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SWR2 lesenswert Feature

Paul Celan, Dichter


(Langfassung)

Von Norbert Hummelt

Sendung: Dienstag, 21.04.2020


Redaktion: Gerwig Epkes
Regie: Norbert Hummelt
Produktion: SWR 2019

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OT 1 CELAN:
Stimmen, ins Grün
der Wasserfläche geritzt.

OT 2 WATERHOUSE [LIEST CELAN]:


Fliederlos ist dein Haar, dein Antlitz aus Spiegelglas.

OT 3 CELAN:
Stimmen vom Nesselweg her:

OT 4 HÜNGER [LIEST CELAN]:


Ein Wort, an das ich dich gerne verlor:
das Wort
Nimmer.

OT 5 CELAN:
Stimmen, nachtdurchwachsen, Stränge,
an die du die Glocke hängst.

OT 6 BULUCZ [LIEST CELAN]:


Kennt noch das Wasser des südlichen Bug,
Mutter, die Welle, die Wunden dir schlug?

OT 7 CELAN:
Stimmen, vor denen dein Herz
ins Herz deiner Mutter zurückweicht.

OT 8 MUELLER [LIEST CELAN]:


ich ritt durch den Schnee, hörst du,
ich ritt Gott in die Ferne – die Nähe, er sang,
es war
unser letzter Ritt über
die Menschen-Hürden.

MUSIK

OT 9 CELAN:
VERBRACHT ins
Gelände
mit der untrüglichen Spur:

Gras, auseinandergeschrieben. Die Steine, weiß,


mit den Schatten der Halme:
Lies nicht mehr – schau!
Schau nicht mehr – geh!
ANSAGERIN: Paul Celan, Dichter.

OT 10 WATERHOUSE:
Mitte der siebziger Jahre habe ich begonnen zu studieren an der Universität in Wien
und habe dort zum erstenmal Gedichte von Paul Celan gesehen und gehört und
dann auch gelesen, und die waren alle aus dem Gedichtband „Lichtzwang“.
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ANSAGERIN:
Peter Waterhouse, Dichter.

OT 11 WATERHOUSE:
In der Schule in Deutschland ist mir der Name gar nicht einmal begegnet. Und in
dieser Situation in der Universität, da war ich ein Anfänger im Studium, glaube ich,
und ich habe den Autor gewählt wegen des Namens. Ich wusste ja nicht, wer das ist.
Da waren Namen, die ich kannte, zum Beispiel Ingeborg Bachmann, es war ein
Seminar über Gedichte. Und da gab es auch diesen Namen, den ich gar nicht
aussprechen konnte, ich wusste nicht, wie der Nachname ausgesprochen wird. Und
ich dachte mir, ich wähl das, was ich nicht kenne. Dazu studier ich, vielleicht. Und so
rätselhaft, wie der Name war, so rätselhaft schienen mir dann die Zeilen, die ich als
junger Anfänger und Leser gesehen hab.

OT 12 CELAN:
Geh, deine Stunde
hat keine Schwestern, du bist –
bist zuhause. Ein Rad, langsam
rollt aus sich selber, die Speichen
klettern,
klettern auf schwärzlichem Feld, die Nacht
braucht keine Sterne, nirgends
fragt es nach dir.

OT 13 WATERHOUSE:
Ich hatte dann in dieser Anfängerzeit ein großes Interesse an allem, was ich nicht
versteh. Insofern bin ich gerne bei „Lichtzwang“ geblieben und bei den späten
Gedichten, und hatte dann den Eindruck tatsächlich, dass die sogenannten früheren
Gedichte zugänglicher sind. Und mit der Zeit, und eigentlich auch jetzt, heute, mache
ich die Erfahrung, dass die frühen Gedichte nicht zugänglich sind. Und mir die
gleichen Schwierigkeiten bereiten oder die gleichen Fragen stellen. Man könnte auch
umgekehrt sagen, die sind alle sehr zugänglich, also die späten wie die frühen sind
sehr zugänglich, wenn man sich fragt, was ist der Zugang? Also wenn der Zugang
die Interpretation ist, dann finde ich das Ganze ziemlich unzugänglich, für
Interpretation nicht wirklich geeignet find ich diese Gedichte. Es gibt allerdings ein
großes Ausmaß an Interpretation, die Paul Celans Werk widerfahren ist, also
eigentlich Berge von Interpretation.

OT 14 HÜNGER:
Ich bin der Meinung, dass, glaub ich, kaum einem Dichter so viel Unrecht seitens der
Germanisten angetan wurde wie Paul Celan, und dass daher auch die Scheu rührt.
Er wird immer als hermetisch und verschlossen dargestellt, als auch unverständlich.
Das heißt, auf dieser Seite gibt es schon eine Scheu, dass man sich den Texten
einfach verstandesmäßig nicht gewachsen fühlt. Und auf der anderen Seite gibt es
aber auch eine Scheu, die diese Texte eröffnen, und zwar habe ich immer das
Gefühl, es sind sehr private, intime Räume und es ist schwer, darüber zu sprechen.
Die Texte sagen, was sie sagen, und es ist schwer, dem noch was hinzuzusetzen.
Oder mir fällt das schwer, und ich möchte das eigentlich auch selten.

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ANSAGERIN:
Nancy Hünger, Dichterin.

OT 15 WATERHOUSE:
Also bei der Interpretation hab ich manchmal den Eindruck, die verlässt sich nicht so
sehr auf das Zuhören. Schon eher auf das Zugreifen und Habhaftwerden. Und das
Zuhören ist was anderes.

OT 16 CELAN:
Stimmen im Innern der Arche:

Es sind
nur die Münder
geborgen. Ihr
Sinkenden, hört
auch uns.

OT 17 BULUCZ:
Es gibt einen klaren Ursprung meiner Nähe zu Celan, zum ersten Mal von ihm gehört
habe ich in meinem Studium, und mein Lehrer war Werner Hamacher, der wiederum
ein Schüler war von Peter Szondi, eines der ersten Kommentatoren der Gedichte von
Celan. Und seitdem lassen mich diese Gedichte nicht mehr los. Celan ist für mich ein
Lebensautor. Ich werde ihn aus meinem System niemals abstoßen können, auch
wenn diese Versuche ja da sind, ihn abzustoßen, mich zu verselbständigen, im
Versuch, eine eigene Stimme zu entwickeln. Aber diese Auseinandersetzung mit
diesem Lebensautor, dieses permanente Geistergespräch, ergibt am Ende ein
Zwischen der Auseinandersetzung, des Dialogs und eben auch der Lyrik und der
Poesie.

ANSAGERIN:
Alexandru Bulucz, Dichter.

OT 18 BULUCZ:
Jedes Mal, wenn ich mich seinen Gedichten annähere, habe ich das Gefühl, sie
niemals verstehen zu können. Es gibt eine schöne Wendung von Celan in einem
Gespräch mit Hugo Huppert, dort spricht er von einem entfernten Verstehen. Das ist
ein Paradoxon, weil so etwas kann es im Grunde auch gar nicht geben, es gibt
immer ein Verstehen oder ein Nicht-Verstehen. Was bitte ist ein approximatives
Verstehen? Ausnahmsweise glaube ich aber, dass genau diese Wendung auf diese
Dichtung zutrifft.

OT 19 MUELLER [LIEST CELAN], OT 20 CELAN:


Drüben

Erst jenseits der Kastanien ist die Welt.

Von dort kommt nachts ein Wind im Wolkenwagen


und irgendwer steht auf dahier …

Den will er über die Kastanien tragen:


„Bei mir ist Engelsüß und roter Fingerhut bei mir!
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Erst jenseits der Kastanien ist die Welt …“

Dann zirp ich leise, wie es Heimchen tun,


dann halt ich ihn, dann muß er sich verwehren:
ihm legt mein Ruf sich ums Gelenk!
Den Wind hör ich in vielen Nächten wiederkehren:
„Bei mir flammt Ferne, bei dir ist es eng …“
Dann zirp ich leise, wie es Heimchen tun.

Doch wenn die Nacht auch heut sich nicht erhellt


und wiederkommt der Wind im Wolkenwagen:
„Bei mir ist Engelsüß und roter Fingerhut bei mir!“
Und will ihn über die Kastanien tragen –
dann halt, dann halt ich ihn nicht hier …

Erst jenseits der Kastanien ist die Welt.

OT 21 MUELLER:
Für mich, unabhängig von meiner, sagen wir mal, biographischen Verbindung über
die Großmutter zu Czernowitz, ist dieses Gedicht für mich darum wichtig, weil in der
Einkleidung des einen oder anderen Zitats eine stadtgeographische Gegebenheit zur
Sprache kommt, die den jungen Paul Celan betrifft, den Paul Antschel, in seinem
Aufwachsen in Czernowitz, in seinem Verhältnis zur nachmaligen Edith,
verheirateten Silbermann, und im Grunde einen Weg beschreibt, den er oft in der
Woche gegangen ist von seinem Zuhause in das Haus von Edith Silbermanns Vater,
der als Advokat in Czernowitz arbeitete und eines der größten Häuser in einem
Neubauvillengebiet hatte, und über eine unglaubliche Bibliothek verfügte. Und das
war die Welt, die dort begann. Wenn er diese Straße gegangen ist, es stieg leicht an,
gab es auf der linken Seite ein kleineres Haus, ein bisserle verwahrlost, von einem
jüdischen Lehrer, und an der Grundstücksgrenze standen Kastanien. Und was für
mich so auf gute Weise bestürzend war in diesem Gedicht, ist, dass, und das ist sehr
sehr sehr oft bei Celan, Realien, fassbare Realien, in der Genauigkeit ihrer
Beschreibung ins Gedicht so wechseln, dass sie wie ein Rätsel erscheinen, was sie
gar nicht sind. Er geht die Straße hinauf, er sieht die Kastanien, und er weiß, jenseits
dieser Kastanien beginnt, für mich, die Welt. Dies ist nur erschließbar, wenn man
sich wirklich mit einem Gedicht beschäftigt, und dazu gehört meiner Meinung nach
auch, herauszufinden, wenn da eben, wie in dem Gedicht, so ein Angelhaken drin ist,
herauszufinden, Moment, wo ist das geschrieben, von was ist die Rede, nicht nur,
was ist da erzählt, sondern von was ist die Rede, wo kommt das her. Und dann
bekommt ein solches Gedicht, jenseits des Körpers als Text, noch einmal einen
historischen, einen biographischen Körper.

ANSAGERIN:
Rainer René Mueller, Dichter.

OT 22 MUELLER:
Das ist ein ungemein reiches Gebilde, und es ist mir sehr nah. Zumal, es gibt im
Gedicht dieses mehrfache Zitieren des Heimchens, und man sollte, könnte, müsste,
dürfte daran denken, dass wir das Heimchen bereits im platonischen Dialog Phaidros
vorfinden, wo das Heimchen, als solches auch genannt, stellvertretend für den
Dichter fungiert.
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OT 23 HÜNGER:
Ich glaube, man muss, um ein Gedicht zu verstehen, sehr wenig wissen. Man
braucht ein waches Ohr, mal sollte gut zuhören. Das Erste, das ist doch das
Schönste an Gedichten überhaupt, dass sie über den Klang sich vermitteln
tatsächlich, und weniger an den Inhalt gebunden sind. Das halte ich für eine Qualität,
für eine Stärke, und nicht für einen Mangel. Wenn man die Frage an das Gedicht
stellt und einen Wissensbedarf hat, dann kann es nützlich sein, sich zu informieren.
Aber ich glaube tatsächlich, dass das Gedicht auch ohne diesen Hintergrund ganz
wunderbar funktioniert, weil dieses existenzielle Ausgesetztsein zum Tragen kommt.
Und das ist ganz unabhängig von diesen geschichtlichen Vorfällen, und das ist
genauso aktuell heute wie damals.

OT 24 WATERHOUSE:
Irgendetwas vielleicht in den Gedichten wehrt sich gegen Kognition oder wie man
das nennen soll, und wünscht vielleicht Verspieltheit, Inszenierung, Aussprechen,
Dinge aussprechen, und irgendwie nichts mitnehmen, nichts mitnehmen können.
Diese Gedichte zeigen Dir, wie Du verlierst. Das, glaube ich, ist das, was sich gegen
die Interpretation so zur Wehr setzt in den Gedichten. Verlieren und Verlieren, auch
Vergessen. Die Epiphanie des Vergessens oder so. Das Buch heißt ja nicht
„Vergessen und Erinnern“, sondern „Mohn und Gedächtnis“, und in dem Titel, finde
ich, passiert schon etwas Interessantes, weil Gedächtnis wahrscheinlich eher ein
Abstraktum ist oder ein Begriff, und Mohn ist kein Begriff. Also da ist im Mohn ein
bisschen mehr los als im Gedächtnis, glaube ich. Der Mohn lässt sich nicht so gut
benennen. Das Gedächtnis kann man als Gedächtnis bezeichnen, aber Mohn, weiß
man nicht, das ist eine Metpher, aber es ist nicht nur eine Metapher, sondern es ist
auch ein Zögern davor, der Sache einen Begriff zu geben. Also da liegt im Mohn ein
Verlieren.

OT 25 WATERHOUSE:
Das Gedicht eine ineinanderklingelnde Anwesenheit, ein Glück. Oder im großen
Unglück klingelt es ineinander und aneinander und läutet und lautet und läutert und
sofort:

OT 26 MUELLER [LIEST EIGENES GEDICHT]:


… man nennt es Glück

… vielleicht auch Trauer. Man


nennt es Glück : das
Hinhauchen von Dolden,
im Juni : Holunder

… etc. – das Ganze


„es kreucht & fleucht“ :
man nennt es Glück :

den Hagelschlag in die Kirschen;


es ist ein Sirren
in der Luft; wenn du
um die Kirche gehst : hier,

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wenige Schritte, dann fällt
dich alles an : kurz nur, bevor
die Lindenblüten platzen, dann :

„… zirp ich leise, wie es Heimchen tun …“


im Zitat findet‘s dich, immer :
du bist eins;
man nennt es Glück …

man nennt es Glück, das ergriffene, das


Ableben auch, so als wäre
nichts & doch :
ist alles da : beobachtet, gesehn

: liegen ineinander; wie


zwei Muschelschalen : Saint Jacques –
auch das : ein Heranwachsen …

man nennt es : Glück

OT 27 MUELLER:
Ich möchte aber gleich was das dazu sagen, weil ich ja oft, womit ich gar nicht so
froh bin, immer wieder in die Nähe der Celanschen Diktion gerückt werde. Der Punkt
ist für mich, daß in dem Augenblick, da ich es zitiere, für mich auch in der Entfernung
eine methodische Annäherung erfolgt, mit dem doppelten Hinweis auf die
dahinterliegende Grundfigur bei Plato. Es ist ein großer Unterschied, ob ich lese:
Heimchen zirpen, tatata, ich weiß, woher es kommt, oder ob ich wirklich als
Erfahrung, als biographische Erfahrung den Gesang des Heimchens im Ohr habe.
Als dieses Gedicht entstand, in der Behausung, in der ich zu Hause war, ich war sehr
sehr froh über die Situation, dass in diesem Haus, an zwei, drei wärmeren Stellen,
tatsächlich Heimchen lebten, die mit ihrem unbeschreiblichen, für mich
wunderschönen Schrillton einen Gesang erzeugten, der so jenseits von jeder
instrumentalen Musik war. Und mir immer, im Hinblick auf ihren Namen, Heimchen,
in meiner doch sehr zerfransten Biographie etwas wie Zuhause vorgesungen haben.

OT 28 WATERHOUSE:
Ich habe ja immer weiter und weiter Celan studiert und mein Germanistik-Studium
wurde ja dann ein Celan-Studium. Ich hatte aber am Anfang das Gefühl, das, was ich
schreibe, hat mit Paul Celan gar nichts zu tun. Obwohl ich ihn viel gelesen hab und ja
dann auch eine größere Arbeit über ihn geschrieben hab. Aber beim eigenen
Schreiben dacht ich, glaub ich, nicht so sehr an Celan.

OT 29 BULUCZ [LIEST EIGENES GEDICHT]:


Stundenholz

Seid gegrüßt, Rose, erbarmt euch, hab euch verwechselt, gestern für wen denn
gehalten,
einen Stein, einen Stein im Vogelzug. Der war ein Wasservogel, und ich im Kehlsack
eine wurzellose Zwerglinse, um an anderen Orten in anderen Wassern zu blühen.
Habt Gnade

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mit mir Verborgenem. Ich bin der Herr, der bei Euch und bei ihr zugleich gewesen.
Wir flogen

Karpatenhügel entlang. Über den südlichen Bug. Den bukowinischen Fragen, wo


Heimat
beginne, Erinnerung ende, glaube ich die Fragezeichen. Wir flogen über Holzrauch
von Klöstern, über liturgische Rufe aus Stundentrommeln von Mönchen, Toaca-
Klänge
spannten eine Himmelsleiter auf uns zu und über uns hinaus.

OT 30 BULUCZ:
Ein Stundenholz ist ein Glockenersatz, in der orthodoxen Kirche benutzt man eher
das Stundenholz und nicht die Glocke. Es ist ein Brett, auf das der Mönch
draufklöppelt und damit zum Gebet ruft. Es ist ein terminus technicus aus der
Musikgeschichte, und übrigens, auch bei Celan kommt dieses Wort vor, aber nicht in
diesem technischen Sinn. Es ist ein kurzes Gedicht mit dem Titel „Eine Hand“, und
dort heißt es: Der Tisch, aus Stundenholz, mit dem Reisgericht und dem Wein. / Es
wird / geschwiegen, gegessen, getrunken. // Eine Hand, die ich küsste, leuchtet den
Mündern. Es ist ein Zufall, dass diese Vokabel sowohl bei Celan als auch bei mir
vorkommt, aber es freut mich, dass ich das auch bei ihm gefunden habe. Ich habe
vor, dieses Wort „Stundenholz“ zum Titel meines nächsten Gedichtbandes zu
erheben. Nun wurde mir empfohlen, das nicht zu tun, weil dieses Wort ein kitschiges
Wort sei. Oder mir wurde empfohlen, dieses Wort im Titel in Anführungszeichen zu
setzen, damit ich zeige, dass ich ein Bewusstsein dafür habe, dass es kitschig sei.
Und aufgrund dessen, dass Celan gerade auch in der Forschung sich diesen
Vorwürfen ausgesetzt findet, ein Autor des Kitschs zu sein, hört man bei solchen
Wörtern, bei solchen Komposita wie Stundenholz, also Stunden und Holz, immer
auch Kitsch heraus. Aber ich sehe das ganz anders.

OT 31 HUMMELT:
Hört man denn nicht, wenn man diesen Vorwurf an Celan des Kitsches hört, nicht
irgendwie doch die alten Männer der Gruppe 47 aus den Gräbern sich erheben?

OT 32 BULUCZ:
Doch, ganz bestimmt, wobei die Debatte ja bis in die heutigen Tage greift, vielleicht
auch deshalb, weil ihm auch immer vorgeworfen wurde, im Singsang vorzutragen,
und auch das führt für manche dazu, noch einmal diesen Kitsch-Vorwurf zu erhärten.

OT 33 HUMMELT:
Kitschig wie Goebbels, praktisch.

OT 34 BULUCZ:
Das ist eine sehr unfaire Wendung, die aus diesem von dir schon erwähnten Umkreis
der Gruppe 47 kam. Bei Helmut Böttiger gibt es weitere Ausführungen dazu, ich
meine mich zu erinnern, dass er sogar den Nachweis anzuführen versucht, dass das
gar nicht wahr sei, dass ihm das vorgeworfen wurde, wie Goebbels zu lesen,
vorzutragen. Dass seine Litaneien im selben Ton vorgetragen seien, wie Goebbels
seine Reden in der unrühmlichsten Zeit deutscher Geschichte vortrug.

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OT 35 HÜNGER:
Celan und Kitsch in eins zu denken halte ich für sehr unreflektiert und auch in
gewisser Weise, was die historischen Debatten anbelangt, sehr gefährlich. Wir alle
kennen Adornos berühmtes Verdikt, das vor allen Dingen zwischen Celan und
Adorno auch zu großen Konflikten geführt hat und wo es eben auch um die
Ästhetisierung und damit auch die Gefahr des Kitsches geht, was Leid und Schmerz
anbelangt. Ich bin eine dezidierte Freundin des Pathos und würde Celan niemals des
Kitsches verdächtigen, und ganz im Gegenteil, es ist etwas, das mir heutzutage fehlt.
Auch durchaus solche Wörter wie Seele oder Herz würde ich nicht scheuen, egal wie
schwierig sie sind oder wie groß die Fallhöhe ist. Und wenn wir jetzt Pathos
übersetzen und sagen, es ist das große Gefühl, dann ist auch tatsächlich ganz oft
das große Gefühl etwas, das mir in zeitgenössischer Dichtung manchmal fehlt, nicht
immer. Ich liebe an der zeitgenössischen Dichtung ihre Vielsprachigkeit, ihren
Möglichkeitsreichtum vom Spielerischen bis hin zum strengen Vers. Und trotzdem
denke ich ganz oft, dass das Gedicht heutzutage sehr Zynismus, Sarkasmus und
Ironie ausgesetzt ist und ich mir manchmal wirklich so eine Art Gegenbewegung
wieder wünschen würde, wo Paul Celan, glaub ich, auch ein gutes Antidot ist zu
diesen manchmal auch sehr diskursiven, abgeklärten Texten.

OT 36 BULUCZ [LIEST CELAN-GEDICHT]:


Nähe der Gräber

Kennt noch das Wasser des südlichen Bug,


Mutter, die Welle, die Wunden dir schlug?

Weiß noch das Feld mit den Mühlen inmitten,


wie leise dein Herz deine Engel gelitten?

Kann keine der Espen mehr, keine der Weiden,


den Kummer dir nehmen, den Trost dir bereiten?

Und steigt nicht der Gott mit dem knospenden Stab


den Hügel hinan und den Hügel hinab?

Und duldest du, Mutter, wie einst, ach daheim,


den leisen, den deutschen, den schmerzlichen Reim?

OT 37 BULUCZ:
Es ist ein Gedicht über die Region um Michailowka. Im Lager Michailowka kamen die
Eltern von Paul Celan um, sie wurden ermordet, und ich glaube, das ist auch der
Hinweis des Titels. „Nähe der Gräber“ bedeutet gleichzeitig, dass es kein Grab gibt,
aber dass man davon ausgehen muss, dass dort irgendwo diese menschlichen
Überreste der Familie liegen. Man kennt ja die Erzählungen von den Knochenhaufen,
man kennt ja die Bilder, die Dokumentationen, die zeigen, wie Menschen in dieser
furchtbaren Zeit verrichtet wurden, namenlos, anonym, sozusagen geschichtslos der
Erde oder dem Verschwinden anheimgegeben wurden. Michailowka, Bug, das sind
Örtlichkeiten, Orte, die daran erinnern. Es gibt diese schöne Wendung von Celan,
man solle immer eingedenk der Daten schreiben. Auch hier wird eingedenk der
Daten geschrieben, und paradoxerweise rhythmisch und sich reimend, obwohl
gerade das Gedicht sich dafür ausspricht, den Reim mehr oder weniger

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wegzulassen. Celan wird bis zuletzt Reime verwenden, natürlich alle möglichen
Reimarten, unreine Reime, jede mögliche Klangfigur.

OT 38a HUMMELT:
Es gibt ja eine Stelle in der Rede zum Bremer Literaturpreis, da sagt Celan über
seinen Lebensweg, der ihn eben nach der Ermordung seiner Eltern aus Czernowitz
über Wien nach Paris geführt hat: „Erreichbar, nah und unverloren blieb inmitten der
Verluste dies Eine, die Sprache.“ Wie liest du denn diese Stelle, meint er allgemein
Sprache als Fähigkeit zur Artikulation, Sprache als Dichtung oder doch die deutsche
Sprache, von der es ja hier auch heißt: „den leisen, den deutschen, den
schmerzlichen Reim“.

ANSAGERIN:
Norbert Hummelt, Dichter, Fragensteller.

OT 38b HUMMELT:
Er hat ja an dieser Sprache festgehalten, die eben seine Muttersprache war.

OT 39 BULUCZ:
Er hat sich auch dem Horror dieser Sprache ausgesetzt. Ich glaube, es ist alles, alles
zugleich. Es ist die Sprache im Allgemeinen, es ist die deutsche Sprache, es ist die
Sprache als Reim. Es ist die Sprache als symbolische Ordnung, indem
Einzigartigkeiten unterdrückt werden. Und auch Reime unterdrücken
Einzigartigkeiten. Wenn man sagt, man muss an diesem Datum einer Sache
gedenken, dann wiederholt sich dieses Datum ja, genauso wie ein Reim etwas
wiederholt. In diesem Gedicht „Nähe der Gräber“ trifft sich für meine Begriffe Form
und Inhalt. Wenn man wie Celan so früh mit dem Tod konfrontiert ist, wenn man wie
Celan im Arbeitslager malochen musste, dann wird man ein Leben lang vom Tod her
schreiben. Auch wenn Celan, es ist dokumentiert, dass er gerade nach dem Krieg ein
sehr lustiger Geselle war. Dass er sozusagen versucht hat, diesen Schmerz, diese
katastrophale Familiengeschichte zu verdrängen. Erst allmählich entwickelt er sich zu
diesem, was von außen als ein absoluter Ernst wahrgenommen werden kann.

OT 40 CELAN:
SCHWARZE Milch der Frühe wir trinken sie abends
wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts
wir trinken und trinken

OT 41 HÜNGER:
In der Schule, mit der „Todesfuge“ tatsächlich, ist mir Celan zum ersten Mal
begegnet. Es ging hauptsächlich darum, das Gedicht auseinanderzunehmen und zu
zerstückeln und zu verstehen, welche Allegorien, Chiffren oder Anspielungen auf die
Shoah hinweisen. Und das Problem ist, dass die „Todesfuge“ als Matrize genutzt
wird, also weniger als Gedicht noch wahrgenommen wird, sondern eher wie eine
Folie, die sich halt wunderbar, wunderbar, Gott, so mein ich das gar nicht, welch ein
Euphemismus, aber halt auf den Holocaust legen lässt und vermeintlich dechiffrieren
lässt.

OT 42 BULUCZ:
Bei der „Todesfuge“ habe ich immer auch den Vortrag von Celan im Ohr, und ich
höre auch die Assonanzen dieses Gedichts, auch die Reime dieses Gedichts, die
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eingestreut werden. Einsatz in diesem Gedicht findet zum Beispiel der wirkmächtige
Daktylus. Von diesem Daktylus wird Celan bis ganz zuletzt nicht ablassen, obwohl er
immer kontrapunktischer schreibt. Von diesem Gedicht wird er sich in späteren
Phasen distanzieren. Er wird es nicht ganz unterschlagen, er wird sich aber davon
distanzieren, weil im Vortrag eben dieser Rhythmus, diese Litanei wieder an die
Oberfläche tauchen würde.

OT 43 CELAN:
wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng
Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt
der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete

OT 44 WATERHOUSE:
Vielleicht hat er sich gefürchtet vor dem Gedicht, weil es so oft verstanden wurde.
Also es war ein Gedicht, das stand als Zeichen für etwas. Was mich verlockt, immer
weiterzuarbeiten und weiterzulesen, zu denken, ist, dass die Gedichte nicht so
rückführbar sind auf ein historisches Ereignis. Oder historische Untaten, oder auf das
Vergangene. Das Gedicht „Todesfuge“ hat vielleicht mit der Schwierigkeit zu tun,
dass es auf etwas bezogen wird. Auf ein vielfaches Töten, das in der Geschichte
geschehen ist.

OT 45 CELAN:
er schreibt es und tritt vor das Haus und es blitzen die Sterne er pfeift seine Rüden
herbei
er pfeift seine Juden hervor lässt schaufeln ein Grab in der Erde
er befiehlt uns spielt auf nun zum Tanz

OT 46 MUELLER:
Im Jahr 1967 kam vom Fischer-Verlag ein kleines blaues Heft, so im Format etwa
wie ein Vokabelheft, in den Handel, es hatte einen blauen Umschlag, leicht
marmoriert, und da war eine Auswahl von Celan-Gedichten, auch die „Todesfuge“.
Und wir hatten hier in Heidelberg auf dem Gymnasium eine extrem gute
Deutschlehrerin, die hat uns jungen Leuten dieses Büchel gegeben und wir haben
das im Unterricht besprochen. Und das war 67 zum ersten Mal, dass ich dieses
Gedicht „Todesfuge“ lesen konnte.

OT 47 CELAN:
Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich morgens und mittags wir trinken dich abends
wir trinken und trinken

OT 48 MUELLER:
Da ich, und das lässt sich jetzt, wenn wir darüber sprechen, nicht vermeiden, da ich
innerhalb der Familie einen Täter habe, der möglicherweise das Gleiche getan hat,
wovon in der „Todesfuge“ die Rede ist, die Rüden herbeipfeifen, grabt tiefer, stecht
tiefer, diese Geschichten, habe ich dieses Gedicht sofort als, in der Kleinheit meiner
Person damals, sofort auf mich bezogen, und mir war klar, es gibt in deiner Familie
jemanden, der genau das getan hat, wovon hier die Rede ist. So dass ich niemals, in
den ganzen Jahren danach, eine positive Unbefangenheit hätte entwickeln können in
der Rezeption dieses Gedichtes. Ich halte es für einen Skandal, dass man dieses
Gedicht im Bundestag deklamiert. Weil ich der festen Überzeugung bin, dass kein
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Mensch, man kann so etwas nicht machen. Es geht nicht mehr. Ich weiß, welche
Rolle es spielt, ich weiß, was darübergeschrieben worden ist, ganze Bibliotheken, ich
will nicht mehr. Ich kenne ein bisschen die Entstehungsgeschichte dieses Gedichtes,
ich weiß, dass es Veränderungen gegeben hat, ich weiß, es gibt einen im
Hintergrund liegenden Streit bezüglich der Autorenschaften, ich weiß, ich weiß, ich
weiß.

OT 49 CELAN:
Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt
der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete
Dein aschenes Haar Sulamith wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht
eng

OT 50 WATERHOUSE:
Es funktioniert vielleicht in der „Todesfuge“ nicht. Vielleicht ist auch das, was Celan
dann vorsichtig gemacht hat, dass gerade dieses Gedicht so einen Ruhm bekommen
hat, und es ist vielleicht das Gedicht, das die Engführung nicht zustande bringt, und
das nicht potentiell werden kann, was ja in diesen anderen Gedichten überall spürbar
ist. Auch diese zwei Schlussverse, „Dein goldenes Haar, Margarete, dein aschenes
Haar, Sulamith“, die zwei Zeilen am Ende rücken ja diese beiden sehr
Unterschiedenen in eine Parallele. Nach dem gefügten und gefugten Wechsel des
Gedichtes gibt es auf einmal diese Parallelführung am Ende, und Engführung könnte
man fast sagen, mit dem anderen Gedicht, aber ist dieser Moment des
Überspringens von Vergessen und Vergangenheit in Gegenwärtigkeit und in
Potentialität, ist das in diesem Gedicht geschehen oder nicht. Und vielleicht hat
Celan das Gedicht zurückgestellt immer wieder, wollte es auch nicht in Schulbüchern
abgedruckt sehen, weil dieser Ruhm des Gedichts vielleicht ganz missverständlich
war.

OT 51 MUELLER:
Für mich war ausschlaggebend immer, hier wie bei anderen Gedichten auch, aber
hier besonders, ausschlaggebend war bereits sehr früh, dass es in diesem Gedicht
möglich war, jetzt unabhängig seiner historischen Begründung, also seines Stoffes,
wovon die Rede ist, vom Material her, vergleichbar den Gemälden von Bacon, die
äußerste Brutalität in die pervertierte Sangbarkeit zu bringen, und das Ganze noch
als Zitat zu gestalten. Man könnte denken, durch diese Vermischung oder
Vermengung würde etwas geschwächt, aber man erreicht im Grunde eine
Verstärkung dessen jeweils, was im Gedicht geredet wird, gesprochen wird,
geschrieben wird. Und von daher habe ich einen, sagen wir mal vielleicht,
unorthodoxen Zugang zu diesem Gedicht, das ich eigentlich gar nicht in der
Öffentlichkeit mehr hören will, und eben, das ist etwas, was mich, seit mir so mit
zwölf, dreizehn Jahren völlig klar war, was da in der Familie passiert (NH: Das war
der Stiefvater, ja?), lassen wir, es ist grauenvoll.

MUSIK-AKZENT.

OT 52 HÜNGER [LIEST CELAN], OT 53 CELAN:


Corona

Aus der Hand frisst der Herbst mir sein Blatt: wir sind Freunde.
Wir schälen die Zeit aus den Nüssen und lehren sie gehn:
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die Zeit kehrt zurück in die Schale.

Im Spiegel ist Sonntag,


im Traum wird geschlafen,
der Mund redet wahr.

Mein Aug steigt hinab zum Geschlecht der Geliebten:


wir sehen uns an,
wir sagen uns Dunkles,
wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis,
wir schlafen wie Wein in den Muscheln,
wie das Meer im Blutstrahl des Mondes.

Wir stehen umschlungen im Fenster, sie sehen uns zu von der Straße:
es ist Zeit, dass man weiß!
Es ist Zeit, dass der Stein sich zu blühen bequemt,
dass der Unrast ein Herz schlägt.
Es ist Zeit, dass es Zeit wird.

Es ist Zeit.

OT 54 HÜNGER:
Paul Celan spricht ja in seiner absolut großartigen Rede zum Büchner-Preis darüber,
dass das Gedicht immer ein Gegenüber sucht, einen anderen, ein Du. Und er ist ja
auch einer, der radikal immer auf dieses Du im Gedicht gezielt hat. Und ja, in
gewisser Weise fühle ich mich angesprochen oder fühle mich in dieses Gespräch
eingebunden. Es gibt kaum ein dichterisches Werk, in dem ich mich so zu Hause
fühle, ohne es letztgründig zu verstehen, ich will das eigentlich auch gar nicht. Ja, ich
fühle mich angesprochen und ich fühle mich wie gesagt in dieses Gespräch
involviert, das viele Fragen umkreist, die mich eben auch beschäftigen, oder in seiner
radikalen Existenzialität mich bewegt. Das liegt hauptsächlich natürlich an den
Gedichten, das liegt natürlich auch, ob ichs will oder nicht – also ich scheue mich
immer vor Biographismus oder intentionalen Fehlschlüssen, aber natürlich liegt es
auch an dieser bewegten, tragischen Liebesgeschichte von Ingeborg Bachmann und
Paul Celan. Also „Herzzeit“, wer das gelesen hat, weiß, wie radikal Lieben und auch
Fehllieben geht.

OT 55 WATERHOUSE:
Wenn ich an dem Haus in der Beatrixgasse vorbeigehe, das geschieht täglich, denk
ich nicht dran. Also diese ganze biographische Lesart, der misstraue ich. Ich kann
nicht an diese Begegnung wirklich denken, weil ich nicht dabei war, ich sie nicht
kenne, sie mit Gewissheit hier eingelagert ist, das will ich überhaupt nicht in Zweifel
ziehen. Aber über Celan und Bachmann und ihre Liebe und Beziehung zu sprechen,
das wäre für mich irgendwie eine Schamlosigkeit. Das Gedicht spricht gerade so
nicht, dass man sagen kann: Ach ja, das ist Ingeborg hier. Die Beziehung der beiden
war ja nicht das, was wir hier im Buch sehen. Das ist hier ja ein Werden. Ich glaube,
das Gedicht beschreibt nicht Phänomene von Vergangenheit, sondern zündet
Gedächtnis an mit Vergessen, um über etwas zu sprechen, das wir nicht
Vergangenheit nennen können.

13
OT 56 HÜNGER:
Aber Liebe ist auch ein wichtiger Begriff, der mit Paul Celan zu tun hat. Also Liebe
kommt in seinen Gedichten auch immer als schonungslose existenzielle Erfahrung
vor. Das ist natürlich auch etwas, das mich beeindruckt, und überhaupt die großen,
die großen existenziellen Erfahrungen wie Tod, Liebe, all das steht ja quasi im
Zentrum seiner Poesie. „Corona“, find ich, steht solitär als Liebesgedicht per se und
als eines der schönsten, das ich kenne, aber natürlich, wie gesagt, bin ich davon
nicht befreit. Ich versuche es natürlich, davon befreit zu lesen. Aber mein Geist wird
ganz oft von der Lektüre unterwandert, also wie zum Beispiel des Briefwechsels.

OT 57 HÜNGER [LIEST EIGENES GEDICHT]:


Ruf mich Liebste Wunde, für D.

Ich klinge dir meine blauen Glocken


und lege 503 Blätter in unsere Fremde
ich sage dieser Baum ist Dein für so lange
denn unser beider Tod ist wahrscheinlich

Ich schreib bitte bleib und sitz und lies mich


ich habe noch Buchstaben unter der Beuge
Du hast Augen genug für meine Hingabe
und ich tu eines auf unsere Bangigkeit

Bist Du einmal nicht bei mir fließt aus mir


das schwarze Meer und ich verschwimme
davon bist Du nicht dann ist das Wasser
ein Abgrund über den kein Holzschiff trägt

Du musst die rufen die du im Wasser weißt


und heimholen aus der Finsternis die Fische
haben Glück gehabt und schwimmen einfach
über die Steine auf meiner Brust wachsen zu

Ruf mich Wunde damit ich Dir gestehen kann


dass es die schönste ist mir genügt ein Wort
aus Deinen Augen und ich finde den Weg
und schmiege mich blau in deine Hände

zurück

OT 58 HÜNGER:
Es verarbeitet wie gesagt ganz viel aus „Herzzeit“, Celan hat die Gedichte ja immer
„für D.“, „für Dich“, gewidmet, damit beginnt das schon. Es gibt ja diese schöne Stelle
im Briefwechsel, wo Ingeborg Bachmann auch sagt, also sie traut sich einfach nicht
zu sagen, dass es die schönste Liebe ist, weil dann wäre die Liebe quasi gleich in
Gefahr und wieder dahin. Und ansonsten sind da einige Anspielungen drin, also der
Baum, und auch mein Baum ist das, ist die Paulowina, der Blauglockenbaum, der
einmal in Weimar steht, und natürlich auch in Paris, wo die beiden sich trafen, und in
Edenkoben (lacht). Es gibt viele Koinzidenzen zwischen meinem kleinen
bescheidenen Leben und diesem Briefwechsel, die einfach mehr oder minder
eingeflossen sind.
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OT 59 CELAN:
wir sehen uns an,
wir sagen uns Dunkles,
wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis,

OT 60 BULUCZ:
Vielleicht kann ich nur hinzufügen und ergänzen, dass natürlich auch Celan eine
spätromantische Dimension hat. Und in dieser spätromantischen Dimension passen
auch sehr gut solche Wörter. Herz. Das ist aber gleichzeitig der Grund dafür, dass
Kommentatoren einen Verschleiß bei ihm sehen. Natürlich könnte man dieses
Gedicht, und ich tendiere eben auch dazu, es naiver zu lesen, als ein Liebesgedicht.
Ein Herz ist ein Herz, ganz tautologisch. Was soll es sonst sein? Es tickt.

OT 61 CELAN:
Es ist Zeit, dass der Stein sich zu blühen bequemt,
dass der Unrast ein Herz schlägt.

OT 62 HÜNGER:
Das ist ja auch etwas, das an Celan so beeindruckt und dass wir ja schon fast
verlernt haben. Viel von dem Vokabular, das er benutzt, steht ja heute schon unter
Generalverdacht. Es ist kaum noch zu gebrauchen, man will es auch nicht mehr
gebrauchen. Herz gehört definitiv dazu, auch das Wort Liebe, auch das Wort „wahr“
kommt ganz oft in Celans Dichtung vor, und das ist auch etwas, das mich ergreift.
Also es gibt so eine Tendenz zur schonungslosen Wahrhaftigkeit in diesen Texten,
und dazu würd ich auch das Herz eben zählen. Also keine Koketterie, und das ist ja
auch interessant, dass man Celan der Hermetik zugeschlagen hat, ihm selbst,
glaube ich, wäre das ganz artfremd gewesen, und es gibt ja auch Textbeispiele,
Belege, Briefstellen, wo er das Ganze der Pose bezichtigt, und ich glaube, da
herrscht eben auch ein großes Missverständnis. Vielleicht sind diese Gedichte
erratisch oder dem Dunklen zuzuschlagen, und gute Gedichte sind das sehr oft, das
trifft nicht nur auf Celan zu. Aber hermetisch halte ich doch immer noch für den
falschen Begriff.

OT 63 MUELLER:
Diese letzten Zeilen, die dann kommen, „Es ist Zeit, dass der Stein sich zu blühen
bequemt“, die haben mich viele viele Jahre begleitet. Ich habe eine Zeitlang einen
Einkaufsweg gehabt, da musste ich an einer Industriemauer vorbei, hier im
Heidelberger Industriegebiet, und da hatte jemand, es ist mir bis heute einfach sehr
rätselhaft, hatte jemand, sehr gut schabloniert, genau diesen Satz auf eine Mauer
gesprüht, „Es wird Zeit, dass der Stein sich zu blühen bequemt“, ist für mich, wenn
man mich fragte, Poesie zu definieren, würd ich diesen Satz nehmen. Fertig.

OT 64 WATERHOUSE:
Ja, aber ich glaube, das Satzmuster „zu blühen bequemt“, das kannst du überall
hinsetzen. „Es ist Zeit, dass der Spiegel sich bequemt, ein Sonntag zu werden“, das
steckt da drin. Also als Parole auf einer Mauer, glaube ich, bekommt dieses
„bequemt“ einen bisschen einen polemischen Gehalt: Jetzt wird’s aber Zeit, dass
das, was verhärtet ist, mal in Bewegung kommt. Hier geht’s ja gerade nicht um die
Bequemheit, also danach heißt’s ja, dass der Unrast ein Herz schlägt, und der Stein
ist ja wohl vielleicht der Gemütliche, zumindest der Unbewegliche, dass der blühen
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soll, ist ja eine Aufforderung, dass er gerade sich unbequem macht. Also ich glaube,
in diesem „bequemt“ steckt drin: Es ist Zeit, dass der Stein seine Bequemheit
verlässt.

OT 65 WATERHOUSE:
Aber wenn ich sagen soll, was macht ein Gedicht von Celan aus? Jede Zeile. Was
mich jedenfalls beschäftigt, das ist die Ekstase von Vergessen. Oder Mohn. Wenn
Mohn ekstatisch wird, wird er zu Erinnerung. Und wenn Erinnerung ekstatisch wird,
wird sie zu Mohn oder Vergessen. Also dieses Überfließenkönnen in das Andere,
des Einen in das Andere, das Gleichsein des Verschiedenen. Wenn ich das als eine
besondere Leseerfahrung beschreibe, dann sehe ich das in jeder Zeile. „Im Spiegel
ist Sonntag“, ich weiß nicht, was das bedeutet, „Im Spiegel ist Sonntag“, aber ich
weiß oder höre oder sehe, dass Spiegel und Sonntag, zwei Worte, deren
Bedeutungen vielleicht wenig miteinander zu tun haben, ein spiegelndes Ding und
eine zeitliche Erscheinung, die werden hier gleich, und zwar grad deswegen, weil sie
verschieden sind. Der Spiegel ist Sonntag. Der Spiegel ist ein Sonntag, das ist fast
wie eine Gleichung. „Im Spiegel ist Sonntag“, das sind Entstehungsprozesse, die
ganze Zeit. Ich glaube, die Poesie von Celan ist ein durchgehender
Entstehungsvorgang. Vielleicht ist das die Poesie allgemein. Bei Celan ist nicht der
Untergang für mich das Berührende, sondern das Entstehen.

OT 66 BULUCZ:
Natürlich wird alles, was man sagt, inzwischen auch als eine Inszenierung
dargestellt. Immer ist das Gesagte auch etwas, was inszeniert ist. Aber nehmen wir
doch mal an, dass hier jemand spricht, der absolut ernst bei der Sache ist. Und ich
glaube, das ist Celan. „Im Spiegel“, was bedeutet Spiegel? Man kennt das
Spiegelmotiv, man kennt vielleicht das Wort Selbstbespiegelung, eine
Selbsthinterfragung, das ist Poesie. Immer nicht ignorieren zu können, zum Beispiel
den Tod nicht ignorieren zu können. „Im Traum wird geschlafen“, Dichtung wird
manchmal als Traum dargestellt, als ein Halbschlaf, vielleicht sogar als etwas, in dem
man bewusster ist als am Tage. Und dann, „Der Mund redet wahr“. Die
Wahrhaftigkeit der Dichtung, die Wahrhaftigkeit des absoluten Ernstes von Celan,
also die ihm eigene Wahrheit, die er ausspricht. Er sagte später im Leben, er hätte
anfangs in seinen Gedichten, vielleicht sogar auch in der „Todesfuge“, manches
verklärt. Ich glaube, diese Strophe, „Im Spiegel ist Sonntag. Im Traum wird
geschlafen. Der Mund redet wahr“ ist noch einmal eine Strophe, die sagt: Ich möchte
nicht mehr verklären.

OT 67 CELAN:
Im Spiegel ist Sonntag,
im Traum wird geschlafen,
der Mund redet wahr.

OT 68 WATERHOUSE:
Aus gutem Grund hat das Buch diesen Titel, in dem das Wort „und“ steht, also Mohn
und Gedächtnis stehen in diesem Titel nicht gegenüber, sondern in einer Corona
vielleicht oder in einem liebenden Verhältnis oder in einer Zusammengehörigkeit.
Also Mohn ist nicht das Gegenteil von Gedächtnis, sondern die verstärken sich
beide. Vielleicht ist da etwas Paradoxes im Spiel, dass nämlich Mohn um Gedächtnis
ergänzt wird und Gedächtnis um Mohn ergänzt wird. Also „Mohn und Gedächtnis“
höre ich nicht grundsätzlich anders als einen Vers wie „Es ist Zeit, dass es Zeit wird“.
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Also „Mohn und Gedächtnis“ ist für mich im Titel eine Wiederholung, ausgedrückt in
zwei Worten, die sich nicht wiederholen. Und das ist eine der großen
Leseerfahrungen, glaube ich, dass das Verlieren ein Finden ist. Und um zum Finden
zu kommen ein Verlieren notwendig ist. Also dieses Gedicht „Corona“ sagt für mich
eigentlich auf andere Weise das Gleiche wie „Marianne“.

OT 69 WATERHOUSE [LIEST CELAN]:


Marianne

Fliederlos ist dein Haar, dein Antlitz aus Spiegelglas.


Von Auge zu Aug zieht die Wolke, wie Sodom nach Babel:
wie Blattwerk zerpflückt sie den Turm und tobt um das Schwefelgesträuch.

Dann zuckt dir ein Blitz um den Mund – jene Schlucht mit den Resten der Geige.
Mit schneeigen Zähnen führt einer den Bogen: O schöner tönte das Schilf!

Geliebte, auch du bist das Schilf und wir alle der Regen;
ein Wein ohnegleichen dein Leib, und wir bechern zu zehnt;
ein Kahn im Getreide dein Herz, wir rudern ihn nachtwärts;
ein Krüglein Bläue, so hüpfest du leicht über uns, und wir schlafen …

Vorm Zelt zieht die Hundertschaft auf, und wir tragen dich zechend zu Grabe.
Nun klingt auf den Fliesen der Welt der harte Taler der Träume.

OT 70 HUMMELT:
Schon mit dem ersten Wort, „Fliederlos“, oder mit dem ersten kurzen Satz,
„Fliederlos ist dein Haar“, komm ich gar nicht umhin, als das anders zu verstehen, als
es da steht, weil ich eigentlich gerade den Flieder, dessen Losigkeit oder dessen
Fehlen vermerkt wird, ja gerade hinzunehme, und dann das „fliederlos“ vielleicht so
wie „eher makellos, aber mit Flieder“ verstehe.

OT 71 WATERHOUSE:
Ja, das glaub ich auch. Flieder ist das erste Wort, und eigentlich unlöschbar, oder?
Das kleine „los“, das da drin hinten dranhängt, wird den Flieder nicht los, im
Gegenteil. Das „los“ ist so klein und der Flieder ist so groß. Ich glaube, in so einem
Wort wie „fliederlos“ ist tatsächlich genau diese Aktivität von Mohn oder Traum oder
Bewusstlosigkeit oder auch Verlieren, diese Aktivität zu sehen, wie auch genau die
gegenteilige, nämlich, dass der Flieder ja da ist. Er ist da und er ist nicht da.
„Fliederlos ist dein Haar“, in dem Moment wird es fliederhaft.

OT 72 WATERHOUSE:
Zum Beispiel das Wort Getreide mittendrin im Gedicht, „ein Kahn im Getreide dein
Herz, wir rudern ihn nachtwärts“, ich glaube, dass Celan beim Schreiben sich immer
wieder mit Wörterbüchern beschäftigt hat, vielleicht hat er auch damals schon
gelesen in dem Grimm-Wörterbuch, oder er hatte andere Quellen. Oder er wusste es
nicht, was Getreide ist. Aber dass dieses Getreide hier nur das ist, was in der
Landwirtschaft auf den Feldern wächst, wenn er es nicht gewusst hat, dann hat er es
eben vergessen. Dann ist es eine Mohn-Erscheinung. Aber tatsächlich ist dieses
„treiden“, wenn man mal die Vorsilbe ein bisschen beiseitelässt, dann ist dieses
„treiden“ eine Form von „tragen“ und kann heißen zum Beispiel: Gepäck,
bewegliches Gut, Besitz. Bei so einem Wort wie Getreide, da steckt auch etwas von
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Vergessen und Wieder-Aufwecken von Vergessenem. Zum Beispiel dieses Wort
Schilf, finde ich vollkommen überraschend, wie er das findet überhaupt. Woraus ist
das erweckt worden, frag ich mich. Wenn man zulässt, dass das Verschiedene das
Gleiche ist, dann ist das Schilf eine Art von Geige, über das der Bogen geführt
werden kann. Also das Schilfrohr als Saiteninstrument. Die Geige kommt von einem
alten, versteckten, sagen wir vergessenen Wort, „geigen“, das hieß schwanken und
gaukeln, auch zittern. Und erklärt sich daher, dass die Saiten, wenn sie gestrichen
werden mit dem Bogen, vibrieren. Also dieses Schilf hier ist nicht das ganz Andere,
sondern es reimt sich tatsächlich, Geige und Schilf.

OT 73 WATERHOUSE:
Also ich glaube, diese Marianne wird geweckt in dem Gedicht. Und das tut das
Gedicht an jeder Stelle, es weckt ständig. Diese Art zu sprechen ist ein ständiges
Erwecken. Und sogar am Ende des Gedichts, „Nun klingt auf den Fliesen der Welt
der harte Taler der Träume“, ich glaube, da sind auch Erweckungsvorgänge drin.
Denn dieses Wort „Fliesen“ zum Beispiel, das sind nicht nur Steinplatten auf dem
Boden, sondern es gibt ein eigenes Verb „fliesen“, das auch in den Hintergrund
getreten ist und eigentlich nicht mehr spricht und außerhalb des Gedächtnisses liegt,
„fliesen“ heißt fahren lassen, verlieren, etwas verlieren. Also die Fliesen der Welt, da
ist auch das Verlorene der Welt. Und zugleich weckt das Gedicht etwas auf. „Dich
zechend zu Grabe tragen“, zum Beispiel, ja, „vorm Zelt zieht die Hundertschaft auf
und wir tragen dich zechend zu Grabe“, das ist nicht die Beschreibung eines
Begräbnisses, sondern das Wort Getreide in einer frühen Schicht heißt Tragbahre.
Also wenn man jemanden auf einer Bahre getragen hat, dann nannte man diese
Bahre eine Getreide. Zugrabetragen ist eine Form von Lebendigmachen.

OT 74 HUMMELT:
Ich hab jetzt nur noch andere Gedanken dazu. Wenn ich einfach diese Zeilen
zusammennehme, „Ein Wein ohnegleichen dein Leib, und wir bechern zu zehnt“,
„Vorm Zelt zieht die Hundertschaft auf und wir tragen dich zechend zu Grabe“, das ist
ja fast wie Gewalt, die da mitschwingt.

OT 75 WATERHOUSE:
Aber ich glaube, dass das Gedicht auch in der Lage ist, sich zur Wehr zu setzen, ja,
also es bleibt nicht in der Beschreibung von Gewalt. Sondern es verlässt sich darauf,
dass die Poesie eben machen kann und entstehen lassen kann und damit der
Gewalt, glaube ich, antwortet. „Vorm Zelt zieht die Hundertschaft auf“, da komm ich
auch nicht ganz weg von einem gewaltsamen Aufzug, aber im Gedicht sind noch
andere Kräfte als die Realität beschreibende. Und das Gedicht, glaub ich, beschreibt
nicht, sondern tut.

OT 76 CELAN:
Nirgends fragt es nach Dir –
Der Ort, wo sie lagen, er hat
einen Namen – er hat
keinen. Sie lagen nicht dort. Etwas
lag zwischen ihnen. Sie
sahn nicht hindurch.

Sahn nicht, nein,


redeten von
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Worten. Keines
erwachte, der
Schlaf kam über sie.

OT 77 MUELLER:
Es ist möglicherweise, wie soll ich sagen, ungut, aber ich habe die „Engführung“, vor
dem Hintergrund, dass für mich von früh an, so ab dem siebten, achten Lebensjahr,
Sprachliches eine enorme Rolle gespielt hat, oft in Teilen gelesen als die für mich
traurige Rekapitulation von etwas, worin ich im familiären Unausgesprochenen groß
geworden bin, dass vor meiner Haut sofort die früh erfahrene, radikale, bis an die
mörderische Absicht gehende Bedrohung innerhalb der familiären Situation, spürbar
war. Meine ganze Befangenheit diesem Text gegenüber wäre die Unbefangenheit in
der Verletzung, die sich für mich hier ausdrückt. Ich weiß keinen vergleichbaren …
Text ist ja wirklich jetzt ein sehr dünnes Wort dafür, aber ich weiß kein anderes
poetisches Stück im Sinne Musikalität, thematischer Verarbeitung, das mich derartig
affizieren würde, wie dieses, es ist ein Gesang, ja, ein Gesang von einer
unglaublichen, … die Vergleiche sind nicht gut, das „Trinklied vom Jammer der Erde“
oder die „Kindertotenlieder“ von Mahler, das geht so in diese Richtung.

OT 78 CELAN:
Kam, kam. Nirgends
fragt es –
Ich bins, ich,
ich lag zwischen euch, ich war
offen, war
hörbar, ich tickte euch zu, euer Atem
gehorchte, ich
bin es noch immer, ihr
schlaft ja.

OT 79 MUELLER:
Schauen Sie, ich schau da jetzt drauf, ja, Ich bins, ich, / ich lag zwischen euch, ich
war / offen, war / hörbar, ich tickte euch zu, euer Atem / gehorchte, ich / bin es noch
immer, ihr / schlaft ja. Also das ist, Atem haben wir ja, der Versuch meines
Stiefvaters, mich zu ersticken, ist hier im Moment für mich jetzt, jetzt wieder für mich
beim Lesen, völlig da. Das zeigt einem Zuhörer, wenn ich jetzt darüber spreche, was
mit Gedichten geschehen kann, die unter bestimmten Umständen auf einen
bestimmten Leser treffen. Und diese recht trockene Beschreibung Sender-
Empfänger sich plötzlich völlig anders schließt. Und ich weiß, dass es das gibt, ich
weiß das, ich kenne es, ich hab es gelesen, es ist aber, in dieser Affizierung ist es für
mich so ein Grund, das zu überwinden. Damit ich nicht in diesem Hof der Bedrohung
bleibe. Und von diesem Jenseits der Kastanien, davon muss ich weitergehen. Ich
kann aber nicht so tun, in meiner Situation, als wüsste ich nicht, dass es das gibt.
Von daher kommt immer mal wieder eine Annäherung an dieses poetische Werk, um
nach meiner Empfindung deutlich zu machen, dass jenseits dessen geschrieben
werden kann. Dass es Gedichte jenseits dessen gibt. Und ich will wirklich nicht nach
einem berühmten Frankfurter Philosophen jetzt in diesem Zusammenhang, unter
Nennung eines bestimmten Ortes in Polen, gefragt werden (lacht).

OT 80 HÜNGER [LIEST CELAN]:


Schibboleth
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Mitsamt meinen Steinen,
den großgeweinten
hinter den Gittern,

schleiften sie mich


in die Mitte des Marktes,
dorthin,
wo die Fahne sich aufrollt, der ich
keinerlei Eid schwor.

Flöte,
Doppelflöte der Nacht:
denke der dunklen
Zwillingsröte
in Wien und Madrid.

Setz deine Fahne auf Halbmast,


Erinnrung.
Auf Halbmast
für heute und immer.

Herz:
gib dich auch hier zu erkennen,
hier, in der Mitte des Marktes.
Ruf’s, das Schibboleth, hinaus
in die Fremde der Heimat:
Februar. No pasaran.

Einhorn:
du weißt um die Steine,
du weißt um die Wasser,
komm,
ich führ dich hinweg
zu den Stimmen
von Estremadura.

OT 81 HÜNGER:
Erstmal finde ich das ein unglaublich starkes politisches Gedicht, und gute politische
Gedichte sind selten. Und für Celan in gewisser Weise auch ne sehr starke politische
Geste, die mir so häufig in seinen Gedichten nicht unterkommt, also mit dem klaren
Verweis auf den spanischen Bürgerkrieg und die Aufstände in Wien. An sich finde ich
das Wort Schibboleth faszinierend und halte es eigentlich sogar für eine Art
Schlüsselwort, für Celan und irgendwie auch für Gedichte allgemein. Also Gedichte,
finde ich, sind selbst ein Schibboleth, eine Art Lösungswort, eine Art
Erkennungszeichen, das unterscheidet, wer wen versteht. Also ja, deswegen allein
schon lieb ich dieses Gedicht. Und das Schibboleth war ja auch eine Frage auf
Leben und Tod in der Bibel, also hat ja auch darüber entschieden, ob man überleben
darf oder eben nicht.

20
OT 82 HUMMELT:
Gleichzeitig wäre das ja unbefriedigend, wenn es tatsächlich nur ein Mensch richtig
erkennen könnte. Das hat ja eigentlich dann immer so beides vielleicht, dass man
einerseits diese besondere Bedeutung, eben wirklich wie die berühmte
Flaschenpost, an jemanden verschickt, und andererseits es aber so ein bisschen
glänzt und schimmert, dass man spürt, Achtung, Flaschenpost!, auch wenn man
nicht hineinschauen kann. Ist das was, womit Du auch in Deinem eigenen Schreiben
bewusst arbeitest?

OT 83 HÜNGER:
Bei mir entstehen Gedichte auch sehr oft aus ganz privatimen Zusammenhängen,
aber es ist ja sozusagen auch die Aufgabe des Lyrikers, das Ganze auf eine Art
Meta-Ebene zu bringen, dass es sozusagen nicht in diesem privatimen Raum bleibt,
auch wenn zum Beispiel ein Du ganz konkret angesprochen wird.

OT 84 HUMMELT:
Es gibt ja so Worte, die so häufig vorkommen, dass man sie kaum noch als Chiffren
wahrnimmt. Zum einen die Steine. Natürlich, wenn man an das Jüdische denkt, die
kleinen Steinchen, die man auf den Grabstein legt als Zeichen des Gedenkens, die
sind vielleicht manchmal gemeint, „mitsamt meinen Steinen“, oder: „du weißt um die
Steine“. Das könnte man schon denken, dass das gemeint ist, aber ganz oft doch
auch nicht, oder?

OT 85 HÜNGER:
Der Stein ist ja an sich, ja, eine ganz wichtige Chiffre für Not, durchaus, oder dass
der Stein sich zu blühen bequemt, eben auch für diese Diskrepanz zwischen Utopie
und Hoffnung. Also das Unmögliche, das nur im Gedicht vielleicht möglich wird. Es
ist für mich ganz oft gleichbedeutend mit einer gewissen Form von Armut und
existenzieller Not im Werk Celans.

OT 86 CELAN:
Mandorla

In der Mandel – was steht in der Mandel?


Das Nichts.
Es steht das Nichts in der Mandel.
Da steht es und steht.

Im Nichts – wer steht da? Der König.


Da steht der König, der König.
Da steht er und steht.

Judenlocke, wirst nicht grau.

Und dein Aug – wohin steht dein Auge?


Dein Aug steht der Mandel entgegen.
Dein Aug, dem Nichts stehts entgegen.
Es steht zum König.
So steht es und steht.

21
Menschenlocke, wirst nicht grau.
Leere Mandel, königsblau.

EINIGE SEKUNDEN STILLE.

OT 87 BULUCZ:
Ich kehre immer wieder zurück und ich bin jedes Mal wieder aufs Neue begeistert
von diesen Gedichten, die ich eben nicht verstehe.

OT 88 HUMMELT:
Wenn man zugrunde legt, dass die Mandorla als mandelförmiger Heiligenschein eine
ikonographische Bedeutung hat, aber eben auch als Bild für die Vulva, dann sind es
doch bemerkenswert deutliche Verse, die dastehen.

OT 89 BULUCZ:
Es sind sozusagen explizite Verse. Sehr auffällig am Gedicht ist das mehrmalige
Nennen des Verbs Stehen. Dieses Stehen kommt natürlich auch im Verstehen vor. In
einem anderen Gedicht heißt es: „Ich stehe in dir.“ Natürlich, Celan ist ein absoluter
Erotiker, so wie er ein absoluter ernster Mensch ist. Und seine vielen Beziehungen,
seine vielen Affären, vielleicht auch mit Ingeborg Bachmann, sind von diesen
erotischen Beziehungen geprägt. Es ist auch ein phallisches Symbol, das Stehen.
„Ich stehe in dir“. „So steht es und steht“. Es ist ein starkes geschichtliches Schreiben
und aber auch ein starkes persönliches Schreiben, natürlich bereinigt von der
Nennung des Namens der Geliebten. Er ist ein Meister darin, Wörter zu
übersemantisieren oder sie sinnzuentleeren.

OT 90 CELAN:
STEHEN

STEHEN, im Schatten
des Wundenmals in der Luft.

Für-niemand-und-nichts-Stehn.
Unerkannt,
für dich
allein.

Mit allem, was darin Raum hat,


auch ohne
Sprache.

OT 91 HUMMELT:
Da ist ja eigentlich die Welt der „Todesfuge“ nicht weit, „Im Schatten des
Wundenmals in der Luft“, und auch hier ist sie sofort da, ja, nach dieser vielleicht
jubelnden und triumphierenden erotischen, sexuellen Anrufung, „Judenlocke, wirst
nicht grau“, „Menschenlocke, wirst nicht grau. Leere Mandel, königsblau“. Es
frappiert mich, wie deutlich und wie wirklich enggeführt diese beiden Bereiche Eros
und Thanatos da sind einfach im Werk von Celan, an vielen Stellen.

MUSIK

22
OT 92 MUELLER:
Es gibt Briefe, ich mein, ich bin ja jetzt schon a bisserle älter, es gibt Briefe, da hab
ich öfter mal geschrieben, vertrauten Menschen, weißt du, ich sag dir nur eins, du
fragst, wie’s geht, ich sag dir nur: Bei Wein und Verlorenheit. Und das zeigt, welche
Eingriffsmöglichkeiten ein Gedicht, oder Gedichte haben können, in einen, nennen
wir’s ganz trocken: Lebensvollzug. Es ist unglaublich, und das ist mir sehr nah,
dieses „Bei Wein und Verlorenheit“, und ich les Ihnen das jetzt vor:

OT 93 MUELLER [LIEST CELAN]:


BEI WEIN UND VERLORENHEIT, bei
beider Neige:

ich ritt durch den Schnee, hörst du,


ich ritt Gott in die Ferne – die Nähe, er sang,
es war
unser letzter Ritt über
die Menschen-Hürden.

Sie duckten sich, wenn


sie uns über sich hörten, sie
schrieben, sie
logen unser Gewieher
um in eine
ihrer bebilderten Sprachen.

OT 94 MUELLER:
Dieses Gedicht ist für mich die sprachliche Gestalt wirklich erlebter, nicht
Abgeschiedenheit, wirklich größten Alleinseins, und dieses Gedicht „Bei Wein und
Verlorenheit“ ist mein Trauergesang.

OT 95 MUELLER [LIEST CELAN]:


Eine Gauner- und Ganovenweise
gesungen zu Paris Emprés Pontoise
von Paul Celan
aus Czernowitz bei Sadagora

Ein Motto von Heinrich Heine, An Edom: Manchmal nur, in dunkeln Zeiten,

OT 96 MUELLER, OT 97 WATERHOUSE:
Damals, als es noch Galgen gab,
da, nicht wahr, gab es
ein Oben.

OT 98 MUELLER:
Wo bleibt mein Bart, Wind, wo
mein Judenfleck, wo
mein Bart, den du raufst?

Krumm war der Weg, den ich ging,


krumm war er, ja,
23
denn, ja,
er war gerade.

Heia.

Krumm, so wird meine Nase.


Nase.

OT 99 WATERHOUSE:
Und wir zogen auch nach Friaul.
Da hätten wir, da hätten wir.
Denn es blühte der Mandelbaum.
Mandelbaum, Bandelmaum.

Mandeltraum, Trandelmaum.
Und auch der Machandelbaum.
Chandelbaum.

Heia.
Aum.

OT 100 MUELLER:
Envoi

Aber,
aber er bäumt sich, der Baum. Er,
auch er
steht gegen
die Pest.

OT 101 MUELLER:
(NH: Was soll man dazu noch sagen?) Ja nix! Als die Zeit, da es noch Galgen gab,
da gab’s noch ein oben! Fertig! Bisserle dran ziehen, kriegt er keine Luft mehr, fertig,
ab, Genick kaputt… Nein, es ist ein bitterer Gesang, und ich kann das ein wenig, wie
soll ich sagen, ein wenig besser als gut verstehen. Es gibt gelegentlich, in der
Verletzung, Herabwürdigung, die von außen kommt, eine Möglichkeit, sich in der
ironisierten Ironie, in der Einkleidung der Freundlichkeit, so radikal zu wehren, man
fegt das weg, man fegt das weg, was einen verletzt, und dieses Ding hier ist vor
einem solchen Hintergrund geschrieben. Das Gedicht ist völlig klar, man muss a
bisserle was wissen, sollte man immer, ein bisserle was wissen, - grandios.

OT 102 WATERHOUSE:
Mich überraschen immer wieder diese, ich würde fast sagen, Ursprünge, die ich in
den Gedichten spüre, das Gedicht habe ich nun in meinem Leben dreihundertmal
wahrscheinlich gelesen, laut oder leise, ich hab’s oft gehört, aber ich habe auch über
dieses Gedicht viel gehört, und wenn ich’s wieder höre oder lese, „da hätten wir, da
hätten wir“, damit werde ich nicht fertig. Ich glaube, dass an der Stelle, die so unfertig
aussieht, wo es danach aussieht, dass was fehlt, dass da etwas tatsächlich entsteht.
Also geradezu aus dem Mangel entsteht. Und das Gedicht kann man eigentlich nie
gut kennen. Wenn man sagen würde, ich kenn das Gedicht, dann würde man ihm
seine Aktivität eigentlich absprechen. Ich glaube, es ist so aktiv, dass man‘s gar nicht
24
kennen kann. Und diese Stelle „da hätten wir, da hätten wir“, ich kann mir eine
weniger schöne Stelle in einem Gedicht kaum vorstellen, die ich schön finde (lacht).
Dieses Zweimalige auch, ja, da ist so ein stilles Potential eigentlich, dass man diesen
ein bisschen langweiligen Konjunktiv, oder diese Vergeblichkeit, diesen vergeblichen
Konjunktiv, tatsächlich zweimal spricht und damit etwas geradezu gewinnt. Ich finde,
in dem Friaul steckt etwas von „verloren“ drin, fast ein Anagramm von „verloren“.
Also wir zogen auch ins Verlieren, und in diesem Verlieren erlebten wir, da hätten
wir, nicht: wir haben, sondern im Verlieren hat man dieses Potential des Hättens.
Also nicht mein Hab und Gut, sondern mein Hätt und Gut. Das hör ich da drin, ja, my
hat and my good, mein Hätten, Manhattan fast. Da hab ich Manhattan, das ist was
Größeres als mein Besitz, den spür ich da. Und dann kommt ja dieses Blühen auch,
weil es diesen Überschwang gibt an dieser Stelle. Da kann dieser Baum tatsächlich
auch aus diesem Hätten heraus blühen und so sagenhaft aufblühen, durch diese
vielen Öffnungen und Verwandlungen.

EINIGE SEKUNDEN STILLE.

OT 103 HUMMELT:
Zu den bekanntesten Äußerungen Celans poetologischer Art gehört ja, dass das
Gedicht sich am Rand des Verstummens behauptet. Könnte man sagen, welcher
Rand ist das? Ist das immer ein anderer, ist es immer derselbe?

OT 104 HÜNGER:
Ich glaub, es gibt ganz viele Arten und Weisen des Verstummens, insbesondere für
Dichter, insbesondere sogar für Celan, weil er Kämpfe auszufechten hatte, die wir
Gott sei Dank schon wieder vergessen haben oder vergessen mussten. Das heißt,
sein deutsches Sprachmaterial war ein anderes als unseres heute, also geschichtlich
ganz anders determiniert, und kontaminiert, vor allen Dingen. Andererseits ist es eine
der wenigen Kunstformen, die immer mit vorgefertigtem Material arbeiten müssen
und aus diesem vorgefertigten Material schöpfen müssen. Das heißt, man hat immer
eine Endlichkeitserfahrung. Also es ist schon schwer genug ein gutes Gedicht zu
schreiben.

OT 105 BULUCZ:
Natürlich bedarf es an Glück und Zufall, dass man die Flaschenpost wiederfindet.
Dass sie angeschwemmt wird an ein Ufer, dass man sie überhaupt findet, sie öffnet
und dass das, was dort steht auf dem Zettel, nicht verwaschen ist. Aber er geht
dieses Risiko ein, niemals verstanden, niemals gefunden, niemals gelesen zu
werden.

EINIGE SEKUNDEN STILLE.

OT 106 HÜNGER: LIEST CELAN, OT 107 CELAN:


Deine Augen im Arm,
die
auseinandergebrannten,
dich weiterwiegen, im fliegen-
den Herzschatten, dich.

Wo?

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Mach den Ort aus, machs Wort aus.
Lösch. Miß.

Aschen-Helle, Aschen-Elle – ge-


schluckt.

Vermessen, entmessen, verortet, entwortet,

entwo

Aschen-
Schluckauf, deine Augen
im Arm,
immer.

EINIGE SEKUNDEN STILLE.

OT 108 CELAN:
Ich bin es noch immer, ihr schlaft ja.

OT 109 WATERHOUSE:
Ja, dieses „Ihr schlaft ja“, das hör ich sofort als Mohn, Mohn-Erscheinung, ja, und das
Unverlöschbare in diesem „Ich bin es noch immer“. Diese Grundspannung, die hör
ich in dem Vers, ja. „Ich bin es noch immer, ihr schlaft ja.“

O-Töne von: Paul Celan, Peter Waterhouse, Nancy Hünger, Rainer René Mueller,
Alexandru Bulucz und Norbert Hummelt.

Musik: Ludwig van Beethoven, Streichquartett Nr. 15, 1. Satz

Ansagerin: Isabelle Demey

Regie: Der Autor

Ton und Technik: Johanna Fegert

Redaktion: Gerwig Epkes

Produktion: Südwestrundfunk 2019

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