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Marie Louise Herzfeld-Schild

»Stimmung des Nervengeistes«


Neurophysiologie und Musik im 18. Jahrhundert

In seiner Studie zur Etymologie des Wortes »Stimmung« hat Leo Spitzer
1944/45 bekanntermaßen herausgearbeitet, wie eng der in seiner Dichtheit un-
übersetzbare Begriff mit »classical and christian ideas of world harmony«1 ver-
bunden ist. Spitzer stellt »Stimmung« damit von Anfang an in einen direkten
Zusammenhang zur Musik, die jedoch eigentlich schon mit der pythagore-
ischen Vorstellung einer »Sphärenharmonie« in einem allumfassenden, sich
letztlich von der eigentlichen Musik loslösenden Konzept aufgeht: Zwar offen-
bart sich nur in den Proportionen der klingenden Intervalle die allgegenwär-
tige Harmonie als sinnlich wahrnehmbar und mit dem Verstand greifbar, sie
lässt sich jedoch – wenn auch nicht so unmittelbar – als mathematisch-harmo-
nische Struktur überall im Makro- wie auch im Mikrokosmos wiederfinden.
Ein solcher Mikrokosmos ist der Mensch. So wird in Platons Timaios so-
wohl die Weltseele als auch die individuelle Seele nach den besagten mathe-
matisch-harmonischen Proportionen gefertigt. Wenn diese Proportionen
aus dem Gleichgewicht geraten und die Seele »disharmonisch« wird, so lässt
sich dies durch Musik wieder in Ordnung bringen. Aristoxenos von Tarent
berichtet konsequenterweise von den Pythagoreern, sie hätten die Seele des
Menschen mit Musik geheilt, so wie sie den Körper mit Medizin behandel-
ten. Wie wichtig die Weltenharmonie jedoch jenseits von Seelenkrank-
heiten auch für die Mischung der vier Körpersäfte in der Humorallehre, für
die Herstellung von Medikamenten, für die sechs sogenannten »nicht-natür-
lichen Dinge« (sex res non naturales) der Diätetik und damit ausdrücklich
auch für die Heilung des menschlichen Körpers angesehen wurde, davon legt
die Geschichte der Medizin seit Hippokrates über Galenos bis ins 19. Jahr-
hundert hinein intensives Zeugnis ab3 – und im Bereich alternativer Heil-

1 Leo Spitzer: Classical and Christian Ideas of World Harmony. Prolegomena to an


Interpretation of the Word »Stimmung«. In: Traditio  (1944), S. 49-464, sowie
Traditio 3 (1945), S. 37-364.
 Siehe Fritz Wehrli: Aristoxenos (= Die Schule des Aristoteles. Texte und Kommen-
tar, Heft II). . Aufl., Basel u. Stuttgart 1967, S. 15.
3 Siehe dazu grundlegend Werner Kümmel: Musik und Medizin. Ihre Wechsel-
beziehungen in Theorie und Praxis von 8 bis 18. Freiburg i. Br. u. München
1977, sowie Peregrine Horden (Hg.): Music as Medicine. The History of Music
Therapy since Antiquity. Aldershot .

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methoden bis heute. Weltenharmonie – oder mit Spitzer die Idee von »Stim- 18. Jahrhunderts7 – einem Wissenstransfer, den der vorliegende Beitrag für
mung« – steht also unter anderem auch in einer langen und intensiven den deutschsprachigen Bereich in den Mittelpunkt rückt.8
Verbindung mit der Medizin. Ausgangspunkt dafür ist eine Gruppe von Ärzten in Halle an der Saale,
Vermutlich in keinem Jahrhundert war die konstruktive Verknüpfung die von der neueren Forschung als »vernünftige« oder auch »anthropologi-
von Medizin und Musik in Genese und Geltung so eng wie im achtzehnten. sche« Ärzte bezeichnet wurden,9 namentlich der Psychomediziner Johann
Mit der Begründung der Ästhetik als »Lehre von den Sinneswahrnehmun- Gottlob Krüger und seine Schüler Johann August Unzer und Ernst Anton
gen« durch Alexander Gottlieb Baumgarten rückte die Erforschung der Nicolai – alle drei sowohl studierte Mediziner wie auch studierte Philo-
Sinne, ihrer Funktionsweisen und ihrer Verbindung zur Empfindungswelt sophen. So soll im Folgenden zunächst das Konzept von »Stimmung« in
des Menschen in den Vordergrund nicht nur der Mediziner, die in Anatomie Krügers Naturlehre vorgestellt und durch Verweise auf Unzer ergänzt wer-
und Physiologie mehr und mehr die Nerven als irgendwie geartete Vermitt- den. Daran anschließend wird die Transformation dieses Konzepts in Ernst
ler zwischen Körpersinnen und Seele, zwischen der Außenwelt und der Erle- Anton Nicolais Abhandlung Die Verbindung der Musik mit der Artzneygelahr-
benswelt des Menschen in den Blick nahmen.4 Auch die Musiker, Musik- heit aufgezeigt. In einem dritten Teil wird die im Titel des Beitrags zitierte
theoretiker und Musikästhetiker maßen im Verlauf des 18. Jahrhunderts den »Stimmung des Nervengeistes« in Ernst Platners Anthropologie für Aerzte und
Sinneseindrücken und dem subjektiven Empfinden mehr und mehr Bedeu- Weltweise als Weiterentwicklung vorgestellt, bevor einige Gedanken zum
tung zu und diskutierten die alleinige Berufung auf die rationalen, objektiv- Transfer des medizinischen Stimmungskonzepts in die Ästhetik den Beitrag
mathematischen Grundlagen der Musik durchaus kritisch.5 abschließen.
Der Begriff der Stimmung und seine Bedeutungstransformation zwischen
Musikpraxis, Medizin und Musikästhetik können für diese neuen Empfin-
dungslehren als paradigmatisch angesehen werden. Ausgangspunkt dafür 1.
war der Paradigmenwechsel6 von der mitteltönigen zur temperierten Instru-
mentalstimmung, die eben nicht mehr mathematisch reine Intervalle, So will ich […] zeigen, daß der menschliche Leib wohl keiner Sache so
sondern aufgrund von praktischen Unwegsamkeiten im Musizieren die ähnlich sei, als einem musicalischen Instrumente. Ich weis es wol, mein
Temperierung der einzelnen Töne und damit eine Abweichung von der voll- Einfall wird vielen thöricht vorkommen, und vielleicht ist er es auch.
kommenen Harmonie bevorzugte. Das Nachdenken über das »Stimmen« Mein GO tt, wird man sprechen, was will man noch aus dem Leibe der
und die »Stimmung« fand von der Musik aus Eingang auch ins Denken der Menschen machen? Sehr lange hat man ihn für einen Bratenwender ge-
Mediziner, die das harmonische Zusammenspiel von Körper und Seele und halten, und nun soll er gar eine Violine seyn. […] Aber im rechten Ernste,
damit insbesondere die Empfindungen in den Blick nahmen. Die heutige
Bedeutungsvielfalt des vielschichtigen Begriffs »Stimmung« wurzelt somit
grundlegend im Wissenstransfer zwischen Musikästhetik und Medizin des
7 Für die Literaturwissenschaft hat Caroline Welsh auf ebendiese Bedeutung der
Medizin an verschiedenen Stellen aufmerksam gemacht, siehe z. B. dies.: Hirn-
höhlenpoetiken. Theorien zur Wahrnehmung in Wissenschaft, Ästhetik und Lite-
ratur um 18. Freiburg i. Br. 3; dies.: Nerven – Saiten – Stimmung. Zum
Wandel einer Denkfigur zwischen Musik und Wissenschaft 175-185. In: Be-
richte zur Wissenschaftsgeschichte. Organ der Gesellschaft für Wissenschafts-
geschichte 31 (8), H. , S. 113-19.
8 Dieser Beitrag erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Wie Welsh: Nerven –
4 Sie gingen dabei von einem Dualismus aus, der eine Trennung in ein Außen und Saiten – Stimmung (wie Anm. 7), S. 117, betont, existierten in der zweiten Hälfte
ein Innen des Menschen vornimmt; ein Ansatz, der in der heutigen Forschung, des 18. Jahrhunderts »unzählige nervenphysiologische Theorien zur Erklärung der
unter anderem in der Anthropologie, Philosophie und Emotionsforschung, als Wirkungsweise der Musik«, von denen hier einige prominente Beispiele aus-
überholt gilt. gewählt wurden, um verschiedenartige Rezeptionslinien zu demonstrieren.
5 Vgl. den Beitrag »Die Mehrstimmigkeit der temperierten Stimmung und die 9 Siehe dazu grundlegend die Arbeiten von Carsten Zelle, z. B. ders. (Hg.): »Ver-
Selbstreflexion der Aufklärung« von Boris Previšić in diesem Band. nünftige Ärzte«. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie
6 Ebd. in der deutschsprachigen Frühaufklärung. Tübingen 1.

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die Vergleichung des menschlichen Leibes mit einem musikalischen In- ßer Hilfe ist. In einem nächsten Schritt nämlich weitet Krüger seinen Blick
strumente gefällt mir sehr wohl.1 von den Nerven auf die Empfindung und damit auch auf die Seele aus:

Wenn Johann Gottlob Krüger im zweiten Band seiner Naturlehre von 1745, Wenn eine gespannte Saite angestossen wird, so geräth sie in eine zitternde
seiner Physiologie, so ausdrücklich auf »die Vergleichung des menschlichen Bewegung, wie wir solches nicht nur mit Augen sehen, sondern auch gar
Leibes mit einem musikalischen Instrumente« zu sprechen kommt, so for- leicht aus den Gesetzen der Elasticität erweisen können. Wenn nun die
muliert er damit nicht nur einen Vergleich, der von Medizin und Musik- Nervenhäute nicht anders anzusehen sind, als wenn sie aus lauter solchen
ästhetik herzlich aufgenommen und als Metapher weitergetragen wurde, gespannten Saiten zusammengesetzt wären […]: so müssen sie ebenfals in
sondern auch den Ausgangspunkt, den Mittelpunkt und die Konsequenz eine zitternde Bewegung gerathen wenn ein anderer Cörper mit zu-
seines physiologischen Wissens über die Empfindungen des Menschen – reichender Kraft an sie anstößt. Da […] die Nervenhäute keiner andern
denn dieser Abschnitt findet sich nicht etwa im Kapitel über das Gehör oder als einer zitternden Bewegung fähig sind: so wird auch die Empfindung
den Schall (wie der Musikbezug nahelegen könnte), sondern in Krügers vermittelst der zitternden Bewegung der Nervenhäute hervorgebracht
Empfindungslehre. werden müssen.1
Bei dem von Krüger gedachten musikalischen Instrument handelt es sich,
wie im Verlauf der Zeilen deutlich wird, ausdrücklich um eine Violine. Im Folgenden entwickelt Krüger eine Möglichkeit, Quantität und Qualität
Denn es sind die gespannten Saiten des Streichinstruments, die Krüger im der Empfindungen durch die Verbindung zur Musik mathematisch zu be-
Blick hat, wenn er seinen Vergleich anstellt, und dies wiederum beruht auf rechnen. Denn für Krüger sind die Empfindungen der Seele den Bewegun-
seinem Verständnis des Nervensystems, das sich auf die Nervenhäute und gen der Nerven proportional, was Hans-Peter Nowitzki als das »Krügersche
ihre Fasern konzentriert (im Gegensatz zu späteren Lehren, die beispielsweise Empfindungsgesetz«13 bezeichnet hat. Mittels dieses Empfindungsgesetzes
den Nervensaft als Lebensgeist in den Mittelpunkt stellen; auch Krüger definiert Krüger die verschiedenen menschlichen Temperamente sangui-
wusste um den Nervensaft, wies ihm aber für die Empfindungslehre bloß nisch, phlegmatisch, cholerisch und melancholisch nicht nach Galenos als
»logistische« Bedeutung zu: Er war dafür zuständig, die Bewegungen der bestimmte Mischungen der vier Körpersäfte, sondern durch die »verschie-
Nerven ins Gehirn weiterzutragen). Von entscheidender Bedeutung für den denen Spannungen der Nerven«, die »in beständiger Uebereinstimmung«
Vergleich des menschlichen Leibes mit einer Violine ist für Krüger dabei mit den verschiedenen »Neigungen der Seele«14 stünden. Demnach verfügen
insbesondere die Elastizität der Nervenhäute bzw. ihrer Fäserchen, die sich nicht alle Menschen über die gleiche Nervendicke und Nervenspannung,
für ihn experimentell-empirisch nachweisen lässt, da sich die Haut des Nervs sondern haben je nach Temperament dickere oder dünnere Nervenfasern,
zurückziehe, wenn man ihn durchschneide. Krüger schließt daraus, »daß die wiederum stärker oder lockerer gespannt sein können. Die gleichen Ein-
die Häute der Nerven elastisch und zugleich ausgedehnt« seien, wodurch wirkungen von außen führen daher je nach Nervenkonstitution zu verschie-
sie sich »in den Umständen« befänden, »darinnen wir eine gespannte Saite denen Empfindungen und Vorstellungen in der Seele, was wiederum den
auf einem musicalischen Instrumente antreffen. Solchergestalt lässt sich einzelnen Temperamenten ihre Charakteristika gibt. Lebensalter und Krank-
dasienige, was von der Bewegung solcher gespannten Saiten erwiesen wor- heit können ebenfalls auf Nervendicke und Nervenspannung einwirken und
den, bey den Nerven wieder anbringen.«11 Es sind also zunächst die Nerven- dadurch das Temperament dauerhaft oder auch nur vorübergehend beein-
häute mit ihren Fäserchen, die in eine Analogie mit den gespannten Saiten flussen.
auf einer Violine gesetzt werden. Durch diese Analogie kann Krüger das da- Mit seinen langen, aus Nervendicke, Spannung – Elastizität – und Einwir-
malige Wissen über die Gesetzmäßigkeiten des Klangs grundlegend in seine kung zusammengesetzten Berechnungen baut Krüger im Grunde ein »Stim-
Überlegungen mit einbinden, was ihm für sein weiteres Vorgehen von gro- mungssystem« des Menschen. Durch seine Einbeziehung der Tempera-

1 Johann Gottlob Krüger: Naturlehre. Zweyter Theil, welcher die Physiologie, oder 1 Ebd., S. 585 ff.
Lehre von dem Leben und der Gesundheit der Menschen in sich fasset. . Aufl., 13 Hans-Peter Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch. Aufklärungsanthropologien
Halle 1748, S. 645. im Widerstreit. Berlin u. New York 3, S. 57 ff.
11 Krüger: Naturlehre  (wie Anm. 1), S. 585. 14 Ebd., Register, o. S.

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mente, der menschlichen »Vielstimmigkeiten«, kommt er außerdem dem durchaus bemerkenswert, dass sowohl Krüger als auch sein Schüler Johann
heutigen Stimmungsbegriff, der sich auf so etwas wie »Gemütsstimmung« August Unzer trotz aller Betonung der Erfahrung als wissenschaftlicher Ba-
bezieht, erstaunlich nahe. Geht man mit Boris Previšić davon aus, dass Krü- sis innerhalb ihrer Empfindungslehren in alter medizinischer Tradition auf
ger über die Diskurse zu den unterschiedlichen Stimmungssystemen seiner die Proportionen der reinen Intervalle rekurrieren und sich in diesem Punkt
Zeit informiert war,15 so liegt hier eine Analogie zwischen den zahlreichen von der temperierenden Musikpraxis ihrer Zeit deutlich unterscheiden.
Möglichkeiten der Instrumentalstimmungen und den verschiedenen neuro- Bei Krüger liegen Nervenbewegung, musikalische Gesetzmäßigkeiten und
logischen »Stimmungen« bzw. »Vielstimmigkeiten« des Menschen überaus Empfindungen sehr nah beieinander, sie werden gewissermaßen deckungs-
nahe.16 Dieses »Stimmungssystem« des Menschen wurde schon ein Jahr gleich, wenn er schreibt:
nach dem Erscheinen der Naturlehre von Krügers Schüler Unzer in seiner
Neuen Lehre von den Gemüthsbewegungen (1746) weiter ausgearbeitet: Nach- Die Nervenfäsergen haben in einem Cörper entweder in Ansehung ihrer
dem er die Analogie der Nervenfasern mit den Saiten eines Instruments aus- Dicke und Länge dergleichen Spannung, daß sich die Geschwindigkeiten
drücklich und ausführlich referiert hat, legt dieser nämlich zusätzlich zu den ihrer zitternden Bewegungen so, wie die Consonantien in der Music, ver-
neurophysiologischen Beschreibungen der vier Temperamente und ihrer halten, oder sie haben sie nicht. Ist das erstere, so wird schwerlich […] aus
Mischformen auch die verschiedenen Ausprägungen einzelner Affekt wie der Berührung der äusserlichen […] Cörper eine unangenehme Empfin-
Wut, Hass, Ehrgeiz, Neid oder Liebe bei diesen Temperamenten dar.17 dung entstehen, wenn sie nicht allzu heftig ist. Ist das letztere: so muß das
Doch trotz dieser engsten Verbindung der Nerven mit den Instrumental- Gegentheil nothwendig erfolgen.18
saiten verwenden weder Krüger noch Unzer in ihren Empfindungslehren
den Begriff »Stimmung«. Was sich jedoch kontinuierlich in ihren Ausfüh- Als Beleg für diese These führt Krüger u. a. ein bemerkenswertes Beispiel an.
rungen findet, sind die der musikalischen Stimmungsdebatte immanenten Denn er verknüpft nun Nervenphysiologie und Empfindungslehre nicht
Begriffe »Proportion«/»Verhältnis« (Krüger) und »Harmonie« (Unzer). Wie mehr nur mit der Musik, sondern auch mit dem Wetter – einem Phänomen,
eng diese Begriffe innerhalb der physiologischen Konzepte tatsächlich mit dem nicht nur in der neueren Stimmungs- und Atmosphärenforschung eine
dem Bedeutungsfeld von »Stimmung« verbunden sind, zeigt die ebenfalls besondere Rolle zugesprochen wird. Auch zu Krügers Zeiten gab es schon
damit einhergehende Verwendung des musikalischen Ausdrucks »Konso- Entsprechungen im Wortgebrauch von der »Temperatur« und dem Wetter.19
nanz« bzw. ihres Gegenteils, der Dissonanz, in Krügers Erläuterung der
Empfindungsqualitäten. Denn die einzelnen Nervenfasern des Menschen Setzet […], daß sich das Wetter auf einmal verändere, und an statt, daß es
stehen in unterschiedlichen Verhältnissen zueinander und bilden je nach vorher heiter gewesen, anfange zu regnen, oder daß man eine gestimmte
Nähe dieser Verhältnisse zu den harmonischen Proportionen der reinen mu- Violine in einen Ort bringe, wo sich viele wässerige Dünste befinden, so
sikalischen Intervalle »Consonantien« oder »Dissonantien«, die sich wie- wird sie sich in kurtzen verstimmen. Und dieses wird sich desto eher zu-
derum in verschieden gearteten Empfindungsqualitäten manifestieren. Es ist tragen, je höher sie gestimmt ist, oder je stärcker die Saiten gespannt sind.

15 Boris Previšić: Gleichschwebende Stimmung und affektive Wohltemperierung 18 Krüger: Naturlehre  (wie Anm. 1), S. 654 f.
im Widerspruch. Literarisch-musikalische Querstände im 18. Jahrhundert. In: 19 Zum Sprachgebrauch im 18. Jahrhundert siehe beispielsweise Friedrich Gla-
Hans-Georg von Arburg u. Sergej Rickenbacher (Hg.): Concordia discors. Ästhe- dov: A la Mode-Sprach der Teutschen, Oder Compendieuses Hand-Lexicon: Jn
tiken der Stimmung zwischen Literatur, Künsten und Wissenschaften. Würzburg welchem die meisten aus fremden Sprachen entlehnte Wörter und Redens-Arten,
1, S. 135 ff. So in denen Zeitungen, Briefen und täglichen Conversationen vorkommen, Klar
16 So schrieb Krüger im 118. seiner Träume (1754): »Die Lehre von den Temperamen- und deutlich erkläret werden. Nach Alphabetischer Ordnung mit Fleiß zu-
ten […] läßt sich am besten aus der Musik herleiten, und es sind eben so viel sammen getragen von Sperander. Nürnberg 178, S. 77: »Temperatur, die Mil-
Temperamente, als Stimmen in der Musik. Ich geschweige, daß der Mensch eine derung, Verdeckung oder auch Verbesserung einer Sache. Cœli temperatura,
kleine Welt ist, und dass der Begrif eines Concerts vollkommen bey ihm an- bedeutet mild Wetter, gute Witterung, Mäßigung der Luft.« Zur neueren Atmo-
gebracht werden könne.« Zit. nach: Krüger: Träume. . Aufl., Halle 1785, S. 437 f. sphärenforschung siehe u. a. Gernot Böhme: Das Wetter und die Gefühle. Für
(15. Traum). eine Phänomenologie des Wetters. In: Kerstin Andermann u. Undine Eberlein
17 Johann August Unzer: Neue Lehre von den Gemüthsbewegungen. Halle 1746. (Hg.): Gefühle als Atmosphären. Neue Phänomenologie und philosophische
Faksimile hg. v. Carsten Zelle, Halle 1995. Emotionstheorie. Berlin 11, S. 153-166.

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Mit dem menschlichen Leibe hat es eben dieselbe Beschaffenheit. Aber ist .
es auch hier desto mercklicher, je stärker die Nerven gespannt sind, das ist,
je empfindlicher der Cörper ist […]. Denn ein Mensch, welcher zarte Betrachtet man Ernst Anton Nicolais Vorrede zu seiner Schrift Die Verbin-
Nerven hat, die dabey sehr gespannt sind, wird eine Veränderung in sei- dung der Musik mit der Artzneygelahrheit, so fällt die gedankliche Nähe zum
nem Leibe wahrnehmen, wenn die Witterung schleunig abwechselt. Er zweiten Band der Naturlehre seines Lehrers Krüger unmittelbar ins Auge.
wird zwar nicht sagen können, daß er Schmertzen empfinde, aber er wird Zwar sind diese beiden Bücher im gleichen Jahr 1745 erschienen, sodass es
doch versichern, daß er bey trüber und regnigter Witterung niemals so fraglich ist, ob Nicolai Krügers Abhandlung zu den Empfindungen schon
aufgeräumt und vergnügt sey, als wenn das Wetter heiter ist und das kannte, bevor er seine Schrift verfasste. Da Krügers »Vorlesungen über Na-
Quecksilber im Barometer hoch hinaufsteiget. Ja auch alsdenn, wenn es turlehre, die er in den vierziger Jahren in Halle hielt, [jedoch] zu den Starver-
vorher gelinder gewesen ist und auf einmal ein Frost einfällt, wird er so- anstaltungen der Universität«3 gehörten, ist davon auszugehen, dass Nicolai
wohl am Leibe, als [auch am] Gemüthe eine Veränderung wahrnehmen. die Ansichten seines Lehrers wenn nicht auf dem Papier, so doch sicherlich
Sollte dieses nun wohl einer andern Ursache zuzuschreiben seyn, als daß schon im Hörsaal kennengelernt hatte, als er sein eigenes Buch schrieb. So
die Fäsergen durch viele Feuchtigkeit schlaffer gemacht und bey einer hei- greift er gleich zu Beginn den Gedanken auf, »daß alle Fäserchen des
tern, besonders kalten Luft stärcker gespannt werden? Da aber diese Span- menschlichen Körpers ihre Tone hätten die sich entweder wie die Consonan-
nung oder Nachlassung derselben nach und nach geschiehet, und nicht tien oder Dissonantien in der Musik verhielten«,4 und spricht wie Krüger
alle Fäsergen der Nervenhäute von gleicher Dicke und Länge sind, auch von dem menschlichen Körper5 als einem »musicalischen Instrumente«,
vielleicht nicht bei allen die Veränderungen zu gleicher Zeit, in gleichem und zwar einer »Violine«. An zahlreichen Beispielen könnte gezeigt werden,
Grade geschiehet; so werden sie sich währender dieser Veränderung in der wie Nicolai Krügers Empfindungslehre in seiner Vorrede als Grundlage sei-
Verhältniß befinden, dergleichen die Dissonantien in der Music haben, ner Ausführungen Stück für Stück referiert. Doch soll der Fokus hier viel-
und man wird folglich eine kurze Zeit über nicht recht aufgeräumt seyn mehr darauf gelegt werden, was die Zielrichtung seiner eigenen Abhandlung
bis die gehörige Proportion unter den Spannungen der Nervenhäute wie- war und welche Rolle die »Stimmung« dabei einnahm.
der hergestellet ist. Nicolais Schrift befasst sich, im Gegensatz zu Krügers allgemeinerer Na-
turlehre, mit der Anwendung von Musik als Heilmittel in medizinischen Be-
Wenn Krüger sein Kapitel »Von der Empfindung überhaupt« mit der Aus- langen. Demzufolge finden sich bei ihm sowohl Paragraphen über die Ge-
sage beschließt, er habe hier »die Music mit der Physiologie in einen schichte der musikalischen Heilkraft, angefangen bei David und Saul bis hin
Zusammenhang«1 gebracht, so setzt er damit die Bedeutung der Musik und zu neuesten Berichten aus Regionalzeitungen, sowie über den Aufbau des
ihrer harmonischen Proportionen – ihrer reinen »Stimmung« – wie ein Aus-
rufezeichen nochmals hinter seine Ausführungen. Wie dieses Stimmungs-
konzept und der Bezug zwischen Physiologie und Musik rezipiert und trans-  Ernst Anton Nicolai: Die Verbindung der Musik mit der Artzneygelahrheit.
Halle 1745. Dieses Buch wurde bisher erstaunlich wenig zur Kenntnis genom-
formiert wurden, soll im Folgenden gezeigt werden.
men. Erst in jüngster Zeit haben Andreas Waczkat sowie Arne Stollberg Nicolais
Schrift neu thematisiert. Andreas Waczkat: Ernst Anton Nicolais Die Verbindung
der Musik mit der Artzneygelahrtheit (Halle 1745). In: Melanie Wald-Fuhrmann
(Hg.): Steinbruch oder Wissensgebäude? Zur Rezeption von Athanasius Kirchers
»Musurgia Universalis« in Musiktheorie und Kompositionspraxis. Basel 13,
S. 193-; Arne Stollberg (Hg.): Tonkunst und »Artzneygelahrheit« im 18. Jahr-
hundert. Die Rolle der Musik bei den »vernünftigen Ärzten« aus Halle. Themen-
heft Musiktheorie 31 (16), H. 3.
3 Wolfram Mauser: Johann Gottlob Krüger. Der Weltweise als Arzt – zur An-
thropologie der Frühaufklärung in Deutschland. In: Carsten Zelle (Hg.): »Ver-
nünftige Ärzte« (wie Anm. 9), S. 48-67, hier S. 54.
4 Nicolai: Musik und Artzneygelahrheit (wie Anm. ), Vorrede, o. S.
 Krüger: Naturlehre  (wie Anm. 1), S. 656 f. 5 Inwiefern die Begriffsdifferenz zwischen »Leib« (Krüger) und »Körper« (Nico-
1 Ebd., S. 657. lai) von Bedeutung ist, kann an dieser Stelle nicht geklärt werden.

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Ohres und über die Akustik. Da unter Rekurs auf Krüger für Nicolai »alle Es zeigt sich jedoch, dass Nicolai trotz seiner offenkundigen Bezugnahme
Veränderungen und Bewegungen in unsern Körpern von dem Tone aller auf Krügers Neurophysiologie letztlich eine andere Vorstellung des Stim-
Fäserchen herrühren«,6 zieht er daraus den Schluss, dass mungsprozesses des menschlichen Körpers hat als sein Lehrer. Denn im Ver-
lauf seiner Abhandlung spricht er sich deutlich gegen eine bloße Reduzie-
der Mensch gesund sey, wenn alle Fäserchen eine ihrer Dicke und Länge rung der gesundheitlichen Verfassung des Körpers auf die harmonischen
dergestalt proportionierte Spannung besitzen, daß sich ihre Tone wie die Proportionen entsprechende Stimmung der Nervenfäserchen und damit
Consonantien in der Musik verhalten, und kranck, wenn sie sich wie die gegen einen rein mathematischen Zusammenhang zwischen Medizin und
Dissonantien verhalten. […] Solchergestalt bestehet die Gesundheit in Musik aus. Er konzentriert sich vielmehr auf die Musik als Klangkunst, die
einer Harmonie der Fäserchen, und die Krankheit in ihrer Disharmonie.7 Seele und Körper durch Affekterregung in Bewegung zu versetzen vermag,
wenn er schreibt:
Die Konzentration auf die medizinische Praxis ist es, die Nicolai von der pas-
siven Gestimmtheit der Nervenfäserchen nun, in Weiterführung von Krü- Ich halte vielmehr davor, daß die Wirkungen, welche die Musik in dem
gers Ideen, konsequent zur aktiven Tätigkeit des Stimmens der Fäserchen Körper hervorbringet, daher rühren, weil sie Leidenschaften erregen kan
durch den Arzt führt, dessen Arbeit demnach »darinnen bestünde, daß er […]. Nun ist bekannt, daß die Leidenschaften Veränderungen im Körper
entweder die Fäserchen in der Harmonie erhielte, oder dieselben wenn sie in verursachen. Es ist ferner gewiß, daß dasienige, welches Veränderungen
eine Disharmonie gerathen wären, wieder so zu stimmen wüßte, daß ihre im Körper hervorbringt, entweder die Gesundheit desselben befördern,
vorige Harmonie herauskäme«; ein Stimmen, das gelingen kann oder nicht, oder Krankheiten erzeugen könne. Sollte also nicht die Musik geschickt
denn »[m]ancher stimmt und künstelt so lange an dem menschlichen Kör- seyn die Gesundheit zu befördern und Kranckheiten zu verursachen?3
per, bis er ihn endlich gar verdirbt. Das kommt daher, weil er entweder die
Kunst nicht recht verstehet, oder die gehörige Behutsamkeit nicht anwendet, Das Stimmungskonzept, das bei Krüger auf Nerven und Empfindungen zu-
sondern alles mit Gewalt zwingen will.«8 geschnitten war, stellt für Nicolai demnach zwar Grundlage und Ausgangs-
Nicolais Anliegen ist es, ebendieses Misslingen des Stimmens weitest- punkt seiner Untersuchung über die »Verbindung von Musik und Artzney-
gehend zu verhindern. Er entwickelt daher eine Art Anleitung zur richtigen gelahrheit« dar, indem es diese beiden Bereiche überhaupt miteinander in
Verwendung von Musik in der Heilkunst. Wie pragmatisch und auch rea- Bezug setzt. In seiner tatsächlichen Anwendung von Musik für die Medizin
litätsbezogen er dabei vorgeht, zeigt sich, wenn er eine vollständige Harmo- jedoch entwickelt Nicolai das Krüger’sche Konzept weiter. Ebenso wie bei
nisierung der Nervenfäserchen nicht nur als unmöglich, sondern auch als Unzer rücken nun auch bei Nicolai die Affekte in den Vordergrund – kon-
unnötig auffasst: kret die durch Musik ausgelösten Affekte. Diese stehen jedoch weniger mit
den Nerven als vielmehr mit der Einbildungskraft der Seele31 in engstem Zu-
Man weiß ja, daß eine Harmonie eine Harmonie bleibt, wenn sich gleich sammenhang. Denn die Musik kann laut Nicolai »die Einbildungskraft, so
Dissonantien in derselben befinden. Nur müssen die Consonantien die von grosser Liebe und andern Ursachen in Unordnung gerathen ist, [wieder]
Oberhand behalten und die Dissonantien wohl angebracht worden seyn. in Ordnung bringen«.3 Über dieses Verständnis von »Ordnung«33 findet
Und eben so ist es mit dem menschlichen Körper beschaffen. Je größer die letztlich die Krüger’sche »Stimmung«, die mit seiner Abweisung einer bloßen
Harmonie der Fäserchen ist, desto gesunder ist er, und ie kleiner dieselbe Konzentration auf die Nervenfasern und Instrumentalsaiten zunächst ver-
ist, desto weniger ist er gesund.9 loren gegangen schien, doch wieder Eingang in Nicolais »Verbindung von
Musik und Artzneygelahrheit«.

3 Ebd., S. 37.
6 Nicolai: Musik und Artzneygelahrheit (wie Anm. ), Vorrede, o. S. 31 Vgl. dazu auch Ernst Anton Nicolai: Wirkungen der Einbildungskraft in den
7 Ebd. menschlichen Körper. Halle 1744.
8 Ebd. 3 Nicolai: Musik und Artzneygelahrheit (wie Anm. ), S. 44.
9 Ebd. 33 Siehe den Beitrag von Janine Firges im vorliegenden Band.

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3. licht wurde. Platner hatte eine »Entwicklung von einem moderaten Lockea-
nismus zu einem kantisch verfeinerten Leibnizianismus«39 vollzogen, was
Nach der Wiederentdeckung der »vernünftigen« Ärzte um Krüger durch die sich in einer in Aufbau und Inhalt von der ersten Version auffällig unter-
Literaturwissenschaft seit der Wende zum 1. Jahrhundert wird diskutiert, scheidenden zweiten Version manifestierte.
»die Anfänge der deutschsprachigen Anthropologie als einer Wissenschaft Grundsätzlich ging es Platner, wie schon Krüger, Nicolai und Unzer, um
vom ›ganzen Menschen‹ aus der Spät- in die Frühaufklärung nach Halle den Menschen als »Harmonie von Körper und Seele«, die »in ihren gegen-
vorzudatieren«,34 anstatt erst Ernst Platners Anthropologie für Aerzte und seitigen Verhältnissen, Einschränkungen und Beziehungen zusammen
Weltweise von 177 als entscheidende Wegmarke anzunehmen.35 Denn betrachtet«4 werden sollten. Mit seinem Konzept der Nerven jedoch setzte
ebenso wie Platner hatten auch die älteren Mediziner schon für die Erfor- er sich ausdrücklich von den älteren Medizinern ab, die »ganz falsch« von
schung des Menschen durch eine neue einer »Oscillation der [Nerven-]Fibern«, deren »Ziehen oder Schwingen«41
ausgegangen seien. Platner vertritt stattdessen die These, die Nerven wirkten
mittlere Wissenschaft [plädiert], die so zu sagen, zwischen Weltweisheit »nicht als Fäden, sondern als Kanäle, d. i. vermittelst der in ihnen fließenden
und Arzneiwissenschaft zu stehen kommen müste, und die zwar nicht so Lebensgeister«.4 Auch Krüger war von der Vorstellung eines Nervensaftes
algemeine Bestimmungen des menschlichen Körpers, als in der Philoso- ausgegangen, welcher die Bewegungen der Nerven zum Gehirn weiterleitete.
phie vorkommen, aber auch nicht so specielle Warheiten in sich enthalten Entscheidend für Krügers physiologisches Stimmungskonzept war jedoch
müßte, als gleich in denen ersten Theilen der Arzneiwissenschaft vorkom- die Schwingung der Nervenfäserchen, die bei Platner wiederum keinerlei
men.36 Rolle spielen. Und während bei Krüger die Ähnlichkeit der Nervenfäserchen
zu Instrumentalsaiten durch ihre Elastizität bewiesen wurde, heißt es bei
Unzer nennt diese »mittlere Wissenschaft« in ausdrücklicher Anlehnung an Platner ausdrücklich: »Die Nerven liegen nicht frey, nicht aufgespannt und
Krügers Betonung der »schwesterlichen Verbindung […] zwischen Artzney- angezogen«;43 sie »sind weich, und nicht elastisch«.44
gelahrheit und Weltweisheit«37 »algemeine Physiologie«38. Erst beim jünge- Doch obwohl mit seiner Ablehnung der Elastizität der Nerven die Grund-
ren Mediziner Ernst Platner heißt sie, wie schon der Titel seines Werkes sagt, lage für die Analogie zwischen Instrumentalsaiten und Nerven bei Platner
ausdrücklich »Anthropologie«. Dementsprechend mag auch Platners Stim- nicht mehr greifen kann, spricht er vom »Ton der Seele«,45 und zwar kon-
mungskonzept in Abgrenzung zum »physiologischen« Johann Gottlob Krü- kret vom Ton der Seele des Philosophen; ein Ton, »welcher fast durch jede
gers als »anthropologisch« bezeichnet werden. Denn bei Platner emanzipiert Idee zum Nachdenken gestimmt«46 werde. In seiner Neuen Anthropologie
sich der Begriff der Stimmung allmählich von der direkten Verknüpfung mit schließlich erscheint der Begriff »Stimmung« als »Stimmung des Gehirns«,47
den Nerven sowie der Verbindung von Physiologie und Musik; er verwendet
ihn stattdessen mehr und mehr im Sinne von »Gemütsverfassung«. 39 Guido Naschert u. Gideon Stiening: Zur Einführung. Ernst Platner (1744-1818).
Platners Anthropologie für Aerzte und Weltweise liegt in zwei Versionen vor. Konstellationen der Aufklärung zwischen Philosophie, Medizin und Anthropolo-
gie. In: dies. (Hg.): Aufklärung. Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des
Denn der Mediziner war mit seiner ersten Abfassung von 177 bald unzufrie- 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte. Themenschwerpunkt: Ernst
den und setzte das ganze Unternehmen nach einigen Jahren in einer Neuen Platner (1744-1818). Konstellationen der Aufklärung zwischen Philosophie, Medi-
Anthropologie für Aerzte und Weltweise noch einmal um, die 179 veröffent- zin und Anthropologie. Hamburg 7, S. 7-, hier S. 1. Für den Stimmungs-
diskurs sind die Unterschiede zwischen den beiden Versionen jedoch zu vernach-
lässigen.
34 Zelle: Sinnlichkeit und Therapie. Zur Gleichursprünglichkeit von Ästhetik 4 Ernst Platner: Anthropologie für Aerzte und Weltweise. Leipzig 177, S. IV, XVI;
und Anthropologie um 175. In: ders. (Hg.): »Vernünftige Ärzte« (wie Anm. 9), zit. nach: Naschert u. Stiening: Zur Einführung (wie Anm. 39), S. 7 f.
S. 5-4, hier S. 1. 41 Platner: Anthropologie (wie Anm. 4), S. 4 f.
35 Vgl. Mauser: Krüger (wie Anm. 3), S. 48. 4 Ebd., S. 41.
36 Johann August Unzer: Philosophische Betrachtungen des menschlichen Körpers 43 Ernst Platner: Neue Anthropologie für Aerzte und Weltweise. Leipzig 1791, S. 38.
überhaupt. Halle 175, Vorrede, o. S. 44 Ebd., S. 4.
37 Johann Gottlob Krüger: Versuch einer Experimental=Seelenlehre. Halle 1756, 45 Platner: Anthropologie (wie Anm. 4), S. 4.
S. . 46 Ebd.
38 Unzer: Betrachtungen (wie Anm. 36), Vorrede, o. S. 47 Platner: Neue Anthropologie (wie Anm. 43), S. 181.

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»des Nervengeistes«48 oder »der Seele«.49 Diese Stimmungen sind als Prä- wegung des Nervengeistes im Gehirn heftig ist so kommen lauter heftige,
dispositionen auf etwas gerichtet: Es gibt Stimmungen »zu lauter freudigen wilde Vorstellungen in der Phantasie zum Vorschein […]. Ist sie aber lang-
Empfindungen«,5 »zu Empfindungen des Großen«,51 »zu lauter traurigen sam und gemäßigt, so sind die Vorstellungen von einer sanfteren Art.57
Ideen«5 etc. Platners Stimmungen sind außerdem auf eine gewisse Weise ge-
artet, denn sie können »sinnlich«53 oder auch »verdrüßlich«54 sein. Stimmung bezeichnet bei Platner also ganz offensichtlich nichts weiter als
Doch wenn er die Analogie von Nerven und Saiten so deutlich ablehnte, »Bewegung« und unterscheidet sich darin, pragmatisch gesehen, nicht we-
was genau meinte Platner dann mit »Stimmung«? In seiner Neuen Anthropo- sentlich von der Bewegung der Krüger’schen Nervenfasern mit dem in ihnen
logie liest man dazu: fließenden Nervensaft. Was bei Platner jedoch fehlt, ist der Vergleich der
Nerven mit den Saiten eines Instruments und die ausdrücklich betonte Ver-
Jede Art von Bewegung der Muskeln […] scheint zu erfodern eine gewisse bindung von Physiologie und Musik. Bei Krüger waren es einzig dieser Ver-
Art, und gleichsam einen gewissen Ton der Bewegung des Nervengeistes; gleich und diese Verbindung, die das Reden von »Stimmung« im physiologi-
und wenn dieser Ton einmal angegeben ist, so sind die Muskeln bereit schen Zusammenhang verständlich und sinnvoll machten. Platner jedoch
und geschickt zu allen Bewegungen, welche durch diesen Ton hervor- verwendet die Begriffe »Ton« und »Stimmung« nur noch metaphorisch, los-
gebracht werden können. Eben so wird auch, wenn eine materielle Idee gelöst von der Musik – mag sie dem Ganzen auch weiterhin »als abstrakter
erregt wird, in dem Nervengeiste und in den Gehirnfibern gleichsam der Kern von Wahrheit«58 zugrunde liegen. Platner vollzieht damit einen ent-
Ton angegeben, durch welchen andere nach näherer oder entfernterer scheidenden Schritt zur Emanzipierung der Stimmung von der Anbindung
Ähnlichkeit verbundene [Ideen] erweckt werden können. Denn ähnliche an die schwingenden Instrumentalsaiten – und damit an die mathema-
Vorstellungen […] scheinen nichts anders zu seyn, als Bewegungen der tischen Gesetzmäßigkeiten der Musik. Platners Stimmungsbegriff kann auf-
Gehirnfibern, welche durch dieselbe Art von Stimmung des Gehirns er- grund seiner Fokussierung auf die Empfindungswelt und seiner metaphori-
regt werden.55 schen Verwendung konsequenter als Begriff der empfindsamen Ästhetik
bezeichnet werden als der der »vernünftigen« Ärzte vor ihm.
Eine spezifische »Stimmung« versetzt bei Platner somit die Seele in eine ge-
wisse Verfassung, durch die der Mensch die Dinge um ihn herum auf eine
ganz bestimmte Art und Weise, gleichsam mit einer ganz bestimmten Fär- 4.
bung, wahrnimmt und bewertet. Außerdem weitet sich diese Stimmung
auch auf »ähnliche Vorstellungen« aus, d. h., sie führt dazu, dass alles andere Krügers Empfindungslehre wurde nicht nur in der Medizin rezipiert.
ebenfalls mit dieser Färbung belegt wird, »wie ein Mensch auf Veranlassung Sie hatte auch einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Musikästhe-
einer einzigen verdrüßlichen Nachricht, sogleich voll von lauter verdrüß- tik der nachfolgenden Jahrzehnte und bildet damit einen entscheidenden
lichen Vorstellungen werden kann«.56 Auch hängt die Kristallisationspunkt von Wissenstransfer und Wissenstransformation zwi-

ästhetische[…] Verschiedenheit der Vorstellungen […] von einer verschie- 57 Ebd., S. 3.
denen Stimmung des Nervengeistes im Gehirn ab […]. Z. B. Wenn die Be- 58 »Das Wort von einer Musikalisierung der Sinne scheint auf den ersten Blick nur
eine Metapher zu sein, mit der wir unserer Neigung nachgeben, für Eindrücke
aus den verschiedensten Bereichen Ausdrücke aus der Musik zu verwenden. Wir
48 Ebd., u. a. S. 3 f. sprechen ebenso von der Dominante eines Gedankens, vom kontrapunktischen
49 Ebd., u. a. S. 465. Aufbau eines Gedankenganges, wie von der Musikalität einer architektonischen
5 Ebd., S. 457. Fassade – zugegeben, nicht zur Freude des nüchternen Fachmannes, aber doch
51 Ebd., u. a. S. 465. bei aller Emphase aufschlußreich. Denn die Metaphern kommen nicht von un-
5 Ebd., S. 476. gefähr, sondern enthalten im tertium comparationis einen abstrakten Kern von
53 Ebd., u. a. S. 615. Wahrheit.« Helmuth Plessner: Die Musikalisierung der Sinne. Zur Geschichte
54 Ebd., S. 51. eines modernen Phänomens (197). In: Günter Dux, Odo Marquart u. Elisabeth
55 Ebd., S. 181. Ströker (Hg.): Helmuth Plessner. Gesammelte Schriften. Bd. 7: Ausdruck und
56 Ebd. menschliche Natur. Frankfurt a. M. 198, S. 479-49, hier S. 481.

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schen Medizin und Ästhetik im 18. Jahrhundert. So setzte sich etwa Johann Der von Mendelssohn hier angesprochene Ton kann als kunstästhetische
Georg Sulzer schon Anfang der 175er Jahre ausführlich, wenn auch durch- Transformation oder »Fortführung« der physiologischen Nervenstimmung
aus kritisch, mit Krüger und insbesondere seinem neurophysiologischen verstanden werden.63 Dass der »gute Ton«, der der temperierten Stimmung
Stimmungskonzept auseinander. Wolfgang Proß hat darauf aufmerksam ge- entsprechend nicht unbedingt natürlich rein, sondern durchaus an das har-
macht, dass unter anderem »Sulzers Theorie der sinnlichen Empfindungen, monische Miteinander des großen Ganzen angepasst, »temperiert«, sein
die Akzentuierung der Konsonanz von Nervenprozessen und Arten des Ver- sollte, findet sich darüber hinaus in gesellschaftlichen und politischen Dis-
gnügens [auf Krüger] als letzte Instanz zurückzuführen«59 seien. Auch wenn kussionen der Zeit.64
Sulzer jedoch Krügers Analogie von gespannten Nerven und Instrumental- Über Mendelssohn war auch Johann Gottfried Herder mit Krügers Emp-
saiten in seiner Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und unange- findungslehre vertraut. Auf die Bedeutung Krügers für Herders zunächst un-
nehmen Empfindungen (Vortrag 1751/5) zurückweist, so räumt er doch ein: veröffentlicht gebliebenes Viertes kritisches Wäldchen65 und seinen Essay Vom
»Die Momente [der Empfindung] können so stark seyn, daß sie die Nerven, Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele66 hat die Sekundärliteratur
statt sie zu berühren, erschüttern, und dann theilt sich die Bewegung auch vermehrt hingewiesen. So wurde für Letzteren herausgearbeitet, dass »[d]ie
andern Nerven mit, und verbreitet sich durch einen großen Theil des Kör- Krügersche Theorie« hier »im Gewand von Mendelssohns« Briefen über die
pers oder durch das ganze Nervensystem.«6 Empfindungen hervortrete und von Herder mit der Lehre des bekannteren
Krügers Schriften waren nachweislich auch in der Bibliothek von Moses Mediziners Albrecht von Haller »nur überformt« worden sei, »um seinen
Mendelssohn vorhanden, der in seinen Briefen über die Empfindungen von Ausführungen größere Aktualität zu verleihen (allerdings mit der Konse-
1755 die Gedanken Krügers »massiv«61 verarbeitet hat. Eine offensichtliche quenz, daß die moderne Forschung […] H[erder] eine Fehlinterpretation
Referenz konkret auf Krügers Stimmungskonzept findet sich insbesondere im Hallers vorgeworfen hat)«.67 Diese Fehlinterpretation wiederum folge aus
1. Brief, wo es heißt: der Tatsache, dass der große Einfluss Krügers auf Herder nicht erkannt wor-
den sei.
Die Zergliederer des menschlichen Körpers haben […] gelehrt, daß die Exemplarisch kann dies an der Frage der analog zu Instrumentalsaiten
nervigsten Gefässe sich in tausend labyrinthischen Gängen so zart durch- elastischen Nervenfäserchen aufgezeigt werden. Wie oben schon erwähnt
kreutzen, daß in dem gantzen Baue alles mit einem, und eines mit allem wurde, nahm die Elastizität in Krügers neurophysiologischem Konzept eine
verknüpft ist. Die Grade der Spannung theilen sich von Nerve zu Nerve grundlegende Rolle ein, denn ohne sie wäre keinerlei Zittern, Schwingen,
harmonisch mit, und niemals geschiehet eine Veränderung in einem Oszillieren der Nerven möglich. Dass die Annahme der Elastizität der Ner-
Theile, die nicht gewissermassen einen Einfluß auf das Gantze hat. Diese venfasern jedoch durchaus nicht selbstverständlich war, zeigt sich an der Tat-
harmonische Spannung nennen die Kunstverständigen den Ton.6 sache, dass zeitgenössische Ärzte wie Haller oder auch Platner gerade nicht
von einer elastischen Konstitution der Nervenfasern ausgingen, ja diese so-
gar ausdrücklich ablehnten. Herder scheint in Vom Erkennen und Empfinden
59 Siehe Wolfgang Proß: »Meine einzige Absicht ist, etwas mehr Licht in die Phy-
eindeutig die Krüger’sche Partei zu ergreifen, wenn er von der »Elasticität«
sik der Seele zu verbreiten«. Johann Georg Sulzer (17-1779). In: Hellmut
Thomke, Martin Bircher u. ders. (Hg.): Helvetien und Deutschland. Kulturelle als einer der in der Natur »würkenden Kräfte«68 spricht, von »Elasticität,
Beziehungen zwischen der Schweiz und Deutschland in der Zeit von 177-183.
Amsterdam 1994, S. 133-148, hier S. 143.
6 Johann Georg Sulzer: Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und un- 63 Wenn Platner ebenfalls von »Ton« sprach, so ist dies jedoch sicherlich mehr im
angenehmen Empfindungen (1751/5); zit. nach: Proß: Sulzer (wie. Anm. 59), S. 148. physiologisch-ästhetischen, weniger im kunstästhetischen Sinne zu verstehen.
61 Proß: Anhang. In: ders. (Hg.): Johann Gottfried Herder. Werke. Bd. : Herder 64 Siehe dazu den Beitrag von Gesa Frömming im vorliegenden Band.
und die Anthropologie der Aufklärung. München u. Wien 1987, S. 845-133, hier 65 Johann Gottfried Herder: Kritische Wälder. Oder Betrachtungen über die Wis-
S. 18: »[…] bei Krügers psychologisch-anthropologischem Ansatz und dessen senschaft und Kunst des Schönen: Viertes Wäldchen. Über Riedels Theorie der
massiver Verarbeitung in Mendelssohns Briefen über die Empfindungen.« schönen Künste (1769). In: Proß (Hg.): Herder (wie Anm. 61), S. 57-4.
6 Moses Mendelssohn: Über die Empfindungen (1755). In: Christoph Schule, An- 66 Herder: Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele (1774/1775/1778).
dreas Kennecke u. Grażyna Jurewicz (Hg.): Moses Mendelssohn. Ausgewählte In: Proß (Hg.): Herder (wie Anm. 61), S. 543-73.
Werke. Studienausgabe. Bd. 1: Schriften zur Metaphysik und Ästhetik 1755-1771. 67 Proß: Anhang (wie Anm. 61), S. 11.
Darmstadt 9, S. 41-96, hier S. 68. 68 Herder: Erkennen und Empfinden (wie Anm. 66), S. 664.

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dieser wunderbaren Erscheinung, […] eine[r] Art Avtomat, das sich zwar bare Wahrheit der Ästhetik«77 geht, rücken nun zusätzlich die Gefühle der
nicht Bewegung geben, aber sich wiederherstellen kann«,69 dem »erste[n] Seele in den Fokus:
scheinbare[n] Funken zur Tätigkeit in edlen Naturen«.7 Weiter unten
schließlich spricht Herder vom »gereizte[n] Fäserchen«, das »sich zusam- Der Schall, als Körper, oder sein Element, der Ton, als Linie, trifft also
men[ziehe] und […] wieder aus[breite]«.71 seine Saite im Spiele des Gehörs; in dieser oder jener Richtung? homogen,
Doch schon einige Jahre früher, nämlich in seinem 1769 verfassten Vierten oder nicht? darauf beruhet des Widrige oder gleichsam Glatte des Tons.
kritischen Wäldchen, wird Herders Übernahme des Krüger’schen Nerven- Widrig ist der, der in seine Nerve in einer so ungleichartigen Richtung
schwingungskonzepts offenkundig. Denn hier nutzt Herder die neurophy- hineinzittert, daß alle Fasern gegen einander in eine so widernatürliche
siologische Saitenmetapher im Kontext seiner Gedanken zur emotionalen Bewegung geraten, als wenn die Nerve zerspringen wollte. […] Angenehm
Wirkung der Musik. Zwar wendet er sich ausdrücklich gegen den u. a. auch ist der Ton, der die Nerve in ihren Fasern homogen und also harmonisch
in Krügers Empfindungsgesetz (sowie in Unzers Neuer Lehre von den Ge- berührt, und durchwallet; offenbar also hat diese Annehmlichkeit zwo
müthsbewegungen) manifestierten Trugschluss, man könne von mathema- Hauptarten. Die Nerve wird homogen angestrengt, und die Fibern auf
tischen Berechnungen auf Empfindungsquantitäten und -qualitäten rück- einmal mehr gespannet; oder sie wird erschlaffet, und die Fibern fließen
schließen. Denn Mathematik und Physik »erklären nichts vom einfachen allmählich, wie in eine sanfte Auflösung über. Jenes ist dem Gefühl gleich-
Tone selbst; nichts von der Energie desselben aufs Gehör; nichts von der An- artig, was wir in der Seele Gefühl des Erhabenen nennen; das letzte ist Ge-
mut derselben, einzeln und in der Folge; von allem Nichts. Es gibt also mit fühl des Schönen, Wohllust.78
ihnen noch kein Jota zur Philosophie des Tonartig Schönen.«7 Im Folgen-
den formuliert Herder seinen eigenen Vorschlag einer solchen »Philosophie Widrigkeit und Annehmlichkeit – diese beiden sind demnach zunächst
des Tonartig Schönen«. Dafür greift er explizit auf das »Saitenspiel der Empfindungen, die aus »widernatürlichen« oder »harmonischen« Bewegun-
Gehörfibern« zurück, »die in Zahl, in Lage, in Verhältnis gegen einander, gen der Nerven durch die Einwirkung des Schalls entstehen. Bis dahin geht
in Länge verschieden, gleichsam auf den modificierten Schall warten«,73 Herder mit Krügers Nervenstimmungskonzept durchaus überein. Im nächs-
wenn er seine Unterscheidung von Schall (»nur eine dunkle Form der ten Schritt jedoch vollzieht er den Wechsel von der physiologischen zur
Composition«74) und Ton (»das Wesen der Tonkunst«75) vornimmt.76 Kunstästhetik, indem er die Empfindung der Annehmlichkeit in Abhängig-
Die musikalische Wirkung auf die Seele des Menschen erklärt Herder sich keit ihres Nervenzustandes in zwei daraus resultierende unterschiedliche
durch ein psychophysiologisches Stimmungskonzept der Gehörnerven, das Gefühle auffächert: Harmonisch angespannte Nerven entsprechen demnach
aber gerade nicht, wie bei Krüger, bei der Proportionalität von Nerven- dem ästhetischen »Gefühl des Erhabenen«, harmonisch erschlaffte Nerven
schwingung und Empfindung stehen bleibt. Denn da es Herder um »frucht- dem »des Schönen«. Entscheidend für diese Aufmerksamkeitsverschiebung
von der Empfindung hin zum Gefühl ist Herders Unterscheidung des
Klangs in bloßen Schall (Empfindung) und Ton (Gefühl). »Schall« kann
demnach erst zu »Ton« werden, wenn »Empfindung« zu »Gefühl« fortschrei-
69 Ebd., S. 589. tet und das Gehörte folglich eine ästhetische Bedeutung jenseits von An-
7 Ebd., S. 664. nehmlichkeit oder Unannehmlichkeit erhalten hat.79
71 Ebd., S. 666.
7 Herder: Viertes Wäldchen (wie Anm. 65), S. 14.
73 Ebd., S. 15.
74 Ebd., S. 149. 77 Ebd., S. 15.
75 Ebd. 78 Ebd., S. 151.
76 Und in seiner Dichotomie von Ohr und Auge (vgl. Arne Stollberg: Ohr und Auge 79 Wie Empfindungen zu Gefühlen werden können, beschäftigte noch Eduard
– Klang und Form. Facetten einer musikästhetischen Dichotomie bei Johann Hanslick in seiner berühmten Abhandlung Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag
Gottfried Herder, Richard Wagner und Franz Schreker. Stuttgart 6) spricht zur Revision der Ästhetik der Tonkunst (1854), jedoch mit dem Ergebnis, dass er
Herder entsprechend von »den Nerven des Auges, die doch auch als Saitenspiel »der Wirkung der Musik auf den Körper und die Gefühle jegliche ästhetische
für die Farben betrachtet werden«. Herder: Viertes Wäldchen (wie Anm. 65), Qualität« abspricht, siehe Welsh: Nerven – Saiten – Stimmung (wie Anm. 7),
S. 151. S. 113 f.

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Dies soll keineswegs heißen, dass nicht auch für Herder die Wirkung der den, und es in Himmel und Erde, in der hohen Region des Denkens und
Musik aufs Engste mit der Physiologie verbunden ist; jedoch nicht nur mit in der niedern aber fruchtbaren Gegend des Empfindens kein Phänomen
Neurophysiologie wie bei Krüger, sondern vor allem mit »Seelenphysio- geben, das nicht in Ein Weltall gehörte.84
logie«, wenn es weiter unten im Vierten kritischen Wäldchen heißt: »Muse der
Tonkunst, welche Eingebungen sind in deiner Hand, um die Physiologie der Die Vorstellung von Stimmung, von der Herder hier ausgeht, spielt mit dem
Menschlichen Seele zu enträtseln.«8 Wissen der Physiologie, verknüpft dieses jedoch außerdem wieder mit den
Herders Sprechen vom »Saitenspiel« des Ohrsinns ist demnach letztlich weit zurückliegenden Ursprüngen des Stimmungsbegriffs, die Spitzer in der
auf die »Physiologie der Menschlichen Seele« ausgerichtet, d. h. auf das Emp- antiken Philosophie der Pythagoreer und ihrer wirkmächtigen Vorstellung
finden und Fühlen des Subjekts, das – wenn man von der damaligen Ge- einer Sphärenharmonie festgemacht hat.85 Hier klingt schon die romantische
fühlstopologie ausgehen will – »Innere« des Menschen. Betrachtet man aus Musikästhetik an, die ebenfalls die Idee einer Weltenharmonie wiederauf-
diesem Blickwinkel noch einmal Herders späteren Essay Vom Erkennen und greift, doch nicht ohne sie letztlich auf der Grundlage der Errungenschaften
Empfinden, so wird deutlich, dass er sich hier allmählich von dieser aufkläre- der Empfindsamkeit zu einem ganz eigenen Konzept zu transformieren.
rischen Konzentration auf das Subjekt löst und mehr und mehr das große
Ganze in den Blick nimmt – eine Entwicklung, die spätestens mit seiner Kal-
ligone von 18 gänzlich vollzogen wurde.81
In Vom Erkennen und Empfinden nämlich zitiert Herder den folgenden
Ausschnitt aus einer frühen Version von Johann Philipp Lorenz Withofs Ge-
dicht Frühlingsphantasien: »Sie [die Welt/die Natur] war die Laute seiner
[d. i. Gottes] Hand / die er zu unsrer Lust erfand / er gab ihr Millionen Sai-
ten / und jede klingt und jeder Klang / tönt zum harmonischen Gesang / zur
Lehre seiner Heimlichkeiten!«8 Auch wenn hier von einer Laute – und nicht
von einer Violine – die Rede ist, so liegt diesem poetischen Bild dennoch
fraglos die Analogie des Menschen mit einem musikalischen Instrument zu
Grunde. Im Gegensatz zu Krüger jedoch, der diese Analogie für seine Phy-
siologie nutzbar machte und damit das Konzept von Konsonanz und Disso-
nanz aus der jahrhundertealten Tradition der Weltenharmonie auf den ein-
zelnen Menschen zuspitzte, bewegt sich Herder nun allmählich wieder vom
Mikrokosmos des einzelnen Menschen auf den allumfassenden Makrokos-
mos zu, allerdings ohne die sinnliche Erfahrung als Methode aufzugeben.
Denn in seinen dem zitierten Gedicht vorausgehenden Überlegungen zur
unglücklichen »Feindschaft der Metaphysik und Erfahrung, des Abstraktum
und Concretum, des Denkens und der Empfindung«83 heißt es, wiederum
einer Musikmetapher folgend:

Jede Note müßte ihren unterschiednen Klang und schickliche Stelle selbst
finden, die Widersprüche nur Unterschiede und Regelmäßigkeiten wer-

8 Herder: Viertes Wäldchen (wie Anm. 65), S. 153.


81 Siehe dazu Wolfgang Fuhrmanns Beitrag im vorliegenden Band.
8 Herder: Erkennen und Empfinden (wie Anm. 66), S. 586, 696. 84 Ebd., S. 586.
83 Ebd., S. 585. 85 Spitzer: Stimmung (wie Anm. 1).

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