wenn er aber nicht dieses scharfe Auge besitzt,
... dann wird er von allen seine Abteilungsgenossen ... verstanden und
gefeiert. Je größer diese Abteilung ist, ... desto größer ist die Menge, der
des Künstlers Rede verständlich ist.481
Kandinsky beschreibt Vorgänge, die uns durchaus geläufig sind. Er denkt da-
bei sicher an Monet, Cezanne, van Gogh und natürlich an sich selbst. Alle
diese Künstler sind zu ihren Lebzeiten kaum verstanden worden. Erst spät
wurden sie anerkannt und zu Vorbildern von Nachfolgern und Nachahmern.
Kandinsky bezieht in sein Dreieck sowohl Künstler wie auch „die Menge, der
des Künstlers Rede verständlich ist“ mit ein.
Aber erst im Rückblick zeigt sich der Vorgang so, wie ihn Kandinsky beschreibt.
Danach könnte man ja geradezu eine Gesetzmäßigkeit darin sehen, dass an
der Spitze immer ein verkanntes Genie steht, das die Aufwärtsbewegung
des Dreiecks bestimmt, das aber von der Masse nicht erkannt wird. In der
Realität sehen die Verhältnisse dagegen ganz anders aus. Nicht jede revolu-
tionäre Idee hat bleibenden Erfolg. Neu ist zwar die Erscheinung, dass heute
auf besonders radikale und ausgefallene Künstler „gewettet“ wird; das heißt,
ihre Werke bringen es im Kunsthandel oft zu Spitzenpreisen. Wer will aber
voraussagen, ob Künstler wie Jonathan Meese oder Daniel Richter oder
ob nicht ganz andere, heute weniger bekannte, dereinst als die Spitzen der
Kunstbewegung ihrer Zeit gesehen werden?

481  Kandinsky, (1952), 29f.

396  Die Welt als Garten


8.5.5 Avantgarde und Gros
Es geht also, mit anderen Worten, um das Verhältnis der „Avantgarde“
zu dem „Gros“, das selbstverständlich auch in der Gartenkunst rele-
vant ist. Ich stütze meine Überlegungen dazu auf eine Untersuchung der
Literaturwissenschaftler Bettina Clausen und Karsten Singelmann. 482
Die gehen aus von der ursprünglichen militärischen Konnotation des Begriffs,
die „noch unmittelbar am Vorbild des grenzüberschreitenden, geländesi-
chernden Vortrupps älterer Marschordnungen orientiert war ... am Muster
jener ebenso hochmotivierten wie gefährdeten ‚Vorhut’, die dem ‚Gros’ erst
den Weg bahnt.“ In dieser Bedeutung kann der Begriff in der Kunsttheorie
aber keine Geltung haben,
denn: es setzte dies jenen dreifach falschen Glaubenssatz voraus,
nach dem es, erstens, in den Künsten ähnlich wie in den vorange-
triebenen Prozessen einer technopolitisch-naturwissenschaftlichen
Entwicklung stets ‚voran’ gehe; daß, zweitens, in der Kunstentwicklung
ein ‚Vorn’ stets auszumitteln wäre, und drittens, daß, qualitativ gese-
hen, ‚Spitzenkünstler’ stets der sei, der erkennbar in der ‚ersten Reihe’
produziere – unhaltbare Prämissen durchweg. 483
Ihr Versuch einer Neubestimmung des Begriffs ‚Avantgarde’ geht aus von der
„axiomatischen, nicht hintergehbaren Generalstruktur ihrer Gebundenheit
an das Gros einerseits, wie aus der ebenso tradierten Abgelöstheit ihrer
Strategien von den Vorgehensweisen des Gros auf der anderen Seite.“ 484 Auf

482  Clausen, Singelmann, (1992), 455 bis 465.


483  Ebd. 457.
484  Ebd. 463.

Gartenkunst, soziologisch gesehen  397


der Grundlage dieses „Essential“ werden die Kriterien einer Neubestimmung
entwickelt: 485
... die Forderungen an eine [Kunst] der Avantgarde [hätten] über
die normativen Forderungen an eine [Kunst] der Moderne erkenn-
bar hinauszureichen. Das heißt, wo sich Modernität‚ bestimmt
durch die Übereinkunft, daß sich der je ‚moderne’ [künstlerische]
Sinnverständigungsprozeß auf der „Höhe der Zeit“ ... befinde und
diesen Zeitgeist des Gros mit den je verfügbaren Mitteln objektivie-
re - dort hätte ‚Avantgarde’ sich ihrerseits darüber zu definieren eben
diesen „Geist der Zeit“ in den Formen seiner temporären Erstarrung zu
verlassen und das in ihm reduzierte bis unterdrückte Potenzial nicht-
konformer (Überschuß-)Wahrneh mungen zu befreien.
Avantgarde hätte also Erkenntnis-Überschüsse hervorzubringen,
und dies, indem sie ihre ästhetischen Aktionen sowohl auf das gesell-
schaftlich Reale als auch auf den aktuellen Stand der kunstinternen
Ausdrucksmittel verpflichtet. An diese „doppelte Referentialität“ ist
das Überschuß-Handeln von ‚Avantgarde’ genauso gebunden, wie
das [künstlerische] Handeln des ‚Gros im [Kunstsystem]’; die vom
Gros nicht abgetrennt denkbare Avantgarde impliziert damit durch-
aus eine strukturale ‚Ähnlichkeit’ beider Handlungskonzeptionen im
Symbolsystem der [Kunst]. nicht jedoch deren ... vielfach antagoni-
stisch verstandene, substantielle ‚Anders-artigkeit’.“
... Ästhetische Operationen, die diese „doppelte Bezüglichkeit“ verwei-
gern, ... wären nicht mehr sinnvoll in dies Konzept von ‚Avantgarde’

485  Die Autoren befassen sich mit Literatur. Ihre Aussagen lassen sich aber
allgemein auf die Kunst anwenden. Ich ersetze deshalb das Wort „Literatur“
und seine Ableitungen im Original jeweils durch das Wort „[Kunst]“ und
seine Ableitungen.

398  Die Welt als Garten


integrierbar. ... Weder also programmatische Negierungen des
„Ästhetizismus“, [Anm.: des pur Artistischen] noch betont-ar-
tistische Formen des ‚Sinnentzuges’, demonstrative Effekte von
‚Unverständlichkeit’ oder gar forcierte Signalisierung des unbedingt
‚Neuen’ ergäben für sich allein Kriterien für die Bestimmung von
Avantgarde-Leistungen.“ 486 (Hvh. A.S.)
Wichtig ist die Auffassung, dass Leistungen, die den „Geist der Zeit“ auf-
brechen, nicht äußerlich erkennbar sind. Sie können sich „von Seiten des
Rezipienten vielmehr nur über den Weg der eigenen, gleichfalls doppelten
referentiellen Einsicht erschließen.“
Die Autoren kritisieren auch das ständige „Vorantreiben amimetischer
Darstellungsweisen, [das] Zurücktreten von Dargestelltem überhaupt zugun-
sten des Verweises auf die Mittel der Darstellung“, eine Kritik, die man auch
gegen die „Wettbewerbs-Gartenkunst“ richten kann, die das Mimetische zu-
gunsten effektvoller graphischer Darstellungsweisen vernachlässigt.
Abschließend wird fest gestellt, dass es bei der Avantgarde nicht „um die
Diktatur der jeweils ‚brandneuen’ Einstellung unserer Optiken geht, ... son-
dern um die Offerierung unerschlossener Bewusstseinsräume, die zu be-
gehen dem [Rezipienten] anheimgestellt werden.“ Es geht um „eine stets auf
Erfüllung des Utopischen – und nicht auf dessen unablässige Perpetuierung
– bedachte Kunstanstrengung.“ 487 (Hvh. fett: A. S.)

8.5.6 Folgerungen für die Gartenkunst


Voraus zu schicken ist, dass die Gartenkunst nicht autonom ist. Sie hat eine
sozialhygienische Funktion für die Erholung der Menschen im weitesten
Sinne, zum Beispiel durch körperliche Betätigung in der Natur oder durch

486  Ebd. 463f


487  Ebd, 465.

Gartenkunst, soziologisch gesehen  399


Naturgenuss an sich. Deshalb muss die „Theorie sozialer Integration“ nach
Seel ein Leitmotiv der Gartenkunst sein. Das heißt, dass öffentliche Anlagen
unterschiedliche Bewusstseinslagen und Wahrnehmungsfähigkeiten berück-
sichtigen müssen. Als ein positives Beispiel, in dem dieses Prinzip verwirklicht
wurde, nenne ich die IGA Rostock, die ein Angebot an unterschiedliche
Milieus und Vorlieben brachte. Aber auch andere Ausstellungen und Anlagen
wären zu nennen, die in der Regel auch die höchsten Besucherfrequenzen
aufweisen
Das heißt natürlich nicht, dass es hier nur um Konventionalität geht, sondern
es geht um Vielfalt, man könnte auch sagen, es geht um Mehrfachcodierung.
Und es geht auch um die „Vorwärts-Bewegung“ der Avantgarde der
Gartenkunst. Dabei erhebt sich nun die Frage: wohin soll es denn gehen? Wo
ist „Vorne“? Die gegenwärtig herrschende oben beschriebene Wettbewerbs-
Gartenkunst, kann man sicher nicht als Avantgarde bezeichnen, da sie sich
völlig vom Gros getrennt hat. Um im Bild der militärischen Konnotation zu
bleiben: ich sehe sie eher als Marketenderin, welche die „Eroberungen“ der
Avantgarde der bildenden Kunst aus dem vorigen Jahrhundert: die äußerli-
chen Formen des Suprematismus, des Konstruktivismus und Minimalismus
wohlfeil als Gartenkunst verkauft.
Wenn man überhaupt eine Richtung für die Avantgarde der Gartenkunst
vorgeben kann, in die „Erkenntnis-Überschüsse“ führen sollten, dann ist es
die Entwicklung des Mensch-Natur-Verhältnisses; - ich wiederhole: um das
Verhältnis von physis und techne, Tun und Lassen, Denken und Fühlen. Und
ob es sich dann um Kunst handelt, zeigt sich nur dadurch, ob hinter dem
„Identischen die Spur des Nichtidentischen als das Naturschöne“ aufscheint.
Eine Avantgarde der Gartenkunst hätte vor allem den Gegensatz von
Ökologie und Naturästhetik aufzulösen in eine ‚Form der Unterscheidung
mit zwei Seiten’:

400  Die Welt als Garten


Gartenkunst
Naturästhetik Ökologie

Das heißt, dass weder die reine Naturgartenbewegung eines Le Roys oder
Urs Schwarz noch die modische Verwendung der Pflanzen zur Bildung orna-
mentaler Formen eine zukunftsweisende Richtung sein kann. Die „doppelte
Referentialität“ auf das „gesellschaftlich Reale“ und die aktuellen „kunstin-
ternen Ausdrucksmittel“ sehe ich gegeben einmal in Gartenbeispielen wie
man sie in vielen Gartenzeitschriften sieht, in denen sich die Tendenz zur
naturhaften Gestaltung zeigt und ebenso in den zunehmend erfolgreichen
Versuchen der Profession, zum Beispiel standortgerechte Blumenwiesen her-
zustellen, worin durchaus eine neue Naturästhetik einer Avantgarde zu er-
kennen ist. Peter Latz sieht das ähnlich:
Ökologie müsste Symbol für Natur und Kultur zugleich sein, muss
also auch Kunst sein. ... Das Bild von Natur kann eine Struktur des
„Belassenen“ und des „Gebauten“ sein. Die Akzeptanz der fragmen-
tarischen Welt verzichtet auf die Ganzheiten des Großbildes und im
Gewebe der Anordnungsmuster bleibt Platz für den Zufall Natur.488
Ein übergeordnetes Telos einer Avantgarde muss sein, sich mit den tief grei-
fenden globalen Veränderungen unserer Zeit auseinander zu setzen, mit
den Problemen des Klimas, des Bevölkerungswachstums und der Schonung
der natürlichen Ressourcen. Es ist zwar richtig, dass zu der Lösung dieser
Probleme politische und wissenschaftliche Anstrengungen unternommen
werden müssen, aber nachhaltige Lösungen sind nur denkbar, wenn die Idee
der ‚Welt als Garten’ auch als ästhetisches Bewusstsein wirksam wird.

488  Latz, (2005), 96.

Gartenkunst, soziologisch gesehen  401


Bevor ich nun zu konkreten Themen der Gartenwelt und Gartenkunst kom-
me, ist noch ein anderer soziologischer Begriff zu klären, der in letzter Zeit
Hochkonjunktur hat, die Frage:

8.5.7 Was ist Urbanität?


Urbanität ist ein Modewort, das zu eindimensionalem Denken sowohl bei
Stadtplanern, wie auch bei Landschaftsarchitekten führt. Ich habe zwei
Beispiele, die das belegen; das erste betrifft die Stadtplanung:
Nach dem Kriege erfolgte der Wiederaufbau der Städte überwiegend
nach den Grundsätzen der Charta von Athen. Anstelle der ungesun-
den Stadtviertel der Gründerzeit entstanden in den Außenbereichen
durchgrünte Gartenstädte, in Hamburg zum Beispiel die Siedlungen von
Reichow: Hohnerkamp und Farmsen oder in Bielefeld die Sennestadt. In den
Innenstädten trat anstelle der Straßenrandbebaung der Zeilenbau, einge-
bettet in Grünflächen, die dann später abschätzig ‚Abstandsgrün’ genannt
wurden.
Anfang der 60ger Jahre kam dann zunehmend Kritik auf wegen feh-
lender ‚Urbanität’ dieser Stadtteile. Ich erinnere mich an Diskussionen
im Städtebauseminar in der Hamburger Baubehörde in jener Zeit mit
Hebebrand und den Planern der Neuen Heimat. Man schaute auf die
Innenstadtviertel, wie Eppendorf, die weniger im Bombenkrieg gelitten hat-
ten und in die wieder ‚urbanes Leben’ eingekehrt war. Die Erkenntnis die
man daraus zog war einfach: Man verglich die Bebauungsdichte, gemessen
an der Geschossflächenzahl, die in den Zeilenbaugebieten 0,4 bis 0,6 betrug
und in den alten Stadtteilen über 2,0. Also wurde über Dichten von GFZ 2,0
und höher diskutiert. Extrem war der Vorschlag der Neuen Heimat für die
Sanierung St. Georgs mit dem so genannten Alsterzentrum. Ausgeführt wur-
den dann aber ‚verdichtete’ Siedlungen, wie der Osdorfer Born in Hamburg
oder die Gropiusstadt in Berlin. Bezeichnenderweise waren am Osdorfer

402  Die Welt als Garten


Born keine öffentlichen Grünanlagen vorgesehen, weil man den Begriff
Urbanität nicht mit Grünflächen assoziierte. Diese wurden erst später ange-
legt, nachdem sich die Siedlung zum sozialen Brennpunkt entwickelt hatte.
Die erhoffte Urbanität hatte sich nicht eingestellt. – Nebenbei ist zu erwäh-
nen, dass einige Grünplaner dem Schematismus der Geschossflächenzahl
mit dem Schematismus einer ‚Grünmassenzahl’ begegnen wollten, Grün in
Kubikmetern gemessen!
In meinem zweiten Beispiel, in der gegenwärtigen Gartenkunst, hat der
Begriff eine ganz andere Bedeutung, die aber genau so eindimensional ist.
Danach wird ‚Urbanität’ mit architektonischer Gestaltung gleichgesetzt. Der
Begriff ‚urban’ wird also im Grunde synonym für ‚architektonisch’ benutzt. Es
geht nur um formalistische Fragen. Eine Parallele zur Stadtplanung besteht
nur darin, dass in der Innenstadt kein Grün geduldet wird, und wenn ja, dann
nur in Reih und Glied und in Form geschnitten. Diese Gestaltungsform ga-
rantiert aber eben nicht, dass Urbanität entsteht. Es ist wohl kein Zufall, dass
auf den meisten Abbildungen derartiger Plätze kaum Menschen zu sehen
sind. Urbanität ist von anderen Faktoren abhängig.
Was bedeutet also nun ‚Urbanität’ in der Zwischenstadt, in der ‚Gartenwelt’?
„Das Adjektiv [urban] wurde in 18. Jh. aus lat. urbanus ‚fein vornehm, gebil-
det’ entlehnt. Dies ist von lat. urbs ‚Stadt’ abgeleitet und bedeutet eigentlich
‚zur Stadt gehörend’. Das Adjektiv wurde zunächst nur im Sinne von ‚gebil-
det und weltgewandt’ gebraucht, im 20. Jh. ... dann im Sinne von ‚städtisch,
für städtisches Leben charakteristisch’“.489
Nun wird wohl niemand behaupten, dass heute ‚gebildete’ Menschen nur
in der Stadt leben und auf dem Lande das glückliche „Volk der Gefilde“,
das noch nicht „zur Freiheit erwachet“ ist. (Schiller) Das hat vielleicht noch
vor hundert Jahren gegolten. Die Voraussetzung dafür war der Bürgerliche

489  Duden Das Herkunftswörterbuch.

Gartenkunst, soziologisch gesehen  403


Bildungskanon, der längst irrelevant geworden ist. Heute ist Urbanität un-
abhängig von der Stadt zu definieren. Sie ist ein Lebensgefühl und bedeu-
tet in erster Linie intensive Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, an kultu-
rellen Veranstaltungen, sowohl der Hoch- wie auch der Trivialkultur, und
dazu gehören das Konsumverhalten und die Freizeitgestaltung. Gerhard
Schulze hat diese neuen Gesellschaftsstrukturen beschrieben und anstelle
der sozialen Schichten die unterschiedlichen Milieus gesetzt, die aber nicht
hierarchisch geordnet sind. Ein Schlüsselwort für urbanes Leben ist also
Bildung und eine wichtige Voraussetzung für Bildung ist die Beherrschung
der Zivilisationstechniken. Dazu gehören die Telekommunikation, die
Beherrschung der Verkehrssysteme und der verschiedensten Apparate aber
auch die Flexibilisierung der Berufsausübung. Die Chance an der Teilhabe ha-
ben alle Menschen, zumindest in den westlichen Ländern. Das hängt nicht
davon ab, ob jemand in der Stadt oder auf dem Lande wohnt.
Es gibt auch eine ständige Fluktuation. Junge Familien mit Kindern ziehen
von der Stadt aufs Land und wenn die Kinder groß sind, zieht es sie wieder
in die Stadt.
Aber viele Menschen stehen der Technik immer noch feindlich gegenüber
und sehen in ihr den unvereinbaren Gegensatz zur Natur. Dagegen steht
die Ansicht von Karl Jaspers, in der auch das Wesen von Urbanität zum
Ausdruck kommt:
Die technische Welt scheint die Natur zu zerstören. Man klagt, das
Dasein werde unnatürlich. Die künstliche Technik, welche auf ih-
rem Wege Häßlichkeit und Naturferne in Kauf nehmen muß, könn-
te aber am Ende einen intensiveren Zugang zu aller Natur ermög-
lichen. Der moderne Mensch vermag mit neuer Bewusstheit Sonne
und Elemente zu erfahren. Technik bringt die Voraussetzungen, um
ein Leben im Ganzen der geographischen Welt, in der Weiträumigkeit
von Licht und Luft und aller Weisen ihrer Erscheinung zu führen.

404  Die Welt als Garten


Indem alles nahe und erreichbar wird, wird die Heimat weit. In die-
ser Natureroberung erwächst dann die eigentliche Lust an der un-
berührten Natur, die ich einsam in sinnlicher Gegenwart an diesem
Orte durch die Tätigkeit meines Leibes in ihr mir zur Wahrnehmung
bringe und entdecke. Nur indem ich diese Entdeckbarkeit in meiner
jeweils unmittelbaren Umwelt erweitere und mich nicht vom Boden
löse, vielmehr diese Lösung nur als eines der technischen Mittel, den
Boden mir nahezubringen ergreife, kann ich die Chiffre der Natur in
den künstlich geschaffenen Möglichkeiten490 ... tiefer erblicken.
Mit der Technisierung ist ein Weg beschritten, der weitergegan-
gen werden muß. Ihn rückgängig zu machen hieße das Dasein bis
zur Unmöglichkeit erschweren. Es hilft nicht zu schmähen sondern
zu überwinden. Dazu muß das Technische das Selbstverständliche
sein, das in der Ausübung fast außerhalb des Feldes ausdrücklicher
Aufmerksamkeit liegt. Gegenüber der Notwendigkeit, daß jede
Tätigkeit zu besserem Gelingen technisch unterbaut sein muß, ist dann
das Bewußtsein für das Nichtmechanisierbare bis zur Untrüglichkeit
zu schärfen. Eine Verabsolutierung der Technik wäre vernichtend für
das Selbstsein; ihm muß jeder Leistungssinn von einem anderen Sinn
durchdrungen bleiben.491
Für mich beschreiben diese Sätze einen wesentlichen Aspekt des heutigen
urbanen Lebens. Das ist auch eine Absage an alles sektenhafte ‚Naturleben’.
Natürlichkeit und Technik, physis und techne gehören zum Leben. Der „an-
dere Sinn“ bezieht sich dann auf alle anderen geistigen Inhalte des Lebens.

490  Unter „künstlich geschaffen“ verstehe ich nach meinem Leitmotiv:


physis, durch techne beeinflusst
491  Jaspers, (1931), 184f.

Gartenkunst, soziologisch gesehen  405


Soweit also die Bedeutung des Begriffes ‚Urbanität’ im Hinblick auf das
Bewusstsein der Gesellschaft. Er hat aber auch eine Relevanz in Bezug auf
die Planung. Aber wie gesagt, hat das weder etwas mit Dichte noch mit
irgendwelchen formalistischen Fragen zu tun, seien es orthogonale oder
‚dekonstruktivistische’ Formen. Urbanität entsteht nur durch Vielfalt, durch
Überlagerungen unterschiedlicher gesellschaftlicher Funktionen. Diese sind
in alten gewachsenen Städten noch vorhanden. Allerdings degenerieren sie
hier zunehmend durch die Überhandnahme von Konsumeinrichtungen in
Teilen der Innenstädte, die dann nach Ladenschluss wie ausgestorben wirken.
In dieser Hinsicht haben die viel beklagten Einkaufszentren „auf der grünen
Wiese“ auch eine positive Seite, indem kulturelle und gesellige Funktionen
nicht völlig aus den Städten verdrängt werden.
Sofern wir von Urbanität in der Gartenkunst reden wollen, ist auch dazu
nur zu unterscheiden zwischen Vielfalt und Einfalt. Die Erzeugnisse
der Wettbewerbs-Gartenkunst, die unter dem Diktum von „Klarheit
und Lesbarkeit“ stehen, erzeugen keine Urbanität. Klarheit bedeutet
Überschaubarkeit auf einen Blick; der zweite Blick erzeugt schon Langeweile.
Das Schlagwort „Lesbarkeit“ müsste doch eigentlich narrative Vielfalt be-
deuten; davon kann aber selten die Rede sein. - Für Urbanität stehen im-
mer noch Grünanlagen wie der Palmengarten in Frankfurt oder Planten un
Blomen in Hamburg. Das ist aber wie gesagt, nicht die Frage nach modernen
oder konventionellen Formen, sondern es geht allein um die Pluralität der
Funktionen, wie auch Weilacher schreibt:
Die Raumgefüge der Zukunft müssen ... komplett genug für den
Gebrauch, unvollständig genug für die subjektive Aneignung, auch
komplex und damit antizipationsfähig genug sein, um auf den ständi-
gen Wandel reagieren zu können. 492

492  Weilacher, (2005), 20.

406  Die Welt als Garten


Das gilt für alle Räume, nicht nur für die städtischen. Der Begriff Urbanität
ist nicht mehr relevant als Planungsbegriff für Gestaltungsformen, sondern
vielleicht noch für unterschiedliche Lebensformen, die mehr naturnah, ‚länd-
lich’ oder naturferner, ‚städtisch’ sein können. Er steht für eine besondere
Atmosphäre, die aber nicht formalistisch zu bestimmen ist.
Festzustellen ist jedoch, dass der Begriff immer noch Hochkonjunktur hat.
So spricht man von „urbaner Wildnis“ oder auch vom „urbanen Wald“. 493
Urbane Wildnis sieht man vor allem im Zusammenhang mit aufgelassenen
Industrieflächen, zum Beispiel im Emscherpark. Hier sehe ich eine starke ro-
mantische Komponente darin, dass Ruinengelände von der „Natur“ zurück
erobert werden, ein Reiz, der offensichtlich viele Menschen beeindruckt.
Nach meinen Grundunterscheidungen ‚physis / techne’ und ‚Tun und Lassen’
überwiegen hier physis und Lassen. Mit ‚Urbanität’ hat dies wenig zu tun.
„Urbaner Wald“ ist im Gespräch in Verbindung mit dem „Rückbau“ in der
Stadt. Das ist im Hinblick auf die demographische Entwicklung von großer
Bedeutung. Beachtlich ist, dass hier an Aufforstung gedacht wird, was bis-
her in der Profession kaum ein Thema war, weder bei Landschaftsplanern
noch bei Naturschützern. Wald war allein Sache des geschlossenen Systems
Forstwirtschaft. So erklärt sich auch, dass nicht von Aufforstung die Rede ist
sondern von „Wald etablieren“ und dass man das „Urbanen Wald“ nennt,
und nicht der seit Jahrzehnten eingeführte Begriff „Erholungswald“ verwen-
det wird. Es wird Zeit, diesen kleinlichen Dissens zwischen den Fakultäten
zu überwinden, und konsequenterweise sollte hier auch das Fachwissen der
Förster einbezogen werden.
Dieses neue Konzept wird hauptsächlich ökonomisch begründet, weil es
langfristig gesehen geringe Pflegekosten erfordert. Ich sehe aber die grund-

493  Garten und Landschaft Februar 2004 und Mai 2010.

Gartenkunst, soziologisch gesehen  407


sätzliche Bedeutung darin, dass Wald überhaupt Gegenstand der Planung
wird.
Zur ‚Hochform’ gelangt der Begriff dann mit der „Urbanen Landschaft“.
Darunter wird das „gesamte Raumgeschehen“ verstanden „mit
Gebäuden, Freiräumen, Infrastruktur, naturräumlichen und kultur-
räumlichen Bedingungen, Menschen, Tieren und Pflanzen und den
Wechselbeziehungen von Natur und Kultur“.494
Der Begriff ist also allumfassend. Aber nach dem Grundsatz, dass man „keine
Bezeichnung vornehmen kann, ohne eine Unterscheidung zu treffen“, ist er
leer. Hier besteht das gleiche Dilemma, das ich in der Einleitung (Anm. 23)
im Zusammenhang mit dem Begriff „Totale Landschaft“ behandelt habe, mit
dem Unterschied, dass „urban“ besser klingt und dass damit alles konnotiert
werden kann, was die gegenwärtige Gartenkunst bewegt. In dem zitierten
Aufsatz ist denn auch nur von einer Theorie der Entwurfstechnik die Rede.
Was „urban“ bedeuten soll, bleibt unklar.

494  Landschaftsarchitekten 2/2010, 36ff.

408  Die Welt als Garten


Kapitel 9 Aspekte der ‚Gartenwelt‘
Wenn ich jetzt versuche, die Idee der ‚Welt als Garten’ zu konkretisieren, dann
wird es nicht vielmehr als die Zusammenfassung der bis hier entwickelten
Gedanken sein, hier und da mit einer Vertiefung und Erweiterung. Bei der
Komplexität des Themas kann man keine einheitliche Theorie oder ein neu-
es System schaffen. Was gebildet wird, ist ein Bündel von Unterscheidungen.
Es ist der Versuch, gegenwärtige Fehlentwicklungen bloß zu legen und Wege
zu neuen Gestaltungsformen aufzuzeigen. Dabei geht es um konventionel-
le Fragen der Gartengestaltung als auch um die übergeordnete Frage des
Mensch- / Naturverhältnisses. Es geht um globale und lokale Sichtweisen. -
Natürlich gibt es auch andere „Welten“: die soziale Welt, die Wirtschaftswelt,
die politische Welt und so weiter. Alle stehen in Wechselbeziehung mit der
‚Welt als Garten’, mit der ‚Gartenwelt’.

9.1 Die räumliche Struktur


Gartenkunst ist eine Raumkunst. Deshalb ist die Raumstruktur eine wichtige
Frage in Bezug auf die Gartenwelt. Als Symbol für den ‚Urraum’ habe ich
im 5. Kapitel die Waldlichtung und als entscheidende globale Veränderung
der klassischen Raumvorstellung und damit der konventionellen Landschaft
die fraktale Form der ‚Zwischenstadt’ nach Sieverts und als neue Raumidee
das Raumkontinuum oder den fließenden Raum dargestellt. Das Prinzip
der Zwischenstadt ist die „Durchdringung von Freiräumen und Bebauung,“
die anstelle der Trennung von Stadt und Land durch die ‚Stadtkante’ ge-
treten ist. Dabei haben sich „Kerne stabiler Permanenz“ erhalten, die eine
„Synthese [mit] ... Feldern weitgehender Unbestimmtheit“ bilden. Ein posi-
tiver Gesichtspunkt dieser Entwicklung ist der, dass in diesem Raumgebilde
viele Menschen in unmittelbarer Nähe zur Natur leben können. Dieses zu
erhalten und noch zu verbessern muss Ziel der Planung sein.

Die räumliche Struktur  409


Die immer noch vertretene Forderung nach Verdichtung der Innenstädte,
um der ‚Zersiedelung’ entgegen zu wirken, ist ein kontraproduktiver
Anachronismus. Die Begründungen, die in dem Zusammenhang angeführt
werden, sind haltlos; die entsprechenden Zahlen sind irreführend: Wenn
zwei Hektar Ackerfläche mit Einfamilienhäusern bebaut werden, heißt das
nicht, dass zwei Hektar versiegelt werden sondern höchstens ein fünftel
davon. Und auch dies kann noch durch ein entsprechendes Regenwasser-
Management weit gehend kompensiert werden. Und auch ökologisch gese-
hen, ist ein Gebiet mit Hausgärten wertvoller als ein Maisacker.
Auch das Problem der Verkehrswege ist durch die Verdichtung der Städte
nicht zu verbessern. Die Entfernungen zu den Gewerbegebieten, die sich
meistens in den Randgebieten befinden oder gar in den Gemeinden außer-
halb der Städte, sind kaum in irgendeiner Weise zu optimieren, zumal der
Wohnungswechsel den meisten Menschen bei uns, im Gegensatz zu den
Amerikanern, schwerer fällt als der Wechsel des Arbeitsplatzes.
Die Struktur der räumlichen Durchdringung kann sehr unterschiedlich sein.
Wichtig ist, wie gesagt, die Möglichkeit des Wohnens ‚Innen’ und ‚Außen’.
Überholt sind jedoch Modelle städtebaulicher Großformen wie Grünzüge,
Grünachsen oder grüne Ringe. Das stellt auch Lucius Burckhardt fest in sei-
ner „Spaziergangswissenschaft“:
Der Spaziergang zum Stadtrand dient auch der Kritik der plötzlich wie-
der auflebenden Grün-Großkonzepte. In einer Zeit, wo städtebaulich
wenig zu machen ist, redet man plötzlich wieder von Grünschneisen
und einem Grünring um die Stadt. Das angestrebte Ziel ist der
Spaziergänger, der von seiner Wohnung zur nächsten Grünschneise
strebt, dort radial zum Stadtrand wandert und schließlich, aber es ist

410  Aspekte der ‚Gartenwelt‘


so lächerlich, daß man sich schämt, es niederzuschreiben, auf dem
Grünring um die Stadt läuft oder radelt.495
Burckhardt vertritt einen „Spaziergang“, der „in seinen Sequenzen spannungs-
reich“ angelegt ist und „durch gegensätzliche Stadtteile führt: durch enge
Gassen, zwischen öffentlichen Bauten, schließlich durch Wohnquartiere und
dann ins Grüne.“ 496 Sein Ziel ist es „den stereotypen Bildern der Stadtplaner
und Grünplaner die wirklichen Bilder des Stadtbewohners entgegenzuset-
zen.“
Deshalb muß Grünplanung gerade nicht auf die Kontinuität der
Schneisen und Ringe tendieren, sondern auf ihre Unterbrechung.
Jedem bewohnten Stadtteil sollte ein kurzer Spaziergang zum
Stadtrand oder zu einem innerstädtischen Freiraum zugeteilt sein, in
bevorzugten Städten kann dieses ein Flußraum sein, dort aber soll-
te nicht nur gärtnerische Gestaltung, sondern auch das Spiel der
Baulücken ... für Abwechslung sorgen.497
Dem muss auch die Wegeplanung folgen im Zusammenwirken der Stadt-
und Grünplanung. Es sind spezielle Wegesysteme für Fußgänger und
Radfahrer zu schaffen. Die Grundform sollten Rundwege in verschiedenen
Längen sein.
Eine besondere Bedeutung für die räumliche Struktur der Stadt haben Sieverts
„Felder weitgehender Unbestimmtheit“ in letzter Zeit mit dem Brachfallen
städtischer Bauflächen und den dadurch entstehenden Baulücken erlangt.498
Diese erfordern ganz neue Ansätze von Gestaltungsformen. Die Anlagen,
obwohl sie zeitlich begrenzt sind, können für die verbliebenen Bewohner,

495  Burckhardt, (2007), 290.


496  Ebd., 291.
497  Ebd., 292.
498  Siehe Anm. 198, 199.

Die räumliche Struktur  411


besonders für Kinder, ganze Lebensabschnitte bestimmen. In diesen Fällen
ist eine intensive Mitwirkung der Anlieger angebracht, wobei die zeitliche
Unbestimmtheit immer bewusst bleiben muss. Wir kommen also zu einer
neuen Unterscheidung, die unserem bisherigen Denken fremd war, die zwi-
schen dauerhaften Anlagen, die mit zunehmendem Alter immer schöner
werden und ephemeren Grünflächen, die dynamischen Veränderungen un-
terliegen.

9.2 Vegetation als Substanz der Gartenwelt


Neben der Raumstruktur hat die Vegetation essentielle Bedeutung für
die Gartenwelt. Ich habe im 2. Kapitel die biologischen Grundlagen der
Vegetation behandelt: die Pflanzen als autopoietische Einheiten in struktu-
reller Kopplung mit ihren Nischen, sowie Formen der Vergesellschaftung, das
Verhältnis physis zu techne und Tun und Lassen und im Kapitel 7 die Pflanzen
als Medium und Form in der Gartenkunst. Im Hinblick auf die Gartenwelt
ist nun die globale Bedeutung der Vegetation zu beleuchten, Vegetation als
Ernährungsgrundlage einer wachsenden Weltbevölkerung.

9.2.1 Die Bedeutung der Bodenfruchtbarkeit


Zur Vegetation gehören, wie gesagt, die Pflanzen und ihr Substrat, der
Boden. Ein Hauptproblem für die Gartenwelt ist die rapide Abnahme kul-
turfähiger Böden weltweit bis zur Wüstenbildung, und das ist nicht nur ein
Problem der Entwicklungsländer. Die Ursachenforschung beschäftigt sich
vorwiegend mit dem Klimawandel, was aber hier nicht zu behandeln ist.
Mein Thema sind die biologischen Ursachen, und zwar die Vernachlässigung
des Bodenlebens, was seit der Antike zur Verkarstung der Landschaften
geführt hat. Ich habe oben bereits angedeutet, wie wichtig ein gesundes
Edaphon für die nachhaltige Fruchtbarkeit des Bodens ist. Es geht um die

412  Aspekte der ‚Gartenwelt‘


Fähigkeit der Nährstoffspeicherung und vor allem um die Optimierung
der Wasserkapazität der Böden, wodurch die Wüstenbildung verhindert
werden kann. Und nicht nur die Wüstenbildung, auch die weltweit zu-
nehmenden Überschwemmungen haben eine Ursache in der mangelnden
Bodengesundheit.
Absolut negativ sind die gegenwärtig vorherrschenden Monokulturen zu
sehen, besonders der Maisanbau, der eine Verdichtung und Erosion des
Bodens nach sich zieht. Aber es ist falsch, die „industrielle Landwirtschaft“ zu
verteufeln. Nicht der Einsatz von Maschinen an sich ist schädlich, sondern die
Vernachlässigung der Frage der Fruchtfolge und die mangelnde Zuführung
organischer Stoffe. Die modernen landwirtschaftlichen Maschinen sind
durchaus in der Lage, eine optimale Bodenstruktur herzustellen, wenn die
anderen Faktoren gesichert sind. Biologischer Landbau ist also nicht durch
„vorindustrielle“ Bearbeitungsmethoden gekennzeichnet, sondern durch die
umfassende Beachtung nachhaltiger Bodenfruchtbarkeit. Wichtigster Faktor
ist der Dauerhumus, der durch eine umfassende Kreislaufwirtschaft der or-
ganischen Stoffe zu sichern wäre. Bewusst provozierend sage ich: Wichtiger
als der alles beherrschende konservierende Artenschutz ist der Schutz eines
reichen Bodenlebens.
Ich habe keinen Einblick, welche Rolle die Bodenkunde heute im Studienplan
angehender Landschaftsarchitekten spielt. Lehrreich ist jedenfalls ein Blick
ins Internet unter den Stichworten Bodenkunde und Bodenfruchtbarkeit.
– Natürlich spielen auch weltwirtschaftliche Fragen und die negativen
Wirkungen von fehlgeleiteten Subventionen, die nur die Bodenspekulation
fördern, eine Rolle, was hier aber nicht zu erörtern ist.

Vegetation als Substanz der Gartenwelt  413


9.2.2 „Nachwachsende Rohstoffe“ als einschneidender Faktor in der
Gartenwelt
Die sich anbahnende weltweite Ölverknappung hat eine Entwicklung aus-
gelöst, deren Tragweite nicht überschätzt werden kann. Es geht um den
Anbau „nachwachsender Rohstoffe“. Gegenwärtig bahnt sich eine Besorgnis
erregende Entwicklung an, indem großmaßstäblich Erdöl durch Pflanzenöl
oder durch aus Zuckerrohr gewonnenen Alkohol ersetzt wird, weit ge-
hend auf gerodeten Regenwaldflächen. Eben so negativ ist die bei uns sub-
ventionierte Stromgewinnung aus Mais zu sehen, auch im Hinblick auf die
Bodenverschlechterung. Fragwürdig ist diese Methode schon aufgrund
der geringen Effizienz, das heißt, dass der Energieaufwand für die Kultur –
Bodenbearbeitung, Düngung, Aussaat, Schädlingsbekämpfung, Ernte – fast
so groß ist, wie die gewonnene Energie.
Zu beurteilen ist der Anbau von nachwachsenden Rohstoffen auf Kosten der
Nahrungsmittelproduktion auch unter dem Gesichtspunkt, dass Millionen
Menschen in der Welt verhungern.
Es ist deshalb dringend zu fordern, Kulturformen für nachwachsende Rohstoffe
zu entwickeln, die nicht oder möglichst wenig die Nahrungsmittelproduktion
beeinträchtigen. Dafür bieten sich zunächst Grenzböden an, auf denen der
Mitteleinsatz für normale Landwirtschaftliche Kulturen höher ist als der
Ertrag. Weiter kämen Flächen infrage, die aus anderen Gründen nicht oder
vermindert kulturfähig sind, wie Restflächen oder Hangflächen.
Ich schlage als Beispiel ein Modell vor, das von den norddeutschen
Wallhecken, Knicks, inspiriert ist. Die Knicks hatten (und haben) mehrere
Funktionen. Sie dienten einerseits als Einfriedigung und Windschutz und lie-
ferten andererseits Heizmaterial für den bäuerlichen Herd. Die Knickpflanzen
waren heimische Gehölze, die aus den Wäldern geholt wurden.

414  Aspekte der ‚Gartenwelt‘


Eine moderne Form könnte so aussehen: Auf einem großen Ackerschlag wer-
den in Abständen von 100 bis 150 Metern parallele Gehölzreihen gepflanzt.
Davon wird jedes Jahr, je nach Pflanzenart, ein Siebentel bis ein Zehntel
abgeerntet, so dass ein sieben- bis zehnjähriger Umtrieb stattfindet. Diese
Kulturform kann genossenschaftlich organisiert werden, in einem Umfang,
der den Betrieb eines Kleinkraftwerkes ermöglicht. – Als Voraussetzung wäre
zu erforschen, welche Gehölze am besten geeignet sind, d. h. welche den
größten Zuwachs bei geringer Wurzelkonkurrenz bringen. Im Prinzip werden
es tief wurzelnde Pflanzen sein. Zweitens sind der optimale Abstand und
die Richtung der Reihen zu ermitteln, so dass Windschutz und eine geringe
Verschattung optimiert werden und der Einsatz von großen Landmaschinen
nicht behindert wird.
Die Probleme, die die nachwachsenden Rohstoffe aufwerfen, lassen erken-
nen, welche Umwälzungen in der Landschaft bevorstehen. Lucius Burckhardt
sah noch die Gefahr
daß in Teilen des Landes, wo die Rationalisierung sich als unrentabel
erweist, die Landwirtschaft aufhört, das Landschaftsbild verwildert
und zerstört wird, und daß damit ebenso sehr die Kennzeichen des
„lieblichen Ortes“ verloren gehen wie bei der übermäßigen Nutzung.
Die totale Ausbeutung – oder andernorts die Nichtbewirtschaftung –
des Bodens hebt den Gegensatz von Natur und Garten auf. So wird zur
Notwendigkeit, was zu Beginn des Industriezeitalters ein Vergnügen
großer Herren war: die Gestaltung der Landschaft.499
Eine Nichtbewirtschaftung wird es bald nicht mehr geben, aber die
Gestaltung der Landschaft unter veränderten Bedingungen ist die Aufgabe
der Zukunft.

499  Burckhardt, (2007), 196f.

Vegetation als Substanz der Gartenwelt  415


9.3 Das Bild der Landschaft, Zukunftsaspekte
Das Motto „Die Welt als Garten“ mit dem Zusatz „Über Gartenkunst“ soll
zum Ausdruck bringen, dass Gartenkunst stärker als andere Kunstarten
mit essentiellen Lebensfragen verbunden ist, mit Fragen der Ernährung, der
Energieversorgung, des Zusammenlebens und der seelischen Gesundheit.
Dies alles ist zu sehen als ‚Form der Unterscheidung’ mit mehreren Seiten.
Das heißt, dass die Behandlung einer dieser Seiten immer die Gefahr in sich
birgt, dass die anderen als ‚Blinder Fleck’ keine Beachtung finden. Wenn ich
von dem ‚Bild der Landschaft’ spreche, besteht dazu die Gefahr, dass dies
unter Kategorien der bildenden Kunst verstanden wird, was ich im 7. Kapitel
behandelt habe. Andererseits können wir auf den Begriff ‚Landschaftsbild’
nicht verzichten. Er muss nur von den alten Konnotationen befreit werden,
von den Stereotypen wie Landschaftsmalerei, Arkadien und so weiter. Es
geht aber immer noch um Naturästhetik, und ich beziehe mich dazu auf
Gernot Böhme:
Zu den fundamentalen Lebensbedürfnissen des Menschen [gehört]
nicht nur das Bedürfnis nach einer schönen Umgebung überhaupt,
sondern das Bedürfnis nach Natur: nämlich daß da etwas ist, das
von selbst da ist und ihn durch sein selbsttätiges Dasein berührt. Der
Mensch hat ein tiefes Bedürfnis nach dem anderen seiner selbst. ...
Die ökologische Naturästhetik darf ... weder qua Ökologie nur ein
Machen von Umwelt sein, noch qua Ästhetik ein bloßes Hinnehmen
von Natur. Wie dieses Paradox zu lösen ist, dafür gibt die Theorie und
Praxis des Landschaftsgartens ... ein Beispiel. Als konkrete Naturpoetik
war sie eine Kunst, der es darum ging, gerade Natur als Natur hervorzu-
bringen. Sie arrangierte Natur, damit die um so deutlicher von sich her
auf den Menschen zukäme. ... Die Theorie der Landschaftsgärtnerei [er-

416  Aspekte der ‚Gartenwelt‘


weist sich] als Paradigma für eine künftige ökologische Naturästhetik.
500

Böhme ist wegen dieser Ansichten oft kritisiert und missverstanden worden,
besonders auch von Gerhard Hard, der den Begriff ‚Landschaft’ immer mit
dem Bild eines Schnitzels assoziiert. Gernot Böhme denkt natürlich nicht an
Landschaftsgärten, wie sie vor 200 Jahren entstanden sind, sondern es geht
ihm um das Prinzip, das er ein Paradox nennt, nämlich dass Nutzen und
Schönheit in der „sozial konstituierten Natur“ zusammen gehören.
Ein positives Beispiel ist die Einbindung der Autobahnen in die Landschaft
durch Landschaftsarchitekten. Dies kann als Vorbild dienen für die Lösung
gegenwärtiger Probleme. Ich denke an den zunehmenden Widerstand
der Bevölkerung gegen die Windenergie-Parks und die in Verbindung da-
mit notwendigen neuen Überlandleitungen. Durch eine entsprechende
Landschaftsplanung könnten die Beeinträchtigungen gemindert und die
Akzeptanz gefördert werden. Dazu müssten in den Planfeststellungsverfahren
verbindliche Landschaftsbegleitpläne aufgestellt werden.
Dabei geht es nicht in erster Linie um ein Kaschieren der technischen
Elemente, sondern um die Schaffung eines Gegengewichtes durch eine ro-
buste und gezielt eingesetzte Vegetation. Ich stelle mir eine relativ kleinräu-
mige Gliederung der Landschaft in diesen Bereichen vor, wodurch der Blick
abgelenkt wird. Entsprechende Pflanzungen könnten als nachwachsende
Rohstoffe dienen. Die Raumbildung muss aber im Übrigen die Belange einer
rationalen Landwirtschaft berücksichtigen, also grundsätzlich orthogonal
sein. Das führt zum nächsten Thema:

500  Böhme, (1989), 92ff.

Das Bild der Landschaft, Zukunftsaspekte  417


9.3.1 Die Landwirtschaft und das Bild der Landschaft
Im klassischen Sinne ist der Begriff ‚Landschaft’ unmittelbar mit der
‚Gefildenatur’, das heißt mit der landwirtschaftlich genutzten Natur ver-
bunden, was man auch ‚Kulturlandschaft’ nennt. Dieses Landschaftsbild hat
sich kollektiv fest etabliert, obwohl die Landwirtschaft auch schon in der
Vergangenheit große Wandlungen durchgemacht hat, zum Beispiel durch
die Verkoppelung im 18. Jahrhundert welche die Gewannflur und Almende
ablöste. Als Störung des gewohnten Bildes wurde erst die Wandlung durch
die Flurbereinigung empfunden. Gegenwärtig stehen sich das Ideal einer
kleinräumlich strukturierten Landschaft und die Realität der ‚industriellen
Landwirtschaft’ unversöhnlich gegenüber.
Es erhebt sich die Frage, wie soll eine Landwirtschaft aussehen, die sich in das
Ideal einer Gartenwelt einfügt? Kann man das Landschaftsbild überhaupt
planerisch beeinflussen, und gäbe es ein Leitbild dafür? Oder sollte man die
Entwicklung sich selbst überlassen? Schließlich ist die klassische Landschaft,
die Gefildelandschaft, doch auch ‚natürlich’ entstanden.
Ich bin überzeugt, dass eine Steuerung unverzichtbar ist. Ich sage bewusst
nicht ‚Planung’, weil damit leicht die Herstellung von fertigen Bildern asso-
ziiert wird. Wenn man aber die Entwicklung den Spezialisten überlässt, wer-
den wir eine Landschaft bekommen, die der ähnelt, die im 19. Jahrhundert
durch die Monokultur der Kiefernwälder entstanden war. Ansätze sind
schon in Gegenden zu erkennen, die durch Maisfelder geprägt sind. Eine
derartige Fehlentwicklung kann aber nur durch die Zusammenarbeit von
Land- und Forstwirten, Bodenkundlern, Ökologen und nicht zuletzt von
Landschaftsplanern und Landschaftsarchitekten vermieden werden. - Dass
auch ökonomische und politische Faktoren eine beherrschende Rolle spie-
len, zum Beispiel durch das Subventionswesen, ist evident, kann jedoch hier
nicht weiter erörtert werden.

418  Aspekte der ‚Gartenwelt‘


Als fiktives Beispiel einer gemeinschaftlichen Problemlösung nehme ich den
obigen Vorschlag einer Streifenkultur von Energiepflanzen. Wissenschaftlich
ist die Auswahl optimaler Pflanzen zu erforschen. Agraringenieure hätten
den Reihenabstand und die rationellste Erntemethode zu klären. Als Faktor,
der das Landschaftsbild beeinflusst, müssten Landschaftsarchitekten den
Ernterhythmus bestimmen, was die folgende schematische Skizze veran-
schaulicht. Zugrunde gelegt ist ein siebenjähriger Umtrieb. Der Rhythmus
der Abschnitte ist unregelmäßig, wodurch ein abwechslungsreiches Bild ent-
steht. (Der Höhenmaßstab ist stark überhöht).

Entscheidend ist, dass bei einer Planung alle relevanten Belange berücksich-
tigt werden. Ein Negativbeispiel ist die bereits erwähnte Flurbereinigung, der
ein typisches eindimensionales Denken zugrunde lag. – Andererseits gibt es
heute aber auch Vorschläge von Landschaftsplanern, die nur ökologische
Belange berücksichtigen, aber aus Sicht der Landwirtschaft untragbar sind.
Zu berücksichtigen ist aber auch die Bedeutung der Agrarlandschaft als
Erholungsraum, zum Beispiel im Hinblick auf das Thema ‚Urlaub auf dem
Bauernhof’. So liegt etwa die Erschließung schöner Landschaftsteile durch
Wanderwege auch im Interesse der Landwirte, ebenso wie die Renaturierung
von Bachtälern, die außerdem auch dem Hochwasserschutz dienen würde.
Also auch die Wasserbauer gehören mit ins Boot, schon um die Schäden zu
beseitigen, die sie in der Vergangenheit angerichtet haben.

Das Bild der Landschaft, Zukunftsaspekte  419


Nachwachsende Rohstoffe können selbstverständlich unter bestimm-
ten Bedingungen auch flächig angebaut werden. Auch hier besteht die
Möglichkeit, Erholungsfunktionen einzufügen, zum Beispiel Labyrinthe und
Spieleinrichtungen auf Lichtungen.
Als eine besondere Möglichkeit, Landschaftsbilder und damit den
Erholungswert zu verbessern, sehe ich – besonders in Norddeutschland – dar-
in, durch Bauernwälder Raumwirkungen zu optimieren. Beispiele sind in der
Lüneburger Heide zu finden. Problematisch sind hier nur die Monokulturen
der Kiefernwälder, die besonders durch Waldbrände gefährdet sind. Bei der
Umwandlung in Mischwälder sollten auch gezielt Wildsträucher mit einge-
bracht werden, zur Förderung der Artenvielfalt von Flora und Fauna. Und die
Förster sollten sich dazu durchringen, in große Wälder Lichtungen einzufü-
gen, mit unterschiedlichen Nutzungen.
Anders liegen die Verhältnisse in Gegenden, die seit jeher wegen ihrer
Schönheit eine große Anziehungskraft für die Menschen haben. Das gilt für
die deutschen Mittelgebirge und für die so genannten „Schweizen“, von der
Holsteinischen bis zur Sächsischen Schweiz. Ein Blick auf Satellitenbilder zeigt,
dass diese Landschaften durch den Wechsel von Wald und Lichtung geprägt
sind. Bewaldet sind die Hänge und gelichtet die Talsohlen. Diese archetypi-
sche Raumstruktur und das ausgeprägte Relief machen offensichtlich den
Erholungswert dieser Landschaften aus. Aber oft sind sie der Grund für die
Schwierigkeiten einer rationellen Bewirtschaftung. Hier muss die Gesellschaft
den Landwirten helfen. Anstelle der Förderung der Großbetriebe in den
fruchtbaren Ebenen, sind hier nachhaltige Subventionen sinnvoll. Das heißt
aber nicht, dass die Landwirte fremd bestimmt, etwa von Naturschützern, zu
Landschaftspflegern degradiert werden; die Priorität hat auch hier die land-
wirtschaftliche Produktion. Ein besonderer Wert muss hier aber auch auf
die Schaffung einer optimalen Infrastruktur für die Erholungsfunktion gelegt
werden, was die Aufgabe von Landschaftsarchitekten wäre.

420  Aspekte der ‚Gartenwelt‘


Das Ziel ist also die Entwicklung einer neuen Kulturlandschaft -
‚Gefildelandschaft’ - die sowohl die Belange einer modernen Landwirtschaft
wie auch die Erholungsfunktion erfüllt. Erreicht werden kann das, wie ge-
sagt, nur durch eine enge Zusammenarbeit der verschiedenen Disziplinen,
am besten durch die Schaffung interdisziplinär strukturierter Behörden. –
Abschließend sei noch einmal Lucius Burckhardt zitiert, der sich intensiv mit
dem Thema Landschaft in seiner Spaziergangswissenschaft befasst hat:
Kulturlandschaft kann ... aktuell, gegenwärtig, fortschrittlich sein. Nur
heute ist das nicht mehr gestattet. ... Kulturlandschaft ist die Landschaft,
in die man zu spät kommt, deren Reiz darin besteht, daß man darin
gerade noch lesen kann, wie es einmal war. Und wie es einmal war, das
ist für uns so, wie es „eigentlich“ sein müsste. ...
Die Kulturlandschaft als solche existiert ... nicht. Sie ist immer ein
Unterwegs, unterwegs von der Vergangenheit in die Zukunft und da-
mit die Momentaufnahme der Gegenwart – und unterwegs von der
Stadt in den Urwald ... .
Die Wiederherstellung der Kulturlandschaft ist also die Erzeugung ih-
rer Wahrnehmung durch die Anlagen von Wegen durch die Zeiten, ist
also Spaziergangswissenschaft.501
Eine künftige Kulturlandschaft muss die Belange des technisch ökonomi-
schen Landbaus genau so wie ökologische Anforderungen: Nachhaltigkeit,
Schadstofffreiheit und Umweltverträglichkeit in sich vereinen. Dadurch
kann sich durchaus ein Landschaftsbild entwickeln, das auch naturästhetisch
wahrgenommen werden kann.

501  Burckhardt, (2007), 93ff.

Das Bild der Landschaft, Zukunftsaspekte  421


9.3.2 Der Naturschutz in der Gartenwelt
Im 7. Kapitel habe ich die Entwicklung des Naturschutzes zu einem geschlos-
senen sozialen System beschrieben, das auf dem zweiwertigen Code ‚wert-
voll / wertlos’ beruht und das durch die Angstrhetorik über den Begriff des
Aussterbens in der gesellschaftlichen Kommunikation fest etabliert ist. Als
wertvoll wird in erster Linie das eingestuft, was selten ist. Das sind diejeni-
gen Arten, die in den jeweiligen Roten Listen als „vom Aussterben bedroht“
geführt werden. Das heißt, komplexe ökologische Zusammenhänge werden
reduziert auf das Vorhandensein seltener Arten. Das alles gilt es kritisch zu
hinterfragen, um die Stellung des Naturschutzes in der Gartenwelt zu be-
stimmen.
Jürgen Dahls Federgeistchen
Das System Naturschutz beruft sich auf wissenschaftliche Theorien, die aber
zunehmend kritisiert werden. (Siehe Anm. 101) Ich beziehe mich auf die viel
beachtete leidenschaftliche Darstellung von Jürgen Dahl, „Verteidigung des
Federgeistchens“. Darin relativiert er viele Aussagen der Wissenschaft, zum
Beispiel das ‚ökologische Gleichgewicht’ als statisches Symbol, das Prinzip
der ‚Vernetzung’ oder die Bedeutung der ‚Artenvielfalt’. Er folgert:
Die Ökologie beschreibt weder das Paradies noch die Richtung in der
es liegt, ... Sie beschreibt ein subtiles Zusammenspiel zwischen den
Lebewesen, aber sie beschreibt auch die brutale Verdrängung einer ra-
ren Spezies durch einen Allerweltsrüpel. Sie kündet von einigen heilen
Weltecken, aber die Verkündigung ist untermalt vom Lärm der ökolo-
gischen Katastrophen, auch solcher, die die Natur sich selbst bereitet,
ganz ohne Zutun des Menschen.
Die Ökologie ist keine Gesetzessammlung, die sich zu einer Umwelt-
Ethik umformen ließe. Alles, was sich unter dem Etikett der Ökologie
an Vorschlägen und Vorschriften, an Empfehlungen und Mahnungen,

422  Aspekte der ‚Gartenwelt‘


an Verboten und Geboten annonciert wird, beruft sich zwar auf nach-
gewiesene ökologische Zusammenhänge – aber die Wertung dessen,
was als unerwünscht und erlaubt ... zu gelten hat, liegt außerhalb der
Ökologie.502
Es geht auch Jürgen Dahl um eine Wertung, und scheinbar ist auch für ihn
die Seltenheit ein Kriterium. Als Beispiel betrachtet er einen seltenen Falter,
das Federgeistchen. Das Einzigartige dieser Art besteht darin, dass bei ihr die
Hinterflügel aus federartigen Gebilden bestehen, die nur während des Fluges
zu sehen sind, weil sie, sobald sich der Schmetterling niederlässt, in einer
Tasche verschwinden.
Für Dahl besteht aber der Wert dieser Art für uns allein in seiner Schönheit.
Für die Ökologie sei es unerheblich, ob sie, so selten wie sie vorkommt, er-
halten bleibt oder nicht. Er rekurriert also auf ein Kriterium, das für den heu-
tigen Naturschutz nebensächlich ist: die Ästhetik der Natur, und nicht nur
auf der Seltenheit, sondern auch auf der Vielfalt gründet sich für Dahl das
ästhetische Empfinden. Aber diese Vielfalt „ist nicht mehr jene zweckmäßige
Diversität, von der die Ökologen künden, sondern ein Reichtum weit jen-
seits aller Zweckmäßigkeit.“ 503 Letztlich kommt er aber auch auf das Prinzip,
das ich mit den Unterscheidungen „physis / techne“ und „Tun und Lassen“
vertrete:
Wir müssen den Garten der Welt bestellen, wenn wir darin überleben
wollen. Und selbst wenn wir bescheiden sind und, anders als alle ande-
ren Lebewesen, nicht rücksichtslos und selbstsüchtig nur auf die eige-
ne Vermehrung und Verbreitung aus sind, müssen wir doch unabläs-
sig gegen „natürliche“ Zusammenhänge handeln. Wir müssen durch
Eingriffe aller Art immer wieder irgendwas zu verhindern trachten, was

502  Dahl, (1983), 230.


503  Ebd., 265.

Das Bild der Landschaft, Zukunftsaspekte  423


die „Natur“ von sich aus praktizieren möchte, und wir müssen immer
wieder versuchen, ihr etwas abzuverlangen, was sie von sich aus gar
nicht gäbe.504
So sieht er auch die Naturgartenbewegung, die nur vom „Lassen“ bestimmt
ist, kritisch „als subtile[n] Luxus ... von geringem Erkenntniswert.“ Denn „aus
Le Roys vielgelobten Wildwuchsanlagen [ist] schließlich doch nur die platte
Einsicht mitzunehmen, daß da, wo man was wachsen lässt, immer etwas
wächst.“ 505 Das entspricht der Feststellung, dass jede offene Nische bald wie-
der von einem Organismus besetzt wird, mehr oder weniger zufällig. (Siehe
Anm. 99).
Die Ansichten Dahls sind zum Teil nicht einfach zu interpretieren und in man-
cher Hinsicht missverständlich. Auch seine Prognose, dass die Entwicklung
auf eine Katastrophe zuläuft, nach der die Welt „gerade eben am Untergang
vorbei, in namenlose Armut versinkt“, ist ein Pessimismus, der heute – drei-
ßig Jahre später – nicht mehr angebracht ist. Man kann doch ein allmähli-
ches, wenn auch unendlich langsames Umdenken und ein Gegensteuern
in der Gesellschaft feststellen. Aber davon abgesehen, enthalten Dahls
Ausführungen wichtige Ansätze, die eine neue Rolle des Naturschutzes in
der Welt als Garten begründen können.
Überholte Symbole
Seine kritische Ansicht über manche Symbole im ökologischen Diskurs,
wie „ökologisches Gleichgewicht“ und „Vernetzung“ werden heute von
vielen Wissenschaftlern geteilt, wenn auch in der öffentlichen Diskussion
diese Symbole immer noch eine bestimmende Rolle spielen. Nach dem
Philosophen Dieter Birnbacher lädt ein Begriff wie der des Gleichgewichts „zu
einem naturalistischen Fehlschluß ein, der an sich rein deskriptiv funktioniert,

504  Ebd., 366.


505  Ebd.

424  Aspekte der ‚Gartenwelt‘


aber ... nur allzu leicht normativ gedeutet wird, so als wäre ‚Gleichgewicht’ eo
ipso der einzig wünschenswerte, schlechthin optimale Zustand eins Systems,
den es nur möglichst lange aufrecht zu erhalten ... gilt.“ 506
Auch der Begriff der Vernetzung wird noch immer von Naturschützern zur
Begründung ihrer Flächenansprüche ins Feld geführt. Ein Beispiel, das als eine
Vernetzung angesehen werden könnte, ist der Kleine Moorbläuling, der so-
wohl auf eine bestimmte Wirtspflanze angewiesen ist, den Lungenenzian,
von dem sich seine Raupen ernähren, wie auch auf die Knotenameise, in
deren Nestern die Raupen überwintern. Nach Maturana (Siehe Anm.
94 bis 96) ist dies aber nur eine besonders exotische Nischenbildung, die
nichts mit Vernetzung zu tun hat; das Moor bleibt bestehen, auch wenn
der Lungenenzian und damit der Moorbläuling nicht vorhanden sind. Diese
interessante Nischenbildung ist im Laufe der Evolution entstanden durch
das, was Maturana „natürliches Driften“ nennt. Dieses Driften ist nicht te-
leologisch - zweck- und zielgerichtet - bestimmt, sondern unterliegt rein
dem Zufall.507 Diese Zufälligkeit ist aber die Ursache für den ungeheuren
Artenreichtum, der im Laufe der Evolution durch lauter Verzweigungen
entstanden ist. Dies erklärt auch die Entstehung von manchen exotischen
Formen und Eigenschaften, die für das Überleben der jeweiligen Art ohne
Bedeutung sind.
Die beschriebenen Symbole stehen für ein Grundproblem des Naturschutzes,
den Anspruch, auf einer naturwissenschaftlichen Basis zu handeln. Wie in der
physikalischen Welt besteht die Haupttätigkeit im Zählen und Messen. Das hat
aber nur Sinn auf „Inseln der Ordnung“, (Cramer) auf denen die Entwicklung
fast still steht, wie bei Hochmooren, oder wie bei Wiesenbiotopen bei denen
die natürliche Entwicklung durch menschlichen Einfluss verhindert wird,. Im
Allgemeinen finden wir uns aber „in einer Welt des Zufalls wieder, einer Welt,

506  Birnbacher, (1980), 108.


507  Maturana, Varela, (1987), 119ff.

Das Bild der Landschaft, Zukunftsaspekte  425


in der Reversibilität und Determinismus nur für einfache Grenzfälle gelten,
während Irreversibilität und Unbestimmtheit die Regel sind.“ 508 „Man hat
nichts mehr, woran man sich festhalten kann, alles fließt. Auf der Welt gibt es
zur Zeit etwa 5 Millionen Arten. Aber insgesamt hat es in der Geschichte der
Erde 500 Millionen Arten gegeben, das heißt; das was wir jetzt sehen, ist nur
1 Prozent dessen, was einmal existiert hat.“ 509
Das heißt aber nicht, dass die Artenvielfalt nicht erhalten werden muss.
Dabei geht es zum Beispiel gar nicht so sehr um das Argument, dass in den
Regenwäldern noch ungehobene Schätze an Heilpflanzen vorhanden sind.
Es geht um die Ästhetik unserer Lebensräume, und diese Ästhetik ist eine
essentielle Grundlage menschlichen Lebens. Die Frage, 5 oder 10 Prozent des
Landes unter Naturschutz zu stellen sind, ist ökologisch nicht zu entschei-
den. Sie wird willkürlich nach der politischen Durchsetzbarkeit entschieden.
Der Einfluss ökologischer Erkenntnisse auf die Wahrnehmung
Dies alles zeigt, dass die Ökologie keine Wertung erlaubt. Sie ist eine beschrei-
bende aber keine vorschreibende Wissenschaft. Für unser Naturverhältnis und
Naturverständnis ist sie trotzdem von großer Bedeutung. Ich habe das schon
in dem Abschnitt „Denken und Fühlen“ begründet. Danach haben ökologi-
sche Erkenntnisse Einfluss auf unsere ‚gefühlte’ ästhetische Wahrnehmung.
Ein Beispiel ist die veränderte Einstellung zum ‚Unkraut’: Vom Urgarten bis
zum heutigen Gemüsegarten ist das Unkraut nicht tolerierbar. Außerhalb
dieser Gärten wird jedoch aus ‚Unkraut’ infolge ökologischer Erkenntnis
‚Wildkraut’ geworden. Beispielsweise wurden noch in den 70ger Jahren in ei-
nem Hamburger Naturschutzgebiet ausgedehnte Bennnesselbestände mit
Herbiziden behandelt. Erst nach der Aufklärung durch Ökologen, wonach
Brennnesseln wichtige Wirtspflanzen für viele Tiere sind, veränderte sich die

508  Prigogine / Stengers, (1986), 18.


509  Cramer, (1989), 222.

426  Aspekte der ‚Gartenwelt‘


Wahrnehmung und damit die Einstellung zu diesem ‚Unkraut’. Das gilt auch
für die Entdeckung der Stadtbiotope. Auch die wurden (und werden von
‚ordnungsliebenden’ Hausbesitzern noch heute) rigoros bekämpft.
Ökologische Erkenntnisse beeinflussen also unsere Wahrnehmung. Ich habe
die Frage der Wahrnehmung im 6. Kapitel so ausführlich behandelt, weil sie
eine Grundlage unseres Naturverständnisses ist. Durch die Wahrnehmung
wird die Konstruktion unseres Weltbildes bestimmt. Wahrnehmung – grie-
chisch: Aisthesis – ist im weitesten Sinne Ästhetik. Das heißt, Ästhetik ist
nicht nur „Augenschmaus“, und es nehmen nicht nur alle Sinne an der äs-
thetischen Wahrnehmung teil, sondern auch rationale Erkenntnisse beein-
flussen das ästhetische Empfinden. Die Naturerscheinungen, die uns so
beeindrucken sind also ‚wertvoll’ in diesem ästhetischen Sinne. Das un-
terscheidet sich kategorisch von dem Wert des binären Codes „wertvoll /
wertlos“ im Naturschutz-System.
Der Wert des Seltenen
Die Frage dieses Wertes ist noch näher zu untersuchen. Jürgen Dahls
Auffassung dass die Ökologie wertfrei operiert; gipfelt in der Feststellung,
dass selbst in einer Welt aus heißer Schwefelsäure eine bestimmte einzellige
Alge „nach allen Regeln der Ökologie“ sich wohl fühlen würde. Damit ist der
ökologische Wert an sich absolut relativiert.
Schwieriger ist die Wertbestimmung aufgrund der Seltenheit, was an tie-
fenpsychologische Fragen rührt. Warum empfinden wir das Seltene als
kostbar? Es ist phylogenetisch erklärbar: Auch der gegenwärtige Mensch
ist immer noch Jäger und Sammler. Für die Sammlerleidenschaft gib es un-
endlich viele Beispiele. Auch das Bestimmen und damit Erkennen neuer
Arten ist ein Sammeln. In der Regel richtet sich das Interesse aber beson-
ders auf seltene Exemplare des Sammlergebietes. Für mich war es bei der
Bestimmung von Wildpflanzen immer ein Erlebnis, wenn ich eine der sel-

Das Bild der Landschaft, Zukunftsaspekte  427


tenen Formen erkannt hatte, besonders, wenn es eine schöne Blume war.
Bei den Kräutersammlerinnen dürfte es ein seltenes Heilkraut gewesen sein;
in vielen Märchen spielt ein einzelnes ‚Kräutlein’ eine Schlüsselrolle. Für die
Briefmarkensammler ist es die Blaue Mauritius.
Wenn nun mehrere Konkurrenten so ein seltenes Exemplar haben wollen,
dann steigt der materielle Wert desselben, so dass man bei Briefmarken-,
Münz- und Kunstsammlern offen von Wertanlagen spricht. Ein materieller
Wert entsteht aber nur dadurch, dass von irgendjemandem der Besitz des
seltenen Gegenstandes angestrebt wird.
Damit ist klar, dass der Wert einer seltenen Tier- oder Pflanzenart nicht
materiell bestimmt werden kann, denn sie kann normalerweise nicht in
Besitz genommen werden. Allerdings kann man in der Haltung und in dem
Verständnis der Naturschutzverbände durchaus ein Besitzstreben feststellen:
Wenn ein Naturschutzgebiet ausgewiesen und einem Naturschutzverband
zur ‚Pflege’ anvertraut wird, zeigt dieser typische Verhaltensweisen eines
Besitzers. So werden Regeln für das Verhalten der Nichtmitglieder aufgestellt,
und am liebsten das Betreten „besonders wertvoller“ Bereiche ganz verboten.
Gerne wird vom Tabu gesprochen. (Tabu: „etwas, das sich dem ... Zugriff aus
Gründen moralischer, religiöser od. konventioneller Scheu entzieht; [wovon]
nicht gesprochen werden [darf].“ 510)
Aber auch eine materielle Wertbestimmung spielt im Naturschutz eine
immer größere Rolle: In der Eingriffsregelung bei Großvorhaben wird die
Lösung meistens durch eine Ausgleichszahlung gesucht. Für die administra-
tive Abwicklung solcher Verfahren wurde eine Wertskala entwickelt, vom
Acker über Wiesen, Feuchtgebieten, Trockenrasen bis zu Hochmooren, die
am „teuersten“ sind. Bei einem Eingriff muss dann eine Fläche an anderer
Stelle entsprechend „höhergestuft“ werden. So wurde tatsächlich schon (ver-

510  Fremdwörterlexikon

428  Aspekte der ‚Gartenwelt‘


geblich) versucht, künstlich eine Trockenrasenfläche zu schaffen durch das
Abschieben von Mutterboden. Ein anderes Beispiel solchen „Planierraupen-
Naturschutzes“ habe ich im Kapitel 7 angeführt.
Die Utopie eines gesellschafts-konformen Naturschutzes
Das selbstreferentielle System Naturschutz ist so fest in der Gesellschaft
verankert, dass qualitative Änderungen als utopisch erscheinen müssen.
Trotzdem will ich der Frage nachgehen, unter welchen Bedingungen und
Grundsätzen eine Änderung möglich sein kann.
Als Prämisse stelle ich fest, dass jede Theorie und jede Ideologie anthro-
pozentrisch ist; eine Erkenntnis, die sich immer mehr durchsetzt. Auch
der Naturschützer vertritt seine eigenen Interessen bis zum Besitzstreben.
Tatsache ist zudem, dass das System Naturschutz nur in wohlhabenden
Gesellschaften bestehen kann. In Ländern, in denen Hungersnöte herrschen,
ist an eine derartige Form des Naturschutzes nicht zu denken. Daraus er-
gibt sich ein Ansatz, was künftig in erster Linie Gegenstand eines anderen
Naturschutzes sein muss: die globale Erhaltung der Bodenfruchtbarkeit und
das Aufhalten der Wüstenbildung in den subtropischen Gebieten durch
Förderung der heimischen Landwirtschaft. Das ist eine ökologische und
ethische Frage und bedeutet für die wohlhabenden Länder zum Beispiel den
Verzicht auf die subventionierten Getreideexporte in Entwicklungsländer ei-
nerseits und der Import von billiger Soja andererseits. Grundsätzlich müssen
die eigenen Ressourcen der Lebensmittelproduktion voll aktiviert werden.
Das kann aber nur durch eine allgemeine Bewusstheitsänderung erreicht
werden, die durch das System Naturschutz eher behindert wird.
Das heißt nun nicht, dass dadurch die Pflege der Natur bei uns zweit-
rangig würde. Im Gegenteil: Naturverständnis und Naturliebe sind eine
Voraussetzung für die seelische Hygiene der Gesellschaft. Dazu gehört auch
das Bewusstsein, dass wir Teil der Natur und von ihr abhängig sind. Eine po-

Das Bild der Landschaft, Zukunftsaspekte  429


sitive Einstellung zur Natur ist aber nicht durch Angstrhetorik zu erreichen.
Es ist höchst bedenklich, dass besonders von Jugendlichen die Natur als
schwächlich und deshalb schutzbedürftig angesehen wird und dadurch eine
Berührungsangst entsteht. Wichtig ist im Gegenteil die leibliche Erfahrung
der Heranwachsenden durch Spielen und Toben in der Natur.
Die Aufgabe der Landschaftsarchitekten muss sein, in allen Bereichen und
Zusammenhängen die Schönheit der Natur durch ‚Tun und Lassen’ zu för-
dern. Eine Naturästhetik im weitesten Sinne muss das Leitbild sein. Das
schließt selbstverständlich ein, das die Reste ursprünglicher Natur, wie
Moore und Urwälder erhalten werden müssen. Zu dem ist der Begriff des
Naturdenkmals zu reaktivieren. Dazu gehören alle Biotope, die infolge spe-
zieller Bewirtschaftungsformen entstanden sind; eigentlich handelt es sich
um ‚Kulturdenkmale’. Und, um auf den Ausgangspunkt zurück zu kommen,
selbstverständlich müssen das Federgeistchen und der Lungenenzian im Sinne
der Artenvielfalt erhalten werden. Aber das ist eine Frage der Naturästhetik
und damit die Frage einer des Menschen würdigen Kultur. Nicht hinnehm-
bar ist, dass immer wieder gesellschaftlich wichtige Maßnahmen aufgrund
nicht überprüfbaren Gefährdungsszenarien behindert oder nur durch hohe
Ablasszahlungen ermöglicht werden.
Der hier reklamierte Bewusstseinswandel wird sich nur unter großen
Schwierigkeiten einstellen. Die vielen Probleme konnten hier nur angedeutet
werden. Der wichtigste Grundsatz des Naturschutzgesetzes, dass die Natur
als „Grundlage für Leben und Gesundheit des Menschen ... zu schützen“ sei,
muss aus dem gegenwärtigen lokalen und ideologischen Bezug auf die glo-
bale Idee einer Welt als Garten erweitert werden.

430  Aspekte der ‚Gartenwelt‘


9.4 Aspekte der Gartenkunst
Wenn ich bisher von Aspekten der Gartenwelt gesprochen habe, dann
ging es in erster Linie um wissenschaftliche – ‚identische’ – Fragen. So sind
zum Beispiel Probleme der Bodenfruchtbarkeit nur wissenschaftlich zu lö-
sen, ebenso wie die Technik der Energiegewinnung aus nachwachsenden
Rohstoffen; obwohl hier schon Aspekte der Landschaftsgestaltung hinzu-
kommen. Da dies alles Einfluss auf die Entwicklungsländer hat, ist auch die
ethische Seite dieser Weltprobleme zu berücksichtigen.
Wenn ich mich jetzt Aspekten der Gartenkunst im engeren Sinne zuwende,
dann geht es nicht um etwas Gegensätzliches, sondern – ich wiederhole es
immer wieder – es geht um Formen der Unterscheidung mit zwei Seiten, die
schon behandelt wurden:

Gartenkunst

Identisches Nichtidentisches

Versöhntes Unversöhntes

Denken Fühlen

Darstellbares Nichtdarstellbares

Fragen der Kunst richten sich hauptsächlich an die rechte Seite der
Unterscheidungen, jedoch ist die linke Seite immer mit zu denken. Dabei
sind immer die bisher entwickelten theoretischen Grundlagen zu berück-
sichtigen. In Bezug auf die Vegetation geht es um das Verhältnis von phy-
sis und techne, Pflanze und Nische, Vereinzelung oder Vergesellschaftung
der Pflanzen, Dynamik oder Statik der Pflanzungen und in Bezug auf die
Gartenarchitektur vor allem um das Verhältnis von Funktion und Ornament.
Und zur Erinnerung: Alle diese Unterscheidungen sind skaliert, und den an-

Aspekte der Gartenkunst   431


gemessenen Punkt auf der Skala zu finden, ist ein Kriterium der Kunst. Unter
dieser Prämisse wende ich mich den einzelnen Themen zu:

9.4.1 Pflanzen als Medium in der Gartenkunst


Formen der Pflanzenverwendung
Ich gehe zurück auf die im 7. Kapitel behandelte Unterscheidung „Medium
und Form.“ Danach sind Pflanzen im Medium Vegetation als Elemente in
„loser Kopplung“ vergleichbar mit Wörtern in lexikalischer Anordnung im
Medium Sprache oder mit Tönen auf der Tonleiter im Medium Musik. So
nehmen wir sie wahr, wenn sie wie auf Gärtnereibeeten angeordnet sind.
Und so wie Wörter erst in „fester Kopplung“ als „Form“, das heißt in Sätzen,
und so wie Töne erst in einem Musikstück einen Sinn ergeben, so erschei-
nen Pflanzen in fester Kopplung, als „Form“ erst in einem bestimmten
Arrangement.
Der Vergleich mit den Medien Sprache und Musik lassen aber auch einen
deutlichen Unterschied erkennen: Die Gartenkunst unterscheidet sich von
allen anderen bildenden Künsten dadurch, dass ihr Medium, die Pflanze, ei-
nen ästhetischen ‚Eigenwert’ hat, was man so etwa von der Farbe oder ei-
nem Marmorblock nicht sagen kann. Diese Bedeutung der Pflanze für die
Gartenkunst ist näher zu untersuchen.
Ich habe oben die Kulturtechnik der Vereinzelung im Urgarten als entschei-
denden Schritt in der Menschheitsentwicklung beschrieben. Diese Technik
diente zunächst der Erzeugung von Nahrungspflanzen. Als wichtigen Schritt in
der Kulturentwicklung wird aber die Pflanze auch schon bald eine Bedeutung
als Schmuck erlangt haben. Das Schmücken mit Blumen ist eine archetypi-
sche Prägung. Viele Symbole hierfür finden wir schon in der Kunst frühester
Zeiten. Ein bekanntes ist das „Paradiesgärtlein mit der Himmelskönigin,“ in
dem Blumen in ihrer individuellen Schönheit dargestellt sind. In der Heraldik

432  Aspekte der ‚Gartenwelt‘


spielen Blumen eine große Rolle. Eine frühe literarische Darstellung finden
wir in Vergils Hirtengedichten. Darin ist die Rede vom „purpurnen Frühling“,
in dem „die Erde rings um den Fluß eine Fülle bunter Blumen“ ausschüttet.
Aber auch die Schönheit unscheinbarer Pflanzen wurden Gegenstand künst-
lerischer Betrachtung, wie Dürers kleines Rasenstück oder das Veilchen in der
Romantik als Symbol einer Schönheit im Verborgenen. Im Gegensatz dazu
steht die Steigerung der Schönheit durch Auslese, also durch Züchtung, die
schon früh praktiziert wurde, dargestellt zum Beispiel in den barocken hol-
ländischen Blumenstilleben. Das Arrangement einer festen Kopplung kann
also für den Beobachter die Pflanzung im Garten aber auch die Blume auf
der Wiese sein.
Allen diesen Erscheinungsformen der Vegetation ist gemeinsam, dass in ih-
nen das Naturschöne als „Nichtidentisches“ erscheinen kann, unabhängig
von dem skalierten Verhältnis zwischen physis und techne. Unter diesem
Gesichtspunkt will ich die verschiedenen Verwendungsformen der Pflanzen
betrachten.
Pflanzen in Einzelstellung
In der Einzelstellung sehen wir die Pflanze als Individuum. In reiner Form ist
dies verwirklicht in den so genannten Sondergärten, wie Rosen-, Dahlien-,
Irisgärten und so weiter. Wie tief diese Gärten ein fundamentales Bedürfnis
der Menschen befriedigt, kann man zum Beispiel im Dahliengarten in Altona
beobachten, wenn an einem schöne Septembertag an die tausend junge
und alte Besucher den Garten bevölkern und sich an der Schönheit dieser
Prachtblumen erfreuen, viele mit dem Fotoapparat bewaffnet. Eine lange
Tradition haben auch die Rosengärten, nach denen sich Städte mit dem
Prädikat „Rosenstadt“ schmücken. Bei der Rose kommt hinzu, dass sie einen
hohen Symbolwert hat.

Aspekte der Gartenkunst   433


Die Motivation für diese Art der Pflanzenpräsentation ist auch das
Bestreben, durch Züchtung bestimmte Eigenschaften der Pflanzen zu ver-
bessern. Das kann die Widerstandskraft gegen Krankheiten aber auch das
Erscheinungsbild betreffen. Letzteres unterliegt oft der Mode und damit
auch der Gefahr der Entartung, zum Beispiel wenn immer größere Blüten an-
gestrebt werden. Bei dem Rosensortiment lässt sich der Geschmackswandel
gut beobachten. Vor etwa 50 Jahren waren einfach blühende Sorten sehr
beliebt, die an Wildrosen erinnerten; ich erinnere mich an die wunderbare
‚Betty Prior’. Als nostalgische Reaktion kamen dann wieder alte stark gefüllte
und duftende Sorten in Mode.
Einzelstellung bedeutet, wie ich gezeigt habe, dass Pflanzen in ihrer Nische
nicht unter Konkurrenzdruck durch andere Pflanzen stehen. Das erzeugt
eine gewisse Statik in derartigen Pflanzungen. Das hat sicher auch praktische
Gründe. Pflegekräfte mit geringerer fachlicher Ausbildung können so leichter
zwischen Kulturpflanzen und Unkraut unterscheiden.
Aber auch diese konventionelle Kulturform kann schon ganz verschiedene
Bilder erzeugen. Die einfachste Form sind Massenpflanzungen, wie die be-
rühmten 10.000 Tulpen. Lebendiger sind schon Pflanzungen in unterschied-
lich großen Gruppen verschiedener Arten bis zu Mischungen nach unter-
schiedlichen Kriterien. Die Tendenz geht also zu Bildern, die sich dem in der
Natur herrschenden Zufallsprinzip annähern.
Alle diese Gestaltungsformen verfolgen das Ziel, die Pflanzen in ihrer
Schönheit zu präsentieren. Dazu werden jeweils, zum Beispiel in Sondergärten
die passenden Rahmen geschaffen. Die Elemente sind in „fester Kopplung“.
Das ist nicht zu vergleichen mit der heute üblichen lustlosen Darbietung auf
langweiligen Beeten, in „loser Kopplung“.

434  Aspekte der ‚Gartenwelt‘


Pflanzen in Vergesellschaftung
Bedeutend anspruchsvoller sind dynamische Pflanzungen, in denen sich ein-
zelne Arten durch Aussaat oder Ausläufer ausbreiten können. Hier werden
Pflanzen, wie oben beschrieben, jeweils zur Nische ihrer Nachbarn. Diesen
Konkurrenzkampf zu steuern erfordert gute Pflanzenkenntnisse und ständi-
ge Entscheidungen zwischen ‚Tun und Lassen’: Lässt man die Sämlinge oder
Ausläufer wachsen, oder muss man konkurrenzstarke Arten eindämmen.
Tatsächlich sind auf diesem Gebiet unseres Faches in letzter Zeit ein-
drucksvolle Fortschritte erzielt worden, maßgeblich beeinflusst unter an-
deren von Wolfgang Oehme und Petra Pelzer, von Cassian Schmidt am
Hermannshof in Weinheim und Heiner Lutz. Im Internet findet man unter
den Suchwörtern ‚Präriestauden’ und ‚Blumenwiesen’ zahllose gute Beispiele
aber auch manche problematische. Insgesamt tut sich hier ein neues Feld der
Gartenkunst auf, das zum einen ein profundes Wissen und ebenso eine posi-
tive Einstellung zur Naturästhetik erfordert. Heiner Lutz hat hierzu wichtige
Grundsätze unter dem Leitbegriff „Aspektbildner“ aufgestellt:
Pflanzenverwendung, die sich am Gestalterischen orientiert, hat ...
die natürlichen Standortsverhältnisse ebenso zu beachten wie rein
gärtnerisches Wissen über die Ansprüche von Pflanzen und deren
Entwicklung. Als Landschaftsarchitekt denke ich aber nicht nur an
Aspekte des Standortes und der Vegetationskunde; das gestalterische
Moment mit dem Erscheinungsbild der Vegetation spielt eine gleich
berechtigte Rolle. ... Pflanzenverwendung hat ... immer mit Gestaltung
zu tun. Also ist es notwendig, bei der Pflanzenauswahl auf die
Gastaltbildung zu achten. Ein erster Schritt ist dabei die Beschäftigung
mit Wahrnehmungsprozessen und Gestaltgesetzen. Die Gestaltlehre
spricht bei Dominanz weniger Elemente von Klarheit, Einfachheit und
Prägnanz. Die wichtigste Gestaltregel heißt: Einheitlichkeit im Großen
und Vielfalt im Kleinen. Sie definiert Vielfalt aus Variation und / oder

Aspekte der Gartenkunst   435


wechselnder Kombination weniger gestaltbildender Elemente und
ganz bewusst nicht als simple Addition möglichst vieler und ver-
schiedener Elemente. ... Pflanzenverwendung braucht eine Ordnung
unter räumlichen Gesichtspunkten wie auch nach rein ästhetischen
Kriterien. 511 (Hvh. A.S.)
Ich teile mit Lutz auch die Auffassung, dass Stauden und Sträucher kombi-
niert werden sollten und dass gärtnerisch kultivierte und heimische Arten
im Prinzip gleich berechtigt nebeneinander verwendet werden können. Eine
Einschränkung mache ich allerdings bei Pflanzungen in der ‚freien Natur’, wo
ökologische Gesichtspunkte vorherrschen sollten. Wenn im Begleitgrün ei-
ner Landstraße plötzlich Amelanchier und Pinus montana auftauchen, dürf-
te das wohl der Fehlgriff eines Straßenmeisters sein. Das Wissen um öko-
logische Zusammenhänge, nämlich, dass heimische Pflanzen das Milieu für
unzählige Arten der Fauna bilden, wird im Sinne von ‚Denken und Fühlen’ zu
einem ästhetischen Bewusstsein.
Zusammenfassend stelle ich fest, dass die Pflanze als Medium das wichtigste
Thema der Gartenkunst ist. Der Garten im weiten Sinne ist das Symbol un-
seres Naturverhältnisses. Das künstlerische Ziel muss sein, das Naturschöne
als Nichtidentisches spürbar zu machen. Um es zu erreichen, müssen die
Bedingungen der Wahrnehmung berücksichtigt werden, die ich im 6. Kapitel
deshalb so ausführlich behandelt habe. Konkret geht es um die Spannweite
zwischen der prägnanten Schönheit einer Einzelpflanze, wie der hoch ge-
züchteten Rose im Rosengarten und der Impression einer Blütenwiese.
Peter Latz hat hierzu ähnliche, noch tiefer greifende Gedanken geäußert:
Nicht als dekoratives, sondern essentielles Element gehören der Reiz
der Jahreszeiten, das Wetter sowie Blühereignisse zum archetypi-
schen Repertoire unseres Lebenszyklus. ... Bei unseren Freiräumen lie-

511  Topos 37, 16ff

436  Aspekte der ‚Gartenwelt‘


gen möglicherweise mehr Informationen außerhalb von Form und
Gestalt, als innerhalb. Bereitet Gestaltung womöglich nur den Ort
vor, jene Naturereignisse zu erleben? Was mich ... interessiert, ist Dinge
zu erforschen, die man möglicherweise spontan verwendet wie das
Unsichtbare in der visuellen Kommunikation oder das Nichtsichtbare
des Ästhetischen, und dies systematischer einzusetzen. 512
Das „Nichtsichtbare“ ist gleich bedeutend mit dem „Nichtidentischem.“
- Peter Latz schreibt dann am Schluss: „ ... mit leichter Trauer stellen wir
fest, dass wir uns immer weniger denen verbunden fühlen, die Tulpen und
Narzissen, Rosen uns Rittersporn züchten.“ Diese resignative Auffassung teile
ich allerdings nicht, denn auch die Pflanzenzüchtung gehört zu unserem „ar-
chetypischen Repertoire.“ Es entspricht dem Grundsatz dieser Arbeit: Auch
die durch Züchtung (durch techne) veränderte Pflanze bleibt physis, ‚reine’
Natur.
Ich verzichte bewusst darauf, dieses Pflanzenthema zu illustrieren. Es gibt
eine Fülle hervorragender Veröffentlichungen. Zum Beispiel verweise ich
auf das Buch der englischen Gartenarchitektin und Gartenjournalistin Heidi
Howcroft: „Blumengärten – Klassisch, ländlich und Modern“, in dem sie ei-
nen Querschnitt heutigen gärtnerischen Könnens darstellt. Auch sie bringt
den Skalencharakter der Lösungen zwischen physis und techne und Tun und
Lassen zum Ausdruck und distanziert sich deutlich von dem „für das neue
Millennium typische[n] minimalistischen Gartenstil“, dessen Gärten man „als
die hochgezüchteten Pudel der Gartenwelt bezeichnen könnte.“513

512  Topos 50, 6ff


513  Howcroft, (2005), 11.

Aspekte der Gartenkunst   437


9.4.2 Das Verhältnis von Vegetation und Architektur im Garten
Im 4. Kapitel habe ich die Gartenarchitektur unter dem Gesichtspunkt
von Funktion und Ornament behandelt, hauptsächlich in Bezug auf die
Wegesysteme und deren psychologischen Wirkungen. Und im 7. Kapitel
wurde die Überbetonung des Designs unter Vernachlässigung der Funktion
kritisiert. Eine wichtige Frage ist nun noch, wie sich die Gestaltung der
Gartenarchitektur und die der Pflanzung zueinander verhalten.
Festzustellen ist zunächst, dass fast immer Pflanzung und Architektur nach
den gleichen formalen Grundsätzen behandelt werden. Sind die Wege
orthogonal gestaltet, müssen auch die Pflanzen in Reih und Glied auf-
marschieren; ist die Gestaltung mehr ‚dekonstruktivistisch’, werden auch
die Pflanzbeete nach Vorbildern der abstrakten Malerei geformt, oder die
Perversion der Formgehölze kommt zum Zuge und die Rasenflächen wer-
den zu ‚Schollen’ aufgebrochen - Umgekehrt herrscht im Naturgarten weit-
gehende Formlosigkeit. Das reicht von der Verwendung alter Materialien bis
zur Herstellung künstlicher Ruinen.
Die Ursache für dieses herrschende Prinzip ist wieder das einheitliche
Denken, das nicht in der Lage ist, Unterscheidungen zu treffen: in der
Gartenkunst muss alles ‚künstlich’ sein und im Naturgarten alles ‚natürlich’.
Es ist also bewusst zu machen, dass Vegetation und Architektur im Garten
zwar eine Einheit bilden, dass aber beide unterschiedlichen Gesetzen un-
terliegen. Konkret bedeutet dies, dass eine naturhafte Pflanzung durchaus
mit strengen architektonischen Formen kombiniert werden kann, wenn die
Funktion dies nahe legt.
Meine Grundüberzeugung ist aber, dass in diesem Verhältnis die Vegetation
im Prinzip die Priorität haben muss. Das heißt, in der Planung ist von dem
Bild, von der räumlichen und atmosphärischen Wirkung der Vegetation
auszugehen. Aufgabe der Erschließung ist dann, dieses erlebbar zu ma-

438  Aspekte der ‚Gartenwelt‘


chen. Vorbild ist also das oben beschriebene Gestaltungsprinzip der frühen
Landschaftsgärten. In der gegenwärtigen tonangebenden Gartenkunst ist
das Verhältnis umgekehrt.

9.4.3 Die Vegetation und der ‚fließende Raum’


Im 5. Kapitel habe ich ausführlich die Charaktere des Raumes als Medium
von Architektur und Gartenkunst dargestellt. Wesentlich ist der Übergang
vom ‚klassischen Raum’, dem die geschlossene Stadt entspricht, zum
‚Raumkontinuum’, das sowohl in der ‚Zwischenstadt’, wie auch im ‚flie-
ßenden Raum’ zum Ausdruck kommt. Diese Entwicklung ist nicht zu ver-
gleichen mit einer Änderung eines Stils, wie zum Beispiel dem Übergang
vom Rokoko zum Klassizismus. Sie ist nur mit anthropologischen Kriterien
zu beschreiben, etwa wie der Übergang von der Jäger- und Sammler- zur
Ackerbaugesellschaft. Entsprechend problematisch und schwierig vollzieht
sich der Übergang im Bewusstsein der Gesellschaft. So wird die Zwischenstadt
nach wie vor als Zersiedelung gebrandmarkt, die Gartenkunst schützt sich
mit ‚harten Kanten’ gegen den fließenden Raum und noch immer werden
Häuser mit Fachwerk und Butzenscheiben gebaut.
Wie ich schon feststellte, setzt sich aber in der Architektur immer mehr ein
weiter entwickelter Bauhausstil durch. Dabei ist zu beobachten, dass eine
Richtung – von Gropius beeinflusst – mehr die kubische Form betont, die
andere – in Anlehnung an Mies van der Rohe – mehr den Übergang zum
Außenraum. Abgesehen von diesem kleinen Unterschied wird ein Baustil
dominant, der sich sowohl von der Postmoderne, wie auch vom so genann-
ten Dekonstruktivismus distanziert.
Erhalten bleibt das Problem, das schon zu Bauhauszeiten bestand, dass in der
Gartenkunst keine adäquate Entwicklung erkennbar ist. An vielen Beispielen
sieht man, dass als Antwort auf eine eindrucksvolle Architektur, der
Außenraum als nackte Rasenfläche nur mit einigen albernen Buxuskugeln

Aspekte der Gartenkunst   439


oder Blumenkübeln dekoriert wird. Diese unbefriedigende Tatsache führt
dazu, dass zum Beispiel Meinhard von Gerkan ein Wohnhaus in Finnland in
einen Kiefernwald stellt, um die Architektur zur Geltung zubringen, und die
Spannung zwischen Innen- und Außenraum wirksam werden zu lassen so
wie es Gropius mit den Meisterhäusern in Dessau tat. 514
Ein ideales Beispiel ist der Bundeskanzlerbungalow in Bonn von Sep Ruf, der
in einem Park gebaut wurde. Hier besteht ein stufenloser Übergang zwischen
Innen und Außen, der nicht nur optisch erlebbar ist. Aber auch hier ist keine
adäquate Gartengestaltung vorhanden. Aber der Raum ist bestimmt durch
den alten Baumbestand. 515 (S. Abb. oben)
Da nun Häuser nicht nur in Kiefernwäldern gebaut werden, ist zu fragen,
nach welchen Grundsätzen eine Gartenvegetation in Beziehung zu ei-
ner modernen Architektur zu gestalten ist. Den wichtigsten habe ich von
Walter Rossow übernommen, der uns immer wieder einprägte, dass die
Gartenkunst eine Raumkunst ist. Das hat mich letztlich dazu gebracht, die
Lichtung als den Urraum zu sehen. Auf den fließenden Raum bezogen, be-
deutet dies, dass auch dieser räumliche Strukturen haben muss zwischen
Gebäude und ‚Wald’. Diese Räume können, wie die Innenräume, unter-
schiedliche Größen und Funktionen haben und sie sollten ohne künstliche
Barrieren ineinander übergehen. Dass dabei Sichtbeziehungen zu beachten
sind, ist selbstverständlich, aber auf keinen Fall sollte alles auf einen Blick
überschaubar sein. Wechselnde Perspektiven müssen das Raumerleben be-
stimmen. Auch der kleinste Garten muss geheime Ecken haben, die zu jeder
Jahreszeit Überraschungen offenbaren.
Ein weiterer Grundsatz ist, dass auf eine starke Architektur mit einer eben-
bürtigen Vegetation zu reagieren ist. Die klaren Flächen der Architektur

514  In HÄUESER ARCHITEKTUR / DESIGN / KUNST / GARTEN 1/09


515  Nerdinger, (2008), 46ff.

440  Aspekte der ‚Gartenwelt‘


müssen mit den vegetabilen Formen kontrastieren. Das wird nur erreicht
durch eine lebendige, reich strukturierte Pflanzung mit Einzelbäumen als
Akzentuierung. Je klarer die Architektur, umso spannungsreicher und viel-
gestaltiger muss die Pflanzung sein. Eine starke Architektur, die von innen
her räumlich entwickelt wird, verträgt es nicht nur, außen von einer vitalen
Vegetation eingefasst zu werden, sie fordert geradezu dazu auf.
Die architektonischen Elemente des Außenraumes, wie überdachte
Sitzplätze oder ähnliche, sollten mit der klaren Formensprache der Gebäude
harmonieren.
Schließlich ist noch das Bewusstsein zu entwickeln, dass jeder Garten, jede
Grünanlage Teil der Zwischenstadt ist. Das ist nicht die Forderung nach
Einheitlichkeit, sondern der Appell, ein zeitgemäßes Verhältnis zwischen
Mensch und Natur bei jeder Gestaltung zu Grunde zu legen.
Ich sehe ein Grunddefizit der heutigen Gartenkunst in ihrem gestörten
Verhältnis zur Vegetation. Die Ursache liegt, wie ich dargestellt habe, in dem
Spannungsverhältnis zwischen Kunst und Ökologie. Eine weitere Ursache
für diese Entwicklung ist aber auch in einem Umstand zu sehen, den Peter
Wirtz beklagt:
den kontinuierlichen Verlust von handwerklichem Grundwissen.
... Selbst ein Grundkonsens darüber, was Landschaftsarchitektur ist
oder sein sollte, lässt sich nicht mehr erkennen. ... Pflanzen werden
nur aufgrund ihrer graphischen Qualitäten ausgesucht. ... Der zeitli-
che Aspekt ... wird negiert, ... Der Mangel an praktischem Wissen, an
Pflanzenkenntnis, an dreidimensionaler Denkweise, an Bodenkunde,
an Wissen über die Zusammenhänge zwischen Boden und Baum
oder den Gartenbau in urbanem Umfeld wird immer gravierender. ...

Aspekte der Gartenkunst   441


Durch die Abstraktion auf dem Papier oder am Computer entfernen
sich die Planer noch weiter von der Realität. 516
Auch Peter Latz beklagt den vernachlässigten „Umgang mit der Pflanze.“517
Ich sehe hierin einen Tiefpunkt der Gartenkunst, der mit deren Zustand
am Anfang des 20. Jahrhunderts zu vergleichen ist, als Brezelwege und
Teppichbeete das Bild beherrschten. Ich denke, dass es sich hierbei, wie ich
schon sagte, nur um ein vorübergehendes Phänomen handelt, das mit der
Postmoderne in der Architektur zu vergleichen ist, die auch nur wenige
Jahrzehnte gedauert hat. Aber das Thema ist zu wichtig um nur als modi-
sche Frage behandelt zu werden. Es geht um die Frage des Mensch-Natur-
Verhältnisses, um archetypische Prägungen, um Naturästhetik und um sozi-
alhygienische Fragen.
Um die Idee der „Welt als Garten“ voran zu bringen, ist es erforderlich, unser
Tun und Lassen ständig kritisch zu hinterfragen, ob es mit den gesellschaft-
lichen und geistigen Entwicklungen unserer Zeit im Einklang steht. Ich habe
versucht einen Beitrag hierzu zu leisten.

516  In Topos 37, 63ff.


517  In Topos 50, 9.

442  Aspekte der ‚Gartenwelt‘


Kapitel 10 Zusammenfassung
Das Wort Gartenkunst wurde bis vor wenigen Jahrzehnten fast nur mit
historischen Gärten in Verbindung gebracht. So wie in der Nachkriegszeit
Architektur und Städtebau auf die Schaffung von Wohnraum und
Bewältigung des Verkehrs konzentrierten, erschöpfte sich die Grünplanung
in der Erstellung von Abstandsgrün und Sicherung einer Grünstruktur im
Sinne der Charta von Athen. Das war durchaus sinnvoll und verständlich.
Aber auf die Dauer wurde der reine Funktionalismus immer kritischer gese-
hen. In der Architektur entwickelte sich infolge dessen die Postmoderne mit
einem neuen künstlerischen Anspruch.
Die grüne Fakultät schlug einen ganz anderen Weg ein und folgte dem
Leitbild ‚Ökologie’. Die Reaktion auf diese einseitige Entwicklung war die
Spaltung der Profession. Gartenarchitekten, die in der Ökologie nicht die al-
leinige Grundlage ihres Wirkens sehen wollten, suchten nach neuen Formen
der Gartenkunst. Sie fanden sie in der Anlehnung an die Entwicklung in der
Architektur und bildenden Kunst.
Damit entbrannte der alte Streit, der seit der Einführung des
Landschaftsgartens die Stilbildung in der Gartenkunst beherrschte, der Streit
über das Verhältnis zwischen Kunst und Natur. Dieser Konflikt ist unge-
schlichtet; die Gartenkünstler lehnen alles ab, was sie als Naturalismus anse-
hen, die Ökologen wollen möglichst jeden Eingriff in die Natur vermeiden.
Dem wird entgegengehalten, dass es reine Natur ja gar nicht mehr gebe.
Besonders umstritten ist der Landschaftsbegriff. Die Erkenntnis, dass die
Landschaft überall unter einem menschlichen Einfluss steht, führte zu dem
Begriff „Totale Landschaft“.
Dieses Dilemma ist in der alten Unterscheidung von Naturlandschaft und
Kulturlandschaft begründet und zwar durch die Erkenntnis, dass auch
die Kulturlandschaft Natur enthält, während die Tatsache, dass auch die

Aspekte der Gartenkunst   443


Naturlandschaft unter menschlichem Einfluss steht, erst in neuerer Zeit be-
wusst geworden ist. Um mit dieser unklaren Bewusstseinslage fertig zu wer-
den, wird gerne der Begriff Hybride benutzt, was aber auch wenig befriedigt.
Eine Möglichkeit, diesem semantischen Chaos zu entkommen, sehe ich
in den „Laws of Form“ von Spencer-Brown gegeben, die ich in Anlehnung
an Luhmann als „Form der Unterscheidung mit zwei Seiten“ bezeichne.
Der Kernsatz dieses Gesetzes besagt, dass „wir keine Bezeichnung vorneh-
men können, ohne eine Unterscheidung zu treffen“. Die beiden Seiten der
Unterscheidung bilden die „Form“. Der Unterschied zu dem Begriff des
Hybriden besteht darin, dass die beiden Seiten der Form zwar zusammen
gehören, aber immer getrennt bleiben. Das heißt, dass immer nur eine Seite
zurzeit beobachtet werden kann. Wenn man die andere Seite beobachten
will, muss man eine Grenze überschreiten. Wenn man nur eine Seite sieht,
scheinbar ohne ein Unterschiedenes, dann ist dieses durch einen „blinden
Fleck“ verdeckt.
Um nun zu einer gedanklichen Klarheit zu kommen und die vielen verwir-
renden Konnotationen zu vermeiden, verwende ich anstelle von „Natur“
und „Kultur“ neue Be-griffe, die eine konsistente Unterscheidung ermögli-
chen. Norbert Elias hat „Natur“ als ein „Symbol einer anfangslosen Synthese“
bezeichnet, das heißt, dass unzählige Generationen den Begriff mit allen
möglichen Gedankenverbindungen angereichert haben. Wenn man die-
se „einklammert“, bleibt da eine Bedeutung, die man bezeichnen kann als
etwas „Wachsendes“, das aus sich selbst entsteht und sich fortpflanzt. Um
deutlich zu machen, dass hier durch Reduktion eine besondere Bedeutung
entstanden ist, ersetze ich „Natur“ durch das griechischen Wort „physis“,
und für jeglichen menschlichen Einfluss wähle ich das Wort „techne“. Techne
bedeutet nach Schadewald etwa: wissendes Handeln. Mit diesen beiden
Begriffen steht eine ‚Form der Unterscheidung’ und damit eine neue Sicht
zur Verfügung auf die alle Motive und Kontexte, wie Garten, Landschaft,

444 Zusammenfassung
Kultur und so weiter zurückgeführt werden können. Jeder Zustand, der in
irgendeiner Weise mit ‚Natur’ in Verbindung steht, ist zu beobachten als
ein Zusammenwirken von physis und techne.
Während der Begriff physis eindeutig ist, muss der Begriff ‚techne’ näher er-
läutert werden. Er hat in unserem Kontext wenig zu tun mit dem, was heu-
te als Technik bezeichnet wird. Als ‚wissendes Handeln’ beinhaltet er alles
Erfahrungswissen und alle wissenschaftlichen Erkenntnisse der Menschheit
in Bezug auf ihr Naturverhältnis.
Im Hinblick auf unser heutiges Naturverhältnis kommt aber noch ein ganz
wichtiger Aspekt hinzu: die Unterscheidung von Tun und Lassen. Das be-
wusste ‚Lassen’ ist eine neue Verhaltensweise, und so können wir unter ‚tech-
ne’ auch ein ‚wissendes Verhalten’ verstehen.
Die Intensität des Einflusses von techne auf physis ist nun sehr unterschied-
lich, von der ‚reinen’ Natur bis zur Kulturlandschaft. Diese Unterschiedlichkeit
trifft übrigens für die meisten Unterscheidungen zu. Ich habe dies als
Skalierung bezeichnet. Für die Gartenkunst hat diese eine außerordentliche
Bedeutung. Für die Entwicklung vom Renaissancegarten bis zur modernen
Landschaftsgestaltung ist die Intensität des Einflusses von techne auf phy-
sis wesensbestimmend. So gilt also auch für die moderne Gartenkunst, den
‚richtigen’ Punkt auf der Skala der Unterscheidung zu treffen. Schiller hat
die Fähigkeit hierzu den „Spieltrieb“ genannt und nach Heidegger ist der
Punkt auf der Skala nur im „Streit“ zu finden. Daraus folgt die grundsätzliche
Kontingenz künstlerischen Schaffens, für dessen Gelingen es kein ‚Rezept’
gibt. Für die Gartenkunst ist allerdings fest zu stellen, dass das Operieren an
den Enden der Skala, - minimalistisch einerseits und naturalistisch anderer-
seits - problematisch ist. Das ist ein entscheidender Unterschied zu der au-
tonomen bildenden Kunst der Avantgarde, in der alle Bereiche nach allen
Seiten ausgelotet wurden bis in die Sackgassen der Extreme.

Aspekte der Gartenkunst   445


Ein weiterer Unterschied besteht in Bezug auf das wichtigste Medium
der Gartenkunst, die Vegetation. Sie kann als ‚Material’ aufgefasst werden,
mit dem bestimmte formale Vorstellungen verwirklicht werden, oder als
ein Medium, in dem unser Naturverhältnis zum Ausdruck kommt. Diese
Unterscheidung ist sicherlich das heikelste Problem in der Theorie der
Gartenkunst. Sie ist auch die Ursache für die Spaltung der Profession. Es geht
um die Frage, ist die Pflanze in ihrer ökologischen Bedeutung oder als Teil
eines bestimmten Bildes zu sehen, und es geht damit um die Vereinbarkeit
von Naturschutz und Gartenkunst in der ‚Welt als Garten’.
Ein Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist die Theorie von Humberto
Maturana. Danach ist jeder Organismus, also jede Pflanze, ein geschlossenes
autopoietisches System, das mit seiner Umwelt nur durch eine „strukturelle
Kopplung“ in Wechselbeziehung steht, aber nicht ohne seine Nische beste-
hen kann. Diese Theorie steht in einem gewissen Gegensatz zu landläufi-
gen Denkmodellen, wie Ökosystem, Biotop, Vernetzungen und so weiter.
Diese beruhen auf Beobachtungen von „Lebensgemeinschaften“ auf meist
extremen Standorten. Die Limnologen waren die ersten, die in Gewässern,
zum Beispiel in Teichen Zusammenhänge entdeckten, die sie als feste, quasi
gesetzmäßige Abläufe ansahen. Die Pflanzensoziologen entwickelten dar-
aus eine Wissenschaft, die eine Systematik in die Vielfalt der Natur bringen
sollte. Dazu musste aber die Gliederung immer weiter aufgefächert wurde
in Ordnungen, Verbände, Hauptassoziationen, Haupt-Subassoziationen und
Assoziationen. So kamen einige hundert Pflanzengesellschaften zusammen,
wobei Übergangsformen nicht berücksichtigt sind. Nicht thematisiert wur-
den der menschliche Einfluss und die Vielzahl der Ubiquisten.
Nach Maturana kann man diesen Sachverhalt reduzieren auf die Feststellung,
dass jedes Milieu und jede Nische von Organismen besetzt wird, die dazu
‚passen’. Wichtig ist die Feststellung, dass hierbei Wechselbeziehungen beste-
hen, dass also Milieu und Nischen durch die Besiedelung verändert werden.

446 Zusammenfassung
Dabei spielen der Zufall und besonders der menschliche Einfluss oft eine
Rolle. Ein negativer Einfluss kann durch aggressive Neophyten entstehen,
wenn diese eine gewohnte Vielfalt heimischer Pflanzen stören.
Das führt unmittelbar zu der Frage, die in der Vergangenheit schon leiden-
schaftlich diskutiert wurde: Das Verhältnis heimischer zu ‚fremdländischen’
Pflanzen. Auch hierin ist eine Skala zu sehen, von einem ideologischen
Purismus bis zur absoluten Beliebigkeit.
Mein Schlüsselbegriff zur Behandlung dieses Problemfeldes ist die Ästhetik
in weitester Bedeutung. Das ist zum einen die Ästhetik im Sinne von ‚Denken
und Fühlen’, wenn ich zum Beispiel das Zusammenwirken von Fauna und
Flora in einem Biotop als ein sinnhaftes Naturschauspiel erkenne und fühle.
Der andere Pol ästhetischen Empfindens ist die reine Freude an der Schönheit
etwa einer Rose, unabhängig davon, ob diese gezüchtet wurde oder eine hei-
mische Wildrose ist.
Der Wesenskern dieser Ästhetik ist das Naturschöne im Sinne Adornos als
„Nichtidentisches im Banne universaler Identität“. Das ist unabhängig vom
Einwirken der techne auf die physis. Das Naturschöne wird zwar beeinflusst
durch die Bedingungen der Wahrnehmung, aber es ist das eigentliche Telos
der Gartenkunst.
Unter diesem Gesichtspunk ist auch der Naturschutz zu sehen. Wie Jürgen
Dahl es am Beispiel des Federgeistchens gezeigt hat, ist auch der Naturschutz
nicht rein wissenschaftlich – also identisch – zu begründen, sondern letzt-
lich im Sinne des Nichtidentischen im Naturschönen. Auch der Schutz eines
Biotops ist nur im Zusammenwirken von physis und techne und durch Tun
und Lassen möglich. Die Frage, ob die Natur als Lebensgrundlage funktio-
niert, hängt nicht davon ab, ob 5 oder 10 Prozent der Landflächen unter
Schutz gestellt werden, sondern nur davon, ob die globale Naturnutzung

Aspekte der Gartenkunst   447


nachhaltig ist. Diese Erkenntnis wird auf die Dauer für den Schutz der Natur
wirkungsvoller sein als die heute geschürte Angstrhetorik.
Der Begriff des ‚Naturschönen’ muss aber noch näher untersucht werden. Er
kann nicht definiert werden, denn dann währe es ja etwas ‚Identisches’. Das
Schöne ist auch nicht dasjenige, das nur von solchen Menschen zu beur-
teilen ist, die ‚Geschmack’ haben, wie von Philosophen von Baumgarten bis
Bourdieu behauptet wird.
Ich habe mich deshalb ausführlich mit Fragen der Wahrnehmung befasst,
um zu sehen, wie die Rezeption von Kunst und Naturschönheit begründet
ist. Man kann das zusammenfassen einmal von Seiten der Rezipienten als
das Verhältnis von Assimilation zu Akkommodation, und von Seiten der
Objekte als das Verhältnis zwischen Chaos und Ordnung. Meine Folgerung
ist, dass jeder Mensch im Rahmen seiner Wahrnehmungsfähigkeit in der
Lage ist, Kunst- und Naturschönheit zu empfinden und diese Fähigkeit
in seiner Ontogenese auch weiter zu entwickeln. Wichtig sind in diesem
Zusammenhang archetypische Prägungen, zum Beispiel das Raumgefühl der
‚Lichtung’, die das ästhetische Empfinden beeinflussen.
Die Gartenkunst in der Welt als Garten muss diese Tatsachen berücksichti-
gen, denn sie ist, wie die Baukunst, nicht autonom. Sie muss das „Wohnen“ der
Gesellschaft, im Sinne Heideggers, mit seinen unterschiedlichen Funktionen
und Ansprüchen als Grundlage nehmen. Das Ziel einer Avantgarde muss da-
bei die Entwicklung und Verfeinerung des Naturverhältnisses der Gesellschaft
sein. Dabei darf aber die Verbindung zum Gros nie abreißen.
Konkret heißt das, dass eine Vielfalt der Gestaltungsformen zu entwic-
keln ist. Tatsächlich gibt es hierfür schon viele Beispiele, die nur nicht im-
mer recht gewürdigt werden. Als vorbildlich habe ich die Gartenschau in
Rostock angesehen, die von geschickt gestalteten Sommerblumen- und
Staudenpflanzungen bis zu reinen Naturflächen ein reiches Angebot ent-

448 Zusammenfassung
hielt. Richtungsweisend sind auch Anlagen, in denen das Prinzip „Lassen“
vorherrscht, wie zum Beispiel der Landschaftspark Duisburg Nord oder der
Naturpark Südgelände in Berlin.
So will ich noch einmal als oberstes globales Prinzip herausstellen: die verant-
wortungsvolle Steuerung des Verhältnisses der techne auf die physis. Ebenso
global zu sehen ist das Raumkontinuum zwischen Stadt und Land. Die frak-
tale Struktur ist keine Fehlentwicklung, sondern die Chance, allen Menschen
den Zugang zu einem Stück Natur zu ermöglichen.
Für die Gartenkunst im engeren Sinne besteht die wichtigste Aufgabe darin,
sich von der bildenden Kunst zu emanzipieren und die Komplementarität
zwischen Garten- und Baukunst zu kultivieren. Dabei kommt der Vegetation
die größte Bedeutung zu. Auf der Skala der Unterscheidung Funktion /
Ornament ist der Funktion mehr Raum zu geben; das was gegenwärtig mo-
disch als Design und Dekonstruktivismus angeboten wird, ist kritisch zu hin-
terfragen.
Meine Kritik an der heutigen Gartenkunst richtet sich gegen die
Vernachlässigung des Mediums Pflanze und gegen das Grundprinzip
„Klarheit“ das immer wieder betont wird. Klarheit drückt das Identische aus
und bleibt deshalb an der Oberfläche. Das Nichtidentische, das Telos der
Kunst, ist nur im Unbestimmten der skalierten Unterscheidungen zu finden.
Die wichtigste Skala in der Gartenkunst ist die zwischen Tun und Lassen in
der Unterscheidung physis / techne. Wo jeweils der „Punkt“ auf dieser Skala
getroffen wird, ist kontingent aber nicht beliebig, sondern Gegenstand der
künstlerischen Entscheidung.
Und damit schließe ich meinen Versuch, die Idee der „Welt als Garten“ mit
einigen theoretischen Überlegungen zu unterfüttern.

Aspekte der Gartenkunst   449


450 Literaturverzeichnis
Literaturverzeichnis
Adorno, Theodor W.(1973, 9. Aufl. 1989) Ästhetische Theorie, Frankfurt/M.

Aicher, Otl, (2003), Gegenarchitektur, in: Bruyn, Gerd de und Stephan Trüby, (Hrsg.), archi-
tektur-theorie.doc, Basel.

Anderson, Sven-Ingmar, (1999), Das Antidot zur virtuellen Realität, in: Weilacher, (1999)

Baecker, Dirk, (1993), (Hrsg.), Kalkül der Form, Frankfurt.

Baecker, Dirk, (2002) Wozu Systeme?, Berlin.

Becker, Carlo W., (1996), Kooperatives Gutachterverfahren (Berlin Adlershof), in Garten


und Landschaft, 7/1996, 35ff.

Bergdoll, Barry, (2002), Das Wesen des Raumes bei Mies van der Rohe, in: Riley (2002)

Bernard, Stefan, Philipp Sattler, (Hrg.), (1997), Vor der Tür, aktuelle Landschaftsarchitektur
aus Berlin, München.

Bianchi, Paolo, (Hrg.) (1999a) Künstler als Gärtner, in: KUNSTFORUM INTER- NATIONAL,
Bd. 145, Köln.

Bianchi, Paolo, (Hrg.), (1999b), Das Gartenarchiv, in: KUNSTFORUM INTERNATIONAL, Bd.
146. Köln.

Biella, Burkhard, (1989), Ein Denkweg an den anderen Anfang des Wohnens, in:
Wolkenkuckucksheim, Internetzeitung, 3. Jahrgang, Heft 2.

Birnbacher, Dieter (1980), Sind wir für die Natur verantwortlich?, in: Ders. (Hrg.), Ökologie
und Ethik, Stuttgart.

Bloch, Ernst, (1977), Das Prinzip Hoffnung, Gesamtausgabe, Band 5, Frankfurt/M.

Blond, Alexandro, (1731)Die Gärtnerey in ihrer Theorie oder Betrachtung als Praxi oder
Übung, Augsburg. (Das ist die deutsche Übersetzung von d´Argenvilles La Théorie
et la Pratique du Jardinage)

Boehm, Gottfried, (1986), Das neue Bild der Natur. Nach dem Ende der Landschaftsmalerei,
in: Smuda, (1986), (Hrg.)

Literaturverzeichnis 451
Boehm, Gottfried, (1987), Die Zeit der Unterscheidung, in: Kamper, Dietmar, (Hrg.), Die
unvollendete Vernunft: Moderne versus Postmoderne, Frankfurt/M.
Böhme, Hartmut, Gernot Böhme, (1985), Das Andere der Vernunft, Zur Entwicklung der
Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Stuttgart.

Böhme Gernot, Engelbert Schramm, (1985) (Hrsg), Soziale Naturwissenschaft, Frankfurt/M.

Böhme, Gernot, (1989), Für eine ökologische Naturästhetik, Stuttgart.

Böhme, Gernot, (2002), Die Natur vor uns, Naturphilosophie in pragmatischer Hinsicht,
Kusterdingen.

Böhme, Hartmut, (1989), Die Natur sprechen lassen, in: Kulturstiftung Stormarn, (Hrg.),
Nunatak, Projekt Schüberg, Hamburg.

Böhringer, Hannes, (1990), Attention in Clair-Obscur: die Avantgarde, in: Barck et al, (Hrsg.),
Aisthesis, Wahrnehmung heute, Leipzig.

Bourdieu, Pierre, (1997 6), Zur Soziologie der symbolischen Formen, Stuttgart.

Bourdieu, (1998 10) Der feine Unterschied, Stuttgart.

Bruyn, Gerd de, Stephan Trüby, Hrsg., (2003), architektur_theorie.doc, texte seit 1960, Basel.

Buchloh, Benjamin H.D., (1989), Vandalismus von Oben, in: Grasskamp, Walter, (Hrg.),
Unerwünschte Monumente, München.

Buggle, Franz, (1993), Die Entwicklungspsychologie Jeans Piagets, Stuttgart, Berlin, Köln.

Burckhardt, Lucius, (2007), Warum ist Landschaft schön? Kassel.

Bußmann, Klaus, Kaspar König, (Hrsg.) (1987), Skulptur Projekte in Münster 1987, Köln.

Buttlar, Adrian von, (1989), Der Landschaftsgarten, Gartenkunst des Klassizismus und der
Romantik, Köln.

Calvocoressi, Richard, (1989), Standortsuche, in: Grasskamp, Walter, (Hrg.), Unerwünschte


Monumente, München.

Chamoux, Francois, (1963) Griechische Kulturgeschichte, München, Zürich.

452 Literaturverzeichnis
Ciompi, Luc, (2005), Mensch, Natur und Gefühl, Aus der Perspektive der fraktalen
Affektlogik, in: Gebauer, (2005).
Clausen, Bettina, Karsten Singelmann, (1992), Avantgarde heute? In: Rolf Grimminger;
(Hrg.): Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur
Gegenwart, Band 12, Klaus Briegleb und Sigrid Weigel, (Hrg.): Gegenwartsliteratur
seit 1968,. München, Wien.

Cramer, Friedrich, (1989), Chaos und Ordnung, Die Komplexe Struktur des Lebendigen, 3.
Aufl., Stuttgart.

Cramer, Friedrich, (1997), Die Thesen von Rupert Sheldrake im Lichte moderner entwick-
lungsbiologischer Forschung, in: Dürr, Hans Peter, Franz-Theo Gottwald, (Hrg.),
Rupert Sheldrake in der Diskussion, Bern, München, Wien.

Dahl, Jürgen, (1983), Verteidigung des Federgeistchens, Über Ökologie und über Ökologie
hinaus, in: Bauwelt, 1983, Heft 7/8.

Dee, Catharine, (2004), Poetisch-kritisches Zeichnen in der Landschaftsarchitektur, in


Topos 49, München.

Derrida, Jacques, (2004), Die Différance, Ausgewählte Texte, Reclam, Stuttgart.

Dezallier d´Argenville Antoine Joseph, Die Grundregeln der Gartenkunst, in: Friedrich
Georg Jünger, (1960), Gärten im Abend- und Morgenland, München und Esslingen.

Diedrich, Lisa, (2001), Promenade Architecturale im Landschaftspark Riem, in: Topos 37,
Dez. 2001

DUMONTS Chronik der Kunst des 20. Jahrhunderts, (1990) Köln.

Eco, Umberto, (1991), 7. Aufl., Einführung in die Semiotik, München.

Eco, Umberto, (1998), 8. Aufl., Das offene Kunstwerk, Frankfurt/M.

Eisel, Ulrich, (1997), Unbestimmte Stimmungen und bestimmte Unstimmigkeiten, in:


Bernard, Stefan, Philip Sattler, (Hrsg.), Vor der Tür, Aktuelle Landschaftsarchitektur in
Berlin, München.
Elger, Dietmar, (2000), Donald Judd, Farbe, Ostfildern-Ruit.

Literaturverzeichnis 453
Elias, Norbert, (1986) Über die Natur, in: Merkur, Heft 448, Juni 1986.

Enge, Torsten Olaf, Carl Friedrich Schröer, Hrg., (1990), Gartenkunst in Europa, Köln.
Feyerabend, Paul, (1984), Wissenschaft als Kunst, Frankfurt /M.

Feyerabend, Paul, (1986) Wider den Methodenzwang, Frankfurt /M.

Fischer, Ernst P., (1990), Die zwei Gesichter der Wahrheit, Goldmann Verlag.

Fischer-Leonhardt, Dorothea, (2005), Die Gärten des Bauhauses, Gestaltungskonzepte der


Moderne, Berlin.

Förster, Heinz von, (1988).Erkenntnistheorien und Selbstorganisation, in: Siegfried J.


Schmidt, (1988)

Freie und Hansestadt Hamburg, Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt, Architektur
Olympiade Hamburg, 2006

Gadamer, Hans-Georg, (1990), Wahrheit und Methode, Tübingen,

Gebauer, Michael, Ulrich Gebhard, (Hrg.), (2005), Naturerfahrung, Wege zu einer


Hermeneutik der Natur, Kusterdingen.

Giedion, Sigfried, (1987), Die Herrschaft der Mechanisierung, Frankfurt/M.

Giedion, Sigfried, (1965), Raum, Zeit, Architektur, Die Entstehung einer neuen Tradition,
Ravensburg

Glaserfeld, Ernst von, (1997), Wege des Wissens, Heidelberg.

Gothein, Marie Luise, (1926), Geschichte der Gartenkunst, Jena.

Grasskamp, Walter, (1989), Unerwünschte Monumente, München

Grasskamp, Walter, (1992), Die unästhetische Demokratie: Kunst in der Marktgesellschaft,


München.

Groh, Ruth, Dieter Groh, (1996), Natur als Maßstab – Eine Kopfgeburt, in: dies., Die
Außenwelt der Innenwelt, Stuttgart.

454 Literaturverzeichnis
Groh, Ruth, (2007), Natur und Kultur in der Landschaftsarchitektur in: Dziembowski,
Bettina von, Dominik von König, Udo Weilacher, (Hrsg.), Neuland, Bildende Kunst
und Landschaftsarchitektur, Basel, Boston ,Berlin.
Grohmann, Will, (2003), Der Maler Paul Klee, Köln.

Haber, Wolfgang, (2001), Natur zwischen Chaos und Cosmos, in: Wir und die Natur,
Berichte der Bayrischen Akademie f. Naturschutz,

Habermas, Jürgen, (2003), Moderne und postmoderne Architektur, in: de Bruyn, (2003)

Hajós, Géza, (1988), Kunst kontra Natur? In: KUNSTFORUM, Bd. 93, 1988.

Haken, Hermann, Maria Haken-Krell, (1994), Erfolgsgeheimnisse der Wahrnehmung,


Frankfurt /M., Berlin.

Hallbaum, Franz, (1927), Der Landschaftsgarten, Sein Entstehen und seine Einführung in
Deutschland durch Friedrich Ludwig von Sckell, München.

Hansmann, Wilfried, (1983), Gartenkunst der Renaissance und des Barocks, Köln

Harrison, Robert P.,(1988), Wälder, Ursprung und Spiegel der Natur, München, Wien

Hartung, Elisabeth, (1995), Freie Denkräume, in: Künstler, Kritisches Lexikon der
Gegenwartskunst, Ausgabe 30, Heft 13, München.
Hecken, Thomas, (1985), Kant mit Fourier? Bourdieusche Geschmacksfragen, in: Merkur
434, 39. Jg., H. 4. Stuttgart.

Heidegger, Martin, (1954), Bauen Denken Wohnen, in: Ders., Reden und Aufsätze, Stuttgart.

Heidegger, Martin, (2002), Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, Frankfurt


/M.

Heidegger, Martin, (2003), Der Ursprung des Kunstwerkes, in: Ders., Holzwege, 8. unv. Aufl.
Frankfurt /M.

Hennebo, Dieter, (1963), Renaissance – Manierismus – Barock in: Dieter Hennebo, Alfred
Hoffmann, Geschichte der Gartenkunst, Hamburg.

Literaturverzeichnis 455
Hennebo, Dieter, (Hrg.), (1985), Gartendenkmalpflege, Grundlagen der Erhaltung histori-
scher Gärten und Grünanlagen, Stuttgart.
Henning, Rolf, (1983), Der Sachsenwald, Neumünster.

Hirschfeld, Christian C.L., (1779), Theorie der Gartenkunst, 5 Bände, Leipzig; Nachdruck in 2
Bänden, Hildesheim, 1985.

Herzog, Günter, (1989), Hubert Robert und das Bild im Garten, Worms.

Höfer, Wolfram, (2000), Natur als Gestaltungsfrage, Zum Einfluß aktueller gesellschaftli-
cher Veränderungen auf die Idee von Natur und Landschaft als Gegen-stand der
Landschaftsarchitektur, München.

Hoffmann, Alfred, (1963) Der Landschaftsgarten, in: Dieter Hennebo, Alfred Hoffmann,
Geschichte der Gartenkunst, Hamburg.

Honisch, Dieter, (1996), Donald Judd, in: Bastian Heuer, (Hrg.), Katalog der Sammlung
Marx, Berlin.

Horster, Detlef, (1997), Niklas Luhmann, München.

Howcroft, Heidi, (2005), Blumengärten – Klassisch, ländlich und modern, München, 2005.

Humpert, Klaus, Sibylle Becker, Klaus Brenner, (1996), Über fraktale Gesetze im
Stadtwachstum, in: Topos 17, Dez. 1996, München

Jahraus, Oliver, (2004), Martin Heidegger, Eine Einführung, Stuttgart,

Jaspers, Karl, (1931), Die geistige Situation der Zeit, Abdruck der 5. Auflage von 1932, Berlin
1953.

Jaspers, Karl, (1971), Einführung in die Philosophie, München.

Jencks, Charles, (1987), Die Postmoderne, Der neue Klassizismus in Kunst und Architektur,
Stuttgart.

Jung, Carl Gustav, (1957), Bewußtes und Unbewußtes, Frankfurt/M.

Junge, Kai, (1993), Medien als Selbstreferenzunterbrecher, in: Dirk Baecker, 1993.

456 Literaturverzeichnis
Kähler, Gert, (Hrsg.), (1991), Dekonstruktion? Dekonstruktivismus? Aufbruch ins Chaos
oder neues Bild der Welt?, Nachdr., Braunschweig, Wiesbaden.
Kandinsky, Wassily, (1952), 10. Aufl. o. J.), Über das Geistige in der Kunst, Bern.

Kepler, Angela, Martin Seel, (1991), Zwischen Vereinnahmung und Distanzierung, in:
MERKUR 510/511, 45. Jg., Heft 9/10. Stuttgart.

Kiefer, Gabriele, (1997), Das städtische Wohnzimmer, in Bernard, (1997).

Kienast, Dieter, (1999), Die Kultivierung der Brüche, in: Weilacher, (1999),

Kienast Dieter, (2004), Essays, Birkhäuser Verlag für Architektur, Basel.

Kienast, Dieter, (2002), Die Poetik des Gartens Über Chaos und Ordnung in der
Landschaftsarchitektur, Basel.

Kienast, Dieter, Günther Vogt, (1993), Die Form, der Inhalt und die Zeit, in: Topos 2, Jan.
1993.

Kloos, Werner, (1979), Die Sammlung Schwarzkopf im Herrenhaus Steinhorst, in:


Konerding, (1979)

Klotz, Heinrich, (1985), Moderne und Postmoderne, Architektur der Gegenwart, 1960 –
1989, Braunschweig/Wiesbaden.
Kluckert, Ehrenfried, (2000), Gartenkunst in Europa, Von der Antike bis zur Gegenwart.
Köln.

Kolberg, Gerhard, (2002), Das passive Element, in: Künstler Kritisches Lexikon der
Gegenwartskunst, Ausgabe 57, Heft 2, München.

Konerding, Volker, Adolf Singelmann, Werner Klooos, (1979), Das Herrenhaus Steinhorst
und die Sammlung Schwarzkopf, Neumünster.

Koolhaas, Rem, (2008), Die Freiheit ist größer denn je, DIE ZEIT Nr. 24, 5. 6. 2008.

Krebs, Stefanie, (2002), Zur Lesbarkeit zeitgenössischer Landschaftsarchitektur,


Verbindungen zur Philosophie des Dekonstruktivismus, Hannover.

Literaturverzeichnis 457
Kreck, Matthias, (2001), Was ist ein Raum? www.uni-heidelberg.De /presse/ruca/ruca2-
2001/kreck.html
KUNSTFORUM INTERNATIONAL, (1984), Bd. 70, Malerei – z. B. Landschaft, Köln.

KUNSTFORUM INTERNATIONAL, (1988) Bd. 93, Kunst und Ökologie, Köln.

KUNSTFORUM INTERNATIONAL, (1999a), Bd. 145, Künstler als Gärtner, Köln.

KUNSTFORUM INTERNATIONAL, (1999b), Bd. 146, Das Gartenarchiv, Köln.

Küster, Hansjörg, (1995), Geschichte der Landschaft in Mitteleuropa, München.

Küster, Hansjörg, (1998), Die Geschichte des Waldes, München.

Lange, Willy, (1922), Gartenbilder, Leipzig.

Latz, Peter, (2005), Landschaftsarchitektur als interkulturelles Prinzip, in Topos, EUROPEAN


LANDSCAPE MAGAZIN, Heft 50, München.

Leppert, Stefan, (2008) Zwischen Gartengräsern, München.

Liessmann, Korad Paul, (1999), Philosophie der modernen Kunst, Eine Einführung, Wien.

Lobsien, Eckard, (1986), Landschaft als Zeichen. Zur Semiotik des Schönen, Erhabenen und
Pittoresken, in: Smuda, (1986).

Lötsch, Bernd, (1988), Ökologisches Bauen als Ausdruck eines neuen Bewusstseins, in:
Erweiterte Dokumentation des DEUBAU-KONGRESSES 1987, Architektur und
Natur, Bonn, Hamburg.

Lüdeking, Karlheinz, (1998), Analytische Philosophie der Kunst, Eine Einführung, München.

Luhmann, Niklas, (1987), Soziale Systeme, Grundriß einer allgemeinen Theorie,


Frankfurt/M.

Luhmann, Niklas, (1990), Ökologische Kommunikation, Kann die Gesellschaft sich auf öko-
logische Gefährdungen einstellen?, 3. Aufl., Opladen.

Luhmann, Niklas, (1993a) Die Paradoxie der Form, in: Baecker, (Hrg), (1993).

Luhmann, Niklas, (1993b) Soziologische Aufklärung 5, konstruktivistische Perspektiven, 2.


Aufl. Opladen

458 Literaturverzeichnis
Luhmann, Niklas, (1997), Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M.

Luhmann, Niklas, (1999), 3. Aufl. Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt/M.


Lutz, Heiner, (2001), Das Prinzip der Aspektbildner, in: Topos, EUROPEAN LANDSCAPE
MAGAZINE, Heft 37, Dez. 2001.

Lyotard, Jean-Francois, (1987), Postmoderne für Kinder, Wien

Lyotard, Jean-Francois, (1989), Der Widerstreit, München.

Mader, Günter, (1999), Gartenkunst des 20. Jahrhunderts: Garten- und


Landschaftsarchitektur in Deutschland, Stuttgart.

Marquard, Odo, (1986), „Die arbeitslose Angst“, DIE ZEIT, (12. 12. 1986)

Maturana, Umberto, Francisco Varela, (1987) Der Baum der Erkenntnis, Bern, München,
Wien.

Maturana, Umberto, (2000), Biologie der Kognition, in ders.: Biologie der Realität,
Frankfurt/M.

Metgen, Günter, (1993), Et in Arcadia ego? Natur als Thema zeitgenössischer Künstler, in:
MERKUR, 2/1993.

Metzler, (1989), Philosophisches Lexikon, Stuttgart.


Meyers kleines Lexikon, Philosophie, Mannheim, 1987.

Meyer, Gustav, (1860). Lehrbuch der schönen Gartenkunst, Berlin, Nachdruck 1985, Berlin.

Mitraux, Alexandre, (1986) Ansichten der Natur und Aisthesis, Einige kritische
Bemerkungen zum Landschaftsbegriff, in: Smuda, (1986)

Müller, Ulrich, (2004), Raum, Bewegung und Zeit im Werk von Walter Gropius und Mies
van der Rohe, Berlin.

Nerdinger, Winfried, (Hrg.) (2008), Sep Ruf, 1908 – 1982, Moderne mit Tradition

Neumann, Klaus-D., (1996), Ökopark am Rangierbahnhof Nord, München, in: Topos 17,
Dez. 1996, München.

Literaturverzeichnis 459
Neumeyer, Fritz, (2002), Der Erstling von Mies: Ein Wiedereintritt in die Atmosphäre vom
‚Klösterli’, in: Riley, (2002),
Neumeyer, Fritz, (2003), Das Schauspiel der Objektivität, in: Bruyn, (2003)

Ortega y Gasset, José, (1958), Der Aufstand der Massen, Hamburg.

Paetzold, Heinz, (1990), Ästhetik der neueren Moderne, Stuttgart.

Platon, (1991), Sämtliche Werke, Bd. VIII, Frankfurt/M. Leipzig.

Prechtl, Peter, (1991), Husserl zur Einführung, Hamburg.

Prigann, Herman, (1993), Ring der Erinnerung, Berlin.

Prigogine, Ilya, Isabelle Stengers, (1986) Dialog mit der Natur, München.

Prominski, Martin, (2004), Landschaft entwerfen, Zur Theorie aktueller


Landschaftsarchitektur, Dietrich Reimer Verlag.

Pückler-Muskau, Fürst, (1977), Andeutungen über Landschaftsgärtnerei, Stuttgart.

Radziewsky, Elke von, (2008), Wildwuchs mit System, in: ARCHITEKTUR & WOHNEN,
Ausgabe 3/08

Reese-Schäfer, Walter, (1996), Luhmann zur Einführung, 2. Aufl., Hamburg

Richter, Gerhard, (2008), Wald, Köln.


Riley,Terence, Barry Bergdoll, (Hrsg.), (2002), Mies in Berlin, Ludwig Mies van der Rohe, Die
Berliner Jahre 1907 – 1938, München, Berlin, London, New York

Ritter, Joachim, (1974), Landschaft, Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen
Gesellschaft, in: Subjektivität, Frankfurt/M.

Romain, Lothar, (1990), Betrachten – Betroffen – Aktiv, Positionen der Plastik in der
Bundesrepublik, in: Ders., (Hrg.), Bis jetzt, Plastik im Außenraum der Bundesrepublik,
München.

Roth, Gerhard, (1992), Das konstruktive Gehirn, Neurobiologische Grundlagen von


Wahrnehmung und Erkenntnis, in Schmidt, Siegfried J. (1992).
Roth, Gerhard, (1997), Das Gehirn und seine Wirklichkeit, Frankfurt/M.

460 Literaturverzeichnis
Safranski, Rüdiger, (1995), Ein Meister aus Deutschland, Heidegger und seine Zeit,
München, Wien, 346.
Safranski, Rüdiger, (2007), Romantik, Eine deutsche Affäre, München.

Sandkühler, Hans Jörg, Hrg., (1990), Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und


Wissenschaft, Hamburg.

Schadewald, Wolfgang, (1978), Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen,
Frankfurt/M.

Schäfer, Robert, (Hrg.), (1993) Was heißt denn schon Natur?, Ein Essaywettbewerb,
München.

Schmidt, Siegfried J., (1998) Modernisierung, Kontingenz, Medien: Hybride Beobachtungen,


in: Gianni Vattimo, Wolfgang Welsch, (Hrsg.) Medienwelten, München.

Schmidt, Siegfried J. (Hrg.), (6. Aufl., 1994), Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus,
Frankfurt/M.

Schmücker, Reinold, (1998), Was ist Kunst? Eine Grundlegung, München.

Schneckenburger, Manfred, (1998), Skulpturen und Objekte, in: Walther, Ingo F. (Hrg.),
Kunst des 20. Jahrhunderts, Taschen.
Schober, Reinhart, (2001), Von der rationalen zur atmosphärischen Planung, in: Stadt und
Raum, 3/2001, Winsen/Aller

Schönemann, Heinz, (Hrsg.) (1993), Peter Joseph Lenné, Katalog der Zeichnungen, bearbei-
tet von Harri Günther und Sibylle Harksen, Tübingen, Berlin

Schönwälder, Tatjana, Katrin Wille, Thomas Hölscher, (2004), George Spencer- Brown, Eine
Einführung in die „Laws of Form,“ Wiesbaden

Schröder, Thies, (1997), Aufbruch ohne Ziel, in: Bernard, (Hrg.), (1997)

Schulze, Gerhard, (1993), Die Erlebnisgesellschaft, Kultursoziologie der Gegenwart,


Frankfurt / New York

Literaturverzeichnis 461
Schulz W., (1986) Stadtgestalt, Ästhetik und Wohlbefinden, in: Wiener
Stadtentwicklungssymposium, , zitiert von Peter Arlt in KUNSTFORUM, BD. 145,
220.
Schwingel, Markus, (1995), Bourdieu zur Einführung, Hamburg.

Seel, Martin, (1991), Eine Ästhetik der Natur, Frankfurt/M.

Seel, Martin, (1995), Erinnerung an das Wohlergehen, in MERKUR 557, 49. Jg. Heft 8,
Stuttgart.

Seel, Martin, (1996), Ethisch- ästhetische Studien, Frankfurt/M.

Seel, Martin, (1998), Philosophie nach der Postmoderne, in: MERKUR 594/595, 52. Jg. Heft
9/10, Stuttgart.

Seel, Martin, (2000), Ästhetik des Erscheinens, München, Wien.

Sheldrake, Rupert, (1991), Die Wiedergeburt der Natur, Wissenschaftliche Grundlagen ei-
nes neuen Verständnisses der Lebendigkeit und Heiligkeit der Natur, Bern, München,
Wien.

Sieferle, Rolf Peter, (1986), Entstehung und Zerstörung der Landschaft, in: Smuda, (1986)

Sieverts, Thomas, (1999), Zwischenstadt: zwischen Ort und Welt, Raum und Zeit, Stadt
und Land; Braunschweig, Wiesbaden.

Singelmann, Adolf, (1979), Der Barockgarten Steinhorst, in: Konerding, (1979).

Smuda, Manfred (Hrsg.), (1986) Landschaft, Frankfurt/M.

Smuda, (1986), Natur als ästhetischer Gegenstand und als Gegenstand der Ästhetik, in:
ders. (Hrg.) (1986)

Spanier, Heinrich, (2001), Natur und Kultur, in: Bayrische Akademie für Naturschutz und
Landschaftspflege, (Hrsg.), Wir und die Natur, 74.

Spencer-Brown, George, (1999), Laws of Form, deutsch von Thomas Wolf, Gesetze der
Form, Lübeck, Bohmeier.

462 Literaturverzeichnis
Staats, Henk, Brigitta Gattersleben, Jasper Kipps,(1994), Ein Spaziergang im Wald der
Zukunft, Topos 1994/6, 103ff, München.
Stegmaier, Werner, (2000), Derrida, De la Grammatologie, in: Ehrhard Jaumann, (Hrsg.),
Jahrhundertbücher, München.

Stein, Werner, (1946), Kulturfahrplan, Berlin, Darmstadt, Wien

Straaten, Evert van, (2000), Theo van Doesburg, Konstrukteur eines neuen Lebens, in: Birnie
Danzker, Jo-Anne, (Hrsg.), Theo van Doesburg, Maler – Architekt

Tischer, Stefan, (1996), Berlin Adlershof, in: Garten und Landschaft, 7/1996.

Tischer, Stefan, (2000), Minimalismus als Irrweg, in Topos 33, München.

Uexküll, Thure von, (1998), Naturwissenschaft als Zeichenlehre, in: MERKUR, Deutsche
Zeitschrift für europäisches Denken, Heft 3, 43. Jahrg. 1998, Heft 481. Stuttgart.

Vergil, (2001), Bucolica Hirtengedichte; Übersetzung, Anmerkungen, interpretierender


Kommentar und Nachwort von Michael von Albrecht, Stuttgart.

Vogt, Adolf Max, (1991), Mit Dekonstruktion gegen Dekonstruktion, in: Kähler (1991)

Waldenfels, Bernhard, (1986), Gänge durch die Landschaft, in Smuda, (1986).

Watzlawick, Paul, (1996), Wie wirklich ist die Wirklichkeit?, 21. Aufl. München.
Weidinger, Jürgen, (2001), in: BDLA Landschaftsarchitektur, Heft 4, 2001, 23.

Wedewer, Susanne, (1993), Reine Kunst in reiner Landschaft, in: Künstler, kritisches Lexikon
der Gegenwartskunst, München, Ausgabe 20.

Weilacher, Udo, (1999), Zwischen Landschaftsarchitektur und Landart, Basel.

Weilacher, Udo, (2005), In Gärten, Profile aktueller europäischer Landschaftsarchitektur,


Basel, Berlin, Boston.

Wenzel, Jürgen, (2005), Landschaftsarchitektur und Städtebau, in: Stadt und Raum, 6/2005.

Welsch, Wolfgang, (1988), Unsere postmoderne Moderne, Weinheim.

Welsch, Wolfgang, (1990) Ästhetisches Denken, Stuttgart.

Literaturverzeichnis 463
Welsch, Wolfgang, (1993), Das Ästhetische – Eine Schlüsselkategorie unserer Zeit?, in: ders.,
(Herg.) Die Aktualität des Ästhetischen, München.
Wiggershaus, Rolf, (1987), Theodor W. Adorno, München.

Winter, Michael, (1986), Die Schönheit der Medusa, Merkur 443, 1986/1, 3. Stuttgart.

Wundram, Manfred, Thomas Pape, (1988), Andrea Palladio, Architekt zwischen


Renaissance und Barock, Köln.

Zimmerman, Claire, (2006) Mies van der Rohe, Köln.

464 Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
1/1 Donald Judd, „untitled“ , DUMONTS Chronik der Kunst des 20. Jahrhunderts, Köln,
1990.

1/2 Hysterese, Haken, Herrmann, Maria Haken Krell, Erfolgsgeheimnisse der


Wahrnehmung, Ullstein, Frankfurt/M. Berlin, 1994.

2/1 Hutewald, eigene Aufnahme.

2/2 Historische Flurkarte einer Sachsenwaldgemeinde, eigene Aufnahme.

3/1 Ornamentaler Brunnen, Giedion Sigfried, Die Herrschaft der Mechanisierung,


Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt/M, 1987.

3/2 Ziergarten im Park zu Muskau, Gothein, Marie Luise, Geschichte der Gartenkunst,
Band 2, Eugen Diederichs, Jena, 1926.

3/3 Krug der Schnurkramiker, Welt- und Kulturgeschichte, Band 01, Zeitverlag, Hamburg,
2006.

3/4 Vorratsgefäß der Etrusker, Welt- und Kulturgeschichte, Band 03, Zeitverlag, Hamburg,
2006.

3/5 Service Arzberg 2000, Wilhelm Wagenfeld, eigene Aufnahme


3/6 Terrasse am Schloss Charlottenhof von K. F. Schinkel, in: Harri Günther und Sibylle
Harksen, Peter Joseph Linné, Katalog der Zeichnungen, Ernst Wasmuth Verlag,
Tübingen/Berlin, 1993.

3/7 La Villette, Ladestraße, eigene Aufnahme.

4/1 Ägyptisches Totengärtlein, Gothein, Marie Luise, Geschichte der Gartenkunst, Band 1,
Eugen Diederichs Jena 1926.

4/2 Parterregarten am Hotel Kempinski, München, Mader, Günter, Gartenkunst des 20.
Jahr- hunderts, Deutsche Verlagsanstalt, stuttgart, 1999.

4/3 Stadtgrundriss Milet, Chamoux, Francois, Griechische Kulturgeschichte, Droemersche


Verlagsanstalt, München Zürich.

Abbildungsverzeichnis 465
4/4 Moderne Rasterplanung, Architekturolympiade Hamburg 2006, Goldmedaille im
Städtebau, Projekt: Röttiger-Kaserne, Büro: MVDRV Rotterdam, Freie und Hansestadt
Hamburg, Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt
4/5 Wegenetz in Versailles, Prospekt.

4/6 Wege im Übergangs-Stil, in Band 2, Gothein (s. oben)

4/7 Wegeplanung mit Zirkel, Peter Joseph Lenné, Katalog der Zeichnungen, Ernst
Wasmuth Verlag, Tübingen/Berlin1993.

4/8) Wege in der Realität, Quelle wie vor.

5/1 Lichtungen im Schwarzwald, google earth.

5/2 Dorfflur in einer Lichtung, google earth

5/3 Koch-Kurven, Cramer, Friedrich, Chaos und Ordnung, 1989, Deutsche Verlagsanstalt
GmbH, Stuttgart.

5/4 Garten und Landschaft 3/2003.

5/5 Villa „Rotonda“ Grundriss; Wundram, Pape, Marton, Andrea Palladio, Benedikt Taschen
Verlag, Köln, 1988.

5/6 „Fließender Raum“, Ulrich Müller, s. oben.


5/7 Farnsworth-House, Zimmermann, Claire, Mies van der Rohe, TASCHEN GmbH, Köln
2006

5/8 Bundeskanzler Bungalow im Park, Sep Ruf, Nerdinger, Winfried, (Hrsg) in


Zusammenarbeit mit Irene Meißner Architekturmuseum der Technischen
Universität München in der Pinakothek der Moderne, Prestel, München, 2008.

5/9 Grundriss des Bundeskanzler-Bungalows von Sep Ruf, wie vor.

5/10 Garten und Reformarchitektur, Gothein, Marie Luise, s. oben

5/11 Blick von der Terrasse Gropius in den Waldgarten, Fischer-Leonhardt, Dorothea, Die
Gärten des Bauhauses, jovis Verlag, Berlin, 2005
5/12 Garten am Meisterhaus, eigene Aufnahme.

466 Abbildungsverzeichnis
5/13 „50 mal 50 Haus“, Zimmermann, Claire, Mies van der Rohe, TASCHEN GmbH, köln
2006.
5/14 wie vor.

5/15 Aus einem Inserat, Hamburger Abendblatt.

6/1, 6/2 Welteroberer, Eigene Aufnahme

6/3 Kinderzeichnungen Eigene Aufnahme.

.6/4 Schober, Reinhard, Von der rationalen zur atmosphärischen Planung, in: STADT UND
RAUM, Messe und Medien GmbH, Winsen/Aller, 3/2001.

6/5 Moränenlandschaft, eigene Aufnahme.

7/1 Hubert Robert. Homme désespéré. Bühnenbildentwurf, Privatbesitz. In: Herzog,


Günter, Hubert Robert und das Bild im Garten, Wernersche Verlagsanstalt, Worms,
1989.

7/2 Details klischeeartiger Baumdarstellungen verschiedener Künstler des 18. und 19.
Jahrhunderts. (Kleiner, Lorrain, Hobbema, Herzog,)

7/3a Jackson Pollock, Autumn Rhythm: Number 30; Emmerling, Leonhard, Jackson Pollock,
TASCHEN, Köln 2009.
7/3b IAN MACKEEVER, Traditional Landscape, KUNSTFORUM INTERNATIONAL, Bd. 70,
2/84.

7/3c Strauchgewirr, Eigene Aufnahme.

7/5 Adlershof, Luftbild, Google Earth.

7/6 „Abgehoben“ von der Natur. Eigenes Foto.

7/7 Pflanzen- Einschlag? Eigenes Foto.*

7/8 Richard Long, Steinkreis Moure Gloria, Richard Long, Spanish Stones

Ediciones Poligrafa SA Barcelona, 1998.

7/9 Ring der Erinnerung, Prigann Herman, Ring der Erinnerung,


Verlag Dirk Nishen, Berlin, 1993.

Abbildungsverzeichnis 467
7/10 Berggarten Graz, Eigene Aufnahme

7/11a KUNSTFORUM INTERNATIONAL, Bd146, 1999, Köln


7/11b wie vor.

7/11 c wie vor.

7/11d wie vor.

7/12 Garten und Landschaft, 9/1989.

7/13 Nou Barris Park, inspiriert von Picasso, Topos 39/2002.

7/14 Wassily Kandinsky: Orange. Farblithographie 1923, Topos 2

7/15 Parco della Resistenza, Modena, preisgekrönte Wettbewerbsarbeit, Topos2, 1993.

7/16 Park Juan Carlos in Madrid, Topos 23, 1998.

7/17 Thames Barrier Park, Topos 35, 2001.

7/18 Landschaftsplanerishes Konzept mit „seriellen Pflanzungen“ Garten und Landschaft,


2/2004.

7/19 Landschaftsplanung mit „Waldfraktalen“ Garten und Landschaft 7/2008,

7/20 Paul Isenrath. „Maßkraft“, Bis jetzt, Plastik im Außenraum der Bundesrepublik, Stiftung
Niedersachsen, 1990.

7/21 Ludger Gerdes, „Ichs“, wie vor.

7/22 Claes Oldenburg, „Gartenschlauch“, art Das Kunstmagazin, 8/1994.

7/23 „Blattunterseite einer Sumpfdotterblume“ Eigene Aufnahme.

7/24 „Zellwand einer Alge“ Eigene Aufnahme

7/25 Buga Wismar, Eigene Aufnahme

7/26 Bundesministerium, Unbekannt

468 Abbildungsverzeichnis

Das könnte Ihnen auch gefallen