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Thomas Forrer und Angelika Linke (Hg.

Wo ist Kultur?
Perspektiven der Kulturanalyse

,rdlf vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich


Inhalt

7 Vorwort

PHILIPP SARASIN
15 Fast Forward.
Kulturtheorien und Kulturkonzepte im Überblick

HELMUT LETHEN
37 »Schmerz hat keinerlei Bedeutung« (Paul Valery)
Oder: Gibt es Ereignisse, die den Kulturwissenschaften den
Atem verschlagen?

BARBARA KöNIG
57 Haben Tiere eine Kultur - ist unsere Kultur »tierisch«?
Zum evolutionären Ort von Kultur

GESINE KRÜGER
73 Das koloniale Tier
Natur - Kultur - Geschichte

JAKOB TANNER
95 Zwischen Spekulationsblase und Crash:
Die Börse als kultureller Ort

INGRID TüMKOWIAK
127 Lili Marleen auf Latein
Umberto Eco und das Populäre

ANDREA KRAUß
147 Topos und Textstelle
Zur literarischen Verfertigung von Kultur

5
ANGELIKA LINKE
169 Unauffällig, aber unausweichlich
Alltagssprache als Ort von Kultur

PHILIP URSPRUNG
193 Miniaturtheorien:
Bilder von Peter Zumthors Architektur

211 Zu den Beiträgerinnen und Beiträgern

6
e. in: ämtliche
1 lcxmnari. \1ünchen

• .:: . Eine Geschichte

Chi ago 1992.

"G \"OS: Der Aufruf


,aganda im Ersten

· .- · de la morale,
o,, wtechisme du Helmut Lethen

den. Frankfurt »Schmerz hat keinerlei Bedeutung« (Paul Valery)


Oder: Gibt es Ereignisse, die den
Kulturwissenschaften den Atem verschlagen?

In einem Nachtrag zu seinem Buch Einbahnstraße aus dem Jahre 1928


schreibt Walter Benjamin:

» Wäre nicht jede Krankheit heilbar, die sich auf einem genügend breiten, tiefen
Strome des Erzählens verflössen ließe? Es fällt darauf ein noch helleres Licht,
wenn man bedenkt, daß Schmerz sich nicht erzählen läßt, gewissermaßen als
Damm die Lebenssäfte absperrt, die als Nebenflüsse in den großen epischen Strom
des Daseins - des erzählbaren Lebens - münden wollen. « (Benjamin 2009, 208)

» Wenn man bedenkt, daß Schmerz sich nicht erzählen läßt« - diese
Beobachtung von Benjamin führt uns ins Zentrum einer Kontroverse
in den Kulturwissenschaften. Ich betrachte sie als einen Einwurf gegen
eine Strömung in den deutschen Kulturwissenschaften, die sich in den
letzten Jahrzehnten unter der Parole »Auch Schmerz ist eine kulturelle
Konstruktion!« durchgesetzt zu haben schien. Inzwischen gibt es einen
aufschlussreichen Richtungskampf, an dem Mediziner, Neurowissen­
schaftler, kognitive Psychologen, Soziologen, Literaturwissenschaftler
und Philosophen beteiligt sind, um die »Evidenz« des Schmerzes zu
ergründen. Die extremen Pole dieser Auseinandersetzung könnte man
folgendermaßen bestimmen:

1. Schmerz durchschlägt alle Zeichensysteme. Er ist von keiner kultu­


rellen Grammatik geprägt. Schmerz ist ein Indiz des vor-diskursiven
Körpers. Im Schmerz legt der Körper die Raster der Medialität ab.

37
Helmut Lechen

2. Die kulturalistische Reaktion ist ebenso entschieden. Sie lautet: Schon


die »schiere« Empfindung des Schmerzes ist kulturell gelernt, seine
Äußerungsformen stammen aus einem alten Archiv rhetorischer, bild­
nerischer, körpersprachlicher oder akustischer Leidensformeln. Die
Tatsache, dass der Ausdruck des Schmerzes gemeinhin als unmittel­
bares Signal des Körpers, das nicht durch Medien kodiert ist, verstan­
den wird, ist ein Effekt, der von Kunstgriffen der Medien ausgelöst
wird.

Es ist deutlich, dass hier offenbar über verschiedene Phänomene geurteilt


wird. Einmal über das physiologisch bedingte Empfinden, ein andermal
über Performanz- und Mitteilungsformen des Schmerzes. Insofern könnte
man beide Positionen nebeneinander bestehen lassen - wenn klar wäre,
in welcher Verbindung sich Kommunikationsformen des Schmerzes, das
Ereignis in der Erfahrungswelt des Betroffenen, physiologische Ursachen
und Darstellungsformen zueinander befinden und wie sich Verhaltens­
lehren des Schmerzes (stoische, naturwissenschaftliche, christliche u.a.) in
verschiedenen historischen und sozialen Konstellationen verändern. Die
Konzentration_ auf den Schmerz wirft aber auch die Frage auf, warum -
gemessen an dem großen Spektrum der Empfindungen - gerade dieser -
und nicht Hunger, Durst oder Lust - als heiß umstrittener Indikator des
»Realen« gilt und das Nachdenken über »Evidenz« um ihn kreist. 1

1. Die kulturwissenschaftliche Wende

1991 erscheint das Buch Culture of Pain von David B. Morris, ehemals
Professor für Englische Literatur an der Universität von lowa; 2003 das
Buch Schmerz des Straßburger Soziologen David Le Breton. Das 4. Kapitel
in Le Bretons Buch trägt den Titel »Die soziale Konstruktion des Schmer­
zes«. Beide Bücher werfen die Frage auf, inwiefern Äußerungsformen
des Schmerzes sozial konstruiert sind. Die Antwort der beiden Autoren
besteht aus Begründungen, die ich vereinfacht wiedergebe:
- Schmerz kann nicht als rein physiologische Reaktion definiert wer­
den. Was ein Individuum empfindet, ist kein direkter »Bewusstseins­
abdruck« der Verletzung. Schmerz verhält sich nicht proportional zur
Schwere einer Verletzung. Die menschliche Physiologie funktioniert
niemals im »luftleeren Raum des Biologischen«. Sie ist vielmehr vom

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Gibt es Ereignisse, die den Kulturwissenschaften den Atem verschlagen'

· lau er: Schon Raster sozialer und kultureller Symbole gezeichnet. (Le Breton 2003)
!II _elernr, seine (Das leuchtet ein, wirft jedoch die Frage auf, warum ein Raum jenseits
ie.:o - her, bild­ symbolischer Konstruktionen für den Kulturalisten gleich »luftleer«
- ·onneln. Die ist.)
· al unmitrel­ - In jeder Schmerzempfindung durchläuft ein physiologischer Impuls
, \·erstan­ eine soziale, kulturelle und psychologische Filterung. Zwischen dem
Wien au gelöst Auslöser und der Empfindung befindet sich das Individuum in seiner
ganzen Dichte im Sinnsystem seiner Kultur. Der Schmerz hat eine
individuelle Färbung in jeder Lebensgeschichte.
- Jede Gesellschaft hat den Schmerz in ihr Weltbild integriert und ihm
einen Sinn zugesprochen, der ihm seine unmittelbare Nacktheit nimmt.
-- iem könnte Die kollektive Bedeutung, die dem Schmerz zugesprochen, und die
J,"eD.Il ar wäre, ritualisierten Bekundungen, durch die er sich den anderen mitteilt,
erze , das sind zugleich symbolische Abwehrmechanismen, auf die der Mensch
Cr achen zurückgreifen kann, um sein Leiden unter Kontrolle zu bekommen.
(Morris 1996, 121)
(Das leuchtet ein, wirft jedoch die Frage auf, in welchen Medien der
ändern. Die Schmerz in seiner »unmittelbaren Nacktheit« zu erfassen wäre.)
-
a . warum- Beide Wissenschaftler stützen ihre Überlegungen auf zahlreiche Fall­
geschichten aus Schmerzkliniken.

Ich möchte Sie auf eine kurze Reise durch die Literatur des Schmerzes
mitnehmen, die ich Ende des 19.Jahrhunderts beginnen lasse. Es geht mir
um eine Überprüfung einer These von Elaine Scarry, die in ihrem Buch
The Body in Pain (198 5) ein umstrittenes Fazit ihrer Untersuchung von
Folterprotokollen zog: Schmerz sei ein »sprachresistenter Gegenstand«.
orris. ehem als Es geht mir um einen Satz, den Paul Valery schon Ende des 19.Jahr­
lowa: _ 03 das hunderts in seine Cahiers schrieb: »Schmerz hat keinerlei Bedeutung«
(1987-1993, Bd. 6, 591). Das ist ein Satz, der den theologisch kodierten
hmer­ Schmerzdiskurs, die christliche »Heils-Maschinerie« (Friedrich Nietzsche)
&erun formen mehrerer Jahrhunderte umstürzt. Er bezeichnet den vorläufigen Endpunkt
1e1 en Autoren eines Prozesses, in dem die theologischen Zurechtlegungen des Schmerzes
abgeräumt wurden. Immer hatte es schon Geheimnisträger des Schmerzes
finierr wer- gegeben, die ihr Gefühl nicht preisgegeben hatten. Das hatte ihrem Stoizis­
Bewu rseins­ mus entsprochen oder war eine Herrschaftstechnik oder eine Verhaltens­
'O{Jortional zur technik gewesen, mit dem man am Herrschaftswissen zu partizipieren
· iunktioniert dachte. Im Laufe des 19.Jahrhunderts ändert sich der weltanschauliche
: rielmehr vom Rahmen, eine neue Verhaltenslehre des Schmerzes wird wissenschaftlich

39
Helmur Lechen

legitimiert. Die Leitdisziplin der Physiologie hat den Schmerz allmählich


aus seiner Überwölbung durch christliche oder stoische Sinngebung ge­
löst. Erst jetzt kann der Schmerz auf ein rein physiologisches Moment
reduziert werden, auf einen »elektrischen Impuls«, der durch die Nerven
schießt, und es kursieren die ersten Erzählungen, in denen der Schmerz
nur eines bedeutet, nämlich: Nichts. (Morris 1996, 390)
Das soll in einem ersten Schritt an Paul Valerys Erzählung Monsieur
Teste von 1893 erläutert werden.

II. Grau in Grau

Paul Valery lässt sich auf den zum Ende des 19.Jahrhunderts kursierenden
Nervendiskurs der Ärzte ein, wenn er sich für das Nervensystem eine
besondere Schaltung erbittet, die es »mit Sicherungen« versieht, »die bei
zu heftiger Erregung, und wenn der Wille es wünschte, die Verbindungen
zwischen den Zentren und den Auslösern der Emotionen unterbrechen
und die Störung auf die Nulleitung umlenken« (Valery 1987-1993, Bd. 1,
rr6 f.).
Diese Lösung entwirft er 1893 für seine Versuchsperson Edmont Teste.
Wir konzentrieren uns im Folgenden auf den Kontext der Schmerz­
erfahrung dieser Gestalt.
Teste wohnt ärmlich. Wir finden ihn in einem kleinen, notdürftig
möblierten Appartement. »In dem grünlichen, nach Minze riechenden
Zimmer war rings um die Kerze bloß das trostlos� abstrakte Mobiliar -
Bett, Uhr, Spiegelschrank, zwei Armstühle-, als seien es Vernunftwesen«,
kurz: eine »frostige Kammer«, rein und distinkt, ein kartesianisches Logis
(Valery 1992, 315 f.).
Monsieur Teste geht davon aus, dass die »Intensität der Gefühle« sich
nicht zum Austausch zwischen den Menschen eignet. Spontane Äuße­
rungen der Leidenschaften adeln den Menschen nicht. Sie demütigen ihn
vielmehr, machen ihn zu einem soziologisch erfassbaren Querschnittstyp.
Profilieren kann man sich nur über den Scharfsinn des grauen Intellekts
(ebd., 364). Teste ist ein Typ, der die Verhaltens/ehren der Kälte des
20.Jahrhunderts vorweg zu nehmen scheint. Er betrachtet die Mitwelt mit
einem »Trennungsblick« und strahlt »extreme Kälte« aus. In schlimmer
Lage klagt er nicht, sondern zählt stattdessen die »Knöpfe an der Jacke
des Henkers« (ebd., 366).
Gibt es Ereignisse, die den Kulturwissenschaften den Atem verschlagen?

allmählich Erlaubt dieser Mustertyp der reflexiven »Kälte« Schwächen? Von Zeit
.)ffiil ebung ge­ zu Zeit gestattet er sich Liebe, die, wie Madame Teste berichtet, für ihn
:rsch _ foment darin bestehe, »miteinander tierisch-töricht sein zu können - mit jeder
h die :\"erven Freiheit zu Dummheiten und Bestialität« (ebd., 338).
er hmerz Teste liegt vor allem daran, die Souveränität des Denkens durch Nichts
zu Fall bringen zu lassen. Man ahnt, das böse Ende naht. Am Abend
!u.ng _\1onsieur nach einem Theaterbesuch schweigt Monsieur Teste plötzlich: »Er litt
Schmerzen « . Nun dürfen wir Monsieur Teste beim Zubettgehn beobach­
ten: »Er zog sich in aller Ruhe aus. Sein hagerer Körper badete sich in
Betttüchern und war wie tot. Dann dreht er sich und tauchte tiefer in
das zu kurze Bett. « Teste hebt erst einmal zu einem Monolog über seine
Körperwahrnehmung als Kind an, klammert sich an die Behauptung,
ierenden sich auch physisch »in- und auswendig zu kennen « , erklärt seine Liebe
:'l"elb,- em eine zum vertrauten Leinentuch, das ihn umschmiege »wie Sand « , wenn er
sich tot stelle. Bis - »Ah.« Seine Rede stockt, als ob er plötzlich einen
indungen »Materialfehler« in dem ihn umhüllenden Laken spüre. Valery markiert
ior.erbrechen die Unterbrechungen im Text mit drei Punkten ... Es sei »nichts Beson­
--1993, Bd. 1, deres « meint der Held ..., höchstens ein Zufall, der nicht länger als eine
Zehntelsekunde ... dauere, nichts Nachhaltiges also (ebd., 316f.).
Die Wiederholungen der Auslassungspunkte, die Einbrüche des po­
chenden Schmerzes markieren, geben dem Text einen gewissen Takt­
schlag. Mehr nicht. Drei Punkte als Zeichen der Ausdrucksleere. - Schlaf
no dürftig wird ersehnt.
GZe - henden Seit dem ausgehenden 18.Jahrhundert hatte sich der Einsatz von Aus­
_ 1obiliar - lassungspunkten in der Literatur eingebürgert, um zugänglich zu machen,
anm,·e en « , was sich der direkten Vermittlung entzieht (Abbt 2012). In dieser Tradi­
iiaaische Logis tion steht auch Valerys Text. »Deutlich übernehmen die Punktspuren an
dieser Stelle eine Katalysatorfunktion, durch welche dem Lesenden eine
Geiühle« sich Differenz zwischen Rationalität und Emotionalität, zwischen Sprechen
cane Äuße­ und Erleben offenbar gemacht wird. Während bereits die prädikative
üri en ihn Sprache eine Differenz zwischen Urteil und Verhalten markiert, zeigen die
cersch.n.i mryp. Punktspuren in der Schrift Wirkungen des Erlebens des Protagonisten an,
n lnrellekts die nicht in Bedeutung übersetzt werden können. « (Ebd., 142)2 Es sind
der ,älte des also durchaus Zeichen. Aber wohin und auf was zeigen sie?
-e. füwelr mit Die Unterbrechungen des Textes öffnen jedenfalls kein Fenster zu exis­
1-ln Wimmer tenziellen Abgründen oder verdunkelten Geschichten der Psyche. Weder
an der Jacke Psychoanalytiker noch andere Schmerztherapeuten können frohlocken.
» Wenn der Schmerz plötzlich einbricht, erhellt er keine Vergangenheit:

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Helmut Lerhen

er illuminiert nur die gegenwärtigen Körperzonen. Er ruft lokalen Wide r ­


hall hervor« und reduziert »das Bewußtsein auf eine kurze Gegenwart,
auf einen zusammengeschnurrten, seines künftigen Horizonts beraubten
Augenblick«.
Die beiden letzten Sätze sind Schlussfolgerungen, die Jean Starobinski
(1987, ur) in seinem Kommentar zu Monsieur Teste in Anlehnung an
Reflexionen von Valery zieht. Er formuliert damit die Quintessenz des
Abends mit Monsieur Teste, und er schließt sich Valerys Erkenntnis an:
»Die Intensität des Schmerzes« lasse sich »umgekehrt an der Freiheit
bemessen, die sie einem läßt«, ihn auszudrücken (ebd.). Er ermahnt uns,
mit Valery die Grenzen der Psychoanalyse zu akzeptieren. Und er zitiert
Freud, der, nachdem ihm ein Furunkel aufgeschnitten worden war, an
Fließ geschrieben habe, das Empfindungsmaterial dieses Schmerzes könne
erzählend nicht bewältigt werden: »es tat zu weh«.
Der Schmerz findet in dieser Geschichte keinen Ausdruck - außer
den drei Auslassungspunkten, die auf eine Wirklichkeit jenseits der Zei­
chenwelt zeigen. Er durchkreuzt sprachlos den Anspruch seines Helden,
»Herr seiner Gedanken zu sein«. Extremer physischer Schmerz wird- so
die Logik des Textes - als lokales Körperereignis vom Psychischen abge­
spalten. Im Gegensatz zur Neurose bildet dieser physische Schmerz beim
besten Willen zur Sinngebung keine erzählerische Ausgestaltung. Solch
ein Schmerz hat, Valery zufolge, »keinerlei Bedeutung « .

»Schmerz hat keinerlei Bedeutung. « Der lapidare Satz bezeichnet den


historischen Endpunkt einer Entwicklung, in der der Schmerz aus seinen
traditionellen kulturellen Codierungen gelöst wurde. Schmerz erscheint
zum ersten Mal als ein bedeutungsresistenter Gegenstand (Morris 1996,
r 3 ). Die Möglichkeit, einen solchen Satz zu formulieren, setzte, wie
gesagt, gewaltige Abräumarbeiten voraus. Physiologen und Anatomen
haben im 19.Jahrhundert scheinbar endgültig die christliche Semantik aus
dem kulturellen Körper entfernt (ebd.). Valerys Satz befindet sich in der
Nachbarschaft von Nietzsches Diktum »Gott ist tot«. Mit diesen Sätzen
legt sich die Kälte des Weltalls auf unsere Knochen. Valery spricht einen
unerträglichen Gedanken aus oder vielmehr einen Gedanken, der seine
Unerträglichkeit zum Indiz der Wahrheit macht.
Jetzt bleibt vom Schmerz nichts als ein stumpfer Widerstand, den
das Bewusstsein, wie Valery schreibt, einer »lokalen Disposition des
Körpers entgegensetzt« (zit. nach Starobinski 1987, 98). Henri Bergsan

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Gibt es Ereignisse, die den Kulturwissenschaften den Atem verschlagen?

· lo -alen Wider­ wird beinahe zeitgleich in seiner Schrift Matiere et Memoire von 1896 zu
-;:ze Ge enwart, einer ähnlich dynamischen Beurteilung des Schmerzes kommen, wenn er
llon beraubten den Schmerz als »motorische Anstrengung in einem sensorischen Nerv«
bezeichnet, als ohnmächtige, lokale Anstrengung eines aus der solida­
ean arobinski rischen Bewegung des Gesamtkörpers sich isolierenden Teils (zit. nach:
_-\.n.lehnung an Schmitz 1985, 485).
Quin e enz des An dem hier anhand einer literarischen Szene skizzierten, spärlich
• Er -en.nrnis an: beleuchteten Nullpunkt der Sinngebung in den 8oer- und 9oer-Jahren des
an er Freiheit 19.Jahrhunderts werden die Weichen für verschiedene Schmerzbearbei­
errnahnr uns, tungen gestellt, die im 20.Jahrhundert dominieren werden.
l:nd er zitiert Ich selbst habe eine Zeitlang dazu geneigt, in Valerys Satz von der Be­
o eo war, an deutungslosigkeit des Schmerzes einen Befreiungsakt erkennen zu wollen.
erze könne Ich stelle mir aber jetzt aufgrund der Diskussionen meines Vortrags in
Greifswald, Salzburg und Zürich folgende Fragen:
- - außer - Inwiefern liegt der Nobilitierung der Bedeutungslosigkeit des Schmer­
der Zei­ zes eine Ästhetisierung zugrunde? Wird Schmerz in unserer Gegenwart
Helden, wie die bedeutungslose Faktur eines modernen Gemäldes als Moment
des Erhabenen begriffen?
- Folgt aus der Entfernung der Sinnhaftigkeit des Schmerzes nicht eine
erz beim unheimliche Konsequenz für die Therapie: keine talking eure; freie
s.alrun . Solch Bahn für die rein pharmakologische Behandlung?
- Wandert die Bearbeitung des Schmerzes, der seines Sinns beraubt wird,
aus der verbalen oder mimischen Ausdruckswelt in die Stummheit
ei hnet den einer stoischen Haltung des Widerstands gegenüber einem Körper­
iaerzau seinen impuls?
rz er cheint - Bieten sich nach der Herauslösung des Schmerzes aus der christlichen
_ forri 1996, »Heils-Maschinerie« nicht profan-heroische Sinngebungen jeglicher
etzre, wie Couleur als Ersatz an? Im Ersten Weltkrieg wird Schmerz als Kontakt­
d ...\natomen stelle mit dem »Urgrund des Seins« ontologisiert werden.
mamik aus
i h in der Erhellend wirkt die Kombination dieser vier Einwürfe. So kann die pathe­
·- die en Sätzen tische Hinwendung zur Bedeutungslosigkeit in geheimem Bündnis mit der
richt einen Feier der Pharmakologie stehen. Schon bei Valery haben wir die Über­
en, der seine schätzung des naturwissenschaftlichen Blicks auf das Nervensystem in
Verbindung mit der Neigung zur stoischen Haltung beobachten können.
t er tand, den Und schließlich kann die Wertfreiheit einer leeren Empfindung durchaus
l>isposition des mit der Vorstellung eines durch keine Normen begrenzten Handlungs­
:::--Ienri Bergson raums einhergehen.

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Helmut Lerhen

Allerdings scheint es mir inzwischen falsch zu sein, aufgrund eines ein­


zigen literarischen Zeugnisses vom »Nullpunkt der Sinngebung in den
8oer- und 9oer-Jahren des 19.Jahrhunderts « zu sprechen. Beispiele der
Hochkultur wie Monsieur Teste verführen zur Übertreibung. Sie werden
leichtfertig zu Symptomen einer allgemeinen mentalen Lage gemacht.
Neuere Forschung hat das Spannungsfeld erschlossen, auf dem Ende
des Jahrhunderts über Schmerz nachgedacht wird. Diese Jahrzehnte sind
von dem säkularen Narrativ des Wissenschaftsglaubens geprägt. Die
neuen Techniken der Anästhesie, die zunehmende Verfügbarkeit effi­
zienter Schmerzmedizin, ändern das Verhältnis zum Schmerz. Vor allem
der Arbeit von Elisa Primavera-Levy »An sich gibt es keinen Schmerz«.
Heroischer und physiologischer Schmerz bei Nietzsche im Kontext
des späten I9.Jahrhunderts (20rr) und ihrem Buch Die Bewahrer der
Schmerzen. Figurationen körperlichen Leids in der deutschen Literatur
und Kultur (I870-I945) (2012) verdanke ich Einsichten, die meinen
Valery-Kommentar relativieren.
Dass Nietzsche Befürworter eines heroischen Schmerzes ist, war be­
kannt. In seinem Nachdenken über den Körperschmerz von Schopenhauer
als Erzieher bis zum Nachlass der späten r 8 8oer-Jahre lässt sich aber noch
eine weitgehend unbekannte Spur verfolgen, die in das Dickicht der zeit­
genössischen Physiologie führt. Einerseits revitalisiert Nietzsche in seinem
Protest gegen ein Bürgertum, das sich der »Schule körperlicher Qualen«
zu entziehen sucht, ein Motiv von Kant, der im Schmerz den »Stachel
der Tätigkeit « erkennen wollte. Nietzsches heroische Schmerzrhetorik ist
vor dem Hintergrund der Medikalisierung des Schmerzes, die für ihn mit
dem Verlust metaphysischer Leidensdeutungen einhergeht, zu begreifen.
Elisa Primavera-Levy (201r,r37) beleuchtet diese Tendenz bei Nietzsche
mit einem lakonischen Satz: »Wenn Leiden ohne Bedeutung das Problem
ist, dann ist stimulierender Schmerz die Antwort. « In der » freiwilligen
Uebung des Schmerzes « soll die Autarkie des Einzelnen gestärkt werden.
Nicht nur die europäischen Avantgardisten haben diesen radikalen Ge­
danken aus Nietzsches Werk isoliert. Ihre Rezeption halbiert Nietzsches
Denken. Sie nahmen nur wahr,was ihren Handlungsoptionen von Nutzen
schien. Sie übersahen, dass Nietzsche aufgrund seiner intensiven Ausein­
andersetzung mit zeitgenössischen Befunden der Physiologie auch zu dem
Schluss gekommen war, dass der Schmerz ein »äußerst unzuverlässiger
Indikator von Realität « sei (ebd., r 33). » Das ist unser größter Irrtum, zu
meinen, die Wirklichkeit eines Vorgangs werde durch Lust und Schmerz

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Gibt es Ereignisse, die den Kulturwissenschaften den Atem verschlagen?

f.g,:rund eines ein­ bewiesen,hier gehe es am realsten zu«,hatte Nietzsche 1883 geschrieben
ebun in den (KSA 10,252; zit. nach: Primavera-Levy 2ou,133). Denn »Schmerz ist
Bei piele der ein Gehirnprodukt« und als solches verwoben in »eine Unsumme von
King. ie werden Werthschätzungen und Irrtümern« (KSA 9,565) sowie Rückständen ar­
!!e ema hr. chaischer Menschheitsperioden (Primavera-Levy 2011,147). Und so war
aui dem Ende er schon früh zu einer Ansicht von der Evidenz des Schmerzes gekommen,
• Jahrzehme sind die wenig mit schmerzgestählter Mannbarkeit zu tun hatte. Erstaunlich ist
vielmehr die Ähnlichkeit von Nietzsches Überlegung mit dem jetzt wie­
der aktuellen Konzept der Kulturalisten, die nicht gerade auf asketische
oder militante Tätigkeiten aus sind: »Ich meine: Lust und Schmerz und
ri:nen chmerz«. Begehren können wir gar nicht vom Intellekt mehr losgetrennt denken.
im Kontext [ ...] Lust und Schmerz ist wie eine Kunst ausgebildet worden« (KSA 8,
eu·Jhrer der 431; zit. nach: Primavera-Levy 2011, 147).
x.hen Literatur

III. Schmerz und Krieg

Als der Chirurg Ferdinand Sauerbruch und der Pädagoge Hans Wenke
1936 die Schrift Wesen und Bedeutung des Schmerzes herausgeben,
können sie auf eine Zeit unermesslichen Kriegsleidens zurücksehen. Die
Weimarer Republik war ein Zeitraum gewesen, in dem man mit zwei
gegenläufigen Strebungen fertig werden musste: Im Krieg hatte die Sinn­
gebung des Schmerzes als Element der Kampfmoral einen mächtigen
Auftrieb bekommen. Die Niederlage hatte die Menschen der unerträg­
lichen Gewissheit ausgeliefert, dass alles Leid umsonst gewesen sein
könnte. In den Wissenschaften der Nachkriegszeit kursierten zwar sehr
unterschiedliche Konzeptionen des Schmerzes,die Republikgegner waren
Problem sich allerdings einig, dass der »Liberalismus« gegen den Schmerz nicht
· eiv illigen mehr aufzubieten habe als die Narkose.
- kt werden. Seltsamerweise wird der Krieg in Sauerbruchs und Wenkes Kapitel
dikalen Ge­ »Ärztliche Erfahrungen über den Schmerz« nur in Zusammenhang mit
!ien _ ietzsches einem erstaunlichen Phänomen der Herabsetzung des Schmerzes erwähnt,
von utzen das die Chirurgen früher » Wundstupor« nannten:
·ven Ausein­
•0 au h zu dem » Wer als Arzt im Felde unsere braven Kameraden zu betreuen hatte, der weiß
mzuverlässiger aus hunder tfältiger Beobachtung, daß viele unter der Last und den Strapazen
des Dienstes oder der zermürbenden Wirkung von andauernder Spannung und
~er Irrtum,zu
Gefahr, von Erschütterung und Schreck, sich selbst verloren. Dann reichte ihr
, und Schmerz Denken nicht einmal mehr für die primitiven vegetativen Lebensfunktionen aus.

45
Helmut Lethen

In einer solchen Verfassung war kein Raum mehr für die Schmerzempfindung,
so daß notwendige Eingriffe ohne künstliche Betäubung möglich waren. «
(Sauerbruch/Wenke 1936, 13)

Dass der »Seelische Wundstupor« nicht nur ein Zeichen der Erschöpfung,
sondern auch eine Begleiterscheinung des Heldenmuts sein konnte, erläu­
tert Sauerbruch am Beispiel eines Leutnants. Dieser sei so erregt von der
Gefahr eines nächtlichen Sturmtrupps gewesen, dass er die Amputation
seines Arms, die ohne Betäubung durchgeführt wurde, kaum bemerkt
habe.
Dass der Chirurg sich in Erinnerung an die Materialschlachten ausge­
rechnet auf diese Form herabgesetzter Schmerzempfindung konzentriert,
mag symptomatisch für die zwei Jahrzehnte nach dem Krieg gewesen sein,
die vom Willen gekennzeichnet waren, sich gegen den Schmerz zu immu­
nisieren. Die Faszination des Phänomens » Wundstupor« verknüpfen die
Autoren einerseits mit dem »altpreußischen Ideal soldatischer Erziehung«,
andererseits mit Nietzsches Gedanken vom Schmerz als »arterhaltendem
Wert«. Vor allem aber scheinen sie im Bann von Ernst Jüngers Schrift
Über den Schmerz zu stehen, die drei Jahre zuvor erschienen war. Schmerz
erscheine bei Jünger als der »eigentliche Urgrund des Lebens«. »Disziplin«
bezeichne Jünger als »die Form, durch die der Mensch die Berührung mit
dem Schmerz« und damit seinen Kontakt mit dem Elementarreich des
Lebens aufrechterhalte (ebd. no). Jünger hatte empfohlen, die Frontlinie
des Schmerzes aufzusuchen, um an ihr die Haltung der Apathie und die
Kälte des Blicks zu stählen.
Man mag Jüngers Essay als ein Symptom für soldatische Apathie
abschätzig beurteilen. Mich interessiert eher seine hellsichtige Diagnose,
die er dem Liberalismus der Weimarer Republik - wo immer er verortet
sein mochte - stellt. Der Liberalismus ist für ihn eine Gesellschaftsform,
die den Schmerz aus den Binnenräumen der Gesellschaft an die Ränder
vertreibt, wo in Kliniken, Gefängnissen und Kasernen Spezialisten des
Schmerzes ihre Arbeit verrichten, während die Massenmedien Bilder
des Schmerzes in den Innenraum der Gesellschaft einspeisen, wo sie wie
Drogen inhaliert werden. Die Arbeit eines stoischen Bewusstseins ist dabei
kaum mehr erforderlich. Die Abspaltung des Schmerzes wird, so prog­
nostiziert Jünger, der Flucht technischer Bilder in populären Zeitschriften
und Magazinen überantwortet. Ataraxia, Herzenskälte, stellt sich im
massenmedialen Raum automatisch her. Die neuen Medien werden von

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Gibt es Ereignisse, die den Kulturwissenschafren den Atem verschlagen?

nempfindung,
ihm als Empathie-Entsorgungsgeräte begriffen, in der Regel abgewehrt
ög i-h waren.«
und nur im Fall der Fotografie zugelassen.
Liest man jetzt die 2010 veröffentlichten Originalaufzeichnungen von
Jüngers Kriegstagebüchern, so erlebt man den Apothekersohn als einen
& höpfung, Abenteurer mit extrem hoher motorischer Intelligenz, der im Denkstil
:ia ·onnre, erläu - der harten Disziplinen des 19.Jahrhunderts erzogen wurde. Als Kämpfer
><>e von der kommt er ohne pathetische Sinngebung aus. Keine Feindschaft, wenig
die .-\rnpuration »Rasse«, außer der der »Krieger«, fast null Nationalismus. Jagdinstinkt­
· um bemerkt das ist die einzige Triebkraft, die sich feststellen lässt. »Sachlichkeit«
bezeichnet die Schreibhaltung, mit der er die Kontingenzen der Schlacht
ch1a h en ausge­ auf den kleinen Formaten seiner Notizhefte zu bannen sucht. »Stupor«
,c, ·onzencriert,
als Unfähigkeit oder Stolz, sich von der Welt affizieren zu lassen, wird
ieg ewe en sein, ausgestellt. Und der Schmerz? Der Blick des jungen Leutnants erfasst die
Leichen auf dem Niemandsland des Schlachtfelds in ihrer katatonischen
Erstarrung oder organischen Auflösung. Eine seiner eigenen Verwun­
cner Erziehung«, dungen beschreibt er wie folgt. Er spürt einen starken Schlag gegen den
erhaltendem linken Unterschenkel und besieht sich die Sache:
jün er chrift
IOJ. war. hmerz
»Hinten war ein großes Loch in die Wickelgamasche gezackt, aus dem sich eine
•. Di ziplin«
Blutlache auf den Boden ergoss. Ich muß bemerken, dass ich während der ganzen
Berührung mit Geschichte meine Pfeife im Mund behalten und auch noch weiter geraucht hatte.
rarrei h des Die Leute legten mich auf eine Decke, machten die Wunde frei und gaben mir
die Frontlinie Wasser. Hinten über dem Knöchel hatte ich eine größere Wunde, vorn lag die
rhie und die Schrapnellkugel, die sich deutlich unter der dicken Haut abhob. Sie verbanden
mich und riefen den Sanitäter. « (Jünger 2010, 182)

he Apathie
;.!n e Diagnose,
Ist dieser Leutnant ein Stoiker, der wie ein antiker Stoiker den Affekt als
er veronet eine Art von Urteil zur Kenntnis nimmt und deshalb glaubt, den Schmerz
sellschafrsform, durch sein entschlossenes Argument, er sei kein Übel, neutralisieren zu
an die Ränder können? Wahrscheinlich spürt Jünger den Schmerz der frischen Wunde
pezialisren des nicht, weil »die Aufregung der Schlacht gleich einer großen Woge ihn
edien Bilder . weiterträgt« (Schmitz 1985, 4810). Vielleicht verdankt sich die Hal­
�wo sie wie tung des Stoßtruppführers aber auch einem systematischen Schmerz­
in ist dabei kontrolltraining, das durch autosuggestive Konzentrationsübungen
, -nrd, o prog­ Trancezustände herbeiführt. Entdeckt er im Schmerz eine biologisch
Zeirschriften zweckmäßige Anpassung als Warn- und Abwehrreaktion, die eine Kette
eUr sich im pragmatischer Handlungen auslösen muss, die ihn ins Lazarett bringen?
werden von Oder schielt der schriftstellerisch ambitionierte Junge schon auf Ver-

47
Helmut Lethen

öffentlichung, ahnend, dass mit Affektverweigerung starke emotionale ma hebe


Wirkungen ausgelöst werden können? (Vgl. Koppenfels 2007, 18) Geaenst...
Das kann nicht entschieden werden. Aber Jüngers Technik, die Situa­ für da '
tionen, in denen Ausdrücke des Schmerzempfindens wahrscheinlich sind, Ethos
zu erzählen, führt uns auf eine Spur, die nachweisbar ist. Denn seine man die
apathische Erzählweise hat eine auffällige Ähnlichkeit mit den Auf­ gebe z
zeichnungsformen, die Ende des 19.Jahrhunderts im Zeichen der me­ (Ebd..
chanischen Objektivität in Kliniken der Psychiatrie entwickelt worden dem Wil
waren. Geht Apathie von einer Entkoppelung des Affektausdrucks von solda
ihrer möglichen psychologischen Korrelation aus, so entfernt apathische »De hal
Erzählweise alle Momente der Mimesis des Affektes. Yvonne Wübben phy - : '
(2011) entdeckt die formalen Merkmale dieses Stils in parallelem Satzbau, im D" a
konstanter Blickrichtung, summarischem Aufzählen und der Monotonie der nö ·:
der Serienbildung und Listenaufstellung. Emp
Kaum hatte ich von diesen Merkmalen apathischer Erzählweise ge­ e oi h
hört, wurde mir schlagartig klar, warum die Kriegstagebücher von Jünger einer_ -a
übersät sind von sinnlosen Listen, endlosen Aufzählungen etc. Wie gerät Keonz.6
z.B. die folgende Inventarliste aus dem zerschossenen Haus in das Herz er ran
der Beschreibung der Somme-Schlacht: die Beu.
1g e1
» [ ...] vier aufgerissene Schränke, zwei Kommoden, ein Waschtisch, ein Nähtisch, al i h-
eine Nähmaschine, ein Kinderwagen. An den Wänden hängen drei zerschlagene
Spiegel, ein Bild. Auf den Kommoden und Schränken [ ...].«
IV. Sdtr
Und nun folgt die Aufzählung von 29 Gegenständen vom Korsett bis zu
Tapetenfetzen (Jünger 2010, 167). AmA
Kaum ist die Kampfsituation verlassen, zieht die apathische Erzähl­ lireraris
weise den Kämpfer förmlich hinter sich her. So markieren die während der losen_
Gefechtspausen akribisch geführten enthomologischen Eintragungen sei­ zen de
ner Käferfunde in szientifische Tabellen einerseits Ruhepunkte, anderer­ s hm
seits regeneriert sich hier die apathische Erzählweise, die zuweilen von wärti 1
der Dramatik der Ereignisse außer Kraft gesetzt wird. bezei h
Als Martin Heidegger während des Zweiten Weltkriegs Jüngers Trak­ Kommt
tat Über den Schmerz liest, notiert er auf einem Handzettel: »Eine Ab­ und_ l<
handlung Über den Schmerz, die gar nie und nirgends vom Schmerz spra hr
handelt« (Heidegger 2004, 436). Zwar beschreibe Jünger den Schmerz als peu eo..
Element des Willens zur Macht, er schwinge sich aber als homo militaris lern ha
auf eine Kommandohöhe - » J. redet überall in der Sprache d. Wehr- S hmer

48
Gibt es Ereignisse, die den Kulturwissenschafren den Atem verschlagen?

- 'e emotionale machtberichtes« (ebd., 446) -, von der aus er über den Schmerz als einen
� _oo-, r8) Gegenstand verfügen zu können glaube. Im Text finde sich keine Öffnung
fi hnik die Situa­ für das Wesen des Schmerzes, sondern vielmehr eine Haltung oder ein
r.ruscheinlich sind, Ethos, das den Schmerz zum Probierstein des Heroismus mache. Könne
- · . Denn seine man dieser Art Heroismus, fragt Heidegger, nicht auch triviale Namen
· mir den Auf­ geben, z.B. die der Abstumpfung, Unwissenheit und Gleichgültigkeit?
Zei hen der me­ (Ebd., 452) Jünger wisse sich dem Schmerz nie ausgeliefert, wie man
liiWl ,eJr worden dem Willen zur Macht ausgeliefert sei. Er entleere ihn vielmehr, um die
drucks von soldatische Haltung zum Schmerz zum kulturellen Wert zu machen:
r apa rhische »Deshalb kommt zum Schluß der Ladenhüter aller verendenden Meta­
Yrnnne Wü bben physik: die Sinn-gebung « (ebd., 43 7 ). Heidegger entdeckt, dass Jünger
rrallelem arzbau, im Diskurs neusachlicher Sentimentalität bleibt, insofern seine Rede von
er. Ionotonie der nötigen Härte und Kälte sich provokativ gegen die Welt bürgerlicher
Empfindsamkeit absetzt, also die Bindung an sie nie verliert. So überrascht
EnäWweise ge­ es nicht, dass Heidegger die Sinnsuche des Schmerz-Traktats als Form
er von Jünger einer Narkose bezeichnet, die der konservativen Kulturkritik bis heute als
er . Wie gerät Kennzeichen des flachen Liberalismus gilt. »J. handelt nur von einer nicht
verstandenen metaphys. Narkose. Die Bewegung gegen den Schmerz ist
die Bewegung zur Besinnungslosigkeit innerhalb der unbedingten Sinnlo­
sigkeit. « (Ebd., 458) Für Heidegger läuft bei Jünger alles auf die Rüstung
iöscb_ ein Nähtisch, als sichtbares Anzeichen der Besinnungslosigkeit hinaus.
i zer hlagene

IV. Schmerz als sprachresistenter Gegenstand


'or err bis zu
Am Abend des Herrn Teste im Jahre r893 hatte der Schmerz seinen
tcliis he Erzähl­ literarischen Auftritt als sprachresistenter Gegenstand im relativ harm­
·e während der losen Milieu des Gedankenexperiments und medizinisch in den Gren­
mrraeungen sei­ zen der Neuralgie. Im 20.Jahrhundert überschreiten die Arten der
�re, anderer­ Schmerzzufügung alle historisch bekannten Formen. Wer aber gegen­
zu, eilen von wärtig den Schmerz, wie Paul Valery, als sprachresistenten Gegenstand
bezeichnet, setzt sich den Einwürfen von Kulturwissenschaftlern aus.
• Jüngers Trak­ Kommunikationswissenschaftler, analytische Philosophen, Mediziner
- el: » Eine Ab- und Medientheoretiker wehren den Gedanken vom Schmerz als einem
- ,om Schmerz sprachresistenten Gegenstand ebenso entschieden ab wie Schmerzthera­
hmerz als peuten, die in ihren Kliniken die Bedeutung der Sprache zu schätzen ge­
lernt haben. Eins steht offenbar fest. Als außersprachliches Ereignis kann
Schmerz kein Gegenstand der Kulturwissenschaften sein. Sie können sich

49
Helmut Lethen Gib

nur auf Diskurse des Schmerzes konzentrieren. Wenn Schmerz mitgeteilt konstruierten
wird, unterliegt die Mitteilung kulturellen Codes. Das überzeugt. Es lässt Individuen eit:
allerdings die schon zu Beginn aufgeworfene Fragen offen, inwiefern anderen gereil::
die Äußerungs- und Kommunikationsformen des Schmerzes auf diesen andere Yers-..ä.a
selbst abfärben . Wie wäre
198 5 erschien das Buch von Elaine Scarry Body in Pain -deutsch: Der Archivs,­
Körper im Schmerz (2009). In den Archiven von Amnesty International Im Auge
fand sie eine Datenbank des Schmerzes: Protokolle des Geheimdiens­ konsrruie
tes, Memoiren der Folter, ärztliche Diagnosen. Nach der Auswertung chiven bebiii:ei
kommt Scarry zu der Überzeugung, dass extremer Schmerz durch Nicht­ anlilllert "'
kommunizierbarkeit gekennzeichnet ist. Er bietet nicht nur der Sprache wird, sin
Widerstand, sondern zerstört sie. Der Schmerz ist nicht von oder nach elbst zum
etwas: Schmerz ist nur er selbst. Schmerz sei definitiv nicht im Medium taunlicbSUTa
symbolischer Konstruktionen »in die Welt« zu holen; denn er bedeute zeigen aber
Weltverlust. enz nachrrä�
Scarry (2009, 52) beschreibt diesen Umstand in einer einfachen weil den b ·-
sprachphilosophischen Skizze: Wenn man spreche, greife das Ich über
die Grenzen des Körpers hinaus und besetze einen Raum, der größer sei
als der Körper. Extremer physischer Schmerz zerstöre das Vermögen zur V. Bi1b11i',o
symbolischen Erweiterung des Leibraums des Individuums. Er reduziere
das Subjekt auf die reine Gegenwart des Körpers. Mit dem Verlust der
Fähigkeit zur Objektivation in einem durch symbolische Praktiken ausge­ ich
dehnten Personalraum falle der Betroffene aus der Sphäre des intersubjek­
tiven Austauschs hinaus. Seines symbolischen Raumbildungsvermögens Ge
beraubt, öffne sich der Schmerzerfüllte der auf ihn eindringenden Macht.
Für deren Agenten sei die gesamte Gefühls- und Leibwelt des Opfers
dann eine »externalisierte Landkarte«, die sie nach den Regeln ihrer
Kunst bearbeiten.
Elaine Scarry stand zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung mit dieser
Einstellung im Reich der deutschen Kulturwissenschaften auf verlorenem
Posten. Die Kritik ist auch nicht von der Hand zu weisen: Immer - so
heißt es - speichert ein Individuum die verspürten Empfindungen nicht
einfach ab, »sondern transformiert sie in seine eigenen Kategorien, die
es mit anderen Mitgliedern seiner Bezugsgruppe teilt, die zugleich aber
seine persönliche Note tragen« (Le Breton 2003, 133). Jakob Tanner
(1994) betont in seiner Rezension von Body in Pain: »Immer und nicht
nur in Zuständen extremen Schmerzes - besteht eine Kluft zwischen dem
Schweigen des realen Körpers und dem Sprechen über den symbolisch

50
Gibt es Ereignisse, die den Kulturwissenschafren den Atem verschlagen?

erz mitgeteilt konstruierten Körper. Durch nichts ist sie zu überbrücken. Aber die
eugt. Es lässt Individuen eigneten sich im Austausch miteinander die von ihnen mit
inwiefern anderen geteilte Lebenswelt an, in der sie eigene Körpererfahrungen für
auf diesen andere verständlich machen. «
Wie wäre es sonst zu verstehen, dass sich Elaine Scarry mithilfe eines
h:Der Archivs von Texten ein Bild vom Weltverlust der Opfer machen könnte.
'nternational Im Augenblick seiner Schilderung ist der Schmerzausdruck sprachlich
:;eheimdiens­ konstruiert. Die Konstruktionen werden in Texten gespeichert, in Ar­
Auswertung chiven behütet. Nachträglich können die Textspeicher von uns beliebig
�urch Nicht- animiert werden. Die Sprachformen, in denen Schmerz kommuniziert
er Sprache wird, sind relativ stereotyp. Das bedeutet keineswegs, dass der Schmerz
•n oder nach selbst zum Stoff kultureller Archive geworden ist. Es gibt zwar ein er­
im _\lledium staunlich stereotypes Arsenal sprachlicher Wendungen des Schmerzes; sie
o er bedeute zeigen aber auf eine Wirklichkeit von Empfindungen, deren schiere Prä­
senz nachträglich durchaus angemessen in Stereotypen aufgehoben wird,
einfachen weil den Individuen zuvor die Ausdrucksfähigkeit genommen wurde.
h<: Ich über
er größer sei
rrmögen zur V. Bibliothek oder Physiologie
Er reduziere
t Verlust der Die Zuspitzung des Richtungskampfs um die Evidenz des Schmerzes lässt
.......:eo ausge­ sich an zwei neueren Dokumenten gut erläutern.
inrersubjek- Heiko Christians hat 1999 eine Arbeit vorgelegt, in der er mit großer
·ermögens Gelehrsamkeit das Archiv der europäischen Literatur auf die Topik der
1e1en _\/lacht. Rede vom Schmerz hin untersucht. Er überprüft, mit welchen Verfahren
des Opfers der Effekt der Evidenz des Schmerzes im Lauf der Zeit erzeugt wird und
l�eln ihrer entdeckt eine erstaunlich konstante Topik der Rede mit ihrem unheim·
lieh begrenzten rhetorischen Repertoire. Im Wortschatz der Mystiker
:g mir dieser kristallisierte sich, was in der Erfahrungskette der Tradition gespeichert
: ,·erlorenem war und bis heute fortwirken sollte. Die Archive sind angefüllt mit Tex­
Immer - so ten, in denen der Schmerz » blitzartig« das Netz der Rede zerreißt, um
ungen nicht einen Durchblick auf unterschwellig Reales zu gewähren. In seinem Ein­
orien, die gangskapitel hat er den Ausganspunkt seiner Forschung mit folgenden
1gleich aber Formulierungen überspitzt:
·ob Tauner
:rund nicht »Der Schmerz ist im Augenblick seiner Schilderung eine Konstruktion, ist immer
nur als Text kommunikabel. Noch der extreme, kaum durch ein Flackern oder eine
.ischen dem
Entspannung unterbrochene Schmerz, den nach übereinstimmenden Berichten
nnbolisch

51
Helmut Lechen Gibt CS

ein Knochenbruch verursacht, sperrt den Betroffenen dadurch ein. Das solcherart zwanzig Hin
geplagte, als mit aufgerissenen Augen oder als ,schrill quäkendes Schlachtferkel, Schmerzes an. ,
beschriebene Opfer befindet sich[ ...] mitten im Meer der Fiktionen.[ ...] Wenn den Protokolle
sich ein Mensch vor Schmerzen wie ein Tier am Boden windet, und damit die
den 193oer-JaJ
ihn im Reich der Lebewesen erst konstituierenden Unterschiede des aufrechten
Gangs und der artikulierten Rede selbst nicht mehr machen kann, klappern die
mentaren zu :?•
.
Textwebstühle um so lauter. « (Christians 1999, 2of.) Abhandlun
in Jerusalem bl
Der Ausdruck »schrill quäkendes Schlachtferkel« ist Jean Amerys Er­ Chirurgie am (
innerungen an die Tortur, der er im Juli 1943 bei der Gestapo in Brüssel sie gehören zm
ausgeliefert war, entnommen. Amerys Essay Die Tortur aus dem Jahre Vorgang der P,
1964 entspricht der von Elaine Scarry zwei Jahrzehnte später theoretisch Im extremen
erläuterten Sprachsituation: Der extreme Schmerz, so berichtet Amery, diesem Welti-ei
zerstört das Vermögen zur symbolischen Ausweitung des Körperraums. den Ausfall "'
Nach dem Verlust des » Weltvertrauens« liegt die Gefühlswelt des Gequäl­
ten auch in seinem Fall wie eine »externalisierte Landkarte« für jeden »Es wäre
Zugriff offen. Amery (2008, 63) erinnert sich, am Kulminationspunkt der wollen. \\ar,
ein mir indf:I
Qual »wie ein schrill quäkendes Schlachtferkel« geschrien zu haben. Kein
würde nur -�
Zweifel: Die Arbeit der sprachlichen Rekonstruktion zwingt Amery, aus
im hoffn
dem Archiv der Ausdrucksformeln die Tierbildkarte zu ziehen. Darüber him
Was sollte daran verdächtig sein? Wird mit diesem Griff ins Archiv
der Ausdrucksformeln der Schmerz zu einer kulturellen Konstruktion? In
der Tortur haben wir es mit dem totalen Entzug der Mitwelt zu tun. Die
Tierbildkarte wird in der Rekonstruktion der Erinnerung gezogen. Sie er die Kerre
zeigt auf ein Ereignis, das subhuman und sprachresistent war und bleibt. der Sprache vc
»Der Schmerz war, der er war«, sagt Amery (ebd.). Allerdings bedenkt Archivs vorzm
Amery den Zeitfaktor. Kein Zweifel, das Ereignis liegt in nebelhafter Fer­ Bibliothek.
ne. Diesen zeitlichen Abstand reflektiert Amery mit einem Kunstgriff, mit der Karteien r•
dem er zugleich die Feme des Ereignisses, die allmähliche Akkumulation im Archi,- - a
des Wissens um die Archive des Schmerzausdrucks und die Unzugäng­ Für di
lichkeit eines traumatisch eingekapselten Ereignisses zusammenführt. Die begriff: Es ill
authentische Artikulation des Schmerzausdrucks ist der Moment eines keine Vergan•
Prozesses, den Amery selbst chronologisch ausstellt und der die Erkennt­ die reine
nis der Medialität des Ausdrucks einbezieht. Das gehört zum Schmerz Obwohl er a
als Affekt, denn Extreme, die in die Glieder fahren, brauchen Zeit. »Der jede exisrenm
psychische Apparat, der sie hervorbringt, unterliegt einer gewissen Träg­ nicht dazu,
heit und strebt nach einer bestimmten Verlaufskurve für den Auf- und Seins« des �l
Abbau der Erregung. « (Koppenfels 2007, 160) Natürlich orientiert sich Wenn Max c�
der Mensch, Amery zufolge, in einer Welt der Formeln. Er führt über metaphysischr

52
Gibt es Ereignisse, die den Kulturwissenschaften den Atem verschlagen?

Das solcherart zwanzig Hinweise und Anspielungen auf Kommunikationsmuster des


hlachrferke],
Schmerzes an, von der etymologischen Herleitung des Wortes »Tortur«,
en. [... ) Wenn
den Protokollen von Gefolterten, die er in der Neuen Weltbühne in
und damit die
es aufrechten den 193oer-Jahren vor seiner Inhaftierung las, Graham Greenes Kom­
klappern die mentaren zu Fotografien von Folterungen in Vietnam, kriminologischen
Abhandlungen über die Folter in Algerien, Hannah Arendts Eichmann
in Jerusalem bis zu physiologischen Abhandlungen eines Professors für
_-\merys Er­ Chirurgie am College de France. Diese Vorstellungsmuster umgeben ihn,
)() in Brüssel sie gehören zur vertrauten Textumwelt, die sich anbietet, um den fernen
dem Jahre Vorgang der Peinigung zu erfassen und ihn im Rückblick zu aktualisieren.
- rheoretisch Im extremen Schmerz jedoch wird diese Zeichenwelt durchschlagen. Um
:hrer Amery, diesem Weltverlust im Schmerz Evidenz zu verschaffen, inszeniert Amery
örperraums. den Ausfall der im Archiv gelagerten Formeln:
es Gequäl­
� für jeden »Es wäre ohne alle Vernunft, hier die mir zugefügten Schmerzen beschreiben zu
punkr der wollen. War es ,wie glühendes Eisen in meinen Schultern,, und war dieses ,wie
haben. Kein ein mit in den Hinterkopf gestoßener stumpfer Holzpfahl?, - ein Vergleichsbild
_-\mfay, a US würde nur für das andere stehen, und am Ende wären wir reihum genasführt
im hoffnungslosen Karussell der Gleichnisrede. Der Schmerz war, der er war.
ea.
Darüber hinaus ist nichts zu sagen . « (Amery 2008, 63)
c ins Archiv
crul(tion ? In
zu run. Die Aber er sagt eben sehr viel dazu, vergegenwärtigt das Ereignis, indem
:ezogen. Sie er die Kette fehlschlagender Formeln zitiert, die versagenden Register
· und bleibt. der Sprache vorführt, um das Ereignis als ein Widerfahrnis jenseits des
bedenkt Archivs vorzustellen. Das Ereignis des Schmerzes ist eine Falltür in der
:lhafter Fer- Bibliothek. Im imaginierten Sturz fand Amery die Tierbildkarte in einer
der Karteien der gespeicherten Affektkataloge. Die braucht er, um - mitten
rumularion im Archiv - auf das nicht archivierbare Erlebnis zu zeigen.
Lnzugäng­ Für dieses Schmerzerleben trifft zu, was schon Valery cartesianisch
nfuh.rt. Die begriff: Es illuminiert nur Körperzonen, reduziert das Bewusstsein, erhellt
rnent eines keine Vergangenheit, raubt den Horizont und dampft den Menschen auf
ie Erkennt­ die reine Gegenwart des Körpers ein. Amery denkt dies radikal zu Ende.
m Schmerz Obwohl er auf Heidegger, Bataille und Sartre anspielt, versagt er sich
Zeit. »Der jede existenzialistische Aufladung des Ereignisses. Es eignet sich einfach
· en Träg- nicht dazu, sich als ein Beispiel für das Gewahrwerden des »eigentlichen
1 Auf- und Seins« des Menschen in einer existenzialistischen Erzählung aufzulösen.
mriert sich Wenn Max Scheler konstatiert: » Ein Dasein ohne Schmerz verführt zu
führt über metaphysischem Leichtsinn«, so zeigt die Geschichte, dass ein Dasein, das

53
'

Helmut Lethen Gibt es 1

den Schmerz als Grenzsituation begrüßt, zum Existenzialismus verführt - bolisch aufgela
einer besonderen Spielart metaphysischen Leichtsinns. nicht so weit c
Man hat übrigens bemerkt, dass Schmerz in den Erfahrungsberichten er habe Ste r,
von überlebenden der Konzentrationslager keinen eigenen thematischen Schmerz,\·all
Ort besetzt. Hubert Thüring hat in seiner Abhandlung Ambivalenz des gestochen, durd
Gedächtnisses, Leere des Schmerzes. Die Spur der Scham im Schrei­ durch einen
ben Prima Levis (2004) das Fehlen der Artikulation und Reflexion des Eine bezei
Schmerzes in Levis Erinnerungen beobachtet. Er widerlegte die gängigen drangs ist die
biografischen und psychoanalytischen Kommentare und stellt fest, dass Schrei gelin
auch in den einschlägigen wissenschaftlichen Monografien und Erzäh­ tens symboliscl
lungen über das Leben im KZ (Fränkel, Bettelheim, Kertesz, Semprun, vergebens möd
Klüger) der Schmerz keinen prominenten Ort der Artikulation in Erinne­ motorische
rung und Erzählstruktur hat. Er führte dafür drei Gründe an: im KZ ist Auch Monsieu;
der Schmerz überall und nirgends; aus überlebenstechnischen Gründen ist hineinlegen k­
Apathie nötig, die Empfindung des Schmerzes ist gleichsam auszulagern; beiden Fällen
der Schmerz der Folter friert das Gedächtnis ein.
Selbst in ,.,-öllg
isoliert den Beil
Phänomenologischer Schluss lieh an den -
Jeder ist eine l,
Ich habe mich in meinen Überlegungen auf das äußerste Ende eines Schreis ,-erl-
weiten Spektrums von Empfindungen des Körpe1'.schmerzes konzent­ de gibt, der,
riert. Es gibt grenzenlos viele Schattierungen des Schmerzes, die Vielfalt verbürgen�
ritualisierter Bekundungen, die kulturell stark codiert sind, wie z.B. der Der moto ·
Geburtsschmerz, habe ich ausgelassen. Ebenfalls die Mischungsverhält­ zu sein. Viellei
nisse zwischen Schmerz und Lust- meine Beispiele konzentrieren sich auf Schmerzes im
den »reinen« Körperschmerz, der allerdings jeweils in Kontexte anderer der »Verl~r�
Gegenwarten eingebettet ist.
Das Fazit meiner Überlegungen mag einem Wunsch zur stoischen zes geword
Haltung entsprechen: symbolische Pi
Warum nicht länger in der frostigen Kammer des Monsieur Teste
verweilen? Denn aus dem »Nichts« an Bedeutung trat der Schmerz immer­
hin als »motorisches Phänomen« zutage, was sich schon den bis heute
gebräuchlichen Vokabeln des »Bohrens«, »Schneidens« und »Treibens«
AnmerkunJ/_eri
ablesen lässt. Schmerz war hier nichts als ein psychisch getönter Bewe­
gungsimpuls, der gegen einen Widerstand vordringt, da der Ausweg 1 Ich danke Efu.a
versperrt ist (Schmitz 2005, 153). Ein »motorisches Phänomen«, dessen Essays.
Sinnlosigkeit in Redewendungen wie »die Wände hochgehen« nicht sym- Chcisrine A:

54
Gibt es Ereignisse, die den Kulturwissenschafren den Atem verschlagen?

aus verführt - bolisch aufgeladen, sondern nur mimetisch wiederholt wird. Man sollte
nicht so weit gehen wie Ernst Jünger, von dem Michael Klett erzählt,
mgsberichten er habe stets eine Nadel unter dem Revers getragen. »Und wenn eine
diemarischen Schmerzwallung in ihm hochkam, hat er sich diese Nadel in den Unterarm
'lbivalenz des gestochen, durch das Jackett hindurch, um sich vom psychischen Schmerz
im Schrei­ durch einen physischen abzulenken. « (Hettche 2010)
R.eflexion des Eine bezeichnende motorische Äußerung des gehemmten Schmerz­
ng1gen drangs ist die akustische. Der Gepeinigte jammert und schreit. Seinem
t, dass Schrei gelingt es, wie Hermann Schmitz (1985, 4805) befindet, wenigs­
1 und Erzäh- tens symbolisch »was er selbst kraft seines Schmerzes wirklich, aber
emprun, vergebens möchte: aus der Haut fahren«. Ist aber der Schrei nur eine
on in Erinne­ motorische Entladung? Und kein Signal mit kommunikativem Appell?
rn: im KZ ist Auch Monsieur Teste »erwartet«, wie es heißt, den Schrei, in den er sich
1 Gründen ist hineinlegen könnte, um aus der Haut zu fahren. Der Schmerz führt in
auszulagern; beiden Fällen nicht zu einem sinnfälligen Ausdruck, er greift auch nicht
in ein altes Archiv, er führt vielmehr zu Bewegungen, in denen sich das
Selbst in »völliger Gegenwart« verliert (ebd.). Er zerreißt das Miteinander,
isoliert den Betroffenen, der,.obwohl womöglich hochgebildet, sich plötz­
lich an den Titel eines Romans von Johannes Maria Simmel erinnert:
Jeder ist eine Insel. Denn wer sich auf die kommunikative Funktion des
! Ende eines Schreis verlässt, hat noch nicht begriffen, dass es keine Instanz der Gna­
(Onzent­ de gibt, deren Eingriff Schmerzlosigkeit, Therapie, Rettung oder Rache
die Vielfalt verbürgen würde.
\\ie z.B. der Der motorische Ausweg scheint als Erklärungsmodell nicht viel
ungsverhält­ zu sein. Vielleicht erklärt es aber, warum sich dem Zeitalter extremen
eren sich auf Schmerzes im 20.Jahrhundert die Signaturen des »Weltverlusts« und
e).'"te anderer der » Verlassenheit« als Erkennungsmerkmale aufprägen konnten. Und
warum ein so diffuser Begriff wie »Trauma « zum Inbegriff eines Schmer­
lll scoischen zes geworden ist, der nicht aus der Haut fahren lässt und durch keine
symbolische Praxis aufgehoben werden kann.
ieur Teste
erz lilliller-
en bis heute
1 • Treibens«
ömer Bewe­ Anmerkungen
ier A.usweg 1
Ich danke Elisa Primavera-Levy für den kritischen Kommentar zu der Vortragsfassung dieses
1en«, dessen Essays.
nicht sym- 2
Christine Abbes Kommentar zu Auslassungspunkten in Thomas Bernhards Text Jauregg.

55
Helmut Lethen

Literatur

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2004, s. 195-215.
VALERY, PAUL: Cahiers/Hefte. Auf der Grundlage der von Judith Robinson besorgten franz. 1. frühe H-1□
Ausgabe hg.v.Hartmut Köhler und Jürgen Schmidt-Radefeldt. Frankfurt a. M. 1987-1993. Kulturfiill
VALERY, PAUL: Monsieur Teste. übersetzt von Max Rychner, Achim Russer und Bernd Schwibs,
in: Werke. Frankfurter Ausgabe. Hg.v. Jürgen Schmidt-Radefeldt. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1992,
S.299-372. Bereits 19 -
WüBBEN, YvONNE: Die Kälte des W issens. Stoische Re-Emergenzen und psychiatrische »Grenze« zwis
Affektkultur um 1900. Vortrag im Rahmen der IFK-Konferenz » Wandlungen des Stoischen«,
April 2011. geschlagen,

56
Zu den Beiträgerinnen und Beiträgern

Ingrid Tomkow
Gesine Krüger ist seit 2003 Professorin für Geschichte der Neuzeit an derUniversität Zürich. Sie
studierte Geschichte und Politikwissenschaft in Hannover und Kapstadt, wo sie auch die litera­ und Görtingen.
rurwissenschaftlichen Seminare von Peter Horn besuchte. Sie ist Mitherausgeberin der Zeitschrift an der Universi
Historische Anthropologie und war langjähriges Redaktionsmitglied der WerkstattGeschichte. seit 2012 als Pro
Ihre besonderen Interessen gelten der Kolonialfotografie, der Restitution von Knochen und der Jugendmedien.'
Tiergeschichte sowie der Katastrophenmedizin. Sie hat ein Buch über Tarzan gemeinsam mit Kinder- und J
Marianne Sommer und Ruth Mayer veröffentlicht. 2008/09 war sie Fellow am Wissenschafts­ interesse gilt de
kolleg zu Berlin und hat dort über die Themen Fotografie, Schrift und Trauer gearbeitet. im AII-Age-
bei Johnny De,
Helmut Lethen, Studium in Bonn, Amsterdam und Berlin, Promotion an der FU Berlin 1970,
Kultur. Hg. von
Redakteur der ALT ERNATIVE 1966 bis 1969, 1977 bis 1995 Associate Professor an der beitreten!« hn
Universiteit Utrecht, 199 5 bis 2004 Professur an der Universität Rostock, ab 2007 Direktor Deutschland..
des Internationalen Forschungszentrums für Kulturwissenschaften (IFK) in Wien. Forschungs­
Philip Ursp
schwerpunkte:Historische Avantgarden, Philosophische Anthropologie. Wichtige Publikationen:
Verhaltens/ehren der Kälte, Frankfurt a. M. 1994; Sound der Väter, Berlin 2006; Suche nach turgesch i hre a
dem Handorakel, Göttingen 2012. in Genf, 1en t
Zürich. Er leim
Angelika Linke ist seit 2000 Professorin für Germanistische Sprachwissenschaft an der Uni­ York und dem 1
versität Zürich sowie ständige Gastprofessorin an der Universität Linköping, Schweden. 2005 wartskun t in E
hat sie eine Gastprofessur an der Washington University in St. Louis wahrgenommen, 2009/ro von Herzo
war sie als Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Schwerpunkte ihrer Forschung sind die Kaprow und d.
Kommunikationsgeschichte der Neuzeit, kulturanalytische Linguistik, Kulturgeschichte der Kunst der Geg,
Körpersemiotik sowie historische Sozio- und Textlinguistik. Neuere Publikationen: Körperkon­
figurationen: Die Sitzgruppe. Zur Kulturgeschichte des Verhältnisses von Gespräch, Körpern
und Raum, in: Historische Pragmatik. Hg. von Peter Ernst. Berlin 2012; Signifikante Muster -
Perspektiven einer kulturanalytischen Linguistik, in: Begegnungen. Hg. von Elisabeth Wäghäll
Nivre u.a. Stockholm 20II.

Philipp Sarasin, geb. 1956, ist Professor für Neuere Geschichte am Historischen Seminar der
Universität Zürich, Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, und Gründungs­
mitglied des Zentrums »Geschichte des Wissens« der ETH und der Universität Zürich. Arbeits­
gebiete: Geschichte des Wissens, Geschichte des Kalten Krieges, T heorie der Geschichtswissen­
schaft, Stadtgeschichte, Körper- und Sexualitätsgeschichte. Wichtigste Publikationen: Evolution.
Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2010 (hg., zusammen mit Marianne Sommer);
Darwin und Foucault. Genealogie und Geschichte im Zeitalter der Biologie, Frankfurt a. M.
2009; Bakteriologie und Modeme. Studien zur Biopolitik des Unsichtbaren 1870-1920, Frank­
furt a. M. 2007 (hg., zusammen mit S. Berger et al.); Michel Foucault zur Einführung, Hamburg
2005; »Anthrax«. Bioterror als Phantasma, Frankfurt a. M. 2004; Geschichtswissenschaft
und Diskursanalyse. Frankfurt a. M. 2003; Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers
1765-1914, Frankfurt a. M. 2001.

Jakob Tanner, seit 1997 Professor für Geschichte der Neuzeit am Historischen Seminar der
Universität Zürich. Forschungsaufenthalte in Paris (MSH, EHESS) und London (LSE); 2001/02
Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin; 2004-2009 Fellow am Collegium Helveticum (ETH
Zürich /Universität Zürich); 2004 Gründungsmitglied des »Zentrums für Geschichte des Wis­
sens« (ETH Zürich /Universität Zürich); 20II Fellow am FRIAS Freiburg i. B. Arbeitsschwer­
punkte: international vergleichende Wirtschafts- und Finanzgeschichte, Geschichte der Schweiz,
Wissenschafts-, Medizin- und Körpergeschichte. (Mit-)Herausgeber der Zeitschriften Historische
Anthropologie und Gesnerus. Veröffentlichungen und Forschungsprojekte unter: http://www.
fsw. uzh.ch/personen az/1 ehrstu hl tanner/tanner/publikationen.htm 1

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