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Die Lebensunzulänglichkeit der Jünglinge der Jahrhundertwende

Ästhetizismuskritik in den Werken Hofmannsthals und Schnitzlers


Hiermit bestätige ich, dass ich die vorliegende Arbeit selbständig angefertigt habe
und keine anderen als die im Literaturverzeichnis angegebenen gedruckten und
elektronischen Quellen benutzt habe. Alle Stellen, die dem Wortlaut oder dem Sinn
nach diesen Quellen entnommen sind, habe ich unter genauer Angabe der Quelle
deutlich als Entlehnung kenntlich gemacht.

Luxemburg, den 27. September 2014

_____________________________

Diane Dockendorf

2
Dockendorf Diane

professeure-candidate au Lycée Michel Lucius

Die Lebensunzulänglichkeit der Jünglinge der Jahrhundertwende

Ästhetizismuskritik in den Werken Hofmannsthals und Schnitzlers

Luxembourg, 2014

3
Zusammenfassung

Das Wien der Jahrhundertwende ist geprägt von einem Gefühl der Verunsicherung:
Aufkommender Kapitalismus, Hinwendung zu den Naturwissenschaften, Industriali-
sierung, Verstädterung und Entstehung einer pluralistischen Massengesellschaft ver-
ändern die Gesellschaft des Habsburgerreiches rapide und erschüttern das Selbstver-
ständnis des gehobenen Bildungsbürgertums. Als Reaktion auf diese epochale Ver-
unsicherung lässt sich vielfach eine starke Tendenz zur Wirklichkeitsflucht, zur
Flucht in eine „museale Kunstwelt“1, in ein reines Ästhetentum, beobachten. In
dieser Arbeit wird untersucht, inwiefern diese Wirklichkeitsflucht in drei Schriften
der Jahrhundertwende  in Hofmannsthals Märchen der 672. Nacht (1895), in dessen
lyrischem Drama Der Tor und der Tod (1894) sowie in Arthur Schnitzlers Drama
Der einsame Weg (1904)  dargestellt und zugleich kritisch reflektiert wird. Mittels
einer textnahen Analyse der drei Werke sowie unter Einbeziehung älterer und
aktueller Forschungsliteratur wird zunächst dargelegt, inwiefern die Protagonisten
dieser Werke infolge ihrer sich auf mehreren Ebenen manifestierenden Lebensunfä-
higkeit in eine ästhetizistische Scheinwelt flüchten, um so ebenjener Lebensunzu-
länglichkeit zu entgehen. In einem zweiten Schritt wird nachgewiesen, inwiefern in
den Texten Anklage gegen ebenjene ästhetizistische Lebensweise erhoben wird und
inwiefern die Protagonisten ihre Lebensunfähigkeit in Folge dieser Anklage
reflektieren. In einem dritten Schritt wird anschließend untersucht, inwiefern die dem
Ästhetizismus verschriebenen Jünglinge notwendig scheitern. Es wird abschließend
belegt, dass der Tod der Jünglinge als notwendige Konsequenz eines „ungelebten“
Lebens gesehen werden kann und dass Hofmannsthal und Schnitzler hierdurch
implizite Kritik an besagtem Lebensentwurf üben. Die drei Werke bieten in diesem
Sinne Raum für einen literarischen Diskurs über die ästhetizistische Lebensweise,
welche die Autoren in den drei zur Untersuchung herangezogenen Schriften zunächst
exponieren, um sie alsdann kritisch zu beleuchten.

1
Wucherpfennig, Wolf: Die Jünglinge und der Tod von Wien. Hofmannsthal, Beer-Hoffmann,
Schnitzler. In: Jugend. Psychologie – Literatur – Geschichte. Hrsg. von Klaus-Michael Bogdal.
Würzburg 2001, S. 193.

4
Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung ........................................................................................................................... 7
1.1. Die gesellschaftlich-kulturelle Krisensituation ........................................................ 10
1.2. Die Wiener Moderne und die Schriftsteller des Jungen Wien ................................. 20
1.3. Der Ästhetizismus als Fluchtmöglichkeit................................................................. 24
2. Hugo von Hofmannsthal: Das Märchen der 672. Nacht.................................................. 31
2.1. Zusammenfassung des Werkes ................................................................................ 31
2.2. Die vierfache Lebensunfähigkeit.............................................................................. 36
2.2.1. Gesellschaft ...................................................................................................... 36
2.2.2. Zwischenmenschliche Beziehungen................................................................. 38
2.2.3. Ersatzuniversum Kunst .................................................................................... 40
2.2.4. Vergangenheit .................................................................................................. 44
2.2.5. Die indirekte Wahrnehmung der Wirklichkeit ................................................. 46
2.2.6. Die den Kaufmannssohn ergreifende Angst ..................................................... 49
2.3. Die Anklage gegen die ästhetizistische Lebensweise des Kaufmannssohnes .......... 50
2.4. Die Reaktion des Kaufmannssohnes ........................................................................ 52
2.5. Der Tod des Kaufmannssohnes ................................................................................ 58
3. Hugo von Hofmannsthal: Der Tor und der Tod ............................................................... 63
3.1. Zusammenfassung des Werkes ................................................................................ 63
3.2. Die Lebensunzulänglichkeit Claudios ...................................................................... 67
3.2.1. Rückzug aus dem sozialen Leben .................................................................... 67
3.2.2. Zwischenmenschliche Kontakte ....................................................................... 69
3.2.3. Kunst ................................................................................................................ 71
3.2.4. Die indirekte Wahrnehmung der Wirklichkeit ................................................. 76
3.2.5. Vergangenheit .................................................................................................. 79
3.3. Die Anklage gegen die ästhetizistische Lebensweise Claudios ............................... 80
3.4. Die Reaktion Claudios ............................................................................................. 87
3.4.1. Reflexion in Bezug auf die zwischenmenschlichen Beziehungen und die
Gesellschaft ...................................................................................................................... 88
3.4.2. Kunst und Vergangenheit ................................................................................. 91
3.5. Der Tod Claudios ..................................................................................................... 94
4. Arthur Schnitzler: Der einsame Weg ............................................................................... 99
4.1. Zusammenfassung des Werkes ................................................................................ 99
4.2. Die Lebensunzulänglichkeit Stephan von Salas ..................................................... 101

5
4.2.1. Rückzug aus der Gesellschaft in die Welt der Kunst ..................................... 102
4.2.2. Vergangenheit ................................................................................................ 107
4.2.3. Zwischenmenschliche Beziehungen............................................................... 109
4.3. Reflexion des Ästheten........................................................................................... 116
4.4. Die Kritik an der ästhetizistischen Lebensweise Salas und der Tod des Ästheten. 119
5. Sprachkrise ..................................................................................................................... 123
6. Schlussbemerkungen ...................................................................................................... 131
Literaturverzeichnis................................................................................................................ 139

6
1. Einleitung

Ich glaube immer noch, dass ich imstande sein werde, mir meine Welt in die Welt
hineinzubauen. […] Es handelt sich […] darum, ringsum an den Grenzen des
Gesichtskreises Potemkin’sche Dörfer aufzustellen, aber solche, an die man selber
glaubt. Und dazu gehört ein Centrumsgefühl, ein Gefühl von Herrschaftlichkeit und
Abhängigkeit, ein starkes Spüren der Vergangenheit und der unendlichen gegensei-
tigen Durchdringung aller Dinge […].2

So schreibt Hugo von Hofmannsthal am 15. Mai 1895 in einem Brief an Richard
Beer-Hofmann. Hofmannsthals Brief, welcher Hartmut Scheible nach als „Manifest
des Ästhetizismus“ gelten kann,3 fasst das Lebensgefühl einer Generation von Wiener
Schriftstellern um 1900 zusammen. Im Wien der Jahrhundertwende, gekennzeichnet
durch eine allgegenwärtige und prestigeträchtige K.-u.-k.-Monarchie, steht die Gesell-
schaft auf der Schwelle zur Moderne und ist großen soziologischen und technischen
Umbrüchen unterworfen. Industrialisierung und daraus folgende Landflucht, Ver-
städterung und Entstehung einer pluralistischen Massengesellschaft sowie aufkom-
mender Kapitalismus, Technisierung und Hinwendung zu den Naturwissenschaften
erschüttern das narzisstisch geprägte Selbstbildnis sowie das Selbstverständnis des
gehobenen Bildungsbürgertums und stürzen dieses in eine „Gefühlswelt der Unsi-
cherheit“4. Hierauf reagiert besagte Bevölkerungsschicht nicht etwa mit einer Anpas-
sung an die neuen Umweltverhältnisse, vielmehr lässt sich eine starke Tendenz zur
Absonderung, zur Subjektivierung und Wirklichkeitsflucht beobachten, welche auch
in der zeitgenössischen Literatur exponiert wird. Diese Wirklichkeitsflucht kann als
Flucht in eine „museale Kunstwelt“5 beschrieben werden, in ein reines Ästhetentum,
das im Sinne von Mallarmés und Georges „l’art pour l’art“ jegliche Möglichkeit der
Wirklichkeitsbeschreibung und -erfahrung ablehnt. Stattdessen wird bewusst ein

2
Hofmannsthal, Hugo von; Beer-Hofmann, Richard: Briefwechsel. Hrsg. von Eugene Weber. Frankfurt
am Main 1972, S. 47.
3
Scheible, Hartmut: Nachwort. In: Beer-Hofmann, Richard: Der Tod Georgs. Stuttgart 1980, S. 120.
4
Vgl. Grote, Katja: Der Tod in der Literatur der Jahrhundertwende. Der Wandel der Todesthematik in
den Werken Arthur Schnitzlers, Thomas Manns und Rainer Maria Rilkes. Frankfurt am Main 1996, S.
26-28.
5
Wucherpfennig, Wolf: Die Jünglinge und der Tod von Wien. Hofmannsthal, Beer-Hoffmann,
Schnitzler. In: Bogdal, Klaus-Michael (Hrsg.): Jugend. Psychologie – Literatur – Geschichte. Würzburg
2001, S. 193.

7
Rückzug in den Elfenbeinturm der Kunst propagiert, um somit eine neue unabhängige
Welt der Schönheit zu erschaffen.6

In dieser Arbeit soll untersucht werden, inwiefern diese, auch in Hofmannsthals Brief
aufgeworfene, Wirklichkeitsflucht in den Schriften der Jahrhundertwende dargestellt
und zugleich kritisch reflektiert wird. Hierzu sollen Hugo von Hofmannsthals
Märchen der 672. Nacht (1895), Hofmannsthals lyrisches Drama Der Tor und der Tod
(1893) sowie Arthur Schnitzlers Drama Der einsame Weg (1904) untersucht werden.
Die Protagonisten der drei Werke erweisen sich zunächst auf mehreren Ebenen als
lebensunzulänglich: Sie ziehen sich weitgehend aus dem sozialen Leben zurück,
weisen eine Unfähigkeit zu zwischenmenschlichen Beziehungen auf und wenden sich
der Vergangenheit zu. Sie flüchten hieraufhin in eine ästhetizistische Scheinwelt, um
so ebenjener Lebensunzulänglichkeit zu entgehen: Genießende Betrachtung soll die
verloren gegangene Unmittelbarkeit des Lebens ersetzen. Letztendlich aber
„vermitteln“ alle von Hofmannsthal evozierten „Lösungsversuche“ der Protagonisten
zwar die „Illusion eines umfassenden Zusammenhangs“, können aber deren innere
Leere nicht füllen. Sie können die „abgerissene Verbindung von Ich und Welt“ nicht
„neu knüpfen“7, sodass die in den Werken der Autoren der Jahrhundertwende gezeich-
neten Protagonisten, welche sich dem Lebensstil des Ästhetizismus verschrieben
haben, notwendig scheitern, wodurch die Autoren implizite Kritik an besagtem
Lebensentwurf üben.

Mittels einer textnahen Analyse der drei Werke sowie unter Einbeziehung älterer und
aktueller Forschungsliteratur soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern sich die
Lebensunzulänglichkeit der Jünglinge der Jahrhundertwende in den drei zu untersu-
chenden Werken manifestiert, inwiefern Kritik an ebenjener Lebensweise geübt wird
und inwiefern der Tod der Jünglinge als notwendige Konsequenz eines ungelebten
Lebens gesehen werden kann. Die Analyse der beiden Werke Hofmannsthals, in wel-
chen die Ästheten als alleinige Hauptfiguren auftreten, soll hierbei im Zentrum der
Arbeit stehen. Das Werk Schnitzlers wird lediglich vergleichend hinzugezogen, da der
Ästhet Sala zwar eine der Hauptpersonen des Dramas ist, die Darstellung der bürgerli-

6
Vgl. Schweikle, Günther; Schweikle, Irmgard (Hrsg.): Metzler Literaturlexikon. Stuttgart 1990, S.
451-452.
7
Scheible, Hartmut: Nachwort, S. 121-122.

8
chen Familie Wegrat aber ebenfalls großen Raum einnimmt, sodass das Drama nicht
als reines „Ästhetendrama“ gelten kann, sondern zugleich als Familiendrama anzuse-
hen ist. Das vergleichende Heranziehen von Schnitzlers Werk soll es zudem erlauben,
darzulegen, dass die Kritik an einer einseitig ästhetizistisch ausgelegten Existenzweise
nicht allein auf Hofmannsthal zurückgeht, sondern sie auch von anderen Autoren auf-
gegriffen wird.

In einem ersten Schritt soll so nachgewiesen werden, dass die Lebensunzulänglichkeit


der drei Protagonisten sich jeweils auf mehreren Ebenen manifestiert: Sowohl der
Kaufmannssohn (Märchen der 672. Nacht) als auch Claudio (Der Tod und der Tod)
und der Künstler Stephan von Sala (Der einsame Weg) haben sich weitgehend aus
dem sozialen Leben zurückgezogen. Sie sind des „gesellschaftlichen Lebens
überdrüssig geworden“8, wobei dieser Rückzug aus einer „inneren Zwanghaftigkeit“
aufgrund der „Unerträglichkeit von Lebensverhältnissen“9 erwachsen ist, wie
Wolfram Mauser unterstreicht. Die Protagonisten weisen zudem ein Unvermögen,
zwischenmenschliche Beziehungen einzugehen, auf, ästhetisieren die Vergangenheit
als Gegenpol zu einer als negativ erfahrenen Gegenwart und schaffen sich in der
Kunst ein ästhetizistisches Ersatzuniversum.

In einem zweiten Schritt soll herausgearbeitet werden, inwiefern in den Texten


implizit – im Märchen der 672. Nacht erfolgt die Anklage mittels eines den Kauf-
mannssohn anonym erreichenden Briefes – oder explizit – in Der Tor und der Tod tritt
der personifizierte Tod auf die Bühne und klagt Claudio an – Anklage gegen die
gewählte Lebensweise erhoben wird. Anschließend soll untersucht werden, wie der
jeweilige Protagonist auf die gegen ihn erhobene Anklage reagiert, um herauszuar-
beiten, ob und inwiefern die Reaktion des jeweiligen Protagonisten eine kritische
Reflexion in Bezug auf die gewählte Lebensweise erkennen lässt.

In einem letzten Schritt soll alsdann nachgewiesen werden, dass ebenjene kritische
Reflexion nur ansatzweise stattfindet, sodass der frühe Tod der Protagonisten letzt-

8
Hugo von Hofmannsthal: Das Märchen der 672. Nacht. In: Die deutsche Literatur in Text und
Darstellung. Hrsg. von Otto F. Best und Hans-Jürgen Schmitt. 16 Bde. Bd. 13: Impressionismus,
Symbolismus und Jugendstil. Hrsg. von Ulrich Karthaus. Stuttgart 1977, S. 205-225.
9
Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare: zur Aporie der Moderne in Hofmannsthals Märchen
der 672. Nacht. In: Brueckel, Ina (Hrsg.): Bei Gefahr des Untergangs. Würzburg 2000, S. 163.

9
endlich als notwendige Konsequenz eines „ungelebten“ Lebens gesehen werden kann.
Das verfehlte Leben der Protagonisten führt unweigerlich zu deren fatalem Ende, wie
es Köster pointiert zusammenfasst: „Wer so lebt, wie der Kaufmannssohn, der muss
sterben, ohne je gelebt zu haben“10.

Wie im Vorherigen bereits angedeutet, soll nachgewiesen werden, dass die Werke der
Jahrhundertwende insofern über sich hinausweisen, als sie  durch die Darstellung der
„existentiellen Desorientierung“11 der Protagonisten  eine „allgemeinere sozio-
kulturelle Befindlichkeit“ ihrer Zeit „repräsentieren“12. Die untersuchten Schriften
stellen die ästhetizistische Wirklichkeitsflucht als Reaktion einer bestimmten Bevölke-
rungsgruppe auf die sich um 1900 verändernden Lebensbedingungen dar und be-
leuchten diese Wirklichkeitsflucht kritisch. Die Werke bieten somit Raum für einen
literarischen Diskurs über die ästhetizistische Lebensweise, welche die Autoren in
ihren Werken zunächst exponieren, um sie alsdann kritisch zu reflektieren und hier-
durch implizite Kritik am Ästhetizismus zu üben. Bevor näher auf die in den Werken
dargelegte Wirklichkeitsflucht eingegangen wird, sollen zunächst die sich im ausge-
henden 19. Jahrhundert verändernden Lebensbedingungen sowie die zu dieser Zeit im
Habsburgerreich vorherrschende Krisenstimmung überblicksweise dargelegt werden.

1.1. Die gesellschaftlich-kulturelle Krisensituation

Die Stimmung im Habsburgerreich am Ende des 19. Jahrhunderts ist durch mehrere
Faktoren geprägt: Das Nationalitätenproblem, der verlorene Krieg gegen Preußen von
1866, Veränderungen im sozialen Gefüge sowie wirtschaftliche Entwicklungen beein-
flussen die Stimmung im Vielvölkerstaat, einem heterogenen Gebilde, welches fünf-
zehn ethnische Gruppen, zwölf Hauptsprachen, fünf Religionen und mindestens fünf
eigenständige kulturelle Traditionen umfasst.13 An der Spitze der Donaumonarchie
steht Kaiser Franz Josef, welcher zwar als „Garant für das Bewährte und Bestän-

10
Köster, Thomas: Die Außenwelt als Spiegel der Innenwelt: zur verlorenen Unschuld in Hugo von
Hofmannsthals Märchen der 672. Nacht. In: Literatur für Leser (1989), S. 157.
11
Saße, Günter: Vorwort. In: Saße, Günter; Kim, Hee-Ju (Hrsg.): Arthur Schnitzler. Dramen und
Erzählungen. Stuttgart 2007, S. 10.
12
Schmidt, Jochen: Arthur Schnitzler: Der einsame Weg. In: Saße, Günter; Kim, Hee-Ju (Hrsg.): Arthur
Schnitzler. Dramen und Erzählungen. Stuttgart 2007, S. 117.
13
Vgl. Leiß, Ingo; Stadler, Hermann: Deutsche Literaturgeschichte. Band 8: Wege in die Moderne
1890-1918. München 2004, S. 13-15.

10
dige“14 gilt, gleichzeitig aber derart in einem „Netz archaischer Hofkonventionen“
erstarrt ist, dass er „zusehends den Kontakt zu den gesellschaftlichen Realitäten seiner
Zeit“ verliert.15 Dem Konvolut Vielvölkerstaat ist ebenfalls eine Ambivalenz
immanent, wie Lorenz unterstreicht: Einerseits „[sorgen] divergierende soziale, wirt-
schaftliche, juristische und kulturelle Entwicklungen […] für ein latentes Spannungs-
gefühl zwischen den einzelnen Nationalitäten“ und stellen zugleich die „Zentral-
macht“ in Frage, die immer größere Schwierigkeiten hat, die „jeweiligen nationalen
Autonomiebestimmungen“ zu kontrollieren. 1897 kommt es so beispielsweise zu fast
bürgerkriegsähnlichen Unruhen, als im Kabinett ein Erlass gestimmt werden soll, der
in Böhmen die tschechische Sprache der deutschen Sprache gleichstellen soll.
Andererseits definiert gerade jene „Heterogenität das übernationale Selbstverständnis
der Donaumonarchie“.16

Auch die Hauptstadt der Donaumonarchie, Wien, ist großen Veränderungen unterwor-
fen: Aufgrund der industriellen Revolution und der durch sie bedingten Verstädterung
sowie aufgrund von Zuwandererströmen aus dem Osten des Reiches verdoppelt sich
die Einwohnerzahl Wiens zwischen 1869 und 1910 von einer auf zwei Millionen.
Gleichzeitig entstehen im Zuge ebenjener industriellen Revolution neue Gesellschafts-
schichten, wie beispielsweise die des Industrieproletariats, die sich in den Randbezir-
ken Wiens niederlassen. Die Bevölkerungsstruktur Wiens ändert sich infolge dieser
Zuwanderung rapide: Arbeiter stellen nunmehr 52% der Bevölkerung, die mittlerweile
aus 55% Zugezogenen und nur noch aus 45% Einheimischen besteht. Der stattfin-
dende gesellschaftliche Wandel wird von den alteingesessenen Wienern als „potenti-

14
Leiß, Ingo; Stadler, Hermann: Deutsche Literaturgeschichte, S. 20.
15
Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne. Stuttgart 2007, S. 14, S. 25: Zudem erschüttern Ende des 19.
Jahrhunderts zwei Ereignisse die Grundfeste der Monarchie: Der mysteriöse Selbstmord des liberalen
Kronprinzen Rudolf ist Lorenz nach als Zeichen für die „Unfähigkeit der Habsburgerherrschaft, sich in
einer wandelnden Gesellschaft selbst zu erneuern“, zu werten. Rudolf hatte aus der streng
abgeschirmten Welt der Monarchie den Anschluss an die politische Öffentlichkeit gesucht und
symbolisierte so für viele Liberale „die Hoffnung auf eine Überwindung der erzwungenen politischen
Machtlosigkeit“ (unter Verweis auf Johnston, William M.: Österreichische Kultur- und
Geistesgeschichte. Gesellschaft und Ideen im Donauraum 1848-1938. Wien 1974, S. 48f.). Der Mord
an Kaiserin Elisabeth durch einen italienischen Anarchisten im Jahr 1898 schockiert die Öffentlichkeit
ebenfalls, so Lorenz.
16
Vgl. Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 14.

11
elle Bedrohung“ empfunden und verstärkt das bereits aufgrund der politischen Situa-
tion vorhandene Gefühl einer Krisensituation.17

Parallel zum altösterreichischen Adel und der kaiserlichen Verwaltungsbürokratie


entwickelt sich – im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs in den 1860er Jahren –
eine neue Oberschicht, die des liberal orientierten Bürgertums, „die bürgerlich[e]
Aufsteiger-Schich[t] der Gründerzeit“.18 Diese Schicht verspürt ein großes
Sicherheitsbedürfnis und hat, wie Stefan Zweig festhält, große „Angst vor dem in ihre
Welt einbrechenden Unberechenbaren“,19 wie einer wirtschaftlichen Rezession, die
sich mit der wirtschaftlichen Schwächeperiode nach 1873 abzeichnet und die Genera-
tion der „Gründerväter“ stark verunsichert. Neue gesellschaftliche Gruppierungen, wie
beispielsweise die Sozialisten oder die in den 1880er Jahren gegründete Partei der
Christlichsozialen, stehen der auf dem Liberalismus fußenden Finanzwelt der Grün-
derväter ebenso skeptisch gegenüber wie die 1879 gebildete sozialkonservative Regie-
rung Taaffes und haben sich zum Ziel gesetzt, die „führende Stellung des Großbür-
gertums sowohl politisch als auch wirtschaftlich zu untergraben“. Die Anhänger des
Jungen Wien entstammen genau jener großbürgerlichen Schicht der Gründerväter, die
ihren Aufstieg und ihren errungenen Wohlstand durch wirtschaftliche, gesellschaftli-
che und politische Entwicklungen bedroht sieht. Diese Entwicklungen führen zu einer
„psychischen Destabilisierung“ sowie einer „gesteigerten Nervosität“ des bürgerlichen
Individuums; die Folgen dieser Nervosität als „Ausdruck der kulturpessimistischen
Stimmung der Jahrhundertwende sind sublimierte Sensibilität, subtile Selbstanalyse“
und „Narzissmus“.20 Ebendiese Nervosität und diese vorherrschende kulturpessimis-
tische Stimmung bieten einen Nährboden für den Ästhetizismus.

Zu der politisch instabilen Situation und der industriellen Revolution sowie ihren be-
völkerungsstrukturellen Auswirkungen treten weitere gesellschaftliche Entwicklun-
gen, die die Fundamente des bürgerlichen Selbstverständnisses untergraben und die

17
Vgl. Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 20-21, die den bevölkerungsstrukturellen Wandel Wiens
detailliert darlegt.
18
Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 15.
19
Vgl. Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 17, unter Verweis auf Stefan Zweig, der in seinem
autobiografischen Werk Die Welt von Gestern über sein Aufwachsen in Wien erzählt. Vgl. Zweig,
Stefan: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. Frankfurt am Main 1981, S. 14.
20
Vgl. Briese-Neumann, Gisa: Ästhet - Dilettant – Narziss. Untersuchungen zur Reflexion der fin de
siècle-Phänomene im Frühwerk Hofmannsthals. Frankfurt am Main 1985, S. 213-216.

12
Bewohner des Habsburgerreiches in eine „Gefühlswelt der Unsicherheit“21 stürzen. So
hat auch im Habsburgerreich der für die Moderne charakteristische Übergang von
einer stratifikatorisch organisierten zu einer funktional differenzierten Gesellschaft
stattgefunden: Niklas Luhmann nach sind die europäischen Gesellschaften „bis weit
ins 18. Jahrhundert hinein vorwiegend stratifikatorisch“, d.h. nach Ständen, organi-
siert. Der einzelne Mensch ist standesspezifischen Verhaltenserwartungen unterwor-
fen: Lebensweise sowie Berufs- und Partnerwahl sind weitgehend durch den Stand
bestimmt, gleichzeitig definiert das Zugehörigkeitsgefühl des Einzelnen zu seinem
Stand, seine Inklusion in ein spezifisches gesellschaftliches Subsystem, seine Identität.
Die Identität des Menschen ist durch „Inklusion“22 geprägt. Die moderne Gesellschaft
jedoch ist funktional differenziert, d.h. sie besteht aus einzelnen Funktionssystemen
(Recht, Wirtschaft, Wissenschaft, Gesundheit, Kunst …), an denen der Mensch „in
wechselnden Konstellationen“23 teilnimmt. Die Identität des Menschen ist nicht mehr
durch „Inklusion“, sondern durch „Exklusion“ bestimmt.24 Hinzu kommt, dass „die
immer weitere Ausdifferenzierung dieser Systeme zur Auflösung überlieferter
Semantiken [führt]“; die Gesellschaft kann „sich demnach immer weniger auf
gemeinsame Ziele und Werte einigen“.25 Traditionelle Norm- und Wertesysteme
verlieren an Bedeutung. Horst Thomé weist in diesem Zusammenhang nach, dass
ebendiese gesellschaftlichen Veränderungen sowie der durch sie induzierte, für mo-
derne Gesellschaften als grundlegend anzusehende, „Meinungspluralismus“ als maß-
gebliche Ursachen für das die Jahrhundertwende dominierende Krisenbewusstsein
gelten müssen.26

Tradierte Werte und Erkenntnisse verlieren aber nicht nur im gesellschaftlichen Be-
reich an Bedeutung, sondern Naturwissenschaften und Philosophie stellen überlieferte
Vorstellungen ebenfalls in Frage. Die Wissenschaften werden einerseits von einer
funktionalen Ausdifferenzierung, einer Spezialisierung und einer „Fragmentierung des

21
Vgl. Grote, Katja: Der Tod in der Literatur der Jahrhundertwende, S. 26-28.
22
Vgl. Gerecke, Uwe: Soziale Ordnung in der modernen Gesellschaft: Ökonomik – Systemtheorie –
Ethik. Tübingen 1998, S. 19-25.
23
Ajouri, Philipp: Literatur um 1900. Naturalismus – Fin de Siècle – Expressionismus. Berlin 2009, S.
12.
24
Vgl. Thomé, Horst: Modernität und Bewusstseinswandel in der Zeit des Naturalismus und des Fin de
siècle. In: Mix, York-Gothart (Hrsg.): Naturalismus, Fin de siècle, Expressionismus: 1890 – 1918.
München 2000, S. 22.
25
Ajouri, Philipp: Literatur um 1900, S. 12.
26
Vgl. Thomé, Horst: Modernität und Bewusstseinswandel, S. 15-21.

13
Wissens“27 erfasst, andererseits erschüttern neue Erkenntnisse in der Biologie, in der
Genetik, in der Medizin und in der Physik (Quantentheorie Max Plancks) das alte
Weltbild. Diese neuen Erkenntnisse stehen allesamt unter dem Primat der Relativität:
„Moderne wissenschaftlich-relativierende Verfahren im Sinne eines positivistisch
gedachten Wissenschaftsverständnisses“ bestimmen das Vorgehen des
Wissenschaftlers. Der Forscher geht rein objektiv vor und hinterfragt erlangte Er-
kenntnisse immer wieder. Die modernen Wissenschaften können dem Leben somit
keinen dauerhaften Sinn mehr verleihen, sondern weisen ein „Sinnstiftungsdefizit“28
auf:

Statt einer sinnvoll geordneten, überschaubaren Totalität, in der man sich auf Dauer
einrichten kann, steht der „moderne“ Mensch ständig sich wandelnden Aussagen über
die Welt gegenüber. Er sieht, dass die Frage nach der Relativität stets neu gestellt
werden muss, sich gar nicht mehr verbindlich beantworten lässt, ja dass es keine
absolut gültigen Antworten mehr gibt. 29

Auch im Bereich der Philosophie dominiert der Wertrelativismus. Nietzsche propa-


giert die Relativität aller Erkenntnis und Wahrnehmung, wenn er in seiner Schrift
Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne festhält, dass der Mensch nur in
„einer interpretierten und deshalb scheinbaren und fiktiven Welt lebe und von einer
Welt unabhängig von diesen Interpretationen nichts wissen könne“30: „Die scheinbare
Welt ist die einzige, die wahre Welt ist nur hinzugelogen“. Die perspektivische Wahr-
nehmung betrifft auch die zuvor angesprochenen gesellschaftlich etablierten Werte,
auch sie verändern sich je nach Blickwinkel: Nietzsche spricht in diesem Zusammen-
hang von einer „Umwertung aller Werte“.31

Hinzu kommt, dass die Entdeckungen der modernen Bewusstseins- und


Tiefenpsychologie eine „Neukonzeptualisierung des Ich“32 bedingen, welches nicht
mehr als festes, konsistentes, sondern als ständig fluktuierendes Gebilde gesehen wird.
Ajouri spricht in diesem Zusammenhang von einer „Depotenzierung des Ich“33, Leiß
von einer „Krise des Ich“34. Besonders Freuds Lehren tragen zu dieser

27
Thomé, Horst: Modernität und Bewusstseinswandel, S. 20.
28
Thomé, Horst: Modernität und Bewusstseinswandel, S. 20.
29
Leiß, Ingo; Stadler, Hermann: Deutsche Literaturgeschichte, S. 30.
30
Ajouri, Philipp: Literatur um 1900, S. 118.
31
Vgl. Ajouri, Philipp: Literatur um 1900, S. 118-119.
32
Ajouri, Philipp: Literatur um 1900, S. 119
33
Ajouri, Philipp: Literatur um 1900, S. 133.
34
Leiß, Ingo; Stadler, Hermann: Deutsche Literaturgeschichte, S. 28.

14
Depotenzierung des Ich bei, indem sie das „Ich“ als Herr im eigenen Haus in Frage
stellen. In seinen 1895 erscheinenden Studien über Hysterie legt Freud zunächst dar,
dass die Grundlage jeder Hysterie ein „gespaltenes, dissoziiertes Bewusstsein sei,
dessen einer Teil unterdrückte, d.h. nicht willkürlich erinnerbare, Vorstellungsgruppen
enthalte“35. In seiner 1900 erscheinenden Abhandlung Die Traumdeutung baut Freud
die Idee der unbewussten Tiefenschichten der menschlichen Psyche dann aus und
erklärt den Traum zu einer weiteren „Form, unter der sich Verdrängtes äußert“36.
Indem dem vom Individuum verdrängten, nicht bewussten Unbewussten nunmehr
eine wesentliche Bedeutung zugesprochen wird, wird zugleich das stabile Ich des
Menschen in Frage gestellt, da es fortwährend durch das heraufdrängende Unbewusste
beeinflusst werden kann: „Dem Ich [wird] die absolute Herrschaft über sich selbst
entrissen“37. Die Tatsache, dass dem Individuum durch die aufkommenden Erkennt-
nisse der Tiefenpsychologie die Kontrolle über das eigene Ich abgesprochen wird,
trägt in nicht unerheblichem Maße dazu bei, die Menschen der Jahrhundertwende
weiter zu verunsichern.

Ernst Machs stark rezipierte Theorie des Empiriokritizismus verstärkt das Gefühl der
Unbeständigkeit des eigenen Ich. Laut Machs Beiträgen zur Analyse der
Empfindungen (1886) ist das Ich des Menschen kein festes, sondern ein ständigen
Veränderungen unterworfenes Gebilde, welches sich aus einem an den Leib gebunde-
nen Komplex von „Elementen“, d.h. Erinnerungen, Stimmungen, Gefühlen und Ge-
danken, die täglich anders strukturiert sein können, zusammensetzt.38 Mach schreibt in
diesem Kontext: „Nicht das Ich ist das Primäre, sondern die Elemente (Empfindun-
gen)“, welche das Ich bilden.39 Das Ich verliert seine Kontinuität, die von den bestän-
dig wechselnden Empfindungen, die das Ich konstituieren, unterlaufen wird. Die Sta-
bilität und das Selbstverständnis des Ich werden in einem solchen Maß gefährdet, dass
das Ich, wie Mach in seinem Aufsatz Das unrettbare Ich postuliert, „unrettbar“ wird.
Auch die den Menschen umgebende Welt besteht infolgedessen aus einem Komplex
von ständig wechselnden Sinneseindrücken, von Empfindungen, und verliert hiermit

35
Ajouri, Philipp: Literatur um 1900, S. 133.
36
Ajouri, Philipp: Literatur um 1900, S. 134.
37
Ajouri, Philipp: Literatur um 1900, S. 135.
38
Vgl. Leiß, Ingo; Stadler, Hermann: Deutsche Literaturgeschichte, S. 28.
39
Vgl. Kimmich, Dorothee; Wilke, Tobias: Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende.
Darmstadt 2006, S. 42. So fasst Ernst Mach in seinem 1886 erstmals erschienenen Werk Analyse der
Empfindungen seine Analyse des Ich zusammen.

15
jegliche Kontinuität. Dadurch dass im ausgehenden 19. Jahrhundert zusätzlich tra-
dierte Werte an Gültigkeit verlieren, sind die Menschen zunehmend verunsichert. Das
Gefühl einer Krisensituation verstärkt sich: „Die Verunsicherung des Ich ist umso
größer, als es in eine Zeit geworfen ist, der zunehmend die Gewissheit abhanden-
kommt, sagen zu können, welche Ordnungen unverbrüchlich existieren, und wie die
Welt beschaffen ist, in der es sich befindet.“40

Mach und Freud fassen hiermit in ihren Abhandlungen gewissermaßen die Entste-
hungsgrundlagen jenes Krisengefühls zusammen, welches viele Menschen im Wien
der Jahrhundertwende ergriffen hat, und liefern somit  gleichsam auf
wissenschaftlicher Basis  die Erklärungen für dieses um sich greifende Gefühl der
allgemeinen Verunsicherung. Da die Schriften auch das Empfinden der Schriftsteller
des Jungen Wien spiegeln, rezipieren diese die Werke stark, sodass bald ein
„medizinisch-literarische[r] Diskurs“41 entsteht. Schnitzler wie Hofmannsthal lesen
die Werke Freuds und Machs kurz nach ihrem Erscheinen: Hofmannsthal ist im Besitz
einer Erstausgabe der Traumdeutung (1899/1900) und auch Schnitzler lernt Freuds
Abhandlung bereits im Jahre 1900 kennen. Freud und Schnitzler lesen darüber hinaus
gegenseitig ihre Werke.42 Die Rezeption von Machs Theorien erfolgt ähnlich früh:
Hofmannsthal besucht im Jahre 1897 Vorlesungen Ernst Machs an der Wiener Uni-
versität, Schnitzler tritt 1904 in Kontakt mit Machs Theorien.43 Ajouri betont aller-
dings, dass das Verhältnis von Psychoanalyse und Literatur nicht als einseitiges Ein-
flussverhältnis der Psychoanalyse auf die Literatur zu betrachten sei, sondern dass die
Psychoanalytiker sowie die Autoren der Jahrhundertwende eher ein gemeinsames
Interesse an der menschlichen Psyche und am Phänomen des Nichtbewussten 
beziehungsweise des „Halbbewussten“, wie Schnitzler es nennt  aufgewiesen
hätten.44 Auch Lorenz hebt hervor, dass zwischen Literaten, Wissenschaftlern und
Ärzten vielfältige und wechselseitige Rezeptionsprozesse in Bezug auf das Thema
Ich-Spaltung und Auflösung des Ich stattgefunden hätten, ein Phänomen, welches
epochencharakterisierend scheint, sind diese wechselseitigen Rezeptionsprozesse doch

40
Leiß, Ingo; Stadler, Hermann: Deutsche Literaturgeschichte, S. 30.
41
Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 122.
42
Vgl. Ajouri, Philipp: Literatur um 1900, S. 135-137. Vgl. auch Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S.
118.
43
Vgl. Ajouri, Philipp: Literatur um 1900, S. 120.
44
Ajouri, Philipp: Literatur um 1900, S. 136.

16
auch in Frankreich und Italien zu beobachten.45 Anz spricht in diesem Zusammenhang
von einem „Interaktionsdrama“ zwischen Literatur und Psychoanalyse, in welchem
das Verhältnis zwischen beiden Bereichen mit den Begriffen der „Korrelation, Kon-
vergenz und Wechselwirkung“46 zu beschreiben sei.

Verstärkt wird das krisenhafte Gefühl dadurch, dass die Religion den Menschen keine
zufriedenstellenden Antworten mehr auf die durch die Wissenschaft neu
aufgeworfenen Fragen liefern kann. Und auch die Philosophie verliert ihre
Leitfunktion zugunsten der Naturwissenschaften, auch sie kann eines der
„Kernprobleme der Jahrhundertwende, den sich zunehmend manifestierenden
Wertrelativismus als Folge naturwissenschaftlicher Einsicht, nicht lösen“, so dass „die
deutende Kraft überkommener Weltbilder und tradierter Gewissheiten“47 schwindet,
wie Saße festhält.

Zu den beschriebenen Ursachen der allgemeinen Verunsicherung treten


gesellschaftliche Entwicklungen hinzu, die eine Dynamisierung des Alltags sowie eine
„extreme Beschleunigung aller lebensweltlichen Prozesse zur Folge“48 haben: Die
Erfindung von Telefon, elektrischem Licht und modernen Fortbewegungsmitteln
beschleunigt Verkehr und Kommunikation und verändert die Wahrnehmung von
Raum- und Zeit. Warenhäuser, Reklame und Litfaßsäulen dominieren das Stadtbild
und führen dem zeitgenössischen Soziologen Georg Simmel nach zu einer „Steige-
rung des Nervenlebens, die aus dem ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer
Eindrücke hervorgeht“49.

In Zusammenhang mit diesen als krisenhaft empfundenen gesellschaftlichen Verände-


rungen in den beschriebenen Bereichen ist allenthalben eine fast apokalyptische
Stimmung spürbar. Überall in Europa, und in besonderem Maße in Wien, haben die
Menschen das Gefühl, an einem Ende zu stehen, am Ende des bürgerlichen Zeitalters.

45
Vgl. Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 118.
46
Vgl. Ajouri, Philipp: Literatur um 1900, S. 136. Kimmich, Dorothee; Wilke, Tobias: Einführung in
die Literatur der Jahrhundertwende, S. 77. Vgl. Anz, Thomas: Die Seele als Kriegsschauplatz.
Psychoanalyse und literarische Moderne. In: Mix, York-Gothart (Hrsg.): Naturalismus, Fin de siècle,
Expressionismus. Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Bd. 7. München 2000, S. 495.
47
Saße, Günter: Vorwort, S. 9-10.
48
Saße, Günter: Vorwort, S. 9.
49
Simmel, Georg: Die Großstädte und das Geistesleben. Zitiert nach Leiß, Ingo; Stadler, Hermann:
Deutsche Literaturgeschichte, S. 16.

17
„Der rasche gesellschaftliche Wandel und die zunehmende Mobilität der Massen pro-
duzierten spezifische Ängste vor sozialem Abstieg, teilweise sogar Katastrophen-
stimmung“,50 schreibt Leiß in diesem Zusammenhang. Die sogenannte „Fin-de-siècle-
Stimmung“ verbreitet sich insbesondere in der Intellektuellenschicht in Wien, die „mit
seismografischer Sensibilität den Untergang der Monarchie spürt und von Angst vor
einer proletarischen Revolution erfüllt ist“.51 Auch die Gründergeneration verspürt ein
ausgeprägtes Sicherheitsbedürfnis und ist „von einer heimlichen Angst vor dem in
ihre Welt einbrechenden Unberechenbaren“ gefangen,52 fürchtet sich davor, das
soeben Errungene zu verlieren.

Wien, welches Haupt und Würffel als „Versuchsstation des Weltuntergangs“


bezeichnen,53 kann in diesem gesamteuropäischen Phänomen einer am Ende des 19.
Jahrhunderts um sich greifenden Krisenstimmung als „Inkarnation des Fin de siècle
schlechthin“ gelten: „Nirgendwo sonst schien sich das Jahrhundert so offensichtlich
überlebt zu haben wie in der ‚zweitausendjährigen übernationalen Metropole‘ der
österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie.“54 Dennoch erlebt Wien kurz vor dem
Zusammenbruch der Donaumonarchie eine kulturelle Blütephase,55 deren Ambivalenz
jedoch zugleich dadurch bedingt ist, dass sie teils als Indiz für eine  den
Ästhetizismus präludierende  Wirklichkeitsflucht gewertet werden kann. Nach dem
Schleifen der Befestigungsanlagen wird die Stadt Wien ab 1857 mit dem Bau der
prestigeträchtigen, mit palastartigen Stadthäusern, repräsentativen Staatsbauten und
historisierenden Fassaden flankierten Ringstraße modernisiert. 1888 wird das Wiener
Burgtheater fertiggestellt. Die neue Gesellschaftsschicht der wirtschaftsstarken, dem
Liberalismus verpflichteten, Aufsteiger der Gründerzeit orientiert sich am Lebensstil
des Adels und erhebt vor allem die kulturellen Traditionen des Adels zu Statussym-
bolen: Musik, Malerei, Oper und Operette blühen.56 Hinter der prestigeträchtigen
Fassade aber brodelt es: Nach der erfolglosen Revolution von 1848 und der Nieder-
lage gegen Preußen 1866 breitet sich eine gewisse Resignation aus, nach dem Börsen-

50
Leiß, Ingo; Stadler, Hermann: Deutsche Literaturgeschichte, S. 18.
51
Leiß, Ingo; Stadler, Hermann: Deutsche Literaturgeschichte, S. 52.
52
Vgl. Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 17, unter Verweis auf Zweig, Stefan: Die Welt von
Gestern, S. 14.
53
Haupt, Sabine; Würffel, Stefan Bodo (Hrsg.): Handbuch Fin de Siècle, Stuttgart 2008, S. 163.
54
Haupt, Sabine; Würffel, Stefan Bodo (Hrsg.): Handbuch Fin de Siècle, S. 163.
55
Vgl. Leiß, Ingo; Stadler, Hermann: Deutsche Literaturgeschichte, S. 40.
56
Vgl. Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 17-18.

18
krach von 1873 ist eine wirtschaftliche Schwächeperiode zu verzeichnen, die eine
„Existenzkrise des ökonomischen und politischen Liberalismus“57 einleitet. Gleich-
zeitig vollzieht sich ein schleichender Machtverfall des Kaiserreichs. Zwar bietet das
Theater dem bürgerlichen Publikum einerseits die Möglichkeit, sich an die Lebens-
weise des Adels anzupassen, andererseits aber werden das Theater und die Kultur im
Allgemeinen für die Gründergeneration zum Refugium vor der Brüchigkeit der
bestehenden Ordnung. Lorenz betont diesbezüglich: „Der Theaterkult des groß-
bürgerlichen Wiener Publikums mochte seine historischen Ursachen in der barock-
aristokratischen Theatertradition haben, doch offenbarte diese Haltung vor allem das
Verhältnis der Zeitgenossen zur Wirklichkeit.“ Sie unterstreicht anschließend  unter
Verweis auf Broch, der bereits in den 1880er Jahren die „krisenverdrängende
Unterhaltungs- und Dekorationskultur“ des Wiener Bürgertums als „fröhliche
Apokalypse“ bezeichnet , dass diese Haltung ein bestehendes „Wert-Vakuum“
kaschiere.58 Die Kultur erlaubt demnach die Flucht vor den als bedrohlich
empfundenen realpolitischen Begebenheiten, die verdrängt werden, wie auch Bahr
1906 in Bezug auf das Verhalten seiner Mitbürger konstatiert: „Alles drängt den
Wiener von der Wirklichkeit ab.“59 Bahr schreibt weiter: „Der Wiener braucht immer
ein Beispiel. Dazu geht er ins Theater. Es ist kein Abbild des Lebens. Das Leben ist
sein Nachbild.“ Lorenz zitiert diese Aussage Bahrs, um darauf zu verweisen, dass dies
die „Nahtstelle“ sei, „an der sich die Kunst-Manie der gründerzeitlichen Väter mit
dem späten Ästhetizismus ihrer Söhne berühr[e].“ Die Kunstwelt der Väter, die schon
für diese eine gewisse Flucht vor realpolitischen Begebenheiten darstellt, wird so zur
Grundlage für die Flucht in den Ästhetizismus der Generation der Söhne werden, die
von den Schriftstellern des Jungen Wien, wie Hofmannsthal und Schnitzler, kritisch
reflektiert werden wird.60

57
Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 20. Lorenz verweist auf den Aufsatz Matis‘ über die
wirtschaftlichen Entwicklungen in Österreich zwischen 1848 und 1914. Vgl. Matis, Herbert:
Grundzüge der österreichischen Wirtschaftsentwicklung 1848-1914. In: Rumpler, Helmut (Hrsg.):
Innere Staatsbildung und gesellschaftliche Modernisierung in Österreich und Deutschland 1867/71-
1914. München 1991, S. 107-124, hier: S. 121.
58
Vgl. Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 18, S. 22.
59
Vgl. Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 15-18, 22.
60
Vgl. Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 18.

19
1.2. Die Wiener Moderne und die Schriftsteller des Jungen Wien

Der Widerspruch von glänzender Fassade und bröckelnder Wirklichkeit und das von
Bahr diagnostizierte Wert-Vakuum einer Epoche, „in der die eklektische Dekoration
den Mangel an geistigem Gehalt bemäntel[t]“61, werden insbesondere von der Erben-
Generation, den Söhnen der Gründergeneration, wahrgenommen. Junge Schriftsteller
wie Schnitzler und Hofmannsthal spüren „die Sinnentleerung und innere Brüchigkeit
der Donaumonarchie […], sagen deren Ende voraus“62 und suchen infolgedessen nach
neuen Orientierungsmarken. Die Welt der Väter hat für die Generation der Söhne
stark an identitätsverbürgender Kraft verloren. Briese-Neumann charakterisiert die
Suche nach neuen Werten als „soziokulturelle Krise der Moderne“ und führt diese auf
die „Enttäuschung von einem auf Wettbewerbsverhalten und Zweckdenken
basierenden wirtschaftspolitischen System, welches das Bedürfnis nach Integration in
der Gemeinschaft und individueller Anerkennung“ unbefriedigt lässt, zurück.63 Wenn
Hofmannsthal im Februar 1894 an Leopold von Andrian schreibt: „Ich erleb jetzt eine
sonderbare Zeit: Mein Inneres macht aus Menschen, Empfindungen, Gedanken und
Büchern eine wirre Einheit […]“, so diagnostiziert er ebenjene Verunsicherung, die
von den jungen Wiener Schriftstellern erfahren wird, wie Saße hervorhebt.64

Innerhalb dieses Klimas allgemeiner Verunsicherung entsteht in Wien ein kreatives


Milieu, welches die Entstehung des sogenannten „Jungen Wien“ begünstigt. Beim
„Jungen Wien“ handelt es sich um eine Gruppe von Dichtern, die der in Wien vor-
herrschenden Stimmung „zu ihrem literarischen Ausdruck verhilft“65, die die
„epochale Verunsicherung“66 kritisch reflektiert und die später als prägend für die
sogenannte „Wiener Moderne“ angesehen werden wird. Die Wiener Moderne reiht
sich hierbei in den Kontext einer „gesamteuropäischen, urbanen Moderne“ mit ihren
spezifischen Merkmalen wie dem „Krisenbewusstsein", der „lebensweltliche[n]
Fragmentierung“, der „Veränderung der Wahrnehmung“ sowie der „Erfahrung
historischer und individualbiografischer Diskontinuität“ ein.67 Wie Lorenz ausführt,

61
Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 18.
62
Leiß, Ingo; Stadler, Hermann: Deutsche Literaturgeschichte, S. 21.
63
Vgl. Briese-Neumann, Gisa: Ästhet - Dilettant – Narziss, S. 212.
64
Saße, Günter: Vorwort, S. 9.
65
Kimmich, Dorothee; Wilke, Tobias: Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende, S. 81.
66
Saße, Günter: Vorwort, S. 9.
67
Vgl. Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 9.

20
entsteht Moderne innerhalb einer sich im Wandel befindenden Gesellschaft, „die sich
von ihren ‚Polen‘, ihren geistigen Orientierungsmarken, wegbewegt“, in der sich das
„tradierte sozio-geisteskulturelle Rahmensystem allmählich auflöst“68 und die „sich
‚sehr langsam erst‘ neue Orientierungsmarken sucht“69, wie Borchardt dies in seiner
Rede über Hofmannsthal statuiert:

Welcher Art immer die Kunstübung sein mag, an der er [der Begriff des Modernen 
D.L.] entwickelt worden ist, zunächst und vor allem enthüllt er den chaotischen Zu-
stand einer Gesellschaft, deren Kräfte sich von ausgenützten Polen endgültig
fortgezogen haben, und sehr langsam erst nach neuen hin sich zu lagern beginnen
[…].70

Hermann Bahr gilt hierbei als „Initiator und wirkungsreichster Propagator der Wiener
Moderne“.71 Er verfolgt hartnäckig das Ziel, eine junge Generation von Wiener
Künstlern und Autoren bekannt zu machen und sucht in seinen Aufsätzen das „Wesen
der modernen Wiener Literatur“ vor allem in „Auseinandersetzung mit dem Berliner
Naturalismus zu bestimmen“.72 Bahr sowie junge Autoren wie Arthur Schnitzler,
Leopold von Andrian, Hugo von Hofmannsthal, Richard Beer-Hofmann, Peter
Altenberg, Felix Salten oder Karl Kraus treffen sich in mehr oder weniger lockeren
Gruppen oder Kreisen vorwiegend in Kaffeehäusern, wie zunächst im 1847 eröffneten
und 1897 geschlossenen Café Griensteidl und später im Café Central.73 Die genannten
Kaffeehäuser werden zu Zentren geistigen Austauschs, in denen ab dem Ende der
1880er Jahre neue literarische Konzeptionen entwickelt werden.74 Im Gegensatz zum
literarischen Salon, dessen Zeit sich um die Jahrhundertwende dem Ende zuneigt, ist
das Kaffeehaus durch ein „Ambiente des Zufälligen und Unvorhergesehenen“ ge-
kennzeichnet: „Die Inkonstanz seiner Besucher, die heterogene Zusammensetzung der
Künstler- und Intellektuellengruppen, die sich an bestimmten Tischen
zusammenfinden, die Unregelmäßigkeit ihres Zusammentreffens (die aber feste Ver-
abredungen keineswegs ausschließt) und nicht zuletzt der Verzicht auf formale
68
Beutin, Wolfgang: Deutsche Literaturgeschichte: Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart
2013, S. 355.
69
Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 20.
70
Vgl. Borchardt Rudolf: Rede über Hofmannsthal. Zitiert nach: Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S.
19-20.
71
Kiesel, Helmuth: Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im zwanzigsten
Jahrhundert. Von Baudelaire bis Handke – das Jahrhundert der literarischen Moderne. München 2004,
S. 24.
72
Kiesel, Helmuth: Geschichte der literarischen Moderne, S. 24.
73
Vgl. Wunberg: Vorwort. In: Die Wiener Moderne, S. 16-19. Wunberg, Gotthart: Jahrhundertwende.
Studien zur Literatur der Moderne, Tübingen 2001.
74
Vgl. Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 28-30, S. 39.

21
Festlegungen, wie Vereinssatzungen etc., lässt eine Atmosphäre spontaner Gesprächs-
bereitschaft entstehen“,75 die einem regen Austausch über literarische Kreationen
förderlich ist. Zeitungen wie die Moderne Rundschau, die Neue Revue, Die Zeit oder
die Wiener Rundschau dienen der neuen Literatur als Forum.76

Im Gegensatz zum Berliner George-Kreis, dessen „Mitglieder ihr Selbstverständnis


als Gruppe“ dadurch beziehen, dass sie „als geschlossene Männergesellschaft fernab
von jeder Öffentlichkeit existier[en]“77, charakterisieren die Jungwiener sich gerade
dadurch, dass sie kein gemeinsames Programm vorweisen können. Das Zusammenge-
hörigkeitsempfinden des Wiener Kreises beruht vielmehr auf dem Bewusstsein der
Autoren, „den Erscheinungen ihrer Gegenwart unvermittelt ausgesetzt zu sein, sowie
auf der Fähigkeit, eine Haltung der ‚geistigen Freimaurerei‘, der modernen Skepsis
gegenüber allem Tradierten, einzunehmen“78, wie Lorenz festhält. Auch werden neue
Mitglieder nicht wie im George-Kreis durch einen „Gnadenakt des sich selbst zum
‚Meister‘ stilisierenden Stefan George ‚erwählt‘“, sondern treffen im Café Griensteidl
aufeinander oder lernen sich durch gegenseitige Bekannte kennen. Weitere Merkmale
der Jungwiener sind neben dieser „Bereitschaft, die Grenzen des eigenen Kreises zu
erweitern“, dem Verzicht auf Manifeste und Programme und der geistigen
Freimaurerei die Reaktion auf das konstatierte „Wert-Vakuum“, die Überzeugung,
dass nicht soziale Probleme, sondern „Worte“ das „Material der Poesie“ sind, sowie
die Bereitschaft, sich einer gemeinsamen Beschreibungssprache zu bedienen.79

Zentral ist vor allem aber die Hinwendung vom naturalistischen „Außen“ zum
„Innen“, zur Analyse der Seelenzustände, und die hierdurch implizierten Neuerungen
im formalen Bereich, wie beispielsweise der Rückgriff auf den inneren Monolog. Das
 auch durch die Theorien Ernst Machs und die Ergebnisse der psychoanalytischen
Forschungen Freuds geförderte  Infragestellen des klassischen Subjektbegriffes
sowie die Vorliebe für die Theorien der Relativität können als zusätzliche
Charakteristika der Wiener Moderne angesehen werden. Charakteristisch für die

75
Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 29-30.
76
Vgl. Leiß, Ingo; Stadler, Hermann: Deutsche Literaturgeschichte, S. 41.
77
Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 95.
78
Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 94.
79
Zur Gruppe des Jungen Wien und den Unterschieden der Gruppe zum Berliner George-Kreis, vgl.
Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 94-101.

22
Schriftsteller des jungen Wien sind zudem ein subjektiver Wahrheitsbegriff  eine
„Wahrheit, wie jeder sie empfindet“, wie Bahr in seinem programmatischen Aufsatz
Die Moderne (1890) schreibt  sowie ein unentwegter, für die Moderne konstitutiver,
Prozess der „kreativen ‚Überwindung‘ (Bahr) aller einmal realisierter Formen und
Haltungen“80. Typisch für die Wiener Moderne ist auch ihr Stilpluralismus. Die
Wiener Moderne ist eine „vielschichtige, pluralistisch wirkende Moderne mit einem
spannungsreichen Nebeneinander von Phänomenen, die dieser Moderne zugehören
und sich doch nicht problemlos unter einen Nenner fügen, sondern sich teilweise ab-
stoßen und das Bild der Moderne als polyfokal erscheinen lassen“81, wie Kiesel
hervorhebt. Die Wiener Moderne ist in diesem Sinne „als Gesamtheit jener geistig
kulturellen Strömungen zu betrachten, die sich in den Jahren und Jahrzehnten um
1900 bemerkbar machen.“82

Lorenz verweist aber zugleich darauf, dass, bei allen Unterschieden, die stereotype
Trennung von Berliner und Wiener Moderne, wie sie teils in der Forschung vorge-
nommen wird, relativiert werden müsse. Unter Verweis auf die Studie Berliner und
Wiener Moderne (1998) Sprengels und Streims unterstreicht sie, dass die „Genese des
polarisierenden Wahrnehmungsschemas >Berlin contra Wien< nicht zuletzt auf die
publizistischen Strategien Bahrs, eine originär Wiener Moderne […] als ästhetisch-
programmatische Einheit in direkter Abgrenzung zu Berlin […] zu definieren“83,
zurückzuführen sei. Sie führt anschließend aus, dass die Tatsache, dass eine vielfältige
Kommunikation zwischen den Schriftstellern der beiden „Moderne-Metropolen“
stattgefunden habe, nicht vernachlässigt bleiben dürfe. So erschienen beispielsweise
Werke der Jungwiener in Leipziger oder Berliner Verlagen, Otto Brahm, späterer
Direktor des deutschen Theaters in Berlin, brachte Schnitzlers Drama Die Frau im
Fenster 1898 zur Uraufführung und junge Wiener Autoren suchten den Kontakt zu
Berliner Zeitschriften.84 Auch Kiesel betont ebenjene Interaktion zwischen Berlin und
Wien und hebt hervor, dass sich Berliner und Wiener Moderne „bei allen

80
Vgl. Kiesel, Helmuth: Geschichte der literarischen Moderne, S. 25-26.
81
Kiesel, Helmuth: Geschichte der literarischen Moderne, S. 25.
82
Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 4.
83
Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 10.
84
Vgl. Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 10-12.

23
Unterschieden […] in einem gemeinsamen europäischen Rahmen und in enger Berüh-
rung miteinander entfalteten“.85

Wurde im Vorherigen dargelegt, dass die Kunstwelt der Gründerväter, die selben eine
Fluchtmöglichkeit vor der Alltagswirklichkeit bietet, als „Nahtstelle“ zum
Ästhetizismus der Söhne und somit auch der Generation der Jungwiener  die den
Ästhetizismus aber teils, wie Schnitzler und Hofmannsthal dies tun, durchaus kritisch
beleuchten  anzusehen sei,86 so soll dieser Ästhetizismus im Folgenden genauer
definiert werden.

1.3. Der Ästhetizismus als Fluchtmöglichkeit

Krise der Autorität, Relativierung tradierter Wertvorstellung, Beschleunigung der


Lebenswelt und daraus resultierende Nervosität sind Peter Sprengel nach Merkmale
der Jahrhundertwende,87 die die Menschen in eine Gefühlswelt der Unsicherheit
stürzen und die typische Fin-de-siècle-Stimmung der Jungwiener bedingen, für die
weder die Welt der Väter, „der bürgerlichen Ringstraßen-Gründer“88, noch die Welt
der Habsburgermonarchie noch verbindliche Wertmaßstäbe bietet. Wurden Kunst und
Theater bereits von den Vätern als Refugium genutzt, um stundenweise vor dem
tagespolitischen Geschehen zu flüchten, so gewinnt die Kultur der Wiener Moderne
für die Söhne „Surrogatfunktion“, so die einflussreiche These Carl E. Schorskes. Die
„frustriert[e] jünger[e] Generation von Bürgersöhnen, der in der Spätzeit des Habs-
burgerreiches die politischen und gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten
genommen wurden“, flüchtet in den „ahistorischen und apolitischen Tempel der Kunst
und des Ästhetizismus“, so Lorenz unter Verweis auf Schorske.89

Der Rückzug ins Innere, welcher sich sowohl auf der Ebene der Kunst als auch auf der
Ebene der Literatur beobachten lässt,90 erscheint den „Söhnen“ als eine

85
Kiesel, Helmuth: Geschichte der literarischen Moderne, S. 26.
86
Vgl. Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 18.
87
Vgl. Sprengel, Peter: Geschichte der deutschsprachigen Literatur. Von der Jahrhundertwende bis zum
Ende des Ersten Weltkrieges. München 2004, S. 3-35.
88
Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 25.
89
Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 6.
90
Allgemein werden zwei Arten des Ästhetizismus unterschieden: der literarische Ästhetizismus und
der Ästhetizismus als Lebensentwurf. Im Rahmen dieser Untersuchung steht nicht der literarische
Ästhetizismus, sondern der Ästhetizismus als Lebenshaltung im Zentrum, wobei beide Formen des

24
Fluchtmöglichkeit vor der Komplexität der modernen Welt. Kimmich spricht in
diesem Kontext von einem „Kult des Interieurs“ und beruft sich hierbei auf Walter
Benjamin, der als erster die „mit großem Aufwand arrangierten Interieurs […] als
bürgerliche Zufluchtsstätten“ in Zeiten sozialen Wandels charakterisiert hat.91 Der
Bürger, der sein Dasein von den äußeren Begebenheiten bedroht sehe, schaffe „in den
stilisierten Innenräumen seiner Privatwohnung eine eigene Herrschaftssphäre, in der
er das Gefühl seiner Souveränität und seiner Individualität aufrechterhalten“ könne.92
Das Leben in der Kunst wird zum Surrogat für ein Leben in der für die Generation der
Söhne unlebbar gewordenen Wirklichkeit. Der Kunst des Jugendstils kommt die
Funktion zu, das Subjekt gegen die als bedrohlich empfundenen Veränderungen im
Bereich der Technik und der Gesellschaft zu schützen. Der Jugendstil weist hierbei
gewisse Parallelen zu der „historisierenden Kunst der Ringstraßenwelt“ der Väterge-
neration auf: „Ästhetisier[t] der Historismus die Geschichte, beabsichtig[t] der
Jugendstil die Ästhetisierung des Lebens, auch des alltäglichen Lebens.“93 Diese
Funktion der Kunst hebt auch Karthaus hervor und verweist in diesem Zusammen-
hang auf eine Analyse Thomas Manns: „Der Jugendstil ist Ziel jenes Weges, den das
gebildete […] Bürgertum […] nach 1848 gegangen ist: ‚Von der Revolution zur Ent-
täuschung, zum Pessimismus und einer resignierten, machtgeschützten Innerlich-
keit‘“94.

Das gleiche Phänomen lässt sich in der Literatur beobachten: Der „literarische
Ästhetizismus der Jahrhundertwende [sucht] seine Zuflucht in ästhetisierten und
künstlichen Sonderwelten, wobei der Rückzug in das Interieur zum literarischen
Thema wird.“95 Hofmannsthal beschreibt das Lebensgefühl der jungen Autoren der
Wiener Moderne  die er als Teil einer gesamteuropäischen Bewegung „von ein paar

Ästhetizismus eng miteinander verbunden sind, da beide die gleiche Denkhaltung der Konstruktion
eines abgeschirmten Bereichs  im eigenen Haus, im Garten, in der Kunst, in der Vergangenheit oder
aber, was den literarischen Ästhetizismus betrifft, in der Literatur  verkörpern. Streim hält fest, dass
der Begriff auch bei Hofmannsthal sowohl eine künstlerische Tendenz der Moderne als auch eine mit
dieser zusammenhängende psychologische Disposition bezeichne. Zur Begriffsgeschichte des
Ästhetizismus: Vgl. Streim, Gregor: Das „Leben“ in der Kunst: Untersuchungen zur Ästhetik des
frühen Hofmannsthal. Würzburg 1996. S. 5-37, hier S. 9.
91
Vgl. Kimmich, Dorothee; Wilke, Tobias: Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende, S. 19.
92
Kimmich, Dorothee; Wilke, Tobias: Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende, S. 54.
93
Vgl. Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 19.
94
Karthaus, Ulrich (Hrsg.): Die deutsche Literatur in Text und Darstellung. 16 Bde. Bd. 13:
Impressionismus, Symbolismus und Jugendstil, Stuttgart 1977, S. 16
95
Kimmich, Dorothee; Wilke, Tobias: Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende, S. 54-55.

25
tausend Menschen, in den großen europäischen Städten verstreut“, sieht  im
berühmten D‘Annunzio-Aufsatz folgendermaßen:

Man hat manchmal die Empfindung, als hätten uns unsere Väter […] und unsere Groß-
väter, […] und alle die unzähligen Generationen vor ihnen, als hätten sie uns, den Spät-
geborenen, nur zwei Dinge hinterlassen: hübsche Möbel und überfeine Nerven. […] Es
ist, als hätte die ganze Arbeit dieses feinfühligen, eklektischen Jahrhunderts darin
bestanden, den vergangenen Dingen ein unheimliches Eigenleben einzuflößen. Jetzt
umflattern sie uns, Vampire, lebendige Leichen, beseelte Besen des unglücklichen
Zauberlehrlings! Wir haben aus den Toten unsere Abgötter gemacht; alles, was sie
haben, haben sie von uns; wir haben ihnen unser bestes Blut in die Adern geleitet; wir
haben diese Schatten umgürtet mit höherer Schönheit und wundervollerer Kraft als das
Leben erträgt; mit der Schönheit unserer Sehnsucht und der Kraft unserer Träume. Ja
alle unsere Schönheits- und Glücksgedanken liefen fort von uns, fort aus dem Alltag,
und halten Haus mit den schöneren Geschöpfen eines künstlichen Daseins, mit den
schlanken Engeln und Pagen des Fiesole, mit den Gassenbuben des Murillo und den
mondänen Schäferinnen des Watteau. Bei uns aber ist nichts zurückgeblieben als
frierendes Leben, schale, öde Wirklichkeit, flügellahme Entsagung.96

Auch den ihren Epochenzustand als „defizitär“97 empfindenden Jungwienern erscheint


so die Flucht in die Kunst als Ausweg. Wie in der Einleitung bereits angedeutet,
beschreibt Hofmannsthal in seinem Brief an Beer-Hofmann die Konstruktion einer
„Welt in d[er] Welt“  den Bau „Potemkin’sche[r] Dörfer“ als Möglichkeit, dem
defizitären Epochenzustand und dem Gefühl, dass eine unmittelbare Teilhabe am
Leben unmöglich ist, zu entgehen:

Ich glaube immer noch, dass ich imstande sein werde, mir meine Welt in die Welt
hineinzubauen. […] Es handelt sich […] darum, ringsum an den Grenzen des
Gesichtskreises Potemkin’sche Dörfer aufzustellen, aber solche, an die man selber glaubt.
Und dazu gehört ein Centrumsgefühl, ein Gefühl von Herrschaftlichkeit und Abhängig-
keit, ein starkes Spüren der Vergangenheit und der unendlichen gegenseitigen Durch-
dringung aller Dinge […].98

Der junge Hofmannsthal reiht sich hiermit in ein gesamteuropäisches Phänomen einer
Bewegung von Autoren ein, die in ihren Werken kompensatorische Gegenwelten zu
der äußeren Welt entwerfen, aus welchen sie sich die Einsicht in den Zusammenhang
aller Dinge erhoffen, die ihnen in der wirklichen Welt verloren gegangen ist.
Künstliche Gegenwelten sind so sowohl in Baudelaires „paradis artificiels“ als auch in
Wildes Bildnis des Dorian Grey oder Huysmans A rebours zu beobachten. „Wenn der

96
Hofmannsthal, Hugo von: Gabriele D’Annunzio. In: Ders.: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden.
Reden und Aufsätze. Hrsg. von Bernd Schoeller. Band 1. Frankfurt am Main 1979, S. 174-175.
97
Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 69.
98
Hofmannsthal, Hugo von; Beer-Hofmann, Richard: Briefwechsel, S. 47.

26
direkte Zugang zu Welt und Leben versperrt ist, bleibt dem Modernen nur noch, sich
eine Kulissenwelt als Ersatztotalität zu schaffen“,99 merkt Lorenz präzise an.

In den zu untersuchenden Werken errichten die jeweiligen Protagonisten sich eine


solche ästhetizistische Ersatzwelt und verschreiben ihr Leben fortan dem
Ästhetizismus. Sprengel definiert den Ästhetizismus als eine „menschliche Haltung,
Existenz oder Weltanschauung, die der ästhetischen Kontemplation oberste Priorität
einräumt, auch und insbesondere auf Kosten moralischer Werte (Humanität, Treue)
und emotionaler Bindungen (Liebe, Freundschaft)“100. Auch Briese-Neumann
definiert den Ästhetizismus als Weltanschauung, welcher das „Primat der
Ästhetisierung substantiell ist“, und führt aus, dass der Ästhetizismus durch eine auf
das Augenblickserlebnis gerichtete „Wahrnehmungsform geprägt“ sei, die sie als
zentrales Merkmal des Ästhetizismus erachtet.101 Der Ästhet räumt der Kontemplation
seiner künstlich erschaffenen Ersatzwirklichkeit oberste Priorität ein, er erfährt in der
reinen Betrachtung der schönen Gegenstände höchste Erfüllung und glaubt, so die
verloren gegangene Unmittelbarkeit des Lebens dauerhaft kompensieren zu können.
Genuines Merkmal einer ästhetizistischen Lebensführung ist in diesem Zusammen-
hang die Konstruktion einer artifiziellen Welt, in welcher der Ästhet sich dieser
Betrachtung der schönen Gegenstände hingeben kann. Das „Arrangement“ jener
Lebenswelt unterliegt hierbei dem „Primat der Schönheit“, das konstruierte Ersatzuni-
versum besteht aus einer Ansammlung von Kunstgegenständen und fungiert als Wirk-
lichkeitssubstitut, wobei den Gegenständen und insbesondere den Kunstobjekten
„reizauslösende Funktion“ zukommt, Objekte haben „empfindungsstimulativen
Charakter“102, d.h. sie erlauben es dem Ästheten, Stimmung zu generieren, um seine
innere Leere zu kompensieren. Der Ästhet nimmt die Gegenstände, wie auch
bestimmte Eindrücke der Außenwelt, als „stimulierende Eindrücke seiner Innen-
welt“103 wahr. Jene artifiziell gestaltete Welt steht im Gegensatz zur profanen
Wirklichkeit, der Lebensraum des Ästheten situiert sich meist außerhalb der gesell-

99
Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 79.
100
Sprengel, Peter: Geschichte der deutschsprachigen Literatur. 1870-1900: von der Reichsgründung
bis zur Jahrhundertwende. München 1998, S. 117.
101
Briese-Neumann, Gisa: Ästhet - Dilettant – Narziss, S. 247.
102
Vgl. Briese-Neumann, Gisa: Ästhet - Dilettant – Narziss, S. 250.
103
Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 71.

27
schaftlichen Sphäre.104 Der Ästhet verfolge hierbei das Ziel, „die Einheit von Ich und
Welt wiederherzustellen, womit auf die bewusste Abwendung von einer als feindlich
empfundenen Lebenswirklichkeit als Ausdruck der Desintegration, bzw. auf die
kausalen gesellschaftspolitischen Zusammenhänge der ästhetischen Existenz
verwiesen“ werde,105 so Briese-Neumann. Einhergehend mit dem Rückzug aus der
gesellschaftlichen Sphäre ist die soziale Isolation des Ästheten; durch Kontemplation
subjektivierte Objekte werden zu seinem einzigen Bezugspunkt. Der Ästhetizismus ist
als besondere Form der Wirklichkeitswahrnehmung zu verstehen: „Distinguierendes
Merkmal des Ästhetizismus“ ist ein „vollständige[r] Rückzug auf das Subjekt, was
sich in der Konzentration des ästhetischen Bewusstseins auf die sinnliche Aufnahme
der äußeren Wirklichkeit artikuliert.“106 Durch jene subjektivierte Wahrnehmung
werde letztendlich, so Briese-Neumann, auch das Subjekt auf Objektrang degradiert
und erhalte „Objektposition“107; jegliche Möglichkeit zu zwischenmenschlichen
Beziehungen wird hierdurch unmöglich. Der Ästhet lebt ichbezogen und monologisch
in seinem selbstkonstruierten Ersatzuniversum, jegliche aktive Form der Lebensge-
staltung sowie jeder Wille zur Tat fehlen ihm.108

Der im Vorherigen erwähnte D’Annunzio-Aufsatz zeugt aber bereits von einer


gewissen  Hofmannsthal und Schnitzler progressiv ergreifenden  Skepsis gegenüber
der ästhetizistischen Lebensweise, die eigentlich eine Wirklichkeitsflucht darstellt:

Bei uns aber ist nichts zurückgeblieben als frierendes Leben, schale, öde Wirklichkeit,
flügellahme Entsagung. Wir haben nichts als ein sentimentales Gedächtnis, einen ge-
lähmten Willen und die unheimliche Gabe der Selbstverdoppelung. Wir schauen
unserem Leben zu; wir leeren den Pokal vorzeitig und bleiben doch unendlich durstig
[…], so empfinden wir im Besitz den Verlust, im Erleben das stete Versäumen. Wir
haben gleichsam keine Wurzeln im Leben und streichen, hellsichtige und doch tag-
blinde Schatten, zwischen den Kindern des Lebens umher. 109

Wenn Hofmannsthal schreibt, dass „sie“, seine Generation, „doch unendlich durstig“
bleiben, im Besitz den Verlust und im Erleben das Versäumte empfinden, so zeigt dies
die Grenzen des Ästhetizismus auf. Der Besitz kann die verloren gegangene Einheit
der Welt nicht ersetzen, jegliches Erleben hat seine Unmittelbarkeit verloren, so dass

104
Vgl. Briese-Neumann, Gisa: Ästhet - Dilettant – Narziss, S. 250.
105
Vgl. Briese-Neumann, Gisa: Ästhet - Dilettant – Narziss, S. 250.
106
Vgl. Briese-Neumann, Gisa: Ästhet - Dilettant – Narziss, S. 31.
107
Vgl. Briese-Neumann, Gisa: Ästhet - Dilettant – Narziss, S. 259.
108
Vgl. Briese-Neumann, Gisa: Ästhet - Dilettant – Narziss, S. 259.
109
Hofmannsthal, Hugo von: Gabriele D’Annunzio, S. 174-175.

28
sich die Flucht in die Welt der „nicht zweckgebundenen“110, sich nur vermeintlich
zum Wirklichkeitssurrogat eignenden, Kunst letztendlich als trügerisch erweisen wird.
Einzelne Werkgestalten, wie der Kaufmannssohn, Claudio oder von Sala, erscheinen
in diesem Zusammenhang zugleich als „Chiffren einer für das fin de siècle typischen
Daseinsbewältigung, deren Voraussetzung die ästhetische Perspektivierung der Um-
welt ist“111, und als die Kritik ebendieser Form der Daseinsbewältigung, der Autoren
wie Schnitzler und Hofmannsthal früh skeptisch gegenüberstehen. „Das literarische
Produkt stellt sich“ somit „als ein Reflex des Autors zu Zeitströmungen dar, und zwar
als Dokument einer Konflikterfahrung.“112 Die Protagonisten der Werke der Jahrhun-
dertwende, die in folgender Arbeit behandelt werden, schaffen ästhetizistische Er-
satzwelten, um dem als defizitär empfundenen Epochenzustand zu entfliehen.
Hofmannsthal und Schnitzler inszenieren in ihren Texten Ästhetenfiguren, die sich
ebenjener Denkhaltung des Ästhetizismus verschrieben haben und die sich in selbst
konstruierte künstliche Welten zurückgezogen haben. Zugleich ist den untersuchten
Werken die Skepsis gegenüber der mittels der drei Ästheten exponierten Form der
Daseinsbewältigung immanent: In den drei Werken erweisen sich die Ästheten als
lebensuntauglich und Schnitzler sowie Hofmannsthal inszenieren den Tod ihrer Prota-
gonisten, um so ebenjene Kritik an der ästhetizistischen Lebensführung literarisch zu
vermitteln.

110
Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 73.
111
Briese-Neumann, Gisa: Ästhet - Dilettant – Narziss, S. 250.
112
Briese-Neumann, Gisa: Ästhet - Dilettant – Narziss, S. 250.

29
30
2. Hugo von Hofmannsthal: Das Märchen der 672. Nacht

Hofmannsthals Märchen der 672. Nacht erscheint 1895 in der Wiener Zeitschrift Die
Zeit mit dem Untertitel Geschichte des jungen Kaufmannssohnes und seiner vier
Diener.113

2.1. Zusammenfassung des Werkes

Wie der Untertitel bereits andeutet, erzählt das Märchen die Geschichte eines,
namentlich nicht genannten, Kaufmannssohnes, der sich zu Beginn der Erzählung
dazu entschließt, sich aus der Gesellschaft zurückzuziehen und ein einsames Leben zu
führen; einzig vier ausgewählte Diener (ein ehemaliger Diener des Gesandten des
Königs von Persien, ein fünfzehn- und ein achtzehnjähriges Mädchen sowie eine alte
Haushälterin) begleiten ihn in das selbstgewählte Leben in Abgeschiedenheit. Der 25-
Jährige widmet sich fortan der Betrachtung schöner Gegenstände. Im Sommer zieht
der Kaufmannssohn sich, in Begleitung seiner vier Diener, in sein Landhaus in die
Berge zurück. Sein Alltag ist nunmehr von der Betrachtung des schönen Gartens
sowie von der Lektüre eines Buches über Alexander den Großen geprägt. Einzig das
Beobachtetwerden durch seine vier Diener stört seine Ruhe, bis ihn eines Tages ein
anonymer Brief erreicht, in dem sein Diener eines abscheulichen Verbrechens be-
schuldigt wird. Hieraufhin bricht der Kaufmannssohn auf, um die Sache „zur Ruhe zu
bringen“114 und begibt sich zurück in die Stadt. Doch die dem Kaufmannssohn be-
kannte Stadtwelt stellt sich ihm in den Weg und treibt ihn unweigerlich in den Tod.
Auf seiner alptraumhaften Reise in den Tod begegnet der Kaufmannssohn Spiegelun-
gen seiner alten Existenz: So zieht ihn Schmuck im Fenster eines Juwelierladens an,
ein aggressives 4-jähriges Mädchen lockt ihn von dort aus in ein Gewächshaus. Als er
dieses verlässt, muss er sich durch ein widerspenstiges Gestrüpp von Pflanzen
kämpfen. Er gelangt anschließend zunächst in ein ärmliches Stadtviertel, bevor sein
Weg in einem Kasernenhof endet. Als er den ärmlichen Soldaten ein Geldgeschenk
machen will, schlägt ein Pferd ihm seinen Huf in die Lenden. Die Soldaten tragen den

113
Vgl. Barber, Dieter: Das Märchen der 672. Nacht. In: Jens, Walter: Kindlers neues Literaturlexikon,
Bd. 7, München 1990, S. 1006.
114
Hofmannsthal, Hugo von: Das Märchen der 672. Nacht. In: Schmitt, Hans-Jürgen; Best, Otto F.
(Hrsg.): Die deutsche Literatur in Text und Darstellung. 16 Bde. Bd. 13: Impressionismus,
Symbolismus und Jugendstil. Hrsg. von Ulrich Karthaus. Stuttgart 1977, S. 216. Im Folgenden wird aus
dieser Ausgabe mittels der Abkürzung MN und unter Angabe der Seitenzahl zitiert.

31
schwerverletzten Kaufmannssohn hieraufhin in ein schäbiges Zimmer, wo er eines
elenden Todes stirbt.115

Wenn Sprengel den Ästhetizismus als eine „menschliche Haltung, Existenz oder
Weltanschauung, die der ästhetischen Kontemplation oberste Priorität einräumt, auch
und insbesondere auf Kosten moralischer Werte (Humanität, Treue) und emotionaler
Bindungen (Liebe, Freundschaft)“,116 definiert, so trifft diese Definition präzise auf
die Lebensführung des Kaufmannssohnes zu, wie im Folgenden detailliert dargelegt
werden soll. Der Kaufmannssohn zieht sich im Alter von 25 Jahren vollständig aus
dem gesellschaftlichen Leben zurück und räumt fortan der Kontemplation seiner
künstlich erschaffenen Welt oberste Priorität ein. Er flüchtet in eine ästhetizistische
Ersatzwirklichkeit, die es ihm erlauben soll, seine sich auf mehreren Ebenen manifes-
tierende Lebensunzulänglichkeit zu kompensieren. Ebendieser Fluchtversuch aber
wird letztendlich scheitern, wodurch das Märchen der 672. Nacht zum „Gerichtstag
des Ästhetizismus“,117 so Hofmannsthal, erhoben und auf fiktiver Ebene Kritik an
zeitgenössischen ästhetizistischen Tendenzen ausgeübt wird. Wichtig für die Aussage
des Textes ist in diesem Sinne auch die gewählte Form. Hofmannsthal rekurriert auf
die Form des Märchens und greift zentrale strukturelle Merkmale dieser Form, wie
beispielsweise die Raum- und Zeitlosigkeit des Geschehens, die Einschichtigkeit der
Handlung mit ihrer Zentrierung auf den Helden  oder im Fall des Märchens der 672.
Nacht den Antihelden  sowie Handlungsstereotypen (Auszug, Vertreibung, Miss-
achtung des Helden, Bewährungsproben für den Helden),118 auf, um die Form
anschließend mit einem märchenunytpischen Schluss, dem Tod des
Kaufmannssohnes, zu pervertieren und das Märchen so gleichsam zum „Anti-
Märchen“ werden zu lassen. Hierdurch steht Hofmannsthals Märchen im Gegensatz
zu den Märchen der Romantik. Bot die Märchenform dort noch größtenteils die Mög-
lichkeit zur Wirklichkeitsflucht, so scheint sie diese Funktion für Hofmannsthal nicht
mehr erfüllen zu können. Der Autor betont im bereits erwähnten Brief an Richard
Beer-Hofmann, dass seine Generation nicht mehr fähig sei, in die „Traumwelt“ der

115
Vgl. Barber, Dieter: Das Märchen der 672. Nacht, S. 1006-1007.
116
Sprengel, Peter: Geschichte der deutschsprachigen Literatur, S. 117.
117
Barber, Dieter: Das Märchen der 672. Nacht, S. 1007.
118
Vgl. Schweikle, Günther; Schweikle, Irmgard (Hrsg.): Metzler Literaturlexikon, S. 292.

32
Romantiker zu flüchten.119 Die Flucht in Traumwelten, die besonders die Gattung des
Kunstmärchens als Möglichkeit bietet, gelingt im Märchen der 672. Nacht auf Text-
ebene nicht, sondern diese Flucht erweist sich als tödlich. Auch wenn der
Ästhetizismus der Jahrhundertwende sich von den selbstkonstruierten „Traumwelten“
eine Wirklichkeitsflucht erhofft, so ist Hofmannsthal der Meinung, dass eine solche
Flucht keine angemessene Reaktion auf die sich verändernden Lebenswirklichkeiten
darstellt und lässt den Kaufmannssohn infolgedessen in einem „Anti-Märchen“
scheitern. Der für die Märchengattung typische Versuch, die „als unzulänglich
erfahrene Welt in einer erzählten Utopie zurechtzurücken“120, wird nicht zu Ende
geführt, sondern die in der ersten Hälfte des Märchens utopieartig gezeichnete Welt
des Kaufmannssohnes gerät in der zweiten Hälfte des Märchens, nach dem Eintreffen
des Briefes, zur Dystopie. Hierdurch scheint Hofmannsthals Märchen bereits der für
das 20. Jahrhundert typischen „die Leseerwartung düpierende[n] Verarbeitung von
Märchenelementen mit […] meist gesellschaftskritischer Intention“121 vorzugreifen.

Bevor näher auf die Lebensunzulänglichkeit des Kaufmannssohnes, dessen


Ästhetizismus und dessen finales Scheitern eingegangen wird, soll ein kurzer Einblick
in bisherige Publikationen zum Märchen der 672. Nacht gegeben werden.

Exkurs: Kurzer Forschungsüberblick

Die von Hofmannsthal selbst aufgeworfene und 1947 von Richard Alewyn
aufgegriffene These, dass der Gegenstand des Märchens die „Fragwürdig-
keit des ästhetischen Lebens und seine Überwindung sei“, wird mehrheit-
lich in der Sekundärliteratur geteilt. Dorit Cohn untersucht das Märchen
aus traumanalytischer Sicht.

Jens Rieckmann dagegen sieht im Märchen den Konflikt zwischen


menschlicher und künstlerischer Existenz auf fiktiver Ebene ausgestaltet:
Hofmannsthal wolle im Märchen nicht das ästhetische Leben kritisieren,
sondern intendiere vielmehr zu illustrieren, dass das Gewinnen „einer
festumrissenen Identität“, welches „Voraussetzung für die
Menschwerdung des Künstlers“ sei, „gleichbedeutend mit dem Verlust

119
Hofmannsthal, Hugo von; Beer-Hofmann, Richard: Briefwechsel, S. 47: „Wir sind zu kritisch, um in
einer Traumwelt zu leben wie die Romantiker; mit unseren schweren Köpfen brechen wir immer durch
das dünne Medium wie schwere Reiter auf Moorboden.“
120
Vgl. Schweikle, Günther; Schweikle, Irmgard (Hrsg.): Metzler Literaturlexikon, S. 293.
121
Vgl. Schweikle, Günther; Schweikle, Irmgard (Hrsg.): Metzler Literaturlexikon, S. 257.

33
künstlerischer Produktivität sein könne“.122 Hofmannsthal reflektiere so
im Medium des Märchens das „Chamäleondasein des Dichters“ und die
ihn zum Entstehungszeitpunkt des Märchens beschäftigende Frage, ob der
„Mensch Hofmannsthals“ auf Kosten des „Künstlers Hofmannsthals“ ver-
kümmern könne und gestalte dieses Dilemma auf literarischer Ebene aus.

Frye hingegen reiht sich in die allgemeine Deutungsrichtung des


Märchens ein, wenn sie hervorhebt, dass das Märchen als Erzählform
wohl mit dem Auszug des Kaufmannssohnes einen typischen Märchenbe-
ginn aufweise, dass es dann aber durch den märchenuntypischen Schluss
ironisiert werde. Dies, da der Auszug nicht zum Einzug in ein Schloss,
sondern zum Tod des Protagonisten führe, wodurch der Text eine kritisie-
rende Zeittendenz gewinne.123 Kritisiert werde so ein für die Moderne
typischer Ästhetizismus, der das „außerhalb unseres Lebens Existierende
verschöner[e], […] zum Nachteil des Lebens, dem man kaum mehr ge-
wachsen“ sei. Frye geht gar so weit, den Kaufmannssohn als Alter Ego
D’Annunzios zu deuten, dessen „leeres, von einem Verschönerungstrieb
beherrschtes Dasein“, welches schließlich „vom Leben zunichte“ gemacht
worden sei, Hofmannsthal mit seinem Märchen habe kritisieren wollen, da
er zwar das dichterische Talent D’Annunzios bewundert habe, nicht aber
das Künstliche an dessen Weltanschauung.124

Mauser hebt hervor, dass in der Literatur seit jeher Aufbruchsmythen do-
minieren würden: Während Protagonisten wie Tristan, Parzival, Robinson
Crusoe oder Faust jedoch aufbrechen würden, um sich der Welt draußen
zu stellen und sich ihrer eigenen Kraft zu vergewissern, würden sich die
Aufbruchsmythen der Moderne auf die „Psychologie“ des Aufbruchs
konzentrieren. Im Zentrum stehe seit dem Beginn der Moderne „die Ana-
lyse dessen, was den Aufbruch zur inneren Notwendigkeit mache“. Hier-
durch würden Belastungssyndrome des modernen Protagonisten ebenso
sichtbar wie die „Unerträglichkeit von Lebensverhältnissen“. Gleichzeitig
aber würden projektiv Perspektiven eines wünschenswert Anderen ver-
mittelt. Dies insofern als im Leser auf erster Ebene der Wunsch nach dem
Anderen evoziert werde und sich der Leser dieses wünschenswert Andere
auf zweiter Ebene als Kontrafaktur des Dargestellten imaginiere.125 Die
122
Rieckmann, Jens: Von der menschlichen Unzulänglichkeit: Zu Hofmannsthals Das Märchen der
672. Nacht. In: German Quarterly 54 (1981), S. 298-299: Wenn der Künstler eine Verknüpfung mit
dem Leben herstellen will, so ist der Schritt von der Präexistenz in die Existenz, notwendig. Wird
dieser Schritt aber vollzogen, droht der Verlust der künstlerischen Produktivität, da die mystische
Einheit von Ich und Welt, die im Zustand der Präexistenz gegeben ist, aufgegeben werden muss. Das in
der Präexistenz gegebene „groß[e] kosmisch[e] Ahnen“ geht verloren.
123
Vgl. Frye, Lawrence O.: Märchen der 672. Nacht von Hofmannsthal: Todesgang als Kunstmärchen
und Kunstkritik. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 108 (1989), S. 531.
124
Vgl. Frye, Lawrence O.: Märchen der 672. Nacht von Hofmannsthal, S. 547-550.
125
Vgl. Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 161-162.

34
Texte der Moderne, wie das Märchen der 672. Nacht, bieten demnach die
negative Folie, auf Grundlage derer das wünschenswert Andere imaginiert
werden kann. Die ästhetizistische Lebensführung des Kaufmannssohnes
wird zum negativen Exempel, welches den Leser dazu veranlassen soll,
sich projektiv ein Korrektiv dieser defizitären Lebensführung zu imaginie-
ren.

Wie Mauser darlegt, entspringen auch die Fluchtversuche des Kaufmannssohnes einer
„inneren Notwendigkeit“126: Wie die Söhne der Gründerväter, so empfindet auch der
Protagonist des Märchens der 672. Nacht die Lebensverhältnisse der Jahrhundert-
wende als unerträglich, sieht sich durch die zeittypischen Entwicklungen in eine
Gefühlswelt der Unsicherheit gestürzt und flüchtet vor der Komplexität der modernen
Welt in den Ästhetizismus.

Es ist das Gefühl einer Endzeit anzugehören, der Epoche eine Niederganges, der
Auflösung, der allgemeinen Gefährdung: Alles ist unsicher geworden, die Realität
löst sich in unendliche Spiegelungen und Täuschungen auf: Man kann sie nur mehr
als Spiel bestehen oder eben ästhetisch genießen.127

Genau dieser Erfahrung, dieser bereits von Hermann Broch in seinem Essay
Hofmannsthal und seine Zeit beschriebenen „Mentalitätsdisposition“, wie Steinlein
festhält,128 scheint Hofmannsthals junger Kaufmannssohn unterworfen. Auch wenn er
sich über sein Lebensgefühl nie direkt und explizit äußert, so ist sein Verhalten doch
zutiefst von einem Gefühl der Gefährdung geprägt, einem Gefühl, welches sich in
seinem Fall als undefinierbare, omnipräsente und unauslöschbare Angst präsentiert.
Diese Angst vor dem Leben, der er auf verschiedenste Weise Herr zu werden ver-
sucht, ergreift schlussendlich sein ganzes Wesen, bestimmt seine gesamte gescheiterte
Existenz und setzt ihn einer raum- und zeitauflösenden, traumartigen Treibjagd aus,
an deren Ende sein jämmerliches Verelenden steht. Die Angst des Kaufmannssohnes
resultiert aus einer ausgeprägten Lebensunfähigkeit, die ihn alles Vitale als Bedrohung
erfahren lässt, wie sich auf mannigfaltige Weise herausstellen wird. Bevor diese Angst
näher untersucht wird, soll zunächst analysiert werden, auf welchen Ebenen sich die
Lebensunfähigkeit des Kaufmannssohnes manifestiert.

126
Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 162.
127
Steinlein, Rüdiger: Gefährliche „Passagen“ - männliche Adoleszenzkrisen in der Literatur um 1900:
Hugo von Hofmannsthals Erzählungen Das Märchen der 672. Nacht und Die wunderbare Freundin. In:
Zeitschrift für Germanistik 14,1 (2004), S. 58.
128
Steinlein, Rüdiger: Gefährliche „Passagen“, S. 58.

35
2.2. Die vierfache Lebensunfähigkeit

Im ersten Teil der Erzählung führt Hofmannsthal die vier folgenden Aspekte der
Lebensuntüchtigkeit des Kaufmannssohnes an: seine Verfehlungen in Bezug auf
Gesellschaft und Arbeit, sein Unvermögen, zwischenmenschliche Beziehungen einzu-
gehen, seine nicht existierende Individualität, seine Flucht in die Kunst sowie seine
nur auf die Vergangenheit bezogene, verzerrte zeitliche Wahrnehmung.

2.2.1. Gesellschaft

Das scheinbar harmonische Leben des „junge[n] Kaufmannssohn[es], der sehr schön
war“ (MN 208), welches sowohl durch den Titel der Erzählung als auch durch die
Beschreibung des Protagonisten evoziert wird, wird noch im ersten Satz als Illusion
entlarvt. Nicht nur die Tatsache, dass der Kaufmannssohn bereits in jungen Jahren
Vollwaise ist, zeigt dies, sondern Hofmannsthal hebt sogleich die Eigentümlichkeiten
der Lebensweise des Protagonisten hervor. Zunächst zeigt sich dessen Lebensuntüch-
tigkeit darin, dass er „bald nach seinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr der Gesellig-
keit und des gastlichen Lebens überdrüssig“ (MN 208) wird und sich vollkommen aus
dem sozialen Raum zurückzieht. Er versperrt einen Großteil der Zimmer seines Stadt-
hauses und entlässt alle seine Diener, bis auf vier Stück, denen, wie später dargelegt
werden wird, eine besondere Rolle in der Erzählung zukommt.

Im Sommer zieht sich der Kaufmannssohn jeweils – wie es die iterative Verwendung
der Konjunktion „wenn“ andeutet (MN 212) – in seine Sommerresidenz in den Bergen
zurück. Dieser Rückzug kann, untersucht man die Beschreibung der genannten
Residenz genauer, ebenfalls als gesellschaftlicher Rückzug interpretiert werden.
Zunächst fällt die Abgeschiedenheit des Landhauses auf. Dieses liegt im Gebirge, „in
einem engen, von dunklen Bergen umgebenen Tal“, in dessen „Schluchten […] von
beiden Seiten [Wasserfälle]“ fallen, die dem Tal „Kühle“ (MN 212) verleihen. Die
Beschreibung des Rückzugsortes wird zudem von dunklen Farben dominiert, die die
Abgeschiedenheit des Landhauses unterstreichen. So ist der Mond fast unsichtbar,
„schwarze Wände“ umschließen das Tal und „weiße Wolken“, die über den „dunkel-
leuchtenden Himmel“ (MN 212) schweben, bilden die einzige, indirekte, Lichtquelle.
Darüber hinaus erscheint das Tal als Refugium der Reichen: „Dort lagen viele solche

36
Landhäuser der Reichen“ (MN 212). Der Kaufmannssohn zieht sich somit nicht nur
aus dem gesellschaftlichen Stadtleben in die Ruhe und die Einsamkeit der Berge
zurück, sondern er kann in seiner Sommerresidenz zudem das „normale“ Leben aus-
klammern, indem er sich in eine Enklave gutsituierter Bürger zurückzieht und sein
Leben nunmehr auf die Betrachtung schöner Gegenstände ausrichtet.

Zu Recht sieht Wolfram Mauser die beiden Rückzüge des Kaufmannssohnes als
„innere Zwanghaftigkeit“, als Konsequenz der „Unerträglichkeit von Lebensverhält-
nissen“129, wobei nicht die äußeren Lebensverhältnisse an sich unerträglich sind,
sondern eine ganze Generation unfähig ist, sich an die sich zu Beginn des 20. Jahr-
hunderts verändernden Gesellschafts- und Lebensformen anzupassen. Diese
Generation, durch materielles Erbe und die Reichtümer ihrer Väter abgesichert, wähnt
sich auf ihren vermeintlichen Sicherheiten auszuruhen und will die Notwendigkeit zur
Anpassung nicht anerkennen, was ihr kollektives Scheitern bedingt. So auch der
Kaufmannssohn, an dem gewissermaßen ein Exempel dieser Lebensunfähigkeit
statuiert wird. Unterstützt wird Steinleins These einer männlichen Adoleszenzkrise um
1900130 durch die Namenslosigkeit des Protagonisten, dessen einzige Identität in
seinem Sohn-Sein zu bestehen scheint. Als Erbe, als Sohn, geht der Kaufmannssohn
keiner aktiven Tätigkeit nach, sondern führt ein fast schon parasitäres Dasein.131 Er
übt keinen Beruf aus, sondern „[genießt] das in früheren Generationen Erarbeitete“132.
Seine „Bestimmung erfüllt sich weitgehend im Sohn-Sein“133. Der Kaufmannssohn
bewegt sich „geistig und materiell in Verhältnissen, die er nicht selbst geschaffen,
sondern als Erbe und Nachfahre übernommen hat.“ Hofmannsthal übt hierdurch, so
Mauser, implizite Zeitkritik an einem Lebensmuster, welches für eine
„kultursoziologisch beschreibbare Konstellation“134, die Moderne, steht. Die, durch

129
Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 162.
130
Vgl. Steinlein, Rüdiger: Gefährliche „Passagen“, S. 57-60.
131
Vgl. hierzu auch Kronauer, Brigitte: Die Dinge sind nicht unter sich!: zu Hugo von Hofmannsthals
Märchen der 672. Nacht. In: Kronauer, Brigitte (Hrsg.): Aufsätze zur Literatur. Stuttgart 1987, S. 29-
42. In einem ersten Punkt ihres Aufsatzes beschreibt sie das Verhalten des Kaufmannssohnes
gegenüber seinen Mitmenschen und Dienern als einen ausgebrochen marxistischen Klassenkampf und
bezeichnet seinen Tod als Manifestation der „Endkrämpfe jener, die durch Geburt und Geld herrschen“.
Sie bemerkt aber zugleich, dass eine umfassende Interpretation über diese Sichtweise hinausgehen
muss, wie sie in den weiteren Punkten ihres Aufsatzes zeigt.
132
Karthaus, Ulrich (Hrsg.): Die deutsche Literatur in Text und Darstellung. Bd. 13: Impressionismus,
Symbolismus und Jugendstil, S. 206.
133
Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 166.
134
Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 165.

37
orientalisch-persische Attribute bedingte, Verschleierung des ursprünglich genannten
Handlungsortes Wien versetzt das Märchen in einen geographisch nicht exakt festleg-
baren Raum und hebt es somit zur Allgemeingültigkeit, zur moralistischen Kritik an
einer um 1900 weit verbreiteten Lebensweise unter reichen Jünglingen an.135 Das Erbe
regt den Kaufmannssohn in keinster Weise dazu an, das Geschäft seiner Vorfahren
weiterzuführen, sondern ermöglicht ihm die vollkommene Abschirmung.136 Auch die
Diener können in diesem Sinne als Relikte der alten Zeit angesehen werden und ver-
körpern gleichsam die Lebensunzulänglichkeit des Kaufmannssohnes, der nicht nur
keinem Erwerbsleben nachgeht, sondern von seinem Erbe lebt und sich zugleich
Zuhause bedienen lässt. So hat er zwar, wie im Folgenden dargelegt werden wird,
jegliche gesellschaftlichen Kontakte abgebrochen, behält aber bezeichnenderweise
gerade die Diener im Haus, da sie es ihm, wie auch das Erbe, erlauben, ganztägig
seiner ästhetizistischen Weltbetrachtung nachzugehen und sich vollkommen von der
Welt des Alltäglichen abzuschirmen.

2.2.2. Zwischenmenschliche Beziehungen

Ein weiterer Lebensirrtum des Kaufmannssohnes ist sein Unvermögen, zwischen-


menschliche Beziehungen einzugehen, welches schon zu Beginn der Erzählung ange-
deutet wird: Er kann weder zu einer Frau noch zu Freunden dauerhafte Bindungen
aufbauen, da ihm an den Menschen, mit denen er bisher in Kontakt steht, „nichts ge-
legen [ist] und [ihn] auch die Schönheit keiner einzigen Frau so gefangen [nimmt],
dass er es sich als wünschenswert oder nur als erträglich vorgestellt hätte, sie immer
um sich zu haben“ (MN 208). Er lebt sich so in ein solipsistisches, „ziemlich einsames
Leben“ hinein, welches „anscheinend seiner Gemütsart am meisten“ (MN 208) ent-
spricht.

Dieses Verhalten bestätigt sich im weiteren Verlauf des Märchens in seiner Haltung
gegenüber seinen Dienern, vor allem gegenüber den weiblichen. Während die 15-
Jährige erstaunliche Parallelen zu seinem eigenen Verhalten aufweist  hiervon
zeugen sowohl ihr Todeswunsch (MN 210) als auch ihre Verschlossenheit und Wort-

135
Vgl. Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 165.
136
Vgl. Pfeiffer, Joachim: Tod und Erzählen. Wege der literarischen Moderne um 1900. Tübingen
1997, S. 110.

38
kargheit  ergreift die 18-Jährige ihn zwar mit ihrer Schönheit, an ihr zeigt sich aber
gleichsam, dass der Kaufmannssohn zwar Sehnsucht nach ihrer Schönheit, aber
keinerlei sexuelles Verlangen (MN 215) empfinden kann. Ihr Körper spricht für ihn
„die rätselhafte Sprache“ einer „verschlossen[en]“ und „wundervollen Welt“ (MN
212), die dem Ästheten unzugänglich bleibt. Der Erbe schließt die Möglichkeit, sich
dem „süßen Reiz“ hinzugeben, völlig aus, die Schönheit der 18-Jährigen erfüllt ihn
wohl „mit Sehnsucht“, nicht aber mit „Verlangen“. Er weiß, „dass es ihm nichts
bedeuten würde, sie in seinen Armen zu halten.“ (MN 215). So wie der Protagonist
sich in die Scheinwelt seiner Besitztümer zurückzieht, um ein „Ersatzleben“ zu füh-
ren, so schließt er auch jegliche Möglichkeit aus, eine wirkliche Beziehung aufzu-
bauen, und sucht stattdessen nach „ruhigem Besitz“, nach Reizersatz im Blumenduft.
Dem weiblichen Reiz seiner Dienerin ist er ebenso wenig gewachsen wie den übrigen
Reizen des Lebens: Er „suchte […] nach einer Blume, deren Gestalt und Duft […]
ihm für einen Augenblick genau den gleichen süßen Reiz zu ruhigem Besitz geben
könnte, welcher in der Schönheit seiner Dienerin lag, die ihn verwirrte […]“ (MN
215). Er ist demnach, wie für den Ästheten typisch, an keiner zwischenmenschlichen
Subjekt-Subjekt-Beziehung interessiert, sondern sucht Besitz über ein Objekt zu er-
langen. Das Subjekt wird vom Ästheten auf Objektrang degradiert, wie Briese-
Neumann unterstreicht: „Das Du als wesenhaftes Individuum wird der subjektivieren-
den Wahrnehmung subsumiert und erhält damit eine Objektposition.“137

Gleichzeitig „partizipiert“ der Kaufmannssohn, der nicht aus eigener Kraft am Leben
teilnimmt, durch die Diener „indirekt“ am Leben, indem er sich auf mystische Art und
Weise mit ihnen identifiziert,138 wie Rieckmann unterstreicht: Wenn er sie beobachtet,
sind ihm ihre „Bewegungen“ so vertraut, „dass er aus ihnen eine unaufhörliche,
gleichsam körperliche Mitempfindung ihres Lebens empf[ängt]“ (MN 214), die so
weit geht, dass er die Diener „stärker, eindringlicher“ leben fühlt, „als er sich selbst
leben fühl[t]“ (MN 212). Gerade in diesem Verhalten aber manifestiert sich die
Lebensunzulänglichkeit des Kaufmannssohnes, wie auch Mauser unterstreicht: „Wer
sich mit anderen ‚Wesen‘ auf lebensmystische Weise verbindet, kann den Weg zu
einer freieren, auf Gegenseitigkeit gegründeten zwischenmenschlichen Beziehung

137
Vgl. Briese-Neumann, Gisa: Ästhet - Dilettant – Narziss, S. 259.
138
Vgl. Rieckmann, Jens: Von der menschlichen Unzulänglichkeit, S. 301.

39
nicht finden.“139 Durch das Hineinversetzen in andere Lebewesen, durch mystisches
Einswerden mit seinen Dienern scheint der Kaufmannssohn, wenn auch nur sehr
begrenzt, am realen Leben teilnehmen zu können. Hierbei fühlt er ansatzweise die
„Schwere [des] Lebens“ (MN 213) und das mit dem Leben verbundene Dem-Tod-
Entgegenleben. Gerade aber weil die Diener Teil seiner selbst sind, weil er
„körperliche Mitempfindung ihres Lebens empf[ängt]“ (MN 214), deutet ihre Tod-
konnotiertheit den Tod des Kaufmannssohnes voraus. Die Kühle der Alten, ihre
kränkliche Weiße, ihre „blutlosen Hände“ (MN 213), der Selbstmordversuch der 15-
Jährigen sowie deren eisiger Blick deuten zudem an, dass der Tod des Kaufmanns-
sohnes dem von ihm imaginierten ästhetischen Tod diametral entgegengesetzt sein
wird.

„Wenn der direkte Zugang zu Welt und Leben versperrt ist, bleibt dem Modernen nur
noch, sich eine Kulissenwelt als Ersatztotalität zu schaffen.“140, hält Lorenz fest.
Dieses „moderne“ Verhalten trifft präzise auf den Kaufmannssohn zu: Seine
Lebensunzulänglichkeit versperrt ihm den Weg zum wirklichen Leben. Es gelingt ihm
weder, zwischenmenschliche, emotionale Bindungen aufzubauen, noch am gesell-
schaftlichen Leben teilzunehmen oder einer Arbeit nachzugehen. Stattdessen ruht er
sich auf den ererbten Besitztümern aus und schafft sich mit Hilfe feiner Möbel und
erlesener Kunstgegenstände besagte Ersatztotalität. Anstatt ein aktives Leben zu
führen, sucht er sich eklektisch Gegenstände aus der Vergangenheit zusammen,141 aus
welchen er sich in seiner Wohnung ein Ersatzuniversum konstituiert.

2.2.3. Ersatzuniversum Kunst

Nach dem Rückzug aus der Gesellschaft erhebt der Kaufmannssohn die Kunst, die
schönen Gegenstände, aber auch seine eigene Schönheit zu seinem einzigen Lebens-
inhalt und schafft sich so ein ästhetizistisches Ersatzuniversum, welches ihm ein
Leben abseits sozialer Kontakte und emotionaler Empfindungen ermöglicht: „Die
Schönheit der Teppiche und Gewebe und Seiden […], der Leuchter und Becken aus
Metall, der irdenen Gefäße wurde ihm so bedeutungsvoll, wie er es nie geahnt hatte.“

139
Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 169.
140
Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 79.
141
Vgl. Karthaus, Ulrich (Hrsg.): Die deutsche Literatur in Text und Darstellung. Bd. 13:
Impressionismus, Symbolismus und Jugendstil, S. 206.

40
(MN 208). Köster unterstreicht, dass die Welt „dem prinzipiellen Solipsismus des
Kaufmannssohnes […] als Bühne seiner Existenz [erscheine], als beherrschbarer Ort
der Käuflichkeit“ und dass das „Ich den Kosmos im Kleinen neu [schaffe]“. Das Haus
werde dem Erben „zum Spiegel einer ebenso, nämlich ästhetisch gestalteten und auf
es selbst hingeordneten, großen Ganzheit“.142 Der Kaufmannssohn stilisiert seine
Wohnung demnach zum Mikrokosmos, in welchen er vor der gesellschaftlichen
Wirklichkeit flüchtet. Die Konstitution seines eigenen, künstlichen Mikrokosmos geht
jedoch über die Konstitution eines reinen Flucht- oder Rückzugsortes hinaus. Der
geschaffene Mikrokosmos wird für den Kaufmannssohn zum Lebensersatz und die die
Ersatzwelt konstituierenden Kunstgegenstände erlangen metaphysische Bedeutung.

Das Betrachten der schönen Gegenstände zielt nicht primär auf ein augenblickliches
Glücksempfinden, sondern nimmt metaphysische Züge an: Der Kaufmannssohn be-
rauscht sich an den schönen Dingen, er erkennt „in den Ornamenten, die sich ver-
schlingen, ein verzaubertes Bild der verschlungenen Wunder der Welt“ (MN 208).
Anzumerken ist hierbei, dass das Ornament im Jugendstil Symbol für die Besinnung
auf die Ursprünge des Lebens ist, eine Besinnung, die im 19. Jahrhundert angesichts
der omnipräsenten Technisierung, Industrialisierung und Verwissenschaftlichung des
Lebens verstärkt zu beobachten ist, wie Karthaus darlegt. Das Ornament verweist so
auch auf eine Isolierung von der Wirklichkeit, wie sie für den Kaufmannssohn typisch
ist. Jost definiert das Ornament in diesem Sinne als „apotropäische Geste“143, als
Geste, die Unheil abwehren soll. Das Betrachten der Kunstgegenstände scheint dem
Kaufmannssohn Einsicht in das „göttliche Werk“ (MN 209), in das „Ordnungsgesetz
der Welt“144, zu ermöglichen, wie die repetitive Verwendung des Verbes „finden“
unterstreicht: „Er fand die Formen der Tiere und die Formen der Blumen […], er fand
die Seligkeit der Bewegung und die Erhabenheit der Ruhe […], er fand die Farben der
Blumen und Blätter […], ja, er fand den Mond und die Sterne, die mystische Kugel,
die mystischen Ringe […]“ (MN 208-209). Der Protagonist steigert sich durch das
Betrachten der schönen Gegenstände in einen rauschhaften Empfindungszustand, in
welchem er die verloren gegangene Einheit von Ich und Welt wiederzufinden glaubt:

142
Köster, Thomas: Die Außenwelt als Spiegel der Innenwelt, S. 148.
143
Vgl. Jost, Dominik: Literarischer Jugendstil. Stuttgart 1969, S. 8. Zitiert nach Karthaus, Ulrich
(Hrsg.): Impressionismus, Symbolismus und Jugendstil, S. 16.
144
Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 166.

41
„Er war für lange Zeit trunken von dieser großen, tiefsinnigen Schönheit, die ihm ge-
hörte.“ (MN 208). Mauser hebt hervor, dass der Kaufmannssohn diesen Zustand „als
Steigerung des Ich“ erfährt. Er weist dem Ästhetischen gerade deshalb
„übergeordneten Rang zu“145, weil es ihm das Erreichen dieses trunkenen Gefühls
erlaubt. Köster sieht im trunkenen Zustand des Protagonisten Parallelen zu der
Trunkenheit des Lord Chandos, mit dem Unterschied jedoch, dass die Zweifel Lord
Chandos‘ diesen zu einer „Katharsis seiner selbst“ hätten führen können, während der
Kaufmannssohn den Zweifeln ausweiche, er vielmehr vor einer Erkenntnis in sein
Landhaus flüchte. Dort fühle er sich weiter „monistisch verwoben mit der Welt,
ästhetisch hinweggetäuscht über die ästhetizistische Leere seiner Tage“. Im Gegensatz
zu Chandos gelinge es dem Kaufmannssohn nicht, einen neuen Bezug zur Wirklich-
keit aufzubauen.146

Das Herstellen eines neuen Wirklichkeitsbezuges scheitert daran, dass der


empfundene Glückszustand für den Kaufmannssohn zwar metaphysische Züge an-
nimmt, dass dieser Zustand sich aber stets als bloß augenblickshaft und ephemer
erweist. Er kann dem Protagonisten infolgedessen keine dauerhafte Erfüllung
gewähren. Die Gegenstände stellen für den Kaufmannssohn zwar das „große Erbe, das
göttliche Werk aller Geschlechter“, dar und vermitteln ihm die Illusion eines
umfassenden Zusammenhangs, sie können aber, wie Hartmut Scheible unterstreicht,
„die abgerissene Verbindung von Ich und Welt nicht neu knüpfen“. 147 So wie der
Kaufmannssohn die Schönheit dieser Dinge fühlt, so fühlt er gleichzeitig „die
Nichtigkeit aller dieser Dinge“ (MN 209). Die Flucht in ein reines Ästhetentum zeigt
dem Protagonisten zugleich die Grenzen desselben auf. Er fühlt die Bedeutungslosig-
keit der Gegenstände, ästhetizistisches Vergnügen vermag die Leere seiner Existenz
auf Dauer nicht zu füllen.

Anstatt jedoch durch diese Zweifel zu einer Einsicht in die Nichtigkeit seines ästheti-
zistischen Ersatzuniversums zu gelangen, flüchtet der Kaufmannssohn vor der begin-
nenden Erkenntnis in ein neues Ersatzuniversum, die Vergangenheit. Hier konstituiert
er mit der prunkvollen Welt Alexanders des Großen eine neue ästhetizistische
145
Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 166.
146
Vgl. Köster, Thomas: Die Außenwelt als Spiegel der Innenwelt, S. 149-151.
147
Scheible, Hartmut: Nachwort. In: Beer-Hofmann, Richard: Der Tod Georgs. Stuttgart 1980, S. 121-
122.

42
Gegenwelt, wie unter Punkt 4.2.2. genauer dargelegt werden wird. Mauser glaubt im
Empfinden dieser Nichtigkeit eine gewisse Einsicht des Kaufmannssohnes in die
Sinnlosigkeit seiner Existenz zu erkennen. Er ist der Meinung, dieser empfinde zeit-
weise den Auftrag, anders zu leben. Er werde temporär zum Skeptiker, ohne dass der
Skeptiker den Ästheten jedoch ablösen vollständig könne. Vielmehr sei das Leben des
Kaufmannssohnes durch „die Ambivalenz von Ästhetentum und Skepsis geprägt.“148
Zu dieser Einsicht kommt es meines Erachtens jedoch nur ansatzweise, da der Kauf-
mannssohn vor der beginnenden Erkenntnis sogleich in ein neues, in der Vergangen-
heit angesiedeltes, Ersatzuniversum sowie von der Stadt aufs Land flüchtet. Recht hat
Mauser jedoch mit der Feststellung, dass Hofmannsthal mittels des Märchens
aufzeigen wolle, dass die Alternative zum Ästhetentum nicht in der Skepsis, sondern
im Leben zu suchen sei; die Frage sei, wie das Ästhetentum mit dem Leben verbunden
werden könne. Gerade dieser Übergang in ein realitätsnäheres Leben jedoch gelingt
dem Kaufmannssohn nicht.

Die Lebensferne des Protagonisten zeigt sich erneut darin, dass er jegliche soziale
Komponente aus seinem Leben ausklammert und in völliger Selbstbezogenheit lebt:
Er schöpft bereits im Stadthaus „großen Stolz aus dem Spiegel“ (MN 209) und
erinnert hiermit an die mythologische Figur Narziss. Hofmannsthal hält in seinen
Notizen in Bezug auf den Narzissmus fest: „Das Eigene in einem geheimnisvollen
Spiegel anschauen. Narcissmusmotiv, endlich ertrinken in dem spiegelnden Dasein,
die Seele hergeben, die Welt dafür empfangen […]“.149 Der Autor definiert hier den
Narzissmus und hebt zugleich die der ästhetizistischen Existenz immanenten Gefahren
hervor. So scheint die narzisstische Selbstbetrachtung zwar einerseits das Erreichen
des trunkenen Zustandes der Einsicht in die Zusammenhänge der Welt zu erlauben,
andererseits aber endet die Selbstbezogenheit des Narziss letztendlich tödlich, er er-
trinkt im See. Ebenso tödlich wird die Selbstbezogenheit des Kaufmannssohnes
enden, so dass das von Hofmannsthal verwendete Narzissmusmotiv gewissermaßen
proleptisch auf den Tod des Kaufmannssohnes hinweist. Durch den Rückgriff auf das
Motiv kritisiert Hofmannsthal implizit die Selbstbezogenheit als eine der

148
Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 166-167.
149
Zitiert nach Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 165, der darauf verweist, dass
Hofmannsthal diese Wort um 1895 in Bezug auf das Märchen der 672. Nacht notiert. Vgl. auch Hugo
von Hofmannsthal: Reden und Aufsätze. Hrsg. von Bernd Schoeller. Band 3. Frankfurt am Main 1979,
S. 419.

43
Komponenten der Lebensunzulänglichkeit des Erben. Diese Selbstbezogenheit des
Kaufmannssohnes spiegelt aus Mausers Sicht das Verhalten des „wohlhabend[en],
kulturbeflissen[en] und gesellig[en] Bürgertum[s] […], in dessen Windschatten die
Generation der Söhne von 1875 [ trotz der sich abzeichnenden Krisen von
industrieller Revolution, Nationalismus und imperialistischer Konkurrenz ] ein
sorgenfreies Dasein führt und sich von den verfeinerten Formen des Lebens in Bann
ziehen l[ässt]“. Dieser Haltung „gegenüber ha[be] der Tod sozusagen heuristische
Bedeutung. Er steh[e] für die Erkenntnis, dass der Erbe und Ästhet auch als
Vermögender unvermögend bleibt.“150

2.2.4. Vergangenheit

Eine dritte Fluchtperspektive, nach der Flucht in die Einsamkeit und das Ästhetentum,
sieht der Protagonist in der Flucht in die Vergangenheit: Der Kaufmannssohn ernennt
den mächtigen antiken Heerführer Alexander den Großen zu seinem Alter Ego. Seine
Unzulänglichkeit im Leben sucht der Kaufmannssohn durch einen schönen Tod zu
kompensieren: Er sieht den Tod als „etwas Feierliches und Prunkendes“ (MN 209) an,
das ihm „über die von Löwen getragene Brücke des Palastes, des fertigen Hauses,
angefüllt mit der wundervollen Beute des Lebens“ (MN 209), entgegenkommen
soll.151 So liest der Kaufmannssohn im Garten des Landhauses „meist in einem Buch,
in welchem die Kriege eines sehr großen Königs der Vergangenheit aufgezeichnet
waren“ (MN 212). Die Geschichte vom großen König fungiert als Kompensations-
muster für die Lebensunzulänglichkeit des Ästheten. Sie dient „als Denk- und
Handlungsschema für den Kaufmannssohn, […] ist Vergangenheitsmaterial, das von
dem Sohn […] in die Gegenwart heraufbeschworen wird […] und zur Handlungs-
schablone des Sohnes wird.“152

150
Vgl. Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 168-169. Mauser führt zudem aus, dass die
Selbstbezogenheit des Kaufmannssohnes auch in den Bergen anhalte, auch hier zeige der Protagonist
eine „alles dominierende Besorgnis über das eigene Empfinden“, er sehe sich als Mittelpunkt und
erwarte, „dass sich alles an seinen Vorstellungen orientier[e]“.
151
Vgl. Anz, Thomas: Der schöne und der hässliche Tod. Klassische und moderne Normen literarischer
Diskurse über den Tod. In: Klassik und Moderne. die Weimarer Klassik als historisches Ereignis und
Herausforderung im kulturgeschichtlichen Prozess. Hrsg. von Karl Richter und Jörg Schönert. Stuttgart
1983, S. 420. Thomas Anz merkt an, dass dieser Todeswunsch psychoanalytisch auch als
„Identifikation mit dem Aggressor“ zum Zwecke der Angstbewältigung gesehen werden könne.
152
Frye, Lawrence O.: Märchen der 672. Nacht von Hofmannsthal, S. 533.

44
Interessant hierbei ist, dass dieses Verhalten des Kaufmannssohnes Parallelen zu
Hofmannsthals eigenem Verhalten aufweist, wie Briese-Neumann nahelegt: „Tiefe
und […] fortreißende Bücher“, so schreibt Hofmannsthal, böten eine Kompensation
für das „Gefühl der Unausgefülltheit, der Sinnlosigkeit des Daseins“ und würden es
erlauben, sich „bis zur Selbstvergessenheit“ zu „verlieren“153. Im bereits erwähnten
Brief an Richard Beer-Hofmann äußert auch der Autor den Wunsch, „ein Reich“ zu
„haben wie Alexander, gerade so groß und so voll Ereignis, dass es das ganze Denken
erfüllt“. So sieht für Hofmannsthal „das Wünschenswerte auf der einen
[Hervorhebung D.D.] Seite aus.“154 Während sich der Kaufmannssohn allein auf diese
„eine“ Seite des Lebens konzentriert, hebt Hofmannsthal dagegen hervor, dass man
auf der „anderen“ Seite im Leben verwurzelt bleiben müsse:

Auf der andern [Hervorhebung D.D.] aber steht eindringlich unser gemeinsames:
il faut glisser la vie! Und wer beides [Hervorhebung D.D.] versteht, kann es
vereinen.

Hofmannsthal selbst kennt also, wie der Kaufmannssohn, die Flucht in ästhetizistisch
konstruierte Welten, er hebt aber zugleich die Notwendigkeit hervor, die Kunst mit
dem Leben zu verbinden. Ebendies aber verweigert der Kaufmannssohn und wird
deswegen scheitern, womit Hofmannsthal Kritik an der einseitig ästhetizistisch aus-
gelegten Lebensweise des Kaufmannssohnes übt.

Wie in Bezug auf die Gegenstände sucht der Protagonist sich auch in Bezug auf die
Alexanderlegende „eklektisch aus der Vergangenheit das ihm Passende zusammen“155
und klammert alles Unschöne aus seinem rückwärtsgewandten Sterbeentwurf aus.
Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgehen, dass mit dem Rückgriff auf die
Alexanderlegende erneut der hässliche Tod des Kaufmannssohnes angedeutet wird:
Wie ein „verirrter König“ (MN 209) wird der Protagonist durch die Stadt seinem Ende
entgegentaumeln. Wie Alexander, der sich am Hyphasis- bzw. Bias-Fluss in Indien
zum Rückzug gezwungen sieht und hier immer noch glaubt, er sei an den Quellen des
Nils,156 verbleibt auch der Kaufmannssohn seinem Lebensirrtum bis zu seinem Tod
verfallen und wird am Ende des Märchens wegen seiner Lebensunzulänglichkeit eines

153
Vgl. Briese-Neumann, Gisa: Ästhet - Dilettant – Narziss, S. 302.
154
Vgl. Briese-Neumann, Gisa: Ästhet - Dilettant – Narziss, S. 307.
155
Vgl. Karthaus, Ulrich (Hrsg.): Impressionismus, Symbolismus und Jugendstil, S. 206.
156
Frye, Lawrence O.: Das Märchen der 672. Nacht von Hofmannsthal, S. 542.

45
hässlichen Todes sterben. Betrachtet man Fryes Hinweis, dass im Märchen der 460.-
462. Nacht aus den Märchen aus 1001 Nacht von einem König erzählt wird, der
ungeheure Schätze angehäuft hat und von einem Todesengel besucht wird, so könnte
der Titel des Märchens der 672. Nacht auf ebenjenes Märchen verweisen, womit
bereits im Titel auf den Tod des Kaufmannssohnes hingedeutet würde.

Letztendlich ist es so auch das Unvermögen des Kaufmannssohnes, in der Gegenwart


zu leben, welches sein hässliches Ende als Folge eines ungelebten Lebens bedingen
wird. Nicht nur aufgrund seines durch Erbschaft und somit durch Vergangenheit
finanzierten Lebens, sondern auch aufgrund seines die Gegenwart ausklammernden
Zukunftsentwurfs des prunkvollen Todes verwehrt der Ästhet sich der
Gegenwartserfahrung und der Teilnahme am „normalen“ Leben. Diese
problematische Situation der Orientierung an der Vergangenheit reflektiert
Hofmannsthal in seinem Aufsatz Zur Physiologie der modernen Liebe, in welchem er
von der „Epidemie des Historismus“157 spricht. Niefanger weist in diesem Kontext
nach, dass der Autor 1891 in seinem Essay über Paul Bourgets Physiologie de l’amour
moderne die Lebensfremdheit seiner Generation als Folge ebenjener „Epidemie des
Historismus“ sehe, welcher „vermittel[e], dass das eigentliche Leben nur in der Ver-
gangenheit zu empfinden sei.“158

2.2.5. Die indirekte Wahrnehmung der Wirklichkeit

Ein weiteres Vergehen der Hauptfigur ist die indirekte Wahrnehmung der Wirklich-
keit, welche besonders Lawrence O. Frye hervorhebt: „Der Kaufmannssohn hat eine
besondere Art und Weise, mit der Welt umzugehen“, er schaut sich die Welt „so
indirekt wie möglich“ an, „wie durch Vermittlung, ob aus der Ferne, durch
Perspektivverschiebung oder durch die Kunst“. Frye führt weiter aus, dass sich der
Kaufmannssohn ein Bild von dem mache, was er sehe, fühle und denke und er sich
dann in diesem Bild finde, „wie in einem Andern, und dieses Andere wird wiederum
zu etwas geheimnisvoll Schönem“. Das Mädchen mit den zwei Statuen vertritt dieses
„Prinzip der Indirektheit – und der Ferne“, wie Frye darlegt, da der Kaufmannssohn

157
Hofmannsthal, Hugo, von: Zur Physiologie der Liebe. In: Ders.: Gesammelte Werke in zehn
Einzelbänden. Reden und Aufsätze. Band 1, S. 96-97.
158
Vgl. Niefanger, Dirk: Hugo von Hofmannsthals Essay Gabriele D‘Annunzio (1893). [o. O.] 2004, S.
5-6. Online verfügbar unter: www.erlangerliste.de/ede/hofmanns.pdf [Stand: 30.6. 2014]

46
sie im Spiegel und durch Perspektivverschiebung erblickt: So „erblickte er die
Größere in einem geneigten Spiegel […], in dem Spiegel kam sie ihm […] aus der
Tiefe entgegen.“ (MN 214). Das Mädchen ist hierdurch aus Fryes Sicht „nicht mehr
sie selbst, sondern ist im Medium des Spiegels und durch die Perspektive eine Andere
geworden, die aus einer anderen Dimension kommt. Dadurch weist sie auf eine nicht
genannte Andere hin“, wie auch die Figuren, die sie in den Händen trägt.159 Der
Protagonist des Märchens neigt demnach dazu, alles zu verschönern, alles ästhetizis-
tisch zu perspektivieren, und nimmt infolgedessen nichts unmittelbar wahr. Dies aber
bedingt seine defizitäre Lebenshaltung: Da er den direkten Zugang zu Menschen und
zum Leben im Allgemeinen vermeidet, kann er nur indirekt am Leben partizipieren.
Eine unmittelbare Teilnahme am wirklichen Leben bleibt ihm verwehrt, er ist diesem
nicht gewachsen.

So wie der Kaufmannssohn seine Umwelt nur durch die Kunst wahrnimmt, so nimmt
er auch die 18-jährige Dienerin nur über das Medium des Spiegels wahr, was ihm er-
laubt, direkten menschlichen Kontakt zu vermeiden und sich den Reizen der 18-
Jährigen zu entziehen. Gleichzeitig aber verschleiert ihm diese mediale Vermittlung
die hässliche Seite der Kunst und der Schönheit: Er nimmt zwar die „tot[e] Schwere
an den lebendigen zarten Schultern“ der Dienerin und die Schwere der Schönheit ihres
Hauptes wahr, stilisiert sie aber zu Attributen einer „Königin im Kriege“ (MN 224).
Der Ästhet nimmt also die in der Dienerin und in den von ihr getragenen Statuen ent-
haltene Todesbotschaft nicht wahr.160 Auch die im Märchen gehäuft auftretenden
orientalischen Symbole weisen aus Fryes Sicht auf die Lebensferne und die indirekte
Wirklichkeitswahrnehmung des Kaufmannssohnes hin: „Im Orientalischen wird das
als Märchenhandlung geführte Leben als ein der eigenen Gegenwart fernes und in der
Kunst schon dargestelltes Leben vorgezeichnet […].“ Der Kaufmannssohn „erlebt
sein Leben […] auf indirekte Weise, z.T. durch vermittelnde, exotische Kunst.“161

Dass es sich bei der vom Kaufmannssohn so konstruierten Welt um eine


ästhetizistische Scheinwelt handelt, wird deutlich, wenn man das Verhalten des
Kaufmannssohnes genauer betrachtet: Wird er selbst aus der Rolle des Beobachters,

159
Vgl. Frye, Lawrence O.: Märchen der 672. Nacht von Hofmannsthal, S. 538.
160
Vgl. Frye, Lawrence O.: Das Märchen der 672. Nacht von Hofmannsthal, S. 537-540.
161
Vgl. Frye, Lawrence O.: Märchen der 672. Nacht von Hofmannsthal, S. 535.

47
der im Betrachten der schönen Gegenstände höchste Erfüllung findet, in die Rolle des
Beobachteten gedrängt, beginnt die sorgfältig errichtete Ersatzwelt zu bröckeln. Dies
wird beispielsweise an seiner Reaktion auf die vier verbleibenden Diener deutlich. Er
hat sich die vier, ihn in die Einsamkeit begleitenden, Diener zwar bewusst ausgesucht,
dieselben erscheinen ihm nach seinem doppelten Rückzug allerding als Bedrohung.
Dies sowohl im Stadthaus, wo er das Gefühl hat, sie „umkreisten ihn wie Hunde“
(MN 210), als auch nach seinem Rückzug ins Landhaus: Hier wird ihm die Bedro-
hung, die ihr Blick auf ihn darstellt, vollends bewusst, als er im Garten sitzt und liest:
„Er fühlte, […] dass die Augen seiner vier Diener auf ihn geheftet waren.“ (MN 212).
Das Gefühl der Angst und der Bedrohung, welches der Erbe empfindet, wächst derart
an, dass er aufstehen und umhergehen muss, „um seiner Angst nicht zu unterliegen“
(MN 213). Doch dies mindert sein Angstgefühl nicht. Er fühlt weiterhin „ihre Augen“
(MN 213), fühlt sich dann kurz erleichtert, als der ältere Diener den Blick von ihm
abwendet, erwartet aber „in heimlicher Angst den Augenblick“, in dem sich der Blick
des Dieners wieder auf ihn heften wird. In gleichem Maße empfindet er den Blick der
jüngeren Dienerin als „höhnische Aufmerksamkeit“ (MN 213) und versucht, vor der
unerträglich werdenden Angst in die Ecke des Gartens zu flüchten. Frye betont
ebenso, dass die Diener dem Kaufmannssohn als Bedrohung erscheinen: Verschiebt
sich die „Perspektive von dem sehenden Ich […] zum gesehenen Ich“, wird dieser
Perspektivwechsel vom Kaufmannssohn als Bedrohung erfahren: In die Perspektive
des sehenden Ich „flüchtet er und verschönert, was er sieht“, in der anderen „fühlt er
sich beängstigt und bedroht“162.

Unausweichlich ist nun die Frage, weshalb ihm die vier verbleibenden Diener als
Bedrohung erscheinen. Untersucht man die betreffenden Stellen im Märchen genauer,
wird deutlich, dass die „Repräsentanten der vier Lebensalter“ (MN 206)
gewissermaßen zum Sprachrohr Hofmannsthals werden und die ästhetizistische
Lebensweise des Kaufmannssohnes dadurch hinterfragen, dass sie als „Stellvertreter
des Lebens“163 fungieren und dem Kaufmannssohn, dem Lebensunfähigen, selbige
Unfähigkeit tagtäglich vor Augen führen: „Er fühlte sie leben, stärker, eindringlicher,
als er sich selbst leben fühlte.“ (MN 212). Die Diener zwingen den Kaufmannssohn,

162
Vgl. Frye, Lawrence O.: Märchen der 672. Nacht von Hofmannsthal, S. 538.
163
Bosse, Heinrich: Nachwort. In: Hugo von Hofmannsthal: Reitergeschichte und andere Erzählungen.
Reclam. Ditzingen 2000, S. 79.

48
der nie über sich selbst, sondern immer nur über seine Mitmenschen nachdenkt, zur
Selbstreflexion: „Sie [zwangen] ihn in einer unfruchtbaren und so ermüdenden Weise
an sich selbst zu denken.“ (MN 214). Er fühlt, dass sie „sein ganzes Leben an[sehen],
sein tiefstes Wesen“, und ahnt, dass sie hierdurch seine „geheimnisvolle menschliche
Unzulänglichkeit“ (MN 214) erkennen. In Folge der Angst vor dieser Erkenntnis der
Diener überkommt ihn eine „tödliche Angst vor der Unentrinnbarkeit des Lebens“
(MN 214). Anstatt jedoch in Folge dieser Erfahrung seine Lebensweise in Frage zu
stellen, flüchtet der Erbe erneut vor einer Einsicht in seine defizitäre Lebensweise,
zunächst in die Ecke des Gartens. Da die Flucht in die Ecke des Garten es jedoch nicht
erlaubt, die Angst zu minimieren  der Garten ist zu klein, um den Dienern „zu ent-
rinnen“ (MN 214)  wendet der Protagonist einen neuen Verdrängungsmechanismus
an: Er tritt den die Angst auslösenden Personen so nahe, dass „seine Angst so völlig
[erlischt], dass er das Vergangene beinahe verg[isst]“ (MN 214). Durch diese
zweifache Flucht unterstreicht Hofmannsthal, dass die Weise, in der der Kaufmanns-
sohn an sich selbst denkt, „unfruchtbar“ ist und er folglich zu keiner Einsicht in das
Unzulängliche seiner Existenz gelangt.

2.2.6. Die den Kaufmannssohn ergreifende Angst

Nachdem so jegliche Fluchtversuche vor dem Leben scheitern, ergreift den Kauf-
mannssohn zunehmend die Angst. Sie „bemächtigt sich“ immer wieder „seines Blutes
und seines ganzen Denkens“ (MN 213). Den Anforderungen des Lebens ist er nicht
gewachsen, er erfährt sie vielmehr als Qual. Er scheint sich darüber hinaus im Laufe
der Erzählung der Grenzen seiner Verdrängungstaktiken bewusst zu werden. Es er-
greift ihn „eine seltsame Unruhe“ (MN 215). Er scheint nunmehr um die vergebliche
Suche nach „ruhigem Besitz“ (MN 215) zu wissen. Seine Lebensmanier kann nur
„Scheinerfahrungen“ gewähren, die innere Leere seiner Existenz kann sie nicht füllen.
Seine Suche bleibt ergebnislos, er findet nur „Schwestern“ des Gesuchten: „In den
Stielen der Nelken […] erregtest du meine Sehnsucht; aber als ich dich fand, warst du
es nicht, die ich gesucht hatte, sondern die Schwestern deiner Seele“ (MN 215), so
seine erste Bilanz. Auch Mauser, der den Aufbruch in die Berge noch – zu Unrecht 
als Aufbruch in ein realitätsnäheres Leben interpretiert hatte, kommt zum Schluss,
dass die Flucht in die Berge für den Kaufmannssohn zur Aporie werde: „Denn was

49
sich zunächst als Aufbruch in ein realitätsnäheres Leben darstellt, erweist sich als
fatale Verschärfung der entropischen Situation, aus der sich der ‚Held‘ nicht befreien
kann. Er stürzt in die Angst vor der ‚Unentrinnbarkeit des Lebens‘“,164 sieht seinen
abgeschirmten Schutzbereich gefährdet.

2.3. Die Anklage gegen die ästhetizistische Lebensweise des


Kaufmannssohnes

In diesem Zustand der beginnenden inneren Bewusstseinswerdung seiner


existentiellen Krise, falls es überhaupt angebracht ist, diese Bezeichnung zu verwen-
den, da hierzu ja a priori eine gelebte Existenz vorhanden sein müsste, erreicht den
Kaufmannssohn ein Brief. Dieser läutet sowohl den zweiten Teil der Erzählung als
auch den Niedergang des Kaufmannssohnes ein. Hervorzuheben ist besonders die
Unsigniertheit des Briefes und die damit im Dunkeln verbleibende Identität des Ver-
fassers; außerdem wird das dem Protagonisten vorgeworfene Verbrechen nicht näher
definiert. Diese Anonymität könnte auf das an die Oberfläche drängende Unterbe-
wusstsein des Kaufmannssohnes deuten, wie es unter anderem Cohn und Rieckmann
hervorheben:165 Tief in seinem Innern weiß der Kaufmannssohn um sein verfehltes
Leben. Auch wenn er diese Erkenntnis stets verdrängte und vor ihr flüchtete, so be-
gann das Unbewusste bereits im Landhaus in sein Bewusstsein zu drängen, wie unter
2.2.6. dargelegt wurde. In der Tat scheint der Brief den Erben nicht völlig aus dem
Nichts zu erreichen, sondern er ist über das Eintreffen nur bedingt überrascht, der
Brief beunruhigt ihn nur „einigermaßen“ (MN 215).

Die Anonymität des Briefes verweist hierbei auf die Identitätslosigkeit des Protago-
nisten: Er ist unfähig, über sein eigenes Ich nachzudenken und ein von seinen Dienern
unabhängiges Leben zu führen. In diesem Sinne sind die Anschuldigungen an den

164
Vgl. Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 169.
165
Vgl. hierzu Cohn, Dorrit: „Als Traum erzählt“: The Case for a Freudian Reading of Hofmannsthal’s
Märchen der 672. Nacht. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und
Geistesgeschichte 54. 1980, S. 288-292. Cohn sieht die zwei Ursachen für das Verhalten des
Protagonisten in dessen Kindheit angesiedelt: fehlende Vaterliebe sowie eine ödipale Liebe zu seiner
Mutter. Vgl. auch: Rieckmann, Jens: Von der menschlichen Unzulänglichkeit, S. 298-300: Auch Jens
Rieckmann sieht das Problem „von unbewussten inneren, anstatt von äußeren Faktoren determiniert“,
allerdings ist seine Analyse auf das „problematische Verhältnis zwischen menschlicher und
künstlerischer Existenz“ ausgerichtet, er liest Hofmannsthals Erzählung als Beweis für die von Keats
definierte „Chamäleonnatur des Dichters“.

50
Diener auch Anschuldigungen an das eigene Subjekt, ist der Kaufmannssohn doch mit
den Dienern „durch die Gewohnheit und andere geheime Mächte völlig zusammen-
gewachsen“ (MN 216). So ist der Brief also zugleich Angriff und Urteil über die
eigene Existenz. Der im Brief ausgedrückte Hass lässt zudem auf den Kaufmanns-
sohn, respektive auf sein Unterbewusstsein, als Verfasser schließen: So wie der
Kaufmannssohn am Ende seine Diener dafür verdammt, ihn in den Tod geführt zu
haben, so hegt auch der „Unbekannte“ einen „heftigen Hass“ (MN 215) gegen den
Diener  und somit zugleich gegen sich selbst und sein eigenes Leben.

Der Kaufmannssohn reagiert mit großer Angst auf den Brief und empfindet zugleich
„zornige Erregung“. Die Anklage empfindet er als Anklage gegen seine
ästhetizistische Lebensweise: „Es war ihm, als wenn man seinen innersten Besitz be-
leidigt und bedroht hätte und ihn zwingen wollte, aus sich selber zu fliehen und zu
verleugnen, was ihm lieb war.“ (MN 216). Die Angst, die der Kaufmannssohn
empfindet, ist die Angst vor dem Verlust seiner Kunstwelt. Er hat Angst davor, dass
Objekte aus seinem konstruierten Ersatzuniversum entnommen werden und dieses
somit gefährdet wird: „Er sah schon seine vier Diener aus seinem Hause gerissen und
es kam ihm vor, als zöge sich lautlos der ganze Inhalt seines Lebens aus ihm […].“
(MN 216). Der Erbe erkennt zu diesem Zeitpunkt, welche Wichtigkeit materielle
Güter für seine Lebensweise haben und „begr[eift]“ infolgedessen „zum ersten Mal
[…] die angstvolle Liebe, mit der sein Vater an dem hing, was er erworben hatte, an
den Reichtümern seines gewölbten Warenhauses […]“ (MN 216). Auch wenn der
Protagonist zu diesem Zeitpunkt beginnt, die Brüchigkeit seiner auf Besitztum und
Erbe begründeten Scheinwelt zu begreifen, und sieht, „dass der große König der Ver-
gangenheit hätte sterben müssen, wenn man ihm seine Länder genommen hätte“ (MN
216), ist er nicht bereit, seine Lebensweise zu hinterfragen oder gar zu ändern. „Sein
ästhetisierender Lebensentwurf bricht“ nicht, wie Steinlein schreibt, „unter dem Druck
der von dem anonymen Drohbrief mobilisierten diffusen Ängste zusammen“.166
Vielmehr gewinnt der Zorn über die Anschuldigung, die erhoben wird, die Oberhand
über die Angst und der Kaufmannssohn bricht auf, um „diese Sache zur Ruhe zu
bringen“ (MN 216). An einer Aufklärung des Verbrechens ist ihm nicht gelegen, diese
käme nämlich einer Selbstverleumdung gleich: Nur indem er seine Kunstwelt zu ver-

166
Vgl. Steinlein, Rüdiger: Gefährliche „Passagen“, S. 58-59.

51
teidigen und zu erhalten sucht, kann er bestehen. Wiederum flüchtet der Protagonist
also vor der beginnenden Einsicht in die Grenzen des Ästhetizismus. Mit diesem
Entschluss aber besiegelt er seinen Untergang, da er sich mit dem Verlassen seines
selbstkonstruierten Schutzbereiches und seiner einzigen Verbindung zum Leben, den
Dienern, der Wirklichkeit hilflos ausliefert. Der Ästhet tritt somit den Weg zu seinem
Tod an. Der zweite Teil führt laut Mauser exemplarisch vor, „was passiert, wenn es
nicht gelingt, sich vom Primat des Schönen […] zu lösen.“167

2.4. Die Reaktion des Kaufmannssohnes

Obwohl der Kaufmannssohn das Versagen materieller Güter als „lebensfüllende“


Maßnahme zu ahnen scheint, ist er nicht bereit, seine Lebensweise zu hinterfragen,
sondern hält an seiner solipsistischen Einstellung fest168 und sucht seinen
Schutzbereich zu verteidigen. Mauser dagegen vertritt  meines Erachtens zu Unrecht
 eine divergierende Position und ist der Ansicht, dass der Kaufmannssohn sich der
Prekarität seiner Lebensverhältnisse bewusst werde. Das Märchen sei als Experiment
zu verstehen, welches die Frage aufwerfe, was geschehe, wenn der „Ästhet sehend
werde“169. Dem Kaufmannssohn stelle sich „unerbittlich […] die Frage, wie es
gelingen kann, sich aus einer Daseinsform zu lösen, die sich zu sehr im Genuss des
Schönen eingerichtet hat.“170 Gerade dies aber versucht der Kaufmannssohn meines
Erachtens nicht: Anstatt die, durch die Angst indizierte, einsetzende Erkenntnis
zuzulassen, flüchtet er zunächst vor der beginnenden Erkenntnis in die Ecke des
Gartens und bricht dann auf, um die Vorwürfe gegen seinen Diener – und somit gegen
die ästhetizistische Lebensweise – zu entkräften. Er lässt demnach zu keinem Moment
die aufkeimende, sich ihm gewissermaßen aufdrängende, Skepsis gegenüber seiner
ästhetizistischen Lebensführung zu. Ziel Hofmannsthals sei es  so Mauser weiter und
hierbei ist ihm wiederum zuzustimmen zu verdeutlichen, was am Ästhetentum einem
realitätsnahen, sittlichen Leben entgegenstehe. Mauser erkennt dem Märchen
demnach eine moralische Dimension zu: Es sei eine Versuchsanordnung, die vorführe,
dass der Held zwar aufbreche, um sich der Wirklichkeit zu stellen, dass ihm aber der

167
Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 169.
168
Vgl. Köster, Thomas: Die Außenwelt als Spiegel der Innenwelt, S. 151.
169
Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 164.
170
Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 163.

52
Weg in eine soziale Integration nicht gelinge, sondern er in narzisshafter Vereinzelung
verharre. Der „Held“ trage keinen Namen, da er „Lebensmuster vergegenwärtig[e],
die für eine kultursoziologisch beschreibbare Konstellation kennzeichnend“ seien.171

So wie der Ästhet die am Ende des ersten Teils des Märchens beginnende Erkenntnis
nicht zulässt, sondern vor ihr flüchtet, so hat er von Beginn der Erzählung an aufkei-
mende Momente der Einsicht in die Grenzen seiner Lebensführung unterdrückt: Die
ästhetische Betrachtung der schönen Gegenstände lässt den Kaufmannssohn kurz die
„Nichtigkeit“ der Gegenstände erkennen (MN 209), während der Flucht in die Ver-
gangenheit erkennt er kurz die Bedrohung der Reiter (MN 212) und bei der Flucht in
den Garten erfährt er ebenso kurz die Begrenztheit dieses Gartens (MN 214), alle
diese Momente verdrängt er jedoch stets sofort. Obgleich seine Verhaltensmuster also
bereits in seiner eigens nach diesen Mustern errichteten Welt an ihre Grenzen
gestoßen sind, wendet der Kaufmannssohn sie auf seiner Reise durch die Stadt stur in
der wirklichen Welt an und tritt somit seine stufenweise Reise in den Tod an. Er wird
im zweiten Teil des Märchens von Spiegelungen seiner alten Existenz  Mauser
referiert hierauf auch als „Kontrafaktur[en]“172  angezogen werden, wird durch die
Stadt irren und seinem Tod unaufhaltsam entgegentaumeln. Seine Füße werden ihn
„dahin tragen, wo er sterben soll“ (MN 209); allerdings wird der tatsächliche Sterbeort
dem von ihm imaginierten Palast Alexanders des Großen diametral entgegengesetzt
sein. Der Protagonist wird Raum- und Zeitorientierung verlieren173 und nach dem
Zerfall seiner Bilderwelt  und somit dem Zerfall seiner Welt überhaupt  eines häss-
lichen, elenden Todes sterben, wodurch der Autor Kritik am Verhalten des Kauf-
mannssohnes übt, der an seiner rein ästhetizistischen Lebensweise festhält und das
soziale Leben vollständig ausklammert.

Schon der erste Schritt des Protagonisten ins wirkliche Leben zeigt die Grenzen seines
verinnerlichten Fehlverhaltens auf. „Ohne ein Wort zu sagen“ und „allein“ (MN 217),
jedwede Kooperation und jedweden menschlichen Kontakt ausschließend, begibt er
sich in die Stadt, zum Haus des Gesandten des Königs von Persien. Hier muss er er-
kennen, dass ihm der von ihm hochstilisierte Orient hässlich und feindselig gegen-

171
Vgl. Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 165.
172
Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 170.
173
Vgl. Köster, Thomas: Die Außenwelt als Spiegel der Innenwelt, S. 151.

53
übertritt, dies in Person des Kochs und des Schreibers des Gesandten des Königs von
Persien, die für den Narzissten nur „mürrische Antworten“ (MN 217) übrig haben.
Alsdann muss der Protagonist erfahren, dass ihm seine Wohnung, seine künstlich
errichtete Ersatzwelt also, verschlossen ist, und zwar endgültig, wie sich später
herausstellen wird. Rieckmann sieht hierin die Folgen einer beginnenden Individua-
tion, die die Künstlerexistenz bedroht, da sie den Künstler aus der Präexistenz und
somit der mystischen Einheit zwischen Ich und Welt reißt.174 Frye hebt hervor, dass
„die Macht des hässlich Bedrohlichen“ allmählich „die Oberhand gewinn[e]“ und „das
Verschönerungsvermögen“ des Kaufmannssohnes ausschalte, der „die Herstellung
einer verschönerten Bilderwelt [nicht mehr kontrolliere].“175

Noch hat der Kaufmannssohn jedoch nicht erkannt, dass ihn das sture Verteidigen
seiner alten, ästhetizistischen, das reale Leben ausklammernden Lebensweise unwei-
gerlich in den Tod führen wird. Er verlässt sich auf alte Strategien und flüchtet in Be-
reiche, die seiner alten Welt am nächsten kommen. Erste Station auf seinem Weg ist
so ein mit Geld und Reichtum zu assoziierender Laden, ein Juwelierladen. Dieser
zieht den Kaufmannssohn, welcher sein ästhetizistisches Ersatzuniversum mittels er-
erbten Geldes errichtet hat, magisch an, da er ihn an sein altes Leben erinnert: Die
Kreuzung, in deren Nähe der Laden liegt, kommt ihm „traumhaft bekannt“ (MN 217)
vor. Der Erbe verkennt hierbei aber die der Umgebung immanenten, seinen Tod
bereits antizipierenden, Symbole: Die Blumen in den Fenstern sind „hässlich“ und
„verstaubt“, das Bett des Flusses ist „trocken“ und von „tödlicher Traurigkeit“ (MN
217) und könnte bereits den versiegenden Lebensfluss des Kaufmannssohnes voraus-
deuten. Der Schmuckladen erlaubt dem Kaufmannssohn nicht  wie dieser es erwartet
 an seine alte Existenz anzuknüpfen, vielmehr suchen ihn im Laden Spiegelungen
seiner Vergangenheit auf, die ihm zum Verhängnis werden. Zunächst erinnert ihn im
Schaufenster ein gewissermaßen als Lockmittel fungierender „altmodische[r]
Schmuck aus dünnem Gold, mit einem Beryll verziert“ (MN 218) an seine alte
Dienerin und geleitet ihn in den Laden. Diese Erinnerung leitet dann eine zweite
Erinnerung ein und zwar eine Erinnerung an die 18-Jährige. Wie schon im Garten des
Landhauses tritt das 18-jährige Mädchen dem Protagonisten wiederum nur vermittelt

174
Vgl. Rieckmann, Jens: Von der menschlichen Unzulänglichkeit, S. 298-299.
175
Vgl. Frye, Lawrence O.: Das Märchen der 672. Nacht von Hofmannsthal, S. 537-540.

54
entgegen, diesmal gar über zwei Spiegel: In einem Handspiegel spiegelt sich das Bild
eines anderen Spiegels, aus welchem das Mädchen auf den Kaufmannssohn zukommt
und in ihm einen flüchtigen Reiz auslöst. Bezeichnend dabei ist, dass der erste Spiegel
„halb erblindet“ (MN 218) ist, was einerseits bedeutet, dass die direkte Konfrontation
zu vermeiden trachtende Verschiebungstaktik des Protagonisten erneut an ihre Gren-
zen stößt: Das Leben lässt sich nicht verdrängen und der Protagonist muss  wenn
auch nur flüchtig  den Reiz des Mädchens wahrnehmen. Andererseits steht die
Blindheit des Spiegels aber auch stellvertretend für die Blindheit des
Kaufmannssohnes, die ihn für jegliche warnenden Hinweise176 unempfänglich macht.
Nur wenig später verschleiert die soziale Blindheit des Kaufmannssohnes diesem so
die Warnung vor dem Hufschlag des Pferdes: „Er erwiderte, dass er sich als Sohn
eines Kaufmannes nie mit Pferden abgegeben hatte.“ (MN 219). Den in ihm ausge-
lösten flüchtigen Reiz aber verdrängt der Erbe durch den Kauf eines solchen
Kettchens und greift mit dem Kauf, und somit letztendlich dem Besitz, ein ihm be-
kanntes Verhaltens- und Bewältigungsmuster auf. Hierdurch klammert er erneut
jeglichen Ansatz einer zwischenmenschlichen Empfindung aus.

Dass der Protagonist nicht bereit ist, alte Verhaltensmuster abzulegen, wird ebenfalls
deutlich, als er durch das Fenster des Juwelierladens einen „sehr schön gehaltenen
Gemüsegarten“ (MN 219) erblickt, dessen Schönheit ihn unweigerlich anzieht. Er
betritt den Garten und kann auch hier den Reizen des Schönen, den Anemonen und
Narzissen, nicht widerstehen. Er lässt sich von diesen Blumen aus dem Garten ins
erste Glashaus locken. Durch das Betreten des Gartens und des Glashauses wird deut-
lich, dass der Kaufmannssohn dem Ästhetentum nicht entsagen kann und sich von
ästhetischen Erscheinungen unweigerlich angezogen fühlt: Er ist abhängig von den
schönen Dingen, weil er sich an ihnen „sattsehen“ (MN 219) und somit seine innere
Leere füllen kann. Kronauer betont in diesem Sinne, dass das Treibhaus dem Ästheten
als „Regenerierungszentrum“177 erscheine; Köster führt an, dass das Glashaus eine
„Fluchtburg“ für den Protagonisten darstelle. Beim Anblick der Blumen verfällt er
dann auch sogleich in das bekannte kontemplative Verhaltensmuster: Er kann sich

176
Das „kindliche [Hervorhebung D.D.] und doch an einen Panzer [gemahnende] Kettchen“ (MN 218)
könnte beispielsweise symbolisch das in den Schutzbereichen der Vergangenheit, der Kindheit und des
Erbes verfangene Leben des Kaufmannssohnes verurteilen.
177
Kronauer, Brigitte: Die Dinge sind nicht unter sich!, S. 32.

55
„lange nicht sattsehen“. Die Narzissen(!) und Anemonen aber sind, neben ihrer
Funktion der Repräsentation des Schönen, Zeichen des Todes 178 und deuten das 
auch durch Narzissmus(!) verschuldete  Ende des Kaufmannssohnes voraus. Die
„untergehende Sonne“ deutet ebenfalls das Ende seiner Tage an, ohne dass der Kauf-
mannssohn sich dessen bewusst ist, „ohne, dass er es beobachtet hatte“ (MN 220).

Ins zweite Treibhaus wird der Protagonist erneut von einer Spiegelung aus dem ersten
Teil des Märchens gelockt. Ein vierjähriges Mädchen, das ihn an die 15-Jährige
erinnert, sieht ihn aus dem Glashaus „böse“ (MN 220) an. Obwohl er zunächst durch
eine Scheibe vom Kind getrennt ist, ergreift ihn Entsetzen und eine „namenlose
Furcht“ (MN 220). Die Furcht ist „namenlos“, weil der Protagonist einerseits offenbar
unfähig ist, sich seinen Emotionen zu stellen, und weil er andererseits jeglichen
menschlichen und sprachlichen Kontakt verweigert. Auch jetzt kann er die Sprache
nicht zur Artikulierung und Bewältigung seiner Angst einsetzen, was jene Sprachkrise
vorausdeuten könnte, die zahlreiche Akteure der Jahrhundertwende ergreift (vgl. auch
Kapitel 5.). Der Kaufmannssohn versucht deswegen seiner Angst auf altbekannte
Weise Herr zu werden: Zunächst sucht er seine Angst, wie er auch im Garten, durch
Annäherung zu lindern. Diese Methode kann ihm aber auch hier nur kurzfristig Er-
leichterung verschaffen. Dann setzt er auf die scheinbare Macht des Geldes und gibt
dem Kind „Silbermünzen“ (MN 221). Hieraufhin verschwindet das Kind zwar, aller-
dings nur, um den Kaufmannssohn einzuschließen, was abermals verdeutlicht, dass
seine Rettung nunmehr unmöglich ist. Mit den Münzen hat der Ästhet unbewusst den
Obolus, den Wegzoll zur Hölle, gezahlt.179

Der Kaufmannssohn muss feststellen, dass er sich durch die Schönheit der Blüten hat
verführen lassen, eigentlich sind sie nämlich, „in ihrer Starre“, „lebendigen Blumen
unähnlich“ (MN 222), genauso wie sein Leben dem wirklichen, aktiven Leben unähn-
lich ist. Seine Welt der schönen Bilder löst sich zusehends auf,180 die Formen der
Pflanzen fangen an „sonderbar zu werden“ und „aus dem Halbdunkel“ treten dem
Protagonisten „schwarze, sinnlos drohende Zweige unangenehm“ (MN 221) entgegen.

178
Brion, Marcel: Versuch einer Interpretation der Symbole im ‚Märchen der 672. Nacht’ von Hugo
von Hofmannsthal. In: Schillemeit, Jost (Hrsg.): Deutsche Erzählungen von Wieland bis Kafka.
Frankfurt am Main 1986, S. 292.
179
Vgl. Brion, Marcel: Versuch einer Interpretation der Symbole, S. 298.
180
Vgl. auch Frye, Lawrence O.: Märchen der 672. Nacht von Hofmannsthal, S. 538.

56
Die Reise durch die Stadt, von Anfang an eine Irrreise, wird ab diesem Zeitpunkt
vollends zum ihn verschlingenden Strudel. Als er das zweite Glashaus verlässt, kann
er die auf ihn einstürzenden Sinneseindrücke nicht mehr verarbeiten. Die reale Welt
ist für ihn ungreifbar, die „glatten Eisenstäbe entwinden sich seinen Fingern“ (MN
223). Seine Scheinwelt bricht hinter ihm „gespenstisch zusammen“ (MN 222). Durch
das die Scheinhaftigkeit des Ersatzuniversums entlarvende Ende wird die Erzählung
zum Urteil über die ästhetizistische Existenz: „Das Zerbrechen einer in symbolisch-
ästhetisierenden Bildern fixierten Wirklichkeit wird radikal thematisiert, dieses Zer-
brechen selbst“ wird, so Köster, „als entwickelte Symbolik zum konsequenten Sinn-
bild des verfehlten Lebens erhoben“181.

In seiner Verzweiflung erscheint dem Kaufmannssohn ein „Viereck dunkler Linien“


(MN 222), ihn an die Ordnung seines Gartens erinnernd, als Ausweg. Doch wie alles,
was ihm an Spiegelungen seiner alten Welt entgegentritt, muss auch diese Tür not-
wendig ein weiterer Schritt Richtung Tod sein. Der Erbe hat sein Leben nicht gelebt,
hat sich einen Lebens- und Sterbeentwurf konstruiert, folglich können diese
konstruierten Lebensmuster in einer realen Welt keine Früchte tragen. Sämtliche
Attribute seiner heilen, abgeschiedenen Gebirgswelt, mittels Erbschaft luftschlossartig
erbaut, wenden sich während seines Irrens durch die Stadt gegen ihn. Die verdrängten
Lebensbereiche bedrängen ihn von allen Seiten und offenbaren seine Verfehlungen.
Die vom Kaufmannssohn imaginierte Brücke zum Palast Alexanders wird so zur
„Enterbrücke“ (MN 222), seinem Reichtum stellt sich die Armut der Stadtbewohner
entgegen, dem angenehmen Duft des Gartens der Gestank der Stadt, der Ordnung das
unberechenbare Chaos des Lebens. Das reale Leben stellt sich seiner ästhetizistisch
errichteten Scheinwelt entgegen und entlarvt konsequent seine ästhetizistischen Ima-
ginationsgebilde. Die imaginierte Vergangenheit muss sich der Gegenwart stellen: Der
Kaufmannssohn erreicht nicht den Palast Alexanders, sondern die hässliche, dunkle
Welt der Kaserne.

Auf dem Irrweg durch das vom Kaufmannssohn ausgeklammerte reale Leben, sym-
bolisiert durch sein Wirren durch die Stadt, werden demnach seine Bewältigungsstra-
tegien nach und nach demontiert, bis der Erbe schließlich dem Tod unmittelbar ge-

181
Köster, Thomas: Die Außenwelt als Spiegel der Innenwelt, S. 148.

57
genübersteht, bis das von ihm verdrängte Leben grausame Rache übt. Hieraufhin er-
greift den Kaufmannssohn endgültig die Angst, er spürt den nahenden Tod. Die Tür,
die ihm als Ausweg aus dem Triebhaus erscheint, „öffnet sich gegen [Hervorhebung
D.D.] ihn“ (MN 223), wie auch das Leben sich „gegen“ ihn durchsetzen wird. Den
Kaufmannssohn überkommt nun eine finale „Mutlosigkeit“, eine „innere Müdigkeit“.
Er wirft seinen „zitternden Körper auf den harten Boden“ (MN 223), auf den Boden
der Tatsachen also. Dem lebensnahen Tod kann er nicht entkommen. Der an das
leichte Leben Gewöhnte ist den Anstrengungen des realen Lebens nicht gewachsen,
ihm fehlen sowohl der notwendige Wille zur Bewältigung der Anstrengungen wie
auch die entsprechenden Bewältigungsmuster.

Der den Kaufmannssohn ergreifende Hass beinhaltet zugleich ein Moment der Kapi-
tulation und ein Moment des Aufbäumens: „Er konnte sich nicht freuen; ohne sich
umzusehen, mit einem dumpfen Gefühle, wie Hass gegen die Sinnlosigkeit dieser
Qualen, ging er in eines der Häuser“ (MN 223). Der Hass kommt gewissermaßen
einem letzten Auflehnen des Kaufmannssohnes vor dem Tod gleich: Außer Hass ver-
mag er der Dominanz des Lebens nichts entgegenzusetzen und so wird auch sein Tod
vom Hass und der Hässlichkeit bestimmt sein. „Indem der Erzähler den Aufbruch
imaginiert und den Protagonisten zugleich in eine tödliche Aporie führt, inszeniert er
auf drastische Weise die Desillusionierung des ‚Ästhetizismus‘ als Lebensform. Hier
liegt die Rechtfertigung zweier Aufbrüche, die die Erzählung eindrucksvoll dar-
stellt“182, so Mauser in Bezug auf das „tödliche“ Ende des Märchens. Der Leser soll
hierdurch ex negativo erkennen, was das wirkliche Leben ausmacht.

2.5. Der Tod des Kaufmannssohnes

Der hässliche Tod des Ästheten ist also notwendige Folge eines ebenso hässlichen
Lebens. Der narzisstische Lebensentwurf des Kaufmannssohnes ist gescheitert: Er hat
erfahren müssen, dass ein Leben ohne Gegenwart und ohne menschlichen und sprach-
lichen Kontakt so viele Lebenskomponenten ausschließt, dass ein Weiterleben un-
möglich ist. Weder Ästhetentum, noch Geld, noch Narzissmus sind geeignet, solche
„Lebenslücken“ zu füllen. Kurz vor seiner Agonie tritt das existentielle Fehlverhalten

182
Vgl. Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 171.

58
des Ästheten ein letztes Mal in aller Deutlichkeit hervor: Als er sich den Kasernen
nähert, versteht er das Leid der Soldaten nicht. Er sieht die Qualen ihres arbeitsreichen
Lebens nicht, sondern sehnt sich „mit einer kindischen Sehnsucht“  und in der für
ihn charakteristischen Selbstzentriertheit  nach der „Schönheit seines eigenen breiten
Bettes“ sowie nach den „Betten [von Gold]“ und „[von Silber] […], die der große
König der Vergangenheit für sich und seine Gefährten errichtet hatte“ (MN 223-224).
Der Kaufmannssohn sehnt sich also nach der Ruhe seines mittels Ererbtem
konstruierten Ersatzuniversums. Zwar empfindet er beim Anblick des Mannes,
welcher die Hufe des ihn später tötenden Pferdes säubert, zum ersten Mal innerhalb
der Erzählung Mitleid gegenüber einem seiner Mitmenschen, dies ist jedoch keines-
falls als Lernprozess zu werten. Vielmehr ist es in erster Linie Selbstbemitleidung
angesichts seiner eigenen Verbitterung. Zudem verfällt der Erbe ein letztes Mal in alte
Verhaltensmuster, wenn er das beobachtete Leid durch Geld aufwiegen will. Er sucht
zunächst erfolglos in seiner Tasche nach Silber- oder Goldmünzen und wirft dem
Pferd anschließend den in Seidenpapier eingewickelten Beryll unter die Füße. „In
diesem Augenblick“ (MN 225) endet die Geduld des Lebens mit dem Kaufmanns-
sohn. Das Pferd mit „rollenden Augen, […] boshaf[t] und wil[d]“ (MN 225), hat ihn
im Visier. Alle sonst verfügbaren Distanzierungsmittel sind nicht mehr verfügbar 
Erinnerung und Geld versagen ihre Dienste, Kunst und Spiegel sind nicht vorhanden 
und das unverschönte Leben schlägt „mit aller Kraft“ (MN 226) zu. Dieses Scheitern
des Protagonisten, dem es mehrmals die Sprache verschlägt, und somit das Scheitern
der Kunst als absolutes und einziges Wahrnehmungsmedium der Wirklichkeit könnte
Hofmannsthals eigene Sprachkrise vorausdeuten. Der Frage, inwiefern sich die bevor-
stehende Sprachkrise in den drei untersuchten Werken bereits andeutet, wird
zusammenfassend unter Punkt 5. nachgegangen werden.

Unmittelbar mit dem Leben konfrontiert, hat der Ästhet diesem nichts
entgegenzusetzen: Er steht dem unästhetisierbaren Tod unvermittelt gegenüber und
muss sich zum ersten und zugleich letzten Mal mit der Realität auseinandersetzen,
wobei er auf elendigste Weise scheitert. Auf seinem Weg durch die Stadt versagen
sämtliche kompensatorischen Verhaltensmuster. Nach dem Hufschlag des Pferdes
stirbt der Kaufmannssohn, Blut und Galle spuckend, „mit verzerrten Zügen, die
Lippen so verrissen, dass Zähne und Zahnfleisch entblößt waren und ihm einen

59
fremden, bösen Ausdruck gaben“ (MN 227).183 Paradoxerweise ist es somit erst
während seines Todeskampfes, dass der Kaufmannssohn zum ersten Mal überhaupt,
und unvermittelt, am Leben teilnimmt und die eigene Angst als etwas Überwundenes
fühlt. Zu diesem Zeitpunkt scheint er seine Lebensführung zum ersten Mal zu hinter-
fragen:

Mit einer großen Bitterkeit starrte er in sein Leben zurück und verleugnete alles, was
ihm lieb gewesen war. Er hasste seinen vorzeitigen Tod so sehr, dass er sein Leben
hasste, weil [Hervorhebung D.D.] es ihn dahin geführt hatte. (MN 227)

Festzuhalten ist in dem Sinne, dass der hässliche Tod des Kaufmannssohnes unwei-
gerliche Konsequenz eines ungelebten Lebens, einer in allen Bereichen gescheiterten
Lebensführung ist. Soziales Miteinander, Nachdenken über seine tatsächliche
Lebenslage und sein eigenes Ich, Gefühle sowie die Teilnahme am aktiven Leben
lehnt der Kaufmannssohn zugunsten einer narzisstisch geprägten und an einer ästheti-
sierten Kunstwelt verhafteten Existenz ab. In nachgerade einfachster Weise bringt es
Köster präzise auf den Punkt: „Wer so lebt, wie der Kaufmannssohn, der muss
sterben, ohne je gelebt zu haben“.184 Er merkt weiter an, dass „die dualistische
Problematik zwischen wahrem und verlebtem Leben [in keiner anderen Erzählung
Hofmannsthals] in ihrer Symbolik derart offensichtlich und stringent ausgeleuchtet“
werde. Dies führe dazu, dass „die Erzählung zur modern gefassten Parabel, fast schon
zum Lehrstück eines ungelebten Lebens“185 werde. Wie später in Bezug auf die
Protagonisten aus Der Tor und der Tod und Der einsame Weg exponiert werden wird,
so wird auch im Märchen der 672. Nacht ein Beispiel ex negativo der ästhetizistischen
Existenz gezeichnet, mittels dem das Defizitäre dieser Lebensführung zugleich ver-
bildlicht und verurteilt werden soll. Das Märchen wird hierdurch gleichsam zur „Anti-
Bildungserzählun[g]“, wie Kimmich anmerkt: Der Held des Märchens durchläuft, im
Gegensatz zum Helden des Bildungsromans, keine gelingende Entwicklung, sondern
seine Biographie ist „durch Ziellosigkeit, Ich-Spaltung und impressionistischen

183
Vgl. Anz, Thomas: Der schöne und der hässliche Tod, S. 423: In der Darstellung des Todes und des
tierartig verzerrten Gesichtes des Kaufmannssohnes während des Todeskampfes inspirierte sich
Hofmannsthal an Baudelaires Gedicht Une Charogne. Dessen Schilderung eines verwesenden,
stinkenden, von Aasfliegen umschwirrten Körpers ist wegweisend für viele Todesdarstellungen der
Moderne, wie Anz bemerkt, und deutet zugleich die Endlichkeit des Schönen an: Baudelaire
unterstreicht in aller Drastik, dass auch die Geliebte des lyrischen Ich - zu dem Zeitpunkt des
Betrachtens des Kadavers noch jung und schön - wie der geschilderte Kadaver jämmerlich verfaulen
wird.
184
Köster, Thomas: Die Außenwelt als Spiegel der Innenwelt, S. 157.
185
Köster, Thomas: Die Außenwelt als Spiegel der Innenwelt, S. 147.

60
Selbstverlust geprägt“ und endet, „ohne sich als Ganzheit abzurunden […], in einem
plötzlich und frühzeitig eintretenden Tod“186.

186
Kimmich, Dorothee; Wilke, Tobias: Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende, S. 71.

61
62
3. Hugo von Hofmannsthal: Der Tor und der Tod

Hofmannsthals lyrischer Einakter Der Tor und der Tod erscheint 1893 und wird 1898
im Theater am Gärtnerplatz in München uraufgeführt. Bevor näher auf die Gattungs-
spezifitäten von Hofmannsthals Drama eingegangen wird, soll ein kurzer Überblick
über die Handlung des Stückes gegeben werden.

3.1. Zusammenfassung des Werkes

Der Protagonist des lyrischen Einakters, Claudio, führt in seinem mit Altertümern,
Kunstgegenständen und alten Bildern museal ausgestatteten Landhaus ein abgeschie-
denes Leben und widmet sich der Betrachtung schöner Kunstgegenstände. Handlungs-
ort des Dramas ist Claudios im Empiregeschmack eingerichtetes Studierzimmer. Der
alternde Ästhet sitzt hier am Fenster und denkt über sein Leben nach, wobei er eine
gewisse Skepsis gegenüber seiner bisherigen Lebensführung hegt. So bedauert er, als
er durch das Fenster die auf „weiten Halden“187 arbeitenden Bauern betrachtet, nicht
am einfachen Leben teilgenommen zu haben und beklagt, es sei ihm, in seiner
„Rumpelkammer voller totem Tand“, nie gelungen, sich mit dem wirklichen Leben zu
„verweben“, er habe sich vielmehr stets „an Künstliches verloren“ (TT 450). Kurz
nachdem ihn sein Diener gewarnt hat, im Garten würden unheimliche Gestalten um-
herschleichen, ertönt eine Geigenmelodie, die Claudio seltsam berührt. Unmittelbar
darauf tritt der Geiger, der Tod, in Erscheinung, und stellt sich als „großer Gott der
Seele“ (TT 454) vor. Er fungiert fortan als Lebenslehrer Claudios. Der Tod lässt, ganz
in der Tradition des Reigens, des Totentanzes, drei verstorbene Bezugspersonen
Claudios auftreten: Claudios Mutter, Claudios ehemalige Geliebte sowie einen ehe-
maligen Freund, die alle seine Lebensführung und seine Gefühlskälte anklagen. Im
Angesicht der Toten scheint der Ästhet sich seiner Verfehlungen bewusst zu werden
und beteuert, sich ändern zu wollen. Als der Tod Claudio jedoch keinen Aufschub
gewähren will und ihm vorhält, er habe die Möglichkeit zum Leben wie alle anderen
Menschen gehabt, diese aber nicht genutzt, verfällt Claudio in alte Verhaltensmuster.
Der Ästhet verklärt das Erscheinen des Todes und setzt an, den Tod zum Leben um-

187
Hofmannsthal, Hugo von: Der Tor und der Tod. In: Wunberg, Gotthart (Hrsg.): Die Wiener
Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910. Stuttgart 2000, S. 446. Im Folgenden
wird aus dieser Ausgabe mittels der Abkürzung TT und unter Angabe der Seitenzahl zitiert.

63
deuten zu wollen: „Da tot mein Leben war, sei du mein Leben, Tod!“ (TT 463).
Hieraufhin stirbt Claudio und der personifizierte Tod verlässt die Bühne.188

Exkurs: Forschungsüberblick

Zu Hofmannsthals Drama sind viele Publikationen erschienen, im


Folgenden sollen die zentralen Aufsätze kurz zusammengefasst werden.
Seeba legt eine umfassende Analyse des Einakters vor, wobei er
insbesondere auf die im Werk Hofmannsthals enthaltene Ästhetizis-
muskritik eingeht. Er berücksichtigt hierbei die Entwicklung der Sicht
Hofmannsthals auf den Ästhetizismus und beschreibt, dass dieser der
ästhetizistischen Wahrnehmung der Wirklichkeit zunehmend kritisch
gegenüberstehe und mit dem Drama letztendlich ein Urteil über die
Lebensform fälle. Seeba untersucht zunächst die Figur Claudio, um
alsdann nachzuweisen, dass der Protagonist „de[m] reduzierten Typus
des ästhetischen Menschen“ zuzurechnen sei, an dem Hofmannsthal
„das Programm der sozialen Interaktion“ exemplifiziere.189

Matussek sieht das Drama als dichterische Frühform des Geistraumes,


den Hofmannsthal später in seiner Schrifttumsrede exponieren wird. Im
Einakter führe Hofmannsthal die Reanimation dieses abgestorbenen
Gedächtnisraumes mit Hilfe der Dynamik intertextueller
Reminiszenzen herbei. Aus Matusseks Sicht exponiert das Stück zudem
den Fin-de-siècle-Typus des Ästheten, der den Kontakt zum Leben
verloren hat und sich „in der heterotopischen Weite seines Bücherkos-
mos nach gefühlten Bindungen und erspürten Begrenzungen“ sehnt.
Das Drama spiegele somit „das Lebensgefühl“ von Hofmannsthals
Gegenwart.190

Szondi und Alewyn untersuchen ebenfalls die zentrale Ästhetenfigur


des Einakters. Sie kommen zum Schluss, dass Hofmannsthal in seinem
Drama ebenjenen Ästhetentypus kritisch beleuchte, indem er ihn zum
Tode verurteile.

Vinçon seinerseits konzentriert sich auf die Form des Einakters und
führt aus, dass diese Form sich besonders dazu eigne, Seelenvorgänge
darzulegen. Die Offenlegung der Seelenzustände lasse das Werk Der

188
Vgl. auch Mayer, Mathias: Der Thor und der Tod. In: Jens, Walter (Hrsg.): Kindlers neues
Literaturlexikon. Band 7. München 1990, S. 1015.
189
Vgl. Seeba, Hinrich C.: Kritik des ästhetischen Menschen. Hermeneutik und Moral in
Hofmannsthals Der Tor und der Tod. Bad Homburg 1970, S. 91.
190
Vgl. Matussek, Peter: Intertextueller Totentanz: Die Reanimation des Gedächtnisraums in
Hofmannsthals Drama Der Tor und der Tod. In: Hofmannsthal-Jahrbuch 7 (1999), S. 202-204.

64
Tor und der Tod zu einer „zeitpsychologischen Studie“ werden. Vogel
geht ebenfalls auf die Form des Dramas ein191 und legt dar, dass der
Hofmannsthalsche Protagonist dem klassischen, aristotelischen Helden
diametral entgegengesetzt sei, keine konsistente Identität aufweise und
somit keine Entwicklung im dramatischen Geschehen erleben könne,
sondern lediglich die „Tatenarmut“ und „Gedankenschwere“192 der
ästhetischen Existenz verkörpere.

Hofmannsthals 1893 erschienener Einakter gehört der Gattung des lyrischen Dramas
an und behandelt, „wie allen frühen Einakter Hofmannsthals, [exemplarisch] das
Problem des ästhetischen Lebens“193. Im Folgenden soll kurz auf die Besonderheiten
dieser Form eingegangen werden, da sie eng mit der Wirkungsabsicht des Dramas
verbunden ist: Die Wahl der Dramenform spiegelt Hofmannsthals Intention, die
ästhetische Lebensführung kritisch zu hinterfragen, um sie anschließend zu negieren.
Kennzeichnend für das lyrische Drama des Fin-de-siècle ist nämlich, dass es im
„kurzen Moment vor dem Tod“ spielt und die Entwicklung der Handlung hierdurch
ins Innere (der Personen) verlegt wird.194 Anders als in der klassischen Tragödie
interessiert nur der kurze Zeitraum zwischen Leben und Tod, so Leiß: „Die Situation
kann auf Handlung verzichten und kann stattdessen Gefühlsregungen, Impressionen
des inneren Lebens gestalten, denen das lyrische Element besonders angemessen
ist.“195

Die Kürze des lyrischen Einakters bedingt so zum einen die Konzentration der Hand-
lung auf einen kurzen Lebensabschnitt des Protagonisten, in Hofmannsthals Drama
das Lebensende Claudios: Rückblickend kann so konzentriert und zugleich reflexiv
auf dessen Leben zurückgeblickt werden. Zum anderen bedingt die erwähnte
Konzentration der Handlung auf das Lebensende Claudios die Verdichtung der

191
Vogel, Juliane: Hofmannsthals und Schnitzlers Dramen. In: Piechotta, Hans J. (Hrsg.): Die
literarische Moderne in Europa. Bd. 2: Formationen der literarischen Avantgarde. Opladen 1994, S.
288: Sie hebt hervor, dass - für Hofmannsthal wie auch für Schnitzler – alte Gattungsnormen keine
„normierende Gewalt“ mehr ausüben, sondern sie ästhetische Reize bieten. Die Autoren würden sich
verschiedenster Elemente der tradierten Gattungspoetik bedienen und ein „unverbindliches Spiel mit
vergangenen Elementen“ betreiben. An Hofmannsthals Einakter Der Tor und der Tod, welcher
Elemente der Komödie, des Reigen, der Moralität und des „proverbe tragique“ vereine und in welchem
der „Eklektismus des Genres zu höchster Raffinesse“ gedeihe, lasse sich, so Vogel, der „multiple
Anspielungscharakter der gewählten Formen“ nachweisen.
192
Vgl. Vogel, Juliane: Hofmannsthals und Schnitzlers Dramen, S. 289-291.
193
Vogel, Juliane: Hofmannsthals und Schnitzlers Dramen, S. 288.
194
Szondi, Peter: Das lyrische Drama des Fin de siècle. Frankfurt am Main 1975, S. 19-21.
195
Leiß, Ingo; Stadler, Hermann: Deutsche Literaturgeschichte, S. 221.

65
Empfindungen des Ästheten und die Offenlegung seiner Seelenzustände, so dass eine
Reflexion in Bezug auf seine bisherige Lebensführung geradezu herausgefordert wird.
Peter Szondi verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass lyrische Dramen
vorwiegend in „Epochen gesteigerter Empfindsamkeit“196 entstünden, in welchen sich
das Drama den klassischen Dramenformen weniger unterwerfe.197 Die Form des
Einakters habe zu Beginn der Moderne einen bedeutenden Aufschwung erfahren,
erlaube sie es doch, wie August Strindberg bereits 1895 unterstreicht, den „Kampf der
Seelen“ offenzulegen und somit die „Entdeckungen der modernen Psychologie“
dramaturgisch darzustellen.198 Szondis und Leiß‘ Feststellungen treffen präzise auf
Hofmannsthals lyrisches Drama Der Tor und der Tod zu. Die Entstehungszeit des
Dramas, die Jahrhundertwende, kann erstens insofern als eine solche Epoche
gesteigerter Empfindsamkeit angesehen werden, als innerhalb dieses Zeitraumes die
Erforschung der Psyche einen Aufschwung erfährt und die Seelenzustände der
Menschen in den Fokus rücken. Zweitens wird in Hofmannsthals lyrischem Drama die
Handlung ins Innere des weltabgewandt lebenden Ästheten verlegt. Dessen innere
Entwicklung wird insofern dargelegt, als Claudio im kurzen Moment vor seinem Tod
eine gewisse Einsicht in die Grenzen seines Ästhetentums erlangt.

Die Wahl der Dramenform und die für diese Form typische Konzentration der Hand-
lung auf das Lebensende Claudios verlangt, dass der Fokus im lyrischen Einakter Der
Tor und der Tod stärker als in der Erzählung des Märchens der 672. Nacht auf die
Reflexion des Protagonisten gelegt wird. Darüber hinaus bedingt die Erzählform des
Dramas eine umfassendere Einsicht in das Innenleben des Protagonisten als das in
Prosa verfasste Märchen: Der Eingangsmonolog Claudios erlaubt eine stärkere
Introspektion in das Innenleben des Protagonisten als sie der auktoriale Erzähler im
Märchen der 672. Nacht vermitteln kann. Die Reflexion des Protagonisten in Bezug
auf seine Lebensführung ist so von Beginn an explizit, wobei der Eingangsmonolog

196
Reallexikon der deutschen Literatur, S. 252. Berlin 1965.
197
Vgl. Szondi, Peter: Das lyrische Drama des Fin de siècle. Frankfurt am Main 1975, S. 19-21: Als
Beispiele solcher Epochen führt Szondi den Sturm und Drang, die Romantik oder das Ende des 19.
Jahrhunderts an und verweist unter anderem auf Gerstenbergs Ugolino.
198
Vgl. auch Vinçon, Hartmut: Einakter und kleine Dramen. In: Mix, York-Gothart (Hrsg.):
Naturalismus, Fin de siècle, Expressionismus. Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Bd. 7.
München 2000, S. 368.

66
des Ästheten Claudio zugleich Expositions- sowie Reflexionscharakter aufweist.199 Im
Eingangsmonolog wird Claudios ästhetizistische Lebensführung exponiert und es ist
eine Reflexion Claudios in Bezug auf sein bisheriges Leben zu verzeichnen.

3.2. Die Lebensunzulänglichkeit Claudios

Die Lebensunzulänglichkeit Claudios wird zunächst im Eingangsmonolog exponiert,


bevor sie durch die später auftretenden, anklagenden Figuren erneut aufgegriffen wird.
Sie manifestiert sich, wie die Lebensunzulänglichkeit des Kaufmannssohnes, auf vier
Ebenen: Claudio wird als ein in der Vergangenheit und in seiner sorgsam errichteten
Kunstwelt verhafteter, bindungsunfähiger und außerhalb der Gesellschaft lebender
Ästhet präsentiert und ist, so Leiß, als Typus zu verstehen. Seine Charaktereigen-
schaften werden nicht näher bestimmt, sondern Claudio vertritt eine ganz bestimmte
Lebensform: „Materielle Unabhängigkeit, verfeinerter Kunstgeschmack, aber auch
Isolation (abgeschlossener Garten!) bestimmen seine Eigenart“200 und charakterisieren
ihn als Typus des Ästheten der Jahrhundertwende.

3.2.1. Rückzug aus dem sozialen Leben

Eine erste Parallele zwischen dem Kaufmannssohn und Claudio besteht im Rückzug
aus dem gesellschaftlichen Leben. Beide ziehen sich, nur von Dienern begleitet, in
ihre Landhäuser mit weitläufigen Gartenanlagen zurück. Sie flüchten in eine Ersatz-
wirklichkeit, in denen sie den Gesetzmäßigkeiten des alltäglichen Lebens
auszuweichen glauben. Teilnahme am sozialen Leben findet nur noch aus der, für den
Ästheten typischen, kontemplativen Distanz statt: Claudio, dessen Landhaus durch ein
Tal von der Stadt abgetrennt scheint, beobachtet so das Leben der einfachen Leute auf
der gegenüberliegenden Talseite. Auffallend ist, dass er, trotz seines eigenen sozialen
Rückzugs, eine Idylle in Bezug auf das Leben der einfachen Leute konstruiert. Diese
Idyllenkonstruktion in Bezug auf das Landleben kann erstens als Zeichen der sozialen
Entrücktheit des Ästheten gesehen werden, der nicht um die Schwere der zu
verrichtenden Arbeiten zu wissen scheint. Zweitens scheint sie Surrogatfunktion für

199
Vgl. auch Seeba, Hinrich C.: Kritik des ästhetischen Menschen, S. 82 f., der das Drama in drei
Stufen unterteilt, die Claudios Entwicklung darlegen: eine Reflexionsstufe, eine Argumentationsstufe
und eine Demonstrationsstufe.
200
Leiß, Ingo; Stadler, Hermann: Deutsche Literaturgeschichte, S. 221.

67
den Ästheten zu haben, der so mittels der Imaginationsgebilde augenblickhaft am
„normalen“ Leben teilhaben kann. Als er abends am Fenster sitzend die „weiten
Halden“ beobachtet, zeichnet er ein idyllisches Bild von Menschen, die im Einklang
mit ihrer Arbeit und der sie umgebenden Natur zu leben und aus diesem Einklang ihr
Lebensglück und ihre Zufriedenheit zu ziehen scheinen:

Wie nah sind meiner Sehnsucht die gerückt,


Die dort auf weiten Halden einsam wohnen
Und denen Güter, mit der Hand gepflückt,
Die gute Mattigkeit der Glieder lohnen.
Der wundervolle wilde Morgenwind,
[…] Der weckt sie auf; die wilden Bienen sind
Um sie und Gottes helle, heiße Luft.
Es gab Natur sich ihnen zum Geschäfte
In allen ihren Wünschen quillt Natur,
Im Wechselspiel der frisch und müden Kräfte
Wird ihnen jedes warmen Glückes Spur. (TT 446)

In gleichem Maße wie Claudio das Landleben in seinem Eingangsmonolog stilisiert,


idealisiert er das Stadtleben. Indem er die seinem Landhaus gegenüberliegenden
Städte, die „mit Najadenarmen […] in hohen Schiffen ihre Kinder wiegen“ (TT 446) 
die also eine personale Beziehung zu ihren Einwohnern aufgebaut zu haben und
gleichermaßen als deren Mütter zu fungieren scheinen  personifiziert, evoziert er ein
von diesen Städten ausgehendes Gefühl der Geborgenheit. Dieses Gefühl kann aber
mitnichten als Wunsch der Zugehörigkeit Claudios  der sich bewusst aufgrund seiner
Lebensunzulänglichkeit aus dieser Stadtgesellschaft zurückgezogen hat  zu ebenjener
Gesellschaft interpretiert werden. Der Protagonist scheint vielmehr zu versuchen,
dieses Geborgenheitsgefühl mittels seiner Imaginationskraft aus der kontemplativen
Distanz heraus zu generieren, um so indirekt und augenblickhaft an dem heraufbe-
schworenen idyllischen Lebensgefühl teilnehmen zu können. Nähe kann für Claudio
„nur imaginativ existieren“201, so Grundmann. Da der Ästhet der direkten Teilnahme
am sozialen Leben unfähig ist, versucht er dieses Gefühl der Einheit und der Lebens-
fülle aus der Distanz zu erschaffen, um so die eigene Lebensleere zu kompensieren.
Ähnlich sieht dies Seeba, der festhält, dass die auf dem gegenüberliegenden Hügel
vorgestellten Menschen „nur visionäre Projektionen“ von Claudios Lebenssehnsucht
seien.202 Claudio, der vielfach mit Faust verglichen wurde,203 reiht sich mit diesem

201
Grundmann, Heike: ‚Mein Leben zu erleben wie ein Buch‘: Hermeneutik des Erinnerns bei Hugo
von Hofmannsthal. Würzburg 2002, S. 82.
202
Seeba, Hinrich C.: Kritik des ästhetischen Menschen, S. 88.

68
Verhalten in das Verhalten seines literarischen Vorgängers ein: Auch Faust nimmt
während seines Osterspazierganges und in Bezug auf Philemon und Baucis eine
Stilisierung des einfachen Lebens vor204, um so ein seit der Kindheit verloren
gegangenes Alleinheitsgefühl zu generieren. Dass dieses evozierte Gefühl aber gegen-
über der Wirklichkeit nicht bestehen und nur somit ephemer sein kann, wird einige
Verse später deutlich: Claudio muss eingestehen, dass „alles öd verletzender und
trüber [wird]“, sobald sein „Blick dem Nahen näher gleitet, (TT 446) und dass sich
ihm sein „versäumtes Leben“ (TT 446) infolgedessen erneut offenbart. Direkte Teil-
nahme am Leben kann nicht durch indirekte Kontemplation erreicht werden, das Ima-
ginationsgebilde Claudios bricht notwendig zusammen.

Hinzu kommt, dass literarische Assoziationen Claudio den direkten, unmittelbaren


Zugang zum einfachen, schlichten Leben verstellen, wie Matussek nachweist: Wie
auch während der Betrachtung der Natur (vgl. Punkt 3.2.4), spricht Claudio, als er das
Leben der einfachen Menschen in ihren schlichten Behausungen betrachtet, nur „einen
vorformulierten Gedanken aus, diesmal von Kierkegaard“. Wie in Bezug auf die
Natur, versperren ihm auch in Bezug auf seine Mitmenschen kunsthistorische und
literarische Assoziationen den direkten Zugang zum Leben.205

3.2.2. Zwischenmenschliche Kontakte

Neben seinem Rückzug aus der Gesellschaft ist Claudios Bindungsunfähigkeit eine
Komponente seiner Lebensunzulänglichkeit. Wie vielfach in der Forschungsliteratur
hervorgehoben, verdrängt das das Leben des Ästheten bestimmende Primat der
Schönheit andere Lebensbereiche, wie den Bereich der zwischenmenschlichen
Beziehungen, völlig. Der Ästhet zieht sich, ähnlich wie der Kaufmannssohn, in eine
selbstgewählte soziale Isolation zurück und ist unfähig, emotionale Bindungen zu
Mitmenschen einzugehen. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass die erste
den Protagonisten Claudio betreffende Regieanweisung „allein“ lautet. Hiermit wird

203
Vgl. u.a. Matussek, Peter: Intertextueller Totentanz, S: 214-218. Vgl. auch Alewyn, Richard: Der
Tod des Ästheten. Über Hofmannsthals Der Tor und der Tod. In: Schillemeit, Jost (Hrsg.): Deutsche
Dramen von Gryphius bis Brecht, Frankfurt am Main 1976, S. 295.
204
Vgl. die Szenen Vor dem Tor sowie Offene Gegend in: Goethe, Johann Wolfgang von: Faust. Hrsg.
von Erich Trunz, München 1986. Im Folgenden wird aus dieser Ausgabe mit Hilfe der Abkürzung F
und unter Angabe des Verses zitiert.
205
Vgl. Matussek, Peter: Intertextueller Totentanz, S. 202-203.

69
der Lebensstil Claudios, der sich alleine(!) in sein Landhaus zurückgezogen hat,
sogleich konzise umrissen. Ebenso aufschlussreich ist die Auflistung der dramatis
personae. Auch diese unterstreicht, noch vor der eigentlichen Exposition des
Ästheten, dass Claudio allen zwischenmenschlichen Beziehungen entsagt hat: Neben
den Kammerdienern, die ihn in sein Landhaus begleitet haben, treten im Drama ledig-
lich drei Verstorbene auf: Claudios Mutter, eine frühere Geliebte Claudios und ein
Jugendfreund. Allen anderen zwischenmenschlichen Beziehungen hat der Ästhet zu
Dramenbeginn bereits entsagt. Das Personenverzeichnis sowie die erste Claudio be-
treffende Regieanweisung legen somit bereits nahe, dass sich Claudio der
„Zwischenmenschlichkeit und ihren Dialogen“ und somit dem anthropologischen
Horizont des klassischen Dramas in gleichem Maße wie andere Ästhetenfiguren
Hofmannsthals verweigert.206

Briese-Neumann führt dieses Ablehnen zwischenmenschlicher Beziehungen auf die


Wahrnehmungsweise der Ästheten zurück: Die den ästhetizistischen Lebensstil prä-
gende Wahrnehmungsform der subjektivierenden Kontemplation wird auch in Bezug
auf die Mitmenschen angewendet. Diese werden hiermit von Subjekt- auf Objektrang
degradiert, wodurch jegliche emotionale Bindung unterbunden wird. Diese Feststel-
lung trifft präzise auf Claudio zu. Wenn Claudio, wie seine frühere Geliebte betont,
sie so „achtlos grausam [fortgeworfen]“ (TT 460) hat, wie ein des Spielens müdes
Kind Blumen fallen lässt, wenn der Freund Claudios ihn als „Ewigspielende[n]“ be-
zeichnet, der Frauen wie Puppen wegwarf, sobald er sich „sattgespielt“ (TT 461)
hatte, so legt dies nahe, dass Claudio Mitmenschen stets auf Objektrang degradierte.
Er hat nie eine Subjekt-Subjekt-Beziehung, sondern stets eine Subjekt-Objekt-
Beziehung zu ihnen aufgebaut.

Dieses Verhalten wird durch die Briefe bestätigt, die Claudio in der Vergangenheit an
die in der Mitte des Dramas als Figur der Anklage auftretende frühere Geliebte ge-
schrieben hat. Diese Briefe erfüllen keinerlei kommunikative Funktion, sondern sind

206
Vogel, Juliane: Hofmannsthals und Schnitzlers Dramen, S. 290: Die Figuren würden, so Vogel,
keinen Willen zur Handlung aufweisen. Sie seien nicht fähig, ihre Situation aus eigener Kraft zu
verändern, sondern seien ganz im Augenblick verhaftet. Ihre Identität verschiebe sich infolgedessen
von Moment zu Moment und sie verlören sich in der Kunst. Die „Vielfalt der Nervenreize“ ersetze die
„Einheit der Person“. Hier zeige sich, so Vogel, auch Ernst Machs großer Einfluss auf die Literatur des
Jungen Wiens.

70
als reines Zeugnis seiner Selbstbezogenheit zu werten. Sie unterstreichen, dass der
Protagonist der  zwischenmenschlichen Beziehungen unabdingbaren  dialogischen
Kommunikation nicht fähig ist, sondern rein monologisch spricht. Als Claudio dem
Tod die Liebesbriefe vor die Füße wirft, analysiert er dieses Verhalten selbst präzise:
„Da hast du dieses ganze Liebesleben, daraus nur ich und ich nur wiedertönte“ (TT
457). Der in der Verszeile enthaltene Chiasmus „nur ich und ich nur“ hebt die einsei-
tige Fokussierung auf das eigene Ich in der zwischenmenschlichen Kommunikation
hervor. Diese einseitige Fokussierung aber macht jegliche direkte Kommunikation mit
seinen Mitmenschen unmöglich, die Sprache versagt aufgrund von Claudios selbstbe-
zogener Sprechweise als Medium der Kommunikation. Claudios Ichbezogenheit und
seine subjektivierte Wirklichkeitswahrnehmung, welche die ihn umgebenden Perso-
nen auf Objektrang degradiert, verhindern den Aufbau zwischenmenschlicher
Beziehungen und bedingen die solipsistische Lebensweise des Protagonisten. Da die
Darstellung der Bindungsunfähigkeit des Protagonisten Claudio eng mit der Anklage
gegen diese Komponente der Lebensunzulänglichkeit und mit der Reflexion des
Ästheten in Bezug auf diese Komponente verschränkt ist, wird diese Thematik unter
den Punkten 3.3. und 3.4.1. genauer betrachtet werden.

3.2.3. Kunst

Ähnlich wie Hofmannsthals Kaufmannssohn zieht sich auch Claudio aufgrund seiner
Lebensunzulänglichkeit in ein selbstgeschaffenes ästhetizistisches Ersatzuniversum
zurück. Dies verdeutlichen die den lyrischen Einakter einleitenden Regieanweisungen,
die Claudio inmitten seines im Empirestil eingerichteten und mit antiken Kunstgegen-
ständen vollgestellten Studierzimmers zeigen. Mit Altertümern gefüllte Glaskästen
säumen das Zimmer, an der Wand steht eine „gotische, dunkle, geschnitzte Truhe“,
über dieser hängen altertümliche Musikinstrumente sowie ein „fast schwarzgedunkel-
tes Bild eines italienischen Meisters“ (TT 445). Die die Einrichtung dominierende
dunkle Farbsymbolik unterstreicht hierbei Claudios Lebensferne: Er nimmt nicht an
der bunten Vielfalt des menschlichen Lebens teil, sondern hat sich einen auf die Ver-
gangenheit ausgerichteten Rückzugsort geschaffen. Einzig die helle, fast weiße Tapete
bringt Licht in den in dunklen Farben eingerichteten Raum. Stuckatur und Gold der
Tapete verweisen aber wiederum auf den Empirestil und somit auf die an der Vergan-
genheit ausgerichtete Lebensweise Claudios. Die Inszenierung des Raums ist „Aus-

71
druck der Lebenshaltung des nicht näher beschriebenen Helden“,207 welcher sich ein
mit Kunstgegenständen gefülltes Ersatzuniversum fernab der Gesellschaft konstituiert,
um hierdurch dem Leben, dem er nicht gewachsen ist, zu entfliehen. Durch die kunst-
volle Akkumulation von Gegenständen in seinem Zimmer suche Claudio, so
Grundmann, die Absicherung gegen eine sich „chaotisch“ und ungeordnet gebärdende
Realität; die sinnliche Welt solle „im hermetisch abgeschlossenen Kunstwerk der
Perfektion“ angenähert werden.208 Er ist somit jenen Jünglingen der Jahrhundertwende
zuzurechnen, die den sich an der Schwelle der Moderne vollziehenden
gesellschaftlichen Entwicklungen nicht gewachsen sind und die infolgedessen in
ästhetizistischen Ersatzwelten Zuflucht suchen. Ebendiese Beschränkung auf Kunst-
gegenstände unter gleichzeitigem Ausklammern jeglicher zwischenmenschlicher Be-
ziehungen aber kann die innere Leere der Jünglinge der Jahrhundertwende nicht kom-
pensieren. Das Leben selbst entleert sich vielmehr infolge dieser ästhetizistischen
Lebenseinstellung zu einer Sammlung von Gegenständen, wie Grundmann treffend
anmerkt.209

Auffällig ist, dass der Raumkonstitution bereits eine gewisse Ambivalenz immanent
ist, die proleptisch darauf verweist, dass die selbstgewählte Abgeschiedenheit des
Protagonisten kritisch beleuchtet werden soll. Die einleitenden Regieanweisungen
vermitteln den Eindruck der Abgeschlossenheit des Raumes: Das Studierzimmer ist
nach zwei Seiten von weißen Flügeltüren, von denen eine zusätzlich durch einen
schweren Samtvorhang verhängt ist, begrenzt. Einzig die Fenster bieten einen Blick in
die Weite der Natur, sodass der Eindruck erweckt wird, Claudio sei in seinem Studier-
zimmer gewissermaßen gefangen. Matussek hebt in diesem Zusammenhang hervor,
dass Claudio, dessen Name vom lateinischen „claudere“ hergeleitet sei, sich in einer –
seinem Namen gemäßen – „wahrhaft includierenden Situation befinde“, dass er in
„museale[r] Inklusion“ lebe.210 Ähnlich sehen dies Haupt und Würffel, die feststellen,
Claudios Studierzimmer sei für den Protagonisten „Refugium wie Gefängnis“ zu-
gleich.211 So hat sich Claudio in seinem Landhaus zwar einen Rückzugsort vor dem
realen Leben geschaffen, gleichzeitig aber wird dieser Rückzugsort ihm nur temporär

207
Leiß, Ingo; Stadler, Hermann: Deutsche Literaturgeschichte, S. 221.
208
Grundmann, Heike: ‚Mein Leben zu erleben wie ein Buch‘, S. 83.
209
Vgl. Grundmann, Heike: ‚Mein Leben zu erleben wie ein Buch‘, S. 83.
210
Matussek, Peter: Intertextueller Totentanz, S. 203.
211
Haupt, Sabine; Würffel, Stefan Bodo (Hrsg.): Handbuch Fin de Siècle, S. 425.

72
Ruhe ermöglichen: Der Rückzug in das mit Kunstgegenständen angefüllte Studier-
zimmer wird seine Lebensferne nicht kompensieren können, sondern sich letztendlich
als tödlich erweisen, wodurch Hofmannsthal implizit Kritik am Ästhetizismus
Claudios erhebt.

Auf die ästhetizistische Lebensweise des Protagonisten verweist aber nicht nur dessen
museale Ansammlung von Kunstgegenständen, sondern auch die Wichtigkeit, die
Claudio der Betrachtung ebendieser Gegenstände zumisst. Dies wird in dem Augen-
blick an Claudios Sprachduktus deutlich, als er „wie ein Museumsbesucher [...] in
mechanischer Routine“212 an den Exponaten vorbeischreitet. Die akkumulativ verwen-
deten Personalpronomen „du“ respektive „ihr“, mit welchen Claudio sowohl die
Gioconda, die Becher, die Lauten, das Schilder- und Bilderwerk und die Bildmotive
apostrophiert, offenbaren, dass er ebenjene personale Beziehung zu den Kunstgegen-
ständen aufgebaut hat, zu deren Aufbau er in Bezug auf seine Mitmenschen stets un-
fähig war. Claudio misst demnach der ästhetischen Kontemplation der in seinem
selbstkonstruierten Ersatzuniversum angesammelten Kunstgegenstände oberste
Priorität zu. Er ist somit – Sprengels Definition des Ästhetizismus nach  als typischer
Ästhet zu definieren213: Für ihn ist die Betrachtung schöner Gegenstände prioritär,
„auch und insbesondere auf Kosten moralischer Werte (Humanität, Treue) und
emotionaler Bindungen (Liebe, Freundschaft)“214. Die angesammelten Kunstgegen-
stände gewinnen gewissermaßen Substitutfunktion, sie werden zum Lebensersatz.
Claudio messe, so Szondi, der Kunst größere Bedeutung bei als dem Leben. Die Kunst
stelle für den Ästheten einen Fluchtort dar, er suche im von anderen geschaffenen
Kunstwerk das Leben.215 Die Kommunikation mit selben Gegenständen wird parallel
dazu für Claudio zum Substitut für die Kommunikation mit seinen Mitmenschen, der
er sich zeitlebens als unfähig erwiesen hat.

Erneut aber wird deutlich, dass Hofmannsthal implizit Kritik an der ästhetizistischen
Lebensweise seines Protagonisten übt. Das Präteritum, welches Claudio in seinem

212
Vgl. Matussek, Peter: Intertextueller Totentanz, S. 203.
213
Vgl. Alewyn, Richard: Der Tod des Ästheten, S. 296. Alewyn bezeichnet Claudio als Ästheten,
definitorische Merkmale desselben seien, dass die Kunst den Protagonisten vom Leben trenne, dass
Claudio sich über gewöhnliche Menschen erhebe, dass mit diesem ungewöhnlichen Leben aber auch
ungewöhnliche Leiden einhergehen würden.
214
Sprengel, Peter: Geschichte der deutschsprachigen Literatur, S. 117.
215
Vgl. Szondi, Peter: Der Tor und der Tod, S. 265.

73
Monolog verwendet, indiziert, dass die Kommunikation mit den Gegenständen einen
Einbruch erfahren hat. Die Kunstwerke können scheinbar jene Substitutfunktion, die
Claudio ihnen Zeit seines Lebens zugemessen hat, nicht mehr erfüllen,216 worüber
Claudio ein gewisses Maß an Bedauern empfindet. Wenn er nostalgisch ausruft: „Ihr
wart doch all einmal gefühlt“ (TT 450), so scheint die im Ausrufesatz enthaltene Par-
tikel „doch“ Claudios Unmut über die neue Situation auszudrücken, in welcher die
Kunstwerke die Leere seines Lebens nicht mehr ausfüllen können. Die Gegenstände
vermochten Claudio zwar lange Zeit die Illusion eines umfassenden Zusammenhangs
zu vermitteln, die ästhetizistischen Strategien versagen aber, wie Scheible anmerkt,
letztendlich, wenn es darum geht, „die abgerissene Verbindung von Ich und Welt neu
[zu] knüpfen“217. So wie der Kaufmannssohn unweigerlich „die Nichtigkeit aller
dieser Dinge“ (MN 209) fühlt, so realisiert Claudio, dass sein Vorhaben, sich über
„[d]ie Rumpelkammer voller totem Tand“ in das Leben „einzuschleichen“, gescheitert
ist (TT 449). Szondi führt dies darauf zurück, dass Claudio das Kunstwerk nicht wirk-
lich wahrnehme, sondern er nur sein Inneres ins Kunstwerk projiziere, so dass er dort
nur sehe, was er dem Kunstwerk „einwebe“: „Die Kunst war nur Projektion seines
Inneren, und sein Inneres nur ein Fragen, eine Sehnsucht, der die Antwort, die Erfül-
lung versagt blieb.“218 Hierdurch aber verliert jegliches Kunsterlebnis an Unmittelbar-
keit und hat nur substitutive Wirkung. Die Kunst verhindert somit ein Hinwenden zur
Wirklichkeit.

Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, dass anhand von Claudios Beziehung


zu den Gegenständen die Beziehungslosigkeit des Ästheten erneut deutlich wird: So
treten die Truhe, die er aus rein ästhetischer Sicht betrachtet, das Fenster, das den
Rahmen für seine ästhetizistische Betrachtung der Natur bietet, sowie die Briefe, die
seine Selbstbezüglichkeit spiegeln, in der zweiten Hälfte des lyrischen Dramas in
spiegelbildlicher Kontrafaktur auf. Sie sind nun weder Gegenstand noch Medium
ästhetischer Wahrnehmung, sondern Träger von Erinnerungen. Die Truhe erinnert

216
Ähnlich sieht dies Szondi, Peter: Der Tor und der Tod, S. 266: Er betont, dass die Kunstwelt, die
Claudio als Ersatz für sein nichtgelebtes Leben ansehe, „[e]ine trügerische Zuflucht“ sei. Die Kunst
offenbare hier ihre Schattenseite: „Von der Kunstwelt umstellt, die er für das Leben nehmen wollte,
blieb Claudio abgeschnitten vom wirklichen Leben. […] Zu spät begreift das Claudio, aber zum ersten
Mal in Hofmannsthals lyrischen Dramen wird begriffen und gesagt, dass dieses Leben keines ist.“
217
Scheible, Hartmut: Nachwort. In: Beer-Hofmann, Richard: Der Tod Georgs. Stuttgart 1980, S. 121-
122.
218
Vgl. Szondi, Peter: Der Tor und der Tod, S. 265.

74
Claudios Mutter an die Kindheit ihres Sohnes, der sich an der Truhe die Schläfe blutig
geschlagen hat, das Fenster erinnert sie an die Abende, an denen sie ängstlich darauf
gewartet hat, dass ihr Sohn nach Haus zurückkehrt, die Briefe wiederum erinnern die
Geliebte Claudios an den Schmerz, den sie bei der Trennung empfunden hat.219
Dieselben Gegenstände, die für Claudio nur Gegenstand oder Medium selbstbezoge-
ner ästhetizistischer Wahrnehmung sind, sind für die Mutter und für die frühere Ge-
liebte Claudios mit Erinnerungen an diesen verbunden, beinhalten demnach zum einen
eine zwischenmenschliche Komponente. Sie sind zum anderen mit jenen Gefühlen der
Sorge, der Angst und der Trauer verbunden, derer Claudio nie fähig war, und heben so
die fehlenden zwischenmenschlichen, emotionalen Bindungen des Ästheten hervor.
„Anders als seine Mutter und die Geliebte hat Claudio zu den Dingen keine innere
Beziehung herstellen können […], er hat es nicht vermocht, eine Welt aus ihnen zu
machen, in die er sich selbst eingefügt hätte, sondern sich tief in sein Inneres einge-
schlossen. Er hat nur sich selbst, aber nicht die Außenwelt wahrgenommen.“220, so
Bamberg in diesem Kontext.

Nachdem im Vorherigen schon dargelegt wurde, dass die Kunstgegenstände ihre


Substitutfunktion nicht mehr zu erfüllen scheinen, so treten im Eingangsmonolog
weitere Hinweise auf die Grenzen des Ästhetizismus auf. Ähnlich wie die in Bezug
auf das Leben der einfachen Menschen imaginierte Idylle, scheint Claudio auch die
Natur, die er betrachtet, zu stilisieren, um so augenblickhaft jene Stimmung zu
generieren, die ihm den Genuss der Natur aus der Ferne erlaubt. Während er in der
Abendsonne in seinem Studierzimmer am Fenster sitzt, ästhetisiert er die Natur,
indem er ein idealisiertes Bild der Landschaft stilisiert, die er durch das Fenster wahr-
nimmt. Die das Landhaus des Ästheten umgebenden Berge liegen „im Glanz“, ihre
Gipfel glänzen „im vollen letzten Strahl“, die Luft ist „durchsonnt“ und der goldum-
randete Wolkenkranz scheint alabasterfarben (TT 446). Claudio nähert sich mit
diesem Verhalten dem impressionistischen Typus an, welchem beispielsweise auch
Schnitzlers Anatol angehört. Charakteristisch für den impressionistischen Menschen
ist, dass der Augenblick „aus dem Strom gewöhnlicher Alltagserfahrungen“ herausge-

219
Vgl. auch Bamberg, Claudia: Hofmannsthal: Der Dichter und die Dinge. Heidelberg 2011, S. 228:
Die Gegenstände sind für Claudios Geliebte „stumme Träger von Freude, Glück und Schmerz, die sie
nun noch einmal für den Augenblick aktiviert.“
220
Bamberg, Claudia: Hofmannsthal: Der Dichter und die Dinge, S. 228.

75
hoben wird und infolgedessen „an Bedeutung [gewinnt]“. Der Augenblick avanciert
so „zum Garanten einer existentiellen Sinnerfahrung, da der in die Zukunft ausgrei-
fende Lebensentwurf als individuelle Orientierungsgröße obsolet geworden ist“.221 Im
Augenblick hingegen werden gesteigerte Erlebnisqualitäten freigesetzt, die äußerste
Erfahrungsfülle gewähren, so dass sich hier das Leben ganzheitlich verdichtet.222 Wie
Schnitzlers Anatol versucht auch Claudio im Augenblick jene Lebensfülle zu
generieren, die er im wirklichen Leben nicht zu fühlen vermag. Vogel fasst im Hin-
blick auf die ästhetizistisch lebenden Protagonisten der Jahrhundertwende zusammen:

Ihr Medium ist die persönlichkeitszersetzende Vielfalt der Empfindungen und der
Eindrücke, die abundante Potentialität, die den ästhetischen Menschen als
impressionistischen Menschen kennzeichnet.223

Wie die ästhetizistischen Imaginationsgebilde Claudios in Bezug auf die Landbevöl-


kerung, sind aber auch seine Stimmungsgebilde in Bezug auf die Landschaft nur
ephemer. Dem ästhetizistischen Aufschwung ist der Zusammenbruch stets immanent.

3.2.4. Die indirekte Wahrnehmung der Wirklichkeit

Darüber hinaus trifft jene Wahrnehmungsweise, die Frye in Bezug auf den Kauf-
mannssohn exponiert hat, auch auf Claudio zu: Der Ästhet aus Der Tor und der Tod
nimmt seine Umgebung nicht unmittelbar, sondern stets entweder über das Medium
der Kunst oder das der Distanz vermittelt wahr. Claudio wähnt sich so zum einen
mittels der angesammelten Kunstgegenstände in das Leben „einzuschleichen“. Zum
anderen nimmt er seine Mitmenschen, wie zuvor im Hinblick auf die Landbevölke-
rung dargelegt wurde, nur idyllisch-projektiv wahr. Besonders deutlich wird dieser
indirekte Wahrnehmungsmodus in Bezug auf die Natur: Claudio nimmt die Natur
erstens nur aus der Distanz, zweitens nur über Kunst vermittelt wahr. Die Trennung

221
Vgl. Valk, Thorsten: Impressionistisches Lebensgefühl und existentieller Orientierungsverlust.
Schnitzlers Anatol. In: Günter Saße, Günter; Kim, Hee-Ju (Hrsg.): Arthur Schnitzler. Dramen und
Erzählungen. Interpretationen. Stuttgart 2006, S. 22.
222
Vgl. Valk, Thorsten: Impressionistisches Lebensgefühl und existentieller Orientierungsverlust, S.
22.
223
Vgl. Vogel, Juliane: Hofmannsthals und Schnitzlers Dramen, S. 290: Vogel merkt in diesem
Kontext zudem an, dass die Hofmannsthalschen Helden „außerhalb des aristotelischen Charakter- und
Zeitkonzeptes“ stehen würden, da sie „zu jenen ungreifbaren Figuren [gehören würden], deren Identität
sich von Moment zu Moment verschieb[e] und veränder[e]“, so dass „die Grundlagen der klassischen
Figurenkonzeption außer Kraft“ gesetzt würden.

76
von der Natur sei, so Bamberg, „eine Doppelte: Sie geschieht durch das Fenster und
durch das vor dem inneren Auge gesehene Gemälde gleichermaßen.“224

Zum einen nimmt Claudio die Natur nur aus der Ferne wahr: Der Ästhet ist durch
Glasscheiben von der Außenwelt abgeschirmt, die er nicht betritt. Er betrachtet die
Natur durch zwei große Fenster seines Studierzimmers; vom Balkon aus führt zwar
eine hängende Holztreppe in den Garten, Claudio aber betritt diesen nicht. Die Türen
und Fenster des Studierzimmers fungieren so gleichermaßen als „Grenzscheiden“225
zur Außenwelt, der Claudio nicht gewachsen ist. So befiehlt er auch seinem Diener,
die Tür zum Garten zu schließen, als hier unheimliche Gestalten auftauchen. Türen
und Fenster erlauben es, den aus der Nähe bedrohlichen Naturbereich aus der sicheren
Distanz zu betrachten. Neben den humanen Werten und den emotionalen Bindungen
klammert der Protagonist mit der Natur also einen weiteren Teilbereich des Lebens
gänzlich aus. Die Trennung des eigenen Lebensbereiches vom Bereich der Natur, die
zu Beginn des lyrischen Dramas deutlich wird, kann somit als weiterer Hinweis auf
die Lebensferne des Ästheten gewertet werden.

Zum anderen nimmt Claudio die Natur über Kunst vermittelt, als Gemälde, wahr,
welches er vor dem Fenster sitzend betrachtet: Er erblickt durch den (Fenster-
)„Rahmen(!)“ – und der Rahmen unterstreicht deutlich die Wahrnehmung der Natur
als Kunstwerk – „eine ästhetisch stilisierte, durch Literatur und Kunst präfigurierte
Natur“226. Besonders deutlich wird diese Wahrnehmungsweise, wenn man die Farbbe-
schreibungen, welche Claudio bei seiner Naturbetrachtung vornimmt, genauer unter-
sucht: Claudio scheint gewissermaßen Farbfilter über die Natur zu legen, um hier-
durch in seiner Imagination ein „ästhetizistisches“ Gemälde der ihn umgebenden Na-
tur zu erschaffen, welches seiner Vorstellung entspricht. Der Ästhet zeichnet so ein
Gemälde, auf welchem ein alabasterfarbener, goldumrandeter Wolkenkranz um die
Berge schwebt, an deren Abhängen „blaue Wolkenschatten“ (TT 446) liegen, und auf
dem Wiesen aus grauem Grün die Berge säumen. Im Hintergrund des Gemäldes sinkt
die Sonne, der „goldne Ball“, in ein Meer aus „grünlichem Kristall“ (TT 446),

224
Bamberg, Claudia: Hofmannsthal: Der Dichter und die Dinge, S. 220.
225
Bamberg, Claudia: Hofmannsthal: Der Dichter und die Dinge, S. 219.
226
Grundmann, Heike: ‚Mein Leben zu erleben wie ein Buch‘, S. 82. Vgl. auch Bamberg, Claudia:
Hofmannsthal: Der Dichter und die Dinge, S. 220: Bamberg merkt an, dass Claudio aus dem Fenster
heraus ein Gemälde betrachtet.

77
während die Dämmerung, der „rote Rauch“, über der Landschaft niedersinkt. Indem
der Ästhet dieses – mittels seiner Vorstellungskraft – selbstgeschaffene Gemälde be-
trachtet, nimmt er die Natur nur indirekt, nur über Kunst vermittelt, wahr, was seine
indirekte, seine Lebensferne zum Teil bedingende, Wahrnehmungsweise unterstreicht.

Matussek verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass Claudio sich beim Anblick
des Sonnenuntergangs darüber hinaus nicht von „kunsthistorischen und literarischen
Assoziationen“ freimachen könne. So erinnerten ihn die Wolken an Madonnenbilder,
der Glanz der Berge setze sich aus Versen Lenaus und Goethes zusammen und die
Farben der Landschaft stammten von Lorrain. Die Schilderung der Land-
schaftsatmosphäre kulminiere abschließend in einem Hölderlin-Zitat.227 Claudios
„überwacher Sinn“ verwandelt demnach „jede Lebensregung sogleich in ein
Bildungsgut, das tausend Vergleiche herbeizitiert, bis schließlich das eigene Existenz-
gefühl darin untergeht.“228 Ähnlich sieht dies Grundmann, die unterstreicht, dass
Kunst wie Natur für Claudio nicht mehr individuell nachvollziehbar, sondern stets mit
literatur- und kunsthistorischen Reminiszenzen durchdrungen seien.229 Durch diese
Wahrnehmungsweise aber ist Claudio, welchen Grundmann als „Prototyp des Fin-de-
siècle-Ästheten“ ansieht, der direkte Zugang zum Leben versperrt. Er kann das Leben
nur mehr mittelbar wahrnehmen: „Zwischen die individuelle Erfahrung und deren
Wahrnehmung schieben sich Lektüre- und Kunsterlebnisse, die das wirkliche Leben
zu etwas immer schon Präformiertem und damit immer nur nachträglich Erfahrbaren
machen. […] Statt dass individuell erlebt wird, wird auf Allgemeines referiert.“ Die
direkte Teilnahme am Leben sowie das Erfahren wahrer Lebensfülle bleiben dem
Ästheten aufgrund der durch diese Wahrnehmungsweise generierten Distanz stets
verwehrt.230

Wenn bereits in Bezug auf die Kunst festgehalten wurde, dass Claudios Wahrneh-
mung durch assoziative kunsthistorische und literarische Reminiszenzen
durchdrungen ist, so gilt dies ebenso für seine allgemeine Wahrnehmung des Lebens.
Szondi betont, dass Claudio keine Unmittelbarkeit erfahren könne, da er alles an der
Vergangenheit und an Erhofftem messe. Er messe die Gegenwart an dem Bild, das
227
Matussek, Peter: Intertextueller Totentanz, S. 204.
228
Matussek, Peter: Intertextueller Totentanz, S. 205.
229
Grundmann, Heike: ‚Mein Leben zu erleben wie ein Buch‘, S. 82.
230
Vgl. Grundmann, Heike: ‚Mein Leben zu erleben wie ein Buch‘, S. 83.

78
„[sich] die Vergangenheit von ihr, als ihrer Zukunft, gemacht hatte und das als
Erinnerung überlebt.“231 Der Ästhet könne daher nie eine direkte Beziehung zu dem
Erlebten eingehen. Claudios überwacher Sinn wäge zudem alles ab, sodass dem
Denken größerer Raum zukomme als den Gefühlen. Somit entstünde eine „Maue[r]
der Reflexion“, die dem Ästheten den unmittelbaren Zugang zum Leben verbaue.232
Die in Bezug auf diese indirekte Wahrnehmungsweise einsetzende Reflexion des
Ästheten wird unter Punkt 3.4.2. näher beleuchtet werden.

3.2.5. Vergangenheit

Im Gegensatz zum Kaufmannssohn imaginiert Claudio sein Leben nicht nach dem
Vorbild eines antiken Helden, lebt aber insofern in der Vergangenheit, als sein Garten
mit der Statue Apollos und der Sphinx auf seine an der Vergangenheit ausgerichtete
Lebensweise verweist. Zudem weist sein Studierzimmer eine quasi museale Struktur
auf, die Hofmannsthal noch deutlicher als die des Hauses des Kaufmannssohnes her-
vorhebt. Bamberg verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass auch Claudios
Wahrnehmung einer musealen Struktur folge; seine Kunstkammer erinnere an eine
enzyklopädisch angelegte Kunstkammer des 16. bis 18. Jahrhunderts, der aber – und
hier zieht Bamberg Horst Bredekamps Definition einer Kunstkammer heran233 – ein
wesentlicher Baustein fehle: die Natur. Die schönen alten Dinge seien „Teile und
Träger eines vergangenen Lebens“, Claudio aber glaube „über sie das eigene zu
erfahren“. Er habe die Gegenstände zu Götzenbildern gemacht, über die er versuche,
„sich fremdes Leben zu erborgen, um damit die eigene Leblosigkeit zu
kompensieren.“234 Der offenen Dynamik des wirklichen Lebens sei der Ästhet nicht
gewachsen, da er sich hiermit nie auseinandergesetzt, sondern stets versucht habe,

231
Szondi, Peter: Der Tor und der Tod, S. 262.
232
Vgl. Szondi, Peter: Der Tor und der Tod, S. 258-261: Dadurch, dass Claudio aber alles an
Vergangenem und Erhofftem messe, generiere er Vorstellungen, die stets enttäuscht würden; Erlebnisse
gewännen nie eine eigene Bedeutung, sondern würden immer nur mittelbar wahrgenommen, sie würden
als Schatten erlebt. Vgl. auch Alewyn, Richard: Der Tod des Ästheten, S. 300-303: Alewyn sieht dies
ähnlich: Claudios Leben bleibe ein „vor-läufiges“, da er die Gegenwart überspringe, um mittels seiner
Erwartungen bereits in die Zukunft vorauszueilen. Claudio messe so jede Erfahrung an einer Erwartung
und verwerfe die Erfahrung, wenn die Erwartung nicht erfüllt werde. Sein Verstand zerstöre so die
Unmittelbarkeit des Gefühls.
233
Bamberg, Claudia: Hofmannsthal: Der Dichter und die Dinge, S. 217, beruft sich auf Horst
Bredekamp, nach dessen Definition eine Kunstkammer durch vier Bausteine definiert wird: die
Naturform, die antike Skulptur, das Kunstwerk, die Maschine. Bis auf die Natur seinen alle vier
Bausteine in Claudios Studierzimmer präsent, wie aus den Regieanweisungen Hofmannsthals
hervorgeht.
234
Bamberg, Claudia: Hofmannsthal: Der Dichter und die Dinge, S. 222.

79
„die Verantwortung für die selbsttätige Gestaltung seines eigenen Lebens
abzugeben.“235 Mit diesem Verhalten stehen Claudio, der Kaufmannssohn und Sala
stellvertretend für die Generation der Söhne der Gründerväter, die sich dem rapiden
gesellschaftlichen Wandel im Wien der Jahrhundertwende nicht gewachsen sieht und
vor diesem Wandel in das eigene Innere und in kunstvoll konstruierte Interieurs
flüchtet, anstatt sich der veränderten gesellschaftlichen Wirklichkeit zu stellen.
„Hofmannsthals kleine Dramen sind“ somit „sowohl subtile Analysen zeittypischer
Befindlichkeiten als auch deren Kritik“.236

Dass Hofmannsthal mit seinem Drama eine kritisch ausgerichtete Analyse


zeittypischer Befindlichkeiten intendiert, wird auch deutlich, wenn man die
Handlungszeit des Dramas betrachtet: Die den lyrischen Einakter einleitenden
Regieanweisungen situieren das Drama in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts.
Die bewusste Verlegung der Handlungszeit in ein früheres Jahrhundert beinhaltet eine
explizite Kritik an der eigenen Gegenwart. Wenn Hofmannsthal seine frühen lyrischen
Kurzdramen in eine „Vorzeit“ verlege, so würden sich die „Einakter […] als Konzepte
einer Abwehr [erkennen lassen], aus denen Milieus der Gegenwart ferngehalten sind,
um den in den Einaktern ausgetragenen Lebensdispositionen eine grundsätzliche […]
Bedeutung einzuräumen“, so Vinçon. Dies führe dazu, dass die Einakter des Autors
als „zeitpsychologische Studi[en]“237 zu betrachten seien.

3.3. Die Anklage gegen die ästhetizistische Lebensweise Claudios

Wie im Vorherigen angedeutet, hat der Eingangsmonolog, der Claudio als Ästheten
exponiert, zugleich Reflexionscharakter. Im Eingangsmonolog findet bereits eine ge-
wisse Reflexion des Ästheten in Bezug auf sein von der Kunst dominiertes Leben, auf
seinen gesellschaftlichen Rückzug sowie auf seine Gefühls- und Bindungsunfähigkeit
statt. Diese Reflexion wird allerdings nicht zu Ende geführt. Hierzu bedarf es eines
weiteren Impulses: Die als Ankläger auftretenden Figuren und ihre direkte Anklage
Claudios führen zu einer weitergehenden Reflexion seitens des Ästheten und einem

235
Vgl. Bamberg, Claudia: Hofmannsthal: Der Dichter und die Dinge, S. 222.
236
Haupt, Sabine; Würffel, Stefan Bodo (Hrsg.): Handbuch Fin de Siècle, S. 425.
237
Vinçon, Hartmut: Einakter und kleine Dramen, S. 374-375.

80
Eingestehen seiner Vergehen. Der vollständige Reflexionsprozess des Protagonisten
wird zusammenfassend unter Punkt 3.4. behandelt werden.

Die schon in der ersten Hälfte des Dramas einsetzende Reflexion des Ästheten wird
plötzlich durch das Spiel einer Geige unterbrochen, welches den Auftritt der Figur des
Todes einleitet und Claudio seltsam berührt: „Musik? Und seltsam zu der Seele
redende!“ (TT 452). Anzumerken ist zunächst, dass diese Unterbrechung der
Reflexion nicht so plötzlich erfolgt, wie der Protagonist es empfindet. Vielmehr hat
Claudio vielfache Hinweise auf das Erscheinen des Todes verdrängt. So hatte ein
Diener Claudio bereits im Vorfeld voller Angst vor einem „Schwarm unheimliche[n]
Gesindel[s]“ (TT 451) im Garten gewarnt, war allerdings von Claudio barsch zurecht-
gewiesen worden, er solle in dem Fall die Tür schließen und ihn in Ruhe lassen: „So
sperr die Tür […] zu, und leg dich schlafen und lass mich in Ruh.“ (TT 451). Be-
zeichnend ist die iterative Verwendung des Imperativs, die unterstreicht, dass Claudio
unfähig ist, die Angst seines Dieners nachzuvollziehen. Er ist der Empathie nicht fä-
hig, sondern erteilt bloß Befehle, anstatt auf die Befürchtungen des Dieners einzuge-
hen. Als der Diener einen erneuten Versuch unternimmt, den Protagonisten auf die
Unheimlichkeit der Gestalten hinzuweisen, reagiert Claudio wiederum wenig
interessiert: „Nun?“ (TT 451), und bleibt in seiner Selbstbezogenheit verfangen.
Selbst die eindringliche Beschreibung der unheimlichen Gestalten, die der Diener
vornimmt, um in einem dritten Anlauf zu versuchen, seinen Herren zu warnen, ver-
wirkt ihr Ziel und kann den Egozentriker nicht aus seiner Selbstbezogenheit locken.
Die drei Warnungen schlagen fehl. Claudio scheint infolgedessen vom Geigenspiel
des Todes überrascht, obgleich der Auftritt des Todes nicht so plötzlich erfolgt, wie er
vom Ästheten erlebt wird, sondern der Tod sich Claudio schrittweise annähert.

Auf diese Phase des Verdrängens folgt eine Phase der Verklärung: Die Melodie des
Todes wird zunächst vom Ästheten nicht als Todesmelodie wahrgenommen, sondern
als lebenserweckende Melodie verklärt. Hierdurch wird bereits die finale Verklärung
des Todes: „Da tot mein Leben war, sei du mein Leben, Tod!“ (TT 463), die Claudio
am Ende des Einakters vornimmt, proleptisch angedeutet. Claudio ruft aus, dass die
Melodie so „allgewaltig“ auf ihn eindringe, dass er das Gefühl habe, sein „Leben
flut[e] herein“ (TT 452). Er spürt Erinnerungen aufdrängen und fühlt sich „in ein

81
jugendliches Meer“ geworfen, in eine Zeit also, in der er sich noch nicht der ästheti-
zistischen Lebensführung verschrieben hatte. Damals war er noch von einem nun
verloren gegangenen Alleinheitsgefühl durchdrungen, fühlte sich als „Glied im großen
Lebensringe“ und schlug nicht „[mit blutigen Fingern] an sieben vernagelte Pforten“
(TT 448) des Lebens:

Da leuchtete manchmal die ganze Welt,


[…] Wie waren da lebendig alle Dinge,
Dem liebenden Erfassen nahgerückt,
Wie fühlt ich mich beseelt und tief entzückt,
Ein lebend Glied im großen Lebensringe!
Da ahnte ich, durch mein Herz auch geleitet,
Den Liebesstrom, der alle Herzen nährt,
Und ein Genügen hielt mein Ich geweitet,
Das heute kaum mir noch den Traum verklärt. (TT 453)

Dem Ästheten scheint sich beim Erklingen der Geigenmelodie augenblickhaft „kaum
geahntes Leben“ (TT 453) anzukündigen. Das von Claudio empfundene Gefühl erin-
nert hierbei an das von Faust empfundene Alleinheitsgefühl, welches ihn beim
Ertönen des Chorgesangs in der Szene Nacht überflutete und in ihm Erinnerungen
weckte, die ihn davon abhielten, die Phiole an seinen Mund zu führen: „Erinnerung
hält mich nun mit kindlichem Gefühle vom letzten, ernsten Schritt zurück.“ (F 781-
782). Wie bei Faust das Alleinheitsgefühl nur kurz anhält und am Ende des Osterspa-
ziergangs (Vor dem Tor) umschlägt, so erweist sich auch das Hochgefühl des Ästheten
als ephemer und Claudio empfindet „ein sinnlos namenloses Grauen“ (TT 454), als er
die wahre Herkunft der Musik erkennt. Dem Aufschwung ist, wie bei Faust, der
Absturz immanent.

Im Gegensatz zum Märchen der 672. Nacht  in dem die Anklage insofern zweifach
indirekt erfolgt, als sie über das Medium des Briefes erhoben wird und der
Kaufmannssohn nicht direkt, sondern einer seiner Diener beschuldigt wird  erfolgt
die Anklage in Hofmannsthals lyrischem Einakter direkt. Erstens betritt die Figur des
personifizierten Todes die Bühne, zweitens wird der Ästhet direkt und nicht einer
seiner Diener angeklagt, drittens treten mit den Figuren der drei Verstorbenen
Bezugspersonen Claudios drei weitere Kläger auf. Das Arrangement, welches
Hofmannsthal hierbei vornimmt, erinnert an die Tradition des Totentanzes, das heißt
an spätmittelalterliche zyklische Dichtungen um die Gestalt des Todes als Spielmann.
Die Handlung erhält mit dem Auftritt des personifizierten Todes als Hauptankläger

82
und den drei Verstorbenen als Nebenkläger Züge eines Gerichtsprozesses, des
Prozesses gegen die ästhetizistische Lebensweise Claudios, die Hofmannsthal im
Medium der Literatur kritisch hinterfragt, um sie abschließend als lebensfern zu
verurteilen.

Hierbei werde die Einsicht Claudios, so Bamberg, von außen angestoßen, was typisch
für Hofmannsthals literarisches Verfahren sei. Claudio lerne nicht „von allein, ‚nur‘
durch sein internalisiertes Gewissen, seine menschlichen Defizienzen zu verstehen
[…], sondern […] erst die gehörte Musik entdeck[e] [dieses Gewissen]“ und könne es
„freilegen – ja dieses sogar vielleicht erst generieren.“238 Die Forschung hebt hierbei
hervor, dass die Selbstcharakterisierung des Todes, er stamme „aus des Dionysos, der
Venus Sippe“ und stehe als „großer Gott der Seele“ vor Claudio (TT 454), darauf
verweise, dass Hofmannsthal den Tod in barocker Tradition konzipiert habe. Vor
seinem Lebensende müsse Claudio so vor dem Tod Rechenschaft „von seinem
gelebten Leben und der Rolle, die er darin gespielt hat“, ablegen. Dionysos stehe
hierbei „für die Einheit von Leben und Tod und, damit eng verbunden, für ein
gesteigertes Leben sowie die Einheit des Seins“239. Der Tod fungiert somit, wie bereits
im Vorherigen angedeutet, als Richter über die Lebensführung Claudios: „Der
dionysische Todesgott […] tritt nicht etwa als Widerpart der zentral konzipierten
Lebensvorstellung auf, sondern als Erfüllung des Lebens, als Lebenslehrer.“240 Indem
der Tod Claudios Verfehlungen offenlegt, präsentiert er zugleich die Kontrastfolie, auf
Grundlage derer der Rezipient das „wirkliche“ Leben imaginieren kann. Der Tod
erscheint hierdurch als „Allegorie des Lebens“241 und tritt so „sowohl als Lebensende
wie auch als Analogon des Dichters auf“242. Indem der Tod die ästhetizistische
Lebensferne Claudios anklagt, erscheint er gleichsam als Sprachrohr Hofmannsthals:
Am Beispiel von Claudios Lebensführung werden ex negativo die Verfehlungen der
ästhetizistischen Lebensweise aufgezeigt und dem Rezipienten wird so der „Weg zum
eigentlichen Leben“243 exemplarisch vorgeführt.

238
Bamberg, Claudia: Hofmannsthal: Der Dichter und die Dinge, S. 226.
239
Bamberg, Claudia: Hofmannsthal: Der Dichter und die Dinge, S. 227.
240
Mayer, Mathias: Der Thor und der Tod, S. 1018.
241
Bamberg, Claudia: Hofmannsthal: Der Dichter und die Dinge, S. 225.
242
Mayer, Mathias: Der Thor und der Tod, S. 1018.
243
Leiß, Ingo; Stadler, Hermann: Deutsche Literaturgeschichte, S. 225.

83
Die Anklageschrift im „Prozess“ gegen den Ästheten enthält hierbei vier
Anklagepunkte: die durch die ästhetizistische Lebensweise bedingte Lebensferne, die
einseitige Hingabe an die Kunst, die Bindungs- und Gefühllosigkeit des Protagonisten
sowie dessen Rückzug aus dem sozialen Leben. „Claudio ist der Vertreter eines
radikalen Schönheitsglaubens, der die Natur als Gemälde, das Leben als Buch und die
Mitmenschen als bloße Puppen behandelt. Claudios Lebensfremdheit, die sich hinter
Kunst und Wissen verbirgt, wird […] einem Gericht unterzogen.“244 Hervorzuheben
ist in diesem Zusammenhang, dass die Anklage exakt jene vier Punkte enthält, in
Bezug auf welche auch die Reflexion Claudios innerhalb des Dramas stattfindet.

Der Tod wirft Claudio zunächst vor, dass er die Gelegenheit zum Leben, die allen
Menschen gegeben wird, nicht wahrgenommen habe. Er fungiert alsdann als
Lebenslehrer, indem er zunächst eine Definition des Lebens vornimmt, die Claudios
Verfehlungen spiegelbildlich hervorhebt: Leben heiße dem „Chaos toter Sachen
Beziehung einzuhauchen“ sowie sich zu binden und gebunden zu werden: „Man
bindet und man wird gebunden.“ (TT 456). Hierzu aber war Claudio nicht fähig. Es ist
ihm weder gelungen, mittels des Ansammelns von Kunstgegenständen eine Welt der
Bezüge zu entwerfen,245 noch ist es ihm gelungen, Beziehungen zu seinen
Mitmenschen aufzubauen oder diese an sich zu binden. Diese Bindungsunfähigkeit
sowie die daraus resultierende Beziehungslosigkeit des Protagonisten klagt der Tod
deutlich an. Daraufhin bezeichnet er Claudio als Tor und formuliert explizit seine
Absicht, dem Tor den Sinn des Lebens vor Augen zu führen, indem er ihn anweist,
sich hinzustellen, zu schweigen und seinen Lehren zuzuhören:

Du Tor! Du schlimmer Tor, ich will dich lehren,


Das Leben, eh du's endest, einmal ehren.
Stell dich dorthin und schweig und sieh hierher
Und lern, dass alle andern diesen Schollen
Mit lieberfülltem Erdensinn entquollen
Und nur du selber schellenlaut und leer. (TT 457)

244
Mayer, Mathias: Der Thor und der Tod, S. 1018.
245
Vgl. auch Bamberg, Claudia: Hofmannsthal: Der Dichter und die Dinge, S. 227: Die Dinge und
somit das Drama trügen, so Bamberg, sowohl Claudios Lebensproblematik als auch - auf
poetologischer Ebene - die Frage aus, wie der Künstler, der nicht auf die Dinge verzichten könne, in
einer Welt einer heillosen Unordnung in ein angemessenes und produktives Verhältnis zu den Dingen
gelangen könne. Hofmannsthals Ziel sei es, eine Welt der Bezüge zu entwerfen. Ebendies gelinge
Claudio nicht.

84
Alsdann leiten „ein paar Geigenstriche“ (TT 457) den Auftritt der drei Verstorbenen
ein, die die Lebensunzulänglichkeit Claudios ebenfalls anklagen.

Zunächst betritt Claudios Mutter die Bühne. Sie nennt unmittelbar nach ihrem Auftritt
die drei Gefühle, die ihr Leben als Mutter geprägt haben: „ein Dritteil [sic]
Schmerzen, eins Plage, Sorge eins“, und schließt dieser Feststellung die rhetorische
Frage: „Was weiß ein Mann davon?“ (TT 458), an. Diese Frage unterstreicht Claudios
Gefühllosigkeit, die den das Leben der Mutter prägenden Gefühlen der Angst und
Sorge um ihren Sohn diametral entgegensteht. Die Mutter verdeutlicht diesen
Anklagepunkt anschließend durch zwei Beispiele ihrer Angst und Sorge, wobei
ebenjene Gegenstände spiegelbildlich auftreten, die für Claudio rein ästhetizistische
Anschauungsobjekte sind. Für die Mutter aber haben diese Gegenstände
tieferreichende Bedeutung: Sie sind Träger von Erinnerungen und Träger der mit
diesen Erinnerungen verbundenen Gefühlen. Die Kante der Truhe erinnert die Mutter
daran, dass Claudio sich an der Truhe einst die Schläfe blutig schlug. Das Fenster 
für Claudio bloß Rahmen seiner ästhetizistischen Weltbetrachtung  ist für die Mutter
Symbol von Angst und Sorge, stand sie doch abends am Fenster und wartete auf die
Rückkehr ihres Sohnes. Die Truhe und das Fenster gewinnen somit symbolische
Funktion: Sie versinnbildlichen die Gefühllosigkeit des Ästheten, der Emotionen
zeitlebens ausgeklammert hat, um seine Zeit, „auf Kosten moralischer Werte und
emotionaler Bindungen“246, der Betrachtung schöner Gegenstände zu widmen.

Anschließend betritt Claudios ehemalige Geliebte die Bühne und hebt in einem ersten
Schritt den Schmerz, den Claudio ihr bereitet hat, hervor: „Du hast mir weh getan, so
weh ….“ (TT 459). Sie unterstreicht dann kurz die schönen Tage, die sie mit Claudio
verbracht hat, um in einem zweiten Schritt Claudios Verfehlen umso deutlicher
hervortreten zu lassen und dem Ästheten vorzuwerfen, er habe sie „achtlos, grausam,
wie ein Kind, des Spielens müd, die Blumen fallen lässt, fort[ge]w[orfen]“ (TT 460).
Die ehemalige Geliebte klagt demnach an, dass Claudio seine Mitmenschen nicht als
eigenständige Subjekte ansieht, sondern ihnen nur Objektcharakter zugesteht. Zudem
hegt sie Zweifel daran, dass der Ästhet wahre Gefühle für sie empfunden habe:

Was weiß denn ich, wieviel von deinem Herzen

246
Sprengel, Peter: Geschichte der deutschsprachigen Literatur, S. 117.

85
in all dem war, was meinen armen Sinn
mit Glanz und Fieber so erfüllte. (TT 460)

Die kontrastive Gegenüberstellung der Possessivpronomen stellt die Gefühllosigkeit


des Ästheten den Gefühlen der Geliebten gegenüber und hebt somit die Gefühls- und
Bindungslosigkeit des Protagonisten hervor.

Nach dem Abgang der früheren Geliebten Claudios tritt ein ehemaliger Freund in
Erscheinung, der den Ästheten ebenfalls der Bindungs- und Gefühllosigkeit anklagt.
Wenn der ehemalige Freund Claudio als „Ewigspielenden […], schnellbefreundet,
fertig schnell mit jedem“ (TT 461) apostrophiert, so unterstreicht er die
Rücksichtslosigkeit und Bindungsunfähigkeit desjenigen, der keine festen
Beziehungen zu seinen Mitmenschen einzugehen vermag, der ungeachtet der Gefühle
seiner Mitmenschen mit diesen spielt, der  ist der erhoffte Reiz verflogen  die
Personen achtlos wegwirft, wie schon die Geliebte betonte. Der Freund klagt dieses
Verhalten an, indem er auf eine gemeinsame Bekannte Bezug nimmt, die Claudio
zunächst begehrt habe, sie dann aber  als der für den Ästheten typische Reiz
verschwunden war  „sattgespielt“ wie eine „Puppe“ weggeworfen habe (TT 461).

Die vier in der Tradition des Totentanzes  der ursprüngliche Titel des lyrischen
Dramas lautete bezeichnenderweise Der neue Todtentanz [sic]247  auftretenden
Gestalten klagen so exakt jene Verfehlungen des Ästheten an, die seine
Lebensunzulänglichkeit bedingen und in Bezug auf die Claudio seine ästhetizistische
Lebensführung kurz vor seinem Tod ebenfalls einer kritischen Untersuchung
unterzieht und letztendlich zum Schluss gelangt, er habe nicht gelebt.

247
Vgl. Matussek, Peter: Intertextueller Totentanz, S. 202. Vgl. auch Vinçon, Hartmut: Einakter und
kleine Dramen, S. 376.

86
3.4. Die Reaktion Claudios

Wie im Vorherigen bereits angedeutet, erlaubt die Kürze des modernen Einakters es
nicht, einen großen Handlungsbogen zu entfalten. Der Einakter eignet sich aber in
besonderem Maße zum Exponieren der Seelenzustände von Figuren, deren Situation
aus eigener Kraft nicht mehr veränderbar ist, die sich dem anthropologischen Horizont
verweigern und die so dem klassischen aristotelischen Helden diametral
entgegengesetzt sind, wie Vogel darlegt.248 Im lyrischen Einakter Der Tor und der
Tod, der laut Vinçon eine „stärkere Monologisierung“ als vorhergehende Dramen
Hofmannsthals erreicht,249 liegt der Fokus  auch aufgrund ebendieser
offensichtlichen Monologisierung  stärker als im Märchen der 672. Nacht und im
Drama Der einsame Weg auf der Reflexion des Ästheten. Die Reflexion seiner
Lebensführung ist dem Monolog Claudios von Anfang an immanent, ist weit
fortgeschrittener als die Reflexion des Kaufmannssohnes und auch weitgehender als
die Salas. Dennoch ist auch die Reflexion Claudios nicht als eine
Verhaltensänderungen initiierende Reflexion einzuordnen, da der Ästhet im Angesicht
des Todes in alte Verhaltensmuster zurückverfallen wird.

Nachdem Claudio im Vorfeld des Auftritts des Todes alle warnenden Hinweise seines
Dieners ignoriert und somit das Erscheinen des Todes verdrängt hat, ist die erste
Reaktion Claudios auf das Erscheinen des Anklägers die einer heftigen Abwehr und
Angst. Als Claudio den Ursprung der Melodie erkennt, krampft sich sein Innerstes
zusammen. Es „schnürt“ ihm die Kehle zu und sein Haar sträubt sich, bevor er, zu
Boden sinkend, den Tod mittels eines vierfachen, seiner Verzweiflung Ausdruck
verleihenden, Imperativs: „Geh!“, zum Gehen auffordert:

Geh weg! Du bist der Tod. Was willst du hier?


Ich fürchte mich. Geh weg! Ich kann nicht schrein. […]
Geh weg! Wer rief dich? Geh! Wer ließ dich ein? (TT 545)

Alsdann versucht Claudio, den Tod zum Weggehen zu überreden, indem er


argumentiert, er habe bisher noch nicht gelebt und müsse sein Leben erst zu Ende

248
Vgl. Vogel, Juliane: Hofmannsthals und Schnitzlers Dramen, S. 289-291.
249
Vgl. Vinçon, Hartmut: Einakter und kleine Dramen, S. 376. Vgl. auch Haupt, Sabine; Würffel,
Stefan Bodo (Hrsg.): Handbuch Fin de Siècle, S. 424-425: Das Drama sei somit jenen frühen Dramen
Hofmannsthals zuzurechnen, die von monologischer Introspektion statt Handlung bestimmt würden.

87
führen. Diese Argumentation aber wird vom Tod barsch unterbrochen. Er hält Claudio
entgegen, er habe, „wie alle“, die Gelegenheit zum Leben gehabt, sein Argument sei
somit nichtig: „Bist doch, wie alle, deinen Weg gezogen! […] Was allen, ward auch
dir gegeben“ (TT 455-456).

Dieser Phase der Abwehr erfolgt alsdann eine Reflexionsphase, die die bereits im
Eingangsmonolog einsetzende Reflexion des Ästheten zu Ende führt. Die Reflexion
Claudios findet hierbei in Bezug auf die vier Komponenten seiner Lebensunfähigkeit
statt. Der Tod, in der Funktion des Anklägers, wird Claudio im Verlauf des
„Gerichtsprozesses“ dazu zwingen, sich mit seiner defizitären ästhetizistischen
Lebensweise auseinanderzusetzen, und ihn zu einem Eingeständnis seiner
Lebensunfähigkeit bewegen. Im Folgenden wird jeweils zunächst auf die
Gedankengänge Claudios im Eingangsmonolog eingegangen, bevor alsdann die
Fortführung dieser Gedankengänge nach dem Erscheinen des Todes untersucht wird.

3.4.1. Reflexion in Bezug auf die zwischenmenschlichen Beziehungen und die


Gesellschaft

Bereits vor dem Auftritt des Lebenslehrers reflektiert Claudio im Eingangsmonolog


die eigene Gefühllosigkeit: Als er  aus der Ferne  die Häuser der Stadt betrachtet,
stellt er das Verhalten der Bewohner, die „einander herzlich nah sind und sich um
einen [härmen], der entfernt“ (TT 448), dem eigenen Verhalten kontrastiv gegenüber.
Während „sie“ einander nah sind, „sie“ sich gegenseitig trösten, „sie“ einander „mit
einfachen Worten, was nötig zum Weinen und Lachen, sagen“, so hat Claudio nie
gelernt, auf die Bedürfnisse seiner Mitmenschen einzugehen. Dies wird besonders im
chiastisch aufgebauten Vers deutlich: „So trösten sie … ich habe Trösten nie gelernt.“
(TT 448), in welchem die drei Auslassungspunkte die kontrastive Gegenüberstellung
noch verstärken. Claudios Leben ist im Gegensatz zum Leben seiner Mitmenschen
von „verlorener Lust und nie geweinte[n] Tränen“ (TT 448) geprägt; auch Schmerzen
hat er nie wirklich empfunden, dessen „Flügel streifte [ihn]“ (TT 449) bloß.

Claudio erkennt hier an, dass die zwischenmenschliche Gefühlswelt ihm stets
verschlossen war und nennt wenige Verse später den Grund seiner Gefühllosigkeit:
Sein „überwacher Sinn“ (TT448) habe jegliche Gefühlsregung stets sogleich beim

88
Namen genannt und so die Unmittelbarkeit des Erlebnisses ausgelöscht. Das Gefühl
sei „vom Denken abgeblasst und ausgelaugt“ worden, so dass er das Leben „höchstens
verstanden“ (TT 448) habe. Der überwache Sinn Claudios bewirkt demnach, dass dem
Denken größerer Raum zukommt als den Gefühlen und eine „Mauer der Reflexion“250
entsteht, die dem Ästheten den unmittelbaren Zugang zum Leben verbaut. Die Welt
war dem Protagonisten stets nur rational zugänglich, eine emotionale Teilnahme nie
gegeben:

Konnte mich nie darin verweben,


habe mich niemals darin verloren.
Wo andre nehmen, andre geben,
blieb ich beiseit, im Innern stummgeboren. (TT 448)

Im Gegensatz zu seinen Mitmenschen „weiß“ der Ästhet nichts „vom


Menschenleben“, wie es seine rhetorische Frage unterstreicht: „Was weiß denn ich
vom Menschenleben?“ (TT 448). Er hat „nur scheinbar drin gestanden“ (TT 448), eine
ganzheitliche Teilnahme am Leben blieb ihm verwehrt, da er die emotionale
Komponente stets ausgeklammert hat und er nie – wie es der Lebenslehrer fordert –
dauerhafte Bindungen zu seinen Mitmenschen einging. Claudio „stand“ so stets „an
den Lebensgittern“ (TT 455), ohne Zugang zum Leben zu finden. In Bezug auf die
Gefühllosigkeit ist die Reflexion des Ästheten demnach im Eingangsmonolog so weit
fortgeschritten, dass sie fast abgeschlossen ist und es nach Auftritt des Todes nur noch
zu einem die eigene Gefühllosigkeit bestätigenden Geständnis des Protagonisten
kommt. Claudio  der in seiner eigenen Welt und Gefühlswelt Verschlossene 
gesteht, er sei stets als „schlechte[r] Komödiant“ über die „Lebensbühne“ gegangen
(TT 463), sei stets „gleichgültig gegen alles andre, stumpf, vom Klang der eignen
Stimme ungerührt und hohlen Tones andre rührend nicht“ (TT 463) gewesen. Da
Claudios „hohle“ Stimme nie der Mitteilung von Gefühlen diente und er gleichzeitig
„gleichgültig“ und „stumpf“ gegenüber den Gefühlen anderer war, blieb ihm die
zwischenmenschliche Gefühlswelt  die ja gerade jene Nähe seiner Mitmenschen
bedingt, der er die eigene Einsamkeit mit Bedauern gegenüberstellt  stets
verschlossen.

250
Szondi, Peter: Der Tor und der Tod, S. 259.

89
Anders stellt sich die Reflexion Claudios in Bezug auf seine Bindungslosigkeit dar:
Diese erfolgt nur marginal im Eingangsmonolog und findet vorwiegend nach Auftritt
des Todes und der drei Verstorbenen statt. Im Eingangsmonolog reflektiert Claudio
die fehlenden Bindungen zu seinen Mitmenschen, die sich untereinander „herzlich
nah“ sind, während er an „vernagelte“, verschlossene, „Pforten schlägt“ (TT 448), nur
sehr allgemein. Eine individuelle, persönliche und tiefergehende Auseinandersetzung
in Bezug auf die fehlenden Bindungen zu den drei Personen, zu denen er eine
Bindung hätte aufbauen sollen, findet nicht statt. Diese Auseinandersetzung wird erst
durch den Auftritt des Lebenslehrers eingeleitet, wie Grundmann treffend festhält:
„Erst in der Konfrontation mit dem Tod treten individuelle und mit persönlichem
Schmerz verbundene Erinnerungen an die eigene Vergangenheit an die Stelle einer
durch Kunst vermittelten kollektiven Memoria.“251 Die Auseinandersetzung mit dem
eigenen Verhalten gegenüber direkten Bezugspersonen findet erst statt, als die drei
Verstorbenen, Claudios Mutter, Claudios Geliebte und Claudios Freund, auftreten und
den Ästheten direkt seiner Bindungslosigkeit anklagen.

Die Einsicht in die eigene Bindungslosigkeit erfolgt hierbei progressiv in drei


Schritten; erst nachdem die drei Ankläger Anklage gegen Claudio erhoben haben,
wird dieser seine Bindungslosigkeit vollends eingestehen. Zunächst führt Claudios
Mutter ihrem Sohne ihre einstige Angst und Sorge um ihn vor Augen. Nachdem sie
durch die Mitteltür abgegangen ist, will der Ästhet sie zurückhalten und gesteht sein
Fehlverhalten partiell ein. Claudio bekennt, dass er stets „hochmütig [ge]schwiegen“
habe, nie auf ihre Gefühle eingegangen sei, sondern immer mit „schmalgepresst[en]
Lippen“ (TT 459) an seiner Mutter vorbeigegangen sei. Allerdings wird auch deutlich,
dass Claudio noch nicht vollständig bereit ist, sein Fehlverhalten einzugestehen, da er,
nach diesem partiellen Bekenntnis, Vorwürfe gegenüber dem Tod erhebt, diesen als
„Entsetzliche[n]“ (TT 459) apostrophiert und ihm vorwirft, er habe seine Mutter zu
früh sterben lassen. Erst nachdem der Tod Claudio  unter Verwendung eines
Imperativs, eines Binnenreims sowie eines im Schriftbild des Dramas kursiv
abgehobenen Präteritums: „Lass mir, was mein. Dein war es.“ (TT 459)  deutlich in
die Schranken verwiesen hat, führt der Ästhet sein Schuldeingeständnis fort und
erkennt an, dass er nie eine wirkliche Bindung zu seiner Mutter aufgebaut hat: „Ah!

251
Grundmann, Heike: ‚Mein Leben zu erleben wie ein Buch‘, S. 86.

90
Und nie gefühlt! Dürr, alles dürr! Wann hab ich je gespürt, dass alle Wurzeln meines
Seins nach ihr sich zuckend drängten […]“ (TT 459).

Nach der Anklage der Geliebten ist Claudios Einsicht bereits weiter fortgeschritten: Er
versucht nicht mehr, die Schuld von sich zu weisen, sondern birgt sein Gesicht
beschämt in den Händen. Nach dem Auftritt des Freundes gesteht Claudio sein
Verfehlen schlussendlich vollends ein, als er die die Anklage resümierenden Worte
des Freundes: „[…] Der keinem etwas war und keiner ihm.“ (TT 462), aufgreift und
gesteht: „Wohl keinem etwas, keiner etwas mir“ (TT 462), und sich als Komödianten
auf der Lebensbühne definiert. Das echoartige Aufgreifen der chiastischen
Formulierung des Freundes zeigt hierbei an, dass der Ästhet die Vorwürfe des
Freundes und der beiden Frauen annimmt und bereit ist, sein Fehlverhalten
einzugestehen. Erst „die Geister der Verstorbenen […] wecken“ demnach „seine Reue
über die Gleichgültigkeit, Treulosigkeit und zersetzende Kälte, mit denen er ihnen
begegnet war. Das eingeklagte Mitgefühl für seine Mitmenschen stellt sich erst in dem
Moment ein, als ihm bewusst wird, dass er sie endgültig verloren hat.“ Erst „die
Begegnung mit dem Tod“ wird „[so] zur Voraussetzung einer erinnernden
Vergegenwärtigung.“,252 wie Matussek zusammenfasst.

3.4.2. Kunst und Vergangenheit

Im Gegensatz zu seinen Verfehlungen in Bezug auf die zwischenmenschlichen


Beziehungen, die vorwiegend nach dem Auftritt des Todes reflektiert werden,
reflektiert Claudio die einseitige Ausrichtung seines Lebens auf die Kunst bereits in
der zweiten Hälfte des Eingangsmonologes  vor dem Auftritt des Todes und der drei
Nebenkläger also. Nachdem der Ästhet seine eigene Gefühllosigkeit (vgl. 3.4.1.) im
Eingangsmonolog offenbart hat, bezeichnet er sein Studierzimmer als
„Rumpelkammer voller totem Tand“ (TT 449). Er, der „den graden Weg […] nimmer
fand“ und sich, wie im Vorherigen dargelegt, auf mehreren Ebenen als
lebensunzulänglich erwies, bekennt anschließend, dass er versucht hat, mittels der
Betrachtung von Kunst Zugang zum Leben zu finden. Er wollte sich mittels seiner
Kunstkammer „in jenes Leben, das [er] so ersehnte, [einschleichen]“ (TT 449). Der

252
Matussek, Peter: Intertextueller Totentanz, S. 208.

91
Ästhet erkennt hier an, dass seine museale Ansammlung von Kunstgegenständen und
der hohe Rang, den er der Betrachtung dieser Sammlung in seinem Leben einräumte,
bloß Substitutfunktion hatten, sie sollten die eigene Lebensferne kompensieren.

Wenn unter Punkt 3.2.3. bereits angedeutet wurde, dass das Präteritum, welches
Claudio beim Rundgang durch sein Studierzimmer verwendet, als er die
Kunstgegenstände einzeln apostrophiert, aufdeckt, dass die einstige Kommunikation
mit diesen Gegenständen nicht mehr die ersehnte Erfüllung bringt, zieht Claudio in
den darauffolgenden Versen des Monologes eine Bilanz seiner ästhetizistischen
Lebensführung. Nachdem er mit Bedauern ausgerufen hat: „Ihr wart doch all einmal
gefühlt, gezeugt von zuckenden, lebendgen Launen […] und wie den Fisch das Netz,
hat euch die Form gefangen!“ (TT 450), gesteht er im darauffolgenden Vers ein, dass
seine der Kontemplation von Kunstgegenständen gewidmete Lebensführung ihm den
unmittelbaren Zugang zum Leben „verschleiert“ habe. Dass sein Bemühen vergebens
war, unterstreicht hierbei besonders die repetitive Verwendung des Adverbs
„umsonst“:

Umsonst bin ich, umsonst euch nachgegangen,


Von eurem Reize allzusehr gebunden:
Und wie ich eurer eigensinngen Seelen
Jedwede, wie die Masken, durchempfunden,
War mir verschleiert Leben, Herz und Welt,
Ihr hieltet mich, ein Flatterschwarm, umstellt,
Abweidend, unerbittliche Harpyien,
An frischen Quellen jedes frische Blühen ... (TT 450)

Claudio muss einräumen, dass die Kunstgegenstände ihm nur so viel vom Leben
„verriet[en]“, wie er „fragend“ ihnen „einzuweben [vermocht]“ (TT 449). Die Gegen-
stände waren also stets nur Spiegel seiner selbst und somit der ihn charakterisierenden
Lebensunzulänglichkeit.253 Er vergleicht sie in diesem Sinne mit „Harpyien“, mit
hässlichen, dämonenartigen Wesen der griechischen Mythologie also, die ihn uner-
bittlich wie „ein Flatterschwarm“ umstellen und ihm so jeglichen unmittelbaren Zu-
gang zum Leben verstellen. Claudio erkennt, dass die harpyienartigen Kunstgegen-
stände seine Sinne dermaßen verschleierten, dass er nur noch „aus toten Augen“ sah
und „durch tote Ohren“ hörte (TT 450) und gesteht ein, dass er sich „an Künstliches
verloren ha[t]“. Er begreift nun, so Bamberg, dass er, „indem er den glänzenden

253
Vgl. auch Szondi, Peter: Der Tor und der Tod, S. 265: „Die Kunst war nur Projektion seines
Inneren, und sein Inneres nur ein Fragen, eine Sehnsucht, der die Antwort, die Erfüllung versagt blieb.“

92
Trägern fremden Lebens und Fühlens nachgegangen ist, auf bedenkliche Weise das
eigene verloren [hat].“

Vergleicht man Hofmannsthals Einakter mit dem thematisch verwandten Märchen, so


wird deutlich, dass der Einakter jene Reflexion des Protagonisten beinhaltet, die der
Ästhet des Märchens der 672. Nacht vermeidet, wenn er aufbricht, um die Sache „zur
Ruhe zu bringen“ (MN 216). Claudio hingegen erkennt, dass seine Lebensferne durch
den Ästhetizismus bedingt ist, welcher ihm zeitlebens den direkten Zugang zu seinen
Mitmenschen und dem wirklichen Leben versperrt hat. Diese Erkenntnis wird bereits
kurz vor dem Erscheinen des Todes ein erstes Mal ersichtlich, als Claudio in seinem
Eingangsmonolog bekennt, dass er, „[nie ganz bewusst, nie völlig unbewusst,] stets
[…] einen rätselhaften Fluch“  die ästhetizistische Lebensweise und
Wirklichkeitswahrnehmung  mit sich „schleppte“ (TT 450). Der Ästhet begreift, dass
dieser Fluch dazu führte, dass er „[s]ein Leben […] wie ein Buch“ erfuhr und alles,
was er erlebte, „nie sich selbst bedeute[te]“ (TT 450). Er greift diese Erkenntnis dann
wenig später auf, als er, rückblickend auf sein Leben, festhält, er sei stets: „von einem
Bann befangen [gewesen], der nicht wich“, der ihn „rätselhaft gehemmt“, alle
unmittelbaren Gefühle zerstört und seine Sinne unterbunden habe. Wenn Claudio
angibt, die Welt wie ein Buch zu erleben, so bedeutet dies, wie Grundmann treffend
analysiert, dass er „Welt und Ich gleichermaßen als Fiktion des eigenen Bewusstseins“
auffasst: „Das Buch wird zum Modell des Lebens und die Regeln, nach denen Texte
dekodiert werden, werden zu Schematismen der Wirklichkeitskonstruktion.“254
Dadurch, dass Hofmannsthal seinen Protagonisten die ästhetizistische Lebensführung
dermaßen explizit kritisieren lässt, scheint Claudio in diesem Moment als Sprachrohr
des Autors zu fungieren, der die durch den Ästhetizismus bedingte Lebensferne
zunehmend kritisch beleuchtet.

Claudio reflektiert seine einseitige Fixierung auf die Vergangenheit unter Ausklam-
merung der Gegenwart nur indirekt, im Rahmen der eben dargelegten Reflexion über
die Beziehung zu den Kunstgegenständen, die alle Reminiszenzen vergangener
Epochen sind und Claudios innere Leere nicht füllen können. Der Ästhetizismus
werde in diesem Sinne, so Grundmann, zu „einer spezifischen Variante des Historis-

254
Grundmann, Heike: ‚Mein Leben zu erleben wie ein Buch‘, S. 86.

93
mus, eines mehr oder minder produktiven Verhältnisses zu den kulturellen Zeugnissen
vergangener Epochen.“ Die Gefahr bestehe hierbei darin, dass Vergangenes mit Ge-
genwärtigem verwechselt werde und das eigene Leben an „Künstliches“, an Kunstge-
genstände vergangener Epochen, verloren gehe. Leiß unterstreicht in diesem
Zusammenhang unter Verweis auf Rudolf Borchardt, dass das Drama zum Zeitpunkt
seiner Veröffentlichung eine ähnliche Wirkung erzielt habe, wie Goethes Werther, da
Hofmannsthals Einakter „dem Unbehagen einer gebildeten Leserschicht Ausdruck
verlieh[en habe], die sich selbst in ihrem nur nachempfindenden Historismus als
epigonal erlebte und glaubte, kein eigenes Leben vorweisen zu können.“255 Seeba und
Alewyn heben ebenfalls die enorme Wirkung des Dramas hervor, von dem sich, wie
vom Werther, „eine ganze Generation“ verstanden gefühlt habe.256

3.5. Der Tod Claudios

Claudio sieht demnach seine Verfehlungen in Bezug auf die Stellung der Kunst, in
Bezug auf die Vergangenheit sowie in Bezug auf die Rolle zwischenmenschlicher
Beziehungen ein. Dass diese Einsicht jedoch nur partiell ist, wird daran deutlich, dass
es dem Ästheten nicht gelingt, die Einsicht in die Grenzen seiner ästhetizistischen
Wahrnehmungsweise in die Tat umzusetzen und sich vollkommen von seiner
ästhetizistischen Wahrnehmungsweise der Wirklichkeit loszusagen. Trotz seiner
Einsicht verfällt Claudio  ähnlich wie der Kaufmannssohn  am Ende des Dramas in
alte Verhaltensmuster zurück, wodurch sein Urteil gefällt und sein Tod
unausweichlich ist. Der Einakter bringt hierdurch die Stagnation menschlicher
Handlungsmöglichkeiten zum Ausdruck: Die Protagonisten der Moderne befinden
sich zwar „im Zustand gesteigerter Bewusstheit“, ihnen ist eine gewisse Einsicht in
ihre Situation gewährt und sie „vermögen, ihr Lebensproblem zu formulieren“, diese
Einsicht verlässt jedoch die Ebene der Reflexion nicht und wird nicht in Handlung
umgesetzt. Dies führt dazu, dass die Protagonisten nur scheinbar über Autonomie
verfügen, dass sie die Bühne des Dramas in Wahrheit aber „als Typen [betreten],
denen jede Individualität, jede Entwicklung in der dramatischen Zeit verwehrt ist“. Sie
sind somit keine eigenständigen Charaktere mehr, sondern Typen, welche „den

255
Leiß, Ingo; Stadler, Hermann: Deutsche Literaturgeschichte, S. 221.
256
Vgl. Seeba, Hinrich C.: Kritik des ästhetischen Menschen, S. 23. Vgl. auch Alewyn, Richard: Der
Tod des Ästheten, S. 295.

94
abstrakten Sachverhalt ästhetizistischer Existenz [verkörpern]: Tatenarmut,
Gedankenschwere […] Sehnsucht nach dem trunkenen Augenblick.“257

Dass Claudio die Grenzen seiner ästhetizistischen Lebensführung zwar erkannt, er


seine Verfehlungen aber nicht so vollständig eingesehen hat, dass sich hieraus eine
Verhaltensänderung und somit eine Abkehr vom Ästhetizismus ergeben würde, wird
noch vor dem Auftritt der drei Verstorbenen ein erstes Mal deutlich. Claudio verfällt
kurz nach dem Auftritt des Todes in alte Verhaltensmuster: Er will nicht anerkennen,
dass der Auftritt des Todes das Ende seines Lebens ankündigt, sondern nimmt diesen
zum Anlass, die beginnende Einsicht in die Grenzen seines Ästhetizismus zu einer in
ihm reifenden Lebenssehnsucht zu verklären. Claudio ruft aus, er fühle nun „tiefste
Lebenssehnsucht“ in sich, und fordert den Tod dazu auf, ihn leben zu lassen:

Ich aber bin nicht reif, drum lass mich hier.


Ich will nicht länger töricht jammern,
Ich will mich an die Erdenscholle klammern,
Die tiefste Lebenssehnsucht schreit in mir.
Die höchste Angst zerreißt den alten Bann;
Jetzt fühl ich - lass mich - dass ich leben kann! (TT 456)

Der Ästhet beteuert anschließend, er wolle sich ändern, er könne sein Herz nunmehr
an Erdendinge hängen und werde die anderen nicht mehr als „Puppen“ (TT 456)
wahrnehmen, sondern wolle Treue lernen und Schmerzen und Gefühle erfahren.
Claudio gelobt, er wolle nunmehr jene Lebensbereiche erfahren, die er bisher
ausgeklammert habe, und zwischenmenschliche Bindungen eingehen: „Ich werde
Menschen auf dem Wege finden, nicht länger stumm im Nehmen und im Geben,
Gebunden werden  ja!  und kräftig binden.“ (TT 456).

Szondi bezeichnet diese Beteuerungen Claudios im Angesicht des Todes als einen
„Schritt“ Richtung „Leben“ (vgl. Szondi, S. 267). Seiner Sichtweise kann jedoch nur partiell
zugestimmt werden: Zum einen verfügt der Ästhet zwar zu diesem Zeitpunkt über
eine gewisse Einsicht in die Grenzen seiner Lebensweise, zum anderen aber hat sich
hieraus bisher keine endgültige Verhaltensänderung ergeben, sodass dieser „Schritt“
Richtung „Leben“ in Frage gestellt werden kann. Die hier vorgenommene Verklärung
scheint vielmehr proleptisch jene Verklärung anzukündigen, die Claudio am Ende des

257
Vgl. Vogel, Juliane: Hofmannsthals und Schnitzlers Dramen, S. 289-291.

95
lyrischen Dramas vornehmen wird, wenn er erneut in alte Wahrnehmungs- und
Verhaltensmuster zurückfällt und den Tod zum Leben umdeutet. Obwohl er inständig
versichert, die „höchste Angst zerreiß[e] den alten Bann“ (TT 456) der
ästhetizistischen Wirklichkeitswahrnehmung und der hierdurch bedingten
Lebensferne, verfällt er im Angesicht des Todes in genau jene Verhaltensweise
zurück. Denn indem er sein zukünftiges Handeln dermaßen idealisiert, wendet er
erneut das ästhetizistische Stilisierungsverfahren an, auf das er bereits zurückgriffen
hatte, als er das Leben der einfachen Leute auf der gegenüberliegenden Hangseite
idyllenhaft stilisierte, um so projektiv an deren Lebensfülle teilzunehmen. Die
Glaubwürdigkeit der nach dem Erscheinen des Todes beteuerten Verhaltensänderung
darf demnach hinterfragt werden. Claudio scheint keine dezidierte
Verhaltensänderung zu intendieren, sondern verfällt vielmehr – trotz der partiellen
Einsicht in die Grenzen des Ästhetizismus – in alte ästhetizistische Wahrnehmungs-
und Verhaltensmuster: Er stilisiert, euphemisiert nunmehr das Leben, um welches er
bisher einen großen Bogen schlug, da er sich erhofft, so seine Lebensleere
kompensieren zu können. Der Rückfall in alte Verhaltensmuster erklärt die unbeirrte
Reaktion des Todes auf Claudios Ausrufe: Der Tod reagiert ungerührt, kühl und
abweisend auf seine Bitte, er solle ihn weiterleben lassen, und weist den Protagonisten
auf die gegebene, aber verfehlte Möglichkeit zum Leben hin.

Dass Claudio seine ästhetizistische Wahrnehmungsweise nicht ablegen kann, wird ein
zweites Mal am Ende des lyrischen Einakters deutlich. Hier verklärt Claudio nun nicht
mehr das Leben an sich, sondern stilisiert, unter Anerkennung seiner
Lebensunzulänglichkeit, den Tod selbst zum Leben: „Da tot mein Leben war, sei du
mein Leben“ (TT 463). Claudio verfügt zwar sehr wohl über die Einsicht in seine
Lebensunzulänglichkeit, diese impliziert aber nicht die Bereitschaft, sein Verhalten zu
ändern, und kann daher nicht als vollkommene Erkenntnis gewertet werden. Im
Vergleich zur Einsicht des Kaufmannssohnes, die nur marginal gegeben ist, gewinnt
Claudio jedoch eine bedeutendere Einsicht in die Grenzen des Ästhetizismus.
Dennoch impliziert diese Einsicht keine Verhaltensänderung: Wie der
Kaufmannssohn, so hält auch Claudio an seinen ästhetizistischen
Wahrnehmungsstrategien fest und wird diese mangelnde Einsicht nicht überleben. So
wie der Kaufmannssohn aufbricht, um die „Sache“ zur Ruhe zu bringen, und im

96
Verlauf seines Weges durch die Stadt immer wieder auf alte Verhaltensmuster
zurückgreift, so kann auch Claudio seine ästhetizistische Weltanschauung und das
damit einhergehende Verhalten nicht endgültig ablegen und wird, wie der
Kaufmannssohn, mit dem Tod bestraft werden. Wenn der Kaufmannssohn am Schluss
des Märchens, als er den Soldaten Geld hinwerfen will, durch den Fußtritt eines
Pferdes eines hässlichen Todes stirbt, so sinkt Claudio in dem Augenblick zu den
Füßen des Todes nieder, in dem er seine Einsicht in sein verfehltes Leben zu einem
Neubeginn verklärt:

Erst, da ich sterbe, spür ich, dass ich bin.


Wenn einer träumt, so kann ein Übermaß
Geträumten Fühlens ihn erwachen machen,
So wach ich jetzt, im Fühlensübermaß
Vom Lebenstraum wohl auf im Todeswachen. (TT 463-464)

Wie die Geduld des Lebens mit dem Kaufmannssohn endet, endet hier die Geduld des
Todes mit dem Ästheten und er lässt diesen zu seinen Füßen niedersinken, bevor er
„kopfschüttelnd“ (TT 464) abgeht. Durch sein Kopfschütteln kritisiert der Tod die
Verklärung des Todes zum Leben, die Claudio mittels ästhetizistischer Strategien an
seinem Lebensende zu unternehmen versucht. Nachdem diese Kritik zunächst durch
die Regieanweisung: „indem er kopfschüttelnd langsam abgeht“, implizit ausgeübt
wird, wird sie in den anschließenden Versen des Todes explizit versprachlicht:

Wie wundervoll sind diese Wesen,


Die, was nicht deutbar, dennoch deuten,
Was nie geschrieben wurde, lesen,
Verworrenes beherrschend binden
Und Wege noch im Ewig-Dunkeln finden. (TT 464)

Diese das Drama abschließenden Verse fassen Claudios ästhetizistische Lebensweise


noch einmal zusammen: Er deutet, verklärt, das Leben und verschließt sich so
jeglicher unmittelbaren Teilnahme am Leben.

Dass Hofmannsthal Claudio, wie auch den Kaufmannssohn, aufgrund ihrer


ästhetizistischen Lebensweise sterben lässt, verdeutlicht, dass der Tod der beiden
Protagonisten als Urteil über die einseitig ästhetizistische Lebensweise gesehen

97
werden kann. Was Köster in Bezug auf das Märchen der 672. Nacht festhält,258 trifft
in diesem Sinne auch auf das Drama Der Tor und der Tod zu: Wie das zwei Jahre
später erscheinende Märchen, so kann auch der lyrische Einakter als parabelartiges
Werk gelesen werden. Als Parabel gelesen, hebt der Einakter die Unzulänglichkeiten
der rein ästhetizistisch ausgerichteten Lebensweise hervor und erlaubt dem Leser, die
im Drama dargestellte Situation durch Analogiebildung auf einen allgemeinen,
soziokulturellen, Sachverhalt,259 die unter Jünglingen der Jahrhundertwende
verbreitete ästhetizistische Lebensweise, zu übertragen. In Bezug auf die mit der Form
verbundene Aussage des Dramas verweist Vinçon darüber hinaus auf die Proverbe-
Struktur des Dramas: Hofmannsthal Einakter, den der Autor selbst als „tragédie-
proverbe“ bezeichnet habe, stelle sich in die Tradition des Proverbe. Diese Aussage
Vinçons trifft insofern zu, als der Einakter sich als Stück präsentiert, in dem eine
Wahrheit, „die sich in der Pointe des Schlusses darstellt“260, vorgeführt wird, wobei
die „Wahrheit“ die ist, dass die ästhetizistische Lebensweise sich, wie im Märchen der
672. Nacht, als tödlich endender Irrweg erweist. Hierdurch kann der Rezipient
gemeinsam mit Hofmannsthal zu einem Urteil über diese Existenzweise gelangen.
Nach seiner anfänglichen, jugendlichen Begeisterung für dieses Phänomen fällt der
Autor demnach in seinen Werken gewissermaßen ein Urteil über den Ästhetizismus
und will dies dem Leser mittels seiner Schriften verdeutlichen. Ähnlich sieht dies
Alewyn: „So ist Hofmannsthal gewiss auch Claudio, aber er ist außerdem sein Dichter
– und sein Richter. Wenn Hofmannsthal sich hier mit Claudio identifiziert, so tut er
es, um sich damit von ihm zu distanzieren.“ Das Anliegen Hofmannsthals werde somit
fortan die „Erziehung zum Leben“ sein.261 Das Drama sei demnach, so Haupt und
Würffel, „zugleich Auseinandersetzung mit dem Ästhetizismus des Fin de siècle und
in Gestalt des Frühreifen, der aus dem Umgang mit der Kunst schon alles zu kennen
meint, ohne sich je auf etwas wirklich, d.h. nicht nur ästhetisch distanziert,
eingelassen zu haben, Hofmannsthals mit sich selbst.“262

258
Köster, Thomas: Die Außenwelt als Spiegel der Innenwelt, S. 147: Thomas Köster hält in Bezug auf
das Märchen der 672. Nacht fest: „[Die] Erzählung gerät zur modern gefassten Parabel, fast schon zum
‚Lehrstück‘ eines ungelebten Lebens.“
259
Vgl. Schweikle, Günther; Schweikle, Irmgard (Hrsg.): Metzler Literaturlexikon, S. 340.
260
Schweikle, Günther; Schweikle, Irmgard (Hrsg.): Metzler Literaturlexikon, S. 368.
261
Alewyn, Richard: Der Tod des Ästheten, S. 296-297, S. 307.
262
Haupt, Sabine; Würffel, Stefan Bodo (Hrsg.): Handbuch Fin de Siècle, S. 424- 425.

98
4. Arthur Schnitzler: Der einsame Weg

Das 1903 entstandene Drama in fünf Akten Der einsame Weg spielt im Wien der
Jahrhundertwende und wird von „zwei überlagernden Handlungssträngen bestimmt,
der Familientragödie um den Kunstprofessor Wegrat und dem Künstler- und
Einzelgängerdrama um den Dichter Stephan von Sala und den Maler Julian
Fichtner“263. Das Werk Schnitzlers thematisiert hierbei sowohl den Niedergang der
bürgerlichen Familie Wegrat als auch den der beiden Künstler Julian Fichtner und
Stephan von Sala. „Jeder Lebensweg“ im Drama „führt in die Einsamkeit, über allen
lastet der Schatten des Todes.“ Die Schicksale der Figuren sind zwar auf vielfältige
Weise miteinander verknüpft, die die Figuren bestimmende Vereinzelung wird
hierdurch jedoch nicht aufgehoben.264 Das Drama kann somit als „Drama der
Beziehungsschwäche“ gelesen werden, einer Beziehungsschwäche, welche
symptomatisch für die in der Gesellschaft um 1900 „um sich greifende
zwischenmenschliche Entfremdung“265 ist.

4.1. Zusammenfassung des Werkes

Familie Wegrat lebt am Rande von Wien in einem großbürgerlichen Haus mit Garten.
Wegrat ist als Direktor der Akademie der bildenden Künste tätig, seine Frau Gabriele
leidet an Schwindsucht, ist somit ans Haus gebunden und stirbt im Laufe des Dramas.
Die zweite weibliche Figur, Johanna, ist ebenfalls im großbürgerlichen Haus mit dem
angrenzenden Garten gleichermaßen gefangen, während ihr Bruder Felix als Soldat
dient und so eine gewisse Freiheit genießt. Im Gegensatz zu den weiblichen
Mitgliedern der Wegratschen Familie kann er so der Enge der bürgerlichen Sphäre
entkommen. Nach Jahren des Umherziehens taucht der Künstler Fichtner, der
eigentliche Vater von Felix, auf und hofft, eine Beziehung zu seinem Sohn, um den er
sich bisher nie gekümmert hat, aufbauen zu können, um so seiner Einsamkeit zu
entfliehen. Auch den Künstler Stephan von Sala drängt es ins Haus der Wegrats: Er
hat sich in Johanna verliebt, die ihm zugunsten auf die Heirat mit dem Arzt Reumann
verzichtet. Sala aber zögert, eine dauerhafte Beziehung zu ihr einzugehen, da er  als
263
Fischer, Cornelia: Der einsame Weg. In: Jens, Walter (Hrsg.): Kindlers neues Literaturlexikon. Band
14. München 1990, S. 1027.
264
Vgl. Fischer, Cornelia: Der einsame Weg, S. 1027.
265
Vgl. Schmidt, Jochen: Arthur Schnitzler: Der einsame Weg, S. 118.

99
bindungsunfähiger, egozentrischer Ästhet  das eigene Wohlbefinden und seine
Freiheit absolut setzt und sich einer Expedition nach Baktrien anschließen will.
Johanna, die es ebenfalls seit ihrer Kindheit aus der Enge der bürgerlichen Welt in die
Ferne drängt, ist einerseits fasziniert von Salas Expeditionsplänen, andererseits aber
realisiert sie im Laufe des Dramas Salas Bindungsunfähigkeit und kommt der
bevorstehenden Trennung zuvor, indem sie den Freitod wählt. Kurze Zeit später wählt
auch der – ebenfalls leidende – Sala den Weg in den Tod. Zurück bleiben drei einsame
Figuren: Felix, Wegrat und Fichtner.

Exkurs: Forschungsüberblick:

Obwohl Der einsame Weg „als eines der Hauptwerke des


österreichischen literarischen Impressionismus [gilt]“266, sind die
Publikationen zu Schnitzlers Werk nicht sehr zahlreich. Die
ergiebigsten Aufsätze sind die Alfred Dopplers, der in seinen beiden
Publikationen das unethische Handeln der Protagonisten untersucht
und die Fragwürdigkeit des Zeitphänomens Ästhetizismus in
Beziehung zu Schnitzlers zunehmend kritischer Sicht auf den
Ästhetizismus stellt.

Jochen Schmidt seinerseits stellt die Analyse der scheiternden


Kommunikation zwischen den Protagonisten in den Vordergrund und
liest dieses Scheitern als symptomatisch für die die Jahrhundertwende
bestimmende Erfahrung der Entfremdung.

Auch Achim Würker, der den Text psychoanalytisch liest, hebt das
Scheitern der Beziehungen im Werk hervor, geht allerdings
vorwiegend auf die Beziehung zwischen Johanna und Sala ein. Er hält
fest, dass „alle wesentlichen Paarbeziehungen scheitern“, und
interpretiert den Text dahingehend, dass das Thema Einsamkeit allein
als „die Unmöglichkeit der Beziehung zwischen Mann und Frau“
exponiert werde. Die Abwesenheit von Beziehung sei für Sala
insofern positiv konnotiert, als „die Abwesenheit einer solchen
Beziehung zu einer Person des anderen Geschlechts der eigenen
Generation mit Entfaltung/Grenzenlosigkeit und Grandiosität
assoziiert“ werde. Die Beziehung zur Frau erscheine dem Mann
dadurch als „Identitätsgefährdung“, dass sie „als Grenze imaginiert
wird, die Freiheit und grandiose Entfaltung verhindert.“ Auch Astrid
Lange-Kirchheim und Rudolf Heinz lesen den Text psychoanalytisch.

266
Fischer, Cornelia: Der einsame Weg, S. 1027.

100
Im Gegensatz zu den beiden zuvor untersuchten Werken Hofmannsthals zeichnet
Schnitzlers Drama nicht nur die ästhetizistische Welt kritisch, sondern Schnitzler steht
ebenfalls der Enge der bürgerlichen Welt skeptisch gegenüber. Gerade die Tatsache,
dass die bürgerlichen Personen im Drama, wie der Arzt Reumann oder Johannas
Vater, Wegrat, nicht „Gegenspieler des alternden Ästheten werden“, ist daher nicht
bloß als „ein Zeichen persönlicher Schwäche“ zu werten, sondern hebt die
„allgemeine Schwäche der humanistischen Position innerhalb der herrschenden
bürgerlichen Konventionen hervor.“267 Der behandelte Themenkomplex ist, so
schreibt Doppler, „in vielfältiger Weise mit dem Lebensklima im Wien der
Jahrhundertwende verwurzelt.“268 Im Drama wird vor allem die Beziehungsschwäche
beider Sphären thematisiert und so das für das Fin de siècle typische Gefühl der
allseitigen Entfremdung hervorgehoben. Schnitzler „inszeniert damit zugleich die
Krise einer sich auflösenden Gesellschaft.“269 Im Folgenden soll sich die
Untersuchung des Dramas Der einsame Weg jedoch auf die im Drama zentrale
Künstlerfigur, Stephan von Sala, und dessen Lebensunzulänglichkeit konzentrieren,
da die Darstellung und kritische Hinterfragung der ästhetischen Existenz Gegenstand
der vorliegenden Arbeit ist. Eine Untersuchung der Darstellung der bürgerlichen
Sphäre würde den Rahmen der Arbeit überschreiten. Das Verhalten der beiden
anderen  im Vergleich zu Sala marginalen  Künstlerfiguren Irene Herms und Julian
Fichtner wird bei Bedarf vergleichend hinzugezogen.

4.2. Die Lebensunzulänglichkeit Stephan von Salas

Wie seine literarischen Zeitgenossen aus dem Märchen der 672. Nacht und dem
lyrischen Drama Der Tor und der Tod, kann auch der Schnitzlersche Protagonist
Stephan von Sala als lebensferner Ästhet angesehen werden, der sich aufgrund seiner
Lebensunzulänglichkeit in eine ästhetizistische Ersatzwelt zurückgezogen hat und
hofft, durch diesen Rückzug die unerträglichen äußeren Gesellschafts- und
Lebensverhältnisse kompensieren zu können. Er ist hiermit, wie der Kaufmannssohn
und wie Claudio, als Vertreter einer jungen Wiener Generation anzusehen, für die die

267
Doppler, Alfred: Schnitzlers Schauspiel Der einsame Weg. Die Stellung und Darstellung des
Ästheten im Wien der Jahrhundertwende. In: Kafitz, Dieter (Hrsg.): Drama und Theater der
Jahrhundertwende. Tübingen 1991, S. 46.
268
Doppler, Alfred: Schnitzlers Schauspiel Der einsame Weg, S. 37.
269
Schmidt, Jochen: Arthur Schnitzler: Der einsame Weg, S. 118.

101
Welt der Gründerväter keine verbindlichen Wertmaßstäbe mehr bietet. Die Söhne
stehen der Welt ihrer Väter, in der sich in ihren Augen Widersprüche zwischen
humanitärem Anspruch und Geschäftspraxis auftun, skeptisch gegenüber und sind
„insgeheim überzeugt, dass sich bürgerliche Humanität“ in einer dem wirtschaftlichen
Liberalismus verpflichteten Zeit „unmöglich verwirklichen lasse“270. Die junge
Generation fühlt sich „von einer Ordnung abgestoßen, die den Anspruch nicht mehr
einlös[t], den sie vorg[ibt], zu vertreten“271 und sucht hieraufhin Zuflucht in von der
zeitgenössischen Wirklichkeit abgeschirmten, ästhetizistischen Ersatzwelten. Dieses
Verhalten erscheint dem jungen Schnitzler selbst kurzzeitig als Ausweg, er steht ihm
dann aber zunehmend skeptisch gegenüber, wie es in seinem Briefwechsel mit Olga
Waissnix deutlich wird, und verurteilt es letztendlich. Doppler führt in diesem
Kontext einen Brief Schnitzlers an Otto Brahm anlässlich der Uraufführung des
Einsamen Weges an, in welchem Schnitzler „den autobiographischen Anteil“ seines
Dramas zusammenfasst:

Im Übrigen bin ich sehr dabei, mit dem Herzen sehr und beinah noch mehr […] mit
dem Verstande, und rede mir manches von der Seele, insbesondere viel gegen mich.
Ich verurteile mich gewissermaßen zu Tode – um mich außerhalb des Stückes umso
sicherer begnadigen zu können.272

Das Stück wird so gleichsam zur Abrechnung mit der ästhetizistischen Existenzweise
und der früheren eigenen Sichtweise.

4.2.1. Rückzug aus der Gesellschaft in die Welt der Kunst

Ähnlich wie seine Leidensgenossen Kaufmannssohn und Claudio, hat sich der 45-
jährige Stephan von Sala weitgehend aus dem gesellschaftlichen Leben
zurückgezogen und pflegt nur noch wenige gesellschaftliche Kontakte, wie etwa zu
Familie Wegrat oder zu der Schauspielerin Irene Herms und dem Künstler Julian
Fichtner. Sein Rückzug ist hierbei ein doppelter: Einerseits plant er eine Expedition

270
Vgl. Doppler, Alfred: Schnitzlers Schauspiel Der einsame Weg, S. 38.
271
Doppler, Alfred: Schnitzlers Schauspiel Der einsame Weg, S. 38.
272
Doppler, Alfred: Schnitzlers Schauspiel Der einsame Weg, S. 39. Doppler führt aus, dass die Briefe
an Olga Waissnix auf einer vergeistigten Spielebene die Auseinandersetzung mit der Anatol-Zeit
verdeutlichen. Schnitzler beklage in den Briefen das Lächerliche der impressionistischen und auch der
eigenen Lebensführung und ihm werde „schmerzlich der Gegensatz von spielendem Ästheten“ und
einem Künstler bewusst, „der sich der Welt und den Menschen gegenüber“ öffne. Er erkenne, „dass das
In-sich-selbst-Versponnensein Assoziationen entfessel[e], die Glück und Unglück zugleich sind; Glück,
weil sie das Leben steigern und ein schönes Dasein imaginieren; Unglück, weil sie die für den Alltag
nötige Integration von Gefühl und Verstand hintertreiben.“

102
nach Baktrien  in ein Land, „das gar nicht mehr existiert“273, wie er mit gewissem
Stolz hervorhebt  auf welche unter Punkt 4.2.2 noch zurückzukommen sein wird.
Andererseits hat Stephan von Sala sich mit dem Bau seiner Villa innerhalb Wiens ein
abgeschlossenes, an der Vergangenheit orientiertes, Ersatzuniversum geschaffen.
Auffällig ist hierbei, dass der Rückzug beide Male sowohl auf räumlicher (nach
Baktrien und in die abgeschirmte Villa) als auch auf zeitlicher Ebene (Expedition in
die versunkene Stadt Ekbatana, Orientierung des Villen- und Gartendekors an der
Vergangenheit) stattfindet, was den Abstand der gewählten Rückzugsorte zur
zeitgenössischen Wirklichkeit, der Sala zu entfliehen sucht, umso größer erscheinen
lässt.

Auch wenn Schnitzler Salas Villa nicht so detailreich beschreibt, wie Hofmannsthal
das Interieur der Wohnung des Kaufmannssohnes oder das Interieur von Claudios
Studierzimmer, so offenbart die Beschreibung der Villa doch einerseits, dass Sala
größte Sorgfalt walten lassen hat, um seine Villa von der Umgebung abzutrennen, und
dass er sich andererseits in diesem abgeschiedenen Schutzbereich ein ästhetizistisches
Ersatzuniversum erschaffen hat. Er hat die Villa zunächst am Waldrand, also abseits
des Stadtzentrums, erbauen lassen, zusätzlich scheint eine Baumallee das ebenerdig
erbaute Haus von der Umgebung abzuschirmen. Das Grundstück selbst ist von einem
Gitter umgeben, welches die Grenzen des ästhetizistischen Rückzugsortes klar
definiert. Zwar hat von Sala in dieses Gitter eine kleine Tür einbauen lassen, „die
direkt in den Wald hinausführt“ (EW 23) und so die Illusion einer Verbindung zur
Natur schafft, doch sein konstruiertes Ersatzuniversum ist durch das Gitter deutlich
von der angrenzenden Natur abgetrennt. Wie Claudio die Natur nur durch den
Fensterrahmen betrachtet, so schafft auch Sala mittels des Gitters eine gewisse
Distanz zur Natur, die ihm eine ästhetizistische Betrachtung derselben erlaubt.
Doppler unterstreicht in diesem Zusammenhang zudem, dass Sala die den
Villengarten umgebende Natur instrumentalisiere, indem er den Garten scheinbar in
die Weite der Natur übergehen lasse. Hierdurch werde die Natur zum Teil des
„Kunstwerks Garten“: „Der Garten geht scheinbar über in die Weite der Natur, die
keinesfalls für sich steht, sondern Teil des Arrangements ist, das das Leben zur Kunst

273
Schnitzler, Arthur: Der einsame Weg. Stuttgart 2006, S. 10. Im Folgenden wird aus dieser Ausgabe
mittels der Abkürzung EW und unter Angabe der Seitenzahl zitiert.

103
erhebt.“274 Im Sinne von Briese-Neumanns Definition erweist sich Sala durch diese
„ästhetische Wahrnehmung der Außenwelt“275 als Ästhet.

Sala erschafft sich  in der Absicht, die Natur aus der Distanz zu betrachten  darüber
hinaus mit dem Park der Villa gewissermaßen einen „künstlichen“ Naturbereich
innerhalb der Natur, den er mittels seiner Phantasie als „natürliche“ Natur imaginiert:
„Mein Garten ist der Wald selbst – für Leute, die ihre Phantasie nicht durch ein
dünnes Gitter behindern lassen.“ (EW 23). Weshalb es dann aber dieses Gitters zum
Wald hin bedarf, darauf geht Sala nicht ein, was vermuten lässt, dass er, wie sein
Zeitgenosse Claudio, der Wirklichkeit der Natur nicht gewachsen ist und diese nur aus
ästhetischer Distanz betrachten kann. Aus diesem Grund sind auch die Gartenanlagen
der Villa nicht naturbelassen, sondern scheinen planvoll angelegt: Um einen kleinen
Teich steht „im Halbkreis eine kleine Baumanlage“ herum (EW 67), von dort aus läuft
eine Allee „schief nach rechts hin“. Am Alleenbeginn wiederum wurden zwei Säulen
errichtet, auf denen „die Marmorbüsten von zwei römischen Kaisern“ stehen, rechts
vom Teich befindet sich eine „steinerne Bank mit Lehne, halbkreisförmig“ (EW 67),
deren Form die Form der Baumanlage symmetrisch aufzugreifen scheint. Doppler hält
fest, dass Sala die „Position des aristokratischen Künstlers“ eigen sei, der sein
„Unbehagen an der Wirklichkeit“ mit dem „Zur-Schaustellen einer feudalen Lebensart
inmitten einer verbürgerlichten Umwelt“ kompensiere.276 Die sorgfältig angelegten
Gartenanlagen versinnbildlichen demnach die ästhetizistische Lebenshaltung
Claudios. Laut Kretschmann ist der Bühnenraum „niemals nur Ort der Handlung,
sondern immer auch Seelenspiegel der handelnden Figuren“277. Auch in Schnitzlers
Drama komme dem in den Regieanweisungen detailliert beschriebenen Bühnenraum
so eine Bedeutung zu: Der Garten Salas stehe, als Bühnenraum, für eine bestimmte

274
Doppler, Alfred: „Der Ästhet als Bösewicht?“ Schnitzlers Schauspiel Der einsame Weg. In: Modern
Austrian Literature 12.1 (1979), S. 7.
275
Briese-Neumann, Gisa: Ästhet - Dilettant – Narziss, S. 250.
276
Doppler, Alfred: „Der Ästhet als Bösewicht?“, S. 7.
277
Kretschmann, Carsten: Bauformen in Schnitzlers Schauspiel Der einsame Weg. In: Jahrbuch des
Freien Deutschen Hochstifts (2002), S. 298-299, unter Verweis auf Bender, Petra: Raum und Zeit.
Kategorien des Seins und des Bewusstseins. Untersuchungen zu ausgewählten Dramen Arthur
Schnitzlers. München, Universität, Phil. Diss. 1976, S. 164, S. 170f., S. 185f., S. 207-211. Vgl. auch
Schiffer Helga: Die frühen Dramen Arthur Schnitzlers. Amsterdam 1994, S. 122: Der beengte
Wegratsche Garten spiegele so die Beengtheit, die Begrenztheit und die Perspektivlosigkeit, welche das
bürgerliche Haus darstellt und entfaltet Bedrohungspotential für die weiblichen Familienmitglieder, für
welche sich die „Enge des Gartens unversehens in die Ausweglosigkeit eines Gefängnisses
verwandelt.“

104
Künstlerhaltung, die grandseigneurale, erinnerungsfixierte Haltung des Künstlers,278
und verbildliche die ästhetizistische Haltung Salas: Der Garten „ist […] die
weihevolle Stätte vollkommener Schönheit“. Dem Garten fehle, im Gegensatz zum
Garten der Wegrats, in welchem Obst und Gemüse angepflanzt seien, der
Nützlichkeitsaspekt völlig, der Garten sei reines „Produkt jener ästhetischen
Inszenierungen, die Salas Leben durchziehen, es gleichsam konservieren“.279

Bezeichnend ist zudem, dass Sala – wie der Kaufmannssohn und wie Claudio –
keinem geregelten Erwerbsleben nachgeht, sondern „seltsame Verse“ (EW 11)
schreibt, wie Johanna Wegrat aussagt, also als Literat tätig ist. Seine Verse scheinen
jedoch bei seinen Zeitgenossen wenig Anklang zu finden, wie bereits Johannas
Verwendung des Adjektivs „seltsam“ vermuten lässt und wie es Irene Herms
Aussagen bestätigen:

Denn was seine sogenannten Dichtungen anbelangt, so halt' ich sie für Blödsinn. Und
bekanntlich steh' ich mit dieser Ansicht nicht vereinzelt da. Aber du kennst ihn ja
nicht. Um diesen Herrn in seiner ganzen Größe würdigen zu können, hat man ihn auf
den Proben genießen müssen. Kopierend. Mein Fräulein, es sind Verse – Verse, mein
Fräulein . . . Das muss man von ihm gehört haben, um zu wissen, was für eine
maßlose Arroganz in ihm steckt . . . . (EW 35)

Schenkt man diesen  doch etwas zu relativierenden, weil subjektiven  Aussagen


Irene Herms Glauben, wäre von Sala eher als Dilettant, denn als wirklicher Dichter
anzusehen, wobei im Begriff Dilettant einerseits die negative Konnotation
mitschwingt, die Herms Aussagen nahelegen, der Begriff andererseits aber auch
positiv konnotiert ist. So gilt der Dilettant in der Jahrhundertwende als „Anhänger der
Kunst ohne kreative Tätigkeit, das heißt sein Standort w[ird] auf eine Stellung
zwischen Künstler und Nicht-Künstler fixiert“, wobei der Dilettant „die Rolle des
Künstlers tangiere“280. Die Selbstwahrnehmung Salas, wie auch die Fichtners,
hingegen stehen ihrem jeweiligen Erfolg in der Öffentlichkeit diametral entgegen:
„Stephan von Sala und Julian Fichtner haben sich aus dem gewöhnlichen Leben mit
seinen alltäglichen Aufgaben und Verpflichtungen zurückgezogen, sie stehen

278
Vgl. Kretschmann, Carsten: Bauformen in Schnitzlers Schauspiel Der einsame Weg, S. 304: Das
Zimmer des Malers Julian Fichtner, der einem anderen Künstlertypus als Sala zuzuordnen sei, hingegen
spiegele eine bohemienhafte, augenblicksfixierte künstlerische Haltung.
279
Vgl. Kretschmann, Carsten: Bauformen in Schnitzlers Schauspiel Der einsame Weg, S. 305.
280
Briese-Neumann, Gisa: Ästhet - Dilettant – Narziss, S. 318.

105
außerhalb der Gesellschaft, in der Überzeugung, über ihr zu stehen.“281 Dass Sala trotz
seiner eher bescheiden anmutenden künstlerischen Erfolge dennoch eine derart
prunkvolle Villa errichten kann, weist darauf hin, dass Stephan von Sala, wie Claudio
und der Kaufmannssohn, auf Ererbtes zurückgreift, um sein Ersatzuniversum zu
konstruieren. Seine Tätigkeit scheint sich also weitgehend im „Sohn-Sein“282 zu
erschöpfen, wie dies Mauser in Bezug auf den Kaufmannssohn festhält. Wie der
Kaufmannssohn scheint sich auch Stephan „geistig und materiell in Verhältnissen“ zu
bewegen, „die er nicht selbst geschaffen, sondern als Erbe und Nachfahre
übernommen hat.“283

Vergleicht man Salas Rückzug mit dem Rückzug des Kaufmannssohnes und dem
Claudios, so fällt auf, dass sich Sala als Einziger der drei Protagonisten nicht aufs
Land zurückzieht, sondern seine Villa in Wien errichtet. Dass er durch diesen Bau
seiner palastartigen Villa dennoch keine feste Verwurzelung in der Stadt sucht,
sondern seine Villa einen ästhetizistischen Rückzugsort vor der gesellschaftlichen
Wirklichkeit darstellt, wurde bereits dargelegt. Unterstrichen wird die Tatsache, dass
Sala kein definitives Niederlassen in der Wiener Gesellschaft intendiert, dadurch, dass
der Ästhet immer wieder betont, sich nur für kurze Zeit in der Villa aufhalten zu
wollen: Er verdeutlicht so beispielsweise im ersten Akt, dass er „für längere Zeit“ auf
Reisen gehen und die Villa deshalb „nur vorläufig, nicht definitiv“ beziehen wolle
(EW 8). Im vierten Akt unterstreicht er dann Johanna gegenüber seine
Ungebundenheit: „Ich bin nicht gebunden. Nichts hindert mich, zu Hause zu bleiben,
wenn ich nicht gelaunt bin, fortzugehen.“ (EW 72). In diesen Sätzen deutet sich
bereits der für den Ästheten typische Egozentrismus an: Ungeachtet
zwischenmenschlicher Bindungen und ungeachtet der Empfindungen seiner
Mitmenschen, strebt Sala stets rein eigennützig nach der Erfüllung der eigenen
Bedürfnisse und instrumentalisiert seine Mitmenschen, um diese Bedürfnisse zu
erfüllen, wie unter Punkt 4.2.3. genauer dargelegt werden wird.

281
Doppler, Alfred: „Der Ästhet als Bösewicht?“, S. 6.
282
Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 166.
283
Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 165.

106
4.2.2. Vergangenheit

In gleichem Maße wie die Hofmannsthalschen Protagonisten inszeniert Schnitzlers


Künstlerfigur Stephan von Sala die Vergangenheit als Gegenpol zu einer als negativ
erfahrenen Gegenwart. Dies wird am Arrangement seines Gartens ersichtlich, dessen
Bild von römischen Kaiserbüsten, antiken Säulen und Marmorbänken geprägt ist, die
auf die rückwärtsgewandte Lebenshaltung des Protagonisten verweisen: „So ist Salas
Park, hierin ganz Spiegelbild seines Besitzers, in allem […] ein Produkt eines
Vergangenheit suchenden und Schönheit schaffenden Geistes.“284 Doppler
interpretiert das dezidiert an der Vergangenheit orientierte Gartenarrangement und die
prunkvolle Villa Salas als „Zur-Schaustellen einer feudalen Lebensart inmitten einer
verbürgerlichten Umwelt“285, hebt demnach Salas Verhaftetsein an einer auf der
Schwelle zum 20. Jahrhundert überkommenen feudalen Epoche hervor. Sala
verkörpere somit „die Geisteshaltung des Historismus: Sinn, den er in der Gegenwart
nicht findet, soll ihm von jenen menschlichen Leistungen bestätigt werden, ‚welche
aus der Vergangenheit in die Gegenwart hineinreichen‘.“286 Salas
Rückwärtsgewandtheit und seine Orientierung an einer längst vergangenen Epoche
können somit ebenfalls als Hinweis darauf gesehen werden, dass die neue, moderne
bürgerliche Welt der Väter für die Generation der Söhne keine identitätsverbürgende
Kraft besitzt: Aus diesem Grund suchen sie die Welt der Väter mittels ihrer dezidiert
an vergangenen Epochen ausgerichteten Lebenshaltung quasi zu negieren. Die
Vergangenheit sei für Sala „konstitutiv für die Gegenwart“, sei „ganz Selbstzweck“,
so Kretschmann, besonders der vierte Akt thematisiere diese „Beschwörung des
Vergangenen als der wahren Wirklichkeit“287. Doppler sieht dies ähnlich: „Die nichtig
erscheinende Außenwelt wird mit dem Mantel eines historisierenden Stils umhüllt
[…] die Gedanken wandern in eine vorgeschichtliche Zeit zurück, der Orient wird

284
Vgl. Kretschmann, Carsten: Bauformen in Schnitzlers Schauspiel Der einsame Weg, S. 305.
285
Doppler, Alfred: „Der Ästhet als Bösewicht?“, S. 7.
286
Vgl. Doppler, Alfred: Schnitzlers Schauspiel Der einsame Weg, S. 44 unter Verweis auf Broch,
Hermann: Schriften zur Literatur I, Frankfurt am Main 1975, S. 113.
287
Vgl. Kretschmann, Carsten: Bauformen in Schnitzlers Schauspiel Der einsame Weg, S. 310.

107
zum Namen einer undefinierbaren Sehnsucht“288. Schnitzler reflektiere hier, so
Schmidt, den um die Jahrhundertwende florierenden Exotismus psychologisch.289

Wie auch für den Kaufmannssohn, stellen die Vergangenheit und die Kunst für Sala
demnach Fluchtmöglichkeiten dar: Sala sucht dem Leben in der Gegenwart, dem er
nicht gewachsen ist, durch eine Expedition in die Vergangenheit, nach Baktrien290, zu
entfliehen. Sala stilisiert infolgedessen die, im heutigen Afghanistan gelegene,
untergegangene Stadt Ekbatana zu seinem Sehnsuchtsort und stellt sie der negativ
konnotierten, für ihn unlebbar gewordenen, modernen Wirklichkeit kontrastiv
gegenüber, wie seine Beschreibungen der Stadt verdeutlichen:

Denken Sie nur, Fräulein Johanna: Mit eigenen Augen sehen, wie solch eine
begrabene Stadt allmählich aus der Erde hervortaucht, Haus um Haus, Stein um
Stein, Jahrhundert um Jahrhundert. (EW 10)

Denken Sie, unter dem Schutt und Staub vermutet man eine Riesenstadt, etwa von
der Ausdehnung des heutigen London. Damals sind sie in einen Palast
hinuntergestiegen und haben die wundervollsten Malereien gefunden. In einigen
Gemächern waren sie vollkommen erhalten. Und Stufen haben sie ausgeschaufelt;
aus einem Marmor, der sonst nirgends gefunden wurde. Vielleicht stammt er von
einer Insel, die seither ins Meer versunken ist. Dreihundertzwölf Stufen, glänzend
wie Opale, die in eine unbekannte Tiefe hinabführen ... Unbekannt, denn bei der
dreihundertzwölften Stufe haben sie aufgehört, zu graben – weiß Gott, warum! Ich
kann Ihnen gar nicht sagen, wie mich diese Stufen intriguieren. (EW 31)

Es wird in diesen Beschreibungen deutlich, dass das laut Salas Aussagen vor 6000
Jahren untergegangene Ekbatana im Künstler rein positive Konnotationen hervorruft,
die der negativ konnotierten Erfahrung der eigenen Wirklichkeit diametral
entgegengesetzt sind. Ähnlich sieht dies Kretschmann, der betont, dass Reisen in die
Vergangenheit stets zugleich auf ein „Verdrängen der Gegenwart“291 hinweisen
würden. Dass Sala bei der Schilderung Ekbatanas auf ästhetizistische Verfahren
zurückgreift, um die Vergangenheit zu euphemisieren, verdeutlicht die Stilisierung der
Stadt zum Sehnsuchtsort: In der „Riesenstadt“ Ekbatana habe man, so Sala, einen
Palast mit den „wundervollsten Malereien“ entdeckt, habe Stufen aus einem Marmor

288
Doppler, Alfred: „Der Ästhet als Bösewicht?“, S. 8.
289
Vgl. Schmidt, Jochen: Arthur Schnitzler: Der einsame Weg, S. 123: „Die Sehnsucht nach einem
begrenzten örtlich fixierten und stabilisierten Dasein wechselt mit extremem Entgrenzungsverlangen,
das auch Schnitzler inszeniert, um den um die Jahrhundertwende florierenden Exotismus psychologisch
zu reflektieren.“
290
Vgl. Schmidt, Jochen: Arthur Schnitzler: Der einsame Weg, S. 123. Alexander der Große erreichte
das Land auf seinem Feldzug nach Indien im Jahre 329 v. Chr..
291
Kretschmann, Carsten: Bauformen in Schnitzlers Schauspiel Der einsame Weg, S. 308.

108
ausgeschaufelt, „der sonst nirgends gefunden wurde“ und der „glänzend wie Opale“
war. Kirchheim292 wie auch Kretschmann verweisen auf die Parallelen zwischen der
Beschreibung Ekbatanas und Salas Villa sowie der sie umgebenden Gartenanlagen,
was darauf hindeutet, dass Sala versucht, die versunkene Stadt an seinem Wiener
Rückzugsort zu rekonstruieren. Dies unterstreicht erneut seine Orientierung an der
Vergangenheit.

Die Beschreibungen Ekbatanas deuten bereits darauf hin, dass Sala, wie der
Kaufmannssohn und Claudio, ästhetizistische Verfahren anwendet, um die
Vergangenheit oder aber unmittelbar Erlebtes zu beschönigen. Die mittels
ästhetizistischer Überhöhungsverfahren produzierten Bilder der Stadt Ekbatana, aus
denen von Sala augenblickhafte Erfüllung erfährt, werden jedoch, wie der an
Alexander orientierte Sterbeentwurf des Kaufmannssohnes, keinen dauerhaften
Bestand haben. Der Zusammensturz ist dem ästhetizistisch entworfenen Idealbild der
Stadt immanent, die Stilisierung der Vergangenheit wird es Sala nicht erlauben, seine
Lebensunzulänglichkeit dauerhaft zu kompensieren, sie bleibt Augenblickserlebnis.
Insofern ist Sala als typischer Ästhet zu definieren, der die Realität „a priori verklärt“
und sie zugleich nur „impressionistisch perzipiert“293. Der Verfall der Stadt kann
ebenfalls als Prolepse auf den Verfall des – gesundheitlich angeschlagenen – Sala
gelten, wie Kretschmann hervorhebt: Salas Expedition ist „so gesehen nichts anderes
als ein großes, endgültiges ‚Fort‘ ins Nichts. Die versunkene Riesenstadt ist nichts als
– versunken; sie steht für jenen Verfall, dem Sala preisgegeben ist.“294

4.2.3. Zwischenmenschliche Beziehungen

Die Lebensunfähigkeit Stephan von Salas wird auch in den Beziehungen zu seinen
Mitmenschen deutlich: So fällt auf, dass er erstens keine wirklichen Beziehungen zu

292
Lange-Kirchheim, Astrid: Die Verklärung des Sohnes und die Tötung der Frauen. In: Cremerius,
Johannes (Hrsg.): Methoden in der Diskussion. Würzburg 1996, S. 155. Sie findet, die Villa trete in
Korrespondenz zur Stadt im Orient. Kretschmann, Carsten: Bauformen in Schnitzlers Schauspiel Der
einsame Weg, S. 309: Er stellt eine Korrelation zwischen der Stadt und Salas Garten fest: „Wie die 312
Marmorstufen auf die Steintreppe in Salas Garten verweisen, deren sechs Stufen genau die Quersumme
der baktrischen Treppenanlage bilden, erinnert der höchst seltene Marmor an die Marmorbank, auf der
Sala in IV,1 Platz nimmt, bevor er in Erinnerungen versinkt.“
293
Briese-Neumann, Gisa: Ästhet - Dilettant – Narziss, S. 253.
294
Kretschmann, Carsten: Bauformen in Schnitzlers Schauspiel Der einsame Weg, S. 308. Vgl. auch
Schiffer Helga: Die frühen Dramen Arthur Schnitzlers, S. 150.

109
seinen Mitmenschen aufzubauen vermag und dass er zweitens seine Mitmenschen
instrumentalisiert, um die Leere in seinem Leben zu kompensieren.

Bezeichnend ist zunächst, dass Salas Vergangenheit von Verlust geprägt ist, dass
Schnitzler also bewusst einen Protagonisten zeichnet, der keine familiären Bindungen
mehr hat: Salas Frau sowie seine Tochter sind vor sieben Jahren verstorben, wobei
beider Todesumstände unklar bleiben und die Schauspielerin Irene Herms eine
Mitschuld Salas am Tod seiner Familienangehörigen andeutet. Wie die beiden
anderen Künstlergestalten des Dramas, die Schauspielerin Irene Herms und der Maler
Julian Fichtner, lebt Sala nun alleine und kultiviert diese Einsamkeit, die er mit
Freiheit und Unabhängigkeit gleichsetzt: „Freunde habe ich im allgemeinen nicht.
Und wenn ich sie habe, verleugne ich sie.“ (EW 18). Schmidt hebt in diesem Kontext
hervor, dass Schnitzler die Einsamkeit seiner Protagonisten nicht mehr wie im Sturm
und Drang „als Qualitätsmerkmal aus einem Autonomie beanspruchenden
Schöpfertum“ oder wie in der Romantik „aus der Sonderwelt einer absolut gesetzten
Imagination“ ableite, sondern dass die Einsamkeit im untersuchten Drama vielmehr
aus „einer dekadenten Schwäche [entstehe]: aus der Unfähigkeit aller Personen zur
zwischenmenschlichen Beziehung“295. Diese Einsamkeit zeige sich in Schnitzlers
Oeuvre zwar vorwiegend in Künstlergestalten, die Künstlerdramen Schnitzlers, wie
beispielsweise Der einsame Weg, würden aber insofern über sich hinausweisen, als
die sie dominierende Einsamkeit eine „allgemeine sozio-kulturelle Befindlichkeit“296
repräsentiere. Indem Schnitzler diese die Fin-de-siècle-Stimmung dominierende
Einsamkeit in seinen Dramen exponiert, wird er, wie Saße pointiert zusammenfasst,
zum „Diagnostiker menschlicher Seelendispositionen des Fin de Siècle“, einer
Epoche, in der sich hinter der äußeren Fassade vieler Menschen „eine zweite Welt
entfaltet, die in solipsistischer Verschlossenheit dem Spiel von Halbbewusstem und
Bewusstem unterliegt“. Dies hat zur Folge, dass „alle Möglichkeiten
zwischenmenschlicher Verbindung und Verständigung [ausgehöhlt werden]“ und
„[Entfremdung] an die Stelle vertrauensvoller Nähe und Offenheit [tritt].“297

295
Schmidt, Jochen: Arthur Schnitzler: Der einsame Weg, S. 117.
296
Schmidt, Jochen: Arthur Schnitzler: Der einsame Weg, S. 117.
297
Saße, Günter: Vorwort, S. 12.

110
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, worauf diese Einsamkeit
zurückzuführen ist. Eine erste Antwort lautet, dass die Einsamkeit auf die
Beziehungsunfähigkeit der Protagonisten zurückzuführen ist, die sich in ihrer
Lebensleere, in ihrer Konzentration auf die Kunst und Vergangenheit sowie in ihrer
Ich-Zentriertheit, nicht an andere binden wollen und können. Schmidt stellt hieraufhin
die berechtigte Frage, worauf denn die als Ursache der Einsamkeit ausgemachte
Beziehungsunfähigkeit zurückzuführen sei und weist nach, dass die
Beziehungsunfähigkeit auf den „Wirklichkeitsverlust“ der Protagonisten, „der keine
lebendige Gegenwart mehr zulässt“, zurückzuführen ist. An die Stelle der Gegenwart
trete die Erinnerung: „In dem für die Décadence charakteristischen Gefühl, keine
Gegenwart mehr zu haben und nur noch in der Erinnerung leben zu können, verdichtet
sich der psychisch bedingte Wirklichkeitsverlust.“ Die Epigonenobsession der
Literatur des 19. Jahrhunderts sowie die Décadence an sich würden „die Empfindung,
dem Vergangenen verfallen zu sein“, kultivieren, wodurch „die Gegenwart
[geschwächt] und die Zukunft [geraubt]“ werde. Da die Gegenwart und die
Wirklichkeit somit weitgehend aus dem Dasein ausgeklammert werden, können hier
auch keine dauerhaften zwischenmenschlichen Beziehungen geknüpft werden. Dies
führt dazu, dass Bindungen, wenn sie denn kurzfristig aufgebaut werden, sogleich als
vergangen, als „Erinnerung“, erlebt werden und so jegliche Empfindungen ihrer
Unmittelbarkeit beraubt werden. Die Erinnerungsbilder seien Sala „wirklicher als die
unmittelbare Gegenwart“, so Doppler, alles Erlebte löse „sich sofort in poetische
Erinnerungen auf“ und wirke „nur in der eigenen Innerlichkeit weiter“.298 Deutlich
wird dies in der Szene IV,1, als Johanna und Sala gemeinsam durch den Garten
spazieren und Sala gleichsam aus der Gegenwart des Gartens nahtlos in die
Vergangenheit „entschwebt“:

SALA. Gegenwart ... was heißt das eigentlich? Stehen wir denn mit dem Augenblick
Brust an Brust, wie mit einem Freund, den wir umarmen, – oder mit einem Feind, der
uns bedrängt? Ist das Wort, das eben verklang, nicht schon Erinnerung? Der Ton, mit
dem eine Melodie begann, nicht Erinnerung, ehe das Lied geendet? Dein Eintritt in
diesen Garten nicht Erinnerung, Johanna? Dein Schritt über diese Wiese dort nicht
gerade so vorbei wie der Schritt von Wesen, die längst gestorben sind?
JOHANNA. Nein, es soll nicht so sein. Es macht mich traurig.
SALA wieder in der Gegenwart. Warum? ... das sollt' es nicht Johanna. Gerade in
solchen Stunden wissen wir, dass wir nichts verloren haben und eigentlich nichts
verlieren können.

298
Doppler, Alfred: „Der Ästhet als Bösewicht?“, S. 10-11.

111
JOHANNA. Ach, hättest du doch alles vergessen und verloren und könnte ich dir alles
sein! (EW 71)

Zentral ist, und Johanna bemerkt dies, nicht mehr die Person, die die Empfindung
auslöst, sondern lediglich die Erinnerung an die Empfindung, sodass das Gegenüber
gewissermaßen instrumentalisiert wird, um Erinnerungen zu generieren, mittels derer
der Ästhet sich erhofft, seine Lebensleere kompensieren zu können. Der Ästhet
erweist sich hier wiederum als impressionistischer Menschentypus, der nur
momenthaft Erfüllung genießen kann, dann aber erneut Leere verspürt und diese
wiederum zu kompensieren sucht: Sala „genießt den Augenblick, aber er versteht ihn
nicht, weil er ihn nicht in einen Lebenszusammenhang zu fügen weiß“299. Doppler
merkt bezüglich der Einsamkeit der Protagonisten an, dass diese sich schleichend als
Begleiterscheinung einer am Ästhetizismus und auf den Augenblick des Erlebens
ausgerichteten Lebensweise manifestiere. Das narzisshafte Verlangen nach
Einsamkeit verkehre sich letztendlich in eine erschreckende Erfahrung der
Einsamkeit: „Die durchgehende Ambivalenz, die in allem steckt, was erlebt und
erfahren wird, treibt das Ich schließlich in eine narzisshafte Isolierung, in der eine
vorerst erwünschte Einsamkeit, ein ‚Verlangen nach Einsamkeit‘, zur schrecklichen
und erschreckenden Vereinsamung wird.“300

Die Bindungsunfähigkeit Salas manifestiert sich demnach nicht nur auf der Ebene der
Freundschaft, sondern auch in der Beziehung zu Johanna. Johanna erkennt dies im
Lauf des Dramas, wie ihre Antwort auf Salas Frage, was sie tun werde, wenn er nach
Baktrien aufbreche und nicht mehr in ihrer Nähe sei, verdeutlicht: „Wenn du fort bist
–? Sie betrachtet ihn. Er schaut in die Ferne. Warst du nicht lange fort von mir? Und
bist du's nicht am Ende auch in diesem Augenblick?“ (EW 69). Sie erkennt, dass Sala
keiner zwischenmenschlichen Nähe fähig ist, dass er, auch in dem Augenblick, in dem
er ihr räumlich nahe ist, „fort“ von ihr ist, da sich, wie im Vorherigen dargelegt, die
Gegenwart für Sala unmittelbar in Erinnerung auflöst und Sala alsdann gedanklich in
diese Vergangenheit entschwebt und so die augenblickhafte Verbindung zu Johanna
zerstört. Dies unterstreicht auch Doppler:

299
Doppler, Alfred: „Der Ästhet als Bösewicht?“, S. 10.
300
Doppler, Alfred: Schnitzlers Schauspiel Der einsame Weg, S. 40.

112
Liebe, die über den Augenblick hinaus wirken möchte, ist unmöglich, sie bleibt
höchstens als Erinnerung, transponiert in eine Märchenzeit, von schwermütigem
Reiz. Johanna wird daher von Sala um ihre Zukunft betrogen, denn alles, was er
erlebt, vermag er nur als Erinnerung zu genießen. […] Für Sala ist Johanna schon im
gegenwärtigen Augenblick nur Erinnerung, eine vergangene Stimmung, die die
Innerlichkeit illuminiert.301

Johanna wird in diesem Sinne zu dem Zweck instrumentalisiert, eine die innere Leere
des Ästheten augenblickhaft füllende Stimmung zu generieren. Johannas einziger
Ausweg aus dieser Instrumentalisierung scheint der Freitod, wie Doppler festhält: „In
dieser Perspektive bleibt ihr nur der ‚Ausweg‘ in den Tod.“302

Die Reaktion Salas auf Johannas Liebeserklärung ihm gegenüber verdeutlicht seine
Bindungsunfähigkeit erneut: Als Johanna dem Dichter offenbart: „Ich liebe dich.“
(EW 71), geht er nicht auf diese Aussage ein, sondern antwortet lediglich: „In
wenigen Tagen bin ich fort, Johanna. Du weißt es … du hast es gewusst.“ (EW 71),
und scheint sich darauf berufen zu wollen, dass seine Ortsungebundenheit und seine
Bindungsunfähigkeit seiner Persönlichkeit konstitutiv sind. Salas Bindungsunfähigkeit
bestätigt sich, als er um Johannas Hand anhält, die Frage aber zum einen als „wenn-
Satz“ formuliert und der Satz zum anderen die zeitliche Begrenztheit der Ehe
andeutet: „Ich meine, wenn ich dich bäte, bei mir zu bleiben  für ... lange.“ (EW 72).
Sala, als einzig auf die Erfüllung der eigenen Bedürfnisse ausgerichteter Ästhet, ist
einer dauerhaften Bindung weder fähig noch willig. Wenig später verdeutlicht Sala
dann, dass er die Ehe nicht als eine dauerhafte Bindung ansieht, sondern sie ihm
lediglich Mittel zum Zweck ist: „Missversteh mich nicht, Johanna. Du sollst deswegen
nicht für alle Zeit an mich gebunden sein. Wenn wir wieder zurückkommen, können
wir einander Lebwohl sagen – ohne weiteres. Es ist eine ganz einfache Sache.“ (EW
73). Sala betrachtet Johanna nicht als eigenständiges Subjekt, sondern scheint sie 
wie Claudio seine Geliebte als „Puppe“ betrachtet und sie später wie welke Blumen
wegschmeißt  auf Objektrang zu degradieren und zu eigenen Zwecken zu
instrumentalisieren: Johanna soll ihn auf seiner Expedition begleiten. „Wie Felix für
Julian die Gegenwart erträglich machen soll, bedarf Sala der Anwesenheit Johannas,
um sich in der Vergangenheit zu verlieren.“303 In beiden Künstlergestalten tritt so „die

301
Doppler, Alfred: Schnitzlers Schauspiel Der einsame Weg, S. 44.
302
Doppler, Alfred: Schnitzlers Schauspiel Der einsame Weg, S. 45.
303
Kretschmann, Carsten: Bauformen in Schnitzlers Schauspiel Der einsame Weg, S. 307.

113
Grausamkeit des Ästheten zutage, der allein gelten lässt, was ihm nützt.“304 Kirchheim
sieht dies ähnlich, wenn sie festhält, dass Sala Johanna das Eheangebot nur mache,
weil er eine Reisebegleitung „als Bollwerk gegen die Angst“ brauche.305 Kirchheim
geht alsdann in ihrer psychoanalytischen Interpretation des Dramas weiter und sieht in
der Beziehung Sala-Johanna einen Inzest- und Missbrauchscharakter, da Johanna für
Sala einen „metonymischen Ersatz“ für seine verlorene Tochter Lili darstelle, die
sieben Jahre zuvor verstorben ist. Gleichzeitig erfülle die Beziehung zum „Kind“
Johanna die Funktion, die „Illusion aufrecht zu erhalten, den menschlichen Gesetzen“,
wie zum Beispiel dem Alter, „nicht unterworfen zu sein“ und „ein durch
Fragmentierung bedrohtes Selbst zu stabilisieren“. Johanna komme die Funktion zu,
„als sein Zwilling oder sein ideales Selbst zu fungieren, um die eigene innere Leere zu
kompensieren.“306 Kretschmann stellt ein ähnliches Verhalten Salas in Bezug auf
Felix fest: Der Literat instrumentalisiere Felix, da er „aus dem Gespräch mit dem
jungen, schneidigen Offizier, seinem künftigen Reisepartner, ästhetische Befriedigung
erfährt.“307 An dieser Instrumentalisierung Felix‘ und Johannas wird die egozentrische
Lebenshaltung des Ästheten deutlich, der, wie Sprengel festhält, der ästhetischen
Perspektivierung seiner Umwelt höchste Priorität einräumt, „insbesondere auf Kosten
moralischer Werte (Humanität, Treue) und emotionaler Bindungen (Liebe,
Freundschaft)“.308 Der Künstler selbst formuliert seine egozentrisch ausgerichtete
Lebensführung dem Arzt Reumann gegenüber folgendermaßen:

Ich finde, man hat das Recht, sein Dasein vollkommen auszuleben, mit allen
Wonnen und mit allen Schaudern, die darin verborgen liegen. So wie wir
wahrscheinlich die Pflicht haben, jede gute Tat und jede Schurkerei zu begehen, die
innerhalb unserer Fähigkeiten liegt ... . (EW 52-53)

Sala beansprucht mit diesen Aussagen bewusst das Recht, ungeachtet jeglicher Folgen
„jede Schurkerei“ zu begehen, die in seiner Fähigkeit liegt: „Was aus Sala spricht, ist
die obligate Indifferenz, die Skrupellosigkeit des Ästheten, der ganz in der eigenen
Disposition, der Erinnerung, lebt.“309

304
Doppler, Alfred: Schnitzlers Schauspiel Der einsame Weg, S. 45.
305
Lange-Kirchheim, Astrid: Die Verklärung des Sohnes und die Tötung der Frauen, S. 160.
306
Lange-Kirchheim, Astrid: Die Verklärung des Sohnes und die Tötung der Frauen, S. 151-153.
307
Kretschmann, Carsten: Bauformen in Schnitzlers Schauspiel Der einsame Weg, S. 307.
308
Sprengel, Peter: Geschichte der deutschsprachigen Literatur, S. 117.
309
Kretschmann, Carsten: Bauformen in Schnitzlers Schauspiel Der einsame Weg, S. 313.

114
Der Flucht aus der Gesellschaft und der Flucht vor dauerhaften zwischenmenschlichen
Beziehungen entspricht auch der Drang in die Ferne, der Schnitzlers Drama
leitmotivisch durchzieht. Wie Stephan von Sala mit seiner Expedition nach Baktrien,
so drängt es auch Johanna seit ihrer Kindheit ins Weite. Dies wird bereits während der
Exposition Johannas im ersten Akt des Dramas deutlich, hebt die dritte sie betreffende
Regieanweisung doch ihren „Blick ins Weite“ hervor. Johanna selbst beklagt dann
wenige Zeilen später die Enge, der sie als Frau ausgesetzt ist, und spricht ihren Neid
auf Salas Expeditionspläne und die Freiheiten ihres Bruders Felix aus. Der Reisedrang
sowie die Heimatlosigkeit der zweiten Künstlerfigur des Dramas, Julian Fichtner, wird
ebenfalls wiederholt betont: Fichtners „großen Reisen“ (EW 17) werden von Felix
hervorgehoben, Wegrat unterstreicht, dass Fichter „sich nirgends dauernd heimisch“
habe fühlen können und nie „inneren Frieden“ gefunden habe (EW 19). Auch Fichtner
selbst legt Wert darauf, seine Ortsungebundenheit zu betonen: Auf Salas Frage hin, ob
er länger in Wien bleibe, entgegnet er, dies sei „noch unbestimmt“: „Es ist möglich,
dass ich vorläufig kein festes Quartier nehme und so herumwandere wie in den letzten
Jahren.“ (EW 24).310 Fichtner fährt fort, er trage „[s]ich mit der Idee, in Salzburg
Aufenthalt zu nehmen“ und ereilt sich, auf Salas Frage: „Für immer?“, hin, die
zeitliche Begrenztheit seines Aufenthalts zu betonen: „Für einige Zeit.“ (EW 26). Die
Gestalten des Dramas seien, so Schmidt, von einem „inneren Zwang zum ‚Fortgehn‘
beunruhigt, […] von einem Drang in die ‚Ferne‘, der keine dauerhafte und
zuverlässige Nähe erlaub[e]“. Insofern sei Der einsame Weg als „Drama der
Beziehungsschwäche zu sehen“, welches den Zustand der zeitgenössischen
Gesellschaft verbildliche: „Der nachdrücklich thematisierte Aufbruch in die Fremde
ist Symptom einer überall um sich greifenden zwischenmenschlichen
Entfremdung.“311 Indem Schnitzler sowohl die Künstlergestalten als auch die
Mitglieder der Familie Wegrat als in der Einsamkeit gefangene Figuren inszeniert,
zeichnet er den „dekadent-krankhaften Niedergang“ beider Sphären.312

310
Fichtner betont ebenfalls Wegrat gegenüber, er wolle nur „einige Zeit“ in Wien bleiben. (Vgl. EW
59)
311
Vgl. Schmidt, Jochen: Arthur Schnitzler: Der einsame Weg, S. 118.
312
Nicht nur die Künstler Sala und Fichtner werden als einsame Gestalten gezeigt, sondern auch die
Familie Wegrat wird kritisch beleuchtet. Wegrat selbst flüchtet so beispielsweise in die Arbeit: „Arbeit
ist doch das Einzige, was einem über dieses Gefühl des Alleinseins hinweghilft … dieses
Alleingelassenseins“, und hinterfragt die Dauer zwischenmenschlicher Beziehungen: „Auch unsere
Freunde sind doch nur Gäste in unserem Leben […] und haben – wie wir – ihre eigene Straße und ihr

115
Nachdem Schnitzler so die vierfache Lebensunzulänglichkeit des Ästheten Sala
exponiert hat, stellt sich die Frage, inwiefern die Grenzen der ästhetizistischen
Lebensweise vom Protagonisten Sala selbst reflektiert werden.

4.3. Reflexion des Ästheten

Wie in Hofmannsthals Der Tor und der Tod ist auch in Schnitzlers Drama Der
einsame Weg eine gewisse Reflexion des Ästheten in Bezug auf seine ästhetizistische
Lebensweise zu beobachten. Wie in Hofmannsthals lyrischem Einakter setzt diese
Reflexion jedoch erst kurz vor dem Tod Salas ein und bewirkt keine
Verhaltensänderung des Künstlers, sondern Schnitzler lässt seinen Protagonisten
sterben und verdeutlicht so  wie Hofmannsthal in beiden untersuchten Werken  die
Unvereinbarkeit der ästhetizistischen Lebensweise mit dem wirklichen Leben.

Die Reflexion Salas setzt im vierten Akt mit dem expliziten Versprachlichen seiner
Lebensweise ein. Es handelt sich hierbei zunächst jedoch nicht um eine direkte
kritische Reflexion seiner Lebensweise, sondern gewissermaßen um eine
„definitorische“ Reflexion, mittels derer Sala die konstitutiven Elemente seiner
ästhetizistischen Lebensweise definiert. Der Rezipient erkennt zu diesem Zeitpunkt
bereits, dass Salas Worte zugleich die Grenzen des Ästhetizismus implizit beinhalten,
Sala selbst spricht diese implizit aus, scheint sie jedoch zu diesem Zeitpunkt noch
nicht explizit anzuerkennen. Im Gespräch mit Johanna denkt Sala zunächst an seine
Kindheit und an seine Zeit in Lugano und gesteht Johanna gegenüber, diese
Erinnerungen seien ihm näher als sie selbst: „All das, all das ist da – wenn ich nur die
Augen schließe, ist mir näher als du, Johanna, wenn ich dich nicht sehe und wenn du
schweigst.“ (EW 71). Er versprachlicht hier deutlich seine Rückwärtsgewandtheit,
ohne diese allerdings kritisch zu reflektieren. Wenig später erkennt er seine
Ungebundenheit an: „Ich bin nicht gebunden. Nichts hindert mich, zu Hause zu

eigenes Geschäft.“ (EW 61). Seine Frau Gabriele leidet an Schwindsucht und hat ihrem Mann und
Felix selbst bisher verheimlicht, dass Felix der Sohn ihrer früheren Affäre Fichtner ist. Sie bekennt,
dass ihr alle Menschen der Familie zwar nahe sind und sie doch „alle voneinander nicht wissen, kaum
ihre Beziehungen zueinander kennen und dazu bestimmt scheinen, auseinanderzuflattern, weiß Gott,
wohin.“ (EW 22). Johanna sieht sich nicht fähig, ihrer Mutter „in trüben Tagen“ Beistand zu leisten, sie
sehnt sich in die Ferne. Und auch die dritte Künstlerfigur, Irene Herms, wird als einsame Frau
präsentiert.

116
bleiben, wenn ich nicht gelaunt bin, fortzugehen.“ (EW 72). Schließlich bekennt er
sich, auf Johannas Nachfrage: Um meinetwillen?“ (EW 73), hin, zu seinem
Egozentrismus als Grund dieser Ungebundenheit: „Das sag' ich nicht. Um
meinetwillen vielleicht.“ (EW 73), schwächt das Bekenntnis aber durch das
nachgeordnete „vielleicht“ noch etwas ab. Salas Bekenntnisse seiner Ungebundenheit,
seines Egozentrismus und seines erinnernden, indirekten Erlebens indizieren
gewissermaßen die einsetzende Reflexion des Ästheten, da erstmals eine bewusste
und explizite Versprachlichung der Verfehlungen stattfindet.

Nachdem diese Bekenntnisse dem Rezipienten den einsetzenden Reflexionsprozess


des Ästheten bereits angedeutet haben, setzt die eigentliche Reflexion des Künstlers
im Gespräch mit Julian Fichtner in der 8. Szene des vierten Aktes ein, in dem die
Redeanteile Salas die Fichtners deutlich überwiegen. Die langen Redepassagen
zeugen hierbei von einer Reflexion auf drei Ebenen: Sala reflektiert zunächst die der
ästhetizistischen Lebensweise konstitutiven Eigenschaften der Einsamkeit und der
Bindungslosigkeit. Abschließend sinnt er über den Egoismus des Ästheten nach, der
jegliches Handeln unter das Primat des eigenen Wohlergehens und nicht unter das
Primat ethischer und moralischer Wertmaßstäbe stellt und bei dem sich folglich
ästhetische zugunsten ethischer Prinzipien durchsetzen. Hierbei unterstreicht die
Verwendung des Personalpronomens „wir“, mit welchem Sala seine Reflexionen
einleitet, das Gefühl der Verbundenheit mit der zweiten zentralen Künstlerexistenz
des Dramas, mit Julian Fichtner. Zunächst verdeutlicht Sala die der ästhetizistischen
Existenzweise konstitutive Einsamkeit:

Den Weg hinab gehen wir alle allein ... wir, die selbst niemandem gehört haben. Das
Altern ist nun einmal eine einsame Beschäftigung für unsereinen, und ein Narr, wer
sich nicht beizeiten darauf einrichtet, auf keinen Menschen angewiesen zu sein.“
(EW 81).

Sala definiert in einem zweiten Schritt, was „Lieben“ wirklich heißt: Lieben heißt, für
jemand andern auf der Welt sein.“ (EW 81), um zu betonen, dass beide diesem
Zustand stets sehr fern gewesen wären und die Merkmale der ästhetizistischen
Lebensweise anschließend in Abgrenzung zu diesem Zustand des „Liebens“
hervorzuheben. Mittels einer Aneinanderreihung rhetorischer Frage versprachlicht er
die der eigenen Existenzweise konstitutive Bindungs- und Gefühlslosigkeit:

117
Haben wir jemals ein Opfer gebracht, von dem nicht unsere Sinnlichkeit oder unsere
Eitelkeit ihren Vorteil gehabt hätte? ... Haben wir je gezögert, anständige Menschen
zu betrügen oder zu belügen, wenn wir dadurch um eine Stunde des Glücks oder der
Lust reicher werden konnten? ... Haben wir je unsere Ruhe oder unser Leben aufs
Spiel gesetzt – nicht aus Laune oder Leichtsinn ... nein, um das Wohlergehen eines
Wesens zu fördern, das sich uns gegeben hatte? ... Haben wir je auf ein Glück
verzichtet, wenn dieser Verzicht nicht wenigstens zu unserer Bequemlichkeit
beigetragen hätte? (EW 81)

Die unausgesprochenen Antworten auf die rhetorischen Fragen verdeutlichen die


Charakteristika des Ästheten: Eitelkeit, Narzissmus, unethisches, rücksichtsloses
Vorgehen, um einen persönlichen Glückszustand zu erreichen, Egoismus und
Egozentrik. Salas Worte verdeutlichen zum einen die Defizite der ästhetizistischen
Existenzweise, zum anderen scheint aber in den rhetorischen Fragen ein gewisses
Gefühl der Überlegenheit mitzuschwingen, wodurch sich zu bestätigen scheint, dass
Sala zu diesem Zeitpunkt nur eine definitorische und noch keine kritische Reflexion
des Ästhetizismus vornimmt.

In einem zweiten Gespräch, in welchem Sala Julian seinen Entschluss zum Freitod
mitteilt, findet eine erneute Reflexion der ästhetizistischen Lebensweise statt. Diesmal
werden nicht bloß die Merkmale der Existenzweise definitorisch versprachlicht,
sondern es findet eine, wenn auch knapp gehaltene, kritische Reflexion in Bezug auf
die eigene Lebensweise statt. Nachdem Sala erklärt hat, dass seine früheren
Lebensinhalte, wie die Erinnerungen an die Italienreisen oder sein Palast, im
Angesicht des Entschlusses zum Freitodes verschwimmen und sich „Schleier über
alles“ (EW 91) legen, zieht er eine kritische Bilanz der eigenen Generation. Er spricht
die Hoffnung auf eine andere, neue, Generation aus, deutet an, dass mit Felix‘
Generation wieder ein „besseres Geschlecht“ heranwachse, welches dem Geist
weniger und der Haltung wieder mehr Bedeutung zumessen werde. Die neue
Generation werde sich, so Sala, wieder von der den Ästheten charakterisierenden
egozentrischen und einseitigen Fokussierung auf die eigene Innerlichkeit abwenden
und der Vergangenheit, symbolisiert durch die 312 Stufen, weniger Bedeutung
zumessen: „Ihr Sohn wird es vielleicht erfahren, ob es mit der dreihundertzwölften zu
Ende ist – und wenn nicht, so wird es ihn wenig kümmern. Es scheint mir überhaupt,
dass jetzt wieder ein besseres Geschlecht heranwächst, – mehr Haltung und weniger
Geist.“ (EW 91) Salas Tod läutet somit gewissermaßen, auch in Salas Augen, den
Niedergang der eigenen Generation ein, so dass Platz für eine neue, bessere

118
Generation geschaffen wird. Dieser Zukunftsausblick, der als Absage an den
Ästhetizismus gelesen werden kann, verdeutlicht so auch Schnitzlers eigene, kritische
Sicht auf die einseitig ästhetisch ausgerichtete Lebensweise.

4.4. Die Kritik an der ästhetizistischen Lebensweise Salas und der Tod
des Ästheten

Im Gegensatz zu Hofmannsthals Märchen der 672. Nacht, in welchem den


Kaufmannssohn ein anonymer Brief erreicht, und auch im Gegensatz zu
Hofmannsthals lyrischem Drama Der Tor und der Tod, in welchem die bereits
verstorbenen Bezugspersonen Claudios als Ankläger gegen den Ästheten auftreten,
wird in Schnitzlers Drama Der einsame Weg keine explizite Anklage gegen den
ästhetizistisch lebenden Protagonisten erhoben.313

313
Allein Felix, Johannas Bruder, kann innerhalb der Dramas Der einsame Weg ansatzweise als solche
Anklagefigur angesehen werden, spricht er doch im Verlauf des Dramas mehrfach die Verfehlungen
seiner Mitmenschen an. So unterstreicht Felix, nachdem Julian Fichtner ihm eröffnet hat, dass er sein
biologischer Vater sei, dass er Beziehungen zu seinen Mitmenschen, im Gegensatz zu Sala und
Fichtner, stets größten Wert beigemessen habe. Er klagt die Unehrlichkeit Fichtners an und entzieht
sich der Instrumentalisierung durch Fichtner:
„Es will mir nicht einmal ein, dass ich nun Betrüger und Betrogene vor mir sehen
soll, wo mir bis vor einer Stunde Menschen, die mir wert sind, in so reinen
Beziehungen zu einander erschienen. Und völlig unmöglich ist es mir, mich selbst
als einen andern zu empfinden als den, für den ich mich bis heute gehalten habe. Es
ist eine Wahrheit ohne Kraft ... […] Das Andenken meiner Mutter ist mir so heilig
als zuvor. Und der Mann, in dessen Haus ich geboren und auferzogen bin, der meine
Kindheit und meine Jugend mit Sorgfalt und Zärtlichkeit umgeben hat und der
meine Mutter – geliebt hat, gilt mir gerade so viel, als er mir bisher gegolten – und
beinahe mehr.“ (EW 66)
Indem Felix sich mit diesen Aussagen dezidiert zu seinem Ziehvater Wegrat bekennt, wendet er sich
entschlossen von der Unaufrichtigkeit und Egozentrik Fichtners und somit der eigenen
Instrumentalisierung ab. Julian Fichtner offenbart Felix seine Vaterschaft nämlich nicht, um die
Wahrheit über dessen Herkunft aufzudecken, sondern aus rein egoistischen Motiven. Sein Bemühen hat
„bloß kompensatorischen Charakter“, wie Schmidt (Vgl. Schmidt, Jochen: Arthur Schnitzler: Der
einsame Weg, S. 120) festhält: Fichtner will die eigene Einsamkeit durch die Bindung zu seinem Sohn
kompensieren. Felix thematisiert ebenfalls die mangelnde Kommunikation innerhalb der Familie
Wegrat, wenn er den Abbruch der Kommunikation mit Johanna beklagt: „Johanna! Warum redest du
denn nicht mehr so zu mir sonst?“ (EW 56)), und wenige Zeilen später nach der Ursache dieses
Kommunikationsabbruches fragt: „Warum kannst du nicht mehr so zu mir reden wie damals, Johanna?“
(EW 56). Nach Johannas Verschwinden stellt Felix erneut, diesmal Wegrat gegenüber, die Frage nach
der Kommunikation innerhalb der Familie in den Raum: „Wer hat sie denn gekannt von uns allen? Wer
kümmert sich denn überhaupt um die andern?“ (EW 85). Felix deckt so das egoistische Verhalten
Fichtners und den Mangel an zwischenmenschlicher Kommunikation innerhalb der Familie Wegrat auf.
Da diese Anklage jedoch wenig Reflexion seitens der angesprochen Figuren induziert, sondern die
Worte eher leer im Raum verhallen, ist Felix eher als Sprachrohr des Autors zu betrachten, denn als
direkte Anklagefigur auf Ebene der Handlung. Er fungiert gewissermaßen – fast wie der
kommentierende Erzähler im epischen Theater – als Kommentator des Geschehens, hebt das

119
Die Anklage erfolgt vielmehr implizit, indem mit Sala  und mit Fichtner314  ein
Beispiel ex negativo des lebensunzulänglichen, nach ethischen Richtlinien fragwürdig
handelnden Ästheten gezeichnet wird, wie im Vorherigen dargelegt wurde. Dieses
Negativbeispiel führt dem Rezipienten die Verfehlen der ästhetizistischen
Existenzweise vor Augen: Durch die Darstellung von Salas rücksichtsloser
Instrumentalisierung seiner Mitmenschen, von seinem zerstörerischen Egozentrismus,
von seinen fehlenden zwischenmenschlichen Bindungen und seiner einseitig auf
Vergangenheit und Kunst ausgerichteten Lebensweise wird „nach dem Preis gefragt,
der für die Ästhetisierung des Lebens zu bezahlen ist“315. Dadurch, dass Johanna „an
der Lebensform Salas zugrunde“ geht, wird diese zusätzlich implizit verurteilt.
Schnitzler macht in seinem Drama so „einer Lebensform den Prozess, der nicht allein
das gestörte Verhältnis von Kunst und Leben, sondern darüber hinaus das Zerstören
der zwischenmenschlichen Verhältnisse zum Inhalt hat.“316, wie Doppler festhält.
Indem der Rezipient die Auswirkungen der ästhetizistischen Lebensweise im Medium
des Dramas beobachtet, soll er zur kritischen Auseinandersetzung mit derselben
angeregt und letztendlich zu einer Verurteilung dieser Existenzweise bewegt werden.
Was Mauser in Bezug auf das Märchen der 672. Nacht festhält, gilt somit auch für das
Drama Der einsame Weg. Der Text bietet die negative Folie, auf deren Grundlage das
wünschenswert Andere imaginiert werden kann. Die ästhetizistische Lebensführung
Salas wird zum negativen Exempel, welches den Leser dazu veranlassen soll,
projektiv ein Korrektiv dieser defizitären Lebensführung zu imaginieren und anders zu
leben.317

Fehlverhalten der Figuren hervor und weist dem Rezipienten alternative, der ästhetizistischen
Handlungsweise entgegenstehende, Handlungsmöglichkeiten auf.
314
Wie Sala so stellt Fichtner ebenfalls ein Beispiel ex negativo dar, welches die Verfehlungen der
ästhetischen Existenz offenbart. Vgl. auch Kretschmann, Carsten: Bauformen in Schnitzlers Schauspiel
Der einsame Weg, S. 313-314: Fichtner leistet im III. Akt „einen künstlerischen und menschlichen
Offenbarungseid“ und spricht „das Credo des naiv-brutalen Ästheten, des Egoisten und Bohemien“ aus,
als er sich „das Glück der Ungebundenheit vergegenwärtigt“ und erzählt, „wie bedenkenlos er die
schwangere Gabriele verlassen und sich aus der Verantwortung gestohlen hat.“ In seinem Rausch, frei
zu sein, schreckt er nicht vor ethischen Schranken zurück, sondern stellt die Verwirklichung des
eigenen Glücks ins Zentrum seines Handelns. Auf die Frage nach einem möglichen Selbstmord
Gabrieles hin, antwortet er erschreckenderweise: „Ich glaube, ich hätte mich dessen wert gehalten – in
dieser Zeit“. Fichtner instrumentalisiert später auch Felix in ähnlicher Weise, dieser soll seine
Einsamkeit kompensieren.
315
Doppler, Alfred: Schnitzlers Schauspiel Der einsame Weg, S. 37.
316
Doppler, Alfred: Schnitzlers Schauspiel Der einsame Weg, S. 42.
317
Vgl. Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 161-162.

120
Dass Schnitzler der einseitig ästhetizistisch ausgerichteten Lebensführung kritisch
gegenübersteht, verdeutlicht er dadurch, dass er Sala von Beginn des Dramas an als
todkonnotierten Künstler zeichnet und ihn am Ende des Dramas sterben lässt. Wie
sein Zeitgenosse Hofmannsthal verurteilt Schnitzler seinen Protagonisten gleichsam
zu Tode, um so dessen Lebensunzulänglichkeit hervorzukehren und die gewählte
Existenzweise zu verurteilen. Der ästhetizistisch lebende Sala steht aus diesem Grund
von Beginn des Dramas an unter dem Zeichen des Verfalls: Schnitzler deutet die
Todkonnotiertheit Salas durch ein Herzleiden an, welches den Künstler befallen hat.
Schmidt hebt hierzu hervor: „Salas tödliche Krankheit signalisiert die
Lebensunfähigkeit des dekadenten Ästheten“.318 So berührt Sala, wie es die die Szene
II,1 einleitenden Regieangaben verdeutlichen, „zwei- bis dreimal während der Szene
[…] mit der Hand seine linke Brustseite, als empfände er dort ein Unbehagen; nicht
auffällig.“ (EW 24). In der Szene II,2 erklärt der Dichter Julian gegenüber, der Arzt
Reumann habe ihm das Rauchen verboten, da sein „Herz […] ein bisschen unruhig“
sei (EW 32). Sala selbst äußert seine Todesahnung in der Mitte des Dramas, als er
einen Blick des Arztes Reumann dahingehend deutet, dass dieser ihm nicht zutraue,
dass er von der Expedition nach Baktrien zurückkehren werde:

Warum sehen Sie mich so an, Herr Doktor? Dieser Blick ist ein wenig unvorsichtig
gewesen. […] Er sagt ungefähr: Abreisen magst du; aber ob du zurückkommen
wirst, das ist eine recht zweifelhafte Sache. (EW 52).

Sala verdrängt die aufkommende Todesahnung allerdings schnell und behauptet, es


würde ihn nicht interessieren, wie es um ihn stehe.319 Doch Reumann bestätigt Salas
Leiden nur wenig später Felix gegenüber (EW 55) und auch Johanna erkennt Salas

318
Schmidt, Jochen: Arthur Schnitzler: Der einsame Weg, S. 122.
319
DOKTOR REUMANN. Nun hören Sie, Herr von Sala, einer solchen Unternehmung gegenüber
dürfte man auch einen solchen Zweifel laut werden lassen. Aber interessiert Sie denn das überhaupt,
Herr von Sala, ob Sie wiederkommen werden oder nicht? Sie gehören doch nicht zu der Sorte
Menschen, die ihre Angelegenheiten ordnen wollen?
SALA. Ach nein. Umso weniger, als es in solchen Fällen doch immer die Angelegenheiten anderer
sind, mit denen man sich überflüssigerweise beschäftigt. Und wenn es mich interessieren würde, wie es
mit mir steht, so hätt' ich einen triftigeren Grund. […] Ich wünsche nicht um das Bewusstsein meiner
letzten Tage betrogen zu werden.
DOKTOR REUMANN. Das ist ein Wunsch, mit dem Sie ziemlich vereinzelt dastehen dürften.
SALA. Jedenfalls wären Sie verpflichtet, Doktor, mir die absolute Wahrheit zu sagen, wenn ich Sie
darum fragen sollte. Ich finde, man hat das Recht, sein Dasein vollkommen auszuleben, mit allen
Wonnen und mit allen Schaudern, die darin verborgen liegen. So wie wir wahrscheinlich die Pflicht
haben, jede gute Tat und jede Schurkerei zu begehen, die innerhalb unserer Fähigkeiten liegt ... Nein,
Sie sollen mir meine Todesstunde nicht wegeskamotieren! Es wäre ein kleinlicher Standpunkt, meiner
und Ihrer nicht würdig. (EW 52)

121
Todkonnotiertheit. Sie fragt Felix nach seinem Gespräch mit Reumann: „Hat er dir
gesagt, dass Sala verloren ist?“, und bekennt, als sie Felix‘ Zögern bemerkt: „Ich
wusst' es.“ (EW 55). Felix selbst bestätigt dem Künstler Sala letztendlich seine
Todgeweihtheit in Akt V und fungiert hierdurch gewissermaßen als Todesbote:

FELIX nach einer langen Pause. Herr von Sala ... wir werden nicht unter einem
Zelte schlafen.
SALA. Wie?
FELIX. So weit geht Ihre Reise nicht mehr. Große Pause.
SALA. So ... Ich verstehe Sie. Sie sind dessen sicher?
FELIX. Vollkommen. – Pause.
SALA. Johanna wusste es?
FELIX. Ja. (EW 89)

Nach Felix‘ Ankündigung von Salas bevorstehendem Tod trifft Sala den Entschluss
zum Freitod und „bezahlt“ somit, so Julian, „… zur rechten Zeit …“ (EW 92) seine
Vergehen. Dadurch, dass Schnitzler seinen Protagonisten Sala sterben lässt,
veranschaulicht er, dass dessen einseitig ästhetizistisch ausgerichtete Lebensweise
dem wirklichen Leben nicht gerecht wird und sie den Protagonisten nur in den Tod
führen kann. Das Drama ist, so Kretschmann, „von Tod umhüllt“ und „der einsame
Weg ist der Weg des Todes“. Wie Hofmannsthal den Kaufmannssohn und Claudio
sterben lässt, lässt Schnitzler seinen Ästheten Sala sterben. Beide Autoren heben
hierdurch die Lebensunzulänglichkeit ihrer jeweiligen Protagonisten hervor und
verurteilen auf diesem Wege den reinen Ästhetizismus.320

320
Auffallend hierbei ist, dass die beiden Autoren in den drei untersuchten Texten ihre Protagonisten
keinen „Vatermord“ begehen lassen und hierdurch die Generation der Väter, die Gründergeneration,
verurteilen, sondern dass Hofmannsthal und Schnitzler  in Umkehr zu Freud  die Söhne zu Tode
verurteilen. Dies scheint zu bezeugen, dass beide Autoren nicht die sich verändernden
Lebenswirklichkeiten kritisch beleuchten, sondern deutlich auf die defizitären Bewältigungsstrategien
der Söhne hinweisen wollen, die sich den verändernden Lebenswirklichkeiten nicht anpassen. In
Einklang mit dieser Hypothese steht, dass beide Schriftsteller, und besonders Hofmannsthal, mit ihrer
zunehmenden Skepsis gegenüber dem Ästhetizismus eine Hinwendung zum Leben fordern, derer die
Söhne nicht fähig scheinen und deswegen verurteilt werden.

122
5. Sprachkrise

Die drei untersuchten Werke Das Märchen der 672. Nacht (1895), Der Tor und der
Tod (1893) sowie Der einsame Weg (1903) stehen in engem zeitlichen
Zusammenhang mit dem als Manifest der Sprachkrise der Jahrhundertwende
geltenden, 1902 erstmals publizierten Essay Ein Brief  dem „Chandos-Brief“ 
Hofmannsthals. Insofern stellt sich die Frage, inwiefern sich diese Sprachkrise bereits
in den untersuchten Werken vorandeutet beziehungsweise, inwiefern sie in den
Werken aufgegriffen wird. Bei einer genaueren Analyse der drei Werke wird deutlich,
dass die Sprachkrise zwar kein zentrales Thema dieser Werke ist, dass die Werke aber
dennoch zahlreiche Hinweise darauf bergen, dass der Sprachbegriff und die Sprache
an sich zu dieser Zeit in eine tiefe Krise geraten, in welcher die Referentialität der
Sprache sowie ihre kommunikative Funktion in Frage gestellt werden. Schnitzler und
Hofmannsthal treten dem Ästhetizismus, der ihnen in ihren Jugendjahren zunächst als
Ausweg aus der Krisenstimmung des Fin-de-siècle erschien, mit zunehmendem Alter
deutlich skeptischer entgegen, wie dies in den untersuchten Werken deutlich wird. Die
Autoren kritisieren die Unvereinbarkeit der ästhetizistischen Weltanschauung mit
ethisch-moralischen Normvorstellungen und erkennen, dass das einseitige Hinwenden
zur Kunst, und somit auch zur Literatur, die von ihrer Generation empfundene innere
Leere nicht füllen kann. Demzufolge treten sie auch der Sprache, als Medium der
Literatur, skeptisch gegenüber, da diese es nicht erlaubt, die empfundene Wirklichkeit
adäquat abzubilden. Ausweg aus dieser Sprachkrise, „die nicht nur Sprachkrise ist,
sondern zugleich Sinn- und Bewusstseinskrise“, wie Mayer schreibt, scheint einzig
eine „neue“ Sprache, die im Chandos-Brief „utopisch skizzierte Möglichkeit eines
anderen Sprechens“,321 zu sein. Die in die Sprachkrise mündende Sprachentfremdung
der Autoren wird in den drei untersuchten Werken ansatzweise angedeutet.

Im Chandos-Brief, einem „poetologisch-sprachkritischen Essay in Briefform“322, teilt


der fiktive Briefschreiber, Lord Chandos, dem Adressaten seines Briefes, Francis
Bacon, mit, dass er in Zukunft gänzlich auf literarische Betätigung verzichten will, da
ihn eine weitgehende Sprachskepsis erfasst hat. Zunächst seien ihm, so Lord Chandos,

321
Mayer, Mathias: Ein Brief. In: Jens, Walter (Hrsg.): Kindlers neues Literaturlexikon. Band 7.
München 1990, S. 990.
322
Mayer, Mathias: Ein Brief, S. 990.

123
die abstrakten Worte „im Munde“ zerfallen „wie modrige Pilze“323. Dann seien ihm
auch die alltäglichen Begriffe so leer, „unbeweisbar“, „löchrig“ und „lügenhaft“ (CB
147) erschienen, dass er aufgehört habe, „an solchen Gesprächen teilzunehmen“ (CB
146). Lord Chandos ist, „zum Zeitpunkt des Schreibens, einer geistigen Starre“
verfallen, „in der sich ihm religiöse, moralische und logische Begriffe entziehen“324.
Er hat wohl versucht, diesem Zustand durch die Lektüre antiker Werke zu
entkommen, diese haben ihm allerdings keine Erfüllung verschaffen können. Die
Worte Senecas und Ciceros erscheinen ihm leer und entziehen sich ihm, wie sich
Tantalos Wasser und Nahrung entziehen. In vereinzelten guten Augenblicken, „in
irgendeinem Moment“ (CB 148), erlebt Chandos jedoch epiphaniehafte Momente, in
denen alltägliche Gegenstände zu „Gefäß[en] [der] Offenbarung“ werden, die sich mit
einer „Flut göttlichen Gefühles“ (CB 148), welches auch Chandos selbst in diesen
Augenblicken vereinnahmt, füllen. In diesen Augenblicken des „Hinüberfließens“ in
Gegenstände ist es Chandos, als ob sein Körper „aus lauter Chiffren“ bestünde, als ob
man in „ein neues, ahnungsvolles Verhältnis zum ganzen Dasein treten“ könne, wenn
man „anfing[e] mit dem Herzen zu denken“ (CB 150). Problematisch stellt sich
jedoch das Beschreiben, das Versprachlichen, genau jener Momente dar. Die
„normale“ Sprache erweist sich als ungeeignet dafür, diese Erlebnisse adäquat in
Worte zu fassen. Die individuellen, subjektiven Erlebnisse und die hierdurch
induzierten Chiffren sind mittels der kollektiven, intersubjektiven Sprache nicht
fassbar. Um diese subjektiven Erlebnisse zu versprachlichen, bedürfte es einer
Sprache, die „weder die lateinische, noch die englische, noch die italienische und die
spanische“ ist, sondern eine individuelle, subjektive Sprache, eine „Sprache, von
deren Wörtern mir auch nicht eines bekannt ist“ (CB 153).325 Diese individuelle,
subjektive Sprache wäre dann allerdings intersubjektiv nicht mehr verständlich, da die
kollektiv vereinbarte Konventionalität nicht gegeben wäre. Dies veranlasst Chandos
dazu, der Sprache und dem Schreiben abzusagen, zu verstummen, da die „normale“

323
Hofmannsthal, Hugo von: Ein Brief. In: Schmitt, Hans-Jürgen; Best, Otto F. (Hrsg.): Die deutsche
Literatur in Text und Darstellung. 16 Bde. Bd. 13: Impressionismus, Symbolismus und Jugendstil.
Hrsg. von Ulrich Karthaus. Stuttgart 1977, S. 146. Im Folgenden wird aus dieser Ausgabe mittels der
Abkürzung CB und unter Angabe der Seitenzahl zitiert.
324
Mayer, Mathias: Ein Brief, S. 990.
325
Vgl. auch Mayer, Mathias: Ein Brief, S. 990, der festhält, dass hier die „Möglichkeit eines anderen
Sprechens utopisch skizziert“ werde, dass aber diese neue Sprache zu Beschreibung der
Epiphanieerlebnisse noch fehle.

124
Sprache es ihm nicht erlaubt, seine individuellen Erlebnisse in Worte zu fassen und
diese seinen Mitmenschen kommunikativ mitzuteilen.

Untersucht man die drei Werke auf die Frage hin, inwiefern sich die im Chandos-Brief
(1902) dargelegte Sprachkrise bereits hier manifestiert, so wird deutlich, dass im
Märchen der 672. Nacht (1895) und im Drama Der Tor und der Tod (1893) erste
Anzeichen für Hofmannsthals Sprachkrise zu finden sind und die Sprachskepsis auch
in Schnitzlers Drama Der einsame Weg aufgegriffen wird.

Das Scheitern der – die Wirklichkeit nur im Medium der Distanz generierenden Kunst
wahrnehmenden – Protagonisten im Märchen der 672. Nacht sowie im Einakter Der
Tor und der Tod und somit das Scheitern der Kunst als absolutes und einziges
Wahrnehmungsmedium der Wirklichkeit könnte in diesem Zusammenhang bereits
Hofmannsthals eigene Sprachkrise andeuten. Wenden wir uns zunächst
Hofmannsthals Märchen der 672. Nacht zu. Auffällig ist, dass es dem Kaufmannssohn
in extremen Angstsituationen mehrmals die Sprache verschlägt. Als er das Glashaus
im Garten hinter dem Juwelierladen verlassen will und das Mädchen das Haus
abgesperrt hat, fühlt er sich gefangen, gerät in Panik, „w[ill] schreien, aber fürchte[t]
sich vor seiner eigenen Stimme“ (MN 222). Nach dem Hufschlag des Pferdes liegt der
Kaufmannssohn mit quälenden Schmerzen in einem Kasernenzimmer und empfindet
in seinem Todeskampf zunächst Angst davor, allein zu sein, dann Wut auf seine
Diener und anschließend erneut „eine große, dumpfe Angst“ (MN 227). In diesem
Zustand existentieller Angst versagt die Sprache: Er kann nicht schreien, sondern
wimmert nur „wie ein Kind“ (MN 227) und fällt dann in einen unruhigen Schlaf. Als
er erwacht, will er erneut schreien, „weil er immer noch allein [ist]“, aber seine
„Stimme versag[t] ihm“ (MN 227) erneut. Der Kaufmannssohn kann nicht mehr
sprechen, sondern erbricht erst Galle, dann Blut und stirbt anschließend „mit
verzerrten Zügen“ (MN 227). Obwohl der Kaufmannssohn seine Angst im Angesicht
des Todes gerne versprachlichen würde, gelingt dies ihm nicht. Es ist dem Ästheten
unmöglich zu schreien, die Sprache versagt ihm ihre Mitteilungsfunktion. So wie der
Kaufmannssohn nicht schreien kann, so wird auch Hofmannsthal die Grenzen des
Ästhetizismus und der damit verbundenen begrenzten Wahrnehmung der Umwelt

125
erkennen und in eine tiefe Sprachkrise geraten, die im Chandos-Brief ihren Höhepunkt
erreicht.

Wie Hofmannsthal und sein Alter Ego Lord Chandos so empfindet auch Claudio in
Der Tor und der Tod eine gewisse Skepsis der Sprache gegenüber: Einerseits stellt die
Sprache für ihn kein zwischenmenschliches Kommunikationsmedium dar,
andererseits zerstört die Sprache jegliche Unmittelbarkeit des Erlebens und erscheint
Claudio somit mitverantwortlich für seine Lebensferne.

Wie im Vorherigen bereits dargelegt wurde (vgl. Punkt 3.2.2.), stellt die Sprache für
Claudio kein zwischenmenschliches Kommunikationsmedium dar. Claudios Sprache
ist – aufgrund der Spezifität seines Sprachgebrauchs  kein Medium, um
intersubjektive Beziehungen herzustellen, für Claudio hat „Sprache ihre personale
Funktion“326 verloren. Im Gegensatz zu seinen Mitmenschen, die „mit einfachen
Worten [sagen können], was nötig zum Weinen und Lachen“ (TT 448), öffnet die
Sprache Claudio keinen Weg zu seinen Mitmenschen. Da Claudio unfähig ist, Gefühle
zu empfinden, bleibt auch Claudios Sprache gefühllos. Sprache ist für ihn nur ein
Tausch von leeren Worten: „Es war ein Tausch von Schein und Worten leer“ (TT
457), der es nicht erlaubt, zwischenmenschliche Bindungen aufzubauen. Die
Gefühlsleere seiner Sprache ist Symptom seiner Gefühllosigkeit, und wird, über das
Medium der Sprache, als solches von seinen Mitmenschen wahrgenommen. Dies
bewirkt, dass Claudios Sprache dazu beiträgt, jeglichen Aufbau von
zwischenmenschlichen Beziehungen zu unterbinden. Claudios Sprache, „daraus nur
ich und ich nur widertönte“ (TT 457), ist Claudio kein Medium der dialogischen
Kommunikation, sondern nur Medium, um eigene Ideen auszudrücken. Sie ist
Zeichen seiner Ichbezogenheit, aufgrund welcher ihm das Tor zur Welt seiner
Mitmenschen verschlossen bleibt und er „mit blutigen Fingern“ an „sieben vernagelte
Pforten schlagen“ muss. Für den Protagonisten erfüllt die Sprache demnach keine
kommunikative Funktion mehr. Die Idee des Verlustes kommunikativer Funktion der
Sprache findet sich auch im Chandos-Brief wieder, allerdings ist die Idee hier deutlich
ausgeprägter und beinhaltet eine umfassendere sprachskeptische Komponente. Im
Chandos-Brief wird die Intersubjektivität der Sprache grundsätzlich in Frage gestellt

326
Seeba, Hinrich C.: Kritik des ästhetischen Menschen, S. 106.

126
und die Frage aufgeworfen, ob individuelle, subjektive Ereignisse oder Empfindungen
überhaupt mittels eines kollektiven, intersubjektiven Mediums, welches die Sprache
darstellt, vermittelt werden können. Festzuhalten bleibt demnach, dass die Sprache in
Der Tor und der Tod ihre intersubjektive Kommunikationsfunktion nicht erfüllt, da
Claudio die emotionale Komponente ausschließt. Im Chandos-Brief hingegen ist die
sprachskeptische Dimension weitaus umfangreicher. Sprache wird hier allgemein als
intersubjektives Mitteilungsmedium in Frage gestellt, da individuelle
Offenbarungserlebnisse, wie sie Chandos empfindet, durch herkömmliche sprachliche
Zeichen nicht mitteilbar sind, sondern nur in subjektive, intersubjektiv nicht
verständliche, Chiffren, beziehungsweise in eine neue, auf diesen Chiffren beruhenden
Sprache, gefasst werden können.

Zweitens zerstört Claudios Verstand, sein „überwacher Sinn“, mittels der Sprache jede
Unmittelbarkeit des Erlebens, wie der Ästhet beklagt:

Wenn ich von guten Gaben der Natur


Je eine Regung, einen Hauch erfuhr,
So nannte ihn mein überwacher Sinn,
Unfähig des Vergessens, grell beim Namen.
Und wie dann tausende Vergleiche kamen,
War das Vertrauen, war das Glück dahin. (TT 448)

Indem sein Verstand sprachliche Vergleiche hervorruft, kann das Erlebte nicht mehr
unmittelbar wahrgenommen werden. Das Erlebte erscheint gewissermaßen durch die
Sprache gefiltert, die dem Erlebten seine Unmittelbarkeit entzieht und die somit als
problematisch erlebt wird. Bamberg hebt in diesem Kontext hervor, dass Claudios
„‚Manie‘, für das Erlebte sofort Worte, ‚Namen‘ und ‚Vergleiche‘ parat zu haben“,
problematisch sei, da diese Worte ihm „jede Lebensunmittelbarkeit verwehren“ und
„eine Trennwand darstellen“ würden, „einen ‚Schleier‘, der sich zwischen ihm und
dem Leben gebildet ha[be]“327. Hofmannsthal selbst beklage zwei Jahre später in
ähnlicher Weise diesen durch die sprachliche Etikettierung bedingten Verlust der
Unmittelbarkeit, wenn er schreibe, die Worte hätten „sich vor die Dinge gestellt“.
Bamberg schließt daraus, dass Lebensglück nur dann entstehen könne, wenn „das
Leben sprachlich unangetastet, d.h. stumm bleib[e]“, wenn nicht bereits im Erleben
oder gar antizipativ eine „sprachliche Etikettierung für die Erlebnisse“ gefunden

327
Bamberg, Claudia: Hofmannsthal: Der Dichter und die Dinge, S. 220.

127
werde, die jegliche Unmittelbarkeit des Erlebens unweigerlich zerstöre.328 Ähnlich
sieht dies auch Grundmann, die die Lebensferne durch die Fremdreferentialität der
Zeichen begründet sieht. Die analytische Haltung Claudios bewirke ein Bedürfnis,
alles im Rahmen früherer wie späterer Zeichen zu sehen. Infolgedessen bedeutet nichts
mehr sich selbst, wie Claudio aussagt: „Mir war, als ob es nie sich selbst bedeute“. Die
„Vielfalt des Lebens“ werde von Claudio vielmehr entweder in die „artifizielle Starre
einer künstlich geformten Welt überführt“ oder aber die Bezeichnung werde „auf eine
Folge von Zeichen verschoben, so dass es niemals zu einer abschließenden Fixation
kommen kann.“ Wie auch Bamberg, so weist Grundmann nach, dass sprachlich
vermittelte Vergleiche an die Stelle der direkten Erfahrung treten und dass sich dieses
„Bedürfnis nach Analogisierung“ zwischen die Erfahrung und das erlebende Ich
schiebt, so dass jede Erfahrung nur noch mittelbar stattfinden kann: „‚Tausend
Vergleiche‘ treten an die Stelle der Erfahrung des eigenen, inneren Gefühlserlebnisses,
überlagern und ersetzen dieses.“329 Claudio erlebt die Sprache demnach dadurch als
problematisch, dass sie die Unmittelbarkeit des Erlebens zerstört und somit zur
Lebensferne des Ästheten beiträgt.

Wie im Chandos-Brief zugleich der Tod der literarischen Sprache reflektiert werde,
die Lösung aber nicht in einer Absage an die Dichtung bestehe, sondern die
Möglichkeit einer neuen Sprache aufgezeigt werde, so weise Hofmannsthal diese
Möglichkeit bereits in seinem Jugenddrama auf, so Matussek. Er ist der Ansicht, dass
„Claudios Schlussverse einen Hinweis darauf [geben], dass der ästhetische
Weltverlust nicht durch ein Entsagen der literarischen Sprache zu überwinden [sei],
sondern im Gegenteil durch die Steigerung ihrer fiktionalen Lebensferne.“
Hofmannsthals Jugendwerk weise ein „artifizielles Sprechen“, eine vom Bildungserbe
überladene Sprache, auf, welche verstärkt Zitate aus Prätexten, wie u. a. dem Faust, in
sich aufnehme. Durch dieses Übermaß an aufgenommenen Assoziationen sprenge
diese Sprache den „toten Gedächtnisraum des literarischen Kosmos von innen her
auf“ und setze so „die darin gebundenen Gefühlsenergien frei“. Das Fühlensübermaß,
das Claudio im Augenblick des Todes erfährt, sei so parallel zur Sprache zu sehen: In
dem Moment, in dem die Fülle der assoziationsüberladenen Sprache den, durch die

328
Bamberg, Claudia: Hofmannsthal: Der Dichter und die Dinge, S. 221.
329
Vgl. Grundmann, Heike: ‚Mein Leben zu erleben wie ein Buch‘, S. 84-85.

128
Assoziationen aus Prätexten gebildeten, Gedächtnisraum „spreng[e]“, gewinne die
Sprache an Leben. Parallel dazu ist Matussek der Meinung, der Ästhetizismus solle
nicht durch eine Rückkehr zum normalen Leben überwunden werden, sondern durch
das Hervorheben seiner Künstlichkeit.330

Auch in Der einsame Weg wird die zahlreiche Autoren der Jahrhundertwende
ereilende Sprachkrise ansatzweise angedeutet, dies zum einen durch Felix, der
mehrfach auf die Kommunikationsprobleme innerhalb der Familie Wegrat hinweist,
und zum anderen durch Sala. Felix beklagt so nach Johannas Verschwinden den
Kommunikationsverlust innerhalb der Familie: „Wer hat sie denn gekannt von uns
allen? Wer kümmert sich denn überhaupt um die andern?“ (EW 85). Und vor
Johannas Tod spricht er den Kommunikationsabbruch zwischen Johanna und sich
selbst an, als er sie fragt: „Johanna! Warum redest du denn nicht mehr so zu mir wie
sonst?“, (EW 56) und wenige Zeilen später nach der Ursache dieses
Kommunikationsabbruches fragt: „Warum kannst du nicht mehr so zu mir reden wie
damals, Johanna?“ (EW 56). Johanna verweist darauf, dass sie früher Kinder gewesen
wären: „Das ist lange her. Damals waren wir Kinder.“ (EW 56), und Sprechen daher
noch möglich gewesen sei. Zum einen wird in dieser Szene der
Kommunikationsabbruch zwischen den beiden Geschwistern deutlich, zum anderen
scheint die Sprache an sich offenbar nicht mehr die gleiche Funktion wie früher
erfüllen zu können, als die Sprache noch eine Kommunikation zwischen den
Geschwistern erlaubte. Die Worte haben in Johannas Augen ihre frühere Bedeutung
verloren: „Nein, jetzt bedeuten die Worte nicht mehr dasselbe wie früher.“ (EW 56)
Schmidt weist in diesem Kontext darauf hin, dass die Anfang des 20. Jahrhunderts
überall um sich greifende zwischenmenschliche Entfremdung bis in die
Kommunikationsformen hineinreiche und authentisches Sprechen unmöglich mache,
sodass sich die von Schnitzler diagnostizierte „Krise einer sich auflösenden

330
Vgl. Matussek, Peter: Intertextueller Totentanz, S. 208-213: Die Ähnlichkeit mit Goethes Faust sei
somit auch keine Peinlichkeit – als solche sei sie, so Matussek, von vielen Interpreten, u.a. von Peter
Szondi, empfunden worden, da diese sie bloß als sprachliches Oberflächenphänomen wahrgenommen
hätten –, sondern die Parallele existiere auch in der Tiefenstruktur der Konfliktsituation, der Illustration
eines Zwiespaltes. Hofmannsthal gelinge es so den Prätext dahingehend zu modifizieren, dass Claudio
gewissermaßen die Gespaltenheit eines Jünglings der Jahrhundertwende illustriere und somit ein
„‚Faust‘ des Fin de siècle“ sei, wie Mathias Meyer dies (Mayer, Mathias: Der Thor und der Tod, S.
1018) feststelle.

129
Gesellschaft“ ebenfalls auf Ebene der Sprache bemerkbar mache,331 die in Schnitzlers
Drama ihre kommunikative Funktion einbüßt. Sala selbst deutet dann im Verlauf des
Dramas an, dass es ihm, wie auch Lord Chandos, nicht gelungen sei, subjektive
Erlebnisse zu versprachlichen. Da Schnitzler diesen Aspekt des Dramas nicht weiter
ausbaut, bleibt offen, ob dies am Künstlertyp Sala liegt, der, den Worten der Figur
Irene Herms nach, als Dilettant einzuordnen ist, oder ob Salas Sprachkrise ähnlich
tiefgehend ist, wie jene die Lord Chandos verstummen lässt.

Die drei untersuchten Werke beinhalten demnach leise Andeutungen auf die sich vor
dem Hintergrund der Jahrhundertwende abzeichnende Sprachkrise, die die Autoren
des Jungen Wien erfassen wird und die im Brief des Lord Chandos an Francis Bacon
ihren essayistischen Höhepunkt findet. Hofmannsthal und Schnitzler streuen in ihre
Texte vielfältige sprachskeptische Hinweise ein, die verdeutlichen, dass Sprache auch
für sie in dem Sinne zu einem problematischen Phänomen werden wird, als sie die
Referentialität der Sprache sowie ihre kommunikative Funktion zunehmend skeptisch
betrachten. Die untersuchten Werke exponieren demnach nicht nur die
ästhetizismuskritischen Tendenzen der Autoren, sondern deuten zugleich ihre
sprachskeptische Einstellung voraus.

331
Vgl. Schmidt, Jochen: Arthur Schnitzler: Der einsame Weg, S. 118.

130
6. Schlussbemerkungen

Wenn Hofmannsthal in einem Brief an Edgar Karg von Bebenburg schreibt:

Man ist wie ein Gespenst bei hellem Tage, fremde Gedanken denken in einem, alte
künstliche Stimmungen leben in einem, man sieht die Dinge wie in einem Schleier,
wie fremd und ausgeschlossen geht man im Leben herum, nichts packt, nichts erfüllt
einen ganz.332,

so beklagt er jene durch den Ästhetizismus bedingte Lebensferne, welche auch die
Protagonisten der drei untersuchten Texte verspüren. Der Ästhetizismus, der den
Jünglingen der Jahrhundertwende zunächst als Ausweg aus den Wirren des Fin-de-
siècle mit seinem rapiden gesellschaftlichen Wandel erschien, erweist sich als Irrweg;
er kann die empfundene Lebensleere nicht kompensieren. Bezeichnend hierbei ist,
dass die auf Textebene dargestellten Erfahrungen der Protagonisten eng mit den
Erfahrungen Schnitzlers und Hofmannsthals verknüpft sind: Das Scheitern des
Kaufmannssohnes, Claudios und Salas spiegelt gleichsam die in den Autoren gereifte
Einsicht in die Grenzen des Ästhetizismus, der „Schleier“ über das wirkliche Leben
legt und so jegliche Unmittelbarkeit der Erfahrung verhindert.

Während der junge Hofmannsthal zuerst eine gewisse Affinität zum Ästhetizismus
aufweist, legen seine Briefwechsel der 1890er Jahre eine zunehmende Skepsis
gegenüber dem Ästhetizismus-Phänomen an den Tag. Hofmannsthal beklagt bereits
1891 in einem Brief an Schnitzler, dass die ästhetizistische Subjektivität der
Wahrnehmung ihm keine „eigenen Empfindungen“ mehr erlaube.333 Im 1895
verfassten Brief an Richard Beer-Hofmann, in welchem Hofmannsthal die
Möglichkeit der Konstruktion Potemkin’scher Dörfer evoziert, deutet er ebenso die
Fragilität der mittels der Imaginationskraft konstruierten Dörfer an. Indem er die
Dörfer in Bezug zu den „Traumwelt[en]“ der Romantiker setzt, an die der moderne
Mensch nicht mehr glauben kann, da er mit seinem „schweren K[opf]“ immer wieder

332
Vgl. Jacobs, Angelika: Den ,Geist der Nacht‘ sehen. Stimmungskunst in Hofmannsthals lyrischen
Dramen. HvH online, S. 19. Sie zitiert den Brief Hofmannsthals vom 30.5.1893 an Edgar Karg von
Bebenburg aus Hofmannsthal, Hugo von: Sämtliche Werke. Hrsg. von Rudolf Hirsch. Band 3.
Frankfurt am Main 1975, S. 483.
333
Zur Entwicklung von Hofmannsthals Sicht auf den Ästhetizismus, vgl. Kapitel IV, 1.5:
Hofmannsthal und der Ästhetizismus. In: Briese-Neumann, Gisa: Ästhet - Dilettant – Narziss, S. 294-
318. Briese-Neumann zitiert in diesem Zusammenhang auch den Brief Hofmannsthals an Arthur
Schnitzler vom 13. Juli 1891: „Ich habe gar keine eigenen Empfindungen, citiere fortwährend in
Gedanken mich selbst oder andere.“

131
durch das „dünne Medium“ bricht,334 stellt der Autor zugleich implizit die Stabilität
der eigenen Imaginationsgebilde in Frage. Auch Schnitzler sieht den Ästhetizismus
mit zunehmendem Alter kritisch; er spürt, dass der „Genuss des Augenblicks zur
unwiederholbaren Erinnerung verdämmert und von der Trauer des Gewesenseins
überschattet bleibt.“335 Die untersuchten Werke sind in diesem Sinne als Dokumente
einer Auseinandersetzung der Autoren des Jungen Wien mit dem Ästhetizismus zu
lesen, eine Ansicht, die auch Briese-Neumann vertritt: „Der Grad der
Auseinandersetzung der Repräsentanten der Wiener Moderne mit dem Ästhetizismus-
Phänomen scheint in seiner Literarisierung an dem problematischen Lebensbezug des
jeweiligen Protagonisten auf.“336

Die Struktur der Texte scheint hierbei in der Tradition der Beweisführung der
lateinischen Rhetorik zu stehen; ihr Aufbau ist gewissermaßen mit dem einer
persuasiven und zugleich reflexionsinitiierenden Rede zu vergleichen. Die drei Werke
greifen gleichsam die Redeteile der antiken Rhetorik  die „narratio“, die Schilderung
des Sachverhalts, die „argumentatio“, die Beweisführung, einschließlich der
„confutatio“, der Widerlegung der Argumente der drei Ästheten, und die „conclusio“,
die redeabschließende Schlussfolgerung  auf, um die ästhetizistische Lebensweise zu
verurteilen.

In den Texten werden so zunächst drei Ästheten vorgestellt, deren Lebensferne sich,
wie im Vorherigen dargelegt, auf mehreren Ebenen manifestiert: Die exponierten
Künstlergestalten leben mittels ererbter Reichtümer ein abgeschiedenes Leben und
haben sich weitgehend aus dem gesellschaftlichen Leben zurückgezogen. Sie sind
allesamt unfähig dazu, zwischenmenschliche Bindungen einzugehen: Weder der
Kaufmannssohn noch Claudio pflegen nach ihrem Rückzug zwischenmenschliche
Kontakte, sie stehen einzig mit ihren Dienern in Verbindung. Sala seinerseits pflegt

334
Hofmannsthal, Hugo von; Beer-Hofmann, Richard: Briefwechsel, S. 47: „Wir sind zu kritisch, um in
einer Traumwelt zu leben wie die Romantiker; mit unseren schweren Köpfen brechen wir immer durch
das dünne Medium wie schwere Reiter auf Moorboden.“ Vgl. auch Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne,
S. 80: Lorenz merkt an, dass die Passage den Eindruck vermittele, „dass der Briefeschreiber selbst nicht
so recht an die Solidität seiner künstlichen Welt“ glaube, „die er in die reale Welt hineinzuzimmern“
gedenke. Insofern lege die Art der Formulierung nahe, dass der Vorschlag, eine artifizielle Welt im
Bewusstsein ihrer Scheinhaftigkeit zu errichten und zugleich an sie zu glauben, ebenso wenig eine
Lösung für das Lebensproblem der Generation des Fin de siècle biete wie die Traumwelten der
Romantiker. Dies müsse aber nicht notwendig als Selbstbetrug gewertet werden, sondern die Texte
seien als „Erprobung[en] von Denkhaltungen“ zu lesen.
335
Doppler, Alfred: „Der Ästhet als Bösewicht?“, S. 5.
336
Vgl. Briese-Neumann, Gisa: Ästhet - Dilettant – Narziss, S. 259.

132
zwar eine Beziehung zu Johanna, diese ist jedoch mitnichten als emotionsgebundene,
ebenbürtige Partnerschaft anzusehen, sondern spiegelt lediglich die Egozentrik des
Literaten. Die Protagonisten ziehen sich aufgrund dieser Lebensferne in auf Kunst und
Vergangenheit aufgebaute Ersatzwelten zurück, die ihre Lebensleere kompensieren
sollen. Der Rückzug des Kaufmannssohnes ist hierbei ein doppelter, er zieht sich
zunächst aus der Gesellschaft der Stadt zurück, um alsdann völlig abgeschieden in
seinem Landhaus zu leben und sich hier der Betrachtung des Gartens sowie der
Lektüre der Lebensgeschichte seines imaginierten Alter Egos Alexanders des Großen
zu widmen. Ähnliche Rückzüge nehmen Claudio, der sich in ein mit
Kunstgegenständen und Altertümern gefülltes Studierzimmer eines abseits der Stadt
gelegenen Landhauses zurückzieht, sowie Stephan von Sala, der sich am Rande der
Stadt Wien einen an der Antike orientierten Palast erbauen lässt, vor. Alle drei
Protagonisten geben sich hier ganz der für den Ästheten typischen subjektivierten
Kontemplation von Kunstgegenständen hin, mittels welcher sie die verloren
gegangene „Einheit von Ich und Welt“337 wieder herstellen wollen.

In einem anschließenden Schritt der „argumentatio“ wird die Lebensführung der


Protagonisten zunächst angeklagt, um alsdann Schritt für Schritt als defizitär
demontiert zu werden. Die Autoren greifen dabei auf unterschiedliche Verfahren
zurück, wobei allen drei Texten gemeinsam ist, dass die in der „narratio“ exponierte
Lebensführung als negative Kontrastfolie herangezogen wird, auf Grundlage derer der
Rezipient das „wünschenswert Andere“338 imaginieren kann. Im Märchen der 672.
Nacht wird die defizitäre Lebensführung des Protagonisten dadurch entlarvt, dass die
ästhetizistischen Strategien des Kaufmannssohnes in Konfrontation mit dem
wirklichen Leben konsequent versagen. Das beharrliche Beibehalten dieser Strategien
in der realen Welt setzt den Kaufmannssohn einer raum- und zeitauflösenden
Treibjagd aus, an deren Ende er dem unästhetisierbaren Tod unmittelbar
gegenübersteht. „Der Irrweg in die Stadt manifestiert in einer Kontrafaktur des wahren
Geschehens die Unlebbarkeit der Lebensform des Ästheten. Was den Kaufmannssohn
ins Irre, ins Tückische und ins Grauenhafte treibt, hat die eigentliche Voraussetzung in
seiner inneren Lähmung und Realitätsferne.“339, so Mauser. Im lyrischen Einakter Der

337
Briese-Neumann, Gisa: Ästhet - Dilettant – Narziss, S. 251.
338
Vgl auch: Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 161-162.
339
Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 170.

133
Tor und der Tod wird die „argumentio“ von den vier Anklagefiguren vorgenommen,
die Claudios Defizite  seine Gefühls- und Bindungslosigkeit und seinen
rücksichtslosen Egoismus  schonungslos aufdecken. Im dritten Text, dem Drama Der
einsame Weg, erfolgt die „argumentatio“ rein implizit: Auf Grundlage der als Beispiel
ex negativo exponierten defizitären Lebensweise Claudios kann der Rezipient die
notwendigen Schlüsse ziehen und  gleichsam gemeinsam mit Schnitzler  zu einem
Urteil über die Existenz des Künstlers gelangen. Wird der Ästhetizismus im Märchen
der 672. Nacht noch konsequent vom Protagonisten verteidigt, erfolgt in den beiden
anderen Texten eine Reflexion seitens der Ästheten, die zu einer zumindest partiellen
Einsicht Claudios und Salas in die Grenzen des Ästhetizismus mündet.

Am Ende der jeweiligen Beweisführung wird mit dem Tod der Protagonisten zugleich
die „conclusio“ der Beweisführung gezogen und das Urteil über die ästhetizistische
Existenzweise gesprochen. Wenn Schnitzler wie Hofmannsthal ihre jeweiligen
Protagonisten scheitern lassen und sie den ästhetizistischen Lebensweg als Weg in den
Tod inszenieren, so drücken die Autoren hiermit implizit eine Kritik am Ästhetizismus
aus. Sie stellen eine Lebensführung in Frage, die es  trotz ihres initial
vielversprechenden Anscheins  nicht erlaubt hat, die von der Generation der
Jungwiener empfundene Lebensleere zu kompensieren, da die auf Kunst und
Vergangenheit aufgebauten Ersatzwelten, die ebenjene kompensatorische Funktion
erfüllen sollten, sich hierzu letztendlich als ungeeignet erwiesen haben.
Hofmannsthals formuliert diese Schlussfolgerung präzise, wenn er in Bezug auf das
Stichwort Ästhetizismus notiert: „Große Anfänge, jetzige Depravation“, und die durch
den Ästhetizismus bedingte innere Leere beklagt.340 Die einseitige Hingabe an die
Kunst erlaubt es nicht, die „Bindung an ‚das Leben‘ als unmittelbare, ungebrochene
und nicht entfremdete Art des Daseins“ wiederherzustellen,341 wie Hofmannsthal in
seinem Vortrag Poesie und Leben festhält: „Es führt von der Poesie kein direkter Weg
ins Leben, aus dem Leben keiner in die Poesie. Das Wort als Träger eines
Lebensinhaltes und das traumhafte Bruderwort, welches in einem Gedicht stehen

340
Hofmannsthal, Hugo von: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Reden und Aufsätze. Band 1, S.
404. Vgl. auch Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 164. Vgl. auch Streim, Gregor: Das
„Leben“ in der Kunst: Untersuchungen zur Ästhetik des frühen Hofmannsthal. Würzburg 1996, S. 113-
114.
341
Vgl. Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 79.

134
kann, streben auseinander und schweben fremd aneinander vorüber, wie die beiden
Eimer eines Brunnens“342.

Die Werke bieten somit Raum für einen literarischen Diskurs über die Möglichkeiten
und Grenzen einer Lebensführung, die es erlauben soll, das im Fin-de-siècle
empfundene Gefühl des Gespaltenseins sowie die Erfahrung „historischer und
individualbiographischer Diskontinuität“343 aufzuheben. Die Texte sind insofern
zugleich „Diagnos[en] einer Epochenkrankheit“ und können in Lorenz‘ Sinne als
„Erprobung[en] von Denkhaltungen“, als „Versuchsanordnungen“,344 angesehen
werden, in welchen der Ästhetizismus auf seine kompensatorische Eignungsfunktion
hin geprüft wird. Durch den unausweichlichen Tod der drei Protagonisten geraten die
Werke darüber hinaus aber zum Urteil über die ästhetizistische Lebensweise, die sich
 auch für die Autoren selbst  letztendlich als trügerischer Ausweg aus den Wirren
der Jahrhundertwende erweist. Doppler kommt so zum Schluss, dass die
Figurenkonstellation des Dramas Der einsame Weg „Bewusstseinspositionen“ des
Autors spiegele, so schreibe Schnitzler in einem Brief an Brahm:

Im Übrigen bin ich sehr dabei, mit dem Herzen sehr und beinah noch mehr …. mit
dem Verstande, und rede mir manches von der Seele, insbesondere viel gegen mich.
Ich verurteile mich gewissermaßen zum Tode  um mich außerhalb des Stückes umso
sicherer begnadigen zu können.345

Auch Hofmannsthal gestaltet im fiktiven Raum des Märchens der 672. Nacht sowie
des lyrischen Dramas Der Tor und der Tod die Möglichkeiten des Ästhetizismus
diskursiv aus und kommt zum Schluss, dass dieser in „eine Sackgasse“346 führt. Die
drei untersuchten Werke sind demnach als Produkt einer Reflexion ihrer Autoren über
die Grenzen des Ästhetizismus zu sehen, sie bieten Raum für einen Diskurs über eine
Form der Lebensbewältigung, die sich letztlich als Irrweg herausstellt und
infolgedessen von den Autoren verurteilt wird.

342
Hugo von Hofmannsthal: Poesie und Leben. In: Ders.: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden.
Reden und Aufsätze. Band 1, S. 15-16.
343
Vgl. Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 9.
344
Vgl. Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 80: Im gleichen Maße erlaubt der fiktive Raum, die
bereits im D‘Annunzio-Aufsatz angedeuteten, aus der ästhetizistischen Wirklichkeitswahrnehmung
resultierenden, Haltungen der Indifferenz sowie der Willenslähmung des Ästheten kritisch zu
beleuchten.
345
Vgl. Doppler, Alfred: „Der Ästhet als Bösewicht?“, S. 4.
346
So schreibt Hofmannsthal 1896 an Hermann Bahr. Zitiert nach Streim, Gregor: Das „Leben“ in der
Kunst, S. 9.

135
Verurteilen die Autoren aber mit ihren Texten ebenjene Lebensweise, die ihnen selbst
zunächst als Ausweg aus dem unlebbar gewordenen Jahrhundert erschien, so stellt
sich zwangsläufig die Frage, welchen alternativen Weg die Autoren im Folgenden
einschlagen werden, um ihren Platz in einer sich verändernden Lebenswirklichkeit zu
finden. Das Märchen der 672. Nacht  und in gleichem Maße der thematisch
verwandte Einakter Hofmannsthals Der Tor und der Tod sowie Schnitzlers Drama
Der einsame Weg  „[werfen] so die Frage auf, wie es gelingen kann, sich aus einer
Daseinsform zu lösen, die sich zu sehr im Genuss des Schönen eingerichtet hat, sowie
die Frage, ob es einen Ausweg aus der Kunst in die aktive Teilnahme am Leben
gibt“.347 In der Forschung wird in diesem Zusammenhang allgemein die Position
vertreten, dass der Ausweg aus dem reinen Ästhetizismus, der sich als unzulänglich
erwiesen hat, in der Reintegration von Ästhetizismus und Sozialem zu sehen sei.
Kunst und Leben sollen wieder zusammengeführt werden. Aus Sicht der Autoren
muss die ästhetische Lebenskomponente notwendig um eine ethische ergänzt werden,
damit das Leben in seiner Totalität erfahren und so die eigene Lebensleere
kompensiert werden kann. Hofmannsthal zeigt diesen Ausweg aus dem
ästhetizistischen Dilemma in seinem Essay über den Dichter D’Annunzio auf, indem
er die Forderung: „Il faut glisser la vie!“, erhebt und ausführt, dass nur der, der
„beides versteht“, es auch „vereinen [kann]“348. Eine einseitig ästhetizistische
Lebensausrichtung ist zum Scheitern verurteilt, wie es das Scheitern der Protagonisten
eindrucksvoll vorführt.349 Auch Schnitzler erkennt im Alter, „dass man im Leben nicht
nur für sich, sondern auch für andere Menschen verantwortlich ist“, so dass das
Ethische immer stärker neben das Ästhetische tritt und er Kritik an der rein

347
Vgl. Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 163.
348
Vgl. Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 163: Im Märchen der 672. Nacht, welches
ein verfehltes Leben, das unvermeidbar zum Tod führe, beschreibe, werde dem Leser so die
Unlebbarkeit des Ästhetentums vor Augen geführt. Das Märchen stelle somit, so Hofmannsthal, „einen
ins Märchen gehobenen Gerichtstag des Ästhetizismus“ (Zitiert nach Barber, Dieter: Das Märchen der
672. Nacht, S. 1007) dar. Mauser präzisiert anschließend, dass Hofmannsthal die Lust am Schönen sehr
wohl nachvollziehen könne, dass er aber der Überzeugung sei, dass zugleich das „Sittliche“ beachtet
werden müsse. Der Autor sei, als Künstler, fasziniert vom Ästhetentum, als Moralist aber stehe er dem
Ästhetizismus skeptisch gegenüber.
349
Vgl. Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 167. Laut Mauser wird im Märchen so das
Ästhetentum an der Vorstellung eines umfassenderen Lebensverständnisses gemessen. Vgl. auch:
Steinlein, Rüdiger: Gefährliche „Passagen“, S. 60. Vgl. auch: Frye, Lawrence O.: Das Märchen der
672. Nacht von Hofmannsthal, S. 551. Der Tod des Kaufmannssohnes sei, so Steinlein, insofern als
unweigerliche Konsequenz eines Menschen, der „keinen Übergang in ein sozial verantwortliches,
aktives Leben“ finde und der den „sozialen Weg“ (Mauser) nicht einschlagen könne, zu sehen, er sei
die „Vergeltung für ein Leben, das nicht schwer genug gefunden wurde“ (Frye). .

136
ästhetizistischen Existenz übt. Statt der „Indifferenz des Ästhetischen“ wählt er fortan
das „Wollen“, „das der ethischen Haltung entspricht“350.

Das Scheitern eröffnet demzufolge zugleich die Perspektive eines poetologischen


Neubeginns. Insofern seien die drei Texte  nach einem erfolgreichen „Prozess“ der
Autoren gegen sich selbst  auch als eine Befreiung von der Problematik ihres
Frühwerks zu sehen. Der Dichter solle nicht mehr an der strikten Trennung zwischen
Kunstwelt und Leben festhalten, sondern vielmehr zum Vermittler zwischen beiden
Welten werden und im Akt des literarischen Produzierens zugleich sich selbst und
seinem Publikum eine Teilhabe an beiden Welten erlauben.351

350
Vgl. Doppler, Alfred: „Der Ästhet als Bösewicht?“, S. 5.
351
Vgl. Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 26, S. 86-89: Hofmannsthal wie Schnitzler würden sich
infolgedessen, so Lorenz, den eher öffentlichkeitsorientierten Formen des Schreibens zuwenden;
Leopold von Andrian verabschiede sich aus dem literarischen Leben in die Kulturpolitik und in den
diplomatischen Dienst, Hermann Bahr wende sich dem Katholizismus zu, Beer-Hofmann den
geschichtlich-religiösen Wurzeln des Judentums. Schnitzler dagegen habe von Anfang an eher als
Diagnostiker fungiert, so Lorenz. Er habe die Position des Arztes vertreten, der die „menschlichen
Seelendispositionen des Fin de siècle“ (Saße, Günter: Vorwort, S. 11.) untersucht habe und habe sich
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137
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