Deutsche Pünktlichkeit - Die Vertaktung Des Lebens - Goethe-Institut PDF

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Sprache. Kultur. Deutschland.

DEUTSCHE PÜNKTLICHKEIT

DIE VERTAKTUNG DES


LEBENS
ARCHITEKTUR AUTOR
BIBLIOTHEKEN
BILDENDE KUNST Klaus Lüber ist Kultur­ und
BILDUNG UND WISSEN Medienwissenschaftler und arbeitet
als freier Autor für die „Süddeutsche
DESIGN UND MODE Zeitung“, „Die Zeit“ und „Die Welt“.
FILM
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ZEITGESCHEHEN Internet­Redaktion
LITERATUR September 2014
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Pünktlichkeit ist erlernt. | Foto (Ausschnitt): © janonkas ­ Fotolia.com  Artikel drucken
 Alltag, Deutschland,
Ohne Pünktlichkeit wäre das Leben in Mitteleuropa nach wie vor nur
Zusammenleben
SERVICE schwer vorstellbar. Dabei ist das Diktat der Uhr ein Überbleibsel aus der
Industrialisierung und für die moderne Zeitforschung eigentlich ein
 App „Deutsche Spuren“
Auslaufmodell. LINKS ZUM THEMA
Zwei Menschen wollen sich treffen. Sie verabreden sich zu einer bestimmten
 Zeitwahrnehmung. Wie wir ticken
Uhrzeit, sagen wir, um 14 Uhr. Person A trifft fünf Minuten vor der (zeit.de)
verabredeten Zeit ein, bestellt sich einen Kaffee und blättert ein wenig in  Zeitwahrnehmung. Von gaaanz
einem Magazin. Person B kommt, leicht außer Atem, um 14.15 Uhr an den langsam bis ruckzuck (swr.de)
Tisch, an dem es sich Person A schon bequem gemacht hat. B entschuldigt
sich für die Verspätung. Ein wichtiger Anruf sei dazwischengekommen, kurz
bevor er gehen wollte. Beide lächeln, alles ist gut.

Wenn Sie Mitteleuropäer oder Deutscher sind, dann ist die Wahrscheinlichkeit
groß, dass Ihnen diese Szene wie eine Art Naturgesetz vorkommt. Man
verabredet sich zu einer bestimmten Uhrzeit, bemüht sich, pünktlich zu
erscheinen und entschuldigt sich, wenn man sich verspätet.

DIE ERFINDUNG DER PÜNKTLICHKEIT


In Wahrheit ist so ziemlich alles an diesem Setting ein hochkomplexes
kulturelles Konstrukt. Fast nichts an der Art und Weise, wie verabredete
Menschen sich treffen, ist selbstverständlich. Fast alles ist erlernt. Und dazu
gehört vor allem die Pünktlichkeit.

„Das Verhalten der Pünktlichkeit ist gegen die menschliche Zeitnatur“, sagt
Karlheinz Geißler, emeritierter Professor für Wirtschaftspädagogik und einer
der am meisten zitierten deutschen Experten für die Kulturgeschichte der
Zeitwahrnehmung. „Der Mensch wird nicht pünktlich geboren, stirbt nicht
pünktlich, sondern er muss pünktlich gemacht werden.“ Die Pünktlichkeit, so
Geißler, sei im Grunde eine Erfindung des 19. Jahrhunderts: Erst im Zeitalter
der Industrialisierung wurde es wegen der Massenproduktion mechanischer
Uhren möglich, bestimmte Zeitpunkte allgemeingültig festzulegen. So erhielt
die Beachtung der Uhrzeit immer mehr gesellschaftliche Relevanz.

Das Leben nach der Uhrzeit wurde zur Tugend, die Pünktlichkeit eines der
wichtigsten Merkmale des sogenannten neuen, modernen Menschen. „Der
neue Mensch sollte objektiviert, quantifiziert und, in Uhrwerk­ und
Maschinensprache, neu definiert werden. Vor allem sollte sein Leben und
seine Zeit mit der Uhr gleichgeschaltet werden, mit den Erfordernissen des
Zeitplans und der Effizienz“, schreibt der amerikanische Soziologe Jeremy
Rifkin in seinem Klassiker Uhrwerk Universum. Die Zeit als Grundkonflikt des
Menschen. Vor der Erfindung der Uhr war es nahezu unmöglich, die
Aktivitäten der Menschen zeitlich genau zu koordinieren. Das machte die
Industrialisierung aber unbedingt notwendig. Pünktlichkeit wurde zum groß
angelegten Erziehungsauftrag für die sich formierende Industriegesellschaft.
DIE ENTPROGRAMMIERUNG DER GESELLSCHAFT
Dass dies in Mitteleuropa, speziell in Deutschland, offenbar besonders gut
funktioniert hat, gilt immer noch als Fakt. Wie hochartifiziell die so oft zitierte
deutsche Pünktlichkeit aber eigentlich ist, zeigt sich in den gewaltigen
Unterschieden, wie andere Kulturen Uhrzeit und Leben koordinieren. Wer
sich in einer ihm fremden Kultur verabredet, muss den Umgang mit
Pünktlichkeit oftmals neu erlernen: Wann kann man mit seiner Verabredung
rechnen, wenn überhaupt? Wie viel Bedeutung sollte dem zu spät
Kommenden zugemessen werden? Welche Art von Entschuldigungen ist zu
erwarten und gilt als akzeptabel? Ist es eventuell sogar unhöflich, pünktlich
zur vereinbarten Uhrzeit zu erscheinen?

Und selbst in unserem scheinbar so konsistenten mitteleuropäischen
Verständnis von Pünktlichkeit gibt es Brüche. Während es im
mitteleuropäischen Kulturraum lange Zeit nur schwer vorstellbar war,
verbindlich zu sein, ohne Verabredungen pünktlich einzuhalten, ist genau
dies mittlerweile der Fall. „Wir können verbindlich sein und trotzdem
unpünktlich – indem wir anrufen“, so Geißler. Auch in anderen Bereichen
richten immer weniger Menschen ihr Leben nach der Uhr aus. Fernsehen on
demand wird sich durchsetzen, Zeitungsartikel können jederzeit im Internet
gelesen, Radiosendungen als Podcast nachgehört werden. „Wir
entprogrammieren unsere Gesellschaft“, prognostiziert der Zeitforscher
Geißler.

RHYTHMUS STATT TAKT


Fast wirkt es ein wenig so, als erfülle sich etwas, was uns zahlreiche
Ratgeberbücher schon seit Jahren nahelegen: Wir müssen uns
entschleunigen, uns gegen das Diktat der Uhr stellen, die unser Leben
künstlich vertaktet. Der Takt, per definitionem Wiederholung ohne
Abweichung, müsse wieder ersetzt werden durch den Rhythmus, die
Wiederholung mit Abweichung.

Tatsächlich sind es nämlich Rhythmen, die alle Lebewesen zeitlich
strukturieren. Biologen haben herausgefunden, dass in jeder Zelle eine Uhr
tickt: die Körperzeit des sogenannten circadianen Rhythmus, die unser
ganzes Dasein steuert. Sie bestimmt, wann wir wach werden, wann wir müde
werden, nach welchem Zyklus unsere Organe arbeiten. „Diese Körperuhren
steuern die Physiologie, das Verhalten und Erleben. Dabei werden alle diese
inneren Uhren über das Sonnenlicht synchronisiert, so dass sie im Gleichtakt
schwingend uns durch den Tag und die Nacht bringen“, erklärt der Freiburger
Zeitforscher und Psychologe Marc Wittmann. Direkt wahrnehmen können wir
die Körperzeit zwar nicht. Doch wir können und sollten die Signale unseres
Körpers ernster nehmen: Wann ist mein Leistungshoch? Wann wäre es
besser, eine Pause zu machen? 

„Wir haben heute die große Chance, wieder mehr nach unserer natürlichen
Eigenzeit zu leben als nach der Uhr“, sagt Zeitforscher Geißler. Ganz
abgesehen davon, dass selbst die deutsche Pünktlichkeit immer mehr zum
Klischee wird, das, wenn überhaupt, nur an der Oberfläche der Tatsachen
kratzt. „Wenn wir es genau betrachten, ist die Pünktlichkeit der Deutschen
eigentlich nur ein Effekt der Kleinteiligkeit der Zeitorganisation“, so Geißler.
„Das heißt aber eigentlich nicht, dass wir es deswegen auch immer schaffen,
pünktlich zu sein.“
 

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