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BERNHARD SORG

LITERATUR, LITERATURWISSENSCHAFT UND POSTMODERNE

Vorbemerkung Herbst 2009: Der folgende Text entstand als Vortrag im Rahmen
einer Ringvorlesung innerhalb des Germanistischen Seminars der Universität Bonn
im Sommersemester 1989; er wurde gehalten am 30. Mai 1989. Er ist eine Art
Dokument einer damals weit ausgreifenden und schließlich bis zum Überdruß sich
entwickelnden Debatte über Postmoderne und Postmodernität. Die terminologische
Konfusion, die den meisten Beiträgen zugrundelag und die ich zu vermeiden gesucht
habe, entstand aus einer Vermischung der literaturhistorischen Bedeutung des
Begriffs (Literatur nach der Epoche der klassischen Moderne) mit einer
typologischen (Literatur als ironische Reflexion aller gattungs- und
epochenspezischen Formen und Normen). Rückblickend betrachtet war es immerhin
noch eine weit über die Fachgrenzen hinausreichende Diskussion elementarer Fragen
zeitgenössischen Schreibens; die heute das Fach Germanistik bestimmende Mischung
aus Baccalaureus-Genügsamkeit und autistischer Unlesbarkeit der meisten Sekundär-
Texte, ihr schierer Obskurantismus, hat die Germanistik zur Belanglosigkeit
verdammt.
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In Samuel Becketts Fin de partie/Endgame, ziemlich gegen Schluß der szenischen


und verbalen Auseinandersetzung zwischen Hamm, dem Herrn, und Clov, dem
Knecht, fragt letzterer, eher en passant, jenen: „ Y a-t-il des secteurs qui t'intéressant
particulièrement. (Un temps.) Ou rien que le tout?“ („Gibt es Sektoren, die dich
besonders interessieren? (Pause.) Oder bloß alles?“ ) Sie, meine Damen und Herren,
mögen geneigt sein, angesichts meines Themas eine ähnliche Frage mir oder sich zu
stellen. Anvisiert wird ja von mir offenbar „bloß alles“: Literatur,
Literaturwissenschaft und jene Reizvokabel, die von den einen als Signum einer
neuen Epoche, als geschichtsphilosophisch legitimierte Bestimmung eines
elementaren Bruchs mit großen Teilen der Vergangenheit definiert, von anderen als
modisch-leeres Feuilleton-Geschwätz abqualifiziert wird. In der Tat ist zunächst
keineswegs sicher, ob es so etwas wie eine „Post-Moderne“ tatsächlich gibt, und,
falls ja, auf welche Aspekte der Literatur und der Literaturwissenschaft, vielleicht
sogar auf Aspekte der Lebenswelt, dieser Terminus applizierbar wäre.

Ich möchte versuchen, in zwei Abschnitten nach der Legitimation des Gebrauchs von
Post-Moderne zu fragen, und ich möchte zeigen, daß es zumindest zwei kohärente
Theorien gibt, die ein Ende der - noch präziser zu bestimmenden - Moderne
postulieren. Die ganze Sache wird nicht dadurch leichter, daß in beiden Fällen
Moderne unterschiedliche Bedeutungen in sich trägt und auf unterschiedliche Art und
Weise beide „Modernen“ in die Post-Moderne hineinragen, also keineswegs ein
scharfer Epochenschnitt zu besichtigen und zu beschreiben wäre, was die Gegner der
Post-Moderne-Konzeption unterstellen. Überhaupt ist evident, daß die hitzige
Diskussion der vergangenen Jahre mit einem erheblichen Maß an Unterstellungen
und Diffamierungen gearbeitet hat und immer noch arbeitet. Vor allem die,
vereinfacht gesagt, Post-Moderne-Gegner haben so lange mit der Zusammenstellung
„postmoderne Beliebigkeit“ herumgefuchtelt, mit einer angeblich anarchisch-
chaotischen „anything goes“-Attitude der Befürworter, daß eine ernsthafte Debatte
der fundamentalen Fragen auf diese Weise weitestgehend verhindert wurde. Freilich
dokumentiert diese Haltung, daß und mit welcher Verve ein zentraler Nerv getroffen
wurde und wird. Es wäre allerdings ungerecht, jeden Widerspruch gegen Begriff und
Konzeption der Post-Moderne als ignorantes Ressentiment abzutun. Er hat ganz im
Gegenteil erheblich dazu beigetragen, die ursprünglichen Theorien zu überprüfen, zu
modifizieren und zu präzisieren.
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Ich möchte zunächst jene beiden Post-Moderne-Theorien vorstellen, auf die alle
anderen eingestandener- oder uneingestandenermaßen zurückgehen und auf denen
sie aufbauen. Es ist dies der geschichtsphilosophische Entwurf des Franzosen Jean-
Francois Lyotard und zweitens die literaturhistorische Konzeption des US-
Amerikaners Leslie Fiedler. Beide hatten oder haben zunächst nichts miteinander zu
tun. Fiedlers Thesen stammen aus den 60er Jahren („Cross the Border - Close the
Gap“, 1969; dt. Übersetzung: „Überquert die Grenze, schließt den Graben. Über die
Postmoderne“ in: Jörg Schröder (Hrsg.): Mammut. März Texte 1 & 2. Herbstein
²1984, S.673-697) und sind Teil der kulturrevolutionären Bewegungen in den
Vereinigten Staaten jener Jahre. Lyotards Konzeption wurde veröffentlicht Ende der
siebziger Jahre (J.-F. L.: La condition postmoderne. Rapport sur le savoir. Paris
1979; dt.: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Graz/Wien 1986). Er geht nicht auf
Fiedler ein; unklar, ob er ihn gekannt hat.

Ich beginne mit dem jüngeren Text, dem Lyotards, weil es der
geschichtsphilosophisch elementarere ist, weil er eine Grundlegung unseres Zeit-
Denkens versucht, während Fiedlers Überlegungen im engeren Sinn nur
literaturgeschichtlich sind.
Jean-Francois Lyotards La condition postmoderne fragt nach der Struktur, der
Verbindlichkeit und der intersubjektiven Rationalität des modernen und des post-
modernen Wissens, seiner Legitimationskriterien und der Differenzen zum Wissen
der Vergangenheit. Ich reduziere bewußt Lyotards langen Essay auf die erwähnte
geschichtsphilosophische Dimension, unter Vernachlässigung anderer von ihm
diskutierter Aspekte, etwa die Veränderungen in der zeitgenössischen Wissens-
Akkumulation und der Wissens-Übermittlung, die Vernetzung der Kommunikations-
Medien und die Frage nach der gesellschaftlich-politischen Macht, die entscheidet,
welches Wissen in welcher Form existieren und tradiert werden darf.

Lyotards Zentral-These, verkürzt gesagt, lautet: Unsere Zeit, eben die Post-Moderne,
ist gekennzeichnet durch das Ende - also nicht nur durch eine Krise ihrer
Fundamente - der großen Legitimations-Erzählungen der Moderne. Darunter
versteht er die zwei oder drei verbindlichen Diskurse, die seit der Renaissance in
Europa denk- und handlungsstiftend sind und die den Gang der geschichtlichen
Ereignisse direkt oder indirekt bestimmt haben. Die erste dieser Großen Erzählungen
ist die vom Fortschritt und der Freiheit, vom Gang der Völker und des Einzelnen per
aspera ad astra, die Geschichte von der Entwicklung zu Besseren, von der
Perfektibilität des Individuums und der Kollektive. Die zweite Große Erzählung ist
die Geschichte von der Entwicklung des Geistes, also die intellektuelle Möglichkeit,
aus einer umfassenden Teleologie den jeweiligen Stand des universalen Progesses zu
designieren.
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Die dritte Große Erzählung ist für Lyotard die Hermeneutik des Sinns, also die
Sicherheit, die an sich und intentional inkompatiblen Welt-Entwürfe als die
Emanationen eines Geistes zu begreifen, als Beweis für die kommunikative Kraft des
Geistes. Diese drei Erzählungen - so postuliert Lyotard - sind es, die den
differenten wissenschaftlichen Erkenntnissen, die an sich nicht wissen, warum sie
überhaupt sind und warum sie so sind, wie sie sind, vorgeben, in welche Richtung sie
zu gehen haben und ihnen erklären, welche Rolle sie im Gang der Geschichte und der
abendländischen Zivilisation spielen. Die Wissenschaften sind zwar durchaus in der
Lage, aus sich heraus präzise Ziele zu entwerfen und zu erreichen, aber sie bedürfen
eines übergreifenden Wissens, das ihre Prämissen und Resultate in den Kontext eines
ihr vorgängigen Diskurs-Systems integriert und legitimiert.
In Lyotards Worten: „Das wissenschaftliche Wissen kann weder wissen noch wissen
machen, daß es das wahre Wissen ist, ohne auf das andere Wissen - die Erzählung -
zurückzugreifen, das ihm das Nicht-Wissen ist; anderenfalls ist es gezwungen, sich
selbst vorauszusetzen, und verfällt so in das, was es verwirft, die petitio principii, das
Vorurteil.“ (J.-F. L.: Das postmoderne Wissen. S.90f) Anders formuliert: Die
Wissenschaften, und nicht nur die Natur-Wissenschaften, bedürfen einer vor- und un-
wissenschaftlichen Legitimation, einer totalisierenden Meta-Wissenschaft, die von
kategorial anderer Beschaffenheit sein muß als die eigentlichen Wissenschaften -
gleichsam ein vorgängiges Wissen ohne Beweisbarkeit. Die Lyotardschen
„Erzählungen“ sind zu verstehen als eine Art unhintergehbarer Mythos, ein Wissen,
das unterscheidet, was Wissen eigentlich ist im Kontext dieser Gesellschaft.

Lyotards drei oder vielleicht nur zwei Erzählungen (denn die Hermeneutik des Sinns
gehört untrennbar zur geschichtsphilosophischen Teleologie als ihrer
epistemologischen Basis) stehen im Zentrum unserer Epoche, denn ihr Erlöschen
markiert nach Lyotard die Heraufkunft der Post-Moderne. Die erste Erzählung, die
vom Fortschritt und dem Menschen als dem Helden der Freiheit, hat einen politischen
wie philosophischen Aspekt. Sie legitimiert höchst differente Entwicklungen und
Handlungen: sie legitimiert die naturwissenschaftliche Forschung und den Kampf
gegen die Tyrannen, sie legitimiert die theoretische wie praktische Etablierung des
autonomen Subjekts und die Säkularisierung aller Lebensbereiche, sie legitimiert jede
medizinische Forschung, und die Erfindung der Atombombe. Dabei sind die alles
begleitenden philosophischen Diskurse, etwa Hegels Geschichtsphilosphie, nur eine
Sonderform, eine spezialisierte Ausprägung dieser elementaren Erzählung, die es dem
Einzelnen und den Völkern zuweist, in welchem Stadium des historischen Progresses
sie sich gerade befinden.
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In der Logik der Konzeption Lyotards liegt es, daß er primär abhebt auf den
kollektiven Aspekt, denn nur in ihm kann sich der Mythos vom Fortschritt wahrhaft
realisieren. Nur so ordnet sich das an sich kontingente Schicksal des Individuums
unter einer notwendigen Perspektive, in der der Einzelne von seiner Zufälligkeit
erlöst und in einen großen historischen Sinnzusammenhang gestellt wird. Zum
Helden des geschichtlichen Prozesses als Progresses wird das Volk, das sich in einem
imaginären Konsens selbst legitimiert und seine Aktionen und Reflexionen als
zielgerichtet begreift und sein Wissen strukturiert sieht durch den Mythos des einen
Fortschritts, dessen durch nichts aufzuhaltende Linearität das Maß offenbart für den
historischen Ort, an dem die Vielen sich gerade befinden.

Daß dieser moderne Weltenentwurf seine Dauer und Stärke dem ins Säkulare
gewandelten christlichen Heilsdenken verdankt, dürfte auf der Hand liegen. Indem
sich das Volk als Subjekt des innerweltlichen (Heils-)Prozesses bestimmt, wendet es
den Mythos, die Große Erzählung von der Geschichte als der Entbergung des Ganz
Anderen entschlossen auf sich selbst in der verwegenen Hoffnung, eine erkennbare
handlungsleitende Idee an die Stelle eines christlich-religiösen transzendenten
Begründungs-Zusammenhangs gesetzt zu haben. Das Fragwürdige in dieser
Konzeption liegt natürlich darin, aus der Vielfalt sich verändernder Lebensumstände
und der Fülle der sich ergebenden partiellen Verbesserungen auf eine das Ganze
bewegende Kraft zu schließen, die dann als „Fortschritt“ die Weihe eines sakralen
summum bonum, eines Höchsten Gutes erhält. Die Pluralität der Entwicklungen kann
- so Lyotards Bestimmung der geschichtlichen Moderne - nur akzeptiert werden,
wenn sie als Momente eines nicht weiter begründbaren Geschehens in einen Kontext
gestellt werden, der mehr ist als die Summe der Partikulargeschehnisse. Das ist eben
der Mythos, die Große Erzählung von Fortschritt und Freiheit.

Die zweite Große Erzählung, die vom „Leben des Geistes“, ist schwieriger
nachzuvollziehen. Auch sie ist freilich untrennbar von der Ersten, insofern sie im
Zentrum nichts ist als der Meta-Diskurs des geschichtlichen Fortschritts. „In dieser
Perspektive findet das Wissen zunächst seine Legitimität in sich selbst, und es ist das
Wissen, das sagen kann, was der Staat und die Gesellschaft sind. Aber es kann diese
Rolle sozusagen nur durch den Wechsel der Ebene erfüllen, indem es gewissermaßen
aufhört, die positive Erkenntnis seines Referenten zu sein (der Natur, der
Gesellschaft, des Staates usw.) und indem es auch das Wissen dieser Wissensarten
wird, das heißt spekulativ. Mit dem Namen des Lebens oder des Geistes benennt es
sich selbst.“ (Lyotard, S.105)
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Mit anderen Worten: Das Leben des Geistes als Große Erzählung ist die spekulative
Zusammenführung der getrennten Sphären von Empirie und Begrifflichkeit unter
dem Aspekt einer Selbstbestimmung des Subjekts. Es findet sein eigentliches Telos in
dem Entwurf seiner selbst und einer Welt, die ihm strukturell gleicht, ohne daß diese
Homogenität anders als in Chiffren („Leben“, „Geist“) beschreibbar wäre.
Wissenschaft und Philosophie können sich, so betrachtet, verstehen als legitime und
das Wissen des Einzelnen legitimierende Ausprägungen des wahren Wissens von der
empirischen Welt und von der menschlichen Geschichte.

Ob die Moderne tatsächlich so zu definieren ist, kann man bejahen oder verneinen.
Entscheidender ist, daß Lyotard auf diesem Weg zu seiner ersten Bestimmung von
Post-Moderne gelangt. Er statuiert, daß beide Mythen, beide Großen Erzählungen
ihre einstmals existente Verbindlichkeit eingebüßt haben. Sie sind gleichsam
implodiert, haben sich aufgelöst. (Wie nur wenige Jahre nach der Niederschrift seines
Buches die auf dem Mythos vom Sozialismus aufgebaute Sowjetunion. Mit dem
Erlöschen der Großen Erzählung von der Überlegenheit des Kommunismus erlosch
auch der darauf aufgebaute Staat. Natürlich kein Zufall.) Das gilt nicht nur für den
Osten Europas, das gilt auch für seinen Westen. In unserer post-modernen
Gesellschaft stelle sich die Frage nach der Legitimation von Individuum und
Gesellschaft anders. Weder die Erzählung von der Emanzipation des Volkes, vom
Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit sei konstitutiv, so wenig wie die vom
spekulativen Ort des Geistes und seiner Emanation in der Welt der Gegenwart.

Zentral bei Lyotard ist der einfache Gedanke zur Bestimmung der Gegenwart: An die
Stelle des Singulars („die Geschichte“, „die Freiheit“, „der Fortschritt“) tritt jetzt
der Plural. Es gibt, vereinfacht gesagt, Entwicklungen, aber keinen
unbezweifelbaren Fortschritt; Partikular-Freiheiten, aber keinen Mythos von der
einen und unteilbaren Freiheit; Geschichten von der Geschichte, aber keinen
Geschichts-Mythos mehr. Das heißt auch: Die De-Legitimation der Großen
Erzählungen schafft die Möglichkeit von untereinander inkompatiblen Sprach-
Spielen und intellektuellen Entwürfen, ohne verbindlichen Meta-Diskurs.
In erster Linie ist dabei zu denken an die De-Legitimation der Erzählung vom
Fortgang und Stillstand der menschlichen Geschichte im Marxismus. Der
Zusammenbruch des Glaubens an das eschatologische Telos der im Irdischen zu
erreichenden Aufhebung aller ideologischen und materiellen Antinomien hat sich
tatsächlich, mit oder ohne Lyotard, in diesen Jahren in atemberaubendem Tempo
vollzogen. Lyotards Theorie ist die Begleitmusik, nicht der Grund.
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Natürlich spiegeln diese (fundamental liberalen) Erkenntnisse und Konsequenzen (Sir


Karl Popper dürfte es seufzend zur Kenntnis genommen haben - „warum so spät!“ -
er starb am 17.9.1994) auch Lyotards eigenen Entwicklungsgang; er hatte sozusagen
auf der äußersten Linken begonnen und nach 1969 radikale Wandlungen
durchgemacht. Nun bestimmt der Gedanke der Abkehr von einem Ziel oder Sinn der
Geschichte sein Denken. Die Hinnahme der divergierenden Weltmodelle geschieht
bei Lyotard nicht mit resignativem Gestus, sondern einverständlich, ja als
begrüßenswertes Signum der sich einstellenden Einlösung der Individualisierungs-
Versprechungen der Moderne. Die post-moderne Pluralität akzeptiert die
Zersplitterung der Welt-Entwürfe, das Nebeneinander der Stimmen, die
Unübersichtlichkeit der Erklärungen und Beschreibungen.

Es scheint mir zu den Stärken des Lyotardschen Essays zu gehören (die ebenfalls
deutlich zutage tretenden Schwächen lasse ich hier auf sich beruhen), daß sich aus
diesen Prämissen jene Basis an Trauer erklären läßt, die alle bedeutenden
Kunstwerke der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts so deutlich grundiert, ob es sich
um die Prosa Prousts oder Kafkas, die Gedichte Benns oder Eliots, die Stücke
Becketts oder Schnitzlers, die Musik Schönbergs oder Strawinskis oder die
Philosophie Heideggers oder Adornos handelt. Ihre elementare Melancholie deutet
nicht, wie früher marxistische Kritiker kurzschlüssig dekretiert haben, auf den
Untergang des Bürgertums, der gesamten „bürgerlichen“ Welt hin, sondern es
reflektiert und entbirgt den irreversiblen Verlust homogener und verbindlicher
Apperzeptions- und Ausdrucksformen. Anders gesagt: den Verlust der Einheit der
Modelle - was schon die Frühromantik als größten aller Schrecken bestimmt und in
der Konstruktion einer neuen Mythologie der progredierenden Vernunft
konterkarieren zu müssen geglaubt hat.

Lyotard konstatiert, daß unsere Jahrzehnte endlich das Illusionäre dieser und
ähnlicher Rettungsversuche eingesehen haben. Der Marxismus war somit, historisch
betrachtet, der vorläufig letzte Anlauf, ein universal gültiges Homogenisierungs-
Modell zu entwerfen, das die kursierenden Entfremdungsängste und
Einheitssehnsüchte in die utopische Vision des zur ewigen Ruhe gekommenen
historischen Wandels zusammenfaßt. Dieser Meta-Diskurs ordnet, bzw.: zwingt die
individuellen und kollektiven Diskurse zu einem zusammen; im Glauben der
Einzelnen und der Vielen und mit Gewalt, falls notwendig.
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Post-modern - im Sinne Lyotards - kann ein Denken genannt werden, das die
Disparatheit der (nun kleinen) Erzählungen nicht resignativ erfährt, sondern sie zur
Gänze und mit allen Konsequenzen akzeptiert. An die Stelle des weltumgreifenden
Singulars tritt der partikulare Plural. Die Post-Moderne, und erst sie, löst die
Individualisierungs-Tendenz der Jahrhunderte seit der Renaissance wirklich ein. Sie
nimmt die an sich inkompatiblen Modelle der Individuen nicht als defizienten Modus
wahr, den es zu überwinden gilt, sondern als Zeichen notwendiger und
unhintergehbarer Pluralität. Dabei wird mitnichten - wie es die hartnäckigen Gegner
dieser Konzeption behaupten, denen die ganze Richtung nicht paßt - die Vernunft
auf dem Altar einer sogenannten Beliebigkeit geopfert und aus der Not der
Zerrissenheit die Tugend der Differenz oder der Alterität gemacht, sondern ganz im
Gegenteil wird die Vernunft aus dem Kerker des apriorischen Mythos von Geschichte
und Fortschritt befreit. Damit und dadurch wächst gerade die Verantwortung des
Einzelnen für sein Denken und Handeln, weil es nicht mehr durch kollektive
erkenntnisleitende Erzählungen vorgeprägt ist, sondern sich in Ideal-Konkurrenz zu
anderen Entwürfen, anderen „kleinen Erzählungen“, bewähren muß. Das Ich
erscheint so als dialogfähige Monade, die in unabschließbaren Diskursen ihre
situative Wahrheit formuliert, ändert, durchsetzt oder aufgibt.

Lyotards Vorstellung trägt, wie zu recht oft gesagt worden ist, sei es als
Beschreibung, sei es als Kritik, vitalistisch-anarchische Züge. Die Ablehnung eines
weltkonstitutiven Subjekts „an sich“ zugunsten eines starken, produktiven,
„performativen“, sich stets ändernden und anpassungsfähigen Ich dürfte der
Philosophie Nietzsches viel verdanken, ohne daß damit schon über die Richtigkeit
oder Falschheit entschieden wäre. Wie bei allen vitalistisch-anarchischen Entwürfen
stellt sich in jedem Stadium der Diskussion die Frage nach den Sanktionen für
Regelverletzer. Solange die Spieler in völliger gegenseitiger Achtung ihre Pluralität
demonstrieren können, erweist sich der neue Kosmos der kleinen Erzählungen als
zivilisatorische Entwicklung hin zum Besseren, mithin als „Fortschritt“. Solange alle
geleitet sind von der Idee der Gerechtigkeit - ein Singular, wie nicht zu übersehen ist
- , mag die Befreiung vom Einheitszwang die logische Entwicklung des Projekts der
Moderne sein. Was aber kann getan werden gegen die Drohung, das Spiel der
Anderen zu stören oder zu zerstören und die eigene Partikular-Wahrheit wieder als
die Wahrheit zu etablieren? Wer die Lust an der Vielfalt schlechterdings nicht
akzeptiert, muß mit einer gewissen nachvollziehbaren Logik die Welt der Plurale als
satanische Verwirrung sehen und konsequenterweise annihilieren.
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Der zunehmende religiöse Fundamentalismus außerhalb Europas, und sehr bald


wahrscheinlich innerhalb Europas [geschrieben 1989!], kann von seinen eigenen
sakralen Prämissen die Welt der Differenzen nicht dulden und tut es ja auch nicht.
Die beiden Ideen von Wahrheit, die sich da gegenüberstehen, die der religiösen
Offenbarung und die der innerweltlichen Pluralität, sind nicht kompatibel. Keine
Illusion ist da möglich. Lyotards Bestimmung unserer Zeit als einer post-modernen,
also einer der zu akzeptierenden Disparatheiten, ist dadurch nicht widerlegt. Wohl
aber ist nicht auszuschließen, daß unsere Epoche als radikalster Ausdruck der
Modernitäts-Bejahung bedroht ist von einem Denken, das alle elementaren
Voraussetzungen dieser Bewegung negiert, ohne freilich auf ihre technischen
Ergebnisse und Produkte verzichten zu wollen. Das ist zwar schizophren, aber
deshalb nicht minder gefährlich für alle, die Gläubigen und die Ungläubigen.

Soviel zu Lyotards - hier natürlich nur verknappt wiederzugebender -


geschichtsphilosophischer Bestimmung der Post-Moderne. Sie hat, wie ersichtlich,
nur indirekt zu tun mit Fragen der Literaturwissenschaft. Seine Erklärung für die
fundamentale Melancholie der Kunst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts habe
ich referiert; sie ist zwar von nicht unbeträchtlichem Erkenntniswert, aber doch zu
unspezifisch für die Diskussion und das Verständnis einzelner Kunst-Werke. Fragt
man darüberhinaus nach der Relation seiner Post-Moderne-Konzeption zur Literatur
der unmittelbaren Gegenwart, so fällt das Ergebnis noch unbefriedigender aus. Denn
das, was Lyotard zum Zentrum des post-modernen Bewußtseins erhebt, also Vielfalt
und Akzeptierung der Differenzen, die Betonung der unableitbaren Eigenständigkeit
des Einzelnen - das ist, evidentermaßen, spätestens vom letzten Drittel des 18.
Jahrhunderts an Konstituens der europäischen Literaturen, programmatisch
eingefordert und in der Romantik poetisch eingelöst. Die Autonomie des Einzelwerks
ist vom Sturm und Drang an unbestritten, als Antizipation oder Substitution
menschlicher Freiheit, als höchstes Moment humaner Selbstbestimmung. Insofern
kann es einen engeren literarischen oder literatur-wissenschaftlichen Post-Moderne-
Begriff nicht geben, höchstens im Sinn einer Zuspitzung schon lange vorhandener
Tendenzen. Dann müßte man jedoch von einem typologischen, anstelle eines
literatur-historischen Post-Moderne-Konzepts sprechen. Dazu am Ende meiner
Darstellung mehr.
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Ich werde jetzt sprechen über eine zweite und ganz andere Idee von Post-Moderne;
eine Idee, die etwa zehn Jahre vor Lyotard entwickelt wurde, bald in Vergessenheit
geriet und erst vor einigen Jahren wieder ausgegraben wurde, im Kontext der
philosophischen Post-Moderne-Diskussion, mit der sie einige Berührungspunkte
besitzt, aber nicht die Fundamente teilt. Es handelt sich um einen weitgespannten
Entwurf des US-Amerikaners Leslie Fiedler (8. März 1917 - 29. Januar 2003), der
den Vorteil der Klarheit und Unbekümmertheit besitzt, vielleicht sogar den der
Richtigkeit. Freilich auch den Nachteil, Chronologisches, Typologisches und
Literaturhistorisches frischfröhlich zu vermengen, was immerhin erfreulich
provokativ wirkt, wenn es auch nicht unbedingt und in allen Punkten plausibel ist.

Sein zentraler Essay erschien, wie schon kurz angedeutet, im Jahr 1968 und trägt im
englischen Original den Titel: Cross the Border - Close the Gap: Post-Modernism.
Darin wird, aus der Sicht Amerikas und eines amerikanischen
Literaturwissenschaftlers, zweierlei versucht: Zuerst die Bestimmung eines
literarischen Epochenschnitts, der das Ende der Klassischen Moderne und die
Heraufkunft einer so genannten post-modernen Literatur markiert. Und diese neue
Epoche, zweitens, erscheint als Emanzipation Amerikas und seiner Literatur von der
Kunst Europas, in erster Linie von der Klassischen Moderne. Unter Moderne und
Klassischer Moderne versteht Fiedler die Kunst der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts, die untrennbar verknüpft ist mit den Namen Thomas Mann und Franz
Kafka, Marcel Proust und T.S.Eliot, Vladimir Nabokov und James Joyce, Jorge Luis
Borges und Samuel Beckett, um nur einige der wichtigsten zu nennen. Diese Epoche
und die Dominanz dieser Künstler europäischer Herkunft oder zumindest unter
stärkstem europäischem Einfluß - sie sind tot. Was die Moderne, deren Verdienste
Fiedler keineswegs negiert, erträumte und realisierte, die Kunst der Bildung und der
intellektuellen Distanz, des Esoterischen und der Verinnerlichung, der Bewahrung der
abendländischen Traditionen bis zurück in das Zeitalter der Griechen - das ist alles
ist vorbei, ist pure Vergangenheit, ist zudem old Europe und damit weit entfernt von
Amerika. Diese Moderne ist für niemanden mehr verbindlich, am wenigsten für die
amerikanischen Künstler und für alle Künstler, die von der amerikanischen
Zivilisation beeinflußt sind, wo immer sie leben und arbeiten mögen.
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Fiedlers Essay läßt sich lesen als Manifest einer neuen Selbstbestimmung Amerikas,
als Manifest einer Trennung und als poetologische Unabhängigkeitserklärung der
Neuen gegenüber der Alten Welt. Was aber ist es genau, das diese von Amerika
ausgehende post-moderne Literatur konstituiert und deutlich trennt von der Literatur
der Klassischen Moderne? Zentral ist die Idee des cross the border: will sagen:
überschreitet endlich die von dekadenten europäischen oder europäisierten
amerikanischen Künstlern und Kunstdiktatoren gezogenen Grenzen von Form,
Geschmack, Angemessenheit und intellektuellem Anspruch, erfindet und gestaltet
Neues, der amerikanischen Gegenwart Angemessenes. Und close the gap heißt: reißt
alle künstlichen Zäune nieder zwischen Kunst und Leben, hoher und niederer
Literatur, schön und häßlich, anspruchsvoll und anspruchslos, laßt alle Literatur, alle
Kunst Eins sein im Sinne der homogenisierten amerikanischen Zivilisation.

Die post-moderne Literatur im Sinne Leslie Fiedlers, etwas hemdsärmelig propagiert,


aber nicht ohne Logik, ist eine des neuen amerikanischen Mythos, der (romantischen)
Vermischung aller Gattungen, der bewußten Trivialität, der phantastischen
Erweiterung aller ästhetischen Erfahrungen, eine des Rausches, real wie
metaphorisch, und der subversiven Lust (aus einer Zeit stammend, als das Wort
subversiv noch nicht zu einer Dummdeutsch-Vokabel, respective ihrem englischen
Äquivalent, herabgesunken und jeglichen Sinnes entkleidet war). Die Relation zur
sogenannten counter-culture, der Gegen-Kultur der zweiten Hälfte der 60er Jahre,
ist so evident, daß dazu hier und jetzt nichts mehr gesagt werden muß. Zentral ist und
spezifisch für seine Theorie, daß die von ihm postulierte und statuierte Ablösung der
klassisch-modernen Kunst der Bildung und der Introspektion durch eine der
Trivialität, der Ekstase und der Alltäglichkeit, also das Ende der alexandrinischen
Kultur, für ihn keinen kulturellen Abstieg markiert, sondern eine Rückkehr zu den
wahren Mythen und Wurzeln Amerikas. Exemplarisch sind für ihn: der Western, der
große Heimatfilm von der Inbesitznahme Amerikas durch die Wahren Amerikaner
und die nach Außen gewendete Geschichte vom Selbstbewußtsein Amerikas; science
fiction; und, bemerkenswerterweise, Pornographie. Diese Trias soll, so lese ich
Fiedler, nicht nur eine spezifisch amerikanische Welt repräsentieren, sondern
hinausdeuten auf die globale, technisch konditionierte Zivilisation, die der post-
moderne Autor eben nicht verachtet oder fürchtet wie der europäische der
Klassischen Moderne, sondern mit gutem Gewissen benutzt und mit ihren eigenen
Mitteln quasi transzendiert, man könnte auch sagen: ihr künstlerisch Gerechtigkeit
widerfahren läßt.
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Der Western, science fiction und Pornographie bilden eine Kunst der klassenlosen
Massenkultur, die vermeintlich oder tatsächlich (von heute betrachtet: vermeintlich)
die Macht des Politischen ignoriert oder unterminiert. Die Grenzüberschreitungen der
post-modernen Kunst im Sinne Fiedlers geschehen gleichsam - und hier läßt
Friedrich Nietzsche grüßen - in dionysischer Gleich-Gültigkeit. Alles ist literarisch
darstellbar, alles ist gut, sofern es die trivialen Erfahrungen des Alltags im Namen
einer grenzenlosen Phantasie aufsprengt und die Paralyse der Klassischen Moderne
im Taumel der post-modernen Lust vergessen läßt. Der religiöse Aspekt der Theorie
liegt nun gar nicht so tief unter ihrer bunt-säkularen Oberfläche; am Ende des Essays
kommt Fiedler selbst darauf zu sprechen. Traum und Vision, subversive
Vernunftkritik und Bewußtwerdung durch entgrenzte und entgrenzende Sexualität
sollen führen zu einer quasi-religiösen Wiedergeburt. Wobei naturgemäß und diesen
Jahren geschuldet die zutiefst amerikanische Hoffnung auf Beförderung aller
positiven Verwandlungen durch Drogen nicht fehlen kann. „We live in the midst of a
great religious revival“ schreibt er und, etwas später, noch radikaler: „But in a time
of Closing the Gap, literature becomes again prophetic and universal - a continuing
revelation appropiate to a permanent religious revolution, whose function is precisely
to transform the secular crowd into a sacred community“.

Man muß diesen Sprung - heute [2009] erschreckend optimistisch, ja bizarr


wirkend, angesichts der Erstarkung (samt ihrer Indienstnahme durch die
herrschenden Eliten) der fundamentalistischen christlichen Rechten in den USA mit
all ihren obskurantistischen Welt-Modellen einschließlich des erwarteten
Armaggedon - aus den Trivialmythen in die sakrale Gemeinschaft einer durch
Literatur veränderten Welt nicht mitmachen, um doch summieren zu können, daß
Fiedler einen elementaren Wandel in Form und Funktion der (damals)
zeitgenössischen Literatur konstatiert und begrifflich zu umschreiben versucht hat.
Heute [2009] ist deutlich, daß in den 60er Jahren tatsächlich die Epoche der
Klassischen Moderne zu Ende gegangen ist, sie ihre Vorbildfunktion langsam aber
unerbittlich verloren hat. Der Zivilisationsbruch des mythischen Jahres 1968
erstreckt sich auch auf die Kunst. Sie wurde zwar nicht abgeschaftt, wie das törichte
Klein-Intellektuelle gefordert und/oder konstatiert hatten, wohl aber in ihrer
elementaren Seinsweise verändert. Insofern ist der Terminus Post-Moderne für die
Epoche nach 1968 durchaus richtig und treffend.
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Was uns zu der Frage führt, ob der Begriff der Post-Moderne noch heute [1989]
dazu dienen kann, die Literatur der Gegenwart angemessen zu definieren. Ich fasse
mich, zum Schluß meiner Ausführungen kommend, kurz. Alle mir bekannten
Versuche, die deutsche Literatur der vergangenen [der neunziger] Jahre als
einheitliche Strömung der Post-Moderne (an sich ein Paradoxon, eine contradictio in
adiecto) zu sehen, gehen nie über eigentümlich leere und gänzlich unspezifische
Erkenntnisse hinaus. Die post-moderne Literatur sei eine der glänzenden Oberfläche,
hört man dann, eine der Divergenz (unklar, was das bedeuten soll) und einer
bewußten Flachheit, sie bejahe die zeitgenössische Stillosigkeit und mache daraus
wieder einen Stil. Sie zelebriere, so sagen wiederum andere, ihre Sprachspiele ohne
Trauer um das irgendwie irgendwo verlorengegangene Subjekt; sie huldige einem
fröhlichen Nihilismus der Warenwelt; sie setze an die Stelle von Innovation,
Radikalität und Autonomie (:Kennzeichen der Klassischen Moderne) die ewige
Wiederholung, den schönen Schein beliebig reproduzierbarer Dinge und entwerfe
eine Landschaft der universalen Simulation, in der alle Unterschiede zwischen
Original und Kopie im Rausch der Hyperrealität verschwunden sind.

(Letzteres setzt die Lektüre von Jean Baudrillard voraus („Ach, wie ist es doch so
langweilig im gegenwärtigen Europa!“) , einem der vielen französischen
Schwerdenker des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts, dessen Obskurantismus,
ähnlich dem Jacques Derridas, eine profunde Inhaltslosigkeit nicht wirklich
verdecken kann, sie vielmehr instrumentalisiert zur Etablierung eines unangreifbaren
Macht-Zentrums. Je weniger der Autist mitzuteilen hat, desto fanatischer sind zudem
seine Jünger - the Meister is always right. Eine durchaus gewollte Nebenwirkung.
Jacques Derrida war in solcherlei Machtspielen freilich unerreicht. Seine uferlos
geschwätzige Suada ohne Inhalt und Sinn war die Garantie jener höheren Weisheit,
die der Nicht-Initiierte niemals zu begreifen in der Lage war und ist; nur die Jünger,
ähnlich denen Stefan Georges, verstanden den Meister - irgendwie … Und machten
Karriere … [Notwendige Zwischenbemerkung Herbst 2009])
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Ich möchte nicht allzusehr spotten über solche und ähnliche konfusen Diagnosen
anderer; sie sagen weniger aus über die Literatur unserer Zeit [1989] als über die
Schwierigkeiten, eine diffuse Epoche in eine nachvollziehbare
literaturwissenschaftliche Begrifflichkeit zu zwingen. Niemand ist vor Irrtümern
gefeit. Klar ist allerdings, daß die moderne (oder „moderne“) Kunst an eine
krisenhafte Grenze in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gestoßen ist. Wir sind
wahrscheinlich eine Zeit des Epigonentums, eine Art Interregnum, und das ist mit
einem Terminus wie „Post-Moderne“ nicht schlecht und eher elegant bezeichnet. Die
daraus entstehenden Versuche, die Post-Moderne zureichend, also literturhistorisch,
zu definieren, scheinen mir eher belanglos, ja überflüssig. Und die hilflosen
Anstrengungen, zur typologischen Bestimmung der Gegenwart der Kunst Kategorien
wie kontingentes Spiel, Polyvalenz der Zeichen oder doppelte Kodierung
heranzuziehen, läßt fragen, ob dies nicht alles schon intelligenter und anspruchsvoller
in Goethes Faust II oder auch in Thomas Manns Doktor Faustus realisiert worden ist.

Ich sehe, um es zusammenzufassen, keine letztlich befriedigende Definition von


literarischer Post-Moderne, mit der die deutsche Literatur der vergangenen zehn oder
fünfzehn Jahre [also ca.1975 – 1989] adäquat beschrieben werden könnte. Daß sie
nach der Klassischen Moderne entstanden ist, ist bloß eine ziemlich hilflose
Deskription elementarer geschichtlicher Relationen, keine Theorie. Fiedlers Versuch
scheint mir immerhin der einzige, aus dem Ende der Moderne eine Entwicklung zu
konstruieren, die ihr Zentrum findet in einer klaren Opposition zu den Postulaten der
Moderne. Es scheint mir ein Signum der Gegenwart, daß sie den quasi-sakralen
Kunst-Begriff der Moderne aufgelöst hat, ohne sagen oder zeigen zu können,
innerhalb welchen neuen Koordinatensystems die zeitgenössische Kunst ihren
poetologischen Schwerpunkt gefunden hat oder finden könnte. Dies ist der post-
moderne Zustand, der nichts ist als eine emphatische Leerstelle, ein Transitorisches.

Ich bin Ihnen noch die Antwort Hamms schuldig auf Clovs Frage in Samuel Becketts
Fin de partie, mit der ich den Text eingeleitet habe: „Gibt es Sektoren, die dich
besonders interessieren? Oder bloß alles?“ Hamm antwortet: „(faiblement) Tout.“
(„(schwächlich) Alles.“) Woraus ersichtlich wird, daß die beiden und vielleicht auch
ihr Autor durchaus moderne Menschen sind.
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Nachbemerkung Herbst 2009: Die Post-Moderne ist inzwischen eines sanften Todes
gestorben; sie ruhe in Frieden. Was immer deutlicher geworden ist, seit 1989, ist der
Charakter unserer Epoche als einer epigonalen Spät-Phase. Die deutsche Literatur ist
erschreckend belanglos geworden, mehr oder minder intelligentes Kunstgewerbe.
Warum die Romane und Erzählungen, die Dramen und Lyrik-Bände der jungen,
gutaussehenden, immens artikulierten und reflektierten Schriftstellerinnen und
Schriftsteller (um mich auch hier einmal des feministisch korrekten Sprach-Schrotts
unserer Zeit zu bedienen) überhaupt sind und vielmehr nicht sind - niemand weiß
es, und niemand wird es je erfahren. Den Gedanken, daß es zur Entstehung epochaler
Kunst einer individuellen und/oder kollektiven Not bedarf, verwerfe ich gleich
wieder; er könnte zu dem Mißverständnis Anlaß geben, ich wünschte mir solche
Epochen des Außerordentlichen herbei, um eine neue Zeit der Kunst heraufdämmern
zu sehen. Durchaus nicht. Aber man möge auch nicht unser Kunstgewerbe mit Kunst
verwechseln. Vor der Post-Moderne kommt die Moderne, und mit ihr sich zu
beschäftigen ist immer noch lohnender als mit ihrer schwächlichen Nachfolge.

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