Sie sind auf Seite 1von 28

2

STRAHLENTHERAPIE UND
RADIOONKOLOGIE IM FOKUS

3
INHALT

Grußwort 1

Rückblick: Prof. Dr. Horst Sack fasst zusammen 2


Strahlentherapie – junges Fachgebiet mit langer Tradition

Nachgefragt: Prof. Dr. Rolf Sauer fühlt sich 6


„…wie die Spinne im Netz der Onkologie“

Portrait: Prof. Dr. Dr. Michael Wannenmacher über sein Credo 10


Im Zentrum der Mensch

Grundlagen 14
Strahlentherapie – kein Buch mit sieben Siegeln

Reportage 20
Kein Tag wie jeder andere

Impressum/Bildnachweis 25
GRUSSWORT

Prof. Dr. Volker Budach Noch immer bestehen eine Menge Vor- meisten Krebsarten möglich und er-
Präsident der Deut- urteile gegenüber der Strahlentherapie – laubt in Verbindung mit systemischen
schen Gesellschaft für in der Bevölkerung, aber auch bei Me- Therapiekomponenten, etwa einer Che-
Radioonkologie e. V. dizinstudenten und Ärzten aus anderen motherapie, nochmals für längere Zeit
Fachdisziplinen. Sie beruhen auf einem ein Verzögern des Tumorwachstums
generellen Unbehagen vieler Menschen oder in Einzelfällen sogar Heilungen
gegenüber dem Unsichtbaren im Allge- – ohne dass im Gegenzug schwerwie-
meinen und Strahlung im Speziellen. gende Therapiefolgen in Kauf genom-
men werden müssten.
Wir in der Deutschen Gesellschaft für
Radioonkologie sehen es daher als eine Auf den folgenden Seiten möchten wir
dringende Aufgabe an, bestehende Äng- Ihnen einige unserer besten Radioonko-
ste und Hemmschwellen bei Patienten, logen vorstellen, die mit ihrer Arbeit
Angehörigen und fachfremden Kollegen wesentliche Impulse zur Weiterent-
abzubauen. Mit unserer Informationsbro- wicklung des Faches gegeben haben.
schüre wollen wir um mehr Akzeptanz Außerdem erhalten Sie Informationen
und Verständnis für die moderne Strah- über die Geschichte der Strahlenthera-
lentherapie werben und deutlich machen, pie, ihre interdisziplinäre Einbindung
dass unser Fachgebiet eine wichtige Säule in das onkologische Fächerspektrum
in der Behandlung von Krebspatienten und die neuesten technischen Ent-
aller Altersstufen ist – und gleichzeitig ein wicklungen. Wir ermöglichen Ihnen
spannendes Tätigkeitsfeld für engagierte zudem einen Blick hinter die Kulissen
Ärzte. Die heute verfügbaren hochener- und lassen Sie am Arbeitsalltag in
getischen „sanften Strahlen“ verursachen einer deutschen Universitätsklinik für
dank entsprechender Bestrahlungstech- Radioonkologie und Strahlentherapie
niken in der Regel keine nennenswerten teilnehmen. Wir hoffen, dass es uns auf
Hautreaktionen, so dass im Normalfall diese Weise gelingt, Ihnen – egal ob Sie
keine dauerhaften Hautschäden zu be- Patient oder Angehöriger sind oder ob
fürchten sind. Sie sich im Rahmen Ihres Medizinstu-
diums mit der Strahlentherapie aus-
Darüber hinaus lassen sich Tumoren durch einander setzen – unser Arbeitsgebiet
den Einsatz hoch entwickelter bildgeben- näher zu bringen und es, jenseits von
der Verfahren gut vom gesunden Gewebe Ängsten und Vorurteilen, in einem
abgrenzen und damit höchst zielgenau neuen Licht erstrahlen zu lassen.
bestrahlen, was die Gefahr von akuten
Nebenwirkungen und chronischen Strah-
lenfolgen in gesunden Organen wesent-
lich minimiert. Eine erneute Behandlung
bereits bestrahlter Körperregionen ist mit
den derzeit verfügbaren Methoden bei den

1
rückblick

Strahlentherapie —
junges Fachgebiet
mit langer Tradition
Erst seit 1985 gibt es in Deutschland des 20. Jahrhunderts kam die Strahlenthe-
den Facharzt für Strahlentherapie. Die rapie vermehrt in der Krebsbehandlung
Geschichte des Fachs reicht jedoch fast zum Einsatz.“ Im Zentrum des Interesses
hundert Jahre weiter zurück – Professor stand damals die Behandlung der Leukä-
Dr. Horst Sack, Geschäftsführer der mie, bei der sich bereits mit geringen Strah-
DEGRO, hat in Deutschland kräftig da- lendosen sehr deutliche Erfolge erzielen
ran mitgeschrieben. ließen – wenn auch keine vollständige Hei-
lung. In Haut- und Frauenkliniken wur-

Es war im Jahr 1895, am 8. November, als


der deutsche Physiker Conrad Röntgen
eine bedeutende Entdeckung machte: eine
unsichtbare Strahlung, mit der sich das
Innere eines Organismus betrachten lässt.
Zwei Wochen später entstand die erste
Röntgenaufnahme der Geschichte, das
Handskelett einer Frau – mit einer Durch-
leuchtungszeit von über 20 Minuten.

Die neue Strahlung faszinierte die Men-


schen – so sehr, dass sie in gehobenen
Kreisen sogar immer wieder als Partygag
zum Einsatz kam. Über die damit verbun-
denen Gefahren war sich zu dieser Zeit den Strahlen ebenfalls zu einem wichtigen
noch niemand im Klaren, und auch von Thema: „Für die Behandlung gynäkologi-
der Wirkungsweise der Röntgenstrahlen scher Tumoren war insbesondere die Ent-
hatten Wissenschaftler keine Vorstellung. deckung des Radium 226Ra von Bedeutung,
Dennoch erfolgte bereits 1896, ein Jahr das ab Anfang des 20. Jahrhunderts zur
nach ihrer Entdeckung, ein erster thera- Verfügung stand“, erzählt Sack. „Es ließ
peutischer Einsatz. Der Wiener Arzt Leo- sich bei Eingriffen durch die Scheide vor
pold Freund bestrahlte das behaarte Mut- und in die Gebärmutter bringen und konn-
termal auf dem Rücken eines achtjährigen te dort seine Wirkung direkt entfalten.“
Mädchens. Die Fehlbildung verschwand
tatsächlich – und nachhaltig, wie eine Kliniken, die sich von Anfang an vermehrt
Nachuntersuchung im Jahr 1956 zeigte. mit diesen Methoden befassten, gab es un-
ter anderem in Wien, Freiburg, München,
„Das war der Anfang unserer Fachdiszi- Hamburg und Erlangen. Von radioonko-
plin“, sagt Professor Dr. Horst Sack, der logischen Behandlungszentren nach heu-
sich als Geschäftsführer der DEGRO tigen Maßstäben konnte natürlich noch
mit der Geschichte der Strahlentherapie nicht die Rede sein. „Ich selbst lernte die
beschäftigt und auch ein Lehrbuchkapitel Strahlentherapie Anfang der 1950er Jahre
zu diesem Thema verfasst hat. „Mit Beginn bei meinem Vater kennen, der Radiologe

2
tischen Wirkung von Strahlen noch weit
sein. Dennoch entwickelte sich die junge
Disziplin rasant weiter. So ebneten neue
Techniken den Weg für immer präzisere
Einsatzmöglichkeiten. „Wichtige Meilen-
steine waren ab den 1940er Jahren vor

war“, erinnert sich der DEGRO-Geschäfts-


führer. Damals, so berichtet er, sei das
Gerät „Stabilivolt“ der Firma Siemens im

allem die Kreuzfeuermethode, bei der


man über mehrere Eintrittspforten auf den
Tumor zielt, sowie die Entwicklung der
Bewegungs- oder Pendelbestrahlung mit
Geräten, die sich um den Körper oder ein
Körperteil herum bewegen“, zählt Sack
Einsatz gewesen. „Die Hochspannung von auf. Beide Methoden haben zum Ergebnis,
180 kV hielt das Gerät stabil, nicht aber dass sich die Strahlen im Tumor bündeln,
die Dosisleistung. Während der gesamten auf diesen also die volle Dosis wirkt, wäh-
Behandlung, die rund 60 Minuten dauerte, rend die gesunde Umgebung geschont
musste also jemand am Schalttisch bleiben wird. „Diese Methoden sind bis heute das
und die Leistung regulieren.“ Im Bestrah- A und O einer erfolgreichen Strahlenthera-
lungsraum seien zudem drei Patienten pie – wobei die Qualität dank moderner
gleichzeitig bestrahlt worden – durch ein- Bildgebung und computergesteuerter Be-
fache Holzwände getrennt, die lediglich strahlungsplanung im Laufe der Jahre
als Sichtschutz dienten. immer besser geworden ist.“

Die Strahlentherapie fristete lange ein Eine andere wichtige Entdeckung, die
Schattendasein am Rande der Radio- ebenfalls dem Normalgewebe zupass kam,
logie, zu der sie bis 1985 zählte. Der Weg stammt aus den 1920er Jahren: „Man hatte
zu einem eigenständigen Fachgebiet erkannt, dass es günstig ist, die Strah-
sollte nach der Entdeckung der therapeu- lendosis nicht kontinuierlich, sondern

3
rückblick
sondern dank des Aufbaueffektes, einer
Steigerung der Strahlendosis im Körper-
inneren, in fünf Millimeter Tiefe.

In den 1970er Jahren ergänzten dann Beta-


portionsweise zu verabreichen, also im trons das Arsenal, Kreisbeschleuniger, mit
Abstand von Stunden oder Tagen“, sagt denen sich Elektronen so lange beschleu-
der langjährige Strahlentherapeut. „Diese nigen lassen, bis sie die gewünschte Ener-
Entwicklung geht auf Professor Dr. Hans gie erreichen – bis zu 42 MeV. Sie wurden
Rudolf Schinz in der Schweiz zurück, auf später durch Linearbeschleuniger ersetzt,
die so genannte Züricher Schule, und hat denen eine ähnliche Technik zugrunde
sich rasch als Standard etabliert.“ Hinter- liegt, die aber wesentlich weniger störan-
grund: Das gesunde Gewebe hat durch fällig sind. „Sie arbeiten so präzise, dass
seine bessere Durchblutung generell eine wir davon ausgehen, dass wir jede Kör-
größere Heilungschance und kann sich – perstelle mit der gewünschten Strahlen-
im Gegensatz zum Tumor – zwischen den dosis erreichen können“, so Sack. Damit
Behandlungen erholen. war ein wichtiger Schritt erreicht, um Pati-
enten ganz individuell mit der geeigneten
Auch die verwendeten Strahlungsquellen Dosis behandeln zu können. „Und das
veränderten sich im Laufe der Jahre. In können moderne Protonenbeschleuniger,
gewisser Weise profitierte die Radioonko- die ab 2009 an den Standorten Heidelberg
logie dabei von der Entwicklung der und Essen zur Verfügung stehen werden,
Atombombe und der Notwendigkeit, da- sogar noch um eine Nuance besser.“
für Uran anzureichern. „Die Reaktoren,
standen nach dem Weltkrieg auch für zi- Die moderne Strahlentherapie hat also seit
vile Zwecke zur Verfügung, und so konnte ihren Anfängen einen weiten Weg zurück-
man für die Therapie zwei ganz wesent- gelegt und ist dem großen Ziel sehr nahe
liche neue Radionuklide produzieren, das gekommen: der individualisierten The-
Kobalt 60Co und das Cäsium 137Cs, deren rapie, bei der die Bestrahlungspläne für
Strahlenqualität wesentlich höher ist als jeden einzelnen Patienten so ausgefeilt
die der Röntgenstrahlung.“ Sack zieht werden, dass der Tumor die volle Dosis
einen Vergleich: „Während konventionelle erhält und die umliegenden gesunden Or-
Röntgenstrahlen damals eine Energie gane maximal geschont werden. Einen be-
von um die 200 keV erreichten, schafften deutenden Anteil daran hatten natürlich
Kobaltgeräte, die in Deutschland ab den auch die neugewonnenen Erkenntnisse in
1960er Jahren zur Verfügung standen, der Strahlenbiologie, etwa zur Wirkung
bis zu 1,1 MeV.“ So dringen die Strahlen der Strahlung auf gesundes und krankes
viel tiefer ein, und das Dosismaximum Gewebe, sowie zahlreiche klinische Stu-
liegt nicht mehr auf der Hautoberfläche, dien, bei denen Behandlungsprotokolle

1900
1922: aus der ersten
Generation der Bestrahlungs-
geräte der Firma Siemens: 1940er-Jahre:
Stabilivolt-Röntgengenerator Kreuzfeuer-
für die Tiefentherapie methode

1895: Entdeckung der 1904: erste grundlegende


Röntgenstrahlung physikalische und medi-
zinische Studien zur
4 Radontherapie
für verschiedene Tumorerkrankungen 1995 – Deutschland war eines der Schluss-
erprobt wurden. lichter in Westeuropa – der DEGRO, der
Deutschen Gesellschaft für Radioonkolo-
„Damit sich unser Fachgebiet gut ent- gie. „Das hat lange gedauert, und es wurde
wickeln und seine Möglichkeiten entfalten viel diskutiert, aber die Vorteile einer Tren-
kann, war es, neben all den Fortschritten nung von der Deutschen Röntgengesell-
in Sachen Technik, Medizin und Biolo- schaft lagen klar auf der Hand.“ Für den
gie, von großer Bedeutung, es aus dem Geschäftsführer der Gesellschaft zählen
Schatten der ‚großen Schwester‘ heraus- dazu eigene Fachkongresse, bei denen aus-
treten zu lassen“, betont der DEGRO- schließlich strahlentherapeutische Fragen
Geschäftsführer. Bis 1974 waren sämtliche diskutiert werden, aber auch die Möglich-
Kliniken, Lehrstühle und Arztpraxen, die keit, für klinische Studien spezialisierte
sich mit Strahlentherapie beschäftigten, Radioonkologen als Gutachter zu rekrutie-
radiologische Einrichtungen. „Da ging die ren – anstelle von Kollegen, die sich etwa
Radioonkologie oft im Tagesgeschäft der mit radiologischer Diagnostik beschäftigen.
Diagnostik unter“, schildert Sack die Pro- „Damit“, so sagt Sack mit dem Brustton
blematik. „Mit der langfristigen Beobach- der Überzeugung, „ist uns ein ganz wich-
tung der Strahlentherapie bei den zumeist tiger Schritt gelungen, um unserem Fach,
schwer kranken Menschen wollten sich das eine so große Rolle für die Krebsme-
damals nur sehr wenige Kollegen aus- dizin spielt, den Weg in eine Zukunft mit
einander setzen.“ noch besseren Möglichkeiten zu ebnen.“

Als ein ganz entscheidender Schritt aus


diesem Schattendasein heraus ist es des-
halb zu werten, dass 1974 in Köln der erste Zur Person
Lehrstuhl für Strahlentherapie eingerichtet
Professor Dr. Horst Sack lernte die Radiologie durch seinen Vater
wurde. Sack wurde auf diese Stelle beru-
bereits in seiner Kindheit kennen. Nach dem Medizinstudium
fen und wurde damit zu einem Pionier
wandte er sich im Rahmen seiner Facharztausbildung ebenfalls
in Deutschland. „Kurz darauf folgten die
dieser Disziplin zu und habilitierte sich im Bereich der Nuklear-
Universitäten in Freiburg und Erlangen
medizin. 1974 wurde er nach Köln auf den ersten Lehrstuhl für
diesem Beispiel, und nach und nach richte-
Strahlentherapie in Deutschland berufen und später, im Jahr 1985,
ten auch alle anderen Universitäten einen
nach Essen – als Nachfolger von Professor Dr. Eberhard Scherer,
solchen Lehrstuhl ein“, erinnert er sich.
seinem einstigen Mentor. Sack wurde 1991 als erster und einziger
Strahlentherapeut Präsident der Deutschen Röntgengesellschaft
Ein weiterer Meilenstein auf dem Weg
und 1994 Präsident der ESTRO, der Europäischen Gesellschaft für
zum unabhängigen Fachgebiet war 1980
therapeutische Radiologie und Onkologie. Seit 2003 ist er Ge-
die Gründung der ESTRO, der Europä-
schäftsführer der DEGRO.
ischen Gesellschaft für therapeutische
Radiologie und Onkologie, und schließlich

1950 2000 Ende 2009: Aufnahme des


Patientenbetriebs in der
15 MeV-Betatron der Firma Seit den 1970er-Jahren: 1995: Gründung Heidelberger Ionenstrahl-
Siemens aus dem Jahr 1956 Einsatz von Linearbeschleunigern der DEGRO therapieanlage geplant

1974: In
Köln erster
Lehrstuhl für Seit Ende der 1990er-Jahre: An-
Strahlenthe- wendung der intensitätsmodu- 5
rapie lierten Strahlentherapie (IMRT)
NACHGEFRAGT

„…wie die
Spinne im Netz
der Onkologie“
1977 wurde Professor Dr. Rolf Sauer
im Alter von 37 Jahren nach Erlangen
auf den Lehrstuhl für Strahlentherapie
berufen – den vierten, der in der Bun-
desrepublik für diese Fachdisziplin ein-
gerichtet wurde. Von dort aus prägte er
die deutsche Radioonkologie nachhaltig.
Mit uns spricht er über die Faszination
Strahlentherapie.

Herr Professor Sauer, Sie blicken auf eine Das war mehr oder weniger Zufall. Eigentlich wollte ich Kinder-
lange, erfolgreiche Karriere im Bereich der arzt werden, mich aber vorher in Physiologie und Radiologie wei-
Strahlentherapie zurück. Wie sind Sie zu terbilden. Dazu bin ich nach Basel gegangen, wo ich die Radio-
dieser Fachdisziplin gekommen? onkologie kennen gelernt habe, die damals auch in der Schweiz
noch kein selbständiges Fach war.

Diesem Feld sind Sie dann treu geblieben. Allem voran: Der Strahlentherapeut ist nicht nur Befund- und
Was hat Sie daran gereizt? Datenlieferant für die Kollegen anderer Disziplinen, sondern
gleichberechtigter, unentbehrlicher Partner in der Tumorthera-
pie. Die Tätigkeit des Radioonkologen gleicht durchaus der des
Chirurgen – nur dass unser Werkzeug nicht das Skalpell, sondern
der Strahl ist.
Ganz besonders gereizt hat mich die interdisziplinäre Einbin-
dung. Ich fühlte mich immer ein wenig wie die Spinne im Netz
der Onkologie: Wir Strahlentherapeuten haben einen direkten
Zugang zu allen beteiligten Fachdisziplinen. Egal ob Gynäkolo-
gie, Urologie, Neurochirurgie oder Pulmonologie und so weiter
– mit allen Kollegen arbeiten wir Hand in Hand.

Nach Ihrem Entschluss, der Strahlen- Ich bin ein Kind der Schweizer Medizin. Als ich nach Erlangen
therapie treu zu bleiben, ging es mit Ihrer kam, habe ich versucht, die Strahlenklinik so aufzubauen und
Karriere steil bergauf. Wo lagen für Sie die unser Fach so weiterzuentwickeln, wie ich es aus der Schweiz
Schwerpunkte? kannte. Dort empfand ich die Radioonkologie als sehr klinisch
ausgerichtet, während in Deutschland für meine Begriffe mehr
die technischen Aspekte im Vordergrund standen. Prägend war
Professor Dr. Adolf Zuppinger in Bern, mein eigentlicher kli-
nischer Lehrer. Mir imponierte, dass in Bern die Patienten fast
täglich vom Arzt gesehen und untersucht wurden. Alle Strahlen-
therapeuten waren in der Lage, einen Kehlkopf zu spiegeln und
gynäkologische Untersuchungen durchzuführen. Wir konnten so
die Rückbildung eines Tumors und die Reaktion des gesunden
Gewebes selbst beurteilen und die Einzel- und Enddosis indivi-
duell festlegen. Diesen ausgesprochen patientenorientierten Ar-

6
beitsansatz habe ich in Erlangen eingeführt und in unserer Fach-
gesellschaft zu vermitteln versucht, was ihm den Namen „Erlan-
ger Schule“ eingebracht hat.

Im Zentrum stand für Sie immer auch die Ganz wichtig ist mir die klinische Studiengruppe zur Behandlung
Forschung. Sie waren federführend an des fortgeschrittenen Rektumkarzinoms, die ich heute noch leite.
bedeutenden klinischen Studien beteiligt. Sie setzt sich, entsprechend den Arbeitsgemeinschaften der Deut-
Würden Sie uns Beispiele nennen? schen Krebsgesellschaft, aus Chirurgen, Pathologen, Radioonko-
logen, Internistischen Onkologen und Biometrikern zusammen.
Von 1994 an untersuchten wir ein damals neuartiges Konzept,
bei dem Patienten vor der Operation bestrahlt, dann zugleich
eine Chemotherapie erhielten und erst anschließend operiert
werden. Das war bis dato umgekehrt. Den Ansatz hatte ich aus
der Schweiz mitgebracht, und er war schon Thema meiner An-
trittsvorlesung in Erlangen. Damals lächelten die Chirurgen und
Pathologen über die vermeintlich riskante Idee eines Jungspunds.
Inzwischen hat sie sich weltweit durchgesetzt. Wir haben nach-
gewiesen, dass das Vorbestrahlen die Operation erleichtert. Der
Tumor schrumpft und kann besser entfernt werden. Die lokale
Rückfallrate halbiert sich, und bei doppelt so vielen Patienten wie
bei herkömmlicher Vorgehensweise gelingt es, den Schließmuskel
zu erhalten. Zudem wird die präoperative Radiochemotherapie
besser vertragen und ist mit weniger Spätfolgen verbunden. Ob
sie auch die Fernmetastasierung verringert und so die Überlebens-
chancen verbessert, müssen künftige Studien zeigen.

Bei welchen andern Krebsarten spielt die Mit einer großen nationalen Studie in den 1980er Jahren verhal-
Strahlentherapie eine wichtige Rolle, wenn fen wir der brusterhaltenden Therapie des kleinen Mammakar-
es darum geht, organ- und funktionserhal- zinoms in Deutschland zum Durchbruch. Die Franzosen hatten
tend zu behandeln? sich damals schon längst umgestellt. Schwierig war für uns die
Randomisierung, also die zufällige Verteilung der Studienteil-
nehmerinnen in die Behandlungsgruppen. Fragen Sie mal eine
Patientin, ob sie ihre Brust behalten oder entfernt haben möchte,

7
NACHGEFRAGT

wenn beides dieselbe Heilungsaussicht verspricht! Trotzdem


wurde unser Ansatz positiv begutachtet, und die Behandlungser-
folge sprachen sich in den Fachgesellschaften rasch herum. Heute
gilt es als Qualitätskriterium für jedes onkologische Zentrum,
dass mindestens 70 Prozent der Patientinnen brusterhaltend ope-
riert werden.
Ein weiteres Beispiel ist Harnblasenkrebs: Hier ist das Entfernen
der Blase leider noch weltweit Standard – auch bei relativ klei-
nen Tumoren. Dank der Einsicht von Professor Dr. Alfred Sigel,
der damals den Lehrstuhl für Urologie inne hatte, und dessen
Nachfolger Professor Dr. Karl Michael Schrott, entwickelten wir
in Erlangen ein völlig neues Behandlungskonzept. Es erlaubt

bei mehr als 80 Prozent der Kranken mit Krebsausläufern in der


umgebenden Muskulatur, die Harnblase zu erhalten – ohne die
Lebenserwartung zu verringern. Jetzt wollen wir die Arbeitsge-
meinschaft Urologische Onkologie der Deutschen Krebsgesell-
schaft für eine gemeinsame klinische Studie gewinnen.

Ist die radioonkologische Forschung ein Das Forschungsfeld ist in seiner ganzen Dimension kaum zu
Bereich, in dem sich junge Kollegen auch überschauen, und es gibt viel zu tun: etwa bei den biologischen
heute noch profilieren können? Grundlagen der Nebenwirkungen im gesunden Gewebe. Oder
wenn es darum geht, die erforderliche Strahlendosis zu optimie-
ren. Ein spannendes und riesiges Gebiet ist die Kombination von
Strahlen-, Hormon- und Chemotherapie – zur Strahlensensibili-
sierung oder -protektion. In den letzten Jahren kam die Hyper-
thermie hinzu, eine gezielte Wärmebehandlung. Im Labor- und
Tierexperiment hat sie sich als außerordentlich wirksam bei der
Sensibilisierung der Tumorzelle für Strahlung und verschiedene
Chemotherapeutika erwiesen.

8
Was würden Sie jungen Kollegen raten, Als ich in der Schweiz im Rahmen der Assistentenrotation von
die sich am Anfang ihrer Karriere in der der Röntgendiagnostik in die Nuklearmedizin wechselte, erhielt
Strahlentherapie befinden? ich gleich am Montagmorgen für mittags einen Termin beim
Abteilungsleiter, Professor Dr. Raimund Fridrich. Er empfing
mich mit den Worten: „Herr Sauer, Sie sehen aus, als könnte ich
Sie zu einem wissenschaftlich interessierten Menschen formen.“
Genau so bin ich immer wieder auf Neuanfänger zugegangen.
Die klinische Tätigkeit, die Versorgung der Patienten, ist natür-
lich wichtig und sollte immer im Vordergrund stehen. Aber um
wissenschaftlich erfolgreich zu sein, muss man zusätzlich auf-
fallen: bei interdisziplinären Konferenzen, wissenschaftlichen
Kongressen oder mit intelligenten Publikationen in hochrangigen
Fachzeitschriften. Dann wird man zu Vorträgen eingeladen und
irgendwann zunehmend um Rat gefragt.
Das war für mich übrigens der größte Erfolg meiner Karriere,
wenn mich Kollegen ansprachen, die bei einer heiklen medizi-
nischen Frage oder einem schwierigen berufspolitischen Problem
eine zweite Meinung brauchten – und zwar von jemandem, den
man fachlich und menschlich schätzt und deshalb gern um Rat
fragt.

9
portrait

Im Zentrum
der Mensch
Strahlentherapie ist weit mehr als Phy-
sik und Technik – sie bietet vor allem
einen Weg, schwer kranken Menschen
zu helfen. Das war für Professor Dr.
Dr. Michael Wannenmacher während
seiner langen Laufbahn als Radio-
onkologe die größte Motivation. Und
dafür reiste er gerne auch mal um den
Globus.

„Mehr sein als scheinen“, so lautet der hen, wie sehr ihn diese Erkenntnis als jun-
Spruch, der neben der Eingangstür hängt – ger Arzt geschmerzt haben muss. „Dazu
in altdeutscher Schrift in einem einfachen kam, dass ich gerade dabei war, eine Fami-
Holzrahmen gefasst. Schlicht, unaufdring- lie zu gründen, und ich mir natürlich auch
lich und dabei trotzdem ausdrucksstark. die Frage nach der finanziellen Perspekti-
„Es ist ein Leitspruch, den mir mein Vater ve und nach einer gewissen Sicherheit für
mit auf den Weg gegeben hat“, sagt Pro- meine Lieben stellen musste.“ Und doch,
fessor Dr. Dr. Michael Wannenmacher. so berichtet er, habe er eigentlich Glück im
Er hat ihn sich zu eigen gemacht, denn er Unglück gehabt. Wannenmacher war noch
gehörte immer zu denen, die Dinge an- jung, gerade mal 31 Jahre alt, als ihn der
packen und Neues aufbauen. Bei all den gesundheitsbedingte Karriereknick über-
vielfältigen Aufgaben und dem Erfolg hat raschte, und so war es nicht zu spät, die
er jedoch nie den Patienten vergessen, den Fachrichtung nochmals zu wechseln. „Ich
Menschen, um den es im klinischen Alltag hatte mich mit verschiedenen Disziplinen
eigentlich geht. von der Psychiatrie bis zur Dermatologie
auseinander gesetzt, aber das war alles
Dass er einmal in der Radioonkologie nichts für mich“, sagt Wannenmacher.
landen würde, hätte sich Wannenmacher
als Medizinstudent und junger Arzt kaum Die Entscheidung fiel schließlich auf die
träumen lassen. Seine Leidenschaft galt Radiologie, oder besser deren dama-
der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, ligen Teilbereich Strahlentherapie. „Zu
in der er auch seine erste Facharztausbil- diesem Fach hatte ich schon als Chirurg
dung machte. „Ich liebte das Operieren einen Bezug, weil ich zur Behandlung
und war mit Begeisterung dabei“, erinnert von Tumoren im Gesichtsbereich öfter
er sich. Doch dann kam das Aus: Eine ,Seeds’ implantiert hatte, kleine radioak-
Allergie gegen die Gummihandschuhe, tive Körnchen, die radioaktives Iod ent-
die damals im Operationssaal getragen halten“, begründet der Arzt seine Wahl
wurden, bedeuteten das vorläufige Ende im Rückblick. Außerdem, so berichtet
seiner Karriere – und gleichzeitig einen er, hatte er in der radiologischen Abtei-
neuen Anfang. „Ich war völlig verzweifelt, lung der Universitätsklinik in Münster
als mir klar wurde, dass ich nicht mehr einen verständnisvollen Chef gefunden,
chirurgisch arbeiten konnte“, erzählt Wan- der ihn sehr förderte. Trotzdem war der
nenmacher. Es ist ihm noch heute anzuse- Schritt in Richtung Radioonkologie für

10
Wannenmacher alles andere als eine reine
Vernunftentscheidung: „Schließlich steckte
die Strahlentherapie damals noch in den
Kinderschuhen, und es war abzusehen,
dass man hier noch viel bewegen und
selbst mitentwickeln konnte.“ Was ihm
aber mindestens genauso wichtig war wie
die Aussichten auf eine wissenschaftliche
Karriere, waren die Patienten, mit denen
er es von nun an zu tun hatte: „Krebspati-
enten sind meist schwer kranke Menschen,
bei denen die Strahlentherapie oft sehr viel
bewirken kann – sei es, dass sie tatsächlich
zur Heilung beiträgt, oder dass sie wenigs-
tens helfen kann, das Leiden zu lindern.“

Nachdem die Entscheidung getroffen war,


konzentrierte sich Wannenmacher einmal
mehr auf das „Sein“ und widmete sich
mit Enthusiasmus seinem neuen Fach.
„Schön war für mich, dass ich sogar mein
Know-how aus der Chirurgie ab und an
noch einsetzten konnte, zum Beispiel um
– genau wie vorher – Seeds zu implantie-
ren“, erinnert er sich. „Einzelne Einsätze
im „OP“ konnte ich trotz meiner Allergie

„Ich bin immer wieder in die USA geflo-


gen, wo man damals, in den 1970er Jahren
viel weiter war als bei uns“, so der mittler-
weile emeritierte Professor. „Das ist heute
natürlich ganz anders. Inzwischen sind
wir in Deutschland mit den Amerikanern
gleichauf.“ Aber damals habe er sich auf
der anderen Seite des großen Teichs eben
viel ‚abgucken‘ können: „Und die ame-
rikanischen Kollegen waren immer sehr
hilfsbereit und haben ihr Wissen gerne ge-
teilt.“ So brachte Wannenmacher 1978 aus
noch bewältigen.“ Aber natürlich hielt den USA die Methode mit, eine bösartig
Wannenmacher nicht nur am Bewährten veränderte Prostata mit Iod-Seeds (125I) zu
fest. Im Gegenteil: Er strebte von Anfang „spicken“, und führte sie in Freiburg ein,
an danach, Neues zu erfahren und Tech- wohin er kurz zuvor berufen worden war.
niken zu lernen, um so die Möglichkeiten Heute ist diese Methode längst Standard
in der Radioonkologie stets weiter zu bei der Behandlung von Tumoren der
verbessern. Vorsteherdrüse.

11
ZUR person
zur PERSON

„Als ich in die Strahlentherapie eingestie-


gen bin, war es ja noch fast ein Ereignis,
wenn eine Behandlung funktioniert hat
und sich der gewünschte Therapieerfolg
einstellte“, erinnert sich der Strahlenthera-
pie-Pionier mit einem Schmunzeln. „Heu-
te ist das anders. Wir wissen viel mehr
und können die Behandlung viel präziser
und individueller planen, um gute Ergeb-
nisse zu erzielen.“ Entscheidend dafür ist
die Bestrahlungsplanung mit Hilfe von
modernen bildgebenden Verfahren wie
der Computertomografie und der Magne-
tresonanztomografie, deren Entwicklung
Professor Dr. Dr. Michael Wannenma- und Etablierung von Wannenmacher und
cher studierte Humanmedizin und Zahn- seinem Team in Heidelberg maßgeblich
heilkunde und wurde in beiden Fächern vorangetrieben wurde.
promoviert. Seiner Facharztausbildung
für Mund-, Kiefer- und Geschichtschi- Lernen und Dinge weiterentwickeln war
rurgie folgte eine zweite im Bereich der für den Radioonkologen immer sehr wich-
Radiologie, wo er sich die Radioonkologie tig. Dabei profitierte er nicht nur von an-
zum Schwerpunkt machte, der er wäh- deren, sondern gab sein Know-how auch
rend seiner weiteren Laufbahn treu blieb. gerne weiter. So führte ihn seine Arbeit im
Wannenmacher wurde 1977 nach Frei- Jahr 2001 schließlich bis nach Doha, der
burg berufen, auf Deutschlands zweiten Hauptstadt des Emirats Qatar, einem klei-
Lehrstuhl für Strahlentherapie. Von 1988 nen Staat im Nordosten der Arabischen
bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2003 Halbinsel. Dort galt es im Zuge eines Kli-
war er Professor für klinische Radiologie nikneubaus eine Abteilung für Radiologie
mit Schwerpunkt Strahlentherapie an der und für internistische Onkologie einzu-
Universität Heidelberg und Direktor der richten – vom Linearbeschleuniger und
Abteilung Klinische Radiologie, Schwer- Simulator über die Ausstattung für die
punkt Strahlentherapie. Anschließend Brachytherapie bis hin zu Bestrahlungs-
war er noch für drei Jahre Medizinischer planung. Und natürlich wurde neben der
Direktor am Al Amal Hospital in Doha, Technik auch das fundierte Wissen eines
Qatar. erfahrenen Fachmanns benötigt. Diese
Herausforderung nahm Wannenmacher
gerne an und begleitete das Projekt zu-
nächst als Berater. Von 2004 bis 2007, nach
seiner Emeritierung in Heidelberg, war er
sogar Medizinischer Direktor des Al Amal
Hospitals in Doha. „Die Arbeit dort stellte
mich oftmals vor ganz neue Probleme
und ging mit Situationen einher, die ich
so nicht kannte“, erzählt Wannenmacher.
„Anfangs behinderte uns der Sand, der
in Doha allgegenwärtig ist, stark bei der
Inbetriebnahme der Geräte.“ Aber auch

12
schließlich einwilligte und die Therapie
gut verlaufen war, waren alle Beteiligten
hoch zufrieden. „Und am Ende, egal ob
man in Qatar arbeitet oder in Deutschland,
ist es eben immer wichtig, dass man die
Therapie so plant und durchführt, dass
sich der Patient zwischen all der Technik
möglichst gut aufgehoben fühlt“, sagt
Wannenmacher.

Daher ist er auch froh, dass es dank der


Dietmar-Hopp-Stiftung möglich war, in
Heidelberg ein separates Bestrahlungs-
gerät für die Behandlung von Kindern
bereitzustellen. „So kann man die Thera-
pie dem Rhythmus und den Bedürfnissen
der Kleinen anpassen und muss sie nicht
zwischen die Behandlungstermine von Er-
wachsenen quetschen“, erklärt er, „Kinder
brauchen einfach mehr Zeit.“ Wannenma-
cher steht auf und holt Fotos aus seinem
Schrank, Bilder, die den Wartebereich
für die kleinen Patienten zeigen: freund-
lich gestaltet, mit vielen Spielsachen und
einem bunten Regenbogen an der Wand.
„Die Kinder verstehen ja noch gar nicht,
was mit ihnen passiert, da ist es umso
die Mentalität im Wüstenstaat am Per- wichtiger, dass sie sich in der fremden
sischen Golf war für den deutschen Arzt Umgebung in der Klinik möglichst wohl
mehr als gewöhnungsbedürftig. So musste fühlen“, sagt er, und es ist ihm anzumer-
er lernen, dass dort Gespräche erst geführt ken, wie sehr ihm das am Herzen liegt.
und Entscheidungen erst getroffen werden „Und ähnlich gilt dies natürlich auch für
können, nachdem man vorher in Ruhe Tee Erwachsene, für die sich ein Radioonkolo-
getrunken und ausführlich über Gott und ge auch Zeit nehmen muss, um ihnen zu
die Welt geplaudert hat. „Und das Gan- erklären, was bei der Therapie gemacht
ze betraf natürlich auch die Patienten“, wird, und ihnen ein wenig die Angst zu
erinnert sich Wannenmacher schmunzelnd nehmen.“ Denn im Mittelpunkt steht eben
und berichtet von einem Krebspatienten, immer der Mensch.
der zur Bestrahlung im Al Amal Hospital
war: „Es war schon alles für die Behand-
lung vorbereitet, als der Sohn kam, um zu
erklären, sein Vater habe heute keine Lust,
man müsse den Termin verschieben.“
Am folgenden Tag die gleiche Situation.
„Das konnte ich erst gar nicht fassen, denn
hierzulande hätte es das so nicht gege-
ben“, gibt der Arzt zu. Doch als der Mann

13
GRUNDLAGEN

Strahlentherapie —
kein Buch mit sieben Siegeln
Wir können sie nicht sehen, und doch hat sie einen enormen Effekt auf unseren
Körper: Strahlung kann massive Schäden im Gewebe hinterlassen. Richtig dosiert
und präzise ausgerichtet dient sie aber auch der Heilung. Doch was steckt eigentlich
hinter der Strahlentherapie?

Es schien fast wie Magie zu sein: Strahlen, zum Alltag in Kliniken und Praxen gehört.
mit denen sich ein Körper durchleuchten Röntgenstrahlen dienen der Diagnos-
und sein Innerstes ablichten lässt. Mit tik, ermöglichen also einen Blick in den
der Entdeckung der nach ihm benannten Körper. Sie erweisen sich aber auch, wie
Strahlung legte Konrad Röntgen 1895 den sich bereits wenige Jahre nach Röntgens
Grundstein für einen Bereich der Medizin, entscheidendem Experiment zeigte, als
der heute unverzichtbar ist und längst nützlich in der Therapie.

Heute nimmt die Strahlentherapie eine


zentrale Stellung bei der Behandlung von
Krebserkrankungen ein. Seit ihren Anfän-
gen hat sie sich rasant weiterentwickelt.
Neue Strahlungsquellen haben sich zur
Röntgenstrahlung dazugesellt, ebenso
Technologien, mit denen sich diese Be-
handlungsform zu einer Therapie gemau-
sert hat, die präzise, wirkungsvoll und
sicher ist.

Dennoch löst sie bei Patienten und Ange-


hörigen oftmals eher Angst und Schrecken
aus als Zuversicht auf Heilung. Zu groß
ist die Sorge vor Nebenwirkungen. Hinzu
kommt die Assoziation mit schwerer,
unheilbarer Krankheit. Selbst viele Ärzte
aus anderen Fachdisziplinen können sich
nur schwer vorstellen, was es mit der
therapeutischen Strahlung eigentlich auf
sich hat und wie viel sich damit erreichen
lässt. Dabei bietet die Radioonkologie
keinen Grund für Unbehagen oder Ver-

14
unsicherung, und sie ist schon gar nicht de Wirkung der freigesetzten Elektronen
geheimnisvoll: Vielmehr handelt es sich zurückzuführen. Man spricht vom „Auf-
um eine fein abgestimmte Mischung aus baueffekt“. Er ist von großer Bedeutung
Physik, Biologie und ausgeklügelten medi- für die Therapie, da er es erlaubt, bei der
zinischen Behandlungskonzepten. Bestrahlung die empfindliche Haut zu
schonen. Das Dosismaximum von Pro-
tonen und schweren Ionen liegt in einem
besonders scharf abgegrenzten Bereich:
Die Dosis bleibt bis zu einer bestimmten
Was heißt hier Strahlen? Gewebetiefe zunächst sehr gering und
steigt dann steil an, um nach Erreichen
des Maximums abrupt auf null abzufal-
len. So lässt sich der Strahl sehr präzise
Physikalisch gesehen – und die Strahlen- auf den Tumor ausrichten, während das
therapie beruht nun mal auf zahlreichen umliegende Normalgewebe besonders gut
physikalischen Prinzipien – wird bei der geschont wird. Niederenergetische Rönt-
Strahlentherapie Energie an die Zellen des genstrahlen hingegen haben ihr Dosisma-
anvisierten Körperbereichs übertragen, ge- ximum an der Eintrittsstelle und verlieren
nauer gesagt, an deren molekulare Struk- danach schnell an Wirkung. Daher kommt
turen. Dies gelingt durch den Einsatz so diese Strahlenart insbesondere bei der Be-
genannter ionisierender Strahlen, die in handlung von Hauttumoren zum Einsatz.
der Lage sind, aus Molekülen und Atomen,
auf die sie treffen, Elektronen zu entfer-
nen. Dadurch entstehen positiv geladene
Ionen, also Kationen. Die freigesetzten
Elektronen können bei ausreichender Strahl trifft Zelle:
Energie ihrerseits ionisierend wirken und Wie Strahlentherapie
wiederum andere Atome und Moleküle
anregen. im Körper wirkt

Die verschiedenen Strahlungsarten, die in


der Therapie eingesetzt werden, unter-
scheiden sich dabei deutlich durch ihre Die physikalischen Eigenschaften der the-
Tiefendosiskurve, das heißt darin, in wel- rapeutischen Strahlen legen also fest, an
cher Tiefe im Gewebe sie ihre maximale welcher Stelle im Körper sie ihre Wirkung
Wirkung entfalten. Bei energiereichen entfalten. Hauptziel ist dabei das Erbgut
Röntgenstrahlen ist die Wirkung in tiefer der Tumorzelle, die DNA. Sie nimmt
gelegenen Schichten höher als auf der durch direkte oder häufiger durch indi-
Haut, der Eintrittsstelle in den Körper. Die- rekte Effekte der Strahlung Schaden, etwa
se Dosisverteilung ist auf die ionisieren- indem Brüche im DNA-Strang entstehen.

15
Strahlungsquellen für die
Therapie
Klassische Röntgenstrahlen erzeugt man Für die Therapie mit „exotischen“
mit Hilfe einer Röntgenröhre, in der Elekt- Strahlenarten wie Protonen, Neutro-
ronen von einer Kathode aus beschleu- nen oder schweren Ionen werden
nigt werden, um dann auf der Anode aufwändige Beschleunigeranlagen
aufzutreffen. Dabei werden die Elektro- (Zyklotron, Synchrotron) benötigt.
nen abgebremst, und es entsteht so ge- Diese Strahlen lassen sich äußerst
nannte Brems- oder Röntgenstrahlung. präzise einsetzen. Ihre physikalischen
Außerdem schlagen die auftreffenden und strahlenbiologischen Eigenschaf-
Elektronen wiederum Elektronen aus ten versprechen Vorteile für die Be-
den Metallatomen der Anode heraus. handlung bestimmter Tumoren, zum
Beim Auffüllen der Lücken mit Elektro- Beispiel bei Aderhautmelanomen, bei
nen aus höheren Energieniveaus ent- Tumoren der Schädelbasis und bei
steht die so genannte charakteristische einigen Sarkomen. Weitere mögliche
Röntgenstrahlung. Einsatzgebiete für diese Strahlen-
arten sind bestimme Tumoren des
Die vielseitigsten Möglichkeiten zur per- Kindesalters sowie maligne Speichel-
kutanen Strahlentherapie bieten Linear- drüsentumoren und Prostatakarzi-
beschleuniger: Sie erzeugen mit Hilfe nome.
elektromagnetischer Wellen einen Elekt-
ronenstrahl mit hoher kinetischer Ener- Radionuklide sind instabile Atom-
gie. Lenkt man diesen Strahl auf eine kerne, die über einen spontanen Zer-
Schwermetallanode, erhält man eine fallsprozeß in einen energieärmeren,
Bremsstrahlung aus ultraharten Photo- stabileren Zustand übergehen und
nen mit variabler Elektronenenergie, dabei Strahlung aussenden. Solche
die einen günstigen Tiefendosisverlauf Radionuklide finden etwa bei der
aufweist. Der primäre Elektronenstrahl Behandlung von Tumoren der Gebär-
kann aber auch durch Folien aufgestreut mutter Verwendung oder werden in
und direkt zur Therapie verwendet wer- Form von kleinen Iod-Körnchen (125I)
den. Elektronen haben wegen des Dosis- in die Prostata eingesetzt.
abfalls in der Tiefe Vorteile für die Be-
handlung von oberflächlich gelegenen
Tumoren.

16 16
Normalerweise ist die Zelle gut in der mit Behandlungsmethoden zu kombinie-
Lage, solche Defekte zu beheben. Häufen ren, die die Durchblutung und damit die
sich die Schäden jedoch – etwa aufgrund Sauerstoffversorgung der Krebsgeschwulst
intensiver und mehrfacher Bestrahlung –, fördern. Eine Möglichkeit ist die Hyper-
werden sie irreparabel. Die Zelle kann sich thermie, bei der die zu behandelnde Kör-
nicht mehr vermehren und stirbt schließ- perregion vor der Bestrahlung mit Hilfe
lich ab. von Mikrowellen auf zirka 42 bis 43 Grad
Celsius „überhitzt“ wird.
Neben der Schädigung des Erbguts kann
auch die Zerstörung von Enzymen oder
anderen lebenswichtigen Bestandteilen
zum Tod der bestrahlten Zelle führen. Die
direkten Treffer sind jedoch von eher un-
tergeordneter Bedeutung. Viel wichtiger
ist die indirekte Wirkung der Strahlung: Moderne Strahlentherapie:
Das Ionisieren von Wassermolekülen, die zielgenau, effektiv und sicher
im biologischen Gewebe in großer Zahl
vorliegen. Katapultiert die Strahlung beim
Auftreffen auf diese Teilchen ein Elektron
heraus, so entstehen hochtoxische freie
Radikale. Diese treten ihrerseits in Wech- Die meisten Tumoren werden perkutan,
selwirkung mit biologisch wichtigen Mole- also durch die Haut hindurch bestrahlt.
külen und verursachen etwa die bereits Das bedeutet, die Strahlenquelle befindet
beschriebenen Schäden in der DNA sowie sich außerhalb des Körpers. Damit die
Defekte an anderen lebenswichtigen Be- therapeutischen Strahlen wirken können,
standteilen der Zelle wie der Membran müssen sie an den Ort des Geschehens
oder Komponenten von Signalübertra- gebracht, also zielgenau auf den Tumor
gungswegen, die über Wachstum oder gerichtet werden. Dazu nutzen Strahlen-
Tod entscheiden. therapeuten moderne bildgebende Verfah-
ren wie die Computer-, Magnetresonanz-
Die Wirkung der Strahlentherapie wird oder Positronenemissions-Tomographie,
durch die Anwesenheit von Sauerstoff mit deren Hilfe sich die Lage des Tumors
verstärkt. Der Grund ist das Entstehen von sowie die Position der lebenswichtigen Or-
hoch reaktiven Peroxidradikalen, die zur gane in seiner Umgebung genau bestim-
Zerstörung des Gewebes beitragen. Diesen men lassen. Auf Basis dieser Daten gilt es,
so genannten Sauerstoffeffekt entdeckte zum einen das so genannte Zielvolumen
der Wiener Arzt Gottwald Schwarz bereits zu bestimmen, also den Bereich, in dem
im Jahr 1909, also noch in der Anfangszeit sich der makroskopisch sichtbare Tumor
der Strahlentherapie. Wegen des verstär- befindet, und zum anderen seine mikro-
kenden Effektes kann es bei manchen Tu- skopische Ausbreitungszone abzugrenzen.
moren sinnvoll sein, die Strahlentherapie Außerdem wird ein Sicherheitsabstand

17
zum gesunden Gewebe definiert, der auch kommt. Es erlaubt, die Orientierungs-
Lagerungsungenauigkeiten und Organbe- punkte für die Bestrahlung bereits wäh-
wegungen berücksichtigt. rend der Bildgebung direkt am Patienten
zu markieren.
Ist das Ziel bestimmt, planen der Strahlen-
therapeut und ein Physiker am Computer
die Bestrahlungsgeometrie: Sie legen fest,
wie der Strahl geführt wird. In der Regel
verwendet man mehrere Strahlenfelder,
Bestrahlung von innen
das heißt, der Krebsherd wird von meh-
reren Seiten anvisiert. Auf diese Weise
werden die Strahlen genau im Tumor ge-
bündelt, der so mit der höchsten Dosis ge-
troffen wird, während die Umgebung so Statt von außen zu bestrahlen, ist es auch
weit wie möglich verschont bleibt. möglich, eine Strahlenquelle in den Körper
einzuführen. Bei Hohlorganen lassen sich
Bevor die Bestrahlung beginnen kann, entsprechende Halterungen in das Or-
gilt es den Ablauf zu simulieren, um die gan legen und fixieren. Im so genannten
Bestrahlungsfelder am Patienten selbst Afterloading-Verfahren, zu Deutsch Nach-
festzulegen und zu dokumentieren. Dieser ladeverfahren wird dann ferngesteuert
Schritt sorgt für zusätzliche Sicherheit bei eine Strahlenquelle in die Halterung einge-
der Therapie. Die Daten erlauben es au- führt. Auch bei dieser Methode erfolgt in
ßerdem, die Strahlenfelder im Verlauf der der Regel im Vorfeld eine Planung und
Therapie zu überprüfen. Die Simulation Simulation der Bestrahlung. Die Strahlen-
selbst kann mit einem Röntgensimulator quelle verbleibt so lange an der genau
erfolgen, der mit Hilfe von Röntgenstrah- definierten Stelle im Körper, wie es vorher
len die Bestrahlungsfelder nachahmt und berechnet wurde. Das Einführen selbst er-
dokumentiert. Moderner ist die virtuelle folgt in speziellen Schutzräumen und – da
Simulation, auch CT-Simulation genannt, ferngesteuert – ohne Strahlenbelastung für
bei der ein Lasersystem zum Einsatz das Personal. Besonders geeignet ist diese

Die richtige Dosis orientieren sich Radioonkologen daran,


welche Rezidivrate für eine spezielle
Um einen Patienten dauerhaft zu hei- Krebsart in klinischen Studien ermittelt
len, ist es notwendig, sämtliche Tumor- wurde und mit welcher Dosis die bes-
stammzellen zu vernichten. Diese spezi- ten Erfolgschancen bestehen. Darüber
ellen Krebszellen, die als Ursprung der hinaus hängt die verabreichte Strahlen-
Geschwulst gelten, haben die besondere dosis von der Tumorgröße ab, also von
Eigenschaft, dass sie sich unbegrenzt der Zahl der ursprünglich vorhandenen
vermehren können. Bleiben einzelne von Krebszellen.
ihnen nach der Behandlung im Gewebe
erhalten, so wächst der Tumor wieder Dennoch darf der Strahlentherapeut bei
und kann in andere Bereiche des Kör- der Behandlung seiner Patienten nicht
pers streuen, also metastasieren. Um nach dem Motto „viel hilft viel“ vorgehen.
das Risiko eines erneuten Tumorwachs- Aus einer Reihe von klinischen Untersu-
tums, die so genannte Rezidivrate, so chungen ist bekannt, dass ab einer be-
gering wie möglich zu halten, darf sich stimmten Strahlendosis der Nutzen einer
die eingesetzte Strahlendosis daher weiteren Erhöhung immer geringer wird.
nicht allein nach dem Verschwinden des Gleichzeitig steigt jedoch das Risiko für
sichtbaren Tumors richten. Vielmehr eine Schädigung des gesunden Gewebes.

18
Ins Schwarze treffen mehrschichtigen lamellenartigen
Blenden, die die empfindlichen Or-
Das A und O bei der Strahlentherapie ist, gane abschirmen. Mit dieser Methode
den Tumor mit der größtmöglichen Dosis lassen sich auch Risikostrukturen
zu treffen und dabei das umliegende innerhalb des Tumors schonen.
gesunde Gewebe weitgehend zu scho-
nen. Dies gelingt, indem der Tumor von In der konventionellen Strahlenthe-
mehreren Seiten nacheinander anvisiert rapie erhält der Patient die Gesamt-
wird. Bei den hochmodernen Rotations- dosis nicht auf einmal, sondern über
verfahren bewegt sich der Bestrahlungs- mehrere Tage in kleinen Einzeldosen.
kopf des Gerätes während der Behand- Fachleute sprechen von Fraktionie-
lung um das Zielvolumen herum. Die rung. Der Hintergrund: Tumorzellen
Strahlung wird im Zielbereich gebündelt, verfügen in der Regel über eine
und der Krebsherd wird von der höchst- schlechtere Reparaturfähigkeit für
möglichen Strahlendosis getroffen. Das DNA-Schäden als gesunde Zellen. In
umliegend gesunde Normalgewebe er- den Pausen zwischen den einzelnen
hält nur einen Teil der Strahlung. Dieses Bestrahlungseinheiten kann sich das
Grundprinzip der so genannten Kreuz- Normalgewebe daher weitgehend er-
feuermethode lässt sich durch andere holen – der Tumor hingegen nicht. Bei
moderne Verfahren noch weiter verfei- der so genannten stereotaktischen
nern. Eine Möglichkeit ist die Intensitäts- Hochpräzisionstechnik hingegen wird
modulation, bei der die Ärzte nicht nur die Dosis oft in einer einzigen Fraktion
die Ausrichtung des Strahlenfeldes mo- abgestrahlt. Diese Methode kommt
dulieren, sondern auch die Strahlendosis allerdings in der Regel nur für relativ
innerhalb dieses Feldes. Das geschieht kleine Zielvolumina und bei ganz spe-
mit Hilfe von Metallkörpern oder auch ziellen Indikationen in Frage.

Therapieform zur Behandlung von Unter- den Eingriff kein spezieller Operationssaal
leibstumoren der Frau. Auch für zahl- benötigt, und es ist auch keine Quarantäne
reiche andere Organe, zum Beispiel für der Patienten erforderlich.
Luft- und Speiseröhre, existieren passende
Systeme. Die Methode ist jedoch nicht nur Bei der intraoperativen Bestrahlung
für Hohlorgane geeignet. So kann eine (IORT) wird während des chirurgischen
Strahlenquelle für die Zeit der Behandlung Eingriffs das Zielgebiet direkt bestrahlt.
in die Brust eingesetzt werden (Ärzte spre- Dadurch können kritische Gewebe, die es
chen von der Mammaspickung). zu schonen gilt, für die Dauer der Bestrah-
lung vorher mit kleinen Bleilamellen ab-
Eine andere Möglichkeit ist ein Implantati- geschirmt oder vorübergehend aus dem
onsverfahren, bei dem ein krankes Zielor- Strahlenfeld genommen werden – etwa,
gan mit kleinen abgekapselten Strahlungs- indem man einen Nerv zur Seite schiebt
quellen, so genannten Seeds, „gespickt“ und ihn nach Abschluss der Behandlung
wird. Einmal in das Gewebe eingebracht, wieder an seinen ursprünglichen Platz
verbleiben die radioaktiven Körnchen positioniert. Diese Methode kommt daher
dort dauerhaft und wirken, während ihre mit einer äußerst geringen, im Idealfall
Aktivität langsam abklingt. Eine typische sogar ganz ohne Strahlenbelastung für das
Anwendung ist das Implantieren von Normalgewebe aus.
Iod-Seeds (125I) in die Prostata. Da 125I nur
eine geringe Dosisleistung besitzt, wird für

19
Reportage

Kein Tag
wie jeder andere
Die Arbeit in der Radioonkologie lässt Es ist halb neun an einem ganz norma-
sich vergleichsweise gut planen. Notfälle len Mittwochvormittag in der Klinik für
und Hektik gehören in andere Bereiche Radioonkologie und Strahlentherapie.
der Klinik. Und doch sind die Aufgaben Mit Unterlagen in der Hand, zum Teil mit
Kaffeebechern ausgerüstet, betreten die
eines Strahlentherapeuten – von der Be-
Ärzte, aber auch Physiker, medizinisch-
strahlungsplanung über die Betreuung
technische Assistentinnen und Studienas-
der stationär behandelten Patienten bis sistentinnen den Besprechungsraum und
hin zum Einsatz im Operationssaal – lassen sich in den Stuhlreihen nieder. Der
höchst vielfältig und abwechslungsreich. Beamer surrt bereits und projiziert die Be-
nutzeroberfläche des Laptops auf die Lein-
wand. Schnell verstummt das morgend-
liche Begrüßungsgemurmel: Die tägliche

20
Dienstbesprechung beginnt. In der kom- Verfahren, bei dem
menden halben Stunde stellt jeder Arzt der Körper mit Hilfe
seine neuen Patienten vor, und der Kreis von Mikrowellen
der Kollegen diskutiert Bestrahlungspläne lokal „überwärmt“
und bei einzelnen Fällen Besonderheiten wird – auf eine
oder auffällige Entwicklungen. Dienst- Temperatur von
beginn in der Abteilung ist um acht. Je etwa 42 bis 43 Grad
ein Fach- und Assistenzarzt sind schon Celsius. „Das regt
früher da, damit um halb acht die ersten unter anderem die
Bestrahlungen beginnen können. Die Zeit Durchblutung in der
bis zur täglichen Besprechung nutzen die behandelten Region
meisten Kollegen, um ihren Arbeitstag an und steigert so
vorzubereiten. „Das ist in unserem Fach die Wirkung einer
gut möglich“, sagt eine der Strahlenthera- anschließenden
peutinnen. „Wir haben ja selten Notfälle, Bestrahlung oder einer gleichzeitig durch-
sondern in der Regel Patienten, für die wir geführten Chemotherapie“, erläutert die
genau festlegen können, wann und wie Ärztin.
wir sie behandeln. Das macht den Tages-
ablauf gut planbar.“ Sie erkundigt sich nach dem Befinden
der Frau und prüft nochmals die Einstel-
Heute steht für die Medizinerin, begleitet lungen am Gerät, bevor sie sich auf den
von den beiden Assistenzärzten, zunächst Weg zur Station macht: „Es ist wichtig, die
die Visite auf der Station an. Vorher will Patienten hier in der Klinik regelmäßig
sie noch nach einer Patientin sehen, die zu untersuchen“, sagt sie. „So können wir
nach ihrer Brustoperation zur Bestrah- ihren allgemeinen Gesundheitszustand
lung kommt. Die Frau soll zusätzlich eine beobachten sowie Erfolge und mögliche
Hyperthermiebehandlung erhalten, ein Nebenwirkungen der Behandlung.“ Der

21
Reportage

direkte Kontakt zwischen Arzt und Patient „Wir sorgen auf diese Weise dafür, dass
sei auch unverzichtbar, damit sich die auf den Tumor die volle Dosis einwirkt,
meist schwer kranken Menschen in guten das angrenzende empfindliche gesunde
Händen wissen und sich in der Klinik Gewebe aber ausgespart wird, um es nicht
aufgehoben fühlen. zu beschädigen.“ Auf Basis der so fest-
gelegten Bestrahlungsprotokolle werden
Während sich die Ärztin der Visite wid- die Kranken schließlich behandelt. Angst
met, macht sich ihr Kollege auf den Weg vor der Strahlung, mit der sie arbeiten,
in den Planungsraum. Hier bereiten die brauchen die Ärzte und Assistentinnen
Strahlentherapeuten, Physiker und Radio- übrigens nicht zu haben: Sie sind während
logieassistentinnen die Bestrahlungen vor. des eigentlichen Bestrahlungsvorgangs
Nebenan wird gerade eine Frau mit einem nicht im Raum, sondern überwachen den
Bronchialkarzinom als Vorbereitung für Vorgang am Monitor.
ihre Therapie im Computertomographen
untersucht. So lässt sich feststellen, wo ge- Während der Arzt die Daten für die
nau sich in ihrer Lunge der Tumor befin- Bestrahlung einer Brustkrebspati-
det und wie die übrigen Organe im Bezug entin bearbeitet, klingelt sein
auf das zu behandelnde Gewebe räumlich Diensthandy. Er wird in
angeordnet sind. Diese Daten werden zu- den Operationssaal
nächst von den medizinisch-technischen gerufen.
Assistentinnen der Abteilung aufbereitet. „Wir
„Die anschließende Feinarbeit, also die führen
Festlegung, welches Volumen bestrahlt
werden soll, in welchem Winkel der
Strahl geführt und mit welcher Intensität
bestrahlt wird, ist Sache der Ärzte und
Physiker“, erklärt der Strahlentherapeut.

22
derzeit eine Studie zur intraoperativen soll, kontrollieren und
Bestrahlung durch“, erklärt er. Dabei schließlich die Bestrahlung starten.“
wird noch im OP nach dem Entfernen
des Tumors eine Strahlenquelle in die Auf dem Rückweg zum Planungsraum
geöffnete Wunde eingeführt, um das erzählt der junge Strahlentherapeut, dass
Tumorbett, also das Gewebe aus dem die er ursprünglich vorgehabt hatte, seinen
Geschwulst herausgenommen wurde, Facharzt auf dem Gebiet der Psychiatrie
direkt zu bestrahlen. So wollen die Ärzte zu machen. In diesem Bereich hat er seine
verbleibende Krebszellen vernichten – Doktorarbeit durchgeführt und dabei
noch bevor die Haut wieder verschlossen Tests zum Prüfen kognitiver Fähigkeiten
wird. Der Arzt geht in die „Schleuse“ entwickelt. „Diese Tests sind für uns in
und zieht sich dort für seine Arbeit im OP der Radioonkologie äußerst hilfreich, um
um. Mit dem eigentlichen Eingriff habe er mögliche Nebenwirkungen bei Patienten
wenig zu tun, erklärt er. „Meine Aufgabe zu untersuchen, die aufgrund von Tumo-
besteht vielmehr darin zu prüfen, ob die ren im Gehirn bestrahlt werden“, erklärt
geplante Behandlung im konkreten Fall er. Dass er sein Können aus der Psychiat-
sinnvoll ist und die Bestrahlung rie in der Strahlentherapie einsetzen kann,
durchgeführt werden kann. Zu damit hatte er vor seinem Dienstantritt
diesem Zweck muss ich die nicht gerechnet – aber genau das hat ihn
korrekte Einstellung des letztlich überzeugt, diesem Bereich treu zu
Bestrahlungsgerätes bleiben.
und die Dosis, die
der Patient „Die Arbeit hier ist äußerst abwechslungs-
bekommen reich“, bestätigt auch seine Kollegin, die
sich nach der Visite ebenfalls im Pla-
nungsraum eingefunden hat. „Wir haben
es hier mit sehr vielen verschiedenen

23
Reportage

medizinischen Fragestellungen zu tun, rend der Pathologe seine Befunde zum


der Strahlentherapeut ist sozusagen ein Typus der Krebserkrankung darstellt,
Allrounder“, sagt sie. „Dabei denken und und so weiter. Gemeinsam wird dann die
arbeiten wir auch sehr interdisziplinär – Behandlungsstrategie festgelegt.
etwa mit Physikern, aber auch zusammen
mit Kollegen anderer Fachdisziplinen.“ Nur einen Katzensprung entfernt, in einer
Eine zentrale Rolle spielen die täglichen zentralen Einrichtung der Uniklink, liegen
Tumorboards, Besprechungsrunden, bei die Laborräume. Wissenschaftliche Unter-
denen Fachärzte aus unterschiedlichen suchungen bilden hier unmittelbar die Er-
Disziplinen sich über ihre Patienten aus- gänzung zur klinischen Versorgung, verrät
tauschen; so erläutert etwa der Radiologe die Strahlentherapeutin. Die Ärzte der Ab-
die Lage und Größe eines Tumors, wäh- teilung arbeiten an strahlenbiologischen
Fragestellungen, etwa der Reaktion ge-
sunder und kranker Zellen auf die Strah-
lung. „Das hilft uns, das therapeutische
Fenster, in dem wir den besten Effekt auf
den Tumor erzielen und gleichzeitig die
geringsten Nebenwirkungen haben, besser
auszuloten“, erklärt sie, begeistert davon,
so nah am klinischen Alltag forschen zu
können. Und was sie, genau wie ihr Kol-
lege, außerdem zu schätzen weiß: In der
Radioonkologie haben Ärzte gut planbare
Arbeitsabläufe, Überstunden oder anstren-
gende Nacht- und Wochenendschichten
halten sich in Grenzen – und doch ist kein
Tag wie der andere!

24
IMPRESSUM BILDNACHWEIS
Herausgeber: U1, U2, U4, S. 5 (unten links und Mitte,
Deutsche Gesellschaft für oben rechts), S.12/13, S. 13 (oben), S. 14, 15,
Radioonkologie e. V. 16 (rechts), S. 20, 21, 22, 23, 24 (oben), S.
Hindenburgdamm 30 25: Medienzentrum Universitätsklinikum
12200 Berlin Heidelberg; S. 2 und 3: DEGRO/Andre
Telefon: +49 30 8441 9188 Zelck, Essen; S. 4 (rechts) und S. 5 (oben
Telefax: +49 30 8441 9189 links): Mit freundlicher Genehmigung
E-Mail: office@degro.org des Siemens MedArchivs, Erlangen; S. 4
www.degro.org (links und Mitte): Wikimedia commons; S.
5 (oben, 2. v. links), S.16 (links), S. 17, 18,
Verantwortlich: 19 (oben und unten): Universitätsklinikum
Prof. Dr. Frederik Wenz Mannheim, Klinik für Strahlentherapie und
Universitätsklinikum Mannheim, Radioonkologie; S. 6 bis 9: DEGRO/Knut
Klinik für Strahlentherapie und Pflaumer, drehmomente.de, Nürnberg; S.
Radioonkologie 10, 12, 13 (links), 13 (rechts): DEGRO/Yan
de Andres; S. 16 (Mitte): Deutsches Krebs-
Koordination: forschungszentrum/Yan de Andres; S. 18
Dr. Katharina Fleckenstein (oben): The Hospital For Sick Children,
Toronto, Kanada; S. 19 (Mitte): Deutsches
Autorin: Krebsforschungszentrum/Tobias Schwerdt;
Dr. Stefanie Reinberger S. 24 (unten): Dagmar Anders

Redaktion:
Dr. Stefanie Reinberger, Dagmar Anders

Bild- und Layoutkonzept, Satz:


Dagmar Anders, Different Arts

Druck:
Liebeskind Druck, Apolda

© Deutsche Gesellschaft für


Radioonkologie e. V., 2009
Alle Rechte vorbehalten

25

Das könnte Ihnen auch gefallen