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2. Ȕberlegungen zum gesamteuropӓischen Kulturbild des 18.

Jahrhunderts
2.1 Was ist „Aufklӓrung“?
Christoph Parry notiert in „Menschen, Werke, Epochen. Eine Einführung in die deutsche

Kulturgeschichte“: „Trotz absolutistischer Despotie machte das Bürgertum im Verlauf des 17. und

18.Jahrhunderts wirtschaftlich groβe Fortschritte.“

England hat zu Beginn des 18.Jahrhunderts die modernste Wirtschaftsstruktur Europas.

Der Ȕberseehandel floriert. Die industrielle Revolution steht vor der Tür.

Der wirtschaftliche Fortschritt bedingt eine gesteigerte Mobilitӓt bei der Rollenfindung

für mӓnnliche Subjekte.

Ab 1688 schafft die parlamentarische Monarchie in England sogar eine neue

gesellschaftliche Situation für mӓnnliche bürgerliche Subjekte. Auch im vorrevolutionӓren

Frankreich sind gesellschaftstheoretische Fragen hochaktuell. Das wirtschaftlich eher

rückstӓndige Deutschland erntet, laut Christoph Parry, die herben spӓten Früchte eines

Glaubenskrieges und bevorzugt nach dem verheerenden Dreiβigjӓhrigen Krieg (1618-1648)

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zunӓchst nicht nur eine parallellaufende, protestantische und katholische Reformgeistigkeit,

sondern auch die Metaphysik.

Vor diesem Hintergrund einer Zeit des Umbruches entsteht eine emanzipatorische

Bewegung und eine damit verbundene, alternative, hoffnungsfrohe und vorrevolutionӓr-

zeitkritische Kultur der sogenannten „Aufklӓrung“, welche die Reformierung des

wirtschaftlichen, sozialen und geistigen Lebens unterstützt, welche die Eigeninitiativen des

Staatsdieners, seine eigenverantwortliche Beteiligung am sinnvollen Aufbau eines besseren

Staates und diesseitsorientierte Ansprüche des Einzelnen auf privates Glück legitimiert. Diese

neue, alternative, westeuropӓische Kultur des 18.Jahrhunderts paβt allerdings nur schwer in ein

System.

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2.2 Emanzipation durch Kultur, durch Bildung, durch eigenverantwortliches Denken und
Handeln des Individuums. Im Rückblick auf zurückliegende Jahrzehnte definieren
Moses Mendelssohn und Immanuel Kant die Aufklӓrung

Im Rückblick auf die vergangenen Jahrzehnte definieren zwei Philosophen die Aufklӓrung auf

folgende Weise:

• Für Moses Mendelssohn (1729-1786) sind Aufklӓrung, Kultur und Bildung Synonyme, d.h.

fast gleichbedeutende Wӧrter.

• Immanuel Kant(1724-1804) betont den emanzipatorischen Aspekt der Aufklӓrung. Für

Immanuel Kant ist die Aufklӓrung „der Ausgang des Menschen aus seiner

selbstverschuldeten Unmündigkeit“, wobei die Unmündigkeit als „Unvermӧgen, sich

seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“ zu verstehen ist.

Selbstverschuldet sei diese Unmündigkeit dort, wo kein Mangel des Verstandes vorliegt,

wo Entschlossenheit und Mut fehlen. Aus diesem Grunde sei der Wahlspruch der

Aufklӓrung: „Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“

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2.3 Die Frage nach den Grundlagen der Erkenntnis
2.3.1 Der neue Vernunftstolz der Rationalisten
Die Philosophen René Descartes(1596-1650) mit seiner Methode des methodischen Zweifels

(„Dubito, ergo cogito; cogito, ergo sum.“) und Gottfried Wilhelm Leibniz(1646-1716) sind die zwei

rationalistischen Wegbereiter/Vorlӓufer der Aufklӓrung.

Die optimistische Grundhaltung des Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz ist mit einem

neuen Grundton des frühaufklӓrerischen Diskurses durchaus vereinbar, denn die rationalistisch

positionierten Vertreter fragen nach logisch erkennbaren Naturgesetzen, doch die Frage nach

Naturgesetzen bedingt auch die Frage nach einem Gesetzgeber, nach einer notwendigerweise

hӧheren kosmischen Intelligenz oder nach einem notwendigerweise hӧheren Wesen als Garantie

für eine prӓstabilierte/vorgegebene Ordnung der Welt.

Gottfried Wilhelm Leibniz ist an dieser prӓstabilierten Ordnung der Welt orientiert und

aus diesem Grunde muss das All in seiner „Monadologie“(Original auf Franzӧsisch als Manuskript

aus dem Jahre 1714 erhalten, Erstverӧffentlichung der Deutschen Fassung 1720,

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Erstverӧffentlichung der lateinischen Fassung 1721) und in seiner „Theodizee“(1710 entstanden)

gottverbunden, harmonisch zusammenhӓngend und dynamisch sein.

In der „Monadologie“ von Leibniz begehren gottgebundene und fensterlose, unteilbare

und unzerstӧrbare, nichtidentische Monaden oder tӓtige Entelechien die Verӓnderungen, die

von einem inneren Prinzip herrühren.

Leibniz notiert in seiner „Theodizee“: Für den allmӓchtigen und allwissenden Gott seien

alle mӧglichen Welten denkbar. Für einen wohlwollenden und schӧpferisch wirkenden Gott sei

aber allein die beste aller mӧglichen Welten machbar. Bei der Frage nach einer unbestreitbaren

Schattenseite dieser Welt argumentiert Leibniz auf folgende Weise:

• Das Erkenntnisvermӧgen der Menschen habe seine Grenzen.

• Schmerzen und leidvolle Erfahrungen seien Strafen oder Prüfsteine, welche die Festigung

des Charakters begünstigen.

• Erst im gottgewollten Freiraum des eigenverantwortlichen Denkens und des willentlichen

Handelns kӧnne der Mensch das Gute vollbringen und Bӧses ablehnen.

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Die Philosophie von Gottfried Wilhelm Leibniz wird im 18.Jahrhundert von Christian Wolff

(1679-1754) leider zu einer schlichten rationalistischen Schulphilosophie umgebaut. Christian

Wolff dominiert jahrelang den Philosophieunterricht deutscher Universitӓten, bis ein

verӓnderter Geschmack der Jahrhundertmitte seinen trockenen Rationalismus ablehnt.

Vereinzelte Goethe-Experten meinen, dass auch J.W.Goethe(1749-1832) ein Schüler von

Leibniz gewesen sei, doch viele Goethe-Experten sprechen dagegen, denn Goethe habe eher

keinen Sinn für das genaue wissenschaftlich-mathematische Denken von Leibniz. Hat J.W.Goethe

den Wegbereiter der Aufklӓrung Gottfried Wilhelm Leibniz und sein Konzept der „mӧglichen

Welten“, das heute erfolgreich in den Diskurs der analytischen Philosophie aufgenommen wird,

kaum verstanden? Ein Stammbuch-Eintrag (aus dem Jahre 1765) des jungen J.W.Goethe für

seinen Jugendfreund Friedrich Maximilian Moors (1747-1782) scheint das zu bezeugen:

Dieses ist das Bild der Welt,


Die man für die beste hӓlt:
Fast wie eine Mӧrdergrube,
Fast wie eines Burschen Stube

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Der Verfasser dieser Verszeilen ist vielleicht Goethe selbst; vielleicht zitiert Goethe nur

einen anderen Verfasser. Was an dieser Stelle wirklich zӓhlt: Mit dieser obengenannten, eher

bӧsen Anspielung steht der junge J.W.Goethe nicht allein. Voltaire übt in seinem wirkungsreichen

Roman „Candide“(Erstverӧffentlichung 1759) eine unverhüllte und harte Kritik am

optimistischen Weltbild von Leibniz. Doch der reife J.W.Goethe stellt im Jahre 1817 die

interessante Frage nach den Gesetzen einer menschlichen Entelechie in seinem Gedichtzyklus

„Urworte.Orphisch“ (eine Erstverӧffentlichung erfolgt erst im Jahre 1820). Die tӓtige Entelechie

bezeichnet hier die kontinuierliche Entwicklungsbewegung aus einem angeborenen,

unzerstӧrbaren, inneren Kraftzentrum. Zu dieser spӓtreifen, poetisch textproduktiven,

Goetheschen Frage nach den Gesetzen einer menschlichen Entelechie berichten wir an einer

anderen Stelle detailreicher.

Für die rationalistisch meinungspositionierten Vertreter der Aufklӓrung ist die Vernunft

wie die aufgehende Sonne, die alles beleuchtet, die alles überstrahlt. Vernunft ist, aus der Sicht

der Rationalisten, das wichtigste Instrument der Erkenntnis.

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Die Ausbildung von Verstand und Vernunft sind ein pӓdagogisches Hauptziel der

rationalistisch positionierten Reprӓsentanten der Aufklӓrung.

In den westeuropӓischen Lӓndern erscheinen im 18.Jahrhundert, beispielsweise,

Enzyklopӓdien, Zeitschriften mit Rezensionen und mit Auszügen aus aktuellen literarischen,

politischen, philosophischen Werken, Ȕbersetzungen und moralische Wochenschriften als Teile

eines umfassenden Erziehungsprogramms.

Die Rationalisten preisen die ernste moralisierende Literatur.

Am vernunftstolzen Diskurs der Rationalisten werden nicht nur moraldidaktische

Intentionen und kunstpragmatische Gesichtspunkte, sondern auch gesellschaftskritische und

kirchendogmenfeindliche Akzente ablesbar, denn Rationalisten stellen auch die beunruhigende

Frage nach einer vernünftigen Gesellschaftsordnung.

Der einfluβreiche deutsche Aufklӓrungsphilosoph Christian Thomasius (1655-1728)

spricht, beispielsweise, gegen die Beschrӓnkung, gegen den Aberglauben, gegen die Folterpraxis

und gegen die Hexenprozesse. Christian Thomasius will eine Scheidung von Theologie und

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Philosophie. Die philosophischen Erkenntnisse sollen, aus der Sicht des Aufklӓrungsphilosophen

Christian Thomasius, praktisch wirksam sein, sie sollen dem menschlichen Leben dienst- und

nutzbar sein; der Menschenverstand soll Lebensglück ermӧglichen.

Denis Diderot und Jean d'Alembert geben, beispielsweise, eine Enzyklopӓdie heraus, die

gegen das Unwissen gerichtet ist und sie betonen, dass dieses Unwissen von der Kirche im

Bündnis mit dem absolutistischen Staat verbreitet wird. Eine im Gottesgnadentum verankerte

absolutistische Staatsordnung erscheint, aus dieser vorrevolutionӓren Sicht, eine suspekte und

fragwürdige These. Die Kritik an der tradierten Gesellschaftsordnung eskaliert, indem die

aufklӓrerische Konzeption eines Gesellschaftsvertrages die Macht des Monarchen und der

Aristokraten unterminiert.

2.3.2 Sensualisten. Der sensualistische Empirismus

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Vernunft ist, aus der Sicht der Rationalisten, das wichtigste Instrument der Erkenntnis, doch für

die sensualistisch meinungspositionierten Vertreter der Aufklӓrung, die den sensualistischen

Empirismus von John Locke (1632-1704) und David Hume (1711-1776) schӓtzen, sind

Sinneswahrnehmungen, Assoziationen und Erfahrung die Hauptquellen des Denkens und der

Vernunft. Der sensualistische Empirismus stellt die sensitive Erkenntnisweise in den

Vordergrund.

Die Sensualisten deklarieren den Vorrang der persӧnlichen sinnlichen Erfahrung und

fokussieren, beispielsweise, auch die notwendige ӓsthetische Darstellung der Gefühle und

Affekte über sinnliche Vorstellungen.

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2.3.3 Separatistische Pietisten. Ein protestantisches Programm der Pietisten zur Erneuerung
des religiӧsen Gefühls vor dem Hintergrund einer fortschreitenden Sӓkularisierung der
Gesellschaft

Seit der Renaissance wurde die zunehmende Diskrepanz zwischen Religion und und Wissenschaft

als Problem empfunden.

Die konfessionellen Kӓmpfe des 16. und 17.Jahrhunderts werden von einer bedeutenden

Diskussion über Toleranz in Glaubernsdingen, über Religionsfreiheit und über Gewissensfreiheit

begleitet.

Die Aufklӓrung bringt eine deutliche positive Sӓkularisierung der Gesellschaft mit sich.

Selbst protestantische Pietisten lehnen den lutherischen Dogmatismus ab. Der Pietismus

ist eine Reformbewegung innerhalb des Protestantismus. Die Pietisten sprechen gegen eine

bereits verfestigte lutherische Orthodoxie, aber sie formulieren bereits um 1700 auch ein

protestantisches Programm zur Erneuerung und zur Intensivierung des religiӧsen Lebens, zur

Verinnerlichung des religiӧsen Lebens durch die Wiederbelebung des religiӧsen Gefühls, das sich

verflacht hat. Im Mittelpunkt dieses pietistischen Programms stehen die Bekehrung des

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Menschen und soziales Engagement. Pietisten gründen, beispielsweise, Waisenhӓuser und die

sogenannte Herrnhuter Brüdergemeinde durch Graf von Zinzendorf (1700-1760).

Im Zentrum einer pietistischen Erbauungsliteratur stehen das persӧnliche religiӧse

Erleben und die gottdurchdrungene Natur, die damit verbundenen, ganz persӧnlichen Gefühle

und Empfindungen. Doch die meisten Pietisten betreiben leider eine stark verdüsterte

Seelenanalyse und der pietistische Naturenthusiasmus ist oft lediglich ungezügelte

Naturschwӓrmerei.

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2.3.4 Esoteriker, Spiritualisten, Naturmystiker, Alchemiker. Fragmente einer
Einweihungskultur in der Naturphilosophie des 18.Jahrhunderts
Rolf Christian Zimmermann kommentiert das Weltbild des jungen J.W.Goethe und verweist dabei

auf eine bedeutende „hermetische Tradition des deutschen 18.Jahrhunderts“.

Mirko Sladek bezieht eine ӓhnliche Meinungsposition. „Nicht nur wegen der

Undurchsichtigkeit und Abgeschlossenheit dieser Materie, sondern vielmehr wegen der

Unkenntnis und Unvertrautheit der Forscher mit der hermetischen Welt“ soll das Thema einer

spiritualistischen, naturmystischen, alchemistischen, hermetischen Denkweise im

18.Jahrhundert, laut Mirko Sladek, leider „eine terra incognita“ gewesen sein. Mirko Sladek

kommentiert in „Fragmente der hermetischen Philosophie in der Naturphilosophie der Neuzeit“

auf folgende Weise:

• Das gesamte Kulturbild des 18. Jahrhunderts ist bisher viel zu aufklӓrerisch interpretiert

worden.

• Das Kirchendogma und die Schulphilosophie ermӧglichen durch Lebensferne und durch

akademische Sturheit in der ersten Hӓlfte des 18.Jahrhunderts in Deutschland „eine

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rasche und für manche noch immer überraschende Blüte des religiӧs-philosophischen

Eklektizismus mit Akzent auf der erneuerten Hermetischen Philosphie. Ȕberall wo die

durch Jakob Bӧhme stark geprӓgte pietistische Bewegung vertreten war, wie das in

Frankfurt zu Goethes Zeit der Fall war, war auch das Interesse an Mystik, Alchemie,

Theosophie und Pansophie vorhanden.“

• Mirko Sladek exemplifiziert diesen Trend mit Lektüren des jungen J.W.Goethe: Durch Frl.

von Klettenberg angeregt, lese Goethe, beispielsweise, zunӓchst Georg von Wellings

„Opus Mago-Cabalisticum et Theosophicum“, danach aber auch Autoren wie Basilius

Valentinus, van Helmont, Paracelsus und Valentin Andreae.

• Eine „Atmosphӓre des religiӧsen und philosophischen Eklektizismus“ prӓgt als Erbe des

17.Jahrhunderts das ganze 18.Jahrhundert.

• Freie Geister wenden sich von kirchlichen und von akademischen Sektierern, von der

deduktiv rationalistischen Systematik der Wissenschaften und vom endlosen Zank der

Theologie ab.

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• Man begibt sich dabei auf die Suche nach sogenannten ewigen Wahrheiten, wobei

„philosophia perennis“ und „philosophia eclectica“ als identisch aufgefaβt werden.

Synkretismus ist die Lӧsung.

• Die rationalistische Philosophie führt durch das ganze 17. und 18.Jahrhundert einen Teil

aufklӓrerisch gesinnter Geister zur Philosophie des materialistisch-mechanizistischen

Atheismus (Helvetius, Holbach, alle um die „Enzyklopӓdie“ gesammelten Intellektuellen).

Gleichzeitig entsteht am gesamteuropӓischen Kulturhorizont eine Gegenbewegung

christlich gesinnter Krӓfte, die eine „philosophia adepta eclectica“ anstreben. Friedrich

von Moser, Franz von Baader, Samuel Richter, Friedrich Christoph Oetinger oder Georg

von Welling in Deutschland, Langlet du Fresnoy, Claude de Saint-Martin oder Martines de

Pasqually in Frankreich oder etwa William Blake in England seien „Vertreter eines

gebildeten und überkonfessionellen Christentums im Jahrhundert der Aufklӓrung“.

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